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Die
deutſche Literatur



Erſter Theil.


Stuttgart,:
bei Gebrüder Franckh.

1828.
[][]

Inhalt des erſten Theils.

  • Seite
  • Die Maſſe der Literatur  1
  • Rationalitaͤt  21
  • Einfluß der Schulgelehrſamkeit  33
  • Einfluß der fremden Literatur  42
  • Der literariſche Verkehr  55
  • Religion  82
  • Philoſophie  157
  • Geſchichte  190
  • Staat  214
  • Erziehung  261
[][[1]]

Die Maſſe der Literatur.

Die Deutſchen thun nicht viel, aber ſie ſchreiben
deſto mehr. Wenn dereinſt ein Buͤrger der kommen¬
den Jahrhunderte auf den gegenwaͤrtigen Zeitpunkt
der deutſchen Geſchichte zuruͤckblickt, ſo werden ihm
mehr Buͤcher als Menſchen vorkommen. Er wird
durch die Jahre, wie durch Repoſitorien ſchreiten
koͤnnen. Er wird ſagen, wir haben geſchlafen und
in Buͤchern getraͤumt. Wir ſind ein Schreibervolk
geworden und koͤnnen ſtatt des Doppeladlers eine
Gans in unſer Wappen ſetzen. Die Feder regiert
und dient, arbeitet und lohnt, kaͤmpft und ernaͤhrt,
begluͤckt und ſtraft bei uns. Wir laſſen den Italie¬
nern ihren Himmel, den Spaniern ihre Heiligen, den
Franzoſen ihre Thaten, den Englaͤndern ihre Geld¬
ſaͤcke und ſitzen bei unſern Buͤchern. Das ſinnige
deutſche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und
zum Schreiben hat es immer Zeit. Es hat ſich die
Buchdruckerkunſt ſelbſt erfunden, und nun arbeitet es
unermuͤdlich an der großen Maſchine. Die Schul¬
gelehrſamkeit, die Luſt am Fremden, die Mode, zu¬
letzt der Wucher des Buchhandels haben das uͤbrige
Deutſche Literatur. I. 1[2] gethan, und ſo baut ſich um uns die unermeßliche
Buͤchermaſſe, die mit jedem Tage waͤchſt, und wir
erſtaunen uͤber das Ungeheure dieſer Erſcheinung,
uͤber das neue Wunder der Welt, die cyklopiſchen
Mauern, die der Geiſt ſich gruͤndet.


Nach einem maͤßigen Überſchlage werden jaͤhrlich
in Deutſchland zehn Millionen Baͤnde neu gedruckt.
Da jeder halbjaͤhrige Meßkatalog uͤber tauſend deut¬
ſche Schriftſteller nahmhaft macht, ſo duͤrfen wir an¬
nehmen, daß im gegenwaͤrtigen Augenblick gegen fuͤnf¬
zigtauſend Menſchen in Deutſchland leben, die ein
Buch oder mehr geſchrieben haben. Steigt ihre Zahl
in der bisherigen Progreſſion, ſo wird man einſt ein
Verzeichniß aller aͤltern und neuern deutſchen Auto¬
ren verfertigen koͤnnen, das mehr Namen enthalten
wird, als ein Verzeichniß aller lebenden Leſer.


Die Wirkung dieſer literariſchen Thaͤtigkeit ſchlaͤgt
uns gleichſam in die Augen. Wohin wir uns wen¬
den, erblicken wir Buͤcher und Leſer. Auch die kleinſte
Stadt hat ihre Leſeanſtalt, der aͤrmſte Honoratior
ſeine Handbibliothek. Was wir auch in der einen
Hand haben moͤgen, in der andern haben wir gewiß
immer ein Buch. Alles, vom Regieren bis zum Kin¬
derwiegen iſt eine Wiſſenſchaft geworden, und will
ſtudirt ſeyn. Die Literatur iſt die allgemeine Reichs¬
apotheke geworden, und da das ganze Reich immer
kraͤnker wird, je mehr es Arzneien einnimmt, ſo neh¬
men doch eben darum die Arzneien nicht ab, ſondern
zu. Buͤcher helfen fuͤr alles. Was man nicht weiß,
[3] ſteht doch im Buche. Der Arzt ſchreibt ſein Recept,
der Richter ſein Urtheil, der Geiſtliche ſeine Predigt,
der Lehrer wie der Schuͤler ſein Penſum aus Buͤ¬
chern ab. Man regiert, kurirt, handelt und wan¬
delt, kocht und bratet nach Buͤchern. Die liebe Ju¬
gend aber waͤre wohl verloren ohne Buͤcher. Ein
Kind und ein Buch ſind Dinge, die uns immer zu¬
gleich einfallen.


Die Vielſchreiberei iſt eine allgemeine Krankheit
der Deutſchen, die auch jenſeits der Literatur herrſcht,
und in der Bureaukratie einen nahmhaften Theil der
Bevoͤlkerung an den Schreibtiſch feſſelt. Schreiber,
wohin man blickt! und eben dieſe Schreiber tragen
durch das, was ſie koſten, zur Verarmung des Lan¬
des nur bei, damit der Papiermuͤller an Lumpen kei¬
nen Mangel leide. Betrachten wir aber die ſitzende
Lebensart, der ſo viele tauſende geopfert werden.
Iſt ſie nicht laͤngſt ein Gegenſtand des oͤffentlichen
Witzes geweſen, ehe Tiſſot ihr ſein menſchenfreund¬
liches Bedauern und ſeinen aͤrztlichen Rath widmete?
Iſt der edle, aber durch die Feder aufgezehrte Gel¬
lert auf dem Roß, das ihm Friedrichs Ironie ge¬
ſchenkt, nicht das ewige Urbild jener armen an das
Pult gefeſſelten Gallioten, ein Bild, das freilich un¬
gleich unerfreulicher iſt, als das eines griechiſchen
Philoſophen, der unter Palmen und Lorbeern mehr
denkt und ſpricht, als ſchreibt.


Es gibt nichts von irgend einigem Intereſſe,
woruͤber in Deutſchland nicht geſchrieben wuͤrde. Ge¬
1 *[4] ſchieht etwas, ſo iſt die hauptſaͤchlichſte Folge davon,
daß man daruͤber ſchreibt; ja viele Dinge ſcheinen
nur darum zu geſchehen, damit man daruͤber ſchreibe.
Das meiſte wird aber in Deutſchland nur geſchrie¬
ben, und gar nicht gethan. Unſere Thaͤtigkeit iſt
eben vorzugsweiſe Schreiben. Dieß waͤre kein Un¬
gluͤck, da der Weiſe, der ein Buch ſchreibt, nicht we¬
niger, und oft mehr thut, als der Feldherr, der einen
Sieg erſtreitet. Wenn aber zehntauſend Thoren auch
Buͤcher ſchreiben wollen, ſo iſt das eben ſo ſchlimm, als
wenn alle gemeinen Soldaten Feldherrn ſeyn wollten.


Wir nehmen alle fruͤhere Bildung nur in uns
auf, um ſie ſogleich wieder in's Papier einzuſargen.
Wir bezahlen die Buͤcher, die wir leſen, mit denen,
die wir ſchreiben. Es gibt hunderttauſende, die nur
lernen, um wieder zu lehren, deren ganzes Daſeyn
an ein Paar Buͤcher geſchmiedet iſt, die von der
Schulbank auf's Katheder kommen, ohne je in die
gruͤne Welt hinauszublicken. Womit ſie gemartert
worden, damit martern ſie wieder, Prieſter der Ver¬
weſung unter Mumien verdorrt, pflanzen ſie das alte
Gift, wie Veſtalinnen das heilige Feuer fort.


Jeder neue Genius ſcheint nur geboren zu wer¬
den, um ſogleich in das Papier zu fahren. Wir ha¬
ben kaum groͤßere Landsleute, als ſchreibende. Die
Bahn des Ruhms, die dem Helden und dem Staats¬
mann in Deutſchland etwas langweilig gemacht und
dem Kuͤnſtler ganz mit Dornen beſaͤet wird, ſteht
nur dem Schriftſteller lockend offen. Ein geiſtreicher
[5] Mann wird in Deutſchland eben ſo oft ein Schrift¬
ſteller, und ſo ſelten ein Staatsmann, als in Eng¬
land und Frankreich das Umgekehrte Statt findet.
Wo man nicht geſehen, nicht gehoͤrt werden kann,
wird man doch geleſen.


Was der Deutſche denkt, iſt aber auch gewoͤhn¬
lich von der Art, daß es beſſer geleſen, als gehoͤrt
oder gethan wird. Was die ſtille Stunde dem ein¬
ſamen Denker und Dichter gebiert, erfordert auch
wieder den ſtillen ſinnigen Leſer.


Sey es nun, daß ein feindſeliger Gott unſer
Augenlied huͤtet und mit dem eiſernen Schlaf uns
wie den Prometheus feſſelt, um uns zu zuͤchtigen,
weil wir Menſchen gebildet, und daß die propheti¬
ſchen Traͤume der letzte Reſt von Thaͤtigkeit ſind,
die uns ſelbſt ein Gott nicht rauben kann; oder wir
ſelber weben aus eigner Neigung, aus einem Triebe,
wie ihn die Natur in die Raupe gelegt, das dunkle
Geſpinſt um uns, um in geheimnißvoller Schoͤpfungs¬
nacht die ſchoͤnen Pſycheſchwingen zu entfalten; ſeyen
wir gezwungen, uns uͤber den Mangel an Wirklich¬
keit mit Traͤumen zu troͤſten, oder reißt uns ein in¬
wohnender Genius uͤber die Schranken auch der
ſchoͤnſten Wirklichkeit in noch hoͤhere Regionen der
Ideale fort, immerhin muͤſſen wir jener wuchernden
Literatur, jener abenteuerlichen Papierwelt eine hohe
Bedeutung fuͤr den Charakter der Nation und dieſer
Zeit zuerkennen.


In den ausgeſprochnen Anſichten aber, davon
[6] die eine den Grund der deutſchen Vielſchreiberei in
der Thatenloſigkeit, die andre in der ſinnigen Natur
des Volkes findet, und die wir beide, als wohl be¬
gruͤndet, leicht vereinigen koͤnnen, liegen zugleich die
großen Schatten- und Lichtſeiten unſrer Literatur
angedeutet. Allerdings iſt des regen Lebens wuͤrdige
That von uns gewichen, denn der Glaube begeiſtert
nicht mehr, und der Eigenwille liegt in Banden,
und man ſollte faſt waͤhnen, das ganze Volk ſey nach
Walhalla hinuͤber geſchlummert und ſchmauſe dort in
Frieden, denn man hoͤrt bei uns faſt nichts mehr,
als das Geraͤuſch der Meſſer und Gabeln. Die
Kraft, die ewig jung der Verderbniß trotzt, hat ſich
erkaufen laſſen fuͤr den niedern Dienſt des materiellen
Lebens, und man ruͤhrt die Haͤnde nur noch, um zu
eſſen. Da, wo nun Buͤcher ſtatt der Thaten glaͤn¬
zen, wo der Glaube geirrt, der Willen abgeſpannt,
die Kraft entnervt, die Thatenloſigkeit beſchoͤnigt,
die Zeit ertoͤdtet wird mit Buchſtaben, wo die gro¬
ßen Erinnerungen und Hoffnungen des Volks ſtatt
lebendiger Herzen nur todtes Papier finden, da wer¬
den wir die Schattenſeite der Literatur erkennen
muͤſſen. Wo ſie das friſche Leben hemmt und an
ſeine Stelle ſich draͤngt, da iſt ſie negativ und feind¬
ſelig in ihrem Weſen.


Doch Worte gibt es, die ſelber Thaten ſind.
Alle Erinnerungen und Ideale des Lebens knuͤpfen
ſich an jene zweite Welt des Wiſſens und des Dich¬
tens, die von des Geiſtes ewiger That erzeugt, ge¬
[7] laͤutert und verklaͤrt wird. Und in dieſer Welt ſind
wir Deutſche vorzugsweiſe heimiſch. Die Natur gab
uns uͤberwiegenden Tiefſinn, eine herrſchende Nei¬
gung, uns in den eignen Geiſt zu verſenken, und
den unermeßlichen Reichthum deſſelben aufzuſchließen.
Indem wir dieſem nationellen Hang uns uͤberlaſſen,
offenbaren wir die wahre Groͤße unſrer Eigenthuͤm¬
lichkeit und erfuͤllen das Geſetz der Natur, das Ge¬
ſchick, zu dem wir vor andern Voͤlkern berufen ſind.
Die Literatur aber, der Abdruck jenes geiſtigen Le¬
bens, wird eben darum hier ihre glaͤnzende Lichtſeite
zeigen. Hier wirkt ſie poſitiv, ſchoͤpferiſch und ſe¬
gensreich. Das Licht der Ideen, die von Deutſch¬
land ausgegangen, wird die Welt erleuchten.


Nur huͤte man ſich vor dem Irrthum, die Huͤlle,
welche der Geiſt annehmen muß, um ſich zu offenba¬
ren, das Wort, das den Geiſt in ſich aufnimmt,
aber auch zugleich begraͤbt, fuͤr hoͤher zu achten, als
den ewigen, lebendigen Springquell des Geiſtes ſelbſt.
Das Wort, das todte, unveraͤnderliche, iſt nur die
Huͤlle des Geiſtes, abgeworfen an einem ſonnigen
Tage, gleich der bunten Haut, welche die alte und
doch ewig junge Weltſchlange mit jeder Verwand¬
lung hinter ſich laͤßt. Aber man verwechſelt nur zu
oft das todte Wort mit dem lebendigen Geiſt. Nichts
iſt gewoͤhnlicher, als der Irrthum, ein Wort hoͤher
zu achten, beſonders ein gedrucktes, als den freien
Gedanken, und Buͤcher hoͤher zu achten, als Men¬
ſchen. Dann wird der lebendige Springbrunnen ver¬
[8] ſtopft durch die Waſſermaſſe ſelbſt, die in ihn zuruͤck¬
ſtuͤrzt. Der Geiſt erſchlafft unter den Buͤchern, die
doch ſelbſt nur ſeiner Kraft ihr Daſeyn verdanken.
Man lernt Worte auswendig und fuͤhlt ſich der
Muͤhe uͤberhoben, ſelbſt zu denken. Nichts ſchadet
ſo ſehr der eignen Geiſtesanſtrengung, als die Be¬
quemlichkeit, von dem Gewinn einer fremden zu zeh¬
ren, und durch nichts wird die Faulheit und der
Duͤnkel der Menſchen ſo ſehr unterſtuͤtzt, als durch
die Buͤcher. Mit der Kraft aber geht die Freiheit
des Geiſtes verloren. Man kann nicht leichter aus
den freien Menſchen dumme Schafherden machen,
als indem man ſie zu Leſern macht. Daher war es
ſchon dem feinen Platon zweifelhaft, ob die Erfin¬
dung der Schrift die Menſchen ſonderlich gebeſſert
haͤtte, und es wird nicht uͤbel angebracht ſeyn, die
denkwuͤrdigen Worte dieſes liebenswuͤrdigen Weiſen
hieher zu ſetzen:


«Ich habe gehoͤrt, zu Naukratis in Egypten ſey
einer von den dortigen alten Goͤttern geweſen, dem
auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiligt war,
er ſelbſt aber, der Gott, habe Theuth geheißen.
Dieſer habe zuerſt Zahl und Rechnung erfunden,
dann die Meßkunſt und die Sternkunde, ferner das
Bret- und Wuͤrfelſpiel, und ſo auch die Buchſta¬
ben
. Als Koͤnig von ganz Egypten habe damals
Thamus geherrſcht in der großen Stadt des obern
Landes, welche die Hellenen das egyptiſche Thebe
nennen, den Gott ſelbſt aber Ammon. Zu dem ſey
[9] Theuth gegangen; habe ihm ſeine Kuͤnſte gewieſen,
und begehrt, ſie moͤchten den andern Egyptern mit¬
getheilt werden. Jener fragte, was doch eine jede
fuͤr Nutzen gewaͤhre, und je nachdem ihm, was
Theuth daruͤber vorbrachte, richtig oder unrichtig
duͤnkte, tadelte er oder lobte. Vieles nun ſoll Tha¬
mus dem Theuth uͤber jede Kunſt dafuͤr und dawider
geſagt haben, welches weitlaͤuftig waͤre, alles anzu¬
fuͤhren. Als er aber an die Buchſtaben gekommen,
habe Theuth geſagt: Dieſe Kunſt, o Koͤnig, wird
die Egypter weiſer machen und gedaͤchtnißreicher.
Denn als ein Mittel fuͤr den Verſtand und das Ge¬
daͤchtniß iſt ſie erfunden. Jener aber habe erwiedert:
O kunſtreichſter Theuth, Einer weis, was zu den
Kuͤnſten gehoͤrt, an's Licht zu gebaͤren, ein Anderer
zu beurtheilen, wie viel Schaden und Vortheil ſie
denen bringen, die ſie gebrauchen werden. So haſt
auch du jetzt, als Vater der Buchſtaben, aus Liebe
das Gegentheil deſſen geſagt, was ſie bewirken. Denn
dieſe Erfindung wird den lernenden Seelen vielmehr
Vergeſſenheit einfloͤßen aus Vernachlaͤßigung des Ge¬
daͤchtniſſes, weil ſie im Vertrauen auf die Schrift
ſich nur von außen, vermittelſt fremder Zeichen, nicht
aber innerlich, ſich ſelbſt und unmittelbar erinnern
werden. Nicht alſo fuͤr das Gedaͤchtniß, ſondern
nur fuͤr die Erinnerung haſt Du ein Mittel erfun¬
den, und von der Weisheit bringſt du deinen Lehr¬
lingen nur den Schein bei, nicht die Sache ſelbſt.
Denn indem ſie nur Vieles gehoͤrt haben
[10] ohne Unterricht
, werden ſie ſich auch viel¬
wiſſend zu ſeyn duͤnken
, da ſie doch unwiſ¬
ſend groͤßtentheils ſind
, und ſchwer zu be¬
handeln
, nachdem ſie duͤnkelweiſe gewor¬
den ſtatt weiſe
.» (Platon's Phaidros, 274.)


Dieſe Worte moͤgen uns bei den nachfolgenden
Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine
leiſe, warnende Stimme immer in den Ohren klingen,
wenn wir, wie es zu geſchehen pflegt, von den Herr¬
lichkeiten der Literatur geblendet, das Leben daruͤber
vergeſſen ſollten. Mit Recht haben die praktiſchen
Menſchen die Buͤcher nie recht leiden koͤnnen, weil
ſie den Sinn vom friſchen, thaͤtigen Leben hinweg in
eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer
aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die
echten Denker jederzeit den Buchſtaben vom lebendi¬
gen Gefuͤhl und Gedanken unterſchieden, und die Li¬
teratur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt
der Thaten, ſondern auch der innern, ſtillen Welt
der Seele untergeordnet.


Auf unendliche Weiſe ſteht das Wort dem Leben
entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht.
Es iſt das erſtarrte Leben, ſein Leichnam oder Schat¬
ten. Es iſt unveraͤnderlich, unbeweglich; von einem
Wort laͤßt ſich kein Jota rauben, ſagt der Dichter,
es iſt an die ewigen Sterne befeſtigt, und der Geiſt,
aus dem es geboren iſt, hat keinen Antheil mehr
daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechſel,
das Wort iſt fertig, das Leben bildet ſich.

[11]

Darum hat ein Leben, das ſich den Buͤchern hin¬
gibt, allerdings etwas Todtes, Mumienhaftes, Trog¬
lodytenmaͤßiges. Wehe dem Geiſte, der ſich an ein
Buch verkauft, der auf ein Wort ſchwoͤrt; die Quelle
des Lebens in ihm ſelber iſt verſiegt. In dieſem
Tode, mitten im Leben, aber liegt eine daͤmoniſche
Gewalt verborgen, es iſt das Gorgonenhaupt, das
uns verſteinert. Ihre Wirkungen ſind unermeßlich
in der Weltgeſchichte, oft hat ein Wort von Mar¬
mor Jahrhunderte verſteinert, und ſpaͤt erſt kam ein
neuer Prometheus und beſeelte die erſtarrten Gene¬
rationen wieder mit lebendigem Feuer.


Im Leben aber, wenn es ſich ſelbſt begreift, liegt
der Zauber, der des Wortes Meiſter wird. Wenn
es ſich nicht zu bewachen weiß, faͤllt es unter die
Gewalt des Wortes; wenn es auf ſich ſelbſt ver¬
traut, hat es auch den Talisman gewonnen, mit
dem es das daͤmoniſche Wort bewaͤltigt. Was nun
fuͤr jeden Menſchen gilt, ſobald er ein Buch in die
Hand nimmt, ſoll fuͤr uns gelten, indem wir die
neue Literatur in ihrem ganzen Umfang betrachten
wollen. Wir werden vom Leben ausgehen, um be¬
ſtaͤndig darauf zuruͤckzukommen; an dieſem Ariaden¬
faden hoffen wir in dem Labyrinth der Literatur uns
zurecht zu finden. Indem wir uns im friſchen Ge¬
fuͤhl des Lebens uͤber die todte Welt der Literatur
ſtellen, wird ſie uns alle Geheimniſſe aufſchließen
muͤſſen, ohne uns in den Zauberſchlaf zu wiegen.
Nur der Lebendige kann wie Dante die Schattenwelt
[12] durchwandern. Wir werden manchen deutſchen Pro¬
feſſor darin finden, der in bleiernem Rock mit ruͤck¬
waͤrts gedrehtem Halſe nach dem gruͤnen Leben zu¬
ruͤckblickt, und nimmer aus der grauen Theorie her¬
auskann; wir werden den Siſyphus den Stein der
Weiſen bergan ſchleppen und den Tantalus nach den
Äpfeln am Baum des Erkenntniſſes hungern ſehn,
wir werden alle finden, die in den Worten ſuchten,
was allein das Leben gewaͤhrt.


Von dieſem freien Standpunkte aus wollen wir
die Literatur zunaͤchſt in ihrer Wechſelwirkung mit
dem Leben, ſodann als ein Kunſtwerk betrachten.
Sie iſt ein Produkt des Lebens, das wieder auf daſ¬
ſelbe zuruͤckwirkt. Vom Leben ſelbſt geſchliffen wird
ſie ein Spiegel deſſelben, von ihm als Arznei und
als Gift gebraucht, heilt oder toͤdtet ſie es. In dem
unermeßlichen Umfang ihrer todten Woͤrter aber iſt
ſie ein einziges und zwar das reichſte Kunſtwerk naͤchſt
dem Leben ſelbſt. Wenn es ſchwierig iſt, in dieſem
Reichthum ſich zurecht zu finden, ſo iſt es doch noch
ſchwieriger, ſich von ihm nicht voͤllig verblenden zu
laſſen. Viele ſehen in der Literatur zugleich den rein¬
ſten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der
umfaſſendſte iſt; viele betrachten ſie als das hoͤchſte
Produkt des Lebens, nur weil es die laͤngſte Dauer
verſpricht. Sie ſtellen die Ruinen, die von der Weis¬
heit aller uͤbrig ſind, uͤber das wohnliche Haus unſ¬
rer eignen Weisheit, und das Bild aller Thaten
uͤber die eigne That. Bald ſind ſie zu traͤg, und
[13] wollen nur die Fruͤchte eines fremden Denkens und
Handelns genießen, die aber der Traͤgheit beſtaͤndig
wie dem Tantalus entfliehen; bald fuͤrchten ſie, den
Alten nicht mehr gleichen zu koͤnnen und machen ſich
traͤg aus Reſignation.


Allerdings ſpiegelt die Literatur das Leben nicht
nur umfaſſender, ſondern auch reiner, als irgend ein
andres Denkmal, weil kein andres Darſtellungsmit¬
tel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet.
Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben
keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch
geſchloſſen. Es ſind nur Saiten, die in euch ange¬
ſchlagen werden, wenn ihr ein Buch leſet, die un¬
endliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben
ſchlummert, hat noch kein Buch ganz ergriffen. Darum
hoffet nimmer in jenen Notenbuͤchern den Schluͤſſel
zu allen Toͤnen des Lebens zu finden, und begrabt
euch nicht zu ſehr in den Schulſtuben, laßt euch viel¬
mehr gerne und oft vom friſchen Lebenswinde die
innere Äolsharfe frei und natuͤrlich, ſanft und ſtuͤr¬
miſch bewegen.


Die Literatur ſey immer nur ein Mittel unſres
Lebens, nie der Zweck, dem allein wir es zum Opfer
braͤchten. Wohl iſt es herrlich, an der Erinnerung
des vergangenen Lebens das gegenwaͤrtige zu ſpie¬
geln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort
zu wirken und der Nachwelt ein Gedaͤchtniß unſres
Lebens zu uͤberliefern, wenn es des Gedaͤchtniſſes
[14] werth geweſen; doch keiner gebe ſeinen Geiſt dem
Buchſtaben gefangen.


Die fruͤhern Geſchlechter erkannten die große Be¬
deutung der Literatur noch nicht, da ſie, zu ſehr dem
Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben,
ſich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als
ſich im Spiegel derſelben ſuchten. Die neuere Zeit
iſt beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und
der Menſch ſtiehlt ſich gleichſam aus ſeiner Gegen¬
wart heraus, um ſich in eine fremde Welt zu verſe¬
tzen, und uͤbertaͤubt ſich mit den Wundern, die ſeine
Neugier um ihn verſammelt. Damals lebte man mehr,
jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬
tur hat ein Intereſſe auf ſich gezogen und eine Wirk¬
ſamkeit erlangt, die den fruͤhern Zeiten unbekannt
war. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt hat ihr
eine materielle Baſis gegeben, von welcher aus ſie
ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem
iſt ſie eine europaͤiſche Macht geworden, theils herr¬
ſchend uͤber alle, theils dienend allen. Sie hat der
Geiſter ſich bemaͤchtigt durch das Wort, das Leben
beherrſcht durch das Bild des Lebens, aber zugleich
jedem Streben des Zeitalters ein gefaͤlliges Werk¬
zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder ſein
Votum eingetragen. Sie iſt ein Schild der Gerech¬
tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein
Paradies der Unſchuld, ein Wonnebecher der Liebe,
eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬
mige Waffe dem Parteigeiſt, ein Spielzeug der Taͤn¬
[15] delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl
der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode
der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen,
und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und
nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit
als Magd gedient.


Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und
Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne,
der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in
ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles
andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬
griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬
gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬
cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch
aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬
verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬
blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander
ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne
ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern.
Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬
ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie
ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der
Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt,
weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und
nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren
zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er
das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil
er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als
die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬
[16] ſchwert, verwirren die herrſchenden Parteien das
Urtheil ſelbſt und erzeugen neben der Unkenntniß jene
leichtſinnige Verachtung des Unbekannten oder Halb¬
begriffenen, die in der neueſten Zeit namentlich ſo
verderblich um ſich gegriffen. Endlich behauptet der
Augenblick ſein Recht, das Neue, die Mode; der
Strom der Literatur erſcheint in ſeinen Windungen
jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die
weite Buͤcherwelt draͤngt ſich dem gewoͤhnlichen Leſer
in einen kleinen Horizont zuſammen. Allen gilt zwar
alles, doch immer nur das Eine fuͤr die Einen und
vieles nur fuͤr den Augenblick. So bietet unſre Lite¬
ratur das bunteſte Chaos von Geiſtern, Meinungen
und Sprachen dar. Sie ſteigt von den Sonnengipfeln
des Genies zum tiefſten Schlamm der Gemeinheit
hinunter. Bald iſt ſie weiſe bis zum myſtiſchen Tief¬
ſinn, bald ſtumpfſinnig, oder g[e] [...]nhaft thoͤricht. Bald
iſt ſie fein bis zur Unverſtaͤndlichkeit, bald roh wie
Felſen. Ein Gleichmaß der Anſichten, der Geſin¬
nung, des Verſtandes und der Sprache iſt nirgends
wahrzunehmen. Jede Anſicht, jede Natur, jedes Ta¬
lent macht ſich geltend, unbekuͤmmert um den Rich¬
ter, denn es iſt kein Geſetz vorhanden und die Geiſter
leben in wilder Anarchie. Aus allen Inſtrumenten
und Toͤnen wird das wunderbare Concert der Lite¬
ratur unaufhoͤrlich fortgeſpielt, und es iſt nicht moͤg¬
lich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in
dem Laͤrmen ſteht. Schwingt man ſich jedoch auf den
hoͤhern Standpunkt uͤber der Zeit, ſo hoͤrt man, wie
[17] in halben Jahrhunderten die Fugen wechſeln, die
Diſſonanzen ihre Loͤſung finden. Es gibt irgendwo
eine Stelle, wo man die labyrinthiſchen Gaͤnge zum
ſchoͤnen Ganzen verſchlungen ſieht. In dieſer Mannig¬
faltigkeit verbirgt ſich die geheime Harmonie eines un¬
endlichen Kunſtwerks, das zu ermeſſen ein aͤſthetiſcher
Trieb uns nicht ruhen laͤßt. Aus einem Leben hervor¬
gegangen, iſt dieſe Literatur ſelbſt ein einiges Ganze.


Der uͤppigen Vegetation des Suͤdens gegenuͤber
erzeugt der Norden eine unermeßliche Buͤcherwelt.
Dort gefaͤllt ſich die Natur, hier der Geiſt in einem
ewig wechſelnden Spiel der wunderbarſten Schoͤpfun¬
gen. Wie nun der Botaniker jene Pflanzenwelt zu
uͤberblicken, anzuordnen und ihr geheimes Geſetz ſich
zu entraͤthſeln trachtet, ſo mag der Literator ein glei¬
ches an der Buͤcherwelt verſuchen. Das Beduͤrfniß
nach einem Überblick iſt immer dringender geworden,
je mehr uns die Buͤcher von allen Seiten uͤber den
Kopf zu wachſen drohen. Man hat deßhalb ſchon
laͤngſt jene periodiſche Literatur zugeruͤſtet, die als
adminiſtrative Behoͤrde die anarchiſchen Elemente der
ſchreibenden Welt bemeiſtern ſoll; dieſe numerirenden,
claſſificirenden, conſcribirenden, judicirenden Bu¬
reaux ſind aber ſelbſt von der Anarchie ergriffen und
in das allgemeine Chaos unaufhaltſam fortgeriſſen
worden. Sie moͤchten gern wie der Hundsſtern frei
uͤber dem bluͤhenden Sommer ſchweben, weil ſie aber
ſelbſt aus der Tiefe ſtammen, ſind ſie noch von dem
wilden Triebe der Vegetation beherrſcht, und kleben
[18] ſich nur als Schmarozzerpflanzen an die verſchiednen
Zweige der Literatur. Dennoch laͤßt das tiefe Be¬
duͤrfniß, in jener unermeßlichen Mannigfaltigkeit eine
ſichre innere Harmonie zu erkennen, ſich niemals ab¬
weiſen, und Einzelne haben einen Hoͤhenpunkt zu
gewinnen geſucht, von wo aus ſie die tiefſte Aus¬
ſicht genoſſen, und wo vielleicht nur Einzelne ſich
halten konnten, Leſſing, Herder, Schlegel. Ich kann
hier der Sammler nicht gedenken, die gleich den aͤl¬
tern Botanikern nur zahlloſe Namen aneinander reih¬
ten und nur die aͤußre quantitative, nicht die innere
qualitative Groͤße ihres Gegenſtandes im Auge hatten.
Manche haben die Oberflaͤche der Literatur ziemlich
umfaſſend uͤberblickt, aber in den Inhalt, in die in¬
nere Tiefe, aus welcher eine ſo reiche Welt an die
Oberflaͤche herausbluͤhen konnte, haben nur wenige
hineingeblickt. Jedes Auge ſieht die Welt rund, es
kommt aber darauf an, wie tief es hineinſieht.


Wie ſchwer immerhin ein umfaſſender Überblick
und eine unparteiiſche Wuͤrdigung ſeyn mag, ſie iſt
doch das Einzige, was theils vor einſeitiger Verir¬
rung bewahren, theils den vollendeten Genuß eines
ſo reichen Kunſtwerkes, als die Literatur iſt, gewaͤh¬
ren kann. Die Vergleichung gibt Aufſchluͤſſe, zu de¬
nen die einſeitige Verfolgung eines literariſchen Ge¬
genſtandes nie gelangt. Eine Wiſſenſchaft, eine Kunſt,
eine That erklaͤrt die andre; die Menſchen, das Le¬
ben erklaͤren ſich am beſten im Umfang aller ihrer
Erſcheinungen. Ein umfaſſender Überblick und die Un¬
[19] parteilichkeit bedingen ſich aber wechſelſeitig. Man
kann ſchwerlich die Geiſter in allen ihren ſo mannig¬
fach verſchiednen Richtungen beobachten, ohne jeder
eine gewiſſe Nothwendigkeit zuzugeſtehen, ohne in
dem Gegenſatz, aus welchem ſie entſprungen ſind,
die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber
auch nicht unparteiiſch uͤber den Parteien ſtehn,
ohne den Kampf unter einem epiſchen Geſichtspunkt
aufzufaſſen und ſein großes Gemaͤlde zu uͤberſchauen.
Im Gewuͤhl des Lebens ſelbſt, gegenuͤber ſo mannig¬
fachen und dringenden Intereſſen und unwillkuͤrlich
davon ergriffen, moͤgen wir zu einer Partei ſtehen;
auf der Hoͤhe der Literatur aber kann nur ein freier
unparteiiſcher Blick in alle Parteianſichten befrie¬
digen. Das Leben ergreift uns als ſein Geſchoͤpf,
die Maſſe als ihr Glied, wir koͤnnen uns von der
Gemeinſchaft mit der Geſellſchaft, mit der Örtlich¬
keit und Zeit nicht losſagen und muͤſſen, eine Welle
des lebendigen Stroms, ihn tragend und von ihm
getragen, das Loos aller Sterblichen theilen; doch
im Innern des Geiſtes gibt es eine freie Stelle, wo
aller Kampf befriedigt, aller Gegenſatz verſoͤhnt wer¬
den mag, und die Literatur vergoͤnnt es, dieſen feſten
Stern der Menſchenbruſt in einem geiſtigen Univer¬
ſum zu verewigen.


Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang
nach in Wechſelwirkung mit dem Leben begriffen ſehn,
unterſcheiden wir auf dreifache Weiſe die Einwirkun¬
gen, welche Natur, Geſchichte und geiſtige Bildung
[20] auf die Literatur aͤußern. Die Natur bedingt ihr
eine oͤrtliche, nationelle und individuelle Eigenthuͤm¬
lichkeit, ſie wirkt auf die Charaktere, wie auf die
Sprache, und ruft die mannigfaltigen Toͤne hervor,
in welchen das Volk den Urlaut des Geſchlechts,
das Individuum den Urlaut des Volks modificirt.
Wie aber die Natur auf die Schoͤpfer der Literatur
einen tiefen Einfluß behauptet, ſo die Geſchichte auf
die Gegenſtaͤnde und den aͤußern Verkehr derſelben.
Die Intereſſen des handelnden Lebens kommen in der
Literatur zur Sprache. Jeder neue Geiſt wird von
dem Strome der Parteien ergriffen und muß Par¬
tei halten oder machen. Endlich duͤrfen wir, ſo
innig auch Natur, Geſchichte, Geiſt in einer Ge¬
ſammtwirkung ſich durchdringen, doch die eigenthuͤm¬
lichen Entwicklungen jeder beſtimmten Wiſſenſchaft
oder Kunſt und ihren Einfluß auf die Literatur von
den Einfluͤſſen ſowohl nationeller und individueller
Charaktere, als des herrſchenden Zeitgeiſtes unter¬
ſcheiden. Von eigenthuͤmlichen Naturen oder vom Geiſt
der Zeit ergriffen, erleidet jede Wiſſenſchaft und Kunſt
mannigfache Modifikationen, doch ſchreitet ſie conſe¬
quent durch die Menſchen und Jahrhunderte fort und
wird nie einem Mann oder einer Nation oder einem
Zeitalter allein Unterthan, von keinem ganz ergruͤndet
und vollendet. Wir betrachten demnach zuerſt die all¬
gemeinen natuͤrlichen und hiſtoriſchen Bedingungen unſ¬
rer Literatur, ſodann insbeſondre jedes ihrer Faͤcher.


[21]

Nationalitaͤt.

Die Literatur iſt in der neueſten Zeit ſo ſehr die
glaͤnzendſte Erſcheinung unſrer Nationalitaͤt gewor¬
den, daß wir dieſe eher aus jener erklaͤren koͤnnen,
als umgekehrt. Es iſt uns beinahe nichts uͤbrig ge¬
blieben, wodurch wir unſer Daſeyn bemerklich ma¬
chen, als eben Buͤcher. Wie die Griechen zuletzt
durch nichts mehr ausgezeichnet waren, als durch
Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, ſo haben auch wir nichts
mehr, was uns wuͤrdig machte, den deutſchen Na¬
men fortzufuͤhren. Leben wir nicht als einige Nation
wirklich nur in Buͤchern? verſammelt ſich das heilige
Reich noch irgend anderswo als auf der Leipziger
Meſſe? Indeß ſcheint eben darum die geheime Wahl¬
verwandtſchaft mit den Buͤchern der tiefſte Zug unſ¬
res Nationalcharakters; wir wollen ſie die Sinnig¬
keit
nennen.


Schon in den aͤlteſten Zeiten waren die Dent¬
ſchen eine phantaſtiſche Nation, im Mittelalter wur¬
den ſie myſtiſch, jetzt leben ſie ganz im Verſtande.
[22] Zu allen Zeiten offenbarten ſie eine uͤberſchwengliche
Kraft und Fuͤlle des Geiſtes, die aus dem Innern
hervorbrach und auf die Äußerlichkeiten wenig ach¬
tete. Zu allen Zeiten waren die Deutſchen im prak¬
tiſchen Leben unbehuͤlflicher als andre Nationen, aber
einheimiſcher in der innern Welt, und alle ihre na¬
tionellen Tugenden und Laſter koͤnnen auf dieſe Inner¬
keit, Sinnigkeit, Beſchaulichkeit zuruͤckgefuͤhrt werden.
Sie iſt es, die uns jetzt vorzugsweiſe zu einem lite¬
rariſchen Volk macht, und zugleich unſrer Literatur
ein eigenthuͤmliches Gepraͤge aufdruͤckt. Die Schrif¬
ten andrer Nationen ſind praktiſcher, weil ihr Leben
praktiſcher iſt, die unſrigen haben einen Anſtrich von
Übernatuͤrlichkeit oder Unnatuͤrlichkeit, etwas Geiſter¬
maͤßiges, Fremdes, das nicht recht in die Welt paſ¬
ſen will, weil wir immer nur die wunderliche Welt
unſres Innern im Auge haben. Wir ſind phantaſti¬
ſcher, als andre Voͤlker, nicht nur weil unſre Phan¬
taſie ins Ungeheure von der Wirklichkeit ausſchweift,
ſondern auch weil wir unſre Traͤume fuͤr wahr halten.
Wie die Einbildungskraft ſchweift unſer Gefuͤhl aus
von der albernen Familienſentimentalitaͤt bis zur
Überſchwenglichkeit pietiſtiſcher Sekten. Am weiteſten
aber ſchweift der Verſtand hinaus ins Blaue und
wir ſind als Speculanten und Syſtemmacher uͤberall
verſchrien. Indem wir aber unſre Theorien nir¬
gends einigermaßen zu realiſiren wiſſen, als in der
Literatur, ſo geben wir der Welt der Worte ein
unverhaͤltnißmaͤßiges Übergewicht uͤber das Leben
[23] ſelbſt und man nennt uns mit Recht Buͤcherwuͤrmer,
Pedanten.


Dies iſt indeß nur die Schattenſeite, uͤber die
wir uns allerdings nicht taͤuſchen wollen. Ihr gegen¬
uͤber behauptet unſer ſinniges literariſches Treiben
auch eine lichte Seite, die von den Fremden weit
weniger gewuͤrdigt wird. Wir ſtreben nach allſeiti¬
ger Bildung des Geiſtes und bringen derſelben nicht
umſonſt unſre Thatkraft und unſern Nationalſtolz zum
Opfer. Die Erkenntniſſe, die wir gewinnen, duͤrf¬
ten dem menſchlichen Geſchlecht leicht heilſamer ſeyn,
als noch einige ſogenannte große Thaten, und die
Luſt, von den Fremden zu lernen, duͤrfte uns mehr
Ehre machen, als ein Sieg uͤber dieſelben. In unſ¬
rem Nationalcharakter liegt ein ganz eigener Zug zur
Humanitaͤt. Wir wollen alle menſchlichen Dinge recht
im Mittelpunkt ergreifen und in der unendlichen Man¬
nigfaltigkeit des Lebens das Raͤthſel der verborgnen
Einheit loͤſen. Darum faſſen wir das große Werk
der Erkenntniß von allen Seiten an; die Natur ver¬
leiht uns Sinn fuͤr alles und unſer Geiſt ſammelt
aus der groͤßten Weite die Gegenſtaͤnde ſeiner Wi߬
begierde und dringt in die innerſte Tiefe aller Myſte¬
rien der Natur, des Lebens, der Seele. Es gibt
keine Nation von ſo univerſellem Geiſt als die deut¬
ſche, und was dem Individuum nicht gelingt, wird
in der Mannigfaltigkeit derſelben erreicht. An die
Maſſe ſind die zahlreichen Organe vertheilt, durch
welche die Erkenntniß allen vermittelt wird.

[24]

Die deutſche Sinnigkeit war immer mit einer
großen Mannigfaltigkeit eigenthuͤmlicher Geiſtes¬
bluͤthen gepaart. Der innere Reichthum ſchien ſich
nur in dem Maß entfalten zu koͤnnen, als er an
keine Norm gebunden war. Mehr als in irgend ei¬
ner andern Nation hat die Natur in der unſern die
unerſchoͤpfliche Fuͤlle eigenthuͤmlicher Geiſter aufge¬
ſchloſſen. In keiner Nation gibt es ſo verſchiedene
Syſteme, Geſinnungen, Neigungen und Talente, ſo
verſchiedene Manieren und Style, zu denken und zu
dichten, zu reden und zu ſchreiben. Man ſieht, es
mangelt dieſen Geiſtern an aller Norm und Dreſſur,
ſie ſind wild aufgewachſen hier und dort, verſchieden
von Natur und Bildung und ihr Zuſammenfluß in
der Literatur gibt eine baroke Miſchung. Sie reden
in einer Sprache, wie ſie unter einem Himmel leben,
aber jeder bringt einen eigenthuͤmlichen Accent mit.
Die Natur waltet vor, wie ſtreng auch die Disci¬
plin einzelner Schulen die ſogenannte Barbarei aus¬
rotten moͤchte. Die Natur wuchert uͤber die Garten¬
meſſer hinaus. Der Deutſche beſitzt wenig geſellige
Geſchmeidigkeit, doch um ſo ſtaͤrker iſt ſeine Indivi¬
dualitaͤt und ſie will frei ſich aͤußern bis zum Eigen¬
ſinn und bis zur Karrikatur. Das Genie bricht durch
alle Daͤmme und auch bei dem Gemeinen ſchlaͤgt der
Mutterwitz vor. Wenn man die Literatur andrer
Voͤlker uͤberſchaut, ſo bemerkt man mehr oder weni¬
ger Normalitaͤt, oder franzoͤſiſche Gartenkunſt, nur
die deutſche iſt ein Wald, eine Wieſe voll wilder
[25] Gewaͤchſe. Jeder Geiſt iſt eine Blume, eigenthuͤm¬
lich an Geſtalt, Farbe, Duft. Nur die niedrigſten
kommen in ganzen Gattungen vor, und nur die hoͤch¬
ſten vereinigen in ſich die Bildungen vieler andern;
in einigen wird ein großer Theil der Nation gleich¬
ſam perſonificirt, und in ſeltnen Genien ſcheint die
Menſchheit ſelbſt ihr großes Auge aufzuſchlagen, Ge¬
nien, die auf der Hoͤhe des Geſchlechts ſtehn und
das Geſetz offenbaren, das in den Maſſen ſchlummert.


Der Genius wird immer nur geboren, und die
reichen Originalitaͤten in der deutſchen Geiſterwelt
ſind unmittelbare Wirkungen der Natur. Mittelbar
mag die große Verſchiedenheit der deutſchen Staͤmme,
Staͤnde, Bildungsſtufen, durch die Erziehung und
das Leben auf die Schriftſteller wirken, aber dieſe
Verſchiedenheit iſt ſelbſt nur eine Folge der Volks¬
natur. Dieſe hat unter allen Verhaͤltniſſen die Nor¬
malitaͤt unmoͤglich gemacht. Unter allen Voͤlkern bot
das deutſche von jeher die reichſte Mannigfaltigkeit,
Gliederung und Abſtufung dar, wie aͤußerlich, ſo
geiſtig. Dieſe Mannigfaltigkeit iſt durch die ewig
junge Naturkraft von unten her aus dem Volk be¬
ſtaͤndig genaͤhrt worden und hat ſich nie einer von
oben her gebotenen Regelmaͤßigkeit gefuͤgt. Mit ihr iſt
zugleich alles Herrliche, was den deutſchen Geiſt aus¬
zeichnet, von unten frei und wild hervorgewachſen.


Nur eins iſt der Maſſe unſrer Schriftſteller ge¬
meinſam, die wenige Ruͤckſicht auf das praktiſche Le¬
ben, das Überwiegen der innern Beſchaulichkeit. Doch
Deutſche Literatur. I. 2[26] ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬
vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des
praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige
Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen.
In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬
lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬
ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies
freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum
heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht
es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie
und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬
zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur
die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der
Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um
ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden;
der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen
am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu
bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf
den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem
Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬
gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine
arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten
weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene
reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir
nur denken.


Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬
malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬
ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken
wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬
[27] chen, Roͤmer, Englaͤnder oder Franzoſen im Auge
gehabt, ſelbſt wiſſen mag. Wenn ſich nun aber auch
dieſe Naivetaͤt der deutſchen Schriften ſtreng nach¬
weiſen laͤßt, ſo darf man doch damit ja nicht die ſo¬
genannte deutſche Ehrlichkeit verwechſeln. Allerdings
herrſcht noch eine große Gutmuͤthigkeit und Redlich¬
keit unter den Autoren, und ſie ließe ſich ſchon aus
dem eiſernen, wenn auch oft fruchtloſen Fleiße, und
aus der Weitlaͤuftigkeit, aus dem ſichtbaren Beſtre¬
ben nach deutlicher Belehrung erkennen, wenn man
auch den vielen Verſicherungen von Ehrlichkeit und
Liebe mit Recht mißtrauen duͤrfte. Aber eben dieſe
ſentimentalen Schwuͤre zeigen nur zu deutlich, daß
wir den Stand der Unſchuld bereits verlaſſen haben.
Seit man ſo viel von dieſer deutſchen Biederkeit re¬
det, iſt ſie aͤußerſt verdaͤchtig geworden, ungefaͤhr
wie die deutſche Freiheit immer zweifelhafter wird,
je mehr man ihren Namen im Munde fuͤhrt.


Die deutſche Sprache iſt der vollkommne Aus¬
druck des deutſchen Charakters. Sie iſt dem Geiſt
in allen Tiefen und in dem weiteſten Umfang gefolgt.
Sie entſpricht vollkommen der Mannigfaltigkeit der
Geiſter und hat jedem den eigenthuͤmlichen Ton ge¬
waͤhrt, der ihn ſchaͤrfer auszeichnet, als irgend eine
andre Sprache vermoͤchte. Die Sprache ſelbſt gewinnt
durch dieſe Mannigfaltigkeit des Gebrauchs. Das
bunte Weſen und die Vielgeſtaltigkeit iſt ihr eigen
und ſteht ihr ſchoͤn. Ein Blumenfeld iſt edler als
ein einfaches Grasfeld und gerade die ſchoͤnſten Laͤn¬
2 *[28] der haben den reichſten Wechſel von Gegenden und
Temperaturen. Alle Verſuche, den deutſchen Schrift¬
ſtellern einen Normalſprachgebrauch aufzudraͤngen, ſind
ſchmaͤhlich geſcheitert, weil ſie der Natur widerſtreb¬
ten. Jeder Autor ſchreibt, wie er mag. Jeder kann
von ſich mit Goͤthe ſagen: «ich ſinge, wie der Vogel
ſingt, der auf den Zweigen lebt.»


Es iſt gewiß ein nationeller Zug, daß unſre Ge¬
lehrten und Dichter ſogar noch keine durchgreifende
Rechtſchreibung haben, und daß uns dies ſo ſelten
auffaͤllt. Wie viele Woͤrter werden nicht bald ſo,
bald anders geſchrieben, wie viele Willkuͤr herrſcht
in den zuſammengeſetzten Woͤrtern! und wer tadelt
es, als hin und wieder die Grammatiker, von denen
ſich die Autoren ſo wenig belehren laſſen, als die
Kuͤnſtler von den Äſthetikern.


Die grammatiſche Mannigfaltigkeit erſcheint aber
nur unbedeutend gegen die rhetoriſche und poetiſche,
gegen den unendlichen Reichthum in Styl und Ma¬
nier, worin uns kein Volk auf Erden gleich kommt.
Es mag dahingeſtellt ſeyn, ob keine andre Sprache
ſo viel Phyſiognomik zulaͤßt, gewiß aber iſt, daß in
keiner ſo viel Phyſiognomik wirklich ausgedruͤckt wird.
Dieſe ungebundene Weiſe der Äußerung iſt uns mit
ſo manchem andern Zug unſrer Natur aus den alten
Waͤldern angeſtammt, und auf ihr beruht die ganze
freie Herrlichkeit unſrer Poeſie. Je beſſer der Con¬
verſationston, deſto elender die Dichter, wie in Frank¬
reich. Je ſchlechter der Canzleiſtyl, deſto origineller
[29] die Dichter, wie in Deutſchland. Jeder neue Adelung
wird vor einem neuen Goͤthe, Schiller, Tieck zu
Spott werden. Titanen brauchen keine Fechtſchule,
weil ſie doch jede Parade durchſchlagen. Den gro¬
ßen Dichter und Denker haͤlt ſein Genie, den gemei¬
nen ſeine angeborne Natur, alle der gaͤnzliche Man¬
gel einer Regel, eines geſetzgebenden Geſchmacks und
eines richtenden Publikums von dem Zwang einer
attiſchen oder pariſiſchen Cenſur entfernt.


Im Ganzen hat die deutſche Sprache im Fort¬
ſchritt der Zeit auf der einen Seite gewonnen, auf
der andern verloren. Die Reinheit, eine Menge
Stammwoͤrter, einen bewundrungswuͤrdigen Reich¬
thum von feinen und wohllautenden Biegungen hat
ſie ſeit einem halben Jahrtauſend verloren. Dagegen
hat ſie von dem, was ihr uͤbrig geblieben, einen
deſto beſſern Gebrauch gemacht. In der jetzt aͤrmern
und klangloſern Sprache iſt unendlich viel gedacht
und gedichtet worden, das uns die verlornen Laute
vermiſſen laͤßt. Ausgezeichnete Meiſter haben aber
auch dieſe neue hochdeutſche Sprache durch Virtuoſi¬
taͤt des Gebrauchs zu einer eigenthuͤmlichen Schoͤn¬
heit zu bilden gewußt, und man hat angefangen, ſie
ſogar aufs Neue aus dem Schatz der Vorzeit zu
ſchmuͤcken. Es gehoͤrt nicht zu den geringſten Ver¬
dienſten der Romantiker, daß ſie die deutſche Sprache
wieder auf den alten Ton geſtimmt haben, ſo weit es
ihre gegenwaͤrtige Inſtrumentation vertragen kann.

[30]

Dieſe lebendige, organiſche Wiedergeburt der rei¬
nen alten Sprache, durch welche die fremden Schma¬
rozergewaͤchſe verdraͤngt werden, iſt das ſchoͤnſte Zeug¬
niß von der angebornen Kraft unſrer Nationalitaͤt
im Gegenſatz gegen die affectirte Kraft, womit wir
es den Fremden gleich zu thun geſtrebt haben. Dieſe
organiſche Entwicklung der deutſchen Urſprache ſtellt
zugleich die mechaniſchen Verſuche der Puriſten
gaͤnzlich in den Schatten. Nichts iſt klaͤglicher, als
jener Purismus eines Campe und Anderer, welche
die aus der Philoſophie verſchwundne Atomenlehre
noch einmal in der Grammatik aufzufriſchen und die
atomiſtiſchen deutſchen Sylben nach einer Cohaͤrenz,
die nicht im Organismus deutſcher Sprachbildung,
ſondern nur in der Analogie des fremden Wortes
lag, zuſammenzuſchmieden verſuchten, die uns Woͤrter
aus Sylben machten, wie Voß aus Woͤrtern eine
Sprache machte, die weder deutſch, noch griechiſch
war, und die man erſt wieder in's Griechiſche uͤber¬
ſetzen mußte, um ſie zu verſtehen.


Der Purismus iſt loͤblich, wenn er uns denſel¬
ben Begriff, der ein fremdes Wort ausdruͤckt, eben
ſo umfaſſend und verſtaͤndlich durch ein deutſches aus¬
druͤcken lehrt, jederzeit aber zu verwerfen, wenn das
fremde Wort umfaſſender oder verſtaͤndlicher iſt, oder
wenn es einen unſrer Sprache gaͤnzlich fremden Be¬
griff bezeichnet; denn Mittheilung der Begriffe iſt
der erſte Zweck der Sprache, Deutlichkeit der Woͤr¬
ter das Mittel dazu. Wenn wir nur unſre Begriffe
[31] durch einen fremden vermehren, ſo laßt uns immer
das fremde Wort dazu nehmen. Das Denken ſoll
nicht verarmen, damit die Sprache mit Reinheit
prahlen koͤnne.


Wenn der falſche Purismus zu verwerfen iſt,
ſo iſt doch der wahre, wie ihn ſchon Luther kraͤftig
gehandhabt, hoͤchſt verdienſtlich. Allerdings gibt es
neben den fremden Woͤrten, die wir als das Kleid
fremder und neuer Begriffe ehren muͤſſen, noch eine
Menge andrer, die ſich ſtatt eben ſo guter, und des¬
falls fuͤr uns beſſerer, deutſcher Woͤrter eingeſchlichen
haben, die ganz bekannte alte Begriffe ausdruͤcken,
und nur aus einer laͤcherlichen Eitelkeit oder Neue¬
rungsſucht von uns gebraucht werden. Der Gelehrte
will zeigen, daß er in alten Sprachen bewandert iſt,
der Reiſende, daß er fremde Zungen gehoͤrt hat, das
uͤbrige Volk, daß es mit weiſen und erfahrnen Men¬
ſchen oder Buͤchern bekannt iſt, oder die Vornehmeren
wollen ihre hoͤheren Begriffe auch in einer fremden
Sprache von der Denkungsart des Poͤbels geſchieden
wiſſen, und der Poͤbel thut vornehm, indem er ihnen
die fremden Laute nachaͤfft. So ungefaͤhr iſt die
deutſche Sprachmengerei entſtanden, ſofern ſie nicht
nothwendig mit fremden Begriffen auch fremde, Woͤr¬
ter borgen mußte, und ſo iſt ſie durchaus verwerflich,
ein Schandfleck der Nation und ihrer Literatur.
Moͤchten die Puriſten uns fuͤr immer davon befreien
koͤnnen. Jedes Jahrhundert befreit uns wenigſtens
von der Thorheit der vorhergehenden. Klopſtock be¬
[32] merkt ſehr richtig: «Zu Karls V. Zeiten miſchte man
ſpaniſche Worte ein, vermuthlich aus Dankbarkeit
fuͤr den ſchoͤnen kaiſerlichen Gedanken, daß die deut¬
ſche Sprache eine Pferdeſprache ſey, und damit ihm
die Deutſchen etwas ſanfter wiehern moͤchten. Wie
es dieſen Worten ergangen iſt, wiſſen wir, und ſehen
daraus zugleich, wie es kuͤnftig allen heutigstaͤgigen
Einmiſchungen ergehen werde, ſo arg naͤmlich, daß
dann einer kommen und erzaͤhlen muß, aus der oder
der Sprache waͤre damals, zu unſrer Zeit naͤmlich,
auch wieder eingemiſcht worden; aber die Sprache,
die das nun einmal ſchlechterdings nicht vertragen
koͤnnte, haͤtte auch damals wieder Übelkeiten bekom¬
men.»


[33]

Einfluß der Schulgelehrſamkeit.

Wenden wir uns zu den hiſtoriſchen Bedin¬
gungen der heutigen Entwicklung unſrer Literatur,
ſo muß uns zuerſt auffallen, daß alle literariſche Bil¬
dung urſpruͤnglich an die Kirche geknuͤpft war. Die¬
ſen Einfluß hat ſich die Literatur auch bis auf den
heutigen Tag noch nicht voͤllig entzogen. Von der
Prieſterkaſte kam die Literatur an die Gelehrtenzunft,
und aller Schulzwang in unſern Schriften ſchreibt
ſich daher. Das Intereſſe der Zunft und die Disciplin
der Bildungsanſtalten haben das Gepraͤge der Vergan¬
genheit immer noch jedem neuen Jahrhundert aufge¬
druͤckt, wie wohl es ſich allmaͤhlig immer mehr verwiſcht.
Folgen davon ſind kaſtenmaͤßige Ausſchließlichkeit,
Vornehmigkeit, Unduldſamkeit, Pedanterie alter Ge¬
woͤhnung, Stubenweisheit und Entfernung von der
Natur. Doch hat es auch ſeine ſchoͤne und achtbare
Seite. Indem alles literariſche Leben von der geiſt¬
lichen, ſpaͤter gelehrten Kaſte ausging, nahm es alle
Tugenden und Gebrechen des Zunftgeiſtes in ſich
[34] auf, und noch jetzt draͤngt ſich ein verknoͤchertes
Standesintereſſe der Literatur auf; noch jetzt beherr¬
ſchen Prieſter die Theologie, bevogten Fakultaͤten
zunftmaͤßig die weltlichen Wiſſenſchaften. Der freie
Sinn, die ſtarke Natur der Deutſchen hat ſich zwar
ſeit der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften unauf¬
hoͤrlich gegen den Kaſtengeiſt aufgelehnt, und wir
bemerken einen beſtaͤndigen Kampf origineller Koͤpfe
gegen die Schulen, eine beſtaͤndige Wiedergeburt der
weltalten Fehde zwiſchen Prieſtern und Propheten.
Auch haben die Letztern immer das Feld behauptet,
die deutſche Natur hat ihre freie Äußerung, ihre
immer reichere und hoͤhere Entfaltung gegen jedes
Stabilitaͤtsprincip durchgefochten, und jeder einſeiti¬
gen Erſtarrung iſt, wie fruͤher durch die Kirchen¬
trennung, ſo ſpaͤter durch den mannichfaltigen Wiſ¬
ſensſtreit der Gelehrten und durch die Geſchmacks¬
fehden der Dichter immer vorgebeugt worden. Im¬
mer neue Parteien haben das von den andern ver¬
worfne Element bei ſich gepflegt und ausgebildet,
wodurch denn beinahe allen ihr Recht geworden. In¬
deß hat, wie in der Politik, ſo in der Literatur, der
Geiſt der alten gewohnten Herrſchaft, wo er beſiegt
worden, immer in den Siegern ſelbſt fortgewirkt.
Der negative Punkt hat ſich ſofort in einen poſiti¬
ven umgeſetzt. Die Propheten ſind wieder Prieſter
geworden, haben das Princip der Autoritaͤt und
Stabilitaͤt in ſich aufgenommen und unter andern
Glaubensformeln das alte Monopol angeſprochen und
[35] gegen alle Neuerungen wieder geltend zu machen ge¬
ſucht. Was geſtern heterodox geweſen, iſt heute wie¬
der orthodox geworden. Was geſtern als Indivi¬
dualitaͤt eines großen Mannes aufgetreten, wird
heute wieder zur deſpotiſchen Manier einer Schule.
Der Grund dieſer Erſcheinung muß aber nicht allein
in den Fortwirkungen des Mittelalters, ſondern auch
im Charakter des Volks ſelbſt geſucht werden. Der
Deutſche gluͤht fuͤr die Erkenntniß der Wahrheit,
und will ſie anerkannt wiſſen. Es iſt dieſelbe Be¬
geiſterung, die ihn zum Beharren und zum Refor¬
miren antreibt.


Unſtreitig iſt vieles Gute an den Zunftgeiſt ge¬
knuͤpft. Die Treue, mit welcher die Schaͤtze der
Tradition bewahrt werden; die Wuͤrde, die der Au¬
toritaͤt gerettet wird; die Begeiſterung und Pietaͤt,
mit welchem man das Geheiligte, Erprobte oder Ge¬
glaubte verehrt; alle jene Tugenden, welche die An¬
haͤnglichkeit an das Alte
zu begleiten pflegen,
muͤſſen in ihrem ganzen Werth anerkannt werden, wenn
wir ſie dem Leichtſinn vieler Neurer gegenuͤberſtellen, der
ſo oft alle moraliſche Autoritaͤt, alle hiſtoriſche Tra¬
dition, und mit der alten Schule auch die alte Er¬
fahrung
uͤber den Haufen wirft. Das Kranke je¬
nes Zunftgeiſtes aber iſt das Princip der Stabilitaͤt,
das Stilleſtehen, wo ewiger Fortſchritt iſt, die Bor¬
nirtheit, die Schranken ſtatuirt, wo keine ſind. Hier¬
aus fließt mit Nothwendigkeit einerſeits ein hierar¬
chiſches Syſtem, Kaſtenzwang, Parteiſucht, Proſely¬
[36] tenmacherei, Ketzerriecherei und Nepotismus, andrer¬
ſeits ein erſtarrtes, beſchraͤnktes Wiſſen mit ewig in
ſich ſelbſt ruͤckkehrenden, endlos ſich wiederholenden,
in monſtroͤſe Weitlaͤuftigkeit entartenden Formen.
Dieſen Suͤnden des veralteten Zunftgeiſtes tritt dann
mit voller Wuͤrde die lebendige Kraft der Neuerer
gegenuͤber, welche das Wiſſen aus den engen Schran¬
ken der Schule, die Charaktere ſelbſt aus dem uni¬
formen Zwange der Kaſte befreien, und eben darum
auch alle jene ſteifen Formen von der lebenskraͤfti¬
gen, friſch ſich regenden Natur abſtreifen, geſetzt
auch, ſie verfielen nach dem Siege in die alten Feh¬
ler zuruͤck.


Die Beziehung aller Wiſſenſchaften auf die Re¬
ligion brachte einen gewiſſen prieſterlichen ſalbungs¬
vollen Ton in die Gelehrſamkeit, der in den Fakul¬
taͤten noch beibehalten wird, und ſelbſt die Natura¬
liſten anſteckt. Unſre Schriftſteller orakeln gar zu
gern und ſuchen einen gewiſſen Nimbus um ſich zu
verbreiten, und den Leſer zu myſtificiren, wie der
Geiſtliche den Laien, der Schulmeiſter ſeine Schuͤler.
In England und Frankreich befindet ſich der Autor
gleichſam als Redner auf der Tribune, und gibt ſein
Votum ab, als in einer Geſellſchaft gleicher und ge¬
bildeter Menſchen. In Deutſchland predigt er und
ſchulmeiſtert.


Das zuruͤckgezogene moͤnchiſche Leben der Gelehr¬
ten hat ohne Zweifel den Hang zu tiefſinnigen Be¬
[37] trachtungen, gelehrten Gruͤbeleien und ausſchweifen¬
den Phantaſien befoͤrdert, woraus denn auch der
Mangel an praktiſchem Sinn und Lebensfreude ſich
erklaͤren laͤßt. Noch jetzt leben die meiſten Gelehr¬
ten und Schriftſteller wie Troglodyten in ihren Buͤ¬
cherhoͤhlen und verlieren mit dem Anblick der Natur
zugleich den Sinn fuͤr dieſelbe, und die Kraft, ſie zu
genießen. Das Leben wird ihnen ein Traum, und
nur der Traum iſt ihr Leben. Ob der Schieferde¬
cker vom Dach, oder Napoleon vom Thron gefallen,
ſie ſagen: ſo ſo, ei ei! und ſtecken die Naſe wieder
in die Buͤcher. Wie aber Fruͤchte, die man in einem
feuchten Keller aufbewahrt, vom Schimmel verderbt
werden, ſo die Geiſtesfruͤchte von der gelehrten Stu¬
benluft. Der Vater theilt ſeinen geiſtigen Kindern
nicht nur ſeine geiſtigen, ſondern auch ſeine phyſiſchen
Krankheiten mit. Man kann den Buͤchern nicht nur
die Verſtocktheit, Herzloſigkeit oder Hypochondrie,
ſondern auch die Gicht, die Gelbſucht, ja die Haͤ߬
lichkeit ihrer Verfaſſer anſehn.


