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Briefe eines Verſtorbenen.

Vierter Theil.

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[figure]
[[III]]
Briefe
eines
Verſtorbenen.

Ein
fragmentariſches Tagebuch
aus
Deutſchland, Holland und England,
geſchrieben in den Jahren
1826, 1827 und 1828.

Vierter Theil.

Stuttgart,:
1831.
Hallberger’ſche, vormals Franckh’ſche Verlagshandlung.

[[IV]][[V]]

Inhaltsverzeichniß
des
vierten Theils.


Fuͤnfzehnter Brief.


Seite 1


Correſpondenz. Das Lord-Mayor-Diné. The flying privy.
Nebelgefahren. Freiheit der Preſſe. Beſondere Sitten.
Liſton. Der Areopag. Almacks. Schnelles Reiſen. Ein
Nachmittag im Parlament. Melodramatiſches. Politiſi-
rende Damen. Der weiße Kopf. Glaͤnzende Feſte. Das
neue Venusgeſpann. Kutſcherthaten. Ein Diné beim Her-
zog von Clarence. Das ſelbſt gemachte Pferd. Gold und
Silber. Der Damenbazar. Der Erzbiſchoͤfe Schuͤrze. Alte
Muſik. City-Induſtrie. Die aͤchten Religionsariſtokraten.
Traumphantaſieen.


Sechszehnter Brief.


Seite 47


Mr. Hopes Kunſtſammlung. Toilettenbeduͤrfniſſe eines Dandy.
Damenconferenz. Einladungsſtyl. Pferderennen von As-
cot. Die reizende Fee und ihr Landhaus. Der unſterbliche
Rouſſeau. Beutelſchneiderei. Ein lebensrettender Backofen.
Engliſche Cavallerie. Die Schneiderhuſaren. Baͤlle. Ent-
zauberung. Zweitauſend Fruͤhſtuͤcksgaͤſte. Coloſſale Ana-
nas. Die Tyroler-Saͤnger. Palais des Herzogs von Nord-
humberland. Perſiſche Politik und Fruchtbarkeit. Der Blu-
mentiſch. Kinderbaͤlle. Kunſt und Natur. Greenwitch.
Die Execution. Hofvergnuͤgen. Kingsbench und Newgate.
Der ſeltne Philoſoph. Vauxhall. Die Schlacht von Wa-
terloo. Der Phrenolog. Charakteriſtik. Des Herren Naſh
Bibliothek. St. Giles. Die Kunſtausſtellung. Pfunde
und Thaler. Excerpte. Geplauder. Der Tunnel. Gute
Parodie des Freiſchuͤtzen. Haymarket-Theater. Hetaͤren.
Bethlem. Der letzte Stuart. Der omineuſe Leichenzug.
Barclays Brauerei. Weſtindiadocks. Ergoͤtzliche Prellerei.
Der Nachtritt. Ein Harpagon aus Ispahan. Der ſich
koͤpfende Bauer. Neues Organ. Miß Lindwood. Cannings
Tod. Vivian Grey. Reſpekt vor dem Publikum. Zeitungsartikel.


[VI]

Siebenzehnter Brief.


Seite 136


Kleine Tour in der Taucherglocke. Privatfeuersbrunſt. Die
falſche Seejungfer. Der kluge Orang Outang. Seltſame
Verwundung. Das lebende Skelett. Herr von S … und
ſeine Avantuͤren. Salthill. Stokepark. Dropmore. Das
Schloß zu Windſor. Eaton. St. Leonhards-Hill. Ver-
ſtohlne Fahrt in Virginiawater. Die Giraffe. Lord H …s
Furcht vor dem Koͤnig. Ueber Lord Byron. Die ſeltſame
Bettnachbarſchaft einer alten Dame. Die Capelle. Hieſi-
ges Militaͤr. Eine Anekdote uͤber Canning. Eghams
Pferderennen. Zwergbaͤume. Maͤdchenpromenade. Avan-
tuͤre bei Mondſchein.


Achtzehnter Brief.


Seite 163


Wie ein Park ſeyn ſoll. Annehmlichkeiten der Freundſchaft.
Hatfield und Burleighhouſe. Dunkaſters Pferderennen.
Staat auf dem Lande. Frau von Maintenon. Unnuͤtze Ta-
lente. Der Dom zu York. Promenade in der Stadt. Das
Skelett der Roͤmerin. Cliffords Thurm. Die Grafſchafts-
Gefaͤngniſſe. Diebsgarderobe. Thurmbeſteigung. Das Rath-
haus und mehrerer Lord-Mayors Wappen. Sitz des Erz-
biſchofs. Seine Kuͤchengaͤrten. Merkwuͤrdige Diſtraktion.
Schloß Howard. Gemalte Memoiren. Schlechtes Clima.
Die alten Frauen. Der Sand von Scarborough. Die Fel-
ſenbruͤcke. Leuchtthurm auf Flamboroughhead.


Neunzehnter Brief.


Seite 202


Whitby. Was an einem Herzoge merkwuͤrdig iſt. Die Ruine.
Das Muſeum. Alaunbergwerke. Lord Mulgrave’s Schloß
und Park. Fountains Abbey. Sieben alte Jungfern, doch
nicht in Uniform. Die Catakomben zu Ripon. Das Bad
zu Harrowgate. Der Welt Ende. Der alte General.
Harewoodpark. Jagdhunde. Hoͤlzerne Vorhaͤnge. Leeds.
Der Kaffeemahlende Tuͤrke. Tuchfabriken. Templenew-
ſome. Diſſapointment. Wentworthhouſe. Sheffield, die
Meſſer- und Scheerenſtadt. Wilde Thiere. Lord Middle-
[VII] ton’s Schloß. St. Albans-Abtei. Des Herzogs von Bed-
ford Beinknochen aus Shileila. Ruͤckkehr nach London.


Zwanzigſter Brief.


Seite 236


Excurſion nach Brighton. Arundel caſtle. Petworthhouſe. Ei-
nige Portraits. Hotſpurs Schwerdt. Der alte Whalebone.
Die gluͤckliche Herzogin. Die im October Gebornen. Don
Juans weitere Schickſale in der Hoͤlle. Der Roman aus
dem Jahr 2200. Vorſichtsregel. Politiſche Kannengießerei. Li-
cenzen der engliſchen Schauſpieler. Young als Percy.
Verſtaͤndiges Zuſammenſpiel. Heutige Wunder. Haͤusli-
cher Ball. Ueber Macbeth. Marcready’s Darſtellung des-
ſelben. Nerveuſe Kranke. Straßenmyſtificateurs. Ange-
nehme Nachtpromenaden. Beſuch auf dem Lande. Naͤ-
heres uͤber Hatfield. Perſiſche Koſtbarkeiten. Tuͤrkiſches
Panſanger.


Ein und zwanzigſter Brief.


Seite 280


Billy der Rattenvertilger. Thierſchauſpiel. Der neueſte Ros-
cius. Erbſuͤnde. Oeſterreichiſche Philoſophie. Die Farben
der Tage. Freitag, ein gefaͤhrlicher. Don Miguel. Un-
angenehme Chriſtbeſcheerung. Portugieſiſche Etikette. Laͤ-
cherlicher Vorfall im Theater. Feſte zu Ehren des In-
fanten. Der liebenswuͤrdige Adjutant. Anecdote von Sir
W. Scott. Nachtheil der Sandlaͤnder. Das Indiahouſe.
Tippo Sayb. Zeitvertreib. Shawls. Fahrt im Dampfwagen.
Ditto in einem andern mit Drachen beſpannt. Die ro-
mantiſche Fuchsjagd. Der famoͤſe geiſtliche Fuchsjaͤger.
Krankheit. Empfehlung des Blotting Pappers. Der Le-
bensatlas. Vortheile des Aufgeblaſenwerdens. Inſtruction.
Reconvalescenz.


Zwei und zwanzigſter Brief.


Seite 320


Der reiche Telluſon. Der Dandy in Amerika. Engliſche Ju-
ſtiz. A Chancery suit. Auch die Taſchenſpieler werden
dramatiſch. Das Theater Braunſchweig faͤllt ein. Herrn
[VIII] Carr’s Gemaͤldeſammlung. Genrebilder des Generals
Lejeune. Der Hofmann. Mina, Arguelles und Valdez.
Etwas uͤber die Darſtellung und Ueberſetzung Shakes-
peares. Kean, Young und Kemble im Othello.


Drei und zwanzigſter Brief.


Seite 344


Ariſtokraten und Liberale in einer Perſon. Dreifache Feſte.
Merkwuͤrdige Erzaͤhlung des Herrn H … Naturgeſchicht-
liches. Des Koͤnigs Lever. Die Menagerie im Regents-
Park. Der Marſchall Beresford. Laͤndliches Mahl in
H. Lodge. R. Park. Der Patentwitzbold. Unbequeme
Gewohnheiten. Sir Walter Scott. Sein Ausſehen und
Geſpraͤch. Ein reizendes Maͤdchen. Schneider, Fleiſcher
und Fiſchhaͤndler. Crochford. Fruͤhjahrsfeier. Laͤndliche
Freuden. Muſikindigeſtion. Strawberryhill, der ehema-
lige Sitz des Horace Walpole. Es gibt Deutſchthuͤm-
ler in England. Gefahr des zu vielen Weintrinkens.
Epſom’s Pferderennen. Soirée beim Koͤnige. Hiſtoriſche
Gallerie. Bilder in Waſſerfarben. Das kleine Para-
dies. Der Aſt aus Birnam’s Wald. Bonneau der Zweite.
Der Stockkaͤfer. Der Kaiſerin Joſephine Wahrſagebuch.
Vorſtellung bei der Herzogin von Meiningen. Der Tau-
benclub. Das nautiſche Theater. Der Ungluͤckliche. Die
gut Conſervirte. Noch ein déjeuné champėtre. Die
beiden Marſchaͤlle.


Vier und zwanzigſter Brief.


Seite 382


Ein rout par excellence. Beſuch in Cobham. Mr. Child’s
Rede. Rocheſter’s Schloß. Das natuͤrlichſte Kameel.
Die Waſſerfahrt. Ruͤckkehr nach London. Die Gewerbs-
ausſtellung. Der Nurſerygarden. Apperçu uͤber die eng-
liſche Geſellſchaft im Allgemeinen. Einige Details. Die
Nichte Napoleons.

[[1]]

Fuͤnfzehnter Brief.



Liebſte Freundin!

Endlich iſt der langerſehnte Brief erſchienen, und
ſogar zwei auf einmal. Warum ſie ſo lange un-
terwegs geblieben? Quien sabbe! wie die Süd-
amerikaner ſagen. Wahrſcheinlich iſt der offizielle
Leſer faul geweſen, und hat ſie zu lange liegen laſſen,
ehe er ſie künſtlich wieder zugeſiegelt hat.


Aber wie zart und lieblich, theure Julie, iſt Dein
Gedicht — ein ganz neues Talent, das ich an Dir
entdecke. Ja gebe Gott doch, „daß alle Deine Thrä-
nen zu Blumen werden, uns zu ſchmücken und uns
durch ihren Duft zu erfreuen,“ und daß dieſe ſchöne,
liebevolle Prophezeihung bald in Erfüllung gehe!
Doch ſind ſelbſt die ſchönſten Blumen ſo zu theuer
für mich erkauft. Deine Thränen wenigſtens ſollen
nicht darum fließen!


Briefe eines Verſtorbenen. IV. 1
[2]

Was Du von H. ſagſt: „qu’il se sent misérable,
parcequ’il n’est fier que par orgeuil, et liberal
que par bassesse,“
iſt ſchlagend, und es wird leider
auf gar zu viele Liberale paſſen!


Ich ſchrieb Dir in der bewußten Angelegenheit,
Du möchteſt dabei nur an Dich ſelbſt denken, und
Du erwiederſt: Ich wäre ja Dein Selbſt. Du
Gute! ja ein Selbſt werden wir bleiben, wo wir
auch ſind, und hätten die Menſchen Schutzgeiſter,
die unſern müßten gemeinſchaftlich wirken — aber
es gibt hier wohl keinen andern Schutzgeiſt, als die
moraliſche Kraft, welche in uns ſelbſt liegt!


Und in M.. ſieht es ſo traurig aus? Es ſtürmt,
ſchreibſt Du, und die Gewäſſer drohen Verderben!
Doch ſeitdem ſind 14 Tage verfloſſen, und ehe dieſer
Brief bei Dir ankömmt, ſchon 4 Wochen — ich darf
alſo hoffen, Du lieſeſt ihn im Grünen, wo Alles um
Dich blüht und der Zephyr fächelt, ſtatt dem Heulen
des häßlichen Sturms. Ich ſagte meinem alten
B.. dt: in M. wären abſcheuliche Stürme. „Ja,
ja,“ erwiederte er, „das ſind die von Brighton.“ Wenn
Du das gewußt hätteſt, liebe Julie, ſo wären ſie
Dir gewiß angenehmer vorgekommen; ſie brachten
Dir ja die jüngſten Nachrichten von Deinem Freunde.
Wer doch mit ihnen ſegeln könnte!


Unſerm verehrten Premier bitte ich, meinen innig-
ſten Dank zu Füßen zu legen. Wären doch alle
unſers Standes ihm gleich, wie viel populairer würde
dieſer ſeyn, wären doch alle Miniſter überall ſo edel
[3] und gerecht, wie viel weniger Unzufriedenheit würde
in allen Ländern herrſchen, und wäre er ſelbſt doch
noch freier und unabhängiger von ſo manchen Ge-
wichten, die ſchwer danieder ziehen, wo Aufſchwung
nöthig iſt.


Hier iſt Alles beim Alten und eine prächtige Fete
bei Lord H… beſchloß an dieſem Abend die Luſt-
barkeiten vor Oſtern. Die meiſten Weltleute machen
jetzt von Neuem einen kurzen Aufenthalt auf dem
Lande, und beginnen dann erſt in 14 Tagen die
eigentliche Seaſon. Auch ich werde wieder auf einige
Tage nach Brighton gehen, will aber vorher noch
das große Lord Mayor diné abwarten.



Heute fand dieſes in Guildhall ſtatt, und nach
glücklich überſtandner Mühſeligkeit, freut es mich
ſehr, ihm beigewohnt zu haben.


Es dauerte volle 6 Stunden, und wurde 600 Per-
ſonen gegeben. Die Tafeln waren ſämmtlich, der
Länge des Saales nach, neben einander parallel lau-
ſend geſtellt, bis auf eine, welche quer vor auf einer
erhöhten Eſtrade ſtand. An dieſer ſaßen die Vor-
nehmſten und der Lord Mayor ſelbſt. Der Coup
d’ocuil
von hier war impoſant, auf den ungeheuern
Saal und ſeine rund um laufenden hohen Säulen,
mit den unabſehbaren Tiſchen und coloſſalen Spie-
1*
[4] geln hinter ihnen, die ſie bis ins Unendliche zu ver-
längern ſchienen. Die Erleuchtung machte Nacht zu
Tag, und zwei Muſikchöre in der Höhe, auf einem
Balkon am Ende des Saals uns gegenüber, ſpielten
während den Geſundheiten, denen immer ein Tuſch
voranging, allerlei Nationelles. Der Lord Mayor
hielt, wohlgezählt, 26 längere und kürzere Reden.
Auch einer der fremden Diplomaten wagte ſich an
eine ſolche, aber mit ſehr ſchlechtem Erfolg, und
ohne die Gutmüthigkeit des Auditoriums, das jedes-
mal, wenn er nicht weiter konnte, ſo lange hear hear
ſchrie, bis er ſich wieder geſammelt, wäre er förm-
lich ſtecken geblieben.


Bei jeder Geſundheit, die der Lord Mayor aus-
brachte, rief ein mit ſilbernen Ketten behangener Ce-
remonienmeiſter hinter ſeinem Stuhle: Mylords and
Gentlemen, fill Your glasses!
Die Lady Mayoreß
und alle ihre Damen erſchienen übrigens in abſcheu-
lichen Toiletten, und mit entſprechenden Tournüren.
Mir war der Platz neben einer Amerikanerin, der
Niece eines frühern Präſidenten der vereinigten
Staaten, wie ſie mir ſagte, aber ich erinnere mich
nicht mehr, von welchem, angewieſen. Es iſt zu
vermuthen, daß weder ihr rothes Haar, noch ihr
Albinos teint bei ihren Landsmänninnen häufig vor-
kömmt, ſonſt würde das ſchöne Geſchlecht daſelbſt
nicht ſo ſehr gerühmt werden. Ihre Unterhaltung
war aber recht geiſtreich, manchmal faſt mit der
Laune Washington Irwings.


[5]

Um 12 Uhr begann der Ball, welcher ſehr originell
ſeyn ſoll, da Creti und Pleti darauf erſcheint[,] ich
war aber von dem ſechsſtündigen Diné, in voller
Uniform ſo ermüdet, daß ich ſchnell meinen Wagen
aufſuchte, und mich zu Hauſe begab, um einmal we-
nigſtens vor Mitternacht zu Bett zu kommen.



Dieſen Morgen laſen wir ſchon die geſtern er-
wähnte Rede des Diplomaten in den Zeitungen, NB.
ſo wie ſie hatte gehalten werden ſollen, aber nicht
wie ſie gehalten worden war, und dergleichen kömmt
wohl nicht ſelten vor.


Gleich nach dem Frühſtück fuhr ich mit Graf D..,
einem ſehr luſtigen Dänen, hierher, und brachte den
Abend bei Lady K… zu, wo ich noch viele der
frühern Badegäſte antraf, auch Lady G. …, deren
Du Dich aus Paris erinnerſt, wo der Herzog von
Wellington ihr Anbeter war.


Apropos von dieſem, lieſt Du die Zeitungen? In
der politiſchen Welt iſt hier eine gewaltige Kriſe ein-
getreten. Durch die Ernennung Cannings zum
Premier haben ſich die andern Miniſter ſo beleidigt
gefühlt, daß, mit Ausnahme von Dreien, die übri-
gen Sieben den Abſchied genommen haben, obgleich
welche darunter ſind, die, wenn ihre Parthei nicht
noch ſiegt, den Staatsgehalt ſchwer entbehren können,
[6] wie z. B. Lord Melville. Der Herzog von Welling-
ton verliert auch ſehr bedeutend dabei, und Er, der
Alles war, iſt, wie ſich ein miniſterielles Journal,
mit der gewöhnlichen Uebertreibung des hieſigen
Partheigeiſtes heute ausdrückt „nun politiſch todt.“
Es hat aber doch etwas Großartiges, ſo ſeiner Mei-
nung alle perſönlichen Rückſichten aufzuopfern. Die
Carrikaturen regnen auf die Geſchlagnen herab, und
ſind mitunter recht witzig, beſonders wird dem nicht
ſehr geliebten, alten Großkanzler Lord Eldon, übel
mitgeſpielt, ſo wie dem Grafen W. ...... einem
ſonderbaren alten Manne, der einen ungeheuren ari-
ſtokratiſchen Stolz beſitzt, wie eine Mumie ausſieht,
und ohngeachtet ſeiner 80 Jahre, täglich auf einem
Hartdraber zu ſehen iſt, wie er durch St. James
Park mit der Schnelligkeit eines Vogels hindurch-
fliegt. Dieſen Moment hat man auch für die Carri-
katur gewählt, mit der boshaften Unterſchrift:
The flying privy.
Er hatte nämlich früher das privy seal, welches
nebſt den übrigen Inſignien aus der Luft auf das
ſich mit allen Zeichen des Abſcheus wegwendende
Publikum niederfällt — denn die zweite Bedeutung
des Worts läßt ſich leicht errathen.



Heute habe ich die Erfahrung gemacht, wie ge-
fährlich die hieſigen Nebel werden können, was ich
[7] früher kaum glauben wollte, da ſie in London ge-
wöhnlich nur zu komiſchen Scenen Anlaß zu geben
pflegen.


Ein Bekannter hatte mir eins ſeiner Jagdpferde
geborgt, da die meinigen in London geblieben ſind,
und ich nahm mir vor, meine Direktion diesmal nach
einer mir noch unbekannten Seite der Dünen zu
nehmen, die man die Teufelsſchlucht nennt, war
auch ſchon mehrere Meilen durch Berg und Thal
über den glatten Raſen fortgeritten, als plötzlich die
Luft ſich zu verfinſtern anfing, und in wenigen Mi-
nuten ich nicht mehr 10 Schritt weit vor mir ſehen
konnte. Dabei blieb es auch, und war fortan an
keine Aufhellung des Wetters mehr zu denken. So
verging wohl eine Stunde, während ich bald dort,
bald dahin ritt, um einen gebahnten Weg aufzufin-
den. Meine leichte Kleidung war ſchon durchnäßt,
die Luft eiskalt geworden, und hätte mich die Nacht
übereilt, ſo war die Perſpective eine der unangenehm-
ſten. In dieſer Noth, und ganz unbekannt mit der
Gegend, fiel es mir glücklicherweiſe ein, meinem al-
ten Pferde, das ſo oft hier den Fuchsjagden beige-
wohnt, völlig freien Willen zu laſſen. Nach wenig
Schritten, und ſobald es ſich frei fühlte, drehte es
auch ſogleich in einer kurzen Volte um, und ſetzte
ſich in einen ziemlich animirten Gallop, den Berg,
wo ich mich eben befand, grade herunter laufend.
Ich nahm mich wohl in Acht, es nicht mehr zu ſtö-
ren, ohngeachtet der halben Dunkelheit um mich her,
ſelbſt als es durch ein Feld hohen ſtachlichten Ginſters
[8] in fortwährenden Sätzen, wie ein Haſe, brach. Ei-
nige unbedeutende Gräben und niedrige Hecken hiel-
ten es natürlich noch weniger auf, und nach einer
ſtarken halben Stunde angeſtrengten Laufens brachte
mich das gute Thier glücklich an die Thore Brigh-
tons, aber von einer ganz andern Seite, als von
welcher ich ausgeritten war. Ich fühlte mich ſehr
froh, ſo wohlfeilen Kaufs davon gekommen zu ſeyn,
und nahm mir ernſtlich vor, in dieſem Nebellande
künftig vorſichtiger zu ſeyn.


Meine Abende bringe ich jetzt gewöhnlich bei Lady
K.. oder Mrß. F… zu, und ſpiele Ecarté und
Whiſt mit den Herren, oder Loo mit den jungen
Damen. Dieſe kleinen Kreiſe ſind weit angenehmer
als die großen Geſellſchaften der Metropolis. Denn
dort verſteht man Alles, nur eben die Geſel-
ligkeit nicht
. So werden Künſtler dort auch
blos als Modeſache vorgeführt und bezahlt; mit ih-
nen zu leben, Genuß aus ihrer Unterhaltung zu
ziehen, das kennt man nicht. Alle wahre Bildung
iſt meiſtens nur politiſcher Natur, und der politiſche
Parthei-wie der modiſche Kaſtengeiſt gehen auch auf
die Geſellſchaft mit über. Es entſteht daraus eben-
ſowohl ein allgemeines Decouſu, als eine ſtrenge
Abſcheidung der einzelnen Elemente, welches, verbun-
den mit dem an ſich ſchon höchſt unſocialen Weſen
der Engländer, den Aufenthalt für den Fremden auf
die Dauer unangenehm machen muß, wenn er ſich
nicht die intimſten Familienkreiſe öffnen, oder ſelbſt
ein lebhaftes politiſches Intereſſe annehmen kann.


[9]

Am glücklichſten und achtungswürdigſten iſt in
dieſer Hinſicht ohne Zweifel die wohlhabende
mittlere Claſſe
in England, deren active Po-
litik ſich nur auf das Gedeihen ihrer Provinz be-
ſchränkt, und unter der überhaupt ziemlich gleiche
Anſichten und Grundſätze herrſchen. Dieſe unmo-
diſche Claſſe allein iſt auch wahrhaft gaſtfrei und
kennt keinen Dünkel. Sie recherchirt den Fremden
nicht, aber kömmt er in ihren Weg, ſo behandelt ſie
ihn freundlich und mit Theilnahme. Ihr eignes Va-
terland liebt ſie leidenſchaftlich, aber ohne zu perſön-
liches Intereſſe, ohne Hoffnung auf Sinecuren, und
ohne Intrigue. Dieſe Art Leute ſind zwar auch
manchmal lächerlich, aber immer achtungswerth, und
ihr National-Egoismus in billigere Schranken ge-
bannt.


Wie ehemals in Frankreich kann man daher mit
vollkommenem Rechte auch in England ſagen: que
les deux bouts du fruit sont gatés,
die Ariſtokratie
und der Pöbel. Die erſte hat allerdings eine be-
wunderungswürdig herrliche Stellung — aber ohne
große Mäßigung, ohne große, der Vernunft
und der Zeit gebrachte Conceſſionen
, wird
ſie dieſe Stellung vielleicht kein halbes Jahrhundert
mehr inne haben. Ich ſagte dies einmal dem Für-
ſten E…, und er lachte mich aus, mais nous
verrons!


Schlüßlich excerpire ich Dir noch einige Stellen
aus den hieſigen Journalen, um Dir einen Begriff
von der Freiheit der Preſſe zu geben.


[10]
  • 1) „Jedes Schiff in England ſollte ſeine Freuden-
    „fahnen aufſtecken, denn Lord Melville war ein
    „Incubus, auf den Dienſt drückend. Verdienſt-
    „volle Offiziere mögen nun eine Chance finden,
    „unter Lord Melville hatten ſie keine.“
  • 2) „Wir hören aus guter Quelle, daß der große
    „Capitaine (Lord Wellington) ſich außerordentliche
    „Mühe gibt, wieder in das Cabinet zu dringen,
    „jedoch vergebens. Dieſes verzogne Kind des
    Glücks hätte ſich nicht einbilden ſollen, daß
    „ſein Austritt einen Augenblick das Gouver-
    „nement in Verlegenheit ſetzen könnte. Wir
    „glauben übrigens, daß er nicht der einzige Ex-
    „Miniſter iſt, der bereits ſeine Thorheit und
    „Arroganz bitter bereut.“
  • 3) „Das Miniſter-Septemvirat (ſieben ſind, wie
    „geſagt, ausgeſchieden), welches erhöhte Statio-
    „nen erzwingen wollte, iſt Herrn Humes neuem
    „Penalty-Geſetz viel Dank ſchuldig; denn nach
    „dem alten Geſetz wurden Bediente, die höheres
    „Gehalt von ihren Herrſchaften extorquiren woll-
    „ten, mit Recht in die Tretmühle geſchickt.“
  • 4) „Man verſichert, ein großer Septemviratiſt
    „(Lord Wellington) habe ſich erboten, in den
    „Dienſt zurückzukehren, jedoch nur unter der
    „Bedingung, das man ihn zum dirigirenden
    „Miniſter, zum Groß-Connetable, und zum Erz-
    „Biſchof von Canterbury mache.“

[11]

Unſre Miniſter würden ſich nicht wenig wundern,
wenn eine der löſchpapiernen Zeitungen ſo mit ihnen
umſpränge.


Morgen begebe ich mich nach der Stadt zurück,
denn wie einſt die Römer Rom, nennen auch die
Engländer London nur „die Stadt.“



Ich kam grade noch zur rechten Zeit an, um einem
großen Diné beim neuen Premier beizuwohnen, zu
dem ich die Einladung ſchon in Brighton erhalten.


Dieſer ausgezeichnete Mann macht die Honneurs
ſeines Hauſes eben ſo angenehm, als er die Herzen
ſeiner Zuhörer im Parlament hinzureißen weiß.
Schöngeiſt und Staatsmann tour à tour, fehlt ihm
nichts als eine beſſere Geſundheit, denn er ſchien
mir ſehr leidend. Miſtriß Canning iſt ebenfalls eine
geiſtreiche Frau. Man behauptet, daß ſie das De-
partement der Zeitungen im Hauſe habe, d. h. dieſe
leſen müſſe, um ihrem Manne die nöthigen Auszüge
daraus mitzutheilen, und auch ſelbſt manchmal einen
Partheiartikel darin zu ſchreiben nicht verſchmähe.


Ein Concert bei Gräfin A. … war ſehr beſucht.
Galli und Madame Paſta, die vor Kurzem angekom-
men ſind, und die Oper ſehr heben werden, ſangen
darin. Die Zimmer waren gepfropft voll, und meh-
rere junge Herren lagen auf dem Teppich zu den
[12] Füßen ihrer Damen, den Kopf bequem an die So-
phakiſſen gelehnt, die den Schönen zum Sitze dien-
ten. Dieſe türkiſche Mode iſt wirklich recht bequem,
und es wundert mich ungemein, daß ſie C. in Ber-
lin noch nicht eingeführt, und ſich einmal bei Hof
zu den Füßen einer der Hofdamen hingelagert hat.
Man würde vom engliſchen Geſandten dies gewiß
ſehr „charmant“ wie die Berliner ſagen, gefunden
haben.



Nach langer Zeit beſuchte ich heute wieder das
Theater. Ich traf es glücklich, denn Liſton ſpielte
zum Kranklachen in einer kleinen Farce, die zur Zeit
Ludwig XV. in Paris vorgeht. Ein reicher engliſcher
Kaufmann, den der Spleen quält, reiſt nach jener
Stadt, um ſich zu zerſtreuen. Kaum iſt er im Gaſt-
hofe einige Tage etablirt, als man ihm den Beſuch
des Polizeiminiſters meldet, der (ſehr gut im Co-
ſtume der Zeit gehalten) ſofort eintritt, und dem er-
ſtaunten Cytiſen eröffnet, wie man einer berüchtig-
ten Spitzbubenbande auf der Spur ſey, welche dieſe
Nacht noch hier einbrechen wolle, um ihn, bei dem
man viel Geld vermuthe, zu berauben und zu er-
morden. Alles hänge nun von ſeinem Benehmen
ab, fügt der Miniſter hinzu, wenn er ſich das Ge-
ringſte merken laſſe, weniger heiter ſcheine als ſonſt,
[13] oder irgend etwas beſonders thue, was Beſorgniß
verrathe, und dadurch vielleicht die Unternehmung der
Räuber beſchleunige, ſo könne man ihm für nichts
ſtehen, und ſein Leben ſey in der höchſten Gefahr,
denn noch wiſſe man ſelbſt nicht, ob die Hausleute
mit im Complott wären. Er müſſe ſich daher auch
wie gewöhnlich um 10 Uhr zu Bett legen, und es
darauf ankommen laſſen, was dann geſchähe.


Mr. Jackſon, mehr todt als lebendig über dieſe
Nachricht, will ſogleich das Haus verlaſſen, der Mi-
niſter erwiedert aber ernſt, daß dies durchaus nicht
zugelaſſen werden, ihm auch nichts helfen könne, da
die Räuber bald ſeine neue Wohnung auffinden,
und er dann um ſo ſichrer ihre Beute werden müſſe.
„Beruhigen Sie ſich,“ ſchließt Herr v. Sartines, „es
wird Alles gut gehen, wenn Sie nur gute Conte-
nance halten.“


Du ſtellſt Dir leicht vor, zu welchen lächerlichen
Scenen die ſchreckliche Angſt des alten Kaufmanns,
die er fortwährend unter Luſtigkeit zu verbergen ſu-
chen muß, Anlaß gibt. Sein Bedienter, ein ächter
Engländer, immer durſtig, findet unterdeſſen in ei-
nem Schrank Wein, den er gierig austrinkt. Es iſt
aber Brechweinſtein, und er bekömmt in wenig Mi-
nuten die heftigſten Uebelkeiten, wodurch ſein Herr
ſich nun überzeugt, daß, anſtatt ihn zu erſtechen oder
zu erſchießen, man den Plan gemacht habe, ihn zu
vergiften. In dieſem Augenblick erſcheint die Wir-
thin mit der Chocolade. Außer ſich ſaßt ſie Liſton
[14] bei der Gurgel, und zwingt ſie die Taſſe ſelbſt aus-
zutrinken, welches dieſe, obgleich in großer Verwun-
derung über die ſeltſamen Sitten der Engländer,
ſich doch zuletzt ganz gern gefallen läßt. Das ſtumme
Spiel Liſtons dabei und wie er, ſeines Verſprechens
ſich plötzlich erinnernd, nachher, krampfhaft lachend,
bloßen Spaß daraus machen will, iſt höchſt drollig.
Endlich kömmt 10 Uhr heran, und nach vielen bur-
lesken Zwiſchenſcenen legt Herr Jackſon ſich, mit
Degen und Piſtolen, und in ſeinen Sammthoſen ins
Bett, deſſen Vorhänge er dicht zuzieht. Unglücklicher-
weiſe hat die Tochter vom Hauſe eine Liebſchaft,
und bevor noch der Fremde das Logis bezogen, ih-
rem Liebhaber bereits in demſelben Zimmer ein Ren-
dezvous gegeben. Um die Entdeckung zu vermeiden,
kömmt ſie jetzt leiſe hereingeſchlichen, löſcht das Licht
behutſam aus, und geht ans Fenſter, in welches ihr
Amant ſchon hereinſteigt. So wie dieſer in die Mitte
des Zimmers ſpringt und zu ſprechen anfängt, hört
man ſeltſame Angſttöne im Bette, und eine Piſtole fällt
mit Gepraſſel heraus, bald nachher die andere,
der Vorhang thut ſich auf, Liſton verſucht einen
ſchwachen Stoß mit dem Degen, der aber ſeiner zit-
ternden Hand ebenfalls entfällt, worauf er ſich eben-
falls herausſtürzt und in ſeinem abentheuerlichen
Coſtüme vor dem eben ſo erſchrockenen Mädchen auf
die Kniee fällt, und herzbrechend um ſein Leben fleht,
während ſich der Liebhaber ſchleunig hinter dem
Bette verſteckt. Da öffnen ſich die Thüren, und der
Polizeiminiſter tritt mit Fackeln ein, um dem zit-
[15] ternden Jackſon anzukündigen, daß die Bande gefan-
gen ſey, aber, fügt er, die Gruppe vor ſich betrach-
tend, lächelnd hinzu: „Ich mache Ihnen mein Com-
pliment, daß Sie, wie ich ſehe, Ihre Zeit auf eine ſo
gute Art anzuwenden gewußt haben.“



Einen recht wunderlichen Ort habe ich heute früh
beſucht, eine Kirche, der Areopag genannt, wo ein
Geiſtlicher, the Reverent Mr. Taylor,gegen das
Chriſtenthum predigt, und Jedem erlaubt, öffentlich
zu opponiren. Er hat von den engliſch-chriſtlichen
Kirchen nur das beibehalten, daß man auch hier für
ſeinen Platz einen Schilling bezahlen muß. Hr. Tay-
lor iſt gelehrt, und kein übler Redner, aber ein eben
ſo leidenſchaftlicher Schwärmer für die Zerſtörung der
chriſtlichen Religion, als es ſo viele Andere für ihre
Begründung gegeben hat. Er ſagte außerordentlich
ſtarke, zuweilen wahre, oft ſchiefe, manchmal witzige
und auch ganz unanſtändige Dinge. Der Saal war
übrigens gedrängt voll von Zuhörern aus allen Stän-
den. Hier, wo die Nation auf einer ſo geringen
Stufe religieuſer Bildung ſteht, begreift man wohl,
daß ein ſolcher negativer Apoſtel viel Zulauf haben
kann. Bei uns, wo man auf dem vernunſtgemäßen
Wege allmähliger Reform ſchon weit fortgeſchritten
iſt, würde ein Unternehmen dieſer Art die Einen
mit heiligem Abſcheu erfüllen, den Andern nicht
[16] nützen, und Alle mit Recht ſchokiren, die Polizei es
aber ohnedem unmöglich machen.


Der erſte Almacks-Ball fand dieſen Abend ſtatt,
und nach Allem, was ich von dieſer berühmten Re-
union gehört, war ich in der That begierig, ſie zu
ſehen, aber nie ward meine Erwartung mehr ge-
täuſcht. Es war nicht viel beſſer wie in Brighton.
Ein großer, leerer Saal mit ſchlechten Dielen, Stricke
darum her, wie in einem arabiſchen Lager der Platz
für die Pferde abgepfergt iſt, ein paar kleine nackte
Nebenſtuben, in denen die elendeſten Erfriſchungen
gereicht werden, und eine Geſellſchaft, wo, ohngeach-
tet der großen Schwierigkeit, Entreebillets zu erhal-
ten, doch recht viel Nobodys ſich eingeſchwärzt hatten,
und die ſchlechten Tournüren und Toiletten vorherr-
ſchend waren, das war Alles, mit einem Wort, ein
völlig wirthshausmäßiges Feſt, höchſtens nur Muſik
und Beleuchtung gut — und dennoch iſt Almacks
der höchſte Culminationspunkt der engliſchen Modewelt.


Dieſe übertriebene Einfachheit war indeß in ihrem
Urſprung abſichtlich, indem man grade der Pracht
der reichen parvenûs etwas ganz Wohlfeiles entge-
genſetzen und es demohngeachtet, durch die Einrich-
tung der Lady Patroneſſes, ohne deren Genehmigung
Niemand Theil daran nehmen konnte, inacceſſibel für
ſie machen wollte. Das Geld und die ſchlechte Ge-
ſellſchaft (im Sinne der Ariſtokraten) hat ſich aber
dennoch Bahn hereingebrochen, und als einzig Cha-
rakteriſtiſches iſt blos das unpaſſende Aeußere geblie-
[17] ben, welches nicht übel dem Lokal eines Schützen-
balles in unſern großen Städten gleicht, und mit
dem übrigen engliſchen Prunk und Luxus ſo lächer-
lich kontraſtirt.



Bei Eſt … fand ich geſtern Morgen den Fürſten
S ......, der erſt vor wenigen Monaten, von der
Krönung in Moskau kommend, hierdurch nach Bra-
ſilien gegangen war, und jetzt bereits von dort zu-
rück kam. Wie ſchnell man doch in unſern Zeiten
die größten Reiſen mit Leichtigkeit zurücklegt! Von
allem, was er geſehen, gab er, für Naturſchönheiten,
der Inſel Madeira den Vorzug. Er hatte von da
kaum 8 Tage bis London gebraucht, was mir große
Luſt macht, die Excurſion auch zu verſuchen, ſobald
die Seaſon vorüber iſt.


Von 4 Uhr Nachmittags bis 10 Uhr Abends ſaß
ich im Hauſe der Gemeinen, gedrängt, in fürchter-
licher Hitze, höchſt unbequem, und dennoch mit ſo
angeſpannter Aufmerkſamkeit, ſo hingeriſſen, daß die
6 Stunden mir wie ein Augenblick vergingen.


Es iſt in der That etwas Großes um eine ſolche
Landesrepräſentation! Dieſe Einfachheit in der Er-
ſcheinung, dieſe Würde und Erfahrung, dieſe unge-
heure Macht nach Außen, und dieſes prunkloſe Fa-
milienverhältniß im Innern. —


Briefe eines Verſtorbenen IV. 2
[18]

Die heutige Debatte war überdies vom höchſten
Intereſſe. Das vorige Miniſterium hat, wie Du
weißt, größtentheils reſignirt, unter ihnen die wich-
tigſten Männer Englands, ja ſelbſt der (nach Na-
poleons und Blüchers Tode) berühmteſte Feldherr
Europa’s. Canning, der Vorfechter der liberalen
Parthei, hat dieſes Miniſterium beſiegt, und iſt trotz
aller ihrer Anſtrengungen der Chef des neuen ge-
worden, deſſen Zuſammenſetzung ihm, wie es in Eng-
land in ſolchem Falle üblich iſt, allein überlaſſen
wurde. Aber die ganze Gewalt der entrüſteten Ul-
tra-Ariſtokratie und ihres Anhangs drückt noch im-
mer ſchwer auf ihn, ja ſelbſt einer ſeiner bedeutend-
ſten Freunde, ein Commoner dazu wie er, iſt gleich-
falls einer der ausſcheidenden Miniſter, und ſchließt
ſich der ihm feindlichen Parthei an. Dieſer (Mr.
Peel) eröffnete heute den Kampf, in einer langen
und geſchickten, ſich jedoch zu oft wiederholenden
Rede. Es würde mich viel zu weit führen, und ganz
über die Gränzen einer Correſpondenz wie die unſrige
hinausgehen, wenn ich mich in das Detail der grade
jetzt vorliegenden politiſchen Fragen einlaſſen wollte,
meine Abſicht iſt nur, Dir die Taktik anzudeuten,
mit der auf der einen Seite gleich vom Anfang an
der Gewandteſte der neuen Oppoſition angriff, und
dann erſt noch mehrere gemeinere Streiter derſelben
losgelaſſen wurden, die regellos bald da bald dort
anpackten; dagegen die alte Oppoſition der Whigs,
die jetzt das liberale Miniſterium aus allen Kräften
unterſtützt, umgekehrt und zweckmäßiger mit dem
[19] kleinen Gewehrfeuer anfing, und nachher erſt, als ſchwe-
res Geſchütz, einen ihrer Hauptkämpfer, Brougham,
ſich erheben ließ, welcher in einer herrlichen Rede,
die wie ein klarer Strom dahin ſtrömte, ſeine Geg-
ner zu entwaffnen ſuchte, ſie bald mit Sarkasmen
peinigte, bald einen höheren Schwung nehmend, alle
Zuhörer tief ergriff und überzeugte. Z. B. wenn er
ſagte: „Nicht um Plätze zu erlangen, nicht um Reich-
thümer zu erwerben, ja nicht einmal um den Catho-
liken unſres Landes ihr natürliches und menſchliches
Recht wiedergegeben zu ſehen, eine Wohlthat, um
die ich ſeit 25 Jahren Gott und die Nation verge-
bens anrufe, nicht für alles dieſes habe ich mich dem
neuen Miniſterium angeſchloſſen, nein, ſondern nur,
weil, wohin ich mein Auge wende, nach Europa’s
civiliſirten Staaten, oder nach Amerika’s ungeheurem
Continent, nach dem Orient oder Occident, ich überall
die Morgenröthe der Freiheit tagen ſehe, — ja,
ihr allein habe ich mich angeſchloſſen, indem ich dem
Manne folge, der ihr Vorfechter zu ſeyn, eben ſo
würdig als willig iſt!“


Hier ſchloß der Redner, nachdem er noch die feier-
liche Erklärung abgegeben, daß er um ſo unparthei-
iſcher hierin ſey, und ſeyn könne, da er nie, und un-
ter keiner Bedingung je in ein Miniſterium dieſes
Reichs treten werde*). —


2*
[20]

Schon früher hatte ich Brougham gehört und be-
wundert. Niemand hat wohl je mit größerer Leich-
tigkeit geſprochen, ſtundenlang in einem nie unter-
brochenen klaren Fluß der Rede, mit ſchönem und
deutlichem Organ, die Aufmerkſamkeit feſſelnd, ohne
irgendwo anzuſtoßen, nachzuſinnen, zu wiederholen,
oder, ſich verſprechend, ein Wort für das andere zu
gebrauchen, welche ſtörenden Fehler z. B. die Reden
Peel’s oft verunſtalten. Brougham ſpricht, wie ein
geübter Leſer Gedrucktes vorliest — demohngeachtet
ſieht man darin nur außerordentliches Talent, beißen-
den, vernichtenden Witz und ſeltne Gegenwart des
Geiſtes, doch die jedes Herz erwärmende Kraft des
Genies, wie Canning ſie ausſtrömt, beſitzt er,
meines Erachtens, nur in weit geringerem Grade.


Jetzt erſt trat Canning, der Held des Tages, ſelbſt
auf. Wenn der Vorige einem geſchickten und eleganten
geiſtigen Boxer zu vergleichen war, ſo gab Canning
das Bild eines vollendeten antiken Gladiators. Alles
war edel, fein, einfach, und dann plötzlich ein Glanz-
punkt, wie ein Blitz hervorbrechend, groß und hin-
reißend. Eine Art Ermattung und Schwäche, die,
als ſey es die Folge der ſo kürzlich erlebten Krän-
kungen, ſo wie der überhäuften Arbeit, ſeiner Ener-
gie etwas zu entnehmen ſchien, gewann ihm vielleicht
in anderer Rückſicht noch mehr von Seiten des
Gefühls.


Seine Rede war in jeder Hinſicht das Gediegenſte,
auch den Unbefangenſten Ergreifende, der Culmina-
[21] tionspunkt des heutigen Tages! Nie werde ich den
Eindruck vergeſſen, den ſie, und jene ſchon berühmt
gewordene, die er vor mehreren Wochen über die
portugieſiſchen Angelegenheiten hielt, auf mich mach-
ten. Ich fühlte beidemal tief, daß die höchſte Ge-
walt, die der Menſch auf ſeine Mitmenſchen aus-
üben, der blendendſte Glanz, mit dem er ſich umge-
ben kann, und vor dem ſelbſt der des glücklichen
Kriegers wie Phosphorſchein vor der Sonne er-
bleicht — nur in dem göttlichen Geſchenk der Rede
liege! Dem großen Meiſter in dieſer nur iſt es ge-
geben, Herz und Gemüth einer ganzen Nation in
jene Art von magnetiſchem Somnambulismus zu
verſetzen, wo ihr nur blindes Hingeben übrig bleibt,
und der Zauberſtab des Magnetiſeurs über Wuth
und Milde, über Kampf und Ruhe, über Thränen
und Lachen mit gleicher Macht gebietet.


Am folgenden Tage wurde das Haus der Lords
eröffnet, unter gleich merkwürdigen Umſtänden als
geſtern das Haus der Gemeinen, jedoch zeigten ſich
darin keine ſo großen Talente, als Brougham und
vor Allen Canning.


Lord Ellenborough (der beiläufig geſagt, die ſchönſte
Frau in England beſitzt*), erhob ſich zuerſt, und
ſagte in der Hauptſache: Man klage die ausſcheiden-
den Miniſter an, in Folge einer gemeinſchaftlichen
[22] Vereinigung reſignirt, und ſich dadurch des hohen
Unrechts ſchuldig gemacht zu haben, dem Könige ſeine
conſtitutionelle Prärogative: ganz nach freier Willkühr
ſeine Miniſter zu erneuern, ſchmälern zu wollen. Zu-
vörderſt müſſe er daher verlangen, daß ſie, um ihre
Ehre zu retten
, ſich hierüber genügend rechtfer-
tigten. Hier ſah ich den großen Wellington in einer
fatalen Klemme. Er iſt kein Redner, und mußte nun
bongré malgré ſich wie ein Angeklagter vor ſeinen
Richtern vertheidigen. Er war ſehr agitirt, und die-
ſer Senat ſeines Landes, obgleich aus lauter Leuten
beſtehend, die einzeln ihm vielleicht nichts ſind,
ſchien wirklich impoſanter in ſeiner Maſſe für ihn,
als weiland Napoleon und alle ſeine Hunderttau-
ſende. Daß ſo etwas aber nicht möglich wird, iſt
die große Folge weiſer Inſtitutionen! Es war bei
alle dem rührend, den Heros des Jahrhunderts in
einer ſo untergeordneten Lage zu ſehen. Er ſtotterte
viel, unterbrach und verwickelte ſich, kam aber doch
am Ende, mit Hülfe ſeiner Parthei — die bei jedem
Stein des Anſtoßes (grade wie bei der Geſandtenrede
am Lord Mayor’s-Tage) durch Beifall und Lärm
eine Pauſe herbeiführte, in der er ſich wieder zurecht
finden konnte — endlich ſo ziemlich damit zu Stande:
zu beweiſen, daß keine Conſpiracy obgewaltet
habe. Er ſagte zuweilen ſtarke Sachen, vielleicht
mehr als er wollte, denn er war ſeines Stoffes nicht
Meiſter, unter andern folgende Worte, die mir ſehr
auffielen: „Ich bin Soldat und kein Redner. Mir
gehen alle Talente ab, in dieſer hohen Verſammlung
[23] eine Rolle zu ſpielen, ich müßte mehr als toll
ſeyn
(mad), wenn ich je, wie man mich beſchul-
digt, dem wahnſinnigen Gedanken Raum hätte ge-
ben können, erſter Miniſter werden zu wollen*).“


Alle ausgeſchiedenen Lords nach der Reihe machten
nun, ſo gut ſie konnten, auch ihre Apologieen. Der
alte Lord Eldon verſuchte es mit dem Weinen, was
er bei großen Gelegenheiten immer bei der Hand
hat, es wollte aber heute keine rechte Rührung her-
vorbringen. Dann antwortete der neue Lord und
Miniſter (Lord Gooderich, ehemals H. Robinſon)
für ſich und den Premier, der im Hauſe der Lords
nicht erſcheinen kann, weil er nur ein Commoner iſt,
als ſolcher aber dennoch jetzt England regiert, und
zu berühmt als Mr. Canning geworden iſt, um daß
er dieſen Namen gegen einen Lords-Titel vertau-
ſchen möchte.


[24]

Der Anfang der ſonſt guten Rede des neuen Pairs
erregte ein allgemeines Gelächter, denn der langen
alten Gewohnheit getreu, redete er die Lords, wie
den Sprecher des Unterhauſes mit „Sir“ ſtatt „My-
lords“ an. Er war ſelbſt ſo ſehr dadurch deconte-
nancirt, daß er ſich vor die Stirne ſchlug, und eine
ganze Weile ſprachlos blieb, aber durch viele freund-
liche hear, hear, doch bald wieder ſeine Faſſung
gewann.


Lord Holland zeichnete ſich, wie gewöhnlich, durch
Schärfe und frappante Aufſtellungen aus; Lord King
durch vieles, zuweilen nicht ſehr geſchmackvolles Wi-
tzeln; Lord Landsdowne durch ruhigen, ſachgemäßen,
mehr verſtändigen als glänzenden Vortrag. Lord
Grey ſprach von Allen mit dem meiſten äußern An-
ſtande, den die engliſchen Redner faſt ohne Ausnahme
entweder zu ſehr verſchmähen, oder ſeiner nicht mäch-
tig werden können. Einen ähnlichen Mangel an An-
ſtand bietet das Local des Unterhauſes dar, das ei-
nem ſchmutzigen Kaffeehauſe gleicht, und auch das
Benehmen vieler Volksrepräſentanten, die mit dem
Hut auf dem Kopfe oft auf den Bänken ausgeſtreckt
liegen, und ſich während der Reden ihrer Collegen
von Allotrien unterhalten, erſcheint ſeltſam. Local
und Verhandlung im Oberhauſe ſind dagegen ſehr
ſchicklich.


Wenn ich von dem Totaleindruck dieſer Tage auf
mich Rechenſchaft geben ſoll, ſo muß ich ſagen, daß
er erhebend und wehmüthig zugleich war. Das
[25] Erſte, indem ich mich in die Seele eines Engländers
verſetzte, das Zweite im Gefühl eines Deutſchen!


Dieſer doppelte Senat des engliſchen Volks, mit
allen menſchlichen Schwächen, die mit unterlaufen
mögen, iſt etwas höchſt Großartiges — und indem
man ſein Walten von Nahem ſieht, fängt man an
zu verſtehen, warum die engliſche Nation bis jetzt
noch die erſte auf der Erde iſt.



Aus dem ernſten Parlament folge mir, zur Ver-
änderung, heute ins Theater.


Man führt ein Spektakelſtück auf, deſſen äußere
Ausſchmückungen hier täuſchender bewerkſtelligt wer-
den als irgendwo. Nur die „Scenery,“ zweier Auf-
tritte will ich beſchreiben.


Zwiſchen Felſen, im wilden Gebirge Spaniens, er-
hebt ſich ein mauriſches Schloß in weiter Entfernung.
Es iſt Nacht, aber der Mond ſcheint hell am blauen
Himmel, und miſcht ſein blaſſes Licht mit den hell-
erleuchteten Fenſtern des Schloſſes und der Capelle.
Ein langer ſich durch die Berge ziehender Weg wird
an mehreren Stellen ſichtbar, und führt zuletzt, auf
hohe Mauerbogen geſtützt, bis in den Vordergrund.


Jetzt ſchleichen vorſichtig Räuber aus den Gebü-
ſchen herbei, verbergen ſich lauernd an der Straße,
[26] und man hört aus ihrem Geſpräch, daß ſie eben ei-
nen Hauptfang zu machen gedenken.


Ihr ſchöner junger Hauptmann iſt erkenntlich durch
gebietenden Anſtand und ſein prächtiges Coſtume,
im Geſchmack der italieniſchen Banditi. Nach kurzem
Zwiſchenraum ſieht man in der Ferne die Schloßthore
ſich öffnen, eine Zugbrücke wird heruntergelaſſen,
und eine Staatskutſche mit ſechs Maulthieren be-
ſpannt, rollt dem Gebirge zu. Einigemal verliert
man ſie hinter den Bergen, immer größer kömmt
ſie wieder zum Vorſchein (welches durch mechaniſche
Figuren von verſchiedener Dimenſion ſehr artig und
geſchickt bewerkſtelligt wird) und gelangt endlich im
raſchen Trabe auf die Scene, wo ſogleich von den
verſteckten Räubern einige Schüſſe fallen, deren ei-
ner den Kutſcher tödtet, worauf die Beraubung des
Wagens unter Lärm und Getümmel vor ſich geht.
Während dieſem Tumulte fällt der Vorhang.


Beim Anfang des zweiten Akts erblickt man zwar
wieder dieſelbe Dekoration, aber ſie erweckt ganz
verſchiedene Empfindungen. Die Lichter im Schloß
ſind verlöſcht, der Mond iſt hinter Wolken getreten.
In der Dämmerung unterſcheidet man nur undeut-
lich die Kutſche, mit aufgerißnen Thüren, auf dem
Bocke liegt der getödtete Diener hingeſtreckt, aus ei-
nem ſteinigten Graben ſieht man das blaſſe Haupt
eines gefallenen Räubers hervorragen, und an ei-
nem Stamme lehnt der ſterbende, ſchöne Haupt-
mann, deſſen fliehende Lebensgeiſter der Knabe
[27] Gilblas vergebens bemüht iſt, zurückzuhalten. Dies
halb lebende halb todte Gemälde iſt wirklich von er-
greifender Wirkung.


Meine heutigen Frühviſiten waren nützlich, denn
ſie verſchafften mir 3 neue Billets für die nächſten
Almacks, und ich bewog ſogar eine der gefürchte-
ten, ſtrengen Patroneſſes, mir ein Billet für eine kleine
obſcure Miſſ meiner Bekanntſchaft zu geben, eine
große faveur! Ich mußte aber lange intriguiren und
viel bitten, ehe ich es errang. Die Miſſ und ihre
Geſellſchaft küßten mir beinahe die Hände, und be-
nahmen ſich, als wenn ſie ſämmtlich das große Loos
gewonnen hätten. Je crois qu’après cela, il y a
peu de choses qu’elle me refuserait.


Außer Almacks iſt den engliſchen Damen am
beſten durch die Politik beizukommen. Dieſe letzte
Zeit hörte man, weder bei Tiſch noch in der Oper,
ja ſelbſt auf dem Ball nie etwas anders als von
Canning und Wellington aus jedem ſchönen Munde,
ja Lord E. beklagte ſich ſogar, daß ſeine Frau ſelbſt
in der Nacht ihn damit behellige. Plötzlich im Schlafe
habe ſie ihn durch ihren Ausruf aufgeſchreckt: „Wird
der Premier ſtehen oder fallen?“


Wenn ich mich daher hier in nichts Anderm ver-
vollkommne, ſo geſchieht es wenigſtens in der Poli-
tik und auch im Cabrioletfahren, denn das Letztere
lernt man hier perfect, und windet ſich im ſchnellen
Lauf durch Wagen und Karren, wo man früher mi-
nutenlang angehalten haben würde. Ueberhaupt wird
[28] man nach einem langen Aufenthalt in ſolcher Welt-
ſtadt in allen Dingen wirklich etwas weniger klein-
lich. Man ſieht die Dinge breiter und mehr en
bloc
an.



Das ewige Einerlei der Seaſon geht noch immer
ſo fort. Eine Soirée bei Lady Cooper, einer der
ſanfteſten Lady Patroneſſes, eine andere bei Lady
Jerſey, einer der ſchönſten und ausgezeichnetſten
Frauen Englands, vorher aber noch ein indiſches
Melodram füllte den heutigen Abend recht angenehm.
Das Melodram ſpielte auf einer Inſel, deren Ein-
wohner mit dem herrlichen Geſchenk des Fliegens
begabt waren. Die hübſcheſten Mädchen kamen,
wie Kranichſchwärme, in Maſſe angeſegelt, und ließen
nur, wenn man ihnen recht eindringlich die Cour
machte, die Flügel ſinken, aber zu viel durſte man
auch nicht wagen, — ein Nu — und die gracieuſen
bunten Falter breiteten ſich ſchnell aus, und weg
waren ſie, ohne daß man ſogar die dünnen Seile
ſehen konnte, an denen ſie heraufgezogen wurden.


Auf einem Diné und der darauf folgenden Soirée
beim Fürſten Polignac waren mehrere intereſſante
Perſonen zugegen, unter andern der Gouverneur von
Odeſſa, einer der liebenswürdigſten Ruſſen, die ich
kenne, und Sir Thomas Lawrence, der berühmte
[29] Maler, von dem man ſagt, daß er alle die unge-
heuren Summen, welche ihm ſeine Kunſt einbringt,
regelmäßig im Billardſpiel verliert, weil er ſich irrig
darin ein Meiſter zu ſeyn einbildet. Es iſt ein Mann
von intereſſantem Aeußern, mit etwas Mittelaltri-
gem in ſeinen Zügen, was auffallend an Bilder aus
der venetianiſchen Schule erinnert.


Noch mehr zogen mich indeß die portugieſiſchen
Augen der Marquiſe P … an, denn portugieſiſche
und ſpaniſche Augen übertreffen alle andern.


Die Niece des Fürſten Polignac erzählte mir, daß
ihr Onkel, der bei einem noch ganz jugendlichen und
angenehmen Ausſehen doch einen ganz weißen
Kopf hat, dieſen in den franzöſiſchen Revolutions-
Gefängniſſen, noch nicht 25 Jahre alt, in wenigen
Wochen vor Kummer und Angſt ergrauen geſehen
hätte. Er mag den jetzigen Contraſt mit damals gar
wohlthätig finden, aber die Haare kann ihm leider
die Reſtauration doch nicht wieder ſchwarz machen!*)
Mich intereſſirte dieſer Gegenſtand, beſonders deß-
halb, gute Julie, weil die meinigen leider auch, mit
zu viel Patriotismus, hie und da unſre National-
farben, ſchwarz und weiß, anzunehmen anfangen.


[30]

Uebrigens iſt die hieſige Seaſon, wenn man, als
lernbegieriger Fremder, alle Gradationen der haus-
machenden Welt ſehen will, kaum auszuhalten. Mehr
wie 40 Einladungen liegen auf meinem Tiſche, fünf
bis ſechs zu einem Tage. Alle dieſe Gaſtgeber wol-
len nachher früh Viſiten haben, und um höflich zu
ſeyn, muß man ſie in Perſon machen. C’est la mer
à boire,
und dennoch ſehe ich Abends beim Vorbei-
fahren immer noch vor vielen Dutzenden mir unbe-
kannter Häuſer, ebenfalls dichte Wagenburgen ſtehen,
durch die man ſich mühſam durchdrängen muß.


Ein Ball, dem ich neulich beiwohnte, war beſon-
ders prachtvoll, auch einige königliche Prinzen zuge-
gen, und wenn dies der Fall iſt, hat die Eitelkeit
der Wirthe die Mode eingeführt, dies immer ſchon
auf den Einladungskarten anzuzeigen.


„To meet his royal highness“ etc. iſt die lächer-
liche Phraſe. Der ganze Garten des Hauſes war
überbaut und zu großen Sälen umgeſchaffen, die
man in weißen und Roſa-Mouſſelin drapirt, mit
enormen Spiegeln und 50 Kronleuchtern von Bronze
ausgeſchmückt, und durch die Blumen aller Zonen
parfumirt hatte. Die Herzogin von Clarence beehrte
das Feſt mit ihrer Gegenwart, und Alles drängte
ſich, ſie zu ſehen, denn ſie iſt eine jener ſeltnen Prin-
zeſſinnen, deren Perſönlichkeit weit mehr Ehrfurcht
als ihr Rang gebietet, und deren unendliche Güte, und
im höchſten Grade liebenswerther Charakter ihr eine
Popularität in England gegeben haben, auf die wir
[31] Deutſche ſtolz ſeyn können, um ſo mehr, da ſie al-
ler Wahrſcheinlichkeit nach einſt die Königin jenes
Landes zu werden beſtimmt iſt.


Die Perſon, welche dieſen glänzenden Ball gab,
war demohngeachtet nichts weniger als modiſch, eine
Eigenſchaft, die hier den ſeltſamſten Nüancen unter-
worfen iſt. Indeß raffinirt Jeder, modiſch oder nicht,
wie er es dem Andern bei ſeinen Feſten zuvorthun
möge.


Die Gräfin L. gab den Tag nach dem erwähnten
Ball einen andern, wo ich, gewiß tauſend Schritt
vom Hauſe ſchon, ausſteigen mußte, da vor der
Menge von Wagen gar nicht mehr heranzukommen
war, und bereits verſchiedene Equipagen, die ſich
gewaltſam Bahn brechen wollten, unter ſchrecktichem
Fluchen der Kutſcher unauflöslich zuſammenhingen.
Bei dieſem Ball waren die Treibhäuſer mit Moos
aus verſchiedenen Farben tapezirt, und der Boden
mit abgehauenem Graſe dicht belegt, aus dem
hie und da Blumen frei hervorzuwachſen ſchienen,
die vom Stiel aus erleuchtet waren, was ihre Far-
benpracht verdoppelte. Die Gänge aber wurden durch
bunte Lampen, die gleich Edelſteinen im Graſe ſun-
kelten, markirt. Eben ſo hatte man ſolche bunte
Arabesken im Mooſe der Wände angebracht. Im
Hintergrunde ſchloß eine ſchöne transparente Land-
ſchaft, mit Mondſchein und Waſſer die Ausſicht.


[32]

Mit mehrern Damen dieſen Morgen ſpazieren rei-
tend, erhob ſich die Frage, welchen Weg man neh-
men ſollte, die herrliche Frühlingsnacht am beſten zu
genießen. Da ſahen wir am hohen Himmel einen
Luftballon ſchweben, und die Frage war beantwor-
tet. Mehr als 10 Meilen folgten die unermüdlichen
Damen, gleich einer steeple chase, dem luftigen Füh-
rer, der aber doch endlich unſern Blicken ganz ent-
ſchwand.


Der Mittag war einem großen diplomatiſchen Diné
gewidmet, wo mehrere der neuen Miniſter zugegen
waren, und der Abend einem Ball in einem deutſchen
Hauſe, deſſen ſolide und geſchmackvolle Pracht den
beſten engliſchen gleichkömmt, und durch die liebens-
würdigen Eigenſchaften der Wirthe die meiſten über-
trifft, ich meine beim Fürſten Eſterhazy.


Bald aber wird mein Journal den Reiſeberichten
des weiland Bernouilly gleichen, die auch nur von
Einladungen, Mittagsmahlen und Abendunterhal-
tungen handeln. Aber Du mußt es nun ſchon hin-
nehmen, wie es ſich trifft. Vergleiche dies Tagebuch
mit einem Gewande, auf dem ſehr verſchiedne, rei-
chere und ärmlichere Stickereien vorkommen. Der
feſte dauerhafte Stoff repräſentirt meine immer gleiche
Liebe zu Dir und den Wunſch, Dich, ſo gut es geht,
mein fernes Leben mit leben zu laſſen; die Sticke-
reien aber, die nur Copieen des Erlebten ſind, müſſen
[33] daher auch den Charakter deſſelben annehmen, bald
glühender in Farben, bald bläſſer ſeyn — und
zu verwundern wäre es nicht, wenn ſie in der dum-
pfen Stadt ganz verblaßten, die nimmer ſo liebliche
Bilder bietet als die herrliche Natur!



Ich muß vor der Hand noch bei demſelben Thema
bleiben, und eines Frühſtücks in Chiswick beim Her-
zog von Devonshire erwähnen, der hübſcheſten Art
Feten, die man hier gibt, weil ſie auf dem Lande,
abwechſelnd im Hauſe und in den ſchönſten Gärten,
ſtatt finden, Dejeuners heißen, aber erſt um 3 Uhr
anfangen und vor Mitternacht nicht aufhören. Der
Fürſt B. …, weiland Schwager Napoleons, war zu-
gegen, auch einer von denen, die ich früher in einem
äußern Glanz geſehen, den ihnen nur die damalige
Welt-Sonne verlieh, und der mit ihr ſo ſchnell über-
all verlöſcht iſt!


Die größte Zierde dieſes Frühſtücks war aber die
ſchöne Lady Ellenborough. Sie kam in einem klei-
nen Wagen mit Ponys beſpannt an, die ſie ſelbſt
dirigirte, und die nicht größer als kamtſchadaliſche
Hunde waren. Man möchte verſucht ſeyn, von nun an
dem Fuhrwerke der Venus die Tauben auszuſpan-
nen und Ponys ſtatt ihrer vorzulegen.


Uebler wird aber mit allen Sorten Equipagen hier
umgegangen als irgendwo. Auf dem geſtrigen Al-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 3
[34] macks-Ball entſtand eine ſolche Bagarre unter ihnen,
daß mehrere Damen Stunden lang warten mußten,
ehe ſich das Chaos entwickelte. Die Kutſcher beneh-
men ſich bei ſolchen Gelegenheiten wie unſinnig, um
vorzudringen, und die Polizei bekümmert ſich nicht
um dergleichen in England. So wie dieſe heroiſchen
Wagenlenker die kleinſte Oeffnung vor ſich ſehen, peit-
ſchen ſie ihre Pferde hinein, als wären Pferde und
Wagen ein eiſerner Keil. Beider Erhaltung wird für
nichts geachtet. Auf dieſe Weiſe war eins der Pferde
der liebenswürdigen Lady Stigo mit beiden Hinter-
beinen in das Vorderrad des Nebenwagens ſo ein-
gedrungen, daß es nicht mehr möglich war, es zu de-
gagiren, und eine Umdrehung des Rades ihm ohn-
fehlbar beide Knochen zermalmt haben würde. Dem-
ohngeachtet war der fremde Kutſcher kaum dahin zu
bringen, ſtill zu halten. Man mußte zuletzt, als ſich
die Foule etwas geklärt, beide Pferde ausſpannen,
und dann gelang es noch ſchwer, ſie von einander
zu löſen. Während dieſer Zeit brüllte das arme
Thier ſo laut, wie der Löwe Nero in Exeterchange. Ein
Cabriolet wurde daneben ganz zertrümmert, und fuhr
ſeinerſeits mit den Gabeln in die Fenſter einer Kutſche,
aus der das Zetergeſchrei von mehreren Weiberſtim-
men anzeigte, daß ſie ſchon beſetzt war. Viele andere
Wagen wurden noch beſchädigt.


Nach dieſer Schilderung würdeſt Du Gute mit
Deiner Poltronnerie Dich wohl hier nie mehr einem
Wagen anvertrauen. Sicherer war es auch gewiß zu Zei-
[35] ten der Königin Eliſabeth, wo Alles, auch die zarten
Hoffräuleins, noch zu Pferde ſich zu Balle begaben.



Ich hatte die Ehre, beim Herzog von Clarence zu
ſpeiſen, wo auch die Prinzeſſin Auguſta, die Herzogin
von Kent mit ihrer Tochter und die Herzogin von
Glouceſter gegenwärtig waren. Der Herzog macht
einen ſehr freundlichen Wirth, und erinnert ſich im-
mer gütig der verſchiednen Epochen und Länder, wo
er mich früher geſehen. Er hat ſehr viel National-
Engliſches, im beſten Sinne des Worts, auch die
engliſche Liebe zur Häuslichkeit. Es war heute der
Geburtstag der Prinzeſſin Carolath, den er feierte,
und ihre Geſundheit dabei ausbrachte, welches die
ſanfte Emilie, ohngeachtet der Intimität, mit der ſie
hier als Verwandtin der liebenswürdigen Herzogin
behandelt wird, doch vielfach erröthen machte.


Unter den übrigen Gäſten muß ich den Admiral
Sir George Cockburn erwähnen, der Napoleon nach
Helena führte, und mir nach Tiſch viel von des Kai-
ſers ungemeinem Talent erzählte, diejenigen zu ge-
winnen, welche er zu gewinnen die Abſicht hatte.
Der Admiral bewunderte auch die Aufrichtigkeit, mit
der Napoleon über ſich ſelbſt, wie über eine fremde
hiſtoriſche Perſon ſprach, und unter andern offen
äußerte: die Ruſſen hätten ihn in Moskau ſo völlig
3*
[36] überliſtet, daß er jeden Tag bis zum letzten beſtimmt
auf den Frieden gehofft, bis es endlich zu ſpät ge-
weſen ſey. C’était sans dout une grande faute,
ſetzte er nachher gleichgültig hinzu.


Die Töchter des Herzogs ſind d’nn beau sang, alle
außerordentlich hübſch, wenn gleich alle in einem ganz
verſchiednen Genre; und unter den Söhnen zeichnet
ſich in vieler Hinſicht der Obriſt Fitzclarence aus,
deſſen Landreiſe von Indien durch Aegypten nach
England Du mit ſo viel Intereſſe geleſen haſt. Er
hat auch über die deutſche Landwehr geſchrieben, de-
ren Partiſan er jedoch keineswegs iſt. Selten findet
man einen jungen Officier von ſo vielſeitiger Bil-
dung. Ich kenne ihn ſchon von älteren Zeiten her, und
habe mich ſchon oft vieler Freundlichkeit von ſeiner
Seite zu rühmen gehabt.


Seine älteſte Schweſter iſt an Sir Sidney ver-
heirathet, und ich hörte von ihr, daß in dieſer Fa-
milie, ſeit Lord Leiceſters Zeit, die ununterbrochne
Reihe der Ahnenbilder nicht nur, ſondern ſogar eine
Haarlocke von jedem der Vorfahren aufbewahrt werde.
Auch finde ſich dort, unter allen Documenten, noch
eine Liſte ſämmtlicher Gäſte bei dem Feſte von Ken-
nilworth, und ſehr merkwürdige Haushaltsrechnungen
aus jener Zeit vor. Walter Scott hat, glaube ich,
dieſe Papiere benützt.


Abends flötete die Paſta herrlich bei Gräfin St. A.,
und zwei bis drei Bälle ſchloſſen den Tag.


[37]

Herzlich mußte ich dieſen Morgen über einen jun-
gen Lord lachen, dem der Aufenthalt in Paris noch
nicht viel genützt hat, und deſſen ſchönes Pferd mehr
als er ſelbſt die Blicke im Park auf ſich zog. Quel
beau cheval vous avez là,
ſagte ich. Ja, erwiederte
er mit ſeinem engliſchen Accent: C’est une belle
bête, je l’ai fait moi même, et pour cela je lui
suis beaucoup attaché.
Er wollte ohne Zweifel ſa-
gen, daß er es ſelbſt bei ſich aufgezogen habe. Iſt
das nicht ganz der Pendant zu dem tauben ruſſiſchen
Officier in B., dem der König bei Gelegenheit eines
auf den Tiſch kommenden Eſturgeons zurief: Ce
poisson est bien fréquent chez vous,
und der, auf-
ſtehend, mit einem tiefen Bückling, erwiederte: Oui
Sire, je l’ai été pendant quinze ans.


Rex Judaeorum gab ein prachtvolles Diné, deſſen
Deſſert allein, wie er mir ſagte, 100 Lſt. koſtete. Ich
ſaß neben einer ſehr geiſtreichen Dame, der Freundin
des Herzogs von W… Mtſſ. A.... eine ſehr cha-
rakteriſtiſche, feine, nicht engliſche Phyſiognomie.
Du kannſt Dir denken, welche enragirte Politikerin!
Ich habe ſie ohne Zweifel nicht wenig ennuyirt,
denn erſtens bin ich ein Canningianer, zweitens haſſe
ich die Politik bei Tiſche. Wir ſahen hier viel Pracht.
Das Tafelſervice war Vermeil und Silber, das zum
Deſſert, glaube ich, ganz Gold. Auch in der Neben-
ſtube, unter dem Portrait des Fürſten Metternich
[38] (Präſent des Originals) befand ſich ein großer, ditto
goldner Kaſten, wahrſcheinlich eine Copie der Bun-
deslade. Ein Concert folgte der Mahlzeit, in wel-
chem Herr Moſcheles ſo hinreißend ſpielte, wie
ſeine danebenſtehende junge Frau ausſah, und erſt
um 2 Uhr kam ich auf den Rout des Herzogs von
Northumberland, eine kleine Geſellſchaft, zu der blos
1,000, ſage tauſend Perſonen eingeladen worden wa-
ren. In einer ungeheuern Gemäldegallerie wurden
bei 30 Grad Reaumur große Muſikſtücke aufgeführt.
Man hörte aber nicht viel davon wegen des Lärms
und Drängens. Der Schweißgeruch war gleich der
ſchwarzen Höhle in Indien, faſt unerträglich. Sind
es nun wirklich civiliſirte Nationen, die ſich ſo
amüſiren?



Die an Kohlenbergwerken reiche Lady L...., de-
ren Teint zu der Farbe jener den angenehmſten Ge-
genſatz bildet, und deren air chiffonné ganz originell
iſt, zeigte mir dieſen Morgen ihren Bazar. Es iſt
kein gewöhnlicher, denn es lagen wohl für 300,000
Rtllr. Edelſteine darauf. Das ganze Boudoir, voller
Wohlgerüche, Blumen und Seltenheiten, das Clair-
obscur
rother Vorhänge, und die Marquiſe ſelbſt in
einem gelben Gazekleide auf ihrer Chaise longue
hingeſtreckt, plongée dans une douce langueur, es
war ein hübſches Bild „of refinement.“ Diamanten,
[39] Perlen, Feder und Tinte, Bücher, Briefe, Spielſa-
chen und Petſchaften lagen vor ihr mit einer ange-
fangenen Börſe. Unter den Petſchaften waren zwei
Inſchriften pikant durch ihren Contraſt; die eine,
von Lord Byron, ſagt in zwei ſchönen Strophen:


Love will find its way

Where wolves would fear to stray.

Liebe wird den Weg erſpähn,

Wo der Wolf ſich ſcheut zu gehn.

Die andere Inſchrift ſagt mit ächt franzöſiſcher
Philoſophie: Tout lasse, tout casse, tout passe!
Außerdem war nichts häufiger im Hauſe als Por-
traite des Kaiſers [Alexander] in allen Größen, der
in W… der Marquiſe die Cour gemacht, und deſſen
Conterfey die Dankbarkeit daher ſo ſehr vervielfältigt.
Ihr Mann war dort Geſandter, und gebrauchte ſeine
engliſche Prärogative im vollen Maße. Einmal borte
er mit einem Fiaker, ein andermal präſentirte er die
Erzherzogin, und wenn ich nicht irre, gar die Mo-
narchin ſelbſt ſeiner Frau, ſtatt umgekehrt, dann lief
er in die Küche, ſeinen Koch zu erſtechen, weil dieſer
ſeine Frau beleidigt, enfin il faisait la pluie et le
beau tems à V.... ou plûstot l’orage et la grêle.


Denke nun, wie desappointirt die arme Dame,
welche ſo lange auf dem Continent regierte, jetzt ſeyn
muß, hier malgré ses Diamans, son rang et sa jo-
lie mine,
nicht recht faſhionable werden zu können!
Aber dieſer Mode-Ariſtokratie iſt ſchwerer beizukom-
men, als dem oberſten Grade der Freimaurer, und
[40] viel capriciöſer iſt ſie noch dazu, als dieſe ehrwür-
digen Männer, obgleich beide, wie der liebe Gott,
aus Nichts ſchaffen!


Ich ſpeiste bei Lord Darnley, wo ich unter an-
dern den Lord Bloomfield, ſonſt ein markanter Mann
und Favorit des Königs, du tems de ses fredaines,
und den Erzbiſchof von York fand, ein majeſtätiſcher
alter Herr, der als Hofmeiſter angefangen hat, und
durch die Protektion ſeines Pupillen zu dieſer hohen
Würde gelangt iſt. Nichts iſt häßlicher und zugleich
komiſcher als die Demitoilette der engliſchen Erz-
biſchöfe. Eine kurze Schulmeiſterperücke, ſchlecht ge-
pudert, ein ſchwarzer franzöſiſcher Rock und eine kleine
ſchwarzſeidne Damenſchürze vorne über die Iner-
preſſibles, wie ſie die Bergleute hinten zu tragen
pflegen. Lord D. lachte ſehr, als ich ihn verwundert
fragte: si ce tablier faisait allusion au voeu de
chasteté.
Ich beſann mich in dem Augenblick nicht,
daß die engliſchen Erzbiſchöfe, die ſonſt ſo ächt-ka-
tholiſch ſind, ſich das Heirathen reſervirt haben. Doch
iſt es wahr, daß ihre Frauen eigentlich nur wie Mai-
treſſen behandelt werden, denn ſie dürfen nicht den
Namen ihres Mannes führen.


Wir wurden ſehr gut bewirthet, mit zahmem Gar-
ten-Wildpret und herrlichen Früchten von Cobham,
und fuhren nach Tiſch in ein Concert, was ſich gar
ſehr von den hier gewöhnlichen unterſchied. Es iſt
dies eine Entrepriſe mehrerer vornehmen Edelleute,
Freunde der alten Muſik von Händel, Mozart und
[41] den alten Italienern, deren Compoſitionen hier allein
aufgeführt werden.


Ich habe lange keinen ähnlichen Genuß gehabt.
Was iſt doch das moderne Trilliliren gegen die Er-
habenheit dieſer alten Kirchenmuſik! Ich fühlte mich
ganz lebhaft in die Jahre meiner Kindheit zurück-
verſetzt, ein Gefühl, das in der That die Seele auf
viele Tage ſtärkt und ihr von Neuem leichtere
Schwingen gibt. Der Geſang war durchaus vor-
züglich, und in ſeiner Einfachheit oft überirdiſch
ſchön, denn es iſt unglaublich, welche Gewalt Gott
in die menſchliche Stimme gelegt hat, wenn ſie recht
angewandt wird, und einfach und ſicher aus einem
ſchönen Munde ertönt. Bei Händels Chören glaubte
man entſetzt die Nacht zu fühlen, die ſich über Egyp-
ten ausbreitet, und den Tumult der Heere Pharaos
mit dem Gebrauſe des Meeres zu hören, das ſie un-
ter ſeine Wogen begräbt.


Ich konnte mich nicht entſchließen, nach ſo heiligen
Tönen die Ball-Fiedeln zu hören, und begab mich
daher um 12 Uhr zu Hauſe, Almacks und noch einen
andern Ball der faſhionablen Welt gern im Stich
laſſend. Ich will den Nachhall jener Sphärenmuſik
mit in meine Träume hinübernehmen, und auf ih-
ren Fittigen mit Dir, meine Julie, eine verklärte
Nachtreiſe antreten. Are You ready? Now we
fly....


[42]

Sehr bei Zeiten weckte mich heute mein alter B …,
welches er nur thut, wenn ein Brief von Dir da iſt.
Bei minder wichtigen Gelegenheiten läßt er mich im-
mer ruhen, wenn ich ihm Abends auch noch ſo ſehr
einſchärfe, mich zu wecken. Die Entſchuldigung iſt
dann ſtets: Sie ſchliefen ſo gut!


Es iſt ein wahres Glück, daß ich nicht die Art
Eitelkeit beſitze, die durch Lob ſchwindlich wird —
ſonſt müßteſt Du einen rechten Thoren aus mir machen.
Ach ich kenne mich nur ſelbſt zu gut, und hundert
Fehler, die Deine Liebe zur Hälfte überſieht! Das
kleine Teufelchen aber, das Du attakirſt, ſpuckt allerdings
manchmal in mir. Es iſt aber ein ziemlich unſchuldiges,
oft ein recht dummes, armes, ehrliches Teufelchen,
eine Sorte, die hinſichtlich der Moralität, im Grunde
zwiſchen Engel und Teufel in der Mitte ſteht, mit
einem Wort: ein ächtes, ſchwaches Menſchenkind!
Da es Dir aber mißfällt, das kleine Teufelchen, ſo
ſtecke ich es in die Bouteille wie Hofmann, und
pfropfe ſie mit Salomonis Siegel zu. Von nun an
producire ich Dir nur den Herrnhuter; denn Du
weißt, unter ihnen verlebte ich meine Jugend, et si
je m’en ressens, je ne m’en ressens guêres.


Auf dem Fancyball, den Du denen in Brighton
nachahmen willſt, erſcheine ich gewiß, und es wird
mich dennoch ſicher Niemand erkennen, da ich nur
unſichtbar zugegen ſeyn kann. Ich werde bloß einen
[43] Kuß auf Deine Stirn drücken, und dann wieder ver-
ſchwinden wie eine Ahnung. Gib alſo Acht!



Aus der großen Welt wandelte ich geſtern wieder
einmal in die City, und beobachtete die mühſame
Induſtrie, welche jener immer die frivolen Luxus-Artikel
liefert. Täglich erfindet man hier etwas Neues. Da-
hin gehören auch die unzähligen Annoncen, und wie
ſie en evidence geſetzt werden. Früher begnügte man
ſich, ſie anzuſchlagen. Jetzt ſind ſie ambulant. Ei-
ner hat einen Hut von Pappe aufgeſetzt, dreimal
höher als andre Hüte ſind, auf welchem in großen
Buchſtaben: Stiefel zu 12 Schilling das Paar re-
kommandirt werden. Ein andrer trägt eine Art
Fahne, auf der ein Waſchweib abgebildet iſt, und
darunter ſteht: Only one six pence a shirt. (Nur
einen Sixpence das Hemde). Kaſten, wie die Arche
Noab, ganz mit Annoncen überklebt und von der
Größe eines kleinen Hauſes, mit Menſchen oder ei-
nem Pferde beſpannt, durchziehen langſam die Straßen,
und tragen mehr Lügen auf ihren Rücken als Münch-
hauſen je finden konnte.


Als ich bei H. R… anlangte, war ich ſehr müde,
und acceptirte eine Einladung, bei ihm auf dem
Comptoir zu eſſen. Während dem Eſſen philoſophir-
ten wir über Religion. R. est vraiment un très
[44] bon enfant,
und gefällig, mehr wie Andere ſeines
Standes, ſobald er nur nicht ſelbſt etwas dabei zu
riskiren glaubt, was man ihm auch keineswegs ver-
denken kann. Bei dem Religionsgeſpräch war er
übrigens gewiſſermaßen im Vortheil, da ſeine Glau-
bensgenoſſen von älterem Religionsadel ſind, als wir
Chriſten. Sie ſind die wahren Ariſtokraten in die-
ſem
Fach, die durchaus noch nie eine Neuerung
paſſiren laſſen wollten. Ich ſagte endlich mit Göthe:
Alle Anſichten ſind zu loben, und fuhr in einem
höchſt zerbrechlichen Fiaker wieder nach dem Westend
of the town
zurück, wo es weder Chriſten noch Ju-
den, ſondern nur Faſhionables und Nobodys gibt,
um bei Miſtriß P… die Paſta wieder ſingen zu hö-
ren, und mit der Freundin des Lords H. de moitié
Ecarté
zu ſpielen.


Als ich endlich um 4 Uhr zu Haus kam und beim
roſigen Tageslicht eingeſchlafen war, bildete ich mir
ein, mein Lager ſey das Moos eines Waldes. Da
weckte mich ein klägliches Geſchrei. Ich ſah mich
um und erblickte einen armen Teufel, der eben von
der Spitze eines hohen Baumes ſchräg durch die Luft
fuhr, und neben mir zur Erde ſtürzte. Stöhnend
und leichenblaß raffte er ſich auf und jammerte ſchmerz-
lich: nun ſey es aus mit ihm! Ich wollte ihm zu
Hilfe eilen, als ein Weſen, das einem zugeſtöpſelten
Tintenfaß glich, herbeikam, und dem halbtodten Men-
ſchen unter Flüchen noch mehrere Stöße mit dem
Stöpſel gab. Ich packte es aber, zog den Stöpſel
heraus, und wie die Tinte nachſtrömte, verwandelte
[45] es ſich in einen Mohren in glänzend ſilberner Jacke
und prächtigem Coſtum, der lachend rief: ich ſollte
ihm nur in Frieden laſſen, er wolle mir Sachen zeigen,
die ich noch nie geſehen. Jetzt fingen auch ſogleich
Zaubereien an, die alle Pinettis und Philadelphias
der Welt weit hinter ſich zurückließen. Ein großer
Schrank unter andern veränderte ſeinen Inhalt je-
den Augenblick, und alle Schätze Golkondas mit den
unerhörteſten Seltenheiten kamen nach einander zum
Vorſchein. Ein dicker Mann mit vier hübſchen Töch-
tern, welcher eifrig zuſah, und den ich ſogleich als
einen Herrn erkannte, der früher in Brighton Bälle
gab, und Rolls hieß, weshalb man ihn (ſeiner Cor-
pulenz wegen) dubble Rolls, ſeine Töchter aber
hut Rolls nannte, äußerte indeß, das Ding daure
ihm zu lange, er ſey hungrig. Sogleich rief der be-
leidigte Zauberer mit zorniger Miene, indem ſein
Anzug ſich vor unſern Augen ſcharlachrotb färbte:

Zwei wird fünf und ſieben zehn.

Augen eßt! Der Mund ſoll ſeh’n,

Vorn und hinten wechſelt ſchnell.

Fitzli Putzli very well.

Kaum war dieſe Beſchwörung ausgeſprochen, als
ein prächtiges Mahl erſchien, und der arme Rolls ſich
eifrig friſche grüne Erbſen in die Augen ſteckte, die
auch ohne alle Umſtände heruntergingen, während er,
mit dem Lorgnon vor dem Munde, alle die übrigen
Wunderdinge, die ſich auf der Tafel ausbreiteten,
betrachtete und in Gedanken verſchlang. Jetzt wollte
[46] er Frau und Töchter auch dazu einladen, konnte aber
über kein anderes Sprechorgan als dasjenige dispo-
niren, dem gewöhnlich das Lautwerden unterſagt iſt,
ſo daß alle hut Rolls ſich über Papas ſonderbare
„propos“ faſt todt lachen wollten. Zu guter Letzt
ging er noch, in der groteskeſten Verdrehung, auf den
Händen zum Zauberer hin, um ſich zu bedanken,
und langte en passant mit den Füſſen in eine Schüſſel
tutti frutti, die ſein neues Sprachorgan mit einem
melodiſchen: Delicious! begleitete.


Hat man je von ſo tollen Träumen gehört, als
mich hier heimſuchen? Es ſind die trüben Dünſte,
die Stickluft Londons, die meine Sinne umnebeln.
Ich ſchicke ſie daher fort, um ſich im heimathlichen
Sonnenſchein wieder aufzulöſen, und lege auf ihre
ſchweren Fittige tauſend liebevolle Grüße


Deines treuen Freundes L.


[[47]]

Sechszehnter Brief.



Bei Gelegenheit einer Viſite, die ich Miſtriß Hope
machte, beſah ich ihres Mannes Kunſtſammlung heute
etwas mehr en detail. Eine ſehr ſchöne Venus von
Canova war für mich beſonders deßwegen ſehr anzie-
hend, weil ich ſie, noch nicht völlig vollendet, im At-
telier des liebenswürdigen Künſtlers in Rom vor
ziemlich vielen Jahren geſehen, wo ſie ſchon damals
von allen ſeinen Werken den angenehmſten Eindruck
bei mir zurückließ.


Unter den Gemälden frappirte mich das des berüch-
tigten Cäſar Borgia, von Corregio. Ein erhabener
Sünder! In der kühnſten, männlichen Schönheit
ſteht er da, Geiſt und Größe blitzt aus allen Zügen,
nur in den Augen lauert ein häßlicher Tiger.


Ganz beſonders reich iſt die Sammlung an Bil-
dern der niederländiſchen Schule. Viele ſind von der
unübertreffbarſten Wahrheit, welche, ich geſtehe es
gern, für mich oft einen größern Reiz hat, als ſelbſt
[48] das erreichte Ideal, wo dieſes keinen verwandten
Punkt in meiner Seele anſpricht.


So war eine alte ſehr anſtändige holländiſche Bür-
gersfrau, die mit großer Délice ein Glas Wein in
ſich ſog, während ihr in einem Mantel danebenſte-
hender Mann, die Bouteille, aus der er ihr einge-
ſchenkt, noch in der Hand, mit gutmüthigem Ver-
gnügen auf ſie herabſieht, ein höchſt anziehender Ge-
genſtand. Eben ſo einige Offiziere aus dem 16ten
Jahrhundert in ihrer ſchönen und zweckmäßigen Tracht,
die ſich’s nach harter und blutiger Arbeit beim frohen
Mahle wohl ſeyn laſſen, und andre mehr. Unter
den Landſchaftsmalern machte ich die neue Bekannt-
ſchaft eines Hobbena, der die größte Aehnlichkeit mit
der Manier Ruysdaels hat. Täuſchende Früchte von
van Huyſum und van Os, Häuſer von van der Meer,
auf denen bekanntlich jeder Ziegel ausgeführt iſt,
mehrere Wouvermanns, Paul Potters ꝛc. ꝛc., nichts
fehlte in dieſer reichen Sammlung. Nur die neueren
engliſchen Gemälde waren ſchlecht.


Später ging ich nicht mehr aus, um im Stillen
den Geburtstag meiner guten Mutter zu feiern.



Als ein Beiſpiel, was ein Dandy hier alles bedarf,
theile ich Dir folgende Auskunft meiner faſhionablen
Wäſcherin mit, die von einigen der ausgezeichnetſten
Elegants employirt wird und allein Halstüchern die
[49] rechte Steife, und Buſenſtreifen die rechten Falten
zu geben weiß. Alſo in der Regel braucht ein ſolcher
Elegant wöchentlich 20 Hemden, 24 Schnupftücher,
9 — 10 Sommer-„Trowſers“, 30 Halstücher, wenn
er nicht ſchwarze trägt, ein Dutzend Weſten, und
Strümpfe à discrètion. Ich ſehe Deine hausfrauliche
Seele von hier verſteinert. Da aber ein Dandy ohne
drei bis vier Toiletten täglich nicht füglich auskommen
kann, ſo iſt die Sache ſehr natürlich, denn


  • 1) erſcheint er in der Frühſtücks-Toilette im chineſi-
    ſchen Schlafrock und indiſchen Pantoffeln.
  • 2) Morgentoilette zum Reiten im frock coat, Stie-
    feln und Sporen.
  • 3) Toilette zum Diné, in Frack und Schuhen.
  • 4) Balltoilette in Pumps, ein Wort, das Schuhe,
    ſo leicht wie Papier, bedeutet, welche täglich friſch
    lackirt werden.

Der Park war um 6 Uhr ſo voll, daß er einem
Rout zu Pferde glich, jedoch weit anmuthiger, da
die Stelle der Bretter eine grüne Wieſe einnahm,
ſtatt der Dampfhitze friſche Kühle herrſchte, und ſtart
die eignen Beine zu ermüden, die der Pferde die
Arbeit thun mußten.


Als ich vorher die Fürſtin E. beſuchte, fand ich
dort drei junge und ſchöne Ambassadrices en con-
férence, toutes les trois profondément occupées
d’une queue,
nämlich ob eine ſolche bei der Königin
von Würtemberg getragen werden müſſe oder nicht.


Briefe eines Verſtorbenen IV. 4
[50]

Auf dem Ball, dem ich Abends beiwohnte, bei der
neulich erwähnten Marquiſe L .... ſah ich zum er-
ſtenmal hier Polonaiſen und auch Maſurka tanzen,
aber ſehr ſchlecht. Man aß im Saal der Statüen,
denen verſchiedene Damen ihre Hüte aufgeſetzt und
ihre Shawls umgehangen hatten, was dem Kunſt-
ſinne ſehr wohlthat. Um 6 Uhr kam ich zu Hauſe
und ſchreibe Dir noch, während man ſchon meine
Laden ſchließt, um mir eine künſtliche Nacht zu be-
reiten. Die Kammerdiener haben es hier ſchlimm,
und können nur, ſo zu ſagen: aus der Hand ſchla-
fen, oder wie die Nachtwächter am Tage.



Ich habe Dir ſchon erzählt, daß man hier auf die
königlichen Prinzen eingeladen wird, wie an andern
Orten im vertrauten Zirkel auf irgend eine Delikateſſe.
So war ich geſtern auf die Herzogin von Glouceſter,
und heute auch auf den Herzog von Suſſex zu Tiſch
eingeladen. Dieſer Prinz, der mit dem König ganz
brouillirt iſt *), ſich aber durch ſehr liberale Geſin-
nungen bei der Nation beliebt gemacht hat, und dies
in jeder Hinſicht verdient, war viel auf dem Conti-
nent, und liebt die deutſche Lebensart. Unſere Sprache
iſt ihm, wie den meiſten ſeiner Brüder, völlig ge-
[51] läufig. Seinetwegen wurden nach Tiſch, ſobald die
Damen uns verlaſſen hatten, Cigarren gebracht und
mehr als eine geraucht, was ich in England bisher
noch nicht geſehen habe. M. de Montron erzählte
mit franzöſiſcher Kunſt ſehr luſtige Anekdoten; am
unterhaltendſten war aber Major Keppel, der Rei-
ſende in Perſien, der heute manche ſcrabreuſe, aber
höchſt pikante Geſchichten aus jenen Ländern zum
beſten gab, die er dem Druck nicht übergeben konnte,
und die ich daher auch Dir nicht mittheilen darf, was
mir jedoch ſehr leid thut.


