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Maler Nolten.

Novelle
in zwei Theilen


Mit einer Muſikbeilage.

II.

Stuttgart.:
E. Schweizerbart’s Verlagshandlung.
1832.
[][[323]]

Leopold ging unter tiefen Betrachtungen nach
der Stadt zurück. Er kommt an dem Garten des wun-
derlichen Hofraths vorbei. Der Liebling des Leztern,
ein zahmer Staar, ſizt auf dem Spitz-Dache eines Pump-
brunnens, über den ſich eine Trauerweide neigt. Der
Vogel ſtimmt, eben wie Leopold vorüber will, ſein
Stückchen an, mit einem ſpöttiſchen Zwiſchenruf, der
offenbar ihm gilt: „Es reiten drei — Spitzbub — zum
Thore hinaus;“ zugleich wird das gepuderte Haupt
des Hofraths ſichtbar; derſelbe erſucht den Bildhauer,
einen Augenblick hereinzutreten. „Ich habe eine Neuig-
keit,“ ſagt er, „über deren angenehmen Inhalt Sie wohl
dem Flegel da droben ſeine Unart vergeſſen werden.
Monſieur Larkens wurde den Morgen ſchnell zu
einem Verhöre berufen. Man darf ſich auf ein er-
wünſchtes Reſultat gefaßt halten; mir ward nur en
paſſant und ganz im Allgemeinen, jedoch von ſicherer
Hand ein Wink gegeben. Bringen Sie den Leutchen
dieſen Troſt, ſagen es aber nicht weiter.“ Voll Freu-
den dankte der Bildhauer und wollte eilends gehn, als
der Hofrath, der heute ſeinen ſchönen Tag hatte, ihn
noch am Rockknopf feſthielt und ſagte: „Widmen Sie
doch dem Burſchen da droben noch einen Blick! Be-
[324] merken Sie die philoſophiſche Klarheit, den feinen
Sarkasmus, womit dieſer Schnabel in die Welt hin-
ausſticht! Stellen wir uns nun etwa unter der Brun-
nen-Pyramide ein Monument, ein Grabmal vor, ſo
wäre es dem elegiſchen Geſchmack ohne Zweifel ge-
mäßer, in den hängenden Weidenzweigen ſich Philo-
melen, die ſüße Sängerin der Wehmuth und der Liebe,
zu denken, als den gebildetſten Staaren, deſſen bloße
Figur ſchon viel zu viel vom Weltmann hat. In-
deſſen, dünkt mich, wäre ein Hanswurſt, gedankenvoll
auf einem Sarkophagen ſitzend, eine ſo üble Vorſtel-
lung auch nicht, vielleicht ein Gegenſtand für einen
Hogarth. Man gäbe dem Coujon etwa ein ſchlafen-
des Kind auf den Schoos und hinter ſeinem Rücken
würde, halb zürnend halb lächelnd, ein eisgrauer Alter
am Stabe das ſonderbare Selbſtgeſpräch belauſchen.
Des Narren Geſicht müßte zeigen, wie er ſich Mühe
gibt, recht tiefſinnig und ernſthaft zu ſeyn; aber es
geht nicht, und das bedeutendſte Kopfſchütteln wird
jedes Mal von der Schellenkappe begleitet. Was mei-
nen Sie nun? der geflügelte Schlingel dort, welcher
geſtern das Unglück gehabt, ich weiß weder wo noch
wie, in einen Topf mit gelber Oelfarbe zu fallen, da-
von er die Spuren noch trägt — gleicht er denn nicht
auf’s Haar ſo einem buntſchäkigen Allerweltsſpötter?
Iſt es nicht ein unvergleichlicher Junge?“


Der Bildhauer mußte dem Vogel eine Lobrede
halten, war aber endlich nur froh, loszukommen und ſich
bei den Freunden ſeiner glücklichen Zeitung zu entledigen.


[325]

Wirklich gingen nicht vier Tage hin, als den
Gefangenen bereits ihre Losſprechung eröffnet ward.
Man hatte bei keinem von Beiden eine bösliche Ab-
ſicht, wohl aber eine ſtrafbare Unziemlichkeit in ihrer
Handlungsweiſe entdeckt, wofür ihnen die Gnade des
Königs Verzeihung zuerkannte.


Sämmtliche Freunde fanden dieß ganz in der
Regel, nur den Schauſpieler ſchien die ſchnelle Wen-
dung der Sache zu befremden, er ſchüttelte den Kopf,
indem er nicht undeutlich zu verſtehen gab, daß da-
hinter irgend etwas ſtecken müſſe; übrigens äußerte
er weiter keine Vermuthung und theilte von Herzen
den allgemeinen Jubel.


Der Augenblick, in dem er Nolten zum Erſten-
male wieder, obgleich am Krankenbett begrüßte, riß
Jeden, der zugegen war, zu Rührung und Freude hin.
Nie hatte man eine leidenſchaftlichere Freundſchaft
geſehen, und wenn ſonſt Larkens die Vermeidung
jedes Anſcheins von Empfindſamkeit beinahe bis zur
Härte trieb, ſo ward er jezt nicht ſatt, den Kranken
zu umarmen und zu küſſen, ihm auf’s Beweglichſte
den Unfall abzubitten, deſſen er ſich allein anklagte.
Zum Glück verſprach der Arzt, daß Nolten in kur-
zer Zeit völligen Gebrauch von ſeiner Freiheit würde
machen können, ja der Kranke ſelber ſchwur, es fehle
gar nicht viel, ſo hätte er wohl Luſt, ſich heute ſchon
auf die Füße zu richten; zum wenigſten wollte er aus
dem traurigen Arreſtzimmer erlöst ſeyn und müßte
[326] man ihn auch ſammt dem Bette wegtragen. Lar-
kens
nahm gleich den Schließer auf die Seite, ließ
ſich die nächſtgelegenen Zimmer weiſen und kam bald
mit der luſtigen Botſchaft wieder, er habe nur we-
nige Schritte von Theobalds Zelle ein Lokal ent-
deckt, darüber in der Welt Nichts gehe: einen kleinen
getäfelten Ritterſaal mit einem Erker, der die ſchönſte
Ausſicht im ganzen Schloß darbiete. Sodann beſchrieb
er den alterthümlichen Reiz der vielfach verzierten
eichenen Wände, eine Reihe von lebensgroß in Holz
geſchnizten Grafen und Herzogen mit ihren Wappen-
ſchildern und Sinnſprüchen, die hölzerne Decke, auf
welcher, in gleiche Quadrate getheilt, die halbe bib-
liſche Hiſtorie in rührender Geſchmackloſigkeit gemalt
zu ſchauen, zwei rieſenhafte Ofen, die man im Noth-
fall beide heitzen würde; daneben in einer Ecke lehne
ein Haufen roſtiger Waffen, an deren Schwere der
Patient von Tag zu Tage ſeine zunehmenden Kräfte
prüfen müſſe; auch ſtünden ein paar kleine Feuer-
ſpritzen bereit, und er behalte ſich vor, dieſelben an
dem Tage, wo man Befreiung und Geneſung feſtlich
begehen würde, mit Tokaier füllen zu laſſen, denn da
müſſe der Wein recht eigentlich in Strömen fließen.
Sprach er das Leztere im Scherz, ſo war es ihm
mit der Verlegung Noltens in den bezeichneten
Saal ſo vollkommen Ernſt, daß er noch jenen Mor-
gen die Erlaubniß hiezu von Seiten des Verwalters
einholte und Anſtalt machte, Alles recht ſauber und
[327] reinlich herzuſtellen. Der Umzug ging des andern
Tages vor ſich, und Nolten mußte geſtehen, er fühle
ſich wahrhaft erleichtert und erhoben durch eine ſo
heitere als eindrucksvolle Umgebung. Fenſter an
Fenſter reihten ſich die langen Wände entlang und
die ehmalige Pracht erſtreckte ſich ſelbſt bis auf die
kleinen runden Scheiben, deren Blei noch überall die
Spuren guter Vergoldung zeigte. Es ſoll der Saal
vor Zeiten ſeiner Koſtbarkeit und außerordentlichen
Helle wegen, „die goldene Laterne“ geheißen haben.


Einer der erſten Beſuche, deren unſer Freund in
ſeiner neuen Wohnung eine große Anzahl erhielt, war
Tillſen und der alte Baron von Jaßfeld. Beide
hatten während der Gefangenſchaft, vermuthlich aus
Rückſicht gegen den Hof, Anſtand genommen, dieſe
Pflicht zu erfüllen. Der Schauſpieler konnte eine
ſpöttiſche Bemerkung deßhalb nicht unterdrücken, für
Theobald aber war wenigſtens der gegenwärtige
Beweis von Aufmerkſamkeit um ſo wichtiger, als er
eine günſtige Folgerung auf die Geſinnungen der
Zarlin’ſchen daraus zog. Allein hierin irrte er ſich,
denn gar bald ließ man ihn merken, daß in jenem
Hauſe noch immer eine auffallende Verſtimmung herr-
ſche, daß er wohl thun würde, ſich vor der Hand
durchaus entfernt zu halten. Hiezu war er nun wirk-
lich feſt entſchloſſen, beſonders da auch in den folgen-
den Tagen von Seiten des Grafen nicht einmal ein
trockener Glückwunſch, geſchweige denn, wie doch zu
[328] erwarten geweſen wäre, ein freundlich Wort an ihn
erging.


Unter andern Umſtänden vielleicht hätten dieſe
Ausſichten ihn troſtlos gemacht, aber ſo ward ſein
Stolz empfindlich gereizt, er ſah ſich unfreundlich,
ſchnöde zurückgeſtoßen, und da er wußte, wie wenig
von jeher die Gräfin gewohnt geweſen, ſich ihre Ge-
fühle und Handlungen durch den Bruder oder ſonſt
Jemanden vorſchreiben zu laſſen, ſo konnte er auch
ihr jetziges Benehmen keineswegs auf fremde Rech-
nung ſetzen. Er glaubte ſich in ſeinen Vorſtellungen
von der ungemeinen Denkart dieſes Weibes entſchie-
den getäuſcht, zum Erſtenmal fand er an Conſtan-
zen
die Kleinlichkeit ihres Geſchlechts, die engherzige
Pretioſität ihres Standes, ja was noch mehr als dieß,
er überzeugte ſich, daß ſie ihn niemals eigentlich ge-
liebt haben könne. Er war traurig, allein er wun-
derte ſich, daß er es nicht in höherem Grade ſey.


Auf dieſe Art hatte nun freilich der Schauſpie-
ler, dem ſehr darum zu thun ſeyn mußte, die Ein-
drücke dieſer Leidenſchaft bei Nolten von Grund
aus zu vertilgen, bei weitem leichtere Arbeit, als er
immer gefürchtet. Er wunderte ſich im Stillen höch-
lich über die vernünftige Gelaſſenheit ſeines Freundes,
und gab dem Wunſche deſſelben gerne nach, daß von
der Sache nicht weiter die Rede ſeyn ſolle.


Uebrigens gab es für Larkens gar mancherlei
zu bedenken und auszumitteln. Gleich nach der Hafts-
[329] entlaſſung war es eine ſeiner erſten Sorgen geweſen,
ob jene ſeltſame Eliſabeth, welche vor wenig Tagen
von Leopold war auf der Straße geſehen worden,
nicht etwa noch in der Nähe ſich befinde: mehrere
Gründe ſezten es jedoch außer Zweifel, daß ſie die
Stadt bereits wieder verlaſſen. Jezt wünſchte er ſich
über den Zuſtand der Gemüther im Zarlin’ſchen
Hauſe, ſo wie über den wahren Grund der eilfertigen
Erledigung jener anfänglich ſo ernſthaft behandelten
Rechtsſache genauer zu unterrichten. Er war um ſo
begieriger, als einige heimliche Stimmen ſich verlau-
ten ließen, Herzog Adolph habe ſich mit ſeinem
fürſtlichen Worte für die Gefangenen verbürgt und
ſo den Knoten mit Einemmal zerſchnitten. Dieß
fand der Schauſpieler ſo unwahrſcheinlich nicht, ob-
gleich der Herzog, wie es ſchien, ſeine Großmuth öffent-
lich nicht Wort haben wollte und ſich übrigens jeder
Berührung mit ſeinen Schützlingen entzog. Höchſt
peinlich empfand daher Larkens ſeine Ungewißheit
über dieſen Punkt, ſo wie die Unmöglichkeit, dem
Wohlthäter ausdrücklich zu danken, wenn dieſer ſich
wirklich in der Perſon des Herzogs verſteckt haben
ſollte. Lezteres ward er je länger je mehr überzeugt,
und bald geſellte ſich hiezu noch eine weitere, obgleich
noch ſehr entfernte Muthmaßung, welche er jedenfalls
vor Nolten auf das Sorgfältigſte zu verbergen gu-
ten Grund haben mochte. Der Gedanke ſtieg nämlich
bei ihm auf, ob nicht Gräfin Conſtanze ſelbſt als
[330] geheime Triebfeder, zunächſt zu Gunſten Theobalds,
durch den Herzog könnte gewirkt haben? Er wußte
nicht eigentlich, was ihn auf dieſe Vorſtellung führte,
im Allgemeinen aber ſezte er bei Conſtanzen noch
immer eine ſtille, ſehr nachhaltige Neigung für Theo-
bald
voraus, und es war ihm unmöglich, ſie anders
als in einem leidenden Zuſtande zu denken.


Eines Morgens findet er ſeinen Freund außer
dem Bette unter dem halboffnen Fenſter ſitzen und
ſich im kräftigen Strahl der Frühlingsſonne wärmen.
Der Schauſpieler drückte laut ſeine Freude über die
glücklichen Fortſchritte des Rekonvalescenten aus, wäh-
rend Theobald ihm lächelnd mit der Hand Still-
ſchweigen zuwinkte, denn der lieblichſte Geſang tönte
ſo eben aus dem Zwinger herauf, wo die Tochter des
Wärters mit den erſten Gartenarbeiten beſchäftigt
war. Sie ſelbſt konnte wegen eines Vorſprungs am
Gebäude nicht geſehen werden, deſto vernehmlicher
war ihr Liedchen, wovon wir wenigſtens einen Vers
anführen wollen.


Frühling läßt ſein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte,

Süße wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land;

Veilchen träumen ſchon,

Wollen balde kommen;

Horch, von fern ein leiſer Harfenton! — —

Frühling, ja du biſt’s!

Frühling, ja du biſt’s!

Dich hab ich vernommen!

[331]

Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich auf-
geregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den
Menſchen, und den Geneſenden weit inniger als den
Geſunden, heimzuſuchen pflegt. Eine ſeltene Heiter-
keit belebte das Geſpräch der beiden Männer, während
ihre Blicke ſich fern auf der keimenden Landſchaft er-
gingen. Nie war Nolten ſo beredt wie heute, nie
der Schauſpieler ſo menſchlich und liebenswürdig ge-
weſen. Auf Einmal ſtand der Maler auf, ſah dem
Freunde lang und ernſt, wie mit abweſenden Gedan-
ken, in’s Geſicht, und ſagte dann, indem er ſeine
Hände auf die Schultern des Andern legte, im ruhig-
ſten Tone: „Soll ich dir geſtehen, Alter, daß dieß
der glücklichſte Tag meines Lebens iſt, ja daß mir
vorkommt, erſt heute fang’ ich eigentlich zu leben an?
Begreife mich aber. Nicht dieſe erquickende Sonne iſt
es allein, nicht dieſer junge Hauch der Welt und nicht
deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wo-
von ich rede, lag in der lezten Zeit ſchon beinahe
reif in mir; ich kann nicht ſagen, daß es die Folge
langer Ueberlegung ſey, doch ruht es auf dem klarſten
und nüchternſten Bewußtſeyn und iſt ſo wahr als ich
nur ſelber wirklich bin. Es hat ſich mir in dieſen
Tagen die Geſtalt meiner Vergangenheit, mein inneres
und äußeres Geſchick, von ſelber wie im Spiegel auf-
gedrungen und es war das Erſtemal, daß mir die
Bedeutung meines Lebens, von ſeinen erſten Anfängen
an, ſo unzweideutig vor Augen lag. Auch konnte das
[332] und durfte nicht wohl früher ſeyn. Ich mußte ge-
wiſſe Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht
geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht
iſt das bei den meiſten Menſchen ſo; aber auf den
kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn ſich
verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf
mich frei umſchauen, als wie zu eigner Wahl, und freue
mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch
eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens
mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nöthigt,
ſteht nicht als eigenſinniger Treiber unſichtbar hinter
mir, ſie ſchwebt vor mir, in mir iſt ſie, mir däucht,
als hätt’ ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber
verſtändigt, wohin wir zuſammen gehen wollen, als
wäre mir dieſer Plan nur durch die endliche Beſchrän-
kung meines Daſeyns weit aus dem Gedächtniß ge-
rückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem
Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran
zurück. Der Menſch rollt ſeinen Wagen wohin es
ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht ſich un-
merklich die Kugel, die er befährt. So ſehe ich mich
jezt an einem Ziele, wornach ich nie geſtrebt hatte,
und das ich mir niemals hatte träumen laſſen. Vor
wenig Wochen noch ſchien ich ſo weit davon entfernt!
Manches, was mir ſo lang als nothwendige Bedin-
gung meines Glücks, meines vollendeten Weſens er-
ſchienen war, was ich mit unglaublicher Leidenſchaft
genährt und gepflegt hatte, liegt nun wie todte Schaale
[333] von mir abgefallen; ſo iſt Conſtanze mir nicht viel
mehr als noch ein bloßer Name, ſo iſt mir ſchon
früher jene Agnes untergeſunken.


Große Verluſte ſind es hauptſächlich, welche dem
Menſchen die höhere Aufgabe ſeines Daſeyns unwi-
derſtehlich nahe bringen, durch ſie lernt er dasjenige
kennen und ſchätzen, was weſentlich zu ſeinem Frieden
dient. Ich habe viel verloren, ich fühle mich unſäg-
lich arm, und eben in dieſer Armuth fühle ich mir
einen unendlichen Reichthum. Nichts bleibt mir übrig,
als die Kunſt, aber ganz erfahr’ ich nun auch ihren hei-
ligen Werth. Nachdem ſo lange ein fremdes Feuer
mein Inneres durchtobt und mich von Grunde aus ge-
reinigt hat, iſt es tief ſtill in mir geworden, und lang-
ſam ſpannen alle meine Kräfte ſich an, in feierlicher Er-
wartung der Dinge, die nun kommen ſollen. Eine neue
Epoche iſt für mich angebrochen, und, ſo Gott will,
wird die Welt die Früchte bald erleben. Siehſt du, ich
könnte dir die hellen Freudethränen weinen, wenn ich
dran denke, wie ich mit Nächſtem zum Erſtenmale wie-
der den Pinſel ergreifen werde. Viel hundert neue, nie
geſehene Geſtalten entwickeln ſich in mir, ein ſeliges
Gewühle, und wecken die Sehnſucht nach tüchtiger Ar-
beit. Befreit von der Herzensnoth jeder ängſtlichen
Leidenſchaft, beſizt mich nur ein einziger gewaltiger
Affekt. Faſt glaub’ ich wieder der Knabe zu ſeyn, der
auf des Vaters Bühne vor jenem wunderbaren Ge-
mälde wie vor dem Genius der Kunſt geknieet, ſo jung
[334] und fromm und ungetheilt iſt jezt meine Inbrunſt für
dieſen göttlichen Beruf. Es bleibt mir nichts zu wün-
ſchen übrig, da ich das Allgenügende der Kunſt und jene
hohe Einſamkeit empfunden, worin ihr Jünger ſich für
immerdar verſenken muß. Ich habe der Welt entſagt,
das heißt, ſie darf mir mehr nicht angehören, als mir
die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehn-
ſucht immer neu erzeugt. Ich ſage nicht, daß jeder
Künſtler eben ſo empfinden müſſe, ich ſage nur, daß
mir nichts anderes gemäß ſeyn kann. Auf dieſe Reſig-
nation hat jede meiner Prüfungen hingedeutet, dieß
war der Fingerzeig meines ganzen bisherigen Lebens;
es wird mich von nun an nichts mehr irre machen.“


Der Maler ſchwieg, ſeine blaſſen Wangen waren
von einer leichten Röthe überzogen, er war auf’s Aeußer-
ſte bewegt und bemerkte mit Unwillen die Befremdung
ſeines Freundes, ſo wie ſein zweifelhaftes Lächeln, das
jedoch weniger Spott als die Verlegenheit ausdrückte,
was er auf Theobalds höchſt unerwartete Erklärung
erwidern ſollte.


„Darf ich,“ fing Larkens an, „darf ich aufrichtig
ſeyn, ſo läugne ich nicht, mir kommt es vor, mein
Nolten habe ſich zu keiner andern Zeit weniger auf
ſich ſelber verſtanden, als gerade jezt, da er plötzlich
wie durch Inſpiration zum einzig wahren Begriff ſein
Selbſt gelangt zu ſeyn glaubt. Weiß ich es doch aus
eigener Erfahrung, wie gerne ſich der Menſch, der alte
Taſchenſpieler, eine falſche Idee, das Schooskind ſeines
[335] Egoismus, die Grille ſeiner Feigheit oder ſeines Trotzes,
durch ein willkürlich Syſtem ſanktionirt, und wie leicht
es ihm wird, einen ſchiefen oder halbwahren Gedanken
durch das Wort komplet zu machen. Denn du gibſt
mir doch zu —“


„Hör’ auf! ich bitte dich,“ rief Theobald leb-
haft, „hör’ auf mit dieſem Ton! du machſt, daß ich be-
reue, dir mein Innerſtes aufgeſchloſſen, dir das heilig-
ſte Gefühl bloßgeſtellt zu haben, das mir kein Menſch
unter der Sonne von den Lippen gelockt hätte, wenn
es der Freund nicht wäre, von dem ich eine liebevolle
Theilnahme an meiner Sinnesart erwarten durfte, ſelbſt
wenn ſie der ſeinigen zuwider liefe. Höre, ich kenne
dich als einen verſtändigen und klugen Mann, nur was
gewiſſe Dinge anbelangt, gewiſſe Eigenheiten eines
treuen Gemüths, ſo hätt’ ich nicht vergeſſen ſollen, daß
wir von jeher vergeblich drüber disputirten. Laß uns
von dieſem Punkte lieber gleich abgehn und thun, als
wäre von Nichts die Rede geweſen; es braucht’s auch
nicht, da ich meinen Weg verfolgen kann, unbeſchadet
unſeres bisherigen Verhältniſſes“


„Doch wirſt du mir nicht zumuthen,“ antwortete
Larkens, „ich ſoll dich ſtillſchweigend einer Grille
überlaſſen, die dir nur ſchädlich werden kann. — Vor
der Hand finde ich deinen Irrthum verzeihlich; das
Unglück macht den Menſchen einſam und hypochon-
driſch, er zieht den Zaun dann gern ſo knapp wie
möglich um ſein Häuschen. Ich ſelber könnte wohl
[336] einmal in dieſen Fall gerathen, nur wär’ es dann
ein Kaſus — wahrhaftig ganz verſchieden von dem
deinen. Der Herr führt ſeine Heiligen wunderlich.
Unſtreitig hat dein Leben viel Bedeutung, allein du
nimmſt ſeine Lehren in einem viel zu engen Sinn:
du legſt ihm eine Art dämoniſchen Charakter bei, oder,
ich weiß nicht was? — glaubſt dich gegängelt von
einem wunderlichen Spiritus familiaris, der in dei-
nes Vaters Rumpelkammer ſpuckt. Ich will mich in
dieſe Myſterien nicht miſchen; was Vernünftiges dran
iſt, leuchtet mir ein, ſo gut wie dir: nur ſage mir,
mein Lieber, du haſt vorhin von Einſamkeit, von
Unabhängigkeit geſprochen: je nachdem du das W [...]t
nimmſt, bin ich ganz einverſtanden. In allem Ernſt,
ich glaube, daß deine künſtleriſche Natur, um ihren
ungeſchwächten Nerv zu bewahren, ein ſehr bewegtes
geſellſchaftliches Leben nicht verträgt. Eben die edel-
ſten Keime deiner Originalität erforderten von jeher
eine gewiſſe ſtete Temperatur, deren Wechſel ſo viel
möglich nur von dir abhängen mußte, eine heimlich
melancholiſche Beſchränkung, als graue Folie jener
unerklärbar tiefen Herzensfreudigkeit, die ſo recht
aus dem innigen Gefühl unſeres Selbſt hervorquillt.
Im Ganzen iſt das ſo bei jedem Künſtler von Genie,
ich meine bei jedem Künſtler deines Faches, nur weiß
der eine mehr, als der andere ſeine Stimmung in die
Welt zu theilen. Was aber namentlich die Berüh-
rung mit der ſogenannten großen Welt anbelangt, ſo
[337] war es mir gleich Anfangs eine ausgemachte Sache,
daß du dich nie dorthin verlieren würdeſt. Der plötzliche
Anlauf, den du mit der Bekanntſchaft des Herzogs
genommen, ſchien mir deßhalb der größte Widerſpruch
mit dir ſelber. Gewohnt, dich als einen ſeltnen Kna-
ben zu betrachten, der ausgerüſtet mit erhabnen Kräf-
ten, ſich auf Einmal ungeſchickt und faſt unmächtig
fühlen müſſe, ſo bald man ihn in jene blendenden
Zirkel hineinzöge, war mir die Geſchmeidigkeit, womit
du dich in Kurzem aſſimilirteſt, beinah, wie ſoll ich
ſagen? nicht verdächtig, doch höchſt auffallend, und
mir ahnete, es würde in die Länge nicht wohl dauern.
[...] leicht, ſo meint’ ich, wär’ es möglich, daß unter
ſolchen Influenzen ſich dieß und jenes von ſeiner ur-
ſprünglichen Farbe verwiſchte, daß ſein Ehrgeiz eine
falſche Richtung nähme, daß er an der Treue gegen
ſeinen Genius etwas aufopferte! Kurzum, mich pei-
nigte etwas, und wär’s auch nur das thörichte Mit-
leid, das einen anwandeln kann, wenn der Kryſtall,
losgeriſſen aus ſeiner mütterlichen Nacht, die ſein
Wachsthum förderte, in die unkeuſchen Hände der
Menſchen fällt. Doch das ſind Poſſen. Aber du ſiehſt
nur daraus, ich bin weder bornirt, noch anmaßend,
noch leichtſinnig genug, dir dein eigentliches Esse zu
beſtreiten und den ſtillen Boden aufzulockern, worin
dein Weſen ſeit früheſter Zeit ſo liebevoll Wurzel ge-
ſchlagen. Gewiß, ich habe die herrlichſten Früchte
daraus hervorgehn ſehen; und — Nolten! ſiehſt
22
[338] du, es hat dich nicht befremdet noch verdroſſen, wenn
du ſeit der ganzen Zeit, als wir uns kennen, nichts
von überſchwänglichem Lobe, von enthuſiaſtiſchen Dis-
kurſen über den Gang deines Geiſtes und derglei-
chen aus meinem Munde vernahmſt; ich bin nun ein-
mal wie ich bin. Aber in dieſem Augenblick, wo ſich
ſo viel ernſte Betrachtung von ſelbſt aufdringt, du
deine Sache gleichſam auf die Spitze ſtellſt, jezt möcht’
ich wohl, daß die Zunge ſich mir löste, daß ich dir
ſagen könnte, wie ich von Anfang an mit einer ſtillen
Rührung, mit einer bewundernden Freude deiner Ent-
wicklung zugeſchaut, ja gewiß mit mehr Pietät und
Sorgfalt, als du mir zuzutrauen ſcheinſt.“


Nolten hörte mit zunehmendem Staunen die
Bekenntniſſe ſeines Freundes, wodurch er ſich wirklich
höher geehrt und herzlicher geſtärkt fühlte, als durch
das ruhmvollſte Lob, das ihm irgend ein mächtiger
Gönner hätte ſpenden mögen. Er wollte ſo eben et-
was erwiedern, als der Schauſpieler fortfuhr:


„Laß mich dir Eins anführen. Du erinnerſt dich
des Geſprächs, das wir bei einem Spazierritt nach L.
zuſammen hatten. Es war der köſtlichſte Abend mit-
ten im Juli, die untergehende Sonne warf ihren ro-
then Schein auf unſere Geſichter, wir ſchwazten ein
Weites und Breites über die Kunſt. Mit jedem
Worte ſchloſſeſt du, ohne es zu wollen, mir die Bil-
dung deiner Natur vollſtändiger auf, zum Erſtenmal
durft’ ich mich freudig in den innern Kelch deines
[339] Weſens vertiefen. Es frug ſich, weißt du, über das
Verhältniß des tief religiöſen und namentlich des
chriſtlichen Künſtlergemüths zum Geiſt der Antike und
der poetiſchen Empfindungsweiſe des Alterthums, über
die Möglichkeit einer beinahe gleich liebevollen Aus-
bildung beider Richtungen in einem und demſelben
Subjekte. Ich geſtand dir eine hohe und ſeltne Uni-
verſalität zu, wie denn hierüber auch nur Eine Stimme
ſeyn kann. Ich überzeugte mich, es ſey für deine
Kunſt von Seiten deines chriſtlichen Gefühlslebens,
das immerhin doch überwiegend bleibt, nichts zu be-
fürchten, ſelbſt wenn zulezt der Argwohn gewiſſer Ze-
loten ſich noch rechtfertigen ſollte, die einen heimlichen
Anhänger der katholiſchen Kirche und den künftigen
Apoſtaten in dir wittern. Du haſt, ſo dacht’ ich, ein
für alle Mal die Blume der Alten rein vom ſchön
ſchlanken Stengel abgepflückt, ſie blüht dir unverwelk-
lich am Buſen und miſcht ihren ſtärkenden Geruch in
deine Phantaſie, du magſt nun malen was du willſt;
nichts Enges, nichts Verzwicktes wird jemals von
dir ausgehn. Siehſt du, das war mir längſt ſo klar
geworden! und ſeh’ ich nun all’ den glücklichen Zuſam-
menklang deiner Kräfte, und wie willig ſich deine Na-
tur finden ließ, jeden herben Gegenſatz in dir zu
ſchmelzen, denk’ ich das unſchätzbare einzige Glück,
daß dir die Kunſt ſo frühe, faſt ohne dein Zuthun,
als reife Frucht aus den Händen gütiger Götter zu-
fiel, die ſich es vorgeſezt zu haben ſcheinen, in dir ein
[340] Beiſpiel des glücklichſten Menſchen aufzuſtellen —
ſag’ mir, ſoll mich’s nicht kränken, toller Junge, ſoll
mir’s die Galle nicht ſchütteln, wenn du, vom ſeltſam-
ſten Wahne getrieben, mit Gewalt Einſeitigkeit er-
zwingen willſt, wo keine iſt, keine ſeyn darf! Ich
rede nicht von deiner Stellung zur allgemeinen Welt,
darüber kann ja, wie geſagt, kein Streit mehr ſeyn,
aber daß du der freundlichſten Seite des Lebens ab-
ſterben und einem Glück entſagen willſt, das dir doch
ſo natürlich wäre, als irgend einem braven Kerl, das
iſt’s, was mich empört. Zwar geb’ ich gerne zu, dir
hat die Liebe nicht ganz zum Beſten mitgeſpielt, ich
läugne nicht, daß du ſeit Agnes —“


„Ach, ſo?“ rief Nolten auf Einmal, wie aus
den Wolken gefallen, „dahinaus? das war die Abſicht,
die du bisher mit ſo viel ſchmeichelhafter Beredtſam-
keit glaubteſt vorbereiten zu müſſen?“


„Sey nicht unbillig, guter Freund! Was ich bis-
her zu deinem Ruhm geſprochen haben mag, war mein
aufrichtiger baarer Ernſt, und es bedarf wohl der
Betheurung nicht erſt zwiſchen uns. Uebrigens magſt
du immerhin den Kuppler in mir ſehen, ich halte dieß
Geſchäft im gegenwärtigen Falle für ein ſehr löbli-
ches und ehrenwerthes. — Wo dich eigentlich der
Schuh drückt, iſt mir ganz wohl bekannt. Deine Lie-
beskalamitäten haben dich auf den Punkt ein wenig
revoltirt, nun ziehſt du dich ſchmerzhaft und gekränkt
n’s Schneckenhaus zurück und ſagſt dir unterwegs
[341] zum Troſte: du bringeſt deiner Kunſt ein Opfer. Du
fürchteſt den Schmerz der Leidenſchaft, ſo wie das
Ueberſchwängliche in ihren Freuden. Zum Teufel aber!
was ſoll man von dem Künſtler halten, der zu feige
iſt, dieß Beides in ſeinem höchſten Maß auf ſich zu
laden? Wie? du, ein Maler, willſt eine Welt hin-
ſtellen mit all ihrer tauſendfachen Wonne und Pein,
und ſteckſt dir vorſichtig die Grenzen aus, wie weit
du wolleſt dich mitfreun und leiden? Ich ſage dir,
das heißt die See befahren und ſein Schiff nicht wol-
len vom Waſſer netzen laſſen!“


„Wie du dich übertreibſt!“ rief Nolten, „wie
du mir Unrecht thuſt! eben als ob ich mir eine Diä-
tetik des Enthuſiasmus erfunden hätte, als ob ich den
Künſtler und den Menſchen in zwei Stücke ſchnitte!
Der leztere, glaub’ mir, er mag ſich drehen, wie er
will, wird immerhin entbehren müſſen, und ohne das
— wer triebe da die Kunſt? Iſt ſie denn was an-
ders, als ein Verſuch, das zu erſetzen, zu ergänzen,
was uns die Wirklichkeit verſagt, zum wenigſten das-
jenige doppelt und gereinigt zu genießen, was jene in
der That gewährt? Muß demnach Sehnſucht nun
einmal das Element des Künſtlers ſeyn, warum bin
ich zu tadeln, wenn ich drauf denke, mir dieß Gefühl
ſo ungetrübt und jung als möglich zu bewahren, in-
dem ich freiwillig verzichte, eh’ ich verliere, eh’
ich’s zum zweiten und zum dritten Male dahin kom-
men laſſe, daß die gemeine Erfahrung mir mein blü-
[342] hend Ideal zerpflückt, daß ich, erſättigt und enttäuſcht
am Gegenſtande meiner Liebe, zulezt daſtehe — arm —
mit welkem Herzen? Du merkſt, ich rede hier zu-
nächſt von dem geprieſenen Glück der Ehe: denn dieß
iſt’s doch, um was deine ganze Demonſtration ſich dreht.“


„Und was gilt es, ich bringe dich noch zurechte,
wenn ich nur erſt deine tollen Prätenſionen herabge-
ſtimmt habe! Wer heißt dich Ideale im Kopf tragen,
wo von Liebe die Rede iſt? Bei allen Grazien und
Muſen! ein gutes natürliches Geſchöpf, das dir einen
Himmel voll Zärtlichkeit, voll aufopfernder Treu’ ent-
gegenbringt, dir den geſunden Muth erhält, den fri-
ſchen Blick in die Welt, dich freundlich losſpannt von
der wühlenden Begier einer geſchäftigen Einbildung
und dich zur rechten Zeit herauslockt in die helle All-
tagsſonne, die doch dem Weiſen wie dem Thoren gleich
unentbehrlich iſt — was willſt du weiter?“


Nolten ſah ſchweigend vor ſich nieder und ſagte
endlich: „Es gab eine Zeit, wo ich eben ſo dachte.“
Er waudte ſich erſchüttert auf die Seite, ging mit
lebhaften Schritten durch den Saal und ließ ſich dann
erſchöpft auf einen entfernten Stuhl nieder.


Der Schauſpieler, nachdem er die Erörterung des
ihm über Alles wichtigen Gegenſtands nicht ohne Klug-
heit und Nachdruck bis hieher geführt, war voll Be-
gierde, den Augenblick zu nutzen, und jezt mit dem
Gedanken an Agnes entſchiedener hervorzutreten,
mußte jedoch von dieſem Wagniß ganz abſtehen, da er
[343] bemerkte, wie heftig Nolten angegriffen war; er
ſuchte deßhalb das Geſpräch zu wenden, allein es
wollte nichts mehr weiter rücken, man war verſtimmt,
man mußte zulezt höchſt unbefriedigt ſcheiden.


Seit ſeiner Haftsentlaſſung hatte Larkens ei-
nen Entſchluß gefaßt, wovon er bis jezt noch gegen
Nolten nichts laut werden ließ. Er wollte auf un-
beſtimmte Zeit die Stadt verlaſſen und in’s Ausland
gehen. In mehr als Einer Hinſicht ſchien dieß wün-
ſchenswerth und nothwendig. Sein Schauſpielkontrakt
war ſeit Kurzem zu Ende, der hieſige Aufenthalt war
ihm durch die öffentlichen Vorfälle verbittert, der Hof
ſelber ſchien ſeine Entfernung, auf eine Zeit wenig-
ſtens, nicht ungerne zu ſehen. Aber dringender als
dieſes Alles empfand er das eigene Bedürfniß, durch
Zerſtreuung, ja durch völlige Entäußerung von ſeiner
bisherigen Lebensweiſe ſich innerlich auszubeſſern und
auszuheilen. Er entdeckte Theobalden ſeine Abſicht,
ſo weit er vor der Hand für räthlich fand, und die-
ſer, obgleich höchſt unangenehm dadurch überraſcht und
faſt gekränkt, konnte bei genauerer Betrachtung nichts
dagegen ſagen.


Wie man aber, ehe an die Zukunft gedacht wird,
vor allen Dingen der Gegenwart und der Vergangen-
heit ihr Recht erzeigen muß, ſo hatte Larkens im
Stillen einen Abend auserſehen, an dem man die Er-
[344] löſung von ſo mancherlei Unluſt und Fährlichkeit recht
fröhlich mit einander feiern wollte. Er beſorgte ein
ausgewähltes Abendeſſen und machte ſich’s beſonders
zum Vergnügen, die kleine, für ein dutzend Gäſte be-
rechnete Tafel auf alle Art mit den früheſten Blumen
und Treibhauspflanzen, ſo wie mit den verſchiedenen Ge-
ſchenken aufzuputzen, deren ſich eine ziemlich bunte Samm-
lung von theilnehmenden Freunden und Gratulanten
eingefunden. Was unter dieſen hübſchen und zum
Theil koſtbaren Dingen am meiſten figurirte, war eine
große Alabaſter-Vaſe von höchſt zierlicher Arbeit,
welche für Nolten beſtimmt, in der Mitte des Ti-
ſches mit üppigen Gewächſen prangte. Sie war eine
Gabe des Malers Tillſen, der ſich heute überhaupt
als einen der herzlichſten und redſeligſten erwies. Der
wunderliche Hofrath hatte nach ſeiner Weiſe die Ein-
ladung nicht angenommen und ſich entſchuldigt, doch
zum Beweis, daß er an Andrer Wohlſeyn Antheil nehme,
einen Korb mit friſchen Auſtern eingeſchickt. Die
übrige Geſellſchaft beſtand meiſt aus Künſtlern.


Unſer Maler, von ſo viel ehrenden Beweiſen der
Freundſchaft gleich Anfangs überraſcht und bewegt,
hatte gegen eine wehmüthige Empfindung anzukämpfen,
die er, eingedenk der heitern Forderung des Augen-
blicks, für jezt abweiſen mußte. Die Unterhaltung im
Ganzen war mehr munter und ſcherzhaft abſpringend,
als ernſt und bedeutend; ja es nahmen die Späße
eines gewiſſen Akteurs und Sängers dergeſtalt über-
[345] hand, daß Jeder eine Weile lang vergaß, ſelbſt etwas
Weiteres zur allgemeinen Ergötzlichkeit beizutragen,
als daß er aus voller Bruſt mitlachte. Larkens,
der Laune ſeines theatraliſchen Kollegen zuerſt nur
von Weitem die Hand bietend, wiegte ſich lächelnd
auf ſeinem Stuhle, während er zuweilen ein Wort
als neuen Zündſtoff zuwarf; bald aber kam auch er
in den Zug, und indem er nach ſeiner Gewohnheit
einen paradoxen Satz aufſtellte, der Jedermann zum
Angriff reizte, wußte er durch den luſtigen Scharfſinn,
womit er ihn verfocht, die lebendigſte Bewegung un-
ter den ſämmtlichen Gäſten zu bewirken, und immer
das Beſte, was in der Natur des Einzelnen verbor-
gen lag, war es Gemüth, Erfahrung oder Witz, mit
Leichtigkeit hervorzulocken, wodurch denn unvermerkt
das Intereſſe des Geſprächs ſich auf das Höchſte ver-
mannichfaltigen mußte. Zulezt als man dem Frohſinn
ein äußerſtes Genüge geleiſtet, ward Larkens zuſe-
hends ſtiller und trüber; er nahm, da man ihn damit
aufzog, keinen Anſtand, zu erklären, daß er der glück-
lichen Bedeutung dieſes Abends im Stillen noch eine
andere für ſich gegeben habe, und daß er ſich die Bitte
vorbehalten, es möge nun auch die Geſellſchaft in eben
dem beſondern Sinne die lezten Gläſer mit ihm leeren;
er werde auf längere oder kürzere Zeit aus der Gegend
ſcheiden, um einige lang nicht geſehene Verwandte auf-
zuſuchen. — Der Vorſatz, ſo natürlich er unter den be-
kannten Umſtänden war, erregte gleichwohl großes, bei-
[346] nahe ſtürmiſches Bedauern, und um ſo mehr, als Ei-
nige vermutheten, man werde den geſchäzten Künſtler,
den ſich die ganze Stadt ſeit Kurzem erſt gleichſam auf’s
Neue wiedergeſchenkt glaubte, bei dieſer Gelegenheit
wohl gar für immerdar verlieren, aber Nolten ver-
bürgte ſich für die treuen Geſinnungen des Flüchtlings.
So wurden denn die Kelche nochmals angefüllt, und
unter mancherlei glückwünſchenden Toaſten beſchloß man
endlich ſpät in der Nacht das muntere Feſt.


Die Ungeduld, mit welcher von jezt an Larkens
ſeinen Abgang betrieb, verhinderte ihn nicht, das fer-
nere Schickſal ſeines Freundes zu bedenken, vielmehr
wenn er ſich bisher zur ernſtlichſten Aufgabe gemacht
hatte, die Neigung Noltens wieder auf die Braut
zurückzulenken, wenn er ſich vermittelſt jenes fromm
täuſchenden Verkehrs mit Agneſen fortwährend von
der Liebenswürdigkeit des Mädchens, von ihrem reinen
und ſchönen Verſtande, aber auch von dem natürlichen
Verlangen überzeugte, womit, wie billig, ein zärtliches
Kind ſich den Geliebten bald für immer in die Arme
wünſcht, wenn er Theobalds ganze Verfaſſung, die
noch immer drohende Nähe Conſtanzens bedachte,
ſo konnte ihm nichts angelegener ſeyn, als dieſem zwei-
felhaften Schwanken einen raſchen und kräftigen Aus-
ſchlag zu geben. Sein Plan deßhalb ſtand feſt, aber er
ſollte erſt nach ſeiner Abreiſe in Wirkung treten, ja es
[347] war der günſtige Erfolg, deſſen er ſich vollkommen ver-
ſichert hielt, gewiſſermaßen auf ſeine Entfernung be-
rechnet.


Nun ſchrieb er an Agneſen, und wirklich, er
dachte nur ungerne daran, daß es zum lezten Male ſey.
Was für ein Thor man doch iſt! rief er aus, indem er
nachdenklich die Feder weglegte. Mitunter hat es mich
ergözt, von der innerſten Seele dieſes lieblichen Weſens
gleichſam Beſitz zu nehmen, und um ſo größer war
mein Glück, je mehr ich’s unerkannt und wie ein Dieb
genießen konnte. Ich bilde mir ein, das Mädchen wolle
mir wohl, während ich ihr in der That ſo viel wie
Nichts bedeute; ich ſchütte unter angenommener Firma
die ganze Gluth, die lezte, mühſam angefachte Kohle
meines abgelebten Herzens auf dieß Papier und ſchmeichle
mir was Rechts bei dem Gedanken, daß dieſes Blatt
ſie wiederum für mich erwärme. O närriſcher Teufel
du! kannſt du nicht morgen verſchollen, geſtorben, be-
graben ſeyn, und wächst der Schönen drum auch nur
ein Härchen anders? Bei alle dem hat mir die Täu-
ſchung wohl gethan, ſie half mir in hundert ſchwülen
Augenblicken den Glauben an mich ſelbſt aufrecht er-
halten. Es fragt ſich, ob es nicht ähnliche Täuſchun-
gen gibt, eben in Bezug auf unſre herrlichſten Gefühle?
Uod doch, es ſcheint in Allen etwas zu liegen, das ih-
nen einen ewigen Werth verleiht. Geſezt, ich werde
dieſem wackern Kinde an keinem Orte der Welt von
Angeſicht zu Angeſicht begegnen, geſezt, es bliebe ihr all
[348] meine warme Theilnahme für immerdar verborgen, ſoll
das der Höhe meines glücklichen Gefühls das Mindeſte
benehmen können? Wird denn die Freude reiner Zu-
neigung, wird das Bewußtſeyn einer braven That nicht
dann erſt ein wahrhaft Unendliches und Unveräußer-
liches, wenn du damit ganz auf dich ſelbſt zurückgewie-
ſen biſt?


Er nahm jezt in Gedanken den herzlichſten Abſchied
von dem Mädchen, und weil nach ſeiner Berechnung
ſchon ihr nächſter Brief wieder unmittelbar an Nolten
kommen ſollte, ſo gab er ihr deßhalb die nöthige Wei-
ſung, jedoch ſo, daß ſie dabei nichts weiter denken konnte.


Verrieth nun das Benehmen des Schauſpielers in
dieſen lezten Tagen überhaupt eine gewiſſe Unruhe und
Beklommenheit, ſo war er bei dem Abſchied von Theo-
bald
noch weniger im Stande, eine heftige Bewegung
zu verbergen, welche, zuſammengehalten mit einigen
ſeiner Aeußerungen, auf ein geheimes Vorhaben hinzu-
deuten ſchien und unſerm Maler wirklich auf Augen-
blicke ein unheimliches Gefühl gab, das denn Larkens
nach ſeiner Art, wobei man oft nicht ſagen konnte, ob
es Ernſt oder Spaß ſey, ſchnell wieder zu zerſtreuen
wußte.


Uebrigens fühlte Nolten die große Lücke, welche
durch des Schauſpielers Entfernung nothwendig nach
Innen und Außen bei ihm entſtehen mußte, nur allzu-
bald, und die vielfachen Nachfragen der Leute zeigten
ihm genugſam, daß er nicht als der Einzige bei dieſer
[349] Veränderung entbehre. Die beiden Freunde Leopold
und Ferdinand reiſ’ten indeſſen auch ab, und doppelt
und dreifach ward jezt des Malers Verlangen geſchärft,
das Gleichgewicht ſeines Weſen vollkommen herzuſtellen.
Der Entwurf eines neuen Werkes, wozu die erſte Idee
während der Gefangenſchaft bei ihm entſtanden war,
lag auf dem Papier, und nun ging es an die Ausfüh-
rung mit einer Luſt, mit einem Selbſtvertrauen, der-
gleichen er nur in den glücklichſten Jahren ſeines erſten
Strebens gehabt zu haben ſich erinnerte. Dennoch
mußte er nach und nach bemerken, daß ihm zu einer
völligen Freiheit der Seele noch Vieles fehlte; er ward
verdrießlich, er ſtellte die Arbeit unwillig zurück, er
wußte nicht, was ihn hindere.


Eines Morgens bringt man ihm die Schlüſſel zu
den Zimmern des Schauſpielers. Dieſer hatte ſie bei
ſeiner Abreiſe einem dritten Freunde mit dem ausdrück-
lichen Wunſche hinterlaſſen, daß er ſie erſt nach Verfluß
einiger Tage an den Maler ausliefere, welcher dann
nicht ſäumen möge, die Zimmer aufzuſchließen und was
darin ſich vorfinde, theils in Empfang zu nehmen, theils
zu beſorgen. Zugleich erhielt Nolten ein Verzeichniß
der ſämmtlichen Effekten, nebſt Angabe ihrer Beſtim-
mung. Er ſtuzte nicht wenig über dieſe ſonderbare
Kommiſſion und befragte jene Mittelsperſon mit eini-
ger Aengſtlichkeit: Was denn das Alles zu bedeuten
hätte? Der junge Menſch aber wußte nicht viel weiter
Beſcheid zu geben und entfernte ſich bald. Sogleich
[350] öffnete Nolten die Zimmer, wo er Mobilien, Bücher,
Kupferſtiche, Uhren und dergleichen wie ſonſt in der
beſten Ordnung fand. Alsbald aber zogen einige an
ihn überſchriebene Pakete, die auf einem Tiſchchen be-
ſonders hingerüſtet waren, ſeine Augen auf ſich. Ha-
ſtig riß er den Brief auf, welcher obenan lag. Gleich bei den
erſten Linien gerieth Nolten in die größte Bewegung, es
zitterte das Blatt in ſeiner Hand, er mußte inne halten, er
las auf’s Neue, bald von vorne, bald aus der Mitte,
bald von hinten herein, als müßte er die ganze bit-
tere Ladung auf Einmal in ſich ſchlingen. Inzwiſchen
fiel ſein Blick auf die übrigen Pakete, deren eines die
Ueberſchriften hatte: „Briefe von Agnes. Von de-
ren Vater. Meine Briefkoncepte an Agnes.“ Ein
anderes zeigte den Titel: „Fragmente meines Tage-
buchs.“ Ohne recht zu wiſſen was er that, griff er
nochmals nach dem einzelnen Schreiben, er durchlief
es ohne Beſinnung, indem er ſich von einem Zimmer,
von einem Fenſter zum andern raſtlos bewegte; er
wollte ſich faſſen, wollte begreifen, nachdem er ſchon
Alles begriffen, Alles errathen hatte. Er warf ſich
auf’s Sopha nieder, die Ellbogen auf die Kniee ge-
ſtüzt, das Geſicht in beide Hände gedrückt, ſprang
wieder auf und ſtürzte wie ein Unſinniger umher.


Sein Bedienter hatte ſo eben das Pferd zum
Spazierritt vorgeführt und meldete es ihm. Er be-
fahl, es wegzuführen, er befahl, noch zu warten, er
widerſprach ſich zehnmal in Einem Athem. Der Bur-
[351] ſche ging, ohne ſeinen Herrn verſtanden zu haben.
Nach einer halben Stunde, während welcher Nol-
ten
, weder die übrigen Papiere anzuſehen, noch ſich
einigermaßen zu beruhigen vermocht hatte, wieder-
holte der Diener ſeine Anfrage. Raſch nahm der
Maler Hut und Gerte, ſteckte die nöthigſten Papiere
zu ſich und entkam wie betrunken der Stadt. Wir
wenden uns auf kurze Zeit von ihm und ſeinem trau-
rigen Zuſtande weg und ſehen inzwiſchen nach jenem
wichtigen Schreiben.


Larkens an Nolten.


„Indem Du dieſe Zeilen lieſeſt, iſt der, der ſie ge-
ſchrieben, ſchon viele Meilen weit von Dir entfernt,
und wenn er Dir denn die Abſicht geſteht, daß er
ſich fortgeſtohlen, um ſo bald nicht wieder zu kehren,
daß er ſeinen bisherigen Verhältniſſen auf immer,
und auch Dir, dem einzigen Freunde, vielleicht auf
Jahre ſich entziehen will, ſo ſoll folgendes Wenige
dieſen Schritt, ſo gut es kann, rechtfertigen.


Gewiß klingt es Dir ſelber bald nicht mehr wie
ein hohles und frevelhaft übertriebenes Wort, was
Du wohl ſonſt manchmal von mir haſt hören müſſen:
mein Leben hat ausgeſpielt, ich habe angefangen, mich
ſelber zu überleben. Das iſt mir ſo klar geworden
in der lezten Zeit, wo ja unſer einer wahrhaftig
ſchöne Gelegenheit hatte, die Reſultate von dreißig
Jahren wie Fäden mit den Fingern auszuziehn. Ich
[352] mag Dir die alte Litanei nicht vorſingen; genug, mir
iſt in meiner eignen Haut nimmer wohl. Ich will
mir weiß machen, daß ich ſie abſtreife, indem ich von
mir thue, was bisher unzertrennlich von meinem We-
ſen ſchien, vor Allem den Theater-Rock, und dann
noch das Eine und Andere, was ich nicht zu ſagen
brauche. Mancher grillenhafte Heilige ging in die
Wüſte und bildete ſich ein, dort ſeine Tagedieberei
gottgefälliger zu treiben. Ich habe noch immer etwas
Beſſeres wie das im Sinn. Am End’ iſt’s freilich
nur eine neue Fratze, worin ich mich ſelber hinterge-
hen möchte; und fruchtet’s nicht, nun ſo geruht viel-
leicht der Himmel, der armen Seele den lezten Dienſt
zu erweiſen, davor mir denn auch gar nicht bang
ſeyn ſoll.


Den Abſchied, Lieber, erlaſſ’ mir! O ich darf
nicht denken, was ich mit Dir verliere, herrlicher
Junge! Aber ſtill; Du weißt, wie ich Dich am Her-
zen gehegt habe, und ſo iſt auch mir Deine Liebe
wohl bewußt. Das iſt kein geringer Troſt auf mei-
nen Weg. Auch kann es ja gar wohl werden, daß
wir uns an irgend einem Fleck der Erde die Hände
wieder reichen. Aber wir thun auf alle Fälle gut,
dieſe Möglichkeit als keine zu betrachten. Uebrigens
forſche nicht nach mir, es würde gewiß vergeblich ſeyn.


Und nun die Hauptſache.


Mit den Paketen übergeb’ ich Dir ein wichtiges,
ich darf ſagen, ein heiliges Vermächtniß. Es betrifft
[353] Deine Sache mit Agneſen, die mich dieſe lezten
zehn Monate faſt einzig beſchäftigte. Mein Lieber!
ich bitte dich, höre mich ruhig und vernünftig an.


In der gewiſſeſten Ueberzeugung, daß die Zeit
kommen müſſe, wo Dein heißeſtes Gebet ſeyn werde,
mit dieſem Mädchen verbunden zu ſeyn, ergriff ich
ein gewagtes Mittel, Dir den Weg zu dieſem Heilig-
thume offen zu halten. Vergib den Betrug! nur
meine Hand war falſch, mein Herz gewißlich nicht:
ich glaubte das Deine treulich abzuſchreiben; ſtraf’
mich nicht Lügen! Laßt mich den Propheten eurer
Liebe geweſen ſeyn! Ihr Märtyrer war ich ohnehin;
denn indem ich Deiner Liebe Roſenkränze flocht, meinſt
du, es habe ſich nicht manchmal ein Dorn in mein
eigen Fleiſch gedrückt? Doch das gehört ja nicht hie-
her; genug, wenn meine Epiſteln ihren Dienſt ge-
than. Fahre Du nun mit der Wahrheit fort, wo ich
die Täuſchung ließ. O Theobald — wenn ich je-
mals etwas über Dich vermochte, wenn je der Name
Larkens den Klang der lautern Freundſchaft für
Dich hatte, wenn Dir irgend das Urtheil eines Men-
ſchen richtiger, beſſer ſcheinen konnte als Dein eignes,
ſo folge mir dießmal! Hätt’ ich Worte von durch-
dringendem Feuer, hätt’ ich die goldne Rede eines
Gottes, jezt würd’ ich ſie gebrauchen, um Dein In-
nerſtes zu rühren, Freund, Liebling meiner Seele! —
So aber kann ich’s nicht; mein Kiel iſt ſtumpf, mein
Ausdruck matt, Du weißt ja, es iſt alle Schönheit
23
[354] von mir gewichen; die dürre nackte Wahrheit blieb
mir allein, ſie und — die Reue. Vor dieſer möcht’
ich Dich bewahren. Ich bin Dein guter Genius, und
indem ich von Dir ſcheide, ſey Dir ein andrer, beſ-
ſerer, empfohlen. Ich meine Agneſen. Setze das
Mädchen in ſeine alten Rechte wieder ein. Du fin-
deſt auf der Welt nichts Himmliſchers, als die Seele
dieſes Kindes iſt. Glaub’ mir das, Nolten, ſo ge-
wiß, als ſchwür’ ich’s auf dem Todtenbette. — Du
haſt Dich in Deinem Argwohn garſtig geirrt. Lies
dieſe Briefe, namentlich des Vaters, und es wird Dir
wie Schuppen von den Augen fallen. Dann aber
zaudre auch nicht länger; faſſe Dich! Eile zu ihr,
tritt ſorglos unter Ihre Augen, ſie wird nichts frem-
des an Dir wittern, ſie weiß nichts von einer Zeit,
da Theobald ihr minder angehört als ſonſt; das
Feld iſt durchaus frei und rein zwiſchen euch.


Es ſteht bei Dir, ob der gute Tropf das Inter-
mezzo erfahren ſoll oder nicht; bevor ein paar Jahre
vorüber, würd’ ich kaum dazu rathen. Dann aber
wird euch ſeyn, als hättet ihr einmal in einem Som-
mernachstraum
mitgeſpielt, und Puck, der täu-
ſchende Elfe, lacht noch in’s Fäuſtchen über dem wohl-
gelungenen Zauberſpaß. Dann gedenket auch meiner
mit Liebe, ſo wie man ruhig eines Abgeſchiednen denkt,
nach welchem man ſich wohl zuweilen ſehnen mag,
doch deſſen Schickſal wir nicht beklagen dürfen.“


[355]

Auf einem beſondern Zettel befand ſich noch fol-
gende


Nachſchrift.


„Schon war mein Brief geſchloſſen, als es mir
nachgerade gewaltigen Skrupel machte, Dir einen Um-
ſtand verſchwiegen zu haben, der Dich vielleicht ver-
drießen mag, mir aber ad inelinandam rem nicht
wenig dienen konnte. Ein Winkelzug gegen die Gräfin.
So höre denn, und fluche mir die ganze Hölle auf
den Hals und heiſſ’ mich einen Schurken, wenn Du
das Herz haſt — ich weiß doch, was ich zu thun
hatte. Conſtanze wurde durch mich, oder vielmehr
durch einen angelegten Zufall (hinter welchem ſie we-
der mich noch ſonſt Jemand vermuthen kann) avertirt,
daß ein gewiſſer Freund bereits irgendwo auf der
Liſte der glücklichen Bräutigame ſtehe. — Ich hoffe
nicht, Dich durch den Coup zu ſtark kompromittirt zu
haben, und ein Weniges war ſchon zu wagen. Wenn
ihr die Neuigkeit nicht ſchmeckte, ſo iſt das in der
Regel; nicht, weil ſie in Dich verliebt, ſondern weil
ſie ein Weib iſt. Wir haben die Ungnade, worein
ſie uns gleich auf jenes Poſſenſpiel hat fallen laſſen,
einer elenden Konvenienz gegen die Hofſippſchaft zu-
geſchrieben, und eines Theils bin ich noch jezt der
Meinung; geſteh’ ich Dir nun aber zugleich, daß ſie
um die nämliche Zeit auch die Agneſiana zu ſchlu-
cken bekam, ſo ſeh’ ich ſchon im Geiſt voraus, an was
für neuen verzweifelten Hypotheſen nun plötzlich Dein
[356] armer Kopf anrennen wird. Wie, wenn Madam ſich
mit ganz andern Gründen zum Zorne hinter’s allge-
meine Zeter ihrer Schranzen verſteckt hätte? Holla!
das läuft dem guten Jungen heiß und kalt über die
Leber! Auch will ich ein Rhinozeros von Propheten
ſeyn, wenn ſich Dir nicht in dieſem Augenblick die
rührende Geſtalt von der Ferne zeigt, den ſchwarzen
Lockenkopf in Trauer hingeſenkt, weinend um Deine
Liebe. Ein verführeriſch Bild, fürwahr, dem ſchon
Dein Herz entgegen zuckt! Doch halt, ich weiſe Dir
ein anderes. — In dem ſonnigen Gärtchen hinter des
Vaters Haus betrachte mir das ſchlichte Kind, wie es
ein fröhlich Liedchen ſummt, ſeine Veilchen, ſeine
Myrthen begiest. Man ſieht ihr an, ſie hat den
Strauß im Sinne, den ihr heimkehrender Verlobter bald
unter tauſend tauſend Küſſen zum Willkomm haben
ſoll; jeden Tag, jede Stunde erwartet ſie ihn — —


Was nun? wohin, Kamerade? Nicht wahr, ein
bittrer Scheideweg? Hier wollt ich Dich haben! ſo
weit mußt’ ich’s führen. Der Rückweg zu Conſtan-
zen
— vielleicht er ſteht noch offen, ich zeig’ ihn
Dir, nachdem Du ihn ſchon für immer verſchloſſen
geglaubt. Du ſollteſt freie Wahl haben; das war
ich Dir ſchuldig. Inzwiſchen haſt Du gelernt, es ſey
auch möglich, ohne eine Conſtanze zu leben, und
damit mein’ ich, iſt unendlich viel gewonnen.


Theobald! noch einmal: denk’ an den Gar-
ten! Neulich hat ſie die Laube zurecht gepuzt, die
[357] Bank, wo der Liebſte bei ihr ſitzen ſoll. Wirſt Du
bald kommen? wirſt Du nicht? — Wag’ es ſie zu
betrügen! Den hellen ſüßen Sommertag dieſer ſchuld-
loſen Seele mit Einem verzweifelten Streiche hinzu-
ſtürzen in eine dumpfe Nacht, wehe! das wimmernde
Geſchöpf! Thu’s, und erlebe, daß ich in wenig Mon-
den, ein einſamer Wallfahrer, auf des Mädchens Grab-
hügel die kraftloſe Poſſe, das Nichts unſrer Freund-
ſchaft, und die zerſchlagene Hoffnung beweine, daß
mein elendes Leben, kurz eh ich’s ende, doch wenig-
ſtens noch ſo viel nutz ſeyn möchte, zwei gute Men-
ſchen glücklich zu machen.“


Wer war unglücklicher als der Maler? und wer
hätte glücklicher ſeyn können als er, wäre er ſogleich
fähig geweſen, ſeinem Geiſte nur ſo viel Schwung zu
geben, als nöthig, um einigermaßen ſich über die Um-
ſtände, deren Forderungen ihm furchtbar über das
Haupt hinaus wuchſen, zu erheben und eine klare
Ueberſicht ſeiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte
er noch weit. In einer ihm ſelbſt verwunderſamen,
traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langſam,
bald hitzig einen einſamen Feldweg, und ſtatt daß er,
wie er einige Mal verſuchte, wenigſtens die Punkte,
worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken
können, ſah er ſich, wie eigen! immer nur von einer
monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm
irgend ein Kobold zur höchſten Unzeit neckiſch in den
[358] Ohren lag. Mochte er ſich Gewalt anthun ſo viel
und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer
wieder und ſchnurrte, vom Takte des Reitens unter-
ſtüzt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zuſam-
menhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war
ihm gegönnt; ein unerträglicher Zuſtand. „Um Got-
teswillen, was iſt doch das?“ rief er zähneknirſchend,
indem er ſeinem Pferde die Sporen heftig in die Sei-
ten drückte, daß es ſchmerzhaft auffuhr und unauf-
haltſam dahinſprengte. „Bin ich’s denn noch? kann
ich dieſen Krampf nicht abſchütteln, der mich ſo ſchnürt?
Und was iſt’s denn weiter? wie, darf dieſe Entdeckung
ſo ganz mich vernichten? was iſt mir denn verloren,
ſeit ich das Alles weiß? genau beſehen — Nichts, ge-
wonnen — Nichts — ei ja doch, ein Mädchen, von
dem mir Jemand ſchreibt, ſie ſey ein wahres Gottes-
lamm, ein Sanspareil, ein Angelus!“ Er lachte
herzlich über ſich ſelbſt, er jauchzte hell auf und lachte
über ſeine eignen Töne, die ganz ein andres Ich aus
ihm herauszuſtoßen ſchien.


Indem er noch ſo ſchwindelt und ſchwärmt, ſtellt
ſich ſtatt jener muſikaliſchen Spuckerei eine andere
Sucht bei ihm ein, die wenigſtens keine Plage war.
Seine aufgeregte Einbildungskraft führte ihm mit un-
begreiflicher Schnelligkeit eine ganze Schaar maleri-
ſcher Situationen zu, die er ſich in fragmentariſch-
dramatiſcher Form, von dichteriſchen Worten lebhaft
begleitet, vorſtellen und in großen Contouren haſtig
[359] ausmalen mußte. Das Wunderlichſte dabei war,
daß dieſe Bilder nicht die mindeſte Beziehung auf
ſeine eigne Lage hatten, es waren vielmehr, wenn
man ſo will, reine Vorarbeiten für den Maler, als
ſolchen. Er glaubte niemals geiſtreichere Konceptionen
gehabt zu haben, und noch in der Folge erinnerte er
ſich mit Vergnügen an dieſe ſonderbar inſpirirte
Stunde. Wir ſelbſt preiſen es mit Recht als einen
himmliſchen Vorzug, welchen die Muſe vor allen an-
dern Menſchen dem Künſtler dadurch gewährt, daß ſie
ihn bei ungeheuren Uebergängen des Geſchickes mit
einem holden energiſchen Wahnſinn umwickelt und ihm
die Wirklichkeit ſo lange mit einer Zaubertapete be-
deckt, bis der erſte gefährliche Augenblick vorüber iſt.


Auf dieſe Weiſe hat ſich unſer Freund beträcht-
lich von der Stadt entfernt, und ehe er ihr von einer
andern Seite wieder näher kommt, ſieht er unfern in
einer anmuthigen Kluft die ſogenannte Heer-Mühle
liegen, einen ihm wohlbekannten, durch manchen Spa-
ziergang werth gewordenen Ort. Er war ein ſtets
gerne geſehener Gaſt bei dem Müller, welcher zu der-
jenigen Gattung von Pietiſten gehörte, mit denen Je-
dermann gut auskommt. In gewiſſer Art konnte der
Mann für unterrichtet gelten, nur hatte er Urſache,
manche Eigenheiten zu verbergen, deren er ſich mit-
unter ſchämte; ſo hatte er, da er anfänglich zur Schrei-
berei beſtimmt, in alten Sprachen nicht ganz unwiſ-
ſend war, ſich noch bei vorgerücktem Alter in den
[360] Kopf geſezt, die heiligen Schriften alten und neuen
Teſtaments im Urtexte zu leſen, wobei es hauptſäch-
lich auf chiliaſtiſche Zwecke mochte abgeſehen ſeyn.
Nach einem ſehr mühſamen und wenig geordneten
Studium von mehreren Jahren ſah er ſich ungern
überzeugt, daß Alles eitel Stückwerk bei ihm ſey und
das ganze ſchöne Unternehmen auf Nichts hinauslaufe.
Aus Verdruß über die verlorne Zeit warf er ſich in
kecke ökonomiſche Spekulationen, dabei er denn zwar
keinen Schaden, doch auch nicht ganz ſeine Rechnung
fand. Seine Frau, eine kluge und ſtille Haushälterin,
wußte ihn mit guter Art zu lenken und zu leiten,
niemals rückte ſie ihm ſeinen Irrthum ausdrücklich vor,
auch wenn ſie ihn denſelben fühlen ließ, und da ihm nichts
Unangenehmeres begegnen konnte, als wenn er irgend-
wie an die Nichtigkeit jenes wiſſenſchaftlichen Trei-
bens erinnert ward, ja da er, um nur kein Unrecht
einzugeſtehn, ſich auch wohl die Miene gab, als wür-
den ihm jene Forſchungen ſeiner Zeit noch die reich-
lichſten Zinſe abwerfen, ſo ſchonte das Weib dieſe
Schwachheit gerne und war heimlich zufrieden, wenn
ſie ihm eine neue falſche Idee vergeſſen machen konnte.
Uebrigens kannte man ihn als einen muntern, redſe-
ligen Geſellſchafter, als den beſten Gatten und Vater
ſeiner größtentheils ſchon wohlverſorgten Familie.


