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Der
grüne Heinrich.
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Der
grüne Heinrich.


Roman



In vier Bänden.
Erſter Band.


Braunſchweig,:
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1854.
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Vorwort.

Von dieſem Buche liegt der erſte Band ſchon
ſeit zwei Jahren, der zweite ſeit einem Jahre fer¬
tig gedruckt, waͤhrend die Beendigung des dritten
und vierten Bandes durch verſchiedenes Ungeſchick
bis vor Kurzem verzoͤgert wurde. Abſicht und
Motive blieben dabei unveraͤndert dieſelben, wie
am erſten Tage der Conception, waͤhrend in der
Ausfuͤhrung waͤhrend mehrerer Jahre der Ge¬
ſchmack des Verfaſſers ſich nothwendig aͤndern
mußte, oder ehrlich herausgeſagt: ich lernte uͤber
der Arbeit beſſer ſchreiben. Die erſten Bogen
dieſes Romanes datiren noch aus dem Jahr 1847,
die letzten entſtanden in dieſen Tagen, und die
[VI] Entſtehungsweiſe des Ganzen gleicht derjenigen
eines ausfuͤhrlichen und langen Briefes, welchen
man uͤber eine vertrauliche Angelegenheit ſchreibt,
oft unterbrochen durch den Wechſel und Drang
des Lebens. Man laͤßt den Brief ganze Zeit¬
raͤume hindurch liegen, man wird vielfaͤltig ein
Anderer; aber wenn man das Geſchriebene wie¬
der zur Hand nimmt, faͤhrt man genau da fort,
wo man aufgehoͤrt hatte, und wenn ſich auch in
dem, was man betont oder verſchweigt, der Wech¬
ſel des Lebens kund thut, findet ſich doch, daß
man gegen den, an welchen der Brief gerichtet,
und in dieſer Sache der Alte geblieben iſt. Man
hat den Brief mit einer gewiſſen, redſeligen Breite
begonnen, welche eher von Beſcheidenheit zeugt,
indem man ſich kaum Stoffes genug zutraute,
um den ganzen ſchoͤnen Bogen zu fuͤllen. Bald
aber wird die Sache ernſter; das Mitzutheilende
macht ſich geltend und verdraͤngt die gemuͤthlich
ausgeſchmuͤckte Geſpraͤchigkeit, und endlich zwingt
ſich von ſelbſt, und noch gedraͤngt durch die aͤuße¬
ren Ereigniſſe und Schickſale, nicht eine theore¬
tiſche, ſondern im Augenblick praktiſche Oekonomie
[VII] in die in der Eile beſonnene Feder, ſo daß nur
das Weſentliche ſich loͤſen darf aus dem Fluge der
Gedanken, um ſich gegen den Schluß des Briefes
hin wenigſtens ſo viel Raum zu erkaͤmpfen, als
noͤthig iſt, mit der warmen Liebe des Anfanges
zu endigen. So entſteht freilich nicht ein ſtreng
gegliedertes Kunſtwerk, aber vielleicht ein um ſo
treuerer Ausdruck deſſen, was man war und
wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber
iſt es nun, ob das Gleichniß hinreiche, eine ge¬
wiſſe Unfoͤrmlichkeit vorliegenden Romanes zu
entſchuldigen oder zu beſchoͤnigen. Ich bin weit
entfernt, dies verſuchen zu wollen; einzig und
allein moͤchte ich durch das Gleichniß die Hoff¬
nung andeuten, der geneigte Leſer werde wenig¬
ſtens, wenn auch nicht den Genuß eines reinen
und meiſterhaften Kunſtwerkes, ſo doch den Ein¬
druck einer wahr empfundenen und mannigfach
bewegten Mittheilung davon tragen. — Beſagte
Unfoͤrmlichkeit hat ihren Grund hauptſaͤchlich in
der Art, wie der Roman in zwei verſchiedene
Beſtandtheile auseinander faͤllt, naͤmlich in eine
Selbſtbiographie des Helden, nachdem er einge¬
[VIII] fuͤhrt iſt, und in den eigentlichen Roman, worin
ſein weiteres Schickſal erzaͤhlt und die in der
Selbſtbiographie geſtellte Frage gewiſſermaßen ge¬
loͤſt wird. Der eine dieſer Theile iſt viel zu breit,
um als Epiſode des anderen zu gelten, und ſo bleibt
nur zu wuͤnſchen, daß die Einheit des Inhaltes
Beide genugſam moͤge verbinden und die getrennte
Form vergeſſen laſſen. — Ueber den eigentlichen
Inhalt weiß ich hier Nichts zu ſagen, als daß
man das Buch leider als ein Tendenzbuch wird
anſehen koͤnnen, waͤhrend es in der That nur in¬
ſofern ein ſolches iſt, als es mit Abſicht Nichts
verſchweigt, was in den nothwendigen Kreis ſei¬
nes Stoffes gehoͤrt. Stoff und Form aber will
ich hiermit beſcheidenſt dem ungewiſſen Stern
jedes erſten Verſuches anheim ſtellen.


Berlin 1853.


Der Verfaſſer.

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Erſtes Kapitel.

Zu den Schoͤnſten vor Allen in der Schweiz
gehoͤren diejenigen Staͤdte, welche an einem See
und an einem Fluſſe zugleich liegen, ſo, daß ſie
wie ein weites Thor am Ende des See's unmit¬
telbar den Fluß aufnehmen, welcher mitten durch
ſie hin in das Land hinauszieht. So Zuͤrich,
Luzern, Genf; auch Konſtanz gehoͤrt gewiſſerma¬
ßen noch zu ihnen. Man kann ſich nichts An¬
genehmeres denken, als die Fahrt auf einem die¬
ſer Seen, z. B. auf demjenigen von Zuͤrich.
Man beſteige das Schiff zu Rapperswyl, dem
alten Staͤdtchen unter der Vorhalle des Urgebir¬
ges, wo ſich Kloſter und Burg im Waſſer ſpie¬
geln, fahre, Huttens Grabinſel voruͤber, zwiſchen
den Ufern des laͤnglichen See's, wo die Enden
der reichſchimmernden Doͤrfer in Einem zuſam¬
I. 1[2] menhaͤngenden Kranze ſich verſchlingen, gegen
Zuͤrich hin, bis, nachdem die Landhaͤuſer der Zuͤ¬
richer Kaufleute immer zahlreicher wurden, zuletzt
die Stadt ſelbſt wie ein Traum aus den blauen
Waſſern ſteigt und man ſich unvermerkt mit er¬
hoͤhter Bewegung auf der gruͤnen Limath unter
den Bruͤcken hinwegfahren ſieht. Das ganze
Treiben einer geiſtig bedeutſamen und ſchoͤnen
Stadt draͤngt ſich an den leicht dahin ſchweben¬
den Kahn. So eben verſammelt ſich der geſetz¬
gebende Rath der Republik. Trommelſchlag er¬
toͤnt. In einfachen ſchwarzen Kleidern, ſelten
vom neueſten Schnitte, ziehen die Vertreter des
Volkes auf den Ufern dahin. Auch die Geſichter
dieſer Maͤnner ſind nicht immer nach dem neuſten
Schnitte und verrathen durchſchnittlich weder ele¬
gante Beredſamkeit noch große Beleſenheit; aber
aus gewiſſen Strahlen der lebhaften Augen leuch¬
tet Beſonnenheit, Erfahrung und das gluͤckliche
Geſchick, mit einfachem Sinn das Rechte zu tref¬
fen. Von allen Seiten wandeln dieſe Gruppen,
je nach den Tagesfragen und der verſchiedenen
Richtung begruͤßt oder unbegruͤßt vom zahlreichen
[3] emſigen Volke, nach dem dunkeln ſchweren Rath¬
hauſe, das aus dem Fluſſe emporſteigt. Stolz
neben dieſen Geſtalten hin raſſeln diplomatiſche
Fremdlinge uͤber die Bruͤcken in wunderlichem
Aufputze, und ihre komiſchen Livreen ergoͤtzen,
wie billig, einen Augenblick lang das einfache
Volk. Zwiſchen durch ſteuert der deutſche Ge¬
lehrte mit gedankenſchwerer Stirne nach ſeinem
Hoͤrſaal; ſein Herz iſt nicht hier, es weilt im
Norden, wo ſeine tiefſinnigen Bruͤder, in zerriſſe¬
nen Pergamenten leſend, finſtere Daͤmonen be¬
ſchwoͤrend, ſich ein Vaterland und ein Geſetz zu
gruͤnden trachten. Ausgeworfen von der Gaͤh¬
rung dieſes großen Experimentes, begegnet ihm
der Fluͤchtling mit unſichern, zweifelhaften Augen
und kummervollen Mienen und vermehrt die
Mannigfaltigkeit und Bedeutung dieſes Treibens.
Jetzt ertoͤnt das Getoͤſe des Marktes von einer
breiten Bruͤcke uͤber unſerm Kopfe; Gewerk und
Gewerb ſummt laͤngs des Fluſſes und truͤbt ihn
theilweiſe, bis die rauchende Haͤuſermaſſe einer
der groͤßten induſtriellen Werkſtaͤtten voll Ham¬
mergetoͤnes und Eſſenſpruͤhen das Bild ſchließt.
1 *[4] Aus dem pfeilſchnell voruͤbergefloſſenen Gemaͤhlde
haben ſich jedoch zwei Bilder der Vergangenheit
am deutlichſten dem Sinne eingepraͤgt: rechts
ſchaute vom Muͤnſterthurme das ſitzende rieſige
Steinbild Karls des Großen, eine goldene Krone
auf dem Lockenhaupt, das goldene Schwert auf
den Knieen, uͤber Strom und See hin; links
ragte auf ſteilem Huͤgel, thurmhoch uͤber dem
Fluſſe, ein uralter Lindenhain, wie ein ſchweben¬
der Garten und in den ſchoͤnſten Formen, gruͤn
in den Himmel. Kinder ſah man in der Hoͤhe
unter ſeinen Laubgewoͤlben ſpielen und uͤber die
Bruſtwehr herabſchauen. Aber ſchon faͤhrt man
wieder zwiſchen reizenden Landhaͤuſern und Ge¬
werben, zwiſchen Doͤrfern und Weinbergen dahin,
die Obſtbaͤume hangen in's Waſſer, zwiſchen ihren
Staͤmmen ſind Fiſchernetze aufgeſpannt. Voll
und ſchnell fließt der Strom, und indem man
unverſehens noch ein Mal zuruͤckſchaut, erblickt
man im Suͤden die weite ſchneereine Alpenkette
wie einen Lilienkranz auf einem gruͤnen Teppich
liegen. Jetzt lauſcht ein ſtilles Frauenkloſter hin¬
ter Uferweiden hervor, und da nun gar eine
[5] maͤchtige Abtei aus dem Waſſer ſteigt, ſo befuͤrch¬
tet man die ſchoͤne Fahrt wieder mittelalterlich zu
ſchließen; aber aus den hellgewaſchenen Fenſtern
des durchluͤfteten Gotteshauſes ſchauen ſtatt der
vertriebenen Moͤnche bluͤhende Juͤnglinge herab,
die Zoͤglinge einer Volkslehrerſchule. So landet
man endlich zu Baden, in einer ganz veraͤnderten
Gegend. Wieder liegt ein altes Staͤdtchen mit
mannigfachen Thuͤrmen und einer maͤchtigen
Burgruine da, doch zwiſchen gruͤnen Huͤgeln und
Geſtein, wie man ſie auf den Bildern der alt¬
deutſchen Maler ſieht. Auf der gebrochenen Veſte
hat ein deutſcher Kaiſer das letzte Mahl einge¬
nommen, eh' er erſchlagen wurde; jetzt hat ſich
der Schienenweg durch ihre Grundfelſen gebohrt.


Denkt man ſich eine perſoͤnliche Schutzgoͤttin
des Landes, ſo kann die durchmeſſene Waſſerbahn
allegoriſcher Weiſe als ihr kryſtallener Guͤrtel gel¬
ten, deſſen Schlußhaken die beiden alten Staͤdt¬
chen ſind und deſſen Mittelzier Zuͤrich iſt, als
groͤßere edle Roſette.


So haben Luzern oder Genf aͤhnliche und
doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See
[6] und Fluß. Die Zahl dieſer Staͤdte aber um eine
eingebildete zu vermehren, um in dieſe, wie in
einen Blumenſcherben, das gruͤne Reis einer
Dichtung zu pflanzen, moͤchte thunlich ſein: indem
man durch das angefuͤhrte, beſtehende Beiſpiel
das Gefuͤhl der Wirklichkeit gewonnen hat, bleibt
hinwieder dem Beduͤrfniſſe der Phantaſie groͤße¬
rer Spielraum und alles Mißdeuten wird ver¬
huͤtet.


Unſer See bildet ſcheinbar ein weites ovales
Becken, welches aus den blaͤulichen Farbenabſtu¬
fungen des umgebenden Gebirges nur ahnen laͤßt,
daß in der Ferne da und dort das Waſſer in
Buchten auslaͤuft und in den verſchiedenen Sei¬
tenthaͤlern neue Seen bildet. Aus dem Hinter¬
grunde der klaren Gewaͤſſer ſteigt die maͤchtige
Gletſcherwelt empor, ſenkt ſich dann, im Kranze
um den See herum, zum flacheren Gebirge herab,
bis ſich dieſes in zwei ſchoͤnen Bergen ſchließt,
welche den maͤßigen Strom zwiſchen ſich durch¬
treten laſſen, in das ebene Land hinaus. Am
jenſeitigen Berge, der ſeinen ſonnigen runden
Abhang, dem Suͤden zugewendet, aus dem See
[7] erhebt, liegt die Stadt hingegoſſen, faſt von ſei¬
nem Scheitel bis in das Waſſer herunter, daß
ihr ſteinerner Fuß ſich noch in die ſpuͤlende Fluth
hineintaucht. Vom diesſeitigen Berge aber, wel¬
cher aus ſchroffen waldbewachſenen Felſen beſteht,
kann man in die Stadt hinein und hinuͤber
ſchauen, wie in einen offenen Raritaͤtenſchrein, ſo
daß die kleinen fernen Menſchen, die in den ſtei¬
len alten Gaſſen herumklimmen, ſich kaum vor
unſerm Auge verbergen koͤnnen, indem ſie ſich
in ein Quergaͤßchen fluͤchten oder in einem Hauſe
verſchwinden. Es iſt eine ſeltſame Stadt, mit
einem altergrauen Haupte und neuen glaͤnzenden
Fuͤßen. Denn der Verkehr und das thaͤtige Le¬
ben haben unten am Ufer, wo die befrachteten
Schiffe ab- und zugehen, nichts Altes und Unbe¬
quemes gelaſſen und die Steinmaſſe fortwaͤhrend
erneuert, waͤhrend das Alter ſich am Berge hin¬
auffluͤchtete, mitten an demſelben, auf einem plat¬
ten Vorſprunge in der kuͤhlen byzantiniſchen
Stadtkirche ausruhte und oben zuletzt auf der
halbzerfallenen Burg ſtehen blieb. Seinen inni¬
gen Zuſammenhang mit dem gegenwaͤrtigen Leben
[8] beweiſt es jedoch in den rieſenhaften Burglinden,
welche ewig gruͤn ihre Aeſte zu einem maͤchtigen
Kranze verſchlingen hoch uͤber der Stadt, unmit¬
telbar unter dem Himmel. Wo der Fluß ſich
ſchon merklich verengt und ſeine eigene Stroͤmung
annimmt, ſteht noch ein maleriſches feſtes Bruͤ¬
ckenthor und ſendet eine lange hoͤlzerne Bruͤcke
heruͤber, bedeckt von einem alterthuͤmlichen Dache,
deſſen Gebaͤlke mit Schnitzwerk und verblichenen
Schildereien uͤberladen iſt. Diesſeits empfaͤngt
ſie wieder ein grauer Thurm und aus dieſem
hervor fuͤhren mehrere Wege, theils dem Fluſſe
entlang nach der Flaͤche hinaus, theils auf jaͤhen
Steigen auf den Felſenberg. An deſſen Mitte
ragt ebenfalls ein betraͤchtliches Plateau hinaus;
es traͤgt, wie es oft bei Flußſtaͤdten vorkommt, eine
Art Anhaͤngſel oder kleineren Theil der Stadt,
beſtehend aus einem Kaſtell und ehemaligen Klo¬
ſter, deren innere Raͤume und Hoͤfe vollſtaͤndig
mit Graͤbern angefuͤllt ſind, da ſie der Stadt
ſchon ſeit Jahrhunderten zum Kirchhofe dienen.
Die Gebaͤude aber enthalten ein Irrenhaus, ein
Armenhaus oder Hoſpital u. dgl. mehr. Seltſam
[9] und duͤſter haben ſich Tod und Elend zwiſchen
dem alten winklichten Gemaͤuer eingeniſtet, aus
deſſen Dunkelheiten die herrliche ſchimmervolle
Landſchaft das Auge um ſo mehr blendet. Und
uͤber die Graͤber hin fuͤhrt der Weg dann vol¬
lends, ſich durch epheubewachſene Nagelfluhe
empor windend, auf den Berg, wo er ſich in
einem weitgedehnten praͤchtigen Buchenwalde ver¬
liert.


Unter einer offenen Halle dieſes Waldes ging
am fruͤhſten Oſtermorgen ein junger Menſch: er
trug ein gruͤnes Roͤcklein mit uͤbergeſchlagenem
ſchneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar
und darauf eine ſchwarze Sammtmuͤtze, in deren
Falten ein feines weiß und blaues Federchen von
einem Nußhaͤher ſteckte. Dieſe Dinge, nebſt Ort
und Tageszeit, kuͤndigten den zwanzigjaͤhrigen
Gefuͤhlsmenſchen an. Es war Heinrich Lee, der
heute von der bisher nie verlaſſenen Heimath
ſcheiden und in die Fremde, nach Deutſchland
ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬
ten Blick uͤber ſein ſchoͤnes Heimathland zu wer¬
fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬
[10] tus, wie es haͤufig bei hoffnungsreichen und en¬
thuſiaſtiſchen Juͤnglingen geſchieht.


So wenig, außer dem tiefen ruhigen Stroͤ¬
men des Fluſſes, ein Ton in dieſer Fruͤhe hoͤrbar
wurde, ebenſo wenig war an der weiten tiefen
himmliſchen Kryſtallglocke der leiſeſte Hauch eines
Woͤlkleins zu ſehen. Der weite See verſchmolz
mit den Fuͤßen des Hochgebirges in eine blau¬
graue Daͤmmerung; die Schneekuppen und Hoͤr¬
ner ſtanden milchblaß in der Fruͤhe. Als Hein¬
rich an den Rand des Waldes trat, uͤberflog der
erſte Roſenſchimmer der nahenden Sonne die
geiſterhaften Gebilde; uͤber dem letzten einſamen
Eisaltar glimmte noch der Morgenſtern.


Indem unſer Knabe ſtarr nach ihm hinſah,
that er einen jener ſtummen, fluͤchtigen Gebet¬
ſeufzer, die, wenn ſie in Worte zu faſſen waͤren,
ungefaͤhr ſo lauten wuͤrden: das iſt ſehr ſchoͤn, o
Gott! ich danke dir dafuͤr, ich gelobe, das Mei¬
nige auch zu thun! Wo und wer du auch ſeiſt,
habe Nachſicht mit mir, du weißt, wie Alles
kommt in deiner Welt, uͤbrigens mache mit mir,
was du willſt!

[11]

Die Bruſt des jungen Menſchen hob und
ſenkte ſich ſehr ſtark; aber ſeine Seele war ſo
keuſch, daß er vor allem pathetiſchen Verweilen,
vor aller Selbſtgefaͤlligkeit ſolcher Augenblicke
floh, ehe ſich obige wenigen Saͤtze in ſeinem
Sinne deutlich entwickeln konnten. Alſo drehte
er ſich wie der Blitz auf ſeinem Abſatze herum
und eilte, nach Norden und Weſten zu ſchauen.
Die Sonne war aufgegangen; waͤhrend im Suͤ¬
den die Alpenkette nun im froͤhlichſten hellſten
Golde glaͤnzte, hatte das weſtliche und noͤrdliche
flache Land, gegen das Rheingebiet hin, die Ro¬
ſenfarbe des Morgens angenommen, beſonders,
wo ſich die laubloſen, fuͤr dieſe Farbe empfaͤng¬
lichen Waldungen und violetten Brachfelder dehn¬
ten; was junggruͤnes Saatland war, ſchimmerte
mehr ſilbergrau in der Ferne. Von Schnee war
außer dem Gebirge keine Spur mehr zu finden;
aber das wenige Gruͤn war noch trocken und
thaulos.


Die Tiefe des Himmels und mit ihr das
Gewaͤſſer waren jetzt blau und das Land ſonnig
geworden. Nur der untere Theil der Stadt und
[12] der Fluß lagen noch im Schatten und letzterer
ging tief gruͤn, und bloß die laͤnglich ziehenden
Spiegel ſeiner Wellen warfen von ihren glatte¬
ſten Stellen etwas Blau zuruͤck.


Heinrich Lee ſah in ſeine Vaterſtadt hinuͤber.
Die alte Kirche badete im Morgenſchein, hie und
da blitzte auch ein geoͤffnetes Fenſter, ein Kind
ſchaute heraus und ſang, und man konnte aus
der Tiefe der Stube die Mutter ſprechen hoͤren,
die es zum Waſchen rief. Die vielen Gaͤßchen,
durch mannigfaltiges ſteinernes Treppenwerk un¬
terbrochen und verbunden, lagen noch alle im
Schatten und nur wenige freiere Kinderſpielplaͤtze
leuchteten beſtreift aus dem Dunkel. Auf allen
dieſen Stufen und Gelaͤndern hatte Heinrich ge¬
ſeſſen und geſprungen, und die Kinderzeit duͤnkte
ihm noch vor der Thuͤre des geſtrigen Abends
zu liegen. Schnell ließ er ſeine Augen treppauf
und ab in allen Winkeln der Stadt herum ſprin¬
gen, die traulichen Kinderplaͤtze waren alle ſtill
und leer, wie Kirchenſtuͤhle am Werktag. Das
einzige Geraͤuſch kam noch vom großen Stadt¬
brunnen, deſſen vier Roͤhren man durch den
[13] Flußgang hindurch glaubte rauſchen zu hoͤren;
die vier Strahlen glaͤnzten hell, ebenſo was an
dem ſteinernen Brunnenritter vergoldet war, ſein
Schwertknauf und ſein Bruſtharniſch, welch letz¬
terer die Morgenſonne recht eigentlich auffing,
zuſammenfaßte und ſein funkelndes Gold wunder¬
bar aus der dunkelgruͤnen Tiefe des Stromes herauf
widerſcheinen ließ. Dieſer reiche Brunnen ſtand
auf dem hohen Platze vor dem noch reicheren
Kirchenportale und ſein Waſſer entſprang auf
dem Berge diesſeits des Fluſſes, auf welchem
Heinrich jetzt ſtand. Es war fruͤher ſein liebſtes
Knabenſpiel geweſen, hier oben ein Blatt oder
eine Blume in die verborgene Quelle zu ſtecken,
dann neben den hoͤlzernen Roͤhren hinab, uͤber
die lange Bruͤcke, die Stadt hinauf zu dem
Brunnen zu laufen und ſich zu freuen, wenn zu
gleicher Zeit oben das Zeichen aus der Roͤhre in
das Becken ſprang: manchmal kam es auch nicht
wieder zum Vorſchein. Er pfluͤckte eine eben
aufgehende Primel und eilte nach der Brunnen¬
ſtube, deren Deckel er zu heben wußte; dann
eilte er die unzaͤhligen Stufen zwiſchen wuchern¬
[14] dem Epheugewebe hinunter, uͤber den Kirchhof,
wieder hinunter, durch das Thor uͤber die Bruͤcke,
unter welcher die Waſſerleitung auch mit hinuͤber
ging. Doch auf der Mitte der Bruͤcke, von wo
man unter den dunklen Bogen des Gebaͤlkes die
ſchoͤnſte Ausſicht uͤber den glaͤnzenden See hin
genießt, ſelbſt uͤber dem Waſſer ſchwebend, ver¬
gaß er ſeinen Beruf und ließ das arme Schluͤſ¬
ſelbluͤmchen allein den Berg wieder hinaufgehen.
Als er ſich endlich erinnerte und zum Brunnen
hinanſtieg, drehte es ſich ſchon emſig in dem
Wirbel unter dem Waſſerſtrahle herum und konnte
nicht hinaus kommen. Er ſteckte es zu dem Fe¬
derchen auf ſeiner Muͤtze und ſchlenderte endlich
ſeiner Wohnung zu durch alle die Gaſſen, in
welche uͤberall die Alpen blau und ſilbern hinein¬
leuchteten. Jedes Bild, klein oder groß, war
mit dieſem bedeutenden Grunde verſehen: vor der
niedrigen Wohnung armer Leute ſtand Heinrich
ſtill und guckte durch die Fenſterlein, die, einan¬
der entſprechend, an zwei Waͤnden angebracht
waren, quer durch das braune Geruͤmpel in die
blendende Ferne, welche durch das jenſeitige
[15] Fenſter der Stube glaͤnzte. Er ſah bei dieſer
Gelegenheit den grauen Kopf einer Matrone
nebſt einer kupfernen Kaffeekanne ſich dunkel auf
die Silberflaͤche einer zehn Meilen fernen Gletſcher¬
firne zeichnen und erinnerte ſich, daß er dieſes
Bild unveraͤndert geſehen, ſeit er ſich denken mochte.


So ſpielte dieſer Juͤngling wie ein Kind mit
der Natur und ſchien ſeine bevorſtehende, fuͤr
ſeine kleinen Verhaͤltniſſe bedeutungsvolle Abreiſe,
ganz zu vergeſſen. Allein ploͤtzlich fiel es ihm
ſchwer auf's Herz, als er nun vor ſeinem duͤſtern
Vaterhauſe ſtand und die Mutter ihm ungedul¬
dig aus dem Fenſter winkte. Schnell eilte er die
engen Treppen hinauf, den Wohngemaͤchern der
Haushaltungen vorbei, die alle im Hauſe wohnten.


»Wo bleibſt Du denn ſo lang?« empfing ihn
die Frau Lee, eine geringe Frau von etwa fuͤnf
und vierzig Jahren, an welcher weiter nichts auf¬
fiel, als daß ſie noch kohlſchwarze ſchwere Haare
hatte, was ihr ein ziemlich junges Anſehen gab;
auch war ſie um einen Kopf kleiner als ihr Sohn.


»Da habe ich ſchon angefangen, Deinen Kof¬
[16] fer zu packen, weil Du ſonſt vor Abgang der
Poſt nicht mehr fertig wuͤrdeſt.«


Heinrich guckte in den Koffer; mit richtigem
Sinn hatte die gute Frau Mappen und Buͤcher
auf den Boden gebreitet; nur hatte ſie mit we¬
niger Zartheit verſchiedene Bogen und Papiere
nicht genugſam zuſammengeſchichtet, ſo daß einige
derſelben an den Waͤnden des Koffers gekruͤmmt
wurden, was der Sohn eifrig verbeſſerte. Fuͤr
Papier haben die meiſten Hausfrauen uͤberhaupt
nicht viel Gefuͤhl, weil es nicht in ihren Bereich
gehoͤrt. Die weiße Leinwand iſt ihr Papier, die
muß in großen, wohl geordneten Schichten vor¬
handen ſein, da ſchreiben ſie ihre ganze Lebens¬
philoſophie, ihre Leiden und ihre Freuden darauf.
Wenn ſie aber einmal ein wirkliches Briefchen
ſchreiben wollen, ſo findet ſich kaum ein veralte¬
tes Blatt dazu und man kann ſich [alsdann] mit
einem huͤbſchen Bogen Poſtpapier und einer wohl¬
geſchnittenen Feder ſehr beliebt bei ihnen machen.


Auch hier erwies es ſich, daß die Mutter
eigentlich die ſchweren Gegenſtaͤnde zu unterſt ge¬
[17] packt hatte, um die zwoͤlf ſchoͤnen neuen Hemden
zu ſchonen, welche ſie jetzt hinein legte.


»Trage doch recht Sorge fuͤr Deine Hemden,«
ſagte ſie, »ich habe das Tuch ſelbſt geſponnen;
ſiehſt Du, dieſe ſechs ſind fein und ſchoͤn, ſie
ſtammen aus meinen juͤngeren Jahren, dieſe ſechs
hingegen ſind ſchon groͤber, meine Augen ſind
eben nicht mehr ſo ſcharf. Alle aber ſind ſchnee¬
weiß, und wenn Du auch, waͤhrend ſie noch gut
ſind, feinere Kleider anſchaffen koͤnnteſt, ſo darfſt
Du doch meine Waͤſche dazu tragen, weil es an¬
ſtaͤndige und ehrbare Leinwand iſt. Wechsle recht
gleichmaͤßig ab, wenn Du ſie der Waͤſcherin gibſt,
damit nicht ein Theil zu viel gebraucht wird, und
verfaſſe immer einen genauen Waſchzettel. Und
daß Du mir nur das Weißzeug und dergleichen
mehr eſtimirſt, als bisher, und nichts verzettelſt!
Denn bedenke, daß Du von nun an fuͤr jedes
Fetzchen, das Dir abgeht, baares Geld in die
Hand nehmen mußt und es doch nicht ſo gut
bekoͤmmſt, als ich es verfertigt habe. Wenigſtens
unterſteh Dich nicht mehr und wiſche deine kothi¬
gen Schuhe auf Spaziergaͤngen mit neuen Taſchen¬
l. 2[18] tuͤchern ab, welche Du nachher wegwirfſt, wie
Du neulich gethan haſt! Halte auch Deine zwei
Roͤcklein gut und ordentlich und haͤnge ſie immer
in den Schrank, anſtatt ſie zu Hauſe anzubehal¬
ten und halbe Tage lang ſo zu leſen, wie ich
Dich ſchon oft ertappt habe. Beſonders wenn
Du ſie ausbuͤrſteſt, fahre nicht mit der Buͤrſte
darauf herum, wie der Teufel im Buch Hiob,
daß Du alle Wolle abſchabſt!«


»Das verwuͤnſchte Kleiderputzen«, entgegnete
hierauf der Sohn, welcher unterdeſſen beim Aus¬
breiten der Kleidungsſtuͤcke ſeine Haͤnde auch im¬
mer unnuͤtzer Weiſe im Koffer hatte, »das ver¬
wuͤnſchte Kleiderputzen wird uͤberhaupt nun ein
Ende nehmen; denn wenn man in der Fremde
iſt und ſich eine ordentliche Wohnung miethen
muß, ſo bekommt man die Bedienung mit in
den Kauf. Es reut mich jeder Augenblick, den
ich mit dem widerlichen Geſchaͤft zugebracht habe.«


»Das iſt wieder der Hans Obenhinaus!«
rief etwas heftig die Mutter, »Bedienung! ich
ſage Dir, laſſe Dich lieber nicht bedienen, wenn
Du Dich dadurch billiger einrichten kannſt. Ich
[19] ſehe nicht ein, warum Du nicht ſelbſt Deine
Sachen in Ordnung halten ſollteſt, waͤhrend Du
ſonſt Stunden lang in die Berge hineinſtarrſt!«


»Das verſtehſt Du halt nicht!« haͤtte Hein¬
rich faſt geſagt, fand es aber fuͤr gut, die Worte
zu verſchlucken und ſich dafuͤr mit dem feſten
Vorſatze zu wappnen, hinfuͤro keine Schuhbuͤrſte
mehr anruͤhren zu wollen. Das undankbare Kind
vergaß hierbei gaͤnzlich, wie ruͤhrend ihn die Mut¬
ter oft uͤberraſcht hatte, wenn er beim Antritt
irgend einer kleinen Reiſe, oder wenn Fremde
im Hauſe waren, ſeine Schuhe glaͤnzend gewichſt
fand, juſt wenn er mit Seufzen und falſcher
Scham vor dem Beſuche an das verhaßte Ge¬
ſchaͤft gehen wollte.


Indeſſen war Frau Lee beſorgt, noch eine
Menge Kleinigkeiten auf die geſchickteſte Weiſe
in dem Koffer unterzubringen. Da brachte ſie
ein maͤchtiges Stuͤck feine Seife, wohl eingewik¬
kelt, eine zierliche Nadelbuͤchſe, Faden und Knoͤpfe
aller Art in einem artigen Schaͤchtelchen, eine
Scheere, eine gute neue Kleiderbuͤrſte, unterſchied¬
liche Tuchabſchnitzel, welche ſeinen Kleidungs¬
[20] ſtuͤcken entſprachen, zuſammengerollt und mit einem
Bindfaden vielfach umwunden und die ſie ihm ja
nicht zu verlieren empfahl, indem ein gewandter
Schneider die Exiſtenz eines Rockes mit derglei¬
chen manchmal um ein volles Jahr zu friſten
vermoͤge. Sie gerieth hierbei wieder in einigen
Conflict mit dem Sohne, welcher alle vorhande¬
nen Luͤcken fuͤr die verſchiedenen Bruchſtuͤcke einer
alten Floͤte, fuͤr ein Lineal, eine Farbenſchachtel,
einen baufaͤlligen Operngucker u. ſ. w. in Beſchlag
nehmen wollte. Ja, er machte, obgleich er kein
Mediziner war, doch einen vergeblichen Verſuch,
einen defecten Todtenſchaͤdel, mit welchem er ſei¬
nem Kaͤmmerchen ein gelehrtes Anſehen zu geben
gewußt hatte, noch unter den Deckel zu zwaͤngen.
Die Mutter jagte ihn aber mit widerſtandsloſer
Energie von dannen und man behauptet, daß das
graͤuliche Moͤbel nicht lange nachher einem ehr¬
lichen Todtengraͤber bei Nacht und Nebel nebſt
einem Trinkgelde uͤbergeben worden ſei.


Sie ſchloſſen mit Muͤhe den vollgepfropften
Koffer; denn auch das Kind der unbemitteltſten
Eltern, wenn es aus den Armen einer treuen
[21] Mutter ſcheidet, nimmt immer noch etwas We¬
niges uͤber ſeine Beduͤrfniſſe hinaus mit und iſt
in einem gewiſſen Sinne wohl ausgeſtattet. Die
Tage ſind traurig, wo dieſe Ausſtattung, dieſe
warme Huͤlle ſich nach und nach aufloͤſt und ver¬
liert und mit bitteren, oft reuevollen Erfahrungen
durch wildfremdes Zeug erſetzt werden muß.


Waͤhrend Heinrich noch eine große, ſchwere
Mappe einwickelte, die ganz mit Zeichnungen,
Kupferſtichen und altem Papierwerk angefuͤllt
war, ſein wanderndes Muſeum, beſorgte ſeine
Mutter das Fruͤhſtuͤck und ermahnte ihn, unter¬
deſſen noch bei den Hausgenoſſen Abſchied zu
nehmen. Das Haus gehoͤrte ihr und war ein
hohes altes buͤrgerliches Gebaͤude, deſſen unter¬
ſtes Geſchoß noch in romaniſchen Rundbogen, die
Fenſter der mittleren im altdeutſchen Styl und
erſt die zwei oberſten Stockwerke modern doch
regellos gebaut waren. Alles war duͤſter und
geſchwaͤrzt. Drei oder vier Handwerkerfamilien
bewohnten ſeit langen Jahren in guter Eintracht
mit der Frau Hausmeiſterin das Haus. Bei
[22] ihnen trat Heinrich nach einander ein und ſagte
ſein Lebewohl. Die braven Leute wuͤnſchten ihm
mit herzlicher Theilnahme alles Gluͤck und er¬
mahnten ihn, nicht zu lange in der Welt herum
zu fahren, ſondern bald wieder zu ihnen und zu
der Mutter zuruͤckzukehren. Die gluͤckliche Feſt¬
tagsruhe, in welcher er die zufriedenen und nach
nichts weiter verlangenden Menſchen antraf, trat
ihm an's Herz, und er bat ſie, ſeiner Mutter,
die nun ganz allein ſei, mit Rath und That bei¬
zuſtehen. Die ernſthaften Hausvaͤter, den ſonn¬
taͤglichen Seifenſchaum um Mund und Kinn,
verſicherten, daß ſeine Bitte unnoͤthig ſei, holten
bedaͤchtig aus ihren beſcheidenen Pulten einen
harten Thaler hervor und druͤckten denſelben dem
Scheidenden mit diplomatiſcher Wuͤrde verdeckt
in die Hand. Obgleich er, nach der Behauptung
ſeiner Mutter, ein Obenhinaus war, ſo durfte er
doch durch dieſe buͤrgerliche ſchoͤne Sitte ſich nicht
beleidigt finden. Auch lag ein rechter Segen in
dieſem ſauererworbenen und mit ernſtem Ent¬
ſchluſſe geſchenkten Gelde; es ſchien Heinrich die
erſten Tage ſeiner Reiſe hindurch, wo er es zuerſt
[23] gebrauchte, um ſeine Hauptkaſſe zu ſchonen, als
ob es gar nicht ausgehen wollte.


Endlich ſaß er ſeiner Mutter beim Fruͤhſtuͤck
gegenuͤber, auf dem Stuhle, auf welchem der
dreijaͤhrige Knabe ſchon geſchaukelt hatte. Es
war nun Alles gethan und vorbereitet; ein Mann
hatte den Koffer nach der Poſt geholt — es war
eine Todtenſtille in der Stube. Die Morgen¬
ſonne umzirkelte die alterthuͤmlichen, ererbten Por¬
zelantaſſen, welche Heinrich ſchon zwanzig Jahre
lang durch die Haͤnde ſeiner Mutter gehen ſah,
ohne daß je eine zerbrochen waͤre. Es war ein
feierlicher Moment geweſen, als er fuͤr wuͤrdig
erfunden ward, ſein Kinderſchuͤſſelchen mit einer
dieſer bunten und vergoldeten Taſſen verſuchs¬
weiſe zu vertauſchen.


Frau Lee haͤtte ihrem Sohne noch gern aller¬
lei geſagt; aber ſie konnte mit ihm gar nicht
ſentimental ſprechen, ſo wenig, als er mit ihr.
Endlich ſagte ſie ſchuͤchtern und abgebrochen:


»Werde nur nicht leichtſinnig und vergiß
nicht, daß wir eine Vorſehung haben! Denke an
den lieben Gott, ſo wird er auch an Dich den¬
[24] ken, und mach', daß Du bald etwas lernſt und
endlich ſelbſtſtaͤndig werdeſt; denn Du weißt ge¬
nau, wieviel Du noch zu verbrauchen haſt und
daß ich Dir nachher nichts mehr werde ſchicken
koͤnnen, das heißt, wenn es Dir uͤbel ergehen
ſollte, ſo ſchreibe mir ja, ſo lange Du weißt,
daß ich ſelbſt noch einen Pfennig beſitze, ich koͤnnte
es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wiſſen.«


Der Sohn ſchaute waͤhrend dieſer Anrede
ſtumm in ſeine Taſſe und ſchien nicht ſehr geruͤhrt
zu ſein. Die Mutter erwartete aber keine ande¬
ren Geberden, ſie wußte ſchon, woran ſie war
und fuͤhlte ſich etwas erleichtert. Ach, du lieber
Himmel! dachte ſie, eine Wittwe muß doch Alles
auf ſich nehmen: dieſe Ermahnungen zu ertheilen,
dazu gehoͤrt eigentlich ein Vater, eine Frau kann
ſolche Dinge nicht auf die rechte Weiſe ſagen;
wenn das arme Kind nicht zurecht kommt, wie
werde ich die Sorge mit dem gehoͤrigen klugen
Ernſte vereinigen koͤnnen?


Heinrich aber war jetzt mit ſeinen Gedanken
ſchon weit in der Ferne: die Neugierde, die Hoff¬
nung, Lebens- und Wanderluſt hatten ihn maͤch¬
[25] tig angewandelt und die Ungeduld uͤbernahm ihn.
Er ſprang auf und ſagte: »Jetzt muß ich gehen,
leb' wohl, Mutter!« Die Thraͤnen ſtuͤrzten ihr in
die Augen, als ſie ihm die Hand gab, und er
fuͤhlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab
eilte, daß ſein Geſicht ganz heiß wurde, aber er
bezwang ſich. Die Hausgenoſſen kamen auch
noch unter die Hausthuͤre, wo Heinrich Allen
zumal noch die Hand gab, ohne ſeine Mutter
dabei ſtark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬
ten, fluͤchtigen und wehmuͤthigen Blick, den er
auf ſie warf, ausnehmen will. Das Volk, das
mit der aͤußern Sorge ſein Leben lang zu kaͤm¬
pfen hat, erweiſt ſich ſelbſt wenig ſichtbare Zaͤrt¬
lichkeit. Von verwandtſchaftlichen Umarmungen
und Kuͤſſen iſt wenig zu finden: Niemand kuͤßt
ſich, als die Kinder und die Liebenden und ſelbſt
dieſe mit mehr Decenz, als die gebildete und ſich
bewußte Geſellſchaft. Daß Maͤnner einander
kuͤßten, waͤre unerhoͤrt und uͤberſchwenglich laͤcher¬
lich. Nur große Ereigniſſe und Schickſale koͤn¬
nen hierin eine Ausnahme bewirken.

2 *[26]

Als Heinrich Lee mit ſchnellen Schritten nach
dem Poſthauſe hinlief und einige Minuten darauf
oben auf dem ſchwerfaͤlligen Wagen ſitzend uͤber
die Bruͤcke und neben dem Fluſſe das enge Thal
entlang fuhr, mit begeiſterten Augen das offene
Land erwartend, die Primel noch auf ſeiner
Muͤtze: da konnte dieſer ſonderbare Burſche fuͤr
die Haͤlfte der Zuſchauer etwas vortheilhaft An¬
regendes, aber gewiß auch fuͤr die andere Haͤlfte
etwas ungemein Laͤcherliches haben. Fein gefuͤh¬
lig und klug ſah er darein, jedoch ſein Aeußeres
war zugleich ſeltſam und unbeholfen. Was er
eigentlich war und wollte, das muͤſſen wir mit
ihm ſelbſt zuerſt erfahren und erleben; daß man
es in jenem Augenblick nicht recht wiſſen konnte,
machte ſeiner Mutter genugſamen Kummer.


Sie war auf ihre Stube zuruͤckgekehrt. Ein
tiefes Gefuͤhl der Verlaſſenheit und der Einſam¬
keit uͤberkam ſie und ſie weinte und ſchluchzte,
die Stirn auf den Tiſch gelehnt. Der fruͤhe
Tod ihres Mannes, die Zukunft ihres ſorgloſen
Kindes, ihre Rathloſigkeit, Alles kam zumal uͤber
[27] ihr einſames Herz. Ein maͤchtiges Oſtermorgen¬
gelaͤute weckte und mahnte ſie, Troſt in der Ge¬
meinſchaft der vollen Kirche zu ſuchen. Schwarz
und feierlich gekleidet ging ſie hin; es ward ihr
wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge
Frauen gleichen Standes: allein, da der Prediger
ausſchließlich das Wunder der Auferſtehung ſowie
der vorhergehenden Hoͤllenfahrt dogmatiſirend ver¬
handelte, ohne die mindeſten Beziehungen zu
einem erregten Menſchenherzen, ſo genoß die gute
Frau vom ganzen Gottesdienſte nichts, als das
Vaterunſer, welches ſie recht inbruͤnſtig mitbetete,
deſſen innerſte Wahrheit ſie aufrichtete.


Die Erinnerung an empfangene Liebe, als
ein Zeugniß, daß man Ein Mal im Leben
liebenswuͤrdig und werth war, iſt es vorzuͤglich,
welche die Sehnſucht nach der fruͤheren Jugend
nie erſterben laͤßt. Wer nicht das Gluͤck hatte,
eine aufknoſpende zarte und heilige Jugendliebe
zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue
und liebevolle Mutter gehabt, und in den ſpaͤtern
Tagen bringen beide Erinnerungen ungefaͤhr den
[28] gleichen Eindruck auf das Gemuͤth hervor, eine
Art reuiger Sehnſucht. Wer aber in jeder Weiſe
verwaiſt und einſam aufgewachſen iſt, der kann
wohl ſagen, daß er um einen Theil des Lebens
zu kurz gekommen ſei.

[]

Zweites Kapitel.

Indem eine Grundlinie der Landſchaft nach
der anderen ſich verſchob und veraͤnderte, und aus
dem heiteren Ziehen und Weben ein ganz neuer
Geſichtskreis hervorging, welcher allmaͤlig wieder
in einen neuen ſich aufloͤſte, war Heinrich, mit
hellen Jugendaugen aufmerkend, ſeinem eigenen
Weſen zuruͤckgegeben. Die verlaſſene Mutter und
Heimath bildeten wohl eine zarte und weiche
Grundlage in ſeinem Gemuͤthe; doch auf ihr
ſpielten mit ungebrochenen Farben alle Bilder
der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn ob¬
gleich ſchon ziemlich die weite Welt in leicht er¬
faßten Bildern ſeinem innern Sinne vorbeigezo¬
gen war und beſonders ſein Kuͤnſtlergedaͤchtniß
die Formen und Geſtalten der fernſten Zonen be¬
wahrte, ſo war ihm doch jetzt die kleinſte Neu¬
[30] heit, welche durch jede weitere Stunde Wegs ge¬
bracht wurde, das Naͤchſte und Wichtigſte. Eine
neue Art von bemalten Fenſterladen oder Wirths¬
hausſchildern, eine eigenthuͤmliche Gattung von
Brunnenſaͤulen oder Dachgiebeln in dieſem oder
jenem Dorfe, beſonders aber die bald vor- bald
ſeitwaͤrts, bald fern bald nah, immer friſch auf¬
tauchenden Bergzuͤge und Erdwellen machten ihm
die groͤßte Freude. Es war ein windſtiller, lieb¬
licher Fruͤhlingstag. Lange Zeit ſah er eine milde
weiße Wolke uͤber dem Horizonte ſtehen, zu ſei¬
ner Rechten, oder auch zur Linken, wie der Wa¬
gen eben fuhr; die ſanften, bald fern blauen,
bald nah gruͤnen oder braunen Wogen der Erde
floſſen ſtill darunter hin, ſie aber blieb immer
dieſelbe, bis ſie endlich, als er ſie eine Weile ver¬
geſſen hatte und wieder ſuchte, auch verſchwunden
war. Am Meiſten freute ihn jedoch, wenn er,
immer mehr ſich von der Geburtsſtadt entfernend,
ſtets noch an einem ihm unbekannten Orte ein
bekanntes Geſicht voruͤbergleiten ſah, das er ſonſt
an Wochenmaͤrkten oder Feſttagen in der be¬
ſchraͤnkten Stadt bemerkt hatte; wohl zehn Stun¬
[31] den von zu Hauſe weg, ſah er ſogar an einem
Brunnen noch ein ſchoͤnes falbes Pferd trinken,
welches ihm zu Hauſe ſchon oͤfters aufgefallen
war, als vor ein buntes Waͤgelchen geſpannt, auf
welchem ein dicker Muͤller ſaß. Richtig ließ ſich
auch der Muͤller im Sonntagsſtaate ſehen und
Heinrich wußte nun, wo das falbe Pferd zu
Hauſe war. Dieſes waren Alles noch Zeichen
der Heimath, freundliche Begleiter und ſo zu
ſagen die letzten Thuͤrſteher, welche ihn wohl¬
wollend entließen.


Aber nicht nur in der aͤußern Umgebung, auch
an ſich ſelbſt empfand er den Reiz eines neuen
Lebens. Dann und wann begegnete ein reiſen¬
der Handwerksburſch, ein alter zitternder Mann,
ein verlaufenes bleiches Bettlerkind dem dahin¬
rollenden Wagen. Waͤhrend keiner der andern
Reiſenden ſich regte, wenn die demuͤthig Flehenden
muͤhſam eine Weile neben dem ſchnellen Fuhrwerke
hertrabten, ſuchte Heinrich immer mit eifriger
Haſt ſeine Muͤnze hervor und beeilte ſich, ſie zu
befriedigen. Dabei fiel es ihm nicht ſchwer, es
mit einer Miene zu thun, welche den Bettler
[32] gewiſſermaßen zu ihm herauf hob, ſtatt noch mehr
abwaͤrts zu druͤcken, und je nach dem beſonderen
Erſcheinen des Bittenden, leuchtete aus Heinrichs
Augen ein Strahl des Verſtaͤndniſſes, der unbe¬
fangenen Theilnahme, eines ſinnigen Humores
oder auch ein Anflug muͤrriſchen, lakoniſchen Vor¬
wurfes; immer aber gab er und die von ihm
Beſchenkten blieben oft uͤberraſcht und nachdenk¬
lich ſtehen. Weil Gewohnheit und Sitte nur
eine kleine Gabe, ein Unmerkliches verlangen, ſo
hielt er es um ſo mehr fuͤr wuͤrdelos, je einen
Armen erfolglos bitten zu laſſen, moͤge nun ge¬
holfen werden oder nicht, moͤge Erleichterung oder
Liederlichkeit gepflanzt werden; ein gewiſſer menſch¬
licher Anſtand ſchien ihm unbedingt zu gebieten,
daß mit einer Art Zuvorkommenheit dieſe kleinen
Angelegenheiten abgethan wuͤrden. Er hatte noch
nicht die Kenntniß erworben, daß bei dem faulen
und haltloſen Theile der Armen durch wieder¬
holtes Abweiſen jenes Gekraͤnktſein und dadurch
jener Stolz geweckt werden muͤſſen, welche end¬
lich Selbſtvertrauen hervorbringen.


Allein bisher war es ihm nur ſpaͤrlich ver¬
[33] goͤnnt, dem Zuge ſeines Herzens zu folgen. In¬
dem er als einziges Kind bei ſeiner vorſichtigen
und haushaͤlteriſchen Mutter lebte, welche, waͤh¬
rend er ſeinen Traͤumen nachhing, ihm ſo zu ſa¬
gen den Loͤffel in die Hand gab, geſchah es ſel¬
ten, daß er mit etwelcher Muͤnze verſehen und
wenn er es war, ſo brannte ſie ihm in der Hand,
bis er ſie ausgegeben hatte. So kam es, daß
ihn immer ein Schrecken uͤberfiel, ſobald er von
fern einen Bettler ahnte und ihm auszuweichen
ſuchte. Konnte dies nicht geſchehen, ſo ging er
raſch abweiſend vorbei, und wenn der Bettler
nachlief, huͤllte er ſeine Verlegenheit in einen
rauhen, unwilligen Ton, wobei aber ſein weißes
Geſicht eine flammende Roͤthe uͤberlief. Er konnte
ſo rechte Ungluͤckstage haben, wo er viele und
verſchiedenſte arme Teufel antraf, ohne einem
Einzigen etwas geben zu koͤnnen und er mußte
fortwaͤhrend ein boͤſes Geſicht machen; denn als
er einſt ganz gemuͤthlich und vertraulich einem
großen Schlingel geſagt hatte, er beſaͤße ſelbſt
kein Geld, forderte ihn dieſer hoͤhniſch auf, mit
ihm betteln zu gehen. In allem dieſen lag nun
I. 3[34] freilich, wie viele Leute ſagen wuͤrden, mehr ein
unbefugter Hochmuth, als eine demuͤthige Barm¬
herzigkeit; vielleicht aber koͤnnte man auch ſagen:
Es iſt die koͤnigliche Geſinnung eines urſpruͤng¬
lichen und reinen Menſchen, welche, allgemein
verbreitet, die Geſellſchaft in eine Republik von
lauter liebevollen und wahrhaft adelich geſinnten
Koͤnigen verwandeln wuͤrde; es iſt die immer¬
waͤhrende Erhebung des Herzens, welche nach
der That trachtet; es iſt die goͤttliche Einfalt,
welche nur ein Ja und ein Nein kennt und letz¬
teres verwahrt und verbirgt wie ein ſchneidendes
Schwert.


Wenigſtens fuhr Heinrich wie ein wahrer
Koͤnig in die helle Welt hinaus. Er war nun
ſich ſelbſt uͤberlaſſen und konnte in den Kreis
ſeines Geſchickes aufnehmen, was ſein leichtes
Herz begehrte: und indem er gewiſſenhaft den
Armen ſeinen Kreuzer mittheilte, rechnete er die¬
ſes zu den ſeinem Leben noͤthigen Ausgaben. Er
dachte uͤbermuͤthig: Zwei Pfennige ſind immer
genug, um den Einen wegzuſchenken! und ſo
trug er wenige Thaler in der Taſche, aber ein
[35] Herz voll Hoffnung und bluͤhenden Weltmuthes
in der Bruſt. Waͤre er ein Koͤnig dieſer Welt
geweſen, ſo haͤtte er vermuthlich viele Millionen
»verſchleudert«, ſo aber konnte er nichts vergeu¬
den, als das Wenige, was er beſaß: ſeines und
ſeiner Mutter Leben.


Gegen Mittag fuhr der Poſtwagen durch ein
großes anſehnliches Dorf, wie ſie in der flachern
Schweiz haͤufig ſind, wo Fleiß und Betriebſam¬
keit, im Lichte froͤhlicher Aufklaͤrung und unter
oder vielmehr auf den Fluͤgeln der Freiheit, aus
dem ſchoͤnen Lande nur Eine freie und offene
Stadt erbauen. Weiß und glaͤnzend ſtanden die
Haͤuſer laͤngs der breiten ſaubern Landſtraße,
dehnten ſich aber auch in die Runde, mannig¬
faltig durch Baumgaͤrten ſchimmernd. Auch vor
dem geringſten war ein Blumengaͤrtchen zu ſehen
und im aͤrmſten derſelben bluͤhten eine Hyazinthe
oder einige Tulpen hervor, Pflanzen, welche ſonſt
nur von Vermoͤglicheren gezogen wurden. Es iſt
aber auch nichts ſo erbaulich, als wenn durch
einen ganzen Landſtrich eine fromme Blumen¬
liebe herrſcht. Ohne daß die Hausvaͤter im Ge¬
3 *[36] ringſten etwa unnuͤtze Ausgaben zu beklagen haͤt¬
ten, wiſſen die Frauen und Toͤchter durch allerlei
liebenswuͤrdigen Verkehr ihren Gaͤrten und Fen¬
ſtern jede Zierde zu verſchaffen, welche etwa noch
fehlen mag, und wenn eine neue Pflanze in die
Gegend kommt, ſo wird das Mittheilen von Rei¬
ſern, Samen, Knollen und Zwiebeln ſo eifrig und
ſorgſam betrieben, es herrſchen ſo ſtrenge Geſetze
der Gefaͤlligkeit und des Anſtandes daruͤber, daß
in kurzer Zeit jedes Haus im Beſitze des neuen
Blumenwunders iſt. So ſind in neuerer Zeit
eine der ſchoͤnſten Erſcheinungen die Georginen.
Vor zehn oder funfzehn Jahren bluͤhten ſie nur
noch in den ſtattlich umhegten Gaͤrten der Rei¬
chen, in der Naͤhe der Staͤdte, oder vor glaͤnzen¬
den Landhaͤuſern: dann verbreiteten ſie ſich unter
dem Mittelſtande, ſich zugleich in hundertfarbigen
Arten entfaltend durch die Kunſt der Gaͤrtner,
und jetzt ſteht ein Strauch dieſer merkwuͤrdigen
Blume, wo nur ein Fleck Erde vor der Huͤtte
des laͤndlichen Tageloͤhners frei iſt. Wie die
fluͤchtig wandernden Stammvaͤter eines ſpaͤter
großen Weltvolkes ſind die erſten einfachen Exem¬
[37] plare der Georginen aus dem fernen Reiche der
Montezumas heruͤbergekommen und ſchon bedecken
ihre Enkel zahllos unſere Gaͤrten, aus der Tiefe
ihrer Lebenskraft entwickeln ſie eine endloſe Farben¬
pracht, wie ſie die Hochebenen Mexikos nie ge¬
ſehen haben. Kinder des neuweltlichen Weſtens,
herrſchen ſie nun neben den Kindern des alten
Oſtens, den Roſen, wie ſonſt keine Blume. Frei¬
lich noch immer geben dieſe allein den ſuͤßen Duft
und jenes kuͤhlende Roſenwaſſer, welches krank
geweinte Augen erfriſcht, und noch immer eignen
ſie ſich am Beſten dazu, einen vollen Becher zu
ſchmuͤcken. Aber darin wetteifern die bunten
Schaaren Amerikas mit dem gluͤhenden Roſen¬
volke des Morgenlandes, daß ſie mit unverwuͤſt¬
licher Lebensluſt unſer Herz bis an das Ende
des Jahres begleiten und ihre ſammtenen Bruͤſte
oͤffnen, bis der kalte Schnee in ſie faͤllt.


Hell und aufgeweckt erſchien das Dorf, durch
welches die Reiſenden fuhren, in vielen Erdge¬
ſchoſſen erblickte man die Abzeichen von Gewer¬
ben: Uhrmachern, Kuͤrſchnern, ſogar Goldſchmie¬
den und von Kraͤmereien, welche man ſonſt nur
[38] in den Staͤdten findet; einige Haͤuſer erſchienen
ſo herriſch, die Gaͤrten davor ſo wohlgepflegt,
daß man in den Beſitzern mit Recht reiche Dorf¬
magnaten vermuthete. Doch wenn auch der Eine,
gleich einem Deputirten der franzoͤſiſchen Bour¬
geoiſie, im eleganten Schlafrock, die Cigarre im
Munde, aus dem Fenſter ſchaute, ſo ſtand dafuͤr
der Andere in bloßen weißen Hemdſaͤrmeln auf
der Hausflur, und ſeine braunen Haͤnde verkuͤn¬
deten, ungeachtet des ſtaͤdtiſchen Hauſes, den ruͤ¬
ſtigen Ackersmann, ja vor einem ſeiner Fenſter
hing zum Durchluͤften die Uniform eines gemein¬
nen Soldaten, waͤhrend aus der Dachluke ſeines
Knechtes diejenige eines Unteroffiziers in der
Fruͤhlingsluft flaggte. Bei all' dieſer Stattlich¬
keit war nun aber das Schulhaus doch das
ſchoͤnſte Gebaͤude im Dorfe, welches in der
ganzen Gegend oͤfter der Fall war. Auf einem
freien geebneten Platze ragte es mit hohen blin¬
kenden Fenſtern empor und verrieth heitere ge¬
raͤumige Saͤle; von ſeiner Front ſchimmerte in
koloſſalen goldenen Buchſtaben das Wort Schul¬
haus. Hier, auf dem ſonnigen Vorplatze und
[39] auf der breiten ſteinernen Treppe, welche faſt tem¬
pelartig den ganzen vorderen Sockel bekleidete,
mochte der Ort ſein, welchen ſonſt die alten
Dorflinden bezeichnen; denn eine Gruppe aͤlterer
und juͤngerer Maͤnner unterhielt ſich hier behag¬
lich, ſie ſchienen zu politiſiren; aber ihre Unter¬
redung war um ſo ruhiger, bewußter und ern¬
ſter, als ſie vielleicht, dieſelbe bethaͤtigend, noch
am gleichen Tage einer wichtigen oͤffentlichen
Pflichterfuͤllung beizuwohnen hatten. Die Phy¬
ſiognomien dieſer Maͤnner waren durchaus nicht
national uͤber Einen Leiſten geſchlagen, auch war
da nichts Pittoreskes, weder in Tracht, noch in
Haar- und Bartwuchs zu bemerken; es herrſchte
jene Verſchiedenheit und Individualitaͤt, wie ſie
durch die unbeſchraͤnkte perſoͤnliche Freiheit erzeugt
wird, jene Freiheit, welche bei einer unerſchuͤtter¬
lichen Strenge der Geſetze Jedem ſein Schickſal
laͤßt und ihn zum Schmied ſeines eigenen Gluͤ¬
ckes macht. So erſchienen hier die Einen von
raſtloſer Arbeit gebraͤunt und getrocknet, zaͤh und
hart, Andere in Energie und Gewandtheit auf¬
bluͤhend, Andere wieder von Speculation gefurcht
[40] Alle aber waren aͤußerlich ruhig, ungebeugt und
ſahen kundig und auch ziemlich proceßerfahren
in die Welt.


So uͤbereinſtimmend mit ſeinen ruͤhrigen Be¬
wohnern nun das ſchoͤne Dorf daſtand, um ſo
fremdartiger ragte die Kirche aus ihm hervor.
Dem Style oder beſſer Nichtſtyle nach ſtammte
ſie aus dem achtzehnten Jahrhundert, ein ovales
nuͤchternes Gebaͤude mit kreisrunden Fenſtern,
foͤrmlichen Loͤchern, war nicht alt und nicht neu,
weder der verbrauchte Bauſtoff, noch die magern
geſchmackloſen Verzierungen ſo wenig als der
gedankenloſe Thurm, thaten die mindeſte Wir¬
kung; man ahnte ſchon von außen die langweili¬
gen hoͤlzernen Bankreihen und die kleinliche
Gipsbekleidung des Inneren, den unfoͤrmlich bau¬
chigen Taufſtein, das laͤcherliche braune Kanzel¬
faß; ohne Begeiſterung gebaut und keine erwe¬
ckend, verkuͤndete das Gebaͤude den untroͤſtlichen
Schlendrian, mit welchem es gebraucht wurde.
Es ſah aus, wie ein unnuͤtzes ſonderbares Moͤ¬
bel in einem Hauſe, welches der Beſitzer aber
eigenſinnig um keinen Preis veraͤußern will, weil
[41] er ſeit langen Jahren gewohnt iſt, ſeinen Hut
darauf zu ſtellen, wenn er nach Hauſe kehrt,
oder, wenn man ein wenig artiger ſein will,
weil ſein Firniß auf eine ihm angenehme Weiſe
den Sonnenblick auffaͤngt und auf den Stuben¬
boden wirft.


Aus dieſem herzlos unſchoͤnen Gebaͤude nun
bewegte ſich ein langer Zug ſechszehnzaͤhriger
Confirmandinnen quer uͤber die Straße, von
einem dicken jovialen Pfarrherrn angefuͤhrt, ſo
daß der Poſtwagen anhalten mußte bis alle vor¬
bei waren. Schwarz gekleidet, mit gebeugten
Haͤuptern, die thraͤnenden Augen in weiße Ta¬
ſchentuͤcher gedruͤckt, wallten die zarten Geſtalten
paarweiſe langſam voruͤber, die keuſchen Lippen
noch feucht von dem Weine, welchen man ihnen
als Blut zu trinken, in der Kehle noch das
Brot, welches man ihnen als Menſchenfleiſch zu
eſſen gegeben hatte. Dieſe dunkle Maͤdchenſchaar
mit dem rothnaſigen Pfarrer an der Spitze, kam
Heinrich vor, wie ein Flug gefangener Nachti¬
gallen aus dem Morgenlande, welche ein betrun¬
kener Vogelhaͤndler zum Verkauf umher fuͤhrt.
[42] Der Zug ſchlaͤngelte ſich aber auch traumhaft
genug unter dem klaren Himmel und durch Land
und Leute hin.


Wenn wir ſolche Dinge in der Weiſe ſchildern,
wie ſie ſich dem jungen Wanderer eindruͤckten, ſo
wird man in derſelben nicht die ruͤckſichtsloſe
Art der Jugend verkennen, welche mit einer ge¬
wiſſen, uͤbrigens geſunden Unbeſtechlichkeit zwi¬
ſchen dem ſcheinbaren und dem wirklich Anſtoͤßi¬
gen durchaus keinen Unterſchied zugeben will.
Da religioͤſe Gegenſtaͤnde vor Allem nur Sache
des Herzens ſind, ſo bringt dieſes in ſeiner auf¬
wachenden Bluͤthezeit das Recht zur Geltung,
die Ueberlieferungen mit ſeinen angebornen reinen
Trieben in Einklang zu ſetzen. Wer erinnert ſich
nicht jener gluͤcklichen Tage, wo man im geraͤuſch¬
vollen ſchwindelnden Kreiſen dieſes Rundes er¬
wachend, mit den neuen feinen Fuͤhlhoͤrnern der
jungen Seele um ſich taſtend, von keiner Auto¬
ritaͤt Notiz nehmen und den Maßſtab ſeines un¬
verdorbenen Gefuͤhles auch an das Ehrwuͤrdigſte
und Hoͤchſte legen will? Wer will wohl beſtrei¬
ten, daß vielleicht, wenn das Urſpruͤngliche und
[43] alſo auch wohl Goͤttliche, das in der jungen
Menſchenſeele liegt, nicht in das hanfene, duͤrr¬
geflochtene Netz eines Katechismus, heiße er wie
er wolle, abgefangen wuͤrde, die ſchneidende
blutige Kritik des Mannesalters und die wilde¬
ſten Kaͤmpfe verhuͤtet wuͤrden? Heinrich hegte
eine beſondere Pietaͤt gerade fuͤr die Begriffe
Brot und Wein, das Brot ſchien ihm ſo ſehr
die ewig unveraͤnderte unterſte Grundlage aller
Erden- und Menſchheitsgeſchichten, der Wein aber
die edelſte Gabe der geiſtdurchdrungenen lebens¬
warmen Natur zu ſein, daß Nichts ihn ſo geeig¬
net duͤnkte zur Feier eines gemeinſamen ſymbo¬
liſchen Mahles der Liebe, als edles weißes Wei¬
zenbrot und reiner goldener Wein. Daher war
es ihm auch anſtoͤßig, dieſe wichtigen, aber ein¬
fachen und reinlichen Begriffe mit einer heidniſch¬
myſtiſchen und wie ihm vorkam, widermenſchli¬
chen Miſchung zu truͤben. Auf das Hiſtoriſche
des vorhandenen Sacramentes konnte er nun um
ſo weniger Ruͤckſicht nehmen, als ihm die theo¬
logiſchen Einſichten und Kenntniſſe abgingen.


Als die Sonne ſich bereits zu neigen anfing,
[44] machte der Wagen an einem Dorfe wieder Halt,
damit die Pferde gewechſelt werden konnten.
Heinrich trat mit den andern Reiſenden in das
Gaſthaus, um eine Erfriſchung zu ſich zu neh¬
men. Der Eine waͤhlte ein Glas Wein, der
Andere eine Schale Kaffee, der Dritte verlangte
ſchnell etwas Kraͤftiges zu eſſen, es ging geraͤuſch¬
voll zu mit Genießen, Geldwechſeln und Bezah¬
len; Alle thaten wichtig, zerſtreut oder nur auf
ſich achtſam und liefen ſtumm an einander vor¬
bei in der Stube umher. Auch Heinrich ſpreizte
ſich, ließ es ſich ſchmecken und zum Ueberfluß
noch eine ſchlechte Cigarre geben, welche er un¬
geſchickt in Brand zu ſtecken ſuchte. Da ge¬
wahrte er in einem Winkel der Stube eine
aͤrmliche Frau mit ihrem jungen Sohne, welcher
ein großes Felleiſen neben ſich auf der Bank
ſtehen hatte. Beide waren ihm als Nachbars¬
leute bekannt. Er gruͤßte ſie und vernahm, daß
auch dieſer junge Burſche, welcher das Handwerk
eines Malers und Lackirers erlernt hatte, heute
die Reiſe in die Fremde antrat, daß ſeine Mutter,
die Feiertage benutzend, lange vor Tagesanbruch
[45] ſich mit ihm auf den Weg gemacht und ſie ſo,
die Fuß- und Feldwege aufſuchend, bis hierher
gekommen ſeien, wo ſie ſich nun trennen wollten.
Die gute Frau gedachte dann bis zur voͤlligen
Dunkelheit noch ein Stuͤck Weges zuruͤck zu
wandern und bei bekannten Landleuten uͤbernacht
zu bleiben. Sie tranken einen blaſſen duͤnnen
Wein und aßen Brot und Kaͤſe dazu; doch war
es eine Freude zu ſehen, wie ſorglich die Frau
die »Gottesgabe« behandelte, ihrem Sohne zu¬
ſchob und fuͤr ſich faſt nur die Krumen zuſam¬
men ſcharrte. Dazwiſchen ſchaͤrfte ſie ihm ein,
wie er ſeinen Meiſtern gehorchen, beſcheiden und
fleißig ſein und keine Haͤndel ſuchen ſollte. Dann
mußte er ſeinen Geldbeutel nochmals hervorziehen;
vier oder fuͤnf neue große Geldſtuͤcke wurden als
bekannte Groͤßen einſtweilen bei Seite gelegt, da¬
gegen eine Handvoll kleineres Geld uͤberzaͤhlt,
betrachtet und ausgeſchieden. Der Junge ſteckte
ſeinen Schatz wieder ein, die Mutter aber ent¬
wickelte aus einem Zipfel ihres Schnupftuches
etwas Kupfermuͤnze und bezahlte die Zeche.


Inzwiſchen rollte das bewegliche Wanderhaus
[46] mit ſeinen ewig wechſelnden Bewohnern wieder
auf der Straße, eine Anhoͤhe hinan und der kuͤh¬
len Nacht entgegen. Heinrich ſchaute fortwaͤhrend
zuruͤck nach Suͤden; rein, wie ſeine ſchuldloſe
Jugend, ruhte die Luft auf den Gebirgszuͤgen
ſeiner Heimath, aber dieſe waren ihm in ihrer
jetzigen Geſtalt faſt ebenſo fremd, wie die
Schwarzwaldhoͤhen im daͤmmernden Norden, de¬
nen er ſich allmaͤlig naͤherte, und uͤber welchen
roͤthliche Wolkengebilde einen raͤthſelhaften Vor¬
hang vor das deutſche Land zogen.