Morgen werde ich mit dem jungen Capt. R …
nach Ascott fahren und Windſor beſehen, um wieder
einige Varietät in mein einförmiges Leben zu brin-
gen. Man vermuthet, daß die Wettrennen unge-
wöhnlich brillant ſeyn werden, da ſie der König dies-
mal beſucht, und Pferde von ihm Theil daran nehmen.



Nach einer raſchen Fahrt von 25 engliſchen Meilen,
zum Theil durch den Park von Windſor, hinter dem
ſich das Schloß, die alte Reſidenz ſo vieler Könige,
erhebt — erreichten wir die weite und dürre Haide
von Ascott, wo die Wettrennen ſtatt finden. Der
Platz bot ganz das Bild eines Luftlagers dar. Un-
abſehbare Reihen von Zelten für Pferde und Men-
ſchen, Wagenburgen längs der Rennbahn, größten-
4*
[52] theils mit ſchönen Damen beſetzt, häuſerhohe Gerüſte
in drei, vier Etagen übereinander, mit der Loge des
Königs am Ziele — alles dies durch 20 — 30,000
Menſchen belebt, von denen Viele ſchon ſeit ſechs
Tagen hier ſtationiren. — Dies ſind ohngefähr die
Hauptzüge des Gemäldes. Das eine Quartier bil-
det den Markt, wo ſich unter den übrigen Buden
und Zelten, gemäß einer alten Freiheit, auch vielfache
Arten von Hazardſpielen befinden, welche ſonſt ſtreng
verboten ſind. Doch mehr als Pluto wird noch der
holden Venus geopfert, und nirgends ſind Intriguen
unbemerkter anzuſpinnen. Die Damen in den Wä-
gen ſind dabei täglich mit Champagner und vortreff-
lichem Frühſtück reichlich verſehen, was ſie ſehr gaſt-
freundlich austheilen. Ich fand viele alte Freunde,
und machte auch einige neue Bekanntſchaften, unter
andern die einer höchſt liebenswürdigen Frau, Lady
G...., die mich nach ihrer Cottage mit R.... zum
Eſſen einlud. Als daher um 6 Uhr die Races für
heute beendigt waren, fuhren wir durch eine wun-
derſchöne Gegend, deren Baum-Reichthum ihr, ohnge-
achtet der bebauten Fluren, das Anſehen eines culti-
virten Waldes giebt, nach T.... Park. Wir kamen
früher an, als die Familie ſelbſt, und fanden das
Haus zwar offen, doch ohne einen Diener oder ein
anderes lebendiges Weſen darin. Es war wie die
bezauberte Wohnung einer Fee, denn einen reizende-
ren Aufenthalt kann es nicht geben! Hätteſt Du es
nur ſehen können. Auf einem Hügel, unter den
prachtvollſten uralten Bäumen halb verborgen, lag
[53] ein Haus, deſſen vielfache Vorſprünge, zu verſchiede-
nen Zeiten gebaut, und da und dort durch Gebüſch
verſteckt, nirgends erlaubten, ſeine ganze Form auf
einmal ins Auge zu faſſen. Eine gallerieartige Ro-
ſenlaube, von hundert Blumen ſtrotzend, führte di-
rekt in das Vorzimmer, und durch einige andere
Pieçen und einen Corridor gelangten wir dann in
den Eßſaal, wo ſchon eine reiche Tafel gedeckt ſtand,
aber immer noch kein Menſch zu erblicken war. Hier
lag die Gartenſeite vor uns, ein wahres Paradies,
von der Abendſonne reich beleuchtet. Am ganzen
Hauſe entlang, bald vorſpringend, bald zurücktretend,
wechſelten Verandas von verſchiedenen Formen und
mit verſchiedenen blühenden Gewächſen berankt, mit
einander ab, und dienten dem bunteſten Blumengar-
ten zur Bordure, der den Abhang des Hügels durch-
aus bedeckte. An ihn ſchloß ſich ein tiefes und ſchma-
les Wieſenthal, hinter dem ſich das Terrain wieder
zu einem höheren Bergrücken erhob, deſſen Abhang
mit uralten Buchen beſetzt war. Am Ende des Tha-
les links ſchloß Waſſer die nächſte Ausſicht. In der
Ferne ſahen wir über den Baumkronen den round
tower
(runden Thurm) von Windſor Caſtle mit der
darauf gepflanzten koloſſalen königlichen Fahne, in
die blaue Luft emporſteigen. Er allein erinnerte in
dieſer Einſamkeit daran, daß hier nicht bloß die Na-
tur und eine wohlthätige Fee walte, ſondern auch
Menſchen mit ihrer Freude, ihrer Noth und ihrem
Glanz ſich hier angeſiedelt! Wie ein Leuchtthurm
des Ehrgeizes ſchaute er auf die friedliche Hütte herab,
[54] verlockend zu einem höheren trügeriſchen Genuß —
doch wer dieſen erreicht, erkauft ihn nur mit ſchwe-
rem Verluſt! Friede und Ruhe bleiben zurück in des
Thales trauter Stille. —


Ich wurde bald in meiner poetiſchen Exſtaſe durch
die ſchöne Wirthin unterbrochen, die ſich an unſerer
Schilderung des verzauberten Schloſſes ſehr ergötzte,
und nun ſogleich ſelbſt dafür ſorgte, daß uns Stu-
ben angewieſen wurden, um unſerer Toilette obzulie-
gen, die der Staub und die Hitze des Tages ſehr nö-
thig machten. Ein excellentes Diné mit geeistem
Champain und vortrefflichen Früchten wurde mit Ver-
gnügen angenommen, und hielt uns bis um Mitter-
nacht bei Tiſch. Caffee und Thee mit Muſik nahmen
noch ein paar andere Stunden hinweg, und, auf-
richtig geſagt, die letzte, ich meine die Muſik, hätten
wir der Familie gern erlaſſen. Meine Verdauung
wurde weſentlich durch die ungeheure Anſtrengung
geſtört, mit der ich das Lachen, in einer wahren
Agonie, unterdrücken mußte, als die alte Mutter
der Hausfrau ſich zuletzt ans Clavier ſetzte, und uns
eine Arie aus ihrer Jugend, von Rouſſeaus Compo-
ſition, zum beſten gab, an deren Refrain: „Je
t’aimerai toujours“
ich ebenfalls Zeit meines Lebens
denken werde. Sie benutzte nämlich das ai jedesmal
zu einem Trillo, der im Anfang dem Mekkern eines
Lammes glich, dann eine Zeitlang der Lachtaube nach-
ahmte, und mit der Cadenze eines balzenden Auer-
hahns endete. Das Lied ſchien unendlich, der junge
R …, der leider eben ſo leicht als ich zum Lachen
[55] zu bringen iſt, hörte bereits in der Stellung eines
Fiedelbogens, mit gewaltſam zuſammengedrücktem
Leibe zu, und ſchnitt hinter ſeinem großen Schnurr-
barte die ſeltſamſten Grimaſſen. Was mich betrifft,
ſo ſuchte ich meiner moraliſchen Kraft hauptſächlich
dadurch zu Hülfe zu kommen, daß ich unaufhörlich
an Dich, gute Julie, und Deine ſo muſterhafte Con-
tenance bei ähnlichen Gelegenheiten dachte. Die Leute
waren dabei ſo auſſerordentlich gütig und freundſchaft-
lich geweſen, daß ich wahrhaftig lieber hätte Blut
weinen, als über ſie lachen mögen; aber was ſoll
man anfangen, wenn der Sinnenreiz unwiderſtehlich
wird! Die Annäherung der ominöſen Stelle war
immer eine furchtbare Epoche für mich. Ich betete
förmlich zu Gott, er möge die gute Alte doch regie-
ren, nur diesmal „Je t’aimerai toujours“ ohne Ver-
zierung abzukrähen. Aber vergeblich; kaum war das
verhängnißvolle ai angeſchlagen, ſo folgte auch im-
manquablement
der unbarmherzige Trillo. Beim
7ten Verſe konnte ich es nicht mehr aushalten, Rouſ-
ſeau ſchien mir zum erſtenmale wahrhaft unſterblich —
ich fuhr der Alten, wie die Studenten ſagen, in die
Parade, ergriff ihre Hand, ehe ſie die Taſten von
neuem anſchlagen konnte, ſchüttelte ſie herzlich, dankte
für ihre Güte, verſicherte, ich fühle die Indiscretion,
ſie ſo lange zu beläſtigen, drückte gleichfalls die Hand
der ſchönen Tochter, (car ce’st l’nsage ici) wie der
übrigen Familienmitglieder, und fand mich in einem
clin d’oeuil mit R … im Wagen, der ſchon ſeit
einer Stunde angeſpannt auf uns gewartet hatte.
[56] Du kannſt Dir denken, daß wir unſre Lachmuskeln
mit Bequemlichkeit entſchädigten. Bis Windſor er-
götzte uns noch der Nachhall des unnachahmlichen
Trillos — mich aber erwartete hier, nach ausgelaſ-
ſener Luſtigkeit, ein ziemlich unangenehmes Abküh-
lungsmittel. Wie ich mich nämlich zu Bett legen
wollte, fing B . . . . zu jammern an, „daß ihn doch
das Unglück überall verfolgen müſſe!“


„Nun, was iſt Dir denn geſchehen?“


„Ach Gott, wenn ich könnte, ich ſagte es gar nicht,
aber es muß nun doch heraus.“


„Nun zum T . . . .l, mach’ ein Ende, was iſt es?“


Was kam nun zum Vorſchein? Der confuſe Alte
hatte mein Geld, 25 L. St., ihm in einem Beutel
von mir übergeben, um es in das Wagenkäſtchen zu
thun, anſtatt deſſen in die Taſche geſteckt, und wie
der dumme Landjunker von Kotzebue, um ein Glas
Bier zu bezahlen, im Gedränge der Buden den Beu-
tel herausgenommen, einen Souverain gewechſelt,
wie er ſagte, weil er kein kleines Geld mehr hatte,
wahrſcheinlich aber um mit der Goldbörſe groß zu
thun, und dann den Beutel ſorgfältig wieder einge-
ſteckt. Es war ſehr natürlich hier in England, daß
er ihn, als er zum Wagen zurückkam, nicht mehr
fand. Ein wahres Glück im Unglück iſt es, daß ich
noch einiges Geld ſelbſt bei mir trug, und alſo we-
nigſtens in keine augenblickliche Verlegenheit geſetzt
wurde.


[57]

Wir beſahen heute früh das Schloß, welches jetzt
erſt nach den alten Plänen völlig ausgebaut wird,
und bereits die größte und prachtvollſte Reſidenz iſt,
die irgend ein europäiſcher Fürſt beſitzt. Die Zeit
war zu kurz, das Innere zu beſehen, was ich daher
auf ein anderesmal aufſchob. Ich beſuchte blos die
Herzogin von C …, die hier im großen Thurme wohnt,
und eine himmliſche Ausſicht von ihrem hohen Söl-
ler genießt. Unter ihrer Dienerſchaft war ein ſchöner
griechiſcher Knabe in ſeiner Nationaltracht, Schar-
lach, Blau und Gold mit bloßen Schenkeln und
Füßen. Er war bei dem Maſſacre von Scio in ei-
nen Backofen verſteckt, und ſo gerettet worden. Er
iſt jetzt bereits ein vollkommner Engländer geworden,
hat aber in der Tournure etwas ungemein Nobles
und Ausländiſches beibehalten. Um 1 Uhr begaben
wir uns wieder auf den Raceground, und ich erhielt
diesmal mein Frühſtück von einer andern Schönheit.
Nach dem beendigten Rennfeſte fuhren wir nach
Richmond, wo R … s Regiment garniſonirt, und
verlebten dort mit dem Offizier-Corps einen ſehr lu-
ſtigen und geräuſchvollen Abend. Die allgemeine
Wohlhabenheit erlaubt hier ein weit luxurieuſeres
Leben, denn die Herren verſagen ſich nichts, und
ihre mess iſt überall ſervirt, wie bei uns gar oft nicht
eine fürſtliche Tafel.


[58]

Morgen wird das Huſaren-Regiment nebſt einem
Regiment Uhlanen vom General-Inſpecteur gemu-
ſtert werden, was ich noch abwarten will, bevor ich
nach London zurückkehre.



Das Regiment machte ſeine Sachen ſehr gut, mit
weniger Affektation, und auch Präciſion vielleicht, als
unſere wunderbar dreſſirten dreijährigen Reiter, aber
mit mehr ächt militäriſcher Ruhe und langgewohnter
Sicherheit, auch alle Evolutionen ſchneller, wegen der
vortrefflichen Pferde, mit denen die des Continents
doch nicht zu vergleichen ſind. Dabei hat die engliſche
Cavallerie an Zäumung und militäriſchem Reiten ſeit
dem letzten Kriege durch die darauf gewandte Sorg-
falt des Herzogs von Wellington ganz ungemein ge-
wonnen. Die Leute hatten ihre Pferde ſo gut in der
Gewalt als die beſten der unſrigen. Merkwürdig
nach unſern Begriffen war es, die Ungeniertheit zu
ſehen, mit der wohl 50 — 60 Offiziere in Civil-Klei-
dern, darunter mehrere Generäle, einige in Stolpen-
ſtiefeln und Morgenjacken, die andern im frock coat
und bunten Halstüchern die Revue mitmachten und
den inſpizirenden General umſchwärmten, der,
auſſer dem Regiment ſelbſt, welches inſpizirt wurde,
allein mit ſeinen beiden Adjutanten in Uniform erſchie-
nen war. Ja ſogar einige übercomplette Offiziere deſ-
ſelben Regiments, die gerade nicht im activen Dienſt
[59] waren, ritten in Civilkleidern und Schuhen mit
herum, ein Anblick, der einem . . . . General vor
Erſtaunen den Verſtand koſten könnte. Mit einem
Wort, man ſieht hier mehr auf das Reelle, bei
uns mehr auf die Form. Hier machen in der That
die Kleider den Mann nicht, und dieſe Simplicität
iſt zuweilen ſehr impoſant.


R. ſagte mir, daß dieſes Regiment urſprünglich,
als die Franzoſen mit Invaſion drohten, von der
Londner Schneidergilde errichtet wurde, und im An-
fang aus lauter Schneidern beſtand, die ſich jetzt in
ſehr tüchtige und martialiſche Huſaren verwandelt,
und mit großer Auszeichnung, namentlich bei Belle-
Alliance, gefochten haben.



Seit vorgeſtern bin ich denn wieder im alten Gleiſe
und debütirte mit vier Bällen und einem Diné bei
Lord Caernarvon, wo ich den berühmten Griechen-
protektor, Herrn Eynard, fand, deſſen hübſche Frau
einen gleichen Enthuſiasmus für die Hellenen an den
Tag legte. Geſtern aß ich bei Eſterhazy, und fand
einen jungen Spanier dort, von dem ich gewünſcht
hätte, er ſey ein Schauſpieler, um den Don Juan
darſtellen zu können, denn er ſchien mir das Ideal
dafür zu ſeyn. Mit den Tönen der dramatiſchen
Paſta im Ohr, die man jetzt alle Abende irgendwo
hört, ging ich zu Bett.


[60]

Heute war Concert beim großen Herzog, in dem
der alte Veluti wie ein Capaun krähte, worüber den-
noch Alles in Entzücken gerieth, weil er einſt gut
ſang, hier aber noch immer den alten Ruhm uſur-
pirt. Dann ging ich auf einen der hübſcheſten Bälle,
den ich noch in London geſehen, bei einer vornehmen
ſchottiſchen Dame. Der große Saal war unter an-
dern ganz mit Papierlampen dekorirt, die ſämmtlich
Formen der verſchiedenſten Blumen nachahmten, und
ſehr geſchmackvoll gruppirt waren.


Als wir um 6 Uhr bei Sonnenſchein in die Wägen
ſtiegen, nahmen ſich die Damen höchſt ſonderbar aus.
Keine Fraicheur konnte dieſe Probe beſtehen. Sie
changirten Farben wie das Chamäleon. Einige ſa-
hen ganz blau, andere ſcheckig, die meiſten leichenar-
tig aus, die Locken herabhängend, die Augen glä-
ſern. Es war ganz abſcheulich anzuſehen, wie die
beim Lampenſchein blühenden Knospen vor den Strah-
len der Sonne plötzlich zu entblätterten Roſen ver-
blichen. Das Loos des Schönen auf der Erde!



Was ſagſt Du, gute Julie, zu einem Frühſtück,
zu dem 2000 Menſchen eingeladen ſind? Ein ſolches
fand heute ſtatt in den horticultural gardens, die
groß genug ſind, um ſo viel Menſchen bequem zu
faſſen. Indeß ging es doch nicht ohne fürchterliches
Gedränge bei den Eßzelten ab, beſonders da, wo
[61] die Ausſtellung der Früchte ſtatt fand, die zu einer
beſtimmten Stunde Preis gegeben, und dann auch
im Nu höchſt unanſtändig verſchlungen wurden. Man
ſah dort eine Providence-Annanas, die 11 Pfund wog,
hochrothe und grüne, von nicht viel geringern Di-
menſionen, Erdbeeren von der Größe kleiner Aepfel,
überhaupt die ſeltenſte Auswahl der koſtbarſten Früchte.
Auch war im Ganzen das Feſt heiter und in ange-
nehmen ländlichem Charakter.


Der glatte Raſen und die Menge geputzter Men-
ſchen darauf, die Zelte und Gruppen in den Büſchen,
eine ungeheure Maſſe von Roſen und Blumen aller
Art, gaben den freundlichſten Anblick. Ich war mit
unſerm Geſandten hingefahren, mit dem ich auch um
7 Uhr Abends wieder zurückkehrte. Wir mußten über
die Induſtrie eines Irländers lachen, der ſich das
Air gab, uns mit einer Laterne, in der natürlich kein
Licht brannte, da es heller Tag war, zum Wagen zu
leuchten, und ſich durch dieſen Spaß bei den Froh-
geſinnten und Gutmüthigen einige Schillinge erwarb.
Unterwegs rief ihm einer ſeiner engliſchen Kamera-
den zu: „Du führſt wahrlich großmüthige Leute!“
„O,“ ſagte er, „wenn ich ſie dafür nicht kennte, ginge
ich auch nicht mit ihnen.“ Originell waren auch die
Tyroler Sänger, die hier ſehr Mode geworden ſind,
Alle, ſelbſt den König, der mit ihnen deutſch ſpricht,
Du nennen, und keine falſche Menſchenfurcht kennen.
Es ſieht komiſch genug aus, wenn einer von ihnen
auf den Fürſten Eſterhazy losgehr, deſſen patriotiſcher
Protektion ſie ihre große Vogue hauptſächlich verdan-
[62] ken, ihm die Hand reicht, und ihm zuruft: Nun,
was machſt Du Eſterhazy? Das Weibchen, welches
ſich unter dieſen Tyroler Wunderthieren befindet, kam
heute auch auf mich zu und ſagte: Dich habe ich mir
ſchon lange angeſehen, denn Du ſiehſt meinem lieben
John ſo ähnlich, daß ich Dir einen Kuß geben will.
Die Offerte war eben nicht ſehr einladend, denn das
Mädchen iſt häßlich, da ſie aber auch Se. Majeſtät
geküßt hat, auf welche Scene eine gute Carrikatur
in den Handel gekommen iſt, ſo findet man jetzt die
Zumuthung ſchmeichelhaft.



Der Herzog von Northumberland hatte die Güte,
mir dieſen Morgen ſeinen ſehenswerthen Palaſt en
detail
zu zeigen. Ich fand hier etwas, was ich lange
vergebens zu ſehen gewünſcht, nämlich ein Haus, in
dem, bei hoher Pracht und Eleganz, das Größte wie
das Kleinſte mit völlig gleicher Sorgfalt und Voll-
kommenheit ausgeführt iſt — ou rien ne cloche.


Ein ſolches Ideal iſt wirklich hier erreicht. Man
findet auch nicht die geringſte Kleinigkeit vernachläſ-
ſigt, keine ſchiefe Linie, keinen Schmutzfleck, nichts
Fanirtes, nichts aus der Façon Gekommenes, nichts
Abgenutztes, nichts Unächtes, kein Meuble, keine Thüre,
kein Fenſter, das nicht in ſeiner Art ein wahres Mei-
ſterſtück der Arbeit darböte.


Dieſe außerordentliche Gediegenheit hat freilich
mehrere Hunderttauſend Pfd. St. und gewiß nicht ge-
[63] ringe Mühe gekoſtet, aber ſie iſt auch vielleicht einzig
in ihrer Art. Die reichſte Ausſchmückung von Kunſt-
ſchätzen und Curioſitäten aller Art fehlt ebenfalls
nicht. Die Auſſtellung der letzteren in, mit violettem
Sammt ausgeſchlagenen, Terraſſenſchränken, hinter
Spiegelgläſern aus einem Stück, war ſehr geſchmack-
voll. Beſonders auffallend iſt die große Marmor-
treppe, mit einem Geländer aus vergoldeter Bronze.
Die Wange von polirtem Mahonyholz, welche das
Geländer deckt, bietet eine ganz eigenthümliche Merk-
würdigkeit dar. Es iſt nämlich durch eine Vorrich-
tung, die noch ein Geheimniß iſt, das Holz ſo be-
handelt, daß es durchaus unmöglich iſt, auf der gan-
zen Länge der mehrmals gewundenen Treppe irgendwo
auch nur die mindeſte Spur einer Fuge zu entdecken.
Das Ganze ſcheint aus einem Stück zu ſeyn, oder
iſt es wirklich.


Eine andere Sonderbarkeit iſt eine falſche portc
cochêre
in der äußern Hausmauer, die nur bei Fe-
ſten für den größern Andrang der Wagen geöffnet
wird, und wenn ſie zu iſt, in der Façade nicht mehr
aufgefunden wird. Sie iſt von Eiſen, und durch
den Anwurf einer Steincompoſition und ein falſches
Fenſter ſo vollſtändig maskirt, daß man ſie von dem
übrigen Hauſe nicht unterſcheiden kann. Ueber die
Gemälde ein andermal mehr.


Bei’m Herzog von Clarence lernte ich Abends ei-
nen intereſſanten Mann kennen, Sir Gore Ouſely,
den letzten Ambaſſadeur in Perſien, den der Verfaſ-
ſer des Hadjé Baba, Herr Morier, als Legations-
Sekretär begleitete.


[64]

Ich muß Dir ein paar, jenes Land charakteriſi-
rende Anekdoten mittheilen, die ich von ihm erzäh-
len hörte.


Der jetzige Schach wurde von ſeinem erſten Mini-
ſter Ibrahim Chan, der ihn früher auf den Thron
geſetzt, als er noch ein Kind war, lange in ſolcher
Abhängigkeit erhalten, daß er nur dem Namen nach
regierte. Es war ihm um ſo unmöglicher, Wider-
ſtand zu leiſten, da jede Gouverneurſtelle der Pro-
vinzen und erſten Städte des Reichs ohne Ausnahme
durch Verwandte und Creaturen des Miniſters be-
ſetzt worden war. Endlich beſchloß der König, um
jeden Preis ſich einer ſolchen Sklaverei zu entziehen,
und wählte folgendes energiſche Mittel dazu, welches
den ächten orientaliſchen Charakter an ſich trägt.
Es exiſtirt nämlich, nach den alten Geſetzen des
Reichs, eine Klaſſe Soldaten in Perſien, die in allen
Hauptſtädten nur ſparſam vertheilt iſt, und des Kö-
nigs Garde heißt. Dieſe befolgen keine andern Be-
fehle als ſolche, welche unmittelbar vom König ſelbſt
gegeben werden, und mit ſeinem Handſiegel unter-
zeichnet ſind, daher auch dieſe Garden allein vom
alles beherrſchenden Miniſter unabhängig geblieben
waren, und die einzige ſichere Stütze des Throns
bildeten. An die Chefs dieſer Vertrauten erließ der
König nun im Geheim ſelbſt geſchriebene Befehle,
die dahin lauteten, an einem gewiſſen Tage und
Stunde alle Verwandte Ibrahims im ganzen Reiche
zu ermorden. Als die bezeichnete Stunde herannahte,
hielt der Schach einen Divan, ſuchte während deſſel-
ben Streit mit Ibrahim herbeizuführen, und als die-
[65] ſer, wie gewöhnlich, einen hohen Ton annahm, be-
fahl er ihm, ſich ſofort in das Staatsgefängniß zu
begeben. Der Miniſter lächelte, indem er erwiederte:
„Er werde gehen, der König möge jedoch bedenken,
daß jeder Gouverneur ſeiner Provinzen deshalb Re-
chenſchaft von ihm fordern werde.“ Nicht mehr,
Freund Ibrahim, rief der König heiter; — nicht mehr —
und indem er ſeine engliſche Uhr hervorzog und dem
betretenen Miniſter einen verderbenden Blick zuwarf,
ſetzte er kaltblütig hinzu: In dieſer Minute hat der
letzte Deines Blutes zu athmen aufgehört, und Du
wirſt ihm folgen. — Und ſo geſchah es.


Die zweite Anekdote zeigt, daß der König zugleich
nach dem Prinzip der franzöſiſchen chanson handelte,
welche ſagt: „quand on â dépeuplé la terre, il faut
la répeupler après.“


Sir Gore bat bei ſeiner Abſchieds-Audienz den
König, ihm gnädigſt zu ſagen, wie viel Kinder er
habe, um über einen ſo intereſſanten Umſtand ſeinem
eignen Monarchen Rechenſchaft geben zu können,
wenn dieſer ſich darnach, wie zu vermuthen ſtehe,
erkundigen ſollte. „Hundert vier und fünfzig Söhne,“
erwiederte der Schach. Darf ich nochmals Ew. Ma-
jeſtät zu fragen wagen, wie viel Kinder? Das Wort
Mädchen durfte er nach der orientaliſchen Etikette
nicht ausſprechen, und die Frage überhaupt war ſchon
nach dortigen Anſichten faſt eine Beleidigung. Der
König indeß, der Sir Gore ſehr wohl wollte, nahm
es nicht übel auf. Aha ich verſtehe, lachte er ihm
zu, und rief nun ſeinen oberſten Verſchnittenen her-
bei: „Muſa! wie viel Töchter habe ich?“ König der
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 5
[66] Könige, antwortete Muſa, ſich auf ſein Angeſicht
niederwerfend: Fünfhundert und Sechzig. — Als Sir
Gore Ouſely dieſe Unterredung in Petersburg der
Kaiſerin Mutter erzählte, rief dieſe bloß aus: Ah le
monstre
!



Da die Seaſon ſich nun (Gottlob!) ihrem Ende
naht, ſo gedenke ich in Kurzem eine Reiſe nach dem
Norden von England und Schottland anzutreten,
wohin ich auch mehrere Einlandungen erhalten habe, mich
aber lieber in Freiheit erhalten will, um das Land
â ma guise zu durchſtreifen, wenn es Zeit und Um-
ſtände erlauben.


Wir hatten heute einen der ſchönſten Tage, ſeit
ich in England bin, und als ich Abends vom Lande
zurückkehrte, wo ich zeitig beim Grafen Münſter ge-
ſpeist, ſah ich zum erſtenmale hier eine italieniſche
Beleuchtung der Ferne mit Blau und Lila ſo reich
geſchmückt, wie ein Gemälde Claude’s.


Apropos, als Notiz zur Nachahmung muß ich
Dir noch einen ſehr hübſchen Blumentiſch der Gräfin
beſchreiben. Die Platte iſt kryſtallhelles Glas, dar-
unter ein tiefer Tiſchkaſten, in welchen feuchter Sand
gethan wird, und ein feines Drahtnetz darüber ge-
legt, in deſſen Zwiſchenräume man dicht, eine neben
der andern, friſche Blumen ſteckt. So ſchiebt man
den Kaſten wieder ein, und hat nun zum Schreiben
und Arbeiten das ſchönſte Blumengemälde vor ſich.
Will man ſich aber am Dufte erlaben, ſo ſchlägt man
[67] den Glasdeckel auf, oder nimmt ihn ganz weg, wozu
er eingerichtet iſt.


Die Kinderbälle ſind in dieſer Seaſon ſehr an
der Tagesordnung, und ich beſuchte Abends einen
der hübſcheſten dieſer Art bei Lady Jerſey. Dieſe
vornehmen nordiſchen Kinder waren alle möglichſt
aufgeputzt; und viele nicht ohne Grazie, aber es that
mir ordentlich weh, zu bemerken, wie ſehr ſie ſchon
aufgehört hatten, Kinder zu ſeyn, denn die armen
Dinger waren größtentheils ſchon eben ſo unnatür-
lich, ſo unluſtig, und ſo mit ſich ſelbſt beſchäftigt,
als wir größern Figuren um ſie her. Italieniſche
Bauernkinder würden hundertmal liebenswürdiger
geweſen ſeyn. Nur beim Eſſen erſchien der ange-
borne Trieb wieder offner und ungenirter, und die
durchbrechende Sinnlichkeit ſetzte die Natur wieder
in ihre Rechte ein. Das hübſcheſte und reinſte die-
ſer Naturgefühle war die Zärtlichkeit der Mütter,
die ſich ohne Affektation in ihren glänzenden Blicken
verrieth, und manche Häßliche ſehr leidlich erſcheinen
machte, die Schönen aber zu höherer Schönheit ver-
klärte.


Ein zweiter Ball bei Lady R … bot nur die
hundertſte Wiederholung des gewöhnlichen ſtupiden
Gedränges dar, in dem der arme Prinz B., für deſſen
Korpulenz dieſe Preſſe nicht geeignet iſt, ohnmächtig
geworden war, und auf das Treppengeländer gelehnt,
wie ein abſtehender Karpfen nach Luft ſchnappte.
Vergnügen und Glück werden doch auf ſehr ſeltſame
Weiſe in der Welt geſucht.


5*
[68]

Um eine einſame Fiſchmahlzeit zu machen, ritt ich
Nachmittag, nach einem großen Umweg gen Green-
witch. Die Ausſicht von der dortigen Sternwarte iſt be-
ſonders dadurch merkwürdig, daß das ganze Stück Erde,
welches man überſieht, faſt nur von der Stadt Lon-
don eingenommen wird, denn immer weiter und wei-
ter breitet ſie ſeit Jahren ihre Polypenarme aus, und
verſchlingt einen der kleinen Oerter, die ſie umgeben,
nach dem andern. Freilich für eine Population, die
bald der des Königreichs Sachſen (ſeit dieſes jüdiſch
behandelt, nämlich beſchnitten wurde) gleichkömmt,
bedarf es Platz.


Ich kehrte in der Shiptaverne ein, übergab mein
Pferd dem Hausknecht (denn ich war ganz allein,
und die Wartung der Pferde iſt hier ſo allgemein
vortrefflich, daß man das beſte Pferd unbedingt der
Sorge des Hoſtlers in jedem Gaſthofe überlaſſen
kann) und erhielt ein ſehr nettes Zimmer, mit einem
über die Themſe hervorſpringenden Erker, unter dem
die Fiſche noch herumſchwammen, die ich, menſchli-
ches Raubthier, bald unbarmherzig verzehren ſollte.
Der Fluß war durch hundert Barken belebt, Geſang
und Muſik tönte freundlich von den vorbeiſegelnden
Dampfſchiffen herüber, und die Sonne ſenkte ſich
über der bunten Scene, blutroth im leichten Nebel-
ſchleier, dem Horizonte zu. Ich gab, am Fenſter
ſitzend, meinen Gedanken vielfache Audienz, bis die
hereinkommenden Seeaale, Flounders und Sole, alle
auf verſchiedene Art zubereitet, mich zu materiellerem
Genuſſe aufforderten. Champagner in Eis und Lord
[69] Cheſterfields Briefe, die ich zu mir geſteckt, würzten
das Mahl, und nach einer kleinen Sieſte, während
der die Nacht eingebrochen war, beſtieg ich wieder
mein Roß, und ritt die anderthalb deutſchen Meilen
bis zu meiner Wohnung in einer ununterbrochenen
Allee von hellſchimmernden Gaslaternen, auf der wohl-
arroſirten Straße langſam nach Hauſe. Es ſummte
gerade Mitternacht, als ich dort ankam, und ein
ſchwarzbehangener Sarg fuhr, wie eine Geiſtererſchei-
nung, links an mir vorüber.



Auf Almacks gab mir B. Deinen Brief, und ich
eilte ſogleich damit home. Wie ſehr haben mich Deine
Schilderungen gefreut, und faſt hätte ich über die
ehrlichen alten Parkbäume geweint, die mir durch
Dich zuriefen: O Herr, hörſt Du nicht, von tauſend
Vögelchen belebt, unſrer Wipfel Rauſchen? . . Ach
ja! ich höre es im Geiſte, und werde auch nicht eher
wieder wahre Freude empfinden, bis ich dort ange-
langt bin, wo meine treueſte Freundin weilt, und
wo meine Pflanzenkinder mir entgegenwachſen. Für
das fünfblättrige Kleeblatt danke ich vielmals, und
da das Pferd des beigefügten, tauſend Glück brin-
genden Wiener Poſtillons unterwegs ſeinen Schweif
verloren hat, ſo habe ich dieſen durch das Kleeblatt
erſetzt, welche Vegetabilie ihm ein wahres heiliges
Allianz-Anſehen gibt.


Hier unterbrach mich der alte B .... dt mit der
Frage, ob er den Reſt der Nacht wohl ausgehen
[70] könne, früh um 8 Uhr ſey er wieder da. Ich gab
lächelnd meine Erlaubniß, und frug, welche Aben-
teuer er ſich denn vorgenommen? „Ach,“ war die
Antwort, „ich will blos einmal hängen ſehen, und
wie ſie das bier machen, denn um 5 Uhr ſollen fünf
auf einmal gehenkt werden.“


Welcher Mißton klang mit dieſen Worten in mein
Leben voll Saus und Braus! Welcher Contraſt mit
den Tauſenden, von Tanz und Luſt Ermüdeten und
Ueberſättigten, die um jene Stunde zu behaglicher
Ruhe zurückkehren, und jenen Unſeligen, die unter
Todesangſt und Schmerzen zur ewigen eingehen müſ-
ſen. Ich rief wieder mit Napoleon: O monde, o
monde!
und konnte lange nach dem in Frivolität ver-
geudeten Tage nicht einſchlafen, verfolgt von dem
Gedanken, daß eben jetzt die armen Unglücklichen ge-
weckt würden, um von der Welt und ihren Freuden
einen ſo ſchaudervollen Abſchied zu nehmen, nicht ge-
hoben und gen Himmel getragen durch das Gefübl,
Martyrer des Guten und Großen zu ſeyn, ſondern
ſich der gemeinen, der erniedrigenden Schuld bewußt.
Man bemitleidet den, der unſchuldig leidet, weit be-
mitleidungswerther ſcheint mir der Schuldige!


Meine Einbildungskraft geht, einmal angeregt,
immer etwas weiter als räthlich, und ſo erſchien mir
auch jetzt aller eitle Genuß, alle jene die Armuth
und das Elend höhnenden Raffinements des Luxus
eine wahre Sünde, und recht oft fühle ich mich in
dieſer Stimmung. — Nicht ſelten hat es mir die beſte
Mahlzeit verbittert, wenn ich die armen Diener be-
trachtete, die zwar gegenwärtig ſeyn dürfen, aber
[71] nur als zureichende Sklaven, und doch von derſelben
Mutter Natur geboren ſind — oder an den Dürfti-
gen dachte, der nach des langen Tages angeſtreng-
ter Arbeit die karge ärmliche Nahrung am Abend
kaum erſchwingen kann, während wir, wie auf jener
engliſchen Carrikatur, überfüllt von Genuß, den
Bettler um ſeinen Hunger beneiden! Darin
eben liegt aber vielleicht die Compenſation, und un-
ſere Entſchuldigung, daß wir aller dieſer guten und
gerechten Gefühle ungeachtet (ich ſchließe von mir auf
andere) uns dennoch ſehr entrüſten würden, wenn
der erwähnte Diener Tantalus einmal mit uns von
der wohlbeſetzten Tafel zulangen, oder der Arme im
unhochzeitlichen Kleide ſich ſelbſt bei uns zu Tiſche
bitten wollte. Gott hat es ſelbſt ſo angeordnet, daß
die Einen genießen, die Andern entbehren ſollen,
und es bleibt ſo in der Welt! Jedem Ruf der Freude
ertönt am andern Ort ein Echoſchrei der Angſt und
Verzweiflung, und wo Raſerei ſich hier den Kopf
zerſchmettert, fühlt ein Andrer in demſelben Augen-
blick das höchſte Entzücken der Luſt!


Alſo gräme ſich Niemand unnütz darüber, wenn
er auch weder verdient noch begreift, warum es ihm
beſſer oder ſchlechter als Andern geht. Das Schickſal
liebt einmal dieſe bittere Ironie — drum pflückt, o
Menſchen, die Blumen kindlich ſo lange ſie blühn,
theilt ihren Duft wo ihr könnt, auch Andern mit,
und bietet männlich dem eignen Schmerz eine eherne
Bruſt.


[72]

Ich kehre wieder zur Tages-Chronik zurück.


Nachdem ich bei Sir L … dem Epikuräer, gegeſſen,
brachte ich den Abend in einer kleinen Geſellſchaft
bei der Herzogin von Kent ſehr angenehm zu; denn
die hieſigen Hofzirkel, wenn man ſie ſo nennen will,
haben gar nichts Aehnliches mit denen des Conti-
nents, welche den diſtraiten Grafen R … einſt ver-
führten, dem Könige von B . ., der ihn frug, wie
er ſich auf dem heutigen Balle amüſire, zu antwor-
ten: O, ſobald der Hof weg iſt, denke ich ſehr luſtig
zu ſeyn!


Ganz ſpät fuhr ich von hier noch zu einem Ball
bei der Fürſtin L . . . ., eine Dame, deren Feſte ihrer
Vornehmheit par excellence ſtets völlig angemeſſen
ſind. Das hier zuſällig angeſponnene Geſpräch mit
einem andern Diplomaten verſchaffte mir einige nicht
unintereſſante Notizen. Er erzählte von jener diffi-
cilen Miſſion, deren Aufgabe war, die Kaiſerin der
Franzoſen mitten aus einer, Napoleon noch ganz er-
gebenen Armee, die aus wenigſtens 12,000 Mann
auserleſener Truppen beſtand, gutwillig zu entführen.
Wider alles Vermuthen fand er aber bei Marie Luiſe
faſt gar keinen Widerſtand, und ſehr wenig Liebe
zum Kaiſer (was auch wohl die Folge beſtätigt hat).
Der kleine fünfjährige König von Rom allein wei-
gerte ſich ſtandhaft zu folgen, und konnte nur mit
Gewalt dazu gezwungen werden, ſo wie er ſich auch,
wie durch einen heldenmäßigen Inſtinkt geleitet, ſchon
in Paris eben ſo beſtimmt der püſillanimen Abreiſe
[73] der Regentſchaft nicht anſchließen wollte. Die Rolle,
welche manche andere bekannte Männer dabei ſpiel-
ten, übergehe ich, aber ſie beſtärkte mich in der Ue-
berzeugung, daß die franzöſiſche Nation ſich nie ſo
tief unter ihrer Würde gezeigt, als zu der Zeit der
Abdikation Napoleons.



Es wird nun ſo drückend heiß, wie ich es in die-
ſem Nebellande kaum für möglich gehalten hätte.
Der Raſen in Hydepark gleicht der Farbe des San-
des, und die Bäume ſind fahl und vertrocknet, auch
die Squares in der Stadt ſehen ungeachtet alles Be-
gießens, nicht viel beſſer aus. Demungeachtet wer-
den die Grasplätze fortwährend ſo ſorgfältig geſcho-
ren und gewalzt, als ob wirklich noch Gras darauf
vorhanden wäre. Gewiß könnte man mit gleicher
Pflege und Sorgfalt im ſüdlichen Deutſchland ſchö-
neren Raſen als hier erzielen, aber man wird es
doch nie dahin bringen, denn wir ſind zu bequem
dazu.


Mit der Hitze leert ſich auch London täglich mehr,
und die Seaſon iſt ſo gut wie vorbei. Zum erſten-
mal befand ich mich heute ohne irgend eine Einla-
dung, und benutzte die Freiheit ſogleich zu verſchiede-
nen Excurſionen. Unter andern beſah ich die Gefäng-
niſſe von Kingsbench und Newgate. Das erſte, wel-
ches hauptſächlich für Schuldner beſtimmt iſt, bildet
eine völlig iſolirte Welt im Kleinen, einer nicht un-
bedeutenden Stadt ähnlich, welche jedoch von unge-
[74] wöhnlichen, nämlich dreißig Fuß hohen Mauern um-
geben iſt. Garküchen, Leihbibliotheken, Kaffeehäu-
ſer, Buden und Handwerker aller Art, ſchönere und
ärmlichere Wohnungen, ſelbſt öffentliche Plätze und
Mädchen, auch ein Markt fehlen nicht. Auf dem
letztern wurde bei meiner Ankunft eben ſehr geräuſch-
voll Ball geſpielt. Wer Geld mitbringt, lebt, bis auf
die Freiheit, im Bezirk des Orts ſo gut und ange-
nehm als möglich. Selbſt an ſehr anſtändiger Ge-
ſellſchaft von Damen und Herren iſt in der kleinen
Commune von tauſend Menſchen nicht immer Man-
gel, nur wer nichts bat, iſt übel dran. Für einen
Solchen aber iſt ja jeder Fleck der Erde ein Gefäng-
niß! Lord Cochrane hat eine Zeit in Kingsbench zu-
gebracht, als er, um die Fonds fallen zu machen,
eine falſche Nachricht hatte verbreiten laſſen, und der
reiche und angeſehene Sir Francis Burdet ſaß eben-
falls hier geraume Zeit wegen eines Libells, das er
verfaßt. Der Gefangene, welcher mich herumführte,
war bereits zwölf Jahre ein Bewohner dieſes Orts,
und äußerte mit dem beſten Humor, daß er wohl
nie mehr heraus zu kommen Hoffnung habe. Aehn-
lich ſprach ſich eine alte, ſehr anſtändige Franzöſin
aus, die gar nicht einmal ihre Verwandten von ihrer
Lage unterrichten wollte, indem ſie hier zufrieden
lebe, und nicht wiſſe, wie es ihr in Frankreich erge-
hen möchte, wohl eingedenk que le mieux est l’enne-
mi du bien.


Schlimmer ſieht es in Newgate, dem Gefängniſſe
für Verbrecher aus. Aber auch hier herrſchte viel
Milde in der Behandlung, und dabei eine muſter-
[75] hafte
Reinlichkeit. Das Gouvernement gibt jedem
Verbrecher früh eine halbe Kanne dicke Gerſten-
ſchleim-Suppe, Mittags, den einen Tag ein halbes
Pfund Fleiſch, den andern Fleiſchbrüh-Suppe, und
täglich ein Pfund gutes Brod. Auſſerdem iſt ihnen
auch noch anderes Eſſen und eine halbe Flaſche Wein
täglich zu kaufen erlaubt. Sie beſchäftigen ſich den
Tag über, wo ſie ſich in beſondern Höfen, die zu ei-
ner gewiſſen Anzahl Stuben gehören, aufhalten kön-
nen, wie und womit ſie wollen. Für diejenigen,
welche arbeiten wollen, gibt es Werkſtätten; viele
aber rauchen und ſpielen nur von Früh bis Abend
im Hofe. Um 9 Uhr Morgens müſſen ſich alle zum
Gottesdienſt verſammeln. Gewöhnlich wohnen 7—8
in einer Stube. Zum Schlafen erhalten ſie jeder
eine Matratze und zwei Decken, auch Kohlen zum
Kochen, und im Winter zum Heizen, ſo viel nöthig
iſt. Die zum Tode Verurtheilten kommen in beſon-
dere, etwas weniger kommode Zellen, wo zwei bis
drei in einer ſchlafen. Am Tage haben indeß auch
dieſe ihren Hof zur Recreation und zum Eſſen eine
beſondere Stube. Ich ſah ſechs Knaben, wovon der
älteſte kaum vierzehn Jahre zählte, und die alle un-
ter Todesurtheil ſchwebten, ſehr luſtig hier rauchen
und ſpielen. Das Urtheil war indeſſen noch nicht be-
ſtätigt, und ſie daher noch mit den übrigen Geſan-
genen zuſammen. Man glaubte, ſie würden begnadigt
und nur Zeitlebens nach Botanybay geſchickt werden.


Vier Aeltere, die ſich in derſelben Lage befanden,
nur mit dem Unterſchied, daß ſie, wegen zu ſchwerer
Verbrechen auf keine Begnadigung rechnen durften
[76] und ihr Lebensende in wenig Wochen erwarten muß-
ten, nahmen demohngeachtet ihr Schickſal noch bumo-
riſtiſcher auf als jene, denn drei davon ſpielten ſehr
geräuſchvoll, unter Späßen und Gelächter Whiſt mit
dem todten Mann, der vierte aber ſaß auf dem Fen-
ſterbrett, wo er eifrig in einer Grammatik ſtudierte,
um — franzöſiſch zu lernen! C’etait bien un phi-
losophe sans le savoir.



Geſtern Abends beſah ich mir zum erſtenmal Vaur-
hall, ein öffentlicher Garten, in dem Geſchmack von
Tivoli in Paris, aber weit glänzender und grandio-
ſer. Die Illumination mit Tauſenden von Lampen
in den brennendſten Farben iſt ungemein prachtvoll.
Beſonders ſchön nahmen ſich coloſſale unter den Bäu-
men aufgehangene Blumen-Bouquets aus, wo die
Blumen von rothen, blauen, violetten und gelben
Lampen, die Blätter und Stiele von grünen gebildet
wurden, dann Kronleuchter von einem bunten türki-
ſchen Muſter aller Nüancen, und ein Tempel für die
Muſik, von dem königl. Wappen nebſt dem crest dar-
über gekrönt. Mehrere Triumphbögen waren nicht
wie ſonſt gewöhnlich, von Brettern aufgeführt, ſon-
dern transparent von Eiſen gegoſſen, welches ſie un-
endlich eleganter und dennoch eben ſo reich erſcheinen
ließ.


Weiterhin breitet ſich der Garten noch mit verſchiede-
nen Abwechslungen und Darſtellungen aus, wovon
[77] heute die merkwärdigſte die der Schlacht von Water-
loo war. Um 7 Uhr wird der Garten geöffnet. Aller
Orten giebt es verſchiedene Darſtellungen. Um 8 Uhr
beginnt die Oper. Dieſer folgen anderswo Seiltän-
zer, um 10 Uhr zum Schluß die erwähnte Schlacht
von Waterloo. Dies Schauſpiel iſt ſonderbar genug,
und die Täuſchung wirklich in manchen Scenen ſehr
groß. Zum Schauplatz dient ein Theil des freyen
Gartens ſelbſt, der mit uralten Kaſtanienbäumen mit
Gebüſch untermengt, beſetzt iſt. Zwiſchen vier der
erſten, deren Laub ſo dicht iſt, daß kaum der Himmel
durchſchimmern kann, war eine Tribune mit Gradins
für ungefähr 1,200 Menſchen errichtet, die wohl bis
40 Fuß Höhe hinanſtieg. In einem furchtbaren Ge-
dränge, nicht ohne einige empfindliche Stöße zu er-
halten und auszutheilen, erreichten wir unſern Sitz.
Es war eine warme, wunderliebliche Nacht. Der
Mond ſchien äußerſt hell und zeigte in einer Entfer-
nung von ohngefähr 50 Schritt zwiſchen zwei Rieſen-
bäumen einen coloſſalen Vorhang von rothem Zeuge
mit den vereinigten Wappen Großbrittaniens bemalt.
Hinter dem Vorhang ragten viele andere Baum-
Gipfel, ſo weit man ſehen konnte, hervor.


Nach einer minutenlangen Stille donnerte ein
Kanonenſchuß durch den Wald und die militairiſche
Muſik von 2 Garde-Regimentern ertönte zugleich in
grandioſer Harmonie aus der Ferne. Der Vorhang
öffnete ſich in der Mitte, rauſchte von einander, und
wir erblickten wie im Tageslicht auf einem Boden
der ſich ſanft erhebt, unter hohen Bäumen hervor-
ſchimmernd, das Vorwerk Houguemont (nicht eine
[78] Dekoration, ſondern aus Holz aufgebaute Facaden
mit gemalter Leinwand bekleidet, die wirkliche Häu-
ſer vollkommen nachahmten) und aus dem Walde
avancirten unter militairiſcher Muſik die franzöſiſchen
Garden, treu uniformirt, mit ihren bärtigen Sapeurs
voran. Sie formiren ſich in Parade und Napoleon
auf ſeinem Schimmel, im grauen Ueberrock, von
mehreren Marſchällen begleitet, paſſirt ſie en revûe.
Ein tauſendſtimmiges vive l’ Empereur erſchallt, der
Kaiſer berührt ſeinen Hut, eilt im Gallop weiter,
und die Truppen in gedrängten Maſſen bivouakiren.
Nach einiger Zeit beginnt ein fernes Schießen, es
wird immer tumultuariſcher auf der Scene, und die
Franzoſen marſchiren ab. Kurz darauf erſcheint Wel-
lington mit ſeinem Generalſtab, alle in recht guter
Copie der Perſonalitäten, haranguirt ſeine Truppen
und reitet langſam ab. Das große Original befand
ſich ſelbſt unter den Zuſchauern, und lachte herzlich
über ſein Conterfey. Jetzt beginnt das Gefecht durch
Tirailleurs, ganze Colonnen rücken dann gegeneinan-
der an, machen Attaken mit dem Bajonet, die fran-
zöſiſchen Cüraſſiere chargiren die ſchottiſchen Quarees,
und da gegen 1,000 Menſchen und 200 Pferde in der
Action ſind, auch das Pulver nicht geſpart wird, ſo
waren manche Momente in der That auffallend ei-
nem wirklichen Gefechte ähnlich. Beſonders gut ge-
rieth der Sturm auf Houguemont, das in derſelben
Zeit durch einſchlagende Bomben in Feuer aufgeht.
Der dichteſte Rauch eines wirkichen Feuers, verhüllte
eine Zeit lang die Streitenden, die im allgemeinen
Tumult nur durch die Blitze des kleinen Gewehr-
[79] feuers theilweiſe ſichtbar wurden, während mehrere
Sterbende und Todte den Vordergrund einnahmen.
Als der Rauch ſich verzog, ſtand Houguemont noch in
Flammen, die Engländer als Sieger, die Franzoſen
als Gefangene umher, und von weitem ſah man
Napoleon zu Pferde, und hinter ihm ſeinen vierſpän-
nigen Wagen über die Scene fliehen. Wellington
aber als Sieger wurde unter dem fernen Kanonen-
donner mit Hurrah-Geſchrei begrüßt. Die lächerliche
Seite der Vorſtellung war Napoleon, welcher der
Eitelkeit der Engländer zu Liebe, mehreremal flüch-
tend und verfolgt über die Scene jagen und dem
Plebs in gutem und ſchlechtem Anzug zum Jubel die-
nen mußte. Das iſt das Loos des Großen auf der
Erde! der Welteroberer, vor dem einſt die Erde zit-
terte, dem das Blut von Millionen bereitwillig floß,
und auf deſſen Wink die Könige lauſchten — iſt jetzt
ein Kinderſpiel, die Mährchen ſeiner Zeit verſchwun-
den wie ein Traum, der Jupiter dahin, und Scapin,
wie es ſcheint allein noch übrig. Obgleich nach Mit-
ternacht, war es doch noch Zeit genug, mich aus der
ſeltſamen Licht- und Mondſcheinsſcene auf einen glän-
zenden Ball bei Lady L … zu begeben, mit vielen
Diamanten, ſchönen Weibern, koſtbaren Erfriſchun-
gen, ſchwelgeriſchem Soupé, und coloſſalem Ennui.
Schon um 5 Uhr früh ging ich daher zu Bett.



Oft hatte ich von einem gewiſſen Herrn Deville
in der City gehört, einem Schüler Galls, paſſionir-
[80] ten Cranologen, der unentgeltlich, um ſeine eignen
Kenntniſſe zu bereichern, alle Tage der Woche zu ge-
wiſſen Stunden Audienz ertheilt, und jedem die ge-
wünſchte Auskunft giebt. Er unterſucht den Schä-
del ſorgfältig und macht gefällig mit dem Reſultat
bekannt.


Voller Neugierde beſuchte ich ihn dieſen Morgen,
und fand ſein Empfangzimmer, in welchem eine merk-
würdige Sammlung aller Arten von Schädeln auf-
geſtellt war, mit mehrern Damen und Herren ange-
füllt, die theils ihre Kinder zum Behufe fernerer Er-
ziehung unterſuchen ließen, theils, vielleicht Aemter
ſuchend, oder ſchon im Beſitze derſelben, ſich erkundig-
ten, ob ſie ſie wohl auch verwalten könnten? Ein
einfacher, ernſter und blaſſer Mann verrichtete dies
Geſchäft mit ſichtlichem Wohlwollen und Vergnügen.
Ich wartete, bis alle Uebrigen weg waren, und bat
nun Herrn Deville, mir eine beſondere gütige Berück-
ſichtigung zu ſchenken, da es zwar zur Erziehung lei-
der zu ſpät bei mir ſey, ich auch kein Amt habe, aber
ſehr wünſche, eine ſolche Charakteriſtik von ihm zu ver-
nehmen, die ich mir, zu noch thunlicher Vervollkomm-
nung, gleich einem Spiegel vorhalten könne. Er ſah
mich ſehr aufmerkſam an, vielleicht um zuerſt auf
Lavater’ſchem Wege zu erſpähen, ob ich de bonne foi
oder als Schalk hier aufträte, und bat mich dann höf-
lich, Platz zu nehmen. Er befühlte hierauf meinen
Kopf wohl eine gute Viertelſtunde lang, wonach er
in abgebrochenen Sätzen folgendes Portrait von mir
entwarf, das Dich, die mich ſo genau kennt, gewiß
[81] eben ſo ſehr überraſchen wird, als es mich, ich ge-
ſtehe es, in keine geringe Verwunderung ſetzte, denn
es war ganz unmöglich, daß er je früher irgend et-
was von mir erfahren haben, noch mich kennen konnte.


Da ich Alles ſogleich aufſchrieb, und die Sache,
wie Du denken kannſt, mich nicht wenig intereſſirte,
ſo glaube ich nicht, daß ich mich bei der Wiederho-
lung in einem irgend weſentlichen Punkte irren kann*).


„Ihre Freundſchaft,“ fing er zuerſt an, „iſt ſehr
ſchwer zu gewinnen, und nur durch Solche, die ſich
Ihnen ganz und mit der größten Treue widmen.
In dieſem Falle werden Sie aber Gleiches mit Glei-
chen mit unwandelbarer Beſtändigkeit vergelten.“


„Sie ſind leicht zu reizen in jeder Hinſicht und
dann großer Extreme fähig, geben aber weder der
leidenſchaftlichen Liebe, noch dem Haß, noch andern
Leidenſchaften eine lange Folge.“


„Sie lieben die Kunſt, und werden, wenn Sie
ausübend darin ſind oder werden wollen, ſich ohne
Schwierigkeit darin ausbilden können, und ich finde
die Kraft der Compoſition auf Ihrem Schädel ſtark
ausgedrückt. Sie ſind kein Nachahmer, ſondern wol-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 6
[82] len ſelbſt ſchaffen, ja es muß Sie das Gefühl oft
drängen, Neues hervorzubringen.“


„Sie haben auch einen ſtarken Sinn für Harmo-
nie, Ordnung und Symmetrie. Wenn Sie Diener
haben, oder Handwerker beſchäftigen, werden dieſe viel
Mühe finden, Sie zu befriedigen, weil Ihnen nichts
genau und accurat genug ſeyn kann.“


„Sie haben ſonderbarerweiſe die Liebe zum Häus-
lichen und die des Umherſchwärmens in der Welt,
welche ſich gegenſeitig opponiren, gleich ſtark“.


„Gewiß werden Sie daher auf Reiſen, ſo weit
es Ihre Mittel erlauben, gern recht viel Dinge mit
ſich führen, und überall ſich ſo ſchnell, als möglich,
das häusliche, gewohnte Bild wieder herzuſtellen
ſuchen.“


(Dies ſo treffende und ſo ſehr in’s Detail Gehen-
de frappirte mich beſonders.)


„Ein ähnlicher Widerſpruch findet ſich bei Ihnen,
in einem ſcharfen Verſtande (verzeihe, aber ich muß
ſeine Worte treu wiederholen) und einer bedeutenden
Anlage zur Schwärmerei. Sie müſſen innig religieus
ſeyn, und werden doch wahrſcheinlich keiner poſitiven
Form der Religion ſonderlich anhängen, vielmehr
(ebenfalls ſeine eignen Worte) eine erſte Urſache aller
Dinge unter einem moraliſchen Geſichtspunkte ver-
ehren mögen.“


„Sie ſind ſehr eitel, doch nicht von der Art, die
viel zu ſeyn glaubt, ſondern viel ſeyn möchte. Daher
wird Ihnen auf die Länge die Geſellſchaft Ueberlege-
ner, Höherer in irgend einer Art, ja ſelbſt Ihres
[83] Gleichen nicht ganz wohl thun. Recht behaglich (easy)
finden Sie ſich nur da, wo Sie auf eine Weiſe we-
nigſtens entweder durch ihre Stellung, oder in ir-
gend einer andern Beziehung anerkannt präponderi-
ren. Das Gegentheil, verſteckte Satyre, ſcheinbare
Kälte, beſonders wo ſie ſich nicht beſtimmt feindlich,
nur ungewiß ausſpricht, paralyſiren ihre Fähigkeiten
leicht, und Sie werden ſich, wie geſagt, ganz unge-
zwungen und heiter (cheerfull) nur da bewegen kön-
nen, wo Ihre Eitelkeit durch nichts niedergedrückt
(hurt) wird, die Menſchen, mit denen Sie umgeben
ſind, Ihnen aber zugleich wohlwollen, wofür Ihre
Gutmüthigkeit eines Ihrer ſtarken Organe Sie ſehr
empfänglich macht.“


„Dieſe letztere, mit einem ſcharfen Urtheil gepaart,
macht Sie auch zu einem großen Verehrer der Wahr-
heit und Gerechtigkeit. Das Gegentheil empört Sie,
und Sie werden ohne alles perſönliche Intereſſe im-
mer die Parthei eines Unterdrückten lebhaft zu neh-
men im Stande ſeyn. Auch Ihr eignes Unrecht ge-
ſtehen Sie gerne ein, und verbeſſern es bereitwillig.
Unangenehme Wahrheit, die Sie betrifft, kann Sie
wohl verdrießen. Sie werden aber dem, der ſie aus
keiner feindlichen Abſicht Ihnen ſagt, doch eher ge-
neigt ſeyn, und jedenfalls deshalb wahre Achtung
für ihn fühlen. Aus demſelben Grunde werden Sie
Geburtsdiſtinktionen eigentlich nicht zu hoch anſchla-
gen, wenn Ihre Eitelkeit auch nicht ganz unempfind-
lich dagegen iſt.“


6*
[84]

„Sie laſſen ſich leicht hinreiſſen, es fehlt Ihnen
aber dennoch an leichtem Sinn. Im Gegentheile ha-
ben Sie cautionsness*) in zu hohem Grade, welche
Ihrem Leben als Wermuth beigemiſcht iſt, denn Sie
werden über Alles viel zu viel reflektiren, ſich ab-
wechſelnd die ſeltſamſten Grillen machen, und gerade
bei Kleinigkeiten, ohne Noth in Kummer und Sorge,
Mißtrauen in ſich ſelbſt und Argwohn gegen Andere,
oder auch in Apathie verfallen, ſich im Ganzen faſt
immer mit der Zukunft, wenig mit der Ver-
gangenheit und noch weniger mit der Gegenwart be-
ſchäftigen.“


„Sie ſtreben beſtändig, ſind begierig nach Aus-
zeichnungen, und ſehr empfindlich für Vernachläſſi-
gung, haben überhaupt ſehr viel Ambition und von al-
len Arten, die Sie zugleich ſchnell wechſeln, auch gleich
damit am Ziele ſeyn wollen, da Ihre Imagination
ſtärker iſt, als Ihre Geduld, weshalb Sie beſonders
günſtige Umſtände finden müſſen, um zu reüſſiren.“


„Sie haben jedoch Eigenſchaften, die Sie fähig
machen, nicht Gemeines zu leiſten, und ſelbſt das
Organ der Ausdauer und Feſtigkeit iſt ſtark bei
Ihnen ausgedrückt, aber von ſo vielen widerſtreben-
den Organen gehindert, daß Sie einer großen Auf-
[85] regung (excitement) bedürfen, um Spielraum dafür
zu gewinnen. Dann treten die edlern Kräfte hervor,
und die geringern ſinken.“


„Sie ſchätzen Geld und Vermögen ſehr hoch, wie
Alle, die viel thun wollen, aber nur als Mittel, nicht
als Zweck. Geld an ſich iſt Ihnen gleichgültig, und
es iſt wohl möglich, daß Sie nicht immer ſehr haus-
hälteriſch damit umgehen.“


„Sie wollen in allen Dingen ſchnell und augen-
blicklich befriedigt ſeyn, wie mit dem Zauberſtab; oft
ſtirbt der Wunſch eher, als die Erfüllung möglich iſt.
Die Sinnlichkeit und das Wohlgefallen am Schönen
hat einen zu mächtigen Einfluß auf Sie, und da Sie
ſich zum Gebieteriſchen, Herrſchſüchtigen und Eitlem al-
lerdings neigen, ſo findet ſich hier ein Foyer von Ei-
genſchaften, die Sie ſehr zu hüten haben, um nicht
in große Fehler zu verfallen, denn alle Eigenſchaften
an ſich ſind gut, nur ihr Mißbrauch bringt Unheil
hervor. Selbſt die ſo unrichtig von dem Vater un-
ſerer Wiſſenſchaft bezeichneten Organe des Mord- und
Diebsſinnes (jetzt richtiger Deſtruktionsſinn und Er-
langungsſinn benannt) ſind nur Anzeichen von That-
kraft und Begehrlichkeit, die, mit Gutmüthigkeit, Ge-
wiſſens- und Vorſichtsſinn verbunden, einen wohlbe-
gabten Schädel formiren, ohne dieſe intellektuellen
Eigenſchaften aber leicht zu Verbrechen führen mögen.“


Er ſagte daher auch, daß bei Beurtheilung eines
Schädels es gar nicht auf die einzelnen Organe, ſon-
dern auf ihren Complex ankomme, indem ſie ſich gar
mannichfaltig gegenſeitig modificirten, ja zum Theil
[86] völlig neutraliſirten, alſo nur die Proportion
des Ganzen
den eigentlichen Schlüſſel zu dem
Charakter des Menſchen geben könne.


Als allgemeine Regel ſtellte er auf: daß Men-
ſchen, bei deren Schädel — wenn man ſich eine ge-
rade Linie von oben bis unten, durch die Mitte des
Ohres gezogen denkt — der vordere Theil eine größere
Maſſe, als der hintere darbiete, empfehlungswerther
ſeyen, weil der vordere Theil mehr die intellektuellen
Eigenſchaften, der hintere die thieriſchen enthalte.


Alle Schädel der Hingerichteten z. B., die er be-
ſaß, zeugten für dieſe Lehre, und bei einem der Grau-
ſamſten nahm der Hinterkopf ⅔ des ganzen Schä-
dels ein. Auch bei den Büſten von Nero und Ca-
racalla bemerkt man ein ähnliches Verhältniß.


Iſt dieſes jedoch im entgegengeſetzten Extrem
vorhanden, ſo fehlt es den zu intellektuellen Indivi-
duen wiederum an Thatkraft, und auch hier, wie
in allen Dingen, iſt ein billiges Gleichgewicht das
Wünſchenswertheſte.


Herr Deville behauptet, daß man nicht nur her-
vorſtechende günſtige Organe durch Uebung der von
ihnen bedingten Eigenſchaften ſehr vergrößern könne,
ſondern auch dadurch andere nachtheilige vermindern,
und verſichert, daß kein Lebensalter hiervon ganz
ausgeſchloſſen ſey. Er zeigte mir den Schädel eines
Freundes, der ſich noch im ſechzigſten Jahre einem
ſehr anhaltenden Studium der Mathematik widmete,
und in wenigen Jahren dadurch die betreffende bosse
[87] ſo merklich hervortreten machte, daß ſie alle übrigen
überragte.


Zuletzt gab er mir noch, gleichſam als Beleg zu
ſeiner Charakterſchilderung, eine Liſte der bei mir
hauptſächlich hervorſtehenden und gemeinſchaftlich wir-
kenden Organe meines Schädels, die mir ſein Urtheil
ſehr wohl erklärten, die ich aber nicht ganz mitthei-
len mag, da man über ſich ſelbſt immer weislich noch
etwas zurückbehalten muß, wie die vertrauteſte Dame
doch auch nicht alle Toilettengeheimniſſe enthüllt. Oh-
nedieß kennſt Du mich in mancher Hinſicht wahr-
ſcheinlich noch beſſer, als Deville, da Dir ein mäch-
tigerer Talisman dazu zu Gebote ſteht, als die
Cranologie — ächte und wahre Liebe. Nur ſo viel
muß ich des Scherzes wegen anführen.


Organ des Wunderbaren, ſchwach — weshalb
ein Gläubiger an mir verdorben iſt, ohne deshalb
ein Schuldner werden zu müſſen.


Idealität, ſehr ſtark — weshalb ich nie mit der
Gegenwart zufrieden bin.


Zablenſinn, ſchwach — weshalb ich ſehr viel
Mühe habe, Einnahme und Ausgabe ſtets im richti-
gen Verhältniß zu erhalten, und überhaupt Adam
Rieß Rechenbuch nie geſchrieben haben würde.


Zeitſinn iſt auch ſchwach, weswegen ich gewöhn-
lich überall zu ſpät komme, als eine perſonifizirte
moutarde apres diné.


Eminentes Vergleichungsorgan. Wieder unglück-
lich für gläubigen und blinden Gehorſam.


[88]

Ueber ſo viele Fehler tröſtet mich ſchlecht die
große bosse des Cauſalitäts-Organs, welches uns
unter andern zwingt, die Unzulänglichkeit der menſch-
lichen Exiſtenz immer recht bitter vor Augen zu be-
halten, indem es das Vermögen ausübt, ſich ſelbſt
und den eignen Geiſt als ein Fremdes zu betrachten
und zu analyſiren, ſich zugleich mit den andern Men-
ſchen als ein Objekt zu beurtheilen, und dabei will-
kürlich von allem zu abſtrahiren, was durch Erzie-
hung, Schickſal u. ſ. w. auf dieſe Weſen Einfluß
gehabt hat und noch hat — oder um ſchulgerechter
zu ſprechen: welches von allem die Urſache ergründen
will, die Verbindung zwiſchen Urſach und Wirkung
genau erforſcht, und bei Allem den Menſchen zu fra-
gen zwingt: Warum? eine … läſtige Eigen-
ſchaft, die man auch im gewöhnlichen Leben Ver-
nunft zu nennen pflegt.


Leider iſt Eventualität bei mir weit ſchwächer,
als jenes Organ. Dieſes, welches man das Reali-
tätsvermögen nennen könnte, iſt ebenfalls ziemlich
ſchwer zu definiren, und ſein geringes Volumen bei
mir verurtheilt mich, wie ich fürchte, zu einer Art
Poeten, der nur im Traume ſehen und leben darf,
was er in der Welt ſelbſt nicht erreichen kann.


Eventualität iſt nicht Thatkraft, obgleich ihr
Mangel eine auf denſelben Zweck fortwährend ge-
richtete Thatkraft verhindert, denn wo ſie nicht iſt,
entſteht eine Abweſenheit des Intereſſes und der Auf-
merkſamkeit auf das was geſchieht, ein Mangel des
praktiſchen Geſellſchaftsſinnes. Man hat bemerkt,
[89] daß alle großen Staatsmänner das Organ der Even-
tualität im hohen Grade beſitzen, welches zugleich
eine große Begierde in ſich begreift, Alles zu wiſſen,
was im Getreibe der Welt vorgeht, ſich nur wohl
im Geſchäftsſtrudel zu befinden, der daraus hervor-
geht, ſtets bereit zu ſeyn, darin handelnd einzugrei-
fen, keine Mühe dabei ſcheuend, und alle ihre Im-
pulſe nur von der äußern Wirklichkeit, nie von der
innern Phantaſie zu erhalten. An Cannings und
noch mehr an Napoleons Gyps-Schädel zeigte Herr
Deville Eventualität gigantiſch vorherrſchend, bei bei-
den waren aber auch die andern intellektuellen Eigen-
ſchaften ſehr ausgebildet, bei Napoleon die animali-
ſchen eben ſo kräftig, bei Canning mehr Phantaſie
und Kauſalität.*)



Schon mehreremal habe ich den Architekten Herrn
Naſh beſucht, dem ich viel Lehrreiches in meiner
Kunſt verdanke. Man ſagt, daß er ſich ein Vermö-
gen von 500,000 L.St. im ſpeziellen Sinne des Wortes
„aufgebaut“ habe. Er beſitzt einige herrliche Land-
ſitze, und kein Künſtler in der Stadt wohnt auch in
dieſer anmuthiger. Vor allen gefiel mir ſeine Biblio-
thek.


[90]

Sie bildet eine lange, breite Galerie mit zwölf
tiefen Niſchen auf jeder Seite, und zwei großen Por-
talen an den Enden, die in zwei andere geräumige
Zimmer führen. Die Galerie iſt flach gewölbt, und
erhält einen Theil ihres Lichts von oben durch eine
zuſammenhängende Reihe eleganter Roſetten, deren
mattes Glas verſchiedene grau in grau gemalte Fi-
guren ſchmücken. In jeder Niſche befindet ſich in
der Decke ebenfalls ein halbrundes Fenſter von lich-
tem Glaſe, an der Rückwand oben ein Alfresco-
Gemälde aus den Logen Raphaels, und unter die-
ſem auf Poſtamenten aus Gyps-Marmor: Abgüſſe
der beſten Antiken. Den übrigen Raum der Niſche
nehmen Schränke mit Büchern ein, welche jedoch
nicht höher, als das Poſtament der Statur iſt, em-
porſteigen. Auf den breiten Pfeilern zwiſchen den
Niſchen ſind ebenfalls Arabesken nach Raphael aus
dem Vatican, vortrefflich al fresco ausgeführt.


Vor jeder Niſche, und etwas entfernt davon, ſteht
in der mittleren Gallerie ein Tiſch von Bronce mit
offenen Fächern, welche Mappen mit Zeichnungen
enthalten, und auf den Tiſchen Gypsabgüſſe irgend
eines berühmten architektoniſchen Monuments des
Alterthums. Ein breiter Gang bleibt noch in der
Mitte frei.


Aller Raum an Wänden und Pfeilern, der keine
Malereien enthält, iſt mit mattem Stuck belegt, der
in einem blaßröthlichen Tone gehalten, und mit
goldnen ſchmalen Leiſten eingefaßt iſt. Die Ausfüh-
[91] rung erſcheint durchgängig gediegen und vor-
trefflich.


Als ich von hier zum Diné fuhr, ſah ich in der
Themſe ein Boot mit ganz nackten Menſchen, gleich
Wilden, darin, von denen zu Zeiten einer binaus-
ſprang, um zu ſchwimmen, eine Indecenz, die mich
mitten in London verwunderte, um ſo mehr, da ich
erſt geſtern in der Zeitung las, daß vor einiger Zeit
ein Officier einen Mann, der ſich auf ähnliche Art
mit ſeinem Sohne nackt unter den Fenſtern ſeines
Hauſes badete, und der auf ſeinen Zuruf ſich nicht
entfernen wollte, ohne Umſtände mitten durch den
Leib geſchoſſen habe. Vor Gericht ſagte er aus, daß
der Badende ſich vor den Augen ſeiner Frau ſcham-
los entblößt, was er nicht habe dulden können, und
im ähnlichen Falle daher eben wieder ſo handeln
würde. Es iſt charakteriſtiſch, daß er von der Jury
frei geſprochen wurde. Das Mittagsmahl bei dem
portugieſiſchen Geſandten hätte bald wie das berühmte
Feſt des Fürſten Schwarzenberg in Paris geendet.
Eine der ſchönen ſilbernen Girandolen von Run-
del and Bridge, die wie Diamanten glänzte, kam
dem Vorhange zu nahe, welcher ſogleich lichterloh
aufloderte. Das Feuer wurde jedoch ſchnell gelöſcht,
und zwar vom ſpaniſchen Geſandten, was bei den
jetzigen politiſchen Conjuncturen den Zeitungen zu
Witzeleien hätte Anlaß geben können.


Spät in der Nacht fuhr ich noch eine halbe Poſt
weit in die Stadt hinein, um mir den Kirchthurm
[92] von St. Giles zu beſehen, deſſen neues coloſſales,
roſenrothes Zifferblatt mit vielen Lampen erleuchtet,
wie ein herrlicher Stern in der Nacht ſtrahlt.


Zu Hauſe fand ich Deinen Brief mit allerlei liebe-
vollen Vorwürfen, das Perſönliche zu ſehr über äußere
Dinge zu vernachläßigen. Wäre dieſes auch zuweilen
der Fall, ſo denke darum doch nicht, daß mein Herz
je weniger von Dir erfüllt ſey. Auch die Blume duf-
tet ja zu Zeiten ſchwächer, zu andern ſtärker, ja
manchmal gibt es wohl gar keine Blume am Roſen-
ſtrauch, zu ſeiner Zeit dringen und blühen ſie dann
alle wieder hervor — aber die Natur der Pflanze
bleibt immer dieſelbe.


Herders Gebet iſt ſchön, doch hier auf Erden be-
währt es ſich nicht, denn hier ſcheint zwar Gottes
Sonne über Gute und Böſe, aber auch Gottes Ge-
witter trifft Gute und Böſe. Jeder muß ſich ſelbſt
wahren ſo gut er kann!


Die Menſchen ſind Dir läſtig, ſagſt Du — ach
Gott, und wie läſtig ſind ſie mir! Wenn man ſo
lange in größter Intimität der Austauſchung aller
Gefühle, und Aufrichtigkeit aller Gedanken mit ein-
ander gelebt hat, wird der Umgang mit der banalen,
theilnahmloſen Welt oft mehr als leer und ge-
ſchmacklos.


Deine Hypotheſe, daß hier verwandte Seelen einſt
in einer andern Welt zu einem Weſen ſich ver-
ſchmelzen, iſt wohl lieblich, aber mit Dir möchte ich
[93] doch nicht auf dieſe Weiſe verbunden werden, denn
ein Weſen muß ſich freilich ſelbſt lieben, zwei aber
lieben ſich freiwillig, und nur das hat Werth!
Wir wollen uns alſo zwar immer wieder begegnen,
aber auch immer nur durch gegenſeitige Liebe und
Treue Eins werden, wie wir es jetzt ſind, und vor
der Hand auf dieſer Welt auch ſo lange als möglich
noch bleiben mögen.


Dieſe Betrachtung bringt mich ganz natürlich zum
Gegenwärtigen wieder zurück, in deſſen vielfachem
Treiben der Strom mich geſtern auf die hieſige
Kunſtausſtellung führte. Von hiſtoriſchen Gemälden
war wenig Erfreuliches zu ſehen. Einige Portraits
von Thomas Lawrence zeigten, wie immer, eben ſo
ſehr ſein Genie wie ſeinen Uebermuth, mit dem er
nur einzelne Theile ausmalt, und alles Uebrige ſo
hinkleckſt, daß man es nur von weitem, wie eine
Theater-Dekoration, betrachten muß, um es einiger-
maßen den darzuſtellenden Gegenſtänden ähnlich zu
finden. So malte Raphael und die Heroen der Kunſt
nicht, wenn ſie ſich einmal zur Portraitmalerei ver-
ſtanden. Unter den Genre-Bildern fand ſich dage-
gen manches ſehr Anziehende.


Zuerſt: der todte Elephant. Man erblickt eine
wilde Berggegend im Innern Indiens; ſeltſame
Rieſenbäume und üppig verworrenes Geſtrüpp, tie-
fer Wald im Hintergrunde, umgeben einen dunkeln
See. Ein todter Elephant liegt vorn am Ufer aus-
geſtreckt, und ein, ſeinen Rachen weit aufſperrendes,
[94] und die furchtbaren Zähne fletſchendes, Crocodill
klettert eben an ihm herauf, einen ungeheuren Raub-
vogel verjagend und den andern Crocodillen drohend,
die aus dem See eilig zum Fraße herbeiſchwimmen.
Auf den Aeſten der Bäume wiegen ſich Geyer, und
in den Büſchen zeigt ſich eben der Kopf eines Ti-
gers. Auf der andern Seite erblickt man aber ſchon
mächtigere Raubthiere, nämlich drei engliſche Jäger,
deren Büchſen bereits auf das große Crocodill ange-
legt ſind, und bald unter der gräulichen Verſamm-
lung noch gräulichere Verwirrung erregen werden.


Ein anderes Stück ſpielt in Afrika. Das Ufer
des Meers iſt die Scene. Man entdeckt Schiffe in
weiter Ferne. In der Nähe ſenkt ſich ein Palmen-
wald, von Lianen durchzogen, bis in die klare Fluth bin-
ab, wo ein Boot am Anker liegt, in dem ein Neger
ſchläft — aber in welcher ſchauderhaften Umgebung!
Eine der rieſenhaften Boa-Schlangen iſt aus dem
Walde hervorgeſprungen, und während ihr Schweif
noch dort ruht, hat ſie vorn ſchon einen loſen Ring
um den Schläfer geſchlagen, und ſtreckt nun ihren
Hals hoch empor, ziſchend den Rachen gegen die Ge-
fährten des Negers öffnend, die mit Beilen zu Hilfe
eilen. Eben hat der Eine glücklich einen Theil ihres
Körpers zerſchnitten, und ſo den nun erwachten, mit
den Zügen des gräßlichſten Entſetzens auf die
Schlange ſtarrenden Sclaven gerettet; denn ſobald
die Rückenmuskeln der Boa irgendwo durchſchnitten
ſind, verliert ihr ganzer Körper augenblicklich alle
[95] Kraft. Die Scene iſt einer wahren Begebenheit treu
nachgebildet, die ſich 1792 zutrug.


Wir bleiben noch in den fernen Welttheilen, gehen
aber zugleich in ferne Zeiten zurück.


Eine wunderherrliche ſilberne Mondnacht glänzt
und glittert über Alexandriens Meerbuſen. Die Pracht
ägyptiſcher Denkmäler und Tempel zieht ſich am
Seegeſtade in vielfacher Erleuchtung hin, und unter
einer Halle von edler Architektur im Vorgrunde, beſteigt
Cleopatra, von allem Luxus Aſtens umgeben, die
goldne Barke, ihrem Antonius entgegen zu eilen.
Die ſchönſten Mädchen und Knaben ſtreuen Blumen
unter ihre Füße, und ein Chor weißbärtiger Greiſe
in Purpur gekleidet, ſpielt, auf einem Felſen am
Meeresſtrande ſitzend, auf goldnen Harfen das Ab-
ſchiedslied.


Haſt Du noch nicht genug, gute Julie? Nun
wohlan, ſo ſieh noch den gereiſten Affen, der
als Ercluſiv gekleidet zu ſeinen Brüdern und Schwe-
ſtern in die Einſamkeit der Wälder zurückkehrt. Alles
umgibt ihn ſtaunend, hier zupft einer an der Uhrkette, dort
ein anderer am geſteiften Halstuch. Zuletzt gibt ihm,
eiferſüchtig auf ſolche Pracht, Cocotte eine Ohrfeige,
die das Signal zum allgemeinen Ausplündern wird —
und, geht das nur noch eine Minute ſo fort, ſo ſteht
Balzer bald in naturalibus da, wie meine antiken
Statuen, die Dich ſo ſehr ſcandaliſiren.


Hiermit beſchließe ich die Kunſtausſtellung. Gute
Julie, geſtehe, wenn Du ſelbſt Redacteur des Mor-
[96] genblattes wäreſt, Du könnteſt keinen fleißigern Re-
ferenten haben als mich, und es mag mir ſchlecht
oder gut gehen, ich mag traurig oder heiter ſeyn,
dennoch thue ich immer meine Pflicht. Grade jetzt
geht es mir nicht zum beſten. Ich bin unwohl, und
habe viel Geld im Whiſt verloren. Uebrigens iſt es
merkwürdig, wie ſchnell man ſich hier in England
gewöhnt, ein Pfund wie einen Thaler zu betrach-
ten. Obgleich ich den Unterſchied wohl kenne, und
oft nicht ganz angenehm empfinde, ſo bleibt doch der
ſinnliche Eindruck des Pfundes hier grade derſelbe,
wie der eines Thalers bei uns, worüber ich oft ſelbſt
lachen muß. Ich wünſchte, das Schickſal machte auch
einmal eine ähnliche Verwechſelung, und unſere Thaler
zu Pfunden, gewiß vergrübe ich das meinige nicht.
Doch wucherten wir immer gut mit dem uns Ver-
liehenen, denn wenn man eine verſchönerte Gottes-
Natur aus todtem Gelde zu machen ſucht wie ich,
ſo hat man gut gewuchert, auch wenn man glückliche
und zufriedene Menſchen damit macht, und auch das
that ich durch gegebene Arbeit, Du auf direkterem
Wege reichlich durch Wohlthaten an die Bedürftigen.


Klugheit war weniger unſre Stärke, und wenn
Du etwas mehr als ich davon aufzuweiſen haſt,
ſo kömmt das blos daher, weil Du ein Weib biſt,
welche ſich immer auf der Defenſive halten müſſen.
Klugheit iſt aber weit mehr eine Vertheidigungs-
als eine Angriffskunſt.


Du kannſt ſie jetzt grade in der S ..... ſchen An-
gelegenheit üben, und ich ſehe Dich ſchon in Gedan-
[97] ken die Widerſpenſtigen bezähmen, und würdevolle
Worte des Friedens über ſie ausſprechen. Erblicke
hier am Rande Dein Portrait à la Thomas Law-
rence
— Du wirſt ohne Zweifel viel von der An-
lage zur Kunſt darin wahrnehmen, welche der Gal-
lianer auf meinem Schädel geleſen hat, die umſte-
henden Carrikaturen aber rechne meiner etwas mür-
riſchen Laune zu.


Da eine ſolche plattgedrückte Stimmung aber we-
nig Gedanken liefert, ſo erlaube mir, Dir aus einem
ſeltſamen Buche einige Stellen mitzutheilen, von de-
nen Du glauben wirſt, daß ſie nicht nur aus meiner
Feder, ſondern auch aus meinem Innerſten ge-
floſſen ſind.


„Es iſt nicht zu berechnen,“ ſagt der Autor,
„welche Wichtigkeit die Umgebungen unſrer Jugend
auf ſpätere Charakterausbildung haben. Die düſtern
Wälder meines Geburtslandes, meine vielfachen ein-
ſamen Wanderungen in jener Natur waren es, wo
meine frühe Liebe zu meinen eignen Gedanken ent-
ſtand, und in dem Maße wie ich auf der Schule mit
meines Gleichen bekannter wurde, machte es mir
ſchon den Zuſtand meines Gemüths ohnmöglich, ir-
gend eine intime Cameradſchaft anzuknüpfen, ausge-
nommen die, welche ich bereits in mir ſelbſt
zu entdecken anfing.


Am Tage war einſames Wandern in der Natur
meine Freude, Abends das Leſen romantiſcher Fik-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 7
[98] tionen, die ich mit jenen geſehenen Scenen verband,
und ich mochte nun im Winter am Kamin über mei-
nem Buche ſitzen oder in wollüſtigem Nichtsthun im
Sommer unter einem Baum ausgeſtreckt liegen,
meine Stunden waren immer angefüllt mit allen
den nebelhaften und üppigen Träumen, welche viel-
leicht die Eſſenz jener Poeſie waren, welche zu
verkörpern ich nicht das Genie beſaß
.
Dieſe Stimmung iſt nicht für das Leben mit Men-
ſchen gemacht. Bald verfolgte ich etwas mit raſtlo-
ſer Thätigkeit, bald lebte ich blos in thatenloſer Re-
flection. Nichts gelang meinen Wünſchen gemäß,
und mein Weſen wurde endlich tief von jener bittern
melancholiſchen Philoſophie durchdrungen, die mir,
gleich Fauſt, lehrte, daß Wiſſen nichts ſey als un-
nützer Stoff, daß in Hoffnung nichts als Trug liege —
und die den Fluch auf mich legte, gleich ihm, durch
die Genüſſe der Jugend, wie alle Lockungen des
Vergnügens, immer die Gegenwart eines feindlichen
Geiſtes der Finſterniß zu fühlen.


Die Erfahrung langer und bitterer Jahre läßt mich
jetzt zweifeln, ob dieſe Erde je eine lebende Form
hervorbringen kann, die den Viſionen desjenigen
genügen möchte, welcher zu lange nur in den Schö-
pfungen ſeiner Phantaſie verloren lebte.“


Ein andermal heißt es von einem geprieſenen
Manne:


„Er war eine von den macadamiſirten Vollkom-
menheiten der Geſellſchaft. Sein größter Fehler war
[99] ſeine vollkommene Ebenheit und Gleichheit, und man
ſchmachtete nach einem Hügel, den man erſteigen
könnte, oder nach einem Stein, wenn er auch im
Wege läge. Liebe hängt ſich nur an etwas Hervor-
ſtehendes, wäre es auch etwas, das Andere haſſen
würden. Schwer kann man Extreme für Mittel-
mäßiges fühlen.“ C’est vraiment une consolation!


Weiter:


„Unſre Sinne mögen durch Schönheit gefeſſelt wer-
den, aber Abweſenheit verwiſcht den Eindruck, Ver-
nunft kann ihn beſiegen. Unſre Eitelkeit kann uns
Rang und Auszeichnung mit Leidenſchaft verehren
laſſen, aber das Reich der Eitelkeit iſt auf Sand
gebaut. Doch wer kann den Genius lieben, und
nicht inne werden, daß die Gefühle, die er einflößt,
ein Theil unſres eignen Weſens und unſrer Unſterb-
lichkeit ſind!“



Glaubſt Du wohl, beſte Julie, daß ich, obgleich
von verſchiedenem Unangenehmen berührt, und faſt
krank, dennoch dieſe Tage der Einſamkeit, wo ich nur
mit Dir, meinen Büchern und Gedanken beſchäftigt
war, weit genügender, wie ſoll ich ſagen, weit voller
ausgefüllt finde, als die troſtloſe Exiſtenz, welche
man große Welt und Geſellſchaft nennt. Das Spiel
gehört auch dahin, denn es iſt eine bloße Zeittöd-
tung ohne Reſultat, jedoch hat es wenigſtens den
7*
[100] Vortheil, daß man die Zeit, die man verſchwendet,
nicht während dem gewahr wird, wie in dem andern
Falle. Wie wenig Menſchen mögen ſolche Stimmun-
gen recht verſtehen, und wie glücklich kann ich mich
ſchätzen, daß Du es thuſt. Nur biſt Du zu nachſich-
tig gegen mich, und dieſe Ueberzeugung läßt mich
Deinen Urtheilen keinen vollen Glauben beimeſſen.
Wiſche alſo die Roſenfarbe, die Deine Liebe auf das
Glas haucht, durch das Du mich beſchauſt, mit dem
Schwamme des kalten Verſtandes ein wenig ab
(ganz eben nicht) und wage es dann immer keck auf
meine Dir annoncirte Eitelkeit hin, mir ganz unum-
wunden die Wahrheit zu ſagen.


Nun noch die Entdeckung eines Geheimniſſes.
Wenn ich Dir Ercerpte ſchicke, kannſt Du nie darauf
ſchwören, von wem ſie ſind, denn vermöge meines
gerühmten Compoſitions-Vermögens (Du ſiehſt ſelbſt,
daß Deville mich noch fortwährend beſchäftigt), iſt
mir das reine Abſchreiben faſt unmöglich. Es wird
ſelbſt ein fremder Stoff immer etwas anders, wenn
auch nichts Beſſeres, unter meinen Händen. Weil
ich aber ſo beweglich bin, erſcheine ich gewiß oft in-
conſequent, und meine Briefe mögen daher manche
Widerſprüche enthalten. Dennoch, hoffe ich, tritt im-
mer ein rein menſchlicher Sinn daraus hervor, und
hie und da wohl auch ein ritterlicher, denn jeder
zahlt den Umſtänden, die Geburt und Leben um-
ſchließen, ſeinen ſchuldigen Tribut.


Lebten wir wohl ſchon zuſammen in jenen wah-
ren
Ritterzeiten? Gewiß, denn gar lieblich erhob
[101] ſich ſchon oft vor meiner Phantaſie wie eine dunkle
Erinnerung das reizende Bild der Burg unſrer Vä-
ter, die wir damals bewohnten, im wilden Speſſart
vom Felſen herabdrohend, rund umher alte Eichen
und Tannen, und durch den Hohlweg im Thal ſehe
ich den Beſitzer mit ſeinen Reiſigen der Morgenſonne
entgegen ziehen (denn als Ritter ſtand er früher
auf. Du, gute Julie, lugſt vom Söller und winkſt
und wehſt mit dem weißen Tuche, bis kein Stahl-
panzer mehr in den Sonnenſtrahlen blinkt und nichts
Lebendes mehr ſichtbar bleibt, als ein ſcheues Reh,
das aus dem Laube ſchielt, oder ein hochgeweih-
ter
— Hirſch, der auf der Bergſpitze ſich ernſthaft
die Gegend beſchaut.


Ein andresmal ſitzen wir, nach glücklich geendeter
Fehde, beim Humpen, wie in Paris einmal beim
Champagner. Du kredenzeſt, ich trinke ritterlich, und
der gute Hauspfaff liest die Wunder einer Legende.
Da ſchallt des Zwerges Horn vom Thurme, und
zeigt ein Fähnlein an, das ſich dem Burgthor nähert.
Dein ehemaliger Geliebter iſt’s, der aus dem gelob-
ten Lande zurückkehrt. — Gare à toi!*)


[102]

Ein freundlicher Sonnenblick lockte mich ins Freie,
das ich jedoch bald wieder mit dem Unterirdiſchen ver-
tauſchte. Ich beſah nämlich den berüchtigten Tun-
nel, die wunderbare, 1,200 Fuß lange Communication
unter der Themſe. Du haſt wohl in den Zeitungen
geleſen, daß vor einigen Wochen das Waſſer des
Fluſſes einbrach, und ſowohl den über 100 Fuß tie-
fen und 50 Fuß breiten Thurm am Eingang, als
auch den ſchon 540 Fuß langen, fertigen doppelten
Weg gänzlich anfüllte. Auf glückliche und unglück-
liche Begebenheiten iſt hier immer ein paar Tage dar-
auf die Carricatur fertig. So ſieht man bei der Ca-
taſtrophe des Tunnels, als das Waſſer einbricht, ei-
nen dicken Mann, der wie eine Kröte auf allen Vie-
ren ſich zu retten ſucht, in der Angſt mit weit auf-
geriſſenem Munde „Feuer“ ſchreien. Durch Hilfe
der Taucherglocke hat man das Loch im Grunde des
Fluſſes, wo die Erde nachgegeben, durch Säcke voll
Lehm nicht nur wieder zugefüllt, ſondern jetzt, ſo
weit der Tunnel noch fortzuſetzen iſt, den Erdboden
unter dem Waſſer überall 15 Fuß hoch durch Ver-
miſchung mit Lehm ſo befeſtigt, daß, wie man ſagt,
keine ähnliche Gefahr mehr zu befürchten iſt. Eine
Dampfmaſchine der ſtärkſten Art, die in der Höhe
des Thurms placirt iſt, hat gleichzeitig das einge-
drungene Waſſer faſt ganz wieder ausgepumpt, ſo
daß man ſchon wieder das Ganze bequem beſehen
[103] kann. Es iſt ein gigantiſches Werk, nur hier aus-
führbar, wo die Leute nicht wiſſen, was ſie mit ih-
rem Gelde anfangen ſollen.


Aus dem Tunnel fuhr ich nach Aſtleys Theater,
dem hieſigen Franconi, und dieſem überlegen. Ein
Pferd mit angeſchnallten Flügeln, Pegaſus genannt,
macht wunderbare Kunſtſtücke, und der ruſſiſche be
trunkene Courier, der auf 6 — 8 Pferden auf einmal
reitet, kann in Geſchicklichkeit und Kühnheit nicht
übertroffen werden. Die theatraliſche Vorſtellung
beſtand in einer ſehr ergötzlichen Parodie des Frei-
ſchützen. Statt des Kugelgießens wird durch Pierrot
und Pantalon ein Eierkuchen gebacken, wozu ſich die
beibehaltene Weber’ſche Muſik höchſt komiſch aus-
nimmt. Die Geiſter, welche erſcheinen, ſind ſämmt-
lich Küchengeiſter, Satanas ſelbſt ein bloßer Chef
de cuisinc.
Bei dem letzten Graus bläſt ein ge-
ſpenſtiſcher Blaſebalg alle Lichter aus, bis auf eine
große Kerze, die immer wieder von Neuem Feuer
fängt. Da ergreift eine Rieſenfauſt den armen Pier-
rot, legt ihn über die Flamme, und eine Köchin, ſo
groß wie das Theater, in ſchwarz und rothem Teu-
felscoſtüme, deckt beide mit einem Ertinguiſher vom
Umfange eines Hauſes zu. Währenddem fliegt Pan-
talon mit einer Rakette an einer gewiſſen Stelle,
die ſich unter ſeinem Wehgeſchrei nach unten entla-
det, durch die Lüfte davon.


Aller dieſer Unſinn macht allerdings im Augen-
blick lachen, ein trauriges Gemüth macht er aber
[104] doch nicht heiterer, und Du weißt, ich habe ſo manche
Urſache zu Kummer, die ich nicht immer vergeſſen
kann . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .


Es muß eine ſchlechte Conſtellation jetzt für uns
am Himmel ſtehen — denn gewiß gibt es glückliche
und unglückliche Strömungen in der Lebensperiode,
und ſie zu wiſſen würde dem Steuermann gar ſehr
zu Hülfe kommen.


Der Stern, der, wie Du ſchreibſt, über Deinem
Schloß ſo brennend funkelte, muß ein feindlicher ge-
weſen ſeyn. Mir funkelt nur noch ein Stern gün-
ſtig, und das iſt der Stern Deiner Liebe. Mit ihm
würde mein Leben verlöſchen!


Veränderung der Umgebung für mich ſcheint mir
immer nöthiger, beſonders da ich mich aus der we-
nigen Geſellſchaft, die noch hier iſt, faſt ganz zurück-
gezogen habe. Till ſagt ſehr weiſe: Nach Regen folgt
Sonnenſchein — dem alſo entgegen! und richte auch
mich durch Deine Briefe auf. Laß ſie heiter und
ſtärkend ſeyn durch eigne Heiterkeit, denn dieſe iſt
wichtiger für mich als alle Nachrichten, böſe oder
gute, die ſie enthalten. Nichts iſt mir ſchrecklicher
als der Gedanke, Dich in der weiten Entfernung be-
kümmert zu wiſſen, denn es iſt eine ſo große Kunſt,
freudig zu leiden, wie ein Märtyrer! Man kann
[105] es auch nur, wo man unſchuldig, oder aus Liebe zu
einem Andern leidet. Du meine, theure Julie, haft
kaum andere Leiden gekannt, ich aber darf nicht ſo
ſtolz von mir ſprechen.



Haymarket-Theater iſt jetzt mit ſehr guten Schau-
ſpielern beſetzt, und das Rendezvous aller, nach be-
endigter Seaſon vacant gewordener gai Ladies. Ich
ſaß geſtern in meiner Loge, ganz aufmerkſam auf
das Stück, als ſich plötzlich der allerniedlichſte Fuß,
in einen netten Schuh und perlfarbnen ſeidnen Strumpf
gehüllt, auf den Stuhl neben mir aufſtützte. Ich ſah
mich um, und ein paar prächtige braune Augen lä-
chelten mich ſchalkhaft aus einem Philinengeſichte an,
das ein großer italieniſcher Strohhut halb verdeckte,
während ein ganz einfaches, ſehr weißes Kleid, von
einem ponceaurothen Bande unter der züchtig ver-
deckten Bruſt zuſammengehalten, den ganzen Putz
der kleinen Perſon ausmachte, welche kaum 18 Som-
mer zu zählen ſchien.


Alle Dandies, und auch viele junge Leute in der
großen Welt, die dies eben nicht ſind, pflegen hier
Maitreſſen zu halten, denen ſie ein eignes Haus
miethen, ſie darin einrichten, und ihre müßigen Au-
genblicke dort zubringen, ganz wie ehemals die pe-
tites maisons
in Frankreich. Sie kommen bald auf
[106] einen förmlich häuslichen Fuß mit ihnen, und ſind
auch in dieſem Verhältniß ſo ſyſtematiſch als in allen
übrigen. Treu ſind dieſe Art Weiber „auf Zeit“
ſelten, aber oft weit gebildeter an Geiſt und Sitte
als ihres Gleichen in andern Ländern.


Die Kleine hinter mir ſchien die Abſicht zu haben,
ein ſolches Verhältniß anzuknüpfen, denn ſie benahm
ſich nicht ohne Feinheit, und wußte eben ſo ſehr
durch eine artige Coquetterie gegen mich, als durch
ein äußerſt gemeſſenes Benehmen gegen Andere, die
ſich ihr zu nähern ſuchten, bald eine Art Einver-
ſtändniß zwiſchen uns hervorzubringen, ohne daß
wir noch ein Wort gewechſelt hatten. Auch fehlte
des Anſtands halber eine Mutter neben ihr nicht,
die ſie chaperonirte, aber ſey es nun eine gemiethete
oder eine wahre, nirgends ſind dieſe Mütter beque-
mer als in London. —


Es iſt ſonderbar, daß die meiſten jungen Mädchen,
die hier einem langen Elend ſo luſtig entgegengehen,
nicht von Männern und durch Liebe, ſondern, wie
mir ein ſehr Kundiger verſicherte, faſt immer von
ihrem eignen Geſchlecht zu ſolcher Lebensart verführt
werden, wozu der übertriebene Luxus aller Stände
ſo ſehr die Hände bietet. Dennoch bleiben viele von
ihnen weniger intereſſirt, und weit gefühlvoller als
ihre Nachbarinnen über dem Canal, ja das Roman-
tiſche ſelbſt verläßt ſie nicht immer bei ihrem jam-
mervollen Beruf! Die Nüancen unter dieſen Damen
ſind übrigens eben ſo verſchieden, als die der ver-
[107] ſchiedenen Stände in der Geſellſchaft, und ihre Zahl
in London bekanntlich eben ſo groß, als die der
ſämmtlichen Einwohner Berlins.


Es iſt kein zu großer Sprung, wenn ich Dich von
hier nach Bedlam, eigentlicher nach Bethlem, führe,
das ich dieſen Morgen beſuchte. Nirgends logiren
die Narren beſſer, das heißt die eingeſperrten. Ein
pleasure ground befindet ſich vor dem Thore des
Palaſtes, und nichts kann reinlicher und zweckmäßi-
ger eingerichtet ſeyn als das Innere. Als ich in
die erſte Weiber-Galerie, von einer ſehr hübſchen
jungen Schließerin geführt, eintrat, betrachtete mich
eins der tollen Mädchen, ohngefähr einige 30 Jahre
alt, lange aufmerkſam, und kam dann plötzlich auf
mich zu, indem ſie ſagte: You are a foreigner —
J. Know You Prince!
Warum haben Sie Ihre Uni-
form nicht angezogen, um mich zu beſuchen, fuhr ſie
fort, das hätte ſich beſſer geſchickt. Ach wie ſchon
ſah Charles unter der ſeinigen aus!


Die arme Seele, ſagte die Schließerin, welche mein
Befremden gewahr ward, iſt von einem fremden
Prinzen verführt worden, und glaubt nun in jedem
Ausländer einen ſolchen zu ſehen. Manchmal weint
ſie Tagelang, und läßt dann Niemanden ſich nahe
kommen. Nachher iſt ſie wieder Wochenlang ganz
vernünftig. Einſt war ſie ſehr ſchön, aber der Kum-
mer hat jeden Reiz von ihr abgeſtreift.


Merkwürdig war ein reicher und ſehr gebildeter
junger Mann, der nur die einzige fixe Idee hat, er
[108] ſey ein Stuart, und habe daher das legitime Recht
zum Throne. Ich unterhielt mich eine halbe Stunde
mit ihm, ohne ihn auf dieſes Thema bringen zu kön-
nen. Er brach immer vorſichtig, ja ſchlau ab, und
ſprach dabei höchſt intereſſant über verſchiedene Dinge,
unter andern über Amerika, das er lange bereiſt,
hatte auch in ſeinem Benehmen und Aeußern nicht
die mindeſte Spur von Wahnſinn. Endlich gelang
es mir, indem ich bei Gelegenheit von Walter Scotts
Romanen des Prätendenten vielfach erwähnte, ihn
wärmer zu machen, und als ich endlich vertraulich
ſagte: „Ich weiß, Sie ſelbſt ſind ein Stuart,“ ſchien
er zu erſchrecken, und den Finger auf den Mund
legend, flüſterte er: „Davon dürfen wir hier nicht
ſprechen. Ich bin es — aber nur von der Zeit kann
ich den Sieg der Gerechtigkeit erwarten. Das Licht
wird aber bald hell leuchten!“ Ich gehe nach Wa-
les, erwiederte ich (dort iſt er her, und ſein Vater
ein reicher Gutsbeſitzer) wollen Sie mir die Adreſſe
Ihres Vaters mittheilen, damit ich Ihre Grüße an
ihn ausrichten kann? Mit großem Vergnügen, er-
wiederte er, geben Sie mir Ihr Taſchenbuch, ich
werde die Adreſſe hineinſchreiben. Ich gab es ihm,
und er ſchrieb nun ſeinen wirklichen Namen B.
G .... hinein, und indem er lächelnd darauf hin-
wies, ſagte er mir ins Ohr: Unter dieſem Namen
paſſirt mein Vater dort. Leben Sie wohl — und
mit gnädigem Winke der Hand entließ er mich.


So etwas iſt doch recht ſchrecklich! Eine einzige
fixe Idee macht den liebenswürdigſten Menſchen zum
[109] incurablen Narren, koſtet ihm ſeine Freiheit, und
verdammt ihn für ſein Leben zur Geſellſchaft der
gemeinſten Wahnſinnigen! Was iſt doch der un-
glückliche Menſch im Conflict mit phyſiſchen Uebeln,
und wo iſt dann die Freiheit des Willens!


Spaßhafter war ein fremder Narr, ein deutſcher
Pedant und Reiſebeſchreiber, der ſich mit anſchloß,
um das Haus zu beſehen, wo er eigentlich hinein
gehörte. Er konnte mit ſeinen Noten kaum fertig
werden. Jeden der Eingeſperrten redete er weit-
ſchweifig an, und brachte ſogleich ſeine Antwort ſorg-
fältig zu Papier, ohngeachtet ſie manchmal nicht die
artigſte für ihn war. Kaum hatte er meine Unter-
redung mit B. G. bemerkt, als er auf mich zuſtürzte,
und dringend bat, ihm doch mitzutheilen, was der
Herr, wie er bemerkt, in mein Taſchenbuch geſchrie-
ben. Ich erzählte ihm kurz die Geſchichte. O vor-
trefflich, höchſt merkwürdig, rief er, vielleicht dennoch
wirklich ein Verwandter der Stuarts. B. G. — ich
muß deshalb gleich nachſchlagen, vielleicht ein Staats-
geheimniß, wer kann wiſſen? Iſt er in der That
ein Verwandter, wie ſehr iſt ſeine Narrheit zu ent-
ſchuldigen! Sehr merkwürdig, ein reicher Stoff, ich
empfehle mich unterthänigſt, und damit ſtolperte er
ſo tölpiſch, ſo unbeholfen, albern, und doch ſo mit ſich
ſelbſt zufrieden von dannen, daß man ſich faſt ver-
wunderte, ihn nicht gleich wieder einfangen zu ſehen.
Beim Zuhauſefahren begegneten mir abermals eine
Menge Leichenzüge, was freilich in einem Gouffre
wie London, wo der Tod immerwährend hart arbei-
[110] ten muß, kein Wunder iſt, aber doch ein übles Omen
bleibt, wenn auch der Aberglaube, der ſolches glaubt,
gleichfalls mehr nach Bedlam als in einen vernünf-
tigen Kopf gehört; bei mir hat er indeß einigen Grund


Ich fuhr einſt, als ich noch ſehr jung war, in ei-
nem eleganten Curricle durch die Stadt J …, wo
ich mich damals aufhielt. Ein langer Begräbnißzug
kam mir entgegen, ich mußte halten, und da meine
Pferde ſcheu und unruhig wurden, ſo daß ich Mühe
hatte, ſie zu regieren, theilte ſich endlich ihre Unge-
duld mir ſelbſt mit. Ich brach mit Gewalt durch
den Zug und rief die unbeſonnenen Worte: Hole
der T .... den alten Leichenprunk, ich werde mich
nicht länger von ihm aufhalten laſſen. So ſtürmte
ich dahin, und war kaum 50 Schritte weiter gefah-
ren, als ein kleiner Knabe aus einem naheſtehenden
Laden herausſprang, und wie eine Fliege ins Licht,
mit ſolcher Schnelligkeit zwiſchen die Pferde und den
Wagen lief, daß es unmöglich war, ſie eher anzuhal-
ten, bis ſchon das Rad der Länge nach über den
armen Knaben gegangen war, und er leblos, wie
ein aus dem Wagen verlornes Bündel auf dem Pfla-
ſter lag. Du kannſt Dir meinen tödtlichen Schreck
denken! Ich ſprang hinaus, hob den Kleinen auf,
und ſchon attroupirten ſich viele Menſchen um uns,
als die jammernde Mutter herzuſtürzte, mit ihren
Wehklagen mein Herz zerriß, und zugleich den Pöbel
dadurch aufregte, ſogleich ihre Rache zu übernehmen.
Ich mußte das Volk ſchnell haranguiren, um den
beginnenden Tumult zu beſchwichtigen, und indem
[111] ich den Hergang der Sache kurz erzählte, meinen
Namen nannte, und der Mutter Geld zurücklief,
gelang es mir endlich, wiewohl nicht ohne Mühe,
meinen Wagen wieder zu beſteigen und mich aus
der Bagarre ziehen zu können. Ich befand mich nahe
am Thore, vor welchem ſich ein ziemlich ſteiler Berg
hinabſenkt. In der Zerſtreuung mochte ich auf die
Zügel nicht gehörig achten, kurz einer entglitt meiner
Hand, die wilden Pferde gingen durch, und trafen
in einem Querwege mit dem Karren eines Fracht-
fuhrmanns dermaſſen zuſammen, daß eins davon auf
der Stelle todt blieb, und mein Wagen ganz zer-
ſchmettert wurde. Ich ſelbſt ward mit unwiderſteh-
licher Gewalt hinausgeſchleudert und einen Augen-
blick durch den ungeheuren Chok betäubt. Im zwei-
ten fand ich mich mit dem Geſicht in den Boden ein-
gedrückt, ſo daß ich faſt erſtickte. Ueber mir aber
fühlte ich das Toben eines raſenden Thieres, und
hörte das Donnern von Schlägen, die meinen Kopf
zu treffen ſchienen, und dennoch mir nur wenig
Schmerz verurſachten. Dazwiſchen vernahm ich noch
deutlich das Wehklagen vieler Umſtehenden und den
Ausruf: der iſt eine Leiche, ſchießt doch das Thier
todt. … Bei dieſen Worten erhielt ich eine Ver-
wundung am Schlaf, nach welcher ich die Beſinnung
gänzlich verlor.


Als ich die Augen wieder aufſchlug, lag ich mitten
in einer ärmlichen Stube auf einer Matraze, eine
alte Frau wuſch mir das herabrinnende Blut vom
Kopf und Antlitz, und ein Chirurgus, mit ſeinen
[112] Inſtrumenten beſchäftigt, ſchickte ſich eben an, mich
zu trepaniren. O laßt doch den armen Herrn ruhig
ſterben, rief mitleidig die Frau, und da ich ſelbſt, eini-
gen Schmerz meiner äußern Wunden ausgenommen,
mit Gewißheit zu fühlen glaubte, daß keine innere
weſentliche Verletzung ſtatt gefunden habe, ſo wi-
derſetzte ich mich noch glücklich der Operation, die
auch ganz unnütz geweſen wäre, obgleich der junge
Mann, ein Eleve der cliniſchen Anſtalt, ſehr begierig
war, ſeine Geſchicklichkeit an einer Operation zu er-
proben, die er bis jetzt, wie er ſehr encouragirend
verſicherte, noch nicht ſelbſt zu machen Gelegenheit
gehabt hätte.


Ich raffte mich ſogleich auf, um meine rückkehren-
den Kräfte zu beweiſen, verlangte einen Wagen und
ließ, um mich zu reinigen, mir einen Spiegel geben,
in dem ich jedoch mein Geſicht durchaus nicht wieder
erkennen konnte, weil der größte Theil der Haut davon
in der Chauſſée geblieben war. Erſt ſpäter, als ſie
die Natur durch eine neue wieder erſetzt hatte, er-
klärte mir mein Kutſcher, der während des Accidents
neben mir ſaß, und ſeitwärts ins Feld geſchleudert,
weniger beſchädigt worden war, welche wirklich ſelt-
ſamen Umſtände die Begebenheit begleitet hatten.
An dem Frachtwagen war nämlich die Deichſel des
zweirädrigen Curricle wie eine Lanze am Harniſch
zerſplittert, das leichte Fuhrwerk vorwärts geſtürzt,
und ich mit ihm. Der übriggebliebene Rumpf der
Deichſel hatte ſich in die Erde gebohrt, und meinen
Kopf mit eingeklemmt. Ueber mir lag, vom Geſchirr
[113] gefeſſelt, das eine Pferd, welches die wüthendſten
Verſuche machte, aufzukommen, und fortwährend mit
den Hinterfüßen gegen den zerbrochnen Deichſelſchaft
ſchlug, welcher auf dieſe Art mein alleiniger Retter
wurde, indem er die Schläge auffing, welche ſonſt
meinen Kopf zehnmal zerſchmettert hätten. Faſt eine
Viertelſtunde hatte es gedauert, ehe man im Stande
war, mich und das Pferd loszumachen.


Seit dieſer Zeit begegne ich nicht gern Leichenzügen.


Als Nachſchrift zu dieſer Erinnerung aus meinem
vergangnen Leben muß ich noch ein komiſches Ele-
ment hinzufügen. Der überfahrne Knabe genaß völlig,
und ſechs Wochen nach ſeiner und meiner Cataſtrophe
brachte mir ihn die Mutter roſig und im Sonntags-
ſtaat ins Haus. Während ich ihn küßte, und der
Mutter ein letztes Geſchenk einhändigte, rief dieſe
arme Frau unter Thränen der Freude: Ach Gott,
wenn mein Sohn doch täglich ſo überfahren würde!



Lange hatte ich die City, in der ich, wie Du weißt,
manchmal einen Tag zubringe, wie der Gourmand
zuweilen den Appetit mit einfacher Hausmannskoſt
erfriſcht, nicht beſucht, und widmete ihr daher den
geſtrigen Tag.


Da ich (als deutſcher Ritter) auch ein Bierbrauer
bin, ſo lenkte ich mein Cabriolet zuerſt nach jener,
Briefe eines Verſtorbenen IV. 8
[114] durch ihre ungeheuren Dimenſionen faſt phantaſtiſch
gewordnen, Barcley’ſchen Brauerei, eine der ſehens-
wertheſten Merkwürdigkeiten Londons. Hier werden
täglich 12 — 1500 Fäſſer, d. h. gegen 20,000 große
Quart Bier, gebraut. Alles wird durch Maſchinen
bewegt, aber eine einzige Dampfmaſchine treibt dieſe,
und zugleich die Flüſſigkeit durch alle Inſtanzen in
kupfernen Röhren hin, die, beiläufig geſagt, das
Bier eben nicht zum geſündeſten machen mögen. In
vier Keſſeln wird es gekocht, deren jeder 300 Fäſſer
und darüber faßt. Beim Kochen wird der Hopfen
zuerſt trocken in die Keſſel gethan, und eine Ma-
ſchine rührt ihn beſtändig um, damit er nicht an-
brennt. Die ſüße Maſſe fließt während dem Rühren
fortwährend zu. Eine beſondere Vorrichtung findet
ſtatt, das Bier in der heißen Jahreszeit zu kühlen.
Es wird nämlich zu dieſem Endzweck durch eine
Menge Röhren, die einer Orgel mit ihren Pfeifen
gleichen, getrieben, worauf friſches Waſſer denſelben
Weg nachgeht, und ſofort, immer mit dem Biere
abwechſelnd. Zuletzt fließt das fertige Getränk in
haushohe Faßbehälter, deren es unter gigantiſchen
Schuppen 99 gibt. Nichts iſt ſonderbarer, als ſich
ein ſolches Haus, das 600,000 Quart enthält, an-
zapfen zu laſſen, um ein kleines Glas vortrefflichen
Porters zu ſchöpfen, der ſich ſo kalt wie Eis darin
erhält. Dieſe Fäſſer ſind oben mit einem kleinen Hü-
gel friſchen Sandes belegt, und conſerviren das
Bier ein Jahr lang friſch und gut. Dann erſt wird
es auf kleine Fäſſer gezogen und an die Käufer ver-
[115] ſendet. Das Abziehen geſchieht durch Schläuche,
wie das Begießen aus einer großen Spritze, ſehr
ſchnell, indem die kleinen Fäſſer ſchon in Gewölben
unter dem Boden des Raumes, wo die großen auf-
bewahrt werden, bereit ſtehen.


Hundert und fünfzig elephantenartige Karrenpferde
ſind täglich mit dem Verfahren des Biers in der
Stadt beſchäftigt, von denen zwei: 100 Centner ziehen.


Eine einzige thurmhohe Feuereſſe abſorbirt den
Rauch der ganzen Anſtalt, und auf der mit Zink ge-
deckten eleganten Platform des Hauptgebäudes hat
man die Ausſicht auf ein ſehr ſchönes Panorama
Londons. Nachher beſah ich die Weſtindia Docks
und Warehouſes, ein unermeßliches Werk, eines von
denen, bei deren Anblick auch der Kaltblütigſte Ehr-
furcht und Staunen für Englands Größe und Macht
empfinden muß. Welches Capital liegt hier in Ge-
bäuden, Waaren und Schiffen aufgehäuft! Das
künſtlich ausgegrabene Baſſin, welches zu umgehen
ich eine halbe Stunde brauchte, iſt 36 Fuß tief und
rund umher befinden ſich die Waarenhäuſer und
Schuppen, zum Theil 5 — 6 Stock hoch. Einige Ma-
gazine ſind ganz aus Eiſen aufgebaut, nur der
Grund in der Erde iſt Stein. Man hat jedoch dieſe
Bauart gefährlich gefunden, da das Eiſen durch den
Einfluß der Witterung ſich auf unegale Weiſe bald aus-
dehnt, bald zuſammenzieht. In dieſen unermeßlichen
Waarenlagern war Zucker genug vorbanden, um das
nebenliegende Baſſin zu verſüßen, und Rum genug, um
8*
[116] halb England trunken zu machen. 2500 Aufſeher und Ar-
beiter pflegen hier täglich beſchäftigt zu ſeyn, und der
Werth der aufgeſpeicherten Güter wird auf 20 Million en
L.St. geſchätzt, außer den Stores*) welche in großer
Menge im Vorrathshauſe aufbewahrt werden, ſo
daß das Verderben oder Brechen irgend eines Ge-
räthes die Arbeit nur wenige Minuten aufhalten kann.


Die Menge der angewandten Maſchinen und zweck-
mäßigen Utenſilien iſt bewundernswürdig. Ich ſah
mit großem Vergnügen zu, wie Blöcke von Maha-
gony- und andern ausländiſchen Hölzern, manche
größer als die ſtärkſten Eichen, durch Maſchinen gleich
Flaumfedern aufgehoben und ſo behutſam, wie die
zerbrechlichſte Waare, auf die Transportwagen wieder
niedergelegt wurden. Alles erſcheint hier im coloſſa-
leſten Styl. Im Baſſin ſelbſt ſtand auf beiden Sei-
ten Schiff an Schiff gereiht, deren größter Theil
eben jetzt neu angeſtrichen wurde. Solcher Baſſins
ſind zwei, eins für den Import, das andere für den
Export. Ich mußte ſie früher als ich wünſchte, ver-
laſſen, da um 4 Uhr das Eingangsthor wie alle
Magazine geſchloſſen werden, und man dabei nicht
die mindeſte Rückſicht nimmt, ob noch Jemand darin
iſt, welcher, wenn er die Stunde verſäumt, bis zum
nächſten Morgen ohnfehlbar bivouakiren muß. Der
Mann am Thore verſicherte mir ganz kaltblütig, und
wenn der König darin wäre, ſo würde nicht eine
[117] Minute gewartet werden. Ich eilte alſo ſchleunigſt
von dannen, um in keine ähnliche Verlegenheit zu
gerathen.


Auf dem Rückweg kam ich bei einer Bude vorbei,
wo man ausſchrie, daß hier gezeigt werde: der be-
rühmte deutſche Zwerg mit drei Zwergkindern, fer-
ner das lebende Skelet, und endlich das dickſte Mäd-
chen, das je geſehen worden ſey. Ich bezahlte der
Curioſität wegen meinen Schilling, ging hinein, und
nachdem ich ¼tel Stunde hatte warten müſſen, bis
noch fünf andere Angeführte ſich zu mir geſellten,
wurde der Vorhang weggezogen, um die imperti-
nenteſte Charlatanerie zu produciren, die mir je vor-
gekommen iſt. Als lebendes Skelet erſchien ein ganz
gewöhnlicher Menſch, nicht viel magrer als ich ſelbſt
bin, und zur Erklärung dieſer Ueberraſchung wurde
entſchuldigend angeführt, er ſey als Skelet aus
Frankreich angekommen, aber hier durch die engli-
ſchen guten Beefſteaks unaufhaltſam corpulenter ge-
worden. Darauf kam „die fetteſte Frau in der Chri-
ſtenheit“ das vortrefflichſte Pendant zum Skelet,
denn ſie war nicht dicker als die Königin von Vir-
giniawater.


Zuletzt zeigten ſich die ſogenannten Zwerge, welche
nichts anders als — kleine Kinder des Unterneh-
mers waren, die man in eine Art Vogelbauer ge-
ſteckt hatte, der ihr Geſicht verhüllte, und nur Beine
und Hände frei ſehen ließ, mit welchen letzteren die
kleinen Dinger mit großen Klingeln einen furchtbaren
[118] Lärm machen mußten. Damit ſchloß die Vorſtellung,
eine engliſche Prellerei, die kein Franzoſe burlesker
und mit mehr Effronterie hätte ausführen können.



Seit ich Devilles Schüler geworden bin, kann ich
nicht umhin, immer den Schädel meiner neuen Be-
kannten mit den Augen zu meſſen, ehe ich mich wei-
ter mit ihnen einlaſſe, und heute habe ich, wie in
der Kotzebueſchen Comödie, einen engliſchen Bedien-
ten, den ich annahm, vorher in optima forma unter-
ſucht. Hoffentlich wird das Reſultat nicht das näm-
liche ſeyn, denn die durch’s Ohr gezogne Linie gab
guten Ausweis, wobei es mir lebhaft auffiel, daß
das gemeine Sprichwort (und wie viel populäre
Wahrheit enthalten oft dieſe) mit Devilles Princip
ganz einverſtanden ſey, indem es ſagt: Er hat es
hinter den Ohren, hütet Euch vor ihm. Allen Scherz
bei Seite, bin ich ganz überzeugt, daß man, wie mit
dem Magnetismus, auch bei der Cranologie das Kind
mit dem Bade verſchüttet, wenn man ſie ſelbſt nur
für ein Hirngeſpinnſt anſieht. Es mögen noch manche
Modificationen nicht aufgefunden ſeyn, aber ich habe
die Richtigkeit des beſtehenden Princips an meinem
eignen Schädel ſo ſehr erprobt, daß ich es durchaus
nicht mehr lächerlich finden kann, wenn Aeltern bei
der Erziehung ihrer Kinder darauf Rückſicht nehmen,
und auch Erwachſene zu Erleichterung der Selbſt-
[119] kenntniß es zu benutzen ſuchen. Wenigſtens habe ich
auf dieſem Wege mehr Klarheit über mich ſelbſt er-
langt, als mir ſonſt vielleicht möglich geweſen wäre.


Da ich den ganzen Tag mit einigen ſchriftlichen
Arbeiten beſchäftigt war, ſo benutzte ich die milde und
helle Mondnacht zu meinem Spazierritt, denn Gott-
lob, ich brauche mich nicht ſclaviſch an die Zeit zu
binden!


Die Nacht war ganz italieniſch, und außerdem hin-
länglich mit Lampen erleuchtet, in deren Bereich ich
mich ſtets hielt, und ſo mehrere Stunden lang in
Stadt und Vorſtädten umherritt. Von Weſtminiſter-
bridge aus entfaltete ſich eine wunderbare Ausſicht.
Die vielen Barkenlichter tanzten wie Irrwiſche auf
der Themſe, und die vielen Brücken ſpannten ſich
wie weite illuminirte Bogen-Feſtons von einer
Häuſermaſſe zur andern über den Fluß. Nur Weſt-
minſter-Abtey lag ohne Lampenſchein da, und die
ſehnſüchtige Luna allein, altvertraut mit Ruinen und
gothiſchen Denkmälern, buhlte mit ihrem blaſſen
Scheine myſtiſch um die ſteinernen Spitzen und Blu-
men, ſenkte ſich inbrünſtig in die dunklen Tiefen, und
verſilberte emſig die langgeſtreckten, glitternden Fenſter,
während Dach und Thurm des hohen Baues, in
ſchwarzer farbloſer Majeſtät, über den Lichtern und
dem Gewimmel der Stadt zum blauen Sternen-
himmel ſtill und ſtarr emporſtrebten.


Die Straßen blieben bis Mitternacht ziemlich be-
lebt, ja ich ſah ſogar einen Knaben von höchſtens
[120] acht Jahren, der ganz allein in einem kleinen Kinder-
wagen, mit einem großen Hunde beſpannt, im vollen
Trabe neben den letzten Diligencen und Equipagen
furchtlos vorbeifuhr. Dergleichen findet man gewiß
nur in England, wo Kinder ſchon im achten Jahre
ſelbſtſtändig, und im zwölften gehangen werden.


Doch guten Morgen, liebe Julie, es iſt Zeit, das
Bett zu ſuchen.



Die Hitze bleibt noch immer drückend, der Boden
wird ganz zu Aſche, und wenn nicht in den macada-
miſirten Straßen überall fortwährend, mit großen,
ſich immer abwechſelnden, Wagen gegoſſen würde, ſo
wäre es gewiß vor Staub in der Stadt nicht aus-
zuhalten. So aber bleibt Fahren und Reiten immer
angenehm, und obgleich die elegante Zeit vorbei iſt,
auch Shopping noch ſehr unterhaltend. Es iſt eine
der größten Verſuchungen hierbei, mehr zu kaufen
als man braucht, und da ich grade jetzt wenig Geld
habe, ſo helfe ich mir bei Dingen, die ich ſonſt wohl
für Dich und mich zu acquiriren wünſchte, mit der
Phantaſie, wie jener vortreffliche perſiſche Geizhals,
von dem uns Malcolm Folgendes erzählt:


Ein Harpagon in Ispahan, der lange Zeit mit ſei-
nem jungen Sohne nur von trocknem Brod und
Waſſer gelebt hatte, wurde eines Tages doch durch die zu
[121] einladende Beſchreibung eines Freundes verlockt, ein
ſchmales Stück von einem beſonders vortrefflichen
und wohlfeilen Käſe zu kaufen. Doch ehe er noch da-
mit zu Haus kam, überfielen ihn ſchon Gewiſſensbiſſe
und Reue. Er verwünſchte ſeine thörichte Extra-
vaganz, und ſtatt den Käſe, wie er früher beabſichtigte, zu
eſſen, verſchloß er ihn in eine Flaſche, und begnügte
ſich in Geſellſchaft des Knaben bei jedem Mahle ihre
Brodrinden im Angeſicht des Käſes zu genießen,
dieſelbe aber vor jedem Biſſen gegen die Bouteille zu
reiben, und ſo den Käſe einſtweilen nur mit der
Einbildungskraft zu ſchmecken. Einmal, berichtet die
Geſchichte weiter, verſpätete Harpagon ſich auswärts,
und fand, als er eine Stunde nach der Eſſenszeit zu
Haus kam, ſeinen Sohn bereits mit der täglichen
Brodrinde beſchäftigt, und dieſe emſig gegen die
Schrankthüre reibend. Was treibt der Bengel?
rief er verwundert aus: „O Vater! es iſt Eſſens-
zeit, Ihr habt den Schlüſſel zum Schranke mitge-
nommen, und da habe ich denn mein Brod ein bis-
chen gegen die Thüre gerieben, weil ich nicht zur
Flaſche kommen konnte.“ Infame Range, ſchrie der
Vater im höchſten Zorne, kannſt Du nicht einen ein-
zigen Tag ohne Käſe leben? Geh mir aus den Au-
gen, verſchwenderiſche Brut, Du wirſt nimmer ein
reicher Mann werden.


So reibe auch ich zuweilen meine Brodrinde gegen
die Schrankthüre, denn das Reichwerden habe ich
ebenfalls längſt aufgegeben.


[122]

Ich ſchilderte Dir einmal einen gewiſſen Sir L. M.
als ein beſonderes Original.


Bei dieſem war ich heute zu einem luxurieuſen
Mahle eingeladen, welches ſeit ſo lange vorbereitet
wurde, daß ſogar einer der diplomatiſchen Gäſte, vor
vier Wochen ſchon, durch einen Courier von Baden
über das Meer herüber dazu citirt worden war, auch
pünktlich am ſelben Morgen eintraf, und ausländiſchen
mit inländiſchen Appetit vereinigt, mitgebracht zu haben
ſchien. Er hatte nicht vergeſſen, ſich mit verſchiedenen
continentalen Delicateſſen zu befrachten, denen man,
nebſt einer Anzahl der ausgeſuchteſten Weine, die
größte Gerechtigkeit wiederfahren ließ. Es gehört ein
ſtarker Kopf dazu, um ſolchen Gelagen hier zu wider-
ſtehen, aber die Luft macht wirklich viel Eſſen und
ſtarke Getränke nöthiger als bei uns, und wer im
Anfang kaum einigen engliſchen (d. h. mit Brannt-
wein verſetzten) Claret trinkt, findet ſpäter eine ganze
Flaſche Portwein recht verträglich mit ſeiner Geſund-
heit und den engliſchen Nebeln.


Wenn aber auch dem ſinnlichen Genuß hier haupt-
ſächlich geopfert ward, ſo blieb die Unterhaltung doch
auch nicht ohne Salz. Ein Officier unter andern,
der den Krieg gegen die Birmanen mitgemacht, er-
zählte uns ſehr intereſſante Details aus jenen Ge-
genden, z. B. daß die dortigen Kinder, nach unſrer
Theorie Kälber fett zu machen, oft drei Jahre lang
geſäugt werden. Da nun auch das Tabakrauchen in
früheſter Jugend anfängt, ſo ſah der Capitän öfters
[123] Jungen, die, indem ſie die Bruſt der Mutter ver-
ließen, zum Nachtiſche die brennende Cigarre in den
Mund ſteckten. Am ergötzlichſten erſchien mir aber
folgende Geſchichte eines irländiſchen Bulls. Es iſt
gewiß der ſtärkſte, der je ſtatt gefunden hat, indem
es ſich um nichts weniger handelt, als um einen
Bauer, der ſich aus Diſtraktion ſelbſt den Kopf ab-
ſchneidet. Dabei iſt dennoch das Factum authentiſch,
und folgendermaſſen trug ſich die unerhörte Begeben-
heit zu.


Die Bauern in Ulſter haben die Gewohnheit,
wenn ſie vom Wieſenmähen zu Hauſe gehen, ihre
koloſſalen Senſen, welche eine Spitze am Griff ha-
ben, um ſie in die Erde zu ſtecken, gleich einem Ge-
wehre in die Höhe ſtehend, auf der Schulter zu tra-
gen, ſo daß die Schärfe der Senſe ganz über ihrem
Halſe ſchwebt. Zwei Kameraden ſchlenderten auf dieſe
Weiſe den Fluß entlang nach Hauſe, als ſie einen
großen Lachs gewahrten, der, mit dem Kopf unter
einem Baumſtamm verborgen, den Schwanz im Waſ-
ſer emporſtreckte.


Sieh Paddy, ruft der Eine, den dummen Lachs,
der glaubt, daß wir ihn nicht ſehen, weil er uns
ſelbſt nicht ſieht. Hätt’ ich doch meinen Speer, dem
wollte ich einen guten Stoß geben. O, ſagt der An-
dere, an den Lachs heranſchleichend, das muß auch
mit dem Senſenſtyl gehen. Gieb acht! und zu ſtößt
er, und trifft den Lachs richtig, leider aber auch zu-
gleich ſeinen Kopf mit der Senſe, der vor den Au-
gen des erſtaunten Kameraden ſchallend in’s Waſſer
[124] plumpt. Lange konnte dieſer nicht begreifen, wie
Paddy’s Kopf ſo ſchnell berunterkam, und noch heute
giebt er nicht zu, daß die Sache mit rechten Dingen
zugegangen ſey. Ein böſer Kobold, meint er, habe
ſicher die Senſe geführt.


Mit der engliſchen Oper beſchloß ich den Tag,
wo am Ende des erſten Akts ein Bergwerk einſtürzt,
und die Haupthelden des Stücks begräbt. In der
letzten Scene des zweiten Aktes erſcheinen ſie aber
im Bauche der Erde wieder, in der That ſchon drei-
viertel verhungert, wie ſie ſelbſt erzählen, da ſie
nun bereits 3 Tage hier verſchmachtet lägen, und
jetzt ihre letzten Kräfte dahinſchwänden. Das verhin-
dert die prima Donna jedoch keineswegs, eine lange
Arie mit Polonaiſenmuſik zu ſingen, worauf das
Chor mit Trompeten einfällt: „Ha wir ſind verlo-
ren, alle Hoffnung iſt dahin“ — doch, o Wunder,
die Felſen fallen von neuem ein, und er-
öffnen eine weite Pforte dem hereinbrechenden
Tageslichte
. Aller Jammer und mit ihm aller
jammervolle Unſinn des Stücks haben ein Ende.



Die geſtrige Schwelgerei hat mich auf ein Organ
aufmerkſam gemacht, das Herr Deville noch unter
ſeiner Liſte nicht aufgenommen hat. Es iſt dieſes
der Gourmandiſe, und befindet ſich unmittelbar ne-
ben dem ehemaligen Mordſinn, denn es findet, gleich
[125] ihm, im Zerſtören ſein höchſtes Vergnügen. Ich be-
ſitze es in bedeutendem Maße, und wünſchte, alle
übrigen Buckel und Beulen meines Schädels gäben
ſo unſchuldige und angenehme Reſultate. Es ver-
leiht dieſes Organ nicht blos die gemeine Luſt am
Eſſen und Trinken, ſondern befähigt ſeine Inhaber
auch, die wahre Qualität der Weine und ihr Bou-
quet zu würdigen, ſo wie jeden Fehler und jede Ge-
nialität des Kochs augenblicklich gewahr zu werden.
Dieſes genußreiche Organ wird nur dann der menſch-
lichen Zufriedenheit nachtheilig, wenn es mit einem
ſentimentalen Magen verbunden iſt, was glücklicher
Weiſe bei mir nicht der Fall zu ſeyn ſcheint.


Ich beſah heute die Ausſtellung einer mit der
Nadel genähten und von einer Perſon allein an-
gefertigten ganzen Gemäldegallerie, deren Vortreff-
lichkeit wirklich in Erſtaunen ſetzt. Miß Linwood
heißt die Künſtlerin, dieſe geduldigſte aller Frauen.
In geringer Entfernung ſcheinen die Kopien den Ori-
ginalen gleich, und wie ſehr ſie Anerkennung fin-
den, kann man aus den ungeheuren Preiſen beur-
theilen. Eine ſolche Tapete nach Carlo Dolce war
eben für 3000 Guineen verkauft worden.


Ein Porträt Napoleons als Konſul ſoll, ſo ſehr
es von ſeiner ſpätern Perſönlichkeit abweicht, den-
noch eine ſeltene Aehnlichkeit aus jener Zeit darbie-
ten, und wurde von den anweſenden Franzoſen mit
großer Ehrfurcht betrachtet.


Einige Häuſer weiter waren Mikroskope von
millionenfacher Vergrößetungskraft aufgeſtellt. Was
[126] ſie zeigen, könnte einen Menſchen von lebhafter Ein-
bildungskraft verrückt machen. Es kann gar nichts
Schauerlicheres geben, keine furchtbareren Teufels-
frazzen je erfunden worden ſeyn, als jene gräßlich
ſcheußlichen Waſſerinſekten, die wir täglich (mit blo-
ßen Augen und ſelbſt geringern Vergrößerungsglä-
ſern unbemerkbar) hinunterſchlucken — wie ſie gleich
Verdammten in dem ſumpfig erſcheinenden Kloak mit
der Schnelle des Blitzes umherſchießen, und deren
wahrſcheinliche Begattung wie Kampf und Schmerz
auf Tod und Leben ausſieht.


Da ich einmal im Sehen begriffen war, und
den entſetzlichen Eindruck dieſer Unterwelt durch lieb-
lichere Bilder tilgen wollte, ſo wurden noch drei ver-
ſchiedene Panorama mit Muße genoſſen: Rio Ja-
neiro, Madrid, Genf.


Das erſte iſt eine, aus unſern Naturformen
ganz heraustretende, originelle und zugleich paradie-
ſiſch üppige Natur. Das zweite ſieht in der baum-
loſen, ſandigen Ebene wie Stillſtand und Inqui-
ſition aus. Glühende Hitze brütet über dem Gan-
zen, wie ein Auto da fe. Das dritte dagegen erſchien
mir wie ein lieber alter Bekannter, und Herz erho-
ben blickte ich lange auf den unerſchütterlichen, ſich
allein ſtets gleichbleibenden vaterländiſchen Freund hin,
den majeſtätiſchen Montblanc.


[127]

Canning iſt todt! Ein Mann in der Fülle der
geiſtigen Kraft, ſeit wenigen Wochen erſt am Ziel
ſeines thätigen Lebens angelangt, endlich der Regie-
rer Englands und dadurch ohne Zweifel der einfluß-
reichſte Mann in Europa, mit einem Feuergeiſte be-
gabt, der dieſe Zügel mit mächtiger Hand zu führen
wußte, und einer Seele, die das Wohl der Menſch-
heit von einem noch höhern Standpunkte zu umfaſ-
ſen fähig war. — Ein Schlag hat dieſes ſtolze Ge-
bäude vieler Jahre zertrümmert, und enden mußte
der kühne Mann, wie ein Verbrecher — plötzlich,
tragiſch, unter den fürchterlichſten Leiden, das Opfer
einer unbarmherzigen Natur, die mit eiſernem Fuße
fort und fort niedertritt, was in ihren Weg kömmt,
unbekümmert, ob ſie die junge Saat, die ſchwellende
Blüthe, den königlichen Baum, oder die ſchon hin-
ſterbende Pflanze zerknickt.


Was werden die Folgen dieſes Todes ſeyn? In
Jahren werden ſie erſt klar werden, und vielleicht
eine Auflöſung beſchleunigen, die uns in vielen Din-
gen droht, und der nur ein großartiger, aufgeklär-
ter Staatsmann, wie Canning es war, Einheit und
günſtige Richtung zu geben im Stande ſeyn möchte.
Vielleicht wird grade die Parthei, die jetzt ſo unan-
ſtändig und gefühllos über ſeinen frühen Tod trium-
phirt, durch dieſen Tod die erſte ernſtlich gefährdete
werden, denn nicht mit Unrecht hat Lord Cheſter-
field vor langer Zeit mit prophetiſchem Sinne ge-
ſagt: Je prevois que dans cent ans d’ici les me-
[128] tiers de gentilhomme et de moine ne seront plus
de la moitié aussi lucratifs qu’ ils sont aujourd’hui.


Doch was kümmert mich die Politik! Könnte ich
nur immer in mir ſelbſt das gehörige Gleichgewicht
erhalten, wäre ich zufrieden. Das von Europa wird
ſich ſchon von ſelbſt herſtellen. Klugheit und
Dummheit führen am Ende alle zu demſelben Ziel
der Nothwendigkeit.


Indeſſen iſt Canning’s Tod natürlich jetzt das
Stadtgeſpräch, und die Details ſeiner Leiden empö-
rend. Die Frömmler, denen er wegen ſeiner freiſin-
nigen Meinungen ſehr zuwider war, ſuchen auszu-
breiten, er habe ſich während dieſer Schmerzen be-
kehrt — was ſie nämlich Bekehrung nennen — einer
ſeiner Freunde dagegen, der lange an ſeinem Todes-
Bette zugebracht, konnte nicht genug den ſtoiſchen
Muth und die Sanftmuth rühmen, mit der er ſein
herbes Geſchick getragen, bis zum letzten Augenblicke
der Beſinnung nur von ſeinen Plänen zum Wohle
Englands und der Menſchheit erfüllt, und ängſtlich
ſorgend: ſie dem Könige noch einmal an’s Herz zu
legen.


Wie ſich nun Frivoles und Ernſtes hienieden
ſtets die Hand reicht, ſo erregt nebſt dieſem tragi-
ſchen Tode zugleich ein höchſt ſeltſamer Roman: „Vi-
vian Grey,“ durch ſeine oft barokken, oft aber auch
ſehr witzigen und wahren Schilderungen der Sitten
des Continents hier viele Aufmerkſamkeit. Die Be-
ſchreibung des Anfangs eines Balles in Ems möge
[129] hier Platz finden, als eine Probe, wie Engländer
das Eigenthümliche unſrer Gebräuche beobachten.


„Des Prinzen Fête war äuſſerſt ausgeſucht, d. h.
ſie beſtand aus Allen, die eine Invitations-Karte ent-
weder durch Protektion hatten erhalten können, oder
dieſelbe von des Fürſten Haushofmeiſter Crakofsky
mit ſchwerem Geld erkauft hatten. Alles war höchſt
königlich, keine Koſten und Mühe waren geſpart,
das gemiethete Haus in eine fürſtliche Reſidenz um-
zuſchaffen, und ſeit einer Woche war das ganze kleine
Herzogthum Naſſau dafür in Contribution geſetzt
worden. Am Eingange der Salons, gefüllt mit ge-
mietheten Spiegeln und proviſoriſchen Draperien, ſtand
der Prinz voller Orden, empfing Alle mit der ausge-
zeichnetſten Herablaſſung, und verſäumte nicht, jeden
der angeſehenen Gäſte mit der ſchmeichelhafteſten An-
rede zu beehren. Seine Suite, hinter ihm aufgeſtellt,
bückte ſich jedesmal gleichzeitig, ſo bald die ſchmei-
chelhafte Anrede beendigt war.


Nach einander hörte ich, ſeitwärts ſtehend, fol-
gende Unterhaltung. „Frau von Fürſtenberg, ſagte
der Prinz, ſich verbeugend, ich fühle das größte Ver-
gnügen, Sie zu ſehen. Mein größtes Vergnügen iſt,
von meinen Freunden umgeben zu ſeyn. Frau von
Fürſtenberg, ich hoffe, daß Ihre liebenswürdige Fami-
lie ſich wohl befindet. (Die Familie paſſirt vorbei.)
Cravaticheff! fuhr ſeine Hoheit fort, den Kopf halb
zu einem ſeiner Adjudanten gewandt, Cravaticheff, ei-
ne charmante Frau, Frau von Fürſtenberg, es gibt
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 9
[130] wenig Frauen, die ich mehr bewundere, als Frau
von Fürſtenberg. — Prinz Salvinsky, ich fühle das
größte Vergnügen, Sie zu ſehen. Mein größtes Ver-
gnügen iſt, von meinen Freunden umgeben zu ſeyn.
Niemand macht Polen mehr Ehre, als Prinz Sal-
vinsky. — Cravaticheff! ein merkwürdig langweili-
ger Kerl der Prinz Salvinsky. Es giebt wenig Men-
ſchen, die ich mehr en horreur habe, als Prinz Sal-
vinsky. — Baron von Königſtein, ich fühle das
größte Vergnügen, Sie zu ſehen. Mein größtes
Vergnügen iſt, von meinen Freunden umgeben zu
ſeyn. Baron von Königſtein, ich habe die excellente
Geſchichte von der ſchönen Venetianerin noch nicht
vergeſſen. Cravaticheff! ein höchſt amüſanter Kerl,
der Königſtein. Es giebt wenig Menſchen, deren
Geſellſchaft mich mehr amüſirt, als die des Baron
Königſteins. — General Altenburg, ich fühle das
größte Vergnügen, Sie zu ſehen. Mein größtes
Vergnügen iſt, von meinen Freunden umgeben zu
ſeyn. Vergeſſen Sie nicht, mir nachher Ihre Mei-
nung über das öſterreichiſche Manöuvre zu geben.
Cravaticheff! ein excellenter Billardſpieler iſt General
Altenburg. Es giebt wenig Menſchen, mit denen ich
lieber Billard ſpiele, als mit Graf Altenburg. —
O Lady Madeline Trevor, ich fühle das größte Ver-
gnügen, Sie zu ſehen. Mein größtes Vergnügen
iſt, von meinen Freunden umgeben zu ſeyn, Miß
Jane, Ihr Sclave. Cravaticheff! eine magnifique Frau,
Lady Trevor. Es giebt wenig Frauen, die ich mehr
bewundere, als Lady Trevor, und, Cravaticheff! Miß
[131] Jane ein herrliches Mädchen! es giebt wenig Mäd-
chen, die ich lieber ......“


Hier raubte mir das Geräuſch der einfallenden
Polonaiſenmuſik den Reſt der Phraſe, und ich gieng
zu einer andern Scene über.


Nicht wahr, Julie, beißend genug! Es giebt
wenig Schilderungen, die mich mehr amüſirt hätten,
und meine Ueberſetzung, nicht wahr? ſehr gelungen.
Es giebt wenig Ueberſetzungen, die mir beſſer ge-
fielen, als meine eignen.


Auch im Ernſten iſt der Verfaſſer nicht übel.
„Wie furchtbar, ſagt er, iſt das Leben, welches doch
unſer höchſtes Gut iſt! Unſer Weſen athmet unter
Wolken, und iſt in Wolken gehüllt, ein unbegreif-
liches Wunder für uns ſelbſt. Es giebt nicht einen
einzigen Gedanken, der ſeine beſtimmte Gränze hätte.
Sie ſind wie die Cirkel, die das Waſſer bildet, wenn
man einen Stein hineinwirft, immer weiter ſich aus-
dehnend und immer ſchwächer ſich zeichnend, bis ſie
ſich zuletzt ganz verlieren in dem unermeßlichen Rau-
me, den der Geſichtskreis nicht mehr faſſen kann.
Wir ſind gleich Kindern im Dunkeln, wir zittern in
einer düſter beſchatteten und ſchrecklichen Leere, die
nur durch die Bilder unſerer Phantaſie bevölkert iſt.
Leben iſt unſere wahre Nacht, und vielleicht der erſte
Strahl der Morgenröthe der Tod. —“


Praktiſcher noch ſchrieb der berühmte Smolett an
einen Freund: „Ich bin alt genug geworden, um
geſehen und mich überzeugt zu haben, daß wir alle
ein Spielzeug des Schickſals ſind, und daß es auf
9*
[132] eine Kleinigkeit, ſo unbedeutend als das in die Hö-
hewerfen eines Pfennings, ankömmt, ob ein Menſch
zu Ehren und Reichthum ſich emporſchwingen, oder
bis zu ſeinem Tode in Elend und Noth vergehen
ſoll.“



Täglich beſehe ich mir die Arbeiten in den ſoge-
nannten Parks von St. James und Greenpark die,
früher bloße Viehweiden waren, und nun nach den
Plänen des Herrn Naſh in reizende Gärten und
Waſſerparthien umgeſchaffen werden. Ich lerne hier
viel Techniſches, und bewundere die zweckmäßige
Vertheilung und Folge der Arbeit, die ingenieuſen
Transportmittel, die beweglichen Eiſenbahnen u. ſ. w.


Charakteriſtiſch iſt es, daß während die Geſetze,
welche das Eigenthum ſchützen, ſo ſtreng ſind, daß
ein Menſch, der über die Mauer ſteigt, um in einen
Privatgarten zu gelangen, riskirt gehangen zu wer-
den, und jedenfalls grauſam beſtraft wird, auch der
Beſitzer, wenn es des Nachts geſchieht, ihn ohne
Umſtände todtſchießen darf — man auf der andern
Seite mit dem Publikum, wo es nur einen Schein
von Anſpruch hat, ſo ſubtil umgehen muß, wie mit
einem rohen Ey. In den beiden genannten Parks,
die königliches Eigenthum ſind, aber ſeit ewigen Zei-
ten dem Publikum Sonntags offen gegeben wurden,
wagt man jetzt, ohngeachtet der Umwälzungen und
Arbeiten, die der König (freilich wohl auf Koſten
[133] der Nation) machen läßt, nicht den Plebs den Ein-
gang temporär zu verbieten, ſondern hat nur Tafeln
anſchlagen laſſen, auf denen wörtlich folgendes ſteht:


„Das Publikum wird reſpektueuſeſt erſucht, wäh-
rend der Arbeiten, die nur die Vergrößerung ſeines
eigenen Vergnügens bezwecken, die Karren und Uten-
ſilien der Arbeiter nicht zu beſchädigen, und über-
haupt den Diſtrikt, worin die Arbeiten ſtattfinden,
möglichſt zu ſchonen.“


Demungeachtet wird ſehr wenig Rückſicht auf dieſe
reſpektueuſe Bitte genommen, und die Karren, die
nach der Arbeit aufgeſchichtet liegen, werden häufig
gebraucht, um Jungen darin herum zu fahren, und
allerhand andern Unfug damit zu treiben. Auf den
langen Brettern ſchaukeln ſich die Mädchen, und viele
unnütze Brut wirft Steine gerade da in’s Waſſer,
wo Damen davor ſtehen, die natürlich ſo davon be-
ſprützt werden, daß ſie, unwillkührlich gebadet, zu
Hauſe eilen müſſen. Dieſe Rohheit des engliſchen
Publikums iſt in der That ſehr eigenthümlich, und
die einzige Entſchuldigung für die Inhumanität aller
Wohlhabenden, mit der ſie ihre reizenden Beſitzun-
gen ſo neidiſch verſchließen. Es iſt aber auch mög-
lich, daß dieſe Inhumanität der Reichen die Rohheit
und Bosheit der Armen erſt hervorgerufen hat.


Die Spaziergänge und Ritte in der Umgegend wer-
den jetzt ebenfalls wieder ſehr einladend, da der Herbſt
ſchon früh beginnt. Das verbrannte Gras prangt
von Neuem in hellem Grün, und die Bäume erhal-
ten ihr Laub feſter und friſcher als bei uns, obgleich
ſie ſich auch zeitiger zu färben anfangen. Der Win-
[134] ter aber kömmt ſehr ſpät, oft gar nicht, um ſein
weißes Todtengewand über ſie zu breiten. Dabei
hört das Mähen des Raſens, und das Reinhalten
der Plätze und Gärten nie auf, ja auf dem Lande,
wo der Herbſt und Winter die Seaſon iſt, wird in
dieſer Zeit grade die meiſte Sorgfalt darauf verwendet.


London wird aber dann von den Faſhionablen
geflohen, und das mit ſolcher Affektation, daß Viele
ſich, bei etwanigem nöthigen Aufenthalt daſelbſt,
förmlich zu verſtecken ſuchen. Die Straßen ſind im
westend of the town ſo leer wie in einer verlaſſenen
Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen Abends
auf die unanſtändigſte Weiſe und mit den handgreif-
lichſten, gewaltſamen Liebkoſungen jeden Vorüberzie-
henden. Nicht nur Engländerinnen, ſondern auch
Fremde, nehmen ſchnell dieſe abſcheuliche Sitte an.
So deſesperirte mich neulich eine alte Franzöſin mit
bleichen Lippen und geſchminkten Wangen, die mir
angemerkt, daß ich ein Fremder ſey, mit ſolcher Be-
harrlichkeit, daß ſelbſt die Gabe des geforderten Schil-
lings mich noch nicht von ihr befreite. Encore un
moment,
rief ſie immer, je ne demande rien, c’est
seulement pour parler français, pour avoir une con-
versation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas
capables.
Dieſe Geſchöpfe werden hier zu einer wah-
ren Landplage.


Bei der jetzigen Einſamkeit hat man nun wenig-
ſtens ſo viel Zeit für ſich als man will, kann arbei-
ten und die Legion der Zeitungen mit Muße leſen.
Die Albernheiten, welche täglich in dieſen über fremde
Angelegenheiten ſtehen, ſind unglaublich. Heute fand
[135] ich folgenden Artikel: „Des ſeligen Kaiſer Alexanders
Bewunderung Napoleons war eine Zeit lang ohne
Grenzen. Man weiß, daß in Erfurth, als Talma
auf dem Theater die Worte ſprach: L’amitié d’un
grand homme est un bienfait des dieux,
Alexander
ſich gegen Napoleon verbeugte und ausrief: Ces pa-
roles ont été ecrites pour moi.
— Weniger bekannt
iſt vielleicht folgende Anekdote, deren Wahrheit wir
verbürgen können
. Eines Tages äußerte Ale-
xander gegen Duroc den lebhaften Wunſch, ein Paar
Hoſen ſeines großen Verbündeten, des Kaiſers Na-
poleon zu beſitzen. Duroc ſondirte ſeinen Herren
über die allerdings ungewöhnliche Angelegenheit. Na-
poleon lachte herzlich. O, auf jeden Fall, rief er, don-
nez lui tout ce qu’il veut, pourvû qu’il me reste
une paire pour changer.
Dieß iſt authentiſch, man
verſicherte uns indeſſen noch, daß Alexander, der ſehr
abergläubig war, in den Campagnen 1812 und 13
im Felde nie andere als „Napoleons-Hoſen“ trug!!!
Solchen Unſinn glaubt jedoch ein Engländer unbe-
denklich.


Der Tag endete ſehr angenehm für mich mit der
Ankunft meines Freundes L ...., für den ich Dich
jetzt auch verlaſſe, und den entſetzlich langen, leider
nichts weniger als im Verhältniß inhaltreichen Brief,
mit der eben ſo alten, aber für Dich, wie ich weiß,
doch ſtets den Reiz der Neuheit behaltenden Verſiche-
rung ſchließe, daß Du, fern oder nah, meinem Her-
zen immer die Nächſte biſt und bleibſt.


Dein treuer L.


[[136]]

Siebzehnter Brief.



Liebe Getreue!

Die Neugierde führte mich heute nochmals zu den
Arbeiten am Tunnel, wo ich in der Taucherglocke
mit auf den Grund des Waſſers hinabfuhr, und wohl
eine halbe Stunde dem Stopfen der Lehmſäcke, um
den Bruch wieder mit feſtem Boden zu füllen, zuſah.
Einen ziemlich ſtarken Schmerz in den Ohren abge-
rechnet, aus denen ſogar bei manchen Menſchen Blut
fließt, ohne jedoch nachher der Geſundheit zu ſcha-
den, fand ich es, je tiefer wir ſanken, deſto behagli-
cher in dem metallenen Kaſten, der oben dicke Glas-
fenſter hat, neben welchen zwei Schläuche ausgehen,
die friſche Luft ein- und die verdorbene auslaſſen.
Dieſes Behältniß hat keinen Boden, ſondern nur ein
ſchmales Brett, um die Beine darauf zu ſtellen, nebſt
zwei feſten Bänken an den Seiten. Einige Gruben-
lichter geben die nöthige Helle. Die Arbeiter hatten
herrliche Waſſerſtiefeln, welche 24 Stunden lang der
[137] Näſſe widerſtehen, und es beluſtigte mich, die Adreſſe
des Verfertigers derſelben hier bei den Fiſchen, „auf
des Stromes tiefunterſtem Grunde“ in mein Porte-
feuille zu ſchreiben.


Nachdem ich glücklich dem Waſſer widerſtanden,
hätte mir am Abend bald das Feuer einen üblen
Streich geſpielt. Ein herabgebranntes Bougeoir zün-
dete, als ich auf einen Augenblick in eine andere
Stube gegangen war, die Papiere meines Schreibti-
ſches an, und ehe ich löſchen konnte, wurden viele
mir ſehr intereſſante Sachen vernichtet. Brief-Copien,
Kupfer und Zeichnungen, ein angefangener Roman
(wie Schade!) eine Unzahl geſammelter Adreſſen, ein
Theil meines Tagebuchs — Alles wurde ein Raub
der Flammen. Lächeln mußte ich als ich ſah, daß
die Quittungen unberührt geblieben, die unbezahlten
Rechnungen aber alle bis auf die letzte Spur conſu-
mirt waren. Das nenne ich ein verbindliches Feuer!
Der große Pack Deiner Briefe iſt nur rundum ange-
brannt, ſo daß ſie jetzt wie auf Trauerpapier geſchrie-
ben, ausſehen. Auch ganz richtig — denn Briefe
unter Lieben trauern immer, daß man ſie überhaupt
zu ſchreiben genöthigt iſt. Den Dir bekannten Wie-
ner Courier mit 100,000 Glück, der zum Neger ge-
worden, aber glücklich das Leben gerettet und ſein
Kleeblatt conſervirt hat, ſende ich als Zeugen und
Boten des Brandes jetzt wieder zurück.


[138]

Es gibt in dem unermeßlichen London ſo viel
terra incognita, daß man, auch nur vom Zufall ge-
führt, ſtets etwas Neues und Intereſſantes darin
antrifft. So kam ich dieſen Morgen nach Linkoln
Inn fields, einem herrlichen Square, wohl eine deut-
ſche Meile von meiner Wohnung entfernt, mit ſchö-
nen Gebäuden, hohen Bäumen, und dem wohlun-
terhaltendſten Raſenplatz verſehen. Der anſehnlichſte
Palaſt enthält das Collegium der Wundärzte, mit
einem ſehr intereſſanten Muſeum. Einer der Herren
zeigte mir die Anſtalt mit vieler Gefälligkeit.


Das Erſte, was meine Aufmerkſamkeit in An-
ſpruch nahm, war eine allerliebſte kleine Seejungfer,
die vor einigen Jahren in der Stadt für Geld ge-
zeigt, und dann für tauſend Pfd. Sterl. verkauft
wurde, worauf man erſt entdeckte, daß ſie nur ein
chineſiſches betrügliches Kunſtprodukt ſey, aus einem
kleinen Orang Outang und einem Lachs auf das
künſtlichſte verfertigt. Die wirkliche Exiſtenz ſolcher
Geſchöpfe bleibt alſo nach wie vor ein Problem.


Daneben ſtand ein veritabler großer Orang Ou-
tang, der lange hier lebte, und ſogar mehrere häus-
liche Dienſte im Hauſe verrichtete. Herr Cliſt, ſo hieß
mein Führer, verſicherte, daß er dieſe Affenart für
ein eigenes Geſchlecht halten müſſe, das dem Men-
ſchen näher ſtehe als dem Affen. Er habe das er-
wähnte Individuum lange aufmerkſam beobachtet,
und die ſicherſten Anzeichen von Nachdenken und Ue-
berlegung bei ihm gefunden, die offenbar über den
bloßen Inſtinkt hinausgingen. So habe z. B. Mr.
[139] Dyk, wie er ihn nannte, gleich andern Affen, nach
erhaltener Erlaubniß die Taſchen der Menſchen un-
terſucht, ob Eßwaaren darin ſeyen, aber ſtets das,
was er darin fand, wenn es ſeinem Zweck nicht ent-
ſprach, ſorgfältig wieder hereingeſteckt, ſtatt es, wie
ſeine Kameraden, wegzuwerfen oder hinfallen zu laſ-
ſen. Auch ſey er gegen das geringſte Zeichen von
Mißfallen ſo empfindlich geweſen, daß er Tage lang
darüber habe ſchwermüthig bleiben können, und oft
habe man ihn den Hausdienern, wenn ihnen die Ar-
beit ſauer zu werden ſchien, freiwillig Hülfe leiſten
ſehen.


Zu den faſt unglaublichen Verwundungen gehört
folgende: Herr Cliſt zeigte mir den Vordertheil der
Bruſt eines Menſchen in Spiritus, den eine Deichſel
bei durchgehenden Pferden ſo mitten durchgerannt
und angeſpießt hatte, daß er nachher nur mit großer
Kraftanſtrengung mehrerer Leute von ihr wieder ab-
gezogen werden konnte. Der Schaft war immediat
bei Herz und Lungen vorbeigegangen, die er jedoch
nur ſanft zur Seite gedrückt, ohne ſie im geringſten
zu verletzen, wohl aber vorn und hinten die Rippen
zerbrochen hatte. Nachdem der Mann von der Deich-
ſel abgezogen worden war, blieb ihm noch ſo viel
Kraft, daß er zwei Treppen hoch ſteigen und ſich zu
Bette legen konnte. Er lebte ſeitdem vierzehn Jahre
geſund und wohl, die Herren Chirurgen hatten ihn
aber nicht aus den Augen gelaſſen, und bemächtigten
ſich ſeines Körpers ſobald er todt war, um ihn, nebſt
der Deichſel, die als eine Reliquie in der Familie
aufbewahrt wurde, ihrem Muſeo einzuverleiben.


[140]

Merkwürdig war mir noch ein kleines, ſchönge-
formtes Windſpiel, welches in einem Keller ver-
mauert, und nach vielen Jahren im Zuſtand völliger
Vertrocknung gefunden wurde. Es erſchien wie von
grauem Sandſtein ausgehauen, und bot ein rühren-
des Bild der Reſignation, wie zum Schlaf zuſam-
mengerollt, und mit einem ſo wehmüthigen Ausdruck
des Köpfchens dar, daß man es nicht ohne Mitleid
anſehen konnte. Eine eben ſo verhungerte und ver-
trocknete Katze ſah dagegen wild und teufliſch aus.
So, dachte ich mir, bleibt Sanftmuth ſelbſt im Lei-
den ſchön! Es war wie ein Bild des Guten und Bö-
ſen in gleicher Lage, und doch mit ſo verſchiedener
Wirkung.


Endlich muß ich noch des Skeletts des berühmten
Franzoſen erwähnen, der ſich, noch lebend, doch ſchon
als Skelett hier ſehen ließ, da wirklich ſeine Knochen
faſt ganz ohne Fleiſch und nur von Haut bedeckt wa-
ren. Sein Magen war kleiner wie bei einem neuge-
bornen Kinde, und der Aermſte zu einer fortwähren-
den Hungerkur verdammt, da er nicht mehr als eine
halbe Taſſe Bouillon täglich verzehren konnte. Er
ward zwanzig Jahre alt, ſtarb hier in London, und
verkaufte ſich noch lebendig dem Muſeo.


Während dem Zuhauſefahren hatte ich beim Wech-
ſeln am Turnpike eine Menge kleines Geld bekom-
men, und amüſirte mich, in einer ſeltſamen Laune,
jedesmal wenn ich einem arm ausſehenden zerlump-
ten Menſchen begegnete, ein Stück dieſes Geldes
ſtillſchweigend aus dem Wagen fallen zu laſſen. Auch
nicht einer ward es gewahr, ſie gingen alle ruhig vor-
[141] über. Und grade ſo macht es Fortuna! Sie fährt
auf ihrem Glückswagen fortwährend durch die Welt,
und wirft mit verbundenen Augen ihre Gaben aus.
Wie ſelten wird ſie aber einer von uns gewahr, und
bückt ſich darnach, ſie aufzuheben. Ja meiſtens ſucht
er eben im günſtigen Moment wo anders.


Als ich indeß zu Hauſe kam, fand ich diesmal
wirklich eine Gabe des Schickſals, und eine ſehr
theure — einen langen Brief von Dir . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .


Der Herr von S., deſſen Du als ſpäten Badegaſt
erwähnſt, iſt ein alter Bekannter von mir, ein ſelt-
ſames Original, dem wir Alle gut waren, und den-
noch Alle unwiderſtehlich zum Beſten haben mußten,
und dem fortwährend die ernſteſten und lächerlichſten
Dinge zugleich begegneten. Du haſt Dich ſelbſt über-
zeugen können, daß er wie eine Carrikatur ausſieht,
und von allen am wenigſten zum Liebesglück geſchaf-
fen ſchien. Nichts deſtoweniger war er als junger
Lieutenant wie ein Wahnſinniger in eine der ſchön-
ſten Frauen ſeiner Zeit, die Baronin B … verliebt,
und als dieſe eines Abends ihn durch ihren beißenden
Spott auf das Aeußerſte gebracht, ſtach er ſich vor
ihren Augen den Degen durch den Leib. Das Eiſen
war mitten durch die Lunge gegangen, ſo daß ein
Licht, welches man an die Wunde hielt, vom Athem-
holen verlöſchte. Dem ungeachtet wurde unſer tragi-
ſcher Narr geheilt, und Frau von B …, die ohne-
[142] dem ziemlich galant war, von der bewieſenen Liebe
ſo gerührt, daß ſie, nach der völligen Herſtellung ih-
res desperaten Liebhabers, nicht länger grauſam zu
bleiben vermochte, und ihm endlich ein belohnendes
Rendez-vous verhieß. Ich weiß nicht, wie ein teufliſcher
Schadenfroh unter ſeinen Kameraden davon Kunde
bekam, und dem armen S …, über deſſen Todtſte-
chen, ſo ernſtlich es war, man doch nur gelacht hatte,
den abſcheulichen Streich ſpielte, ihm einige Stunden
vor der beſtimmten Zeit eine ſtarkwirkende Medizin
beizubringen. Man kann ſich den burlesken Erfolg
denken; indeſſen bekam er dem Spaßmacher doch übel.
S. tödtete ihn im Duell zwei Tage darauf, mußte
den S .... ſchen Dienſt verlaſſen, und hat nun, wie
ich höre, unter Alexanders Fahnen ſich ein beſſeres
Loos erkämpft. Gern hätte ich den drolligen Kauz
wieder geſehen, deſſen Leidenſchaften nun wohl auch
gleich ſeiner angebornen Poſſierlichkeit minder her-
vorſtechend geworden ſeyn mögen!



Ich habe mich endlich aufgemacht, und die Stadt
mit L .... verlaſſen, der mich einige Tage begleiten
will, worauf ich allein weiter in’s Land hineinreiſen
werde. Der erſte Ruhepunkt iſt ein reizender Gaſt-
hof in der Nähe von Windſor, der der Villa eines
Vornehmen gleicht. Die lieblichſte Veranda mit Ro-
ſen und allen möglichen rankenden Pflanzen, ſo wie
mit Hunderten von Blumentöpfen geſchmückt, nimmt
[143] die ganze Fronte ein, und ein auf das ſorgfältigſte
gehaltner pleasure ground und Blumengarten dehnt
ſich weit vor meinen Fenſtern aus, von denen ich
eine herrliche Ausſicht auf das gigantiſche Schloß von
Windſor habe, das in der Ferne, in den Rahmen
zweier Kaſtanienbäume eingefaßt, wie ein Feenſchloß
in der Abendſonne glänzt. Der lange Regen hat
alles ſmaragdgrün gefärbt, und das liebe friſche Land
hat den wohlthätigſten Einfluß auf meine Stimmung.
Ich ſpreche dabei viel von Dir, gute Julie, mit L …,
deſſen Geſellſchaft mir ſehr angenehm iſt. Morgen
gedenken wir eine Menge Dinge zu ſehen, heute Abend
mußten wir uns, da es ſchon zu ſpät war, mit einem
Spaziergang im Felde begnügen, und machten dann
ein gutes Diné mit Champain, der auf Deine Geſund-
heit, wie ſich von ſelbſt verſteht, getrunken wurde.



Früh am Morgen fuhren wir nach Stoke-Park,
der Beſitzung des Enkels des berühmten Quäkers
Penn, wo im Schloſſe noch ein Theil des Baumes
aufbewahrt wird, unter dem er den Vertrag mit
den Chefs der Wilden ſchloß, von dem Penſylvanien
ſeinen Namen hat. Wir ſahen hier in einem ſchönen
Park die größte Varietät von Damm-Hirſchen, wie
ſie ſowohl L … als mir noch nicht vorgekommen wa-
ren, ſchwarze, weiße, getigerte, ſcheckige, ſchwarze
mit weißer Bläſſe, und braune mit weißen Füßen.
Park und Garten, obgleich recht ſchön, boten doch
[144] nichts Außerordentliches dar. Dies war dagegen ſehr
der Fall in Dropmore, dem Lord Grenville gehörig,
wo die wundervollſten Bäume, und einer der reizend-
ſten Blumengärten unſere ganze Aufmerkſamkeit er-
regten. Es waren eigentlich drei oder vier Gärten
an verſchiedenen Orten vertheilt, im Reichthum der
Blumen wirklich einzig — theils Parthieen mit Bee-
ten auf dem Raſen, theils auf Kies. Die Letzteren
nehmen ſich in der Regel weit ſchöner aus. Beſon-
ders originell und vom ausgezeichnetſten Effekt war
es, daß jedes Beet immer nur eine Art Blumen
enthielt, welches über das ganze Bild einen unbe-
ſchreiblichen Reichthum geſättigter Farbenpracht ver-
breitete. Eine Unzahl von Geranien aller Art und
Färbung, nebſt vielen andern Blumen, die wir kaum
kennen, oder höchſtens nur einzeln beſitzen, bildeten
große und impoſante Maſſen. Eben ſo viele hundert
Arten Malven und Georginen. Dabei waren die
Farben im Großen ſo ſinnig zuſammengeſtellt, daß
das Auge überall mit wahrem Genuß darauf ruhte.


Ein großer Theil des Parks beſtand dennoch nur
aus dürrem Boden mit Kiefernhaide und Haldekraut,
völlig wie in unſern Wäldern. Der Raſen zeigte ſich
noch verbrannt, demungeachtet gab die große Cultur
dem Ganzen ein durchaus liebliches Anſehen, und
beſtärkte mich wieder in meiner Ueberzeugung, daß
mit Geld und Sorgfalt in dieſer Hinſicht jeder Bo-
den, nur das Clima nicht, bezwungen werden kann.


Nachdem wir noch einen andern Park beſehen hat-
ten, der einige ausgezeichnet ſchöne Ausſichten dar-
bot, fuhren wir nach Windſor, um das neue Schloß
[145] (welches ich, wie Du Dich erinnerſt, nur von Außen
bei meinem letzten Dortſeyn geſehen) en detail zu be-
trachten. Unglücklicherweiſe kam mit uns beinahe zu-
gleich der König mit ſeinem Gefolge in fünf Phae-
tons, mit Pony’s (kleinen Pferdchen) beſpannt, dort
an, ſo daß wir über eine Stunde warten mußten,
ehe er wieder fortfuhr, und uns der Eingang geſtat-
tet werden konnte.


Wir beſuchten unterdeſſen Eaton College, eine
alte, von Heinrich VI. geſtiftete Erziehungsanſtalt,
äußerlich ein weitläuftiges und ſchönes gothiſches Ge-
bäude mit einer dazu gehörigen Kirche, innerlich von
einer Simplizität, die kaum von unſern Dorfſchulen
übertroffen werden kann. Weiße, kahle Wände, höl-
zerne Bänke, und die darin eingegrabenen Namen
der Schüler, die hier ſtudierten, (mitunter berühmte
Männer, wie Fox, Canning und andere) ſind Alles,
was man in den Sälen ſieht, wo die vornehmſte Ju-
gend Englands erzogen wird. König Heinrichs Stif-
tung gemäß bekommen die Freiſchüler Tag für Tag
kein andres als Schöpſenfleiſch. Was muß ſich der
Stifter hierbei nur gedacht haben!


Die Bibliothek iſt recht ſchön dekorirt, und hat
intereſſante Manuſcripte.


Als wir von Eaton zurückkamen, war der König
wieder abgefahren, und Herr Whyattville, ſein Archi-
tekt, welcher den neuen Schloßbau leitet, hatte die
Güte, uns mit größter Gefälligkeit von allem genau
zu unterrichten. Dieſer Bau iſt ein ungeheures Werk,
und der einzige dieſer Art in England, welcher nicht
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 10
[146] allein mit vielem Gelde und techniſcher Fertigkeit,
ſondern auch mit ungemeinem Geſchmack, ja Genie
ausgeführt wird. Die Größe und Pracht des Schloſ-
ſes, welches, noch nicht halb fertig, ſchon an drei
Millionen unſers Geldes gekoſtet hat, iſt in der That
eines Königs von England würdig. Auf einem Berge,
grade über der Stadt ſich erhebend, und auf allen
Seiten eine herrliche Ausſicht und Anſicht gewährend,
bietet ſeine Lage ſchon einen großen Vortheil dar.
Sein hiſtoriſches Intereſſe, ſein hohes Alter, und
die erſtaunliche Größe und Ausdehnung, die es jetzt
erhält, vereinigen ſich, es einzig in der Welt zu machen.


Die Pracht des Innern entſpricht dem Aeußern.
In den ungeheuren gothiſchen Fenſtern koſtet z. B.
jede der einzelnen Spiegelſcheiben zwölf L. St., und
Sammt, Seide und Vergoldung blenden im Innern
das Auge. Eine hohe Terraſſe auf der Seite der
Zimmer des Königs, die die Treibhäuſer nach Innen
bildet, und nach Außen nur eine hohe ſchroffe Mauer
im ernſten Charakter des Ganzen zeigt, umſchließt
den reizendſten Blumengarten und pleasure ground.
Die vier großen Eingangsthore im Schloßhofe ſind
ſo ſinnig angebracht, daß jedes einen der intereſſan-
teſten Theile der Landſchaft wie im Rahmen faßt.


Alle Zuſätze ſind, wie ich wohl ſchon erwähnt, ſo
vortrefflich ausgeführt, daß ſie vom Alten nicht zu
unterſcheiden ſind, und ich mag es nicht tadeln,
daß man dabei, auch im weniger Geſchmackvollen,
ſich dennoch ganz treu an den frühern Styl gehalten
hat. Dagegen geſtehe ich, daß die Verzierungen des
Innern, ungeachtet ihres Reichthums, mir Vieles
[147] zu wünſchen übrig ließen. Sie ſind zum Theil höchſt
überladen, und nicht immer, weder dem Charakter
des Ganzen analog, noch von angenehmer Wirkung.



L .... verließ mich geſtern ſchon, früher als er
erſt gewollt, was mir ſehr leid that, da ein ſo
anmuthiger und freundlich geſinnter Geſellſchafter je-
den Genuß verdoppelt. Ich fuhr daher noch an dem-
ſelben Tage mit einem Bekannten von den Horſe-
guards, der hier ſtationirt iſt, nach St. Leonhards-
Hill, dem Feldmarſchall Lord H … gehörig, an den
mir E ..... einen Brief mitgegeben hatte.


Das Wetter, welches früher bezogen, und von
Zeit zu Zeit regnerig geweſen, war heute prächtig,
kaum eine Wolke am Himmel. An keinem ſchöneren
Tage konnte ich einen ſchöneren Ort ſehen als St.
Leonhardshill. Dieſe Rieſenbäume, dieſer friſche Wald
voller Abwechſelung, dieſe bezaubernden Ausſichten in
der Nähe und Ferne, dies liebliche Haus mit dem
heimlichſten und entzückendſten aller Blumengärten,
dieſe üppige Vegetation, und dieſe reizende Einſam-
keit, aus der man, wie hinter dem Vorhang lau-
ſchend, eine Welt voll Mannigfaltigkeit meilenweit
im Thale unter ſich erblickte, hat ihres Gleichen nicht
in England. Die Beſitzer ſind zwei ſehr liebenswür-
dige alte Leute, der eine von fünf und achtzig, die
andere von zwei und ſiebenzig Jahren, leider ohne
Kinder und faſt ohne nahe Verwandte, ſo daß alle
10*
[148] ihre Herrlichkeit an entfernte theilnahmloſe Menſchen
fällt. Der alte Herr fand ſehr viel Wohlgefallen an
meinem Enthuſiasmus für die Gegend, und lud mich
auf den folgenden Tag bei ſich ein, was ich auch mit
Vergnügen annahm. Zu Heute war ich ſchon von
meinem Bekannten, Capt. B .... zur Meß der Garde
in Windſor eingeladen, wo ich mich um 6 Uhr hin-
begab, und erſt um Mitternacht wieder weg kam.


Bei guter Zeit am andern Morgen citirte mich
Lord H ...., welcher Ranger of the Park in Wind-
ſor iſt, und mir dieſen zeigen wollte, ehe der König
darin erſcheint. Denn dann ſind die Privatanlagen
deſſelben für Jedermann ohne Ausnahme, der nicht
zu der eben eingeladenen immediaten Geſellſchaft des
Königs gehört, hermetiſch verſchloſſen.


Ich kam etwas ſpät, der gute alte Herr ſchmälte
ein wenig, und gleich mußte ich in den mit vier
herrlichen Pferden beſpannten Landau hinein, mit
welchen wir eiligſt durch den hohen Buchenwald da-
hin rollten. Der König hat in ſeinem immenſen
Park von Windſor, der 15,000 Morgen groß iſt,
mehrere Fahrwege für ſich allein anlegen laſſen, die
nach den intereſſanteſten Punkten hingeleitet ſind.
Auf einem ſolchen fuhren wir, und gelangten nach
einer halben Stunde zu den königlichen Ställen, wo
die viel beſprochene Giraffe ſich jetzt befindet. Wir
erfuhren hier leider, daß der König eben auch ſeine
Wagen hatte beſtellen laſſen, die ſchon angeſpannt
auf dem Hofe ſtanden. Es waren ſieben, von allen
Formen, aber alle mit ganz niedrigen Rädern, auf
das Leichteſte gleich Kinderwagen gebaut, und mit
[149] kleinen Ponys beſpannt, der des Königs mit vieren,
die er ſelbſt fährt, die andern mit zweien, und die
meiſten Pferde von verſchiedenen Farben. Lord H....
ſah dieſe Equipagen mit Schrecken, da ſie ihn fürch-
ten ließen, der König möchte uns begegnen, und ſich
mal à son aise fühlen, unerwartete Fremde zu ſehen,
denn der Monarch iſt darin ſeltſam. Es iſt ihm
unangenehm, irgend ein fremdes Geſicht, oder über-
haupt Menſchen in ſeiner Beſitzung zu ſehen, und
der Park iſt daher auch, die hindurchführenden Hauptſtra-
ßen ausgenommen, eine völlige Einſamkeit. Des
Königs Lieblingsparthien ſind außerdem dicht um-
ſchloſſen, und täglich werden noch große Pflanzun-
gen angelegt, um Alles mehr privatim und verſteckt
zu machen. An manchen Orten, deren Beſchaffenheit
ſo iſt, daß man leicht einen lauſchenden Blick hinein-
werfen könnte, ſind ſogar drei Etagen Plankenzaun
übereinander gethürmt.


Wir eilten daher ſehr, wenigſtens die Giraffe zu
ſehen, die uns zwei Türken, die ſie von Afrika her-
übergebracht, vorführten. Ein ſeltſames Thier in
der That! Du kennſt ſeine Geſtalt, aber nichts kann
eine Idee von der Schönheit ſeiner Augen geben.
Denke Dir ein Mittelding zwiſchen den Augen des
ſchönſten arabiſchen Pferdes und des reizendſten ſüd-
lichen Mädchens mit langen rabenſchwarzen Wim-
pern und dem innigſten Ausdruck von Güte, verbun-
den mit vulkaniſchem Feuer. Die Giraffe liebt die
Menſchen, und iſt äußerſt „gentle“ und von gutem
Humor, auch gutem Appetit, denn ſie ſäuft täglich
die Milch von drei Kühen, die neben ihr ruhen.
[150] Ihre lange, himmelblaue Zunge gebraucht ſie wie
einen Rüſſel, und nahm damit unter andern meinen
Regenſchirm weg, der ihr ſo gefiel, daß ſie ihn gar
nicht wieder herausgeben wollte. Ihr Gang war
noch ein wenig ungeſchickt, da ſie ſich auf dem Schiff
verlegen hatte, ſie ſoll aber im ganz geſunden Zu-
ſtande ſehr raſch ſeyn, wie die Afrikaner verſicherten.
Aus Furcht vor dem König trieb uns Lord H .... zur
Eile, und nachdem wir nur durch einen kleinen dichtver-
pflanzten Theil des pleasure grounds der Cottage ge-
fahren waren, und dieſe ſelbſt blos von weitem er-
blickt, dirigirten wir uns nach Virginiawater, dem
Lieblingsaufenthalte Sr. Majeſtät, wo er auf einem
zwar künſtlichen, aber ſehr natürlich ausſehenden,
großen See täglich zu fiſchen pflegt. Ich war nicht
wenig verwundert, hier die ganze Gegend plötzlich
einen ganz andern Charakter annehmen zu ſehen, der
in England ſehr ſelten vorkömmt, nämlich den des
eigenen Vaterlandes. Kiefern und Fichtenwald, mit
Eichen und Erlen gemiſcht, und darunter unſer Hai-
dekraut und auch unſer Sand, auf dem die Pflan-
zungen dieſes Frühjahrs ſämmtlich vertrocknet waren.
Ueber das Pflanzen auf Sand hätte ich den königli-
chen Gärtnern guten Rath geben können, denn ich
überzeugte mich, daß ſie die Behandlung ſolchen Bo-
dens gar nicht verſtehen. Auf dem See ſchaukelte
ſich eine Fregatte, und an ſeinen Ufern waren viele
angenehme Spielereien, chineſiſche und amerikaniſche
Häuſer ꝛc. mit Geſchmack und ohne Ueberladung an-
gebracht. Die Eile, mit der uns der Lord trieb, ließ
uns Alles nur flüchtig und größtentheils nur in der
[151] Ferne betrachten; ich war jedoch ſehr froh, durch
dieſe Gelegenheit wenigſtens eine allgemeine Idee des
Ganzen bekommen zu haben.


Der alte Mann kletterte mit vieler Mühe auf den
Sitz des Wagens, und ſtand dort aufrecht, von mir
und ſeiner Frau gehalten, um zu ſpähen, ob der
König nicht etwa doch irgendwo hervorbrechen möchte,
und beruhigte ſich erſt wieder ganz, als ſich die Thore
des Allerheiligſten hinter uns geſchloſſen hatten.


Auf dem Rückwege ſahen wir auch die Jagdpferde
des Königs, ſchöne Thiere, wie Du denken kannſt,
und eine eigne Art ſehr zierlicher, ganz kleiner Par-
force-Hunde, die man auſſer England nicht findet.


Mit gutem Appetit kamen wir zum Eſſen zurück,
wo ich noch einige andere Gäſte antraf. Unſre Wir-
thin iſt eine ſehr liebenswürdige Dame, und eben ſo
parkomane als ich. Alle die herrlichen großen Bäume
vor dem Hauſe, unter und zwiſchen denen man, wie
ſo viele einzelne Tableaux, die verſchiedenen Ausſich-
ten erblickt, ſind von ihr ſelbſt vor 40 Jahren ge-
pflanzt worden, und nur zwei davon hat ſie in die-
ſer Zeit wieder weggenommen. Jeden Tag überzeuge
ich mich mehr, daß die breiten, zu offenen Ausſichten,
welche hier faſt ganz verbannt ſind, alle Illuſion zer-
ſtören. Einige ganz alte Anlagen abgerechnet, fin-
deſt Du faſt kein Haus oder Schloß in England,
deſſen An- und Ausſicht nicht vielfach durch hohe
Bäume unterbrochen wäre. In den Abbildungen
[152] davon wird man getäuſcht, weil die Zeichner gewöhn-
lich, da ihre Hauptabſicht iſt, die Architektur des Ge-
bäudes und ſeinen Umfang zu zeigen, die davorſte-
henden Bäume weglaſſen.


Eine recht zweckmäßige Sache im hieſigen Garten
war ein gigantiſcher Parapluie, von der Größe eines
kleinen Zeltes, unten mit einer eiſernen Spitze ver-
ſehen, um ihn in den Raſen zu ſtecken, ſo daß man
an jedem beliebigen Orte ſich vor der Sonne geſchützt
darunter hinſetzen konnte.


Es war mir ſehr willkommen, als der freundliche
Hauswirth mich auf morgen wieder einlud, an wel-
chem Tage die Hofdamen der Königin von Würtem-
berg dort eſſen ſollten, was, wenn ſie hübſch ſind,
unſre Parthie nicht verderben wird. Nach Tiſch mach-
ten wir noch einen Spaziergang, und beſahen eine
Cottage im Thalgrund des Parks, die, überall von
Berg und Wald umſchloſſen, einen reizenden Contraſt
zu der reichen Villa in der Höhe bildet, und ritten
dann in der Nacht (B. und ich) bei romantiſchem
Sternenlicht zu Haus.



Nachdem ich früh in Windſor einen Beſuch bei
Miſtriß C .... abgeſtattet, deren hübſche Töchter
Du aus früheren Briefen kennſt, fuhr ich um 4 Uhr
[153] wieder zu Lord H …, immer mit neuem Entzücken
den herrlichen Eichenwald ſeines Parks genießend,
an deſſen Eingang die niedlichſte Gärtnerwohnung
von rohen Stämmen und Aeſten geſchmackvoll aufge-
baut, und mit Roſen überwachſen, den lieblichen
Charakter des Ganzen ſchon im voraus anzeigt. Ich
fand eine große Geſellſchaft, die Oberhofmeiſterin, zwei
Hofdamen und zwei Cavaliere der Königin von Wür-
temberg, ſämmtlich Deutſche, le Marquis de H …,
einen Franzoſen mit ſeinen zwei Söhnen und ſeiner
artigen Tochter, einer ächten Pariſerin, ferner einen
engliſchen Geiſtlichen und noch einen andern frem-
den Edelmann.


Die franzöſiſchen Herren haben ſehr geſcheidterweiſe
bei dem alten Lord ohne Verwandten die Couſinſchaft
geltend gemacht, ſind ſehr gut aufgenommen, wohnen
in der Cottage im Thale, die ich geſtern beſchrieb,
und haben alle Anwartſchaft, die Erben des ganzen
coloſſalen Vermögens zu werden. Auch ſieht man die
kleine Franzöſin ſchon für eine große Parthie an.
Von allen intereſſirte mich indeſſen die Gräfin am
meiſten, weil ſie eine höchſt liebenswürdige alte Frau
iſt, voller Würde und Höflichkeit mit dem anmuthig-
ſten Geiſte verbunden, die überdieß viel geſehen und
erlebt hat, und es auf intereſſante Weiſe wieder zu
erzählen weiß. Sie ſagte mir Manches über Lord
Byron, der als Knabe lange in ihrem Hauſe lebte,
und ſchon damals ſo unbezähmbar war, daß ſie, wie
ſie ſagte, unſägliche Noth mit dem trotzigen, gern
Unheil anſtiftenden Buben gehabt habe. Sie hielt
[154] ihn nicht für ſchlecht, aber doch für böſe, weil er
von jeher eine Art Vergnügen daran gefunden habe,
wehe zu thun, beſonders Weibern, obgleich, wenn
er liebenswürdig ſeyn wollte, ihm, wie ſie ſelbſt
nicht läugnen konnte, kaum Eine zu widerſtehen v[er-]
mochte. Seine Frau, fuhr ſie fort, ſey allerdings
eine kalte, eitle, und dabei noch dazu gelehrte När-
rin geweſen, aber Byron habe ſie auch übel behan-
delt, und wirklich raffinirt gemartert, wahrſcheinlich
beſonders deßwegen, weil ſie ihn zuerſt ausgeſchla-
gen, als er um ſie anhielt, wofür er ihr gleich am
Hochzeitstage eine nie endende Rache geſchworen habe.


Ich traute dieſen Erzählungen nicht ſehr, ſo viel
Reſpekt ich auch ſonſt für die alte Dame fühlte, denn
eine Dichterſeele, wie die Lord Byrons, iſt ſchwer zu
beurtheilen! Der gewöhnliche Maaßſtab paßt nun
und nimmermehr dafür, und ich bezweifle ſehr, daß
bei dem Geäuſſerten ein anderer angelegt war.


Wenn man ſich irgendwo gut gefällt, gefällt man
auch gewöhnlich ſelbſt, und ſo bat man mich denn
dringend, einige Tage in dieſem kleinen Paradies
wohnen zu bleiben. Meine Raſtloſigkeit iſt aber, Du
weißt es zur Genüge, eben ſo groß als meine Träg-
heit, und wie ich da, wo ich einmal feſt ſitze, ſchwer
zur Bewegung zu bringen bin (témoin mein unnützer
langer Aufenthalt in London) ſo kann ich mich auch
ſchwer zum Bleiben zwingen, wo das Intereſſe des
Augenblicks bereits erſchöpft iſt. Ich lehnte alſo die
Einladung dankbar ab, und kehrte nach Salthill
zurück.


[155]

Die Terraſſe des Schloſſes zu Windſor dient den
Städtern zu einer ſehr angenehmen Promenade,
welche häufig durch die Muſik der Garde belebt wird.


Ich beſuchte ſie dieſen Morgen mit den liebenswür-
digen Miſſes C., und machte dann der Caſtellanin
des Schloſſes, einer alten unverheiratheten Dame,
mit ihnen eine Viſite.


Man konnte nicht ſchöner wohnen. Jedes Fenſter
bot dem Blicke eine andre herrliche Landſchaft dar.
Die jungen Damen hatten ſich unterdeſſen in den
Nebenſtuben vertheilt, und ich erſchrack faſt, als die
bejahrte Jungfer mich beim Arme nahm und mir zu-
flüſterte: ſie fühle jetzt noch ein wahres Bedürfniß,
mir eine zwar alte, aber doch ſehr intereſſante Merk-
würdigkeit in ihrem Schlafzimmer zu zeigen. — Das
Schlafzimmer einer Engländerin pflegt ſonſt ein Hei-
ligthum zu ſeyn, das nur den Vertrauteſten geöffnet
wird. Ich war alſo nicht wenig über dieſe Offerte
verwundert, um ſo mehr, da die alte Dame ohne
Weiteres gerade auf ihr Bett zuſteuerte, die Vor-
hänge aufzog, und .... que diable veut elle faire?
ſagte ich zu mir ſelbſt — als ſie mich auf einen Stein
in der Wand aufmerkſam machte, auf dem ich eine
verwitterte Inſchrift erblickte. „Dies hat ein junger
reizender Ritter in ſeiner Todesſtunde geſchrieben,
my dear Sir, der hier im Gefängniß ſchmachtete,
[156] und unter dem Stein erdroſſelt wurde.“ „Mein Gott,
fürchten Sie ſich denn nicht, hier zu ſchlafen?“ er-
wiederte ich; „wenn der junge Ritter nun als Geiſt
wiederkehrte?“ — „Never fear,“ rief die joviale
Alte, „in meinen Jahren iſt man nicht mehr ſo furcht-
ſam, und vor lebenden und todten jungen Rittern
ſicher.“


Wir wanderten nun nach der herrlichen Capelle
zum Gottesdienſt. Die Banner, Schwerdter und
Coronets der Hoſenbandritter, ſtolz rund umherge-
reiht, das trübe Licht der bunten Fenſter, das künſt-
liche Schnitzwerk in Stein und Holz, die andächtige
Menge, gaben ein ſchönes Bild, nur durch Einzeln-
heiten entſtellt, wie z. B. das ridicüle Monument
der Prinzeſſin Charlotte, wo die vier Nebenperſonen
alle dem Beſchauer den Rücken kehren, ohne irgend
etwas anders von ſich ſeben zu laſſen, wogegen aber
die Prinzeſſin doppelt erſcheint, zugleich als Leiche
daliegt und als Engel in die Höhe fliegt.


