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Problematiſche Naturen.
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Problematiſche Naturen.


Roman



Zweiter Band.


Berlin.:
Verlag von Otto Janke.
1861.
[]

Erſtes Kapitel.

Es waren ſeit dieſem Abend einige Tage verfloſſen.


Bemperlein war mit Julius nach Grünwald ab¬
gereiſt und hatte von dort aus ſchon an Melitta und
an Oswald geſchrieben, der Erſteren, um zu melden,
daß ſein Zögling in der ſehr liebenswürdigen Familie
eines Beamten, der zwei Söhne faſt in demſelben
Alter, wie Julius, habe, glücklich untergebracht ſei,
an Oswald, daß er eine höchſt intereſſante Unter¬
redung mit Profeſſor Berger gehabt habe, deren In¬
halt er ſeinem neuen Freunde mittheilen wolle, wenn
er in nächſter Woche nach Berkow zurückkäme, um
definitiv Abſchied zu nehmen. Nur ſo viel wolle er
ſagen, daß er in ſeinem Entſchlüſſe feſter wie je ſei
und kaum die Zeit erwarten könne, ſich Hals über
Kopf in ſeine neuen Studien zu ſtürzen.


Den Tag nach Herrn Bemperlein's Abreiſe war
der Geometer von Grünwald in Grenwitz angekommen.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 1[2] aber nur ein paar Stunden geblieben, um mit dem
Baron und der Baronin zu conferiren, und dann nach
dem zweiten Gute, das vermeſſen werden ſollte, ge¬
fahren, wo er für's erſte „ſein Wigwam aufſchlagen
müßte,“ wie er zu Oswald ſagte. Oswald hatte in
dem Geometer einen ſehr lebhaften, witzigen und wie
es ſchien, ſehr beleſenen und vielfach gebildeten, noch
jungen Mann kennen gelernt, und er freute ſich, dieſe
Bekanntſchaft fortſetzen zu können, da Herr Timm in
kurzer Zeit nach Grenwitz kommen mußte, um die
Karten und Pläne zu zeichnen. Schon waren von
der ſtets weit vorausſchauenden Baronin zwei Zimmer
in demſelben Flügel des Schloſſes, in welchem Oswald
wohnte, für ihn beſtimmt und mit großen Tiſchen u. ſ. w.
ſchicklich eingerichtet.


Auf den Sonntag waren die Herrſchaften von
Grenwitz nebſt Herrn Doctor Stein zu Herrn von
Barnewitz, dem Vetter Melitta's, eingeladen. Oswald
hatte große Luſt gehabt, dieſe Einladung rundweg
auszuſchlagen, und hatte ſich nur auf Melitta's Zu¬
reden bewegen laſſen, von der Partie zu ſein.


„Was ſoll ich dort?“ hatte er zu Melitta geſagt,
„man ladet mich nur ein, entweder weil es an Tän¬
zern fehlt, oder um dem alten Baron eine Höflichkeit
zu erweiſen, in keinem Fall um meiner ſelbſt willen.
[3] Ich werde in der Geſellſchaft wie ein Mohikaner
unter den Irokeſen, wie ein Spion im Lager an¬
geſehen werden. Ich kenne den Adel. Der Adlige
iſt nur höflich und liebenswürdig gegen den Bürger¬
lichen, ſo lange er mit ihm allein iſt; ſind mehre
Adlige bei einander, ſo fließen ſie zuſammen wie
Queckſilber und kehren gegen den Bürgerlichen den
esprit de corps heraus. Ich ſage Dir, Melitta, ich
kenne die Adligen und ich haſſe die Adligen.“


„Aber Du liebſt doch mich, Oswald, und ich ge¬
höre doch auch zu der verfehmten Klaſſe.“


„Leider,“ ſagte Oswald, „und es iſt das der
einzige Fehler, Du Holde, den ich an Dir habe ent¬
decken können. Aber dann biſt Du ſo engelgut und
lieb, und da gehſt Du durch dieſen Schwefelpfuhl,
ohne auch nur den Saum Deines leuchtenden Ge¬
wandes zu beflecken. Und ſo ſehr Du auch im Ver¬
gleich mit dieſen eitlen, dummen Pfauen gewinnen
mußt, ſo fürchte ich doch, daß von dem feurigen Haß,
den ich gegen die ganze Sippſchaft habe, unverſehens
auch ein Funken auf Dich ſpritzen könnte. Jetzt biſt
Du mir eine Königin, eine Chatelaine, die aus ihrem
Schloß ſich weggeſtohlen hat, den Herzallerliebſten
flüchtig zu umarmen, und ich vergeſſe Deinen Rang,
Deine Hoheit hier in dieſer traulichen Waldeinſamkeit.
1*[4] Du biſt mir nur das geliebte angebetete Weib, die
Krone der Schöpfung, biſt, was Du mir auch im Ge¬
wande der Bettlerin ſein würdeſt — dort aber im
kerzenerhellten Saale, umgeben von Deinen Granden,
von Allen gehuldigt und gefeiert, kann ich meine Augen
vor dem Glanze nicht verſchließen, und werde ſchmerz¬
lich daran erinnert werden, daß ich aus meiner Nie¬
drigkeit nicht hätte wagen ſollen, ſie zu ſolcher Höhe
zu erheben.“


„Sieh, Oswald,“ ſagte Melitta, und ihre Augen
ruhten feſt in den ſeinen; „iſt das nun gut von Dir?
Spotteſt Du nicht meiner, indem Du ſo ſprichſt?
Höre ich es nicht in dem herben Ton Deiner Stimme,
ſehe ich es nicht an dem unruhigen Blitzen Deiner
Augen, das ſo ſeltſam mit ihrem ſonſtigen tiefen, klaren
Licht contraſtirt, daß Du recht wohl fühlſt, wie Du
traft Deines Geiſtes, kraft Deiner ſtolzen männlichen
Schönheit und Stärke unter uns Anderen einher¬
ſchreiteſt, wie der geborene Herrſcher? — Ich habe
mich Dir ergeben mit Leib und Seele, Du biſt mein
Herr und Gebieter, ich würde mich ſelbſt Deiner
tollſten Laune willig fügen, ich würde von Dir das
Bitterſte ertragen, von Deiner Hand würde mir der
Tod nicht grauſig ſein — aber weshalb auch nur
einen Tropfen Wermuth in den Kelch der Liebe miſchen,
[5] aus dem ich mit ſo vollen, durſtigen Zügen ſchlürfe.
Oswald ſpotte meiner nicht!“


„Ich ſpotte Deiner nicht, Melitta; ich bin von
Deiner Liebe überzeugt, trotz dem, daß ich ſie, weiß
Gott, wenig verdiene; ich weiß, daß Deine Liebe de¬
müthig iſt, wie es die Liebe iſt, die Alles duldet und
Alles glaubt, und nimmer aufhören wird — aber ſieh,
Du Theure, das iſt ja eben der Fluch dieſer ver¬
ruchten Inſtitutionen, daß ſie Haß und Zwietracht und
Mißtrauen ſäen in die Herzen der Menſchen, ſelbſt
in ſolche Herzen, die von Gott für einander geſchaffen
ſcheinen. Und dieſer giftige Samen wuchert auf und
überwuchert der Liebe rothe Roſen. Ich ſchelte Dich
nicht, daß dem ſo iſt, ich ſchelte überhaupt keinen
Einzelnen, der ja, ohne es vielleicht zu wiſſen, unter
dieſer naturwidrigen Trennung ebenſo leidet wie ich.
Aber daß dem ſo iſt, davon ſei überzeugt. Nie wird
der Katholik in dem Proteſtanten, nie der Adlige in
dem Bürgerlichen, nie der Chriſt in dem Juden und
umgekehrt wahrhaft ſeines Gleichen ſehen — ſeinen
Bruder! Nathan's frommer Wunſch, daß es dem
Menſchen doch endlich genügen möchte, ein Menſch zu
ſein, iſt noch lange nicht erfüllt, wer weiß, ob er in
Jahrhunderten erfüllt ſein, ob er ſich auch nur jemals
erfüllen wird.“


[6]

„Und bis dahin,“ ſagte Melitta in ihrem gewöhn¬
lichen ſchalkiſchen Ton, Oswald das Haar aus der
Stirn ſtreichend, „bis dahin, Du träumeriſcher Träu¬
mer und unverbeſſerlicher Weltverbeſſerer, wollen wir
die kurzen Augenblicke genießen, und deshalb mußt Du
morgen nach Barnewitz kommen. Bitte, bitte, lieber
Oswald, ich will auch nur mit Dir ſprechen, nur mit Dir
tanzen — ich muß in dieſe eine Geſellſchaft gehen,
um das Recht zu gewinnen, zehn andere auszuſchlagen,
in denen ich — in denen ich — mich weniger frei
fühlen würde, wie gerade in dieſer. Und ohne Dich
habe ich nicht den mindeſten Genuß davon, im Gegen¬
theil, ich werde traurig ſein, wie ein Vögelchen, das
man der Freiheit beraubt und in ein enges Bauer
geſteckt hat. Wenn Du aber da biſt, liebes Herz, ſo
will ich fröhlich ſein, und tanzen und — ſingen —
nein, ſingen nicht, aber hübſch will ich ſein — ſehr
hübſch, und Alles Dir zu Ehren; ſoll ich weiß ge¬
hen? mit einer Camelie im Haar, oder einer Roſe?
Du haſt mir noch gar nicht geſagt, wie Du mich
am liebſten ſiehſt? Gott, welch' hölzerner Ritter
Du biſt.“


Am nächſten Tage, es war ein Sonntag, Nach¬
mittags um 5 Uhr, hielt der Staatswagen vor dem
Portale des Schloſſes in Grenwitz. Die ſchwerfälligen
[7] Braunen hatten das beſte Geſchirr mit den neuſilbernen
Beſchlägen aufgelegt bekommen, der ſchweigſame Kut¬
ſcher ſeine Galalivree angezogen; der Baron den
ſchwarzen Frack, in deſſen Knopfloch das Band des
Ordens, den er bei irgend einer geheimnißollen Ge¬
legenheit von irgend einem der deutſchen Duodezfürſten
bekommen hatte, und die Baronin ſelbſt ausnahms¬
weiſe eine Toilette gemacht, die ſie denn doch nur
fünf Jahre älter erſcheinen ließ, als ſie wirklich war.
Nachdem der nöthige Ballaſt von Mänteln und Shawls
für die Rückfahrt eingenommen war, und die Baronin
noch einmal vom Wagen aus Mademoiſelle Marguerite,
die, wie es Oswald ſchien, viel lieber mitgefahren
wäre, feierlich mit der Würde einer Caſtellanin belehnt
und ein kurzes Examen von zehn Minuten angeſtellt
hatte, um zu prüfen, ob die hübſche kleine Franzöſin
auch noch alle die Verhaltungsmaßregeln für gewiſſe,
genau ſtipulirte Fälle ordentlich im Kopfe habe —
ſetzte ſich das Fuhrwerk mit demjenigen Tempo in
Bewegung, welches dieſer feierlichen Gelegenheit, dem
Temperament der Braunen und den Grundſätzen des
ſchweigſamen Kutſchers entſprach. Als ſie unter der
Brücke wegfuhren, brachte Bruno, der Malten und
ein paar Bauerknaben, die im Garten Unkraut gäte¬
ten, hier poſtirt hatte, den Davonziehenden ein ſo¬
[8] lennes dreimaliges Hurrah, ein Einfall, der ſelbſt die
Lippen der Baronin zu einem Lächeln zu bewegen ver¬
mochte. Ueberhaupt war dieſe Dame, wahrſcheinlich
um ſich auf die Geſellſchaft vorzubereiten, heute in
der beſten und mittheilſamſten Stimmung. Sie fand
das Wetter herrlich, nur ein wenig zu warm, den
Weg vortrefflich, nur ein wenig zu ſtaubig; ſie freute
ſich ſchon auf die Abendkühle beim Heimwege, nur
fürchtete ſie, daß ſich bis zu der Zeit ein Gewitter
zuſammengezogen haben würde, da ihr eine Wolke am
weſtlichen Horizont ein ſehr verdächtiges Ausſehen zu
haben ſchien. Darauf wurde die Frage erörtert, ob
Fräulein Marguerite, wenn wirklich ein Gewitter aus¬
brechen ſollte — ein Fall, für den ſie keine Inſtruc¬
tionen hatte — wol die Fenſter in den Geſellſchafts¬
räumen im oberen Stock ſchließen laſſen, und über¬
haupt ihre Schuldigkeit thun würde. Da es nicht
möglich war, eine Stimmenmehrheit zu erzielen, indem
die Baronin die aufgeworfene Frage entſchieden ver¬
neinte, Oswald ſie eben ſo entſchieden bejahte, und
der alte Baron ſich keine beſtimmte Anſicht zu bilden
vermochte, ſo gab man die Debatte über dieſen Punkt
auf und ging zur Erörterung des nicht weniger wich¬
tigen Punktes über, ob ſich der Graf Grieben von
ſeinem akuten Rheumatismus wol ſo weit erholt haben
[9] würde, um an dem heutigen Zauberfeſt in Barnewitz
Theil zu nehmen, oder nicht. Von dem Rheumatis¬
mus des Grafen Griebenk kam man dann auf die
Gicht des Barons von Trantow und von dieſer ganz
allmälig in den allbekannten Familienklatſch, der unter
dem hohen und niedrigen Adel eben ſo im Schwunge
iſt, wie bei Gevatter Schneider und Handſchuhmacher,
nur daß man dort über von Hinz und von Kunz und
hier ſchlechtweg über Hinz und Kunz ſpricht. Oswald
hatte ſonſt die Gewohnheit, ſobald das Geſpräch auf
dies beliebte Thema kam, nicht länger aufzumerken,
und er hatte es in dieſer wichtigen Kunſt, zu hören
und doch nicht zu hören, während der kurzen Zeit
ſeines Aufenthaltes in Grenwitz ſchon zu einer be¬
deutenden Fertigkeit gebracht; heute aber, da er die
Perſönlichkeiten, von denen er ſchon ſo oft gehört
hatte, ſelber ſehen ſollte, war dies Thema nicht mehr
ſo ganz unintereſſant für ihn, wie ſonſt, um ſo we¬
niger als Melitta's Namen zu wiederholten Malen
genannt wurde. Er erfuhr bei dieſer Gelegenheit, daß
Herr von Barnewitz und Melitta Geſchwiſterkinder
wären, Melitta's Vater, der Bruder des alten Herrn
von Barnewitz, welcher Herrn Bemperlein die Pfarre
zugedacht hatte, Offizier in ſchwediſchen Dienſten ge¬
weſen, als ſolcher die Feldzüge gegen Napoleon mit¬
[10] gemacht und bald nach der Vermählung Melitta's mit
Herrn von Berkow geſtorben ſei.


„Uebrigens weißt Du, Grenwitz,‟ ſagte die Baro¬
nin, „Melitta wird heute nicht da ſein.“


Oswald horchte hoch auf.


„Woher weißt Du das, liebe Anna-Maria?“ ent¬
gegnete der Baron.


„Ich habe mir von dem Bedienten die Einladungs¬
liſte geben laſſen, wie ich das immer thue, um zu
wiſſen, wen man denn finden wird, und ſie ſorgfältig
durchgeleſen. Frau von Berkow war nicht darauf
verzeichnet.“


„Das wird ein Verſehen geweſen ſein.“


„Ich glaube nicht; Du weißt, Melitta und ihre
Couſine ſind gerade nicht die größten Freundinnen,
es wäre nicht das erſte Mal, daß man Melitta über¬
gangen hätte; aber dafür wird eine andere merk¬
würdige Perſönlichkeit zu finden ſein; rathe einmal,
Grenwitz.“


„Der Fürſt von P.,“ ſagte der alte Baron halb
erſchrocken, und bedauerte ſchon heimlich, nicht den
Orden ſelbſt und blos das Ordensband angelegt zu
haben, „doch nicht der Fürſt von P.?“


„Nein! Rathen Sie einmal, Herr Doctor.“


„Der Mann aus dem Monde?“


[11]

„Eine beinahe nicht weniger merkwürdige Perſon:
der Baron Oldenburg; ſein Name ſtand, wie es ſich
gehört, auf der Liſte gleich nach unſerem Namen.“


„Die Oldenburg's ſind ein alter Adel?“ fragte
Oswald, der den Sinn jener Reihenfolge ſchon ver¬
muthete.


„Die Oldenburg's ſind nach den Grenwitzen's der
älteſte Adel hier im Lande,“ ſagte die Baronin mit
einem unendlichen Selbſtgefühl. „Die Grenwitzen's
können ihren Stammbaum bis in den Anfang des
zwölften Jahrhunderts verfolgen, die Oldenburg's ſind
erſt aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo
Adalbert, der Stammvater des Geſchlechts, von dem
Kaiſer zum Reichbaron erhoben wurde.“


„Woher der Name Oldenburg?“ fragte Oswald.


„Den Oldenburg's fehlt blos die Legitimität, um heut
zu Tage ſo gut ſouverän zu ſein, wie viele Andere,
die urſprünglich auch nur reichsfrei waren, wie wir.“


„Und was macht den Baron, abgeſehen von ſeiner
erlauchten Abſtammung, zu einer ſo merkwürdigen Per¬
ſönlichkeit?“ fragte Oswald.


Die Baronin kam durch dieſe Frage einigermaßen
in Verlegenheit. Das, was in ihren Augen vor allem
merkwürdig am Baron erſchien, nämlich ſeine ſouve¬
räne Verachtung gegen Rang und Stand, ſein ſar¬
[12] kaſtiſches, höhniſches Weſen, ſeinen Standesgenoſſen
gegenüber, deren Verehrung vor ſeinem altehrwür¬
digen Adel dadurch manchmal auf eine harte Probe
geſtellt wurde — dieſer merkwürdige, ja in ihren
Augen geradezu unnatürliche Zug eignete ſich nicht
zum Gegenſtand der Unterhaltung mit einem Bürger¬
lichen. Sie begnügte ſich alſo mit der vieldeutigen
Antwort:


„Der Baron hat über die meiſten Dinge die ſon¬
derbarſten Anſichten von der Welt, ſo daß man manch¬
mal wirklich für ſeinen Verſtand bange wird.“


In dieſem Augenblick kam ein Reiter im Galopp
aus einem Seitenwege heraus und parirte ſein Pferd
vor dem vorbeifahrenden Wagen. Er war ein junger
Mann mit hübſchem, braunem Geſicht, dem ein blon¬
der Schnurrbart ſehr gut ſtand.


„Ah, gnädige Frau, Herr Baron — freue mich
unendlich,“ rief er, den Hut ziehend und an den
Wagenſchlag heranreitend — „habe in[] einer Ewig¬
keit nicht das Vergnügen gehabt —“


„Das kommt daher, mon cher,“ ſagte die Baronin
mit holdeſtem Lächeln, „weil Sie ſich ſeit einer Ewig¬
keit nicht bei uns auf Grenwitz ſehen ließen.“


„Ah, ſehr gütig, gnä—ge Fra', ſehr gütig; gnä—ge
Fra' hatten noch nicht die Gnade, mich mit dem Herrn
[13] bekannt zu machen — Baron Felix? nicht wahr?“
fuhr der Dandy fort, den Hut gegen Oswald lüftend.