Nolten ſehnte ſich nach der harmloſen Gegen-
wart eines menſchlichen Weſens eben ſo ſehr, als er
ſich ungeſchickt fühlte, an irgend einer Geſellſchaft Theil
[361] zu nehmen; er überlegte deßhalb ſo eben, ob er den
Pfad nach der Mühle hinunter einſchlagen oder
nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein
Müllerknecht begegnet, der ihm ſagt, Herr und
Frau wären über Feld und kämen vor Abend
nicht nach Hauſe. Wie erwünſcht war dem Maler
die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur ſein trau-
liches Plätzchen in des Müllers Wohnſtube aufſuchen:
es ſchien ihm dieß der einzige Ort der Welt, der ſei-
ner gegenwärtigen Verfaſſung tauge. Und er hatte
Recht; denn wer machte nicht ſchon die Erfahrung,
daß man einen verwickelten Gemüthszuſtand, gewiſſe
Schmerzen, Ueberraſchungen und Verlegenheiten weit
leichter in irgend einer fremden ungeſtörten Umgebung,
als innerhalb der eignen Wände bei ſich verarbeite?
Nolten gab ſein Pferd in den Stall, wo man ihn
ſchon kannte, und trat in die reinliche braun getäfelte
Stube, wo er Niemanden traf, nur in der Kammer
neben ſaß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen,
das ein kleineres Brüderchen im Schooſe hatte. Eine
ältere Tochter Juſtine, eine Prachtdirne, ſchlank
und rothwangig mit kohlſchwarzen Augen, trat herein
unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte,
daß die Eltern abweſend ſeyen, lief gleich nach den
Kellerſchlüſſeln und freute ſich, als Nolten ihr er-
laubte, weil man im Hauſe ſchon gegeſſen hatte, ihm
wenigſtens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen.
Er nahm ſogleich ſeine alte Bank und das Fenſter
[362] ein, von wo man unmittelbar auf die Waſſerſperre
hinunter und weiter hinaus auf das erquickendſte
Wieſengrün und runde Hügel ſah. Um wie viel lieb-
licher, eigener kam ihm an dieſer beſchränkten Stelle
Frühling und Sonnenſchein vor, als da ihn dieſer
noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte
er ſo auf den Spiegel des Waſſers, er fühlte ſich
ſonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und
zugleich ſicher in dieſer eingeſchloſſ’nen Gegenwart.
Auf einmal zog er die Papiere aus der Taſche, das
nächſte, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne
Wahl zuerſt öffnen: es waren Briefe ſeiner Braut,
vermeintlich an Theobald geſchrieben. Er ſieht hin-
ein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefeſſelt,
bei der ſein Inneres von einer ihm längſt fremd ge-
wordnen Empfindung anzuſchwellen beginnt; er will
zu leſen fortfahren, als er Juſtinen mit Gläſern
kommen hört; ganz unnöthigerweiſe verbirgt er ſchnell
den Schatz, aber ihm iſt wie einem Diebe zu Muth,
der eine Beute vom höchſten, ihm ſelber noch nicht
ganz bekannten Werth, bei jedem Geräuſche erſchro-
cken zu verſtecken eilt. Das Mädchen kam und fing
lebhaft und heiter zu ſchwatzen an, in deſſen Erwie-
derung Nolten ſein Möglichſtes that. Sie mochte
merken, daß ſie überflüſſig ſey, genug, ſie entfernte
ſich geſchäftig und ließ den Gaſt allein. Er iſt zu-
fällig vor einen kleinen ſchlechten Kupferſtich getreten,
der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur
[363] vorſtellt; unten ſtehn ein paar fromme Verſe, die er
in frühſter Jugend manchmal im Munde ſeiner ver-
ſtorbenen Mutter gehört zu haben ſich ſogleich erin-
nert. Wie es nun zu geſchehen pflegt, daß oft der
geringſte Gegenſtand, daß die leichteſte Erſchütterung
dazu gehört, um eine ganze Maſſe von Gefühlen, die
im Grunde des Gemüths gefeſſelt lagen, plötzlich ge-
waltſam zu entbinden, ſo war Noltens Innerſtes
auf Einmal aufgebrochen und ſchmolz und ſtrömte in
einer unbeſchreiblich ſüßen Fluth von Schmerz dahin.
Er ſaß, die Arme auf den Tiſch gelegt, den Kopf dar-
auf herabgelaſſen. Es war, als wühlten Meſſer in
ſeiner Bruſt mit tauſendfachem Wohl und Weh. Er
weinte heftiger und wußte nicht, wem dieſe Thränen
galten. Die Vergangenheit ſteht vor ihm, Agnes
ſchwebt heran, ein Schauer ihres Weſens berührt
ihn, er fühlt, daß das Unmögliche möglich, daß Altes
neu werden könne.


Dieß ſind die Augenblicke, wo der Menſch willig
darauf verzichtet, ſich ſelber zu begreifen, ſich mit den
bekannten Geſetzen ſeines bisherigen Seyns und Em-
pfindens übereinſtimmend zu vergleichen; man über-
läßt ſich getroſt dem göttlichen Elemente, das uns
trägt, und iſt gewiß, man werde wohlbehalten an ein
beſtimmtes Ziel gelangen.


Nolten hatte keine Ruhe mehr an dieſem Ort,
er nahm ſchnell Abſchied und ritt gedankenvoll im
Schritt nach Hauſe.


[364]

Wie er den Reſt des Tages hingebracht, was
Alles in ihm ſich hin und wieder bewegte, was er
dachte, fürchtete, hoffte, wie er ſich im Ganzen em-
pfunden, dieß zu bezeichnen wäre ihm vielleicht ſo
unmöglich geweſen als uns, zumal er die ganze Zeit
von ſich ſelbſt wie abgeſchnitten war durch einen un-
ausweichlichen Beſuch, den er zwar endlich an einen
öffentlichen Ort, wo man viele Geſellſchaft traf, glück-
lich abzuleiten wußte, ohne ſich jedoch ganz entziehen
zu dürfen.


Entſchieden war er nun freilich ſo weit, daß er
Agneſen aufſuchen müſſe und wolle. Noch hatte
er die ſchriftliche Darſtellung der Thatſachen, welche
ſo ſehr zur Rechtfertigung des theuren Kindes dien-
ten, gar nicht angeſehn; ein ſtiller Glaube, der das
Wunderbarſte vorausſezte und keinen Zweifel mehr
zuließ, war dieſe lezten Stunden in ihm erzeugt wor-
den, er wußte ſelbſt nicht wie. Doch als er in der
Nacht die merkwürdigen Berichte des Förſters las,
als ihm Larkens’s Tagebuch ſo manchen erklären-
den Wink hiezu gab, wie ſehr mußte er ſtaunen! wie
graute ihm, jener ſchrecklichen Eliſabeth überall zu
begegnen! mit welcher Rührung, welchem Schmerz
durchlief er die Krankheitsgeſchichte des ärmſten der
Mädchen, dem die Liebe zu ihm den bittern Leidens-
kelch miſchte! Und ihre Briefe nun ſelbſt, in denen
das ſchöne Gemüth ſich wie verjüngt darſtellte! —
Der ganz unfaßliche Gedanke, dieß einzige Geſchöpf,
[365] wann und ſo bald es ihm beliebe, als Eigenthum an
ſeinen Buſen ſchließen zu können, durchſchütterte wech-
ſelnd alle Nerven Theobalds. Auf Einmal über-
ſchattete ein unbekanntes Etwas die Seligkeit ſeines
Herzens. Dieſe zärtlichen Worte Agneſens, wem
anders galten ſie, als Ihm? und doch will ihm auf
Augenblicke dünken, er ſey es nicht: ein Luftbild habe
ſich zwiſchen ihn und die Schreiberin gedrungen, habe
den Geiſt dieſer Worte voraus ſich zugeeignet, ihm
nur die todten Buchſtaben zurücklaſſend. Ja, wie es
nicht ſelten im Traume begegnet, daß uns eine Per-
ſon bekannt und nicht bekannt, zugleich entfernt und
nahe ſcheint, ſo ſah er die Geſtalt des lieben Mäd-
chens gleichſam immer einige Schritte vor ſich, aber
leider nur vom Rücken; der Anblick ihrer Augen, die
ihm das treuſte Zeugniß geben ſollten, war ihm ver-
ſagt; von allen Seiten ſucht er ſie zu umgehn, um-
ſonſt, ſie weicht ihm aus: ihres eigentlichen Selbſts
kann er nicht habhaft werden.


Zu dieſen Gefühlen von ängſtlicher Halbheit, wo-
von ihn, wie er wohl vorausſah, nur die unmittel-
bare Nähe Agneſens losſprechen konnte, geſellten
ſich noch Sorgen andrer Art. Das unbegreifliche Ver-
hängniß, daß die räthſelhafte Perſon der Zigeunerin
auf’s Neue die Bahn ſeines Lebens, und auf ſo ab-
ſichtlich gefahrdrohende Weiſe durchkreuzen mußte, der
Gedanke, wie nahe er ſelbſt ihr, ohn’ es zu wiſſen,
neuerdings wieder gekommen (denn des Schauſpielers
[366] Tagebuch entdeckte ihm ihre zweimalige Anweſenheit),
dieß Alles gab ihm mancherlei zu ſinnen und weckte
die Beſorgniß, es möchte die Verrückte über kurz oder
lang ihm in den Weg treten, oder hinter ſeinem Rü-
cken, vielleicht in dieſem Augenblick, zu Neuburg
wiederholte Verwirrung anſtiften. Ein weiterer Ge-
genſtand ſeiner Unruhe war Larkens; er wußte die
treffliche Abſicht des Freundes, wenn er gleich die
einzelnen Schritte nicht billigen konnte, ja zum Theil
ſie bitter zu ſchelten geneigt war, doch von der rech-
ten Seite zu nehmen und dankbar zu ſchätzen; er er-
kannte auch darin eine kluge Vorſicht deſſelben, wenn
er durch ſeine eigene Entfernung alles weitere Unter-
handeln über die Pflicht, über Neigung oder Abnei-
gung Noltens in dieſer zweifelhaften Sache völlig
zwiſchen ſich und ihm abſchneiden und den Maler, in-
dem er ihn ganz auf ſich ſelber ſtellte, zwingen wollte,
das Gute, Nothwendige friſch zu ergreifen — Aber
was ſollte man überhaupt von der eiligen Flucht des
Schauſpielers denken? welchem Schickſal ging der un-
faßliche Mann entgegen? Beinahe ſeiner ſämmtlichen
häuslichen Habe hat er ſich entäußert, ein großer
Theil war ohne Zweifel in’s Geld geſezt, ein anderer,
der hier zurückblieb, entweder zu Geſchenken beſtimmt,
oder ſollte er durch Nolten verwerthet und zu Be-
friedigung der Gläubiger verwendet werden. Mangel
für Larkens ſelber war nicht zu fürchten. Aber
wenn aus Allem hervorging, daß eine tiefe Erſchö-
[367] pfung, ein verjährter Schmerz ihn in die Weite trieb,
wenn ſogar einige Stellen ſeines Briefs auf eine
freiwillig gewaltſame Erfüllung ſeines Schickſals ge-
deutet werden konnten — ſo frage man, wie Nol-
ten
dabei zu Muthe geweſen! Eine dritte und nicht
die kleinſte Sorge war ihm die ſchlimme und ſelbſt
verächtliche Meinung, womit die Gräfin, ſeit ſie durch
Larkens einſeitig und falſch von dem Verhältniß zu
Agneſen unterrichtet worden, ihn nothwendig anſe-
hen mußte. Nicht als ob er fürchtete, es hätte ſie
eine ſolche Entdeckung irgend unglücklich gemacht, denn
in der That war ſeine Vorſtellung von der Leidenſchaft
Conſtanzens bedeutend herabgeſtimmt, und höch-
ſtens wollte er glauben, daß ihr ſeine Liebe einiger-
maßen habe ſchmeicheln können, aber da er ihr doch
ſeine Abſicht damals ſo dringend, ſo entſchieden be-
kannt hatte, wie elend, wie verrucht mußte er als
Verlobter vor ihr erſcheinen, wie tückiſch und plan-
voll ſein Schweigen über dieſe Verbindung! Mußte
ſie ſich, abgeſehn von jedem eignen leidenſchaftlichen
Intereſſe, nicht inſofern perſönlich für beleidigt halten,
als ſchon der Verſuch, ſie mit zum Gegenſtande eines
ſo zweideutigen Spieles zu machen, einen Mangel der
Achtung bewies, deren ſie ſich von Nolten hätte
verſichert halten dürfen? Schien in dieſem Sinne
der Zorn und die Kälte, womit ſie ihn ſeit jenem
Abende keines Blicks mehr würdigte, nicht ſehr ver-
zeihlich und gerecht? Unſer Maler fühlte das Be-
[368] ſchämende, die ganze Pein dieſes Verdachts: keine
Stunde mehr konnte er ruhen, der Boden brannte
unter ſeinen Füßen, er wollte eilen, wollte ſich reini-
gen, es koſte was es wolle. Aber das ging ſo ſchnell
nicht an. Wie ſollte er an Conſtanzen gelangen?
wie war es möglich, ſich zu rechtfertigen und doch zu-
gleich die höchſte Delikateſſe zu beobachten? Denn
gar leicht konnte die Gräfin ihn dergeſtalt mißverſtehn,
als wenn er gekränkte Liebe bei ihr vorausſezte, ein
Irrthum, der ihn, wie er meinte, zum lächerlichſten
Menſchen in den Augen der ſchönen Frau machen
müßte. Er überlegte ſich die Sache fleißig, und wollte
warten, bis ihm ein glücklicher Weg erſchiene.


Am folgenden Tage fiel ihm ein, von dem Hof-
rath, dem er ohnehin einen Beſuch ſchuldig war, die
Stimmung der Zarlin’ſchen zu erlauſchen, und ſo-
gleich machte er ſich auf den Weg.


Bei der Wohnung des Hofraths angelangt, fand
er zufällig die Hausthüre nur angelehnt, was ihn ſehr
Wunder nahm, da es einen der erſten Grundſätze in
der Hausordnung dieſes Mannes ausmachte, die Ein-
gänge jederzeit geſchloſſen zu halten. Außer dem
Briefträger und einer alten Magd, welche auswärts
wohnte, und zu geſezten Stunden mit dem Eſſen er-
ſchien, betrat nur ſelten ein Beſuch die Schwelle, und
wenn jemals, ſo mußte die Glocke gezogen werden,
[369] worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Weſen,
das den Hofrath umgab, bedächtig aus dem Fenſter
ſchaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo ſich
ſogleich der Geſchmack und die Kunſtliebhaberei des
Hausherrn in gut aufgeſtellten Gypsfiguren ankündigte,
findet Theobald einen unſcheinbar gekleideten Kna-
ben auf der Treppe ſitzen und Zuckerwerk aus ſeiner
Mütze naſchen, der übrigens ganz hier zu Hauſe zu
ſeyn ſcheint. Eine unglaublich angenehme Geſichts-
bildung, die hellſten Augen, ſehr muthwillig, lachen
dem Maler entgegen, dem beſonders die zierlich ge-
lockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er un-
ſern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemeſſen,
ſtand auf und gab der Thüre einen tüchtigen Tritt,
daß ſie ſchmetternd zuſchlug. „Kannſt Du ſagen, ar-
tiger Junge, ob der Herr Hofrath daheim iſt?“ Der
Kleine antwortete nicht, ſondern indem er die Treppe
hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen.
Oben öffnet er leis eine ſchmale Thüre und deutet
ſchalkhaft hinein. Nolten befand ſich allein in ei-
nem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zwei-
ten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfen-
ſter, deſſen Vorhang von innen ſchlecht zugezogen iſt,
die wunderbarſte ſtumme Scene im Nebenzimmer
zeigt. In einer geſpannten Beleuchtung, faſt nur im
Dämmerlichte, ſizt weiß gekleidet ein Frauenzimmer,
bis an den Gürtel entblöſ’t. Ihre Stellung iſt ſin-
nend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand
24
[370] oder vielmehr nur den Zeigefinger hat ſie unter’m
Kinne, dieß kaum damit berührend. Ihr Seſſel ſteht
auf einem dunkelrothen Teppich, auf welchen herab
die reichen Falten des Gewandes und der Tücher ſich
prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre
geſchlagen iſt, läßt den Fuß nur bis über die Knö-
chel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu hal-
ten ſcheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte
Theobald unwillkürlich für ſich ausrufen; die rö-
miſche Kraft im Schwunge des Hinterhaupts vom
ſtarken Nacken an kontraſtirte ſo rührend gegen das
Kindliche des Angeſichts, deſſen Ausdruck nur lautre
Schaam verriethe, wenn ſich die leztere nicht ſo eben
zur liebevollſten Ergebung in die Nothwendigkeit des
Augenblicks zu neigen ſchiene. Offenbar war das
Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen.
Und in des Hofraths Hauſe? Sollte der alte Narr
etwa ſelbſt den Pfuſcher machen? Leider war es un-
möglich, eine zweite Perſon, die ſich gewiß im Zim-
mer befinden mußte, zu entdecken; auch hörte man
keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor
in derſelben Stellung, nur die leiſen Bebungen der
Bruſt verriethen, daß ſie athme, auch ſchien es ein-
mal, als ob ſie einen müden Blick gegen das Fenſter
hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten
hätte geſchworen, dort ſitze der Hofrath. Sagte nicht
ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die
Kunſt getrieben? und wollten nicht Einige behaupten,
[371] er habe den Meiſel noch in ſeinem Alter insgeheim
ergriffen? Wie überraſchte es daher unſern Maler,
als auf ein Geräuſch, das in der Ecke entſtand, die
Jungfran ſich erhob und ein ſchlanker, ſchwarzbärtiger
Mann anſtändig auf ſie zutrat, ihr mit einem Kuſſe
auf die Lippen dankte, ſo herzlich und unbefangen,
als wenn es eine Schweſter wäre. Theobald er-
kannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bild-
hauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei
dem Larkens’ſchen Abſchiedsſchmauſe geſehen, ohne
ihm irgend näher gekommen zu ſeyn. Doch es war
endlich Zeit zum Rückzuge, ſo ſchwer er ſich von die-
ſem Anblick trennen konnte, der ihm eben ſo rührend
und ſchuldlos däuchte, als er reizend und erhebend
war. Kaum hat er die Thür hinter ſich zugezogen
und ſich gefreut, daß der verrätheriſche kleine Schelm
nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge ſei-
ner geſtillten Neugierde zu ſeyn — ſo ſtreckt der Hof-
rath den Kopf aus dem Saale, und Beide begrüßen
ſich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch
eine Weile fortdauerte, nachdem das Geſpräch bereits
in Gang gekommen. Theobald war durchaus zer-
ſtreut von ſeinem ſchönen Abenteuer; auf ſeinem Ge-
ſicht, in ſeinen Augen lag eine ungewöhnliche Gluth,
deren Grunde der Alte ſchlau genug nachkam. „Ich
merke, merke was!“ ſchmunzelte er und klopfte dem
Freund auf die Achſel; „nur laſſen Sie ja ſich ſonſt
nichts anmerken! es iſt ein wilder Eber, der Ray-
[372] mund
, und nicht mit ihm zu ſpaßen.“ Nolten
geſtand offenherzig den ſonderbaren Zufall. „Unter
uns,“ ſagte der Hofrath, „Sie ſollen wiſſen, wie Alles
zuſammenhängt. Der junge Mann, furios in ſeiner
Kunſt ſo wie im Leben, verlangte von ſeiner Braut,
an der er außer einem hübſchen Wuchs lange keinen
Vorzug mochte gekannt haben, daß ſie ihm ſitze, ſtehe,
wie er’s als Künſtler brauche. Das Mädchen konnte
ſich nicht überwinden, es kam zu Verdruß, der bald
ſo ernſtlich wurde, daß Naymund das ſtörrige Ding
gar nicht mehr anſah. So dauert es ein halb Jahr
und das Mädchen, ſonſt ein ſanftes, verſtändiges Ge-
ſchöpf, das ihn unbändig liebt, überdieß armer Leute
Kind iſt, fängt an im Stillen zu verzweifeln. Ueber-
dem bekömmt ſie einen vortheilhaften Antrag, ſich
für’s Theater zu bilden, da ſie ſehr gut ſingen ſoll.
Sie ſchlägt es ſtandhaft aus, und dieſe wackere Re-
ſignation bringt den Trotzkopf von Bräutigam plötzlich
auf ganz andere Gedanken von dem Werthe des Mäd-
chens, ſo daß er ſie vor etlichen Tagen zum Erſten-
mal wieder beſuchte. Auf beiden Seiten ſoll die Freude
des Wiederſehens ohne Grenzen geweſen ſeyn, und
gleich in der erſten Viertelſtunde, ſo erzählt er mir,
habe ſie ihm die Gewährung ſeiner artiſtiſchen Grille
freiwillig zugeſagt. Da nun Raymund durch ſein
Zuſammenwohnen mit einem andern Künſtler um ein
Lokal verlegen war, ſo fand er bei mir, der ich ihm
auch ſonſt zuweilen nützlich zu ſeyn ſuche, gerne den er-
[373] forderlichen Raum. Heut iſt die zweite Sitzung. Das
Närriſche dabei iſt, daß er ſich nicht entſchließen kann,
was er eigentlich machen ſoll. Er behauptet, wenn
man eine Weile in’s Blaue hinein verſuche und den
Zufall mitunter walten laſſe, ſo gerathe man häufig
auf die beſten Ideen.“


„Er hat Recht!“ ſagte Theobald.


„Er hat nicht Unrecht,“ verſezte der Alte; „wenn
mir aber ſolch ein Verfahren am Ende nur nicht gar
zu dilettantiſch würde! So fängt er neulich einen
Amor in Thon zu formen an, wozu er das Muſter
auf der Gaſſe unter den Betteljungen aufgriff, wirk-
lich ein delikates Füllen, ſchmutzig, jedoch zum Küſſen
die Geſtalt. Seitdem nun aber die Geliebte ſich ein-
geſtellt, durfte der Liebesgott ſpringen; jezt liegt ihm
die aufdringliche Kröte, die ſich gar gut bei dem Han-
del geſtanden, tagtäglich auf dem Hals, und daß der
Burſche nicht ſchon im Hemdchen unter’s Haus kömmt,
iſt Alles; neulich ward er gar boshaft und paßte der
Braut mit einem Prügel auf; recht ein Cupido dirus!


„Ein Anteros!“ rief Theobald lachend.


„Suchen Sie doch einiges Verhältniß zu Ray-
mund
,“ fuhr der Hofrath fort, „es wird Ihnen leicht
werden: er reſpektirt Sie höchlich, und das will bei
dem ſtolzen Menſchen ſchon etwas heißen. Sie finden
das ehrlichſte Blut in ihm und ein eminentes, leider
noch wildes Talent. Es ärgert Manches an ihm,
Kleinigkeiten vielleicht, die indeſſen doch einen Man-
[374] gel an Bildung verrathen, genug, mich indigniren ſie;
nur Ein Beiſpiel und Sie werden mir beiſtimmen.
Man traut mir billig zu, daß ich kein Pedant bin mit
archäologiſcher Vielwiſſerei, inſofern ſie dem Künſtler
nichts hilft. Stellt mir Einer eine lobenswerthe
Ariadne hin, ſo frag’ ich den Henker darnach, ob er
wiſſe, daß die Gemahlin des Bacchus auch Libera
heißt. Macht es einen Mann aber nicht lächerlich,
wenn er von Göttern und Halbgöttern nur eben wie
ein Dragoner ſpricht? Werden es ihm Diejenigen
vergeben, die auf den erſten Blick unmöglich wiſſen
können, daß dieſer Menſch, ſo gut als Einer, Cha-
rakteriſtik der Mythen verſteht und plaſtiſchen Sinn ge-
nug in Aug’ und Fingern ſitzen hat? Nun ſtellen
Sie ſich vor, neulich Abends im ſpaniſchen Hofe, es
waren lauter gründliche Leute da, kömmt auf ein
paar Kunſtwerke die Rede, Raymund fällt in ſeinen
begeiſterten Schuß und ſagt wirklich vortreffliche Dinge,
aber er ſpricht ſtatt von Panen und Satyrn, mir
nichts dir nichts, und in vollem Ernſte immer von
Waldteufeln! Iſt ſo was auch erhört? Ich ſaß wie
auf Nadeln, ſchämte mich in ſein Herz hinein, trat
ihm faſt die Zeyen weg und wollt’ ihm helfen; nichts
da! ein Waldteufel um den andern! und merkte das
Lächeln nicht einmal, das hie und da auf die Geſichter
ſchlich. Nachher verwies ich ihm die Unſchicklichkeit,
und was iſt ſeine Antwort? Er lacht; „nun, alter
Papa“ rief er, „es muß mir doch erlaubt ſeyn, mit-
[375] unter ſo zu ſprechen, wie die Niederländer malen
durften!“ Der Hofrath lachte ſelber auf’s Herzlichſte,
und man ſah ihm an, wie lieb er den hatte, den er
ſo eben ſchalt. „Ein ſtupender Eigenſinn! Mich
dauert nur die Braut.“


„Wer iſt ſie denn eigentlich?“ fragte Nolten.


„Des Schloßwärters F. Tochter.“


„Was? hör’ ich recht?“ rief Nolten voll Ver-
wunderung aus. „O gute Henriette! Wie manch-
mal hat dein wehmüthiger Geſang unter meinen Git-
tern mich getröſtet!“


„Ja ja,“ verſezte der Hofrath, „das war noch zur
Zeit der liebekranken Nachtigall!“


Der Maler fiel auf einige Augenblicke in ſüße
Gedanken. Die glückliche Vereinigung dieſer Lieben-
den war ihm von guter Vorbedeutung für ſich; denn
hatte nicht jene Verlaſſene in ſeiner kranken Einbil-
dung einige Mal die Stimme Agneſens geborgt?
und war er nicht auf dem Wege, der Leztern auch
den Bräutigam zurückzugeben?


Nun aber fand er erſt Zeit, den Hofrath in der
Angelegenheit zu befragen, um derentwillen er eigent-
lich gekommen war. Der alte Herr bedachte ſich und
zuckte die Achſeln. „Ich weiß nicht, an Ihrer Stelle
ging’ ich geradezu ſelbſt hin — die Gräfin zwar ſoll
unpaß ſeyn, den Grafen können Sie immer ſprechen.
Mein Gott, was ſollten denn dieſe Leute eigentlich
gegen Sie haben?“ So viel indeſſen Theobald
[376] aus dem weitern Geſpräch entnehmen konnte, war es
gerathener, ſich nicht perſönlich auszuſetzen. Der beſte
Ausweg fiel ihm aber ein. Eine Frau von Niet-
helm
, die intimſte Freundin Conſtanzens, eine
feine hochbegabte Dame, deren Zeit und Talent vor-
züglich der Bildung zweier Prinzeſſen gewidmet war,
hatte ſich ihm von jeher gewogen gezeigt; ihrer hoffte
er ſich nun als Mittelsperſon zu bedienen, und der
glückliche Gedanke erfüllte ihn augenblicklich dergeſtalt,
daß er den Hofrath eilends verlaſſen wollte, als eben
Raymund hereintrat. Der feurige Mann umarmte
ihn alsbald mit Enthuſiasmus, und ſuchte ihm ſeine
Achtung auf jede Art zu bezeugen. Um nicht un-
freundlich zu erſcheinen, verweilte Nolten noch eine
Viertelſtunde, worauf er ſich beſtens empfahl.


Gegen Abend trat er den Gang zur Gouvernan-
tin an, nachdem er auf ſein Anmelden eine höfliche
Einladung erhalten hatte. Unterwegs erſt fiel ihm
auf, wie wenig er auf das, was zu ſagen und wie es
zu ſagen war, vorbereitet ſey; er nahm ſich ſchnell
zuſammen; eh er ſich’s verſah, ſtand er im Zimmer
der Gouvernantin.


Die zarte Dame empfing ihn im Ganzen freund-
lich genug, und wenn dennoch etwas von Zurückhal-
tung fühlbar war, ſo ſchien es, als ob ſie nur un-
gerne und mit Rückſicht auf Conſtanzen ſich eini-
gen Zwang auflegte.


[377]

„Ich bin,“ begann Nolten, als er der liebens-
würdigen Frau gegenüber Platz genommen hatte, „ich
bin veranlaßt, in Kurzem dieſer Stadt und Gegend
Lebewohl zu ſagen; Pflicht und Neigung führen mich
auswärts; aber wie ſehr muß ich wünſchen, mit voll-
kommen beruhigtem Sinne ſcheiden zu können! Es
iſt ſo ſchön und tröſtlich, ſich im Andenken ſeiner
Freunde geſichert wiſſen! Die Liebe, die Neigung,
die wir an einem Orte zurücklaſſen, gibt uns eine
ſtille Gewähr, daß uns auch anderswo ein guter
Stern erwarte. Möchte denn auch ich dieſen Troſt
mit mir nehmen dürfen! möchten Sie, meine Gnädige,
mich in dieſer frohen Zuverſicht beſtärken können! —
Indem ſich mir in dieſen Tagen eine Reihe ausge-
zeichneter Perſonen, deren Bekanntſchaft ich mich im
Laufe dreier Jahre vielfach zu erfreuen hatte, doppelt
lebendig vor dem Geiſte aufſtellt, und indem ich mich
anſchicke, den Einzelnen noch ein herzliches Wort zu
ſagen, muß ich vor Allen jenes verehrten Hauſes ge-
denken, deſſen Gaſtfreundſchaft mir unvergeßlich bleibt,
das mit den Edelſten dieſer Stadt, und, wie freudig
ſpreche ich es aus! auch mit Ihnen, gnädige Frau,
mich in freundliche Verbindung ſezte. Leider hat das
ſchöne Verhältniß zulezt eine Störung erlitten, die
mir das ganze Glück einer dankbaren Erinnerung für
alle Zukunft trüben muß, und um ſo ſchmerzlicher, da
man mir aus den Gründen meines Mißgeſchicks, in-
ſofern ich dieſes ſelbſt verſchuldet haben ſoll, ein Ge-
[378] heimniß macht. Sollte nun auch Ihnen, Verehrteſte,
nicht erlaubt ſeyn, meine Zweifel zu löſen, ſo geſtat-
ten Sie doch, daß ich die Verſicherung bei Ihnen
niederlege, ich ſey mir, Ihrer theuren Freundin, ſo
wie dem Herrn Grafen gegenüber, eines ſolchen Ver-
gehens nicht bewußt; vergönnen Sie, daß ich den
Freunden, die mich nicht mehr zu ſehen wünſchen, die
Aufrichtigkeit meiner Geſinnungen durch Ihren Mund
betheure.“


Die Gouvernantin, die in den Mienen des Ma-
lers, ſo lange er ſprach, mit Aufmerkſamkeit zu leſen
geſucht hatte, ſchien keineswegs ungerührt; zwar er-
wiederte ſie nur das Allgemeinſte, doch ſah man ihr
an, ſie hätte herzlich gerne mehr geſagt. Nolten
gewann nun Muth, folgendergeſtalt fortzufahren:
„Wie wäre Ihnen zu verargen, gnädige Frau, wenn
ſich Ihnen, ſo wie wir uns jezt einander gegenüber
befinden, und nach dem, was indeſſen Alles zur Sprache
gekommen ſeyn mag, ein unüberwindliches Mißtrauen
gegen mich im Herzen aufwerfen ſollte! Ich fühle
wohl, und Sie ſelber verbergen ſich’s nicht, wie fremde
in ganz kurzer Zeit Ihnen ein Mann geworden ſey,
der Ihnen früher nicht ganz unwerth geweſen. Sonſt
war es uns willkommener Genuß, Erfahrung und
Empfindung in heiteren Geſprächen auszuwechſeln,
Entferntes und Nächſtgelegenes lebendig durch einan-
der zu miſchen; ſtets ſchenkten Sie mir nachſichtsvol-
les Gehör, wenn, wie es wohl dem jüngern Manne,
[379] der eben erſt in eine völlig neue Welt eintrat und
vielfach Urſache findet, unzufrieden mit ſich ſelbſt zu
ſeyn, natürlich zu geſchehen pflegt, ſich auch bei mir
ein inniges Bedürfniß regte, mich einer gemüthvollen,
geiſtreichen Frau beſcheiden mitzutheilen, Ihnen meine
Verehrung für jenes edle Haus im erſten glücklichen
Erſtaunen auszudrücken. Nun heute wieder, wie gerne
möcht’ ich den Zuſtand meines Innern offen und
gläubig vor Ihnen enthüllen, doch Ihr Verſtummen
verſchüchtert mir das Wort auf meinen Lippen! wie
gerne würden Sie meiner Unruhe hülfreich entgegen
kommen, doch wird es ſchwer, den Faden des Ver-
trauens ſo ſchnell wieder aufzunehmen. Wohlan,
meine theure, meine hochverehrte Freundin, laſſen
Sie mich wenigſtens einige [Augenblicke] der ſchönen
Täuſchung leben, als ſäßen wir noch ſo wie ehmals
gegen einander über! Erlauben Sie, daß ich erzähle,
was in der Zwiſchenzeit ſich mit mir begeben, in mir
verändert hat. Laſſen Sie mich keine Abſicht nennen,
wozu dieß Bekenntniß dienen ſoll. Es ſoll nur ſeyn,
als ſpräche ich zu einer Dame, von der ich weiß, ſie
nehme an meinem Schickſale allgemeinen heitern An-
theil und aus deren Munde eine günſtige Divination
meines künftigen Geſchickes zu vernehmen mich hoch
beglücken würde.“


Mit ſanftem Lächeln forderte ſie den Maler zu
reden auf, indem ſie ſagte: „Sie ſollen eine emſige
Zuhörerin haben, und was ihr an Prophetengabe
[380] mangelt, werden die redlichſten Wünſche für Ihr
Wohl ergänzen.“ Somit war Theobald im Begriff,
ſeine Sache mit Agneſen, und wie ſie ſich durch
Larkens’s Thätigkeit neuerdings umgeſtaltet, weit-
läufig darzulegen, und eben damit auf indirekte Weiſe
ſich gegen Conſtanze zu rechtfertigen. Aber in
dem Augenblick, da er beginnen will, überraſcht ihn
die ganze Schwierigkeit ſeiner Aufgabe und es that
wahrlich Noth, daß ihm der gute Geiſt noch ſchnell
genug ein bequemes Mittel, ſich aus dieſer Verlegen-
heit zu retten, eingab, worauf er ſagte: „So vermeſ-
ſen es ſeyn würde, in Räthſeln zu Ihnen reden zu
wollen, ſo wenig kann es ſchaden, wenn ich zuvörderſt,
um die Kluft, welche ſich zwiſchen uns gelegt hat,
erſt nach und nach und nur von Weitem auszufüllen,
dasjenige, was nun zu ſagen iſt, mit veränderten Na-
men in eine allgemeine Darſtellung einkleide; ſo werde
ich unbefangner reden, ohne deßhalb unverſtändlicher
oder der Wahrheit ungetreu zu ſeyn.“ Sofort wurde
denn das Verlobten-Verhältniß eines Antonio zu
Clementinen, von ſeiner erſten Entſtehung bis
zu dem drohenden Zerfall, es wurde das ungeheure
Irrſal, wozu Eliſabeth Veranlaſſung gegeben, in
allen ſeinen Wendungen entwickelt. Einer Cornelia
ward gedacht, Antonio’s Leidenſchaft für dieſe nicht
verhehlt, jedoch nur als einſeitig zugegeben. Ein
Mime Hippolyt löſ’t heimlich den fatalen Kno-
ten, doch daß er dieß und wie er es auch bei Cor-
[381] nelien
that, davon ſchweigt Nolten mit Bedacht,
als wenn er ſelbſt nicht darum wüßte. Er hatte ſich
Zeit zu ſeiner Erzählung genommen, um ſo mehr,
als er das geſpannteſte Intereſſe bei ſeiner Neben-
ſitzerin wahrnahm; auch wurde er, wie wohl zu
merken war, vollkommen gut verſtanden. Die ganze
Geſchichte, an ſich abenteuerlich und unglaublich, ge-
wann durch einen gewandten und lebhaften Vortrag
die höchſte Wahrheit. Endlich war er fertig, und
nach einigem Stillſchweigen verſezte die Gonvernantin
(während ſie ihn mit einem Blick anſah, worin er
ihren Dank für die zarte Schonung leſen ſollte, die
er gegen ihre Freundin und gewiſſermaßen gegen ſie
ſelbſt mit ſeiner Fabel beobachtet hatte): „Meint man
doch wahrlich ein Mährchen zu hören, ſo bunt iſt
Alles hier gewoben!“


„Es ſtehen Beweiſe für die Wahrheit zu Dienſte,“
erwiederte Theobald; „ja ich erbitte mir ausdrücklich
die Erlaubniß, Ihnen dieſer Tage einige Papiere vor-
legen zu dürfen, welche Sie jedenfalls mit Intereſſe
durchlaufen werden.“


„Vielleicht,“ antwortete die Gouvernantin, „kann
ich anderwärts Gebrauch davon machen, der Ihnen
wünſchenswerth ſeyn dürfte.“


„Was Sie thun werden, Gnädigſte, habe meinen
innigſten Dank voraus!“ verſezte Nolten mit einiger
Haſt, indem er ihr die Hand mit Ehrfurcht küßte.
Sie war indeſſen nachdenklich geworden. Unvermerkt
[382] lenkte ſie das Geſpräch auf die Gräfin und es traten
ihr Thränen in die Augen. „Leider muß ich Ihnen
ſagen, lieber Nolten,“ fuhr ſie fort, es iſt bei Zar-
lins
ſeit einiger Zeit gar viel anders geworden; auch
unſre Kränzchen haben aufgehört. Conſtanze iſt nicht
mehr die ſie war, ein ſeltſamer Gram wirft ſie nieder.
Lange wußte Niemand die Urſache, ſelbſt ich nicht,
und mit Unrecht ſchrieb man Alles körperlichem Leiden
zu, denn freilich leidet ihre Geſundheit mehr als je.
Aber Gott weiß, wie Alles zuſammenhängt. Vor-
geſtern Nachts, als ich allein vor ihrem Bette ſaß,
ſprach ſie halb in der Hitze des Fiebers, halb mit
Bewußtſeyn dasjenige aus, wovon ich glauben muß,
daß es wo nicht der einzige, doch immer ein Grund
ihres angſtvollen Zuſtandes ſey.“


Nolten, dem dieſe Worte eine raſche und vor-
eilige Ahnung erweckten, that ſehr wohl, noch an ſich
zu halten, denn ſogleich kam es ganz anders, als er
erwartet haben mochte.


„Ich bin überzeugt,“ fuhr die Gouvernantin fort,
„es handelt ſich bloß um einen wunderlichen Zufall,
um eine Kleinigkeit, worüber mancher lächeln würde;
gleichwohl iſt jezt ſehr viel daran gelegen, und Sie
werden mich völlig darüber aufklären können. — Sie
haben ein Gemälde, worauf eine Frau abgebildet
ſeyn ſoll, welche die Orgel ſpielt?“


„Ganz recht.“


[383]

„Sagen Sie doch, welche Bewandtniß hat es mit
dem Bilde? Kennen Sie eine ſolche Perſon? Iſt
ſie in der Wirklichkeit vorhanden?“


Nolten war durch die Frage natürlich frappirt.
Er hatte, wie der Leſer weiß, in der Skizze, die bei
dem Gemälde zu Grunde gelegen, jene Wahnſinnige
kenntlich genug gezeichnet, ja er hatte noch auf Till-
ſens
ausgeführtem Tableau dem merkwürdigen Kopfe
durch wenig beigefügte Striche die äußerſte Aehnlich-
keit gegeben. Conſtanzen war das Bild immer
ſehr wichtig geweſen und Nolten erinnerte ſich jezt
plötzlich des Traumes, den ſie ihm damals mit ſo
großer Bewegung entdeckt. Er ſagte nun der Gou-
vernantin: daß, wenn er vorhin in ſeiner Erzählung
von einer Zigeunerin geſprochen, eben dieſe das Ori-
ginal zum Bilde des weiblichen Geſpenſtes ſey.


„Sonderbar!“ ſagte die Gouvernantin, „ſehr ſon-
derbar! — Wiſſen Sie nicht, ob die Perſon ſich neu-
erdings in hieſiger Stadt gezeigt hat?“


„Vor etwa einem Monat wollen meine Freunde
ſie hier geſehen haben.“


„Nun, Gott ſey Dank!“ rief die Gouvernantin
aus, „ſo iſt es doch wie zu vermuthen war; ſo darf
mir doch nun die Arme Troſt und Vernunft nicht län-
ger beſtreiten!“


„Wer?“ fragte Theobald, „wer ſah denn —?
doch nicht die Gräfin?


„Nun ja!“


[384]

„Himmel! und wo?“


„In der Kirche.“


Jezt rief der Maler ſich auf Einmal einen Umſtand
in’s Gedächtniß, den man ſich vor mehreren Wochen
in der Stadt erzählte und woraus er damals nicht
eben ſonderlich viel zu machen wußte. Conſtanze
hatte nämlich, bei nicht völligem Wohlſeyn, Sonntags
die Frühkirche beſucht und während des Gottesdienſts
den ſonderbaren Zufall gehabt, daß ſie plötzlich mit
einem für die Zunächſtſitzenden ſehr vernehmlichen Laut
des heftigſten Schreckens bewußtlos niederſank. Sie
mußte nach Hauſe getragen werden, wo ſie ſich in
Kurzem zu erholen ſchien. Die wahre Urſache des
Unfalls blieb durchaus Geheimniß. In der Kirche
ſelbſt wollten Einige bemerkt haben, daß die Gräfin
unmittelbar, bevor ſie ohnmächtig geworden, den Blick
ſtarr nach dem offenſtehenden Haupteingang gerichtet,
wo ſich mehreres gemeine Gaſſenvolk unter die Thüren
gepflanzt hatte. Niemand aber gewahrte unter die-
ſer bunten Gruppe den Gegenſtand einer ſo außeror-
dentlichen Apprehenſion, Niemand war verſucht, den-
ſelben in der gleichwohl ſtark genug hervorragenden
Geſtalt einer Zigeunerin zu ſuchen.


Es war bei Theobald nun gar kein Zweifel
mehr, daß jenes ungeheure Weſen, ſo wie einſt bei
Agneſen mit Abſicht, ſo nun hier bei der Gräfin
unwillkürlich ihn abermals verfolgte. Es fing dieſer
Eigenſinn des Schickſals ihm nachgerade ängſtlich zu
[385] werden an. Er hatte Mühe, ſeine Gedanken davon
los zu machen, und auf die Gegenwart, auf Conſtan-
zen
zurückzulenken. Ihr Zuſtand bekümmerte ihn
ſehr; denn aus Allem, was die Gouvernantin von eigenen
Aeußerungen Conſtanzens wiederholte, ging hervor,
daß das Entſetzen über die Erſcheinung in der Kirche
unmittelbar mit jenem Traume zuſammenhing, und daß
die Gräfin ſeit dieſem Auftritte mit heimlichen Gedan-
ken an einen frühen Tod umgehe. Der Maler
verſank in ſtilles Nachdenken, und ein tiefer Seufzer
entwand ſich ſeiner Bruſt. Wie Vieles, dachte er,
muß hier zuſammengewirkt haben, um den hellen und
feſten Geiſt dieſes Weibes zu bethören! Wie ſehr iſt
nicht zu glauben, daß dieß Gemüth lange zuvor mit
ſich ſelbſt uneins geweſen ſeyn müſſe, eh ſolche Träume
es gefangen nehmen konnten! Er enthielt ſich nicht,
dergleichen gegen die Gouvernantin zu äußern, die ihm
mit traurigem Kopfnicken beiſtimmte. Sie ſah ihn
an, und ſagte: „Vergeſſen wir nicht, unſre Freundin
iſt krank, und — krank in mehr als Einem Sinne.“


Ein Beſuch, welcher in dem Augenblick angeſagt
wurde, nöthigte Theobalden zum Aufbruch. Er
empfahl ſich mit der Bitte, in dieſen Tagen nochmals
erſcheinen zu dürfen. Die verſprochenen Papiere ſandte
er noch denſelben Abend nach, jedoch mit Auswahl,
und namentlich ward jene Nachſchrift zu Larkens’s
Brief mit ſchonendem Bedacht zurückbehalten.


25
[386]

Obgleich er ſich die Unterredung mit der Gou-
vernantin in gewiſſem Betracht nicht beſſer hätte wün-
ſchen können, denn eine vollſtändige Ausgleichung des
widerwärtigſten Mißverſtändniſſes war damit auf das
Sicherſte eingeleitet, ſo war er doch ſeitdem von einer
unbegreiflichen Unruhe umgetrieben. Er konnte den
Tag nicht erwarten, an dem er endlich die Stadt
würde verlaſſen können. Unverzüglich fing er daher
an, ſeine Anſtalten zur Abreiſe zu treffen, beſorgte
die Angelegenheiten ſeines Freundes, und machte nur
die nothwendigſten Beſuche ab, da ihm ein ungehöri-
ges, obwohl aufrichtiges Mitleid, womit man überall
den Scheidenden betrachten zu müſſen glaubte, allzu
verdrießlich fiel. An den Herzog richtete er ein all-
gemein verbindliches Billet, das er nicht ohne ein
Lächeln zuſammenfalten konnte, weil es ihm dießmal
gelungen war, mit mehreren Worten ſo viel wie Nichts
zu ſagen. Am herzlichſten entließ ihn Tillſen und
der Hofrath, welch Lezterer ihm in den wunderbarſten
Ausdrücken eine nie genugſam ausgeſprochne Neigung
auf Einmal verrathen zu wollen ſchien, indem er zu-
gleich auf ein beſonderes Verhältniß anſpielte, das
längſt zwiſchen ihnen Beiden beſtünde, und welches
zu entdecken er ſich bis auf dieſe Stunde nicht habe
entſchließen können; auch jezt überraſche ihn der Ab-
ſchied des Malers dergeſtalt, daß er nothwendig eine
andere Zeit abwarten müſſe. Theobald, welcher den
Alten von jeher im Verdacht gehabt, als ob er mit
[387] einiger Schalkheit gerne den Geheimnißvollen ſpiele,
achtete wenig auf dieſe dunkeln Winke, obgleich dem
guten Manne die Rührung ſichtlich aus den Augen
ſprach.


Sein lezter Ausgang am Schluß der vielgeſchäf-
tigen Woche war zu der Gouvernantin. Unglückli-
cher Weiſe war eben Geſellſchaft dort und die liebens-
würdige Frau konnte ihm nur wenige Augenblicke
allein auf ihrem Zimmer ſchenken. Sie zog einen
verſiegelten Brief hervor und ſagte: „Ihre neulichen
Mittheilungen haben der Gräfin ein unerwartetes
Licht gegeben, von deſſen erſter erſchütternder Wir-
kung ich jezt nichts ſage. Ich danke Gott, daß die-
ſer Kampf vorüber iſt. Empfangen Sie hier das
lezte Wort von unſrer Freundin. Seitdem ſie den
Entſchluß gefaßt, ſich Ihnen zu offenbaren, iſt endlich
ein Schimmer von Frieden bei ihr eingetreten, den zu
befeſtigen ich mir nach Kräften angelegen ſeyn laſſe.
Nur was dieß Blatt betrifft, ſo darf ich nicht ver-
ſchweigen, daß es im erſten Schmerz geſchrieben wurde,
wo es ſchien, als ob ſie nur im ungemeſſenſten Aus-
drucke ihrer Schuld einige Erhebung und ein willkom-
menes Mittel gegen völlige Verzweiflung habe finden
können. Schließen Sie alſo aus dieſem Briefe nicht
auf ihren Zuſtand überhaupt, den ſicherlich die Zeit
auch heilen wird. Vielleicht erkennen Sie in dieſen
Linien, deren Inhalt ich wohl ahnen kann, noch jezt
das ſchöne Herz, das ſein Vergehn mehr als genug
[388] empfindet. Gewiß, ich darf das ſagen, ohne eben ent-
ſchuldigen zu wollen — ach leider, daß ich es nicht
kann! Aber wie gerne wollen wir der Armen Alles
vergeſſen, wenn ſie nur erſt ihre Ruhe wieder gewon-
nen hätte! O wüßten Sie, Nolten, welche traurige
Beſorgniſſe mir die Richtung einflößte, der ſich ihr
Geiſt ſtarrſinnig hinzugeben drohte. Und noch bin
ich nicht aller Sorge los. Zu oft noch ſeh ich ihren
Blick nach jener trüben Seite hingekehrt, von wo ſie
ſich ein frühes Grab verkündigt glaubte. Denn ſelbſt
durch Ihre freundſchaftlichen Aufſchlüſſe, ſo ſehr ſie
uns zu Statten kamen, konnte dieſe Vorſtellung nicht
ganz zerſtört werden. Freilich ſieht ſie nun Alles bis
auf einen gewiſſen Grad natürlich an, weil aber doch
etwas Außerordentliches an dem Zuſammentreffen der
Begebenheiten nicht zu läugnen und jener frühere
Eindruck auch nicht ſo ſchnell auszutilgen iſt, ſo kann
ſie den Gedanken an eine ſolche Vorbedeutung nicht
von ſich wegbringen. Aber laſſen Sie mich abbrechen,
eh ich weich werde, und in’s Klagen falle. Wie ſehr
bedaure ich, daß Sie eben jezt ſo eilig von uns müſ-
ſen — und doch, es wird auch wieder gut für beide
Theile ſeyn. Und nun (ſie ging an einen Schrank
und holte ein ſchönes Futteral hervor, das ſie ihm
in die Hand drückte), zwei Freundinnen bitten, dieß zu
dem Hochzeitsſchmuck der lieben Braut zu legen und
ihr zu ſagen, wie ſehr ſie in der Ferne gekannt, wie
[389] ſchweſterlich geliebt ſie ſey. Leben Sie wohl, und
denken gerne mein.“


Ehe Theobald noch recht zu danken wußte,
hatte ſie ſich bereits, ihre ſteigende Bewegung zu ver-
bergen, leiſe zurückgezogen. Eilig ging er nach ſeiner
Wohnung, auf’s Höchſte erſtaunt über die räthſelhaf-
ten Dinge, die er ſo eben gehört. War es denn nicht,
als ſollte ihm ein Verbrechen Conſtanzens entdeckt
werden? Sprach nicht die Gouvernantin ſo, als
wüßte er bereits darum? — Auf ſeinem Zimmer an-
gekommen, verſchloß er hinter ſich die Thür und las
wie folgt:


„Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge
des Mitleids ſollen Sie dieſem Blatte gönnen, das
von dem jammervollſten, ach zugleich von dem unwür-
digſten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis
dieſen Augenblick noch keine Ahnung) ſo wie mein
Unglück, iſt auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie
kann ich hoffen, Sie mir zu verſöhnen, ja wäre das
möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine,
von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich ſchreck-
lich genug im eigenen Bewußtſeyn trage, bin ich im
Begriff auf’s Höchſte zu ſchärfen, indem ich meinen
Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre
ganze Verachtung, Ihren gerechteſten Haß auf mich
ziehe. Was hält mich ab vom entehrendſten Bekennt-
niß? Iſt man noch eitel, iſt man noch klug, ſucht
man ängſtlich noch einigen Schein für ſich zu bewah-
[390] ren, wenn man einmal ſich ſelbſt zu verachten einen
verzweifelten Anfang gemacht hat? Gleichgültig ver-
zicht’ ich auf die kleinen Künſte, womit wir Armen
ſonſt in ſolchen Fällen der Bedrängniß uns vor uns
ſelbſt und vor Ihrem Geſchlechte beſchönigen. Hin-
weg damit! Dem beſten, dem edelſten Manne zeige
ſich, ganz wie es iſt, das elende Geſchöpf, das ihn ſo
unerhört betrogen. — Erfahren Sie’s alſo, Con-
ſtanze
war’s, durch deren Tücke Ihnen Ihr harm-
loſer Antheil an jener lezten Abendunterhaltung in
unſerem Hauſe ſo ſchwer zu ſtehen kam, und — ſo
wollte es die Wuth eines Weibes, deſſen entſchiedene
Liebe ſich beiſpiellos hintergangen wähnte — ich hätte
vielleicht, o ich hätte gewiß, wär’ es in meiner Macht
geſtanden, die Grauſamkeit auf’s Aeußerſte getrieben.
Der Himmel fand noch zeitig ein wunderbares Mit-
tel, mich einzuſchrecken, mich zu züchtigen. Nun auf
Einmal zum thörichten Kinde verwandelt, von Göt-
tern und Geiſtern verfolgt, eilt’ ich in meiner Her-
zensnoth, Sie zu befreien. Es gelang, und durch
dieſelbe Hand zwar, an die ich Sie zuerſt verrathen.
O Schande, Schande! mein kurz gemeſſ’nes Leben
reicht nicht hin, ſie zu beweinen, wie ſie es verdient,
und — nein ich ſchweige; daß Sie nicht etwa den-
ken, ich gehe darauf aus, durch übertriebne Selbſtan-
klagen mir einen Funken gerührter Theilnahme zu
erſchleichen, ſo entſag’ ich der Wolluſt, mich jezt im
Staube vor Ihnen zu winden. Aber haſſen Sie, ver-
[391] dammen Sie mich keck, ja dürft’ ich mein ganzes Ge-
ſchlecht wider mich aufrufen, möchten die Beſten deſ-
ſelben mich fremd aus ihrer Mitte weiſen! das här-
teſte Gericht, dürft’ ich’s erdulden, damit ich doch den
einzigen Troſt genöſſe, meine Buße vollendet zu ſehen,
eh mein beflecktes Daſeyn ſein Ende erreicht! Gott,
du Gerechter, weißt, ob ich mich ſolcher Miſſethat je
fähig halten konnte, bevor du mir dieſe Verſuchung
bereitet! Doch daß ich ſie ſo ſchlecht beſtand, das
öffnet mir ſchaudernd die Augen über mich ſelbſt, über
mein geſammtes Weſen. Die ſchönen Stunden auch,
wo mich die Liebe mit Hoffnungen der glücklichſten
Zukunft täuſchte und eine fromme Weihe über mein
kommendes Leben harmoniſch zu verbreiten ſchien —
mit Thränen ſag’ ich mir, daß ſelbſt der Werth ſo
reiner Augenblicke, ſo himmliſcher Entſchlüſſe, nichts-
würdig in jenem ungeheuern Abgrunde verſchwindet,
den dieſes Herz, ſein ſelbſt unkundig, mir bis daher
verbarg. Nun ich mich aber kenne, nun, Gott ſey
geprieſen, weiß ich auch, wohin mein Trachten gehen
muß. Doch davon red’ ich Ihnen nicht, ich habe das
mit einem Höhern.


Nehmen Sie meinen Dank für die Mittheilun-
gen an die Niethelm; ſie ſind mir treulich zuge-
kommen. Ich wäre verloren geweſen ohne ſie; drum
tauſend, tauſend Dank für die Barmherzigkeit!


Aber mit welchen Empfindungen hab’ ich zugleich
in die Wege blicken müſſen, in denen Ihr Geſchick Sie
[392] führte! Nur eine Heilige, wie Agnes, wird mit Kin-
derhänden den wunderbaren Schleier lüpfen, der über
Ihrem Schickſal liegt. In dieſem herrlichen Geſchöpf
fürwahr iſt Ihnen die Befriedigung Ihres höchſten
Strebens aufbehalten. — Leben Sie wohl! wohl!
Ach aus dem tiefſten Grund der Seele wünſch’ ich,
fleh ich, es möge Ihnen wohl ergehen. Welch einen
Troſt ich darin für mich ſuche, ahnet Ihnen kaum.
Und dürft’ ich nur Einmal im Leben Agneſen um-
armen, den Engel, den ich preiſe! Sie iſt die Glück-
lichſte auf Erden, ich aber bin die Erſte, die dieſes
Glück ihr gönnt. Lebt Beide wohl, ihr Theuren, und
laßt mich Aermſte für Euch beten.“


Wir laſſen nun über dem bisherigen Schauplatze
von Noltens Leben den Vorhang fallen, und wenn
er jezt ſich auf’s Neue hebt, ſo treffen wir den Maler
bereits ſeit zweien Tagen auf der Reiſe begriffen.
Wohin er ſeinen Weg nehme, fragen wir nicht erſt.
Wir denken uns übrigens wohl, daß eben nicht die
leidenſchaftliche Wonne des Liebhabers, wie man ſie
ſonſt bei ſolchen Fahrten zu ſchildern gewohnt iſt, auch
nicht die bloße kühle Pflicht es ſey, was ihn nach Neu-
burg
führt; es iſt vielmehr eine ſtille Nothwendig-
keit, die ihn ein Glück nur leiſe hoffen heißt, welches
leider jezt noch ein ſehr ungewiſſes für ihn iſt. Denn
eigentlich weiß er ſelbſt nicht, wie Alles werden und
[393] ſich fügen ſoll. Beharrlich ſchweigt ſein Herz, ohne
irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn
er ſich das Ziel ſeiner Reiſe vergegenwärtigt, kann
ein ſüßes Erſchrecken ihn befallen.


Er hat mit ſeinem muntern Pferde ſchon in der
vierten Tagreiſe das Ende des Gebirgs erreicht, das
die Landesgränze bezeichnet und von deſſen Höhe aus
man eine weite Fläche vor ſich verbreitet ſieht. Es
war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die
lange Steige hinunter und machte am Fuß derſelben
Halt. Er führte ſein Pferd ſeitwärts von der Straße,
band es an eine der lezten Buchen des Waldes, wo
zwiſchen kleinem Felsgeſtein ein friſches Waſſer vor-
quoll. Er ſelber ſezte ſich auf eine erhöhte, mit jun-
gem Moos bewachſene Stelle und ſchaute auf die
reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Ent-
fernung verſchiedene Ortſchaften und die glänzende
Krümmung eines anſehnlichen Fluſſes zeigte. Ein Schäfer
zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Ler-
chen, und Schlüſſelblumen dufteten in nächſter Nähe.


Den Maler übernahm eine mächtige Sehnſucht,
worein ſich, wie ihm däuchte, weder Neuburg, noch ir-
gend eine bekannte Perſönlichkeit miſchte, ein ſüßer
Drang nach einem namenloſen Gute, das ihn allent-
halben aus den rührenden Geſtalten der Natur ſo
zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche
Ferne ſich ihm zu entziehen ſchien. So hing er ſei-
nen Träumen nach und wir wollen ihnen, da ſie ſich
[394] von ſelbſt in Melodieen auflöſen würden, mit einem
liebevollen Klang zu Hülfe kommen.


Hier lieg’ ich auf dem Frühlingshügel,

Die Wolke wird mein Flügel,

Ein Vogel fliegt mir voraus.

— Ach ſag’ mir, alleinzige Liebe,

Wo du bleibſt, daß ich bei dir bliebe!

Doch du und die Lüfte haben kein Haus.

Der Sonnenblume gleich ſteht mein Gemüthe offen,

Sehnend

Sich dehnend

In Lieben und in Hoffen.

Frühling, was biſt du gewillt?

Wann werd ich geſtillt?

Die Wolke ſeh’ ich wandeln und den Fluß,

Es dringt der Sonne goldner Kuß

Mir tief bis in’s Geblüt hinein;

Die Augen, wunderbar berauſchet,

Thun als ſchliefen ſie ein,

Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauſchet.

Ich denke dieß und denke das,

Ich ſehne mich, und weiß nicht recht, nach was;

Halb iſt es Luſt, halb iſt es Klage.

Mein Herz, o ſage,

Was webſt du für Erinnerung

In golden grüner Zweige Dämmerung?

Alte, unnennbare Tage!

Aber nicht allzulange konnte ſich das Gefühl un-
ſeres Freundes in ſo allgemeinem Zuge halten. Er
nahm eine alte Locke Agneſens vor ſich, es lag ne-
ben ihm im Graſe blitzend das koſtbare Collier der
Gräfin (denn dieß war der Inhalt jenes zierlichen
[395] Futterals), der Brief des Schauſpielers ruhte auf
ſeiner Bruſt. Zärtlich drückte er alle dieſe Gegen-
ſtände an ſeinen Mund, als hätten ſie ſämmtlich glei-
ches Recht an ihn.


Ein leichter Regen begann zu fallen und Theo-
bald
erhob ſich. Wir laſſen ihn ſeine Straße unge-
ſtört fortziehn und ſehen ihn nicht eher wieder, bis er
mit dem vierten Sonnenuntergang im lezten Dorfe ange-
langt iſt, wo man ihn verſichert, daß er von hier nur noch
drei kleine Stündchen nach Neuburg habe. Auf die-
ſer lezten Station wollte er übernachten, ſich zu ſtär-
ken, ſich zu ſammeln. Er that dieß nach ſeiner Art
mit der Feder in der Hand und legte ſich ſodann be-
ruhigt nieder. Der Morgen graute kaum und der
Mond ſchien noch kräftig wie um Mitternacht, als
Theobald den Ort verließ. So wie der Tag nun un-
aufhaltſam vordrang, zog ſich die Bruſt des Freundes enger
und enger zuſammen; aber der erſte Blitz der Sonne
zuckt jezt im rothen Oſten auf und entſchloſſen wirft er
allen Kleinmuth von ſich. Mit einer unvermutheten
Wendung des Wegs öffnet ſich ein ſtilles Thal, das
gar kein Ende nehmen will, aus ihm entwickelt ſich
ein zweites und drittes, ſo daß der Maler zweifelt,
ob er das rechte wähle; doch ritt er zu, und die Berge
traten endlich ein wenig auseinander. Herz, halte
feſt! ruft er laut aus, da er auf Einmal den Rauch
von Häuſern zu entdecken glaubt. Er irrte nicht,
ſchon konnte man des Förſters heitere einſtockige Woh-
[396][nung] mit ihren grünen Läden, einzeln an die Seite
des Bergs hinaufgerückt, unweit der Kirche, liegen
ſehn. „Herz, halte feſt!“ klingt es zum zweiten Mal
in ſeinem Innern nach, da ihn die Gaſſen endlich auf-
nahmen. Er gab ſein Pferd im Gaſthof ab, er eilte
zum Forſthaus.


„Herein!“ rief eine männliche Stimme auf’s Klopfen
an der Thür. Der Alte ſaß, die Füße in Kiſſen ge-
wickelt, im Lehnſtuhl und konnte vor Freudeſchrecken
nicht aufſtehn, ſelbſt wenn das Podagra es erlaubt
hätte. Wir ſagen nichts vom hellen Thränenjubel die-
ſes erſten Empfangs und fragen mit Nolten ſo-
gleich nach der Tochter.


„Sie wird wohl,“ iſt die Antwort, „ein Stückchen
Tuch drüben auf den Kirchhof zur Bleiche getragen
haben; die Sonne iſt gar herrlich außen; gehn Sie
ihr nach und machen ihr gleich die köſtliche Ueberra-
ſchung! Ich kann nicht erwarten, euch bei einander
zu ſehn! Ach mein Sohn! mein lieber trefflicher Herr
Sohn! ſind Sie denn auch noch ganz der Alte? Wie
ſo gar ſtattlich und vornehm Sie mir ausſehen! Ag-
nes
wird Augen machen! Gehn Sie, gehn Sie! Das
Kind hat keine Ahnung. Dieſen Morgen beim Früh-
ſtück ſprachen wir zuſammen davon, daß heute wohl
ein Brief kommen würde, und nun!“ — Theobald
umarmte den guten Mann wiederholt und ſo entließ
ihn der Alte. Im Vorbeigehn fiel ſein Blick zufällig
in die Kammer der Geliebten, er ſah ein ſchlichtes
[397] Kleid von ihr, das er ſogleich wieder erkannte, über’n
Seſſel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit ſtechen-
der Wehmuth, und ſchaudernd mußte ſein Geiſt über
die ganze Kluft der Zeiten hinwegſetzen.


Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwi-
ſchen den Haſelhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm
Alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer ſtand offen;
er trat in den ſtille grünenden Raum, der mit ſeinen
ländlichen Gräbern und Kreuzen die beſcheidene Kirche
umgab. Begierig und ſchüchtern ſucht er die Geſtalt
Agneſens; hinter jedem Baum und Buſch glaubt
er ſie zu erſpähen; umſonſt; ſeine Ungeduld wächst
mit jedem Athemzug; ermüdet ſezt er ſich auf eine
hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und über-
ſchaut den friedſamen Platz. Die Thurmuhr läßt ih-
ren feſten Perpendikeltakt vernehmen, einſame Bienen
ſummen um die jungen Kräuter, die Turteltaube
gurret hie und da, und, wie es immer kei-
nen unerfreulichen Eindruck macht, wenn ſich un-
mittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der
Zerſtörung die heitere Vorſtellung eines thätig regſa-
men Lebens anknüpft, ſo war es auch hier wohlthuend
für den Beſchauer, mitten auf dem Felde der Ver-
weſung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen
Daſeyns anzutreffen. Dort hatte der benachbarte
Tiſchler ein paar friſch aufgefärbte Bretter an einen
verwitterten Grabſtein zum Trocknen angelehnt, wei-
ter oben blähten ſich ein paar Streifen Leinwand in
der luſtigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von
[398] ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen
werden, wenn er dachte, welche Hände dieſes Garn
geſponnen und ſorglich es hieher getragen, wie manche
Stunde des langen Tages und der langen Nacht das
treuſte der Mädchen unter wechſelnden Gedanken an
den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieſer
Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne,
mit ſündiger Gluth eine fremde Neigung pflegte.


Jezt hatte er kein Bleibens mehr an dieſem Ort,
und doch konnte er den Muth auch nicht finden, Ag-
neſen
geradezu aufzuſuchen; er trat unſchlüſſig in den
Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle
und, trotz der armſeligen Ausſtattung, ein feierlicher
Geiſt empfing. Haftete doch an dieſen braunen abge-
nuzten Stühlen, an dieſen Pfeilern und Bildern eine
unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch
dieſe kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einſt den
ganzen Umfang ſeines Gemüths erfüllt und es ah-
nungsvoll zum Höchſten aufgehoben, war doch dort,
der Kanzel gegenüber, noch derſelbe Stuhl, wo Agnes
als ein Kind geſeſſen, ja den ſchmalen Goldſtreifen
Sonne, der ſo eben die Rücklehne beſchien, erinnerte
er ſich wohl an manchem Sonntagmorgen gerade ſo
geſehen zu haben; in jedem Winkel ſchien ein holdes
Geſpenſt der Vergangenheit neugierig dem Halbfrem-
den aufzulauſchen und ihm zuzuflüſtern: Siehe, hier
iſt ſich am Ende Alles gleich geblieben, wie iſt’s in-
deſſen mit dir gegangen?


[399]

Zur Emporkirche ſtieg er nun auf; er ſah ein
altes Bleiſtiftzeichen wieder, das er einſt in einem be-
deutenden Zeitpunkt, abergläubiſch, gleichſam als Frage
an die Zukunft, hingekritzelt hatte — aber wie ſchnell
beſtürzt wendet ſeine Aufmerkſamkeit ſich ab, als ihm
durch die beſtäubten Glasſcheiben außen eine weibliche
Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zwei-
fel bleiben kann. Agnes iſt es wirklich. Sein Bu-
ſen zieht ſich athemlos zuſammen, er vermag ſich nicht
von der Stelle zu bewegen, und um ſo weniger, je
treffender, je rührender die Stellung iſt, worin eben
jezt ihm das Mädchen erſcheint. Er öffnet behut-
ſam den Fenſterflügel um etwas und ſteht wie ein-
gewurzelt.


Die den Kirchhof umſchließende Mauer bildet
etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufen-
des Geſimſe, worauf ſich ein Kreuz von alter Stein-
hauerarbeit freiſtehend erhebt; an deſſen Fuße auf
dem Geſimſe ſizt, noch immer in beträchtlicher Höhe
über dem Boden, das liebliche Geſchöpf mit dem
Strickzeug und im Hauskleide, ſo daß dem Freunde
das Profil des Geſichts vollkommen gegönnt iſt; an
einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzen-
den hängt ein friſcher Kranz von Immergrün, ſie ſel-
ber bückt ſich ſo eben aufmerkſam, die Nadel leiſe
an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts,
worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig
auf und zuzieht; jezt, indem er auffliegt, gleitet ihr
[400] Blick flüchtig am Fenſter Theobalds hin, daß die-
ſem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf ent-
fahren wäre; aber das Köpfchen hing ſchon wieder
ruhig über dem geſchäftigen Spiele der Finger. Schicht-
weiſe kam einigemal der ſüßeſte Blumengeruch gegen
den Lauſcher herübergeweht, um den geiſtigen Nerv
ſeiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender
zu ſpannen, denn dieſe eigenthümliche Würze, meint er,
habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt
ausgehaucht, als hier, wo ſich ſein Duft mit den frü-
hen Gefühlen einer reinen Liebe vermiſchte.


Er dachte jezt ernſtlich darauf, wie er am ſchick-
lichſten aus ſeinem Verſteck hervortreten, und ſich dem
ahnungsloſen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er
bisher in ſchönem Vorgenuß die Geſtalt und alle das
Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobach-
ten, ſo wollte ein artiger Zufall ihn auch den lang-
entbehrten Ton ihrer Stimme noch hören laſſen. Der
Storch, der ſeit uralter Zeit ſein Neſt auf dem Kirch-
dache gehabt, ſpazierte mit ſehr vieler Gravität erſt
unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als
gälte es eine Morgenviſite bei Agnes. „Haſt
ſchon gefrühſtückt, Alter? komm, geh her!“ rief
ſie und ſchnalzte mit dem Finger; der langbei-
beinige Burſche aber nahm wenig Notiz von dem
herzlichen Gruße und marſchirte gelaſſen hinten vorüber.
Jezt ſtreckte plötzlich der alte Förſter den Kopf ſchalk-
haft durch’s Pförtchen: „Muß doch auch ein Bischen
nach dem verliebten Paare ſchauen, das ſeine Freude ſo
[401] ganz aparte haben will — Nun, mein Herzchen? dein
Beſuch? was läuft er denn wieder weg?“ Agnes,
dieſe Worte auf den Storch ziehend, deutet mit La-
chen ſeitwärts nach dem fortſtolzierenden Vogel: allein
bevor der Förſter ſich näher mit ihr erklärt und ehe
das Mädchen die Mauerſtufen ganz herunter iſt, er-
ſcheint Nolten unter der Kirchthür: Agnes, ihn
erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zu-
nächſtſtehenden Vater um den Hals, wo ſie ihr glü-
hendes Geſicht verbirgt, während unſer Freund, der
ſich dieſe erſchüttert abgewandte Bewegung blitzſchnell
durch ſein böſes Gewiſſen erklären läßt, mit einiger
Verlegenheit ſich heranſchmiegt, bis ein verſtohlener,
halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Al-
ten Schulter hinweg ihm ſagte, daß Freude, nicht Ab-
ſcheu oder Schmerz es ſey, was hier am Vaterherzen
ſchluchze. Aber als das herrliche Kind ſich nun plötz-
lich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt
leidenſchaftlicher Liebe ſich um den Leib warf und nur
die Worte vorbrachte: „Mein! Mein!“ da hätte auch
er laut ausbrechen mögen, wenn die Uebermacht ſol-
cher Augenblicke nicht die Luſt ſelbſt der glücklichſten
Thränen erſtarren machte.