Von dem Geſang und der Muſik umwogt, über-
ließ ich mich, ſtill in eine Ecke gedrückt, meinen Phan-
taſieen, und vergaß, im Reich der Töne tief verſun-
ken, bald Alles um mich her. Ich dachte mich end-
lich ſelbſt todt, und als Beſucher jener gothiſchen
Kapelle, die wir, liebe Julie, bauen wollen, vor mei-
nem eignen Grabe ſtehend. Auf einem weißen Mar-
mor-Sarkophag, dem Chore gegenüber, in der Mitte
der Kirche, lag vor mir eine in faltenreiche Gewän-
der gehüllte Geſtalt, ein Lamm und einen Wolf zu
[157] ihren Füßen. Ein anderes gleiches Poſtament dane-
ben war noch leer. Ich näherte mich, und las fol-
gende Inſchriften in den Marmor gegraben, und mit
goldenen Metall-Buchſtaben überkleidet. Auf der
ſchmalen Vorderſeite unter dem Haupte des Liegen-
den ſtanden folgende Worte:


In deinem Schooß, o Gott!

Ruht ſeines Geiſtes unvergaͤnglich Theil —

Denn des ewigen Lebens Geſetz

Iſt Sterben und Auferſtehn!

Auf der anſtoßenden Seite war geſchrieben:


Seiner Kindheit fehlte ihr groͤßter Segen —

Liebevolle Erziehung in der Eltern Haus!

Seine Jugend war ſtuͤrmiſch, und eitel und thoͤricht —

Doch nie entfremdet von Natur und Gott.

Auf der andern Seite:


Ernſt war des Mannes Alter und truͤbe,

Gehuͤllt in dunkle Nacht waͤr’ es geweſen,

Haͤtte nicht eine liebende Frau,

Der Sonne gleich, mit hellen wohlthuenden Strahlen

Gar oft die dunkle Nacht zum heitern Tag gemacht.

Auf der letzten Seite:


Des Greiſes Alter wurde ihm verſagt. —

Was er gewirkt, und was er ſchuf?

Es bluͤhet um Dich her —

Was ſonſt er Irdiſches erſtrebte und erwarb —

Den Andern galt es viel, doch wenig ihm.

Nun dachte ich viel an Dich, und ſie, und alle
meine Lieben, und weinte im frommen Schmerze
[158] über mich ſelbſt — und als ich mit dem raſchen Auf-
hören der Muſik im vollen Accorde aus der Träume-
rei wieder wach wurde, liefen mir wahrhaftig die
hellen Thränen über die Backen, ſo daß ich mich faſt
vor den Leuten ſchämte.



Gut bedient wird man in England, das iſt wahr!


Ich war um 6 Uhr bei den Gardeoffizieren einge-
laden, wo ſehr pünktlich gegeſſen wird, und hatte
mich beim Schreiben verſpätet. Die Kaſerne iſt eine
Stunde von meinem Gaſthof (der wie gewöhnlich
zugleich Poſthaus iſt) entfernt. Ich jagte alſo mei-
nen Diener die Treppe hinunter „für Pferde.“ In
weniger als einer Minute waren dieſe ſchon ange-
ſpannt, und in 15 war ich, mit Windesſchnelle fah-
rend, mit dem Schlage ſechs am Tiſch.


Das hieſige Militair iſt im Ganzen weit geſell-
ſchaftlicher gebildet, als das unſre, ſchon aus dem
Grunde, weil es viel reicher iſt. Obgleich der Dienſt
nichts weniger als vernachläſſigt wird, ſo iſt doch
von unſerer Pedanterie nicht eine Spur, und auſſer
dem Dienſt auch nicht der mindeſte Unterſchied zwi-
ſchen dem Obriſten und dem jüngſten Lieutenant.
Jeder nimmt eben ſo ungezwungen als in andern
Geſellſchaften Theil an der Converſation. Bei Tiſch
ſind auf dem Lande alle Offiziere in Uniform, in
[159] London nur der, welcher du jour in den Beracken
iſt — nach dem Eſſen aber macht ſich’s jeder bequem,
und ich ſah heute einen der jungen Lieutenants ſich
im Schlafrock und Pantoffeln mit dem Obriſten, der
in Uniform blieb, zu einer Partie Whiſt hinſetzen.
Die Herren haben mich, wenn mich kein anderes En-
gagement hindert, ſo lange ich in der Gegend bleibe,
für immer zu ihrer Tafel gebeten, und ſind auſſer-
ordentlich freundſchaftlich für mich.


Am Morgen hatte ich Frogmore beſehen, und noch
einige Stunden mit Beſichtigung der Gemälde in
Windſor zugebracht. Im Thronſaal ſind viele nicht
üble Schlachtenbilder von Weſt, die Thaten Eduards III.
und des ſchwarzen Prinzen vorſtellend, ein Gewühl
von Rittern, ſchnaubenden Roſſen, alten Trachten
und Pferdeſchmuck, Lanzen, Schwerdtern und Fah-
nen, das gut zur Dekoration eines Königsſaales paßt.
In einem andern Zimmer frappirte mich das höchſt
ausdrucksvolle Portrait eines Herzogs von Savoyen,
ein wahres Herrſcherideal. Luther und Erasmus,
von Holbein, bilden ein paar gute Pendants, und
zugleich Contraſte. Das feine und ſarkaſtiſche Geſicht
des Letzteren ſcheint eben die Worte ausſprechen zu
wollen, die er dem Pabſte ſchrieb, als ihm dieſer
vorwarf, daß er die Faſten nicht halte: „Heiliger
Vater, meine Seele iſt katholiſch, mein Magen aber
proteſtantiſch.“


Die Schönheiten am Hofe Carls des Zweiten, die
eine ganze Wand daneben ſchmücken, könnten leicht
[160] Gefühle gleicher Unenthaltſamkeit in anderem Sinne
erwecken.


Frogmore bietet wenig Sehenswerthes dar. Die
große Waſſerparthie iſt noch jetzt nur ein Froſchſumpf,
obgleich von Taxus und Roſenhecken umgeben. Ein
ganzes Lager beweglicher, leichter Zelte auf dem Ra-
ſen nahm ſich gut aus.



Ich habe mich überreden laſſen, bei der ſchönen
Lady G …, einer nahen Verwandtin Cannings,
einige Tage dem ſpeciellen Landleben zu widmen.


Beim Frühſtück erzählte ſie mir, daß ſie vor drei
Monaten noch gegenwärtig war, als Canning von
ſeiner Mutter, beide in beſter Geſundheit, mit den
Worten Abſchied nahm: „Adieu, liebe Mutter, im
Auguſt ſehen wir uns gewiß wieder.“ Im Juli ſtarb
die Mutter ſehr plötzlich, und Anfang Auguſt folgte
ihr der Sohn. — Welch’ ſeltſames Zuſammentreffen,
denn zur beſtimmten Zeit waren ſie ja, wie abgere-
det, wieder vereint!


Geſtern und vorgeſtern fuhren wir zu den Races
nach Egham, die auf einer von Hügeln umgebenen
großen Wieſe ſtatt fanden. Ich traf viele Bekannte,
ward vom Herzog von Clarence der Königin von
[161] Würtemberg vorgeſtellt, wettete glücklich, und wohnte
Abends einem Piquenique-Ball in dem Städtchen bei,
der, tout comme chez nous, gar viel Kleinſtädti-
ſches und ſehr lächerliche Dandi’s vom Lande pro-
ducirte.


Heute nahm eine andere Landparthie und ein Spa-
ziergang mit den jungen Damen faſt den ganzen Tag
weg. Die jungen Engländerinnen ſind unermüd-
liche Fußgängerinnen durch Dick und Dünn, über
Berg und Thal, ſo daß etwas Ambition dazu gehört,
um immer mit ihnen gleichen Schritt zu halten.


In dem Park eines Nabobs fanden wir eine in-
tereſſante Merkwürdigkeit, nämlich zwei aus China
hertransportirte Zwergbäume, hundertjährige Ulmen,
ganz mit dem verkrüppelten, runzlichen Anſehn ihres
Alters und doch kaum zwei Fuß hoch. Das Geheim-
niß, Bäume ſo zu ziehen, iſt in Europa unbekannt.


Zuletzt ſtiegen die muthwilligen Mädchen ſogar über
eine Verzäunung des Windſor-Parks, und ſtörten
die ſtreng gehütete königliche Einſamkeit mit ihren
Scherzen und Lachen. Ich ſah bei dieſer Gelegenheit
noch mehrere verbotene Parthieen des reizenden Auf-
enthalts von Virginiawater, wohin ſich die Aengſt-
lichkeit des Lord H … nicht gewagt hatte, und wä-
ren wir ertappt worden, in ſo guter Geſellſchaft hätte
man es ohne Zweifel gnädig mit uns gemacht.


Briefe eines Verſtorbenen IV. 11
[162]

Wir hatten uns in den vier Tagen meines Aufent-
haltes ſo herzlich Alle genähert, daß der Abſchied faſt
ſchwer wurde. Die Damen begleiteten mich wohl eine
Stunde weit, ehe ich in den Wagen ſtieg. Ich pflückte
einige Vergißmeinnicht am Bache, und übergab ſie
ſentimental als ſtummen Abſchied der ſchönen Roſa-
bel zuerſt, die gebietend unter ihnen ſtand, wie eine
ſtolze Herrin unter lieblichen Sclavinnen. Sie löste
ſanft ein Blümchen aus dem Strauß, und drückte
mir es wieder in die Hand. — Moquez vous de moi,
mais je le conserve encore.


Endlich fuhr ich, ganz niedergeſchlagen davon, und
dirigirte meinen Poſtboy nach den Barraks der Garde
zu Pferd, wo ich noch gerade zur rechten Zeit zum
Diné ankam. Mit vielem Champagner und Claret
(denn ich war ſehr durſtig von den langen Promena-
den, gute Julie), tröſtete ich mich über die verlaſ-
ſenen Schönen, ſo gut ſich’s thun ließ, und fuhr dann
mit Capt. B .... zu einer Soirée bei Miſtriß
C .... Hier wurde nach dem Thee um 11 Uhr,
da der Mond wundervoll ſchien, auf dem Wunſche
der Damen, der Entſchluß gefaßt, noch einen Gang
im Park zu machen, um das gigantiſche Schloß von
einem beſonders vortheilhaften Punkte bei Mond-
ſchein zu betrachten. Die Promenade war abermals
ein wenig lang, aber höchſt belohnend. Der Himmel
hatte Heerden von Schäfchen auf ſeine blauen Wei-
den geſchickt, welches jedoch einer der Offiziere, nicht
[163] ſehr poetiſch, aber allerdings ziemlich wahr, mit ei-
nem zuſammengelaufenen Milchbrei verglich — und
die Beleuchtung des glänzenden Mondes darüber
konnte nicht herrlicher ſeyn. Wir wurden in unſerer
Freude aber bald ziemlich unſanft durch zwei Wild-
wächter mit Flinten unterbrochen, die uns als auf
verbotenen Wegen gehend und als Friedensſtörer (eine
Geſellſchaft von 20 Perſonen, meiſtens Damen und
wenigſtens 7 Gardeoffiziere in Uniform dabei) arre-
tiren wollten. Sie begnügten ſich indeß zuletzt mit
zwei Offizieren, die ſie ſogleich mitnahmen. Welcher
Unterſchied der Sitten! Bei uns würden die Offi-
ziere ſich durch die ganz harten Worte, deren ſich die
Wächter bedienten, entehrt und vielleicht ſie todtzu-
ſtechen verpflichtet gefühlt haben. Hier ſchien Alles
ganz in der Ordnung, und nicht der mindeſte Wi-
derſtand wurde geleiſtet. Wir Uebrigen gingen zu
Hauſe und nach einer Stunde erſt kamen die beiden
Arretirten nach, die viele Weitläuftigkeiten gehabt
hatten, ehe man ſie entließ. Der Rittmeiſter T …,
einer von ihnen, erzählte mit vielem Lachen, daß
ihn der Förſter ſehr hart angelaſſen habe und ge-
ſagt: es ſey eine Schande, daß Offiziere, die ihr
Dienſt verpflichte, Unordnung zu verhüten, ſich nicht
ſcheuten, ſelbſt welche zu verüben ꝛc.


„Ganz Unrecht hatte der Mann nicht,“ ſetzte er
hinzu, „aber der Damen Wünſche müſſen immer be-
friedigt werden, quand même. —“


Im Gaſthof fand ich meinen alten B., der vor ſei-
nem Abgange noch meine perſönlichen Befehle ent-
11*
[164] nehmen wollte. Ich bin mit dem cranologiſch unter-
ſuchten Engländer ſehr zufrieden, und werde den
Landsmann daher nicht ſo ſehr entbehren. Er bringt
Dir einen großen Gartenplan von mir, auf dem ich
vor dem Zubettegehen noch eine Stunde in meiner
Schlafſtube ausgeſtreckt lag, ehe ich damit fertig
wurde, wie Napoleon auf ſeinen Karten und Welt-
plänen. Er zeichnete aber mit ſeinen rothen Nadeln
Blut, ich nur Waſſer und Wieſen, er Feſtungswerke,
ich Luſthäuſer, er endlich Soldaten, ich nur Bäume.
Vor Gott mag es am Ende einerlei ſeyn, wie ſeine
Kinder ſpielen, ob mit Kanonenkugeln oder Nüſſen,
aber für die Menſchen iſt es ein bedeutender Unter-
ſchied, und größer offenbar der, nach ihrem eigenen
Urtheil, welcher ſie zu Tauſenden todtſchießen läßt,
als der, welcher blos für ihr Vergnügen ſorgt.


Eine lange Liſte erklärt Dir den Plan, führe fleißig
aus, was ich vorſchreibe, und erfreue mich bei mei-
ner Rückkunft mit der Realifirung aller Gartenträume,
die Deinen Beifall haben.


Meine Abſicht iſt jetzt, noch einmal nach London
auf wenige Tage zurückzukehren, um meine Pferde
ſelbſt einſchiffen zu ſehen, und dann erſt meine län-
gere Tour ins Land anzutreten. Das Tagebuch wird
alſo wohl eine geraume Zeit lang anſchwellen, ehe
ich es Dir wieder zuſchicken kann; glaube deßhalb
nur nicht, daß ich in meinen Nachrichten ſaumſeliger
werde, denn, wie der geiſtreiche Prinz ſagt: „ich
kenne wenig Sachen, die ich lieber thue, als Dir zu
ſchreiben.“


Dein L.


[[165]]

Achtzehnter Brief.



Theure Freundin!

Ich bin zwar, wie Du weißt, nicht ſtark in Erin-
nerungen von Anniverſaires ꝛc., weiß aber diesmal
doch, daß morgen derjenige Tag wiederkehrt, an dem
ich meine arme Julie in B … allein zurücklaſſen
mußte! Ein Jahr rollte ſeitdem über die Welt, und
wir Inſekten kriechen noch in dem alten Gleiſe —
wir haben uns aber auch noch eben ſo lieb, und das
iſt die Hauptſache! Endlich werden wir doch durch
den großen Haufen glücklich hindurchkommen, durch
den wir uns jetzt ſo mühſam arbeiten müſſen, und
dann vielleicht friſches Gras mit ſchönen Blümchen
erreichen, auf denen eben der Morgenthau ſeine Dia-
manten abgeſetzt hat, und bunte Sonnenſtrahlen ſich
in dem feuchten Cryſtall blitzend umhertummeln.
Soyez tranquille, nous doublerons encore un jour
le cap de bonne espérance!


[166]

Ich habe Dir die letzten Tage nichts über mein
Thun und Treiben geſchrieben, weil es ſich blos
darauf reducirte, daß ich täglich mit B .... arbei-
tete und ſchrieb, mit L ...... im Travellers Club aß,
und endlich allein zu Bett ging. Geſtern war jedoch
bei unſerm Diné noch ein anderer Deutſcher, Graf ....
zugegen, der Pferde zu kaufen hierher gekommen iſt.
Er ſcheint reich, und iſt jung genug, um es lange
zu genießen; übrigens das ächte Bild eines gutarti-
gen Landjunkers, gewiß eine höchſt glückliche Art
Menſchen. Wünſchte wohl, ich wäre ein ſolcher!


Dein Gutachten über den Park betreffend, bemerke
ich, daß die Ausdehnung deſſelben, beſonders mit ge-
höriger Arrondirung verbunden, nie groß genug ſeyn
kann. Windſor-Park iſt der einzige, der mich hier,
als ein Ganzes, völlig befriedigt hat, und der Grund
liegt weſentlich in ſeiner Größe. Er idealiſirt, was
ich haben will. Eine anmuthige Gegend, in deren
Bezirke man ohne Entbehrung leben und weben kann,
jagen, reiten, fahren, ohne ſich je zu enge zu fühlen,
und die, auſſer eben den Ausgangspforten, nirgends
einen Punkt zeigt, wo man bemerkt: hier ſey ſie be-
gränzt; worin aber dennoch Alles, was die Umge-
gend Gutes beſitzt, ein feiner Sinn ſich bis in die
weiteſte Ferne zu eigen zu machen wußte. Uebrigens
haſt Du recht, man muß das Kind nicht mit dem
Bade verſchütten, und viele Mangel und Beſchrän-
kungen des Terrains laſſen ſich durch klug berechnete
Wege und Pflanzungen lieber verbergen, als daß
[167] man unverhältnißmäßige Opfer für ihre Hinwegſchaf-
fung oder neue Acquiſitionen brächte.


Meine Pferde ſind heute glücklich abgeſegelt, wie-
wohl ſich der ſchöne Hyperion wie wahnſinnig dabei
anſtellte, und den Kaſten, in den er geſperrt war,
nebſt den eiſernen Schienen, den Halftern und Rie-
men, alles wie Glas zerſprengte. Er wäre bei ei-
nem Haar ins Meer gefallen, und wird unterwegs
wahrſcheinlich noch manche Noth machen, obſchon wir
ihn wie ein wildes Thier gebunden haben. Man
kann es übrigens den armen Geſchöpfen nicht verden-
ken, daß ihnen angſt wird, wenn der große Krahn
ſie wie ein Rieſenarm ergreift und im weiten Bogen
in der Luft vom Quai über’s Waſſer in das Schiff
verſetzt. Manche leiden es indeß mit der größten
Ruhe, denn auch unter den Pferden giebt es Stoiker.


Es hielte mich nun eigentlich nichts mehr in London
auf, aber Lady R … iſt hier, und allein, und ſo an-
ziehend! Einer ſolchen Freundin aus dem Wege zu
gehen, wäre Unrecht, um ſo mehr, da ich nicht daran
denke, in ſie verliebt zu ſeyn. Aber iſt nicht auch
die wirkliche, bloße Freundſchaft einer ſchönen Frau
etwas ſehr Süßes? Ich habe gefunden, daß ſich viele
Männer alle Verhältniſſe verderben, weil ſie ſich im
nähern Verkehr mit Weibern immer ſogleich verbun-
den glauben, die Verliebten zu ſpielen, und dadurch
die Frau, mit der ſie zu thun haben, von Hauſe aus
sur le qui vive ſetzen, und die allmählige, rückſichts-
loſe Vertraulichkeit und Unbefangenheit verhindern,
[168] auf welchem Boden am beſten ſpäter alles aufblüht,
was man hinſäen will. Ich begnüge mich daher ſehr
gern ganz allein mit einer zärtlichen Freundſchaft,
beſonders wenn ich ſie, ſo wie hier, im Blicke ſanf-
ter, ſchmachtender, blauer Augen leſen kann, ein
purpurrother Perlenmund ſie ausſpricht, und eine
ſammtne Hand vom ſchönſten Ebenmaß ſie durch ih-
ren warmen Druck bekräftigt. Zu dieſem Portrait
brauchſt Du nur noch den Unſchulds-Ausdruck einer
Taube, langes, dunkelbraun gelocktes Haar, eine
ſchlanke mittlere Taille, und den ſchönſten engliſchen
Teint hinzuzufügen — ſo haſt Du Lady R … vor
Dir, ganz wie ſie leibt und lebt.



Ich hätte bald von London datirt, ſo ſchnell habe
ich die 180 Meilen bis hier in 20 Stunden zurückge-
legt, und dennoch Zeit genug übrig behalten, um
zwei berühmte Schlöſſer und Parks aus Eliſabeths
Zeit, wenn auch nur flüchtig, zu beſehen.


Das eine, Hatfield, welches ihr ſelbſt zugehörte,
und was ſie oft bewohnte, iſt weniger prachtvoll, als
das zweite, Burleighhouſe, welches ihr berühmter
Miniſter Cecil ſich erbaute. Hatfield iſt von Ziegeln
aufgeführt, nur die Fenſtereinfaſſungen, Mauerkan-
ten und Créneaux von Sandſtein. Die Verhältniſſe
ſind gut und großartig. Park und Gärten bieten
[169] nichts Intereſſantes dar, als ſehr hohe Eichenalleen,
die angeblich von der Königin ſelbſt gepflanzt ſeyn
ſollen.


Burleighhouſe konnte ich nur von Auſſen ſehen, da
die alte Caſtellanin, obgleich die Herrſchaft abweſend
war, durch nichts ſich bewegen ließ, den Sonntag
durch Herumführen eines Fremden zu entheiligen,
was ich um ſo mehr bedauerte, da ſich hier eine ſehr
bedeutende Gemäldeſammlung befindet. Im Hof des
Schloſſes, der mit vergoldeten Eiſengittern eingefaßt
iſt, bewunderte ich einen ungeheuren Kaſtanienbaum,
deſſen Aeſte ſich ſo weit ausdehnten, daß man unter
ihnen Platz genug gehabt hätte, ein Pferd zuzurei-
ten. Der alterthümliche Park iſt ebenfalls voll der
ſchönſten Bäume, das Waſſer aber auch hier, wie in
Hatfield, nur ſtehend und ſumpfig. Der Pallaſt ſelbſt
iſt in einem verwirrten Styl aus Quadern aufge-
führt, unten gothiſch, oben mit Feuereſſen, die corin-
thiſche Säulen-Capitäle darſtellen. Der große Staats-
mann muß einen corrupten Kunſtgeſchmack gehabt
haben.



Duncaſters Pferderennen ſind die beſuchteſten in
England, und der hieſige Rennplatz auch allen an-
dern im Lande für Schmuck, Zweckmäßigkeit und
leichter Ueberſicht vorzuziehen. Die Anſicht des Wett-
[170] rennens giebt mehr Vergnügen und auch ein weni-
ger kurzes Schauſpiel, da man von den hohen
thurmartigen, höchſt eleganten Stands den ganzen
Lauf von Anfang bis zu Ende deutlich überblickt.
Die Pferde rennen in der Runde, und derſelbe Punkt
dient zum Auslauf und Ziel. Die Menge des Volks,
ſchöner Frauen und faſhionabler Geſellſchaft war auſ-
ſerordentlich. Alle benachbarte große Edelleute kamen
in Galla hergefahren, was mich ſehr intereſſirte, weil
ich dadurch eine Art des hier üblichen Staates auf
dem Lande kennen lernte, welcher von dem in der
Stadt ſehr verſchieden iſt. Die Equipage des Her-
zogs von Devonshire war die ausgezeichnetſte, und
als Notiz für M … beſchreibe ich Dir den Zug.
Die Geſellſchaft des Herzogs ſaß in einem vierſitzigen
Glaswagen mit 6 Pferden beſpannt, die Geſchirre
und Bockdecke nur mittelreich und der Kutſcher in
Interimslivree, blonder Perrücke und Stiefeln.
12 Reiter escortirten den Wagen, nämlich 4 Reit-
knechte, welche verſchiedenfarbige Reitpferde mit leich-
ten Satteln und Zäumen ritten, 4 Outriders auf
Kutſchpferden, denen gleich, die den Wagen zogen,
mit Geſchirrzäumen und Poſtillon-Sätteln, endlich
4 Bedienten in Morgenjacken, ledernen Beinkleidern
und Stolpenſtiefeln, mit geſtickten Schabracken und
Piſtolenhalftern, auf beiden das Wappen des Her-
zogs in Meſſing. Die Ordnung des Zugs war fol-
gende. Vorn zwei Reitknechte, dann zwei Outriders,
hierauf der Wagen mit ſeinen ſchönen ſechs Pferden,
die der Kutſcher vom Bock fuhr, auf dem vordern
[171] Sattelpferde ein Poſtillon. Links von dieſem ritt
ein Bediente, ein anderer etwas weiter zurück rechts,
hinter dem Wagen wieder 2 Outriders, dann 2 Reit-
knechte, und am Schluß die letzten zwei Bedienten.
Der kleine Vorreiter war allein in vollſtändiger
Staatslivree, gelb, blau, ſchwarz und ſilber, nebſt
gepuderter Perrücke, etwas theatraliſch gekleidet, mit
dem bunt geſtickten Wappen auf dem linken Arm.


Das heute ſtatt findende St. Leger-Rennen mag
Manchem eine ſchlafloſe Nacht koſten, denn es ſind
ungeheure Summen verloren worden, da eine kleine
Stute, der man ſo wenig zutraute, daß die Wetten
gegen ſie 15 gegen 1 ſtanden, unter allen 26 Pfer-
den, welche eingeſchrieben waren, die erſte blieb. Ein
Bekannter von mir gewann 9,000 L. St., und hätte
im Fall des Verluſtes kaum ſo viel hundert verloren.
Ein Anderer ſoll faſt um ſein ganzes Vermögen ge-
kommen ſeyn, und zwar, wie man allgemein ſagt,
durch die Betrügerei des Beſitzers eines Hauptpfer-
des, auf das er ſelbſt öffentlich ſehr hoch, im Geheim
aber noch weit höher dagegen gewettet habe, und es
dann abſichtlich verlieren laſſen.


Gleich nach dem Rennen, das mit ſeinem Trouble
und Tauſenden von Equipagen mir ein höchſt auf-
fallendes Bild engliſchen Reichthums zurückließ, fuhr
ich weiter nach Norden, einem bis jetzt mir noch un-
bekannten Ziele zu, und kam um 1 Uhr in der Nacht
hier in York, der zweiten Hauptſtadt Englands, an.
Die ganze Tour über las ich bei meiner Laterne im
[172] Wagen in der Frau von Maintenon Briefen an die
Princesse des Ursins, ein Buch, das mich ſehr un-
terhielt. Viele Stellen ſind für die Schilderung je-
ner Zeiten und Sitten höchſt merkwürdig. Uebrigens
verſteht die Incognito-Königin natürlich das Hofle-
ben aus dem Grunde, und erinnert in ihrem Beneh-
men oft auffallend an einen Deiner guten Freunde,
beſonders in der Art, wie ſie ſtets Unwiſſenheit al-
les deſſen, was vorgeht, affektirt, und mit Gering-
ſchätzung von ihrem eignen Einfluß ſpricht. Dabei
zeigt ſie aber auch viel Milde und Klugheit, und ſo
ungemeinen Anſtand in Allem, daß man ſie lieber
gewinnen muß, als die Geſchichte ſie uns eigentlich
ſchildert. Es iſt zwar immer ſchlimm, ein altes Weib
regieren zu laſſen, es mag nun einen Jupon oder
Hoſen anhaben, aber zu jener Zeit ging es doch noch
eher wie heutzutage, denn im Ganzen waren die
Leute doch offenbar damals, weit mehr wie jetzt,
naive große Kinder, und führten ſogar den Krieg auf
dieſe Weiſe, ja ſelbſt den lieben Gott ſahen ſie nur
wie einen höher potenzirten Ludwig den Vierzehnten
an, und, wie ächte Höflinge, verließen ſie in arti-
culo mortis
augenblicklich den irdiſchen König, keine
Notiz weiter von ihm nehmend, um ſich von nun
bis zum Ende nur reuig dem, als zu entfernt bis
jetzt vernachläſſigten, mächtigeren Herrſcher allein zu
weihen. Man kann auch in den alten Memoiren
ſehr wohl bemerken, daß diejenigen, welche bei Hofe
immer gut oder leidlich durchzukommen wußten, gleich-
falls mit mehr Vertrauen auf ihr savoir faire im
[173] Himmel ſterben, diejenigen aber, welche ſich zu der
Zeit in völliger Ungnade befanden, einen weit ſchwe-
rern Tod und größere Gewiſſensbiſſe erleiden muß-
ten. Man kann ſich eine ſolche Zeit, einen ſolchen
Hof und ſolches Leben gewiß nicht mehr recht treu
vorſtellen, aber grade für unſern Stand mag es
allerdings nicht ſo übel geweſen ſeyn. Ich machte
viele Betrachtungen über dieſen ewigen Wechſel in
der Welt, und rief zuletzt, angeweht vom unſichtba-
ren Geiſterhauch, der fortwährend durch das All
ſtrömt, liebender Sehnſucht Gruß dem herrlich fun-
kelnden Abendſterne zu, der ſeit Aeonen Jahren ſich
all dieß Treiben mit ſo vieler Toleranz und unge-
trübter Ruhe anſieht.



Es gibt wirklich einige Talente in mir, um die
es Schade iſt. . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
Alles das geht nun verloren, (denn ſich ſelbſt dient
man immer ſchlecht) grade wie etwas noch viel Beſſe-
res, z. B. ein wunderherrlich ſchöner Baum in Ame-
rikas Wildniſſen ſich vergebens jedes neue Frühjahr
mit dem prächtigſten Laube, mit den ſüßduftendſten
Blüthen ſchmückt, ohne daß je auch nur eine arme
Menſchenſeele ihre Augen und ihr Gemüth daran er-
[174] götzen mag. Eine ſolche Exiſtenz nennen wir Men-
ſchen nur unnütz! Welcher aimable Egoismus —
deſſen ungerechte Verdammung ich auch mit leiden
muß, denn meine erwähnten ſchönen Tugenden blei-
ben ebenfalls unnütz, und meine ganze Perſon wäre
es vielleicht, wenn ich nicht glücklicherweiſe wenigſtens
meinen Leuten, nebſt verſchiedenen Gaſtwirthen und
Poſthaltern, indem ich ſie täglich bezahle, noch im-
mer von reellem Nutzen, und Dir, gute Julie (je
m’en fiatte au moins
) aus andern Gründen gar un-
entbehrlich wäre.


Alſo ganz um nichts und wieder nichts lebe ich
nicht auf der Welt, und da ich auf der andern Seite
Niemanden ſchade, gleichſam Einnahme ohne Aus-
gabe, ſo ſtellt ſich meine Rechnung noch immer leid-
lich genug.


Dieſen ganzen Tag bin ich in der Stadt umher
gewandert. Ich begann mit dem Dome, der rück-
ſichtlich des Reichthums ſeiner Zierrathen, wie auch
ſeiner Größe, mit dem Mailänder einige Aehnlichkeit
hat. Der Erbauer, d. h. der ihn zu bauen anfing,
war Erzbiſchof Scope, eine Shakspear’ſche Perſon,
den Heinrich IV. 1405 als Rebell köpfen ließ. Er
liegt in der Kirche begraben, und im Kapitelhauſe
daneben iſt noch ein Tiſch mit einem ihm früher zu-
gehörigen, alſo vierhundert Jahre alten Teppich be-
deckt, auf dem ſein Wappen vielfach eingewürkt iſt.
Der Teppich iſt immer noch in leidlichen Umſtänden.
Die Fenſter im Dom ſind größtentheils von altem,
buntem Glaſe (eine große Seltenheit in England),
[175] nur hie und da durch Neues erſetzt. Die Steinar-
beit überall vortrefflich, auf das Feinſte und Nied-
lichſte wie geſchnitztes Holz gearbeitet, alle Arten von
Blättern, Thieren, Engeln und Potentaten darſtel-
lend. Von den zwei Hauptfenſtern an den beiden
Enden der Kirche iſt das Eine nicht weniger als fünf
und ſiebenzig Fuß hoch und zwei und dreißig Fuß
breit. Das entgegengeſetzte ſtellt in ſeinen ſeltſamen
Steinverzweigungen die Adern des menſchlichen Her-
zens dar, und giebt mit dem blutrothen Glaſe einen
wunderbaren Anblick. Ein andres großes Seitenfen-
ſter iſt dadurch merkwürdig, daß das Glas in Nachah-
mung von Stickerei und Nadelarbeit gemalt iſt, ſo
daß es nur einer feinen bunten Tapete gleicht, ohne
irgend ein andres Bild zu enthalten. Im Chor ſteht
ein alter Stuhl, auf dem mehrere Könige Englands
gekrönt worden ſind. Ich ſetzte mich neugierig auch
darauf, und fand ihn für einen Steinſtuhl ſehr be-
quem. Noch angenehmer mag es ſich allerdings dar-
auf ſitzen, wenn man im Begriff iſt, die königliche
Krone zu empfangen.


Neben der Kirche iſt eine ſehr hübſche, gothiſch
verzierte Bibliothek, deren Einrichtung mir ſehr zweck-
mäßig ſchien. Die Schränke und Fächer ſind nume-
rirt, die erſten mit römiſchen Zahlen, die zweiten
mit Buchſtaben. Jedes Buch hat drei Nummern
aufgeklebt, oben die des Schranks, dann des Fachs
und unten ſeine eigne Zahl, ſo daß man es im Au-
genblick finden kann. Die Nummern verſtellen auch
die Bücher gar nicht, da es Papierchen in Form gold-
[176] ner Sonnen ſind, in deren Mitte der Buchſtabe oder
die Nummer ſteht. In der Ecke des Saals iſt eine
äußerſt leichte und bequeme Wendeltreppe angebracht,
um zur Gallerie zu gelangen, die etwas über der
Mitte der Schränke umherläuft.


Ueber allen Büchern (ein excellentes Mittel, um ſie
vor dem Staube zu bewahren) ſind leichte Pappdeckel
mit umgeſchlagenen Enden an dem Repoſitorio befe-
ſtigt, die beim Herausnehmen der Bücher nur ein
wenig aufgehoben zu werden brauchen. Sie ſind mit
violettem Papier überzogen, und liegen nur ganz
loſe auf.


Der Buchſtaben-Catalog iſt folgendermaßen ein-
gerichtet:


pagina20.


Dieß wird genügen, ihn Dir deutlich zu machen,
und da ich aus Erfahrung weiß, welch’ ſchwieriges
Geſchäft das Ordnen einer Bibliothek iſt, und wie
viel verſchiedene Manieren es dafür gibt, ſo habe ich
dieſe, als ſehr paſſend für eine kleinere Bücherſamm-
lung, aufzeichnen wollen.


[177]

Eine andere gute Einrichtung beſteht in der Auf-
ſtellung von Bücherbehältniſſen, um das einzelne
Herumliegen derjenigen Bücher zu verhindern, die
in öfterem oder gewöhnlichem Gebrauch ſind. Sie
haben die Form einer doppelten Schaufel, mit einem
Unterſchied in der Mitte, und emporſtehenden Sei-
tenrändern. Auf beiden Seiten werden die Bücher
hineingeſtellt. Die gothiſchen Fenſter ſind hier zwar
modern, aber denen in der Kirche ſehr gut nachge-
abmt. Auch die Art, wie ſie in Blei gefaßt, ſehr ge-
fällig, mit ſich fortwährend durchſchneidenden Cirkeln.
Der Kamin war mit ſammt der Einfaſſung ebenfalls
in der Form eines gothiſchen Fenſters gehalten, eine
originelle Idee aus alter Zeit. Von den ſeltnen Bü-
chern und Manuſcripten, die hier aufbewahrt wer-
den, konnte ich nichts zu ſehen bekommen, da der
Bibliothekar abweſend war. In einem Winkel fand
ich jedoch eine ſehr curieuſe Abbildung der großen
Prozeſſion bei des Herzogs von Marlbouroughs Be-
gräbniß. Es iſt faſt unglaublich, wie ſich ſeitdem die
Trachten und Gebräuche ſchon ſo vollſtändig verän-
dert haben. Der ſteinalte Küſter, welcher mich herum-
führte, wollte ſich noch als Knabe erinnern, derglei-
chen Soldaten mit langen Haarbeuteln geſehen zu
haben.


Eine Viertelſtunde vom Dom liegen auf einem
Hügel, angränzend der Stadt, die romantiſchen, mit
Bäumen reich überwachſenen und mit Epheu bedeck-
ten Ruinen der Abtei von St. Mary. Man hat die
nicht lobenswerthe Abſicht, auf demſelben Hügel,
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 12
[178] dicht daneben, ein öffentliches Gebäude aufzurichten,
und iſt eben jetzt beſchäftigt, den Grund dazu zu gra-
ben, wobei man auf die ſchönſten verſchütteten Ueber-
reſte der alten Abtei geſtoßen iſt, die kunſtreiche Ar-
beit noch ſo wohl erhalten, als wenn ſie erſt geſtern
fertig geworden wäre. Ich ſah mehrere herrliche Ca-
pitäle noch in der Erde, und in einem Hauſe dane-
ben vorzügliche Basreliefs, die man während der Ar-
beit dahin gebracht hatte. Wir paſſirten hierauf den
Fluß (die Ouſe) in einem Kahn, und ſetzten unſere
Promenade auf der Höhe der alten Stadtmauer fort,
ein pittoresker, aber faſt unzugänglicher Weg. Die
umliegende Gegend iſt äußerſt friſch und grün, und
die vielen gothiſchen Thürme und Kirchen geben ihr
viel Abwechslung und bieten herrliche Proſpekte dar.
Nach einer Viertelſtunde Wegs erreichten wir das
ſogenannte Micklethor, von dem der alte Barbecan
(Seitenwerk) ſo eben abgeriſſen worden iſt, welches
aber im Uebrigen noch ſeine urſprüngliche Form ganz
beibehalten hat. Die bunten und vergoldeten Wap-
pen von York und England glänzten ritterlich dar-
über in der Sonne. Auf einem nahen Felde hat man
vor fünfzehn Jahren ein römiſches Grab entdeckt,
und der Hausbeſitzer, der es gefunden hat, zeigt es
jetzt Fremden für Geld in ſeinem Keller. Das Ge-
wölbe, von römiſchen Ziegeln, iſt ſo friſch wie mög-
lich, und das Gerippe im Steinſarge darunter, wel-
ches die Zeit dunkelbraun gefärbt, iſt nach Ausſage
der Anatomen eine junge Frau, und was nach zwei-
tauſend Jahren viel ſagen will, ſie hat noch einige
[179]beaux restes — nämlich herrliche Zähne, und dazu
einen der ſchönſten cranologiſchen Schädel. Ich un-
terſuchte ihre Organe ſorgfältig, und fand die wün-
ſchenswertheſten Eigenſchaften, ja in ſolchem Maße,
daß ich es ſehr bedauerte, ſie zweitauſend Jahre zu
ſpät kennen gelernt zu haben, ſonſt hätte ich ſie ge-
heirathet. Einen beſſer organiſirten Schädel finde
ich gewiß nie. Reich ſcheint ſie indeſſen nicht gewe-
ſen zu ſeyn, denn es haben ſich nur zwei Glas-Fla-
cons in ihrem ſteinernen Sarge gefunden — an ſich
jedoch höchſt merkwürdige Gegenſtände, deren Glei-
chen man, ſo vollkommen erhalten und unſerm Glaſe
ſo ähnlich, ſo viel ich weiß, außer Pompeji noch nir-
gends angetroffen. Das Glas unterſcheidet ſich von
unſerm nur durch einen ſilberartigen Schein, und
hat, was am meiſten auffällt, nirgends eine Marke,
die anzeigt, daß es geblaſen ſey, welche Marke man
bei allen unſern ungeſchliffenen Gläſern nicht verber-
gen kann. Die Direktion des Londoner Muſeums
hat dem Beſitzer ſchon große Summen für dieſe Glä-
ſer geboten. Er findet es aber vortheilhafter, für ei-
nen Thaler unſeres Geldes die Merkwürdigkeit Frem-
den zu zeigen.


Nachdem wir zum Micklethor zurückgekehrt wa-
ren, ging es nun noch mühſamer auf der zerbröckel-
ten Stadtmauer weiter, bis wir nach halbſtündigem
Klettern eine ſchöne Ruine, Cliffords Thurm ge-
nannt, erreichten. Dieſer alte feſte Thurm ſpielt
eine Rolle in der engliſchen Geſchichte. Einmal un-
ter andern wurden tauſend Juden bis auf Einen
12*
[180] darin verbrannt, die heut zu Tage Rothſchild wohl
gerettet haben würde. Zuletzt flog Cliffords Tower
als Pulverthurm vor hundert Jahren in die Luft,
und iſt ſeitdem dem Saturn, der alten freſſenden
Zeit, gänzlich verfallen. Doch die Zeit reißt ein, baut
aber auch auf, daher ſtürzten die Trümmer zwar zu-
ſammen, aber Ephen umſchloß ſie wieder wie dichter
Haarwuchs, in dem Tauſende von Sperlingen niſten,
und in der Mitte des hohen Thurmes iſt ſogar ein
ſtolzer Nußbaum emporgewachſen, deſſen Krone be-
reits viele Fuß über die dachloſen Mauern hervor-
ragt. Der Hügel, auf dem die Ruine ſteht, ſoll von
den Römern aufgefahren worden ſeyn, und ein Mann,
der kürzlich um Schätze zu ſuchen einen Schacht durch-
arbeitete, fand den ganzen Fuß des Berges faſt ganz
aus Menſchen- und Pferde-Knochen beſtehend. So
iſt die Erde, überall ein großes Grab und eine große
Wiege!


Von Ruinen und Todten begab ich mich zu den
lebendig Todten, die zu den Füßen des Thurmes
ſchmachten; den armen Gefangenen in den Graf-
ſchaftsgefängniſſen. Aeußerlich ſcheint ihre Wohnung
zwar ein Palaſt. Innerlich ſieht es aber anders aus,
und die armen Teufel dauerten mich herzlich, die in
zwar reinlichen aber doch ſchauerlichen und naßkalten
Zellen hier den ganzen Winter hindurch, bis Monat
März, blos Verdachts wegen, ſitzen müſſen, mit
der angenehmen Perſpektive, dann vielleicht gehangen
zu werden. Keine Entſchädigung erwartet ſie, wenn
ſie frei geſprochen werden ſollten! Im Hofe, wo die
[181] Schuldner herumgehen dürfen, weideten zugleich in
ihrer Geſellſchaft zwei Jagdpferde, eine Hirſchkuh und
ein Eſel. In allen Räumen und Zellen, die ich be-
ſuchte, fand ich Ordnung und Reinlichkeit gleich lo-
benswerth. Die merkwürdigſte Eigenthümlichkeit die-
ſer Gefängniſſe aber iſt eine Art Diebes-Garderobe,
mit wahrer Eleganz, wie eine Theater-Garderobe
aufgeſtellt. Ein ſtark mit Wein überladener Gefan-
genwärter ſtammelte folgende Erklärungen her:


„Hier ſehen Sie die Perrücke des berühmten Gran-
by, die ihn ſo verſtellte, daß er zehn Jahre lang nicht
attrapirt werden konnte. Wurde hier gehangen 1786.
Hier der Zaunpfahl, mit dem Georg Nayler vor zwei
Jahren auf dem Wege nach Duncaſter erſchlagen
wurde. Delinquent wurde letztes Frühjahr hier ge-
hangen. — Der Knockdown (Schlagnieder) von Stef-
fens, womit er ſechs Leute auf einmal umgebracht.
Wurde vor zwei Jahren ebenfalls hier gehangen. —
Die ungeheuren eiſernen Schienen, mit denen Kirk-
patrick allein feſtgehalten werden konnte. Siebenmal
entwiſchte er vorher aus den feſteſten Gefängniſſen.
Aber dieſe Schienen, die ich ihm ſelber noch ange-
legt, die waren ihm doch ein bischen zu gewichtig.
(Es waren complette eiſerne Balken, die ein Pferd
kaum hätte fortſchleppen können.) Er trug ſie nicht
lange, denn zwei Monate darauf wurde er, gerade
am erſten Mai, an einem herrlichen Tage, gen Him-
mel expedirt. — Hier die Maſchine, mit der Cork
falſche Guineen geſtempelt. War ein ſehr anſtändi-
ger Gentleman. Gehangen 1810.“ Bitte, unterbrach
[182] ich ihn hier, was für eine Waffe war dieſer rieſen-
große hölzerne Schlegel? „O, ſchmunzelte der alte
Kerl ſchwankend, die iſt unſchuldig, he he, das iſt
nur mein Zuckerſchlegel, wenn ich Nigus mache, he
he, den habe ich mir hier nur ſo parat geſtellt.“ Die
Garderobe befand ſich auch immediat neben ſeiner
Wohnſtube, und ſchien eine Liebhaberſammlung, die
ſeinem eigenen Eifer allein ihr Entſtehen verdankte.
Wie verſchieden ſind doch die Steckenpferde der Men-
ſchen! Ich fürchte, Du biſt bereits müde von der
langen Promenade, liebe Julie, mußt mir aber doch
noch ein wenig weiter folgen, ja aus der Tiefe geht
es ſogar wieder mühſam bis zur höchſten Höhe hin-
auf. Ich wünſchte nämlich das ganze Amphitheater
meiner bisherigen Tour nebſt dem prächtigen Mün-
ſter, auf einen Blick zu überſehen, und wählte mir
dazu einen gothiſchen Thurm von den ſchönſten Pro-
portionen aus. Er iſt von oben bis unten von kunſt-
reicher durchbrochener Arbeit, und hinter dem trans-
parenten Gewebe hatte ich mit meinem Operngucker
ſchon von fern Leitern bis oben hinauf entdeckt, die
mich ſehr reizten, ſie zu beſteigen. Nach einem der-
ben Marſch, auf dem wir ein altes Stadtthor berühr-
ten, das Adelsthor genannt, welches ſeit fünfzig Jah-
ren vermauert war, und nun wieder geöffnet wor-
den iſt, um zur Paſſage für den neuen Viehmarkt
zu dienen, der ſehr elegant und zweckmäßig mit drei
Reihen Bogen für Schaafe, Rindvieh und Pferden
verſehen iſt, gelangten wir endlich zu beſagtem Thur-
me, eine Zierde der älteſten Kirche in York. Es
[183] machte einige Mühe, den Küſter zu finden, einen
ſchwarzen Mann, der mehr einem ſchmutzigen Köhler,
als einem geiſtlichen Offizianten ähnlich ſah, ſich aber
dabei doch voller guten Willens zeigte. Ich frug, ob
man auf die mit herrlichen Galerien gezierte Spitze
des Thurmes gelangen könne? Das weiß ich nicht,
war die Antwort, denn ich bin ſelbſt nie oben ge-
weſen, obgleich ich ſchon zehn Jahre Küſter bin. Es
ſind blos alte Leitern da, und oben fehlt ein Stück
daran, es wird alſo wohl nicht gehen. Dies be-
feuerte meinen abenteuerlichen Tik, und ich eilte ohne
Zögern thurmaufwärts auf der ſchlechteſten, dunkel-
ſten, engſten und verwittertſten Wendeltreppe, die
man ſich denken kann. In Kurzem erreichten wir
die Leitern. Wir beſtiegen ſie ohne Aufenthalt, und
kamen auf die erſte Plattform. Hier aber bedankte ſich
ſchon Küſter und Lohnbediente weiter zu klettern. Eine
hohe und allerdings ſehr ſchwankende Leiter mit vie-
len fehlenden Sproſſen führte zur Spitze, wo oben,
ungefähr ſechs Fuß weit, die Sproſſen ganz fehlten,
bis zu einem viereckigen Loch, durch welches man
auf das platte Dach hinaus gelangte. Ich mochte
nun nicht mehr unverrichteter Sache zurückgehen, klet-
terte fort, war bald oben, erreichte mit den Händen
den Rand der obern Oeffnung, und ſchwang mich,
mit einiger Mühe, glücklich hinauf. Die Ausſicht
war in der That prächtig, und ganz nach Wunſch
erreichte ich beſonders meinen Hauptzweck, den unten
ſo ſehr von Häuſern encombrirten Dom nun völlig
frei, in aller ſeiner coloſſalen Majeſtät gleich einem
[184] Kriegsſchiff unter Kähnen vor mir zu ſehen.
Der Wind ſauſte aber fürchterlich in der Höhe, und
alles war hier ſo ſehr im Abſterben begriffen, daß
die ſteinernen Sitze der Candelabres in den Ecken der
Gallerie, wie dieſe ſelbſt bereits zum Theil einge-
ſtürzt waren, die noch ſtehenden aber ſich wie Schie-
fer abblätterten, auch die Eiſen welche ſie zuſam-
menhielten, ſo locker und verroſtet waren, daß im
Winde die ganze Plateforme zu ſchwanken ſchien.
Nach und nach wurde mir in dem fortwährenden
Sturme unheimlich zu Muthe. Ich begann alſo den
Rückzug, fand aber das Herunterkommen weit
ſchwerer als das Hinaufklimmen, wie es immer bei
ſolchen Gelegenheiten der Fall iſt. Nur muß man
ſich den entmuthigenden Gedanken keinen Augenblick
überlaſſen, das beſte und einzige Mittel, wenn man,
wie die Engländer ſagen „nervous“ zu werden an-
fängt. Indem ich mich alſo rückwärts nach der Lei-
ter gewendet, feſt an die Balken anklammerte, ließ
ich mich in die Tiefe unter mir hinab und ſuchte, an
den Armen hängend und meine Beine wie Fühlhör-
ner ausſtreckend, emſig die oberſte Stufe — ſehr
froh als ich endlich feſten Fuß faßte. Unten ange-
kommen erſchien ich eben ſo ſchwarz als der Küſter.


Unterdeſſen war es Zeit zum Abend-Gottesdienſt
im Dom geworden, wo die größte Orgel Eng-
lands
und eine ausgewählte Muſik, mir in dem
herrlichen Lokal einen ſchönen Ausruhepunkt ver-
hieß. Ich eilte ſchnell dahin, und verträumte bald
eine ſüße halbe Stunde unter der Töne Gewalt- und
[185] Zartheit, denn als Tyrann der Muſik, wie Heinze
ſie nennt, rollte die Orgel dröhnend durch die uner-
meßlichen Hallen, und ſanft wie Frühlingsbauch be-
ruhigten wieder die Stimmen lieblicher Kinder das
aufgeſchreckte Gemüth.


Halb ſchon in der Dämmerung beſuchte ich nach-
her noch die goldne Stadthalle, das Rathhaus, wo
der Lord Mayor (nur London und York haben Lord
Mayors) dreimal die Woche Gericht hält, und auch die
dreimonatlichen Aſſiſen ſtatt finden. Es iſt ein altes
und ſchönes gothiſches Gebäude. Daneben ſind, neu
aufgeführt, zwei Säle für die obern und untern
Advokaten. In dem der obern ſind in modernem
bunten Glas die Wappen aller Lord Mayors in den
Fenſtern angebracht, denn jeder Handwerksmann
hat hier ein Wappen. Gewöhnlich ſieht man auch
ſchon aus dem Inhalt deſſelben, weß Geiſtes Kind
der Beſitzer iſt; der Kaufmann hat ein Schiff, der
Holzhändler einen Balken, der Schuſter einen Lei-
ſten ꝛc. Die Deviſen dazu fand ich aber zu vornehm
gewählt. Am beſten hätten ſich für die drei ange-
führten ohne Zweifel gepaßt, für die erſten das Lieb-
lingslied der Berliner Straßenjugend: „O fliege mein
Schifflein, o fliege!“ beim Zweiten: „Sieh nicht den
Splitter in des Fremden Auge, indem Du den Bal-
ken in Deinem eignen überſiehſt.“ Beim Dritten
endlich: „Schuſter bleib bei deinem Leiſten!“ Das
Letzte aber wäre freilich zu ſchwierig für einen Lord
Mayor!


[186]

Ich habe nun das gehörige Gleichgewicht herge-
ſtellt, d. h. meine Hände ſind eben ſo müde vom
Schreiben, als meine Beine vom Gehen. Es iſt
Zeit, dem Magen auch einige Arbeit zu gönnen. Wäre
ich Walter Scott, ſo gäbe ich Dir den Küchenzettel,
ſo aber wage ich es nicht, ſtatt deſſen lieber noch ein
Wort über die Nachtiſch-Lektüre, zu der mir wiederum
die berühmte Maintenon gedient.


Es rührte mich, wie die arme Frau das traurige
Einerlei, die bittere Géne ihrer Lage ſo treu ſchil-
dert, und ſich ſo oft und herzlich, mit unverkennba-
rer Wahrheit, nach dem Abtreten von dieſem Thea-
ter ſehnt, das wie ſie ſagt, ſchlimmer wie jedes an-
dere, von Morgen bis Abend dauert! Un-
ter aller Pracht und Macht ſcheint ihr doch der Tod
das Wünſchenswertbeſte, und man kann ſich nach ſo
unendlich langer Leere, nach dem Aufopfern aller
Eigenthümlichkeit ſo viele, viele Jahre hindurch, die
tödtliche Ermüdung des Geiſtes wohl denken, die
nach Erlöſung ſchmachtet. Der religieuſe Wahn, dem
ſie ſich hingegeben, iſt auch daraus erklärlicher, und
lag überdem in der Zeit, die in dieſer Hinſicht völlig
kindiſch war. Hätte ein Geiſt wie Frau von Main-
tenon ſpäter gelebt, ſo würden Moliniſten und Jan-
ſeniſten ihr kaum ein Lächeln der Verachtung abge-
wonnen haben, in der ihrigen war es anders. Sie
bleibt in ihrer Art eine große Frau, wie Ludwig
der XIV. ein großer König, in einer kleinen Zeit,
die eben, weil ſie klein war, die kleinen Dinge,
Hof, Geſellſchaft ꝛc., weit vollkommner ausbildete
[187] als die unſrige, und daher dem dichteriſchen Ge-
müth, das überall das Vollkommene, es ſey klein
oder groß, mit Vergnügen gewahr wird, ein immer
neu anziehendes Bild darſtellt.



Ich hielt heute früh die Nachleſe, und beſah
noch die uralte Kirche All Saints, wo ich, leider in
ſehr ſchlechter Erhaltung, vortreffliche bunte Gläſer
antraf, beſonders eine Jungfrau mit dem Chriſtus-
Kinde von einer Schönheit, und Lieblichkeit des
Ausdruckes, deren Raphael ſich nicht zu ſchämen
hätte. Ferner St. Mary’s alte Kirche, die ein ſelt-
ſames Thor hat, auf dem eine Menge Hieroglyphen
und die Zeichen des Zodiaks in Stein zierlich ausge-
hauen ſind. Da ich den Erzbiſchof von York in
London hatte kennen lernen, ſo ſchrieb ich ihm ge-
ſtern ein Billet, und bat ihn um die Erlaubniß, ſeine
Villa, wo er jetzt reſidirt, und ihm ſelbſt meinen
Beſuch zu machen. Er hat mir ſehr artig geantwor-
tet, und mich gebeten, einige Tage bei ihm zu blei-
ben. Da ich dazu keine Luſt habe, ſo nahm ich blos
ein Diné auf heute an, und fuhr um 5 Uhr hinaus.


Ich fand einen vortrefflich gehaltnen, üppig
fruchtbaren pleasure ground und ein ſtattliches altes
gothiſches Gebäude in einem ganz beſondern Style,
der mir ſehr wohl gefiel. Es war nicht ſehr groß,
[188] aber äußerſt elegant, und an den 4 Enden des plat-
ten Daches ſtanden 4 coloſſale Adler mit ausgebrei-
teten Flügeln. Statt der ſchweren Créneaux, die nur
auf ungeheuren Maſſen ſich gut ausnehmen, lief eine
durchbrochene Steinbroderie, als Galerie rund um
das Dach, die ſehr künſtlich, leicht und reich zugleich
ausſah. Daß das Innere wie alles Uebrige prächtig
war, kannſt Du Dir bei einem Manne denken, der
40,000 L.St. geiſtliche Revenüen hat. Der alte Erz-
biſchof, noch ein ſehr rüſtiger Mann, führte mich
überall herum, und unter andern auch in ſeinen
Küchengärten und Treibhäuſern, die ausgezeichnet
ſchön ſind; beſonders die Küchengärten, welche überall
mit Blumen geſchmückt waren, und in denen alle
Arten von Gemüſen und Früchten in höchſter Fülle
wuchſen. Dabei waren ſie ſo reinlich, wie das ele-
ganteſte Zimmer gehalten, eine Sache, die unſre
Gärtner durchaus nicht begreifen wollen; eben ſo die
Treibhäuſer. Keine Spur hier von Unordnung und
Schmutz, von herumliegenden Brettern und Utenſi-
lien, Dünger an den Wegen u. ſ. w. An den ver-
ſchiedenen Mauern ſah man auf beiden Seiten die
auserleſenſten Fruchtbäume in ſymmetriſchen Linien
gezogen, unter andern viele Johannisbeerſtämme, die
durch Wegnahme aller kleinen Aeſte einen ſolchen
Wachsthum erlangt hatten, daß ſie wohl 12 Fuß
hoch an der Mauer in die Höhe gingen, und über
und über mit Trauben behangen waren, welche klei-
nen Weinbeeren an Größe glichen. In den Treib-
häuſern, wo herrliche Ananas und Grenadillas (eine
[189] weſtindiſche Frucht in Form einer kleinen Melone
und von Geſchmack der Granate ähnlich), üppig
wuchſen, war an jedem Fenſter eine verſchiedene
Weinſorte gezogen. Alles hing voller Früchte. Die
Bäume an den Mauern im Freyen, deren ich vor-
hin erwähnte, waren mit Netzen verhangen, und
werden ſpäter mit Matten zugedeckt, ſo daß man
bis Ende Januar reife Früchte davon pflücken kann.
So war auch noch jetzt eine Stelle im Garten voll
reifer Erdbeeren von einer beſondern Sorte, und
der Erzbiſchof verſicherte, er erhalte dieſe ebenfalls
bis im Januar im Freien. Als ein neues Gemüſe
von beſonders gutem Geſchmack zeigte er mir nor-
männiſche Kreſſe, die auf dem Schnee abgeſchnitten
wird.


Die Menge der noch blühenden Blumen, welche
überall die Gänge und Gemüſebeete umgaben, war
auffallend. Ich weiß zwar, daß das Klima die Gärt-
ner hier ſehr begünſtigt, demohngeachtet müſſen ſie
vor den unſrigen noch andere Vortheile in der Be-
handlung der Blumen voraus haben.


Im pleasure ground fand ich Lerchenbäume, die
nicht nur rieſenmäßig groß waren, ſondern auch ſo
dunlel im Laub wie Fichten, und ihre herabhängen-
den Aeſte wohl 20 Fuß weit umher auf dem Raſen
ausbreiteten. Wie ich hier zum erſtenmale hörte,
hält man es für die Nadelhölzer ſehr heilſam, wenn
ihre Aeſte die feuchte Erde berühren können, weil ſie
durch dieſe ungemein viel Nahrung einſaugen ſollen.


[190]

Ein ächt Erzbiſchöfliches Diné beſchloß den ange-
nehmen Abend. Dabei fiel mir das Verhältniß der
vornehmen engliſchen Geiſtlichen zu ihren Weibern
wieder recht ſonderbar auf. Ich ſagte Dir, glaub’ ich,
ſchon, daß dieſe weder den Titel noch Namen ihrer
Männer tragen, ſondern, wie bloße Freundinnen,
blos den ihrigen behalten. Die hieſige Dame des
Hauſes war indeß eine Lady in her own right von
angeſehener Familie und dabei eine ſehr artige Frau.
Sie hat 10 Söhne und 3 Töchter. Von den letzten
befand ſich nur eine zugegen, ohngefähr 20 Jahr alt,
die ein bei Weibern ſeltnes Unglück gehabt hat, näm-
lich ein Bein zu verlieren, das man ihr nach einem
Falle vom Pferde abnehmen mußte. Die Kleidung
verſteckt aber bei einer Frau dieſen Mangel weit beſ-
ſer als bei einem Manne, und ich bemerkte nicht
einmal einen gehinderten Gang an ihr, ehe ich davon
unterrichtet war.



Ich vergaß geſtern einer drolligen Geſchichte zu
erwähnen, die bei Tiſche erzählt wurde, und gewiß
das ſtärkſte Beiſpiel von Diſtraktion aufſtellt, welches
Du, den ſich köpfenden Irländer abgerechnet, noch
gehört haben wirſt. Lord Seaford erzählte von ſei-
nem Onkel dem alten Grafen von Warwick, der
ſchon früher wegen ſeiner Zerſtreutheit berühmt war,
daß er einſt in einem wichtigen Geſchäft von War-
[191] wick Caſtle Abends nach London reiſte, dieſes dort
den andern Tag zu ſeiner Zufriedenheit beendigte
und in der Nacht wieder zurückfuhr. Als er in
Warwick ankam, fiel er in Ohnmacht. Alles er-
ſchrack und frug den Kammerdiener, ob ſein Herr
ſchon in London krank geweſen ſey. Nein, ſagte die-
ſer, er iſt ganz wohl, aber ich glaube, Gott verzeih
mir, er hat, ſeit er weg iſt, vergeſſen — zu eſſen.
Dies war auch wirklich der Fall, und ein Teller
Suppe, den man ſo fort Seiner Herrlichkeit applizirte,
brachte ſchnell Alles wieder in die gewohnte Ordnung.


Ich ſchreibe Dir aus einem Seebade, das ſehr
romantiſch ſeyn ſoll. Ich ſelbſt weiß zwar nichts da-
von, denn es war ſtockfinſter als ich ankam. Mor-
gen früh habe ich dagegen alle Hoffnung auf die
ſchönſte Ausſicht, da ich im 4ten Stock logire, weil
das ganze Haus ſchon beſetzt iſt.


Während der Reiſe hierher beſah ich das Schloß
Howard, dem Lord Carlisle gehörig. Es iſt dieß ei-
ner der engliſchen shewplaces, (Schau- und Para-
deplätze) gefällt mir aber nicht im Geringſten. Schloß
Howard ſtammt von Sir Vanburgh her, demſelben
Baumeiſter, aus Ludwig XIVten Zeit, der in dem
gleichen ſchlechten franzöſiſchen Geſchmack Blenheim
gebaut hat. Dieſes imponirt jedoch durch ſeine
Maſſe, dagegen Schloß Howard weder imponirt noch
anmuthig erſcheint. Dabei hat der ganze Park etwas
höchſt Trauriges, Steifes und Deſolates. Auf einem
Berge ſteht ein großer Tempel, das Erbbegräbniß der
[192] Familie. Die Särge ſind in Zellen rund herum ver-
theilt, die meiſten noch leer, ſo daß das Ganze in-
wendig wie ein Bienenſtock ausſieht, nur freilich ſtil-
ler! Im Schloß befinden ſich ſchöne Gemälde und
Antiken. Unter den erſten ſind beſonders die ſoge-
nannten 3 Marieen von Annibal Carrache berühmt.
Es ſtellt dieſes Gemälde den todten Chriſtus dar,
hinter welchem ſeine Mutter Marie in Ohnmacht ge-
ſunken iſt. Die Großmutter Marie eilt klagend her-
bei, und Marie Magdalene ſtürzt ſich verzweifelnd
über den Leichnam. Die Abſtufung zwiſchen dem
wirklichen Tode, der bloßen Ohnmacht, dem matten
Schmerz des Alters, und der lebendigen Verzweif-
lung der Jugend iſt bewunderungswürdig wahr dar-
geſtellt. Jedes Glied an Chriſtus Körper erſcheint
wahrhaft todt; man ſieht, dieſe Form hat für immer
ausgedient, bewegungslos, kalt und ſtarr. Alles
dagegen iſt Bewegung und Leben an der ſchönen
Magdalene, bis auf die Haare ſelbſt, möchte ich ſa-
gen, alles Lebenskraft und Fülle, aufgeregt im bit-
terſten Jammer. Gegenüber hängt Annibals Bild
von ihm ſelbſt gemalt. Es zeigt ſehr auffallende Züge,
und ſieht einem verwegnen Highwayman ähnlicher
als einem Künſtler. Dich liebe Julie würde eine
Sammlung Handzeichnungen aus der Zeit Franz des
I., die ſämmtlichen Herren und Damen ſeines Hofes,
in 50 — 60 Portraits, am meiſten angezogen haben.
Es waren gemalte Memoires. Unter den Antiken
amüſirte mich eine der Capitol-Gänſe von Bronze,
die man mit aufgehobenen Flügeln und aufgeſperrten
[193] Schnabel ſchnattern zu hören glaubt. Ein vortreff-
lich erhaltenes Bild Heinrich VIII. von Holbein iſt
der Erwähnung werth, ſonſt fiel mir eben nichts be-
ſonders auf. Der bekannte heilige Johannes von
Domenechino befindet ſich auch hier, angeblich als
Original. Wenn ich nicht irre, iſt das ächte jedoch
in Deutſchland. Der Park, in großen Maſſen ſteif
gepflanzt, iſt beſonders reich an Thorwegen. Ich
kam durch 7, ſage Sieben, ehe ich das Schloß er-
reichte. Ueber eine ſchmutzige Waſſerlache, ohnfern
dem Schloß, führt eine große Steinbrücke mit fünf
oder ſechs Bogen, über die Brücke jedoch kein Weg!
Sie dient blos als Proſpekt, und damit man dies
recht genau gewahr werde, iſt auch nicht ein Strauch
daneben, oder davor gepflanzt. Es ſcheint, daß die
ganze Anlage völlig ſo geblieben iſt, als ſie vor 120
Jahren geſtiftet wurde, mit allen ihren Alleen,
Quinconcen ꝛc. Obelisken und Pyramiden ſind wie
Pilze darin aufgewachſen, denn jede Ausſicht bietet
dergleichen als harten Endpunkt. Die eine Pyra-
mide iſt indeſſen wenigſtens nützlich, denn ſie iſt zu-
gleich ein Gaſthof.



Wenn die Leute in England ſo oft an Erkäl-
tungen und Schwindſucht ſterben, ſo liegt es noch
mehr an ihren Gewohnheiten als an dem Clima.
Spaziergänge auf dem naſſen Raſen ſind die belieb-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 13
[194] teſten, und in jedem öffentlichen Zimmer ſind beſtän-
dig mehrere Fenſter offen, ſo daß man es vor Zug
kaum aushalten kann. Auch wenn ſie zugemacht
ſind, pfeift der Wind doch hindurch, denn ſelten ſind
ſie dicht und nie doppelt. Das Clima ſelbſt iſt aber
auch, ſo gut es die Vegetation unterſtützt, für Men-
ſchen abſcheulich. Heute ritt ich bei dem ſchönſten
Wetter und klarſten Himmel, auf einem Miethgaul,
um 9 Uhr früh aus, und war noch keine Stunde
fort, als mich ſchon der ſchrecklichſte Platzregen über-
fiel, und durch und durch badete. Endlich erreichte
ich ein Dorf, wo ich, in der Verzweiflung, nirgends
einen Thorweg zum Unterreiten zu finden, vom
Pferde abſprang, und in eine Stube zu ebner Erde
eindrang, deren Thür offen ſtand, und wo zwei ur-
alte Weiber etwas am Kamine brauten. In Eng-
land wird alles Häusliche ſo heilig gehalten, daß ein
Menſch, der in eine fremde Stube tritt, ohne ſorg-
fältig vorher ſich annoncirt und um Erlaubniß ge-
beten zu haben, ſtets Schrecken und Unwillen erregt.
Auch ich wurde daher, ohngeachtet die Urſache meines
Eindringens deutlich genug von meinem Hut und
Kleidernrann, nicht zum beſten von den alten Da-
men empfangen, deren Rang höchſtens dem einer
Schuſters- oder Tiſchlers-Frau gleich ſeyn mochte;
nichts aber malt das Entſetzen und den ohnmächti-
gen Zorn meiner Wirthinnen malgré elles, als, kaum
daß ich beim Feuer angelangt war, der Miethgaul,
deſſen Klugheit Neſtor Ehre gemacht haben würde,
ſich ebenfalls durch die Thüre drängte, und ehe man
[195] ihm wehren konnte, höchſt ruhig und anſtändig beim
Kamine ſtand, um mit einer ſchalkhaft dummen
Miene ſeine triefenden Ohren am Feuer zu trocknen.
Die beiden alten Hexen wollten vergehen vor Wuth,
ich vor Lachen. Mit Gewalt ſollte ich nun das Thier
wieder herausbringen — mir aber that der arme
Gefährte zu leid, ſelbſt wagten ſie nicht Hand an
ihn zu legen, und unter Schelten und Schmähen,
was ich, ſo gut ich konnte, durch ſüße Worte und
einen Schilling zu beſänftigen ſuchte, blieben wir ſo,
halb bittend, halb gewaltſam, beide glücklich in der
Stube, bis wir ein wenig trockener geworden waren,
und die Bouraske aufgehört hatte. Das Trocken-
werden half indeß nicht viel, denn beim Eintritt in
das romantiſche Forge-Valley fingen Sturm und
Regen von neuem zu toben an. Ich ergab mich in
mein Schickſal, obgleich ohne alle Schutzmittel, und
tröſtete mich mit den Schönheiten der Umgebung, ein
enges hohes, mit üppigem Wald bewachſenes Thal,
in dem ein reißender Waldbach ſich ſchäumend ſeinen
Weg bahnte. An dem Bache hin führte eine bequeme
Straße. Ich bemerkte unterwegs eine einfache und
hübſche Art, einen Quell zu faſſen, blos durch zwei
große geſprengte Steine mit einem noch größern quer
darüber gelegt, unter welcher Pforte das Waſſer
ſprudelnd hervorſtrömte.


Um einer Verkältung wo möglich zu begegnen,
nahm ich bei meiner Zuhauſekunft ein warmes See-
bad, und begab mich dann auf den Sand, d. h.
13*
[196] auf die Stelle, wo das Meer bei der Ebbe zurück-
tritt, eine ſehr eigenthümliche Promenade. Reitpferde
und Wagen ſtehen darauf in Menge zum Miethen
bereit, und man kann mehrere Meilen, hart am Saum
der Wellen, auf einem Boden zart wie Sammt da-
hinreiten. Das alte Schloß von Scarborough auf
der einen Seite, und eine prächtige eiſerne Brücke,
die zwei Berge verbindet, auf der andern, erhöhen
das Pittoreske des Anblicks. Ich ritt nachher bei
der Abendſonne Schein auch noch auf das Schloß
hinauf, von dem die Ausſicht prächtig iſt, und das
eine impoſante Ruine bildet. Hier wurde Gaveſton,
der Günſtling Eduard II., vom Grafen Warwick,
deſſen Grab ich Dir auf meiner erſten Landtour be-
ſchrieb, gefangen, und ſchnell zur Hinrichtung nach
ſeinem Schloſſe abgeführt.


Auf dem höchſten Punkte der Ruine ſteht ein ei-
ſernes Behältniß, wie ein Kiehnkorb conſtruirt, das
zu Signalen dient. Es wird eine große Tonne Theer
hineingeſetzt und angezündet. Sie brennt dann in
hohen, lodernden Flammen die ganze Nacht. Das
Schloß ſteht auf einem weit in die See hervortre-
tenden Felſen, der circa 150 — 200 Fuß ſenkrecht aus
der See emporſteigt, und oben neben dem Schloß
auf ſeiner Oberfläche noch eine ſchöne Wieſe bildet.


[197]

Meine heutige Excurſion führte mich an der See-
küſte hin nach Filey, wo eine berühmte Felſenbrücke
von der Natur ſelbſt in das Meer hineingebaut wor-
den iſt. Derſelbe Miethgaul, eine Stute ihres Ge-
ſchlechts, den ich geſtern ritt, zog mich heute in ei-
nem ziemlich gut conditionirten Gig. Das Meer
war ſchön blau und voller Segel. In Filey, einem
Fiſcherdorf, nahm ich einen Führer, und eilte auf
dem feſten Meerſande der Brücke zu. Wir kamen
bei vielen ſeltſam geſtalteren Felſen vorüber, hie und
da lag auf einer Spitze ein Fiſch in der Sonne, der
bei der Ebbe ſitzen geblieben, und dort lebendig ge-
röſtet worden war; manche Hohlungen in Stein fand
ich mit einer Unzahl kleiner Muſcheln angefüllt, die
von weitem Thonkugeln glichen. Die Brücke ſelbſt
iſt eigentlich nur ein breites Felſenriff, welches eine
halbe Viertelſtunde in das Meer hinausgebt. Selt-
ſam ſind die einzelnen Blöcke in phantaſtiſchen Fi-
guren durcheinander geworfen, und man muß ſich ſehr
in Acht nehmen, nicht von ihren ſchlüpfrigen Kanten
hinabzugleiten. Die Fluth kam bereits heran, und
deckte ſchon einen Theil des Riffs. Nachdem ich alles
hinlänglich betrachtet, kletterte ich an den Uferfelſen
ziemlich beſchwerlich hinan, um den Rückweg oben
zu nehmen, wo ein angenehmer Wieſenweg mich bald
zum nahen Gaſthof brachte, in dem mein Fuhrwerk
mich erwartete.


[198]

Entfernungen werden hier ganz anders calculirt
als bei uns. Meine ehrwürdige Matrone brachte
mich heute, fünf deutſche Meilen weit, bequem in
zwei Stunden hierher. Kaum angekommen, mie-
thete ich ein anderes Pferd, um den noch 1½ deutſche
Meile weiter entfernten Leuchtthurm und die Fel-
ſenhöhlen zu erreichen, welche Flamboroughhead merk-
würdig machen. Es war das ſchönſte Wetter ge-
worden, und dabei ſehr windig, ſo daß ich diesmal
wenigſtens gewiß hoffte, ungenäßt zu bleiben, — ich
irrte mich aber ſehr, denn kaum bei den Meerfelſen
angelangt, bekam ich nicht nur den obligaten Platz-
regen, ſondern diesmal noch eine Zugabe, nämlich
ein derbes Gewitter. Dies war jedoch eine ange-
nehme Veränderung, denn Donner und Blitz nah-
men ſich auf der Spitze der Kalkfelſen, ſenkrecht über
dem ſchäumenden Meer, vortrefflich aus. Der Doua-
nier, welcher mich begleitete (es iſt eine Station die-
ſer Leute hier neben dem Leuchtthurm), brachte mir,
den nur ein leichter Frack ſchützte, zwar ſehr gefällig
einen Regenſchirm, der Sturm erlaubte aber nicht,
auf dem gefährlichen und ſchlüpfrigen Wege über
den Abgrund ſich desſelben zu bedienen. Das Meer
hat die Kalkfelſen hier ſo unter- und ausgewaſchen,
daß viele thurmartige Pfeiler ganz einzeln im Waſſer
ſtehen, welche in ihrer blendenden Weiße, durch den
ſchwarzen Himmel noch greller gemacht, rieſenhaften
Seegeſpenſtern gliechen, in weite Leichentücher ge-
[199] hüllt. Außerdem gibt es eine große Menge Höhlen
von verſchiedener Größe, zu denen man während der
Ebbe trocknen Fußes gelangen kann. Jetzt war in-
deß grade hohe Fluth, und ich mußte ein Fiſcherboot
benützen, was glücklicherweiſe ſich dort eben aufhielt,
um zu der größten der Höhlen zu fahren. Der fri-
ſchen Luft wegen ruderte ich den ganzen Weg tapfer
mit, und fand dieſe Bewegung, die ich heute zum
erſtenmal verſuchte, ſo angenehm, daß ich ſie künftig
ſo oft als möglich wiederholen will. Die See ging
ſo hoch, daß ich an Gefahr glaubte, und dem Fiſcher
dies äußerte. Er antwortete ganz poetiſch: „O Herr!
glaubt Ihr, daß mir das Leben nicht eben ſo ſüß
iſt als Euch, weil ich nur ein armer Fiſcher bin?
Bis an die Höhle iſt keine Gefahr, aber hinein dür-
fen wir heute nicht.“ Ich warf alſo nur einige
Blicke in den ungeheuern Thorweg, wo der Meeres-
ſchaum unter dem Heulen der Wellen, wie Rauch
emporwirbelnd, umherſpritzte. Da mich der Fiſcher
verſicherte, daß man ſich vom Seewaſſer nie erkälte,
ſo tauchte ich meine naſſen Glieder nochmals in die
grüne Salzfluth, und beſtieg dann mein Roß, um
dem Leuchtthurm zuzureiten. Dieſer war mir um ſo
intereſſanter, da ich nur einen ſehr unvollkommenen
Begriff von der Conſtruction dieſer Thürme hatte.
Er hat oben einen Aufſatz von Glas wie ein Treib-
haus, in deſſen Mitte an einer eiſernen Stange 21
Lampen im Cirkel umher befeſtigt ſind, die ſich durch
eine Art Uhrwerk immerwährend langſam drehen.
Alle dieſe Lampen ſind mit großen, inwendig ſtark
[200] mit Silber plattirten, ſtets mit höchſter Reinlichkeit
geputzten Reflectoren verſehen, und ſieben davon ha-
ben außerdem eine Scheibe rothes Glas vor ſich,
welches in Newcaſtle gemacht wird, und dem alten
Rubinglas faſt ganz gleich kömmt. Dies hat den
Zweck, das Licht des Leuchtthurms ſo zu wechſeln,
daß es in der Ferne bald roth bald weiß erſcheint,
und dadurch, von den Schiffen aus, von jedem an-
dern Licht ohne Mühe unterſchieden wird. Die Lam-
pen werden mit Oel geſpeiſt, das ſo rein wie Wein
iſt, und von dem ein ganzer Keller voll Fäſſer ſtets
im Vorrath bleibt. Eben ſo iſt der ganze Apparat
doppelt vorhanden, um bei einem Zufall das Be-
ſchädigte auf der Stelle erſetzen zu können. Die
Lampen bilden zwei Kreiſe übereinander, unten 12,
oben 9.


Ich bemerkte einen Tiſch zum Putzen der Lampen,
der mir ſehr zweckmäßig ſchien, um das Springen
der Gläſer zu verhindern. Die obere Platte iſt von
Eiſenblech, mit mehreren Niſchen und Löchern neben
einander, um die Gläſer hineinzuſtellen. Auf einer
Platte darunter ſteht ein Kohlfeuer. Dieſe Vorrich-
tung darunter hat den doppelten Nutzen, einmal daß
die Gläſer gleich in eine ſichere Lage kommen, zwei-
tens daß ſie nicht leicht ſpringen, da fortwährend das
Blech in gelinder Wärme erhalten wird.


Eine Gelegenheit, die ich hier finde, dieſen Brief
ſicher nach London an die Geſandtſchaft zu ſpediren,
[201] erlaubt mir meinen Reiſebericht zu theilen. Ich
ſchließe daher für diesmal, immer mit der Bedingung,
wie Sheherazade morgen wieder anzufangen. Alſo
sans adieu.


Dein L.


[[202]]

Neunzehnter Brief.



Theure Julie!

Ich hatte etwas lange nach der geſtrigen fati-
guanten Tour geſchlafen, und verließ daher Scar-
borough erſt um 2 Uhr. Der Weg bis Whithy iſt
der vielen Berge wegen ſchwierig und der Anblick
der Gegend ſonderbar. So weit man umherblickt,
kein Strauch, kein Haus, keine Mauer noch Zaun.
Nichts als endlos wogende Hügel, oft von der ſelt-
ſamen Form regelmäßig aufgeſtürzter Halden, dicht
mit Heidekraut bedeckt, das in der Nähe die ſchönſten
violetten und roſenrothen Blüthen darbietet, in der
Ferne aber nur ein und dieſelbe düſtere, rothbraune
Farbe über das ganze Land breitet, welches den
Grouſe-Jägern eine reiche Erndte darbietet. Keine
Abwechſelung als eine Menge weißer Punkte, die ſich
langſam hin und her bewegen — und was ſind
[203] dieſe? — Tauſende von Haidſchnucken, die ſehr ſcheu
ſind, meiſtens ſchwarze Köpfe haben, und gegen de-
ren Wolle Pudel und Schafſpitze Seide aufweiſen
können. Eine Stunde vor Whithy, wenn man aus
den kahlen Bergen wieder hinabſteigt, verändert ſich
die Gegend nach und nach, und wird bei der Stadt
ſehr romantiſch. Die engliſche Reinlichkeit und Zier-
lichkeit verliert ſich indeß immer mehr und mehr.
Whitby ſieht einer alten deutſchen Stadt vollkommen
gleich. Ohne Trottoirs, eben ſo ſchmutzig, mit engen
Gaſſen, aber auch mit herzlichern, freundlichern
Bewohnern.


In dieſen ärmlichen Ort kommen wahrſcheinlich
ſelten Reiſende von einiger Apparence an, oder hielt
man mich für einen Andern, kurz man belagerte mich
wie ein Wunderthier, und ließ mich nicht ohne eine
Eskorte von wenigſtens hundert Menſchen ausgehen,
die ſich zwar ſehr gutmüthig, aber doch auch ſehr zu-
dringlich andrängten, um mich vom Kopf bis zum
Fuß zu betrachten. Mir fiel dabei eine komiſche Anek-
dote ein, die ich neulich vom Herzog von Leeds hörte.
Dieſer Herr war ſehr herablaſſend mit ſeinen Unter-
gebenen und Pächtern, deren Einer einmal, als der
Herzog eben ſpazieren ging, an ihn herantrat und
ihm eine Bitte vortragen zu dürfen bat. Als dies
freundlich gewährt wurde, kam er damit heraus, daß
ſein 12jähriger Sohn ihn Tag und Nacht quäle, den
Herrn Herzog zu ſehen, und daß, da Er grade jetzt
nicht weit von ſeiner Hütte ſey, Er doch die hohe
Gnade haben möge, ſich von ſeinem Sohne beſchauen
[204] zu laſſen. Der Herzog gab lächelnd ſeine Einwilli-
gung, ging nach der Hütte, und der erfreute Vater
holte den neugierigen Sprößling. Kaum war dieſer
jedoch hereingeſtürzt, als er ſchon verwundert vor
dem etwas ältlichen und unanſehnlichen Herzog, von
deſſen Macht und Größe er ſo viel gehört hatte,
ſtehen blieb, ihn lange anſah, dann befühlte, und
nun plötzlich fragte: „Könnt Ihr ſchwimmen?“ Nein,
mein guter Knabe. „Könnt Ihr fliegen?“ Nein,
das kann ich auch nicht. „Nun dann, bei meiner
Treu, da iſt mir doch Vaters Entrich lieber, denn
der kann Beides.“


Whitby hat einen, von höchſt maleriſchen Felſen
eingefaßten Seehafen, mit einem ſchönen Molo von
Granit, der ſich weit ins Meer hinein erſtreckt, und
von dem man zugleich eine herrliche Ausſicht auf die
Stadt hat. Beſonders ſchön nimmt ſich auf dem ei-
nen ſchroffen Felſenufer die berühmte Ruine der
Abtey aus, welche im ſechsten Jahrhundert von ei-
nem König von Northumberland gegründet ward.
Sie iſt jetzt das Eigenthum eines Privatmannes, der
gar nichts für die Unterhaltung dieſes erhabnen
Denkmals alter Größe thut. Sein Vieh weidet in
den Ruinen, die ſo voller Unflath liegen, daß man
ſie kaum näher beſichtigen kann. Ich ſtieg beim Schein
des jungen Mondes hinauf, und war entzückt
über den romantiſchen Effekt. Ungeheure Pfeiler,
leicht wie ſchlanke Tannen in die Höhe ſteigend, mit
langen Fenſterreihen, ſind noch wohl erhalten, und
viele kunſtreiche Verzierungen ſo unverſehrt, als
[205] rauſchte heute der erſte Herbſtwind durch ihre weiten
Bogen. Andere waren dagegen durch die Zeit ganz
umgewandelt, und manche ſcheußliche Larven grinz-
ten mich im Mondlicht wie Todtenſchädel an. Da-
neben ſteht eine noch ältere Kirche, welche auch noch
im Gebrauch, und von einem mit Tauſenden von
dicht bemoosten Leichenſteinen bedeckten Kirchhof
umgeben iſt.


Ich wohne in einem ländlichen, aber ganz vortreff-
lichen Gafthof, der von zwei Schweſtern gehalten
wird, welche voller Bereitwilligkeit der Art ſind, die
nicht aus Intereſſe, ſondern aus wahrer Gutmü-
thigkeit entſpringt. Da ich etwas zu leſen verlangte,
brachten ſie mir die Chronik von Whitby, in der ich
blätterte, während es draußen heftig ſtürmte, und
der Wind grade ſo unheimlich pfiff als im guten
Schloß zu M.... In dieſer Chronik iſt einer Schä-
tzung der Güter im ſiebenten Jahrhundert erwähnt,
wo Whitby mit Pertinenzien (jetzt vielleicht eine Mil-
lion L. St. am Werth) zu 60 Schilling (3 L. St.)
angeſchlagen iſt!


Ich lerne auch daraus, daß die große und pracht-
volle Abtey weder durch Feuer noch Schwert,
ſondern im Wege ſtiller Gewalt, dem Zahne der Zeit
überwieſen wurde. Heinrich VIII. confiscirte dies
Kloſter mit den übrigen, als er vom Pabſte abfiel,
und verkaufte alles bis auf die einzelnen Steine der
Gebäude. Glücklicherweiſe erſtand, nachdem mehrere
Häuſer der Stadt von dem Material der Abtey ſchon
aufgebaut worden waren, noch der Ahnherr des jetzigen
[206] Beſitzers den Reſt, und ließ wenigſtens die Kirche
ſeitdem in statu quo.



Ich hatte einen Brief an Lord Mulgrave, den
Beſitzer eines großen Alaunbergwerks, ſchönen Schloſſes
und Parks am Seeufer, geſchrieben, und ihn gebe-
ten, mich dieſe Dinge ſehen zu laſſen. Er ſchickte
mir eine ſehr artige Antwort und einen Reitknecht
zu Pferde, mich überall hinzubegleiten. Dies machte
das geſtrige Uebel in der kleinen Stadt noch ärger,
und der Magiſtrgt becomplimentirte mich eine Stunde
darauf durch Abſendung zweier Mitglieder, die zu-
gleich Secretaire des Muſeums waren, welches ſie
mir zu zeigen ſich anboten. Da dieſes Muſeum in
der That wegen der vielen hier gefundenen Foſſilien
ſehr merkwürdig iſt, ſo nahm ich es an. Die halbe
Stadt war wieder verſammelt, und folgte uns mit
der Arriergarde einer ſehr geräuſchvollen Jugend.
Im Muſeum waren eine große Menge Honoratioren
verſammelt, und ein Blumenflor neugieriger Damen,
von deren anziehenden Blicken ich meine Augen je-
den Augenblick auf ein Crocodill, einen alten Wall-
fiſchzahn, oder einen verſteinerten Fiſch wenden mußte.
Die beiden Secretaire hatten ſich in die Merkwür-
digkeiten getheilt. Der eine machte die Honneurs
der Fiſche und Amphibien, der andere die der Qua-
drupeden, Vögel und Mineralien. Beide waren aber
[207] ſo eifrig, mir nichts entgehen zu laſſen, daß in der
Regel einer den andern unterbrach, wenn dieſer eben
ſeinen Spruch angefangen hatte, um mich mit etwas
aus ſeinem reſpectiven Reiche zu erfreuen. Dies
war im Anfang lächerlich, wurde aber zuletzt be-
ſchwerlich, denn während mich A. beim linken Arme
feſthielt, und anhub: dies iſt der berühmte kleine
Crocodill, der hier im Bauche einer Boa-Schlange
verſteinert gefunden wurde, und hier der noch be-
rühmtere große, 6 Ellen und . . . . . . ergriff
B. mich beim rechten Arm, drehte mich herum, und
machte mich auf Mäntel aus Papageyenfedern und
den tatovirten Kopf eines Neuſeeländers aufmerk-
ſam, dem man im eigentlichen Verſtande die Haut
über die Ohren gezogen, und wie Leder gegerbt
hatte. Einige Dilettanten empreſſirten ſich noch da-
zwiſchen, mir andere Dinge vorzuzeigen, ſo daß ich
Argus hundert Augen hätte haben mögen, um Alles
auf einmal zu betrachten. Was mich am meiſten in-
tereſſirte, war ein von Parry geſchenktes, vollſtän-
diges Canot mit Fiſcher-Apparat der Esquimaur.
Es iſt nur aus Fiſchknochen und Seehundsfell ge-
macht, und von einer ſolchen Leichtigkeit, daß man
kaum begreift, wie es möglich iſt, ſich darauf dem
Meere anzuvertrauen. Obgleich ziemlich lang, iſt es
in ſeiner größten Breite in der Mitte doch kaum
einen Fuß breit, und überall, auch von oben, ge-
ſchloſſen wie ein Kaſten, bis auf ein einziges rundes
Loch in der Mitte, worin der Esquimaur ſitzt und
mit einem Doppelruder, das die Form einer Balancir-
[208] ſtange hat, ſich im Gleichgewicht erhält. Eine Art
Spaten von den Südſee-Inſeln war ſo ſchön ge-
ſchnitzt, daß kein Londner Künſtler es beſſer machen
könnte. Die Verſteinerungen aller Art, ſowohl von
noch exiſtirenden als antediluvianiſchen Thieren und
Pflanzen, ſind außerordentlich zahlreich und ſchön,
und das große, faſt ganz erhaltene verſteinerte Cro-
codill (das ich früher ſchon anführte), iſt allerdings
einzig in ſeiner Art. Etwas ſehr Eigenthümliches
war auch eine Conglomeration, die ſich durch den
Ablauf der Kohlenwerke hier in der Nähe, in einer
viereckigen hölzernen Rinne vor vielen Jahren ge-
bildet hatte.


Man ſah nämlich darauf ſechs ſchwarze und einen
gelben Streifen, wie an einem angeſchnittenen Baum-
kuchen, fortwährend abwechſeln, welches daher ent-
ſtanden iſt, daß an den Wochentagen, wo im
Werke gearbeitet wurde, der Abfluß von den Kohlen
ſchwarz gefärbt war, am Sonntag aber, dem Ruhe-
tag, das Waſſer, welches viel Ocker enthält, in ſeiner
natürlichen gelblichen Farbe floß. Dieſe Abwechſelung
geht mit der größtmöglichſten Regelmäßigkeit ſieben
Wochen hindurch fort, und bildet jetzt geſchliffen eine
ſehr nette Zeichnung. Die Herren ließen es ſich nicht
nehmen, mich mit dem gewöhnlichen Gefolge wieder
nach meinem Gaſthof zurück zu bringen, wo, als ich
fortfuhr, ein furchtbares Hurrah erſchallte, und meh-
rere der Jüngeren beiderlei Geſchlechts mich nicht
eher verließen, als bis es ihrer Lunge unmöglich
wurde, es den Pferden länger gleich zu thun. Auf
[209] dem Meerſande hin ging es nun langſam dem Alaun-
werke zu, Lord Mulgraves Reitknecht voraus. Ich
ſtieg aus, um eine Strecke zu Fuß zu gehen, und
amüſirte mich dabei, kleine Steinchen zu ſammeln,
von denen die glänzendſten Exemplare aller Farben
und Formen das Ufer bedeckten. Nach einer Stunde
erreichten wir das Bergwerk, welches höchſt roman-
tiſch zwiſchen den ſchroffen Felſen am Meere liegt.
Ich beſah Alles ſehr gründlich, wie Du aus meinem
beiliegenden Schreiben an den A. D. erſehen wirſt.
Um von da, wo ich mich befand, zu den Förderungen
zu gelangen, mußte ich einen Weg zurücklegen, der
nur für Ziegen gemacht zu ſeyn ſchien, und von deſ-
ſen Unannehmlichkeit mich der Steiger vorher ſchon
avertirt hatte. Einigemal war er kaum einen Fuß
breit, und die abhängende Seite ein glatt abgear-
beiteter Alaunfelſen von 200 Fuß Höhe. Auf ſolchen
Fußwegen, deren mehrere den Felſen durchſchneiden,
arbeiten die Leute, und hauen das zu Tage liegende
Felſenerz neben ſich ab, welches das ſeltſamſte Schau-
ſpiel darbietet, das man ſich denken kann, da die
Menſchen wie Schwalben an der Mauer zu hängen
ſcheinen, und ſich, um dahin zu gelangen, oft an
Stricken hinaufwinden laſſen müſſen. Unten im
Thal ſtehen große Karren, die auf Eiſenbahnen das
Erz fortfahren, welches immerwährend aus der Höhe
herabpraſſelt. Ich brauchte drei Stunden, um Alles
zu beſehen, und fuhr dann auf’s Schloß, wo mich
Lord Mulgraves Söhne (er ſelbſt war krank am Po-
dagra) mit einem guten Luncheon bewirtheten, und
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 14
[210] darauf in dem ſchönen Park umherführten. Er hat
ſeine Schönheit nur der Natur zu verdanken, zu de-
ren Felſen, Waldbächen und baumreichen Schluchten
ſinnig gewählte Fahrwege führen, die einige deutſche
Meilen lang ſind. Aus dem Schloß ſah man unter
hohen Eichen und Buchen über einen ſanften Raſen-
abhang nahe vor ſich das Meer mit hundert Segeln
bedeckt. Eine Hauptzierde des Parks iſt die Ruine
des „Old Caſtle,“ von dem man glaubt, daß es
früher ein römiſches Fort, und dann die Burg des
Sachſen-Fürſten Wanda geweſen ſey. Später wurde
es einem Vorfahren der Familie vom König Johann
für den Mord des jungen Prinzen, den Shakespear
ſo rührend ſchildert, geſchenkt, alſo ein blutig roman-
tiſcher Urſprung. Die Ausſicht von den alten Zinnen
iſt wild und maleriſch. Im neuen Schloſſe, welches
vor 50 Jahren im gothiſchen Styl erbaut wurde,
fiel mir das Portrait einer Urgroßmutter des jetzigen
Lords auf, die eine reizende, und dabei originelle
Frau geweſen ſeyn muß, denn ſie iſt in tiefer Trauer
gemalt, und ſitzt dennoch lächelnd am Fenſter mit
der Ueberſchrift in veraltetem Engliſch: „Da meines
Mannes Liebe nur Spaß war, ſo iſt meine Trauer
auch blos Spaß.“ Der jüngſte Sohn des Hauſes,
deſſen Familienname für uns nicht wohllautend
klingt — nämlich Fips, alſo der junge Mr. Fips er-
zählte mir, daß vor 10 Jahren auf den nahen Schie-
ferfelfen, die mit einer ſcharfen Kante ins Meer hin-
eintreten, ſich eine ſonderbare Begebenheit zutrug.
Zwei Mädchen ſaßen auf einem Abhang mit dem
[211] Rücken gegen die See gekehrt. Ein ſcharfer Felſen-
ſchiefer hoch über ihnen löste ſich durch ein Ungefähr
ab, und durch die zunehmende Schnelligkeit des Falls
faſt mit Blitzesſchnelle ankommend, ſchnitt er dem ei-
nen Mädchen, das eben emſig mit dem andern
ſchwatzte, den Kopf ſo rein ab, daß dieſer weit auf
den Meerſand hinausrollte, und der Körper ruhig
ſitzen blieb. Die Aeltern leben noch im [Dorfe].