Das ſchulgemaͤße Treiben hat zu gelehrter
Pedanterie
gefuͤhrt. Die geſunde unmittelbare
Anſchauung hat einer hypochondriſchen Reflexion Platz
gemacht. Man ſchreibt Buͤcher aus Buͤchern, ſtatt
ſie aus der Natur zu entlehnen. Man ſtellt die
Dinge nicht mehr einfach dar, ſondern kramt dabei
den Schatz ſeiner Kenntniſſe aus. Man weicht von
dem urſpruͤnglichen Zwecke der Wiſſenſchaften ab und
[38] macht nur die Mittel zum Zweck. Über den gelehr¬
ten Huͤlfsmitteln vergißt man die Reſultate. Man
ſieht kaum einen Theologen oder Juriſten, nur theo¬
logiſche, juridiſche Philologen. Alle hiſtoriſchen Wiſ¬
ſenſchaften werden durch die philologiſch-critiſche Ge¬
lehrſamkeit ungeniesbar gemacht. Man fraͤgt nicht
nach dem Inhalt, nur nach der Schale. Man un¬
terſucht die Richtigkeit, nicht die Wichtigkeit der Ci¬
tate. Man freut ſich kindiſch, wenn man diploma¬
tiſch erwieſen hat, daß dieſer oder jener Ausſpruch
wirklich gethan worden iſt, ohne ſich darum zu be¬
kuͤmmern, ob er auch innere Wahrheit hat und ob uͤber¬
haupt etwas daran liegt. Man haͤuft mit unſaͤgli¬
chem Fleiße Nachrichten, unter denen man mit eben
ſo vieler Muͤhe wieder das Wenige zuſammenſuchen
muß, was der Erinnerung werth iſt. Man ver¬
ſchwendet ein jahrelanges Studium, um die richtige
Leſart eines alten Dichters ausfindig zu machen, der
oft beſſer gaͤnzlich ſtillgeſchwiegen haͤtte. Selbſt die
neuere Poeſie wird unter der Laſt der Gelehrſamkeit
erdruͤckt. Die Sprache des natuͤrlichen Gefuͤhls und
der lebendigen Anſchauung wird nur zu oft verdraͤngt
durch gelehrte Reflexionen, Anſpielungen und Citate.
Es gibt keinen Zweig der Literatur, auf welchen die
Stubengelehrſamkeit nicht einen nachtheiligen Ein¬
fluß uͤbte.


In der eigentlichen Schulweisheit, namentlich in
den ſogenannten Brodwiſſenſchaften herrſcht ein Me¬
[39] chanismus
, vulgo Schlendriau, der in den alten
Gleiſen voͤllig ſeelenlos ſich fortbewegt. Die Uni¬
verſitaͤten ſind Fabrikanſtalten fuͤr Buͤcher und Buͤ¬
chermacher geworden. Man weicht von gewiſſen For¬
meln der Schule nicht ab, und jede neue Generation
macht ihre Exercitien darnach. Aber die urſpruͤng¬
liche Wahrheit wird verdunkelt durch die unendlichen
Commentare. Die Sache, auf die es eigentlich an¬
kommt, verſchwindet endlich unter der Laſt von Ci¬
taten, die ſie beweiſen ſollen. Das Leben entflieht
unter dem anatomiſchen Meſſer. Das Wichtigſte wird
langweilig, das Ehrwuͤrdigſte trivial. Der Geiſt
laͤßt ſich nicht auf die Compendien ſpannen, und die
Natur greift maͤchtig durch die Paragraphen, die ſie
einzuſchließen wagen.


Durch die Polemik wird der modernde gelehrte
Sumpf aufgeruͤhrt, und es verbreiten ſich die me¬
phytiſchen Daͤmpfe. Nirgends zeigt ſich die Unnatur
der Stubengelehrten auffallender, als in ihren pole¬
miſchen Schriften. Hier bewaͤhrt ſich das gute alte
Sprichwort: je gelehrter deſto verkehrter. Auf der
einen Seite ſind ſie ſo uͤberſchwenglich weiſe, daß es
einem geſunden Verſtande ſchwer wird, den labyrin¬
thiſchen Gaͤngen ihrer Logik zu folgen. Auf der an¬
dern Seite ſind ſie in den gemeinſten Dingen ſo
unwiſſend, daß ein Bauer ſie belehren koͤnnte. Bald
ſind ſie ſo zart, ſcherzen attiſch und machen Anſpie¬
lungen, die einem alexandriniſchen Bibliothekar zur
[40] Ehre gereichen wuͤrden, daß dem ehrlichen Deutſchen
dumm dabei zu Muthe wird. Bald bedienen ſie ſich
der abgefeimteſten Raͤnke oder der groͤbſten Ausfaͤlle,
deren ſich ſelbſt der Poͤbel ſchaͤmen wuͤrde.


Auch was in der deutſchen Sprache verdorben
wurde, kommt groͤßtentheils auf Rechnung der Schul¬
gelehrten. Daß ſie mit fremden Begriffen fremde
Terminologien annahmen, war natuͤrlich; in ihrer
Vornehmigkeit affectirten ſie aber auch eine heilige
Unverſtaͤndlichkeit
, um ſich den Laien deſto ehr¬
wuͤrdiger zu machen, oder ſie waren zu traͤg, und
wurden zu wenig genoͤthigt, der Popularitaͤt ein
Opfer zu bringen. Die Fakultaͤtsmenſchen koͤnnen
ſich ſo deutſch ausdruͤcken, daß kein Ungeweihter ſie
verſteht, und die Philoſophen verſtehen ſich oft ſelber
nicht.


Die wahre Bildung iſt immer Sache des Vol¬
kes, die Schulgelehrſamkeit Sache eines Standes,
einer Kaſte. Die Gelehrſamkeit bevogtet aber bei
uns noch die Bildung, die Kaſte noch das Volk.
Dieß iſt ein Mißverhaͤltniß, das ſich mit Nothwen¬
digkeit aufheben muß. Die gelehrte Vornehmigkeit
iſt nur ein Bettelſtolz, der zu Schanden werden
wird. Soll unſre Weisheit wirkſam werden, ſo muß
ſie zuerſt allgemein faßlich ſeyn, und das kann ſie
nur, wenn ſie aus dem Zwange der Schulgelehrſam¬
keit ſich befreit. Man fuͤrchtet ſich gewoͤhnlich vor
der Popularitaͤt, weil man ſie mit Gemeinheit ver¬
[41] wechſelt. Es gibt aber auch in Bezug auf Literatur
nur ſo lange einen Poͤbel, als es eine bevorrechtete
Kaſte gibt. Ein wohlhaͤbiger, gebildeter Mittelſtand
kann der Pedanterei und Anmaßung der letztern in
dem Maaße entbehren, als er von der Gemeinheit
des erſtern ſich entfernt.


[42]

Einfluß der fremden Literatur.

Der bekannte Nachahmungstrieb der Deut¬
ſchen herrſcht auch vorzuͤglich in ihrer Literatur.
Man ſchaͤtzt ſich gluͤcklich und wirft es ſich zugleich
vor, den Fremden nachzuhinken und zu ſtottern. Man
ſtreitet ſich ſeit mehr als tauſend Jahren uͤber dieß
Phaͤnomen in unſerm Nationalcharakter, wie uͤber
eine Neigung des Herzens, welche die Moral zu ver¬
bieten ſcheint. Schon in den Zeiten der Roͤmer gab
es zwei Parteien in Deutſchland, Nachahmer und
Puriſten. Veraͤchtlich ſind die Affen, die immer nur
nach fremden rothen Lappen ſpringen, veraͤchtlich die
Entarteten, die ſich ſchaͤmen, Deutſche zu ſeyn. Das
Vorurtheil, daß die deutſche Natur eine Art Baͤren¬
haftigkeit und Ruſticitaͤt ſey, die ſchlechterdings eines
fremden Tanzmeiſters beduͤrfe, hat ſich nur bei ſol¬
chen erzeugen und erhalten koͤnnen, die wirklich recht
plebegiſch geboren waren. Laͤcherlich aber ſind die
Thoren, die ein Urdeutſchthum von allen fremden
Schlacken reinigen, und um die deutſchen Grenzen
[43] ein moraliſches Mauthſyſtem einrichten, ja der Sonne
ſelbſt gebieten moͤchten, nur uͤber Deutſchland zu
leuchten.


Die Cultur iſt ſo gemeinſam, wie das Licht,
und ihr ſegensreicher Einfluß verbreitet ſich unter
climatiſchen Modifikationen doch allwaͤrts auf dem
Erdenrund. Nirgends ſind unuͤberſteigliche Grenzen
gezogen. Der Handel verbindet alle Laͤnder und
verbreitet die materiellen Produkte derſelben. Die
Literatur ſoll auf gleiche Weiſe die geiſtigen Schaͤtze
der Voͤlker ausſtreuen. Jedes Land ſoll von dem an¬
dern annehmen, was ſeine Natur vertraͤgt und was
ihm Gedeihen bringt, und auch in den Geiſt eines
Volkes darf verpflanzt werden, was er vertraͤgt und
was ihn edler entwickelt.


Wenn es manches gibt, was nur eine Nation
beſitzen kann, und wodurch ſie eben eigenthuͤmlich
wird, ſo gibt es viel hoͤhere Guͤter, die keinem aus¬
ſchließlich zukommen, und Eigenthum des geſammten
menſchlichen Geſchlechts ſind. Die Erſcheinung des
Chriſtenthums allein ſtraft den Puriſteneifer. Wir
muͤßten eigentlich die ganze Geſchichte zuruͤckſchrau¬
ben, um uns von fremden Einfluͤſſen zu reinigen, da
unſre ganze neuere Bildung auf der romaniſchen des
Mittelalters beruht. Wir muͤßten nackt in die Waͤl¬
der laufen, wenn wir uns von allem dem entkleiden
wollten, was wir von Fremden angenommen. Abge¬
ſehn aber von dem nothwendigen, in der Natur be¬
gruͤndeten und in der Geſchichte uralten, wechſelſei¬
[44] tigen Unterricht der Voͤlker, zeichnet uns Deutſche
vorzugsweiſe eine außerordentliche Vorliebe fuͤr das
Fremde und ein ſeltnes Geſchick der Nachahmung
aus, die eben deshalb auch zu Übertreibungen
und unnatuͤrlichen Vergeſſen des eignen Werthes fuͤh¬
ren. —


Die tiefſte Quelle jener Neigung iſt die Huma¬
nitaͤt
des deutſchen Charakters. Wir ſind durchaus
Cosmopoliten. Unſre Nationalitaͤt iſt, keine haben
zu wollen, ſondern gegen die nationelle Beſonderheit
etwas allgemein guͤltiges Menſchliches geltend zu
machen. Wir haben ein beſtaͤndiges Beduͤrfniß, in
uns das Ideal eines philoſophiſchen Normalvolks zu
realiſiren. Wir wollen die Bildung aller Nationen,
alle Bluͤthen des menſchlichen Geiſtes uns aneignen.
Dieſe Neigung iſt ſtaͤrker, als unſer Nationalſtolz,
ſo lange wir nicht eben in ihr unſern Nationalſtolz
ſuchen. Auch andre Voͤlker wollen ein Normalvolk
ſeyn, und ohne dieſen Glauben gaͤb es gar keinen
Nationalſtolz, aber ſie wollen keineswegs ſich ver¬
laͤugnen, ſondern mir allen andern ihr Gepraͤge auf¬
druͤcken. Auch andre Voͤlker ſchaͤtzen das Fremde,
aber ſie werfen ſich ſelbſt dagegen nicht weg. Doch
hat auch die Entaͤußerung ihr Gutes und ihren na¬
tuͤrlichen Grund. Der Liebe iſt immer eine ſtarke
Selbſtverlaͤugnung eigenthuͤmlich. Dem Intereſſe fuͤr
das Fremde, der Liebe, aus welcher alle Bildung
entſpringt, ſchadet nichts mehr als der Egoismus,
der Cultur nichts mehr als der Nationalduͤnkel. Eine
[45] gewiſſe Reſignatinn iſt nothwendig, wenn wir voll¬
kommen fuͤr das Fremde empfaͤnglich werden ſollen.
Unterſuchen wir die Hinderniſſe, welche bei ſo vielen
Voͤlkern die Fortſchritte der Cultur aufgehalten ha¬
ben, ſo werden wir ſie weniger in der Rohheit der¬
ſelben, als in der Selbſtzufriedenheit und in den
Vorurtheilen ihres Nationalſtolzes finden. Immer aber
ſind je die edelſten Voͤlker zugleich die toleranteſten
geweſen, und die niedrigſten immer die eitelſten.


Es iſt indeß nicht nur jene philoſophiſche Rich¬
tung unſers Charakters, die Bildungsfaͤhigkeit und
Wißbegier, der Entwicklungstrieb und das ideale
Streben, ſondern auch eine poetiſche Richtung, ein
romantiſcher Hang, der uns das Fremde lieben
macht. Eine poetiſche Illuſion ſchwebt verſchoͤnernd
um alles Fremde und nimmt unſre Phantaſie gefan¬
gen. Was nur fremd iſt, erweckt eine romantiſche
Stimmung in uns, ſelbſt wenn es ſchlechter iſt, als
was wir laͤngſt ſelber haben. Darum nehmen wir ſo
vieles von Fremden an, was uns keineswegs in unſ¬
rer Entwicklung weiter bringt, und die Einbildung
macht erſt eine Neigung verderblich, die der Verſtand
billigen muß, indem er ſie ermaͤßigt. Wenn die Ein¬
bildung einmal uͤbertreibt, ſo begehn wir immer zwei
Fehler zugleich, den der blinden, ſklaviſchen Hinge¬
bung an das Fremde und den einer blinden Verken¬
nung unſrer ſelbſt. Wir beſitzen die poetiſche Gabe,
uns zu myſtificiren, uns gleichſam in dramatiſche
Perſonen zu verwandeln und einer fremden Illuſion
[46] hinzugeben. Viele Gelehrte denken ſich ſo ins Grie¬
chiſche, viele Romantiker ſo ins Mittelalter, viele
Politiker ſo ins Franzoͤſiſche, viele Theologen ſo in
die Bibel hinein, daß ſie von allem, was um ſie
vorgeht, nichts mehr zu wiſſen ſcheinen. Dieſer Zu¬
ſtand hat einige Ähnlichkeit mit Wahnſinn und fuͤhrt
oft zu Wahnſinn. Den auf dieſe Weiſe Beſeſſenen
kommt die ungemeine Bildungsfaͤhigkeit der deutſchen
Geſinnung und Sprache zu Huͤlfe. Sie wiſſen in der
Literatur die fremde Sprache trefflich zu erkuͤnſteln,
und treiben den eigenthuͤmlichen Geiſt der deutſchen
Sprache aus, um fremde Goͤtzen einzufuͤhren. Sie
ſpotten uͤber alle, die es ihnen nicht nachthun, und
erzuͤrnen ſich, wenn irgend die Natur ſich der Kunſt
nicht fuͤgen will. Dergleichen Extreme reiben ſich aber
an einander ſelber auf. Gaͤb' es außer uns nur noch
Ein Volk, ſo wuͤrden wir uns wahrſcheinlich ganz in
daſſelbe hineinſtudieren, bis nichts mehr von uns
uͤbrig bliebe. Da es aber viele gibt, die wir alle
nach einander nachahmen, und da ſie mit einander
in Widerſpruch ſtehn, ſo wird das Gleichgewicht im¬
mer wieder hergeſtellt. So hat die ſuperfeine Con¬
venienz der Gallomanie an dem derben Humor der
Anglomanie, die regelrechte Graͤkomanie an dem aus¬
ſchweifenden Orientalismus, der flache Liberalismus
an der myſtiſchen Romantik ſich aufreiben muͤſſen,
und dieſe wieder an jenen. Die verſchiednen Perio¬
den unſrer Nachahmungswuth haͤngen nicht allein von
der aͤußern Erſcheinung fremder Vortrefflichkeiten, ſon¬
[47] dern auch von ſubjectiven Beſtimmungsgruͤnden ab.
Dieſelben Muſter ſtehn immerwaͤhrend und zugleich
vor unſern Augen, und doch intereſſiren wir uns ab¬
wechſelnd nur fuͤr die einen und ſind fuͤr die andern
blind. Dies haͤngt von dem innern Entwicklungsgang
unſrer Natur und von dem aͤußern großen Gange
der Geſchichte ab. Wir intereſſiren uns immer fuͤr
dasjenige Fremde, was gerade mit unſrer Bildungs¬
ſtufe und Stimmung am meiſten harmonirt. Als un¬
ſer Verſtand aus den engen Glaubensbanden frei zu
werden begann, wurden die verſtaͤndigen, aufgeklaͤr¬
ten Alten unſre Muſter. Als das gaͤnzlich vernach¬
laͤſſigte oder mißhandelte Gefuͤhl gegen die Tyrannei
einer ſeichten Verſtaͤndigkeit, eines flachen Liberalis¬
mus ſich empoͤrte, mußte das Mittelalter wieder zum
Muſter dienen. Als der Deutſche zum Gefuͤhl ſeiner
Plumpheit gelangte, gab er ſich dem leichtfuͤßigen
Franzmann in die Lehre. Als er in ſeinem traͤgen
politiſchen Schlafe Traͤume bekam, draͤngten ſich ihm
die Bilder Englands und Amerikas oder der alten
Republiken auf. Als er die Unbequemlichkeit und Un¬
natur ſeiner altfraͤnkiſchen Gewohnheiten endlich fuͤhlte,
mußte der Inſtinkt ihn zur griechiſchen Leichtigkeit,
ja zur Nacktheit zuruͤckfuͤhren. Als er durch Schick¬
ſal und Ungeſchick in Armuth verſunken war, mußte
die materielle Wohlfahrt der Britten ihm ein Muſter
werden.


Gleich thoͤrichten Kindern aber zerbrechen wir
das Spielzeug oder werfen das Schulbuch in den
[48] Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder
brauchen. Niemand iſt ſo ſklaviſch ergeben und nie¬
mand ſo undankbar, als wir. Niemand weiß den
eignen Werth ſo gruͤndlich zu verkennen, und nie¬
mand die eigne Schuld ſo leichtſinnig andern zuzu¬
ſchreiben, als wir. Wir hielten vor fuͤnfzig Jahren
die Franzoſen fuͤr eine Art von Halbgoͤttern, vor
zehn Jahren fuͤr halbe Teufel. Wir waren brutal
genug, vor ihnen zu kriechen, und noch brutaler, ſie
zu verachten. An die Stelle der Dummkoͤpfe, welche
den Saͤuglingen ſchon franzoͤſiſche Ammen, ja den
Muͤttern franzoͤſiſche Einquartirung gaben, traten an¬
dre Dummkoͤpfe, welche mit ſcythiſcher Dummdrei¬
ſtigkeit die edlen Bluͤthen franzoͤſiſcher Geſelligkeit nie¬
dertraten. Deutſche Politiker nahmen eine erbauliche
Miene an und predigten gegen den galliſchen Anti¬
chriſt, und einer oder der andre einfaͤltige Geſchicht¬
ſchreiber ſuchte ſogar ſich und andre zu beluͤgen, daß
die Franzoſen von unedlen aſiatiſchen Racen abſtamm¬
ten und die Ehre nicht verdienten, Europaͤer zu hei¬
ßen. Mit gleicher Barbarei verwerfen die Parteien
je die Abgoͤtterei der andern. Die Claſſiſchen ſchim¬
pfen gegen das Mittelalter und den Orient. Die
Romantiker kreuzigen ſich noch zuweilen vor den al¬
ten Heiden.


Natuͤrlich aͤußert ſich die Vorliebe fuͤr fremde Li¬
teratur zunaͤchſt in Überſetzungen. Bekanntlich
wird in Deutſchland ungeheuer viel, ja voͤllig fabrik¬
maͤßig uͤberſetzt. Wenn je [unter] dreißig Werken des
[49] beſten deutſchen Autors eines im Auslande ſchlecht
uͤberſetzt wird, ſo werden dagegen die ſaͤmmtlichen
Werke jedes nur irgend erheblichen engliſchen oder
franzoͤſiſchen Schriftſtellers in Deutſchland doppelt
und dreifach uͤberſetzt, ja man thut ihnen die Ehre
an, noch eignes Fabrikat unter ihrem Namen drucken
zu laſſen, wie dem Walter Scott. Ohnſtreitig ſind
Ruhm und Vortheil auf unſrer Seite. Sollten uns
auch viele Tugenden der Fremden mangeln, ſo thei¬
len wir mit ihnen doch auch nicht jene vornehme
Bornirtheit, die das Fremde achſelzuckend ignorirt.
Es macht uns Ehre, von den großen Britten zu wiſ¬
ſen; den Britten macht es keine Ehre, von den gro¬
ßen Deutſchen nichts zu wiſſen.


Überſetzungen ſind gewiß beſſer als Nachahmun¬
gen, und wer uns einen fremden Dichter uͤberſetzt,
hat ſicher mehr gethan, als der ihn nur in eigenen
Dichtungen copirt. Aus demſelben Grunde taugen
auch die freien Überſetzungen weniger als die treuen.
Man verſteht aber unter der Treue ſo viel, daß es
unmoͤglich iſt, ſie ganz zu erreichen. Eine Überſetzung
kann niemals in allen Stuͤcken treu ſeyn, um es in
dem einen zu ſeyn, muß ſie das andere aufopfern.
Daher theilen ſich auch die Überſetzer in zwei Klaſſen.
Die einen opfern den Inhalt der Form oder den Ge¬
danken dem Wort, den Sinn dem Klange, die an¬
dern umgekehrt dieſen jenem auf. Die einen wollen
die Schoͤnheit und den Wohlklang des fremden Aus¬
drucks, die andern nur die Klarheit und Verſtaͤnd¬
Deutſche Literatur. I. 3[50] lichkeit deſſelben wiedergeben. Die erſtern herrſchen
vor. Ein guter Klang, ein gefaͤlliger Rhythmus und
Reim beſticht das Ohr und laͤßt uͤber einen mangel¬
haften Sinn wegſehn. Die meiſten metriſchen Über¬
ſetzungen opfern ungeſcheut den Inhalt auf, um den
Wohlklang, das Versmaß, den Reim zu retten. Sinn¬
treue, aber hartklingende Überſetzungen kann man
nicht gut leiden, und wenn man gar einen Dichter
des treuen Verſtaͤndniſſes wegen in Proſa uͤberſetzt,
ſo mag ihn niemand leſen. Man hat hierin aber
wohl Unrecht. Allerdings liegt ein großer Theil des
Zaubers, womit uns ein Dichter befaͤngt, in ſeinen
Rhythmen und Reimen, aber doch immer nur, ſo¬
fern dieſelben gewiſſe poetiſche Bilder und Gedanken
einkleiden, und in dieſen beruht der groͤßte Zauber,
jenes aͤußere Kleid des Wohlklanges dient nur dieſem.
Werden dieſe Bilder verwiſcht, dieſe Gedanken ver¬
dunkelt oder verfaͤlſcht, ſo verliert auch der Wohl¬
klang ſeinen Zauber. Unſre metriſchen Üeberſetzer laſ¬
ſen dies nur zu haͤufig außer Acht. Bei antiken Ori¬
ginalen kuͤnſteln ſie das Metrum, bei romantiſchen
die Zahl und Verſchlingung der Reime nach. Um
dieſes ſchwierige Unternehmen zu Stande zu bringen,
opfern ſie unbedenklich die Verſtaͤndlichkeit, ja ſogar
die Wahrheit auf. Sie verrenken und verſchrauben
die Conſtruction, laſſen aus und flicken ein, und ge¬
brauchen ſogar oft ganz andere Bilder und Worte,
weil die rechte Conſtruction und das rechte Wort
nicht ins Metrum oder zum Reime paßt. Der all¬
[51] gemeine Nothbehelf ſind die Tautologien. Wenn das
Flickwort nur einen aͤhnlichen Sinn hat, ſo meint
der Überſetzer, er habe genug gethan, ſofern nur zu¬
gleich das Metrum und der Reim gut ins Ohr fallen.
Aber Tautologien ſind ihm durchaus nicht erlaubt.
Er ſoll nicht ein aͤhnliches, ſondern das einzig rich¬
tige Wort gebrauchen; verlangt es der Reim oder
das Metrum anders, ſo iſt es damit nicht entſchul¬
digt, denn nicht der Reim, ſondern der Sinn iſt die
Hauptſache. Von dem geruͤgten Übelſtande ſchreibt
ſich die ungemeine Verſchiedenheit von Überſetzungen
ein und deſſelben Autors her, und wieder die unge¬
meine Gleichheit der verſchiedenſten Autoren, wenn
ſie einer uͤberſetzt hat. Von Dante, Taſſo, Petrarca,
Camoens beſitzen wir Überſetzungen, die weit von ein¬
ander abweichen, wo faſt jeder Vers anders conſtruirt
und gereimt iſt; und umgekehrt ſehn ſich Homer,
Heſiod, Theokrit, Äſchylos, Ariſtophanes, Virgil,
Horaz, Ovid, Shakespeare ꝛc. in den Voßiſchen Über¬
ſetzungen ſo aͤhnlich, wie ein Ei dem andern. In
beiden Faͤllen wird der Charakter des Originals ver¬
faͤlſcht, wenn auch der Wortklang noch ſo kuͤnſtlich
copirt iſt.


Nachahmungen entſtehen unvermeidlich aus
der Anerkenntniß fremder Vortrefflichkeiten. Warum
ſollten wir das nicht nachahmen, was nuͤtzlich oder
ſchoͤn und edel iſt? Wir begehn aber insgemein den
Fehler, ſtatt der Sachen nur Formen nachahmen zu
wollen. Wir ſollten fuͤr unſre Zeit und nach unſrer
3*[52] Weiſe eine ſo harmoniſche Bildung zu gewinnen ſu¬
chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Weiſe
ſie gewonnen. Laͤcherlich aber machen wir uns, wenn
wir die griechiſchen Formen nachkuͤnſteln, ohne den
Geiſt und das Leben, aus welchen ſie hervorgingen.
Wir ſollten unſre geſelligen Verhaͤltniſſe nach unſrer
Eigenthuͤmlichkeit ſo fein ausbilden, wie die Franzo¬
ſen es nach der ihrigen thun. Affen aber ſind wir,
wenn wir franzoͤſiſche Floskeln und Buͤcklinge nach¬
toͤlpeln. Wir ſollten frei und maͤnnlich zu denken
und zu handeln ſuchen, wie Englaͤnder und Amerika¬
ner, aber nicht von einer Nachaͤffung ihrer aͤußerli¬
chen Inſtitutionen das Heil erwarten. Wir ſollten
die Tuͤchtigkeit und den tiefen Geiſt des Mittelalters
uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache
kuͤmmerlich affectiren.


Die formellen Nachahmungen gleichen den Moden
und haben daſſelbe Schickſal. Eine kurze Zeit gelten
ſie ausſchließlich und man heißt ein Sonderling, wenn
man ſie nicht mitmacht. Hinterher erſcheinen ſie alle
laͤcherlich. Auch in Rom galt einſt der griechiſche
Geſchmack. Wer aber wird anſtehn, die Kraft und
den Ernſt der Roͤmer in ihren eigenthuͤmlichen Gei¬
ſteswerken unendlich hoͤher zu ſchaͤtzen, als die Affec¬
tation attiſcher Feinheit in ihren griechiſchen Copien?
Lange ſchon erſcheinen uns die Franzoſen in ihren
antiken Tragoͤdien nur komiſch, aber wieviel wir uns
darauf einbilden, geſchickter zu copiren, ſo ſind doch
die als muſterhaft anerkannten Voßiſchen Copien nicht
[53] minder laͤcherlich. Wir haben laͤngſt dem wackern
Cervantes Recht gegeben, doch liefern viele unſrer
Romantiker hinreichenden Stoff zu einem neuen Don
Quixotte, und Fouqué hat deren eine Menge ge¬
ſchrieben, ohne es ſelbſt zu wiſſen.


Die Erfahrung ſo vieler wechſelnden Moden, die
ſich immer ſelbſt in Widerſpruch ſetzen und vernich¬
ten, ſcheint nicht ohne gute Folgen geblieben zu ſeyn.
So viele Parteien noch herrſchen, beginnt man doch,
ihre Vermittlung zu verſuchen. Nachdem wir der
Reihe nach alle gebildete Nationen kennen gelernt,
bewundert und nachgeahmt haben, Roͤmer, Griechen,
Franzoſen, Englaͤnder, Italiener, Spanier, ſind wir
jetzt auf einen Augenblick wieder nach Hauſe zuruͤck¬
gekehrt und beſinnen uns. Wir bemerken, daß wir
immer von der erſten Bekanntſchaft zu uͤbertriebner
Bewundrung einer fremden Nation, und zu voͤllig
ſklaviſcher Nachahmung derſelben raſch fortgeſchritten,
dann aber des Extrems bald uͤberdruͤßig geworden
ſind, worauf eine neue ruhige Betrachtung uns die¬
jenigen Vorzuͤge der Fremden hervorgehoben und uns
angeeignet hat, die nachahmungswuͤrdig ſind und auch
nachgeahmt werden koͤnnen. Wir unterſcheiden all¬
maͤhlich die herrliche Gade, uns in den Geiſt andrer
Nationen und Zeiten zu verſetzen, die dichteriſche
Faͤhigkeit, jede fremde Illuſion anzunehmen, von der
praktiſchen Nachaͤfferei. In jener finden alle Gegen¬
ſaͤtze neben einander Platz, in dieſer heben ſie einan¬
der auf. Die Phantaſie mag uns in einem Augen¬
[54] blick nach Griechenland, im andern nach London ver¬
ſetzen, doch wir ſelber bleiben in Deutſchland ſitzen.
Wir hatten im Ungeſtuͤm des Enthuſiasmus den Feh¬
ler begangen, unſre Eigenthuͤmlichkeit zu beſeitigen,
um mit Haut und Haar in die fremde hinuͤberſprin¬
gen zu wollen. Wir bemerken jetzt, daß wir mit al¬
lem offnen Sinn fuͤr das Fremde doch zugleich eine
eigenthuͤmliche Auffaſſungsweiſe fuͤr daſſelbe mitbrin¬
gen, meiſt eine innerliche, phantaſtiſche, tiefſinnige,
und indem wir dieſe walten laſſen, verſchmilzt erſt ſie
die Vorzuͤge der Fremden mit unſrer Nationalitaͤt.


[55]

Der literariſche Verkehr.

Denkt man an die Zeit zuruͤck, da jedes Buch
nur in wenigen Handſchriften exiſtirte, ſo begreift
man, welch unermeßliches Übergewicht die heutige
Literatur durch die Maſchinerie des Drucks und durch
den Buchhandel gewonnen hat. Wenn daraus ein
Segen fuͤr alle Zeiten erwachſen iſt, wenn wir Deut¬
ſche uns der Erfindung ewig werden ruͤhmen koͤnnen,
ſo ſoll uns dies doch auch gegen einige Nachtheile
nicht blind machen, die das leichte Verbreiten der
Schriften mit ſich fuͤhrt. Es erſtickt naͤmlich die we¬
nigen guten Schriften unter der Laſt der ſchlechten,
und da das Drucken ein Handwerk iſt, ſo geht es
auf Nahrung aus, ob der Geiſt dabei gewinnen mag,
oder nicht. Der Autor muß Buͤcher ſchaffen, nicht
immer damit die Welt etwas Treffliches leſe, ſon¬
dern damit der Drucker drucken, der Verleger ver¬
kaufen koͤnne.


Wiewohl die Deutſchen Erfinder des Drucks
ſind, werden ſie doch von den Englaͤndern in der
[56] Kunſt, ſowohl ſchnell als ſchoͤn zu drucken, bei wei¬
tem uͤbertroffen. Nirgends herrſcht ſo viel Traͤgheit
und Nachlaͤſſigkeit, auch im Buͤcherdrucken, als in
Deutſchland. Nirgends findet man ſo ſchlechtes Pa¬
pier, ſo ſtumpfe Lettern, ſo viele Druckfehler. Dies
ruͤhrt zum Theil daher, daß das Publikum es nicht
ſo genau nimmt, und in der That, wer zuſieht, wie
die meiſten Leſer mit Buͤchern umzugehen pflegen,
gibt ihnen nicht gerne eine engliſche Ausgabe in die
Hand. Der Hauptgrund, warum unſre Buͤcher ſo
ſelten mit aͤußrer Pracht und Eleganz ausgeſtattet
ſind, liegt aber wohl in der deutſchen Kleinkraͤmerei.
Faſt alle unſre Buchhaͤndler treiben nur Kramhandel
fuͤr den Hausbedarf des Buͤrgers. Die hohe Nobleſſe
verſorgt ſich aus Paris und London. Die wenigen
großen Buchhaͤndler in Deutſchland liefern zuweilen
auch ein typographiſches Prachtwerk, aber meiſt zu
ihrem Schaden. Loͤſchpapier findet beſſern Abſatz.


Was den Buchhandel betrifft, ſo leidet er an
zwei Hauptuͤbeln, dem Geldwucher und dem Mode¬
geſchmack. Die meiſten Buchhaͤndler ſind nur Kauf¬
leute und ſuchen nur mit den Buͤchern Geld zu ge¬
winnen, gleichviel, ob dieſe Buͤcher gut oder ſchlecht,
heilſam oder verderblich ſind. Nur wenige haben ſich
in der Geſchichte einen Namen und im Vaterlande
warmen Dank erworben durch uneigennuͤtzige Befoͤr¬
derung des Guten, Wahren und Schoͤnen, wo es
der Aufmunterung und Unterſtuͤtzung bedurfte. Der
Buchhaͤndler hat, wenn es ihm an Mitteln nicht ge¬
[57] bricht, einen ſchoͤnen Wirkungskreis. Er kann dem
guten Schriftſteller in die Haͤnde, dem ſchlechten ent¬
gegenarbeiten. Er kann durch die Wahl ſeiner Ver¬
lagsartikel die Bildung und den Geſchmack gewiſſer¬
maßen beherrſchen, und auf das Publikum einen Ein¬
fluß uͤben, wie ihn im Kleinen jede Theaterdirek¬
tion durch ihr gutes oder ſchlechtes Repertorium
uͤbt. Er hat den edlen, ſeinen Stand hoch ehrenden
Beruf, ein Maͤcen zu ſeyn. Er kann durch ſeine
Unterſtuͤtzung manchem Genie einen freien Boden ge¬
ben, wo es ſich entwickeln kann; er kann das Ver¬
borgne oder Verkannte an das Licht ziehn, und nicht
ſelten verdanken wir ihm erſt, was uns am Weiſen,
am Dichter erhebt, und entzuͤckt. Er kann endlich,
vermoͤge ſeiner Stellung, die Literatur im Ganzen
uͤberblicken, und die Luͤcken bemerken, den Schrift¬
ſtellern heilſame Winke geben, Wege bereiten, die
mannigfaltigen Kraͤfte der gelehrten und ſchoͤnen Gei¬
ſter unmerklich lenken. Aber um dieſen ehrenvollen,
großen Beruf zu erfuͤllen, bedarf der Buchhaͤndler
nicht nur eines klaren Kopfes, eines edlen Willens,
ſondern auch der oͤkonomiſchen Mittel; dieſe Dinge
finden ſich ſehr ſelten vereinigt. Bedenken wir fer¬
ner, daß auch der beſte Buchhaͤndler immer theils
vom Publikum und ſeiner Modeluſt, theils von den
Schriftſtellern abhaͤngig iſt, ſo koͤnnen wir von den
Buchhaͤndlern allein das Heil der Literatur freilich
nicht erwarten.

[58]

Die Mehrzahl der Buchhaͤndler ſind nur Kraͤ¬
mer, denen es groͤßtentheils einerlei iſt, ob ſie mit
Korn oder mit Wahrheit, mit Zucker oder mit Ro¬
manen, mit Pfeffer oder mit Satyren handeln, wenn
ſie nur Geld verdienen. Der Buchhaͤndler iſt ent¬
weder Fabrikant oder Spediteur oder beides zugleich.
Die Buͤcher ſind ſeine Waare. Sein Zweck iſt Ge¬
winn, das Mittel dazu nicht abſolute, ſondern rela¬
tive Guͤte der Waare, und dieſe richtet ſich nach
dem Beduͤrfniß der Kaͤufer. Was die meiſten Kaͤu¬
fer findet, iſt fuͤr den Buchhaͤndler gute Waare,
wenn es auch ein Schandfleck der Literatur waͤre.
Was keinen Kaͤufer findet, iſt ſchlechte Waare, und
waͤren es Offenbarungen aus allen ſieben Himmeln.
Soll ein Buch Kaͤufer finden, ſo muß es dem be¬
kannten Geſchmack des Publicums angemeſſen ſeyn,
oder ſeinen Neigungen und Schwaͤchen ſchmeicheln
und eine neue Mode erzeugen koͤnnen. Deswegen
beguͤnſtigen die Verleger das Triviale und das Aben¬
teuerliche. Soll das Publicum wiſſen, daß das Buch
ſeinem Geſchmack entſpricht, ſo muß der Titel es an¬
locken. Deswegen iſt dem Verleger ein guter Titel
mehr werth, als ein gutes Buch, oder dieſes nur
durch jenen, und es entſteht ein Wetteifer unter den
Buchhaͤndlern, die ſchmeichelhafteſten Titel auszuhe¬
cken. Woher nimmt aber der Verleger ſolche Waare,
die er fuͤr gut erkennt? Sie waͤchst nicht ſo haͤufig
wild, als er dadurch reich werden koͤnnte. Sie muß
alſo durch Kunſt erzeugt werden. Es wird alſo ſtatt
[59] der ſeltnen Alpenweide die uͤberall ausfuͤhrbare Stall¬
fuͤtterung der Autoren eingefuͤhrt. Der Verleger un¬
terhaͤlt ſie, und ſie liefern ihm Milch, Butter, Kaͤſe,
Haut und Knochen. Und iſt wohl je ein Verleger
verlegen um ſolche Leibeigene? Es draͤngen ſich ihm
mehr zu ſeinem Gnadentiſch, als er verlangt. Je
mehr fabricirt wird, deſto ſchlechter, je ſchlechter,
deſto leichter, je leichter, deſto mehr Leute werden
geſchickt dazu.


Vom Nachdruck kann hier nicht viel geſagt
werden, da er auf den Gehalt der Literatur durch¬
aus keinen Einfluß uͤbt. Indeß will ich doch bei die¬
ſer Gelegenheit ein wenig meine Verwunderung aus¬
druͤcken, warum uͤber dieſen famoͤſen Nachdruck bei
uns noch immer ſo verſchiedne Meinungen herrſchen.
Er wird nicht nur von den Nachdruckern ſelbſt, oder
vom Publicum, das dabei gewinnt, ſondern auch
von ſcharfſinnigen Juriſten vertheidigt und von man¬
chen Regierungen geduldet, verworfen aber nur von
den betheiligten Autoren und Verlegern und von
rechtlich Denkenden, ſey es auch, daß ſie rechtlich
nur daͤchten, denn viele der Art ſind mir bekannt,
die den Nachdruck verwerfen, das Nachgedruckte aber
kaufen. In dieſem Widerſtreit des aͤußern Vortheil
mit dem innern Verdammungsurtheil des Gewiſſens
liegt der Grund, warum der Nachdruck trotz alles
Moraliſirens immer fortbeſteht, und trotz aller Pri¬
vilegien doch immer verdammt wird. Laßt ihn im¬
mer beſtehen, wenn die menſchliche Natur, die nach
[60] aͤußern Vortheilen trachtet, ſich nicht bezwingen laͤßt.
Diebe wird es ewig geben, oder die Traͤume der
Idealiſten von allgemeiner Weltverbeſſerung muͤßten
in Erfuͤllung gehn. Verdenkt es alſo den Nachdru¬
ckern nicht, wenn ſie den Autor und rechtmaͤßigen
Verleger beſtehlen, aber ſtraft ſie, wenn ihr ſelbſt
recht thun wollt. Verdenkt es auch dem Publicum
nicht, wenn es die nachgedruckten Werke kauft, da
es ſo oft von den rechtmaͤßigen Verlegern uͤbervor¬
theilt wird, und wenn es nur zwiſchen zwei Schrau¬
ben die Wahl hat, diejenige waͤhlt, die es am we¬
nigſten ſchraubt; hebt den einen Betrug auf, indem
ihr den andern unterdruͤckt, denn wenn jedes Buch
ſo wohlfeil verkauft wird, als der Nachdruck deſſel¬
ben, ſo wird der Nachdrucker bald ſeine Bude ſchlie¬
ßen muͤſſen. Mit einem Wort, gewaͤhrt den Men¬
ſchen ihren Vortheil auf rechtlichem Wege, damit ſie
den ſtraͤflichen nicht einſchlagen duͤrfen, und ſtraft ſie
dann, wenn ſie es dennoch thun. Sophiſten aber
ſind, die den Nachdruck als etwas Rechtliches in
Schutz nehmen, ihn nicht aus dem Vortheil, den er
mit ſich fuͤhrt, ſondern aus dem Recht, auf dem er
gegruͤndet ſey, herleiten und entſchuldigen. Aller¬
dings iſt der Streit uͤber das geiſtige Eigenthum
zwiſchen Verleger und Autor, wenn es an einem be¬
ſtimmten Contrakt gebricht, nicht immer leicht zu
entſcheiden, allerdings ſind die Autoren oder ihre Er¬
ben in den meiſten Faͤllen von den Buchhaͤndlern
uͤbervortheilt worden, und dieſe Letztern haben allein
[61] die Fruͤchte einer Arbeit genoſſen, die dem Arbeiter
zuſtanden, und es waͤre zu wuͤnſchen, daß daruͤber
unzweideutige Geſetze gegeben wuͤrden, das geiſtige
Eigenthum kann aber immer nur entweder dem Au¬
tor, oder durch Vertrag dem Verleger zuſtehn, und
muß es ſo lange, als dieſer rechtmaͤßige Beſitzer oder
ſein rechtmaͤßiger Erbe lebt, es kann erſt dann Ge¬
meingut werden, wie jedes andre Gut, wenn der
letzte Erbe ſtirbt. Kein Dritter kann ohne Gewalt
oder Diebſtahl dieſes geiſtigen Eigenthums ſich be¬
maͤchtigen, ſo lange der rechtmaͤßige Beſitzer lebt.
Oder wer ſollte denn das Recht haben, dieſe Ge¬
walt, dieſen Diebſtahl zu begehen? wenn einer, dann
auch jeder, und doch werden die Wenigſten damit zu¬
frieden ſeyn, daß der Nachdrucker behaupten darf:
ich bediene mich eines Rechts, das euch auch zuſteht,
deſſen ihr euch nicht bedient, weßhalb ihr zwar thoͤ¬
richter ſeyd, als ich, aber keineswegs rechtlicher!
Sie werden vielmehr den Nachdrucker als das an¬
ſehn, was er iſt, als einen Dieb, und ſich ſchaͤmen,
mit ihm ein Recht zu theilen, deſſen Anwendung eine
Suͤnde und Schande iſt. Ihr aber, die ihr den
Geiſt eines großen Schriftſtellers als Nationaleigen¬
thum betrachtet und fuͤr die Mittheilung deſſelben
unbedingte Freiheit verlangt, die ihr zu kluͤgeln
pflegt, ob, wenn der Nachdruck verboten ſeyn ſoll,
nicht auch Auswendiglernen und Abſchreiben verbo¬
ten werden muͤßte, bedenkt doch, ob ihr euer Aus¬
wendiggelerntes und eure Abſchriften auch verkaufen
[62] wuͤrdet, wie der Nachdrucker ſeyn Buch, ob der Un¬
terſchied nicht eben in dieſem Verkauf liegt, und ob
ihr nicht zufrieden ſeyn koͤnnt, daß euch jener große
Geiſt an Tugenden und Kenntniſſen bereichert hat,
und daß es wahrhaft demokratiſcher Übermuth waͤre,
auch noch die zeitlichen Vortheile theilen zu wollen,
die ſeine Werke denen bringen moͤgen, denen er ſie
freiwillig uͤberlaſſen hat. Seyd zufrieden, daß dieſer
Geiſt nicht blos uͤber ein Eigenthum zu gebieten
hatte, das baare Zinſen traͤgt, und das er nur ei¬
nem oder wenigen ſchenken konnte, ſondern daß er
auch noch ein Hoͤheres beſaß, welches der Seele wu¬
chert, und das er euch allen großmuͤthig geſchenkt
hat.


Das Genie ſchafft gute, der Geldwucher viele
Buͤcher. Die Buchhaͤndler tragen aber nicht allein
die Schuld davon. Sie fordern die ſchlechten Auto¬
ren nicht oͤfter auf, als ſie von dieſen aufgefordert
werden. Der Schein klagt die Buchhaͤndler an und
rechtfertigt ſie; es ſind eben Kaufleute. Je mehr die
Meinung, und nicht mit Unrecht, verbreitet iſt, daß
der Buchhaͤndler den Gewinn, der Autor die Ehre
davon trage, deſto leichter kann der Autor ſeine eigne
Habſucht verbergen. Ich mag die vielen Satyren
gegen das Dichten und Schreiben ums liebe Brod
nicht mit einer neuen vermehren; Jedermann weiß,
daß viele hundert Federn in Deutſchland feil ſind.
Die einen dienen um ein aͤrmliches Tagelohn, die
andern verkaufen ſich an den Meiſtbietenden. Da
[63] man ſeichte und ſchlechte Buͤcher am liebſten liest,
und dieſe ſich am leichteſten und [ſchnellſten] fabriciren
laſſen, iſt ein edler Wetteifer zwiſchen Verlegern und
Verfaſſern entſtanden. Bald ſehn wir einen unter¬
nehmenden Buchhaͤndler ein halbes Dutzend Hunger¬
leider beſolden, die ihm Romane, Überſetzungen,
Schulbuͤcher und praktiſche Auweiſungen verfertigen
muͤſſen; bald einen unternehmenden Autor ein halbes
Dutzend Buchhaͤndler in Bewegung ſetzen, denen er
ſich wie ein Zuchtſtier abwechſelnd in die Pacht gibt.


Der Grund der deutſchen Schreibluſt liegt zwar
allerdings tiefer, doch traͤgt die Anarchie des aͤußern
literariſchen Verkehrs unſtreitig ſehr viel bei, den
Buͤcherpoͤbel zur Herrſchaft zu bringen. Wo alle
kochen, wird ſchlecht gekocht; wo alle ſchreiben, wird
ſchlecht geſchrieben. Daß aber auch die ſchlechteſten
Buͤcher gedruckt und geleſen werden, hat ſeinen Grund
nur in den aͤußern Verhaͤltniſſen des Buchhandels
und des Publikums. Waͤre das Publicum gebildet
genug, ſo wuͤrden die Buchhaͤndler nur gute Buͤcher
abſetzen, mithin auch nur ſolche drucken laſſen, ſo
wuͤrden die ſchlechten Schriftſteller wie Pilze vertrock¬
nen. Schlechte Buͤcher entſtehen nur, wenn die Buch¬
haͤndler wollen, und dieſe wollen nur, wenn das
Publicum damit zufrieden iſt. Allerdings ſind die
Buchhaͤndler ſehr oft gewiſſenloſe Hoͤflinge, die den
Herrn, deſſen Brod ſie eſſen, oder das Publicum,
noch ſchlechter machen, aber wenn ſie einen tuͤchtigen
Herrn haͤtten, ſo wuͤrden ſie ſelbſt beſſer ſeyn muͤſſen.

[64]

Wer einmal fuͤr das Geld ſchreibt, hat ſchon
alle Scham aufgegeben, der Eine, weil er muß, aus
Verzweiflung; der Andre mit Bedacht, wie ein Poſ¬
ſenreißer, um deſto mehr Zuſchauer anzulocken. Die
gewoͤhnlichen Suͤnden dieſer Buͤchermacher ſind: Ehr¬
loſigkeit, die keine Mittel ſcheut, um Aufſehen zu er¬
regen, oder wenigſtens Abſatz zu bekommen; bruta¬
ler Hohn gegen die redlichen Autoren, denen ſie in's
Handwerk pfuſchen, Schmeichelei der boͤſen und ver¬
borgnen Neigungen, und Beſchoͤnigungen des Laſters,
theils um ein ergiebiges Feld zu bearbeiten, das die
beſſern Autoren ihnen uͤbrig gelaſſen, theils um ihre
Leſer zu ihren Mitſchuldigen zu machen; Heuchelei,
wenn es gilt, der Froͤmmigkeit oder Ehrlichkeit einen
Blutpfennig abzudringen; ſchamloſe Dieberei und
Flickerei aus beſſern Werken, wenn dieſelben Gluͤck
gemacht haben; endlich die alles umfaſſende, alles
durchdringende Trivialitaͤt, die abgeſchmackte Bruͤhe,
in der alles gekocht wird.


Schon bald nach Erfindung des Drucks uͤber¬
ſchwemmte die Polemik der Confeſſionen Deuſchland
mit theologiſchen Schriften. Als man endlich wieder
etwas luſtiger wurde, kam die Belletriſtik in Flor.
Da man die zahlreichen Vortheile, welche die Schrift¬
ſtellerei dem Eigennutz und dem Ehrgeitz gewaͤhrt,
genau erkannt hatte, draͤngte ſich alles zur Autor¬
ſchaft, und ſelbſt, die geſchwiegen haben wuͤrden, ſa¬
hen ſich durch Freunde, Schuͤler, Angriffe und ſchlechte
Buͤcher zur Abfaſſung ihrer eignen gedrungen. End¬
[65] lich erkannten die Buchhaͤndler, welchen Gewinn ſie
vom Publikum ziehen koͤnnten, wenn ſie demſelben
alles Intereſſante aus dem bisher von der Zunft
verſchloßnen Reiche des Wiſſens mittheilten, das
Heilige profanirten, das Gute der Fremden nationa¬
liſirten, und alsbald legten ſie Fabriken an und
beſoldeten ihre Buͤchermacher fuͤr alle Staͤnde, Ge¬
ſchlechter und Alter, fuͤr das Volk, die Jugend, die
Damen, und vorzugsweiſe fuͤr alle, die an Maſſe die
zahlreichſten, die Buͤcher auch in Maſſe bezahlen
konnten.


Der Einfluß dieſes Verhaͤltniſſes auf den Ge¬
halt der Literatur iſt verſchiedenartig und hat wie¬
der ſeine gute und boͤſe Seite. Es iſt allerdings ein
ſchoͤnes Zeichen der Zeit, daß die geiſtige Cultur all¬
gemein befoͤrdert, daß jedem alles Wiſſen zugaͤnglich
gemacht wird. Indeß iſt eben ſo gewiß, daß das
urſpruͤngliche Licht der Aufklaͤrung in ſo mannigfach
graduirten Farben gebrochen ſich verdunkelt, daß,
was fuͤr die Maſſe gewonnen wird, vom Gehalt ab¬
geht. Der Himmel ſtreut die Gaben des Genius
nicht allzu verſchwenderiſch aus. Viele ſind berufen,
aber wenige nur ſind auserwaͤhlt, von hundert deut¬
ſchen Schriftſtellern kaum einer. Was nun die Geiſt¬
loſen ſchreiben, iſt wie ſie ſelbſt, und kein Werk ver¬
laͤugnet ſeinen Schoͤpfer. Die guten Buͤcher werden
von den ſchlechten nur allzu leicht verdraͤngt, und da
die Maſſe die Anſtrengung ſcheut, ſo vergißt ſie bei
dem ſeichten Autor, den ſie verſteht, gern den tiefen,
[66] der ihr ſchwierig erſcheint. Sie hegt eine gewiſſe
Ehrfurcht vor dem Gedruckten, und ſieht ſie nur ihre
Gemeinplaͤtze gedruckt, ſo erkennt ſie den beſſern Buͤ¬
chern den hoͤherer Rang nicht mehr zu. Daß in
Deutſchland ſo viel Erbaͤrmliches geſchrieben wird,
hat einen gewiſſermaßen phyſiſchen Grund. Die Ge¬
nies wachſen bekanntlich nicht waͤlderweiſe, ſondern
einzeln und ſelten. Die vielen tauſend deutſchen Buͤ¬
cher werden nicht von lauter Genies, ſondern vom
Haufen geſchrieben. Ich will indeß die Ehre einer
ſo anſehnlichen Menge deutſcher Maͤnner nicht her¬
abſetzen. Man kann der beſte, ja der weiſeſte Menſch
ſeyn, und doch kein gutes Buch zu Stande bringen.
Mancher vortreffliche Mann erſcheint uns erſt ein
wenig einfaͤltig, wenn er fuͤr den Druck ſchreibt, wie
umgekehrt mancher erſt dann beſeelt zu werden ſcheint,
wenn er die Feder in die Hand nimmt.


Wir haben viele ſchlechte Buͤcher, wie in Revo¬
lutionen viele ſchlechte Menſchen an die Spitze kom¬
men. Sie ſind fuͤr einen Augenblick allmaͤchtig, im
naͤchſten fallen ſie in ihr Nichts zuruͤck. Seufzt der
Fromme, der Poͤbel lacht. Zuͤrnt ein Prophet, der
Haufe wagt es, ihn zu verachten. Alle Bemuͤhungen,
die Wahrheit, die Gerechtigkeit und den guten Ge¬
ſchmack zu vertheidigen, ſcheitern an der Unverſchaͤmt¬
heit der Modeſchriftſteller. Wo recht viele Schlechte
zuſammen kommen, entſteht ein esprit de corps, der
ſo heroiſch iſt, als gaͤlte es das Heiligſte. Man
kann daruͤber reden, aber man ſoll ſich nicht einbil¬
[67] den, es aͤndern zu koͤnnen. Man kann nur wie Ta¬
citus die ſchlechte Gegenwart ſchildern, ohne ſich an¬
zumaßen, ſie beſſern zu wollen. Man darf nur die
Zeit abwarten. Schlechte Buͤcher haben ihre Jah¬
reszeit, wie das Ungeziefer. Sie kommen in Schwaͤr¬
men, und ſind vernichtet, ehe man es denkt. Wo iſt
die theologiſche Polemik des ſiebzehnten Jahrhunderts
geblieben? wo iſt der Geſchmack des achtzehnten,
wo iſt Godſched hingekommen? Wie viele tauſend
ſchlechte Buͤcher ſind den Weg alles Papiers gegan¬
gen, oder modern in Bibliotheken! Die unſrigen
halten nicht einmal ſo lange wieder, weil das Pa¬
pier ſelber ſchlecht iſt, wie der Inhalt. Die Moden
wechſeln zwar nur, und Thorheit und Gemeinheit
wiſſen ſich unter neuer Geſtalt immer wieder geltend
zu machen; doch die alten Suͤnder bekommen ſicher
ihren Lohn. Die Gegenwart duldet keinen Richter,
aber die Vergangenheit findet immer den gerechteſten.
Selbſt unſre Thoren kennen und verachten die alten,
ohne zu ahnen, daß es ihnen nicht beſſer gehen wird.
Vermoͤge eines gluͤcklichen Inſtinkts der menſchlichen
Natur, nehmen wir uns aus dem literariſchen Erbe
der Vergangenheit immer nur das Beſte, oder we¬
nigſtens das Wichtigſte heraus. Unter drei guten
Schriftſtellern erhaͤlt wenigſtens einer erſt in der
Zukunft ſeine Apotheoſe, und unter hundert ſchlech¬
ten, die in der Gegenwart glaͤnzen, bringt immer
nur einer ſein boͤſes Beiſpiel auf die Nachwelt.

[68]

Es gibt ſchlechte Principien, die ſich in der Li¬
teratur ausſprechen, und jede Partei haͤlt die entge¬
gengeſetzte fuͤr ſchlecht. Aber jede hat die Befugniß,
ſich auszuſprechen, und das ſchlechteſte Princip kann
noch auf geniale Weiſe und zum Glanze der Litera¬
tur vertheidigt werden. Ein ganzer Teufel iſt noch
immer intereſſanter, als ein halber, matter, trivia¬
ler Engel. Nicht ſchlechte Principien, ſondern ſchlechte
Kraͤfte ſind Schuld am Verderben der Literatur wie
des Lebens. Die Mittelmaͤßigkeit, die Geiſtloſigkeit,
die Schwaͤche, die Furcht vor dem Genie, der Haß
gegen die Groͤße, die Unverſchaͤmtheit und die An¬
maßung des literariſchen Poͤbels und die ſtillſchwei¬
gende oder prahleriſche Demagogie gegen die Ariſto¬
kratie der großen Geiſter, kurz die Gemeinheit der
Schriftſteller iſt die Erbſuͤnde der Literatur. Unbe¬
merkt haben die Menſchen die Grundſaͤtze erſetzt und
an ihre Stelle ſich geſchoben, wie in der franzoͤſiſchen
Revolution. Statt der feindſeligen Principien ver¬
ſchiedner Parteien kaͤmpfen die Edlen und Schlechten
von allen Parteien. Es gibt wenig gute Buͤcher,
aber von jeder Partei, und unzaͤhlige ſchlechte wie¬
der von jeder. Waͤhrend die Maſſen um ihre Grund¬
ſaͤtze und Meinungen zanken, erheben ſich die weni¬
gen wahrhaft Gebildeten immer nur gegen die Ge¬
meinheit der Maſſen. Sie ehren jede Kraft, ſelbſt
die feindliche; nur die Halbheit, Falſchheit, Ohn¬
macht iſt ihr unverſoͤhnlicher Feind.

[69]

Die Umſtaͤnde tragen vieles bei, daß eine ſo
große Menge unberufener Autoren auftritt. Die Kunſt
iſt profanirt worden. Man glaubt keiner Meiſter¬
ſchaft mehr zu beduͤrfen. Jeder achtet ſich fuͤr eben
ſo befugt, zu ſchreiben, als zu reden. Die Gelehr¬
ſamkeit der Kaſte iſt ſo ins Abſurde gerathen, daß
die geſunde Vernunft der Laien eine Revolution da¬
gegen erheben und einen leichten Sieg davon tragen
konnte. Ploͤtzlich brachen aus der Hefe des Laien¬
volks Publiciſten und Romanſchreiber, als andre Mar¬
ſeiller und Septembriſeurs, unter die alten gelehrten
Peruͤken, und auch die Poiſſarden fehlten nicht. Wie
haͤtten die Weiber, bei denen der geſunde Menſchen¬
verſtand immer wie an der Wurzel haͤlt, ihre Sen¬
timens und natuͤrlichen Erfahrungen nicht geltend ma¬
chen ſollen, wie haͤtten ſie nicht mit ihren Talenten
glaͤnzen wollen, da die Bahn des Ruhms ihnen offen
ſtund. So ſehn wir jetzt eine naͤrriſche Armee von
Weibern und Kindern das Ballhaus zur literariſchen
Nationalverſammlung machen, und dem deutſchen
Publikum Geſetze geben.


Der Gelehrte ſchreibt, weil er weiſer zu ſeyn
glaubt, als andre, und weil er die Schriftſtellerei
zu ſeinen Rechten und Pflichten zaͤhlt. Die Profanen
ſchreiben, weil ſie ſich fuͤr geſcheiter und geſuͤnder
achten, als die Gelehrten, und weil ſie, indem ſie
uns zur Natur zuruͤckfuͤhren wollen, zunaͤchſt ihre
eigne fuͤr die rechte halten. Endlich iſt es ein immer
wiederkehrender Wahn der Einfaͤltigen, der Eitlen
[70] und der Jugend, daß, was fuͤr ſie ſelbſt neu iſt,
auch fuͤr die ganze Welt neu ſeyn muͤſſe. Es entſte¬
hen taͤglich neue wiſſenſchaftliche Buͤcher, worin auch
nicht ein neuer Gedanke fuͤr die Welt iſt, ſo neu
auch alle dem Autor geweſen ſeyn moͤgen. Vor den
Gedichten aber iſt faſt keine Rettung mehr. Wenn
ein Juͤngling liebt, meint er, die ganze Welt liebe
zum erſtenmal. Er macht Verſe und waͤhnt, niemand
habe dergleichen noch gehoͤrt.


Die Schreibwuth der Naturaliſten hat diejenige
der Gelehrten keineswegs verdraͤngt, ſondern nur noch
lebhafter angefacht. Die Univerſitaͤten machen es ſich
zur Pflicht, zu ſchreiben, was die Preſſe vermag,
und gelehrte Buͤcher bilden die Stufen, auf welchen
der Candidat in hoͤhere Ämter ſchreitet. Wie kuͤm¬
merlich friſtet ſich manches gelehrte Journal, aber es
gilt die Ehre der Univerſitaͤt, und das ganze akade¬
miſche Volk wird beſteuert. Wie ſauer wird es man¬
chem Neuling, ein Buch zuſammenzuſchreiben, aber
es gilt die Ehre und das Amt, und Noth bricht auch
den eiſernen Schaͤdel. Die Arbeiten ſind aber auch
darnach, und man ſieht ihnen alle die Muͤhe an,
deren ſie nicht werth ſind.


Man beſchaͤftigt ſich je mehr und mehr, popu¬
laͤr
zu ſchreiben, der groͤßern Maſſe des Publikums
alles Nuͤtzliche und Belehrende mitzutheilen, was von
Fremden oder durch die Gelehrſamkeit gewonnen wird.
Selbſt die ſtrengſten Wiſſenſchaften werden ſo zube¬
reitet, daß auch der Ungebildete einen Geſchmack da¬
[71] von bekommt. Es erſcheinen: Mythologien fuͤr Da¬
men, populaͤre Vorleſungen uͤber die Aſtronomie, Haus¬
apotheker und Selbſtaͤrzte, Weltgeſchichten fuͤr die
Jugend, die Weltweisheit in einer Nuß, und die
Theologie in acht Baͤnden oder Stunden der Andacht
und dergleichen. Wie zu des Heilands Geburt haͤlt
man einen allgemeinen Kindermarkt, und alle Buch¬
haͤndlerbuden haͤngen voll Schriften fuͤr die (elegante)
Welt, das Volk, die (gebildeten) Staͤnde, die Da¬
men, die (deutſchen) Frauen, das (reifere) Alter,
die (zartere, liebe) Jugend, Soͤhne und Toͤchter
edler Herkunft, Buͤrger und Landmann, fuͤr Jeder¬
mann, fuͤr allerlei Leſer, kurz fuͤr ſo viele, als der
Buchhaͤndler zuſammen trommeln kann.


An und fuͤr ſich iſt das Beſtreben, faßlich zu
ſchreiben und die ungebildete Mitwelt zu belehren,
eben ſo lobenswuͤrdig, als die gelehrte Vornehmigkeit,
die mit ihrer Hieroglyphenſprache prahlt, und ſtolz
darauf iſt, daß der große Haufe ſie nicht verſteht,
verworfen werden muß. Auch die wenige Strenge,
mit welcher wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde im populaͤ¬
ren Vortrag abgehandelt zu werden pflegen und der
fade Ton, der ſich dabei einſchleicht, laͤßt ſich zum
Theil durch das Publikum entſchuldigen, nach deſſen
Faſſungskraͤften der Autor ſich richten muß, wenn er
gehoͤrt und verſtanden werden will. Indeß laͤßt ſich
nicht verkennen, daß es doch nur wieder die vielen
unberufenen Autoren ſind, die auch hier das meiſte
verderben. Auch der ſeichteſte Kopf maßt ſich an,
[72] fuͤrs Volk zu ſchreiben, waͤhrend er ſich ſchaͤmen wuͤrde,
fuͤr die Gelehrten zu ſchreiben. Das Volk haͤlt jeder
fuͤr gut genug, ein Auditorium abzugeben, und fuͤr
ſchlecht genug, um ihm auch das Albernſte vorzutra¬
gen. Nichts erſcheint ſo leicht, als fuͤr das Volk zu
ſchreiben, denn je weniger man Kunſt anwendet, deſto
eher wird man verſtanden; je mehr man ſich gehn
laͤßt, je gemeiner und alltaͤglicher man ſchreibt, deſto
mehr harmonirt man mit der Maſſe der Leſer. Je
tiefer man zu der Beſchraͤnktheit, Brutalitaͤt, den Vor¬
urtheilen und den unwuͤrdigen Neigungen der Menge
hinabſteigt, deſto mehr ſchmeichelt man ihr, und wird
von ihr geſchmeichelt. Fuͤr das Volk ſchlecht zu ſchrei¬
ben, iſt daher den ſchlechten Schriftſtellern leicht und
erſprießlich, daher es auch bis zum Frevel getrieben
wird. Fuͤr das Volk aber gut zu ſchreiben, iſt ſicher
etwas ſehr Schwieriges und darum geſchieht es ſo ſel¬
ten. Will man die Maſſe beſſern und veredeln, ſo
laͤuft man Gefahr ihr zu mißfallen. Will man ſie
uͤber hoͤhere Dinge belehren, ſo iſt es hoͤchſt ſchwie¬
rig, den rechten Ton zu treffen. Man hat entweder
zu einſeitig den Gegenſtand vor Augen, und ſpricht
daruͤber zu gelehrt und unverſtaͤndlich, oder man be¬
ruͤckſichtigt eben ſo einſeitig die Menge und entweiht
den Gegenſtand durch einen allzu trivialen, oft bur¬
lesken Vortrag. Die Schriftſteller fehlen hierin ſo
oft, als die Prediger.


Indem Autoren und Buchhaͤndler unter einander
wetteifern, eine moͤglichſt große Popularitaͤt ihrer
[73] eigenen geiſtigen Produkte oder doch ihrer Bearbei¬
tung fremder zu erzielen, wetteifert wieder das Pu¬
blikum mit beiden, dieſe popularen Sachen zu kau¬
fen und zu verſchlingen. Das Popularmachen geſchieht
hauptſaͤchlich auf drei Wegen, durch Zeitſchriften,
wohlfeile Ausgaben und Auszuͤge oder Handbuͤcher.