Fern hinter dem Wagen ſah er ſeinen jungen
Nachbar den Huͤgel hinankeuchen, noch kaum er¬
kennbar mit ſeinem ſchweren Felleiſen. Ueber
denſelben hinweg gleiteten Heinrichs Augen noch
einmal nach dem ſuͤdlichen Horizonte; er ſuchte
diejenige Stelle am Himmel, welche uͤber ſeiner
Stadt, ja uͤber ſeinem Hauſe liegen mochte und
fand ſie freilich nicht. Deſto deutlicher hingegen
ſah er nun, als er ſich in den Wagen zuruͤckleh¬
nend die Augen ſchloß, die muͤtterliche Wohnſtube
mit allen ihren Gegenſtaͤnden, er ſah ſeine Mut¬
ter einſam umher gehen, ihr Abendbrot bereitend,
[47] dann aber kummervoll am Tiſche vor dem Unge¬
noſſenen daſitzen. Er ſah ſie darauf einen Band
eines großen Andachtswerkes, faſt ihre ganze
Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hin¬
einblicken, ohne zu leſen; endlich ergriff ſie die
ſtille Lampe und ging langſam nach dem Alkoven,
hinter deſſen ſchneeweißen Vorhaͤngen Heinrichs
Wiege geſtanden hatte. Hier mußte er den
Mantel ein wenig vor ſein Geſicht druͤcken, es
war ihm, als ob er ſchon Jahre lang und tau¬
ſend Stunden weit in der Ferne gelebt haͤtte und
es befiel ihm eine ploͤtzliche Angſt, daß er die
Stube nie mehr betreten duͤrfe.


Er konnte ſich nicht enthalten, jene Familien
bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und
eine huͤbſche runde Zahl Geſchwiſter nebſt uͤbriger
Verwandtſchaft in ſich vereinigen, wo, wenn ja
Eines aus ihrem Schooße ſcheidet, ein Andres
dafuͤr zuruͤckkehrt und uͤber jedes außerordentliche
Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten
wird, und ſelbſt bei einem Todesfalle vertheilt
ſich der Schmerz in kleinere Laſten auf die zahl¬
reichen Haͤupter, ſo daß oft wenige Wochen hin¬
[48] reichen, denſelben in ein faſt angenehm-weh¬
muͤthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verſchie¬
den dagegen war ſeine eigne Lage! Das ganze
Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden
die auseinander geriſſen, ſo kannte jede die Ein¬
ſamkeit der anderen und der Trennungsſchmerz
wurde ſo verdoppelt.


»Haben wohl«, dachte er, »jene Propheten
nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der
Familie vernichten wollen? Wie kuͤhl, wie ruhig
koͤnnten nun meine Mutter und ich ſein, wenn
das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn
nach jeder Trennung man ſich geſichert in den
Schooß der Geſammtheit zuruͤckfluͤchten koͤnnte,
wohl wiſſend, daß der andere Theil auch darin
ſeine Wurzeln hat, welche nie durchſchnitten wer¬
den koͤnnen, und wenn endlich dem zufolge die
verwandtſchaftlichen Leiden beſeitigt wuͤrden!«


Im Mittelalter wurde der Tod als ein
menſchliches Skelett abgebildet und es hat ſich
daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt;
ſogar lebloſe Gegenſtaͤnde, wie Meerſchiffe, wur¬
den ſkeletiſirt und mußten auf dem Meere als
[49] Todtenſchiff ſpuken. Denkt man ſich ſolcher
Weiſe das fliegende Gerippe einer Kraͤhe, ſo war
es der Schatten derſelben, welchem der Gedanke
glich, der ſo eben uͤber Heinrichs Seele lief.
Die warme Sonne ſchien reichlich durch das
duͤrre Gitter der Knoͤchlein und Gebeine.


»Nein,« rief ihm ſein innerſtes Gefuͤhl zu, »der
Zuſtand, den ſich dieſe Menſchen wuͤnſchen, gleicht
zu ſehr der ſtabilen gedankenloſen Seligkeit,
welche das hoͤchſte Ziel der meiſten Chriſten iſt.
Man muß wohl unterſcheiden zwiſchen Leiden
und Leiden; das Eine iſt zu dulden, ja zu ehren,
waͤhrend das Andere unzulaͤſſig iſt!«


»Der beſte Maßſtab,« dachte er weiter, »iſt
vielleicht der aͤſthetiſche. Alle Leiden laſſen ſich in
ſchoͤne und unſchoͤne eintheilen, in ſittliche und
unſittliche, unſittlich fuͤr die, welche ſie anſehen
und in ihrer Naͤhe dulden. Eine Waiſe, die auf
einem Grabhuͤgel in Thraͤnen zerfließt, iſt ſchoͤn
und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben
wohlthuend ſein; aber ein Kind, welches verkom¬
men und hungerig im Staube liegt, iſt eine
Schande fuͤr die ganze Landſchaft, und fuͤr es
I. 4[50] ſelbſt erwaͤchſt nicht die mindeſte erſprießliche Re¬
gung aus dieſem Zuſtande; eine greiſe Mutter,
welche ihre Kinder und Enkel dahin ſterben ſieht,
wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebens¬
abend iſt fuͤr ſie und andere feierlicher; aber eine
alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den
Tagelohn arbeitet, eine Buͤrde auf dem gebeug¬
ten Ruͤcken, iſt ein peinlicher Anblick und gereicht
ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der
Juͤngling, der mit maͤchtigen Leidenſchaften ringt
und ſeine Grundſaͤtze dem Leben Schritt fuͤr
Schritt abſtreitet, iſt, ſo ungluͤcklich er ſich oft
fuͤhlt, bei alledem wohl daran, waͤhrend uns der
Bauernknecht in den Augen weh thut, der ver¬
achtet und vergeſſen, unwiſſend und trotzig vor
ſeiner Stallthuͤre liegt und nach nichts verlangt,
als nach ſeinem Vesperbrot. Jener Juͤngling
gewinnt in jedem Sturme und ſeine Energie er¬
freut den Zuſchauer, dieſer ungluͤckliche Faulpelz
aber wird durch das langweilige Troͤpfeln ſeiner
naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz,
man ſoll nur dasjenige Ungluͤck dulden, was ſei¬
nem Traͤger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles
[51] Andere iſt in einer anſtaͤndigen Geſellſchaft aus¬
zurotten.«


So ſpeculirte Heinrich in der Finſterniß ſeines
Poſtwagens; er vergaß indeſſen eine Hauptſache,
naͤmlich daß ſeine anſtaͤndigen und unanſtaͤndigen
Leiden manchmal ſo durcheinander gemiſcht und
mit Schuld und Unſchuld ſo durchwebt ſind, daß
ein eigener Linné noͤthig waͤre, ſie einzureihen,
und gerade fuͤr den Aeſthetiker koͤnnten bei un¬
vorſichtigem Aufraͤumen die ſeltenſten Exemplare
verloren gehen.


4 *
[]

Drittes Kapitel.

Nicht ohne Herzklopfen vernahm er nun, daß
man ſich dem Rheine naͤhere und bald ſah er
den ſchoͤnen Fluß im Mondlichte glaͤnzend daher
wallen. Die Poſt hielt in einem kleinen Graͤnz¬
orte, und als das Nachtquartier beſorgt war,
ging Heinrich wieder hinaus; denn die freie Na¬
tur, der naͤchtliche Himmel waren nun ſeine ein¬
zigen Bekannten. Einen jungen Fiſcher, der ſin¬
gend in ſeinem Kahne ſaß, bewog er, ein wenig
ſtromaufwaͤrts zu fahren. Die Nacht war ſchoͤn;
das deutſche Ufer zeichnete ſich dunkel mit ſeinen
Waͤldern auf den heitern Himmel. Noch eine
Ruderlaͤnge, und Heinrich konnte den Fuß auf
dies Land ſetzen, deſſen Namen ihn mit dunklen
lockenden Erwartungen erfuͤllte. Das badiſche
Ufer war gerade nicht ſehr verſchieden vom
[53] ſchweizeriſchen. Es war finſter und ſtill, eine
einſame Zollſtaͤtte ruhte unter Baͤumen, ein mat¬
tes Licht brannte darin. Aber ſchimmernd um¬
faßte die Rheinfluth den ſteinigen Strand, und
ihre Wellen zogen gleichmaͤßig kraͤftig dahin, hell¬
glaͤnzend und ſpiegelnd in der Naͤhe, in der Ferne
in einem mildern Scheine verſchwimmend. Und
uͤber dieſe Wellen war faſt Alles gekommen, was
Heinrich in ſeinen Bergen Herz und Jugend be¬
wegt hatte. Hinter jenen Waͤldern wurde ſeine
Sprache rein und ſo geſprochen, wie er ſie aus
ſeinen liebſten Buͤchern kannte, ſo glaubte er we¬
nigſtens, und er freute ſich darauf, ſie nun ohne
Ziererei auch mit ſprechen zu duͤrfen. Hinter
dieſen ſtillen ſchwarzen Uferhoͤhen lagen alle die
deutſchen Gauen mit ihren ſchoͤnen Namen, wo
die vielen Dichter geboren ſind, von denen jeder
ſeinen eigenen maͤchtigen Geſang hat, der ſonſt
keinem gleicht und die in ihrer Geſammtheit
den Reichthum und die Tiefe einer Welt, nicht
eines einzelnen Volkes auszuſprechen ſcheinen.
Er liebte ſein helvetiſches Vaterland; aber uͤber
dieſen Strom waren deſſen heiligſte Sagen in
[54] unſterblichen Liedern verherrlicht erſt wieder zu¬
ruͤckgewandert; faſt an jedem Herde und bei je¬
dem Feſte, wo der ruͤſtige Schatten mit Armbruſt
und Pfeil herauf beſchworen wurde, trug er das
Gewand und ſprach die Worte, welche ihm der
deutſche Saͤnger gegeben hat. Er ſchwaͤrmte nur
fuͤr die deutſche Kunſt, von welcher er allerlei
Wunderſames erzaͤhlen hoͤrte und verachtete alles
Andere. Frankreich liebte er, wie man ein ſchoͤ¬
nes liebenswuͤrdiges Maͤdchen mitliebt, dem alle
Welt den Hof macht, und wenn etwas Gutes
in Paris geſchah, ſo freute er ſich hoͤchlich, kam
etwas Widerwaͤrtiges vor, ſo wußte er allerlei
galante Entſchuldigungen aufzubringen. Erblickte
hingegen in Deutſchland etwas Gutes das Licht,
ſo machte er nicht viel Weſens daraus, als ob
ſich das von ſelbſt verſtaͤnde, und des Schlechten
ſchaͤmte er ſich und es machte ihn zornig. Alles
aber, was er ſich unter Deutſchland dachte, war
von einem romantiſchen Dufte umwoben. In
ſeiner Vorſtellung lebte das poetiſche und ideale
Deutſchland, wie ſich letzteres ſelbſt dafuͤr hielt
und traͤumte. Er hatte nur mit Vorliebe und
[55] empfaͤnglichem Gemuͤthe das Bild in ſich aufge¬
nommen, welches Deutſchland durch ſeine Schrift¬
ſteller von ſich verfertigen ließ und uͤber die
Graͤnzen ſandte. Das nuͤchterne praktiſche Trei¬
ben ſeiner eigenen Landsleute hielt er fuͤr Erkal¬
tung und Ausartung des Stammes und hoffte
jenſeits des Rheines die urſpruͤngliche Gluth und
Tiefe des germaniſchen Lebens noch zu finden.
Dabei hatte er alle Richtungen und Faͤrbungen
deſſelben in einander geflochten, ohne Kenntniß
und Beurtheilung ihrer natuͤrlichen Stellung un¬
ter und gegen einander. Dem Rationalismus
hing die romantiſche Caprice am Arm, das Schil¬
ler'ſche Pathos und der brittiſche Humor, Jean
Paul'ſche Religioſitaͤt und Heine'ſche Eulenſpiegelei
ſchillerten durch einander wie eine Schlangenhaut;
die Beſchwoͤrungsformeln aller Richtungen hatte
er im Gedaͤchtniß und ſah darum begeiſtert das
vor ihm liegende Land als einen großen alten
Zaubergarten an, in welchem er als ein willkom¬
mener Wanderer mit jenen Stichworten koͤſtliche
Schaͤtze heben und wieder in ſeine Berge zuruͤck¬
tragen duͤrfe.


[56]

Neugierig ſchaute Heinrich, naͤher hinzufahrend,
in die daͤmmernde Waldnacht hinein, welche nur
ſpaͤrlich vom Mondlicht durchſchienen ward, und
als ein Reh aus dem Buſche an das Ufer trat,
ein in der Schweiz ſchon ſeltenes Thier, da be¬
gruͤßte er es freudigen Muthes als einen freund¬
lichen Vorboten. Es war uͤbrigens gut, daß er
keine ſolidere und gefaͤhrlichere Schmuggelware
in ſeinem leichten Fahrzeuge fuͤhrte, als ſolche
Hoffnungen; denn ein Waͤchter des deutſchen
Zollvereins war dem Schifflein ſchon geraume
Zeit mit geſpanntem Hahn nachgeſchlichen, um zu
ſpaͤhen, wo es etwa landen moͤchte. Sein Rohr
blinkte hin und wieder matt vom Scheine der
mondbeglaͤnzten Wellen.


Der Oſtermontag ſah den jungen Pilger
ſchon fruͤh den Rhein hinauf und Huſſens Brand¬
ſtaͤtte vorbei uͤber den weithin leuchtenden Boden¬
ſee fahren. Das ſchoͤne Gewaͤſſer, welches vom
Mai bis zum Weinmonat der paradieſiſchen
Landſchaft zur Folie dient, machte jetzt noch ſei¬
nen Reiz und ſeine Klarheit fuͤr ſich ſelbſt geltend,
und das mehr und mehr im blauen Dufte ver¬
[57] ſchwindende Ufer des Thurgaus ſchien nun bloß
um der ſchoͤnen Umgraͤnzung des See's Willen
da zu ſein. Sanft und raſch trugen die Fluthen
das Schiff an das fremde Gebiet hinuͤber und
erſt, als eine Schaar graͤmlich-hoͤflicher Bewaff¬
neter den ploͤtzlich Gelandeten umringte und von
allen Seiten muſterte, that es ihm faſt weh, daß
an der Schwelle ſeines Vaterlandes ihn gar Nie¬
mand um ſein Weggehen befragt und beſichtigt
hatte.


Ein Fuhrmann mit einer leer daſtehenden
alten Reiſekutſche trug Heinrich fuͤr wenig Geld
die Weiterbefoͤrderung an und bald kutſchirte die¬
ſer tief in das »Land der Zukunft« hinein. Die
Sonne ſchien tapfer, er ſaß hoch auf dem Bock,
immer noch die verwelkte Primel auf der Muͤtze;
und fuͤhrte die Zuͤgel der beiden mageren Gaͤule,
waͤhrend der Fuhrmann neben ihm ſich einem ſuͤ¬
ßen Muͤſſiggange uͤberließ und mit den befreun¬
deten Stallknechten aller Gaſthaͤuſer am Wege
gelaͤufige Witz- und Schimpfworte austauſchte.
Das Land wurde bald flach und kornreich, doch
die Ortſchaften lagen unverbunden und einſam
[58] da, das Volk war ſchweigſam und eintoͤnig in
ſeinem Ausſehen. Aber Heinrich beſaß eine un¬
verwuͤſtliche Pietaͤt fuͤr die Natur; wo keine Ge¬
birge und Stroͤme waren, da fand er jedes Ge¬
hoͤlz, einen ſtillen Ackergrund, einen beſonnten
Huͤgel reizend um der »Stimmung« willen, die
darauf lag, und ſeine Verbuͤndeten waren hierbei
die Atmoſphaͤre und die Sonne, welche ihm je¬
den Buſch zu Etwas geſtalten halfen. Und ſchon
fruͤh hatte er, ohne theoretiſche Einpflanzung, un¬
bewußt, die gluͤckliche Gabe, das wahre Schoͤne
von dem bloß Maleriſchen, was Vielen ihr Leben
lang im Sinne ſteckt, trennen zu koͤnnen. Dieſe
Gabe beſtand in einem treuen Gedaͤchtniß fuͤr
Leben und Bedeutung der Dinge, in der Freude
uͤber ihre Geſundheit und volle Entwicklung, in
einer Freude, welche den aͤußern Formenreichthum
vergeſſen kann, der oft eigentlich mehr ein Baro¬
ckes als Schoͤnes iſt. So war er im Stande,
einen maͤchtig in den Himmel ſtrebenden Tannen¬
baum mit frohem Auge zu betrachten, waͤhrend
ein Anderer denſelben ſogleich auf die Kunſt be¬
zog und die ſtoͤrende ſteife Linie hinweg wuͤnſchte
[59] und irgend einem recht zerriſſenen verkruͤppelten
Birnbaum nachlief. Das glaͤnzende ungebrochene
Gruͤn einer Wieſe, eines Buchenwaldes im Fruͤh¬
ling erquickte ſeinen Blick, indeſſen Jener den
»giftigen Ton« beklagte und ein Stuͤck faulen
Sumpf bewunderte. In dieſer Weiſe, die Natur
zu ergreifen, war er uͤber das maleriſche Ver¬
ſtaͤndniß hinaus zum allgemeinen Dichteriſchen
zuruͤck gelangt, welches vom Anfang an in jedem
Menſchen liegt, und dieſes zeigte ihm auch noch
etwas Schoͤnes, wo der Maler darbte.


Deswegen ließ Heinrich auch jetzt ſeine Augen
ſchweifen, links und rechts vom Wege, und guter
Laune wurde in einem anſehnlichen Dorfe Halt
gemacht. Der arme fahrende Schuͤler ſah ſich
an den runden Sondertiſch des Gaſthauſes ver¬
ſetzt und begann eben, ſtill auf ſeinen Teller
ſchauend, an die heimathliche Mittagstafel zu
denken, als ein herrſchaftlicher Wagen mit Wap¬
pen und Bedienten heranfuhr und ſeine Inhaber
unter großem Geraͤuſch der Wirthsleute in die
Stube traten. Es waren eine ſchoͤne Dame von
etwa dreißig, ein noch ſchoͤneres Maͤdchen von
[60] funfzehn Jahren und ein großer feiner Herr im
beſten Mannesalter, welcher von dem Wirth un¬
terthaͤnigſt Herr Graf genannt wurde. Dieſe
Umſtaͤnde waren hinreichend, um fuͤr den uner¬
fahrenen Heinrich ein kleines Abenteuer zu ſein.
Obgleich er ſich gegen allen ungebuͤhrlichen Re¬
ſpect gewappnet fuͤhlte, konnte er doch nicht um¬
hin, einige neugierige Blicke nach dieſen uͤber¬
buͤrgerlichen Weſen hinzuwerfen, von denen er
noch Keines in der Naͤhe geſehen hatte und die
jetzt am gleichen Tiſche Platz nahmen.


Das nahe Rauſchen und Kniſtern der ſeide¬
nen Gewaͤnder machte ihn befangen und behaglich
zugleich, und waͤhrend er ſich mit ſeinen Haͤnden
und ſeinem Eßwerkzeuge moͤglichſt enge zuſam¬
menhielt, haͤtte er ſich doch um keinen Preis
ganz von ſeinem Plaͤtzchen hinweg locken laſſen;
denn wie zwei Fruͤhlingsſonnen ruhten die offenen
kindlichen Augen des jungen Maͤdchens auf ihm.
Er wagte auch bald das zweite Paar Blicke
auszuſenden, welche diesmal auf die aͤltere Dame
trafen, wie ſie ihn mit einem eiskalten, merkwuͤr¬
digen Geſichte anſah und gar nicht zu bemerken
[61] ſchien, daß er ſie ebenfalls betrachtete. Nachdem
ſie den rothgewordenen Heinrich eine Weile an¬
geſehen hatte, wandte ſie ihre Augen wieder von
ihm, wie wenn ſie nur auf einem Krug oder
einem Stuhl geruht haͤtten, ohne irgend einen
jener feinen Uebergaͤnge, welche artigen und ruͤck¬
ſichtsvollen Leuten in ſolchen Faͤllen ſchnell zu
Gebote ſtehen. Dieſe Augengrobheit bewirkte,
daß er von nun an nicht mehr aufſah und ſich
beſtrebte, ſo bald als moͤglich vom Tiſche zu
kommen. In dieſem Beſtreben ſchien ihn ein
allerliebſtes Bologneſerhuͤndchen unterſtuͤtzen zu
wollen, welches, auf dem Tiſche umher laufend,
ploͤtzlich vor ſeinem Teller ein Maͤnnchen machte.
»Ach, ſieh den kleinen Schelm!« rief die Dame
mit kindlicher Freude; Heinrich hielt dem Thiere
unwillkuͤrlich ein Stuͤckchen Kuchen hin, da rief
ſie daſſelbe ſogleich zuruͤck, und als es nicht kam,
ergriff ſie es unwillig beim Pelze und ſetzte es
vor ſich hin. »Willſt du wohl da bleiben, du
Landſtreicher?« ſagte ſie, als der Graf hinzutrat
und bemerkte: »Aber, Emilie, thu' doch den Hund
vom Tiſch, wir ſind ja nicht allein!« Emilie
[62] aber entgegnete mit einer unnachahmlichen Unbe¬
fangenheit: »Ach Gott, das arme Thierchen wird
doch Niemanden geniren?« Jetzt erſt merkte
Heinrich die neue Ungezogenheit und wollte dieſe
uͤbermuͤthige Perſon heimlich mit irgend einem
Schimpfworte bedienen, als die Kleine das Huͤnd¬
chen auf den Schooß nahm und mit ihren feinen
Haͤndchen in feſten Banden hielt. Zugleich trat
der Herr zu ihm und redete ihn an:


»Mein Herr, ich habe ſo eben von Ihrem
Kutſcher vernommen, daß wir den gleichen Weg
reiſen. Auch ich bin hierher gekommen, um mit¬
telſt der Poſt bis zur naͤchſten Eiſenbahnſtation
zu gelangen. Da Sie aber ganz allein ſind, ſo
haben Sie vielleicht nichts dagegen, wenn ich
mich zu Ihnen geſelle? denn ich ziehe die gemuͤth¬
liche Kutſche bei dieſem Wetter dem dumpfen
Poſtwagen vor: auch mein Gepaͤck, welches nicht
betraͤchtlich iſt, duͤrfte noch neben dem Ihrigen
Platz finden.«


Heinrich erwiederte etwas unbeholfen, daß er
gar nichts zu verfuͤgen haͤtte, indem es dem
Kutſcher frei ſtaͤnde, ſo viel Paſſagiere aufzuneh¬
[63] men, als er unterbringen koͤnne. Die große
Dame hingegen rief: »Du wirſt Dich doch nicht
in den alten Rumpelkaſten ſetzen wollen, mit dem
ſchmutzigen Fuhrmann auf dem Bock? Nein, da
dank' ich dafuͤr!«


»Wenn Du ein Herz fuͤr mich haſt, liebe
Schweſter,« ſagte der Herr, »ſo wuͤnſcheſt Du
mir vielmehr Gluͤck dazu, daß ich einige Stunden
lang die freie Luft und das ſchoͤne Wetter genie¬
ßen kann!«


»Gut, daß wir diesmal nicht mitreiſen, ſonſt
wuͤrdeſt Du uns am Ende noch zwingen, mit
einzuſitzen!«


»Ebenſo wenig, als ich Euch zumuthen wuͤrde,
die Poſt zu gebrauchen!«


»Zur Strafe werden wir Deine glorreiche
Abfahrt aber auch nicht abwarten, ſondern ſogleich
zuruͤckfahren!«


»Das kann ich auch gern erlauben; denn
dieſer Herr und ich werden uns unmittelbar
nach Euch auf den Weg machen.«


Waͤhrend dieſes Geſpraͤches hatte ſich zwiſchen
Heinrich und dem jungen Daͤmchen ein artiger
[64] ſtummer Verkehr entſponnen. Das Huͤndchen auf
ihrem Schooße blickte beſtaͤndig nach dem Stuͤck¬
chen Kuchen hin, welches verlaſſen und unerreich¬
bar auf dem Tiſche lag, das Maͤdchen langte
danach, Heinrich anblickend, wie um Erlaubniß
zu bitten, konnte es aber nicht erreichen, ſo daß
er es ihr naͤher hinſchob. Der Hund mußte nun
ſeine Kuͤnſte machen, ehe er den Kuchen erhielt,
Heinrich legte ein anderes Stuͤck auf die neutrale
Mitte des Tiſches, von wo es das freundliche
Kind wegholte, und ſo ging es fort, bis der
Vorrath verzehrt war. Dabei hatte ſie den
Fremden nicht mehr angeſehen, jedoch ſo laut und
froͤhlich zu dem Thierchen geſprochen und die
Haͤnde ſo feſt und traulich nach dem Backwerke
bewegt, daß er ſich wohl als zur Geſellſchaft ge¬
hoͤrig betrachten durfte, und er erwiederte auch
dieſe Freundlichkeit durch die groͤßte Stille und
Beſcheidenheit. Als der Graf nun die Damen
nach dem Wagen hinaus fuͤhrte, um dort von
ihnen Abſchied zu nehmen, gruͤßte die Kleine un¬
ter der Thuͤre Heinrich ganz allerliebſt und dieſer
machte dem unerwachſenen Kinde ein ſo ernſthaf¬
[65] tes Compliment, als wenn er die ehrwuͤrdigſte
Matrone vor ſich gehabt haͤtte.


Indeſſen hatte ſich im Gaſtzimmer eine Ge¬
ſellſchaft von ſechs bis ſieben Maͤnnern eingefun¬
den, ſaͤmmtlich mit runden vollen Geſichtern
und blonden Schnurrbaͤrten verſchiedenſten Schnit¬
tes. Sie trugen graue Jagdroͤcke mit gruͤnen
Aufſchlaͤgen und einige waren mit Sporen verſe¬
hen. Bald hatte Jeder einen ſchaͤumenden Krug
Bier vor ſich, welches, nebſt einer beabſichtigten
Kegelpartie, auch der Hauptinhalt des lauten
Geſpraͤches war, aus welchem es ſich weiter er¬
gab, daß ſaͤmmtliche Geſellſchaft aus Gerichts¬
aſſeſſoren, Forſtleuten, Steuerbeamten und der¬
gleichen beſtand; auch ein Phyſikus war dabei.
Aeußerlich konnte man ſie nicht unterſcheiden,
weil alle gleich ruͤſtig und forſtmaͤßig ausſahen,
und Heinrich betrachtete ſie mit Wohlgefallen
und geſtand ſich, daß dieſe ſporenklirrenden Be¬
amten in ihren Jagdtrachten ſich keck und male¬
riſch ausnaͤhmen im Gegenſatz zu den nuͤchternen
und friedlichen Wuͤrdetraͤgern in den Doͤrfern ſei¬
nes Vaterlandes. Die Maͤnner ſprachen viel von
I. 5[66] Buͤchſen und Kugeln und er ſchrieb ihnen des¬
wegen auch einen gehoͤrigen Verſtand zu, von
ſeiner Heimath her gewohnt, denſelben meiſtens
bei guten Schuͤtzen und wehrhaften Leuten zu
finden. Ueber dieſen Betrachtungen hatte er acht¬
los den Kopf bedeckt, um ſich das Anlegen
ſeines Mantels, das Bezahlen ſeiner Zeche u.
dergl. bequemer zu machen und naͤherte ſich ſchon
der Thuͤre, als einer der Herren vor ihn hin¬
trat und ihm die Muͤtze vom Kopfe nahm mit
den Worten: »Wenn Sie nicht wiſſen, mein Herr,
was hier zu Lande Sitte iſt, ſo iſt man genoͤ¬
thigt, es Ihnen deutlich zu zeigen!« — Heinrich
ſah ganz verbluͤfft auf den Redner, dann auf
die großen Bierkruͤge und in der braunen Stube
umher; ſeine Augen glitten aber ab von den
hoͤhniſchen Geſichtern, auf welche ſie trafen und
die darauf hinwieſen, daß dieſe Scene das Reſul¬
tat einer foͤrmlichen, vorhergehenden Berathung
war; denn alle Genoſſen des Angreifers ſtanden
im Kreiſe um ihn herum. Jetzt erſt wurde er
feuerroth und ſtammelte zornig: »Wie koͤnnen
Sie ſich unterſtehen —«, dabei hob er ſeine Muͤtze
[67] vom Boden auf, drehte ſie krampfhaft zuſammen
und hatte nicht uͤbel Luſt, den Mann damit in's
Geſicht zu ſchlagen. Zugleich riefen verſchiedene
Stimmen: »Sein Sie ruhig, oder man wird
Sie hinaus werfen!«


»Ich erſuche Sie, das bleiben zu laſſen, meine
Herren!« ſagte der Graf, welcher hereinkommend
Alles mit angeſehen hatte, mit entſchiedener
Stimme und trat neben Heinrich. »Wenn hier
Jemand,« fuhr er fort, »keine Lebensart beſitzt,
ſo iſt es jedenfalls nicht dieſer junge Mann, und
insbeſondere verwahre ich mich dagegen, daß es
deutſcher Sitte gemaͤß ſei, einen harmloſen Rei¬
ſenden durch Thaͤtlichkeiten zu belehren!«


Die Anweſenden hatten ſich ſchon ſtillſchwei¬
gend zuruͤckgezogen und der dicke Wirth, welcher
vorhin keine Miene gemacht hatte, den Fremden
in ſeinem Hauſe zu beſchuͤtzen, war in angſtvoller
Verlegenheit. Nur der Anfuͤhrer der Beamten¬
geſellſchaft erwiederte mit unſicherer Stimme:
»Wenn wir von einem Fremden die gebuͤhrliche
Achtung verlangen, ſo geſchieht es in Ruͤckſicht
[68] auf des Koͤnigs Majeſtaͤt, deſſen Stellvertreter
wir ſind.«


»Es liegt ſchwerlich im Wunſche des Koͤnigs,
daß ſeine Beamten ſich hinter den Bierkrug la¬
gern, um daruͤber zu wachen, daß jeder Reiſende
im Lande den Hut abzieht!« Damit faßte der
Graf ſeinen Schuͤtzling unter den Arm und ging
mit ihm hinaus.


Die Beamten liefen in großer Verwirrung in
der Stube umher und ergriffen ſtumm und grim¬
mig ihre Kruͤge; ſie ſchaͤmten ſich nicht vor ein¬
ander, ſondern vor den Wirthsleuten, welche
Zeugen ihrer Demuͤthigung geweſen waren. Nur
Einer ſagte: »Das war wieder einmal Waſſer
auf ſeine Muͤhle, da konnte er ſeine merkwuͤrdi¬
gen Launen wieder auslaſſen! Schade, daß er
mit ſeinem Spleen nicht in England zu Hauſe
iſt!«


»Ich glaube, er wuͤrde noch lieber nach Ame¬
rika gehoͤren,« verſetzte ein Anderer mit pfiffigem
Ausdruck. —


In dem alten Wagen, als derſelbe auf der
Landſtraße dahin fuhr, ſaßen die beiden Neube¬
[69] kannten anfangs ſchweigend und verſtimmt. Hein¬
rich aus guten Gruͤnden; denn die leiſeſte Be¬
ruͤhrung einer fremden maͤnnlichen Hand in feind¬
licher Abſicht jagt das Blut immer in eine hef¬
tige Wallung und hat ſchon oft genug Mord
und Todtſchlag zur Folge gehabt; ſein Begleiter
hingegen mochte etwas aͤrgerlich daruͤber ſein, daß
er in ſo kurzer Zeit einen unſcheinbaren Frem¬
den wiederholt gegen die Ungezogenheit der eige¬
nen Umgebung hatte ſchuͤtzen muͤſſen, wozu noch
die Ungewißheit kam, ob dieſe in Beziehung auf
den inneren Werth des Schuͤtzlings wohl auch
nothwendig ſei? Wie um ſich hierin zu verſi¬
chern, eroͤffnete er endlich das Geſpraͤch, indem er
Heinrich nach ſeinem Herkommen befragte. Als
dieſer erwiederte, daß er Schweizer ſei und zum
erſten Mal in Deutſchland reiſe, verſetzte der
Graf: »Und ſind Sie uͤberraſcht durch die vor¬
rige Toͤlpelei, oder finden Sie irgend eine vor¬
gefaßte Meinung beſtaͤtigt?«


»Ich ſoll eigentlich nicht uͤberraſcht ſein, wenn
ich bedenke, daß jedes Volk ſeine eigenen Sitten
hat, welche kennen zu lernen der Fremde wohl¬
[70] thut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in
meiner Heimath dem Reiſenden aͤhnliche Unan¬
nehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Land¬
volk, wenn es von Begegnenden nicht gegruͤßt,
oder ſein Gruß nicht erwiedert wird, dem Feh¬
lenden Schimpf und Spott nachſendet. Dabei
herrſcht eine ſo genaue Etiquette, daß der An¬
kommende oder Voruͤbergehende denjenigen, der
an einer Stelle ſitzt oder ſteht, zuerſt begruͤßen
muß, wenn er nicht ausgeſcholten werden will.«


»Da ſcheint mir aber doch eine ſchoͤnere Sitte
allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zu
Grunde zu liegen, als die tolle Reſpectwuth un¬
ſerer Honoratioren iſt. Oder iſt es vielleicht die
gleiche moraliſche Triebfeder, indem Ihr Land¬
volk ſich als republikaniſcher Souverain reſpectirt
wiſſen will?«


»Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat
nicht noͤthig, ſich ſeine Bedeutung durch ſolche
Dinge zu vergegenwaͤrtigen; es athmet ſeine Le¬
bensluft, ohne daran zu denken: der Herzſchlag
ſeines politiſchen Lebens gehoͤrt eben ſowohl zu
den unwillkuͤrlichen Bewegungen, als derjenige
[71] ſeines phyſiſchen Koͤrpers. Auch ſind Leute, welche
eine abſolute perſoͤnliche Nichtsnutzigkeit und
Hohlheit fortwaͤhrend durch ihren uͤberkommenen
Antheil an der buͤrgerlichen Souverainitaͤt uͤber¬
tuͤnchen wollen, nicht beſonders angeſehen. So
mag es kommen, daß das Volk auf den Straßen
den Poſtzug eines durchreiſenden gekroͤnten Hauptes
mit kindlicher Verwunderung begafft und, wenn
es etwas recht Großes und Reiches bezeichnen
will, die Worte Koͤnig und koͤniglich ſo wohl an¬
wendet, wie alle uͤbrige Welt, oft mit ſolcher
Naivetaͤt, daß der geſchulte Democrat ſich darob
aͤrgern mag.«


»Wenn Sie hierin noch die gluͤckliche Stim¬
mung ihres Volkes theilen, werden Sie ſich alſo
nicht unbequem fuͤhlen waͤhrend Ihres Aufent¬
haltes in einer Monarchie?«


»So lange ich die Gewißheit habe, zuruͤckzu¬
kehren, ſobald ich will, wohl nicht. Indeſſen
muß ich Ihnen geſtehen, mein Herr, daß doch
ſchon eine ſonderbare Stimmung anfaͤngt, ſich
meiner zu bemaͤchtigen, und der heutige Auftritt
machte dieſelbe nur klarer. Es iſt mir zu Muthe,
[72] wie wenn irgend einer zarten und bisher unbe¬
ruͤhrten Saite meines Innern ploͤtzlich Gewalt
angethan waͤre; jeder Stein, jeder Baum ſcheint
hier einen Stempel zu tragen, noch neben dem
der Gottheit und der Natur. Jedes Poſtſchild
ſcheint mir zuzurufen: Du mußt Dich auch zeich¬
nen laſſen, wie ich, hier iſt Alles das erſte und
letzte Eigenthum eines einzelnen Menſchen! Und
je weniger das Wort in Wirklichkeit wahr iſt,
beſonders in einer geſetzlich eingerichteten Monar¬
chie, deſto mehr kommt es mir als ein unwuͤrdi¬
ger Spaß, als ein blauer Dunſt vor, den man
ſich mit ernſthaftem Geſicht vormacht: je weniger
ich, wenn ich recht thue, nach Jemandem zu fra¬
gen habe, deſto laͤſtiger iſt es mir, wenn ich mich
doch ſo anſtellen ſoll, vor einer Namenschiffer
den Hut abzuziehen und den Nachbar dabei zu
verſichern, daß dies mein hoͤchſter Ernſt ſei. Ei¬
gentlich regieren uͤberall doch diejenigen, welche
die noͤthige Einſicht und Ueberlegenheit im Guten
wie im Boͤſen dazu haben; manchmal iſt es der
Fuͤrſt, manchmal der letzte Hirtenſohn ſeines Rei¬
ches, zuletzt faſt immer die oͤffentliche Meinung
[73] oder die Mehrheit, und Angeſichts dieſer That¬
ſache wird wohl nur darum die Republik in der
weiten Welt faſt unmoͤglich, weil ſie von ihren
Verkuͤndigern anſtatt zur Sache der kuͤhlen Ver¬
nunft und Lebenspraxis, zur Sache des Gefuͤhls,
zum religioͤſen Ideal gemacht wird, welches wie¬
der der Heuchelei, der Schwaͤrmerei und einem
politiſchen Pfaffenthum Thuͤr und Thor oͤffnet.«


»Ei, Sie ſprechen ja wie ein Buch, junger
Freund! Sie ſind wohl ein eifriger Politiker?«


»Das gerade nicht mehr, als noͤthig iſt! Ich
habe aber als ein Buchrepublikaner daruͤber nach¬
gedacht, daß mein Volk ſo wenig Aufhebens
macht mit ſeiner Republik, waͤhrend es ſich wahr¬
haft und nicht voruͤbergehend ungluͤcklich fuͤhlte,
wenn es durch irgend eine Uebermacht bezwun¬
gen, auch von dem beſten Fuͤrſten zu beſitzen und
zu regieren verſucht wuͤrde. Und je mehr ſich
dieſes Volk von uns, die wir Buͤcher leſen und
den weltgeſchichtlichen Begriff der Republik ken¬
nen, unterſcheidet, deſto liebenswuͤrdiger iſt es in
ſeiner Duldſamkeit gegen Andersglaͤubige, gegen
monarchiſche Unterthanen, denen es nicht das
5 *[74] brutale car tel est notre plaisir entgegenzuſchreien
braucht, welches der bornirte Royaliſt hervorkehrt,
wenn er uͤber ſeine Anhaͤnglichkeit an eine Dy¬
naſtie, von der er in ſeinem Leben noch keinen
kleinen Finger geſehen hat, keine Rechenſchaft
weiter geben kann. Ich fuͤr mich aber kann mir
bereits vorſtellen, wie es Einem iſt, der in der
Tuͤrkei reiſt, dem Drehtanze eines Derwiſches
zuſehen und ſich wohl huͤten muß, den Mund zu
verziehen.«


»Auf dieſes wenig ſchmeichelhafte Gleichniß,«
ſagte der Graf laͤchelnd, »kann ich Ihnen ent¬
gegnen, daß ein Royaliſt vielleicht in aͤhnlicher
Lage iſt auf einer Reiſe durch die Schweiz und
daß demſelben die dortigen Zuſtaͤnde ſehr barba¬
riſch, zufaͤllig und roh vorkommen duͤrften!«


»Dagegen,« erwiederte Heinrich ebenfalls la¬
chend, »koͤnnte ich nur das alte Spruͤchwort hal¬
ten, welches am Ende der beſprochenen Toleranz
meiner gemeinen Landsleute zu Grunde liegt:
uͤber den Geſchmack iſt nicht zu ſtreiten!«


»Da haben Sie ganz Recht,« ſagte Heinrichs
Begleiter und gab ihm die Hand, »auch bin ich
[75] vielleicht am wenigſten im Fall, mit Ihnen zu
ſtreiten. Und was fuͤhrt Sie denn, wenn ich
fragen darf, nach unſerm monarchiſchen Deutſch¬
land? Dem Anſcheine nach ſind Sie entweder
Student oder ein junger Kuͤnſtler?«


»Beides zuſammen, wenn Sie wollen! letzte¬
res im engeren Sinne, erſteres uͤberhaupt, inſo¬
fern ich mir in der Mitte meines großen Stamm¬
volkes ſelbſt ſeine geiſtigen Errungenſchaften an¬
eignen und diejenigen allgemeinen Grundlagen
und Anſchauungen erwerben moͤchte, welche nur
bei großen Sprachgenoſſenſchaften zu finden ſind,
und ohne welche es der Einzelne zu nichts Gan¬
zem und Hoͤherem bringen kann.«


»Wie, Eure ſchweizeriſche Nationalitaͤt genuͤgt
Euch alſo doch nicht fuͤr den Hausgebrauch in
allen Dingen? Sie gibt Euch keine Ideen fuͤr ein
hoͤheres Beduͤrfniß?«


»Jedes Ding hat zwei Seiten, mein Herr!
und, wie ich glaube, auch die Nationalitaͤt oder
was man ſo nennen mag. Man kann ein ſehr
guter Hausvater, ein anhaͤnglicher, pflichtgetreuer
Sohn ſein und doch das entſprechende Gebiet fuͤr
[76] verſchiedene Beduͤrfniſſe und Faͤhigkeiten außer
dem Hauſe ſuchen und finden. Und wie die Fa¬
milie die ſicherſte, troſtreichſte Zuflucht iſt nach
jeder Abſchweifung und Irrfahrt, ſo iſt das Vater¬
land, wenn ſeine Graͤnzen einen natuͤrlichen Zu¬
ſammenhang haben, und wenn es zudem noch
den ſicheren Schooß eines aufgeweckten und ver¬
gnuͤglichen buͤrgerlichen Lebens bildet, der erſte
und letzte Zufluchtsort fuͤr alle ſeine beſſeren Kin¬
der, und je ungleicher dieſe ſich an Stamm und
Sprache manchmal ſind, deſto feſter ziehen ſie
ſich, nach gewiſſen Geſetzen, gegenſeitig an, freund¬
lich zuſammengehalten durch ein gemeinſam durch¬
gekaͤmpftes Schickſal und durch die erworbene
Einſicht, daß ſie zuſammen ſo, wie und wo ſie
nun ſich eingerichtet haben, am gluͤcklichſten ſind.
Eine ſolche Lage iſt die unſrige. Um einen ur¬
alten Kern hat ſich nach und nach eine mannig¬
faltige Genoſſenſchaft angeſetzt, welche die Ueber¬
lieferungen deſſelben, ſo weit ſie in ihrer Bedeu¬
tung noch lebendig ſind, mit aufnahm und ſich
beſtrebt, ſie fortwaͤhrend in gangbare Muͤnze um¬
zuſetzen. Aehnliche Neigungen in der durchweg
[77] aͤhnlichen, ſchoͤnen Landſchaft, eine Menge nachbar¬
licher Beruͤhrungen bei der gemeinſamen Zaͤhigkeit,
den Boden unabhaͤngig zu erhalten, haben ein
von jedem andern Nationalleben unterſchiedenes
Bundesleben hervorgebracht, welches allen ſeinen
Theilnehmern wieder einen gleichmaͤßigen Charak¬
ter bis in die feineren Schattirungen der Sitten
und Sinnesart verliehen hat. Und je mehr wir
uns in dieſem Zuſtande geborgen glauben vor
der Verwirrung, die uns uͤberall umgibt, je mehr
wir die traͤumeriſche Ohnmacht der altersgrauen
großen Nationalerinnerungen, welche ſich auf
Sprache und Farbe der Haare ſtuͤtzen, rings um
uns zu erkennen glauben, deſto hartnaͤckiger hal¬
ten wir an unſerem ſchweizeriſchen Sinne feſt.
So kann man wohl ſagen, nicht die Nationalitaͤt
gibt uns Ideen, ſondern eine unſichtbare, in die¬
ſen Bergen ſchwebende Idee hat ſich dieſe eigen¬
thuͤmliche Nationalitaͤt zu ihrer Verkoͤrperung ge¬
ſchaffen.«


»Ich kann mich nun,« verſetzte der Graf,
»allerdings ſchon leichter in dieſes ſonderbare
Nationalgefuͤhl hineindenken, muß aber um ſo
[78] eher darauf beſtehen, daß die Schweizer folge¬
rechter Weiſe auch einer eben ſo eigenthuͤmlichen,
aus ihren Verhaͤltniſſen erwachſenden Geiſtescul¬
tur beduͤrfen ſollten!«


»Das iſt eben die andere Seite! Es gibt zwar
Viele meiner Landsleute, welche an eine ſchwei¬
zeriſche Kunſt und Literatur, ja ſogar an eine
ſchweizeriſche Wiſſenſchaft glauben. Das Alpen¬
gluͤhen und die Alpenroſenpoeſie ſind aber bald
erſchoͤpft, einige gute Schlachten bald beſungen,
und zu unſerer Beſchaͤmung muͤſſen wir alle
Trinkſpruͤche, Mottos und Inſchriften bei oͤffent¬
lichen Feſten aus Schillers Tell nehmen, welcher
immer noch das Beſte fuͤr dieſes Beduͤrfniß lie¬
fert. Und was die Wiſſenſchaft betrifft, ſo be¬
darf dieſe gewiß noch weit mehr des großen Welt¬
marktes und zunaͤchſt der in Sprache und Geiſt
verwandten groͤßeren Voͤlker, um kein verlorener
Poſten zu ſein. Der franzoͤſiſche Schweizer
ſchwoͤrt zu Corneille, Racine und Molière, zu
Voltaire oder Guizot, je nach ſeiner Partei, der
Teſſiner glaubt nur an italieniſche Muſik und
Gelehrſamkeit und der deutſche Schweizer lacht
[79] ſie beide aus und holt ſeine Bildung aus den
tiefen Schachten des deutſchen Volkes. Alle aber
ſind beſtrebt, Alles nur zur groͤßeren Ehre ihres
Landes zuruͤckzubringen und zu verwenden, und
Viele gerathen ſogar uͤber dieſem Beſtreben in
ein gegen die Quellen undankbares und laͤcher¬
liches Zopfthum hinein.«


»Es iſt vielleicht,« wandte Heinrichs Beglei¬
ter ein, »ein unbeſcheidener Mißbrauch, welchen
ich mit einem wackeren Volke treiben moͤchte,
wenn ich auf meiner alten Behauptung beharre
und ſogar wuͤnſche, daß Ihr es einmal verſuchs¬
weiſe darauf anlegtet, in allen Dingen ganz ſelb¬
ſtaͤndig und naturwuͤchſig zu ſein und ganz auf
Eurem Boden eine eigene Weisheit zu pflegen.
Dem Lande, wie ſeiner Verfaſſung eigenſt ange¬
meſſen, muͤßte gewiß etwas Friſches und fuͤr uns
Andere Erbauliches zu Stande kommen. Sie
wuͤrden vielleicht umkehren, junger Mann, wenn
Sie wuͤßten, wie ſich bei uns großen Nationen
die Bildung im ewigen Kreiſe herumdreht, wie
einflußlos unſere Heroen, die in Jedermanns
Munde ſind, an unſerem innerſten Herzen vor¬
[80] uͤbergehen, und wie bis zur dumpfen Verzweif¬
lung ſich Ungeſchmack und Unſinn jeden andern
Tag wieder ſo breit macht, als waͤre er nie uͤber¬
wunden worden!«


Mit dieſen Worten ſtieß der Graf einen ziem¬
lichen Seufzer aus; Heinrich aber ſchuͤttelte den
Kopf und ſagte:


»Nein, nein! erſtens thun Sie ſich ſelbſt un¬
recht und zweitens koͤnnen wir uns doch nicht
abſchließen! Zu einer guten patriotiſchen Exiſtenz
braucht es jederzeit nicht mehr und nicht weniger
Mitglieder, als gerade vorhanden ſind. Mit den
Culturdingen iſt es anders; da ſind vor Allem
gute Einfaͤlle, ſo viel als immer moͤglich, noth¬
wendig, und daß deren in vierzig Millionen
Koͤpfen mehrere entſtehen, als nur in zwei Mil¬
lionen, iſt außer Zweifel!«


»Das iſt freilich ein praktiſcher und triftiger
Grund!« ſagte der Graf mit herzlichem Lachen,
»ich will Ihnen ferner auch Nichts einwenden
und wuͤnſche Ihrer Jugend wie Ihren Hoffnun¬
gen das beſte Gedeihen. Es ſollte mich recht
freuen, ſpaͤter einmal zu erfahren, wie Sie Ihre
[81] Rechnung befunden haben. Ich verlaſſe mich auch
darauf; denn wenn man mit ſo klarem, ſchoͤnem
Willen in die Welt geht, ſo wird man gewiß
etwas aus ſich machen!«


Da die friedlich wackelnde Kutſche an einem
Haltorte der Eiſenbahn angekommen war und in
demſelben Augenblicke auch ein maͤchtiger Wagen¬
zug heran pfiff, ſo ſtiegen ſie nun aus und nah¬
men Abſchied, indem der Graf, ſeinen jungen Ge¬
faͤhrten mit faſt wehmuͤthiger Theilnahme anſehend,
ihm noch ein freundliches »auf's Wiederſehen«
nachrief. Heinrich draͤngte ſich noch mit ſeinem
Gepaͤcke unter den Leuten umher, um ſeinen
Platz in der dritten Klaſſe aufzufinden, waͤhrend
der vornehme Herr ſchon in einem bequemen und
Praͤchtigen Coupé der erſten Klaſſe ſich ganz
allein ausſtreckte. Er rutſchte aber unruhig hin
und her und ſagte zu ſich ſelbſt: Wunderliches
Verhaͤltniß! da wuͤrde ich nun gern mit dieſem
muntern Jungen weiter plaudern, aber der Unter¬
ſchied unſerer Geldbeutel reißt uns aus einander
und ich darf ihm keinen Platz bei mir anbieten,
waͤhrend ich zu weichlich bin, mich unter das
I. 6[82] Volk hinaus zu ſetzen! Doch was hindert mich
eigentlich daran? Und ſchon wollte er wieder aus¬
ſteigen, als der Zug ſich mit einem grellen Pfiff
in Bewegung ſetzte und bald uͤber das Feld hin¬
glitt, die Sonne im Ruͤcken laſſend.


Dieſelbe naͤherte ſich bei der Ankunft in der
großen Hauptſtadt, dem Reiſeziele Heinrichs,
ſchon ihrem Untergange und vergoldete mit ihren
letzten Strahlen die weite Ebene ſammt der Stadt
mit ihren Steinmaſſen und Baumwipfeln. Hein¬
rich hatte kaum ſeine Sachen in einem Gaſthofe
untergebracht, ſo lief er ungeduldig wieder auf
die Straße und ſtuͤrzte ſich unter das Wogen und
Treiben der Stadt.


Da gluͤhten im letzten Abendſcheine griechiſche
Giebelfelder und gothiſche Thuͤrme; Saͤulen der
verſchiedenſten Art tauchten ihre geſchmuͤckten
Haͤupter noch in den Roſenglanz, helle gegoſſene
Bilder, funkelneu, ſchimmerten aus dem Hell¬
dunkel der Daͤmmerung, indeſſen buntbemalte
offene Hallen ſchon durch Laternenlicht erleuchtet
waren und von geſchmuͤckten Frauen durchwan¬
delt wurden. Steinbilder ragten in langen Rei¬
[83] hen von hohen Zinnen in die Luft, Koͤnigsbur¬
gen, Palaͤſte, Theater, Kirchen bildeten große
Gruppen zuſammen, Gebaͤude von allen moͤgli¬
chen Bauarten, alle gleich neu, ſah man hier ver¬
einigt, waͤhrend dort alte geſchwaͤrzte Kuppeln,
Rath- und Buͤrgerhaͤuſer einen ſchroffen Gegen¬
ſatz machten. Es herrſchte ein aufgeregtes Leben
auf den Straßen und Plaͤtzen. Aus Kirchen und
maͤchtigen Schenkhaͤuſern erſcholl Muſik, Gelaͤute,
Orgel- und Harfenſpiel; aus mit allerlei myſti¬
ſchen Symbolen uͤberladenen Kapellenthuͤren dran¬
gen Weihrauchwolken auf die Gaſſe; ſchoͤne und
fratzenhafte Kuͤnſtlergeſtalten gingen ſchaarenweis
voruͤber, Studenten in Schnuͤrroͤcken und ſilber¬
geſtickten Muͤtzen kamen daher, gepanzerte Reiter
mit glaͤnzenden Stahlhelmen ritten gemaͤchlich und
ſtolz uͤber einen Platz, uͤppige Courtiſanen mit
blanken Schultern zogen nach hellen Tanzſaͤlen,
von denen Pauken und Trompeten herniedertoͤn¬
ten; alte dicke Weiber verbeugten ſich vor duͤnnen
ſchwarzen Moͤnchen, welche zahlreich umhergingen;
unter offenen Hausfluren ſaßen wohlgenaͤhrte
Spießbuͤrger hinter gebratenen Gaͤnſen und maͤch¬
6 *[84] tigen Kruͤgen und genoſſen den lauen Fruͤhlings¬
abend; glaͤnzende Wagen mit Mohren und Jaͤgern
fuhren vorbei und wurden aufgehalten durch einen
ungeheueren Knaͤuel von Soldaten und Hand¬
werksburſchen, welche ſich die Koͤpfe zerblaͤueten.
Es war ein unendliches Geſumme uͤberall und
ein ſeltſamer Uebergang der katholiſchen Feſtan¬
dacht und der kirchlichen Glockentoͤne in die laute
Luſtbarkeit des zweiten Oſterabends.


Heinrich hatte ſich aus dem Laͤrm verloren in
eine lange und weite Straße, welche ganz von
maͤchtigen neuen Gebaͤuden beſetzt war. Steinerne
Bildſaͤulen ſtanden vor ernſten byzantiniſchen
Fronten, die ſtill und hoch in den dunkelnden
Himmel hinauf ſtiegen, bald dunkelroth gefaͤrbt,
bald blendend weiß, Alles wie erſt heute und zur
Muſterſammlung fuͤr lernbegierige Schuͤler auf¬
geſtellt. Da und dort verſchmelzten ſich die alten
Zierarten und Formen zu neuen Erfindungen, die
verſchiedenſten Gliederungen und Verhaͤltniſſe
ſtritten ſich und verſchwammen in einander und
loͤſten ſich wieder auf zu neuen Verſuchen; es
ſchien, als ob die tauſendjaͤhrige Steinwelt auf
[85] ein maͤchtiges Zauberwort in Fluß gerathen, nach
einer neuen Form gerungen haͤtte und uͤber dem
Ringen in einer ſeltſamen Miſchung wieder erſtarrt
waͤre. Wie zum Spotte ragte tief im Hinter¬
grunde eine coloſſale alte Kirche im Jeſuitenſtyle
uͤber alle dieſe Schoͤpfungen empor und die tollen
Schnoͤrkel und Schlangenlinien derſelben ſchienen
in dem ſchwachen Mondlichte auf und nieder zu
tanzen. Das Getoͤſe der inneren Stadt ſummte
nur von ferne in die einſame, ſtille Straße her¬
ein, man hoͤrte faſt keines Menſchen Tritt gehen,
nur ein hoher, magerer Mann kam mit langen
Schritten und wunderlichen Bewegungen durch
das erſterbende Zwielicht daher und trat, als
Heinrich ihn zerſtreut anſah, ploͤtzlich auf denſel¬
ben zu und ſchlug ihm die Muͤtze vom Kopfe,
daß ſie auf den Boden fiel. Es lag aber etwas
Schwaͤrmeriſches und gutmuͤthig Edles in den
Augen dieſes Mannes, ſo daß Heinrich verlegen
daſtand, ſich hinter den Ohren kratzte und nicht
wußte, was nun wieder zu thun ſei. Der Fremde
rief ihm aber mit lauter Stimme zu: »Warum
gaffen Sie mich an und gruͤßen nicht? Was iſt
[86] das fuͤr eine Ungezogenheit?« Heinrich ſagte: »Ich
kenne Sie ja gar nicht, Herr!« »So? Wiſſen
Sie, ich bin der Koͤnig! Artig ſein, Reſpect ha¬
ben, junger Mann!« und ohne eine fernere Rede
abzuwarten, ſchritt er raſch von dannen.


Heinrich hob ſeine Muͤtze vom Boden, ſchlug
den Staub ab und ſuchte eiligſt ſeine Herberge
auf.


[]

Viertes Kapitel.

Am andern Tage handtierte Heinrich Lee be¬
reits in einem gemietheten Zimmer umher und
war bemuͤht, ſeine Siebenſachen in den verſchie¬
denen Hausgeraͤthen unterzubringen. Sein ge¬
waltiger altvaͤterlicher Holzkoffer ſtand mitten auf
dem Boden und ſchien ſich nicht erſchoͤpfen zu
wollen; denn außer dem reichlichen Vielerlei, wo¬
mit ihn die Mutter fuͤr des Leibes Beduͤrfniß
verſorgt hatte, fuͤhrte er auch einen ziemlichen
Vorrath an ſonſtigen Dingen mit, von denen er
ſich nicht hatte trennen koͤnnen, obſchon ein guter
Theil keinen andern Werth hatte, als daß Hein¬
rich bisher die Sachen taͤglich vor Augen und in
Haͤnden ſah. Er kannte den Zuſtand noch nicht,
wo man jedes entbehrliche Buch, jedes Kaͤſtchen
oder Schaͤchtelchen aus alter Zeit, Briefſchaften,
[88] ſogar muſikaliſche Inſtrumente, die Einem faſt an
die Hand gewachſen ſind, uͤber Bord wirft und
ſtarr und aͤngſtlich ſeine Zukunft ſuchend, welche
immer zuruͤckzuweichen ſcheint, waͤhrend ſie fort¬
waͤhrend um uns herumſchleicht und hinter unſerm
Ruͤcken unbemerkt zur Vergangenheit wird, mit
dem zuſammengepreßten Gepaͤcke eines Couriers
Jahre lang dahin lebt, in Wohnungen, die eben
ſo knapp eingerichtet ſind, ein Bett, ein Tiſch,
ein Sopha, vier Stuͤhle, und das Alles in der
jaͤmmerlichen Eleganz, wie ſie der Laden eines
Troͤdlers oder Moͤbelverleihers darbietet und der
Geſchmack einer hungrigen Wittwe zuſammenſtellt.
Da iſt keine trauliche Uhr an der Wand, ja kein
uͤberzaͤhliges Tiſchchen am Fenſter, kein Blumen¬
ſtock vor demſelben; ſtatt daß klare weiße Vor¬
haͤnge ſchlicht daruͤberhangen, ſchlingt ſich toll ge¬
wordener rother und gelber Kattun um einen
truͤbſelig vergoldeten Spieß, welcher ſchon zwoͤlf¬
mal verkauft und wieder gekauft wurde. Und
trotz dieſer Armſeligkeit hat die einzige Kommode
im Nu das Mitgebrachte des fahrenden Bewoh¬
ners verſchlungen wie ein Haifiſch eine Katze und
[89] laͤßt Nichts zu ſehen uͤbrig, als hier einen Bogen
Briefpapier, dort eine Haarbuͤrſte. Es iſt ein
unerquickliches Leben in dieſer baumwollenen
Pracht der Miethzimmer, immer den Reiſekoffer
neben dem Ofen!


Die Wohnung jedoch, welche Heinrich gefun¬
den hatte, entſprach mehr ſeinen mitgebrachten
mannigfaltigen Habſeligkeiten. Sie war einfach,
aber bequem und hatte in ihrer Einrichtung das
Anſehen einer ſeit lange ſo beſtandenen ordent¬
lichen Wohnſtube. Die Fenſter gingen auf einen
ſtillen Hof, die Seſſel an denſelben ſtanden noch
auf beſonderen Erhoͤhungen, und noch ein ande¬
rer behaglicher Sitz zum traͤumeriſchen Ausruhen
verſprach die endlich geleerte Arche Noaͤ Heinrichs
zu werden, welche er zwiſchen den Ofen und das
Bett hineinſchob.


Er ſaß auch ſchon auf dem ſoliden Deckel,
ausruhend und nachdenklich, wie Einer, der fuͤr
den Augenblick nicht weiß, was eigentlich zunaͤchſt
nun zu beginnen iſt. Ohne Empfehlungen und
Bekanntſchaften in dieſer Stadt angekommen,
mußte er ſich ganz allein zu helfen und nach
[90] eigenem Ueberblick und Urtheil ſeine Thaͤtigkeit zu
ordnen ſuchen. In der Hand hielt er ein einge¬
bundenes Manuſcript und blaͤtterte darin umher,
als ob er eine Richtſchnur oder wenigſtens die
Anknuͤpfungspunkte fuͤr eine ſolche herausfinden
wollte. Es war die Geſchichte ſeiner bisherigen
Jugend, welche er in jugendlicher Subjectivitaͤt
und Schreibſeligkeit waͤhrend der letzten Zeit vor
ſeiner Abreiſe niedergeſchrieben hatte, um ſich eine
Art Abſchluß und Ueberſicht zu bilden.


Bis ſeine neuen Verhaͤltniſſe eine beſtimmte
Geſtalt angenommen haben, wollen wir das maͤ¬
ßige Buͤchlein durchleſen, um ihn ſelbſt wie ſein
ferneres Geſchick deſto klarer beurtheilen zu koͤn¬
nen. Schon daß er daſſelbe geſchrieben, iſt ſo
bezeichnend, daß auch der Inhalt denjenigen wei¬
ter anregen muß, der uͤberhaupt an unſerm Hel¬
den Theil nehmen mag.

[]

Eine Jugendgeſchichte.

Mein Vater war ein Bauernſohn aus einem
uralten Dorfe, welches ſeinen Namen von einer
ſeit vielen Jahrhunderten verſchollenen Familie
hat. Niemand weiß mehr, wo einſt das Schloß
geſtanden, von dem man in den Chroniken noch
ſchwache Spuren findet; eben ſo wenig weiß man,
wann der letzte »Edle« dieſes Namens geſtorben
iſt; aber das Dorf ſteht noch da, ſeelenreich und
belebter als je, waͤhrend das halbe Dutzend Fa¬
miliennamen unveraͤndert geblieben iſt und fuͤr
die zahlreichen, weitlaͤufigen Geſchlechter fort und
fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker,
welcher ſich rings an die trotz ihres Alters immer
ſchneeweiß geputzte Kirche ſchmiegt und niemals
erweitert worden iſt, beſteht in ſeiner Erde buch¬
ſtaͤblich aus den aufgeloͤſten Gebeinen der voruͤber¬
[92] gegangenen Geſchlechter, es iſt unmoͤglich, daß
bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Koͤrnlein ſei,
welches nicht ſeine Wanderung durch den menſch¬
lichen Organismus gemacht und einſt die uͤbrige
Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich uͤber¬
treibe und vergeſſe die vier Tannenbretter, welche
jedesmal mit in die Erde kommen und den eben
ſo alten Rieſengeſchlechtern auf den gruͤnen Ber¬
gen rings entſtammen; ich vergeſſe ferner die
derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche
auf dieſen Fluren wuchs, geſponnen und gebleicht
wurde, und alſo ſo gut zur Familie gehoͤrt, wie
jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die
Erde unſeres Kirchhofes ſo ſchoͤn kuͤhl und ſchwarz
ſei, als irgend eine. Es waͤchſt auch das gruͤnſte
Gras darauf, und die Roſen nebſt dem Jasmin
wuchern in goͤttlicher Unordnung und Ueberfuͤlle,
ſo daß nicht einzelne Staͤudlein auf ein friſches
Grab geſetzt, ſondern das Grab muß in den
Blumenwald hineingehauen werden, und nur der
Todtengraͤber kennt genau die Graͤnze in dieſem
Wirrſal, wo das friſch umzugrabende Gebiet
anfaͤngt.

[93]

Das Dorf zaͤhlt etwa zweitauſend Bewohner,
von welchen je etwa dreihundert den gleichen
Namen fuͤhren; aber hoͤchſtens zwanzig bis dreißig
von dieſen pflegen ſich Vetter zu nennen, weil
die Familienerinnerungen ſelten bis zum Urgro߬
vater hinaufſteigen. Aus der unergruͤndlichen
Tiefe der Zeiten an das Tageslicht geſtiegen,
ſonnen ſich dieſe Menſchen darin, ſo gut es gehen
will, ruͤhren ſich und wehren ſich ihrer Haut, um
wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu ver¬
ſchwinden, wenn ihre Zeit gekommen iſt. Wenn
ſie ihre Naſen in die Hand nehmen, ſo ſind ſie
ſattſam uͤberzeugt, daß ſie eine ununterbrochene
Reihe von zwei und dreißig Ahnen beſitzen muͤſ¬
ſen und anſtatt dem natuͤrlichen Zuſammenhange
derſelben nachzuſpuͤren, ſind ſie vielmehr bemuͤht,
die Kette ihrerſeits nicht ausgehen zu laſſen. So
kommt es, daß ſie alle moͤglichen Sagen und
wunderlichen Geſchichten ihrer Gegend mit der
groͤßten Genauigkeit erzaͤhlen koͤnnen, ohne zu
wiſſen, wie es zugegangen iſt, daß der Gro߬
vater die Großmutter nahm. Alle Tugenden
glaubt Jeder ſelbſt zu beſitzen, wenigſtens dieje¬
[94] nigen, welche nach ſeiner Lebensweiſe fuͤr ihn
wirkliche Tugenden ſind, und was die Miſſethaten
betrifft, ſo hat der Bauer ſo gut Urſache, wie
der Vornehme, die ſeiner Vaͤter in Vergeſſenheit
begraben zu wuͤnſchen; denn er iſt zuweilen eine
ſo wuͤſte und wilde Beſtie, wie manches andere
Menſchenkind.


Ein großes rundes Gebiet von Feld und
Wald bildet ein reiches unverwuͤſtliches Ver¬
moͤgen der Bewohner; doch iſt es eigentlich nicht
ganz rund, indem mancher maͤchtige Acker, manche
Zelle Laub- und Nadelholz jenſeits der Huͤgel
hinunter kuͤhn und naſeweis in das Gebiet ande¬
rer Gemeinden eingreift, waͤhrend jene ſich gele¬
gentlich durch die gluͤckliche und liſtige Erwerbung
eines dieſſeitigen Graͤnzſtuͤckes raͤchen und daher
das Ganze einen ſo zerfetzten Rand hat, wie ein
Bettlermantel. Dieſer Reichthum blieb ſich von
je her ſo ziemlich gleich; wenn auch hie und da
eine Braut einen Theil verſchleppt, ſo unterneh¬
men die jungen Burſche dafuͤr haͤufige Raubzuͤge
bis auf acht Stunden weit und ſorgen fuͤr hin¬
laͤnglichen Erſatz, ſo wie dafuͤr, daß die Gemuͤths¬
[95] anlagen und koͤrperlichen Phyſiognomieen der
Gemeinde die gehoͤrige Mannigfaltigkeit bewah¬
ren, und ſie entwickeln hierin eine tiefere und
gelehrtere Einſicht fuͤr ein friſches Fortgedeihen,
als manche reiche Patricier- oder Handelsſtadt
und als die europaͤiſchen Fuͤrſtengeſchlechter.


Die Eintheilung dieſes Beſitzes aber ver¬
aͤndert ſich von Jahr zu Jahr theilweiſe und mit
jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬
lichkeit. Die Kinder der geſtrigen Bettler ſind
heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬
men dieſer treiben ſich morgen muͤhſam in der
Mittelklaſſe umher, um entweder ganz zu ver¬
armen oder ſich wieder aufzuſchwingen.


Mein Vater ſtarb ſo fruͤh, daß ich ihn nicht
mehr von ſeinem Vater konnte erzaͤhlen hoͤren,
ich weiß daher ſo gut wie Nichts von dieſem
Manne; nur ſo viel iſt gewiß, daß damals die
Reihe einer ehrbaren Unvermoͤglichkeit an ſeiner
engeren Familie war. Da ich nicht annehmen
mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein
liederlicher Kauz geweſen ſei, ſo halte ich es fuͤr
wahrſcheinlich, daß ſein Vermoͤgen durch eine ſehr
[96] zahlreiche Nachkommenſchaft zerſplittert wurde;
wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vet¬
tern, welche ich kaum noch zu unterſcheiden weiß,
die, wie die Ameiſen krabbelnd, bereits wieder
im Schwunge ſind, ein gutes Theil der viel zer¬
hackten und durchfurchten Grundſtuͤcke an ſich zu
bringen. Ja, einige Alte unter denſelben ſind in
der Zeit ſchon wieder reich geweſen und ihre Kin¬
der wieder arm geworden.