Ich ſchlief die Nacht ſehr gut in meinem Wagen,
frühſtückte im Blumengarten eines netten Gaſthofs,
und eilte dann nach Studley-Park, der die famöſen
Ruinen von Fountains Abbey enthält, welche für die
größten und ſchönſten in England gehalten werden.
Sie übertrafen bei weitem noch meine Erwartung,
ſo wie auch den Park. Ich will Dir daher dies
Alles in der Ordnung beſchreiben.


Durch einen majeſtätiſchen Wald führt der Weg
zuerſt an einem Abhange hin, bis man an einer jäh-
lingen Wendung desſelben in ein langes Wieſenthal
kömmt, deſſen Breite ohngefähr 300 — 400 Fuß ſeyn
mag, und in deſſen Mitte ein kleiner Fluß ſtrömt,
den verſchiedene natürliche Waſſerfälle unterbrechen.
Die eine Seite des Thals bildet ein anſehnlicher
Bergrücken mit alten Eſchen, Buchen und Eichen
bewachſen, die andre eine ſchroffe Felſenmauer mit
Schlingpflanzen überhangen und ebenfalls mit ural-
14*
[212] ten Bäumen gekrönt. Am Ende ſchließt ſich das
Thal in ſeiner ganzen Breite mit den Ruinen und
dem hohen Thurme der Abtey. Du wirſt Dir leicht
einen Begriff von der Größe dieſer Trümmer ma-
chen, wenn Du hörſt, daß einſt die Gebäude der Ab-
tey 15 Morgen einnahmen, jetzt die Ruinen noch
vier. Das Schiff der Kirche, deren Wände größten-
theils noch ſtehen, iſt 351 Fuß lang, das große Fenſter
dem Altar gegenüber 50 Fuß, und der Thurm, ob-
gleich ein Theil einſtürzte, noch jetzt 166 Fuß hoch.
Die Architektur iſt aus der beſten Zeit, dem 12ten
und 13ten Jahrhundert, eben ſo einfach als grandiös.
Aus der Kirche führt ein Thor nach dem doppelten
Kloſtergang, der 300 Fuß lang und 42 breit iſt; ein
zweites nach dem Kloſtergarten, der jetzt wieder von
den Beſitzern in einen Blumengarten umgeſchaffen
worden, und rund umher von andern pittoresken
Ruinen umgeben iſt, nämlich die der Bibliothek, des
Juſtizgebäudes und des Capitelhauſes. Das Gewölbe
dieſes letztern wird, gleich dem Römer in Marien-
burg nur durch eine einzige Mittelſäule getragen.
In der Küche bewundert man dagegen faſt grade,
höchſt künſtlich conſtruirte Wölbungen ohne alle
Stütze, und daneben den prachtvollen Eßſaal, der
108 Fuß lang und 45 breit iſt. Dies war wie billig
der Culminationspunkt der Abtey, welche ihrer Schwel-
gerei und Sittenloſigkeit wegen ſehr berüchtigt war.
In der Kirche ſieht man noch mehrere Grabmähler,
eines Lord Mowbray in voller Kettenrüſtung in
Stein ausgehauen, ferner mehrerer Aebte, und zu-
[213] letzt einen leeren Steinſarg, in dem Hotspur Perey
begraben gelegen haben ſoll. In der Höhe erblickt
man einen wohlerhaltnen Engel mit der deutlichen
Jahreszahl 1283 darunter. An der Spitze des Thurms
aber liest man noch in gothiſchen Rieſenbuchſtaben
eine lateiniſche Inſchrift, die ſchön und paſſend, da
oben in den Lüften ſchwebend, folgende Worte herab-
ruft: „Ehre und Preis dem einzigen Gott durch
alle Jahrhunderte!“


Die ganze Ruine iſt mit Epheu und Schlingpflan-
zen wie mit Vorhängen bedeckt, und majeſtätiſche
Bäume wehen hie und da daraus hervor. Der Fluß
ſchlängelt ſich an ihr hin und treibt einige Schritte
weiter die alte Kloſtermühle, welche immer noch im
Gebrauch geblieben iſt, faſt als wollte ſie die Lehre
geben, daß, wenn Pracht und Hoheit untergehen,
das Nützliche ſich beſcheiden erhält. Ohngefähr 200
Schritte hinter der Abtey ſteht das alte Wohnhaus
der Familie der Beſitzer, welches im 16ten Jahrhun-
dert aus den abgefallenen Steinen der Ruine auf-
gebaut wurde. Auch dieſes iſt höchſt maleriſch, ob-
gleich in einem bei weitem weniger edlen Style ge-
baut. Seine mit Mauern umgebenen Gärten mit
beſchnittenen hohen Taxushecken und regelmäßigen
Blumenbeeten, und die Miſchung des noch ganz Al-
ten und ſchon werdenden Neuen geben der Phan-
taſie einen angenehmen und weiten Spielraum. Hier
ſtehen vielleicht die älteſten Taxusbäume in England.
Einer, den man 1000 Jahre alt ſchätzt, hat in der
größten Dicke ſeines Stammes 30 Fuß im Umfang.
[214] Auf dem Hauſe befindet ſich, zwiſchen den Bildern
zweier alten Ritter, aus der alten Abtey geraubt,
die wahrſcheinlich auf dieſe Figuren anſpielende mo-
derne Inſchrift: Sic transit gloria mundi. Auch
Fountain Abbey dankt ihren Untergang der Ein-
ziehung der Klöſter durch Heinrich VIII. Wenn man
die Abtey verläßt, gelangt man nach einer halben
Stunde Wegs in einen höchſt prachtvollen und mit
großem Aufwand unterhaltenen pleasure ground,
der durch viel Abwechſelung von Berg und Thal,
herrliche Bäume und wohlbenützte Gruppirungen ſehr
anzieht, im Uebrigen aber mit etwas alterthümlichen
Anlagen und einer Menge Luſthäuſern, Tempeln und
bleiernen Statuen ohne Werth zu ſehr überladen
iſt. In einem dieſer Tempel, den alten Göttern ge-
widmet, ſtand die Büſte des — Nero. Doch dieſen
kleinen Mängeln wäre leicht abzuhelfen, das viele
Schöne der Natur und Anlage wird man aber ſel-
ten ſo reich vereinigt antreffen. Am Ende des Wild-
parks liegt das Wohnhaus der Beſitzerin, welche mit
40,000 L. St. Einkünften doch eine alte Jungfer,
von 67 Jahren, geblieben iſt. Ich begegnete ihr im
Garten und wurde von ihr zum Luncheon eingela-
den, was ich mit Vergnügen annahm, da die Pro-
menade mich ziemlich hungrig gemacht hatte. Ich
fand dort noch ſechs andere alte Jungfern, einen
Advokaten und einen jungen Huſaren-Offizier, der
coq en pàte zu ſeyn ſchien.


Um jedoch noch einmal auf die Ruine zurückzukom-
men (ich meine die Abtey, nicht die alte Jungfer),
[215] ſo würde ich, wenn ich meiner kritiſchen Ader Raum
geben wollte, nur Eins an ihr ausſetzen, nämlich:
daß ſie, im Contraſt mit der von Whitby, die es zu
wenig iſt, hier zu gut erhalten wurde. Kein loſer
Stein liegt auf dem Boden, welcher ſo eben wie ein
Teppich ſorgfältig geſchoren iſt. Der Blumengarten
im alten Kloſtergarten war auch zu modern gehal-
ten, und wäre das poetiſche Gebäude mein, ich würde
es ſchnell wieder ein wenig künſtlich zu verwildern
ſuchen, denn in der halb verfallenen Größe eben
liegt ja ihr ganzer Zauber für das Gemüth.


Nach meiner Rückkunſt in Ripon beſah ich den
alten dortigen Dom, auch ein ſchönes Ueberbleibſel
des Alterthums mit einem überaus kunſtreich ge-
ſchnitzten Chor. In einem unterirdiſchen Gewölbe
befinden ſich eine Art, mit Knochen und Todten-
köpfen ausgeſchmückte, Catakomben, wo ich mich mei-
nem Steckenpferde gemäß, lange mit cranologiſchen
Unterſuchungen beſchäftigte. Unter dieſen menſchli-
chen Ruinen war ein Schädel dem meinigen ſo frap-
pant ähnlich, daß es ſelbſt dem alten Küſter auffiel.
Wer mag der alte Knabe geweſen ſeyn? Vielleicht
ich ſelbſt unter anderm Gewande? Ueber den eigent-
lichen Urſprung dieſer Knochengebäude konnte mir
Niemand rechte Auskunft geben, nur über den ächt
franzöſiſch ausſehenden Schädel eines emigrirten
Prieſters, den der Küſter ſelbſt eingeſchwärzt harte.
Er ſah noch immer ſo geſprächig und artig aus, als
ob er eben ſagen wolle: Monsieur, j’ai l’honneur de
vous présenter mes respects, vous êtes trop poli
[216] de venir nous rendre visite. — Nous avons si ra-
rement l’occasion de causer ici!
Es war ein wohl-
erzogner Schädel, das zeigte er auf den erſten Blick,
ſehr tiefſinnig und ſtill dagegen ſchien der meines
Ebenbildes. Es wäre doch ſonderbar, wenn man ſo,
ohne es zu wiſſen, manchmal ſeinen eignen alten
Knochen wieder gegenüber ſtünde.



Dieſer Badeort iſt ziemlich auf die Art unſrer Bä-
der eingerichtet, und mit mehr Geſelligkeit begabt als
gewöhnlich die engliſchen. Man ſieht ſich an der
table d’hôte, beim Thee, beim Brunnentrinken, und
macht daher leichter Bekanntſchaften. Der Ort be-
ſteht aus zwei Dörfern, beide nett und freundlich in
einer ſchönen fruchtbaren Gegend gelegen. Leider iſt
aber jetzt grade das Wetter abſcheulich. Es regnet
unaufhörlich, und der Schwefelbrunnen, den ich heut
früh trank, hat mich überdieß ſo krank gemacht, daß
ich noch nicht aus meiner Stube kommen konnte.
Nichts iſt fataler als die engliſche Mode, daß nur
das Wohnzimmer unten, das Schlafzimmer aber im-
mer 2 — 3 Treppen hoch iſt, und doppelt unerträglich
beim Gebrauch eines Waſſers, welches den ganzen
Tag durch ſehr heftig zu operiren pflegt.


[217]

Der Brunnen bekömmt mir noch immer nicht gut,
demohngeachtet ging ich heute bis an der Welt Ende,
hier eine kurze Promenade, da the world’s end nur
ein nahes Dorf iſt, mit einer ſchönen Ausſicht in —
den Anfang der Welt — denn da dieſe rund iſt, ſo
kann man ja recht wohl jeden beliebigen Punkt, der
Welt Anfang oder Ende nennen. Ich fand einen
Bekannten, in deſſen Geſellſchaft ich, mit 70 andern
Menſchen, an der table d’hôte aß. Obgleich die
Saiſon ziemlich vorbei iſt, ſind doch noch circa 1000
Badegäſte hier, meiſtens aus dem Mittelſtande, weil
Harrowgate nicht zu den faſhionablen Bädern gehört,
wiewohl es mir weit angenehmer vorkömmt als das
höchſt faſhionable Brighton.


Ein alter General von 80 Jahren, der bei
Tiſch mein Nachbar war, unterhielt mich ſehr gut.
Er hatte Friedrich den Großen, Kaunitz, Kaiſer Jo-
ſeph, Mirabeau und ſpäter Napoleon in vielen Be-
ziehungen gekannt, und erzählte manche intereſſante
Particularitäten von ihnen, war überdem Gouver-
neur von Surinam und Isle de France geweſen,
hatte lange in Indien commandirt und war jetzt,
was man bei uns General der Infanterie nennt,
der nächſte Grad am Feldmarſchall. Alles dies würde
ihm bei uns einen hohen Rang geben. Hier nicht
im Geringſten, und er äußerte dies ſelbſt. Hier,
ſagte er, iſt die Ariſtokratie Alles. Ohne Credit der
[218] Familie, ohne Verwandtſchaft mit hohem Adel, durch
den man fortgeſchoben wird, kann man zwar wohl
einen hohen Rang in der Armee erlangen, aber ohne
ganz beſondere Umſtände nie ein Mann von Anſehen
werden. Ich bin nur Baronet, ſagte er, demohnge-
achtet gibt mir dieſer leere Geburtstitel noch mehr
Anſehen und Rang als mein hoher Militärgrad, und
ich werde nicht Herr General, oder wie bei Ihnen
Ew. Excellenz genannt, ſondern Sir Charles. (Sir
iſt der Titel der Baronets.)


Nach dem Diné verſammelte ſich die Geſellſchaft
zum Thee, der mit einem kleinen Ball endigte.



Ich war hauptſächlich deshalb in Harrowgate
ſo lange geblieben, um Briefe von Dir zu erwarten,
da ich L ...... dieſe Adreſſe gegeben. Heute erſchien
denn auch einer, den ich vorfand, als ich von mei-
nem Spaziergang zu Haus kam. Du kannſt denken,
wie viel Freude er mir machte!


Ich bin in Gedanken mit Dir in Dresden geweſen
und habe Deine Geſundheit vor dem illuminirten
Namenszug getrunken. Es gehört übrigens wohl zu
meiner natürlichen Sonderbarkeit, daß ich, obgleich
vier Jahr in D .... in Garniſon ſtehend, doch nie
weder Pillnitz noch Moritzburg geſehen habe, daher
Deine Beſchreibung des letzteren mit dem Portrait
des alten Landvoigts mich ſo ſehr intereſſirte.


[219]

Du tadelſt es, daß ich in gewiſſen Dingen lieber
ſchreibe wie rede. Du haſt im Ganzen recht. Es iſt
aber dieſe Sache und alles Suppliciren ſo meiner
ganzen Natur entgegen, daß ich unbeholfen und
ſchlecht ſpreche, und daher immer noch beſſer thue,
wenn ich ſchreibe. Auch iſt dann das Mißlingen nicht
ſo unangenehm. Doch zu meiner Reiſe zurück.


Die Menge prachtvoller Beſitzungen in England iſt
wirklich faſt zahllos zu nennen. Man muß ſich nur
auf die wichtigſten einſchränken. Ohngefähr 10 Mei-
len von Harrowgate fand ich an der Straße Hare-
woodpark, einen ſehr reizenden Aufenthalt. Dieſer
Park iſt vor 100 Jahren von Brown ganz auf ei-
nem Terrain angelegt, wie ich es mir immer wünſchte,
nämlich in einem natürlichen Wald mit Thalſchluch-
ten, Felſen darin, einem reich mit Waſſer verſehenen
Waldbach, und auf einem der Hügel die Ruine ei-
nes alten Schloſſes — alles dies in der fruchtbarſten
Gegend mit fernen Ausſichten auf die Gebirge Cum-
berlands. Der große Meiſter hat dieſe Materialien
herrlich benützt, ein prächtiges Schloß im edlen anti-
ken Geſchmack auf einen der Hügel gebaut, im Thal-
grund davor den kleinen Fluß zu einem weiten See
ausgedehnt, und ſo dem Schloß auf der einen Seite
eine überaus liebliche Ausſicht in den einſamen Park,
auf der andern in die weite Ferne und reiche Ge-
gend gegeben.


Auf eine auffallende Art wurde für mich die Scene
noch dadurch belebt, daß grade, als ich vor dem
[220] Schloſſe vorfuhr, der Beſitzer Graf Harewood (Ha-
ſenwald im Deutſchen) mit ſeiner Meute von 100
Hunden, ſeinen rothgekleideten Piqueurs und einer
Menge muthiger Jagdpferde, den Bergabhang herab,
über die Wieſen, vom Fuchsjagen zurückkam. Es
war nicht zu vermeiden, ihm entgegen zu gehen, um
die Urſache meines Hierſeyns zu erklären. Ich fand
einen großen ſchönen Mann von außerordentlich ein-
nehmendem Aeußern, in Geſtalt und Benehmen noch
jung und rüſtig, an Jahren aber, was man ſich ſa-
gen laſſen mußte, um es zu glauben, ſchon ein Fünf-
undſechziger. Er empfing mich auf’s Höflichſte, ſagte,
daß er das Vergnügen gehabt habe, mich mehrmals
in London zu ſehen (je n’en savois pas un mot) und
bat mich, zu erlauben, daß er mir ſelbſt ſeine Be-
ſitzungen zeige. So ſehr ich dies nach ſeiner Fatigue
auf der Fuchsjagd (bei einer ſolchen pflegt man ge-
wöhnlich 5 — 6 deutſche Meilen im Gallop zu jagen
und während dem 50—60 Sprünge über Hecken und
Gräben zu machen) ablehnte, half mein Sträuben
doch nichts, und der alte Mann begleitete mich, berg-
auf, bergab, über den größten Theil ſeiner fürſtlichen
Domaine. Was mich, als mir neu, diesmal am mei-
ſten intereſſirte, waren die Hundeſtälle. 150 Stück
Hunde fand ich dort in zwei ſehr reinlichen Sälen,
jeder Saal mit einer großen Bettſtelle verſehen, auf
der 75 Stück Hunde ſchlafen. Jeder der Säle hat vorn
ſeinen eignen Zwinger. Nirgends ſpürte man den
mindeſten üblen Geruch, noch bemerkte man die kleinſte
Unreinlichkeit. In jedem Zwinger befand ſich ein
[221] Ständer mit fließendem Waſſer, und ein Diener iſt
den ganzen Tag gegenwärtig, der mit einem Beſen
bewaffnet, faſt fortwährend den Boden wäſcht, auf
dem er das Waſſer nach Belieben überfließen laſſen
kann. Die Hunde ſelbſt ſind an den größten Ge-
horſam gewöhnt, und verunreinigen ihr Bett und
die Stube nie. Es iſt eine große Kunſt, ſie gehörig
zu füttern, denn ſie müſſen, um die große Anſtren-
gung aushalten zu können, ganz mager und doch zu-
gleich von ſo feſtem Fleiſch wie Eiſen ſeyn, einer wie
der andere. Dies war auch durchgängig der Fall,
und man konnte nichts Hübſcheres ſehen als dieſe
ſchlanken, gehorſamen und muntern Thiere, von de-
nen die eine Hälfte eben erſt von der Jagd zurück-
gekommen war, und dennoch keineswegs übermüdet
ſchien. Sie lagen indeß doch alle ruhend auf ihrem
coloſſalen, gemeinſchaftlichen Bett, und ſahen uns
ſehr freundlich und wedelnd an, während die andre
Hälfte ungeduldig und muthwillig im Zwinger um-
herſprang.


Auch die Pferdeſtälle, ohngefähr 1000 Schritt vom
Schloß in einem Carré erbaut, waren ſehr ſchön, und koſt-
bare Pferde darin, ohngefähr 30 an der Zahl. Der
alte Herr hatte meinen Wagen folgen laſſen, inſtru-
irte nun noch den Poſtillon auf das genaueſte, wel-
chen Weg er durch den Park zu nehmen habe, damit
ich die ſchönſten Punkte desſelben ſehen möge, und
wanderte dann erſt mit zwei großen Waſſerhunden
und einem rabenſchwarzen Hühnerhunde zu Hauſe,
um ſich zu ſeinem Diné anzuziehen, da er
[222] ſich noch in ſeinem ſcharlachrothen Rock, dem Fuchs-
jägercoſtüme, das wie eine Livré ausſieht, befand.


Ich habe noch vergeſſen zu ſagen, daß wir zuerſt
eine Tour durch die Zimmer des Schloſſes gemacht
hatten, welches ebenfalls reich und ſchön meublirt,
und mit Familiengemälden von Vandyk, Reynolds
und Lawrence, den beſten Malern Englands aus
drei verſchiedenen Jahrhunderten geziert iſt, vorzüg-
lich aber eine Seltenheit ganz eigenthümlicher Art
darbot, nehmlich in der Hauptpièce Vorhänge von
roth gemaltem Holz, ſo kunſtreich in alter Zeit ge-
ſchnitzt, daß gewiß Rauch ſelbſt über dieſen Falten-
wurf erſtaunt ſeyn würdet. Obgleich man mir es
ſagte, konnte ich es kaum glauben, bis ich mich durch
das Gefühl überzeugte, ſo vollkommen täuſchend war
die Nachahmung des ſeidnen Stoffes. Die Franſen
nur waren ächtes Gold, alſo grade das Umgekehrte
unſrer Theatervorhänge aus Seide mit hölzernen
Franſen. Eine andere ungewöhnliche Zierde beſtand
darin, daß die Decken, in ſchönem Stuck, durchgän-
gig von demſelben Deſſein wie die Teppiche waren,
eine ſehr koſtbare Sache, wenn, wie zu vermuthen,
die Teppiche nach dem Muſter der Plafonds haben
gewürkt werden müſſen.


Die lange Fahrt durch den Park, eine gute
Stunde weit, war höchſt belohnend. Der Weg
führte uns zuerſt am See hin, mit einer majeſtä-
tiſchen Ausſicht auf das Schloß, und dann im Walde
am Fluſſe fort, der viele Cascaden und kleinere
Seen bildete. Der Wald ſelbſt bot die größte Ver-
[223] ſchiedenheit dar, bald dick und dem Blick undurch-
dringlich, bald Hainartig, dann freie Wieſen mit
dunkler Einfaſſung, oder junge Dickichte mit darin
ſich bergendem Damwild, zuweilen eine ſchmale und
weite Ausſicht auf ferne Berge.


Ein ſo ſituirter Edelmann repräſentirt ſeinen
Stand würdig, und es iſt ſehr natürlich, wenn er
unter dieſen günſtigen Umſtänden ſo gut, wohlwol-
lend, achtungswerth und zufrieden erſcheint, wie die-
ſer edle Graf, deſſen Bild mir immer eben ſo wohl-
thätig vorſchweben wird, als das der ſchönen Land-
ſchaft, der er gebietet.


Von den Eindrücken des Tages ganz verſchieden,
und doch nicht minder ſchön war der Abend. Mit
anbrechender Dämmerung erreichte ich die große
Fabrikſtadt Leeds. Eine durchſichtige Rauchwolke
war über dem weiten Raum, den ſie auf und zwi-
ſchen mehreren Hügeln einnimmt, gelagert; hundert
rothe Feuer blitzten daraus hervor, und eben ſo viel
thurmartige, ſchwarzen Rauch ausſtoßende Feuereſſen
reihten ſich dazwiſchen.


Herrlich nahmen ſich darunter fünfſtöckige, coloſ-
ſale Fabrikgebäude aus, in denen jedes Fenſter mit
zwei Lichtern illuminirt war, hinter welchen bis tief
in die Nacht hier der emſige Arbeiter verkehrt. Da-
mit aber dem Gewerbe Gewühl, der induſtriellen Il-
lumination auch das Romantiſche nicht fehle, ſtie-
gen hoch über den Häuſern noch zwei alte gothiſche
[224] Kirchen hervor, auf deren Thurmſpitzen der Mond ſein
goldnes Licht ergoß, und am blauen Gewölbe die
grellen Feuer der geſchäftigen Menſchen unter ſich,
mit majeſtätiſcher Ruhe zu dämpfen ſchien.


Leeds hat nahe an 10,000 Einwohner und doch
keinen Repräſentanten im Parlament, weil es eine neue
Stadt iſt, während bekanntlich mancher elende, ver-
fallne Ort, der kaum zwei erbärmliche Häuſer hat,
deren 2 und mehrere ins Parlament ſchickt, die na-
türlich der Beſitzer mit ſeinen Creaturen beſetzt. So
grell ungerecht dieſer Mißbrauch iſt, ſo haben doch
die engliſchen Staatsmänner noch nicht gewagt, ihn
abzuſchaffen, vielleicht weil ſie fürchten, daß jede
Veränderung bei einer ſo complicirten Verfaſſung,
eine gefährliche Operation iſt, zu der man nur im
höchſten Nothfalle ſchreiten darf.



Ich habe mich hier ſchon an manche engliſche
Sitten gewöhnt, unter andern auch an kalte Dinés.
Als Veränderung zuweilen ſind ſie der Geſundheit
zuträglich und da ſie ganz national ſind, findet man
ſie hier faſt immer von vorzüglicher Qualität. So
wurde heute mein einzelner Tiſch mit nicht weniger als
Folgendem bedeckt, zu deſſen Verarbeitung ein engli-
ſcher Magen gehört hätte: ein kalter Schinken (alles
große, nur zum Theil angeſchnittene Piecen) ein impo-
ſanter Roſtbeef, eine Hammelkeule, ein Kälberbra-
[225] ten, eine kalte Haſenpaſtete, ein Haſelhuhn, dreier-
lei Arten Pickles, in Waſſer gekochter Blumenkohl,
Kartoffeln, Butter und Käſe. Daß man damit ein
ganzes Kränzchen Spießbürger bei uns geſpeist hätte,
ſpringt in die Augen.



Das Erſte was ich heute früh vor meinen Fen-
ſtern erblickte, war die raffinirte Induſtrie eines Ma-
terialhändlers, der ſich nicht begnügt hatte, wie es in
England bei allen ſeinen Collegen der Fall iſt, eine
große Menge chineſiſcher Theebüchſen, Mandarine,
und Vaſen vor ſeiner Boutike aufzuſtellen, ſondern
außerdem noch ein Uhrwerk am Fenſter produzirte,
wo ein ſtattlicher Türkenautomat emſig Mocca-Kaffee
mahlte. Von hier begann ich meine weitere Tour.
Zuvörderſt beſah ich die Stadt-Markt-Halle, ein
ſchönes Gebäude, wo der Markt unter einem Glas-
dach gehalten wird; dann die Tuchhalle, ein unge-
heurer Raum, der blos mit Tüchern aller Art und
Farben angefüllt iſt, und endlich die größte Tuch-
Fabrik im Orte, welche durch 3 Dampfmaſchinen be-
trieben wird. Man ſieht mit dem rohen Material
(hier das Sortiren der Wolle) anfangen, und mit
dem fertigen Tuche endigen, und könnte recht gut
ſeine Wolle früh in die Fabrik bringen, und Abends
mit dem daraus gefertigten Rocke wieder heraus-
kommen, wenn man zugleich einen Schneider mit-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 15
[226] brächte. Unſer R. hat dieſes Kunſtſtück wirklich rea-
liſirt, und trug den Schnellrock lange mit großer
Vorliebe. Die verſchiednen Maſchinen ſind im höch-
ſten Grade ingenieus, aber der Geſtank dabei und
die ungeſunde Luft, wie der Staub bei manchen
Operationen, müſſen für die armen Arbeiter, die
übrigens gleich Negern alle blaugefärbt ausſahen,
ſehr ungeſund ſeyn. Der junge Mann, welcher mir
die Fabrik zeigte, ſagte jedoch, daß Baumwollen-
Manufakturen noch weit ungeſunder wegen des fei-
nen Staubes wären, daher auch ſelten ein Arbeiter
daſelbſt 50 Jahr erreiche, hier aber habe man Bei-
ſpiele von 60. Die gothiſchen Kirchen, welche geſtern
in der Ferne ſo viel Effekt machten, boten nichts
Merkwürdiges in der Nähe dar, und die Stadt ſelbſt,
in der man, des Tag und Nacht nie ununterbroche-
nen Rauches wegen, in einem ewigen Nebel lebt,
iſt der unangenehmſte Aufenthalt, den man ſich den-
ken kann.



Meine Reiſe fortſetzend, machte ich den erſten
Halt in Templenewſome, einem Schloſſe aus Eliſa-
beths Zeiten, der verwittweten Markiſe Hertford ge-
hörig. Das Schloß hat die Eigenthümlichkeit, daß
ſtatt der Zinnen, eine Steingalerie von Buchſtaben
rund um das Dach läuft, die einen Spruch aus der
Bibel enthält. Der Park iſt traurig, und das
[227] Ameublement des Hauſes altväteriſch ohne Reiz. In
der Bildergalerie fand ich ebenfalls nichts Beſonderes,
in den Stuben aber einige intereſſante Bilder. Er-
ſtens die beiden Guiſe, die Onkel der Maria von
Schottland, den General Monk, der auffallend un-
ſerm alten Freund Thielemann ähnlich ſieht, und das
Bild Lord Darnley’s (Marias Gemahl) dem dieſes
Schloß gehörte und in derſelben Stube aufgehangen
iſt, wo er geboren wurde. Ich litt ſehr an Kopf-
ſchmerz, weshalb ich vielleicht einen zweiten Park,
Stainbrook Caſtle, nur öde und unheimlich fand, auch
den Gemälden nicht viel Geſchmack abgewinnen
konnte. Hierauf führte der Weg fortwährend durch
mehrere Fabrikorte, die alle wie brennende Dörfer
und Städte ausſahen. Rotherham ſelbſt, wo ich
mich jetzt befinde, iſt wegen ſeiner großen Eiſenwerke
berühmt, und ich gedenke morgen einige davon zu
beſehen, wenn mein Uebelbefinden nachläßt.



Nachdem ich eine halbe deutſche Meile nach dem
größten Eiſenhammer gewandert war, fand ich leider
das Werk ſtill ſtehen, indem der hohe Ofen geſtern
ſchadhaft geworden war. Ich konnte folglich nur
wenig ſehen, und begab mich, wieder eine Viertel-
ſtunde weiter, nach dem Gußſtahlwerk. Hier
war aber eben die Dampfmaſchine in Unordnung
gerathen, und das Werk ſtand ebenfalls ſtill.
Ich wanderte alſo abermals weiter zu der Zwirn-
15*
[228] und Leinewand-Fabrik, und mein wie meines Füh-
rers Erſtaunen war nicht gering, als wir auch hier
keine Arbeit gewahr wurden, und erfuhren, daß heut
früh die große Spindel in der Hauptmaſchine gebro-
chen ſey. Mit dieſem ganz beſondern Guignon en-
digten meine vergeblichen Verſuche, mich heute weiter
zu unterrichten, da ich keine Zeit zu mehreren hatte.
Das einzige Erwähnungswerthe was ich en passant
noch ſah, war die Einrichtung an einem hohen Ofen,
wo ſtatt der hölzernen Brücke, die gewöhnlich hinauf-
führt, eine eiſerne Bahn angebracht war, auf der,
durch eins der Waſſerräder mit getrieben, der Koh-
lenwagen von ſelbſt hinauf und herunter lief.



Von Rotherham fuhr ich nach Wentworthouſe,
dem Lord Fitzwilliam gehörig, abermals eine wahr-
haft königliche Beſitzung, was Größe, Pracht und
Reichthum betrifft, aber auch (wie im Ganzen die
meiſten engliſchen Parks) eben ſo traurig und mo-
noton, denn die unabſehbaren Strecken dürren Gra-
ſes mit einzelnen Bäumen und dem zahmen, ſchaaf-
artigen Wilde darauf, werden darauf ganz unver-
träglich. — Gewiß iſt es eine abgeſchmackte Sitte,
dieſe Oeden faſt immer auf einer Seite an das
Schloß anſtoßen zu laſſen, welches ſolchen Gebäuden
das Anſehen verwünſchter Palläſte giebt, die ſtatt
der Menſchen nur von Hinſchen bewohnt werden.
[229] Dieſer Täuſchung könnte man ſich um ſo mehr über-
laſſen, da man ſelten ein menſchliches Weſen außer-
halb dem Hauſe zu ſehen bekömmt, dieſes auch in
der Regel verſchloſſen iſt, ſo daß man oft an der
Thüre deſſelben eine Viertelſtunde klingeln und war-
ten muß, ehe man eingelaſſen wird, und die Frau
Caſtellanin erſcheint, um den Cicerone zu machen
und ihr Trinkgeld einzunehmen.


Viele ſchöne Statüen und Gemälde ſchmücken
Wentworthouſe. Unter andern ein herrliches Bild
Vandyks, den Erbauer des Schloſſes, Lord Strafford
darſtellend, wie ihm eben ſein Todes-Urtheil notifi-
cirt worden iſt, und er, es noch in der Hand hal-
tend, dem Sekretair ſeinen letzten Willen diktirt.
Auf einem andern Bilde iſt ſein Sohn abgebildet,
ein ſchöner Knabe von 16 Jahren in einem äußerſt
vortheilhaften Trauerkoſtüm, ſchwarz mit reichen
Svitzen, rehfarbnen Stiefeln, einem dicht anſchließen-
den Collet, mit Schmelz geſtickt, kurzem Mantel,
reichem Schwerdt und Schärpe en bandoulière.


Das Bild eines Rennpferdes in Lebensgröße auf
graue Leinewand gemalt und ohne Rahmen in eine
Niſche placirt, täuſchte, als ſey es lebendig. Dieſes
Pferd hat ſo viel gewonnen, daß der vorige Lord
ein Quarré magnifiker Ställe, die vollſtändigſten, die
ich noch hier geſehen, dafür aufbauen laſſen konnte.
In dieſen Ställen, die auch eine Reitſchule enthal-
ten, ſtehen 60 ſchöne und ausgeſuchte Pferde.


Ein vortreffliches Portrait des eben ſo unterneh-
menden als eitlen Kardinal Wolſey, ſo wie das des
[230] leichtſinnigen Herzogs von Buckingham gewähren viel
Intereſſe. Als die Caſtellanin mir das Portrait
Harveys zeigte, ſagte ſie: dies iſt der Mann, der
die Circulation des Bluts erfunden hat. (who
has invented the circulation of the blood.)
Wer
doch des Mannes Bekanntſchaft machen könnte! In
den Blumengärten fand ich einige einzelne hübſche
Partieen, unter andern eine an bunten Parterres
hinlaufende Gallerie von Drahtgittern, mit auslän-
diſchen Vögeln darin, einem klaren Bach der durch
ſie hinfloß, und immergrünen Sträuchern, auf denen
ſich das gefiederte Volk frei herumtummeln konnte.


Auf einem kleinen Teich daneben ſchwammen meh-
rere ſchwarze Schwäne, die bereits vier junge Spröß-
linge hier großgezogen haben. Sie ſcheinen ſich vollkom-
men an das hieſige Clima zu gewöhnen. Auffallend
war mir eine gewöhnliche Buche am Ufer des Waſ-
ſers, die durch frühes Köpfen zu einem ganz andern
Charakter gekommen war. Sehr niedrig nach oben,
bedeckten dagegen ihre ſich auf allen Seiten gleich
weit ausbreitenden Zweige einen ungeheuern Raum
in der Breite, und formten ſich zu einem regelmäßi-
gen Laubzelte ohne Gleichen. Auch einer Hemlocks-
Tanne hatte man durch Köpfen weit größere Schön-
heit gegeben, als ihr der natürliche Wuchs verleiht.


Ich kam noch bei guter Zeit nach Sheffield, wo
des vieles Rauches wegen die Sonne keine Strahlen
mehr warf, ſondern nur wie der Mond erſchien. In-
dem ich mir hier die bewunderungswürdigen Pro-
[131[231]] dukte im Meſſer- und Scheeren-Fach betrachtete, als
z. B. ein Meſſer mit 180 Klingen, Scheeren die voll-
kommen ſchneiden und brauchbar ſind, obgleich man
ſie kaum mit bloßen Augen erkennen kann ꝛc. ꝛc. —
kaufte ich auch für Dich, ohne Aberglauben, Nadeln und
Scheeren für Deine ganze Lebenszeit, nebſt einigen
andern Kleinigkeiten neuer Erfindung, die Dir, wie
ich hoffe, Vergnügen machen werden.



Ich fuhr die Nacht hindurch, und ſah nur von
weitem bei Mondſchein Newſtead Abbey, Lord By-
rons jetzt ſehr vernachläſſigten Geburtsort und Fa-
milienſchloß. Auſſer der gothiſchen Kirche, deren faſt
jede Stadt in England eine mehr oder minder ſchöne
aufzuweiſen hat, iſt in Nottingham nicht viel zu
ſehen, eine merkwürdige Manufaktur von Petinet
ausgenommen, wo die Maſchinen ganz allein alle
Arbeit machen und nur ein einziger Menſch dabei
ſteht, um acht zu geben, wenn ſich etwa irgend et-
was verſchieben ſollte. Es ſieht höchſt ſeltſam aus,
wenn, wie durch unſichtbare Hände geführt, die
Eiſenungeheuer mit allen ihren Klammern und Spitzen
zu handthieren anfangen, und der ſchönſte Petinet
im Rahmen geſpannt, nett und fertig oben langſam
hervorkömmt, während man unten die Spindel mit
[232] den darum gewickelten rohen Faden ſich langſam fort-
drehen ſieht, ohne daß, wie geſagt, eine einzige
menſchliche Hand das Ganze berührte.


Es war eben die Zeit der hieſigen Meſſe, welche
eine Menge Curioſitäten herbeigezogen hatte, unter
andern eine ſchöne Sammlung wilder Thiere. Zwei
bengaliſche Tiger von enormer Größe waren ſo voll-
ſtändig gezähmt, daß ſelbſt Damen und Kinder ge-
ſtattet ward, zu ihnen in den Käficht hineinzutreten,
oder die Thiere ſelbſt in die Reitbahn herauszulaſſen,
worin die Sammlung aufgeſtellt war. Kein Hund
konnte frömmer ſeyn, doch bezweifle ich, daß unſere
Polizei ſolche Experimente geduldet haben würde. Ein
merkwürdiges, und ſo viel ich weiß, noch nie in Eu-
ropa geſehenes Thier, war das gehörnte Pferd, oder
Neyl Ghu aus der aſiatiſchen Tartarei vom Hi-
malaya-Gebirge, ſchön und flüchtig, und von einer
höchſt ſeltſamen Conſtruktion einiger Theile. Neu
war mir auch der ſchöne perſiſche Waldeſel, der ſchnel-
ler und dauerhafter als ein Pferd laufen, und Wo-
chen lang ohne Nahrung zu leben im Stande ſeyn
ſoll. Wie auf der Pfaueninſel bei Berlin befand ſich
auch hier ein Rieſe und ein Zwerg mit unter der
Thierſammlung.



Ehe ich Nottingham verließ, beſuchte ich den in
der Nähe gelegenen Sitz des Lord Middleton, deſſen
[233] Schloß ſehenswerth iſt. Liebhaber von Georginen
können im hieſigen Garten dergleichen finden, welche
faſt die Größe von Sonnenblumen erreichen. Auch
einige Glashäuſer zeichneten ſich aus, der Park bot
wenig. Im Schloß iſt ein altes Gemälde, welches
dieſes und die Gärten treu darſtellt, wie ſie vor 200
Jahren waren. Es gibt zu intereſſanter Betrachtung
Anlaß, um ſo mehr, da man die Herrſchaft mit gro-
ßer Geſellſchaft und Gefolge im wunderlichſten Co-
ſtüme ſich im Garten ergehen ſieht, und der darge-
ſtellte Lord derſelbe iſt, welcher wegen jener berühm-
ten Geiſtergeſchichte ſo oft citirt wird. Dergleichen
Darſtellungen ſollte Jeder für ſeine Nachkommen an-
fertigen laſſen, die Vergleiche ſind immer ergötzlich,
und zuweilen lehrreich.


In der Nacht erreichte ich St. Albans, und ſah
die berühmte Abtei bei Mond- und Laternenſchein.
Der Küſter wurde ſchnell aufgeweckt, und mußte mich
noch hinführen. Zuerſt bewunderte ich das im achten
Jahrhundert von den Sachſen mit römiſchen Ziegeln
(welche ganz unverwüſtlich ſind) erbaute Aeußere des
Gebäudes beim Mondlicht, dann trat ich mit der La-
terne in das impoſante Innere. Das Schiff der Kirche
iſt wohl eines der größten, die es gibt, denn es iſt
über ſechshundert Fuß lang. Viele herrliche Arbeit
in Stein und Schnitzwerk iſt darin angebracht, und
obgleich man bei dem ſchwachen Lichte wenig deutlich
ſehen konnte, ſo machte doch das Ganze, eben durch
die abentheuerliche und ungewiſſe Beleuchtung, nebſt
unſern beiden ſchwarzen Figuren in der Mitte, und
[234] den Tönen der Mitternachtsglocke vom Thurm herab,
einen recht romanhaften Eindruck.


Noch mehr war dies der Fall, als wir in die Gruft
hinabſtiegen, wo in einem aufgebrochenen zinnernen
Sarge das Gerippe des Herzogs von Bedford, des
Reichsverweſers liegt, der vor 600 Jahren vom Kar-
dinal Beaufort vergiftet wurde. Es iſt durch die
Länge der Zeit ſo braun und glatt wie polirtes Ma-
hagoniholz geworden, und neugierige Antiquare ha-
ben es deshalb ſchon mehrerer Knochen beraubt. Auch
der Küſter, ein Irländer, ergriff ohne Umſtände ei-
nen der Beinknochen, und ihn wie einen Knüppel in
der Luft ſchwingend, bemerkte er: der Knochen wäre
ſo ſchön und hart durch die Zeit geworden, daß er
einen vortrefflichen Shileila abgeben könnte. Was
würde der ſtolze Herzog geſagt haben, wenn er bei
Lebzeiten erfahren, wie ſo geringe Leute einſt mit
ſeinem armen Leichnam umgehen würden.


Den ſoliden Bau damaliger Zeiten beweist am be-
ſten die über tauſend Jahr alte prachtvolle hölzerne
Decke, die noch ſo ſchön und wohlerhalten iſt, als
wenn in der angegebenen Zahl keine Nullen hinter
der 1 ſtünden. Die bunten Fenſter, nebſt dem gol-
denen Grab des heiligen Alban, ſind leider auch in
Cromwells Zeit größtentheils zerſtört worden.


Noch zeitig genug, um die Hälfte der Nacht aus-
zuruhen, kam ich in London an, und mein erſtes
Geſchäft am Morgen war, vorliegenden, zum Paket
[235] angeſchwollenen Brief für Dich zu beendigen. In we-
nigen Stunden, hoffe ich, iſt er ſchon unterwegs.


Laß Dir alſo bis dahin die Zeit nicht lang werden,
und empfange dieſen Brief mit gleicher Liebe und
Nachſicht, als ſeine zahlreichen Vorgänger.


Dein treuer L.


[[236]]

Zwanzigſter Brief.



Ein Franzoſe ſagt: L’illusion fut inventée pour
le bonheur des mortels, elle leur fait presques
autant de bien que l’espérance.
Wenn dieſer Aus-
ſpruch wahr iſt, ſo iſt mir viel Glück zugemeſſen, denn
an Illuſionen und Hoffnungen laſſe ich es nie fehlen.


Von dieſen bat nun Dein Brief allerdings einige
über den Haufen geworfen, indeß ſey guten Muths,
es wachſen ſchon neue wieder, ſo ſchnell wie Pilze,
hervor. Bald mehr darüber. Aber an den wider-
wärtigen, immer ſchlafenden Präſidenten kann ich
unmöglich von hier aus ſchreiben. Dazu, würde ein
Dandy ſagen, iſt der Menſch nicht faſhionable genug.
Du beſorgſt überdieß alle dieſe Geſchäfte ſo vortreff-
lich, daß es unrecht wäre, ſie Dir nicht ganz allein
zu überlaſſen. Dies iſt zwar Egoismus von meiner
Seite, aber ein verzeihlicher, weil er uns Beiden
Vortheil bringt . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


[237]

Ich habe in den letzten Tagen eine kleine Excur-
ſion nach Brighton gemacht, und einen Umweg bei
der Rückkehr genommen. Das Schloß des Herzogs
von Norfolk, Arundel-Caſtle, war einer der Gegen-
ſtände meiner Neugier. Es hat einige Aehnlichkeit
mit Warwick, bleibt jedoch weit hinter dieſem zurück,
obgleich es theilweiſe vielleicht eben ſo alt iſt. Auch
hier iſt am öſtlichen Ende ein künſtlicher Berg und
Keep. Auf dem runden verfallenen Thurme ſoll man
von deſſen Gipfel eine herrliche Ausſicht genießen.
Der Nebel verhinderte ſie heute, und ich konnte nicht
einmal die das Schloß umſchließenden Terraſſengär-
ten überſehen. Ich unterhielt mich dafür in nächſter
Nähe mit einem Dutzend zahmer Puhus (der größ-
ten Eulenart) welche des ehemaligen Thurmwärters
Stube bewohnen. Einer davon war ſchon 50 Jahre
hier, ſehr zuthulich, und bellte, wenn er etwas ver-
langte, vollkommen wie ein Hund. Die Engländer
ſind große Freunde von Thieren, eine Neigung, die
ich mit ihnen theile. So findet man in den meiſten
großen Parks eine Unzahl von Raben, die in Schwär-
men von Tauſenden oft das Schloß umkreiſen, und
zu ſo einer alterthümlichen Burg und den ſie umge-
benden Rieſenbäumen nicht übel paſſen, obgleich ihr
Gekrächze keine angenehme Muſik gewährt. Das In-
nere des Schloſſes hat nichts Ausgezeichnetes. Die
vielen bunten Fenſter ſind alle modern, und unter
den Familiengemälden ſchien mir blos das des Lords
Surrey, ſeines ſeltſamen Coſtüms wegen, merkwürdig.
Er wurde unter Heinrich VIII. hingerichtet.


[238]

Die Bibliothek iſt klein, aber ſehr magnifik, ganz
mit Cedernholz getäfelt, mit ſchönem Schnitz- und
Bildwerk verziert, kurz an nichts fehlt es ihr, auſſer
an Büchern, denn kaum ein paar hundert waren darin.


Ein ſehr großer, aber einfacher Saal, heißt die
Halle der Barone, und hat viele bunte Fenſter, de-
ren Malereien nicht beſonders gerathen ſind.


In den Stuben hatte man, ſo viel als möglich,
lauter alte Meubles vereinigt, und ihnen möglichſt
nachgebolfen, damit ſie nicht in ihrer Wurmſtichigkeit
zuſammenfielen. Dies iſt jetzt überall die Mode in
England, Sachen, die man bei uns als zu gebrech-
lich und altmodiſch wegwirft, werden hier auf’s
theuerſte bezahlt, und auch die neuen wenigſtens ganz
im Styl der alten beſtellt. Ich finde das in ſolchen
ehrwürdigen Schlöſſern recht paſſend, ſobald die Be-
quemlichkeit nicht zu ſehr dadurch leidet, in modernen
Gebäuden iſt es aber lächerlich.


Der alte Theil des Schloſſes ſoll ſchon in der Rö-
mer Zeit eine Feſtung geweſen ſeyn, weßhalb man
in den Mauern viel römiſche Ziegel findet. Auch ſpä-
ter hat es immer als Feſtung gedient, und viele Be-
lagerungen ausgehalten; der neuere Theil, im Style
des Uebrigen, wurde erſt vom Vater des jetzigen
Herzogs gebaut, und koſtete, wie mir geſagt wurde,
800,000 L. St. Bei uns würde man ganz daſſelbe
gewiß mit 300,000 Rthlrn. herſtellen können. Die
Gärten ſchienen mir mannichfaltig und weitläuftig,
[239] und der Park ſoll auch ſehr ausgedehnt und pittoresk
ſeyn; das abſcheuliche Wetter hinderte mich aber, al-
les dies zu ſehen. Ich fuhr den Abend noch bis
Petworth, wo ein anderes ſehenswerthes Schloß iſt,
und ſchreibe Dir jetzt aus dem Gaſthof, wo ich in
wenigen Minuten wie zu Hauſe eingerichtet war,
denn meine Reiſeequipage und Bequemlichkeitsroutine
hat ſich in England noch ſehr vervollkommnet.



Obriſt C . . . . kam heute früh zu mir in den
Gaſthof, machte mir viel Vorwürfe, nicht bei ſeinem
Schwiegervater, Lord E . . ., dem Beſitzer von Pet-
worth-Schloß, gleich vorgefahren zu ſeyn, und bat
mich dabei ſo freundlich, wenigſtens einen Tag bei
ihnen zu bleiben, daß ich es nicht abſchlagen konnte.
Meine Sachen wurden alſo auf das Schloß gebracht,
und ich ſogleich dort inſtallirt. Es iſt ein ſchöner mo-
derner Pallaſt mit einer herrlichen Gemälde- und
Antiken-Sammlung, und einem großen Park, der
auch eine berühmte Stuterei in ſich ſchließt. Unter
den Gemälden ſprachen mich drei beſonders an, ein
ganz ausgezeichnetes Bild Heinrich VIII. in Lebens-
größe, von Holbein, merkwürdig durch den prachtvol-
len täuſchend gemalten Schmuck und das friſche, mei-
ſterhafte Colorit; ein Portrait des unſterblichen New-
ton, der bei weitem weniger geiſtreich als emi-
nent vornehm ausſieht, und ein anderes des Mo-
[240] ritz von Oranien, unſerm Dichter Houwald ſo ähn-
lich, daß man es unbedingt für das ſeinige ausge-
ben könnte. Die Miſchung von Statuen und Bil-
dern untereinander, die hier beliebt worden iſt,
wirkt unvortheilhaft und ſchadet Beiden. Zu den
Curioſitäten gehört eine Familien-Reliquie, nämlich
Percy Hotspur’s, eines Ahnherrn des Beſitzers,
großes Schwerdt. Die Bibliothek diente, wie gewöhn-
lich, zugleich als Salon, gewiß eine ſehr zweckmäßige
Sitte. Sie war überdieß hier ſo eingerichtet, wie
Du es liebſt, d. h. nur die modernſten und werth-
vollſten, vor allen eleganteſt gebundenen Bücher in
der Bibliothek aufgeſtellt, und für alle übrigen ein
beſonderer Saal im obern Stock eingeräumt. Die
Schränke waren weiß lackirt, und mit mehreren Con-
ſolen verſehen, an denen man zugleich bequem hinauf-
ſteigen konnte, um zu den obern Büchern zu ge-
langen.


Die Freiheit in dieſem Hauſe war vollkommen, wo-
durch es ſeine Annehmlichkeit für mich verdoppelte.
Hier empfand man in der That auch nicht die min-
deſte gêne. Es waren eine Menge Gäſte gegenwär-
tig, worunter mehrere ſehr liebenswürdige Damen.
Der Hauswirth ſelbſt iſt ein ſehr gelehrter Kunſtken-
ner und zugleich ein bedeutender Mann on the turf,
denn ſeine Rennpferde gewinnen öfter als andere.
In ſeinem Geſtüt ſah ich einen Hengſt von mehr als
30jährigem Alter (Whalebone) der von mehreren Stall-
knechten unterſtützt werden mußte, um gehen zu kön-
nen, und von dem die Fohlen dennoch, im Mutter-
[241] leibe noch, mit großen Summen bezahlt werden.
Das nenne ich ein glorreiches Alter. Uebrigens ſind
die hieſigen Stuterei-Prinzipien von den unſrigen
ausnehmend verſchieden. Dies Thema möchte Dich
aber bei aller Deiner Wißbegierde doch zu wenig in-
tereſſiren, ich will alſo die hierüber erlangte Wiſſen-
ſchaft lieber einem andern Hefte anvertrauen.


Am nächſten Tage kam die Herzogin von S. A ....
hier an, eine Frau, deren immer ſteigender Glücks-
wechſel ſeltſam genug iſt.


Nach den erſten Erinnerungen, die ſie hat, fand
ſie ſich, ein verlaſſenes, hungerndes und frierendes
Kind, in der entlegenſten Scheune eines engliſchen
Dorfes. Eine Zigeunerbande nahm ſie dort auf, von
der ſie ſpäter zu einer wandernden Schauſpielertruppe
überging. In dieſem Fach erlangte ſie durch ange-
nehmes Aeuſſere, ſtets heitere Laune und originelle
Eigenthümlichkeit einigen Ruf, erwarb ſich nach und
nach mehrere Freunde, die großmüthig für ſie ſorg-
ten, und lebte lange in ungeſtörter Verbindung mit
dem reichen Banquier C . . . ., der ſie zuletzt auch
heirathete, und ihr bei ſeinem Tode ein Vermögen
von 70,000 L. St. Einkünften hinterließ. Durch die-
ſes coloſſale Erbtheil ward ſie ſpäter die Gemahlin
des Herzogs von St. A . . ., des dritten engliſchen
Herzogs im Range, und, was ein ziemlich ſonderba-
res Zuſammentreffen iſt, des Nachkommen der be-
kannten Schauſpielerin Nell Gwynn, deren Reizen
der Herzog auf ganz gleiche Weiſe (nur einige hun-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 16
[242] dert Jahre früher) ſeinen Titel verdankt, wie ſeine
Gemahlin jetzt den ihrigen.


Es iſt eine ſehr gute Frau, die ſich nicht ſcheut,
von der Vergangenheit zu ſprechen, im Gegentheil
ihrer, vielleicht zu oft, Erwähnung thut. So unter-
hielt ſie uns den ganzen Abend aus freien Stücken
mit der Darſtellung mehrerer Rollen aus ihrem Schau-
ſpielerleben. Das drolligſte dabei war, daß ſie ihren
ſehr jungen Mann, der 30 Jahr jünger iſt als ſie,
die Liebhaber-Rollen einſtudirt hatte, welche ihm gar
nicht recht gelingen wollten. Die böſen Zungen wa-
ren natürlich dabei ſehr geſchäftig, um ſo mehr, da
viele der rezitirten Stellen zu den pikanteſten An-
ſpielungen fortwährend Anlaß gaben.


Nach einem dreitägigen angenehmen Aufenthalt
kehrte ich hieher zurück, und feire heute meinen Ge-
burtstag in tiefſter Einſamkeit bei verſchloſſenen Thü-
ren. Drei Viertel meiner melancholiſchen Anwande-
lungen habe ich gewiß dem Monat zu verdanken,
in dem ich das Licht der Welt erblickte. Mai-
kinder ſind weit heiterer, ich habe noch nie einen
hypochondriſchen Sohn des Frühlings geſehen. Mir
fiel einmal ein Lied, überſchrieben: Prognostica, in
die Hände. Es thut mir ſehr leid, daß ich es nicht
aufbewahrt habe, denn für jeden Monat der Geburt
war den Erdenkindern ihr Loos verkündet. Nur das
erinnere ich mich noch, daß den im Oktober Gebor-
nen ein trüber Sinn zugeſchrieben war, und der
Spruch alſo anhub:


[243]
Ein Junge, geboren im Monat Oktober,

Wird ein Critiker, und das ein recht grober!

Ich verlaſſe Dich aber jetzt für ein großes Diné
beim Fürſten E . ., denn den ganzen Tag will ich
der Einſamkeit doch nicht widmen, dazu bin ich zu
abergläubig. Adieu.



Als Ludwigsritter wohnte ich heute, am Namens-
tag meines Heiligen, glaube ich, oder des Königs
von Frankreich, ich weiß es wahrlich nicht gewiß,
einem großen Mahle beim Fürſten P. bei, und ſah
darauf noch die Fortſetzung des Don Juan in
Drurylane.


Of course ſpielt der erſte Akt in der Hölle, wo Don
Juan bereits die Furien, und zuletzt gar des Teufels
Großmutter verführt hat, und deßhalb von Seiner
Sataniſchen Majeſtät höchſteigenhändig aus der Hölle
hinausgeworfen wird. Als er bei Charon und den
pittoresken Ufern des feuerfluthenden Styx ankommt,
fährt der Alte eben drei weibliche Seelen aus London
herüber. Don Juan beſchäftigt beim Ausſteigen den
Fährmann mit dem Wechſeln einer Banknote, denn
auch in der Hölle iſt ſchon Papiergeld eingeführt,
und nimmt während deſſen den Augenblick wahr,
mit den drei Weibern ſchnell vom Ufer abzuſtoßen,
und ſie ſo der Erde wieder zuzuführen. In London
16*
[244] angelangt, hat er ſeine gewöhnlichen Abenteuer,
Duelle, Entführungen ꝛc., die Reiter-Statue im
Charing-Croß ladet ihn zum Thee ein, ſeine Gläubi-
ger aber bringen ihn nach Kingsbench, aus dem eine
reiche Heirath ihn zuletzt errettet, nach welcher er nun
erſt — in einer böſen Frau endlich die genügende
Strafe ſeiner Sünden findet, was die Hölle nicht ver-
mochte. Madame Veſtris iſt als Don Juan der wun-
derlieblichſte und verführeriſcheſte Jüngling, dem man
es auch gleich anmerkt, daß es ihm nicht an Routine
fehlt.


Das Stück amüſirte mich, und noch unterhaltender
fand ich einen neuen Roman auf meinem Tiſche zu
Hauſe, der (allerdings eine ſchon oft gebrauchte Idee)
im Jahr 2200 ſpielt.


England iſt darin wieder katholiſch und eine abſo-
lute Monarchie geworden, und die allgemeine Bil-
dung hat ſolche Fortſchritte gemacht, daß Gelehrſam-
keit Gemeingut der niedrigſten Klaſſen geworden iſt.
Jeder Handwerker arbeitet nur rationell, nach ma-
thematiſchen und chemiſchen Prinzipien. Lakayen und
Köchinnen, welche Namen, wie Abelard, Heloiſe ꝛc.
führen; ſprechen mit dem Tone der Jenaer Litera-
turzeitung, dagegen es unter den hohen Ständen
Mode geworden iſt, ſich, im Gegenſatz zu dem Plebs,
der gemeinſten Sprache und Ausdrücke zu bedienen,
und auſſer Leſen und Schreiben jede weitere Kennt-
niß ſorgfältig zu verbergen. Dieſer Gedanke iſt witzig,
und vielleicht prophetiſch!


[245]

Auch die Lebensart dieſer Stände iſt höchſt einfach,
grobe und wenig Speiſen erſcheinen allein auf ihrer
Tafel, und Küchenlurus wird nur noch bei den Die-
nertiſchen angetroffen.


Daß übrigens Luftballons das gewöhnliche Fuhr-
werk ſind, und Dampf die ganze Welt regiert, ver-
ſteht ſich faſt von ſelbſt. Ein deutſcher Profeſſor macht
aber, vermöge einer neuen Anwendung des Galva-
nismus, gar die Entdeckung, Todte zu erwecken,
und die Mumie des Königs Cheops, kürzlich in ei-
ner der bis jetzt noch uneröffneten Pyramiden auf-
gefunden, iſt die erſte Perſon, an welcher dieſes Ex-
periment verſucht wird. Wie nun die lebende Mu-
mie nach England kömmt, und wie abſcheulich ſie
ſich dort aufführt, magſt Du nachleſen, wenn der
Roman ins Deutſche überſetzt ſeyn wird. Uebrigens
komme ich mir ſelbſt manchmal hier auch wie eine
Mumie vor, an Händen und Füßen gebunden, und
ſehnlich meiner Auferſtehung wartend.



Dieſen Morgen bedeckte ein ſolcher Nebel die Stadt,
daß ich in meiner Stube nur bei Licht frühſtücken
konnte. An Ausgehen war bis gegen Abend nicht
zu denken. Zum Eſſen war ich bei Lady Love ein-
geladen, und P. auch gegenwärtig, den ſie ſonſt, ich
weiß nicht recht warum, ſehr anfeindet. Mit ſeiner
gewöhnlichen Etourderie verdarb er es aber heute
[246] vollends. Die Dame hat nämlich, wie Du Dich noch
aus älteren Zeiten erinnern wirſt, eine etwas rothe
Naſe, und Uebelwollende ſuchen die Urſache davon
in der Sitte, welche der General Pillet den Englän-
derinnen vorwirft. P. wußte dies wahrſcheinlich nicht,
und bemerkte, als er am Tiſch neben ihr ſaß, daß
ſie ihren Wein aus einer andern Flaſche mit einer
dunkeln Flüſſigkeit miſchte, die wie Liqueur ausſah.
In ſeiner Unſchuld — oder Bosheit, frug er ſcher-
zend, ob ſie ſchon ſo ganz Engländerin geworden ſey,
ihren Wein mit Cognac zu miſchen. An dem nun-
mehrigen Rothwerden ihres ganzen Geſichts, wie
an der Verlegenheit der Naheſitzenden entdeckte er
erſt ſeine Bevue, denn das unſchuldige Tiſchgetränk
war wirklich nur Brodwaſſer. Mir fiel dabei die ko-
miſche Vorſchrift ein, die ein Lehrbuch für gute Le-
bensart in unſrer nationell pedantiſchen Manier giebt:
„Wenn du in eine Geſellſchaft gehſt,“ heißt es dort,
„ſo erkundige dich vorher immer genau nach den Per-
„ſonen, die du dort anzutreffen vermuthen kannſt,
„nach ihren Verwandtſchaften, Schwächen, Fehlern
„und ausgezeichneten Eigenſchaften, damit du auf
„der einen Seite nicht unbewußt etwas ſagſt, das
„eine wunde Stelle trifft, auf der andern aber mit
„Unbefangenheit angenehm und paſſend ſchmeicheln
„kannſt.“


Eine zwar lächerlich vorgetragene, und etwas ſchwer
auszuführende, aber nicht üble Regel!


[247]

Es war viel von Politik die Rede, und dem pracht-
vollen Kriegsanfang mit Vertilgung der türkiſchen
Flotte.


Welche Inconſequenz iſt es doch, Engländer ſo
ſprechen zu hören! aber ſeit Napoleons Fall wiſſen
die leitenden Politiker faſt alle nicht mehr recht, was
ſie wollen. Die jammervollen Reſultate ihres Con-
greſſes genügten ihnen zwar ſelber nicht, aber den-
noch erſchien keine Originalidee, ſie weiter zu treiben,
kein Hauptwille ſteht mehr hinter ihnen, und das
Schickſal Europa’s hängt ſchon nicht mehr von ſeinen
Führern, ſondern von dem Zufalle ab. Cannings
Erſcheinung war nur eine tranſitoriſche, und wie ſind
ſeine Nachfolger beſchaffen! Die Zerſtörung der Flotte
ihres ſicherſten und treueſten Bundesgenoſſen ohne
Krieg iſt wohl der beſte Beweis dafür, obgleich ich
mich als Menſch und Griechenfreund herzlich darüber
freue.


Wir werden aber bei dieſen Mißgeburten politiſcher
Syſteme, bei dieſem Schwanken aller Orten, gewiß
noch ſeltſame Dinge erleben, und vielleicht Zuſam-
menſtellungen, die man jetzt für unmöglich hält.
Canning ſelbſt iſt zum Theil daran Schuld, da ſeine
angefangenen Pläne nicht reif wurden, und ein Mann
von eminentem Genie auf einem hohen Platze immer
ſeinen Nachfolgern verderblich wird, wenn dieſe Pyg-
mäen ſind. Die jetzigen Miniſter haben ganz das
Anſehen, als wollten ſie England langſam dem Ab-
grund zuführen, den Canning für Andere gegraben hat.


[248]

Auch dieſe Gewitter, die ſich an Aſiens Gränze
zuſammenziehen, ſchlagen vielleicht erſt ſpäter mitten
in Europa am heftigſten ein. Mit uns hoffe ich
aber, wird der Donnergott ſeyn, Preußens Zukunft
ſteht in meiner Ahnung ſelbſt hoher und glänzender
da, als ſie ihm bis jetzt das Schickſal gönnte, nur
verliere es ſeine Deviſe nicht aus den Augen: „Vor-
wärts!“


Zu Haus angekommen, fand ich Deinen Brief,
der mich ſehr beluſtigte, beſonders die von H. vergeb-
lich in Paris auf Bouteillen gezogenen Saillien, die
in S … ſo wenig Anwendung finden, denn wohl
haſt Du Recht:


„Rien de plus triste qu’un bon mot qui se perd
dans l’oreille d’un sot,“

und in dieſem Falle mag er ſich oft genug befinden.



Da man jetzt Zeit hat, das Schauſpiel zu beſuchen,
und gerade die beſten Akteurs ſpielen, ſo widmete ich
viele meiner Abende dieſem äſthetiſchen Zeitvertreibe,
und ſah unter andern geſtern mit erneutem Vergnü-
gen Kembles künſtleriſche Darſtellung des Falſtaff
wieder, von der ich Dir ſchon einmal ſchrieb. Nach-
holen kann ich jetzt noch, daß ſein Coſtume, in weiß
und rothen Farben, ſehr gewählt, und von der ſorg-
fältigſten Eleganz, wenn gleich ein wenig abgenutzt
[249] war, ſo daß es wie ſein ſchön gelockter weißer Kopf
und Bart ihm eine glückliche Miſchung von Vorneh-
mem und Komiſchem gab, welches, meines Erachtens,
die Wirkung ſehr erhöhte, und ſo zu ſagen verfeinerte.


Ueberhaupt waren alle Coſtume muſterhaft, dagegen
es unverzeihlich ſtörend genannt werden muß, wenn
ſo eben Heinrich IV. mit ſeinem prachtvollen Hofe und
ſo vielen in Stahl und Gold glänzenden Rittern ab-
gezogen iſt, zwei Bediente in der Theaterlivree, Schu-
hen und rothen Hoſen erſcheinen zu ſehen, um den
Thron hinwegzutragen. Eben ſo wenig kann man
ſich daran gewöhnen, Lord Percy eine Viertelſtunde
mit dem im Hintergrunde ſitzenden Könige ſprechen
zu hören, ohne daß das Publikum von beſagtem
Percy dabei etwas anders als ſeinen Rücken zu ſehen
bekömmt. Es iſt auffallend, daß gerade die berühm-
teſten hieſigen Schauſpieler dieſe Unart förmlich affek-
tiren, während man bei uns in den entgegengeſetzten
Fehler verfällt, und zum Beiſpiel der primo amoroso
während der feurigſten Liebeserklärung ſeiner Schö-
nen den Rücken weiſet, um mit dem Publikum zu
liebäugeln. Das gehörige Mittel zu halten iſt aller-
dings ſchwierig, und die ſceniſche Anordnung muß
es dem Schauſpieler erleichtern.


Aus dem Charakter des Percy machen die deutſchen
Akteurs gewöhnlich eine Art wüthendes Kalb, das
ſich ſowohl mit ſeiner Frau als mit dem Könige ge-
behrdet, als ſey es eben von einem tollen Hunde ge-
biſſen worden. Dieſe Leute wiſſen gar nicht mehr,
[250] wo man den Dichter mildern, wo ihn ſteigern
ſoll. Young verſteht dies vollkommen, und weiß das
jugendlich ſtürmiſche Aufbrauſen ſehr wohl mit der
Würde des Helden, und dem Anſtande eines Fürſten
zu vereinen. Er ließ jenes Feuer nur wie Blitze über
eine Gewitterwolke zucken, aber nicht in ein Hagel-
wetter ausarten. Auch das Zuſammenſpiel finde ich
beſſer als auf den deutſchen Bühnen, und in den
ſceniſchen Anordnungen viel geſunde Beurtheilung.
Um nur ein Beiſpiel zu geben, ſo erinnere Dich (da
Du einmal mit mir zuſammen dies Stück in Berlin
geſehn, und Vergleiche die Sache anſchaulicher ma-
chen) der Scene, wo der König die Geſandten Per-
cys empfängt. Du fandeſt ſie damals ſo unanſtän-
dig, weil ſich Falſtaff dabei vor und an den König
drängte, um ihm jeden Augenblick mit ſeinen Späßen
grob in die Rede zu fallen. Es kömmt dies aber
nur daher, weil unſre Schauſpieler mehr an ihre Per-
ſönlichkeit als an ihre Rolle denken. Herr D … fühlt
ſich dem Herrn M .... gegenüber ſelbſt every inch
a King,
und vergißt, wen er und wen der Andere
in dem Augenblick vorſtellt. Hier wird Shakespeare
beſſer verſtanden, und die Scene demgemäß darge-
ſtellt. Der König ſteht mit den Geſandten im Vor-
dergrunde, der Hof im Gemache vertheilt, und in
der Mitte des Theaters ſeitwärts der Prinz und Fal-
ſtaff, welcher letztere als ein halbprivilegirter Luſtig-
macher zwar ſeine Späſſe macht, aber ſie nur mit
halblauter Stimme mehr an den Prinzen als an den
König richtet, und zurechtgewieſen, ſogleich reſpect-
[251] voll die ihm gebührende ehrfurchtsvolle Attitüde wie-
der einnimmt, nicht aber mit dem Könige wie mit
ſeines Gleichen fraterniſirt.


Auf dieſe Weiſe kann man ſich der Illuſion hinge-
ben, einen Hof vor ſich zu ſehen; bei der andern
glaubt man ſich immer in Eaſtcheap. Die hieſigen
Schauſpieler leben in beſſerer Geſellſchaft, und haben
daher mehr Takt.



Es iſt ſeltſam genug, daß der Menſch bloß das
als Wunder anſtaunen will, was im Raum oder
der Zeit entfernt von ihm ſteht, die täglichen Wun-
der neben ſich aber ganz unbeachtet läßt. Dennoch
müſſen wir in der Zeit der Tauſend und einen Nacht
noch wirklich leben, da ich heute ein Weſen geſehen,
was alle Phantaſiegebilde jener Epoche zu überbieten
ſcheint.


Höre, was das erwähnte Ungethüm alles leiſtet.


Zuvörderſt iſt ſeine Nahrung die wohlfeilſte, denn
es frißt nichts als Holz oder Kohlen. Es braucht
aber gar keine, ſo bald es nicht arbeitet. Es wird
nie müde, und ſchläft nie. Es iſt keinen Krankhei-
ten unterworfen, wenn von Anfang an nur organi-
ſirt, und verſagt nur dann die Arbeit, wenn es
nach langer, langer Zeit vor Alter unbrauchbar wird.
Es iſt gleich thätig in allen Climaten, und unter-
[252] nimmt unverdroſſen jede Art von Arbeit. Es iſt hier
ein Waſſerpumper, dort ein Bergmann, hier ein
Schiffer, dort ein Baumwollenſpinner, ein Weber,
ein Schmied- und Hammerknecht, oder ein Müller —
in der That es treibt alles und jedes Geſchäft, und
als ein ganz kleines Weſen ſieht man es ohne An-
ſtrengung neunzig Schiffstonnen Kaufmannsgüter,
oder ein ganzes Regiment Soldaten auf Wagen ge-
packt, mit einer Schnelligkeit ſich nachziehen, welche
die der flüchtigſten Stagecoaches übertrifft. Dabei
markirt es noch ſelbſt jeden ſeiner taktmäßigen Schritte
auf einem vorn angehefteten Zifferblatte. Auch re-
gulirt es ſelbſt den Wärmegrad, den es zu ſeinem
Wohlſeyn bedarf, ölt wunderbar ſeine innerſten Ge-
lenke, wenn dieſe es bedürfen, und entfernt beliebig
alle nachtheilige Luft, die durch Zufall in Theile drin-
gen ſollte, wo ſie nicht hingehört — ſollte ſich aber in
ihm etwas derangiren, dem es nicht ſelbſt abhelfen kann,
ſo warnt es ſogleich durch lautes Klingeln ſeine Herr-
ſchaft vor Unglück. Endlich iſt es ſo folgſam, un-
geachtet ſeine Stärke der von ſechshundert Pferden
gleich kömmt, daß ein Kind von vier Jahren mit dem
Drucke ſeines kleinen Fingers jeden Augenblick ſeine
ungeheure Arbeit zu hemmen im Stande iſt.


Hätte man wohl ſonſt einen ſolchen dienſtbaren
Geiſt ohne Salomons Siegelring erhalten können,
und hat je eine wegen Zauberei verbrannte Hexe Aehn-
liches geleiſtet?


Jetzt — ein neues Wunder — magnetiſirſt Du
blos fünfhundert Goldſtücke mit dem feſten Willen,
daß ſie ſich in eine ſolche lebendige Maſchine verwan-
[253] deln ſollen, und nach wenig Ceremonien ſiehſt Du
ſie in Deinem Dienſte etablirt. Der Geiſt geht in
Dampf auf, aber er verflüchtigt ſich nicht. Er bleibt
mit göttlicher und menſchlicher Bewilligung Dein le-
gitimer Sklav. Dies ſind die Wunder unſrer Zeit,
die wohl die alten heidniſchen und ſelbſt chriſtlichen
aufwiegen.


Ich brachte den Abend bei der braunen Dame,
Lady C. B. zu, die eben wieder einen neuen Ro-
man „Flirtation“ (Liebeley) beendigt hat. Ich ſprach
ſehr freiſinnig mit ihr darüber, denn ſie iſt eine ge-
ſcheidte und gute Frau, und das Reſultat war ein
für mich unerwartetes, nämlich ſie drang in mich,
ſelbſt ein Buch zu ſchreiben, und verſprach es nach-
her zu überſetzen. Dieu m’en garde! übrigens iſt
zuviel vom Sceptiker in mir, um daß, wenn ich
ſchriebe, die ſanfte, fromme, regelrechte Lady B. nur
zwei Seiten davon überſetzen könnte, ohne mein Buch
mit einer Bekreuzigung von ſich zu ſchieben. Viel-
leicht habe ich auch hie und da ein bischen Humor,
der ihr nicht zuſagen würde. Dagegen will ich ſie,
wozu ſie mich heute ebenfalls angelegentlich eingela-
den, mit großem Vergnügen künftigen Sommer nach
Schottland begleiten. Dies wird ein völliger Triumph-
zug ſeyn, da ſie, als Schweſter einer der mächtigſten
Großen in Schottland, und dabei von eignem lite-
räriſchen Glanze ſtrahlend, in dem Feudal-Lande,
wo wahre Gaſtfreandſchaft noch keine Fabel iſt, und
wo man ſtatt Faſhionables noch Seigneurs antrifft,
überall eine freudige Erſcheinung ſeyn wird. Ich
[254] ſehe ſie ſchon im Geiſte, von Schloß zu Schloß zie-
bend, ein Gefolge ſtolzer Ohnehoſen hinter ſich, und
Fama in eleganter engliſcher Toilette vor ſich. Ich
ſelbſt ſchließe mich als fremder Ritter an das Gefolge,
und nehme alle die guten Sachen mit, die uns geiſtig
und körperlich, romantiſch und proſaiſch zuſtoßen wer-
den, bei dem großen Barden aber ſchließen wir die
Tour, und koſten, nachdem er uns ſo oft den phan-
taſtiſchen Tiſch gedeckt, einmal auch ſeinen eigenen.


Ich weiß nicht, ob ich Dir geſagt, daß ich in Al-
bemarleſtreet bei einer Putzmacherin wohne, die einen
wahren Blumenflor von Engländerinnen, Italiene-
rinnen und Franzöſinnen um ſich verſammelt hat.
Alles iſt die Decenz ſelbſt, demungeachtet macht ſich
manches Talent darunter geltend und nützlich, ſo un-
ter andern eine Franzöſin, welche ganz vortrefflich
kocht, und mich daher in den Stand geſetzt hat, heute
meinen Freund L . ., der ſo viele Artigkeiten für mich
gehabt, auch einmal in meiner Häuslichkeit zu bewir-
then. Diné, Concert (ſpaßhaft genug war es, denn
blos Putzmacherinnen ſangen und ſpielten), kleiner
Ball für die jungen Damen, viele künſtliche Blumen,
viele Lichter, ſehr wenig ausgewählte Freunde, kurz
eine Art ländlichen Feſtes mitten in dem Londner
Jahrmarkt. Es war faſt Morgen, ehe die wilden
Mädchen zu Bett kamen, obgleich die Duegna ſie
treulich bis zum letzten Augenblick chaperonirt hatte,
ich aber wurde von allen hoch geprieſen, wenn auch
mein jüngerer Freund L.... ihnen im Herzen ohne
Zweifel beſſer gefallen hatte.


[255]

Ein großer Schauſpieler, ein wahrer Künſtler in
dieſem Fach, ſteht gewiß ſehr hoch! Was muß er
alles wiſſen und können! und wie viel Genie muß
er mit körperlicher Grazie und Gewandtheit, wie viel
Schaffungskraft mit der größten und langweiligſten
Routine verbinden.


Ich ſah heute zum Erſtenmal ſeit meinem Aufent-
halt in England Macbeth, vielleicht die erhabenſte
und vollendetſte der Tragödien Shakspeares. Ma-
cready, ein erſt kürzlich von Amerika zurückgekehrter
Schauſpieler ſpielte die Hauptrolle vortrefflich. Be-
fonders wahr und ergreifend erſchien er mir in fol-
genden Momenten — erſtens in der Nachtſcene, wo
er nach dem Morde Dunkans mit den blutigen Dol-
chen herauskömmt, und ſeiner Frau die geſchehene
That mittheilt. Er führte das ganze Geſpräch leiſe
(wie es die Natur der Sache mit ſich bringt) wie
ein Geflüſter im Dunkeln, und doch ſo deutlich und
mit ſo furchtbarem Ausdruck, daß alle Schauder der
Nacht und des Verbrechens in die Seele des Zu-
ſchauers für den Augenblick mit übergingen. Eben ſo
gut gelang das ſchwierige Spiel mit Banquo’s Geiſt.
Die ſchöne Stelle: „Was Männer wagen, wag auch
„ich. Komm als der zott’ge Bär, komm als Hirka-
„niens Tiger, komm’ mit der Kraft von Zehn, ich
„ſtehe Dir, und meine Nerven ſollſt Du nimmer zit-
„tern ſehn. Sey lebend wieder, und rufe in die
[256] „Wüſte mich zum Todeskampf — ich ſtehe Dir. Doch
„dieſe blut’gen Locken ſchüttle nicht, ſtarre mich nicht
„an mit dieſen Augen ohne Leben — fort! fürchter-
„licher Schatten, fort, verbirg Dich in der Erde Ein-
„geweiden wieder, u. ſ. w.“ fing er ſehr rich-
tig, ſtatt zu ſteigern, gleich mit aller Anſtrengung
verzweifelnder Wuth an, ſank nach und nach, von
Entſetzen überwältigt immer mehr mit der Stimme,
bis er die letzten Worte nur lallend ausſprach. Dann
plötzlich ſchlug er, in fürchterlicher Todesangſt dumpf
aufſchreiend, den Mantel über das Geſicht, und ſank
halb leblos auf ſeinen Seſſel zurück. Er erreichte
hierdurch die höchſte Wirkung. Man fühlte als Menſch
es ſchaudernd mit, daß unſer kühnſter Muth doch
dem Grauſen einer andern Welt nicht gewachſen iſt
— und bemerkte keine Spur von dem bloßen Thea-
terhelden, der um die Natur ſich wenig bekümmert,
und nur für die Gallerie auf Effekt ſpielend, in im-
mer ſteigendem Geſchrei und Wüthen ſeinen höchſten
Triumph ſucht. Herrlich nimmt Macready auch den
letzten Akt, wo Gewiſſen und Furcht gleichmäßig
erſchöpft ſind, und ſtarre Apathie ſchon beider
Stelle eingenommen hat, wenn in drei ſchnell auf-
einanderfolgenden Schlägen nun das letzte Gericht
über den Sünder hereinbricht, der Tod der Königin,
die Erfüllung der trügeriſchen Weiſſagung der Hexen,
und endlich Macduffs vernichtende Erklärung, daß
ihn kein Weib geboren.


Was früher Macbeths Gemüth marterte, und ihn
über ſeinen Zuſtand grübeln, gegen die Plage ſeines
[257] Gewiſſens ankämpfen ließ, kann ihn jetzt nur, Blitzen
gleich, augenblicklich noch mit Erſchütterung durch-
zucken. Er iſt ſeiner und des Lebens überdrüßig,
und kämpfend, wie er mit bitterem Hohne ſagt:
„gleich einem rings umſtellten Eber“ fällt er endlich
— ein großer Verbrecher, aber dennoch ein König
und ein Held.


Gleich meifterhaft ward auch das Gefecht mit Mac-
duff ausgeführt, was ſo leicht ungeſchickten Schau-
ſpielern mißräth. Nichts Uebereiltes, und doch Alles
Feuer, ja alles Gräßliche des Endes — der letzten
Wuth und Verzweiflung hineingelegt.


Ich vergeſſe nie die lächerliche Wirkung dieſer
Scene bei der erſten Aufführung der Spikerſchen Ue-
berſetzung des Macbeth in Berlin. Macbeth und
ſein Gegner überhaſpelten ſich dabei dergeſtalt, daß
ſie wider ihren Willen hinter die Couliſſen geriethen,
ehe ſie noch mit ihren Reden zu Ende waren, wes-
halb das von dort heraus ſchallende „Halt, genug“
(deſſen Vorhergehendes man nicht mehr gehört hatte)
vollkommen ſo klang, als wenn der überrannte Mac-
beth, mit vorgehaltenem Degen den weitern Kampf
deprecirend, geſchrieen hätte: Laßt’s gut ſeyn, —
halt genug!


Lady Macbeth, obgleich nur von einer Schauſpie-
lerin zweiten Ranges geſpielt, denn leider gibt es
ſeit Miſtriß Siddons und Miß Oneils Abgang keine
erſte mehr, gefiel mir in ihrer ſchwachen Darſtellung
doch beſſer als viele gerngroße Künſtlerinnen unſeres
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 17
[258] Vaterlandes, deren affektirte Manier keinem Charak-
ter Shakspeares gewachſen iſt.


Ich theile über dieſe Rolle nicht nur ganz Tieks
bekannte Anſicht, ſondern ich möchte noch weiter darin
gehen. Die wenigſten Männer verſtehen, wie die
Liebe eines Weibes Alles blos auf den geliebten
Gegenſtand beziehen und richten kann, und daher,
eine Zeit lang wenigſtens, auch nur in Bezug auf
ihn Tugend und Laſter kennt.


Lady Macbeth, als eine raſende Megäre darge-
ſtellt, die ihren Mann nur als Inſtrument eigener
Ambition gebraucht, ermangelt aller innern Wahr-
heit, und noch mehr alles Intereſſes. Eine Solche
würde gar nicht des tiefen Gefühls ihres Elends fä-
hig ſeyn, das ſich ſo ſchauerlich in der Schlafwach-
ſcene ausſpricht, während ſie nur vor ihrem Manne,
um ihm Muth zu geben, immer als die ſtärkere er-
ſcheint, nie Furcht und Gewiſſensbiſſe zeigt, die ſei-
nigen verſpottet, und ſich über ſich ſelbſt zu betäuben
ſucht.


Sie iſt allerdings kein ſanfter, weiblicher Charak-
ter zu nennen, aber weiblich ſich äußernde Liebe zu
ihrem Manne iſt dennoch das Haupt-Motiv ih-
res Benehmens.


So wie uns der Dichter ihre heimlichen Leiden
deutlich in jener Nachtſcene vorführt, ſo läßt er uns
auch ſehen, daß Macbeth lange vorher ſchon die ge-
heimen, und ſich ſelbſt kaum geſtandenen, ehrgeizi-
gen Wünſche ſeiner Bruſt ihr ſchon verrathen hat,
und auch die Hexen wählen ſich, wie Raupen und
[259] Maden nur das ſchon Krankhafte angreifen, Maebeth
nur deshalb aus, weil ſie ihn ſchon reif für ihre
Zwecke finden. Sie weiß alſo, was er im Innerſten
möchte, und ihn zu befriedigen, hilft ſie mit
wilder Leidenſchaft nach, ſchnell, nach Weiberart noch
viel weiter gehend, als er ſelbſt gedachte. Je mehr
Macbeth, ſich weigernd, eine halbe Comödie mit ſich
ſelbſt und ihr ſpielt, je mehr wächst ihr Eifer, und
ſie ebenfalls ſtellt ſich vor ſich ſelbſt und ihm anders,
grauſamer und ſchlechter an, als ſie iſt, reizt ſich
künſtlich auf, nur um ihm dadurch den kühnſten Muth
und raſchen Entſchluß einzuflößen. Ihm opfert ſie
nicht nur Alles, was zwiſchen Macbeth und ſeinen
geheimen Wünſchen ſteht, ſondern auch ſich ſelbſt,
die Ruhe ihres Gewiſſens, ja alle weibliche Geſin-
nung gegen Andere auf, und ruft die unterirdiſchen
Mächte um Hülfe und Stärke an. Nur auf dieſe
Weiſe erſcheint mir der Charakter dramatiſch, und
der fernere Gang des Stücks pſychologiſch wahr, im
andern Sinne kann man nur eine Carrikatur darin
finden, deren Shakspeares Schöpferkraft unfähig iſt,
welcher immer mögliche Menſchen, keine unnatür-
liche Scheuſale und Phantaſieteufel malt.


So ſtoßen ſich denn Beide endlich gegenſeitig in
den Abgrund hinein, während jeder einzeln vielleicht
nie ſo weit gekommen wäre, Macbeth aber offenbar
mit größerem Egoismus, weshalb auch ſein Ende,
wie ſeine Qual, furchtbarer ſind.


Es iſt ein großer Vortheil für die Darſtellung
dieſes Stücks, wenn dem genialſten Talent die Rolle
17*
[260] des Macbeth, nicht die der Lady zufällt. Davon über-
zeugte ich mich heute ſehr lebhaft. — Wird Lady
Macbeth durch überwiegende Darſtellungskunſt zur
Hauptrolle gemacht, ſo ſieht man die ganze Tra-
gödie aus einem falſchen Geſichtspunkte. Sie wird
eine ganz andere, und verliert den größten Theil ih-
res Intereſſes, wenn man nur eine cannibaliſche
Amazone, und einen Helden unter ihrem Pantoffel
ſieht, der ſich wie ein Pinſel von ihr, blos zum
Werkzeug ihrer eigenen Pläne, brauchen läßt.


Nein, in ihm liegt der Hauptkeim der Sünde
vom Anfang an, ſein Weib hilft ihm nur nach, und
er iſt keineswegs ein urſprünglich edler Mann, der,
durch die Hexen verführt, ein Scheuſal wird, was
Unnatur wäre, ſondern, wie in Romeo und Julie,
die Leidenſchaft der Liebe in einem für ſie zu em-
pfänglichen
Gemüth, von der unſchuldigen Kind-
lichkeit der Knospe durch alle Stadien des Genuſſes
hindurch, bis zu Verzweiflung und Tod geführt wird
— ſo iſt hier ſelbſtiſcher Ehrgeiz der Gegenſtand des
Gemäldes, wie er durch böſe Mächte ausgebildet, in
Macbeths Perſon, von ebenfalls nur ſcheinbarer Un-
ſchuld und dem Ruhme des gefeierten Helden, bis zu
der Blutgier des Tigers, und dem Ende einer zu
Tode gehetzten Beſtie gelangt. Dennoch iſt der Mann,
in deſſen Seele das Gift wühlt, mit ſo vielen andern
hohen Eigenſchaften begabt, daß wir dem Kampfe
und der Entwickelung mit Antheil für den Helden
folgen können. Welcher unendliche Genuß müßte es
ſeyn, dergleichen Produkte des Genies auch von durch-
[261] gängig großen Schauſpielern aufgeführt zu ſehen, wo
keine Rolle zur Nebenrolle würde! Dieß wäre aber
freilich nur von Geiſtern zu leiſten, wie in Hof-
manns geſpenſtiſcher Aufführung des Don Juan.


Du wirſt vielleicht Manches in dieſen Anſichten
barok finden, aber bedenke, daß große Dichter wie
die Natur ſelbſt wirken. Jeden ſprechen ſie in dem
Gewande ſeines eignen Gemüths an, und vertragen
daher auch viele Auslegungen. Sie ſind ſo reich,
daß ſie tauſend Armen ihre Gaben geben, und den-
noch Jedem eine andere reichen können.


Viele Theateranordnungen waren gleichfalls ſehr
zu loben. So ſind z. B. die beiden Mörder, welche
der König zum Morde Banquo’s gedungen, nicht, wie
auf unſern Theatern, zerlumpte Banditen, in deren
Geſellſchaft ſich der König in ſeinem Prachtornate
und der Nähe ſeiner Großen lächerlich ausnimmt,
und die er nie in ſolchem Aufzuge in ſeinem Palaſt
ſehen könnte, ſondern von anſtändigem Aeußern und
Benehmen, Böſewichter, aber keine Lumpen.


Die altſchottiſche Tracht iſt durchgängig ſehr ſchön,
und auch der Zeit nach wahrſcheinlich richtiger, gewiß
aber maleriſcher als ich ſie auf den deutſchen Thea-
tern geſehen. Die Erſcheinung Banquo’s, ſo wie das
ganze Arrangement der Tafel, war ebenfalls unend-
lich beſſer. Der Regiſſeur in Berlin macht hiebei eine
lächerliche Bevüe. Wenn der König die Mörder über
Banquo’s Tod befragt, antwortet der eine: Depend
upon, he has had his throat cut.
(Seyd verſichert, wir
haben ihm die Kehle abgeſchnitten); dies iſt eine eng-
[262] liſche Redensart für tödten, ſo wie wir ſagen: er
hat den Hals gebrochen, wenn einer an den Folgen
eines Pferdeſturzes geſtorben iſt, ohne daß er gerade
den Hals in zwei Stücke gebrochen hat. Dieſe Re-
densart hat man nun wörtlich aufgefaßt, und läßt
bei Tafel einen höchſt eckelhaften Kopf von Pappe er-
ſcheinen, dem die Kehle auf das Gräulichſte abge-
ſchnitten iſt! — Das Hinauf- und Hinunterfahren
dieſes Monſtrums iſt dabei ſo nahe der Puppen-Co-
mödie verwandt, daß man mit dem beſten Willen
kaum ernſthaft bleiben kann. Hier wird durch das
Gewühl der Gäſte, die an mehreren Tiſchen ſitzen,
das Erſcheinen des Geiſtes ſo geſchickt verdeckt, daß
er nur dann, als der König ſich niederlaſſen will,
von ihm und den Zuſchauern zugleich, plötzlich auf
des Königs Stuhle ſitzend erblickt wird. Zwei blu-
tige Wunden entſtellen ſein blaſſes Antlitz (es verſteht
ſich, daß es der Schauſpieler ſelbſt iſt, der den Ban-
quo geſpielt hat), ohne es durch die abgeſchnittene
Kehle lächerlich zu machen, und wenn er von der
Tafel aus, umgeben vom geſchäftigen Treiben der
Gäſte, ſtarr den König anblickt, dann ihm winkt,
und hierauf langſam in die Erde ſinkt — ſo erſcheint
dieß eben ſo täuſchend wahr als grauſenerregend.


Um aber billig zu ſeyn, muß ich doch auch einer
Lächerlichkeit erwähnen, die hier vorfiel. Lady Mac-
beth ſagt nach dem Morde des Königs, als man an
das Thor klopft, zu ihrem Manne, er ſolle davon
eilen und einen Nachtrock anziehen, damit es nicht
auffiele, ihn in ſeinen Kleidern zu finden. Nachtrock
[263] heißt nun freilich Schlafrock, aber ich traute in der
That meinen Augen kaum, als Macready in einem
modernen Schlafrock von geblümtem Ziz (wahrſchein-
lich ſeinen eigenen zum täglichen Gebrauch), den er
blos über ſeine vorige Stahlrüſtung geworfen, die
darunter bei jeder Bewegung hervorblickte, heraus
kam, und in dieſem ergötzlichen Coſtüme den Degen
zog, um die Kammerherren zu erſtechen, die bei’m
König ſchlafen.


Es war nicht bemerkbar, daß dies irgend Jemand
aufgefallen wäre. Freilich war die Theilnahme über-
haupt eben ſo gering, als Lärm und Unfug fortwäh-
rend andauernd, ſo daß man wirklich kaum begreift,
wie ſich ſo ausgezeichnete Künſtler bei einem ſo un-
gezogenen, indifferenten und unwiſſenden Publikum
bilden können, als ſie hier faſt immer vor ſich ha-
ben, denn wie ich Dir ſchon ſagte, das engliſche Thea-
ter iſt nicht faſhionable, und die ſogenannte gute Ge-
ſellſchaft beſucht es faſt nie. Das einzige Vortheil-
hafte dabei für die Schauſpieler iſt: ſie werden nicht
verwöhnt — ein Umſtand, deſſen Gegentheil ſie in
Deutſchland gänzlich verdorben zu haben ſcheint.