Indem man nach dem Hauſe zurückging, bedauerte
man ſehr, daß Theobald den guten Baron vor ei-
nigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er ſeit
einer Woche verreiſ’t ſey.


26
[402]

„Ich bin noch ganz freudewirr und dumm;“ ſagte
Agnes, wie ſie in die Stube traten, „laß mich erſt
zu mir ſelber kommen!“ Und ſo ſtanden ſie einander
in glücklicher Verwunderung gegenüber, ſahen ſich an,
lächelten, und zogen auf’s Neue ſich lebhaft in die
Arme.


„Und was es ſchön geworden iſt, mein Kind,
Papa!“ rief Theobald, als er ſie recht eigens um
ihre Geſtalt betrachtete; „was es zugenommen hat!
Vergib, und laß mich immer nur ſtaunen!“


Wirklich war ihre ganze Figur entſchiedener,
mächtiger, ja wie Theobald meinte, ſelbſt größer ge-
worden. Aber auch alle die Reize, die der Bräutigam
ihr von jeher ſo hoch angerechnet hatte, erkannte er
wieder. Jenes tiefe Dunkelblau der Augen, jene eigne
Form der Augbraunen, die von allen übrigen ſich da-
durch unterſchieden, daß ſie gegen die Schläfe hin in
einem kleinen Winkel abſprangen, der in der That
etwas Bezauberndes hatte. Dann ſtellten ſich noch
immer, beſonders bei’m Lachen, die vollkommenſten
Zahnreihen dar, wodurch das Geſicht ungemein viel
kräftige Anmuth gewann.


„Indeſſen das Wunderſamſte, und worauf ich mir
ſelber etwas einbilden möchte, das will der Herr,
ſcheint’s, abſichtlich gar nicht entdecken!“ ſagte Agnes,
indem eine köſtliche Röthe ſich über ihre Wangen zog.
Wohl wußte er, was ſie meine. Ihre Haare, die er
bei ſeiner lezten Anweſenheit noch beinah blond ge-
[403] ſehen hatte, waren durchaus in ein ſchönes glänzen-
des Kaſtanienbraun übergegangen. Theobalden war
es bei’m erſten Blicke aufgefallen, aber auch ſogleich
hatte ſich ihm die ſonderbare Ahnung aufgedrungen,
Krankheit und dunkler Kummer hätten Theil an die-
ſem ſchönen Wunder. Agnes ſelber ſchien nicht im
entfernten dergleichen zu denken, vielmehr ſie fuhr
ganz heiter fort: „Und meinſt du wohl, es habe ſon-
derlich viel Zeit dazu gebraucht? Nicht doch! faſt
zuſehends, in weniger als zwanzig Wochen war ich
ſo umgefärbt. Die Paſtorstöchter und ich, wir haben
heut’ noch unſern Scherz darüber.“


Am Abend ſollte Nolten erzählen. Allein da-
bei konnte wenig Ordentliches herauskommen; denn
wenn er ſich gleich aus Larkens’s Koncepten über-
zeugt hatte, wie treulich ihm der Freund bereits in
Bezug auf gewiſſe Verlegenheitspunkte, ſo namentlich
auch wegen der Verhaftsgeſchichte, zur Beruhigung der
guten Leutchen vorgearbeitet, ſo fand er ſich nun doch
durch die Erinnerung an jene gefährliche Epoche dem
unvergleichlichen Mädchen gegenüber im Herzen beengt
und verlegen; er verfuhr deßhalb in ſeinen Erzählun-
gen nur ſehr fragmentariſch und willkürlich, und übri-
gens, wie es bei Liebenden, die ſich nach langer wech-
ſelvoller Zeit zum Erſtenmale wieder Aug’ in Auge
beſitzen, natürlich zu geſchehen pflegt, verſchlang die
reine Luſt der Gegenwart mit Ernſt und Scherz und
Lachen, es verſchlang ein ſtummes Entzücken, wenn
[404] Eins das Andre anſah, jedes übrige Intereſſe und
alle folgerechte Betrachtung. Wenn nun das junge
Paar Nichts, gar Nichts in der Welt vermißte, ja
wenn zuweilen ein herzlicher Seufzer bekannte, man
habe des Glückes auf Einmal zu viel, man werde,
da die erſten Stunden ſo reich und überſchwänglich
ſeyen, die Wonne der folgenden Zeit gar nicht er-
ſchwingen können, ſo war der Alte an ſeinem Theil
nicht eben ganz ſo zufrieden. Er ſaß nach aufgehob-
nem Abendeſſen (Tiſchtuch und Gläſer mußten bleiben)
geruhig zu einer Pfeife Tabak im Sorgenſeſſel, er er-
wartete mancherlei Neues von der Reiſe, vom Aus-
land und namentlich von Bekanntſchaften des Schwie-
gerſohns dieß und jenes Angenehme oder Ruhmvolle
behaglich zu vernehmen. Agnes, den Fehler wohl
bemerkend, ſtieß deßhalb den Bräutigam ein paarmal
heimlich an, der denn nach Kräften ſchwatzend, gar
bald den Vater in den beſten Humor zu verſetzen und
einige Mal zum herzlichſten Gelächter anzuregen wußte.
Es fiel dem ganz jugendlich auflebenden Greiſe noch
ein, eine Flaſche ächten Kapweins, welche der Baron
verehrt, vom Keller bringen zu laſſen, und immer
wurde man munterer.


Von dem Vater, den wir im Allgemeinen ſchon
kennen, ſagen wir bei dieſer Gelegenheit nur ſo viel:
Es war ein Mann von gutem geraden Verſtande,
ſein ganzes Weſen vom beſten Korn, und während
die eigenſinnige Strenge ſeines Charakters durch die
[405] äußerſte Zärtlichkeit für ſeine Tochter auf eine liebens-
würdige Weiſe gemildert ſchien, ſo war dagegen der
Schwiegerſohn beinahe der einzige Menſch, vor dem
er einen unbegränzten Reſpekt fühlte. Denn eigent-
lich pflegte der Alte etwas auf ſich zu halten, und
da er als Forſtmann, zumal in frühern Zeiten, mit
einem hohen Jagdperſonal in vielfache Berührung
kam, als erfahrner und gründlicher Mann geſucht und
geſchäzt war, ſo durfte er ſich zu einer ſolchen Mei-
nung gar wohl berechtigt glauben.


Als man nach eilf Uhr ſich endlich erhob, ver-
ſicherten alle Drei, es werde vor freudiger Bewegung
Keins ſchlafen können. „Kann ich’s doch ohne das
nicht!“ ſeufzte der Förſter, „hab’ ich doch in jungen
Jahren bei Tag und Nacht in Näſſe und Kälte han-
tierend, mich um den wohlverdienten Schlaf meines
Alters beſtohlen! nun hab’ ich’s an den Füßen. Doch
mag’s! Es denkt und lernt ſich Manches ſo von
Mitternacht bis an den lieben hellen Tag. Und wenn
man ſich dann ſo im guten Bette ſagen kann, daß
Haus und Eigenthum von allen Seiten wohl geſichert
und geriegelt, kein heimlich Feuer nirgend iſt, und ſo
weit all das Ding wohl ſteht, und dann der Mond
in meine Scheiben fällt, ſo ſtell’ ich mir dann Tauſen-
derlei vor, ſtelle das Wild mir vor, wie’s draußen
im Dämmerſchein auf’m Waldwaſen wandelt und Fried’
und Freud’ auch hat von ſeinem Schöpfer; ich denke
der alten Zeit, der vorigen Jahre, — ſagt der Pſalmiſt
[406] — ich denke des Nachts an mein Saitenſpiel (denn
das iſt dem Waidmann ſeine Büchſe), und rede mit
meinem Herzen, mein Geiſt muß forſchen. Ja ja,
Herr Sohn, lächeln Sie nur, ich kann auch ſenti-
mentaliſch ſeyn, wie ihr das ſo nennt, ihr junges
Volk. Nun, ſchlafen Sie wohl!“ Er lüpfte freund-
lich ſeine Zipfelmütze und Agnes durfte dem Bräu-
tigam leuchten.


Es glänzte wieder die herrlichſte Sonne in die
Fenſter des Forſthauſes, um die Bewohner zeitig zu
verſammeln.


Agnes, ſeit lange gewohnt, die Stelle der Haus-
frau zu behaupten, war am erſten rege. Und auf’s
Neue wie trat ſie den Augen des Liebſten entgegen!
Ein ander Kleid als geſtern, eher noch ein einfacheres,
hatte ſie angelegt; aber wie alle das auch paßte, ſich
innig ſchmiegte an ihr wahrſtes Weſen, ja völlig Ei-
nes mit demſelben ward! Gleich dieſem neuen Tag
war ſie für Nolten durchaus eine Neue; gewiß, wir
ſagen nicht zu viel, ſie war der goldne Morgen ſel-
ber. So eben hatte ſie den Stöcken Waſſer gegeben,
und es hing ihr ein heller Tropfen an der Stirn;
mit welcher Wolluſt küßt’ er ihn weg, küßt’ er die
glatt und rein an beiden Seiten heruntergeſcheitel-
ten Haare!


Er machte eine Bemerkung, die ihm das Mäd-
[407] chen nach einigem Widerſpruch doch endlich gelten laſ-
ſen mußte. Bräute, deren Väter vom Forſtweſen
ſind, haben vor Andern in der Einbildung des Lieben-
den immer einen Reiz voraus, entweder durch den
Gegenſatz von zarter Weiblichkeit mit einem muthigen,
nicht ſelten Gefahr bringenden Leben, oder weil ſelbſt
an den Töchtern noch der friſche freie Hauch des
Walds zu haften ſcheint; es ſucht überdieß die ge-
meinſchaftliche Farbe Grün ſolche Ideen gar gefällig
zu vermitteln. Nur das Leztere litt eine Ausnahme
bei Agneſen, welche die Eigenheit hatte, daß ſie
dieſe muntre Farbe in der Regel nicht, und nur ſehr
ſparſam an ſich leiden mochte.


Sie ging, das Frühſtück zu beſorgen, und Nol-
ten
unterhielt ſich mit dem Förſter. Das Geſpräch
kam auf Agneſeus Krankheit und weil kein Theil da-
bei verweilen mochte, ſehr bald auf einen Gegenſtand,
wovon der Alte mit Begeiſterung, der Sohn mit ei-
nem ſtillen, faſt ſcheuen Vergnügen ſprach — ſeine
Hochzeit. Man dürfe nun damit nicht lange mehr
zögern, meinte der Vater, meinte auch Nolten, ſelbſt
Agnes hatte ſich mit dem ernſten Gedanken mehr ver-
traut gemacht. Eine Hauptfrage war noch unent-
ſchieden: wo der Herr Sohn ſich niederlaſſen werde?
Nun eben ſprachen die Männer darüber. Auf ein-
mal fragt Nolten, den Kopf aufrichtend und hor-
chend: „Wer iſt ſo muſikaliſch in der Küche? wer
pfeift denn?“ „Sie thut’s, die Agnes;“ antwortet
[408] der Alte gleichgültig, indem er die Thür einen Augen-
blick öffnet, und fährt gelaſſen in ſeiner Rede fort.
Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln,
Geſchirre hin und her ſtellen und dazwiſchen wohl-
gemuth, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen.
Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die un-
bedeutendſte Sache von der Welt hat ihn überraſcht.
Es gibt unſchuldige Kleinigkeiten, die mit unſerm Be-
griffe von einer Perſon, wenn er nur einigermaßen
etwas Idealiſches hat, ſchlechterdings zu ſtreiten ſchei-
nen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nol-
ten
von dieſer Empfindung berührt, von einer unan-
genehmen, wenn man will, und ſogleich fühlte er die-
ſelbe in eine ganz entgegengeſezte, oder vielmehr in
eine gemiſchte, umſchlagen, wobei ein pikanter Reiz
unwiderſtehlich war. Er hätte aufſpringen mögen,
die geſpizten Lippen zu küſſen und zu beißen, doch
verharrte er auf ſeinem Sitz, bis das Kind unbefan-
gen hereintrat, da er denn nicht umhin konnte, ihr den
Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte
nicht, was es ihm verbot) den närriſchen Grund ſei-
ner verliebten Laune zu verrathen. „Ei,“ rief der
Vater dazwiſchen „bis wir trinken, hole doch die Man-
doline! das iſt dir, glaub’ ich, noch gar nicht einge-
fallen.“ Wie Feuer ſo roth wurde das ſchöne Kind
bei dieſem Wort. Es gibt einen Grad von Verle-
genheit, der wirklich furchtbar iſt und das höchſte
Mitleid fordert; er kam bei Agnes ſelten vor, war
[409] es aber der Fall, ſo wurden ihre Augen, ohne eigent-
lich zu thränen, plötzlich ſchwimmend und öffneten ſich
mächtig weit, wie man etwa bei Somnambülen dieß
bemerkt; es war unmöglich, ſie dann anzuſehn, denn
man ward innig bange, ſie ſtehe auf dem Punkt, wie
durch ein Wunder zu zerfließen, wie eine leichte Wolke
ſich völlig aufzulöſen. Sie trat ängſtlich hinter Theo-
balds
Stuhl und ihr Finger ſpielte haſtig in ſeinem
Haar. Niemand wagte weiter etwas zu ſagen und
ſo entſtand eine drückende Pauſe. „Ein andermal!“
ſagte ſie kleinlaut und eilte in die Küche.


„Der Vetter, der Lehrmeiſter, irrt ſie, merk’ ich
wohl, Ihnen gegenüber. Doch hätt’ ich das nicht
mehr erwartet, aufrichtig zu ſagen.“


„Wir wollen ſie ja nicht ſtören!“ verſezte Theo-
bald
, „laſſen Sie uns ja vorſichtig ſeyn. Ich denke
mich recht gut in ihr Gefühl. Des Mädchens Anblick
aber hat mich erſtaunt, erſchreckt beinah! Merkten Sie
nicht, wie ſie bei’m Weggehn die Farbe zum zweiten
Mal wechſelte und ſchneebleich wurde?“


„Sonderbar!“ ſagte der Vater, mehr unmuthig
als beſorgt, „in jener ſchwermüthigen Periode konnte
man daſſelbe manchmal an ihr ſehn und inzwiſchen
nie wieder, bis dieſen Augenblick.“ Beide Männer
wollten nachdenklich werden, aber Agnes brachte die
Taſſen.


Beim Frühſtück hielt man Rath, was heute be-
gonnen werden ſollte. „Eh ich an irgend etwas wei-
[410] ter denken kann, eh wir den Papa zum Wort kommen
laſſen mit Beſuchen, die zu machen, mit Rückſichten,
die zu nehmen ſind, erlauben Sie uns das Vergnü-
gen, daß Agnes mir zuvörderſt das Haus vom Gie-
bel bis zum Keller, von der Scheune bis zum Gar-
ten, und Alles nach der Reihe wieder zeige, was mich
als Knaben glücklich machte. Was waren das doch
ſchöne Zeiten! Sie hatten ihrer vier Jungen im
Hauſe, lieber Vater, die beiden Z., dieſe wilden Brü-
der, mich und Amandus, der ja nun Pfarrer drü-
ben iſt in Halmedorf. Wie freu’ ich mich, ihn wie-
der zu ſehn! wir müſſen hinüber gleich in den näch-
ſten Tagen, hörſt du mein Schatz? hört ihr Papa?
da muß dann Jedes ſein Häufchen Erinnerung her-
zubringen, und es wird ein groß Stück Vergangen-
heit zuſammen geben.“ „Leider,“ ſagte Agnes, „kann
aus dieſer Zeit von mir noch nicht die Rede ſeyn;
ich hatte nur erſt ſieben Jahre, wie du zu uns kamſt.“
„Was? nicht die Rede? meinſt du, der Tag, der ver-
hängnißvolle, ſchwarze Unglücks-Sonntagnachmittag
werde nicht aufgeführt in unſern Schulannalen, wo
du mein Exercitienheft zur Hand kriegteſt, es auf dem
Schemel hinter den Ofen nahmſt und unmittelbar
hinter das rothe Pessime des Rektors hin mit unge-
lenker Feder, in beſter Meinung, eine ganze Front lan-
ger hakiger P’s und V’s malteſt? Welch ein Jammer,
da ich das Skandal gewahr wurde! Ich nahm dich,
Gott verzeih mir’s, bei den Ohren, und die Andern
[411] auch über dich her, wie ein ergrimmter Bienen-Trupp
wenn ein Feind einbrechen will! — Ach, und was
das immer ein ſaurer Gang war Morgens mit dem
Bücherriemen nach der Stadt in’s Lyceum! denn der
gute Rektor lag mir beſonders ſcharf an. Aber, kam
dann der Samſtag heran, der erſehnte Wochenſchluß!
wir ſagten: im Himmel müßte es immer Samſtag
Abend ſeyn, denn ſelbſt der Sonntag ſey ſo lieblich
nicht mehr. O ich muß den Boden wieder ſehn, wo
wir das Heu durchwühlten, das Garbenſeil, an wel-
chem wir uns ſchaukelten, den Teich im Hofe, wo man
Fiſche groß zog!“ „Kirch’ und Kirchhof,“ lachte der
Vater, „dieſe Herrlichkeiten haben Sie ſchon in Au-
genſchein genommen; zu den Glocken hinauf wird auch
wohl noch der Steeg zu finden ſeyn.“ „Ei, und“ warf
Agnes dazwiſchen, „deinen alten Günſtling, deinen
Geſchaggien haſt du auch ſchon gehört!“ Theo-
bald
begriff nicht gleich, was ſie damit wollte, plötz-
lich fiel ihm mit hellem Lachen bei, ſie meine einen
alten Nachtwächter, über den ſie ſich luſtig zu machen
pflegten, weil er die lezten Sylben ſeines Stunden-
rufs auf eine eigne, beſonders ſchön ſeyn ſollende
Manier entſtellte.


So eben brachte der Bote von der Stadt die
neueſten Zeitungen, die der Vater ſchon eine Weile
zu erwarten ſchien, denn er ſparte ſeinen Kaffee und
die zweite Pfeife lag nur zum Anzünden parat. Höf-
lich, nach ſeiner Art, gab er dem Sohn die Hälfte
[412] der Blätter hin, der ſie indeſſen neben ſich ruhen ließ.
„Nein,“ ſagte er, wieder heimlich zu Agneſen ge-
wendet, während der Alte ſchon in Politik vertieft
ſaß, „ich habe Käſperchen die Nacht nicht gehört.“
„Ich habe!“ verſezte ſie, „um drei Uhr, es war noch
dunkel, rief er den Tag an; und,“ ſezte ſie leiſe hin-
zu, „an dich hab’ ich gedacht! aber wie! eben war
ich erwacht, mich überfiel’s auf Einmal, du wärſt
hier, wärſt mit mir unter Einem Dache! ich mußte
die Hände falten, ein Krampf der Freuden drückte ſie
mir in einander, ſo dankbar, froh und leicht hab’ ich
mein Tage nicht gebetet.“ — „Gebt ’mal Acht, Kin-
der! „hub der Vater an: „das iſt ein Einfall vom
ruſſiſchen Kaiſer! ſuperb, ganz excellent! Da hört
nur.“ Und nun ward ein langer Artikel vorgeleſen,
wobei der Alte ſeine Wölkchen heftiger vom Mund
abſtieß. Nolten vernahm kaum den Anfang des
Edikts, er iſt noch hingeriſſen v[o]n den lezten Worten
Agneſens, woraus ihm alles Gold ihrer Seele
entgegenſchimmert; durchdringend ruht ſein Blick auf ihr
und zugleich ergreift ihn das Andenken an Larkens auf
das Lebhafteſte. „O,“ hätte er ausrufen mögen, „warum
muß er mir jetzo fehlen? Er, dem ich dieſe Seeligkeit
verdanke, warum verſchmäht er, ſelbſt Zeuge zu ſeyn,
wie herrlich die Saat aufgegangen iſt, die ſeine treue
Hand im Stillen ausgeſtreut! Und ich ſoll hier ge-
nießen, indeß ein freudelos Geſchick, ach, das eigne
unerſättliche Herz, ihn in die Ferne irren heißt, ver-
[413] lechzend in ſich ſelber, ohn’ eine hülfreiche theilneh-
mende Seele, die ſeine heimlichen Schmerzen beſpräche,
in die Tiefe ſeines Elends beſcheidnen Troſt hinun-
terleiten könnte! Ihn ſo zu denken! und keine Spur,
keine Ahnung, welcher Winkel der Erde mir ihn ver-
birgt. Und wenn ich ihn nimmer fände? Gott! wenn
er bereits, wenn er in dieſem Augenblick dasjenige
verzweifelt ausgeführt hätte, womit er ſich und mich
ſo oft bedrohte — —!“ Eine Sorge, die nur erſt
als ſchwacher Punkt zuweilen vor uns aufgeſtiegen
und immer glücklich wieder verſcheucht worden war,
pflegt tückiſcher Weiſe gerade in ſolchen Momenten
uns am hartnäckigſten zu verfolgen, wo alles Uebrige
ſich zur freundlichſten Stimmung um uns vereinigen
will. Im heftigen Zugwinde einer aufgeſcheuchten
Einbildungskraft drängt ſich ſchnell Wolke auf Wolke,
bis es vollkommen Nacht um uns wird. So ballte
mitten in der lieblichſten Umgebung das rieſenhafte
Geſpenſt eines abweſenden Geſchickes ſeine drohende
Fauſt vor Theobalds Stirn, und ſo war plötzlich eine
ſonderbare Gewißheit in ihm aufgegangen, daß Lar-
kens
für ihn verloren ſey, daß er auf eine ſchreck-
liche Art geendigt habe. Er ertrug’s nicht mehr, ſtand
auf von ſeinem Sitze, und ging im Zimmer umher.
Die ſüße Nähe Agneſens beklemmt ihn wunderbar,
eine unerklärliche Angſt befällt ihn, ihm iſt, als wenn
ihn dieſe reine Gegenwart mit ſtillem Vorwurf wie
einen Fremden, Unwürdigen, ausſtieße. Dieß Zimmer,
[414] der Alte mit ſeiner Tochter, die ganze Scene, die ihm
ein Blitz des Gedankens im vollen überraſchenden
Kontraſte mit der Vergangenheit aufreißt und erhellt,
dünkt ihm auf Einmal Duft und Traum zu ſeyn, ja,
wäre das, was er hier um ſich her mit Augen ſah,
durch einen mächtigen Zauber urplötzlich vor ihm
verſunken und verſchwunden, er hätte darin nur
die natürliche Auflöſung einer ungeheuren Illuſion
geſehen.


Glücklicherweiſe war die Aufmerkſamkeit Agne-
ſens
während dieſer heftigen Bewegung Theobalds
völlig auf den Vater geſpannt, der es liebte, mit ſei-
ner Tochter über politiſche Begebenheiten zu raiſon-
niren und ihr Urtheil daran zu prüfen und zu üben.


Unſer Freund kam ſich ganz verſtoßen und ver-
laſſen vor, und wenn ſein Blick auf das liebe Mäd-
chen fiel, ſo ſchien ſie ihm gar nicht mehr anzugehö-
ren, ihn niemals etwas angegangen zu haben.


Wie nun aber unſer Herz, durch die Dazwiſchen-
kunft eines kleinen Umſtandes ſich von einem Aeußer-
ſten zur natürlichen Empfindung geſchwind umſchwen-
ken zu laſſen, eine wohlthätige Fertigkeit beſizt, ſo
war, als nun die Thüre aufging und unerwartet der
gute alte Baron eintrat, unſer Freund alsbald ſich
ſelbſt zurückgegeben, und nicht die Erſcheinung einer
Gottheit hätte ihm wohler thun können. Mit aus-
geſtreckten Armen eilt er auf ihn zu und liegt ſchluch-
zend, als ein Kind, am Halſe des ehrwürdigen Mannes,
[415] deſſen weißgelockten Scheitel er mit Küſſen deckt. Auch
bei den Uebrigen war Freude und Verwunderung groß;
ſie hatten den gnädigen Herrn noch hinter Berg und
Thal gedacht, und er erzählte nun, wie ein Ungefähr
ihn früher heimgeführt, wie man ihm geſtern Abend
ſpät bei ſeiner Ankunft geſagt, daß der Maler ange-
kommen, und wie er denn kaum habe erwarten kön-
nen, denſelben zu begrüßen.


Es macht bei ſolchen Veranlaſſungen eine beſon-
ders angenehme Empfindung, zu bemerken, wie Freunde,
zumal ältere Perſonen, welche man geraume Zeit nicht
geſehn, gewiſſe äußerliche Eigenthümlichkeiten, gewohnte
Liebhabereien, unverändert beibehielten; dieß Beharren
gewährt uns eine Art von Verſicherung für unſer eignes
Daſeyn, denn indem wir in den Alten das Leben,
das dieſe ſo eifrig feſthalten, doppelt liebgewinnen,
finden wir Jüngere uns zugleich in unſern Anſprü-
chen darauf und in einem herzhaften Genuſſe deſſel-
ben beſtärkt. So hatte der Baron bei dieſem Beſuche
ſeinen gewohnten Morgenſpaziergang, den er ſeit vie-
len Jahren immer zur ſelben Stunde machte, im Aug’,
ſo ſtellte er ſein Rohr noch wie ſonſt in die Ecke zwi-
ſchen den Ofen und den Gewehrſchrank, noch immer
hatte er die unmodiſch ſteifen Halsbinden, die an ſeine
frühere militäriſche Haltung erinnerten, nicht abge-
ſchafft. Aber zum peinlichen Mitleiden wird unſre
frohe Rührung umgeſtimmt, wenn man wahrnehmen
muß, daß dergleichen Alles nur noch der Schein des
[416] frühern Zuſtandes iſt, daß Alter und Gebrechlichkeit
dieſen überbliebenen Zeichen einer beſſern Zeit wider-
ſprechen. Und ſo betrübte auch Nolten ſich im Stil-
len, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er
ging um Vieles gebückter, ſein faltiges Geſicht war
bedeutend bläſſer und ſchmaler geworden, nur die wohl-
wollende Freundlichkeit ſeines Mundes und das geiſt-
reiche Feuer ſeiner Augen konnte dieſe Betrachtungen
vergeſſen machen.


Während nun zwiſchen den vier Perſonen das
Geſpräch heiter und gefällig hin und her ſpielt, kann
es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß
Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch
mehr aber durch gewiſſe zufällige, unbeſchreibliche
Merkmale des Ideengangs ſich einander unwillkürlich
verrathen, was Jeder von Beiden bei dieſem Zuſam-
mentreffen beſonders denken und empfinden mochte,
und unſer Freund glaubte den Baron vollkommen zu
verſtehen, als dieſer mit ganz eignem Wohlgefallen
und einer Art von Feierlichkeit ſeine Hand auf das ſchöne
Haupt Agneſens legte, indem er einen Blick auf
den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand
einen Troſt darin, daß er den heimlichen Vorwurf,
das theure Geſchöpf ſo tief verkannt zu haben, mit
einem Manne theilen durfte, den er ſo ſehr verehrte;
ja es war dieſe Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel,
eben dasjenige geweſen, was ihm gleich bei des Ba-
rons Eintritt in’s Zimmer die größte Laſt vom Her-
[417] zen weggenommen. Der feine Greis mochte übrigens
Recht haben, jene verdeckte Zwieſprache der Gedan-
ken ſogleich abzuſchneiden, indem er in allgemeinen
heitern Umriſſen von Theobalds Glück, wie es von
unten herauf mit ihm verfahren, eine Darſtellung
machte, und man ſo auf die Jugendzeit Theobalds
zu ſprechen kam. Agnes inzwiſchen hatte ſich in Ge-
ſchäften entfernt.


„Man ſagt mir noch auf den heutigen Tag in’s
Geſicht,“ begann der Maler, „und ſelbſt mein wer-
theſter Herr Papa gibt zuweilen zu verſtehen, ich ſey
länger als billig ein Knabe geblieben. Zu läugnen
iſt nun nicht, meine Streiche als Burſche von ſechzehn
Jahren ſind um kein Haar beſſer geweſen, als eines
Eilfjährigen, ja meine Liebhabereien ſahen vielleicht
bornirter aus, wenigſtens hatten ſie die praktiſche Be-
deutung nicht, um derentwillen man dieſem Alter
manche Spiele, wären ſie auch leidenſchaftlich und zeit-
vergeudend, noch allenfalls verzeihen kann. Bei mei-
ner Art ſich zu unterhalten, wurde der Körper wenig
geübt; Klettern, Springen, Voltigiren, Reiten und
Schwimmen reizte mich kaum; meine Neigung ging
auf die ſtilleren Beſchäftigungen, öfters auf gewiſſe
Kurioſitäten und Sonderbarkeiten. Ich gab mich an
irgend einem beſchränkten Winkel, wo ich gewiß ſeyn
konnte, von Niemanden gefunden zu werden, an der
Kirchhofmauer, oder auf dem oberſten Boden des Hau-
ſes zwiſchen aufgeſchütteten Saatfrüchten, oder im
27
[418] Freien unter einem herbſtlichen Baume, gerne einer
Beſchaulichkeit hin, die man fromm hätte nennen kön-
nen, wenn eine innige Richtung der Seele auf die
Natur und die nächſte Außenwelt in ihren kleinſten
Erſcheinungen dieſe Benennung verdiente; denn daß
ausdrücklich religiöſe Gefühle dabei wirkten, wüßte
ich nicht, ausgeſchloſſen waren ſie auf keinen Fall.
Ich unterhielt zu Zeiten eine unbeſtimmte Wehmuth
bei mir, welche der Freude verwandt iſt, und deren
eigenthümlichen Kreis, Geruchskreis möcht’ ich ſagen,
ich, wie den Ort, woran ſie ſich knüpfte, willkürlich
betreten oder laſſen konnte. Mit welchem unaus-
ſprechlichen Vergnügen konnte ich, wenn die Andern
im Hofe ſich tummelten, oben an einer Dachlücke
ſitzen, mein Veſperbrod verzehren, eine neue Zeichnung
ohne Muſterblatt vornehmen! Dort nämlich iſt ein
Verſchlag von Brettern, ſchmal und niedrig, wo mir
die Sonne immer einen beſondern Glanz, überhaupt
ein ganz ander Weſen zu haben ſchien, auch konnte
ich völlig Nacht machen, und (dieß war die höchſte
Luſt), während außen heller Tag, eine Kerze anzün-
den, die ich mir heimlich zu verſchaffen und wohl zu
verſtecken wußte.“ „Herr Gott, du namenloſe Güte!“
rief der Förſter aus, „hätt’ ich und meine ſelige Frau
damals gewußt, was für ein gefährlich Feuerſpiel“ —
„So verging eine Stunde,“ fuhr Nolten fort, der un-
gern unterbrochen war, „bis mich doch auch die Ge-
ſellſchaft reizte, da ich denn ein Räuberfangſpiel, das
[419] mich unter allen am meiſten anzog, ſo lebhaft wie
nur irgend Einer, mitmachte. Jüngere Kinder, dar-
unter auch Agues, hörten des Abends gern meine
Mährchen von dienſtbaren Geiſtern, die mir mit Hülfe
und Schrecken jederzeit zu Gebote ſtanden. Sie durf-
ten dabei an einer hölzernen Treppenwand zwei Aſt-
löcher ſehen, wo jene zarten Geſellen eingeſperrt wa-
ren; das Eine, vor das ich ein dunkles Läppchen ge-
nagelt hatte, verwahrte die böſen, ein anderes (oder
das vielmehr keines war, denn der runde Knoten
ſtack noch natürlich in’s Holz geſchloſſen) die freund-
lichen Geiſter; wenn nun zu gewiſſen Tagszeiten eben
die Sonne dahinter ſchien, ſo war der Pfropf vom
ſchönſten Purpur brennend roth erleuchtet; dieſen Ein-
gang, ſo lange die Rundung noch ſo glühend durch-
ſichtig ſchien, konnten die luftigen Weſen gar leicht
aus und ein durchſchweben; unmittelbar dahinter
dachte man ſich in ſehr verjüngtem Maasſtab eine
ziemlich weit verbreitete See mit lieblichen, duftigen
Inſeln. Nun war das eine Freude, die Kinder, die
andächtig um mich herſtanden, ein Köpfchen ums andre
hinaufzulüpfen, um all die Pracht ſo nahe wie mög-
lich zu ſehn, und Jedes glaubte in der ſchönen Gluth
die wunderbarſten Dinge zu entdecken; natürlich! hab’
ich’s doch beinah ſelbſt geglaubt! — Jedoch, es iſt
nicht ſchicklich, ſo lange von ſich ſelbſt zu reden, nur
wenn Sie das Bekenntniß beluſtigen kann, Papa, ſo
will ich gern geſtehn, daß der alte Theobald noch
[420] jezt zuweilen ſich über einer Spur von dieſen Kin-
dereien ertappt.“


Der Förſter ſchüttelte den Kopf und ließ nach
ſeiner Gewohnheit, wenn ihn etwas ſehr wunderte,
ein langes „ſſſ — t!“ vernehmen. Der Baron da-
gegen hatte mit einem ununterbrochenen lieben Lächeln
zugehört und ſagte jezt: „Aehnliche Dinge habe ich
von Andern theils gehört, theils geleſen, und Alles,
was Sie ſagten, trifft mit der Vorſtellung überein,
die ich von Ihrer Individualität ſeit früh gehabt.
Ueberhaupt preiſ’ ich den jungen Menſchen glücklich,
der, ohne träge oder dumm zu ſeyn, hinter ſeinen
Jahren, wie man ſo ſpricht, weit zurückbleibt; er
trägt gewöhnlich einen ungemeinen Keim in ſich, der
nur durch die Umſtände glücklich entwickelt werden
muß. Hier iſt jede Abſurdität Anfang und Aeuße-
rung einer edeln Kraft, und dieſes Brüten, wobei
man nichts herauskommen ſieht, das kein Stück gibt,
iſt die rechte Sammelzeit des eigentlichen innern Men-
ſchen, der freilich eben nicht viel in die Welt iſt. Ich
kann es mir nicht reizend und rührend genug vor-
ſtellen, das ſtille gedämpfte Licht, worin dem Knaben
dann die Welt noch ſchwebt, wo man geneigt iſt, den
gewöhnlichſten Gegenſtänden ein fremdes, oft unheim-
liches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimniß da-
mit zu verbinden, nur damit ſie der Phantaſie etwas
bedeuten, wo hinter jedem ſichtbaren Dinge, es ſey
dieß, was es wolle — ein Holz, ein Stein, oder der
[421] Hahn und Knopf auf dem Thurme — ein Unſicht-
bares, hinter jeder todten Sache ein geiſtig Etwas
ſteckt, das ſein eignes, in ſich verborgnes Leben an-
dächtig abgeſchloſſen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles
Phyſiognomie annimmt.“


„Nur werden Sie mir zugeben,“ verſezte Nol-
ten
, „daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich wer-
den können, wenn ich Ihnen den freilich nur ſehr
ſchwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kinder-
gemüth vortrage, einen Fall, den Sie wenigſtens bei
dieſem Alter nicht geſucht haben würden. Ich rede
von meiner Braut, von Agneſen. Da das gute
Kind es nicht hört, ſo können wir offen davon ſpre-
chen; es iſt zugleich ein Beweis, wie ein unheimli-
cher Hang bei ihrer übrigens ſo reinen und ſchönen
Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie ſehr
man ſeit den Vorfällen vom vorigen Jahre Urſache
haben mag, ſich bei ihr in Acht zu nehmen. Erzäh-
len Sie’s dem Herrn Baron, Vater, da ich’s ja auch
nur von Ihnen erfuhr; wiſſen Sie, die frühere Grille
des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande,
von fremden Städten, die Rede war.“


„Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur
Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforſtmei-
ſter, von Ihren Reiſen zurückkamen, und die Gnade
hatten, manchmal in meinem Hauſe davon zu erzäh-
len. Dieſer Herr, nachdenklich und ernſthaft, aber
freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mäd-
[422] chen einen beſondern Eindruck, der ihr lange geblie-
ben iſt. Nun kommt ſie einmal (die Geſellſchaft war
gerade weggegangen) von ihrem Sitz hinter dem Ofen,
wo ſie eine Zeitlang ganz ſtill geſeſſen und geſtrickt
hatte, hervor, ſtellt ſich vor mich hin, ſieht mir ſcharf
in’s Geſicht und lacht mich an, wie über etwas, das
mir ſchon bewußt ſeyn müßte, und dabei fährt ſie mir
mit der Stricknadel ſchalkhaft über die Stirn. Auf
meine Frage, was dieß zu bedeuten habe, gibt ſie keine
deutliche Antwort und geht wieder an ihren Platz.
So treibt ſie’s zu verſchiedenen Zeiten ein paarmal.
Zulezt ward ich doch ungeduldig und fuhr ſie etwas
hart an, da fiel ſie in ein Weinen, indem ſie ſagte:
Geſteht es nur Papa, daß es die Länder und Städte
gar nicht gibt, von denen Ihr alls redet mit dem
Herrn; ich merke wohl, man thut nur ſo, wenn ich
um den Weg bin, ich ſoll Wunder glauben, was Al-
les vorgehe draußen in der Welt, und was doch nicht
iſt; deßwegen laßt Ihr mich auch nie weiter als bis
nach Weil, nach Grebenheim und Neitze. Zwar daß
unſers Königs Land ſehr groß iſt, und daß die Welt
noch viel viel weiter geht, auch noch andre Völker
ſind, weiß ich wohl, aber Paris, das iſt gewiß kein
Wort, und London, ſo gibt es keine Stadt; Ihr
habt es nur erdacht und thut ſo bekannt damit, daß
ich mir Alles vorſtellen ſoll. — So ungefähr ſchwazte
das einfältige Ding; halb ärgert’s mich, halb mußt
ich lachen. Ich gab mir Mühe, ihr Alles klar aus-
[423] einander zu ſetzen, wies ihr auch die Charten, die ſie
übrigens ſchon oft geſehen hatte; dabei lauſchte ſie
immer auf meine Miene, und der kleinſte Zug von
Lachen brachte ſie faſt zur Verzweiflung. Nun, die
Caprice verlor ſich bald, und als ich ſie vor etlichen
Jahren wieder dran erinnerte, lachte ſie ſich herzlich
ſelber drüber aus, erklärte deutlicher, wie’s ihr gewe-
ſen, und ſagte — ich weiß nicht was Alles.“ „Kurz,“
nahm Theobald das Wort, „es läuft darauf hin-
aus, daß ſie ſich als Mittelpunkt und Zweck einer
großen Erziehungsanſtalt betrachtete, die auf jene
Weiſe allerlei lebhafte Ideen in des Kindes Kopfe
habe in Umlauf ſetzen und ſeinen Geſichtskreis durch
eine Täuſchung erweitern wollen, deren Nutzen ſie zu
ahnen glaubte, doch nicht begriff. Sie vermuthete,
man wiſſe überall, wohin ſie komme, wer ihr da und
dort begegnen werde, und da ſeyen alle Worte abge-
kartet, Alles auf das ſorgfältigſte hinterlegt, damit ſie
auf keinen Widerſpruch ſtoße. Uebrigens hatte ſich
die Grille durchaus nicht ſo feſtgeſezt, daß ſie nicht
dazwiſchen hinein wieder längere Zeit ganz frei da-
von geweſen wäre, ſie ſchien ſich ſelbſt nicht recht
dabei zu trauen. Ich habe ſie nie darüber fragen
mögen.“


„Indeſſen,“ ſagte der Baron nach einigem Beſin-
nen, „bei näherer Betrachtung zeigt ſich doch, es ge-
hört dieſer ſkeptiſche Kaſus, der allerdings höchſt merk-
würdig bleibt, nicht ganz in unſer voriges Kapitel.
[424] Laſſen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glück-
lichen Myſticism des Knabenalters zurückkehren! denn
eigentlich ſind es doch nur die Knaben, nicht aber
die Mädchen, bei denen er ſich findet. Das wollt’
ich noch ſagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von
dieſer angenehm phantaſtiſchen Komplexion — wozu
ich überdieß, was nicht nothwendig dabei ſeyn muß
und bei den Wenigſten iſt, eine größere Portion Geiſt
überhaupt zuſetze — daß, ſag’ ich, ſolche Individuen
jedesmal zu Dichtern und Künſtlern geboren ſind? ich
ſollte nicht meinen.“


„Keineswegs!“ verſezte Nolten. „Ich habe mir
bei einem Manne, der ſcheinbar nicht hieher gehört,
bei Napoleon, einige geheime Eigenſchaften ge-
merkt, welche ſich ſehr gut an gewiſſe Fädchen von
Lichtenbergs eigenſter Natur anknüpfen laſſen;
ſie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo
reden, aber ſie hängen mit einer Gattung Aberglau-
ben zuſammen, der ein Grenznachbar aller Idioſyn-
kraſien iſt.“


Napoleon!“ rief der Baron aus, „als
wenn nicht auch ſein Aberglaube nur angenommene
Maske wäre!“


„Machen Sie mir ihn nicht vollends zum ſeich-
ten Verbrecher!“ entgegnete Nolten. „Er war nüch-
tern überall, nur nicht in dem tiefſten Schachte ſei-
nes Buſens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die
einzige Religion, die er hatte, die Anbetung ſeiner
[425] ſelbſt oder des Schickſals, das mit göttlicher Hand
ihm einen Spiegel vorzuhalten ſchien, worin er ſich
und die Nothwendigkeit ſeiner Thaten erblickte.“


„Wir laſſen das gut ſeyn;“ verſezte der Baron,
„ſo weit ich Sie aber verſtehe, haben Sie vollkommen
Recht. Das Schickſal verwendet die Kräfte, welche
verſchränkt in einem Menſchen liegen können, gar
mannichfaltig, und aus einer Miſchung von Poeſie,
bald mit politiſchem Verſtand, bald mit philoſophi-
ſchem Talent, mit mathematiſchem Sinn u. ſ. f., in
einem und demſelben Subjekte ſpringen die wunder-
barſten, die größten Reſultate hervor, vor denen die
Gelehrten gaffend und kopfſchüttelnd ſtehn und wo-
durch das lahme Rad der Welt auf lange hinein wie-
der einen tüchtigen Schwung erhält. Da ſcheint denn
die Natur vor unſern eingeſchränkten Augen ſich auf
Einmal ſelbſt zu widerſprechen, oder wenigſtens zu
übertreffen, ſie thut aber keines von Beiden. Zwei
heterogen ſcheinende Kräfte können ſich wunderbar
einander ſtärken, und das Trefflichſte hervorbringen.
Doch ich verirre mich. — Ich wollte von Ihren kin-
diſchen Geſtändniſſen aus nur auf den Punkt kommen,
wo der Philiſter und der Künſtler ſich ſcheiden. Wenn
dem Leztern als Kind die Welt zur ſchönen Fabel
ward, ſo wird ſie’s ihm in ſeinen glücklichſten Stun-
den auch noch als Mann ſeyn, darum bleibt ſie ihm
von allen Seiten ſo neu, ſo lieblich befremdend.


Am meiſten als Enthuſiaſt hat Novalis (der
[426] mir übrigens dabei nicht ganz wohl macht) dieſes
ausgeſprochen, ſo weit es den Dichter angeht —“


„Ganz recht!“ fiel Nolten ein; „aber wenn
dem wahren Dichter bei dieſer beſondern Anſchauungs-
weiſe der Außenwelt jene holde Befremdung durchaus
eigen ſeyn muß, ſelbſt im Falle ſie ſich in ſeinen Pro-
duktionen nicht ausdrücklich verrathen ſollte, ſo kann
dagegen die Vorſtellungsart des bildenden Künſtlers
ganz entfernt davon ſeyn, ja ſie iſt es nothwendig.
Auch der Geiſt, in welchem die Griechen Alles per-
ſonificirten, ſcheint mir völlig verſchieden von demjeni-
gen zu ſeyn, was wir ſo eben beſprechen. Ihre Phan-
taſie iſt mir hiefür viel zu frei, zu ſchön und, möcht’
ich ſagen, viel zu wenig hypochondriſch. Ein Todtes,
Abgeſtorbenes, Fragmentariſches konnte in ſeiner Na-
turweſenheit nichts Inniges mehr für ſie haben. Ich
müßte mich ſehr irren, oder man ſtößt hier wiederum
auf den Unterſchied von Antikem und Romantiſchem.“


Nun kam das Geſpräch auf Theobalds neuſte
Arbeiten, und da es hierauf abermals eine gewiſſe
allgemeine Wendung nehmn wollte, ſagte der Baron,
indem er auf die Uhr ſahe: „Damit wir nun aber
nicht unverſehens in den unfruchtbarſten aller Dispute
hineingerathen, denn wir ſind auf dem Wege, was
nämlich ſtärkender ſey, joniſche Luft einzuathmen, oder
den ſüßeſten Himmel, wo er den Umriß einer Ma-
donna-Wange berührt, ſo entlaſſen Sie mich, damit
ich meinen gewohnten Marſch antrete. Auf den Abend
[427] hoffe ich Sie bei mir zu ſehn, und Sie ſagen mir
dann mehr von Ihrem angefangenen Narciß.“ Da
Nolten wußte, daß der alte Herr Morgens gerne
allein auf ſeinen Gütern herumging, ſo drang er ſeine
Begleitung nicht auf. Er bat Agneſen zu einem
Gang in’s Gärtchen; ſie befahl der Magd einige Ge-
ſchäfte, ging in ihre Kammer, ein Halstuch zu holen,
und Theobald folgte ihr dahin.


„Hier ſieh’ auch einen Mädchenkram!“ ſagt ſie,
indem ſie die Schublade herauszieht, wo eine Menge
Käſtchen, Schächtelchen, allerlei beſcheidner Schmuck
bunt und nett bei einander lag. Sie nahm ein ro-
thes Schatullchen auf, drückte es an die Bruſt, legte
die Wange darauf und ſah Theobalden zärtlich
an: „Deine Briefe ſind’s! mein beſtes Gut! Einmal
haſt du mich dieſen Troſt lange entbehren laſſen, und
dann, als du gefangen warſt, wieder; aber gewiß, ich
habe mich nicht zu beklagen.“ Unſerm Freund ging
ein Stich durch’s Herz und er erwiderte nichts.
„Dein neuſtes Geſchenk (es war eine kleine Uhr),
ſiehſt du,“ fuhr ſie fort, indem ſie eine zweite Schub-
lade zog, „ſoll hier ſeinen Platz nehmen, es gehört
ihm eine vornehme Nachbarſchaft. Aber, Seele! was
haſt du damals gedacht? Das iſt der Putz für eine
Gräfin, nicht für unſer Eine!“ (Sie zeigte einen
geſchmackvollen Spenzer von dunkelgrünem Sammet,
reich mit goldnen Knöpfchen und zarten Ketten, ſtatt
der Litzen, beſezt; Larkens hatte ihr das Maas auf
[428] eine feine Weiſe abzuliſten gewußt, und ſo das Klei-
dungsſtück ganz fertig geſendet.) Theobald ſtand
geblendet, vernichtet von der Großmuth ſeines Freun-
des. Er ſpielte in Gedanken mit einem Strauß ita-
lieniſcher Blumen, ohne zu merken, wie jämmerlich
ſeine Finger ihn zerknitterten; Agnes zog ihm das
Bouquet ſachte aus der Hand: er lächelte, die Thrä-
nen ſtanden ihm näher. Das Collier der Gräfin fiel
ihm ein; er wagte immer noch nicht, damit hervor-
zurücken. Wie Alles, Alles ihn verlezte, quälte, ent-
zückte! ja ſelbſt der reizende Duft, der den Putz-
Schränken der Mädchen ſo eigen zu ſeyn pflegt, ſchien
ihm auf Einmal den Athem zu erſchweren; es war
Zeit, daß er ſich losmachte und auf ſein Zimmer ging,
wo er ſich elend auf den Boden warf, und allen ver-
drungenen Schmerzen Thür und Thor willig eröffnete.


In Kurzem klopft Agnes außen: er kann nicht
aufſchließen, er darf ſich in dieſem Zuſtand nicht vor
ihr ſehen laſſen. „Ich kleide mich an, mein Kind!“
ruft er, und leiſe geht ſie wieder den Gang zurück.


Nach einer Weile, da er ſich gefaßt hatte, kam
der Vater. „Auf ein Wort!“ ſagte er, als ſie allein
waren, „das wunderliche Ding, das Mädchen, jezt
geht es ihr im Kopf herum, ſie hätte Ihnen vorhin
ſpielen ſollen; ſie fürchtet ſich davor und wird ſich
fürchten, bis es Einmal überwunden iſt; nun fiel’s
ihr ein, ſie wolle ſich geſchwinde entſchließen“ —
„Nur jezt nicht!“ rief Nolten „ich bitte Sie um
[429] Gotteswillen, Papa, nur dieſen Morgen nicht!“ „War-
um denn?“ verſezte der Alte, in der Meinung, Theo-
bald
wolle nur das Mädchen geſchont wiſſen, „wir
müſſen den Augenblick ergreifen, ſonſt machen wir ſie
ſtutzig; ſie iſt ganz guten Muths: ich rieth ihr, zu-
gleich in dem neuen Anzug zu erſcheinen und Sie zu
überraſchen, das ſchien ihr die Aufgabe zu erleichtern,
denn ſie kann ſich einbilden, das wäre nun die Haupt-
ſache. Laſſen Sie’s zu dießmal! Sie wird gleich
fertig ſeyn und Sie kommen dann hinüber.“ So
mußte Nolten nachgeben, der Alte ging und rief ihn
in Kurzem.


Da ſtand ſie nun wirklich! glänzend, ſchön, einer
jungen Fürſtin zu vergleichen. Innig verwundert und
erfreut ward Theobald durch den Anblick. Es war
ihm ſo fremd, ſie ſo geſchmückt zu ſehen, und doch
ſchien ein ſolcher Anzug ihrer einzig würdig zu ſeyn.
Ein weißes Kleid ſtand gar gut zu dem prächtigen
Spenzer und einige Blumen zierten das Haar. Wie
lebhaft empfängt er die Verſchämte in ſeinen Arm!
wie ſelig blickt ſie ihm in die Augen!


„Nun aber lache mich nicht aus!“ ſprach ſie,
während ſie ſich nach der Mandoline umſah und man
ſich ſezte. „Ich will dir erzählen, wie es eigentlich
zuging, daß ich’s lernte. Ich habe dich einmal,
weißt du noch? an dem Abend, wo wir die Johan-
niskäfer in das gläſerne Körbchen ſammelten, da hab’
ich dich von ungefähr gefragt, ob es dir nicht leid
[430] wäre, daß ich ſo gar Nichts von den hübſchen Kün-
ſten verſtehe, die dir ſo werth und wichtig ſind, nicht
auch ein Bischen von Muſik oder eine Blume hübſch
zu malen oder dergleichen, was wohl andre Mädchen
können. Du ſagteſt: das vermiſſeſt du an deiner
Braut gar nicht. Ich glaubt’s auch, wie ich dir denn
Alles glaube, und dankte dir im Herzen für deine
Liebe. Weiter ſagteſt du dann: die paar Jägerlieder-
chen, die ich zuweilen ſänge, die wären dir lieber als
Alles. Zwei Tage darauf kamen wir nach Tiſch in’s
Pfarrhaus zu Beſuch. Die älteſte Tochter ſpielte den
Flügel, und ſo ſchön, daß wir uns kaum ſatt hörten,
du beſonders. Aber Eins hat mich damals verdroſ-
ſen, an der jüngern, an Auguſten. Du mußt dich
erinnern. Liſette war kaum aufgeſtanden vom Kla-
vier, ſo fordert die Schweſter mich auf, meine Stimme
auch hören zu laſſen; ich ahnte nichts Unfeins von
dem Mädchen und fing das nächſte Beſte an. Aber
auf Einmal werd ich befangen und roth, denn Au-
guſte
hält ſich ein Notenpapier vor den Mund, ihr
Lachen zu verbergen; der Ton zitterte mir in der
Kehle, und wie ich mich wenigſtens zum lezten Verſe
noch ermannen will, guckt Auguſte ſpottend durch
die Rolle wie durch ein Fernrohr auf mich, daß ich
vollends konfus ward und mit kleiner Stimme kaum
noch zum Ende ſchwankte. Indeß ihr Andern weiter
ſpieltet und ſangt, hatt’ ich am Fenſter genug zu thun
und zu wiſchen mit Weinen. Später, du warſt ſchon
[431] fort, fing mich der Vorfall an zu wurmen; ich hätte
gern auch etwas gegolten, ich grämte mich innig um
deinetwillen; überdem kam meine Krankheit; ich glaube
noch bis auf die Stunde, ich wäre ſchneller geneſen,
hätt’ ich mir mit Muſik manchmal die Zeit vertreiben
können; indeſſen ging’s Gottlob auch ſo vorüber. Um
dieſe Zeit beſuchte uns der Vetter zuweilen aus der
Stadt und“ — (ſie ſtockte und ſtreifte verlegen über
das Inſtrument hin) „nun, alſo dieſer lehrte mich’s.“


„Eins von den luſtigen zuerſt!“ fiel der Vater,
ſchnell zu Hülfe kommend, ein. Raſch und herzhaft
fing ſie nun an, mit einer Stimme, die kräftig und
zart, ſich doch ſtets lieber in die Tiefe als in die
Höhe bewegte. Ihr Geſang wurde nach und nach
immer einſchmeichelnder, immer kecker. „Der Herr
darf mich wohl anſehn!“ ſagte ſie einmal dazwiſchen
zu Theobald hinüber, der ihren Anblick bisher ver-
mieden hatte. Er zeigte, als das Lied geendigt war,
auf ein anderes in ihrem Notenhefte, „der Jäger“
überſchrieben, deſſen Text ihm gefiel, und obwohl es
Agneſen nicht eben ſo ging, ſtimmte ſie doch ſo-
gleich damit an.


Drei Tage Regen fort und fort,

Kein Sonnenſchein zur Stunde,

Drei Tage lang kein gutes Wort

Aus meiner Liebſten Munde!

Sie truzt mit mir und ich mit ihr,

So hat ſie’s haben wollen;

[432]
Mir aber nagt’s am Herzen hier,

Das Schmollen und das Grollen.

Willkommen denn, des Jägers Luſt,

Gewitterſturm und Regen!

Feſt zugeknöpft die heiße Bruſt,

Und jauchzend euch entgegen!

Nun ſizt ſie wohl daheim und lacht,

Und ſcherzt mit den Geſchwiſtern;

Ich höre in des Waldes Nacht

Die alten Blätter flüſtern.

Nun ſizt ſie wohl und weinet laut

Im Kämmerlein, in Sorgen;

Mir iſt es wie dem Wilde traut,

In Finſterniß geborgen.

Kein Hirſch und Rehlein überall!

Ein Schuß zum Zeitvertreibe!

Geſunder Knall und Wiederhall

Erfriſcht das Mark im Leibe. —

Doch wie der Donner nun verhallt

In Thälern in die Runde,

Ein plötzlich Weh mich überwallt,

Mir ſinkt das Herz zu Grunde.

Sie truzt mit mir und ich mit ihr,

So hat ſie’s haben wollen,

Mir aber frißt’s das Herze ſchier

Das Schmollen und das Grollen.

— Und auf! und nach der Liebſten Haus!

Und ſie gefaßt um’s Mieder!

„Drück’ mir die naſſen Locken aus,

Und küſſ’ und hab’ mich wieder!“

[433]

Beide Männer klatſchten lauten Beifall. Sie
wollte aufſtehn. „Aller guten Dinge — weißt du?“
rief der Alte, „noch Eines!“ Alſo blätterte ſie aber-
mals im Heft, unſchlüſſig, keines war ihr recht; über
dem Suchen und Wählen war der Vater aus der
Stube gegangen; ſie klappte das Buch zu und ſprach
mit Theobalden, während ſie hin und wieder ei-
nen Akkord griff. Auf Einmal fiel ſie in ein Vor-
ſpiel ein, bedeutender als alle frühern; es drückte die
tiefſte rührendſte Klage aus. Agneſens Blick ruhte
ernſt, wie unter abweſenden Gedanken, auf Nolten,
bis ſie ſanft anhob zu ſingen.


Wir theilen das kleine Lied noch mit, und den-
ken, der Leſer werde ſich aus den einfachen Verſen
vielleicht einen entfernten Begriff von der Muſik ma-
chen können, beſonders aus dem zweiten Refrain, bei
welchem die Melodie jedesmal eine unbeſchreibliche
Wendung nahm, die Alles herauszuſagen ſchien, was
irgend von Schmerz und Wehmuth ſich in dem Bu-
ſen eines unglücklichen Geſchöpfs verbergen kann.


Roſenzeit! wie ſchnell vorbei,

Schnell vorbei,

Biſt du doch gegangen!

Wär’ mein Lieb nur blieben treu,

Blieben treu,

Sollte mir nicht bangen.

In der Ernte wohlgemuth,

Wohlgemuth,

Schnitterinnen ſingen;

28
[434]
Aber ach, mir kranken Blut,

Mir kranken Blut,

Will Nichts mehr gelingen.

Schleiche ſo durch’s Wieſenthal,

So durch’s Thal,

Als im Traum verloren,

Nach dem Berg, da tauſend Mal,

Tauſend Mal,

Er mir Treu’ geſchworen.

Oben auf des Hügels Rand,

Abgewandt,

Wein’ ich bei der Linde:

An dem Hut mein Roſenband,

Von ſeiner Hand,

Spielet in dem Winde.

Agneſen hatte der Ton zulezt vor Bewegung
faſt verſagt; jezt warf ſie das Inſtrument weg und
ſtürzte heftig an die Bruſt des Geliebten. „Treu!
Treu!“ ſtammelte ſie unter unendlichen Thränen, in-
dem ihr ganzer Leib zuckte und zitterte, „du biſt mir’s,
ich bin dir’s geblieben!“ — „Ich bleibe dir’s!“ mehr
konnte Theobald, mehr durfte er nicht ſagen.


An einem der folgenden ſchönen Tage wollte
man den ſchon mehrmals zur Sprache gekommenen
Ausflug nach Halmedorf zu den jungen Pfarrleutchen
machen, denen man ſich bereits hatte anſagen laſſen.
Die beiden alten Herren, der Förſter und der Baron,
verſprachen im Wagen des leztern zu fahren; denn
[435] immerhin war es drei Stunden dahin. Die Jugend,
nämlich unſer Paar, ein Sohn und zwei Töchter des
Paſtors, welche man trotz einigen Einwendungen
Noltens zulezt auf Agneſens beharrliche Vorſtel-
lungen hinzu bitten müſſen, dieſe wollten zu Fuße
gehn; die eine Partie ſollte Morgens bei guter Ta-
geszeit ſich auf den Weg machen, die Fahrenden erſt
nach Tiſche. Leider aber war der Baron indeſſen
bedeutend unpaß geworden, er mußte, was in langer
Zeit nicht erhört worden, das Bett hüten, die Reiſe
hatte ihm zugeſezt, wie er nun ſelber eingeſtand. Alſo
beſchloß auch der Förſter zurückzubleiben, dem verehr-
ten Freunde zur Geſellſchaft.


So wanderte denn der kleine Zug und gelangte
bald aus dem Thälchen auf die fruchtbare höher ge-
legene Ebene, die ſich abermals um ein Weniges ſenkte,
wo ihnen denn der reinliche, etwas ſteil heraufgebaute
Ort entgegenſah. Lange zuvor hatte man den Hügel
vor ſich, der, unter dem Namen Geigenſpiel bekannt,
an ſeinem Fuße unbedeutend anzuſehn, oben mit ei-
ner außerordentlichen Ausſicht überraſcht.


„Schön! ſchön! das heiſ’ ich doch die Stunde
eingehalten!“ rief der Pfarrer, der ſie hatte kommen
ſehen und bis an die nächſten Aecker entgegengegan-
gen war. „Seht da, mein Dachs will den Gruß vor
mir wegſchnappen! Der Narre kennt dich noch von
vier Jahren her: aber ſein Herr fürwahr hätte dich
bald nicht wieder erkannt — Komm an mein Herz,
[436] alter Kamerad! Ad pectus manum, ſagte der Rek-
tor, wenn wir gelogen hatten: manum ad pectus,
ich liebe Dich und habe nicht gelogen. O ich möchte
ſchreien, daß die Berge aufhüpften, möcht’ alle Glo-
cken zuſammenläuten laſſen, durch’s ganze Ort möcht’
ich poſaunen und duten, wäre ich juſt nicht der See-
lenhirt, der ſich im Reſpekt erhalten muß, ſondern
ein Anderer.“


In dieſem Tone fuhr Amandus fort, Eins nach
dem Andern zu ſalutiren, und noch als man bereits
vor dem Pfarrhauſe ſtand, war er nicht fertig. Jezt
ſprang, ſo leicht und zierlich wie ein achtzehnjähriges
Mädchen unter der Haube, die Paſtorin entgegen,
aber auch ſie konnte über dem Muthwillen ihres
Manns nicht zum Worte kommen. Mit Jubel be-
tritt man endlich die Stube, die hell und neu, recht
eigentlich ein Bild ihrer Bewohner darſtellte. Kaum
über die Schwelle getreten, kann man ſogleich bemer-
ken, wie der Pfarrer in eiliger Verlegenheit einen
grünen Uniformrock, der an der Wand hing, zu ent-
fernen ſucht; er bleibt jedoch, da er ſeine Abſicht ver-
rathen ſieht, mitten auf dem Wege ſtehn: „daß dich!“
rief er, gegen Nolten gewendet — „nun Freund-
chen, iſt mir’s herzlich leid, da du eine Heimlichkeit
doch einmal gewittert haſt, ſo will ich lieber gar mit
der ſonderbaren Geſchichte herausrücken.“ (Er zupfte
heimlich ſeine Frau und fuhr mit verſtelltem Ernſt
und vieler Gutmüthigkeit fort.) „Seit geſtern baben
[437] wir einen fremden Offizier, einen Obriſt, im Hauſe,
der eigentlich bloß dich hier erwartet; er iſt nur
eben ausgeritten, wird aber nicht bis Abend ausblei-
ben. Er langte geſtern ſpät hier an, und weil wir
kein anſtändiges Wirthshaus im Dorf haben, lud er
ſich auf das Höflichſte bei mir zu Gaſte, das mir
denn um ſo größre Ehre war, als ich einen Freund
von dir in ihm vermuthete. Allein ich merkte bald,
daß es mit der Freundſchaft nicht ſo recht ſeyn müſſe;
er nannte deinen Namen kaum, und verſtummte
nachdenklich, beinahe finſter, wenn ich von dir anfing;
im Uebrigen zeigte ſein Geſpräch viel Welterfahrung
und alle die Anmuth, die man bei gebildeten Militärs
zuweilen findet. Meine Frau zwar gab mir gleich
bei ſeinem Empfang nicht undeutlich zu verſtehen, er
habe ihr ſo ein visage de contrebande, und in der
That, ich weiß nicht — das Geheimnißvolle in Be-
ziehung auf dich — er könnte — wenn er dir nur
nichts anhaben will“ —


„Wie heißt er denn?“


„Ja, gehorſamer Diener, das hat er mir nicht
geſagt.“


„Woher denn? in welchen Dienſten?“ fragte
Nolten dringender und nicht ohne einige Bewegung,
denn augenblicklich, er wußte nicht warum, fiel ihm
ein Bruder Conſtanzens ein, der noch in der lezten
Zeit von des Malers Aufenthalt in jener Reſidenz,
bei der Gräfin zu Beſuch geweſen ſeyn ſollte. Er
[438] ſelbſt hatte ihn nicht geſehn und konnte die Schilde-
rung, welche Amandus von dem Fremden machte,
auch ſonſt mit Niemanden vergleichen. Die Heimath
des Gaſtes indeſſen, wie der Pfarrer ſie zufällig an-
gab, widerſprach jener beſorglichen Vermuthung nicht.
— „Gern,“ fuhr Amandus fort, „hätt’ ich dir das
Abenteuer noch verſchwiegen, das einmal doch nichts
Angenehmes verſpricht; es wäre Nachmittag noch Zeit
geweſen, und die Delikateſſe des Fremden, daß er uns
unſer erſtes Beiſammenſeyn über Tiſch nicht ſtören
wollte, war in der That zu loben, er gab mir dieſe
freundliche Abſicht beim Wegreiten ſehr deutlich zu
verſtehn. Nun freilich wär’s faſt beſſer, er wäre gleich
zugegen und du dieſer verteufelten Ungewißheit über-
hoben. Höre, wenn es am Ende nur keine odiöſe
Ehrenſache iſt! Du weißt, die Herren Offiziers —
Du haſt doch keine Händel gehabt?“ „Ich wüßte
doch nicht,“ ſagte Nolten und ging einige Mal ſtill
die Stube auf und ab.


Indeſſen war die Pfarrerin ſachte mit der Uni-
form in die Kammer gegangen. Auf Einmal that
ſich die Thür weit auf, ein hoher ſchöner Mann trat
heraus und lag blitzſchnell in Theobalds Armen.
Es war kein anderer Menſch, als ſein getreuer Schwa-
ger S., der Gatte Adelheids, die wir ja ſchon
als Mädchen kennen lernten. „Der Tauſend!“ rief
der Pfarrer, während Alles der herzlichſten Umar-
mung zuſah, „ſo ganz feindſelig, wie ich dachte, ſo
[439] auf Leben und Tod iſt die Rencontre nun doch nicht,
es wäre denn, ſie brächen ſich einander vor Liebe die
Hälſe. Nun! hab’ ich es nicht ſchön gemacht? Sorge
voraus, Freud’ gleich hinterdrein, wird erſt ein wah-
rer Jubel ſeyn. — Alſo (brummte er für ſich in den
Bart) das wäre Numero 1.“ Seine Schalkheit ward
jezt wacker geſcholten. Doppelt und dreifach mußte
Nolten erſtaunen, denn S. war, ſeitdem ſie ſich nicht
mehr geſehen, zum Obriſten avancirt, deßwegen Jener
auch aus der Uniform nicht klug werden konnte.
Triumphirend erzählte der Pfarrer, wie er, nachdem
die Nachricht von Theobalds Ankunft in Neuburg
bei ihm eingelaufen, ſogleich den herrlichen Einfall
gehabt, den Schwager, den er in Geſchäften für ſein
Regiment nur auf fünf Stunden in der Nähe gewußt,
durch eine Staffette herbeizukriegen.


Auf’s fröhlichſte ſpeiste man gleich zu Mittag.
Es war eine anſehnliche Tafel. Sohn und Töchter
des Neuburger Paſtors ſaßen halb bänglich, halb ent-
zückt in einem für ſie ſo neuen Freudenkreiſe treffli-
cher Menſchen. Unſer Maler, zwiſchen Agnes und
den Schwager geſezt, wollte die Hände der Beiden
gar nicht aus der ſeinigen laſſen, er fühlte ſeit lan-
ger Zeit einmal wieder alles Drückende und Schwere
rein von ſich abgethan und ein über’s andre Mal
traten ihm die Augen über.


An dem Pfarrer wurde nach nnd nach eine pri-
ckelnde Unmüßigkeit ſichtbar; er entfernte ſich öfters,
[440] gab vor der Thür geheime Befehle und ſah mit Ver-
gnügen die lezte Schüſſel auftragen. Eh man zum
Nachtiſch kam, ſtand er auf und ſagte: „Es beginne
nun die Symphonie zum zweiten Aktus, mit etwelchem
Gläſergeklingel, wenn’s beliebt. Sofort erhebe ſich
eine werthe Geſellſchaft, greife nach Hüten und Son-
nenſchirmen und verfüge ſich allgemach aus meinem
Hauſe, woſelbſt für jezt nichts mehr abgereicht wird.
Zuvor aber richten Sie gefälligſt noch die Blicke hier
nach dem Fenſter und bemerken dort drüben den ſon-
nigen Gipfel.“ Man erblickte auf einem vor dem
Walde gelegenen Hügel, den wir ſchon als das Gei-
genſpiel bezeichnet haben, ein großes linnenes Schirm-
dach mit bunter Flagge aufgerichtet, das einen run-
den weiß gedeckten Tiſch zu beſchatten ſchien. Die
dichten Laubgewinde, die an fünf Seiten des Schirms
herunterliefen, gaben dem Ganzen das Anſehn eines
leichten Pavillons. Amandus hatte dieſe bewegliche
Einrichtung ſchon ſeit einiger Zeit für die jährlichen
Kinderfeſte, ſo wie zur Bequemlichkeit der Fremden
machen laſſen, weil die daneben ſtehende Linde dem
Platze mehr Zierde als Kühlung verlieh. — Die Ge-
ſellſchaft kam außer ſich vor Freude; man machte ſich
auch unverzüglich auf den Weg, denn Jedes ſehnte
ſich, ſein glückliches Gefühl in freieſter Weite noch
leichter auszulaſſen. Die Jüngern waren ſchon vor-
aus geſprungen.