„Herr Doctor Stein,“ ſagte die Baronin, „der
Erzieher meines Sohnes — Herr von Cloten —“


„Ah, ah, in der That,“ ſagte Herr von Cloten —
freue mich außerordentlich — ja, ja, was ich ſagen
wollte, gnä—ge Fra', wohin geht es? wenn man
fragen darf?“


„Nach Barnewitz —“


„Ah, wollte ebenfalls dorthin — ruhig Robin,
ruhig!“


„Aber Herr von Cloten, es iſt große Geſellſchaft,“
ſagte die Baronin, auf des Junkers Stulpenſtiefel
und Jagdrock anſpielend.


„Unmöglich, gnä—ge Fra'; Barnewitz ſagte mir
geſtern, als ich ihn zufällig traf, ich möchte zu einer
Partie Boſton hinüberkommen, aber von einer Geſell¬
ſchaft hat er kein Wort geſagt.“


„Es iſt ein Scherz von Barnewitz; verlaſſen Sie
ſich darauf.“


„Ah, ja, ſehr wahrſcheinlich; Barnewitz hat immer
ſo tolle Einfälle; ruhig Robin! — Teufelskerl, der
Barnewitz — ſich ſchon gefreut, mich in Stulpen¬
ſtiefeln in Salon treten zu ſehen — Freude ver¬
derben— Beſchwöre Sie, gnä—ge Fra', meine Herren,
[14] erzählen Sie Niemand, daß Sie mich geſehen haben.
In einer Viertelſtunde in Barnewitz. Au revoir!“


Damit warf der junge Mann ſein Pferd herum
und ſprengte in voller Carrière in der Richtung fort,
aus der er gekommen war.


Bald darauf fuhr der Wagen über einen etwas
holperigen Steindamm, der quer über den Gutshof
von Barnewitz bis zu dem kiesbeſtreuten Platze vor
dem Herrenhauſe führte.


Ein Diener trat an den Wagen, den Schlag her¬
unterzulaſſen; in der Thür erſchien die Geſtalt eines
breitſchultrigen, bärtigen Mannes, der ſchön zu nennen
geweſen wäre, wenn nicht Wohlleben und Indolenz
die Harmonie der regelmäßigen Züge weſentlich be¬
einträchtigt hätte. Es war Malitta's Vetter, Herr
von Barnewitz.


„Sie ſind die Allererſten, wie Sie ſehen,“ ſagte
er, die Gäſte in einen dreifenſtrigen Saal rechts vom
Flure führend, wo ſie von Frau von Barnewitz, einer
hübſchen Blondine, begrüßt wurden.


„Sie wiſſen, daß ich die Pünktlichkeit über Alles
liebe,“ erwiederte die Baronin, den ihr angebotenen
Platz auf dem Sopha einnehmend.


„Vortreffliche Eigenſchaft das,“ antwortete Herr
von Barnewitz, „ganz mein Grundſatz — ſtets ge¬
[15] weſen — im Leben und auf der Jagd die Haupt¬
ſache — Schnepfe aufgeſtoßen — Baff — liegt —
pünktlich — Ha —ha — ha.“


„Wie iſt es?“ ſagte die Baronin, zur Frau von
Barnewitz gewendet, „werden wir heute eine zahlreiche
Geſellſchaft haben?“


„Nun vierzig bis fünfzig höchſtens.“


„Das heißt ſo ziemlich unſer ganzer Cirkel.“


„So ziemlich, ja.“


„Und — wir ſprachen ſchon unterwegs darüber —
wird Ihre liebe Couſine erſcheinen?“


„Da müſſen Sie meinen Mann fragen, der die
Einladungen beſorgt hat.“


„Ha, ha, ha,“ lachte Herr von Barnewitz. „Köſt¬
licher Spaß, meine Herrſchaften, muß Ihnen erzählen,
bevor die Andern kommen. Sie wiſſen, daß wir mit
Melitta durch Italien reiſten, und daß ſich uns dort
der Baron Oldenburg anſchloß. Wir lebten ſehr ver¬
gnügt zuſammen — denn Oldenburg kann ſehr liebens¬
würdig ſein, wenn er will. Auf einmal war das gute
Einvernehmen zum Teufel! — entſchuldigen, gnädige
Frau — der Eine ging hier hin, der Andere dort
hin. Melitta und Oldenburg ſagten ſich nur noch
Malicen, und eines ſchönen Morgens war mein Ol¬
denburg fort — verſchwunden — Billet zurückgelaſſen:
[16] er fände die Luft in Sicilien zu drückend als an¬
gehender Schwindſüchtiger, und wollte einen kleinen
Abſtecher nach Aegypten machen. Seit der Zeit ſind
drei Jahre verfloſſen; jetzt iſt Oldenburg wieder hier;
iſt aber nur bei mir geweſen, um mir, wie er ſagte,
oder meiner Frau, wie ich ſage —“


„Aber Karl —“.


„Nun, liebe Hortenſe, unter Freunden muß ein
Scherz erlaubt ſein; alſo um uns Beiden ſeine Auf¬
wartung zu machen. Als ich ihn neulich vorläufig
einlade, ſagt er: ja, wenn Deine Couſine nicht kommt;
als ich vor ein paar Tagen Melitta begegne und ſie
frage, antwortete ſie: ja, wenn Dein Freund Olden¬
burg nicht kommt. Natürlich verſicherte ich Beiden,
daß ſie ganz ruhig ſein könnten, ſie würden dem Ge¬
genſtande ihrer Abneigung nicht begegnen. Um die
Sache noch glaublicher zu machen, ſchicke ich zwei
Kerls aus mit zwei verſchiedenen Liſten, auf deren
einer Melitta und der andern Oldenburg ſtand. Und
nun kommen ſie alle Beide, — iſt das nicht ein Haupt¬
ſpaß? — Entſchuldigen Sie, meine Herrſchaften, ich
höre ſo eben einen Wagen vorfahren.“


Allmählig füllte ſich der Saal und die daran ſto¬
ßende Flucht hoher, ſchöner Zimmer, die auf der
Hinterſeite des Hauſes wieder in einen Saal endigte,
[17] aus dem zwei Flügelthüren ein paar Stufen hinab
in den Garten führten, mit Gäſten.


Oswald hatte ſich, nachdem er einigen Herren
und Damen vorgeſtellt war, die ſeine Verbeugung
mit jener kühlen Höflichkeit erwiederten, deren ſich
der Adlige gegen einen Bürgerlichen, noch dazu in
der untergeordneten Stellung, die er in den Augen
dieſer Leute einnahm, ſtets befleißigt, in eine der
Fenſterniſchen des Saales geſtellt, von wo aus er die
Ankommenden draußen und die Geſellſchaft drinnen
zugleich beobachten konnte. Ein junger Mann mit
einnehmenden hübſchen Zügen und blauen freundlichen
Augen geſellte ſich zu ihm.


„Ich habe das Vergnügen, mit Herrn Doctor
Stein zu ſprechen?“ Oswald verbeugte ſich.


„Mein Name iſt von Langen. Ich höre, daß Sie
während der letzten Jahre in Berlin ſtudirten. Haben
Sie dort vielleicht die Bekanntſchaft eines Herrn P.
gemacht? Er war Philolog und von der Schule her
mein ſehr intimer Freund; es intereſſirt mich ſehr,
zu erfahren, was aus ihm geworden iſt.“


Zufällig kannte Oswald den Betreffenden, und
konnte ſo Herrn von Langen die gewünſchte Auskunft
geben. Die aufrichtige Theilnahme, die dieſer junge
Mann für einen Menſchen an den Tag legte, der,
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 2[18] wie Oswald wußte, außer vortrefflichen Anlagen und
einem raſtloſen Fleiß keine anderen Empfehlungen auf
Erden hatte, machte auf Oswald einen ſehr angenehmen
Eindruck. Er ſah es daher, trotz ſeiner inneren Un¬
ruhe, nicht ungern, daß Herr von Langen große Luſt
zu haben ſchien, das angefangene Geſpräch fortzuſetzen;
auch that es ihm wohl, in dieſer Menge unbekannter
Menſchen Einen zu haben, der ſeine Bekanntſchaft
geſucht hatte.


„Wie wär's, Herr von Langen,“ ſagte er nach
einigem Hin- und Herreden, „wenn Sie mir für die
gute Auskunft, die ich Ihnen über einen Abweſenden
geben konnte, Auskunft über einige Anweſende gäben.
Wer iſt zum Beiſpiel der alte Herr dort im blauen
Frack mit den weißen Haaren und dem rothen Geſicht,
der ſo entſetzlich ſchreit, als ob er ſich Jemand, der
auf der andern Seite eines toſenden Wildbachs ſteht,
verſtändlich machen wollte?“


„Das iſt Graf Grieben, einer unſerer reichſten
Edelleute. Sie kennen doch die hübſche Anecdote, die
ihm vor einigen Jahren mit dem Landesherrn paſ¬
ſirt iſt?“


„Nein, wollen Sie ſie mir erzählen?“


„Der Landesherr beſucht auf einer Reiſe die nahe
Hafenſtadt. An der Landungsbrücke, wo ſich die
[19] Spitzen der Behörden, der Adel und ſo weiter zu
ſeinem Empfange eingefunden haben, hält des Grafen
mit ſechs herrlichen Braunen beſpannte Equipage, auf
jedem der Sattelpferde ein Jockey in der gräflichen
Livree. Der König bewundert die ſchönen Thiere.
„Alles eigene Zucht, Majeſtät,“ ſchreit der Graf mit
einer kühnen Handbewegung. „Die Jockeys auch?“
antwortet der witzige Monarch.“


„Nicht übel,“ ſagte Oswald, „und wer iſt die
große ſtarke Dame mit den männlich-kühnen Zügen,
die eben mit den drei ſchönen Mädchen in den Saal
tritt?“


„Eine Baronin von Nadelitz mit ihren Töchtern.
Sie iſt eine Katharina von Rußland im Kleinen. Ur¬
ſprünglich hütete ſie die Gänſe des Barons, ihres
nachherigen Gemals. Sie ſoll ſo wunderbar ſchön
geweſen ſein, daß ſich jeder Mann in ſie verlieben
mußte, und dabei ſo guten Herzens, daß nicht leicht
Jemand, ohne gehört zu werden, von ihr ging. So
ſoll die Ehe nicht die glücklichſte geweſen ſein.“


„Die Töchter ſind auf alle Fälle ſehr hübſch,“
ſagte Oswald. „Der Baron iſt alſo todt?“


„Ja; ſeitdem hat ſie, wie man zu ſagen pflegt, die
Hoſen angezogen, das heißt diesmal in des Wortes
ernſteſter Bedeutung. Ich ſelbſt habe ſie in Stulpen¬
2*[20] ſtiefeln und Inexpreſſibeln mit ihrem Inſpector auf
einem Felde gehen ſehen, auf dem man bei jedem
Schritt bis über die Knöchel einſank.“


„Wer ſind die beiden hübſchen Mädchen, die eben
Arm in Arm durch den Saal kommen?“


„Emilie von Breeſen und Lisbeth von Meyen; ſie
ſind erſt letzte Oſtern eingeſegnet, und tragen, ſo viel
ich weiß, heute zum erſten Mal lange Kleider. Soll
ich Sie vorſtellen?“


Oswald antwortete nicht; denn in dieſem Augen¬
blick ging die Thür auf und von Herrn von Barne¬
witz begleitet, deſſen Geſicht in der Erwartung der
von ihm ſo fein eingefädelten Ueberraſchung vor Freude
glänzte, trat ein Mann in den Saal, deſſen Erſchei¬
nung offenbar einige Senſation erregte. Die laute
Stimme des Grafen Grieben verſtummte, einzelne
Herren ſteckten die Köpfe zuſammen, und in dem Kreiſe
der Damen um Frau von Barnewitz auf dem Sopha
wurde es verhältnißmäßig ſtill. Der Ankömmling war
ein Mann von hohem, aber allzu ſchlankem Wuchs,
deſſen äußerſt nachläſſige Haltung das Mißverhältniß
zwiſchen Höhe und Breite nur noch mehr hervortreten
ließ. Auf dem langen Leibe ſaß ein kleiner Kopf,
deſſen wohlgerundeter Schädel mit einem kurzen, ſtar¬
ren, ſchwarzen Haar bedeckt war. Ein Bart von der¬
[21] ſelben Beſchaffenheit zog ſich um Kinn und Wangen
und Mund, ſo daß nur die obere Hälfte ſeines Ge¬
ſichts dem Phyſiognomen zur ungehinderten Beobach¬
tung blieb. Aber auf dieſer Hälfte ſtand ſchon des
Räthſelhaften genug. Die Stirn war eher hoch als
breit, aber von außerordentlich zarten und zugleich
kühnen Linien umſchrieben. Ein Paar wie mit dem
Pinſel gezeichnete Brauen zogen ſich in einer leichten
Krümmung über einem Paar grauer Augen hin, deren
Ausdruck in dieſem Momente wenigſtens, wo ſie raſch
über die Verſammlung flogen, mindeſtens nicht an¬
genehm war, eben ſo wenig wie das Lächeln, das
wie Wetterleuchten an der feinen, geraden Naſe mit
den beweglichen Flügeln hinzuckte, und des Mannes
ganze Antwort auf das luſtige Geſchwätz zu ſein ſchien,
mit dem Herr von Barnewitz ihn überſchüttete, wäh¬
rend er ihn von der Thür bis zu dem Platze der
Dame vom Hanſe auf dem Sopha begleitete. Frau
von Barnewitz erhob ſich, den Ankömmling zu be¬
grüßen, der ihr die Hand küßte und nach einer leichten
Verbeugung gegen die anderen Damen ſich auf einen
leeren Stuhl neben ihr ſinken ließ und alsbald, ohne
die Uebrigen weiter zu beachten, eine lebhafte Unter¬
haltung mit ihr begann.


Oswald hatte den Ankömmling mit dem Auge des
[22] Indianers, der den Spuren ſeines Todfeindes nach¬
ſpürt, beobachtet, denn er hatte auf den erſten Blick
jenen Reiter wieder erkannt, der ihm und Bemperlein
im Walde begegnete. Es war Baron Oldenburg.


„Nun geben Sie Acht,“ ſagte Herr von Barnewitz,
auf Oswald zutretend und ſich vergnügt die Hände
reibend.


„Ich bin ganz Auge,“ ſagte Oswald mit einem
nicht eben ſehr natürlichen Lächeln.


„Worauf ſollen Sie Acht geben?“ fragte Herr
von Langen, während Barnewitz ſich zu einer andern
Gruppe wandte.


„Herr von Barnewitz hatte die Güte gehabt, mich
auf Baron Oldenburg, der eben eintrat, als auf einen
höchſt intereſſanten Mann aufmerkſam zu machen.“


„Ah, iſt das Oldenburg,“ ſagte Herr von Langen,
„ich kannte ihn noch nicht.“


Da fuhr ein Wagen vor und Oswald erkannte in
der Dame, die ausſtieg, Melitta. Es war ein Glück
für ihn, das Herr von Langen in dieſem Augenblicke
die Sopharegion lorgnettirte, denn er hätte unmöglich
ſeine Aufregung verbergen können. Die paar Minuten,
die Melitta in dem Toilettenzimmer zubrachte, erſchienen
ihm wie eine Ewigkeit. Endlich trat ſie durch die
offene Thür herein, und Oswald ſchien plötzlich der
[23] ganze Saal mit Licht und Roſen angefüllt. Melitta
trug ein weißes Kleid, das Buſen und Schultern
züchtig verhüllte, und den ſchlanken, ſchönen Hals in
einer leichten Krauſe umſchloß. Ein Shawl lag leicht
auf den runden Schultern. Eine dunkelrothe Camelie
im Haar, das war ihr ganzer Schmuck. Aber welches
Schmuckes bedarf Schönheit und Anmuth — und
Melitta's Erſcheinung war ſo ſchön und anmuthig,
daß ihr Eintreten eine noch größere Senſation erregte,
als Oldenburg's. Die älteren Herren unterbrachen
ihr Geſpräch, ſie mit Herzlichkeit zu begrüßen; einige
jüngere Herren eilten ihr entgegen, um womöglich
den zweiten Walzer, die erſte Polka — nur einen
Tanz, gleich viel welchen, zu erbetteln, und ſie lächelte
Alt und Jung freundlich zu, beantwortete hier eine
Frage, verwies dort einen Stürmiſchen zur Geduld —
während ſie quer durch den Saal nach dem Sopha
ging, ſich den andern Damen anzuſchließen. Baron
Oldenburg war, als Frau von Barnewitz aufſtand,
ihrer Couſine entgegenzugehen, ruhig, und ohne ſich
nach dem Gegenſtand der allgemeinen Senſation umzu¬
ſehen, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt, ſitzen
geblieben. Da mußte Melitta's Name, von einer der
Damen am Sopha ausgeſprochen, ſein Ohr getroffen
haben; denn er ſprang in die Höhe, wandte ſich um
[24] — und ſtand Melitta, die von ihrer Couſine an der
Hand geführt wurde, Angeſicht gegen Angeſicht gegen¬
über. Oswald war wie von einer magnetiſchen Kraft
aus der Fenſterniſche bis nahe an die Stelle gezogen
worden, ſo daß ihm kein Wort, kein Blick entging.
Er ſah, daß Melitta erblaßte und ihre dunkeln Augen
wie im Zorn aufflammten, als Oldenburg ſich tief
vor ihr verbeugte.


„Ah, gnädige Frau,“ ſagte er mit einem eigen¬
thümlichen Lächeln: „als wir uns zuletzt ſahen, ſchien
uns die Sonne Siciliens, und jetzt“ —


„Scheint der Mond — wollen Sie ſagen,“ ent¬
gegnete Melitta, und um ihre Lippen ſpielte ein höhniſch¬
bitterer Zug, den Oswald noch nicht an ihr geſehen
hatte — „umgekehrt, lieber Baron, als wir uns zu¬
letzt ſahen, ſchien der Mond; wiſſen Sie wohl noch
in dem Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo?
— und da wir uns wiederſehen, ſcheint die Sonne
— mir wenigſtens.“


Der Sinn dieſer letzten Worte mußte wohl Jedem
verborgen bleiben, nur nicht dem, für welchen ſie ge¬
ſprochen waren. Melitta hatte, indem ſie ſich halb
umwandte, Oswald bemerkt, und ihm ſo freundlich
zugelächelt, daß Herr von Barnewitz, der neben ihm
ſtand, ſich an der Ueberraſchungsſcene, die er ſo mühſam
[25] arrangirt hatte, zu weiden, ihn fragte: „Kennen Sie
meine Couſine ſchon?“


„Ja,“ ſagte Oswald, von ihm weg auf Melitta
zutretend, und ſie ehrfurchtsvoll begrüßend.