Nach dem Macbeth wurde noch der Freiſchütz an
demſelben Abend aufgeführt. Auch Weber wie Mozart
muß es ſich gefallen laſſen, mit Verkürzungen und Zu-
ſätzen von Herrn Biſchoff bearbeitet zu werden. Es
iſt ein wahrer Jammer, und nicht allein der Muſik,
ſelbſt der Fabel des Stücks iſt ihr ganzer Charakter
benommen. Nicht Agathens Liebhaber, ſondern der
Schützenkönig kömmt in die Wolfsſchlucht und ſingt
[264] auch Caſpars beliebtes Lied. Der Teufel, in langen
rothen Gewändern, tanzt zuletzt einen förmlichen
Shawltanz, ehe er mit Caſpar in ſeiner Hölle zur
Ruhe kömmt, welche letztere durch feurige Waſſerfälle,
rothe Couliſſen und übereinander liegende Gerippe
ſehr anmuthig verſinnlicht wird.


Hier fällt nun jeder Vergleich mit Deutſchland ganz
zu unſerm Vortheil aus, ſo ſehr wir bei der Tra-
gödie verlieren. Ich wünſchte aber, es wäre umge-
kehrt.



Ich ſchrieb Dir neulich, daß ich mich wohler be-
finde, und ſeit dieſer Zeit bin ich immer unwohl.
Man muß nie etwas verrufen, wie die alten Weiber
ſagen, denn, wie W. Scott hinzuſetzt: Dinge anzu-
kündigen, die noch nicht ganz ſicher ſind, bringt Un-
glück. Dies Letzte habe ich in der That ſehr oft er-
fahren. Was aber meine Geſundheit betrifft, ſo iſt
ſie ſo kauderwelſch als mein ganzes Weſen, und da
ich einmal im Citiren begriffen bin, laß mich Dir
eine kurze Stelle aus einem hier ſehr beliebten medi-
ziniſchen Buche abſchreiben, die auch außer uns gar
vielen Naturen unſrer Zeit über ſich ſelbſt Aufſchluß
geben kann. Höre:


„Eine Art Individuen, ohne im Allgemeinen ſchwach
zu ſeyn, werden doch von der Wiege bis zum Grabe
[265] ſtets das ſeyn, was man nerveus nennt; das
heißt, ſie mögen von Natur feſt und gut gebildet
ſeyn, ſo weit als das Grundwerk der Maſchine geht;
ſie mögen ein ſtarkes und dichtes Knochengebäude
haben, und von ausgedehnten Verhältniſſen, ſie mö-
gen ein eben ſo ſtarkes Muskelſyſtem beſitzen, die
Circulation des Blutes und die abſorbirenden Organe
energiſch ſeyn, und dennoch werden ſie in einem
Punkte
immer ſchwächlich genannt werden müſſen,
nämlich die Organe, welche von der Natur beſtimmt
ſind, die Eindrücke des Gefühls und Empfindens
weiter zu befördern, werden ſo beſchaffen ſeyn, daß
ſie mit Blitzesſchnelle durch die leichteſte Irritations-
Urſache in einen unordentlichen Zuſtand übergehen,
zu einer Zeit krankhaft reizbar ſind, zu einer andern
in eine Art Gefühlloſigkeit verfallen, und nie ganz
den Ton und Stärke erlangen, welche zu einer feſten
und regelmäßigen Erfüllung ihrer Funktionen erfor-
dert werden.“


Das können wir nun nicht ändern, aber dagegen
arbeiten können wir mannigfach, durch Beobachtung
unſrer ſelbſt und durch die Kraft des Willens.


Aber nun fährt unſer ärztlicher Freund eben ſo er-
götzlich als weiſe ſo fort:


„Der nerveuſe Kranke iſt immer mit ſeinen Kla-
gen fertig. Dem Freunde wird er hundert ſeltſame
Seelenleiden mitzutheilen, und täglich neue Ent-
deckungen an ſich zu machen haben, dem Arzte aber
bald von ſonderbaren Schmerzen in den Augen, an
allen Ecken des Kopfes, Stichen und Summen in
[266] den Ohren erzählen; dann vom Kopfe aus den gan-
zen Körper durchgehen, und bald im Leibe, bald im
Rücken, bald in den Beinen über Leiden klagen.
Nachdem er ſeinen Arzt mit dem Catalog ſeiner Krank-
heiten, deren Grund, Symptome und Folgen, eine
halbe Stunde koſtbarer Zeit geraubt hat, wird er
ihn wohl noch einmal zurückrufen, um noch genauer
zu fragen! was und wie viel er eſſen und trinken
kann, da er grade jetzt etwas Appetit fühle, oder wie
er ſich, warm oder kühl, anzuziehen habe? Der be-
rühmte Doktor Baillie, der ſo beſchäftigt war, daß
er, wie er ſelbſt ſagte, einen Arbeitstag von ſieben-
zehn Stunden hatte, ſchwebte in wahrer Furcht vor
nerveuſen vornehmen Patienten. Während er einſt,
auf die Folterbank geſpannt, die endloſe Proſa einer
Dame von ſolcher Beſchaffenheit anhören mußte, die
ſo wenig wirklich krank war, daß ſie im Begriff
ſtand, denſelben Abend in die Oper zu fahren — ge-
lang es ihm endlich, durch die Ankunft eines Dritten
unbemerkt zu entwiſchen. Aber kaum hatte der Be-
diente den Wagenſchlag aufgemacht, als die Kammer-
jungfer auſſer Athem herunterſtürzte, um den Herrn
Doktor dringend zu erſuchen, nur noch einen Augen-
blick wieder heraufzukommen. Seufzend erſchien er.
O beſter Doktor, rief die Dame, ich wollte nur wiſ-
ſen, ob ich wohl heute Abend, wenn ich aus der
Oper zurückkomme, Auſtern eſſen darf? Ja Madame,
ſchrie der entrüſtete Aesculap, Schalen und Alles.“


„Es iſt ſeltſam, daß nerveuſe Perſonen, die, ſo
lange dieſe Affektion vorwaltet, ſo apprehenſiv ſind,
[267] und jedes kleine Uebel für höchſt gefährlich anſehen
und fürchten, in der Regel von dem Augenblick an,
wo ſich bei ihnen ein wirkliches organiſches Uebel bil-
det, ganz von ſelbſt ihren Zuſtand als leicht und un-
bedenklich anzuſehen anfangen, und während ſie vor-
her den Arzt mit Hererzählung aller Symptome ihrer
Uebel ermüdeten, nun beinahe gezwungen werden
müſſen, ihm genügende Information zu geben, und
anſtatt ihn zurückzuhalten, eben ſo froh als er ſelbſt
ſcheinen, wenn die Conferenz zu Ende iſt. Eben ſo
gibt ſich die Furcht; und ich habe Viele geſehen, die,
nachdem ſie früher Stunden lang durch das Oeffnen
eines Fenſters beunruhigt worden waren, die Ankün-
digung eines unvermeidlichen und nicht fernen Todes
mit der größten Seelenruhe anhörten. Viel thut der
Wille.“


„Der Dyspepſiker oder Nervenſchwache muß feſt
entſchloſſen ſeyn, von jedem erſten drohenden Gefühle
von Unzufriedenheit und Trauer entweder durch Zer-
ſtreuung wegzulaufen oder es determinirt zu be-
kämpfen
. Das Annähern der hypochondriſchen Muth-
loſigkeit kann oft noch unterwegs zurückgedrängt wer-
den, wenn man vom erſten Augenblick an es ernſt-
lich verſucht. Ich will gut ſeyn, ſagt das Kind,
wenn es die Ruthe im Begriff ſieht, ihm den Wil-
len
zum Guten zu geben — und ich will heiter
ſeyn, muß der Dyspepſiker ſagen, wenn ihm die
ſchlimmere Ruthe der Hypochondrie droht. Es iſt
ohne Zweifel leichter zu rathen als zu thun, vorzu-
ſchreiben als zu folgen; aber das weiß ich aus eigner
[268] Erfahrung (denn auch Aerzte ſind hypochondriſch)
daß, ehe noch die Gewohnheit eines feigen und trä-
gen Unterwerfens unter ſolche Gefühle unbeſiegbar
geworden iſt, ein friſcher, und ich möchte ſagen ge-
wiſſenhafter Entſchluß die anrückenden Uebel jener
vaporeuſen Bedrückung gewaltſam zu zertheilen —
einen weitern Weg zu dieſem Zwecke zurücklegen kann.
Possunt quia posse videntur. (Diejenigen können,
welche zu können glauben). Wir wollen demun-
geachtet nicht ſo extravagant ſeyn, um zu ſagen, daß
eine Perſon, um geſund zu werden, es nur ernſtlich
zu wollen brauche; aber das ſind wir überzeugt, daß
ein Menſch oft unter der Laſt einer Indispoſition
unterliegt, der mit einer geiſt- und muthvollen An-
ſtrengung ſie abgeworfen haben würde. Die Lehre
von der Unwiderſtehlichkeit des Schickſals iſt weder
eine wahre noch nützliche Lehre, und der Hypochonder
ſollte bedenken, daß wenn er zur Schwermuth ſagt:
Künftig ſollſt Du mein einziges Gut ſeyn, er nicht
allein ſein eigenes Schickſal feſtſtellt, ſon-
dern auch das derer, die ihn lieben, mehr
oder weniger mit beſtimmt
.“


„Melancholie hat überdem etwas Poetiſches und
Sentimentales in ſich, welches ihr bei allem Schmerz
einen gewiſſen Reiz gibt — doch wenn es von allem
äußern Schmuck völlig entblößt, und in ſeiner Nackt-
heit dargeſtellt wird, bleibt am Ende nicht viel mehr
übrig als Stolz, Eigennutz, und vor allen Trägheit.
Ich kann mir kein ſchöneres Schauſpiel denken, als
das eines Weſens, deſſen conſtitutionelle Verfaſſung
[269] es zum Melancholiſchen hinneigt, und das mit ſei-
nem Temperament herzhaft kämpfend, durch Willens-
kraft ſich zwingt, Theil an der Heiterkeit der es um-
gebenden Welt und der wechſelnden Scenen des ge-
ſellſchaftlichen Lebens zu nehmen. In dieſem Fall
behält es allen Reiz der Melancholie ohne ſeine Qual.“


Iſt das nicht ſehr ſchön und einleuchtend? und
wird es Dich nicht eben ſo bekehren, als es mich in
meiner Bekehrung beſtärkt hat? Ich hoffe, Du wirſt
mir bei der nächſten hypochondriſchen Anwandlung
antworten: Lieber Freund, bitte, kein Wort weiter,
ich will heiter ſeyn.


Du wunderſt Dich gewiß, daß ich in dieſer un-
dankbaren Jahreszeit noch immer in London verweile,
aber Lady R..... iſt noch hier — überdem habe ich
mich in das einſame Leben eingerichtet, das blos von
dem Lärm der kleinen Heerde Putzmacherinnen im Hauſe
manchmal unterbrochen wird, das Theater hat auch
angefangen mich zu intereſſiren, und die Friedlichkeit
dieſes Stilllebens bekömmt mir wohl nach dem frühern
trouble. Es iſt wirklich ſo ſtill, daß, gleich dem be-
rühmten Gefangenen in der Baſtille, ich ſeit Kurzem
eine Liaison mit einer Maus begonnen habe, ein
allerliebſtes kleines Thierchen, und ohne Zweifel eine
verwünſchte Lady, die, wenn ich arbeite, ſchüchtern
hervorſchleicht, mich von weitem mit ihren Aeuglein,
gleich blinkenden Sternchen, anblickt, immer zahmer
wird, und angelockt durch Kuchenſtückchen, die ihr
jeden Tag ſechs Zoll entfernter von ihrer Reſidenz in
der rechten Stubenecke hingelegt werden — eben jetzt
[270] ein ſolches mit vieler Grazie verzehrt hat, und ſich
nun unbefangen in der Stube umhertummelt. Aber
was höre ich! Unaufhörliches lautes Geſchrei auf der
Straße! Mein Mäuschen floh bereits beſtürzt in ih-
ren Winkel.


Was gibt’s, frage ich, welcher abſcheuliche Lärm?
„der Krieg iſt erklärt — ein Extrablatt wird auf der
Straße ausgerufen.“ Mit wem? „I dont know.“


Das iſt einer der Induſtriezweige der armen Teu-
fel in London. Wenn ſie nichts anderes ausdenken
können, ſo ſchreien ſie eine große Neuigkeit aus, und
verkaufen den Neugierigen ein altes Zeitungsblatt
für einen halben Schilling. Man ergreift es haſtig,
verſteht es nicht recht, ſieht nach dem Datum, und
lacht, daß man angeführt wurde.


Wie es mir immer geht, wenn ich allein lebe, bin
ich leider wieder ſo ſehr in das Tag in Nacht verkeh-
ren gekommen, daß ich in der Regel erſt um 4 Uhr
Nachmittags frühſtücke, um 10 oder 11 Uhr nach dem
Theater, zu Mittag eſſe, und des Nachts ſpazieren
gehe und reite. Es iſt auch gewöhnlich in der Nacht
jetzt nicht nur ſchöner, ſondern, mirabile dictu, auch
heller. Am Tage decken Nebel die Stadt ſo, daß
man Licht und Laternen, ſelbſt wenn ſie um Mittag
brennen, nicht ſieht, in der Nacht aber funkeln letz-
tere ſo hell wie Edelſteine, und überdem ſcheint noch
der Mond ſo klar wie in Italien. Als ich beim geſtri-
gen Nachtritt auf der breiten Straße einſam dahin-
gallopirte, zogen auch über mir mit gleicher Schnelle
weiße und rabenſchwarze Wolken, wie feine durch-
[271] ſichtige Schleier über den Mond hin, und gewährten
lange ein eigenthümliches, wildes und reizendes Schau-
ſpiel! Unten war die Luft ganz ſtill und warm, denn
nach der letzten Kälte haben wir wahres Frühlings-
wetter.


Auſſer L. und den Statiſten der Clubs ſehe ich
jetzt wenig andere Perſonen als den Fürſten P., dem
man hier viel Hochmuth und Schroffheit vorwirft,
und von dem man ſich überdieß in’s Ohr raunt, daß
er ein wahrer Blaubart ſey, der ſeine arme Frau
furchtbar behandelt, und ſechs Jahr in einem einſa-
men Waldſchloß eingeſperrt habe, ſo daß ſie endlich,
der Mißhandlungen müde, in die Scheidung von ihm
habe willigen müſſen. Was ſagſt Du, gute Julie,
zu dieſem traurigen Schickſal Deiner beſten Freundin?


Wie ſeltſam geſtalten ſich doch zuweilen Gerüchte
und Verläumdungen in der Welt! Wie wenig iſt
man im Stande vorherzuſehen, welche unbegreiflich
heterogene Folgen die Handlungen der Menſchen ha-
ben, welche ganz unerwartete Klippen die Lebens-
reiſe gefahrvoll machen werden — ja in der morali-
ſchen wie in der materiellen Welt ſieht man nur zu
oft da, wo Waizen geſäet wurde, Unkraut aufgehen,
und dem hingeworfenen Miſt Blumen und duftige
Kräuter entſprießen!


Deinen langen Brief habe ich erhalten, und ſage
dafür den herzlichſten Dank. Verdenke es mir aber
nicht, daß ich ſo ſelten Einzelnes beantworte, ge-
wiſſermaßen den Empfang jeder Stelle quittire, wel-
che Unterlaſſung Du mir ſo oft vorwirfſt. Deshalb
[272] geht doch gewiß kein Wort bei mir verloren. Denke
nur, daß man der Roſe keine andere Antwort auf
ihren köſtlichen Duft gibt, als daß man ihn mit Wohl-
behagen einathmet. Sie einzeln zu zerpflücken würde
den Genuß nicht vermehren. Uebrigens bedaure ich,
jetzt ſelbſt zu wenig Stimmung und zu wenig Stoff
zu haben, um Dir gleiche Roſen zuzuſenden. Die
Wand iſt ſo kahl vor mir wie ein weißes Tuch, und
keine Art von ombre chinoise will noch darauf er-
ſcheinen.



Sir G. O., früher engliſcher Geſandter in Perſien,
hatte mich auf ſein Landgut eingeladen, und da es
ſo nahe iſt, und einige Abwechslung verſprach, fuhr
ich geſtern dahin.


Bei Nacht und Regen kam ich ſpät an, und mußte
ſogleich Toilette machen, um zu einem Ball bei Lady
Salisbury nach Hatfield zu fahren, den dieſe dort
auf ihrem Schloſſe an einem beſtimmten Tage jeder
Woche für die Umgegend gibt, ſo lange ſie auf dem
Lande iſt. Das Beſuchen deſſelben wird daher wie
eine Art Viſite angeſehn, und keine Einladung dazu
ertheilt. Sir G. nahm ſeine ganze Geſellſchaft mit,
unter der ſich auſſer ſeiner Familie auch Lord Strang-
ford, der bekannte Ambaſſadeur in Conſtantinopel,
befand.


[273]

Du erinnerſt Dich, daß ich auf meiner frühern Ex-
curſion nach dem Norden Hatfield nur en passant von
außen ſah. Jetzt fand ich auch das Innere eben ſo
impoſant und reſpektabel durch ſeine Alterthümlich-
keit, als das Aeußere. Man tritt zuerſt in eine ſehr
große Halle mit Fahnen und Rüſtungen, wan-
delt dann eine ſeltſame hölzerne Treppe hinauf,
mit Figuren von Affen, Hunden, Mönchen ꝛc., und
gelangt von hier in eine lange, etwas ſchmale Gale-
rie, in der heute getanzt wurde. Die Wände derſel-
ben ſind aus alter eichener Boiſerie, mit altväteri-
ſchen ſilbernen Wandleuchtern, gothiſchen Stühlen und
rothen Rouleaus verziert. An einem Ende dieſer,
wohl 130 Fuß langen Galerie iſt eine Bibliothek, und
am andern Ende ein prachtvolles ſaalartiges Zimmer,
mit tief herabhängenden metallenen Verzierungen an
den Caiſſons der Decke, und einem haushohen Ka-
min, durch die Bronce-Statue des Königs Jakob
gekrönt. Die Wände ſind mit weißem Atlas beklei-
det, Vorhänge, Stühle, Sopha’s in Cramoiſi, Sammt
und Gold. Dies Lokal war recht ſchön, der Ball
indeß ziemlich todt, die Geſellſchaft gar zu ländlich,
Erfriſchungen keineswegs im Ueberfluß, und das
Soupé nur aus einem magern Büffet beſtehend. Um
2 Uhr war Alles aus, und ich ſehr froh, es über-
ſtanden zu haben, da ich mich müde und ennuyirt
nach Ruhe ſehnte.


Als ich am andern Morgen ziemlich ſpät aufgeſtan-
den, und faſt zu ſpät bei’m Frühſtück erſchienen war,
Briefe eines Verſtorbenen IV. 18
[274] das hier etwas zeitig eingenommen wird ergötzte ich
mich an den vielen perſiſchen Merkwürdigkeiten, wel-
che die Salons zieren. Sehr auffallend war mir ein
prachtvolles Manuſcript mit Miniaturen, deren Far-
benpracht ſelbſt die beſten Sachen dieſer Art aus dem
europäiſchen Mittelalter übertreffen, und die in der
Zeichnung oft richtiger ſind. Das Buch enthält die
Geſchichte der Familie Tamerlans, und ſoll in Per-
ſien zweitauſend L. St. gekoſtet haben. Es iſt ein
Präſent des Schachs.


Mit koſtbaren Metallen eingelegte Thüren, So-
pha’s und Teppiche aus eigenthümlichen Sammtzeu-
gen mit Gold und Silber durchwürkt, vor allem aber
eine goldne Schüſſel mit dem vollkommenſten bunten
Email incruſtirt, und mehrere äußerſt künſtlich gear-
beitete Bijour zeigen, daß die Perſer, wenn ſie uns
in Vielem nachſtehen, uns auch in Manchem ſehr
übertreffen.


Das Wetter hatte ſich ein wenig aufgeheitert, und
lockte mich zu einem einſamen Spaziergang. Herr-
liche Bäume, ein kleiner Fluß, und ein Wäldchen,
deſſen Boden und Bäume mit Schlingelkraut ganz
bedeckt waren, und in deſſen dichten Schatten eine
merkwürdige Quelle entſpringt, die mit Gewalt aus
der Erde Eingeweiden hervorſprudelnd, fünfhundert
Kannen in der Sekunde dem Fluſſe zuführt, waren
die Hauptzierden des Parks. Als ich zurückkam, war
es zwei Uhr, die Stunde des Luncheon, worauf mir Sir
[275] Gore ſeine arabiſchen Pferde producirte, von denen
ſchnell einige zu einem Spazierritt geſattelt wurden.
Der Reitknecht hatte während deſſelben nichts zu thun
als unaufhörlich ab - und aufzuſteigen, um die Thore
zu öffnen, die überall den Weg verſperrten, wie es
in den engliſchen Parks, und noch mehr in den Fel-
dern der Fall iſt, was das Spazierenreiten, außer den
großen Landſtraßen, etwas unbequem werden läßt.
Abends wurde Muſik gemacht, wobei ſich die Tochter
vom Hauſe und Miſtriß F … als vortreffliche Kla-
vierſpielerinnen auswieſen. Das Auditorium war in-
deſſen ganz ungenirt, und man ging und kam, ſprach
oder hörte auf die Muſik, wie man Luſt hatte. Nach-
her, als die Lady’s zur Toilette auf ihr Zimmer ge-
gangen waren, erzählte uns Sir G … und Lord
Strangford Geſchichten aus dem Orient, ein Thema,
was nie ermüdend für mich iſt. Beide ſind große
Partiſans der Türken, und Lord Strangford lobte
den Sultan als einen ſehr aufgeklärten Mann. Er
ſelbſt ſey, ſagte er, vielleicht der erſte von allen chriſt-
lichen Geſandten, der mehrere Privatunterredungen
mit dem Großherrn gehabt, wobei jedoch ſtets eine
ſonderbare Etiquette beobachtet worden ſey. Der
Sultan habe ihn nämlich im Garten des Serails in
der Kleidung eines Offiziers ſeiner Leibwache empfan-
gen, und dabei immer vom Sultan im Charakter ſei-
ner Rolle mit der größten Ehrfurcht in der dritten
Perſon geſprochen, wobei Lord Strangford es nicht
blicken laſſen durfte, daß er ihn kenne. Der Lord
verſicherte, daß der türkiſche Kaiſer Rußland beſſer
18*
[276] und genauer kenne, als gar viele europäiſche Politi-
ker, und daher gewiß ſehr wohl wiſſe, was er un-
ternehme *).


Nach dem Diné, das auch einige orientaliſche
Schüſſeln enthielt, und bei dem ich zum erſtenmal
ächten Shiras trank (beiläufig geſagt kein angeneh-
mer Wein, der nach den Bocksſchläuchen riecht),
wurde wieder muſicirt und kleine Verſtandesſpiele
geſpielt, welche indeß nicht beſonders reuſirten, wes-
halb denn auch bei guter Zeit jeder ſeinen Hand-
leuchter ergriff, um zu Bett zu gehen.



Ich habe von der arabiſchen Zucht meines Wirtbs
einen rabenſchwarzen Wildfang gekauft, den länger
probiren zu können, wir heut früh einen Beſuch bei
Lady Cooper in der Nachbarſchaft machten. Ihr
Schloß und Park Panſanger iſt ſehr ſehenswerth,
beſonders die Gemäldegallerie, welche zwei Madon-
nen Raphaels aus ſeiner frühern Zeit enthält, auch
ein ausgezeichnet ſchönes Bild des Marſchalls Tu-
renne zu Pferde von Rembrandt. Lady Cooper em-
pfing uns in ihrem Boudoir, das unmittelbar in ei-
nen, ſelbſt jetzt noch reizenden und vortrefflich gehal-
tenen, Blumengarten führte, an den ſich auf der
andern Seite wiederum Gewächshäuſer, und eine
[277] Dairy in Tempelform anſchloß, in deren Mitte Del-
phine von Bronce ihr kühles Waſſer ergoſſen.


Panſanger iſt durch die größte Eiche in England
berühmt, die den pleasure ground ziert. Sie hat
zwei Ellen über dem Grunde noch 19½ Fuß im Um-
fang, und iſt dabei ſehr hoch und ſchlank gewachſen,
ohngeachtet ihre Aeſte ſich auf allen Seiten ausbrei-
ten. In Deutſchland haben wir größere Bäume die-
ſer Art.


Um die Gegend noch mehr zu recognoſciren, mach-
ten wir nachher einen zweiten Beſuch in Hatfield, bei wel-
cher Gelegenheit ich dieſes genauer als früher muſterte.


Das ganze Schloß nebſt Küche und Waſchhaus
wird durch eine Dampfmaſchine geheizt, ein Ofen,
der dem grandiöſen Ganzen angemeſſen iſt. Die
Marquiſe Douairière, die rüſtigſte Dame ihres Al-
ters in England, führte uns Trepp auf Trepp ab
in allen Winkeln umher. In der Kapelle fanden wir
vortreffliche alte Glasgemälde, die man in Crom-
wells Zeit vergraben hatte, welchem Umſtand ſie ihre
Rettung verdankten, als die verrückten Bilderſtürmer
alle gemalten Kirchenfenſter zertrümmerten. In einer
der Stuben befand ſich ein ſehr gutes Bild Carl des
Zwölften, dieſes Don Quixotte en grand, der ohne
Pultava vielleicht ein zweiter Alexander geworden wäre.


In den jetzigen Ställen Hatfields, dem ehemaligen
Schloſſe, ſaß Eliſabeth unter der Regierung Maria’s
gefangen. Die Königin ließ auf einem Giebel, ihrem
[278] Fenſter gegenüber, eine ſehr hohe, ſpitzige Feuereſſe
mit einer eiſernen Stange errichten, und der Gefan-
genen inſinuiren: dieſe Stange ſey beſtimmt, um
ihren Kopf darauf zu ſtecken. So erzählte uns die
Marquiſe. Die Eſſe ſteht noch, und iſt jetzt dick mit
Epheu überwachſen, Eliſabeth aber baute, um ſich
an dem wohlthuenden Contraſt ſpäterer Jahre zu
weiden, den neuen Pallaſt daneben, aus dem ſie den
drohenden Rauchſchlund nun mit beſſerer Gemüths-
ruhe betrachten konnte. An Kunſtgegenſtänden iſt
das Schloß arm, der Park nur reich an großen Ei-
chenalleen und Krähen, ſonſt öde und ohne Waſſer,
ausgenommen eine häßliche, grün überzogne Pfütze
nahe am Schloß.



In dem Hauſe meines Wirths befindet ſich eine
eigenthümliche Bildergallerie, nämlich eine perſiſche,
die wenigſtens ziemlich barocke Dinge enthält. Die
Portraite des Schachs und ſeines Sohnes Abbas
Mirza ſind das Intereſſanteſte darin. Die gelbe mit
Edelſteinen aller. Art bedeckte Tracht des Schachs
und ſein enormer ſchwarzer Bart, repräſentiren die-
ſen Sohn des Himmels und der Sonne nicht übel.
Sein Sohn aber übertrifft ihn an Schönheit der
Züge. Dagegen iſt das Coſtume desſelben faſt zu
einfach, und auch die ſpitze Schafmütze nicht wohl-
bekommend. Der letzte perſiſche Geſandte in Eng-
[279] land beſchließt das Kleeblatt. Dies war ein ſehr
hübſcher Mann, der ſich in die europäiſchen Sitten
ſo gut fand, daß er von den Engländern wie ein
wahrer Lovelace geſchildert wird. Zu Hauſe ange-
kommen, ſoll er ſich überdem keineswegs discret ge-
zeigt, ſondern manche vornehme engliſche Dame von
dort her ſehr boshaft compromittirt haben.


Einige angezogene Puppen in demſelben Local ga-
ben uns eine treue Idee des ſchönen Geſchlechts in
Perſien, mit langen, roth oder blau gefärbten Haa-
ren, gewölbten und gemalten Augenbraunen, ſchmach-
tend feurigen, großen Augen, allerliebſten Gaze-Pan-
talons und Goldringen um die Fußknöchel.


Lady O. erzählte uns dazu viele intereſſante Ha-
rem-Details, die ich Dir mündlich mittheilen werde,
denn ich muß doch Einiges auch dafür aufbewahren.


Manches ſcheint in Perſien ganz angenehm, man-
ches nichts weniger, ſo unter andern die Scorpione
und Inſekten. Einmal kroch Lady O., während ſie
auf dem Divan lag, eine Schlange am Nacken her-
unter in die Kleider, die ſie nur durch ſchnelle Ent-
fernung der ganzen Toilette loswerden konnte.


So etwas geſchieht uns doch nicht leicht in unſrer
climatiſchen Mitteltemperatur. Sie ſey daher geprie-
ſen, und alle Zufriedene darin, zu denen ich herzlich
wünſche uns Beide immer zählen zu dürfen.


Dein L.


[[280]]

Ein und zwanzigſter Brief.



Liebe Julie!

Nachdem ich ein Gedicht in das W … ſche Haus-
ſtammbuch geſchrieben, in welchen es von arabiſchen
Roſſen und Timurs Herrlichkeit, Cecil, Eliſabeth, und
Teherans weißen Schönen ꝛc. wimmelte, verließ ich
geſtern meine freundlichen Wirthe, um nach London
zurückzukehren. Noch an demſelben Abend meiner
Ankunft führte mich L. zu einem ſonderbaren
Schauſpiel.


In einer, eine gute deutſche Meile entlegnen Vor-
ſtadt, nahm uns eine Art Scheuer auf, ſchmutzig,
ohne andere Decke als das rohe Dach, durch welches
hie und da der Mondſchein blickte. In der Mitte
befand ſich ein, ohngefähr 12 Fuß im Quadrat hal-
tender, mit dichten Holzbrüſtungen eingefaßter und
gedielter Platz, umgeben von einer Gallerie voll ge-
[]

[figure]

[][281] meinen Volks und gefährlich ausſehender Geſichter
beiderlei Geſchlechts. Eine Hühnerſteige führte höher
hinauf zu einer zweiten Gallerie, für Honoratioren
beſtimmt, welche pro Sitz mit drei Schillingen be-
zahlt wurde. Seltſam contraſtirte mit dieſem Aeußern
ein an den Balken des Dachſtuhls hängender Cryſtall-
Luſtre mit 30 dicken Wachskerzen beſteckt, und einige
Faſhionables über dem höchſt gemeinen Volk, wel-
ches letztere übrigens fortwährend Wetten von 20—50
L. St. ausbot, und annahm. Der Gegenſtand der-
ſelben war ein ſchöner Ferrier, der hochberühmte
Billy, welcher hundert lebendige Ratzen in 10 Minu-
ten todt zu beißen ſich anheiſchig machte. Noch war
die Arena leer — und es harrte mit bangem, mit
ſchrecklichem Weilen — während auf der untern
Gallerie große Bierkrüge als Erfriſchung von Mund
zu Mund gingen, und dichter Cygarrenrauch empor-
wirbelte. Jetzt endlich! erſchien ein ſtarker Mann,
einen Sack tragend, der einem Kartoffelſacke gleich,
in der That aber die hundert lebendigen Ratzen ent-
hielt, denen er, durch Löſung des Knotens, auf ein-
mal die Freiheit gab, ſie über den ganzen Platz hin-
ſäete, und während ihres Herumtummelns ſchleunigſt
ſeinen Rückzug in eine Ecke nahm. Auf ein gege-
benes Zeichen ſtürzte nun Billy herein, und begann
mit unglaublicher Wuth ſein mörderiſches Geſchäft.
Sobald eine Ratze leblos dalag, nahm ſie der ihm
folgende Knecht Ruprecht wieder auf und ſteckte ſie
in den Sack, wobei wohl manche blos ohnmächtige
mit unterlaufen mochte, ja vielleicht gab es alte
[282] Praktiker darunter, die ſich von Hauſe aus todt ſtell-
ten. Kurz Billy gewann in 9¼ Minute, nach Aus-
weis aller gezogenen Uhren, in welcher Zeit ſämmt-
liche 100 Leichname und Scheintodte ſich ſchon wieder
im Sacke befanden.


Dies war der erſte Akt. Im zweiten kämpfte Billy
von neuem, ſtets unter großem Beifallsgeſchrei des
Publikums, mit einem Dachs. Jeder der Kämpfer
hatte einen Sekundanten, der ihn beim Schwanze
hielt. Es wurde nur ein Biß oder Packen erlaubt,
dann beide auseinander geriſſen, und gleich wieder
zugelaſſen, wobei Billy indeß immer den Vortheil
hatte, und des armen Dachſes Ohren von Blute
trieften. Auch hier mußte Billy in einer gewiſſen
Anzahl Minuten, ich weiß nicht mehr wie vielmal,
den Dachs feſtgepackt haben, was er ebenfalls glän-
zend durchführte, zuletzt aber doch ſehr erſchöpft abzog.


Das Schauſpiel endigte mit Bearbiting, worin der
Bär einige Hunde übel zurichtete, und ſelbſt wenig
zu leiden ſchien. Man ſah im Ganzen, daß den En-
trepreneurs ihre Thiere zu koſtbar waren, um ſie
ganz ernſtlich zu erponiren, daher ich auch ſchon im
Anfang, ſelbſt die Ratzen, als einiges verborgenen
Künſtlertalents verdächtig, angegeben habe.


In demſelben Lokal werden einige Monate ſpäter
auch die Hahnenkämpfe gehalten, wovon ich ſpäter
eine Beſchreibung liefern werde.


[283]

Es gibt ohne Zweifel drei Naturen im Menſchen;
eine Pflanzennatur, die ſich begnügt zu vegetiren,
eine thieriſche, die zerſtört, und eine geiſtige, die
ſchafft. Viele begnügen ſich mit der erſten, die mei-
ſten nehmen noch die zweite in Anſpruch, und nicht
allzuviele die dritte. Ich muß leider geſtehen, daß
meine hieſige Lebensart mich nur in der erſtgenann-
ten Claſſe verweilen läßt, was mich oft ſehr unbe-
friedigt ſtimmt, but I can’t help it.


Du haſt wohl ehemals von dem engliſchen Roscius
gehört? ein neues Wundermännchen dieſer Art iſt
aufgetreten, und die Reife ſeines frühzeitigen Ta-
lents iſt in der That höchſt auffallend. Maſter Burke,
ſo wird der zehnjährige Knabe genannt, ſpielte im
Surrey-Theater bei vollem Hauſe 5—6 ſehr ver-
ſchiedene Rollen mit einer Laune, ſcheinbaren Büh-
nenerfahrung, Aplomb, Volubilität der Sprache,
treuem Gedächtniß, und gelenkiger Gewandtheit ſei-
ner kleinen Perſon, die in Erſtaunen ſetzen. Was
mich aber am meiſten frappirte, war, daß er in ei-
nem Vorſpiel ſeine natürliche Rolle, nämlich die ei-
nes Jungens von 10 Jahrer., ebenfalls mit ſo un-
gemeiner Wahrheit gab, daß dieſe ächte Naivität dar-
geſtellter Kindlichkeit, nur Inſpiration des Genies,
ohnmöglich Reſultat der Reflection bei einem ſolchen
Knaben ſeyn konnte. Er begann die nachfolgenden
Charaktere mit der Rolle eines italieniſchen Muſik-
[284] meiſters, in der er ſich zugleich als wahrer Virtuoſe
auf der Violine zeigte, und dies nicht etwa blos in
einigen eingelernten Fertigkeiten, ſondern in dem gu-
ten Geſchmack ſeines Spiels und einer ſelten erreich-
ten Fülle und Schönheit des Tones. Man merkte
es ſeinem ganzen Spiele an, daß er zum Muſiker
geboren ſey. Hierauf folgte die Darſtellung eines
pedantiſchen Gelehrten, dann eines rohen Schiffcapi-
tains u. ſ. w., alle Rollen vorzüglich gut ausgeführt,
und beſonders ganz vortrefflich und unbefangen im
ſtummen Spiel, woran ſo viele ſcheitern. Napoleon
war die letzte Rolle, die einzige, die mißlang, und ich
möchte ſagen, daß grade dies Mißlingen meinem Bei-
fall die Krone aufſetzte. Es iſt ein Kennzeichen des
wahren Genius, daß er im Erbärmlichen, Unpaſſen-
den, Albernen ſelbſt mit albern erſcheint, und die
Rolle war die Quinteſſenz des Abgeſchmackten. Im
Leben iſt es nicht anders. Macht z. B. einen Leſſing
zur Hofſchranze, oder Napoleon zum r ..... Lieute-
nant, und Ihr werdet ſehen, wie ſchlecht beide ihre
Rollen ausfüllen.


Ueberhaupt kömmt es nut darauf an, daß Jeder
an ſeinem Platze ſtehe, ſo wird auch Jeder etwas
Vorzügliches entwickeln. So beſteht mein Genie
z. B. in einer ſo zu ſagen praktiſch angewandten
Phantaſie, die ich ſtellen kann wie eine Uhr, mit der
ich nicht nur mich in jede wirkliche Lage ſogleich zu-
rechtfinden, ſondern mit der ich mich auch, ſie als
Reizmittel gebrauchend, in alle mögliche Abgründe
zu werfen vermag, und wenn ich daran erkranke, ſie
[285] zugleich wieder als Heilmittel, durch ein erfunde-
nes
Glück benutzen kann.


Iſt das nun die Folge einer zufälligen phyſiſchen
Organiſation, oder ein Gewinn aus eigner Kraft
durch vielleicht hundert vorhergegangene Generatio-
nen? Lebte dieſes mein geiſtiges Individuum ſchon
vorher in mit einander zuſammenhängenden Formen
und dauert es ſelbſtſtändig fort, oder verliert es ſich
nach jeder Blaſe, die die ewige Gährung des Welt-
alls aufwirft, wieder im Allgemeinen? Iſt, wie
viele wollen, die Weltgeſchichte, oder das, was in
der Zeit ſich begibt, eben ſo wie die Natur, oder
das, was im Raume exiſtirt, nach feſten Geſetzen und
Regeln einer leitenden Hand ſchon in ſeinem ganzen
Verlauf im Voraus beſtimmt, und endigt wie ein
Drama im ſogenannten Sieg des Guten über das
Böſe, oder bildet die freie geiſtige Kraft ihre Zukunft
ſich, in Allem unvorherbewußt, nur unter der noth-
wendigen Bedingung ihrer eignen Exiſtenzmöglichkeit
ſelbſt aus? that is the question! Soviel indeſſen
ſcheint mir klar, daß wir bei Annahme der erſten
Hypotheſe, man drehe es wie man wolle, doch nur
mehr oder weniger alle mit einander künſtliche Pup-
pen ſind — nur bei der zweiten Vorausſetzung wahr-
haft freie Geiſter bleiben. Ich will es nicht leugnen,
es iſt etwas in mir, ein unbezwingliches Urgefühl,
gleich dem innerſten Bewußtſeyn meiner ſelbſt, das
mich zu dem letztern Glauben hinzieht. Es iſt dies
vielleicht der Teufel! Doch verführt er mich nicht ſo
weit, daß ich nicht mit innigſter höchſter Liebe einem
[286] uns umfaßbaren Gotte unſern geheimnißvollen Ur-
ſprung in Demuth verdanken will, aber eben weil
eine göttliche Befruchtung uns hervorrief, müſſen wir
von nun an auch ſelbſtſtändig in Gott fortleben.
Höre, was Angelus Sileſcus, der fromme Catholik,
darüber ſagt:


Soll ich mein letztes End, und erſten Anfang finden,

So muß ich mich in Gott, und Gott in mir ergründen,

Und werden das, was er, ich muß ein Schein im Schein,

Ich muß ein Wort im Wort, ein Gott im Gotte ſeyn.

Eben deshalb iſt mir auch jener Lehrſatz unerträg-
lich: daß früher der Menſch höher geſtanden und
beſſer geweſen, ſich aber nach und nach verſchlech-
tert habe, und nun wieder eben ſo nach und nach,
durch Sünde und Noth ſich zur erſten Vollkommen-
heit wieder durcharbeiten müſſe. Wie viel mehr allen
Geſetzen der Natur und des Seyns angemeſſen, wie
viel mehr einer ewigen, höchſten, über Alles walten-
den Liebe und Gerechtigkeit entſprechend, iſt es an-
zunehmen, daß die Menſchheit (die ich überhaupt als
ein wahres Individuum, einen Körper, anſehe),
aus dem nothwendig unvollkommenern Anfang fort
und fort einer ſtets weiter ſchreitenden Vervollkomm-
nung, einer höhern geiſtigen Ausbildung aus eigner
Kraft entgegengeht, obgleich der Keim dazu durch
die Liebe des Höchſten erſchaffend hineingelegt wurde.
Das goldne Zeitalter der Menſchen, ſagt der Graf
St. Simon ſehr richtig, iſt nicht hinter uns, ſondern
vor uns. Das Unſrige könnte man (mehr des Wol-
lens als des Vermögens wegen) das myſtiſche nen-
[287] nen. Aechte Myſtik iſt nun freilich ſelten, aber man
muß es doch auch eine ſehr vortheilhafte Erfindung
der Weltklugen nennen, daß dieſe der Abſurdität
ſelbſt ebenfalls einen Mantel von Titularmyſtik um-
zuhängen verſtanden haben. Hinter dieſen Vorhang
gehört leider das Meiſte, z. B. eben auch dieſe Erb-
ſünde, wie ſie unſre modernen Myſtiker zu nennen
belieben.


Vor einigen Jahren befand ich mich einmal in ei-
ner geiſtreichen Geſellſchaft, die jedoch an Zahl ge-
ring, nur aus einer Dame und zwei Herren beſtand.
Man ſtritt auch über die Erbſünde. Die Dame und
ich erklärten uns dagegen, die zwei Herren dafür,
wiewohl mehr vielleicht um eines geiſtigen Feuer-
werks ihrer Gedanken willen, als aus Ueberzeugung.
„Ja,“ ſagten die Gegner endlich, „die Erbſünde iſt ge-
wiß eine Wahrheit, gleich der neuen Charte der
Franzoſen, es war der Drang des Wiſſens, der ſich
Bahn machte. Mit ſeiner Befriedigung kam das Un-
heil in die Welt, das aber freilich auch nöthig war
zu unſerer Läuterung, zum eignen Verdienſte,
dem einzig verdienſtlichen.“ Auf dieſe Weiſe, erwie-
derte ich, mich zu meiner Mitſtreiterin wendend,
können wir es uns gefallen laſſen, denn es iſt mit
andern Worten unſre Meinung, ein Lernen,
der nöthige Uebergang aus Schlimmem zu Beſſerem
durch eigne Erfahrung und Erkenntniß. Allerdings,
fiel die Dame ein, nur ſollen Sie es dann nicht
Erbſünde nennen. „Gnädige Frau,“ erwiederte
einer der Antagoniſten, „über den Namen wollen
[288] wir nicht ſtreiten, wenn es Ihnen reckt iſt, nennen
wir es fortan Erbadel.“


Nach allen dieſen Grübeleien habe ich heute erfah-
ren, daß die frivolſten Weltleute auch über ſich ſelbſt
nachdenken. Ein Oeſterreicher von Stande, der ſich
ſeit einiger Zeit hier aufhält, ertheilte mir folgenden
Rath praktiſcher Philoſophie, den ich ſeiner Origina-
lität wegen wörtlich herſetzen muß.


„Nix is halt dümmer,“ ſagte er, „als ſich um de
Zukunft gräme! Schaun’s, als i hierher kam, war’s
grade Sommer, und die Seaſon ſchon vorbei. Nu
hätt’ en Andrer ſich gegrämt, grad in ſo ſchlechter
Zeit herkommen zu ſeyn; aber i dacht, ’s wird ſich
ſchon hinziehen, und richtig, ’s hat ſich bis zum No-
vember hingezogen! Unterdeſſen hat mich der Eſter-
hazy ufs Land genemmen, wo i mich gar herrlich
amüſirt hab, und nu is noch a Monat ſchlecht, dann
wird’s wieder full, die Bälle und die Routs gehn
an, und i kann’s nie mehr beſſer wünſchen! Wär’ i
nu nich a rechter Narr geweſen, mi zu gräme ohne
Noth? hab i ni recht? Man muß in der Welt grad
wie ne H .... leben und nimmer zuviel an die Zu-
kunft denken.“


Ich kann annehmen, daß dieſer praktiſche Mann
und ich ſehr verſchiedene Naturen ſind, ſo wie man-
cher Philoſoph vom Fache meine Grübeleien ohnge-
fähr eben ſo mitleidig betrachten wird, als ich die
des Oeſterreichers; und doch kömmt das Reſultat
am Ende, wie es ſcheint, leider bei Allen auf eins
[289] heraus! ungewiß bleibt blos, welcher der größte
Theil unter ihnen iſt? Wahrſcheinlich der, welcher
ſich für den Geſcheideſten hält!



Ich habe die unangenehme Nachricht erhalten, daß
nahe bei Helgoland das Schiff, mit dem ich Dir die
gekauften Sämereien und Blumen ſchickte, unterge-
gangen iſt, und nur wenige der Equipage gerettet
wurden. Freund L. verliert auch einen großen Theil
ſeiner Effecten dabei. Es iſt das einzige Schiff, was
dieſes Jahr in jenen Gewäſſern verloren ging, und
hat ohnbezweifelt ſein Mißgeſchick dem Frevel zu
verdanken, an einem Freitag abgefahren zu ſeyn.
Du lachſt, aber mit dieſem Tage hat es eine beſondere
Bewandtniß, und ich ſcheue ihn auch, da er in dem
unerklärlichen verkörperten Bilde, das ſich meine
Phantaſie von den Wochentagen unwillkührlich ge-
ſchaffen hat, der einzige von rabenſchwarzer Farbe iſt.
Vielleicht intereſſirt es Dich, bei dieſer Gelegenheit
die Farbe der andern, als ein myſtiſches Räthſel zu
erfahren. Der Sonntag iſt gelb, Montag blau,
Dienſtag braun, Mittwoch und Sonnabend ziegel-
roth, Donnerstag aſchgrau. Dabei haben alle dieſe
Tagindividuen einen ſeltſamen und gewiſſermaſſen
geiſtigen Körper, d. h. durchſichtig ohne beſtimmte
Form und Gränzen.


Briefe eines Verſtorbenen. IV. 19
[290]

Doch um auf den Freitag zurückzukommen, ſo er-
zählte mir der hieſige amerikaniſche Legations-Se-
cretair neulich Folgendes davon.


„Der Aberglaube, daß Freitag ein übler Tag ſey“,
ſagte er, „bleibt bis zu dieſer Stunde bei allen unſern
Seeleuten mehr oder weniger eingewurzelt. Ein
aufgeklärter Handelsmann in Connecticut hatte vor
einigen Jahren den Wunſch, das Seinige beizutra-
gen, um einen Eindruck zu ſchwächen, der oft ſehr
unbequem wirkt. Er veranlaßte daher, daß ein neues
Schiff für ihn an einem Freitag zu bauen ange-
fangen wurde. An einem Freitag ließ er es vom
Stapel laufen, gab ihm den Namen Freitag, und
auf ſeinen Befehl begann die erſte Reiſe gleichfalls an
einem Freitag. Unglücklicherweiſe für den Erfolg
dieſes ſo wohlgemeinten Experiments, hat man von
Schiff und Mannſchaft nie wieder das Mindeſte
gehört. —


Geſtern erhielt ich Deinen Brief.


Daß Dein Edelſtein, wie Du ihn liebreich nennſt,
von Vielen in der Welt nicht nur überſehen, ſon-
dern oft ſogar gern in die Erde getreten werden
möchte, kömmt ſehr natürlich daher, weil er im
Grunde nur an wenig Stellen geſchliffen wurde, und
ſtrahlt nicht durch Zufall grade eine ſolche dem Vor-
übergebenden entgegen, ſo wird er comme de rai-
son
den gemeinen Kieſeln gleich geachtet, und wo
eine hervorragende Spitze verwundet, wo möglich
eingetreten. Nur hie und da ſchätzt ihn jedoch ein
Kenner, und der Beſitzer — der überſchätzt ihn.


[291]

Die Schilderung der engliſchen Familie M. in B.
hat mich lachen gemacht, und die Originale zu dieſen
Portraits ſind in der großen Welt hier ſehr häufig,
ja die Tournüre der Damen im Allgemeinen, und
mit ſeltnen Ausnahmen, iſt eben ſo ſchlecht als die,
welche Du in B. geſehen — aber lang befeßner und
ungemeßner Reichthum, alte hiſtoriſche Namen und
ſtrenge Zurückhaltung geben doch dieſer ariſtokrati-
ſchen Geſellſchaft etwas Impoſantes, namentlich für
einen norddeutſchen Edelmann, der ſo we-
nig iſt!


Die kleinen Unglücksfälle, welche Du mir meldeſt,
nimm nicht zu Herzen. Was ſind ſie anders als
unbedeutende Wölkchen, ſo lange die Sonne
des Geiſtes klar in unſerm innern Him-
mel ſcheint
! Uebrigens ſollteſt Du mehr Zer-
ſtreuung aufſuchen. Geh auch zu W., zu H., zu L.
Man muß die Leute nicht blos ſehen, wenn man ih-
rer bedarf, ſie glauben ſonſt nicht, daß man ſie liebt
und ſchätzt, ſondern nur, daß man ſie braucht; und
doch wäre es gut, wenn eben dieſe drei uns ins
Herz ſehen könnten. Sie würden uns mehr lieben
lernen als durch Worte und Viſiten. Den Park be-
treffend haſt Du, fürchte ich, wie ein grauſamer Ty-
rann, erhabne Greiſe mit kaltem Blute gemordet.
Dreihundertjährige Linden fielen alſo, wie unwill-
kührliche Märtyrer, einer hellern Ausſicht zum Opfer?
Das iſt allerdings zeitgemäß — von nun an gebe
ich Dir jedoch die Inſtruction, nur zu pflanzen, und
zwar ſo viel Du willſt, aber nichts, was da iſt,
19*
[292] wegzunehmen. Später werde ich ja ſelbſt kommen,
und die Spreu vom Weitzen ſondern.



Don Miguel von Portugal iſt hier angekommen,
und ich ward ihm heute früh vorgeſtellt. Nur das
Corps diplomatique und einige wenige Fremde wa-
ren zugegen. Der junge Prinz iſt nicht übel, ſieht
ſogar Napoleon ähnlich, war aber etwas embarraſ-
ſirter in ſeinem Benehmen. Er trug ſieben Sterne
und gleichfalls ſieben große Ordensbänder über den
Rock. Seine Geſichtsfarbe glich der Olive ſeines Va-
terlandes, und der Ausdruck ſeiner Phyſiognomie
war mehr melancholiſch als heiter.



Meinen beſten Wunſch zum heutigen Tage, und
den herzlichſten Kuß zum Anfang desſelben. Viel-
leicht iſt dies das gute Jahr, welches wir, wie die
Juden den rechten Meſſias, ſchon ſo lange vergebens
erwarten. Die Eröffnung desſelben ward wenigſtens
von mir ſehr heiter verlebt. Wir hatten den geſtri-
gen Tag bei Sir L. M., der fünf bis ſechs ſehr
hübſche Weiber und Mädchen eingeladen hatte, zu-
gebracht, und gegen Mitternacht dem neuen Jahr
[293] einen Toaſt zugetrunken. L. und ich führten dabei
die deutſche Mode ein, die Damen zu küſſen, was ſie
ſich auch, nach dem erforderlichen Sträuben, recht
gern gefallen ließen.


Heute ſpeiste ich dagegen ein hanövriſches Reh
(hier gibt es keine) beim Grafen Münſter auf dem
Lande, dem man zum Weihnachtsgeſchenk ein Blun-
derbuß (Cacafoco im Italieniſchen) in das große
Fenſter der Wohnſtube abgeſchoſſen hat, grade wäh-
rend die Gräfin ihren Kindern den heiligen Chriſt
beſcheerte. Das Schrot war durch die Spiegelſchei-
ben, wie durch Pappe, in hundert kleinen Löchern
eingedrungen, ohne auch nur eine Scheibe zu zer-
ſchmettern. Glücklicherweiſe war die Chriſtbeſcheerung
ſo entfernt vom Fenſter, daß die Schrote nicht ſo
weit reichten. Man begreift nicht, wer der Urheber
einer ſolchen Infamie ſeyn kann!


Die Anweſenheit Don Miguels macht London leb-
haſt. Eine Soirée beim Herzog von Clarence fand
dieſen Abend ſtatt, und morgen wird ein großer
Ball bei Lady K. ſeyn. Der Prinz ſcheint allgemein
zu gefallen, und zeigt jetzt, nachdem er mehr hier zu
Hauſe iſt, etwas recht Gemeſſenes und Vornehmes
in ſeiner Tournüre, wiewohl es ſo ausſieht, als ruhe
im Hintergrunde ſeiner großen Affabilität doch mehr
als eine arrière-pensée. Die Etikette iſt übrigens
für die Portugieſen ſo ſtreng, daß unſer guter Mar-
quis P.... jeden Morgen, wenn er den Prinzen zuerſt
anſichtig wird, auf ſeine Kniee niederfallen muß.


[294]

Das geſtrige Feſt bei’m Fürſten E. übergehe ich,
um Dir von der heutigen Pantomime zu erzählen,
die Don Miguel ebenfalls mit ſeiner Gegenwart be-
ehrte. Es ging ihm dabei noch ſchlimmer, wie dem
ſeligen Churfürſten von Heſſen in Berlin, der bei
dem Eröffnungs-Chor der Oper, welches die Ama-
zonen-Königin leben ließ, aufſtand, um ſich zu be-
danken.


Das hieſige Volk nämlich, dem Don Miguel als
ein tyranniſcher Ultra geſchildert worden war, und
das nun in dem gefürchteten Ungeheuer einen ganz
artigen und hübſchen jungen Mann ſieht, iſt vom
Abſcheu zur Liebe übergegangen, und empfängt überall
den Prinzen mit Enthuſiasmus. So auch heute im
Theater. Don Miguel ſtand ſogleich mit ſeiner por-
tugieſiſchen und engliſchen Suite auf, und dankte
verbindlichſt. Kurz darauf rollte der Vorhang em-
por, und ein neues unbändiges Klatſchen zollte der
ſchönen Dekoration Beifall. Abermals erhob ſich Don
Miguel, und dankte verbindlichſt. Verwundert und
überraſcht rief dennoch gutmüthig das Publikum, den
Irrthum überſehend, von neuem Vivat. Nun aber
erſchien der Lieblingspoſſenreißer auf dem Theater,
und zwar als großer Orang-Outang mit Mazuriers
Gelenkigkeit. Stärker als je ertönte der Enthuſias-
mus des Beifalls, und abermals erhob ſich Don Mi-
guel, und dankte verbindlichſt. Diesmal aber wurde
[295] das Compliment nur durch lautes Lachen erwiedert,
und einer ſeiner engliſchen Begleiter, Lord M. C.,
ergriff ohne Umſtände den Infanten bei’m Arme, um
ihn wieder auf ſeinen Sitz zurück zu ziehen. Gewiß
aber blieben Don Miguel und der Lieblingsakteur
lange im Geiſte des Publikums wider Willen identi-
ficirt.



Wir ſchweben in fortwährenden Feſten. Geſtern
gab die ſchöne Marquiſe das ihrige, heute die ge-
feierte Fürſtin L., welches bis nach 6 Uhr früh dauerte.
Von Morgen bis Abend bemüht man ſich unabläſſig,
den Prinzen zu amüſiren, und es iſt wohl angenehm,
eine ſo bevorrechtete Perſon zu ſeyn, die zu unter-
halten und ihr zu gefallen die Höchſten wie die Nie-
drigſten, die Klügſten wie die Dümmſten, ihr Mög-
lichſtes thun.


Mitten unter dieſem trouble erhielt ich wieder ei-
nen Brief von Dir durch L …, und freute mich, die
darin enthaltene hunderttauſendſte Verſicherung Dei-
ner Liebe, eine Verſicherung, die ich vor der erſten
Million gewiß nicht zu hören müde werde, und nach
dieſer Million ſogar noch ausrufen werde: L’apetit
vient en mangeant!
So geht es auch mit den hieſi-
gen Feſten, d. h. die Welt wird ihrer nicht müde.
Während ſie immer mehr ihren Horizont ſich mit Ge-
wittern überziehen ſieht, tanzen und diniren unſre
[296] Diplomaten dem drohenden Sturm mit Lachen und
Scherzen entgegen, und Großes und Erhabnes miſcht
ſich fortwährend mit Gemeinem und Alltäglichem,
wie in Shakespeares lebenswahren Tragödien.


Meine Stimmung iſt durch alles das günſtig ge-
reizt, wohl und kräftig. Meine männliche Seele
(denn ich habe, außer der Deinigen, die mir gehört,
auch noch eine eigne weibliche) iſt jetzt du jour, und
dann fühle ich mich immer ſelbſtſtändiger, freier und
weniger empfänglich für Aeußeres. Dies iſt ſehr
paſſend für den hieſigen Aufenthalt, denn die Eng-
länder ſind wie ihre Flintkieſel, kalt, eckig, und mit
ſchneidenden Kanten verſehen, aber dem Stahl ge-
lingt es deshalb am leichteſten, belebende Funken aus
ihnen zu ſchlagen, die Helle geben durch wohlthäti-
gen Antagonismus.


In der Regel bin ich indeſſen zu träge, oder beſſer
geſagt, zu wenig durch ſie erregt, um als Stahl auf
die mich umgebenden Individuen agiren zu mögen
und zu können; ihrem Stolz aber habe ich wenig-
ſtens immer noch größeren entgegengeſetzt, und Man-
che dadurch erweicht, die andern entfernt. Eins und
das Andere war mir recht, denn der Cranolog ſagt
ganz wahr über mich, daß mir ein weſentlich ſchaffen-
wollender Geiſt zugetheilt ſey, und ſolche lieben
allerdings nur, was wahlverwandt mit ihnen wirket,
oder was unter ihnen ſtehend, ein brauchbares In-
ſtrument für ſie wird, um ihre eignen Melodien dar-
auf zu ſpielen. Den Uebrigen ſtehen ſie entgegen
oder fern.


[297]

Die letzte Soiré für Don Miguel fand heute end-
lich beim holländiſchen Ambaſſadeur ſtatt, an welchen
Umſtand man allerhand intereſſante hiſtoriſche Remi-
niscenzen knüpfen könnte, denn Portugal wie Hol-
land, beides kleine Lander nur, waren doch einſt
Weltmächte. Eins ging den Weg der Freiheit, das
andere den der Sclaverei, und beide wurden dennoch
gleich unbedeutend, und ihr inneres Glück ſcheint
auch nicht ſehr verſchieden zu ſeyn. Doch ich will dieſe
Betrachtung verlaſſen, und dafür lieber mit ein Paar
Worten die Liebenswürdigkeit der Ambaſſadrice rüh-
men, deren franzöſiſcher leichter Sinn noch nichts von
den ſchwermüthigen Narrheiten der engliſchen Faſhion
angenommen hat. Ihr Haus iſt zugleich eins von
den wenigen, das man uneingeladen Abends der Con-
tinentalſitte gemäß beſuchen, und eine Converſa-
tion
daſelbſt finden kann. Als Madame de F ....
noch unverheirathet in Tournay lebte, wohnte im
Befreiungskriege mein theurer Chef, der alte Groß-
herzog von W .... in ihrer Eltern Hauſe und pflegte
die reizende Tochter ſcherzend den liebſten ſeiner Ad-
jutanten zu nennen. Ich habe alſo, da ich denſelben
Poſten bekleidete, eine Art Kameradſchaft geltend zu
machen, eine Ehre, die ich mir um ſo weniger neh-
men laſſen mag, da auch ihr Gemahl ein ſehr ange-
nehmer Mann iſt, der ſich durch Geiſt und Güte
gleich ſehr auszeichnet.


[298]

Mittags hatte ich beim Grafen M. ein deutſches
Diné eingenommen, der uns immer von Zeit zu Zeit
wilde Hannovraner auftiſcht. Heute war es ein herr-
licher Eber mit jener königlichen Sauce, von der Er-
findung Georg IV., von der im Almanach des gour-
mands
ſteht: qu’avec une telle Sauce on mangerait
son père.
Außer dieſer Delikateſſe wurde eine gute
Anekdote von W. Scott zum Beſten gegeben. Die-
ſer begegnete auf der Straße einem irländiſchen Bett-
ler, der ihn um einen Sixpence (halben Schilling) bat.
Sir Walter konnte keinen finden, und gab ihm end-
lich einen ganzen Schilling, indem er ſcherzend ſagte:
aber merkt Euch nun, daß Ihr mir einen Sixpence
ſchuldig ſeyd. „O gewiß!“ rief der Bettler, „und
möge Gott Euch ſo lange leben laſſen, bis ich ihn
wieder bezahle.“


Ehe ich zu Bette ging, hielt ich noch eine Nachleſe
Deiner letzten Briefe. Meine Anſicht der Rolle des
Macbeth haſt Du ſehr wohl verſtanden, und ſprichſt
Dich in wenig Worten meiſterhaft darüber aus, ſo
wie über die Leiſtung der dortigen Schauſpieler. Es
iſt wohl ſonderbar, aber wahr, daß beinahe überall
die Bühne gegen ſonſt degenerirt. Gewiß liegt es
auch in der überegoiſtiſchen, mehr mechaniſchen als
poetiſchen Zeit.


Eben ſo wahr iſt Deine Bemerkung über die B. ..
höhere Geſellſchaft, und daß der Witz, ja ſelbſt das
Wiſſen, welches dort ſich brüſtet, nichts von dem
gutmüthig Anſchmiegenden habe, das beiden eigentlich
den wahren geſellſchaftlichen Reiz allein verleihen kann.
[299] Der warme Pulsſchlag des Herzens fehlt jenem ver-
trockneten Boden, die Leute können nicht davor, und
wenn ſie Phantaſie heimſucht, erſcheint ſie ihnen wie
dem ſeligen Hofmann, auch immer nur als ſchauerli-
cher Gliedermann und als Geſpenſt. Dein Freund,
dem es oft nicht beſſer geht, wurde leider auch im
Sande geboren, aber der Duft des Erzes, glaub’
ich, aus den Schachten, der flammende Hauch der
Gnomen von da unten her, die dunkle Waldesein-
ſamkeit der Tannen oben, und das Geflüſter der
Dryaden aus ihren in dichten Feſtons herabhängen-
den Zweigen haben ſeine Wiege umgeben, und dem
armen Kleinen einige fremdartige wohlthätige Elemente
verliehen.


Die Parforce-Theilnehmer der neuen Parforce-
Jagd haben mich herzlich lachen gemacht. Sie ſind
das beſte Gegenſtück zu den freiwilligen Landwehr-
männern. Da ich indeß ſelbſt ein aufrichtig Freiwil-
liger der Letzteren bin, weil ich unſern König von
Herzen liebe, und ihm dienen zu können nicht blos
Pflicht, ſondern ein Genuß für mich iſt, ſo werde
ich mir, wieder zu Haus angekommen, auch ſehr gern
une douce violence zur Parforcejagd anthun laſſen, da
ich den eleganteſten und liebenswürdigſten Prinzen, wel-
cher der Hauptunternehmer derſelben iſt, eben ſo innig
verehre und ihm zugethan bin. Die bei uns faſt vergeſſe-
ne Feldreiterei wird dadurch gewiß wieder aufblühen,
und England lehrt mich täglich, daß die Wirkung ſolcher
mit Gefahren und Strapazen verbundenen Sitten auf
[300] die Jugend, und man kann wirklich ſagen National-
bildung, ſehr vortheilhaft einwirkt.



Mit dem Grafen B. und einem Sohne der berühm-
ten Madame Tallien, fuhr ich dieſen Morgen in die
City, um das Indiahouſe zu beſehen, wo viele merk-
würdige Gegenſtände aufbewahrt werden. Tippo
Saybs Traumbuch unter andern, in dem er jeden
Tag ſelbſt ſeine Träume und ihre Auslegung auf-
ſchrieb, und dem er auch ſeinen Untergang, gleich
Wallenſtein, hauptſächlich dankte. Seine Rüſtung,
ein Theil ſeines goldnen Thrones, und eine ſeltſame
Drehorgel werden gleichfalls hier aufbewahrt. Die
letzte befindet ſich in dem Bauche eines ſehr gut dar-
geſtellten, metallenen Tigers, in natürlichen Farben
und Lebensgröße. Unter dem Tiger liegt ein Eng-
länder in rother Uniform, den er zerfleiſcht, und wäh-
rend man dreht, wird täuſchend das Geſchrei und
Gewimmer eines mit der Todes-Agonie kämpfenden
Menſchen, ſchauerlich abwechſelnd mit dem Brüllen
und Grunzen des Tigers, nachgeahmt. Es iſt dieß
Inſtrument recht charakteriſtiſch zur Würdigung je-
nes furchtbaren Feindes der Engländer, der ſelbſt die
Tigerſtreifen zu ſeinem Wappen machte, und von ſich
zu ſagen pflegte: daß er lieber einen Tag lang ein
auf Raub ausgehender Tiger, als ein Jahrhundert
lang ein ruhig weidendes Schaaf ſeyn möge.


[301]

Das Prachtwerk über die berühmten, im harten
Felſen ausgehauenen Tempel von Ellora von Daniels
intereſſirte mich ungemein. Das Alter dieſer herrli-
chen Denkmäler iſt im Grunde gänzlich unbekannt.
Höchſt ſeltſam, und mit Merkels Hypotheſe, daß die
älteſte Kulturperiode der Erde von Negern ausge-
gangen ſey, völlig übereinſtimmend iſt es, daß die
Statue des Gottes im Allerheiligſten des älteſten
Budda-Tempels ganz offenbar die ſehr markirten
Züge und das wollige Haar eines Negers darbietet.


Ein großer Stein von den Ruinen aus Perſepolis,
ganz bedeckt mit der immer noch unentzifferten Pfeil-
ſchrift, große chineſiſche Gemälde, haushohe chineſi-
ſche Laternen, ein rieſengroßer Plan der Stadt Cal-
cutta, ſchöne perſiſche Miniaturen ꝛc. ſind die vor-
züglichſten Merkwürdigkeiten dieſer Sammlung.


Wir beſahen hierauf auch die Waarenlager, wo
man alle indiſchen Produkte, wenn man ſie ſogleich
nach dem Continent verſchickt, äußerſt wohlfeil kau-
fen kann, da ſie in dieſem Fall keine Abgabe an das
Gouvernement zahlen. Shawls, die bei uns hun-
dert Louisd’or wenigſtens koſten würden, ſind in
größeren Quantitäten hier wohl für vierzig zu haben.
Die ſchönſten, die ich je geſehen, und deren Feinheit
und Pracht bei unſern Damen gewiß das größte Auf-
ſehen machen würden, ſtanden nur im Preis von 150
Guineen — in England ſind indeſſen Shawls über-
haupt wenig Mode, und werden nicht geachtet, ſo
daß man auch faſt alle nur in’s Ausland verkauft.


[302]

Der neue Dampfpoſtwagen iſt ſo eben fertig ge-
worden, und legt probeweiſe im Regentspark fünf
Meilen in einer halben Stunde zurück. Doch iſt im-
mer noch jeden Augenblick etwas daran zu repariren.
Ich war einer der erſten Neugierigen, die ihn ver-
ſuchten, fand aber den fettigen Eiſengeruch, der auch
die Dampfſchiffe ſo unangenehm macht, hier doppelt
unerträglich.


Seltſamer iſt noch ein anderes Fuhrwerk, dem ich
mich ebenfalls anvertraute. Es beſteht in nichts Ge-
ringerem als einem Wagen, der von einem Drachen
gezogen wird, und zwar einem Papierdrachen, der
nicht viel anders conſtruirt iſt, als diejenigen, welche
die Kinder aufſteigen laſſen. Es iſt daher auch ein
Schulmeiſter, der die Sache erfunden hat, und ſelbſt
ſo geſchickt ſein Vehikel zu führen weiß, daß er, auch
mit halbem Wind, gut fortkömmt, mit ganz günſti-
gem aber auf gutem Terrain die engliſche Meile in
¾ Minuten zurücklegt. Die Empfindung iſt ſehr
angenehm, da man über die kleinen Unebenheiten des
Bodens, wie darüber gehoben, hinweggleitet. Der
Erfinder ſchlägt vor, die afrikaniſchen Wüſten damit
zu bereiſen, und hat zu dieſem Behuf einen Raum
am Hintergeſtell angebracht, wo ein Pony, gleich ei-
nem Bedienten, hintenauf ſteht, und im Fall einer
Windſtille vorgeſpannt wird. Was freilich hinſicht-
lich der Fourage anzufangen ſeyn möchte, iſt nicht
[303] wohl abzuſehen, der Schulmeiſter rechnet aber auf
die in jenen Gegenden regelmäßig wehenden Paſſat-
winde. Als Amüſement auf dem Lande iſt die Sache
jedenfalls ſehr zu empfehlen, und ich ſende Dir da-
her beiliegend eine ausführliche Brochüre mit erläu-
ternden Kupfern, wonach Du etwaigen Liebhabern
unter Deinen eignen Schulmeiſtern auftragen kannſt,
ähnliche Verſuche zu machen.


Den Abend widmete ich einer Pantomime, deren
originelle Tollheit von ſo vortrefflichen Dekorationen
und Maſchinerien unterſtützt ward, daß man ſich
ohne viele Schwierigkeit in die Zeit der Feenmährchen
verſetzen konnte. Solcher lieblicher Unſinn iſt herr-
lich. Z. B. im Reich der Fröſche ein unabſehbarer
Schilfſumpf, deſſen Bewohner geſchickte Schauſpieler
auf’s Täuſchendſte agiren müſſen, und zuletzt ein
Tempel der Johanniswürmchen, den an ausgelaſſe-
ner Phantaſie und wunderbarem Glanz kein chineſi-
ſches Feuerwerk erreicht.



Die Mode iſt eine große Tyrannin, und ſo ſehr
ich das einſehe, laſſe ich mich doch auch, wie jeder
andere, von ihr regieren. Seit einigen Tagen hat
ſie mich wieder hierher geführt zu der liebenswürdi-
gen Miſſes J ...., der klugen Lady L ...., der rei-
zenden F .... ꝛc. ꝛc.


[304]

Schon bin ich wieder von Bällen und Dinérs er-
müdet, und coquettire wieder mit dem Meer, dem
einzigen poetiſchen Gegenſtand in der hieſigen pro-
ſaiſchen Welt. Eben ging ich, bei’m Scheiden der
Nacht, von einem Rout am äußerſten Ende der Stadt
kommend, wohl eine halbe Stunde zu Fuß an ſeinen
Ufern hin, unter dem Schäumen und Donnern der
ankommenden Fluth. Die Sterne blinkten noch klar
funkelnd herab, ewige Ruhe thronte oben, und wil-
des Brauſen und Wallen tobte hier unten — Him-
mel und Erde in ihrem wahrſten Bilde! Wie herr-
lich, wie wohlthuend, wie furchtbar, wie angſterre-
gend iſt doch dieſe Welt! die Welt — die nie anfing,
die nie endet — deren Raum nirgends begrenzt iſt
— in deren nach allen Seiten endloſer Verfolgung
die Phantaſie ſelbſt ſchaudernd ſich verhüllend, zu
Boden ſinkt. Ach, meine theure Julie, Liebe nur
findet den Ausweg aus dieſem Labyrinth! Sagt nicht
auch Göthe: Glücklich allein iſt die Seele die liebt!



Wir haben heute eine vortreffliche Jagd gemacht.
Das Wetter war ſelten klar und ſonnig, dabei wohl
an hundert Rothröcke verſammelt. Ein ſolches Schau-
ſpiel iſt gewiß voller Intereſſe, die vielen ſchönen
Pferde, die elegant gekleideten Jäger, fünfzig bis
ſechzig Hunde, die über Stock und Stein Reineke
verfolgen, und das wilde Reiterheer hinterdrein, die
[305] ſchnelle Abwechſelung von Wald und Berg und Thal,
das Geſchrei und Gejauchze. Es iſt beinahe wie ein
kleiner Krieg.


Die hieſige Gegend iſt ſehr hüglich, und einmal
ging die Jagd einen ſo langen und ſteilen Berg hin-
an, daß die meiſten Pferde nicht mehr fortkonnten,
und auch die beſten wie Blaſebälge in der Schmiede
ſtöhnten. Aber oben einmal angekommen, war der
Coup d’oeil auch wahrhaft prachtvoll. Man überſah
das Ganze, vom Fuchs bis zum letzten Traineur in
voller Bewegung, mit einem Blick, und außerdem
links ein reiches Thal, ſich bis gegen London aus-
dehnend, rechts das Meer im ſchönſten Sonnenglanz.


Den erſten Fuchs bekamen wir, der zweite aber er-
reichte Malapartus vor uns, und entging auf dieſe
Art ſeinen Verfolgern. Faſt alle dieſe Jagden wer-
den auf Subſcription gehalten. Die hieſige Meute
z. B., aus achtzig Hunden und drei Piqueurs mit
neun Pferden beſtehend, koſtet jährlich 1050 L. St.,
wozu fünf und zwanzig Theilnehmer ſind, die be-
zahlen. Jeder der Luſt hat, kann aber auch unent-
geldlich mitreiten. Es kömmt alſo für die Entrepre-
neurs auf den Mann nicht mehr als 42 L. St. jähr-
lich. Dieſe ſind jedoch nichts weniger als gleich ver-
theilt. Die Reichen geben viel, die Armen wenig.
Mancher zweihundert jährlich, ein anderer nur zehn, und
ich glaube, dieſes Arrangement wäre auch recht gut
bei uns nachzuahmen, beſonders von Seiten der Ar-
men. Am auffallendſten ſind bei dieſen Jagden für
unſre verwöhnten Augen die in ſchwarzen Röcken
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 20
[306] über Zaun und Gräben fliegenden Paſtoren, welche
oft, ſchon geſtiefelt und geſpornt, mit der Jagdpeitſche
in der Hand, ſchnell vorher noch copuliren, taufen
oder begraben, um ſich von der Ceremonie weg ſo-
gleich auf’s Roß zu ſchwingen. Man erzählt von
einem der berühmteſten geiſtlichen Fuchsjäger dieſer
Art, daß er immer einen zahmen Fuchs in der Taſche
mit ſich führte, und fand man keinen andern, dieſen
zum Beſten gab. Das Thier war ſo gut abgerichtet,
daß es eine Weile die Hunde amüſirte, und dann, wenn
es der Jagd müde war, ſich ſchnell in ſeinen unan-
taſtbaren Schlupfwinkel rettete, denn dieſer war kein
anderer — als der Altar der Dorfkirche, zu dem ein
Loch in der Mauer führte, und unter deſſen Stufen
ihm ein bequemes Lager bereitet war. Dies iſt recht
engliſch religiös.



Ich habe mir durch Verkältung ein heftiges nervö-
ſes Fieber geholt, das mich ſchon vierzehn Tage an
mein Bett feſſelt, und außerordentlich abgemattet hat.
Es iſt ſogar nicht ganz ohne Gefahr geweſen, die
jetzt jedoch, wie der Arzt verſichert, vorüber iſt —
alſo beſorge nichts. Sonderbar, daß man bei einer
abmattenden Krankheit gegen den Gedanken des To-
des ſo gleichgültig wird. Er kommt uns nur wie
Ruhe und Einſchlafen vor, und ich wünſche mir ſehr
zum dringendſten Ende ein ſolches langſames Her-
[307] annahen meiner körperlichen Auflöſung. Als einer,
der gern beobachtet, möchte ich auch mich ſelbſt, ſo
zu ſagen, ſterben fühlen und ſehen, ſo weit dies
möglich iſt, d. h. bis zum letzten Augenblick mit vol-
ler Beſinnung meine Emotionen und Gedanken be-
trachten, die Exiſtenz auskoſten bis zum letzten Au-
genblick. Ein plötzlicher Tod kömmt mir wie et-
was Gemeines, Thieriſches vor, nur ein langſamer,
mit vollem Bewußtſeyn wie ein veredelter, menſchli-
cher. Ich hoffe übrigens ſehr ruhig zu ſterben, denn
obgleich ich eben nicht ganz zum heiligen des Le-
bens gekommen bin, ſo habe ich mich doch an Liebe
und Güte gehalten, und immer die Menſchheit, wenn
auch nicht zuviel einzelne Menſchen geliebt. Alſo
noch nicht reif für den Himmel, wünſche ich recht
ſehr, nach meiner Theorie der Metempſychoſe, noch
öfters auf dieſer lieben Erde einheimiſch zu werden.
Der Planet iſt ſchön und intereſſant genug, um ſich
einige tauſend Jahre in immer erneuter Menſchenge-
ſtalt darauf umherzutummeln. Iſt es aber anders,
ſo iſt mir’s auch recht. Aus Gott und aus der Welt
fällt man einmal gewiß nicht, und dümmer und
ſchlechter wird man wahrſcheinlich auch nicht, ſondern
eher geſcheidter und beſſer.


Das ſchlimmſte beim Tode für mich wäre der Ge-
danke an Deinen Schmerz, und doch — würde ich
vielleicht ohne das Bewußtſeyn Deiner Liebe nicht
ganz ſo wohlthätig und reſignirt ſterben können. Es
iſt ein ſo ſüßes Gefühl beim Tode, zu wiſſen, daß
man auch jetzt noch Jemand zurückläßt, der unſer
20*
[308] Andenken mit Liebe pflegen wird, und auf dieſe Art,
ſo lange Jenes Augen ſich dem Lichte öffnen, noch
gleichſam fortzuleben in und mit ihm. Iſt das nun
auch Egoismus?


Da wir einmal vom Sterben reden, muß ich Dir
noch etwas erzählen. Erinnerſt Du Dich, von mei-
nem vorigen Aufenthalte in Brighton her, eines ſchot-
tiſchen Chieftains, eines etwas phantaſtiſchen, aber
kräftigen und originellen Schotten? Er hat eben in
der Blüthe dieſer männlichen Kraft zu leben aufge-
hört. Mit ſeinen beiden Töchtern auf einem Dampf-
boot eingeſchifft, erhielt er kurz vor dem Debarkiren
von einer Segelſtange einen ſo heftigen Schlag an
den Kopf, daß er davon auf der Stelle in einen An-
fall von Raſerei verſetzt wurde, in Folge deſſen ins
Meer ſprang und ans Land ſchwamm, wo er nach
wenigen Stunden verſchied. Dies Ende hat einige
tragiſche Verwandtſchaft mit der Geſchichte ſeines
Vorfahren, die er mir mit ſo viel Stolz mittheilte,
deſſen nämlich, welcher, ſeine Hand abhauend, ſie
aus Ufer warf und ihr nachſchwamm.



Der Doctor findet mich ſehr geduldig — du lieber
Gott, ich habe wohl Geduld gelernt — und um ge-
recht zu ſeyn, Widerwärtigkeit iſt für den Geiſt eine
koſtbare Schule. Widerwärtigkeit entſteht aber im
tiefſten Grunde auch nur aus eignen Fehlern, die
[309] ſich dadurch wieder ſelbſt beſſern, und man kann un-
bedingt annehmen, daß die Menſchen, wenn ſie von
Hauſe aus ſtets vernünftig und gut handelten, kaum
ein Leid mehr kennen würden. Aber die Freuden
müßten auch ſo ſubtil werden, daß man auf alles
Irdiſche nur wenig Werth mehr ſetzen könnte. Keine
Dinés mehr, bei denen man ſo gerne eine Indigeſtion
riskirt. Kein Ruhm mehr, dem man mit ſo viel be-
friedigter Eitelkeit nachjagt, kein ſüßes und verbot-
nes Liebeswagen, kein Glanz, der es andern zuvor-
thut! — es wäre am Ende, Gott verzeih mir die
Sünde, doch nur ein wahres Philiſterleben, ein
Stillſtand, wenn gleich in ſcheinbarer Vollkommen-
heit. Wahres Leben aber iſt Bewegung und Con-
traſt. Es wäre alſo am Ende das größte Ungemach,
wenn wir einmal alle hier ganz vernünftig würden.
Ich glaube indeß, die Gefahr iſt noch nicht ſo nahe.
Du ſiehſt, meine Krankheit hat mich bis jetzt nicht
geändert, ich würde Dir aber dennoch gar nichts da-
von geſchrieben haben, wenn dieſer Brief eher ab-
ginge, als bis ich ganz hergeſtellt bin. So kannſt
Du ihn aber mit völliger Seelenruhe leſen, und über-
zeugt ſeyn, daß ich bis zum letzten Hauch Alles ge-
nießen will, was uns der freundliche Gott beſcheert
hat, Heller oder Goldſtücke, Kartenhäuſer oder Pal-
läſte, Seifenblaſen oder Rang und Würden, wie es
die Zeiten und Umſtände mit ſich bringen, und zu-
letzt auch noch den Tod, und was dann Neues darauf
hier oder dort folgen wird. Schön ſind die ernſten
Tugenden aber dazwiſchen als Würze! So z. B. ge-
[310] nieße ich ſchon wahrhaft meine jetzige Mäßigkeit, ich
fühle mich dabei ganz ätheriſch leicht, über das Ani-
maliſche erhabner als gewöhnlich. — Von andern
Verirrungen iſt gar nicht mehr die Rede, und dies
Alles giebt mir wirklich einen Vorgeſchmack der ein-
ſtigen reineren Freuden — des Alters. Denn für
gewiſſe Dinge — geſtehen wir es nur frank und frei,
— hat der böſe Franzoſe wenigſtens halb recht, wel-
cher ſagt: que c’est le vice qui nous quitte, et bien
rarement nous, qui quittons le vice.
Selbſt die
ehrlichſten der Schwärmer fanden die ſicherſte Tu-
gend nur im Meſſer, wie der große Origines.



Nie habe ich einen Doctor gehabt, der es ſo gut
mit dem — Apotheker meint. Jeden Tag zwei Me-
dicinen; ich ernähre mich mit nichts anderm, da ich
aber leider ernſtlich krank bin, nehme ich gelaſſen was
verlangt wird. Eine Krankenwärterin, wie Du es
biſt, vermiſſe ich aber ſehr, und meine dürre und
trockne Wirthin, welche ſich doch öſters ſehr gutwil-
lig dazu anbietet, wäre ein ſchlechter Erſatz. Indeſ-
ſen leſe ich viel, und bin ganz heiter. Wollte ich
mich melancholiſchen Selbſtquälereien überlaſſen, ſo
könnte ich mich, auſſer den poſitiven Urſachen dazu,
noch negativ darüber ärgern, daß jetzt, wo ich zu
Haus bleiben muß, fortwährend das ſchönſte Wetter
[311] iſt. Da ich aber die Weiſer meiner Geiſtesuhr auf
eine ganz andere Direktion geſtellt habe, ſo bin ich
im Gegentheil ſehr dankbar, die freundliche Sonne
täglich zu ſehen, und daß ſie, ohngeachtet ihrer Größe
und Herrlichkeit, nicht verſchmäht, meine Stube von
Morgens an emſig zu wärmen, den Tag über freund-
liche Lichtſtrahlen hineinzuſenden, die alles wie mit
Gold überziehen, und Abends ſogar ſich die Mühe
nicht verdrießen läßt, mir armen Kranken, der wohl
eingehüllt an ſeinem großen Fenſter ſitzt, am Mee-
resſaum ſeltſame Wolkenbilder vorzumalen, die ſie
bald mit tiefem Blau, gelbem Feuer oder Purpur
färbt, und endlich, Abſchied nehmend, ſich jeden
Abend in ſolcher Herrlichkeit zeigt, daß die Erinne-
rung noch lange nachher den düſtern Schatten der
ſinkenden Nacht ihren trüben und unheimlichen Ein-
druck benimmt, den ſie ſonſt wohl der Seele des Ein-
ſamen und des Leidenden zu bereiten pflegen. Und
ſo hat denn Alles zwei Seiten. Der Thörichte kann
über Alles in Verzweiflung gerathen, der Weiſe aus
Allem Befriedigung und Genuß ziehen. —



Ein Brief von Dir erregt mir immer große Freude,
wie Du weißt, aber wie viel mehr noch in meiner
jetzigen Lage. Beurtheile daher, mit welchem Jubel
der heutige empfangen wurde. . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


[312]

F. hat ſehr Unrecht, das auszuſchlagen, was ihm
geboten wird. Es wäre Wahnſinn, als Schiffbrüchi-
ger im Meere ſchwimmend, und ſchon bedeutend er-
ſchöpft, ein Fiſcherboot zu verſchmähen, das ſich zur
Rettung darböte, um auf einen Dreidecker zu war-
ten. Möglich allerdings, daß ein ſolcher bereits hin-
ter dem Felſen nahet, und in dem Augenblick, wo
das Boot den Hülfloſen für eine geringere Beſtim-
mung entführt hat, mit vollen Segeln ankömmt —
aber allwiſſend ſind wir nicht, wir müſſen die Chan-
cen, welche die Verbindung der Begebenheiten uns
darbietet, nach der Probabilität, nicht nach der Mög-
lichkeit behandeln.


Meine Geſchenke haben Dir alſo gefallen? Nun
ſo ſegne ſie Gott! die kleinen Freuden ſind ſo gut
als die großen, und man ſollte die Kunſt ordentlich
ſtudieren, ſich dergleichen noch weit öfter zu machen.
Es giebt viel ſehr wohlfeile Materialien dazu. Kein
Aberglaube muß ſich aber darein miſchen, wie Du
bei der überſandten Scheere äuſſerſt. Gute Julie,
die Scheere ſoll noch erfunden werden, die unſre
Freundſchaft entzweiſchneiden kann, das könnte nur
eine Krebsſcheere ſeyn, die rückwärts agirend die
Vergangenheit wegſchnitte. Aber über etwas anderes
muß ich ſchmälen. Wofür habe ich Dir ſo viel ſchön-
farbiges blotting paper geſchickt, wenn Du wieder in
die abſcheuliche Mode des Sandſtreuens verfällſt,
welche die Engländer ſchon längſt nicht mehr kennen,
eben ſo wenig wie mit Sand beſtreute Fußböden.
Mehrere Loth dieſes Ingredienz flogen mir ins Ge-
[313] ſicht, als ich Deinen Brief öffnete. Willſt Du mir
denn auch Sand in die Augen ſtreuen, liebe Julie,
und hat Dir Jeremias vielleicht eine neufromme Streu-
büchſe aus B … dazu mitgebracht?


Ich bin ſehr fleißig, und benutze meine Muße,
mehrere Bände meines Lebensatlaſſes in Ordnung
zu bringen. Den ganzen Tag über hefte ich ein,
beſchneide, ſchreibe (denn Du weißt, unter jedes Bild
kömmt ein Commentar) was nur ein armer Kranker
thun kann, um ſich die Zeit zu vertreiben, und ſehe
jetzt ſchon im Geiſte 20 Folio-Bände des claſſiſchen
Werks in unſerer Bibliothek ſtehen, und uns ſelbſt,
alt und gebückt geworden, davor ſitzen, ein wenig
radottiren, aber doch triumphirend uns der alten
Zeiten freuen. Junges, neuaufgeſchoſſenes Volk lacht
uns hinter unſerm Rücken verſtohlen aus, fliegt aus
und ein, und wenn einer draußen fragt: „Was ma-
chen denn die Alten?“ ſo lautet die Antwort: „Ach,
die ſitzen und ſtudieren über ihrer Bilderbibel, und
hören und ſehen nicht mehr.“ Das möchte ich nun
gar zu gern erleben, und es iſt mir immer, als wenn
es auch ſo noch kommen müßte! — Was aber Alles
noch dazwiſchen liegen wird — das freilich weiß Gott
allein!


In den Zeitungen ſpielen jetzt die Blaſebälge eine
große Rolle. Einen mit Upasgift als Experiment ge-
tödteten Eſel hat man nach einer Stunde ſeines To-
des durch fortwährendes Einblaſen in die Lunge wie-
der neues Leben gegeben, das Parlament ſoll eben-
[314] falls durch einen großen Blaſebalg künftig fortwäh-
rend mit reiner Luft während der Sitzungen verſe-
hen werden, und als probates Mittel wider den
plötzlichen Stickfluß wird angegeben, daß man nichts
zu thun habe, als dem Patienten die Naſe zuzuhal-
ten und mit dem am Kamine hängenden Blaſebalge at-
moſphäriſche Luft in den Mund zu blaſen. Es wird
alſo jetzt bald eine noch größere Menge aufgeblaſener
Leute in England geben als bisher *).



Meine Krankheit hat mich gehindert, nach Schott-
land zu gehen, wozu ich Alles bereitet, und viele
Einladungen erhalten hatte; jetzt wird mich die er-
wartete Ankunft W .... s und der Beginn der
Seaſon wohl in London zurückhalten. Zum erſten-
[315] mal ließ mich endlich der Doctor heute wieder aus-
fahren, und ich richtete meinen Weg nach dem nicht
ſehr entfernten Park von Stranmore, um die friſche
Luft und das Vergnügen eines romantiſchen Spa-
ziergangs recht mit vollen Zügen zu genießen. In
die Gärten wurde mir jedoch der Eintritt nicht ver-
ſtattet, obgleich ich meine Karte der Gebieterin zu-
ſchickte. Wir ſind freilich liberaler, aber dieſes vor-
nehme Rarmachen hat auch ſein Gutes. Es giebt
den Dingen ſelbſt, und der Vergünſtigung ebenfalls,
wenn ſie eintritt, mehr Werth.


Apropos, dabei fällt mir Dein neuer Direktor ein.
Es iſt ein Gewinn für uns, ihn zu erhalten, dem-
ohngeachtet bitte ich Dich, es ein wenig mit ihm,
wie die Beſitzerin von Stranmore zu machen. Sey
nicht von Anfang an zu ſehr zuvorkommend, damit
Dir, wenn ſie verdient wird, Steigerung übrig bleibt.
Sey freundlich, aber mit Würde, immer die obere
Stellung nüancirend, die Du gegen ihn nothwendig
zu behaupten haſt. Suche ihn nicht durch Schmeiche-
leyen und überartiges Behandeln zu gewinnen, ſon-
dern lieber durch ehrendes Vertrauen, und auch durch
ſolide Vortheile, die am Ende auf alle Leute, ſie
mögen reden und ſelbſt denken wie ſie wollen, ihren
Eindruck doch nicht verfehlen können. Dennoch mußt
Du deßhalb ſeine Ambition nicht geringer in Anſchlag
bringen, ſie im Gegentheil ſtets wach erhalten, durch
vorſichtiges Hingeben und Dankbarkeit für gezeigten
Eifer, aber auch durch ſanften Verweis, wo Du ihn
für nöthig hältſt, damit er ſieht, Du habeſt ein Ur-
[316] theil. Als ein ehrenwerther Mann wird er dann ge-
wiß bald unſre Sachen mit demſelben Intereſſe wie
die ſeinigen führen. Zuletzt endlich ermüde ihn bei
ſeiner obern Direktion nicht zu ſehr mit Details,
wolle nicht zu viel Controlle in jeder Kleinigkeit über
ihn ausüben, und wache ſtreng darauf, ſeine Auto-
rität auf die ihm Untergebenen zu unterſtützen, ſo
wie die Deinige gegen ihn zu behaupten. Nur da,
wo Du befürchten könnteſt, daß etwas Wichtiges
verfehlt werde, ſtehe keinen Augenblick an, die ge-
naueſte Auseinanderſetzung zu verlangen. In ſehr
wichtigen Fällen, die Aufſchub vertragen, wirſt Du
natürlich mich immer befragen. — Hiermit ſchließt
Polonius ſeine Ermahnungen.



Die kurze Ausflucht war wohl noch zu früh, denn
ſie iſt mir nicht gut bekommen. Dabei iſt das liebe
Wetter furchtbar geworden. Ein Schneeſturm peitſcht
das Meer unter meinen Fenſtern, daß es vor Wuth
ſchäumt und brüllt, und ſeine Wellen über den ho-
hen Damm der Straße bis an die Häuſer anbäumen.


Unter dieſem Gedonner habe ich geſtern meine Me-
moiren zu ſchreiben angefangen, und ſchon 8 Bogen
vollendet, die ich dieſem Brief beilegen werde.


Auſſerdem benutzte ich die Zeit, um Leſage hiſtori-
ſchen Atlas von neuem durchzuleſen, und kann über-
[317] haupt nicht ſagen, daß ich während meiner ganzen
Krankheit einen Augenblick Langeweile gefühlt hätte.
Ja die große Ruhe und Leidenſchaftloſigkeit einer ſol-
chen Zeit thut ſogar meiner Seele wohl. — Uebri-
gens wird der Körper nun auch bald gänzlich wieder
hergeſtellt ſeyn, und ſobald der Himmel ſich etwas
aufklärt, denke ich mich von neuem unter die Men-
ſchen zu begeben.