Unterwegs wurden Nolten und die Braut nicht
[441] ſatt, ſich von Adelheiden erzählen zu laſſen. Wir
wiſſen die faſt mehr als brüderliche Neigung, welche
den Maler an die Schweſter band, deren ſtille Tiefe
ſich, wie behauptet wird und wir gern glauben mö-
gen, inzwiſchen zu einem höchſt liebenswerthen und
ſeltenen Charakter entwickelt und befeſtigt hatte; zum
wenigſten fand Agnes nach ihrer demüthig liebevol-
len Weiſe ſogleich im Stillen ein Muſterbild der äch-
ten Frauen in dieſer Schwägerin für ſich aus, ob-
gleich ſich Beide nur erſt Einmal geſehen hatten.
Jezt gedachte man der Entfernten mit deſto innige-
rer Rührung, da man gleich Anfangs gehört, ſie ſey
vor Kurzem zum Erſtenmale Mutter, und eine höchſt
beglückte, geworden. — Noch ſagen wir bei dieſer
Gelegenheit, daß eine ältere Schweſter, Erneſtine,
auch längſt verheirathet war, jedoch, ſo viel man wiſ-
ſen wollte, nicht ſehr zufrieden, da ſie auch in der
That nicht geſchaffen ſchien, einen Mann für immer
zu feſſeln. Die Jüngſte, Nantchen, ſtand eben in
der ſchönſten Jugendblüthe und lebte bei einer Tante.


Man kam an einem Tannengehölze vorüber, das
Reiherwäldchen genannt, deſſen Echo berühmt war.
Der Pfarrer rief, mit den gehörigen Pauſen, hinein:


„Frau Adelheid,

Zu dieſer Zeit

In ihrem Bettlein reine,

Muß ferne ſeyn,

Muß ferne ſeyn,

Doch iſt ſie nicht alleine.

[442]
Herr Storch hat ihr Beſuch gemacht,

Darob ihr ſüßes Herze lacht,

Ob auch das Bürſchlein greine.

— Frau Echo, ſprich,

Noch weiß ich nicht:

Was herzet denn das Liebchen,

Ein Mädchen oder Bübchen?“

„„Büb—chen!““

In Kurzem befand man ſich auf dem Berg, tief
athemholend und erſtaunt über die unbegränzte Aus-
ſicht. „Bei Frauenzimmern“ fing Amandus an,
„wenn ſie den lezten herben Schritt überwunden ha-
ben und jezt ſich umſehn, unterſcheide ich jedes Mal
zweierlei Gattungen Seufzer. Der eine iſt ganz ge-
mein materieller Natur, kein Lüftchen iſt im Stand,
ihn von der Roſenlippe aufzunehmen und über die
glänzende Gegend ſelig hinweg zu tragen, ſondern
ſogleich fällt er plump, ſchwer zu Boden, proſaiſch
wie das Schnupftuch, womit man ſich die Stirn ab-
trocknet. Billig ſollten die Schönen ſich ſeiner ganz
enthalten, ihn wenigſtens unterdrücken, denn gewiſſer-
maßen muß er den Wirth beleidigen, den Cicerone
der Geſellſchaft, der alle dieſe Herrlichkeit mit Enthu-
ſiasmus wie ſein Eigenthum vorzeigt und nicht be-
greifen kann, wie man in ſolchem Augenblicke nur
noch das mindeſte Gefühl von der armſeligen Mühe
haben kann, womit man ſich ſo einen Anblick erkaufte.
Ja, Damen hab’ ich geſehen, die gaben ſich Mühe,
dieſen Seufzer recht reizend ſchwindſüchtig und ätheriſch
[443] hervorzubringen, und ein mitleidflehendes Geſicht zu
machen, als würde gleich die Ohnmacht kommen. Man
enthält ſich kaum dabei recht ſchmachtend zu fragen:
Iſt Ihnen nicht ein Schluck Affenthaler gefällig, Fräu-
lein, oder dergleichen? Kurz alſo, wenn jene
erſte Gattung nichts weiter ſagen will als: Gottlob,
dieß wäre überſtanden! ſo iſt dagegen die zweite“ — Er
hatte noch nicht ausgeredt, ſo kam erſt Agnes, bis
jezt von Niemand eigentlich vermißt, mit einem Kinde
des Pfarrers, das nicht mehr hatte fortquackeln kön-
nen und das ſie ſich auf den Rücken geladen, den
ſteilen Rand von der Seite heraufgeklommen; ſie
ſezte athemlos das Kind auf die Erde und ein „Gott-
lob!“ entfuhr ihr halblaut. Bei dieſem Wort ſah
man ſich um, ein allgemeines Gelächter war unwider-
ſtehlich, aber auch rührender konnte nichts ſeyn, als
die erſchrocken fragende Miene des lieben Mädchens.
Herzlich umarmte und küßte ſie Amandus, indem
er rief: „dießmal, wahrhaftig, iſt Marthas Mühe
ſchöner als ſelbſt das Eine, das hier oben Noth iſt.“


Welch ein Genuß nun aber, ſich mit durſtigem
Auge in dieſes Glanzmeer der Landſchaft hinunter-
zuſtürzen, das Violet der fernſten Berge einzuſchlür-
fen, dann wieder über die nächſten Ortſchaften,
Wälder und Felder, Landſtraßen und Waſſer, im un-
erſchöpflichen Wechſel von Linien und Farben, hin-
zugleiten!


Hier ſchaute, gar nicht allzuweit entfernt, eine
[444] lang gedehnte Alb-Traufe ernſthaft und groß her-
über; *) ſie verſchloß beinah die ganze Oſtſeite, Berg
hinter Berg verſchiebend und in einander wickelnd,
ſo doch, daß man zuweilen ein ganz entlegnes Thal,
wie es ſtellenweiſe von der Sonne beſchienen war,
mit oder ohne Fernrohr erſpähen und ſich einander
freudig zeigen konnte. Beſonders lang verweilte
Agnes auf den Falten der vorderen Gebirgsſeite,
worein der ſchwüle Dunſt des Mittags ſich ſo reizend
lagerte, die ahnungsvolle Beleuchtung mit vorrücken-
dem Abend immer verändernd, bald dunkel, bald ſtahl-
blau, bald licht, bald ſchwärzlich anzuſehn. Es ſchie-
nen Nebelgeiſter in jenen feuchtwarmen Gründen ir-
gend ein goldenes Geheimniß zu hüten. Eine bedeu-
tende Ruine krönte die lange Kette des Gebirgs und
ſelbſt durch einen ſchwächern Tubus glaubte man ihre
Mauern mit Händen greifen zu können, dagegen
ganz hinten in der Ferne vom Rehſtock nur der
Abfall des Waldrückens ſichtbar war, auf dem er ru-
hen mußte.


Indeß war von gar muntern Händen ein Feuer
zwiſchen Steinen angemacht worden, der Kaffee fing
an zu ſieden, die Taſſen klirrten, und der Pfarrer ge-
bot ein allgemeines Niederſitzen; Niemand aber wollte
[445] ſich noch des ſchönen Zeltes bedienen, welches bis jezt
nur für eine Art Speiſeküche galt; man ſaß in will-
kürlichen Gruppen auf dem Boden umher, ein Jedes
ließ ſich ſchmecken was ihm beliebte, nur rückte man
etwas näher zuſammen, als Amandus folgenderma-
ßen das Wort nahm:


„Es darf, meine Lieben, der ſchöne Platz, worauf
wir gegenwärtig ruhen, nicht leicht beſucht werden,
ohne daß man das Andenken des Helden erneuert,
dem er ſeinen Namen verdankt. Gewiß iſt Keines
von Ihnen völlig unbekannt mit der merkwürdigen
Sage, aber die Wenigſten hatten wohl Gelegenheit
ſich aus den verſchiedenen, zum Theil einander ſchein-
bar widerſprechenden Erzählungen des Volks, ein voll-
ſtändiges Bild von dem Charakter des wunderſa-
men Weſens zu machen, von welchem hier die Rede
iſt; es kann alſo Niemanden unangenehm ſeyn, jezt
eine genauere Schilderung zu hören, wobei ich mir
weniger angelegen ſeyn laſſen will, alle einzelnen Ge-
ſchichten und Anekdoten anzubringen, als vielmehr
nur die Hauptzüge anſchaulich zu machen. Vielleicht
ich kann dadurch Freund Nolten veranlaſſen, mei-
nen ſeltſamen Geiger zum Gegenſtand einer maleri-
ſcher Kompoſition zu nehmen, ein lang von mir ge-
hegter Wunſch, den er mir einmal feierlich zugeſagt
und noch bis heut nicht erfüllt hat. Sie, lieber Oberſt,
werden mich in meiner Bitte gewiß kräftig unterſtü-
tzen, da Sie ſich ſelbſt für die poetiſche Figur des
[446] Spielmanns ſo lebhaft intereſſiren und noch heute
ſich emſig um die Vervollſtändigung ſeiner Geſchichte
bekümmert haben. Ey, eben recht, daß mir das bei-
fällt; Sie ſollen auch jezt zuerſt die Ehre haben und
die Ergebniſſe Ihrer ſtaubigen Forſchungen uns in
einem lebendigen und heiteren Gemälde vorlegen, ich
aber will etwa nachhelfen, wo Sie eine Lücke laſſen
ſollten.“ Der Oberſt ließ ſich nicht lang bitten und
die Geſellſchaft merkte wacker auf.


„In dieſer Gegend ſoll vor Alters gar häufig
ein Näuber, Marmetin, ſein Weſen getrieben ha-
ben, den Jedermann unter dem Namen Jung Vol-
ker
kannte. Räuber ſag’ ich? Behüte Gott, daß
ich ihm dieſen abſcheulichen Namen gebe, dem Lieb-
linge des Glücks, dem Luſtigſten aller Waghälſe, Aben-
teurer und Schelme, die ſich jemals von fremder Leute
Hab’ und Gut gefüttert haben. Wahr iſt’s, er ſtand
an der Spitze von etwa ſiebenzehn bis zwanzig Kerls,
die der Schrecken aller reichen Knicker waren. Aber,
beim Himmel, die pedantiſche Göttin der Gerechtig-
keit ſelbſt mußte, dünkt mich, mit wohlgefälligem
Lächeln zuſehn, wie das verrufenſte Gewerbe unter
dieſes Volkers Händen einen Schein von Liebens-
würdigkeit gewann. Der Praſſer, der übermüthige
Edelmann und ehrloſe Vaſallen waren nicht ſicher
vor meinem Helden und ſeiner verwegenen Bande,
aber dem Bauern füllte er Küchen und Ställe. Voll
körperlicher Anmuth, tapfer, beſonnen, leutſelig und
[447] doch räthſelhaft in allen Stücken, galt er bei ſeinen
Geſellen faſt für ein überirdiſches Weſen, und ſein
durchdringender Blick mäßigte ihr Benehmen bis zur
Beſcheidenheit herunter. Wär’ ich damals im Lande
Herzog geweſen, wer weiß, ob ich ihn nicht geduldet,
nicht ein Auge zugedrückt hätte gegen ſeine Hantie-
rung. Es war, als führte er ſeine Leute nur zu
fröhlichen Kampfſpielen an. Seht, hier dieſer herr-
liche Hügel war ſein Lieblingsplatz, wo er ausruhte,
wenn er einen guten Fang gethan hatte; und wie
er denn immer eine beſondere Paſſion für gewiſſe
Gegenden hegte, ſo gängelt’ er ſeine Truppe richtig
alle Jahr, wenn’s Frühling ward, in dieß Revier,
damit er den ferndigen Gukuk wieder höre an dem-
ſelben Ort. Ein Spielmann war er wie Keiner,
und zwar nicht etwa auf der Zither oder dergleichen,
nein, eine alte abgemagerte Geige war ſein Inſtru-
ment. Da ſaß er nun, indeß die Andern ſich im
Wald, in der Schenke des Dorfs zerſtreuten, allein
auf dieſer Höhe unter’m lieben Firmament, muſicirte
den vier Winden vor und drehte ſich wie eine Wet-
terfahne auf’m Abſatz herum, die Welt und ihren
Seegen muſternd. Der Hügel heißt daher noch heut
zu Tag das Geigenſpiel, auch wohl des Geigers
Bühl. — Und dann, wenn er zu Pferde ſaß, mit
den hundertfarbigen Bändern auf dem Hute und an
der Bruſt, immer gepuzt wie eine Schäfersbraut, wie
reizend mag er ausgeſehn haben! Ein Paradiesvo-
[448] gel unter einer Heerde wilder Raben. Etwas eitel
denk’ ich mir ihn gern, aber auf die Mädchen wenig-
ſtens ging ſein Abſehn nicht; dieſe Leidenſchaft blieb
ihm fremd ſein ganzes Leben; er ſah die ſchönen Kin-
der nur ſo wie mährchenhafte Weſen an, im Vor-
übergehn, wie man ausländiſche Vögel ſieht im Käfig.
Keine Art von Sorge kam ihm bei; es war, als
ſpielt’ er mit den Stunden ſeines Tages wie er wohl
zuweilen gerne mit bunten Bällen ſpielte, die er, mit
flachen Händen ſchlagend, nach der Muſik harmoniſch
in der Luft auf und nieder ſteigen ließ. Sein In-
neres beſpiegelte die Welt wie die Sonne einen Be
cher goldnen Weines. Mitten ſelbſt in der Gefahr
pflegte er zu ſcherzen und hatte doch ſein Auge aller
Orten; ja, wäre er bei einem Löwenhetzen geweſen,
wo es drunter und drüber geht, ich glaube, er hätte
mit der einen Fauſt das reißende Thier bekämpft und
mit der Linken den Sperling geſchoſſen, der ihm juſt
über’m Haupt wegflog. Hundert Geſchichtchen hat
man von ſeiner Freigebigkeit. So begegnet er ein-
mal einem armen Bäuerlein, das, ihn erblickend, plötz-
lich Reißaus nimmt. Den Hauptmann jammert des
Mannes, ihn verdrießt die ſchlimme Meinung, die
man von ihm zu haben ſcheint, er holt den Fliehen-
den alsbald mit ſeinem ſchnellen Roſſe ein, bringt
ihn mit freundlichen Worten zum Stehen und wun-
dert ſich, daß der Alte in der ſtrengſten Kälte mit
unbedecktem Kahlkopf ging. Dann ſprach er: vor
[449] dem Kaiſer nimmt Volker den Hut nicht ab, jedoch
dem Armen kann er ihn ſchenken! Damit reicht er
ihm den reichbebänderten Filz vom Pferde herunter,
nur eine hohe Reiherfeder machte er zuvor los und
ſteckte ſie in den Koller, weil er dieſe um Alles nicht
miſſen wollte; man ſagt, ſie habe eine zauberiſche Ei-
genſchaft beſeſſen, den der ſie trug in allerlei Fähr-
lichkeit zu ſchützen. — Jezt käme ich auf Volkers
Frömmigkeit und wunderliche Bekehrung, da dieß aber
eine Art von Legende iſt, ſo wird ſie ſich am beſten
im Munde Seiner Hochehrwürden geziemen.“


„Ich zweifle nur,“ erwiderte Amandus, „ob ich
meine Aufgabe ſo zierlich löſen werde, wie mein be-
redter Vorgänger ſich aus der ſeinigen zog. Aber ich
rufe den Schatten des Helden an und ſage treulich was
ich weiß, und auch nicht weiß. Alſo: in den Gehölzen,
die da vor uns liegen, kam man einsmals einem ſelte-
nen Wilde auf die Spur, einem Hirſch mit milchweißem
Felle. Kein Waidmann konnte ſeiner habhaft werden.
Des Hauptmanns Ehrgeiz ward erregt, eine unwider-
ſtehliche Luſt, ſich dieſes edlen Thieres zu bemächtigen,
trieb ihn an, ganze Nächte mit der Büchſe durch den
Forſt zu ſtreifen. Endlich an einem Morgen vor Son-
nenaufgang erſcheint ihm der Gegenſtand ſeiner Wünſche.
Nur auf ein funfzig Schritte ſteht das prächtige Ge-
ſchöpf vor ſeinen Augen. Ihm klopft das Herz; noch
hält Mitleid und Bewunderung ſeine Hand, aber die
Hitze des Jägers überwiegt, er drückt los und trifft.
29
[450] Kaum hat er das Opfer von Nahem betrachtet, ſo iſt
er untröſtlich, dieß muntere Leben, das ſchönſte Bild
der Freiheit zerſtört zu haben. Nun ſtand an der Ecke
des Waldes eine Kapelle, dort überließ er ſich den
wehmüthigſten Gedanken. Zum Erſtenmal fühlt er eine
große Unzufriedenheit über ſein ungebundenes Leben
überhaupt, und indeß die Morgenröthe hinter den Ber-
gen anbrach und nun die Sonne in aller ſtillen Pracht
aufging, ſchien es, als flüſtere die Mutter Gottes ver-
nehmliche Worte an ſein Herz. Ein Entſchluß entſtand
in ihm, und nach wenig Tagen las man auf einer Ta-
fel, die in der Kapelle aufgehängt war, mit zierlicher
Schrift folgendes Bekenntniß (ich habe es der Merk-
würdigkeit Wort für Wort auswendig gelernt):


Dieß täflein weihe *)
unſerer lieben frauen
ich
Marmetin. gennent Jung Volker

zum daurenden gedächtnuß eines gelübds. und wer da
ſolches lieſet mög nur erfahren und inne werden was
wunderbaren maßen Gott der Herr ein menſchlich ge-
müethe mit gar geringem dinge rühren mag. denn als
ich hier ohn allen fug und recht im wald die weiße
hirſchkuh gejaget auch ſelbige ſehr wohl troffen mit
meiner gueten Büchs da hat der Herr es alſo gefüget
daß mir ein ſonderlich verbarmen kam mit ſo fein ſanf-
[451] tem thierlin, ein rechte angſt für einer großen ſünden.
da dacht ich: itzund trauret ringsumbher der ganz wald
mich an und iſt als wie ein ring daraus ein dieb die
perl hat brochen. ein ſeiden bette ſo noch warm vom
ſüeßen leib der erſt geſtolenen braut. zu meinen füeßen
ſank das lieblich wunderwerk. verhauchend ſank es ein
als wie ein flocken ſchnee am boden hinſchmilzt und lag
als wie ein mägdlin ſo vom liechten mond gefallen.


Aber zu deme allen hab ich noch müeßen mit
großem ſchrecken merken ein ſeltſamlichs zeichen auf des
arm thierlins ſeim rucken. nemlich ein ſchön akkurat
kreuzlin von ſchwarz haar. alſo daß ich kunt erkennen
ich hab mich freventlich vergriffen an eim eigenthumb
der muetter Gottes ſelbs. nunmehr mein herze ſo er-
weichet geweſen nahm Gott der ſtunden wahr und
dacht wohl er muß das eiſen ſchmieden weil es glühend
und zeigete mir im geiſt all mein frech unchriſtlich trei-
ben und loſe hantierung dieſer ganzer ſechs Jahr und
redete zu mir die muetter Jeſu in gar holdſeliger weiß
und das ich nit nachſagen kann noch will. verſtändige
bitten als wie ein muetterlin in ſchmerzen mahnet ihr
verloren kind. da hab ich beuget meine knie allhier auf
dieſen ſtäfflin und hab betet und gelobet daß ich ein
frumm leben wöllt anfangen. und wunderte mich ſchier
ob einem gnadenreichen ſchein und klarheit ſo rings-
umbher ausgoſſen war. ſtand ich nach einer gueten weil
auf, mich zu bergen im tiefen wald mit himmliſchem
betrachten den ganzen tag bis daß es nacht worden und
[452] kamen die ſtern. ſammlete dann meine knecht auf dem
hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker
geſchehen ſagt auch daß ich müeß von ihne laſſen. da
huben ſie mit wehklagen an und mit geſchrey und ihrer
etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen
ſie wöllten auseinander gehn und ein ſittſam leben
fürder führen. wo ich denn ſelbs mein bleibens haben
werd deß ſoll ſich niemand kümmern noch grämen oder
gelüſten laſſen daß er mich fahe. ich ſteh in eins andern
handen als derer menſchen. dieß täflein aber gebe von
dem volker ein frumm beſcheidentlich zeugnuß und ſage
dank auf immerdar der himmliſchen huldreichen jung-
frauen Marien als deren ſegen friſch mög bleiben an
mir und allen gläubigen kindern. ſo geſtift am 3. des
brachmonds im jahr nach unſers Herren geburt 1591.


Leider,“ fuhr der Pfarrer gegen die Geſellſchaft
fort, welche mit ſichtbarer Theilnahme zuhörte, „leider
iſt das Original dieſer Votivtafel verloren gegangen;
eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal-
medorfer Rathhauſe. Auch die Kapelle iſt längſt ver-
ſchwunden; die älteſten Leute erzählen, ihre Urgroß-
väter hätten ſie noch geſehn. Wo aber Volker da-
mals ſich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver-
muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo
er dann in ein Kloſter gegangen ſeyn ſoll.“


„Eine andere Sage,“ nahm der Obriſt wieder das
Wort, „läßt ihn auf dem Wege nach Jeruſalem von
ſeiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und
[453] ich gedenke hier nur noch einiger alten Verſe, welche
wahrſcheinlich den Schluß eines größern Lieds aus-
machten. Sie weiſen auf die fabelhafte Geburt Vol-
kers
hin und machen ihn, wie mich däucht, gar cha-
rakteriſtiſch für den freien kräftigen Mann, zu einem
Sohne des Windes. Er ſelber ſoll das Lied zuweilen
geſungen haben.


Und die mich trug in Mutterleib,

Die durft’ ich niemals ſchauen,

Sie war ein ſchön, frech, braunes Weib,

Wollt’ keinem Manne trauen.

Und lachte hell und ſcherzte laut:

Ei, laßt mich gehn und ſtehen!

Möcht’ lieber ſeyn des Windes Braut,

Denn in die Ehe gehen.

Da kam der Wind, da nahm der Wind

Als Buhle ſie gefangen,

Von dem hat ſie ein luſtig Kind

In ihren Schoos empfangen.“

„Wird mir doch in dieſem Augenblick,“ ſagte die
Pfarrerin, indem ſie ein heimliches Auge an der
Linde hinauflaufen ließ, „mir wird von all dem
Zauberweſen ſo kurios zu Muthe, daß ich mich eben
nicht ſehr entſetzen würde, wenn jezt noch die Fabel
vom ſingenden Baum wahr würde, ja wenn Herr
Volker leibhaftig als luſtiges Geſpenſt in unſre
Mitte träte.“


„Noch ein anderes Lied,“ ſagte der Obriſt, „iſt
mir im Gedächtniß geblieben, das man ſich im Munde
[454] von Volkers Bande denken muß. Ich will, wenn
die Frauenzimmer nicht ſchon durch das vorige“ — —


Plötzlich wurde der Erzähler von den Tönen eines
Saiteninſtruments unterbrochen, welche ganz nahe aus
dem Eipfel der dichtbelaubten Linde hervorzukommen
ſchienen. Die Anweſenden erſchracken und Aller Augen
waren nach dem Baume gerichtet. Niemand bewegte
ſich vom Platze; tiefe Stille herrſchte, während die
Muſik in den Zweigen von Neuem begann und der
unſichtbare Spielmann mit lebhafter Stimme Folgen-
des ſang:


Jung Volker das iſt der Räuberhauptmann

Mit Fidel und mit Flinte,

Damit er geigen und ſchießen kann

Nachdem juſt Wetter und Winde,

Ja Winde!

Fidel oder Flint’,

Fidel oder Flint’,

Volker ſpielt auf!

Ich ſah ihn hoch im Sonnenſchein

Auf ſeinem Hügel ſitzen;

Da ſpielt er die Geig’ und ſchluckt rothen Wein,

Seine blauen Augen ihm blitzen,

Ja blitzen!

Fidel oder Flint’,

Fidel oder Flint’,

Volker ſpielt auf!

Ich ſah ihn ſchleudern die Geig’ in die Luft,

Ich ſah ihn ſich werfen zu Pferde,

Da hörten wir Alle wie er ruft:

Brecht los wie der Wolf in die Heerde!

Ja Heerde!

[455]
Fidel oder Flint’,

Fidel oder Flint’,

Volker ſpielt auf!

Die Saiten klangen aus. Es war ein allgemei-
nes Schweigen. Die Geſellſchaft ſah ſich lächelnd an,
und ſchon während des Geſangs verkündigten einige
ſchlaue Geſichter eine angenehme Ueberraſchung, wobei
es mit ganz natürlichen Dingen zugehen dürfte. Es
rauſchte jezt und knackte in den Zweigen, zwiſchen
denen Jemand behutſam herunterzuſteigen ſchien. Ein
Fuß ſtand bereits auf dem lezten Aſte; ein kecker
Sprung noch, und, wen man am wenigſten erwartete,
den auch die Wenigſten kannten, — Raymund, der
Bildhauer, ſtand mit der Zither, ſich tief verneigend,
vor der verblüfft-erfreuten Verſammlung. Amandus
und der Obriſt klatſchten, Bravo rufend, in die Hände.
Raymund ſprang auf den Maler zu, der wie aus
den Wolken gefallen da ſtand; die Uebrigen hörten
inzwiſchen von der Pfarrerin, wer der Herr wäre.
Agnes hatte den Schauſpieler Larkens vermuthet,
ja Nolten ſelbſt, als die Muſik anfing, bebte das
Herz bei dem gleichen Gedanken, und es dauerte eine
ganze Zeit, bis er ſich wieder faſſen konnte.


Man nahm nun ordentlich am runden Tiſch un-
ter dem Schirme Platz; mit dem beſten Weine füllten
die Gläſer ſich friſch, und während die Frauenzimmer
das Strickzeug vornahmen, begann der Bildhauer:
„Zuvörderſt iſt es meine Pflicht, mit wenig Worten
[456] den Schein des Gräulichen und Ungeheuren von mei-
ner Hieherkunft zu entfernen, beſonders um der Da-
men willen, denen der Schreck noch nicht ganz aus
den Gliedern gewichen ſeyn muß, weil bis jezt keine
ſich getraute, mich auch ein wenig freundlich anzu-
ſchauen. Nun alſo: zwei Tage, bevor Sie, lieber
Nolten, die Rückkehr in ihr Vaterland antraten, die
ich mir ſo nahe gar nicht vermuthend ſeyn konnte,
war ich genöthigt, in nicht ſehr erfreulichen Angele-
genheiten eines Bruders nach K * zu reiſen, was kaum
ſechs Meilen von hier liegt. Ich wußte damals noch
nichts von Ihren Verbindungen in dieſer Gegend,
und weder ein Neuburg noch ein Halmedorf exiſtirte
für mich in der Welt, ſonſt hätt’ ich wohl um Auf-
träge bei Ihnen angefragt und wäre vielleicht nicht
ſo ſchmählich um Ihren Abſchied gekommen. Doch
wider Hoffen und Vermuthen ſollt’ ich um Vieles
glücklicher werden. Ich war bereits acht Tage in K *,
ſo kommt ein Brief, preſſant, an mich dorthin —
(von wem? das rathen Sie wohl nicht!) mit dem
dringenden Auftrage, im Rückweg einen kleinen Ab-
ſtecher zu Ihnen zu machen und ein beigelegtes Schrei-
ben eigens in Ihre Hände zu überliefern. (Er gab
Theobalden den Brief und wandte ſich gegen die
Andern.) Dem ſchönen Zufall muß ich noch beſonders
lobpreiſende Gerechtigkeit widerfahren laſſen, der mich
zwei Stunden von hier mit dem Herrn Obriſt zu-
ſammenführte; wir geſellten uns als fremde Paſſagiere
[457] zu einander und wären beinahe eben ſo wieder ge-
ſchieden, als kaum noch zu rechter Zeit ſich entdeckte,
daß wir die gleiche Abſicht hätten. Wer weiß mir
eine artigere Fügung? Ich war’s zufrieden, ſogleich
nach Halmedorf mitzureiten. Dort hieß man mich
denn freundlich bleiben, und Herr Paſtor war ganz
glückſelig, eine doppelte Ueberraſchung veranſtalten zu
können. Der Plan zu dieſen Späßen ward heute früh
entworfen, und gerne ließ ich mir’s gefallen, mein
Mittagsmahl hier unter freiem Himmel zu verzehren,
von Volkers rothem Wein zu trinken und meine
Rolle einzuüben. Auch hab’ ich, wenn man Luſt hätte,
den Geiger zu malen, dieſem Hügel vorläufig eine
Anſicht abgemerkt, wo er ſich als ein Hintergrund
ganz unvergleichlich ausnehmen müßte.“


Indeſſen ſpiegelte ſich auf Noltens Angeſicht
die erhaltene Botſchaft mit leſerlicher Freude; ja ſo
mächtig ergriffen war er, daß er Agneſen das Blatt
nur ſtill hinbieten und Raymunden die Hand nur
mit einem leuchtenden Blicke des Dankes über den
Tiſch reichen konnte. „Nun,“ ſagte Jener, „ich darf
der Erſte ſeyn, der Ihnen Glück wünſcht.“ „So ſind
wir nicht die Lezten!“ rief der Obriſt mit dem Pfar-
rer, indem man die Gläſer erhob. Agneſen ſtürzte
eine Thräne aus den ſchönen Augen und auch ſie hob
ihr Glas. Es wurde ſofort erklärt: daß Nolten und
Raymund einen ſehr vortheilhaften Ruf in die
Dienſte eines hochgebildeten und verehrten Fürſten
[458] des nördlichen Deutſchlands erhalten haben, zunächſt
um bei einer gewiſſen Privatunternehmung des kunſt-
liebenden Regenten verwendet zu werden, doch ſollte
die Anſtellung auf Zeitlebens ſeyn. Die Sache ging
durch den Maler Tillſen und den alten Hof-
rath, deren Empfehlung man, wie es ſchien, das
Ganze eigentlich zu danken hatte. Etwas Geheim-
nißvolles war immer dabei, und Nolten hatte Ur-
ſache zu glauben, daß noch ganz andere Hebel gewirkt
haben müßten. Jenes Schreiben ſelbſt war von dem
Hofrath. Er gibt ſich alle Mühe, dem Freunde dieß
Offert ſo einleuchtend als möglich zu ſchildern, er hatte
zum Ueberfluß Raymundens mündliche Beredt-
ſamkeit noch in Reſerve geſtellt, wenn Nolten je
Bedenken tragen ſollte, die Stelle anzunehmen, ein
Zweifel, deſſen nur der Hofrath fähig ſeyn konnte,
weil er immer von ſeiner eignen Seltſamkeit ausging.
Was übrigens die Sendung Raymunds anbelangt,
ſo verhielt ſich’s wirklich ſo, wie er vorhin erklärte;
er ſelber hatte beim Antritt ſeiner Reiſe noch keine
Ahnung von den Dingen, die im Werke waren.


Die beiden Künſtler ſchloſſen jezt in der Ausſicht
auf ihr gemeinſchaftliches Ziel ſogleich Brüderſchaft,
und wer hätte nicht Theil an ihrem Glücke nehmen
ſollen? Alle ſprachen durcheinander auf’s Lebhafteſte
von der Sache hin und her.


„Ja,“ fragte die Pfarrerin, „und der Zug geht
wohl bald vor ſich?“


[459]

„Bald oder nicht! wie man’s nimmt; jeder Tag
ſpäter macht mir lange Weile!“ rief Raymund,
indem er ſich ungeduldig auf dem Abſatz herumwarf.
„In zwei Monaten iſt der Termin.“


„Da wird man erſt ein Pärchen aus Euch machen
müſſen?“ ſagte der Pfarrer zu Agnes hin.


„Dacht’ ich es doch!“ rief Raymund, „bleibt
mir nur, ihr ſchwarzen Herrn, mit euren Weitläuftig-
keiten fort! So viel ihr aus den Beiden machen könnt,
ſind ſie ja ſchon.“ Er ſprach dieß halb im Scherz,
doch hätte der Pfarrer nicht wiſſen dürfen, daß er die
Geiſtlichen für etwas Ueberflüſſiges hielt und nie recht
hatte leiden mögen.


„Wie?“ rief Amandus, „Sie ſind, wie ich
höre, auch Bräutigam: Sie laſſen ſich wohl gar nicht
kopuliren?“


„Bewahre Gott mich davor!“ antwortete der
Bildhauer. „Die Kopula iſt ſchon gefunden.“


„So ſind Sie ein Heide?“


„Und zwar ein frommer!“


„Doch was ſagt Ihre Braut zu Ihrem Vorſatz?“


„Ich habe ſie noch nicht gefragt.“


„Und“ ſagte der Pfarrer, leicht abbrechend „was
ſpricht lieb Agneschen?“ Sie ſchaute auf, ſie hatte
nicht gehört, wovon die Rede war, da ſie ſich ange-
legentlich mit Nolten unterhielt. Nach der ſonder-
baren, beinahe verdrießlichen Wendung, welche das
Geſpräch der beiden Männer genommen, war es na-
[460] türlich, daß die Frauen im Stillen ſchon das arme
Mädchen bedauerten, das an einen ſo närriſchen und
wilden Menſchen gerathen müſſen, und dieß Mitlei-
den verbarg ſich endlich gar nicht mehr, als Theo-
bald
ſich eifriger nach Henrietten erkundigte, und
Raymund anfing, mit aller ihm eigenen treuherzi-
gen Lebhaftigkeit zu erzählen, auf welchem guten Fuß
er mit ihr lebe, wie ſie ſich unterhielten, welche Un-
tugenden und „Dummheiten“ er ihr ſchon abgewöhnt,
was für Talente an ihr entwickelt habe. Da er zum
Beiſpiel ein leidenſchaftlicher Freund vom Kegelſchie-
ben ſey und es für die geſundeſte Motion halte, ſo
habe er ſich in den Kopf geſezt, ſeine Braut müſſe
es aus dem Fundamente lernen. Er habe den Un-
terricht, auf einer unbeſuchten Bahn, auch ſogleich mit
ihr begonnen; es geſchehe ihr zwar einigermaßen
ſauer, doch zeige ſie den beſten Willen und werde es
mit der Zeit ſehr weit bringen. Ferner, weil er
wahrgenommen, daß ſie mit einer thörichten Furcht
vor allem Feuergewehr und Schießen geſtraft ſey,
und ihm ſolche übertriebene Alterationen in den Tod
zuwider ſeyen, ſo habe er ſie von dem Lächerlichen
dieſes Benehmens zuerſt theoretiſch überzeugt, ihr den
Mechanismus einer Flinte, die Wirkung des Pulvers
ruhig und ordentlich erklärt und endlich einen prakti-
ſchen Anfang im Schloßgraben bei der Scheibe ge-
macht, der aber leider bis jezt den gehofften Erfolg
noch nicht bewieſen. Im Fall es nun, wie das un-
[461] geſchickte Ding ihn mit Thränen verſichert habe, er
aber noch nicht glaube, wirkliche Nervenſchwäche wäre,
ſo würde er freilich davon abſtehen müſſen, doch hoffe
er es noch durchzuſetzen.“


Die Frauenzimmer, ſo wie die Männer, konnten
nicht umhin, ihr Mißfallen auszudrücken, es gab ei-
nen allgemeinen Streit, und Agnes fing an dem
Bildhauer im Herzen recht gram zu werden, ſie kannte
ihn nicht genug und hielt ihn für boshaft; wie nun
ihr ganzes Weſen ſeit jener Botſchaft gewaltſam auf-
geregt war, ſo nahm ſie auch den gegenwärtigen Fall
heftiger auf als ſie ſonſt gethan haben würde, ſie
glaubte eine ihrer Schweſtern von einem Barbaren
mißhandelt, die Wange glühte ihr vor Unwillen und
ihre Stimme zitterte, ſo daß Theobald, der dieſe
Ausbrüche an ihr fürchtete, ſie ſanft bei der Hand
nahm und bei Seite führte.


Raymund hatte, wie ernſt es mit den Vor-
würfen beſonders der Frauenzimmer gemeint ſey, gar
nicht bemerkt, weil es ihm in der Geſellſchaft durch-
aus an allem Takte gebrach. Sein unruhiger von Ei-
nem auf’s Andere ſpringender Sinn war ſchon ganz
anderswo mit den Gedanken, während man ihn über
ſeinen Fehler nachdenklich gemacht und faſt verlezt zu
haben meinte. Er blickte durch den Tubus in die
Ferne und ſchüttelte zuweilen mit dem Kopf; auf
Einmal ſtampft er heftig auf den Boden. „Um’s
Himmels willen, was iſt Ihnen?“ fragte der Oberſt.
[462] „Nichts!“ lachte Raymund, aus ſeinem Traum er-
wachend, „es iſt nur ſo verflucht, daß ich die Jette
jezt nicht da haben ſoll! ſie nicht am Schopfe faſſen
kann und recht derb abküſſen! Sehn Sie, lieber
Oberſt, eigentlich iſt’s nur die Unmöglichkeit, was mich
foltert, die plumpe, phyſiſche Unmöglichkeit, daß der
einfältige Raum, der zwiſchen zweien Menſchen liegt,
nicht urplötzlich verſchwindet, wenn Einer den Willen
recht gründlich hat, daß dieß Geſetz nicht fällt, wenn
auch mein Geiſt mit allem Verlangen ſich dagegen
ſtemmt! Iſt ſo was nicht, um ſich die Haare aus-
zuraufen und mit beiden Füßen wider ſich ſelber zu
rennen? Wie dort der Berg, der Mollkopf, glozt
und prahlt, recht dreiſt die Fäuſte in die Wampen
preßt, daß er ſo breit ſey!“ Hier ſchlug Raymund
ein ſchallendes Gelächter auf, machte einen Satz in
die Höhe und ſprang wie toll den Abhang hinunter.


„Nun ja, Gott ſteh’ uns bei! ſo etwas iſt noch
nicht erhört!“ hieß es mit Einem Munde. Aber
Nolten nahm ſich des Bildhauers mit Wärme an;
er ſchilderte ihn als einen unverbeſſerlichen Natur-
menſchen, als einen Mann, der ſeine Kräfte fühle,
und übrigens von aller Tücke, wie von Affektation
gleich weit entfernt ſey, und wirklich gelang es ihm
durch einige auffallende Anekdoten von der Herzens-
güte ſeines Sansfaçon die Geſellſchaft ſo weit aus-
zuſöhnen, daß man zulezt nur noch lächelnd die Köpfe
ſchüttelte. Alle geſellige Luſt flammte noch einmal
[463] auf; man ſprach nun erſt recht kordial von Noltens
und Agneſens Zukunft; der Bildhauer hatte ſich
auch wieder eingefunden, unvermerkt verfloſſen ein
paar Stunden und einige Stimmen erinnerten endlich
nur leiſe an den Heimweg. Die Sonne neigte ſich
zum Untergang. Das herrlichſte Abendroth entbrannte
am Himmel und das Geſpräch verſtummte nach und
nach in der Betrachtung dieſes Schauſpiels. Agnes
lehnt mit dem Haupt an der Bruſt des Geliebten,
und wie die Blicke Beider beruhigt in der Gluth des
Horizonts verſinken, iſt ihm, als feire die Natur die
endliche Verklärung ſeines Schickſals. Er drückt Ag-
neſen
feſter an ſein Herz; er ſieht ſich mit ihr auf
eine Höhe des Lebens gehoben, über welche hinaus
ihm kein Glück weiter möglich ſcheint. Wie nun in
ſolche Momente ſich gern ein leichter Aberglaube ſpie-
lend miſcht, ſo geſchah es auch hier, als der helle
Doppelſtrahl, der von dem Mittelpunkt des rothen
Luftgewebes ausging, ſich nach und nach in vier zer-
theilte. Was lag, wenn man hier deuten wollte, der
Hoffnung unſeres Freundes näher, als einen Theil
des wonnevoll geſpaltnen Lichts auf zwei geliebte, weit
entfernte Geſtalten fallen zu laſſen, deren wehmüthige
Erinnerung ſich dieſen Abend einige Male bei ihm
gemeldet hatte. Allein wie ſonderbar, wie ſchmerzlich
muß er es eben jezt empfinden, daß er dem treuſten
Kinde, das hier in ſeinen Arm geſchmiegt mit leiſen
Küſſen ſeine Hand bedeckte, und dann ein Auge aller
[464] Himmel voll, gegen ihn aufrichtete, — nunmehr nicht
ſeinen ganzen Buſen öffnen durfte! Er mußte den
Kreis ſeines Glücks, ſeiner Wünſche im Stillen für
ſich abſchließen und ſegnen, doch in die Mitte deſſel-
ben darf er Agneſenals ſchützenden Engel aufſtellen.


Die Uebrigen waren aufgeſtanden, man wollte
gehen. Theobald trennte ſich ſchwer von dieſem glück-
lichen Orte, noch einmal überblickt’ er die Runde der
Landſchaft und ſchied dann mit völlig befriedigter
Seele.


Alsbald bewegte ſich der Zug munter den Hü-
gel hinab. Am Wäldchen wurde nicht verſäumt, das
Echo wieder anzurufen; Raymund brachte allerlei
wilde Thierſtimmen hervor und ſtellte mit Huſſa-Ruf
und Hundegekläff das Toben einer Jagd vollkommen
dar; die Frauenzimmer ſangen manches Lied, und
gemächlich erreicht man das Pfarrhaus, wo die
von Neuburg ſich ſogleich zum Abſchied wenden wol-
len, trotz den Vorſtellungen des Pfarrers, der einen
Plan, die ſämmtlichen Gäſte dieſe Nacht in Halme-
dorf unterzubringen, komiſch genug vorlegte. Ray-
mund
ſchloß ſich der Partie des Malers an, um
morgen von Neuburg aus weiter zu reiſen. Wenig-
ſtens müſſe man den Mond noch abwarten, meinte
Amandus, und er wollte ſeine Kaleſche, ein uraltes
aber höchſt bequemes Familienerbſtück, inzwiſchen parat
halten laſſen. So verweilte man ſich auf’s Neue;
den Männern ſchien erſt jezt der Wein recht zu ſchme-
[465] cken, und Nolten ſelbſt überſchritt ſein gewöhnliches
Ziel. Während dem hat der Himmel ſich umzogen,
es wurde völlig Nacht, und Agnes, von ſeltſamer
Unruhe befallen, ließ mit Bitten und Treiben nicht
nach, bis man endlich zum lezten Wort gekommen
war und die beſchwerte Kutſche vom Haus wegrollte.
Raymund ritt vor den Pferden her und kaum hat-
ten ſie das Dorf im Rücken, ſo fing er herzhaft an
zu ſingen. Er nahm in ſeinem frohen Uebermuth
dem Bauerburſchen, der neben her leuchtete, die beiden
Fackeln ab und ſchwang ſie rechts und links in wei-
ten Kreiſen, indem er ſich an den wunderlichen Schat-
ten höchlich ergözte, die er durch verſchiedene Bewe-
gung der Brände in eine rieſenhafte Länge, bald vor
bald rückwärts, ſchleudern konnte. So oft es anging
kam er an den Schlag und brachte die Geſellſchaft
durch allerlei phantaſtiſche Vergleichungen über ſeine
Reiterfigur zum innigen Lachen. Er war wirklich
höchſt liebenswürdig in dieſer Laune, ſelbſt Agnes
ließ ihm Gerechtigkeit widerfahren. Der Maler wett-
eiferte mit ihm, theils ſchauerliche, theils liebliche
Mährchen aus dem Stegreife zu erzählen, wobei ſich
Theobald ganz unerſchöpflich zeigte. Als ſie im
Wald an einer öden Strecke Ried vorüberkamen, hieß
es, hier ſey vor vielen hundert Jahren das Herz ei-
nes Zauberers nach deſſen Tode in die Erde gegra-
ben worden, das dann, zum ſchwarzen Moos ver-
wachſen, als ein unendliches Geſpinnſt rings unterm
30
[466] Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem
Rieſen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht
worden, die er gegen den halben Mond geworfen;
das eine Ende ſey mit der Schleife am ſilbernen
Horne hängen blieben und nun ſey der Rieſe trium-
phirend zum Himmel hinauf geklettert. Agnes er-
innerte, im Gegenſatz zu ſolchen Ungeheuern, an eine
kleine anmuthige Elfengeſchichte, die Nolten als
Knabe ihr vorgemacht hatte, und ſo gab Jedes einen
Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blie-
ben nicht zurück, vielmehr dieſe trauliche Dunkelheit
ſchien ſie nun erſt mehr aufzuwecken. Der Bildhauer
fand den Gedanken Noltens, daß, um die roman-
tiſche Fahrt vollkommen zu machen, Raymund noth-
wendig Henrietten auf ſeinem Rappen hinter ſich
haben ſollte, ganz zum Entzücken, und ſogleich fing
er an, die ſämmtlichen Balladen, welche von nächtli-
chen Entführungen, Geſpenſterbräuten u. ſ. w. han-
deln, mit Pathos zu recitiren. Nun war es aber
für unſre beiden Liebenden der ſüßeſte Genuß, zwi-
ſchen alle dieſen Spielen einer unſtet umherflackern-
den Einbildung auf Augenblicke heimlich im ſtilleren
Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild
der nächſten reizenden Zukunft zu richten, ſich einan-
der mit einem halben Wort in’s Ohr, mit einem
Händedruck zu ſagen, wie man ſich fühle, was Eines
am Andern beſitze, wie viel man ſich erſt künftig noch
zu werden hoffe.


[467]

Schon eine Zeitlang hatte Raymund von Ferne
ein Fuhrwerk zu hören geglaubt; es kam jezt näher
und eine Laterne lief mit. Es war der Wagen des
Barons. Der Herr Förſter ſchicke ihn entgegen,
ſagte der Knecht mit einem Tone, der eine ſchlimme
Nachricht fürchten ließ. Der gnädige Herr, hieß es,
ſey ſchnell dahingefallen, von einem Nervenſchlag ſpreche
der Arzt, vor zwei Stunden habe man ihm auf das
Ende gewartet, ſie möchten eilen, um ihn noch am
Leben zu ſehn. Welche Beſtürzung! welche Verwand-
lung der frohen Gemüther! Schnell wurden die Wa-
gen gewechſelt, der eine fuhr zurück, der andre eilte
Neuburg zu.


Der Baron erkannte bereits den Maler nicht
mehr, er lag wie ſchlummernd mit haſtigem Athem.
Theobald kam nicht von ſeinem Bette, er und die
einzige Schweſter des Sterbenden, eine achtungs-
würdige Matrone, und ein alter Kammerdiener wa-
ren zugegen, als der verehrte Greis gegen Morgen
verſchied.


So hatte Nolten einen andern Vater, es hatte
der Förſter den würdigſten Freund verloren; ja die-
ſer durch und durch erſchütterte Mann, da ihm zu-
gleich ein neues Glück in ſeinen Kindern tröſtlich auf-
gegangen war, gewann doch ſeinem erſten Schmerz-
gefühl kaum ſo viel ab, als billig ſchien, um, wie es
[468] ſonſt in ſeiner frommen Art geweſen wäre, dankbar
und laut eine Wohlthat zu preiſen, die ihm der Him-
mel mit der einen Hand als reichlichen Erſatz nicht
minder unerwartet ſchenkte, als er ihm unerwartet
mit der andern ein theures Gut entriſſen hatte.


Was Theobald betrifft, ſo war ein ſolcher
Verluſt für ihn noch von beſonderer Bedeutung. Wenn
uns unvermuthet eine Perſon wegſtirbt, deren innige
und verſtändige Theilnahme uns von Jugend an be-
gleitete, deren ununterbrochene Neigung uns gleichſam
eine ſtille Bürgſchaft für ein dauerndes Wohlergehn
geworden war, ſo iſt es immer, als ſtockte plötzlich
unſer eignes Leben, als ſey im Gangwerk unſeres
Schickſals ein Rad gebrochen, das, ob es gleich auf
ſeinem Platze beinah entbehrlich ſcheinen konnte, nun
durch den Stilleſtand des Ganzen erſt ſeine wahre
Bedeutung verriethe. Wenn aber gar der Fall ein-
tritt, daß ſich ein ſolches Auge ſchließt, indem uns
eben die wichtigſte Lebensepoche ſich öffnet, und ehe
den Freund die frohe Nachricht noch erreichen konnte,
ſo will der Muth uns gänzlich fehlen, eine Bahn zu
beſchreiten, welche des beſten Segens zu ermangeln,
uns fremd und traurig anzublicken ſcheint.


Wer dieſer trüben Stimmung Theobalds am
wenigſten aufhelfen konnte, war Agnes ſelbſt, deren
Benehmen in der That den ſonderbarſten Anblick dar-
bot. Sie war ſeit geſtern wie verſtummt, ſie ließ
die Andern reden, klagen oder tröſten, ließ um ſich
[469] her geſchehen was da wollte, eben als ginge ſie’s am
wenigſten an, als werde ſie nicht von dieſer allgemei-
nen Trauer, ſondern von etwas ganz Anderem bewegt.
Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das ſie
mit Niemand theilen zu können ſchien. Dann wie-
der war ihr Weſen auf Einmal feierlich gehoben; ſie
griff die gewöhnlichen häuslichen Geſchäfte mit aller
äußern Ruhe an, wie ſonſt, aber nur der Körper,
nicht der Geiſt, ſchien gegenwärtig zu ſeyn. Auf mit-
leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be-
kannte ſie zulezt, daß eine unerklärliche Angſt ſeit
geſtern an ihr ſey, ein unbekannter Drang, der ihr
Bruſt und Kehle zuſchnüre. „Ich ſeh’ euch alle wei-
nen“ rief ſie aus, „und mir iſt es nicht möglich. Ach
Theobald, ach Vater, was für ein Zuſtand iſt doch
das! Mir iſt, als würde jede andere Empfindung
von dieſer einzigen, von dieſer Feuerpein der Angſt
verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine
Thränen auf größeres Unglück aufſparen ſoll, das
erſt im Anzug iſt!“ Sie hatte dieſes noch nicht aus-
geſagt, als ſie in das fürchterlichſte Weinen ausbrach,
worauf ſie ſich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging
allein in’s Gärtchen, und als Theobald nach einer
Weile ſie dort aufſuchte, kam ſie ihm mit einer wei-
chen Heiterkeit auf dem Geſicht, nur ungewöhnlich
blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über
ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie
geſehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen
[470] Ahnungen zu widerrufen, und nannte es ſündhafte
Schwäche, dergleichen böſen Zweifeln nachzugeben, die
man durch aufrichtiges Gebet jederzeit am ſicherſten
los werde, und es ſey auch gewiß das lezte Mal,
daß Nolten ſie ſo kindiſch geſehen. Mit der natür-
lichen Beredtſamkeit eines frommen Gemüths empfahl
ſie ihm Vertrauen auf Gottes Macht und Liebe, von
welcher ſie nach ſolcher Anfechtung nur um ſo freu-
digeres Zeugniß in ihrem Innerſten empfangen habe.
— So wahr ihr auch dieß Alles aus dem Her-
zen floß, ſo wich ſie Noltens Fragen, was denn
eigentlich der Grund jenes Verzagens geweſen ſey,
mit einiger Unruhe aus. Sie glaubte ihn mit dem
Bekenntniſſe verſchonen zu müſſen, daß, als ſie geſtern
den Brief des Hofraths geleſen, ihre Freude hierüber
auf der Stelle mit einer dunkeln Furcht vor dieſem
Glück, vielleicht gerade weil es ihr zu groß gedäucht,
ſeltſam gemiſcht geweſen war.


Den folgenden Tag war die Beiſetzung des Ba-
rons. Alle, auch Agnes, die ihm die Todtenkrone
flocht, hatten ihn noch im Sarge geſehen, und einen
durchaus reinen und erhebenden Eindruck von ſeinem
Liebe-Bild zurückbehalten. Raymund, mit einem
dankbaren Schreiben Theobalds an den Hofrath,
war zeitig weiter gegangen. Zur feſtgeſezten Zeit
wollten beide Künſtler ſich an dem neuen Orte ihrer
Beſtimmung fröhlicher wieder begrüßen, als ſie ſich
jetzo trennten.


[471]

Zunächſt nun folgte in dem Forſthaus eine ſtille,
doch wohlthätige Trauerwoche. In traulichen, öfters
bis tief in die Nacht fortgeſezten Geſprächen verge-
genwärtigte man ſich die eigenthümliche Sinnesart
des Verſtorbenen auf alle Weiſe. Erinnerungen aus
früheſter und neueſter Zeit traten hervor. Entwürfe
eines Denkmals, das Grab des Todten einfach und
edel zu zieren, wurden verſchiedentlich verſucht, Um-
riſſe der freundlichen Geſichtsbildung wurden gezeich-
net, nach Anſicht eines Jeden ſorgfältig verändert und
wieder gezeichnet. Jezt langten Noltens Effekten
an. Er fand unter ſeinen Papieren eine Sammlung
älterer Briefe des Barons (denn in dem lezten Jahre
ſchrieb er faſt nichts mehr, und alle Verbindung zwi-
ſchen ihm und dem Maler war nur gelegentlich durch
das Forſthaus). Meiſtens fiel dieſe Korreſpondenz in
die Zeit, da ſich Theobald in Rom aufhielt, man
bekam die Gegen-Blätter vollſtändig aus dem Nach-
laſſe des Barons zuſammen und ſie gewährten jezt
eine eben ſo lehrreiche als erbauliche Unterhaltung.


Von einem ſolchen, dem theuren Abgeſchiedenen
mit frommer Neigung gewidmeten Andenken war dann
der Uebergang zum lebendigen Genuſſe der Gegenwart
in jedem Augenblicke leicht gefunden. Größere und
kleinere Spaziergänge, Beſuche aus der Nachbarſchaft
erwiedert, hundert kleine Beſchäftigungen in Haus und
Feld und Garten, wechſelten ab, die Tage ſchnell und
harmlos abzuſpinnen. Nolten verſäumte dabei nicht,
[472] wenn von der großen Veränderung die Rede war, die
ihm und den Seinigen bevorſtand, gelegentlich einen
Plan erſt nur entfernterweiſe und wie im Scherze
blicken zu laſſen, womit er aber eines Abends, als
alle Drei beim traulichen Lichte verſammelt ſaßen, ernſt-
haft hervortrat und den Vater wie Agneſen nicht
wenig überraſchte. Er ſey entſchloſſen, ſagte er, ſei-
nen künftigen Wohnort auf einem kleinen Umweg
über einige ſehenswerthe Städte Deutſchlands zu er-
reichen, und nicht nur die Geliebte werde ihn beglei-
ten, ſondern, wie er halb hoffe, auch der Vater, den
er auf jeden Fall als bleibenden Genoſſen ſeines künf-
tigen Hauſes ſchon längſt im Stillen angeſehn und
nunmehr, von Agneſen unterſtüzt, um ſeine Einwil-
ligung herzlich und kindlich bitte. Gerührt verſprach
der Alte, der Sache nachzudenken; „was aber,“ ſezte
er hinzu, „dieſe nächſte Reiſe betrifft, ſo taugt ein
alter gebrechlicher Kamerade wie ich zu dergleichen
Seitenſprüngen nicht mehr. Und überdieß (er hatte
die Landkarte auf dem Tiſch ausgebreitet) ſo ganz
unbeträchtlich find’ ich den Umweg des Herrn Sohns
eben nicht. Sehn Sie, dieß Dreieck, man mag es
nehmen wie man will, macht immer einen ziemlich
ſpitzen Winkel hier bei P *, wo Sie dann gegen Nor-
den lenken wollten. Nein, liebe Kinder, vor der Hand
bleib’ ich hier. Euch ſo lange hinzuſperren, bis ich
Haus und Hof beſchickt und abgegeben hätte, wäre
unſinnig, und doch muß man ſich zu ſo etwas Zeit
[473] nehmen können; daß ich aber für jezt nur abbräche,
um wieder zu kommen und dann die Sachen in Ord-
nung zu bringen, wäre wo möglich noch ungeſchickter.
Kommt ihr nur erſt an Ort und Stelle an, wir wol-
len ſehen, was ſich dann weiter ſchickt und ob es
Gottes Wille iſt, daß ich euch folge.“


Agnes konnte dem Vater nicht Unrecht geben;
am liebſten freilich hätte ſie Theobalden jenen Ne-
benplan ausreden mögen, der ihr und, wie ſie wohl
bemerkte, noch mehr dem Vater, der bedeutenden Ko-
ſten wegen, bedenklich vorkam. Sie hielt auch dieſe
Einwendung nicht ganz zurück, doch da man ſah, wie
vielen Werth der Maler auf die Sache legte, ſo dachte
man ſie ihm nich [...] zu verkümmern. Man fing alſo
zu rechnen an, und Theobald erklärte, daß er, ſo
günſtig wie nunmehr die Dinge für ihn lägen, eine
Schuld ohne Gefahr aufnehmen könne, ja er geſtand,
er habe dieß Geſchäft ſchon abgethan und bereits die
Wechſel in Händen. Dieß gab ihm einen kleinen Zank,
doch mußte man es ihm wohl gelten laſſen.


Nun aber kam ganz unvermeidlich die Hochzeit
zur Sprache. Es war ein Punkt, der dieſe lezten Tage
her Agneſen im Stillen Vieles mochte zu ſchaffen
gemacht haben; ſie faßte ſich daher ein Herz und fing
von ſelbſt davon zu reden an, jedoch nur um zu bit-
ten, daß man damit nicht eilen, daß man dieſen und
den nächſten Monat noch abwarten möge. „Was ſoll
das heißen?“ rief der Vater und traute ſeinen Ohren
[474] kaum. „Wir reiſen ja die nächſte Woche ſchon, mein
Kind!“ rief Nolten. Das hindere nichts, behauptete
Agnes; ſie müßten ſich ja nicht nothwendig im Lande
trauen laſſen, was ihr freilich, an ſich betrachtet, ungleich
lieber wäre, es könne aber auch in W * geſchehn (dieß
war der Ort, wo ſie ſich niederlaſſen ſollten), und
noch beſſer in H * (hier lebte ein naher Verwandter
des Förſters und die Reiſenden mußten das Städtchen
paſſiren, das nur wenige Meilen von W * gelegen
war); dort würden ſie in einer feſtzuſetzenden Woche
mit dem Vater zuſammentreffen, und ſo Alle mitein-
ander aufziehn. — Der Alte hielt ſeinen Verdruß
noch an ſich, um erſt die Gründe der Tochter zu hö-
ren, allein da dieſe rein innerlich, dem guten Mäd-
chen ſelber nicht ganz klar und überhaupt gar nicht
geeignet waren, eine gemein verſtändige Prüfung aus-
zuhalten, ſo gerieth der Vater in Hitze und es kam
zu einem Auftritt, den wir dem Leſer gern erſparen.
Genug, der Förſter, nachdem er ſeine Meinung über
ſolchen Eigenſinn mit Bitterkeit von ſich geſchüttet
hatte, verließ ganz außer ſich das Zimmer. Die Arme
warf ſich voller Schmerz auf’s Bette, und Theobald,
dem ſie nur rückwärts ihre Hand hinlieh, ſaß lange
ſchweigend neben ihr. Sie wurde ruhiger, ſie rührte
ſich nicht mehr, ein leiſer Schlaf umdämmerte ihre
Sinne.


Unſerem Freunde drangen ſich in dieſer ſtummen
ſonderbaren Lage verſchiedene Betrachtungen auf, die
[475] er ſeit jenem Morgen, an dem er die Geliebte von
Neuem an ſein Herz empfing, nimmermehr für mög-
lich gehalten hätte, doch jezt, wer möchte ihm verar-
gen, wenn ihn der Zweifel überſchlich, ob denn das
Räthſelweſen, das hier troſtlos vor ſeinen Augen lag,
dazu beſtimmt ſeyn könne, durch ihn glücklich zu wer-
den, oder ihm ein dauerndes Glück zu gründen, ob
er es für ein wünſchenswerthes und nicht vielmehr
für ein höchſt gewagtes Bündniß halten müſſe, wo-
durch er ſich für’s ganze Leben an dieß wunderbare
Geſchöpf gefeſſelt ſähe? Aber zu fragen brauchte er
ſich wenigſtens das Eine nicht: ob er ſie wirklich
liebe, ob ſeine Neigung nicht etwa nur eine künſtlich
übertragene ſey? vielmehr durchdrang ihn das Gefühl
derſelben nie ſo vollglühend als eben jezt. Er dachte
weiter nach und mußte finden, daß eben jene dunkle
Klippe, woran Agneſens ſonſt ſo gleichgewiegtes
Leben zum Erſtenmal ſich brach, dieſelbe ſey, nach der
auch ſein Magnet von früh an unabläſſig ſtrebte, ja
daß (man gönne uns immer das Gleichniß) die
ſchlimme Zauberblume, worin des Mädchens Geiſt
zuerſt mit unheilvollen Ahnungen ſich berauſchte, nur
auf dem Grund und Boden ſeines eignen Schickſals
aufgeſchoſſen war. Nothwendig daher und auf Ewig
iſt er mit ihr verbunden, Böſes oder Gutes kann für
ſie Beide nur in Einer Schaale gewogen ſeyn.


Seine Gedanken verſchwammen nach und nach
in einer grundloſen Tiefe, doch ohne Aengſtlichkeit;
[476] mit einer Art von frommer Todes-Wolluſt, mit über-
ſchwänglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide
der Gottheit, deren geweihtes Kind er ſich empfindet.
Er hätte eine Ewigkeit ſo ſitzen können, nur dieſe
Schlafende neben ſich, nur dieſe ruhige Kerze vor
Augen. — Er neigt ſich über Agnes her und rührt
mit leiſen Lippen ihre Wange; ſie ſchrickt zuſammen
und ſtarrt ihm lange in’s Geſicht, bis ſie ſich endlich
findet. Stillſchweigend treten Beide an’s offene Fen-
ſter, eine balſamiſche Luft haucht ihnen entgegen; der
volle Mond war eben aufgegangen und ſezte die Ge-
gend, das Gärtchen, in’s Licht. Sie deutet hinab,
ob er noch einen Gang zu machen Luſt hätte. Man
zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen,
das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mitt-
lern Weg vom Haus zur Laube, zwiſchen aufblühen-
den Roſengehegen, Hand in Hand auf und nieder.
Keins konnte die erſten Worte recht finden. Er fing
endlich damit an, den Vater zu entſchuldigen, und
rückte ſo dem Gegenſtand des Streites näher, um zu
erfahren, woher ihr dieſe Scheu, dieß Widerſtreben
gegen ein ſo natürliches als erfreuliches Vorhaben
kam, von dem ſie noch vor wenig Wochen mit aller
Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des ächten Mäd-
chens geſprochen hatte, dem auch die äußeren Erfor-
derniſſe eines ſolchen Tags, die Muſterung und Wahl
des Putzes, ein reizender Gegenſtand der Sorgfalt
und der Mühe ſind. Mit welcher Rührung hatte ſie
[477] neulich (wir verſäumten bis jezt, es zu erwähnen),
mit welcher Bewunderung das ſchöne Angebinde der
unbekannten Freudinnen aus Theobalds Händen
empfangen und gegen das ſchwarze Feſtkleid gehalten!
„Sieh,“ ſagte der Bräutigam jezt, und ſtreichelte ihr
freundlich Kinn und Wangen, indem ſein Ton zwi-
ſchen Wehmuth und einer ermuthigenden Munterkeit
wechſelte, „dort ſchaut das Kirchlein her und thut
wie traurig, daß es die Freude deines Tags nicht
ſehen ſoll! kannſt du ihm ſeinen Willen denn nicht
thun? — Gewiß, Agnes, ich will dich nicht beſtür-
men: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem
Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom
Vater nicht, es künftig entgelten ſollſt, wenn du, was
wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöch-
teſt, nur überleg’ es noch einmal. Ich will Alles bei
Seite ſetzen, was der Vater hauptſächlich für ſeine
Abſicht anführt, ich will davon nichts ſagen, daß es
Jederman auffallen müßte, Stoff zu Vermuthungen
gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimath, in
deren Schoos du deine frohe Jugend lebteſt, von der
du nun für immer Abſchied nimmſt, ob du ihr dieß
Feſt nicht ſchuldig biſt, worauf ſie ſo gerne ſtolz ſeyn
möchte? Der Ort, das Haus, das Thal, wo man er-
zogen wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel
behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die
weite Welt zerſtreuen: es iſt dieß wenigſtens das
liebſte Bild für ein natürliches Gefühl in uns; be-
[478] denke nun, ob dieſer fromme Wächter deiner Kind-
heit dir’s je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht
vergönnen wollteſt, dir noch den Kranz auf’s Haupt
zu ſetzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hau-
ſes mit ſeinem ſchönſten Seegen zu entlaſſen. Es
hoffen alle deine Geſpielen, Jung und Alt hofft dich
vor dem Altar zu ſehen, das ganze Dorf hat die
Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr
ſagen? Zweier Perſonen muß ich gedenken, die dieſen
Tag nicht mehr mit uns begehen ſollten, deine theure
Mutter und unſer kürzlich vollendeter Freund: ihr
Gruß wird uns an jenem Morgen ſchmerzlich fehlen,
aber doch eine Spur ihres Weſens wird uns an der
Stätte begegnen, wo ſie einſt mit uns waren, von
ihrer Ruheſtätte wird —“


„Um Jeſu willen, Theobald, nicht weiter!“
ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft
ſich ſchluchzend vor ihm auf die Kniee — „Du bringſt
mich um — Es kann nicht ſeyn — Erlaſſet mirs!“
Beſtürzt hebt er ſie auf, liebkost, beſchwichtigt, tröſtet
ſie: man ſey ja weit entfernt, ſagt er, ihrem Herzen
Gewalt anzuthun, er habe ſich nun überzeugt, wie
unmöglich es ihr ſey, auch liege ja ſo ſehr viel nicht
an der Sache, er werde es dem Vater vorſtellen, es
werde Alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube,
ſie mußte ſich ſetzen; ein ſchmaler Streif des Mondes
fiel durchs Gezweige auf ihr Geſicht und Theobald
ſah ihre Thränen in hellen Tropfen fallen. Er ſolle
[479] die Reiſe allein machen, verlangte ſie, er ſolle wieder
zurückkommen, indeſſen ſey die Zeit vorüber, vor wel-
cher ſie ſich fürchte, dann wolle ſie gern Alles thun,
was man wünſche und wo man es wünſche. Auf die
Frage, ob es alſo nicht die Reiſe ſelbſt ſey, was ſie
beängſtige, erwiderte ſie: nein, ſie könne nur das Ge-
fühl nicht überwinden, als ob ihr überhaupt in der
nächſten Zeit etwas Beſonderes bevorſtünde — es warne
ſie unaufhörlich etwas vor dieſer ſchnellen Hochzeit.
„Was aber dieß Beſondere ſey, das wüßteſt mir nicht
zu ſagen, liebes Herz?“ Sie ſchwieg ein Weilchen
und gab dann zurück: „Wenn der Zeitpunkt vorüber
iſt, ſollſt du es erfahren.“ Nolten vermied nun,
weiter davon zu reden. Er war weniger wegen ir-
gend eines bevorſtehenden äußern Uebels, als um das
Gemüth des Mädchens beſorgt; er nahm ſich vor, ſie
auf alle Art zu ſchonen und zu hüten. Was ihm
aber eine ſolche Vorſicht noch beſonders nahe legte,
war eine Aeußerung Agneſens ſelbſt. Nachdem
nämlich das Geſpräch bereits wieder einen ruhigen
und durch Theobalds leiſe, verſtändige Behandlung,
ſelbſt einen heitern Ton angenommen hatte, gingen
Beide, da es ſchon gegen Mitternacht war, in’s Haus
zurück. Sie zündete Licht für ihn an, und man hatte
ſich ſchon gute Nacht geſagt, als ſie ſeine Hand noch
feſt hielt, ihr Geſicht an ſeinem Halſe verbarg und
kaum hörbar ſagte: „Nicht wahr, das Weib wird
nimmer kommen?“ „Welches?“ fragt er betroffen.
[480] „Du weißt es;“ erwiderte ſie, als getraute ſie ſich
nicht, das Wort in den Mund zu nehmen. Es war
das Erſtemal, daß ſie ihm gegenüber die Zigeunerin
berührte. Er beruhigte ſie mit wenigen aber ent-
ſchiedenen Worten.


Auf ſeinem Zimmer angekommen unterſucht er eifrig
den Verſchlag, worin unter andern Malereien auch
das fatale Bild vergraben war; eine augenblickliche
Beſorgniß, die Kiſte möchte aus Irrthum geöffnet
worden ſeyn, war durch Agneſens Worte in ihm
aufgeſtiegen; doch fand ſich Alles unverſehrt.


Den andern Morgen, noch ehe Agnes aufge-
ſtanden war, erzählte er die geſtrige Scene dem Va-
ter, den er ſchon wider Erwarten milde geſtimmt fand.
Der Alte geſtand ihm, daß bald nachdem er die Bei-
den verlaſſen, er etwas Aehnliches, wo nicht noch
Schlimmeres, zu befürchten angefangen habe, und
ſeine Heftigkeit bereue. Es bleibe nichts übrig, als
man gebe nach; daß ſie aber am Ende nicht auch die
Reiſe verweigere, müſſe man ja vorbauen. — „Laß
uns Frieden ſchließen!“ ſagte er beim Frühſtück zu
der Tochter und bot ihr die Wange zum Kuß; „ich
habe mir den Handel überſchlafen, und es ſoll dir noch
ſo hingehn; man muß eben auf einen Vorwand den-
ken, wegen der Leute. Aber ſo viel merk’ ich ſchon,
ſezte er ſcherzhaft gegen den Schwiegerſohn hinzu,
„der Pantoffel ſteht Ihnen gut an, von der Böſen
da.“ Die Böſe ſchämte ſich ein wenig, und der Zwiſt
[481] war vergeſſen. Zu der Reiſe ließ ſie ſich willig fin-
den und mit den Vorbereitungen ward noch heute
der Anfang gemacht. Zur erheiternden Begleitung wollte
man unterwegs Nannetten, Theobalds jüngſte
Schweſter, aufnehmen, die er ohnedieß vor der Hand
zu ſich zu nehmen entſchloſſen war.