Die periodiſche Literatur iſt theils bloßen
Anzeigen, theils Auszuͤgen und einzelnen kleinen Gei¬
ſtesprodukten gewidmet. In beiden Faͤllen iſt Popu¬
laritaͤt ihr erſtes und letztes Ziel. Alle Zeitſchriften
ſind Wirthshaͤuſer, die nur der Gaͤſte wegen da ſind.
Der anzeigende und rezenſirende Theil derſelben hat
ſich bei der ungeheuern Zunahme der Buͤcher ſelbſt ſo
unentbehrlich zu machen gewußt, daß er fuͤr eine
bedeutende Menſchenmenge wirklich an die Stelle der
Werke ſelbſt tritt. Man liest ſtatt der Buͤcher nur
deren Rezenſionen. Mehrere hundert Zeitſchriften fuͤr
alle literariſchen Faͤcher cirkuliren taͤglich in Deutſch¬
land, werden taͤglich von Millionen Leſern geleſen;
und die Mehrzahl deutſcher Leſer liest mehr Zeitun¬
gen als ſelbſtſtaͤndige Werke. Wer nicht ein Gelehr¬
ter von Fach iſt, nimmt kaum etwas anders Ge¬
drucktes in die Hand, als auf Muſeen und in Leſe¬
cirkeln die neuſten Blaͤtter. So zerblaͤttert ſich die
deutſche Literatur, indem ſie popular wird. Man
kann die vielen in jedem Fach jaͤhrlich neu erſchei¬
nenden Werke nicht alle leſen, aber man will doch
wiſſen was darin ſteht, alſo lechzt man nach Rezen¬
ſionen und Auszuͤgen.

Deutſche Literatur. I. 4[74]

Bedeutendere Werke des In- und Auslandes,
die man ganz zu haben wuͤnſcht, erſcheinen in wohl¬
feilen, in beiſpiellos wohlfeilen Ausgaben.
Dieſe neue Erſcheinung im Buchhandel iſt gewiß von
großer Bedeutung. Sie vollendet erſt die ſegensreiche
Wirkung, die in der Erfindung der Buchdruckerkunſt
vorbereitet wurde, denn es iſt nicht genug, daß die
beſten Schriftwerke auf die leichteſte Weiſe verviel¬
faͤltigt werden koͤnnen, das Publikum muß auch in
den Stand geſetzt werden, ſich dieſelben auf die leich¬
teſte Weiſe anzuſchaffen. Was hilft es den aͤrmeren
Leſer, daß vorzuͤgliche Werke vorhanden ſind, wenn
ſie nicht zum Beſitz derſelben gelangen koͤnnen? Offen¬
bar gewinnt das Publikum durch die Wohlfeilheit
der beſten Geiſtesprodukte, und auch die Buchhaͤnd¬
ler koͤnnen dabei nur gewinnen. Der einzige Nach¬
theil, den dieſe wohlfeilen Ausgaben mit ſich brin¬
gen, beſteht darin, daß nicht immer die beſten Werke,
ſondern auch mitunter die ſchlechteſten, wenn ſie nur
Mode ſind, dadurch eine ſchaͤdliche Verbreitung er¬
langen, und daß die Erſcheinung guter neuer Werke
durch die Menge der aͤltern erſchwert wird. Der
Buchhaͤndler ſieht bei ſeinen wohlfeilen Ausgaben an¬
erkannter Werke einen ſichern Vortheil voraus, bei
neuern Werken aber nur ein Riſico, da die Leſer
und Kaͤufer der lezten ſich in dem Maß verringern
muͤſſen, als die der erſtern ſich vermehren. Es ſteht
zu erwarten, daß die wohlfeile Herausgabe der an¬
erkannten Buͤcher in ein foͤrmliches Syſtem gebracht
[75] werden wird, und daß dann neue Werke immer
ſchwieriger durchdringen werden.


Man hat auch haͤufig dem Preßzwang Schuld
gegeben, daß er viele ſchlechte Buͤcher veranlaſſe,
und zum Theil mit Recht. Im Schatten bleibt manche
Blume verſchloſſen, aber die Pilze ſchießen uͤppig auf.
Indeß erſtreckt ſich der Preßzwang doch nur auf ge¬
wiſſe Zweige der Literatur, und in andern, die kein
Cenſor beſchneidet, wird nicht weniger geſuͤndigt.
Man kann nur ſagen, daß der Preßzwang den Geiſt
der Nation uͤberhaupt verdumpft, indem er einzelne
Äußerungen deſſelben unterdruͤckt, wie der ganze Koͤr¬
per krank wird, wenn ein Glied gelaͤhmt iſt.


Die Gewalt, welche die Schrift uͤber die Mei¬
nungen uͤbt, und der Einfluß der Meinung auf die
Handlungen machen die Literatur zu einem wichtigen
Gegenſtande der Politik. Sofern jeder Staat ein
unbezweifeltes Recht ſeiner Exiſtenz anſpricht und ſo¬
mit nicht nur das Recht, ſondern auch die Pflicht
der Selbſterhaltung ſich zuerkennt, muß er nothwen¬
dig dafuͤr ſorgen, daß die Literatur keine Meinungen
verbreite, welche jener Exiſtenz gefaͤhrlich werden
koͤnnen, und dies ſucht er vermittelſt der Cenſur
zu erreichen. Ob aber jener Zweck, den das Staats¬
recht heiligt, dem allgemeinen Menſchenrechte nicht
widerſpreche, ob er deßhalb erreicht werden koͤnne,
und ob jenes Mittel, die Cenſur, das rechte Mittel
ſey, das ſind andre Fragen.

4 *[76]

Der Menſch hat ein urſpruͤngliches Recht der
Mittheilung und es entſteht ein nicht unbilliger Zwei¬
fel, ob ein Staat, welcher dieſes Recht nicht garan¬
tirt, vollkommen zu nennen ſey, und ob ein unvoll¬
kommner Staat eine ewige Exiſtenz anſprechen koͤnne.
Aus der Mittheilung entſpringt alle Cultur, und die
Cultur iſt der hoͤchſte Zweck der Menſchheit. Verbie¬
tet ein Staat die Mittheilung, ſo hemmt er die Cul¬
tur. Haͤtte der erſte Staat urſpruͤnglich zugleich das
Recht und die Kraft gehabt, die Mittheilungen ſei¬
ner Buͤrger zu verbieten, ſo wuͤrde alle Cultur un¬
moͤglich geweſen ſeyn und wir wuͤrden noch auf der
erſten Stufe ſtehn. Wir haben aber ſchon eine Menge
Stufen zuruͤckgelegt, und wodurch? Entweder da¬
durch, daß der Staat jene Mittheilungen nicht ge¬
hemmt hat, oder dadurch, daß das Menſchenrecht
uͤber das Staatsrecht geſiegt, und in Revolutionen
die ſtrengen Staaten vertilgt und freiere neu geſchaf¬
fen hat.


Überlaſſen wir es alſo der Theorie, auf dop¬
pelte Weiſe einerſeits das Menſchenrecht, andrerſeits
das Staatsrecht, und dort die Nothwendigkeit der
Preßfreiheit, hier die der Cenſur zu vertheidigen,
laſſen wir die Philoſophen und Staatsmaͤnner uͤber
beides ſtreiten und halten wir uns lediglich an die
Erfahrung. Sie lehrt uns, daß der Sieg immer an
die Kraft gebunden iſt, daß einmal die freiſinnigſten
und gebildetſten Nationen mit allen noch ſo gegruͤn¬
deten Deklamationen fuͤr die Preßfreiheit durch einen
[77] politiſchen Machtſpruch zum Schweigen gebracht wor¬
den ſind, und daß ein andermal auch die ſtrengſte
Aufſicht und Kraftanſtrengung der politiſchen Gewal¬
ten die Verbreitung opponirender Meinungen nicht
hat verhindern koͤnnen. Die Erfahrung lehrt ferner,
daß die Preßfreiheit nach Umſtaͤnden einmal zu wah¬
rer Bildung, ein andermal zu zuͤgelloſer Ausſchwei¬
fung, der Preßzwang einmal zur wahren Beruhigung
der Voͤlker, ein andermal zu allen Graͤueln des Deſpo¬
tismus gefuͤhrt hat. Ziehn wir aus allen Erfahrun¬
gen das Reſultat, ſo ergibt ſich, daß es niemals
eine vollkommene Freiheit der Meinungen und Mit¬
theilungen gegeben hat, daß immer eine herrſchende
Partei geweſen iſt, welche die Meinungen der unter¬
druͤckten Partei bevogtet hat, daß dagegen die Par¬
teien, namentlich die Anhaͤnger des Menſchenrechts
und die Anhaͤnger des Staatsrechts, beſtaͤndig in
der Herrſchaft gewechſelt haben, wodurch alle Mei¬
nungen zur Sprache gekommen ſind, und daß in die¬
ſem Wechſel die Cultur unaufhaltſam fortgeſchritten
iſt. Das Staatsrecht war immer ſtark genug, den
Ausſchweifungen der Freiheit einen Damm zu ſetzen,
und das Menſchenrecht immer ſtark genug, ein Ver¬
ſteinern im Staate zu verhuͤten.


Was die Cenſur uns raubt, iſt weniger zu be¬
dauern, als was ſie uns bringt. Daß ſie die Wahr¬
heit zuweilen unterdruͤckt, iſt ſchlimm, aber noch
ſchlimmer, daß ſie Unwahrheit und Halbheit hervor¬
ruft. Sie hat ohne Zweifel einigen Antheil an der
[78] oͤden Phantaſterie, die das praktiſche Leben flieht,
und noch mehr an den ſchielenden Urtheilen, die na¬
mentlich in der politiſchen Literatur uͤberall vernom¬
men werden. Das Schwaͤrmen iſt uns erlaubt, vor¬
zuͤglich in einer unverſtaͤndlichen philoſophiſchen Spra¬
che, aber auf die praktiſche Anwendung unſrer Theo¬
rie duͤrfen wir nicht denken, auch wenn wir wollten.
Mancher, der die Wahrheit ſagen will, huͤllt ſie ab¬
ſichtlich in Nebel ein, durch die ein gewoͤhnlicher Cen¬
ſor, aber auch das gewoͤhnliche Publikum nicht hin¬
durchſieht. Auf der andern Seite befleißigen ſich die
Praktiker des nuͤchternſten empiriſchen Schlendrians
und huͤten ſich wohl, auf die beſſere Theorie Ruͤck¬
ſicht zu nehmen, und die Faulheit wird durch eine
politiſche Ruͤckſicht beſchoͤnigt. Endlich gibt es eine
Menge Schriftſteller, die dicht unter der politiſchen
Schneelinie nur zu einem kruͤppelhaften Wachsthum
kommen, die, ohne perfid zu ſeyn, doch auch nicht
ehrlich ſind, ohne zu luͤgen, doch auch die Wahrheit
nicht zu verkuͤndigen wagen und in einer erbaͤrmli¬
chen Halbheit es zugleich dem Zeitgeiſt und der Cen¬
ſur recht machen wollen. Ihr Element iſt uͤberhaupt
die Halbheit, und ſie fuͤhlen ſich in einer Zeit, wie
die unſrige, ſo recht zu Hauſe. So ſehr ſie ſich auch
in Tiraden gegen die Cenſur erſchoͤpfen, iſt ſie ihnen
doch ſo bequem, als den Ultras. Sie ſetzen ſich alt¬
klug auf den Stuhl und geben ihr Orakel von ſich,
mit dem Finger auf der Naſe ein geheimnißvolles
Silentium gebietend, wenn es an eine Wahrheit
[79] kommt, jedes Etwas als zu viel abweiſend und je¬
des Nichts als wenigſtens Etwas beſchoͤnigend. Leute,
die in einer etwas bewegten Zeit nicht den Mund
aufthun wuͤrden, plaudern ſich jetzt ſatt. Jetzt erho¬
len ſie ſich von ihrem langen Schweigen. Jetzt, den¬
ken ſie, kommen wir an die Reihe. Sie verhehlen
freilich auch nicht, wenn man ihnen mit Ernſt auf
den Leib ruͤckt, daß ſie ein wenig ſeicht ſchreiben,
aber ſie fluͤſtern uns pfiffig zu, das geſchehe mit Ab¬
ſicht, man muͤſſe leiſe auftreten, nur wenig zu ver¬
ſtehn geben, im Hinterhalt da ſtecke noch viel.


Die Cenſur, ſelbſt wenn ſie mit der groͤßten Ty¬
rannei gepaart iſt, kann doch den tiefen Athemzug
des Lebens, die geiſtige Reſpiration nicht hemmen.
Wenn man einem Vogel auch den Schnabel feſt zu
bindet und die Fluͤgel bricht, ſo kann er noch durch
die offnen Knochen athmen und leben.


Die Wahrheit kommt nicht abhanden, wenn man
auch nicht auf jeder Straße druͤber fallen kann. Sie
wurzelt deſto feſter im Gemuͤthe, je weniger man ſie
von ſich geben und ſich an ihr heiſer ſchreien kann.
Man legt gewoͤhnlich ein zu großes Gewicht auf das,
was die Cenſur zu ſchreiben verbietet. Eine einzelne
lokale Wahrheit, die man verſchweigen muß, wiegt
jene Summen von Wahrheiten nicht auf, die jedem
bekannt ſind. Eine Nation, der man den Preßzwang
auferlegt, iſt gewoͤhnlich gebildet genug, um denken
zu koͤnnen, was ſie nicht ſagen darf. Eine Mitthei¬
lung mehr oder weniger wuͤrde keinen großen Unter¬
[80] ſchied machen. Diejenigen alſo thun wohl, welche
die Preßfreiheit weniger als etwas blos Nuͤtzliches
oder Schaͤdliches, und mehr als eine Ehrenſache be¬
trachten. Der Nutzen oder Schaden iſt bei einer ge¬
bildeten Nation gewiß von geringer Bedeutung, die
Ehre aber, welche die Preßfreiheit, und die Schande,
welche der Preßzwang mit ſich fuͤhrt, ſie ſind es vor
allem, die uns jene Inſtitute wichtig machen muͤſſen.
Ich halte es fuͤr eine große Schande, wenn ein deut¬
ſcher Schriftſteller unvernuͤnftige Dinge in die Welt
hinein ſchreibt, aber fuͤr eine noch groͤßere, wenn er
es nicht thun darf.


Der Menſch hat von jeher ſeinen Gedanken ge¬
wiſſe Schranken vorgezogen, dieſelben aber immer
wieder uͤberſprungen. Gerade indem er aͤngſtlich au
den Schranken umhergeirrt, iſt er in wilde verzwei¬
felte Phantaſien gefallen und hat das Ärgſte ſich un¬
terfangen; indem er aber die Schranken niedergeriſ¬
ſen und allmaͤhlig weiter gekommen, hat er auch jene
Irrthuͤmer und wilden Ausbruͤche hinter ſich gelaſſen,
wie Traͤume und Unarten der Jugend. So verhaͤlt
es ſich auch mit der Literatur, dem Spiegel des
menſchlichen Denkens. An den Schranken, die ihr
Staat und Kirche ziehn, wird ſie aͤngſtlich und to¬
bend umherirren und allerlei Ausſchweifungen begehn.
Man goͤnne ihr eine dauernde Preßfreiheit, ſo wird
ſie ſich von ſelbſt beſchwichtigen; man nehme ihr den
Zuchtmeiſter, ſo wird ſie die Unarten von ſelber
laſſen.

[81]

Die Cenſur erſcheint ſehr oft dem Autor laͤcher¬
lich, indem ſie die unſchuldigſten Stellen eines Wer¬
kes durchſtreicht, und noch oͤfter der ganzen Leſewelt,
indem ſie nicht nur einzelne Stellen, ſondern ganze
Werke paſſiren laͤßt, die, wenn nicht unmittelbar,
doch deſto ſicherer auf mittelbare Weiſe, den Geiſt
foͤrdern, gegen den alle Cenſur gerichtet iſt. Die
Cenſur iſt eines von den Inſtituten, welche die Halb¬
heit erfunden hat und die ihres Zweckes auf die Dauer
beſtaͤndig verfehlen muͤſſen. Wollte ſie conſequent ver¬
fahren und ihrem Zwecke genuͤgen, ſo muͤßte ſie ge¬
radezu die ganze Literatur ausrotten, denn was ſie
in neuen Werken ausſtreicht, leſen wir in alten, was
ſie billigt, laͤßt uns auf das ſchließen, was ſie nicht
billigt, und je ſtrenger ſie nur eine Anſicht der Dinge
geltend machen will, deſto ſchaͤrfer wird durch den
Gegenſatz die andre hervorgehoben.


[82]

Religion.

Der religioͤſen Literatur gebuͤhrt der alte gehei¬
ligte Vorrang. Die goͤttlichen Dinge werden billig
uͤber alle menſchlichen geſetzt. Dem heiligen Gegen¬
ſtande bleibt ſeine Wuͤrde, ſelbſt wenn er unwuͤrdiger
behandelt erſchiene, als das Profane. Sollten wir
mehr Geiſt fuͤr die weltlichen Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte aufwenden, als fuͤr die Religion, ſo bliebe
die letztere nichtsdeſtoweniger der hoͤchſte Gegenſtand
geiſtiger Beſtrebungen.


Religion iſt der den Menſchen eingepflanzte
Trieb, ein hoͤchſtes Weſen anzuerkennen. Die Idee
des hoͤchſten Weſens an ſich iſt die eine und gleiche
in allen Menſchen, himmliſchen Urſprungs und unab¬
haͤngig von irdiſchen Modificationen. Die Art und
Weiſe jedoch, wie die Menſchen dieſe Idee in ſich
erkennen, ausbilden und darſtellen, iſt ſo verſchieden,
wie die Menſchen ſelbſt, nnd faͤllt unter die Bedin¬
gung alles Irdiſchen, iſt einem Gegenſatz und einer
Entwicklung unterworfen. Die einige Idee hebt die
[83] Mannigfaltigkeit der Anſichten, dieſe Mannigfaltig¬
keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬
gion hat das Eigenthuͤmliche, daß ſie Kraft der in
ihr liegenden Idee immer eine ausſchließliche, Kraft
der irdiſchen Bedingung immer eine einſeitige Anſicht
des hoͤchſten Weſens enthaͤlt.


Die allen Menſchen angeborne Anerkennung eines
hoͤchſten Weſens nennen wir den Glauben. Jeder
Menſch glaubt an das hoͤchſte Weſen, an Gott, und
die Idee deſſelben liegt allen noch ſo verſchiednen
Anſichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie
man glaubt, unmittelbar voraus. Dieſer Glauben
an Gott liegt allen religioͤſen Anſichten zu Grunde,
die Anſichten aber ſind verſchieden, je nach dem
menſchlichen Vermoͤgen und deren Ausbildung. Wir
duͤrfen alle menſchlichen Vermoͤgen, in welchen der
Glaube ſich ausſprechen kann, als ſinnliche, gemuͤth¬
liche und geiſtige bezeichnen. Der ſinnliche Glaͤubige
ſieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur,
oder ſchafft ſich ein kuͤnſtliches Bild von ihm, und
dient ihm in ſinnlichen Handlungen. Der Gemuͤth¬
liche empfindet Gott in den Gefuͤhlen der Ehrfurcht,
Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geiſtige denkt
Gott und abſtrahirt ſich aus dem Begriff des hoͤch¬
ſten Weſens die hoͤchſten Geſetze der Natur und des
Lebens. Dieſe Anſichten erſcheinen wieder nach dem
Maaß der menſchlichen Ausbildung mehr oder weni¬
ger vermiſcht, und die Myſtik in der Bluͤthe des
Mittelalters erkannte eine vollkommene organiſche
[84] Offenbarung des hoͤchſten Weſens zugleich an die
Sinnen, das Herz und den Verſtand.


Eine Religion iſt ſinnlich, wenn ſie an die
Offenbarung Gottes in der Sinnenwelt glaubt, und
dieſelbe entweder in Pantheismus der Natur, oder
in der geiſtigen Verklaͤrung der Natur zur Kunſt im
Bilderdienſt erkennt. Eine Religion iſt verſtaͤndig,
wenn ſie eine Offenbarung Gottes im Verſtand ſich
conſtruirt, und das goͤttliche Geſetz logiſch abwaͤgt.
Eine Religion iſt gemuͤthlich, wenn ſie eine Offen¬
barung Gottes in den Gefuͤhlen annimmt, eine un¬
mittelbare innre Erleuchtung, eine unſichtbare und
unbegreifliche Ausgießung des heiligen Geiſtes. Eine
Religion iſt aber myſtiſch, wenn ſie alle dieſe Of¬
fenbarungen vereinigt und mit allen Organen ihre
Geſammtwirkung aufnimmt. In dieſer myſtiſchen Of¬
fenbarung erſcheint die Idee am umfaſſendſten; ob
auch am reinſten, haͤngt von der Ausbildung ab, der
auch die Myſtik unterworfen iſt. Die ſinnliche Re¬
ligion erkennt das Goͤttliche nur in ſinnlichen Vor¬
ſtellungen, die verſtaͤndige nur in Begriffen, die ge¬
muͤthliche nur in Gefuͤhlen. In der lebendigen Durch¬
dringung von ſinnlicher Vorſtellung, Begriff und Ge¬
fuͤhl zeigt ſich die ganze umfaſſende Idee. Die Bil¬
der Gottes, die Beſchreibungen Gottes, die Gefuͤhle
Gottes ſind nur Beſtrebungen, zur Idee Gottes zu
gelangen. Nur der hat die Idee Gottes, der ihn
zugleich ſchaut, denkt und empfindet. Die Idee wird
in dreifacher Emanation zum bildlichen Symbol, zur
[85] Verſtandesdefinition und zum Gefuͤhl des Herzens,
nie zu einem allein, ſondern zu einem in allem, und
allem in einem. Jede Religion ſtrebt nach dieſem
myſtiſchen Glauben, und geht entweder in der Ein¬
ſeitigkeit unter, oder gelangt von der einen Offenba¬
rung durch Vermittlung mit den andern zur hoͤchſten.
An dieſe Stufenleiter ſind alle hiſtoriſchen Religio¬
nen geknuͤpft.


In der hoͤchſten Bluͤthe des Mittelalters war
das Chriſtenthum eine Zeitlang myſtiſch. Die Ge¬
ſchichte ſcheint damals bis zu einem Wendepunkt ge¬
diehen zu ſeyn, und den erſten großen Akt ihres
Schauſpiels wuͤrdig beſchloſſen zu haben. Bis dahin
draͤngten alle Kraͤfte zur Einheit; von da beginnt
wieder die Entzweiung. Ein neues, hoͤheres, vielge¬
ſtaltigeres Leben bluͤht aus den Ruinen jener großen
Vorzeit, und zum zweitenmal in weiterem Kreiſe
ſchwingt die Geſchichte ſich um. In der Erinnerung
der Vergangenheit liegt aber die Hoffnung der Zu¬
kunft aufgeſchloſſen, und wir leſen ihr Verhaͤngniß in
den prophetiſchen Buͤchern der Geſchichte. Selbſt die
Natur belehrt uns, daß die zweite Schoͤpfung das
Geſetz der erſtern nur in hoͤhern Entfaltungen des
Lebens wiederholt. So werden wir auch in dieſem
zweiten Welttage den geheimnißvollen Zug aller ge¬
trennten Kraͤfte nach einer hoͤhern myſtiſchen Eini¬
gung nicht verkennen. In ihm liegt das Raͤthſel der
Trennung ſelbſt aufgeſchloſſen. Keine andere Bedeu¬
tung hat dieſe Trennung als in der Idee der Ver¬
[86] Vereinigung. Von jener fruͤhern Einheit aber, von
jener erſten Geſtaltung einer myſtiſchen Religion im
Mittelalter muͤſſen wir auf doppelte Weiſe anerken¬
nen, daß ſie die Idee weit vollkommner offenbart
hat, als es eine ſinnliche, gemuͤthliche oder verſtaͤndige
Religion vermag, daß ſie aber zugleich einer noch
niedern Stufe der menſchlichen Entwicklung angehoͤrt.
Jenes erhebt ſie uͤber unſre neuern vereinzelten Be¬
ſtrebungen, dieſes ſetzt das meiſte, was wir als ver¬
einzeltes davon hervorheben moͤgen, unter dieſelben
herab. Die neuere Entwicklung hat vieles ausgebil¬
det, was in jener Zeit noch roh erſcheint, aber nur
in einzelnen Richtungen, die Idee hat ſie noch nicht
wiedergeboren und darauf beruht die geheime Scheu
oder Achtung vor dem Mittelalter, die den Gegner
wie den Vertheidiger unwillkuͤrlich ergreifen, mag er
ſich auch, wenigſtens im Verſtande, noch ſo erhaben
uͤber jene Zeit fuͤhlen. Wenn jetzt der tiefe Sinn
fuͤr Natur und Kunſt an eine ſeelenloſe Mechanik
und Technik gewieſen iſt, ergreift uns wehmuͤthig die
Erinnerung an eine Zeit, da der Glaube noch das
aͤußere Zeichen beſeelte, da das Goͤttliche noch auf
myſtiſche Weiſe mit dem Wunder der Schoͤnheit in
der Natur und Kunſt verbunden war. Wir ſehen
die Werke jener heiligen Kunſt mit ſtaunender Be¬
wunderung und fuͤhlen, daß wir zu ſchwach ſind,
aͤhnliches hervorzubringen, weil die Idee uns fehlt.
Wir haben das tiefe Beduͤrfniß, das Heilige auch in
Natur und Kunſt zu ſuchen, aber der Verſtand ſpie¬
[87] gelt uns vor, daß wir es nimmer finden koͤnnen, und
lenkt unſre bildende Kraft auf das Nichtige. Dieſer
Verſtand ſelbſt entbehrt jener hoͤhern Weihe des Glau¬
bens und ſucht in aͤngſtlicher Haſt ihn aus ſich ſel¬
ber zu erzeugen als Überzeugung, wie das Facit
einer Rechnung, und laͤßt, was er gewonnen, immer
wieder fahren und ſucht weiter, was er niemals fin¬
den wird. Da denkt er mit geheimer Angſt und
nicht ohne Neid an eine Zeit zuruͤck, da der Glaube
noch den Begriff beſeelte, da das Goͤttliche noch auf
myſtiſche Weiſe verbunden war mit den Gedanken,
und eine heilige Ruhe und Zuverſicht in den Den¬
kenden wohnte. Das Gefuͤhl endlich, das jetzt bis
zur Verzweiflung ſich verirrt, moͤchte zuruͤckfluͤchten
in eine Zeit, da es der Glaube noch beſeelte, da das
Goͤttliche noch auf myſtiſche Weiſe ſich ihm offen¬
barte und ein inniges ſtarkes Band des Vertrauens
um die Seelen ſchlang, und das glaͤubige Gemuͤth
zu Entſchließungen und Thaten begeiſterte, welche
das Bluͤthenalter des menſchlichen Geſchlechts be¬
zeichnen. Allen aber muß die Einheit alles Lebens
im Glauben, wie jene Zeit es offenbart, das hoͤchſte
Wunder duͤnken. Bild, Gedanke, Gefuͤhl durchdran¬
gen ſich uͤberall. Was das Auge ſah, empfand das
Herz; was das Ohr vernahm, klang in den tiefen
Seelen an. Und des Gedankens kuͤhnſten und fein¬
ſten Getriebe waren wie Gold durchgluͤht vom Feuer
religioͤſer Begeiſterung. So war in engorganiſcher
Verbindung eine Kraft mit der andern verſchlungen.
[88] Das Goͤttliche, das dem Sinne als Weſenheit er¬
ſchien, offenbarte ſich dem Verſtande zugleich als
Nothwendigkeit und dem Gemuͤth als Liebe. Gott
war etwas wirkliches, etwas nicht allein, aber auch
ſinnliches. Das Syſtem des Cultus, der Heiligen
und Wunder erweiterte ſich bis zum Pantheismus.
Man unterſuchte jedoch zugleich die innere logiſche
Conſequenz des Goͤttlichen. Endlich war die pieti¬
ſtiſche Gluth des Herzensglanbens damals noch auf's
innigſte mit dem aͤußern Cultus und mit der Scho¬
laſtik vermaͤhlt. Sinn, Verſtand und Gefuͤhl durch¬
drangen ſich auf myſtiſche Weiſe in der Idee, und
das ganze Syſtem war myſtiſcher Idealismus, Ur¬
einheit der Ideen Weſenheit, Nothwendigkeit und
Liebe in der Idee Gottes.


Vermoͤge des inwohnenden Pflegmas zog aber
der Sinn die Menſchen abwaͤrts und loͤſte das ſchoͤne
Band auf. Einſeitig in grobe Sinnlichkeit entartend,
ſtieß der Katholicismus Verſtand und Gemuͤth von
ſich, und es geſchah der ungeheure Riß wie in den
Geiſtern, ſo in der Geſchichte der Voͤlker. Mit der
Einheit war auch die Idee entwichen und das my¬
ſtiſche Wunder. Dennoch ſollen wir dieſen Wandel
nicht beklagen, noch in thoͤrichter Selbſtverlaͤugnung
die hoͤhere Bedeutung der neuen Entwicklung verken¬
nen. Die Idee iſt an keine Zeit gebunden, und wir
werden ſie auf einer hoͤhern Stufe wiedergewinnen.
Auf jener Stufe war ſie noch unvollkommen entwi¬
[89] ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬
kommene Realiſirung derſelben unter.


Der erſte Blick in die Geſchichte des Chriſten¬
thums belehrt uns, daß es in den fruͤhern Jahrhun¬
derten mehr den Verſtand im Gegenſatz gegen die
heidniſche Philoſophie, und das Gefuͤhl im Gegen¬
ſatz gegen den ſinnlichen Goͤtzendienſt der Heiden in
Anſpruch nahm, daß aber, als das Chriſtenthum den
vollſtaͤndigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit
ſie wieder herabzog, daß die ſinnliche Anſchauung
des Goͤttlichen in Wundern, und die ſinnliche Anbe¬
tung in einem ceremonioͤſen Gottesdienſt wieder das
Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬
med, im Abendlande durch die Paͤpſte.


Welcher Katholik, welcher dichteriſche Geiſt auch
eine ſinnliche Offenbarung des Goͤttlichen zu glauben
ſich gedrungen fuͤhlt, wird doch nicht laͤugnen, daß
die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe
Sinnlichkeit ausgeartet, daß die goͤttliche Idee unter
der Laſt ſinnlicher Bilder und Zeichen gleichſam er¬
druͤckt und verſchuͤttet, daß das Wunder gemein ge¬
macht worden iſt, und daß die Sinnlichkeit eine
Herrſchaft ſich angemaßt, unter welcher der denkende
Verſtand und das innige Gefuͤhl einen Zwang erlit¬
ten, gegen den ſie nothwendig ſich empoͤren mußten.
Die herrſchende Kirche mißtraute dem Verſtand und
die inhumanen Mittel ſind bekannt, durch welche ſie
denſelben zu toͤdten bemuͤht war. Sie mißtraute dem
Gefuͤhl und ſuchte daſſelbe durch aͤußere Werke zu
[90] uͤbertaͤuben. Wer die Gebete zaͤhlen mußte, konnte
nicht mehr beten. Was Wunder alſo, daß der Ver¬
ſtand mit ſeinem alles durchdringenden Blitz endlich
den ſtolzen Bau jener Kirche zerriß. Als er aber
einmal zur Herrſchaft gekommen, war es eben ſo na¬
tuͤrlich, daß er ſeinerſeits in einſeitige Übertreibung
verfiel. Er mißtraute jener Sinnlichkeit, der er einſt
erlegen war, und verdammte mit den aͤußern Zeichen
auch die Offenbarung Gottes in der Schoͤnheit, ja
viele ſeiner Verfechter waͤhlten die Haͤßlichkeit mit
Vorliebe, um nur jenem Einfluß der Schoͤnheit zu
begegnen. Das Gefuͤhl aber konnte nicht aufkommen
gegen die kriegeriſche Beſonnenheit jener Verſtaͤndi¬
gen, die in ihm zwar keinen Feind, doch einen zwei¬
deutigen Nachbar erkannten, bei welchem der Feind
leicht Poſto faſſen koͤnnte, die ihm daher die Feſſeln
des Wortes anlegten, wie der Katholicismus ihm
einſt die der Werkthaͤtigkeit aufgedrungen.


Da fluͤchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬
trunkenheit andaͤchtiger Seelen in die verfolgten Sek¬
ten des Pietismus. Aber auch ſie ſind in einer
ſchroffen Einſeitigkeit befangen, worin ſie beſonders
die Verfolgung fortwaͤhrend erhaͤlt. Sie ſind gleich¬
ſam ertrunken und aufgeloͤst in Gefuͤhlen und koͤn¬
nen weder die Wirklichkeit des Goͤttlichen, wie die
Katholiken, noch das Geſetz des Goͤttlichen, wie die
Proteſtanten, erfaſſen. Sie ſchwimmen im Nebelhaf¬
ten und Formloſen. Sie mißtrauen der Sinnlichkeit,
weil ſie dieſelbe fuͤr eine Feſſel halten, weil ſie vom
[91] feſten Boden der Erde in ein unſichtbares Reich der
Seligkeit verzuͤckt zu werden ſtreben. Sie mißtrauen
dem Verſtande, weil er uͤberall Schranken erkennt,
und das Überſchwengliche ſchlechterdings nicht duldet.


Dies iſt das große Schisma der Gemeinden
in unſrer Zeit. So hat die Idee ſich wieder in Vor¬
ſtellung, Begriff und Gefuͤhl zerſetzt, die nun in hoͤ¬
herer Entwicklung ihre Vereinigung ſuchen muͤſſen.


Im gegenwaͤrtigen Augenblicke ſtehn die Par¬
teien auf dem Friedensfuß. Wenn auf der einen
Seite die Polemik der gelehrten Theologen, ohne
große Theilnahme des Volkes, fortwuͤthet, geſchehen
auf der andern Annaͤherungen und Übergaͤnge. Der
friedliche Zuſtand ruͤhrt zum Theil noch von der Er¬
mattung der fruͤhern Kaͤmpfe her, zum Theil von
dem Vorwalten weltlicher Neigungen und Beſtrebun¬
gen, bei denen die Religion vernachlaͤſſigt wird. Im
vorigen Jahrhundert zogen uns die Wiſſenſchaften
und Kuͤnſte, in dieſem zieht die Politik uns von der
Betrachtung des Religionsſtreites ab. Iſt ſeit zehn
Jahren wieder mehr von dem letztern die Rede ge¬
weſen, ſo iſt doch der Zeitgeiſt keineswegs vorzugs¬
weiſe fuͤr dieſe Angelegenheit geſtimmt. Erſt ſpaͤtere
Zeiten werden die Raͤthſel loͤſen, die in unſern reli¬
gioͤſen Verwickelungen liegen. Die theologiſche Lite¬
ratur iſt der Spiegel des ganzen innern Lebens der
Confeſſionen, und wir werden hier die wichtigſten
Partien daraus betrachten.

[92]

Nirgends zeigt ſich der Einfluß fruͤherer Ver¬
haͤltniſſe auf unſern heutigen Zuſtand ſo auffallend,
als in unſrem Kirchweſen. Alles, was wir davon
erblicken traͤgt das Gepraͤge der Vergangenheit, und
welcher Vergangenheit? eines Kriegszuſtandes, der
damit endete, daß beide Parteien in ſchlachtfertiger
Stellung verſteinerten. Wir ſehen an den gewalti¬
gen Rieſen hinauf, die immerfort mitten auf unſerm
belebten Markte ſtehen, und ſchauern ein wenig uͤber
die Groͤße, oder uͤber die Wuth, oder uͤber das Todte
der maͤchtigen Geſtalten. Es iſt in der That eine
ganz einzige Lage, in der wir uns in kirchlicher Hin¬
ſicht befinden. Moͤchte ein verſchiedner Glaube im¬
merhin an getrennte Staͤmme oder wenigſtens Staͤnde
ſich vertheilen, moͤchte der Haufen auf rohere, die
Gebildeten auf feinere Weiſe glauben und beten, ſo
waͤre das nichts beſonders, aber daß ein und dieſelbe
Nation mit gleicher Naturanlage, gleichen Schickſa¬
len, gleicher Bildung und auf demſelben engen Bo¬
den zuſammengedraͤngt, ſich in ſo durchaus verſchiedne
Kirchen, ohne Ruͤckſicht auf Stand und Bildung, ich
will nicht ſagen getrennt hat, ſondern nur getrennt
erhaͤlt, iſt wahrlich, ſo ſehr wir uns daran gewoͤhnt
haben, doch immer außerordentlich. Die Urſache die¬
ſer Erſcheinungen aber, daß ſich dieſer Zuſtand er¬
haͤlt und uns nicht durchaus mißbehagt, liegt eben
in jener Gewohnheit, die ſich allmaͤhlich einfinden
mußte, nachdem beide Parteien weder ſiegen, noch
fallen, noch laͤnger fechten konnten. Sie liegt aber
[93] ferner in dem Umſtande, daß die kirchlichen Fragen
von wiſſenſchaftlichen, oͤkonomiſchen und politiſchen
ein wenig beſeitigt worden ſind, und man ſich nicht
ausſchließlich mehr fuͤr die Kirchenſache intereſſiren
mag. Mitten im Frieden aber zeigt man ſich von
Zeit zu Zeit die Waffen und macht drohende Bewe¬
gungen, die immer wieder von wichtigen politiſchen
Bewegungen verſchlungen werden. Man darf be¬
haupten, unſre Zeit ſey ſo ſehr von politiſchem Intereſſe
beherrſcht, daß die religioͤſen Bewegungen, die ſich
zeigen, nur aus den politiſchen gefolgert werden koͤn¬
nen, daß ſie ſogar kuͤnſtlich durch dieſe erzeugt wer¬
den. Die einzige unabhaͤngige, rein religioͤſe Bewe¬
gung, die durch den Druck politiſcher Verhaͤltniſſe
zwar genaͤhrt, aber auf keine Weiſe von der Politik
organiſirt wird, iſt die pietiſtiſche, und auch aus die¬
ſem Grund muß man dem Pietismus mehr reelle
Kraft zuſchreiben, als den verbrauchten Maſchine¬
rien andrer Parteien.


Die ganze Geſchichte des Chriſtenthums, ja ſo¬
gar des Heidenthums, und vielleicht auch des kuͤnf¬
tigen Chriſtenthums hat in Deutſchland und in der
Literatur ihre Repraͤſentanten. In der katholiſchen
Kirche ſtehen ſich noch immer die biſchoͤfliche und
papiſtiſche Partei gegenuͤber, und von Zeit zu Zeit
kommen noch bald Myſtiker, bald Dominikaner, bald
Reformatoren zum Vorſchein. Die Proteſtanten re¬
praͤſentiren theils die aͤltern Chriſten, theils die kuͤnf¬
tigen, und bei ihnen erblicken wir nicht nur alle
[94] Waffen, die jemals zu den verſchiedenſten Zeiten und
von den verſchiedenſten Seiten her gegen den Katho¬
licismus ſich gerichtet, ſondern, ſofern ihre Lehren
poſitiv ſind, enthaͤlt ſie auch die Keime kuͤnftiger Ent¬
wickelungen. Die nun auf die Zukunft ſehn, finden
im gegenwaͤrtigen Proteſtantismus noch mannigfache
Gebrechen und ſomit herrſchen in dieſer Partei ſehr
entgegengeſetzte Meinungen. Endlich hat ſich das Hei¬
denthum wie in den Überlieferungen der katholiſchen
Kirche, ſo im Libertinismus einiger Proteſtanten eben¬
falls eine Stimme erhalten. Darf man ſich alſo uͤber
die ungeheure Mannigfaltigkeit von Meinungen und
Urtheilen, die uͤber Religion obwalten, noch verwun¬
dern? Die Stimmen vergangner Jahrtauſende miſchen
ſich immerfort mit den heutigen, und will man ſie
alle verſtehen, muß man ſich in allen Zeiten umſehen.
Kein Zeitalter war ſo roh, daß es nicht in dem un¬
ſern einen Repraͤſentanten aufzuweiſen haͤtte, und man
darf wohl auch ſagen, keines wird ſo edel ſeyn, dem
nicht wenigſtens eine erhabne Ahnung des heutigen
entſpraͤche. Den Fuß im Abgrund und Sumpf ragt
dies Geſchlecht mit dem Haupt in ferne Sonnenhoͤhen.

Die Meinungen koͤnnten friedlich neben einander
beſtehen, aber ſie kaͤmpfen, weil jede allein gelten
will. Es gibt kein Volk, das ſo heterogene Elemente
in ſich vereinigte, deſſen mannigfach modificirte Na¬
turanlagen und Charaktere ſo ſehr aller Normalitaͤt
widerſtrebten, als das deutſche, und doch ſuchen wir
allem eine Norm aufzuzwingen, uͤberall denken wir
[95] zuerſt an Normalzuſtaͤnde, Normalmenſchen und wol¬
len auch dann den unermeßlichen Reichthum verſchie¬
dener Entwickelungen nicht beachten, wenn ſie dem
Normaliſiren entſchieden in den Weg treten. Selbſt
die Naturwiſſenſchaft geht von Normalmenſchen aus,
und beachtet alles, was der Gattung gemeinſam iſt,
nur nicht, was die Individuen unterſcheidet. Wir
haben noch keine Theorie der Geruͤche in den Pflan¬
zen und noch keine der Temperamente in den Men¬
ſchen. So geht man in der Politik immer von einem
Normalzuſtand aus und will alle Menſchen nach ei¬
nem Maße meſſen. So will man auch in der Reli¬
gion keine Mannigfaltigkeit dulden, und wie ſehr
dieſe allenthalben ſich kund gibt, in wie verſchiedene
Glaubensweiſen die Deutſchen ſich trennen, will doch
jeder die ſeinige zur alleinguͤltigen machen.


Die Frage nach der aͤußern Kirchenverfaſ¬
ſung
iſt eigentlich ganz unabhaͤngig von der nach
dem innern Lehrbegriff, und es iſt beinah ſchon jeder
moͤgliche Lehrbegriff bei jeder moͤglichen Verfaſſung
beſtanden. Es hat ein katholiſches Presbyterium, eine
katholiſche Episcopalkirche ohne Papſt gegeben und
der Katholicismus iſt der weltlichen Macht, hier dem
Geſetz, dort dem Monarchen Unterthan worden, wie
der Proteſtantismus. Es hat aber auch ganz artige
proteſtantiſche Paͤpſte, Biſchoͤfe, Bannbullen und Ke¬
tzerrichter gegeben. Nicht die Art und Weiſe wie
man Gott anbetet, nicht die Religion, ſondern die
Menſchen und irdiſchen Verhaͤltniſſe machen hier die
[96] Änderungen. Die Religion wird hier ganz in die
Politik hineingezogen, die Kirche ganz zum geſelligen
Inſtitut, allen Tugenden und Laſtern der Geſellſchaft
Preis gegeben.


Es kann nur zweierlei Grundformen der aͤußern
Kirchenverfaſſung geben, die Hierarchie oder die po¬
litiſche Kirche, d. h. die Kirche iſt entweder von der
weltlichen Macht unabhaͤngig, oder abhaͤngig. Die
Hierarchie iſt entweder Regiment der Prieſter oder
des Volks, im erſten Fall iſt ſie prieſterliche Monar¬
chie, oder Papſtthum, Ariſtokratie oder Episcopal¬
kirche, Demokratie oder Presbyterium, im letztern
Fall iſt ſie geiſtliche Demokratie der Laien ſelbſt, mit
Ausſchluß der Prieſter. Die politiſche Kirche ſteht
unter dem weltlichen Regenten, er ſey Koͤnig oder
Conſul, Menſch oder Geſetz, was fuͤr ſie einerlei iſt.
Wichtiger aber iſt der Unterſchied, nach welchem ſie
entweder die ausſchließliche oder nur die geduldete
Kirche iſt.


In Deutſchland herrſcht gegenwaͤrtig die politi¬
ſche Kirche und zwar die monarchiſche, und zwar die
nur geduldete. Wie die Proteſtanten durch ihr altes
Kirchengeſetz, ſo ſind die Katholiken durch die Con¬
cordate und die Sektirer durch Schutzbewilligungen
und alle insgeſammt durch die herrſchende Richtung
des Zeitgeiſtes der weltlichen Macht unterworfen und
dieſe iſt die monarchiſche. Da aber alle einmal vor¬
handene Confeſſionen bei einander geduldet werden,
iſt keine die herrſchende. Wie auch hier das Papſt¬
[97] thum, dort das Episcopat, dort das Presbyterium,
dort die pietiſtiſche Glaubensdemokratie mit ſchwa¬
chen Kraͤften Raum zu gewinnen ſucht, wie auch noch,
wo eine Religionspartei uͤberwiegt, die Ausſchlie߬
lichkeit ſich zu erhalten trachtet, ſie werden alle nie¬
dergehalten durch die weltliche Macht und durch eine
allgemeine europaͤiſche Politik, fuͤr welche die kirchli¬
chen Intereſſen nicht mehr Zwecke ſind, ſondern nur
Mittel.


Was uͤber die politiſchen Verhaͤltniſſe der Kir¬
chen hin und her geſtritten wird, traͤgt den Charakter
der Schwaͤche. Man verfaͤhrt von allen Seiten ſaͤu¬
berlich und der Widerſtand der Hierarchie iſt ſo ſel¬
ten oder ſo ſanft, als die Gewaltſtreiche der Politik
es ſind. Man will vor allen Dingen Frieden; es
ſcheint, man befinde ſich in der Nacht und wolle den
Morgen abwarten, um ſich ins Geſicht ſehn zu koͤn¬
nen. Die Herrſchaft der Politik uͤber die Kirche be¬
dient ſich hauptſaͤchlich nur der ſtillen Gewalt des
Zeitgeiſtes, um ſich ohne Skandal zu befeſtigen. Da
der Zeitgeiſt fuͤr ſie iſt, ſo iſt ſie auch unabwendbar,
welches auch ihr Recht ſeyn moͤchte; waͤre der Zeit¬
geiſt gegen ſie, wie im Mittelalter, ſo wuͤrde ſie
eben ſo unterliegen.


Bei allem, was man fuͤr oder wider den Ka¬
tholicismus
ſagt, kommt es vorzuͤglich darauf an,
wie man ſich das Weſen deſſelben eigentlich denkt.
Die meiſten ſehn darin einen todten Buchſtaben, nur
Deutſche Literatur. I. 5[98] die wenigſten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬
diger ſelbſt legen dem Syſtem von Satzungen und
Vorſchriften die Kraft bei, die ihn traͤgt und erhaͤlt,
und ſeine Gegner zielen auf nichts anders, wenn ſie
mit Buchſtaben gegen den Buchſtaben anziehn, und
eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch
die andre zu vernichten trachten. Das Weſen des
Katholicismus iſt aber in keinem Buche zu ſuchen.
Er iſt auf keinen Buchſtaben, ſondern auf die Men¬
ſchen gebaut; verbrennt alle ſeine Buͤcher, und es
wird Katholiken geben nach wie vor. Dieſe Buͤcher
thun ſo wenig als der Name zur Sache. Namen iſt
Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar
entſpricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬
weiſe der ſinnlichen Richtung, allein es liegt doch in
ihm noch die Ahnung jener Myſtik des Mittelalters,
und ſie iſt es, die ihm die Herzen des Volks erhaͤlt.
Noch liegt in ihm die Richtung nach organiſcher, den
ganzen Menſchen umfaſſenden Erkenntniß und Anbe¬
tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemuͤth,
der Verſtand und das thaͤtige Leben gleichen Antheil
an der Religion des Katholiken. Nur in dieſem Sinne
iſt die katholiſche eine allgemeine Kirche, denn nur
jene organiſche Erkenntniß bietet gleich der Erde dem
himmliſchen Licht alle Seiten dar und iſt deßfalls die
einzige, die auf Allgemeinheit Anſpruch machen kann.
Was hier als Idee ausgeſprochen iſt, liegt wenig¬
ſtens als dunkel geahndetes Beduͤrfniß in der Seele
des ungebildeten Katholiken und er findet es auch
[99] auf rohe Weiſe in ſeiner Kirche befriedigt. Er ſieht
ſeinen Gott, er fuͤhlt ſich von ſeinem Daſeyn mit
andaͤchtiger Leidenſchaft ergriffen, er denkt ihn und
er handelt fuͤr ihn. Darum genuͤgt dem rohen Men¬
ſchen die katholiſche Religion, wie keine andre, und
auch der gebildetſte wuͤrde ſich damit begnuͤgen, er
wuͤrde keine andre mehr kennen, wenn bei ihm nicht
einſeitig ein Organ vorherrſchte oder mit Hintanſe¬
tzung des andern ausgebildet waͤre, wenn die Zeit ſo
weit vorgeruͤckt waͤre, um ſo viel umfaſſen zu koͤn¬
nen, als der vollendete Katholicismus an Bildung
verlangt. Die Idee Gott mit allen Organen zu ver¬
nehmen und anzubeten, im Gegenſatz gegen alle an¬
dern Religionen, in denen nur das eine Organ vor¬
waltet, iſt aͤußerſt einfach, aber die Realiſirung ei¬
ner ihr entſprechenden Kirche uͤberſteigt das Vermoͤgen
der Geſchlechter, die bis jetzt gelebt haben und leben.
Ich wiederhole alſo, nur die Befriedigung jenes Be¬
duͤrfniſſes, wie ſie der gemeine Katholik auf rohe
Weiſe in ſeiner Kirche findet, iſt die erhaltende Kraft,
iſt das Weſen des Katholicismus, und die Buͤcher,
die das Volk nicht einmal kennt, ſind nur einſeitige
Ausfluͤſſe jener Kraft fuͤr die Gelehrten und gegen
die Gegner, und allen Gebrechen der Wiſſenſchaft
unterworfen. Wer ſie angreift, hat leichte Muͤhe,
trifft aber den wahren Katholicismus nicht darin an.
Alle Mißgriffe, ja alle Schaͤndlichkeiten derer, welche
die Volksſtimme als echte Gottesſtimme Pfaffen nennt,
haben der erhabenen Idee nichts von ihrer Wuͤrde
5 *[100] rauben koͤnnen, wenn man es nur verſteht, die Sache
von den Menſchen zu unterſcheiden.


Der Katholicismus iſt maͤchtiger außer, als in
der Literatur. Er verſchmaͤht die Unterſuchung, es
genuͤgt ihm an der Tradition, und er muß ſich ſogar
der Suͤndfluth von Schriften entgegenſetzen, welche
dieſe Tradition in den Schatten ſtellen koͤnnten. Von
jeher war Tradition und Schrift im Widerſpruch.
Als Omar Alexandrien erobert, ließ er die ungeheure
Bibliothek dieſer Stadt, darin alle Schaͤtze des Wiſ¬
ſens jener Zeit aufbewahrt lagen, verbrennen, und
gab den Grund dafuͤr an: ſteht in dieſen Buͤchern,
was im Koran ſteht, ſo beduͤrfen wir ihrer nicht,
denn wir haben den Koran ſchon, ſteht aber etwas
andres darin, ſo muͤſſen ſie vertilgt werden, denn
Gott iſt Gott, und Muhamed iſt ſein Prophet, und
der Koran iſt ſein Wort, was daruͤber iſt, das iſt
vom Übel. In aͤhnlicher Weiſe dachten jene Moͤnche,
welche die Buchdruckerkunſt als die ſchwarze Kunſt
bezeichneten, und in der That iſt ein Omarfeuer
wirkſamer und conſequenter als ein catalogus libro¬
rum prohibitorum, waͤhrend der Grundſatz beider nur
ein und derſelbe iſt.


Indeß hat der Katholicismus, wie die Geſchichte
lehrt, ſich in ſich ſelbſt ſchon oft verwandelt, und
den Zeiten und ihren Beduͤrfniſſen nachgegeben. Selbſt
die Strenge jenes Grundſatzes gehoͤrt keineswegs
ſeiner Idee, ſondern nur einer Zeitentwicklung an,
und ſollte die Freiheit des Wiſſens auch nicht mit
[101] der Tyrannei der Kirche, einem Geſchoͤpf der Zei¬
ten, uͤbereinſtimmen koͤnnen, ſo kann ſie es doch mit
der ewigen Idee des Glaubens. In dieſem Sinn
haben neuere Katholiken, unter andern Goͤrres, auf
der einen Seite den ſtrengſten Glauben, auf der an¬
dern das freieſte Wiſſen angeſprochen und durch die
That gezeigt, wie beides im Katholicismus beſtehen
koͤnne.


Die ſich aber auch nicht zu dieſer Hoͤhe der An¬
ſicht erheben konnten, haben doch der Zeit in ihren
Entwicklungen folgen muͤſſen, und das verſchmaͤhte
Wort ſelbſt ergriffen, um die gefaͤhrliche Waffe ent¬
weder unſchaͤdlicher fuͤr ihre Partei zu machen, oder
ſie in ihrer ganzen Schaͤrfe gegen die Gegner zu
kehren. In dieſer Weiſe ſah man, trotz dem Geſchrei
der Moͤnche, die Gelehrſamkeit der Jeſuiten, wie
trotz dem Geſchrei der Janitſcharen, das europaͤiſche
Kriegsweſen unter den Tuͤrken entſtehn. Man durfte
eine Armatur nicht verſchmaͤhen, die den Feind ſo
maͤchtig machte und opferte Sitten und Maximen auf,
um das Daſeyn zu retten. Die katholiſche Literatur
hat demzufolge einen betraͤchtlichen Umfang erreicht,
und umfaßt wenigſtens halb ſo viele Werke als die
proteſtantiſche. Auch nimmt ſie, wie die Meßkata¬
loge beweiſen, mit jedem Semeſter zu.


Der Katholicismus hat die Nachtheile einer De¬
fenſive zu wohl kennen gelernt, daß er nicht die Of¬
fenſive, es koſte, was es wolle, wieder ergreifen
ſollte. Und die Gegner haben ihm dafuͤr eben ſo
[102] viele Bloͤßen gegeben, als er ſehr geſchickte Vorfech¬
ter gefunden hat. An eine Contrereformation iſt
zwar noch nicht zu denken, doch unverkennbar iſt die
vorſchreitende Bewegung der katholiſchen Partei. In¬
deß iſt dieſe Partei uͤber das, was ſie eigentlich will,
ſo wenig einverſtanden, als vielleicht irgend eine
andre deutſche Partei, weit weniger als es die Geg¬
ner ihnen wider ihr Verdienſt zutrauen. Die conſe¬
quenteſten werfen ſich unbedingt dem Papſt in die
Arme; unter dieſen ſcheinen wirklich einige ſich be¬
friedigen zu wollen, wenn auch Alexander VI. wieder
aufſtuͤnde, andre dagegen hoffen wenigſtens immer
auf den beſten heiligen Vater. Keineswegs ſind aber
alle Verfechter des Katholicismus Ultramontaniſten,
und dieſe gemaͤßigte Partei iſt noch immer von
dem Geiſt jener beſſern Biſchoͤfe beſeelt, die zwiſchen
Jeſuiten und Reformatoren, wie zwiſchen Berg und
Gironde in der Mitte gern allgemeinen Frieden er¬
halten moͤchten. Die Maͤnner dieſer Partei wider¬
ſetzen ſich der Tyrannei des roͤmiſchen Stuhls und
dem Eindringen jeſuitiſcher Soͤldlinge deſſelben, hal¬
ten ſich zu Fuͤrſten und Volk, befoͤrdern Moral und
Unterricht, und wuͤrden ſich ſehr leicht mit einer ge¬
wiſſen proteſtantiſchen Partei, welche ſich im Sinn
der anglikaniſchen Kirche dem Katholicismus naͤhert,
verſtaͤndigen, wenn die politiſchen Verhaͤltniſſe und
zum Theil die Blindheit proteſtantiſcher Zeloten nicht
undurchdringliche Scheidewaͤnde zwiſchen ſie zoͤgen.
Außer dieſen verdient allerdings die Partei der poe¬
[103] tiſchen Katholiken erwaͤhnt zu werden, weil ſie einen
großen Einfluß auf die gebildeten und hoͤchſten Claſ¬
ſen uͤben. Dieſe Partei weiß entweder nicht, was
ſie will, oder ſie will nur die Poeſie des Mittelal¬
ters wieder haben, und kennt in der Regel die poli¬
tiſchen Verhaͤltniſſe zu wenig, um ſich in dieſem Sinn
zu intereſſiren. Sie wird daher nur ein Mittel fuͤr
die Zwecke einer andern Partei, vorzuͤglich der Pa¬
piſten, weil in dem poetiſchen Bilde, das ſie ſich ent¬
worfen haben, der Papſt nothwendig den Mittel¬
punkt einnehmen muß. Es iſt ein großer Fehler der
Proteſtanten, der aber fuͤr ihre Ehrlichkeit zu ſpre¬
chen ſcheint, daß ſie die Entzweiung ihrer Gegner
nicht benutzen, ſondern vielmehr durch ihren Haß und
Widerſtand deren Einigkeit ſo viel als moͤglich be¬
foͤrdern. Was wollen die, die ihr immer verwech¬
ſelt? die Einen wollen unumſchraͤnkte Despotie des
Papſtes, die Andern eine allgemeine friedliche Kirche,
die Dritten eine religioͤſe Kunſt. Dieß ſind ſehr ver¬
ſchiedene Dinge.


Das Papſtthum iſt freilich durch ſeine eigne
Schuld in argen Verfall und noch groͤßern Mißcre¬
dit gerathen. Welche Demuͤthigung hat es erfahren
muͤſſen, und wie hat es ſich durch eigne Laſter lange
Zeit geſchaͤndet und gegen ſich ſelbſt gewuͤthet. Es
iſt alſo nicht zu verwundern, daß die Papiſten einer¬
ſeits an ihre alte Idee und an die alte Achtung vor
derſelben appelliren, andrerſeits an die Gegenwart
[104] ſich halten, auf ihre Ruinen ſich verſchanzen und ver¬
zweifelte Ausfaͤlle thun.


Wir muͤſſen die Idealiſten des Ultramonta¬
nismus
von den Materialiſten deſſelben trennen.
Jenen iſt es um die Idee, dieſen nur um die mate¬
rielle Exiſtenz zu thun. Jene ſind daher ſtreng ge¬
gen die Mißbraͤuche der Kirche ſelbſt, weil ſie die
Idee entweihen, dieſe dagegen geben dieſe Mißbraͤuche
keineswegs zu, ſondern erklaͤren ſie fuͤr ſo heilig, als
die Idee ſelbſt. Der Papſt ſteht demzufolge, wie die
Bourbonen zwiſchen Ideologen und Praktikern, von
denen die Einen fuͤr das Mittelalter predigen, die
Andern fuͤr die Gegenwart handeln. Man kann die
Einen auch Romantiker, die Andern Jeſuiten nen¬
nen, und muß ſie wohl von einander unterſcheiden.
Jene ſind unabhaͤngige Geiſter, dieſe Sclaven. Jene
trennen ſehr genau Idee und Erſcheinung, dieſe hal¬
ten ſich nur an die letztre. Jene vertheidigen fuͤr
den Papſt die Idee der alten Kirche, gegen ihn zu¬
gleich die Freiheit des Wiſſens; dieſe bekuͤmmern ſich
wenig um die Idee, wenn ſie nur das freie Wiſſen
unterdruͤcken koͤnnen, damit man die Erſcheinung beſ¬
ſer glaube. Kurz, jene ſind die Helden einer ewigen
Idee, dieſe die Kopffechter einer vergaͤnglichen Er¬
ſcheinung. Die Gegner des Katholicismus uͤberſehn
dieſes Verhaͤltniß faſt immer und bezeichnen auch die
Ideologen, wie z. B. Goͤrres, mit dem Eckelnamen
Jeſuit. Es ſind gerade die Unfreieſten unter den
Proteſtanten, welche die Freiheit der, katholiſchen
[105] Idealiſten nicht einzuſehn vermoͤgen. Leute, die nach
Freiheit ſeufzen, weil ſie im eignen Geiſt ewig ge¬
feſſelt ſind, erkennen auch die Freiheit im andern
nicht, oder ſehn im Spiegel ihrer Verkehrtheit jeden
in demſelben Maaß fuͤr unfreier an, als er freier
iſt. So hat eine ganze Bande unfreier Seelen ſich
vereinigt, den genialen Goͤrres, deſſen Werke ein
Triumph geiſtiger Freiheit ſind, gleichſam durch
Oſtracismus aus dem deutſchen Sternenhimmel her¬
auszuwerfen. Die Anſicht, von der ſie ausgehn, iſt
ſicher die unfreieſte, die es geben kann. Sie ſchrei¬
ben einem Glauben, in ſeiner bloßen formellen Äuße¬
rung alle Macht uͤber den Menſchen zu, da umge¬
kehrt vielmehr der Menſch die Macht uͤber den Glau¬
ben uͤbt. Sie waͤhnen, daß, ſo gut wie ſie ſelbſt mit
dem Siegel des Proteſtantismus geſtempelt, ſofort
aus Schafen gebildete und freie Menſchen geworden
waͤren, auch auf der andern Seite jeder Menſch,
durch das Siegel des Katholicismus geſtempelt, noth¬
wendig ein Barbar und unfrei werden muͤſſe, und
ſie haben keine Ahnung davon, daß der Katholicis¬
mus im Geiſt eines genialen Menſchen eine eben ſo
wuͤrdige Geſtalt annehmen koͤnne, als der Proteſtan¬
tismus in dem ihrigen allerdings in eine unwuͤrdige
karrikirt wird.


Es gibt uͤber alle Verderbniſſe des Katholicis¬
mus weit erhaben, noch kraͤftige, reine Naturen, rie¬
ſenhafte Genien, in denen die Idee wiedergeboren
wird, denen der Myſticismus des Mittelalters or¬
[106] ganiſch inwohnt, wie er ganzen Generationen der
Vergangenheit ingewohnt. Unſtreitig hat es zu allen
Zeiten Charaktere gegeben, die als Repraͤſentanten
einer andern kuͤnftigen oder vergangenen Zeit betrach¬
tet werden muͤſſen. Wie im Mittelalter ſelbſt Arnold
von Brescia, Petrarca und andre Vorboten der neuen
Zeit, und von proteſtantiſch-republikaniſchem Geiſt
durchdrungen geweſen, ſo hat unſre Zeit wieder ihre
Repraͤſentanten des Mittelalters, die nicht auf eine
aͤußere Weiſe durch Liebhaberei an jene Vergangen¬
heit geknuͤpft, ſondern innerlich von ihrem Weſen be¬
ſeelt, organiſch mit ihr verwachſen ſind. Sie leben,
denken und empfinden nur im Sinn des Mittelalters,
alles tritt ihnen unter dieſen Geſichtspunkt, und
wenn ſie zugleich die Bildung der neuern Zeit in ſich
aufgenommen, ſo huldigt dieſelbe doch der mittelal¬
terlichen Idee, und dient nur, das Licht derſelben in
einer neuen Welt von Bildern, Gedanken und Em¬
pfindungen auszuſtrahlen. In dieſer Weiſe haben
Tieck und Goͤrres uns die Tiefen jener Weltanſicht
offenbart, die als die bewegende Seele einer der
groͤßten Epochen der Geſchichte mit der Entwicklung
des Geſchlechts innig zuſammenhaͤngt und in der
menſchlichen Natur tiefe Wurzeln geſchlagen, eine
Weltanſicht, die dem Mittelalter unter den Bedin¬
gungen einer reichern Natur und einer minder vor¬
geſchrittenen Cultur offenbart worden, deren Vermitt¬
lung fuͤr den Culturzuſtand in unſrer Zeit aber noth¬
wendig einmal erfolgen mußte. Tieck hat als Dich¬
[107] ter in der poetiſchen Auffaſſung des Lebens, der
Kunſt und der Charaktere des Mittelalters, Goͤrres
als Philoſoph in der reifſten organiſchen Entfaltung
der altkatholiſchen Grundidee, jene Myſtik wieder¬
weckt und ihr Raͤthſel uns geloͤst. Franz Baader
hat ſogar den Verſuch gemacht, die ſpaͤtere Myſtik,
die aus dem Pietismus der Proteſtanten hervorge¬
gangen, namentlich die Myſtik Jakob Boͤhmens, fuͤr
den Katholicismus zu vindiciren. Dergleichen Er¬
ſcheinungen ſind bedeutungsvoll, da ſie eine Annaͤhe¬
rung der nur dem Namen nach getrennten, der Idee
nach verwandten Parteien bezeichnen.


Indem ſolche freie Geiſter ſich uͤber die hiſtori¬
ſchen Entwickelungen und uͤber den materillen Ver¬
fall der Kirche erhoben haben, ſind ſie ſehr verſchie¬
den von den befangenen Geiſtern, welche nur die
Erſcheinung, die gegenwaͤrtige, verderbte anerkennen
und vertheidigen, wiewohl ſie dieſen wenigſtens ge¬
gen die Proteſtanten gelegen kommen. An den Ver¬
tretern einer hinfaͤlligen Erſcheinung mag man frei¬
lich vieles auszuſetzen finden, doch ſoll man nicht
vergeſſen, was die Barbarei, die jeden Kriegszuſtand
begleitet, dabei verſchuldet hat, ſo gut wie manche
Gebrechen des Proteſtantismus durch denſelben Um¬
ſtand entſchuldigt werden. Der Glauben iſt das
Schoͤnſte im Reich der Geiſter, wie das Weib das
Schoͤnſte in der Natur. Beide verzerren ſich in die
aͤußerſte Haͤßlichkeit, wenn ſie ſtatt Liebe Haß fin¬
den, und in ohnmaͤchtigem Kampfe doch nicht ſterben
[108] koͤnnen. Beide treibt die Verzweiflung eines unna¬
tuͤrlichen Verhaͤltniſſes auch zu eigner Unnatur, die
ihnen zuletzt zur andern Natur wird. Die Suͤßig¬
keit, das Vertrauen und die ſtille Macht der Liebe
werden Gift, Verrath, Gewaltthat.