„Ah! Herr Doctor,“ rief Melitta mit vortrefflich
geſpielter Ueberraſchung, „das iſt ja köſtlich, daß ich
Sie hier finde. Denken Sie, Bemperlein hat ſchon
geſchrieben, Julius befindet ſich ſehr wohl — aber
ſetzen Sie ſich doch zu mir, daß ich Ihnen in aller
Muße erzählen kann — Julius befindet ſich vortrefflich
— und iſt in den fünf Tagen, wie Bemperlein ſchreibt,
ein vollkommener Dandy geworden. Er hat ſchon
einen großen Kinderball mitgemacht und mit der
ſchönſten Dame, das heißt, derjenigen, die ihm am
beſten gefiel, den Cotillon getanzt, den Cotillon —
merken Sie wohl! trotz des heftigen Widerſpruchs
von einem halben Dutzend junger Herren.“


„Der Unglückliche,“ lachte Oswald; „er wird ſich
dadurch eben ſo viele Duelle zugezogen haben.“


„Möglich, aber Sie wiſſen, Julius iſt tapfer, wie
ein Löwe, und wird für die Dame ſeines Herzens
Alles wagen. — Ah, Herr von Cloten! Sind Sie es
wirklich? Ich hörte ja, Sie und Robin hätten ſich
auf der letzten Fuchsjagd die Hälſe gebrochen!“


Quelle idée, gnä'ge Fra! Jedenfalls wieder Er¬
[26] findung von Barnewitz. Teufelskerl der Barnewitz!
Befinde mich vortrefflich. Ah! ja — wollte gnä'ge
Fra um einen Tanz bitten, wo möglich Cotillon.
Muß noch einen Verſuch machen, ob gnä'ge Fra nicht
bewegen kann, mir den Brownlock zu verkaufen.“


Non, mon cher, zu dieſem liebenswürdigen
Zweck bekommen Sie keinen Tanz, am wenigſten den
Cotillon. Wenn Sie mir aber den Brownlock in
Frieden laſſen wollen, ſo ſollen Sie den erſten Con¬
tretanz haben. Zum Cotillon bleibe ich ſo wahr¬
ſcheinlich nicht hier. Sind Sie zufrieden?“


„Ah! gnä'ge Fra — zufrieden! quelle idée!
glücklich — ſelig.“


„Mein Gott, Herr von Cloten, beruhigen Sie
ſich nur. Haben Sie ſchon ein vis-à-vis?


„Nein! gnä'ge Fra — gleich ſuchen!“


„Hier, bitten Sie den Doctor Stein — Erlauben
die Herren, daß ich Sie —“


„Ah, hatte ſchon das Vergnügen,“ ſagte der
Dandy, Oswald, der einen Schritt von ihm entfernt
geſtanden hatte, ſcheinbar zum erſten Male bemerkend.


„Deſto beſſer,“ ſagte Melitta — „die Herren
ſind alſo einig?“


Von Cloten und Oswald verbeugten ſich gegen¬
einander, und dann vor Melitta, die ſie mit einer
[27] graziöſen Handbewegung verabſchiedete, um ſich mit
den zunächſt ſitzenden Damen in ein tiefſinniges Ge¬
ſpräch über die neueſten Moden einzulaſſen.


Oswald war wieder zu Herrn von Langen getreten,
der ihm zu der Bekanntſchaft mit Melitta gratulirte:
„Ich bewundre Sie,“ ſagte der junge Mann, „daß
Sie ſo ungenirt mit ihr ſprechen können; ich hätte
nicht den Muth dazu.“


„Sie ſcherzen.“


„Auf Ehre, nein. Die Frau hat etwas in ihrem
Blick und in ihrer Stimme, was einem um das Heil
ſeiner Seele bange machen möchte. Ich weiß, es
geht mir nicht allein ſo.“


„Vielleicht bin ich um das Heil meiner Seele
weniger bekümmert,“ ſagte Oswald.


Unterdeſſen hatte Oldenburg, während er ſich un¬
befangen mit einigen Herren zu unterhalten ſchien,
in einem hohen Spiegel die Gruppe um Melitta
genau beobachtet.


„Sieh da, Cloten! wie geht's, mon brave!“ ſagte
er, ſich ſchnell zu dem Angerufenen umwendend, als
dieſer in ſeine Nähe kam.


„Baron Oldenburg! Auf Ehre, hätte Sie kaum
erkannt mit dem horribeln Bart.“


„Horribel, mon cher! Machen Sie mich nicht
[28] unglücklich; ich pflege ihn nun ſchon drei Jahre und
habe ihn mich wenigſtens eine Million koſten laſſen.“


„Ah, Spaß,“ ſagte der Dandy, ſeinen blonden
Schnurrbart ſtreichend.


Upon my word and honour,“ ſagte Olden¬
burg; „die Sache iſt einfach die: Ich lernte in Kairo
eine engliſche Familie kennen, mit der ich noch mehr¬
mals auf dem Nil zuſammentraf; ich war ſo glücklich,
ihr einige nicht unweſentliche Dienſte leiſten zu können.
Die Familie beſtand aus Vater, Mutter und einer
einzigen Tochter — aber welcher Tochter! mon cher,
ich ſage Ihnen —“


„Ah, ja, verſtehe!“ ſagte Herr von Cloten; „reines
Vollblut. Dieſe engliſchen Miſſes jottvoll — ſchön —
ſah mal eine in Baden-Baden, werde mein Lebtag
nicht vergeſſen.“


„Gerade ſo ſah meine Mary auch aus,“ ſagte
Oldenburg.


„Nicht möglich!“


„Verlaſſen Sie ſich darauf. Alle engliſchen Miſſes
gleichen ſich wie eine Lilie der andern. Eh bien!
Das Mädchen verliebt ſich in den Retter ihres Lebens.
Der Vater iſt mir geneigt, die Mutter günſtig. Ich
war zwar kein Millionär, wie Mr. Brown, dafür
war er aber auch nur ein in Ruheſtand getretener
[29] Eiſenhändler; und ich ein alter deutſcher, weiland
reichsfreier Baron. Genug, wir werden Handels einig.
Da ſagt Mary eines Abends — es iſt mir, als wäre
es heute — wir ſaßen im Mondenſchein auf der Ter¬
raſſe des Tempels von Philä und blickten träumend
über den ſtillen Fluß und leerten Tropfen um Tro¬
pfen den diamantengeränderten Becher der Liebe. Da
ſagte ſie, ihre weichen Arme um mich ſchlingend, —
o Gott, wie deutlich ich noch immer dieſe Stimme
höre! — Adalbert, ſagte ſie. — Was, Holde? ſagte
ich. — Adalbert, pray, dearest love, cut off your
horrible beard — it's so vulgar.“


„Ah, ja, jottvoll, jottvoll — dieſe engliſchen Miſſes;
aber was heißt's denn eigentlich?“


„Es heißt: Adalbert, mein Junge, laß Dir den
„Bart ſcheeren; Du ſiehſt ſchauderhaft gemein darin aus.“


„Verdammt.“


„Das ſagte auch ich. Sie bat, ſie beſchwor mich;
endlich lag ſie ſogar vor mir auf den Knieen. Ich
blieb feſt, wie der Koloß Memnons. Da ſprang ſie
empor, und ſich bewaffnend mit dem ganzen Stolze
Englands, die Hand zum ſternengeſchmückten Himmel
erhebend, rief ſie: „Sir, either you will cut off
your beard, or I must cut your acquaintance.


„Then, cut my acquaintance!“ ſagte ich.


[30]

„Famos,“ ſagte von Cloten; „was ſagte ſie?“


„Mein lieber Herr,“ ſagte ſie, „Sie ſcheeren ſich
entweder den Bart, oder Sie ſcheeren ſich zum Teufel.“


„Verdammt; und Sie?“


„Ich ſagte: Fräulein, ich habe geſchworen, daß
ich das Weib verachten und mit dem Mann auf Leben
und Tod kämpfen will, der mir mit Worten oder in
Wirklichkeit an meinem Barte zupft.“


„Merkwürdig; das Alles ſagten Sie in den drei
Worten?“


„Ja, die engliſche Sprache, wiſſen Sie, iſt wun¬
derbar kurz. Apropos, wer iſt denn der junge Mann,
mit dem Sie vorhin ſprachen, er ſteht jetzt dort an der
Thür zum andern Zimmer mit dem alten Grenwitz.“


„Ja, rathen Sie einmal!“


„Wie kann ich das rathen? Ich vermuthe, daß
es Felix von Grenwitz, ſein Neffe, iſt.“


„So dachte auch ich. Und nun denken Sie, cher
Baron
, der Menſch iſt ein Bürgerlicher, heißt Stein,
Doctor Stein, glaube ich, und iſt, nun rathen Sie
einmal!“


„Nach dem Entſetzen, das ſich in Ihren Zügen
malt, zu ſchließen, vermuthe ich, daß der junge Mann
der Scharfrichter von Bergen iſt.“


„Scharfrichter! Quelle idée! Welch' ſonderbare
[31] Einfälle Frau von Berkow und Sie immer haben.
Nein — Hauslehrer bei Grenwitz — iſt das nicht
wunderbar?“


„Ich kann nichts beſonders Wunderbares in der
Sache finden. Es muß auch Hauslehrer geben, wie
es Arbeiter in den Arſenikgruben geben muß, obgleich
ich für mein Theil weder das Eine noch das Andere
ſein möchte.“


„Aber der Menſch ſieht beinahe genteel aus?“


„Beinahe genteel? Lieber Freund, er ſieht nicht
nur beinahe genteel aus, ſondern ausnehmend genteel,
genteeler wie irgend einer der Herren hier im Saale,
Sie ſelbſt und mich nicht ausgenommen.“


„Ah, Baron, Sie ſind heute einmal wieder in
einer jottvollen Laune.“


„Meinen Sie? freut mich. Das verhindert mich
indeſſen nicht, den Mann ausnehmend genteel aus¬
ſehend zu finden. Ja, was in Ihren Augen wol noch
mehr iſt, er hat nicht nur das Charakteriſtiſche, wel¬
ches die gebornen Vornehmen auf der ganzen Erde
auszeichnet, ſondern den ſpeciellen Typus des Adels
dieſer Gegend.“


„O, in der That, ich denke Typus iſt eine Krankheit.“


„Typhus, mon cher! Typus iſt, wenn mehre Leute
dieſelben Naſen, Stiefel, Augen und Handſchuhe haben.
[32] Nun ſehen Sie ſelbſt, ob nicht Alles und noch mehr
bei dieſem Doctor Stein ſtimmt; zum Beiſpiel im
Vergleich mit Ihnen, der Sie doch gewiß alles Spe¬
cifiſche des Adels in der höchſten Potenz in und an
ſich entwickelten. Er iſt ſchlank und gut gewachſen,
wie Sie, nur einen halben Kopf höher und ein paar
Zoll breiter in den Schultern, er hat daſſelbe hell¬
braune gelockte Haar, nur daß Sie ſich Ihre Haare
entſchieden brennen laſſen und die ſeinen, wie mir
ſcheint, natürlich gelockt ſind; er hat blaue Augen,
wie Sie, und Sie werden ſelbſt zugeben, daß dieſe
Augen groß und ausdrucksvoll ſind.“


„Ah, ja, — ich gebe zu, daß er ein verdammt
hübſcher Kerl iſt,“ ſagte der ärgerliche Dandy, einen
ſchelen Blick auf den Gegenſtand ſeiner unfreiwilligen
Bewunderung werfend.


„Nun, und was ſein Auftreten anbelangt,“ fuhr
Oldenburg fort, „ſo gäbe ich meinestheils eins meiner
Güter darum, wenn ich mich mit dieſem Anſtande,
dieſer Grazie bewegen könnte.“


„Das iſt ſtark, weshalb?“


„Weil die Weibſen in einen ſchmalen Fuß, ein
wohlgeformtes Bein und ſo weiter vernarrt ſind.
Solche hübſche Puppen, wie der Doctor, ſind geborne
[33] Alexander; ſie ſtiegen von einer Eroberung zur andern
und ſterben auch meiſtens jung zu Babylon.“


„Gott, Baron, welch' liebenswürdiger Menſch Sie
ſein würden, wenn Sie nur nicht ſo ſchauderhaft ge¬
lehrt wären!“


„Meinen Sie? Möglich! Es iſt ein Erbfehler;
meine ſelige Mutter hat während ihrer Schwanger¬
ſchaft außer dem Rennkalender des betreffenden Jahres
auch noch, einen oder den andern Roman geleſen. So
erklären ſich die paar menſchlichen Züge in meiner
Natur.“


„Wollt Ihr Herren meine neuen Piſtolen mit
einſchießen helfen?“ fragte Herr von Barnewitz, der
eben herantrat.


„Ich denke, es ſoll getanzt werden,“ antwortete
Cloten.


„Später. Du kommſt doch mit, Oldenburg?“

„Verſteht ſich! Du kennſt ja meinen Wahlſpruch:
aux armes, citoyens!“


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 3
[[34]]

Zweites Kapitel.

Die jetzt vollſtändig verſammelte Geſellſchaft hatte
ſich allmälig aus den Zimmern in den Garten be¬
geben, da der herrliche Sommernachmittag unwider¬
ſtehlich ins Freie lockte. Die älteren Herren und
Damen promenirten in den ſchattigen Gängen, oder
beſichtigten die prächtigen Gewächshäuſer; die jungen
Leute ſuchten auf einem ſchönen runden Raſenplatze,
der zum Theil von hohen breitkronigen Bäumen über¬
ſchattet war, geſellſchaftliche Spiele zu arrangiren, aus
einer Ecke des Parkes, wo ein Schießſtand eingerichtet
war, ertönte von Zeit zu Zeit der ſcharfe Knall der
neuen Piſtolen. Melitta hielt ſich, eingedenk der alten
Regel, daß der Ruf junger Frauen in der Geſellſchaft
von den alten Damen gemacht wird, und wohl wiſſend,
daß ſie die Freiheiten, die ſie ſich während des Balls
zu nehmen gedachte, durch einige vorhergehende Opfer
erkaufen müſſe, in der Geſellſchaft der Gräfin Grie¬
[35] ben, der Baronin Trantow, der Frau von Nadelitz,
der Baronin Grenwitz und der andern ältern Damen.
Oswald hatte ſich zuerſt der Jugend angeſchloſſen,
bei der ihn Herr von Langen einführte, und mit einigen
Reminiscenzen aus den Geſellſchaften in der Reſidenz
und einigen geſchickten Combinationen verſchiedene ge¬
ſellſchaftliche Spiele befürwortet und arrangirt, die
mit allgemeinem Beifall angenommen und mit ſicht¬
licher Zufriedenheit der Theilnehmer ausgeführt wur¬
den. Als er aber ſah, daß Melitta, gegen ſeine Hoff¬
nung, ſich durchaus nicht in den Kreis der Spielenden
miſchen wollte, benutzte er eine ſchickliche Gelegenheit,
ſich ſelbſt aus demſelben zurückzuziehen. Herr von
Langen war ihm gefolgt und holte ihn in einem Hecken¬
gange ein, wo Oswald ſich der harmloſen Beſchäf¬
tigung des Stachelbeerpflückens hingab.


„Gott ſei Dank,“ ſagte Herr von Langen, Oswalds
Beiſpiele folgend und einen Johannisbeerbuſch, der
voll dunkelrother Früchte hing, plündernd. „Dem
Unheil wären wir glücklich entronnen. Fluch dem
Erſten, der geſellſchaftliche Spiele erfand. Sind die
Stachelbeeren reif?“


„Köſtlich.“


„Sie müſſen mich auf jeden Fall in nächſter Zeit
beſuchen. Mein Gut liegt nur ein Stündchen von
3*[36] Grenwitz. Meine Frau, die mich erſt vor ein paar
Wochen mit einem allerliebſten kleinen Mädchen be¬
ſchenkt hat, und ſich noch nicht kräftig genug fühlt,
ſo große Geſellſchaften mitzumachen, wird ſich freuen,
Sie kennen zu lernen. Wenn Sie mir einen Tag
beſtimmen wollen, ſchicke ich Ihnen meinen Wagen.“


„Ich nehme Ihre Einladung mit Dank an,“ ſagte
Oswald, der ſich einigermaßen durch die liebenswür¬
dige Freundlichkeit eines Mannes aus dem von ihm
ſo ſehr gehaßten Stande beſchämt fühlte. „Sollen wir
ſagen, nächſten Sonntag?“


„Sie ſind jeder Zeit willkommen; wenn Sie die
Knaben mitbringen wollen, thun Sie es ja; ich habe
ein Paar Ponys, die den Jungen beſſer gefallen wer¬
den, als Cornel und Ovid zuſammen. — Ach, Herr
des Himmels! Incidit in Scyllam, qui vult vitare
Charybdim
! Dort biegt die Gräfin Grieben an der
Spitze ihrer Suite um die Ecke. Sauve qui peut!“


Die jungen Männer ſchlugen einen andern Gang
ein, der den erſten rechtwinklig durchſchnitt, und waren
bald den herankommenden Damen aus den Augen.
Oswald ſeinerſeits wäre eben ſo gern geblieben, denn
er hatte in der „Suite“ auch Melitta bemerkt und
gehofft, wenigſtens im Vorübergehen einen Blick von
ihr zu erhaſchen; aber er hielt es für ſeine Pflicht,
[37] gute Kameradſchaft mit ſeinem neuen Freunde zu
halten, der ihm im Laufe des Nachmittags ſchon mehr
als eine Gefälligkeit erwieſen hatte.


„Sie ſcheinen die Geſellſchaft nicht beſonders zu
lieben, Herr von Langen,“ ſagte er lächelnd über die
Eilfertigkeit des jungen Mannes.


„Die große Geſellſchaft — nein! Ich bin in faſt
abſoluter Einſamſeit aufgewachſen. Mein Vater, der
nicht eben reich war, ſchloß ſich in dem Intereſſe
ſeiner Kinder von dem geſelligen Leben des hieſigen
Adels faſt gänzlich ab. Hernach kam ich auf die
Schule. Ich hätte gern ſtudirt; aber der Vater be¬
durfte meiner für die Wirthſchaft, welche er bei zu¬
nehmendem Alter nicht mit derſelben Rüſtigkeit leiten
konnte; ſo mußte ich denn von der Schule abgehen,
als ich ein Jahr in Prima geſeſſen hatte. Seitdem
iſt der gute Vater geſtorben und ich habe die paterna
rura
, die ich für mich und meine jüngern Geſchwiſter
verwalte, kaum verlaſſen. Sind Sie Jäger?“


„Nein, ich habe bis jetzt nicht die mindeſte Ge¬
legenheit gehabt, die Nimrodnatur, die möglicherweiſe
in mir ſchlummert, zu cultiviren.“


„Ah, das iſt ſchade; aber das lernt ſich — wir
haben eine recht hübſche Hühner- und Haſenjagd.
Sie ſollten vorläufig etwas mit der Piſtole ſchießen.
[38] Man lernt dabei viſiren und bekommt eine ſichere
Hand.“


„Nun mit Piſtolenſchießen habe ich im Leben leider
ſchon beinahe zu viel Zeit verbracht,“ antwortete Os¬
wald. „Mein Vater, ein Sprachlehrer und im Uebri¬
gen ſehr friedfertiger Mann, hatte eine wahre Leiden¬
ſchaft für das Piſtolenſchießen; es war ſeine einzige
Erholung. Er ſchoß, wie ich nie im Leben wieder
Jemand habe ſchießen ſehen, mit einer faſt wunder¬
baren Geſchicklichkeit. Ich habe nie den Grund dieſer
ſeltſamen Leidenſchaft erfahren können. Einmal fiel
es mir ein, ihn zu fragen, wie er dazu gekommen ſei?
Ich werde den Ton nie vergeſſen, in welchem er mir
antwortete: Es gab eine Zeit, wo ich hoffte, mich
durch eine Kugel an einem Manne rächen zu können,
der mich tödtlich beleidigt hatte. Als ich meines
Zieles vollkommen ſicher war — ſtarb der Mann.
Seitdem ſchieße ich in Gedanken auf ihn; jedes Aß,
das meine Kugel trifft, iſt ſein falſches, grauſames
Herz. Ich drang in ihn, mir den Mann zu nennen.
„Das kann ich nicht,“ antwortete er; „aber wenn
Du Dir auch etwas bei der Sache denken willſt,
nimm an, jedes Aß ſei das Herz irgend eines belie¬
bigen Adligen.“


Mon Dieu!“ ſagte Herr von Langen; „und
[39] haben Sie dieſen fanatiſchen Haß Ihres Vaters gegen
meinen Stand geerbt?“


„Nur zum Theil,“ ſagte Oswald, „ebenſo wie ich
auch nur einen Theil ſeiner Fertigkeit mit der Piſtole
geerbt habe. — Wollen wir einen Augenblick nach dem
Schießſtande gehen? ich höre an dem Knall, daß wir
ganz in der Nähe ſein müſſen.“


„Bravo, bravo!“ erſchallte es von dem Schie߬
ſtande herüber. „Cloten, ich parire auf Sie.“


„Ich parire auf Breeſen,“ rief eine andere
Stimme.