Nunmehr überſpringen wir einen Zeitraum von
wenigen Wochen, in denen der Wagen unſrer beiden
Liebenden ſchon eine gute Strecke weit auf landfremden
Wegen fortgerollt ſeyn mag. Man war um zwei muntere
Augen vermehrt und in der That um ſo viel reicher
geworden. Denn wenn das Glück eines Paares, wel-
chem vergönnt iſt, auf unabhängige und bequeme Weiſe
ein größeres Stück Welt mit einander zu ſehen, ſchon
an ſich für den ſeligſten Gipfel des mit zarten Sor-
gen und Freuden ſo vielfach durchflochtenen Braut-
ſtandes mit Recht gehalten wird, ſo gewinnt dieſe
glückliche Zweiheit gar ſehr an herzinnigem Reiz durch
das Hinzutreten einer engbefreundeten jüngern Perſon,
deren lebendige, mehr nach Außen gerichtete Aufmerk-
ſamkeit den Beiden die vorüberfliegende Welt in er-
höhter Wirklichkeit zuführt, und jene wortloſe Beſchau-
lichkeit, worein Liebende in ſolcher Lage ſich ſonſt ſo
gerne einwiegen laſſen, immer wieder wohlthätig auf-
ſchüttelt. Eine ſolche Ableitung nun war unſerm Paare
um ſo nöthiger, als gewiſſe ſchwere Stoffe auf dem
Grunde der Gemüther, ſo wenig man es einander ein-
31
[482] geſtand, ſich Anfangs nicht ſogleich zertheilen wollten.
Dieſen Vortheil aber gewährte Nannettens Gegen-
wart vollkommen. Sowohl im Gefährte, wo ſie ſich
mit Konrad, dem Kutſcher, einem treuherzigen Bur-
ſchen aus Neuburg, gleich auf den luſtigſten Fuß zu
ſetzen wußte, als in den Gaſthöfen, wo ſie die Eigen-
heiten der Fremden genau zu beobachten, auf alle Ge-
ſpräche zu horchen und die Merkwürdigkeiten einer Stadt
immer zuerſt auszukundſchaften pflegte, — überall
zeigte ſie eine raſche und praktiſche Beweglichkeit, und
wo man hinkam, erwarb ſie ſich durch ein anſprechen-
des Aeußere, durch ihren naiven und ſchnellen Ver-
ſtand die charmanteſten Lobſprüche. — Das Wetter,
das in den erſten Tagen meiſt Regen brachte, hatte
ſich gefaßt und verſprach beſtändig zu bleiben. So
langte man eines Abends ganz wohlgemuth in einer
ehemaligen Reichsſtadt an, wo übernachtet werden
mußte. Unſere Geſellſchaft war in dem beſten Gaſt-
hofe untergebracht, und während dieſe ſich auf ihre
Weiſe gütlich thut, möge der Leſer es nicht verſchmä-
hen, auf kurze Zeit an einer entfernten Trinkgeſellſchaft
aus der niedern Volksklaſſe Theil zu nehmen. Kon-
rad
hofft ſeine Rechnung dort beſſer als an jedem
andern Orte zu finden; man hat ihn auf ein großes
Brauerei-Gebäude, den Kapuzinerkeller, neugierig ge-
macht und er wird uns den Weg dahin zeigen.


Es lag der genannte Keller in einem ziemlich
düſtern und ſchmutzigen Winkel der Altſtadt und bil-
[483] dete den Schluß einer Sackgaſſe, die meiſt von Kü-
fern, Gerbern und dergleichen bewohnt ward. Konrad
ſizt in dem vordern allgemeinen Trinkzimmer, hart an
der offnen Thür einer Nebenſtube, der er ſeine ganze
Aufmerkſamkeit ſchenkt. Dort hat nämlich ein Zirkel
von fünf bis ſechs regelmäßigen Gäſten ſeinen Tiſch,
deſſen ſchmale Seite von einem breitſchultrigen Manne
mit pockennarbigem Geſicht beſezt iſt, einem aufgeweck-
ten und, wie es ſcheint, etwas verwilderten Burſchen.
Aus ſeinen kleinen ſchwarzen Augen blizte die helle
Spottluſtigkeit, eine zu allerlei Sprüngen und Poſſen
aufgelegte Einbildungskraft. Er trug ſeine Scherze
übrigens mit trockener Miene vor, und machte die
Seele der Geſellſchaft aus. Man nannte ihn den Büch-
ſenmacher, auch wohl Stelzfuß, denn er hatte ein höl-
zernes Bein. Zwei Mann unter ihm ſaß ein Menſch
von etwa ſechs und dreißig Jahren. Es war keine
beſonders feine Beobachtungsgabe nöthig, um in dieſer
Geſtalt, dieſem Kopfe etwas Bedeutenderes und durch-
aus Edleres zu entdecken, als man ſonſt in einem
ſolchen Kreis erwarten würde. Ein ſchmales, ziemlich
verwittertes und tiefgefurchtes Geſicht, das unſtete feu-
rige Auge, eine leidenſchaftliche Haſt in den anſtändi-
gen Bewegungen zeugten offenbar von ungewöhnlichen
Stürmen, die der Mann im Leben mochte erfahren
haben. Er ſprach wenig, ſah meiſt zerſtreut vor ſich
nieder, und doch, je nachdem ihm die Laune ankam,
konnte er an Einfällen den Stelzfuß ſogar überbieten,
[484] nur daß dieß immer auf eine feinere Weiſe geſchah,
und ohne ſich das Geringſte zu vergeben. Alle be-
trachteten ihn mit auffallender Diſtinktion, ja mit einer
gewiſſen Scheu, obgleich er nur Joſeph, der Tiſch-
ler, hieß. Ihm gegenüber hatte ein jüngerer Geſelle,
Namens Perſe, ein Goldarbeiter, ſein Glas ſtehen.
Es war der Einzige, mit dem Joſeph auch außer-
halb dem Wirthshaus einigen Umgang pflegen mochte.
Von den Uebrigen wüßten wir nichts weiter zu ſagen,
als daß es aufgeweckte Leute und ehrbare Handwerker
waren.


„Mir fehlt heut’ etwas,“ ſagte der Büchſenmacher,
„ich weiß nicht was. Ich hab’ das Licht nun ſchon
Viermal hintereinander gepuzt, in der Meinung, der-
weil ein friſches Trumm in meinem Kopf zu finden,
denn euer einerlei Geſchwätz da von Meiſtern, Kun-
den, Herrſchaften iſt mir ganz und gar zum Ekel;
ich weiß von dieſem Quark lange nichts mehr und
will vor der Hand auch nichts davon hören. Die
Lichtputze noch einmal! und jezt was Neues, ihr Herrn!
Mir ſchnurrt eine Grille im Oberhaus. Es wäre
nicht übel, der Menſch hätte für ſeinen Kopf, wenn
der Docht zu lang wird, auch ſo eine Gattung In-
ſtrumente oder Vorrichtung am Ohr, um ſich wieder
einen friſchen Gedankenanſatz zu geben. Zwar hat man
mir ſchon in der Schule verſichert, daß ſeit Erfindung
der Ohrfeigen in dieſem Punkte nichts mehr zu wün-
ſchen übrig ſey; das mag vielleicht für junge Köpfe
[485] gelten, aber ich bin bald Vierzig; nur in dieſem köſt-
lichen Oel, ich meine dieſen goldnen Trank aus Malz
und Hopfen, find’ ich ein kleines Surrogat für“ —


„Spaß bei Seit’!“ rief Perſe ihn unterbrechend,
„ich kann mir überhaupt nicht denken, Lörmer, wie
dir’s nur eine Stunde wohl ſeyn mag bei dem un-
nützen Leben, das du in den zwei Monaten führſt,
ſeit du Hamburg verlaſſen haſt. Bei Gott, ich wollt’
dich ſchon mehrmals auf dieß Kapitel bringen und dir
zureden, denn mich dauert’s in der Seele, wenn ſie
davon erzählen, wie du ein geſchickter Arbeiter gewe-
ſen, wie du Grütz und Gaben hätteſt, dich den erſten
Meiſtern in deinem Fache gleichzuſtellen und dein Glück
zu machen auf Zeitlebens — und nun! ſich hier auf
die faule Haut legen, höchſtens um Taglohn für Hun-
gerſterben da und dort ein Stück Arbeit annehmen in
einer fremden Werkſtatt und dich ſchlecht bezahlen laſſen
für gute Waare, wie ſie dem Geübteſten nicht aus
der Hand geht! Heißt das aber nicht geſündigt an
dir ſelber? iſt das nicht himmelſchreiend?“


Der Angeredete ſchaute verwundert auf über dieſe
unerwartete Lektion und lauerte einigermaßen beſchämt
nach Joſeph hinüber, als wollte er deſſen Gedanken
belauſchen: aber dieſer traf ihn mit einem finſtern,
bedeutungsvollen Blick, wobei ſich die Uebrigen aller-
lei zu denken ſchienen.


„Was?“ nahm Perſe wieder das Wort, „will
dem Kerl Niemand die Wahrheit ſagen? hat Keiner
[486] das Herz, ihm den Leviten zu leſen, wie’s recht iſt?
Redet doch auch ihr Andern!“


„Redet nicht ihr Andern!“ entgegnete ernſthaft
der Büchſenmacher; „das iſt, hol’ mich der Teufel,
kein Text für dieſen Abend und für die Schenke, wo
man Fried haben will. Ich ſag’ euch, und das iſt
mein letzt Wort in der Sache: gar gut weiß ich, woran
ich bin mit mir ſelber, und ſo viel iſt auch gewiß,
wenn ich will hat dieß tolle Leben ein End’ über
Nacht. Der Lörmer wird ſich vom Kopf bis zum
Fuß das alte Fell abziehen mit Einemmal, wie man
einen Handſchuh abreißt. Ihr ſollt ſehen. Laßt mich
aber indeß mit eurer Predigt in Ruh’, ſie richtet in
zwei Jahren nicht aus, was der ungefähre Windſtoß
eines friſchen Augenblicks bei mir aufjagt. — Muß
aber heut’ ja von Lumperei die Rede ſeyn, ſo will ich
euch und — hiemit nahm der Sprecher plötzlich ſeine
wohlbehagliche, muntere Haltung wieder an — will ich
euch ein Räthſel vorlegen in Betreff eines Lumpen,
der ſich auf unbegreifliche Weiſe innerhalb vier und
zwanzig Stunden zum flotten Mann pouſſirt hat, und
zwar iſt es einer aus unſerer Geſellſchaft.“ „Wie?
Was?“ riefen Einige. „Ohne Zweifel;“ erwiderte der
Büchſenmacher; „er befindet ſich zwar gegenwärtig
nicht unter uns und ſchon mehrere Tage nicht, aber
er rechnet ſich zur Compagnie, er verſprach heute zu
kommen, und es wäre unbarmherzig, wenn ihr ihn
nicht wenigſtens als Anhängſel, als ein Schwänzchen
[487] von mir wolltet mitzählen laſſen.“ „Ah!“ rief man
lachend, „die Figur! die Figur! er meint die Figur!“


„Allerdings,“ fuhr der Andere fort, „ich meine
das ſpindeldünne bleichſüchtige Weſen, das mir von
Hamburg an, ungebetenerweiſe und ohne vorausge-
gangene genauere Bekanntſchaft hieher folgte, um, wie
er ſagte, in meinen Armen den Tod ſeines unvergeß-
lichen Freundes und Bruders, des Buchdruckers Mur-
ſchel
, zu beweinen. Nun wißt ihr, ich bewohne ſeit
einiger Zeit mit dieſem zärtlichen Barbier, Sigismund
Wispeln
, Eine Stube, er ißt mit mir und ich theile
aus chriſtlicher Milde Alles mit ihm, bis auf das
Bett, das ich mir aus billigen Gründen allein vor-
behalten. Man hat aber keinen Begriff, was ich für
ein Leiden mit dieſer Geſellſchaft habe. Schon ſein
bloßer Anblick kann einen alteriren. Eine Menge
kurioſer Angewohnheiten, eine unermüdliche Sorgfalt,
ſeine Milbenhaut zu reiben und zu hätſcheln, ſeine
röthlichen Haare mit allerlei gemeinem Fette zu be-
träufeln, ſeine Nägel bis auf’s Blut zu ſchneiden und
zu ſchaben — ich bekomme Gichter beim bloßen Ge-
danken! und wenn er nun die Lippen ſo ſüß zuſpizt
und mit den Augen blinzt, weil er, wie er zu ſagen
pflegt, an der Wimper kränkelt, oder wenn er ſich mit
den tauſend Liebkoſungen und Geſten an mich anſchmiegt,
da dreht ſich der Magen in mir um und ich hab’ ihn
wegen dieſer Freundſchaftsbezeugungen mehr als Ein-
mal wie einen Flederwiſch an die Wand fliegen laſſen.
[488] Nun ging ich neulich damit um, mir das Geſchöpf
mit guter Art vom Hals zu ſchaffen. Vielleicht iſt
euch nicht unbekannt, daß der Kerl an Händ’ und
Füßen, beſonders aber zwiſchen den Zehen, wirkliche
Schwimmhäute hat, auch lebe ich der feſten Ueberzeu-
gung, man würde aus ſeinen Gliedmaßen lauter ſchmale
Stäbe von Fiſchbein, ſtatt der Knochen, ziehen und
überhaupt die wunderbarſten Dinge bei ihm entdecken.
Mein Rath war alſo, ſich zuvörderſt von einem Pro-
feſſor beſichtigen und dann dem Fürſten empfehlen zu
laſſen, vor allen Dingen aber ſich aus meinem Logis
zu verlegen. Dieſer mein Vorſchlag kam freilich etwas
unerwartet, und ich mußte ihm ſchon noch einige Tage
Zeit gönnen, um ſich zu faſſen. Geſtern Morgen aber
ſtand er ungewöhnlich früh vom Bette auf; ich lag
noch halbſchlafend mit geſchloſſenen Augen, mußte aber
im Geiſt jede Gebärde verfolgen, die der Widerwart
während des Ankleidens machte, jede Miene, nein, ich
ſage paſſender, jeden Geſichtsſchnörkel, der ſich während
des Waſchens zwanzig und dreißigfältig bei ihm for-
mirte. Jezt griff er nach ſeinem ordinären Frühſtück,
einem vollen Glas mit kaltem Brunnenwaſſer, jezt
hört’ ich ihn ſeine beinernen Finger auf den Tiſch
ſetzen und knackend abdrucken, daß die Wände gellten,
das gewöhnliche Manöver, wodurch er mich zum Er-
wachen, zum Geſpräch zu bringen ſucht, und: „Guten
Morgen, Bruder! wie ſchlief ſich’s?“ lispelt er, aber
ich rühre mich nicht. Er wiederholt den Gruß noch
[489] einige Mal, ohne Erfolg; endlich fühle ich meine Naſe
zärtlich von zwei eiskalten Fingerſpitzen gehalten, ich
fahre auf und der Freund hat eben noch Zeit, ſich
meinem Zorn durch eine ſchnelle Ausbeugung zu ent-
ziehen. Allein wie groß war mein Erſtaunen, als ich
den Hundsfott im neuen ſchwarzen Frak, mit neumo-
diſch hoher Halsbinde und ſüperbem Hemdſtrich in der
Ecke ſtehen ſah. Die mir wohlbekannte verblichene
Hoſe aus Nanking und die abgenuzten Schuhe zeugten
zwar noch von geſtern und ehegeſtern, aber die übrige
Pracht, woher kam ſie an ſolchen Schuft? Geſtohlen
oder entlehnt waren wenigſtens die Kleider nicht, denn
bald fand ich die quittirten Rechnungen von Tuch-
händler und Schneider mit Stecknadeln wie Schmet-
terlinge an das bekannte armſelige Hütchen geſteckt,
das naſeweis von dem hohen Bettſtollen auf ſeinen
veränderten Herrn blickte. Vergebens waren alle meine
Fragen über dieſe glücklich begonnene Beſſerung der
Umſtände meines Tropfen; ich erhielt nur ein geheim-
nißvolles Lächeln und noch heute iſt mir das Räthſel
nicht gelöst. Der Schuft muß auch baare Münze
haben; er ſprach mir von Schadloshaltung, von einem
Koſtgeld und dergleichen. Uebrigens ſpeiſ’t er, wie
ich höre, jezt regelmäßig im goldenen Schwan. Nun!
ſagt mir, iſt einer unter euch, der mir beweiſ’t, es
gehe ſo was mit natürlichen, oder doch ehrlichen Din-
gen zu? Sagt, muß man den Menſchen nicht in ein
freundſchaftliches Verhör nehmen, ehe die Obrigkeit
Verdacht ſchöpft und unſern Bruder einſteckt?“


[490]

Man ſprach, man rieth, man lachte herüber und
hinüber. Endlich nahm der Stelzfuß das Wort wie-
der, indem er ſagte: „Weil wir ohnedem jezt an dem
Kapitel von den Mirakeln ſind, ſo ſollt ihr noch eine
kleine Geſchichte hören. Sie hat ſich erſt heute zuge-
tragen, ſteht aber hoffentlich in keinem Zuſammenhang
mit der vorigen. Dieſen Morgen kommt ein Jude zu
mir, hat einen Sack unterm Arm und fragt, ob ich
nichts zu ſchachern hätte, er habe da einen guten Rock
zu verhandeln. Der Kerl muß die ſchwache Seite an
dem meinigen entdeckt haben; das verdroß mich und
ich war dem Spitzbuben ohnedieß ſpinnefeind. Während
ich alſo im Stillen überlege, auf was Art ich den Sün-
der am zweckmäßigſten die Treppe hinunterwerfe, fällt
mir zufällig meine Taſchenuhr in’s Aug’. Nun weiß
ich nicht, war es ein weichherziger Gedanke an meinen
ſeligen Vater, von welchem mir das Erbſtück kam, oder
was war es, daß ich plötzlich in mitleidige Geſinnungen
überging. Ich dachte, ein Jud iſt doch gleichſam auch
eine Kreatur Gottes und dergleichen; kurz, ich nahm
die Uhr höchſt gerührt vom Nagel an meinem Bette,
beſah ſie noch einmal und fragte: was ſie gelten ſoll?
Der Schurke ſchlug ſie nun für ein wahres Spottgeld
an und ich gab ihm einen Backenſtreich, den ſchlug er
aber gar nicht an, und endlich wurden wir doch Han-
dels einig.“


Alles lachte über dieſe ſonderbare Erzählung, nur
dem Joſeph ſchien ſie im Stillen weh gethan zu haben.


[491]

„Wartet doch,“ fuhr der Stelzfuß fort, „das Beſte
kommt noch. Ich ging mit meinen zwei Thalern, die
ich ungeſehn, wie Sündengeld in die Taſche ſteckte, aus
dem Haus, ohne recht zu wiſſen wohin. So viel iſt
ſicher, ich langte endlich vor dem beſten Weinhaus an
und nahm dort ein mäßiges Frühſtück zu mir. Da mir
aber, wie geſagt, ein Jude meinen Zeitweiſer geſtohlen,
ſo wußt’ ich ſchlechterdings nicht, woran ich eigentlich
mit dem Tag ſey; kurz, es wurde Abend, eh mir der
Kellner die lezte Flaſche brachte. Ich gehe endlich
heim, ich komme auf meiner Kammer an und ſpaziere
in der Dämmerung auf und ab; zuweilen blinzl’ ich
nach dem leeren Nagel hinüber und pfeife dazu, wie
Einer, der kein gut Gewiſſen hat. Auf Einmal iſt mir,
es laſſe ſich etwas hören wie das Picken eines ſolchen
Dings, dergleichen ich heute eins verlor; ganz erſchrocken
ſpitz’ ich die Ohren. Das thut wohl der Holzwurm
in meinem Stelzfuß, denk’ ich, und ſtoße den Stelzen
gegen die Wand, wie immer geſchieht, wenn mir’s die
Beſtie drin zu arg macht. Aber Pinke Pink, Pinke
Pink, immerfort und zwar nur etliche Schritt von mir
weg. Bei meiner armen Seele, ich dacht’ einen Augen-
blick an den Geiſt meines guten Vaters. Indeſſen
kommt mir ein Päckel unter die Hand, ich reiß’ es auf
und, daß ich’s kurz mache, da lag meine alte Genferin
drin! Weiß nicht, wie mir dabei zu Muth wurde; ich
war ein veritabler Narr für Freuden, ſprach franzöſiſch
und kalmukiſch unter einander mit meiner Genferin,
[492] mir war, als hätten wir uns zehn Jahre nicht geſehn.
Jezt fiel mir ein Zettel in die Finger, der — nun, das
gehört nicht zur Sache. Schaut, hier iſt das gute Thier!“
und hiemit legte er die Uhr auf den Tiſch.


„Aber der Zettel?“ fragte Einer, „was ſtand dar-
auf? wer ſchickte das Paquet?“ — Der Büchſenmacher
griff ſtillſchweigend nach dem vollen Glas, drückte nach
einem guten Schluck martialiſch die Lippen zuſammen
und ſagte kopfſchüttelnd: „Weiß nicht, will’s auch nicht
wiſſen.“ „Aber dein iſt die Uhr wieder?“ „Und bleibt
mein,“ war die Antwort, „bis in’s Grab, das ſchwör’
ich euch.“


Während dieſer Erzählung hatte Perſe etliche
Mal einen pfiffigen Blick gegen den Tiſchler hinüber-
laufen laſſen, und er und Alle merkten wohl, daß Jo-
ſeph
der unbekannte Wohlthäter geweſen war.


Jezt hob der Büchſenmacher ſachte ſeinen hölzernen
Fuß in die Höhe und legte ihn mitten auf den Tiſch.
Dabei ſagte er mit angenommenem Ernſt: „Seht, meine
Herren, da drinne hauſ’t ein Wurm; es iſt meine Tod-
tenuhr; hat der Burſche das Holz durchgefreſſen und
das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel
über den Stadtgraben zu einem Schoppen Rothen ſpa-
ziere, ſo ſchlägt mein leztes Stündlein. Das iſt nun
nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig
an meinen Stelzen, d. h. an den Tod, wie einem guten
Chriſten ziemt. Er iſt mein Memento mori, wie der
Lateiner zu ſagen pflegt. So werden einſt die Würmer
[493] auch an euren fleiſchernen Stötzchen ſich erluſtigen.
Proſit Mahlzeit, und euch ein ſelig Ende! Aber wir
gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Ka-
puzinerkeller zu thun und bei’m Heimweg über man-
chen Stein wegzuſtolpern,


bis das Stelzlein bricht, juhe!

bricht, juhe!

bis das Stelzlein bricht!

So ſang der Büchſenmacher mit einer Anwand-
lung von Rohheit, die ihm ſonſt nicht eigen war,
und von einer deſperaten Luſtigkeit begeiſtert, womit
er ſich ſelbſt, noch mehr aber dem Joſeph wehe
that. — Auf Einmal ſchlug Lörmer den Fuß drei-
mal ſo heftig auf das Tiſchblatt, daß alle Gläſer zu-
ſammenfuhren, und zugleich entſtand ein helles Ge-
lächter, denn in dieſem Augenblick öffnete ſich die
Thür, und eine Figur trat ein, in welcher der ele-
gante Barbier Wispel keineswegs zu verkennen war.


Er ſchwebte einige Mal vornehm hüſtelnd in der
vordern Stube auf und ab, ſtrich ſich den Titus vor
dem Spiegel und ſchielte im Vorübergehen nach un-
ſerer Geſellſchaft.


„O Spahn der Menſchheit!“ brummte Joſeph
leiſe in den Bart, denn Lörmer hatte den Andern
gleich Anfangs ein Zeichen gegeben, man müſſe thun,
als bemerkte man Sigismund gar nicht. Dieſer
ließ ſich indeſſen mit vieler Grazie an Konrads
Tiſch nieder, wo er die Freunde auf vier Schritte im
[494] Aug’ hatte. Er nippte zimpferlich aus einem Kelche
Schnaps, warf wichtige Blicke umher, klimperte mit
dem Meſſer auf dem Teller und ſuchte ſich auf alle
Art bemerklich zu machen.


„Habt ihr,“ fing der Büchſenmacher gegen die
Andern gewendet an, „ei, habt ihr von dem Joko, dem
braſilianiſchen Affen, auch ſchon gehört, von dem wirk-
lich in allen Zeitungen ſteht?


„Ja,“ erwiderte Joſeph, „aber er ſoll ſich flüch-
tig gemacht haben; man vermuthet, daß er einer Thea-
tergarderobe Ein und Anderes entwendet, ſich Ge-
ſicht und Hände raſirt und ſo, gänzlich unkennbar, be-
ſchloſſen habe, ſich die Welt ein wenig zu muſtern.“


Dieſe Rede gab Wispeln Gelegenheit, über das
bekannte Ballet ein kunſtverſtändiges Geſpräch mit
ſeinem nächſten Nachbar, dem Kutſcher unſerer drei
Reiſenden, anzubinden. Konrad, die hochtrabenden
Floskeln des Windbeutels keineswegs zu erwidern
im Stande, nahm ſeinen ganzen Witz zuſammen, ihn
ſeinerſeits zum Beſten zu haben, woran denn die
Geſellſchaft ihren köſtlichen Spaß hatte. Je länger
aber der Kutſcher ſich ſeinen Mann betrachtet, deſto
mehr kommt ihm vor, als hätte er den Menſchen
ſchon irgendwo geſehen, ja zulezt geht ihm wirklich
ein Licht auf: zu Neuburg ſelbſt war es geweſen, wo
Nolten vor drei Jahren dieſen Wicht als dienendes
Subjekt bei ſich gehabt. Kaum hat ihm Konrad
ſeinen Gedanken zugeraunt und etwas von der An-
[495] weſenheit ſeines chmaligen Herrn fallen laſſen, ſo
ſpringt Wispel wie beſeſſen auf, nimmt Hut und
Stock, und fliegt, über Stühle und Bänke wegſetzend,
davon, indem der Kutſcher ihm eben ſo flugfertig auf
dem Fuße nachfolgt, eh’ die verblüffte Geſellſchaft nur
fragen kann, was der tolle Auftritt bedeute.


Eben kommt Konrad noch zu der erſtaunlichen
Scene, wo Wispel ſich dem Maler zu erkennen ge-
geben hat. Dieſer ſaß eben mit den beiden Mädchen
auf ſeinem Zimmer beim Nachteſſen und Jedes ergözte
ſich nun von ganzem Herzen an dieſer lächerlichen Er-
ſcheinung. „Aber,“ fängt der Barbier nach einer Weile
mit geheimnißvoller Precioſität zu liſpeln an, „wenn
mich nicht Alles trügt, ſo war Ihnen, mein Werthe-
ſter, bis jezt noch völlig unbewußt, welche ſeltene
Connaiſſancen Sie in hieſiger Stadt zu erneuern Ge-
legenheit finden würden.“


„Wirklich?“ antwortete der Maler; „es fiel mir
nicht im Traume ein, daß mir dein edles Angeſicht
hier wieder begegnen ſollte, aber Berg und Thal kom-
men zuſammen und das nächſte Mal ſeh ich dich, ſo
Gott will, am Galgen.“


Aye! je vous rends mille graces! Sie ſcher-
zen, mein Beſter. Doch ich ſprach ſo eben nicht ſo-
wohl von meiner Wenigkeit, als vielmehr von einer
gewiſſen Perſon, die früher ſehr an Sie attachirt, ge-
genwärtig in unſern Mauern habitirt, freilich unter
ſo prekären Umſtänden, daß ich zweifle, ob ein Mann
[496] wie Sie, es anſtändig findet, ſich einer ſolchen liaison
auch nur zu erinnern. Auch muß ich geſtehn, das
Individuum, wovon ich eben rede, machte es mir ge-
wiſſermaßen zur Pflicht, ſein Inkognito unter allen
Umſtänden“ —


„Ei ſo packe dich doch zum Henker, du heilloſer,
unerträglicher Schwätzer!“


„Aha, da haben wirs ja! Sie merken, aus wel-
cher Hecke der Vogel pfeift, und mögen nichts davon
hören. O amitié, oh fille d’Avril — ſo heißt ein altes
Lied. Waren Sie Beide doch einſt wie Caſtor und
Pollux! Aber — loin des yeux, loin du coeur!


Jezt wird Nolten plötzlich aufmerkſam, eine ſchnelle
Ahnung ſchauert in ihm auf, er ſchüttelt den Bar-
bier wie außer ſich an der Bruſt, und nach hundert
unausſtehlichen Umſchweifen flüſtert der Menſch end-
lich Theobalden einen Namen in’s Ohr, worauf
dieſer ſich entfärbt und mit Heftigkeit ausruft: Iſt
das möglich? Lügſt du mir nicht, Elender? Wo —
wo iſt er? Kann ich ihn ſehen, kann ich ihn ſpre-
chen? jezt? um Gotteswillen, jezt im Augenblick?


Quelle émotion Monsieur! krächzt Wispel,
tout-beau! Ecoutez moi!“ Jezt nimmt er eine ſeriöſe
Stellung an, räuſpert ſich ganz zart und ſagt: „Ken-
nen Sie vielleicht, mein Wertheſter, den ſogenannten
Kapuzinerkeller? le caveau des capucins, ein Ge-
bäude, das ſeines klöſterlichen Urſprungs wegen in
[497] der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich
bereits zu Anfange des neunten Siècle“ —


„Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“
ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort-
reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift
nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge-
bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie
von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt
mit Wispeln die Treppe hinunter.


Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und
treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter-
deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl
und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie-
mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel
unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi-
ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den
wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten.
Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des
Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine
Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang
der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum
Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja!
es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher
unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen
bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die
Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent-
ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt,
als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer
32
[498] Sekunde durch den Raum der toſenden Hölle getra-
gen, die Geſtalt des theuerſten Freunds erblickt hätte,
mitten im Kreis der Verworfenen ſitzend. Noch
ſchwankt das fürchterliche Bild vor ſeiner Seele, und
ſinkt und ſinkt, und will doch nicht verſinken, — da
klopft ihn wieder Jemand auf den Arm und Wispel
flüſtert ihm haſtig die Worte zu: „Sacre-bleu, mein
Herr, er muß Sie geſehen haben, ſo eben ſteht er
blaß wie die Wand von ſeinem Sitz auf, und wie ich
meine, er will auf Sie zugehen, reißt er die Seiten-
thür auf und — weg iſt er, als hätt’ ihn der Leib-
haftige gejagt. Kommen Sie plötzlich ihm nach —
er kann nicht weit ſeyn, ich weiß ſeine Gänge, faſſen
Sie ſich!“


Nolten, wie taub, ſtarrt nach dem leeren Stuhle
hin, indeſſen Wispel immer ſchwazt und lacht und
treibt. Jezt eilt der Maler in ein Kabinet, läßt ſich
Papier und Schreibzeug bringen, wirft drei Linien
auf ein Blatt, das Wispel um jeden Preis dem
Schauſpieler zuſtellen ſoll. Wie ein Pfeil ſchießt der
Barbier davon. Nolten kehrt in ſein Quartier zu-
rück, wo er die Frauenzimmer aus der ſchrecklichſten
Ungewißheit erlös’t und ihnen, freilich verwirrt und
abgebrochen genug, die Hauptſache erklärt.


Es dauert eine Stunde, bis der Abgeſandte end-
lich kommt, und was das Schlimmſte war, ganz un-
verrichteter Dinge. Er habe, ſagte er, den Flücht-
ling aller Orten geſucht, wo nur irgend eine Mög-
[499] lichkeit gedenkbar geweſen; in ſeiner Wohnung wiſſe
man nichts von ihm, doch wäre zu vermuthen, daß
er ſich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn
haben in das Haus gehen ſehn.


Da es ſchon ſehr ſpät war, mußte man für
heute jeden weitern Verſuch aufgeben. Man verab-
redete das Nöthige für den folgenden Tag und die
auf morgen früh feſtgeſezte Abreiſe ward verſchoben.
Unſere Reiſenden begaben ſich zur Ruhe; alle ver-
brachten eine ſchlafloſe Nacht.


Des andern Morgens, die Sonne war eben herr-
lich aufgegangen, erhob ſich unſer Freund in aller
Stille und ſuchte ſein erhiztes Blut im Freien abzu-
kühlen. Erſt durchſtrich er einige Straßen der noch
wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuſer, die
Plätze, das Pflaſter, jeden unbedeutenden Gegenſtand
mit ſtiller Aufmerkſamkeit betrachten mußte, weil ſich
Alles mit dem Bilde ſeines Freundes in eine weh-
müthige Verbindung zu ſetzen ſchien. So oft er wie-
der um eine Ecke beugte, ſollte ihm, wie er meinte,
der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da
war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwal-
ben zwitſcherten und ſchwirrten fröhlich durch den
Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin,
dieſe glücklichen Geſchöpfe zu beneiden. Wie hätte
er ſo gerne die Erſcheinung von geſtern als einen
[500] ſchwülen, wüſten Traum auf einmal vor dem Gehirn
wegſtäuben mögen! In einer der hohen Straßenla-
ternen brannte das nächtliche Lämpchen, ſeine gemeſ-
ſene Zeit überlebend, mit ſonderbarem Zwitterlichte
noch in den hellen Tag hinein: ſo und nicht anders
ſpuckte in Theobalds Erinnerung ein düſterer Reſt
jener ſchrecklichen Nachtſcene, die ihm mit jedem Au-
genblick unglaublicher vorkam.


Ungeduld und Furcht trieben ihn endlich zu ſeinem
Gaſthof zurück. Wie rührend kam ihm Agnes ſchon
auf der Schwelle mit ſchüchternem Gruß und Kuß
entgegen! wie leiſe forſchte ſie an ihm, nach ſeiner
Hoffnung, ſeiner Sorge, die zu zerſtreuen ſie nicht
wagen durfte! So verging eine bange, leere Stunde,
es vergingen zwei und drei, ohne daß ein Menſch
erſchien, der auch nur eine Nachricht überbracht hätte.
So oft Jemand die Treppe herankam, ſchlug Nolten
das Herz bis an die Kehle; unbegreiflich war es,
daß ſelbſt Wispel nichts von ſich ſehen ließ; die Un-
ruhe, worin die drei Reiſenden einſilbig, unthätig,
verdrießlich um einander ſtanden, ſaßen und gingen,
wäre nicht zu beſchreiben.


Nannette hatte ſo eben ein Buch ergriffen und
ſich erboten, etwas vorzuleſen, als man plötzlich durch
einen immer näher kommenden Tumult auf dem Gange
zuſammengeſchreckt von den Stühlen auffuhr, zu ſehen
was es gibt. Der Barbier, außer Athem mit krei-
ſchender Stimme, ſtürzt in das Zimmer und während
[501] er vergeblich nach Worten ſucht, um etwas Entſetzli-
ches anzukündigen, iſt der Ausdruck von unverſtelltem
Schmerz und Abſcheu auf dem verzerrten Geſichte
dieſes Menſchen wahrhaft ſchauerlich für alle An-
weſenden.


„Wiſſen Sie’s denn noch nicht?“ ſtottert er —
„heiliger barmherziger Gott! es iſt zu gräßlich —
der Joſeph da — der Larkens, werden Sie’s glau-
ben — er hat ſich einen Tod angethan — heute
Nacht — wer hätte das auch denken können — Gift!
Gift hat er genommen — Gehn Sie, mein Herr,
gehn Sie nur und ſehen mit eignen Augen, wenn
Sie noch zweifeln! Die Polizei und die Doktoren
und was weiß ich? ſind ſchon dort, es iſt ein Zuſam-
menrennen vor dem Haus und ein Geſchrei, daß mir
ganz übel ward. Bald hätt’ ich Sie vergeſſen über
dem Schreck, da lief ich denn, ſo viel die Füße ver-
mochten, und“ —


Nolten war ſtumm auf den Seſſel niederge-
ſunken. Agnes ſchloß ſich tröſtend an ihn, während
Nannette die eingetretene Todten-Stille mit der Frage
unterbrach: ob denn keine Rettung möglich ſey?


„Ach nein, Mademoiſelle!“ iſt die ſtockende Ant-
wort, „die Aerzte ſagen, zum wenigſten ſey er ſeit
vier Stunden verſchieden. Ich kann’s nicht Alles
wiederholen, was ſie ſchwazten. — O liebſter, beſter
Herr, vergeben Sie, was ich geſtern in der Thorheit
ſprach. Sie waren ſein Freund, Ihnen geht ſein
[502] Schickſal ſo ſehr zu Herzen, ſo entreißen Sie ihn den
Blicken, den Händen der Doktoren, eh dieſe ſeinen
armen Leib verletzen! Ich bin ein elender, nichtswür-
diger, hündiſcher Schuft, hab’ Ihren Freund oft ſchänd-
lich mißbraucht und verdiene nicht, hier vor Ihnen
zu ſtehen, aber möge Gott mich ewig verdammen,
wenn ich jezt fühllos bin, wenn ich nicht hundertfach
den Tod ausſtehen könnte für dieſen Mann, der ſei-
nesgleichen auf der Welt nimmer hat. Und nun ſoll
man ihn traktiren dürfen wie einen gemeinen Sün-
der! Hätten Sie gehört, was für unchriſtliche Reden
der Medikus führte, der S. —, ich hätt’ ihn zerreiſ-
ſen mögen, als er mit dem Finger auf das Gläschen
hinwies, worin das Operment geweſen, und er mit
lachender Miene zu einem Andern ſagte: der Narr
wollte recht ſicher gehen, daß ihn ja der Teufel nicht
auf halbem Weg wieder zurückſchicke; ich wette, die
Phiole da war voll, aber ſolche Lümmel rechnen Alles
nach der Maßkanne! — nicht wahr Herr Hofrath,
wer par force todt ſeyn will, kann doch wohl weder
im comparativo noch ſuperlativo todt ſeyn wollen?
Und dabei nahm der dicke, hochweiſe Perrückenkopf
eine Priſe aus ſeiner goldenen Tabatiere, ſo kaltblü-
tig, ſo vornehm, daß ich — ja glauben Sie, das hat
Wispeln weh gethan, weher als Alles — Wispel
hat auch Gefühl, daß Sie’s nur wiſſen, ich habe auch
noch ein Herz!“ Hier weinte der Barbier wirklich wie
ein Kind. Aber da er nun mit geläufiger Zunge fort-
[503] fahren wollte, das Ausſehen des Todten zu beſchrei-
ben, wehrte der Maler heftig mit der Hand, ſchlang
die Arme wüthend um den Leib Agneſens und
ſchluchzte laut. „O Allmächtiger!“ rief er vom Stuhle
aufſtehend und mit gerungenen Händen durchs Zim-
mer ſtürmend, „alſo dazu mußt’ ich hieher kommen!
Mein armer, armer, theurer Freund! Ich, ja ich
habe ſeinen fürchterlichen Entſchluß befördert, mein
Erſcheinen war ihm das Zeichen zum tödtlichen Auf-
bruch! Aber welch unglückſeliger Wahn gab ihm ein,
daß er vor mir fliehen müſſe? und ſo auf Ewig, ſo
ohne ein liebevolles Wort des Abſchieds, der Verſöh-
nung! Sah ich denn darnach aus, als ob ich käme,
ihn zur Verzweiflung zu bringen? Und wenn auf mei-
ner Stirn die Jammerfrage ſtand, warum mein Lar-
kens
doch ſo tief gefallen ſey, gerechter Gott! war’s
nicht natürlich? konnt’ ich mit lachendem Geſicht, mit
offnen Armen, als wäre nichts geſchehen, ihn begrü-
ßen? konnt’ ich gefaßt ſeyn auf ein ſolches Wieder-
ſehen? Und doch, war ich es denn nicht längſt ge-
wohnt, das Unerhörte für bekannt anzunehmen, wenn
Er es that? das Unerlaubte zu entſchuldigen, wenn
es von Ihm ausging? Es hat mich überraſcht, auf
Augenblicke ſtieg ein arger Zweifel in mir auf, und
in der nächſten Minute ſtraft’ ich mich ſelber Lügen:
gewiß, mein Larkens iſt ſich ſelber treu und gleich
geblieben, ſein großes Herz, der tiefverborgne edle
Demant ſeines Weſens blieb unberührt vom Schlamme,
worein der Arme ſich verlor!“


[504]

Schon zu Anfang dieſer heftigen Selbſtanklage hatte
ſich ſachte die Thüre geöffnet, kleinmüthig und mit
ſtummem Gruße, einen geſiegelten Brief in der Hand,
war der Büchſenmacher eingetreten, ohne daß der
Maler ihn wahrgenommen hätte. Starr vor ſich hin-
ſchauend ſtand der Stelzfuß an der Seite des Ofens
und Jederman fiel es auf, wie er bei den lezten
Worten Theobalds zuweilen die buſchigen Augbrau-
nen finſter bewegte und zornglühende Funken nach
dem Manne hinüberſchickte, der mitten im Jammer
beinahe ehrenrührig von dem Verſtorbenen und deſ-
ſen gewohnter Umgebung zu ſprechen ſchien.


Kaum hatte Nolten geendigt, ſo trat der Büch-
ſenmacher gelaſſen hervor mit den Worten: „Lieber
Herr[,] es iſt für uns Beide recht gut, daß Sie gerade
ſelber aufhören, denn ich ſtand auf heißen Kohlen im
Winkel dort, weil’s faſt ausſehen konnte, als wollt’
ich horchen; das iſt aber meine Sache nicht, ſonder-
lich wenn es mein eigenes oder meiner Kameraden
Lob oder Schande gilt, und davon war juſt eben die
Rede. Ihre Worte in Ehren, Herr, Sie müſſen ein
genauer Freund von meinem wackern Joſeph gewe-
ſen ſeyn, alſo ſey’s Ihnen zu gut gehalten. Werden
ſpäterhin wohl ſelbſten inne werden, daß Sie dato
nicht ſo ganz recht berichtet ſind, was für eine Be-
wandtniß es mit dem Joſeph und ſeiner Genoſſen-
ſchaft habe. Ich ſollte meinen, er hatte ſich ſeiner
Leute nicht eben zu ſchämen. Nun, das mag ruhen
[505] vor der Hand; zuvörderſt iſt es meine Pflicht und
Schuldigkeit, daß ich Ihnen gegenwärtiges Schreiben
übermache, denn es wird wohl für Sie gehören; man
fand es, wie es iſt, auf dem Tiſch in Joſephs
Stube liegen.


Begierig nahm Theobald den dargebotenen
Brief und eilte damit in ein anderes Zimmer. Als
er nach einer ziemlichen Weile wieder zurückkam, konnte
man auf ſeinem Geſicht eine gewiſſe feierliche Ruhe
bemerken, er ſprach gelaſſener, gefaßter, und wußte
namentlich den gekränkten Handwerker bald wieder zu
beruhigen. Uebrigens entließ er für jezt die beiden
Kameraden, um mit Agneſen und der Schweſter
allein zu ſeyn und ihnen das Weſentlichſte vom Zu-
ſammenhang der Sache zu eröffnen. Oft unterbrach
ihn der Schmerz, er ſtockte, und ſeine Blicke wühlten
verworren am Boden.


Von dem Inhalt jenes hinterlaſſenen Schreibens
wiſſen wir nur das Allgemeinſte, da Nolten ſelbſt
ein Geheimniß daraus machte. So viel wir darüber
erfahren konnten, war es eine kurze, nüchterne, ja
für das Gefühl der Hinterbliebenen gewiſſermaßen
verſöhnende Rechtfertigung der ſchauderhaften That,
welche ſeit längerer Zeit im Stillen vorbereitet gewe-
ſen ſeyn mußte, und deren Ausführung allerdings
durch Noltens Erſcheinen beſchleunigt worden war,
wiewohl in einem Sinne, der für Nolten ſelbſt kei-
nen Vorwurf enthielt. Auch wäre die Meinung irrig,
[506] daß nur das Beſchämende der Ueberraſchung den
Schauſpieler blindlings zu einem übereilten Entſchluß
hingeriſſen habe, denn wirklich hat ſich nachher zur
Genüge gezeigt, wie wenig ihm ſeine neuerliche Le-
bensweiſe, ſo ſeltſam ſie auch gewählt ſeyn mochte,
zu eigentlicher Unehre gereichen konnte. Begreiflich
aber wird man es finden, wenn bei der Begegnung
des geliebteſten Freundes der Gedanke an eine zerriſ-
ſene Vergangenheit mit überwältigender Schwere auf
das Gemüth des Unglücklichen hereinſtürzte, wenn er
ſich Ein für alle Mal von demjenigen abwenden wollte,
mit dem er in keinem Betracht mehr gleichen Schritt
zu halten hoffen durfte, und aus deſſen reiner Glücks-
nähe ihn der Fluch ſeines eigenen Schickſals für im-
mer zu verbannen ſchien.


(Einige Jahre nachher hörten wir von Bekann-
ten des Malers die Behauptung geltend machen, daß
den Schauſpieler eine geheime Leidenſchaft für die
Braut ſeines Freundes zu dem verzweifelten Ent-
ſchluſſe gebracht habe. Wir wären weit entfernt, dieſe
Sage, wozu eine Aeußerung Noltens ſelbſt Veran-
laſſung gegeben haben ſoll, ſchlechthin zu verwerfen,
wenn wirklich zu erweiſen wäre, daß Larkens, wie
allerdings vorgegeben wird, kurz nachdem er ſeine Lauf-
bahn geändert, Agneſen bei einer öffentlichen Gele-
genheit, und unerkannt von ihr, zu Neuburg geſehen
habe. — Getraut man ſich alſo nicht, hierin eine
ſichere Entſcheidung zu geben, ſo müſſen wir das
[507] harte Urtheil derjenigen, welche dem Unglücklichen
ſelbſt im Tode noch eine eitle Bizarrerie Schuld ge-
ben möchten, deſto entſchiedener abweiſen.)


„O wenn du wüßteſt,“ rief Theobald Agneſen
zu, „was dieſer Mann mir geweſen, hätt’ ich dir nur
erſt entdeckt, was auch Du ihm ſchuldig biſt, du wür-
deſt mich fürwahr nicht ſchelten, wenn mein Schmerz
ohne Grenzen iſt!“ Agnes wagte gegenwärtig nicht
zu fragen, was mit dieſen Worten gemeint ſey, und
ſie konnte ihm nicht widerſprechen, als er das unru-
higſte Verlangen bezeigte, den Verſtorbenen ſelber zu
ſehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß,
für die Beſtattung ſeines Freundes zur wichtigſten
Pflicht. Larkens ſelbſt hatte ihm dießfalls ſchriftlich
Mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald
mußte auf einen ſehr wohlgeordneten Zuſtand ſeiner
Vermögensangelegenheiten ſchließen. Vor allen Din-
gen nahm er Rückſprache mit der obrigkeitlichen Be-
hörde, und einiger Papiere glaubte er ſich ohne Wei-
teres verſichern zu müſſen.


Indeſſen war es bereits ſpät am Tage und ſo trat
er in einer Art von Betäubung den Weg nach der
Stätte an, wo der traurigſte Anblick ſeiner wartete.


Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger
Gäßchen vor das Haus eines Tiſchlers, bei welchem
ſich Larkens ſeit einigen Monaten förmlich in die
Arbeit gegeben hatte. Der Meiſter, ein würdig aus-
ſehender, ſtiller Mann, empfing ihn mit vielem An-
[508] theil, beantwortete gutmüthig die eine und andere
Frage und wies ihn ſodann einige ſteinerne Stufen
zum unteren Geſchoß hinab, indem er auf eine Thür
hinzeigte. Hier ſtand unſer Freund eine Zeitlang mit
klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jezt nahm
er ſich plötzlich zuſammen und trat in eine ſauber auf-
geräumte, übrigens armſelige Kammer. Niemand war
zugegen. In einer Ecke befand ſich ein niedriges
Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig über-
deckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, ge-
traute ſich kaum von der Seite hinzuſehen, Gedanken
und Gefühle verſtockten ihm zu Eis und ſeine einzige
Empfindung in dieſem Augenblicke war, daß er ſich
ſelber haßte über die unbegreiflichſte innere Kälte, die
in ſolchen Fällen peinlicher zu ſeyn pflegt, als das
lebhafteſte Gefühl unſeres Elends. Er ertrug dieſen
Zuſtand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die
Hülle weg und ſank laut weinend über den Leich-
nam hin.


Endlich, da es ſchon dunkel geworden, trat
Perſe, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur un-
gern ſah Theobald ſich durch ein fremdes Geſicht
geſtört, aber das beſcheidene Benehmen des Menſchen
fiel ihm ſogleich auf und hielt ihn um ſo feſter, da
derſelbe mit der edelſten Art zu erkennen gab, daß
auch er einiges Recht habe mit den Freunden des
Todten zu trauern, daß ihm derſelbe, beſonders in
der lezten Zeit, viel Vertrauen geſchenkt. „Ich ſah,“
[509] fuhr er fort, „daß an dieſem wunderſamen Manne ein
tiefer Kummer nagen müſſe, deſſen Grund er jedoch
ſorgfältig verbarg; nur konnte man aus Manchem
eine übertriebene Furcht für ſeine Geſundheit erken-
nen, ſo wie er mir auch ſelbſt geſtand, daß er eine
ſo anſtrengende Handarbeit, wie das Tiſchlerweſen,
außer einer gewiſſen Liebhaberei, die er etwa für dieß
Geſchäft haben mochte, hauptſächlich nur zur Stär-
kung ſeines Körpers unternommen. Auch begriff ich
gar wohl, wie wenig ihn Mangel und Noth zu der-
gleichen beſtimmt hatte, denn er war ja gewiß ein
Mann von den ſchönſten Gaben und Kenntniſſen;
deſto größer war mein Mitleiden, als ich ſah, wie
ſauer ihm ein ſo ungewohntes Leben ankam, wie un-
wohl es ihm in unſerer Geſellſchaft war und daß er
körperlich zuſehends abnahm. Das konnte auch kaum
anders ſeyn, denn nach dem Zeugniß des Meiſters
that er immer weit über ſeine Kräfte und man mußte
ihn oft mit Gewalt abhalten.“ Hier deckte er die
Hände des Todten auf, wie ſie von grober Arbeit
gehärtet und zerriſſen waren. — Jezt öffnete ſich die
Thüre und ein hagerer Mann mit edlem Anſtande
trat herein, vor welchem ſich der Goldarbeiter ehrer-
bietig zurückzog und deſſen ſtille Verbeugung Nolten
eben ſo ſchweigend erwiederte. Er hielt den Fremden
für eine offizielle Perſon, bis Perſe ihm beiſeit den
Präſidenten von K * nannte, den keine amtliche Ver-
richtung hieher geführt haben könne. So ſtand man
[510] eine Zeitlang ohne weitere Erklärung um einander
und Jeder ſchien die Leiche nur in ſeinem eignen Sinne
zu betrachten.


„Ihr Schmerz ſagt mir,“ nahm der Präſident
das Wort, nachdem Perſe ſich entfernt hatte, „wie
nahe Ihnen dieſer theure Mann im Leben müſſe ge-
ſtanden haben. Ich kann mich eines näheren Verhält-
niſſes zu ihm nicht rühmen, doch iſt meine Theilnahme
an dieſem ungeheuren Fall ſo wahr und innig, daß ich
nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegen-
wart“ — „O ſeyen Sie mir willkommen!“ rief der
Maler, durch eine ſo unverhoffte Annäherung in tief-
ſter Seele erquickt, „ich bin hier fremd, ich ſuche Mit-
gefühl, — und ach, wie rührt, wie überraſcht es mich,
ſolch’ eine Stimme und aus ſolchem Munde hier in
dieſem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht
dunkel genug wählen konnte, um ſich und ſeinen gan-
zen Werth und alle Lieb’ und Treue, die er Andern
ſchuldig war, auf immer zu vergraben.“


Des Präſidenten Auge hing einige Sekunden
ſchweigend an Theobalds Geſicht und kehrte dann
nachdenklich zu dem Todten zurück.


„Iſt’s möglich?“ ſprach er endlich, „ſeh’ ich hier
die Reſte eines Mannes, der eine Welt voll Scherz
und Luſt in ſich bewegte und zauberhelle Frühlings-
gärten der Phantaſie ſinnvoll vor uns entfaltete!
Ach, wenn ein Geiſt, den doch der Genius der
[511] Kunſt mit treuem Flügel über all’ die kleine
Roth des Lebens wegzuheben ſchien, ſo frühe ſchon
ein ekles Auge auf dieſes Treiben werfen kann, was
bleibt alsdann ſo manchem Andern zum Troſte übrig,
der ungleich ärmer ausgeſtattet, ſich in der Niederung
des Erdenlebens hinſchleppt? Und wenn das vor-
treffliche Talent ſelbſt, womit Ihr Freund die Welt
entzückte, ſo harmlos nicht war, als es ſchien, wenn
die heitere Geiſtesflamme ſich vielleicht vom beſten
Oel des innerlichen Menſchen ſchmerzhaft nährte, wer
ſagt mir dann, warum jenes namenloſe Weh, das
alle Mannheit, alle Luſt und Kraft der Seele, bald
bänglich ſchmelzend untergräbt, bald zornig aus den
Gränzen treibt, warum doch jene Heimathloſigkeit des
Geiſtes, dieß Fort- und Nirgendhin-Verlangen, in
Mitten eines reichen, menſchlich ſchönen Daſeyns,
ſo oft das Erbtheil herrlicher Naturen ſeyn muß? —
Das Räthſel eines ſolchen Unglücks aber völlig zu
machen, muß noch der Körper helfen, um, wenn die
wahre Krankheit fehlt, mit einem nur um deſto gräß-
licheren Schein die arme Seele abzuängſtigen und vol-
lends irre an ſich ſelber zu machen!“


Auf dieſe Weiſe wechſelten nun beide Männer,
beinahe mehr den Todten als einander ſelbſt anredend
und oft von einer längern Pauſe unterbrochen, ihre
Klagen und Betrachtungen. Erſt ganz zulezt, bevor
ſie auseinander gingen, veranlaßte der Fremde, in-
dem er ſeinen Namen nannte, den Maler, ein
[512] Gleiches zu thun, ſo wie den Gaſthof zu bezeichnen,
wo Jener ihn morgen aufſuchen wollte. „Denn es iſt
billig,“ ſagte er, „daß wir nach einer ſolchen Begeg-
nung uns näher kennen lernen. Sie ſollen alsdann
hören, welcher Zufall mir noch erſt vor wenigen Wo-
chen die wunderbare Exiſtenz Ihres Freundes ver-
rieth, den bis auf dieſen Tag, ſo viel ich weiß, noch
keine Seele hier erkannte. Meine Sorge bleibt es
indeſſen, daß ihm die lezte Ehre, die wir den Todten
geben können, ohne zu großes Aufſehn bei der Menge,
von einer Geſellſchaft würdiger Kunſtverwandten mor-
gen Abend erwieſen werden könne. Ich habe die
Sache vorläufig eingeleitet. Aber nun noch eine Bitte
um Ihrer ſelbſt willen: verweilen Sie nicht allzu-
lange an dieſem traurigen Orte mehr. Es iſt das
ſchönſte Vorrecht und der edelſte Stolz des Mannes,
daß er das Unabänderliche mit feſtem Sinn zu tra-
gen weiß. Schlafen Sie wohl. Lieben Sie mich!
Wir ſehn uns wieder.“ Der Maler konnte nicht
ſprechen, und drückte ſtammelnd beide Hände des
Präſidenten.


Als er ſich wieder allein ſah, floſſen ſeine Thrä-
nen reichlicher, jedoch auch ſanfter und zum Erſten-
mal wohlthuend. Er fühlte ſich mit dieſer Laſt von
Schmerz nicht mehr ſo einſam, ſo entſetzlich fremd in
dieſen Wänden, dieſer Stadt, ja Larkens’s Anblick
ſelber däuchte ihm ſo jämmerlich nicht mehr; eben
als wenn der Schatte des Entſchlafenen mit ihm die
[513] ehrenvolle Anerkennung fühlen müßte, die er noch
jezt erfuhr.


Nun aber drang es Theobalden mächtig, am
Buſen der Geliebten auszuruhen. Er ſteckte ein Nacht-
licht an, welches für die Leichenwache bereit lag, er ſagte
unwillkürlich ſeinem Freund halblaut eine gute Nacht,
und war ſchon auf der Schwelle, als Lörmer, der
Büchſenmacher, ihm den Weg vertrat. Der Menſch
bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mit-
leid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar
erhizt, mit ſtieren Augen, einen gräßlichen Zug von
Lächeln um den herabhängenden Mund, ſo war er
im Begriff, das Heiligthum des Todes zu betreten.
Nolten, ganz außer ſich vor Schmerz und Zorn,
ſtößt ihn zurück und reißt den Schlüſſel aus der Thür,
Lörmer wird wüthend, der Maler braucht Gewalt
und kann nicht verhüten, daß das Scheuſal vor ihm
niederſtürzt und [mi]t dem Kopf am Boden aufſchlägt.
„Ich bitte Sie,“ lallt er, indem er ſich vergebens
aufzurichten ſucht, und nicht bemerkt, daß Nolten
ſchon verſchwunden iſt, um die Hausleute von dem
Skandal zu benachrichtigen, „um Gottes Barmherzig-
keit willen! laſſen Sie mich hinein! mich! ich bin
noch allein der Mann, ihm zu helfen — Sie müſſen
wiſſen, Herr, er pflegte gelegentlich auf den Lörmer
was zu halten, Herr — Sehn Sie, dieſe Uhr hab’
ich von ihm, — aber ſie iſt ſtehn geblieben — Wir
ſtanden Du und Du, mein guter Herr, ich und der
33
[514] Komödiant — Hieß er mich nicht immerdar ſein lie-
bes Vieh? hat er je einen Andern ſo geheißen? und
— — Hohl Euch der Teufel Alle zuſammen — Sehn
muß ich ihn, da hilft kein Gott und keine Polizei —
Ihr wißt den Henker zu diſtinguiren, ob ein Menſch
in der That und Wahrheit k … irt iſt oder nicht —
Soll ich Dir etwas im Vertrauen ſagen? Da drinne
liegt er munter und geſund und hat Euch alle am
Narrenſeil. Denn das iſt Einer, ſag’ ich Euch, der
weiß wie man den Mäuſen pfeift. Und — aber —
— wenn es je wahr wäre — (hier fing er an zu
heulen) wenn er mir das Herzeleid anthun wollte,
und aufpacken und ſeinen Stelzer verlaſſen — wenn
das — Jeſu Maria! Auf! auf! ſchlagt die Thür ein!
ich muß ihm noch beichten — Jagt Papſt und Pfaff
und Biſchöff’, die ganze Kleriſei zum Teufel! ich will
dem Komödianten beichten, trotz dem daß er ein Ke-
tzer iſt — Er muß Alles wiſſen, was ich ſeit mei-
ner Firmelung an Gott und Welt geſündigt! Auf!
hört ihr nicht? Ich will die ganze Barake in Trüm-
mer ſchmeiſſen, ich will ein ſolches jüngſtes Gericht
antrommeln, daß es eine Art hat! — Alter! lieber
Schreiner, laß mich hinein“ — Das Schloß ſprang
auf, und Lörmer ſtürzte einige Stufen hinab in das
Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußt-
los am Fuß des Bettes liegen fand.


[515]

Am Morgen kam ein Billet des Präſidenten und
lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem ein-
fachen Mittagmahl. Nolten war dieſe Ableitung
beſonders um der Mädchen willen ſehr erwünſcht, mit
deren verlaſſenem Zuſtande, weil er jeden Augenblick
veranlaßt ward, bald aus dem Hauſe zu gehen, bald
ſich mit Schreibereien zu befaſſen, man in der That
Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen
war indeß zu loben. Bei allen Zeichen des aufrich-
tigſten Antheils bewies ſie durchaus eine ſchöne, ver-
nünftige Ruhe, ſogar ſchien ſie natürlicher, und ſicherer in
ſich ſelbſt, als es auf der ganzen Reiſe der Fall gewe-
ſen ſeyn mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannet-
ten
fiel das auf. Es hatte aber dieſe ſonderbare
Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mäd-
chen zu beſcheiden war, ihn zu entdecken, oder zu
ſchüchtern vielmehr, um an ihre alten „Wunderlichkei-
ten“ (wie Theobald zuweilen ſagte) in dem Augen-
blicke zu mahnen, wo es ſich um eine ernſte und ſchau-
dervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war
es ein hoher Ernſt mit dem, was ſie für jezt zurück-
zuhalten rathſam fand. Denn in der ganzen ſchreck-
lichen Begebenheit mit Larkens erblickte ſie nichts
Anderes als die gewiſſe Erfüllung eines ungewiſſen
Vorgefühls, und ſo vermochte ſie ein offenbares und
geſchehenes Uebel mit leichterem Herzen zu beweinen,
als ein gedrohtes zu erwarten.


Nolten erkundigte ſich bei dem Wirth nach den
[516] Verhältniſſen des Präſidenten, und erfuhr, daß der-
ſelbe, obgleich ſeit Jahr und Tag mit ſeiner Frau ge-
ſpannt, eines der angeſehenſten Häuſer hier bilde, ſich
aber als ein leidenſchaftlicher Mann vor Kurzem auch
mit der Regierung entzweit habe, und bis auf Wei-
teres von ſeinem Amte abgetreten ſey. Er wohne
ſelten in der Stadt und neuerdings faſt einzig auf
ſeinen Gütern in der Nähe.


Perſe, der Goldarbeiter, kam einiger Beſtellun-
gen wegen, welche die Leiche betrafen. Beiläufig er-
zählte er, daß der Barbier, als mehrerer Diebſtähle
verdächtig, ſeit heute früh im Thurme ſitze. Er habe
geſtern in der öffentlichen Wirthsſtube ſich aus Alte-
ration und Reue wegen ähnlicher an Larkens ver-
übter Schändlichkeiten ſelber verſchwazt. Die größte
Niederträchtigkeit an dem Schauſpieler habe der Tau-
genichts dadurch begangen, daß er ſich von Jenem
das Stillſchweigen über ſeinen wahren Charakter mit
ſchwerem Gelde habe bezahlen laſſen, indem er ihm
täglich gedroht, Alles auszuplaudern. — Theobald
fragte bei dieſer Gelegenheit nach dem Büchſenmacher,
und konnte aus Perſes umſtändlichem Berichte ſo
viel entnehmen, daß Larkens dem Menſchen, weil
es ein geſcheidter Kopf, einiges Intereſſe geſchenkt,
das übrigens ſo gut als weggeworfen geweſen, da die
deutliche Abſicht des Schauſpielers, ihn zu corrigiren,
bloß dem Uebermuth des Burſchen geſchmeichelt habe,
zumal die Art, wie Larkens zu Werke gegangen, bei
[417[517]] weitem zu delikat geweſen. Uebrigens habe ſich Lar-
kens
nicht nur dem Zirkel, ſondern beſonders auch
vielen Armen als unbekannter Wohlthäter unvergeß-
lich gemacht.


Mittagszeit war da, die Mädchen angekleidet
und Nolten bereit, mit ihnen zu gehen. Eine Toch-
ter des Präſidenten empfing ſie auf das Artigſte, und
nach einiger Zeit erſchien der Vater; außerdem kam
Niemand von der Familie zum Vorſchein. Die Frau,
mit dreien andern Kindern, einem ältern Sohne und
zwei Töchtern, wurde erſt heute Abend vom Lande
erwartet, und zwar, wie man überall wußte, nur um
ihren Aufenthalt wieder auf einige Monate mit dem
Gemahl zu wechſeln.


Während der Präſident ſich, bis man zu Tiſche
ging, eifrig mit dem Maler unterhielt, geſellte ſich
Margot zu den beiden Frauenzimmern. Sie war
immer der Liebling des Vaters geweſen und bildete,
weil es ihrer innerſten Natur widerſprach, ausſchließende
Partei zu nehmen, eine Art von leichtem Mittelglied
zwiſchen den zwei getrennten Theilen.


Es war ſervirt, man ſezte ſich. Für jezt betraf
die Unterhaltung nur Dinge von allgemeinerem Intereſſe.
Ein zartes Einverſtändniß der Gemüther ſchloß von
ſelbſt den Gegenſtand geweihter Trauer für dieſe Stunde
aus. Dagegen war der Augenblick, wo endlich das
Gefühl ſein Recht erhielt, einem Jeden deſto inniger
willkommen. Wir ſind genöthigt, hier ſo manches be-
[518] merkenswerthe Wort der wechſelſeitigen Aufklärung über
die Eigenthümlichkeit und allmälige Verkümmerung von
Larkens’s Weſen zu übergehn, und erzählen dafür
mit den eignen Worten des Präſidenten, auf welche
Art er zur Bekanntſchaft des Schauſpielers gelangte.