Dazumal war es nicht ganz mehr jene er¬
baͤrmliche Schweiz, wie ſie Goͤthe im Werther¬
ſchen Nachlaſſe geſchildert hat, und wenn auch
die junge Saat der franzoͤſiſchen Ideen durch
einen ungeheueren Schneefall oͤſtreichiſcher, ruſſi¬
ſcher und ſelbſt franzoͤſiſcher Quartierbillets be¬
deckt worden war, ſo geſtattete doch die kluge
Mediations-Verfaſſung einen gelinden Nachſom¬
mer und verhinderte meinen Vater nicht, die
Kuͤhe, die er weidete, eines Morgens ſtehen zu
laſſen und, einem hoͤheren Triebe folgend, nach
der Stadt zu gehen, um ein gutes Handwerk zu
erlernen. Von da an verſcholl er ſo ziemlich fuͤr
ſeine Mitbuͤrger; denn nach langen und harten,
[97] aber meiſterlich beſtandenen Lehrjahren fuͤhrte ihn
ſein Trieb, einen immer kuͤhnern Schwung neh¬
mend, in die Ferne und er durchſchweifte als ein
geſchickter Steinmetz entlegene Reiche. Indeſſen
aber hatte der ſanftkniſternde Papierblumenfruͤh¬
ling, welcher nach der Schlacht bei Waterloo auf¬
ging, wie uͤberall hin, ſo auch in die geheimſten
Winkel der Schweiz ſein blaͤuliches Kerzenlicht
verbreitet und der große Dichter haͤtte ſich jetzt
eher wieder zurecht finden koͤnnen, wenn nicht
unterdeſſen auch ſein wackerer Lavater geſtorben
und mit demſelben das letzte Reſtchen Phantaſie
aus dem ſtaͤdtiſchen Zopfthume der Schweizer
entflohen waͤre. Auch in meines Vaters Geburts¬
dorf, deſſen Bewohner in den neunziger Jahren
ebenfalls entdeckt hatten, daß ſie ſeit undenklichen
Zeiten mitten in einer Republik lebten, war die
ehrwuͤrdige und zugleich muntere Dame Reſtau¬
ration mit allen ihren Schachteln und Cartons
feierlich eingezogen und richtete ſich in dem Neſte
ſo gut ein, als ſie konnte. Schattige Waͤlder,
Hoͤhen und Thaͤler mit den angenehmſten Freuden¬
plaͤtzen, ein fiſchreicher, klarer Fluß und die Wie¬
I. 7[98] derholung aller dieſer guten Dinge in einer wei¬
ten, belebten Nachbarſchaft, welche ſogar noch mit
einigen bewohnten Schloͤſſern geſpickt war, zogen
den einwohnenden Herrſchaften Jahr aus und ein
eine Menge jagender, fiſchender, tanzender, ſingen¬
der, eſſender und trinkender Gaͤſte aus der Stadt
zu. Man bewegte ſich um ſo leichter, als man
den Reifrock und die Perruͤcke weislich da liegen
ließ, wohin ſie die Revolution geworfen hatte,
und das griechiſche Coſtuͤm der Kaiſerzeit, wenn
auch in dieſen Gegenden etwas nachtraͤglich, an¬
gethan hatte. Die Bauern ſahen mit Verwun¬
derung die weißumflorten Goͤttergeſtalten ihrer
vornehmen Mitbuͤrgerinnen, ihre ſonderbaren Huͤte
und noch merkwuͤrdigeren Taillen, welche dicht
unter den Armen geguͤrtet waren. Die Herrlich¬
keit des ariſtokratiſchen Regimentes entfaltete ſich
am hoͤchſten im Pfarrhauſe. Die reformirten
Landgeiſtlichen der Schweiz waren keine armen,
demuͤthigen Schlucker, wie ihre Amtsbruͤder im
proteſtantiſchen Norden. Da alle Pfruͤnden im
Lande ausſchließlich den Buͤrgern der herrſchenden
Staͤdte offen ſtanden, ſo bildeten ſie zu den welt¬
[99] lichen Ehrenſtellen eine Ergaͤnzung im Syſteme
der Herrſchaft, und die Pfarrer, deren Bruͤder
das Schwert und die Wage handhabten, nahmen
Theil an der Glorie, wirkten und regierten auf
ihre Weiſe im Sinne des Ganzen kraͤftig mit
oder uͤberließen ſich einem ſorgenfreien, vergnuͤg¬
lichen Daſein, gleich den vornehmen Geiſtlichen
der katholiſchen Kirche. Sehr oft waren ſie von
Haus aus reich und die laͤndlichen Pfarrhaͤuſer
glichen eher den Landſitzen großer Herren; auch
gab es eine Menge adeliger Seelenhirten, welche
die Bauern Junker Pfarrer nennen mußten. Ein
ſolcher war nun zwar der Pfarrer meines Heimath¬
dorfes nicht, auch nichts weniger als ein reicher
Mann; doch ſonſt einer ſehr alten Buͤrgerfamilie
angehoͤrend, vereinigte er in ſeiner Perſon und
in ſeinem Hausweſen allen Stolz, Kaſtengeiſt
und Luſtbarkeit eines warmgeſeſſenen Staͤdtethu¬
mes. Er that ſich etwas darauf zu gut, ein
Ariſtokrat zu heißen, und vermiſchte ſeine geiſt¬
liche Wuͤrde ungezwungen mit einem derben, mi¬
litaͤriſch-junkerhaften Anſtriche; denn man wußte
dazumal noch nichts, weder von dem Namen noch
7 *[100] von dem Weſen des modernen, weinerlichen und
heuchleriſchen Conſervatismus. Es ging in ſei¬
nem Hauſe geraͤuſchvoll und luſtig her, die Pfarr¬
kinder ſteuerten reichlich, was Feld und Stall ab¬
warf, die Gaͤſte holten ſich ſelbſt aus dem Forſte
Haſen, Schnepfen und Rebhuͤhner, und da Treib¬
jagden doch nicht landesuͤblich waren, ſo wurden
die Bauern dafuͤr zu großen Fiſchzuͤgen freund¬
ſchaftlich angehalten, welches jedesmal ein Feſt
gab, und ſo war das Pfarrhaus nie ohne Freude
und Laͤrm. Man durchzog das Land rings um¬
her, ſtattete Beſuche ab in Maſſe und empfing
ſolche, ſchlug Zelte auf und tanzte darunter oder
ſpannte ſie uͤber die lauteren Baͤche und die
Griechinnen badeten darunter; man uͤberfiel in
hellen Haufen eine einſame kuͤhle Muͤhle oder
fuhr in vollgepfropften Nachen auf Seeen und
Fluͤſſen, der Pfarrer immer voran mit einer
Entenflinte uͤber dem Ruͤcken oder ein maͤchtiges
ſpaniſches Rohr in der Hand.


Geiſtige Beduͤrfniſſe waren in dieſen Kreiſen
nicht viele vorhanden; die weltliche Bibliothek
des Pfarrers beſtand, wie ich ſie noch geſehen
[101] habe, aus einigen altfranzoͤſiſchen Schaͤferroma¬
nen, Geßners Idyllen, Gellerts Luſtſpielen und
einem ſtark zerleſenen Exemplar des Muͤnchhauſen.
Zwei oder drei einzelne Baͤnde von Wieland
ſchienen aus der Stadt geliehen und nicht mehr
zuruͤckgeſchickt worden zu ſein. Man ſang Hoͤlty's
Lieder und nur die Jugend fuͤhrte etwa einen
Mathiſſon mit ſich. Der Pfarrer ſelbſt, wenn
einmal von dergleichen Dingen die Rede war,
pflegte ſeit dreißig Jahren regelmaͤßig zu fragen:
»Haben Sie Kloppſtocks Meſſias geleſen?« und
wenn das, wie natuͤrlich, bejaht wurde, ſchwieg
er vorſichtig. Ein ſteinalter Herr, welcher ſich in
ſeiner Jugend einige Zeit in Berlin umhergetrie¬
ben hatte und in der Geſellſchaft des Pfarrhauſes
allerlei ſchlechte Spaͤße uͤber den ehrwuͤrdigen
Beruf des Hausherrn zum Beſten gab, ſprach
viel von Voltaire und miſchte ein pikantes Grauen
in den unbefangenen Frohſinn der Damen. Im
Uebrigen gehoͤrten die Gaͤſte nicht zu jenen fein¬
ſten Kreiſen, welche die Cultur der herrſchenden
Intereſſen durch erhoͤhte Geiſtesthaͤtigkeit pflegen
und durch eine edle Bildung zu befeſtigen ſuchen,
[102] ſondern zu der gemuͤthlichen Klaſſe, welche ſich dar¬
auf beſchraͤnkt, die Fruͤchte jener Bemuͤhungen zu ge¬
nießen und ſich ohne weiteres Kopfzerbrechen
luſtig zu machen, ſo lange es Kirchweih iſt.


Aber dieſe ganze Herrlichkeit barg bereits den
Keim ihres Zerfalles in ſich ſelbſt. Der Pfarrer
hatte einen Sohn und eine Tochter, welche beide
in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umge¬
bung abwichen. Waͤhrend der Sohn, ebenfalls
ein Geiſtlicher und dazu beſtimmt, ſeinem Vater
im Amte zu folgen, vielfache Verbindungen mit
jungen Bauern anknuͤpfte, mit ihnen ganze Tage
auf dem Felde lag oder auf Viehmaͤrkte fuhr und
mit Kennerblick die jungen Kuͤhe betaſtete, hing
die Tochter, ſo oft ſie nur immer konnte, die
griechiſchen Gewaͤnder an den Nagel und zog ſich
in Kuͤche und Garten zuruͤck, dafuͤr ſorgend, daß
die unruhige Geſellſchaft etwas Ordentliches zu
beißen fand, wenn ſie von ihren Fahrten zuruͤck¬
kehrte. Auch war dieſe Kuͤche nicht der ſchwaͤchſte
Anziehungspunkt fuͤr die genaͤſchigen Staͤdtebe¬
wohner, und der große gutbebaute Garten zeugte
[103] fuͤr einen ausdauernden Fleiß und treffliche
Ordnungsliebe.


Der Sohn endigte ſein Treiben damit, daß
er eine beguͤterte ruͤſtige Bauerntochter heirathete,
in ihr Haus zog und alle ſechs Werktage hin¬
durch ihre Aecker und ihr Vieh beſtellte. In An¬
wartſchaft ſeines hoͤheren Amtes uͤbte er ſich, als
Saͤemann den goͤttlichen Samen in wohlberech¬
neten Wuͤrfen auszuſtreuen und das Boͤſe in
Geſtalt von wirklichem Unkraut auszujaͤten. Der
Schrecken und der Zorn hieruͤber waren groß im
Pfarrhauſe, zumal, wenn man bedachte, daß die
junge Baͤuerin einſt als Hausfrau dort einziehen
und herrſchen ſollte, ſie, welche weder mit der
gehoͤrigen Anmuth im Graſe zu liegen, noch einen
Haſen ſtandesgemaͤß zu braten und aufzutragen
wußte. Deshalb war es der allgemeine Wunſch,
daß die Tochter, welche allmaͤlig ſchon uͤber ihre
erſte Jugend hinausgebluͤht hatte, entweder einen
ſtandesgetreuen jungen Geiſtlichen ins Haus locken
oder ſonſt noch lange die zuſammenhaltende Kraft
deſſelben bleiben moͤchte. Aber auch dieſe Hoff¬
nungen ſchlugen fehl.

[104]

Denn eines Tages geſchah es, daß das ganze
Dorf in große Bewegung geſetzt wurde durch die
Ankunft eines ſchoͤnen, ſchlanken Mannes, der
einen feinen gruͤnen Frack trug nach dem neueſten
Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und
glaͤnzende Suwarowſtiefeln mit gelben Stulpen.
Wenn es regneriſch ausſah, ſo fuͤhrte er einen
rothſeidenen Schirm mit ſich, und eine große
goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den
Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬
ſtrich. Dieſer Mann bewegte ſich mit einem edeln
Anſtande in den Gaſſen des Dorfes umher und
trat freundlich und leutſelig in die niederen Thuͤ¬
ren, verſchiedene alte Muͤtterchen und Gevattern
aufſuchend, und war niemand Anders, als der
weitgereiſte Steinmetzgeſelle Lee, welcher ſeine
lange Wanderſchaft ruhmvoll beendigt hatte. Man
kann wohl ſagen ruhmvoll, wenn man bedenkt,
daß er vor zwoͤlf Jahren, als ein vierzehnjaͤhriger
Knabe, arm und bloß das Dorf verlaſſen hatte,
hierauf bei ſeinem Meiſter die Lehrzeit durch lange
Arbeit abverdienen mußte, mit einem duͤrftigen
Felleiſen und wenig Geld in die Fremde zog und
[105] nun ſolchergeſtalt als ein foͤrmlicher Herr, wie
ihn die Landleute nannten, zuruͤckkehrte. Denn
unter dem niedern Dache ſeiner Verwandten ſtan¬
den zwei maͤchtige Kiſten, von denen die eine
ganz mit Kleidern und feiner Waͤſche, die andere
mit Modellen, Zeichnungen und Buͤchern ange¬
fuͤllt war. Es war etwas Schwungvolles in
dem ganzen Weſen des etwa ſechs und zwanzig
Jahre alten Mannes, ſeine Augen gluͤhten wie
von einem anhaltenden Glanze innerer Waͤrme
und Begeiſterung, er ſprach immer hochdeutſch
und ſuchte das Unbedeutendſte von ſeiner ſchoͤnſten
und beſten Seite zu faſſen. Er hatte ganz Deutſch¬
land vom Suͤden bis zum Norden durchreiſt und
in allen großen Staͤdten gearbeitet; die Zeit der
Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel
mit ſeinen Wanderjahren zuſammen und er hatte
die Bildung und den Ton jener Tage in ſich
aufgenommen, inſofern ſie ihm verſtaͤndlich und
zugaͤnglich waren; vorzuͤglich theilte er das offene
und treuherzige Hoffen der gebildeten Mittelklaſſen
auf eine beſſere, ſchoͤnere Zeit der Wirklichkeit,
ohne von den geiſtigen Ueberfeinerungen und
[106] Wunderſeligkeiten etwas zu wiſſen, welche in
manchen romantiſchen Elementen dazumal als
deutſches Weſen durch die hoͤhere Geſellſchaft
wucherten.


Es waren nur wenige gleichgeſinnte Arbeits¬
genoſſen, welche die erſten, ſeltenen und verborge¬
nen Keime bildeten zu der Selbſtveredlung und
Aufklaͤrung, ſo den wandernden Handwerkerſtand
zwanzig Jahre ſpaͤter durchdrang und welche einen
Stolz darauf ſetzten, die beſten und geſuchteſten
Arbeiter zu ſein und dadurch, verbunden mit er¬
hoͤhtem Fleiße und Maͤßigkeit, die Mittel erlang¬
ten, auch ihren Geiſt zu bilden und aͤußerlich wie
innerlich ſchon in ihren Wanderjahren als achtungs¬
werthe, tuͤchtige Maͤnner dazuſtehen. Ueberdies
war dem Steinhauer in den großen Werken alt¬
deutſcher Baukunſt ein Licht aufgegangen, welches
ſeinen Pfad noch mehr erleuchtete, indem es ihn
mit heitern Kuͤnſtlerahnungen erfuͤllte und den
dunkeln Trieb jetzt erſt zu rechtfertigen ſchien,
welcher ihn von der gruͤnen Weide hinweg dem
geſtaltenden Leben der Staͤdte zugefuͤhrt hatte.
Er lernte zeichnen mit eiſernem Fleiße, brachte
[107] ganze Naͤchte und Feiertage damit zu, Werke und
Muſter aller Art durchzupauſen, und nachdem er
den Meißel zu den kunſtreichſten Gebilden und
Verzierungen fuͤhren gelernt und ein vollkomme¬
ner Handarbeiter geworden war, ruhte er nicht,
ſondern ſtudirte den Steinſchnitt und ſogar ſolche
Wiſſenſchaften, welche andern Zweigen des Bau¬
weſens angehoͤren. Er ſuchte uͤberall an großen
oͤffentlichen Bauten unterzukommen, wo es viel
zu ſehen und zu lernen gab, und brachte es durch
ſeine Aufmerkſamkeit bald dahin, daß ihn die
Baumeiſter eben ſoviel auf ihren Arbeitszimmern
am Zeichnen- oder Schreibtiſche verwendeten, als
auf dem Bauplatze. Daß er dort nicht feierte,
ſondern manche Mittagsſtunde damit zubrachte,
alles Moͤgliche durchzuzeichnen und alle Berech¬
nungen zu copiren, welche er erhaſchen konnte,
verſteht ſich von ſelbſt. So wurde er zwar kein
akademiſcher Kuͤnſtler mit einer allſeitigen Durch¬
bildung, aber doch ein Mann, welcher wohl den
kuͤhnen Vorſatz faſſen durfte, in der Hauptſtadt
ſeiner Heimath ein wackerer ſtaͤdtiſcher Bau- und
Maurermeiſter zu werden. Mit dieſer ausgeſpro¬
[108] chenen Abſicht trat er nun auch im Dorfe auf
zur großen Bewunderung ſeiner Sippſchaft, und
das Erſtaunen wurde noch groͤßer, als er, mit
einem feinen Manſchettenhemd bekleidet und ſein
reinſtes Hochdeutſch ſprechend, ſich mitten unter
die franzoͤſiſch-griechiſchen Geſtalten des Pfarr¬
hauſes miſchte und um die Pfarrerſtochter warb.
Der laͤndlich geſinnte Bruder mochte hierzu eine
Vermittelung, wenigſtens ein aufmunterndes Bei¬
ſpiel darbieten; die Jungfrau ſchenkte dem bluͤ¬
henden Freier bald ihr Herz, und die Verwirrung,
welche dadurch zu entſtehen drohte, loͤſte ſich
ſchnell, als die Eltern der Braut kurz hinter
einander ſtarben.


Alſo hielten ſie eine ſtille Hochzeit und zogen
in die Stadt, ſich weiter nicht nach der glanz¬
vollen Vergangenheit des Pfarrhauſes umſehend,
in welches alſobald der junge Pfarrer mit ganzen
Wagen voll Senſen, Sicheln, Dreſchflegeln,
Rechen, Heugabeln, mit gewaltigen Himmelbet¬
ten, Spinnraͤdern und Flachshecheln und mit
ſeiner kecken, friſchen Frau einzog, welche mit
ihrem geraͤucherten Speck und mit ihren derben
[109] Mehlkloͤßen ſchnell ſaͤmmtliche Mouſſelingewaͤnder,
Faͤcher und Sonnenſchirmchen aus Haus und
Garten vertrieben hatte. Nur eine Wand voll
vortrefflicher Jagdgewehre die auch der Nach¬
folger zu fuͤhren wußte, lockte im Herbſt einzelne
Jaͤger auf das Dorf und unterſchied das Pfarr¬
haus einigermaßen von einem Bauernhauſe.


In der Stadt fing der junge Baumeiſter
damit an, daß er einen oder zwei Arbeiter an¬
ſtellte und, ſelbſt arbeitend vom Morgen bis zum
Abend, ganz kleine Auftraͤge aller Art annahm
und darin ſo viel Geſchick und Zuverlaͤſſigkeit
zeigte, daß noch vor Abl[a]uf eines Jahres ſein
Geſchaͤft ſich erweiterte und ſein Credit ſich be¬
gruͤndete. Er war ſo erfinderiſch und einſichts¬
voll, gewandt und ſchnell berathen, daß bald
viele Buͤrger ſeinen Rath und ſeine Arbeit ſuch¬
ten, wenn ſie im Zweifel waren, wie ſie etwas
veraͤndern oder neu baue[n] laſſen ſollten. Dabei
war er immer beſtrebt, das Schoͤne mit dem
Nuͤtzlichen zu verbinden und war froh, wenn ihn
ſeine Kunden nur gewaͤhren ließen, ſo daß ſie
manche Zierde, manches Fenſter und Geſims von
[110] reineren Verhaͤltniſſen erhielten, ohne daß ſie des¬
wegen den Geſchmack ihres Baumeiſters theurer
bezahlen mußten.


Seine junge Frau indeſſen fuͤhrte mit wahrem
Fanatismus das Hausweſen, welches durch ver¬
ſchiedene Arbeiter und Dienſtboten ſchnell erwei¬
tert wurde. Sie beherrſchte mit Kraft und Meiſter¬
ſchaft das Fuͤllen und Leeren einer Anzahl großer
Speiſekoͤrbe und war der Schrecken der Markt¬
weiber und die Verzweiflung der Schlaͤchter, welche
alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten,
einen Knochenſplitter mit auf die Wage zu brin¬
gen, wenn das Fleiſch fuͤr die Frau Lee gewogen
wurde. Obgleich Meiſter Lee faſt keine perſoͤn¬
lichen Beduͤrfniſſe hatte und unter ſeinen zahl¬
reichen Grundſaͤtzen derjenige der Sparſamkeit
in der erſten Reihe ſtand, ſo war er doch ſo
gemeinnuͤtzig und großherzig, daß das Geld fuͤr
ihn nur Werth hatte, wenn etwas damit aus¬
gerichtet oder geholfen wurde, ſei es durch ihn
oder durch Andere; daher verdankte er es nur
ſeiner Frau, welche keinen Pfennig unnuͤtz aus¬
gab und den groͤßten Ruhm darein ſetzte, Jeder¬
[111] mann weder um ein Haar zu wenig noch zu viel
zukommen zu laſſen, daß er nach Verfluß von
zwei oder drei Jahren ſchon ſolche Erſparniſſe
vorfand, welche ſeinem unternehmenden Geiſte
nebſt dem Credite, den er bereits genoß, eine
reichlichere Nahrung darboten. Er kaufte alte
Haͤuſer an fuͤr eigene Rechnung, riß ſie nieder
und baute an der Stelle ſtattliche Buͤrgerhaͤuſer,
in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder
oder eigener Erfindung anbrachte. Dieſe ver¬
kaufte er mehr oder weniger vortheilhaft, ſogleich
zu neuen Unternehmungen ſchreitend, und alle
ſeine Gebaͤude trugen das Gepraͤge eines beſtaͤn¬
digen Strebens nach Formen- und Gedanken¬
reichthum. Wenn ein gelehrter Architekt auch oft
nicht wußte, wohin er alle angebrachten Ideen
zaͤhlen ſollte und Vieles der Unklarheit oder Un¬
harmonie zeihen mußte, ſo geſtand er doch immer,
daß es Gedanken ſeien, und belobte, wenn er un¬
befangen war, den ſchoͤnen Eifer dieſes Mannes
mitten in der geiſtesarmen und nuͤchternen Zeit
des Bauweſens, wie ſie wenigſtens in den ab¬
gelegenen Provinzen des Kunſtgebietes beſtand.

[112]

Dies thaͤtige Leben verſetzte den unermuͤdlichen
Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreiſes
von Buͤrgern, welche alle zu ihm in Wechſel¬
wirkung traten und unter dieſen bildete ſich ein
engerer Ausſchuß gleichgeſinnter und empfaͤnglicher
Maͤnner, denen er ſein raſtloſes Suchen nach dem
Guten und Schoͤnen mittheilte. Es war nun
um die Mitte der zwanziger Jahre, wo in der
Schweiz eine große Anzahl hochgebildeter Maͤn¬
ner aus dem innerſten Schooße der herrſchenden
Klaſſen ſelbſt, die abgeklaͤrten Ideen der großen
Revolution wieder aufnehmend, einen frucht- und
dankbaren Boden fuͤr die Julitage vorbereiteten
und die edeln Guͤter der Bildung und Menſchen¬
wuͤrde ſorgſam pflegten. Zu dieſen bildete Lee
mit ſeinen Genoſſen, an ſeinem Orte, eine tuͤch¬
tige Fortſetzung im arbeitenden Mittelſtande, um
ſo bedeutender, als viele Mitglieder in der Tiefe
des Volkes auf den Landſchaften umher ihre
Wurzeln hatten. Waͤhrend jene Vornehmen und
Gelehrten die kuͤnftige Form des Staates, philo¬
ſophiſche und Rechtswahrheiten beſprachen und im
Allgemeinen die Fragen ſchoͤnerer Menſchlichkeit
[113] zu ihrem Gebiete machten, wirkten die ruͤhrigen
Handwerker mehr unter ſich und nach unten hin,
indem ſie einſtweilen ganz praktiſch ſo gut als
moͤglich ſich einzurichten ſuchten. Eine Menge
Vereine, oͤfter die erſten in ihrer Art, wurden
geſtiftet, welche meiſtens irgend eine Verſicherung
zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehoͤrigen
zum Zwecke hatten. Schulen wurden geſellſchafts¬
weiſe gegruͤndet, um den Kindern des gemeinen
Mannes eine beſſere Erziehung zu ſichern, da die
damaligen, ſehr gut eingerichteten Stadtſchulen
nur den wohlhabenden Altbuͤrgerkindern zugaͤng¬
lich und die Volksſchule in einem elenden Zu¬
ſtande waren; kurz, eine Menge Unternehmungen
dieſer Art, zu jener Zeit noch neu und verdienſt¬
lich, gab den braven Leuten zu ſchaffen und Ge¬
legenheit, ſich daran empor zu bilden. Denn in
zahlreichen Zuſammenkuͤnften mußten Statuten
und Verfaſſungen aller Art entworfen, berathen,
durchgeſehen und angenommen, Vorſteher gewaͤhlt
und nach außen wie nach innen Rechte und
Formen erklaͤrt und gewahrt werden.


Zu dieſen verſchiedenen Elementen kam und
I. 8[114] beruͤhrte ſie gemeinſchaftlich der griechiſche Frei¬
heitskampf, welcher auch hier, wie uͤberall, zum
erſtenmal in der allgemeinen Ermattung die Gei¬
ſter wieder erweckte und erinnerte, daß die Sache
der Freiheit diejenige der ganzen Menſchheit ſei.
Die Theilnahme an den helleniſchen Bethaͤtigun¬
gen verlieh auch den nicht philologiſchen Genoſſen
zu ihrer uͤbrigen Begeiſterung einen edeln kosmo¬
politiſchen Schwung und benahm den hellgeſinn¬
ten Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spieß-
und Pfahlbuͤrgerthum. Lee war uͤberall der Erſte,
ein zuverlaͤſſiger, hingebender Freund fuͤr Alle,
ſeines reinen Charakters und ſeiner gehobenen
Geſinnung wegen allgemein geachtet, ja geehrt.
Er war gluͤcklich zu nennen, um ſo mehr, als er
von keinerlei Art Eitelkeiten befangen war, und
erſt jetzt fing er von Neuem an zu lernen und
nachzuholen, was ihm immer erreichbar war. Er
trieb auch ſeine Freunde dazu an und es war
bald Keiner derſelben mehr, der nicht eine kleine
Sammlung geſchichtlicher und naturwiſſenſchaft¬
licher Werke aufzuweiſen hatte. Da faſt Allen in
ihrer Jugend die gleiche duͤrftige Erziehung zu
[115] Theil geworden, ſo ging ihnen nun beſonders bei
ihrem Eindringen in die Geſchichte ein reiches
und ergiebiges Feld auf, welches ſie mit immer
groͤßerer Freude durchwandelten. Ganze Stuben
voll waren ſie an Sonntagsmorgen beiſammen,
disputirten und theilten ſich die immer neuen Ent¬
deckungen mit, wie allezeit die gleichen Urſachen
die gleichen Wirkungen hervorgebracht haͤtten und
dergleichen. Wenn ſie auch Schiller auf die
Hoͤhen ſeiner philoſophiſchen Arbeiten nicht zu
folgen vermochten, ſo erbauten ſie ſich um ſo
mehr an ſeinen geſchichtlichen Werken, und von
dieſem Standpunkte aus ergriffen ſie auch ſeine
Dichtungen, welche ſie auf dieſe Weiſe ganz prak¬
tiſch nachfuͤhlten und genoſſen, ohne auf die kuͤnſt¬
leriſche Rechenſchaft, die der große Schriftſteller
ſich ſelber gab, weiter eingehen zu koͤnnen. Sie
hatten die groͤßte Freude an ſeinen Geſtalten und
wußten nichts Aehnliches aufzufinden, das ſie ſo
befriedigt haͤtte. Seine gleichmaͤßige Gluth und
Reinheit des Gedankens und der Sprache war
mehr der Ausdruck fuͤr ihr ſchlichtes, beſcheidenes
Treiben, als fuͤr das Weſen mancher Schiller¬
[116] verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber
einfach und durchaus praktiſch, wie ſie waren,
fanden ſie nicht volles Genuͤgen an der drama¬
tiſchen Lectuͤre im Schlafrock; ſie wuͤnſchten dieſe
bedeutſamen Begebenheiten leibhaftig und farbig
vor ſich zu ſehen und weil von einem ſtehenden
Theater in den damaligen Schweizerſtaͤdten nicht
die Rede war, ſo entſchloſſen ſie ſich, wiederum
angefeuert von Lee, kurz, und ſpielten ſelbſt Co¬
moͤdie, ſo gut ſie konnten. Die Buͤhne und die
Maſchinen waren freilich ſchneller und gruͤndlicher
hergeſtellt, als die Rollen erlernt wurden, und
Mancher ſuchte ſich uͤber den Umfang ſeiner Auf¬
gabe ſelbſt zu taͤuſchen, indem er mit vergroͤßerter
Wuth Naͤgel einſchlug und Latten entzwei ſaͤgte;
doch iſt es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil
der Gewandtheit im Ausdruck und des aͤußeren
Anſtandes, welche faſt allen jenen Freunden eigen
geblieben iſt, auf Rechnung ſolcher Uebungen ge¬
ſetzt werden darf. Wie ſie aͤlter wurden, ließen
ſie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber ſie be¬
hielten den Sinn fuͤr das Erbauliche in jeder
Beziehung getreulich bei. Wuͤrde man heut zu
[117] Tage fragen, wo ſie denn die Zeit zu Alledem
hergenommen haben, ohne ihre Arbeit und ihr
Haus zu vernachlaͤſſigen: ſo waͤre zu antworten,
daß es erſtens noch geſunde und naive Maͤnner
und keine Gruͤbler waren, welche zu jeder That
und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz
von Zeit verſchwenden mußten, indem ſie Alles
zerfaſerten und breit quetſchten, ehe es genießbar
war, und daß zweitens die taͤglichen Stunden
von ſieben bis zehn Uhr Abends, gleichmaͤßig be¬
nutzt, eine viel anſehnlichere Maſſe von Zeit aus¬
machen, als der Buͤrger heute glaubt, welcher
dieſelben hinter dem Weinglaſe im Tabacksqualm
verbruͤtet. Man war damals noch nicht einer
Rotte von Schenkwirthen tributpflichtig, ſondern
zog es vor, im Herbſte das edle Gewaͤchs ſelbſt
einzukellern, und es war keiner dieſer Handwer¬
ker, vermoͤglich oder arm, der ſich nicht geſchaͤmt
haͤtte, am Schluſſe der abendlichen Zuſammen¬
kuͤnfte ein Glas derben Tiſchweines mangeln zu
laſſen oder denſelben aus der Schenke holen zu
muͤſſen. Waͤhrend des Tages ſah man keinen,
oder hoͤchſtens fluͤchtig und heimlich, vor den Ge¬
[118] ſellen es verbergend, ein Buch oder eine Papier¬
rolle in die Werkſtatt eines Anderen bringen, und
ſie ſahen alsdann aus, wie Schulknaben, welche
unter dem Tiſche einen Roman leſen, und ver¬
ſaͤumten wohl auch eben ſo wenig ihr zeitliches
Wohl dabei.


Doch ſollte dies aufgeregte Leben auf andere
Weiſe Unheil bringen. Lee hatte ſich, bei ſeinen
gehaͤuften Arbeiten in ſteter Anſtrengung, eines
Tages ſtark erhitzt und achtlos nachher erkaͤltet,
was den Keim gefaͤhrlicher Krankheit in ihn legte.
Anſtatt ſich nun zu ſchonen und auf jede Weiſe
in Acht zu nehmen, konnte er es nicht laſſen,
ſein Treiben fortzuſetzen und uͤberall mit Hand
anzulegen, wo etwas zu thun war. Schon ſeine
vielfaͤltigen Berufsgeſchaͤfte nahmen ſeine volle
Thaͤtigkeit in Anſpruch, welche er nicht ploͤtzlich
ſchwaͤchen zu duͤrfen glaubte. Er rechnete, ſpecu¬
lirte, ſchloß Vertraͤge, ging weit uͤber Land, um
Einkaͤufe zu beſorgen, war im gleichen Augenblick
zu oberſt auf den Geruͤſten und zu unterſt in den
Gewoͤlben, riß einem Arbeiter die Schaufel aus
der Hand und that einige gewichtige Wuͤrfe da¬
[119] mit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine
maͤchtige Steinlaſt herumwaͤlzen zu helfen, hob,
wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei
kamen, ſelbſt einen Balken auf die Schultern und
trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und ſtatt
dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend
einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war
in ſpaͤter Nacht ganz umgewandelt auf den Bret¬
tern, leidenſchaftlich erregt, mit hohen Idealen in
einem muͤhſamen Ringen begriffen, welches ihn
noch weit mehr anſtrengen mußte, als die Tages¬
arbeit. Das Ende war, daß er ploͤtzlich dahin
ſtarb, als ein junger, bluͤhender Mann, in einem
Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erſt beginnen,
mitten in ſeinen Entwuͤrfen und Hoffnungen und
ohne die neue Zeit aufgehen zu ſehen, welcher er
mit ſeinen Freunden zuverſichtlich entgegenblickte.
Er ließ ſeine Frau mit einem fuͤnfjaͤhrigen Kinde
allein zuruͤck und dies Kind bin ich.


Der Menſch rechnet immer das, was ihm
fehlt, dem Schickſale doppelt ſo hoch an, als das,
was er wirklich beſitzt; ſo haben mich auch die
langen Erzaͤhlungen der Mutter immer mehr mit
[120] Sehnſucht und Heimweh nach meinem Vater
erfuͤllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe.
Meine deutlichſte Erinnerung an ihn faͤllt ſonder¬
barer Weiſe um ein volles Jahr vor ſeinem Tode
zuruͤck, auf einen einzelnen ſchoͤnen Augenblick,
wo er an einem Sonntag Abend auf dem Felde
mich auf den Armen trug, eine Kartoffelſtaude
aus der Erde zog und mir die anſchwellenden
Knollen zeigte, ſchon beſtrebt, Erkenntniß und
Dankbarkeit gegen den Schoͤpfer in mir zu er¬
wecken. Ich ſehe noch jetzt das gruͤne Kleid und
die ſchimmernden Metallknoͤpfe zunaͤchſt meinen
Wangen und ſeine glaͤnzenden Augen, in welche
ich verwundert ſah von der gruͤnen Staude weg, die
er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter ruͤhmte
mir nachher oft, wie ſehr ſie und die begleitenden
Maͤgde erbaut geweſen ſeien von ſeinen ſchoͤnen
Reden. Aus noch fruͤheren Tagen iſt mir ſeine
Erſcheinung ebenfalls geblieben durch die befremd¬
liche Ueberraſchung des vollen Waffenſchmuckes,
in welchem er eines Morgens Abſchied nahm, um
mehrtaͤgigen Uebungen beizuwohnen; da er ein
Schuͤtze war, ſo iſt auch dies Bild mit der lieben
[121] gruͤnen Farbe und mit heiterem Metallglanze
fuͤr mich ein und daſſelbe geworden. Aus ſeiner
letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verwor¬
renen Eindruck behalten und beſonders ſeine Ge¬
ſichtszuͤge ſind mir nicht mehr erinnerlich.


Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch
an ihren ungerathenſten Kindern hangen und die¬
ſelben nie aus ihrem Herzen verbannen koͤnnen,
ſo finde ich es hoͤchſt unnatuͤrlich, wenn ſoge¬
nannte brave Leute ihre Erzeuger verlaſſen und
Preis geben, weil dieſelben ſchlecht ſind und in
der Schande leben, und ich preiſe die Liebe eines
Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten
Vater nicht verlaͤßt und verlaͤugnet, und begreife
das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter,
welche ihrer verbrecheriſchen Mutter noch auf dem
Schaffotte beiſteht. Ich weiß daher nicht, ob es
ariſtokratiſch genannt werden kann, wenn ich mich
doppelt gluͤcklich fuͤhle, von ehrenvollen und geach¬
teten Eltern abzuſtammen, und wenn ich vor
Freude erroͤthete, als ich, herangewachſen, zum
erſten Male meine buͤrgerlichen Rechte ausuͤbte in
8 *[122] bewegter Zeit, und in Verſammlungen mancher
bejahrte Mann zu mir herantrat, mir die Hand
ſchuͤttelte und ſagte, er ſei ein Freund meines
Vaters geweſen und er freue ſich, mich auch auf
dem Platze erſcheinen zu ſehen; als dann noch
Mehrere kamen und Jeder den »Mann« gekannt
haben und hoffen wollte, ich werde ihm wuͤrdig
nachfolgen. Ich kann mich nicht enthalten, ſo
ſehr ich die Thorheit einſehe, oft Luftſchloͤſſer zu
bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekom¬
men waͤre, wenn mein Vater gelebt haͤtte und
wie mir die Welt in ihrer Kraftfuͤlle von fruͤhe¬
ſter Jugend an zugaͤnglich geweſen waͤre; jeden
Tag haͤtte mich der treffliche Mann weiter ge¬
fuͤhrt und wuͤrde ſeine zweite Jugend in mir ver¬
lebt haben. Wie mir das Zuſammenleben zwiſchen
Bruͤdern eben ſo fremd als beneidenswerth iſt
und ich nicht begreife, wie ſolche meiſtens aus¬
einander weichen und ihre Freundſchaft außer¬
waͤrts ſuchen, ſo erſcheint mir auch, ungeachtet
ich es taͤglich ſehe, das Verhaͤltniß zwiſchen einem
Vater und einem erwachſenen Sohne um ſo neuer,
unbegreiflicher und gluͤckſeliger, als ich Muͤhe
[123] habe, mir daſſelbe auszumalen und das nie Er¬
lebte zu vergegenwaͤrtigen.


So aber muß ich mich darauf beſchraͤnken, je
mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬
ſale entgegenſchreite, mich zuſammen zu faſſen
und in der Tiefe meiner Seele ſtill zu bedenken:
Wie wuͤrde Er nun an deiner Stelle handeln
oder was wuͤrde Er von deinem Thun urthei¬
len, wenn er lebte. Er iſt vor der Mittagshoͤhe
ſeines Lebens zuruͤckgetreten in das unerforſchliche
All und hat die uͤberkommene goldene Lebens¬
ſchnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen
ſchwachen Haͤnden zuruͤck gelaſſen und es bleibt
mir nur uͤbrig, ſie mit Ehren an die dunkle Zu¬
kunft zu knuͤpfen oder vielleicht fuͤr immer zu
zerreißen, wenn auch ich ſterben werde. — Nach
vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen
Zwiſchenraͤumen, wiederholt getraͤumt, der Vater
ſei ploͤtzlich von einer langen Reiſe aus weiter
Ferne, Gluͤck und Freude bringend, zuruͤckgekehrt,
und ſie erzaͤhlte es jedesmal am Morgen, um
darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen
zu verſinken, waͤhrend ich, von einem heiligen
[124] Schauer durchweht, mir vorzuſtellen ſuchte, mit
welchen Blicken mich der theuere Mann anſehen
und wie es unmittelbar werden wuͤrde, wenn er
wirklich eines Tages ſo erſchiene.


Je dunkler die Ahnung iſt, welche ich von
ſeiner aͤußern Erſcheinung in mir trage, deſto
heller und klarer hat ſich ein Bild ſeines innern
Weſens vor mir aufgebaut und dies edle Bild
iſt fuͤr mich ein Theil des großen Unendlichen ge¬
worden, auf welches mich meine letzten Gedanken
zuruͤckfuͤhren und unter deſſen Obhut ich zu
wandeln glaube.

[]

Fünftes Kapitel.

Die erſte Zeit nach dem Tode meines Vaters
war fuͤr ſeine Wittwe eine ſchwere Zeit der Trauer
und Sorge. Seine ganze Verlaſſenſchaft befand
ſich im Zuſtande des vollen Umſchwunges und
erforderte weitlaͤufige Verhandlungen, um ſie ins
Reine zu bringen. Eingegangene Vertraͤge waren
mitten in ihrer Erfuͤllung abgebrochen, Unterneh¬
mungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu
bezahlen und ſolche einzuziehen an allen Ecken
und Enden, Vorraͤthe von Bauſtoffen mußten
mit Verluſt verkauft werden und es war zweifel¬
haft, ob bei der augenblicklichen Lage der Ver¬
haͤltniſſe auch nur ein Pfennig uͤbrig bleiben
wuͤrde, wovon die bekuͤmmerte Frau leben ſollte.
Gerichtsmaͤnner kamen, legten Siegel an und
loͤſten ſie wieder; die Freunde des Verſtorbenen
[126] und zahlreiche Geſchaͤftsleute gingen ab und zu,
halfen und ordneten; es wurde durchgeſehen, ge¬
rechnet, abgeſondert, geſteigert. Kaͤufer und neue
Unternehmer meldeten ſich, ſuchten die Summen
herunterzudruͤcken oder mehr in Beſchlag zu neh¬
men als ihnen gebuͤhrte, es war ein Geraͤuſch
und eine Spannung, daß meine Mutter, welche
immer mit wachſamen Augen dabei ſtand, zuletzt
nicht mehr wußte, wie ſie ſich helfen ſollte. All¬
maͤlig klaͤrte ſich die Verwirrung auf, ein Ge¬
ſchaͤft um das andere war abgethan, alle Ver¬
bindlichkeiten geloͤſt und die Forderungen geſichert,
und es zeigte ſich nun, daß das Haus, in wel¬
chem wir zuletzt wohnten, als einziges Vermoͤgen
uͤbrig blieb. Es war ein altes hohes Gebaͤude,
mit vielen Raͤumen und von unten bis oben be¬
wohnt, wie ein Bienenkorb. Der Vater hatte
es gekauft in der Abſicht, ein neues an deſſen
Stelle zu ſetzen; da es aber von alterthuͤmlicher
Bauart war und an Thuͤren und Fenſtern viele
ſchoͤne Ueberbleibſel kuͤnſtlicher Arbeit trug, ſo
konnte er ſich ſchwer entſchließen, es einzureißen
und bewohnte es indeſſen nebſt einer Anzahl von
[127] Miethsleuten. Auf dieſem Hauſe blieben zwar
noch einige fremde Kapitalien ruhen, jedoch hatte
es der ruͤhrige Mann in der Schnelligkeit ſo gut
eingerichtet und vermiethet, daß ein jaͤhrlicher
Ueberſchuß an Miethgeldern meiner Mutter ein
beſcheidenes Auskommen ſicherte. Die alte Woh¬
nung iſt ſeither unveraͤndert geblieben, wie er ſie
verlaſſen hat, und wir haben darin gelebt bis
auf dieſen Tag, und eine einzige Geſchaͤftsidee
des fruͤh Verſtorbenen hat hingereicht, ſeinen
Hinterlaſſenen das Brot zu verſchaffen, deſſen ſie
bis jetzt bedurften.


Das erſte, was meine Mutter begann, war
eine gaͤnzliche Einſchraͤnkung und Abſchaffung
alles Ueberfluͤſſigen, wozu voraus jede Art von
dienſtbaren Haͤnden gehoͤrte. In der Stille die¬
ſes Wittwenthumes fand ich mein erſtes deut¬
liches Bewußtſein, welches ſeinen Inhaber zur
Uebung treppauf und ab im Innern des Hauſes
umherfuͤhrte. Die untern Stockwerke ſind dun¬
kel, ſowohl in den Gemaͤchern wegen der Enge
der Gaſſen, als auf den Treppenraͤumen und
Fluren, weil alle Fenſter fuͤr die Zimmer benutzt
[128] wurden. Einige Vertiefungen und Seitengaͤnge
gaben dem Raume ein duͤſteres und verworrenes
Anſehen und blieben noch zu entdeckende Geheim¬
niſſe fuͤr mich; je hoͤher man aber ſteigt, deſto
freundlicher und heller wird es, indem der oberſte
Stock, den wir bewohnen, die Nachbarhaͤuſer
uͤberragt. Ein hohes Fenſter wirft reichliches Licht
auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und
wunderlichen Holzgalerien des luftigen Eſtrichs,
welcher einen heitern Gegenſatz zu den kuͤhlen
Finſterniſſen der Tiefe bildet. Die Fenſter unſe¬
rer Wohnſtube gehen auf eine Menge kleiner
Hoͤfe hinaus, wie ſie oft von einem Haͤuſervier¬
tel umſchloſſen werden und ein verborgenes be¬
hagliches Geſumme enthalten, welches man auf
der Straße nicht ahnt. Den Tag uͤber betrach¬
tete ich ſtundenlang das innere haͤusliche Leben
in dieſen Hoͤfen; die gruͤnen Gaͤrtchen in den¬
ſelben ſchienen mir kleine Paradieſe zu ſein, wenn
die Nachmittagsſonne ſie beleuchtete und die weiße
Waͤſche in denſelben wehte, und wunderfremd
und doch bekannt kamen mir die Leute vor, welche
ich darin geſehen hatte, wenn ſie ploͤtzlich einmal
[129] in unſrer Stube ſtanden und mit der Mutter
plauderten. Unſer eigenes Hoͤfchen enthaͤlt zwi¬
ſchen hohen Mauern ein ganz kleines Stuͤckchen
Raſen mit zwei Vogelbeerbaͤumchen; ein nimmer¬
muͤdes Bruͤnnchen ergießt ſich mit ewigem Ge¬
plaͤtſcher in ein ganz gruͤn gewordenes Sand¬
ſteinbecken und der ganze Winkel iſt kuͤhl und
faſt ſchauerlich, ausgenommen im Sommer, wo
die Sonne gegen Abend einige Stunden lang
darin ruht. Alsdann ſchimmert das verborgene
Gruͤn durch den dunkeln Hausgang ſo kokett auf
die Gaſſe, wenn die Hausthuͤr aufgeht, daß den
Voruͤbergehenden immer eine Sehnſucht nach dem
Freien befaͤllt. Im Herbſte werden dieſe Sonnen¬
blicke immer kuͤrzer und milder, und wenn dann
die Blaͤtter an den zwei Baͤumchen gelb und
die Beeren brennend roth werden, die alten
Mauern ſo wehmuͤthig vergoldet ſind und das
Waͤſſerchen einigen Silberglanz dazu gibt, ſo hat
dieſer kleine abgeſchiedene Raum einen ſo wunder¬
bar melancholiſchen Reiz, daß ich ſpaͤter noch oft
aus der ſchoͤnſten offenen Landſchaft nach Hauſe
gelaufen bin, wenn ich wußte, daß die Sonne
l. 9[130] jetzt in den Hof ſchien. Gegen Sonnenuntergang
jedoch ſtieg meine Aufmerkſamkeit an den Haͤu¬
ſern in die Hoͤhe und immer hoͤher, je mehr ſich
das Meer von Daͤchern, das ich von unſerm Fen¬
ſter aus uͤberſah, roͤthete und vom ſchoͤnſten
Farbenglanze belebt wurde. Hinter dieſen Daͤchern
war fuͤr einmal meine Welt zu Ende; denn den
duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hin¬
ter den letzten Dachfirſten halb ſichtbar iſt, hielt
ich, da ich ihn nicht mit der feſten Erde ver¬
bunden ſah, lange Zeit fuͤr Eins mit den Wol¬
ken. Als ich ſpaͤter zum erſtenmale rittlings auf
dem oberſten Grate unſeres hohen, ungeheuerli¬
chen Daches ſaß und die ganze ausgebreitete
Pracht des See's uͤberſah, aus welchem die Berge
in feſten Geſtalten, mit gruͤnen Fuͤßen aufſtiegen,
da kannte ich freilich ihre Natur ſchon von aus¬
gedehnteren Streifzuͤgen im Freien; fuͤr jetzt aber
konnte mir die Mutter lange ſagen, das ſeien
große Berge und maͤchtige Zeugen von Gottes
Allmacht, ich konnte und mochte ſie darum nicht
von den Wolken unterſcheiden, deren Ziehen und
Wechſeln mich am Abend faſt ausſchließlich be¬
[131] ſchaͤftigte, deren Name aber ebenſo ein leerer
Schall fuͤr mich war, wie das Wort Berg. Da
die fernen Schneekuppen bald verhuͤllt, bald hel¬
ler oder dunkler, weiß oder roth ſichtbar waren,
ſo hielt ich ſie wohl fuͤr etwas Lebendiges, Wun¬
derbares und Maͤchtiges, wie die Wolken, und
pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke
oder Berg zu belegen, wenn ſie mir Achtung
und Neugierde einfloͤßten. So nannte ich, ich
hoͤre das Wort noch ſchwach in meinen Ohren
klingen und man hat es mir nachher oft erzaͤhlt,
die erſte weibliche Geſtalt, welche mir wohlgefiel
und ein Maͤdchen aus der Nachbarſchaft war, die
weiße Wolke, von dem erſten Eindrucke, den ſie
in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte.
Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweiſe
ein langes hohes Kirchendach, das maͤchtig uͤber
alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen
Weſten gekehrte große Flaͤche war fuͤr meine
Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem ſie
mit immer neuer Luſt ruhten, wenn die letzten
Strahlen der Sonne es beſchienen, und dieſe
ſchiefe, rothgluͤhende Ebene uͤber der dunkeln Stadt
9*[132] war fuͤr mich recht eigentlich das, was die Phan¬
taſie ſonſt unter ſeligen Auen oder Gefilden ver¬
ſteht. Auf dieſem Dache ſtand ein ſchlankes,
nadelſpitzes Thuͤrmchen, in welchem eine kleine
Glocke hing, und auf deſſen Spitze ſich ein glaͤn¬
zender goldener Hahn drehte. Wenn in der
Daͤmmerung das Gloͤckchen laͤutete, ſo ſprach
meine Mutter von Gott und lehrte mich beten;
ich fragte: Was iſt Gott? iſt es ein Mann?
und ſie antwortete: Nein, Gott iſt ein Geiſt!
Das Kirchendach verſank nach und nach in grauen
Schatten, das Licht klomm an dem Thuͤrmchen
hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen
Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich
mich ploͤtzlich des beſtimmten Glaubens, daß dieſer
Hahn Gott ſei. Er ſpielte auch eine unbeſtimmte
Rolle der Anweſenheit in den kleinen Kinder¬
gebeten, welche ich mit vielem Vergnuͤgen herzu¬
ſagen wußte. Als ich aber einſt ein Bilderbuch
bekam, in dem ein praͤchtig gefaͤrbter Tiger an¬
ſehnlich daſitzend abgebildet war, ging meine Vor¬
ſtellung von Gott allmaͤlig auf dieſen uͤber, ohne
daß ich jedoch, ſo wenig wie vom Hahne, je eine
[133] Meinung daruͤber aͤußerte. Es waren ganz in¬
nerliche Anſchauungen, und nur wenn der Name
Gottes genannt wurde, ſo ſchwebte mir erſt der
glaͤnzende Vogel und nachher der ſchoͤne Tiger
vor. Allmaͤlig miſchte ſich zwar nicht ein klare¬
res Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Ge¬
danken. Ich betete mein Vaterunſer, deſſen voll¬
endet ſchoͤne Eintheilung und Abrundung mir das
Einpraͤgen leicht und das Wiederholen zu einer
angenehmen Uebung gemacht hatte, mit großer
Meiſterſchaft und vielen Variationen, indem ich
dieſen oder jenen Theil doppelt und dreifach aus¬
ſprach oder nach raſchem und leiſem Herſagen
eines Satzes den folgenden langſam und laut be¬
tonte und dann ruͤckwaͤrts betete und mit den
Anfangsworten Vater unſer ſchloß. Aus dieſem
Gebete hatte ſich eine Ahnung in mir niederge¬
ſchlagen, daß Gott ein Weſen ſein muͤſſe, mit
welchem ſich allenfalls ein vernuͤnftiges Wort
ſprechen ließe, eher, als mit jenen Thiergeſtalten.

So lebte ich in einem unſchuldig vergnuͤglichen
Verhaͤltniſſe mit dem hoͤchſten Weſen, ich kannte
keine Beduͤrfniſſe und keine Dankbarkeit, kein
[134] Recht und kein Unrecht, und ließ Gott einen
herzlich guten Mann ſein, wenn meine Aufmerk¬
ſamkeit von ihm abgezogen wurde.


Ich fand aber bald Veranlaſſung, in ein
bewußteres Verhaͤltniß zu ihm zu treten und zum
erſten Mal meine menſchlichen Anſpruͤche zu ihm
zu erheben, als ich, ſechs Jahre alt, mich eines
ſchoͤnen Morgens in einen großen, melancholiſchen
Saal verſetzt ſah, in welchem etwa fuͤnfzig bis
ſechzig kleine Knaben und Maͤdchen unterrichtet
wurden. In einem Halbkreiſe mit ſieben andern
Kindern um eine Tafel herum ſtehend, auf wel¬
cher rieſige Buchſtaben gemalt waren, war ich
ſehr ſtill und geſpannt auf die Dinge, die da
kommen ſollten. Da wir ſaͤmmtlich Neulinge
waren, ſo hatte der Oberſchulmeiſter, ein aͤltlicher
Mann mit einem großen groben Kopfe, die erſte
Leitung ſelbſt uͤbernommen fuͤr eine Stunde und
forderte uns auf, abwechſelnd die ſonderbaren Fi¬
guren zu benennen. Ich hatte ſchon ſeit gerau¬
mer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehoͤrt,
und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durch¬
aus keine leibliche Form dafuͤr zu finden und
[135] Niemand konnte mir eine Auskunft geben, weil
die Sache, welche dieſen Namen fuͤhrt, einige
hundert Stunden weit zu Hauſe war. Nun ſollte
ich ploͤtzlich das große P benennen, welches mir
in ſeinem ganzen Weſen aͤußerſt wunderlich und
humoriſtiſch vorkam, und es ward in meiner
Seele klar und ich ſprach mit Entſchiedenheit:
Dieſes iſt der Pumpernickel! Ich hegte keinen
Zweifel, weder an der Welt, noch an mir, noch
am Pumpernickel, und war froh in meinem Her¬
zen; aber je ernſthafter und ſelbſtzufriedener mein
Geſicht in dieſem Augenblicke war, deſto mehr
hielt mich der Schulmeiſter fuͤr einen durchtriebe¬
nen und frechen Schalk, deſſen Bosheit ſofort
gebrochen werden muͤßte, und er fiel uͤber mich
her und ſchuͤttelte mich an den Haaren eine Mi¬
nute lang ſo wild hin und her, daß mir Hoͤren
und Sehen verging. Dieſer Ueberfall kam mir
ſeiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein boͤ¬
ſer Traum vor und ich machte augenblicklich nichts
daraus, als daß ich, ſtumm und thraͤnenlos, aber
voll innerer Beklemmung den Mann anſah. Die
Kinder haben mich von je her geaͤrgert, welche,
[136] wenn ſie gefehlt haben oder ſonſt in Conflict ge¬
rathen, bei der leiſeſten Beruͤhrung oder ſchon bei
deren Annaͤherung in ein abſcheuliches Zeter¬
geſchrei ausbrechen, das Einem die Ohren zer¬
reißt; und wenn ſolche Kinder gerade dieſes Ge¬
ſchreies wegen oft doppelte Schlaͤge bekommen, ſo
litt ich am entgegengeſetzten Extrem und ver¬
ſchlimmerte meine Haͤndel ſtets dadurch, daß ich
nicht im Stande war, eine einzige Thraͤne zu
vergießen vor meinen Richtern. Als daher der
Schulmeiſter ſah, daß ich nur erſtaunt nach mei¬
nem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch
einmal uͤber mich her, um mir den vermeintlichen
Trotz und die Verſtocktheit gruͤndlich auszutrei¬
ben. Ich litt nun wirklich; anſtatt aber in ein
Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male
in mir klar und ich rief flehendlich in meiner
Angſt: Sondern erloͤſe uns von dem Boͤſen! und
hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir
ſo oft geſagt hatte, daß er dem Bedraͤngten ein
huͤlfreicher Vater ſei. Fuͤr den guten Lehrer aber
war dies zu ſtark, der Fall war nun zum außer¬
ordentlichen Ereigniſſe gediehen, und er ließ mich
[137] daher ſtraks los, mit aufrichtiger Bekuͤmmerniß
daruͤber nachdenkend, welche Behandlungsart hier
angemeſſen ſei. Wir wurden fuͤr den Vormittag
entlaſſen, der Mann brachte mich ſelbſt nach Hauſe.
Erſt dort brach ich heimlich in Thraͤnen aus, in¬
dem ich abgewandt am Fenſter ſtand und die
ausgeriſſenen Haare aus der Stirn wiſchte, waͤh¬
rend ich anhoͤrte, wie der Mann, der mir im
Heiligthum unſerer Stube doppelt fremd und feind¬
lich erſchien, eine ernſthafte Unterredung mit der
Mutter fuͤhrte und verſichern wollte, daß ich ſchon
durch irgend ein boͤſes Element verdorben ſein
muͤßte. Sie war nicht minder erſtaunt, als wir
beiden Andern, indem ich, wie ſie ſagte, ein durch¬
aus ſtilles Kind waͤre, welches bisher noch nie
aus ihren Augen gekommen ſei und keine groben
Unarten gezeigt haͤtte. Allerlei ſeltſame Einfaͤlle
haͤtte ich allerdings bisweilen; aber ſie ſchienen
nicht aus einem ſchlimmen Gemuͤthe zu kommen,
und meinte ſie ganz vernuͤnftig, ich muͤßte mich
wohl erſt ein wenig an die Schule und ihre Be¬
deutung gewoͤhnen. Der Lehrer gab ſich zufrie¬
den, doch mit Kopfſchuͤtteln, und war innerlich
[138] uͤberzeugt, wie ſich aus wiederholten Faͤllen er¬
gab, daß ich gefaͤhrliche Anlagen zeige. Er ſagte
auch ſehr bedeutſam beim Abſchiede, daß ſtille
Waſſer gewoͤhnlich tief waͤren. Dieſes Wort habe
ich ſeither in meinem Leben oͤfter hoͤren muͤſſen
und es hat mich immer gekraͤnkt, weil es keinen
groͤßeren Plauderer gibt, als mich, wenn ich mit
Jemand zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt,
daß viele Menſchen, welche immer das große
Wort fuͤhren, aus denen nie klug werden, welche
ihretwegen nie zu Worte kommen. Sie pflegen
dann ploͤtzlich einmal ſich uͤber das Schweigen
zu verwundern und zur Theilnahme aufzufordern;
ehe aber dieſe laut werden kann, haben ſie ſchon
wieder das Wort genommen und auf ein anderes
Gebiet gefuͤhrt, und wenn ſie einmal einer Ant¬
wort Raum geben, ſo verſtehen ſie die einfache
und kurze Logik nicht, an welche ſich der Schwei¬
gende bei ſeinem Zuhoͤren gewoͤhnt hat. Die
meiſten Geſellſchaften laſſen in ihrem Geſpraͤche
nicht ſo viel Raum fuͤr ein einzuſchaltendes Wort,
daß man mit einer Naͤhnadel dazwiſchen ſtechen
koͤnnte. Es gibt keinen Menſchen, welcher nicht
[139] das Beduͤrfniß der Mittheilung empfaͤnde; nur
muß man ſich ſo weit entaͤußern koͤnnen, zuweilen
in ſeine Weiſe einzugehen und ihm die Feſſeln
zu loͤſen. Unter den Erwachſenen iſt der Mangel
dieſer Kunſt kein ſo großer Uebelſtand, und die
an's Schweigen Gewieſenen befinden ſich manch¬
mal nur um ſo gemuͤthlicher dabei. Im Umgange
mit ſtillen Kindern aber kann es ein wahres Un¬
gluͤck werden, wenn die großen Schwaͤtzer ſich
nicht anders zu helfen wiſſen, als mit dem elen¬
den Gemeinplatze: Stille Waſſer ſind tief!


Am Nachmittage wurde ich wieder in die
Schule geſchickt und ich trat mit großem Mi߬
trauen in die gefaͤhrlichen Hallen, welche die Ver¬
wirklichung ſeltſamer und beaͤngſtigender Traͤume
zu ſein ſchienen. Ich bekam aber den boͤſen
Schulmann nicht zu Geſicht; er hielt ſich in einem
Verſchlage auf, welcher eine Art Bureau vor¬
ſtellte und ihm zur Einnahme von kleinen Colla¬
tionen diente. An der Thuͤre dieſes Verſchlages
befand ſich ein rundes Fenſterchen, durch welches
der Tyrann oͤfters den Kopf zu ſtecken pflegte,
wenn draußen ein Geraͤuſch entſtand. Die Glas¬
[140] ſcheibe dieſes Fenſterchens fehlte ſeit geraumer
Zeit, ſo daß er durch den leeren Rahmen ſein
Haupt weit in die Schulſtube hineinſtrecken konnte
zur ſattſamen Umſicht. An dieſem verhaͤngni߬
vollen Tage nun hatte der Hausmeiſter gerade
waͤhrend der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬
ſetzen laſſen und ich ſchielte eben aͤngſtlich nach
derſelben, als ſie mit hellem Klirren zerſprang
und der umfangreiche Kopf meines Widerſachers
hindurch fuhr. Die erſte Bewegung in mir war
ein Aufjauchzen der herzlichſten Freude, und erſt,
als ich ſah, daß er uͤbel zugerichtet war und blu¬
tete, da wurde ich betreten und es ward zum
dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬
ſtand die Worte: Und vergieb uns unſere Schul¬
den, wie auch wir vergeben unſern Schuldigern!
So hatte ich an dieſem erſten Tage ſchon viel
gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel ſei,
wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬
rufen muͤſſe, daß derſelbe gerecht ſei und uns zu
gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache
in uns zu tragen. Aus dem Gebote, ſeinen Be¬
leidigern zu vergeben, entſteht, wenn es befolgt
[141] wird, von ſelbſt die Kraft, auch ſeine Feinde zu
lieben; denn fuͤr die Muͤhe, welche uns jene Ueber¬
windung koſtet, fordern wir einen Lohn und
dieſer liegt zunaͤchſt und am natuͤrlichſten in dem
Wohlwollen, welches wir dem Feinde ſchenken,
da er uns einmal nicht gleichguͤltig bleiben kann.
Wohlwollen und Liebe koͤnnen nicht gehegt wer¬
den, ohne den Traͤger ſelbſt zu veredeln, und ſie
thun dieſes am glaͤnzendſten, wenn ſie dem gel¬
ten, was man einen Feind oder Widerſacher
nennt. Dieſe eigenthuͤmlichſte Hauptlehre des
Chriſtenthums fand eine große Empfaͤnglichkeit in
mir vor, da ich, leicht verletzt und aufgebracht,
immer ebenſo ſchnell bereit war, zu vergeſſen und
zu vergeben, und es hat mich ſpaͤter, als mein
Sinn ſich der Offenbarungslehre zu verſchließen
anfing, lebhaft beſchaͤftigt, zu ermitteln, inwiefern
jenes Geſetz nur der Ausdruck eines ſchon in der
Menſchheit vorhandenen und erkannten Beduͤrf¬
niſſes ſei; denn ich ſah, daß es nur von einem
beſtimmten Theile der Menſchen rein und uneigen¬
nuͤtzig befolgt wurde, von denjenigen naͤmlich,
welche ihre natuͤrlichen Gemuͤthsanlagen dazu
[142] trieben. Die Andern, welche ihr urſpruͤngliches
Rachegefuͤhl uͤberwanden und auf das Vergeltungs¬
recht mit Muͤhe verzichteten, ſchienen mir oft da¬
durch mehr Vortheil uͤber ihren Feind zu gewin¬
nen, als ſich mit dem Begriffe der reinen Selbſt¬
entaͤußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Ver¬
nunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen
liegt, der Widerſacher allein es iſt, welcher ſich
in ſeiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und ver¬
nichtet. Dies Verzeihen iſt es auch, was in gro¬
ßen geſchichtlichen Kaͤmpfen die Ueberlegenheit des
Siegers, nachdem er einen Handel maͤnnlich aus¬
gefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß die¬
ſelbe auch moraliſch eine reif gewordene iſt. So
iſt das Schonen und Aufrichten des gebeugten
Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweis¬
heit und vor der Einfuͤhrung des Chriſtenthums
wohl ſo oft zur Geltung gekommen, als nach
derſelben verlaͤugnet worden; das eigentliche Lie¬
ben aber des Feindes in voller Bluͤthe und ſo
lange er uns Schaden zufuͤgt, habe ich nirgends
geſehen, weil ich auch bei einigen armen und un¬
gebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Be¬
[143] ſtreben, das Evangelium ganz woͤrtlich zu neh¬
men, neben andern verpoͤntern Dingen auch dieſe
Tugend uͤbten, das aufrichtige Weſen nicht ſatt¬
ſam von dem aͤngſtlichen Scheine unterſcheiden
konnte.


Im Verlaufe meiner erſten Schuljahre fand
ich nun haͤufige Gelegenheit, meinen Verkehr mit
Gott zu erweitern, da die kleinen Erlebniſſe ſich
vermehrten. Ich hatte mich bald in den Welt¬
lauf ergeben und that, wie die andern Kinder,
was ich nicht laſſen konnte. Dadurch war ich
abwechſelnd zufrieden und gerieth in Bedraͤngniß,
wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlaͤſſi¬
gung meiner Pflichten nebſt allerhand kindiſchem
Unfuge mit ſich brachten. In jeder uͤbeln Lage
aber rief ich Gott an und betete in meinem In¬
nern in wenigen wohlgeſetzten Worten, wenn die
Kriſis zu reifen begann, um eine guͤnſtige Ent¬
ſcheidung und um Rettung aus der Gefahr, und
ich muß zu meiner Schande geſtehen, daß ich
immer entweder das Unmoͤgliche oder das Unge¬
rechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine
[144] Suͤnden uͤberſehen wurden: und alsdann ließ ich
es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem
Stegreife fehlen, welche um ſo vergnuͤglicher wa¬
ren, als mir der Sinn fuͤr die Verdientheit der
Strafe ſo lange verſchloſſen blieb, bis ich bewußte
Fehler beging. So beſtand der Stoff meiner
Anrufungen aus der wunderlichſten Miſchung;
das eine Mal bat ich um die gelungene Probe
eines ſchwierigen Rechnenexempels oder daß der
Vorgeſetzte fuͤr einen Tintenklex in meinem Hefte
mit Blindheit geſchlagen werde, das andere Mal,
ein zweiter Joſua, um Stillſtand der Sonne,
wenn ich mich zu verſpaͤten drohte, oder auch
um Erlangung eines fremden reizenden Back¬
werkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße
Wolke nannte, einſt fuͤr lange Zeit verreiſte und
eines Abends bei uns Abſchied nahm, waͤhrend
ich ſchon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles
hoͤrte, bat ich meinen himmliſchen Vater in ſehn¬
lichen Ausdruͤcken, er moͤchte bewirken, daß ſie
mich hinter meinen Vorhaͤngen nicht vergeſſe und
noch einmal tuͤchtig kuͤſſe. Ich ſchlief uͤber der
ſteten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes
[145] endlich ein und weiß zur Stunde noch nicht, ob
meine Bitte in Erfuͤllung gegangen iſt.


Eines Tages wurde ich zur Strafe uͤber die
Mittagszeit in der Schule zuruͤckbehalten und ein¬
geſchloſſen, ſo daß ich erſt auf den Abend etwas
zu eſſen bekam. Das war das erſte Mal, wo ich
den Hunger kennen und zugleich die Ermahnun¬
gen meiner Mutter verſtehen lernte, welche mir
Gott vorzuͤglich als den Erhalter und Ernaͤhrer
jeglicher Creatur anpries und als den Schoͤpfer
unſers ſchmackhaften Hausbrotes darſtellte, der
Bitte gemaͤß: Gib uns heut unſer taͤgliches Brot!
welches nie fehlen duͤrfe, wenn die Sache nicht
ſchief gehen ſollte. Ueberhaupt gewann ich fuͤr
Eſſen und Trinken ein großes Intereſſe und
manche Einſicht in die Beſchaffenheit derſelben,
indem ich faſt ausſchließlich den Verkehr von
Frauen mit anſah, deſſen Hauptinhalt der Er¬
werb und die Beſprechung von Lebensmitteln
war, und die Wichtigkeit, welche ich dieſem Ver¬
kehre beilegen ſah, trug ſich mir auch auf meine
Bitte um das taͤgliche Brot uͤber. Auf meinen
Wanderungen durch das Haus drang ich allmaͤ¬
l. 10[146] lig tiefer in den Haushalt der Mitbewohner
ein und ließ mich oft aus ihren Schuͤſſeln bewir¬
then, und undankbarer Weiſe ſchmeckten mir die
Speiſen uͤberall beſſer, als bei meiner Mutter.
Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte
ganz die gleichen ſind, doch ihren Speiſen durch
die Zubereitung einen beſondern Geſchmack, wel¬
cher ihrem Charakter entſpricht. Durch eine kleine
Bevorzugung eines Gewuͤrzes oder eines Krau¬
tes, durch groͤßere Fettigkeit oder Trockenheit,
Weichheit oder Haͤrte, bekommen alle ihre Spei¬
ſen einen beſtimmten Charakter, welcher das ge¬
naͤſchige oder nuͤchterne, weichliche oder ſproͤde,
hitzige oder kalte, das verſchwenderiſche oder gei¬
zige Weſen der Koͤchin ausſpricht, und man er¬
kennt ſicher die Hausfrau aus den wichtigſten
Speiſen des Buͤrgerſtandes, naͤmlich dem Rind¬
fleiſch und dem Gemuͤſe, dem Braten und dem
Salate; ich meinerſeits, als ein junger fruͤhzeitiger
Kenner, habe aus einer bloßen Fleiſchbruͤhe den
Inſtinkt geſchoͤpft, wie ich mich zu der Meiſterin
derſelben zu verhalten habe. Die Speiſen meiner
Mutter hingegen ermangelten, ſo zu ſagen, aller
[147] und jeder Individualitaͤt. Ihre Suppe war nicht
fett und nicht mager, der Caffe nicht ſtark und
nicht ſchwach, ſie verſchwendete kein Salzkorn zu
viel und keines hat je gefehlt, ſie kochte ſchlecht
und recht, ohne Manierirtheit, wie die Kuͤnſtler
ſagen, in den reinſten Verhaͤltniſſen; man konnte
von ihren Speiſen eine große Menge genießen,
ohne ſich den Magen zu verderben. Sie ſchien
mit ihrer weiſen und maßvollen Hand, am Herde
ſtehend, taͤglich das Spruͤchwort zu verkoͤrpern:
Der Menſch ißt, um zu leben, und lebt nicht,
um zu eſſen! Nie und in keiner Weiſe war ein
Ueberfluß zu bemerken und ebenſo wenig ein
Mangel. Dieſe nuͤchterne Mittelſtraße langweilte
mich, der ich meinen Gaumen dann und wann
anderswo bedeutend reizte, und ich begann, uͤber
ihre Mahlzeiten eine ſcharfe Kritik zu uͤben, ſo¬
bald ich ſatt und die letzte Gabel voll vertilgt
war. Da ich mit meiner Mutter immer allein
bei Tiſche ſaß und ſie lieber auf Geſpraͤch und
Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erzie¬
hungsſyſtem, ſo wies ſie mich nicht kurz und
ſtrafend zur Ruhe, ſondern widerlegte mich mit
10 *[148] Beredtſamkeit und ſtellte mir hauptſaͤchlich vor
auf Menſchenſchickſale und Lebenslaͤufe uͤbergehend,
wie ich vielleicht eines Tages froh ſein wuͤrde,
an ihrem Tiſche zu ſitzen und zu eſſen; dann
werde ſie aber nicht mehr da ſein. Obgleich ich
dazumal nicht recht einſah, wie das zugehen ſollte,
ſo wurde ich doch jedesmal geruͤhrt und von
einem geheimen Grauen ergriffen, und ſo fuͤr ein¬
mal geſchlagen. Machte ſie alsdann auch noch
auf die Undankbarkeit aufmerkſam, welche ich ge¬
gen Gott beging, indem ich ſeine guten Gaben
tadelte, ſo huͤtete ich mich mit einer heiligen
Scheu, den allmaͤchtigen Geber ferner zu beleidi¬
gen und verſank in Nachdenken uͤber ſeine treff¬
lichen und wunderbaren Eigenſchaften.