Es iſt in der That ein erhabenes und aͤcht tra¬
giſches Schauſpiel, das uns die alte Kirche gewaͤhrt,
bald Medea, bald Niobe, bald Entſetzen, bald Weh¬
muth erweckend. Unheilbar verwundet, kann ſie doch
nicht ſterben. Von einer Fuͤlle innerer Ideen ge¬
ſchwellt, findet ſie nirgends Raum. An Herrſchaft
und Liebe gewoͤhnt, findet ſie keine Arme und keine
Herzen. Wie der alte Koͤnig Lear ward ſie verſto¬
ßen und mußte betteln von den kaiſerlichen Schwie¬
gerſoͤhnen und ward mißhandelt, gepluͤndert, gefan¬
gen, und ſah die geliebte und verkannte Cordelia,
des Herzens tiefen Glauben, grauſam gemordet. Jetzt
hat man ſie endlich wieder befreit und ehrt ihr Alter
und laͤßt ſie wieder regieren unter einer ſanften Vor¬
mundſchaft. Sie lebt nun auf, aber was ſoll aus
ihr werden? Mit ihrem Anſpruch auf die hoͤchſte
Autoritaͤt tritt ſie wieder in die Mitte ſo vieler
andrer Anſpruͤche, die Gewalt und Beſitz und das
Zeitalter fuͤr ſich haben. Mit Liebe ſoll ſie regieren,
und die Sklaven, die ſich ihr zum Dienſt aufdraͤn¬
gen, kennen nur Liſt und Gewalt.


Der Ultramontanismus hat es ſeit der Refor¬
mation wohl gefuͤhlt, daß er mit doppelter Zunge
reden muͤſſe, mit der goͤttlichen und menſchlichen, mit
[109] der einen, um Befehle zu geben, mit der andern, um
die Gemuͤther fuͤr den Gehorſam zu bearbeiten. Die
zweite Stimme wurde den Jeſuiten anvertraut, und
abgeſehn von dieſem Namen vernehmen wir ſie noch
heute, ja in der juͤngſten Zeit der Reſtauration weit
oͤfter, als in der vorhergehenden der Revolutionen.
So lange das Zeitalter roh, ungeſchlacht und unver¬
ſchaͤmt war, mußten die Jeſuiten vorzuͤglich Feinheit
gebrauchen, weil ſie den Feind nur von hinten her
anfallen konnten. Nun das Zeitalter in dieſer Schule
ſelber fein genug geworden iſt, muͤſſen ſie es umge¬
kehrt mit der Unverſchaͤmtheit verſuchen, weil ſie
dem vorſichtigen Feind ſo geradezu von vorn unver¬
ſehens kommen, und ihn aus der Faſſung bringen.
Dieſer Kriegsmanier getreu, ſtudiren ſelbſt die Klu¬
gen unter ihnen auf Dummheit, und ſtellen ſich ſo
brutal als moͤglich, was auch zum Theil deßwegen
nothwendig iſt, weil ſie es jetzt auf den Poͤbel abge¬
ſehn haben, waͤhrend ſie ehemals nur die hoͤhern
Staͤnde zu uͤberliſten trachteten. Zur Zeit der Re¬
formation galt es ihnen, die Anſpruͤche des Volks
durch die Fuͤrſten, jetzt gilt es ihnen, die Anſpruͤche
der Fuͤrſten durch das Volk in Schranken zu halten.
Damals richtete ſich die Einſicht des Volks gegen
den Glauben, jetzt richtet ſich die weltliche Macht
gegen die Hierarchie.


Wer mag es laͤugnen, daß es neben jenen geni¬
alen Ideologen und neben den ehrwuͤrdigen und fried¬
lichen Prieſtern der Kirche auch eine, in Deutſchland
[110] nur geringe Anzahl von Aſſaſſinen der ſieben Berge
gibt, die ſich, eine zweite Judenſchaft, zu Kammer¬
knechten des heiligen Stuhls aufgedrungen und auf
den Maͤrkten auch der Literatur umherſchleichen und
uns auch dießmal ſtatt des Ablaſſes, der ſehr charak¬
teriſtiſch die Reformation bezeichnet, jetzt Feſſeln brin¬
gen, die eben ſo charakteriſtiſch das Zeitalter der
Reſtauration bezeichnen. Man kann ſie wie die Ju¬
den in altteſtamentaliſche Schwaͤrmer und in Schlau¬
koͤpfe eintheilen, und wo ſie ſich anlegen, gibt es
Schmutz. Dieſer Schmutz, womit ſie alles, was die
Entwicklung der Zeit dieſſeits der Reformation ſe¬
gensreiches mit ſich gebracht, auf empoͤrende Weiſe
beſudeln, ihre dummdreiſte Verlaͤugnung aller Erfah¬
rung, des Zeitgeiſtes und der Cultur, und die wider¬
liche Affectation, mit der ſie dennoch einen philoſo¬
phiſchen Styl erkuͤnſteln moͤchten, ihre unverſchaͤmte
Zelotengeberde, die Blutgier, die uns aus ihrem
Wolfsrachen unter dem Schafpelz entgegenlechzt, und
die Raffinerie, womit ſie Perſonen verlaͤſtern und
verfolgen, um in den Haͤuptern die Heerde zu ſchla¬
gen, alle dieſe Kunſtgriffe ſtempeln ihre Werke zu
dem Elendeſten, was die Literatur hervorbringen
kann, und Dank ſey es der Wachſamkeit der Prote¬
ſtanten, die wenigſtens die Ehre der Literatur rettet,
indem ſie wie ein reinlicher Hauswirth den Schmutz
auskehrt, ſollte ſie auch die Gefahr, die davon droht,
zu ſehr uͤberſchaͤtzen. Dieſe verzweifelten Zeloten ſind
der großen gemaͤßigten Partei unter den Katholiken
[111] ſelbſt verhaßt, und die Proteſtanten wiſſen ſie von
ſich abzuhalten. Sie beflecken mehr, als ſie ſchaden,
und man kann ihre Tiraden, wenn man Luſt hat, als
Proben deutſcher Preßfreiheit ſogar ſchaͤtzen. Sollte
jedoch das Jahrhundert wirklich ſo einfaͤltig ſeyn,
ſich durch ihre Capuzinaden bekehren zu laſſen, ſo
waͤre es werth, bekehrt zu werden.


Eine ſehr achtbare Partei unter den Katholiken
iſt jenen Umtrieben des Ultramontanismus durchaus
fremd, und vertritt zwar die allgemeine Kirche, aber
nicht die unbedingte Herrſchaft Roms und den Mi߬
brauch derſelben. Sie will Frieden und Eintracht,
und deshalb auch Verſoͤhnung der Kirche mit den
dringendſten Anforderungen des Zeitgeiſtes. Sie folgt
dem guten Beiſpiel der Proteſtanten in Ruͤckſicht auf
Bildung und ſucht im Geſchmack Joſephs II. auch im
Dunkel jener Kirche eine gewiſſe Aufklaͤrung zu ver¬
breiten. Sie traͤgt zur Verbeßrung der Schulen bei,
und vermehrt und reinigt die Unterrichts- und Er¬
bauungsbuͤcher, wobei freilich eine arge Proſa unter¬
laͤuft. Sogar die Bibel wird in einer aͤußerſt nuͤch¬
ternen Überſetzung verbreitet, endlich wird Toleranz
gepredigt und namentlich gegen die Mitbuͤrger deſſel¬
ben Staates, und der beſtehende Staatsverband wird
den Feſſeln Roms gegenuͤber in Schutz genommen
und angeprieſen. Auf dieſe Weiſe neigt ſich die hier
bezeichnete Partei allerdings zur politiſchen Kirche
der Proteſtanten, und die Mitglieder dieſer Partei,
die am weiteſten gehn, treten auch in die Tochter¬
[112] kirche uͤber, ſobald die ſtrenge Mutter ſie verfolgt,
wie wir mehrere bekannte Beiſpiele erlebt haben.
Indeß herrſcht in dieſer Partei, wie in jeder gemaͤ¬
ßigten, zu wenig Selbſtſtaͤndigkeit und Kraft, und ſie
iſt ein Spielzeug in der Hand bald der paͤpſtlichen,
bald der weltlichen Macht, je nachdem die eine oder
andre uͤberwiegt. Auch ſind die Unterſchiede ihrer
und der proteſtantiſchen Lehre zu groß, und die Ei¬
ferſucht der Parteien zu blind, als daß ein eigentli¬
cher Übergang der einen in die andre moͤglich wer¬
den koͤnnte.


Die poetiſchen Katholiken werden von der
ſchoͤnen ſinnlichen Seite des Katholicismus, von der
Myſtik ſeiner Ideen, und nicht minder von den Wun¬
dern ergriffen, die er in der Geſchichte und in der
Kunſt hervorgebracht. Ihr reizbares Temperament
liebt die erhabenen Eindruͤcke der Kirchenpracht, ihr
Sinn fuͤr das Schoͤne vertieft ſich in die Zauber der
religioͤſen Kunſt; ihr gluͤhendes Gefuͤhl ſchwelgt in
Andacht und Begeiſterung und gibt ſich am heiligen
Ort, in heiliger Stunde der ſchoͤnen Ahnung einer
naͤhern Gegenwart Gottes hin; ihre geſchaͤftige Phan¬
taſie findet in der Mannigfaltigkeit der religioͤſen
Mythen, Bilder und Gebraͤuche alle Befriedigung,
deren ſie bedarf, ihre Neigung zum Überſinnlichen,
ihr Hang nach myſtiſchen Raͤthſeln, ihr Tiefſinn, der
immer das am liebſten zum Gegenſtande der Betrach¬
tung waͤhlt, was jenſeits der Grenzen des Wiſſens
liegt, und ſelbſt die Verwegenheit ihres ſcharfen Ver¬
[113] ſtandes, in immer tiefern Speculationen den Urgrund
des Daſeyns zu ergruͤbeln, findet in den Myſterien
des katholiſchen Glaubens eine reiche Nahrung; end¬
lich die Vorliebe fuͤr das Alterthuͤmliche, das den
poetiſchen Gemuͤthern eigen zu ſeyn pflegt, findet in
den Erinnerungen des Katholicismus, in den gewal¬
tigen und ruͤhrenden Bildern des Mittelalters wie
die ſchoͤnſten Gegenſtaͤnde des Genuſſes, ſo die wuͤr¬
digſten Stoffe fuͤr den darſtellenden Kunſttrieb. Wenn
man das Daſeyn vieler warmen, ſinnlichen, poeti¬
ſchen Seelen nicht laͤugnen kann, ſo muß man auch
zugeben, daß ſie ganz vorzuͤglich vom Katholicismus
ergriffen werden muͤſſen, und ihre bedeutendſten Schrif¬
ten beweiſen hinlaͤnglich, daß ihre Begeiſterung rein
aͤſthetiſch und auf keine Weiſe erheuchelt iſt. Es ge¬
hoͤrt daher nur zu den Thorheiten ihrer uͤberreizten
Gegner, unter ihnen verkappte Jeſuiten zu wittern,
und alle ihre poetiſche Begeiſterung nur fuͤr ein Blend¬
werk zu halten, und auszugeben, hinter welcher ſich
nur boshaftes Raffinement hierarchiſcher Abſichten ver¬
ſtecke. Namentlich hat Voß dieſe gehaͤſſige Meinung
ausgeſprochen, ein Mann, der uͤberall nur Schwarz
und Weiß und keine Farbe gekannt zu haben ſcheint.
Die poetiſchen Katholiken haben ſich in andaͤchtigen
Herzensergießungen, in hiſtoriſchen und poetiſchen
Schilderungen und zum Theil in polemiſchen Schrif¬
ten geltend gemacht. Wie der ſchoͤne ſinnliche Got¬
tesdienſt der Gegenſtand ihrer Neigung iſt, ſo iſt der
nuͤchterne, verſtaͤndige ein Gegenſtand ihrer Abnei¬
[114] gung. Überdem iſt es gewoͤhnlich der ſtrenge Gegen¬
ſatz ihrer angebornen Natur und ihres anerzognen
Glaubens, der ſie zu ſo eifrigen Vertheidigern des
Katholicismus gemacht hat; es ſind gewoͤhnlich ur¬
ſpruͤnglich Proteſtanten, die in ihrer Kirche ſich nicht
befriedigt gefunden und Proſelyten geworden ſind.
Geborne Katholiken werden von Jugend auf an ihre
Kirche gewoͤhnt, Proteſtanten erſcheint ſie neu, wun¬
derbar, und der Contraſt, der ſie zum Übertritt ver¬
anlaßt, erweckt ihnen auch den Eifer, der alle Pro¬
ſelyten auszuzeichnen pflegt.


Man hat vorzuͤglich bemerkt, daß die meiſten
jener poetiſchen Gemuͤther in Rom bekehrt werden,
daß der Anblick dieſer Stadt den Eindruck aus ſie
macht, der ſie zu einem, wie man nicht laͤugnen
kann, ſo gewagten Entſchluß bringt. Dies beweist
aber gerade, von welcher Seite ſie den Katholicis¬
mus betrachten. Es iſt nicht ſowohl der Glaube, der
hier und dort derſelbe iſt, ſondern die ſchlechte Dorf¬
kirche, die ſie hier kalt laͤßt, und das prachtvolle
Rom, das ſie dort mit den gewaltigen Eindruͤcken
der Kunſt bezaubert.


An die poetiſchen Katholiken hat ſich eine Schar
armer Suͤnder angeſchloſſen, uͤber welche die Pro¬
teſtanten ein gewaltiges Geſchrei erhoben haben. Es
gibt naͤmlich viele ſinnliche und verſtandesſchwache
Menſchen, die eben ſo ſtark zur Suͤnde hingetrieben
werden, als ſie ſich vor dem dunkeln Verhaͤngniß
fuͤrchten, das ſie ſtrafen ſoll. Solche fluͤchten, be¬
[115] ſonders im Alter, in den Schooß einer Kirche, die
ihnen Vergebung aller Suͤnden unbedingt gewaͤhren
kann, waͤhrend ihnen der Proteſtantismus die ſchwere
Bedingung der Beſſerung auflegt. Nachdem ſie alle
phyſiſchen und geiſtigen Wolluͤſte durchgenoſſen, ſu¬
chen ſie jene alleinſeligmachende Mutter auf und moͤch¬
ten gerne, von ihrer Liebe getragen, lebendig zum
Himmel fahren. Doch gibt es auch wieder andre,
die zwar ziemlich moraliſch leben, aber eine ganz er¬
baͤrmliche Furcht vor dem alten Adam, vor der Erb¬
ſuͤnde und vor allen den Fehlern haben, die ſie un¬
bewußt begehen, und die ſie um die Seligkeit zu
bringen drohen. Um alſo auf alle Faͤlle ſicher zu ſeyn,
ergeben ſie ſich in die Gnade des Apoſtels, der das
Amt der Schluͤſſel fuͤhrt. Nach dem Maaß ihrer Suͤnd¬
haftigkeit machen die erſtern auch mehr, als die letz¬
tern von der Gnade Geraͤuſch und uͤbertaͤuben ſich
ſelbſt und andre mit ihren Verſicherungen. So talent¬
voll aber auch einige dieſer gefallenen Engel den Ka¬
tholicismus geprieſen haben, ſie laſſen doch immer
einen Reſt zuruͤck, der nicht aufgeht, ihr irdiſch Theil
von Selbſtbetrug oder Schmutz, der dann mit dem
Heiligen, das ſie verfechten, in den auffallendſten
Contraſt tritt und mit Recht jeden ehrlichen Mann
indignirt.


Wenden wir uns zur proteſtantiſchen Lite¬
ratur, ſo kann uns nicht entgehn, daß ſie ungleich
der katholiſchen eine hoͤhere Bedeutung fuͤr die Con¬
feſſion und einen groͤßern Einfluß auf die Confeſſions¬
[116] verwandten hat. Die Katholiken pflanzen ihr Syſtem
durch einfache Tradition und aͤußere Zeichen fort, ſie
verlangen blinden Glauben und Gehorſam ohne alle
Reflexion. Die Proteſtanten dagegen wollen uͤber¬
zeugen und uͤberzeugt ſeyn und verlangen eine ſtets
erneute Pruͤfung des Syſtems. Darum ſind das Wort
und die Schrift die Fundamente, deren ſie nicht ent¬
behren koͤnnen. Unterricht, Predigten und Buͤcher
ſind von der Lehre der Proteſtanten unzertrennlich.
Dies verleiht natuͤrlich der proteſtantiſchen Literatur
an Maſſe und Erudition ein unverhaͤltnißmaͤßiges Über¬
gewicht uͤber die katholiſche, ſetzt ſie aber auch allem
Verderben der Vielſchreiberei aus.


Wer wollte nicht erkennen, daß der gewaltige
Umſchwung des Denkvermoͤgens und der Sprache,
der die Hoͤhe der literariſchen Bildung, auf welcher
wir jetzt glaͤnzen, herbeigefuͤhrt hat, unmittelbar an
die Anfaͤnge des Proteſtantismus geknuͤpft iſt. Wie
jener titanenhafte Held, der die Blitze des Capitols
in gewaltiger Hand aufgefangen, und auf die alten
Goͤtter zuruͤckgeſchleudert, zugleich des Wortes und
der Schrift vor allem maͤchtig war, und in ſeiner
deutſchen Bibel den Felſen gegruͤndet, auf dem die
neue Kirche ſich erbaut, ſo hat der Geiſt, deſſen
Verkuͤnder er geſendet war, fort und fort mit der
Freiheit des Denkens die Bildung deſſelben gepflegt,
und von proteſtantiſchen Schulen und Univerſitaͤten
iſt zunaͤchſt alle Erudition der Wiſſenſchaft, Sprache
und Literatur ausgegangen.

[117]

Indeß hat dieſer neue Geiſt auch in der prote¬
ſtantiſchen Kirche ſich von den Banden der Autoritaͤt,
die jeder Kirche den Haltpunkt gibt, nicht zu loͤſen
gewußt, und unwillig uͤber die laͤſtigen Feſſeln, die
Theologie ihrem Mechanismus uͤberlaſſen, und ſich
mit allen organiſchen Kraͤften auf die weltlichen Wiſ¬
ſenſchaften und Kuͤnſte geworfen. Unter dem aͤußern
Schutz, den die proteſtantiſche Kirche gewaͤhrte, ge¬
wann die Philoſophie, die Naturwiſſenſchaft, Juris¬
prudenz, Geſchichte, Philologie alle die Freiheit,
ohne welche ſie zu der hohen Ausbildung, worin wir
jetzt ſie finden, nie haͤtten gelangen koͤnnen, und ſo¬
mit ward die Theologie mittelbar eine Traͤgerin der
ſchoͤnſten Bluͤthen der Cultur, unmittelbar ſelbſt aber
verbaute ſie ſich in ein Syſtem von Ruͤckſichten und
Beſchraͤnkungen, die ſich ihr als Nothwendigkeit auf¬
draͤngten, und mitten im Negiren und Proteſtiren,
mußte ſie doch etwas Poſitives feſthalten, und ſie
konnte das Princip der Autoritaͤt, Legitimitaͤt und
Stabilitaͤt, wiewohl ſie es am Katholicismus ver¬
worfen hatte, doch ſelber nicht entbehren, und nahm
es nur unter ganz andern Formeln wieder auf.


Wir unterſcheiden eine doppelte Bedingung alles
Poſitiven im Proteſtantismus, die Bibel und die ſym¬
boliſchen Buͤcher. Aller Geiſt, der dieſen Bedingun¬
gen ſich nicht fuͤgen kann, entweicht auf die weltliche
Seite, in die Philoſophie, und der in der Theologie
zuruͤckbleibt, muß ſich an eine abſolute Autoritaͤt hiſto¬
riſcher, in der Schrift niedergelegter Tradition bin¬
[118] den. Hieraus hat ſich ein doppeltes Verhaͤltniß ent¬
wickelt, das der religioͤſen Diplomatik, welche die
gegebenen Urkunden interpretirt, und das einer ge¬
ſchloſſenen Prieſterſchaft, welche die Urkunden und
das Schema fuͤr deren Interpretation bewacht.


Die proteſtantiſche Theologie bedarf eines rei¬
chen diplomatiſchen, philologiſchen, antiquariſchen und
hiſtoriſchen Apparats. Darum werden die Lehrlinge
derſelben weniger aus Leben und an das eigne Herz
gewieſen, als an die Buͤcher, und das Studium
nimmt ſie von fruͤher Jugend auf in Anſpruch. Die
Lichtſeite dieſer philologiſchen Theologie bewaͤhrt ſich
in vielen glaͤnzenden Erſcheinungen. An das Stu¬
dium der alten Sprachen, zum Dienſt der Exegeſe,
knuͤpft ſich das Studium des ganzen Alterthums, und
indem wir die Bildung der Griechen und Roͤmer uns
aneignen und nach dem vergroͤßerten Maaß unſrer Mit¬
tel weiter entwickeln, entſteht eine unermeßliche Kette
von Wirkungen, woran alles geknuͤpft iſt, was die
neue Literatur auszeichnet. Aber auch die Exegeſe
ſelbſt und die reiche Commentation der in der heili¬
gen Schrift enthaltenen Lehren bedingen eine ſolche
Verfeinerung des Scharfſinns und eine ſolche Ver¬
vielfaͤltigung und Durcharbeitung von Begriffen, daß
allein von dieſer Seite fuͤr den menſchlichen Geiſt
ausnehmend viel gewonnen wird. Beſonders wird,
ſeit man vom Myſtiſchen nichts mehr wiſſen will, ſeit
man das Sinnliche verdammt und die Gefuͤhle nur
wie Nebel betrachtet, die man durch die Sonne des
[119] Verſtandes aufhellen muͤſſe, in der logiſchen Abwaͤ¬
gung der Pflichten das Trefflichſte geleiſtet, und wenn
man annehmen darf, daß der groͤßere Theil der ge¬
bildeten Welt nicht mehr fuͤr innere Erregungen, ſon¬
dern nur fuͤr aͤußre mathematiſche Beweiſe empfaͤng¬
lich iſt, ſo mag es ganz an der Zeit ſeyn, daß man
ihr die Tugend beweißt. Als ein beſondrer Vorzug
unſrer proteſtantiſchen Literatur muß ferner hervor¬
gehoben werden, daß ſie ungleich der katholiſchen ge¬
gen diſſentirende Schriften tolerant iſt, und ſtatt des
einzigen catalogi librorum probibitorum lieber die
ganze Menge der abweichenden Buͤcher in ihren hiſto¬
riſchen Apparat einregiſtrirt und ſie der Vergeſſen¬
heit ſelbſt dann entzieht, wenn ſie keine Anhaͤnger
mehr haben. Dieſer Toleranz verdanken wir die Er¬
haltung vieler trefflicher Werke ſowohl von Theoſo¬
phen als von Freigeiſtern.


Die Schattenſeite der philologiſchen Theologie
trifft auf gleiche Weiſe das Leben, wie die Literatur.
Was ſo oft den in Kloͤſtern erzogenen Prieſtern der
Katholiken vorgeworfen worden iſt, daß ſie an me¬
chaniſche aͤußere Werke gewoͤhnt, ohne Kenntniß des
Lebens und der Menſchen, nicht wuͤrdig zur Sorge
fuͤr die Seelen vorbereitet werden, kann man mit
gleichem Recht auch auf viele proteſtantiſche Prediger
anwenden, die in ihre Gemeinden treten und nur
Buͤcher, nicht die Menſchen kennen. In der Literatur
aber wird ohnſtreitig der uͤberwiegende Einfluß der
Philologie und Diplomatik dem Glauben ſelber nach¬
[120] theilig. Unter der erdruͤckenden Laſt von Citaten wird
das Herz leicht beengt, die Critik macht kalt und die
Schranken der Bibel wie der ſymboliſchen Buͤcher
bedingen einen Mechanismus der Formen, der mit
ſtereotypiſchen Redensarten und todtem Buchſtaben¬
kram den Geiſt oft eben ſo austreibt, wie ihn die
aͤußre Werkthaͤtigkeit der Katholiken ausgetrieben.


Daran knuͤpft ſich auch unmittelbar der Kaſten¬
geiſt, deſſen Spuren die Literatur nicht abweiſen kann.
Die Proteſtanten kommen damit in eine aͤhnliche ſchwan¬
kende Stellung, wie die Katholiken mit ihren oben
bezeichneten Aufklaͤrungsverſuchen, weil ſie etwas wol¬
len, was mit dem herrſchenden Syſtem ihrer Lehre
heterogen iſt. Aus der groͤbſten Orthodoxie hat ſich
die Theologie allerdings ſeit dem vorigen Jahrhun¬
dert gluͤcklich befreit, und die boͤſen Zeiten ſind vor¬
bei, da ſich Lutheraner und Reformirte auf offenem
Markt hinrichteten und in Schriften aͤrger als Tuͤr¬
ken und Papſt verketzerten; doch erhitzen ſich einige
Geiſtliche immer noch am Studium der alten Kaͤmpfe
zu neuer Scheelſucht. Am ſtrengſten iſt die Prieſter¬
ſchaft uͤberall gegen den aufkeimenden Pietismus ver¬
fahren, weil ein natuͤrlicher Inſtinkt ſie lehrt, daß
ihrem Syſtem von dort eine noch verborgne, darum
deſto groͤßer ſcheinende Gefahr droht. Den Laien ge¬
genuͤber haben die proteſtantiſchen Prieſter uͤbrigens
im Allgemeinen dem humanen Sinn entſprochen, den
Luther, der erſte Buͤrger unter den Prieſtern, in ſie
gepflanzt. Sie haben wohl auch hin und wieder nach
[121] Hierarchie geſtrebt, aber der weltliche Arm hat ſie
niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will,
daß ſie dem Zeitgeiſt mit Überzeugung nachgegeben
haben, ſo muß man doch wenigſtens eingeſtehn, ſie
haben aus der Noth eine Tugend gemacht.


Betrachten wir die poſitiven Doctrinen, die Re¬
ſultate der theologiſchen Kritik, wie ſie von den erſten
Reformatoren feſtgeſtellt worden ſind, doch mannig¬
faltigen Modificationen Raum gewaͤhrt haben, ſo
laſſen ſich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬
ruͤckfuͤhren. Es gibt eine orthodoxe Partei, ſowohl
unter Reformirten, als Lutheranern, die ſich ſtreng
an die ſymboliſchen Buͤcher haͤlt, deren Glaube auf
den Buchſtaben gegruͤndet iſt. Es gibt ſodann eine
kritiſche Partei, die in der Exegeſe die hoͤchſte Frei¬
heit des Scharfſinns und der Urtheilskraft geltend
macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die
Logik gruͤndet, daher ihr ruͤſtiger Vorkaͤmpfer, Paulus
in Heidelberg, ſie mit dem neuen, aber treffenden
Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬
tei endlich haͤlt ſich rein an die Bibel, abgeſehen ſo¬
wohl von den ſymboliſchen Buͤchern, als von der
Kritik, und erſetzt die Auslegung durch Gefuͤhle, die
ſie ſchon wieder auf eine myſtiſche Weiſe durch das
bloße Wort erregt fuͤhlt. Wo Phantaſie und Sinn¬
lichkeit mit ins Spiel kommen, ſtreift dieſe Partei
nicht ſelten ins katholiſche Gebiet hinuͤber, wo nur
vorherrſchende Gemuͤthskraft, Sehnen nach Andacht,
Liebe, Zerknirſchung und Buße waltet, in den Pie¬
Deutſche Literatur. I. 6[122] tismus. Wir beſitzen namhafte Theologen, denen von
groben Orthodoxen und feinen Kritikern bald das
Eine, bald das Andre vorgeworfen wird, ohne daß
eine foͤrmliche aͤußere Abweichung Statt faͤnde.


Waͤhrend der Proteſtantismus auf dieſe mannig¬
fache Weiſe poſitiv ſich ausſpricht, negirt er unun¬
terbrochen den Katholicismus und, wie der Kampf
auch periodiſch nachlaͤßt, er dauert mit ſeinem Ge¬
genſtand fort. Der Proteſtantismus iſt aus der Ne¬
gation entſprungen und traͤgt davon ſeinen Namen.
Sein Weſen beruht zunaͤchſt in dieſer Negation, wie
er auch wieder poſitiv ſich geſtalten mag, und die
Negation ruht nicht, ſo lange der Katholicismus ihm
gegenuͤber ſteht. Die Art und Weiſe der Negation
iſt aber ſo verſchieden, als die der Poſition. Ur¬
ſpruͤnglich war es der Verſtand, der ſich aus den
Banden der alten Kirche befreite, und er iſt es noch,
deſſen ſcharfes Schwert von den Kritikern gegen Rom
geſchwungen wird. Die orthodoxe Partei hat dage¬
gen die Freiheit des Begriffs an das Wort abgege¬
ben und ficht mit Buchſtaben. Die Pietiſten endlich
haben wie den Verſtand, ſo das Wort aufgegeben
und waffnen ſich mit dem Gefuͤhl.


Bei dieſem großen Kampfe iſt ein Umſtand von
vorzuͤglicher Wichtigkeit, der aber nur von den Kri¬
tikern und Pietiſten gewuͤrdigt wird. Dem Katholi¬
cismus ſteht naͤmlich, ſofern er der ſinnlichen Rich¬
tung gefolgt iſt, allerdings die verſtaͤndige und ge¬
muͤthliche gegenuͤber; aber auch, ſofern er das Prin¬
[123] cip der Stabilitaͤt in ſich aufgenommen hat, das
Princip der Evolution. Der Erſtarrung muß di[e] Be¬
wegung, dem Tode das Leben, dem unveraͤnderlichen
Seyn ein ewiges Werden ſich entgegenſetzen. Hierin
allein hat der Proteſtantismus ſeine große welthiſto¬
riſche Bedeutung gefunden. Er hat mit der jugendlichen
Kraft, die nach hoͤhrer Entwicklung draͤngt, der grei¬
ſen Erſtarrung gewehrt. Er hat ein Naturgeſetz zu
dem ſeinigen gemacht und mit dieſem allein kann er
ſiegen. Diejenigen unter den Proteſtanten alſo, welche
ſelbſt wieder in eine andre Art von Starrſucht ver¬
fallen ſind, die Orthodoxen, haben das eigentliche
Intereſſe des Kampfs aufgegeben. Sie ſind ſtehn ge¬
blieben, und duͤrfen von Rechts wegen ſich nicht bekla¬
gen, daß die Katholiken auch ſtehn geblieben ſind.
Man kann nur durch ewigen Fortſchritt, oder gar
nicht gewinnen. Wo man ſtehn bleibt, iſt ganz einer¬
lei, ſo einerlei, als wo die Uhr ſtehn bleibt. Sie iſt
da, damit ſie geht.


Die Orthodoxen haben gegen das Papſtthum nur
dieſelben Seiten herauskehren koͤnnen, welche dieſes
gegen ſie gerichtet hat. Dort ſahen wir Stillſtand
und hier wieder, dort Infallibilitaͤt und hier, dort
Fanatismus und hier, dort eine Prieſterſchaft und
hier, dort viele Ceremonien und wenig Worte, hier
viele Worte und wenig Ceremonien. Die Kritiker
haben ſich daher genoͤthigt geſehn, von Zeit zu Zeit
die Fanatiker des Proteſtantismus ſo gut zu bekaͤm¬
pfen, wie die roͤmiſchen.

6 *[124]

Dieſe Kritiker auf der einen, die Pietiſten auf
der andern Seite ſind wirklich fortgeſchritten. Indem
ſie aber eben deßhalb immer, ſey es Idee oder nur
Begriff und Gefuͤhl von dem Einfluß hiſtoriſcher For¬
men unabhaͤngig zu machen geſucht, und die Religion
gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬
bens gegen die einmal als guͤltig anerkannten Nor¬
men deſſelben vertheidigt haben, ſind ſie in das ſon¬
derbare Verhaͤltniß gerathen, gleichſam außerhalb der
Geſchichte zu ſtehn, und die Religion, wie eine Phi¬
loſophie, vom Leben der Geſellſchaft zu trennen. Sie
eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder ſehen
mit Mitleid auf die Beduͤrfniſſe der Schwachen herab,
und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus
den Haͤnden einer unabhaͤngigen Hierarchie befreit,
um ſie unter weltliche Miniſterien zu ſtellen, wie al¬
les, was oͤffentlich iſt. Dieſer precaͤre Zuſtand ſcheint
unſrer Zeit vollkommen angemeſſen, indem er die Un¬
gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten
befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit laͤßt, zu
glauben, was ſie wollen. Er iſt aber auch nur pre¬
caͤr, denn er dient nur der Entwicklung. Dieſer
muͤſſen wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch
welche wunderbare Wege die Vorſehung den Glauben
fuͤhren mag.


Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts, ſo muͤſſen wir die Ratio¬
naliſten und Pietiſten ſegnen, die dem menſchlichen
Geiſt auch nach dieſem ſchweren Drucke wieder Luft
[125] gemacht, und hat der Zuſtand der Proteſtanten ſeit¬
her auch zuweilen einem frechen Libertinismus und
einer gehaͤſſigen Sectirerei Raum gegeben, ſo hat die
Freiheit, die er edlern Geiſtern vergoͤnnt hat, doch
auch die ſchoͤnſten Fruͤchte getragen.


Betrachten wir zuerſt die Kritiker oder die Hel¬
den des Verſtandes, unter denen ich nur den großen
Namen Leſſing nennen will, um ſie charakteriſtiſch
genug zu bezeichnen. Sie ſind die Engel, die mit
dem ſcharfen blitzenden Flammenſchwert der Denkkraft
in das Paradies der Kirche geſendet ſind, um die
unwuͤrdigen Bewohner auszutreiben. Einer Maſſe ge¬
genuͤber, die in roher Sinnlichkeit, in dumpfem Ge¬
fuͤhl oder in blindem Autoritaͤtsglauben entartet iſt,
einer Geſchichte gegenuͤber, die auf jedem aufgeſchla¬
genen Blatte nur beweist, wie weit wir noch zuruͤck
ſind, welchen unendlichen Weg der Geiſt noch vor¬
ausſieht, haben dieſe Maͤnner eine Arbeit uͤbernom¬
men, die des menſchlichen Geiſtes eben ſo auf die
hoͤchſte Weiſe wuͤrdig iſt, als er die ſchwerſte Auf¬
gabe fuͤr denſelben ſeyn muß. Die Sinnlichkeit und
der ganze hiſtoriſche Einfluß, das Gemuͤth und alle
angeborne Schwaͤchen der Menſchen ſind die Maͤchte,
gegen deren Entartung und Verderbniß ſie ankaͤm¬
pfen und der Verſtand, das kleine Richtmaaß, iſt
das einzige Werkzeug, mit dem ſie die Hoͤhen und
Tiefen des alten Felſen bewaͤltigen wollen. Wenn
die Art, wie die Denkkraft angewendet wird, auch
ſelbſt der Verderbniß unterworfen iſt, ſo iſt ſchon die
[126] bloße Freiheit ihrer Anwendung fuͤr das menſchliche
Geſchlecht von unermeßlichem Vortheil, denn nur im
Bilden reinigt ſich die Kraft. Zu dieſer Freiheit ge¬
hoͤrt unmittelbar die Mittheilung, die Öffentlichkeit,
oder vielmehr ſie beſteht nur im oͤffentlichen Denken
oder Reden, denn ein Gedanke an ſich im Innern
verſchloſſen, kann ſo wenig frei genannt werden, als
es moͤglich iſt, ihn zu unterdruͤcken. Daß nun jene
Kritiker alle religioͤſen Gegenſtaͤnde zur Sprache brin¬
gen, i [...][t]an ſich ein unſterbliches Verdienſt, wenn ſie
es auch noch nicht auf die vollkommenſte Weiſe thaͤten.
Sie behaupten das ewige Recht der Gedankenmitthei¬
lung und machen dieſes allgemeine Recht zu ihrer
Pflicht, und huͤten als ſehr ehrenwerthe Waͤchter den
einzigen Weg, auf dem die Meinungen ſich austau¬
ſchen, die Überzeugungen ſich laͤutern koͤnnen. Sie
zeigen jeden offenen Frevel, der ſich hinter den Schild
der Religion fluͤchten will, achtſam an, und ziehen
die verborgenen an das Licht. Sie zwingen den Geg¬
ner Rede zu ſtehn und ſtrafen die Dummheit, die
ohne Beruf herrſchen will, und die Argliſt, die eine
ſchlechte Sache verheimlicht, um ſie nicht vertheidi¬
gen zu muͤſſen. Wer erkennt nicht den Segen reli¬
gioͤſer Mittheilung, gegenuͤber jener aſiatiſchen Ab¬
geſchloſſenheit, da kein Volk weiß, was uͤber den
Bergen geglaubt wird.


Es liegt etwas ſchlechterdings Nothwendiges in
dieſer Pruͤfung des Verſtandes. Jeder Menſch findet
in ſich den Verſtand als ein intellectuelles Gewiſſen
[127] und er vermag die Stimme deſſelben durch Taͤuſchun¬
gen des Sinnes oder Gefuͤhls zwar lange, doch nicht
fuͤr immer zu uͤbertaͤuben. Dies Gewiſſen regt ſich
aber auch im Ganzen des Voͤlkerlebens und vernich¬
tet in jenen Taͤuſchungen die Wurzeln des Unrechts
und des Elends. Es iſt die reine Mathematik und
Logik des Verſtandes, die uns verliehen iſt, um die
Harmonie aller in uns liegenden Kraͤfte zu erkennen
und zu bewahren. Sie kann die bluͤhende Sinnlich¬
keit nicht hinwegdenken, aber ſie maͤßigt das Über¬
wallen der ſinnlichen Kraft; ſie kann das tiefe Ge¬
fuͤhl nicht aus den Herzen kluͤgeln, aber ſie fuͤhrt die
wahnſinnige Leidenſchaft in die Graͤnzen der geſunden
Natur zuruͤck. Wenn daher die Sinnlichkeit uns zu
ſeelenloſem Goͤtzendienſt verfuͤhrt, das Gefuͤhl ertoͤdtet
und den Verſtand gefangen nimmt, wenn das uͤber¬
ſpannte Gefuͤhl den Leib abtoͤdtet und den Verſtand
in ſtumpfſinnigem Hinbruͤten erſticken will, ſo wird
eben dieſer Verſtand das geſtoͤrte Gleichgewicht er¬
kennen und durch die Erkenntniß wieder herſtellen.
Dennoch kann der Verſtand ſelbſt in eine ganz aͤhn¬
liche Tyrannei entarten, ſofern er ausſchließlich herr¬
ſchen will, und dieſes Extrem tritt in der Regel ein,
ſobald der Verſtand ſiegreich ein Extrem der Sinn¬
lichkeit oder der Leidenſchaft uͤberwunden hat. Der
Verſtand, der uͤber die naͤchtliche Welt, darin ſinn¬
liche Triebe und monſtroͤſe Leidenſchaften durcheinan¬
der wuͤhlen, ein uͤberraſchendes Licht verbreitet, woran
das Ungeheure ſich verzehrt, wie Traumbilder, wenn
[128] das Auge den Tag ſieht, wird eben ſo bald zur freſ¬
ſenden Feuersflamme und will nichts dulden als ſich.
Kaum hat er den Goͤtzen entlarvt und geſtuͤrzt, ſo
bannt er das ſchoͤne Geheimniß des Goͤttlichen ganz
aus der ſinnlichen Natur, kaum hat er die Raſerei
der Leidenſchaften bewaͤltigt, ſo laͤugnet er die Of¬
fenbarungen des Herzens. Kaum hat er die Ariſto¬
kratie der Prieſterkaſte beſiegt, ſo errichtet er ſelbſt
wieder den Wohlfahrtsausſchuß, der jeden fuͤr kopflos
erklaͤrt, der Gott nicht blos im Kopfe hat. Zuletzt,
und dies iſt die Kriſis ſeines Fanatismus, conſtituirt
die Denkkraft ſich als das Abſolute, allem Seyn zu
Grunde Liegende, und dekretirt von ihrem Ich herab
das Daſeyn Gottes, oder der Vernunft, oder wie
ihr das Ding nennen wollt. An der Hand der Phi¬
loſophie haben deutſche Theologen alle Stadien die¬
ſes Verſtandesfiebers eben ſo conſequent und gleich¬
zeitig, nur mehr verſteckt, durchgemacht, wie die Po¬
litiker praktiſch und oͤffentlich in der franzoͤſiſchen
Revolution.


Man gab das todte Wort wieder auf, um ein
lebendiges Denken an ſeine Stelle treten zu laſſen,
aber auch dieſer Fortſchritt geſchah noch in der ein¬
ſeitigen Richtung, welche die Reformation vorgezeich¬
net hatte, ja er hat zum Extrem der Lehre gefuͤhrt.
Erſt mit der Alleinherrſchaft des Begriffs uͤber das
Wort, ſelbſt das heilige, erreichte jene Lehre den
Culminationspunkt, die beſtimmt ſchien, den Sinnen¬
glauben zu zerſtoͤren, und den Gefuͤhlsglauben her¬
[129] vorzurufen. Man ließ einſeitig nur das Denken Got¬
tes gelten und verſchmaͤhte jede Vorſtellung, jedes
Gefuͤhl des Goͤttlichen als Taͤuſchung, ja das Wort
ſelbſt wurde mit Recht nur als ein Bild betrachtet,
das an ſich nichts und etwas nur durch den lebendi¬
gen Begriff ſey, und das den freien Begriff nie feſ¬
ſeln duͤrfe. Die Unterordnung des Wortes unter den
Begriff war ohnſtreitig ein großer Fortſchritt, aber
die Ausſchließlichkeit eines Denkglaubens, die Ver¬
werfung der Vorſtellung und des Gefuͤhls war nur
wieder die alte Einſeitigkeit. Man verkannte die Na¬
tur des Denkens und ſchrieb der mittelbaren Erkennt¬
niß durch Schluͤſſe zu, was nur einer unmittelbaren
Erkenntniß der geſammten ſinnlichen und geiſtigen
Organiſation des Menſchen, einem Gemeingefuͤhl des
Goͤttlichen zukommt. Glauben war nur noch mathe¬
matiſche Überzeugung. Man glaubte nur, was man
beweiſen konnte, wie das Ein mal Eins, und da
man den Glauben aus dem Beweiſe ableiten wollte,
der ſelbſt nur aus dem Glauben gefuͤhrt werden
konnte, ſo mußte man in die ſeltſamſten Widerſpruͤche
und Trugſchluͤſſe gerathen. Wenn nichts ſo ſegens¬
reich gewirkt hat, als die verſtaͤndige Erkenntniß des
fruͤhern kirchlichen Verderbens, wenn auch das Den¬
ken Gottes, die Reflexion uͤber die ewige Harmonie
der Dinge der wahren Andacht niemals fehlen ſollte,
wenn auch gerade ſie es iſt, die uns die Bilder und
Gefuͤhle von Gott nicht vertilgt, aber reinigt, ſo iſt
doch auch kaum ein roher Goͤtzendienſt, kaum ein
[130] dumpfes Andachtsgefuͤhl, kaum ein ſklaviſches Werte¬
beten ſo plump und arm geweſen, als jene logiſchen
Beweiſe von den Eigenſchaften Gottes, die das hoͤchſte
Weſen zu analyſiren ſtreben, wie der Mineralog ein
Foſſil, und deren letzter Satz: ich glaube, weil ich
denke! doch nie eines erſten: ich denke, weil ich
glaube! entbehren konnte.


Den Beweiſen ſind ſehr natuͤrlich die Zweifel ge¬
folgt. Anfangs ſuchte man die Zweifel auf, um die
Beweiſe glaͤnzender zu machen, nachher kamen ſie
von ſelbſt und der Verſtand, ohne welchen es keinen
Glauben mehr geben ſollte, verachtete bald die Ma¬
jeſtaͤt deſſelben, wie der Praͤtorianer den Kaiſer,
der Seldſchuk den Califen.


Jede Zeit fuͤhlt ſich und hat eine gewiſſe Eifer¬
ſucht gegen das Alterthum, wenn man dieſem hoͤhere
Kraͤfte zutraut. Jede Zeit hat aber auch ein natuͤr¬
liches Gefuͤhl von der Macht, die ſie beherrſcht, und
unterſcheidet dabei ſehr richtig Wirklichkeit und Schein.
Deßwegen moͤgen es die Starken nicht leiden, daß
man ſich vor den Bildern des Alterthums ſo erbaͤrm¬
lich demuͤthigt, und die Klugen ſagen, man muß die
Wunder ſehn, wenn man ſie glauben ſoll. So hat
man laͤngſt die Bilder, die das Volk fuͤr wunderthaͤ¬
tig hielt, als wurmſtichiges Holz hinweggebrochen
und ſich endlich auch an die Tradition der alten
Wunder gewagt. Was man nicht als offenbare Luͤge
zu beſeitigen vermochte, hat man durch ſo genannte
natuͤrliche Erklaͤrung des Wunderbaren zu entkleiden
[131] geſucht. Es gab ſogar eine « natuͤrliche Geſchichte des
großen Propheten,» darin Chriſtus als ein ganz ar¬
tiger Romanheld erſcheint, zu geſchweigen der Ab¬
ſcheulichkeiten, die vorzuͤglich im letzten Jahrhundert
die chriſtliche Tradition nicht erklaͤren, nicht wider¬
legen, ſondern nur beſchmutzen ſollten. Sie ſind jetzt
meiſt vergeſſen, weil der Atheismus im Indifferen¬
tismus wie Feuer im Rauch aufgegangen iſt.


Es gibt eine anſehnliche Claſſe von Proteſtan¬
ten, die namentlich ſeit Voltaire von jeder Art Frei¬
geiſterei verſucht worden ſind, und die ihre Zweifel
weder zu beſeitigen, noch ihr Beduͤrfniß nach dem
Glauben zu unterdruͤcken wiſſen, die ſich daher in
großer Angſt befinden, ſich beſtaͤndig zur andaͤchtigen
Erbauung zwingen, und doch immer dabei von einem
ſchadenfrohen Teufel geſtoͤrt werden. Dieſes unbe¬
hagliche Gefuͤhl, dieſe Unruhe treibt ſie in den Ka¬
tholicismus und in den Pietismus. Bei weitem die
groͤßre Menge iſt aber gleichguͤltig, laͤßt Zweifel und
Beweiſe auf ſich herunterregnen, und ſcheint in ihrer
Geiſtloſigkeit ſo gut, als ob ſie geiſtreich waͤre, zu
wiſſen, daß es nur Worte ſind.


Die Heiden im Chriſtenthum, oder die alle hiſto¬
riſche Tradition deſſelben ſammt der Bibel verachten,
und die man desfalls, ſonderbar genug, Atheiſten
genannt hat, als ob ſie nicht ſo gut, als die Chri¬
ſten, einen Gott glaubten, dieſe raͤudigen Schafe fin¬
den ſich in den verſchiednen Heerden zerſtreut und
ſtecken die glaͤubigen Seelen nicht ſelten mit Zwei¬
[132] feln und Spott an. Alles Hiſtoriſche der Kirche,
Tradition und Prieſter, ſind ihnen auf's bitterſte ver¬
haßt, und da die Tradition Worte enthaͤlt, und die
Prieſter Menſchen ſind, ſo geben ſie auch den Zwei¬
feln Bloͤßen genug. Jede geoffenbarte Religion iſt
denſelben zuwider, erſcheint ihnen als Menſchentrug
und Luͤge, und ſie machen zwiſchen Katholiken und
Proteſtanten eigentlich keinen Unterſchied, weil beide
Tradition und Prieſter anerkennen. Es iſt aber ſehr
merkwuͤrdig, daß in ihrer Freigeiſterei, die ſo ſehr
uͤber den Gebrechen der Kirche erhaben ſcheint, doch
dieſelben Keime zu innrer Entzweiung und zur Hier¬
archie liegen. Die einen wollen eine Naturreligion,
die andern die Vernunftreligion, und die Materiali¬
ſten haben deßfalls ein katholiſches, die Rationaliſten
ein proteſtantiſches Princip, und beide ſuchen ſich die ent¬
ſprechenden Kirchen zu gruͤnden, wenn ſie maͤchtig genug
werden, beide haben zur Zeit der franzoͤſiſchen Revo¬
lution ihre Tempel aufgeſchlagen, und die Prieſter
der Natur ſind mit denen der Vernunft in einen
Kampf gerathen, der uns, wenn die Farce laͤnger
gedauert haͤtte, gewiß das ganze alte Weltſpectakel
wiederholt haben wuͤrde.


Da im Proteſtantismus ſo viel unterſucht, be¬
ſprochen und gelehrt werden muß, ſo faͤllt ſeine Lite¬
ratur unausbleiblich in das Extrem des Wortma¬
chens und der Vielſchreiberei. Die Mehrzahl der an
Geiſt minder begabten erſchoͤpft und wiederholt ſich
nothwendig in den gebotenen und angenommenen For¬
[133] meln, und die Buͤcher werden wie die Predigten
ſeicht und weitlaͤuftig. Da der Zweck der Aufklaͤ¬
rung auch eine populaͤre Sprache bedingt, ſo darf
man ſich uͤber die ungeheure Menge von Erbauungs¬
ſchriften fuͤr alle Staͤnde, Geſchlechter und Alter zwar
nicht wundern, leider aber entſpricht die Ausfuͤhrung
nur ſelten dem Zweck. Das Heilige wird in dieſer
populaͤren Darſtellung nur zu oft trivialiſirt, und
der kraͤftige Wein der Wahrheit ſo unter Waſſer ge¬
ſetzt, daß er widerſtehn muß. Vom Einfluß geiſtlo¬
ſer Umgebungen, einer entnervten Geſellſchaft, einer
beſchraͤnkten Bildung ergriffen, plaudern viele Geiſt¬
liche in ihren Erbauungsbuͤchern fuͤr Damen von den
hoͤchſten religioͤſen Ideen ganz ſo albern und kraft¬
los, wie von belletriſtiſchen- und Modegegenſtaͤnden.
Die große Verbreitung religioͤſer Schriften im Volke
bringt ſodann Vortheile mit ſich, die den allezeit fer¬
tigen Buͤchermachern in die Augen ſtechen, und Deutſch¬
land wird von einer Menge von Werken uͤberſchwemmt,
die einzig dem oͤkonomiſchen Zweck huldigend, ſtatt
die Gemuͤther zur Religion zu erheben, vielmehr dieſe
in den trivialen Kreis der Alltagsconverſation hin¬
abziehen, und jeder Anſtrengung des Denkens, jeder
uͤbermaͤßigen Wallung des Herzens vorbeugen. Von
dieſer Art haben vorzugsweiſe die Stunden der
Andacht von Zſchokke, einem der beruͤhmteſten
Allerweltsbuͤchermacher, neuerdings Epoche gemacht.
Welch ein Buch! wie wahr nennt es der Verleger
ein laͤngſt gefuͤhltes Beduͤrfniß, nicht nur das ſeinige!
[134] Wie ſchleicht dieß matte, ſuͤßliche Gift einſchlaͤfernd
in die Seelen und ſchmilzt Herzen und Nieren in
einen weichen Brei. Eine gleißneriſche Sprache fließt
wie Honig von den Lippen; der Prieſter legt den
Stolz, den erſten Chorrock, ab und wird der liebe,
freundliche Hausfreund, und druͤckt ſo warm die Hand;
die eiſerne Moral ſchmiegt ſich biegſam wie ein
Blankſcheit an zarte Buſen; die Andacht wird zum
ſchwarzen Trauergewand, das ſo reizend den Teint
hebt; die Begeiſterung wird als Roth aufgelegt. Wie
brauchbar ſcheint euch dieſe Schminke, dieſe elende
Flachmalerei einer verſchmitzten Tugend und koketten
Gottesfurcht, die es ſagt, wie viel ſie heimlich Gu¬
tes thut, und nicht aufs Knie faͤllt, ohne den Rock
in die netteſten Falten zu legen. Wie hoͤflich iſt Re¬
ligion, die alte Zuchtmeiſterin, geworden, wie artig
und ohne ſich zu compromittiren, kann man jetzt das
eckige, ſtrenge, gothiſche Weſen verbannen und zu
der kleinen wohlfeilen Hauskapelle fluͤchten; wie zeit¬
gemaͤß, welch ein laͤngſt gefuͤhltes Beduͤrfniß des ge¬
bildeten Jahrhunderts iſt ein Buch, das fuͤr uns be¬
tet, fuͤr uns gute Vorſaͤtze hat, fuͤr uns empfindet,
und das wir blos zu leſen brauchen. Wird in die¬
ſer Weiſe fortgefahren, ſo ſcheint der Zeitpunkt nicht
mehr fern, da das wahrhaft religioͤſe Leben, die
fromme Andacht, die Begeiſterung der Liebe, Ehre
und Gerechtigkeit, der Sporn zur That aus dem Ge¬
ruͤſt leerer, glatter Worte eben ſo entweichen, wie
ſie dereinſt den todten aͤußern Werken des Katholi¬
[135] cismus abhanden gekommen. Worte ſind keine beſ¬
ſern Traͤger des Geiſtes, als aͤußre ſymboliſche Hand¬
lungen. Ein Syſtem von gelaͤufigen und ſchmiegſa¬
men Begriffen kann eben ſo das wahre religioͤſe Le¬
ben heucheln, als jenes erſtarrte Syſtem der aͤußern
Werkthaͤtigkeit. Die Reue, die guten Vorſaͤtze koͤn¬
nen im Schwall der religioͤſen Lektuͤre ſo gut erſti¬
cken, als im Prunk der Opfer und Kirchenbußen.
Man glaubt eben ſo leicht, gethan zu haben, was
man blos geleſen, als man ſich mit dem Abbeten ei¬
nes Roſenkranzes befriedigt. Die Tugend ſelbſt wird
zu einer bloßen Reflexion uͤber Tugend, ja die Ver¬
nunft, von der ſo viel geredet wird, iſt nur das leere
Wort, und die meiſten jener Maͤkler, Krittler, Fin¬
gerzeiggeber, Hausfreunde, Warner und Raiſonneurs
bringen nur eine traurige Abſtumpfung oder Sophi¬
ſterei gegen das Heilige hervor, die im Munde des
gemeinen Volks zur Brutalitaͤt wird.


Die niedern Staͤnde, immer die Affen der hoͤ¬
hern, ziehen jetzt die abgetragenen Kleider derſelben
an, und viele ſehen wir mit einer Aufklaͤrung ſich
bruͤſten, die von den traurigſten Symptomen begleitet
iſt. Das Volk findet in einer kuͤhnen Verlaͤugnung
des Heiligen eine neue Art von Abſolution und ſuͤn¬
digt leichter. Sein Unglaube iſt roher, wie es ſein
Glaube geweſen. Schon nimmt es mancher Bauer
fuͤr eine Beleidigung auf, wenn man ihm noch den
frommen Glauben der Vaͤter zutraut. Herr, hat mir
ſchon mancher geſagt, haͤlt Er mich fuͤr ſo dumm?
[136] Auf der andern Seite aber tritt das Volk, von dem¬
ſelben Unglauben geaͤngſtigt, deſto leichter zum Pie¬
tismus uͤber.


Da indeß das deutſche Volk ein ziemliches Phlegma
auszeichnet, und ſein Familienleben es uͤber Theo¬
logie, Politik, Wiſſenſchaft und Kunſt leicht troͤſtet,
ſo iſt es bei dem unermeßlichen Widerſtreit der re¬
ligioͤſen Anſichten einerſeits, und bei dem leeren Wor¬
temachen andrerſeits in einen Indifferentismus
verfallen, der nichts aͤhnliches hat, als etwa die reli¬
gioͤſe Gleichguͤltigkeit in der letzten Zeit des roͤmi¬
ſchen Heidenthums. Dieſer Indifferentismus zeigt
ſich insbeſondere bei den Proteſtanten. Einige eifern,
einige denken, die meiſten ſind gleichguͤltig, hoͤren
ihre Predigt, wie es Sitte iſt, und laſſen uͤbrigens
Gott einen guten Mann ſeyn. Schon dieß Sprich¬
wort zeigt von der Stimmung des Volkes. Wer ein
tieferes religioͤſes Beduͤrfniß hat, wird Katholik oder
Pietiſt. Die Katholiken ſind durch ihren Glauben und
durch die Äußerlichkeit deſſelben zu ſehr befriedigt
oder wenigſtens in Anſpruch genommen, als daß ſie
indifferent ſeyn koͤnnten, doch hat ſich die Gleichguͤl¬
tigkeit auch bei ihnen eingeſchlichen, ſofern es ſehr
viele unter ihnen gibt, die von proteſtantiſcher Bil¬
dung ergriffen, das Band, das ſie bindet, [abgewor¬
fen]
haben, und aus Bequemlichkeit kein neues knuͤpfen
wollen. Sogar unter den Herrnhutern gibt es manche,
die nur noch die Gewohnheit der Vaͤter mitmachen,
ohne dafuͤr mit Überzeugung leben und ſterben zu
[137] wollen, und nur die neuen pietiſtiſchen Sektirer, nur
ſolche Menſchen, die ſich der Verfolgung ausſetzen,
ſind wahrhaft eifrig.


Zum Indifferentismus unter den Proteſtanten
ſcheinen vorzuͤglich auch zwei Umſtaͤnde beizutragen,
denen man zu wenig Aufmerkſamkeit ſchenkt. Einmal
haͤngt im proteſtantiſchen Gottesdienſt alles von der
Perſon des jeweiligen Geiſtlichen ab. Fuͤr den Ka¬
tholiken ſind alle ſeine Kirchen gleich, und er ver¬
richtet darin ſeine Andacht auch ohne den Geiſtlichen,
oder es iſt wenig Unterſchied, welcher Geiſtliche
dabei thaͤtig iſt. Darum herrſcht auch, wenn ich ſo
ſagen darf, ein ungeſtoͤrter Gleichmuth der Andacht
uͤberall unter den Katholiken. Bei den Proteſtanten
aber kommt alles auf die Perſoͤnlichkeit des Predi¬
gers an; nur ſeinetwegen und nur, wenn er da iſt,
kommt man in die Kirche, nur auf ihn ſieht man,
nur mit ihm beſchaͤftigt man ſich, weil ſonſt nichts
in der proteſtantiſchen Kirche die Aufmerkſamkeit auf
ſich zieht. Abſichtlich wird Sinn und Geiſt der An¬
weſenden von allem andern ab und auf den Prediger
hingelenkt. Dieſer hat es nun in ſeiner Gewalt, die
Andacht und den religioͤſen Sinn zu erheben oder
herabzuſtimmen. Iſt er ſelber fromm, begeiſtert und
beſitzt er ein großes Talent der Beredſamkeit, ſo
wird er vielleicht eine weit groͤßere Wirkung hervor¬
zubringen wiſſen, als ein katholiſcher Prieſter, der
in ſeiner Kirche mehr Sache als Perſon iſt, es zu
thun vermag. Iſt der Prediger aber ohne wahre
[138] Froͤmmigkeit, ohne Gaben und Talente, von der
ſchlaͤfrigen Gattung der Gewohnheitsmenſchen, oder
gar ein eitles Weltkind im Prieſterrock, ſo wird er
auch den religioͤſen Sinn ſicher weit weniger zu naͤh¬
ren wiſſen, als es ein katholiſcher Prieſter vermag,
den ſo vieles andere unterſtuͤtzt. Der proteſtantiſche
Pfarrer macht alles oder nichts aus ſeiner Gemeinde;
er allein kann die Kirche zum liebſten Aufeuthalts¬
ort der Gemeinde machen, er allein ſie aber auch
allen verleiden. Es gibt nun leider ſehr viele unbe¬
gabte Prediger, ohne alle hoͤhere Weihe. Dieſe ſind
es, welche die Gebildeten aus den Kirchen verſcheu¬
chen und nur die Heerde der Geiſtesarmen noch darin
feſthalten, aber ihre Andacht zu einem werthloſen
Werk ſonntaͤglicher Gewohnheit herabwuͤrdigen, die
nicht beſſer iſt, als die Kirchenſcheu der andern. Bei¬
des wird Indifferentismus. Die Einen laſſen ſich
die ſchlechte, waͤſſerigte Predigt gefallen, weil es
einmal Mode iſt, im Sonntagsputz den Kirchenſtuhl
zu druͤcken. Die Andern werden kuͤhl gegen die Re¬
ligion, weil ſie unmoͤglich ſo elende Predigten anhoͤ¬
ren koͤnnen. — Der zweite Umſtand, der den In¬
differentismus befoͤrdert, iſt der katechetiſche Unter¬
richt. Der ehrliche alte Meiſter ſagt in ſeiner klei¬
nen Schrift uͤber die Einbildungskraft ſehr richtig:
«Der Cornelius Nepos und der Katechismus ſind
uns, blos weil wir ſie einmal unter der Ruthe gele¬
ſen, Zeitlebens zum Eckel.» Er druͤckt ſich vielleicht
etwas zu ſtark aus, aber in der Hauptſache iſt die
[139] Bemerkung ſehr treffend und wahr. Eine große
Menge Menſchen kann die Unterrichtsbuͤcher, die ih¬
nen in der Schule ſo viele Thraͤnen und lange Weile
gekoſtet, auch im Alter und ſelbſt bei der Überzeu¬
gung, daß ſie ihr nothwendig geweſen ſeyen, nicht
ohne einen geheimen Widerwillen anſehn. Dieſes
Spiel der Phantaſie, das mit den heiligſten und
werthvollſten Gegenſtaͤnden die Nebenbegriffe des Zucht¬
meiſters mit der Ruthe verbinden muß, hat den In¬
differentismus mehr als man denken ſollte, befoͤrdert.
Das handwerksmaͤßige, ja zuchtmaͤßige Abrichten in
der unreifen Jugend ertoͤdtet oft den Sinn, den es
wecken und bilden will.


Man hat in den neueſten Zeiten das Schaͤdliche,
und den Katholiken gegenuͤber beſonders auch das
Schimpfliche des Indifferentismus bei den Proteſtan¬
ten wohl gefuͤhlt und es ſich angelegen ſeyn laſſen,
demſelben aus allen Kraͤften entgegen zu arbeiten.
Demnach iſt die religioͤſe Controverſe nicht nur frei¬
gelaſſen, ſondern ſogar beguͤnſtigt worden, und die¬
ſelbe Cenſur, die in politiſchen Dingen wie ein Ar¬
gus wacht, hat alle ihre hundert Augen fuͤr die reli¬
gioͤſen zugeſchloſſen. Da indeß der Eifer der religioͤ¬
ſen Doctrinairs die indifferente Maſſe des Publi¬
kums nicht zu erhitzen vermocht hat, da die innern
Reizmittel nichts verſchlagen haben, ſo iſt man zu
aͤußern uͤbergegangen, und hat das verhallende Wort
durch conſiſtentere Werke zu ſtuͤtzen geſucht. Dieſe
neuen aͤußeren Werke ſind theils die Union zwiſchen
[140] den getrennten proteſtantiſchen Confeſſionen, theils
die Herſtellung der biſchoͤflichen Kirche, theils die
Einfuͤhrung einer neuen Liturgie, ſaͤmmtlich Mittel fuͤr
eine feſtere aͤußere Conſiſtirung des Proteſtantismus,
durch welche wieder die innere Seele deſſelben er¬
friſcht und belebt werden ſoll, wie auch in phyſiſchen
Krankheiten durch aͤußere mechaniſche Staͤrkungen
innere Erſchlaffung gehoben wird. Man will die
Muskeln des corpus Evangelicorum ſtaͤrken, und hofft
dadurch, auch die uͤberreizten und dadurch abgeſtumpf¬
ten Nerven wieder in eine geſunde Verfaſſung zu
ſetzen.


So fern dieſe Neuerungen aus wahrhaft from¬
mer Überzeugung und religioͤſem Eifer hervorgegan¬
gen ſind, ſofern ſie dem ſchaͤdlichſten aller Religions¬
uͤbel, der religioͤſen Gleichguͤltigkeit, ſey es auch auf
was immer fuͤr eine blos aͤußere mechaniſche Weiſe,
entgegen arbeiten, muͤſſen ſie ihrem Urſprung, ihrer
Abſicht nach geſchaͤtzt werden; und daher ſchreiben
ſich auch die zahlloſen lobenden und preiſenden Flug¬
ſchriften und Predigten zu Gunſten derſelben. Die
Literatur der letzten Jahre hat uns aber auch eine
große Menge Schriften gegen dieſe Neuerungen dar¬
geboten, und dieſe Gegner haben nicht Unrecht, ſo¬
fern ſie das Unnuͤtze oder gar Schaͤndliche der Mit¬
tel ruͤgen, wodurch dieſe Neuerungen eingefuͤhrt wer¬
den ſollen. Abgeſehn davon, was Parteigeiſt, zum
Theil perſoͤnliches Intereſſe, gegen die Neuerungen
[141] vorgebracht hat, laſſen ſich dagegen hauptſaͤchlich drei
Einwendungen machen, und ſind gemacht worden.


Zuerſt gilt, daß jede Neuerung in religioͤſen
Dingen die Achtung vor dem Alten vernichtet oder
ſchmaͤlert. Das ehrwuͤrdige Alter der proteſtanti¬
ſchen Einrichtungen iſt fuͤr die Maſſe des Volks ge¬
wiß noch der ſtaͤrkſte Damm gegen den Indifferen¬
tismus. Reißt man dieſen vollends auf eine authen¬
tiſche und legitime Weiſe um, ſo duͤrfte weder etwas
vernuͤnftiges, noch etwas glaͤnzendes Neues die alte
geheiligte Ehrfurcht erſetzen, und es duͤrfte die um¬
gekehrte Wirkung erfolgen. Man duͤrfte gegen das
Neue noch gleichguͤltiger werden, weil man weniger
hergebrachten Reſpekt davor hat. Die vorgeſchlage¬
nen Neuerungen gehoͤren nicht zu denen, die wie das
Chriſtenthum ſelbſt in ſeiner erſten Erſcheinung, oder
wie ſpaͤter, der Muhamedanismus und ſo auch der
Proteſtantismus die Zeitgenoſſen aufregten und ge¬
gen alle aͤußern Befehle
zur freien Selbſtthaͤ¬
tigkeit begeiſterten. Es ſind vielmehr Neuerungen,
die auf einen aͤußern Befehl gegen die freie Selbſt¬
thaͤtigkeit gerichtet ſind. Ihre Staͤrke liegt in einem
aͤußren Zwange, nicht in einer innern Begeiſterung.
Sie ſind daher auch bei weitem lauer, ſchwaͤcher,
ohnmaͤchtiger, als jene natuͤrlichen Neuerungen, und
zugleich auch ſchwaͤcher, als die alten Gewohnheiten,
die ſie umſtuͤrzen wollen. Am ſtaͤrkſten wirkt das
Neue nur, wenn es lebendige Überzeugung, eigner
freier Wille, nichts Gebotenes, Aufgedraͤngtes iſt.
[142] Soll dem Menſchen aber einmal in religioͤſen Din¬
gen etwas geboten und aufgedraͤngt werden, ſo wird
gewiß das Alte, was ſchon ſeiner Vaͤter Vaͤter ge¬
wohnt waren, maͤchtiger auf ihn wirken, als jedes
Neue.