Sie fanden auf dem Schießplatze ein halbes Dutzend
Herren etwa, alle in größtem Eifer, mit Ausnahme
des Baron Oldenburg, der, die Hände in den Taſchen
ſeiner Beinkleider, an einen Baum gelehnt, die Schützen
beobachtete, und Strophen aus der Marſeillaiſe dazu
zwiſchen den Zähnen ſummte.


„Bravo, Cloten, wieder Centrum — der Kerl
ſchießt verteufelt,“ ſchallten die Stimmen durchein¬
ander.


„Hat ſonſt Jemand von den Herren Luſt zu
pariren?“ ſagte Herr von Cloten, mit einem wunder¬
bar ſelbſtgefälligen Lächeln ſich umſehend.


„Ich, wenn Sie erlauben,“ ſagte Oswald.


[40]

„Sie?“ erwiderte der Dandy mit einem Blick
ſprachloſen Erſtaunens.


„Ich parire einen Louis auf den Herrn,“ ſagte
Baron Oldenburg grinſend. „Wer hält?“


„Ich, ich!“ riefen mehrere Stimmen.


„Ich halte Alles,“ ſagte Oldenburg, dem die
Sache einen köſtlichen Spaß zu machen ſchien.


„Unſer Einſatz iſt bisher ein Thaler geweſen; es
iſt Ihnen doch recht?“ ſagte Herr von Cloten zu
Oswald.


„Natürlich.“


„Aber Doctor Stein kennt die Piſtolen nicht,“
rief von Langen, „und Cloten muß ſich bereits voll¬
ſtändig eingeſchloſſen haben. Die Partie iſt ungleich.“


„Wenn nur mein Geld auf dem Spiele ſtände,“
ſagte Oswald, „ſo würde ich den Verſuch wagen.
Da aber auf mich gewettet iſt, ſo möchte ich bitten,
mir vorher einen Schuß zu erlauben.“


„Natürlich,“ rief Herr von Breeſen; „das ver¬
ſteht ſich von ſelbſt,“ Herr von Barnewitz.


„Wird nicht viel helfen,“ ſagte von Cloten leiſe
zu einem Andern.


„Sehen Sie den Tannenzapfen dort, Herr von
Langen?“ ſagte Oswald, nachdem ihm eine geladene
[41] Piſtole gereicht war, „den an dem äußerſten Ende
des Zweiges.“


„Ja, aber das iſt mindeſtens funfzig Fuß.“
„Thut nichts. Dieſe Piſtolen ſcheinen mir noch
auf weitere Diſtancen einen ſichern Schuß zu er¬
lauben.“


Oswald hob die Piſtole. Aller Augen waren ge¬
ſpannt auf den Tannenzapfen gerichtet.


„Ja ſo,“ ſagte Oswald, die erhobene Piſtole
ſinken laſſend. „Wollen Sie nicht die Güte haben,
Herr von Barnewitz, mich dem Herrn vorzuſtellen,
der ein ſo günſtiges Vorurtheil für meine ſehr frag¬
liche Fertigkeit im Schießen an den Tag gelegt hat.“


„Hatte ganz vergeſſen; bitte um Entſchuldigung.
Baron Oldenburg — Doctor Stein.“


„Ah, Baron Oldenburg!“ ſagte Oswald, mit der
linken Hand den Hut abnehmend. „Sie ſehen doch
den Tannenzapfen, Herr Baron.“


„Vollkommen deutlich,“ ſagte Oldenburg, ſich
höflich verbeugend.


Oswald hob die Piſtole wieder, zielte eine Se¬
cunde — der Tannenzapfen kam in Stücken zur Erde.


„Famos!“ ſchrie Herr von Barnewitz; „Cloten,
Du findeſt Deinen Meiſter.“


[42]

Nous verrons,“ ſagte Herr von Cloten. „Sie
haben den erſten Schuß, Herr Doctor.“


Oswald nahm die andere Piſtole, und ſchoß, ohne
ſcheinbar auch nur zu zielen.


„Centrum!“ ſchrie der Bediente an der Scheibe
eine Reverenz nach dem Schützen machend, bevor er
das Loch mit einem Pflaſter verklebte.


„Cloten, zahlen Sie Reugeld!“ rief Oldenburg,
mit dem Gelde in ſeiner Taſche klappernd.


„Centrum!“ ertönte es von der Scheibe.


„Sehen Sie?“ ſagte von Cloten, Herrn von Bar¬
newitzens Jäger die Piſtole zum Laden gebend.


„Ich denke, wir nehmen eine größere Diſtance,
oder ein anderes Ziel," ſagte Oswald, „bei dieſem
thalergroßen Centrum auf vierzig Schritt werden
Herr von Cloten und ich wohl noch lange ohne Ent¬
ſcheidung fortſchießen können. Sind keine Karten zur
Hand?


„Ich bin's zufrieden,“ ſagte von Cloten.


„Haſt Du Karten mitgebracht, Friedrich?“ rief
von Barnewitz.


„Ja, Herr!“


„Nimm die Scheibe ab und nagle ein Aß an den
Baum!“


[43]

„Natürlich gilt nur die Kugel, die durch das Aß
ſchlägt oder es wenigſtens berührt hat,“ ſagte Oswald.


„Natürlich,“ ſagte von Cloten.


„Jetzt kommt die Sache in Gang,“ rief der junge
Breeſen und rieb ſich vor Vergnügen die Hände.


„Cloten zahlen Sie Reugeld,“ ſagte Oldenburg
wieder und durch die Zähne murmelte er:


Tannenzapfen — Herzenaß —

Ei, mein Schätzchen, merkſt Du was?

Iſt es Liebe? iſt es Haß?

Von Cloten zielte lange, aber ſei es, daß das
neue Ziel ihn verwirrte, ſei es, daß ſeine Hand
ſchon unruhig geworden war — ſeine Kugel traf nur
den oberen Rand der Karte. Oswald trat vor; ſein
Auge ſchweifte über die Schaar der Edelleute, die
um ihn herum ſtand. „Denke Dir, daß Aß ſei
das Herz irgend eines beliebigen Adligen,“ hörte er
eine wohlbekannte Stimme flüſtern . . . Sein Schuß
krachte. An der Stelle des Aſſes war das Loch der
Kugel in der Karte.


„Tröſten Sie ſich, Cloten,“ ſagte Oldenburg.
Non semper arcum tendit Apollo — zu deutſch:
Vorbeiſchießen muß auch ſein.“


„Wirklich meiſterhaft,“ ſagte von Barnewitz, die
Karte herumzeigend; „das Aß rein herausgeſchoſſen.“


[44]

„Wollen Sie Revanche haben, Herr von Cloten?“


„Nein, danke, ein andermal. Fühle, daß meine
Hand nicht mehr ſicher — “


„Warum haben Sie nicht Reugeld gezahlt, Cloten?“
lachte Oldenburg, das gewonnene Geld in die Taſche
ſteckend. —


„Hier ſind ſie! hier ſind ſie!“ riefen da auf ein¬
mal helle Mädchenſtimmen, und um das Gebüſch
herum, das den Schießſtand vom Wege trennte,
kamen Emilie von Breeſen, ihre Couſine Lisbeth von
Meyen und eine von den jungen Fräulein von Na¬
delitz, wie eben ſoviel weiße Schmetterlinge.


„Sie ſind allerliebſte Herren — Spielverderber —
im Augenblick kommen Sie wieder zurück“ — ſo
ſchallten die Stimmchen durcheinander.


„Du könnteſt auch etwas Beſſeres thun, Adolf,
als hier den ganzen Nachmittag bei dem alten dummen
Schießen zubringen,“ ſagte Emilie von Breeſen zu
ihrem Bruder.


„Er muß auch mit,“ rief Lisbeth, „wir nehmen
ſie gefangen. Du Emilie, nimm den Doctor, Du
biſt die Stärkſte und er iſt der Rädelsführer — Na¬
talie, Natalie, halt Herrn von Langen feſt! er will
davon laufen.“


„Meine Herren,“ rief Oswald, jeder Widerſtand
[45] wäre Hochverrath! — Meine Damen! wir ergeben
uns auf Gnade und Ungnade,“ und er bot Fräulein
von Breeſen den Arm.


Die beiden andern Herren folgten ſeinem Beiſpiele;
die drei hübſchen Pärchen eilten lachend und ſcherzend
davon.


„Eine Entführung in optima forma,“ grinſte
Oldenburg.


„Wir gehen auch wohl, Ihr Herren,“ rief Bar¬
newitz; „denn ich fürchte, wenn wir warten wollen,
bis wir von den jungen Damen abgeholt werden, ſo
können wir lange warten.“


Allons enfants de la patrie!“ ſang Oldenburg
in möglichſt falſchen Tönen mit einer Stimme, die
weſentlich dem Krähen eines heiſern Hahns an einem
regneriſchen Tage glich, und faßte von Cloten unter
den Arm.


„Cloten, mon brave, wir werden alt,“ ſagte er,
während ſie in einiger Entfernung hinter den Andern
dem Hauſe zuſchritten. „Wenn wir nicht bald machen,
daß wir unter die Haube kommen, ſo iſt uns jede
Hoffnung auf eheliches Glück, legitime Vaterfreuden
und ein ſeliges Ende, Amen, abgeſchnitten.“


„Ah, Spaß! Baron, Sie ſind mindeſtens fünf
Jahre älter wie ich.“


[46]

„Das hindert nicht, daß die jungen Damen einen
wie den andern en canaille behandelt haben.“


„Die kleine Emilie iſt ein verdammt hübſcher
Backfiſch.“


Si signore, und was für ein Paar große, graue,
verliebte Augen ſie dem Doctor machte! Mit ſechs¬
zehn Jahren! wahrhaftig alles Mögliche!“


„Verdammte Puppe!“


„Wer? Fräulein Emilie?“


„Ah, — der Menſch, der Doctor!“


„Ja, ſo! Ich hab's Ihnen ja gleich geſagt? Die
Mägdelein reißen ſich um ihn! Und wie der Kerl
ſchießt. Cloten! Möchte ihm nicht auf fünf Schritte
Barriere, und zehn Diſtance gegenüberſtehen?“


„Ah! danke für ein Duell mit ſo einem Bürger¬
lichen. Partie iſt zu ungleich. Meinen Sie nicht auch,
Baron?“


„Vielleicht iſt der Mann die Frucht einer Liaiſon
zwiſchen einem Sohne des Himmels und einer Tochter
der Erde.“


„Was heißt das?“


„Wiſſen Sie nicht, daß in der alten Zeit die Kinder
von Adligen mit Bürgermädchen ſo bezeichnet wurden?“


„Nein, habe nie gehört! Sohn des Himmels —
famos! Uebrigens traue Schrift nicht. Müſſen doch
[47] ſelbſt zugeben, Baron, dieſe Idee, alle Menſchen von
einem Paare abſtammen zu laſſen — Adlige und Bür¬
gerliche — geradezu abgeſchmackt, horribel — lächer¬
lich! Habe mir immer gedacht: daß Schrift von dieſen
Bürgerlichen in ihrem Intereſſe zurecht gemacht iſt.
Hat mich ſtets geärgert, wenn Hauslehrer mir die
alte Geſchichte erklären wollte.“


„Cloten,“ ſagte Oldenburg ſtehen bleibend und
ſeinem Begleiter die Hand auf die Schulter legend!
„Cloten, Sie ſind ein großer Mann. Dieſer Ge¬
danke bringt Sie in eine Reihe mit den tiefſinnigſten
Denkern aller Jahrhunderte.“


„Ah, wah — reden Sie nun im Ernſt, Baron,
oder ſcherzen Sie, wie gewöhnlich?“


„Lieber Cloten,“ ſagte Oldenburg, ſeinen Arm
wieder unter den ſeines Begleiters ſteckend und weiter
gehend; „laſſen Sie ſich ein für alle Mal geſagt ſein,
daß es mir immer um das, was ich ſage, fürchter¬
licher Ernſt iſt, und der Gegenſtand, von dem wir
ſprechen, iſt wahrlich von zu ungeheurer Bedeutung,
als daß er eine ſcherzhafte Behandlung vertrüge. So
hören Sie denn — aber machen Sie keinen unge¬
eigneten Gebrauch von der Sache, Cloten —“


„Gott bewahre — parole d'honneur !“


„So hören Sie denn, daß dieſelbe Frage, deren
[48] richtige Beantwortung Sie mit dem ſichern Tacte des
Genies ſofort fanden, mich jahrelang beſchäftigt hat.
Auch ich ſagte mir: der Unterſchied zwiſchen Adligen
und Bürgerlichen iſt kein bloßer Unterſchied des Na¬
mens, des Standes — er iſt ein Unterſchied des
Blutes, des Gemüthes, der Seele — enfin: der
ganzen Natur. Wie können nun zwei ſo verſchiedene
Weſen von demſelben Menſchenpaare abſtammen? Wo
bleibt der Unterſchied, wenn ſie von einem Menſchen¬
paare abſtammen? Der Geiſt verwirrt ſich in dieſem
ſchauderhaften Widerſpruch.“


„Gott, Baron, endlich ſprechen ſie doch einmal
wie —“


„Wie ein Baron. Hören Sie weiter. Dieſe Frage
beſchäftigte mich ſo unausgeſetzt, daß ich endlich be¬
ſchloß, ſie zu löſen, es koſte, was es wolle. Ihr
habt Alle über mein einſames Leben, über mein Stu¬
diren und ſo weiter geſpottet. Wiſſen Sie, Cloten,
was ich ſtudirte, während Ihr Euch auf der Jagd,
oder beim Pharao amüſirtet?“


„Nein — auf Ehre —“.


„Aramäiſch, chaldäiſch, ſyriſch, meſopotamiſch, hin¬
doſtaniſch, gangobramaputraiſch — ſanscrit —“


„Herr Gott des Himmels! Das iſt ja ſchauder¬
haft! Wozu?“


[49]

„Weil ich die feſte Ueberzeugung hatte, daß ſich
in den Klöſtern Armeniens, in den Katakomben Aegyp¬
tens, oder ſonſt irgendwo im Orient eine alte Hand¬
ſchrift, welche die Sache aufklärte, entdecken laſſen
müſſe. Als ich alle jene Sprachen und Dialecte ſo
fertig wie deutſch und franzöſiſch ſprach, trat ich vor
drei Jahren meine letzte große Reiſe nach dem Orient
an. Im Vorübergehen durchſtöberte ich die Biblio¬
theken Italiens. In Rom traf ich Barnewitzens.
Dies Zuſammentreffen war mir im Grunde ſehr un¬
angenehm. Aus Höflichkeit mußte ich ſie bis Sicilien
begleiten. In Palermo aber machte ich, daß ich da¬
von kam.“


„Ah, das erklärt Ihr plötzliches Verſchwinden —
das unterbrochene Opferfeſt, ha, ha, ha!“


„Unterbrochenes Opferfeſt — der Ausdruck ſtammt
nicht von Ihnen, Cloten.“


„Nein, auf Ehre — iſt 'ne Erfindung von Hor¬
tenſe, wollte ſagen von der Barnewitz,“ verbeſſerte
ſich der junge Edelmann. „Sie behauptet — entre
nous
, Baron, daß Ihr Zuſammentreffen in Rom gar
nicht ſo abſichtslos von Ihrer Seite und die ganze
Reiſe von Rom nach Palermo — heißt ja wol, Pa¬
lermo? — ein reiner Triumphzug für die Berkow
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 4[50] geweſen ſei; Opferfeſt — unterbrochenes Opferfeſt!
Ha! ha!“


„Aber ich verſtehe Sie gar nicht, Cloten.“


„Na, entre nous, Hortenſe weiß von der Reiſe
allerlei Geſchichten zu erzählen. So eine Scene auf
der Ueberfahrt von Ciproda.“ —


„Procida," verbeſſerte Oldenburg. —


„Procida, meinetwegen, der Teufel mag all' die
verrückten Namen behalten, von Procida alſo nach


Neapel.“
„Nun?“


„Aber zum Teufel, Baron, Sie fragen Einem auch
die Seele aus dem Leibe. — Sie hatten einen kleinen
Fiſcherkahn, und es kam ein richtiger Sturm auf —
die Wellen gingen haushoch, und Sie mußten jeden
Augenblick erwarten, daß das Boot kenterte. Da
ſollen Sie auf italieniſch —“


„Die Barnewitz verſteht kein Wort italieniſch, ſo
viel ich weiß —,“ ſagte Oldenburg.


„Hortenſe nicht, aber die Schiffer, die ſie hernach
ausgefragt hat —“


„Hm!“ murmelte Oldenburg. „Nun?“


„Da ſollen Sie zu der Berkow geſagt haben:
Liebe Seele, mit Dir zuſammen zu ertrinken, iſt mehr
[51] werth, als mit Deiner Couſine, oder irgend einer
andern Frau hundert Jahr zuſammen zu leben.“


„In der That? Erzählt Hortenſe ihren guten
Freunden ſo hübſche Geſchichten? Nun, Cloten, ich
will Ihnen einen guten Rath geben: Glauben Sie
jedem Kuß, den Sie von Hortenſe's Mund ſchon ge¬
küßt haben, oder noch küſſen werden —“


„Ah, dummes Zeug, Baron,“ ſagte der Dandy
mit jenem Lächeln, das beſcheiden ſein ſoll und doch
ſo entſetzlich unverſchämt iſt.


„Aber glauben Sie keinem Wort, das aus ihrem
Munde geht. Können Sie wirklich denken, daß ich
nichts Beſſeres zu thun hatte, als Melitta von Berkow
den Hof zu machen, während ſo ernſte, ja ſo zu ſagen
heilige Dinge meine Seele beſchäftigten? Laſſen Sie
ſich erzählen: Ich reiſte alſo von Sicilien nach Aegyp¬
ten hinauf bis Abu Simbul, zurück nach Kairo, von
da nach Paläſtina, Perſien, Indien; — durchſuchte
jeden Tempel, jede Ruine, jede Felſenſpalte — ich
fand nicht, was ich ſuchte. Endlich — als ich ſchon
an dem Erfolge verzweifelte, als ich ſchon auf der
Rückreiſe war, da — in der Bibliothek des Kloſters
auf dem Vorgebirge Athos —“


„Wo iſt das, Baron?“


„Zwiſchen dem Indus und dem Oregon — dort
4*[52] in der Kloſter-Bibliothek entdeckte ich endlich das lang
geſuchte Manuſcript. Da ſtand denn die ganze Ge¬
ſchichte.“


„Was ſtand da?“


„Da ſtand im reinſten Hoch — bramaputraiſch,
daß — ich überſetze das nun Alles in unſere modernen
Begriffe und Ausdrücke —“


„Ja machen Sie's um's Himmelswillen ſo, daß
ich es verſtehe.“


„Daß gleich von vornherein zwei Menſchenpaare
geſchaffen wurden, wie es ja auch gar nicht anders
ſein kann: ein adliges und ein bürgerliches. Der
Name dieſes erſten adligen Geſchlechts iſt aus dem
Manuſcript nicht erſichtlich. Gerade an der einen
Stelle, wo er ausgeſchrieben geſtanden hat, iſt ein
großer Klex. So viel iſt ſicher, Oldenburg hat es
nicht geheißen; es war noch ganz deutlich ein C zu er¬
kennen, und in der Mitte ein t.