Nun geſchah es aber, daß in dem Maße, als
ich ihn deutlicher erfaßte und ſein Weſen mir un¬
entbehrlicher und erſprießlicher wurde, mein Um¬
gang mit Gott ſich verſchaͤmt zu verſchleiern be¬
gann, und als meine Gebete einen vernuͤnftigen
Sinn erhielten, mich eine wachſende Scheu be¬
ſchlich, ſie laut herzuſagen. Meine Mutter iſt
eines einfachen und nuͤchternen Gemuͤthes und
[149] nichts weniger, als das, was man eine warm
andaͤchtige Frau nennt, ſondern ſchlechthin gottes¬
fuͤrchtig. Ihr Gott war dazumal ſchon nicht der
Befriediger und Erfuͤller einer Menge dunkler
und drangvoller Herzensbeduͤrfniſſe, ſondern klar
und einfach der verſorgende und erhaltende Vater,
die Vorſehung. Ihr gewoͤhnliches Wort war:
Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der
inbruͤnſtigen Gottesliebe dagegen hoͤrte ich ſie nie
reden, und ich ſelbſt habe eine Stimmung dieſer
Art erſt ſpaͤter empfunden, als das Weſen Got¬
tes mir endlich meiner reifern Empfaͤnglichkeit
und Erkenntniß entſprechend ſich ausgebildet hatte.
Deſto eifriger aber hielt ſie darauf, und es ward
ihr in unſerer Verlaſſenheit fuͤr die lange und
dunkle Zukunft eine Hauptſache, daß Gott der
Ernaͤhrer und Beſchuͤtzer mir immer vor Augen
ſei, und ſie legte mit andauernder Sorge den
Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen
in mich. In Folge dieſes ruͤhrenden Beſtrebens
wollte ſie eines Sonntags, als wir uns eben
zu Tiſche geſetzt hatten, das Tiſchgebet einfuͤhren,
welches bis dahin nicht uͤblich geweſen in unſerm
[150] Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken
hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und
nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf
dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen,
und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein
Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt
und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte:
»Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in
dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte
Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das
Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den
duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,
[151] welche mir alſobald unbeſieglich widerſtand. Es
war nicht Scham vor der Welt, wie es der
Prieſter zu nennen pflegt; denn wie ſollte ich mich
vor der einzigen Mutter ſchaͤmen, vor welcher ich
bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war?
Es war Scham vor mir ſelber; ich konnte mich
ſelbſt nicht ſprechen hoͤren, und habe es auch nie
mehr dazu gebracht, in der tiefſten Einſamkeit
und Verborgenheit laut zu beten.


»Nun ſollſt Du nicht eſſen, bis Du gebetet
haſt!« ſagte die Mutter, und ich ſtand auf und
ging vom Tiſche weg in eine Ecke, wo ich in
große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze ver¬
miſcht. Meine Mutter aber blieb ſitzen und that
ſo, als ob ſie eſſen wuͤrde, obgleich ſie es nicht
konnte, und es trat eine Art duͤſtrer Spannung
zwiſchen uns ein, wie ich ſie noch nie gefuͤhlt
hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie
ging ſchweigend ab und zu und raͤumte den Tiſch
ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder
zur Schule gehen ſollte, brachte ſie mein Eſſen,
indem ſie ſich die Augen wiſchte, als ob ein
Staͤubchen darin waͤre, wieder herein und ſagte:
[152] »Da kannſt Du eſſen, Du eigenſinniges Kind!«
worauf ich meinerſeits unter einem Ausbruche von
Schluchzen und Thraͤnen mich hinſetzte und es
mir tapfer ſchmecken ließ, ſobald die heftige Be¬
wegung nachließ. Auf dem Wege zur Schule
ließ ich es nicht an einem vergnuͤgten Dankſeuf¬
zer fehlen fuͤr die gluͤckliche Befreiung und Ver¬
ſoͤhnung.


Als ich in ſpaͤteren Jahren im Heimathdorfe
auf Beſuch war, wurde ich an das Ereigniß leb¬
haft erinnert durch eine Geſchichte, welche ſich vor
mehr als hundert Jahren mit einem Kinde dort
zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf
mich machte. In einer Ecke der Kirchhofmauer
war eine kleine ſteinerne Tafel eingelaſſen, welche
nichts als ein halbverwittertes Wappen und die
Jahrzahl 1713 trug. Die Leute nannten dieſen
Platz das Grab des Hexenkindes und erzaͤhlten
allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geſchichten
von demſelben, wie es ein vornehmes Kind aus
der Stadt, aber in das Pfarrhaus, in welchem
dazumal ein gottesfuͤrchtiger und ſtrenger Mann
wohnte, verbannt geweſen ſei, um von ſeiner
[153] Gottloſigkeit und unbegreiflich fruͤhzeitigen Hexerei
geheilt zu werden. Dieſes ſei aber nicht gelun¬
gen; vorzuͤglich habe es nie dazu gebracht wer¬
den koͤnnen, die drei hoͤchſten Namen der Drei¬
einigkeit auszuſprechen, und ſei in dieſer gottloſen
Halsſtarrigkeit verblieben und elendiglich verſtor¬
ben. Es ſei ein außerordentlich feines und klu¬
ges Maͤdchen in dem zarten Alter von ſieben
Jahren und deſſenungeachtet die alleraͤrgſte Hexe
geweſen. Beſonders haͤtte es erwachſene Manns¬
perſonen verfuͤhrt und es ihnen angethan, wenn
es ſie nur angeblickt, daß ſelbe ſich ſterblich in
das kleine Kind verliebt und ſeinetwegen boͤſe
Haͤndel angefangen haͤtten. Sodann haͤtte es
ſeinen Unfug mit dem Gefluͤgel getrieben und
insbeſondere alle Tauben des Dorfes auf den
Pfarrhof gelockt und ſelbſt den frommen Herrn
verhext, daß er dieſelben oͤfters inbehalten, gebra¬
ten und zu ſeinem Schaden geſpeiſt habe. Selbſt
die Fiſche im Waſſer habe es gebannt, indem
es Tagelang am Ufer ſaß und die alten klugen
Forellen verblendete, daß ſie bei ihm verweilten
und in großer Eitelkeit vor ihm herumſchwaͤnzel¬
[154] ten, ſich in der Sonne ſpiegelnd. Die alten
Frauen pflegten dieſe Sage als Schreckmaͤnnchen
fuͤr die Kinder zu gebrauchen, wenn ſie nicht
fromm waren, und fuͤgten noch viele ſeltſame und
phantaſtiſche Zuͤge hinzu. Im Pfarrhauſe hin¬
gegen hing wirklich ein altes dunkles Oelgemaͤlde,
das Bildniß dieſes merkwuͤrdigen Kindes enthal¬
tend. Es war ein außerordentlich zartgebautes
Maͤdchen in einem blaßgruͤnen Damaſtkleide, des¬
ſen Saum in einem weiten Kreiſe ſtarrte und
die Fuͤßchen nicht ſehen ließ. Um den ſchlanken
feinen Leib war eine goldene Kette geſchlungen
und hing vorn bis auf den Boden herab. Auf
dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopf¬
putz aus flimmernden Gold- und Silberblaͤttchen,
von ſeidenen Schnuͤren und Perlen durchflochten.
In ſeinen Haͤnden hielt das Kind den Todten¬
ſchaͤdel eines andern Kindes und eine weiße Roſe.
Noch nie habe ich aber ein ſo ſchoͤnes, liebliches
und geiſtreiches Kinderantlitz geſehen, wie das
blaſſe Geſicht dieſes Maͤdchens; es war eher
ſchmal als rund, eine tiefe Trauer lag darin, die
glaͤnzenden dunkeln Augen ſahen voll Schwer¬
[155] muth und wie um Huͤlfe flehend auf den Be¬
ſchauer, waͤhrend um den geſchloſſenen Mund eine
leiſe Spur von Schalkheit oder laͤchelnder Bitter¬
keit ſchwebte. Ein ſchweres Leiden ſchien dem
ganzen Geſichte etwas Fruͤhreifes und Frauen¬
haftes zu verleihen und erregte in dem Beſchau¬
enden eine unwillkuͤrliche Sehnſucht, das leben¬
dige Kind zu ſehen, ihm ſchmeicheln und es kuͤſ¬
ſen zu duͤrfen. Es war auch der Erinnerung des
alten Dorfes unbewußt lieb und werth, und in
den Erzaͤhlungen und Sagen von ihm war eben
ſo viel unwillkuͤrliche Theilnahme als Abſcheu zu
bemerken.


Die eigentliche Geſchichte war nun die, daß
das kleine Maͤdchen, einer adeligen, ſtolzen und
hoͤchſt orthodoxen Familie angehoͤrig, eine hart¬
naͤckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienſt
jeder Art zeigte, die Gebetbuͤcher zerriß, welche
man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke
huͤllte, wenn man ihm vorbetete, und klaͤglich zu
ſchreien anfing, wenn man es in die duͤſtere,
kalte Kirche brachte, wo es ſich vor dem ſchwar¬
zen Manne auf der Kanzel zu fuͤrchten vorgab.
[156] Es war ein Kind aus einer ungluͤcklichen erſten
Ehe und mochte ſonſt ſchon ein Stein des An¬
ſtoßes ſein. So beſchloß man, als es durch keine
Mittel von der unerklaͤrlichen Unart abgebracht
werden konnte, das Kind jenem wegen ſeiner
Froͤmmigkeit und Strengglaͤubigkeit beruͤhmten
Pfarrherrn verſuchsweiſe in Pflege zu geben.
Wenn ſchon die Familie die Sache als ein be¬
fremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes
Ungluͤck auffaßte, ſo betrachtete der dumpfe, harte
Mann dieſelbe vollends als eine unheilvolle infer¬
naliſche Erſcheinung, welcher mit aller Kraft ent¬
gegen zu treten ſei. Demgemaͤß nahm er ſeine
Maßregeln, und ein altes vergilbtes „diarium“,
von ihm herruͤhrend und im Pfarrhauſe aufbe¬
wahrt, enthaͤlt einige Notizen, welche uͤber ſein
Verfahren, ſo wie das weitere Schickſal des un¬
gluͤcklichen Geſchoͤpfes hinreichenden Aufſchluß ge¬
ben. Folgende Stellen habe ich mir ihres ſelt¬
ſamen Inhaltes wegen abgeſchrieben und will ſie
dieſen Blaͤttern einverleiben und ſo die Erinne¬
rung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen
aufbewahren da ſie ſonſt verloren gehen wuͤrde.

[157]

„Heute habe ich von der hochgebornen und
gottesfuͤrchtigen Frau von M. das ſchuldende
Koſtgeld fuͤr das erſte Quartal richtig erhalten,
alſogleich quittiret und Bericht erſtattet. Ferner
der kleinen Meret (Emerentia) ihre woͤchentlich
zukommende Correction ertheilt und verſcherpft,
indeme ſie nackent auf die Bank legte und mit
einer neuen Ruthen zuͤchtigte, nicht ohne Lamen¬
tiren und Seufzen zum Herren, daß Er das
traurige Werk zu einem guten Ende fuͤhren moͤge.
Hat die Kleine zwaren jaͤmmerlich geſchrieen und
de- und wehmuͤthig um Pardon gebeten, aber
nichts deſto weniger nachher in ihrer Verſtocktheit
verharret und das Liederbuch verſchmaͤhet, ſo ich
ihr zum Lernen vorgehalten. Habe ſie derowegen
kuͤrzlich verſchnauffen laſſen und dann in Arreſt
gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo ſie
gewimmert und geklaget, dann aber ſtill gewor¬
den iſt, bis ſie urploͤtzlich zu ſingen und jubili¬
ren
angefangen, nicht anders, wie die drey ſeli¬
gen Maͤnner im Feuerofen, und habe ich zugehoͤ¬
ret und erkennt, daß ſie die naͤmliche versificir¬
ten Pſalmen geſungen, ſo ſie ſonſten zu lernen
[158]refusirete, aber in ſo unnuͤtzlicher und weltlicher
Weiſe, wie die thoͤrichten und einfaͤltigen Ammen-
und Kindslieder haben; ſo daß ich ſolches Gebah¬
ren fuͤr ein neue Schalkheit und Mißbrauch des
Teufels zu nemen gezwungen ward.«


Ferner:


»Iſt ein hoͤchſt lamentables Schreiben arri¬
viret
von Madame, welche in Wahrheit eine fuͤr¬
treffliche und rechtglaͤubige Person iſt. Sie hat
beſagten Brief mit ihren Thraͤnen benetzet und
mir auch die große Bekuͤmmerniß des Herren
Gemahls vermeldet, daß es mit der kleinen Me¬
ret nicht beſſer gehen will. Und iſt dieſes gewi߬
lich eine große Calamitaͤt, ſo dieſem hochanſehn¬
lichen und beruͤhmten Geſchlecht passiret und
moͤchte man der Meinung ſein, mit Respect zu
ſagen, daß ſich die Suͤnden des Herren Gro߬
papa vaͤterlicher Seits, welches ein gottloſer Wuͤ¬
therich und ſchlimmer Cavalier ware, an dieſem
armſeligen Geſchoͤpflein vermerken laſſen und re¬
chen. Habe mein Tractament mit der Kleinen
changiret und will nunmehr die Hungerkur pro¬
biren
. Auch hab ich ein Roͤcklein von grobem
[159] Sacktuch durch meine Ehefrau ſelbſten anfertigen
laſſen und verbothen, der Meret ein ander Habit
anzulegen, ſintemal dieſe Bußkleidung ihr am
beſten conveniret. Verſtocktheit auf dem gleichen
Puncto


»Sahe mich heute gezwungen, die kleine De¬
moiselle
von allem Verkehr und Unterhalt mit
denen Baurenkindern abzuſperren, weill ſie mit
ſelbigen in das Holz gelauffen, allda gebadet im
Holzweiher, das Bußhemdlein, ſo ich ihr ordo¬
niret
, an ein Baumaſt gehenkt hat und nackent
davor geſprungen und getanzt und auch ihre Ge¬
ſpanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet.
Betraͤchtliche Correction


»Heut ein großer Spectakel und Verdruß.
Kame ein großer, ſtarker Schlingel, der junge
Muͤllerhans, und richtete mir Haͤndel an von
wegen der Meret, welche er alltaͤglich ſchreien
und heulen zu hoͤren vorgegeben, und disputirte
ich mit demſelben, als auch der junge Schul¬
meiſter, der Tropf, herankam und drohete, mich
zu verklagen, und fiel uͤber die ſchlimme Creatur
her, herzete und kuͤſſete ſie ꝛc. ꝛc. Ließ den Schul¬
[160] meiſter alſogleich arretiren und zum Landvogt
fuͤhren. Dem Muͤllerhans muß ich auch noch bei¬
kommen, obgleich ſelbiger reich und gewaltthaͤtig
iſt. Moͤchte bald ſelber glauben, was die Bauers¬
leute ſagen, daß das Kind eine Hexe ſei, wenn
dieſe Opinion nicht der Vernunft widerſpraͤche.
Jeden Falls ſteckt der Teufel in ihr und habe ich
ein ſchlimmes Stuͤck Arbeit uͤbernommen.«


»Dieſe ganze Woche habe ich einen Maler im
Hauſe tractiret, ſo mir Madame uͤberſendet, da¬
mit er das Portrait der kleinen Fraͤulein anfer¬
tige. Die bedraͤngte Familie will das Geſchoͤpf
nicht mehr zu ſich nemen und allein zum trauri¬
gen Angedenken und zur bußfertigen Anſchauung,
auch von wegen der großen Schoͤnheit des Kin¬
des, ein Conterfey behalten. Insbeſundere will
der Herr nicht von dieſer Idee laſſen. Meine
Ehefrau verabreicht dem Maler alltaͤglich zwei
Schoppen Wein, woran er nicht genug zu haben
ſcheinet, da er allabendlich in den rothen Loͤwen
gehet und dorten mit dem Chirurgo ſpielet. Iſt
ein hochfahrendes Subject und ſetze ihm daher
oͤfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor, wel¬
[161] ches in dem Quartal Conto der Madame zu ver¬
merken iſt. Wollte anfenglich mit der Kleinen
ſein Weſen und Freundlichkeit treiben und hat ſie
ſich ſogleich an ihn attachiret, daher ich ihme be¬
deutet habe, mir in meinem Process nicht zu
interveniren. Wie man der Kleinen ihr ver¬
wahrte Habit und Sonntagsſtaat herfuͤrgeholt und
angelegt benebſt der Schapell und der Guͤrtlen,
ſo hat ſie großen Plaisir gezeiget und zu tanzen
begonnen. Dieſe ihre Freude iſt aber bald ver¬
bittert worden, als ich nach dem Befelch der Frau
Mama 1 Todtenſchedel hohlen ließe und in die
Hand zu tragen gab, welchen ſie partout nicht
nemen wollen und hernachmalen weinend und
zitternd in der Hand gehalten, wie wenn es ein
feurig Eiſen waͤr. Zwaren hat der Maler be¬
hauptet, er koͤnne den Schedel außwendig malen,
weill ſolcher zu denen allererſten Elementen ſei¬
ner Kunſt gehoͤre, habe es aber nicht zugegeben,
ſintemal Madame geſchrieben hat: Was das Kind
leidet, das leiden auch wir, und iſt uns in ſei¬
nem Leiden ſelbſt Gelegenheit zur Buße gegeben,
ſo wir fuͤr ihn's thun koͤnnen; derohalb brechen
I. 11[162] Ew. Wohlehrwuͤrden in Nichts ab, Euere Fuͤr¬
ſorge und Education betreffend. Wenn das Toͤch¬
terlein dereinſt, wie ich zum allmaͤchtigen und
barmherzigen Gott verhoffe, hier oder dort er¬
leuchtet und gerettet ſein wird, ſo wird es ohn¬
zweifelhaft ſich hoͤchlich erfreuen, ein gutes Theil
ſeiner Buße ſchon mit ſeiner Verſtocktheit abge¬
than zu haben, welche uͤber ihn's zu verhaͤngen,
der unerforſchliche Meiſter beliebt hat!« Dieſe
tapferen Worte vor Augen, habe ich auch dieſe
Gelegenheit fuͤr dienlich erachtet, der Kleinen mit
dem Schedel eine ernſthafte Buße anzuthun.
Man hat uͤbrigens einen kleinen leichten Kinds¬
ſchedel gebrauchet, dieweill der Mahler ſich be¬
ſchwehret, daß der große Mannsſchedel zu un¬
foͤrmlich ſeye fuͤr die kleinen Haͤndlein, in Betracht
ſeiner Kunſt-Regula und hat ſie denſelben nach¬
her lieber gehalten; auch hat ihr der Mahler ein
weißes Roͤslein dazugeſteckt, was ich wohl leiden
mochte, weil es als ein gutes Symbolum gelten
kann.«


»Habe heut ploͤtzlich ein Contreorder erhalten
in Betreff des Tableau und ſoll nun ſelbiges
[163] nicht nach der Stadt spediren, ſondern hier be¬
halten. Es iſt Schad um die brave Arbeit, ſo
der Mahler gemacht hat, weil er ganz charmi¬
ret
war von der Anmuth des Kinds. Haͤtt' ich
es fruͤher gewußt, ſo haͤtt' der Mann fuͤr dieſen
Koſtenaufwand mein eigen Conterfey auf das
Tuch mahlen koͤnnen, wenn die ſchoͤnen Victua¬
lien
nebſt Lohn einmal drauff gehen ſollen.


Es iſt mir fernerer Befelch zu Handen ge¬
kommen, mit aller weltlichen Instruction abzu¬
brechen, beſonders mit dem Franzoͤſiſchen, da ſol¬
ches nicht mehr noͤthig erachtet werde, ſo wie
auch meine Gemahlin mit dem Unterricht auf
dem Spinett aufhoͤren ſolle, was der Kleinen
leid zu thun ſcheinet. Vielmehr ſoll ich ſie fortan
als ein einfaches Pflegekind tractiren und allein
fuͤrſorgen, daß ſie kein oͤffentlich Aergerniß gebe.«


»Vorgeſtern iſt uns die kleine Meret deser¬
tiret
und haben wir große Angſt empfunden, bis
daß ſie heute Mittag um 12 Uhr zu obriſt auf
dem Buchberge ausgeſpuͤret wurde, wo ſie ent¬
kleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne ſaß
und ſich baß waͤrmete. Sie hatte ihr Haar ganz
[164] aufgeflochten und ein Kraͤnzlein von Buchenlaub
darauff geſetzet, ſo wie ein dito Scherpen um
den Leib gehenkt, auch ein Quantum ſchoͤner Erd¬
beeren vor ſich liegen gehabt, von denen ſie ganz
voll und rundlich gegeſſen war. Als ſie unſer
anſichtig ward, wollte ſie wiederum Reißaus ne¬
men, ſchaͤmete ſich aber ihrer Bloͤße und wollte
ihr Habitlein uͤberziehen, dahero wir ſie gluͤcklich
attrapirten. Sie iſt nun krank und ſcheinet con¬
fuse
zu ſein, da ſie keine vernuͤnftige Antwort
gibt.«


»Mit dem Meretlein gehet es wiederum beſſer,
jedoch iſt ſie mehr und mehr veraͤndert und wird
des Gaͤnzlichen dumm und ſtumm. Die Consul¬
tation
des herbeygeruffenen Medicus verlautet
dahin, daß ſie irr- oder bloͤdſinnig werde und
nunmehr der medicinischen Behandlung anheim
zu ſtellen ſey; er offerirte ſich auch zu derſelbi¬
gen und hat verheißen, das Kind wieder auf die
Beine zu bringen, wenn es in ſeinem Hauſe
placiret wuͤrde. Ich merke aber ſchon, daß es
dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pen¬
sion
benebſt denen Praͤsenten von Madame zu
[165] thun ſeye, und berichtete derohalb, was ich fuͤr
gut befunden, nemlich daß der Herr ſeinen Plan
nunmehr an ein Ende zu fuͤhren ſcheine mit ſei¬
ner Creatur und daß Menſchenhaͤnde hieran Nichts
changiren moͤchten und duͤrften, wie es in Wirk¬
lichkeit auch iſt.“


Nach Ueberſchlagung von fuͤnf bis ſechs Mo¬
naten heißt es weiter:


„Es ſcheinet dieſes Kind in ſeinem bloͤden
Zuſtande einer trefflichen Geſundheit zu genießen
und hat ganz muntere rothe Backen bekommen.
Haͤlt ſich nun den ganzen Tag in den Bohnen
auf, wo man ſie nicht ſiehet und weiter nicht um
ſie bekuͤmbert, zumalen ſie weiter kein Aergernuß
gibet.“


„Das Meretlein hat ſich in Mitten des Bohnen¬
plaͤtz ein kleinen Salon arrangiret, ſo man ent¬
decket, und hat dorten artliche Visiten acceptiret
von denen Baurenkindern, welche ihme Obſt und
andere Victualia zugeſchleppet, ſo ſie gar zierlich
vergraben und in Vorrath gehalten hat. Daſelbſt
hat man auch jenen kleinen Kindsſchedel begra¬
ben gefunden, welcher laͤngſt abhanden gekommen
[166] und dahero dem Custos nicht restituiret werden
konnte. Dergleichen auch die Spatzen und andere
Voͤgel herbeygezogen und zahm gemacht, daß die
den Bohnen viel Abbruch gethan und ich jedoch
nicht mehr in die Bohnenſtauden ſchießen koͤnnen,
von wegen der kleinen Inſaß. Item hat ſie mit
einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt, welche
durch den Hag gebrochen und ſich bei ihr einge¬
niſtet; in summa, man hat ſie wieder ins Haus
nemen und inne behalten muͤſſen.«


»Die rothen Backen ſind wiederum von ihr
gewichen und behauptet der Chirurgus, ſie werde
es nicht mehr lang praͤstiren. Habe auch ſchon
an die Eltern geſchrieben.«


»Heut vor Tag ſchon muß das arme Meret¬
lein aus ſeinem Bettlein entkommen, in die Boh¬
nen hinauß geſchlichen und dort verſchieden ſein;
denn wir haben ſie alldort fuͤr todt gefunden in
einem Gruͤblein, ſo ſie in den Erdboden hinein
gewuͤhlet, als ob ſie hineinſchluͤpfen wollte. Sie
iſt ganz geſtabet geweſen und ihr Haar ſo wie
ihr Hemdlein feucht und ſchwer vom Thau, als
welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren faſt
[167] roͤthlichen Waͤnglein gelegen, nicht anders, denn
auf einem Apfelbluſt. Und haben wir einen hef¬
tigen Schrecken bekommen und bin ich in große
Verlegenheit und Confusion gerathen den heutigen
Tag, dieweill die Herrſchaft aus der Stadt an¬
gelanget, juſt wie meine Ehefrau verreiſet iſt nach
K., um allda einiges Confect und Provision ein¬
zukaufen, damit die Herrſchaften hoͤflichſt zu re¬
galiren
. Wußte derohalb nicht, wo mir der
Kopf geſtanden und war ein großes Rennen und
Laufen, und ſollten die Maͤgde das Leichlein
waſchen und ankleiden, und zugleich fuͤr ein guten
Imbiß ſorgen. Endlich habe ich den gruͤnen
Schinken braten laſſen, ſo meine Frau vor acht
Tagen in Eſſig geleget, und hat der Jakob drei
Stuͤck von denen zahmen Forellen gefangen, welche
noch hin und wieder an den Garten kommen,
obgleich man die ſelige (?!) Meret nicht mehren
zum Waſſer hinauß gelaſſen. Habe zum Gluͤck
mit dieſen Speißen noch ziemliche Ehre eingele¬
get und haben dieſelbigen der Madame wohl ge¬
ſchmecket. Iſt eine große Traurigkeit geweſen
und haben wir mehr denn zwei Stunden in Ge¬
[168] beth und Todesbetrachtungen verbracht, desglei¬
chen in melankolischen Reden von der ungluͤck¬
ſeligen Krankhaftigkeit des verſtorbenen Maͤgd¬
leins, da wir nun annemen muͤſſen zu unſerem
vermehrten Troſt, daß ſelbe in einer fatalen Dis¬
position
des Bluts und Gehirns ihren Urſprung
gehabt. Daneben haben wir auch von den ſon¬
ſtigen großen Gaben des Kinds geredet und von
ſeinen oftmaligen klugen und anmuthigen Ein¬
faͤllen und Impromptus und Alles nicht zuſammen¬
reimen koͤnnen in unſerer irdiſchen Kurzſichtigkeit.
Morgens am Vormittag wird man dem Kind
ein Chriſtlich Begraͤbniß geben und iſt die Praͤ¬
senz
der fuͤrnehmen Eltern dazu kommlich, an¬
ſonſten die Pauren ſich widerſatzen moͤgten.«


»Dieſes iſt der allerwunderbarſte und ſchreck¬
hafteſte Tag geweſen, nicht nur allein, ſeit wir
mit dieſer unſeligen Creatur zu ſchaffen, ſondern
der mir uͤberhaupt in meiner ruhſamen Existenz
aufgeſtoßen iſt. Denn als die Stunde gekommen
und es zehn Uhr geſchlagen, haben wir uns hin¬
ter dem Leichlein her in Bewegung geſetzet und
nach dem Gottesacker begeben, indeſſen der Sigriſt
[169] die kleine Glocken gelaͤutet, was er aber nicht
mit ſehrem Fleiße gethan, dieweil es faſt erbaͤrm¬
lich geklungen und das Gelaͤute zur Halbpart
vom ſtarken Winde verſchlungen worden, der un¬
wirſch gewehet hat. Und war auch der Himmel
ganz dunkel und ſchwuͤl, ſowie der Kirchhof von
Menſchen entbloͤßet außer unſerer kleinen Com¬
pagnie‚ hergegen außerhalb denen Mauren die
ganze Baurſame verſammelt und hat neugierig
die Koͤpfe heruͤber gerecket. Wie man aber ſo
eben das Todtenbaͤumlein (Todtenbaum = Sarg)
in das Grab hinunter ſenken wollen, hat man
ein ſeltſamen Schrei gehoͤrt aus dem Todten¬
baͤumlein hervor, ſo daß Wir auf das Heftigſte
erſchrocken ſind und der Todtengraͤber auf und
davon geſprungen iſt. Der Chirurgus aber, wel¬
cher ſich auch herzugemachet, hat ſchleunigſt den
Deckel losgemacht und abgehebt, und hat ſich das
Toͤdlein als lebendig aufgerichtet und iſt ganz be¬
hende aus dem Graͤblein gekrochen und hat uns
angeblicket. Und wie im ſelbigen Moment die
Sonne ſeltſam und ſtechend durch die Wolken
gedrungen, ſo hat es in ſeinem gelblichen Brokat
11 *[170] und mit dem glitzrigen Kroͤnlein ausgeſehen, wie
ein Feyen- oder Koboltskind. Die Frau Mama
iſt alſobald in eine ſtarke Ohnmacht verfallen
und der Herr v. M. weinend zur Erde geſtuͤrzet.
Ich ſelbſt habe mich vor Verwunderung und
Schrecken nicht geruͤhret und in dieſem Moment
ſteif an ein Hexenthum geglaubt. Das Maͤgdlein
aber hat ſich bald ermannt und iſt uͤber den
Kirchhof davon und zum Dorf hinaus geſprun¬
gen, wie eine Katz, daß alle Leute voll Entſetzen
heimgelaufen ſind und ihre Thuͤren verriegelt ha¬
ben. Zu ſelbiger Zeit iſt juſt die Schulzeit aus
geweſen und iſt der Kinderhaufen auf die Gaſſe
gekommen, und als das kleine Zeugs die Sache
geſehen, hat man die Kinder nicht halten koͤnnen,
ſondern iſt eine große Schaar dem Leichlein nach¬
gelaufen und hat es verfolget und hintendrein iſt
noch der Schulmeiſter mit dem Bakel geſprungen.
Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vor¬
ſprung gehabt und nicht eher Halt gemacht, als
bis es auf dem Buchberg angekommen und leb¬
los umgefallen iſt, worauf die Kinder um daſſelbe
herumgekrabbelt und es vergeblich geſtreichelt und
[171]caressiret haben. Dieſes Alles haben wir nach
der Hand erfahren, weil wir mit großer Noth
in das Pfarrhaus uns salviret und in tiefer de¬
solation
verharret ſind, bis man das Leichlein
wiederum gebracht hat. Man hat es auf ein
Matraz gelegt und iſt die Herrſchaft darauf ver¬
reiſet mit Hinterlaſſung einer kleinen Steintafell,
worein Nichts als das Familienwappen und Jahr¬
zahl gehauen iſt. Nunmehr liegt das Kind wie¬
der fuͤr todt und getrauen wir uns nicht, zu Bett
zu gehen aus Furcht. Der Medicus ſitzet aber
bey ihm und meint nun, es ſey endlich zur Ruh
gekommen.«


»Heute hat der Medicus nach unterſchiedlichen
Experimenten erklaͤrt, daß das Kind wirklich todt
ſeye und iſt es nun in der Stille beigeſetzt wor¬
den und nichts Weiteres arrivirt u. ſ. f.«

[]

Sechstes Kapitel.

Ich kann nicht ſagen, daß, nachdem Gott ein¬
mal die beſtimmte und nuͤchterne Geſtalt eines
Ernaͤhrers und Aushelfers fuͤr mich gewonnen
hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren
Empfindungen oder hoͤheren Gemuͤthsfreuden er¬
fuͤllt habe, zumal er aus dem glaͤnzenden Gewande
des Abendrothes ſich verloren, um in viel ſpaͤte¬
rer Zeit es wieder umzunehmen. Wenn meine
Mutter von Gott und den heiligen Dingen ſprach,
ſo fuhr ſie fort, vorzuͤglich im alten Teſtamente
zu verweilen, bei der Geſchichte der Kinder Iſrael
in der Wuͤſte, oder bei den Kornhaͤndeln Joſephs
und ſeiner Bruͤder, bei der Wittwe Oelkrug, der
Aehrenleſerin Ruth u. dergl. oder ausnahmsweiſe
bei der Speiſung der fuͤnftauſend Maͤnner im
neuen Teſtamente. Alle dieſe Ereigniſſe gefielen
[173] ihr ausnehmend wohl und ſie trug mir dieſelben
mit warmer Beredſamkeit vor, waͤhrend dieſe
mehr einem unparteiiſchen und pflichtgemaͤß
frommen Erzaͤhlen Raum gab, wenn das bewegte
und blutige Drama von Chriſti Leidensgeſchichte
entwickelt wurde. So ſehr ich daher den lieben
Gott reſpectirte und in allen Faͤllen bedachte, ſo
blieben mir doch die Phantaſie und das Gemuͤth
leer, ſo lange ich keine neue Nahrung ſchoͤpfte
außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich
keine Veranlaſſung hatte, irgend einen angelegent¬
lichen Gebetvortrag abzufaſſen, ſo war mir Gott
nachgerade eine farbloſe und langweilige Perſon,
die mich zu allerlei Gruͤbeleien und Sonderbar¬
keiten reizte, zumal ich ſie bei meinem vielen
Alleinſein doch nicht aus dem Sinne verlor. So
gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer
Qual, daß ich eine krankhafte Verſuchung em¬
pfand, Gott derbe Spottnamen, ſelbſt Schimpf¬
worte anzuhaͤngen, wie ich ſie etwa auf der
Straße gehoͤrt hatte. Mit einer Art behaglicher
und muthwillig zutraulicher Stimmung begann
immer dieſe Verſuchung, bis ich nach langem
[174] Kampfe nicht mehr widerſtehen konnte und im
vollen Bewußtſein der Blasphemie eines jener
Worte haſtig ausſtieß, mit der unmittelbaren Ver¬
ſicherung, daß es nicht gelten ſolle und mit der
Bitte um Verzeihung; dann konnte ich nicht um¬
hin, es noch einmal zu wiederholen, wie auch die
reuevolle Genugthuung, und ſo fort, bis die ſelt¬
ſame Aufregung voruͤber war. Vorzuͤglich vor
dem Einſchlafen pflegte mich dieſe Erſcheinung zu
quaͤlen, obgleich ſie nachher keine Unruhe oder
Uneinigkeit in mir zuruͤckließ. Ich habe ſpaͤter
gedacht, daß es wohl ein unbewußtes Experiment
mit der Allgegenwart Gottes geweſen ſei, welche
ebenfalls anfing, mich zu beſchaͤftigen, und daß
ſchon damals das dunkle Gefuͤhl in mir lebendig
geweſen ſei: Vor Gott koͤnne keine Minute un¬
ſeres inneren Lebens verborgen und wirklich ſtraf¬
bar ſein, ſo fern er das lebendige Weſen fuͤr uns
ſei, fuͤr das wir ihn halten.


Indeſſen hatte ich eine Freundſchaft geſchloſ¬
ſen, welche meiner ſuchenden Phantaſie zu Huͤlfe
kam und mich von dieſen unfruchtbaren Quaͤle¬
reien erloͤſte, indem ſie, bei der Einfachheit und
[175] Nuͤchternheit meiner Mutter, fuͤr mich das wurde,
was ſonſt ſagenreiche Großmuͤtter und Ammen
fuͤr die ſtoffbeduͤrftigen Kinder ſind. In dem
Hauſe gegenuͤber befand ſich eine offene dunkle
Halle, welche ganz mit altem und neuem Troͤdel¬
kram angefuͤllt war. Die Waͤnde waren mit
alten Seidengewaͤndern, gewirkten Stoffen und
Teppichen aller Art behangen. Roſtige Waffen
und Geraͤthſchaften, ſchwarze zerriſſene Oelgemaͤlde
bekleideten die Eingangſpfoſten und verbreiteten
ſich zu beiden Seiten an der Außenſeite des
Hauſes; auf einer Menge altmodiger Tiſche und
Geraͤthe ſtand wunderliches Glasgeſchirr und
Porcellan aufgethuͤrmt mit allerhand hoͤlzernen
und irdenen Figuren vermiſcht. In den tieferen
Raͤumen waren Berge von Betten und Haus¬
geraͤthen uͤbereinandergeſchichtet und auf den Hoch¬
ebenen und Abſaͤtzen derſelben, manchmal auf
einem gefaͤhrlichen einſamen Grate, ſtand uͤberall
noch eine ſchnoͤrkelhafte Uhr, ein Crucifix oder
ein waͤchſerner Engel u. dergl. mehr. Im tief¬
ſten Hintergrunde aber ſaß jederzeit eine bejahrte,
dicke Frau in alterthuͤmlicher Tracht, in einem
[176] truͤben Helldunkel, waͤhrend ein noch aͤlteres,
ſpitziges, eisgraues Maͤnnchen mit Huͤlfe einiger
Untergebenen in der Halle herumhandthierte und
eine zahlreiche Menge Leute abfertigte, welche
fortwaͤhrend ab und zu ging. Die Seele des
Geſchaͤftes war aber die Frau und von ihr aus
gingen alle Befehle und Anordnungen, ungeach¬
tet ſie ſich nie von ihrem Platze bewegte und
man ſie noch weniger je auf einer Straße geſe¬
hen hatte. Sie trug immer bloße Arme und
hatte ſchneeweiße Hemdsaͤrmel, auf eine kuͤnſtliche
Weiſe gefaͤltelt, wie man es ſonſt nirgends mehr
ſah und es vielleicht vor hundert Jahren ſchon ſo
getragen wurde. Es war die originellſte Frau
von der Welt, welche ſchon vor dreißig Jahren
mit ihrem Manne blutarm und unwiſſend in die
Stadt gezogen, um da ihr Brot zu ſuchen.
Nachdem ſie mit Tagelohn und ſaurer Arbeit
eine Reihe von muͤhſeligen Jahren durchgekaͤmpft
hatte, gelang es ihr, einen kleinen Troͤdelkram
zu errichten und erwarb ſich mit der Zeit durch
Gluͤck und Gewandtheit in ihren Unternehmungen
einen behaglichen Wohlſtand, welchen ſie auf die
[177] eigenthuͤmlichſte Weiſe beherrſchte. Sie konnte
nur gebrochen Gedrucktes leſen, hingegen weder
ſchreiben noch in arabiſchen Zahlen rechnen, welche
letzteren es ihr nie zu kennen gelang; ſondern
ihre ganze Rechnenkunſt beſtand in einer roͤmi¬
ſchen Eins, einer Fuͤnf, einer Zehn und einer
Hundert. Wie ſie dieſe vier Ziffern in ihrer fruͤ¬
hen Jugend, in einer entlegenen und vergeſſenen
Landesgegend uͤberkommen hatte, uͤberliefert durch
einen Jahrtauſend alten Gebrauch, ſo handhabte
ſie dieſelben mit einer merkwuͤrdigen Gewandtheit.
Sie fuͤhrte kein Buch und beſaß nichts Geſchrie¬
benes, war aber jeden Augenblick im Stande,
ihren ganzen Verkehr, der ſich oft auf mehrere
Tauſende in lauter kleinen Poſten belief, zu uͤber¬
ſehen, indem ſie mit großer Schnelligkeit das
Tiſchblatt mittelſt einer Kreide, deren ſie immer
einige Endchen in der Taſche fuͤhrte, mit maͤch¬
tigen Saͤulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte
ſie aus ihrem Gedaͤchtniſſe alle Summen ſolcher¬
geſtalt aufgeſetzt, ſo erreichte ſie ihren Zweck ein¬
fach dadurch, daß ſie mit dem naſſen Finger eine
Reihe um die andere ebenſo flink wieder aus¬
I. 12[178] loͤſchte, als ſie dieſelben aufgeſetzt hatte, und dabei
zaͤhlend die Reſultate zur Seite aufzeichnete. So
entſtanden neue kleinere Zahlengruppen, deren
Bedeutung und Benennung Niemand kannte, als
ſie, da es immer nur die gleichen vier nackten
Ziffern waren und fuͤr Andere ausſahen, wie eine
altheidniſche Zauberſchrift. Dazu kam noch, daß
es ihr nie gelingen wollte, mit Bleiſtift oder Fe¬
der oder auch nur mit einem Griffel auf einer
Schiefertafel das gleiche Verfahren vorzunehmen,
indem ſie nicht nur raͤumlich einer ganzen Tiſch¬
platte bedurfte, ſondern auch nur mittelſt der
weichen Kreide ihre markigen Zeichen zu bilden
im Stande war. Sie beklagte oft, daß ſie ſich
gar nichts Fixirtes aufbewahren koͤnne, war aber
gerade dadurch zu ihrem außerordentlichen Gedaͤcht¬
niſſe gelangt, aus welchem jene wimmelnden
Zahlenmaſſen ploͤtzlich geſtalt- und lebenvoll er¬
ſchienen, um ebenſo raſch wieder zu verſchwinden.
Das Verhaͤltniß zwiſchen Einnahme und Aus¬
gabe machte ihr nicht viel zu ſchaffen; ſie beſtritt
alle haͤuslichen Beduͤrfniſſe und ſonſtige Ausgaben
vorweg aus dem gleichen Seckel, welcher auch
[179] den Geſchaͤftsverkehr begruͤndete, und wenn eine
uͤberfluͤſſige Summe Geldes bei einander war, ſo
wechſelte ſie dieſes ſogleich in Gold um und ver¬
wahrte daſſelbe in ihrer Schatztruhe, wo es fuͤr
immer liegen blieb, wenn nicht ein Theil davon
fuͤr eine beſondere Unternehmung oder fuͤr ein aus¬
nahmsweiſes Darlehen herausgenommen wurde,
da ſie ſonſt auf Zinſen kein Geld auslieh. Sie
hatte beſonders mit Landleuten von allen Seiten
her Verkehr, welche ſich ihre geraͤthſchaftlichen
Beduͤrfniſſe bei ihr holten, und gab ihre Waaren
Jedermann auf Borg, gewann oft viel dabei und
verlor auch oft. So kam es, daß eine Menge
von Leuten von ihr abhaͤngig waren oder in
einem verbindlichen oder feindlichen Verhaͤltniſſe
zu ihr ſtanden, und daß ſie beſtaͤndig von Nach¬
ſichtſuchenden oder Bezahlenden umlagert war,
welche ihr, zur Beherzigung oder als Dank, die
mannigfaltigſten Gaben darbrachten, nicht an¬
ders, als einem alten Landpfleger oder einer
reichen Aebtiſſin. Feld- und Baumfruͤchte jeder
Art, Milch, Honig, Trauben, Schinken und
Wuͤrſte wurden ihr in gewichtigen Koͤrben zuge¬
12 *[180] tragen, und dieſe reichlichen Vorraͤthe bildeten
die Grundlage zu einem ſtattlichen Wohlleben,
welches alſobald begann, wenn das geraͤuſchvolle
Gewoͤlbe geſchloſſen war und in der noch ſelt¬
ſameren Wohnſtube das haͤusliche Abendleben zur
Geltung kam. Dort hatte Frau Margreth die¬
jenigen Gegenſtaͤnde zuſammengehaͤuft und als
Zierrath angebracht, welche ihr in ihrem Handel
und Wandel am beſten gefallen hatten, und ſie
nahm keinen Anſtand, etwas fuͤr ſich aufzube¬
wahren, wenn es ihr Intereſſe erweckte. An den
Waͤnden hingen alte Heiligenbilder auf Gold¬
grund und in den Fenſtern gemalte Scheiben,
und allen dieſen Dingen ſchrieb ſie irgend eine
merkwuͤrdige Geſchichte oder ſogar geheime Kraͤfte
zu, was ihr dieſelben heilig und unveraͤußerlich
machte, ſo ſehr auch Kenner ſich manchmal be¬
muͤhten, die wirklich werthvollen Denkmaͤler ihrer
Unwiſſenheit zu entreißen. In einer Truhe von
Ebenholz bewahrte ſie goldene Schaumuͤnzen,
Ketten, Becher, ſilberne Filigranarbeiten und
andere koͤſtliche Spielereien, fuͤr welche ſie eine
große Vorliebe trug und dieſelben nur wieder
[181] veraͤußerte, wenn ein beſonderer Gewinn ſich da¬
mit verband, was oͤfters der Fall war. Endlich
war auf einem Wandgeſtelle eine betraͤchtliche
Zahl unfoͤrmlicher alter Buͤcher aufgeſpeichert,
welche ſie mit großem Eifer zuſammen zu ſuchen
pflegte. Es waren verſchiedene Bibeln, alte
Kosmographien mit zahlloſen Holzſchnitten, fabel¬
geſpickte Reiſebeſchreibungen, vorzuͤglich nordiſche,
indiſche und griechiſche Mythologien aus dem
vorigen Jahrhundert mit großen zuſammengefal¬
teten Kupferſtichen, welche vielfach zerknittert und
zerriſſen waren; ſie nannte dieſe naiv geſchriebenen
Werke ſchlechtweg Heiden- oder auch Goͤtzenbuͤcher.
Ferner hielt ſie eine reiche Sammlung ſolcher
Volksſchriften, welche Nachricht gaben von einem
fuͤnften Evangeliſten, von den Jugendjahren
Jeſu, noch unbekannten Abenteuern deſſelben in
der Wuͤſte, von einer Auffindung ſeines wohl
erhaltenen Leichnams nebſt Documenten, von der
Erſcheinung und den Bekenntniſſen eines in der
Hoͤlle leidenden Freigeiſtes; einige Chroniken,
Kraͤuterbuͤcher und Prophezeiungen vervollſtaͤn¬
digten dieſe Sammlung. Fuͤr Frau Margreth
[182] hatte ohne Unterſchied Alles, was gedruckt war,
ſowohl wie die muͤndlichen Ueberlieferungen des
Volkes, eine gewiſſe Wahrheit, und die ganze
Welt in allen ihren Spiegelungen, das fernſte ſo¬
wohl wie ihr eigenes Leben, waren ihr gleich
wunderbar und bedeutungsvoll; ſie trug noch den
lebendigen ungebrochenen Aberglauben vergangener
kraͤftiger Zeiten an ſich ohne Verfeinerung und
Schliff. Mit neugieriger Liebe erfaßte ſie Alles
und nahm es als baare Muͤnze, was ihrer wo¬
genden Phantaſie dargeboten wurde, und ſie be¬
kleidete es alsbald mit den ſinnlich greifbaren
Formen der Volksthuͤmlichkeit, welche maſſiven
metallenen Gefaͤßen gleichen, die trotz ihres hohen
Alters durch den ſtaͤten Gebrauch immer glaͤn¬
zend geblieben ſind. Alle die Goͤtter und Goͤtzen
der alten und jetzigen heidniſchen Voͤlker beſchaͤf¬
tigten ſie durch ihre Geſchichte ſowohl, als durch
ihr aͤußeres Ausſehen in den Abbildungen, haupt¬
ſaͤchlich auch daher, daß ſie dieſelben fuͤr wirk¬
liche lebendige Weſen hielt, welche durch den
wahren Gott bekaͤmpft und ausgerottet wuͤrden;
das Spuken und Umgehen ſolcher halb uͤber¬
[183] wundenen ſchlimmen Kaͤuze war ihr eben ſo
ſchauerlich anziehend, wie das grauenvolle Trei¬
ben eines Atheiſten, unter welchem ſie nichts
Anderes verſtand und verſtehen konnte, als einen
Menſchen, welcher ſeiner Ueberzeugung von dem
Daſein Gottes zum Trotz daſſelbe hartnaͤckig und
muthwillig laͤugne. Die großen Affen und Wald¬
teufel der ſuͤdlichen Zonen, von denen ſie in ihren
alten Reiſebuͤchern las, die fabelhaften Meer¬
maͤnner und Meerweibchen waren nichts Anderes,
als ganze gottloſe, nun verthierte Voͤlker oder
ſolche einzelne Gotteslaͤugner, welche in dieſem
jammervollen Zuſtande, halb reuevoll, halb trotzig,
Zeugniß gaben von dem Zorne Gottes und ſich
zugleich allerlei muthwillige Neckereien mit den
Menſchen erlaubten.


Wenn nun am Abend das Feuer praſſelte,
die Toͤpfe dampften, der Tiſch mit den ſoliden
volksthuͤmlichen Leckereien bedeckt wurde und
Frau Margreth behaglich und anſehnlich auf
ihrem zierlich eingelegten Stuhle ſaß, ſo begann
ſich nach und nach eine ganz andere Anhaͤnger¬
ſchaft und Geſellſchaft einzufinden, als die den
[184] Tag uͤber in dem Gewoͤlbe zu ſehen war. Es
waren dies arme Frauen und Maͤnner, welche,
theils durch den Duft des wohlbeſetzten Tiſches,
theils durch die belebte Unterhaltung von hoͤheren
Dingen angezogen, hier mannigfache Erholung
von den Muͤhen des Tages ſuchten und fanden.
Mit Ausnahme einiger weniger heuchleriſcher
Schmarotzer hatten ſonſt Alle ein aufrichtiges
Beduͤrfniß, ſich durch Geſpraͤche und Belehrungen
uͤber das, was ihnen nicht alltaͤglich war, zu er¬
waͤrmen und beſonders in Betreff des Religioͤſen
und Wunderbaren eine kraͤftigere Nahrung zu
ſuchen, als die oͤffentlichen Culturzuſtaͤnde ihnen
darboten. Nichtbefriedigung des Gemuͤthes, un¬
geloͤſchter Durſt nach Wahrheit und Erkenntniß,
erlebte Schickſale, hervorgerufen durch die ver¬
ſuchte Befriedigung ſolcher unruhigen Triebe in
der ſinnlichen Welt, trieben dieſe Leute hier zu¬
ſammen und uͤberdies noch in mancherlei ſeltſame
Secten hinein, von deren innerem Leben und
Treiben ſich Frau Margreth fleißig Bericht er¬
ſtatten ließ; denn ſie ſelbſt war zu weltlich und
zu derb, als daß ſie ſo weit gegangen waͤre,
[185] dergleichen mitzumachen. Vielmehr tadelte ſie
mit ſcharfen Worten die Kopfhaͤnger und wurde
ſarkaſtiſch und bitter, wenn ſie allzu myſtiſchen
Unrath merkte. Sie bedurfte das Wunderbare
und Geheimnißvolle, aber in der Sinnenwelt,
in Leben und Schickſal, in der aͤußern wechſel¬
vollen Erſcheinung; von innern Seelenwundern,
bevorzugten Stimmungen, Auserwaͤhlten u. dgl.
wollte ſie nichts hoͤren und kanzelte ihre Gaͤſte
tuͤchtig herunter, wenn ſie mit ſolchen Dingen
auftreten wollten. Außer daß Gott als der kunſt-
und ſinnreiche Schoͤpfer all der wunderbaren
Dinge und Vorkommniſſe fuͤr ſie exiſtirte, war er
ihr vorzuͤglich in Einer Richtung noch merk- und
preiswuͤrdig: naͤmlich als der treue Beiſtaͤnder
der klugen und ruͤhrigen Leute, welche, mit
Nichts und weniger als Nichts anfangend, ihr
Gluͤck in der Welt ſelbſt machen und es zu etwas
Ordentlichem bringen. Deshalb hatte ſie ihre
groͤßte Freude an jungen Leuten, welche ſich aus
einer dunklen duͤrftigen Abkunft heraus durch
Talent, Fleiß, Sparſamkeit, Klugheit u. ſ. f. in
eine gute Stellung gearbeitet hatten und wohl
[186] gar hohe Protection genoſſen. Das Heranwach¬
ſen des Wohlſtandes ſolcher Schuͤtzlinge war ihr
wie eine eigene Sache angelegen, und wenn die¬
ſelben endlich dahin gediehen waren, einen be¬
haglichen Aufwand mit gutem Gewiſſen geltend
zu machen, ſo fuͤhlte ſie ſelbſt die groͤßte Genug¬
thuung, ihrerſeits reichlich beizuſteuern und ſich
des Glanzes mitzufreuen. Sie war von Grund
aus wohlthaͤtig und gab immer mit offenen Haͤn¬
den, den Armen und arm Bleibenden im ge¬
woͤhnlichen abgetheilten Maße, denjenigen aber,
bei welchen Hab und Gut anſchlug, mit wahrer
Verſchwendung fuͤr ihre Verhaͤltniſſe. Es lag
meiſtens ganz in der Natur ſolcher Emporkoͤmm¬
linge, neben ihren anderweitigen groͤßern Bezie¬
hungen, auch die Gunſt dieſer ſeltſamen Frau
ſorglich zu pflegen, bis ſie durch einen juͤngern
Nachwuchs endlich verdraͤngt wurden, und ſo
fand man nicht ſelten dieſen oder jenen fein ge¬
kleideten und vornehm ausſehenden Mann unter
den armen Glaͤubigen, der durch ſein gemeſſenes
Betragen dieſelben verſchuͤchterte und unbehaglich
machte. Auch nahmen ſie wohl, wenn er ab¬
[187] weſend war, Veranlaſſung, der Frau Weltſinn
und Luſt an irdiſcher Herrlichkeit vorzuwerfen,
was dann jedesmal lebhafte Eroͤrterungen und
Streitreden hervorrief.


Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb
und emſiger Thaͤtigkeit mochte es auch kommen,
daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer
Wohlgelittenen aufgenommen waren. Die Uner¬
muͤdlichkeit und ſtaͤtige Aufmerkſamkeit dieſer
Menſchen, welche oͤfter bei ihr verkehrten und
ihre ſchweren Laſten abſtellten, volle Geldbeutel
aus unſcheinbarer Huͤlle hervorzogen und ihr zum
Aufbewahren anvertrauten, ohne irgend ein Wort
oder eine Schrift zu wechſeln, ihre kindliche Gut¬
muͤthigkeit und neugierige Beſcheidenheit neben
der unberuͤckbaren Pfiffigkeit im Handeln, ihre
ſtrengen Religionsgebraͤuche und bibliſche Abſtam¬
mung, ſogar ihre feindliche Stellung zum Chri¬
ſtenthume und die groben Vergehungen ihrer
Voraͤltern machten dieſe vielgeplagten und ver¬
achteten Leute der guten Frau hoͤchſt intereſſant
und gern geſehen, wenn ſie ſich bei den abend¬
lichen Zuſammenkuͤnften vorfanden, am Heerde
[188] der Frau Margreth koſchern Kaffe kochten oder
ſich einen billig erſtandenen Fiſch bucken. Wenn
die fromm chriſtlichen Frauen ihnen ſchonend
vorhielten, wie es noch nicht gar zu lange her
ſei, ſeit die Juden doch ſchlimme Kaͤuze geweſen,
Chriſtenkinder geraubt und getoͤdtet und Brun¬
nen vergiftet haͤtten, oder wenn Margreth be¬
hauptete, der ewige Jude Ahasverus haͤtte vor
zwoͤlf Jahren einmal im »rothen Baͤren« uͤber¬
nachtet, und ſie haͤtte ſelbſt zwei Stunden vor
dem Hauſe gepaßt, um ihn abreiſen zu ſehen,
jedoch vergeblich, da er ſchon vor Tagesanbruch
weiter gewandert ſei, dann laͤchelten die Juden
gar gutmuͤthig und fein, und ließen ſich nicht
aus ihrer guten Laune bringen. Da ſie jedoch
ebenfalls Gott fuͤrchteten und eine ſcharf ausge¬
praͤgte Religion hatten, ſo gehoͤrten ſie noch eher
in dieſen Kreis, als man zwei weitere Perſonen
darin vermuthet haͤtte, welche allerdings irgend
anderswo zu ſuchen waren, als gerade hier; und
doch ſchienen ſie eine Art unentbehrlichen Salzes
fuͤr die wunderliche Miſchung zu ſein. Es waren
dies zwei erklaͤrte Atheiſten. Der Eine, ein
[189] ſchlichter, einſilbiger Schreinersmann, welcher
ſchon manches Hundert Saͤrge gefertigt und zu¬
genagelt hatte, war ein braver Mann und er¬
klaͤrte dann und wann einmal mit duͤrren Wor¬
ten, er glaube eben ſo wenig an ein ewiges Le¬
ben, als man von Gott etwas wiſſen koͤnne.
Im Uebrigen hoͤrte man nie eine freche Rede
oder ein Spottwort von ihm; er rauchte gemuͤth¬
lich ſein Pfeifchen und ließ es uͤber ſich ergehen,
wenn die Weiber mit fließenden Bekehrungsreden
uͤber ihn herfuhren. Der Andere war ein be¬
jahrter Schneidersmann mit grauen Haaren und
muthwilligem, unnuͤtzem Herzen, der ſchon mehr
als einen ſchlimmen Streich veruͤbt haben mochte.
Waͤhrend Jener ſich ſtill und leidend verhielt und
nur ſelten mit ſeinem duͤrren Glaubensbekennt¬
niſſe hervortrat, verfuhr dieſer angriffsweiſe und
machte ſich ein Vergnuͤgen daraus, die glaͤubigen
Seelen durch derbe Zweifel und Verlaͤugnungen,
rohe Spaͤße und Profanationen zu verletzen und
zu erſchrecken, als ein rechter Eulenſpiegel das ein¬
faͤltige Wort zu verdrehen und mit dick aufge¬
tragenem Humor in den armen Leuten eine ſuͤnd¬
[190] hafte Lachluſt zu reizen. Er beſaß weder großen
Verſtand, noch Pietaͤt fuͤr irgend etwas, ſelbſt
fuͤr die Natur nicht, und ſchien einzig ein per¬
ſoͤnliches Beduͤrfniß zu haben, das Daſein Got¬
tes zu laͤugnen oder wegzuwuͤnſchen, indeſſen der
Schreiner ſich bloß nicht viel daraus machte,
hingegen auf ſeinen Wanderjahren die Welt auf¬
merkſam betrachtet hatte, ſich fortwaͤhrend noch
unterrichtete und von allerlei merkwuͤrdigen Din¬
gen mit Liebe zu ſprechen wußte, wenn er auf¬
thaute. Der Schneider fand nur Gefallen an
Raͤnken und Schwaͤnken und laͤrmenden Zaͤnke¬
reien mit den begeiſterten Weibern; auch ſein
Verhalten zu den Juden, gegenuͤber demjenigen
des Sargmachers, war bezeichnend. Waͤhrend
Jener wohlwollend und freundlich mit ihnen ver¬
fuhr, als mit Seinesgleichen, neckte und quaͤlte
ſie der Schneider, wo er nur konnte, und ver¬
folgte ſie mit aͤcht chriſtlichem Uebermuthe mit
allen trivialen Judenſpaͤßen, die ihm zu Gebote
ſtanden, ſo daß die armen Teufel manchmal
wirklich boͤſe wurden und die Geſellſchaft ver¬
ließen. Frau Margreth pflegte alsdann auch
[191] ungeduldig zu werden und verwies den Daͤmon
aus dem Hauſe; aber er fand ſich bald wieder
ein und wurde immer wieder gelitten, wenn er
ſein altes Weſen mit etwas Vorſicht und glatten
Worten wieder begann. Es war, als wenn die
viel redenden und disputirenden Genoſſen ſeiner
als eines lebendigen Exempels des Atheismus
bedurften, wie ſie ihn verſtanden; denn dies war
er am Ende auch, indem es ſich nicht undeutlich
erwies, daß er den Gedanken Gottes und der
Unſterblichkeit mehr zu unterdruͤcken ſuchte, weil
er ihn in einem, kleinlichen und nutzloſen Treiben
beſchraͤnkte und belaͤſtigte, und als er ſpaͤterhin
ſtarb, that er dies ſo verzagt und zerknirſcht,
heulend und zaͤhneklappend und nach Gebet ver¬
langend, daß die guten Leute einen glaͤnzenden
Triumph feierten, indeſſen der Schreiner eben ſo
ruhig und unangefochten ſeinen letzten Sarg
hobelte, welchen er ſich ſelbſt beſtimmte, wie einſt
ſeinen erſten.


Dieſer Art war die Verſammlung, welche an
vielen Abenden, zumal im Winter, bei Frau
Margreth zu treffen war, und ich weiß nicht,
[192] wie es kam, daß ich mich ploͤtzlich am Tage oft
in dem kurzweiligen Gewoͤlbe mitten unter den
Geſchaͤftigen und am Abend zu den Fuͤßen der
Frau ſitzen fand, welche mich in große Gunſt
genommen hatte. Ich zeichnete mich durch meine
große Aufmerkſamkeit aus, wenn die wunder¬
barſten Dinge von der Welt zur Sprache kamen.
Die theologiſchen und moraliſchen Unterſuchungen
verſtand ich freilich in den erſten Jahren noch
nicht, obſchon ſie oft kindlich genug waren;
jedoch nahmen ſie auch ſchon damals nicht zu
viele Zeit in Anſpruch, da ſich die Geſellſchaft
immer bald genug auf das Gebiet der Begeben¬
heiten und ſinnlichen Erfahrungen, und damit auf
eine Art von naturphiloſophiſchem Feld hinuͤber
verfuͤgte, wo ich ebenfalls zu Hauſe war. Man
ſuchte vorzuͤglich die Erſcheinungen der Geiſter¬
welt, ſo wie die Ahnungen, Traͤume u. ſ. w. in
lebendigen Zuſammenhang zu bringen, und drang
mit neugierigem Sinne in die geheimnißvollen
Localitaͤten des geſtirnten Himmels, in die Tiefe
des Meers und der feuerſpeienden Berge, von
denen man hoͤrte, und Alles wurde zuletzt auf
[193] die religioͤſen Meinungen zuruͤckgefuͤhrt. Es wur¬
den Buͤcher von Hellſehenden, Berichte uͤber
merkwuͤrdige Reiſen durch verſchiedene Himmels¬
koͤrper und andere aͤhnliche Aufſchluͤſſe geleſen,
nachdem ſie der Frau Margreth zur Anſchaffung
empfohlen worden, und alsdann daruͤber ge¬
ſprochen und die Phantaſie mit den kuͤhnſten
Gedanken angefuͤllt. Der Eine oder Andere
fuͤgte dann noch aufgeſchnappte Berichte aus der
Wiſſenſchaft hinzu, wie er von dem Bedienten
eines Sternguckers gehoͤrt hatte, daß man durch
deſſen Fernrohr lebendige Weſen im Monde und
feurige Schiffe in der Sonne ſehen koͤnne. Frau
Margreth hatte immer die lebendigſte Einbil¬
dungskraft und bei ihr ging Alles in Fleiſch
und Blut uͤber. Sie pflegte mehrmals in der
Nacht aufzuſtehen und aus dem Fenſter zu
ſchauen, um nachzuſehen, was in der ſtillen
dunklen Welt vorging, und immer entdeckte ſie
einen verdaͤchtigen Stern, der nicht wie gewoͤhn¬
lich ausſah, ein Meteor oder einen rothen
Schein, welch' Allem ſie gleich einen Namen
zu geben wußte. Alles war ihr von Bedeutung
I. 13[194] und belebt; wenn die Sonne in ein Glas Waſ¬
ſer ſchien und durch daſſelbe auf den hell polirten
Tiſch, ſo waren die ſieben ſpielenden Farben fuͤr
ſie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten,
welche in der Sonne ſelbſt ſein ſollten. Sie
ſagte: Seht ihr denn nicht die ſchoͤnen Blumen
und Kraͤnze, die gruͤnen Gelaͤnder und die rothen
Seidentuͤcher? dieſe goldenen Gloͤcklein und dieſe
ſilbernen Brunnen? und ſo oft die Sonne in
die Stube ſchien, machte ſie das Experiment,
um ein wenig in den Himmel zu ſehen, wie ſie
meinte. Ihr Mann und der Schneider lachten
ſie dann aus, und der Erſte nannte ſie eine
phantaſtiſche Kuh. Jedoch auf einem feſteren
Boden ſtand ſie, wenn von Geiſtererſcheinungen
die Rede war, denn hier hatte ſie feſte und un¬
laͤugbare Erfahrungen die Menge, welche ſie
ſchon Schweiß genug gekoſtet hatten, und faſt
alle Andern wußten auch davon zu erzaͤhlen.
Seit ſie nicht mehr aus dem Hauſe kam, waren
freilich ihre Erlebniſſe auf ein haͤufiges Pochen
und Rumoren in alten Wandſchraͤnken und etwa
auf das Umherſchleichen eines ſchwarzen Schafes
[195] in der naͤchtlichen Straße beſchraͤnkt, wenn ſie
um Mitternacht oder gegen Morgen ihre In¬
ſpectionen aus dem Fenſter hielt. Ausnahms¬
weiſe begegnete es ihr noch ein Mal, daß ſie ein
kleines Maͤnnchen vor der Hausthuͤr entdeckte,
welches, waͤhrend ſie mit ſcharfen kritiſchen Augen
daſſelbe beobachtete, ploͤtzlich in die Hoͤhe wuchs
bis unter ihr Fenſter, daß ſie daſſelbe kaum
noch zu ſchlagen und ſich in's Bett fluͤchten
konnte. Hingegen in ihrer Jugend war es leb¬
hafter hergegangen, als ſie, beſonders noch auf
dem Lande, bei Tag und Nacht durch Feld und
Wald zu gehen hatte. Da waren kopfloſe Maͤn¬
ner ſtundenweit ihr zur Seite gegangen und
naͤher geruͤckt, je eifriger ſie betete, umgehende
Bauern ſtanden auf ihren ehemaligen Grund¬
ſtuͤcken und ſtreckten flehend die Hand nach ihr
aus, Gehenkte rauſchten von hohen Tannen her¬
nieder mit ſchreckbarem Geheul und liefen ihr
nach, um in den heilſamen Bereich einer guten
Chriſtin zu kommen, und ſie ſchilderte mit er¬
greifenden Worten den peinlichen Zuſtand, in dem
ſie ſich befand, wenn ſie nicht unterlaſſen konnte,
13*[196] die unheimlichen Geſellen von der Seite anzu¬
ſchielen, waͤhrend ſie doch wußte, daß dieſes
hoͤchſt ſchaͤdlich ſei. Einige Male war ſie auch
ganz aufgeſchwollen auf der Seite, wo die Ge¬
ſpenſter gelaufen waren, und mußte den Doctor
herbeirufen. Ferner erzaͤhlte ſie von den Zaube¬
reien und boͤſen Kuͤnſten, welche zur Zeit ihrer
Jugend, gegen das Ende des vorigen Jahrhun¬
derts, noch gang und gaͤbe waren unter den
Bauern. Da waren in ihrer Heimath reiche
gewaltige Bauernfamilien, welche alte Heiden¬
buͤcher beſaßen, mittelſt deren ſie den ſchlimmſten
Unfug trieben. Daß ſie mit offener Flamme
Loͤcher durch Strohbunde brennen konnten, ohne
dieſe zu zerſtoͤren, oder auf dem Waſſer gehen,
oder den Rauch aus den Schornſteinen in be¬
liebiger Richtung aufſteigen und poſſierliche Figu¬
ren bilden zu laſſen verſtanden, gehoͤrte nur zu
den unſchuldigen Scherzen. Aber graͤulich war
es, wenn ſie ihre Feinde langſam toͤdteten, indem
ſie fuͤr dieſelben drei Naͤgel in einen Weiden¬
baum ſchlugen unter den gehoͤrigen Spruͤchen
(Margreth's Vater ſiechte lange Zeit in Folge
[197] dieſer freundſchaftlichen Manipulation, bis ſie
entdeckt und er durch Kapuziner gerettet wurde),
oder wenn ſie den armen Leuten das Korn in
der Aehre verbrannten, um ſie nachher zu ver¬
hoͤhnen, wenn ſie hungerten und Noth litten.
Man hatte zwar die Genugthuung, daß der
Teufel den Einen oder Andern mit großem Auf¬
wand abholte, wenn er reif war; allein das ge¬
rieth den gerechten Leuten ſelbſt wieder zum
Schrecken, und es war eben nicht angenehm,
den blutigen Schnee und die gelaſſenen Haare
auf dem Platze zu ſehen, wie es der Erzaͤhlerin
ſelbſt begegnet war. Solche Bauern hatten Geld
genug und maßen es bei Hochzeiten und Leichen¬
feiern einander in Scheffeln und Wannen zu.
Die Hochzeiten waren dazumal noch ſehr gro߬
artig. Sie hatte ſelbſt noch eine ſolche geſehen,
wo ſaͤmmtliche Gaͤſte, Maͤnner und Weiber, be¬
ritten waren und nahe an hundert Pferde bei¬
ſammen. Die Weiber trugen Kronen von Flit¬
tergold und ſeidene Kleider mit drei- bis vierfach
umgewundenen Ketten von zuſammengerollten
Ducaten; aber der Teufel ritt unſichtbar mit,
[198] und es ging nach dem Nachteſſen nicht am ehr¬
barſten zu. Dieſe Bauern hatten waͤhrend einer
großen Hungersnoth in den ſiebziger Jahren
ihren Hauptſpaß daran, mit zwoͤlf Dreſchern in
weit geoͤffneten Scheunen zu dreſchen, dazu einen
blinden Geiger aufſpielen zu laſſen, welcher auf
einem großem Brote ſitzen mußte, und nachher,
wenn genug hungrige Bettler vor der Scheune
verſammelt waren, die grimmigen Hunde in den
wehrloſen Haufen zu hetzen. Bemerkenswerth
war es, daß der Volksglaube dieſe reichen Dorf¬
tyrannen vielfach die verbauerten Nachkommen
der alten Zwingherren ſein ließ, unter welchen
man alle ehemaligen Bewohner der vielen Bur¬
gen und Thuͤrme verſtand, die im Lande zer¬
ſtreut waren. Ein anderes ergiebiges Feld fuͤr
abenteuerliche Kunden war der Katholicismus
mit ſeinen hinterlaſſenen leeren Kloſterraͤumen
und den noch lebendigen Kloͤſtern, welche etwa
in der katholiſch gebliebenen Nachbarſchaft ſich
befanden. Dazu trugen die Ordensgeiſtlichen der
letztern Vieles bei, beſonders die Kapuziner,
welche ſich heute noch mit den Scharfrichtern
[199] freundſchaftlich in die Arbeit theilen, bei den
aberglaͤubiſchen reformirten Bauern Teufelsban¬
nerei und Sympathie-Kuͤnſte zu treiben. In den
abgelegenen Landesgegenden herrſchte damals ein
bewußtloſer verkommener Proteſtantismus; die
Landleute ſtanden nicht etwa uͤber den katho¬
liſchen, als hinwegſehend uͤber verdummte Men¬
ſchen, ſondern ſie glaubten alle Maͤhrchen derſel¬
ben getreulich mit, nur hielten ſie den Inhalt
fuͤr uͤbel und verwerflich, und ſie lachten nicht
uͤber den Katholicismus, ſondern ſie fuͤrchteten
ſich vor demſelben, als vor einer unheimlichen
heidniſchen Sache. Eben ſo wenig, als es ihnen
moͤglich war, ſich unter einem Freigeiſte einen
Menſchen vorzuſtellen, welcher wirklich in ſeinem
Innern Nichts glaube, ſo wenig waren ſie im
Stande, von Jemandem anzunehmen, daß er zu
Vieles glaube; ihr Maaß beſtand einzig darin,
ſich nur zu denjenigen geglaubten Dingen zu be¬
kennen, welche vom Guten und nicht vom Boͤ¬
ſen ſeien.