A., der ich Deinen Brief zugeſchickt, läßt Dich
vielmals grüßen. Wenn der König ſtirbt, wird ſie
als intime Freundin der neuen Monarchin vielleicht
eine bedeutende Rolle hier ſpielen. Man behandelt
ſie im Publikum ohnedem ſchon ganz als eine Prin-
cesse du sang.
Sie fängt auch an ihre Wichtigkeit
ſelbſt zu fühlen, hat ſich in ihrer frühern ſchüchter-
nen Tournure ſehr zu ihrem Vortheil verändert, und
weiß recht gut, ſich mit Affabilität ein Air zu geben.
Die Sonne des Glücks und der Gunſt verändert ei-
nen Menſchen, wie die Himmelsſonne eine Pflanze,
die im Dunkeln kümmerte, und nun im lichten Strahle
bald ihr geſenktes Haupt emporhebt, und von der
wohlthuenden Wärme durchſtrömt, duftende Blüthen
dem Lichte öffnet. Wir, gute Julie, liegen vor der
Hand noch im Keller, wie Hyacinthenzwiebeln, aber
der Gärtner kann uns zum Frühjahr auch noch in
beſſern Boden und an die Sonne bringen, wenn
er will
. —


[318]

Ich bin auferſtanden — und ſiehe da, Alles war
fremd geworden, wo ich hinkam. Die Bekannten wa-
ren faſt. Alle fort, und auf den Promenaden wie in
den Häuſern ſchauten mir überall neue Geſichter ent-
gegen. Nur die kahle Gegend fand ich, als ich aus-
ritt, noch die alte geblieben, blos mit dem Unter-
ſchiede, daß die grünen Wieſen ſämmtlich gedüngt wa-
ren mit — Auſterſchaalen.


Eine Miß G ...., ein nicht mehr ganz junges,
aber artiges und reiches Mädchen, die ſchon längſt
Frau wäre, wenn der Freier nicht mit ihr auch ein
paar ungenießbare Eltern mit übernehmen müßte,
erzählte mir, daß man mich in der hieſigen Zeitung
als auf dem Tode liegend annoncirt hatte, während
die Londner morning post mich auf jedem Almacks-
ball als tanzend aufgeführt habe, was in der That
etwas geſpenſtig erſcheint. Dieſe gute Miß G ....
iſt noch immer höchſt erkenntlich für ein ihr einſt ver-
ſchafftes Billet zu beſagten Almacks, und ſpielte und
ſang mir zum Danke dafür auch heute mehr vor,
als ich bei meinen noch ſchwachen Nerven vertragen
kann. Sobald die dicke Mutter hereintrat, empfahl
ich mich, fiel aber bald darauf von neuem zwei an-
dern Philomelen in die Hände, die ſich ebenfalls
noch hier verſpätet haben.


Unter ſolchen Umſtänden werde ich, ſobald meine
Kräfte ganz zurückgekehrt ſind, mich nach London
[319] wenden, und kann nun wohl mit gutem Gewiſſen
und ohne Furcht, Dir Beſorgniß zurückzulaſſen, dieſe
lange Epiſtel abſenden.


Der vielen Worte kurzer Sinn iſt immer der näm-
liche: herzliche Liebe Deines


L.


[[320]]

Zwei und zwanzigſter Brief.



Ich muß nachträglich noch einer in gewiſſer Hin-
ſicht intereſſanten Bekanntſchaft erwähnen, die ich
in Brighton machte. Du haſt gewiß einmal gehört,
daß in der Familie Telluſon einer ihrer Vorfahren
ein Teſtament gemacht hat, nach welchem ſein Ver-
mögen 150 Jahre ruhen, Zinſen zu Zinſen geſchla-
gen, und dann erſt der in dem Augenblick des Er-
löſchens jener Zeit exiſtirende jüngſte Telluſon es er-
halten ſolle. In 20 Jahren läuft nun dieſer Termin
ab, und ich ſah den 40jährigen Vater Telluſon hier,
der ſehr wenig beſitzt, und ſeinen Sohn, einen hüb-
ſchen Knaben von 8 Jahren, der angeblich beſtimmt
iſt, in ſeinem 28ſten Jahr 12 Millionen L. St. zu
erhalten, 94 Millionen Thaler unſeres Geldes. Eine
Parlaments-Akte hat für die Zukunft dergleichen Te-
ſtamente verboten, aber dies hat man nicht angrei-
fen können, obgleich man es wünſchte, da allerdings
[321] durch ein ſo ungeheures Vermögen ein Privatmann
eine unnatürliche Macht erhält. Dem Knaben iſt in-
deß zu ſeinen ſchönen Hoffnungen doch herzlich Glück
zu wünſchen. So viel Geld zu haben, iſt etwas
Großes, da man doch einmal nicht läugnen kann,
daß Geld der Repräſentant der meiſten Dinge auf
der Welt iſt. Welche wunderbare, die ganze Menſch-
heit fördernde Dinge ließen ſich mit einem ſolchen
Privatvermögen, wohlangewandt, ausrichten!


Neben dieſem jungen Cröſus in spe intereſſirte mich
ein berühmter Sonderling, Obriſt C., der hier einige
Tage verweilte. Lady M. machte mich auf ihn auf-
merkſam, indem ſie mir folgendes erzählte: „Der ele-
gante, ältliche Mann, den Sie dort ſehen,“ ſagte
ſie, „war ſchon in meiner Jugend einer der erfolg-
reichſten Stutzer der Hauptſtadt. Nachdem er aber
ſein Vermögen dabei bis auf einige tauſend L. St.
verthan hatte, führte ihn eines Tages ſein Geſchick
vor eine Karte von Amerika, und plötzlich ſtieg der
Gedanke in ihm auf, dort ein Anſiedler zu werden.
Er ſucht ſich ſogleich auf der Karte einen Fleck am
See Erie aus, verkauft noch in der nämlichen Woche
ſeine ganze Habe, läßt ſeinen Bedienten ein hübſches
junges Mädchen heirathen, ſchifft ſich mit beiden ein,
kömmt glücklich an dem ausgeſuchten Fleck mitten im
Urwalde an, lebt einige Tage von der Jagd, ſchläft
unter dem Laubdach, baut dann mit Hülfe einiger
andern Anſiedler ein Blockhaus in Zeit von wenigen
Tagen, das er noch jetzt bewohnt, erlangt bald einen
bedeutenden Einfluß auf die umher zerſtreuten Avan-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 21
[322] türiers, den er dazu benutzt, ſie zu gemeinſchaftlichen
Arbeiten aufzumuntern, und denen er ſich beſonders
dadurch empfiehlt, daß er für ſie kocht und bratet,
ſtatt der halb rohen Speiſen, die ſie ſonſt genießen
mußten, liebet und mehrt ſich, ſieht endlich eine neue
Generation dort entſtehen, die ganz von ihm abhängt,
beſitzt jetzt an Landausdehnung ein kleines Fürſten-
thum, berechnet ſeine Revenüen auf 10,000 L. St.
jährlich, und kömmt alle 10 Jahr regelmäßig zu ei-
ner
Seaſon nach England, wo er, wie vorher, mit
der Aiſance eines Weltmanns als Faſhionable lebt,
und dann wieder auf 10 Jahre in die Wälder zu-
rückkehrt, und den modernen Frack von neuem mit
dem Schafpelz vertauſcht.“


Mein erſter Beſuch in der Hauptſtadt war bei
Gräfin M …, die, ohngeachtet ihrer 40 Jahre,
während meiner Abweſenheit wieder ein neues Kind
zu dem Dutzend ihrer andern hinzubekommen hat.
Ich aß dort und bewunderte ein ſchönes Geſchenk
des Königs in Silber, welches man hier kunſtvoller
als irgendwo zu arbeiten verſteht, ſo daß der Preis
der Façon oft zehnfach den Werth der Maſſe über-
ſteigt. Ueber Tiſch gab der Graf einen auffallenden
Beitrag zur Charakteriſtik der hieſigen Gerechtig-
keitspflege.


„Einem Manne, den ich kenne,“ ſagte er, „ward
auf der Straße ſein Schnupftuch geſtohlen. Er er-
greift den Thäter, hält ihn, als der Stärkere, ge-
waltſam feſt, nicht ohne einige derbe Behandlung
[323] die er ihm anthut, und übergiebt ihn dann den her-
zugekommenen Polizey-Beamten. Die Sache war
klar vor vielen Zeugen, und der Delinquent würde,
wenn bei den Aſſiſen die Klage angebracht worden
wäre, ohne Rettung entweder gehangen, oder auf
lange Jahre nach Botanybay transportirt worden ſeyn.
Seine Frau ſuchte indeß den Gentleman auf, und
flehte auf ihren Knieen um Gnade, der Dieb ſelbſt,
ein nicht ungebildeter Menſch, ſchrieb die beweglich-
ſten Briefe, und — wer wird ſich darüber wundern,
daß er endlich Mitleid und Erhörung fand, an dem
beſtimmten Tag der Kläger ausblieb, und folglich der
Schuldige nach engliſchen Geſetzen frei geſprochen
wurde.


Dem Gentleman bekam jedoch dies unzeitige Mit-
leid übel genug. Vierzehn Tage nach dem Vorgefal-
lenen ward er von demſelben Manne, der ſein Schnupf-
tuch geſtohlen, für Aſſault und gewaltſamen Angriff
auf offener Straße verklagt, und dieſer durch Zeugen
bewieſen. Allerdings erwiederte Beklagter, daß dies
nur ſtatt gefunden, weil ihm der Kläger ſein Schnupf-
tuch geſtohlen habe. Da Delinquent aber hierüber
bereits freigeſprochen war, und Niemand derſelben
Sache wegen zweimal vor Gericht gezogen werden
kann, ſo ward auf ſeinen Einwand gar keine Rück-
ſicht genommen. Kurz, mit Schmerzensgeld und
Koſten mußte der zu großmüthige Beſtohlne dem
Diebe und den Gerichten dafür noch gegen 100 L. St.
bezahlen.


Die ganze Geſellſchaft fand dieſe Gerichtspflege ab-
21*
[324] ſcheulich, ein alter Engländer aber vertheidigte ſie
beharrlich. „Ich glaube,“ fiel er eifrig ein, „daß die
eben erzählte Anekdote gerade dazu dient, die Weis-
heit unſerer Geſetze recht auffallend zu illuſtriren.
Die Geſetze überhaupt, wie die richterlichen Behör-
den ſind doch in ihrem erſten Grunde nur dazu da,
Verbrechen zu verhindern. Nur deßwegen auch be-
ſtraft man ſie. Der Verhehler iſt daher in den Au-
gen des Geſetzgebers faſt eben ſo ſtrafbar als der
Stehler, und derjenige, welcher einen Verbrecher, der
bereits dem Geſetz verfallen, wiſſentlich von ſeiner
Strafe zu befreien ſucht, wirkt für die Kommunität
nicht weniger nachtheilig als der Verbrecher ſelbſt.
Jener Mann, welcher mit dem Schnupftuchſtehlen
vielleicht ſeine Laufbahn nur erſt anfing, und hier-
nach der Geſellſchaft zu Buße und Beſſerung entzo-
gen werden ſollte, begeht jetzt, immer kühner ge-
macht, wahrſcheinlich bald darauf einen weit größe-
ren Diebſtahl, vielleicht einen Mord. Wer hat
ſich dann die Schuld davon beizumeſſen? Es iſt da-
her der von Ihnen angeführte Gentleman mit Recht
für ſein geſetzwidriges Mitleid beſtraft worden.
Wer in die Räder einer wohlthätigen Maſchine unbe-
ſonnen und unberufen eingreift, darf ſich nicht wun-
dern, wenn ſie ihm die Finger zerbricht.“ —


Die Engländer ſind, man muß es geſtehen, ſehr
gewandte Sophiſten, wenn es darauf ankömmt, ihre
Gebräuche herauszuſtreichen. Der größte von ihnen,
Brougham hielt demohngeachtet neulich eine Rede von
6 Stunden, die blos von den Mißbräuchen der
[325] engliſchen Juſtiz handelte. Am coloſſalſten erſchien
darin der Umſtand, daß in dem court of Chancery
jetzt die ungeheure Summe von 50 Millionen L. St.
liegt, die noch keinen Herrn hat. Ein Prozeß in
dieſem Gerichtshof iſt ſprüchwörtlich geworden, um
etwas Unendliches zu bezeichnen, und es exiſtirt eine
Carrikatur darüber mit der Unterſchrift: a Chancery
suit
, die ſehr ergötzlich iſt. Ein von Geſundheit
ſtrotzender reich gekleideter Jüngling füllt am Anfang
des Bildes den hingehaltenen Hut eines zum Ske-
lett verhungerten Advokaten mit Goldſtücken, um für
ihn einen Prozeß zu führen. Eine lange, lange Pro-
ceſſion verſchiedener Dinge und Menſchen folgt, und
am Ende ſehen wir den jungen Mann als zerlump-
ten hinfälligen Bettler wieder, wie er demüthig den,
nun wie eine Tonne dick gewordenen Advokaten,
um ein kleines Allmoſen anfleht, welches dieſer je-
doch, ſich ſtolz abwendend, verweigert. Helas, c’est
encore tout comme chez nous!
nur hier allerdings
in corpulenteren Verhältniſſen.


In manchen Dingen, die dem Fremden empörend
ſcheinen, muß man ſich indeß vor einem vorſchnellen
Urtheile hüten, da oft Mißbräuche, oder ſelbſt offen-
bare Mängel an ſich, doch nur der nothwendige
Schatten eines weit größeren Lichtes ſind. Z. B. die
Beſtechungen bei den Parlamentswahlen, ſelbſt viel-
leicht die rotten boroughs und die anerkannte Ab-
hängigkeit eines Theils des Parlaments vom Gou-
vernement durch Patronage u. ſ. w. Es iſt ſehr die
Frage, ob ohne dieſe ſcheinbar ſo verwerflichen Hülfs-
[326] mittel ein Miniſterium in allen Fällen wird beſtehen
können. Es iſt ſchon ein Vortheil, daß dem letztern
nicht in der Theorie das wirklich eingeräumt iſt (wie
in despotiſch regierten Staaten) was es indirekt in
der Praxis allerdings nicht ganz entbehren kann, ohn-
gefähr ſo wie eines Predigers Leben auch nimmer
ſeinen Lehren gleich kömmt. Man muß nicht ver-
geſſen, daß menſchliche Dinge ſich höchſtens nur dem
Vollkommnen nähern, es aber nie erreichen können,
daher man ſich bei Reformen ſehr in acht zu nehmen
hat und nie ganz vergeſſen darf, que le mieux est
l’ ennemi du bien.
Demohngeachtet ſcheint nach vie-
len Anzeichen England einer Reform entgegen zu
gehen, weil es ſie aus andern Gründen faſt nicht
mehr vermeiden kann, ob aber zu ſeinem Vortheil, iſt
noch ſehr die Frage. Vielleicht iſt die Nothwendig-
keit derſelben eben nur der Beweis, daß ſeine Größe
ſich überlebt hat und zu ſinken anfängt.


Den Abend beſuchte ich das Adelphi-Theater, wo
ein Taſchenſpieler auf eine ganz neue Art ſeine Künſte
unter dem Titel Converſazione exhibirte. Er ſtand näm-
lich unter vielen Tiſchen und Maſchinen auf dem Thea-
ter, erzählte zuerſt ſeine Reiſe mit der Diligence, wo
er verſchiedene Charaktere und Anekdoten vorführte,
einige Chanſons ſang, und dazwiſchen ſeine Kunſt-
ſtücke, oder Geiſtererſcheinungen und optiſche Dar-
ſtellungen, in die Erzählung als Begebenheit ein-
paſſend, anbrachte — gewiß eine gute Idee, die dem
gewöhnlichen Kunſtſtückenmachen ein größeres In-
[327] tereſſe verleiht. Seine Sicherheit und Gewandtheit
als Taſchenſpieler war überdieß eben ſo merkwürdig,
wie ſein gutes theatraliſches Spiel und Gedächtniß.
Zuletzt führte er auf Gläſern, die er vorher naß
machte, mehrere Muſikſtücke mit großer Fertigkeit
aus, nicht nur im Harmonika-Styl, ſondern auch
Walzer und dergleichen, und ſelbſt lange Triller, die
vortrefflich gelangen.



Die Seaſon übt ſchon ihr Recht. Die Straßen
wimmeln von eleganten Equipagen, die Buden eta-
liren neue Schätze, alle Häuſer ſind gefüllt, und alle
Preiſe zum Doppelten und Dreifachen geſtiegen. Der
Miniſter Peel gab heute der Herzogin von Cla-
rence eine ſehr glänzende Soiré. Sein Haus iſt
mit vielen ſchönen Gemälden geſchmückt, unter
denen ſich auch der berühmte chapeau de paille von
Rubens befindet. Herr Peel hat dies kleine Bruſt-
bild nur mit 15,000 Rthlr. unſres Geldes bezahlt. Es iſt
unglaublich, welche Schätze in dieſer Hinſicht England
enthält. So ſah ich geſtern in Geſellſchaft der Für-
ſtin E. die kleine Privatſammlung eines Geiſtlichen
(Herr Carr) welche kaum 30 Gemälde enthält, und
die ihm dennoch nicht nur 20,000 L. St. gekoſtet hat,
ſondern ſie auch vollkommen werth iſt. Es ſind ſo
viel Meiſterſtücke als Bilder, die einzig richtige Art
für einen Privatmann zu ſammeln, der keine Ga-
[328] lerie zum Unterricht, ſondern nur zum Genuß be-
zweckt.


Man findet hier einen Garoffolo von ſo überirdi-
ſcher Verklärung, von ſo heilig tiefer Poeſie, daß
man ein Bild aus Eden, nicht von dieſer Welt zu
erblicken glaubt, daneben einen großen, faſt die halbe
Wand einnehmenden Claude, ebenfalls von der höch-
ſten Schönheit, bei dem die geringen Mittel, die der
Maler verwandte, eben ſo bewunderungswürdig
ſind, als der außerordentliche Effekt, den er damit zu
erreichen wußte. Im Nebenzimmer befanden ſich noch
einige andere ausgezeichnete Landſchaften von Dome-
niquino und Annibal Carrache. Der Reichthum der
Compoſition, die Innigkeit und Naivität der Empfin-
dung waren hier mit einem ſo phantaſtiſchen Reiz
und ſo viel Mannigfaltigkeit der Details geſchmückt,
daß ich Tage lang mich hätte in dieſen ſeltſamen
Gegenden ihren weiten Waſſerſpiegeln, ihren Inſeln,
Hainen und wohnlichen Hütten, ihren tief blauen
Gebirgen und geſpenſtiſchem Waldesdunkel verlieren
mögen. Im dritten Zimmer jedoch gelangt man erſt
zu der Krone der ganzen Sammlung, einem Bilde
Leonardo da Vinci’s, auf welchem der Maler in den
drei Perſonen: des Erlöſers, Petrus und Johannes,
die Ideale des Jünglings, Mannes und Greiſes
dargeſtellt hat, alle von einer Anmuth, Wahrheit
und Vollendung, die nichts zu wünſchen übrig läßt.
Es iſt der einzige Chriſtuskopf von allen, die ich ge-
ſehen, der mir völlig genügt, und eben ſo überzeu-
gend Größe und Kraft, als Heiligkeit und Milde
[329] ausſpricht, zugleich aber dieſen ſprechenden Ausdruck mit
der idealſten Schönheit vereinigt. Dabei iſt die Gruppi-
rung des Ganzen dem Auge ſo wohlthuend, das Co-
lorit ſo glanzvoll, jede Farbe ſo friſch erhalten, die
Ausführung, auch des kleinſten ſo meiſterhaft, daß
man eine Befriedigung fühlt, wie ſelten ein Kunſt-
werk gewährt. *)


Doch nichts bleibt hinter dem Anſchauen eines ſol-
chen Meiſterwerks ſo weit zurück, als eine kalte Zer-
gliederung mit Worten; ich will daher auch weder
von dieſen noch den übrigen etwas weiter ſagen, doch
wünſchte ich, daß Kunſtkenner auf dieſe vortreffliche
Sammlung aufmerkſamer gemacht würden.


Genre-Gemälde laſſen ſich weit eher beſchreiben.
Dahin gehört die Ausſtellung mehrerer Schlachten
und Gefechte vom General Lejeune, die er erſt mitge-
fochten, dann gemalt hat. Sie ſind mit viel Talent
und Geſchmack aufgefaßt. In der Schlacht von der
Mosqua bildet der theatraliſche Murat mit ſeiner Suite
die Hauptgruppe, wie er mit Federn, Locken und
Stickereien behangen ſelbſtzufrieden im Kartätſchen-
Feuer haltend, eben den franzöſiſchen und ſächſiſchen
[330] Cüraſſieren die Ordre zu jenem mörderiſchen Angriffe
und der Wegnahme einer Batterie von 40 Kanonen
giebt, die ſo Vielen, und auch meinem Buſenfreunde
H.., das Leben koſtete; der König iſt eben im Be-
griff, ſich ſelbſt an ihre Spitze zu ſtellen. Wer hätte
ihm damals prophezeit, daß er bald darauf vom Pö-
bel unwürdig zerſchlagen, und als Miſſethäter er-
ſchoſſen werden würde!


Tief erſchütternd, obgleich vielleicht ein zu greller
Gegenſtand für die Kunſt, iſt auf dem Bilde der
Schlacht von Marengo ein öſterreichiſcher Staabs-
offizier, dem eine Kugel den Unterleib aufgeriſſen,
ſo daß die Gedärme an der Erde liegen. Der Un-
glückliche, dem hölliſchen Schmerze zu entgehen, hat
von einem franzöſiſchen Gensd’arme eine Piſtole er-
fleht, die er ſich mit verzweifelnder Geberde an den
Mund ſetzt, während der Geber ſich ſchaudernd ab-
wendet.


Auf einem andern Gemälde iſt der Ueberfall ei-
nes franzöſiſchen Detachements durch ſpaniſche Gueril-
las abgebildet. Man ſieht einen höchſt romantiſchen
Bergpaß in Catalonien, merkwürdig durch die coloſ-
ſalen Steinbilder von 6 Stieren, deren Errichtung
man Hannibal zuſchreibt. Zu ihren Füßen liegen
zwei oder drei noch geharniſchte Gerippe franzöſiſcher
Cüraſſiere, die einen Monat früher hier ebenfalls
ihren Tod fanden. Niemand von dem ganzen De-
tachement entging diesmal der Ermordung, außer
der General Lejeune ſelbſt, und dies auch nur durch
[331] ein halbes Wunder, indem dreimal die auf ihn an-
gelegten Gewehre verſagten, ſo daß Empecinado
abergläubiſch eine Beſtimmung darin zu ſehen glaubte,
und von ihm abzulaſſen befahl. Man ſieht auf dem
Gemälde den General Lejeune, völlig nackt ausgezo-
gen, von einem der Mörder bei den Haaren gefaßt,
von einem andern auf den Leib getreten, und die
Gewehre der andern auf ihn gerichtet, während un-
ter Leichen und Trümmern neben ihm ſeine Diener
und ein Soldat, ſchon von Piken und Schwerdtern
vielfach durchbohrt, ihren Geiſt aushauchen.


Die Schlacht am Nil, wo die Mamelucken in
halbwahnſinniger Flucht, ihre herrlichen arabiſchen
Roſſe von dem hohen Abhang herab in den Fluß
ſpornen, und wenige nur das jenſeitige Ufer errei-
chen, macht gleichfalls einen ſehr romantiſchen Effekt.



Ich habe vergeſſen Dir zu ſchreiben, daß vor ohn-
gefähr 14 Tagen das kaum fertig gewordne elegante
Braunſchweiger Theater, während der Probe eines
neuen Stücks eingefallen iſt, und einer großen Menge
Menſchen das Leben gekoſtet hat. Ich beſah geſtern
die Trümmer, wo noch die Leichen zweier Karren-
Pferde, die in der Straße daneben erſchlagen wur-
den, unter dem Schutte liegen. Es iſt ein fürchter-
[332] licher Anblick. Nur eine einzige Loge blieb ſtehen,
und in dieſer rettete ſich, durch ſeine Kaltblütigkeit
nicht von der Stelle zu weichen, der Schauſpieler
Farren, der unverſehrt die ganze entſetzliche Cata-
ſtrophe mit anſah, eine nur zu ächte Tragödie, die
ſich keiner erwartet hatte.


Jetzt iſt im Getümmel der Seaſon Alles ſchon wie-
der vergeſſen. Bei allen dem giebt dieſes geräuſch-
volle Leben weit weniger Stoff als man denken ſollte,
und den es gibt, vergißt man im ewigen Trouble.


Ein Familiendiné bei dem großen R., den man mit
dem Sultan verglichen hat, weil dieſer der Herrſcher
aller Gläubigen und jener der Gläubiger aller Herr-
ſcher ſey, kam als Abwechslung dazwiſchen. Dieſer
Mann hat wirklich etwas ganz Originelles. Er war
heute beſonders luſtig, und ließ ſeine neue öſtreichi-
ſche Conſularuniform holen, die ihm, wie er ſagte,
ſein Freund M … ch von Wien geſchickt habe, zeigte
ſie uns, und ließ ſich nachher ſogar bereden, ſie vor
dem Spiegel anzuprobiren und damit einherzuſtol-
ziren, ja wie Virtuoſen, wenn ſie einmal angefan-
gen haben, nicht wieder aufhören können, ſo ließ er
nun auch noch andere prächtige Hofkleider bringen,
und wechſelte mehrmal die Toilette, wie auf dem
Theater, eine Kindlichkeit bei ſolchem Geld-Heros,
die ich faſt mit Heinrich dem IV. vergleichen möchte,
als dieſer beim Eintritt des fremden Geſandten ſei-
nem [Sohne] eben als Reitpferd diente.


Es war übrigens ziemlich komiſch anzuſehen, wie
der ſonſt ſo kaufmänniſch ernſte Mann, ſich mit den
[333] verſchiedenſten Wendungen und Reverenzen das leichte
und grazieuſe Air eines Höflings zu geben verſuchte,
und durch unſer Lachen gar nicht irre gemacht, mit
eben ſo vollkommner Ueberzeugung als Jovialität ver-
ſicherte, daß N. M. R., wenn er wolle, jede Rolle
ſpielen, und mit der Hülfe von 6 — 8 extra Glä-
ſern Wein, bei Hofe eine eben ſo gute Figur ma-
chen könne als irgend einer.


Von einem ganz verſchiedenartigen Intereſſe war
mir eine Bekanntſchaft, die ich am andern Tage
machte, nämlich die des Generals Mina. Du haſt ge-
wiß mehrere Portraits deſſelben geſehen, die ihn alle
mit einem großen Schnurbart und wilden Zügen,
gleich einem furchtbaren Räuberhauptmanne, darſtel-
len. Denke Dir alſo meine Verwunderung, als ich
in dem Helden Spaniens nur einen ſanften, einfachen,
im höchſten Grade beſcheidnen Mann fand, der ſogar
nicht das Geringſte von dem, was man eine mili-
tairiſche Tournure nennt, an ſich hatte, im Gegen-
theil eher einem Landpächter oder Schulmanne glich,
mit einem offnen freundlichen Geſicht, und bei jeder
Lobeserhebung, die man ihm machte, erröthend wie
ein Mädchen; doch fand ich nachher, als er ſich im
Geſpräch animirte, allerdings eine Veränderung der
Züge und ein dunkles Blitzen der Augen, das wohl
verrieth, welches Geiſtes Kind er eigentlich ſey. Er
ſieht im Ganzen noch ſehr gut conſervirt und kaum
wie ein Vierziger aus, obgleich ſein kurzes Haar ganz
weiß iſt, was ihn aber keineswegs alt macht, ſon-
dern nur das Anſehen giebt, als ſey er gepudert.
[334] Nie, äußerte er beiläufig, habe er ſich jener lu-
xurieuſen Haarzierden zu erfreuen gehabt, mit denen
man ihn ſo reichlich auszuſtatten pflege, und daher
oft ſelbſt über die Carrikaturen lachen müſſe, die er
in den Kaufläden von ſich erblickt.


Auſſer ihm waren in der Geſellſchaft noch zwei
andere merkwürdige Spanier gegenwärtig. Arguel-
les, Miniſter unter dem conſtitutionellen Regime
und einer der erſten Volksredner in Spanien, ein
Mann von gewinnendem Aeuſſern und feinen Ma-
nieren, und der General Valdez, Commandant von
Cadix während der letzten Belagerung. Er führte
auf ſeinem Admiralſchiff (denn er war auch Admiral
und zwar der Aelteſte in der Marine) Ferdinand den
Vielgeliebten in das franzöſiſche Lager. Obgleich der
König, wie er erzählte, ihn vorher und während der
Ueberfahrt mit Liebkoſungen überhäuft, vielfach ſei-
nen Dank für die ihm in Cadix wiederfahrne gute
Behandlung ausgedrückt, und viel Verſprechungen
für die Zukunft gemacht, ſo wäre doch für den ar-
men Valdez das ſchlimmſte Loos beſtimmt geweſen.
„So wie der König das Schiff verließ,“ fuhr Valdez
fort, „änderte ſich ſein Betragen plötzlich, und ſich
endlich ſicher wiſſend, warf er zu früh einen durch-
bohrenden Blick des Triumphs und einer lange zu-
rückgehaltenen Wuth auf mich. Ich kannte dieſen
Blick und entſchloß mich ſchnell. Ohne mich länger
zu beſinnen noch zu beurlauben, ſprang ich augen-
blicklich zurück auf das Schiff, befahl es ſchnell um-
zuwenden, und eilte mit vollen Segeln Cadix wieder
[335] zu. So entging ich wahrſcheinlich dem Tode, aber
mein hieſiges Exil in Armuth und Noth, fern von
meinem unglücklichen Vaterlande, iſt für einen ſech-
zigjährigen Mann, der an Größe und Reichthum ge-
wöhnt war, vielleicht noch ſchlimmer!“


Ich führe Dich heute einmal wieder ins Theater
und zwar in Geſellſchaft des berühmten Lord L ......
eines alten Bekannten von mir, der nach ſeiner viel-
fach bewegten Laufbahn ſich jetzt nur noch durch täg-
liches Waſchen mit Eſſig gleich einem Pickle conſer-
virt, während er ſonſt nur Andere, eben ſo ſauer
und beiſſend als weiland der Confiſeur der eleganten
Zeitung ſchriftlich, mündlich, einzumachen pflegte.
Wir ſprachen von vergangenen Zeiten, und als wir
vor Drurylane ankamen, deklamirte er eben einige
wilde, aber ſchöne Verſe von Moore, die er wohl
auf ſeine eigne Vergangenheit beziehen und mit nicht
zu ſtrenger Gewiſſenhaftigkeit commentiren mochte,
obgleich ſie der Dichter der Geliebten eines gefallnen
Engels in den Mund gelegt hat. Sie lauten dem
Sinne nach, in einer meiner gewöhnlichen Knittelvers-
Ueberſetzungen des Augenblicks, ohngefähr ſo:


Was waͤre Liebe! wenn immer nicht gleich

Durch Freude wie Qualen, durch arm wie durch reich,

Durch Ehre wie Scham, durch Alter wie Jugend,

Was frag’ ich, Geliebter, nach Laſter noch Tugend,

Ich weiß nur: ich lieb’ Dich, waͤr ſchwarz auch Dein Herz,

Dein bin ich — und mein Deine Wonne und Schmerz.

Kein übles Motto für Desdemona, die uns erwar-
[336] tete, wenn gleich der Mohr ſolcher alles hingebenden
Liebe ſchrecklich lohnt.


Ehe ich zur Vorſtellung ſelbſt übergehe, laß mich
ein paar allgemeine Bemerkungen vorausſchicken.


Man ſtreitet fortwährend bei uns, ob man
Shakspeare in wörtlicher, oder freier Ueberſetz-
ung, oder gar freier Umarbeitung geben ſolle.
Ich würde mich für das zweite, nämlich die freie
Ueberſetzung, entſcheiden, vorausgeſetzt, daß die Frei-
heit dieſer ſich nur darauf beſchränkte, im Geiſte
deutſcher Sprache mit völliger Ungezwungenheit ſich
zu bewegen, wenn auch dadurch hie und da ein
Wort- oder Witzſpiel auffallen müßte. Am Gange
des Stücks aber bedeutend zu ändern, Scenen ganz
wegzulaſſen, Shakspeare ganz fremde Worte und
Ideen zu leihen, kann ihn nur verſtümmeln, ſelbſt
wenn der größte Dichter es unternähme. Man ſagt,
Shakespeare wäre beſſer zu leſen als zu ſehen, und
könne beſonders in wörtlichen Ueberſetzungen nicht
aufgeführt werden, ohne uns dadurch wieder in die
Kindheit der dramatiſchen Kunſt zu verſetzen, wobei
man zugleich behauptet, daß die theatraliſchen Vor-
ſtellungen zu Shakspeare’s Zeit nur dialogiſirten
Mährchen im Coſtume geglichen hätten. Ich will die
Genauigkeit dieſer Angabe dahin geſtellt ſeyn laſſen,
aber ſo viel weiß ich, daß die Aufführung von Ro-
meo und Julie, Macbeth, Hamlet, Othello, auf dem
heutigen engliſchen Theater, welche Stücke alle doch
nur mit geringen Auslaſſungen gegeben werden, und
[237[337]] bei welchen die meiſten angeblich ſchockirenden Dinge,
und ſelbſt der obligate Königstrompeter, nie fehlen,
dennoch einen ſo vollſtändig befriedigenden, durch
nichts geſtörten Eindruck auf mich gemacht haben, als
Leſen und Vorleſenhören (ſelbſt von Tiek, dem be-
ſten Vorleſer den ich kenne) nie, auch nur im ent-
fernteſten Grade, hervorbringen konnten. Ja ich ge-
ſtehe, daß ich erſt ſeitdem die ganze gigantiſche Pro-
portion Shakspeares in ihrem vollen Umfang em-
pfunden habe. Freilich gehört dazu ein ſolches Zu-
ſammenſpiel, und ſo große Schauſpieler für die Haupt-
rollen wie ſie uns gänzlich abgehen, denn Macbeths
in Berlin, — wie Clauren ſagen würde — und die-
ſelben in England ſind eben ſo verſchiedne Leute als
Shakspeare ſelbſt und ſein vortrefflicher Commentator
Franz Horn. Die erſten hieſigen Schauſpieler, wie
Kean, Kemble, Young u. ſ. w. ſind, wie ich ſchon
an andern Orten erwähnt, Männer von großer Bil-
dung, die zum Theil in der beſten Geſellſchaft leben,
und dem ernſteſten Studium ihres Nationaldichters
ihr Leben weihen. Selten nur treten ſie in andern
Rollen auf, und brauchen nicht, wie unſre Kunſtlaſt-
Thiere, jeden Augenblick einen tragiſchen Helden
mit einem Ifflandiſchen Geheimenrath, oder den Tal-
bot mit Herrn von Langſalm zu vertauſchen, nicht
heute im Othello und morgen im Wollmarkt aufzu-
treten.


Sehr ſonderbar fällt es auf, daß ſcheinbar, und
zum größten Theil auch wirklich, das Publikum, vor
dem dieſe Künſtler ſich produciren, ein ſo rohes und
Briefe eines Verſtorbenen IV. 22
[338] unwiſſendes und ungezognes iſt! Vielleicht aber mag
dies grade eine gute Wirkung auf die Darſteller ha-
ben. Wie der wahre Tugendhafte die Tugend, müſ-
ſen auch die hieſigen Schauſpieler die Kunſt nur um
ihrer ſelbſt willen lieben, ziemlich unbekümmert um
die Aufnahme, und ſie erreichen dann hierdurch eben
am ſicherſten zuletzt doch den allgemeinen Beifall. In-
deſſen muß man auch geſtehen, daß, ohngeachtet dieſer
Rohheit Vieler, doch in dem engliſchen Theaterpub-
likum eigentlich ein geſünderer Sinn als in dem la-
ren, hypergebildeten unſerer deutſchen Hauptſtädte
verborgen liegt, ja mitten unter der Foule des Ge-
meinen in ihm eine unſichtbare Kirche der Einge-
weihten beſteht, deren Daſeyn nimmer das göttliche
Feuer in den Künſtlern ganz verlöſchen läßt. In öf-
fentliche Eritik läßt ſie ſich weniger ein, aber ſie
wirkt mächtig im ſocialen Leben.


Viele Deutſche hören es nicht gern, daß andere
Nationen uns in irgend Etwas übertreffen ſollen,
auch ich empfinde ſolches immer mit Bedauern, aber
meine Ueberzeugung muß ich dennoch ausſprechen,
daß, wie wir keinen dramatiſchen Dichter von Sha-
kespeares Caliber haben, wir auch keinen Schauſpie-
ler beſitzen, der ſeine Charaktere in ihrer ganzen Be-
deutung wieder vor uns aufleben zu laſſen fähig iſt.
Immer war es nicht ſo, wie man ſagt, und ich ſelbſt
habe in meiner früheſten Jugend noch Eindrücke von
Fleck und der Unzelmann bewahrt, die mir ſeitdem
auf unſerer Bühne nicht mehr zu Theil wurden. Noch
höher mögen Schröder und Eckhof geſtanden haben,
[339] und mit vielem Vergnügen erinnere ich mich der
enthuſiaſtiſchen Schilderung, die mir von dieſen Bei-
den der alte Archenholz machte, welcher auch Garrick
noch geſehen hatte, Schröder aber dieſem wenig-
ſtens
gleich ſtellte.


Daß man übrigens bei fremden Schauſpielern ſich
nothwendig, um ſie gerecht zu würdigen, erſt eini-
germaßen in ihre Nationalität hineindenken, ſich an
gewiſſe uns eben ſo fremde Manieren, als manche
Wendungen ihrer Sprache für uns bleiben, wenn
wir ſie auch noch ſo gut verſtehen, gewöhnen muß,
wird wohl jedem Verſtändigen einleuchten. Im An-
fang wirken dieſe Urſachen immer mehr oder weniger
ſtörend, und ich habe nur ein künſtleriſches Indivi-
duum geſehen, das in dieſer Hinſicht, wenn ich mich
ſo ausdrücken darf, völlig cosmopolitiſch organiſirt war,
die unnachahmliche, vielleicht nie erreichte, gewiß nie
übertroffene Miß Oneil. Hier ſprach nur Menſchen-
Geiſt und Seele zu dem unſrigen, Nationalität, Zeit
und Aeuſſeres verſchwanden dem Gemüth in einer
alles mit fortreißenden Entzückung.


Doch zurück zur Gegenwart. Wir ſahen alſo
den Othello, wo das Zuſammenſpiel der drei erſten
dramatiſchen Künſtler Englands mir einen der genuß-
vollſten Abende gewährte, und dieſe etwas lange Ex-
pektoration veranlaßte, mich aber auch höchſt ſchmerz-
lich die oben erwähnte Heroin vermiſſen ließ. Mit
ihr würde ich heute den Culminationspunkt aller
theatraliſchen Darſtellung erreicht geſehen haben.


22*
[340]

Kean, Young und Kemble, ſagte ich, bilden das
herrſchende Triumviat der engliſchen Bühne. Der Erſte
iſt ohne Zweifel der Genialſte, der Zweite glanzvoll
und conſequent in ſeinem Spiel, der Dritte, obgleich
weniger ausgezeichnet im höchſten Tragiſchen, dennoch
ſtets würdig und verſtändig. Nur in dieſer Darſtel-
lung des Othello ſpielten zum erſtenmale alle drei
zuſammen in derſelben Tragödie. Dies war aber auch
ein ſeltner Genuß! Othello iſt, nebſt Shylock, Keans
Hauptrolle. Es iſt bewunderungswürdig, mit wel-
cher tiefen Menſchenkenntniß er nicht nur die erſt ſchlum-
mernde, allmählig erwachende und endlich in Raſerei
übergehende Eiferſucht malt, ſondern wie er da-
bei auch ſtets die ſüdliche Natur des Mohren, die ſo
eigenthümliche Individualität dieſer Menſchenklaſſe,
auf das täuſchendſte nachahmt. Es blickt bei allem
edlen Weſen des Mohren etwas Thieriſches zuweilen
daraus hervor, das ſchaudern macht, und auf der
andern Seite auch ſeinen ungeheuren Schmerz noch
gewaltſamer uns vor Augen ſtellt. Die Einfachheit
ſeines Spiels im Anfang, die Abweſenheit aller
Prahlerei nach den vergangnen großen Thaten, und
die innige Liebe für das gewählte Weib gewinnen
die Herzen der Zuſchauer, wie ſie das Desdemona’s
gewonnen haben — der häßliche Mohr iſt über dem
vollendeten, heldenmäßigen Mann vergeſſen — bis
nun unter den Qualen zerfleiſchender Eiferſucht
langſam vor unſern Augen jene verſteckte grauſe Na-
tur auftaucht, und wir zuletzt kaum einen Menſchen
mehr, ſondern einen reißenden Tiger vor uns zu
[341] ſehen glauben. Ich beſtärkte mich hier von Neuem
in meiner Ueberzeugung, daß der große Dichter, mehr
noch als der mittelmäßige, auch großer Schauſpieler be-
darf, um vollſtändig verſtanden und gewürdigt zu
werden. In Berlin z. B. erſchien die Erdroſſelungs-
Scene nicht nur lächerlich, ſondern wahrhaft indecent.
Hier wahrlich gefror das Blut zu Eis in den Adern,
und ſelbſt das rohe engliſche Publikum war eine
lange Zeit lautlos, und wie vom Blitze gerührt. Ja
ich geſtehe, daß einigemal während der Tragödie,
Othello’s lange Marter, die ihm der ſataniſche Jago
ſo tropfenweis mit teufliſcher Ruhe zumißt — für
mich ſo peinlich wurde, und die Furcht vor dem was
ich wußte, daß noch nachfolgen würde, ſo in mir an-
wuchs, daß ich unwillkührlich mein Geſicht wie von
einer zu erſchütternden Scene abwenden mußte.
Youngs Darſtellung des Jago iſt ein vollendetes
Meiſterwerk, und erſt durch ſein Spiel iſt mir die-
ſer Charakter völlig klar geworden. Es iſt vielleicht, —
und ich muß hier einer früher gemachten Aeuſſerung,
wenigſtens Ausnahmsweiſe widerſprechen, Jago, ſage
ich, iſt vielleicht wider Shakspeare’s ſonſtige Weiſe, kein
ganz in der Natur begründeter Charakter, ſondern mehr
eine glänzende Phantaſie des Dichters, aber mit
welcher bewunderungswürdigen Conſequenz durchge-
führt! Es iſt der verkörperte Teufel, ein Weſen von
Galle und Bitterkeit genährt, das weder Vergnü-
gens noch Freude fähig, das Böſe wie ſein Element
anſieht, und das einzige Wohlbehagen im Philoſo-
phiren über ſich ſelbſt, dem Beſchauen und der be-
[342] leuchtenden Erklärung ſeiner eignen Schandthaten
findet. Nur ſchwach iſt er noch an die Menſchlich-
keit geknüpft, durch das Gefühl der Rache, die er
an dem Mohren dafür nehmen will, daß Jener, wie
er glaubt „den eignen Dienſt zwiſchen ſeinen Bett-
Tüchern verſehen.“ Demohngeachtet erſcheint dies
faſt nur wie ein Vorwand, den er ſich ſelbſt, mit
dem letzten Hauch eines moraliſchen Gefühls, zur
Entſchuldigung aufſtellt, und ſeine ächte Freude an
Unglück und Jammer immer das Haupt-Motiv.
Dennoch wird dieſes Ungeheuer nie ganz widrig.
Seine geiſtige Ueberlegenheit, ſein Muth, ſeine Con-
ſequenz, und zuletzt ſeine Standhaftigkeit im Unglück,
laſſen den vollendeteſten Böſewicht doch nie in ganz
gemeine Niedrigkeit verſinken. Jago bleibt immer
noch ein Held gegen einen Kotzebueſchen Tugendhaf-
ten. In dieſem Sinne ſpielt Young den Charakter
durchaus, ſein Anſtand iſt finſter und mürriſch, aber
edel; kein Lächeln kömmt über ſeine Lippen, und
ſeine Scherze verlieren deshalb doch nichts durch ihre
Trockenheit. Alle behandelt er, ſeiner Macht gewiß,
mit Ruhe und Ueberlegenheit, jedoch mit wohl mar-
kirter Nüance. Für ſeine Frau iſt er roh und gebie-
teriſch, gegen Roderigo autoritativ und launig, mit
Caſſio achtungsvoll und freundſchaftlich, dem Mohren
gegenüber ehrfurchtsvoll und treuherzig, jedoch überall
ernſt und würdevoll. Kemble ſpielt in ſeiner Art den
Caſſio faſt eben ſo vortrefflich, und wie ihn Shakes-
peare ſchildert „ein Mann, gemacht den Weibern das
Herz zu ſtehlen.“ Jung, heiter, leichtſinnig, von
[343] edlem Weſen, gutmüthigem Charakter und feinen Sit-
ten. Leider wurde Desdemona nur ſehr mittelmäßig
gegeben. Doch ging der rührende Contraſt ihrer
ſanften duldenden Weiblichkeit mit des Mohren glü-
hender Leidenſchaft nicht ganz verloren.


Kean ſpielt den Othello in der Tracht eines Moh-
renkönigs aus der Bibel in Sandalen und einem
langen ſeidnen Talar, welches allerdings abgeſchmackt
iſt. Man vergißt aber bald die Tracht über ſein vor-
treffliches Spiel. —


Dein treuer L.


[[344]]

Drei und zwanzigſter Brief.



Geliebte Freundin!

Zu den ariſtokratiſcheſten Abendgeſellſchaften
gehören die Concerts eines der liberalſten Mit-
glieder der Oppoſition, des Lord L .., eine Anomalie,
die man hier oft findet, wo ein gewiſſer allgemei-
ner
Liberalismus mit dem einſeitigſten Adelſtolz und
Dünkel Hand in Hand geht, und der ſtolzeſte Mann
in ſeinem Hauſe, im öffentlichen Leben den Ruf des
populärſten beſitzt.


Recht amüſante Feſte gibt auch eine Herzogin, wel-
che es ſeit ſo Kurzem iſt, daß ſie von den Excluſivs
noch zu den Plebejern gerechnet wird. Ein ſolches
fand heute ſtatt, wo zu gleicher Zeit im obern Stock
ein vortreffliches Concert, im zweiten ein Ball ſtatt
fand, während im untern fortwährend geſpeist wurde.
Bei dem vorangehenden Diné ſervirten, nach dem
Beiſpiel eines andern faſhionablen Herzogs, die Be-
[345] dienten in weißen Gla céhandſchuhen, was mir das
Feſt verleidete, da ich mich von dem Gedanken an
Lazareth und Kr. … dabei nicht los machen konnte.


Reichhaltiger in geiſtiger Hinſicht war meine geſtrige
Mittagsmahlzeit bei’m Herzog von Sommerſett, ei-
nem ſehr vielſeitig gebildeten Manne. Ueber Tiſch
erzählte der bekannte Parlamentsredner H … ſelt-
ſame Dinge. Unter andern verſicherte er, kürzlich
Mitglied einer Commiſſion der Regierung geweſen
zu ſeyn, um die Einverſtändniſſe der Polizei mit den
Verbrechern, über die man ſo viel geklagt, zu er-
gründen. Dabei ſey denn berausgekommen, daß in
London eine Geſellſchaft, völlig wie eine Behörde or-
ganiſirt, mit bureaux Clerks ꝛc. exiſtire, welche Dieb-
ſtähle und Falſchmünzerei im Großen dirigire, die
Ertappten unterſtütze, ſowohl zu Angriff als Verthei-
digung mächtige Hülfe gewähre, dafür aber auch ihren
beſtimmten Antheil erhielte. An der Spitze ſtünden
nicht nur mehrere angeſehene Leute und Parlaments-
glieder
, ſondern ſogar ein wohlbekannter
Lord und Pair im Oberhauſe
! Die Beweiſe
wären der Art, daß man durchaus nicht daran zwei-
feln könne, das Miniſterium ſey aber bis jetzt der
Meinung, um den entſetzlichen Skandal zu vermeiden,
die Sache lieber fallen zu laſſen. Man ſieht, daß in
den freien Ländern doch auch Dinge vorgehen, von
denen man ſich bei uns nichts träumen läßt!


Ein Naturforſcher theilte uns nachher eine Vorle-
ſung über die Kröten mit, welche mir, jedes in ſei-
ner Sphäre, eben ſo ſeltſam als das vorhergehende
[346] vorkam. Bei einem wiſſenſchaftlichen Artikel, wie
dieſer, mußt Du einige freie Ausdrücke nicht zu ge-
nau nehmen. Er ſagte alſo, daß die Kröten die
wollüſtigſten aller Geſchöpfe ſeyen, wozu ihnen auch
die Natur beſonderen Vorſchub geleiſtet, indem ſie
ihnen die Fakultät ertheilt, ſich blos durch die Vor-
derfüße fortzupflanzen. Fänden die männlichen Krö-
ten zufällig keine weiblichen, ſo ſetzten ſie ſich in den
Teichen auf Karpfen, fixirten ihre Hände auf die Au-
gen derſelben, und blieben oft ſo lange darauf hän-
gen, daß die Fiſche davon blind würden, ein Experi-
ment, welches der Naturkundige ſelbſt beobachtet ha-
ben wollte, und es witzelnd „blinde Liebe“ nannte.



Ich komme eben vom Lever zurück, das diesmal
ſehr zahlreich war. Der König mußte wegen ſeines
Podagras ſitzen, ſah aber ſonſt ſehr wohl aus. Her-
zog Wellington dankte für die Erhebung zur Stelle
des Premierminiſters, indem er auf beide Kniee vor
dem König niederfiel, ſtatt daß man ſonſt nur eins
zur Erde zu bringen pflegt. Er verdoppelte wahr-
ſcheinlich die Dankbarkeit wegen ſeiner doppelten Eigen-
ſchaft als erſter Miniſter und früherer General en chef,
wie ihn auch die Carrikaturen darſtellen, nämlich die
linke Hälfte ſeines Körpers als Hofmann gekleidet,
die rechte als Feldmarſchall, aber mit beiden Augen
lachend. Da, auſſer den großen Entreen, beinahe
[347] Jedermann zu den Levers zugelaſſen wird, ſowohl
Herren als Damen, wenn ſie nur im vorgeſchriebe-
nen Coſtüme erſcheinen, ſo gibt es für den Lieb-
haber von Carrikaturen keine beſſere Ausbeute in
England, weil eben die ungewohnte Kleidung und
der eben ſo ungewohnte königlich Glanz die natio-
nelle Verlegenheit und Unbeholfenheit auf das Bur-
leskeſte ſteigern. Unſre liebenswürdigen und routi-
nirten Hofdamen würden oft dabei ihren eigenen Au-
gen zum erſtenmal mißtrauen.


Sobald ich mich umgezogen, ritt ich im ſchönſten
Frühlingswetter im immer einſamen Regentspark ſpa-
zieren, wo hundert Mandelbäume blühen, und beſah
mir die dort angelegte neue Menagerie, welche ein
ſehr nachahmungswerthes Muſter für dergleichen ab-
gibt. Es iſt nichts Ueberladenes darin, und dabei
eine Reinlichkeit, die man gewiß nur in England ſo
zu realiſiren im Stande iſt. Ich ſah hier ein ſelte-
nes und zugleich eins der ſchönſten Thiere, die es
gibt, die Tigerkatze, ein wahres Prachtexemplar von
Eleganz unter den Quadrupeden.


Beim Marquis Thomond, einem irländiſchen Pair,
erwartete mich darauf ein großes Diné, bei welchem
ich die Bekanntſchaft des allerentſchiedenſten Torys
in England, des Herzogs von N. machte. Ich muß
geſtehen, er ſah nicht wie ein Genie aus, und die
ganze Geſellſchaft war ſo ſteif engliſch, daß ich mich
herzlich freute, neben der Prinzeſſin P .... zu ſitzen,
deren gutmüthiges Ultra-Geplauder mir heute ſo an-
genehm vorkam, als wäre es das geiſtreichſte geweſen.


[348]

Den Abend ſchloß ich auf einem Ball bei’m Mar-
ſchall Beresford, zu Ehren der Marquiſe von Luley,
Schweſter Don Miguels, die ſich aber nicht wenig
zu ennuyiren ſchien, da ſie nur portugieſiſch ſpricht,
und daher auſſer dem Wirth nicht mit Vielen reden
konnte.


Der Marſchall ſelbſt iſt ein intereſſanter, impoſant
ausſehender Krieger, gegen den der Partheigeiſt ſich
ſehr ungerecht äußert. Er iſt bei ſehr einnehmenden
Manieren zugleich ein Mann von durchgreifendem
Charakter, wie ihn manche Regierungen noch außer
Portugal brauchen könnten, ſtark wie ein Löwe und
klug wie die Schlangen. Er hält Don Miguels Recht
auf die portugieſiſche Krone für beſſer begründet als
das ſeines Bruders, und beweist in der That, daß
man bei der Beurtheilung der Perſonen in jenem
Lande einen ganz andern Maßſtab als den unſrigen
anlegen muß, wenn man billig ſeyn will. So äußerte
er unter andern, die Erziehung Don Miguels ſey
abſichtlich ſo vernachläſſigt worden, daß er im drei
und zwanzigſten Jahre noch nicht habe ſchreiben kön-
nen, zu viel dürfe man alſo von einem ſolchen Prin-
zen nicht erwarten, demungeachtet ſey er durch viele
glänzende perſönliche Eigenſchaften ausgezeichnet, und
den Zeitungen dürfe man nicht alles auf’s Wort glau-
ben. Dieſes Letztere wenigſtens darf Niemand be-
zweifeln.


[349]

Es erſchien mir wie eine wahre Wohlthat, heute
einmal sans gêne auf dem Lande zu eſſen, in H.
Lodge, dem allerliebſten Lokal der Herzogin von St.
A … Vor dem Hauſe, das am Abhange eines Ber-
ges ſteht, blühte im hellgrünen Raſen ein prächtiger
Stern von Crocus und frühen Tulpen, zierlich rund
um eine Marmor-Fontaine gezogen, und über die
Bäume im Thalgrunde hin dämmerte die Rieſenſtadt
wie eine fata montana des neuen Jeruſalem im Ne-
belflor. Das Mahl war wie immer vortrefflich, und
nach Tiſch ergötzte uns noch Geſang und Concert im
reichſten Gewächshauſe voller Blumen und Früchte.
Ich ſaß während dem Eſſen bei einer direkten Uren-
kelin Carl II., einer Verwandtin des Herzogs, denn
das erſte halbe Dutzend engliſcher Herzöge im Rang,
ſtammen größtentheils von den Maitreſſen Carls II.
ab, und führen deshalb das königliche Wappen mit
in dem ihrigen, worauf ſie ſehr ſtolz ſind.


Es iſt noch recht kalt, aber Blätter und Blüthen
dringen doch überall gewaltſam hervor, ein Anblick,
der mich zu Hauſe entzücken würde, hier aber mir
Herzweh verurſacht, das manchmal kaum zu bezwin-
gen iſt. Demungeachtet mag ich mich nicht auf den
alten, goldnen Dornenſitz wieder niederlaſſen, und
will mir lieber einen glatten und bequemen Alltags-
ſchemel irgendwo anders in der Freiheit ausſuchen.


[350]

Seit geſtern bin ich hier mit großer Geſellſchaft bei
einer ſehr faſhionablen Dame. Das Haus iſt ſo ge-
ſchmackvoll und reich als möglich, aber zu vornehm
ſchon, und zu prätentiös, um wahrhaft angenehm zu
ſeyn, wenigſtens für mich. Ueberdieß iſt ein gewiſſer
L … da, ein Patentwitzbold, von dem die ſehr de-
bonnaire Geſellſchaft jedes Wort bewundern zu müßen
glaubt, und nur aus Furcht vor ſeiner böſen Zunge
ihm Anhänglichkeit heuchelt. Solche geiſtige Bret-
teurs ſind mir in den Tod zuwider, beſonders wenn
ſie, wie dieſer, mit einem widrigen Aeußern nur
Galle und Schärfe, ohne alle Grazie, beſitzen. Sie
erſcheinen in der menſchlichen Geſellſchaft gleich gifti-
gen Inſekten, denen man aus erbärmlicher Schwäche
hilft, ſich mit Andrer Blut zu nähren, nur damit ſie
einem das eigne nicht abzapfen.


Lieblicher als die Menſchen ſprachen mich die todten
Gegenſtände an, beſonders eine freundliche hier herr-
ſchende Sitte, alle Zimmer mit einer Menge Vaſen
und Behältern aller Art voll friſcher Blumen zu par-
fümiren. Unter den Gemälden bewunderte ich einen
Morillo, Joſeph darſtellend, welcher den kleinen Je-
ſusknaben führt. In dem ſchönen Kinde liegt die
künftige Größe und göttliche Natur des Erlöſers
noch ſchlummernd halb verborgen, was ſich beſonders
in dem ahnend aufblickenden Auge wundervoll aus-
ſpricht. Joſeph erſcheint als ein ſchlichter Mann in
[351] der vollen Kraft des mittlern Alters, mehr Würde
des Charakters als des Standes verrathend. Wild
und originell iſt die Landſchaft, oben aus dunkeln
Wolken lauſchen liebreizende Engelsköpfe hervor. Dies
Gemälde hat der Beſitzer, wie er mir ſagte, mit
2500 L. St. bezahlt.


Im Garten gefiel mir ein Gewächshaus für Pal-
men, ſo leicht und durchſichtig, faſt ganz aus Glas
beſtehend, daß es einem Eispalaſte glich. Häßlich
finde ich dagegen eine ſehr überhand nehmende Lieb-
haberei für alte verkrüppelte Baumſtämme, die
man vielfach im geſchornen Raſen eingräbt, und
theils mit Climatis beranken läßt, theils mit ver-
borgnen Blumentöpfen beſtellt. Ganze Ruinen die-
ſer Art werden gebildet, welches nebſt manchem An-
dern den ſinkenden guten Geſchmack für Gärten in
England verräth.


Für mich iſt das Leben auf dem Lande hier in ge-
wiſſer Hinſicht zu geſellig. Wer z. B. leſen will,
geht in die Bibliothek, wo er ſelten allein iſt, und
wer Briefe zu beſorgen hat, ſchreibt ſie an einem
allgemeinen großen Sekretair eben ſo öffentlich, wor-
auf ſie in ein durchbrochenes Käſtchen geſteckt wer-
den, das ein Bedienter jeden Morgen zur Poſt trägt.
Daß man alles dies allein und auf ſeiner Stube thut,
iſt eben nicht üblich, befremdet daher, und wird nicht
recht gern geſehen. So frühſtückte auch mancher
Fremde wohl lieber auf ſeiner Stube, wozu aber nicht
zu gelangen iſt, wenn man ſich nicht durch Krankheit
entſchuldigen kann.


[352]

Bei aller Freiheit und Abweſenheit von unnützen
Complimenten, exiſtirt daher doch für einen an un-
ſere Sitten Gewöhnten hier auf die Länge ein be-
deutender Zwang, den das fortwährende Sprechen
in einer fremden Sprache noch mehr empfinden läßt.



Mit einem aufziehenden Frühlingsgewitter verließ
ich dieſen Morgen R. Park, athmete unterwegs mit
Wonne die duftige Frühlingsluft und ſchaute mit
Entzücken auf das glänzende Grün und die ſchwel-
lenden Knospen, ein Anblick, deſſen man nie über-
drüſſig wird. Das Frühjahr entſchädigt die nördli-
chen Gegenden für alle Unannehmlichkeiten ihrer Win-
ter, denn dieſes Aufwachen der jungen Natur iſt im
Süden doch mit weit geringerer Coquetterie von ih-
rer Seite begleitet.


Ich war zum Mittag wieder bei der Herzogin von
S. A. auf ihrem Landhauſe verſagt, wo mich eine
angenehme Ueberraſchung erwartete. Man placirte
mich, der zu ſpät kam, zwiſchen der Wirthin und ei-
nem langen, ſehr einfach aber liebevoll und freund-
lich ausſehenden, ſchon bejahrten Manne, der im
breiten ſchottiſchen, nichts weniger als angenehmen
Dialekte ſprach, und mir auſſerdem wahrſcheinlich gar
nicht aufgefallen wäre, wenn mir nicht nach einigen
Minuten bekannt geworden — daß ich neben dem be-
[][]

[figure]

[353] rühmten — Unbekannten ſäße. Es dauerte nicht
lange, ſo kam mancher ſcharfe, trockene Witz aus ſei-
nem Munde, und mehrere höchſt anſpruchslos er-
zählte Anekdoten, die, ohne eben brillant zu erſchei-
nen, doch immer frappirten. Seine Augen glänzten
dabei, ſobald er ſich irgend animirte, ſo licht und
freundlich, und es war ſo viel treuherzige Güte und
Natürlichkeit darin ausgedrückt, daß man ihn lieb
gewinnen mußte. Gegen Ende der Tafel gab er und
Sir Francis Burdett wechſelsweiſe Geiſterhiſtorien
zum Beſten, halb ſchauerlich halb launig, welches
mich encouragirte, auch Deine berühmte Schlüſſelge-
ſchichte zu erzählen, im Denouement noch ein wenig
embellirt. Sie machte recht viel Glück, und es wäre
ſpaßhaft genug, wenn Du ſie im nächſten Romane
des fruchtbaren Schotten wieder fändeſt.


Er recitirte nachher noch eine originelle alte In-
ſchrift, die er vor Kurzem erſt auf dem Kirchhofe von
Melroſe Abbey aufgefunden hatte. Sie lautete fol-
gendermaßen:


The earth goes on the carth, glittering in gold,

The earth goes to the earth sooner than it would,

The earth builds on the earth castles and towers,

The earth says to the earth: All this is ours.

In der Ueberſetzung ungefähr ſo:


Erd’ geht auf Erde glaͤnzend in Gold,

Erd’ geht zur Erde fruͤher denn wollt’,

Erd’ baut auf Erde Schloͤſſer von Stein,

Erd’ ſagt zur Erde: Alles iſt mein!

Briefe eines Verſtorbenen. IV. 23
[354]

Wohl wahr! denn Erde waren, ſind und werden
wir, und der Erde allein gehören wir vielleicht an.


Ein kleines Concert beſchloß den Abend, an dem
auch die recht hübſche Tochter des großen Barden,
eine kräftige, hochländiſche Schönheit, Theil nahm
und Miß Steevens nichts als ſchottiſche Balladen
ſang. Erſt tief in der Nacht erreichte ich London,
mein Erinnerungsbuch mit einem äußerſt ähnlichen
Croquis von Sir W. Scott bereichert, welches ich
der Güte meiner Wirthin verdanke. Da alle mir be-
kannten Kupferſtiche deſſelben durchaus nicht ähnlich
ſind, ſo werde ich eine genaue Copie dieſem Briefe
beilegen.



Der Trouble dieſer Tage war ſehr einförmig, nur
ein Diné bei’m ſpaniſchen Geſandten bietet mir eine
angenehme Erinnerung, wo eine feurige und ſchöne
Spanierin nach Tiſch Bolero’s auf eine Art ſang, die
einen ganz neuen Muſikſinn in mir erweckte. Wenn
ich darnach und einem Fandango urtheile, den ich
einmal tanzen ſah, muß die ſpaniſche Geſellſchaft et-
was ſehr Verſchiedenes von der unſrigen, und bei
weitem pikanter ſeyn.


Geſtern war ich eingeladen to meet the Dukes of
Clarence and Sussex,
ſchlug es aber aus, to meet
Mademoiselle H.
bei unſerm Freunde B …, die ich
[355] noch nicht geſehen, und der Groß und Klein hier zu
Füßen liegt.


Sie iſt in der That allerliebſt, ein reizendes Ge-
ſchöpf, und ſehr verführeriſch für Alle, die entweder
noch neu der Welt ſind, oder an nichts als ihr Ver-
gnügen zu denken haben. Es iſt nicht möglich, eine
harmloſere, und doch ihr Ziel beſſer treffende, ſo zu
ſagen angebornere Coquetterie zu ſehen, ſo kindlich,
ſo lieblich — et cependant le diable n’y perd rien.


Auch mir ſchien ſie bald die ſchwachen Seiten ab-
zumerken, und unterhielt mich ohne die mindeſte
ſcheinbare Abſichtlichkeit, doch nur von dem, was
paſſend und angenehm zu hören für mich ſeyn konnte.
Die vaterländiſchen Töne fielen dazu aus ſo hübſchem
Munde wie Perlen und Diamanten in den Fluß der
Rede hinein, und die allerſchönſten blauen Augen
beſchienen ſie, wie eine Frühlingsſonne hinter leichten
Wolkenſchleiern.


Morgen ſpielt Kean Richard III., ſagte ſie endlich
flüchtig, der Herzog v. D. hat mir ſeine Loge abge-
treten, wollen Sie mich vielleicht dahin begleiten?


Daß eine ſolche Einladung jeder andern vorging,
verſteht ſich von ſelbſt.



Nie habe ich noch weniger von einer Vor-
ſtellung geſehen und gehört, als von der heutigen,
und doch muß ich geſtehen, hat mir keine kürzer ge-
23*
[356] ſchienen. Ja ungeachtet der Gegenwart einer Gou-
vernante und eines Beſuchs des H. Kemble im Zwi-
ſchenakt, fand kaum eine Pauſe in unſerer Unterhal-
tung ſtatt, der ſo viele Reminiscenzen aus der Hei-
math immer neues Intereſſe gaben.


Auch dauerte meinerſeits das angenehme Ercite-
ment ohne Zweifel noch auf dem nachherigen Balle
bei der faſhionablen Lady Tankarville fort, denn ich
fühlte mich weit weniger von der hölzernen Fete en-
nuyirt, als gewöhnlich. Verzeih’, wenn ich Dir heute
nur dieſe wenigen Worte ſchreibe, denn eben geht
Helios auf, und ich zu Bette.



Alles iſt hier in coloſſalen Verhältniſſen, ſelbſt mein
Schneider, deſſen Werkſtatt einer Manufaktur gleicht.
Man kömmt hin und fragt, umgeben von hundert
Ballen Tuch und Zeug, und eben ſo viel Arbeitern,
nach dem Schickſal eines beſtellten Fracks. Ein Se-
kretär erſcheint mit großer Förmlichkeit, und frägt
verbindlich nach dem Tage der Beſtellung. Sobald
man ihn angegeben, werden auf einen Wink des Ge-
ſchäftsmannes zwei Folianten herbeigebracht, in de-
nen er eine kurze Zeit ſtudiert. Mein Herr, iſt end-
lich die Antwort, morgen um 11 Uhr 20 Minuten
wird Ihr Frack ſo weit fertig ſeyn, um ihn im An-
kleidezimmer anprobiren zu können. Dieſer Zimmer
[357] ſind mehrere, mit großen Wandſpiegeln und Pſychés
dekorirt, fortwährend mit Anprobirenden beſetzt, wo
der Schneider Millionär ſelbſt zehnmal ändert, ohne
je Verdrießlichkeit darüber zu äußern.


Nachdem dem Fracke ſein Recht angethan worden
iſt, ſetze ich meine Promenade fort, und komme an
einen Fleiſcherladen, wo nicht nur das rohe Fleiſch
die ſchönſten Guirlanden, Pyramiden und andere
phantaſiereiche Formen bildet, und zierliche Eisbehäl-
ter überall liebliche Kühle verbreiten, ſondern auch
noch hinter jedem Schinken ein Komödienzettel hängt,
und auf den ſpiegelglatten Tiſchen die beliebteſten
Zeitungen liegen.


Mit ihm wetteifert einige Häuſer weiter der Händ-
ler mit Seeungeheuern, der, wie König Fiſch im
Mährchen, zwiſchen Marmor und Springbrunnen
ſitzt, es aber doch ſchwerlich ſo weit bringen wird als
ſein berühmter College Crockford, der noch beſſere als
gewöhnliche Fiſche zu angeln verſtanden hat. Es iſt
dies ein genialer Mann, der ſich von einem armen
Fiſcher zur Geißel und zugleich zum Liebling der vor-
nehmen und reichen Welt hinaufgeſchwungen hat. Er
iſt ein Spieler, der Millionen gewonnen, und damit
jetzt einen Spielpalaſt in der Art des Salons in Pa-
ris, aber mit einer aſiatiſchen Pracht erbaut hat, die
ſelbſt die Königliche faſt hinter ſich läßt. Auch iſt in
dem jetzt wieder herrſchenden Geſchmack der Zeit Lud-
wig XIV., verziert mit allen jenen geſchmackloſen
Schnörkeln, Uebermaß von Vergoldung, gehäufter
Miſchung von Stukkatur und Malerei u. ſ. w. eine
[358] Wendung der Mode, die ſehr conſequent iſt, da der
engliſche Adel wirklich immer mehr jenem aus Lud-
wig XIV. Zeit zu gleichen anfängt.


Crockfords Koch iſt der berühmte Ude, praktiſch und
theoretiſch der erſte in Europa, Bewirthung und Be-
dienung in höchſter Vollkommenheit, dabei un jeu
d’enfer,
wo ſchon oft 20,000 L. St. und mehr in ei-
nem Abend von dieſem und jenem verſpielt wurden.
Die Geſellſchaft formirt einen Club, der Eintritt iſt
ſehr ſchwer zu erlangen, und obgleich Hazardſpiel cri-
minell in England iſt, ſind dennoch die meiſten der
Miniſter Mitglieder, und der Premier, Herzog von
Wellington, einer der Direktoren dieſes Spiel-Clubs!



Geſtern wurde der erſte Tag des Wonnemonats
von der Herzogin von A. durch eine ſehr angenehme
ländliche Fete auf ihrer ſchonen Villa gefeiert.


In der Mitte des bowling green war die Mai-
ſtange mit vielen Bändern und Blumen-Guirlanden
aufgerichtet, und bunt geſchmückte Landleute im alt-
engliſchen Coſtüme tanzten darum ber. Die Geſell-
ſchaft erging ſich in Haus und Garten nach Belieben.
Manche ſchoßen mit Bogen und Pfeilen, andere tanz-
ten unter Zelten, oder ſpielten allerlei Spiele, ſchau-
kelten und drehten ſich, oder munkelten im Dunkeln
in dichten Boskets, bis einige Trompetenſtöße um
[359] 5 Uhr ein prachvolles Frühſtück verkündeten, bei dem
alle Delikateſſen und Koſtbarkeiten, die der Luxus
aufbieten kann, im reichſten Ueberfluß vorhanden
waren.


Viele Diener hatte man als Gärtner in ein fancy
costume
gekleidet und an allen Büſchen friſche Blu-
menguirlanden aufgehangen, die einen unbeſchreiblich
reichen Effekt machten. Dabei war es ein ſo wun-
derbar ſchöner Tag, daß ich zum Erſtenmal in der
Ferne London ganz klar von Nebeln, und nur ein
wenig durch Rauch verdüſtert, gänzlich zu überſehen
im Stande war.


Mit einbrechender Dunkelheit wiederholte ſich der
Effekt der Blumenguirlanden, nun durch bunte Lam-
pen, zweckmäßig auf allen Bäumen vertheilt, oder
im Dickigt der Büſche halb verborgen. Es war ſchon
Mitternacht vorbei, als das Frühſtück ſich endete.


Alles das war ſehr reizend, aber doch ſind es nur
todte Gegenſtände, und ich geſtehe, daß in meinen
Augen eine kleine Roſe am Buſen der lieblichen H …,
die ich ihr heute früh gegeben, und im Concert in
D .... houſe als einzigen Schmuck auf ihrem ſchwar-
zen Kleide erblickte, alle Guirlanden und Illumina-
tionen des vorigen Tages weit überſtrahlte. Das
Concert endigte diesmal mit einem Ball, und auch
hier glänzte die deutſche Walzerin über alle ihre Ri-
valinnen, immer ſo anſpruchlos, als bemerke ſie keine
ihrer Eroberungen. Wahrſcheinlich, nie gab es noch
einen Schalk, der ſich kindlicher anzuſtellen verſtand,
[360] und gewiß iſt eine ſo liebliche Coquetterie der größte
Reiz, wenn auch nicht das größte Verdienſt der
Frauen.



Es geht mir wie den Vögeln, die im Mai immer
am liebendſten geſtimmt ſind, und zu verdenken iſt
es mir daher nicht, wenn ich in dieſer Jahreszeit der
flötenden Nachtigall nur mit klopfendem Herzen zu-
hören kann.


„Nun habe ich nur noch einen Tag,“ ſagte ſie
geſtern am Sonnabend, „nach welchem ich wohl län-
ger als einen Monat nicht mehr frei ſeyn werde, und
der iſt morgen, in jeder Hinſicht mein Tag, wo ich
noch einmal meinem Wunſche nach leben kann, dann
bleibe ich auf lange, lange Zeit eine arme Sclavin!“


Ich ſchlug ihr ſchüchtern vor, an dieſem Tage auf
dem Lande mit mir zu eſſen, früh dorthin zuſammen
zu reiten, wozu ich mein Pferd als einen Phönix
von Sanftmuth rekommandirte, Abends aber, um
ſie nicht zu ſehr zu ermüden, zurück zu fahren, was
ſie nach vielen Bitten endlich genehmigte.


O Natur, ländliche Freuden *), wie ſchön ſeyd
[361] ihr, wie doppelt genießt man euch in ſolcher Geſell-
ſchaft! Wir ſollten die Sternwarte in Greewnitſch
beſehen, es blieb aber bei den zwei blauen Sternen
in der Nähe, die hunderttauſendmal magnetiſcher fun-
kelten, als alle Welten der Milchſtraße, und ich dankte
innerlich von Herzen dem lieben Gott, daß wir gar
nicht nöthig haben, mit Doctor Nürnberger nach dem
Sirius und Jupiter zu reiſen, um in Exſtaſe zu ge-
rathen, und gegen die Venus am Himmel ſehr
gleichgültig bleiben können, wenn wir viele Stunden
lang uns in dem ungeſtörten Anſchauen einer irdi-
ſchen verlieren dürfen.


Wir mußten, der böſen Welt und einer unbeque-
men Ankunft wegen, die Sache etwas geheim betrei-
ben. Die Pferde waren vorausgeſchickt, ich ritt auf
einem Klepper nach, und H. fuhr mit der guten Gou-
vernante in einem Miethwagen nach dem Orte des
Rendez-vous.


Der gelbe Wagen ließ lange auf ſich warten, und
ich ängſtete mich nicht wenig, daß etwas dazwiſchen
gekommen ſeyn möchte. Es war auch ſo, aber ehr-
lich hielt das liebe Mädchen ihr gegebenes Wort.
Endlich ſah ich den alten Kaſten langſam auf uns
zukommen, ſprengte heran, hob die Liebliche auf ih-
ren Zelter, und dahin flogen wir (denn ſie reitet
kühn wie ein Mann) in die duftende Mailuft hinaus,
wie ein paar luſtige Vöglein flatternd und koſend.
Bis es dunkel ward, wurde geritten, umhergewan-
dert, und dies und jenes beſehen. Bei’m Schein
der Lichter und Sterne zugleich aßen wir bei offnen
[362] Fenſtern in dem Dir ſchon bekannten heimlichen Stüb-
chen über dem Fluß, und erſt um 11 Uhr in der
Nacht nahm uns der Wagen wieder auf zur Heimfahrt.


Wahr iſt es, der Himmel ſchuf dieſes Weſen aus
ganz beſonderem Stoff! Welche Mannichfaltigkeit
und welche Grazie in jeder wechſelnden Nüance!
Scheu oder zutraulich, bös oder gut geſtimmt, bou-
dirend, hingebend, gleichgültig, ſanft, ſpottend, ge-
meſſen oder wild — immer ergreift ſie, wie Schiller
ſagt, die Seele mit Himmelsgewalt! Und welche
Selbſtbeherrſchung bei der höchſten Milde, welch fe-
ſtes kleines Köpfchen, wenn ſie will, wie viel Her-
zensgüte, und dabei doch wie viel kecke Schlauheit!


Sie iſt geſchaffen, den Männern zu gefallen, und
auch alle Weiber lieben ſie. Gewiß eine glückliche,
eine eigenthümliche Natur.


Aber, gute Julie, es iſt Zeit, daß ich ende, nicht
wahr? Du möchteſt zuletzt gar denken, ich ſey när-
riſch oder verliebt, oder beides zugleich. En vérité,
pour cette fois ci je n’en repondrai pas.



Seit einer Woche klingen mir die Ohren von drei
bis vier Concerten jeden Abend, oder jede Nacht,
wie man es hier richtiger nennt, die plötzlich zur
wahren Rage geworden ſind, von den Höchſten und
Erleſenſten bis zu allen Nobodys herab. Die Da-
[363] men Paſta, Caradori, Sontag, Brambilla, die
Herren Zuchelli, Pellegrini und Curioni ſingen ewig
dieſelben Arien und Ductts, welche die Leute den-
noch nie müde zu hören werden. Oft ſingen ſie,
ohne Zweifel vom ewigen Einerlei ſelbſt ermüdet,
äußerſt nachläßig, doch darauf kömmt es hier gar
nicht an. Die Ohren, welche ſie hören, ſind ſelten
muſikaliſcher Natur, ſondern nur von der Faſhion
begeiſtert, und die, welche in der Foule den letzten
Platz inne haben, unterſcheiden gewiß oft kaum, ob
ein Baſſiſt oder die Primadonna eben an der Reihe
iſt, gerathen aber nichts deſto weniger in Entzücken.
Für die Künſtler iſt die Sache ſehr einträglich. Die
Sontag z. B. erhält in jeder Geſellſchaft, wo ſie
ſich mit irgend etwas hören läßt, und oft geſchieht
dies in drei bis vier verſchiedenen an einem Abend,
wenigſtens 40 L. St., zuweilen 100. Die Paſta,
deren Geſang mir noch lieber, grandiöſer, tragiſcher
iſt, rivaliſirt mit ihr, die andern, obgleich auch ver-
dienſtlich, ſtehen doch nur in zweiter Linie.


Außerdem iſt Mochelés, Piris, die Gebrüder Boh-
rer, enfin eine Heerde von Virtuoſen hier, die, wie
die Mücken dem Licht, alle dem engliſchen Golde zu-
fliegen, ohne ſich daran zu verbrennen, ſondern im
Gegentheil, was die weiblichen wenigſtens betrifft,
rechts und links oft neue Flammen erregen, die über-
dies zuweilen noch mehr als das Künſtlertalent
einbringen.


Die Concerte beim Prinzen Leopold ſind in der
Regel die angenehmſten, wo auch das unerträgliche
[364] Gedränge in einem großen Local mehr vermieden
wird. Dieſer Prinz iſt weniger populär als er es
verdient, weil die Engländer ihm den Ausländer
nicht ganz verzeihen können.



Auf einem Spazierritt mit M … kamen wir zufäl-
lig in einer reizenden Gegend nach Strawberryhill
(Erdbeerhügel) einem von Horace Walpole gebauten
Schloß, deſſen er ſo oft in ſeinen Briefen erwähnt,
und das man ſeitdem in nichts geändert und wenig
bewohnt hat. Es iſt der erſte Verſuch des Modern-
gothiſchen in England, ganz im Clinquan-Geſchmack
jener Zeit, das Steinwerk in Holz nachgeahmt, gar
Vieles — was glänzt ohne Gold zu ſeyn. Doch
ſieht man auch mehrere gediegnere Kunſtſchätze und
manche Curioſitäten. Zu den erſteren gehört unter
andern ein prächtiges mit Juwelen beſetztes Gebet-
buch voll Zeichnungen Raphaels und ſeiner Schüler,
zu den letzteren der Hut des Cardinals Wolſey, ein
ſehr ausdrucksvolles Portrait der Madame du Deffant,
der blinden und geiſtigen Geliebten Walpoles, und
ein Bild der berühmten Lady Montague in tür-
kiſcher Kleidung.


Da es in England Alles gibt, ſo fand ich heute
ſogar einen vornehmen Engländer, der in ſeinem
Hauſe deutſche Sitten, deutſche Art der Bedienung,
[365] und deutſchen Geſellſchaftston nachzuahmen ſucht. Es
iſt der Graf S …, der lange unſer Vaterland in
ziemlich bedrängten Umſtänden bewohnte, und mit
einemmal ein ungeheures Vermögen ererbt hat. Nur
die cramoiſinfarbene Livrce ſeiner Leute mit cana-
riengelben Inerpreſſibles und Strümpfen war im
engliſchen Geſchmack, ſonſt Alles deutſch im Hauſe,
ſelbſt die Eßſtunde näher gerückt. Die lange Dauer
des Dinés war mir in hohem Grade läſtig, ich ſaß
wie auf Nadeln, da man mich an einem Orte er-
wartete, welcher mir dermalen theurer als Alles iſt.
Ohngeachtet meiner üblen Laune gewann mir doch
wider Willen mein öſterreichiſcher Nachbar ein Lä-
cheln ab, der ungeheuer trank, und als ich ihm noch
mehr anbot, erwiederte: Nein, jetzt keinen Wein
mehr, ſonſt werde ich exceſſiv und fange an zu ſtän-
kern. Du verſtehſt beſſer Wieneriſch als ich, ich
brauche Dir daher die Meinung der Phraſe nicht zu
erklären.



Ich habe einige Tage auf dem Lande zugebracht
und Epſom’s Wettrennen beſucht. Die Scene war
ſehr belebt, alle Straßen voller flüchtig dahinrollen-
der Equipagen, und ein großer grüner Hügel mitten
in der Plaine, an deſſen Saum das Wettrennen ſtatt
findet, ſo dicht mit tauſend ausgeſpannten Wagen,
und einem bunten Gewühl von Reitern und Fuß-
[366] gängern bedeckt, daß mir noch nirgends ein Volksfeſt
maleriſcher erſchien.


Dies Bild faſſe noch in den Rahmen einer recht
lieblichen, wohl angebauten Landſchaft, mit einem
Himmel voll ſchwarzer Wolken, vielem Regen, und
zwar ſparſamen aber deſto heiſſeren Sonnenblicken.


Seit geſtern bin ich zurück, um eine Geſellſchaft
beim Könige nicht zu verſäumen, die heute ſtatt fand,
und zu der eine Einladung als eine bonne fortune
angeſehen wird. Die Idee von Hof muß man gar
nicht damit verbinden, aber gewiß iſt es, daß nir-
gends das Ideal eines faſhionablen Hauſes je beſſer
erreicht worden ſeyn mag. Jeder Comfort und jede
Eleganz des Privatmannes iſt auf die geſchmack-
vollſte und gediegenſte Weiſe mit der Pracht könig-
licher Mittel verbunden, und der Monarch bekannt-
lich ſelbſt auf keinen Titel ſtolzer als auf den des
erſten Gentleman in ſeinem Reiche.



Obgleich der ewige Taumel nur wenig Zeit übrig
läßt, und man, einmal hineingerathen, nicht füglich
mehr herauskann, wenn man auch kein Vergnügen
darin findet, ſo gewinne ich doch von Zeit zu Zeit
freie Augenblicke zu einſamerem und bleibenderem
Genuß.


[367]

So ſah ich neulich eine höchſt intereſſante Samm-
lung vorzüglicher Gemälde, nur die Portraits merk-
würdiger Individuen aus der engliſchen Geſchichte
enthaltend. Es war auffallend, wie ſehr die meiſten
ihrem geſchichtlichen Bilde in Zügen und Haltung
entſprachen. Der berühmte Lord Burgleigh hatte
überdem eine frappante Aehnlichkeit mit dem großen
Staatskanzler Preußens, obgleich ihn ſein Kopfputz
ſehr verſtellte, der einer Altenweibermütze glich. Ja-
kob der Erſte, ergötzlich treu ſeinem Charakter, wie
auch ſein Geſandter, der originelle Ritter, der in
ſeinen Memoiren ſo ſeltſam von ſich ſelbſt ſagt, daß
er überall Männern und Weibern gefallen, ſeine Na-
tur aber auch keiner andern geglichen, indem ihn und
alles ohne Ausnahme, was von ihm gekommen, ſtets
eine Atmoſphäre des angenehmſten, natürlichen Wohl-
geruchs umduftet habe.


Ein andres Cabinet enthielt moderne Gemälde in
Waſſerfarben, in welcher Kunſtgattung die Englän-
der eine beſondere Fertigkeit erlangt haben. Man
erſtaunt über die Gluth und Tiefe der Färbung, die
ſie damit hervorbringen, beſonders zeichneten ſich ei-
nige Landſchaften Schottlands aus, als ein Sonnen-
untergang in den Highlands, der Claude Lorrains
Wahrheit erreichte, und die einbrechende Nacht über
den Loch Lomond, ein Gedicht voller Romantik.


Noch blieb mir Zeit zu einem weiten Spazierritt,
auf dem ich, wie immer, nur dem Zufall mich ver-
trauend, einen der reizendſten Parks auffand, wie
[368] ſie nur Englands Clima realiſiren läßt. Die Gär-
ten mit unbeſchreiblicher Blumenpracht lagen in ei-
nem engen, äußerſt fruchtbaren Wieſenthale, voll
hoher Bäume, in welchen drei ſilberklare Quellen
entſpringen, und in mäandriſch ſich windenden Bächen
nach allen Richtungen zwiſchen unabſehbaren Dickich-
ten von blühenden Rhododendron und Azalien hin-
rauſchten.


Meine Freude an dergleichen wird nur immer durch
das Bedauern getrübt, daß Du ſie nicht mit mir
theilen kannſt. Dein feiner Geſchmack würde tauſend
neue Ideen hier ſchöpfen, um nachher noch lieblichere
Details hervorzubringen, ſoweit Localität und Mit-
tel hinreichen, theils durch geſchickte Anwendung der
Blumenfarben, theils durch graziöſe Formen, oder
durch erhöhte Beleuchtung, welche ſinniges Oeffnen
und Verdecken ſo ſehr zu ſteigern im Stande iſt.


Die angenehmen Erinnerungen dieſes Morgens
mußten den Reſt des Tages übertragen, nämlich ein
Diné bei Lady P …, dem größten weiblichen Gourmand
in London, zwei Bälle bei einheimiſcher und aus-
ländiſcher Diplomatie, und ein Concert bei Lord
Grosvenor, welches zwar in einer Gallerie vortreff-
licher Gemälde ſtatt fand, die man aber bei ſolcher
Gelegenheit nicht mehr als jede andere Tapete ge-
nießen kann.


[369]

Eines der gehaltreichſten Häuſer für mich iſt das
eines vornehmen Schotten, Grafen von W …, dem
Abkömmling in directer Linie von Macduff. In ſei-
ner Nüſtkammer wird noch ein Aſt, angeblich aus
Birnams Wald
, gezeigt, wahrſcheinlich eine Re-
liquie von der Qualität aller andern. Wer daran
glaubt, wird ſelig!


Die Familie iſt höchſt gebildet, und der ſchottiſche
Sinn überhaupt dem deutſchen näher verwandt als
der engliſche. Von den liebenswürdigen Töchtern
lernte ich eine neue Manier, Lieblinge aus dem Vö-
gelgeſchlecht in treuerer und dauerhafterer Copie auf-
zubewahren als durch Ausſtopfung. Die Federn
werden ausgerupft, und nebſt Schnabel und Klauen
in der natürlichen Form auf ſtarkes Velinpapier oder
lakirtes Holz aufgeklebt, welches ein höchſt ähnliches
und keinem Verderben ausgeſetztes Basrelief des
Thieres abgibt.


Carl X. brachte eine Zeit lang bei Lord W .... in
Schottland zu, und hat ihm einen alten Haushof-
meiſter zurückgelaſſen, der drollig genug gleich dem in
der Pucelle: Bonneau heißt, und auch noch von je-
ner faſt ausgeſtorbenen Diener-Race der hommes
de confiance
iſt, die man jetzt höchſtens nur auf der
Bühne antrifft. Als ſolcher, der im Hauſe nun ſchon
25 Jahre fungirt, darf er, gegen die engliſche Sitte,
welche Dienern nie die geringſte Annäherung anders
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 24
[370] als eben durch ihren Dienſt erlaubt, zuweilen ein
Wort mitſprechen, und ich fand wirklich nichts unter-
haltender, als die Hof- und Geſellſchaftserzählungen
dieſes alten Franzoſen, deſſen Welt eigentlich mit je-
ner Zeit abgeſchloſſen wurde, ſo wie wir ſie uns
heutzutage kaum mehr denken können. Daß der ei-
genthümliche Alte nur ein Haushofmeiſter iſt, macht
keinen Unterſchied, denn er hat in ſeinem Leben beſ-
ſer beobachtet, und vielleicht mehr von der großen
Welt geſehen, als gar viele Vornehme.


Als ich dieſen Morgen Lady W. beſuchte, hatte ei-
ner ihrer Söhne, der in Südamerika reiſt, eben einen
großen Transport merkwürdiger Sachen geſchickt,
worunter ſich ein lebendes Löwenäffchen befand, mit
Kopf und Mähne des Königs der Thiere bei einer
Taille, die kaum die Größe einer Ratte erreicht.
Statt des üblen Geruchs der Affen duftet dieſer im
Gegentheil nach Zimmt und Moſchus, und parfumirt
das ganze Zimmer wie ein Räucherkerzchen, gleich
dem neulich erwähnten Ritter.


Eine der vollſtändigſten Sammlungen Colibris
boten Farben dar, wie ſie nur die Sonne bei Auf-
und Untergang am Himmel malt, eben ſo wie die
reiche Schmetterlings-Sammlung mit mehrern ganz
neuen Exemplaren. Unter andern Inſekten ſah ich
hier zum erſtenmal den ſogenannten Stockkäfer, der
den Uebergang zwiſchen dem Pflanzen- und Thier-
reiche zu machen ſcheint. Er iſt an ſechs Zoll lang
und von einem blätterloſen Ulmenzweig mit kleinen
[371] Nebenäſten, welche durch die Füße gebildet werden,
kaum zu unterſcheiden. Nur der an der Spitze ver-
borgne Kopf mit Fühlhörnern verräth ihn als ein
organiſches Weſen.


Ich aß bei Lady F… zu Mittag, wo ſich ein eig-
ner Fall zutrug. Ihr Mann war früher Gouverneur
auf Isle de France, und ſie hatte dort von einer
Negerin das angebliche Wahrſagebuch der Kaiſerin
Joſephine gekauft, welches dieſe vor ihrer Einſchif-
fung nach Frankreich beſeſſen, und daraus ihre künf-
tige Größe und Fall geleſen haben ſoll. Lady F …
producirte es beim Thee, und lud die Geſellſchaft ein,
nach dem vorgeſchriebnen Modus Fragen an das
Schickſal zu ſtellen. Nun höre die Antworten, welche
es gab, und die in der That merkwürdig ſind. Frau
von Rothſchild war die Erſte, welche frug, ob ihre
Wünſche erfüllt werden würden? Sie erhielt die
Antwort: Ermüde das Schickſal nicht mit Wün-
ſchen, wer ſo viel erlangt hat, muß zufrieden ſeyn. —
Hierauf frug Herr Spring Rice, ein berühmter Par-
lamentsredner und einer der eifrigſten Verfechter der
Emancipation der Catholiken (eine Sache, die hier
für alle Welt jetzt vom größten Intereſſe, für oder
wider, iſt), ob morgen, wo die Frage im Oberhaus
für diesmal entſcheiden wird, ſie durchgehen würde?
Nun muß ich hier einſchalten, daß es ſchon bekannt
iſt, daß ſie nicht durchgehen wird, man aber zu-
gleich allgemein glaubt, daß ſie beim nächſten Par-
lament den gewünſchten Erfolg haben müſſe. Grade
ſo nun lautete die lakoniſche Antwort des Buchs,
24*
[372] nämlich: Ihr werdet keinen Succeß haben, dies-
mal
. — Nun zwang man eine junge Amerikanerin
zu fragen, ob ſie ſich bald verheirathen würde, wor-
auf die Antwort war: Nicht in dieſem Welttheil. —
Jetzt kam die Reihe an mich und ich frug: ob, was
mein Herz grade jetzt ſo lebhaft berühre, zu meinem
Glücke ſey? Laß dieſe Neigung fallen, erwiederte
das Zauberbuch, denn Du wirſt ſehen, ſie iſt weder
wahr noch beſtändig.


Ob hierbei aber meine eigne oder die zu mir ge-
meint ſey, bleibt, wie alle Orakel, dunkel.


Die Geſellſchaft, welche natürlich keine Ahnung
von meiner eigentlichen Meinung bei der Frage hatte,
machte ſich ſehr luſtig über die erhaltene Abfertigung,
und verlangte, ich ſollte noch eine thun. Ich frug
alſo: Wird das Schickſal mir in ernſteren Plänen
günſtig ſeyn? Suche, war die Antwort, und Du
wirſt finden, beharre und Du wirſt erreichen.


Ohne zu ſuchen fand ich an demſelben Abend noch
eine ſehr angenehme Bekanntſchaft, indem ich der
Herzogin von Meiningen, Mutter der Herzogin von
Clarence, bei dieſer vorgeſtellt ward, eine höchſt lie-
benswürdige Dame von ächt deutſchem Character,
der weder ihr Alter noch ihr Rang die naive Natür-
lichkeit hat nehmen können, welche vielleicht das
ſicherſte Zeichen einer reinen und ſchönen Seele iſt.
Die würdige Mutter einer ſo hoch verehrten Tochter,
muß den Engländern, die ihrer künftigen Königin
ſehr anhängen, eine angenehme Erſcheinung ſeyn,
auch zeigte ſich von allen Seiten das größte Em-
[373] preſſement. Schade nur, daß es bei ſolchen Gelegen-
heiten den engliſchen Damen, Vornehmen wie Gerin-
gen in der Regel ſo ſehr an graziöſer Tournüre und
geſchickten Worten fehlt, um ein hübſches Total-
ſchauſpiel zu geben. Ein Drawingroom und eine
Hofpräſentation ſind hier immer ſo lächerlich, wie
das Lever eines Bürgermeiſters der weiland freien
Reichsſtädte unſers Vaterlandes, und aller Stolz
und Reichthum der Ariſtokratie verſchwindet in dem
linkiſchen Embarras dieſer mit Diamanten und Putz
nicht geſchmückten, ſondern nur beladenen Ladies.
Im Neglieé, und wenn ſie ungenirt in ihrem Hauſe
ſich in gewohnter Umgebung bewegen, erſcheinen
junge Engländerinnen oft ſehr vortheilhaft, in Pa-
rüre und großer Geſellſchaft aber faſt nie, weil eine
unbezwingliche und aller Grazie entbehrende Tumi-
dität ſelbſt ihre intellectuellen Eigenſchaften ſo voll-
ſtändig paralyſirt, daß eine geiſtreiche Unterhaltung
mit ihnen gewiß eine ſchwere Aufgabe wird.