Zweitens gilt, daß alle befohlenen und kuͤnſtli¬
chen Vereinigungen die freiwilligen und natuͤrlichen
Trennungen befoͤrdern. Die Geſchichte liefert auf
jeder Seite den Beweis. Je ſtrenger die biſchoͤfliche
Kirche der Englaͤnder auf Einheit drang, deſto zahl¬
reicher nahmen die Nonconformiſten uͤberhand. Und
ſehn wir nur uns ſelbſt an. Vor dem Unionsvor¬
ſchlag lebten Lutheraner und Calviniſten in der fried¬
lichſten Eintracht bis zum gaͤnzlichen Vergeſſen ihres
fruͤheren Zankes. Kaum will man ſie vollends aͤußer¬
lich vereinigen, ſo wird ihnen ploͤtzlich bange, ſie
ſehn ſich einander verdaͤchtig an, ſie ruͤhren die alten
Schaͤden wieder auf, und nur die allerindifferenteſten
gelingt es, zu vereinigen, jene Heerde der Lauen oder
Pfiffigen, die ſich alles gefallen laſſen aus Traͤgheit,
oder um eines zufaͤlligen Vortheils willen. Was ein
Mittel gegen den Indifferentismus werden ſollte,
wird der Triumph deſſelben, und die man vereinigen
wollte, trennt man deſto entſchiedner. Man taͤuſcht
ſich gewoͤhnlich uͤber die Leichtigkeit der Vereinigung,
indem man die Staͤrke des Unterſchiedes nicht gehoͤ¬
rig berechnet. Wie ſchon oben geruͤgt worden, hat
ſich in religioͤſen Dingen das Vorurtheil eingeſchli¬
chen, als hinge alle Trennung und Vereinigung von
[143] Worten ab, als beruhe uͤberhaupt alle Religion auf
Satzungen. Dieſes Vorurtheil hat faſt alle Menſchen
total verblendet, waͤhrend ſie doch ein ganz entge¬
gengeſetzter Erfolg beſtaͤndig in die Augen ſchlaͤgt.
So hat man den Katholicismus zu ſtuͤrzen ge¬
glaubt, indem man ſeinen todten Schatten in Sa¬
tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man
auch, der Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Re¬
formirten beſtehe nur in ein paar Satzungen, und
ſey verſchwunden, ſo bald man dieſe aͤndre. Aber
dergleichen Satzungen ſind immer nur ein Schibo¬
leth, oft ein ganz zufaͤlliges, von Parteien, die auf
etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchſtaben,
die auf den urſpruͤnglichen Unterſchied in der Natur
der Geiſter gegruͤndet ſind. Die Reformirten unter¬
ſcheiden ſich nur aͤußerlich durch das leicht zu aͤn¬
dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬
aͤnderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬
mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬
ſchen, mithin auch zur Nonconformitaͤt und beſtaͤndi¬
gen Kirchentrennung. Verſtaͤnden die theologiſchen
Diplomaten, die das Arrondirungsſyſtem auch ins un¬
ſichtbare Geiſterreich hinuͤbertragen wollen, die Sprache
der Geiſter, ſo wuͤrden ſie ſogleich entdecken, daß es
eine contradictio in adjecto ſey, die Reformirten mit
den Lutheranern, oder in hoͤherem Sinn die Denk¬
glaͤubigen mit den Wortglaͤubigen vereinigen zu wol¬
len. Man muß nicht ſowohl auf die Namen, als
auf die Sache ſehn. Es hat Denk- und Wortglaͤu¬
[144] bige unter beiden Parteien gegeben, doch iſt immer
nur der ein aͤchter Lutheraner zu nennen, der auf
den Buchſtaben der Bibel ſchwoͤrt, und ein aͤchter
Reformirter, der nur das glaubt, was er durch eigne
Überzeugung gewonnen hat. Darum ſind aus der
reformirten Kirche ſo unzaͤhlige neue Secten hervor¬
gegangen, und der Idee nach bildet in ihr jeder
Menſch ſeine eigne; waͤhrend die lutheriſche Kirche
einig und ſich treu geblieben iſt.


Drittens hat man bei dem Unionsverſuch nicht
gehoͤrig betrachtet, daß aller aͤußere Kirchenzwang
die innere Kraft der Andersdenkenden und Sectirer
verſtaͤrkt nach Geſetzen des Hebels. Nichts koͤnnte
wohl ſo geeignet ſeyn, die Stillen im Lande endlich
zu Lauten im Lande zu verwandeln, als die unpro¬
teſtantiſchen Mittel, womit man ſie aus proteſtanti¬
ſchem Eifer in die Uniformitaͤt der Kirche zwingen
will. Jene Uniformitaͤt, jene aͤußere Werkthaͤtigkeit,
die den Indifferentiſten ſehr unbedeutend erſcheint,
iſt den Pietiſten eine Suͤnde wider den heiligen Geiſt,
und indem man ſie dazu zwingt, und ihnen auf der
andern Seite ihre Privatandacht verbietet und mit
polizeilicher Brutalitaͤt ſtoͤrt, ſo macht man ſie nur
zu Maͤrtyrern, und befoͤrdert ihre Sache. Der Ge¬
ſetzgeber ignorirt die pietiſtiſche Anſicht, er geht nur
von ſeiner eignen aus; aber iſt es wohl weiſe? Er
darf ſie vielleicht ignoriren, wenn er ſie nur duldet,
aber eine Sache zu verdammen, ohne ſie zu hoͤren,
[145] hat fruͤher oder ſpaͤter immer nur den Richter ſelbſt
beſtraft.


Wer ſpricht indeß von Zwang? Nur wenige
wagen auf einen «politiſchen Nachdruck» bei Einfuͤh¬
rung der Union und neuen Liturgie zu dringen. Nur
die verwerflichen Schergen eines politiſchen Abſolu¬
tismus erfrechen ſich, auch unbedingt auf den reli¬
gioͤſen zu dringen, und den Grundſatz cujus regio,
ejus religio neuerdings wieder geltend zu machen, wie
ein gewiſſer Baltzer in Stettin gethan hat. Die Ver¬
nuͤnftigen fuͤhlen, daß die Zeit ſolcher Grundſaͤtze
voruͤber ſey, daß nur die freie Entſchließung der
Glaͤubigen jenes neue Kirchenthum begruͤnden und
befeſtigen koͤnne. Aber ſie rechnen auf eine douce
violence
von der einen, auf eine douce resistance
von der andern Seite. Sie hoffen, daß der gute
Wille und die nachgiebige Vor- und Ruͤckſichtlichkeit,
die ſeit geraumer Zeit in allen weltlichen Angelegen¬
heiten herrſchende Gefuͤgigkeit auch in religioͤſen Din¬
gen jeder von oben her gebotenen Neuerung eine weite
Verbreitung ſichern werde. Sie verabſcheuen den gro¬
ben Zwang, aber der feine ſcheint ihnen deſto geneh¬
mer. Sie appelliren an den guten Willen, an den
Patriotismus der Staatsbuͤrger, als ob es ſich von
einer Collecte, von freiwilligen Steuern und Anlei¬
hen handelte, als ob die Leute geben koͤnnten, was
ſie doch nicht haben, naͤmlich den Glauben an das
Neue, die Überzeugung von deſſen Goͤttlichkeit. Man
kann wahrhaftig eben ſo wenig aus gutem Willen
Deutſche Literatur. I. 7[146] und Ruͤckſicht gegen fremde Wuͤnſche, als aus Zwang
ſeinen Glauben, ſelbſt nicht in den kleinſten Dingen
aͤndern, die Worte, die Handlungen wohl, aber nicht
den Glauben, den Schein wohl, aber nicht das We¬
ſen. Eine Kirche, die man verſuchsweiſe auf dieſen
indifferenten, geſchmeidigen, allem ſich fuͤgenden gu¬
ten Willen, auf eine gewiſſe religioͤſe Hoͤflichkeit bauen
wollte, wuͤrde wahrlich auf weit ſchwaͤchern Fuͤßen
ſtehn, als eine verhaßte, nur erheuchelte, die offene
Gewalt und Zwang gegruͤndet.


Der Pietismus iſt die letzte und vielleicht die
wichtigſte Erſcheinung, die wir im religioͤſen Gebiet
zu betrachten haben. Wir ſehn ihn ahnungsvoll in
der Literatur wie im Leben immer weiter um ſich
greifen, und ſcharfen Blicken iſt es nicht entgangen,
daß er nichts mehr Vereinzeltes und Voruͤbergehendes
iſt, wie fruͤher, daß er nicht blos zu den religioͤſen
Curioſitaͤten, zu den ſeltenen Mißgeburten einer ge¬
wiſſen vergaͤnglichen Criſis gehoͤrt, ſondern daß er
einen großen, wenn auch keineswegs aͤußerlichen,
aber innerlichen Zuſammenhang hat und die Keime
zu großen Entwickelungen in ſich traͤgt. Unſcheinbar
und geraͤuſchlos nach ſeiner Art, ſchlaͤgt er ſeine
Wurzeln deſto mehr in die Tiefe. Gerade dieſe Be¬
ſeelung nach innen iſt es, die ihm im Gegenſatz ge¬
gen alles andere nach außen gerichtete Treiben der
gegenwaͤrtigen Zeit eine ſo große Bedeutung gibt.
Hier erkennen wir eine Richtung, die im Wider¬
ſpruch mit allen andern Richtungen unſerer Zeit ſteht,
[147] und hier allein duͤrfen wir die einzige wahre Contre¬
revolution gegen unſer revolutionirendes Zeitalter ſu¬
chen. Nur im Pietismus geht der Menſch ruͤckwaͤrts
bis zu jener innerſten und tiefſten Quelle geiſtiger
Verjuͤngung, aus der ein neuer Strom des Lebens
bricht, wenn der alte verſiegt iſt. Alle andere Rich¬
tungen unſrer Zeit bewegen ſich mehr nur auf der
Oberflaͤche wider und durch einander.


Wie der Proteſtantismus den Übergang vom Sinn¬
lichen zum Verſtande, ſo bezeichnet der Pietismus den
Übergang vom Verſtande zum Gemuͤth. Iſt aber die¬
ſer Kreislauf vollendet, hat Vorſtellung, Begriff und
Gefuͤhl, jedes in einſeitiger Herrſchaft ſich durchge¬
bildet, ſo werden ſie in harmoniſcher Durchdringung
von Neuem die Idee gebaͤren. Der Pietismus wird
einſt den Übergang zu einer neuen, die ganze gebil¬
dete Welt beherrſchenden Myſtik fuͤhren.


Der Pietismus muß nothwendig drei Criſen er¬
leben, und wir befinden uns noch in der erſten. Er
muß anfangs noch an den Proteſtantismus gebunden,
noch von deſſen Einfluß beherrſcht erſcheinen, weil er
von kleinem Anfang beginnend nur muͤhſam ſein Da¬
ſeyn unter Beibehaltung der alten Formen friſtet.
Zugleich iſt dieſe Periode die politiſche und weltliche,
und der Pietismus wird nicht nur durch die herr¬
ſchenden Kirchen, ſondern auch durch den Zeitgeiſt
niedergedruͤckt. In einer zweiten Criſis aber wird er
uͤber beide herrſchend werden, und in das Extrem
der Einſeitigkeit fallen. In der dritten endlich wird er
7 *[148] mit dem Proteſtantismus und Katholicismus ſich ver¬
ſoͤhnen und eine neue Kirche begruͤnden.


So widerſinnig dieſe Prophezeihung, in unſerer,
den religioͤſen Intereſſen faſt abgeſtorbnen, indiffe¬
renten, weltlichen Zeit dem großen Haufen derer er¬
ſcheinen moͤchte, welche gar nicht an die Zukunft
denken, oder ſie nur mit Idealen weltlicher Staaten
erfuͤllen, ſo wird doch eine kleine Minderzahl mit
mir uͤbereinſtimmen. Die Wenigen, die in dieſer Zeit
von Gott erfuͤllt ſind, werden nicht zweifeln, daß
wieder eine Zeit, wenn auch ſpaͤt kommen werde, da
das religioͤſe Intereſſe jedes andere beherrſchen wird,
und daß der Pietismus der Weg dazu ſey, daß in
ihm die neue Verjuͤngung des verachteten Glaubens
und die Verſoͤhnung der bisher getrennten Religions¬
parteien vorbereitet werde.


Denen, welche die Macht einer religioͤſen Ge¬
ſellſchaft bezweifeln, wenn ſie nicht in eine ſtarke
aͤußere Kirche conſolidirt iſt, muß bemerkt werden,
daß die Pietiſten, theils in der gegenwaͤrtigen Zeit
wirklich noch zu vereinzelt, ſchwach und vom Einfluß
der herrſchenden Syſteme noch beherrſcht zu uneinig
und oft zu verderbt ſind, um eine maͤchtige Kirche
herzuſtellen; daß es theils aber auch gar nicht im
Weſen des Pietismus liegt, ſich aͤußerlich geltend zu
machen und mit weltlicher Macht zu umkleiden. Der
Pietiſt lebt im Gemuͤth und wendet ſich von allen
Äußerlichkeiten ab. Der Strom der Gefuͤhle conſoli¬
dirt ſich ſchwer, und wo nur immer innerlich em¬
[149] pfunden wird, iſt nicht einmal ein Lehrſyſtem, ge¬
ſchweige denn die ſtarre Form einer ſichtbaren Kirche
leicht gegruͤndet. Dennoch iſt die Macht des Gefuͤhls
ohne alle aͤußern Huͤlfsmittel und Schutzwehren ſtark
genug, ſich zu verbreiten, und die aͤußern Schran¬
ken fremder Kirchen eben ſo zu uͤberſcheiten, als ſich
ſelbſt aͤußern Verfolgungen zu entziehn. Dieſe Macht
beſteht unſichtbar und unantaſtbar, und taͤuſcht jede
Berechnung ihrer Gegner. Niemand kann verhindern,
ſie dereinſt zur herrſchenden zu machen, und iſt ſie
dies geworden, ſo werden wir Erſcheinungen ſehn,
die niemand erwartet haͤtte.


Die erſten Anfaͤnge des Pietismus zeigen noch
den ganzen Einfluß des Proteſtantismus, aus dem
ſie hervorgegangen. Die erſten Pietiſten wollten nur
den reinen Proteſtantismus darſtellen, in derſelben
Weiſe, wie die Jeſuiten den reinen Katholicismus.
Daher ſind ſie auch ein vollkommenes Gegenbild der
Jeſuiten. Die innige Gemeinſchaft mit Jeſus, der
durchgebildete Roman der Seelenliebſchaft, die Bu߬
fertigkeit, die Zerknirſchung, die Entzuͤckung und die
Viſionen, endlich die aufopfernde Dienſtfertigkeit, die
Bekehrung der Heiden, die Miſſionen nach fremden
Welttheilen ſind beiden gemein, nur daß die Jeſuiten
damit heuchelten, und nur die Zwecke der Hierarchie
verfolgten, waͤhrend die Pietiſten das nach ihrer
Meinung Gute um ſein ſelbſt willen thaten. Die
Pietiſten wollten anfangs nur einen gelaͤuterten Pro¬
teſtantismus und ſich keineswegs von der proteſtanti¬
[150] ſchen Kirche trennen. Wo dies geſchah, war es doch
immer nur im Namen des reinen Proteſtantismus,
und ſchon daß es geſchah, zeigt noch von dem Ein¬
fluß des alten Syſtems. Indem ſie eine aͤußere Kirche
gruͤndeten, huldigten ſie noch gleich den uͤbrigen Pro¬
teſtanten nicht ſowohl dem Gefuͤhlsglauben allein, ſon¬
dern auch einem Wortglauben, einer beſtimmten Lehre.
Daher ſind auch ihre kleinen Kirchen noch ganz nach
dem Typus der proteſtantiſchen gebildet. Wie die
Proteſtanten ſich in Lutheraner und Reformirte trenn¬
ten, ſo die Pietiſten in Herrnhuter und Methodiſten.
Wie die Lutheraner ſich im noͤrdlichen Deutſchland
in einer feſten und einigen Kirche conſolidirten, und
Luther gleichſam als ihren Monarchen anerkannten,
ſo thaten die Herrnhuter in demſelben Lande daſſelbe,
und ihr Monarch war Zinzendorf. Wie die Refor¬
mirten dagegen in der Schweiz hier Zwingli, dort
Calvin anhiengen, ſo folgten die Methodiſten in Eng¬
land hier Wasley, dort Whitefield.


Dieſe kleinen Kirchen gehoͤren einer Übergangs¬
periode an, und koͤnnen keine große Ausdehnung und
keinen feſten Beſtand haben. Weit wichtiger als dieſe
ordinirten Pietiſten ſind die zahlloſen andern, die
uͤberall zerſtreut ſind, und die beim Mangel eines
aͤußern Bandes, ein deſto ſtaͤrkeres innerliches verei¬
nigt. Sie ſind die Maſſe, die noch keine Geſtalt an¬
genommen hat, worin die Bildungen noch wechſeln,
die erſt auf die Zukunft wartet, um ſich zu reinigen,
zu erweitern, definitiv zu geſtalten.

[151]

In dieſem Chaos zeigen ſich eine Menge unreife
und verderbte, traurige und abſchreckende Erſchei¬
nungen. Die Gemuͤthskraft weiß ſich noch nicht von
den Einfluͤſſen der Sinnlichkeit und einſeitiger Ver¬
ſtandesrichtungen zu befreien. Dieſe fremden und wi¬
derſprechenden Einfluͤſſe richten daher große Verir¬
rungen und Zerruͤttungen in den Gemuͤthern an, und
treiben zu Unnatur und Wahnſinn. Nicht das Ge¬
muͤth iſt Schuld daran, ſondern nur die Sinnlichkeit
und eine falſche Verſtandesbildung, welche ſich der
im Gemuͤth liegenden ungeheuren Kraͤfte bedienen und
ſie mißbrauchen. Selbſt Betrug miſcht ſich ein, Schein¬
heiligkeit, Eitelkeit, Eigennutz. Daher finden wir
unter den Pietiſten ſinnliche verderbte Menſchen, die
mit den Gegenſtaͤnden ihrer gluͤhenden Andacht eine
wahre Unzucht treiben; arme Suͤnder, die ſich aus
denſelben Urſachen in die Arme der pietiſtiſchen Gnade
und Wiedergeburt fluͤchten, aus welchen einige an¬
dere ihres Gleichen katholiſch werden; halbgebildete
Schwaͤrmer, die mit Auslegung der Schrift, Pro¬
phezeihen die Koͤpfe verruͤcken, ohne die Herzen zu
erwaͤrmen; Fanatiker, die ſich im eigenen Blut ba¬
den und ſelbſtmoͤrderiſch opfern, um, wie ſie ſagen,
fuͤr Chriſtus zu ſterben, gleich wie Chriſtus fuͤr uns
geſtorben iſt; endlich Heuchler aller Art, beſonders
in den niedern Klaſſen, Kaufleute und Gaſtwirthe,
die ſich auf dem religioͤſen Wege Kaͤufer und Gaͤſte
verſchaffen, arme Abenteurer, die auf eine bequeme
Weiſe Krippenreiterei treiben und kokette Weiber, die
[152] unter dem Namen einer buͤßenden Magdalena nur die
ſuͤndige ſpielen wollen. Alle dieſe Mißbraͤuche ſind
indeß nicht dem Pietismus an ſich, ſondern der Stel¬
lung zuzuſchreiben, in welcher er ſich jetzt noch be¬
findet. Der Weltgeiſt‚ dem der Pietismus noch erliegt,
treibt auf ſolche Weiſe Hohn und Spott mit ihm.


Eine große Zahl von Pietiſten ſucht dieſem Welt¬
geiſt dadurch zu entfliehn, daß ſie ſich von allem Ir¬
diſchen ſo weit als moͤglich zuruͤckziehn und nicht
einmal mehr denken wollen. Dies iſt der Quietismus
im Pietismus, ſein Extrem, die einſeitigſte Verir¬
rung‚ deren er faͤhig iſt. Zu dieſem Quietismus ſind
die niedern Klaſſen am geneigteſten, weil der Stolz
und Hochmuth der Unwiſſenheit denen am leichteſten
wird, die wirklich unwiſſend ſind. Auch die ganz ab¬
geſchwaͤchten Vornehmen ſuchen den Quietismus, um
ſelbſt in der aͤußerſten Impotenz noch eine Wolluſt
zu finden.


Alle dieſe Verirrungen hindern indeß nicht, daß
der Pietismus ſich immer weiter verbreitet und in
der Achtung ſelbſt der Gelehrten immer mehr ſteigt.
Als Religion des Gemuͤthes iſt er ein unentbehrliches
Beduͤrfniß aller derer geworden, denen der Wort-
und Denkglauben der Proteſtanten nicht mehr genuͤ¬
gen konnte. Er hat ſich ihnen nicht aufgedraͤngt, ſie
haben ihn ſelbſt geſucht. Alles wird eher durch Zwang,
Gewohnheit und Überredung begruͤndet und erhalten,
als der Pietismus. Wer ſich zu ihm wendet, ſieht
[153] ſich ſogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang
kann dazu beſtimmen.


Der Pietismus findet am meiſten Anhang unter
den niedern Klaſſen der Geſellſchaft, theils weil dieſe
minder verdorben ſind als die hoͤhern, theils weil ſie
nicht ſo ſehr in den Genuͤſſen der Erde ſchwelgen,
um den Himmel daruͤber zu vergeſſen. Da, wo das
feine Gift der Unſittlichkeit und die hochmuͤthige Welt¬
klugheit noch nicht ſo tief eingedrungen, iſt das Ge¬
muͤth noch friſch und ſtark, der hoͤchſten und laͤngſten
Entzuͤckung faͤhig. Und da, wo aͤußerlich Noth und
Mangel, Verachtung und Unfreiheit herrſchen, ſucht
der Menſch ſich gern die innerliche Freiheit, das in¬
nerliche Gluͤck. Es ſucht den Himmel, wem die Erde
nichts bietet. Und ſollen wir die innere lebendige
Waͤrme, welche die großen Maſſen des Volks im Pie¬
tismus ergriffen und ſie freundlich ſchirmt gegen den
Froſt des Lebens, ſollen wir den bluͤhenden Sinn
fuͤr Liebe, der in die kleine Geſellſchaft fluͤchtet, weil
ihn die große zuruͤckſtoͤßt, ſollen wir die innre Erhe¬
bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen
den letzten Reſt von menſchlicher Wuͤrde ſichert, wenn
Niedrigkeit, Armuth und Laſter ſich verbunden, ſie
niederzutreten. Es iſt der niedrigſte Stand, es ſind
die Armen, welche die Maſſen der pietiſtiſchen Ge¬
ſellſchaften bilden. Iſt es nicht ein ſchoͤner Zug die¬
ſes Volks, daß es in der eignen Bruſt den Stern
findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet?
Iſt dieſe verachtete Froͤmmigkeit nicht die einzige Schutz¬
[154] wehr gegen thieriſche Abſtumpfung und Niedertraͤch¬
tigkeit, wie gegen frivole oder verzweifelte, zu Re¬
volutionen fuͤhrende Entſchließungen? Ein Umſtand
wird dem Pietismus beſonders jetzt guͤnſtig, der
Mangel an oͤffentlichem Leben und der Eigennutz,
der das Privatleben zerruͤttet. Waͤhrend der Eng¬
laͤnder ſeine große Staatsthaͤtigkeit, der Franzoſe
ſeine geſelligen Genuͤſſe, der Italiaͤner ſeine Natur
beſitzt, findet der Deutſche den Himmel nur in ſich
ſelbſt. Die Langweiligkeit des Staatslebens, die
Perfidie der buͤrgerlichen Geſellſchaft und oft zugleich
die Einfoͤrmigkeit der Natur und des haͤuslichen Le¬
bens machen ihm, wie die Wonne frommer Herzens¬
ergießung, ſo die Geſellſchaft theuer und unentbehr¬
lich, die mit ihm die gleiche Geſinnung theilt, und
es verbindet ſich damit eine eigenthuͤmliche Sehnſucht,
welche die Deutſchen in allen Parteien immer aus¬
gezeichnet hat, eine abgeſchloſſene Gemeinde der Hei¬
ligen, der Auserwaͤhlten, der Apoſtel einer Idee zu
bilden. Dieß war und iſt das ſtaͤrkſte Band unter
den Separatiſten.


Seit einiger Zeit haben ſich auch ſehr gelehrte
Maͤnner des Pietismus direct oder indirect angenom¬
men. Ein pietiſtiſcher Geſchmack, eine gewiſſe An¬
ſteckung pietiſtiſcher Gefuͤhle und Ausdruͤcke iſt in der
Literatur eben ſo weit verbreitet, als im Leben. Dieß
finden wir zunaͤchſt in der theologiſchen Literatur.
Eine Menge proteſtantiſche Geiſtliche neigen zum
Gefuͤhlsglauben und reden ihm in Dogmen, Predig¬
[155] ten und Gedichten das Wort, ohne ſich aͤußerlich
von der Kirche zu trennen. Es gibt ganze Gegen¬
den‚ wo dieſer Ton der herrſchende geworden iſt.
Waͤhrend dieſe Geiſtlichen den Gefuͤhlsglauben mit
dem Wortglauben der Orthodoxie zu verſoͤhnen trach¬
ten, beſtreben ſich andere mehr philoſophiſch dieſen
Glauben auch mit dem Verſtande zu verſoͤhnen, ihn
der aufgeklaͤrten Denkweiſe des Jahrhunderts zu ver¬
mitteln. So verſucht Schleiermacher's verſtaͤndige Be¬
geiſterung durch eine wunderbare Zuruͤſtung von lo¬
giſchen Formeln gleichſam optiſch, wie durch Brenn¬
ſpiegel, das heilige Feuer der platoniſch-chriſtlich-pie¬
tiſtiſchen Liebe in den Herzen zu entzuͤnden. So ſehn
wir den genialen Steffens die ganze Naturphiloſo¬
phie auf ein pietiſtiſches Reſultat hinaus fuͤhren,
und alle Cryſtalliſationen des Wiſſens gleichſam che¬
miſch aufloͤſen in das Fluidum des Gefuͤhls. Man
hat ihn und einige andere daher Apoſtaten des Wiſ¬
ſens und Neophyten des Glaubens genannt, und mit
Recht dieſer Wendung der Philoſophie eine große
Bedeutung fuͤr die Zeit zuerkannt. Zuletzt iſt auch ein
Katholik aufgetreten und hat die erſte Bahn zu einer
Verſoͤhnung des Pietismus mit dem Katholicismus
gebrochen. Schon Friedrich Schlegel behauptet mit
Recht, daß gerade in der Myſtik und Theoſophie,
die ſich von der Kirche losgeriſſen, die bedeutendſte
Reaction gegen dieſelbe vorbereitet werde, und Franz
Baader hat es verſucht, dieſe Behauptung durch Kri¬
tik einiger Myſtiker und Pietiſten, namentlich des
[156] Jakob Boͤhme, zu beſtaͤtigen. So unbedeutend dieſer
Verſuch fuͤr jetzt noch ſcheinen duͤrfte, ſo iſt doch zu
erwarten, daß die Unterſuchung auf dieſem Wege
nicht ſtille ſtehen wird, und daß die bei den Pietiſten
und Katholiken nur ſcheinbar getrennten Elemente
ſich einſt naͤher verbinden werden. Wird jemals eine
Vereinigung aller Confeſſionen in eine große chriſt¬
liche Kirche wieder moͤglich, ſo kann das vermittelnde
Glied allein der Pietismus ſeyn.


[157]

Philoſophie.

Wir leben in der Zeit der Wiſſenſchaft. Der
Verſtand iſt Regent der drei letzten Jahrhunderte.
In der Reformation hat er ſich befreit, und in der
Philoſophie des achtzehnten Jahrhunderts ſeinen Thron
aufgeſchlagen. Iſt einmal ein Volk dahin gekommen
zu denken, ſo ſucht es auch die Geſetze des Denkens;
ſammelt ſeine Wißbegier die mannigfaltigſten That¬
ſachen, ſo ſucht es deren Motive; bildet es eine
Wiſſenſchaft nach der andern aus, ſo ſucht es end¬
lich den innern Zuſammenhang in allen. Die Re¬
flexion fuͤhrt, welchen Gegenſtand ſie auch zuerſt er¬
greifen mag, immer zuletzt zur Philoſophie hin. Was
in die Sphaͤre des Wiſſens faͤllt, ſieht ſich an einen
Radius geknuͤpft und fuͤhrt zum Centrum. Dieß iſt
der Gang, den der Verſtand in ſeinem Fortſchritt
immer nehmen muß. So unabaͤnderlich aber dem
Denker die vollendete Philoſophie als perſpectiviſches
Ziel vorgeſteckt iſt, ſo nothwendig er nichts andres
erſtreben kann, als eine vollkommne Wiſſenſchaft von
[158] allen Dingen, gleichſam den Verſtand Gottes zu er¬
reichen, ſo iſt doch eben die Erreichung des Zieles,
die uns Gott gleichmachen wuͤrde, unmoͤglich, und
nicht nur in der Art, wie wir philoſophiren, ſon¬
dern ſchon darin, daß wir philoſophiren, liegt ein
innrer Widerſpruch, und nur das Streben ſelbſt iſt
das Ziel. Es gibt viele Philoſophien, weil es keine
Philoſophie, d. h. keine alleinguͤltige geben kann, und
dieſe Philoſophien ſind nur Methoden, zu philoſophi¬
ren, weil ſie nicht durch das Ziel, ſondern durch den
Weg dazu bedingt ſind.


Der Menſch fraͤgt und beantwortet die Fragen
ſo lange wieder mit Fragen, bis er an eine letzte
Frage kommt. Anfangs hielt man die Philoſophie
nur fuͤr eine Kunſt zu antworten, jetzt haͤlt man ſie
richtiger fuͤr eine Kunſt, zu fragen. Um die erſte
Frage zu beantworten, mußte man die zweite thun,
deren Antwort erſt jene beantworten kann. Man
frug: was iſt? und ſah ſich genoͤthigt zu fragen;
was denk ich, das ſey? und wieder: wie komm ich
zum denken, und auf welche Weiſe denk ich? So hat
eine deutſche Philoſophie ſich uͤber die andre gebaut.
Man hat je von einer Wiſſenſchaft, die gerade vor¬
herrſchte, den Weg in die Philoſophie geſucht, und
entweder die hoͤchſte Frage fuͤr eine Wiſſenſchaft zur
hoͤchſten der Philoſophie gemacht, oder doch von der
Philoſophie die Beantwortung jener erſten erwartet.
So haben die Fragen ſich zugleich vervielfaͤltigt und
dadurch wieder geſchaͤrft und vereinfacht.

[159]

Anfangs befreite ſich die Philoſophie aus den
Feſſeln der Dogmatik durch den Grundſatz der Ari¬
ſtotetiker, daß es eine innere Conſequenz, eine ma¬
thematiſche Nothwendigkeit der Wahrheit, neben der
durch die Kirche offenbarten Wahrheit gebe. Die
Philoſophie erweiterte jedoch nur die Graͤnzen der
Theologie und ihre Fragen blieben theologiſche. Mit
den großen geographiſchen, aſtronomiſchen und phyſi¬
kaliſchen Entdeckungen des fuͤnfzehnten Jahrhunderts
kam eine neue Richtung in die Philoſophie. Man
bemuͤhte ſich, das Princip des geiſtigen Lebens, das
man fruͤher in der goͤttlichen Offenbarung geſucht,
mit dem Princip der Natur zu vermitteln; man iden¬
tificirte auf eine myſtiſche Weiſe die Kraͤfte der Na¬
tur, die man in der Aſtronomie und Chymie entdeckt,
mit den Kraͤften der menſchlichen Seele; man ſuchte
einen Stein der Weiſen, darin die Wurzel aller ma¬
teriellen und geiſtigen Kraͤfte verborgen laͤge. Theo¬
phraſtus Paracelſus bearbeitete die Phyſik, ſpaͤter
der tiefſinnige Jakob Boͤhme die Pſychologie nach
naturphiloſophiſchen Ideen. Sie ſind unbillig ver¬
achtet worden. Inſonderheit den letztern hat man
mehr von der theologiſchen als naturphiloſophiſchen
Seite, und ſomit ganz ſchief ins Auge gefaßt. Wenn
ihnen die ungeheure phyſikaliſche Erfahrung des acht¬
zehnten Jahrhunderts nicht zu Gebote ſtand, ſo hat¬
ten ſie doch offenbar philoſophiſchen Tiefſinn und der
letztere zugleich das Schema eines durchgreifenden
Syſtems. Dieſe Weiſe zu philoſophiren, die erſt die
[160] neuere Zeit wieder aufnahm, konnte damals nicht
durchdringen. Selbſt der große Spinoza eilte ſeiner
Zeit voran, ohne ſie mit ſich zu reißen. Der herr¬
ſchende Hang nach Aſtrologie, Alchymie, Chiromantie
und der Aberglauben aller Art zog die Naturphilo¬
ſophie ins Abſurde und brachte ſie nicht ſelten in die
unwuͤrdigſten Haͤnde. Theophraſtus Paracelſus bil¬
det den Übergang zur Empirie. Sein reiches Detail
phyſikaliſcher Erfahrung, noch gemiſcht mit dem Wun¬
derglauben der heidniſchen Pharmacie und der ſym¬
pathetiſchen Curen, bereitete doch ein genaues und
umfaſſenderes Forſchen im Einzelnen vor, wobei nur
die Philoſophie in den Hintergrund trat. Inzwiſchen
wurde, je mehr der phyſikaliſche Theil der Naturwiſ¬
ſenſchaften von der Philoſophie ſich entfernte, der
mathematiſche deſto enger mit ihr verbunden. Die
Mathematik ſagte dem immer mehr erkaͤltenden Ver¬
ſtande zu, und wenn ſie einerſeits den Gehalt der
Philoſophie gleichſam austrocknete in einer duͤrren
Atomenlehre, ſo war ſie andrerſeits doch aͤußerſt heil¬
ſam fuͤr den philoſophiſchen Formalismus. Leibnitz,
Wolf, Baumgarten haben hier das groͤßte geleiſtet.
Das Syſtem, nach welchem man die Philoſophie fortan
mathematiſch beweiſen, ſie auf einen Satz zuruͤckfuͤh¬
ren und ſo klar wie das Einmal Eins machen wollte,
verzichtete zwar auf die anthropologiſche Baſis, und
verſtopfte jede andre Quelle der Erkenntniß, außer
der durch Abſtraktion der Begriff, negirte jedes
Organ, außer der Denkkraft, erwarb uns aber auch
[161] eine immer beſſer durchgearbeitete Logik. Dieſe be¬
maͤchtigte ſich ſofort der Moral, deren Fragen die
ernſten proteſtantiſchen Prediger faſt ausſchließlich
beſchaͤftigte, und waͤhrend die Orthodoxen dieſe Frage
noch nach der Bibel entſchieden, ſuchten die kritiſchen
Theologen und die Phiſoſophen ſie durch logiſches
Abwaͤgen von Pflichten und Rechten zu beantworten,
und eine hoͤchſte moraliſche Weltordnung in mathe¬
matiſchen Formen feſtzuſetzen.


Nachdem man, je weiter das Mittelalter zuruͤck¬
trat, immer kuͤhner geworden und den Weg der Of¬
fenbarung als eine letzte Feſſel gaͤnzlich weggewor¬
fen; nachdem man uͤber die Natur ſich durch uner¬
muͤdetes Studium immer vollkommner aufgeklaͤrt;
nachdem man die Mathematik mit Virtuoſitaͤt hand¬
haben gelernt und ſie auf die Logik angewandt, und
dieſe wieder auf die Moral, die durch den Prote¬
ſtantismus wie durch die roͤmiſche Jurisprudenz wie¬
der praktiſche Anwendung fand; nachdem die Kunſt
in neuen Flor gekommen und aͤſthetiſche Fragen uͤber¬
all angeregt worden; nachdem endlich mit der Bluͤ¬
thezeit der Muſik, mit der poetiſchen Sentimentali¬
taͤt und der Herrnhuterei auch die Gefuͤhle ſchaͤrfer
analyſirt zu werden anfingen, ſo war eine Combina¬
tion aller der verſchiednen Organe, wodurch wir Na¬
tur und Geiſt, das Zeitliche und Ewige vernehmen,
eine Combination aller bisher eingeſchlagnen Wege
zu philoſophiren und die Kritik derſelben hinlaͤng¬
lich vorbereitet. Eine große Menge ſcharfſinnige
[162] Pſychologen, Mendelsſohn, Reimarus, Platner, Abt,
Sulzer ꝛc. ſuchten die Thatſachen der Erfahrungs¬
ſeelenlehre zu ſammeln. Ihr geſammtes Wirken um¬
faßte und vollendete der Philoſoph von Koͤnigsberg.
Kant, eben ſo groß durch ſeinen Geiſt, als durch
die erhabne Stellung auf der pyramidaliſchen Hoͤhe
aller fruͤhern Denker, wurde der Stifter jener gro¬
ßen Epoche der deutſchen Philoſophie, von der das
vorige Jahrhundert den Namen des philoſophiſchen
traͤgt. Kant baute ſein Syſtem auf die Anthropo¬
logie. Er pruͤfte die Organe des Menſchen, ver¬
moͤge deren er alles vernimmt. Er zeigte, daß man
nicht forſchen koͤnne, was die Welt an ſich ſey, ſon¬
dern nur, wie wir ſie vernehmen. Seine Philoſo¬
phie war Kritik der Vernunft.


Einen Augenblick ſchien es, als ob in dieſer
Kritik die letzte Graͤnzſcheide der Philoſophie gezo¬
gen ſey, und doch ward ſie bald wieder uͤberſprun¬
gen. Es ſchien, als ob alle die verſchiednen Keime
der Philoſophie zu dieſer einzigen Frucht gereift
ſeyen; die Frucht trug aber wieder verſchiedne Sa¬
men. Man bemerkte, daß Kant eigentlich vom wah¬
ren Ziel der Philoſophie abgewichen war, denn er
verſchmaͤhte das abſolute Wiſſen und bewies, es gaͤbe
nur ein bedingtes. Sofort verließ man ihn als ei¬
nen Kleinglaͤubigen und ſuchte von neuem das Abſo¬
lute. Kant hatte ferner ein ſubjektives Wiſſen von
der objectiven Welt angenommen, und beide mit ein¬
ander dergeſtalt in Relation geſetzt, daß wir zwar
[163] ein Object vernehmen, aber nur nach ſubjectiven Ge¬
ſetzen der in uns liegenden Vernunft, und daß das
Object uns zwar nur unter den ſubjectiven Bedin¬
gungen erſcheint, aber doch auch etwas an ſich ſeyn
kann. Man bemerkte, daß dieß zu keinem abſoluten
Wiſſen fuͤhren koͤnne, und die Abſolutiſten trennten
ſich. Die einen wurden abſolute Subjectiſten, die
das Anſichſeyn der objectiven Welt, das Kant dahin
geſtellt ſeyn laſſen, geradezu laͤugneten; die andern
wurden abſolute Objectiſten, welche das ſubjective
Vernehmen vom Weſen des Gegenſtandes abhaͤngig
machten; noch andre nahmen eine abſolute Identitaͤt
zwiſchen Geiſt und Natur, der ſubjectiven und ob¬
jectiven Welt, des Vernehmens und ſeines Gegen¬
ſtandes an. Endlich hatte Kant die verſchiednen Or¬
gane der menſchlichen Vernunft zuſammengefaßt und
jedem gleiches Recht angedeihen laſſen. Er ſah mehr
auf das Ganze der Seelenthaͤtigkeiten und brachte
ſie unter ein Gleichmaaß: in andern waren je be¬
ſondre Organe vorzuͤglich entwickelt und wurden wie¬
der einſeitig in der hoͤchſten Evidenz herausgeſtellt.
Einer hatte mehr Sinn fuͤr die Natur, ein andrer
mehr fuͤr die Moral, ein dritter mehr fuͤr die Logik
und bildete demgemaͤß ſein ganzes Syſtem einſeitig
aus. Das Wichtigſte in dieſer Parteiung iſt aber
die Conſequenz, die Kant hineingebracht. Als Folge
oder als Gegenſatz ſtehn alle Philoſophien nach der
ſeinigen mit dieſer in Verbindung. Alle philoſophi¬
ſche Parteiung beruht auf den Gegenſaͤtzen des be¬
[164] dingten und abſoluten Wiſſens, des ſubjektiven Ichs
und der objectiven Welt, und je der einzelnen Or¬
gane des Ich und der ihnen entſprechenden Reihen
in der objectiven Welt.


In Bezug auf den erſten Gegenſatz entſtand nach
Kant's Kriticismus mit Nothwendigkeit ein dogma¬
tiſcher Abſolutismus, der zwar wie Kant kritiſirte,
aber nicht um die Schranken, ſondern um das Ziel
des abſoluten Wiſſens zu finden. Hatte Kant das
Ich von der Außenweit getrennt und nur in eine
Relation geſetzt, deren abſoluten Grund er unerklaͤrt
laͤßt, ſo war dieß nur ein Sporn fuͤr ſpaͤtere Philo¬
ſophen, den abſoluten Grund und in ihm zugleich
die fehlende Einheit zu ſuchen. Waͤhrend eine ziem¬
lich ausgedehnte Schule Kant noch unmittelbar treu
blieb und durch Erweiterung der anthropologiſchen
Forſchungen wie durch Verſchaͤrfung der Kritik ſich
mannigfaltiges Verdienſt erwarb, ſchritten andre kuͤhne
Geiſter weiter. Sie verſuchten das Abſolute zu con¬
ſtruiren, die Kantianer kritiſirten das Relative. Ihre
Lehre iſt Dogmatismus, die Kantiſche Kriticismus.
Sie beantworten apodiktiſch die Frage: was iſt?
Die Kantianer fahren fort zu fragen: wie vernehmen
wir? Ohne Zweifel wird die Wiſſenſchaft durch alle
beide befoͤrdert. Der Abſolutismus iſt eine ewige
Evolution der Seelenkraͤfte durch das Genie; der
Kriticismus ſichert ihr Gleichmaaß. Wenn die Kri¬
tiker beweiſen, bis zu welcher Graͤnze der menſchliche
Geiſt vordringen kann, ſo iſt es gut, daß die Abſo¬
[165] lutiſten es thun. Wenn auch jeder Philoſoph am
Ziele ſeines Strebens mit Sokrates behaupten muͤßte:
die groͤßte Weisheit ſey, zu wiſſen, daß man nichts
wiſſen koͤnne! ſo wird doch keiner ein Philoſoph wer¬
den, der das glaubt.


Die Abſolutiſten unterſchieden ſich aber nach eben
den Gegenſaͤtzen von Subject und Object, die Kant's
Relationsſyſtem feſtgeſtellt, und ihre Lehren ſind in
einer hiſtoriſchen Folge hervorgetreten, die den uͤbri¬
gen Richtungen der Zeit entſprochen hat. Da noch
der Proteſtantismus und die franzoͤſiſche Encyklopaͤ¬
die das Jahrhundert beherrſchten, da Logik und Mo¬
ral an der Tagesordnung waren, da der Geiſt in
jedem Augenblick einen neuen Sieg uͤber die Natur und
ihre geheimnißvolle Kraft erfocht, ſo darf man ſich nicht
wundern, daß ein genialer Mann, wie Fichte, enthu¬
ſiaſtiſchen Beifall fand, als er die ganze Philoſo¬
phie auf ein ſubjektives Moralgeſetz zuruͤckfuͤhrte, die
Kantiſche Relation aufhob, die objective Natur ins
Nichts verwies, und nur ein abſolutes Subject, ein
geiſtiges Ich anerkannte. Eine ſolche Einſeitigkeit
bedurfte des aͤußerſten logiſchen Scharfſinns, um nur
conſequent durchgefuͤhrt werden zu koͤnnen, und die¬
ſer bereicherte wieder den Formalismus der Philo¬
ſophie. Es war keine Kunſt, das Fichteſche Syſtem
zu laͤugnen, aber eine Kunſt, es zu widerlegen, und
jedes folgende Syſtem erbte ſeinen Scharfſinn, wie
Spolien des Feindes. Überdem war Fichte's Ein¬
ſeitigkeit dem Moralſyſtem wenigſtens ſo guͤnſtig, daß
[166] es kein erhabneres außer dem ſeinigen gibt. Indeß
konnte man auf dem aͤußerſten Extrem ſich nicht lange
halten. Natur und Kunſt waffneten ſich gegen Fichte.
Der unermeßlichen Forſchung oͤffnete ſich die Natur
als eine gleichſam plaſtiſch erſtarrte Philoſophie. Die
Gegenſtaͤnde der Natur ſelbſt ordneten ſich in ein
Syſtem. Die Entdeckungen in der Organologie ver¬
draͤngten den Mechanismus, welcher als Gegenſatz
den Idealiſten Vorſchub gethan. Man konnte das
geiſtige Princip der Natur nicht laͤnger verkennen
und der alte Pantheismus ward wieder aufgenom¬
men. Zu gleicher Zeit war alles fuͤr die Kunſt enthu¬
ſiaſtiſch geworden, und da das Schoͤne ſtets mittel¬
bar oder unmittelbar an die materielle Natur geknuͤpft
iſt, ſo ward uͤberall auf dieſe hingewieſen. Sanft
ſenkte ſich der menſchliche Genius von unwirthbaren
Hoͤhen wieder zum gruͤnen muͤtterlichen Boden hinab.


Unter dieſen Umſtaͤnden ergriff der große Schel¬
ling
wieder die von Fichte verlaßne Kantiſche Re¬
lation zwiſchen Subject und Object und erhob ſie zur
abſoluten Identitaͤt. Man haͤtte denken ſollen, er
werde wieder einſeitig nur das Object, die mate¬
rielle Natur, geltend machen, und von dieſer falſchen
Folgerung verleitet, haben ihn auch viele unverſtaͤn¬
dige Gegner nur als Naturphiloſophen verſchrien.
Es war ihm aber nicht blos Fichtes Subject, ſon¬
dern auch deſſen Einſeitigkeit uͤberhaupt entgegenge¬
ſetzt, und wenn er die Naturphiloſophie neu begruͤn¬
dete, ſo war dieſelbe doch nur der eine Theil ſeiner
[167] dualiſtiſchen Identitaͤtslehre. Geiſt und Natur ſind
ihm zugleich nur Emanationen, Erſcheinungen, Äuße¬
rungen und Evolutionen der goͤttlichen Idee. Er pa¬
ralleliſirt daher auch das Syſtem des Idealismus
und Materialismus und neutraliſirt die Extreme. Dies
iſt Spinozismus, aber in hoͤherer Potenz. Nur nach
Kant und Fichte konnte Spinoza's Verſprechen er¬
fuͤllt werden. Es bedurfte jedoch eines gleich großen
Geiſtes, Schelling vor Kant, oder Spinoza nach
Kant zu ſeyn. Die Identitaͤtslehre hat vor jeder an¬
dern Philoſophie augenſcheinliche Vorzuͤge. Der Eklek¬
tiker, der die Reihe der Syſteme muſtert, findet hier
die Vermittelung der Extreme. Er bemerkt, daß jede
Philoſophie die andre ausſchließt, hier findet er ſie
mit einander verbunden. Der Mathematiker, der die
geſammte Philoſophie als eine Sphaͤre betrachtet, fin¬
det in Schelling's Princip den magnetiſchen Mittel¬
punkt, der die entgegengeſetzten Pole der Subjects-
und Objectslehre, der Geiſtes- und Naturphiloſophie
zugleich ſpannt und bindet. Der Schematismus die¬
ſer Philoſophie erſcheint alſo als der vollkommenſte,
den wir bis jetzt kennen. Die Ausfuͤhrung iſt aber
den Bedingungen der menſchlichen Unvollkommenheit
unterworfen. Dies hat dahin gefuͤhrt, daß die Phi¬
loſophie den alten Kreislauf dennoch wiederholt. Die
Schule Schelling's iſt nach den beiden in ihr liegen¬
den Potenzen wieder in zwei einſeitige Hauptſyſteme
zerfallen. Oken hat den materiellen Pol vorwiegen
laſſen und die Identitaͤt des Geiſtes mit der Natur
[168] in den geiſtigen Charakter der Natur geſetzt. Die
Materie iſt ihm nur der zerfallene Geiſt, der Geiſt
die combinirte Materie. Endlich hat Hegel den gei¬
ſtigen Pol vorwiegen laſſen und die Identitaͤt des
Geiſtes mit der Natur in den materiellen Charakter
des Geiſtes, in die objective Weſenheit der Begriffe,
in das ausſchließliche und abſolute Seyn der Denk¬
begriffe und ihres Geſetzes, der hoͤhern Logik, in
die Phyſik der Logik geſetzt. Oken's Weſen ſind Be¬
griffe, Hegel's Begriffe ſind Weſen. Somit bietet
die deutſche Philoſophie bis zum gegenwaͤrtigen Au¬
genblick ein conſequentes Syſtem von Syſtemen dar
und iſt in einem gewiſſen Kreiſe abgerundet.


Wir muͤſſen aber auch auf die einzelnen Organe
des menſchlichen Geiſtes Ruͤckſicht nehmen, die in den
verſchiednen Syſtemen vorzugsweiſe ſind entwickelt
worden. Die kraͤftigſte Entwicklung war immer die
einſeitigſte. Nur indem jedes Organ allein herrſchen
will, erhaͤlt es den hoͤchſten Grad der Ausbildung
und dient der Philoſophie am beſten in dem Augen¬
blick, da es von ihr zu entfernen ſcheint. Über¬
haupt, ſo lange die Philoſophie, die unumſtoͤßlich, un¬
abaͤnderlich und in allen Theilen vollkommen ſeyn wird,
noch nicht gefunden iſt, kann ſie dem Geiſt niemals
eine Schranke oder nur ein Maaß aufdringen, der
in einer eigenthuͤmlichen Bahn vordringt und ſich ſel¬
ber Geſetz und Ziel ſchafft. Die Moral, die Logik,
die Phyſik ſind einer eigenthuͤmlichen Ausbildung un¬
terworfen, und nehmen weit ſeltner von der Philo¬
[169] ſophie Regeln an, als ſie ſelbſt in ſie Regeln hin¬
uͤber tragen, ja ſogar ſie voͤllig umſchaffen. Und wo
dies auch nicht der Fall waͤre, muß ein ſelbſtſtaͤndi¬
ges, wenn auch einſeitiges Moralſyſtem, eine eigen¬
thuͤmliche Logik oder Phyſik ſo viel Werth haben,
als wenn wir ſie als integrirenden Theil eines um¬
faſſenden philoſophiſchen Syſtems kennen lernten. In
allem, was der Menſchengeiſt hervorbringt, liegt ein
innrer Zuſammenhang, wenn auch die Form ihn ver¬
laͤugnet. Kant war ſo vielſeitig, als die Bildung des
Jahrhunderts ihm Seiten darbot. Sein brillantirter
Geiſt ſelbſt war der Stein der Weiſen ſeiner Zeit.
Sein Syſtem beruhte auf der Wuͤrdigung aller gei¬
ſtigen Richtungen und er wirkte wohlthaͤtig auf alle.
Seine Schuͤler zeigen oft nur dem Syſtem zu Liebe
eine oberflaͤchliche Vielſeitigkeit. An echter umfaſſen¬
der Bildung ſteht allen andern der biedre Fries voran,
der ſich uͤberdem durch eine vorwiegende ethiſche Rich¬
tung und durch ein Streben nach Popularitaͤt aus¬
zeichnet. Fichte war ganz Moraliſt, und alle ſeine
Werke beziehen ſich auf das handelnde Leben, ſo we¬
nig ſie auch populaͤr geſchrieben ſind, ſo daß man
nicht einmal ſeine Reden an die deutſche Nation au¬
ßer der Schule begreifen kann. Dieſer tapfre Geiſt
verlangte die Diktatur und den Terrorismus der Tu¬
gend. Er ſtellte die abſolute Tugend ſelbſt dem Him¬
mel entgegen und verſchmaͤhte fuͤr dieſelbe die Garan¬
tie der religioͤſen Autoritaͤt. Ein rieſenſtarker Wille
in der eignen Bruſt ſollte jede fremde Kruͤcke dem neu¬
Deutſche Literatur. I. 8[170] gebornen Geſchlecht entbehrlich machen. Sein Grund¬
ſatz: nur das ſey, was der Menſch thue, und nur
das verdiene zu ſeyn, wozu er ſich durch die Kraft
des Willens zwinge, und nur das koͤnne der Menſch
wollen, was ſeinem freien Ich gezieme, Ehre fuͤr
ſich, Gerechtigkeit fuͤr alle! blitzt wie das Flammen¬
ſchwert eines Engels in das durch Mattigkeit, Sinn¬
lichkeit und Luͤge entwuͤrdigte Paradies des Men¬
ſchenlebens. Iſt in Fichte's Princip ein philoſophi¬
ſcher Irrthum, ſo iſt die Anwendung doch die wahrſte
und beſte. Der Irrthum liegt nur in der Ausſchlie߬
lichkeit des Princips, nicht in deſſen Folgerungen.
Wie nur aus dem Fichteſchen Princip der hoͤchſten
Willensfreiheit die wuͤrdigſte Moral gefolgert werden
kann, ſo wird jede beſte Moral wieder bis zu Fichte's
Princip aufſteigen muͤſſen. Eine hoͤhere Philoſophie
vermag aber das Princip der Willensfreiheit mit dem
der Nothwendigkeit zu vermitteln. Im Gegenſatz ge¬
gen Fichte war Schelling wieder vielſeitig, wie Kant,
und nur ſeine Schuͤler haben die verſchiedenen Sei¬
ten vorzugsweiſe glaͤnzend ins Licht geſetzt. Das re¬
ligioͤſe Element iſt hauptſaͤchlich von Goͤrres und
Steffens ausgebildet worden, myſtiſch von jenem,
pietiſtiſch von dieſem. Im ethiſchen Gebiet glaͤnzt
Goͤrres vor allen, und ihm verdanken wir auch die
erſte Organologie des politiſch-hiſtoriſchen Lebens.
Die meiſten Schuͤler Schelling's werfen ſich mit uͤber¬
wiegender Vorliebe in die Naturkunde. Die tiefſten
Ahnungen uͤber das kosmiſche und organiſche Leben
[171] ſprach Goͤrres aus. Das conſequenteſte Syſtem, das
ſich zugleich der Empirie am vollkommenſten anſchmiegte
und gleichſam den ganzen Thatbeſtand der Naturge¬
ſchichte wie durch einen Zauberſchlag in eine Philo¬
ſophie verwandelte, verdanken wir Oken. Er uͤber¬
trifft alle Naturphiloſophen an empiriſchen Kenntniſſen,
alle Empiriker an Philoſophie. In der Anwendung
der Mathematik auf die Naturphiloſophie erwarben
ſich vorzuͤglich Wagner und Eſchenmayer Verdienſte.
Steffens zeichnete ſich durch Unterſuchungen uͤber die
Vorgeſchichte, Schubert durch Aufklaͤrung der Nacht¬
ſeite der Naturwiſſenſchaft aus. Sie alle brachten in
das Studium der Natur einen neuen großen Schwung.
Durch Hegel hat ohnſtreitig die Logik viel gewonnen.
Es liegt in ſeiner Taſchenſpielerei mit Begriffen ein
Talisman, den man ihm abgewinnen muß, um ihn
wuͤrdiger zu gebrauchen.


Wenn wir durch jeden, der auf iſolirter Bahn
etwas Großes geleiſtet, uns im Einzelnen belehren
laſſen muͤſſen, ſo ſollen wir doch immer den Blick
nach den univerſellen Geiſtern, den Polarſternen des
Himmels richten, um welche die groͤßte Sphaͤre ſich
umwaͤlzt. Zwar eine ewige Kluft iſt feſtgeſtellt zwi¬
ſchen der Weisheit Gottes und der der Menſchen; doch
eine Stelle gibt es, wo auch der menſchliche Geiſt
am hoͤchſten ſteht, und die freieſte und reichſte Aus¬
ſicht zugleich gewinnt. Heil dem Genius, in welchem
der Sinn fuͤr die Natur, die moraliſche Kraft, der
Scharfſinn des Verſtandes, die tiefe Innigkeit des
8 *[172] Herzens in einer hoͤchſten Einheit verbunden liegen,
in deſſen reingeſtimmter Seele die Accorde voll er¬
klingen, in denen alles Lebens Harmonie gedeutet
wird. Geiſter wie Kant, Schelling, Goͤrres zeigen
uns erſt, was die Welt iſt, indem ſie ſie in ihrem
Geiſte ſpiegeln, und was der Geiſt iſt, indem ſie
ihn in der Welt ſpiegeln. Je weiter aber die Welt
erſchloſſen wird, deſto groͤßer werden die Geiſter,
je groͤßer die Geiſter ſind, deſto groͤßer ſchaffen ſie
die Welt. Der hoͤchſte Triumph des Philoſophen iſt,
daß er von innen heraus die Welt durch die Er¬
kenntniß neu ſchafft und bildet wie ein Kunſtwerk,
daß er immer freier wird, je mehr er ſie begreift,
daß die groͤßte Laſt des Wiſſens ſeinem Genius die
leichteſten Schwingen leiht. Der hoͤchſte Triumph der
Philoſophie iſt dagegen, daß ſie niemals alleinguͤltig
wird, daß ſie die Erkenntniß der Welt ſtets an die
Eigenthuͤmlichkeit geiſtiger Naturen knuͤpft, daß ſie
die Welt immer nur im Spiegel eines individuellen
Geiſtes zeigt, daß folglich der groͤßte Philoſoph den
groͤßern nicht ausſchließt. Man kann die Philoſophie
mit der Muſik vergleichen. Die Philoſophen ſpielen
auf der Welt. Hier und dort vernehmen wir die
wunderbarſten und herrlichſten Melodien. Wir be¬
dauern die Schuͤler, die dem Inſtrumente nicht gewach¬
ſen ſind, weil die toͤnereichſte Floͤte dem Ungeſchick¬
ten doch nur ein Holz iſt. Wer aber iſt ein Meiſter
der Gegenwart und glaubt, der Quell der Toͤne ſey
erſchoͤpft und verſiegt durch ſeine Kunſt? Immer
[173] neue Meiſter erben das Inſtrument, das nie ver¬
wuͤſtet wird. Es reihen ſich Blumen an Blumen,
und Menſchen an Menſchen. Der Himmel iſt gewoͤlbt
aus vielen Sternen und Gottes Tempel ruht auf
vielen Saͤulen.


Nach dieſem allgemeinen Überblick uͤber das In¬
nere der deutſchen Philophie muß es intereſſiren, ihr
Verhaͤltniß zur uͤbrigen Literatur und zum Leben zu
betrachten. Ich ſtehe nicht an, dieſer Philoſophie
den Vorrang vor allen andern unſrer literariſchen
Erſcheinungen zuzuerkennen. Das Zeitalter wird von
der Wiſſenſchaft, die Wiſſenſchaft von der Philoſophie
regiert. In der neuen Hierarchie des Verſtandes iſt
der philoſophiſche Stuhl der apoſtoliſche und die Phi¬
loſophen ſind die Kardinaͤle. Aus der ganzen Sphaͤre
unſrer Geiſtesthaͤtigkeiten ſammeln ſich die Reſultate
in die Philoſophie, als in ein Centrum; alle Saͤfte
ſublimiren ſich in ihre Bluͤthenkrone. Die Mannig¬
faltigkeit ſucht immer ihre Einheit, und je gewiſſer
es iſt, daß die Deutſchen fuͤr alle Arten von Er¬
kenntniſſen Sinn haben, um ſo natuͤrlicher iſt es auch,
daß ſie dieſelben regeln und auf die einfachſten Re¬
ſultate zuruͤckfuͤhren. Ja es ſcheint, als ob der all¬
gemeine Wiſſenstrieb nur die ſecundaͤre, der philoſo¬
phiſche Tiefſinn aber die primaͤre Äußerung unſrer
Natur ſey, als ob wir eine Peripherie nur faͤnden,
nachdem ein unſichtbares Centrum ſie ausſpannt. Unſre
Philoſophie beweiſt, daß Deutſchland keine Polter¬
kammer fuͤr allerlei Wiſſen ſeyn ſoll. Es kommt nicht
[174] das Kleinſte in den Horizont unſrer Betrachtung, ſo
findet es ſich durch unſichtbare Faͤden an den Mittel¬
punkt der philoſophiſchen Erkenntniß geknuͤpft. Je
reicher aber der Gegenſtand jener Betrachtung iſt,
um ſo tiefer jener Mittelpunkt. Indem wir die brei¬
teſte Baſis nehmen, duͤrfen wir die philoſophiſche
Operationslinie am kuͤhnſten und weiteſten ausdeh¬
nen, und unſre Helden dringen erobernd immer tie¬
fer in das unbekannte Geiſterreich.


Es gibt indeß auch eine ziemlich dunkle Schat¬
tenſeite
der deutſchen Philoſophie. Nicht alle Phi¬
loſophen waren geniale Geiſter; es gibt auch einen
philoſophiſchen Poͤbel, Affen und Karrikaturen
der Genies, die zugleich immer den Gegenſatz der
Philoſophie und des Zeitalters in einer gefaͤlligen
Halbheit zu vermitteln wußten. In ihnen hat die
Philoſophie an der allgemeinen gelehrten Pedanterei
Theil genommen, nicht nur in den ſprachlichen For¬
men, ſondern auch in den Anſichten. Auch ſie hat
den Reifrock getragen. Statt tief zu ſeyn, war ſie
lange nur ſpitzfindig, ſtatt natuͤrlich zu ſeyn, aufge¬
ſtutzt, ſtatt gerade auszugehen, ceremonioͤs, hoͤflich,
umſtaͤndlich, ſtatt uns zu uͤberzeugen, hat ſie lange
nur mit uns converſirt, ja auch ſie hat wie die
Poeſie geraume Zeit uns die Alten citirt, und den
Kothurn an die Sohlen geſchraubt, ſtatt ſich ſelber
zu heben. Dann iſt ſie wie die ganze uͤbrige Litera¬
tur in das entgegengeſetzte Extrem gefall[e] [...]. Sie iſt
goͤttlich grob geworden, wie die Ritterromane, ſie iſt
[175] von der Sucht nach Natur und Originalitaͤt befallen
worden, wie die Damen und Studenten, wie die
Dichter und Virtuoſen. Sie hat alle alte Autoritaͤt
abgeworfen und friſch von vorn ſelbſt gedacht, aber
ihre Gedanken waren oft nicht werth, gedacht zu
werden. Endlich hat ſie Gefuͤhl und Phantaſie zu
Huͤlfe gerufen und mit girrendem Floͤtenton oder tuͤr¬
kiſcher Muſik bachantiſche Taͤnze um den Altar der
Wahrheit aufgefuͤhrt, oder aus myſtiſchen Nebeln un¬
begreifliche Orakel geſtammelt. Der Schulſtube, dem
bezopften Orbil entriſſen, iſt ſie alt genug geworden,
in die Schule der Liebe zu gehn, ſich ſchwaͤrmeriſch
dem Geliebten in die Arme zu werfen. Doch unab¬
haͤngig von dieſem Treiben der Menge, ſind große
Genien mit maͤnnlichem Verſtand ihrer Zeit voran¬
geſchritten und haben laͤchelnd zugeſehn, wie man
mit ihren Gedanken kindiſche Abgoͤtterei getrieben.


Insbeſondere tadelt man an unſern Philoſophen
mit Recht den ſchulmeiſterlichen Hochmuth,
wiewohl ihn noch kein neuer Lucian ſcharf genug ge¬
geißelt hat. Es iſt in der That laͤcherlich die Wei¬
ſen zu ſehn, wie ſie gleich erboſten Haͤhnen einander
blutig hacken und dann auf dem naͤchſten Dachgiebel
wieder mit ſtolzgehobenem Schopfe kraͤhen und auf
die kleine Welt herunterblicken.