Der Mann der Frau Margreth, Vater Jakob¬
lein genannt, von ihr ſchlechthin Vater, war
[200] funfzehn Jahre aͤlter als ſie, und naͤherte ſich
den Achtzigen. Er beſaß eine faſt eben ſo leb¬
hafte Einbildungskraft, wie ſeine Frau, dabei
reichten ſeine Erinnerungen noch tiefer in die
Sagenwelt der Vergangenheit zuruͤck; doch faßte
er Alles von einer ſpaßhaften Seite auf, da er
von jeher ein ſpaßhaftes und ziemlich unnuͤtzes
Maͤnnlein geweſen war, und ſo wußte er eben
ſo viel laͤcherlichen Spuck und verdrehte Men¬
ſchengeſchichten zu erzaͤhlen, als ſeine Frau ernſt¬
hafte und ſchreckliche. In ſeine fruͤhſte Jugend
waren noch die letzten Hexenproceſſe gefallen,
und er beſchrieb mit Humor aus der muͤndlichen
Ueberlieferung geſchoͤpfte Hexenſabathe und Ban¬
kette ganz genau ſo, wie man ſie noch in den
actenmaͤßigen Geſchichten jener Proceſſe, in den
weitlaͤufigen Anklagen und erzwungenen Geſtaͤnd¬
niſſen lieſt. Dieſes Gebiet ſagte ihm beſonders
zu, und er verſicherte feierlich von einigen ſelt¬
ſamen Perſonen, daß ſie ſehr wohl auf dem
Beſenſtiele zu reiten verſtaͤnden, verſprach auch
von einem Tage zum andern, ſo lange er lebte,
von einem Hexenmeiſter ſeiner Bekanntſchaft die
[201] Salbe herbeizuſchaffen, mit welcher die Beſen
beſtrichen wuͤrden, um darauf aus dem Schorn¬
ſteine fahren zu koͤnnen. Dieſes gedieh mir im¬
mer zum groͤßten Jubel, beſonders wenn er mir
die projectirte Fahrt bei ſchoͤnem Wetter, wo ich
dann vorn auf dem Stiele ſitzen ſollte, von ihm
feſtgehalten, mit luſtigen Ausſichten ausmalte.
Er nannte mir manchen ſchoͤnen Kirſchbaum auf
einer Hoͤhe, oder einen trefflichen Pflaumenbaum
aus ſeiner Bekanntſchaft, bei welchem Halt ge¬
macht und genaſcht, oder einen delicaten Erd¬
beerſchlag in dieſem oder jenem Walde, wo
tapfer geſchmauſt werden ſolle, indeſſen der Beſen
an eine Tanne gebunden wuͤrde. Auch benach¬
barte Jahrmaͤrkte wollten wir beſuchen und in
die verſchiedenen Schaubuden, ohne Eintrittsgeld,
durch das Dach eindringen. Bei einem befreun¬
deten Pfarrherrn auf einem Dorfe muͤßten wir
freilich, wenn wir anders von ſeinen beruͤhmten
Wuͤrſten etwas zu beißen bekommen wollten, den
Beſen im Holze verſtecken und vorgeben, wir
ſeien zu Fuß gekommen, um bei dem herrlichen
Wetter den Herrn Pfarrer ein Bischen heimzu¬
[202] ſuchen; hingegen bei einer reichen Hexenwirthin
in einem andern Dorfe muͤßten wir keck zum
Schornſtein hineinfahren, damit ſie, in der thoͤ¬
richten Meinung, ein Paar angehender hoff¬
nungsvoller Hexer bei ſich zu ſehen, uns mit
ihren vortrefflichen Pfannkuchen mit Speck und
mit friſchem Honig ohne Ruͤckhalt bewirthe.
Daß unterwegs auf hohen Baͤumen und Felſen
Einſicht in die ſeltenſten Vogelneſter genommen
und das Tauglichſte von jungen Voͤgeln ausge¬
ſucht wuͤrde, verſtand ſich von ſelbſt. Wie alles
ohne Schaden zu unternehmen ſei, dafuͤr hatte
er bereits eine Auskunft und kannte die Formel,
mit welcher der Teufel, nach beendigtem Ver¬
gnuͤgen, um ſeinen Theil gebracht wuͤrde.


Auch in dem Geſpenſterweſen war er ſehr
erfahren: doch auch hier verdrehte ſich ihm Alles
zum Luſtigen. Die Angſt, welche er bei ſeinen
Abenteuern empfunden, war immer eine hoͤchſt
komiſche und endete oͤfter mit einem pfiffigen
Streiche, welchen er den Quaͤlgeiſtern ſpielte.


Auf dieſe Weiſe ergaͤnzte er trefflich das
phantaſtiſche Weſen ſeiner Frau, und ich hatte
[203] ſo die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle
zu ſchoͤpfen, was man ſonſt den Kindern der
Gebildeten in eigenen Maͤhrchenbuͤchern zurecht
macht. Wenn der Stoff auch nicht ſo rein und
zierlich unbefangen war, wie in dieſen, und nicht
fuͤr eine ſo unſchuldige kindliche Moral berechnet,
ſo enthielt er nichts deſto weniger immer eine
menſchliche Wahrheit und machte, beſonders da
in dem vielfaͤltigen Sammelkrame der Frau
Margreth eine reiche Fundgrube die ſinnliche An¬
ſchauung vervollſtaͤndigte, meine Einbildungs¬
kraft freilich etwas fruͤhreif und fuͤr ſtarke Ein¬
druͤcke empfaͤnglich, etwa wie die Kinder des
Volkes fruͤh an die kraͤftigen Getraͤnke der Er¬
wachſenen gewoͤhnt werden, ohne zu verderben.
Denn was ich hoͤrte, beſchraͤnkte ſich nicht allein
auf dieſe uͤberſinnliche Fabelwelt; ſondern die
Leute beſprachen auch auf die leidenſchaftlichſte
Weiſe ihre eigenen und fremde Schickſale, und
hauptſaͤchlich das lange Leben der Frau Margreth
und ihres Mannes war reich an ernſten und
heitern Geſchichten, an Beiſpielen der Gerechtig¬
keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬
[204] wicklung und Befreiung; Hunger, Krieg, Auf¬
ruhr und Peſtilenz hatten ſie geſehen; jedoch ihr
eigenes Verhaͤltniß zu einander war ſo ſonder¬
bar von Leidenſchaften bewegt, und es traten ſo
urſpruͤnglich daͤmoniſche Gewalten der Menſchen¬
natur darin zu Tage, daß ich mit kindlich er¬
ſtauntem Auge in die wilde Flamme ſah und fuͤr
ein ſpaͤteres Verſtaͤndniß ſchon tiefe Eindruͤcke
empfing.


Waͤhrend naͤmlich die Frau Margreth die be¬
wegende und erhaltende Kraft in ihrem Haus¬
halte war, den Grund zum jetzigen Wohlſtand
gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Haͤn¬
den hielt, war ihr Mann einer von denjenigen,
welche nichts Erkleckliches gelernt haben, noch
ſonſt thun koͤnnen, und daher darauf angewieſen
ſind, mehr den Handlanger einer thatkraͤftigen
Frau zu machen und auf eine muͤßige Weiſe
unter dem Schilde ihres Regimentes ein weich¬
liches ruhmloſes Daſein zu fuͤhren. Als die Frau,
beſonders in fruͤhern Jahren, durch kecke Be¬
nutzung der Zeitlaͤufe und durch wahrhaft geiſt¬
volle Unternehmungen und originelle Handſtreiche
[205] in woͤrtlichem Sinne Gold zuſammenhaͤufte,
ſpielte er nur die Rolle eines dienſtbaren Haus¬
koboldes, welcher, wenn er ſeine Handleiſtungen
gethan hatte, mit dem, was ihm die Frau gab,
ſich guͤtlich that und dazu allerhand Spaͤße trieb,
welche maͤnniglich ergoͤtzten. Seine unmaͤnnliche
Rathloſigkeit und Unzuverlaͤſſigkeit, die Erfah¬
rung, daß ſie in kritiſchen Faͤllen nie einen kraͤf¬
tigen Schutz in ihm fand, ließen Frau Margreth
auch ſeine ſonſtige Nuͤtzlichkeit uͤberſehen und er¬
klaͤrten die Ruͤckſichtsloſigkeit, mit welcher ſie ihn
ohne Weiteres von der Mitherrſchaft uͤber die
Geldtruhe ausſchloß. Es hatte auch lange Zeit
keines von Beiden ein Arges dabei, bis einige
Ohrenblaͤſer, worunter auch jener raͤnkeſuͤchtige
Schneider, dem Manne das Demuͤthigende ſeiner
Lage vorhielten und ihn aufhetzten, endlich eine
geſetzliche Theilung des Erworbenen und voll¬
ſtaͤndige Mitherrſchaft zu verlangen.


Sogleich ſchwoll ihm der Kamm gewaltig
und er drohte, die ſchlimmen Rathgeber hinter
ſich, der beſtuͤrzten Frau mit den Gerichten,
wenn ſie nicht ſeinen Antheil an dem »gemein¬
[206] ſchaftlich erworbenen« Gute herausgaͤbe. Sie
fuͤhlte wohl, daß es ſich mehr um einen gewalt¬
ſamen Raub, als um ein ehrliches Mitwirken
zu thun ſei, und ſtraͤubte ſich mit aller Kraft
dagegen, zumal ſie wohl wußte, daß ſie nach
wie vor die einzig erhaltende Kraft im Hauſe
ſein wuͤrde. Sie hatte aber die Geſetze gegen
ſich, da dieſe nicht auf eine Ausſcheidung der bei¬
tragenden Kraͤfte eingehen konnten, und zudem
gab der Mann vor, ſich allerlei muthwilliger
Anklagen bedienend, ſich nach geſchehener Thei¬
lung von ihr trennen zu wollen, ſo daß ſie be¬
taͤubt und uͤberfuͤhrt wurde und, krank und halb
bewußtlos, die Haͤlfte von allem Beſitze heraus¬
gab. Er naͤhete ſogleich ſeine ſchimmernden
Goldſtuͤcke, je nach der Art, in lange, ſeltſame
Beutel, legte dieſelben in einen Koffer, den er
am Boden feſtnagelte, ſetzte ſich darauf und
ſchlug ſeinen Helfershelfern, welche auch ihren
Antheil zu erſchnappen gehofft hatten, ein
Schnippchen. Im Uebrigen blieb er bei ſeiner
Frau und lebte nach wie vor bei und von ihr,
indem er nur dann zu ſeinem Schatze griff,
[207] wenn er eine Privatliebhaberei befriedigen wollte.
Sie erholte ſich indeſſen wieder und hatte nach
einiger Zeit ihren eigenen Schatz wieder vervoll¬
ſtaͤndigt und mit den Jahren verdoppelt; aber
ihr einziger Gedanke war ſeit jenem Tage der
Theilung, mit der Zeit wieder in den Beſitz des
Entriſſenen zu gelangen, und das war nur moͤg¬
lich durch den Tod ihres Mannes. Daher ging
ihr jedesmal ein Stich durch das Herz, wenn
er ein Goldſtuͤck umwechſelte, und ſie harrte un¬
verwandt auf ſeinen Tod. Er hingegen wartete
eben ſo ſehnlich auf den ihrigen, um Herr und
Meiſter des ganzen Vermoͤgens zu werden und
in voller Unabhaͤngigkeit den Reſt ſeines langen
Lebens zuzubringen. Dieſes grauenhafte Ver¬
haͤltniß hatte man freilich auf den erſten Blick
nicht geahnt; denn ſie lebten zuſammen wie zwei
gute alte Leutchen und nannten ſich nur Vater
und Mutter. Insbeſondere war die Margreth
in allem Einzelnen auch gegen ihn die gute und
verſchwenderiſche Frau, die ſie ſonſt war, und ſie
haͤtte vielleicht ohne den vierzigjaͤhrigen Lebens¬
genoſſen und ſein ſpaßhaftes Umhertreiben nicht
[208] einen Tag leben koͤnnen; auch ihm war es mitt¬
lerweile wohl genug und er beſorgte mit humo¬
riſtiſcher Geſchaͤftigkeit die Kuͤche, waͤhrend ſie
im Kreiſe ihrer ſchwaͤrmeriſchen Genoſſen die
uͤberfuͤllte Phantaſie entzuͤgelte. Doch in jeder
Jahreszeit ein Mal, wenn in der Natur die gro¬
ßen Veraͤnderungen geſchahen und die alten Men¬
ſchen an die ſchnelle Vergaͤnglichkeit ihres Lebens
erinnerten und ihre koͤrperlichen Gebrechen fuͤhl¬
barer wurden, erwachte, meiſtens in dunklen
ſchlafloſen Naͤchten, ein entſetzlicher Streit zwi¬
ſchen ihnen, daß ſie aufrecht in ihrem breiten
alterthuͤmlichen Bette ſaßen, unter dem Einen
buntbemalten Himmel, und bis zum Morgen¬
grauen, bei geoͤffneten Fenſtern, ſich die toͤdtlichen
Beleidigungen und Zankworte zuſchleuderten, daß
die ſtillen Gaſſen davon wiederhallten. Sie
warfen ſich die Vergehungen einer fern abliegen¬
den, ſinnlich durchlebten Jugend vor und riefen
Dinge durch die lautloſe Nacht aus, welche lange
vor der Wende dieſes Jahrhunderts, in Bergen
und Gefilden geſchehen, wo ſeitdem ganze dichte
Waͤlder entweder gewachſen oder verſchwunden,
[209] und deren Theilnehmer laͤngſt in ihren Graͤbern
vermodert waren. Dann ſtellten ſie ſich daruͤber
zur Rede, welchen Grund das Eine denn zu ha¬
ben glaube, das Andere uͤberleben zu koͤnnen?
und verfielen in einen elenden Wettſtreit, welches
von ihnen wohl noch die Genugthuung haben
werde, das Andere todt vor ſich zu ſehen. Wenn
man am Tage darauf in ihr Haus kam, ſo
wurde der graͤuliche Streit vor jedem Eintreten¬
den, ob fremd oder bekannt, fortgefuͤhrt, bis die
Frau erſchoͤpft war und in Weinen und Beten
verfiel, indeß der Mann anſcheinend munterer
wurde, luſtige Weiſen pfiff, ſich einen Pfann¬
kuchen backte und fortwaͤhrend irgend eine Flauſe
dazu hermurmelte. Er konnte auf dieſe Weiſe
einen ganzen Morgen hindurch Nichts ſagen,
als immer: Einundfunfzig! einundfunfzig! ein¬
undfunfzig! oder zur Abwechslung einmal: Ich
weiß nicht, ich glaube immer, die alte Kunzin
da druͤben iſt heute fruͤh ſpazieren geritten! ſie
hat geſtern einen neuen Beſen gekauft! ich habe
ſo was in der Luft flattern ſehen, das ſah unge¬
faͤhr aus, wie ihr rother Unterrock; ſonderbar!
I. 14[210] hm! einundfunfzig u. ſ. f. Dabei hatte er Gift
und Tod im Herzen und wußte, daß ſeine Frau
durch das Betragen doppelt litt; denn ſie hatte
keine Bosheit noch Muthwillen, um den Kampf
auf dieſe Weiſe fortzuſetzen. Was aber Beide
in dieſem Zuſtande ſich zu Leide thaten, beſtand
dann gewoͤhnlich in einer verſchwenderiſchen Frei¬
gebigkeit, womit ſie Alles beſchenkten, was ihnen
nahe kam, gleichſam als wollte Eines vor des
Anderen Augen den Beſitz aufzehren, nach dem
ein Jedes trachtete.


Der Mann war gerade kein gottloſer Menſch,
ſondern ließ, indem er in der gleichen wunder¬
lichen Art, wie an Geſpenſter und Hexen, ſo
auch an Gott und ſeinen Himmel glaubte, den¬
ſelben einen guten Mann ſein und dachte nicht
im Mindeſten daran, ſich auch um die moraliſchen
Lehren zu bekuͤmmern, welche aus dieſem Glau¬
ben entſpringen mußten; er aß und trank, lachte
und fluchte und machte ſeine Schnurren, ohne
je zu trachten, ſein Leben mit einem ernſtern
Grundſatze in Einklang zu bringen. Aber auch
der Frau fiel es niemals ein, daß ihre Leiden¬
[211] ſchaften mit dem religioͤſen Gebahren im Wider¬
ſpruche ſein koͤnnten, und ſie zeichnete ſich vor
ihren Glaubensſchweſtern darin aus, daß ſie nie¬
mals dem Ausdrucke deſſen, was ſie bewegte,
einen Zuͤgel anlegte. Sie liebte und haßte,
ſegnete und verwuͤnſchte und gab ſich unverhuͤllt
und ungehemmt allen Regungen ihres Gemuͤthes
hin, ohne je an eine eigene moͤgliche Schuld zu
denken und ſich unbefangener Weiſe ſtets auf
Gott und ſeinen maͤchtigen Einfluß berufend.


Jede der Ehehaͤlften hatte eine zahlreiche Ver¬
wandtſchaft blutarmer Leute, welche im Lande
zerſtreut wohnten. Dieſe theilten unter ſich die
Hoffnung auf das gewichtige Erbe um ſo mehr,
als Frau Margreth, zufolge ihrer hartnaͤckigen
Abneigung gegen unverbeſſerlich arm Bleibende,
ihnen nur ſpaͤrliche Gaben von ihrem Ueberfluſſe
zukommen ließ und ſie nur an Feiertagen gaſt¬
lich ſpeiſte und traͤnkte. Alsdann erſchienen von
beiden Seiten her die alten Vettern und Baſen,
Schweſtern und Schwaͤger mit ausgehungerten
langnaſigen Toͤchtern und bleichen Soͤhnen, und
trugen Saͤcklein und Koͤrbe herbei, welche die
[212] kuͤmmerlichen Gaben ihrer Armuth enthielten,
um die alten launenhaften Leute fuͤr ſich zu ge¬
winnen, und worin ſie reichere Gegenſpenden
nach Hauſe zu tragen hofften. Dieſe Sippſchaft
war ſchroff in zwei Lager geſchieden, welche ſich
nach dem Streite, der zwiſchen den Hauptper¬
ſonen herrſchte, ebenfalls den Hoffnungen auf
den fruͤheren Tod des Gegners hingaben, um
einſt ein vergroͤßertes Erbe zu erhalten. Sie
haßten und befeindeten ſich eben ſo ſtark unter
einander, als die Leidenſchaften Margreth's und
ihres Mannes das Vorbild dazu abgaben, und
es entſtand jedesmal, nachdem die zahlreiche Ge¬
ſellſchaft ſich an dem ungewohnten Ueberfluſſe ge¬
ſaͤttigt und gewaͤrmt hatte und der Uebermuth
den anfaͤnglichen Zwang aufloͤſte, ein maͤchtiger
Zank zwiſchen beiden Parteien, daß ſich die
Maͤnner die uͤbrig gebliebenen Schinken, ehe ſie
dieſelben in ihre Querſaͤcke ſteckten, um die
Koͤpfe ſchlugen und die armen Weiber ſich gegen¬
ſeitig unter die blaſſen ſpitzigen Naſen ſchimpften
und uͤber dem befriedigten Magen ein Herz voll
Neid und Aerger auf den Heimweg trugen.
[213] Ihre Augen funkelten ſtechend unter den duͤrftig
aufgeputzten Sonntagshauben hervor, wenn ſie
mit langen Schritten, die vollgepfropften Buͤn¬
del unter dem Arme, aus dem Thore zogen und
ſich grollend auf den Scheidewegen trennten, um
den entlegenen Huͤtten zuzueilen.


Solcherweiſe ging es viele Jahre, bis die
alte Frau Margreth mit den Sterben den An¬
fang machte und in jenes fabelhafte Reich der
Geiſter und Geſpenſter ſelber hinuͤberging. Sie
hinterließ unerwarteter Weiſe ein Teſtament,
welches einen einzelnen jungen Mann zum allei¬
nigen Erben einſetzte; es war der letzte und
juͤngſte jener Guͤnſtlinge, an deren Gewandtheit
und Wohlergehen ſie ihre Freude gehabt hatte,
und ſie war mit der Ueberzeugung geſtorben,
daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Haͤnde
uͤbergehe, ſondern die Kraft und die Luſt tuͤch¬
tiger Leute ſein werde. Bei ihrem Leichenbegaͤng¬
niſſe fanden ſich ſaͤmmtliche Verwandte beider
Ehegatten ein, und es war ein großes Geheul
und Gelaͤrm, als ſie ſich alſo getaͤuſcht fanden.
Sie vereinigten ſich in ihrem Zorne alle gegen
[214] den gluͤcklichen Erben, welcher ganz ruhig ſeine
Habe einpackte, was irgend von Nutzen war,
und auf einen ungeheuerlichen Wagen lud. Er
uͤberließ den armen Leuten Nichts, als die vor¬
handenen Vorraͤthe an Lebensmitteln und die ge¬
ſammelten Seltſamkeiten und Buͤcher der Seligen,
inſofern ſie nicht von Gold, Silber oder ſonſtigem
Gehalte waren. Drei Tage und drei Naͤchte
blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauer¬
hauſe, bis der letzte Knochen zerſchlagen und
deſſen Mark mit dem letzten Biſſen Brot aufge¬
tunkt war. Sodann zerſtreuten ſie ſich allmaͤlig,
ein Jeder mit dem Andenken, das er noch erbeu¬
tet hatte. Der Eine trug eine Partie Heiden-
und Goͤtzenbuͤcher auf der Schulter, mit einem
tuͤchtigen Stricke zuſammengebunden und mit
einem Scheite geknebelt, und unter dem Arme
ein Saͤcklein getrockneter Pflaumen; der Andere
hing ein Muttergottesbild an ſeinem Stabe uͤber
den Ruͤcken und wiegte auf dem Kopfe eine
kunſtreich geſchnitzte Lade, ſehr geſchickt mit Kar¬
toffeln angefuͤllt in allen ihren Faͤchern. Hagere
lange Jungfrauen trugen zierliche altmodiſche
[215] Weidenkoͤrbe und buntbemalte Schachteln, ange¬
fuͤllt mit kuͤnſtlichen Blumen und vergilbtem
Flitterkram, Kinder ſchleppten waͤchſerne Engel
in den Armen oder trugen chineſiſche Kruͤge in
den Haͤnden, es war, als ſaͤhe man eine Schaar
Bilderſtuͤrmer aus einer gepluͤnderten Kirche
kommen. Doch gedachte ein Jeder ſeine Beute
als ein werthes Angedenken an die Verſtorbene
aufzubewahren, ſich ſchließlich an das genoſſene
Gute erinnernd, und zog mit Wehmuth ſeine
Straße, indeſſen der Haupterbe, neben ſeinem
Wagen einherſchreitend, ploͤtzlich halt machte, ſich
beſann, darauf die ganze Ladung einem Troͤdler
verkaufte und auch nicht einen Nagel aufbe¬
wahrte. Dann ging er zu einem Goldſchmied
und verkaufte demſelben die Schaumuͤnzen, Kelche
und Ketten, und zog endlich mit ruͤſtigen Schrit¬
ten aus dem Thore, ohne ſich umzuſehen, mit
ſeiner dicken Geldkatze und ſeinem Stabe. Er
ſchien froh zu ſein, eine verdrießliche und lang¬
wierige Angelegenheit endlich erledigt zu ſehen.


In dem Hauſe aber blieb der alte Mann
allein und einſam zuruͤck mit dem zuſammen¬
[216] geſchmolzenen Reſte jener fruͤheren Theilung. Er
lebte noch drei Jahre und ſtarb gerade an dem
Tage, wo das letzte Goldſtuͤck gewechſelt werden
mußte. Bis dahin vertrieb er ſich die Zeit da¬
mit, daß er ſich vornahm und ausmalte, wie er
im Jenſeits ſeine Frau harranguiren wolle, wenn
ſie da »mit ihren verruͤckten Ideen herum¬
ſchlampe«, und welche Streiche er ihr Angeſichts
der Apoſtel und Propheten ſpielen wuͤrde, daß
die alten Geſellen was zu lachen bekaͤmen. Auch
an manchen Todten ſeiner Bekanntſchaft er¬
innerte er ſich und freute ſich auf die Wieder¬
belebung verjaͤhrten Unfuges beim Wiederſehen.
Ich hoͤrte ihn immer nur in ſolch luſtiger Art
vom zukuͤnftigen Leben ſprechen. Er war nun
blind und bald neunzig Jahre alt, und wenn er
von Schmerzen, Truͤbſal und Schwaͤche heim¬
geſucht, traurig und klagend wurde, ſo ſprach er
nichts von dieſen Dingen, ſondern rief immer,
man ſollte die Menſchen todtſchlagen, ehe ſie ſo
alt und elend wuͤrden.


Endlich ging er aus, wie ein Licht, deſſen
letzter Tropfen Oel aufgezehrt iſt, ſchon vergeſſen
[217] von der Welt, und ich, als ein herangewachſener
Menſch, war vielleicht der einzige Bekannte fruͤ¬
herer Tage, welcher dem zuſammengefallenen
Reſtchen Aſche zu Grabe folgte.


Gleich dem Chorus in den Schauſpielen der
Alten hatte ich von meiner fruͤhſten Jugend an
das Leben und die Ereigniſſe in dieſem nachbar¬
lichen Hauſe betrachtet und war ein allezeit auf¬
merkſamer Theilnehmer. Ich ging ab und zu,
aß und trank, was mir wohlgefiel, ſetzte mich in
eine Ecke oder ſtand mitten unter den Handeln¬
den und Laͤrmenden, wenn etwas vorfiel. Ich
holte die Buͤcher hervor und verlangte, weſſen
ich von den Sehenswuͤrdigkeiten bedurfte, oder
ſpielte mit den Schmuckſachen der Frau Mar¬
greth. Alle die mannigfaltigen Perſonen, welche
in das Haus kamen, kannten mich, und Jeder
war freundlich gegen mich, weil dieſes meiner
Beſchuͤtzerin ſo behagte. Ich aber machte nicht
viele Worte, ſondern gab Acht, daß Nichts von
den geſchehenden Dingen meinen Augen und
Ohren entging. Mit all dieſen Eindruͤcken be¬
laden, zog ich dann uͤber die Gaſſe wieder nach
14 *[218] Hauſe und ſpann in der Stille unſerer Stube
den Stoff zu großen traͤumeriſchen Geweben aus,
wozu die erregte Phantaſie den Einſchlag gab.
In der That muß ich auf dieſe erſte Kinderzeit
meinen Hang und ein gewiſſes Geſchick zuruͤck¬
fuͤhren, an die Vorkommniſſe des Lebens erfun¬
dene Schickſale und verwickelte Geſchichten anzu¬
knuͤpfen, und ſo im Fluge heitere und traurige
Romane zu entwerfen, deren Mittelpunkt ich
ſelbſt oder die mir Naheſtehenden waren, die mich
viele Tage lang beſchaͤftigten und bewegten, bis
ſie ſich in neue Handlungen aufloͤſten, je nach
der Stimmung und dem aͤußeren Ergehen. In
jener erſten Zeit waren es kurze und wechſelnde
Bilder, welche ſich raſch und unbewußt formir¬
ten und vorbeigingen, wie die befreiten Er¬
innerungen und Traumvorraͤthe eines Schlafen¬
den. Sie verflochten ſich mir mit dem wirklichen
Leben, daß ich ſie kaum von demſelben unter¬
ſcheiden konnte.


Daraus nur kann ich mir unter Anderem
eine Geſchichte erklaͤren, welche ich ungefaͤhr in
meinem ſiebenten Jahre anrichtete, und die ich
[219] gar nicht begreifen koͤnnte, da die ſchlimme Art
derſelben ſonſt nicht in meinem Weſen liegt und
ſich zeither auch in keiner Weiſe wiederholt hat.
Ich ſaß einſt hinter dem Tiſche, mit irgend einem
Spielzeuge beſchaͤftigt, und ſprach dazu einige
unanſtaͤndige, hoͤchſt rohe Worte vor mich hin,
deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich
auf der Straße gehoͤrt haben mochte. Eine Frau
ſaß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr,
als ſie die Worte hoͤrte und meine Mutter auf¬
merkſam darauf machte. Sie fragten mich mit
ernſter Miene, wer mich dieſe Sachen gelehrt
haͤtte, insbeſondere die fremde Frau drang in
mich, woruͤber ich mich verwunderte, einen Augen¬
blick nachſinnend und dann den Namen eines
Knaben nannte, den ich in der Schule geſehen
hatte. Sogleich fuͤgte ich noch zwei oder drei
Andere hinzu, ſaͤmmtlich Jungen von zwoͤlf bis
dreizehn Jahren und einer vorgeruͤckteren Klaſſe
meiner Schule angehoͤrig, mit denen ich aber
kaum noch ein Wort geſprochen hatte. Einige
Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner
Verwunderung nach der Schule zuruͤck, ſowie
[220] jene vier angegebenen Knaben, welche mir wie
halbe Maͤnner vorkamen, da ſie an Alter und
Groͤße mir weit vorgeſchritten waren. Ein geiſt¬
licher Herr erſchien, welcher gewoͤhnlich den
Religionsunterricht gab und ſonſt der Schule
vorſtand, ſetzte ſich mit dem Lehrer an einen
Tiſch und hieß mich neben ihn ſitzen. Die Kna¬
ben hingegen mußten ſich vor dem Tiſche in
eine Reihe ſtellen und harrten der Dinge, die da
kommen ſollten. Sie wurden nun mit feierlicher
Stimme gefragt, ob ſie gewiſſe Worte in meiner
Gegenwart ausgeſprochen haͤtten; ſie wußten
Nichts zu antworten und waren ganz erſtaunt.
Hierauf ſagte der Geiſtliche zu mir: »Wo haſt
du die bewußten Dinge gehoͤrt von dieſen Bu¬
ben?« Ich war ſogleich wieder im Zuge und
antwortete unverweilt mit trockener Beſtimmt¬
heit: »Im Bruͤderleinsholze!« Dieſes iſt ein
Gehoͤlz, eine Stunde von der Stadt entfernt,
wo ich in meinem Leben nie geweſen war, das
ich aber oft nennen hoͤrte. »Wie iſt es dabei zu¬
gegangen, wie ſeid ihr dahin gekommen?« fragte
man weiter. Ich erzaͤhlte, wie mich die Knaben
[221] eines Tages zu einem Spaziergange uͤberredet
und in den Wald hinaus mitgenommen haͤtten,
und ich beſchrieb mit merkwuͤrdiger Wahrheit die
Art, wie etwa groͤßere Knaben einen kleinern zu
einem muthwilligen Streifzuge mitnehmen. Die
Angeklagten geriethen außer ſich und betheuerten
mit Thraͤnen, daß ſie theils ſeit langer Zeit,
theils gar nie in jenem Gehoͤlze geweſen ſeien,
am wenigſten mit mir! Dabei ſahen ſie mit
erſchrecktem Haſſe auf mich, wie auf eine boͤſe
Schlange, und wollten mich mit Vorwuͤrfen und
Fragen beſtuͤrmen, wurden aber zur Ruhe ge¬
wieſen und ich aufgefordert, den Weg anzugeben,
welchen wir gegangen. Sogleich lag derſelbe
deutlich vor meinen Augen, und angefeuert durch
den Widerſpruch und das Laͤugnen eines Maͤhr¬
chens, an welches ich nun ſelbſt glaubte, da ich
mir ſonſt auf keine Weiſe den wirklichen Beſtand
der gegenwaͤrtigen Scene erklaͤren konnte, gab
ich nun Weg und Stege an, die an den Ort
fuͤhren, und nannte hier ein Dorf, dort eine
Bruͤcke oder eine Wieſe. Ich kannte dieſelben
nur vom fluͤchtigen Hoͤrenſagen, und obgleich ich
[222] kaum darauf gemerkt hatte, ſtellte ſich nun jedes
Wort zur rechten Zeit ein. Ferner erzaͤhlte ich,
wie wir unterwegs Nuͤſſe heruntergeſchlagen,
Feuer gemacht und geſtohlene Kartoffeln gebra¬
ten, auch einen Bauernjungen jaͤmmerlich durch¬
geblaͤut haͤtten, welcher uns hindern wollte. Im
Walde angekommen, kletterten meine Gefaͤhrten
auf hohe Tannen und jauchzten in der Hoͤhe,
den Geiſtlichen und den Lehrer mit laͤcherlichen
Spitznamen benennend. Dieſe Spitznamen hatte
ich, uͤber das Aeußere der beiden Maͤnner nach¬
ſinnend, laͤngſt im eigenen Herzen ausgeheckt,
aber nie verlautbart; bei dieſer Gelegenheit
brachte ich ſie zugleich an den Mann, und der
Zorn der Herren war eben ſo groß, als das Er¬
ſtaunen der vorgeſchobenen Knaben. Nachdem
ſie wieder von den Baͤumen heruntergekommen,
ſchnitten ſie große Ruthen und forderten mich
auf, auch auf ein Baͤumchen zu klettern und
oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich
weigerte, banden ſie mich an einen Baum feſt
und ſchlugen mich ſo lange mit den Ruthen, bis
ich Alles ausſprach, was ſie verlangten, auch
[223] jene unanſtaͤndigen Worte. Indeſſen ich rief,
ſchlichen ſie ſich hinter meinem Ruͤcken davon, ein
Bauer kam in demſelben Augenblicke heran, hoͤrte
meine unſittlichen Reden und packte mich bei den
Ohren. »Wart ihr boͤſen Buben!« rief er, »die¬
ſen hab' ich!« und hieb mir einige Streiche.
Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich
ſtehen, waͤhrend es ſchon dunkelte. Mit vieler
Muͤhe riß ich mich los und ſuchte den Heimweg
in dem dunklen Wald. Allein ich verirrte mich,
fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum
Ausgange des Waldes theils ſchwamm, theils
watete, und ſo, nach Beſtehung mancher Ge¬
faͤhrde, den rechten Weg fand. Doch wurde ich
noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen,
bekaͤmpfte denſelben mit einem raſch ausgeriſſenen
Zaunpfahl und ſchlug ihn in die Flucht.


Noch nie hatte man in der Schule eine ſolche
Beredſamkeit an mir bemerkt, wie bei dieſer
Erzaͤhlung. Es kam Niemand in den Sinn,
etwa bei meiner Mutter anfragen zu laſſen, ob
ich eines Tages durchnaͤßt und naͤchtlich nach
Hauſe gekommen ſei? Dagegen brachte man
[224] mit meinem Abenteuer in Zuſammenhang, daß
der Eine und Andere der Knaben nachgewieſener
Maßen die Schule geſchwaͤnzt hatte, gerade um
die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner
großen Jugend ſowohl, wie meiner Erzaͤhlung;
dieſe fiel ganz unerwartet und unbefangen aus
dem blauen Himmel meines ſonſtigen Schwei¬
gens. Die Angeklagten wurden unſchuldig ver¬
urtheilt als verwilderte boͤsartige junge Leute,
da ihr hartnaͤckiges und einſtimmiges Laͤugnen
und ihre gerechte Entruͤſtung und Verzweiflung
die Sache noch verſchlimmerten; ſie erhielten die
haͤrteſten Schulſtrafen, wurden einige Wochen
lang auf die Schandbank geſetzt, und uͤberdies
noch von ihren Eltern geſchlagen und eingeſperrt.


So viel ich mich dunkel erinnere, war mir
das angerichtete Unheil nicht nur gleichguͤltig,
ſondern ich fuͤhlte eher noch eine Befriedigung
in mir, daß die poetiſche Gerechtigkeit meine Er¬
findung ſo ſchoͤn und ſichtbarlich abrundete, daß
etwas Auffallendes geſchah, gehandelt und ge¬
litten wurde, und das in Folge meines ſchoͤpfe¬
riſchen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die
[225] mißhandelten Jungen ſo lamentiren und erboſt
ſein konnten gegen mich, da der treffliche Ver¬
lauf der Geſchichte ſich von ſelbſt verſtand und
ich hieran ſo wenig etwas aͤndern konnte, als
die alten Goͤtter am Fatum.


Die Betroffenen waren ſaͤmmtlich, was man
ſchon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen
koͤnnte, ruhige, geſetzte Knaben, welche bisher
keinen Anlaß zu grobem Tadel gegeben, und aus
denen ſeither ſtille und arbeitſame junge Buͤrger
geworden. Um ſo tiefer wurzelte in ihnen die
Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene
Unrecht, und als ſie es Jahre lang nachher mir
vorhielten, erinnerte ich mich ganz genau wieder
an die vergeſſene Geſchichte, und faſt jedes Wort
ward wieder lebendig. Erſt jetzt quaͤlte mich der
Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wuth, und
ſo oft ich daran denke, ſteigt mir das Blut zu
Kopfe, und ich moͤchte mit aller Gewalt die
Schuld auf jene leichtglaͤubigen Inquiſitoren
ſchieben, ja ſogar die plauderhafte Frau ankla¬
gen, welche auf die verpoͤnten Worte gemerkt
und nicht geruht hatte, bis ein beſtimmter Ur¬
I. 15[226] ſprung derſelben nachgewieſen war. Drei der
ehemaligen Schulgenoſſen verziehen mir und lach¬
ten, als ſie ſahen, wie mich die Sache nachtraͤg¬
lich beunruhigte, und ſie freuten ſich, daß ich zu
ihrer Genugthuung mich alles Einzelnen ſowohl
erinnerte. Nur der Vierte, ein etwas beſchraͤnk¬
ter Menſch, der viele Muͤhe mit dem Leben hat,
konnte niemals einen Unterſchied machen zwiſchen
der Kinderzeit und dem ſpaͤteren Alter, und trug
mir die angethane Unbilde ſo nach, als ob ich ſie
erſt heute, mit dem Verſtande eines Erwachſenen,
begangen haͤtte. Mit dem tiefſten Haſſe geht er
an mir voruͤber, und wenn er mir beleidigende
Blicke zuwirft, ſo vermag ich ſie nicht zu er¬
widern, weil das Unrecht doch auf mir ruht und
Keiner von uns es vergeſſen kann.

[]

Siebentes Kapitel.

Ich hatte mich nunmehr in der Schule zu¬
recht gefunden und befand mich wohl in derſel¬
ben, da das erſte Lernen raſch auf einander
folgte und, leicht faßlich, taͤglich fortſchritt. Auch
die Einrichtung derſelben hatte viel Kurzweiliges,
ich ging gern und eifrig hinein, ſie bildete mein
oͤffentliches Leben und war mir ungefaͤhr, was
dem neugierigen Athenienſer die Gerichtsſtaͤtte
und das Theater. Es war keine oͤffentliche An¬
ſtalt, ſondern das Werk eines gemeinnuͤtzigen
wohlthaͤtigen Vereins, und dazu beſtimmt, bei
dem damaligen Mangel guter niedriger Volks¬
ſchulen, den Kindern duͤrftiger Leute eine beſſere
Erziehung zu verſchaffen, und hieß daher Armen¬
ſchule. Die Peſtalozzi'ſche Unterrichtsweiſe wurde
angewendet, und zwar mit einem Eifer und einer
15 *[228] Hingebung, welche gewoͤhnlich nur Eigenſchaften
von leidenſchaftlichen Privatſchulmaͤnnern zu ſein
pflegen. Mein Vater hatte bei ſeinen Lebzeiten
fuͤr die Einrichtung und fuͤr die Ergebniſſe dieſer
Anſtalt geſchwaͤrmt und oft den Entſchluß aus¬
geſprochen, meine erſten Schuljahre in derſelben
verfließen zu laſſen, ſchon darin eine Erziehungs¬
maßregel ſuchend, daß ich mit den aͤrmſten Kin¬
dern der Stadt meine fruͤhſten Jugendjahre zu¬
braͤchte, und aller Kaſtengeiſt und Hochmuth ſo
im Keime erſtickt wuͤrden. Dieſe Abſicht war
fuͤr meine Mutter ein heiliges Vermaͤchtniß und
erleichterte ihr die Wahl der erſten Schule fuͤr
mich. In einem großen Saale wurden etwa
hundert Kinder unterrichtet, zur Haͤlfte Knaben,
zur Haͤlfte Maͤdchen, vom fuͤnften bis zum zwoͤlf¬
ten Jahre. Sechs lange Schulbaͤnke ſtanden in
der Mitte, von dem einen Geſchlechte beſetzt, jede
bildete eine Altersklaſſe, und davor ſtand ein
vorgeſchrittener Schuͤler von elf bis zwoͤlf Jah¬
ren und unterrichtete die ganze Bank, welche
ihm anvertraut war, indeſſen das andere Ge¬
ſchlecht in Halbkreiſen um ſechs Pulte herum
[229] ſtand, die laͤngs den Waͤnden angebracht waren.
Inmitten jedes Kreiſes ſaß auf einem Stuͤhlchen
ebenfalls ein unterrichtender Schuͤler oder eine
Schuͤlerin. Der Hauptlehrer thronte auf einem
erhoͤhten Katheder und uͤberſah das Ganze, zwei
Gehuͤlfen, aus ehemaligen Schuͤlern herangezogen,
ſtanden ihm bei, machten die Runde durch den
ziemlich duͤſtern Saal, hier und dort einſchrei¬
tend, nachhelfend und die gelehrteſten Dinge
ſelbſt beibringend. Jede halbe Stunde wurde
mit dem Gegenſtande gewechſelt, der Oberlehrer
gab ein Zeichen mit einer Klingel, und nun
wurde ein treffliches Manoͤver ausgefuͤhrt, mit¬
telſt deſſen die hundert Kinder in vorgeſchriebener
Bewegung und Haltung, immer nach der Klin¬
gel, aufſtanden, ſich kehrten, ſchwenkten und durch
einen wohl berechneten Contre-Marſch in einer
Minute die Stellung wechſelten, ſo daß die fruͤ¬
her funfzig Sitzenden nun zu ſtehen kamen und
umgekehrt. Es war immer eine unendlich gluͤck¬
liche Minute, wenn wir, die Haͤnde reglemen¬
tariſch auf dem Ruͤcken verſchraͤnkt, die Knaben
bei den Maͤdchen vorbei marſchirten und unſern
[230] ſoldatiſchen Schritt gegen ihr Gaͤnſegetrippel
hervorzuheben ſuchten. Ich weiß nicht, war es
eine artige herkoͤmmliche Vergeſſenheit, oder eine
Pietaͤt, oder gar eine Abſicht, daß es erlaubt
war, Blumen mitzubringen und waͤhrend des
Unterrichts in den Haͤnden zu halten, wenigſtens
habe ich dieſe huͤbſche Licenz in keiner andern
Schule mehr gefunden; aber es war immer gut
anzuſehen waͤhrend des luſtigen Marſches, wie
faſt jedes Maͤdchen eine Roſe oder eine Nelke in
den Fingern auf dem Ruͤcken hielt, waͤhrend die
Buben die Blumen im Munde trugen, wie
Tabakspfeifen, oder dieſelben burſchikos hinter
die Ohren ſteckten. Es waren alles Kinder von
Holzhackern, Tageloͤhnern, armen Schneidern,
Schuſtern und von almoſengenoͤſſigen Leuten.
Habliche Handwerker durften ihres Ranges und
Credits wegen die Schule nicht benutzen. Da¬
her war ich der beſt und reinlichſt gekleidete
unter den Buben und galt fuͤr halb vornehm,
obgleich ich bald ſehr vertraulich war mit den
buntſcheckig geflickten armen Teufeln, ihren Sit¬
ten und Gewohnheiten, inſofern ſie mir nicht
[231] allzu fremd und unfreundlich waren. Denn ob¬
gleich die Kinder der Armen nicht ſchlimmer und
etwa boshafter ſind, als die der Reichen oder
ſonſt Geborgenen, im Gegentheil eher unſchul¬
diger und gutmuͤthiger, ſo haben ſie doch manch¬
mal aͤußerliche grinſende Derbheiten in ihren
Gebehrden, welche mich bei einigen Mitſchuͤlern
abſtießen.


Die erſte maͤnnliche Kleidung, welche ich er¬
hielt, war gruͤn, da meine Mutter aus der
Schuͤtzenkleidung des Vaters eine Zwillingstracht
fuͤr mich ſchneiden ließ, fuͤr den Sonntag einen
Anzug und fuͤr die Werktage einen. Auch faſt
alle nachgelaſſenen buͤrgerlichen Gewaͤnder waren
von gruͤner Farbe; bis zu meinem zwoͤlften
Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herſtellung
von gruͤnen Jacken und Roͤcklein aus, bei der
großen Strenge und Aufmerkſamkeit der Mutter
fuͤr Schonung und Reinhaltung der Kleider, ſo
daß ich von der unveraͤnderlichen Farbe ſchon
fruͤh den Namen »gruͤner Heinreich« erhielt und
in unſerm Staͤdtchen bis auf den heutigen Tag
trug. Als ſolcher machte ich in der Schule und
[232] auf der Gaſſe bald eine bekannte Figur und be¬
nutzte meine gruͤne Popularitaͤt zur ſteten Fort¬
ſetzung meiner Beobachtungen und chorartiger
Theilnahme an allem, was geſchah und gehan¬
delt wurde. Die thatkraͤftigen und ſtimmfuͤhren¬
den Groͤßen der Bubenwelt ließen meine Naͤhe
immer gelten, nahmen mich in Schutz und ent¬
deckten oͤfter mit wohlwollender Herablaſſung,
daß ich zu mehrerem zu gebrauchen ſei, als es
den Anſchein hatte; Einzelne ſchloſſen ſich an
mich an und blieben mir dann laͤngere Zeit ge¬
treu in allerlei Beſtrebungen. Ich drang mit
den verſchiedenſten Kindern, je nach Beduͤrfniß
und Laune, in die elterlichen Haͤuſer und war
als ein vermeintlich ſtilles gutes Kind gern ge¬
ſehen, waͤhrend ich mir genau den Haushalt und
die Gebraͤuche der armen Leute anſah und dann
wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquar¬
tier bei der Frau Margreth zuruͤckzuziehen, wo
es am Ende immer am meiſten zu ſehen gab.
Sie freute ſich, daß ich bald im Stande war,
nicht nur das Deutſche gelaͤufig vorleſen, ſondern
auch die in ihren alten Buͤchern haͤufigen latei¬
[233] niſchen Lettern erklaͤren zu koͤnnen, ſowie die
arabiſchen Zahlen, die ſie nie verſtehen lernte.
Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frac¬
turſchrift auf Papierzettel, welche ſie aufbewahren
und bequem leſen konnte, und ward auf dieſe
Weiſe ihr kleiner Geheimſchreiber. Schon ſah
ſie, die mich fuͤr ein großes Genie hielt, einen
ihrer zukuͤnftigen, klugen Gluͤckmacher in mir
und war im Voraus meiner glaͤnzenden Lauf¬
bahn froh. Wirklich machte mir das Lernen
weder Muͤhe noch Kummer, und ich war, ohne
zu wiſſen wie, zu der Wuͤrde herangediehen, die
kleineren Genoſſen unterrichten zu duͤrfen. Die¬
ſes gerieth mir zu einer neuen Luſt, vorzuͤglich
weil ich, ausgeruͤſtet mit der Macht zu lohnen
und zu ſtrafen, kleine Schickſale combiniren,
Laͤcheln und Thraͤnen, Freund- und Feindſchaft
hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe
ſpielte ihre erſten ſchwachen Morgenwoͤlkchen da¬
zwiſchen. Wenn ich in einem Halbkreiſe von
neun bis zehn kleinen Maͤdchen ſaß, ſo war der
erſte ehrenvollſte Platz bald zunaͤchſt meiner
Seite, bald war es der letzte, je nach der
[234] Gegend in dem großen Saale. So geſchah es,
daß ich die Maͤdchen, welche ich gern ſah, ent¬
weder fortwaͤhrend oben hielt in der Region des
Ruhmes und der Tugend, oder aber ſie ſtets
niederdruͤckte in die dunkle Sphaͤre der Suͤnde
und der Vergeſſenheit, in beiden Faͤllen immer
zunaͤchſt meinem tyranniſchen Herzen. Dieſes
aber ward ſelbſt reichlich mitbewegt, wenn ich
oft von der ohne Verdienſt erhobenen Schoͤnen
kein Laͤcheln des Dankes erhielt, wenn ſie die
unverdiente Ehre hinnahm, als ob ſie ihr ge¬
buͤhrte und es mir durch muthwillige ruͤckſichts¬
loſe Streiche unendlich erſchwerte, ſie auf der
glatten Hoͤhe zu halten ohne auffallende Unge¬
rechtigkeit. Wenn ich hingegen eine andere Ge¬
liebte, jede kleine Unaufmerkſamkeit benutzend,
nach und nach heruntergebracht hatte bis auf den
letzten ruhmloſen Platz an meiner Seite, nicht
achtend auf ihre kummervollen Thraͤnen oder
vielmehr angenehm durchſchauert durch dieſelben,
ſo ſuchte ich das Leid dann durch verdoppelte
Freundlichkeit aufzuhellen, bis mich die hart¬
naͤckige Trauer, welche nichts von meinen wah¬
[235] ren Gefuͤhlen ahnen wollte, langweilte und ich
die ſproͤde Ungluͤckliche jaͤhlings wieder hinauf¬
jagte in die heitere kuͤhle Hoͤhe, wo ſie wieder
froͤhlich wurde, waͤhrend ich eine kleine unver¬
beſſerliche Suͤnderin ohne Muͤhe an den ihr ge¬
buͤhrenden Schandenplatz herniederdonnerte, wo
dieſelbe gar wohl gedieh, meinem Zorne laͤchelte
und ſich im Geheimen alle moͤglichen Neckereien
gegen mich erlaubte, die ich halb murrend, halb
verliebt erduldete.


Nur zwei Dinge waren mir in dieſer Schule
quaͤlend und unheimlich, und ſind eine unlieb¬
liche Erinnerung geblieben. Das Eine war die
duͤſtere kriminaliſtiſche Weiſe, in welcher die
Schuljuſtiz gehandhabt wurde. Es lag dies
theils noch im Geiſte der alten Zeit, an deren
Graͤnze wir ſtanden, theils in einer Privatlieb¬
haberei der Perſonen, und harmonirte uͤbel mit
dem uͤbrigen guten Ton. Es wurden ausge¬
ſuchte peinliche und infamirende Strafen ange¬
wendet auf dies zarte Lebensalter, und es ver¬
ging faſt kein Monat ohne eine feierliche Execu¬
tion an irgend einem armen Suͤnder. Zwar
[236] wurden meiſtens wirkliche fruͤhzeitige Schlingel
betroffen, war aber immerhin verkehrt, indem es
die Kinder zu einem fruͤhen gelaͤufigen Verdam¬
men und Phariſaͤerthum hinfuͤhrte; ſo ſchon iſt
es eine ſeltſame Erſcheinung, daß die Kinder,
ſelbſt wenn ſie das Bewußtſein des gleichen
Fehlers in ſich haben, aber verſchont geblieben
ſind, ein beſtraftes und bezeichnetes verachten,
verfolgen und verhoͤhnen, bis die letzten Wir¬
kungen verklungen oder die Verfolger ſelbſt in
das Netz gefallen ſind. So lange das goldene
Zeitalter nicht gekommen, muͤſſen kleine Buben
gepruͤgelt werden; ich fuͤhle die doppelte Wohl¬
that noch jetzt nach, wie mich ein tuͤchtiger Pruͤ¬
gelſchauer wie ein Gewitter von einer druͤckenden
Schwuͤle befreite und einem friſchen Wohlver¬
halten wieder Raum verſchaffte, da ich zu Hauſe
nie gezuͤchtigt wurde. Allein einen widerlichen
Eindruck machte es, wenn ein boͤſer Junge, nach
gehaltener Standrede, in ein abgelegenes Zim¬
mer gefuͤhrt, dort ausgezogen, auf eine Bank
gelegt und abgehauen wurde, oder als einmal
ein ziemlich großes Maͤdchen mit einer umgehaͤng¬
[237] ten Tafel auf einem Schranke ſtehen mußte,
einen ganzen Tag lang. Ich hatte großes Mit¬
leid mit ihr, obgleich ſie etwas Großes begangen
haben mußte. Vielleicht war ſie auch unſchuldig
verurtheilt! Ein paar Jahre ſpaͤter ertraͤnkte ſich
das gleiche Maͤdchen waͤhrend des Confirmations-
Unterrichtes, ich weiß nicht mehr weshalb, er¬
innere mich aber noch der trauernden Theil¬
nahme, welche ich fuͤr die Todte hegte, als ich ſie
begraben ſah, gefolgt von einer großen Schaar
weiß gekleideter Maͤdchen zwiſchen fuͤnf- und
ſechszehn Jahren, welche Blumen trugen. Man
erwies ihr, ungeachtet ihres unchriſtlichen Todes,
dieſe Ehre ihrer Jugend wegen, weil man zu¬
gleich das grelle Ereigniß damit verhuͤllen und
maͤßigen konnte.


Die andere peinliche Erinnerung an jene
Schulzeit ſind mir der Katechismus und die
Stunden, waͤhrend deren wir uns damit beſchaͤf¬
tigen mußten. Ein kleines Buch voll hoͤlzerner,
blutloſer Fragen und Antworten, losgeriſſen aus
dem friſchen Leben der bibliſchen Schriften, nur
geeignet, den duͤrren Verſtand bejahrter und ver¬
[238] ſtockter Menſchen zu beſchaͤftigen, mußte waͤhrend
der ſo unendlich ſcheinenden Jugendjahre in
ewigem Wiederkaͤuen auswendig gelernt und in
verſtaͤndnißloſem Dialoge hergeſagt werden. Harte
Worte und harte Bußen waren die Aufklaͤrungen,
beklemmende Angſt, keines der dunklen Worte
zu vergeſſen, die Anfeuerung zu dieſem religioͤſen
Leben. Einzelne Pſalmſtellen und Liederſtrophen,
ebenfalls aus allem Zuſammenhange gezerrt und
deshalb unlieber einzupraͤgen, als ein ganzes
organiſches Gedicht, verwirrten das Gedaͤchtniß,
anſtatt es zu uͤben. Wenn man dieſe, gegen die
verwilderte Suͤndhaftigkeit ausgewachſener Men¬
ſchen gerichteten, vierſchroͤtigen nackten Gebote
neben den uͤberſinnlichen und unfaßlichen Glau¬
bensſaͤtzen gereiht ſah, ſo fuͤhlte man nicht den
Geiſt wehen einer ſanften menſchlichen Ent¬
wicklung, ſondern den ſchwuͤlen Hauch eines
rohen und ſtarren Barbarenthums, wo es einzig
darauf ankommt, den jungen, zarten Nachwuchs
auf der Schnell- und Zwangbleiche ſo fruͤh als
moͤglich fuͤr den ganzen Umfang des beſtehenden
Lebens und Denkens fertig und verantwortlich
[239] zu machen. Die Pein dieſer Disciplin erreichte
ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die
Reihe an mich kam, am Sonntage in der Kirche,
vor der ganzen Gemeinde, mit lauter vernehm¬
licher Stimme das wunderliche Zwiegeſpraͤch mit
dem Geiſtlichen zu fuͤhren, welcher in weiter
Entfernung von mir auf der Kanzel ſtand, und
wo jedes Stocken und Vergeſſen zu einer Art
Kirchenſchande gereichte. Viele Kinder ſchoͤpften
zwar gerade aus dieſer Uebung Gelegenheit, mit
Salbung und Zungengelaͤufigkeit, wohl gar mit
ihrer Frechheit zu prunken, und der Tag gerieth
ihnen immer zu einem Triumph- und Freuden¬
tag. Gerade bei dieſen erwies es ſich aber jeder¬
zeit, daß Alles eitel Schall und Rauch geweſen.
Es giebt geborene Proteſtanten, und ich moͤchte
mich zu dieſen zaͤhlen, weil nicht ein Mangel an
religioͤſem Sinne, ſondern, freilich mir unbewußt,
ein letztes feines Raͤuchlein verſchollener Scheiter¬
haufen, durch die hallende Kirche ſchwebend, mir
den Aufenthalt widerlich machte, wenn die ein¬
toͤnigen Gewaltſaͤtze hin und her geworfen wur¬
den. Nicht als ob ich mir einbilden wollte, ein
[240] ſcharfſinnig polemiſches Wunderkind geweſen zu
ſein; ſondern es war reine Sache des angebore¬
nen Gefuͤhles.


So wurde ich gewaltſam auf meinen Privat¬
verkehr mit Gott zuruͤckgedraͤngt, und ich be¬
harrte auf meiner Sitte, meine Gebete und Ver¬
handlungen ſelbſt zu verfaſſen nach meinem Be¬
duͤrfniſſe, und ſie auch in Anſehung der Zeit nur
dann anzuwenden, wenn ich ihrer bedurfte. Ein¬
zig das Vaterunſer wurde Morgens und Abends
regelmaͤßig, aber lautlos, gebetet.


Aber nicht nur Dieſes geſchah. Auch aus
meinem inneren und aͤußeren Spiel- und Luſt¬
leben wurde der liebe Gott verdraͤngt, und konnte
weder durch die Frau Margreth, noch durch
meine Mutter darin erhalten werden. Fuͤr lange
Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einem
proſaiſchen nuͤchternen Gedanken, in dem Sinne,
wie die falſchen Poeten das wirkliche Leben fuͤr
proſaiſch halten im Gegenſatze zu dem erfundenen
und fabelhaften. Das Leben, die ſinnliche Natur
waren merkwuͤrdiger Weiſe mein Maͤhrchen, in dem
ich meine Freude ſuchte, waͤhrend Gott fuͤr mich
[241] zu der nothwendigen, aber nuͤchternen und ſchul¬
meiſterlichen Wirklichkeit wurde, zu welcher ich
nur zuruͤckkehrte, wie ein muͤdgetummelter, hun¬
griger Knabe zur alltaͤglichen Hausſuppe, und
mit der ich ſo ſchnell fertig zu werden ſuchte als
moͤglich. Solches bewirkte die Art und Weiſe,
wie die Religion und meine Kinderzeit zuſam¬
mengekuppelt wurden. Wenigſtens kann ich mich
trotz dem, daß jene ganze Zeit wie ein heller
Spiegel vor mir liegt, nicht entſinnen, daß ich
vor dem Erwachen der Vernunft je einen An¬
dachtſchauer, wenn auch noch ſo kindlich, empfun¬
den haͤtte.


Selbſt die bibliſchen Geſchichten, welche wir
laſen, verſchmolzen ſich ganz mit den weltlichen
Unterhaltungen, und ich gewann an der Ge¬
ſchichte Joſephs und ſeiner Bruͤder und andern
praͤchtigen Epiſoden nur einen Stoff mehr fuͤr
meine profanen Compoſitionen. Aus dieſem
Grunde waren die bibliſchen Erzaͤhlungen, wie
ſie gewoͤhnlich fuͤr Kinder ausgezogen werden,
lange Zeit mein Hauptbuch neben der [Bibliothek]
der Frau Margreth, und nur ſelten fuͤhrte mich
I. 16[242] ein Anflug von Gelehrſamkeit dazu, mich in die
Bibel zu vertiefen und ein ergiebiges Quellen¬
ſtudium zu betreiben, da der hohe Schwung der
Sprache fuͤr das Kind unzugaͤnglich war und
nur Stoff zum Laͤcherlichmachen deſſen gab, was
ich nicht begriff.


Ich betrachte dieſe halb gottloſe Zeit gerade
der weichſten und bildſamſten Jahre, welche deren
wohl ſieben bis achte andauerte, als eine kalte
oͤde Strecke, und weiſe die Schuld einzig auf
den Katechismus und ſeine Handhaber. Denn
wenn ich recht ſcharf in jenen vergangenen daͤm¬
merhaften Seelenzuſtand zuruͤckzudringen verſuche,
ſo entdecke ich noch wohl, daß ich den Gott meiner
Kindheit nicht liebte, ſondern nur brauchte, und
daß damit das lebendige Gefuͤhl der Liebe auch
fuͤr alles uͤbrige Leben nicht zum Erwachen kam
und nur ſchwer durch die unnatuͤrlich uͤbergewor¬
fene Eisdecke dringen konnte. Jetzt erſt wird
mir der truͤbe kalte Schleier ganz deutlich, wel¬
cher uͤber jener Zeit liegt und mir dazumal die
Haͤlfte des Lebens verhuͤllte, mich bloͤde und
ſcheu machte, daß ich die Leute nicht verſtand
[243] und mich ſelbſt nicht zu erkennen geben konnte
in meiner vollen Natur, ſo daß die weiſen Er¬
zieher vor mir ſtanden, als vor einem Raͤthſel,
und ſagten: Dieſes iſt ein ſeltſames Gewaͤchs,
man weiß nicht viel damit anzufangen!


Deſto eifriger verkehrte ich im Stillen mit
mir ſelbſt, in der Welt, die ich mir allein zu
bauen gezwungen war. Meine Mutter kaufte
mir nur aͤußerſt wenig Spielzeug, immer und
einzig darauf bedacht, jeden Heller fuͤr meine
Zukunft zu ſparen, und erachtete in ihrem Sinne
jede Ausgabe fuͤr uͤberfluͤſſig, welche nicht un¬
mittelbar fuͤr das Nothwendigſte geopfert wurde.
Sie ſuchte mich dafuͤr durch fortwaͤhrende muͤnd¬
liche Unterhaltungen zu beſchaͤftigen, und erzaͤhlte
mir tauſend Dinge aus ihrem vergangenen Leben
ſowohl, wie aus dem Leben anderer Leute, indem
ſie in unſerer Einſamkeit ſelbſt eine ſuͤße Ge¬
wohnheit darin fand. Aber dieſe Unterhaltung,
ſo wie das Treiben im wunderlichen Nachbar¬
hauſe konnte doch zuletzt meine Stunden nicht
ausfuͤllen, und ich beduͤrfte eines ſinnlichen
Stoffes, welcher meiner ſchaffenden Gewalt an¬
16 *[244] heimgegeben war. So war ich bald darauf an¬
gewieſen, mir mein Spielzeug ſelbſt zu ſchaffen.
Das Papier, das Holz, die gewoͤhnlichen Aus¬
helfer in dieſem Falle, waren ſchnell abgebraucht,
beſonders da ich keinen maͤnnlichen Mentor hatte,
welcher mich mit Handgriffen und Kuͤnſten be¬
kannt machte. Was ich ſo bei den Menſchen
nicht fand, das gab mir die ſtumme Natur. Ich
ſah aus der Ferne bei vornehmern Knaben, daß
ſie artige kleine Naturalienſammlungen beſaßen,
beſonders Steine und Schmetterlinge, und von
ihren Lehrern und Vaͤtern angeleitet wurden,
dergleichen ſelbſt auf ihren Ausfluͤgen zu ſuchen.
Ich ahmte dieſes nun auf eigene Fauſt nach und
begann gewagte Reiſen laͤngs der Bach- und
Flußbette zu unternehmen, wo ein buntes Ge¬
ſchiebe an der Sonne lag. Bald hatte ich eine
gewichtige Sammlung glaͤnzender und farbiger
Mineralien beiſammen, Glimmer, Quarze, bunte
Kieſel und ſolche Steine, welche mir durch ihre
abweichende Form auffielen, wie Schieferſtuͤcke,
gegenuͤber einem ſeltſam verwaſchenen Kieſel ꝛc.
Glaͤnzende Schlacken, aus Huͤttenwerken in den
[245] Strom geworfen, hielt ich ebenfalls fuͤr werth¬
volle Stuͤcke, Glasperlen fuͤr Edelſteine, und der
Troͤdelkram der Frau Margreth lieferte mir
einigen Abfall an polirten Marmorſcherben und
halb durchſichtigen Alabaſterſchnoͤrkeln, welche
uͤberdies noch eine antiquariſche Glorie durch¬
drang. Fuͤr dieſe Dinge verfertigte ich Faͤcher
und Behaͤlter und legte ihnen wunderlich be¬
ſchriebene Zettel bei. Wenn die Sonne in unſer
Hoͤfchen ſchien, ſo ſchleppte ich den ganzen
Schatz herunter, wuſch Stuͤck fuͤr Stuͤck in dem
kleinen Bruͤnnlein und breitete ſie nachher an
der Sonne aus, um ſie zu trocknen, mich an
ihrem Glanze erfreuend. Dann ordnete ich ſie
wieder in die Schachteln und huͤllte die glaͤn¬
zendſten Dinge ſorglich in Baumwolle, welche
ich aus den großen Ballen am Hafenplatze ge¬
zupft hatte. So trieb ich es lange Zeit; allein
es war nur der aͤußere Schein, der mich erbaute,
und als ich ſah, daß jene Knaben fuͤr jeden Stein
einen beſtimmten Namen beſaßen und zugleich
viel Merkwuͤrdiges, was mir unzugaͤnglich war,
wie Kryſtalle und Erze, auch ein Verſtaͤndniß
[246] dafuͤr gewannen, welches mir durchaus fremd
war, ſo ſtarb mir das ganze Spiel ab und be¬
truͤbte mich. Dazumal konnte ich nichts Todtes
und Weggeworfenes um mich liegen ſehen, was
ich nicht brauchen konnte, verbrannte ich haſtig
oder entfernte es weit von mir; ſo trug ich eines
Tages die ſaͤmmtliche Laſt meiner Steine mit
vieler Muͤhe an den Strom hinaus, verſenkte ſie
in die Wellen und ging ganz traurig und nie¬
dergeſchlagen nach Hauſe.


Nun verſuchte ich es mit den Schmetterlin¬
gen und Kaͤfern. Meine Mutter verfertigte mir
ein Garn und ging oft ſelbſt mit mir auf die
Wieſen hinaus; denn die Einfachheit und Billig¬
keit dieſer Spiele leuchteten ihr ein. Ich fing
zuſammen, weſſen ich habhaft werden konnte,
und ſetzte eine Unzahl Raupen in Gefangenſchaft.
Allein ich kannte die Speiſe dieſer Letzteren nicht
und wußte ſie ſonſt nicht zu behandeln, ſo daß
kein Schmetterling aus meiner Zucht hervorging.
Die lebendigen Schmetterlinge aber, welche ich
fing, wie die glaͤnzenden Kaͤfer, machten mir ſaure
Muͤhe mit dem Toͤdten und dem unverſehrten
[247] Erhalten; denn die zarten Thiere behaupteten eine
zaͤhe Lebenskraft in meinen moͤrderiſchen Haͤnden,
und bis ſie endlich leblos waren, fand ſich Duft
und Farbe zerſtoͤrt und verloren, und es ragte
auf meinen Nadeln eine zerfetzte Geſellſchaft er¬
barmungswuͤrdiger Maͤrtyrer. Schon das Toͤdten
an ſich ſelbſt ermuͤdete mich und regte mich zu
zu ſehr auf, indem ich die zierlichen Geſchoͤpfe
nicht leiden ſehen konnte. Dieſes war keine un¬
kindliche Empfindſamkeit; mir widerwaͤrtige oder
gleichguͤltige Thiere konnte ich ſo gut mißhandeln
wie alle Kinder; es war vielmehr ein ariſtokra¬
tiſches Mitgefuͤhl fuͤr dieſe edleren Kreaturen,
denen ich wohl gewogen war. Jeder der unſeligen
Reſte machte mich um ſo melancholiſcher, als er
das Denkmal eines im Freien zugebrachten Ta¬
ges und eines Abenteuers war. Die Zeit von
ſeiner Gefangennehmung bis zu ſeinem qual¬
vollen Tode war ein Schickſal, welches mich
intereſſirte, und die ſtummen Ueberbleibſel redeten
eine vorwurfsvolle Sprache zu mir.