Ich halte ſie daher auch unter allen Europäerinnen
für die angenehmſten und comfortableſten Ehefrauen,
ſo wie für die unfähigſten zu Repräſentation und
Geſellſchaft. Offenbar überſteigt bei dieſem Urtheil
das Lob den Tadel weit.



Heute wohnte ich einem intereſſanten Frühſtück
bei, welches der Tauben-Club gab. Dieſe Benen-
[374] nung bedeutet keineswegs, daß die Mitglieder ſanft
und ohne falſch, wie die Tauben, ſich zu ſeyn be-
fleißigen, ſondern er beſteht im Gegentheil aus der
wildeſten Jugend Englands, und die Tauben ha-
ben nur in ſo fern etwas damit zu ſchaffen, als die
Aermſten — todtgeſchoſſen werden. Der Schauplatz
war ein großer mit einer Mauer umſchloßner Gras-
garten. An der einen Seite befindet ſich eine Reihe
Zelte, in deren größtem eine gedeckte Tafel von 1—6 Uhr
fortwährend friſch mit Speiſen beſetzt, und mit Cham-
pagner und Moſelwein in Eis raſtlos garnirt ward.
Ohngefähr 100 Schützen nebſt einigen Gäſten waren
gegenwärtig, und die ganze Zeit über ſchoß, aß und
trank man abwechſelnd. Die Tauben werden, immer
acht an der Zahl, in einer Reihe aufgeſtellt. An den
Käſtchen, die ſie beherbergen, ſind Stricke befeſtigt,
welche alle acht am Schießſtand zuſammenlaufen,
und ſo eingerichtet ſind, daß, wenn man an einem
derſelben zieht, das betreffende Käſtchen aufklappt und
die Taube herausfliegt. Der, welcher zuletzt geſchoſ-
ſen hat, zieht für den nächſten Schützen, aber hinter
ihm ſtehend, ſo daß jener nicht ſehen kann, welchen Strick
er zieht, daher auch ganz unvorbereitet und ungewiß
iſt, welche der acht Tauben auffliegen werde. Fällt
die Taube noch innerhalb der Einzäunung nach ſei-
nem Schuß, ſo wird ſie ihm angerechnet. Kömmt
ſie hinaus, ſo wird es als gefehlt angeſehen. Jeder
Schütze hat eine Doppelflinte, und darf beide Läufe
gebrauchen.


[375]

Die beiden berühmteſten Schützen in England ſind
Capitän Roos und Mr. Osbaldiſtone. Beide ſchoſſen
eine Wette um 1000 L. St., die aber heute noch nicht
entſchieden wurde. Beide fehlten kein einziges Mal,
und Cap. Roos Taube kam nie 12 Schritte weit,
flatterte auch kaum, ſondern fiel faſt immer mit dem
Schuß ſogleich wie ein Stein zur Erde. Nie habe
ich ſo unbegreiflich gut ſchießen ſehen. Ein hübſcher
kleiner Hühnerhund des Clubs apportirte jede Taube,
wie eine Maſchine ſeinen Dienſt ſtets ohne Fehl und
ohne Uebereilung verrichtend. Zuletzt ſchoß die ganze
Geſellſchaft noch um einen goldnen Becher, 200 L.
St. an Werth, den jährlichen Preis, den Capitain
Roos gewann. Um 7 Uhr kam ich erſt von dieſem
luſtigen Frühſtück fort, und begab mich in ein mir
noch unbekanntes Theater, Sadlers Wells genannt,
welches gute drei Viertel deutſche Meilen von mei-
ner Wohnung entfernt iſt. Ich war in einem Fiacre
hingefahren, und als ich gegen 1 Uhr wieder zu
Haus wollte, fand ſich in dieſem entlegenen Winkel
kein Miethwagen mehr, und auch alle Häuſer waren
geſchloſſen. Dies war um ſo unangenehmer, da ich
wirklich keine Idee davon hatte, in welchem Theile
der Stadt ich mich befand.


Nachdem ich eine halbe Stunde vergeblich in den
Straßen umhergeirrt war, um einen Wagen aufzu-
treiben, und ſchon mich reſignirte, mit Hilfe eines
Watchman (Nachtwächter) zu Fuß nach Hauſe zu wan-
dern, kam noch eine Diligence gefahren, die glückli-
cherweiſe grade meinen Weg einſchlug, und mit der
[376] ich daher gegen 2 Uhr wieder bei den Hausgöttern
anlangte. — Dieſes Theater hat das Eigenthümliche,
daß es unter wirkliches Waſſer geſetzt werden kann,
in welchem Element die Schauſpieler oft Stunden
lang gleich Waſſerthieren umherplätſchern. Uebrigens
geht nichts über den Unſinn der hier aufgeführten
Melodrame, und über den horriblen Geſang, von
dem ſie begleitet werden.



Man hat noch einen Fancyball arrangirt, der mir
aber nur einen traurigen Eindruck zurückließ. Ich
bemerkte einen blaſſen, in einen einfachen ſchwarzen
Domino gehüllten Mann, in deſſen Geſicht ein un-
nennbarer Zug des bitterſten Seelenleidens ſchmerz-
lich anzog. Er blieb nicht lange, und als ich mich
bei L. nach ihm erkundigte, gab dieſer mir folgende
Auskunft: Dieſer beklagenswerthe Sterbliche, Obriſt
S …, ſagte er, würde den Helden zu einem ſchauer-
lichen Roman abgeben können. Wenn man von Je-
mand ſagen kann, er ſey unglücklich geboren, ſo iſt
er es. Sein großes Vermögen verlor er früh durch
den frauduleuſen Banquerott eines Freundes. Hun-
dertmal kam ihm ſeitdem das Glück entgegen, aber
immer nur, um ihn im entſcheidenden Augenblick mit
dem Verſchwinden aller Hoffnung zu äffen, und faſt
jedesmal waren es nur die unbedeutendſten Kleinig-
keiten, ein verſpäteter Brief, eine leicht mögliche Ver-
[377] wechſelung, ein unheilbringendes Unwohlſeyn, an
denen alles ſcheiterte, ſcheinbar ſogar immer ſeine
eigne Schuld, und doch nur das Gewebe hohnlachen-
der, tückiſcher Geiſter.


So beginnt er ſchon lange nichts mehr, um ſeine
Lage zu ändern, fuhr L. fort, verſucht keine Beſſe-
rung ſeines Schickſals, im Voraus durch lange,
grauſame Erfabrung überzeugt, daß ihm nichts ge-
lingen könne. Ich kenne ihn von Jugend auf.
Obgleich harmlos wie ein Kind, hält ihn doch ein
großer Theil der Welt für böſe; obgleich einer der
aufrichtigſten Menſchen, für falſch und intriguant;
ja man vermeidet und ſcheut ihn, obgleich nie ein
Herz wärmer für das Wohl Anderer ſchlug. Das
Mädchen, das er anbetete, ward durch ſeine vermeinte
Untreue zur Selbſtmörderin, er ſelbſt befand ſich in
Folge unerhörter Umſtände lange in Unterſuchung
wegen des Mordes ſeines Bruders, neben dem er, ſein
eignes Leben für jenes Vertheidigung opfernd, blu-
tend gefunden ward. Schon zum Strange verur-
theilt, rettete ihn vom ſchimpflichen Tode allein des
Königs Vegnadigung, der erſt ſpäter die Beweiſe
ſeiner Unſchuld folgten. Eine Frau endlich, die er in
Folge eines ſchändlichen lange vorbereiteten Betruges
heirathete, lief mit einem andern davon, und wußte
es dennoch dahin zu bringen, daß in der Welt nur
ihm der größte Theil der Schuld beigemeſſen ward.
Vor der Zeit ſo in jedem Selbſtvertrauen geknickt,
jeder Hoffnung auf das Schickſal wie auf die Men-
ſchen abgeſtorben, lebt er unter ihnen nur noch wie
[378] ein theilnahmloſer abgeſchiedner Geiſt, ein herzzer-
reiſſendes Beiſpiel, daß es Weſen gibt, die, für die-
ſes Leben wenigſtens, dem Teufel ſchon vor der Ge-
burt verkauft geweſen zu ſeyn ſcheinen. Denn wen
der Fluch des Unglücks einmal getroffen, dem ſchafft
er nicht nur Feinde auf jedem Schritt, ſondern raubt
ihm auch das Zutrauen und zuletzt das Herz der
Freunde, bis endlich der Arme, überall Getretne, Ge-
ſtoßne und Gemißhandelte daniederſinkend, ſein wun-
des müdes Haupt hinlegt und ſtirbt, während ſein
letzter Seufzer noch der mitleidsloſen Menge, als
eine Anmaſſung und ein unerträglicher Mißton er-
ſcheint. Wehe den Unglücklichen! Dreimal wehe
ihnen! denn für ſie gibt es weder Tugenden, noch
Klugheit, noch Geſchick, noch Freude. — Es gibt nur
ein Gutes für ſie, und das iſt der Tod!



Im Ganzen hat es doch etwas Angenehmes, jeden
Tag über ſo viele Einladungen diſponiren, und wo
es einem nicht gefällt, ſogleich eine beſſer conveni-
rende Geſellſchaft aufſuchen zu können. Hie und da
findet ſich dann doch immer etwas Neues, Pikantes
oder Intereſſantes. So machte ich geſtern beim
Prinzen L… die Bekanntſchaft einer zweiten Ninon
de l’Enclos. Lady A .... hält gewiß Niemand für
mehr als 40, dennoch iſt ſie nahe an 80. Nichts an
ihr erſcheint gezwungen noch unnatürlich, dennoch
[379] alles jugendlich, Taille, Anzug, Lebhaftigkeit des
Benehmens, Grazie und Schnellkraft der Glieder,
ſoweit dies auf einem Balle zu bemerken iſt, Alles
iſt vollkommen jung an ihr, und im Geſicht kaum
eine Runzel. Sorgen hat ſie ſich nie gemacht, und
von Jugend auf ſehr luſtig gelebt, iſt auch zweimal
ihren Männern davon gelaufen, weßhalb ſie lange
England mied, und ihr großes Vermögen in Paris
verzehrte. Alles zuſammengenommen, eine allerliebſte
Frau, in ihrem Benehmen mehr Franzöſin als Eng-
länderin und ganz du grand monde. In der Toi-
lettenkunſt hat ſie große Studien und ſcharfſinnige
Erfindungen gemacht. So viel ich davon erlauſchen
konnte, werde ich gerne Dir und allen meinen ſchö-
nen Freundinnen mittheilen.


Am nächſten Tage gab der Herzog von S. auf
ſeiner Villa ein dejeuné champêtre, bei dem er es
doch möglich gemacht hatte, noch etwas Neues für
dergleichen Feten zu erfinden. Sein ganzes Haus
war mit ſchönen Hauteliſſe und bunten chineſiſchen
Tapeten behangen, eine Menge Meubles, Sophas,
Fauteuils, Chaises longues, Spiegel ꝛc. im Garten
überall, wie in mehreren Salons und Cabinets ver-
theilt, und außerdem kleine Lager von Zelten, aus
weiß und Roſa-Mouſſelin angebracht, die ſich in dem
Smaragdgrün des pleasure grounds herrlich aus-
nahmen.


Abends folgte, wie gewöhnlich, eine Illumination,
größtentheils nur mit einzelnen Lampen kunſtreich
in den Bäumen und Büſchen verborgen, gleich ſo
[380] viel glühenden Früchten und Johanniswürmchen, die
Liebenden und die Einſamen anzulocken. Aber auch
diejenigen, welche Geräuſch den ſtillen Freuden vor-
ziehen, fanden Befriedigung. Hier tanzte in einem
weiten Zelte, zu dem ein Weg von glänzend erhell-
ten Bögen aus Noſenguirlanden führte, ein großer
Theil der Geſellſchaft, dort erſchallte ein vortreffliches
Concert, ausgeführt von den beſten Virtuoſen und
Sängern der italiäniſchen Oper. Auch italiäniſches
Wetter begünſtigte glücklicherweiſe vom Anfang bis
zum Ende dieſes Feſt, welches der kleinſte neckende
Geiſt der Atmoſphäre hätte vernichten können. In
England war das ganze Unternehmen daher wohl ein
Wagſtück zu nennen, und doch findet man gerade
dieſe Art Feten hier häufiger und ſchöner als irgendwo,
wie der unfruchtbarſte Boden oft der cultivirteſte iſt.


Ich habe mich nun ſo eingerichtet, daß ich in ſpä-
teſtens 4 Wochen England verlaſſen kann, um eine
Reiſe von etwas längerer Dauer nach Wales, und
beſonders nach Irland zu machen, welches letztere nach
ſo Vielem, was ich davon höre, weit mehr Intereſſe
wie Schottland bei mir erregt. Doch thut es mir
leid, daß Krankheit zuerſt, und die Zerſtreuungen der
Hauptſtadt nachher, mich um den Anblick jenes Lan-
des gebracht haben. Es iſt eine Vernachläſſigung,
die ich in mein Sündenbuch mit aufnehmen muß,
das leider ſo viele dergleichen enthält, unter dem Ar-
tikel: Indolenz — ein abſcheulicher Feind der Men-
ſchen! Gewiß hatte jener franzöſiſche Marſchall, der
zu Ludwig XIV., für Parvenüs ſo ungünſtigen Zeit,
[381] ſich dennoch vom gemeinen Soldaten bis zu der höch-
ſten Würde ſeines Standes emporſchwang, als er ei-
nigen Freunden, die ihn fragten, wie ihm dies mög-
lich geworden, antwortete: „Nur dadurch, daß ich
nie bis morgen aufſchob, was ich heute
thun konnte
. Faſt in daſſelbe Kapitel gehört die
Unentſchloſſenheit, auch ein Erbfeind ſo vieler Men-
ſchen, die ein noch berühmterer Marſchall, Souva-
roff, ſo ſehr haßte, daß er, in der Uebertreibung ſei-
nes Charakters, denen ſogleich ſeine Gunſt entzog,
die ihm je auf eine Frage erwiederten: „Ich weiß
nicht.“


Non mi ricordo, geht ſchon eher an, und meinen
Grundſätzen gemäß wende ich dies beſonders auf alle
beſagten Sünden an, wenn ſie einmal geſchehen ſind.
Man muß es ſich täglich wiederholen: die Vergan-
genheit iſt todt, nur die Zukunft lebt.


Möge ſie uns, meine geliebte Julie, immer gün-
ſtig erſcheinen.


Dein treuer L.


[[382]]

Vier und zwanzigſter Brief.



Geliebte Freundin!

Nachdem ich meinen Brief an Dich abgeſchickt hatte,
und dann mit einigen Damen eine Landparthie ge-
macht, fuhr ich auf eine Aſſemblee beim Herzog von
Clarence, wo diesmal ein ſolches ächt engliſches Ge-
dränge war, daß es mir, wie vielen Andern, durch-
aus nicht gelang, hereinzukommen, und wir nach
einer halben Stunde unverrichteter Sache wieder ab-
ziehen mußten, um uns auf einem andern Balle zu
entſchädigen. Die Maſſe im erſten Zimmer wurde ſo
zuſammengepreßt, daß mehrere Herren ihre Hüte
aufſetzten, um nur beſſer mit den Armen arbeiten zu
können. Mit Juwelen bedeckte Damen wurden ſörm-
lich nieder gebort, und fielen oder ſtanden vielmehr in
Ohnmacht. Schreien, Stöhnen, Fluchen und Seufzen
waren die einzigen Töne, die man vernahm. Einige
[383] nur lachten, und ſo unmenſchlich es war, muß ich
mich doch anklagen, ſelbſt unter dieſen letztern gewe-
ſen zu ſeyn, denn es war doch gar zu ſpaßhaft, ſo
etwas Geſellſchaft nennen zu hören. In der That
hatte ich es aber auch ſo arg bisher noch nicht erlebt.


Früh am andern Morgen ritt ich nach C … hall,
um einige Tage dort zuzubringen, auf eine Einla-
dung zu Lord D. Geburtstag, der heute ländlich
und anſpruchslos gefeiert wurde. Die Familie befand
ſich, auſſer mir, ganz allein noch durch den älteſten
Sohn mit ſeiner ſchönen und lieblichen Frau ver-
mehrt, welche gewöhnlich in Irland reſidiren. Häus-
lichkeit war überall an der Tagesordnung. Man aß
früh, um gegen Abend dem Soupé im Freien bei-
wohnen zu können, welches Lord D . . . . allen ſei-
nen Lohnarbeitern gab, ohngefähr 100 an der Zahl.
Es ging dabei höchſt anſtändig zu. Wir ſaßen im
pleasure ground am eiſernen Zaun, und auf der ge-
mähten Wieſe waren die Tiſche für die Leute gedeckt.
Erſt bekamen ohngefähr 50 junge Mädchen aus der
Lankaſter’ſchen Schule, die Lady D . . . . im Park
geſtiftet, Thee und Kuchen. Alle waren egal ange-
zogen, und mitunter recht hübſch, Kinder von 6 — 14
Jahren. Nach dieſen erſchienen die Arbeiter und ſetz-
ten ſich an eine lange Tafel, die reichlich mit unge-
heuern Schüſſeln voll Braten, Gemüſe und Pudding
beſetzt war. Jeder brachte ſein Beſteck und ſeinen
irdenen Becher ſelbſt mit. Die Diener des Hauſes
legten vor, machten überhaupt die Honneurs und
ſchenkten das Bier aus großen Gartengießkannen ein.
[384] Die Muſikanten des Dorfes muſicirten dazu, und
zwar weit beſſer als die unſrigen, waren auch weit
beſſer angezogen, dagegen die Arbeiter nicht ſo gut
und reinlich ausſahen, als unſre Wenden in ihrer
Sonntagstracht. Es waren durchaus nur diejenigen
Bewohner des Dorfs und der Umgegend eingeladen,
die fortwährend für Lord D . . . . arbeiten, ſonſt
Niemand. Die Geſundheiten aller Mitglieder der
Familie des Lords wurden mit neunmaligem Hurrah-
geſchrei ſehr förmlich getrunken, worauf unſer alter
Kutſcher Child (jetzt in Lord D . . . . s Dienſt) der
eine Art engliſcher Improvisatore iſt, mitten auf den
Tiſch ſtieg, und eine höchſt poſſirliche Rede in Verſen
an die Geſellſchaft hielt, in der auch ich vorkam, und
zwar indem er mir wünſchte
to have allways plenty of gold and never to
become old,

(immer genug Geld zu haben und nie alt zu
werden)

was der doppelten Unmöglichkeit wegen faſt ſatyriſch
klang.


Während dieſer ganzen Zeit, und bis es dunkel
ward, tanzten und hüpften die kleinen Mädchen un-
ter ſich mit großer Gravität auf dem Raſen, ohne
irgend einen Zuſammenhang, wie Marionetten, raſt-
los umher, die Muſik mochte ſchweigen oder ſpielen.
Unſere Geſellſchaft im pleasure ground ward endlich
auch von dieſer Tanzluſt angeſteckt, und ich ſelbſt
[385] gezwungen, mein deßhalbiges Gelübde zu brechen,
was ich meiner Tänzerin, der 60jährigen Lady D …,
ohnmöglich abſchlagen konnte.



Lange habe ich mich nicht ſo gut amüſirt als hier.
Am Tage mache ich in der ſchönen Gegend Excurſio-
nen, oder fahre in Lady D … s Phaeton und Ein-
ſpänner ohne Weg und Steg in den Wieſen und
dem Hohlwalde des Parks umher, und auch Abends
nehme ich, wie Jeder, nicht mehr Theil an der Ge-
ſellſchaft als mir gefällt. Geſtern ſaßen wir ſo Alle
(9 Perſonen) wohl ein paar Stunden lang nach dem
Eſſen in der Bibliothek gemeinſchaftlich zuſammen,
und laſen, jeder aber, verſteht ſich, ſein eignes Buch,
ohne daß ein einziges Wort die Lectüre unterbrochen
hätte, über welches peripathetiſche Stillſchweigen wir
doch zuletzt ſelbſt lachen mußten, eingedenk des Eng-
länders, welcher in Paris behauptete, que parler
c’était gàter la conversation.


Nachdem ich am erſten Tage die erwähnte Lanka-
ſter’ſche Schule beſichtigt hatte, wo eine einzige Per-
ſon 60 Mädchen unterrichtet, die aus der Umgegend,
ſo weit ſie dem Lord gehört, täglich auf 4 Stunden
hierherkommen, ritt ich nach Rocheſter, um die Rui-
nen des dortigen alten Schloſſes zu beſehen, ein ſchö-
ner Ueberreſt des Alterthums. Was nicht mit Ge-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 25
[386] walt zerſtört wurde, ſteht noch felſenfeſt ſeit Wilhelm
des Eroberers Zeiten, alſo mehr als 800 Jahre. Be-
ſonders ſchön ſind die Ueberreſte des Eßſaals mit
coloſſalen Säulen, verbunden durch reich verzierte
ſächſiſche Bogen. Die Stein-Ornamente wurden alle
in der Normandie gearbeitet und zu Waſſer herge-
ſandt. Ich erſtieg die höchſte Spitze der Ruine, wo
ich eine herrliche Ausſicht fand, auf die Vereinigung
der beiden Flüſſe Medway und Themſe, die Städte
Rocheſter und Chatham nebſt den Dock-Yards in der
letzten, und einer reich bebauten Umgegend.


Zum Diné bekam unſere Geſellſchaft einen Zuwachs
durch Mr. und Mſts. P …, Mr. M . . . . und
einen Neffen Lord D . . . . s; Mſts. P … er-
zählte eine gute Anekdote vom Schauſpieler Kemble.
Auf einer ſeiner Kunſtreiſen in der Provinz ſpielte
dieſer in einem Stück, worin ein Kameel vorkömmt.
Er ſprach deßhalb mit dem Decorateur und äuſſerte:
daß gerade, wie er heute geſehen, ein Kameel in der
Stadt ſey — der Decorateur möge ſich es daher an-
ſehen, um ſein artificielles Thier demſelben ſo ähn-
lich als möglich zu machen. Der Mann ſchien hier-
über ſehr verdrüßlich und erwiederte: es thäte ihm
leid, daß die Herren von London glaubten, in der
Provinz ſey man ſo gar unwiſſend; was ihn beträfe,
ſo ſchmeichle er ſich, ohne weitere Inſpektion, heut
Abend ein natürlicheres Kameel herzuſtellen, als
irgendwo eins in der Stadt umhergehen könne.


[387]

Am folgenden Tage wurde abermals, und zwar
diesmal in Geſellſchaft der Damen, ausgeritten, und
ſpäter, nach dem Luncheon, eine Waſſerfahrt auf
Lord D . . . . s eleganter Jacht gemacht. Bis zur
Themſe fuhr ich die Geſellſchaft four in hand, was
ich in der letzten Zeit ſo wenig geübt habe, daß an
einem Kreuzwege meine leaders (Vorderpferde) mit
ihren Köpfen wider meinen Willen in das Innere
einer quer vorbeieilenden Diligence geriethen, und
dadurch in beiden Wägen, ſowohl vor als hinter
mir, einige Schreie des Schreckens hervorriefen, was
den alten Child, der mich als ſeinen Schüler anſieht,
ſehr entrüſtete.


An einem Tage verlor ich ſo, wie der große Corſe,
all meinen Ruhm in der großen Kunſt, die Zügel
zu führen, die man vom Throne regieren, vom
Bocke fahren nennt. Ich mußte daher auch den letz-
teren abdiciren, weil die Damen behaupteten, daß
ihr Leben, während ich dieſen Platz einnähme, in zu
großer Gefahr ſchwebte.


Dieß verdroß mich ſo ſehr, daß ich, auf der Jacht
angekommen, ſogleich die Strickleitern hinaufklet-
terte, und im Maſtkorbe blieb, wo ich, von einem
lauen Zephyr gefächelt, gemächlich die ſtets ſich än-
dernde Ausſicht bewundern, und über meinen tiefen
Sturz philoſophiren konnte.


[388]

Nachdem ich heute noch fleißig geholfen, einige neue
Proſpekte im Gebüſch auszuhauen, woran wir Alle
Hand legten, und einen Weg im Park angegeben
hatte, dem man die Ehre anthun will, ihn nach mir
zu benennen, nahm ich herzlichen Abſchied von dieſer
vortrefflichen Familie, die den Vornehmen jedes Lan-
des zum Muſter dienen könnte, und kehrte, verſehen
mit mehreren Empfehlungsbriefen für Irland, nach
London zurück.



Da ich vor meiner Abreiſe Dir noch vielerlei mit
meinen Pferden, Wagen und Vögeln (von den letz-
tern erhältſt Du einen ganzen Transport der ſelten-
ſten) zuſenden will, ſo habe ich dieſer Tage mit aller-
lei Einkäufen viel zu thun gehabt. Während dem
gerieth ich auf die Ausſtellung des Gewerbfleißes,
wo man gar manches Intereſſantes ſieht, als z. B.
eine Maſchine, die alle im Geſichtskreis befindlichen
Dinge perſpektiviſch, ſo zu ſagen, von ſelbſt zeichnet;
ein Fortepiano, das, auſſer zu dem gewöhnlichen
Gebrauche zu dienen, auch noch hundert Stücke extra
allein ſpielt, ſo daß man dieſe mit eignen Phanta-
ſieen auf den Taſten begleiten kann; ein ſehr com-
pendieuſer Haustelegraph, der die Bedienten mehr
als zur Hälfte, und ihre läſtige Anweſenheit faſt ganz
[389] erſpart; eine Waſchmaſchine, die für die größte Menge
Wäſche doch nur eine Gehülfin braucht; eine höchſt
elegante Buttermaſchine, um ſich in Zeit von zwei
Minuten die Butter ſelbſt beim Frühſtück zu verfer-
tigen, und mehr andere Neuigkeiten dieſer Art.


Von hier fuhr ich nach der größten Nurſery (Han-
delsgarten) in der Umgegend Londons, welche ich
ſchon lange zu ſehen gewünſcht. Die mannichfachen
Bedürfniſſe ſo vieler reicher Leute bringen hier Pri-
vatunternehmungen von einem Umfang hervor, wie
man ſie ſonſt nirgends antrifft. So fand ich in die-
ſem Garten eine Sammlung Gewächshäuſer von je-
der Größe. Bei vielen waren ſchmale bleierne Röh-
ren, längs dem Rahmen des Glasdaches hin ange-
bracht, ohngefähr drei an jeder Seite des Daches.
In dieſe Röhren ſind ganz ſchmale Löcher gebohrt,
nach Verhältniß ihrer Höhe vom Boden. Das bloße
Drehen eines Hahnes füllt die Röhren mit Flußwaſ-
ſer, und in demſelben Augenblick entſteht im ganzen
Hauſe ein dichter Regen, gleich dem natürlichen, den
man anhalten läßt, ſo lange man will. Dies macht
das beſchwerliche Begießen faſt ganz unnöthig, wirkt
viel kräftiger und gleichförmiger ein, und nur, wo
zu dichte Blätter vielleicht dem Regen undurchdring-
lich ſind, wird nachgeholfen.


Gegen Schloßen fand ich folgende einfache Vor-
richtung. Auf dem Forſt des Glasdaches, wie auf
den beiden Seitenmauern ſind eiſerne Spitzen befe-
ſtigt, und zwei Fuß über dem Glaſe zuſammenge-
[390] rolltes Segeltuch an ſie befeſtigt. Kommen Schloßen,
ſo wird durch eine leichte und ſchnelle Vorrichtung
dieſes Segeltuch, vermittelſt angezogener Schnüre,
ſtramm aufgeſpannt, ſo daß es gleichſam ein doppel-
tes Dach bildet, und alle Schloßen davon abprallen
müſſen, ohne das Glas berühren zu können.


Ohne mich in das Detail der unzähligen Ananas-
ſorten, Roſen ꝛc. einzulaſſen, bemerke ich nur, daß
im Departement der Gemüſe 435 Arten Sallat,
261 Erbſen und 240 Kartoffeln zu haben waren, und
ſo fort im gleichen Verhältniß faſt mit allen Gegen-
ſtänden des Gartenhandels.


Auf dem Rückwege begegnete ich den Tyrolern, die
ſich einen freien Tag gemacht hatten, und frug das
Mädchen, meine alte Bekannte, wie ſie denn alle
mit ihrem hieſigen Aufenthalt zufrieden wären? Sie
verſicherten enthuſiaſtiſch, „daß ihr Heiliger ſie hier-
her geführt haben müſſe, denn wenige Monate hät-
ten ihnen nun ſchon 7000 L. St. eingebracht, die ſie
ſich baar mit ihren zwölf Liedern erſungen.“


Der Fürſt Eſterhazy hat dies Gejodle hier Mode
gemacht, und Mode iſt hier Alles. Die Sontag und
Paſta, ohngeachtet ihres herrlichen Talents, haben
doch eigentlich auch nur dieſem Umſtande: daß ſie
Mode wurden, ihr Glück in London zu verdanken;
denn Weber, der ſich zu dieſem Ende nicht zu beneh-
men wußte, erhielt bekanntlich faſt nichts, die beiden
[391] Bohrer, Kieſewetter, deßgleichen, und mehrere An-
dere von großem Verdienſte waren nicht glücklicher.


Indem ich von der Mode rede, wäre es wohl ge-
rade hier paſſend, mich vor meinem Abgange aus
England noch einmal etwas weitläuftiger über das
Weſen der dortigen Geſellſchaft auszulaſſen, das al-
lerdings einen Fremden noch mehr als Nebel, Dampf-
maſchinen und Poſtkutſchen in dieſem gelobten Lande
auffallen muß. Es iſt wohl nicht nöthig, hier erſt
zu bemerken, daß bei ſolchen allgemeinen Schilderun-
gen nur das Vorherrſchende ins Auge gefaßt wird,
und bei dem Tadel, den das Ganze trifft, der hun-
dert ehrenvollen Ausnahmen, die ſo vollkommen das
lobenswertheſte Gegentheil aufſtellen, nicht gedacht
werden kann.


England befindet ſich, allerdings mit Berückſichti-
gung eines ganz verſchiedenen allgemeinen Zeitgeiſtes,
dennoch in einer ähnlichen Periode wie Frankreich,
30 Jahre vor der Revolution. Es wird ihr auch
wie jenes verfallen, wenn es ihr nicht durch radi-
kale, aber ſucceſſive Reform entgeht. Nah verwandte
Grundübel ſind hier vorhanden, wie dort. Auf der
einen Seite: Uebermacht, Mißbrauch der Gewalt,
verſteinerter Dünkel und Frivolität der Großen; auf
der andern zum allgemeinen Nationalcharakter ge-
wordner Egoismus und Habſucht beim ganzen Volke.
Die Religion ruht nicht mehr im Herzen und Ge-
müth, ſondern iſt eine todte Form geworden, trotz
dem ungebildetſten Katholicismus, mit weniger Ce-
[392] remonien, aber mit gleicher Intoleranz und einer
gleichen Prieſterhierarchie verbunden, die jedoch, auſ-
ſer ihrer Bigotterie und ihrem Stolz, noch das vor-
aus hat, daß ſie das halbe Vermögen des Landes
beſitzt. *)


Dieſe Urſachen haben auch dem, was man vor-
zugsweiſe Geſellſchaft nennt, eine analoge Richtung
geben müſſen. Die Erfahrung wird dies Jedem be-
ſtätigen, der Gelegenheit zur näheren Beleuchtung
des high life in England findet, und höchſt intereſ-
ſant wird es ihm ſeyn, zu beobachten, wie verſchie-
den dieſelbe Pflanze ſich in Frankreich und bei John
Bull durch die Verſchiedenheit des Urgrundes ausge-
bildet hat; denn in Frankreich entwickelte ſie ſich mehr
aus dem Ritterthume und ſeiner Poeſie, nebſt einer
allerdings in der Nation dominirenden Eitelkeit, ver-
[393] bunden mit leichtem Sinn und einer wahren Freude
an der Socialität; in England dagegen aus einer
brutalen Vaſallenherrſchaft, dem ſpätern Handels-
glück, angeborner übler Laune des Volkes und einer
von jeher ziemlich verſteinerten Selbſtliebe.


Man bildet ſich gewöhnlich im Auslande eine mehr
oder weniger republikaniſche Anſicht von der engli-
ſchen Geſellſchaft. In dem öffentlichen Leben der
Nation iſt dieſes Prinzip allerdings ſehr bemerkbar,
und wird es immer mehr; eben ſo in der Art ihrer
Häuslichkeit, wo zugleich auch der Egoismus ſeltſam
vorherrſcht. Erwachſene Kinder und Eltern werden
ſich ſchnell fremd, und was wir Häuslichkeit nen-
nen, iſt daher hier bloß auf Mann und Frau und
kleine Kinder anwendbar, ſo lange dieſe in der un-
mittelbaren Abhängigkeit vom Vater leben. Sobald
ſie größer werden, tritt ſogleich republikaniſche Kälte
und Trennung zwiſchen ihnen und den Eltern ein.
Ein engliſcher Dichter behauptet ſogar: die Liebe der
Großväter zu ihren Enkeln entſtehe blos daher, weil
ſie in ihren erwachſenen Söhnen nichts anders als
begierige und feindliche Erben ſähen, in ihren En-
keln aber wiederum die künftigen Feinde ihrer Feinde
liebten. Ein ſolcher Gedanke ſelbſt konnte nur in
einem engliſchen Gehirne entſtehen!


In den geſellſchaftlichen Verhältniſſen dagegen iſt
von oben bis auf die unterſten Stufen herab auch
nicht eine Spur republikaniſcher Elemente anzutreffen.
Hier iſt Alles im höchſten Grade mehr als ariſtokra-
[394] tiſch, es iſt caſtenartig indiſch. Eine andere Ausbil-
dung der heutigen ſogenannten großen Welt würde
vielleicht noch ſtatt gefunden haben, wenn in Eng-
land ein Hof, im Continentalſinne, Ton und Rich-
tung in höchſter Inſtanz angegeben hätte.


Ein ſolcher iſt aber hier nicht vorhanden. Die eng-
liſchen Könige leben als Privatleute, die meiſten Hof-
chargen ſind faſt nur nominell, vereinigen ſich höchſt
ſelten, nur zu großen Gelegenheiten, und da ſich doch
irgendwo in der Geſellſchaft ein Focus organiſiren
muß, von dem das höchſte Licht und die höchſte Au-
torität fortwährend ausſtrahlt, ſo ſchien die reiche
Ariſtokratie berufen, dieſe Stelle einzunehmen. Sie
war aber, bei aller ihrer Macht und Reichthum, den-
noch nicht allein im Stande, dieſen Platz vollſtändig
zu behaupten. Der engliſche Adel, ſo ſtolz er iſt,
kann ſich doch an Alter und Reinheit, wenn ſolchen
Dingen einmal Werth beigelegt werden ſoll, nicht
excluſiv nennen, kaum mit dem franzöſiſchen, durch-
aus aber nicht mit dem höheren, großentheils in
Takt gebliebenen Deutſchen meſſen. Er blendet nur
durch die weislich immer beibehaltenen alten hiſtori-
ſchen Namen, die wie ſtehende Masken durch die
ganze Geſchichte Englands durchgehen, obgleich im-
mer neue Familien und oft ſolche, die von ganz ge-
ringen Leuten, oder Maitreſſen ꝛc. abſtammen, da-
hinter ſtecken. Englands Adel hat freilich die ſoli-
deſten Vorzüge vor dem anderer Länder, durch ſeinen
reellen Reichthum, und noch mehr durch den Antheil
an der Geſetzgebung, den ihm die Verfaſſung ein-
[395] räumt; da er aber im geſellſchaftlichen Leben nicht
deßhalb, ſondern gerade nur vom affi-
chirten edleren Blute und höherer Ex-
traction
ſeinen Hochmuth hernehmen und beur-
kunden will, ſo iſt allerdings die Prätenſion doppelt
lächerlich.


Man fühlte dies vielleicht inſtinktmäßig, und ſo
wurde durch ſtillſchweigende Uebereinkunft als unum-
ſchränkte Herrſcherin nicht die Ariſtokratie, nicht das
Geld (denn da die Ariſtokratie eben ſo reich als die
Induſtrie iſt, ſo konnte die höchſte Gewalt unmög-
lich auf dieſe übergehen) ſondern eine ganz neue Macht:
die Mode — auf den Thron geſtellt, eine Göttin, die
nur in England wahrhaft perſonell, wenn ich mich
ſo ausdrücken darf, deſpotiſch und unerbittlich herrſcht,
immer aber durch einige geſchickte Uſurpatoren beider
Geſchlechter ſinnlich repräſentirt wird.


Der Caſtengeiſt, der ſich von ihr herab jetzt durch
alle Stufen der Geſellſchaft mehr oder weniger er-
ſtreckt, hat hier eine beiſpielloſe Ausbildung erhalten.
Es iſt hinlänglich, einen niederern Kreis vertraut be-
ſucht zu haben, um in dem auf der Leiter immediat
folgenden gar nicht mehr, oder doch mit großer Kälte
aufgenommen zu werden, und kein Bramine kann
ſich vor einem Paria mehr ſcheuen, als ein anerkann-
ter Ercluſiv vor einem Nobody. Jede Geſellſchafts-
art iſt von der andern getrennt, wie ein engliſches
Feld vom andern, durch Dornhecken. Jede hat ihre
eignen Manieren und Ausdrücke, ihren cant, wie
[396] man es nennt, und vor allem eine vollkommen Ver-
achtung für alle unter ihr ſtehenden. Man ſieht auf
den erſten Blick hieraus, daß die Natur einer ſol-
chen Geſellſchaft höchſt kleinſtädtiſch in ihren einzelnen
Cotterien werden muß, was ſie gar ſehr von der
Pariſer unterſcheidet.


Obgleich nun die Ariſtokratie, wie ich bemerkte,
als ſolche nicht an der Spitze dieſes ſeltſamen Gan-
zen ſteht, ſo übt ſie doch den größten Einfluß darin
aus. Es iſt ſogar ſchwer, faſhionable zu werden ohne
vornehmer Abkunft zu ſeyn, aber man iſt es auch
noch lange nicht, wenn man vornehm, noch weniger,
weil man reich iſt. So iſt es beinahe lächerlich, zu
ſagen, aber doch wahr, daß z. B. der jetzige König,
Georg IV., höchſt faſhionable iſt, der vorige es nicht
im Geringſten war, und keiner der Brüder des jetzi-
gen es iſt, was übrigens zu ihrem größten Lobe
dient, da ein wahrhaft ausgezeichneter Mann nie fri-
vol genug ſeyn wird, um in dieſer Categorie ſich
auf die Länge behaupten zu können, noch zu mögen.
Dennoch würde es auch mißlich ſeyn, beſtimmt anzu-
geben, was auf der andern Seite eigentlich die höch-
ſten Stellen in jener Sphäre verbürge. Man ſieht
abwechſelnd die heterogenſten Eigenſchaften darauf
Poſto faſſen, und auch politiſche Motive können in
einem Lande wie dieſes nicht immer ohne Einfluß
darauf bleiben, doch glaube ich, daß Caprice und
Glück, und vor Allem die Weiber, auch hierin, wie
in der übrigen Welt, das meiſte thun.


[397]

Im Ganzen aber zeigen allerdings die modiſchen
Engländer, ohne deßhalb ihre angeborne Schwerfäl-
ligkeit und Pedanterie ſehr ablegen zu können, als
den Hauptzug ihres Strebens, das lebhafte Verlan-
gen: die ehemalige franzöſiſche ſittenloſe Frivolität
und Jactance in ihrem vollen Umfang zu erreichen,
während gerade im umgekehrten Verhältniß die Fran-
zoſen jetzt dieſe Diſpoſition mit altengliſchem Ernſte
vertauſcht haben, und täglich mehr einem würdige-
ren Lebenszweck entgegen gehen.


Ein heutiger Londner Excluſiv iſt daher in Wahr-
heit nichts anders, als ein ſchlechter Nachdruck, ſo-
wohl der ehemaligen Roués der Regentſchaft, als
der Höflinge Ludwig XV. Beide haben miteinander
gemein: Selbſtſucht, Leichtſinn, unbegränzte Eitel-
keit und einen gänzlichen Mangel an Herz — beide
glauben ſich mit Hohn und Uebermuth über Alles
hinwegſetzen zu können, und kriechen nur vor einem
Idol im Staube, jene Franzoſen ehemals vor ihrem
König, dieſe Engländer vor dem von ihnen eben an-
erkannten Herrſcher im Reiche der Faſhion. Aber
welch ein Contraſt in dem ferneren Reſultat! In
Frankreich wurde die Abweſenheit der Moralität und
Ehrlichkeit wenigſtens durch ausgeſuchte Höflichkeit
erſetzt, für den Mangel an Gemüth durch Geiſt und
Amabilität entſchädigt, die Impertinenz, ſich für etwas
Beſſeres als Andere zu halten, durch hohe Eleganz
und Gefälligkeit der Formen erträglich gemacht, und
die ſelbſtſüchtige Eitelkeit wenigſtens durch den Glanz
eines imponirenden Hofes, ein vornehm repräſenti-
[398] rendes Weſen, die vollendete Kunſt des feinen Um-
gangs, gewinnende Aiſance, und eine durch Witz
und Leichtigkeit feſſelnde Unterhaltung gewiſſermaſſen
gerechtfertigt, oder wenigſtens entſchuldigt. Was bie-
tet uns dagegen ein engliſcher Dandy dar!


Sein höchſter Triumph iſt, mit den hölzernſten
Manieren, ungeſtraft ſo ungeſchliffen als möglich
aufzutreten, ja ſelbſt ſeine Höflichkeiten ſo einzurich-
ten, daß ſie der Beleidigung nahe ſind, in welchem
letztern Benehmen er beſonders ſeine Celebrität ſucht.
Statt nobler Aiſance, ſich jeder Gêne der Schicklich-
keit entledigen zu dürfen, das Verhältniß mit den
Frauen dahin umzukehren, daß dieſe als der angrei-
fende und er nur als der duldende Theil erſcheint,
ſeine beßten Bekannten, ſobald ſie ihm nicht durch die
Faſhion imponiren, gelegentlich aus Laune ſo zu be-
handeln, als kenne er ſie nicht mehr „to cut them“
wie der Kunſtausdruck heißt, den unſäglich faden
Jargon und die Affektation ſeines „set“ gut inne zu
haben, und ſtets zu wiſſen, was „the thing“ iſt —
das ohngefähr macht den jungen „Lion“ in der Mo-
dewelt. Hat er noch dazu eine beſonders hübſche
Maitreſſe, und iſt es ihm nebenbei gelungen, irgend
eine Thörin zu verführen, die albern genug war, ſich
der Mode zu opfern, und Mann und Kinder ſeinet-
wegen zu verlaſſen, ſo erhält ſeine Reputation ei-
nen noch höhern Nimbus. Verſchwendet er dabei
auch noch viel Geld, iſt er jung und hat einen Na-
men im Peerage-Buch, ſo kann es ihm kaum mehr
[399] fehlen, wenigſtens eine vorübergehende Rolle zu ſpie-
len, und er beſitzt jedenfalls in vollem Maße alle
Ingredienzien für einen Richelieu unſerer Zeit. Daß
ſeine Konverſation nur in trivialen Lokalſpäſſen und
Mediſance beſteht, die er einer Frau in großer Ge-
ſellſchaft in’s Ohr raunt, ohne darauf zu achten, daß
noch Jemand anders außer ihr und ihm im Zimmer
iſt, daß er mit Männern nur vom Spiel und Sport
ſprechen kann, daß er außer der Routine einiger
Modephraſen, die der ſeichteſte Kopf gewöhnlich am
beßten ſich merkt, höchſt unwiſſend iſt, daß ſeine
linkiſche Tou nüre nur die nonchalance des Bauer-
burſchen erreicht, der ſich auf die Ofenbank hinſtreckt,
und ſeine Grazie viel Aehnlichkeit mit der eines Bä-
ren hat, der im Auslande tanzen gelernt — alles
das raubt ihm keinen Stein aus ſeiner Krone.


Schlimmer noch iſt es, daß trotz der vornehmen
Rohheit ſeines äußern Betragens, der moraliſche Zu-
ſtand ſeines Innern, um modiſch zu ſeyn auf einer
noch weit niedrigern Stufe ſtehen muß. Wie ſehr
der Betrug in den vielen Arten von Spiel, die hier
an der Tagesordnung ſind, in der großen Welt vor-
herrſcht, und lange mit Erfolg ausgeübt, eine Art
von Relief giebt, iſt notoriſch, aber auffallender iſt
es noch, daß man den craſſeſten Egoismus, der doch
auch ſolchen Handlungen nur zum Grunde liegt,
gar nicht zu verbergen ſucht, ſondern ganz offen als
das einzige vernünftige Prinzip aufſtellt, und „good
nature,“
oder Gemüth als comble der Gemeinheit
[400] belacht und verachtet, wie es in keinem andern Lan-
de der Fall mehr iſt, wo man ſich ſolcher Geſinnun-
gen wenigſtens ſchämt, wenn man ſie hat. „We
are a selfish people,
ſagt ein beliebter Modeſchrift-
ſteller, I confess, and I do believe that what in
other countries is called „amor patriae“ is amongst
us, nothing but, a huge conglomeration of love of
ourselves; but I am glad of it; I like sel-
fishness;
there’s good sense in it“
und ferner,
nicht etwa ſatyriſch, ſondern ganz ernſthaft eifrig ge-
meint:


„Good nature is quite mauvais ton in London,
and really it is a bad style to take up, and will
never do.“


Freilich, wenn man jedes Gefühl auf das ſpitz-
findigſte analyſiren und verfolgen will, ſo wird man
vielleicht immer eine Art von Egoismus im tiefſten
Grunde entdecken, aber eine edle Scham wirft eben
deßhalb bei allen andern Nationen einen Schleier dar-
über, wie auch der Geſchlechtstrieb etwas ſehr Na-
türliches und Wahres iſt, und dennoch, auch vom
Rohſten, verborgen wird.


Hier ſchämt man ſich aber der craſſeſten Eigen-
liebe ſo wenig, daß mich ein vornehmer Engländer
einmal belehrte, ein guter foxhunter müſſe ſich durch
nichts in der Verfolgung des Fuchſes irre machen
laſſen, und wenn ſein Vater vor ihm, über eine Bar-
riere geſtürzt, da läge, ſo würde er „if he could’nt
help it“
mit ſeinem Pferde unbedenklich über oder
[401] auf ihn ſpringen, ohne ſich vor beendigter Jagd wei-
ter um ſein Schickſal zu bekümmern. *)


Bei alle dem hat unſer pattern eines Dandy auch
in ſeinen böſen Eigenſchaften nicht die geringſte
Selbſtſtändigkeit, ſondern erſcheint nur als der ängſt-
lichſte Sclave der Mode bis in die größten Kleinig-
keiten, ſo wie der demüthigſte Trabant des Glückli-
chen, der noch höher ſteht, als er. Würde plötzlich
Tugend und Beſcheidenheit Mode, ſo würde Nie-
mand exemplariſcher darin ſeyn, ſo ſchwer es ihm
ankommen möchte.


Ohne alle Originalität und ohne eigne Gedan-
ken iſt er eigentlich jener Tonfigur im Galgenmänn-
chen zu vergleichen, die eine Weile mit allen menſch-
lichen Eigenſchaften täuſcht, aber plötzlich in Koth
zuſammenfällt, ſobald man entdeckt — daß ſie keine
Seele hat.


Wer die beſten der neueren engliſchen Romane
liest, namentlich vom Verfaſſer des Pelham, wird
aus ihnen eine ziemlich richtige Idee der engliſchen
faſhionablen Geſellſchaft ſich abſtrahiren können, wenn
er Notabene nicht vergißt, das abzurechnen, was die
nationelle Eigenliebe ſich zuſchreibt, ohne es zu be-
Briefe eines Verſtorbenen. IV. 26
[402] ſitzen, nämlich Grazie für ihre Roués, verführeriſche
Formen und gewinnende Unterhaltungsgabe für ihre
Dandies. Ich habe eine Zeit lang ſowohl die Zirkel
derjenigen beſucht, die den Gipfel bewohnen, als
der, welche ſich in der Mitte des modiſchen Narren-
berges, und auch derjenigen, die an ſeinem Fuße
ſich angeſiedelt haben, und ſehnſüchtig nach jenem
für ſie unerreichbaren Gipfel blicken — ſelten aber
fand ich eine Spur jener anziehenden Geſellſchafts-
kunſt, jenes vollkommen und wohlthuend befriedigen-
den Gleichgewichts aller ſocialer Talente, eben ſo
weit entfernt von Zwang als Licenz, welches Ver-
ſtand und Gefühl gleich angenehm anſpricht, und
fortwährend erregt, ohne je zu ermüden, eine Kunſt,
in der die Franzoſen ſo lange faſt das einzige euro-
päiſche Vorbild waren.


Statt deſſen ſah ich in der Modewelt, mit weni-
gen Ausnahmen, nur zu oft eine wahre Gemein-
heit der Geſinnung, eine wenig gezierte Immora-
lität, und den offenſten Dünkel, in grober Ver-
nachläſſigung aller Gutherzigkeit, ſich breit machen,
um in einem falſchen und nichtigen „Refinement“ zu
glänzen, welches dem geſunden Sinn noch ungenieß-
barer wird, als die linkiſche und poſſirliche Precioſt-
tät der erklärteſten Nobodys. Man hat geſagt: La-
ſter und Armuth ſey die widerlichſte Zuſammenſtel-
lung — ſeit ich in England war, ſcheint mir Laſter
und Plumpheit noch ekelerregender.


[403]

Doch laß mich, vom Allgemeinen auf’s Einzelne
übergehend, einige Herren dieſer Region ſelbſt flüch-
tig ſkizziren.


Zuerſt begegnet uns ein ſchwer hörender und
ſchwer ſprechender Edelmann, eine lange, blonde
Figur, was die Soldaten Napoleons im gemeinen,
aber paſſenden Ausdruck un grand standrin nannten,
mit einem Geſicht von der coupe der ächt ſpaniſchen
Merinos und nur in ſofern „good looking,“ als dies
ohne alle Feinheit der Züge und geiſtvollen Ausdruck
derſelben möglich iſt. Das unbedeutende Auge ſpie-
gelt nur eine große Idee ab, nämlich die, welche
das Individuum von ſich ſelbſt hegt.


Sehen Sie ſich dieſen Mann an, ſagte ich zu
meinem kürzlich debarkirten Freunde, er iſt kein Dan-
dy, dazu auch nicht mehr jung genug; demohngeach-
tet aber und in noch höherer Potenz dermalen der
Sultan der Mode in England. „Unmöglich,“ rief
mein Freund, „Sie ſcherzen.“ Nicht im Geringſten,
erwiederte ich, und ohngeachtet deſſen, was Sie ſehen,
und was Sie nicht zu beſtechen ſcheint, beſitzt dieſer
glückliche Sterbliche doch einige Eigenſchaften für die
Rolle, welche er ſpielt, die nicht zu verachten ſeyn
möchten. Und die ſind? unterbrach mich H.....
Für’s erſte, belehrte ich ihn, iſt er einer der vornehm-
ſten und reichſten Edelleute des Landes, für den
wenigſtens 50,000 Irländer, die er nicht leicht mit
ſeiner Gegenwart beglückt, Hunger leiden müſſen;
ferner iſt er noch unverheirathet, und an Perſon
26*
[404] wie Geiſt von der wünſchens- und empfehlenswer-
theſten Mittelmäßigkeit, die weder Neid erregt noch
Anſtoß giebt. Dabei iſt er genereus für ſeine Umge-
bung, giebt gerne Feſte, ſieht gern Leute, läßt ſich
von den Damen geduldig und mit ſolchem Vergnü-
gen beherrſchen, daß er ihnen Leib und Seele à
Discretion
hingeben würde, hat ferner das beſte
Palais in London und das ſchönſte Schloß auf dem
Lande, und iſt endlich, um gerecht zu ſeyn, in Meu-
blen, Equipagen und Feſten geſchmackvoller und er-
findungsreicher, als viele Andere, was ihm aber
unter ſolchen Umſtänden am meiſten zur Ehre ge-
reicht, ein ſehr rechtlicher Mann.


Dies Letztere könnte gewiſſermaßen im Widerſpruch
mit dem erſcheinen, was ich früher über die Haupt-
eigenſchaften der Modiſchen geſagt, aber abgerechnet,
daß die Ausnahme keine Regel bildet, ſo muß man
auch bedenken, daß die Bewunderer eines glänzenden
„Fripon“ auch einen „dupe“ unter ſich zu ſchätzen
wiſſen.


Schwerlich wäre er auch mit allen genannten
Vorzügen ſo hoch geſtiegen, wenn nicht ein großes
fremdes Talent ſich ihn auserſehen gehabt hätte, um
durch und mit ihm, ſich ſelbſt eben ſo hoch auf den
Thron zu ſtellen.


Dem ſtolzen und männlichen Geiſte dieſer Dame,
den ſie, wo ſie will, unter der gewinnendſten Af-
fabilität zu verbergen weiß, verbunden mit aller di-
[405] plomatiſchen Schlauheit ihres Standes, iſt es gelun-
gen, der engliſchen Suprematie den Fuß auf den
Nacken zu ſetzen, doch konnte ſie dem Hofe, der ſie
ſeitdem umgab, und ſich blindlings von ihr beherr-
ſchen ließ, weder ihren Witz und Takt, noch ihre vor-
nehme Haltung, noch jene zurückſchreckende Artigkeit
gegen Alle, die nicht zu den Auserwählten gehören,
mittheilen, die das nec plus ultra deſſen iſt, nach
dem die Excluſives zu ſtreben haben. Faſt burlesk
iſt daher der Abſtand, der zwiſchen ihr und dem Mit-
regenten in jeder dieſer Hinſichten ſtatt findet. Den-
noch herrſchen beide jetzt im Olymp neben einander.
Aber auch die unſterblichen Götter müſſen Oppoſi-
tion erleiden, und als ſolche ſehen wir einen Gigan-
ten in dem Marquis v. ..... auftreten, der, ſo zu
ſagen, dem Reich der Unterwelt gebietet. Bei glei-
chem Reichthume, mehr Verſtand und Geſchmack, vor-
nehmern Manieren, als der Herzog, und geiſtvollern,
obgleich häßlichen Zügen, iſt auch ſeine Reputation
poſitiver. Seines Charakters wegen wird er zwar
vielleicht von Manchen gemieden, von Andern aber
deſto eifriger aufgeſucht, und obgleich auch er den
weiſen Grundſatz der ſich wichtig und geſucht machen
wollenden engliſchen Modewelt: nur ſehr ſchwer Je-
manden zu ſeiner Intimität zuzulaſſen, ſtreng beob-
achtet, ſo hält er ſich doch im Allgemeinen populärer,
als die von mir zuerſt genannten Koryphäen. Auf
ſeinen großen Aſſembleen darf z. B. der König der
Juden erſcheinen, der des H ..... Thüren ſtets ver-
ſchloſſen, und die der S .... höchſtens diplomatiſch
[406] im Geheim geöffnet ſieht, und noch manche andere
Dii minoram gentium findet man dort, als zu Dut-
cheſſes und Ladies gewordene Schauſpielerinnen u.
ſ. w, die man in jenen Cirkeln par excellence nicht
leicht zu ſehen bekömmt.


Der junge Erbe eines berühmten Namens und
eines großen Beſitzers ſchien auch Anſprüche auf eine
dominirende Stellung machen zu wollen; da aber bei
ihm die vortrefflichen Lebenslehren, welche die Briefe
ſeines Ahnherrn enthalten, auf ein ſehr dürres Feld
gefallen ſind, und andere Umſtände ihn noch nicht
hinlänglich begünſtigt haben, ſo mußte er ſich bis-
her mit ſehr untergeordneten Hoheitsrechten und der
bloßen Anerkennung ſeiner ſchonen Wagen und Pfer-
de, wie den Reizen ſeiner gefeierten Maitreſſe be-
gnügen.


Eine hohe Stufe des Einflußes nimmt ferner ein
fremder Ambaſſadeur ein, der ohne allen Zweifel die
erſte verdiente, wenn der beſte Ton, gemüthliche Lie-
benswürdigkeit, hoher Rang, der feinſte Geſchmack,
und ohngeachtet einer angenommenen engliſchen Tour-
nure, doch eine völlige Abweſenheit jener Schwerfäl-
ligkeit und Pedanterie, die engliſche Faſhionables nie
los werden können — die einzigen Anſprüche dazu
gäben. Aber eben, weil er ſowohl durch ſeine aus-
ländiſche, immer über die Anglomanie den Sieg da-
von tragende Liebenswürdigkeit, wie durch ſeine deut-
ſche Gemüthlichkeit den Engländern zu fern ſteht, er-
regt er zum Theil mehr noch ihren Neid, als ihre
[407] Bewunderung, und obgleich ihn die Meiſten recher-
chiren, ſchon weil er Mode iſt, ſo bleibt er ihnen
doch immer ein mehr fremdes Meteor, das ſie hie und
da ſogar anfeinden, und zu dem ſie jedenfalls ſolches
Herz nicht faſſen können, wie zu ihrem eignen Jupi-
ter Ammon, noch dem ſie ſich ſo blindlings unter-
werfen wollen, wie der autorité sans replique ihrer
Autokratin. Leicht würde vielleicht auch die ſchöne
Gemahlin des Ambaſſadeurs die Rolle jener Dame
geſpielt haben, die ſie an Reizen, wie an Jugend
übertrifft, und eine Zeit lang mochten die Chancen
zwiſchen beiden gleich ſtehen; aber ſie war zu harm-
loſer Gemüthsart, zu natürlich und zu gutmüthig,
um definitiv obzuſiegen. So hoch ſie daher auch ihren
Platz im Reiche der Mode einnimmt, hat ihr jene
doch, vor der Hand wenigſtens, den höchſten abgelau-
fen. Niemand wird ſie aber der genannten Urſachen
wegen weniger liebenswerth finden.


Unter den weiblichen Mitherrſcherinnen erſter Ca-
tegorie muß ich noch einiger andern erwähnen, die
Niemand übergehen darf, der den Eintritt in das
Heiligthum wünſcht. Oben an ſteht zuerſt eine nicht
mehr ganz junge, aber immer noch ſchöne Gräfin,
eine der wenigen Engländerinnen, von der man ſagen
kann, daß ſie eine vollkommen gute und wahrhaft
diſtinguirte Tournure habe. Sie würde mit ihren
Naturgaben in jedem andern Lande gewiß durchaus
liebenswürdig geworden ſeyn, hier hat ſie dem Ge-
präge des liebloſen und alles menſchlich Schöne und
[408] Liebenswerthe ſo vernichtenden Caſtengeiſtes der hie-
ſigen Geſellſchaft nicht ganz entgehen können. Man
hat ſie oft und auf häßliche Weiſe in der boshaften
age angegriffen, ohne ihr jedoch ſchaden zu können.
Sie ſteht zu hoch und zu lieblich dazu da.


Eine ſchottiſche Viscounteß, die ganz ſpeziell im
Schatten der fremden Herrſcherin ſich entfaltet hat,
unter deren Fittigen ich ſie vor 12 Jahren noch ziem-
lich demüthig emporklimmen ſah, hat ſeitdem allen
Hochmuth, um nicht zu ſagen, coarseness ihrer Berg-
compatrioten angenommen. Von der erwähnten im-
pertinenten Artigkeit hat ſie nur die erſte Eigenſchaft
zu erlangen verſtanden, und würde, wenn ſie nur
ihren Mann und nicht auch auſſerdem ein großes
unabhängiges Vermögen und dadurch politiſchen Ein-
fluß beherrſchte, wohl ſchwerlich von ihrer hohen Gön-
nerin auf den jetzt inne habenden Platz geſtellt wor-
den ſeyn, obgleich man in einem, ſo verſchiedene Zwe-
cke beabſichtigenden, weiblichen Miniſterium auch zu-
weilen odd characters gebrauchen mag. Vor 12 Jah-
ren, als ich England zum erſtenmal beſuchte, war
dieſe Dame recht hübſch, und damals ſchon in diplo-
matiſchen Feſſeln, aber anderer Art. Jetzt lebt ſie
blos der Modeherrſchaft und der Politik.


Wie die nachſichtige Gouvernante der übrigen er-
ſcheint eine dritte Lady, welche, glaube ich, auch auf
den Titel einer deutſchen Reichsgräfin Anſpruch macht,
der zwar in England ſehr gering geachtet wird,
[409] aber, von einer Engländerin beſeſſen, durch ſie na-
türlich einen ganz andern Glanz erhalten muß. Die-
ſer Titel in der Familie wurde auf dieſelbe ehrenvolle
Art erlangt, welcher die erſten Herzöge Englands
den ihrigen verdanken. Eine Ahnfrau der Familie
gefiel einem deutſchen Kaiſer, u. ſ. w. Ihre Enkelin
würde jedoch ſchwerlich ein gleiches Glück gemacht
haben, obgleich ſie in der That noch einige Spuren
der öſterreichiſchen Unterlippe in ihrem etwas in die
Länge gezogenen Geſichte aufweiſen kann. Sie iſt
bei gebildetem Geiſt wohl die gutmüthigſte der Lady
Patroneſſes, ſehr inoffenſive, und ſieht oft ſo aus,
als wenn ſie die häusliche Fireſide weit mehr lieben
und zieren würde, als ihren hohen Poſten für Al-
macks.


Als ihr Gegenſatz kann eine andere Gräfin be-
trachtet werden, eine Franzöſin von Geburt, die aber,
von Kindheit an nach England emigrirt, längſt voll-
ſtändig nationaliſirt wurde, und gewiß nicht zu ihrem
Vortheil. Dennoch iſt ſie mehr für die Geſellſchaft
gemacht geblieben, als die bisher geſchilderten. Sie
iſt durchaus eine Frau von Welt, nicht mehr jung,
aber ebenfalls noch gut conſervirt, mit vielſagenden,
feurigen Augen und ſchönen dichten Augenbraunen dar-
über, denen auch Viele Gerechtigkeit wiederfahren laſſen.
Die Chronique scandaleuse hat von ihr behauptet, ſie
habe es im Conſeil der dirigirenden Modedamen vor-
züglich übernommen, wie bei den alten franzöſiſchen Re-
gimentern immer einer unter den Offizieren dazu ge-
wählt wurde, die Valeur der Neuangekommenen auf die
[410] Probe zu ſtellen, und der Tateur genannt wurde,
dieſelbe Rolle gegen alle Neulinge hinſichtlich ihrer
Fähigkeit Mode zu werden, in der großen Welt zu
ſpielen.


Es bleiben nun noch zwei Frauen übrig, mit de-
nen die Zahl der Auserwählten ziemlich geſchloſſen
iſt, ja die letzte davon gehört ſchon eigentlich nicht
mehr dazu, und ſchwebt mehr vereinzelt in der At-
moſphäre, wie ein Comet im Planetenſyſtem. Beide
ſind Marquiſinnen, beide paſſiren für hübſch, beide
ſind reich, die eine hat auch Verſtand, welcher der
andern abgeht, und es iſt daher wohl möglich, daß
die erſte ſich durch die Zuſammenſtellung mit der an-
dern ziemlich beleidigt fühlen würde, wenn dieſer be-
ſcheidne Verſuch einer flüchtigen Charakteriſtik ihr je
unter die Augen käme.


Es iſt überhaupt Schade, daß dieſe Frau eine ſo
große Meinung von ſich ſelbſt hat, und als eine der
heftigſten Ultras ganz in Politik vergraben iſt. Wenn
ſie in ihrem alten Schloſſe, das einſt der Königin
Eliſabeth zugehörte, Hof hält, ſcheint ſie ſich wirklich
in der donce illusion zu befinden, ſie ſelbſt ſey Eli-
ſabeth. Die Politik hatte ſie damals mit der Allein-
herrſcherin etwas geſpannt, folglich auch mit ihrem
Satelliten, dem großen und langen H ...... Dage-
gen ſah man zwei andere wichtige Perſonen im Reiche
der Mode ſehr häufig in ihrem Hauſe, das ſich übri-
gens in der Politik blindlings dem Helden von Wa-
terloo unterworfen hatte. Da die eine dieſer Perſo-
nen ein Dandy der höchſten Art, die andere aber der
[411] erſte bel esprit der hohen Geſellſchaft iſt, ſo muß ich
ihnen wohl auch eine kurze Aufmerkſamkeit ſchenken.


Nur in der Unſchuldsepoche der engliſchen Mode-
herrſchaft, wo man noch das Ausland für ſeine Sit-
ten copirte, und nicht die jetzige Selbſtſtändigkeit,
die nun ſogar als Muſter für andere Länder aufzu-
treten anfängt, erlangt hatte, regierte ein Dandy
hauptſächlich durch ſeine Kleidung, und der berühmte
Brummel tyranniſirte mit dieſem einzigen Mittel be-
kanntlich Jahre lang town and country. Jetzt iſt
dies nicht mehr der Fall; der höhere Excluſiv affek-
tirt im Gegentheil eine gewiſſe Unaufmerkſamkeit auf
ſeine Kleidung, die ſich faſt immer gleich iſt, und,
weit entfernt jeder Mode zu folgen oder ſolche zu er-
finden, bleibt ſein Anzug höchſtens nur durch Fein-
heit und Sauberkeit ausgezeichnet. Es gehört jetzt
allerdings ſchon mehr dazu, der Mann nach der Mode
zu ſeyn. Man muß unter andern, wie einſt in Frank-
reich, den Ruf eines herzloſen Weiberverführers ha-
ben, und ein gefährlicher Menſch ſeyn. Da man
es aber den ehemaligen Franzoſen an glänzender Lie-
benswürdigkeit und einnehmender Gewandtheit, mit
einem undiſtinguirten Aeußern und unbezwinglich
holprigen Manieren, auch bei dem beſten Willen nicht
gleich zu thun im Stande iſt, ſo muß man ſich da-
für, wie Tartuffe, als ein gleich ſüßer und giftiger
Heuchler geltend zu machen wiſſen, mit leiſem Ge-
ſpräch, welches jetzt Mode iſt, und falſchen Worten
ſich die Bahn zu jeder gewiſſenloſen Handlung im
Dunkeln brechen, als da ſind falſches Spiel und
[412] Betrug des Neulings in jeder Art von Sport, bei
dem ſo mancher junge Engländer, ſtatt gehoffter Be-
luſtigung, Selbſtmord und Verzweiflung einerndtet,
oder, wo dieſe Künſte nicht anwendbar ſind, durch
Intriguen aller Art die im Wege Stehenden um Ehre
oder Vermögen zu bringen ſuchen, im geringſten Fall
aber ſie wenigſtens ihres Einfluſſes in der ausge-
wählten Geſellſchaft zu berauben wiſſen.


Wer Englands Schattenſeite genauer kennt, wird
mich hier nicht der Uebertreibung zeihen, und es nicht
auffallend finden, daß der von mir erwähnte Mode-
held, ein junger Mann von guter Abkunft, aber ohne
Vermögen, und im Grunde nicht als ein geſchickter
Chevalier d’industrie, ſich durch den Namen sweet
mischief
(ſanftes Verderben) eben ſo gut charakteri-
ſirt als geſchmeichelt fühlt. Die Marquiſe ſcheint bis
jetzt nur von dem sweet angezogen worden zu ſeyn,
es beſteht größtentheils in, wie man ſagt, unterhal-
tender, ſüß zugeflüſterter Verläumdung, vielleicht
lernt ſie ſpäter auch noch das mischief kennen.


Der bel esprit, deſſen cauſtiſche Kraft man ſo un-
geheuer fürchtet, daß man ihm wörtlich, wie die Wil-
den dem Teufel, hofirt, damit er nicht beiße, hat eine
der widerlichſten Außenſeiten, die mir noch vorgekom-
men ſind. Er iſt wohl über fünfzig Jahre alt, und
ſieht vollkommen aus wie eine in Galle eingemachte
bittere Pomeranze, ein grau und grünlicher alter
Sünder, der bei Tiſch nicht eſſen kann, bis er zwei
oder drei Menſchen ihres guten Namens beraubt,
und eben ſo viel andere, oft nichts weniger als geiſt-
[413] reiche, Bosheiten geſagt hat, die aber dennoch von
allen ſich in ſeinem Bereich Befindenden, ſtets mit
lautem Beifall und convulſiviſchem Lachen aufgenom-
men werden, obgleich Manchem dabei die Gänſehaut
überrieſeln mag, daß, ſobald er den Rücken gekehrt,
ihm Gleiches wiederfahren werde. Aber der Mann
iſt einmal Mode. Seine Ausſprüche ſind Orakel,
ſein Witz muß erquiſit ſeyn, ſeitdem er das Privi-
legium dazu von der faſhionablen Geſellſchaft erhal-
ten hat, und wo die Mode ſpricht, da iſt, wie ge-
ſagt, der freie Engländer ein Sclave. Ueberdem fühlt
der Vulgaire wohl, daß er in Künſten und geiſtrei-
chen Dingen im Allgemeinen kein recht competentes
eigenes Urtheil hat, und applaudirt daher am lieb-
ſten blindlings ein bon mot, wenn er andere lachen
ſieht, ſo wie jedes Urtheil, wenn es aus patentirtem
Munde kömmt, eben ſo wie das hieſige Publikum
einen ganzen Winter lang ſich durch die Tyroler
Gaſſendudler, für ſchweres Geld, welches die grüne
Fleiſcherfamilie lachend einſtrich, bis in den dritten
Himmel entzücken ließ.


Bald hätte ich aber vergeſſen, daß mir noch eine
letzte Dame mit wenigen Worten zu ſchildern übrig
bleibt. Es iſt dies eine recht artige petite maitresse,
der zugleich ihr großer Reichthum erlaubt, das ein
wenig leere, aber doch ganz hübſche Köpfchen mit den
ſchönſten Steinen aller Farben zu ſchmücken, die Eng-
land aufweiſen kann. Wenn man ſie früh, languiſ-
ſant auf ihrer chaise longue hingeworfen ſieht, er-
blickt man in hundert eleganten Behältern um ſie
[414] her unzählige Colifichets, niedlich ausgelegt, deren
Vorweiſen aber dennoch kaum hinreichend iſt, eine
ſtets ſtockende Unterhaltung im Gang zu erhalten.
Ein meiſtens gegenwärtiger Hausfreund, auf deſſen
Lippen ein fortwährend nichts ſagendes Lächeln ſchwebt,
bringt ebenfalls nicht viel Veränderung in’s Geſpräch,
und die Buſenfreundin, eine Art beweglicher Zwerg,
mit einem pied de nez iſt noch aimabler, wenn ſie
ſchweigt, als wenn ſie ſpricht. Zwei allerliebſte Kin-
derpuppen in den niedlichſten Phantaſiekleidungen,
welche häufig mit den Colifichets zuſammen ausge-
ſtellt werden, und recht artig plappern, vollenden
das Gemälde. Die arme Marquiſe, welche bei allem
Schmachten und blaſſem durchſichtigen Teint, doch,
wie alle etwas beſchränkten Geiſter, auch zuweilen
recht boshaft werden kann, zumal wo ihre Eitelkeit
mit in’s Spiel kömmt, ärgert ſich fortwährend, daß
ſie nicht ganz Mode und recht faſhionable, weder Fiſch
noch Fleiſch, wie man ſagt, werden kann. Dieſer
fortwährende Amphibienzuſtand iſt auch ſehr unan-
genehm, und ſcheint sans remêde, denn ſie mag nun
einmal die Gurli ſpielen, ein andermal die Tugend-
heldin affichiren, oder durch einen friſchen Aufenthalt
in Paris ſich ein neues Luſtre zu geben verſuchen —
it will never do.


Ueber die berühmten Almacks und die unrivaliſirte
Macht der Lady Patroneſſes habe ich Dir ſchon ge-
ſchrieben. Zwei große Akte ihrer Herrſchaft muß ich
aber noch hinzufügen.


[415]

Einmal geboten dieſe Damen in ihrer liebenswür-
digen Laune, daß Jeder, der nach Mitternacht auf
den Ball käme, nicht mehr eingelaſſen werden ſollte.
Der Herzog von Wellington kam einige Minuten ſpä-
ter aus der Parlamentsſitzung und glaubte, für ihn
werde die Ausnahme nicht fehlen. Point du tout,
der Held von Waterloo konnte dieſe Feſtung nicht
erobern, und mußte unverrichteter Sache wieder ab-
ziehen.


Ein andresmal erließen die Lady Patroneſſes den
Befehl, daß nur ſolche Herren, welche krumme Beine
hätten, in weiten Pantalons auf Almacks erſcheinen
dürften, allen andern wurden kurze Hoſen vorgeſchrie-
ben, in England, wo ſelbſt der Name dieſes Klei-
dungsſtückes ſonſt verpönt iſt, ein kühner Befehl.


Die Furcht vor dem neuen Inquiſitionstribunal
war ſo groß, daß man auch hier im Anfang gehorchte,
ſpäter erfolgte indeß eine Reaction. Eine große An-
zahl Herren erſchienen an den Thoren in den probi-
birten Pantalons, und verlangten Einlaß, indem ſie
ſich der krummen Beine ſchuldig erklärten, und im
Fall man ihnen nicht glauben wolle, die Lady Pa-
troneſſes einluden, ſich ſelbſt durch genauere Unter-
ſuchung davon zu überzeugen. Seit dieſen Zeit drück-
ten die Damen über dieſen Theil der männlichen Klei-
dung ein Auge zu.


[416]

Es iſt mir um ſo lieber, daß ich auf meiner Ab-
reiſe von hier begriffen bin, da mir eben noch etwas
eben ſo Unangenehmes als Unerwartetes begegnet iſt,
was mich in dem Augenblick mehr en vûe ſetzt, als
mir lieb iſt.


Schon einmal, glaube ich, ſchrieb ich Dir von ei-
ner Nichte Napoleons, die ich zum erſtenmal beim
Herzog von Devonshire ſah, wo ſie ſich eben ſehr
eifrig mit H. Brougham unterhielt, als ich ihr be-
kannt gemacht wurde. Sie iſt ſchön gewachſen, hat
außerordentlich brillante Farben, Napoleons antike
Naſe, große ausdrucksvolle Augen, und alle franzö-
ſiſche Lebhaftigkeit, als Zugabe noch mit italiäniſchem
Feuer gemiſcht. Dabei etwas Excentriſches in ihrem
ganzen Weſen, was ich wohl liebe, wenn es Natur
iſt, obgleich ich offen bekennen muß, daß es mir hier
nicht ganz frei von Abſicht und Angewöhnung ſchien.
Indeſſen ihr Name imponirte mir. Du kennſt meine
Ehrfurcht vor dem erhabnen Kaiſer, jenen zweiten
Prometheus, den Europa an einen Felſen jenſeits
der Linie ſchmiedete, jenen Rieſen, welchen eine Mil-
lion Pigmäen endlich zu ihrem Nachtheil erſchlugen,
weil ſie nicht Kraft genug hatten, dieſen
mächtigen Geiſt zu zähmen, daß er ihnen
Dienſt geleiſtet hätte
.


Hauptſächlich um von ihm zu ſprechen, ging ich
alſo fleißig zu ihr, und cultivirte die Bekanntſchaft
[417] der etwas männlich ſchönen Frau mehr als ich ſonſt
gethan hätte, nicht weil ſie wenig Mode war, ſon-
dern weil dieſe Art weiblicher Charaktere und Reize
überhaupt keineswegs diejenigen ſind, welche ich
vorziehe.


Unterdeß waren wir ziemlich bekannt mit einander
geworden, als ſie nach Irland abreiſte, und ich ihrer
nicht weiter gedachte.


Vor einigen Wochen kam ſie wieder hier an, von
ihrem Manne, einem Engländer, geſchieden, den ſie,
excentriſch genug, nur deshalb geheirathet hatte, um
mit ihm nach Helena gehen zu können, was ſpäter
dennoch vereitelt ward.


Ihr franzöſiſches Weſen und ihre lebhafte Unter-
haltung, nebſt allen dieſen Details, zogen mich von
neuem an, und ich ſah ſie noch öfter als früher.
Vorige Woche trug ſie mir auf, ihr ein Billet zu ei-
nem dejeuné champêtre im Garten der horticultural
society
zu verſchaffen, über welches Feſt auch Lady
Patroneſſes geſetzt worden ſind. Als ich das Billet
brachte, verlangte ſie, ich ſolle ſie begleiten. Ganz
gutmüthig erwiederte ich, daß hier, wo die Geſell-
ſchaft ſo kleinſtädtiſch ſey, leicht ein Gerede darüber
entſtehen könne, und wir morgen vor einem Zeitungs-
Artikel nicht ſicher wären, wenn wir dieſen Ort al-
lein mit einander beſuchten. Statt der Antwort
brach ſie in Thränen aus, und ſagte: es thue nichts,
denn ihr wäre Alles ohnehin jetzt einerlei, da ſie
morgen nicht mehr auf dieſer Welt ſeyn würde. —
Briefe eines Verſtorbenen IV. 27
[418] Dabei zog ſie ein Fläſchchen Opium oder Blauſäure
aus ihrem Buſen, und verſicherte, daß ſie dieſe noch
vor Nacht auszuleeren entſchloſſen ſey, bis dahin
aber ſich betäuben wolle ſo gut es gehe.


Ich war nicht wenig erſtaunt über ein ſo uner-
wartetes propos, ſuchte indeß die ſchluchzende Schöne
ſo gut ich konnte zu beruhigen, warf das Giftfläſch-
chen zum Fenſter hinaus, und äußerte die Hoffnung,
daß die heitre Fete, die Geſellſchaft, die freie Luft, der
Beifall, den ihre hübſche Toilette einerndten müſſe,
gewiß dieſer thörichten, aufgeregten Stimmung ſchnell
Herr werden würden.


Obgleich ich ihre näheren Verhältniſſe nicht kannte,
ſo war doch nicht ſchwer zu errathen, daß eine un-
glückliche Liebe im Spiel ſeyn mußte, der einzige
Grund, aus welchen Weiber ſich das Leben zu neh-
men pflegen, und da ich ähnlichen Schmerz auch in
meinem Leben empfunden habe, ſo geſtehe ich, daß
ſie mir ſehr leid that, und ich ihre Aeußerungen, wenn
auch übertrieben, doch nicht ganz für leere Affekta-
tion hielt.


Unterdeſſen war mein Wagen gekommen, und wir
ſtiegen ein, indem ſie nochmals wiederholte, ſie dränge
ſich blos zu dieſer Zerſtreuung, weil ſie die Marter
der Einſamkeit nicht länger zu ertragen vermöge.


Während der Fahrt kam es denn zu einer voll-
ſtändigen Confidence, die ich übergehe, denn es war das
alte Lied von Liebesleiden und Freuden, was der
Menſch eben ſo ſicher in jeder Generation wieder-
ſingt, als Nachtigall und Zeiſig die ihrigen.


[419]

Während ich meiner ſchönen Freundin möglichſt
Troſt einſprach, konnte ich mich nicht enthalten, in-
nerlich Betrachtungen anzuſtellen, wie ſonderbar das
Schickſal ſpiele, und wie noch viel ſonderbarer es von
uns ſelbſt gehandhabt und beurtheilt werde. Neben
mir ſaß die Nichte Napoléon’s! des einſtigen Herrn
faſt der ganzen civiliſirten Welt, eine Frau, deren On-
kel und Tanten Alle noch vor kaum vergangener Zeit
auf den älteſten Thronen Europa’s ſaßen, während
ſie jetzt durch die ungeheuerſten Ereigniſſe in die
Claſſe der gewöhnlichen Geſellſchaft herabgeworfen
worden ſind — und das Alles hat dennoch nicht den
geringſten Eindruck mehr auf das neben mir ſitzende
Individuum gemacht, keinen Schmerz bei ihr zurück-
gelaſſen, aber die Untreue eines albernen engliſchen
Dandy’s erregt ihre Verzweiflung, und bringt ſie
zu dem Entſchluß, ſeinetwillen ihr Leben zu enden!!!
Mit einer wahren Indignation rief ich ihr zu, daran
zu denken, wem ſie angehöre, und an das erhabne
Beiſpiel von Ertragen des Lebens in wahrem Un-
glück, das ihr großer Oheim ihr und der Welt gege-
ben. Aecht weiblich aber gab ſie gar nichts auf dieſe
Tirade und erwiederte: Ach wenn ich jetzt die Wahl hätte,
j’ aimerai cent fois mieux être la maitresse heu-
reuse de mon amant que Reine d’Angleterre et
des Indes.


Bei alle dem ſchien die Fete und die Geſellſchaft,
ſo wie einige Gläſer Champagner beim Frühſtück, die
ich ihr einnöthigte, ihre Verzweiflung bedeutend zu
mildern, und ich brachte ſie um 6 Uhr zurück, (ziem-
[420] lich ſicher, daß keine zweite Opiumflaſche geholt wer-
den würde) um meine Toilette zu einem großen Diné
bei unſerm Geſandten zu machen, das ich nicht ver-
ſäumen wollte.


Denke Dir nun meinen wirklich nicht geringen
Schreck, als mir einige Tage darauf R. mit ſeinem
gut angenommenen engliſchen Phlegma erzählt: Heute
früh hat ſich die W .... im Serpentineriver erſäuft,
iſt nachher von einem vorbeigehenden Bedienten
herausgefiſcht und ſchon mehrere Stunden ehe unſer-
eins aufſteht, unter großem Volkszulauf nach ihrer
Wohnung zurückgebracht worden. „Mein Gott, iſt
ſie todt?“ rief ich. „Ich glaube nicht,“ erwiederte
R … „ſie ſoll, wenn ich recht hörte, wieder zu ſich
gekommen ſeyn.“


Ich eilte ſogleich nach ihrer Wohnung, fand aber
alle Läden verſchloſſen, und der Diener äuſſerte, daß
Niemand außer dem Arzte vorgelaſſen würde, die
Herrſchaft ſey tödtlich krank.


Das heißt doch die Narrheit ein wenig zu weit
treiben, dachte ich bei mir ſelbſt, und dieſe, ihrem
unſterblichen Verwandten ſo ſchlecht nachahmende
Nichte, illuſtrirt recht die Wahrheit: wie viel leichter
und ſchwächer es ſey, ein unerträgliches Leid durch
Selbſtmord abzuwerfen, als es kühn bis zum letzten
Athemzug zu tragen!


Doch fühle ich lebhaftes Bedauern mit der armen
Frau, und freute mich faſt, daß meine nahe Abreiſe
mir das Wiederſehen derſelben, nach einer ſolchen
[421] Cataſtrophe erſpare, da ich ihr weder helfen noch
ihr Benehmen billigen konnte. Wie ſie geſtern die
Hortikultural Gardens, beſuchte auch ich heute,
nämlich blos um mich von dieſen unangenehmen Ein-
drücken zu zerſtreuen, eine große Geſellſchaft bei
der Marquiſe H .. Kaum war ich durch einige Zim-
mer gegangen, als ich dem Herzog von C. in den
Wurf kam, einem Prinzen, der, obgleich er ſich nicht
pikirt, ein Liberaler zu ſeyn, doch die Oeffentlichkeit
ſehr liebt.


Kaum wurde er mich anſichtig, als er mir ſchon
von weitem zurief: „O P ..... was zum T .... haben
Sie für Streiche gemacht? Es ſieht ſchon in den
Zeitungen, daß ſich die W .... Ihretwegen erſäuft
hat.“ ..... „Meinetwegen, E. K. H.? was für ein
Mährchen!“ Läugnen Sie es nur nicht, ich ſah Sie
ja ſelbſt solus cum sola mit ihr im Wagen — alle
Welt iſt davon unterrichtet, und ich habe es auch
ſchon nach B. an den K. geſchrieben. Nun dieſe fremde
Sünde auf mein Conto fehlte mir noch, erwiederte
ich verdrießlich. Uebrigens wiſſen Sie, daß dem Na-
poleoniſchen Geſchlechte nur die Engländer ver-
hängnißvoll ſind. Der Höchſte deſſelben hat der gan-
zen Nation die Schmach ſeines Todes zum ewigen
Vermächtniß hinterlaſſen, ſeine arme. Nichte wird
wohl nur einen einzigen engliſchen Dandy den un-
terirdiſchen Mächten weihen; aber da die Nemeſis,
in der Weltgeſchichte wie in den kleinen Lebensver-
hältniſſen, nie ausbleibt, ſo iſt es wohl möglich, daß
einſt noch ein Buonaparte des kaiſerlichen Ahnherrn
[422] ſchmähliches Ende an der Nation rächt, und ſich auch
vielleicht einmal ein engliſcher Dandy in Paris der
ſchönen Augen einer Nachkommin Napoleons wegen
erſchießt. Wir Deutſche begnügen uns, jenen Helden
und ſein Geſchlecht in jeder Hinſicht nur von weitem
zu bewundern, denn gleich der Sonne, that es einſt
in der Mittagshitze nicht gut, zu nahe ſeinem Glanz
zu wohnen, und heut iſt das Geſtirn untergegan-
gen.*)


Damit empfahl ich mich, und gab, zu Hauſe ange-
kommen, ſogleich Befehl zur Beſchleunigung meiner
Abreiſe. Hoffentlich werde ich im Stande ſeyn, mor-
gen ſchon meinen Zug in entferntere, freiere Ge-
genden zu beginnen, und ſobald ſoll kein ſtädtiſches,
eingepferchtes Leben mir wieder nahen!


Irgendwo ſagt Lord Byron von ſich: ſeine Seele
habe nur in der Einſamkeit ihren vollen freien Wir-
kungskreis gehabt. Dieſe Wahrheit paßt auch, ſehe
ich, auf geringere Leute, denn mir geht es nicht an-
ders. In der läſtigen Geſellſchaft fühle ich die Seele
ſtets nur halb, und ſchrecklich iſt mir ſchon der Ge-
danke: jetzt ſollſt du, wo möglich, aimable ſeyn! Da-
gegen bin ich, wie Du weißt, eben in der Einſam-
[423] keit am wenigſten allein, und am ſeltenſten entbehre
ich dort, meine theure Freundin, Deiner Geſell-
ſchaft.


Biſt Du auch noch ſo fern, ſo umſchwebt doch
mein Geiſt Dein Wachen wie Deine Träume, und
über Meer und Berge hin empfindet mein Herz den
liebenden Pulsſchlag des Deinen.


L.


(Ende des vierten und letzten Theils.)

[][][][]
Notes
*)
Man ſieht jetzt, daß dies nur eine Redensart war.
A. d. H.
*)
Sie wurde ſpaͤter von demſelben jungen Fuͤrſten, der in
dieſem Briefe als ſchneller Reiſender angefuͤhrt iſt, mit
gleicher Schnelligkeit nach dem Continent entfuͤhrt. A. d. H.
*)
Dieſe Aeußerung des Herzogs iſt ſeitdem, ſelbſt im Un-
terhauſe, oͤfters zur Sprache gekommen; weniger bekannt
aber moͤchte folgende ganz neuere ſeyn, die ich der liebens-
wuͤrdigen Dame verdanke, an die ſie gerichtet war. Im
Monat November dieſes Jahres 1830 unterhielt ſich der
Premier mit der Fuͤrſtin C. und der Herzogin von D. uͤber
mehreres Charakteriſtiſche der engliſchen und franzoͤſiſchen
Nation, und ihre gegenſeitigen Vorzuͤge. Ce qui est beau,
en Angleterre,
ſagte der Herzog mit vielem Selbſtgefuͤhl,
c’est que ni le rang, ni les richesses, ni la faveur
sauraient élever un Anglois aux premières places. Le
génie seul les obtient, et les conserve chez nous.
Die
Damen ſchlugen die Augen nieder, und 8 Tage darauf war
der Herzog von Wellington nicht mehr en place.
A. d. H.
*)
Wie wenig mochte mein verſtorbener Freund damals ver-
muthen, daß dieſer ſchlecht organiſirte Kopf noch ſolches
Unheil uͤber die Welt zu bringen beſtimmt war! Auch aus
ihm wird zwar, wie aus allem Uebel, einmal Gutes her-
vorgehen, aber ſchwerlich werden wir dieſe Fruͤchte
aͤrndten. A. d. H.
*)
Man vergeſſe nicht, daß hier vom vorigen die Rede iſt.
A. d. H.
*)
Ich war im Begriff, dieſe Stelle wegzulaſſen, die aller-
dings zu ſehr der vertrauten Correspondenz angehoͤrt, um
viele Leſer intereſſiren zu koͤnnen. Da ſie aber den ſeligen
Verfaſſer wirklich ungemein treu ſchildert, und ſpaͤter der-
ſelbe manchmal darauf Bezug nimmt, ſo hoffe ich, wird man
mir die Beibehaltung derſelben verzeihen. A. d. H.
*)
Iſt ſchwer zu uͤberſetzen, denn Vorſichtsſinn druͤckt es nicht
hinlaͤnglich aus, vielmehr iſt es das Vermoͤgen, ſich augen-
blicklich Alles zu denken, was in Folge einer Handlung ge-
ſchehen koͤnnte, und ſie ſo, faſt unwillkuͤhrlich, von allen
Seiten beleuchten und ſich ausmalen zu muͤſſen, welches oft
die Thatkraft laͤhmt.
*)
Darum ſtarb auch der Eine als Gefangener Europa’s in
Helena, der Andere vor Kummer uͤber die Intriguen ſei-
ner Feinde im trauernden Vaterlande. A. d. H.
*)
Es iſt hiſtoriſch erwieſen, daß ſelbſt die alten deutſchen
Ritter ſchon die Unart hatten, ſich zuweilen franzöſiſcher
Floskeln zu bedienen. A. d. H.
*)
Stores heißt Alles, was zum Betriebe des Ganzen noͤ-
thig iſt.
*)
Wenn man nach dem Erfolg urtheilen darf, ſo hat ſich
dieſe Meinung eben nicht beſtaͤtigt. A. d. H.
*)
Das Prinzip dieſer Erfindung iſt ſehr einfach. Wenn man
einen Blaſebalg mit einer großen Blaſe von unten in Ver-
bindung bringt, und am obern Ende derſelben ein kleines
Loch macht, und dann durch Agitirung des Blaſebalgs Luft,
die auf eine gewiſſe Temperatur geſtellt iſt, hineinſtroͤmen
laͤßt, ſo koͤnnte ein Parlament von Lilliputs in der Blaſe
fitzen und deliberiren, und alle ihre Ausduͤnſtungen wuͤrden
fortwaͤhrend oben hinausgehen, und die friſche Luft von un-
ten in eben der Maſſe ſich continuirlich erneuen. Dieſe Art
des Heizens und Ventilirens zugleich iſt das Prinzip des
Herrn Vallance, welches dem engliſchen Senat applicirt
werden ſoll. Vielleicht verbindet man auch noch eine Aeols-
harfe damit, um ſchlechten Organen zu Huͤlfe zu kommen.
*)
Ein gelehrter Antiquar ſagte mir einmal, daß die alten
Maler gewoͤhnlich auf Kreidegrund malten, und Firniſſe
zur Bereitung ihrer Farben gebrauchten, weshalb ſie ſo
dauerhaft, friſch und glanzvoll blieben. Sonderbar, daß
man ſich nicht mehr bemuͤht, dieſes Verfahrens wieder
Herr zu werden.
*)
Auf dieſe paßte wahrſcheinlich nicht, was ich einen liebens-
wuͤrdigen Prinzen, dem die Ironie nicht fremd iſt, einmal
ſo ergoͤtzlich zu ſeinen Hofleuten ſagen hoͤrte: Nur mit Ei-
nem verſchont mich, mit Euern laͤndlichen, ſchaͤndlichen Ver-
gnuͤgungen und mit Euern haͤuslichen, ſcheuslichen Freuden!
A. d. H.
*)
Es iſt höchſt auffallend, daß engliſche Schriftſteller ſich auf
alle Weiſe abmartern, um auszumitteln, worin der Grund
der unermeßlichen Armentaxen, und des immer künſtlicher
und drohender werdenden Zuſtandes der arbeitenden Klaſſen
in Großbritannien beſtehe, und wie ihm abzuhelfen ſey, zu
welchem letzteren Ende Einige ſogar ſyſtematiſche Menſchen-
ausfuhr, wie die von baumwollenen Zeugen und Stahl-
waaren, nebſt Gouvernements-Prämien dafür empfehlen —
da doch das wahre augenblickliche Heilmittel ſo nahe liegt,
— es bedürfte weiter nichts als Aufhebung des Zehnten,
der überdieß, weil er mit der vermehrten Cultur ſteigt, die
alleinige Urſache iſt, daß in England ſelbſt noch ungeheure
Strecken eines Bodens, den man bei uns gut nennen würde,
wüſte liegen bleiben, indem Niemand ſein Capital und
ſeinen Schweiß blos für die Pfaffen hergeben will.
A. d. H.
*)
Gewiß iſt die neue Pariſer Geſellſchaft: hilf Dir ſelbſt,
ſo wird Dir Gott helfen, in praxi noch nicht ſo weit ge-
kommen. A. d. H.
*)
Wir haͤtten Bedenken tragen koͤnnen, das Vorhergehende
im Texte ſtehen zu laſſen, wenn das Weſentliche der Be-
gebenheit nicht ſchon, mit noch viel naͤheren, wenn gleich
zum Theil unrichtigen Details, aus mehreren oͤffentlichen
Blaͤttern dem Publikum bekannt geworden waͤre.
A. d. H.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Briefe eines Verstorbenen. Briefe eines Verstorbenen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn1n.0