„Vor einem Vierteljahr machte die hieſige Bühne
den bis daher in Deutſchland noch nicht erhörten Ver-
ſuch, Ludwig Tiecks Luſtſpiele aufzuführen. Die
Idee war von dem berühmten S * * ausgegangen,
welcher als Gaſt hier einige Monate ſpielte und für
jenes enthuſiaſtiſche Projekt weniger die Intendanz,
als vielmehr die höheren Privatzirkel des gebildeten
Publikums, denen er Vorleſungen hielt, zu elektriſiren
wußte. Nach einer ſehr gründlichen Vorbereitung un-
ſerer Akteurs, und nachdem er durch eine Reihe an-
derer, gewohnter Vorſtellungen ſich vorweg das Zu-
trauen ſämmtlicher Theaterliebhaber im höchſten Grade
gewonnen hatte, ward endlich „die verkehrte Welt
angekündigt. Die Wenigen, welche dieſe geiſtvolle
Dichtung kannten und ſchäzten, wollten freilich vor-
ausſehn, daß bei der Stumpfſinnigkeit, nicht nur der
Menge, auf die man im Voraus verzichtete, ſondern
der ſogenannten Gebildeten, die ſchöne Abſicht im
Ganzen verunglücken müſſe; ja S * * ſelbſt ſoll dieß
vorhergeſehen haben, und man glaubt, er habe dieß-
mal theils auf Koſten des großen Publikums, theils
ſeines eignen Rufs, einer Privat-Vorliebe zu viel nach-
gegeben. Auf der andern Seite iſt ſeine Uneigennützig-
[519] keit zu bewundern, da ihm offenbar mehr daran lag,
das Genie des Dichters vor den Einſichtsvollen zu
verherrlichen, als ihn zur Folie ſeiner perſönlichen
Kunſt zu gebrauchen. Da inzwiſchen auch die Ein-
geweihten das Mögliche thaten, um eine allgemeine
Erwartung zu erregen, den Philiſtern Eins anzuhän-
gen und ihnen die Köpfe im Voraus zu verrücken, ſo
verſprachen ſich dieſe, vom Titel des Stückes verführt,
ein recht handgreifliches Spektakelſtück und Alles ging
glücklich in die Falle. Die Aufführung, ich darf es
ſagen, war meiſterhaft. Aber, Gott verzeihe mir, noch
heute, wenn ich an den Eindruck denke, weiß ich mich
nicht zu faſſen. Dieſe Geſichter, unten und auf den
Galerien, hätten Sie ſehen müſſen! Tieck ſelbſt würde
die Phyſiognomie des Haufens, als mitſpielender Per-
ſon, neben den unter die Zuſchauer vertheilten Rollen,
ſich nicht köſtlicher haben denken können. Dieſe un-
willkürliche Selbſtperſiflage, dieß fünf und zehnfach
reflektirte Spiegelbild der Ironie beſchreibt kein Menſch.
In meiner Loge befand ſich der Legationsrath U.,
einer der wärmſten Verehrer Tiecks; wir ſprachen
und lachten nach Herzensluſt während eines langen
Zwiſchenakts (denn eine ganze Viertelſtunde lang war
der Direktor in Verzweiflung, ob er weiter ſpielen
laſſe oder aufhöre). Während dieſes tollen Tumultes
nun, während dieſes Summens, Ziſchens, Bravorufens
und Pochens hörten wir neben uns, nur durch ein
dünnes Drahtgitter getrennt, eine Stimme ungemein
[520] lebhaft auf Jemanden losſchwatzen: „O ſehn Sie doch
nur um Gotteswillen da auf’s Parterre hinunter!
und dort! und hier! der Spott hüpft wie aus einem
Sieb ein Heer von Flöhen an allen Ecken und Enden
hin und her — Jeder reibt ſich die Augen, klar zu
ſehen, Jeder will dem Nachbar den Floh aus dem
Ohre ziehen und von der andern Seite ſpringen ihm
ſechſe hinein — Immer ärger! — ein Teufel hat alle
Köpfe verdreht — es iſt wie ein Traum auf dem
Blocksberg — es wandelt Alles im Schlaf — Herrn
und Damen bekomplimentiren ſich, im Hemde vor ein-
ander ſtehend, glauben ſich auf der Aſſemblee, ſagen:
Waren Sie geſtern auch in der verkehrten Welt?
Gottlob nun wäre man doch wieder bei ſich ſelbſt
u. ſ. w. — Der alte Geck dort aus der Kanzlei, o
vortrefflich! bietet einer muntern Blondine ſeine Bon-
bonniere mit großmächtigen Reichsſiegel-Oblaten an
und verſichert, ſie wären ſehr gut gegen Vapeurs und
Beängſtigungen. Hier — ſehn Sie doch, gerade un-
ter’m Kronleuchter — ſteht ein Ladendiener vor einem
Fräulein und lispelt: Gros de Naples-Band? So-
gleich. Wie viel Ellen befehlen Sie wohl? Er greift
an ſein Ohr, zieht es in eine erſtaunliche Länge, mißt
ein Stück und ſchneidet’s ab. Aber bemerken Sie
nicht den Inkroyable am dritten Pfeiler vom Orche-
ſter an? wie er ſich langſam über die Stirne fährt
und auf Einmal den Poeten embraſſirt: O Freund!
ich habe ſchön geträumt dieſe Nacht! Ich habe ein
[521] winzig kleines Spieldöschen gehabt, das ich hier, ſchaun
Sie, hier in meinen hohlen Zahn legte, ich durfte nur
ein wenig darauf beißen und die ganze Zauberflöte,
ſag’ ich Ihnen, die ganze Oper von Wolfgang Ama-
deus Mozart, ſpielte drei Stunden en suite fort. Eine
Dame, die neben mir ſtand, behauptete, es wäre ja
Rataplan, der kleine Tambour, was ich ſpiele — Him-
mel! ſagt’ ich, ich kenne ja doch die Bären und die
Affen und dieſe heil’gen Hallen! O göttlich war’s —
Nein! — Aber da drüben, ich bitte Sie — — “ „Er-
lauben Sie,“ unterbrach hier eine tiefe Baßſtimme die
Rede des Schalks mitten im Fluß, „erlauben Sie,
mein luſtiger, unbekannter Herr, daß ich endlich frage:
wollen Sie mich foppen, oder wollen ſie andere ehr-
liche Leute mit dieſem Unſinn foppen?“ „Ach ganz und
gar nicht,“ war die Antwort, „keins von Beiden, ich
bitte Tauſendmal um Vergebung — Aber was iſt denn
unſerm Herrn Nachbar da zugeſtoßen? der weint ja
erſchrecklich — Mit Erlaubniß, haben Sie den Wa-
denkrampf?“ — In dieſem Augenblick öffnet ſich un-
ſer Gitter, ein langes weinerliches Geſicht beugt ſich
herein mit den erbärmlichen Worten: „Ach, liebe Herren,
iſt es denn nicht möglich, daß ich durch Ihre Loge
hinaus, fort aus dieſem Narrenhaus, in’s Freie kom-
men könnte? Oder wenn das nicht iſt — ſo ſeyn Sie
ſo gütig — nur eine kleine Bitte — Wie heißt denn
das Indigo Perfektum von obstupesco, ich bin be-
täubt, verwirrt, bin ein Mondskalb geworden? das
[522] Perfektum Indikativi wollt’ ich ſagen — O lachen Sie
nicht — ich bin der unglückſeligſte Mann, bin ſeit
einiger Zeit am hieſigen Lycäo Präceptor der lateini-
ſchen Sprache, habe mir’s recht ſauer werden laſſen —
auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit
mir zufrieden — allein ſeit einer halben Stunde, bei
dem verkehrten verfluchten Zeug da — ich weiß nicht —
mein Gedächtniß — die gemeinſten Wörter — ich
mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir,
examino memoriam meam — es iſt mir, wie wenn
mein Schulſack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte,
zuerſt nur ein ganz geringes, aber es wird immer
größer, ich kann ſchon mit der Fauſt — o entſetzlich!
es rinnt mir ſchockweiſe Alles bei den Stiefeln hin-
aus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nach-
laß der Natur — o himmelſchreiend, in einer halben
Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem ſchlech-
teſten Trivialſchüler gleich — Laſſen Sie mich hinaus,
hinaus! ich ſprenge die Verzäunung —“


Ich und der Legationsrath kamen ganz außer
uns. Der Menſch aber, empört durch unſer Lachen,
ſchlug uns das Gitter vor der Naſe zu und wir ſahen
ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten
Anfangs, es wäre etwa eine komiſche Figur aus dem
Luſtſpiele, der Legationsrath ſchwur ſcherzend, gar
Tieck ſelber müſſe es geweſen ſeyn. Indeſſen ging
der lezte Aufzug an und ging gleich den erſten herr-
lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub-
[523] likum drängte ſich murrend und drohend nach den Thü-
ren, Einige wollten auf der Stelle Rechenſchaft haben.
„Sieh da!“ rief der Legationsrath mir zu, „ein Bei-
ſpiel, ein erſtes und leztes für ganz Deutſchland, ein
Wahrzeichen für alle Direktionen, welche auf Sinn
und guten Geſchmack bei uns rechnen!“ Plötzlich ant-
wortete eine ganz gelaſſene Stimme am Gitter mit
den Worten Cäſars: „Pro ostento non ducendum,
si pecudi cor defuit.“
Und zugleich ſtreckte ſich wie-
der jenes Präceptors-Geſicht herein, aber ohne die
vorige Grimaſſe und daher faſt kaum mehr zu erken-
nen. „Glauben Sie mir, meine Herren (denn ich habe
mich unterdeſſen erholt und ein wunderbares Licht
ging mir auf), dieſes Stück wird vergöttert werden
bei unſern Landsleuten, und die Direktionen können
für ſolche Abende das Entree getroſt auf das Drei-
fache ſteigern, um den Pöbel zu verſchmerzen. Den-
ken Sie an mich. Ihr Diener.“ Während er das ſagte,
glaubte ich mich dunkel zu erinnern, daß mir dieſes
Geſicht nicht zum Erſtenmal begegne, ich wollte ihn
ſchnell anreden, aber wie weggeblaſen war er unter
dem Gewühl. Ich und mein guter U., nachdem wir
von unſerm Erſtaunen einigermaßen zurückgekommen
waren, beſchloſſen, dieſen Mann, wenn er ſich anders
hier aufhalte, was zu bezweifeln war, auszukundſchaf-
ten, es koſte was es wolle. Umſonſt ſahn wir uns auf
den Treppen, an den Ausgängen überall um, fragten
die Perſonen, denen er zunächſt geſeſſen, Niemand
[524] wußte von ihm. Nach acht Tagen dacht’ ich nicht mehr
an den Vorfall und hielt den Unbekannten für einen
Auswärtigen. — Ich befinde mich eines Morgens mit
mehreren Bekannten auf dem Kaffeehauſe. Im Auf-
und Abgehen klopf’ ich meine Cigarre am offenen
Fenſter aus und werfe zufällig einen Blick auf die
Straße; ein Handwerker mit Brettern unter’m Arm
geht hart am Hauſe vorüber, meine Aſche kann ihn
getroffen haben, kurz, er ſchaut raſch auf und bietet
mir das ganze Geſicht entgegen, mit einem Ausdruck,
mit einer Beugung des Körpers, wie ich das in mei-
nem Leben nur von Einem Menſchen geſehen hatte,
und — genug, in dieſem Momente wußt’ ich auch,
wer er ſey: der Komiker, den ich vor fünf Jahren im
Geizigen des Moliere bewunderte, Larkens. Unver-
züglich ſchickt’ ich ihm nach, ohne mir gegen irgend
Jemand das Geringſte merken zu laſſen. Er kam,
in der Meinung, man verlange ſeine Dienſte als
Handwerker, ich ging ihm entgegen und ließ ihn in ein
leeres Zimmer treten. Es gab nun, wie man denken
kann, eine ſehr ſonderbare Unterredung, von welcher
ich nur ſage, daß ich mich ungewiſſer ſtellte als ich
war, nur entfernt von großer Aehnlichkeit mit einem
früheren Bekannten ſprach, um ihm auf den Fall er
ſein Geheimniß lieber bewahren wollte, den Vortheil
der Verläugnung ohne Weiteres zu laſſen. Hier aber
erkannte man nun erſt den wahren Meiſter! Eine
ſolche köſtliche Zunft-Miene, ſo eine rechtfertige Zäh-
[525] heit — kein Flamänder malt dieſen Ausdruck mit ſolcher
Wahrheit. Man glaubte einen Burſchen zu ſehen,
auf deſſen Stirne ſich bereits die Behaglichkeit zeichne,
womit er am ruhigen Abend bei’m Bierkrug und
ſchlechten Tabak den Auftritt ſeinen Kameraden auf-
tiſchen wollte, nachdem er ihre Neugierde durch etwas
unnöthig längeres Feuerſchlagen gehörig zu ſchärfen
für dienlich erachtet. Wie hätte ich nun nach allem
dieſen es noch über’s Herz bringen können, dem un-
vergleichlichen Mann ſein Spiel zu verderben oder
länger in ihn zu dringen? Ich entließ ihn alſo, konnte
aber freilich nicht ganz ohne lachenden Mund mein:
„Adieu, guter Freund, und nehm’ Er’s nicht übel!“
hervorbringen. Er ſah mir’s um die Lippen zucken,
kehrte ſich unter der Thür noch Einmal um und ſagte
[i]m liebenswürdigſten Ton: „Ich ſehe wohl, der Schul-
meiſter von neulich hat mir einen Streich geſpielt,
ich bitte, Euer Exc. mögen dieſe meine gegenwärtige
Figur noch zur verkehrten Welt ſchlagen. Dürft’ ich
aber vollends hoffen, daß dieſer Auftritt unter uns
bliebe, ſo würde ich Ew. Exc. ſehr verpflichtet ſeyn, und
Sie haben hiemit mein Ehrenwort, daß mein Geheim-
niß ohne das mindeſte Arge iſt; aber für jezt liegt
mir Alles dran, das zu ſcheinen, was ich lieber gar
ſeyn möchte.“ Jezt nahm ich länger keinen Anſtand,
ihn bei ſeinem Namen herzlich willkommen zu heißen.
Da er natürlich genirt war, in ſeinem gegenwärtigen
Aufzuge einen Diskurs fortzuſetzen und doch mein In-
[526] tereſſe ihm nicht entging, ſo hieß er mich Zeit und
Ort beſtimmen, wo wir uns gelegener ſprechen könn-
ten, und ſo verabſchiedete er ſich mit einem unwillkür-
lichen Anſtande, der ihm ſelbſt in dieſen Kleidern treff-
lich ließ.


Um mir nun die ganze ſonderbare Erſcheinung
einigermaßen zu erklären, lag freilich der Gedanke am
nächſten, es habe dem Künſtler gefallen, die niedrige
Natur eine Zeitlang an der Quelle ſelbſt zu ſtudiren,
wiewohl derſelbe Zweck gewiß auf andre Art bequemer
zu erreichen war. Als wir kurz nachher auf meinem
Gute zuſammenkamen, ſchien er mich auch wirklich auf
meinem Glauben laſſen zu wollen; doch dachte er zu
redlich, um nicht die wahre Abſicht, deren er ſich viel-
leicht ſchämen mochte, wenigſtens als ein Neben-Motiv
bemerklich zu machen, und da überdieß eine hypochondri-
ſche Seite in ſeinem Geſpräche mehrmals anklang, ſo
errieth ich leicht, daß dieß wohl der einzige Beweg-
grund ſeyn müſſe. Ich vermied natürlich von nun
an die Materie gerne, aber auffallend war es mir,
daß Larkens, wenn ich das Geſpräch auf Kunſt und
dergleichen hinlenkte, nur einen zerſtreuten und beinahe
erzwungenen Antheil zeigte. Er zog praktiſche oder
ökonomiſche Gegenſtände, auch die unbedeutendſten, jedes
Mal vor. Mit wahrer Freude unterſuchte er meine
Baumſchule und jede Art von Feldwerkzeug, zugleich
ſuchte er ſich beim Gärtner über alle dieſe Dinge gele-
gentlich zu unterrichten und gab mitunter die ſinnrei-
[527] ſten Vortheile an, die ihm weder Handbuch noch Er-
fahrung, ſondern nur ſein glücklicher Blick gezeigt
haben kann. Uebrigens waren unſerer Zuſammen-
künfte leider nicht mehr als drei; vor ſechs Tagen
ſpeiſ’te er das lezte Mal bei mir.“


Der Präſident war fertig. Eine tiefe Wehmuth
war auf alle Geſichter ausgegoſſen und Keines wollte
reden. Hatte man während dieſer Erzählung, wenig-
ſtens in der Mitte derſelben, nur das rege Bild ei-
nes Mannes vor ſich gehabt, welcher, obgleich nicht
im reinſten und glücklichſten Sinne, doch durch die
feurige Art, wie er die höchſten Glanz-Erſcheinungen
des Lebens und der Kunſt in ſich aufnehmen konnte,
mit Leib und Seele dieſer Welt anzugehören ſchien,
und konnte man alſo auf Augenblicke völlig vergeſſen,
es ſey hier von einem Verſtorbenen die Rede, ſo über-
fiel nun der Gedanke, daß man in wenig Stunden
werde ſeinen Sarg in die Erde ſenken ſehen, alle Ge-
müther mit einer unerträglichen Pein, mit einer ganz
eigenen Angſt, und unſern Freund durchdrang ein nie
gefühlter brennender Schmerz der ungeduldigſten Sehn-
ſucht. Sekunden lang konnte er ſich einbilden, ſogleich
werde die Thüre ſich aufthun, es werde Jemand her-
einkommen, mit freundlichem Geſicht erklären, es ſey
Alles ein Irrthum, Larkens komme friſch, und ge-
ſund unverzüglich hieher. Aber ach! kein Wunder
gibt es und keine Allmacht, um Geſchehenes ungeſche-
hen zu machen.


[528]

Der Präſident trat ſtille auf Theobald zu,
legte die Hand auf ſeine Schulter und ſprach: „Mein
Lieber! es iſt nun Zeit, daß ich eine Bitte, eine rechte
Herzensbitte an Sie bringe, mit der ich ſeit geſtern
Abend umgehe und welche Sie mir ja nicht abſchla-
gen müſſen. Bleiben Sie einige Tage bei uns. Es
iſt uns Beiden unerläßliches Bedürfniß, des theuren
Freundes Gedächtniß eine Zeit lang mit einander zu
tragen und zu feiern. Wir werden, indem wir uns
beruhigen, auch ſeinen Geiſt mit ſich ſelber zu ver-
ſöhnen glauben. Wir müſſen, wenn ich ſo ſprechen
darf, dem Boden, welchem er ſeine unglückliche Aſche
aufdrang, die fromme Weihe erſt ertheilen, damit
dieſe Erde den Fremdling mütterlich einſchließen könne.
Wenn Sie uns verlaſſen haben, ſo iſt hier keine Seele
außer mir, die Ihren Larkens kennte und ſchäzte
wie er es verdient, und doch ſollen zum wenigſten
ſtets ihrer Zwei beiſammen ſeyn, um das Andenken
eines Abgeſchiedenen zu heiligen. Ja, geben Sie mei-
ner Bitte nach, überlegen Sie nicht — Ihre Hand!
Morgen reiſen wir alle auf’s Gut und wollen,
traurig und froh, Eines dem Andern ſeyn was wir
können.“


Nolten ließ den in Thränen ſchimmernden Blick
freundlich auf Agneſen hinüber gleiten, die denn,
zum Zeichen was ſie denke, mit Innigkeit die Hand
Margots ergriff, welch’ Leztere, dieſe Meinung
liebreich zu erwidern, ſich alsbald gegen beide Mäd-
chen hinbeugte und ſie küßte.


[529]

„Wer könnte hier noch länger widerſtehn!“ rief
Nolten aus. „Ihre Güte, theurer Mann, iſt faſt zu
groß für mich, ich nehme ſie aber, wenn auch nur
ſchüchtern, im Namen unſeres Todten an. — Unſere
Reiſe, meine guten Kinder,“ ſezte er gegen die Sei-
nigen hinzu, „in ſo fern ſie dem Vergnügen gelten
ſollte, war ich ſeit geſtern ohnehin entſchloſſen abzu-
kürzen, ich wollte ungeſäumt dem Orte unſeres künfti-
gen Bleibens und meiner Pflicht entgegengehn. Un-
vermuthet hat ſich uns nun eine dritte Ausſicht er-
öffnet, die ſelbſt mit ihrer ſchmerzlichen Bedeutung
bei weitem den ſchönſten Genuß und die lieblichſte
Zuflucht verſpricht.“


Ein Bedienter kam und meldete einige Herren,
welche der Präſident auf dieſe Stunde zu ſich gebeten
hatte. Es war der Regiſſeur des Theaters und drei
andere Künſtler, die ſich für Nolten nicht weniger,
als für den Verſtorbenen intereſſirten, da ihnen der
Maler durch Renommee ſchon längſt nicht fremd mehr
war. Der Regiſſeur kam vor Jahren einmal mit
Larkens in perſönliche Berührung. Er wollte, auf
Anregung des Präſidenten und darum ohne Wider-
ſpruch von Seiten der Geiſtlichkeit, ein Wort am
Grabe reden; Theobald hatte ihm hiezu die nöthi-
gen Notizen ſchon am Morgen zuſammen geſchrieben.
Man beredete noch Einiges wegen der Feierlichkeit.


Indeſſen hatte ſich der Tag ſchon ziemlich ge-
neigt, und ſeine ahnungsvolle Dämmerung wälzte mit
34
[530] den erſten Trauerſchlägen von dem Thurme her lang-
ſam und feierlich das lezte größte Schmerzgewicht auf
die Bruſt unſrer Freunde. Die Leiche mußte vor
dem Hauſe des Präſidenten vorüberkommen, wo denn
die ordentliche Begleitung mit einbrechender Nacht,
Punkt neun Uhr ſich aufſtellen und ein Fackelzug von
Künſtlern und Schauſpielern die Leiche abholen ſollte,
während deſſen die übrigen Fußgänger und die Wagen
hier zu warten angewieſen waren.


Nolten ſuchte noch einen Augenblick los zu
kommen, um in aller Stille einen lezten Gang nach
des Tiſchlers Hauſe zu thun. Dort traf er bereits
eine Menge Neugieriger in der engen Gaſſe verſam-
melt, doch wagte Niemand, ihm zu folgen, als der
alte Meiſter ihm den Schlüſſel zu der bekannten,
weit nach hintenzu gelegenen Kammer reichte. Ein
weißer, mit friſchen Blumen behängter Sarg ſtand
auf dem Gange. Köſtliches Rauchwerk kam ihm aus
dem Zimmer entgegen, als er eintrat. Aber auf’s
Schönſte ward er überraſcht und gerührt durch einen
Schmuck, den eine unbekannte Hand dem Todten hatte
angedeihen laſſen. Nicht nur war der Körper mit
einem langen, feinen Sterbekleid und ſchwarzer Schärpe
reinlich umgeben, ſondern ein großer, blendend weißer
Schleier, mit Silber ſchwer geſtickt, bedeckte das Ant-
litz und ließ einen grünen Lorbeerkranz, der um die
hohe Stirne lag, und ſelbſt die Züge des Geſichts
gar milde durchſchimmern.


[531]

Der Maler blieb nicht länger vor dem Bette
ſtehn, als eben hinreichte, um jenes ſtumme, langge-
dehnte Lebewohl — ſey es auf Wiederſehn, ach! oder
auch auf ewig Nimmerſehn — durch das Tiefin-
nerſte der Seele ziehn zu laſſen und jeden ſtillen Win-
kel ſeiner Bruſt mit dieſem Liebes-Echo ſchmerzlich
anzufüllen.


Er hörte Tritte auf dem Gang, ſchnell riß er
ſich los, in Eiferſucht, daß dieſen Ruhe-Anblick, den
er auf alle Zeiten mit ſich nehmen wollte, kein An-
derer mit ihm theile.


Wir ſehen einen friſchen Tag über der Stadt
aufgehn, und ſagen von dem geſtrigen Abende nicht
mehr, als daß die ganze Feier ſchön und würdig voll-
zogen wurde.


Der heutige Morgen, es war ein Sonntag, ging
mit Einpacken, oder mit Beſuchen hin, die Nolten
in der Stadt zu machen und zu erwiedern hatte. Die
außerordentliche Begebenheit erwarb ihm eine große
Anzahl theils neugieriger, theils aufrichtiger Freunde,
es kam nun eine Einladung nach der andern, darun-
ter ſehr ehrenvolle, die er nicht ablehnen durfte. Es
wurde deßhalb beſchloſſen, daß man nicht heute Abend,
wie Anfangs verabredet geweſen, ſondern morgen auf
das Landgut fahre. Die Familie des Präſidenten war
indeſſen in aller Frühe ſchon hier eingetroffen, und
[532]Nolten ſah die Präſidentin auf kurze Zeit, neben
dem Gemahl, doch war es eben darum bei aller mög-
lichen Artigkeit von ihrer Seite eine ziemlich froſtige
Bekanntſchaft. Nannette, welche auch dabei zuge-
gen, konnte ſich nicht genug verwundern über die hohle
Zärtlichkeit des vornehmen Ehepaars und ſie machte
gleich hernach Agneſen die ganze Scene vor, wie
ſich Beide geküßt, wie zierlich die Frau ihr Sprüch-
lein gelispelt habe.


Als Theobald wegen des dem armen Freunde ge-
widmeten Ehrenſchmucks ein dankbares Wort an das
Fräulein richtete — denn er vermuthete ſonſt Niemanden
darunter — vernahm er, daß zwar der Schleier von
ihr, das Uebrige jedoch von einer edlen Dame gekom-
men, welche den Schauſpieler vor mehreren Jahren in
einigen ſeiner vorzüglichſten Rollen geſehen habe.
Margot nannte ihren Namen mit Achtung und er-
zählte, daß ſie dieſelbe Frau noch vor ganz kurzer
Zeit gelegentlich in einer Geſellſchaft ſehr munter von
jenen Vorſtellungen habe erzählen hören.


Montag Mittag endlich verließen die Freunde
erleichterten Muthes die Stadt. Die Neuburger Chaiſe
mit einem Theil des Gepäcks ſollte hier zurückblei-
ben. Unſre Geſellſchaft theilte ſich in zwei Gefährte
des Präſidenten, ſo daß die Herren in dem einen, die
drei Frauenzimmer in dem andern für ſich allein waren.


Nach einer Stunde ſchon ſah man das Schloß
vor ſich auf der flachen Anhöhe liegen, am Fuße der-
[533] ſelben ein kleines Landſtädtchen, deſſen Marken durch
manches Bethaus am Wege, durch manches hölzerne
Kreuz die katholiſche Einwohnerſchaft im Voraus
verkündigen. Das Schloß ſelber iſt ein alterthümli-
ches Gebäude, maſſiv von Stein, in zwei gleich lange
Flügel gebaut, welche nach unſrer Seite her in einen
ſtumpfen Winkel zuſammenlaufen, ſo, daß der Eine,
mehr ſeitwärts gelegene, ſich, je näher man dem
Hauptportale kam, hinter den andern zurücklegen
mußte. Das ernſte und würdige Anſehn des Ganzen
verlor nur wenig durch die moderne gelbbraune Ver-
blendung. Ueberall bemerkte man vorſpringende Er-
ker und ſchmale Altane, ziemlich unregelmäßig, aber
bequem und auf die Ausſicht in’s Weite berechnet.
Man fuhr in den Schloßhof ein, der hinten durch
eine im Halbkreis gezogene Kaſtanienallee gar ſchön
geſchloſſen iſt, indem dieſelbe rechts und links auf beide
Flügel-Enden zugeht. Die Mitte des Halbzirkels nimmt
ein achteckig gefaßter See mit Springbrunnen ein,
deren altfränkiſche Delphine nach vier Seiten hin ihr
Waſſer ſtrahlen. Die Allee wird durch geradlinige
Wege dreimal durchſchnitten, um in die zunächſt hin-
terliegenden Anlagen zu gelangen; der mittlere Aus-
gang führt nach der Schnur auf ein anſehnliches Gar-
tenhaus zu.


Von der Herrſchaft wurden im ganzen Schloſſe
bloß die beiden Etagen des Einen Flügels bewohnt,
die obern vom Präſidenten, unten befanden ſich die
[534] Zimmer der Frau, wo nun auch die beiden Mädchen
mit dem Fräulein einquartirt werden ſollten. Das
Alles war, wenige Piecen ausgenommen, nach neue-
rem Geſchmacke. An Bedienung, weiblicher ſowohl
als männlicher, fehlte es nicht.


Nachdem die neuen Gäſte einigermaßen einge-
richtet waren, trank man den Kaffee in einem der
vielen Bosquets im Garten und wandelte ſodann, in
zwei Partien abermals getrennt, die ganze Anlage
durch. Ihr Umfang war, obgleich beträchtlich, doch
kleiner als es von Innen der Anſchein gab, weil
Bäume und Gebüſch die Mauer überall verbargen.


Agnes und Nannette, ihre gefällige Freundin
in der Mitte, empfanden ſich in einem völlig neuen
Elemente; jedoch ſein Fremdes ward ihnen durch
Margots höchſt umgängliches und ungenirtes We-
ſen mit jeder Viertelſtunde mehr zu eigen. Ueber-
haupt finden wir nun Zeit von der Tochter zu reden,
und ſie verdient, daß man ſie näher kennen lerne.
Das munterſte Herz, verbunden mit einem ſcharfen
Verſtande, der unter dem unmittelbaren Einfluſſe des
Vaters, verſchiedene, ſonſt nur dem männlichen Ge-
ſchlecht zukommende Fächer der Wiſſenſchaft, man darf
kecklich ſagen, mit angeborner Leidenſchaft und ohne
den geringſten Zug von gelehrter Koketterie ergriffen
hatte, ſchienen hinreichende Eigenſchaften, um mit
einem Aeußern zu verſöhnen, das wenigſtens für ein
gewöhnliches Auge nicht viel Einnehmendes, oder um
[535] es recht zu ſagen, bei viel Einnehmendem, manches
unangenehm Auffallende hatte. Die Figur war außer-
ordentlich ſchön, obgleich nur mäßig hoch, der Kopf
an ſich von dem edelſten Umriß, und das ovale Ge-
ſicht hätte, ohne den aufgequollenen Mund und die
Stumpfnaſe, nicht zärter geformt ſeyn können; dazu
kam eine braune, wenn gleich ſehr friſche Haut, und
ein Paar große dunkle Augen. Es gab, freilich nur
unter den Männern, immer einige, denen eine ſo ei-
gene Zuſammenſetzung gefiel; ſie behaupteten, es wer-
den die widerſprechenden Theile dieſes Geſichts durch
den vollen Ausdruck von Seele in ein unzertrennli-
ches Ganze auf die reizendſte Art verſchmolzen. Man
hatte deßhalb den Bewunderern Margots den Spott-
namen der afrikaniſchen Fremd- und Feinſchmecker
aufgetrieben, und wenn hieran gewiſſe allgemein ver-
ehrte Schönheiten der Stadt ſich nicht wenig erbauten,
ſo war es doch verdrießlich, daß eben die geiſtreichſten
Jünglinge ſich am liebſten um dieſe Afrikanerin ver-
ſammelten. Die Späße der ballgerechten Stutzer waren
indeß, der Eiferſucht zum Troſte, unerſchöpflich. So
hatte ein Lieutenant, der ſonſt eben nicht im Geruche
des witzigſten Kopfes ſtand, den köſtlichen Einfall aus-
geheckt: man bemerke an des Präſidenten Tochter,
bei genauerer Betrachtung, ein feines Bärtchen um
die Lippen, welches wohl daher komme, daß ſie als
Kind ſich ſchon von den alten Knaſterbärten, den Ci-
[536] ceros und Xenophons habe küſſen laſſen, und vergeſ-
ſen, ſich den Mund rein zu wiſchen. Das Schönſte
war, daß Margot dergleichen Armſeligkeiten, auch
wenn ſie darum wußte, im Geringſten nicht bitter
empfand; ſie erſchien bei den öffentlichen Vergnügun-
gen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene
Bedürfniß ſie trieb, immer mit gleich unbefangener
Heiterkeit, ſogar gehörte ſie bei Spiel und Tanz zu
den eigentlich Luſtigen; aber indem ſie Wohlgeſinnte
und Zweideutige ganz auf einerlei Weiſe behandelte,
zeigte ſie, ohne es zu wollen, daß ſie den Einen wie
den Andern miſſen könne. Allein auch dieſe unſchul-
digſte Indifferenz legte man entweder als Herzloſig-
keit, oder Stolz aus. Agnes und ſelbſt die leichter
geſinnte junge Schwägerin huldigten dem guten We-
ſen von ganzem Herzen, ohne erſt noch ſeine glänzendſte
Seite zu kennen.


Die Mädchen ſaßen im Geſpräch auf einer Bank
und ſahen jezt einen jungen Menſchen von etwa ſechs-
zehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige
Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg
herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüber kam, nickte
er nur ſchnell und trocken mit dem Kopfe vor ſich
hin, ohne ſie anzuſehn. Die zarte Bildung ſeines
Geſichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nan-
netten
aufmerkſam, und Margot ſagte: „Es iſt
der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mit-
leidig angeſehn und es geht anfänglich Jedermann ſo,
[537] man glaubt ihn leidend, doch iſt er es nicht, er hält
ſich für den glücklichſten Menſchen. Wir lieben ihn
Alle. Er hilft ſeinem Vater und verrichtet eine Menge
Gartengeſchäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine
Luſt iſt, ihm zuzuſehn, wenn ihm einmal die Sachen
hingerüſtet und bedeutet ſind. Nichts kommt ihm
falſch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter
den Fingern, eben als wenn die Gegenſtände Augen
hätten ſtatt ſeiner und kämen ihm von ſelbſt entge-
gen. Dieß gibt nun einen ſo rührenden Begriff von
der Neigung, dem ſtillen Einverſtändniß zwiſchen der
äußern Natur und der Natur dieſes ſonderbaren Men-
ſchen. Da er nicht von Geburt, ſondern etwa ſeit
ſeinem fünften Jahre blind iſt, ſo kann er ſich Far-
ben und Geſtalten vorſtellen, aber wunderlich klingt
es, wenn man ihn die Farben gewiſſer Blumen mit
großer Beſtimmtheit, aber oft grundfalſch ſo oder ſo
angeben hört; er läßt ſich ſeine Idee nicht nehmen,
da er ſie ein für alle Mal aus einem unerklärlichen
Inſtinkt, hauptſächlich aus dem verſchiedenen Geruche,
dann auch aus dem eigenthümlichen Klange eines Na-
mens vorgefaßt hat. Das Erſtere kann man ihm
noch hingehn laſſen, der Zufall thut viel, und wirklich
hat er es Einigemal bei ſehr unbekannten Blumen
auffallend getroffen.“


„Wäre aber,“ ſagte Agnes, „doch etwas Wah-
res daran, ſo ſollte man auch wohl die Gabe haben
können, etwa aus der Stimme eines Menſchen auf
[538] ſein Weſen zu ſchließen, wenn auch nicht auf den Na-
men, denn geſezt, man ſchöpfte dieſen für die Blu-
men wirklich aus einem beſtimmten Gefühl, oder, wie
ſoll ich ſagen? aus einer natürlichen Aehnlichkeit, ſo
kämen wir auf jeden Fall zu kurz neben dieſen Früh-
lingskindern, die man doch gewiß erſt, nachdem ſie voll-
kommen ausgewachſen waren, getauft hat, um ihnen
nicht Unrecht zu thun mit einem unpaſſenden Namen,
während wir den unſrigen erhalten, ehe wir noch den
geringſten Ausdruck zeigen.“


Margot war über dieſe artige Bemerkung er-
freut und Nannette erinnerte gelegentlich an die ſo-
genannte Blumenſprache, woraus man ſeit einiger
Zeit ordentlich kleine Handbücher mache. „Was mir
an dieſer Lehre beſonders gefällt, das iſt, daß wir
Mädchen bei all ihrer Willkürlichkeit doch gleich durch
die Bedeutung, die dem armen nichtswiſſenden Ding
im Buche beigelegt iſt, unſer Gefühl beſtimmen und
umſtimmen laſſen können, weil wir dem Menſchen,
der ſich unterſteht, ſo was Ein- für Allemal zu ſtem-
peln, doch einen Sinn dabei zutrauen müſſen, oder
weil eine gedruckte Lüge doch immer etwas Unwider-
ſtehlicheres hat als jede andere.“


„Oder,“ verſezte Margot, „weil wir ängſtlich
ſind, durch unſer vieles Um- und Wiedertaufen eine
böſe Verwirrung in das hübſche Reich zu bringen, ſo
daß uns die armen Blumen am Ende gar nichts Ge-
wiſſes mehr ſagen möchten.“


[539]

„Wie närriſch ich früher über Namen der Men-
ſchen gedacht habe und zuweilen noch denken muß,
kann ich bei der Gelegenheit nicht verſchweigen,“ ſagte
Agnes. „Sollten denn, meint’ ich, die Namen, welche
wir als Kinder bekommen, zumal die weniger verbrauch-
ten, nicht einen kleinen Einfluß darauf haben, wie der
Menſch ſich ſpäter ſein innerliches Leben formt, wie er
Andern gegenüber ſich fühlt? ich meine, daß ſein Weſen
einen beſondern Hauch von ſeinem Namen annähme?“


„Dergleichen angenehmen Selbſttäuſchungen,“ er-
widerte das Fräulein, „entgeht wohl Niemand, der
tiefern Sinn für Charakter überhaupt hat, und da
ſie ſo gefahrlos als lieblich ſind, ſo wollen wir ſie
uns einander ja nicht ausreden.“


Nannette war bei Seite getreten und kam mit
einem kleinen Strauß zurück. Während ſie ihn in
der Stille zurecht fügte, ſchien ihr ein komiſcher Ge-
danke durch den Kopf zu gehn, der ſie unwiderſtehlich
laut lachen machte. „Was hat nun der Schelm?“
fragte Margot, „es geht auf Eins von uns Beiden
— nur heraus damit!“ „Es geht auf Sie!“ lachte
das Mädchen, „iſt aber nichts zum übel nehmen. Ich
ſuchte da nach einer Blume, die ſich für Ihren Sinn
und Namen paſſen könnte, nun heißt doch wohl Mar-
got
nicht weniger noch mehr als Margarete,
natürlich fiel mir alſo ein, wie leichtfertig es laſſen
müßte, wie dumm und ungeſchickt, wenn Ihnen Je-
mand hier dieß Gretchen im Buſch verehren
[540] wollte.“ Alle lachten herzlich über dieſe Zuſammen-
ſtellung, die freilich nicht abgeſchmackter hätte ſeyn
können.


„Im Ernſt aber,“ ſagte Nannette und ſprach
damit wirklich ihres Herzens Meinung aus, „für Sie,
beſtes Fräulein, könnte ich wohl einen Sommer lang
mit dem Katalogen in der Hand durch alle Kaiſergär-
ten ſuchen, eh mir endlich das begegnete, was Ihrer
Perſon, oder weil dieß einerlei iſt, Ihres Namens
vollkommen würdig wäre.“ „So?“ lachte Margot,
„alſo bleib’ ich, eben bis auf Weiteres brav Gretel im
Buſch! Zum Beweis aber (hier ſtand ſie auf und
trat vor ein Rondell mit blühenden Stöcken), daß ich
glücklicher bin im Finden als Sie, Böſe und Schöne,
ſteck’ ich Ihnen gleich dieſe niedliche Roſe in’s Haar,
Agnes hingegen dieſe blauliche Blüthe mit dem wür-
zigen Vanilleduft!“


Man gieng nun ſcherzend weiter und das Fräu-
lein fing wieder an: „Vom guten Henni ſind wir
ganz abgekommen, ſo heißt der Blinde, eigentlich
Heinrich. Weil ſeine vorhin genannten Talente
einigermaßen zweideutig ſind, ſo muß man ihm bei
den andern deſto mehr Gerechtigkeit wiederfahren laſ-
ſen. Er hat viel mechaniſches Geſchick und ſeltne
muſikaliſche Anlagen. In einer leeren Kammer des
linken Schloßflügels, welche vor nicht ſehr langer Zeit
noch zur Hauskapelle der frühern Beſitzer eingerichtet
war, ſteht eine Orgel, die lange kein Menſch anſah.
[541] Sie befand ſich im ſchlechteſten Zuſtande, bis Henni
vor anderthalb Jahren ſie entdeckte. Er hatte nun
nicht Raſt noch Ruhe, das verwahrloſ’te ſtaubige Werk,
Klaviatur, Pedal und Blasbälge, ſammt den fehlen-
den und zerbrochenen Stäbchen, Klappen und Dräh-
ten, deren Zahl beiläufig Hundert und Eines ſeyn
mag, wieder ordentlich herzurichten. Oft hörte man
ihn bei Nacht operiren, klopfen und ſägen, und es
war ſonderbar, ihn dann ſo ohne alles Licht in der
einſamen Kammer bei ſeiner Arbeit zu denken. Was
ihm aber kein Menſch geglaubt hätte: nach weniger
als vier Wochen war er wirklich mit Allem zu Stande
gekommen. Sie müſſen ihn einmal, und ohne daß
er’s weiß, auf der Orgel phantaſieren hören; er be-
handelt ſie auf eine eigene Art und nicht leicht würde
ein anderes Inſtrument das eigentliche Weſen dieſes
Menſchen ſo rein und vollſtändig ausdrücken können.
Ich hätte billig unter ſeinen Vorzügen zuerſt von ſei-
ner Frömmigkeit geſprochen, doch wird Ihnen dieſe
nach dem bisher Geſagten um ſo wahrer und zärter
erſcheinen, und ich brauche jezt deſto weniger Worte
davon zu machen. — Klavierſpielen hatte er ſchon
früher ohne Anleitung auf einem ſchlechten Pantalon
gelernt, mein Vater verſprach, ihm auf ſeinen Ge-
burtstag ein ordentliches Inſtrument zu ſchenken. So
lange wir in der Stadt wohnen, laß’ ich auch wohl
zuweilen den Schlüſſel in dem meinigen ſtecken und
mag mir gerne denken, daß er ſich ein Stündchen nach
[542] Herzensluſt darauf ergehe, derweil ſeine Mutter die
Zimmer reinigt. Er lobte mir neulich den Ton des
Flügels mit ſolchem Feuer, daß er ſich mit ſeinem
Geheimniß verſchnappte, er wurde plötzlich blutroth
und ich hätte fürwahr viel gegeben, um einen Augen-
blick ſelbſt zu erblinden und kein Zeuge dieſer Beſchä-
mung zu ſeyn. Es blieb nichts übrig, als ihn auf-
zufordern, ſogleich eine Sonate mit mir zu probiren,
die er mir und meinem Bruder abgehört hatte. Nichts
geht ihm über das Vergnügen, vierhändig zu ſpielen.
Das Stück, wovon ich rede, iſt eines von den ſchwe-
rern, allein es ging durchweg faſt ohne Anſtoß.“


Der Präſident ſtand eben mit dem Maler auf
der rechten Seite des Schloſſes, als die Mädchen ge-
gen den Hof herkamen; ſie ſprachen dort über eine
gewiſſe Baukurioſität, der wir gelegentlich auch einen
Blick ſchenken müſſen. Es endigte ſich nämlich jener
Flügel mit einer breitſtufigen Steintreppe, welche vor
den Fenſtern des oberen Stocks ein Belvedere an-
ſezte und, hüben und drüben mit einem Geländer ver-
ſehen, auf ſteinernen Bogen herablief. Mit der lezten
Stufe an der Erde trat man in ein niedliches Roſen-
gärtchen, welches im Viereck von einer niedern, künſt-
lich ausgehauenen Baluſtrade umgeben, einer Seits
auf den Abhang des Schloßbergs hinunterſah, ande-
rer Seits durch ein eiſernes Gatter in die Allee ein-
führte. Alles das fand ſich in den gleichen Verhält-
niſſen auch auf der entgegengeſezten Flanke des Ge-
[[543]] bäudes, jedoch meiſt nur von Holz und auf den Schein
berechnet. Altan und Treppe waren dort verwittert
und ohne Gefahr nicht mehr zu betreten.


Die Geſellſchaft begab ſich in’s Innere des Hau-
ſes, und bis zum Abendeſſen trieb ein Jedes was
ihm beliebte. Der Präſident ließ ſeinen Gäſten Zeit,
es ſich bequem zu machen. Gleich Anfangs hatte er
den Grundſatz erklärt, es müſſe neben den Stunden
der gemeinſamen Unterhaltung und des unmittelbaren
Beieinanderſeyns durchaus auch eine Menge Augen-
blicke geben, die, ſo zu ſagen, den zweiten und indi-
rekten, gewiß nicht minder lieblichen Theil der Ge-
ſelligkeit ausmachen, wo es erfreulich genug ſey, ſich
mit einander unter Einem Dache zu wiſſen, ſich zu-
fällig zu begegnen und eben ſo nach Laune feſtzuhal-
ten. Unſeren beiden Frauenzimmern, welche dem
Hausherrn gegenüber doch immer etwas von Schüch-
ternheit bei ſich verſpürten, kam eine ſolche Freiheit
zu ganz beſonderm Troſte, dem Maler war ſie ohne-
hin Bedürfniß, und ſogleich gab der Präſident das
Beiſpiel, indem er ſich noch auf ein Stündchen in’s
Arbeitskabinet zurückzog.


Die Tiſchzeit verſammelte Alle auf’s Neue, und
als man ſich zulezt gute Nacht ſagte, trat Jedem
der Gedanke erſtaunend vor die Seele, durch was
für eine ungeheure Fügung ſich die fremdeſten Men-
ſchen dergeſtalt haben zuſammen finden können, daß
es ſchon heute ſchien, als hätte man ſich immerdar
[544] gekannt, als wäre man zuſammengekommen, um nie-
mals wieder Abſchied zu nehmen.


Nachdem wir von der Stellung der Perſonen,
ſo wie von deren häuslicher und ländlicher Umgebung
in ſo weit den Begriff gegeben haben, beſorgen wir
noch kaum, daß unſre Leſer ein vollſtändiges Journal
von den Unterhaltungen der nächſten Tage von uns
erwarten möchten.


Was außerhalb des Schloßbezirks nur immer
Anlockendes zu Pferd und Wagen zu erreichen war,
und was das Eigenthum des Präſidenten, zumal eine
ſehr reichhaltige Bibliothek, zur Unterhaltung darbot,
ward abwechſelnd genoſſen und verſucht. Der Präſi-
dent liebte die Jagd, und obgleich Theobald weder
die mindeſte Uebung, noch auch bis jezt einigen Ge-
ſchmack daran hatte, ſo war ihm in ſeiner gegenwär-
tigen Verfaſſung der Vortheil dieſer Art ſich zu be-
wegen, wobei ſowohl Leib als Seele in kräftiger Span-
nung erhalten wird, gar bald ſehr fühlbar und bei
einigem Glück mit den erſten Verſuchen ſogar ergötz-
lich geworden. Er kehrte an ſo einem Abend auffal-
lend erheitert und lebhaft nach Hauſe. Auch hatten
die Mädchen bereits ihren Scherz mit ihm, indem
Margot behauptete: es könnte wohl nicht leicht ein
Maler die ſchönſte Galerie der ſeltenſten Kunſtwerke
mit größerem Intereſſe durchlaufen, als er die Ge-
[545] wehrkammer ihres Vaters, worin er wirklich Stun-
den lang verweilte. Gewiß aber war auch weit und
breit eine ſolche Sammlung nicht anzutreffen. Ge-
wehre aller Art, vom erſten Anfang dieſer Erfindung
bis zu den neueſten Formen des engliſchen und franzöſi-
ſchen Kunſtfleißes, konnte man hier auf’s Schönſte
geordnet in fünf hohen Glaskäſten ſehen. Die Freunde
bemerkten mit Lächeln, wie Nolten jedes Mal eine
andere Flinte für ſich ausſuchte, denn mit jeder hoffte
er glücklicher zu ſeyn, und endlich griff er gar nach
einem alten türkiſchen Geſchoß, welches zwar prächtig
und gut, doch für den Zweck nicht paſſend und deß-
halb von dem ſchlechteſten Erfolg begleitet war.


Beſonders angenehm erſchienen immer nach dem
Abendeſſen die ruhigen gemeinſchaftlichen Leſeſtunden.
Der Maler hatte Anfangs unmaßgeblich eine Lektüre
vorgeſchlagen, welche man in doppelter Hinſicht will-
kommen hieß. Unter den ſchriftlichen Sachen, die er
vorläufig aus Larkens’s Nachlaſſe an ſich gezogen,
befand ſich zufälliger Weiſe ein dünner, italieniſcher
Quartband, die Roſemonde des Ruccelai ent-
haltend, wovon ihm der Schauſpieler, theils wegen
der Seltenheit der alten urſprünglichen Venetianer-
Ausgabe, theils weil eine angenehme Erinnerung für
ihn dabei war, vormals mit beſonderer Liebe geſpro-
chen und gelegentlich erzählt hatte, daß er als fünf-
zehnjähriger Knabe das Buch aus der Sammlung
eines Großonkels nebſt einigen andern Werken ver-
35
[546] ſchleppt habe, natürlich ohne es zu verſtehen, nur
weil die ſchön vergoldete Pergamentdecke ihn gereizt.
Einige Zeit hernach habe von ungefähr ein Kenner
es bei ihm erblickt und es für einen außerordentli-
chen Schatz erklärt; hiedurch ſey er auf den Inhalt
neugierig worden, um ſo mehr, da ſeine Neigung zu
Schauſpielen und Tragödien ſchon damals bis zur
Wuth entzündet geweſen. Nun habe er der Roſe-
monde
— der unbekannten Geliebten — zu Gefallen
mit wahrhaft ritterlichem Eifer ſich ſtraks dem Ita-
lieniſchen ergeben, und nachdem er die Süßigkeit der
Sprache erſt verſchmeckt, für gar nichts Anderes mehr
Aug’ und Ohr gehabt, in Kurzem auch, ein Zweiter
Almachilde (ſo hieß Roſemondens Liebhaber
und Retter), der armen Königstochter ſich völlig be-
mächtigt.


War aber dieſes Stück, als ein verehrter Zeuge
der ſchönen Kindheit des tragiſchen Theaters der Ita-
liener ſchon an und für ſich merkwürdig genug, ſo
ſezte ſich nun unſer Cirkel, des Mannes eingedenk,
von dem es herkam, mit einer Art von Andacht zu
dem Trauerſpiel, wiewohl es während des Leſens und
Verdeutſchens an munteren Bemerkungen nicht fehlte,
entweder weil die Ueberſetzung zuweilen ſtocken wollte,
oder weil man nicht umhin konnte, die im Ganzen
herrliche Charakteriſtik in der Dichtung mitunter et-
was hart und holzſchnittartig zu finden. Außer Agnes
und Nannetten war Allen die Sprache bekannt;
[547] man überſezte wechſelsweiſe, am liebſten aber ſah man
immer das Buch in Margots Hände zurückkehren,
welche mit eigener Gewandtheit die Verſe in Proſa
umlegte und meiſtens ein paar Scenen im Voraus
zu Papier gebracht hatte, da denn wirklich der Aus-
druck an Kraft, Erhabenheit und Rundung nichts mehr
zu wünſchen übrig ließ, ſo daß man, obgleich Alles
ſehr treu gegeben war, etwas ganz Neues zu hören
glaubte und den Dichter in ſeiner urſprünglich gran-
dioſen Natur vollkommen gerechtfertigt ſah. Dem in
gewiſſer Hinſicht unbefriedigenden Schluſſe der Hand-
lung half das Fräulein, einem glücklichen Fingerzeig
ihres Vaters folgend, durch Einſchaltung einer kurzen
Scene auf, worin die Vereinigung des liebenden Paa-
res, welche der Dichter nur anzudeuten, bei ſeinem
höhern Zwecke kaum für der Mühe werth gehalten,
zum Troſte jedes zart beſorgten Leſers klärlich moti-
virt war. Man bedauerte nur, mit der Lektüre ſo
ſchnelle fertig geworden zu ſeyn, und weil Jedermanns
Ohr nun ſchon von den ſüdlichen Klängen gereizt und
hingeriſſen war, ſo brachte der Präſident einen italie-
niſchen Novelliſten hervor, indeſſen der Maler gereimte
Gedichte gern vorgezogen hätte, aus einem Grunde
zwar, den er nicht allzu lebhaft geltend machen wollte:
er war entzückt, wie Margot Verſe las; er glaubte
einen ſolchen Wohllaut kaum je von Eingeborenen ge-
hört zu haben, und wenn es manchen Perſonen als
ein liebenswürdiger Fehler angerechnet wird, daß ſie
[548] das r nur gurgelnd ausſprechen können, wie denn dieß
eben bei dem Fräulein der Fall war, ſo ſchien dieſe
Eigenthümlichkeit der Anmuth jenes fremden Idioms
noch eine Würze weiter zu verleihen. Agnes ent-
ging es nicht, mit welchem Wohlbehagen Freund Theo-
bald
am Munde der Leſerin hing, allein auch ſie
vermochte demſelben Zauber nicht zu widerſtehen.


Ueberhaupt lernten die Mädchen nach und nach
immer neue Talente an dieſer Margot kennen; das
Meiſte brachte nur der Zufall an den Tag, und weit
entfernt, es auf eine falſche Beſcheidenheit anzulegen,
oder im Gefühl ihrer Meiſterſchaft den Unkundigen
gegenüber die Unterhaltung über gewiſſe Gegenſtände
vornehm abzulehnen, theilte ſie vielmehr die Haupt-
begriffe ſogleich auf die einfachſte Weiſe mit und machte
durch die Leichtigkeit, womit ſie Alles behandelte, den
Andern wirklich glauben, daß das ſo ſchwere Sachen
gar nicht wären, als es im Anfang ſchien; ſogar
legte ſie einmal das liebenswürdige Geſtändniß ab:
„Wir Frauen, wenn uns der Fürwitz mit den Wiſ-
ſenſchaften plagt, krebſen mitunter bloß, wenn wir zu
fiſchen meinen, und freilich iſt es dann ein Troſt,
daß es den Herren Philoſophen zuweilen auch nicht
beſſer geht. — Sehn Sie aber,“ rief ſie aus und ſchob
die ſpaniſche Wand zurück, die in der Ecke ihres Zim-
mers einen großmächtigen Globus verbarg, „ſehn
Sie, das bleibt denn doch eine Lieblingsbeſchäftigung,
wo man auf ſicherem Grund und Boden wandelt.
[549] Der Vater hat mich drauf geführt, er ließ die hohle
hölzerne Kugel mit Gyps und feiner Farbe weiß über-
ziehen, ich zeichne die neueſten Charten darauf ab und
mache ohne Schiff und Wagen mit Freuden nach und
nach die Reiſe durch die ganze Welt. Die Eine Hälfte
wird bald fertig ſeyn, und hier die neue Welt ſteigt
auch ſchon ein wenig aus dem leeren Ocean.“ Agnes
bewunderte die Schönheit und Genauigkeit der Zeich-
nung, die zierliche Schrift bei den Namen, die breit
lavirte Schattirung des Meers an den Küſten herun-
ter; Nannette aber rief: „Will man den Weibern
einmal nichts Anderes laſſen, als das beliebte Nähen,
Stricken, Bandmalen oder Sticken, und was damit
verwandt ſeyn mag, ſo ſollte man mir gegen eine Arbeit
wie dieſe, wenn ich es je bis dahin brächte, die Naſe
wahrhaftig nicht rümpfen, denn die Strickerin wollt’
ich doch ſehen, die ſchönere Maſchen und künſtlichere
Filets vorweiſen könnte, als Sie, mein Fräulein, hier
bei dieſen Linien und Graden gemacht haben!“


Sofort erklärte Margot Dieß und Jenes, und
wenn gleich Nannette immer Diejenige war, welche
die Sachen am begierigſten auffaßte, am ſchnellſten
begriff, und am beſten zu ſchmeicheln verſtand, ſo blieb
doch Margots Aufmerkſamkeit, obwohl nicht unmit-
telbar, denn ſie fürchtete durch eine direkte und vor-
zugsweiſe Belehrung Agneſen zu verletzen, dennoch
am erſten auf dieſe gerichtet. Ueberhaupt hatte ihre
Neigung zu dem ſtillen Mädchen etwas Wunderbares,
[550] man darf wohl ſagen, Leidenſchaftliches. Man ſah
ſie, zumal auf dem Spaziergange, nicht leicht neben
Agnes, ohne daß ſie einen Arm um ſie geſchlagen,
oder die Finger in die ihrigen hätte gefaltet gehabt. Zuwei-
len machte dieſe Innigkeit, dieß unbegreiflich zuvor-
kommende Weſen das anſpruchloſe Kind recht ſehr
verlegen, wie ſie ſich zu benehmen, wie ſie es zu er-
wiedern habe.


Inzwiſchen hatte man die Nachbarſchaft des Guts
ziemlich kennen gelernt, die Stadt ohnehin ſchon mehr-
mals beſucht. Unter Anderm rief Theobalden die
Publikation des Larkens’ſchen Teſtaments dahin.
Es fand ſich ein bedeutendes Vermögen. Ohne alle
Rückſicht auf entferntere Familienglieder (nähere aber
lebten überall nicht mehr), hatte der Verſtorbene vor-
erſt einige öffentliche Beneficien, zumal für ſeinen Ge-
burtsort geſtiftet; ſodann betrafen einzelne Legate nur
eine kleine Zahl von Freunden, darunter eine Dame,
deren Name und Charakter außer dem Maler Nie-
mand erfuhr. Der Leztere ſelbſt und ſeine Braut
waren keineswegs vergeſſen. Bemerkenswerth iſt die
ausdrückliche Verfügung des Schauſpielers, daß Nie-
mand ſich beigehen laſſen ſolle, ſein Grab — gleich-
gültig übrigens wo es ſey — auf irgend eine Weiſe
ehrend auszuzeichnen.


Am Abende deſſelben Tags, da dieſe Dinge in
der Stadt bereinigt werden mußten, gab ein Koncert,
von welchem alle Freunde der Muſik lange vorher
[551] mit großer Erwartung geſprochen, einen höchſt ſelte-
nen Genuß. Es war der Händel’ſche Meſſias. Der
Maler, dem ein hieſiger Aufenthalt oft eine Art von
Ueberwindung koſtete, weil er ſich eine reine Todten-
trauer durch unvermeidliche Zerſtreuungen faſt jedes
Mal vereitelt und zerſplittert ſah, fand heute in
dem frommen Geiſt eines der herrlichſten Tonſtücke
den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen,
mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend un-
mittelbar in den Muſikſaal eintrat. Er hatte ſich et-
was verſpätet und mußte ganz entfernt von ſeiner
Geſellſchaft, in einer der hinterſten Ecken ſich mit
dem beſcheidenſten Platze begnügen, den er jedoch mit
aller Wahl nicht beſſer hätte treffen können. Denn
ihn verlangte herzlich, die ſüße Wehmuth dieſer Stunde
bis auf den lezten Tropfen rein für ſich auszuſchöpfen,
er ſehnte ſich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen
den ganzen Buſen ohne Schonung Preis zu geben. —
Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzim-
mern (der Präſident war dießmal nicht dabei) im
ſchönſten Mondenſchein nach Hauſe. Es hatte jenes
Meiſterwerk dermaßen auf Alle gewirkt, daß es in
der erſten Viertelſtunde, wo ſie ſich wieder im Gefährt
befanden, beinahe ausſah, als hätte man ein Gelübde
gethan, auf alles und jedes Geſpräch darüber zu ver-
zichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt
es dem theuren Larkens faſt ausſchließlich. Das
Fräulein offenbarte ſich bei der Gelegenheit zum Er-
[552] ſtenmal entſchiedener von Seiten des Gefühls, was
wenigſtens dem Maler gewiſſermaßen etwas Neues
war, da es ihn manchmal däuchte, als ſtünde dieſe
Eigenſchaft bei ihr unter einer etwas zu ſtrengen und
jedenfalls zu ſehr bewußten Vormundſchaft des mäch-
tigern Verſtandes. Das Wahre aber iſt: Margot
verbot ſich, bei aller übrigen Lebendigkeit, von jeher
den kecken Ausdruck tieferer Empfindung, vielmehr —
er verbot ſich von ſelber bei ihr, da ſie ihr Lebenlang
nie einen Umgang gehabt, wie ihn das Herz bedurfte.
Es wäre nicht leicht zu bezeichnen, was es eigentlich
war, das einem ſo trefflichen Weſen von Kindheit
an die Gemüther der Menſchen, oder doch ihres Ge-
ſchlechts, entfremden konnte. In der That aber, ſo
wenig kannte ſie das Glück der Freundſchaft, daß ſie
ihre eigene Armuth auch nur dunkel empfand, und
daß ihr von dem Augenblick ein durchaus neues Le-
ben, ja ein ganz anderes Verſtändniß ihrer ſelbſt auf-
gegangen zu ſeyn ſchien, da ſie in Agneſen vielleicht
die erſte weibliche Kreatur erblickte, welche ſie von
Grund des Herzens lieben konnte und von der ſie
wieder geliebt zu werden wünſchte. Nolten las
heute recht in ihrer Seele, obgleich auch jezt noch
ihre Worte etwas Gehaltenes und Aengſtliches be-
hielten, ſo daß ſie, was niemals erhört geweſen, mit-
ten in der Rede ein paarmal ſtockte, oder gar abbrach.


Zu Hauſe angekommen, glaubten Alle aus der
lichten Wolke eines frommen und lieblichen Traumes
[553] unvermuthet wieder auf die platte Erde zu treten,
doch fühlte Jedes im ſanft und freudig bewegten In-
nern, daß dieſer Abend nicht ohne bedeutende Spuren,
ſowohl in dem Verhältniß zu einander als im Leben
des Einzelnen werde bleiben können.


Der Präſident nahm dieſer Tage eine Reiſe vor,
und in Geſchäften, wie er ſagte; doch eigentlich war
ſeine Abſicht, dem bevorſtehenden Geburtsfeſte ſeiner
Frau auszuweichen. Der Maler mit den Mädchen
war Anſtands halber gleichfalls geladen und dieſe
Höflichkeit mußte angenommen werden. Der Präſi-
dent war ſchon fort, als die Botſchaft einlief, die
Feier unterbleibe wegen Unpäßlichkeit der Frau. Ver-
muthlich lag nur eine Empfindlichkeit gegen den Gat-
ten zu Grunde. Margot indeß fuhr am Morgen
allein nach der Stadt, verhieß jedoch, am Abend wie-
der hier zu ſeyn. So blieben unſre Leute einen vol-
len Tag ſich ſelbſt überlaſſen, was zur Abwechslung
vergnüglich genug ſchien. Sie konnten ſich ſo lange
als die Herren dieſer Beſitzung denken; Nannettens
roſenfarbener Humor erfreute ſich einmal wieder des
freieſten Spielraums, ſelbſt Agnes behauptete, ſo be-
hagliche Stunden in langer Zeit nicht mehr gelebt zu
haben, Nolten bemühte ſich zum wenigſten, einen
unzeitig auf ihm laſtenden Ernſt zu verläugnen. Nach
Tiſche ſchickten ſich die Mädchen an, Briefe nach Haus
[554] zu ſchreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hin-
terlaſſener Schriften ſeines Freundes in den Garten.


Es war ein ſchwüler Nachmittag. Nolten trat
in ein ſogenanntes Labyrinth. So heißen bekannt-
lich in der alt-franzöſiſchen Gartenkunſt gewiſſe plan-
mäßig, aber ſcheinbar willkürlich in einander geſchlun-
gene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher
ſich ſchwer wieder finden läßt, wenn man erſt eine
Strecke weit in’s Innere gedrungen iſt, weil die grü-
nen, meiſt ſpiralförmig um einander laufenden und
durch unzählige Zugänge unter ſich verbundenen Ge-
mächer faſt alle einander gleichen. Die Wege ſind
ſehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Scheere
geſchnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen.
Der Maler ſchritt in dieſen angenehmen Schatten,
ſeinen Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und
nachdem er lange vergeblich auf das Centrum zu tref-
fen gehofft hat, verfolgt er endlich eine beſtimmte Rich-
tung und gelangt auch bald in ein größeres rundes
Gemach, worauf die verſchiedenen Wege von allen
Seiten zuführen; es iſt oben bis auf eine ſchmale
Oeffnung überwölbt, und dieſe ſanfte Dämmerung,
die Einſamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen
einer Fliege die tiefe ſüße Mittagſtille unterbrach,
Alles ſtimmte vollkommen zu den Gefühlen unſeres
Freundes. Er ſezte ſich auf eine Bank und ſchlug
die Mappe auf. Verſchiedene Aufſätze fanden ſich da,
meiſtens perſönlichen Inhalts, Poeſien, kleine Diarien,
[555] abgeriſſene Gedanken. Sehr viel ſchien ſich auf Theo-
bald
ſelbſt zu beziehen, Anderes war durchaus un-
verſtändlich, auf frühere Lebensepochen hindeutend.
Beſonders anziehend aber war ein dünnes Heft mit
kleinen Gedichten, faſt lauter Sonnette „an L.,“ ſehr
ſauber geſchrieben. Nolten errieth, wem ſie galten;
denn der Verſtorbene hatte ihm ſelbſt von einer frü-
hen Liebe zu der Tochter eines Geiſtlichen geſprochen.
Es war Allem nach ein höchſt vortreffliches Mädchen,
das in der ſchönſten Jugend geſtorben. Wahrſchein-
lich fiel das Verhältniß in den Anfang von Larkens’s
Univerſitätsjahren; wie heilig ihm aber noch in der
ſpäteſten Zeit ihr Andenken geweſen, erkannte Theo-
bald
theils aus der Art, wie Larkens ſich darüber
äußerte (er ſprach ganz ſelten und auch dann nie
ohne Rückhalt von der Sache), theils auch aus an-
dern Zeichen, die er erſt jezt verſtand. So lag z. B.
in den zierlich geſchriebenen Blättern ein hochrothes
Band mit ſchmaler Goldverbrämung, das der Schau-
ſpieler von Zeit zu Zeit und, wie Nolten ſich beſtimmt
erinnerte, immer nur an Freitagen, unter der Weſte
zu tragen pflegte; der Maler legte die Gedichte zu-
rück, um ſie ſpäter mit Agnes zu genießen. Jezt
aber ward er durch die Aufſchrift einiger andern Bo-
gen auf’s Aeußerſte frappirt und eigentlich erſchreckt.
„Peregrinens Vermählung mit *.“ Eine Note am
Rand ſagte deutlich, wer gemeint war; er blätterte
und entdeckte im Ganzen eine unſchuldige Phantaſie
[556] über ſeine frühere Berührung mit Eliſabeth. —
Von jeher war es dem Schauſpieler gewohntes Be-
dürfniß geweſen, Alles, was ihn auf längere oder kür-
zere Zeit intereſſirte, die Eigenthümlichkeiten ſeines
nächſten Umgangs, das ganze Leben mancher Freunde,
durch Zuthat ſeiner Einbildung mit einem magiſchen
Firniß aufzuhöhen, ſich näher zu bringen und ſo Alles
auf zweifache Art zu genießen. Er trieb dieſen idea-
len Unterſchleif nicht leicht in ſolchem Maße, daß ihm
dadurch die natürliche Anſicht von Dingen und Per-
ſonen verrückt oder unſchmackhaft geworden wäre, er
beurtheilte namentlich Theobalds Weſen bei alle
dem auf die nüchternſte Weiſe und pflegte jener phan-
taſtiſchen Neigung ſo wenig auf Koſten der Freund-
ſchaft, daß er vielmehr mit ängſtlicher Sorgfalt Alles
und Jedes vor ihm verſteckte, was auf die Geſund-
heit ſeines Gemüths irgend nachtheilig von dorther
hätte wirken können. So ließ er ſich denn insbeſon-
dere von ſeiner Vorliebe für Eliſabeth nichts gegen
Theobald merken. Er beſchäftigte ſich lange Zeit
mit dem Schickſale dieſer Perſon, doch außer den ge-
treu nach der Wahrheit verfaßten Memoiren, welche
der Leſer längſt kennt, kam Nolten keine Zeile von
den dahin einſchlagenden Verſuchen zu Geſicht. Ohne
Zweifel hatte Larkens einmal die Abſicht gehabt, die
Geſchichte mit der Zigeunerin für ſich zu erweitern
und in’s Fabelhafte hinüber zu ſpielen; dasjenige, was
der Maler in Händen hielt, waren theils Finger-
[557] zeige zu Gedichten, theils ausgeführte Stücke, welche
in loſer und ſchwebender Verknüpfung, wie es der
mythiſchen Kompoſition angemeſſen ſchien, zulezt einen
gewiſſen Lebenskreis erſchöpfen ſollten. Freilich ge-
ſchah dieſe wunderliche Amplifikation der an ſich ſchon
wunderbaren Thatſachen mehr in ſeiner eignen als
Noltens Sinnesweiſe. Der Maler konnte ſich an
der Fiktion als ſolcher ergötzen, doch brachte dieſe
Reihe von ſeltſamen Bildern alsbald eine ſolche Be-
klemmung, Unruhe und Schwere über ihn, daß er die
Blätter mehr als Einmal ungeduldig wegwarf.


Indem hier einige Stücke ausgehoben werden
mögen, iſt zum Verſtändniß des erſten Gedichts ei-
ner Randbemerkung zu erwähnen, wodurch auf eine
gewiſſe Zeichnung hingewieſen wird, welche von Nol-
ten
zur Zeit, als er die Schule zu ** beſuchte, ent-
worfen, Eliſabeths Geſtalt in aſiatiſchem Coſtume,
mit Scenerie im ähnlichen Geſchmack, darſtellte; ſpä-
ter ſah Larkens das Blatt und bat ſich’s aus, doch
lag es nicht hier bei.


Die Hochzeit*).
Aufgeſchmückt iſt der Freudenſaal;

Lichterhell, bunt, in laulicher Sommernacht

Stehet das offene Gartengezelte;

Säulengleich ſteigen,

[558]
Reichlich durchwirket mit Laubwerk,

Die ſtolzen Leiber

Sechs gezähmter, rieſiger Schlangen,

Tragend und ſtützend das

Leicht gegitterte Dach.

Aber die Braut noch wartet beſcheiden

In dem Kämmerlein ihres Hauſes.

Endlich bewegt ſich der Zug der Hochzeit,

Fackeln tragend,

Feierlich ſtumm.

Und in der Mitte,

Mich an der linken Hand,

Schwarzgekleidet geht einfach die Braut;

Schöngefaltet ein Scharlachtuch

Liegt um den zierlichen Kopf geſchlagen,

Lächelnd geht ſie dahin;

Das Mahl ſchon duftet.

Später, im Lärmen des Feſts,

Stahlen wir ſeitwärts uns Beide

Weg, nach den Schatten des Gartens wandelnd,

Wo im Gebüſche die Roſen brannten,

Wo der Mondſtrahl um Lilien zuckte,

Wo die Bäume vom Nachtthau trofen.

Und nun ſtrich ſie mir, ſtilleſtehend,

Seltſamen Blicks mit dem Finger die Schläfe:

Jählings verſank ich in tiefen Schlummer.

Aber geſtärkt vom Wunderſchlafe

Bin ich erwacht zu glückſeligen Tagen,

Führte die ſeltſame Braut in mein Haus ein.

Warnung.
Der Spiegel dieſer treuen braunen Augen

Iſt wie von innrem Gold ein Widerſchein;

[559]
Tief aus dem Buſen ſcheint er’s anzuſaugen,

Dort mag ſolch’ Gold in heil’gem Gram gedeihn.

In dieſe Nacht des Blickes mich zu tauchen,

Unſchuldig Kind, du ſelber lädſt mich ein,

Willſt, ich ſoll kecklich dich und mich entzünden —

Reichſt lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!

Scheiden von Ihr.
Ein Irrſal kam in die Mondſcheinsgärten

Einer einſt heiligen Liebe,

Schaudernd entdeckt’ ich verjährten Betrug;

Und mit weinendem Blick, doch grauſam

Hieß ich das ſchlanke,

Zauberhafte Mädchen

Ferne gehen von mir.

Ach, ihre hohe Stirn,

Drin ein ſchöner, ſündhafter Wahnſinn

Aus dem dunkelen Auge blickte,

War geſenkt, denn ſie liebte mich.

Aber ſie zog mit Schweigen

Fort in die graue,

Stille Welt hinaus.

Von der Zeit an

Kamen mir Träume voll ſchöner Trübe,

Wie geſponnen auf Nebelgrund,

Wußte nimmer, wie mir geſchah,

War nur ſchmachtend, ſeliger Krankheit voll.

Oft in den Träumen zog ſich ein Vorhang

Finſter und groß in’s Unendliche,

Zwiſchen mich und die dunkle Welt.

Hinter ihm ahnt’ ich ein Haideland,

Hinter ihm hört’ ich’s wie Nachtwind ſauſen;

[560]
Auch die Falten des Vorhangs

Fingen bald an, ſich im Sturme zu regen,

Gleich einer Ahnung ſtrich er dahinten,

Ruhig blieb ich und bange doch,

Immer leiſer wurde der Haideſturm —

Siehe, da kam’s!

Aus einer Spalte des Vorhangs guckte

Plötzlich der Kopf des Zaubermädchens,

Lieblich war er und doch ſo beängſtend.

Sollt’ ich die Hand ihr nicht geben

In ihre liebe Hand?

Bat denn ihr Auge nicht,

Sagend: da bin ich wieder

Hergekommen aus weiter Welt!

Und wieder.
Die treuſte Liebe ſteht am Pfahl gebunden,

Geht endlich arm, verlaſſen, unbeſchuht,

Dieß kranke Haupt hat nicht mehr wo es ruht,

Mit ihren Thränen nezt ſie bittre Wunden.

Ach, Peregrinen hab’ ich ſo gefunden!

Wie Fieber wallte ihrer Wangen Gluth,

Sie ſcherzte mit der Frühlings-Stürme Wuth,

Verwelkte Kränze in das Haar gewunden.