„Vielleicht Cloten,“ ſagte der Andere.

„Es iſt möglich, aber beſchwören kann ich es
nicht. Auch was für eine Geborne ſeine Gemahlin
geweſen iſt, die ſchlechtweg Fräulein genannt wird, iſt
nicht erſichtlich.“


„Aber ich denke, ſie iſt aus der Rippe des Mannes
gemacht und gar nicht geboren.“


[53]

„Ah, laſſen Sie ſich doch kein dummes Zeug ein¬
reden, Cloten. Sie wird ausdrücklich Fräulein genannt,
dann muß ſie doch auch ein Fräulein von ſo und ſo
geweſen ſein.“


„Das iſt ja aber eine verflucht verwickelte Ge¬
ſchichte.“


„Gar nicht ſo ſehr, wie Sie glauben. Genug, der
Herr und das Fräulein, das bald genug zur gnädigen
Frau wurde, hatten ein Landgut, welches Paradies
hieß; — warum ſoll ein Landgut nicht Paradies heißen,
Cloten?“


„Verdammt ſchnurriger Name, indeſſen!“


„Warum? Nennt doch einer ſeinen Landſitz Soli¬
tude, der Andere Sansſouci, der Dritte Bellevue, warum
ſoll nicht einmal Einer das ſeine Paradies genannt
haben? Eh bien! Der Bediente des Herrn hieß
Adam. Vortrefflicher Name für einen Bedienten. Als
er ſteif und lahm wurde, ſchimpften ſie ihn den alten
Adam — haben Sie je von einem Adligen gehört,
der Adam geheißen hätte, Cloten?“


„Im Leben nicht.“


„Sehen Sie, da haben Sie wieder den ſchönſten
Beweis. Er rief alſo ſeinen Kerl Adam, und die
Zofe ſeiner Gemahlin Eva, Evchen — allerliebſter
Kammerzofenname das. Meine Mutter hatte ein
[54] Kammermädchen „Evchen“, ein bildhübſches Ding.
Der Adam war aber ein großer Schlingel, wie die
Bedienten das bekanntlich bis auf den heutigen Tag
ſind. Das Ding, die Eva, war auch nicht viel beſſer.
Zuletzt trieben es die Beiden zu arg. Schließlich er¬
griff der Herr denn einmal die Hetzpeitſche und jagte
die Beiden vom Hofe. In das Geſindebuch ſchrieb
er: Entlaſſen wegen Unehrlichkeit, Putzſucht und Ar¬
beitsſcheu. Das iſt ſo in großen Umriſſen der eigent¬
liche Verlauf der Geſchichte.“


„Wirklich merkwürdig — ganz famös, auf Ehre!
Haben Sie das Buch mitgebracht, Baron?“


„Nein; aber eine von dem dortigen Landrath be¬
glaubigte Abſchrift.“


„Giebt's denn dort auch Landräthe?“


„Aber, lieber Freund, wie kann denn ein Land
ohne Landräthe beſtehen?“


„Natürlich; aber es wäre doch beſſer, wenn wir
das Buch ſelbſt hätten.“


„Vielleicht macht es ſich. Die Mönche ſind ent¬
ſetzlich obſtinat; ich hatte ſchon vor, ſie alle mit Blau¬
ſäure zu vergiften. Wahrſcheinlich thue ich das auch
noch, wenn ich wieder in die Gegend komme. Bis
dahin müſſen wir uns mit der Copie begnügen.


„Hören Sie, Baron, können Sie mir nicht auch
[55] ſo eine Copie geben? ich meine natürlich in deutſcher
Ueberſetzung, nicht in bramaputraiſch, oder wie der
verdammte Jargon heißt.“


„Hm; aber verſprechen Sie mir, es Niemand zu
zeigen.“


„Verlaſſen Sie ſich d'rauf!“


„Höchſtens Einem oder dem Andern aus unſerem
Cirkel.“


„Das alſo darf ich?“


„Meinetwegen; aber nennen Sie meinen Namen
nicht. Sagen Sie, es wäre eine bloße Hypotheſe von
Ihnen —“


„Eine was?“


„Eine bloße Vermuthung, die noch der Beſtätigung
bedürfe; wenn wir denn hernach das Original in die
Hände bekommen, ſo iſt das Ihr Triumph und der
Triumph der guten Sache zu gleicher Zeit.“

[[56]]

Drittes Kapitel.

Die Sommerſonne war bereits ſeit einer Stunde
hinter den Bäumen des Parks untergegangen; dunkle
Schatten lagerten ſich in den dichteren Boskets, hier
und da zirpte noch ein Vogel, ehe er zur Ruhe das
Köpfchen unter den Flügel ſteckte; ſonſt war es ſtill
geworden in dem vor kurzer Zeit noch ſo belebten
Garten. Aber deſto lauter war es jetzt im Schloſſe.
Das blendende Licht von hundert Wachskerzen auf
Kronleuchtern und Girandolen ſtrahlte aus den Fenſtern
auf den weiten Raſenplatz vor dem Gartenſaale. Muſik
erſchallte aus den geöffneten Flügelthüren, und an
Thüren und Fenſtern vorüber ſahen die Dorfleute,
die ſich in ehrfurchtsvoller Ferne im Park hielten, die
Paare der Tanzenden ſchweben. In den Zimmern,
die an den Tanzſaal ſtießen, waren für die älteren
Herrſchaften Spieltiſche arrangirt, und des Grafen
von Grieben kreiſchende Stimme wurde mehr als ein
[57] mal vernommen, wenn der alte Baron Grenwitz,
der nur ein ſehr mittelmäßiger Boſtonſpieler war,
auf drei Aſſe zum Mitgang gepaßt, oder ſonſt durch
ſeine Zaghaftigkeit verleitet, einen jener horribeln
Fehler begangen hatte, die das Gemüth eines metho¬
diſchen Spielers ſo ſchmerzlich berühren. Herr von
Barnewitz und ſeine Gemahlin wechſelten im Spiele
ab, damit ſtets eines von ihnen entweder bei den
Tanzenden oder Spielenden war und ſich ſo jede
Partei gleicher Gunſt erfreute. Hortenſe hatte ur¬
ſprünglich den ganzen Ball mitmachen wollen; aber
ſchon nach den erſten beiden Tänzen ärgerte ſie ſich
ſo über die Huldigungen, die ihrer ſchönen Couſine
von allen Seiten gezollt wurden, daß ſie ihrem Ge¬
mahl jenes Arrangement vorſchlug, in welches er ſich
um ſo williger ſchickte, als er trotz ſeiner Corpulenz
gern und gut tanzte, und auf alle Fälle ein ſehr eif¬
riger Bewunderer hübſcher Mädchen und Frauen in
Balltoilette war. Und an ſolchen fehlte es in dem
Saale wahrlich nicht. Es war ein Kranz von lieb¬
lichen und ſchönen Geſtalten, der auch wohl ein ſin¬
nigeres Auge, als das des wüſten Edelmannes ent¬
zückt haben würde. Die lieblichſte und ſchönſte aber
war nach dem ausgeſprochenen oder ſchweigenden Ur¬
theil aller Herren wenigſtens — die Anſicht der Damen
[58] über dieſen Punkt war allerdings ſehr getheilt —
Melitta. Die ſonſt etwas bleichen Wangen vom leb¬
haften Tanz geröthet, die großen Augen ſtrahlend von
Licht und Leben, die ſchlanken elaſtiſchen Glieder der
herrlichen Geſtalt mit wunderbarer Anmuth in rhyth¬
miſchem Schwunge bewegend — ſo ſchwebte ſie über
den glatten Boden des Saals wie die Muſe des
Tanzes ſelbſt. Neben dieſer blendenden Erſcheinung
wurden die hübſchen Frauen ihres Alters zu Wachs¬
figuren und die jüngeren Mädchen zu allerliebſten
Marionetten. So dachte wenigſtens Oswald, wenn
er ſie im Walzer an ſich vorbeifliegen ſah oder ſie
ihm Contretanze entgegen ſchwebte. Ein wunderbares
Gemiſch widerſprechendſter Empfindungen erfüllte ſeine
Seele. Seit jenem Augenblick, wo er in Melittas
Album das Bild des Baron Oldenburg zum erſten
Mal geſehen hatte, war er unabläſſig von dem Ge¬
danken verfolgt worden: in welchem Verhältniß ſtand
ſie zu dieſem Mann? Aber ſo oft auch ſchon die
Frage auf ſeinen Lippen geſchwebt hatte, nie hatte er
ſie auszuſprechen gewagt, und je höher die Sonne
ſeiner Liebe ſtieg, deſto blaſſer war der drohende
Schatten geworden. Heute aber hatte Barnewitzens
Erzählung, das Erſcheinen des [Mannes] ſelbſt, Me¬
littas Benehmen in der erſten Begegnung — die halb
[59] entſchlafenen Zweifel furchtbar geweckt. Wieder drängte
ſich das Wort auf ſeine Lippen, und immer wieder
kroch es ſcheu zum Herzen zurück. Er zürnte Melitta,
daß ſie ihn dieſe Qualen dulden ließ; er zürnte ſich
ſelbſt, daß er ſich von der Geliebten hatte beſtimmen
laſſen, ihr in dieſe Geſellſchaft zu folgen, dieſe Junker¬
welt, in die er nicht gehörte, in welcher er ſich nur
geduldet wußte, in dieſe Welt frivolen Genuſſes und
hochmüthigen Dünkels, dieſe lärmende blendende Welt,
die ſo grauſam mit der Romantik ſeiner Liebe con¬
traſtirte, und der wonnigen, liebeverklärten Waldein¬
ſamkeit von Melitta's Kapelle Hohn zu ſprechen ſchien.
Es kam ihm wie ein halb verklungenes Märchen vor,
daß dies wunderbare Weib in ſeinen Armen geruht,
daß er — wie oft ſchon! ſeinen Mund auf dieſe ro¬
ſigen Lippen gedrückt hatte. Sie erſchien ihm ſo fremd,
ſo ganz verwandelt; er konnte ſich nicht überreden,
daß dies Melitta ſei, ſeine Melitta, ſie, die dort mit
dem jungen Breeſen lachte und ſchwatzte, die dort die
faden Complimente von Cloten's mit ſo huldvoller
Miene beantwortete — und dann wieder, wenn ihr
leuchtendes Auge das ſeine traf, wenn ihre Hand bei
den Touren des Contretanzes ſeine Hand ſo traulich
drückte, wenn bei dieſer Gelegenheit ein: ſüßes Herz!
Du Lieber! — ihm nur vernehmbar geflüſtert, ſein
[60] Ohr traf — ja, dann war es doch wieder Melitta,
ſeine Melitta . . . Und immer wieder jagten ſich Zwei¬
fel, die ſich zu wahnſinniger Angſt ſteigerten, und Ge¬
wißheit, die ihn mit unſäglichem Entzücken erfüllte,
durch ſeine Seele, wie tiefdunkle Schatten und heller
Sonnenſchein über eine Sommerlandſchaft jagen, und
um dieſer ſüßen Qual, dieſer bittern Wonne zu ent¬
gehen, ſchlürfte er mit haſtigen, gierigen Zügen den
berauſchenden Trank, der, aus blendenden Lichtern,
jubelnden Tönen und wollüſtigen Düften ſo ſeltſam
gemiſcht, in einem Ballſaal die Sinne der Tanzenden
bis zum bacchantiſchen Taumel aufregt und das Ge¬
hirn umnelbelt.


Oswald lachte und ſcherzte wie von der tollſten
Laune ergriffen: hier ein übermüthiges keckes Wort,
dort eine feine Schmeichelei; hier eine ſatyriſche Be¬
merkung, dort eine Sentimentalität . . . Die Damen
ſchienen vollkommen vergeſſen zu haben, daß ein ſo
unermüdlicher und gewandter Tänzer, ein ſo hübſcher
Mann, der ihnen ſo viele hübſche Sachen zu ſagen
wußte, doch nur ein Bürgerlicher ſei, der auf alle
dieſe Vorzüge eigentlich gar keinen Anſpruch machen
durfte, und wenn ja eine der hochadligen Mütter dem
Töchterchen ihr unpaſſendes Benehmen mit dem jungen
Menſchen, dem Doctor Stein, verwies, ſo fiel das
[61] goldene Wort diesmal auf ganz unfruchtbaren Boden,
und die hübſche Kleine beruhigte ihr aufgeſchrecktes
adliges Gewiſſen mit dem tröſtlichen Gedanken: es
iſt ja nur für heute Abend . . . Es ſteht ſehr zu
vermuthen, daß das Glück, welches Oswald an dieſem
Abend bei den Damen machte, mehr als ein junker¬
liches Gemüth auf das Tiefſte indignirte; aber der
Ausdruck dieſer feindſeligen Stimmung beſchränkte ſich
auf einige höhniſche Worte, von denen aber keins bis
zu Oswalds Ohr drang, und auf einige ärgerliche
Blicke, die, wenn er ſie bemerkte, nur zu Erhöhung
ſeiner tollen Laune beitrugen. Daß er ſich auf einem
ſehr glatten Boden bewegte, wußte er ſehr gut; aber
die Nähe der Gefahr, welche die ſchwachen Geiſter
lähmt, läßt ſtarke Herzen nur deſto muthiger pochen;
und das Bewußtſein, wie er ſich jeden Augenblick
einer impertinenten Beleidigung verſehen könne, gab
ſeinem Benehmen den Junkern gegenüber eine Kühn¬
heit, ſeinem Auftreten eine Sicherheit, die, wenn ſie
einerſeits den Unwillen dieſer Herren herausforderte,
andererſeits für ſie die Kluft zwiſchen Wollen und
Vollbringen geradezu unüberſteiglich machte. Und
übrigens muß zur Ehre dieſer jungen Adligen be¬
merkt werden, daß ſich in einer Schaar von zwölf
oder vierzehn denn doch zwei oder drei fanden, welche
[62] von Vorurtheilen nicht ſo ſehr befangen waren, daß
ſie Oswalds ritterliches Weſen nicht gern hätten
gelten laſſen. So Herr von Langen, welcher ſeinen
Arm vertraulich unter den Oswalds ſchob, und in
der Pauſe mit ihm im Saale freundlich plaudernd,
auf- und abſchritt; ſo der junge von Breeſen, der
hübſcheſte und gewandteſte von der Schaar, welcher
Oswald bat, ihm ein paar Lectionen im Piſtolen¬
ſchießen zu geben, und als ſeine Schweſter durch Un¬
achtſamkeit eine Verwirrung im Tanz angerichtet
hatte, zu ihm kam, ihn im Namen der jungen Dame
um Entſchuldigung bat und ihn zu ihr führte, damit
ſie ſich ſelbſt entſchuldigen könne; ſo endlich ſelbſt¬
redend Baron Oldenburg, der die Tugenden Oswalds
als Tänzer und Schütze gegen mehr als Einen bis
in den Himmel erhob, wobei es nur nicht ganz er¬
ſichtlich war, ob er dies aus aufrichtiger Ueberzeugung
oder mehr in der Abſicht that, ſeine jungen Standes¬
genoſſen gründlich zu ärgern.


Dieſer dankbaren Aufgabe konnte er ſich mit um
ſo größerem Behagen unterziehen, als er auf Herrn
von Barnewitzen's Frage, ob er ſpielen wolle, geant¬
wortet hatte: ja, wenn Pharo geſpielt wird; und
auf Lisbeths von Meyen Bemerkung, ob er denn
nicht zu tanzen gedenke, geäußert hatte: „Meine Gnä¬
[63] dige, in dieſem Augenblick bedaure ich es zum erſten
Male in meinem Leben, daß mich mein Tanzlehrer
nie dahin bringen konnte, die erſte Poſition von der
zweiten, und mein Muſiklehrer ebenſo wenig, einen
Walzer von einem Choral zu unterſcheiden.“ So
trieb er ſich denn bald zwiſchen den Spieltiſchen um¬
her, und weckte den leicht erreglichen Zorn des Grafen
von Grieben dadurch, daß er in alle Karten der
Reihe nach ſah, und Jedem guten oder vielmehr
möglichſt ſchlechten Rath ertheilte; bald war er im
Tanzſaal und ſchaute mit den Augen eines gutge¬
launten Katers, der weiße und ſchwarze Mäuschen
auf der Scheundiele munter ſpielen ſieht, auf die tan¬
zenden Paare. In dieſer angenehmen Beſchäftigung
ſtörte ihn Herr von Barnewitz, der eilfertig zur Thür
des Tanzſaales hereinkam.


„Oldenburg, da Du ja doch hier nichts zu thun
haſt —“


„Nein, guter Freund, ich habe in der That hier
nichts zu thun.“


„So komm mit hinauf in den Speiſeſaal und hilf
mir beim Arrangiren der Plätze. Willſt Du?“


„Das Vertrauen, welches Du zu meinen organi¬
ſatoriſchen Talent haſt, ehrt mich hoch, mon ami;
ſagte Oldenburg und folgte dem Voraneilenden über
[64] den Flur, die breite mit Teppichen belegte Treppe
hinauf in den glänzend erleuchteten Speiſeſaal, wo
die Bedienten eben mit der Herrichtung der Tafel
fertig geworden waren.


„Hier, Oldenburg, ſind die Zettel, alle ſchon aus¬
geſchrieben; nun ſage mir, ſollen wir —“


„Werthgeſchätzteſter,“ ſagte der Baron zu einem
Bedienten, „könnten Sie mir wohl, behufs der Ent¬
korkung dieſer Flaſche das paſſende Inſtrument be¬
ſorgen? — So, danke! — Festina lente, Barnewitz,
auf deutſch: Du ſollſt dem Ochſen, der da driſcht,
das Maul nicht verbinden. Auf Dein Wohl, mein
Junge! dieſer Knabe Cliquot gehört zu den tugend¬
hafteren ſeines weit verbreiteten Geſchlechts. Wirklich
genießbar,“ und dabei ſchlürfte er ein Glas nach dem
andern. „So, jetzt ſtehe ich vorläufig zu Deinen
Dienſten. — Stellen Sie die Flaſche dort auf den
kleinen Tiſch, lieber Treſſenrock! es ſind noch ein
paar Gläſer drin. — Gräfin von Grieben — Baron
Oldenburg, Baronin von Nadelitz, — biſt Du des
Teufels, Barnewitz? Ich ſoll zwiſchen den alten
Schachteln zwei Stunden lang eingeklemmt ſitzen?
lieber will ich mit aufwarten helfen! Nein! wir
wollen die Sache ſo machen. Die ganze alte Litanei
ſetzen wir an das eine Ende des Tiſches und das
[65] junge Deutſchland an das andre. Geh' Du mit Deiner
Heerde von Widdern und Mutterſchaafen nach Oſten,
und ich will mit den Böcklein und Zicklein nach Weſten
gehen.“


„Das wird auch wohl das Beſte ſein,“ ſagte Barne¬
witz; „hier ſind Deine Zettel.“


Die Bedienten hatten den Saal verlaſſen; die bei¬
den Herren fingen, jeder auf ſeinem Ende, an, die
Zettel zu vertheilen.