Auch dieſe Unternehmung ſcheiterte endlich,
als ich zum erſten Male eine große Menagerie
[248] ſah. Sogleich faßte ich den Entſchluß, eine
ſolche anzulegen, und baute eine Menge Kaͤfige
und Zellen. Mit vielem Fleiße wandelte ich da¬
zu kleine Kaͤſtchen um, verfertigte deren aus
Pappe und Holz und ſpannte Gitter von Draht
oder Faden davor, je nach der Staͤrke des Thie¬
res, welches dafuͤr beſtimmt war. Der erſte In¬
ſaſſe war eine Maus, welche mit eben der Um¬
ſtaͤndlichkeit, mit welcher ein Baͤr inſtallirt wird,
aus der Mauſefalle in ihren Kerker hinuͤbergelei¬
tet wurde. Dann folgte ein junges Kaninchen;
einige Sperlinge, eine Blindſchleiche, eine groͤßere
Schlange, mehrere Eidechſen verſchiedener Farbe
und Groͤße, ein maͤchtiger Hirſchkaͤfer mit vielen
andern Kaͤfern ſchmachteten bald in den Behaͤl¬
tern, welche ordentlich auf einander gethuͤrmt
waren. Mehrere große Spinnen verſahen in
Wahrheit die Stelle der wilden Tiger fuͤr mich,
da ich ſie entſetzlich fuͤrchtete und nur mit großem
Umſchweife gefangen hatte. Mit ſchauerlichem
Behagen betrachtete ich die Wehrloſen, bis eines
Tages eine Kreuzſpinne aus ihrem Kaͤfige brach
und mir raſend uͤber Hand und Kleid lief. Der
[249] Schrecken vermehrte jedoch mein Intereſſe an der
kleinen Menagerie, und ich fuͤtterte ſie ſehr regel¬
maͤßig, fuͤhrte auch andere Kinder herbei und er¬
klaͤrte ihnen die Beſtien mit großem Pathos.
Ein junger Weih, welchen ich erwarb, war der
große Koͤnigsadler, die Eidechſen Krokodille, und
die Schlangen wurden ſorgſam aus ihren Tuͤ¬
chern hervorgehoben und einer Puppe um die
Glieder gelegt. Dann ſaß ich wieder ſtunden¬
lang allein vor den trauernden Thieren und be¬
trachtete ihre Bewegungen. Die Maus hatte
ſich laͤngſt durchgebiſſen und war verſchwunden,
die Blindſchleiche war laͤngſt zerbrochen, ſo wie
die Schwaͤnze ſaͤmmtlicher Krokodille, das Kanin¬
chen war mager wie ein Gerippe und hatte doch
keinen Platz mehr in ſeinem Kaͤfig, alle uͤbrigen
Thiere ſtarben ab und machten mich melancholiſch,
ſo daß ich beſchloß, ſie ſaͤmmtlich zu toͤdten und
zu begraben. Ich nahm ein duͤnnes langes
Eiſen, machte es gluͤhend und drang mit zittern¬
der Hand damit durch die Gitter und begann
ein graͤuliches Blutbad anzurichten. Aber die
Geſchoͤpfe waren mir alle lieb geworden, auch
[250] erſchreckte mich das Zucken des zerſtoͤrten Orga¬
nismus und ich mußte inne halten. Ich eilte in
den Hof hinunter, machte eine Grube unter den
Vogelbeerbaͤumchen, worin ich die ganze Samm¬
lung, todte, halbtodte und lebende, in ihren Ka¬
ſten kopfuͤber warf und eilig verſcharrte. Meine
Mutter ſagte, als ſie es ſah, ich haͤtte die Thiere
nur wieder ins Freie tragen ſollen, wo ich ſie
geholt haͤtte, vielleicht waͤren ſie dort wieder ge¬
ſund geworden. Ich ſah dies ein und bereute
meine That: der Raſenplatz war aber lange eine
ſchauerliche Staͤtte fuͤr mich, und ich wagte nie
jener kindlichen Neugierde zu gehorchen, welche
es immer antreibt, etwas Vergrabenes wieder
auszugraben und anzuſehen.


Bei Frau Margreth that ſich mir die naͤchſte
Spielerei auf. In einer verruͤckten, markt¬
ſchreieriſchen Theoſophie, welche ich unter ihren
Buͤchern fand, war eine Anweiſung enthalten,
die vier Elemente zu veranſchaulichen, nebſt an¬
dern kindiſchen Experimenten und den dazu ge¬
hoͤrigen Tafeln. Nach dieſen Vorſchriften nahm
ich eine große Phiole, fuͤllte ſie zum Viertheile
[251] mit Sand, zum Viertheile mit Waſſer, dann
mit Oel und das letzte Viertheil ließ ich mit
Luft gefuͤllt. Die Materien ſonderten ſich nach
ihrer Schwere aus einanander und ſtellten nun
in dem geſchloſſenen Raume die vier Elemente
vor, Erde, Waſſer, Feuer (das Brennoͤl!) und
Luft. Ich ſchuͤttelte ſie tuͤchtig durch einander,
daraus entſtand das Chaos, welches ſich wieder
aufs Schoͤnſte abklaͤrte, und ich ſaß ſehr ver¬
gnuͤgt vor der hoͤchſt gelehrten Erſcheinung.


Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete
darauf, nach den Angaben jenes Buches, große
Sphaͤren mit Kreiſen und Linien kreuz und quer,
farbig begraͤnzt und mit Zahlen und lateiniſchen
Lettern beſetzt. Die vier Weltgegenden, Zonen
und Pole, Himmelsraͤume, Elemente, Tempera¬
mente, Tugenden und Laſter, Menſchen und Gei¬
ſter, Erde, Hoͤlle, Zwiſchenreich, die ſieben Him¬
mel, Alles war toll und doch nach einer gewiſſen
Ordnung durch einander geworfen und gab ein
angeſtrengtes, lohnendes Bemuͤhen. Alle Sphaͤren
wurden mit entſprechenden Seelen bevoͤlkert,
welche darin gedeihen konnten. Ich bezeichnete
[252] ſie mit Sternen und dieſe mit Namen; der gluͤck¬
ſeligſte war mein Vater, zunaͤchſt dem Auge
Gottes, noch innerhalb des Dreieckes, und ſchien
durch dieſes allſehende Auge auf die Mutter und
mich herunter zu ſchauen, welche in den ſchoͤnſten
Gegenden der Erde ſpazierten. Meine Wider¬
ſacher aber ſchmachteten ſaͤmmtlich in der Hoͤlle,
wo der Boͤſe mit einem anſehnlichen Schwanze
begabt war. Je nach dem Verhalten der Men¬
ſchen veraͤnderte ich ihre Stellungen, befoͤrderte
ſie in reinere Gegenden oder ſetzte ſie zuruͤck, wo
Heulen und Zaͤhnklappen war. Manchen ließ ich
pruͤfungsweiſe im Unbeſtimmten ſchweben, ſperrte
auch wohl zwei, die ſich im Leben nicht aus¬
ſtehen mochten, zuſammen in eine abgelegene
Region, indeſſen ich zwei Andere, die ſich gern
hatten, trennte, um ſie nach vielen Pruͤfungen
zuſammenzubringen an einem gluͤckſeligeren Orte.
Ich fuͤhrte ſo ganz im Geheimen eine genaue
Ueberſicht und Schickſalsbeſtimmung aller mir
bekannten Leute, jung und alt.


In der Theoſophie war ferner anbefohlen,
geſchmolzenes Wachs in Waſſer zu gießen, um
[253] ich weiß nicht mehr was zu verſinnbildlichen.
Ich fuͤllte mehrere Arzneiglaͤſer mit Waſſer und
beluſtigte mich an den Bildungen, welche durch
das hineingegoſſene Wachs entſtanden, verſchloß
die Glaͤſer und vermehrte dadurch meine gelehrte
Sammlung. Dieſes Glaͤſerweſen ſagte mir ſehr
zu und ich fand einen neuen Stoff dafuͤr, als
ich einſt mit tiefem Grauen durch eine kleine
anatomiſche Sammlung lief, welche dem ſtaͤdtiſchen
Krankenhauſe beigegeben war. Einige Reihen
von Embryonen und Foͤten in ihren Glaͤſern
jedoch erwarben ſich meinen lebhaften Beifall
und boten einen trefflichen Gegenſtand fuͤr meine
Sammlung dar, indem ich dergleichen nachzubil¬
den verſuchte. In einem Schranke verwahrte die
Mutter die aufgeſchichtete Leinwand ihrer Jugend¬
zeit in rohen und gebleichten Stuͤcken, und da¬
ſelbſt lagen auch, verborgen und vergeſſen, meh¬
rere Scheiben reinlichen Wachſes, die verjaͤhrten
Zeugen einer einſtigen fleißigen Bienenzucht.
Von dieſen brach ich immer anſehnlichere Stuͤcke
los und formte nun im Kleinen ſolche gro߬
koͤpfige wunderliche Burſchen, wie ich ſie geſehen,
[254] und beſtrebte mich, die Verſchiedenheit ihrer
phantaſtiſchen Bildung noch zu vergroͤßern. Ich
trieb Glaͤſer auf, ſo viel ich konnte, von allen
Formen und Groͤßen, und richtete die Bildwerke
darnach ein. In langen ſchmalen Koͤlniſchwaſſer¬
flaſchen, denen ich die Haͤlſe abſchlug, baumelten
eben ſo lange ſchmaͤchtige Geſellen an ihrem Fa¬
den, in kurzen dicken Salbenglaͤſern hauſten
knollenartige Gewaͤchſe. Statt mit Weingeiſt
fuͤllte ich die Glaͤſer mit Waſſer an und gab
jedem Bewohner derſelben einen Namen, welcher
meinem humoriſtiſchen Intereſſe entſprach, das
uͤber der beluſtigenden Arbeit aus dem bloß ge¬
lehrten entſtanden war. Es waren ſchon einige
dreißig Mitglieder dieſes artigen Vereins bei¬
ſammen und das Wachs nahezu aufgebraucht,
als ich meine Geſchoͤpfe taufte mit Namen, wie:
Schnurper, Fark, Vogelmann, Saͤbelbein, Schnei¬
der, Schmerbauch, Nabelhans, Wachsbeißer,
Waͤchſerich, Honigteufel u. dgl., und ich empfand
ein dauerndes Vergnuͤgen, indem ich zugleich fuͤr
Jeden eine kurze Lebensbeſchreibung verfaßte, die
ſich in dem Berge zugetragen hatte, aus welchem
[255] nach unſerm Ammenmaͤhrchen die kleinen Kinder
geholt werden. Ich verfertigte auch eigene
Sphaͤrentafeln fuͤr ſie, worauf Jeder verzeichnet
war mit ſeiner tugendlichen oder ſchlimmen Auf¬
fuͤhrung, und wenn Einer mein Mißfallen er¬
regte, ſo wurde er ſo gut an einen ſchlechtern
Ort gebracht als die lebendigen Leute. Ich trieb
dieſe Dinge alle in einer abgelegenen Kammer,
wo ich eines Abends in der Daͤmmerung alle
Glaͤſer auf meinen Lieblingstiſch ſtellte, ein altes
braunes Moͤbel mit etlichen Auszuͤgen. Ich
reihte die Glaͤſer in einen großen Kreis, die vier
Elemente in der Mitte, und breitete meine bun¬
ten Tabellen aus, beleuchtet von einigen Wachs¬
maͤnnern, denen Dochte aus erhobenen Haͤnden
brannten, und vertiefte mich nun in die Con¬
ſtellationen auf den Karten, waͤhrend ich die be¬
treffenden Schickſalstraͤger einzeln vortreten ließ
und muſterte, den Waͤchſerich und den Huͤrli¬
mann, den Meyer oder den Vogelmann. Von
Ungefaͤhr ſtieß ich an den Tiſch, daß alle Glaͤſer
erzitterten und die Wachsmaͤnnchen ſchwankten
und zappelten. Dies gefiel mir, ſo daß ich an¬
[256] fing, nach dem Tacte auf den Tiſch zu ſchlagen,
wozu die Geſellen tanzten, ich ſchlug immer ſtaͤr¬
ker und wilder und ſang dazu, bis die Glaͤſer
wie toll an einander ſchlugen und erklangen.
Auf einmal ſchneuzte es in einer Ecke, ein Paar
feurige Augen funkelten hervor. Eine fremde
große Katze war in die Kammer geſperrt, hatte
ſich bisher ruhig verhalten und wurde nun ſcheu.
Ich wollte ſie verſcheuchen, da ſtellte ſie ſich dro¬
hend gegen mich, ſtraͤubte die Haare und puſtete
gewaltig; ich machte in der Angſt ein Fenſter
auf und warf ein Glas nach ihr, ſie ſprang hin¬
auf, konnte aber nicht weiter gelangen und kehrte
ſich wieder gegen mich. Nun ſchleuderte ich einen
Wachsmann um den andern auf ſie, ſie ſchuͤttelte
ſich furchtbar und ruͤſtete ſich zum Sprunge, und
als ich zuletzt die vier Elemente ihr an den Kopf
warf, fuͤhlte ich ihre Krallen an meinem Halſe.
Ich fiel am Tiſch nieder, die Lichter loͤſchten aus
und ich ſchrie in der Dunkelheit, obgleich die
Katze ſchon wieder weg war. Meine Mutter
trat herein, waͤhrend dieſelbe hinausſchluͤpfte, und
fand mich halb bewußtlos und blutend am Boden
[257] liegen mitten in den Glasſcherben, Waſſerbaͤchen
und Kobolden. Sie hatte nie auf mein Trei¬
ben in der Kammer geachtet, zufrieden, daß ich
ſo ſtill und vergnuͤglich war, und wußte ſich nun
meine ganze Geſchichte und verwirrte Erzaͤhlung
um ſo weniger zu reimen. Inzwiſchen entdeckte
ſie die gewaltige Abnahme ihres Wachſes und
betrachtete nun mit halbem Zorne und halber
Lachluſt die Truͤmmer der untergegangenen
Welt.


Die Sache machte Aufſehen. Frau Margreth
ließ ſich erzaͤhlen und die bemalten Bogen nebſt
uͤbrigen Truͤmmern zeigen, und fand Alles hoͤchſt
bedenklich. Sie befuͤrchtete, daß ich am Ende in
ihren Buͤchern gefaͤhrliche Geheimniſſe geſchoͤpft
haͤtte, welche bei ihrem mangelhaften Leſen ihr
ſelbſt unzugaͤnglich waͤren, und verſchloß die be¬
denklichſten Buͤcher mit hoͤchſt bedeutungsvollem
Ernſte. Jedoch konnte ſie ſich einer gewiſſen
Genugthuung nicht erwehren, da es ſich zu be¬
ſtaͤtigen ſchien, wie hinter dieſen Sachen mehr
ſtecke, als man geglaubt habe. Sie war der
feſten Meinung, daß ich auf dem beſten Wege
I. 17[258] geweſen ſei, durch ihre Buͤcher ein angehender
Zaubermann zu werden.


Ueber ſolchen Mißgeſchicken verleidete mir die
einſame Beſchaͤftigung im Hauſe und ich ſchloß
mich nun einigen Knaben an, welche ſich gut zu
unterhalten ſchienen, indem ſie in einem großen
alten Faſſe Komoͤdie ſpielten. Sie hatten einen
Vorhang davorgezogen und ließen eine beguͤn¬
ſtigte Anzahl Kinder reſpectvoll harren, bis ſie
ihre geheimnißvollen Vorbereitungen geendet.
Dann wurde das Heiligthum geoͤffnet, einige
Ritter in papiernen Ruͤſtungen fuͤhrten ein ge¬
draͤngtes Zwiegeſpraͤch tuͤchtiger Schimpfreden,
um ſich darauf ſchleunigſt durchzublaͤuen und un¬
ter dem Fallen des durchloͤcherten Teppichs todt
hinzuſtrecken. Ich wurde bald eingeweiht als ein
anſtelliger Junge und brachte vor Allem aus
einen beſtimmteren Stoff in das Faß, indem ich
kurze Handlungen aus der bibliſchen Geſchichte
oder den Volksbuͤchern auszog und die vorkom¬
menden Reden woͤrtlich abſchrieb und durch einige
Wendungen verband. Ich fand auch, daß es
wuͤnſchbar waͤre, wenn die Helden einen beſon¬
[259] dern Eingang haͤtten, um vorher ungeſehen auf¬
treten zu koͤnnen. Deshalb wurde in die Hin¬
terwand ein Loch geſaͤgt, geſchnitten und gekratzt,
bis ein Wohlgewappneter beſcheiden durchkriechen
konnte, was ſehr poſſierlich ausſah, wenn er mit
ſeinen donnernden Reden begann, ehe er ſich voͤl¬
lig aufgerichtet hatte. Sodann wurden gruͤne
Zweige geholt, um das Innere des Faſſes in
einen Wald umzuwandeln; ich nagelte ſie rings
herum feſt und ließ nur oben das Spundloch
frei, durch welches uͤberirdiſche Stimmen hernie¬
derzuſchallen hatten. Ein Junge brachte eine an¬
ſehnliche Duͤte Theatermehl und hiermit ein neues
praͤchtiges Element in unſere Beſtrebungen.


Eines Tages wurde David und Goliath ge¬
geben. Die Philiſter ſtanden auf dem Plane,
fuͤhrten ſich heidniſch auf und traten vor das
Faß hinaus in das Proſcenium. Dann krochen
die Kinder Iſrael herein, lamentirten und waren
verzagt und traten auf die andere Seite des
Einganges, als Goliath, ein großer Bengel, er¬
ſchien und uͤbermuͤthige Poſſen machte zum gro¬
ßen Gelaͤchter beider Heere und des Publicums,
[260] bis David, ein unterwachſener biſſiger Junge,
ploͤtzlich dem Unfug ein Ende machte und dem
Rieſen aus ſeiner Schleuder, die er trefflich
fuͤhrte, eine große Roßkaſtanie an die Stirne
ſchleuderte. Daruͤber wurde dieſer wuͤthend und
hieb dem David eben ſo derb auf den Kopf, und
ſogleich waren beide im heftigſten Raufen in ein¬
ander verknaͤuelt. Die Zuſchauer und die beiden
Choͤre klatſchten Beifall und nahmen Partei; ich
ſelbſt ſaß rittlings oben auf dem Faſſe, ein Licht¬
ſtuͤmpfchen in der einen und eine thoͤnerne Pfeife
mit Colophonium in der andern Hand, und blies
als Zeus Donnerer gewaltige, ununterbrochene
Blitze durch das Spundloch hinein, daß die
Flammen durch das gruͤne Laub zuͤngelten und
das Silberpapier auf Goliaths Helm magiſch
erglaͤnzte. Dann und wann guckte ich ſchnell
durch das Loch hinunter, um dann die tapfer
Kaͤmpfenden ferner wieder mit Blitzen anzufeuern,
und hatte kein Arges, als die Welt, welche ich
zu beherrſchen waͤhnte, ploͤtzlich auf ihrem Lager
wankte, uͤberſchlug und mich aus meinem Him¬
mel ſchleuderte; denn Goliath hatte endlich den
[261] David uͤberwunden und mit Gewalt an die
Wand geworfen. Es gab ein großes Geſchrei,
der Eigenthuͤmer des Faſſes kam heran und
ſchloß kraft hoͤheren Machtſpruches das rollende
Haus, nicht ohne Schelten und ausgetheilte Puͤffe,
als er die willkuͤrlichen Veraͤnderungen entdeckte,
welche angebracht waren. Insbeſondere mißfiel
ihm die Art, wie wir ein umgekehrtes Faß des
Regulus hergeſtellt hatten, indem eine Unzahl
Naͤgel mit den Spitzen nach außen ragten, gleich
den Borſten eines Stachelſchweines, und hin¬
gegen die Koͤpfe gemuͤthlich nach innen ſtreckten.


Jedoch vermißten wir dies verbotene Para¬
dies nicht allzuſehr, da bald darauf eine deutſche
Schauſpielergeſellſchaft in unſere Stadt kam, um
mit obrigkeitlicher Bewilligung vor den Bewoh¬
nern die Bretter, welche die Welt bedeuten, in
einem vollkommeneren Maße aufzubauen, als
bisher von Liebhabern und Kindern geſchehen
war. Der wandernde Kuͤnſtlerverein ſchlug ſei¬
nen Sitz im groͤßten Gaſthauſe der Stadt auf,
wandelte den geraͤumigen Tanzſaal in ein
Theater um und fuͤllte zugleich alle beſcheideneren
[262] Zimmer und Raͤume mit ſeinem haͤuslichen Leben.
Nur der Director bewohnte vornehm ein glaͤn¬
zenderes Gemach.


Ueberdies zog uns das belebte Haus nicht
nur waͤhrend der abendlichen Vorſtellungen an,
ſondern wir hatten auch waͤhrend des Tages
genug vor demſelben zu ſtehen und zu beobachten,
theils um die bewunderten Helden und Koͤnigin¬
nen in ihrer verwegenen und anmuthigen Tracht
und Haltung aus- und eingehen zu ſehen, theils
um keine Maſchine, keinen Korb mit rothen
Maͤnteln und Degen, kein Requiſit aus den
Augen zu verlieren, welches hineingetragen wurde.
Vorzuͤglich hielten wir uns auch vor einem
offenen Hintergebaͤude auf, wo ein kuͤhner Maler
inmitten einer Anzahl auf Kohlen ſtehender
Toͤpfe, aufrechtſtehend und die eine Hand in der
Hoſentaſche, mit einem unendlich verlaͤngerten
Pinſel Wunder auf das ausgebreitete Papier
warf. Ich erinnere mich deutlich des tiefen Ein¬
druckes, welchen die einfache und ſichere Art auf
mich machte, mit welcher er duftige und durch¬
ſichtige weiße Vorhaͤnge um die Fenſter eines
[263] rothen Zimmers zauberte; mit den wenigen wei¬
ßen, wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf
dem rothen Grunde ging ein erwaͤrmendes Licht
in meiner Seele auf, welche vor ſolchen Dingen,
wenn ſie in der naͤchtlichen Beleuchtung vor mir
ſtanden, begriffslos geſtaunt hatte. Es entſtand
in mir die erſte ahnende Einſicht in den Geiſt
der Malerei; das freie Auftragen von dichten
deckenden Farben auf durchſichtige Unterlagen
machte mir Vieles klar, und ich begann nachher
der Graͤnze dieſer zwei Gebiete nachzuſpuͤren,
wo ich ein Gemaͤlde zu ſehen bekam, und meine
Entdeckungen hoben mich uͤber den wehrloſen
Wunderglauben hinaus, welcher es aufgiebt,
jemals dergleichen ſelbſt zu verſtehen. Dieſe Be¬
fangenheit iſt allgemein in den untern Kreiſen
des Volkes, wo ſelten, vermoͤge der beſchraͤnkten
Erziehung, ein fruͤher Einblick in das Techniſche
der Kuͤnſte vergoͤnnt wird, ſondern nur die fer¬
tigen Fruͤchte in ehrerbietiger Entfernung und
unnahbarer Vollendung vor dem ſtaunenden
Auge ſtehen.


An den Abenden, wo geſpielt wurde, waren
[264] wir vollzaͤhlig und unfehlbar auf unſerm Platze
und ſchlichen wie die Katzen um das Gebaͤude
herum. Da ich bei der Sparſamkeit meiner
Mutter keine Moͤglichkeit ſah, auf legalem Wege
in das Innere des Kunſttempels zu gelangen,
ſo befand ich mich doppelt wohl bei meinen Ge¬
noſſen der Armenſchule, welche ebenfalls darauf
gewieſen waren, entweder durch kleine Dienſt¬
leiſtungen oder durch verwegene Schlauheit durch¬
zuſchluͤpfen. Es gelang mir auch mehrere Male,
mich mit klopfendem Herzen in den angefuͤllten
Saal zu ſchleichen, und uͤberflog mit befriedigten
Blicken die Decorationen, wenn der Vorhang
aufging, dann die Coſtuͤme und Trachten der
Spieler, um endlich, nachdem ſchon Erkleckliches
geſprochen war, mich in das [Studium] der Fabel
zu vertiefen. Dieſes machte mir am meiſten
Vergnuͤgen bei den Opern, weil es dort am
ſchwierigſten war; bei den Schauſpielen war es
zu leicht und riß mich zu ſchnell hin, indem es
mir alle Objectivitaͤt, ſo wie die gehoͤrige Muße
benahm, welche jene durch die unverſtandene
Muſik darboten. Ich war bald ein großer
[265] Kenner und disputirte reichlich, unter angenom¬
mener Kaltbluͤtigkeit, mit meinen Freunden.
Dieſer Zwieſpalt, die angenommene kennerhafte
Ruhe und das unausbleibliche leidenſchaftliche
Hingeben auch an das verworfenſte Stuͤck fing
an mich zu aͤrgern, und ich ſehnte mich auch
ſonſt, mit Einem Schlage hinter die Couliſſen zu
kommen und das beruͤckende Spiel und ſeine
Spieler, wie ihre Mittel, in der Naͤhe zu be¬
ſehen; denn es beduͤnkte mich, daß es dort beſſer
zu leben ſein muͤſſe, als irgendwo in der Welt,
leidenſchaftslos und uͤberlegen. Doch dachte ich
nicht ſo leicht an eine Erfuͤllung meines Wun¬
ſches, als ein guͤnſtiger Stern dieſelbe unver¬
hofft darbrachte.


Wir ſtanden eines Abends ziemlich muthlos
vor einer Seitenthuͤr, als eben der Fauſt gege¬
ben wurde. Wir hatten gehoͤrt, daß man den
famoſen Doktor Fauſt, den wir genugſam kann¬
ten, nebſt dem Teufel und allen ſeinen Herrlich¬
keiten ſehen wuͤrde, fanden aber heute alle Hin¬
derniſſe unuͤberſteiglich, welche auf unſern ge¬
wohnten Schlupfwegen ſich entgegenſtellten. So
17 *[266] hoͤrten wir betruͤbt die Klaͤnge der Ouvertuͤre,
welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt
aufgefuͤhrt wurde, und zerbrachen die Koͤpfe uͤber
einem noch moͤglichen Eindringen. Es war ein
dunkler Herbſtabend und regnete kuͤhl und an¬
haltend. Es fror mich, und ich dachte ans Nach¬
hauſegehen, zumal ſich die Mutter uͤber das
abendliche Umhertreiben beklagt hatte, als die
dunkle Thuͤr ſich oͤffnete, ein dienſtbarer Geiſt
herausſprang und rief: Heda, ihr Buben! Drei
oder vier von euch moͤgen herein kommen, die
ſollen einmal mitſpielen! Auf dieſes Zauberwort
draͤngten ſich ſogleich die Staͤrkſten in das Haus;
denn dies war ein Fall, wo ein Jeder nur an
ſich ſelbſt denken durfte. Er wies ſie aber zu¬
ruͤck, indem er ſie fuͤr zu groß und dick erklaͤrte
und mich, der ich ohne ſonderliche Hoffnungen
im Hintergrunde ſtand, heranrief und ſagte:
Der da iſt recht, der wird eine gute Meerkatze
ſein! Dazu ergriff er noch zwei andere, ſchmaͤch¬
tig gewachſene Jungen, ſchloß die Thuͤr hinter
uns und marſchirte an unſerer Spitze nach einem
kleinen Saale, welcher als Garderobe diente.
[267] Dort hatten wir nicht Zeit, die aufgehaͤuften
Gewaͤnder, Waffen und Ruͤſtungen zu betrach¬
ten; denn wir wurden ſchnell unſerer Kleider
entledigt und in abentheuerliche Pelze geſteckt,
welche vom Kopf bis zum Fuße eine Huͤlle bil¬
deten. Das Meerkatzengeſicht konnte wie eine
Kaputze zuruͤckgeſchlagen werden, und als wir
ſolchergeſtalt verwandelt daſtanden, die langen
Schwaͤnze in der Hand haltend, laͤchelten wir
ganz vergnuͤgt und begluͤckwuͤnſchten uns nun
erſt zu unſerm unverhofften Gluͤcke. Nun wur¬
den wir auf die Buͤhne gefuͤhrt, wo wir von
zwei großen Meerkatzen luſtig begruͤßt und in
aller Eile fuͤr unſere bevorſtehende Aufgabe un¬
terrichtet wurden. Wir begriffen dieſelbe bald
und leiſteten eine gelungene Probe verſchiedener
Purzelbaͤume und Affenſpruͤnge, ſpielten auch
zierlich mit einer Kugel, ſo daß wir bis zu un¬
ſerm Auftreten entlaſſen wurden. Wir ſpazierten
gravitaͤtiſch unter dem Gedraͤnge herum, das ſich
auf dem ſchmalen Raume zwiſchen den vier wirk¬
lichen und den gemalten Waͤnden ſchob und
miſchte; ich ſchaute unverwandt bald auf die
[268] Buͤhne, bald hinter die Couliſſen, und beobach¬
tete mit hoher Freude, wie aus dem unkenntli¬
chen, unterdruͤckt laͤrmenden und ſtreitenden Chaos
ſich ſtill und unmerklich geordnete Bilder und
Handlungen ausſchieden und auf dem freien,
hellen Raume erſchienen, wie in einer jenſeitigen
Welt, um wieder eben ſo unbegreiflich in das
dunkle Gebiet zuruͤckzutauchen. Die Schauſpieler
lachten, ſcherzten, koſeten und zankten, hier und
da ging einer ploͤtzlich von ſeiner Gruppe weg
und ſtand in einem Augenblicke einſam und feier¬
lich mitten auf dem Zauberbanne und machte ein
ſo frommes Geſicht gegen die mir unſichtbare
Zuſchauerwelt hinaus, als ob er vor den ver¬
ſammelten Goͤttern ſtaͤnde. Ehe ich mich deſſen
verſah, war er wieder mit einem Sprunge unter
uns und ſetzte die unterbrochenen Schimpf- oder
Schmeichelreden fort, indeſſen ſchon irgend ein
Anderer ſich ausgeſchieden hatte, um es ebenſo
zu machen. Die Menſchen fuͤhrten ein doppel¬
tes Leben, wovon das eine ein Traum ſein
mochte; aber ich wurde nicht klug daraus, wel¬
ches davon der Traum, und welches fuͤr ſie die
[269] Wirklichkeit war. Luſt und Leid ſchien mir in
beiden Theilen gleich gemiſcht vorhanden zu ſein;
doch im innern Raume der Buͤhne, wenn der
Vorhang geoͤffnet war, ſchien Vernunft und
Wuͤrde und ein heller Tag zu herrſchen und ſo¬
mit das wirkliche Leben zu bilden, waͤhrend, ſo¬
bald der Vorhang ſank, mit ihm Alles in truͤbe,
traumhafte Verwirrung zu ſinken ſchien. Auch
duͤnkte es mich, daß diejenigen, welche ſich in
dieſem wuͤſten Traume am heftigſten und leiden¬
ſchaftlichſten geberdeten, dort in dem beſſern Stuͤck
Leben, wenn die Sonne des Kronleuchters her¬
einſchien, die edelſten und ausdruckvollſten Ge¬
ſtalten waren; diejenigen aber, welche in der
Naͤhe ruhig, kalt und friedfertig herumſtanden,
in jenem Glanze eine ziemlich traurige Rolle
ſpielten. Der Text des Stuͤckes war die Muſik,
welche das Leben in Schwung brachte. Sobald
ſie ſchwieg, ſtand der Tanz ſtill, wie eine abge¬
laufene Uhr. Die Verſe des Fauſt, welche jeden
Deutſchen, ſobald er einen davon hoͤrt, elektriſiren,
dieſe wunderbar gelungene und geſaͤttigte Sprache
klang fortwaͤhrend wie eine edle Muſik, machte
[270] mich froh und ſetzte mich mit in Schwung, ob¬
gleich ich nicht viel mehr davon verſtand, als
mancher Profeſſor, der zum zwoͤlften Male uͤber
Fauſt lieſt.


Indeſſen fuͤhlte ich mich ploͤtzlich beim Schwanze
gefaßt und ruͤcklings in die Hexenkuͤche gezogen,
wo bereits ſaͤmmtliche Katzen umherſprangen und
ein Schein und Gefunkel unzaͤhliger Geſichter
und Augen aus dem Parterre hereinſchimmerte.
Ich hatte bisher uͤber meinen Betrachtungen die
zu Tage getretene Decoration der Hexenkuͤche
uͤberſehen und daher Vieles nachzuholen; denn
die phantaſtiſchen Dinge um mich her, die Zerr¬
bilder und Geſpenſter reizten mich ſowohl, wie
das Treiben Mephiſtos, der Hexe und der an¬
dern Meerkatzen. Als ob ich nicht ſelbſt eine
Meerkatze waͤre und meine Aufgabe zu erfuͤllen
haͤtte, vergaß ich ganz die eingelernten Spruͤnge
und Poſſen und ſah ruhig und ſelbſtvergeſſen den
Anderen zu. Nun ſchaute Fauſt voll Entzuͤcken
in den Zauberſpiegel, und es nahm mich hoͤchlich
Wunder, was es dort zu ſehen gebe? Indem
[271] ich in der gleichen Richtung nachahmend hinſah,
gingen meine Blicke dem leeren, gemalten Spie¬
gel vorbei hinter die Couliſſe und entdeckten dort
in der Wirrniß des jenſeitigen Lebens das Bild,
welches Fauſt zu ſehen vorgab. Gretchen war
unterdeſſen auf die Buͤhne gekommen und legte
ſich, einige tief bewegte Worte nach ruͤckwaͤrts
rufend, eben die letzte Schminke auf, nachdem
ſie ſich Augen und Wangen mit einem weißen
Tuche ſorglich und feſt getrocknet hatte, als ob
ſie geweint haͤtte. Es war eine ſehr ſchoͤne Frau,
von welcher ich kein Auge mehr abwandte, un¬
geachtet der heimlichen Puͤffe und Schelten, welche
ich von meinen fleißigen Mitmeerkatzen erhielt.
So verlangte ich, der ich mich vorher nach dieſer
hoͤheren Sphaͤre geſehnt hatte, nun nichts weiter,
als dorthin zuruͤckzukehren, wo die volle ſchoͤne
Frauengeſtalt wandelte.


Die Zeit unſeres Wirkens ging endlich voruͤ¬
ber, und ich machte meinen erſten und einzigen
guten Sprung, als ich leidenſchaftlich vom Schau¬
platze abtrat oder ſprang, und mich moͤglichſt in
[272] die Naͤhe des geſehenen Bildes zu bringen ſuchte.
Aber in demſelben Augenblicke befand ſie ſich
ihrerſeits einſam in der Handlung, und ich konnte
ſie nur wieder von ferne ſehen.


Sie ſchien irgend einen tiefen Verdruß in ſich
zu tragen, und daher war ihr Spiel halb aus
Anmuth und halb aus ſichtbarem Zorne gemiſcht.
Dieſe Miſchung brachte zwar kein gutes Gret¬
chen hervor, aber ſie verlieh der Spielerin einen
eigenthuͤmlichen Reiz, ich nahm Partei fuͤr ſie
gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir
ſogleich den Roman aus, in welchen ſie etwa
verwickelt ſein moͤchte. Doch loͤſte ſich dieſes
fluͤchtige Geſpinnſte bald auf und verſchmolz ſich
mit der dargeſtellten Dichtung, als Gretchens
Schickſal tragiſch wurde. Als ſie im Kerker auf
dem Stroh lag und nachher irre redete, ſpielte
ſie ſo meiſterhaft, daß ich furchtbar erſchuͤttert
ward und doch in durſtig heißer Aufregung das
Bild des im graͤnzenloſeſten Ungluͤcke verſunkenen
Weibes in mich hineintrank; denn ich hielt das
Ungluͤck fuͤr wirklich und war eben ſo erſtaunt
als geſaͤttigt durch die Scene, welche an Staͤrke
[273] Alles uͤbertraf, was ich bisher geſehen, gehoͤrt
oder ſelbſt combinirt hatte.


Der Vorhang war gefallen, und Alles lief
auf dem Theater bunt durcheinander, waͤhrend
ich einigen Papieren nachſchlich, welche ich in
den Haͤnden des Direktors und der Kuͤnſtler ge¬
ſehen hatte und in einem Winkel hinter einer ge¬
malten Mauer fand. Ich war begierig, Einſicht
zu nehmen von dem Geſchriebenen, welches ſo
große Wirkung hervorgebracht; daher war ich
bald in das Leſen der Rollen verſenkt. Aber
obgleich ich die koͤrperlichen Erſcheinungen gefaßt
und empfunden hatte, ſo waren doch nun die
geſchriebenen Worte, als die Zeichenſprache eines
gereiften und großen maͤnnlichen Geiſtes, dem
unwiſſenden Kinde vollkommen unverſtaͤndlich; der
kleine Eindringling fand ſich beſcheidentlich wie¬
der vor die verſchloſſene Thuͤre einer hoͤheren
Welt geſtellt, und ich ſchlief uͤber meinen For¬
ſchungen ſchnell und feſt ein.


Als ich wieder erwachte, war das Theater
leer und ſtill, die Lampen ausgeloͤſcht, und der
I. 18[274] Vollmond goß ſein Licht zwiſchen den Couliſſen
uͤber die ſeltſame Unordnung herein. Ich wußte
nicht, wie mir geſchah, noch wo ich mich befand;
doch als ich meine Lage erkannte, ward ich voll
Furcht und ſuchte einen Ausgang, fand aber die
Thuͤren verſchloſſen, durch welche ich hereinge¬
kommen war. Nun ſchickte ich mich in das Ge¬
ſchehene und begann von Neuem, alle Seltſam¬
keiten dieſer Raͤume zu unterſuchen. Ich betaſtete
die raſchelnden, papiernen Herrlichkeiten und
legte das Maͤntelchen und den Degen des Mephi¬
ſtopheles, welche auf einem Stuhle lagen, uͤber
meinen Meerkatzenhabit um. So ſpazierte ich in
dem hellen Mondſcheine auf und nieder, zog den
Degen und fing an zu geſtikuliren. Dann ent¬
deckte ich die Maſchienerie des Vorhanges, und
es gelang mir, denſelben aufzuziehen. Da lag
der Zuſchauerraum dunkel und ſchwarz vor mir,
wie ein erblindetes Auge; ich ſtieg in das Or¬
cheſter hinab, wo die Inſtrumente umherlagen
und nur die Violinen ſorgfaͤltig in Kaͤſtchen ver¬
ſchloſſen waren. Auf den Pauken lagen die
ſchlanken Haͤmmer, welche ich ergriff und zagend
[275] gegen das Fell ſchlug, daß es einen dumpf grol¬
lenden Ton gab. Jetzt wurde ich kuͤhner und
ſchlug ſtaͤrker, bis es zuletzt wie ein Gewitter
durch den leeren, mitternaͤchtlichen Saal hallte.
Ich ließ den Donner anſchwellen und wieder ab¬
nehmen, und wenn er verklang, ſo duͤnkten mich
die unheimlichen Pauſen noch ſchoͤner als das
Geraͤuſch ſelbſt. Endlich erſchrak ich uͤber meinem
Thun, warf die Schlaͤgel hin und getraute mir
kaum, uͤber die Baͤnke des Parterre hinwegzu¬
ſteigen und mich zu hinterſt an der Wand hin¬
zuſetzen. Ich war kalt und wuͤnſchte zu Hauſe
zu ſein, auch ward es mir bange in meiner
Einſamkeit. Die Fenſter in dieſem Theile
des Saales waren dicht verſchloſſen, ſo daß nur
die Buͤhne, welche immer noch den Kerker vor¬
ſtellte, durch das Mondlicht magiſch beleuchtet
war. Im Hintergrunde ſtand das Pfoͤrtchen noch
offen, hinter welchem Gretchen gelegen hatte, ein
bleicher Strahl fiel auf das Strohlager, ich dachte
an das ſchoͤne Gretchen, welches nun hingerichtet
ſein werde, und der ſtille, mondhelle Kerker kam mir
zauberhafter und heiliger vor, als dem Fauſt einſt
18 *[276] Gretchens Kammer. Ich ſtuͤtzte meinen Kopf
auf beide Haͤnde und ſah mit ſehnenden Blicken
hinuͤber, beſonders in die vom Lichte halb be¬
ſtreifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da
regte es ſich im Dunkel, athemlos ſah ich hin
und jetzt ſtand eine weiße Geſtalt in jenem Win¬
kel; es war Gretchen, wie ich ſie zuletzt geſehen
hatte. Mich ſchauerte es vom Wirbel bis zur
Zehe, meine Zaͤhne ſchlugen zuſammen, waͤhrend
doch ein maͤchtiges Gefuͤhl gluͤcklicher Ueberra¬
ſchung mich durchzuckte und erwaͤrmte. Ja, es
war Gretchen, es war ihr Geiſt, obgleich ich in
der Entfernung ihre Zuͤge nicht unterſcheiden
konnte, was die Erſcheinung noch geiſterhafter
machte. Sie ſchien mit dunklen Blicken in dem
Raume umherzuſuchen, ich richtete mich empor,
es zog mich vorwaͤrts, wie mit gewaltigen, un¬
ſichtbaren Haͤnden, und waͤhrend mein Herz hoͤr¬
bar klopfte, ſchritt ich uͤber die Baͤnke gegen das
Proſcenium hin, jeden Schritt einen Augenblick
anhaltend. Die Pelzumhuͤllung machte meine
Fuͤße unhoͤrbar, ſo daß mich die Geſtalt nicht
bemerkte, bis ich, an dem Soufleurkaſten hinauf¬
[277] klimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom
erſten Mondſtrahle beſtreift wurde. Ich ſah, wie
ſie entſetzt ihr gluͤhendes Auge auf mich richtete
und, doch lautlos, zuſammenfuhr. Einen leiſen
Schritt trat ich naͤher und hielt wieder ein;
meine Augen waren weit geoͤffnet, ich hielt die
Haͤnde zitternd erhoben, indeß ich, von einem
frohen Feuer des Muthes durchſtroͤmt, auf das
Phantom losging. Da rief es mit gebieteriſcher
Stimme: Halt! kleines Ding! was biſt Du?
und ſtreckte drohend den Arm gegen mich aus,
daß ich feſt auf der Stelle gebannt blieb. Wir
ſahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre
Zuͤge wohl, ſie hatte ein weißes Nachtkleid um¬
geſchlagen, Hals und Schultern waren entbloͤßt
und gaben einen milden Schein, wie naͤchtlicher
Schnee. Ich witterte alſogleich das warme Le¬
ben, und der abentheuerliche Muth, den ich dem
Geſpenſte gegenuͤber empfunden hatte, verwan¬
delt ſich in die natuͤrliche Bloͤdigkeit vor dem
lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer
noch zweifelhaft uͤber meine daͤmoniſche Erſchei¬
nung, und ſie rief daher noch einmal: »Wer
[278] ſeid Ihr, kleiner Burſch?« Kleinlaut antwor¬
tete ich: »Ich heiße Heinrich Lee und bin eine
von den Meerkatzen; man hat mich hier einge¬
ſchloſſen!«


Da trat ſie auf mich zu, ſtreifte meine Maske
zuruͤck, faßte mein Geſicht zwiſchen ihre Haͤnde
und rief, indem ſie laut lachte: »Herr Gott!
das iſt die aufmerkſame Meerkatze! Ei, Du
kleiner Schalk! biſt Du es, der den Laͤrm ge¬
macht hat, als ob ein Gewitter im Hauſe waͤre?«
»Ja!« ſagte ich, indem meine Augen fortwaͤhrend
auf dem weißen Raume ihrer Bruſt hafteten und
mein Herz zum erſten Male wieder ſo andaͤchtig
erfreut war, wie einſt, wenn ich in das glaͤn¬
zende Feld des Abendrothes geſchaut und den
lieben Gott darin geahnt hatte. Dann betrach¬
tete ich in vollkommener Ruhe ihr ſchoͤnes Ge¬
ſicht und gab mich unbefangen dem ſuͤßen Ein¬
drucke ihres reizenden Mundes hin. Sie ſah
mich eine Weile ſtill und ernſthaft an, dann
ſprach ſie: »Mich duͤnkt, Du biſt ein feiner
Junge; doch wenn Du einſt groß ſein wirſt, ſo
wirſt Du ein Luͤmmel ſein, wie Alle!« Und
[279] hiermit ſchloß ſie mich an ſich und kuͤßte mich
mehrere Male auf meinen Mund, der nur da¬
durch leiſe bewegt wurde, daß ich heimlich, von
ihren Kuͤſſen unterbrochen, ein herzliches Dank¬
gebet an Gott richtete fuͤr das herrliche Aben¬
theuer.


Hierauf ſagte ſie: »Es iſt nun am beſten,
Du bleibeſt bei mir, bis es Tag iſt; denn Mit¬
ternacht iſt laͤngſt voruͤber!« und ſie nahm mich
bei der Hand und fuͤhrte mich durch mehrere
Thuͤren in ihr Zimmer, wo ſie vorher ſchon ge¬
ſchlafen hatte und durch mein naͤchtliches Spu¬
ken geweckt worden war. Dort ordnete ſie am
Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und
als ich darauf lag, huͤllte ſie ſich dicht in einen
ſammetnen Koͤnigsmantel, legte ſich der Laͤnge
nach auf das Bett und ſtuͤtzte ihre leichten Fuͤße
gegen meine Bruſt, daß mein Herz ganz ver¬
gnuͤglich unter denſelben klopfte. Somit ent¬
ſchliefen wir und glichen in unſerer Lage nicht
uͤbel jenen alten Grabmaͤlern, auf welchen ein
ſteinerner Ritter ausgeſtreckt liegt mit einem
treuen Hunde zu Fuͤßen. Nur lag hier anſtatt
[280] des ſtarren Ritters ein lebendiges, leicht athmen¬
des Weib und an der Stelle des Hundes ein
Knabe, dem im Kopf und Herz das fruͤhe Le¬
ben zu rumoren begann.

[]

Achtes Kapitel.

In Folge der Angſt, welche die Mutter uͤber
mein naͤchtliches Wegbleiben empfunden hatte,
war mir das abendliche Umhertreiben und der
Beſuch des Theaters ſtrengſtens unterſagt wor¬
den; auch am Tage wurde ich ſorgfaͤltiger beauf¬
ſichtigt und in meinem Umgange mit den Kin¬
dern der armen Leute beſchraͤnkt, welchen man
faͤlſchlicher Weiſe eine verderbliche und anſteckende
Ungebundenheit zuſchrieb. So hatten die frem¬
den Schauſpieler die Stadt verlaſſen, ohne daß
ich jene Frau, der mein Herz nun ganz gehoͤrte,
wiedergeſehen, ausgenommen ein Mal von ferne,
wo ſie mich zu ſich winkte, ich aber ſcheu vor
ihr floh, um mich in den ſtillen Raͤumen unſerer
Wohnung um ſo leidenſchaftlicher mit ihrem
Bilde zu beſchaͤftigen. Als ich hoͤrte, daß die
[282] Geſellſchaft fortgereiſt ſei, bemaͤchtigte ſich meiner
eine tiefe Traurigkeit, welche laͤngere Zeit anhielt.
Je unbekannter mir die Gegend war, wo ſie
hingezogen ſein mochte, deſto mehr war mir al¬
les Land, welches jenſeits der Berge lag, ein
Land unbeſtimmter Wuͤnſche und dunklen Ver¬
langens, und dieſen Zug empfinde ich ſeither im¬
mer, wenn Jemand, den ich gern habe, die Ge¬
gend verlaͤßt, wo ich lebe.


Um dieſe Zeit ſchloß ich mich enger an einen
Knaben, deſſen erwachſene, leſebegierige Schwe¬
ſtern eine Unzahl ſchlechter Romane zuſammenge¬
tragen hatten. Verloren gegangene Baͤnde aus
Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen
Haͤuſern oder von Troͤdlern um wenige Pfennige
erſtanden, lagen in der Wohnung dieſer Leute
auf Geſimſen, Baͤnken und Tiſchen umher, und
an Sonntagen konnte man nicht nur die Ge¬
ſchwiſter und ihre Liebhaber, ſondern Vater und
Mutter und wer ſonſt noch da war, in die
Lektuͤre dieſer ſchmutzig ausſehenden Buͤcher ver¬
tieft finden. Die Alten waren thoͤrichte Leute,
welche in dieſer Unterhaltung Stoff zu thoͤrichten
[283] Geſpraͤchen ſuchten; die Jungen hingegen erhitzten
ihre gemeine Phantaſie an den gemeinen unpoeti¬
ſchen Machwerken oder vielmehr, ſie ſuchten hier die
beſſere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht
zeigte. Die Romane zerfielen hauptſaͤchlich in
zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der
uͤblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jaͤm¬
merlichen Briefwechſeln und Verfuͤhrungsgeſchich¬
ten, die andere beſtand aus derben Ritterroma¬
nen. Die Maͤdchen hielten ſich mit großem In¬
tereſſe an die erſte Art und ließen ſich dazu von
ihren theilnehmenden Liebhabern ſattſam kuͤſſen
und liebkoſen; uns Knaben waren aber dieſe
proſaiſchen und unſinnlichen Schilderungen einer
verwerflichen Sinnlichkeit gluͤcklicher Weiſe noch
ungenießbar und wir begnuͤgten uns damit, ir¬
gend eine Rittergeſchichte zu ergreifen und uns
mit derſelben zuruͤckzuziehen. Die unzweideutige
Genugthuung, welche in dieſen groben Dichtun¬
gen waltete, war meinen angeregten Gefuͤhlen
wohlthaͤtig und gab ihnen Geſtalt und Namen.
Wir wußten die ſchoͤnſten Geſchichten bald aus¬
wendig und ſpielten ſie, wo wir gingen und ſtan¬
[284] den, mit immer neuer Luſt ab, auf Eſtrichen
und Hoͤfen, in Wald und Berg, und ergaͤnzten
das Perſonal vorweg aus willfaͤhrigen Jungen,
die in der Eile abgerichtet wurden. Aus dieſen
Spielen gingen nach und nach ſelbſt erfundene,
fortlaufende Geſchichten und Abentheuer hervor,
welche zuletzt dahin ausarteten, daß Jeder ſeine
große Herzens- und Rittergeſchichte beſaß, deren
Verlauf er den Andern mit allem Ernſte berich¬
tete, ſo daß wir uns in ein ungeheures Luͤgen¬
netz verwoben und verſtrickt ſahen; denn wir
trugen unſere erfundenen Erlebniſſe gegenſeitig
einander ſo vor, als ob wir unbedingten Glau¬
ben forderten, und gewaͤhrten uns denſelben auch,
in eigennuͤtziger Abſicht, ſcheinbar. Mir ward
dieſe truͤgliche Wahrhaftigkeit leicht, weil der
Hauptgegenſtand unſerer Geſchichten beiderſeits
immer eine glaͤnzende und ausgezeichnete Dame
unſerer Stadt war und ich diejenige, welche ich
fuͤr meine Luͤgen auserwaͤhlt, bald mit meiner
wirklichen Neigung und Verehrung bekleidete.
Daneben hatten wir maͤchtige Feinde und Neben¬
buhler, als welche wir angeſehene, ritterliche Of¬
[285] fiziere bezeichneten, die wir oft zu Pferde ſitzen
ſahen. Verborgene Reichthuͤmer waren in unſe¬
rer Gewalt, und wir bauten aus denſelben wun¬
derbare Schloͤſſer an entlegenen Punkten, welche
wir mit wichtiger Geſchaͤftsmiene zu beaufſichti¬
gen vorgaben. Jedoch beſchaͤftigte ſich die Ein¬
bildungskraft meines Genoſſen uͤberdies mit aller¬
hand Kniffen und Raͤnken und war eher auf
Beſitz und leibliches Wohlſein gerichtet, in wel¬
cher Beziehung er die ſonderbarſten Dinge er¬
fand, waͤhrend ich alle Erfindungsgabe auf meine
erwaͤhlte Geliebte verwandte und ſeine kleinlichen
und muͤhſamen Geldverhaͤltniſſe, welche er un¬
ablaͤſſig zuſammentraͤumte, mit einer koloſſalen
Luͤge von einem gehobenen unermeßlichen Schatze
uͤberbot und kurz abfertigte. Dieſes mochte ihn
aͤrgern, und waͤhrend ich, zufrieden in meiner
erſonnenen Welt, mich wenig um die Wahrheit
ſeiner Prahlereien bekuͤmmerte, fing er an, mich
mit Zweifeln an der Wahrheit der meinigen zu
quaͤlen und auf Beweiſe zu dringen. Als ich
einſt fluͤchtig von einer mit Gold und Silber ge¬
fuͤllten Kiſte erzaͤhlte, welche ich in unſerm Kel¬
[286] lergewoͤlbe ſtehen haͤtte, drang er auf das Hef¬
tigſte darauf, dieſelbe zu ſehen. Ich gab ihm
eine Stunde an, zu welcher dies moͤglich waͤre,
und er fand ſich puͤnktlich ein und verſetzte mich
in eine Verlegenheit, an welche ich im mindeſten
bisher noch nie gedacht hatte. Aber ſchnell hieß
ich ihn eine Weile warten vor dem Hauſe und
eilte in die Stube zuruͤck, wo in dem Sekretaͤr
meiner Mutter ein alterthuͤmliches hoͤlzernes Kaͤſt¬
chen ſtand, welches einen kleinen Schatz an alten
und neuen Silbermuͤnzen und einige Dukaten
enthielt. Dieſer Schatz umfaßte einestheils die
Pathengeſchenke aus der Kinderzeit meiner Mut¬
ter, anderstheils meine eigenen und war ſaͤmmt¬
lich mein erklaͤrtes Eigenthum. Die Hauptzierde
aber war eine maͤchtige goldene Schaumuͤnze von
der Groͤße eines Thalers und bedeutendem Wer¬
the, welche Frau Margreth in einer guten Stunde
mir geſchenkt und der Mutter zum ſichern Ver¬
wahrſam eingehaͤndigt hatte zum treuen Ange¬
denken, wenn ich einſt erwachſen, ſie hingegen
nicht mehr ſein werde. Ich durfte das Kaͤſtchen
hervornehmen und den glaͤnzenden Schatz be¬
[287] ſchauen, ſo oft ich wollte, auch hatte ich denſel¬
ben ſchon in allen Gegenden des Hauſes herum¬
getragen. Ich nahm ihn alſo jetzt und trug ihn
in das Gewoͤlbe hinunter und legte das Kaͤſtchen
in eine Kiſte, welche mit Stroh gefuͤllt war.
Dann hieß ich den Zweifler mit geheimnißvoller
Geberde hereinkommen, luͤftete den Deckel der
Kiſte ein wenig und zog das Kaͤſtchen hervor.
Als ich es oͤffnete, blinkten ihm die blanken Sil¬
berſtuͤcke gar hell entgegen, als ich aber die Du¬
katen und zuletzt die große Muͤnze hervornahm,
daß ſie im Zwielichte ſeltſam funkelte und der
alte Schweizer mit dem Banner, der darauf ge¬
praͤgt war, ſo wie der Kranz von Wappenſchil¬
dern zu Tage traten, da machte er große Augen
und wollte mit allen fuͤnf Fingern in das Kaͤſt¬
chen fahren. Ich ſchlug es aber zu, legte es
wieder in die Kiſte und ſagte: »Siehſt Du, ſol¬
cher Dinge iſt die Kiſte voll!« Damit ſchob ich
ihn aus dem Keller und zog den Schluͤſſel ab.
Er war nun fuͤr einmal geſchlagen, denn obgleich
er von der Unwirklichkeit unſerer Maͤhrchen uͤber¬
zeugt war, ſo geſtattete ihm doch der bisher feſt¬
[288] gehaltene Ton unſeres Verkehrs nicht, weiter zu
dringen, da es auch hier die ruͤckſichtsvolle Hoͤf¬
lichkeit des Lebens erforderte, den mit guter Ma¬
nier vorgetragenen blauen Dunſt beſtehen zu laſ¬
ſen. Vielmehr gab meinem Freunde dieſe vor¬
laͤufige Toleranz Gelegenheit, mich zu weiteren
Luͤgen zu reizen und auf immer bedenklichere
Proben zu ſtellen.


Wir trafen bald darauf, als es gerade Me߬
zeit war, am Seeufer zuſammen, vor den Kram¬
buden flankirend, welche dort in langen Reihen
aufgeſchlagen waren, und begruͤßten uns wie
Macbeth's Hexen mit: »was haſt du geſchafft?«
Wir ſtanden vor dem Magazine eines Italiaͤners,
welcher neben ſuͤdlichen Eßwaaren auch glaͤnzende
Bijouterien und Spielereien feil bot. Feigen,
Mandeln und Datteln, Kiſten voll reinlich wei¬
ßer Makaroni, beſonders aber Berge ungeheurer
Salamiwuͤrſte reizten den Sinn meines Geſellen
zu kuͤhnen Phantaſien, indeſſen ich zierliche
Frauenkaͤmme, Oelflaͤſchchen und Schalen voll
ſchwarzer Raͤucherkerzchen betrachtete und unge¬
faͤhr dachte, wo dieſe Dinge gebraucht wuͤrden,
[289] da waͤre es gut ſein. »Ich habe ſoeben,« be¬
gann mein Luͤgengefaͤhrte, »ſolch' eine Salami¬
wurſt gekauft, zur Probe, ob ich fuͤr mein naͤch¬
ſtes Bankett eine Kiſte voll anſchaffen ſoll. Ich
habe ſie angebiſſen, fand ſie aber abſcheulich und
ſchleuderte ſie in den See hinaus; die Wurſt
muß noch dort ſchwimmen, ich ſah ſie den
Augenblick noch.« Wir blickten auf den ſchim¬
mernden Wellenſpiegel hinaus, wo zwiſchen den
Marktſchiffen wohl etwa ein Apfel oder ein Sa¬
latblatt umhertrieb, aber keine Salami zu ſehen
war. »Ei, es wird wohl ein Hecht danach ge¬
ſchnappt haben!« ſagte ich gutmuͤthig, und er
gab dieſe Moͤglichkeit zu und fragte mich, ob ich
nicht auch Einkaͤufe machen wolle? »Freilich,«
erwiderte ich, »ich moͤchte wohl dieſe Kette haben
fuͤr meine Geliebte!« und wies auf eine unaͤchte,
aber ſchoͤn vergoldete Halskette. Jetzt ließ er
mich nicht mehr los, ſondern umwickelte mich
mit einem moraliſchen Zwangsnetze, indem ihm
die Neugierde, ob ich wirklich uͤber meinen ge¬
heimnißvollen Schatz zu verfuͤgen haͤtte, die Worte
dazu lieh. So hatte ich keinen andern Ausweg,
l. 19[290] als nach Hauſe zu laufen und mir mit meinem
Sparkaͤſtchen zu ſchaffen zu machen. Einige Au¬
genblicke nachher ging ich wieder davon, einige
glaͤnzende Silberſtuͤcke in der feſtverſchloſſenen
Hand, mit klopfender Bruſt dem Markte zu,
wo mein lauernder Daͤmon mich empfing. Wir
handelten um die Kette, oder gaben vielmehr,
was der Italiener forderte, ich waͤhlte noch ein
Armband von Achatſchildern und einen Ring mit
einer rothen Glaspaſte; der Kaufmann beſah
mich und die ſchoͤnen Gulden mit wunderlichen
Blicken, ſteckte ſie aber nichts deſto weniger ein;
ich aber wurde ſchon auf dem Wege nach dem
Hauſe fortgedraͤngt, wo meine Dame wohnte.
Auf einem abgelegenen Platze ſtanden etwa ſechs
Patricierhaͤuſer, deren Beſitzer ſich durch den
Seidenhandel auf der Hoͤhe fruͤherer Vornehmheit
erhielten. Weder eine Schenke noch ein ſonſtiges
niederes Gewerbe zeigte ſich in dieſer Gegend,
welche ſtill und einſam in ihrer Reinlichkeit ruhte;
das Pflaſter war weißer und beſſer, als in an¬
deren Stadttheilen, und koſtbare eiſerne Garten¬
gelaͤnder begraͤnzten daſſelbe. In dem groͤßten
[291] und vornehmſten dieſer Palaͤſte wohnte der Ge¬
genſtand meiner Luͤgen, eine jener jungen, an¬
muthigen Damen, welche, ſchoͤn und elegant ge¬
wachſen, mit roſiger Geſichtsfarbe, großen, la¬
chenden Augen und freundlichen Lippen, mit rei¬
chen Locken, wehenden Schleiern und ſeidenen
Gewaͤndern die Unerfahrenheit beruͤcken und
ſelbſt gefurchte Stirnen aufheitern, ſo lange
ſie durch Unſchuld liebenswuͤrdig ſind. Wir
ſtanden ſchon vor dem praͤchtigen Portale
und mein Begleiter ſchloß ſeine Ueberre¬
dungen, daß ich jetzt oder nie meiner Ge¬
bieterin die Geſchenke uͤberbringen muͤßte, endlich
dadurch, daß er frech den goldenen Griff der
Hausglocke packte und anzog. Aber trotz ſeiner
Frechheit, wuͤrde ein Ariſtokrat ſagen, reichte
doch die Energie ſeines Plebejerthumes nicht aus,
ein kraͤftiges Geklingel hervorzubringen; es gab
nur einen einzigen zaghaften Ton, welcher im
Innern des großen Hauſes verhallte. Nach eini¬
gen Sekunden ruckte der eine Thorfluͤgel um ein
Unmerkliches, und mein Begleiter ſchob mich
hinein, was ich, aus Furcht vor allem Geraͤuſche,
19 *[292] willenlos geſchehen ließ. Da ſtand ich in un¬
ſaͤglicher Beklemmung neben einer breiten ſteiner¬
nen Treppe, welche ſich oben zwiſchen geraͤumi¬
gen Gallerien verlor. Ich hielt Armband und
Ring in die Hand gepreßt, und die Kette quoll
theilweiſe zwiſchen den Fingern hervor; in der
Hoͤhe ertoͤnten Tritte, welche von allen Seiten
widerhallten, und Jemand rief herunter, wer da
ſei? Doch hielt ich mich ſtill, man konnte mich
nicht ſehen und ging wieder, Thuͤren hinter ſich
zuſchlagend. Nun ſtieg ich langſam die Treppe
hinan, mich vorſichtig umſehend; an allen Waͤn¬
den hingen große Oelgemaͤlde, entweder wunder¬
liche Landſchaften oder Ahnenbilder enthaltend;
die Decken waren in weißer, reicher Stuccatur
gearbeitet mit kleinen Fresken dazwiſchen, und in
abgemeſſenen Entfernungen ſtanden hohe dunkel¬
braune Thuͤren von Nußbaumholz, eingefaßt von
Saͤulen und Giebeln von der gleichen Art,
alles glaͤnzend polirt. Jeder meiner Schritte er¬
weckte Geraͤuſch in den Woͤlbungen, ich wagte
kaum zu gehen und dachte doch nicht [daran], was
ich ſagen wollte, wenn ich uͤberraſcht wuͤrde. Vor
[293] jeder Thuͤr lag eine Strohmatte, aber vor einer
allein lag eine beſonders reich und zierlich ge¬
flochtene von farbigem Stroh; daneben ſtand ein
altes, vergoldetes Tiſchchen und auf dieſem ein
Arbeitskoͤrbchen mit Strickzeug, einigen Aepfeln
und einem huͤbſchen, ſilbernen Meſſerchen zu aͤu¬
ßerſt am Rande, als ob es ſo eben hingeſtellt
waͤre. Ich vermuthete, daß hier der Aufenthalt
der Dame ſei, und im Augenblicke nur an ſie
denkend, legte ich meine Kleinodien mitten auf
die Matte, nur den Ring zu unterſt in das
Koͤrbchen auf einen feinen Handſchuh. Dann aber
eilte ich trepphinunter aus dem Hauſe, wo ich
meinen Quaͤlgeiſt ungeduldig meiner wartend
fand. »Haſt Du es gethan?« rief er mir ent¬
gegen. »Ja freilich,« erwiderte ich mit leichterem
Herzen. »Das iſt nicht wahr,« ſagte er wieder,
»ſie ſitzt ja die ganze Zeit an jenem Fenſter dort
und hat ſich nicht geruͤhrt. Wirklich war die
ſchoͤne Frau hinter dem glaͤnzenden Fenſter ſicht¬
bar und gerade in der Gegend des Hauſes, wo
jene Zimmerthuͤr ſein mochte. Ich erſchrak hef¬
tig, ſagte aber: »Ich ſchwoͤre Dir, ich habe die
[294] Kette und das Armband zu ihren [Fuͤßen] gelegt
und den Ring an ihren Finger geſteckt!« »Bei
Gott?« »Ja, bei Gott!« rief ich. »Nun mußt
Du ihr aber noch eine Kußhand zuwerfen, und
wenn Du es nicht thuſt, ſo haſt Du falſch ge¬
ſchworen; ſieh, ſie ſchaut gerade herunter!«
Wirklich ruhten ihre glaͤnzenden frohen Augen
auf uns; aber der Einfall meines Freundes war
ein teufliſcher; denn lieber haͤtte ich dem Teufel
ſelbſt in's Geſicht geſpieen, als dieſe Zumuthung
erfuͤllt. Durch meinen jeſuitiſchen Schwur war
ich aber erſt recht in die Klemme gerathen, es
war kein Ausweg. Raſch kuͤßte ich meine Hand
und bewegte ſie gegen das Fenſter hinauf. Das
Maͤdchen hatte uns aufmerkſam angeſehen, und
lachte nun ganz unbaͤndig, indem es freundlich
herunter nickte; doch ich lief, ſo ſchnell ich konnte,
davon. Das Maß war gefuͤllt, und als mein
Gefaͤhrte mich in der naͤchſten Straße wieder er¬
reichte, trat ich bleich vor ihn hin und ſagte:
»Wie iſt's eigentlich mit Deiner Salamiwurſt?
meinſt Du, dieſelbe ſei hinreichend, dergleichen
Sachen, wie ich beſtehe, das Gegengewicht zu
[295] halten? Damit warf ich ihn unverſehens nieder
und ſchlug ihn mit der Fauſt in's Geſicht, bis
mich ein Mann weghob und rief: »Die Teufels¬
jungen muͤſſen ſich doch immer raufen!«


Das war das allererſte Mal in meinem Le¬
ben, daß ich einen Schul- und Jugendgenoſſen
ſchlug; ich konnte denſelben nicht mehr anſehen
und zugleich war ich vom Luͤgen fuͤr einmal
gruͤndlich geheilt.


In dem leſebefliſſenen Hauſe wurden indeſſen
der Vorrath an ſchlechten Buͤchern und die Thor¬
heit immer groͤßer. Die Alten ſahen mit ſelt¬
ſamer Freude zu, wie die armen Toͤchter immer
tiefer in ein einfaͤltig verbuhltes Weſen hinein¬
geriethen, Liebhaber auf Liebhaber wechſelten und
doch von Keinem heimgefuͤhrt wurden, ſo daß ſie
mitten in der uͤbelriechenden Bibliothek ſitzen
blieben mit einer Heerde kleiner Kinder, welche
mit den zerleſenen Buͤchern ſpielten und dieſelben
zerriſſen. Die Leſewuth wuchs nichts deſtomin¬
der fortwaͤhrend, weil ſie nun Zank, Noth und
Sorge vergeſſen ließ, ſo daß man in der Behau¬
ſung nichts ſah, als Buͤcher, aufgehaͤngte Win¬
[296] deln und die vielfaͤltigen Erinnerungen an die
Galanterie der ungetreuen Ritter, als gemalte
Blumenkraͤnze mit Spruͤchen, Stammbuͤcher voll
verliebter Verſe und Freundſchaftstempel, kuͤnſt¬
liche Oſtereier, in welchen ein kleiner Amor ver¬
borgen lag u. dgl. Alles in Allem genommen
will es mir ſcheinen, daß auch dieſes Elend ſo¬
wohl, wie das entgegengeſetzte Extrem, die reli¬
gioͤſe Sectirerei und das fanatiſche Bibelauslegen
armer Leute, wie ich es im Hauſe der Frau Mar¬
greth fand, nur die verwiſchte Spur eines edleren
Herzensbeduͤrfniſſes und das heiße Suchen nach
einer ſchoͤneren Wirklichkeit ſei.


Bei dem Sohne dieſes Hauſes machte ſich,
als er groͤßer wurde, die vielgeuͤbte Phantaſie auf
andere, nicht minder bedenkliche Weiſe geltend.
Er wurde ſehr genußſuͤchtig, lag ſchon als Han¬
delslehrling in den Wirthshaͤuſern als ein eifri¬
ger Spieler und war bei allen oͤffentlichen Ver¬
gnuͤgen zu ſehen. Dazu brauchte er viel Geld
und um ſich dieſes zu verſchaffen, verfiel er auf
die ſonderbarſten Erfindungen, Luͤgen und Raͤnke,
welche ihm nur eine Art Fortſetzung der fruͤheren
[297] Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬
verdaͤchtige Treiben nicht lange vor, vielmehr ſah
er ſich bald darauf verwieſen, zuzugreifen, wo er
konnte. Denn er gehoͤrte zu jenen Menſchen,
welche nicht geſonnen ſind, ſich in ihren Begier¬
den im Mindeſten zu beſchraͤnken und in der Ge¬
meinheit ihrer Geſinnung dem Naͤchſten mit Liſt
oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig
nicht laſſen will. Dieſe niedere Geſinnung iſt
gleichmaͤßig der Urſprung ſcheinbar ganz verſchie¬
dener Erſcheinungen. Sie beſeelt den ungeliebten
Herrſcher, welcher, in ſeinem Daſein jedem Kinde
im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von ſeiner
Stelle weicht und nicht zu ſtolz iſt, ſich vom
Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes
zu naͤhren; ſie iſt der Kern der Leidenſchaftlichkeit
eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die
beſtimmte Erklaͤrung der Nichterwiederung erhal¬
ten hat, ſich nicht ſogleich beſcheidet und in den
edlen Schmerz der Entſagung huͤllt, ſondern mit
gewaltſamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben
verbittert; wie in allen dieſen Zuͤgen, lebt ſie
endlich auch in der Selbſtſucht des Betruͤgers
[298] und Diebes jeglicher Art, groß und klein, uͤberall
iſt ſie ein unverſchaͤmtes Zugreifen, zu welchem
mein ehemaliger Gefaͤhrte nun auch ſeine Zu¬
flucht nahm. Ich hatte ihn im Verlaufe der
Zeit ganz aus den Augen verloren, waͤhrend er
ſchon mehrere Male im Gefaͤngniſſe geſeſſen hatte,
und dachte vor ungefaͤhr einem Jahre an nichts
weniger, als an ihn, da ich einen verkommenen
Menſchen durch die Haͤſcher dem Zuchthauſe zu¬
fuͤhren ſah. In demſelben iſt er ſeither geſtorben.