Der Vorwurf der Unpopularitaͤt trifft unſre
Philoſophen faſt ohne Ausnahme. Sie haben von
den Griechen und Scholaſtikern eine fremde Termi¬
nologie entlehnt, anfangs ſelbſt noch lateiniſch ge¬
[176] ſchrieben und auch noch in der neueſten Zeit ſich darin
gefallen, immer neue fremde Woͤrter zu ſchmieden.
Dies hat ihnen zwar in den Augen des Volks ein
ehrwuͤrdiges Anſehen und ſelbſt den begreiflichſten Ge¬
meinplaͤtzen einen Anſtrich von tiefer Weisheit ver¬
liehen, das groͤßere Publikum aber der Philoſophie
entfremdet, und dieſe zur reinen Schulſache gemacht.
Oken, eben ſo patriotiſch als gelehrt, hat gegen die
fremde Terminologie geeifert, ohne jedoch etwas aus¬
zurichten, ja ohne ſelbſt ſie vermeiden zu koͤnnen.
Die Schwierigkeiten der philoſophiſchen Sprache wer¬
den noch verwickelter durch den eigenthuͤmlichen und
willkuͤrlichen Gebrauch, den jeder einzelne Philoſoph
davon macht. Schlagen wir die erſte beſte Seite in
philoſophiſchen Werken auf, was klingen uns fuͤr ganz
verſchiedne Namen in Leibnitz, Wolf, Kant, Fichte,
Schelling, Hegel entgegen. Die fremden Woͤrter ſind
indeß in ihrer Verſchiedenheit noch die deutlichſten;
die deutſchen werden bei ihrer Gleichheit durch den
verſchiednen Gebrauch, je gemeinverſtaͤndlicher ſie an
ſich ſind, deſto undeutlicher in der Philoſophie. Man
hat daher ganze Buͤcher geſchrieben, um nur die
wahre Bedeutung der Ausdruͤcke: Vernunft, Ver¬
ſtand, Geiſt, Herz, Gemuͤth, Gefuͤhl u. ſ. w. auszu¬
mitteln. Doch iſt deßfalls noch kein allgemeiner Sprach¬
gebrauch angenommen. Die Schwierigkeiten der Spra¬
che ſind denen des Denkens gefolgt. Die Denkkraft
arbeitete ſich mit unendlicher Anſtrengung, aber nur
ſtufenweiſe, aus der alten Unklarheit heraus und
[177] mußte fuͤr jede neue Entdeckung auch eine neue Spra¬
che ſchaffen. Eine muͤhſame, umſtaͤndliche, weitlaͤu¬
fige Darſtellungsweiſe war unvermeidlich, weil erſt
durch ſie der Weg zu immer einfachern Begriffen
fuͤhrte. Nichts wird ſchwieriger errungen, als was
ſich nachher gleichſam von ſelbſt verſteht. Die mei¬
ſten Philoſophien, ja in gewiſſer Ruͤckſicht alle fruͤ¬
hern, ſind nur Studien, Vorarbeiten. Der große
Kepler mußte viele hundert Folioſeiten voll Zahlen
ſchreiben, bis jene einfachen allbekannten Geſetze, die
nun jeder ohne Muͤhe begreift, das Reſultat ſeines
eiſernen Fleißes waren. So verhaͤlt es ſich mit vie¬
len deutſchen Philoſophen, beſonders vor Kant. Wenn
wir auch nur mit einem aͤſthetiſchen Widerwillen die
duͤrren und oft taͤuſchenden Rechnungen des Verſtan¬
des verlaſſen, ſo muͤſſen wir doch geſtehn, daß ſie
nothwendig waren. Am meiſten faͤllt uns bei faſt
allen unſern Philoſophien die ſogenannte wiſſenſchaft¬
liche Form auf, die in ſyſtematiſchen Tabellen, Claſ¬
ſen und Paragraphen ſich gefaͤllt. Wie weit ſind wir
von der Majeſtaͤt orientaliſcher Dogmatik, von der
Anmuth Platoniſcher Kriticismen entfernt. Doch muß
uns auch wieder dieſes duͤrre Syſtematiſiren als noth¬
wendig erſcheinen, und gerade einige Verſuche, na¬
mentlich der Kantianer, in der Form zu platoniſiren,
ſind ſehr unreife Producte geblieben. Den wuͤrdig¬
ſten philoſophiſchen Styl hat Goͤrres; denn ſein Sy¬
ſtem hat die erhabenſte Einheit, weil es ganz myſtiſch
iſt, und in der Mannigfaltigkeit wieder die groͤßte
[178] Fuͤlle von Schoͤnheiten, weil die myſtiſche Einheit in
einer durchgreifenden Symbolik von Geiſt, Natur
und Geſchichte enthuͤllt wird. Dies gibt den Schrif¬
ten von Goͤrres die bibliſche Kraft und die orienta¬
liſche Pracht. Wir glauben uns, wenn wir in ihn
uns einſtudiren, in einem unermeßlichen kuͤhnen gothi¬
ſchen Dom, die hohen Bogen, Saͤulen, Woͤlbungen,
wunderbar verſchlungen und an einfache Punkte ge¬
knuͤpft, und eine ganze Welt in Steinbildern darin
verbaut, und uͤber dem Ganzen ſchwebend ein Aus¬
druck des Heiligen, die Majeſtaͤt eines unſichtbaren
Gottes, und im Tempel brauſend ein Poſaunenton,
der ſein Herold iſt. Goͤrres prieſterliche Salbung
und prophetiſche Donnerſtimme ſind dem Dogmatis¬
mus durchaus angemeſſen. Dieſer ſoll immer ſeyn
und iſt bei Goͤrres das Werk eines plaſtiſchen Na¬
turtriebes, unwillkuͤrliche, unverfaͤlſchte Offenbarung
der eingebornen Idee und genau wie beim Dichter
das freie Wachsthum einer eigenthuͤmlichen Blume
des Geiſtes, unter den verſchiedenſten Bedingungen
der Cultur doch die uͤbermaͤchtige Naturkraft, die ſich
ſelbſt den Charakter beſtimmt. Der Dogmatiker iſt
in einer beſtaͤndigen begeiſterten Schoͤpfung begriffen
und es iſt kein gutes Zeichen, wenn er aus den pro¬
phetiſchen Viſionen erwacht und ſich ſelbſt kritiſirt.
Nur der Kriticismus darf und ſoll dieſer Begeiſte¬
rung entbehren und den Gedanken als objectives Pro¬
duct von der ſubjectiven ſchoͤpferiſchen Gluth trennen.
Die Dogmatiker haben aber den Kritikern noch im¬
[179] mer zu viel nachgegeben, und ihre bluͤhenden Gaͤrten
in Feſtungen verwandelt und unter das Waſſer kri¬
tiſcher Reflexionen geſetzt, um ſie gegen Angriffe zu
ſchuͤtzen. Goͤrres hat ſeine Natur am freieſten und
kuͤhnſten walten laſſen, und ſteht deßhalb eben ſo
hoch als einſam unter den Philoſophen. In Jakob
Boͤhme wirkte die Natur eine aͤhnliche Erſcheinung,
doch dieſe wunderbare Blume bluͤhte nur in der Nacht.
In Novalis rang die angeborne Natur gegen die
fremde Form, ohne ſie ganz beſiegen zu koͤnnen. Son¬
dern ſich die Elemente mehr und mehr, ſo wird der
Dogmatismus in der organiſchen Plaſtik eines Goͤrres
die freieſte, ſchoͤnſte und nationellſte Entwicklung fin¬
den, der Kriticismus aber allerdings die platoniſchen
Formen ausbilden muͤſſen, die ſeinem polemiſchen Cha¬
rakter am meiſten angemeſſen ſind.


Gehn wir zu den Wirkungen uͤber, welche die
Philoſophie in den untergeordneten Wiſſenſchaften und
im Leben hervorgebracht, ſo erſcheinen dieſelben durch¬
aus natuͤrlich und im Weſen der Philoſophie begruͤn¬
det, weil dieſe jeder Erkenntniß, wie jedem Han¬
deln das hoͤchſte Geſetz vorſchreibt. Die Philoſophie
hat die geſammte Cultur unermeßlich befoͤrdert, in¬
dem ſie uͤberall centraliſirt und vereinfacht hat. Sie
hat auch, in ihrer Einſeitigkeit die einzelnen Seiten
der Wiſſenſchaft und des Lebens je in das glaͤnzendſte
Licht geſetzt und fuͤr die verſchiedenen Stimmen des
Zeitalters immer den Grundton angegeben. Sie hat
zwar, weil ſie nur gelehrt iſt, das geſammte Volk
[180] nicht zu ſich erhoben, doch mittelbar durch ihre Wir¬
kungen auf die uͤbrige Literatur große Ideen und
wohlthaͤtige Maximen verbreitet. Dagegen ſind auch
alle Maͤngel, Irrthuͤmer und Widerſpruͤche der Phi¬
loſophie auf die Praxis uͤbergegangen, je nachdem
man einzelne Wiſſenſchaften nach den Principen der
verſchiednen Philoſophien behandelt hat. Noch oͤfter
ſind wahre Principe falſch oder mangelhaft ange¬
wandt worden, und um dieſe Fehler zu vermeiden,
haben andre der Philoſophie gaͤnzlich entbehren zu
koͤnnen geglaubt und ein geiſtloſes empiriſches Ver¬
fahren der Windbeutelei vager Theorien vorgezogen.
Auf der einen Seite ſehn wir oberflaͤchliche Geſellen
den philoſophiſchen Ton anſtimmen, um ihren Man¬
gel an ſoliden Kenntniſſen zu verbergen, oder um
mit der Unwiſſenheit wohl gar zu prahlen. Das Be¬
greiflichſte wird in vornehmen, die Sache verdun¬
kelnden, meiſt geborgten Redensarten vorgetragen.
Elende Fetzen dieſer oder jener Philoſophie, die der
Student mit ins Philiſterium gebracht, werden in
theologiſchen, hiſtoriſchen, paͤdagogiſchen und eben
ſo oft in poetiſchen Werken angebracht. Wer die
noͤthige Erfahrung, die noͤthigen Detailkenntniſſe nicht
hat, hilft ſich mit einem Surrogat von Philoſophie
und bildet ſich ein, das Hoͤchſte geleiſtet zu haben,
wenn er in hohem Tone ſpricht. Mancher Dichter,
der ſeinem Helden keine Natur zu geben weiß, ſtattet
ihn mit philoſophiſchen Phraſen aus. Selbſt Schul¬
meiſter quaͤlen hie und da die unmuͤndige Jugend mit
[181] dem Wuſt einer unverdauten Philoſophie. Auf der
andern Seite finden wir einige an Erfahrung ge¬
reifte und hochgelehrte Maͤnner, die von der Philo¬
ſophie wenig oder nichts wiſſen wollen, die ſie gele¬
gentlich verachten und hoͤhnen, weil ſie die Wider¬
ſpruͤche derſelben nicht vereinigen koͤnnen und oft ſehr
wohl wiſſen, auf welche ſchwankende Grundlagen
manche Speculation ihre Luftſchloͤſſer baut. Dieſen
ſchließen ſich ſodann die Pedanten und Kleinkraͤmer
an, die in der großen Rechenkunſt des Lebens nur
bis zum Addiren gekommen ſind und nur je die ein¬
zelnen Thatſachen der Erfahrung zuſammenhaͤufen. Sie
ſammeln und erzaͤhlen, bekuͤmmern ſich aber um kei¬
nen Grund und keine Folge. Sie nennen ſich die
Praktiſchen und uͤben eine große Herrſchaft in Schu¬
len und Staatsaͤmtern. Auch viele geniale, poeti¬
ſche, fromme, und luſtige Naturen widerſtreben der
Philoſophie, weil die Strenge derſelben oder die
ſyſtematiſche Form ſie abſchreckt. Endlich lebt die
Orthodoxie aller Confeſſionen in einem beſtaͤndigen
kleinen Kriege mit den Philoſophen. Man darf ſich
daher nicht wundern, wenn man findet, daß die
Philoſophie ſo manche Verunglimpfung, ſo mancher
Spott getroffen. Witzige, geſcheite Leute haben den
Stoff dazu aus den Maͤngeln der Philoſophie ent¬
lehnt, die Dummen und Boͤſen unbewußt aus ihren
eignen Maͤngeln.


Goͤthe's Fauſt und anderwaͤrts viele Ausſpruͤche
dieſes Dichters haben der Philoſophie in den Augen
[182] der Menge einen gewaltigen Stoß beigebracht. So¬
fern von der gelehrten Pedanterei die Rede iſt, hat
der Dichter immer Recht. Wenn der Philoſoph, gleich
jenem heroiſchen Archimedes, ſelbſt durch die Todes¬
gefahr, geſchweige durch des Dichters Tadel, ſich
nimmer ſtoͤren laͤßt im Forſchen und Unterſuchen, ſo
mag der Dichter, der Liebling der Natur, an der
Seite dieſer Natur, ihre Unerforſchlichkeit, den ewi¬
gen Talisman, womit ſie uns bezaubert und be¬
herrſcht, vertheidigen. Er mag einem ſchalkhaften
Amor gleich ſeine Venus vertheidigen und den zu¬
dringlichen Philoſophen verblenden und verwirren.
Der Streit der Philoſophie und Poeſie, der uralt
iſt, ſoll in keine Gehaͤſſigkeit ausarten, vielmehr das
ſchoͤne Wechſelſpiel unſrer edelſten Kraͤfte bleiben,
und wer aus der Menge ſich mehr dem Denker, oder
mehr dem Dichter verwandt fuͤhlt, mag waͤhlen nach
Gefallen.


Im Beſondern hat jede große philoſophiſche Schule
einer Richtung des Zeitalters entſprochen, in Wech¬
ſelwirkung ſie erzeugend und von ihr erzeugt. Man
kann ſelten unterſcheiden, wie fern ein Mann mehr
auf ſeine Zeit, oder dieſe mehr auf ihn gewirkt.
Große Geiſter ſind nur die Spiegel der Zeit, durch
die ſie eben geſchliffen werden.


Kant hat die ganze Literatur bewegt und den
groͤßten Ruhm, die weiteſte Verbreitung gefunden.
Seine Lehren haben den Forſchungsgeiſt angeregt,
der Philoſophie ſelbſt den groͤßten Impuls gegeben,
[183] die kritiſche Theologie beguͤnſtigt, alle Wiſſenſchaften
philoſophiſcher gemacht und durch ihre Humanitaͤt To¬
leranz und Bildung mannigfach befoͤrdert. Wenn ſein
Syſtem in der gelehrten Welt unmittelbar die groͤ߬
ten Revolutionen bewirkt hat, ſo duͤrfen wir doch
noch weniger die großen Folgen verkennen, die ſein
anthropologiſches Verfahren mittelbar in noch weitern
Kreiſen hervorgebracht hat. Die allgemeine Toleranz,
die ſeit Friedrich dem Großen vorzuͤglich von Preu¬
ßen ausging, das Streben nach allſeitiger Bildung,
das Intereſſe fuͤr alles Fremde, die billige Pruͤfung
aller Parteianſichten, die Vorliebe fuͤr das analyti¬
ſche Verfahren, die Bemuͤhung um Urbanitaͤt, das
Streben nach Nuͤtzlichkeit, Popularitaͤt und Geſellig¬
keit gewann hauptſaͤchlich durch den edlen Koͤnigsber¬
ger Philoſophen die Ausbildung und Verbreitung, die
das vorige Jahrhundert ausgezeichnet hat. Gleich¬
zeitig war auch in Frankreich und England ein an¬
thropologiſch-kritiſches Verfahren herrſchend gewor¬
den. Rouſſeau's Gemuͤth, Voltaire's Verſtand, Swift's
Satyre, Sterne's Humor appellirten an die menſch¬
liche Natur und ſtuͤrzten die alten Vorurtheile. Sie
und Diderot, Goldſmith, Fielding drangen in die
deutſche Literatur und ihre Wirkungen ſtehn in ge¬
nauer Beziehung mit Kant's Anthropologie. Man
warf die ſteife Form von ſich und belauſchte das
menſchliche Herz, das geſellige Leben, und gab Sit¬
tengemaͤlde, pſychologiſche Romane, Idyllen, buͤr¬
gerliche Schauſpiele, Satyren, humoriſtiſche Aus¬
[184] ſchweifungen, worin uͤberall der Grundton der Kanti¬
ſchen Philoſophie wiederklingt, Pruͤfung der Men¬
ſchenſeele, Humanitaͤt und zugleich Polemik gegen den
alten Wahn. Goͤthe's reiche Gemaͤlde haben ihnen
eine lange Herrſchaft bereitet, und Wachler hat gar
nicht Unrecht, wenn er, obwohl ohne das Motiv an¬
zugeben, in ſeinem Handbuch der deutſchen Literatur
die Behauptung aufſtellt, Goͤthe habe ſeine allgemeine
Anerkennung erſt durch Mitwirkung der kritiſchen
Philoſophie gewonnen.


Fichte gehoͤrt der Zeit der franzoͤſiſchen Revolu¬
tion an, wie Kant der kurz vorhergehenden friedli¬
chen Periode. Eine wunderbare Schwaͤrmerei be¬
maͤchtigte ſich der Menſchen. Man traͤumte von ei¬
ner hoͤchſten moraliſchen Weltordnung, von einer all¬
gemeinen Republik, und der Traum ſollte verwirk¬
ligt werden. Man verwarf Offenbarung und Ge¬
ſchichte, und das neue Geſchlecht maßte ſich an,
Kraft ſeines freien Willens alles Alte zu ſtuͤrzen
und eine neue Menſchheit mit neuen Formen anzu¬
fangen. Die Franzoſen waren die Helden dieſer neuen
Lehre, ihre tiefſte philoſophiſche Begruͤndung muß
unſrem Fichte zugeſchrieben werden. Ihm hingen da¬
her alle Freunde der franzoͤſiſchen Revolution und
jene Unzahl jugendlicher Enthuſiaſten an, die ſelbſt
dann noch von ihren Traͤumen nicht laſſen wollten,
als die Franzoſen bereits von der nachhinkenden Er¬
fahrung unſanft aufgeweckt worden. Eine Menge
Politiker, Hiſtoriker und Paͤdagogen folgten Fichte's
[185] Grundſaͤtzen, und das ſogenannte Deutſchthum muß
als der letzte einſeitige Auswuchs des einſeitigen Fich¬
tianismus betrachtet werden. Im ethiſchen Enthuſias¬
mus hoͤchſt achtbar, und oft bewunderungswuͤrdig, iſt
dieſe Lehre in der Praxis faſt immer nur zur Thor¬
heit ausgelaufen. Sie findet ihre Anhaͤnger auf na¬
tuͤrliche Weiſe immer bei der Jugend und hat ſie bei
den Alten eine Zeitlang finden muͤſſen, als dieſelben
wie in den letzten Zeiten der Noth und Befreiung
Deutſchlands von einem jugendlichen Rauſch ergrif¬
fen worden. Dieſe feurige, raſche Wirkung, wie
eines Meteors, das wieder ſchwindet, iſt aber ge¬
rade das, was wir an Fichte's Lehre hoͤchſt liebens¬
wuͤrdig finden muͤſſen. Unter den Dichtern iſt in der
praktiſchen und ethiſchen Richtung Schiller ihm am
meiſten geiſtesverwandt. Beide griffen in die ſtolze
Bruſt und riefen den maͤnnlichen Willen zum Kampf
gegen die Sinnlichkeit und Schwaͤche des Zeitalters;
beide fochten ritterlich fuͤr Freiheit, Ehre, Tugend,
beide ſind fruͤh in dem Strom, gegen den ſie anſtreb¬
ten, untergegangen. Abgeſehn von dieſer ethiſchen
Richtung aber, und rein in Bezug auf das Philoſo¬
phem Fichte's iſt kein Dichter ihm gefolgt, als No¬
valis, der daher auch eben ſo groß und einzig da¬
ſteht, und auch dieſer Dichter buͤßte den allzukuͤhnen
Goͤttertraum mit einem fruͤhen Tode. Fichte's hoͤch¬
ſter Satz, «das Ich iſt Gott» wurde von Nova¬
lis in jenem ungeheuern Anthropomorphismus der
Welt ausgefuͤhrt, den wir in ſeinen hinterlaſſenen
[186] Werken bisher mehr angeſtaunt als begriffen haben.
Er fuͤgte noch den zweiten Satz hinzu, «Gott will
nur Goͤtter» und die Welt ſchien ihm nichts gerin¬
geres als eine Republik von Goͤttern. Wir muͤſſen
wenigſtens geſtehn, daß Novalis im Sinn dieſes
Philoſophems ſich wirklich als ein, wenn auch nur
poetiſcher, Gott und Koͤnig des Weltalls betrachtet,
und umfaſſender als je ein Dichter vor ihm die ganze
Welt zur Scene und zum Gegenſtand ſeines Gedich¬
tes gemacht hat.


Schelling's Philoſophie hat der neuen aͤſthetiſch¬
romantiſchen Richtung entſprochen. Die Romantik
iſt die Vorhalle der Myſtik. Das Mittelalter war
romantiſch, weil ſeine Religion myſtiſch war, und
wir kehren zur Romantik zuruͤck, weil wir myſtiſcher
Ideen wieder faͤhig werden. Schelling's und Goͤrres
myſtiſche Philoſophie, darin Religion und Poeſie
mit der Philoſophie identificirt werden, mußte denen
entgegen kommen, die vom Standpunkt der Kunſt
aus zur Romantik gelangt waren. Die Kunſt wird
romantiſch, wenn ſie religioͤs wird, es iſt aber ihr
Ziel, religioͤs zu werden. Kuͤnſtler und Dichter, un¬
ter den letztern vorzuͤglich Tieck, die Bruͤder Schle¬
gel, Arnim, Brentano bildeten in Verbindung mit
jenen Philoſophen eine neue Schule des Mittelalters.
Sie ſtehn wunderbar fremd in dieſer Zeit. Der
Verſtand verſteht ſie nicht, doch maͤchtig hat ihre
Poeſie auf die Herzen gewirkt, und vergebens kaͤm¬
pften einige Altmeiſter gegen den unermeßlichen Ein¬
[187] fluß, den dieſe Dichter in der ſchoͤnen Literatur ſich
behaupten.


Die Naturphiloſophie im engern Sinn harmo¬
nirt mit der materiellen Richtung, der wir je mehr
und mehr gefolgt ſind. Man hat die Naturkraͤfte
brauchen gelernt, und die Speculation hat von Jahr
zu Jahr immer groͤßere Fortſchritte gemacht. Wer
nur ein Gewerbe treibt, ſieht ſich zu den Naturwiſſen¬
ſchaften hingezogen. Wer den Boden anbaut, will
ihn und ſeine Produkte mit Huͤlfe neuer phyſikali¬
ſcher Entdeckungen verbeſſern, und ganz unentbehr¬
lich ſind ſie fuͤr die Fabrikanten, welche jene Pro¬
dukte verarbeiten. Die Chymie iſt wieder Alchymie
geworden, ſofern ſie, obwohl auf eine natuͤrliche Weiſe,
wieder Gold bringen ſoll.


Bei weitem das wichtigſte Ergebniß der Philo¬
ſophie Schelling's ſcheint aber die parteiloſe, epiſche
Weltanſicht zu ſeyn, die ſie mit ſich bringt, und der
die Laien ſelbſt immer mehr entgegen kommen, ſeit
ſo viele Erfahrungen die Leidenſchaft abgekuͤhlt und
die endlos verwickelten Widerſpruͤche eine gewiſſe
Duldung und Indifferenz herbeigefuͤhrt haben. Im
Syſtem Schelling's findet jede Partei gegenuͤber der
andern ihren Platz, die Entzweiung wird als eine
natuͤrliche nachgewieſen, ihre Widerſpruͤche werden
auf einen urſpruͤnglichen, nothwendigen Gegenſatz zu¬
ruͤckgefuͤhrt. Dieſes Syſtem duldet durchaus nichts
ausſchließliches, durchaus keine unbedingte Herrſchaft
einer Anſicht, keine unbedingte Verfolgung der an¬
[183[188]] dern. Es ſucht in einer Phyſik des Geiſtes und der
Geſchichte jedem geiſtigen Weſen, ſey es ein Charak¬
ter, oder eine Meinung, oder eine Begebenheit, daſ¬
ſelbe Recht zu ſichern, wie in der gemeinen Phyſik
jedem materiellen Weſen. Es betrachtet die hiſtori¬
ſchen Perioden wie die Jahreszeiten, die Nationali¬
taͤten wie die Zonen, die Temperamente wie die Ele¬
mente, die Charaktere wie die Kreaturen, die Äuße¬
rungen derſelben in Geſinnungen und Handlungen
als ſo nothwendig in der Natur gegruͤndet, und als
ſo verſchieden wie die Inſtinkte. Nach dieſem Sy¬
ſtem herrſcht ein Wachsthum und ein geheimnißvoller
Zug, eine Mannigfaltigkeit und eine Ordnung in der
geiſtigen Welt wie in der Natur. Dieſe neue epiſche
Anſicht empfiehlt ſich allen denen, die in einem wei¬
teren Umkreis das Leben uͤberblickt haben. In ihr
allein findet der endloſe Meinungsſtreit ſeine Beru¬
higung, und jeder Widerſpruch die einfachſte natuͤr¬
lichſte Loͤſung. Ohne mit Schelling und ſeiner Schule
vertraut zu ſeyn, ſind viele einſichtsvolle Maͤnner
durch eine lange Erfahrung von ſelbſt auf dieſen
Standpunkt der Betrachtung gefuͤhrt worden. Nach
einer weiten Lebensreiſe haben ſie auf alles zuruͤck¬
geblickt, was ſie geſehn und uͤberſehn, geſtrebt und
verlaſſen, gefunden und verloren, und von ſelbſt hat
das wilde Drama, in welchem ſie als handelnde Per¬
ſonen einſeitige Zwecke blind verfolgt, ſich ihnen in
ein ruhiges Epos verwandelt, und ſie ſind als Zu¬
ſchauer dem Dichter zur Seite niedergeſeſſen, um die
[189] lange Vergangenheit und ſich ſelbſt darin, wie von
einem Berge herab in ſtiller Ferne zu uͤberſchauen.
Die im religioͤſen Gebiet eingetretene Indifferenz und
die großen, alle Parteien in gleicher Weiſe widerle¬
genden und rechtfertigenden Erfahrungen in Politik
und Geſchichte haben die epiſche, ruhige Wuͤrdigung
des Weltkampfes unterſtuͤtzt, und ſelbſt in der Poeſie
iſt ihr durch die jetzt alles uͤberwuchernde Romanen¬
welt in Walter Scott's Manier ein breites Feld ge¬
wonnen worden. Die hiſtoriſchen Romane huldigen
der Idee nach der unparteilichſten Betrachtung aller
Zeiten, Voͤlker und Parteien, und werden es immer
mehr thun muͤſſen.


Welche Wirkung die Hegel'ſche Philoſophie auf
die Mitwelt aͤußern wird, iſt noch nicht genau zu
beſtimmen, da ſie die Kataſtrophe noch nicht erlebt
hat. Es liegt nicht in ihrem Weſen, ſich ſelbſt Zweck
zu ſeyn; ihre ganze Staͤrke beſteht, wie die des dia¬
lektiſchen Talentes uͤberhaupt, nur darin, Mittel zu
ſeyn, und, wie es ſcheint, iſt ſie denn auch wirklich
ein Mittel geworden.


[190]

Geſchichte.

Allen Voͤlkern ſind die Erinnerungen der Vorzeit
heilig, und alle ſtreben der Nachwelt von ſich ſelbſt
ein Gedaͤchtniß zuruͤckzulaſſen. Traditionen und ſinn¬
liche Denkmaͤler waren die uralten Bande, an wel¬
chen die Jahrtauſende einander erkannten, aneinan¬
der ſich fortbildeten. Umfaſſender aber, als in allen
andern Denkmaͤlern, erhielt ſich in der Literatur das
Bild der alten Zeiten, und ihr praͤgen wir auch un¬
ſer Bild auf, um es den Nachkommen zu uͤberliefern.
Die Erforſchung aller alten Denkmaͤler und die
Sorge fuͤr Denkmaͤler auch unſres Lebens iſt ſeit
geraumer Zeit ein vorzuͤgliches Geſchaͤft der Deut¬
ſchen geweſen, weil wir weniger thaͤtig oder genu߬
ſuͤchtig, als andre Voͤlker, uns vor allem der ſinni¬
gen Betrachtung hingeben. Dadurch iſt es uns ge¬
lungen, beinah in allen Zeiten heimiſch zu werden.
Wir haben die Bilder aller Voͤlker um uns verſam¬
melt und ſpiegeln uns in der Erinnerung des ganzen
menſchlichen Geſchlechts. Dieß iſt der ſtaͤrkſte Be¬
[191] weis, wie die ſtaͤrkſte Stuͤtze der Humanitaͤt, die uns
auszeichnet, und zeugt mehr als alles von der Uni¬
verſalitaͤt unſres Geiſtes, denn wo irgend eine na¬
tionelle Einſeitigkeit vorherrſcht, pflegt ſie immer zu¬
erſt in Vorurtheilen gegen andre Nationen und in
Verachtung ihrer Denkmaͤler ſich zu aͤußern.


Im allgemeinen nennen wir die Erinnerung der
Zeiten die Geſchichte, und ordnen ihr folgende Wiſ¬
ſenſchaften unter, Archaͤologie und Philologie oder
Kunde der bildlichen und ſchriftlichen Denkmaͤler,
kritiſcher Geſchichtsforſchung und Geſchichtſchreibung.


Die Archaͤologie und Philologie lehren uns die
alten Denkmaͤler verſtehn und ſind das Mittel fuͤr
den Geſchichtsforſcher. Die Philologie hat ſich
aber ſelbſt zum Zweck gemacht. Sie hat das Stu¬
dium der alten und aller Sprachen um ihrer ſelbſt
willen, nicht blos wegen des zufaͤlligen Inhalts, zu
ihrem Gegenſtand gemacht. Es iſt darin viel uͤber¬
trieben worden, man hat den Sprachgelehrten zu
viel Einfluß eingeraͤumt, und nur zu oft uͤber der
Form den Inhalt vernachlaͤßigt Indeß hat ſich das
Übergewicht des reinen Sprachſtudiums gleichſam
von ſelbſt ergeben muͤſſen. Der Philologe hat die
doppelte Pflicht, die alten Denkmaͤler theils der
Form, theils dem Inhalt nach verſtaͤndlich zu ma¬
chen. Das erſte erfordert aber ein ganz andres Stu¬
dium, als das zweite, und beide muß er trennen.
Die Grammatik muß vom Inhalt abſehen, und eine
vergleichende Analogie bei den verſchiednen alten
[192] Schriften anwenden, die ſich mit Sacherklaͤrungen
nicht aufhalten kann, und ſie iſt mit einem Wort
eine ſelbſtaͤndige Wiſſenſchaft der Formen. Da ſie
aber als ſolche, gleich der Mathematik, eine innere
Conſequenz hat, ſo findet ſie weit leichter und mehr
Anhaͤnger als jenes Studium, das den Inhalt zu er¬
klaͤren ſucht, weil dieſes nach allen Seiten hin, eine
Mannigfaltigkeit von Kenntniſſen erfordert, die weit
ſchwieriger zu erwerben ſind, als Sprachkenntniſſe.
Wohl fuͤhlen die Philologen, daß ſie ihren Schuͤlern
den Plato oder Thucydides nicht genuͤgend zu erklaͤ¬
ren vermoͤgen, wenn ſie nicht im Beſitz der reichſten
philoſophiſchen, politiſchen und hiſtoriſchen Kenntniſſe
ſich befinden, und wo dieß nicht der Fall iſt, alſo
in den meiſten Faͤllen halten ſie ſich an die Sprache.

Die reine Sprachwiſſenſchaft behandelt entweder
die Sprache eines Volks, oder ſie vergleicht die
Sprachen verſchiedner Voͤlker, oder ſie verfolgt phi¬
loſophiſch die allgemeine Logik in den ſprachlichen
Formen, oder endlich den innern Zuſammenhang und
die hiſtoriſche Entwicklung in allen Sprachen. Das
Studium einzelner Sprachen iſt das herrſchende, be¬
ſonders aber hat uns die griechiſche und lateiniſche
beſchaͤftigt. Die naͤhere Bekanntſchaft mit denſelben
hat ohne Zweifel ſehr vortheilhaft auf die Ausbil¬
dung unſrer Sprache gewirkt, und uns namentlich
gelehrt, die Saͤtze in ſchoͤne Perioden auszudehnen
und doch den Sinn kuͤrzer zu faſſen, denn faſt alle
Denkmaͤler der aͤltern deutſchen Sprache leiden an
[193] einer Kuͤrze der Saͤtze und Weitſchweifigkeit des Sin¬
nes, die in Bezug auf das Volk ſehr charakteriſtiſch
iſt. Wenn wir auch durch die Nachahmung der Al¬
ten eine mehr eigenthuͤmliche Entwicklung unſrer
Sprache und ſogar eine Menge ſowohl alter Woͤrter
als Formen aufgegeben haben, ſo muͤſſen wir doch
bekennen, daß wir in demſelben Maaße alte Begriffe
und Denkweiſen abgelegt haben, und daß unſre neue
Sprache vollkommen unſrer neuen Bildung entſpro¬
chen hat, und mehr kann die Sprache nicht thun.
Die Nachahmung der Alten war unabweislich; wir
werden jetzt ſelbſtaͤndiger und in demſelben Maaße
wird es auch wieder unſre Sprache, und wir neh¬
men das Urſpruͤngliche wieder auf, weil wir es
ausbilden. Sofern jene Nachahmung mit den Faͤhig¬
keiten und dem Genius der deutſchen Sprache ver¬
traͤglich geweſen iſt, hat ſie ſehr wohlthaͤtig gewirkt.
Indeß hat ſie unſrer Sprache doch auch oft Gewalt
angethan.


Die vergleichende Anatomie der Sprachen hat
ſchoͤne Fortſchritte gemacht, und man hat ſogar den
Gedanken an eine Urſprache, oder an eine Zuruͤck¬
fuͤhrung aller Sprachentwicklungen auf urſpruͤngliche
Urlaute gewagt. Dieß hat freilich zum Theil zu un¬
ſinnigen Hypotheſen verleitet, indeß iſt der Vortheil
nicht zu verkennen, den eine unbefangene kritiſche
Vergleichung der Sprachen gewaͤhrt. Sie hat vor¬
zuͤglich die intereſſanteſten Aufſchluͤſſe uͤber die Ver¬
zweigungen, Wanderungen und geiſtigen Entwicklun¬
Deutſche Literatur. I. 9[194] gen der europaͤiſchen Voͤlkerſtaͤmme gewaͤhrt und da¬
durch der Geſchichtsforſchung den weſentlichſten Dienſt
geleiſtet. Insbeſondre muͤſſen wir die Verdienſte Ja¬
kob Grimm's um die Geſchichte der deutſchen Dia¬
lekte preiſen.


Wir ſehn die Philologen jetzt in einem Kampfe
begriffen. Urſpruͤnglich herrſchte bei den Katholiken
das Lateiniſche vor, die Proteſtanten brachten das
Studium der griechiſchen und orientaliſchen Spra¬
chen auf zum Behuf der Exegeſe. Spaͤter wurden
die romaniſchen Sprachen in Deutſchland beliebt, und
in neuern Zeiten hat man eine große Aufmerkſamkeit
theils auf die deutſchen Dialekte, theils auf das In¬
diſche, Arabiſche und Perſiſche gewendet. Nur die
ſlaviſchen Sprachen ſind uns noch wie bisher fremd
geblieben, oder es iſt nur hoͤchſt wenig dafuͤr gelei¬
ſtet worden. Die griechiſch-lateiniſchen Philologen
haben ſich nun dem Deutſch-orientaliſchen entgegen¬
geſetzt. Sie halten an ihrem alten Vorurtheil fuͤr
das claſſiſche Alterthum und gegen die germaniſche
Barbarei, und laͤcheln veraͤchtlich uͤber die Thoren,
denen das Nibelungenlied und die Minneſaͤnger ne¬
ben Homer und Horaz auch etwas gelten. Erbittert
aber ſind ſie gegen die Orientalen, die ihnen ihr
Monopol, uͤber das Alterthum zu entſcheiden, zu
entreißen drohen. Sie ſehn jenſeits Griechenland
und Rom im Orient nur dieſelbe Barbarei, die ſie
im Mittelalter erkennen, da die Orientaliſten aber
große Aufklaͤrungen uͤber die Urzeit, das mythiſche
[195] Alterthum verkuͤndigen, fuͤr welche Heſiod und Homer
nicht ausreichen, ſo fuͤrchtet die aͤltere Partei dadurch
in den Schatten geſtellt zu werden, und wehrt ſich,
den ſeligen Voß an der Spitze, mit Hyaͤnengrimm
um die Leichen und Graͤber des Alterthums. Dieſer
Kampf der Philologen greift in die eigentliche Ge¬
ſchichtsforſchung hinuͤber.


Was das Sprachſtudium uͤberhaupt betrifft, ſo
traͤgt es zwar ſeinen Werth in ſich ſelbſt und iſt
ohne Zweifel ſehr wohlthaͤtig fuͤr das jugendliche Al¬
ter, herrſcht aber doch auf unſern gelehrten Anſtalten
nur allzu einſeitig vor.


Wer ſollte auf einer aͤltern deutſchen Schule er¬
zogen worden ſeyn, und nicht eine ſtarke Rivalitaͤt
zwiſchen dem philologiſchen und realiſtiſchen Unter¬
richt bemerkt haben? In der Regel aber wird man
finden, daß die Philologen auf ſolchen Schulen ein
unverhaͤltnißmaͤßiges Übergewicht behaupten, daß na¬
mentlich, wo Claſſenordnung eingefuͤhrt iſt, in jeder
Claſſe die Philologie einſeitig vorherrſcht. Einzig
hieraus erklaͤrt ſich die Einfuͤhrung der Faͤcherord¬
nung in einzelnen Schulen und die Errichtung beſon¬
derer Realſchulen. Immer aber ſprechen die Philo¬
logen ein Vorrecht an, halten ſich fuͤr etwas viel
Hoͤheres als die Realiſten, und bilden eine ſtolze
ariſtokratiſche Kaſte.


Die Philologie iſt fuͤr den Unterricht zum Theil
ſo verderblich geworden, wie die aͤußern Gebraͤuche
fuͤr den Gottesdienſt. Wie dort die wahre Andacht
9 *[196] unter mechaniſchen Spielen untergegangen iſt, ſo hier
das wahre Denken, die aͤchte Bildung unter dem
mechaniſchen Auswendiglernen bloßer Formen. Ich
verkenne nicht die Nothwendigkeit der Philologie,
den großen Einfluß, den Sprachkenntniß auf das
Denken uͤbt; aber eine Graͤnze muß gezogen werden,
jenſeit welcher der Geiſt nicht mehr mit Formen,
vielmehr mit Sachen genaͤhrt werden muß. Iſt es
aber nicht die Mehrzahl der Philologen, die bei der
Erklaͤrung der alten Claſſiker vorzugsweiſe nur auf
die Grammatik ſieht, und den Geiſt, die Schoͤnheit,
den hiſtoriſchen, philoſophiſchen oder aͤſthetiſchen In¬
halt jener Alten nur in elenden Noten nebenbei be¬
ruͤhrt? Man ſehe ihre Ausgaben an. Haben jene
hunderte und tauſende, welche die griechiſchen Dich¬
ter edirt und mit Noten verſehn, nur das zehnte
Theil von dem erlaͤutert, was der einzige Schlegel
daruͤber ausgeſprochen? Wiegen alle jene gelehrten
Laſten die wenigen Baͤnde eines Wieland, Leſſing,
Herder, Winkelmann auf? Und iſt nicht noch jetzt
ſo vieles Herrliche des Alterthums fuͤr das groͤßere
Publikum ungenießbar, ſo oft es auch die Philolo¬
gen behandelt haben, weil noch zu wenig freie Den¬
ker und ſchoͤne Geiſter dafuͤr ſich intereſſirt haben?
So unermeßlich das Feld der Philologie iſt, ſo iſt
es doch verhaͤltnißmaͤßig noch immer ſehr unfrucht¬
bar geblieben. Der Aufwand von Menſchen und An¬
ſtalten fuͤr die Philologie, der andern Wiſſenſchaften
[197] entzogen worden iſt, hat keineswegs gewuchert, wie
man erwarten ſollte.


Die Philologie iſt das Mittel fuͤr die Zwecke
andrer Wiſſenſchaften, aber das Mittel iſt ſelbſt zum
Zwecke geworden. Man ſoll die alten Sprachen ler¬
nen, um den darin uns uͤberlieferten Inhalt zu ver¬
ſtehn, aber die Philologen betrachten dieſen Inhalt
nur als ein nothwendiges Übel, ohne welches die
Sprache nicht ſeyn kann, und behandeln die alten
Claſſiker ſo, als ob ſie Schoͤnes und Großes nur ge¬
dacht haͤtten, um die Grammatik anzuwenden. Jeder
alte Autor iſt ihnen nur eine beſondre Beiſpielſamm¬
lung fuͤr die Grammatik. Man ſoll die Alten leſen
um darnach zu leben, aber die Philologen meinen,
man ſolle nur leben, um die Alten zu leſen.


Man hat in der neueſten Zeit in der Philologie
ein bewahrtes Mittel gefunden, den politiſchen Ver¬
irrungen der Jugend zu begegnen. Man hat gefun¬
den, daß nichts ſo ſehr den Feuereifer niederſchlaͤgt,
und zu blinden Gehorſam gewoͤhnt, als dieſe Philo¬
logie, die das befluͤgelte Genie an den Buͤcherſchrank
kettet, und den Scharfſinn in die Grammatik, die
Neuerungsſucht in Conjecturen ableitet. Alle Spring¬
federn des Geiſtes erſchlaffen unter der Laſt der
Buchſtaben. Der Juͤngling muß immer ſitzen und
verlernt das Aufſtehn. Alle Freiheit wird erſtickt un¬
ter der Laſt der Autoritaͤten und Citate. Der Juͤng¬
ling muß nur immer leſen und auswendig lernen,
und verlernt das Selbſtdenken. Alle wahre Bildung
[198] wird gehemmt durch die einſeitige Betreibung des
blos formellen Sprachunterrichts. Der Juͤngling muß
nur immer Woͤrter und Formen lernen, und gelangt
nicht zur Sache. Er wird in die Schule geſtoßen
und der philologiſchen Dreſſur Preis gegeben. Die
meiſten ſehn dieſe Dreſſur als eine Qual, das Amt
als die einzige Befreiung an, und ſtudiren nur auf
das Examen los, indem ſie ſo viel philologiſche Kennt¬
niſſe ſammeln, als in den Kopf gehn wollen, um
Sachen aber ſich ſo wenig als moͤglich bekuͤmmern,
weil man nur vorzugsweiſe jene von ihnen verlangt.


Gehen wir zur hiſtoriſchen Wiſſenſchaft im engern
Sinne uͤber, ſo bietet ſich uns ein unermeßliches Feld
dar, auf welchen zahlreiche Arbeiter emſig beſchaͤftigt,
jedoch mit einander im Streit begriffen ſind, ſo daß
die einen ſehr haͤufig das Werk der andern wieder
zerſtoͤren. Im Allgemeinen bemerken wir im hiſtori¬
ſchen Gebiet zunaͤchſt folgendes.


Die Geſchichte ging urſpruͤnglich aus dem Epos
hervor, und war nichts als das Gedaͤchtniß großer
Helden. Dieſen Charakter hat ſie bis auf unſre Zei¬
ten beibehalten, ſie iſt weſentlich politiſche Geſchichte,
Gedaͤchtniß weniger des Lebens im Umfang aller Er¬
ſcheinungen, als insbeſondre der Thaten. Noch im¬
mer legt man auf Schlachten und aͤußre Begebenhei¬
ten ein groͤßeres Gewicht, als auf die ſtillen Ent¬
wicklungen im innern Leben der Voͤlker. Doch hat
man allmaͤhlig immer mehr auch dieſe Entwicklungen
in den Kreis der geſchichtlichen Betrachtung gezogen,
[199] und man begreift unter dem Gegenſtande der Ge¬
ſchichte bei weitem mehr, als fruͤher, wiewohl die
politiſche Geſchichte immer die vorherrſchende bleibt.
Jene Gegenſtaͤnde ſind die allgemeine Weltgeſchichte,
die Geſchichte einzelner Voͤlker, Örter, Begebenheit
und Perſonen, aber auch Geſchichte der Cultur oder
einzelner Richtungen des Lebens, der Religion und
Kirche, der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, der Sitten
und des Verkehrs.


Die Deutſchen haben ſich in allen dieſen Gegen¬
ſtaͤnden verſucht, doch zeichnet ſie eine charakteriſtiſche
Vorliebe fuͤr die allgemeine Weltgeſchichte aus, weil
ihr philoſophiſcher Trieb uͤberall eine Einheit und
ein Ganzes ſucht. Eben deßhalb haben ſie ſich auch
mehr als irgend ein andres Volk um die Geſchichte
der Fremden bekuͤmmert. Die vaterlaͤndiſche Geſchichte
iſt daruͤber mannigfach vernachlaͤſſigt, wenigſtens iſt
ihr ein unermeßliches Studium, das ſich auf die
fremde Geſchichte geworfen hat, entzogen worden.


Der Werth unſrer Geſchichtsforſchung muß
theils nach den Huͤlfsmitteln, theils nach der Kritik
und nach den Anſichten und Reſultaten derſelben ge¬
wogen werden. Die Mittel haben ſich in der neuern
Zeit auf jede Weiſe direkt und indirekt vervielfaͤltigt:


Das Studium der Geſchichte iſt von der großen
Geiſterbewegung der neuern Zeit mit ergriffen wor¬
den. Mit allen philoſophiſchen Anſichten haben ſich
auch die der Geſchichte gelaͤutert und gehoben. Die
Sammlungen ſind vermehrt und gelichtet, die Kritik
[200] iſt geſchaͤrft worden, und die poetiſche Ausbildung
der Sprache hat auch ihren wohlthaͤtigen Einfluß
auf die Geſchichtſchreibung geuͤbt. Ein wahrhaft gro¬
ßer Schwung iſt aber in dies Studium erſt durch
die großen hiſtoriſchen Ereigniſſe der Zeit ſelbſt ge¬
kommen. Alle Wunder der Geſchichte ſind ſichtbar
an uns voruͤbergegangen, und was wir mit eignen
Augen geſehen, erklaͤrt uns die Vergangenheit. Eigne
Thaten und Leiden haben uns jene Alten verſtaͤnd¬
lich gemacht, und indem wir ſelbſt gewaltige Charak¬
tere uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten geſehn, nennen wir
nicht mehr bloße Namen des Alterthums und zaͤhlen
ihre Thaten, ſondern wir erkennen ſie und leben mit
ihnen. Auch iſt der Umſtand nicht unwichtig, daß
eben jene Stuͤrme unſrer Zeit ſo viele Schranken
niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten,
und ſo viele Schaͤtze zugaͤnglich gemacht, die ehemals
im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die
ſonſt ihre Archive geheim zu halten fuͤr noͤthig fan¬
den, ſind zerſtoͤrt und ihre Annalen dem Geſchichts¬
forſcher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken,
die religioͤſes Mißtrauen verſchloß, ſind geoͤffnet;
viele literariſche Schaͤtze, die das Kloſter oder die
Reichsſtadt, in der ſie verborgen lagen, nicht ein¬
mal kannte, ſind ans Licht gezogen worden. Die
heilſamſte aller dieſer Veraͤnderungen iſt aber unſtrei¬
tig das Centraliſiren vieler kleiner Bibliotheken in
eine große jeder Provinz, wodurch allein es moͤglich
wird, uͤber die Mannigfaltigkeit der hiſtoriſchen Ur¬
[201] kunden einen Überblick zu gewinnen und ſie auf be¬
queme Weiſe zu benutzen.


Indeſſen iſt noch lange nicht genug gethan. Die
Quellen der vaterlaͤndiſchen Geſchichte wenigſtens
ſollten bei weitem mehr aufgeklaͤrt und zuſammenge¬
draͤngt ſeyn, als wir ſie gegenwaͤrtig finden. Ich
verkenne nicht, daß jedem Ort ſein angeſtammtes
Denkmal beiben muͤſſe, daß es Raub ſey, die alten
Urkunden und Manuſcripte aus den Gegenden zu
entfernen, denen ſie zugehoͤren; es ließe ſich aber
wohl auf andre Weiſe helfen. Das wahrhaft gro߬
artige Unternehmen einer bekannten Geſellſchaft, die
wichtigſten Quellen der deutſchen Geſchichte neu ab¬
drucken zu laſſen, hat uns wenigſtens einen Weg ge¬
zeigt, wenn auch auf demſelben noch kaum ein Schritt
gethan iſt. In einer Zeit, wo ſo viel geſchwaͤrmt
wird, darf man wohl auch den kuͤhnen Gedanken
wagen, daß ein kuͤnftiges Deutſchland reich, klug
und nationalſtolz genug ſeyn werde, um eine Biblio¬
thek von Quellen der deutſchen Geſchichte zu Stande
zu bringen, die keiner ſeiner groͤßern Staͤdte fehlen
duͤrfte. Wenn man das Fremdartige dabei gehoͤrig
ausſcheidet, ſo iſt ein Überblick allerdings moͤglich.
Eine Nation von ſo unermeßlichen Huͤlfsquellen, als
die deutſche, wuͤrde, wenn ſie fuͤr die Idee begeiſtert
waͤre, und die rechten Maͤnner, die ihr dann ſchwer¬
lich fehlen duͤrften, an die Spitze ſtellte, die Koſten,
die fuͤr ein ſolches Unternehmen ausreichten, wohl
aufopfern koͤnnen. So etwas wird aber leicht allen
[202] andern, als den gelehrten Forſchern ſelbſt, ein un¬
nuͤtzer Traum duͤnken. Man denkt ſo wenig daran,
die Schaͤtze der Literatur als ein allgemeines Natio¬
nalgut zu huͤten und zu pflegen, daß man nicht ein¬
mal, was ſo leicht waͤre, bei den Buͤchermeſſen von
jedem neuen Werke wenigſtens ein Exemplar abfor¬
dert, um in einer gemeinſamen Nationalbibliothek
ohne Unterſchied alle literariſche Produkte wenigſtens
von einem beſtimmten Zeitpunkt an zu ſammeln. Moͤ¬
gen immer im Verkehr die vielen ſchlechten Buͤcher
untergehn, aber wenigſtens ein Exemplar ſollte von
jedem erhalten werden.


Die hiſtoriſche Kritik iſt ſo ſehr an die That¬
ſachen gebunden, daß der groͤßte Scharfſinn nicht
ausreicht, wenn die Quellen nicht Stoff genug zur
Combination darbieten. Daher findet man viele aͤl¬
tere gar ſcharfſinnige Werke doch voll Maͤngel und
Irrthuͤmer, nachdem man der Quellen ſich im weitern
Umfange bemaͤchtigt hat. An eigentlicher kritiſcher,
analytiſcher oder combinatoriſcher Gabe mangelt es
in einem ſo philoſophiſchen Volke, als die Deutſchen
ſind, durchaus nicht; doch laſſen wir uns eine falſche
einſeitige Theorie, oder eine ſuͤße Schwaͤrmerei des
Herzens [und] der Phantaſie auch auf dem hiſtoriſchen
Gebiet nur allzuleicht verfuͤhren. Beſonders haben
die dunklern Partieen der Geſchichte hier einem blin¬
den Scepticismus, dort einer zuͤgelloſen Hypotheſen¬
jaͤgerei Raum gegeben. Überhaupt, wo die That¬
ſachen der Geſchichte nicht unverruͤckbar eine Anſicht
[203] feſtſtellten, haben die Vermuthungen, Meinungen und
Einbildungen eine Menge verſchiedner Anſichten er¬
zeugt, und die Kritik hat mehr vom Temperament
oder Syſtem der Forſchenden, als von den Thatſa¬
chen ſelbſt den Maaßſtab entlehnt. Man hat auch
wohl verſucht, die unzweideutigſten Thatſachen zu
entſtellen, um ihnen ein beliebiges Anſehn zu geben,
ſie einer Lieblingsneigung, einer Theorie oder einer
praktiſchen Abſicht anzupaſſen. Man hat die That¬
ſachen aus ihrem natuͤrlichen Zuſammenhange geriſſen,
das Eine ungebuͤhrlich hervorgehoben, das Andre nur
nebenbei gewuͤrdigt oder uͤberſehn, dem Gewiſſen ei¬
nen falſchen Sinn untergelegt, dem Ungewiſſen einen
beliebigen, und ſich ſelbſt nicht geſcheut, hin und wie¬
der abſichtlich zu luͤgen.


Die Anſichten, welche die Geſchichtsforſcher
in ihr Studium hineintragen, ſind willkuͤrlich oder
unwillkuͤrlich. Es gibt allerdings Gelehrte, welche
mit Abſicht die Geſchichte verfaͤlſchen, um ſie als
Werkzeug des Parteikampfes zu benutzen, oder wohl
gar aus Froͤmmigkeit oder Patriotismus, oder aus
Moral, oder nur, um eine einmal ausgeſprochne
Lieblingsmeinung nicht zuruͤcknehmen zu muͤſſen. Bei
weitem mehr Gelehrte bringen aber ganz unwillkuͤr¬
lich falſche, oder wenigſtens einſeitige Anſichten in
die Geſchichte. Die Anſicht der Partei, unter wel¬
cher man geboren und aufgezogen worden iſt, draͤngt
ſich uns uͤberall auf, und wir ſehn durch ihre Brille,
ohne es zu wiſſen. Ich kann hier die mannigfaltigen
[204] Anſichten, wie ſie im Kleinen uͤberall ſich geltend
machen, nicht weitlaͤuftig beſprechen, ſondern muß
mich an die groͤßern Hauptanſichten halten, die im
hiſtoriſchen Gebiete herrſchend ſind. Im Einzelnen
hoͤren wir uͤberall einen Glauben, ein Volk oder ei¬
nen Stamm oder nur Perſonen uͤber die Gebuͤhr
preiſen und andre verunglimpfen, und die Religion,
das Vaterland, der Stand und die Erziehung des
Geſchichtsforſchers druͤcken ſeinen Unterſuchungen ih¬
ren Stempel auf. Im Großen aber unterſcheiden
wir etwa folgende welthiſtoriſche Anſichten.


Die Einen bringen ein Ideal des menſchlichen
Geſchlechts mit, nach welchem ſie alle hiſtoriſchen
Erſcheinungen abmeſſen, und da die Geſchichte groͤ߬
tentheils nur als politiſche Geſchichte betrachtet wird,
ſo ſind es jene politiſchen Ideale, die den Maaßſtab
hergeben muͤſſen. Die Proteſtanten und Liberalen
haben daher ein andres Ideal, als die Katholiken
und Servilen, mithin auch eine andre welthiſtoriſche
Anſicht. Beide ſind aber darin einverſtanden, daß
nur ein gewiſſer Theil der Weltbegebenheiten Billi¬
gung verdiene, der andre zu verwerfen ſey. Sie ge¬
ben ſich alſo beide einer falſchen parteilichen Theil¬
nahme an einzelnen Erſcheinungen und einem klaͤgli¬
chen Jammer uͤber die andre hin, und immer liegt
im Hintergrund ihrer Anſicht die alberne Anmaßung,
daß ſie es von Anfang an beſſer gemacht haben wuͤr¬
den, wenn die Regierung der Welt von ihnen aus¬
gegangen waͤre. Die Proteſtanten, Liberalen und die
[205] claſſiſchen Philologen vereinigen ſich dahin, daß die
Menſchen ſich allmaͤhlig aus dem roheſten thieriſchen
Zuſtande zur Bildung erhoben und im griechiſch-roͤ¬
miſchen Alterthum die erſte Reife gewonnen haͤtten,
daß darauf die Barbarei wieder eingeriſſen und erſt
mit der Reformation eine neue hoͤhere Entwicklung
vorbereitet worden waͤre, welche noch jetzt gegen die
Barbarei kaͤmpfen muͤſſe. Die Katholiken, Royali¬
ſten und die orientaliſchen Philologen nehmen dage¬
gen ein heiliges, vollkommnes Urvolk an, das in
Suͤnde verfallen, durch das Chriſtenthum wieder ge¬
heiligt, aber nochmals in ſuͤndigen Abfall und Ver¬
irrung gerathen ſey. Jene glauben an eine fortſchrei¬
tende, muͤhſame Befreiung des Menſchengeſchlechts,
dieſe an eine beſtaͤndige Verſchlimmerung durch die
Erbſuͤnde und Verſoͤhnung durch die goͤttliche Gnade.
Aber was die erſtern ein Freiwerden nennen, heißen
die andern das Werk des Satans, und umgekehrt
nennen jene Barbarei, was dieſe das Reich Gottes
auf Erden nennen. Dieſe verſchiednen Anſichten of¬
fenbaren ſich vorzuͤglich bei der hiſtoriſchen Betrach¬
tung des Mittelalters, das die Einen beſtaͤndig ver¬
dammen, die Andern preiſen.


Die Anzahl derer, welche die Geſchichte in ihrem
ganzen Umfang unparteiiſch auf dichteriſche Weiſe
als ein Epos oder gleichſam naturhiſtoriſch als einen
Organismus betrachten, iſt verhaͤltnißmaͤßig noch ſehr
gering, und doch iſt dieſe Anſicht die einzig wuͤrdige.
Sie geht von keiner vorgefaßten Meinung aus, will
[206] nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die
Dinge, wie ſie ſind, und mißt jedes nur nach dem
in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬
telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬
tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬
ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet
ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬
waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬
kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬
fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was
nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was
ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben,
weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach
ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬
durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein
treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie
nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬
ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die
Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur
der einfache Text.


Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬
gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen
Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬
ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften
Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen
Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen Samm¬
lungen
und Commentare, zu denen der choleriſchen
Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche Scepticismus des
vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen
[207] todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit.
In der Theologie folgte der ſtarren Orthodoxie eine
bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬
loſophie wurde das mathematiſche Verfahren durch
das anthropologiſche erſetzt, das allen Hypotheſen
freien Spielraum gab. In der Staatswiſſenſchaft
herrſchte anfangs die abgeſchmackte heilige roͤmiſche
Reichsunbehuͤlflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬
rungen. In den Naturwiſſenſchaften ward die Em¬
pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬
ſen erſetzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den
vageſten Verſuchen der Philantropiſten weichen. End¬
lich ſah die ſogenannte claſſiſche Poeſie durch alle
Ausſchweifungen der Romantik und des modernen Hu¬
mors ſich verdraͤngt. So folgten auch im hiſtoriſchen
Fach auf die weitſchichtigen Sammlungen der Maͤn¬
ner in Allongeperuͤcken die kritiſchen Bedenken der
Maͤnner in Zoͤpfen, und nachdem das ſiebzehnte Jahr¬
hundert den Geiſt der Geſchichte unter endloſen Cita¬
ten und chronologiſch-genealogiſchen Tabellen begra¬
ben, konnte das achtzehnte ihn dreiſt laͤugnen. Man
gefiel ſich in einem frevelhaften Unglauben und im
Vernichten deſſen, was der Einſeitigkeit des Geſchlechts
nicht zuſagte. Waͤhrend die Philoſophen dem Chri¬
ſtenthum abſagten und die Revolutionsmaͤnner auf den
Truͤmmern der Cultur und Geſchichte einen neuen
Naturzuſtand einzufuͤhren ſtrebten, wurden ſie von
den hiſtoriſchen Sceptikern thaͤtig unterſtuͤtzt, die das
Amt uͤbernahmen, das Feld der Geſchichte zu ſaͤu¬
[208] bern und den troſtloſen Grundſatz geltend machten,
alles, was ſie nicht verſtanden, zu laͤugnen, und
alles, was nicht mit der modernen Aufklaͤrung har¬
monirte, ſo darzuſtellen, als ob es von rechtswegen
nie haͤtte exiſtiren ſollen. Da durften Schloͤzer und
Ruͤhs alles ſogenannte Vorgeſchichtliche als dumme
Fabel wegwerfen, und die ganze Zunft durfte das
Mittelalter als Barbarei verdammen. Man ſah die
Geſchichte nicht mehr, wie das weit vernuͤnftigere
Mittelalter immer gethan, als ein organiſches Leben
an; man erfreute ſich nicht mehr ihres Gemaͤldes,
das unermeßlich, wie die Natur, zugleich eben ſo in
allen Theilen harmoniſch iſt; man ſtrebte nicht mehr
das innerſte Geheimniß und den Zuſammenhang des
großen geſchichtlichen Lebens zu begreifen; vielmehr
ſtellte man ſich in jenem frevelhaften Übermuth, der
jene Generation charakteriſirt, uͤber die Vorſehung
ſelbſt und meiſterte ſie, tadelte die Werke derſelben
[und] nahm als bekannt an, daß man es von Anfang
an in der Welt beſſer gemacht haben wuͤrde. Man
glaubte die Geſchichte nur wie ein uͤbel beſtelltes Erbe
pluͤndern zu muͤſſen. Wenig ſchien nutzbar, das alte
Geraͤth ward in die Polterkammer gewieſen. Man
zog durch die Hallen der Geſchichte wie ſtuͤrmende
Soldaten und verbrannte die herrlichen Wandtape¬
ten, wie die von Raphael, um Gold daraus zu
ſchmelzen. Nichts erhielt Wuͤrdigung und Schonung,
als was man fuͤr den Augenblick brauchen konnte.
Das revolutionirende Jahrhundert fand daher nur
[209] die Geſchichte der Griechen und Roͤmer wichtig und
vernuͤnftig, weil es daraus die Muſter theils fuͤr
ſeine republikaniſchen Traͤume, theils fuͤr ſeinen Des¬
potenhaß entlehnen, und weil es hier dem aͤlteſten
Feind der mittelalterlichen Barbarei die Hand rei¬
chen konnte. Der religioͤſe Fanatismus kam dem poli¬
tiſchen zu Huͤlfe. Da die Katholiken weniger geſchrie¬
ben haben, und es den Gelehrten bereits zur andern
Natur geworden iſt, gegen katholiſche Schriften, na¬
mentlich hiſtoriſche, vorſichtig zu ſeyn, ſo haben dieſe
weit weniger verdorben, als die Proteſtanten, wenn
ſie auch gleichfalls weit weniger gut gemacht. Grade
indem die Proteſtanten beinah allein die Literatur be¬
herrſcht haben, ſind ſie fanatiſch geweſen, ohne es
zu bemerken, denn was die Katholiken dagegen ge¬
ſchrieben, iſt von Proteſtanten immer fuͤr abſoluten
Irrthum gehalten worden, ſeit man unter der roͤmi¬
ſchen Infallibilitaͤt nur ſchlechterdings Fallibilitaͤt ver¬
ſteht. Die ungeheure Mehrzahl der proteſtantiſchen
Geſchichtbuͤcher ſtellt das Mittelalter auch aus dem
polemiſchen Standpunkt ihrer Confeſſion dar. Die
Geſchichtſchreiber glaubten dabei noch um ſo viel un¬
truͤglicher zu verfahren, als das philoſophiſche Jahr¬
hundert allgemeinen Pfaffenhaß, Verſpottung des Aber¬
glaubens und Verachtung der mittelalterlichen Roheit
predigte. Indem ſie aber ihre Darſtellung der Ge¬
ſchichte dieſer Doctrin anpaſſen, werden ihre Werke
mehr paͤdagogiſche Exercitien, als treue Gemaͤlde
der Vergangenheit. Sie malen nicht das Mittelalter,
[210] ſondern ihren Haß gegen daſſelbe. Sie belehren den
Leſer nicht uͤber die wahre Natur der Vorzeit, ſon¬
dern warnen ſie vor den Gebrechen derſelben. Was
entlehnen ſie wohl aus den zahlreichen Quellen jener
Geſchichte? Was haben ſie im Ohr behalten aus der
unendlichen Muſik jener reichen ſchoͤnen Zeit? Diſſo¬
nanzen ohne Aufloͤſung, die traurige Schilderung von
Barbareien, die auch nicht fehlten, wie ſie uns
nicht fehlen; aber die beſeligenden Harmonien ver¬
nehmen ſie nicht, die uns uͤberall aus den Hallen je¬
ner Vorwelt entgegentoͤnen. Erſt unverhaͤltnißmaͤßig
wenige Geſchichtſchreiber haben es gewagt, in der
Kirche, dem Staat, den Sitten und der Kunſt des
Mittelalters etwas Erhabnes und Schoͤnes zu fin¬
den, und ihre Darſtellung im Sinne der Quellen,
im Sinne jener Zeit ſelbſt aufzufaſſen, und irgend
etwas von der Andacht, von der Kraft und Milde,
von der Poeſie derſelben in ihre Schilderungen ein¬
fließen zu laſſen. Die große Mehrzahl poltert nur
wie von der Kanzel gegen die Pfaffen und wie von
der Volkstribune gegen den Feudalismus, und ruͤmpft
wie in einem Salon die Naſe und haͤlt eine Philippika
gegen die Pferdeluſt der durchlauchtigen Ahnen.


Es erhoben ſich aber auch Stimmen dagegen und
namentlich ſeit der Reſtauration gewann die fromme
und royaliſtiſche Partei auch einen weiten Spielraum
in der Geſchichtforſchung. Das Extrem kehrte ſich
um, und der verworfne Stein wurde zum Eckſtein.
Man ging auf der entgegengeſetzten Seite ſo weit
[211] als moͤglich und ſuchte ſogar der laͤngſt verſpotteten
Heraldik eine neue tiefe Bedeutung zu geben, indem
man nicht die Geſchlechter, aber das Geſchlechtſyſtem
bis in die orientaliſchen Wurzeln der deutſchen und
aller Geſchichte verfolgte. Man ſprach den Germa¬
nen ihre Freiheit wieder ab, und gab ſich alle Muͤhe
die Prieſterariſtokratie zu vindiciren. Das Mittel¬
alter aber erhielt ſeine Glorie wieder, und es war
oft laͤcherlich genug zu ſehn, wie man unſcheinbare
Lichtchen vor glaͤnzenden Geſtalten aufſteckte, die durch
ſich ſelbſt hinlaͤnglich ſtrahlten.


Gegenwaͤrtig kaͤmpfen beide Anſichten, und die
Parteien ſtehn zu ſcharf an einander, als daß die
dritte verſoͤhnende Anſicht zur Herrſchaft gelangen
koͤnnte.