Wie? Solche Schönheit konnt’ ich einſt verlaſſen?

— So kehrt nun doppelt ſchön das alte Glück!

O komm! in dieſe Arme dich zu faſſen!

Doch wehe! welche Miene, welch’ ein Blick!

Sie küßt mich zwiſchen Lieben, zwiſchen Haſſen,

Und wendet ſich und — kehrt mir nie zurück.

[561]

Wie ſonderbar iſt Nolten von dieſer Schilde-
rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er ſich und Eli-
ſabeth
ſelbſt noch in einem ſo bunt ausſchweifenden
Gemälde! und dieſe Wehmuth der Vergangenheit, wie
vielfach iſt ſie bei ihm gemiſcht! — Mechaniſch ſteht
er endlich auf und läßt ſich von der träumeriſchen
Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil-
lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die
ſchmerzhafte Betäubung ſeiner Seele, ſo ſehr hat er
ſich in den Wundergärten der Einbildung vertieft,
daß, als er nun ganz unvermuthet ſich am Ausgange
des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu-
rückgegeben ſah, dieß ihm das unbehaglichſte Erwachen
war. Mit verdüſtertem Kopfe ſchleicht er nun da
und dort umher, und als endlich Agnes mit unter-
gehender Sonne, vergnügt vom Schreibtiſche kommend,
nach dem Geliebten ſuchte, fand ſie ihn einſam auf
dem Kanapee des großen Gartenhauſes. Sie ſehnte
ſich nach friſcher Abendluft, nach dem erholenden Ge-
ſpräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, ſo hör-
ten ſie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog
herwärts. Der Gärtner, welcher dieſe ſchwülen Tage
her immer nach Regen geſeufzt, lief jezt — und Henni
hinterdrein — mit ſchnellen Schritten nach Frühbeet
und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel
über den kommenden Segen, dem ein paar Windſtöße
kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das
hölzerne Dach des Belvedere getreten; Nannette
36
[562] trug einige Stühle hinaus. Sie bemerkten ein zwie-
faches Wetter, davon die Hauptmacht vorne nach der
Stadt zu lag, ein ſchwächeres ſpielte im Rücken des
Schloſſes. Die ganze Gegend hat ſich ſchnell vernach-
tet. Da und dort zucken Blitze, der Donner kracht
und wälzt ſeinen Groll mit Majeſtät fernab und weckt
ihn dort auf’s Neue mit verſtärktem Knall. Auf der
Ebene unten ſcheint es ſchon herzhaft zu regnen. Hier
oben herrſcht noch eine dumpfe Stille, kaum hört
man einzelne Tropfen auf dem nächſten Kaſtanienbaum
aufſchlagen, der ſeine breiten Blätter bis an das Ge-
länder des Altans erhebt. Jezt aber rauſcht auch
hier der Segen mächtig los. — Ein ſolcher Aufruhr
der Natur pflegte den Maler ſonſt wohl zu einer
muthigen Fröhlichkeit emporzuſpannen; auch jezt hing
er mit Wolluſt an dem kühnen Anblicke des feurig
aufgeregten Elements, doch blieb er ſtille und in ſich
gekehrt. Agnes verſtand ſeinen Kummer und leiſe
nannte ſie einige Mal den Namen Larkens, doch
konnte ſie dem Schweigenden nicht mehr als ein Seuf-
zen entlocken.


Der Himmel hatte ſich erſchöpft, der Regen hörte
auf, hie und da traten die Sterne hervor. Die an-
genehme Luft, das Tropfen der erquickten Bäume,
ein ſanftes Wetterleuchten am dunkeln Horizont machte
die Scene nun erſt recht einladend. Die junge Schwä-
gerin, nach ihrer unſteten Art, war indeß weggelau-
fen, um mit des Fräuleins Zofe zu kurzweilen, einer
[563] muntern Franzöſin, in der ſie einen unerſchöpflichen
Schatz von Geſchichten und Späßen, eine wahre Adels-
chronik entdeckt hatte. Agnes bemühte ſich, in Nol-
tens
Gedanken einzugehn, ſein Schweigen tröſtlich
aufzulöſen. Sie erinnerte ſich jener Worte, welche
der Maler im erſten Schmerz auf die entſetzliche To-
desnachricht im Gaſthof etwas vorſchnell gegen ſie
hatte fallen laſſen, wornach ſie ſich dem Todten auf
eine beſondere Weiſe perſönlich verpflichtet glauben
mußte. Ihre Fragen deßhalb hatte Nolten nachher
nur ausweichend und ſo allgemein wie möglich beant-
wortet, auch dießmal ging er ſchnell darüber hin und
ſie beharrte nicht darauf. Nun aber ſprach ſie über-
haupt ſo ruhig, ſo verſtändig von dem Gegenſtand,
aus ihren einfachen Worten leuchtete ſo ein reines
und ſicheres Urtheil über die innerſte Geſtalt jenes
verunglückten Geiſtes hervor, daß Theobald ihr mit
Verwunderung zuhörte. Zugleich that ſie ihm aber
weh, in aller Unſchuld. Denn freilich mußte ſich in
einem weiblichen Gemüth, auch in dem liebevollſten,
die Denk- und Handlungsweiſe eines Mannes wie
Larkens, nach ihrem lezten ſittlichen Grunde, um
gar viel anders ſpiegeln als in den Augen ſeines näch-
ſten Freundes, und Nolten konnte im Räſonnement
des Mädchens, wie zart und herzlich es auch war,
doch leicht etwas entdecken, wodurch er dem Verſtor-
benen zu nah getreten ſah, ohne daß er Agneſen
auf ihrem Standpunkt zu widerlegen hoffen, ja dieſes
[564] auch nur wagen durfte. „Du kennſt, du kennſt ihn
nicht!“ rief er zulezt mit Eifer aus, „es iſt unmög-
lich! O daß er dir nur Einmal ſo erſchienen wäre,
wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erſchien, du
würdeſt einen andern Maßſtab für ihn finden, viel-
mehr du würdeſt jedes hergebrachte Maß unwillig auf
die Seite werfen. Ja, liebſtes Herz“ (er ſtockte, ſich
beſinnend, dann rief er ungeduldig:) „Warum es dir
verhalten? was ängſtigt mich? O Gott, bin ich es
ihm nicht ſchuldig? Du ſollſt, Agnes, ich will’s, du
mußt ihn lieben lernen! dieß iſt der Augenblick, um
dir das rührendſte Geheimniß aufzudecken. Du biſt
gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver-
ſteh’ mich Liebſte, jezt, da wir uns ganz — ſo ſelig
ungetheilt beſitzen, nicht mehr erſchrecken kann. Wie?
hat denn das Gewitter, das mit entſetzlichen Schlä-
gen noch eben jezt erſchütternd ob deinem Haupte
ſtand, uns etwas Anderes zurückgelaſſen, als den er-
hebenden Nachhall ſeiner Größe, der noch durch deine
erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött-
licher Fruchtbarkeit? die ſüße, rein verkühlte Luft?
Wir können vom Vergangenen gelaſſen reden, ohne
Furcht, daß es deßhalb mit ſeiner alten Pein auf’s
Neue gegen uns aufſtehen werde. Wär’ es nur Tag,
nun würde rings die Gegend vom tauſendfachen Glanz
der Sonne widerleuchten! Doch, ſey es immer Nacht!
Mit tiefer Wehmuth weihe ſie ein jedes meiner Worte,
wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn
[565] ich längſt heimgeſchickte Stürme vom ſichern Hafen
der Gegenwart aus anbetend ſegne, hier an deiner
Seite, du Einzige, du Theure, ach ſchon zum zweiten
Mal und nun auf Ewig Mein-Gewordene! Ja, in
den ſeligen Triumph ſo ſchwer geprüfter Liebe miſche
ſich die ſanfte Trauer um den Freund, der uns —
du wirſt es hören — zu dieſem ſchönen Ziel gelei-
tet hat.


Agnes! nimm dieſen Kuß! gib ihn mir zu-
rück! Er ſey ſtatt eines Schwurs, daß unſer Bund
ewig und unantaſtbar, erhaben über jeden Argwohn,
in deinem wie in meinem Herzen ſtehe, daß du, was
ich auch ſagen möge, nicht etwa rückwärts ſorgend,
dir den rein und hell gekehrten Boden unſrer Liebe
verſtören und verkümmern wolleſt.


Ein Anderer an meinem Platz würde mit Schwei-
gen und Verhehlen am ſicherſten zu gehen glauben,
mir iſt’s nicht möglich, ich muß das verachten, o und
— nicht wahr? meine Agnes wird mich verſtehen! —
Was ich von eigner Schuld zu beichten habe, kann in
den Augen des gerechten Himmels ſelbſt, ich weiß das
ſicher, den Namen kaum der Schuld verdienen; und
doch, ſo leicht wird die rechtfertige Vernunft von dem
ſchreckhaften Gewiſſen angeſteckt, daß noch in tauſend
Augenblicken und eben dann, wenn ich den Himmel
deiner Liebe in vollen Zügen in mich trinke, am grau-
ſamſten, mich das Gedächtniß meines Irrthums, wie
eines Verbrechens befällt. Ja, wenn ich anders mich
[566] ſelbſt recht verſtehe, ſo iſt’s am Ende nur dieſe ſon-
derbare Herzensnoth, was mich zu dem Bekenntniß
unwiderſtehlich treibt. Ich kann nicht ruhn, bis ich’s
in deiner liebevollen Bruſt begraben, bis ich durch
deinen Mund mich freudig und auf immer losgeſpro-
chen weiß.“


Der Maler wurde nicht gewahr, wie dieſer Ein-
gang ſchon die Arme innig beben machte. In weni-
gen, nur ſchnell hervorgeſtoßenen Sätzen war endlich
ein Theil der unſeligen Beichte heraus. Aber das
Wort erſtirbt ihm plötzlich auf der Zunge. „Vollende
nur!“ ſagt ſie mit ſanftem Schmeichelton, mit künſtli-
cher Gelaſſenheit, indem ſie zitternd ſeine Hände bald
küßt, bald ſtreichelt. Er ſchwankt und hängt beſin-
nungslos an einem Abſturz angſtvoll kreiſender Ge-
danken, er kann nicht rückwärts, nicht voran, unwider-
ſtehlich drängt und zerrt es ihn, er hält ſich länger
nicht, er zuckt und — läßt ſich fallen. Nun wird ein
jedes Wort zum Dolchſtich für Agneſens Herz.
Otto — die unterſchobenen Briefe — die Verirrung
zu der Gräfin — Alles iſt herausgeſagt, nur die Zi-
geunerin, iſt er ſo klug, völlig zu übergehn.


Er war zu Ende. Sanft drückt er ihre Hand
an ſeinen Mund; ſie aber, ſtumm und kalt und ver-
ſteinert, gibt nicht das kleinſte Zeichen von ſich.


„Mein Kind! o liebes Kind!“ ruft er, „hab’ ich
zu viel geſagt? hab’ ich? Um Gotteswillen, rede nur
ein Wort! was iſt dir?“


[567]

Sie ſcheint nicht zu hören, wie verſchloſſen ſind
all’ ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen,
wie ſonderbar ein wiederholtes Grauſen durch ihren
Körper gießt. Dabei murmelt ſie nachdenklich ein
unverſtändliches Wort. Nicht lang, ſo ſpringt ſie
heftig auf — „O unglückſelig! unglückſelig!“ ruft ſie,
die Hände über’m Haupt zuſammenſchlagend, und ſtürzt,
den Maler weit weg ſtoßend, in das Haus. Vor
ſeinem Geiſte wird es Nacht — er folgt ihr langſam
nach, ſich ſelbſt und dieſe Stunde verwünſchend.


Margot kam erſt den andern Vormittag zurück
von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende
Verſtimmung unter ihren Gäſten ſogleich wahrnehmen
zu müſſen. Beſcheiden forſchte ſie bei Nannetten,
doch dieſe ſelbſt war in der bängſten Ungewißheit.
Agnes hielt ſich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf
alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menſchen
ſehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet ſie an-
gekleidet auf dem Bett, den Bleiſtift in der Hand,
ſinnend und ſchreibend. Sie iſt ſehr wortarm, nach
allen Theilen wie verwandelt, ihr Ausſehn dergeſtalt
verſtört, daß Margot im Herzen erſchrickt und ſich
gerne wieder entfernt, nicht wiſſend, was ſie denken
ſoll. — Nannette beſtürmt den Bruder mit Fra-
gen, er aber zeigt nur eine ſtill in ſich knirſchende
Verzweiflung. Zu deutlich ſieht er die ganze Gefahr
[568] ſeiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz
des Mädchens aus tauſend alten Wunden blutet, die
ſeine Unbeſonnenheit aufriß: und nun ſoll er da ſtehn,
unthätig, gefeſſelt, ſie rettungslos dem fürchterlichen
Wahne überlaſſend? er ſoll die Thüre nicht augenblick-
lich ſprengen, die ihn von ihr abſperrt! Einmal über’s
andre ſchleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht
aufgethan. Zulezt erhält er ein Billet von ihr durch
ſeine Schweſter; der Inhalt gibt ihm zweideutigen
Troſt; ſie bittet vor der Hand nur Ruhe und Ge-
duld von ihm. Sie ſey, hinterbrachte Nannette,
mit einem größeren Briefe beſchäftigt, geſtehe aber
nicht, an wen er gehe.


Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls
die Feder zu ergreifen. Er bietet Allem auf, was
ruhige Vernunft und was die treuſte Liebe mit herz-
gewinnenden Tönen in ſolchem äußerſten Falle nur
irgend zu ſagen vermag. Dabei ſpricht er als Mann
zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit ſanftem
Vorwurf an ihr Gewiſſen und ſchickt jedwedem leiſen
Tadel die kräftigſten Schwüre, die rührendſten Klagen
verkannter Zärtlichkeit nach.


Am Abend kam der Präſident. Zum Glück traf
er ſchon etwas hellere Geſichter, als er vor wenig
Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen
hatten dem Maler berichtet: Agnes ſey ruhig, an-
redſam und freundlich und habe nur gebeten, daß man
ſie heute noch ſich ſelber überlaſſe; es ſey ihr vor,
[569] vielmehr, ſie wiſſe ſicher und gewiß, daß dieſe Nacht
ſich Alles bei ihr löſen werde.


Der Präſident, der Manches zu erzählen wußte,
bemerkte etwas von Zerſtreuung in den Mienen ſeiner
Zuhörer und vermißte Agneſen. „Schon gut,“ gab
er Nolten mit Lächeln zur Antwort, als dieſer ihm
nur leichthin von einem kleinen Verdruſſe ſprach, den
er ſich zugezogen, „recht ſo! das iſt das unentbehr-
lichſte Ferment der Brautzeit, das macht den ſüßen
Moſt etwas recent. Der Wein des Eheſtands wird
Ihnen dadurch um nichts ſchlimmer gerathen.“


Das Abendeſſen war vorbei. Man merkte nicht,
wie ſpät es bereits geworden. Die beiden Herren
ſaßen im Diskurs auf dem Sopha. Nannette und
Margot laſen zuſammen in einem kleinen Kabinet,
das nur durch eine Thür von dem Zimmer geſchieden
war, wo Agnes ſchlief.


Die Unterhaltung der Männer gerieth indeß auf
einen ſeltnen Gegenſtand. Der Präſident nämlich
hatte gelegentlich von einem üblen Streich geſprochen,
den ihm der Aberglaube des Volks und die Liſt eines
Pachters hätte ſpielen können. Es handelte ſich um
ein ſehr wohlerhaltenes Wohnhaus auf einem Bau-
ernhofe, den er, als Beſtandherr, noch geſtern einge-
ſehn. Das Haus war wegen Spuckerei verrufen, ſo
daß Niemand mehr drin wohnen wollte. Der kluge
Pachter ſah ſeinen Vortheil bei dieſer Thorheit, er
hatte dem Gebäude längſt eine andere Beſtimmung
[570] zugedacht, die der Präſident nicht zugeben konnte, und
nährte deßhalb unter der Hand die Angſt der Bewoh-
ner. Mit ſehr vieler Laune erzählte nun Jener,
auf welche Art er die Köpfe ſammt und ſonders zu-
recht geſezt und wie er die ganze Sache niedergeſchla-
gen. Dieß gab ſofort Veranlaſſung, den Glauben an
Erſcheinungen, in wie weit Vernunft und Erfahrung
dafür und dagegen wären, mit Lebhaftigkeit zu beſpre-
chen. Der Maler fand es durchaus nicht wider die
Natur, vielmehr vollkommen in der Ordnung, daß
manche Verſtorbene ſich auf verſchiedentliche ſinnliche
Weiſe den Lebenden zu erkennen geben ſollten. Der
Präſident ſchien dieſer Meinung im Herzen weit we-
niger abhold zu ſeyn, als er geſtehen wollte; vielleicht
auch war ihm nur darum zu thun, das Intereſſe des
Geſprächs durch Widerſpruch zu ſteigern.


„Ich will Ihnen doch,“ ſagt er endlich, „eine kleine
Geſchichte mittheilen, für deren Wahrheit ich Bürge
bin. Noch aber weiß ich ſelber nicht, für welchen von
uns Beiden ſie am meiſten ſpricht.


Ich wohnte in England bei einer Verwandten,
einer Wittwe ohne Kinder. Sie war mit ihrem Manne
gegen den Willen Beider verheirathet worden, ſie leb-
ten nur wenige Monate zuſammen und er ſtarb nach
einigen Jahren im Auslande. Mein Aufenthalt in
London fiel eben in die Zeit, als die ſchöne Frau ſich
zum zweiten Male, und entſchieden nach Neigung mit
einem reichen Kaufmann aus Deutſchland verlobte.
[571] Religiöſe Schwärmerei, eben dasjenige, wodurch ſie in
der erſten Ehe ſo unglücklich geweſen, machte hier
neben einer natürlichen Leidenſchaft das weſentliche
Band der Herzen aus. Ich erinnere mich ſeiner noch
ganz wohl, als eines Mannes von hoher und zugleich
ſehr zarter Geſtalt, anziehend und geheimnißvoll in
ſeinen Manieren. Er ging lange Zeit im Haus der
Wittwe aus und ein, ſie ſollen gemeinſchaftlich die
heimlichen Verſammlungen einer gewiſſen Sekte be-
ſucht haben, deren Grundſätze man eigentlich nicht
kannte, kurz, er war erklärter Bräutigam; aber Nie-
mand begriff, warum es mit der Hochzeit nicht vor-
angehn wollte, von der ſich die Familie eines der
glänzendſten Feſte verſprach. Indeſſen ward er ver-
anlaßt, eine ſehr weit ausſehende Reiſe in Geſchäften
nach Nordamerika zu thun, und nun zweifelte man
gar nicht mehr, daß er die Verbindung in der Stille
werde ausgehn laſſen; man bemitleidete die Braut,
die ihn jedoch ganz ruhig und getroſt ſich einſchiffen
ſah, und ſo viel man bemerken konnte, bald einen
lebhaften Briefwechſel mit ihm unterhielt. Ich war
zugegen, als einsmals eine Kiſte mit ausgewählten
Geſchenken anlangte, welche die Lady mit einem feier-
lichen Wohlgefallen ausbreitete, wobei ſie mir ver-
traute: es wäre dieß die Morgengabe ihres Gatten.
Ich verſtand ſie nicht und ſie erklärte ſich auch nicht
deutlicher. Späterhin erſt ward mir das Räthſel ge-
löst. Das wunderſame Paar hatte ſich nämlich ver-
[572] pflichtet, die Vermählung auf eine höchſt myſteriöſe
und völlig geiſtige Weiſe vollziehen zu laſſen. Indem
ſie ſo viele hundert Meilen durch Land und Meer
geſchieden waren, ſollte Jedes in ſeinem eignen Hauſe,
zu einer und derſelben Stunde, hier zwiſchen Aufgang,
dort zwiſchen Untergang der Sonne, feierlich von zwei
beſondern Prieſtern eingeſegnet werden. Nachdem alſo
die Braut ganz im Geheimen auf’s Feſtlichſte gekleidet
und mit Blumen geſchmückt, welche man gegen die
Morgendämmerung im Garten gebrochen, die halbe
Nacht ſich mit Gebet auf die wichtige Handlung vor-
bereitet hatte, erſchien der Geiſtliche, von dreien Glau-
bensbrüdern begleitet. Ein kleiner Saal war ſparſam
erleuchtet, ein Tiſch, worauf zwei Kerzen brannten,
zum Altare aufgepuzt. Als nun der Geiſtliche in ſei-
ner Liturgie an die Stelle kam, wo im Namen des
Abweſenden mit dem Ja geantwortet werden ſollte,
verlöſchte plötzlich eins der Lichter von ſelbſt, zum Er-
ſtaunen der Gegenwärtigen und zum größten Schre-
cken der Braut, die indeſſen dadurch getröſtet wurde,
daß man ſie in dieſem Zufall ein erfreuliches Zeichen
ſehen ließ; ſie richtete ſich beruhigt von ihren Knieen
auf und fühlte ſich mit dem Geliebten innig und ge-
heimnißvoll verbunden. Als man ſie ſofort allein ge-
laſſen, beſtieg ſie, der Vorſchrift gemäß, ein hochzeit-
lich verziertes, mit ſüßen Wohlgerüchen beſprengtes
Lager, worin ſie den Vormittag hinter dicht verſchloß-
nen Fenſterladen zubrachte. Mit was für Bildern
[573] ſich ihre Träume beſchäftigten, ob ſie mit dem himm-
liſchen Bräutigam oder dem irdiſchen verkehrt habe,
laſſ’ ich dahingeſtellt ſeyn — wahrſcheinlich mit Bei-
den zugleich, und keiner hatte ſomit Urſache zur Ei-
ferſucht. Genug von dieſer tollen Ceremonie, deren
raffinirt ſinnliche Heiligkeit Jeden empört. Merkwür-
dig bleibt nur, daß bald nachher die Nachricht vom
Tode des Kaufmanns einlief. Er war, nach kurzem
Krankenlager, einige Tage vor der Hochzeit geſtorben,
an welcher er, wenn man der armen Wachskerze glau-
ben will, wenigſtens geiſtweiſe Theil genommen. Was
halten Sie von dieſer Manifeſtation eines Abgeſchie-
denen, mein lieber Maler?“


Theobald lächelte und war im Begriff, zu ant-
worten, als Margot und Nannette mit großer
Bewegung in’s Zimmer gelaufen kamen, und haſtig
ein Fenſter öffneten, das gegen die Gartenallee hin-
ausſah. „Um Gotteswillen, hören Sie doch,“ rief
das Fräulein den beiden Männern zu, „was für ein
ſeltſamer Geſang das iſt!“ Während der Präſident,
ganz erſtaunt, ſich mit den Mädchen ſtritt, ob die
Stimme im Garten oder außerhalb deſſelben ſey, war
Nolten in der Mitte des Zimmers ſprachlos ſtehen
geblieben: er kannte dieſe Töne, die Ruine vom Reh-
ſtock ſtand urplötzlich vor ſeinem Geiſt, ihm war, als
ſchlüge das Todtenlied einer Furie weiſſagend an ſein
Ohr, er zog ſeine Schweſter vom Fenſter hinweg und
mit haſtig verworrenen Worten fordert er ſie auf, mit
[574] ihm nach Agneſen zu ſehn. Sie fanden Schlafzim-
mer und Bett des Mädchens leer. Unter dem Weh-
ruf eines Verzweifelten eilt Nolten hinunter, den
Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits
dort angekommen. Der Präſident vom Fenſter aus
gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme
hergekommen, denn ſchon war kein Laut mehr zu hö-
ren. Das ganze Schloß war in Bewegung und in
dem weitläufigen Garten ſah man bald ſo viele Lich-
ter hin und her ſchweben, als nur Perſonen aufzu-
treiben waren. Der Präſident ſelbſt half jezt eifrig
mitſuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel
überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle
größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge,
Lauben, Pavillons und Treibhäuſer hat man in Kur-
zem vergeblich durchlaufen, Einige ſteigen über die
Mauer, Andre eilen ohne Schonung der Gewächſe
und Beete, das Gebüſch und die tiefern Schatten zu
beleuchten. Nicht lange, ſo winkt der Jäger des Prä-
ſidenten dieſen mit einem traurigen Blicke hinweg, der
Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte
vom Haus, hart unter den Fenſtern Agneſens, ſehn
ſie das ſchöne Kind unter einigen Weihmuthsfichten,
regungslos ausgeſtreckt, im weißen Nachtkleide liegen,
die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über
die nackten Schultern zerſtreut. Nolten ſank neben
dem Körper in die Kniee, fühlte nach Athem, den er
nicht fand, er brach in lauten Jammer aus, indem er
[575] die Hände der Armen an ſeine heißen Lippen drückte.
Die Uebrigen ſtanden erſchrocken umher, nach und nach
ſammelten die Lichter ſich leiſe um den unglücklichen
Platz, ein banges Stillſchweigen herrſchte, während
Andere eine Trage herbeizuholen eilten, und Margot
die Füße der Erſtarrten in ihr Halstuch einhüllte.
„Laſſen Sie uns,“ ſagt jezt der Präſident zu Nolten,
welcher noch immer ohne Beſinnung an der Erde
kauerte, „laſſen Sie uns vernünftig und gefaßt ſchnelle
Hülfe anwenden, Ihre Braut wird in Kurzem die Au-
gen wieder öffnen!“ Alſo hob man vorſichtig die
Scheinleiche auf das Polſter und Alle ſezten ſich in
Bewegung, als auf Einmal eine fremde Weiberſtimme,
welche ganz in der Nähe aus dichtem Gezweige her-
vordrang, einen plötzlichen Stillſtand veranlaßte. Un-
willkürlich ballte ſich Theobalds Fauſt, da er die
majeſtätiſche Geſtalt der Zigeunerin mit keckem Schritt
in die Mitte treten ſah; aber die Gegenwart einer
unnahbaren Macht ſchien alle ſeine Kraft in Bande
zu ſchlagen.


Indeß man Agneſen, von den Mädchen ge-
ſchäftig begleitet, hinwegtrug, ſagte Eliſabeth mit
ruhigem Ernſt: „Wecket das Töchterchen ja nicht mehr
auf! Entlaßt in Frieden ihren Geiſt, damit er nicht
unwillig, gleich dem verſcheuchten Vogel, in der unte-
ren Nacht ankomme, verwundert, daß es ſo balde ge-
ſchah. Denn ſonſt kehrt ächzend ihre Seele zurück,
mich zu quälen und meinen Freund; es eifert, ich
[576] fürchte, die Liebe ſelber im Tode noch fort. Ich bin
die Erwählte! mein iſt dieſer Mann! Aber er blickt
mich nicht an, der Blöde. Laßt uns allein, damit er
mich freundlich begrüße!“


Sie tritt auf Theobalden zu, der ihre Hand,
wie ſie ihn ſanft anfaſſen will, mit Heftigkeit weg-
wirft. „Aus meinen Augen, Verderberin! verhaßtes,
freches Geſpenſt! das mir den Fluch nachſchleppt,
wohin ich immer trete! Auf ewig verwünſcht, in die
Hölle beſchworen ſey der Tag, da du mir zum Erſten-
male begegnet! Wie muß ich es büßen, daß mich als
argloſen Knaben das heiligſte Gefühl zu dir, zu dei-
nem Unglück mitleidig hinzog, in welche ſchändliche
Wuth hat deine ſchweſterliche Neigung, in was für
teufliſche Bosheit hat deine geheuchelte Herzensgüte
ſich verkehrt! Aber ich konnte wiſſen, ich kindiſcher,
raſender Thor, mit Wem ich handeln ging! — Herr
Gott im Himmel! nur dieſe Strafe iſt zu hart —
Elend auf Elend, unerhört und unglaublich, ſtürzt auf
mich ein — O ihr, deren Blicke halb mit Erbarmen,
halb mit entehrendem Argwohn auf mich, auf dieſes
Weib gerichtet ſind, glaubt nicht, daß meine Schuld
dem Jammer gleich ſey, der mein Gehirn zerrüttet!
Das Elend dieſer Heimathloſen leſ’t ihr auf ihrer
Stirn — aus dieſer Quelle floß mir ſchon ein über-
volles Meer von Kummer und Verwirrung. Keine
Verbrecherin darf ich ſie nennen — ſie verdiente mein
Mitleid, ach, nicht meinen Haß! Doch wer kann billig
[577] ſeyn, wer bleibt noch Menſch, wenn der barmherzige
Himmel ſich in Grauſamkeiten erſchöpft? Was? wär’s
ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich ſelbſt ein
tobender Wahnſinn ergriffe, mich fühllos machte gegen
das Aeußerſte, Lezte, das — o ich ſeh es unaufhalt-
ſam näher kommen! Was klag’ ich hier? was ſtehn
wir Alle hier? und droben der Engel ringt zwiſchen
Leben und Tod — Sie ſtirbt! Sie ſtirbt! Soll ich
ſie ſehn? kann ich ſie noch retten? O folgt mir! —
Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja —
ja — auf ihrer Miene kann ich es leſen — Es iſt
geſchehen — mit Agnes, mit Agnes iſt es vorbei!
— Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen an’s Ende der
Welt“ — Kraftvoll hält ihn Eliſabeth feſt, er ſtößt
im ungeheuren Schmerz ein entſetzliches Wort gegen
ſie aus, aber ſie umfaßt mit Geſchrei ſeine Kniee und
er kann ſich nicht rühren. Der Präſident wendet das
Auge von der herzzerreiſſenden Scene. „Weh! Wehe!“
ruft Eliſabeth, „wenn mein Geliebter mir flucht, ſo
zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennſt du
mich denn nicht? Liebſter! erkenne mich! Was hat
mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege
gelehrt? Schau an, dieſe blutenden Sohlen! Die Liebe,
du böſer, undankbarer Junge, war allwärts hinter
mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und
Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht ſehnende
Liebe, iſt unermüdlich, iſt unertödtlich, das arme Le-
ben! und freut ſich ſo ſüßer, ſo wilder Plage, und
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[578] läuft und erkundet die Spuren des leidigen Flücht-
lings von Ort zu Ort, bis ſie ihn gefunden — Sie
hat ihn gefunden — da ſteht er und will ſie nicht
kennen. Weh mir! wie hab’ ich freudigern Empfang
gehofft, da ich dir ſo lange verloren geweſen, und,
Liebſter, du mir! — So gar nicht achteſt du meines
herzlichen Grames, ſtößeſt mich von dir wie ein räu-
diges Thier, — das aber leckt mit der Zunge die
Füße des Herrn, das aber will von ſeinem Herrn
nicht laſſen. — — Ihr Leute, was ſoll’s? Warum
hilft mir Niemand zu meinem Recht? Sey Zeuge du
Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieſer Jüngling
mir zugehört! Er hat mir’s geſchworen vorlängſt auf
der Höhe, da er mich fand. Die herbſtlichen Winde
um’s alte Gemäuer vernahmen den Schwur; alljähr-
lich noch reden die Winde von dem glückſeligen Tag.
Ich war wieder dort, und ſie ſagten: Schön war er
als Knabe, wär’ er ſo fromm auch geblieben! Aber
die Kinder allein ſind wahrhaftig. — Agnes, was
geht ſie dich an? Ihr konnteſt du dein Wort nicht
halten; du ſelbſt haſt’s ihr bekannt, das hat ſie krank
gemacht, ſie klagte mir’s den Abend. Warſt du ihr
ungetreu, ei ſieh, dann biſt du mir’s doppelt geweſen.“


Dieſe lezten Worte fielen dem Maler wie Don-
ner auf’s Herz. Er wüthete gegen ſich ſelbſt, und
jammervoll war es zu ſehen, wie dieſer Mann, taub
gegen alle Vernunft, womit der Präſident ihm zuſprach,
ſich im eigentlichen Sinne des Worts, die Haare raufte
[579] und Worte ausſtieß, die nur der Verzweiflung zu ver-
geben ſind. Endlich ſtürzt er dem Schloſſe zu, der
Präſident, voll Theilnahme, eilt nach. Auf ſeinen
Wink wollen einige Leute ſich der Verrückten bemäch-
tigen, aber mit einer Schnelligkeit, als hätte ſie es
aus der Luft gehaſcht, ſchwingt ſie ein blankes Meſſer
drohend in der Fauſt, daß Niemand ſich zu nähern
wagt. Dann ſtand ſie eine ganze Weile ruhig, und
nach einer unbeſchreiblich ſchmerzvollen Gebärde des
Abſchieds, indem ſie ihre beiden Arme nach der
Seite auswarf, wo Nolten ſich entfernt hat, wandte
ſie ſich und verſchwand zögernden Schritts in der
Finſterniß.


Die Nacht ging ruhig vorüber. Agnes hatte
ſich geſtern, noch eh’ der Arzt erſchienen war, unter
den Bemühungen ſo vieler zärtlichen Hände ſehr bald
erholt. Das Fräulein und die Schwägerin wichen
die ganze Nacht nicht von ihrem Bette: von Stunde
zu Stunde war Nolten an die Thür getreten, zu
hören, wie es drinne ſtand. Geſprochen hatte das
Mädchen ſeit geſtern faſt nichts, nur in einem wenig
unterbrochenen Schlummer hörte man ſie einige Mal
leiſe wimmern. Am Morgen aber nahm ſie das Früh-
ſtück mit einer erfreulichen Heiterkeit aus Margots
Hand, verlangte, daß dieſe und Nannette ſich nie-
derlegen, und ausruhn, für ſich ſelber wünſchte ſie
[580] nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr
dieß nicht weigern durfte, ſo ward eine Perſon in’s
Nebenzimmer geſezt, von welcher ſie auf der Stelle
gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.


Noltens Unruhe und Verzagtheit, ſo lange
man in Agneſens Zuſtand noch nicht klar ſehen
konnte, iſt nicht auszuſprechen. Es trieb ihn im
Schloſſe, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders
als einen Menſchen, der jeden Augenblick ſein Todes-
urtheil kommen ſieht. Dabei ſagt er ſich wohl, daß
vor Allem der Präſident eine befriedigende Erklärung
des Vorfalls erwarten könne, daß er dieſe ſich ſelbſt
und ſeiner eigenen Ehre ſchuldig ſey. Jedoch mit
der edelſten Schonung verweist ihn Jener auf einen
ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl-
that, ſich in der Einſamkeit erſt ſelbſt zurechte zu finden.


Ach, aber leider überall erſtarren ihm Sinn und
Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter-
liche Angſtbild in ſich zu drehen und zu wenden ver-
ſucht, er ſieht nicht Grund noch Boden dieſer Ver-
wirrungen ab; auf ſich ſelbſt wälzt er die ganze Schuld,
auf jenen Abend, da er die arme Seele ſo tödtlich er-
ſchüttert und für die wahnſinnigen Angriffe des Weibs
erſt empfänglich gemacht.


Unglücklicherweiſe kam Nachmittags Beſuch von
der Stadt, Herren vom Kollegium des Präſidenten mit
Frauen und Kindern. Der Maler ließ ſich verläugnen;
[581] ſeine Schweſter half Margoten treulich die Haus-
ehre retten.


Gegen Abend fand ſich eine günſtige Stunde, dem
Präſidenten die gedachte Aufklärung zu geben. An
ihrem Vater bemerkte Margot, als er und der Ma-
ler, nach einer langen Unterredung im Garten, endlich
in’s Zimmer traten, eine auffallende Bewegung; er
mochte nicht reden, man ſezte ſich ſchweigend zu Tiſche
und doch wollte man ſich nachher nicht ſogleich tren-
nen; es war, als bedürften ſie Alle einander, obgleich
Keins dem Andern etwas zu ſagen oder abzufragen
Miene machte. Die Mädchen griffen in der Noth zu
einer gleichgültigen Arbeit. Der Präſident ſah ein
großes Paket Kupferſtiche, noch uneröffnet, an der
Seite liegen; es war das prächtige Denon’ſche Werk
zu der franzöſiſchen Expedition nach Egypten (er hatte
es Nolten zu Liebe von der Stadt bringen laſſen),
es wurde ausgepackt, doch Niemand hielt ſich lange
dabei auf.


Noch laſten auf Jedem die Schrecken des geſtri-
gen Abends; bald muß man mitleidig die flüchtige
Geſtalt Eliſabeths auf finſteren Pfaden verfolgen,
bald ſtehen die Gedanken wieder vor dem einſamen
Bette Agneſens ſtill, welche durch eine wun-
derbare Scheidewand auf immer von der Geſellſchaft
abgeſchnitten ſcheint.


Der Präſident kann ſich ſo wenig als der Maler
es verbergen, daß das Mädchen auf dem geraden Wege
[582] ſey, ſich durch eine falſche Idee von Grund aus zu
zerſtören. Das Unerträgliche, das Fürchterliche dabei
iſt für die Freunde das Gefühl, daß weder Vernunft
noch Gewalt, noch Ueberredung hier irgend etwas thun
können, um eine Ausſöhnung mit Nolten zu bewir-
ken: denn dieß muß entſcheiden, und zwar unverzüg-
lich, ein jeder Augenblick früher iſt, wie bei tödtlicher
Vergiftung, mit Gold nicht aufzuwiegen. Aber Ag-
nes
verrieth den unbezwinglichſten Widerwillen gegen
ihren Verlobten; man wußte nicht, war Furcht oder
Abſcheu größer bei ihr. Wie viel Eliſabeth mit-
gewirkt, ſtand nicht zu berechnen, vermuthlich ſehr viel;
genug ein zweimaliger, erſt bittender, dann ſtürmiſcher
Verſuch, den Theobald heute gemacht, ſich Zutritt bei
der Braut zu verſchaffen, hätte ſie eher bis zu Konvul-
ſionen getrieben, als daß ſie dieſem ſehnlichſten Ver-
langen würde nachgegeben haben. So mußte man
der Zeit und dem leidigen Zufall die Entwicklung faſt
ganz überlaſſen.


Die ſonderbar verlegene Spannung der vier im
Zimmer ſitzenden Perſonen iſolirte nun ein Jedes auf
ſeltſame Weiſe. Es war, als könnte man gar nicht
reden, als müßte jeder Laut, wie in luftleerem Raume,
kraftlos und unhörbar an den Lippen verſchwinden, ja,
als verhindere ein undurchdringlicher Nebel, daß Eins
das Andre recht gewahr werden könne.


Nannette war die Unbefangenſte. Sie ſtellte
der Reihe nach ihre Betrachtungen an. Es kam ihr
[583] ſo närriſch vor, daß Niemand den Mund öffnen wolle,
um der Sache raſch und beherzt auf den Grund zu
gehn, daß man nicht Anſtalt treffe, ſo oder ſo Agne-
ſen
beizukommen; ſie fühlte ſich wenigſtens Mannes
genug, den böſen Geiſt, welchen Namen er auch haben,
in was für einem Winkel er auch ſtecken möge, kurz
und gut auszutreiben, wenn ſie nur erſt wüßte, wo-
von es ſich handelte, wenn nur der Bruder ſie eines
Winkes würdigen wollte. Ihre ganze Aufmerkſamkeit
war auf den Präſidenten gerichtet, als dieſer anfing,
in Beziehung auf Agneſen der Geſellſchaft einige
Verhaltungsregeln an’s Herz zu legen, welche haupt-
ſächlich darauf hinausliefen: man müſſe, ſo ſchwer es
auch falle, durchaus ſein Gefühl verläugnen, in allen
Stücken thun, als wäre nichts Beſonderes vorgefallen,
man müſſe bei dem Mädchen durch kein Wort, keine
Miene den Grund ihres Kummers, ihrer Abſonderung
anerkennen; man ſolle Noltens bei jeder ſchicklichen
Gelegenheit und in Verbindung mit den alltäglichſten
Dingen bei ihr erwähnen, u. ſ. w. Der gute Mann
bedachte nicht, daß die Frauenzimmer zu wenig von
dem wahren Standpunkte wußten, um den Sinn dieſer
Vorſchriften ganz einzuſehn. — Nannetten war es
gewiſſermaßen behaglich, den Präſidenten unter ſo be-
denklichen Umſtänden zu beobachten. Wir ſprechen,
was das Mädchen hiebei empfand, in einer allgemeinen
Bemerkung aus.


Es gibt Männer, deren ganze Erſcheinung uns
[584] ſogleich den angenehmen Eindruck vollkommener Sicher-
heit erweckt. Das Uebergewicht einer kräftigen, mehr
verneinenden als bejahenden Natur, die Rechtlichkeit
eines reſoluten Charakters, ſogar die eigenthümliche
Atmoſphäre, welche Rang und Vermögen um ſie ver-
breiten, dieß Alles ſcheint nicht nur ſie ſelber zu Her-
ren jedes böſen Zufalls zu machen, ſondern ihre Ge-
genwart wirkt auch auf Andere, die ſich ihres Wohl-
wollens nur einigermaßen bewußt ſind, mit der Magie
eines kräftigen Talismans: herzlich gern möchten wir
ſolch einen Glücksmann immer auch ein wenig in un-
ſere Sorge und Gefahr verflochten ſehn, denn nicht
nur etwas Tröſtliches, ſondern wirklich Reizendes liegt
darin, ſich eine Perſon, die uns in jedem Betracht
überlegen und unzugänglich ſcheint, nun durch gemein-
ſame Noth auf Einmal ſo menſchlich nahe zu fühlen.
Das kleinſte Wort aus dieſem Munde, der unbedeu-
tendſte Troſt thut Wunder; ja Einige wollen behaup-
ten, daß ſelbſt die körperliche Berührung durch die
weichere Hand, durch das weichere Kleid eines dieſer
Vornehmen zuweilen etwas Unwiderſtehliches habe,
und deſto mehr, je ſeltener ſie vorkomme. Dieß nun
empfand Nannette wirklich, als der Präſident vor-
hin — einer lange ſtill fortgeſezten Gedankenkette
gleichſam den lezten Ring anſchließend — mit etwas
ermuntertem Geſicht von ſeinem Stuhle aufſtand und
ſo im Vorbeigehn mit einer wehmüthigen Freundlich-
keit das Mädchen unter’m Kinn anfaßte; ſie war von
[585] dieſem kleinen Lichtblick ſo ſonderbar gerührt, daß ſie
eine Sekunde lang meinte, nun ſey die ganze Noth
am Ende und Alles wieder gut.


Man ging jezt auseinander. Eine Perſon mußte
die Nacht wachen; übrigens kam die ganz anfänglich
getroffene Einrichtung, daß Nannette mit Agnes
in Einem Zimmer ſchlief, nun freilich ſehr zu Statten.


Die tiefe Pauſe, welche wie durch einen furcht-
baren Zauberſchlag im Leben unſerer Geſellſchaft ein-
getreten war, bezeichnete auch die nächſtfolgenden Tage.
Nannette und Margot waren indeß von dem Zu-
ſammenhang des Uebels unterrichtet worden. Alles
hatte einen andern Gang im Schloſſe angenommen.
Es war nicht anders, als es läge ein Todtkrankes
im Hauſe; unwillkürlich vermied man jede Art von
Geräuſch, auch an Orten, von wo nicht leicht etwas
in Agneſens Abgeſchiedenheit hätte dringen können;
es ſchien, das müſſe nun einmal ſo ſeyn, und wahr-
lich, wer auch nur den Maler anſah, das leidende
Entſagen, den ſtumpfen Schmerz in ſeiner geſunkenen
Haltung, der glaubte nicht leiſe, nicht zart genug auf-
treten zu können, um durch jede Bewegung, durch jede
kleine Zuvorkommenheit das Unglück zu ehren, das uns in
ſolchem Fall eine Art von Ehrfurcht abnöthigt. Der Präſi-
dent jedoch tadelte mit Ernſt dieſe Aengſtlichkeit, welche
ſich ſelbſt auf die Dienerſchaft erſtreckte; dergleichen,
[586] behauptete er, ſey auf die Kranke vom übelſten Ein-
fluß, indem ſie ſich dadurch in ihrem eingebilde-
ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr
müſſe beſtärkt fühlen.


Inzwiſchen erreichte man doch mehrere Vortheile
über ſie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr
aus- und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der
ſchweſterlichſten Liebe, womit dieſe ihr ſtets nahe zu
ſeyn wünſchte, verrieth ſie ein deutliches Mißtrauen.
Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri-
ſche Luft, wenn ſie verſichert ſeyn konnte, Theobalden
nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der
Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider,
ja man wollte bemerken, daß ſie ſich die Gelegenheit
hiezu gefliſſentlich erſehe. Stundenlang las der Prä-
ſident ihr vor; ſie bezeugte ſich immer ſehr ernſt, doch
gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge-
danken, ein ſchlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge-
genſtand zur Sprache kam, war unverkennbar; ſie
führte irgend etwas im Schilde und ſchien nur den
günſtigen Zeitpunkt abzuwarten.


Dieſe geheime Abſicht offenbarte ſich denn auch
gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem
Präſidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes
habe ihn auf das Flehentlichſte beſchworen, daß er
ihr Gelegenheit verſchaffe, aus dem Schloſſe zu ent-
kommen und nach ihrer Heimath zu reiſen. Dabei
habe ſie ihm alles Mögliche verſprochen, auch ſelbſt
[587] die Mittel ſehr geſchickt angegeben, wie ſeine Beihülfe
völlig verſchwiegen bleiben könnte. — Ein ſolches Ver-
langen war nun, die Heimlichkeit abgerechnet, ſo un-
verzeihlich nicht, der Maler hatte neulich ſelbſt den
Gedanken für ſie gehabt, man ging jezt ernſtlich dar-
über zu Rathe, verdoppelte indeß die Wachſamkeit.


So wenig es bei dieſem Allen Jemanden im
Schloſſe einfiel, den armen Freund ſein läſtiges Gaſt-
recht empfinden zu laſſen, ſo war ihm eine ſolche
Großmuth doch nichts deſto weniger drückend. Dann
rückte der Termin herbei, wo er jene Stelle in W *
antreten ſollte. Er dachte mit Schaudern der Zu-
kunft, mit doppelt und dreifach blutendem Herzen des
alten Vaters in Neuburg, der nichts von dem dro-
henden Umſturz der lieblichſten Hoffnungen ahnte.


An einem Morgen kommt Nolten wie gewöhn-
lich zum Frühſtück auf den Saal. Nannette und
Margot fliehen bei ſeinem Eintritt erſchrocken aus-
einander, ſie grüßen ihn mit abgewandtem Geſicht,
ihr Weinen verbergend. „Was iſt geſchehen?“ fragt
er voll Ahnung, „was iſt Agneſen zugeſtoßen?“
Er will hinaus, ſich überzeugen, im ſelben Augenblick
tritt der Präſident eilfertig herein. „Ich bin auf Al-
les gefaßt!“ ruft Nolten ihm zu: „um’s Himmels
willen, ſchnell! was hat es gegeben?“ „Gelaſſen! ruhig!
Mein theurer Freund, noch iſt nicht Alles verloren.
Was wir längſt fürchten mußten, das frühere Uebel,
wovon Sie mir ſagten, ſcheint leider eingetreten —
[588] Aber faſſen Sie ſich, o ſeyn Sie ein Mann! Wie
es damals vorüber gegangen, ſo wird es auch dieß-
mal.“ „Nein, nimmer, nimmermehr! Sie iſt das Opfer
meiner Tollheit! — Alſo das noch! Zu ſchrecklich!
zu gräßlich! — Was? und das ſoll ich mit anſehn?
mit dieſen Augen das ſehn und ſoll leben? — Nun,
ſey’s! Sey’s drum; es geht mit uns Beiden zur
Neige. Ich bin es gewärtig, bin’s völlig zufrieden,
daß morgen Jemand kommt und mir ſagt: Deine
Braut hat Ruhe, Agnes iſt geſtorben.“ Er ſchwieg
eine Weile, fuhr auf und riß im unbändigſten Aus-
bruch von Zorn und von Thränen, nicht wiſſend, was
er wollte oder that, die Schweſter wild an ſich her
— „Wie ſtehſt du da? was gaffſt du da?“ „Herr,
nicht ſo! das iſt grauſam,“ ruft Margot entrüſtet
und nimmt die Zitternde in Schutz, die er wie raſend
von ſich weggeſchleudert hat. „O,“ ruft er, die Fauſt
vor die Stirne geſchlagen, „warum wüthet Niemand
gegen mich? warum ſteh’ ich ſo ruhig, ſo matt und
erbärmlich in kalter Vernichtung? Ha, würfe mir
irgend ein grimmiger Feind meinen Schmerz in’s
Geſicht, vor die Füße! und ſchölte mich den gottver-
laſſ’nen Thoren, der ich bin, den dummen Mörder,
der ich bin! ſtreute mir Salz und Glut in die
Wunde — das ſollte mir wohl thun, das ſollte mich
ſtärken“ —


„Wir überlaſſen Sie ſich ſelbſt, mein Freund,“
verſezte ganz ruhig der Präſident, „und wollen Ihnen
[589] dadurch zeigen, daß wir nicht glauben, einen Mann,
denn dafür hielt ich Sie bis jezt, vor ſich ſelber hü-
ten zu müſſen.“


So ſtand nun der Maler allein in dem Saale.
Es war der ſchrecklichſte Moment ſeines Lebens.


Wenn uns ganz unerwartet im ausgelaſſenſten
Jammer ein beſchämender Vorwurf aus verehrtem
Munde trifft, ſo iſt dieß immerhin die grauſamſte
Abkühlung, die wir erfahren können. Es wird auf
Einmal todtenſtill in dir, du ſiehſt dann deinen eige-
nen Schmerz, dem Raubvogel gleich, den in der kühn-
ſten Höhe ein Blitz berührt hat, langſam aus der
Luft herunterfallen und halbtodt zu deinen Füßen
zucken.


Der Maler hatte ſich auf einen Sitz geworfen.
Er ſah mit kalter Selbſtbetrachtung geruhig auf den
Grund ſeines Innern herab, wie man oft lange dem
Rinnen einer Sanduhr zuſehn kann, wo Korn an
Korn ſich unabläſſig legt und ſchiebt und fällt. Er
bröckelte ſpielend ſeine Gedanken, der Reihe nach,
auseinander und lächelte zu dieſem Spiel. Dazwiſchen
quoll es ihm, ein über’s andre Mal, ganz wohl und
leicht um’s Herz, als entfalte ſo eben ein Engel der
Freuden nur ſachte, ganz ſachte die goldnen Schwin-
gen über ihm, um dann leibhaftig vor ihn hinzu-
treten!


Erſchrocken ſchaut er auf, ihm däucht, es komme
Jemand, wie auf Socken, durch die drei offen in
[590] einandergehenden Zimmer herbei. Er ſtaunt — Ag-
ues
iſt’s, die ſich nähert. Sie geht baarfuß; ſonſt
aber nicht nachläſſig angethan; nur Eine Flechte ihres
Haars hängt vorn herab, davon ſie das äußerſte Ende
gedankenvoll lauſchend an’s Kinn hält. Ein ganzer
Himmel voll Erbarmung ſcheint mit ſtummer Klagge-
bärde ihren ſchleichenden Gang zu begleiten, die Fal-
ten ſelber ihres Kleids mitleidend die liebe Geſtalt zu
umfließen.


Nolten iſt aufgeſtanden; doch ihr entgegenzu-
gehen darf er nicht wagen; all’ ſeine Seele hält den
Athem an. Das Mädchen iſt bis unter die Thüre
des Saals vorgeſchritten, hier bleibt ſie ſtehen und
lehnt ſich in bequem-gefälliger Stellung mit dem Kopf
an die Pfoſte. So ſchaut ſie aufmerkſam zu ihm hin-
über. Der rührende Umriß ihrer Figur, ſo wie die
Bläſſe des Geſichts wird noch reizender, ſüßer durch
die Dämmerung des grünen Zimmers bei den gegen
die ſchwüle Morgenſonne verſchloſſenen Fenſterladen.
So ihn betrachtend, ſpricht ſie erſt für ſich: „Er gleicht
ihm ſehr, er hat ihn gut gefaßt, ein Ei gleicht dem
andern nicht ſo, aber Eines von beiden iſt hohl.“
Dann ſagte ſie laut und höhniſch: „Guten Morgen,
Heideläufer! Guten Morgen Höllenbrand! Nun, ſtell’
Er ſich nicht ſo einfältig! Schon gut, ſchon gut! ich
bin unbeſchreiblich gerührt. Er bekommt ein Trink-
geld für’s Hokuspokus. — Bleib er nur — bitte ge-
horſamſt, ich ſeh’s recht gut, nur immer zwölf Schritt
[591] vom Leibe. Was macht denn ſeine liebe braune Otter?
— haha, nicht wahr? Mein kleiner Finger ſagt mir
nur zuweilen auch etwas. Nun, ich muß weiter.
Kurze Aufwartungen, das iſt ſo Mode in der vorneh-
men Welt. Und bemüh’ Er ſich nur nie wegen mei-
ner, wir nehmen das nicht ſo genau.“


Sie neigte ſich und ging.


Wenn man — ſprach Theobald erſchüttert
bei ſich ſelbſt — wenn man etwa ſo träumt, wie die-
ſes wirklich iſt, ſo ſchüttelt ſich der Träumende vor
Schmerz und ruft ſich ſelber zu: hurtig erwecke dich,
es wird dich tödten! Schnell dreht er die nächtliche
Scheibe ſeines Geiſtes dem wahren Tageslichte zu —
Noch mehr! er greift mit Geiſterarmen entſchloſſen
durch die dicke Mauer, hinter der ſein Körper gefan-
gen ſteht, und öffnet wunderbar ſich ſelber von Außen
die Riegel. Mir ſchießt in der wachſenden Todes-
noth kein Götterflügel aus den Schultern hervor und
entreißt mich dem Dunſtkreis, der mich erſtickt, denn
dieß iſt wirklich, dieß iſt da, kein Gott wird’s ändern!


So viel man nach und nach aus Agneſens ver-
worrenen Geſprächen zuſammenreimen konnte, ſo ſchien
die ſonderbarſte Perſonen-Verwechslung zwiſchen Nol-
ten
und Larkens in ihr vorgegangen zu ſeyn; viel-
mehr es waren dieſe Beiden in ihrer Idee auf gewiſſe
Weiſe zu Einer Perſon geworden. Den Maler ſchien
[592] ſie zwar als den Geliebten zu betrachten, aber keines-
wegs in der Geſtalt, wie ſie ihn hier vor Augen ſah.
Die Briefe des Schauſpielers trug ſie wie ein Heilig-
thum jederzeit bei ſich, ihn ſelbſt erwartete ſie mit der
ſtillen Sehnſucht einer Braut, und doch war es eigent-
lich nur wieder Nolten, den ſie erwartete. Man wird,
wie dieß gemeint ſey, in Kurzem deutlicher einſehn.


Inzwiſchen hielt ſie ſich am liebſten an den blin-
den Henni; ſie nannte ihn ihren frommen Knecht,
gab ihm allerlei Aufträge, ſang mit ihm zum Klavier
oder zur Orgel, beredete ihn, ſie da und dort hin zu
begleiten, wobei ſie ihn gewöhnlich mit der Hand am
Arm zu leiten pflegte. Man glaubte nur eben ein
Paar Geſchwiſter zu ſehen, ſo vollkommen verſtanden
ſich Beide. Der Präſident und Nolten verſäumten
deßhalb nicht, dem jungen Menſchen gewiſſe Regeln
einzuſchärfen, damit eine zweckmäßige Unterhaltung
ihren Ideen wo möglich eine wünſchenswerthe Rich-
tung gebe. Der gute, verſtändige Junge ließ ſich’s
auch wirklich mit ganzer Seele angelegen ſeyn. Er
verfuhr auf die zärteſte Weiſe und wußte die Abſicht
gar klug zu verſtecken. Sie ſelbſt hatte die religiöſen
Geſpräche eingeführt, da er ſich denn recht eigentlich
zu Hauſe fand und aus dem ſtillen Schatze ſeines Her-
zens mit Freuden Alles mittheilte, was eben das Thema
gab. Am glücklichſten war er, wenn ſie in irgend ei-
nen Gegenſtand ſo weit hineingeführt werden konnte,
daß ſie von ſelbſt darin fortfuhr; und wirklich verfolgte
[593] ſie dann die Materie nicht nur ſehr lange, mit ziemli-
cher Stetigkeit, ſondern er mußte ſich häufig auch über
den Reichthum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahr-
heit ihrer innern religiöſen Erfahrung verwundern, die
freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem geſunden
Zuſtand hergenommen ſeyn mochte und mehr hiſtoriſch
von ihr vorgebracht wurde, als daß ſie jezt noch rein
und innig darin gelebt hätte; nichts deſto weniger war
die Fähigkeit unſchätzbar, ſich dieſe Gefühle lebendig
zu vergegenwärtigen, ſo wie der Vortheil, ſolche befe-
ſtigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen
Henni höchſt willkommen war. Gegen einige grelle,
aus Mißverſtändniß der Bibelſprache entſtandene Vor-
ſtellungen, welche zwar von Hauſe aus Glaubensarti-
kel bei ihr geweſen ſeyn mochten, in reiferen Jahren
aber glücklich verdrungen, jezt wieder, auf eine närriſche
Art erweitert, zum Vorſchein kamen, hatte Henni
vorzüglich zu kämpfen. Beſonders kam er mit ihrer
falſchen Anwendung des Dämonenglaubens in’s Ge-
dränge, weil er dieſe Lehre, als eine an ſich ſelber wahre
und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen
konnte.


Allein im höchſten Grad betrübend war es ihm,
wenn ſie, mitten aus der ſchönſten Ordnung her-
aus, entweder in eine auffallende Begriffsverwirrung
fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andre Dinge
abſprang.


So ſaßen ſie neulich an ihrem Lieblingsplatz unter
[594] den Akazienbäumen vor dem Gewächshaus. Sie las
aus dem Neuen Teſtamente vor. Auf Einmal hält
ſie inne und fragt: „Weißt du auch, warum Theo-
bald
, mein Liebſter, ein Schauſpieler geworden iſt?
Ich will dir’s anvertraun, aber ſag’ es Niemand,
beſonders nicht Margot, der Schmeichelkatze, ſie
plaudert’s dem Falſchen, dem Heideläufer. Vor dem
muß mein Schatz ſich eben verbergen. Drum nimmt
er verſchiedene Trachten an, ich ſage dir, alle Tage
eine andere Geſtalt, damit ihn der Läufer nicht nach-
machen kann und nicht weiß, welches von allen die
rechte iſt. Vor ein paar Jahren kam Nolten in
den Vetter Otto verkleidet zu mir; ich kannte ihn
nicht und hab’ ihn arg betrübt. Das kann ich mir
in Ewigkeit nicht vergeben. Aber wer ſoll auch die
Komödianten ganz auslernen! Die können eben Alles.
Sie ſind dir im Stande und ſtellen ſich todt, völlig
todt. Unter uns, mein Schatz that es auch, um dem
Lügner für immer das Handwerk niederzulegen. Ich
war bei der Leiche damals in der Stadt. Ich ſage dir —
verſtehſt du, dir allein Henni! — der leere Sarg liegt
in der Grube, nur ein paar lumpige Kleiderfetzen drin!“


Sie verfiel einige Sekunden in Nachdenken und
klatſchte dann fröhlich in die Hände: „O Henni!
ſüßer Junge! in ſechs Wochen kommt mein Bräuti-
gam und nimmt mich mit und wir haben gleich Hoch-
zeit.“ Sie ſtand auf und fing an, auf dem freien
Platz vor Henni auf’s Niedlichſte zu tanzen, indem
[595] ſie ihr Kleid hüben und drüben mit ſpitzen Fingern
faßte und ſich mit Geſang begleitete. „Könnteſt du
du nur ſehn,“ rief ſie ihm zu „wie hübſch ich’s mache!
fürwahr ſolche Füßchen ſicht man nicht leicht. Vögel
von allen Arten und Farben kommen auf die äußer-
ſten Baumzweige vor und ſchau’n mir gar naſeweis
zu.“ Sie lachte boshaft und ſagte: „Ich rede das
eigentlich nur, weil du mir immer Eitelkeit vorwirfſt,
ich kann dein Predigen nicht leiden. Warte doch,
du mußt noch ein bischen Eigenlob hören. Aber ich
will einen Andern für mich ſprechen laſſen.“ Sie
zog einen Brief des Schauſpielers aus dem Gürtel
und las:


„„Oft kann ich mir aber mit aller Anſtren-
gung dein Bild nicht vorſtellen, ich meine, die Züge
deines Geſichts, wenn ſie mir einzeln auch deutlich
genug vorſchweben, kann ich nicht ſo recht zuſammen-
bringen. Dann wieder in andern Augenblicken biſt
du mir ſo nahe, ſo greifbar gegenwärtig mit jeder
Bewegung! ſogar deine Stimme, das Lachen beſon-
ders, dringt mir dann ſo hell und natürlich an’s Ohr.
Dein Lachen! Warum eben das? Nun ja! behaupten
doch auch die Poeten, es gebe nichts Lieblichers von
Melodie, als ſo ein herzliches Mädchengekicher. Ein
Gleichniß, liebes Kind. In meiner Jugend, weißt
du, hatt’ ich immer ſehr viel von zarten Elfen zu
erzählen. Dieſelben pflegen ſich bei Nacht mit allerlei
lieblichen Dingen, und unter Anderm auch mit einem
kleinen Kegelſpiel die Zeit zu verkürzen. Dieß Spiel-
[596] zeug iſt vom purſten Golde, und drum wenn alle
Neune fallen, ſo heißen ſie’s ein goldenes Gelächter,
weil der Klang dabei gar hell und luſtig iſt. Gerade
ſo dünkt mich, lacht nun mein Schätzchen.““


Henni, was meinſt du dazu? Zum Glück hab’ ich
ſo ſchnell geleſen, daß du nicht einmal Zeit bekamſt, dich
drüber zu ärgern. Hör’ du, als Kind da hatt’ ich einen
Schulmeiſter, der fand dir gar eine ſonderliche Methode,
einem das Schnell-Leſen abzugewöhnen, er gab einem
das Buch verkehrt in die Hand, daß es von der Rech-
ten zur Linken ging — So, rief er dann, jezt laß den
Rappen laufen! ich will auch bei Zeit Hebräiſch leh-
ren. Recht, daß mir der Schulmeiſter beifällt — ich
bitte dich, mache doch deinen guten Vater aufmerkſam,
daß er nicht mehr gineſiſches Gartenhaus ſagen ſoll,
ſondern chineſiſches; er würde mich dauern, wenn man
ihn ſpöttiſch drum anſähe, es hat mich ſchon recht
beſchäftigt; heut hab’ ich gar davon geträumt, da gab
er mir die Erklärung: Jungfer, ich pflege mit dem
Wort zu wechſeln, und zwar nicht ohne Grund: zur
Winterszeit, wo Alles ſtarr und hartgefroren iſt,
ſprech’ ich gineſiſch, im Frühjahr wird mein g ſchon
weicher, im Sommer aber bin ich ganz und gar Chi-
neſe. Fürwahr, das iſt er auch: er trägt ein Zöpf-
chen. Im Ernſt, ich hätte gute Luſt, einmal mit der
Scheere hinter ihm herzukommen; es iſt doch gar zu
leichtfertig und altväteriſch.“


Eine Magd lief über den Weg, Agnes kehrte
[597] ihr zornig den Rücken und ſagte, nachdem ſie weg war:
„Mir wird ganz übel, ſeh’ ich die Käthe. Geſtern
hört’ ich ſie dort über die Mauer einem Bauerburſchen
zurufen: weißt du ſchon, daß die fremde Mamſell bei
uns zur Närrin worden iſt? Das erzdumme Menſch.
Wer iſt verrückt? Niemand iſt verrückt. Die Vorſehung
iſt gnädig. Deßwegen heißt es auch in meinem heuti-
gen Morgengebet:


Wolleſt mit Freuden,

Und wolleſt mit Leiden

Mich nicht überſchütten!

Doch in der Mitten

Liegt holdes Beſcheiden.

Ja, nichts geht über die Zufriedenheit. Gott-
lob, dieſe hab’ ich; fehlt nur noch Eins, fehlt leider
nur noch Eins!“


So ging es denn oft lange fort. Und wenn nun
Henni, vom Maler täglich einige Mal aufgefordert,
nichts Tröſtlicheres zu berichten hatte, ſo brach dem
armen Manne faſt das Herz.


Die Aerzte, die man befragt, gaben bloß Regeln
an, die ſich von ſelber verſtanden und überdieß bei dem
Eigenſinn der Kranken ſchwer anzuwenden waren. Zum
Beiſpiel ließ ſie ſich um keinen Preis bewegen, an der
allgemeinen Tafel zu ſpeiſen; und nur etwa wenn
man beim Rachtiſch noch auf dem Saale beiſammen
ſaß, erſchien ſie zuweilen unvermuthet in der offenen
Thür des Nebenzimmers, mit ruhigen Augen rings
auf der Geſellſchaft verweilend, ganz wieder in der
[598] angenehmen Stellung, worin wir ſie oben dem Maler
gegenüber geſehen. Verſuchte aber Theobald, ſich
ihr zu nähern, ſo wich ſie geräuſchlos zurück und kam
ſo leicht nicht wieder.


Es war indeß auf’s Neue davon die Rede gewor-
den, daß man vielleicht am Beſten thäte, ſie geradezu
nach Hauſe zurückzubringen. Der Antrag ward ihr
durch Nannetten mit aller Zartheit geſtellt, allein
ſtatt daß ſie ihn, wie man erwartete, mit beiden Hän-
den ergriffen hätte, bedachte ſie ſich ernſtlich und ſchüt-
telte den Kopf. Es war, als wenn ſie ihren Zuſtand
fühlte und ihrem Vater zu begegnen fürchtete.


Es ſprach Jemand die Meinung aus, daß Nol-
ten
ſich entweder ganz entfernen, oder ſeine Entfer-
nung wenigſtens der Braut ſollte glauben gemacht
werden, da ſeine Gegenwart ſie offenbar beunruhige
und ihrem Wahne täglich Nahrung gebe, dagegen,
wenn er ginge, wohl gar ein Verlangen nach ihm bei
ihr rege werden dürfte, wo nicht, ſo könnte man zulezt
Veranlaſſung nehmen, ihn als den erwarteten wahren
Geliebten ihr förmlich vorzuführen, oder ſie, wie ein
Kind, den frohen Fund gleichſam ſelbſt thun zu laſſen;
gelänge dieſe Liſt und wiſſe man ſie kühn und klüglich
durchzuführen, ſo ſey Hoffnung zur Kur vorhanden. —
Dieſe Anſicht ſchien ſo ganz nicht zu verwerfen. Doch
Theobald behauptete zulezt: er müſſe bleiben, ſie
müſſe ihn von Zeit zu Zeit vor Augen haben, ein ruhi-
ges, beſcheidenes Benehmen, der Anblick ſeines ſtillen
[599] Kummers werde günſtig auf ſie wirken, er halte nichts
auf künſtliche Anſchläge und Täuſchungen, er denke,
wenn irgend noch etwas zu hoffen ſey, auf ſeine Weiſe
eine weit gründlichere und dauerhaftere Heilung zu
erzielen.


Nunmehr aber würden wir es unter der Würde
des Gegenſtands halten und das Gefühl des Leſers
zu verletzen glauben, wenn wir ihn mit den Leiden
des Mädchens ausführlicher als nöthig, auf eine pein-
liche Art unterhalten wollten, ſo viele Anmuth ihr
Geſpräch auch ſelbſt in dieſer traurigen Zerſtörung
noch immer offenbaren mochte. Deßhalb beſchränkt
ſich unſere Schilderung einzig auf das, was zum Ver-
ſtändniß der Sache ſelbſt gehört.


„Fräulein, du kannſt ja Lateiniſch,“ ſagte ſie
Einmal zu Margot, „was heißt der Funke auf La-
teiniſch?“ „Scintilla,“ war die gutmüthige Antwort.
„So, ſo; das iſt ein muſterhaftes Wort, es gibt
ordentlich Funken; aber du wirſt es nur geſchwind
erdacht haben? Thut auch nichts, deſto beſſer vielmehr:
ich will künftig, wenn ich dir etwas über die Augen
des Bewußten zu ſagen habe, in ſeiner Gegenwart
nur bloß Scintilla ſagen, dann merk’ auf’s grüne
Flämmchen, — Bst! hörſt du nichts? er regt ſich
hinter’m Ofenſchirm — nämlich, er kann ſich unſicht-
bar machen — Ei, das weißt du beſſer wie ich. Und,
Fräulein, wenn du wieder mit ihm buhlſt, mir kann
es ja eins ſeyn, aber gewarnt hab’ ich dich.“ „Was
[600] ſoll mir das — Liebe Agnes!“ „O ihr habt ein-
ander flugs im Arm, wenn Niemand um den Weg
iſt! Ich bitte dich, ſag’ mir, wie küßt ſich’s denn
mit ihm? iſt er recht häßlich ſüß? merkt man ihm
an, daß er den Tenfel im Leib hat? — Fräulein,
weil dir doch nichts dran liegt, ob er hie und da
noch andre Galanterien neben dir hat, ſo will ich dir
gleich einige nennen; kannſt ihn damit necken: Erſt-
lich iſt da: eine ſchöne Comteſſe — fürnehm, ah für-
nehm! Sieh, ſo iſt ihr Anſtand — (hier machte ſie
eine graziöſe Figur durch’s Zimmer) Zieh ihn nur
damit auf! Aber angeführt ſeyd ihr im Grund doch
alle miteinander. Du willſt mir nicht glauben, daß
er mit der Zigeunerin verlobt iſt? Wenn ich Luſt
hätte, könnt’ ich den Ort wohl nennen, wo der Ver-
ſpruch gehalten wurde und wer den Segen dazuſprach,
aber fromme Chriſten beſchreien ſo was nicht. Ueber-
haupt, ich werde jezt zur Schlittenfahrt müſſen. Du
leihſt mir deinen Zobel doch wieder?“ Margot ver-
ſtand, was ſie im Sinne hatte und gab ihr das Klei-
dungsſtück. Nach einiger Zeit kam ſie ſehr art[ig] ge-
puzt, wie der Frühling und Winter, aus ihrem Zimmer
hervor, ging in den Garten und zum Karrouſel, wo
ſie ſich dann gewöhnlich in einen mit hölzernen Pfer-
den beſpannten Schlitten ſezte. Der Boden durfte
nicht gedreht werden, ſie behauptete, es komme Alles
von ſelbſt in Gang, wenn ſie die im Kreiſe ſpringen-
[601] den Roſſe eine Zeit lang anſehe und es mache ihr ei-
nen angenehmen Schwindel.