„Fräulein Klauß,“ ſagte Oldenburg, einen Zettel
in die Höhe haltend; „wer, bei allen Olympiern iſt
Fräulein Klauß?“


„Unſre Erzieherin. Haſt Du ſie nicht bemerkt,
das hübſche kleine Ding mit den hochverrätheriſchen
Augen?“ ſagte Barnewitz eifrig ſortirend. „Wir konn¬
ten ſie nicht in ihrer Kinderſtube laſſen. — Herr des
Himmels, da ſitzen ja ſchon wieder Mann und Frau
zuſammen! — weil ſonſt eine Tänzerin zu wenig ge¬
weſen wäre. Du kannſt ſie mit dem Doctor Stein
zuſammen ſetzen. Gleich und gleich geſellt ſich gern.“


„Schön,“ ſagte Oldenburg und grinſte.


„Wer ſoll denn die Berkow führen?“


„Zum Kuckuck, laß mich in Ruhe! Du meinet¬
wegen.“


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 5[66]

Bon,“ ſagte Oldenburg und trank ein Glas Cham¬
pagner.


Nach einer kurzen Pauſe eifrigen Arrangirens:


„Wer ſoll die Ehre haben, bei Deiner Frau zu
ſitzen?“


„Heilige Kreuz — ja freilich, das iſt wichtig.
Weißt Du was, Oldenburg, nimm den Unbedeutend¬
ſten; dagegen kann Niemand etwas einwenden.“


Will's ſchon machen“, ſagte Oldenburg und ſuchte
unter den Zetteln, bis er den rechten gefunden hatte.
„Dir will ich Deine unverbürgten Schiffernachrichten
einträcken,“ murmelte er zwiſchen die Zähne.


„Biſt Du fertig, Oldenburg?“


„Gleich — So!“


„Nun, weißt Du was, Baron, geh' Du in den
Tanzſaal und ſage jedem Herrn, welche Damen er
führen ſoll; ich will daſſelbe bei den Spielern thun.“


Ainsi soit-il,“ lachte Oldenburg, dem Davon¬
eilenden folgend.


Als er in den Ballſaal trat, fing man ſo eben
einen Contretanz zu arrangiren an. Unmittelbar
nach dieſem Tanze ſollte geſpeiſt werden.


„Die Gelegenheit iſt günſtig,“ murmelte er und
ging, einem ſchwarzgefiederten langbeinigen Vogel zu
vergleichen, der ſich auf der Wieſe Fröſche ſucht, mit
[67] wunderbarer Gravität hinter der Linie der Tanzenden
hin, den ſchicklichen Moment benutzend, jedem der
Herren den Namen der Dame, die er ihm zugetheilt
hatte, in's Ohr zu flüſtern. Oswald tanzte mit Frau
von Barnewitz, die in aller Eile für Fräulein Klauß
eingetreten war, welche noch ſchnell eine Commiſſion
in die Küchenregion auszurichten hatte, vis-à-vis
Melitta und Herrn von Cloten. Oldenburg hatte
ſchon ſämmtlichen Herren ihr Schickſal verkündet, das
Allen mehr oder weniger günſtig zu ſein ſchien, denn
Jeder nickte mit zufriedener Miene. Ganz zu aller¬
letzt trat er zu Cloten und raunte ihm zu:


„Cloten, ich habe Ihnen die Barnewitz gegeben.“


Dann zu Oswald: „Herr Doctor, Sie werden
Frau von Berkow führen.“


Darauf entfernte er ſich eiligſt.


„Hortenſe,“ flüſterte der überglückliche Cloten
dieſer Dame zu: „Weißt Du, wer Dich führen wird?“


„Doch nicht Du, Arthur?“ rief dieſe erſchreckend.


„Ja, mein Engel.“


„Unmöglich, Arthur. Du gehſt gleich hernach zu
Oldenburg und ſagſt, daß Du mich nicht haben willſt.“


„Aber“ —


„St! nicht ſo laut — Du biſt ein Narr, ich
5*[68] ſage Dir, daß Barnewitz unſer Verhältniß mehr als
ahnt; dies fehlte noch gerade.“


Changez les dames!“


„Melitta, ich werde Dich zu Tiſch führen.“


„Unmöglich, Oswald. Du mußt das zu redreſ¬
ſiren ſuchen.“


„Weshalb?“ flüſterte Oswald, und ſeine Augen¬
brauen zogen ſich zuſammen.


„Sieh nicht ſo finſter aus, liebes Herz! Ich will
Dir Alles erklären.“


Fräulein Klauß erſchien in dem Nebenzimmer.
Sobald Oldenburg ſie bemerkte, trat er auf ſie zu
und ſeine hohe Geſtalt ehrfurchtsvoll neigend, ſagte
er in einem Ton, deſſen Milde ſonderbar mit der
ſonſtigen Herbheit ſeiner Rede contraſtirte:


„Mein Fräulein, ich werde das Vergnügen haben,
Sie zu Tiſch zu führen.“


Die arme Kleine ſtand wie vom Blitz getroffen.
Baron Oldenburg, der ſtolze unheimliche Baron, ſie
zu Tiſche führen.


Mit einem wunderbar fragenden Geſicht blickte ſie
zu ihm auf.


„Ich habe die Plätze ſelbſt arrangirt, mein Fräu¬
lein; wenn ſie einen beſondern Wunſch haben, ſprechen
[69] ſie ihn frank und frei aus; ich würde mich glücklich
ſchätzen, Ihnen gefällig ſein zu können.“


„Gott bewahre, Herr Baron —“


Eh bien, nous voilà d'accord. Wollen Sie
mir Ihren Arm geben; ich ſehe die Paare arangiren ſich.“


In dieſem Augenblick kam Cloten athemlos herbei.


„Auf ein Wort, Oldenburg. — Sie verzeihen,
Fräulein. — Oldenburg, Du mußt mir eine andere
Dame verſchaffen; ich kann unmöglich Hortenſe
führen.“


Pourquoi pas, mon cher?“


„Weil — zum Henker, weil — “


Je suis au désespoir, mon brave, aber Barne¬
witz hat Sie ſelbſt vorgeſchlagen.“


„Iſt das gewiß?“


„Verlaſſen Sie ſich darauf.“


Mit vor Freude ſtrahlendem Geſicht eilte der An¬
dere zu ſeiner Dame zurück.


„Oswald,“ ſagte Melitta, „ich hab' mir's überlegt.
Es iſt doch beſſer ſo — aber mit der Ausſicht auf
den Cotillon iſt es vorbei. Nun komm, gieb mir
Deinen Arm und ſei wieder gut.“


Die älteren Herrſchaften waren zuerſt in den
Speiſeſaal getreten, und hatten ſich bereits hinter
ihren Stühlen gereiht; die Geſellſchaft aus dem Tanz¬
[70] ſaal kam hinterdrein. Herr von Barnewitz kam für
einen Augenblick von jener Seite herüber, zu ſehen,
ob Alles in Ordnung war. Seine Stirn verdüſterte
ſich, als er ſeine Frau an Cloten's Arm, Melitta
neben Oswald ſtehend bemerkte, und endlich Olden¬
burg ſelbſt, ſeine kleine Dame wie eine Prinzeß von
Geblüt führend, in den Saal trat.


„Oldenburg, zum Teufel, was haſt Du denn da
angerichtet,“ flüſterte Barnewitz heftig. „Ich will
nicht, daß Cloten meine Frau führt, Sie reden ſchon
genug über die Beiden.“


„Ja, lieber Freund, Du ſagteſt, ich ſollte den Un¬
bedeutendſten wählen; da war ja gar keine Wahl.“


„Und Melitta mit dem Doctor, Du mit der
Klauß — das iſt ja geradezu lächerlich.“


„Ja, Barnewitz, das iſt nun einmal geſchehen;
und nun würdeſt Du mir einen ausnehmenden Ge¬
fallen erweiſen, wenn Du nicht desavouirteſt, was ich
in Deinem Auftrage gethan habe, und Dich ruhig an
Deinen Platz verfügteſt; die Gräfin Grieben ſucht
Dich überall mit ihren großen Eulenaugen.“


„Ich waſche meine Hände in Unſchuld,“ grollte
Barnewitz, davon eilend.


„Und ich will eine Flaſche Champagner auf meinen
gelungenen Staatsſtreich trinken,“ grinſte Oldenburg,
[71] an der Seite der kleinen Erzieherin, gegenüber Os¬
wald und Melitta, in unmittelbarer Nähe von Cloten
und Hortenſe Platz nehmend.“


„Meine Damen und Herren,“ ſagte er; ich hoffe,
daß Sie mit mir in ein ſtilles begeiſtertes Hoch auf das
Wohl des Mannes einſtimmen werden, der Jedem von
uns ſeinen Platz anwies, und der, während er nur
das Gemeinwohl vor Augen zu haben ſchien, doch die
geheimen Wünſche jedes Einzelnen zu erfüllen wußte.
Ich gebe Ihnen zu bedenken, meine Damen und
Herren, daß ein Mangel an Enthuſiasmus in dieſem
feierlichen Augenblick nicht nur die Gefühle jenes
Mannes ſchmerzlich berühren, ſondern auch die Em¬
pfindungen eines Ihrer Nächſten auf's Tiefſte verletzen
würde, Ihres Nächſten, den mindeſtens wie ſich ſelbſt
zu lieben, Sie ſchon die Religion der Liebe ver¬
pflichtet, zu der wir uns ja Alle ohne Ausnahme be¬
kennen. Meine Damen und Herren, trinken Sie mit
mir auf das Wohl Ihres und meines beſten Freundes,
auf das Wohl Adalberts von Oldenburg.“


Man kann ſich denken, daß, ſo weit als des Barons
mäßig erhobene Stimme ſchallte. Wenige Luſt hatten
und Niemand es wagte, ſich von dieſem ironiſchen
Toaſt auszuſchließen. Die kryſtallenen Gläſer klangen
aneinander, und bald flackerte die lebhafteſte Unter¬
[72] haltung um den ganzen Tiſch herum auf, wie das
Feuer in einem Haufen Stroh, der an allen Ecken
und Enden zugleich angezündet iſt; jene ſchwirrende,
ſummende, kichernde, lachende, lärmende, flüſternde
Unterhaltung, wo der geiſtreichſte Einfall und die al¬
bernſte Bemerkung zuletzt als gleich werthvolle oder
werthloſe Münze courſiren.


„Achte auf Deine Augen, Oswald,“ ſagte Melitta,
in jener rapiden Weiſe, wo die Rede ſich kaum vom
Hauch unterſcheidet und doch jede Silbe deutlich ge¬
hört wird. — „Deine holden Liebesbriefe werden von
profanen Augen unterwegs aufgefangen, erbrochen und
geleſen.“


Von Cloten hatte Hortenſe vergeblich zu über¬
reden geſucht, es ſei ihres Gemahls eigener Wunſch
geweſen, daß er ſie zu Tiſche führe.


„Sei doch nicht ſo einfältig, Arthur,“ ſagte die
junge Frau. „Es iſt eine Intrigue von Oldenburg,
verlaß Dich darauf. Haſt Du je mit Oldenburg über
mich geſprochen?“


„Nein, Hortenſe — parole d'honneur.“


„Ich bin überzeugt, Du haſt es gethan; Du wirſt
mich noch unglücklich machen mit Deiner albernen
Schwatzhaftigkeit.“


„Aber, Hortenſe — “


[73]

„Still, Oldenburg beobachtet uns fortwährend.“


„Cloten!“ rief der Baron.


„Was, Baron?“


„Wollen Sie in dieſem Herbſt mit mir nach Italien
reiſen? Sie wiſſen, in der bewußten Angelegenheit.“


„Ginge raſend gerne mit, Baron; aber Sie wiſſen,
tauſend Gründe dagegen; erſtens Jagd, zweitens
Pferderennen, drittens haſſe Reiſen, viertens, verſtehe
kein Wort italieniſch.“


„Nun, das iſt das Wenigſte. Was man noth¬
wendig wiſſen muß, beſchränkt ſich auf Si signore,
Anima mia dolce
, das Andere läßt man ſich von
den Schiffern ſagen.“


Von Cloten erröthete bis in die Stirn hinauf,
denn, wie Oldenburg dieſe Worte lachend ſprach,
fühlte er Hortenſes Fuß auf dem ſeinen und hörte
ihre von inneren Thränen faſt erſtickte Stimme:
„Siehſt Du, Arthur; habe ich es nicht geſagt?“


Auch Melitta, die ſeitdem ſie den Baron ſich ge¬
rade gegenüber ſah, ſehr ſtill geworden war, ſchien
über dieſe Bemerkung ſichtlich betroffen. Sie ſenkte
plötzlich die langen Wimpern, wie wenn ſie verbergen
wollte, was jetzt in ihrer Seele vorging.


„Ich rufe Sie zum Zeugen auf, gnädige Frau,“
[74] rief Oldenburg. „Hat Ihnen Ihr Italieniſch viel
genützt?“


„Im Gegentheil,“ ſagte Melitta, und ihre dunklen
Augen flammten auf; „ich habe ſo nur manches al¬
berne, lügneriſche Wort mit anhören müſſen, das mir
ſonſt unverſtändlich geblieben wäre.“


„Ja, ja, die Italiener lügen viel,“ lachte der Baron.


„Sagen wir lieber, es wird in Italien viel gelogen,“
replicirte Melitta.


„Zum zweiten Mal abgefallen,“ murmelte der
Baron. „Das Weib iſt noch immer ſchön, wie ein
Engel und klug wie die Schlange. Ja, ſie iſt ſchöner,
als früher. Ihre Augen ſind noch größer und leuch¬
tender, ihre Schultern noch runder; ihre Stimme iſt
noch weicher und wohllautender — und das Alles in
majorem Dei Gloriam
, das heißt dem hübſchen Fant
an ihrer Seite zu Liebe! Hm! — Herr Doctor,
wollen Sie mir die Ehre erweiſen, ein Glas Cham¬
pagner mit mir zu trinken? Ich dächte, es läge eine
Wolke auf ihrer Stirn. Verſcheuchen Sie dieſelbe.
Sie wiſſen: dulce est desipere in loco.“


„Was für eine verzweifelte Sprache iſt denn das
nun wieder, Baron?“ rief von Cloten.


„Platt — bramaputraiſch — mon cher. Auf Ihr
Wohl, Cloten!“


[75]

Je mehr ſich die Mahlzeit ihrem Ende nahte, und
je ſchneller ſich die von den Bedienten ſtets wieder ge¬
füllten Champagnergläſer leerten, deſto lärmender und
wüſter wurde die Unterhaltung, ſo daß ſelbſt die
Stimme des Grafen Grieben, die man bisher wie
das Kreiſchen eines großen Papagei's in einer Me¬
nagerie immer durchgehört hatte, übertönt wurde.
Der dünne Firniß äußerlicher Cultur, aus welchem
die ganze ſogenannte Bildung dieſer bevorrechtigten
Klaſſe beſtand, begann von den Strömen Weines, die
unaufhörlich floſſen, in einer erſchreckenden Weiſe her¬
untergeſpült zu werden, und die nackte, troſtlos dürf¬
tige Natur kam überall zum Vorſchein. Die jungen
Herren erzählten den jungen Damen ihre Abenteuer
auf der Jagd, bei den Pferderennen, ihre Heldenthaten
während ihrer militairiſchen Dienſtzeit, oder gefielen
ſich in Unterhaltungen, die ſcherzhaft und galant ſein
ſollten, und die für jedes feinere weibliche Gemüth
einfach plump und zweideutig waren. Indeſſen ſchienen
die jungen Damen leider an dieſe Sorte Unterhaltung
viel zu ſehr gewöhnt zu ſein, als daß dieſelbe irgend
einen unangenehmen Eindruck auf ſie hätte hervor¬
bringen können. Im Gegentheil, ſie ließen ſich ein
Glas Champagner nach dem andern aufnöthigen, ſie
wollten ſich todtlachen über die reizenden Einfälle der
[76] jungen Herren, beſonders des jungen Grafen Grieben,
eines ſehr langen, ſehr dünnen und ſehr blonden
Jünglings, deſſen Erſcheinung flüchtig an eine Giraffe
erinnerte, und der, wenn er wie diesmal nicht in un¬
mittelbarer Nähe Oldenburg's ſich befand, gern den
ſtarken Geiſt ſpielte und eine gewiſſe Autorität über
ſeine Kameraden ausübte. Oldenburg ſelbſt ſchien
entweder ein feuriger Verehrer des Gottes Bacchus
zu ſein, oder ein ganz beſonderes Vergnügen darin
zu finden, den bacchantiſchen Taumel um ſich her ge¬
fliſſentlich zu vermehren; denn er trank und ſprach
unaufhörlich und forderte die Andern unausgeſetzt zum
Trinken auf. Beſonders hatte er dabei von Cloten
im Auge, der im Anfang der Mahlzeit, durch Hor¬
tenſe's Vorwürfe aufgeſchreckt, ſehr ſtill und verlegen
geweſen war, kaum aber eine Flaſche getrunken hatte,
als er die ſchönen Vorſichtsmaßregeln, die ihm ſeine
Geliebte in aller Eile für dieſen kritiſchen Fall ge¬
gegeben, vergaß, und ihre abwehrenden Blicke mit
deſto feurigeren, und ihr geflüſtertes: „Aber Arthur,
nimm Dich doch zuſammen!“ mit einem faſt hörbaren:
„Aber, Kind, was willſt Du nur? es achtet kein Menſch
auf uns,“ beantwortete. Ja, der junge Edelmann
trieb die Unvorſichtigkeit ſo weit, bei einer Gelegen¬
heit, unter dem Vorwande ein Tuch aufzuheben, Hor¬
[77] tenſe's herabhängende Hand zu küſſen, ein andermal
ihr Glas mit dem ſeinen zu vertauſchen; mit einem
Worte, er benahm ſich ſo, daß, wer das Verhältniß
der Beiden noch nicht kannte, es heute Abend kennen
lernen, und wer es ahnte, in ſeinem Verdacht beſtätigt
werden mußte.


„Ich werde ſogleich nach Tiſche fahren, Oswald,“
ſagte Melitta zu dieſem, der in der letzten Viertel¬
ſtunde ſich faſt nur mit Emilie von Breeſen, ſeiner
Nachbarin auf der andern Seite, unterhalten hatte.


„Ich wollte, Du wärſt gar nicht gekommen, oder
hätteſt mich zu Hauſe gelaſſen,“ ſagte der junge Mann
bitter.


„Schilt mich nur noch,“ ſagte Melitta, und ſchmerz¬
lich zuckte es um den reizenden Mund. „Ach, Os¬
wald, ich wollte, ich könnte Dich mitnehmen — für
jetzt und für immer.“


„Hoffentlich erlaubt es Baron Oldenburg,“ ant¬
wortete Oswald, der bemerkte, wie die grauen Augen
des Barons, während er ſich lebhaft mit dem kleinen
Fräulein Klauß unterhielt, unausgeſetzt Melitta und
ihn ſelbſt beobachteten.


Melitta antwortete nicht, aber die Thräne, die
plötzlich an ihren dunklen Wimpern erglänzte und die
[78] ſie mit einer ſchnellen Bewegung ihres feinen Taſchen¬
tuchs ſogleich trocknete, war Antwort genug.