Was nun die Geſchichtſchreibung betrifft,
ſo wird ziemlich allgemein anerkannt, daß wir Deut¬
ſchen darin es noch nicht weit gebracht haben. Waͤh¬
rend man unſern Forſchungen und Sammlungen die
gebuͤhrende Achtung nicht verſagt, den deutſchen Fleiß
nicht genug loben kann und auch unſre Kritik oft nur
fuͤr allzukritiſch haͤlt, iſt man noch immer der Mei¬
nung, daß wir in der Geſchichtſchreibung nicht nur
den Alten, ſondern auch den Franzoſen und Englaͤn¬
dern nachſtehn. Allerdings laſſen auch unſre beſten
Geſchichtſchreiber noch viel zu wuͤnſchen uͤbrig, ſie
ſind immer noch zu gelehrt, umſtaͤndlich und unprak¬
tiſch. Ihre Werke ſind immer noch mehr Studien,
als Gemaͤlde, mehr auf die Wiſſenſchaft, als auf
[212] das Leben, mehr auf die gelehrte Kaſte, als auf das
Volk berechnet. Alle ihre Maͤngel entſtiegen aus dem
Mangel des oͤffentlichen Lebens. Das Talent des
Geſchichtſchreibers iſt das des Redners. Die Ge¬
ſchichte wird dann gut geſchrieben, wenn die Bege¬
benheiten und ihre Motive uns wie einem verſam¬
melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch
daruͤber entſcheiden koͤnnten. Das lebendige drama¬
tiſche Element darf dem Geſchichtforſcher nie fehlen.
Der Forſcher anatomirt, der Geſchichtſchreiber laͤßt
lebendig handeln. Wer nun uͤberhaupt die Begeben¬
heiten aus einem lebendigen Geſichtspunkt anſieht,
mit darin gehandelt, ſie vielleicht geleitet hat, wird
auch die Geſchichte derſelben und uͤberhaupt Geſchichte
zu ſchreiben wiſſen, der Held, der Staatsmann beſ¬
ſer, als ein deutſcher Stubengelehrter.


Es kommt aber noch hinzu, daß die umſtaͤndli¬
chen und ſchwierigen hiſtoriſchen Forſchungen der Deut¬
ſchen eine gute Geſchichtſchreibung noch immer beinah
unmoͤglich gemacht haben. Wir betrachten wie billig
die ſchoͤne Form als Nebenſache, und die Wahrheit
der Thatſachen als Hauptſache. Nun ſind wir aber
uͤber alle Gebuͤhr gewiſſenhaft und koͤnnen mit dem
unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle
unſre Darſtellung miſcht ſich Kritik, Citat, Polemik,
weil wir nicht blos etwas ſagen, ſondern es diplo¬
matiſch und logiſch beweiſen wollen. Da ferner jede
gute Geſchichtſchreibung von der Geſchichte der eig¬
nen Nation ausgehn muß, ſo ſtellt ſich uns hier eine
[213] neue Schwierigkeit entgegen. Unſre Geſchichte iſt theils
ſo unendlich mannigfaltig, theils hat ſie ſo viele
dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬
mals erreicht worden iſt. Weit leichter mag der Eng¬
laͤnder und Franzoſe ſeine Geſchichte ſchildern, die
an ſehr einfachen Faͤden fortlaͤuft, und nie wichtig
iſt, wo ſie nicht zugleich klar waͤre. Dort draͤngt
ſich alles zuſammen, in der deutſchen Geſchichte faͤhrt
alles auseinander. Wir ſind darin den Griechen zu
vergleichen, und noch gibt es eben ſo wenig eine
gute griechiſche Geſchichte, als es eine deutſche gibt.


Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir
ſo wenig uns ſelbſt vertraut, als in der Geſchicht¬
ſchreibung. Hier galten uns faſt immer nur fremde
Muſter, vorzuͤglich der Alten. Der wichtigſte und
anerkannteſte unter den Nachahmern der Alten, der
daher auch faſt einſtimmig fuͤr unſern groͤßten Ge¬
ſchichtſchreiber gehalten worden iſt, war Johannes
Muͤller. Seine Schule iſt noch immer die herrſchende,
und der manierirte geſchraubte Ton derſelben iſt ein
wenig laͤcherlich. Die Deutſchen ſind ſeit ein Paar
Jahrhunderten von der europaͤiſchen Geſchichte als
ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn ſie ſelbſt
wieder einmal die Geſchichte machen werden, werden
ſie ſie auch ſchreiben koͤnnen.


[214]

Staat.

Die Politik iſt gegenwaͤrtig an der Tagesord¬
nung, auch in Deutſchland, indeß laͤßt ſich leicht
bemerken, daß wir nicht ſo eigentlich von ſelbſt auf
dieſe intereſſante Wiſſenſchaft verfallen ſind, daß ſie uns
vielmehr erſt von außen her und zum Theil par forçe
annehmlich gemacht worden iſt. Bei den Spaniern,
Italiaͤnern und Franzoſen ſind wir in die Schule des
Despotismus gegangen, dann wieder bei Franzoſen,
Englaͤndern und Amerikanern in die Schule der Frei¬
heit. Die Franzoſen haben uns ihre politiſchen Mei¬
nungen auf der Spitze des Bajonetts gebracht oder
als Modeartikel durch den Buchhandel. Faſt alle in¬
nern politiſchen Veraͤnderungen bei uns ſind von au¬
ßen bewirkt worden, und nicht minder hat der Mei¬
nungsſtreit von außen Nahrung empfangen. Darum
traͤgt auch unſre Politik und deren Literatur auffal¬
lend ein fremdes Gepraͤge, und mit wie viel Theil¬
nahme wir uns nun auf dieſen Gegenſtand werfen
moͤgen, ſo bleiben wir doch hinter unſern Meiſtern
zuruͤck.

[215]

Wir haben genug gelitten, um uns um Politik
bekuͤmmern zu muͤſſen, und zu wenig gethan, um zu¬
gleich etwas Großes dafuͤr leiſten zu koͤnnen. Wir ha¬
ben zu viel Muſter vor uns und zu wenige Selbſtaͤndig¬
keit, um ſelbſt Muſter zu ſeyn. Unſer Zuſtand wech¬
ſelt deßfalls, ohne feſten Charakter, wie wir geſto¬
ßen werden. Man findet nirgend ſo viele Mittel¬
zuſtaͤnde
, als in Deutſchland. Man will es uͤberall
recht machen, und gewiß haben Wenige die Macht,
die nicht zugleich die Nothwendigkeit fuͤhlten, es recht
machen zu muͤſſen; aber der Anſpruͤche ſind zu viele
und da der Hauptanſpruch wie der gegenwaͤrtigen
Zeit ſo des deutſchen Phlegmas uͤberhaupt Maͤßigung
und Frieden iſt, ſo kann es nicht wohl anders ſeyn.


Wir haben uns nur nothgedrungen auf den poli¬
tiſchen Schauplatz reißen laſſen und finden uns noch
nicht ſonderlich darauf zurecht. Was wir etwa ha¬
ben thun muͤſſen, kann man kein eigentliches Handeln
nennen, und unſre Reden wollen deßfalls noch weni¬
ger bedeuten.


Von jeher ſind nur ſolche Voͤlker, deren ganze
Thaͤtigkeit im oͤffentlichen Staatsleben ſich concen¬
trirte, zugleich durch eine politiſche Literatur ausge¬
zeichnet geweſen, Griechen, Roͤmer, Englaͤnder, Fran¬
zoſen und in beſſern Zeiten auch die Italiaͤner. Die¬
ſen muͤſſen wir den Vorrang zugeſtehn. Zwar fehlt
es uns an Theorien und phantaſtiſchen Traͤumen
nicht, und wir ſind daran vielleicht ſogar reicher,
als andre Voͤlker, weil die Phantaſie einen deſto
[216] freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Menſch
in einer ſchoͤnen Wirklichkeit thaͤtig iſt. Auch unſre
philoſophiſchen Syſteme erzeugen mannigfaltige An¬
ſichten vom geſelligen und politiſchen Leben. Die Theo¬
rien verhalten ſich aber zum Leben ſelbſt etwa nur
wie die Poeſie. Man traͤumt ſich in ein politiſches
Eldorado hinein und wacht ſo nuͤchtern auf, wie zu¬
vor. Da den Deutſchen die Tribune fehlt, ſo ſollte
man erwarten, ſie wuͤrden ihre ganze Kraft deſto
wirkſamer in der Literatur geltend machen. Es iſt
aber umgekehrt. Eine gute politiſche Literatur geht
immer erſt aus der Schule der politiſchen Beredſam¬
keit hervor.


Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬
tereſſe der Nation in Anſpruch, ſo daß ſelbſt die
großen Umwaͤlzungen der Reformation eher dazu dien¬
ten, den Sinn fuͤr Politik nicht bei den Hoͤfen, aber
beim Volk einzuſchlaͤfern, als zu erwecken. Spaͤter
trat eine behagliche Gewohnheit ein, bei der faſt alle
politiſche Fragen gaͤnzlich in Vergeſſenheit geriethen.
Der Wohlſtand nahm nicht ſo gewaltig zu, daß die
uͤberfluͤßige Kraft große Thaten und Inſtitutionen
haͤtte hervorbringen koͤnnen; er ſank aber auch nie
ſo gaͤnzlich, daß die Verzweiflung zu Umwaͤlzungen
gefuͤhrt haͤtte. Die Fuͤrſtenhaͤuſer genoſſen faſt ohne
Ausnahme das kindliche Vertrauen der Unterthanen,
beſonders ſeit ihre wechſelſeitigen Intereſſen in den
Religionskaͤmpfen ſo eng verſchlungen worden. Die
Maſſe hatte zu eſſen, und ausgezeichnete Geiſter fan¬
[217] den in den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten eine angemeſ¬
ſene Wirkſamkeit. Die Erſcheinung der franzoͤſiſchen
Revolution, und die Art, wie man ſie in Deutſch¬
land aufnahm, hat hinlaͤnglich bewieſen, wie wenig
man in Deutſchland fuͤr ein reges politiſches Leben
geſtimmt und vorbereitet war.


Der Deutſche liebt die Familie mehr als den
Staat, den kleinen Kreis von Freunden mehr als
die große Geſellſchaft, die Ruhe mehr als den Laͤrm,
die Betrachtung mehr als das Raiſonniren. Es muß
zugeſtanden werden, daß dieſe Eigenheiten zu eben
ſo viel Laſtern als Ungluͤcksfaͤllen gefuͤhrt haben, daß
nur durch ſie verſchuldet worden iſt, was man uns
mit Recht ſo oft und lange vorgeworfen, Bethoͤrung
und Unterdruͤckung durch Fremde, Unempfindlichkeit
fuͤr nationelle Schande, Vernachlaͤſſigung gemeinſa¬
mer Intereſſen, enge peinliche Spießbuͤrgerlichkeit und
Verſauern in der traͤgen Ruhe. Auf der andern Seite
beweist uns aber die fruͤhere Geſchichte, daß dieſel¬
ben Grundzuͤge des Nationalcharakters ſich auch mit
großen politiſchen Thaten und Inſtituten haben ver¬
einigen laſſen. Aus ihrer Wurzel iſt der Rieſenbaum
der altgermaniſchen Verfaſſung erwachſen, der Jahr¬
hunderte lang Europa wohlthaͤtigen Schatten gegeben.
Von allen Verfaſſungen des Alterthums unterſchied
ſich die germaniſche dadurch, daß ſie das Gemein¬
weſen der individuellen Freiheit und dem Familien¬
weſen unterordnete. Der Staat ſollte dem Einzelnen
dienen, waͤhrend in Rom und Sparta der Einzelne
Deutſche Literatur. I. 10[218] Leibeigner des Staates war. Jene Allgemeinheit des
Staats, die allein ſouverain iſt, der jeder Buͤrger
unbedingt unterworfen iſt, die einen eignen Willen
und eigne Zwecke hat, war den Deutſchen von jeher
in der Natur zuwider. Dieſe Abneigung gegen den
Goͤtzendienſt des weltlichen Staates bahnte ſpaͤter
der Hierachie den Weg. Zuletzt aber brachte ſie uns
in einen voͤllig paſſiven Zuſtand; wir wurden regiert
und dachten nicht daran, wir litten alles und unter
Hunderttauſenden frug kaum einer, warum?


Indeß iſt in der neueſten Zeit der Sinn fuͤr Po¬
litik ſehr lebendig erwacht. Große Ungluͤcksfaͤlle
haben uns an die Fehler erinnert, durch welche wir
dieſelben verſchuldet. Die Umwaͤlzungen der Nach¬
barlaͤnder haben uns zum Theil zur Nachahmung oder
doch zur Aufmerkſamkeit gezwungen. Gewaltſtreiche
von außen haben unſern innern politiſchen Zuſtand
mannigfach veraͤndert, und manche Verbeſſerungen
haben wir ſelbſt zu Stande gebracht. Die fortge¬
ſchrittene Cultur verlangt manche Änderung. Die
Kriege, die wir fuͤr den Beſtand unſrer Staaten ge¬
fuͤhrt, haben ſie uns werth genug gemacht, daß wir
ſie mit groͤßerem Intereſſe, als bisher, ins Auge faſ¬
ſen. Die politiſche Ehre, die wir wieder errungen
haben, hat uns den Sinn fuͤr Politik wohlthaͤtig er¬
friſcht. Thaten haben zur Betrachtung gefuͤhrt.


Dieſe neue Politik aber iſt groͤßtentheils in einer
fremden Schule gebildet, alle Parteien, die Kabinette,
die Staͤnde, die Liberalen haben im Ausland ihren
[219] Unterricht empfangen. Wo indeß die deutſche Ei¬
genthuͤmlichkeit vorſchlaͤgt, aͤußert ſie ſich in derſel¬
ben Syſtemſucht und Phantaſterie, die wir in
allen Wiſſenſchaften geltend machen. Die Praktiker,
die das Ruder fuͤhren, ſind davon ſo wenig ausge¬
ſchloſſen als die ſtillen Schwaͤrmer in den Dachſtu¬
ben, die nichts regieren als die Feder. Jene wollen
der Gegenwart das Unmoͤgliche aufdringen, dieſe der
Zukunft das Moͤgliche. Jene legen die Voͤlker auf
ihre Tabellen, wie den heiligen Laurentius auf den
Roſt, dieſe machen ſich goldne Traͤume von der Zu¬
kunft, die ſich bekanntlich, wie das Papier, alles ge¬
fallen laͤßt, wobei aber die Kuh immer verhungern
muß, bevor das Gras gewachſen iſt. Wagt es das
voͤllig paſſive Publikum ſich uͤber die Gewaltthaͤtig¬
keit der Theorien zu beklagen, oder die Phantome der
Ideologen zu verlachen, ſo heißt es von beiden Seiten
mit Fichte: das Publikum iſt kein Grund, unſre
Weisheit in Thorheit zu verkehren.


Das ſchlimmſte iſt, daß beide am allerwenigſten
an die materielle Freiheit der Voͤlker denken, die
doch die einzige iſt, deren wir auf unſrer gegenwaͤr¬
tigen Stufe der Cultur faͤhig ſind, und die allein
uns frommen kann. Die praktiſchen Staatsverbeſſe¬
rer ſtuͤrmen durch das ſtille Daſeyn der Philiſter und
opfern den Einzelnen dem Ganzen; die ſchwaͤrmen¬
den Weltverbeſſerer aber denken nur an die mora¬
liſche Freiheit, an einen idealen Zuſtand, der viel¬
leicht am Ende der Zeiten liegt.

10*[220]

Was die in neuerer Zeit ſo haͤufig gewordenen
durchgreifenden Staatsverbeſſerungen und Reorgani¬
ſationen in ihrer Gewaltthaͤtigkeit einigermaßen hemmt,
gewaͤhrt doch keinen ſonderlichen Troſt. Dies iſt
naͤmlich die an ſich ehrwuͤrdige Achtung vor dem Al¬
ten, die aber in dem Zuſtande, wohin uns die Zeit
einmal unaufhaltſam fortgeriſſen hat, niemals mehr
zur Conſequenz des alten Syſtems zuruͤckfuͤhren kann,
und alſo der Conſequenz des neuen nur hinderlich
iſt. Zwiſchen beide ſtellt ſich ein Syſtem von Flick¬
ſyſtemen
, es wird beſtaͤndig eingeriſſen und wieder
angebaut, aus allen Zeitaltern und fuͤr alle Staͤnde
haben ſich Inſtitutionen erhalten, und wieder an je¬
dem Orte beſondre, unzaͤhlige neue ſind dem ange¬
klebt worden, und alle verhalten ſich zu den einfa¬
chen, die man haben koͤnnte, wie eine Troͤdlerbude
voll alter Kleider zu einem reinlichen Anzug. Die
Staatspraktiker muͤſſen nicht nur Theoretiker ſeyn,
ſondern auch Hiſtoriker und Philologen, und die Ge¬
lehrſamkeit ſteht nicht ſowohl unter dem Schutz des
Staates, als der Staat unter dem Schutz der Ge¬
lehrſamkeit.


Was auf der andern Seite die Ausſchweifun¬
gen der Weltverbeſſerer hemmt, iſt wohl eben ſo we¬
nig troͤſtlich. Dies iſt die Cenſur; man kann in der
That nicht an die Maͤngel unſrer politiſchen Litera¬
tur denken, ohne daß uns ſogleich die großen Luͤcken
einfallen, die Cenſurluͤcken, welche von allen den
Werken erfuͤllt ſeyn koͤnnten, die eben des Preßzwangs
[221] wegen gar nicht exiſtiren. Dieſe fuͤhren dann die
unangenehme Betrachtung ſogleich auch auf die furcht¬
ſamen, halben und albernen Urtheile, welche die
Angſt vor der Cenſur oder das Vertrauen, daß ſie
keine Concurrenz beſſerer Urtheile zulaſſen werde, ſo
haͤufig hervorbringt. Doch davon iſt ſchon oben die
Rede geweſen. Die Cenſuruͤbel ſind nichts neues,
ſie wechſeln nur den Ort, auf den ſie fallen, und
ſcheinen zu den Kinderkrankheiten der Voͤlker zu ge¬
hoͤren. Sie ſind ein Ausſatz, der hie und da die
Haut wegnimmt, das Kind ſtirbt aber nicht davon.

Bevor wir die Literatur der politiſchen Praxis
betrachten, wollen wir einen Blick auf die Theorien
werfen. Alle Praxis geht von den Theorien aus.
Es iſt jetzt nicht mehr die Zeit, da die Voͤlker aus
einem gewiſſen ſinnlichen Übermuth, oder aus zufaͤlli¬
gen oͤrtlichen Veranlaſſungen in einen voruͤbergehen¬
den Hader gerathen. Sie kaͤmpfen vielmehr um Ideen
und eben darum iſt ihr Kampf ein allgemeiner, im
Herzen eines jeden Volkes ſelbſt, und nur in ſofern
eines Volkes wider das andre, als bei dem einen
dieſe, bei dem andern jene Idee das Übergewicht be¬
hauptet. Der Kampf iſt durchaus philoſophiſch ge¬
worden, ſo wie er fruͤher religioͤs geweſen. Es iſt
nicht ein Vaterland, nicht ein großer Mann, wor¬
uͤber man ſtreitet, ſondern es ſind Überzeugungen,
denen die Voͤlker wie die Helden ſich unterordnen
muͤſſen. Voͤlker haben mit Ideen geſiegt, aber ſobald
ſie ihren Namen an die Stelle der Idee zu ſetzen
[222] gewagt, ſind ſie zu Schanden worden; Helden haben
durch Ideen eine Art von Weltherrſchaft erobert,
aber ſobald ſie die Idee verlaſſen, ſind ſie in Staub
gebrochen. Die Menſchen haben gewechſelt, nur die
Ideen ſind beſtanden. Die Geſchichte war nur die
Schule der Principien. Das vorige Jahrhundert war
reicher an vorausſichtigen Speculationen, das gegen¬
waͤrtige iſt reicher an Ruͤckſichten und Erfahrungs¬
grundſaͤtzen. In beiden liegen die Hebel der Bege¬
benheiten, durch ſie wird alles erklaͤrt, was geſche¬
hen iſt.


Es gibt nur zwei Principe oder entgegengeſetzte
Pole der politiſchen Welt, und an beide Endpunkte
der großen Achſe haben die Parteien ſich gelagert
und bekaͤmpfen ſich mit ſteigender Erbitterung. Zwar
gilt nicht jedes Zeichen der Partei fuͤr jeden ihrer
Anhaͤnger, zwar wiſſen manche kaum, daß ſie zu die¬
ſer beſtimmten Partei gehoͤren, zwar bekaͤmpfen ſich
die Glieder einer Partei unter einander ſelbſt, ſo¬
fern ſie aus ein und demſelben Princip verſchiedne
Folgerungen ziehn; im allgemeinen aber muß der
ſubtilſte Kritiker ſo gut wie das gemeine Zeitungs¬
publikum einen Strich ziehn zwiſchen Liberalis¬
mus
und Servilismus, Republikanismus und
Autokratie. Welches auch die Nuancen ſeyn moͤgen,
jenes claire obscure und jene bis zur Farbloſigkeit
gemiſchten Tinten, in welche beide Hauptfarben in
einander uͤbergehn, dieſe Hauptfarben ſelbſt verber¬
gen ſich nirgends, ſie bilden den großen, den einzi¬
[223] gen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den
Menſchen wie den Buͤchern gewoͤhnlich auf den erſten
Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das
Auge werfen, trifft es dieſe Farben an. Sie fuͤllen
es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum.


Die liberale Partei iſt diejenige, die den politi¬
ſchen Charakter der neuern Zeit beſtimmt, waͤhrend
die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Cha¬
rakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus
ſchreitet daher in demſelben Maaße fort, wie die
Zeit ſelbſt, oder iſt in dem Maaße gehemmt, wie die
Vergangenheit noch in die Gegenwart heruͤber dauert.
Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen
das Mittelalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Ent¬
wicklung des Proteſtantismus im weltlichen Sinn,
wie der Proteſtantismus ein geiſtlicher Liberalismus
war. Er hat ſeine Partei in dem gebildeten Mittel¬
ſtande, waͤhrend der Servilismus die ſeinige in den
Vornehmen und in der rohen Maſſe findet. Dieſer
Mittelſtand ſchmilzt allmaͤhlig immer mehr die ſtarren
Kriſtalliſationen der mittelalterlichen Staͤnde zuſam¬
men. Die ganze neuere Bildung iſt aus dem Libera¬
lismus hervorgegangen oder hat ihm gedient, ſie war
die Befreiung von dem kirchlichen Autoritaͤtsglauben.
Die ganze Literatur iſt ein Triumph des Liberalis¬
mus, denn ſeine Feinde ſogar muͤſſen mit ſeinen Waf¬
fen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm
Vorſchub geleiſtet, ſeinen groͤßten Philoſophen aber
[224] hat er in Fichte, ſeinen groͤßten Dichter in Schiller
gefunden.


Der Liberalismus geht nicht von der Geſellſchaft,
ſondern vom Individuum aus. Die Quelle aller ſei¬
ner Forderungen fuͤr die Geſellſchaft iſt der freie
Wille, die Selbſtbeſtimmung des Einzelnen.


Er iſt daher im innerſten Princip der Religion
entgegengeſetzt, wie auch die Fuͤchſe und Schafe un¬
ter ihnen heuchleriſch oder gutmuͤthig den Glauben
dabei zu retten verſucht haben. Wo die Selbſtbe¬
ſtimmung eintritt, faͤllt jede fremde Autoritaͤt, alſo
auch die goͤttliche hinweg, und wenn man, wie ge¬
woͤhnlich geſchieht, Gott in der eignen Willenskraft
ſucht, ſo iſt dieſe Apotheoſe der Selbſtbeſtimmung
doch nur ein ſehr uͤberfluͤſſiger Pleonasmus. Wenn
Gott im Ich befindlich iſt, ſo iſt er nur noch ein
bloßer Name und es waͤre wohl am Ich genug. Die
Liberalen bauen keine Kirche, ſie zerſtoͤren ſie nur.


Wird das Princip der Selbſtbeſtimmung in der
Geſellſchaft geltend gemacht, ſo erfolgt daraus mit
Nothwendigkeit der contrat social. Durch die Selbſt¬
beſtimmung ſind alle Menſchen frei, folglich gleich,
und ihr Staat kann ſich nur auf gemeinſchaftliche
Übereinkunft gruͤnden. Man entlehnt die Beiſpiele
fuͤr die Moͤglichkeit eines ſolchen Zuſtandes aus den
alten Republiken, aus der altgermaniſchen Verfaſſung
und aus neuen Republiken, betrachtet dieſe jedoch
nur als unvollkommene Darſtellungen des abſoluten
Freiſtaates und ſucht dieſen erſt in der Zukunft.
[225] Man will ein Ideal, Menſchen, wie ſie nicht ſind,
ſondern ſeyn ſollen, und dieſes Ideal erblickt man
nur in Viſionen der Zukunft. Die allgemeine Tu¬
gendrepublik iſt noch nicht da, aber man ſtrebt da¬
hin. Indem man die Idee derſelben beſtaͤndig vor
Augen hat, ſucht man die Hemmungen derſelben zu
beſeitigen und kaͤmpft gegen den wirklichen Beſtand
der Dinge. Dadurch eignen ſich die Liberalen das
Princip, die Vortheile und das Verdienſt des Fort¬
ſchritts, der ewigen Entwicklung an. Sie bringen
Leben in die Welt, ſichern vor Erſtarrung, und wenn
ſie auch den Schatz nicht heben, ſo arbeiten ſie doch
den Weinberg um.


Die deutſchen Liberalen haben das Ausgezeich¬
nete, daß ſie die Freiheit nicht als ein Recht, ſon¬
dern als eine Pflicht betrachten. Überhaupt ſind
wir Deutſche ſehr moraliſch. Wir unterſuchen mehr
die Schuldigkeiten, als die Forderungen des Men¬
ſchen. Das Recht ſcheint uns erſt dann von ſelbſt
zu entſpringen, wenn jeder ſeine Pflicht thut. Bei
andern Nationen dreht ſich aller politiſche Streit
immer um die Rechte. Namentlich haben die Fran¬
zoſen von allen Parteien den beſten politiſchen Zu¬
ſtand, bei den einen die Freiheit, bei den andern die
Autokratie, immer als ein Recht zu behaupten ge¬
trachtet, die einen als ein urſpruͤngliches Menſchen¬
recht, die andern als ein hiſtoriſches altes Recht.
Erſt vor kurzem haben ſie auch den Grundſatz: Das
Recht ſey nur die Pflicht! geltend zu machen ver¬
[226] ſucht, was die deutſche Ehrlichkeit laͤngſt behauptet.
Fichte ſagt: «Recht iſt, was uns das Gewiſſen
befiehlt, alſo Pflicht. Was uns das Gewiſſen nicht
verbietet, duͤrfen wir thun, und was wir thun duͤr¬
fen, iſt ein Recht


Doch begehn dieſe gruͤndlichen Liberalen einen
Fehler, der ſie mit ſich ſelbſt in Widerſpruch zeigt.
Sie machen die Freiheit allen zur Pflicht, ſie zwin¬
gen
dazu, und dieſer Zwang hebt die natuͤrliche
Freiheit eines jeden auf; ſie befehlen eine gewiſſe
Gattung von Freiheit, und dieſe ſchließt jede andre
aus. Sie ſetzen an die Stelle des Despotismus nur
einen eben ſo ſchaͤdlichen Terrorismus der Demo¬
kratie, den man im Hintergrunde menſchenfreundlicher
Theorien ſelten bemerkt, der aber in der Praxis im¬
mer eingetreten iſt.


Sodann iſt ihr Gleichheitsſyſtem eine Suͤnde
wider den heiligen Geiſt der Natur, ſofern ſie es
auf die Geſinnungen, auf die Geiſter uͤbertragen.
Die Geiſter wiederholen in der gegenwaͤrtigen Welt-
Epoche den Kampf, den in einer fruͤhern die Ma¬
terie zu kaͤmpfen hatte. Alles, was die materielle
Wohlfahrt der Menſchen angeht, wird ſich in dieſelbe
Harmonie bringen laſſen, denn hier iſt aller Gegen¬
ſatz befriedigt, aber die Geiſter werden ihren Kampf
auskaͤmpfen muͤſſen, denn hier ſind die Gegenſaͤtze in
ihrer lebendigſten Thaͤtigkeit. Von der materiellen
Wohlfahrt denken alle Menſchen gleich, und nur, weil
der Geiſt ſie antreibt, opfern ſie dieſelbe zuweilen
[227] einem hoͤhern Gut oder verlangen mehr von ihr, als
ſie beduͤrfen. Doch koͤnnen noch alle Anſpruͤche des
Geiſtes an die Natur in ihre Schranken gewieſen
werden; nur der Geiſt ſelbſt wird beſtaͤndig mit ſich
ſelber kaͤmpfen. Alle Menſchen koͤnnen an einem Tiſch
eſſen, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen,
denn alle ſind am Koͤrper gleich, ihre Geiſter ſind
aber von Natur aus verſchieden und darauf beruht
der Kampf, ohne den das ganze Leben, dieſe ganze
Weltepoche, in der wir begriffen ſind, nichtig waͤre.


Die geiſtigen Vermoͤgen und Neigungen ſind un¬
gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Voͤl¬
ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Menſchen
und ſind den gleichen phyſiſchen Bedingungen unter¬
worfen, aber ihre Geiſter ſind ſo verſchieden, als die
Animaliſation und Vegetation, und der Geiſt wieder¬
holt auf einer hoͤhern Stufe, was die Natur auf der
niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch
Harmonie bezwungen worden, hier erſt kaͤmpfend die
Harmonie zu erreichen ſucht. Darin aber wird die
Harmonie niemals erreicht, daß ein Geiſt ſein Ge¬
praͤge allen Geiſtern aufzudruͤcken ſucht, daß er, und
geſchieht es auch im beſten Willen, von andern er¬
wartet, und andre dazu machen will, was er ſelber
iſt, und darin beſteht auch der groͤßte Irrthum un¬
ſrer politiſchen Ideologen.


Mag ein Vater ſeinen Kindern die gleiche Er¬
ziehung geben, ſie werden jedes etwas andres; koͤnnte
ſelbſt die Philoſophie uͤber eine Erziehung der Voͤl¬
[228] ker einig werden, ſie wuͤrden dennoch jedes anders
bleiben. Die Temperamente ſchlagen durch alle
Erziehung. Der Herrnhuter predige dem kriegslu¬
ſtigen Franzoſen, der Puritaner dem ſinnlichen Ita¬
liener, der Tribun predige der Maſſe, beſtaͤndig wird
der Krieg den Frieden, die Sinnlichkeit die Sittlich¬
keit, und ein Anfuͤhrer die reine Demokratie der
Tugendrepublik zerſtoͤren. Nie wird ein Ton herr¬
ſchen, die Toͤne wechſeln, und aus allen entſpringt
die Muſik des hiſtoriſchen Lebens.


Es iſt ſchoͤn, was man von ſich denkt, auch von
andern zu denken, was man fuͤr ſich wuͤnſcht, auch
andern zu wuͤnſchen, was man fuͤr ſich errungen hat,
auch andern mitzutheilen, die eigne Tugend andern
zuzutrauen, und ſie dazu anzufeuern, die eigne Er¬
kenntniß der Wahrheit andern in der Vorausſetzung
mitzutheilen, daß ſie faͤhig ſind, ſie auch zu erkennen,
und demzufolge zu einer Vervollkommnung des Ge¬
ſchlechts nach dem eignen hoͤchſten Ideale hinzuwir¬
ken. Es iſt ſchoͤn, aber es findet auch das Schickſal
alles Schoͤnen. Nur wenige erkennen es in ſeinem
ganzen Werthe. Ein Menſch mit dieſem erhabnen
Glauben an ſein Geſchlecht, wird fuͤr ſich ſeine Be¬
ſtimmung auf die ſchoͤnſte Weiſe zu erfuͤllen im Stande
ſeyn. Aber ſein Glaube wird weder von jenen An¬
dern erfuͤllt werden, noch ſeine Mittheilung ſie an¬
ders machen.


Nur materielle Veraͤnderungen ſind bisher
reell geweſen. Tracht und Speiſe, Wohnung und
[229] Geſchaͤft hat der Menſch veraͤndert und vervollkommt.
Auch die Wiſſenſchaft hat ſich ſelbſt veraͤndert und
vervollkommt, aber nicht die Menſchen. Sie dient
nur den angebornen Neigungen, aber ſie beſtimmt ſie
nicht. Die Laſter und Tugenden ſind gewitzigter und
gelehrter geworden, aber dieſelben geblieben. Die
Idee mag ſonnenklar vor den Menſchen ſtehn, ihr
Gemuͤth, ihr Temperament, die dunkle Naturkraft
ihrer Seele gibt ihr immer wieder eine Farbe. Das
Licht gehoͤrt der Wiſſenſchaft, die Farbe dem Leben.


Die bisherigen Beiſpiele reiner Demokratien ha¬
ben dem Ideal der Tugendrepublik freier und glei¬
cher Menſchen nach keineswegs entſprochen. Es laͤßt
ſich ſogar behaupten, daß ſie die Kraft, ſich eine
Zeitlang in einem nur einigermaßen freien Zuſtande
zu erhalten, und den Zauber der Gleichheit keines¬
wegs von ihrem Eigenwillen und von einer tiefen
Überzeugung, ſondern vielmehr vom Aberglauben, von
der Gewohnheit und von ſklaviſcher Anhaͤnglichkeit an
Perſonen und Äußerlichkeiten entlehnt haben. Die
meiſten ſogenannten freien Voͤlker des Alterthums und
der neuern Zeit waren es nur ſo lange, als die alte
Gewohnheit, die Erinnerungen an die Vaͤter, der
patriotiſche Aberglauben nicht erſchuͤttert, alte große
Namen nicht durch neue verdraͤngt wurden. Die
Freiheit erhielt ſich hier, wie dort die Deſpotie,
durch das bloße Traͤgheitsprincip, nach welchen ein
Stein ſo lange liegen bleibt, bis er weggeſtoßen wird.
Nur in einzelnen Momenten der Geſchichte, nur
[230] im Augenblick der Befreiung von einem langen Druck,
durchflammte die Menſchen auch in Maſſe eine hoͤhere
Begeiſterung fuͤr das Ideal, und ſie ergriffen es mit
Bewußtſeyn und ſie opferten alles fuͤr die Gerechtig¬
keit, ſo die Huſſiten, die Puritaner, die franzoͤſiſchen
Republikaner der erſten Periode, aber ſolche Mo¬
mente zeigen nur, daß das menſchliche Geſchlecht noch
in einer niedern pflanzenhaften Entwicklung begriffen
iſt, darin es nur einen Moment ſelbſtaͤndiger freier
Bewegung, den befruchtenden Moment der Bluͤthe
aushalten kann, aber keine Kraft hat, das entfaltete
Leben fortzuſetzen, vielmehr von der dunkeln Macht
des ſchweren Elementes ergriffen, in die ſtarren
Bande zuruͤckfaͤllt. Wie ein Blitz ergreift die Idee
das Geſchlecht und verſchwindet in der alten Nacht.
Sie koͤnnen den Glanz, das feurige Leben nicht er¬
tragen, die Idee ſtrengt ſie uͤber ihre Kraft an und
es erfolgt nur Erſchoͤpfung, und wenn ſie daraus
erwachen, iſt ihnen, als ob ſie getraͤumt haͤtten Koͤ¬
nige zu ſeyn, und ſie greifen wieder jeder an das
alte duͤſtre Tagwerk.


Aus dieſem Grunde haſſen die echten Liberalen
die Geſchichte, und ſehn nicht ruͤckwaͤrts, ſondern
vorwaͤrts und wollen das ganze menſchliche Geſchlecht,
die ganze Geſchichte von vorn beginnen. In dieſem
Sinn begann auch die franzoͤſiſche Republik eine neue
Zeitrechnung. Dieſe Flucht vor der Erfahrung
zeugt aber nur von einer gewiſſen Schwaͤche, und
kann nicht verhindern, daß die alte Erbſuͤnde in das
[231] neue Reich hinuͤber dauert. Die Menſchen ſind und
bleiben verſchieden, und indem man ſich von der ma¬
teriellen Baſis, wo allein Gleichheit moͤglich und
recht iſt, entfernt, um Traͤumen nachzujagen, gibt man
die wahren Vortheile des Syſtems auf.


Was nun die entgegengeſetzte ſo genannte ſer¬
vile
Partei betrifft, ſo entſpricht dieſelbe dem poli¬
tiſchen Charakter des Mittelalters und beharrt in
demſelben Maaße, als der Liberalismus die politi¬
ſchen Ruinen der Vergangenheit nicht zerſtoͤren kann.
Der Servilismus entſpricht dem Katholicismus, er
iſt das ausſchließliche legitime Syſtem, die alleinſelig¬
machende und verdammende politiſche Kirche. Seine
Partei hat er in den bevorrechteten Staͤnden und im
Poͤbel im Gegenſatz gegen den buͤrgerlichen Mittel¬
ſtand. Die ganze neuere Bildung iſt ſein Feind, vor
dem er ſich nur durch Tradition, alte Urkunden und
alte Gewalt ſchuͤtzt.


Der Servilismus geht auch nicht von der Ge¬
ſellſchaft, ſondern von Gott aus. Die Quelle aller
ſeiner Folgerungen iſt die goͤttliche Gewalt uͤber den
Menſchen. Er iſt alſo im innerſten Princip kirchlich,
theokratiſch, ſey nun der Stellvertreter Gottes ein
Oberprieſter, ein Koͤnig oder ein Stand. Die sacra
majestas
iſt fuͤr ihn, was die Selbſtbeſtimmung fuͤr
den Liberalismus. Es ſcheint der Liberalismus ſey
aus dem maͤnnlichen Kraftgefuͤhl und Übermuth, der
Servilismus aus der weiblichen Liebe und Furcht
hervorgegangen. Wenn der Menſch auf der einen
[232] Seite ſeiner ganzen Kraft ſich ſtolz bewußt iſt, kann
er auf der andern das Gefuͤhl ſeiner Abhaͤngigkeit
nicht uͤberwinden und ein unwiderſtehlicher Zug treibt
ihn, in der Geſchichte dieſelbe Harmonie zu ſu¬
chen, die er in der Natur findet, ſich im Leben einer
wohlorganiſirten Gewalt hinzugeben, wie in der Na¬
tur. Es iſt die Einheit alles Lebens, die ſich ihm
offenbart und zugleich ihn als untergeordnetes Glied
an ſeinen beſtimmten Platz feſſelt. Er erkennt die
Allmacht des hoͤchſten Weſens, der er nicht entrin¬
nen kann, aber auch die Harmonie der Dinge, der
er nicht entrinnen will, die ihn beſeligt, in welcher
die ewige Liebe ſich ausſpricht und ihn mit glaͤubi¬
gem Vertrauen erfuͤllt. Man darf behaupten, daß
dieſes Hingeben an die aͤußre Gewalt aͤlter iſt, als
die Freiheit. Die Geiſter wiederholen urſpruͤnglich
den plaſtiſchen Trieb der Natur im hiſtoriſchen Ge¬
biet und bilden ihren Staat nach dem Typus der
Natur, und unterordnen ſich, jeglicher nach ſeiner
Art der Harmonie des Ganzen. Dieſer bildſame Trieb,
der alle Staaten erzeugt hat, aͤußert ſich aber in
einer ſtufenmaͤßigen Entwicklung. Was er einmal ge¬
ſchaffen, erhaͤlt ſich nach dem Geſetz der Traͤgheit,
der Geiſt aber ſchreitet raſtlos fort in ſeiner Ent¬
wicklung und fuͤhlt ſich bald beengt durch jene ſtar¬
ren Formen und empoͤrt ſich gegen den Druck, und
die Freiheit kommt zur Erſcheinung. Sind aber die
alten Formen gebrochen, ſo muß jener plaſtiſche Trieb
auf einer hoͤhern Entwicklungsſtufe immer wieder neue
[233] Formen ſchaffen. Was regellos ſich geſondert, kry¬
ſtalliſirt ſich wieder in regelmaͤßige Geſtalt und im¬
mer wieder will das Geſchlecht die Harmonie der
Natur in ſeinen geſelligen Formen nachbilden.


Allen dieſen Bildungen liegt die Theokratie
zu Grunde. Das hoͤchſte Weſen iſt der Mittelpunkt,
in welchen man den Urgrund und die erhaltende Kraft
der Staaten verſetzt. Der Staat ſoll die goͤttliche
Ordnung in der Geſchichte darſtellen. Darum ſpricht
er die hoͤchſte Autoritaͤt und die unbedingte Herrſchaft
uͤber die Individuen an, und iſt, in unvollkommener
Erſcheinung, der beſtaͤndige Feind der Freiheit, wie er
in vollkommener die Verſoͤhnung derſelben ſeyn muß.


Die Theokraten haben ſich von jeher der Wirk¬
lichkeit
naͤher angeſchloſſen, als die Idealiſten fuͤr
die Freiheit. Eben weil ihr Staat inſtinktartig, von
plaſtiſchem Naturtrieb beſeelt, aus den mannigfalti¬
gen Elementen der Geſellſchaft ſich zuſammenfuͤgte,
ward jede natuͤrliche Sonderung der Geſchlechter, der
Lebensalter, der koͤrperlichen und geiſtigen Vermoͤgen
und Neigungen im Staat beruͤckſichtigt, jedes fand
ſeine Stelle. Auch dann, als ſpaͤterhin die alte Ord¬
nung der neuen Entwicklung nicht mehr entſprach,
als die Freiheit die alten Formen zerbrach und hier
der alte Zug der Natur wieder neue Formen bildete,
oder die Gewalt die Maſſen zuſammenſchmiedete, be¬
hielt hier naturgemaͤß, dort zu Gunſten des Gewalt¬
habers, die natuͤrliche Sonderung der Menſchen ih¬
ren Ausdruck im Staate.

[234]

Alle dieſe Staaten trugen aber auf dreifache Weiſe
den Keim des Verderbens und Untergangs in ihrer
Bildung. Indem ſie ein Ewiges, Bleibendes dar¬
ſtellen wollten, widerſtrebten ſie der ewigen Entwick¬
lung und riefen die Natur ſelbſt gegen ſich auf. In¬
dem ſie die hoͤchſte Autoritaͤt in Anſpruch nahmen,
ohne noch allen Beduͤrfniſſen der hoͤhern Entwicklung
des Geſchlechts zu entſprechen, riefen ſie die Freiheit
gegen ſich auf. Indem ſie endlich zwar urſpruͤnglich
natuͤrliche Claſſen der Geſellſchaft feſtſtellten, aber
dabei auf die Individuen keine Ruͤckſicht nahmen,
welche die Geburt in einer Claſſe feſthielt, die Na¬
turanlage aber fuͤr die andre beſtimmte, riefen ſie
die Maſſen ſelbſt gegen ſich auf.


So iſt es auch hier die Normalitaͤt, die in der
Abhaͤngigkeit geſucht wird, wie dort in der Freiheit,
und der die Menſchen beſtaͤndig widerſtrebten. Alle
koͤnnen nicht auf gleiche Weiſe frei, aber auch nicht
auf gleiche Weiſe abhaͤngig ſeyn.


Da beide Parteien in der Wahrheit ſich nicht
vereinigen koͤnnen, ſo iſt es ziemlich natuͤrlich, daß
ſie deſto mehr, ohne es zu wiſſen, im Irrthum uͤber¬
einſtimmen. Ihr großer gemeinſchaftlicher Irrthum iſt,
daß ſie uͤber die menſchliche Handlungsweiſe ſtreiten
und dabei von Ideen ausgehen, fuͤr welche oder in
welchen gehandelt werden ſoll, ſtatt von den Kraͤf¬
ten
der Menſchen auszugehn, durch welche wirklich
gehandelt wird und werden kann. Sie denken immer
an das Sollen und vergeſſen daruͤber das Koͤnnen.
[235] Sie ſprechen von einer abſoluten Freiheit und von
einer abſoluten Abhaͤngigkeit, der ſich alles fuͤgen
ſoll, ſie weiſen auch wohl nach, daß die Freiheit
des Willens und das Recht der Selbſtbeſtimmung,
oder aber die Abhaͤngigkeit von einem hoͤhern uͤber
der Geſellſchaft waltenden Weſen und di Pflicht der
Unterwerfung unter daſſelbe allen menſchlichen Hand¬
lungen zu Grunde liege, aber ſie gehn immer von
einem idealen Geſichtspunkt aus und wollen zu einem
idealen Ziele hinfuͤhren, zu einer Anordnung der
menſchlichen Geſellſchaft, in welcher entweder jene
Freiheit oder jene Abhaͤngigkeit allgemein anerkannt
und die derſelben entſprechenden politiſchen Formen
unabaͤnderlich feſtgeſtellt ſeyn muͤßten. Alle Menſchen
ſollen ſich der einen oder andern Anſicht fuͤgen, und
man ſtreitet nur daruͤber, welcher Anſicht?


Dies iſt der Grundirrthum beider Parteien. Man
muß die Frage nach abſoluter Freiheit und Unabhaͤn¬
gigkeit in der weit wichtigern Frage nach dem rela¬
tiven Vermoͤgen der Menſchen, und ſofern von der
Geſellſchaft die Rede iſt, nach der Vertheilung die¬
ſer Vermoͤgen unter die Menſchen zu begruͤnden ſu¬
chen. Wir werden nicht mehr noͤthig haben, zu fra¬
gen: ſoll der Menſch frei ſeyn? wenn erſt erwieſen
iſt, daß ſie alle die gleiche Kraft dazu beſitzen. Eben
ſo werden wir nicht mehr unterſuchen duͤrfen, ob die
Abhaͤngigkeit der einen und andern nothwendig ſey,
wenn wir die Vermoͤgen kennen, die den einen und
den andern von Natur zugetheilt ſind. Die republi¬
[236] kaniſche Partei ſpricht allen Menſchen das gleiche
Recht der Freiheit zu, ſofern ſie zugleich alle fuͤr
ſtark genug haͤlt, auch die Pflichten derſelben tragen
zu koͤnnen. Die ſervile Partei ſpricht allen Menſchen
die gleiche Pflicht zu, ſich vom hoͤchſten Weſen ab¬
haͤngig zu fuͤhlen, und einigen ertheilt ſie das Pri¬
vilegium, im Namen jenes hoͤchſten Weſens die Ab¬
haͤngigen zu beherrſchen. Wenn die Menſchen wirklich
alle zugleich ſo ſeyn koͤnnten, wie die eine oder an¬
dre Partei ſie haben will, ſo waͤre die Anſicht und
der Staat einer jeden gleich vollkommen und es kaͤme
in der That nicht darauf an, ob dieſer Staat oder
jener beſtaͤnde, wenn er nur allen ſeinen Gliedern
vollkommen entſpraͤche. Die Menſchen ſind aber we¬
der ſo, wie jene, noch ſo, wie dieſe wollen und
werden es in alle Ewigkeit nicht ſeyn. Darum muß
auch ein ewiger Streit herrſchen. Der Streit ſelbſt
waͤre wieder ganz vernuͤnftig, wenn jede Partei ihre
Anſicht nur auf die Menſchen ausdehnen wollte, de¬
ren natuͤrliche Anlage dieſer Anſicht entgegenkommt;
er wird aber unvernuͤnftig, da jede Partei allen
Menſchen, alſo auch denen, deren natuͤrliche Anlage
ihrer Anſicht widerſpricht, dieſe aufdringen wollen.
Die Republikaner wollen alle Menſchen zur Freiheit
erheben, aber einen großen Theil derſelben koͤnnen
ſie nur dazu verdammen, weil es Menſchen gibt,
viele, die meiſten, welche keinerlei Kraft und Zeug
dazu haben. Die Servilen wollen allen Menſchen
eine Hirtenſchaft im Namen Gottes gewaͤhren, aber
[237] einen großen Theil derſelben verdammen ſie nur dazu,
weil es viele Menſchen gibt, die entweder ſelbſt herr¬
ſchen, oder die weder herrſchen noch beherrſcht ſeyn
wollen und koͤnnen. Beide Parteien geſtehn zum
Theil ihr Unrecht ein, indem ſie zugeben, daß die
Menſchen anders ſind, als ſie ſie haben wollen; ſie
zweifeln aber nicht, daß ſie dieſelben doch anders
machen koͤnnten, und dringen auf eine Erziehung
zur Freiheit oder zur Herrſchaft. Dies iſt indeß nur
ein neuer Irrthum, denn die Erziehung kann nur
bilden, was angeboren iſt, nicht ein Fremdartiges
einpflanzen.


Die Neigungen und Kraͤfte der Menſchen ſind
mannigfach unter Voͤlker und Individuen vertheilt.
Die Einen koͤnnen nicht anders als frei ſeyn, ihre
ſinnliche Kraft, ihr uͤberwiegendes Talent, ihr Ge¬
danke ſpricht ſie von jeder Herrſchaft frei und ſie
herrſchen entweder uͤber die Schwachen oder die Idee
der Gerechtigkeit beſeelt ſie und ſie wollen allen Mit¬
menſchen das gleiche Recht der Freiheit goͤnnen, ſoll¬
ten ſie auch nicht im Stande ſeyn, ihnen das gleiche
Vermoͤgen dazu zu verleihen, ſie wollen ſie wenig¬
ſtens nicht tyranniſiren, wenn ſie es auch koͤnnten.
Die Andern ſind ſchwach, und fuͤhlen ihre Schwaͤche
und ſuchen inſtinktartig, wer ſie beherrſchen moͤge.
Sie ſchaffen ſich einen Herrn, der Gewalt uͤber ſie
hat, und wenn es auch nur ein Traumbild waͤre.
Zwiſchen ihnen bewegen ſich die Launenhaften, die
nicht wiſſen, was ſie wollen; und die Phlegmatiſchen,
[238] die durch ihre Natur zu abſoluter Paſſivitaͤt ver¬
dammt ſind.


Dies ſind die Beſtandtheile der Maſſe, aus
welchen die Politik beſtaͤndig etwas zu machen ſtrebt,
was bald dem einen, bald dem andern Beſtandtheil
unangemeſſen, daher niemals von Dauer iſt. Die
Republikaner adeln den Poͤbel und er iſt dieſes Adels
nicht wuͤrdig, er zwingt ſie zur Diktatur oder er
vernichtet ſie; ſie muͤſſen auf ihn treten, oder er zer¬
tritt ſie. Die Servilen erkennen umgekehrt auch nicht
einmal den wenigen echten Freien den Adel der Frei¬
heit zu und wenn ſie gleich die Claſſen der Geſell¬
ſchaft ziemlich richtig beurtheilen, ſo rechnen ſie doch
nicht auf die Individuen. Sie ſtellen Claſſen feſt,
die allerdings dem Unterſchied der Menſchen im All¬
gemeinen entſprechen, aber ſie vergeſſen, darauf Ruͤck¬
ſicht zu nehmen, daß auch immer jedes Individuum
der ihm angemeſſenen Claſſe einverleibt ſey. Die Freien
empoͤren ſich beſtaͤndig gegen ſie, weil ſie dieſelben
aus der Geſellſchaft ausſchließen wollen, aber auch
die Unfreien ſtehn von Zeit zu Zeit wider ſie auf,
wenn ſich erſt Individuen genug in einer Claſſe der
Geſellſchaft angehaͤuft haben, die, ihrer natuͤrlichen
Anlage, ihren Kraͤften gemaͤß, einer andern Claſſe
angehoͤren.


So lange nicht alle Menſchen vollkommen gleich
und zwar alle zugleich ſelbſtaͤndig und genial ſind,
iſt weder an eine vollkommene Theokratie noch an
eine vollkommene Freiheit zu denken, beide wuͤrden
[239] ſich aber auf dieſer hoͤchſten Bildungsſtufe des Ge¬
ſchlechts innig verſchmelzen. Die Unterſuchung, ob
ein ſolcher Zuſtand moͤglich ſey, gehoͤrt der Wiſſen¬
ſchaft an, das Leben geht ſeinen Gang fort und in
ihm walten jene Kraͤfte, die aller Normalitaͤt der
Wiſſenſchaft fortwaͤhrend widerſtreben. Die Wiſſen¬
ſchaft veraͤndert die Menſchen ſo wenig, als die Na¬
tur. Es iſt voͤllig einerlei, was man in den Men¬
ſchen hineinpfropft, wozu man ihn zwingt oder uͤber¬
redet, der Haufe bleibt Haufe, Chriſt oder Heide,
Pair oder Paria. Was der Menſch nicht durch ſeine
Naturanlage, durch ſeinen Genius wird, das wird
er auch in Ewigkeit nicht. Der theokratiſche, wie
der tribuniciſche, der tyranniſche wie der ſclaviſche
Sinn haͤngt ſo innig mit der angebornen Organiſa¬
tion des Menſchen zuſammen, als der Kunſttrieb.
Nur, wie oben geſagt worden iſt, ſofern die Men¬
ſchen materiell ſich gleichen, iſt eine materielle Vollen¬
dung des Staates denkbar, alles aber was im Staat
auf einem geiſtigen Princip beruht, wird ſo lange
ſchwanken, kaͤmpfen, ſich bilden und zerſtoͤren, als
die Menſchen geiſtig verſchieden bleiben werden.


Gehn wir von den Theorien ab und betrachten
die praktiſchen Wiſſenſchaften, ſo muͤſſen wir zu¬
voͤrderſt die innere und aͤußere Politik unterſcheiden,
die Organiſation der Staaten und ihr Verhaͤltniß zu
einander. Da die innern Verhaͤltniſſe der Staaten
mit den aͤußern ſich in der neueſten Zeit mannigfach
veraͤndert haben, ſo wird auch außerordentlich viel
[240] daruͤber geſchrieben. Verfaſſung, Adminiſtration und
Jurisprudenz ſind in allen Verzweigungen theils wiſ¬
ſenſchaftlich ausgebildet worden, theils hat ihre prak¬
tiſche Ausuͤbung eine ungeheure Literatur von Geſetz¬
gebung, Commentation und Vergleichung veranlaßt.
Im Allgemeinen gilt von den Grundſaͤtzen, die in
dieſer Literatur ſich ausſprechen, daß ſie maͤßig und
groͤßtentheils auf Mittelzuſtaͤnde bedacht ſind,
von Ton und Sprache derſelben, daß ſie aͤußerſt
umfaſſend, weitlaͤuftig, langweilig ſind. Die Praxis
ſteht auf doppelte Weiſe der Theorie entgegen, ſie
iſt der ſtrengen Idee und eben darum auch der ſtren¬
gen Kuͤrze fremd. Sie vermittelt und muß dabei
umſtaͤndlich verfahren. Sie hat es mit dem wirkli¬
chen Leben zu thun, und nicht nur alle Parteien,
auch die Vergangenheit uͤbt Einfluß auf ſie. Sie ent¬
lehnt ihre Maximen zum Theil noch aus dem Mittel¬
alter, zum Theil aus der Reformation, zum Theil
aus der Zeit der franzoͤſiſchen Encyclopaͤdie, zum
Theil aus der Revolution. Der verwickelte Zuſtand
der Staaten ſpiegelt ſich in der Geſetzgebung, traͤgt
ſie und wird von ihr getragen.


Die Verfaſſungen zeigen uns zuerſt dieſe Mi¬
ſchung mannigfacher Intereſſen, die in der maͤßigen
Temperatur eines Mittelzuſtandes ſich zu neutraliſi¬
ren ſuchen. Nur gleichſam an den aͤußerſten Enden
der deutſchen Nation hat ſich einerſeits demokratiſche
Freiheit, andrerſeits unbedingte Autokratie erhalten
koͤnnen, die breite Mitte nimmt jenes Repraͤſentativ¬
[241] ſyſtem ein, das am geſchickteſten geeignet ſcheint, alle
Intereſſen, wenn nicht zu vermitteln, doch zu bezaͤh¬
men. Zwar herrſcht auch hier auf der einen Seite
mehr das Intereſſe des Volks, auf der andern mehr
das des Regenten vor, wie raͤumlich, ſo der Zeit
nach, ſo daß in einer gewiſſen Oscillation dieſes
oder jenes Intereſſe je nach der Conſtellation der aͤu¬
ßern politiſchen Verhaͤltniſſe ſteigt, und gegenwaͤrtig
iſt nicht zu verkennen, welches Intereſſe ein entſchie¬
denes Übergewicht behauptet, indeß hat im Allgemei¬
nen das Repraͤſentativſyſtem, gegenuͤber der Auto¬
kratie und Demokratie, eine ſchwer zu erſchuͤtternde
Feſtigkeit erlangt, und welchen Entwicklungen es auch
unterworfen ſeyn mag, ſeine Idee iſt dem Zeitalter
gleichſam angetraut worden, es wuͤrde ſich ohne Ge¬
waltthat nicht mehr davon losreißen laſſen. In Deutſch¬
land behauptet das Syſtem insbeſondre eine allge¬
meine europaͤiſche Bedeutung. Es ſcheint mit dem
Lande und Volke in einer geheimen Wahlverwandt¬
ſchaft zu ſtehn. Wie es gerade die Deutſchen ſind,
bei welchen ſich die entgegengeſetzten politiſchen und
religioͤſen Parteien die Wage halten, ſo liegt auch
ihr Land in der Mitte jener Laͤnder, in welchen die
eine oder andre Partei vorzugsweiſe herrſcht. Es
ſcheint die Streitenden von einander zu halten und
Europa auf gleiche Weiſe vor aſiatiſcher Deſpotie
wie vor atlantiſcher Demokratie zu ſchuͤtzen, ſo wie
es einſt die Alleinherrſchaft hier des Papſtes dort
der Puritaner abgewendet hat.

Deutſche Literatur. I. 11[242]

Dennoch wuͤrden wir uns ſehr taͤuſchen, wollten
wir in der gegenwaͤrtigen Geſtaltung des Repraͤſen¬
tativſyſtems ein Ideal erkennen. Man hat ſich an¬
fangs allzugroße Hoffnungen davon gemacht, und
ſieht jetzt ein, daß die eigentliche goldene Zeit wohl
noch ferne liegt. Doch hat der Unmuth auch das
Gute jenes Verfaſſungsſyſtems zu ſehr herabgewuͤr¬
digt und ein gewiſſer politiſcher Indifferentismus iſt
dem Gedeihen deſſelben beſonders in der Richtung,
die es von unten her unterſtuͤtzen ſoll, mannigfach
nachtheilig geweſen.


Eine Verfaſſung, auch die beſte, gilt ſo lange
nur als Figurant, bis ihr Adminiſtration und Rechts¬
pflege organiſch angepaßt ſind. Hier greift ſie ins
Leben, aber das Leben iſt nicht ſo geduldig als das
Papier. Mit Verfaſſungen iſt man geſchwind fertig,
aber man facht damit eher Streit an, als man ihn
verſoͤhnt. Im Sinn jeder neuen Repraͤſentativ-Ver¬
faſſung entſprechen ſich Parlament, Municipalitaͤt und
oͤffentliche Gerichtspflege als Organe der Volksgewalt
gegenuͤber dem Thron, der miniſteriellen Centralge¬
walt und der roͤmiſchen Gerichtspflege als Organe
der Regierung. Das Parlament iſt leicht berufen,
und in erſter Reihe das Syſtem eingefuͤhrt, in der
zweiten und dritten Reihe findet es aber unuͤberſteig¬
liche Hinderniſſe.


Jedes Volk, das nur einigermaßen aus dem rohe¬
ſten Zuſtande ſich herausgearbeitet, ſtrebt inſtinktartig
nach einer freien Municipalverfaſſung, und
[243] wenn es ſogar zu einer parlamentariſchen Thaͤtigkeit
berufen iſt, ſo kann es dieſelbe gar nicht entbehren,
denn ein Parlament iſt unmoͤglich ohne freie Wahlen,
und freie Wahlen ſind unmoͤglich ohne Municipali¬
taͤten. Auf der andern Seite ſtrebt aber jede Regie¬
rung nach allumfaſſender Centralgewalt, es iſt
ihre Natur ſich excentriſch auszubreiten, bis ſie eine
Graͤnze findet. Beide Beſtrebungen ſtehn alſo in
feindſeligem Gegenſatze, der, wie ſie ſelbſt, in der
Natur liegt, und zwar alle moͤgliche Verfaſſungen
erzeugen und wieder vertilgen, aber von keiner ein¬
zigen eben ſo wenig beſchwichtigt, als erzeugt wer¬
den kann.


Ein demokratiſches Syſtem von unten will freie
Municipalverwaltung. So weit als moͤglich will das
Volk das Seinige ſelbſt verwalten und ſich ſelbſt be¬
aufſichtigen, und ſieht ungern ſein Gemeingut und
ſeinen Markt unter der Aufſicht miniſterieller Soͤld¬
linge. Auf der andern Seite will die Miniſterial¬
verwaltung mit goͤttlicher Allgegenwart Keller und
Kuͤche auch des aͤrmſten Bauers controlliren. Selbſt
wieder von einem hoͤhern Centralkoͤrper, der Maje¬
ſtaͤt, angezogen, bilden die Miniſterien peripheriſche
Punkte an der Sphaͤre des Thrones, von denen ſich
faͤcherartig die Bureaukratie der Staatsdiener bis
zum Horizont des Volks ausbreitet, paternoſterfoͤr¬
mig gegliedert und durch Controllen und ſtrenge Sub¬
ordination in maſchinenmaͤßigem Gang gehalten. Al¬
les, Mann und Maus im Lande, wird einregiſtrirt,
11*[244] Hab und Gut von der Kammer, der Leib vom Kriegs¬
miniſterium, die Handlungen von der Juſtiz, die
Worte vom Miniſterium des Cultus und die Gedan¬
ken von der Polizei. So hat dieſer Staatshaushalt
ſein Netz uͤber alles gebreitet und keine arme Fliege
vermag unbemerkt durch die feingezogenen Faͤden zu
ſchluͤpfen. Aller Kampf in repraͤſentativen Staaten
beruht im Grunde nur auf dem wechſelſeitigen Be¬
ſtreben des Volks, eine Linie zu ziehn, wo Munici¬
palfreiheit und Miniſterialgewalt ſich abloͤſen, und
des Miniſteriums, dieſe Linie nicht ziehn zu laſſen.
Freie Municipalverwaltung iſt die einzige Garantie
fuͤr ein Repraͤſentativſyſtem, weil ein ſolches ohne
unabhaͤngige Buͤrger nicht exiſtiren kann, und die
Buͤrger nicht als Privatleute, ſondern nur als Glie¬
der einer freien Gemeinde unabhaͤngig ſeyn koͤnnen.
Darum ſtrebt das Volk nach Gemeindeweſen und
Buͤrgermeiſtern, den Delegirten ſeiner eignen Macht,
nicht nach Directionen, den Organen der Miniſterien.
Auf der andern Seite ſucht die Bureaukratie bis auf
den Thorſchreiber herab die Gemeindeverwaltung an
ſich zu bringen und den Buͤrgern nichts zu uͤberlaſſen,
als das Gehorchen und Zahlen.


Gehn wir der Sache mehr auf den Grund, ſo
wird ſich zeigen, daß ſelbſt in der vollkommenſten
Republik eine Centralverwaltung ſeyn muß, durch
welche mit Nothwendigkeit ein monarchiſches Ele¬
ment in den Staat gepflanzt wird. Es wird ſich
ferner zeigen, daß jede Centralverwaltung inſtinkt¬
[245] artig nach der groͤßten Ausdehnung ihrer Macht
ſtrebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden
werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬
tralverwaltung ſchwankt, und da, wo es keinen Ge¬
genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit deſpo¬
tiſcher Conſequenz alles beherrſcht. In der Mitte
wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬
nicipalitaͤt bis auf einen gewiſſen Grad, und von da
an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik
hat eine ſolche Centralgewalt, jede gute Monarchie
eine ſolche Municipalfreiheit geſchaffen. Weil jene
gemangelt, iſt das deutſche Reich untergegangen;
weil dieſe gefehlt, iſt in Frankreich die Revolution
ausgebrochen.


Zu dem natuͤrlichen Intereſſe der Centralgewal¬
ten iſt in der neuern Zeit noch ein wiſſenſchaftliches
gekommen. Das Regieren iſt eine Wiſſenſchaft ge¬
worden, und dieſe ſtellt gleichſam ihre phyſikaliſchen
oder paͤdagogiſchen Experimente mit den Voͤl¬
kern
an. Alle Zweige der Staatsverwaltung ſind
in Syſtem und Schule gebracht bis auf die Polizei
herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬
mus tritt eine todte Staatsmechanik. Daſſelbe Sy¬
ſtem, was nur fuͤr den groͤßten Staat gilt, wendet
man komiſch genug auch auf den kleinſten an; was
fuͤr ein phlegmatiſches Volk gilt, auf ein choleriſches;
was fuͤr ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬
gekehrt.

[246]

Die Hebel der Staatsgewalt ſind Gold und
Eiſen. Wie ſehr man geneigt iſt, im Reiche der
Geiſter ideale Principe geltend zu machen, im prak¬
tiſchen Leben herrſchen nur jene Metallkoͤnige. Dies
gibt dem Finanz- und Militaͤrſyſtem das große Über¬
gewicht im Staatshaushalt. Alle andere Zweige der
Verwaltung ſind davon abhaͤngig und dienen ihnen.
Die Helden der neuern Politik haben beſtaͤndig ge¬
wetteifert, welches jener Metalle die groͤßte Gewalt
gewaͤhre, und die geſchickteſten haben beide zu gebrau¬
chen verſtanden.