Ich war nun zwoͤlf Jahre alt, ſo daß meine
Mutter auf meine weitere Schulbildung denken
mußte. Der Plan des Vaters, daß ich der Reihe
nach die von freiſinnigen Vereinen begruͤndeten
Privatanſtalten beſuchen ſollte, war nun zerſchnit¬
ten, indem dieſelben inzwiſchen durch wohleinge¬
richtete oͤffentliche Schulen uͤberfluͤſſig geworden;
denn die abermalige Regeneration der Schweiz
hatte zuerſt auf dieſen Punkt ihr Augenmerk ge¬
richtet. Der alte Gelehrten- und Lehrerſtand der
Staͤdte wurde durch einberufene deutſche Schul¬
maͤnner reichlich erweitert und in den meiſten
Cantonen an eine große Zwillingsſchule vertheilt,
[299] welche aus einem Gymnaſium und einer Ge¬
werbsſchule beſtand. Bei der letzteren brachte
mich die Mutter nach mehreren Berathungen und
feierlichen Gaͤngen unter, und die Leiſtungen meiner
beſcheidenen Armenſchule, aus welcher ich halb
wehmuͤthig und halb froͤhlich ſchied, erwieſen ſich
bei der Aufnahmepruͤfung ſo vorzuͤglich, daß ich
neben den Zoͤglingen der guten alten Stadtſchu¬
len vollkommen beſtand. Denn dieſe wohlhaben¬
den Buͤrgerkinder waren nun ebenfalls auf die
neuen Einrichtungen angewieſen. So fand ich
mich ploͤtzlich in eine ganz neue Umgebung ver¬
ſetzt. Statt wie fruͤher der beſtgekleidete und
vornehmſte meiner Mitſchuͤler zu ſein, war ich
in meinen gruͤnen Jaͤckchen, welche ich auf's
aͤußerſte ausnutzen mußte, nun einer der unan¬
ſehnlichſten und beſcheidenſten und das nicht nur
in Anſehung der Kleidung, ſondern auch des Be¬
nehmens. Die Mehrzahl der Knaben gehoͤrte
dem altherkoͤmmlichen bewußtvollen Buͤrgerſtande
an, einige waren vornehme feine Herrenkinder
und einige hinwieder ſtammten von reichen Dorf¬
magnaten, alle aber hatten ein ſicheres Auftreten
[300] und Gebahren, entſchiedene Manieren und einen
fixen Jargon im Sprechen und Spielen, vor
welchem ich bloͤde und unſicher daſtand. Wenn
ſie ſich ſtritten, ſo ſchlugen ſie ſich gleich mit
raſchen Bewegungen in's Geſicht, daß es klatſchte,
und mehr Muͤhe, als das neue Lernen, machte
mir das Zurechtfinden in dieſe neue Umgangs¬
weiſe, wenn ich nicht zu viel Unbilden erleiden
wollte. Ich erkannte nun erſt, wie mild und
gutmuͤthig die Geſellſchaft der armen Kinder ge¬
weſen war und ſchluͤpfte noch oft zu ihnen, die
mich mit wehmuͤthigem Neide von meinen jetzigen
Verhaͤltniſſen erzaͤhlen hoͤrten.


In der That brachte jeder Tag neue Ver¬
aͤnderungen in meiner bisherigen Lebensweiſe.
Seit alter Zeit war die Jugend der Staͤdte in
den Waffen geuͤbt worden, vom zehnten Jahre
an bis beinahe zum wirklichen Militairdienſte des
Juͤnglingsalters, nur war es mehr eine Sache
der Luſt und des freien Willens geweſen und
wer ſeine Kinder nicht wollte Theil nehmen laſ¬
ſen, war nicht gezwungen. Nun aber wurden
die Waffenuͤbungen fuͤr die ſaͤmmtliche ſchulpflich¬
[301] tige Jugend geſetzlich geboten, daß jede Cantons¬
ſchule zugleich ein ſoldatiſches Corps bildete. Wir
wurden in gruͤne Uniform geſteckt, ich glaubte
ſchon mit meiner beſonderen Gruͤnheit in der all¬
gemeinen aufgehen zu koͤnnen und von meinem
Spitznamen erloͤſt zu ſein; aber weit gefehlt,
meine Mutter ließ es ſich nicht nehmen, die gruͤ¬
nen Roͤcke meines Vaters, welche kein Ende neh¬
men zu wollen ſchienen, dem Schneider unterzu¬
ſchieben und ſo ermangelte meine Uniform niemals
um einen Grad dunkler oder heller zu ſein, als
alle uͤbrigen und mich fortwaͤhrend auszuzeichnen.
Mit den kriegeriſchen Uebungen war das Turnen
verwandt, zu welchem wir ebenfalls angehalten
wurden, ſo daß ein Abend exercirt und den an¬
dern geſprungen, geklettert und geſchwommen
wurde. Ich war bisher aufgewachſen, wie ein
Gras, mich biegend und ſchmiegend, wie jedes
Luͤftchen der Lebensregungen und der Laune es
wollte; Niemand hatte mir geſagt, mich grad zu
halten, kein Mann mich an See und Fluß ge¬
fuͤhrt und da hineingeworfen, wo es am tiefſten
war, nur in der Aufregung hatte ich ein und
[302] andern Sprung gethan, den ich mit Vorſatz nicht
zu wiederholen vermochte. Mein Temperament
aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa
die Soͤhne anderer Wittwen, da ich keinen Werth
darauf legte und viel zu beſchaulich war. Meine
jetzigen Schulgenoſſen hingegen bis auf den Klein¬
ſten herab ſchwammen alle wie die Fiſche im
See herum, ſprangen und kletterten wie Katzen,
und es war hauptſaͤchlich ihr Spott, welcher mich
zwang, mir einige Haltung und Gewandtheit zu
erwerben, da ſonſt wohl mein Eifer bald erkaltet
waͤre. Denn es iſt nicht zu laͤugnen, daß das
allzu pedantiſche Betreiben ſolcher Dinge nicht
nur gedankenreichen Erwachſenen, ſondern auch
einem Kinde, deſſen Phantaſie oͤfters ſpazieren
geht, unbequem werden kann.


Aber noch viel tiefer ſollten die Veraͤnderun¬
gen in mein Leben einſchneiden. Ich war nun
in eine Umgebung gerathen, welche ſaͤmmtlich
mit einem mehr oder minder genugſamen Ta¬
ſchengelde verſehen war, theils in Folge haͤus¬
licher Wohlhabenheit, theils auch nur in Folge
herkoͤmmlichen ſtaͤdtiſchen Wohllebens und ſorg¬
[303] loſer Prahlerei der Aeltern. An reichlicher Ge¬
legenheit, Ausgaben zu machen, fehlte es noch
weniger, da nicht nur bei den gewoͤhnlichen Uebun¬
gen und Spielen auf den entlegenen Plaͤtzen Obſt
und Backwerk zu kaufen uͤblich war, ſondern auch
bei groͤßeren Turnfahrten und militairiſchen Aus¬
fluͤgen mit klingendem Spiel es fuͤr maͤnnlich
galt, ſich in den entfernten Doͤrfern hinter Wurſt
und Wein zu ſetzen. Dazu kamen noch die Aus¬
gaben fuͤr allerhand Spielereien, welche in der
Schule abwechſelnd Mode wurden unter dem
Vorwande nuͤtzlicher Beſchaͤftigung, ferner der
lehrreiche Beſuch aller fremden Sehenswuͤrdig¬
keiten, von welchen Allem ſich regelmaͤßig ent¬
fernt halten zu muͤſſen, einen unertraͤglichen An¬
ſtrich von Duͤrftigkeit und Verlaſſenheit verlieh.
Meine Mutter beſtritt mit gewiſſenhaftem Eifer
alle die ungewohnten Ausgaben fuͤr Lehrmittel,
Inſtrumente und Material und gab mir hierin
ſogar fuͤr eine gewiſſe Verſchwendung Raum.
Mit den feinen Zirkeln des Vaters durchſtach ich
das ſchoͤnſte Papier in der Klaſſe, jede Gelegen¬
heit nahm ich wahr, ein neues Heft zu errichten
[304] und meine Buͤcher waren immer am eleganteſten
gebunden. Allein fuͤr alles Andere, was im ge¬
ringſten des Ueberfluſſes verdaͤchtig ſchien, be¬
harrte ſie unerbittlich auf dem Grundſatze, daß
kein Pfennig unnuͤtz duͤrfe ausgegeben werden
und daß ich dies fruͤhzeitig lernen muͤſſe. Nur
fuͤr die allgemeinſten Ausfluͤge und [Unternehmun¬
gen]
, von denen zuruͤckzubleiben ein zu großer
Schmerz fuͤr mich geweſen waͤre, gab ſie mir ein
kaͤrgliches Geld, welches jedes Mal ſchon in der
Mitte des frohen Tages aufgezehrt war. Dabei
hielt ſie mich in weiblicher Unkenntniß der Welt
nicht etwa in der Abgeſchiedenheit zuruͤck, wie
es ſich zu ihrer ſtrengen Sparſamkeit geſchickt
haͤtte, ſondern ließ mich meine ganze Zeit in der
Gemeinſchaft der Anderen zubringen, mich nur
unter lauter wohlgezogenen Knaben und unter
der Aufſicht des großen, angeſehenen Lehrerper¬
ſonales waͤhnend, waͤhrend gerade dadurch das
Mitmachen und Vergleichen unvermeidlich wurde
und ich in tauſend Verlegenheiten und ſchiefe
Stellungen gerieth. In der Einfachheit und Un¬
ſchuld ihres Gemuͤthes und ihres Lebenslaufes
[305] hatte ſie keine Ahnung von dem unheilvollen
Giftkraute, welches falſche Scham genannt wird
und in den fruͤheſten Tagen des maͤnnlichen Le¬
bens um ſo mehr zu wuchern beginnt, als es
von der Inſolenz der alten Menſchen eher gehaͤt¬
ſchelt und gepflegt, als unterſchieden und ausge¬
reutet wird. Unter tauſend Jugendfreunden und
Mitgliedern von Peſtalozzi-Stiftungen giebt es
vielleicht keine zwoͤlf, welche aus ihren eigenen
Erinnerungen ſich noch auf das ABC des kind¬
lichen Gemuͤthes beſinnen und wiſſen, wie ſich
daraus die verhaͤngnißvollen Worte bilden, und
man darf ſie eigentlich nicht einmal darauf auf¬
merkſam machen, ſonſt werfen ſie ſich ſogleich auf
dieſes Gebiet und errichten daruͤber ein Statut.


Auf Pfingſten ward einſt ein großer jugend¬
licher Feldzug verabredet; ſaͤmmtliche kleine Mann¬
ſchaft, einige Hundert an der Zahl, ſollte mit
klingendem Spiel ausruͤcken und, uͤber Berg und
Thal marſchirend, die bewaffnete Jugend einer
benachbarten Stadt beſuchen, um mit derſelben
gemeinſchaftliche Paraden und Uebungen abzu¬
halten. Es herrſchte eine allgemeine Aufregung,
I. 20[306] gemiſcht aus der Freude der Erwartung und aus
der Luſt der Vorbereitung. Kleine Torniſter
wurden vorſchriftsmaͤßig bepackt, Patronen wur¬
den ſo viele als moͤglich uͤber die beſtimmte Zahl
angefertigt, unſere Zweipfuͤnderkanonen, ſowie die
Fahnen bekraͤnzt, und uͤberdies ging unter der
Hand das Gerede, wie unſere Nachbaren nicht
nur propere und gedrillte Soldaten, ſondern auch
aufgeweckte und luſtige Zecher und Kameraden
waͤren, daß es alſo nicht nur gelte, ſich moͤg¬
lichſt blank und ſtrack zu halten, ſondern Je¬
der ſich gut mit Taſchengeld zu verſehen haͤtte,
um den beruͤhmten Nachbaren auf jede Weiſe die
Stange zu halten. Dazu wußten wir, daß dort
die weibliche Jugend ebenfalls Theil nehmen,
feſtlich gekleidet und bekraͤnzt uns beim Einmarſche
begruͤßen und daß nach dem gemeinſchaftlichen
Mahle getanzt wuͤrde. Auch in dieſer Hinſicht
waren wir nicht geſonnen, uns etwas zu verge¬
ben; es hieß, Jeder ſolle ſich weiße Handſchuhe
verſchaffen, um beim Balle eben ſo galant als
militairiſch zu erſcheinen, und alle dieſe Dinge
wurden hinter dem Ruͤcken der Aufſeher mit ſolcher
[307] Wichtigkeit verhandelt, daß es mir angſt und
bange ward, Allem zu genuͤgen. Zwar war ich
einer der Erſten, welcher Handſchuhe aufzuweiſen
hatte, indem meine Mutter auf meine Klage aus
den begrabenen Vorraͤthen ihrer Jugend ein Paar
lange Handſchuhe von feinem weißem Leder her¬
vorzog und unbedenklich die Haͤnde vorn ab¬
ſchnitt, welche mir vortrefflich paßten. Hingegen
in Betreff des Geldes lebte ich der betruͤbten
Ausſicht, jedenfalls eine gedruͤckte und enthalt¬
ſame Rolle ſpielen zu muͤſſen. In ſolchen Be¬
trachtungen ſaß ich am Vorabend der Freuden¬
tage in einem Winkel, als mir ploͤtzlich ein Ge¬
danke durch den Kopf fuhr, ich das Hinausgehen
der Mutter abwartete und dann zu dem Schranke
eilte, in welchem mein Schatzkaͤſtchen lag. Ich
oͤffnete es zur Haͤlfte und nahm unbeſehen ein
großes Geldſtuͤck heraus, das zu oberſt lag; die
anderen ruͤckten alle ein klein wenig von der
Stelle und machten ein leiſes Silbergeraͤuſch, in
deſſen klangvoller Reinheit jedoch eine gewiſſe
Gewalt lag, die mich ſchauern machte. Schnell
brachte ich meine Beute zur Seite, befand mich
[308] aber nun in einer ſonderbaren Stimmung, die
mich ſcheu und wortkarg gegen meine Mutter
machte. Denn wenn der fruͤhere Eingriff mehr
die Folge eines vereinzelten aͤußeren Zwanges ge¬
weſen und mir kein boͤſes Gewiſſen hinterlaſſen
hatte, ſo war das jetzige Unterfangen freiwillig
und vorſaͤtzlich; ich that etwas, wovon ich wußte,
daß es die Mutter nimmer zugeben wuͤrde, auch
die Schoͤnheit und der Glanz der Muͤnze ſchienen
von der profanen Verausgabung abzumahnen.
Jedoch verhinderte der Umſtand, daß ich mich
ſelbſt beſtahl zum Zwecke der Nothhuͤlfe in einem
kritiſchen Falle, ein eigentliches Diebsgefuͤhl; es
war mehr etwas von dem Bewußtſein, welches
im verlornen Sohne daͤmmern mochte, als er
eines ſchoͤnen Morgens mit ſeinem vaͤterlichen
Erbtheil auszog, es zu verſchwenden.


Am Pfingſttage war ich ſchon fruͤh auf den
Fuͤßen: unſere Trommler, als die allerkleinſten
auch die munterſten Burſche, durchzogen in an¬
ſehnlichem Haufen die Stadt, umſchwaͤrmt von
marſchbereiten Schuͤlern, und ich beeilte mich, zu
ihnen zu ſtoßen. Meine Mutter hatte aber noch
[309] gar viel zu beſorgen; ſie fuͤllte meinen Torniſter
mit Eßwaaren, hing mir ein artiges Reiſeflaͤſch¬
chen um, mit ſuͤßem Wein gefuͤllt, ſteckte mir
noch hie und da etwas in die Taſchen und gab
mir gute Verhaltungsregeln. Ich hatte laͤngſt
mein Gewehr auf der Schulter und die Patron¬
taſche umgehaͤngt, worin unter den Patronen
mein großer Thaler ſteckte, und wollte mich endlich
ihren Haͤnden entreißen, als ſie ganz verwundert
ſagte, ich werde doch etwas Geld mitnehmen wol¬
len? Hierauf nahm ſie das bereits Abgezaͤhlte
hervor und unterwies mich, wie ich es einzuthei¬
len haͤtte. Es war zwar nicht uͤberreichlich, doch
hoͤchſt anſtaͤndig und vollkommen hinreichend und
ſelbſt fuͤr unvorhergeſehene Faͤlle berechnet. In
einem Papiere war noch ein beſonderes Stuͤck
eingewickelt, welches ich in dem gaſtfreundlichen
Hauſe, wo ich einquartirt wuͤrde, den Dienſtboten
zu geben haͤtte. Wenn ich die Sache recht be¬
trachtete, ſo war dies auch die erſte Gelegenheit,
wo eine gute Ausſtattung eigentlich nothwendig
ſchien und die Mutter ließ es alſo nicht an dem
Ihrigen fehlen. Aber nichts deſto minder war
[310] ich uͤberraſcht, ich gerieth in die groͤßte Verlegen¬
heit und Aufregung und indem ich die Treppen
hinunterſtieg, drangen mir ſeltener Weiſe Thraͤ¬
nen aus den Augen, daß ich ſie hinter der Haus¬
thuͤr abtrocknen mußte, ehe ich auf die Straße
trat und zu dem froͤhlichen Haufen ſtieß. Der
allgemeine Jubel haͤtte in meinem Gemuͤthe,
welches durch die liebevolle Sorge der Mutter
bewegt war, einen um ſo empfaͤnglicheren Grund
gefunden, wenn nicht der Thaler in meiner Gi¬
berne wie ein Stein auf meinem Herzen gelegen
haͤtte. Jedoch als ſich die ganze Schaar zuſam¬
menfand, das Kommando erklang und wir uns
ordneten und abzogen, wurden meine duͤſtern Ge¬
danken gewaltſam unterdruͤckt, und als ich, zur
Vorhut eingetheilt, ſchon auf den freien Hoͤhen
ging unter dem morgenfriſchen Himmel, und der
lange Zug, ſchimmernd und ſingend, mit wehen¬
den Fahnen, ſich zu unſern Fuͤßen heranbewegte,
da vergaß ich Alles und lebte nur dem Augen¬
blicke, welcher, Perle fuͤr Perle, von der glaͤnzen¬
den Schnur der naͤchſten Erwartung fiel. Wir
fuͤhrten ein luſtiges Vorhutleben, ein alter Kriegs¬
[311] mann, in fremden Dienſten ergraut und nun
dazu verwendet, uns kleinen Neſthuͤpfern das
Handwerk beizubringen, leitete uns an zu allerlei
Schabernack und ließ ſich unablaͤſſig beſtuͤrmen,
aus unſern Feldflaſchen zu trinken, was er mit
ſcharfer Kritik des Inhalts that. Wir waren
ſtolz, keinen der Schulmaͤnner bei uns zu haben,
welche die große Colonne begleiteten, und hoͤrten
andaͤchtig die Kriegsabenteuer, ſo uns der alte
Soldat erzaͤhlte.


Zur Mittagszeit machte der Zug in einem
ſonnigen unbewohnten Thalkeſſel Halt; der wilde
Boden war mit vielen einzelnen Eichen beſetzt,
um welche ſich das junge Kriegsvolk lagerte.
Wir Leute der Vorhut aber ſtanden auf einem
Berge und ſchauten zufrieden auf das ferne froͤh¬
liche Gewuͤhl hinunter. Wir waren ſtill gewor¬
den und ſchluͤrften den ſtillen glanzvollen Tag
ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde
und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus,
uͤber blaue Stroͤme und Seen hin. Obgleich
wir noch nichts von landſchaftlicher Schoͤnheit zu
ſagen wußten und Einige vielleicht in ihrem Le¬
[312] ben nie dazu kamen, fuͤhlten wir Alle doch ganz
die Natur, und das umſomehr, weil wir mit
unſerem Freudenzuge eine wuͤrdige Staffage in
der Landſchaft bildeten, weil wir handelnd darin
auftraten und daher der peinlichen Sehnſucht der
unthaͤtigen bedeutungsloſen Naturbewunderer ent¬
hoben waren. Denn ich habe erſt ſpaͤter erfahren
und eingeſehen, daß das unthaͤtige und einſame
Genießen der gewaltigen Natur das Gemuͤth ver¬
weichlicht und verzehrt, ohne daſſelbe zu ſaͤttigen,
waͤhrend ihre Kraft und Schoͤnheit es ſtaͤrkt und
naͤhrt, wenn wir ſelbſt auch in unſerm aͤußern
Erſcheinen etwas ſind und bedeuten, ihr gegen¬
uͤber. Und ſelbſt dann iſt ſie in ihrer Stille uns
manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauſchendes
Waſſer iſt und gar keine Wolken ziehen, da
macht man gern ein Feuer, um ſie zur Bewe¬
gung zu reizen und ſie nur ein bischen athmen
zu ſehen. So trugen wir einiges Reiſig zuſam¬
men und fachten es an, die rothen Kohlen kni¬
ſterten ſo leis und angenehm, daß auch unſer
graue und rauhe Fuͤhrer vergnuͤgt hineinſah,
waͤhrend der blaue Rauch dem Heerhaufen im
[313] Thale ein Zeichen unſeres Aufenthaltes war; trotz
der mittaͤglichen Sonnenhitze ſchien uns die er¬
hoͤhte Gluth des Feuers lieblich, wir verloͤſchten
es ungern, als wir abzogen. Gar zu gern haͤt¬
ten wir einige Schuͤſſe in die ſtille Luft geſandt,
wenn es nicht ſtreng unterſagt geweſen waͤre;
ein Knabe hatte ſchon geladen und mußte den
Schuß kunſtgerecht wieder aus dem Gewehre
ziehen, was ihm ſo peinlich war, als einem
Schwaͤtzer das Unterdruͤcken eines Geheimniſſes.


Im Scheine des Abendgoldes ſahen wir end¬
lich die befreundete Stadt vor uns, aus deren
mit Blumen und gruͤnen Zweigen bekleidetem,
alterthuͤmlichem Thor die ſo wie wir geruͤſtete
Jugend uns entgegen trat, umgeben von den
ſchauluſtigen und freundlichen Eltern und Ge¬
ſchwiſtern. Ihre Artillerie loͤſte uns zu Ehren
eine Anzahl von Schuͤſſen, wir betrachteten mit
kritiſchem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben
der Muͤndung mit ebenſo zierlicher Verrenkung
ſich zuruͤckbogen, wenn die Lunte ſich dem Bran¬
der naͤherte, um mit einer ebenſo veraͤchtlichen
Schwenkung wieder zur Erde gewandt zu wer¬
20 *[314] den, wie das Alles bei uns uͤblich war. Noch
mehr Urſache zur Eiferſucht gaben uns die huͤb¬
ſchen Percuſſionsgewehre, womit unſere Kameraden
verſehen waren, da wir ſelbſt nur alte Stein¬
ſchloſſe hatten, welche ſich dann und wann er¬
laubten zu verſagen. Die Regierung dieſes Stan¬
des war ein wenig im Geruche, in ihrem auf¬
geweckten Sinne fuͤr alles Gute und Schoͤne
manchmal mehr Aufwand zu machen, als ſich
mit haushaͤlteriſcher Bedaͤchtigkeit vertruͤge, und
hatte demgemaͤß fuͤr ihre Schuljugend ſolche neue
Waffen beſchafft zu einer Zeit, wo dergleichen
erſt bei groͤßeren Militaͤrſtaaten in der Einfuͤh¬
rung begriffen waren. So hoͤrten wir denn,
waͤhrend unſere Freunde uns wohlgefaͤllig erklaͤr¬
ten, wie bei ihnen waͤhrend der Ladung die Be¬
wegung des Patronbeißens nun wegfiele, unſere
erwachſenen Begleiter heimlich einen bedaͤchtigen
Tadel uͤber ſolchen Aufwand ausſprechen. Doch
waren wir endlich ermuͤdet und gaben uns willig
den Einladungen der Familien hin, welche ſich
ſo eifrig um unſere Beherbergung ſtritten, daß
unſere ganze Schaar in ihren offenen Armen ſo
[315] ſchnell verſchwand, wie ein fluͤchtiger Regenſchauer
im heißen durſtigen Erdreiche verſiegt. Wir ſahen
uns nun vereinzelt in die Mitte haͤuslicher Wirth¬
lichkeit verſetzt als Gegenſtand des feſtlichſten
Wohlwollens und belohnten dieſe Gaſtfreund¬
ſchaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindes¬
land waͤren, beim Schlafengehen unſere Flintchen
mitnahmen und neben die großen Gaſtbetten ſtellten,
welche zu erſteigen wir alle unſere Turnerkuͤnſte
aufbieten mußten.


Das Feſt des anderen Tages erfuͤllte alle Er¬
wartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien
bei den Uebungen gleich wohl beſtehen; gegen
die Percuſſionsgewehre unſerer Nebenbuhler aber
hatten wir einen anderen Trumpf auszuſpielen.
Indem ihre Artillerie naͤmlich nur blind zu
ſchießen gewohnt war und keine Kugeln kannte,
ſchoß die unſerige ſo geſchickt nach dem Ziele, daß
das bei ſolcher Gelegenheit ſtehende Spruͤchwort:
»die Kleinen machten es wahrlich beſſer, denn
die Großen!« diesmal nicht ganz unrichtig war
und die Nachbaren dem ernſthaften Richten der
Geſchuͤtze verwundert zuſchauten.

[316]

Ein großes Feſtmahl, welches einige Tauſend
junge und alte Menſchen vereinigte, wurde auf
einer bluͤhenden Wieſe eingenommen. Beliebte
Jugendfreunde hielten Tiſchreden und trafen in
denſelben das Rechte, indem ſie, anſtatt uns in
hohlem, fruͤhreifem Ernſte zu halten, in reinem
Humor den Ton unſchuldiger Froͤhlichkeit an¬
ſtimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindiſch zu
thun, und uns dadurch deſto leichter lehrten, die
Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf
zog eine lange Reihe feiner Maͤdchen aus dem
Thore an uns vorbei auf einen geebneten Raſen¬
platz und lud uns mit Geſang zu Spiel und
Taͤnzen ein. Sie waren alle weiß und roth ge¬
kleidet und entfalteten ſich in der lieblichſten
Bluͤthe vom kindlichen Lockenkopfe bis zur an¬
gehenden Jungfrau, hinter dem weiten Kranze
ragte manch weibliches Haupt in reifer Schoͤnheit,
um die zarten Pflaͤnzlinge zu uͤberwachen und
bei guter Gelegenheit ſelbſt noch ein bischen
jugendlicher uͤber den Raſen zu ſchluͤpfen, als in
ſonſtigen Tagen erlaubt war. Hatten doch die
Maͤnner ihrerſeits die Gelegenheit auch erſehen
[317] und die Luſt der Kinder bereits zu ihrer eigenen
Sache erklaͤrt und ſchon mit mancher Flaſche be¬
ſiegelt! Unſere tapfere Schaar naͤherte ſich in
dichtem Haufen dem fluͤſternden Kreiſe der Schoͤ¬
nen, Keiner wollte recht der Vorderſte ſein, un¬
ſere Sproͤdigkeit ließ uns faſt feindlich und duͤſter
ausſehen, waͤhrend das Anziehen der weißen
Handſchuhe ein weitgedehntes Flimmern und
Schimmern verurſachte. Doch es zeigte ſich nun,
daß die Haͤlfte der Handſchuhe uͤberfluͤſſig war,
indem wir in zwei verſchiedene Theile zerfielen,
in ſolche Knaben naͤmlich, welche groͤßere Schwe¬
ſtern zu Hauſe hatten, und in ſolche, welche die¬
ſes angenehme Gluͤck nicht kannten. Die Er¬
ſteren zeigten ſich Alle als zierliche Taͤnzer und
Cavaliere, welche bald geſucht und ausgezeichnet
wurden, indeſſen die Letzteren wie ungeleckte Baͤ¬
ren uͤber den Raſen ſtolperten und nach einigen
mißlungenen Abenteuern ſich aus den Reihen
ſtahlen und bei den Trinktiſchen zuſammenfan¬
den, wo wir mit energiſchem Geſang ein wildes
Soldatenleben fuͤhrten, als rauhe Krieger und
Weiberfeinde, und uns gegenſeitig einzubilden
[318] ſuchten, daß die Maͤdchen doch haͤufig nach un¬
ſerem tuͤchtigen Treiben heruͤber ſchielten. Unſer
Zechen beſtand zwar mehr in einer beſcheidenen
Nachahmung der Alten und uͤberwand den natuͤr¬
lichen Widerwillen gegen Unmaͤßigkeit nicht, der
noch in jenem Lebensalter liegt; doch bot es hin¬
laͤnglichen Spielraum fuͤr unſere kleinen Leiden¬
ſchaften. Der Weinbau dieſer Landſchaft war
bedeutender und edler als bei uns, daher hatten
unſere jungen Nachbaren ſchon eine entſchiedenere
Faͤrbung in ihrer Froͤhlichkeit und vertrugen ein
ſtaͤrkeres Glas Wein, als wir, ſo daß ſie ihren
Ruf vollkommen rechtfertigten. Da galt es nun,
ſich hervorzuthun; ich gab mich dieſem Beſtreben
ohne Ruͤckhalt hin, meine wohlverſehene Kaſſe
verlieh mir die noͤthige Sicherheit und Freiheit,
und dieſer erfolgte alſobald eine gewiſſe Achtung
meiner Umgebung. Wir durchzogen Arm in
Arm die Stadt und die Luſtplaͤtze vor derſelben,
das ſchoͤne Wetter, die Freude, der Wein regten
mich auf und machten mich beredſam und aus¬
gelaſſen, keck und gewandt; aus einem ſtillen
und bloͤden Ferneſteher war ich urploͤtzlich ein
[319] lauter Tonangeber geworden, der ſich in uͤber¬
muͤthigen Bemerkungen, Witzworten und Erfin¬
dung von Schwaͤnken erging, und welchen die
uͤbrigen Wortfuͤhrer, die ſich bisher wenig aus
mir gemacht, ſogleich anerkannten und haͤtſchelten.
Die Eigenſchaft als Fremder, der neue Schau¬
platz erhoͤhte noch die Stimmung, es iſt ſchwer
zu entſcheiden, was groͤßer war, ob meine Red¬
ſeligkeit, mein Freudenrauſch oder meine erwachte
Eitelkeit, kurz ich ſchwamm in einem ganz neuen
Gluͤcke, welches am dritten Tage wo moͤglich noch
zunahm, als wir heimwaͤrts zogen und die all¬
ſeitige Zufriedenheit, ſowie die freiere Ordnung
und Haltung eine neue Reihe froͤhlicher Auftritte
veranlaßten.


Als ich mit Sonnenuntergang das Haus
meiner Mutter betrat, beſtaubt und ſonnver¬
brannt, die Muͤtze mit einem Tannenreiſe ge¬
ſchmuͤckt, die Muͤndung des Gewehrchens und der
eigene Mund prahleriſch von Pulver geſchwaͤrzt,
da war ich nicht mehr der Gleiche, wie ich aus¬
gezogen, ſondern Einer, der ſich mit den keckſten
Fuͤhrern der Knabenwelt in verſchiedene Verab¬
[320] redungen und Verſprechungen eingelaſſen hatte
zur Fortſetzung des begonnenen Tones, mittelſt
welcher wir auch in unſerer Stadt eine Rolle
zu ſpielen gedachten. Hauptſaͤchlich ſollten die
tanzkundigen Feinthuer oder Weichlinge, wie wir
ſie nannten, verhindert werden, uns bei der ein¬
heimiſchen Schoͤnheit etwa in den Schatten zu
ſtellen; wir wollten daher ihren zierlichen Kuͤn¬
ſten ein derbes militaͤriſches Weſen, kuͤhne Tha¬
ten und allerlei Streifereien und Unternehmungen
entgegenſetzen zur Begruͤndung eines bedenklichen
Ruhmes. Voll von dieſen Ideen und noch voll
der durchlebten Freude, die ich ſo wenig erſchoͤpft
hatte, als ſie mich, fuͤhlte ich mich in der beſten
Laune und erging mich in unſerem Hauſe in
lauten Erzaͤhlungen und prahleriſchem, barſchem
Weſen, bis ich durch einige magiſche Witzkoͤrner,
die meine Mutter in die unbeſcheidene Brandung
warf, fuͤr einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht
wurde.


Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit,
aus meiner Verirrung zu kommen; ſchon der
naͤchſte Tag, an dem ich, ſelbſt eine Art von
[321] Groͤße, in der renommirteſten Geſellſchaft unſerer
Stadt zu ſehen war, weckte alle neuen Erinne¬
rungen wieder, die Nachklaͤnge des Feſtes gaben
Gelegenheit, den Reſt meiner Barſchaft anzubrin¬
gen und dagegen erneute Lorbeeren einzutauſchen.
Fuͤr einen der naͤchſten Sonntage wurde ein
großer Spaziergang verabredet, welches wieder
eine Demonſtration gegen die Feinſpinner wer¬
den ſollte. In meinem Leichtſinn hatte ich nicht
bedacht, woher ich die noͤthigen Mittel nehmen
ſolle, alſo auch keinen Vorſatz gefaßt, als aber
der Augenblick da war, griff ich wieder in den
Schrein, ohne etwas Anderes zu fuͤhlen, als das
zwingende Beduͤrfniß und eine Art dunklen Ent¬
ſchluſſes, daß es das letzte Mal ſein ſolle.


So ging es den ganzen kurzen Sommer hin¬
durch. Die veranlaſſende Laune war laͤngſt ver¬
flogen, die Theilnehmer hatten ſich dem ordent¬
lichen Lauf der Dinge wieder gefuͤgt, auch uͤber
mich haͤtten Maß und Beſcheidenheit ihre Herr¬
ſchaft wieder gewonnen, wenn nicht eine andere
Leidenſchaft aus der Sache erwachſen waͤre, naͤm¬
lich die des unbeſchraͤnkten Geldausgebens, der
I. 21[322] Verſchwendung an ſich. Es reizte mich, jeden
Augenblick die kleinen Herrlichkeiten, wonach
jenes Alter geluͤſtet, kaufen zu koͤnnen: immer
hatte ich die Hand in der Taſche, um mit Muͤnzen
hervorzufahren; Gegenſtaͤnde, welche Knaben ſonſt
vertauſchen, kaufte ich nur mit barem Gelde,
gab ſolches an Kinder, Bettler und beſchenkte
einige Geſellen, die meinen Schweif bildeten und
meine Verblendung benutzten, ſo lange es ging.
Denn es war eine wirkliche Verblendung. Ich
bedachte im Mindeſten nicht, daß die Sache doch
ein Ende nehmen muͤſſe, nie mehr oͤffnete ich das
Kaͤſtchen ganz und uͤberſah das Geld, ſondern
ſchob nur die Hand unter den Deckel, um ein
Stuͤck herauszunehmen und uͤberdachte auch nie,
wie viel ich ſchon verſchleudert haben muͤſſe. Ich
empfand auch keine Angſt vor der Entdeckung,
in der Schule und bei meinen Arbeiten hielt ich
mich nicht ſchlimmer, als fruͤher, eher beſſer, weil
keine unbefriedigten Wuͤnſche mich zu traͤumeri¬
ſchem Muͤſſiggange verleiteten und die vollkom¬
mene Freiheit des Handelns, welche ich beim
Geldausgeben empfand, ſich auch im Arbeiten
[323] durch eine gewiſſe Raſchheit und Entſchloſſenheit
aͤußerte. Zudem fuͤhlte ich das dunkle Beduͤrfniß,
das unſichtbare Unheil, welches uͤber mir ſich
ſammelte, durch ſonſtige Pflichterfuͤllung einiger¬
maßen aufzuwiegen.


Jedoch trotz Allem befand ich mich jenen
ganzen Sommer hindurch in einem unheimlichen
und peinvollen Zuſtande, deſſen Erinnerung, ver¬
bunden mit derjenigen an den blauen Himmel
und Sonnenſchein, an die ſtillen gruͤnen Wald¬
ſchenken, in welche wir uns zu heimlichen Ge¬
lagen verkrochen, eine ſeltſame Empfindung wach¬
ruft. Meine Genoſſen mußten laͤngſt gemerkt
haben, daß es mit meinem Gelde nicht mit rech¬
ten Dingen zugehe, aber ſie huͤteten ſich ſorg¬
faͤltig, einen Verdacht zu aͤußern oder die leiſeſte
Frage an mich zu thun; vielmehr ſtellten ſie ſich,
als ob ſich Alles von ſelbſt verſtuͤnde, waren mir
ſtillſchweigend behuͤlflich, die auffaͤlligen blanken
Silberſtuͤcke umzuwechſeln, ohne in Eroͤrterungen
einzugehen, und als die Herrlichkeit ein Ende
nahm, wandten ſie ſich ganz trocken und unbe¬
theiligt von mir, ganz wie erwachſene brave Ge¬
21 *[324] ſchaͤftsleute, welche in aller Seelenruhe auch den
Gewinn der Unredlichen an ſich bringen, ohne
uͤber den Urſprung deſſelben Forſchungen anzu¬
ſtellen. Dies vorausgeahnte Benehmen druͤckte
mich umſomehr, als ich bald bemerkte, daß ſie
ſich ſonderbar gemeſſen gegen mich betrugen und
nur waͤrmer wurden, wenn ich wieder ein Geld¬
ſtuͤck auf die Straße brachte, daneben aber ſich
anderweitig uͤber mich zu beſprechen ſchienen. Waͤh¬
rend jedoch die kleinliche und gewoͤhnliche Art
der Mehrzahl keine heftige und leidenſchaftliche
Trennung bedingte, ſollte mir die energiſche
Selbſtſucht eines Einzigen und der daraus ent¬
ſpringende Haß Kummer und Leiden bereiten,
wie ſie wohl ſelten in dieſem Alter ſich zeigen.
Derſelbe war ein kleiner Burſche mit kleinen
regelmaͤßigen Geſichtszuͤgen, welche von Sommer¬
ſproſſen bedeckt waren. Er beſaß einen fruͤhreifen
Verſtand, lernte fleißig und genau, beſtrebte ſich
gegen aͤltere Leute, beſonders gegen Frauen, in
wohlgeſetzten, altklugen Worten auszudruͤcken und
galt daher fuͤr einen ordentlichen erſprießlichen
Jungen. Er war faſt in allen Uebungen geſchickt,
[325] durch Aufmerkſamkeit und Ausdauer, und brachte
Alles, was er unternahm, auf eine zierliche Weiſe
zu Stande. Meierlein, ſo hieß er, beſaß aber
kein tieferes Talent; in ſeinen verſchiedenſten Un¬
ternehmungen war nie etwas Neues oder Eigenes
ſichtbar, ſondern er brachte nur das gut zu Wege,
was er ſich vorgemacht ſah, und ihn beſeelte nur
ein unablaͤſſiges Beduͤrfniß, ſich alles Erdenkliche
anzueignen. Deshalb konnte er ebenſowohl eine
vollkommene und reinliche Papparbeit hervorbrin¬
gen, als uͤber einen breiten Graben ſetzen oder
Ballſchlagen, oder mit einem Steinchen eine be¬
zeichnete Stelle an einer Mauer treffen, alles
durch langſame und anhaltende Uebung; ſeine
Schulhefte waren correct und in beſter Ordnung,
ſeine Schrift klein und zierlich, beſonders ſeine
Zahlen wußte er ausnehmend angenehm und
rundlich in Reihen zu ſetzen. Seine vorzuͤglichſte
Gabe aber war eine gewiſſe Faͤhigkeit, mit ver¬
ſtaͤndiger Beſprechung Alles zu uͤberſpinnen,
Verhaͤltniſſe auszukluͤgeln und mit vielſagender
Miene Aufſchluͤſſe und Vermuthungen aufzuſtel¬
len, welche uͤber unſer Alter hinausgingen. Dabei
[326] war er ein zuverlaͤſſiger und kurzweiliger Geſell,
geſucht und nuͤtzlich, fing wenig Streit an, aber
focht einen ſolchen hoͤchſt hartnaͤckig aus und war
daher um ſo reſpectirter, als er immer wohlbe¬
daͤchtig auf der Seite ſtand, wo das wirkliche
oder ſcheinbare Recht erſichtlich war.


Er war anderthalb Jahre aͤlter als ich, hatte
ſich indeſſen enger an mich geſchloſſen, als alle
Uebrigen, ſo daß wir eine beſondere Freundſchaft
bildeten und jeden freien Augenblick beiſammen
waren. Er ergaͤnzte mich vortrefflich und ſagte
mir daher ſehr zu. Meine Unternehmungen gin¬
gen immer auf das Phantaſtiſche, Bunte und
Wirkſame aus, waͤhrend er durch Genauigkeit
und Dauerhaftigkeit der mechaniſchen Arbeit mei¬
nen fluͤchtigen und rohen Entwuͤrfen Nutzen und
Ordnung verlieh. Meierlein ließ mein Geheim¬
niß ebenſo vorſichtig beſtehen, wie die Anderen,
obwohl es fuͤr ſeine verſtaͤndige Aufmerkſamkeit
noch weniger Eines ſein konnte; doch ließ er nicht
ebenſo zwiſchendurch ſeine Einſicht ahnen, ſondern
beſtrebte ſich vielmehr, mich von den zu leichtſin¬
nigen Ausgaben abzuhalten und meine Wuͤnſche
[327] auf ſcheinbar nuͤtzliche und gute Dinge zu richten
mit geſetzten Worten, was dem Verkehr mit ihm
einen ſoliden Anſtrich verlieh. Nur fuͤr ſich ſelbſt
war er mit noch groͤßerem Eifer bedacht, als die
Uebrigen, und ſich nicht begnuͤgend mit meiner un¬
mittelbaren Freigebigkeit, errichtete er mit großer
Einſicht ein Schuldverhaͤltniß zwiſchen mir und
ihm, indem er ſich haushaͤlteriſch aus meinem
Gelde eine kleine Kaſſe anſammelte, aus welcher
er mir, wenn ich augenblicklich nicht uͤber mein
Kaͤſtchen konnte, maͤßige Vorſchuͤſſe machte, die
wir gemeinſam verbrauchten und die er in ein zier¬
lich angefertigtes Buͤchelchen eintrug, deſſen Sei¬
ten mit Soll und Haben anſehnlich uͤberſchrieben
waren. Ueberdies wußte er mir eine Menge kin¬
diſcher Gegenſtaͤnde zu verkaufen, deren Betrag
er durchaus nicht in Bar annehmen wollte, ſon¬
dern in ſein Buch ſetzte. Seine Gewandtheit in
den verſchiedenſten Uebungen verwerthete er eben¬
falls, er war mein dienſtbarer Daͤmon, der Alles
konnte und Alles in Angriff nahm, was wir
wuͤnſchten, aber jede Dienſtleiſtung durch kleine
Muͤnzſorten in meinem Schuldregiſter bezeichnete.
[328] Auf Spaziergaͤngen reizte er mich ſtets, ſeine Ge¬
ſchicklichkeit auf die Probe zu ſtellen. »Soll ich
mit dieſem Steinchen jenes duͤrre Blatt treffen?«
ſagte er, und ich erwiederte: »das kannſt Du
nicht!« »Willſt Du mir einen Kreuzer ſchuldig
ſein, wenn ich es thue?« »Ja« und er traf es
und erſchwerte unter den gleichen Bedingungen
die Aufgabe manchmal zwoͤlfmal hinter einander,
ohne ſie je zu verfehlen. Dann ſchrieb er den
Betrag genau in ſein Buch mit allerliebſten wohl¬
geſtalteten Zahlen, was mir ſolches Vergnuͤgen
gewaͤhrte, daß ich laut auflachte. Er aber ſagte
ernſthaft, da ſei gar nichts zu lachen, ich ſollte
bedenken, daß ich Alles einmal berichtigen muͤßte
und daß ſein Buͤchlein eine ordentliche Bedeutung
und Guͤltigkeit haͤtte vor jedem Geſchaͤftsmann!
Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen
Wetten, ob z. B. ein Vogel ſich auf dieſen oder
jenen Pfahl ſetzen, ob ein vom Winde bewegter
Baum ſich das naͤchſte Mal ſo oder ſo tief nieder¬
beugen, ob am Geſtade des See's mit dem fuͤnf¬
ten oder ſechſten Wellenſchlage eine große Welle
ankommen wuͤrde. Wenn bei dieſem Spiele der
[329] Zufall mich manchmal gewinnen ließ, ſo ſetzte er
in ſeinem Buche auf die Seite des Soll mit
wichtiger Miene ein knappes Zaͤhlchen, welches
ſich in ſeiner Einſamkeit hoͤchſt wunderlich aus¬
nahm und mir neuen Stoff zum Lachen, ihm
hingegen zu ernſthaften Redensarten gab. Er
ſuchte mich eifrigſt zu uͤberzeugen, daß Schulden
eine wichtige Ehrenſache ſeien und eines Tages,
als der Sommer ſich ſeinem Ende nahte, uͤber¬
raſchte mich Meierlein mit der Nachricht, daß er
nun »abgerechnet« habe, und zeigte mir eine runde
Zahl von mehreren Gulden nebſt einigen Kreuzern
und Pfennigen und bemerkte dabei, daß es nun
thunlich waͤre, wenn ich darauf daͤchte, ihm den
Betrag einzuhaͤndigen, indem er wuͤnſche, aus
ſeinen Erſparniſſen ſich ein ſchoͤnes Buch zu kau¬
fen. Doch erwaͤhnte er hieruͤber die naͤchſten zwei
Wochen nichts mehr und legte inzwiſchen eine
neue Rechnung an, welches er mit vermehrtem
Ernſte that und wobei er ein ſeltſames Betragen
aͤußerte. Er wurde nicht unfreundlich, aber die
alte Froͤhlichkeit und Unbefangenheit unſeres Ver¬
kehres war verſchwunden. Eine große Traurig¬
[330] keit beſchlich mich, welche Meierlein durchaus nicht
zu ſtoͤren ſchien; vielmehr nahm er ſelber einen
elegiſchen Ton an, ungefaͤhr wie er Abraham
uͤberkommen haben mochte, als er mit ſeinem
Sohne Iſaak den vermeintlich letzten Gang that.
Nach einiger Zeit wiederholte er ſeine Mahnung,
diesmal mit Entſchiedenheit, doch nicht unfreund¬
lich, ſondern mit einer gewiſſen Wehmuth und
vaͤterlichem Ernſte. Nun erſchrack ich und fuͤhlte
eine heftige Beklemmung, indeſſen ich verſprach,
die Sache abzumachen. Jedoch konnte ich mich
nicht ermannen, die Summe zu entnehmen und
verlor ſelbſt den Muth, meine gewoͤhnlichen Ein¬
griffe fortzuſetzen. Das Gefuͤhl meiner Lage hatte
ſich jetzt ganz ausgebildet, ich ſchlich truͤbſelig
umher und wagte nicht zu denken, was nun
kommen ſollte. Ich fuͤhlte eine beaͤngſtigende Ab¬
haͤngigkeit gegen meinen Freund, ſeine Gegenwart
war mir druͤckend, ſeine Abweſenheit aber pein¬
lich, da es mich immer zu ihm hintrieb, um nicht
allein zu ſein und vielleicht eine Gelegenheit zu
finden, ihm Alles zu geſtehen und bei ſeiner Ver¬
nunft und Einſicht Rath und Troſt zu finden.
[331] Aber er huͤtete ſich wohl, mir dieſe Gelegenheit
zu bieten, wurde immer gemeſſener im Umgange
und zog ſich zuletzt ganz zuruͤck, mich nur auf¬
ſuchend, um ſeine Forderung nun mit kurzen, faſt
feindlichen Worten zu wiederholen. Er mochte
ahnen, daß eine Kriſis fuͤr mich nahe bevorſtehe;
daher war er beſorgt, noch vor dem Ausbruche
derſelben ſein ſo lang und ſorglich gepflegtes
Schaͤfchen in's Trockene zu bringen. Und ſo war
es auch. Um dieſe Zeit war meine Mutter durch
die verſpaͤtete Mittheilung eines Bekannten auf¬
merkſam gemacht worden, ſie erfuhr endlich mein
bisheriges Treiben außer dem Hauſe, woran
hauptſaͤchlich die uͤbrigen Kumpane Schuld ſein
mochten, die ſich ſchon fruͤher von mir gewendet
hatten, als meine Niedergeſchlagenheit begonnen.


Eines Tages, als ich am Fenſter ſtand und
fuͤr meine Blicke auf den beſonnten Daͤchern, im
Gebirge und am Himmel ſtille Ruhepunkte und
die vorwurfsvolle Stube hinter mir zu vergeſſen
ſuchte, rief mich die Mutter mit ungewohnter
Stimme beim Namen; ich wandte mich um, da
ſtand ſie neben dem Tiſche und auf demſelben das
[332] geoͤffnete Kaͤſtchen, auf deſſen Boden zwei oder
drei Silberſtuͤcke lagen.


Sie richtete einen ſtrengen und bekuͤmmerten
Blick auf mich und ſagte dann: »Schau einmal
in dies Kaͤſtchen!« Ich that es mit einem halben
Blicke, der mich ſeit langer Zeit zum erſten Male
wieder den wohlbekannten inneren Raum der ge¬
pluͤnderten Lade ſehen ließ. Er gaͤhnte mir vor¬
wurfsvoll entgegen. »Es iſt alſo wahr,« fuhr die
Mutter fort, »was ich habe hoͤren muͤſſen, und
was ſich nun beſtaͤtigt, daß ſich mein guter und
ſorgloſer Glaube, ein braves und gutartiges Kind
zu beſitzen, ſo grauſam getaͤuſcht ſieht?« Ich ſtand
ſprachlos da und ſah in eine Ecke, das Gefuͤhl
des Ungluͤckes und der Vernichtung kreiſ'te in
meinem Inneren ſo ſtark und gewaltig, als es
nur immer im langen und vielfaͤltigen Menſchen¬
leben vorkommen kann; aber durch die dunkle
Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Ver¬
ſoͤhnung und Befreiung. Der offene Blick mei¬
ner Mutter auf meine unverhuͤllte Lage fing an
den Alp zu bannen, der mich bisher gedruͤckt
hatte, ihr ſtrenges Auge war mir wohlthaͤtig und
[333] und loͤſte meine Qual und ich fuͤhlte in dieſem
Augenblicke eine unſaͤgliche Liebe zu ihr, welche
meine Zerknirſchung durchſtrahlte und faſt in einen
gluͤckſeligen Sieg verwandelte, waͤhrend meine
Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer
Strenge beharrte. Denn die Art meines Ver¬
gehens hatte ihre empfindlichſte Seite, ſo zu ſagen
ihren Lebensnerv getroffen: einestheils das kind¬
liche blinde Vertrauen ihrer religioͤſen Rechtlichkeit,
anderntheils ihre ebenſo religioͤſe Sparſamkeit und
unwandelbare Lebensfrage. Sie hatte keine Freude
beim Anblick des Geldes, nie uͤberſah ſie unnoͤ¬
thiger Weiſe ihre Barſchaft, aber jedes Gulden¬
ſtuͤck war ihr beinahe ein heiliges Symbolum des
Schickſals, wenn ſie es in die Hand nahm, um
es gegen Lebensbeduͤrfniſſe auszutauſchen. Des¬
nahen war ſie nun weit ſchwerer mit Sorge er¬
fuͤllt, als wenn ich irgend etwas Anderes began¬
gen haͤtte. Wie um ſich gewaltſam vom Gegen¬
theile zu uͤberzeugen, hielt ſie mir Alles deutlich
und gemeſſen vor und fragte dann wiederholt:
»Iſt es denn wirklich wahr? Geſtehe!« Worauf
ich ein kurzes Ja hervorbrachte und mich meinen
[334] Thraͤnen uͤberließ, ohne indeſſen viel Geraͤuſch zu
machen; denn ich war nun voͤllig befreit und faſt
vergnuͤgt. Sie ging tief bewegt auf und nieder
und ſprach: »So weiß ich nun nicht, was werden
ſoll, wenn Du Dich nicht feſt und fuͤr immer
beſſern willſt!« Damit legte ſie das Kaͤſtchen
wieder in ihren Schreibtiſch und ließ den Schluͤſſel
deſſelben an dem gewohnten Ort. »Sieh,« ſagte
ſie, »ich weiß nicht, ob Du, wenn Du Deine paar
Geldſtuͤcke noch verbraucht haͤtteſt, alsdann auch
nach meinem Gelde, welches ich ſo ſparen muß,
gegriffen haben wuͤrdeſt; es waͤre nicht unmoͤglich
geweſen; aber mir iſt es unmoͤglich, daſſelbe vor
Dir zu verſchließen. Ich laſſe daher den Schluͤſſel
ſtecken, wie bisher, und muß es darauf ankommen
laſſen, ob Du freiwillig Dich zum Beſſern wen¬
deſt; denn ſonſt wuͤrde doch Alles nichts helfen
und es waͤre gleichguͤltig, ob wir Beide ein Bis¬
chen fruͤher oder ſpaͤter ungluͤcklich wuͤrden!«


Es waren gerade etwa acht Tage Ferien,
ich blieb von ſelbſt im Hauſe und ſuchte alle Win¬
kel auf, in denen ich den Frieden und die Ruhe
der fruͤheren Tage wieder fand. Ich war gruͤnd¬
[335] lich ſtill und traurig, zumal die Mutter ihren
Ernſt beibehielt, ab- und zuging, ohne vertraulich
mit mir zu ſprechen. Am traurigſten war das
Eſſen, wenn wir an unſerm kleinen Eßtiſchchen
ſaßen und ich nichts zu ſagen wagte oder wuͤnſchte,
weil ich das Beduͤrfniß dieſer Trauer ſelbſt fuͤhlte
und mir ſogar darin gefiel, waͤhrend meine Mutter
in tiefen Gedanken ſaß und manchmal einen
Seufzer unterdruͤckte.


So verharrte ich im Hauſe und geluͤſtete
nicht im Mindeſten in's Freie und zu meinen
Genoſſen zuruͤck. Hoͤchſtens betrachtete ich einmal
aus dem Fenſter, was auf der Straße vorfiel,
und zog mich ſogleich wieder zuruͤck, als ob die
unheimliche Vergangenheit zu mir heranſtiege.
Unter den Truͤmmern und Erinnerungen meines
verflogenen Wohlſtandes befand ſich ein großer
Farbenkaſten, welcher gute Farbentafeln enthielt,
ſtatt der harten Steinchen, die man ſonſt den
Knaben fuͤr Farben giebt, die aber auch den
heißeſten Bemuͤhungen nicht eine wohlwollende
Tinte preisgeben. Ich hatte ſchon durch Meier¬
lein erfahren, daß man nicht unmittelbar mit dem
[336] Pinſel dieſe Taͤfelchen aushoͤhlen, ſondern dieſelben
in Schalen mit Waſſer anreiben muͤſſe. Sie
gaben reichliche, geſaͤttigte Tinten, ich fing an,
mit ſelben Verſuche anzuſtellen und lernte ſie
miſchen. Beſonders entdeckte ich, daß gelb und
blau das verſchiedenſte Gruͤn herſtellten, was mich
ſehr freute, daneben fand ich die violetten und
braunen Toͤne. Ich hatte ſchon laͤngſt mit Ver¬
wunderung eine alte in Oel gemalte Landſchaft
betrachtet, welche an unſerer Wand hing; es war
ein Abend, der Himmel, beſonders der unbegreif¬
liche Uebergang des Rothen in's Blaue, die Gleich¬
maͤßigkeit und Sanftheit deſſelben reizte mich un¬
gemein, eben ſo ſehr der Baumſchlag, welcher
mich unvergleichlich duͤnkte. Obgleich das Bild
unter dem Mittelmaͤßigen ſteht, ſchien es mir ein
bewundernswerthes Werk zu ſein, denn ich ſah
die mir bekannte Natur um ihrer ſelbſt willen
mit einer gewiſſen Technik nachgeahmt. Stunden¬
lang ſtand ich auf einem Stuhle davor und ver¬
ſenkte den Blick in die anhaltloſe Flaͤche des Him¬
mels und in das unendliche Blattgewirre der
Baͤume und es zeugte eben nicht von groͤßter
[337] Beſcheidenheit, daß ich ploͤtzlich unternahm, das
Bild mit meinen Waſſerfarben zu kopiren. Ich
ſtellte es auf den Tiſch, ſpannte einen Bogen
Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten
Untertaſſen und Tellern; denn Scherben waren
bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere
Tage lang auf das muͤhſeligſte mit meiner Auf¬
gabe; aber ich fuͤhlte mich gluͤcklich, eine ſo wich¬
tige und andauernde Arbeit vor mir zu haben,
vom fruͤhen Morgen bis zur Daͤmmerung ſaß
ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Eſſen.
Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde
athmete, ſtieg auch in meine Seele und mochte
von meinem Geſichte auf die Mutter hinuͤber¬
ſcheinen, welche am Fenſter ſaß und naͤhte. Noch
weniger, als ich den Abſtand des Originales von
der Natur fuͤhlte, ſtoͤrte mich die unendliche Kluft
zwiſchen meinem Werke und ſeinem Vorbilde.
Es war ein formloſes, wolliges Gefleckſel, in wel¬
chem der gaͤnzliche Mangel jeder Zeichnung ſich
innig mit dem unbeherrſchten Materiale vermaͤhlte;
wenn man jedoch das Ganze aus einer tuͤchtigen
Entfernung mit dem Oelbilde vergleicht, ſo kann
I. 22[338] man noch heute darin einen nicht ganz zu ver¬
kennenden Geſammteindruck finden. Kurz, ich
wurde zufrieden uͤber meinem Thun, vergaß mich
und fing manchmal an zu ſingen, wie fruͤher,
erſchrack jedoch daruͤber und verſtummte wieder.
Doch vergaß ich mich immer mehr und ſummte
anhaltender vor mich hin, wie Schneegloͤckchen
im Fruͤhjahr tauchte ein und das andere freund¬
liche Wort meiner Mutter hervor, und als die
Landſchaft fertig war, fand ich mich wieder zu
Ehren gezogen und das Vertrauen der Mutter
hergeſtellt. Als ich eben den Bogen vom Brette
loͤſte, klopfte es an die Thuͤr und Meierlein
trat feierlich herein, legte ſeine Muͤtze auf einen
Stuhl, zog ſein Buͤchlein hervor, raͤuſperte ſich
und hielt einen foͤrmlichen Vortrag an meine
Mutter, indem er in hoͤflichen Worten Klage gegen
mich einlegte und die Frau Lee wollte gebeten
haben, meine Verbindlichkeiten zu erfuͤllen; denn
es wuͤrde ihm leid thun, wenn es zu Unannehm¬
lichkeiten kommen ſollte! Damit uͤberreichte der
kleine Knirps ſein unvermeidliches Buch und bat
gefaͤllige Einſicht zu nehmen. Meine Mutter ſah
[339] ihn mit großen Augen an, dann auf mich, dann
in das Buͤchelchen und ſagte: »Was iſt das nun
wieder?« Sie durchging die reinlichen Rechnungen
und ſagte: »Alſo auch noch Schulden? Immer
beſſer, ihr habt das Ding wenigſtens großartig
betrieben?« waͤhrend Meierlein immer rief: »Es
iſt Alles in beſter Ordnung, Frau Lee! Dieſen
letzten Poſten nach der Hauptrechnung bin ich
jedoch erboͤtig nachzulaſſen, wenn Sie mir jene
berichtigen wollten«. Sie lachte aͤrgerlich und
rief: »Ei ei! So ſo? Wir wollen die Sache ein¬
mal mit Deinen Aeltern beſprechen, Herr Schul¬
denvogt! Wie ſind denn dieſe artigen Schulden
eigentlich entſtanden?« Da reckte ſich der Burſche
empor und ſagte: »Ich muß mir ausbitten, ganz
in der Ordnung!« Die Mutter aber fragte mich
ſtreng, da ich ganz verbluͤfft und in neuer Be¬
klemmung dageſtanden: »Biſt Du dem Jungen
dieſes ſchuldig und auf welche Weiſe? Sprich!«
Ich ſtotterte verlegen Ja und einige Thatſachen
uͤber die Natur der Schulden. Da hatte ſie
ſchon genug und jagte den Meierlein mit ſeinem
Buche aus der Stube, daß er ſich mit frechen
22*[340] Geberden davon machte, nachdem er noch einen
drohenden Blick auf mich geworfen. Nachher
befragte ſie mich weitlaͤufig uͤber den ganzen Her¬
gang und gerieth in großen Zorn; denn es war
vorzuͤglich das ehrbare Anſehen dieſes Knaben
geweſen, welches ſie uͤber meine Vergehungen
keine Ahnung empfinden ließ. Sodann nahm
ſie Gelegenheit, gruͤndlicher auf alles Geſchehene
einzugehen und mir eindringliche Vorſtellungen
zu machen, aber nicht mehr im Tone der ſtrengen
und ſtrafenden Richterin, ſondern der muͤtterlichen
Freundin, die bereits verziehen hat. Und nun
war Alles gut.


Allein doch nicht Alles. Denn als ich nun
wieder in die Schule trat, bemerkte ich, daß meh¬
rere Schuͤler, um Meierlein verſammelt, die Koͤpfe
zuſammenſteckten und mich hoͤhniſch anſahen. Ich
ahnte nichts Gutes, und als die erſte Stunde zu
Ende war, welche der Rektor der Schule ſelbſt
gegeben, trat mein Glaͤubiger reſpektvoll vor ihn
hin, ſein Buͤchlein in der Hand, und erhob in
gelaͤufiger Rede ſeine Anklage wider mich. Alles
war geſpannt und horchte auf, ich ſaß wie auf
[341] Kohlen. Der Rektor ſtutzte, durchſah das Heft
und begann das Verhoͤr, welches Meierlein zu be¬
herrſchen ſuchte. Aber der Vorſteher gebot ihm
Stille und forderte mich zum Sprechen auf. Ich
gab einige kuͤmmerliche Nachricht und haͤtte gern
Alles verſchwiegen; doch der Mann rief ploͤtzlich:
»Genug, ihr ſeid beide Taugenichtſe und werdet
beſtraft!« Damit trat er zu den aufliegenden Ta¬
bellen und bedachte Jeden von uns mit einer
ſcharfen Note. Meierlein ſagte betreten: »Aber,
Herr Profeſſor —« »Still«, rief dieſer und nahm
das verhaͤngnißvolle Buch, welches er in tauſend
Stuͤcken zerriß, »wenn noch ein Wort daruͤber
verlautet oder ſich dergleichen wiederholt, ſo wer¬
det ihr eingeſperrt und als ein paar recht be¬
denkliche Geſellen abgeſtraft! Pack' Dich!«


Waͤhrend der uͤbrigen Unterrichtsſtunden ſchrieb
ich ein Briefchen meinem Widerſacher, worin ich
ihm verſicherte, daß ich ihm nach und nach meine
Schuld abtragen und ihm jeden Kreuzer zuſtellen
wolle, den ich von nun an erſparen koͤnnte. Ich
rollte das Papier zuſammen, ließ es unter den
Tiſchen zu ihm hin befoͤrdern und erhielt die Ant¬
[342] wort zuruͤck: Sogleich Alles oder Nichts! Nach
Beendigung der Schule, als der Lehrer fort war,
ſtellte ſich der Daͤmon an der Thuͤr auf, um¬
geben von einer ſchauluſtigen Menge, und wie ich
hinausgehen wollte, vertrat er mir den Weg und
rief: »Seht den Schelm! Er hat den ganzen
Sommer hindurch Geld geſtohlen und mich um
fuͤnf Gulden dreißig Kreuzer betrogen! Wißt es
Alle und ſeht ihn an!« »Ein artiger Schelm,
der gruͤne Heinrich!« ertoͤnte es nun von meh¬
reren Seiten, ich rief ganz gluͤhend: »Du biſt
ſelbſt ein Schelm und Luͤgner!« Allein ich wurde
uͤberſchrien, fuͤnf oder ſechs boshafte Burſchen,
welche ſtets einen Gegenſtand der Mißhandlung
ſuchten, ſchaarten ſich um Meierlein, folgten mir
nach und ließen Schimpfworte ertoͤnen, bis ich
in meinem Hauſe war. Von jetzt an wieder¬
holten ſich ſolche Vorgaͤnge beinahe taͤglich; Meier¬
lein warb ſich eine foͤrmliche Verbindung zuſam¬
men und wo ich ging, hoͤrte ich irgend einen
Ruf hinter mir. Ich hatte mein renommiſtiſches
Benehmen ſchon verloren und war wieder unge¬
ſchickt und bloͤde geworden; das reizte den Muth¬
[343] willen und die Spottſucht meiner Verfolger, bis
ſie endlich muͤde wurden. Es waren alles ſolche
Kumpane, welche ſelbſt ſchon irgend einen Streich
veruͤbt oder nur auf Gelegenheit warteten, Werg
an die Kunkel zu bekommen. Es war auffallend,
daß Meierlein trotz ſeines altklugen und fleißigen
Weſens ſich nicht zu aͤhnlich beſchaffenen Naturen
hielt, ſondern immer in Geſellſchaft der Leichtſin¬
nigen, der Muthwilligen und Thoͤrichten zu ſehen
war, wie mit mir und den Uebrigen. Dagegen
nahmen nun die Ruhigen und Unbeſcholtenen
unſeres Alters Theil gegen das verfolgungsſuͤch¬
tige Weſen Jener, beſchuͤtzten mich zu wieder¬
holten Malen vor ihren Anfaͤllen und ließen mich
uͤberhaupt weder Verachtung noch Unfreundlichkeit
fuͤhlen, ſo daß ich mehr als Einem herzlich zu¬
gethan wurde, den ich vorher kaum beachtet hatte.
Zuletzt blieb Meierlein ziemlich allein mit ſeinem
Grolle, der aber dadurch nur heftiger und wilder
wurde, ſo wie auch in mir jedes Vorgefuͤhl einer
Verſoͤhnung erſtarb. Wenn wir uns begegneten,
ſo ſuchte ich wegzublicken und ging ſtumm vor¬
uͤber; er aber rief mir laut ein giftiges und toͤdt¬
[344] liches Wort zu, wenn wir allein in der Gegend
oder nur fremde Menſchen zugegen, waren wir
aber nicht allein, ſo murmelte er daſſelbe leiſe vor
ſich hin, daß nur ich es hoͤren konnte. Ich haßte
ihn nun wohl ſo bitter, als er mich haſſen konnte;
aber ich wich ihm aus und fuͤrchtete den Augen¬
blick, wo es einmal zur Abrechnung kaͤme. So
ging es ein volles Jahr lang und der Herbſt
war wieder gekommen, wo eine große militaͤriſche
Schlußuͤbung ſtattfinden ſollte. Wir freuten uns
immer auf dieſen Tag; weil wir da nach Herzens¬
luſt ſchießen durften. Aber fuͤr mich waren alle
gemeinſamen Freuden truͤb und kalt geworden,
da mein Feind zugleich Theil nahm und oͤfter in
meine Naͤhe gerieth. Diesmal wurde unſere
Schaar in zwei Haͤlften getheilt, von denen die
eine den waldigen und ſteilen Gipfel einer An¬
hoͤhe beſetzen, die andere aber den Fluß uͤber¬
ſchreiten, den Huͤgel umgehen und einnehmen
ſollte. Ich gehoͤrte zu dieſer, mein Feind zu jener
Abtheilung. Wir hatten ſchon die ganze Woche
vorher mit koͤſtlicher Freude einen leichten, ſpiel¬
zeugartigen Bruͤckenkopf gebaut und kleine Palli¬
[345] ſaden zugeſpitzt und eingerammelt, waͤhrend einige
Zimmerleute eine Bruͤcke uͤber das ſeichte Waſſer
geſchlagen. Nun erzwangen wir mit unſerm
Geſchuͤtze hoͤherer Verabredung gemaͤß den Ueber¬
gang und trieben ruͤſtig den Feind berghinan.
Die Hauptmaſſe zog auf einem ſchneckenfoͤrmigen
Fahrweg aufwaͤrts, indeſſen eine weitgedehnte
Plaͤnklerkette das Gebuͤſch ſaͤuberte und uͤber Stock
und Stein vorwaͤrts drang. Bei dieſer war das
groͤßte Vergnuͤgen und auch die ſtaͤrkſte Aufregung;
die einzelnen Leute ruͤckten ſich auf den Leib, die
zum Ruͤckzuge beſtimmten wollten durchaus nicht
weichen, man brannte ſich die Schuͤſſe faſt in's
Geſicht, Einige wurden ertappt, wie ſie Steinchen
in den Lauf ſteckten und mehr als ein Ladſtock
ſchwirrte, im Eifer vergeſſen, durch die Baͤume,
und nur das Gluͤck der Jugend verhuͤtete ernſt¬
liche Unfaͤlle; auch war der alte Feldwebel, wel¬
cher die Plaͤnkler beaufſichtigte, genoͤthigt, mit
ſeinem Stocke dazwiſchenzuſchlagen und reichlich
zu fluchen, um die Disciplin einigermaßen zu
wahren. Ich befand mich auf einem aͤußerſten
Fluͤgel dieſer Kette, theilte aber die Aufregung
[346] meiner Kameraden nicht, ſondern ging gedanken¬
los vorwaͤrts, ruhig und melancholiſch meine
Schuͤſſe abgebend und mein Gewehr wieder la¬
dend. Bald hatte ich mich von den Uebrigen
verloren und befand mich mitten am Abhange
einer wilden, mir unbekannten Schlucht, in deren
Tiefe ein Baͤchlein rieſelte und die mit altem Tan¬
nenwalde erfuͤllt war. Der Himmel hatte ſich be¬
deckt, es ruhte eine duͤſtere und doch weiche Stim¬
mung auf der Landſchaft, das Schießen und
Trommeln aus der Ferne hob noch die tiefe
Stille der unmittelbaren Naͤhe, ich ſtand ſtill
und lehnte mich ausruhend auf das Gewehr, in¬
dem ich einer halb weinerlichen, halb trotzigen
Laune anheimfiel, welche mich oͤfter beſchlichen
hat gegenuͤber der großen Natur und welche der
Bedraͤngten Frage nach Gluͤck iſt. Da hoͤrte ich
Schritte in der Naͤhe und auf dem ſchmalen
Felspfade, in der tiefen Einſamkeit, kam mein
Feind daher, das Herz klopfte mir heftig, er ſah
mich ſtechend an und ſandte mir gleich darauf
einen Schuß entgegen, ſo nah, daß mir einige
[Pulverkoͤrner] in's Geſicht fuhren. Ich ſtand un¬
[347] beweglich und ſtarrte ihn an; haſtig lud er ſein
Gewehr wieder, ich ſah ihm immer zu, dies ver¬
wirrte ihn und machte ihn wuͤthend, und in un¬
ſaͤglicher Verblendung der Geſcheidtheit, der ver¬
meintlichen Dummheit und Gutmuͤthigkeit mitten
in's Geſicht zu ſchießen, wollte er in dichter Naͤhe
eben wieder anlegen, als ich, meine Waffe weg¬
werfend, auf ihn losfuhr und ihm die ſeinige
entwand. Sogleich waren wir in einander ver¬
ſchlungen und nun rangen wir eine volle halbe
Stunde mit einander, ſtumm und erbittert, mit
abwechſelndem Gluͤcke. Er war behend, wie eine
Katze, wandte hundert Mittel an, um mich zu
Falle zu bringen, ſtellte mir das Bein, druͤckte
mich mit dem Daum hinter den Ohren, ſchlug
mir an die Schlaͤfe und biß mich in die Hand
und ich waͤre zehnmal unterlegen, wenn mich nicht
eine ſtille Wuth beſeelt haͤtte, daß ich aushielt.
Mit toͤdtlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn,
ſchlug ihm gelegentlich die Fauſt in's Geſicht,
Thraͤnen in den Augen und empfand dabei ein
wildes Weh, welches ich ſicher bin, niemals tiefer
zu empfinden, ich mag noch ſo alt werden und
[348] das Schlimmſte erleben. Endlich glitten wir aus
auf den glatten Nadeln, welche den Boden be¬
deckten, er fiel unter mich und ſchlug das Hinter¬
haupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel, daß er
fuͤr einen Augenblick gelaͤhmt wurde und ſeine
Haͤnde ſich oͤffneten. Sogleich ſprang ich unwill¬
kuͤrlich auf, er that das Gleiche, ohne uns anzu¬
ſehen, ergriff Jeder ſein Gewehr und verließ den
unheimlichen Ort. Ich fuͤhlte mich an allen
Gliedern erſchoͤpft, erniedrigt und meinen Leib
entweiht durch dieſes feindliche Ringen mit einem
ehemaligen Freunde. Die kuͤnſtliche Verlaͤngerung
des menſchlichen Armes durch eiſerne Waffen iſt
gewiß die Haupturſache der unaustilgbaren Streit¬
ſucht; denn wenn die Maͤnner ſich von Hand zu
Hand angreifen muͤßten, ſo wuͤrden ſie ohne
Zweifel die wilde Beſtialitaͤt, nicht maskirt durch
den kalten Stahl, eher inne werden und das oͤftere
Zuſammentreffen ſcheuen.