„Verzeih' mir, Melitta,“ murmelte Oswald, „aber
ich bin ſehr unglücklich.“


„Ich bin es nicht minder, vielleicht noch mehr —
und darum gerade möchte ich, daß Du ganz glücklich
wäreſt, wünſchte ich, ich könnte Dich ganz glücklich
machen.“


„Du kannſt es durch ein Wort!“


„Was iſt es, Oswald?“


„Sage, daß Du mich liebſt.“


„Oswald, ſo fragt die Liebe nicht, ſo fragt die
Eiferſucht.“


„Giebt es eine Liebe ohne Eiferſucht?“


„Ja, die echte Liebe, die nichts fürchtet, und Alles
glaubt.“


„So wäre meine Liebe nicht die echte? Freilich,
wie können wir, die wir nicht vom Adel ſind, auch
Anſpruch auf irgend etwas Echtes machen! Unſere
Mütter und Schweſtern tragen böhmiſches Glas ſtatt
Diamanten, wir ſelbſt haben keine echte Ehre, keine
echte Liebe — das iſt ja ſonnenklar.“


Wenn Oswald, indem er dieſe wahnſinnigen Worte
ſprach, in Melitta's Herz hätte ſehen können, ja wenn
[79] er nur einen Blick in ihr Geſicht geworfen hätte, er
würde vor Scham haben vergehen müſſen. Melitta
antwortete nicht; ſie weinte auch nicht, ſie blickte nur
ſtarr vor ſich hin, als könne ſie das Ungeheure nicht
begreifen, daß die Hand, die zu küſſen ſie ſich nieder¬
beugte, ſie in's Antlitz geſchlagen; daß der Fuß, den
mit Narden zu ſalben, ſie niedergekniet war, ſie grau¬
ſam zurückgeſtoßen habe... Wie hatte ſie ſich gefreut
auf dieſen Abend, wie ſchön hatte ſie es ſich gedacht,
mitten im Lärm der Geſellſchaft allein zu ſein mit
dem Geliebten, ſeinen Worten zu lauſchen, ſeine Hand
verſtohlen zu drücken, und während hübſche Frauen
und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in ſeinen
Augen zu leſen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta!
Und über dieſen Abend hinaus hatte eine roſige Zu¬
kunft ſich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land
der Hoffnung — nicht in deutlichen Umriſſen, aber
voll Ruhe und Liebe und Sonnenſchein... Aber da
hatte ſich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein
grauer giftiger Nebel, und hatte das ſonnige Land der
Zukunft immer dichter und dichter verſchleiert... Und
jetzt erſchien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz
des Geliebten wie von Haß verzerrt, und ſeine Stimme
drang ſeltſam fremd zu ihrem Ohr. War das ſein
Antlitz? war das ſeine Stimme, die jetzt die Worte
[80] ſprach: „Gnädige Frau, man hebt die Tafel auf, darf
ich um Ihren Arm bitten?“


Während ſie in den Reihen der Uebrigen die
Treppe hinunterſchritten, ſprach Melitta kein Wort;
auch Oswald nicht. Als ſie unten im Saale ange¬
kommen waren, verbeugte er ſich tief vor ihr, und
als er den Kopf hob, ſchaute er auf einen Augenblick
in ihr Antlitz. Er ſah, wie ſchmerzlich es um ihre
Lippen zuckte; er ſah, welch' rührende Klage aus ihren
großen dunkeln Augen ſprach — aber ſein Herz war
verſchloſſen, und er wandte ſich zu einer Gruppe junger
Mädchen und Herren, die das abgebrochene über¬
müthige Tiſchgeſpräch noch eine Weile fortſetzen zu
wollen ſchienen. Melitta ſah ihm noch für einen Mo¬
ment nach, ſah, wie die hübſche Emilie von Breeſen
ſich lebhaft zu ihm wandte, wie er ihr mit einem
Scherze entgegentrat, ſie lachend etwas erwiderte und
ihn mit ihrem Fächer auf den Arm ſchlug. Weiter
ſah ſie nichts mehr; als ſie ſich wiederfand, ſaß ſie
in der Ecke ihres Wagens. Auf die Bäume und Hecken
an der Wegſeite, die an dem Fenſter vorübertanzten,
fiel das helle Licht aus den Laternen, aber Melitta
ſah Alles nur wie durch einen Nebelflor, denn ihr
Herz und ihre Augen waren voll Thränen.

[[81]]

Viertes Kapitel.

Mit Melitta ſchien der gute Genius aus der Ge¬
ſellſchaft gewichen und allen Dämonen freies Spiel
gegeben. Immer lauter kreiſchten die Geigen, immer
feuriger wurden die Blicke der Herren, immer fri¬
voler ihre Rede, immer üppiger und leidenſchaftlicher
die Bewegungen der Tänzerinnen. Und noch immer
floß der Champagner in Strömen. Friſche Lichter
waren während des Abendeſſens überall auf den
Kronleuchtern der Säle und rings in den Zimmern
aufgeſteckt — es ſchien, als ob die Luſt kein Ende
nehmen ſolle, nehmen könne. Auch die älteren Herr¬
ſchaften hatten ſich wieder an die Spieltiſche begeben;
aus einem kleinen Nebenzimmer, in welches fünf oder
ſechs Herren ſich zurückgezogen hatten, hörte man das
Klingen von Goldſtücken und ein gelegentliches: Faìtes
votre jeu, messieurs
!


Oswald hatte ſich vor dem Beginn des zweiten
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 6[82] Tanzes nach Herrn und Frau von Grenwitz umgeſehen,
denn er hatte nicht bemerkt und erfuhr erſt jetzt, daß
dieſe die Geſellſchaft ſchon vor dem Abendeſſen ver¬
laſſen hatten, und daß der Wagen wiederkommen
würde, ihn abzuholen. Er hatte Melitta, da ſie nicht
in dem Ballſaal erſchienen war, in einem der andern
Zimmer vermuthet. Ein Diener, der mit einem Prä¬
ſentirbrette voll Weingläſern an ihm vorübereilte,
antwortete auf ſeine Frage, ob er Frau von Berkow
nicht geſehen habe? „die gnädige Frau iſt ſoeben fort¬
gefahren. Befehlen Limonade oder Champagner?“
Oswald nahm ein Glas Wein und leerte es auf einen
Zug. „Fortgefahren — ohne Abſchied! Vortrefflich,“
murmelte er, indem er ſich in den Ballſaal zurückbegab.


Und immer nächtiger wurde es in ſeiner Seele.
Jetzt zürnte er nicht mit ſich, daß er die Geliebte ſo
ſchnöde gekränkt und ſie ſo gekränkt hatte ziehen laſſen,
ſondern ihr, daß ſie fortgegangen war, ohne ihm
Gelegenheit zu geben, ſie um Verzeihung zu bitten.
Ihm war zu Muthe, wie einer Seele zu Muthe ſein
könnte, die in ihren Sünden zur Hölle gefahren iſt,
weil ſie des Prieſters Abſolution verſchmähte, und die
nun gegen ſich ſelbſt und gegen den unſchuldigen
Prieſter wüthet. Tolle Gedanken wirbelten durch ſein
überreiztes Gehirn — es wäre ihm eine Wolluſt
[83] geweſen, wenn einer von dieſen jungen Adeligen, durch
ſeinen Uebermuth beleidigt, ihm feindlich entgegen¬
getreten wäre. Ja, er legte es darauf an, er witzelte
und ſpöttelte auf die übermüthigſte Weiſe; aber ent¬
weder verſtanden die Halbberauſchten ihn nicht oder
ſie hatten noch ſo viel Verſtand behalten, einzuſehen,
daß ein Duell mit einem Manne, deſſen Kugel unfehlbar
war, eine Sache ſei, die wohl bedacht ſein wolle. Er
ſuchte ſich zu überreden, daß von den anweſenden
Damen mehr als eine vollkommen ſo ſchön und liebens¬
würdig ſei wie Melitta — daß es lächerlich ſei, ſich
um die Abweſende zu grämen, da ihm hier mehr wie
ein feuriges Auge zu entſchädigen verſprach. . . Warum
ſollte er ſich nicht in Emilie von Breeſen verlieben?
Warum nicht? Sie war eine Knospe, die zu einer
wundervollen Roſe aufblühen mußte. Warum ſollte
er nicht den erſten Blick in dieſes ſchwellende Knospen¬
leben thun? ſich nicht zuerſt an dem Duft dieſer friſchen
Blume berauſchen? Und war ſie nicht ſchlank und
geſchmeidig wie ein Reh? und war ihr roſiger Mund
nicht ſchon zu einem wollüſtigen Kuſſe halb geöffnet,
und blickte ſie nicht mit ſo großen, grauen, halb ſcheuen,
halb kecken, halb neugierigen und halb verſtändnißklaren
Augen zu ihm auf, wie er jetzt über die Lehne ihres
Stuhls gebeugt mit ihr ſchwatzte? . . .


6*[84]

„Sie müſſen uns ja beſuchen, Herr Stein! Ich
lade Lisbeth noch dazu, und dann reiten wir zuſammen
ſpazieren.“


„Laſſen Sie Fräulein von Meyen nur zu Hauſe.
Ich ziehe die Duetts den Terzetts bei weitem vor.“


„Iſt das wahr? Aber meine Couſine iſt ein ſehr
hübſches Mädchen. Finden Sie nicht?“


„Fräulein Lisbeth iſt ein reizendes Weſen, das
nur den einen Fehler hat, Sie zur Couſine zu haben,
und nur den einen Fehler begeht, ſich zu häufig neben
Sie zu ſtellen.“


„Warten Sie, das ſage ich ihr wieder —“


„Sie würden mich dadurch dem Haß der jungen
Dame ausſetzen und mir dafür eine Entſchädigung
ſchuldig ſein.“


„Und liegt dieſe Entſchädigung in meiner Macht?“


„Nein, in Ihren Augen.“


„Sie Spötter, kommen Sie, die Reihe iſt an uns.“


Oswald hatte ſich in der folgenden Pauſe zwecklos
in den Zimmern umhergetrieben. Als er in den Ball¬
ſaal zurückkam, ſah er ſich vergeblich nach Emilie von
Breeſen um. Halb und halb ſie ſuchend und auch
wieder ohne Plan, von ſeinen böſen Gedanken gejagt,
weiter irrend, gerieth er in eine andere Flucht von
Zimmern, die an der den Spielzimmern entgegenge¬
[85] ſetzten Seite an den Ballſaal ſtieß und in welchen er
bis jetzt noch nicht geweſen war. Nur hier und da
brannte noch ein halb verlöſchendes Licht auf einem
Wandleuchter oder vor einem Spiegel, und zeigte ihm
wie in einem böſen Traum ein altes verbräuntes Fa¬
milienportrait oder ſein eigenes bleiches Geſicht. Die
Stühle ſtanden wirr durcheinander. Die Fenſter waren
mit Vorhängen verhüllt. Durch die Spalten ſchim¬
merte der Mond, der jetzt aufgegangen war, herein
und zeichnete hier und da einen hellen Streifen auf
die Teppiche des Fußbodens, Oswald trat, um friſche
Luft zu ſchöpfen, an eins dieſer Fenſter. Als er den
dunkelrothen, ſchweren Vorhang zurückſchlug, fuhr eine
weiße Geſtalt, die in der tiefen Niſche des Fenſters
auf einem niedrigen Rohrſeſſel geſeſſen und den Kopf
in die Hand geſtützt hatte, ſcheu empor und ſtieß einen
leiſen Schrei der Ueberraſchung aus. Oswald wollte
den Vorhang wieder fallen laſſen und ſich zurückziehen,
als die Geſtalt einen Schritt auf ihn zutrat und die
Hand nach ihm ausſtreckte. . . Und ein Paar weiche
Arme umſchlangen ihn und ein knospender Buſen wogte
ſtürmiſch an ſeiner Bruſt; zwei glühende Lippen pre߬
ten ſich auf ſeinen Mund, und eine leiſe Stimme
hauchte: „Oswald, o mein Gott, Oswald!“


Ein Knabe, der mit ſeinem Schweſterchen geſpielt
[86] und aus Unachtſamkeit das Kind ſchwer verletzt hat,
kann nicht beſtürzter und erſchrockner ſein, wenn er
das Blut der Kleinen fließen ſieht, wie es Oswald
war, als er die Thränen des Mädchens auf ſeiner
Wange fühlte. Sein wahnſinniger Rauſch von Liebe
und Eiferſucht war in einem Augenblicke verflogen.
Was hatte er gethan? Er hatte die ſchnöde Rolle
des liſtigen Finklers geſpielt; er hatte das arme Vö¬
gelchen mit Schmeichelworten und Liebesblicken gelockt,
bis es zu ihm herangeflattert kam und ſich an ſeinen
Buſen ſchmiegte. . .


„Mein Fräulein,“ flüſterte er, indem er ſanft den
Kopf des Mädchens, das jetzt leiſe an ſeiner Bruſt
ſchluchzte, emporzuheben ſuchte, „Emilie, theures Kind,
um Gotteswillen, beruhigen Sie ſich! Bedenken Sie,
wenn Jemand Sie hier ſähe, oder hörte —“.


„Was gehn mich die Andern an, ich liebe Dich,“
murmelte das Mädchen.


„Mein beſtes Fräulein, ich beſchwöre Sie, kommen
Sie zu ſich, machen Sie ſich nicht unglücklich —“.


„So lieben Sie mich nicht,“ ſagte das leidenſchaft¬
liche Mädchen ſich ſchnell emporrichtend, „ſo lieben
Sie mich nicht? Gut, ich gehe —“.


Sie machte einen Schritt nach dem Vorhang hin
aber die Leidenſchaft hatte ihre Kräfte aufgezehrt.
[87] Sie ſchluchzte laut auf, und wäre zu Boden geſtürzt,
hätte Oswald ſie nicht in ſeinen Armen aufgefangen.
Seine Lage war ſo peinlich wie möglich. In jedem
Augenblick fürchtete er, Stimmen in dem Zimmer zu
hören, den Vorhang zurückſchlagen zu ſehen — und
wiederum, die Aermſte in dieſem Zuſtand halber
Ohnmacht zu verlaſſen, zumal da er ihr ſchicklicher¬
weiſe Niemand zu Hülfe ſenden konnte, war ihm un¬
möglich. Und doch mußte er ſich losreißen, denn er
fühlte, wie das für einen Augenblick zurückgedrängte
Fieber ſeiner Sinne, je länger dieſe wunderliche Si¬
tuation währte, wieder heiß und immer heißer durch
ſeine Adern zu rieſeln begann . . . zärtliche, liebe¬
volle, leidenſchaftliche Worte miſchten ſich, er wußte
ſelbſt nicht wie, in ſeine leiſen Bitten; eine unwider¬
ſtehliche Gewalt drückte ihm den ſchlanken jugend¬
lichen Leib feſter und feſter in die Arme, ließ ſeine
Lippen flüchtig die Lippen, die Augen, das Haar des
holden Geſchöpfes berühren. . . . Mehr als alle
Worte es vermocht hätten, brachten dieſe Zeichen der
Liebe das leidenſchaftliche Kind wieder zu ſich.


„So liebſt Du mich doch, Oswald?“ flüſterte ſie,
ſich innig an ihn ſchmiegend.


„Ja, ja, Holde, wer könnte ſo grauſam ſein,
Dich nicht zu lieben. Aber bei Ihrer Liebe beſchwöre
[88] ich Sie, verlaſſen Sie mich jetzt, ehe es zu ſpät iſt.
Ich ſehe Sie im Saale wieder“


Das Mädchen legte noch einmal ihren Kopf an
ſeine Bruſt, als ahnte ihr, daß er da zum erſten und
zum letzten Male geruht, und hob noch einmal den
Mund zum Kuſſe zu ihm empor, als wüßte ſie, daß
ſo ſüße verſtohlene Küſſe ſie nun und nimmer wieder
im Leben geben und empfangen würde. . . . Die
weiße, ſchlanke Geſtalt war verſchwunden und nur
der Mondſchein flimmerte auf dem dunkelrothen Vor¬
hang, der das Fenſter von dem Zimmer trennte.
Und jetzt, als Oswald die Hand an den Vorhang
legte, ſich, wo möglich auf einem Umwege wieder in
den Ballſaal zurückzubegeben, hörte er die Stimme
zweier Männer, die ſo eben in das Gemach traten.

[[89]]

Fünftes Kapitel.

„Wer zum Tauſend war denn das,“ ſagte die
eine Stimme — es war die Stimme des Baron Ol¬
denburg — „war das nicht die ſchlanke Emilie?“
Wonach hat denn die kleine Menſchenfiſcherin hier im
Trüben geangelt? — Aber jetzt, Barnewitz, ſage ich
mit Hamlet: Wo führſt Du hin mich? Red', ich geh'
nicht weiter. Zweimal habe ich ſchon in dem ver¬
dammten Clairobscur, das in dieſen Räumen herrſcht,
meine freiherrlichen Schienbeine mit einem groben
Schemelbeine in unangenehme Berührung gebracht.
Gott ſei Dank, hier iſt eine Cauſeuſe: eh bien, mon
ami, causons; que me vous?


„Ich bitte Dich, Oldenburg, ſei für einen Augen¬
blick ernſthaft,“ ſagte Herr von Barnewitz, und ſeine
Stimme klang ſeltſam gepreßt — „mir iſt wahrhaftig
nicht lächerlich zu Muthe.“


„Ihr ſeid ſeltſame Menſchen! Du und Deines
[90] Gleichen. Ihr glaubt, ein ehrlicher Kerl, könne kein
ernſthaftes Wort vorbringen, ohne eine Leichenbitter¬
miene dabei zu machen. Der Humor iſt Euch ein
unbekannter Luxus. Nun wohl, mein ernſthafter
Freund, was haſt Du?“


„Höre, Oldenburg —“.


„Still! wir ſind doch hier unbelauſcht? Mir war,
als hörte ich eine Ratte hinter den Tapeten?“


„Es war nichts.“


Eh bien, ſo verkünde mir in möglichſt verſtänd¬
lichen Worten Deine Trauermähr.“


Die Stimmen der Redenden wurden leiſer, aber
nicht ſo ſehr, daß Oswald nicht jedes Wort deutlich
hörte. Er verwünſchte ſeine Situation, die ihm die
Rolle des Lauſchers aufzwang; aber er ſah keine Mög¬
lichkeit zu entrinnen. Da Oldenburg Fräulein von
Breeſen erkannt hatte, würde er die Ehre dieſer
jungen Dame preisgegeben haben, wäre er jetzt aus
ſeinem Verſteck hervorgekommen. Er verſuchte, ob er
nicht geräuſchlos das Fenſter öffnen könne, um mit
einem kühnen Sprunge über die Stachelbeerhecke fort,
die ſich unter demſelben hinzog, in den Garten, und
von dort durch die offene Thür des Ballſaales in
dieſen zurückzugelangen, aber er ſtand von dieſem
Vorhaben, als zu gewagt ab, und ergab ſich, nicht
[91] ohne heimlich ſeinen Unſtern zu verwünſchen, in die
halb lächerliche, halb ärgerliche Situation.


„Oldenburg,“ ſagte Barnewitz, „hat Cloten Dich
gebeten, ihn zu meiner Frau zu ſetzen, oder war es
blos ein Einfall von Dir?“


„Wie kommſt Du auf dieſe ſeltſame Frage?“


„Gleichviel! beantworte ſie mir nur?“


„Nicht bevor ich weiß, wo dies Alles hinaus ſoll!“


„Ich will eine Antwort und keine Ausflucht,“
ſagte der wüthende Edelmann.