Das Centraliſationsſyſtem dient hauptſaͤchlich nur
der Aushebung der Steuern und Soldaten. Eine
vollkommen gegliederte Bureaukratie iſt noͤthig, um
eine beſtaͤndige tabellariſche Überſicht uͤber das Ver¬
moͤgen und alle phyſiſchen Kraͤfte der Staatsangehoͤ¬
rigen zu erhalten, die Baſis fuͤr die finanziellen Ope¬
rationen. Die Menſchen werden rein als Sache ge¬
nommen und nach dem Ertragwerth geſchaͤtzt, wie
das Vieh. Bei den Ruſſen ſteckt wenigſtens das
Vermoͤgen in den Seelen, bei uns die Seele im Ver¬
moͤgen. Der Staat iſt ein Bergwerk, und ſeine Stollen
laufen in den Beuteln des Volks aus. Die Finanz¬
ſchwindeleien ſind Experimente mit der Luftpumpe,
die dem kalten Froſch, Volk genannt, die Lebensluft
auspumpen, um zu erfahren, wie lange er wohl noch
zappeln und leben koͤnne, wenn er von nichts mehr
lebt. Die hochgeprieſene Rechenkunſt hat es noch
nirgends weiter gebracht, als in den Bruͤchen, und
[247] iſt raſtlos beſchaͤftigt mit den ſubtrahirten Zaͤhlern
die Nenner zu addiren, daß die Summe der Schul¬
den zuletzt uͤber den Äquator hinaus in die blaue
Unendlichkeit waͤchst, und wir ſie nicht mehr zaͤhlen
koͤnnen. Zwei Dinge ſcheinen unbegreifliche Wider¬
ſpruͤche, zuerſt, daß die Finanzkammern immer mehr
Schulden machen, je mehr ſie einnehmen, ſodann daß
Handel und Induſtrie immer mehr gehemmt werden,
je nothwendiger es waͤre, den Wohlſtand zu befoͤr¬
dern, damit er ſeine Procente an die Staaten lie¬
fern koͤnnte. Auf der einen Seite ſchuͤttet man das
Waſſer in den Sand und auf der andern verſtopft
man die Quellen. Die Urſache liegt in der Noth
oder in der Luſt des Augenblicks. Man ſchlachtet
die Kuh aus Hunger, oder um den fremden Gaſt
ſtattlich zu bewirthen, und denkt nicht, daß morgen
die Milch fehlen werde.


Davon abgeſehn, mag es Genuß gewaͤhren, die
Finanzſpeculationen von Seiten der darin brilliren¬
den Intelligenz als Kunſtwerke zu betrachten.
Ohne Zweifel iſt die Summe von Verſtand und Spe¬
culation, die in dieſem Fache niedergelegt iſt, das
ſchaͤtzbarſte Capital unter allen denen, die es auf¬
reibt, wenn auch dieſe ganze Rechenkunſt weſentlich
auf einen großen Rechnungsfehler hinauslaufen ſollte.
Dieſe Kunſt, den leichteſten Stuͤtzpunkt die ſchwerſte
Laſt tragen zu laſſen, hat ihren Werth, ſo gut wie
die Baukunſt, ſollte man auch praktiſch ihre Graͤnzen
uͤberſchreiten.

[248]

Etwas Ähnliches muß von der Rechtswiſſen¬
ſchaft
geruͤhmt werden, an welcher auf gleiche Weiſe
die Speculation und der eiſerne Fleiß ſich beinah
erſchoͤpft haben. Doch duͤrfte das Recht an ſich bei
den Rechtsſpeculationen nicht viel beſſer gefahren
ſeyn, als der Wohlſtand bei den Finanzſpeculationen.

Die Jurisprudenz hat ſehr viel mit der Theo¬
logie gemein, ihren philologiſch-hiſtoriſchen Apparat,
ihre Bibel und ſymboliſchen Buͤcher, ihre Dogmatik
und Exegeſe, ihre Schule und ihre Kaſte. Was am
roͤmiſchen Recht haͤngt, die Romaniſten ſind den Ka¬
tholiken zu vergleichen, Proteſtanten dagegen ſind die
Anhaͤnger des deutſchen Rechts, und zwar gleichen
die Freunde der oͤffentlichen Rechtspflege den Refor¬
mirten, die Anhaͤnger der verſchiednen Landrechte,
die noch vieles vom Roͤmiſchen beibehalten, den Lu¬
theranern.


Das Unterſcheidende der beiden Hauptparteien
iſt ſowohl in einer Rechtsform als in einem Rechts¬
princip zu ſuchen. Das Princip der Romaniſten iſt:
das Recht in der Logik zu begruͤnden. Sie behan¬
deln es mithin als Wiſſenſchaft, als Studium, und
bilden deßfalls eine gelehrte Kaſte, eine Art von
Prieſterſchaft des Rechts, woraus denn eine
beſondre Form der Rechtspflege entſpringt. Nicht
das gemeine Volk kann richten, nicht das Gewiſſen,
das in jedem inwohnt und dem ein wechſelſeitiges
Vertrauen der Gemeinde den Richterſpruch uͤberlaͤßt,
ſondern nur die Wiſſenden, die Gelehrten koͤnnen und
[249] duͤrfen urtheilen und entſcheiden. Demzufolge koͤnnen
dieſe Wiſſenden auch die Befugniß, zu richten, nicht
vom Volk entlehnen, ſondern lediglich von der Auto¬
ritaͤt der Wiſſenſchaft, die hinwiederum nur in
der vom Volk unabhaͤngigen Majeſtaͤt zugleich mit
jeder andern hoͤchſten Staatsautoritaͤt perſonificirt
iſt. Dieſe Partei bedarf alſo zunaͤchſt die sacra ma¬
jestas als Urquell des Rechts, die juridiſche Papſt¬
gewalt, den heiligen Richterſtuhl, ſodann den juridi¬
ſchen Prieſteradel, der das Recht dem Laienvolk ver¬
mittelt, und zwar theils Richter, entſprechend dem
Episcopalelerus, theils Advokaten, entſprechend den
Kloſtergeiſtlichen, vorzuͤglich im Sinn der Bettelor¬
den und Jeſuiten. Ferner bedarf dieſe Partei des
corpus juris, als des allgemeinen Canons, und der
hiſtoriſchen und logiſchen Kommentare, als der Kir¬
chenvaͤter und Scholaſtiker. Endlich wird ſie in ih¬
rem Themistempel ein abgeſondertes Chor, das Aller¬
heiligſte, anſprechen, da die Prieſter uͤber dem Volk
erhaben ſtehn, dem ſtummen Volk den Segen ſpenden
und die Opfer von ihm empfangen.


Wie die Reformation von den Moͤnchen ausge¬
gangen, ſo neigen ſich zum juridiſchen Proteſtantis¬
mus vorzuͤglich die Advokaten. Die neue Partei
macht im Gegenſatz gegen die Wiſſenſchaft das Ge¬
wiſſen
zum Princip, im Gegenſatz gegen die Ab¬
geſchloſſenheit der Kaſte die republikaniſche Öffent¬
lichkeit
zur Form des Rechts, ſo wie der Prote¬
ſtantismus uns vom Prieſter ans eigne Herz, und
[250] aus dem Atrium ins Chor ſelbſt, in die freie und
gleiche Chriſtengemeinde verweist. Wir duͤrfen dieſe
Partei im Gegenſatz gegen die Romaniſten die Ger¬
maniſten nennen.


Sofern die Germaniſten das Gewiſſen zum Rechts¬
princip erheben, und die Öffentlichkeit zur Rechts¬
form, neigen ſie ſich zur Demokratie. Sie betrach¬
ten die Beurtheilung eines Rechtsfalls als etwas
natuͤrliches und allen Menſchen gemeinſames. Nicht
eine Ariſtokratie von Gelehrten, ſondern das gemeine
Volk richtet. Mithin autoriſirt ſich das Volk auch
ſelbſt dazu und die Rechtsgewalt faͤllt mit der Sou¬
veraͤnitaͤt des Volkes zuſammen. Die Öffentlichkeit
der Gerichte iſt ſodann nur eine natuͤrliche Folge des
Princips.


Sofern die Romaniſten die abſolute Logik zum
Rechtsprincip erheben, und deßfalls ein Studium der
Rechtswiſſenſchaft begruͤnden, dem nur Geweihte ſich
widmen koͤnnen, neigen ſie ſich zur Ariſtokratie. So¬
fern ſie aber in ihrem Syſtem alles an einen abſo¬
luten Satz knuͤpfen muͤſſen, kann demſelben auch nur
eine abſolute Kraft, die ihn geltend macht, entſpre¬
chen, alſo die Autokratie. Die Demokratie kann ſich
nicht nach dem Ausſpruch eines Einzigen richten, und
jeder abſolute Satz gilt nur als eine Stimme. Die
Monarchie kann ſich nicht nach dem Ausſpruch vieler
richten, und jeder Ausſpruch des Gewiſſens kommt
allen Stimmen zu. Mithin mußte das roͤmiſche Recht
nothwendig zur Autokratie, das deutſche Recht noth¬
[251] wendig zur Republik fuͤhren, und ſofern es in neuerer
Zeit wiedergeboren worden, taugt es nur fuͤr Re¬
praͤſentativſtaaten. Die Rechtsfragen ſind alſo poli¬
tiſche. Der Streit uͤber Rechtsprincip und Rechts¬
form faͤllt genau mit dem uͤber Staatsprincip und
Staatsform zuſammen. Repraͤſentative Staaten ha¬
ben auch eine Literatur des oͤffentlichen Rechts, au¬
tokratiſche nur eine des geheimen Rechts. Die deut¬
ſche Literatur zeigt noch ein enormes Übergewicht
der letztern.


Nicht unwichtig iſt der Umſtand, daß die Ro¬
maniſten immer Cosmopoliten oder Glieder einer
allgemeinen Rechtskirche, die Germaniſten immer
Volksthuͤmler oder Glieder einer Nation ſind. Die
abſolute Rechtswiſſenſchaft hat ſich ſo wenig als die
abſolute Theologie um die Eigenthuͤmlichkeiten einer
und der andern Nation zu bekuͤmmern. Es gibt nur
einen Gott und nur ein Recht. Soll die Religion
die rechte ſeyn, ſo muß ſie allen Voͤlkern anpaſſen.
Soll es eine abſolute Rechtswiſſenſchaft geben, ſo
muß jedes Volk nach ihr gerichtet werden koͤnnen.
Dies Schema gilt auch fuͤr das roͤmiſche Recht, wie
fuͤr den Katholicismus, und von jeher ſind beide
den ſogenannten barbariſchen Voͤlkern mit Feuer und
Schwert oder mit ſanftem Bekehrungseifer gepredigt
worden, woraus denn unendlich viel Gutes entſprun¬
gen iſt, aber auch viel Boͤſes, denn das Herz der
Nationen hat ſich an der eiſernen Conſequenz der
univerſellen Dogmen verblutet, oder Conſequenz und
[252] Natur haben ſich ausgeglichen, jedes ein wenig nach
dem andern gemodelt, und an die Stelle der rohen
Barbarei iſt eine cultivirte Barbarei getreten.


Bei den oͤffentlichen Volksgerichten muß im Ge¬
gentheil die Volksnatur, die Landesſitte einen unge¬
kraͤnkten Antheil an der Beurtheilung der Rechts¬
faͤlle haben. Ich uͤberſehe alle die großen Nachtheile,
die dies mit ſich fuͤhrt. Bei einem ſolchen Verfahren
werden alle Vorurtheile, wird alle Barbarei der Na¬
tion genaͤhrt, wenn ſie anders nicht einen geiſtigen
Entwicklungstrieb in ſich hat, der ſie weiter bringt.
Dennoch aber iſt zwiſchen der Conſequenz der Wiſſen¬
ſchaft und zwiſchen der rohen Volksſitte eine ſehr
gangbare Mittelſtraße, wie zwiſchen der Tyrannei
der roͤmiſchen Weltherrſchaft und zwiſchen der Bar¬
barei der Chineſen. Wer ſagt, daß er das reine
Licht mit ſich fuͤhre? Sind es etwa jene Romani¬
ſten, die unſer gutes Recht verbannt, oder jene Je¬
ſuiten, die Paraquay mit ihrem Sonnenſymbol ver¬
goldet? Wir wollen nicht im Dunkel bleiben, aber
wie das Licht urſpruͤnglich in Farben ſich zerſetzt, ſo
werden wir das Licht des Rechts auch nur wieder
aus den nationellen Farben uns zu laͤutern vermoͤ¬
gen. Geſunde Entwicklung der Nation fuͤhrt allein
zur Cultur und Wiſſenſchaft. Wo Wiſſenſchaft und
Sitte in gehaͤſſiger Trennung ſich befinden, wird ſie
doppelte Zerſtoͤrung treffen.


Aus dem Princip der Romaniſten fließt auf dop¬
pelte Weiſe ein unermeßlicher Nachtheil fuͤr das Volk.
[253] Sofern ſie eine geheime Prieſterkaſte bilden, iſt das
Volk nicht befugt, ſich ſelbſt um das Recht zu be¬
kuͤmmern, denn dieſe Selbſtthaͤtigkeit wuͤrde jenes
Vorrecht aufheben, wie jede Demokratie die Ariſto¬
kratie. Sofern aber die Rechtswiſſenſchaft der Ro¬
maniſten ein lebenslaͤngliches Studium erfordert, iſt
es dem Volke nicht moͤglich, dieſes Recht in ſeinem
ganzem Umfange kennen zu lernen. Das Reſultat
nun, daß ein Volk, ich will nicht ſagen, ſein Recht,
ſondern nur das Recht, nach welchem es gerichtet
wird, gar nicht kennt, iſt offenbar ein Nachtheil, wohl
gar eine Schande. Die Alten, nicht nur Griechen,
auch Germanen, unterrichteten die maͤnnliche Jugend
fruͤhe im Recht, und was kann, außer der Kenntniß
des Goͤttlichen und der Natur, im Unterricht heilſa¬
mer ſeyn, auf das Leben wuͤrdiger vorbereiten, als
die Kunde des Staatsrechts? Wir duͤrfen es aber
unſern Schulen nicht vorwerfen, daß ſie die Juͤng¬
linge in gaͤnzlicher Unwiſſenheit des Rechts laſſen,
denn was ſollten ſie ihnen lehren? etwa jene Geſetze,
die der Staat oft ſelber vergißt, weil ihrer zu viele
ſind, die ſelbſt den Geſetzgebern ſo unter den Haͤnden
verſchwinden, daß man erſt auf dem dritten Landtage
ſich erinnert, man habe auf dem zweiten etwas ver¬
ordnet, ohne zu bemerken, daß man auf dem erſten
etwas widerſprechendes zum Geſetz gemacht, was
noch nicht annullirt worden, ſo daß nun Ja und
Nein im Geſetz ſteht? wozu ſollten aber ſelbſt die
klarſten Geſetze der Jugend bekannt gemacht werden,
[254] oder dem Volke ſelbſt, wenn im Leben doch jeder mit
dieſer Kenntniß ſich paſſiv verhalten und von der
Kaſte nehmen muß, was ſie will? Das hieße, die
Kinder zum Proteſtantismus erziehn und ſie doch die
katholiſchen Gebraͤuche machen laſſen.


Das roͤmiſche und die von ihm abgeleiteten Rechte
werden insbeſondre noch durch die lateiniſche
Sprache
unpopulaͤr. Es iſt bekannt, welchen leb¬
haften Widerſtand die roͤmiſchen Advokaten das er¬
ſtemal unter Varus an der Weſer, das zweitemal
anderthalbtauſend Jahr ſpaͤter im Mittelalter gefun¬
den, und noch jetzt iſt dem Volk der roͤmiſche Rechts¬
gang, deſſen Terminologien ihm voͤllig unverſtaͤndlich
ſind, durchaus zuwider. Die Sprache hat das Recht
aus dem Gewiſſen an dem Verſtand der Kaſte und
die Rechtspflege aus dem Leben ins Papier, in die
Bureaukratie verwieſen.


Der ganze unfoͤrmliche Bau des mittelalterlichen
Rechts, jene zahlloſen Kirchen-, Lehn-, Kaiſer-,
Land-, Stadt- und Bauernrechte und die Nebenge¬
baͤude der Standes- und Perſonalprivilegien, ſind
endlich zuſammengeſtuͤrzt, aber es ſind namhafte Rui¬
nen ſtehn geblieben, an welche man neue Wohnun¬
gen angeklebt hat, unfaͤhig oder zu bequem, einen
ganz neuen Grund zu legen. Ein ſeltſames Gemiſch
von Geſetzbuͤchern iſt entſtanden, das den Anblick
alter Staͤdte gewaͤhrt, wo ſchwarze gothiſche Truͤm¬
mer neben neugeweißten Luſthaͤuſern ſtehn. Fuͤrſten¬
tage haben die Kaiſermacht, Concordate die Papſt¬
[255] gewalt geſtuͤrzt. Durch Kabinetsordern ſind die Kloͤ¬
ſter, iſt die Leibeigenſchaft aufgehoben worden. Mit
der Fuͤrſtenmacht iſt das roͤmiſche Recht aufgekom¬
men, weil es ihrer Tendenz entſprochen. Was von
den Ruinen des Reichs ſich erhalten, traͤgt auch noch
die Spuren des alten Rechts. An beides hat ſich
Neues angeſchloſſen, wie es die Noth der Zeit den
Geſetzgebern abgedrungen, oder der humane Geiſt
eines Friedrich II. und Joſeph II. fuͤr billig erkannt.
So haben die neuen Landrechte ſich gebildet und bil¬
den ſich noch, wie die Zeit ſelbſt tauſend Ruͤck- und
Vorſichten und einer beſtaͤndigen Verwandlung unter¬
worfen.


Sie bilden die Bruͤcke vom roͤmiſchen Recht zum
oͤffentlichen, oder fuͤllen wenigſtens die Kluft zwiſchen
beiden. Das oͤffentliche Gerichtsweſen hat die oͤffent¬
liche Meinung fuͤr ſich, wenn es auch nur in einem
kleinen Theil Deutſchlands praktiſch ausgeuͤbt wird.
Leider haben wir nur als ein Geſchenk von den Frem¬
den erhalten, was unſer urſpruͤngliches Erzeugniß
und Eigenthum geweſen. Der Code Napoléon und die
damit zuſammenhaͤngenden Gerichtsformen ſind eini¬
gen deutſchen Staͤmmen als gutes Andenken an eine
boͤſe Zeit geblieben. Die franzoͤſiſche Republik griff
zu der oͤffentlichen Rechtsform, weil ſie der Freiheit
und einem tuͤchtigen Gemeindeweſen von jeher als
die angemeſſenſte, die ſchlechthin natuͤrliche ſich er¬
wieſen. Laͤngſt lebt der Englaͤnder im Genuß dieſer
unſchaͤtzbaren Form, und er hat ſie von den angel¬
[256] ſaͤchſiſchen Vorfahren geerbt, bei denen ſie, wie bei
allen deutſchen Staͤmmen, urſpruͤnglich heimiſch ge¬
weſen. Die Form iſt hier, wie uͤberall, ſo ſehr Traͤ¬
gerin des Geiſtes, daß die Erſcheinung der Geſchwo¬
rengerichte das ganze roͤmiſche Rechtsſyſtem zu er¬
ſchuͤttern ſcheint. Die Aufmerkſamkeit iſt auf dieſen
Gegenſtand haͤufig gelenkt worden und die Gemuͤther
ſind nicht kalt geblieben. Die unter Citaten und Acten
ergrauten Romaniſten und Bereaukraten ſind hoch¬
muͤthig ausgefahren gegen den uͤberrheiniſchen Natu¬
ralismus, und die Advokaten der Rheinlande haben
mit einem Mutterwitz zu antworten gewußt, der ih¬
nen alle Ehre macht.


Mittelbar iſt die Partei, die an der oͤffentlichen
Rechtspflege haͤngt, durch die Bemuͤhungen der hiſto¬
riſchen Juriſten Savigny, Mittermaier, Eichhorn
und andrer unterſtuͤtzt worden, da dieſelben die alten
deutſchen Rechte immer vollſtaͤndiger ans Licht gezo¬
gen und commentirt haben, jene Rechte, welche den
Urſprung, die lange Dauer und die Vortheile der
oͤffentlichen Formen ausweiſen, und uns klar ma¬
chen, daß die offenen Volksgerichte in Deutſchland
aͤlter ſind, als die heimlichen Papiergerichte, das
Leben aͤlter, als die Buͤcher, das Recht aͤlter, als
die Juriſten. —


Die aͤußern Verhaͤltniſſe der Staaten gegenein¬
ander beſchaͤftigen jetzt jede Spinnſtube ſo lebhaft
als ehemals den roͤmiſchen Senat. Ihrer Eroͤrterung
[257] dient daher die unermeßliche Literatur der Publiciſten
und Zeitungen, die aber weſentlich eine ephemere
bleibt, weil ihr Gegenſtand ſelbſt immer nur die
Tagespolitik iſt. Mit den politiſchen Verhaͤltniſ¬
ſen ſelbſt wechſelt ihr Schatten in der periodiſchen
Literatur. Alles wird fuͤr den Augenblick gethan,
alles fuͤr den Augenblick genommen.


Haben die Deutſchen noch kein durchgreifendes
Intereſſe fuͤr die innern Angelegenheiten der Staaten,
ſo iſt doch ihre Neugier ſehr erpicht auf die aͤußern
Verhaͤltniſſe und Begebenheiten. Kaum war jenes
hoͤhere Intereſſe vor zehn Jahren einmal aufs leb¬
hafteſte rege geworden, ſo ward es auch alsbald auf
dieſe niedrige Neugier beſchraͤnkt. Die Literatur der
Tagespolitik machte nach den letzten deutſchen Krie¬
gen ſo heftige Freudenſpruͤnge, daß ſie jetzt etwas
lahm darniederliegt. Wie ſehr das muthwillige Maͤd¬
chen zu bedauern iſt, daß ſie jetzt unter der Zucht¬
ruthe der gnaͤdigen Tante Cenſur ſeufzen muß, ſo
ſchienen doch allerdings ihre Sitten weder der Zeit,
noch die Zeit ihr angemeſſen. Sie ſchien wirklich ein
wenig uͤbergeſchnappt, als ſie das erſtemal in der
europaͤiſchen Geſellſchaft glaͤnzte, ſie kokettirte gar
zu romanhaft mit ihrem auserleſenen Chapeau, dem
Volke, aber dieſer ehrbare Juͤngling ſetzte ihren aus¬
gelaſſenen Attaken nur eine ſuͤße Schamroͤthe entge¬
gen, bedeckte ſich das Geſicht mit beiden Haͤnden und
rettete ſich unter den Faͤcher der Tante.

[258]

Wir ſchreiben unſre politiſchen Broſchuͤren groͤ߬
tentheils den Englaͤndern und Franzoſen ab. Nur
wenige ſehr tiefe, ſehr ehrliche und ſehr langweilige
Buͤcher verlaͤugnen ihr deutſches Gepraͤge nicht. Es
iſt Schade, daß wir die politiſchen Thaten und Er¬
fahrungen, und die theils dadurch erworbenen, theils
angebornen, politiſchen Inſtitutionen, den Charakter
und die Conſequenz der Englaͤnder nicht auch mit
uͤberſetzen koͤnnen. Wir haben keine eigne politiſche
Literatur, weil die Leſer, das Volk, nicht zum poli¬
tiſchen Handeln berufen ſind, und aus demſelben
Grunde findet auch die fremde Literatur bei uns nur
einen unfruchtbaren Boden. Wir leſen Zeitungen und
Journale, um uns die Zeit zu vertreiben, der Ame¬
rikaner, der Englaͤnder, der Franzoſe liest ſie, um
ſich die Zeit zu machen. Wir bekommen dadurch nur
Traͤume, ſie Affecte; wir ſchlafen, ſie handeln.


Wer uͤber Politik ſchreibt, muß die Stiefel aus¬
ziehn und auf Socken gehn, wie in einem Kranken¬
zimmer. Solche Sockentraͤger, altkluge vermittelnde
Schwaͤtzer gibt es den freilich genug. Sie benutzen
die Zeit der Windſtille wie die gallertartigen Mol¬
lusken, um auf der Oberflaͤche des politiſchen Meers
ihr fahles Licht ſchimmern zu laſſen.


Man rechnet es mit Recht unter die groͤßten Ge¬
brechen der Zeit, daß nicht nur die Mittheilung der
Meinungen, ſondern auch die der Thatſachen
[259] beſchraͤnkt oder gar verboten wird. Darin beſteht
auch eigentlich die Hauptſchwaͤche unſrer Zeitungen.
Moͤchten ſie Meinungen ausſprechen, welche ſie woll¬
ten, wenn ſie nur alle Thatſachen unverfaͤlſcht nam¬
haft machen duͤrften, aber von vielen Dingen duͤrfen
ſie nur etwas im Sinn der Cenſur, von vielen an¬
dern, und nicht den unwichtigſten, duͤrfen ſie gar
nichts ſchreiben. Die Diplomatik, vor alten Zeiten eine
Thurmuhr fuͤr Jedermann, hat jetzt ihr Zifferblatt
voͤllig verhuͤllt und man hoͤrt ſie nur noch ſchlagen.


[260]

Erziehung.

Die Erziehung iſt von jeher eine der wichtigſten
Angelegenheiten aller gebildeten Voͤlker geweſen. Auf
ihr beruht die Erhaltung und der Fortſchritt der ein¬
mal gewonnenen Bildung. Der Umfang dieſer Bil¬
dung aber macht eine Disciplin nothwendig, waͤh¬
rend bei rohen Voͤlkern die Natur ſelbſt das Geſchaͤft
der Erziehung uͤbernimmt. Die Disciplin iſt der herr¬
ſchenden religioͤſen und politiſchen Anſicht unterwor¬
fen, Kirche und Staat beaufſichtigen und leiten den
Unterricht. Bei den Deutſchen behauptet aber auch
vorzugsweiſe die Familie ein herkoͤmmliches und hei¬
liges Anſehn in der Erziehung und verhindert, daß
die politiſch-religioͤſe Disciplin nicht in ſtarre Ein¬
foͤrmigkeit entarte, und zugleich hat die Trennung
der Staaten und Confeſſionen es moͤglich gemacht,
daß mitten unter ihnen eine freie philoſophiſche Paͤ¬
dagogik Raum gewonnen hat. Indem die Erziehung
weder vom Familienleben, noch von der allgemeinen
deutſchen Bildung ſich hat losreißen koͤnnen, iſt es
[261] weder einer Kirche noch einem Staate moͤglich ge¬
worden, eine jeſuitiſche oder ſpartaniſche Disciplin
durchzuſetzen. Dies iſt ein Palladium deutſcher Frei¬
heit und die Buͤrgſchaft fuͤr den unaufhaltſamen Fort¬
ſchritt der echten Bildung.


In der neueſten Geſchichte und Literatur hat die
Erziehung eine groͤßre Rolle, als jemals geſpielt.
Bis in die letzte Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts
gieng ſie einen ziemlich ſchlaͤfrigen Gang, und die
Orbile wurden zum Sprichwort. Sie war nicht viel
mehr, als ein nothwendiges Übel. Die Lethargie
ſprang aber bald in einen wahren St. Veitstanz um.
Die revolutionaͤren Ideen des Jahrhunderts wirkten
auch auf die Erziehung ein und bald bemuͤhte man
ſich, wirkliche Übelſtaͤnde abzuſchaffen, bald hoffte
man die Jugend fuͤr die Ideale bilden zu koͤnnen,
fuͤr welche die aͤltere Generation zu verderbt ſchien.


Nirgends iſt ſo viel geſchwaͤrmt worden, als in
der Paͤdagogik, weil man der Jugend und der Zu¬
kunft alles zutrauen durfte. Der begeiſterte Men¬
ſchenfreund, der die Welt von Grund aus verbeſſern
moͤchte, ſieht ſich an die Jugend gewieſen, die fuͤr
ſeine Ideale bildſam iſt, aber auch der bloße Char¬
latan ſucht ſich das weiche Wachs der Jugend, um
ihr ſeinen Stempel aufzudruͤcken. Jeder meint leich¬
tere Arbeit mit der Jugend zu haben, und ſeine Ab¬
ſichten in dieſem empfaͤnglichen Boden am beſten ge¬
deihen zu ſehn. Alles wandte ſich an die Jugend,
wie an eine neuerſtandne Macht und ſchmeichelte der¬
[262] ſelben und brachte ihr den hoͤchſten Begriff von ſich
ſelbſt bei. Dadurch wurde ſie haͤufig aus ihrer na¬
tuͤrlichen Stellung verruͤckt und die Unnatur hat ſich
eben ſo haͤufig geraͤcht.


Es muß auffallen, daß in der neuern Zeit die
Kinder eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Einerſeits
ſehn wir ſie den Alten uͤber die Koͤpfe wachſen, and¬
rerſeits ſetzt man alles Heil, alle Hoffnung nur in
ſie, und ſchreibt ihnen wohl gar eine heilige Kraft
zu, wie unſre Vorfahren ehemals den Weibern.


Was das Erſte betrifft, ſo haben die Kinder
wohl nie ſo viel Laͤrmen gemacht, als bei uns. Man
ſieht ſie auf dem Katheder dociren, bei eignen Kin¬
derbaͤllen und Taͤnzen trotz den Alten kokettiren, in
einer Unzahl von Familien das große Wort und die
Zuͤgel der Herrſchaft fuͤhren, in den Schulen die Leh¬
rer Hofmeiſtern, wohl gar in eine Raͤuberbande con¬
ſtituirt und endlich als Hochverraͤther und Demagogen
arretirt.


Auf der andern Seite erwartet man von eben
dieſen Kindern ein goldnes Zeitalter, und predigt
ihnen unaufhoͤrlich vor, was man alles von ihnen
hoffe, was moͤglicherweiſe in ihnen ſtecke, wie ſie ſo
viel mehr ſeyn ſollen und werden, als wir Alten,
und viele Paͤdagogen bekennen oͤffentlich, daß wir
Alten eigentlich bei den Kindern in die Schule gehn
ſollen.


Dieſe neue Wichtigkeit, welche man der Jugend
beigelegt hat, und die widerſprechenden Meinungen
[263] uͤber Erziehung, welche den philoſophiſchen und poli¬
tiſchen Anſichten nothwendig folgen mußten, haben
der paͤdagogiſchen Literatur einen Umfang gegeben,
wie ſie ihn noch nie gehabt hat. Jaͤhrlich erſcheinen
viele hundert Werke fuͤr die Erzieher oder fuͤr die
Jugend.


Abgeſehn von allen einzelnen Nuancen paͤdagogi¬
ſcher Anſichten gibt es weſentlich nur zwei verſchiedne
Hauptprincipe der Erziehung, das eine, wonach die
Kinder fuͤr die gegenwaͤrtig beſtehenden Verhaͤltniſſe,
das andre, wonach ſie zu hoͤhern Idealen der Menſch¬
heit herangebildet werden ſollen. Das erſte Princip
herrſcht allgemein in den oͤffentlichen Schulen, dem
Gange der alten Gewohnheit gemaͤß; es iſt aber auch
philoſophiſch als das einzig heilſame und natuͤrliche
angeprieſen worden von Goͤthe, Steffens und vielen
andern, und das beruͤhmte Fellenbergiſche Inſtitut in
der Schweiz iſt ganz nach dieſem Syſtem organiſirt
und ſucht noch ſtrenger, als irgend eine oͤffentliche
Schule, jedes Kind nur zu dem Beruf zu bilden,
der ſeinem angebornen Stand und Rang, ſeinem
Reichthum oder ſeiner Armuth angemeſſen iſt. Das
entgegengeſetzte Princip iſt vorzuͤglich von Fichte ver¬
theidigt worden und ſpaͤter hat Jahn verſucht, es
einigermaßen zu realiſiren. Nach dieſem Princip ſoll
fuͤr die Jugend Stand und Rang verſchwinden, und
jedes Kind eine gleiche Erziehung genießen, der Un¬
terſchied ihres Berufs aber allein auf dem ihres Ta¬
lents begruͤndet werden. Die Jugend ſoll ferner nicht
[264] fuͤr das gemeine Leben, ſondern fuͤr den Zweck der
Weltverbeſſerung erzogen werden. Sie ſoll zu etwas
Beſſerem heranreifen, als die fruͤhere Generation.
Man ſoll ihre zarten Keime nicht unter der Laſt be¬
ſtehender druͤckender Verhaͤltniſſe erſticken, ſondern
ihnen jede moͤgliche Freiheit der Entwicklung goͤnnen.

Die erſte Anſicht haͤngt mit dem Katholicismus
und dem politiſchen Stabilitaͤtsprincip zuſammen, die
letztere mit dem Proteſtantismus und dem republika¬
niſchen Princip. Indeß bleibt die letztere immer nur
im Reich der Traͤume. Die Jugend iſt immer nur
nach dem Muſter der Alten erzogen worden, in Rom
und Sparta nicht minder als in China. Die neuern
deutſchen Philoſophen und Paͤdagogen, welche durch
die Jugendbildung eine Regeneration der Menſchheit
haben bewerkſtelligen wollen, ſind nicht gluͤcklicher ge¬
weſen, als Plato und Rouſſeau. Ihre Partei iſt nur
in der Literatur von Bedeutung, im Leben ſo gut
als nicht vorhanden.


Wichtiger iſt der Streit uͤber die einzelnen Ge¬
genſtaͤnde und Methoden des Unterrichts. Hier herr¬
ſchen eine unſaͤgliche Menge veralteter Mißbraͤuche.
Der religioͤſe und philologiſche Unterricht hatte ge¬
raume Zeit die Alleinherrſchaft, und die gelehrte und
adelige Erziehung war beinah allein cultivirt, waͤh¬
rend der eigentliche Volksunterricht voͤllig vernach¬
laͤſſigt wurde. Beiden Übelſtaͤnden ſuchte man all¬
maͤhlig durch Erweiterung des realiſtiſchen Unterrichts
und durch Verbeſſerung der Dorfſchulen zu begegnen.
[265] Dem Realismus dienten zahlreiche Privatinſtitute,
bis er durch das Faͤcherweſen auch groͤßern Eingang
in den gelehrten Schulen fand. Den Volksunterricht
befoͤrderten die Staaten und wohlthaͤtige Vereine.


Es iſt einer der groͤßten Fortſchritte des Jahr¬
hunderts, daß man die Gegenſtaͤnde des Unterrichts
erweitert und gelaͤutert hat. Die Erweiterung war
nothwendig, da die Jugend ehedem bei Religion und
Philologie verkuͤmmerte, und die Laͤuterung iſt wie¬
der noͤthig geworden, weil man nachher lieber alles
und noch etwas in die Jugend hineingeſtopft haͤtte.
Daß zu dem aufgetrockneten Chriſtenthum und Latein
der alten Schulen die neuern Sprachen, Geſchichte,
Geographie, Naturlehre, Mathematik hinzugekommen
und mit Fleiß getrieben worden ſind, iſt gewiß ein
großer Fortſchritt. Dadurch iſt die Jugend dem Le¬
ben wiedergegeben worden, dadurch iſt jenes zahl¬
reiche Geſchlecht ſchwarzgalliger Magiſter, die Nach¬
geburt der Moͤnche, immer mehr ausgerottet worden.
Indeß iſt man auch wieder zu weit gegangen und die
Jugend iſt abermals unter der Laſt neuer Unterrichts¬
gegenſtaͤnde erdruͤckt und durch ein falſches Betreiben
der ſogenannten Aufklaͤrung verbildet worden.


Nirgends herrſcht ſo guter Wille, alles wiſſen zu
wollen, als in Deutſchland, und nirgends herrſcht
wirklich eine ſo univerſelle Bildung. Die Überladung
des jugendlichen Geiſtes mit Kenntniſſen iſt gewiſſer¬
maßen nothwendig geworden, wenn man die kuͤnftige
Generation auf der Hoͤhe der einmal errungenen Bil¬
Deutſche Literatur. I. 12[266] bung feſthalten will. Dennoch iſt dieſer Zuſtand ge¬
waltſam und muß in einer Erſchlaffung endigen. Man
ſtopft allzuviel in die Jugend hinein und darf ſich
nicht wundern, wenn es nicht verdaut wird, wenn
endlich das Übermaaß zur Maͤßigkeit zuruͤckfuͤhren muß.
Die Erfahrung hat uns bereits gelehrt, daß eine
Durchdringung ſo unermeßlicher Welten des Wiſſens
die Kraft des zarten Alters uͤberſteigt, leider aber
haͤlt die Eitelkeit den Univerſalismus noch feſt, in¬
dem ſie zufrieden iſt, die Jugend wenigſtens alles
moͤgliche von der Oberflaͤche weg ſchoͤpfen und damit
in der Converſation glaͤnzen zu laſſen.


Mit der Vielwiſſerei iſt aber ein noch weit aͤr¬
geres Übel gepaart, die zu fruͤhe und falſche Aufklaͤ¬
rung, die Altklugheit der Jugend. Man hat ſich
beeilt, ſo fruͤh als moͤglich den ſogenannten Aber¬
glauben in den Gemuͤthern der Kinder auszurotten
und die ſogenannte geſunde Vernunft an deſſen Stelle
zu ſetzen; dies an ſich loͤbliche Beſtreben hat aber zu
unſinnigen Übertreibungen gefuͤhrt. Um den Verſtand
zu retten, laͤßt man das Herz untergehn.


Man truͤbt den Kindern ihren unſchuldigen Glau¬
ben und entreißt ihnen die goldnen Spiele der Phan¬
taſie, um ſie vor der Zeit klug zu machen. Man
moraliſirt, katechiſirt und ſokratiſirt mit ihnen von
ſittlichen, religioͤſen und Denk-Begriffen, die den
Zauberkreis ihrer Unſchuld zerſtoͤren, ohne ihnen da¬
fuͤr ein hoͤheres Gut zu gewaͤhren. Die Liebe, die
ſie von Natur haben, wird durch Kritik uͤber Ältern
[267] und Lehrer verdraͤngt. Der kindliche Glaube und Aber¬
glaube wird durch eine kindiſche Altklugheit erſetzt,
und die reichen phantaſtiſchen Spiele machen einer
reflectirenden Wohlanſtaͤndigkeit und Ziererei Platz.
Wie kann dies anders ſeyn, wenn in tauſend und
aber tauſend Kinderbuͤchern die Schwaͤchen der Alten
ſo gut als die der Kinder Preis gegeben werden,
und der natuͤrliche Witz der Kinder nothwendig auf¬
gefordert wird, gegen die Pedanterei der Docenten
ſich geltend zu machen, wenn den Kindern immer
und immer von der Thorheit des Aberglaubens vor¬
gepredigt und Herz und Phantaſie derſelben abge¬
ſtumpft wird, und wenn ſie als das hoͤchſte Gut je¬
nen Anſtand preiſen hoͤren, der ihre natuͤrliche, aber
unſchuldige Eitelkeit in eine Bahn weist, wo ſie zur
Unnatur werden muß. Überall ſind es Begriffe, er¬
lernte und mechaniſch aufgefaßte Begriffe, die dem
Kinde eingezwaͤngt werden, die ein unreifes Denken
in ihm thaͤtig machen, das alle Bluͤthen des Gemuͤths
und der Einbildungskraft fruͤh verdorren macht.


Wie mannigfaltig auch die Gegenſtaͤnde des Ju¬
gendunterrichts ſeyn moͤgen, ſo vermiſſen wir doch
darunter zwei der wichtigſten, Muſik und Gymnaſtik.
Die erſtere iſt noch weit entfernt, zu dem ihr ge¬
buͤhrenden Rang unter den Mitteln der Erziehung
erhoben zu werden, und die letztere iſt ſogar verbo¬
ten. Die Alten erkannten ſehr richtig Muſik und Gym¬
naſtik als die weſentlichen Grundpfeiler der Erzie¬
hung, weil ſie in Leib und Seele den Rhythmus
12 *[268] bringen, in welcher ſie allein geſund gedeihen und
ihre Harmonie entfalten koͤnnen. Bei uns iſt dieſe
einfache Wahrheit vergeſſen, und als Erſatzmittel fuͤr
die unmittelbarſten Hebel einer geſunden Erziehung
dienen nur Worte und nichts als Worte. Unſer gan¬
zer Unterricht beſchraͤnkt ſich auf den intellectuellen.
Wenn dem Gedaͤchtniß nur Worte und dem Verſtand
einige Gelaͤufigkeit in Begriffen eingepraͤgt werden,
ſo iſt die Sache gethan, der Koͤrper und das Ge¬
muͤth moͤgen dabei verſauern. Die Wirkung, welche
die Gymnaſtik auf den Koͤrper, die Muſik auf das
Gemuͤth uͤbt, und die Wirkung, welche beide dadurch
auf die Geſundheit des Geiſtes uͤben, kommen uns
gar nicht in Anſchlag. Man will keine harmoniſche
Bildung des ganzen Menſchen, ſondern nur Viel¬
wiſſerei.


An die Muſik ſcheint man neuerdings mehr zu
denken, die Gymnaſtik wird aber geflohn und das
Geſundeſte gleich einer Peſt verabſcheut. Ein unge¬
woͤhnliches Auffallen erregte vor einigen Jahren die
Turnkunſt, und daß jetzt kein Wort mehr davon ge¬
hoͤrt wird, iſt wohl noch auffallender. Man darf
hoffen, daß es zum Theil die Scham iſt, welche die
Paͤdagogen lieber uͤber einen Gegenſtand ſchweigen
laͤßt, der ihre Bloͤßen ſo ſehr aufgedeckt hat. Kann
es wohl etwas wahnſinnigeres geben, als was man
von dieſer guten Turnkunſt gehofft hat? vielleicht das,
was man von ihr gefuͤrchtet hat, wenn beides nicht
einerlei iſt. Man glaubte damals, die liebe Jugend
[269] werde Deutſchland befreien, weil ſie Spruͤnge machte.
Jetzt darf ſie nicht ſpringen, weil ſie Deutſchland
befreien koͤnnte. Es iſt aber doch in der That zu
verwundern, daß man die Karrikatur von der Sache
nicht getrennt, jene vernichtet und dieſe gerettet hat.
Ohne Gymnaſtik wird die Erziehung ewig unvollkom¬
men bleiben.


Hat man genug uͤber die Gegenſtaͤnde des Un¬
terrichts geſtritten, ſo iſt es zugleich noͤthig gewor¬
den, die Mittel und Methoden deſſelben naͤher ins
Auge zu faſſen. Je mehr die Gegenſtaͤnde verviel¬
faͤltigt wurden, deſto mehr mußten die Mittel ver¬
einfacht werden. Man ſah endlich ein, daß der intel¬
lectuelle Unterricht durch eine umfaſſende Zucht der
Jugend unterſtuͤtzt werden muͤſſe, und dies fuͤhrte ſo¬
gar zu der Frage: ob die Erziehung ein Mittel fuͤr
den Unterricht, oder nicht vielmehr der Unterricht
bloßes Mittel fuͤr die Erziehung des ganzen Men
ſchen ſeyn ſolle? Das alte Herkommen in den Schu¬
len widerſetzte ſich den neuen Anſichten, dagegen ent¬
ſtunden zahlreiche Privatinſtitute, die Schauplaͤtze fuͤr
alle moͤglichen paͤdagogiſchen Experimente. Man wollte
Menſchen bilden und der Naturſtand der Kinder
ſchien dieſem Beſtreben kein Hinderniß in den Weg
legen zu koͤnnen. Ihrem weichen Wachs glaubte man
alles einpraͤgen zu koͤnnen, und man hoffte bereits
auf die Ideale, die aus den Philanthropien hervor¬
gehn ſollten. Aber man vergaß, daß die Erziehung
in Harmonie mit dem geſammten Zuſtand des Volks
[270] ſtehn muͤſſe, wenn ſie die Jugend ſich nicht bald ent¬
zogen ſehn will. Jene Anſtalten verfehlten den Zweck
der Erziehung, indem ſie, gleich als ob die Philan¬
thropien gluͤckliche Inſeln im Suͤdmeer waͤren, auf
die ſie umgebende Welt keine Ruͤckſicht nahmen, oder
ſie vergriffen ſich in den Mitteln, indem ſie die Ju¬
gend auf die unnatuͤrlichſte Weiſe anſtrengten, ihre
Knoſpen mit Gewalt aufblaͤtterten, um die kuͤnftige
Bluͤthe zu ſehn, und ſie nicht viel beſſer als Hunde
dreſſirten. Es iſt indeß bereits ſo viel gerechter Ta¬
del uͤber jene Anſtalten ausgeſchuͤttet worden, daß
es billig ſcheint, daruͤber das Gute nicht zu vergeſſen,
was durch ſie geleiſtet worden.


Namentlich iſt die Methode des Unterrichts durch
die Privatanſtalten verbeſſert worden. Ausgezeich¬
nete Paͤdagogen, die etwas beſſeres Neues begruͤnden
wollten, ſahen ſich meiſtentheils gezwungen, ihre Ver¬
ſuche im Kleinen und in unabhaͤngigen Kindergeſell¬
ſchaften anzuſtellen, da ihnen das alte Herkommen
der oͤffentlichen Schulen große Hinderniſſe in den
Weg legte. Hier wurden eigne Ideen, und die der
Fremden, z.B. von Lancaſter, gepruͤft, und beſonders
fuͤr Vereinfachung aller Unterrichtsmittel thaͤtig ge¬
ſorgt, und viel Gutes ward aus den Privatanſtal¬
ten in die Schulen des Staates ſelbſt aufgenommen,
wie von Peſtalozzi und Lancaſter.


Die vorzuͤglichſte Thaͤtigkeit der Paͤdagogen hat
ſich, wie billig, auf die Unterrichtsliteratur, auf die
Schulbuͤcher gerichtet. Die geſammte Jugendlitera¬
[271] tur zerfaͤllt in Buͤcher der Belehrung und der Unter¬
haltung. Urſpruͤnglich war dieſe ganze Literatur im
Katechismus concentrirt, dieſem folgte der orbis pictus;
allmaͤhlig entſtanden auch weltliche Lehrbuͤcher und
endlich die ergoͤtzlichen Kinderſchriften. Jetzt iſt Deutſch¬
land mit einer unermeßlichen Kinderliteratur uͤber¬
ſchwemmt‚ und Wien und Nuͤrnberg ſind die großen
Fabrikſtaͤtten derſelben. Im Augenblick der erſten paͤ¬
dagogiſchen Wuth ſuchte man den Kindern alles Wiſ¬
ſenswuͤrdige einzupfropfen, und man ſchrieb aus Liebe
fuͤr dieſelben, was das Zeug halten wollte. In der
neuern Zeit ſucht man wieder, wenigſtens die Schul¬
buͤcher zu vereinfachen und aus der Maſſe das Beſte
zu ſondern. Leider aber iſt der literariſche Unter¬
richt den Paͤdagogen von den Buchhaͤndlern aus den
Haͤnden gewunden, und die letztern uͤberſchwemmen
Deutſchland mit ihren luͤderlichen, von außen glei¬
ßenden, von innen hohlen Fabrikaten. Sie koͤnnen
dies, weil unter den Paͤdagogen keine Einigkeit iſt,
und weil die Modeſucht ſo weit geht, daß man ſo¬
gar den Kindern nur neue Sachen geben will. Um
die Weihnachtszeit wimmelt es in den Laͤden der
Buchhaͤndler von Eltern und Kinderfreunden, die alle
die brillanten Saͤchelchen aufkaufen, welche die neue
Meſſe geliefert. Die Alten greifen, wie die Kinder
ſelbſt‚ am liebſten nach den neuen Flittern. Aber
die Paͤdagogen ſelbſt wirken mit den Buchhaͤndlern
zuſammen, und ſchreiben immer neue Sachen, nicht
um das Alte zu verbeſſern, ſonderm um Geld und
[272] einen Namen davon zu tragen. Gegen dieſe Suͤnd¬
fluth von Kinderſchriften kaͤmpft dann der echte Kin¬
derfreund vergeblich an.


Es iſt merkwuͤrdig, daß dieſe Schriften mehr
auf die Alten, als auf die Kinder ſelbſt berechnet
werden, weil die Alten ſie eben auswaͤhlen und be¬
zahlen, und nur wenige Takt genug beſitzen, um zu
wiſſen, was dem kindlichen Gemuͤthe zuſagt. Damit
iſt die Philiſterei und die altkluge Moral in die Buͤ¬
cher, ſelbſt des zarteſten Jugendalters gekommen. Die
Alten wollen etwas Solides, Vernuͤnftiges, und dar¬
um muͤſſen es die armen Kinder auch wollen, genug,
wenn ſie nur bunte,Bildchen dabei ſehn. Die Maͤhr¬
chen, dieſe echte Kinderpoeſie, ſind lange verachtet
und verdammt geweſen. Was ſollen dieſe Kindereien?
hieß es, und man hatte doch Kinder vor ſich. Man
fuͤrchtete, die Maͤhrchen pflanzten der kindlichen Seele
Aberglauben ein, oder wenigſtens, ſie beſchaͤftigten
die Phantaſie zu ſtark und zoͤgen vom Lernen ab.
Man erfand daher die lehrreichen Erzaͤhlungen und
Beiſpiele aus der wirklichen Kinderwelt, vom from¬
men Gottlieb, vom neugierigen Fraͤnzchen und naſch¬
haften Lottchen, und erſtickte mit dieſer Alltagsproſa
alle natuͤrliche Poeſie in den Kindern. Waͤhrend man
ihnen aber alles Schoͤne nahm, wofuͤr ihre jungen
Herzen ſo empfaͤnglich ſind, und woran ſie ſich wahr¬
haft menſchlich bilden, mißbrauchte man ihr Herz,
wie ihre Phantaſie, um damit ihren noch unentwickel¬
ten Verſtand zu bearbeiten. Alle in der Jugend auf¬
[273] quellenden Kraͤfte leitete man in den intellectuellen
Unterricht ab. Aus der Froͤmmigkeit und kindlichen
Liebe leitete man die Pflicht her, huͤbſch brav und
geduldig zu lernen, und die reiche Bilderwelt der
Phantaſie pluͤnderte man, um durch ſie den Kindern
in Bilderfibeln das ABC und in hundert andern
Buͤchern moraliſche Lehren angenehm zu machen und
wie Pillen in einer Überzuckerung einzugeben.


In den Unterhaltungs- und Schulbuͤchern fuͤr
das mittlere Jugendalter bemerken wir hauptſaͤchlich
vier große Fehler, die ſokratiſche Methode, eine fal¬
ſche Vielwiſſerei, eine falſche Aufklaͤrung und eine
falſche Moral. Mag immerhin der Lehrer muͤndlich
ſokratiſiren, was ſollen aber dieſe Dialoge in den ge¬
druckten Buͤchern? Keines dieſer Buͤcher kann auf
alle moͤglichen Querfragen der Jugend Ruͤckſicht neh¬
men, und der einfache Gegenſtand wird immer da¬
durch verhuͤllt. Überhaupt aber finden wir uͤberall
dieſe Methode zu fruͤh angewandt. Das «Warum»
muß ſich der Jugend von ſelbſt aufdraͤngen, und dann
duͤrfe die Antwort nicht fehlen; quaͤlt man es ihr
aber fruͤher ab, ſo bringt die beruͤhmte Hebammen¬
kunſt des Geiſtes auch nur zu fruͤhe Geburten zur
Welt. Man muß der Jugend etwas Poſitives dog¬
matiſch einpraͤgen. Sie will nichts andres, es wird
ihr nicht einfallen, daran zu kluͤgeln. Entwickelt ſich
ihr Verſtand, ſo wird ſie ſchon zu zweifeln und zu
fragen anfangen, und dann hat ſie einen Gegenſtand,
an dem ſie die Kritik uͤben kann. Aus der Kritik
[274] aber die Wahrheit als Reſultat zu foͤrdern und mit
den Zweifeln anzufangen, iſt wahres Gift fuͤr die
Jugend. Wenn hier die Einfachheit in Bezug auf
die Methode verletzt wird, ſo geſchieht daſſelbe in
Bezug auf die Gegenſtaͤnde des Unterrichts durch die
Polyhiſtorei, der man ſich dabei ergibt; nur das Ge¬
wiſſe, Einfache, Klare haftet in der jugendlichen
Seele und bringt gedeihliche Fruͤchte. Durch die ſo¬
kratiſche Methode wird der einfachſte Gegenſtand ver¬
worren, ungenießbar, widerlich, und durch die uͤber¬
reiche Menge von Kenntniſſen, die man der Jugend
in Encyclopaͤdien und Sammlungen bietet, wird auch
der klarſte kindliche Kopf verwirrt, und gewoͤhnt ſich
leicht an ein oberflaͤchliches Wiſſen und gefaͤllt ſich
in dem eitlen Vorzug, vieles ſchlecht, ſtatt wenig gut
zu wiſſen. Sodann ſind faſt alle Unterhaltungs- und
Unterrichtsbuͤcher auf die moͤglichſt fruͤheſte Aufklaͤ¬
rung der Jugend berechnet. Dahin gehoͤrt, daß man
ihr alles Myſtiſche, Wunderbare, Ahnungsvolle, Ruͤh¬
rende, ſobald ſie es empfinden, mit Stumpf und
Stiel ausrottet. Der Zauber der Natur wird ihnen
in baare naturwiſſenſchaftliche Proſa aufgeloͤſt, waͤh¬
rend, ſeltſam genug, die Naturphiloſophen denſelben
Zauber wieder retten. Die kindliche Liebe, dieſe herr¬
liche wildwachſende Blume, wird gefliſſentlich ausge¬
rottet, um dem Treibhausgewaͤchs einer ſteifen, eng¬
herzigen, gebotnen, ſchulmaͤßig zu erlernenden Moral
Platz zu machen. Man rechnet den Kindern nur das
als Tugend an, was ſie aus Gehorſam gegen eine
[275] Regel thun, und wie gut, edel, liebenswuͤrdig ſie von
Natur ſind, man achtet es nicht, bis man ihnen eine
ſchaale Reflexion daruͤber beigebracht hat, bis ihnen
der Drang der Natur in einen geiſtloſen Gehorſam
gegen das Pflichtgebot verkruͤppelt iſt. Und welcher
Pflichten? was draͤngt man nicht alles den unbefang¬
nen Gemuͤthern auf? Man ſtellt ihnen nicht nur das
Laſter, ſondern auch die Tugend vor Augen, ehe ſie
im Stande ſind, ſie auszuuͤben, ja nur zu erkennen,
und man uͤberladet ſie mit Regeln, wovon ſie eine
uͤber der andern vergeſſen. Wie gegen die natuͤr¬
liche Moral der Kinder, ſo wuͤthet man gegen die
natuͤrliche Religion derſelben. Auch uͤber die Gegen¬
ſtaͤnde der Religion muͤſſen ſie ſo fruͤh als moͤglich
reflectiren, und man quaͤlt ihnen Gedanken ab, ehe
noch ihr Gefuͤhl reif geworden. Eine Zeitlang war
man ſogar bemuͤht, ihnen das Wunderbare in der
Religion verdaͤchtig zu machen, um ſie vor Aberglau¬
ben zu bewahren. Jetzt hat man meiſtentheils einen
heilloſen Mittelweg eingeſchlagen. Man wagt es we¬
der ganz zu glauben, noch ganz zu zweifeln, und
ſtuͤrzt die Jugend in eine Halbheit, aus der nur drei
Übel entſpringen koͤnnen, die alle drei der Religion
am gefaͤhrlichſten ſind, Indifferentismus, der aus der
Langweiligkeit und Unſicherheit des Religionsunter¬
richts entſpringt, Religionsſpoͤtterei oder Ruͤckfall in
den craſſeſten Aberglauben, wenn man ſich aus der
Halbheit auf dieſe oder jene Weiſe retten will.

[276]

Schreiten wir weiter zu den Unterrichtsbuͤchern
der erwachſenen Jugend, ſo bemerken wir darin ein
ſonderbares Mißverhaͤltniß zu dem fruͤhern Unter¬
richt. Man zwingt den Kindern ein unreifes Den¬
ken ab, und die Juͤnglinge, die zum Denken wirklich
heranreifen, werden davon fern gehalten durch eine
troſtloſe Überladung mit blos empiriſchen, gedaͤcht¬
nißmaͤßigen Kenntniſſen. Überall fehlt die Einheit
und Einfachheit der Methode, der klare Überblick,
das logiſche Gebaͤude.


Die meiſten Schulbuͤcher, in welches Fach ſie
einſchlagen moͤgen, bieten dem Juͤngling eine unge¬
ordnete Maſſe von Thatſachen dar, die er ſich zu
eigen machen ſoll, ohne daß ihm der Talisman einer
urſpruͤnglichen Cauſalitaͤt mitgegeben wuͤrde, durch
die er ſich einfach ſo vieler Schaͤtze bemeiſtern koͤnnte.
Er lernt die Religion und Moral am Faden unzu¬
ſammenhaͤngender Artikel, die Geſchichte am Faden der
Jahrszahlen, die Naturkunde am Faden der roheſten
aͤußern Eintheilungen, die Sprache am Faden von
tauſend Regeln und zehntauſend Ausnahmen. Bei
einem ſolchen Verfahren wird nur das Gedaͤchtniß in
Anſpruch genommen, daſſelbe Gedaͤchtniß, das dem
Kinde verwirrt wurde durch zu fruͤhes Denken, und
der Unterricht tritt in ein umgekehrtes Verhaͤltniß
mit der Natur. Was hilft aber auch das beſte Ge¬
daͤchtniß, wenn nicht eigne Genialitaͤt die Formel
finden laͤßt, unter welche das Convolut von empiri¬
ſchen Kenntniſſen gebannt wird? Nur wenige gelan¬
[277] gen zum Selbſtdenken, und bei dieſen wenigen beginnt
es damit, daß ſie den Wuſt der auf Schulen und
Univerſitaͤten geſammelten Kenntniſſe ausſcheiden; wo¬
mit ſie oft mehr Arbeit haben, als wenn ſie erſt zu
lernen anfingen. Die meiſten lernen mechaniſch das
Penſum, das von ihnen gefordert wird, und hieraus
entſteht jener zahlloſe gelehrte Poͤbel in Ämtern und
Wuͤrden oder in der Schriftſtellerzunft, den ſchon
Klopſtock in ſeiner deutſchen Gelehrtenrepublik treff¬
lich bezeichnet hat, die immer ſchreien und nie denken.


Ehe wir aber das Feld der Erziehung verlaſſen,
muͤſſen wir noch einige Augenblicke bei einer der in¬
tereſſanteſten Erſcheinungen auf demſelben verweilen,
bei der Freimaurerei, denn was iſt dieſe anders, als
eine projectirte Erziehung des ganzen Menſchenge¬
ſchlechts? Auch ſie hat eine nicht unbedeutende Lite¬
ratur, die in der neueſten Zeit unter uns Deutſchen,
beſonders ſeit Krauſe, die Geheinmißkraͤmerei, wie
billig aufgegeben, und, wenn der Ausdruck erlaubt
iſt, aus der Schule geſchwatzt hat. Das unverſchaͤmte
Zeitalter der Revolutionen hat auch dieſe koͤnigliche
Kunſt, wie jede andre, profanirt. Sieht man von
den Spielereien und Mißbraͤuchen, denen wohl nie
eine geheime Geſellſchaft entgangen iſt, ſieht man von
den Thorheiten der großen Kinder ab, die ſich hier
in einem ſehr unſchaͤdlichen Kanal ableiteten, ſo bleibt
der Maurerei immer noch eine große Idee.


Wir erkennen in der Geſchichte ein großes Ziel,
die Entwicklung und Veredlung der Menſchheit. Wir
[278] unterſcheiden aber einen doppelten Weg, der dahin
fuͤhrt. Den erſten verfolgen die Menſchen unbewußt.
Er wird ihnen geboten durch die Naturnothwendig¬
keit. In der Abhaͤngigkeit von Geſchlecht, Familie,
Stand, Volk, Sprache, Sitte, Kultur, Staat, Kirche,
befolgt der Menſch inſtinktartig den geheimen Willen
der Vorſehung, die uͤber der Geſchichte waltet, und
in dem Reichthum und dem Wechſel der Erſcheinun¬
gen die Menſchheit aus dem laͤngſten Wege zur Ent¬
wicklung bringt. Iſt der Menſch aber einmal auf
einer gewiſſen Stufe angelangt, ſo erkennt er den
großen Plan der Vorſehung, und ſeine eigne Kraft,
denſelben mit Bewußtſeyn auf kuͤrzerem Wege zu
vollſtrecken. Er ſieht in jenen Unterſchieden, welche
die Menſchen von einander und von dem Gleicharti¬
gen, rein Menſchlichen in Allem entfremdet, nur eine
Hemmung jener Entwicklung, und ſobald in Vielen
zugleich dieſe Anſicht herrſchend geworden, ſo muͤſſen
dieſelben um ſo eher in ein geſelliges Band treten,
als dieſes Band auch das Symbol deſſen iſt, was
ſie erſtreben, da, ſobald jeder Menſch vollkommen iſt,
bruͤderliche Gleichheit und Vereinigung Aller Statt
finden muß. Sie werfen die Unterſchiede des Stan¬
des, Volkes, Staates und Glaubens von ſich; ſie
laſſen ſie unter ſich nicht gelten, unterwerfen ſich ih¬
nen aber außerhalb ihres Tempels, indem ſie die
blinde Naturgewalt, die in denſelben vorherrſcht,
nicht aufzureizen, ſondern allmaͤhlig zu zaͤhmen, und
den hohen und allgemeinen Zweck der Menſchheit zu
[279] vermitteln ſtreben. Dieſer Bund iſt derjenige der
Freimaurer oder Maſonen (Meßner, Meßkuͤnſtler).
Sie wollen frei, mit Selbſtbewußtſeyn, den Bau der
Menſchheit vollenden. Sie ſetzen dem Inſtinkt die
Freiheit, der Natur die Kunſt entgegen. Dieſer Bund
entſpringt mit Nothwendigkeit aus einer Weltanſicht,
die auf einer gewiſſen Stufe der Entwicklung in den
Menſchen erwachen mußte. So unabweislich die Idee
einer allgemeinen vollkommenen Menſchheit, die alle
Menſchen als Bruͤder umfaßt, darin ſie alle von den
Schlacken der Ungleichheit, der Feindſchaft, der Ver¬
folgung, des Laſters, der Armuth, der Dummheit und
der Barbarei gelaͤutert ſeyn ſollen, unter den paſſen¬
den Namen Optimismus andern Ideen vom Weſen
und Ziele der Welt und der Menſchheit, z.B., daß
ſie beim Alten bleiben, oder daß ſie gar zuruͤckſchrei¬
ten muͤſſe, entgegentritt; ſo unabweislich ferner mit
dieſer Idee in den Menſchen das Gefuͤhl ihrer Kraft
und das Streben geweckt wird, ſelbſtthaͤtig der lang¬
ſam keimenden Naturkraft in der Geſchichte mit menſch¬
licher Kunſt nachzuhelfen, oder ihre Erkenntniß und
ihren Willen ganz an die Stelle jener alten Natur¬
kraft zu ſetzen, da dieſelbe dem thieriſchen Inſtinkt
gleicht, der nur ſo lange dem Kind aushilft, bis es
zur Vernunft gekommen; ſo feſt gegruͤndet dieſe Idee
und dieſes Streben in den Menſchen iſt, ſo bald ſie
muͤndig geworden, eben ſo feſt gegruͤndet iſt auch in
der aͤußern Erſcheinung der Bund der Maſonei, darin
dieſe Idee fortgepflanzt wird, darin dieſes Streben
[280] als die hoͤchſte Aufgabe der freigewordenen Menſch¬
heit bethaͤtigt wird.


Wie uͤbrigens mit andern Elementen vermiſcht
dieſe Idee erſt allmaͤhlich im Maurerthum gekeimt,
nachher reiner entwickelt worden, wozu ferner bei¬
nahe zu allen Zeiten ſeit ſeiner Entſtehung die allge¬
meine Form des Maurerbundes gemißbraucht worden,
geht uns dabei nichts an. Ob jeder ſogenannte Mau¬
rer die wahre Stellung der maureriſchen Weltanſicht
zu dem Gange der Weltgeſchichte kennt, iſt zweifel¬
haft. Ob der Bau der Maſonei mehr dem des ba¬
byloniſchen Thurmes oder des Salomoniſchen Tem¬
pels gleichen werde, uͤberlaſſen wir der Geſchichte zu
entſcheiden. Sprachverwirrung iſt ohne Zweifel ſchon
eingetreten. Zwiſchen der Idee und ihrer Verwirk¬
lichung iſt eine unermeßliche Kluft befeſtigt, und wer
in den Schwierigkeiten der Ausfuͤhrung und in der
Entartung und Verfaͤlſchung der Idee im Innern des
Bundes ſelbſt, demſelben nicht den Untergang oder
wenigſtens nur ein mumienhaftes Fortdauern vorge¬
ſchrieben findet, der muß den Ideen eine goͤttliche,
unerſchuͤtterliche Macht zuerkennen, kann und ſoll es
aber auch.


Ende des erſten Theils.

[]

Appendix A Druckfehler.


S. 11 Z. 7 von unten ſtatt Ariadenfaden lies Ariadne¬
faden


— 39 — 1 von oben — Schlendriau — Schlendrian


— 45 — 1 von oben — Reſignatinn — Reſignation


— 62 — 1 von oben — ſeyn — ſein


— 73 — 8 von unten — anders — andres


— 134 — 5 von oben — erſten — ernſten


— 150 — 11 von unten — Wasley — Wesley


— 191 — 11 von oben — kritiſcher — kritiſche


— 199 — 5 von oben — Begebenheit — Begebenheiten


— 212 — 2 von oben — entſtiegen — entſtehn


— 226 — 5 von oben — ein — ein

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TextGrid Repository (2025). Menzel, Wolfgang. Die deutsche Literatur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn2n.0