Nannette ſezte ſich mit ihrer Arbeit in den
Schatten der nächſten Laube. Bald geſellte ſich Ag-
nes
zu ihr, forderte ſie auf, nicht traurig zu ſeyn
und verhieß: ihr Bruder werde nun bald ankommen
und ſie Beide entführen. „Nicht wahr, wir wollen
feſt zuſammenhalten? Du biſt im Grund ſo übel
dran wie ich mit dieſen Lügengeſichtern. Ja, ja, auch
dir gehn die Augen nach und nach auf, ich merkte es
neulich, wie dir grauſ’te, als dich der Böſewicht Schwe-
ſter hieß. Zwinge dich nur nicht bei ihm, er kann
uns doch nicht ſchaden. — Jezt aber ſollſt du etwas
Liebes ſehen, das wird dich freuen: Lies dieſe Blätter,
du kennſt die Hand nicht, aber den Schreiber. Sie
[...]nd mein höchſter Schatz, mehr, mehr als Gold und
Perlen und Rubinen! Ich mußte ſie dem Höllenbrand
abführen, er hatte ſie mir unterſchlagen. Nimm ſie
drum fein in Acht und lies ganz in der Stille, recht
in herzinniger Stille.“ Sie ging und ließ Nannet-
ten
das Liederheft zurück, deſſen wir ſchon bei Ge-
legenheit der hinterlaſſenen Papiere des Schauſpielers
erwähnt haben.


Da dieſe Gedichte „An L.“ überſchrieben waren
und Agnes unter ihren Namen eine Luiſe hatte,
ſo eignete ſie ſich dieſelben völlig zu, nicht anders als
ſie wären von Theobald an ſie gerichtet worden.
Ueberdieß hatte ſie eine Silhouette in jenen Blättern
[602] gefunden, von der ſie ſich beredete, es ſey ihr Bild.
Man traf ſie etliche Male darüber an, daß ſie zwei
Spiegel gegen einander hielt, um ihr Profil mit dem
andern zu vergleichen.


Vielleicht iſt es dem Leſer angenehm, von jenen
Gedichten etwas zu ſehen und ſich dabei des Mannes
zu erinnern, der, wie einſt im Leben, ſo jezt noch im
Tode, das Herz des unglücklichen Kindes ſo innig be-
ſchäftigen mußte.


Der Himmel glänzt vom reinſten Frühlingslichte,

Ihm ſchwillt der Hügel ſehnſuchtsvoll entgegen,

Die ſtarre Welt zerfließt in Liebesſegen,

Und ſchmiegt ſich rund zum zärtlichſten Gedichte.

Wenn ich den Blick nun zu den Bergen richte,

Die duftig meiner Liebe Thal umhegen —

O Herz, was hilft dein Wiegen und dein Wägen,

Daß all’ der Wonne herber Streit ſich ſchlichte!

Du, Liebe, hilf den ſüßen Zauber löſen,

Womit Natur in meinem Innern wühlet!

Und du, o Frühling, hilf die Liebe beugen!

Liſch aus, o Tag! Laß mich in Nacht geneſen!

Indeß ihr, ſanften Sterne, göttlich kühlet,

Will ich zum Abgrund der Betrachtung ſteigen.

Wahr iſt’s, mein Kind, wo ich bei dir nicht bin

Geleitet Sehnſucht alle meine Wege,

Zu Berg und Wald, durch einſame Gehege

Treibt mich ein irrer, ungeduld’ger Sinn.

[603]
In deinem Arm! o ſeliger Gewinn!

Doch wird auch hier die alte Wehmuth rege,

Ich ſchwindle trunken auf dem Himmelsſtege,

Die Gegenwart flieht taumelnd vor mir hin.

So denk’ ich oft: dieß ſchnell bewegte Herz,

Vom Ueberglück der Liebe ſtets beklommen,

Wird wohl auf Erden nie zur Ruhe kommen;

Im ew’gen Lichte löst ſich jeder Schmerz,

Und all’ die ſchwülen Leidenſchaften fließen

Wie roſ’ge Wolken, träumend, uns zu Füßen.

Wenn ich, von deinem Anſchaun tief geſtillt,

Mich ſtumm an deinem heil’gen Werth vergnüge,

Da hör’ ich oft die leiſen Athemzüge

Des Engels, welcher ſich in dir verhüllt.

Und ein erſtaunt, ein ſelig Lächeln quillt

Auf meinen Mund, ob mich kein Traum betrüge,

Daß nun in dir, zu himmliſcher Genüge,

Mein kühnſter Wunſch, mein einz’ger, ſich erfüllt.

Von Tiefe dann zu Tiefen ſtürzt mein Sinn,

Ich höre aus der Gottheit nächt’ger Ferne

Die Quellen des Geſchicks melodiſch rauſchen;

Betäubt kehr’ ich den Blick nach oben hin,

Zum Himmel auf — da lächeln alle Sterne!

Ich kniee, ihrem Lichtgeſang zu lauſchen.

Schön prangt im Silberthau die junge Roſe,

Den ihr der Morgen in den Buſen rollte,

Sie blüht, als ob ſie nie verblühen ſollte,

Sie ahnet nichts vom lezten Blumen-Looſe.

Der Adler ſtrebt hinan in’s Grenzenloſe,

Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde,

[604]
Er iſt der Thor nicht, daß er fragen wollte,

Ob er das Haupt nicht an die Wölbung ſtoße.

Mag einſt der Jugend Blume uns verbleichen,

So war die Täuſchung doch ſo himmliſch ſüße,

Wir wollen ihr vorzeitig nicht entſagen.

Und unſre Liebe muß dem Adler gleichen:

Ob Alles, was die Welt gab, uns verließe —

Die Liebe darf den Flug in’s Ew’ge wagen.

Am Waldſaum kann ich lange Nachmittage,

Dem Kukuk horchend, in dem Graſe liegen,

Er ſcheint das Thal gemächlich einzuwiegen

Im friedevollen Gleichklang ſeiner Klage.

Da iſt mir wohl; und meine ſchlimmſte Plage,

Den Fratzen der Geſellſchaft mich zu fügen,

Hier wird ſie mich doch endlich nicht bekriegen,

Wo ich auf eig’ne Weiſe mich behage.

Und wenn die feinen Leute nur erſt dächten,

Wie ſchön Poeten ihre Zeit verſchwenden,

Sie würden mich zulezt noch gar beneiden.

Denn des Sonnetts vielfält’ge Kränze flechten

Sich wie von ſelber unter meinen Händen,

Indeß die Augen in der Ferne weiden.

In der Char-Woche.
O Woche, Zeugin heiliger Beſchwerde!

Du ſtimmſt ſo ernſt zu dieſer Frühlingswonne,

Und breiteſt im verjüngten Strahl der Sonne

Des Kreuzes dunkeln Schatten auf die Erde.

Du hängeſt ſchweigend deine Flöre nieder,

Der Frühling darf indeſſen immer keimen,

[605]
Das Veilchen duftet unter Blüthenbäumen,

Und alle Vöglein ſingen Jubellieder.

O ſchweigt, ihr Vöglein hoch im Himmelblauen!

Es tönen rings die dumpfen Glockenklänge,

Die Engel ſingen leiſe Grabgeſänge,

O ſchweiget, Vöglein auf den grünen Auen!

Ihr Veilchen, kränzt heut’ keine Lockenhaare!

Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße,

Ihr wandert mit zum ſtillen Gotteshauſe,

Dort ſollt ihr welken auf des Herrn Altare.

Wird ſie ſich dann in Andachtsluſt verſenken,

Und ſehnſuchtsvoll in ſüße Liebes-Maſſen

Den Himmel und die Welt zuſammenfaſſen,

So ſoll ſie mein — auch mein! dabei gedenken.

Agnes war inzwiſchen mit Henni ſpazieren ge-
gangen. Sie führte ihn in’s freie Feld hinaus, ohne
recht zu ſagen, wohin es ginge, ein nicht ſeltener Fall,
wo ihr jedes Mal eine dritte zuverläſſige Perſon unbe-
merkt in einiger Entfernung hinten nachzufolgen pflegte.
Agnes brachte ſeit einiger Zeit die ſchöne Sammet-
Jacke, das Geſchenk ihres vermeintlichen Liebhabers,
kaum mehr vom Leibe; ſo trug ſie dieſelbe auch jezt,
und ſah trotz einiger Nachläſſigkeit im Anzug ſehr rei-
zend darin aus. Unter ordentlichen Geſprächen ge-
langten Beide zu dem nächſten Wäldchen und in der
Mitte deſſelben auf einen breiten Raſenplatz, worauf
eine große Eiche einzeln ſtand, die einen offenen Brun-
nen ſehr maleriſch beſchattete. Agnes hatte von die-
[606] ſem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdig-
keit, gelegentlich erzählen gehört. Es iſt dieß wirk-
lich ein ſehenswerthes Ueberbleibſel aus dem höchſten
Alterthum und äußerlich noch wohl erhalten. Die
runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über
den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Theil ver-
ſchüttet, iſt noch immer beträchtlich, man konnte mit
mäßiger Schnelle auf Sechszehn zählen, eh’ der hin-
eingeworfene Stein unten auf dem Waſſer aufſchlug.
Sein Name „Alexis-Brunn“ bezog ſich auf eine Le-
gende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von
Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.


„Vor vielen hundert Jahren, eh’ noch das Chri-
ſtenthum in deutſchen Landen verbreitet geweſen, lebte
ein Graf, der beſaß eine Tochter, Belſore, die hatte
er eines Herzogs Sohn, mit Namen Alexis, zur
Ehe verſprochen. Dieſe liebten einander treulich und
rein; über ein Jahr ſollte Alexis ſie heimführen
dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug thun
mit ſeinem Vater, weitweg, nach Konſtantinopel. Dort
hörte er zum Erſtenmal in ſeinem Leben das Evan-
gelium von Chriſto predigen, was ihn und ſeinen
Vater bewog, dieſen Glauben beſſer kennen zu lernen.
Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und
kamen mit Freuden zulezt überein, daß ſie ſich woll-
ten taufen laſſen. Bevor ſie wieder heimreiſ’ten, ließ
der Vater von einem griechiſchen Goldſchmied zwei
Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in
[607] koſtbaren Edelſtein gegraben war; der eine gehörte
Belſoren, der andere Alexis. Als ſie nach Hauſe
kamen und der Graf vernahm, was mit ihnen geſche-
hen, und daß ſeine Tochter ſollte zur Chriſtin werden,
verwandelte ſich ſeine Freude in Zorn und giftigen
Haß, er ſchwur, daß er ſein Kind lieber würde mit
eigner Hand umbringen, eh’ ein ſolcher ſie heirathen
dürfe, und könnte ſie dadurch zu einer Königin wer-
den. Belſore verging für Jammer, zumal ſie nach
dem, was ihr Alexis vom neuen Glauben an’s Herz
gelegt, ihre Seligkeit auch nur auf dieſem Weg zu
finden meinte. Sie wechſelten heimlich die Ringe und
gelobten ſich Treue bis in den Tod, was auch immer
über ſie ergehen würde. Der Graf bot Alexis Be-
denkzeit an, ob er etwa ſeinen Irrthum abſchwören
möchte, da er ihn denn auf’s Neue als lieben Schwie-
gerſohn umarmen wolle. Der Jüngling aber verwarf
den frevelhaften Antrag, nahm Abſchied von Belſo-
ren
, und griff zum Wanderſtab, um in geringer Tracht
bald da bald dort als ein Bote des Evangeliums um-
herzureiſen. Da er nun überall verſtändig und kräftig
zu reden gewußt, auch lieblich von Geſtalt geweſen,
ſo blieb ſeine Arbeit nicht ohne vielfältigen Segen.
Aber oft, wenn er ſo allein ſeine Straße fortlief, bei
Schäfern auf dem Felde, bei Köhlern im Walde über-
nachten blieb und neben ſo viel Ungemach auch wohl
den Spott und die Verachtung der Welt erfahren
mußte, war er vor innerer Anfechtung nicht ſicher und
[608] zweifelte zuweilen, ob er auch ſelbſt die Wahrheit habe,
ob Chriſtus der Sohn Gottes ſey, und würdig, daß
man um ſeinetwillen Alles verlaſſe. Dazu geſellte ſich
die Sehnſucht nach Belſoren, mit der er jezt wohl
längſt in Glück und Freuden leben könnte. Indeß war
er auf ſeinen Wanderungen auch in dieſe Gegend ge-
kommen. Hier, wo nunmehr der Brunnen iſt, ſoll
damals nur eine tiefe Felskluft, dabei ein Quell ge-
weſen ſeyn, daran Alexis ſeinen Durſt gelöſcht. Hier
flehte er brünſtig zu Gott um ein Zeichen, ob er den
rechten Glauben habe; doch dachte er ſich dieſer Gnade
erſt durch ein Geduldjahr würdiger zu machen, wäh-
rend deſſen er zu Haus beim Herzog, ſeinem Vater,
geruhig leben und ſeine Seele auf göttliche Dinge
richten wolle. Werde er in dieſer Zeit ſeiner Sache
nicht gewiſſer und komme er auf den nächſten Früh-
ling wiederum hieher, ſo ſoll der Roſenſtock entſchei-
den, an deſſen völlig abgeſtorbenes Holz er jezt den
Ring der Belſore feſtſteckte: blühe bis dahin der
Stock und trage er noch den goldenen Reif, ſo ſoll
ihm das bedeuten, daß er das Heil ſeiner Seele bis-
her auf dem rechten Wege geſucht und daß auch ſeine
Liebe zu der Braut dem Himmel wohlgefällig ſey. So
trat er nun den Rückweg an. Der Herzog war in-
zwiſchen dem Erlöſer treu geblieben, und von Belſo-
ren
erhielt Alexis durch heimliche Botſchaft die
gleiche Verſicherung. So ſehr ihn dieß erfreute, ſo
blieb ihm doch ſein eigener Zweifelmuth; zugleich be-
[609] trübte er ſich, weil es im Brief der Braut beinah
den Anſchein hatte, als ob ſie bei aller treuen Zärtlich-
keit für ihn, doch ihrer heißen Liebe zum Heiland die
ſeinige in etwas nachgeſezt. Er konnte kaum erwar-
ten, bis bald das Jahr um war. Da macht er ſich
alſo zu Fuße, wie er’s gelobt, auf den Weg. Er
findet den Wald wieder aus, er kennt ſchon von wei-
tem die Stelle, er fällt, bevor er näher tritt, noch
Einmal auf die Knie und eilt mit angſtvollem Herzen
hinzu. O Wunder! drei Roſen, die ſchönſten, hängen
am Strauch. Aber ach, es fehlte der Ring. Sein
Glaube alſo galt, aber Belſore war ihm verloren.
Voll Verzweiflung reißt er den Strauch aus der Erde
und wirft ihn in die tiefe Felskluft. Gleich nachher
reut ihn die Unthat; als ein Büßender kehrt er zu-
rück in’s Vaterland, deſſen Einwohner durch die Be-
mühungen des Herzogs bereits zum großen Theil wa-
ren bekehrt worden. Alexis verſank in eine finſtre
Schwermuth; doch Gott verließ ihn nicht, Gott gab
ihm den Frieden in ſeinem wahrhaftigen Worte. Nur
über Einen Punkt, über ſeine Liebe zu der frommen
Jungfrau, war er noch nicht beruhigt. Eine heim-
liche Hoffnung lebte in ihm, daß er an jenem wunder-
baren Orte noch völlig müſſe getröſtet werden. Zum
dritten Mal macht er die weite Wallfahrt, und glück-
lich kommt er an’s Ziel. Aber leider trifft er hier
Alles nur eben wie er’s verlaſſen. Mit Wehmuth
erkennt er die nackte Stelle, wo er den Stock ent-
39
[610] wurzelt hatte. Kein Wunder will erſcheinen, kein
Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In
ſolcher Noth und Hoffnungsloſigkeit überfiel ihn die
Nacht, als er noch immer auf dem Felſen hingeſtreckt
lag, welcher ſich über die Kluft herbückte. In Ge-
danken ſah er ſo hinunter in die Finſterniß und über-
legte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes
Namen wieder wandern und ſeiner Liebſten ein Ab-
ſchiedsſchreiben ſchicken wolle. Auf Einmal bemerkt
er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des
Waſſers als wie ein Gold- und Roſenſchimmer zuckt
und flimmt. Anfänglich traut er ſeinen Augen nicht,
allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein
wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der
Tag kommt, klimmt er die Felſen hinab, und ſiehe da!
der weggeworfene Roſenſtock hatte zwiſchen dem Ge-
ſtein, kaum eine Spanne über’m Waſſer, Wurzel ge-
ſchlagen und blühte gar herrlich. Behutſam macht
Alexis ihn los, bringt ihn an’s Tageslicht herauf
und findet an derſelben Stelle, wo er vor zweien Jah-
ren den Reif angeſteckt, ringsum eine friſche Rinde
darüber gequollen, die ihn ſo dicht einſchloß, daß kaum
durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte.
Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre
er nicht ſo übereilt und ſein Vertrauen zu Gott größer
geweſen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar
warf er nun ſich im Gebet zur Erde! Mit welchen
Thränen küßte er den Stock, der außer vielen aufgegan-
[611] genen Roſen noch eine Menge Knoſpen zeigte. Gerne
hätte er ihn mitgenommen, allein er glaubte ihn dem
heiligen Orte, wo er zuvor geſtanden, wieder einver-
leiben zu müſſen. Unter lautem Preiſe der göttlichen
Allmacht kehrte er, wie ein verwandelter Menſch, in’s
väterliche Haus zurück. Dort empfängt ihn zugleich
eine Freuden- und Trauerbotſchaft: der alte Graf war
geſtorben, auf dem Todtenbett hatte er ſich, durch die
Belehrung ſeiner Tochter gewonnen, zum Chriſtenthum
bekannt und ſeine Härte aufrichtig bereut. Alexis
und Belſore wurden zum glücklichſten Paare ver-
bunden. Ihr Erſtes hierauf war, daß ſie mit einan-
der eine Wallfahrt an den Wunderquell machten und
denſelben in einen ſchöngemauerten Brunn faſſen ließen.
Viele Jahrhunderte lang ſoll es ein Gebrauch gewe-
ſen ſeyn, daß weit aus der Umgegend die Brautleute
vor der Hochzeit hieherreiſ’ten, um einen geſegneten
Trunk von dieſem klaren Waſſer zu thun, welches der
Roſen-Trunk geheißen; gewöhnlich reichte ihn ein Pa-
ter Einſiedler, der hier in dem Walde gewohnt. Das
iſt nun freilich abgegangen, doch ſagen die Leute, die
Schäfer und Feldhüter, daß noch jezt in der Charfrei-
tag- und Chriſtnacht das roſenfarbene Leuchten auf
dem Grunde des Brunnens zu ſehen ſey.“


Agnes betrachtete einen vorſtehenden Mauerſtein,
worauf noch ziemlich deutlich drei ausgehauene Roſen
und ein Kreuz zu bemerken waren. Henni leitete
aus der Geſchichte mehrere Lehren für ſeine arme
[612] Schutzbefohlene ab; ſie merkte aber ſehr wenig dar-
auf und zog ihn bald von dem Platze weg, um
nahebei einen kleinen Berggipfel zu beſteigen, welcher
ſich kahl und kegelförmig über das Wäldchen erhob.
„Der Wind weht dort! Ich muß das Windlied ſingen;
es iſt ſehr rathſam heute,“ rief Agnes, voraneilend.


Sie ſtanden oben und ſie ſang in einer freien
Weiſe die folgenden Verſe, indem ſie bei Frag’ und
Antwort jedes Mal ſehr artig mit der Stimme wech-
ſelte, dabei ſehr lebhaft in die Luft agirte.


„Sauſewind! Brauſewind!

Dort und hier,

Deine Heimath ſage mir!“

„„Kindlein, wir fahren

Seit viel vielen Jahren

Durch die weit weite Welt,

Und wollen’s erfragen,

Die Antwort erjagen,

Bei den Bergen, den Meeren,

Bei des Himmels klingenden Heeren —

Die wiſſen es nie,

Biſt du klüger als ſie,

Magſt du es ſagen.

— Fort! Wohlauf!

Halt uns nicht auf!

Kommen andre nach,

Unſre Brüder,

Da frag’ wieder.““

„Halt an! Gemach,

Eine kleine Friſt!

Sagt, wo der Liebe Heimath iſt,

Ihr Anfang, ihr Ende!“

[613]
„„Wer’s nennen könnte!

Schelmiſches Kind,

Lieb’ iſt wie Wind,

Raſch und lebendig,

Ruhet nie,

Ewig iſt ſie,

Aber nicht immer beſtändig.

— Fort! Wohlauf auf!

Halt uns nicht auf!

Fort über Stoppel, und Wälder, und Wieſen!

Wenn ich dein Schätzchen ſeh’,

Will ich es grüßen;

Kindlein, Ade!““

Gegen Abend hatte ſich Agnes ermüdet zu
Bette gelegt; der Präſident war eine Zeitlang bei ihr
geweſen; auf Einmal kam er freudig aus ihrem Schlaf-
zimmer und ſagte eilfertig zu Theobald hin: „Sie
verlangt nach Ihnen, geh’n Sie geſchwinde!“ Er ge-
horchte unverzüglich, die Andern blieben zurück und
er zog die Thüre hinter ſich zu. Agnes lag ruhig
auf der Seite, den Kopf auf einem Arm geſtüzt. Be-
ſcheiden ſezte er ſich mit einem freundlichen Gruß auf
den Stuhl an ihrem Bette; durchaus gelaſſen, doch
einigermaßen zweifelhaft ſah ſie ihn lange an; es
ſchien als dämmerte eine angenehme Erinnerung bei
ihr auf, welche ſie an ſeinen Geſichtszügen zu prüfen
ſuchte. Aber heißer, ſchmelzender wird ihr Blick, ihr
Athem ſteigt, es hebt ſich ihre Bruſt, und jezt — in-
dem ſie mit der Linken ſich beide Augen zuhält —
[614] ſtreckt ſie den rechten Arm entſchloſſen gegen ihn, faßt
leidenſchaftlich ſeine Hand und drückt ſie feſt an ihren
Buſen; der Maler liegt, eh’ er ſich’s ſelbſt verſieht,
an ihrem Halſe und ſaugt von ihren Lippen eine
Gluth, die von der Angſt des Moments eine ſchau-
dernde Würze erhält; der Wahnſinn funkelt frohlockend
aus ihren Augen, Verzweiflung preßt dem Freunde
das himmliſche Gut, eh’ ſich’s ihm ganz entfremde,
noch Einmal — ja er fühlt’s, zum lezten Mal, in
die zitternden Arme.


Aber Agnes fängt ſchon an unruhig zu werden,
ſich ſeinen Küſſen leiſe zu entziehen, ſie hebt ängſtlich
den Kopf in die Höhe: „Was flüſtert denn bei dir?
was ſpricht aus dir? ich höre zweierlei Stimmen —
Hülfe! zu Hülfe! du tückiſcher Satan, hinweg —!
Wie bin ich, wie bin ich betrogen! — O nun iſt
Alles, Alles mit mir aus. — Der Lügner wird hin-
gehn, mich zu beſchimpfen bei meinem Geliebten, als
wär’ ich kein ehrliches Mädchen, als hätt’ ich mit Wiſſen
und Willen dieß Scheuſal geküßt — O Theobald!
wäreſt du hier, daß ich dir Alles ſagte! Du weiß’t
nicht, wie’s die Schlangen machten! und daß man mir
den Kopf verrückte, mir, deinem unerfahrnen, armen,
verlaſſenen Kind!“ Sie kniete aufrecht im Bette,
weinte bitterlich und ihre losgegangenen Haare be-
deckten ihr die glühende Wange. Nolten ertrug
den Anblick nicht, er eilte weinend hinaus: „Ja lache
nur in deine Fauſt und geh’ und mach’ dich luſtig mit
[615] den Andern — es wird nicht allzu lange mehr ſo
dauern, denn es iſt gottvergeſſen und die Engel im
Himmel erbarmt’s, wie ihr ein krankes Mädchen quält!“


Die Schwägerin kam und ſezte ſich zu ihr, ſie
beteten; ſo ward ſie ruhiger.


„Nicht wahr?“ ſprach ſie nachher, „ein ſelig Ende,
das iſt’s doch, was ſich zulezt ein Jeder wünſcht; ei-
nen leichten Tod, recht ſanft, nur ſo wie eines Kna-
ben Knie ſich beugt; wie komm’ ich zu dem Ausdruck?
ich denke an den Henni; mit dieſem müßte ſich gut
ſterben laſſen.“


In dieſem Ton ſprach ſie eine Weile fort, ver-
gaß ſich nach und nach, ward munterer, endlich gar
ſcherzhaft, und zwar ſo, daß Nannetten dieſer
Sprung mißfiel. Agnes bemerkte es, ſchien wirklich
durch ſich ſelbſt überraſcht und beſchämt, und ſie ent-
ſchuldigte alsbald ihr Benehmen auf eine Art, welche
genugſam zeigt, wie klar ſie ſich auf Augenblicke war:
„Siehſt du,“ ſagte ſie mit dem holdeſten Lächeln der
Wehmuth, „ich bin nur eben wie das Schiff, das leck
an einer Sandbank hängt und dem nicht mehr zu
helfen iſt; das mag nun wohl ſehr kläglich ſeyn, was
kann aber das arme Schiff dafür, wenn mittlerweile
noch die rothen Wimpel oben ihr Schelmenſpiel im
Wind forttreiben, als wäre nichts geſchehn? Laß ge-
hen wie es gehen kann. Wenn erſt Gras auf mir
wächst, hat’s damit auch ein Ende.“


[616]

Der Maler verließ den folgenden Tag in aller
Frühe das Schloß: der Präſident ſelbſt hatte dazu
gerathen und ihm eines ſeiner Pferde geliehen. Es
war vor der Hand nur um einen Verſuch mit einigen
Tagen zu thun, wie das Mädchen ſich anließe, wenn
Theobald ihr aus den Augen wäre. Er ſelbſt ſchien
bei ſeiner Abreiſe noch unentſchloſſen, wohin er ſich
wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort beſtimmt,
um zur Noth Botſchaft für ihn hinterlegen zu können.
Von W * war nicht die Rede; noch kürzlich hatte er
dorthin um Friſt geſchrieben, im Herzen übrigens gleich-
gültig, ob ſie ihm gewährt würde oder die ganze Sache
ſich zerſchlüge.


Die größere Ruhe, die man bei Agnes, ſeit
der Gegenſtand ihrer Furcht verſchwunden iſt, alsbald
wahrnehmen kann, wird nach und nach zur ſtillen
Schwermuth, ihre Geſchwätzigkeit nimmt ab, ſie iſt ſich
ihres Uebels zu Zeiten bewußt und der kleinſte Zufall,
der ſie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von Sei-
ten ihrer Umgebung kann ſie empfindlich kränken.
Auffallend iſt in dieſer Hinſicht folgender Zug. Der
Präſident, oder Margot vielmehr, beſaß ein großes
Windſpiel, dem man, ſeiner ausgezeichneten Schönheit
wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund
erzeigte ſich Agneſen früher nicht abgeneigt, ſeit ei-
niger Zeit aber floh er ſie offenbar, verkroch ſich or-
dentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte dieſe Scheu ei-
nen ſehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn un-
[617] wiſſentlich geärgert haben — genug, ſie ſelber ſchien
zu glauben, es fühle das Thier das Unheimliche ihrer
Nähe. Sie ſchmeichelte dem Hund auf alle Weiſe, ja
gar mit Thränen, und ließ zulezt, da nichts verfangen
wollte, betrübt und ärgerlich von ihm ab, ohne ihn
weiter anſehn zu wollen.


Seit Kurzem bemerkte man, daß ſie ihren Trau-
ring nicht mehr trug. Als man ſie um die Urſache
fragte, gab ſie zur Antwort: „Meine Mutter hat ihn
genommen.“ „Deine Mutter iſt aber todt, willſt du
ſie denn geſehen haben?“ „Nein; dennoch weiß ich,
ſie hat den Ring mit fort; ich kenne den Platz, wo
er liegt, und ich muß ihn ſelbſt dort abholen. O
wäre das ſchon überſtanden! Es iſt ein ängſtlicher
Ort, aber einer frommen Braut kann er nichts an-
haben; ein ſchöner Engel wird da ſtehn, wird fragen,
was ich ſuche und mir’s einhändigen. Auch ſagt er
mir ſogleich, wo mein Geliebter iſt und wann er
kommt.“


Ein ander Mal ließ ſie gegen Henni die Worte
fallen: „Mir kam geſtern ſo der Gedanke, weil der
Nolten doch gar zu lange ausbleibt, gib Acht, er
hat mich aufgegeben! Und, recht beim Licht beſehn,
es iſt ihm nicht ſehr zu verdenken; was thät’ er mit
der Thörin? er hätte ſeine liebe Roth im Hauſe.
Und überdieß, o Henni — welk, welk, welk, es geht
zum Welken! Siehſt du, wie es nun gut iſt, daß noch
die Hochzeit nicht war; ich dachte wohl immer ſo was.
[618] Nun mag es enden wann es will, mir iſt doch mein
Mädchenkranz ſicher, ich nehm’ ihn in’s Grab — Un-
ter uns geſagt, Junge, ich habe mir immer gewünſcht,
ſo und nicht anders in Himmel zu kommen. Aber
den Ring muß ich erſt haben, ich muß ihn vorweiſen
können.“


Noch eines freundlichen und frommen Auftritts
ſoll hier gedacht werden, zumal es das Lezte iſt, was
wir von des Mädchens traurigem Leben zu erzählen
haben.


Nannette kam einsmals in aller Eile herbei-
geſprungen und erſuchte das Fräulein und deren Va-
ter, ihr in ein Zimmer des untern Stocks herab zu
folgen, um an der angelehnten Thüre der alten Kam-
mer, wo die Orgel ſtand, einen Augenblick Zeuge der
muſikaliſchen Unterhaltung Hennis und Agneſens
zu ſeyn. So gingen ſie zu Dreien leiſe an den be-
zeichneten Ort und belauſchten einen überaus rühren-
den Geſang, in welchen die Orgel ihre Flötentöne
ſchmolz. Bald herrſchte des Knaben und bald des
Mädchens Stimme vor. Es ſchien alt-katholiſche Mu-
ſik zu ſeyn. Ganz wunderſam ergreifend waren be-
ſonders die kraftvollen Strophen eines lateiniſchen
Bußliedes aus E dur. Hier ſteht nur der Anfang.


Jesu, benigne!

A cujus igne

Opto flagrare,

Et te amare;

[619]
Cur non flagravi?

Cur non amavi

Te, Jesu Christe?

— O frigus triste!*)

Es folgten noch zwei dergleichen Verſe, worauf
Henni ſich in ein langes Nachſpiel vertiefte, dann
aber in ein anderes Lied überging, welches die ähn-
lichen Empfindungen ausdrückte. Agnes ſang dieß
allein und der Knabe ſpielte.


Eine Liebe kenn’ ich, die iſt treu,

War getreu, ſeitdem ich ſie gefunden,

Hat mit tiefem Seufzen immer neu,

Stets verſöhnlich, ſich mit mir verbunden.

Welcher einſt mit himmliſchem Gedulden

Bitter bittern Todestropfen trank,

Hing am Kreuz und büßte mein Verſchulden,

Bis es in ein Meer von Gnade ſank.

Und was iſt’s, daß ich doch traurig bin?

Daß ich angſtvoll mich am Boden winde?

Frage: Hüter, iſt die Nacht bald hin?

Und: was rettet mich von Tod und Sünde?

Arges Herze! ja geſteh’ es nur,

Du haſt wieder böſe Luſt empfangen;

Frommer Liebe, alter Treue Spur —

Ach, das iſt auf lange nun vergangen!

[620]
Darum iſt’s auch, daß ich traurig bin,

Daß ich angſtvoll mich am Boden winde —

Hüter! Hüter! iſt die Nacht bald hin?

Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den lezten Worten fiel Margot Nan-
netten
mit heißen Thränen um den Hals. Der
Präſident ging leiſe ab und zu. Noch immer klang
die Orgel alleine fort, als könnte ſie im Wohllaut
unendlicher Schmerzen zu keinem Schluſſe mehr kom-
men. Endlich blieb Alles ſtill. Die Thüre ging auf,
ein artiges Mädchen, Henni’s kleine Schweſter, welche
die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geſchlichen her-
aus, entfernte ſich beſcheiden und ließ die Thüre hin-
ter ſich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie-
densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß,
gedankenvoll in ſich gebückt, vor der offnen Taſtatur, Ag-
nes
, leicht eingeſchlafen, auf dem Boden neben ihm, den
Kopf an ſein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem
Schooſe. Die Abendſonne brach durch die beſtäubten
Fenſterſcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit
goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand
ſah mitleidsvoll auf ſie herab.


Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ſtiller Be-
trachtung geſtanden, traten ſie ſchweigend zurück und
lehnten die Thüre ſacht’ an.


Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt.
Nannette hatte beim Aufſtehn ihr Bette leer ge-
[621] funden und voller Schrecken ſogleich Lärm gemacht.
Niemand begriff im erſten Augenblick, wie ſie nur
irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da
man daſſelbe aus verſchiedenen Gründen ſeit einiger
Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte,
die Thüren Nachts ſorgfältig geſchloſſen, auch wirklich
am Morgen noch verſchloſſen gefunden wurden. Aber
vor einem Seitenfenſter, das neben dem Belvedere
hinausführte, entdeckte man zwiſchen den Bäumen eine
hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach ſeinem ei-
genen Geſtändniß, geſtern Abends angelegt, weil Ag-
nes
durchaus ein altes Vogelneſt verlangt habe, das
oben aus einer der Lücken im ſteinernen Fries her-
vorgeſehen. Nachher war die Leiter vergeſſen worden,
was ohne Zweifel die Abſicht des Mädchens geweſen.


Der Vormittag verflog unter den angeſtrengte-
ſten Nachforſchungen, unter endloſem Hin- und Her-
Rathen, Fragen, Boten-Ausſenden und Empfangen.
Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um
und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erſchien
von keiner Seite die mindeſte Nachricht, der mindeſte
Troſt. Eine falſche Spur, wozu die irrige Ausſage
eines Feldhüters Veranlaſſung gegeben, machte über-
dieß den größten Aufenthalt.


Die Sonne war ſeit zwei Stunden untergegan-
gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht-
los; die Freunde kamen außer ſich. Nach Mitter-
nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte
[622] Gärtner und ſelbſt der blinde Henni waren noch im-
mer außen, ſo daß man endlich um dieſe beſorgt zu
werden anfing. Niemand im Schloſſe dachte daran,
ſich ſchlafen zu legen. Der Präſident ſtellte die Muth-
maßung auf, daß Agnes irgend einen Weg nach
ihrer Heimath eingeſchlagen und, je nachdem ſie zeitig
genug ſich von hier weggemacht hätte, bereits einen
bedeutenden Vorſprung gewonnen haben dürfte, ehe
die Späher ausgegangen; für ihr Leben zu fürchten,
ſey kein Grund vorhanden, es ſtünde vielmehr zu er-
warten, daß ſie unterwegs als verdächtig aufgegrif-
fen und öffentlich Anſtalt würde getroffen werden, ſie
in ihren Geburtsort zu bringen. Nannette dachte
ſich in dieſem Fall die Ankunft der Unglücklichen im
väterlichen Hauſe beinahe ſchrecklicher als Alles; und
doch, wenn man ſie nur übrigens wohlbehalten den
Armen des Vaters überliefert denken durfte, ſo ließ
ſich ja von hier an wieder neue Hoffnung ſchöpfen.
Allein mit welchem Herzen mußte man der Rückkehr
des Malers entgegenſehen, wenn ſich bis dahin nichts
entſchieden haben ſollte! — Margot hielt die Ver-
muthung nicht zurück, daß die Zigeunerin auch dieß-
mal die verderbliche Hand mit im Spiele habe. Dieß
Alles ſprach und wog man hin und her, bis keine
Möglichkeit mehr übrig zu ſeyn ſchien, das Schlimmſte
aber getraute man ſich kaum zu denken, geſchweige
auszuſprechen. Zulezt entſtand eine düſtere Stille.
In den verſchiedenen Zimmern brannte hie nnd da eine
[623] vergeſſene Kerze mit mattem Scheine; die Zimmer
ſtellten ſelbſt ein Bild der Angſt und Zerſtörung dar,
denn alle Dinge lagen und ſtanden, wie man ſie ge-
ſtern Morgen im erſten Schrecken liegen laſſen, un-
ordentlich umher. Die Schloßuhr ließ von Zeit zu
Zeit ihren weinerlichen Klang vernehmen, von den
Anlagen her ſchlug eine Nachtigall in vollen, herrli-
chen Tönen.


Auf ein Zeichen des Präſidenten erhob man ſich
endlich, zu Bette zu gehen. Ein Theil der Diener-
ſchaft blieb wach.


Gegen drei Uhr des Morgens, da eben der Tag
zu grauen begann, gaben im Hofe die Hunde Laut,
verſtummten jedoch ſogleich wieder. Margot öffnet
indeß ihr Fenſter und ſieht in der blaſſen Dämme-
rung eine Anzahl Männer, darunter den Gärtner
und ſeinen Sohn, mit halb erloſchenen Laternen am
Schloßthor ſtehn, welches nur angelehnt war und ſich
leiſe aufthat. Eine plötzliche Ahnung durchſchneidet
dem Fräulein das Herz und laut aufſchreiend wirft
ſie das Fenſter zu, denn ihr ſchien, als wären zwei jener
Leute bemüht, einen entſetzlichen Fund in’s Haus zu
tragen. Gleich darauf hört ſie die Glocke vom Schlaf-
zimmer ihres Vaters. Alles ſtürzt, nur halb an-
gekleidet, von allen Ecken und Enden herbei.


Die Verlorene war wirklich aufgefunden wor-
den, doch leider todt und ohne Rettung. Vor einer
Stunde wurde der Körper nach langen mühſamen
[624] Verſuchen aus jenem Brunnen im Walde gezogen.
Es hatte ſich der Gärtner, von ſeinem Sohne auf
dieſen Platz aufmerkſam gemacht, noch ſpät in der
Nacht dorthin begeben, und ein aufgefundener Hand-
ſchuh beſtätigte ſogleich die Vermuthung. Alsbald
war der Alte in’s nächſte Städtchen geeilt, um Mann-
ſchaft mit Werkzeugen, Strickleiter und Haken, ſo wie
einen Wundarzt herbei zu holen.


Der Leichnam war, außer den völlig durchnäßten
und zerriſſenen Kleidern, nur wenig verlezt; das ſchnee-
weiße Geſicht, um welches die naſſen Haare verwor-
ren hingen, ſah ſich noch jezt vollkommen gleich; der
halbgeöffnete Mund ſchien ſchmerzlich zu lächeln;
die Augen feſt geſchloſſen. Offenbar war ſie, mit
dem Kopfe vorwärts ſtürzend, ertrunken; nur eine
leichte Wunde entdeckte man rechts über den Schlä-
fen. Bemerkenswerth iſt noch, daß ſie in Larkens
grüner Jacke, woran man ſie geſtern eine Kleinigkeit,
jedoch ſehr emſig und wichtig, hatte verändern ſehn,
den Tod gefunden.


Der Wundarzt machte zum Ueberfluß noch den
einen und andern vergeblichen Verſuch. Vom grän-
zenloſen Jammer der ſämmtlichen Umſtehenden ſagen
wir nichts.


Nach Nolten hatte man ausgeſendet, doch traf
ihn weder Bote noch Brief. Den zweiten Tag nach
[625] dem Tode der Braut erſchien er unvermuthet von
einer andern Seite her. Sein ganzes Eintreten, das
ſonderbar Gehaltene, matt Reſignirte in ſeiner Miene,
ſeinem Gruß war von der Art, daß er, was vorge-
fallen, entweder ſchon zu wiſſen oder zu vermuthen,
aber nicht näher hören zu wollen ſchien. Sonach war
denn auch andrerſeits der Empfang beklommen, ein-
ſylbig. Nannette, die bei der erſten Begrüßung
nicht gleich zugegen geweſen, ſtürzt, da ſie des Bru-
ders anſichtig wird, mit lautem Geſchrei auf ihn zu.
Sein Anblick war nicht nur im höchſten Grade mit-
leidswerth, ſondern wirklich zum Erſchrecken. Er ſah
verwildert, ſonnverbrannt und um viele Jahre äl-
ter aus. Sein lebloſer gläſerner Blick verrieth nicht
ſowohl einen gewaltigen Schmerz, als vielmehr eine
ſchläfrige Ueberſättigung von langen Leiden. Das
Unglück, das die Andern noch als ein gegenwärtiges
in ſeiner ganzen Stärke fühlten, ſchien, wenn man
ihn anſah, ein längſt vergangenes zu ſeyn. Er ſprach
nur gezwungen und zeigte eine blöde ſeltſame Verle-
genheit in Allem, was er that. Er hatte ſich, wie
man nur nach und nach von ihm erfuhr, während der
lezten ſechs Tage verſchiedenen Streifereien in unbe-
kannten Gegenden überlaſſen, zwecklos und einſam nur
ſeinem Grame lebend; kaum daß er’s über ſich ver-
mocht, einmal nach Neuburg zu ſchreiben.


Indem nun von Agneſen noch immer nicht be-
ſtimmt die Rede wurde und man durchaus nicht wußte,
40
[626] wie man deßhalb bei Nolten ſich zu benehmen habe,
ſo wurde Jederman nicht wenig überraſcht, als er
mit aller Gelaſſenheit die Frage ſtellte: auf wann die
Beerdigung feſtgeſezt ſey, und wohin man dießfalls
gedenke? — Mit gleicher Ruhe fand er hierauf von
ſelbſt den Weg zum Zimmer, wo die Todte lag. Er
verweilte allein und lange daſelbſt. Erſt dieſe An-
ſchauung gab ihm das ganze, deutliche Gefühl ſeines
Verluſtes, er weinte heftig, als er zu den Andern
auf den Saal zurückkam.


„Unglücklicher, geliebter Freund,“ nahm jezt der
Präſident das Wort und umarmte den Maler, „es iſt mir
vorlängſt einmal der Spruch irgendwo vorgekommen:
wir ſollen ſelbſt da noch hoffen, wo nichts mehr zu
hoffen ſteht. Gewiß iſt das ein herrliches Wort, wer’s
nur verſtehen will; mir hat es einſt in großer Noth
den wunderbarſten Troſt in der Seele erweckt, einen
leuchtenden Goldblick des Glaubens; und nur auf den
Entſchluß kommt es an, ſich dieſes Glaubens freudig
zu bemächtigen. O daß Sie dieß vermöchten! Ein
Menſch, den das Schickſal ſo ängſtlich mit eiſernen
Händen umklammert, der muß am Ende doch ſein
Liebling ſeyn und dieſe grauſame Gunſt wird ſich ihm
eines Tags als die ewige Güte und Wahrheit ent-
hüllen. Ich habe oft gefunden, daß die Geächteten
des Himmels ſeine erſten Heiligen waren. Eine Feuer-
taufe iſt über Sie ergangen und ein höheres, ein gott-
bewußteres Leben wird ſich von Stund’ an in Ihnen
entfalten.“


[627]

„Ich kann,“ erwiderte Nolten nach einer klei-
nen Stille, „ich kann zur Noth verſtehen, was Sie
meinen, und doch — das Unglück macht ſo träge, daß
Ihre liebevollen Worte nur halb mein ſtumpfes Ohr
noch treffen — O daß ein Schlaf ſich auf mich legte,
wie Berge ſo ſchwer und ſo dumpf! Daß ich nichts
wüßte von Geſtern und Heute und Morgen! Daß
eine Gottheit dieſen mattgehezten Geiſt, weichbettend,
in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich
Glück — —!“ Er überließ ſich einen Augenblick die-
ſem Gedanken, dann fuhr er fort: „Ja, läge zum wenig-
ſten nur dieſe erſte Stufe hinter mir! Und doch, wer
kann wiſſen, ob ſich dort nicht der Knoten nochmals
verſchlingt? — — O Leben! o Tod! Räthſel aus
Räthſeln! Wo wir den Sinn am ſicherſten zu treffen
meinten, da liegt er ſo ſelten, und wo man ihn nicht
ſuchte, da gibt er ſich auf einmal halb und von ferne
zu erkennen, und verſchwindet, eh’ man ihn feſthalten
kann!“


Agneſens Begräbniß iſt auf den morgenden
Sonntag beſchloſſen.


Die Nacht zuvor ſchläft Nolten ruhig wie ſeit
langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner muthet
ſich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wa-
chen, ihm leiſtet der Sohn Geſellſchaft, und da der
Alte endlich einnickt, iſt Henni die einzig wache Per-
ſon in dem Schloſſe. — Der gute Junge war recht
[628] wie verwaiſ’t, ſeit ihm die Freundin und Gebieterin
fehlte. Er war ihr ſo nahe, ſo eigen geworden, er
hatte insgeheim die ſchüchterne Hoffnung genährt —
eine Hoffnung, deren er ſich jezt innig ſchämte —
Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten
haben, die arme Seele mit der Kraft des evangeliſchen
Wortes zu der Erkenntniß ihrer ſelbſt, zum Lichte
der Wahrheit zurückzuführen; ſein ganzes Trachten
und Sinnen, alle ſeine Gebete gingen zulezt nur da-
hin, und wie viel ſchrecklicher als er je fürchten konnte,
ward nun ſein frommes Vertrauen getäuſcht! — Er
hält und drückt eine theure kalte Hand, die er nicht
ſieht, in ſeinen Händen, und liſpelt heiße Segens-
worte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit
Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele
glaubt, vor deſſen durchdringendem Blick das Buch
aller Zeiten aufgeſchlagen liegt, der die Herzen der
Menſchen lenkt wie Waſſerbäche, in welchem wir le-
ben, weben und ſind. Er ſchrickt augenblicklich zu-
ſammen vor ſeligem Schrecken, indem er bedenkt, daß
das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Thrä-
nen anredet, ein taubes Nichts, ein werthloſes Schein-
bild iſt, daß der entflohene Geiſt, viel lieblicher ge-
ſtaltet, vielleicht in dieſer Stunde am hellen Strome
des Paradieſes kniee und, das irre Auge mit lauterer
Klarheit auswaſchend, unter befremdetem Lächeln ſich
glücklich wieder erkenne und finde. — Henni ſtand
ſachte auf, von einer unbekannten ſüßen Unruhe be-
[629] wegt; unbeſchreibliche Sehnſucht ergriff ihn, doch dieſe
Sehnſucht ſelbſt war nur das überglückliche Gefühl,
die unfaßliche Ahnung einer himmliſchen Zukunft,
welche auch ſeiner warte. Er trat an’s Fenſter und
öffnete es. Die Nacht war ſehr unfreundlich; ein
heftiger Sturm wiegte und ſchwang die hohen Gipfel
der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen
zuſammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele
überließ ſich dieſem Tumulte mit heimlichem Jauchzen,
er ließ den Sturm ſeine Locken durchwühlen und
lauſchte mit Wolluſt dem hundertſtimmigen Winde.
Es däuchten ihm ſeufzende Geiſterchöre der gebunde-
nen Kreatur zu ſeyn, die auch mit Ungeduld einer
herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes
Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Lob-
lied auf Tod und Verweſung und ewiges Verjüngen.
Mit Gewalt muß er den Flug ſeiner Gedanken rück-
wärts lenken, der Demuth eingedenk, die Gott nicht
vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Ag-
neſens
Hülle tritt, iſt ihm wie einem, der zu lange
in das Feuerbild der Sonne geſchaut, er ſinkt in dop-
pelt ſchmerzliche Blindheit zurück. Still ſezt er ſich
nieder, und ſchickt ſich an, einen Kranz von Roſen
und Myrthen zu Ende zu flechten.


Nach Mitternacht erweckt indeß den Maler ein
ſonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum
gehört zu haben glaubt, bald aber kann er ſich völlig
überzeugen, daß es Muſik iſt, welche von dem linken
[630] Schloßflügel herüber zu tönen ſcheint. Es war als
ſpielte man ſehr feierlich die Orgel, dann wieder klang
es wie ein ganz anderes Inſtrument, immer nur ab-
gebrochen, mit längeren und kürzeren Pauſen, bald
widerwärtig hart und grell, bald ſanft und rührend.
Betroffen ſpringt er aus dem Bette, unſchlüſſig was
er thun, wo er zuerſt ſich hinwenden ſoll. Er horcht
und horcht, und — abermals dieſelben unbegreiflichen
Töne! Leis auf den Socken, den Schlafrock umgewor-
fen, geht er vor ſeine Thür, und ſchleicht, mit den
Händen an der Wand forttaſtend, den finſtern Gang
hin, bis in die Nähe des Zimmers, wo ſich der Gärt-
ner und Henni befinden. Er ruft um Licht, der
Gärtner eilt heraus, verwundert, den Maler zu dieſer
Stunde hier zu ſehn. Da nun weder Vater noch
Sohn irgend etwas Anderes gehört haben wollen, als
das wechſelnde Pfeifen des Windes, welcher auf dieſer
Seite heftiger gegen das Haus herſtieß, ſo entfernte
ſich Nolten, ſcheinbar beruhigt, mit Licht, gab übri-
gens nicht zu, daß man ihn zurückbegleitete.


Keine volle Minute verging, ſo vernahm der Alte
und Henni vollkommen deutlich die oben beſchriebenen
Töne und gleich darauf einen ſtarken Fall ſammt einem
lauten Aufſchrei.


Kaum ſind ſie vor die alte Kapelle gelangt, kaum
ſah der Gärtner drei Schritte vor ſich den Maler der
Länge nach unter der offenſtehenden Thür ohne Lebens-
zeichen liegen, ſo ruft ſchon Henni, ſich angſtvoll an
[631] den Vater klammernd und ihn nicht weiter laſſend
„Halt, Vater, halt! um Gotteswillen ſeht Ihr nicht
— dort in der Kammer“ —


„Was?“ ruft der Alte ungeduldig, da ihn der
Knabe aufhält, „ſo laß mich doch! Hier, vor uns
liegt, was mich erſchreckt — der Maler, leblos am
Boden!“


„Dort aber — dort ſteht er ja auch und —
o ſeht Ihr, noch Jemand“ —


„Biſt du von Sinnen? du biſt blind! was iſt
mit dir?“


„So wahr Gott lebt, ich ſehe!“ verſezt der Knabe
mit leiſer, von Angſt erſtickter Stimme und deutet
fortwährend nach der Tiefe der Kammer, auf die
Orgel, wo für den Gärtner nichts zu ſehen iſt; die-
ſer will nur immer dem Maler beiſpringen, über wel-
chen Henni weit wegſchaut. „Vater! jezt — jezt —
ſie ſchleichen auf uns zu — Schrecklich! o flieht“ —
Hier verſagt ihm die Sprache, er hängt ohnmächtig
dem Alten im Arm, der jezt ein verzweifeltes Noth-
geſchrei erhebt. Von allenthalben ruft es und rennt
es herbei, der Hausherr ſelbſt erſcheint mit den Er-
ſten und ſchon iſt der Wundarzt zur Hand, der dieſe
lezten Tage das Schloß nicht verließ; er läuft von
Nolten zu Henni, von Henni zu Nolten. Beide
trägt man hinauf, ein Jedes will helfen, mit rathen,
mit anſehn, man hindert, tritt und ſtößt einander,
der Präſident entfernt daher Alles bis auf wenige
[632] Perſonen. Ein Reitender ſprengt nach der Stadt,
den zweiten Arzt zu holen, indeß der gegenwärtige,
ein ruhiger, tüchtiger Mann, fortfährt, das Nöthige
mit Einreibung und warmen Tüchern nach der Ord-
nung zu thun; ſchon füllte ſchauerlicher Duft der
ſtärkſten Mittel das Zimmer. Mit Henni hat es
keine Gefahr, obgleich ihm die volle Beſinnung noch
ausbleibt. An Nolten muß nach ſtundenlanger An-
ſtrengung, ſo Kunſt wie Hoffnung erliegen. Beſchei-
den äußerte der Wundarzt ſeinen Zweifel und als
endlich der Medikus ankam, erklärte dieſer auf den
dritten Blick, daß keine Spur von Leben hier mehr
zu ſuchen ſey.


Hatte Agneſens Krankheit und Tod überall in
der Gegend das größte Aufſehn und die lebhafteſte
Theilnahme erregt, ſo machte dieſer neue Trauerfall
einen wahrhaft paniſchen Eindruck auf die Gemüther
der Menſchen, zumal bis jezt noch kein hinreichender
Erklärungsgrund am Tage lag. Da indeß doch ir-
gend ein heftiger Schrecken die tödtliche Urſache ge-
weſen ſeyn muß, ſo lag allerdings bei der von Kum-
mer und Verzweiflung erſchöpften Natur des Malers
die Annahme ſehr nahe, daß hier die Einbildung, wie
man mehr Beiſpiele hat, ihr Aeußerſtes gethan. Die-
ſer Meinung waren die Aerzte, ſo wie der Präſident.
Doch fehlte es im Schloſſe, je nachdem man auf ge-
[633] wiſſe Umſtände einen ängſtlichern Werth legen wollte,
auch nicht an andern Vermuthungen, die, anfänglich
nur leiſe angedeutet, von den Vernünftigen belächelt
oder ſtreng verwieſen, in Kurzem gleichwohl mehr
Beachtung und endlich ſtillſchweigenden Glauben fanden.


Der Schweſter ließ ſich das Unglück nicht lange
verbergen; es warf ſie nieder als wär’ es ihr eigener
Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch frei-
lich blieb hier wenig oder nichts zu tröſten.


Henni befindet ſich, zum wenigſten äußerlich,
wieder wohl. Er ſcheint über einem ungeheuern Ein-
druck zu brüten, deſſen er nicht Herr werden kann.
Ein regungsloſes Vor-ſich-Hinſtaunen verſchlingt den
eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß ſich nicht zu
helfen vor Ungeduld, ſobald man ihn über ſein ge-
ſtriges Benehmen befragt; er flieht die Geſellſchaft,
aber ſogleich ſcheucht ihn eine Angſt in die Nähe der
Seinen zurück.


Der Präſident, in Hoffnung irgend eines neuen
Aufſchluſſes über die traurige Begebenheit, befiehlt
dem Knaben in Beiſeyn des Gärtners, zu reden. Auch
dann noch immer zaudernd und mit einer Art von
trotzigem Unwillen, der an dem ſanften Menſchen auf-
fiel, gab Henni, erſt mit dürren Worten, dann aber
in immer ſteigender Bewegung, ein ſeltſames Bekennt-
niß, das den Präſidenten in ſichtbare Verlegenheit ſezte,
wie er es aufzunehmen habe.


„Als ich,“ ſprach nämlich der Befragte, „geſtern
[634] Nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im
untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief —
die Thür ſtand offen, und die Laterne außen auf dem
Gang warf einen hellen Schein in die Kammer —
ſah ich tief hinten bei der Orgel eine Fran, wie ei-
nen Schatten, ſtehn, ihr gegenüber in kleiner Entfer-
nung ſtand ein zweiter Schatten, ein Mann in dun-
kelm Kleide, und dieſes war Herr Nolten.“


„Sonderbarer Menſch!“ verſezte der Präſident,
„wie magſt du denn behaupten, dieß geſehen zu haben?“


„Ich kann nichts ſagen, als: vor meinen Augen
war es licht geworden, ich konnte ſehn, und das iſt
ſo gewiß, als ich jezt nicht mehr ſehe.“


„Jenes Frauenbild,“ — fragte der Präſident mit
Liſt, „verglichſt du es Jemanden?“


„Damals noch nicht. Erſt heute mußt’ ich an
die verrückte Fremde denken, ich ließ mir ſie daher
beſchreiben und kann die Aehnlichkeit nicht läugnen.“


„Herrn Nolten aber, wie konnteſt du dieſen ſo-
gleich erkennen?“


„Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte
dabei den Herrn Maler, da merkt’ ich erſt, daß Die-
ſer, welcher vor uns lag, und Jener, welcher drüben ſtand,
ſich durchaus glichen und Einer und derſelbe wären.“


„Warum brauchſt du den Ausdruck Schatten?“


„So däuchte mir’s eben; doch ließen ſich Geſicht
und Miene und Farben der Kleidung wohl unterſchei-
den. Als Beide ſich umfaßten, ſich die Arme gaben
[635] und ſo der Thür zu wollten, da bogen ſie wie eine
Rauchſäule leicht um den hölzernen Pfeiler, der in der
Mitte der Kammer ſteht.“


„Arm in Arm ſagſt du?“


„Dicht, dicht an einander geſchloſſen; ſie machte
den Anfang, er that’s ihr nur wie gezwungen nach
und traurig. Hierauf — aber o allmächtiger Gott! wie
ſoll ich, wie kann ich ausſprechen, was keine Zunge
vermag, was doch Niemand glaubt und Niemand glau-
ben kann, am wenigſten mir, mir armen Jungen!“
Er ſchöpfte tief Athem und fuhr ſodann fort: „Sie
ſchlüpften unhörbar über die Schwelle, er glitt über
ſein Ebenbild hin, gleichgültig, als kennt’ er es nicht
mehr. Da wirft er auf Einmal ſein Auge auf mich,
o ein Auge voll Elend! und doch ſo ein ſcharfer,
durchbohrender Blick! und zögert im Gehn, ſchaut
immer auf mich und bewegt die Lippen, wie kraftlos
zur Rede — da hielt ich’s nimmer aus und weiß
auch von hier an nichts weiter zu ſagen.“


Der Präſident verſchonte den jungen Menſchen
mit jeder weitern Frage, beruhigte ihn und empfahl
endlich Vater und Sohn, die Sache bei ſich zu behal-
ten, indem er zu verſtehen gab, daß er nichts weiter
als eine ungeheure Selbſttäuſchung darunter denke.
Der alte Gärtner aber ſchien ſehr ernſt und maß
ſelbſt ſeinem Herrn im Innern eine andre Meinung
bei, als ihm nun eben zu äußern beliebe.


[636]

Nachdem die beiden Leichen auf dem katholiſchen
Gottesacker des nächſten Städtchens, jedoch mit Zu-
ziehung eines proteſtantiſchen Geiſtlichen, zur Erde
beſtattet worden, traf der edelmüthige Mann, durch
den es vornämlich gelang, dieſe lezte Pflicht mit allem
wünſchenswerthen Anſtande und unter einem anſehn-
lichen Geleite vollzogen zu ſehen, ungeſäumt Anſtalt,
der Freundſchaft und der Menſchenliebe ein nenes
Opfer zu bringen. Weder konnte er zugeben, daß die
arme überbliebene Schweſter des Malers ſich einer
ſo traurigen Heimreiſe, als ihr jezt bevorſtand, allein
unterziehe, noch ſollte der Förſter den Verluſt ſeiner
Kinder auf andere Weiſe, als aus dem Munde des
Gaſtfreunds vernehmen, deſſen Haus der unſchuldige
Schauplatz ſo ſchwerer Verhängniſſe ward.


Bald ſaß daher der Präſident mit Nannetten
und Margot im Wagen. Uebrigens war es bei
ihm ſchon im Stillen beſchloſſene Sache, das Mädchen,
wenn es ihr und den Ihrigen gefiele, wieder zurück
zu nehmen und für ihr künftiges Glück zu ſorgen.
Der Gedanke war eigentlich von Margot ausgegan-
gen und kaum enthielt ſie ſich, Nannetten nicht ſchon
unterwegs die Einwilligung abzudringen.


Der Schmerz des Alten in Neuburg überſteigt
allen Ausdruck; doch verfehlte die Perſönlichkeit des
hohen Gaſtes ihre gute Wirkung nicht.


Noch in der Anweſenheit des Präſidenten kam
ein Brief des Hofraths im Forſthauſe an, mit der
[637] Ueberſchrift an Nolten und mit der ausdrücklichen
Bitte um ſchleunigſte Beförderung. Der Förſter er-
brach ihn, las und reichte das Blatt mit ſtummer
Verwunderung dem Präſidenten. Der Brief lautete
folgendermaßen:


„So eben erfahre durch Freundes Hand den grau-
ſamen Verluſt, der Sie mit dem Tode einer geliebten
Braut betroffen. Auch die näheren Umſtände und
was Alles dazu mitgewirkt, weiß ich. Ihr Unglück,
welches mit dem meinigen ſo nah zuſammen fällt,
ja recht vom Unglücks-Stamme meines Daſeyns aus-
ging, erſchüttert mich und zwingt mich zu reden.


Wie oft, als Sie noch bei uns waren, hat mir
das Herz gebrannt, Ihnen um den Hals zu fallen!
Wie preßte, peinigte mich mein Geheimniß! Aber
— wie ſoll man es heißen — Furcht, Grille, Scham,
Feigheit, — ich konnte nicht, verſchob die Entdeckung
von Tag zu Tag, mich ſchauderte davor, in Ihnen,
in dem Sohne eines Bruders, mein zweites Ich,
meine ganze Vergangenheit wieder zu finden, dieß La-
byrinth, wenn auch nur im Geſpräch, in der Erinne-
rung, auf’s Neue zu durchlaufen!


Seit Ihrem Abgang war ich für ſolchen Eigen-
ſinn, Gott ſey mein Zeuge, recht geſtraft mit einer
wunderbaren Sehnſucht nach Ihnen, Wertheſter! Nun
aber vollends dürſtet mich nach Ihrem Anblick innig,
wir haben einander ſehr, ſehr Viel zu ſagen. Meine
Gedanken ſtehn übrigens ſo: Zu einer ſo gemeßnen
[638] Thätigkeit, als Sie in W * erwartet würde, dürfte
Ihnen der Muth jezt wohl fehlen, um ſo leichter
werden Sie es daher verſchmerzen, daß dort, wie mir
geſchrieben wird, gewiſſe Leute, auf Ihr Zögern, bereits
geſchäftig ſind, Sie auszuſtechen. Wir wollen, dächt’
ich, ſelbigen zuvorkommen und erſt dabei nichts einbüßen.
Hören Sie meinen Vorſchlag: Wir Beide ziehn zu-
ſammen! ſey es nun hier, oder beſſer an einem an-
dern Plätzchen, wo ſich’s fein ſtille hauſen läßt, gerade
wie es zweien Leuten ziemt, wovon zum wenigſten
der Eine der Welt nichts mehr nachfragt, der Andere,
ſo viel mir bekannt, von jeher ſtarken Trieb empfun-
den, mit der Kunſt in eine Einſiedelei zu flüchten.
Was mich betrifft, ich habe noch wenige Jahre zu
leben. Wie glücklich aber, könnt’ ich das, was etwa
noch grün an mir ſeyn mag, auf Sie, mein theurer
Neffe, übertragen. Ja ſchleppen wir unſere Trüm-
mer aus dem Schiffbruch muthig zuſammen! Ich
will thun, als wär’ ich auch noch ein Junger. Mit
Stolz und Wehmuth ſey’s geſagt, wir ſind zwei Stücke
Eines Baums, den der Blitz in der Mitte geſpalten,
und iſt vielleicht ein ſchöner Lorbeer zu Schanden gegan-
gen. Sie müſſen ihn noch retten und ich helfe mit.


Sehn Sie, wir gehören ja recht für einander,
als Zwillingsbrüder des Geſchicks! Mit dreifachen
ehernen Banden haben freundlich-feindſelige Götter,
dieß Paar zuſammengeſchmiedet — ein ſeltenes Schau-
ſpiel für die Welt, wenn man’s ihr gönnen möchte;
[639] doch das ſey ferne; das Grab ſoll unſern Gram der-
einſt nicht beſſer decken, als wir dieß Geheimniß be-
wahren wollen, nicht wahr? — Aber ſo kommen Sie!
kommen Sie gleich!


Schließlich noch eine kleine Bitte: daß Sie mir
vor den Menſchen immerhin den Namen laſſen, unter
dem Sie zu ** meine arme Perſon haben kennen gelernt.


Für Sie aber heiſ’ ich, der ich bin
Ihr treuer Oheim
Friedrich Nolten,
Hofrath.“


Der Präſident wollte in die Erde ſinken vor
Staunen. Er hatte durch Theobald von dieſem
Verwandten als dem verſtorbenen Vater Eliſabeths
gehört und nun — er glaubte zu träumen.


Die beiden Männer ſahn ſich lange ſchweigend
an und blickten in einen unermeßlichen Abgrund des
Schickſals hinab.


Der Präſident verweilte ſich noch einen Tag und
ſchied ſodann mit großer Rührung. Es war natür-
lich, daß Nannette den Alten nicht verließ. Spä-
ter entſchloſſen ſich Beide auf unwiderſtehliches Bit-
ten des Hofraths, mit dieſem in einem dritten Orte
einer kleinen Landſtadt unfern Neuburg, zuſammenzu-
wohnen. Der Oheim ward faſt raſend, als er den
Tod des Neffen vernahm und daß nicht wenigſtens
noch ſein Bekenntniß ihn hatte erreichen ſollen! Mit
größerer Ruhe empfing er die Nachricht von dem,
[640] vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende
eingetretenen Tod ſeiner wahnſinnigen Tochter. Man
hatte ſie, wie der Präſident ſogleich bei ſeiner Heim-
kunft Meldung that, etliche Meilen von ſeinem Gute
entſeelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo ſie ohne
Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. —
Ihr Vater war von ihrer jammervollen Exiſtenz ſeit
Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand
einige Verſuche gemacht, ſie in einer geordneten
Familie unterzubringen; aber ſie fing, ihrer gewohn-
ten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augen-
ſcheinlich zu welken an, ſie ergriff zu wiederholten
Malen die Flucht mit großer Liſt und da überdieß
ihr melancholiſches Weſen, mit der Muttermilch ein-
geſogen, durchaus unheilbar ſchien, ſo gab man ſich
zulezt nicht Mühe mehr, ſie einzufangen.


Noch iſt nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin
Armond, ſeit lange krank und aller Welt abgeſtorben,
jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die lezte Zeit,
und zwar in Verbindung mit dem Hofrath, insgeheim
beſchäftigt, jene kläglichen Schickſale nur wenige Monate
überlebte.


[]

Appendix A Zu verbeſſern.


Appendix A.1 (Im erſten Theil.)


  • Seite 40 Zeile 10 v. u. ſtatt Farçe lies Farce.
  • „ 53 „ 8 — „ Tagesbruch l. Tagesanbruch.
  • „ 54 „ 7 v. o. „ Beſen l. Beſemen.
  • „ 89 „ 14 v. u. „ verſicherte l. verſichert.
  • „ 107 „ 8 — „ kann l. konnte.
  • „ — „ 5 — „ ruht l. ruhte.
  • „ 134 „ 6 v. o. iſt das Eine an wegzuſtreichen.
  • „ 195 „ 8 v. u. iſt nach ſpiele zu ſetzen: dann.
  • „ 277 „ 9 v. u. ſtatt einige l. eigene.

Appendix A.2 (Im zweiten Theil.)


Seite 450 Zeile 15 v. o. verweiſ’t das Zeichen *) auf
folgende Note, welche unter den Text zu ſtehen käme: Mög-
licher Irrung zuvorzukommen, weil es ſich hier um ein be-
ſtimmtes Lokal handelt, wird erinnert, daß man dort weder
ein ſolches Denkmal, noch überhaupt dieſe Sage zu ſuchen hat,
wozu übrigens der wirkliche Name des gedachten Hügels dem
Verf. Veranlaſſung gegeben.


[][][][]
Notes
*)
Die kurze Beſchreibung dieſer Gegend iſt, ſo viel es möglich war,
nach der Natur entworfen. Der Punkt, auf welchen man hier aus-
drücklich aufmerkſam machen will, befindet ſich im Würtembergi-
ſchen
, im Oberamt Nürtingen, zunächſt bei dem Pfarrdorfe Groß-
Bettlingen.
*)
Im Munde des Bräutigams gedacht.
*)

Dieſe Zeilen finden ſich wirklich in einem uralten, wohl längſt ver-
griffenen Andachtsbuch. Sie ſind unnachahmlich ſchön; indeſſen fü-
gen wir, um einiger Leſer willen, dieſe Ueberſetzung bei:


Dein Liebesfeuer,
Ach Herr! wie theuer
Wollt’ ich es hegen,
Wollt’ ich es pflegen —
Hab’s nicht geheget,
Und nicht gepfleget,
War Eis im Herzen,
— O Höllenſchmerzen!

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Maler Nolten. Maler Nolten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn21.0