Von dieſer Zeit an trafen wir nie wieder zu¬
ſammen; er mochte aus meiner verzweifelten Ent¬
ſchloſſenheit herausgefuͤhlt haben, daß er im Ganzen
doch an den Unrechten gerathe und vermied jetzt
[349] jede Reibung. Aber der Streit war unentſchieden
geblieben und unſere Feindſchaft dauerte fort, ja
ſie nahm zu an innerer Kraft, waͤhrend wir uns
in den Jahren, die vergingen, nur ſelten ſahen.
Jedes Mal aber reichte hin, den begrabenen Haß
aufs Neue zu wecken. Wenn ich ihn ſah, ſo
war mir ſeine Erſcheinung, abgeſehen von der
Urſache unſerer Entzweiung, an ſich ſelbſt uner¬
traͤglich, vertilgungswuͤrdig; ich empfand keine
Spur von der milden Wehmuth, welche ſich ſonſt
beim Anblicke eines verfeindeten Freundes mit
dem Unwillen vermiſcht, ich fuͤhlte den reinen
Haß und daß, wie ſonſt Jugendfreunde fuͤr das
ganze Leben, auch bei getrennten Verhaͤltniſſen,
eine Zuneigung bewahren, dieſer im gleichen Sinne
der Dauer mein Jugendfeind ſein wuͤrde. Ganz
die gleichen Empfindungen mochte er bei meinem
Anblicke erfahren, wozu noch der Umſtand kam,
daß die engere Veranlaſſung unſerer Feindſchaft,
die Geſchichte des Schuldbuches, fuͤr ihn an ſich
ſelbſt unvergeßlich ſein mußte. Er war unter¬
deſſen in ein Komtoir getreten, hatte ſeine eigen¬
thuͤmlichen Faͤhigkeiten fort und fort ausgebildet,
[350] bewies ſich als ſehr brauchbar, klug und vielver¬
ſprechend und erwarb ſich die Neigung ſeines
Vorgeſetzten, eines ſchlauen und gewandten Ge¬
ſchaͤftsmannes; kurz er fuͤhlte ſich gluͤcklich und
ſah voll Hoffnung auf ſein zukuͤnftiges Selbſt¬
wirken. So kann ich mir gar wohl denken, daß
die arge Enttaͤuſchung, welche ſein erſter jugend¬
licher Verſuch, ein Geſchaͤft zu machen, erfuhr,
fuͤr ihn eben ſo nachhaltig ſchmerzlich ſein mußte,
als einer kindlichen Dichter- oder Kuͤnſtlernatur
der erſte verneinende Hohn, welcher ihren naiven
und harmloſen Verſuchen zu Theil wird.


Wir waren ſchon konfirmirt, er etwa acht¬
zehn, ich ſiebzehn Jahre alt, wir begannen uns
ſelbſtaͤndiger zu bewegen und lernten nun Ver¬
haͤltniſſe und Menſchen kennen. Wenn wir an
oͤffentlichen Orten zuſammentrafen, ſo vermieden
wir, uns anzuſehen, aber Jeder weihte ſeine
Freunde in ſeinen Haß ein, welcher manchmal
um ſo gefaͤhrlicher zu wirken und auszubrechen
drohte, als nun ein Jeder mit ſolchen jungen
Leuten umging, die ſeiner Beſchaͤftigung und ſei¬
nem Weſen entſprachen und alſo einen empfaͤng¬
[351] lichen Boden fuͤr eine weiterzuͤndende Feindſchaft
bildeten. Deswegen dachte ich mit Sorge an die
Zukunft und wie das denn nun das ganze Leben
hindurch in der kleinen beſchraͤnkten Stadt gehen
ſollte? Allein dieſe Sorge war unnuͤtz, indem ein
trauriger Fall ein fruͤhes Ende herbeifuͤhrte. Der
Vater meines Widerſachers hatte ein altes wun¬
derliches Gebaͤude gekauft, welches fruͤher eine
ſtaͤdtiſche Ritterwohnung geweſen und mit einem
ſtarken Thurme verſehen war. Dies Gebaͤude
wurde nun wohnlich eingerichtet und in allen
Winkeln mit Veraͤnderungen heimgeſucht. Fuͤr
den Sohn war dies eine goldene Zeit, da nicht
nur das Unternehmen uͤberhaupt eine Spekulation
war, ſondern es auch eine Menge Geſchicklichkeiten
und Selbſthuͤlfe an den Tag zu legen gab. Jede
Minute, die er frei hatte, ſteckte er unter den
Bauleuten, ging ihnen an die Hand und uͤber¬
nahm viele Arbeiten ganz, um ſie zu erſetzen und
zu ſparen. Mein Weg zur Arbeit fuͤhrte mich
jeden Tag an dieſem Hauſe voruͤber und immer
ſah ich ihn zwiſchen zwoͤlf und ein Uhr, wenn alle
Arbeiter ruhten, und am Abend wieder, mit einem
[352] Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fen¬
ſtern oder auf Geruͤſten ſtehen. Er war ſeit der
Kinderzeit faſt gar nicht mehr gewachſen und ſah
in ſeiner Emſigkeit, an den ungeheuerlichen
Mauern haͤngend, hoͤchſt ſeltſam aus; ich mußte
unwillkuͤrlich lachen und haͤtte faſt einem freund¬
licheren Gefuͤhle Raum gegeben, da er in dieſem
Weſen doch liebenswuͤrdig und tuͤchtig erſchien,
wenn er nicht einſt die Gelegenheit wahrgenom¬
men haͤtte, einen anſehnlichen Pinſel voll Kalk¬
waſſer auf mich herunterzuſpritzen.


Eines Tages, als ich des Hauſes bereits
anſichtig war, fuͤhrte mich mein milder Stern
durch eine Seitenſtraße einen andern Weg; als
ich einige Minuten ſpaͤter wieder in die Haupt¬
ſtraße einbog, ſah ich viele erſchreckte Leute aus
der Gegend jenes Hauſes herkommen, welche
eifrig ſprachen und lamentirten. Um die Weg¬
nahme einer alten Windfahne auf dem Thurme
zu bewerkſtelligen, hatten die Bauleute erklaͤrt,
ein erhebliches Geruͤſte anbringen zu muͤſſen. Der
Ungluͤckliche, der ſich Alles zutraute, wollte die
Koſten ſparen und waͤhrend der Mittagsſtunde
[353] die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte ſich
auf das ſteile hohe Dach hinausbegeben, ſtuͤrzte
herab und lag in dieſem Augenblicke zerſchmettert
und todt auf dem Pflaſter.


Es durchfuhr mich, als ich die Kunde ver¬
nommen und ſchnell meines Weges weiter ging,
wohl ein Grauen, verurſacht durch den Fall, wie
er war; aber ich mag mich durchwuͤhlen, wie ich
will, ich kann mich auf keine Spur von Erbar¬
men oder Reue entſinnen, die mich durchzuckt
haͤtte. Meine Gedanken waren und blieben ernſt
und dunkel, aber das innerſte Herz, das ſich nicht
gebieten laͤßt, lachte auf und war froh. Wenn
ich ihn leiden geſehen oder ſeinen Leichnam ge¬
ſchaut, ſo glaube ich zuverſichtlich, daß mich Mit¬
leid und Reue ergriffen haͤtten; doch das unſicht¬
bare Wort, mein Feind ſei mit einem Schlage
nicht mehr, gab mir nur Verſoͤhnung, aber die
Verſoͤhnung der Befriedigung und nicht des
Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich
konſtruirte zwar, als ich mich beſonnen, raſch ein
kuͤnſtliches und verworrenes Gebet, worin ich
Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergeſſen¬
l. 23[354] heit bat; mein Inneres laͤchelte dazu, und noch
heute, nachdem wieder Jahre voruͤbergegangen,
fuͤrchte ich, daß meine nachtraͤgliche Theilnahme
an jenem Ungluͤcke mehr eine Bluͤthe des Ver¬
ſtandes, als des Herzens ſei, ſo tief hatte der
Haß gewurzelt!

[]

Neuntes Kapitel.

Um wieder zu jener Schulzeit zuruͤckzukehren,
ſo kann ich nicht bekennen, daß dieſelbe hell und
gluͤcklich geweſen ſei. Der Kreis des zu Erfah¬
renden hatte ſich nun erweitert, die Anſpruͤche
waren ernſter geworden, ich hatte ein dunkles
Gefuͤhl, daß es ſich um Wichtiges und Schoͤnes
handle, und auch einen gewiſſen Drang, dieſem
Gefuͤhle zu genuͤgen. Aber die Uebergaͤnge von
einer Stufe zur anderen waren mir nie klar und
gingen mir immer verloren. Das einzige Ele¬
ment, in dem ich ſicher lebte, wie in der Lebens¬
luft, war die Sprache. Meine Schulabtheilung
war fuͤr Solche beſtimmt, welche ſich ſpaͤter dem
Gewerb- oder Handelsſtande widmen wollten;
daher wurde in den niederen Klaſſen, durch welche
ich gelangte, außer dem Deutſchen, nur Franzoͤſiſch
[356] und Italiaͤniſch gelehrt. Letztere Beiden beſtritt
ich ohne Muͤhe, indem ich, uͤber die grammatika¬
liſchen und Vokabelnaufgaben fluͤchtiger hinweg¬
eilend, durch die Gelaͤufigkeit in der Mutterſprache
unterſtuͤtzt, leicht errieth und daher gut in's Deutſche
uͤberſetzte. Sollte ich dagegen von dieſem in die
fremden Sprachen uͤberſetzen, ſo kam mir eine
große Geſchicklichkeit im augenblicklichen Nach¬
ſchlagen zu Statten, da ich einmal ſogleich fuͤhlte,
was tauglich und wo es zu ſuchen ſei. Dies
taͤuſchte die Lehrer, daß ſie mich uͤberall fuͤr gut
beſchlagen hielten, mich zu denen zaͤhlten, welchen
man weniger aufmerken muͤſſe und zufrieden
waren, wenn ich die Ueberſetzungen und Styl¬
uͤbungen puͤnktlich und ertraͤglich einlieferte. Mein
deutſches Lernen hingegen konnte gar keine Arbeit,
ſondern nur ein Vergnuͤgen genannt werden.
Schon vor Jahren in der erſten Schule hatte ich
Orthographie und Interpunktion mir vollkommen
angeeignet, und wie man ſprechen lernt. Nachher
hielt meine kleine Schreibkunſt mit meiner Erfahrung
Schritt und was ich ſagen wollte, konnte ich
richtig niederſchreiben und wunderte mich, wie
[357] gerade dies ſo viele Schuͤler in Verzweiflung
ſetzte. Stylkuͤnſte und Wendungen merkte ich
aus den geleſenen Buͤchern; was mir, nach mei¬
nem jeweiligen Geſchmacke auffiel, das wandte
ich aus Nachahmungstrieb an, bis ich beſſer unter¬
ſcheiden lernte. Daher fielen meine Aufſaͤtze um¬
fangreich und uͤberſchwaͤnglich aus, ich ſchriftſtel¬
lerte foͤrmlich darin mit großer Liebhaberei und
erſchoͤpfte jedes Mal den Stoff nach allen Sei¬
ten, ſo weit der Verſtand reichte. Waͤhrend
meines Beſuches der Schule waren ſich zwei
verſchiedene deutſche Lehrer gefolgt. Der Erſte
war ein patriotiſcher Mann, welcher uns mit
Begeiſterung die Schweizergeſchichte vorerzaͤhlte
und ſtuͤckweiſe als Stoff zu ſchriftlichen Arbeiten
aufgab. Dieſer Stoff war mir zu knapp, da er
jedesmal nur fuͤr zwei oder drei Seiten berechnet
war und ich hier fuͤglich nicht viel hinzuthun
konnte. Ich half mir mit allerlei Schilderungen
der Lokalitaͤten und Perſonen, welche etwas ſelt¬
ſam und unnuͤtz ausfielen und den Lehrer auf¬
merkſam machten. Als wir zur Geſchichte des
Tell kamen, hatte ich das Schiller'ſche Drama
[358] ſchon geleſen und glaubte mich im Beſitze beſon¬
derer Quellen. Mein Aufſatz war eine proſaiſche
Wiedererzaͤhlung des Gedichtes und beſonders die
Liebesgeſchichte weitlaͤufig ausgemalt. Als der
Lehrer mit den durchgeſehenen Heften in die
Stunde und die Reihe des Beurtheilens an mich
kam, fragte er mich freundlich, wo ich dieſe und
jene Umſtaͤnde hergenommen haͤtte. Ich fuͤrchtete
Unrecht gethan zu haben und ſchwieg auf ſein
wiederholtes Andringen hartnaͤckig ſtill. Beim
Nachhauſegehen forderte er mich auf, naͤchſtens
zu ihm in ſein Haus zu kommen. Ich war ihm
ſehr zugethan und ahnte wohl, daß mir Gutes
geſchehen ſollte; aber ich war zu ſchuͤchtern und
ging nicht hin. Der Mann ſtarb und ein An¬
derer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus
dem Leben griff und uns anwies, die verſchiedenen
Vorkommniſſe deſſelben zu beſchreiben. So mußten
wir einmal unſere Ferienreiſe aufzeichnen; ich
hatte keine gemacht, ſondern die ganze Zeit uͤber
bei der Mutter hinter dem Ofen geſeſſen, erfand
aber ein ganzes Heft voll muthwilliger Aben¬
teuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend
[359] eines ſatiriſchen Buches, das ich geleſen, gehalten
waren. Ein ander Mal ſollten wir einen vom
Gewitter uͤberfallenen Jahrmarkt ſchildern; auch
dieſer Aufſatz ſpann ſich mir ſehr lang aus, ſteckte
aber ſo voller Poſſen, daß ich ihn ſo wenig ein¬
gab, wie jene Ferienreiſe. Der Lehrer fragte
aber gar nicht darnach, weil er wußte, daß ich
Alles konnte, was er von dieſer Klaſſe verlangte,
und da ich mich ſonſt ſtill hielt, ließ er mich
gaͤnzlich in Ruhe und that als ob ich nicht da
waͤre, ſo daß ich waͤhrend ſeiner Stunden immer
las. Gelegentlich wurde ich etwa aufgerufen, um
irgend einen lateiniſchen Ausdruck der Grammatik
zu ſagen; dieſe hatte ich aber laͤngſt vergeſſen,
und kenne ſie auch jetzt nicht, weil ich ohne ſie
oder vielmehr neben ihr vorbei ſchreiben gelernt
hatte. Doch der Lehrer hielt mein Schweigen fuͤr
Vorſaͤtzlichkeit und war froh, mich gelinde be¬
ſtrafen zu koͤnnen, um mich nicht zu ſtolz werden
zu laſſen.


Er war ein Schoͤngeiſt und diktirte uns dann
und wann als Leckerbiſſen eine Stelle aus einem
deutſchen Klaſſiker, welche fuͤr uns zugaͤnglich war.
[360] Solche Bruchſtuͤcke ließen mich das Untaugliche
alles uͤbrigen Treibens lebhaft fuͤhlen; ich ſchrieb
ſie ſorglich in's Reine, las ſie wieder und arbeitete
ſogleich in dem betreffenden Style. In der Schule
ſah ich voll Sehnſucht auf die ſchoͤngebundenen
Buͤcher, die der kuͤhle Mann mitbrachte, und
nahm mir feſt vor, diesmal zu ihm zu gehen,
wenn er mich etwa einladen wuͤrde, wie der Ver¬
ſtorbene. Er ſtarb indeſſen auch, ohne es je ge¬
than zu haben; entweder liebte er dergleichen nicht
oder war uͤberzeugt, daß ich fuͤr einmal genug
Deutſch verſtaͤnde.


Nicht ſo gut erging es mir mit dem uͤbrigen
Lernen. In allen Schulen, wo kein Latein ge¬
trieben wird, betrachtet man den Unterricht als
einen Dampf, der moͤglichſt raſch durch das Ge¬
hirn der Jugend gejagt werden muͤſſe, um wieder
zu verfliegen. Dies Ein Mal und nie wieder
Hoͤren der Gegenſtaͤnde, dies regelmaͤßige und
vollkommene Vergeſſen deſſen, was die einzelnen
Naturen in den Jahren des Unverſtandes nicht
anſprach und was ſie ſpaͤter doch ſo gerne wiſſen
moͤchten, hat etwas Grauenhaftes in ſich; es iſt,
[361] als ob dies Unkraut nur da waͤre, um auch das
zu beeintraͤchtigen und zu ſchmaͤlern, was man
wirklich verſteht und gerne lernt. Es ſind viel¬
leicht nicht die ſchlechteren Gewaͤchſe der Schule,
welche fuͤr das, deſſen Zweck ſie einſtweilen nicht
einſehen, boͤswilligſt keinen Sinn zeigen und be¬
harrlich darin nichts thun, und es fragt ſich, ob
manche Lehre nicht erſt dann begonnen werden
ſollte, auch in ihren Anfaͤngen, wenn man im
Stande iſt, den großen und erhabenen Endzweck
klar und eindringlich zu machen. Die meiſten
Schulmaͤnner haben ihr Leben lang Nichts ge¬
trieben, als das Fach, in welchem ſie vierzehnjaͤh¬
rige Knaben unterweiſen ſollen. Von fruͤhſter
Jugend an haben ſie beſondere Neigung dafuͤr
gezeigt, dann ſtudirten ſie, hoͤrten das gleiche
Thema drei, vier Mal bei verſchiedenen Lehrern,
reiſ'ten und hoͤrten es wieder, laſen nichts An¬
deres, als was davon handelte, und nun treten
ſie vor die Jugend und verlangen von ihr, daß
ſie aus einigen trockenen, graͤmlichen Einleitungs¬
worten die ganze Einſicht und Begeiſterung fuͤr
eine lange Reihe von Unterrichtsſtunden ſchoͤpfe,
23*[362] und eben ſo uͤberzeugt ſei von der Klarheit und
Nothwendigkeit jedes Punktes, als ſie ſelbſt von
ihrer Weisheit. Die Kinder des Latein und des
Griechiſch, der Student werden freilich gehaͤtſchelt
und gepflegt, damit die Kaſte nicht ausgehe; aber
alle Lehrer, welche in den geheiligten Mauern
nicht unterkommen koͤnnen, betrachten ſich auf den
Profanſchulen als ungluͤckliche Verbannte, welche
Perlen vor die Saͤue zu werfen haben. Ich habe
auch Schulmaͤnner geſehen, deren Lebensaufgabe
darin beſtand, die Volkserziehung zu verbeſſern.
Tag und Nacht arbeiteten ſie daran, reiſ'ten herum
auf Kongreſſen, ſchrieben Buͤcher und fuͤhrten
Polemik; ein inneres Feuer verzehrte ſie. Was
Wunder, wenn ſie verdrießlich und einſilbig in
die Stunde kamen und aͤngſtlich daruͤber weg¬
eilten, um nur wieder an die Loͤſung ihres Einen
Raͤthſels gehen zu koͤnnen?


Man begann uns Weltgeſchichte zu diktiren,
und unzaͤhlige Namen orientaliſcher Urvoͤlker
ſchwirrten an uns voruͤber, waͤhrend wir gleich¬
zeitig die Geographie von Europa betrieben, von
deſſen Bewohnern wir nichts vernahmen zu ſelber
[363] Zeit, und als die Sache umgekehrt wurde, hatten
die Meiſten die entſprechende Kenntniß ſchon
gruͤndlich vergeſſen oder wußten ſie nicht anzu¬
wenden; denn eben dieſe Einſicht kommt erſt mit
der reiferen Jugend, welcher die Welt anfaͤngt
deutlich und wichtig zu werden.


Die Lehrer der verſchiedenen mathematiſchen
Uebungen begannen ihren Kurſus, mit wenigen
Ausnahmen, durch einige magere Worte uͤber den
Sinn des Titels und begannen dann unaufhalt¬
ſam die Sache ſelbſt, vorwaͤrtsſchreitend ohne
umzuſehen, ob Einer mit dem Verſtaͤndniß zuruͤck¬
bleibe oder nicht. Daher gab es unter vierzig
Schuͤlern vielleicht hoͤchſtens drei, welche von dem
Gegenſtande am Schluſſe eine wirkliche Rechen¬
ſchaft geben konnten, Solche, deren Neigungen
und Faͤhigkeiten er entſprach. Die uͤbrigen
ſchleppten ſich entweder mit muͤhſeliger Aufmerk¬
ſamkeit und angſtvollem Fleiße von Stunde zu
Stunde, ohne je recht klar zu ſein, oder ſie ließen
gleich im Anfange die Hoffnung ſinken und ſich
regelmaͤßig beſtrafen. Was ich ſelbſt that, weiß
ich kaum mehr zu ſagen; ich lebte fortwaͤhrend
[364] wie in einem quaͤlenden Traume. Manchmal
hatte ich den Faden einige Tage hindurch wieder
erwiſcht, dann verlor ich ihn ploͤtzlich wieder, frei¬
lich durch eigene Schuld: aber die Schuld der
Alten war eben, daß ein Moment der Unauf¬
merkſamkeit fuͤr dieſes Alter unwiederbringlich und
zu einer Todſuͤnde werden konnte.


Einſt wurde uns ein edler ſtiller Mann vor¬
gefuͤhrt, welcher uns die Pflanzenkunde lehren
ſollte. Er begann mit langſamen, faßbaren
Worten ganz von vorne, wir hatten ganz reinen
Tiſch, und er fuhr ſo fort, daß nur die wirklich
ſtumpfen Geiſter zuruͤckblieben. Nachdem er uns
die aͤußerliche Stellung der Pflanzen in der Na¬
tur klar gemacht und uns fuͤr ſie eingenommen
hatte, ging er auf ihre allgemeinen Eigenſchaften
und auf die Erklaͤrung ihres Organismus uͤber,
wobei wir die erſten Blicke in die Bedeutung
dieſes Wortes erhielten, welche wir von nun an
nicht vergaßen. Schon freuten wir uns der nahen
Ausſicht, einige Kenntniß im Beſtimmen der ein¬
zelnen Gewaͤchſe zu erhalten und mehr als Einer
war vielleicht in der Klaſſe, bei welchem eine ein¬
[365] flußreiche Anhaͤnglichkeit an die Natur und ihre
Kenntniß geweckt worden waͤre, als der von uns
trotz ſeiner Einſilbigkeit hochgehaltene Lehrer er¬
krankte und den Unterricht aufgeben mußte. Statt
daß nun ein anderer Botanikbefliſſener geſandt
worden waͤre, welcher auf Grund unſerer ſaͤmmt¬
lich muſterhaften Hefte fortzufahren verſucht haͤtte,
wurde das Ganze unverhofft abgebrochen, und
ein geiſtlicher Herr, welcher als Dilettant etwas
Naturwiſſenſchaft trieb, uͤberfiel uns mit einem
Heere wilder Beſtien, indem er uns etwas apho¬
riſtiſche Zoologie vortrug. Waͤhrend wir ſo mit
jener liebgewonnenen Botanik ein organiſches
Ganzes verloren, erhielten wir dafuͤr nur einige
Thiergeſtalten; denn die Zoologie, welche man
vierzehnjaͤhrigen Knaben lehrt, naͤhrt nicht ihren
Geiſt, weil ſie ohne vergleichend anatomiſche
Kenntniſſe, mit einem Worte ohne wiſſenſchaft¬
liche Anknuͤpfungen bloßes Futter fuͤr die Neu¬
gierde iſt.


Solches blindes Einwirken des Zufalles in
unſer Fortſchreiten kam mehr als ein Mal vor,
und es verletzt das ohnehin zarte Gewebe des
[366] zuſammenhaͤngenden Verſtaͤndniſſes rauher, als
man denkt.


Ich hatte ein ſehr gutes Gehoͤr und war ein
eifriger Saͤnger. Wir hatten fuͤr die erſte Schul¬
zeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun
eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren
Theorie verwechſelt wurde. Die erſte Stunde, in
welche der Muſikus etwas uͤber die Bedeutung
und allgemeine Einrichtung derſelben geſagt haben
mochte, war ich abweſend, und als ich wieder
eintraf, fand ich meine Mitſchuͤler im aͤngſtlichen
Leſen der verſchiedenen Skalen und Tonarten be¬
griffen. Ich war nun ein fuͤr alle Mal vor die
Thuͤr geſetzt; wenn wir ſangen, nachdem der
Lehrer auf ſeiner Geige den Ton angegeben,
kraͤhete ich mit heller Stimme, traf immer ſicher
und wurde oͤfter gebraucht, die Hoͤhe des Tones
zu halten. Sollte ich aber das Lied leſen, ſo
ſtockte ich bald und wurde als boͤswillig be¬
zeichnet.


Ueberall war dieſer unſelige Zwieſpalt zwi¬
ſchen klarem Zweck und ſcheinbarer Zweckloſigkeit,
zwiſchen vorausgenommener Fertigkeit in dieſem
[367] Ganzen und nachſchleppendem Unverſtaͤndniß jenes
Einzelnen. Und doch war die Anſtalt gut und
beſſer als viele Andere; denn das Uebel liegt oder
lag in der ganzen Erziehungsweiſe, in den ver¬
wendeten Menſchen. Der Staat gibt die rechte
Parole und bringt die groͤßten Opfer, mit denen
er ſeiner Ehre genuͤgt; aber ehe ſie Fruͤchte tra¬
gen, muß die ganze alte Generation der Paͤda¬
gogen ausſterben und ein neues Geſchlecht ent¬
ſtehen, welches ein ganz anderes Fuͤhlen, Sehen
und Hoͤren mitbringt, als das alte.


Doch, als ich mich ungefaͤhr dem fuͤnfzehnten
Jahre naͤherte und die Stimme ſich zu veraͤndern
begann, brach durch alle Verwirrung hindurch
ein helleres Licht; in dem Maße, als man uns
Heranwachſende ernſter, aber auch ruͤckſichtsvoller
behandelte, fing an die eigentliche Lernbegierde
aufzuthauen, und wie ich ahnte, daß alle Kennt¬
niſſe wohl ineinander muͤnden und ſich zu Einem
lichten Zwecke verflechten wuͤrden, lernte ich die
wirkliche und gewiſſenhafte Muͤhe kennen, welche
nicht nur mit dem Talente ſpielen, ſondern auch
mit Luſt arbeiten kann. Ich freute mich mit An¬
[368] dern auf die hoͤheren Klaſſen, welche wir bald an¬
treten ſollten und wir warfen hoffnungsvolle
Blicke in die wohlbeſtellten und geordneten Samm¬
lungen, auf die mannigfaltigen Mittel, die jenen
zu Gebote ſtanden, auf das geſetzte und ſelbſt¬
ſtaͤndigere Weſen, das dann ſeinen Anfang neh¬
men ſollte. Ich fuͤhlte die Wichtigkeit und noͤ¬
thige Fruchtbarkeit der naͤchſten Jahre; zu welchem
Lebensberufe ich mich dann entſcheiden wuͤrde,
daruͤber konnte ich mir noch keine Rechenſchaft
geben. Denn auch inſofern war die Anſtalt vor¬
trefflich geſchaffen, daß gegen das Ende ihrer
[Studien], mitten aus ihr heraus, mit vollem
Ueberblicke man ſich einen Entſchluß faſſen konnte,
ja mußte, wer nicht durch fruͤh ausgeſprochene
Neigung ſchon beſtimmt war. Nur zwei Rich¬
tungen draͤngten ſich deutlicher vor meine Augen
und ſpielten unbeſtimmt in einander. Es war
der große Zeichnungsſaal mit ſeinen vielen Gyps¬
abguͤſſen, ſchoͤnen Kunſtvorlagen und dem ganzen
kuͤnſtleriſchen Treiben darin, und anderſeits die
tiefere und ausfuͤhrlichere Behandlung der Sprache,
das Leſen und Erklaͤren von Schriftſtellern ver¬
[369] ſchiedener Zungen, worauf ich mich freute und
welche ich ganz zu benutzen mir vornahm. Allein
zwiſchen der Zukunft und der Gegenwart lag
noch eine tiefe und breite Kluft.


Es lehrte an unſerer Schule ein Mann,
welcher mit wahrer Herzensguͤte und ehrlichem
Sinne eine große Unerfahrenheit, mit der Jugend
umzugehen, und ein ſchwaͤchliches und ſeltſames
Aeußeres verband. Er hatte in dem Kampfe,
welcher den Umſchwung der Dinge und beſon¬
ders das erneute Schulweſen herbeifuͤhrte, tapfer
mitgewirkt und war in der konſervativen Stadt
als ein leidenſchaftlicher Liberaler verſchrieen.
Wir Knaben waren allzumal gute Ariſtokraten,
mit Ausnahme derer, die vom Lande kamen.
Auch ich, obgleich meines Urſprunges halber auch
ein Landmann, aber in der alten Stadt geboren,
heulte mit den Woͤlfen und duͤnkte mich in kin¬
diſchem Unverſtande gluͤcklich, auch ein ſtaͤdtiſcher
Ariſtokrat zu heißen. Meine Mutter politiſirte
nicht und ſonſt hatte ich kein naheſtehendes Vor¬
bild, welches meine unmaßgeblichen Meinungen
haͤtte beſtimmen koͤnnen. Ich wußte nur, daß
l. 24[370] die neue radikale Regierung einige alte Thuͤrme
und Mauerloͤcher vertilgt hatte, welche Gegenſtand
unſerer beſonderen Zuneigung geweſen, und daß
ſie aus verhaßten Landleuten und Emporkoͤmm¬
lingen beſtand.


Gleich beim Beginne der neuen Schulen, als
der ungeſchickte Lehrer ſeine Thaͤtigkeit mit vieler
Gemuͤthlichkeit antrat, brachte ein Schuͤler, der
Sohn eines fanatiſchen Stadtbuͤrgers, mit wich¬
tigen Worten die Nachricht unter uns, wie der
Lehrer geſchworen haͤtte, uns Ariſtokratenkinder mit
eiſerner Ruthe zu baͤndigen. Er war naͤmlich in
einer Geſellſchaft aufmerkſam gemacht worden, wie
er es theilweiſe mit einer durch altes Herkommen
uͤbermuͤthigen und ausgelaſſenen Stadtjugend zu
thun haben wuͤrde, worauf er antwortete, er
werde mit den Buͤrſchlein ſchon fertig zu werden
wiſſen. Auf obige Weiſe dargeſtellt, wurde dieſe
Rede nun, wahrſcheinlich nicht ohne Zuthun der
Alten, unter unſere verſtandloſe Maſſe geworfen
und ſie begann ſogleich zu wirken. Wir nahmen
den Handſchuh auf, die Verwegenſten eroͤffneten
einen geordneten Widerſtand und ein leichtes Ge¬
[371] plaͤnkel des Unfuges. Schon dies verwirrte ihn
und anſtatt mit Sarkaſmen und ruhiger, uͤber¬
legener Entſchiedenheit die Angreifer zuruͤckzu¬
werfen, ruͤckte er ſogleich mit ſeiner Hauptmacht
und dem ſchweren Geſchuͤtze vor, indem er jeden
kleinen Muthwillen, auch jede unabſichtliche That
blindlings mit den ſchwerſten und einflußreichſten
Strafen belegte, die ihm zu Gebote ſtanden und
welche ſonſt nur in ſeltenen Faͤllen angewendet
wurden. Dadurch entzog er ſich in unſern Augen
den guten Rechtsboden, da wir in der Abſchaͤtzung
des Verhaͤltniſſes zwiſchen Strafe und Vergehen
eine große Gewandtheit beſaßen. Seine Strafen
wurden bald werthlos und zuletzt eine Ehren¬
ſache, ein Martyrium. Es entſtand offener Skandal
in den Stunden, welcher ſich auch in die anderen
Saͤle verbreitete, wo der Gehetzte zu erſcheinen
hatte. Nun beging er einen neuen Fehlgriff;
ſtatt die Bewegung in ſich ſelbſt zerfallen zu
laſſen und eine Zeit lang ihr zu ſtehen, fing er an,
jeden Schuͤler aus der Stube zu jagen, der das
Geringſte veruͤbte. Eine unſchuldig geſtellte Frage
an ihn, das abſichtliche oder unabſichtliche Fallen¬
24 *[372] laſſen eines Gegenſtandes reichte hin, in's Freie
befoͤrdert zu werden. Wir merkten uns dies und
bald hielt er regelmaͤßig nur mit zwei oder drei
Frommen ſeinen Unterricht, waͤhrend der helle
Haufen vor der Thuͤr ſich auf ſeine Koſten be¬
luſtigte. Das Einſchreiten oberer Behoͤrden oder
auch ſeine eigene Energie, wenn er, trotz des
Verbotes, die Schuͤler zu ſchlagen, Einige ein
einziges Mal bei den Koͤpfen genommen und
tuͤchtig durchgeblaͤut haͤtte, wuͤrden hingereicht
haben, die Ruhe herzuſtellen. Zu Letzterem beſaß
er nicht die geeignete Perſoͤnlichkeit, das Erſtere
unterblieb, da die unmittelbar folgende Inſtanz
aus Schulmaͤnnern beſtand, welche dem Verfolgten
abgeneigt waren und ſo lang als moͤglich die
Vorfaͤlle nicht zu bemerken ſchienen. Die Schuͤler
erzaͤhlten in ihren Familien mit Ruhmredigkeit
ihre Thaten, wobei ſie nicht unterließen, den
Lehrer als den ſchreckbarſten Popanz darzuſtellen.
Die behaͤbigen Buͤrger, ſich mit Wohlgefallen
ihrer eigenen Knabenſtreiche erinnernd und in der
Erfahrung der alten Zeit aufgewachſen, daß die
Schule nur eine Art Unterkommen bilde, bis das
[373] wuͤrdige Buͤrgerkind, ohne ſich den Kopf zer¬
brechen zu muͤſſen, in das behagliche Privilegien-
und Zunftweſen der guten alten Stadt aufge¬
nommen wuͤrde, beſtaͤrkten ihre Soͤhnlein durch
unverhohlenes Laͤcheln, wo nicht durch direkte Auf¬
reizung, in ihrem Treiben. Obgleich die Sache
laͤngſt Aufſehen gemacht hatte, wurde ſie nach
Oben hin ſtets ſo geſchildert, als ob alle Schuld
an dem Verfolgten laͤge; es kam etwa ein Herr
in die Stunde, um ſelbſt zu ſehen, dann huͤteten
wir uns aber wohl, etwas zu beginnen, ſo wie
wir auch in den Stunden der uͤbrigen Lehrer
uns doppelt ruhig verhielten. Der Ungluͤckliche
war ein Ableiter fuͤr allen boͤſen Stoff, welcher
in der Schule ſteckte. So ſchleppte er ſich bei¬
nahe ein Jahr lang hin, bis er endlich fuͤr eine
Zeit lang ſuspendirt wurde. Er waͤre ſo gerne
ganz weggeblieben, indem er Schaden an ſeiner
Geſundheit litt und ganz abmagerte; aber eine
zahlreiche Familie ſchrie nach Brot und er war
auf dieſen Beruf angewieſen. So trat er eines
Tages ſeinen Leidensweg wieder an, ſo verſoͤhn¬
lich und beſcheiden, als moͤglich; allein er fand
[374] keine Barmherzigkeit, ein wilder Jubel brach los,
das alte Unweſen wiederholte ſich und er mußte
nach wenigen Tagen gaͤnzlich entlaſſen werden.


Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig ver¬
halten und nur den zahlreichen Auftritten behag¬
lich zugeſehen. Gegen den Mann ſelbſt verging
ich mich nicht ein einziges Mal, da es mir wider¬
ſtand, einem Erwachſenen gegenuͤber aufzutreten.
Erſt als das Hinausſchieben der ganzen Klaſſe
begann, ſuchte ich auch Theil zu nehmen und
bewerkſtelligte dies durch kleine ſchuͤchtern Streiche
oder wiſchte auch ſo mit hinaus; denn erſtens
ging es ſehr luſtig her draußen und zweitens
haͤtte ich um keinen Preis bei den wenigen ver¬
poͤnten Gerechten bleiben moͤgen, welche in der
Stube ſaßen. Deſto lauter wurde ich, wenn ich
einmal draußen war, half Aufzuͤge und Umgaͤnge
anordnen und uͤberließ mich, nach langer Zuruͤck¬
gezogenheit, einer ſo wilden Freude, daß mir das
Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wal¬
lung war, wenn wir bei dem folgenden Lehrer
wieder an unſeren Plaͤtzen ſaßen. Ich kann mir
feſt geſtehen, daß ich mich damals uͤber die Freude
[375] ſelbſt freute und keinerlei Bosheit in mir trug.
Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit
dem Armen, welches ich zu aͤußern aber unter¬
ließ, um nicht laͤcherlich zu werden. Einſt traf
ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er ſchien
einen Erholungsgang zu machen; unwillkuͤrlich
zog ich ehrerbietig meine Muͤtze, was ihn ſo freute,
daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei
ſo maͤrterlich anſah, als ob er um Barmherzig¬
keit flehte. Ich wurde geruͤhrt und dachte feſt,
daß es anders werden muͤſſe. Gleich am naͤchſten
Tage trat ich zu einer Gruppe der wildeſten
Mitſchuͤler, um geradezu am rechten Flecke anzu¬
greifen und ein Wort des Mitgefuͤhls, des Nach¬
denkens unter ſie zu werfen; ich hatte den rich¬
tigen Inſtinkt, daß dieſes gewiß, wenn auch nicht
augenblicklich, weiter wirken und die Laune der
Menge anziehen wuͤrde. Sie ſprachen eben von
dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen
erfunden, der ſo komiſch klang, daß Alles beſter
Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte
verdrehten ſich mir auf der Zunge und anſtatt
meine Pflicht zu thun, verrieth ich ihn und mein
[376] beſſeres Selbſt, indem ich das geſtrige Abenteuer
auf eine Weiſe vortrug, die der gegenwaͤrtigen
Stimmung vollkommen entſprach und dieſelbe
erhoͤhte!


Nach ſeiner Entfernung wurde es ſtill unter
uns; die Laͤrmbeduͤrftigen und Schlimmgeſinnten
wandten ſich unbehaglich hin und her, zehrten
von der Erinnerung und konnten ſich nicht zu¬
rechtfinden. Eines Abends, nach dem Schluſſe
des Unterrichts, ging ich ruhig meiner Wege und
hatte bald meine Wohnung erreicht, als ich rufen
hoͤrte: Gruͤner Heinrich! hierher! Ich wandte
mich um und erblickte in einer andere Straße
einen anſehnlichen Haufen Schuͤler, welche durch¬
einandertrieben, wie ein Ameiſenhaufen, und ſehr
geſchaͤftig ſchienen. Ich erreichte ſie, man theilte
mir mit, daß man in Geſammtheit dem verab¬
ſchiedeten Lehrer noch einen Beſuch abſtatten und
ein rechtes Schlußvergnuͤgen veranſtalten wolle
und forderte mich auf, Theil zu nehmen. Der Plan
wollte mir gar nicht einleuchten, ich lehnte kurz
ab und ging weg. Jedoch die Neugier wandte
mich, daß ich von ferne nachzog und ſehen wollte,
[377] wie es abliefe. Der Haufen bewegte ſich vor¬
waͤrts, andere Schulen, deren Beſtandtheile um
dieſe Zeit alle in den Gaſſen wimmelten, wurden
angeworben, daß bald ein Zug von hundert Jun¬
gen aller Art ſich fortwaͤlzte. Die Buͤrger ſtan¬
den unter den Thuͤren und betrachteten mit Ver¬
wunderung das Thun, ich hoͤrte Einen ſagen:
»Was moͤgen die Teufelsbuben nur wieder vor¬
haben? Die ſind bei Gott faſt ſo munter, als wir
geweſen ſind!« Dieſe Worte klangen in meinen
Ohren wie Kriegsdrommeten, meine Fuͤße wurden
lebendiger und ſchon trat ich dem letzten Manne
des Zuges auf die Ferſen. Es war ein unſaͤg¬
liches Vergnuͤgen in der Menge, hervorgerufen
durch das improviſirte Beiſammenſein aus eigener
Machtvollkommenheit. Ich ward immer waͤrmer,
ſchob mich vorwaͤrts und ſah mich ploͤtzlich bei
der Spitze angelangt, wo die hohen Haͤupter
gingen und mich mit Jubel begruͤßten. »Der
gruͤne Heinrich iſt doch noch gekommen!« hieß es,
der Name erſchallte laͤngs des ganzen Zuges und
vermehrte den Stoff zu Geraͤuſch und gegenſtand¬
loſer Freude, Mir ſchwebten ſogleich geleſene
[378] Volksbewegungen und Revolutionsſcenen vor.
»Wir muͤſſen uns in gleichmaͤßigere Glieder ab¬
theilen,« ſagte ich zu den Raͤdelsfuͤhrern, »und in
ernſtem Zuge ein Vaterlandslied ſingen!« Dieſer
Vorſchlag wurde beliebt und ſogleich ausgefuͤhrt;
ſo durchzogen wir mehrere Straßen, die Leute
ſahen uns mit Staunen nach, ich ſchlug vor, noch
einen Umweg zu machen und dies Vergnuͤgen
ſo lange als moͤglich andauern zu laſſen. Auch
dies geſchah, allein zuletzt langten wir doch am
Ziele an. »Was wollen wir nun eigentlich be¬
ginnen?« fragte ich, »ich daͤchte, wir ſaͤngen hier
ein Lied und zoͤgen dann wieder mit einem Hur¬
rah davon!« »In's Haus! in's Haus!« toͤnte
es zur Antwort, »wir wollen ihm eine Dankrede
fuͤr ſein Wirken abſtatten!« »So ſollen wenig¬
ſtens Alle fuͤr Einen ſtehen und Keiner davon
laufen, damit Alle die gleiche Strafe tragen,
wenn es Etwas abſetzt!« rief ich, worauf der
ganze Schwarm in das kleine enge Haus ein¬
ſtroͤmte und die Treppen hinantobte. Ich blieb
an der Hausthuͤr ſtehen, theils um nicht dem
Manne vor das Angeſicht treten zu muͤſſen, weil
[379] ich keinerlei Trieb dazu fuͤhlte, theils um keinen
Mitſchuldigen ſich Einzeln entfernen zu laſſen.
Es war ein furchtbarer Laͤrm im Innern, die
Knaben waren ganz berauſcht von ihrer eigenen
Aufregung; der Geſuchte lag krank in einem ver¬
ſchloſſenen Zimmer, die Frauen waren bemuͤht,
die uͤbrigen Thuͤren zu verſchließen und ſahen ſich
aus den Fenſtern nach Huͤlfe um. Doch ſchaͤm¬
ten ſie ſich zu rufen, die Nachbaren wußten nicht,
was Alles zu bedeuten haͤtte und ſahen hoͤchſt
verwundert zu, ich blieb mit nichts weniger als
heiteren Gedanken auf meinem Poſten. Das
Haus war von unten bis oben angefuͤllt, die
Laͤrmenden erſchienen unter den Dachlucken, war¬
fen alte Koͤrbe heraus und ſtiegen ſogar auf das
Dach, die Luft mit ihrem Geſchrei erfuͤllend. Ein
altes Weib drang endlich beherzt aus einem Kaͤm¬
merchen und trieb, geſchuͤtzt durch Alter und Ge¬
ſchlecht, den ganzen Schwarm mit einem Beſen
allmaͤlig aus dem Hauſe.


Dies Attentat war denn doch zu auffaͤllig
geweſen, als daß die oberen Behoͤrden nicht end¬
lich aufmerkſam wurden. Sie verlangten eine
[380] ſtrenge Unterſuchung. Wir wurden in einem
Saale verſammelt und einzeln aufgerufen, um
vor ein Tribunal zu treten, welches in einer
Nebenſtube ſaß. Das Verhoͤr dauerte einige
Stunden, die Zuruͤckkehrenden gingen ſogleich weg,
ohne Bericht zu geben; zwei Drittheile der Ver¬
ſammelten waren ſchon fort und noch wurde ich
nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zu¬
letzt Alle, welche aus der Verhoͤrſtube kamen,
mich anſahen, ehe ſie weggingen. Zuletzt hieß es,
der ganze Reſt ſolle hereinkommen mit Ausnahme
des gruͤnen Heinrich.


Wenn ich nicht uͤberzeugt waͤre, daß die Kind¬
heit ſchon ein Vorſpiel des ganzen Lebens iſt
und bis zu ihrem Abſchluſſe ſchon die Hauptzuͤge
der menſchlichen Zerwuͤrfniſſe im Kleinen ab¬
ſpiegele, ſo daß ſpaͤter nur wenige Erlebniſſe vor¬
kommen moͤgen, deren Umriß nicht wie ein Traum
ſchon in unſerm Wiſſen vorhanden, wie ein
Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh
zu erfuͤllen iſt, wenn aber Uebles, als fruͤhe War¬
nung gelten kann, ſo wuͤrde ich mich nicht ſo weit¬
laͤufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beſchaͤftigen.

[381]

Endlich kam die Reihe an mich; der letzte
Trupp erſchien wieder und hieß mich hineingehen.
Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt
aber keine Antwort, vielmehr ſputeten ſie ſich
aͤngſtlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬
ſtube, halb von Neugierde vorwaͤrts gedraͤngt,
halb von jener beklemmenden Furcht zuruͤckgehal¬
ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet,
wenn ſie ihnen an Verſtand uͤberlegene und all¬
maͤchtige Weſen vorausſetzt. Es ſaßen zwei
Herren am oberen Ende eines langen Tiſches,
zu deſſen Fuß ich ſtand, einige Stuͤcke Papier
und ein Bleiſtift vor ſich. Der Eine war der
naͤchſte Vorſteher der Schule, der auch ſelbſt Un¬
terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein
hoͤherer gelehrter Herr, welcher wenig ſagte. Zu
Jenem ſtand ich in einem eigenthuͤmlichen Ver¬
haͤltniſſe; er war ein gemuͤthlicher Poltron, gern
viele Worte machend und froh, wenn ein Schuͤler
durch beſcheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab,
ſich gruͤndlich uͤber ein Faktum zu verbreiten. Im
Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade
bei ihm mich ſehr ordentlich auffuͤhrte; aber meine
[382] Eigenſchaft, den Vorwuͤrfen, Ermahnungen
und Strafen bei vorkommenden Faͤllen ein un¬
wandelbares Schweigen entgegenzuſetzen, hatte
mir ſeine Abneigung zugezogen. Das aͤngſtliche
Laͤugnen, die Zungengelaͤufigkeit, Strafe von ſich
abzuwenden, das hartnaͤckige Feilſchen um die¬
ſelbe waren mir unmoͤglich; glaubte ich eine ſolche
verdient zu haben, ſo nahm ich ſie ſchweigend
hin, ſchien ſie mir zu ungerecht, ſo ſchwieg ich
ebenfalls, und nicht aus Trotz, ſondern ich lachte
innerlich ganz frohmuͤthig daruͤber und dachte,
der Richter haͤtte das Pulver auch nicht erfunden.
Darum hielt mich der Herr fuͤr einen unbrauch¬
baren, bedenklichen Burſchen und fuhr mich nun
mit drohender Miene an: »Haſt Du an dem Skan¬
dale Theil genommen? Schweig! laͤugne nicht,
es wird nichts helfen!« Ich brachte ein leiſes Ja
hervor, der weiteren Dinge gewaͤrtig. Doch wie
um mich in ſeinen Augen, da ihm einmal zur
Weckung guter Laune durchaus ein gruͤndlicher
Wortwechſel noͤthig war, noch zu retten, that er,
als ob er ein Nein vernommen haͤtte und ſchrie:
»Wie, was? Heraus mit der Wahrheit!« »Ja!«
[383] wiederholte ich etwas lauter. »Gut, gut, gut!«
ſagte er, »Du wirſt gewiß noch Einen finden,
der Dir gewachſen iſt, einen Stein, der eine
Beule in Deine eiſerne Stirne ſchlaͤgt!« Dieſe
Worte beleidigten mich und thaten mir weh; denn
ſie ſchienen nicht nur eine arge Verkennung mei¬
nes Weſens zu enthalten, ſondern auch eine un¬
gehoͤrige Vorausſagung der Zukunft, eine per¬
ſoͤnliche Bitterkeit zu ſein. Er fuhr fort: »Haſt
Du auf dem Wege vorgeſchlagen, einen foͤrm¬
lichen Zug zu ordnen und ein Lied zu ſingen?«
Dieſe Frage machte mich ſtutzen, meine Genoſſen
hatten alſo mich verrathen und deshalb ohne
Zweifel ſich rein gewaſchen; ich ſchwankte, ob ich
nicht laͤugnen ſollte, aber es kam wieder ein Ja
hervor, zumal ich unmoͤglicherweiſe denken konnte,
daß Alles auf mich gewaͤlzt werde. »Haſt Du
am Hauſe des Herrn . . . . erklaͤrt, daß Keiner
ſich zuruͤckziehen duͤrfe und dieſer Erklaͤrung durch
Bewachung der Thuͤr Folge gegeben?« Das be¬
jahte ich unbedenklich, da es mir weder eine
Schande, noch ein beſonderes Vergehen zu ſein
ſchien. Dieſe beiden Momente, aus den erſten
[384] Fragen an die Mitſchuldigen ſchon zu Tage ge¬
treten, ſchienen dem Herrn auf den Haupturheber
hinzudeuten; ſie ragten auch wohl am faßbarſten
aus all' dem wirren Treiben hervor und er hatte
allein auf ſie hin verhoͤrt. Jeder bejahte regel¬
maͤßig die Frage darnach und war froh, nicht
uͤber ſich ſelbſt ſprechen zu muͤſſen.


Ich wurde entlaſſen und ging etwas bewegt,
doch gemaͤchlich nach Hauſe; das Ganze ſchien
mir ſehr wuͤrdig zu verlaufen. Zwar fuͤhlte ich
eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten
Lehrer. Zu Hauſe erzaͤhlte ich der Mutter den
ganzen Vorgang, worauf ſie mir eben eine Straf¬
rede halten wollte, als ein Schuldiener hereintrat
mit einem großen Briefe. Dieſer enthielt die
Nachricht, daß ich von Stund an und fuͤr immer
von dem Beſuche der Schule ausgeſchloſſen ſei.
Das Gefuͤhl des Unwillens und erlittener Unge¬
rechtigkeit, welches ſich ſogleich in mir aͤußerte,
war ſo uͤberzeugend, daß meine Mutter nicht laͤn¬
ger bei meiner Schuld verweilte, ſondern ſich
ihren eigenen bekuͤmmerten Gefuͤhlen uͤberließ, da
der große und allmaͤchtige Staat einer huͤlfloſen
[385] Wittwe das einzige Kind vor die Thuͤre geſtellt
hatte mit den Worten: Es iſt nicht zu brauchen!


Wenn uͤber die Rechtmaͤßigkeit der Todes¬
ſtrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet,
ſo kann man fuͤglich die Frage, ob der Staat
das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Men¬
ſchen, die gerade nicht tobſuͤchtig ſind, von ſeinem
Erziehungsſyſteme auszuſchließen, zugleich mit in
den Kauf nehmen. Gemaͤß jenem Vorgange wird
man mir, wenn ich im ſpaͤteren Leben in eine
aͤhnliche ernſtere Verwicklung gerathe, bei gleichen
Verhaͤltniſſen und Richtern, wahrſcheinlich den
Kopf abſchlagen; denn ein Kind von der allge¬
meinen Erziehung ausſchließen, heißt nichts An¬
deres, als ſeine innere Entwicklung, ſein geiſtiges
Leben koͤpfen. Der Staat hat nicht darnach zu
fragen, ob die Bedingungen zu einer weiteren
Privatausbildung vorhanden ſeien, oder ob trotz
ſeines Aufgebens das Leben den Aufgegebenen doch
nicht fallen laſſe, ſondern manchmal noch etwas
Rechtes aus ihm mache: er hat ſich nur an ſeine
Pflicht zu erinnern, die Erziehung jedes ſeiner
Kinder zu uͤberwachen und zu Ende zu fuͤhren.
I. 25[386] Auch iſt am Ende dieſe Erſcheinung weniger
wichtig in Bezug auf das Schickſal ſolcher Aus¬
geſchloſſenen, als daß ſie den wunden Fleck auch
der beſten unſerer Einrichtungen bezeichnet, die
moraliſche Faulheit naͤmlich, die Traͤgheit und
Bequemlichkeit der mit dieſen Dingen Beauf¬
tragten, derer, welche ſich als Erzieher par ex¬
cellence
geben. Das Ausſtoßen auch des nichts¬
nutzigſten Schuͤlers iſt nichts als ein Armuths¬
zeugniß, welches eine Schule ſich gibt.


Der Kummer und die Niedergeſchlagenheit
meinerſeits waren nicht allzugroß; ich hatte dem
Lehrer des Franzoͤſiſchen einige Buͤcher zuruͤckzu¬
ſtellen, da er mir mit Wohlwollen ehrwuͤrdige
Franzbaͤnde franzoͤſiſcher Klaſſiker zu leihen pflegte.
Auch fuͤhrte er mich einige Male in einer großen
Bibliothek umher, mir reſpektvolle Vorbegriffe
vom Buͤcherweſen beibringend. Als ich zu ihm
kam, druͤckte er mir ſein Bedauern uͤber das Ge¬
ſchehene aus und gab mir zu verſtehen, wie ich
es nicht allzu hoch aufzunehmen haͤtte, da ſeines
Wiſſens die Mehrzahl der Lehrer, gleich ihm,
nicht unzufrieden mit mir waͤren. Ferner lud er
[387] mich ein, ihn zu beſuchen und ſeinen Rath zu
holen, wenn ich Luſt haͤtte, das Franzoͤſiſche wei¬
ter zu betreiben. Ich ſah ihn zwar nicht wieder
im Wechſel der Zeit, aber ſeine Worte gaben mir
eine gewiſſe Genugthuung, daß ich mich nun frei
fuͤhlte, wie der Vogel in der Luft, zumal ich die
Bedeutung des Augenblickes und die Wichtigkeit
der Zukunft nicht zu uͤberſehen vermochte.


Meine Mutter hingegen befand ſich in großer
Bedraͤngniß; ſie konnte beſtimmt annehmen, daß
der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht
abgeſchloſſen haben wuͤrde, wenn er noch lebte,
und doch ſah ſie bei ihren beſchraͤnkten Mitteln
keine Moͤglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder
mich auf eine auswaͤrtige Schule zu ſchicken, noch
konnte ſie ſich den Beruf denken, welchen ich nun
am beſten ergriffe, da gerade fuͤr eine einſicht¬
vollere Selbſtbeſtimmung der erweiterte Geſichts¬
kreis der nun verſchloſſenen hoͤheren Klaſſen haͤtte
Gelegenheit bieten ſollen. Meine haͤusliche Be¬
ſchaͤftigung hatte in letzter Zeit beinahe aus¬
ſchließlich in Zeichnen und Malen beſtanden, und
auch in dieſer Hinſicht befand ich mich in einem
25 *[388] ſonderbaren Verhaͤltniß zur Schule. Dort galt
ich fuͤr Nichts weniger, als fuͤr einen talentvollen
Zeichner. Monate lang klebte der gleiche Bogen auf
meinem Reißbrette, ich quaͤlte mich verdroſſen ab,
einen koloſſalen Kopf oder ein Ornament mit
dem magern Bleiſtifte zu kopiren, Dutzende von
Linien wurden ausgeloͤſcht und blieben halb ſicht¬
bar, bis die richtige ſtehen blieb, das Papier
wurde beſchmutzt und durchgerieben und verkuͤn¬
dete einen faulen und verdrießlichen Zeichner.
Sobald ich aber nach Hauſe kam, warf ich dieſe
Schulkunſt bei Seite und machte mich mit eifrigem
Fleiße hinter meine Hauskunſt. Nach jenem er¬
ſten Verſuche, eine gemalte Landſchaft zu kopiren,
hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in
Waſſerfarben hervorzubringen; da ich nun aber
weiter keine Vorbilder beſaß, mußte ich ſie auf
eigene Fauſt in's Leben rufen und that dieſes mit
anhaltendem und dankbarem Fleiße. Der gemalte
Ofen unſerer Stube enthielt eine Menge ganz
naiv poetiſcher kleiner Landſchaftsmotive, eine
Burg, eine Bruͤcke, einige Saͤulen an einem See
und ſolches mehr; ein altes Stammbuch der Mut¬
[389] ter, ſo wie eine kleine Bibliothek verjaͤhrter Damen¬
kalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz
ſentimentaler Landſchaftsbilder, dem lyriſchen Texte
entſprechend, mit Tempeln, Altaͤren und Schwaͤ¬
nen auf Teichen, mit Liebespaaren in Kaͤhnen
ſitzend und dunklen Hainen, deren Baͤume mir
unvergleichlich geſtochen ſchienen. Aus allen Dieſem
zuſammen bildete ſich eine hoͤchſt unſchuldige und
ſo zu ſagen elementare Poeſie, welche meinem
eifrigen Machen zu Grunde lag und mich waͤh¬
rend deſſelben begluͤckte. Ich erfand eigene Land¬
ſchaften, worin ich alle poetiſchen Motive reichlich
zuſammenhaͤufte und ging von dieſen auf ſolche
uͤber, in denen ein einzelnes vorherrſchte, zu
welchem ich immer den gleichen Wanderer in Be¬
ziehung brachte, unter dem ich, halb unbewußt,
mein eigenes Weſen ausdruͤckte. Denn nach dem
immerwaͤhrenden Mißlingen meines Zuſammen¬
treffens mit der uͤbrigen Welt hatte eine unge¬
buͤhrliche Selbſtbeſchauung und Eigenliebe ange¬
fangen, mich zu beſchleichen, ich fuͤhlte ein weich¬
liches Mitleid mit mir ſelbſt und liebte es, meine
ſymboliſche Perſon in die intereſſanten Scenen
[390] zu verſetzen, welche ich erfand. Dieſe Figur, in
einem gruͤnen romantiſch geſchnittenen Kleide, eine
Reiſetaſche auf dem Ruͤcken, ſtarrte in Abend¬
roͤthen und Regenbogen, ging auf Kirchhoͤfen oder
im Walde, oder wandelte auch wohl in gluͤckſeligen
Gaͤrten voll Blumen und bunter Voͤgel. Das
Machwerk an der betraͤchtlichen Sammlung ſol¬
cher Bilder, welche ſich bereits angehaͤuft hatte,
blieb immer auf dem naͤmlichen Standpunkte
gaͤnzlicher Erfahrungs- und Unterrichtsloſigkeit;
nur eine gewiſſe Keckheit und Fertigkeit im Auf¬
tragen der grellen Farben, welche ich durch die
unablaͤſſige Uebung erwarb, verbunden mit der
kuͤhnen Abſicht meiner Unternehmungen uͤberhaupt,
unterſchied mein Treiben einigermaßen von ſon¬
ſtigen knabenhaften Spielen mit Bleiſtift und
Farbe und mochte meinen vorlaͤufigen Ausſpruch,
daß ich ein Maler werden wolle, veranlaſſen.
Doch wurde jetzt nicht naͤher darauf eingegangen,
ſondern beſtimmt, daß ich einige Zeit in dem
laͤndlichen Pfarrhauſe bei meinem muͤtterlichen
Oheime zubringen ſollte, um uͤber die naͤchſten
Monate meines Ungemaches auf gute Weiſe hin¬
[391] wegzukommen, indeſſen eine taugliche Zukunft
fuͤr mich ermittelt wuͤrde. Das Heimathdorf lag
in einem aͤußerſten Winkel des Laͤndchens, ich
war noch nie dort geweſen, ſo wie auch meine
Mutter ſeit meinem Gedenken es nie mehr be¬
ſucht hatte und die dortigen Verwandten, mit
ſeltenen Ausnahmen, nie in der Stadt erſchienen.
Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr ein Mal
auf ſeinem Klepper geritten, um an einer Kirchen¬
verſammlung Theil zu nehmen und ſchied immer
mit jovialen Einladungen, endlich einmal hinaus¬
zuwandern. Er erfreute ſich eines halben Dutzends
Soͤhne und Toͤchter, welche mir noch ſo unbekannt
waren, wie ihre Mutter, meine ruͤſtige Muhme
und geiſtliche Baͤuerin. Außerdem lebten dort
zahlreiche Verwandte des Vaters, vor Allen auch
ſeine leibliche Mutter, eine hochbejahrte Frau,
welche, ſchon laͤngſt an einen zweiten, reichen und
finſtern Mann verheirathet, unter deſſen harter
Herrſchaft in tiefer Zuruͤckgezogenheit lebte und
nur ſelten mit den Hinterlaſſenen ihres fruͤh ge¬
ſtorbenen Sohnes einen ſehnſuͤchtigen Gruß aus
der Ferne wechſelte. Das Volk lebte noch in
[392] der ſtillen Einſchraͤnkung und Entſagung vergan¬
gener Jahrhunderte, wo beſonders die Frauen,
wenn ſie einmal durch einige Meilen getrennt
waren, einander nicht wieder, oder nur bei ſel¬
tenen, hochwichtigen Ereigniſſen ſahen, bei wel¬
chen es alsdann wahrhaft epiſch herging und
Thraͤnen der Ruͤhrung und ſchmerzlicher oder
froher Erinnerung ihren Augen entfloſſen, waͤh¬
rend die Maͤnner wohl ſich vom Orte bewegten,
aber in ernſtem Geſchaͤftsſinne an den Thuͤren
halbverſchollener Verwandter voruͤbergingen, wenn
ſie keinen Rath zu bringen oder zu holen hatten.
Jetzt iſt das Volk wieder lebendiger geworden;
durch die erleichterten Verkehrsmittel, durch das
wieder erſtandene oͤffentliche Leben und zahlreiche
Volksfeſte veranlaßt, bewegt es ſich froͤhlich von
der Stelle und macht damit zugleich ſeinen Geiſt
wieder jung und fruchtbar, und nur beſchraͤnkte
Eiferer predigen noch gegen die feſtliche Wander¬
luſt Derer, die den Pflug fuͤhren, und ihrer Kinder.


Meine Mutter befahl mir, insbeſondere der
einſamen uͤberlebenden Großmutter ſo viele Zeit
als moͤglich zu widmen und in Ehrerbietung und
[393] Liebe bei ihr auszuharren, ſo lange es ihr gefiele,
mich um ſich zu haben und von meinem Vater,
ihrem Sohne, zu reden.


So machte ich mich eines Morgens vor Son¬
nenaufgang auf die Fuͤße und trat den weiteſten
Weg an, den ich bis dahin unternommen hatte.
Ich genoß zum erſten Male das Morgengrauen
im Freien und ſah die Sonne uͤber nachtfeuchten
Waldkaͤmmen aufgehen. Ich wanderte den ganzen
Tag, ohne muͤde zu werden, kam durch viele
Doͤrfer und war wieder ſtundenlang allein in ge¬
dehnten Waldungen oder auf freien heißen Hoͤhen,
mich oft verirrend, aber die verlorne Zeit nicht
bereuend, weil ich fortwaͤhrend in meinen Ge¬
danken beſchaͤftigt war und zum erſten Mal, durch
mein ſtilles Wandern bewegt, von der ernſten
Betrachtung des Schickſals und der Zukunft er¬
fuͤllt wurde. Kornblumen und rother Mohn und
in den Waͤldern bunte Pilze begleiteten mich laͤngs
der ganzen Straße, wunderſchoͤne Wolken bildeten
ſich unablaͤſſig und zogen am tiefen ſtillen Himmel
dahin, ich ging immer zu, indeſſen mich das ſelbſt¬
gefaͤllige Mitleid mit mir ſelbſt, welches mir die
[394] Welt aufgedraͤngt hatte, wieder uͤberkam, bis ich
gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte. Ich
wußte mich vor Betruͤbniß nicht zu laſſen und
ſaß an einer ſchattigen Quelle nieder, immer
ſchluchzend, bis ich mich ſchaͤmte, mein Geſicht
wuſch und uͤber mich ſelbſt laͤchelnd den Reſt des
Weges zuruͤcklegte. Endlich ſah ich das Dorf zu
meinen Fuͤßen liegen in einem gruͤnen Wieſen¬
thale, welches von den Kruͤmmungen eines leuch¬
tenden kleinen Fluſſes durchzogen und von be¬
laubten Bergen umgeben war. Die Abendſonne
lag warm auf dem Thale, die Kamine rauchten
freundlich, einzelne Rufe klangen heruͤber. Bald
befand ich mich bei den erſten Haͤuſern, ich fragte
nach dem Pfarrhauſe und die Leute, welche an
meinen Augen und meiner Naſe erkannten, daß
ich zu dem Geſchlechte der Lee gehoͤre, fragten
mich, ob ich vielleicht ein Sohn des verſtorbenen
Baumeiſters ſei?


So gelangte ich zu der Wohnung meines
Oheims, welche von dem rauſchenden Fluͤßchen
beſpuͤlt und mit großen Nußbaͤumen und einigen
hohen Eſchen umgeben war: die Fenſter blinkten
[395] zwiſchen dichtem Aprikoſen- und Weinlaube hervor
und unter Einem derſelben ſtand mein dicker
Oheim in gruͤner Jacke, ein ſilbernes Waldhoͤrn¬
chen, in welchem eine Cigarre rauchte, im Munde
und eine Doppelflinte in der Hand. Ein Flug
Tauben flatterte aͤngſtlich uͤber dem Hauſe und
draͤngte ſich um den Schlag, mein Oheim ſah
mich und rief ſogleich: „Ha ha, ſakerment, Herr
Neveu! das iſt gut, daß Du da biſt, ſchnell
heraufſpaziert!“ Dann ſah er ploͤtzlich in die Hoͤhe,
ſchoß in die Luft und ein ſchoͤner Raubvogel,
welcher uͤber den Tauben gekreiſ''t hatte, fiel todt
zu meinen Fuͤßen. Ich hob ihn auf und trug ihn,
durch dieſen tuͤchtigen Empfang angenehm be¬
gruͤßt, meinem Oheim entgegen.


In der Stube fand ich ihn allein neben einer
langen Tafel, die fuͤr viele Perſonen gedeckt war.
„Eben kommſt Du recht!“ rief er, „wir halten
heute das Erntefeſt, gleich wird das Volk da
ſein!“ Dann ſchrie er nach ſeiner Frau, ſie er¬
ſchien mit zwei maͤchtigen Weingefaͤßen, ſtellte ſie
ab und rief: „Ei ei, was iſt das fuͤr ein Bleich¬
ſchnabel, fuͤr ein Milchgeſicht? Warte, Du ſollſt
[396] nicht mehr fort, bis Du ſo rothe Backen haſt,
wie Dein ſeliger Vater! Wie geht's der Mutter,
was iſt das, warum kommt ſie nicht mit?« So¬
gleich richtete ſie mir an der Tafel ein vorlaͤufiges
Mal zu und trug mich, als ich zoͤgerte, ohne wei¬
teres wie ein Kind auf den Stuhl und befahl
mir, ſtracks zu eſſen und zu trinken. Indeſſen
naͤherte ſich Geraͤuſch dem Hauſe, der hohe Garben¬
wagen ſchwankte unter den Nußbaͤumen heran,
daß er die unterſten Aeſte ſtreifte, die Soͤhne und
Toͤchter mit einer Menge anderer Schnitter und
Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelaͤchter
und Geſang, der Oheim, ſeine Flinte reinigend,
ſchrie ihnen zu, ich waͤre da, und bald fand ich
mich mitten im froͤhlichen Getuͤmmel. Erſt ſpaͤt
in der Nacht legte ich mich zu Bette bei offenem
Fenſter; das Waſſer rauſchte dicht unter demſelben,
jenſeits klapperte eine Muͤhle, ein majeſtaͤtiſches
Gewitter zog durch das Thal, der Regen klang
wie Muſik und der Wind in den Forſten der
nahen Berge wie Geſang, und die kuͤhle erfriſchende
Luft athmend ſchlief ich ſo zu ſagen an der Bruſt
der gewaltigen Natur ein.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der grüne Heinrich. Der grüne Heinrich. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn1d.0