„Euer Drohen hat keine Schrecken, Caſſius,“ ant¬
wortete Oldenburg mit einem Tone, deſſen königliche
Ruhe ſonderbar mit dem heiſern, leidenſchaftlichen
Ton der Stimme des Andern contraſtirte. „Ich ſage
Dir noch einmal, Barnewitz, entweder Du ſagſt mir,
was meine Ausſage in dieſer Sache für eine Bedeu¬
tung hat, oder ich verweigere, Dir Rede zu ſtehen.“


„Nun wohl, die Sache iſt kurz und bündig die:
Cloten liebt Hortenſe!“


„O! und vice versa: liebt Deine Frau auch dieſen
liebenswürdigen Jüngling?“


„Der Teufel ſoll ihn holen.“


„Ein höchſt chriſtlicher Wunſch, dem ich mich von
ganzem Herzen anſchließe. Seit wann ſpielt dies
romantiſche Verhältniß?“


[92]

„Seit wir von unſrer Reiſe zurück ſind.“


„Und welche Beweiſe haſt Du?“


„Tauſend!“


„Und was gedenkſt Du zu thun?


„Herr Gott des Himmels, Oldenburg, Du fragſt,
als ob es ſich um eine Whiſtparthie handelte! Um¬
bringen will ich den Schuft, mit der Hetzpeitſche will
ich ihn von meinem Hofe jagen, ihn und ſeine Maitreſſe.“


Bon! Und willſt Du mir einen dieſer tauſend
Beweiſe nennen?“


„Nun, ich dächte der heutige Abend wäre Beweis
genug. Erſt läßt ſie ſich von ihm zu Tiſche führen,
hernach coquettirt ſie mit ihm auf eine unverſchämte
Weiſe —“.


„Halt, wer hat Dir das geſagt?“


„Der junge Grieben.“


„Dann ſage dem jungen Grieben, daß er ſein
Spatzengehirn zu etwas Beſſerem verwenden könnte,
als ſo alberne Geſchichten zu erfinden und ſie Dir
zuzutragen. Ich habe näher geſeſſen, als er, und
bin mindeſtens kein ſchlechterer Beobachter, und ich ſage
Dir, daß Deine Frau und Cloten ſich über Tiſche ſo
anſtändig benommen haben, wie — man es nur von
einem Edelmann und einer Edelfrau erwarten kann.
Und dann bedenke doch gefälligſt, daß das ganze
[93] Arrangement nur ein Einfall, und, wie ich jetzt ſehe,
ein ſchlechter Einfall von mir war.“


„Ich kann mich darauf verlaſſen, Oldenburg?“


„Ich meine gewöhnlich, was ich ſage.“


„Aber es iſt doch wahr!“ knirſchte von Barnewitz.


„Lieber Freund, ich kann darüber gar nicht urtheilen,
und Du würdeſt mich alſo ausnehmend verbinden,
wenn Du mich aus dem Handel ließeſt. Willſt Du
aber meinen freundſchaftlichen Rath, ſo ſteht er Dir
gern zu Dienſten.“


„Was ſoll ich thun.“


„Deine Hetzpeitſche an der Wand hängen laſſen,
und auf jede Weiſe einen Scandal vermeiden, in
welchem ſich derjenige immer am meiſten blamirt, auf
deſſen koſten der ganze Spectakel ſchließlich aufge¬
führt wird, c'est à dire: der Ehemann. Sodann
rathe ich Dir, zu bedenken, daß unſere chronique
scandaleuse
überreich iſt an dergleichen Geſchichten,
und daß, wenn alle gekrönte Häupter unter uns bei
jedem neuen Ende, daß ihrem Schmucke angeſetzt wird,
zur Hetzpeitſche greifen wollten, ſchließlich keine Seiler
und Riemer im Lande mehr aufzutreiben ſein würden.
Drittens erlaube ich mir, Dir den unmaßgeblichen
Rath zu ertheilen: ſchaffe die Hälfte von Deinen
Jagdhunden, und Deine ſämmtlichen Maitreſſen ab.
[94] Laſſe die Haſen ihren Kohl in Ruhe freſſen, und die
Bauerbengel ihre Schätze in Frieden küſſen; bekümmere
Dich mehr um Hortenſe, die wie alle Frauen, nichts
Beſſeres verlangt, als geliebt zu werden, und die eine
viel zu kluge Dame iſt, als daß ihr, wenn ſie die
Wahl zwiſchen Dir und Cloten hat, Deine Vorzüge
nur einen Augenblick verborgen bleiben könnten. Und
ſchließlich, laß uns wieder unter Menſchen gehen,
denn dieſes philoſophiſche Geſpräch in dieſem myſti¬
ſchen Halbdunkel hat mich außerordentlich angegriffen,
und mich verlangt herzinnig nach einem Glaſe Cham¬
pagner.“


„Ha, ha, ha,“ lachte der halb betrunkene Barne¬
witz, der, wie es bei beſchränkten Menſchen zu gehen
pflegt, aus einem Extrem in das andere verfiel; „Ja,
das iſt wahr, Oldenburg, ich bin ein ganz andrer
Kerl, als dieſer verdammte Haſenfuß, dieſer Cloten.
Und Hortenſe weiß das auch recht gut, ha, ha, ha!
S'iſt auch war: ich habe in der letzten Zeit ein
bischen flott gelebt. Weißt Du, unſre italieniſche
Reiſe hat mich eigentlich ſo liederlich gemacht. Die
verdammten Weibſen mit ihren ſchwarzen glänzenden
Augen — Ja und à propos, glänzende Augen. Was
ich Dich immer fragen wollte: iſt es denn jetzt ganz
vorbei mit Dir und der Berkow?“


[95]

„Mit mir und Frau von Berkow? Welch' tolle
Blaſe treibt denn Dein Gehirn nun ſchon wieder?
Was ſoll vorbei ſein zwiſchen ihr und mir?“


„Aber Oldenburg, Du wirſt einem alten Fuchs
wie mir doch nicht einbilden wollen, daß Du die ſüßen
Trauben nur immer fein ſäuberlich aus der Ferne
bewundert haſt?“


„Höre, mein Schatz,“ ſagte Oldenburg nur ſeine
Stimme klang ſcharf wie ein zweiſchneidiges Meſſer;
„Du weißt, ich verſtehe Scherz, wie Einer; wer es
aber wagt, Melitta's Ehre zu begeifern, beim allmäch¬
tigen Gott: er ſtirbt von meiner Hand.“


„Nun ſieh', wie heftig Du gleich wieder wirſt.“


„Ich heftig? Ich bin ſo kühl wie Champagner in
Eis. — Ja, was ich ſagen wollte, verſprich mir,
Barnewitz, daß Du weder heute noch morgen, über¬
haupt nicht bevor Du mit mir Rückſprache genommen,
etwas in dieſer Angelegenheit thuſt; vor allem Dir
gegen Deine Frau nicht das Mindeſte merken läßt;
hörſt Du Barnewitz, nicht das Mindeſte!“


„Ja, der gute Rath kommt nun zu ſpät,“ ſagte
Barnewitz; „ich habe ſchon im Vorübergehen ein
paar Worte gegen Hortenſe fallen laſſen; ich ſage
Dir: ſie wurde bleich wie die Wand. Der verdammte
Hallunke!“


[96]

„Das war ſehr unrecht, und ſehr unritterlich,
mein Ritter von der traurigen Geſtalt,“ ſagte Olden¬
burg; „alte Weiber ſchwatzen, Männer handeln; ſolche
Scenen zwiſchen einem heulenden Weibe und einem
polternden Ehemanne finde ich über alle Begriffe ple¬
bejiſch und gemein, und das Bewußtſein, das wir im
Rechte, der andere im Unrechte iſt, ſollte uns doppelt
mild, zartfühlend und nachſichtig machen. Im Un¬
rechte ſein, und es noch dazu eingeſtehen müſſen, iſt
an ſich ſchon Unglück genug.“


„Ach Oldenburg; das iſt Alles für mich zu hoch.
Und dann, Du kennſt die Weiber nicht, wenn Du
glaubſt, ſie nehmen ſich dergleichen ſo ſehr zu Ge¬
müth. Zum einen Ohr hinein, zum andern wieder
heraus. Komm Oldenburg, und überzeuge Dich, ob
Du Hortenſe anſehen kannſt, daß ich ihr vor zehn
Minuten geſagt habe, ich würde Cloten die Knochen
im Leibe entzweiſchlagen, wenn die verdammte Ge¬
ſchichte nicht ſofort ein Ende nähme.“


„Ja, ja, Du biſt der wahre Othello! Und ich in
meiner gutmüthigen Dummheit verſuche dieſen bru¬
talen Mohren zu einem civiliſirten Europäer zu
waſchen! Quelle bêtise!“


Als Oswald die Stimme der Redenden nicht mehr
vernahm, und die Muſik, die aus dem Saale herüber¬
[97] tönte, zeigte, daß der Tanz wieder begonnen hatte,
kam er aus ſeinem Verſteck hervor. Er vermuthete,
daß dieſe Flucht von Stuben auf einem langen Cor¬
ridor enden müſſe, den er beim Hinaufgehen in den
Speiſeſaal bemerkt hatte. Er hatte ſich nicht getäuſcht.
Schon aus dem nächſten Zimmer führte eine Thür
auf den Corridor. Aus demſelben gelangte er auf
den Hausflur und von dort, ohne irgend Aufſehen zu
erregen, in den Empfangsſaal und die Geſellſchafts¬
zimmer. Hier und da wurde noch geſpielt, aber die
meiſten Herrſchaften hatten ſich nach dem Ballſaale
begeben, wo demnächſt der Cotillon getanzt werden
ſollte. Dahin begab ſich denn auch Oswald. Sein
Auge ſuchte und fand alsbald Emilie von Breeſen.
Er traute ſeinen Augen kaum, ſo ganz ſchien ſie ihm
verwandelt; aus dem wilden Mädchen von heute
Nachmittag war eine Jungfrau geworden. Sie er¬
ſchien ihm größer und bedeutender; ihr vorher roſiges
Antlitz war jetzt bleich, aber ihre Augen leuchteten
mit einem ganz ungewöhnlichen Feuer, und für die
Scherze ihres Tänzers hatte ſie kein Lächeln mehr.
Sobald ſie Oswalds anſichtig wurde, zuckte ein Freu¬
denblitz über ihr Geſicht. Eifrig wandte ſie ſich zu
ihm, als er in ihre Nähe trat.


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 7[98]

„Auf ein Wort, Herr Doctor!“ — und dann im
leiſen Ton: „Ich tanze den Cotillon mit Ihnen, ich
weiß, Sie ſind nicht engagirt; ich habe den Grafen
Grieben ſo zur Verzweiflung gebracht, daß er ſo eben
mit ſeinen Eltern fortgefahren iſt. Er vermuthet
wahrſcheinlich, das werde großen Eindruck auf mich
machen, der Narr! Entſchuldigen Sie Herr von Sylow,
ich bin noch zu angegriffen. Tanzen Sie eine Extra¬
tour mit meiner Couſine. Sie ſchmachtet nach Ihnen.
— Gott ſei Dank, daß er fort iſt! — Oswald, und
Du liebſt mich? liebſt mich wirklich? Ich kann es
kaum glauben. Mir ſchwindelt der Kopf; ich möchte
laut aufjauchzen vor Luſt und Wonne. O, bitte, bitte,
ſieh' mich nicht ſo an, ich muß — muß Dir ſonſt
um den Hals fallen und Dich küſſen, wie vorhin.
Biſt Du mir bös, Oswald? Es war wohl recht ſchlecht
von mir. Aber ſieh', ich konnte nicht anders. Warum
ſprichſt Du nicht Oswald?“


„Weil es ſüß iſt, Ihrem Geplauder zuzu¬
hören.“


„Ich bin wohl ein rechtes Kind, nicht wahr? Aber
warum nennen Sie mich nicht Du?“


Glaubſt Du denn, Holde, daß man nur die liebt,
die man Du nennt?“


„Nein, aber daß man die Du nennt, die man
[99] liebt. O, ich finde dies Du ſo himmliſch. Gott ſei
Dank, der Tanz iſt zu Ende. Komm, wir wollen uns einen
guten Platz ſuchen, den dort in der Ecke, am Fenſter.“


Die Herren waren eifrig beſchäftigt, nach den
vorher von ihren Damen eingeholten Inſtructionen,
die Stühle zu arrangiren; ſchon war der Kreis faſt
geſchloſſen, als plötzlich durch das Plaudern und
Lachen der übermüthigen Jugend, und das Quinqui¬
liren der armen gequälten Muſiker auf ihren ſeit
einiger Zeit ſehr widerſpänſtigen Inſtrumenten, und
das Klappern der Gläſer und Taſſen auf Präſentir¬
brettern, und in den Händen der Durſtenden —
Stimmen aus dem Nebenzimmer ertönten, die nichts
weniger als feſtlich klangen — laute, von Wein und
Wuth heiſere Stimmen, — drohende Worte hinüber
und herüber — nur ein paar Worte, aber gerade
genug, um wenigſtens alle, die ſich auf dieſer Seite
des Saales befanden, für einen Moment aus ihrem
Freudentaumel aufzuſchrecken. Freilich auch nur für
einen Moment, denn ein mit unfeinen Worten ge¬
führter Streit war dieſer feinen Geſellſchaft nichts
Unerhörtes, und dauerte nicht immer ſo kurze Zeit,
wie diesmal. Auch dieſer Vorfall würde wie ſo viele
andere ähnliche kein weiteres Aufſehen erregt haben,
wenn nicht ein zweiter Vorfall, der ſich in dem Ball¬
7*[100] ſaale ereignete, dem erſteren eine eigenthümliche, und
für die Scharfſinnigeren wenigſtens keineswegs räth¬
ſelhafte Bedeutung gegeben hätte. Kaum waren näm¬
lich die drohenden, heiſeren Stimmen nebenan von
einer dritten, die eine große Autorität über die trun¬
kenen Lapithen ausüben mußte, zum Schweigen ge¬
bracht, als Hortenſe von Barnewitz, die mit dem
jungen Herrn von Süllitz den Cotillon tanzen ſollte,
den Arm dieſes Herrn faßte, der, ihre Bläſſe bemer¬
kend, ſchnell einen Stuhl herbeizog, auf welchem ſie
ohnmächtig niederſank. Die Beſtürzung der Geſell¬
ſchaft war natürlich ſehr groß. Trotzdem daß ein
Dutzend Riechfläſchen ſofort zur Hand waren, und
mit dem Inhalt derſelben die Stirn, die Augen, die
Schläfe der ſchönen Ohnmächtigen reichlich benetzt
wurden, dauerte es doch einige Minuten, bis Hortenſe
nur ſo weit zu ſich kam, um mit blaſſen Lippen den
ſie umgebenden Damen ihren Dank zuzulächeln, und
ſie mehr mit Blicken, als mit Worten zu bitten, ſie
aus dem Ballſaale zu führen, was denn auch alsbald
geſchah. Die Zurückbleibenden ſahen ſich einander
an, als wenn ſie fragen wollten; was hatte denn das
zu bedeuten?


„Mit dem Balle iſt es nun wohl vorbei?“ fragte
Adolph von Breeſen, der mit ſeiner jungen Couſine
[101] Lisbeth, welche er anbetete, zum Cotillon engagirt war,
kleinlaut Oswald, der neben ihm ſtand.


„Ich fürchte, ja,“ antwortete dieſer.


„Wir tanzen doch weiter?“ fragte eine dritte
Stimme.


„Unmöglich,“ ſagte Herr von Langen, „ich habe
ſchon anſpannen laſſen.“


„Was war denn eigentlich das vorhin für eine
Geſchichte zwiſchen Barnewitz und Cloten?“ fragte
ein Anderer.


„Was wird's ſein? Sie haben Beide ein Glas
über den Durſt getrunken. Das iſt Alles,“ ſagte
von Langen.


„Es ſollte mich ſehr freuen, wenn das Alles wäre,“
ſagte von Breeſen; „aber ich fürchte, dahinter ſteckt
mehr. Ich höre, daß Cloten über Hals und Kopf
davon gefahren iſt.“


Herr von Barnewitz erſchien an Oldenburgs Seite
in dem Ballſaal. Das Geſicht des Barons war ſo
ruhig wie immer, aber das des andern Edelmanns
war von Aufregung, Zorn und allzureichlich genoſſenem
Weine purpurroth; ſeine Augen ſchwammen, und ſeine
Stimme war etwas lallend, als er jetzt den Herrn,
die ihm in den Weg kamen, zuredete, den Ball fort¬
zuſetzen.


[102]

„Aufhören, nach Hauſe fahren — dummes Zeug —
laſſe keinen Menſchen vom Hofe — Heda! Champagner
hierher. — Nach Hauſe? Warum? meine Frau wird
alle Augenblicke ohnmächtig, mit und ohne Grund —
da könnte ich gar keine Geſellſchaft geben. Muſik an¬
fangen!“


Aber trotz dieſer gaſtfreundlichen Worte, deren
Wirkung durch das allzuſichtlich aufgeregte Weſen des
Sprechenden weſentlich beeinträchtigt wurde, und trotz
der erſten Töne der Inſtrumente, die mit einem wahr¬
haft ſchauerlichen Accord einſetzten, waren nur ſehr
Wenige bereit, den unterbrochenen Ball wieder aufzu¬
nehmen. Alle Uebrigen fanden plötzlich, daß es ſchon
ſehr ſpät ſei, daß man zu lange bei Tiſch geſeſſen
habe, daß es unverantwortlich wäre, ein Feſt fortzu¬
ſetzen, an welchem die Wirthin ſelbſt nicht mehr theil¬
nehmen könnte — und was dergleichen Phraſen denn
mehr ſind, durch die eine Geſellſchaft, die einmal
aufbrechen will, ihren Rückzug zu motiviren ſucht.
Schon hörte man einen Wagen nach dem andern
vorfahren. Mütter ſuchten ihre Töchter, dieſe ihre
Shawls und Fächer — überall ein Aufbrechen, Abſchied¬
nehmen, hier ein übermüthiger Scherz, dort eine bös¬
willige Bemerkung, hier ein verſtohlenes Liebeswort.
— Oswald ſah nicht viel Anderes, als die Geſtalt
[103] des hübſchen, leidenſchaftlichen Kindes, das ihm in den
wenigen Augenblicken ſo theuer geworden war. — Die
Liebe iſt etwas ſo Wunderbares, daß ſchon das bloße
Bewußtſein, dieſe dämoniſche Kraft in Anderen ent¬
feſſelt zu haben, hinreicht in uns eine Empfindung zu
erwecken, die, wenn ſie nicht Liebe iſt, der Liebe we¬
nigſtens täuſchend ähnlich ſieht. Die Liebe iſt ein
Spiegel, der unſer Bild ſo verklärt zurückſtrahlt, daß
ſelbſt die Klügſten, ſelbſt die Beſcheidenſten bei dieſem
Anblick ſich eines Gefühles des Stolzes nicht erwehren
können. Die Liebe macht uns zu einem Gott, und
wir müßten nicht Menſchen, nicht die Brüder des
Phaeton und des Ixion ſein, wenn es uns nicht Alle
gelüſtete, dann und wann ein wenig den Gott zu ſpielen,
oder mindeſtens einmal an der Tafel der Götter zu
ſpeiſen. Welcher Nektar aber kann ſo ſüß ſein, wie
die Küſſe von den thaufriſchen Lippen eines ſo holden
jungen Geſchöpfes? wie die Blicke aus den Augen
eines Mädchens, deſſen Buſen ſich zum erſten Male
in Liebesſehnſucht hebt? wie ihre verwirrte und doch
ſo verſtändliche Rede, dem Gezwitſcher eines jungen
Vögleins vergleichbar, das aus voller Bruſt heraus¬
ſingen möchte, und doch die rechten Töne noch nicht
finden kann? . . .


Und Oswald hatte noch vor wenigen Minuten
[104] ſolche Lippen geküßt, und Oswald ſah ſo junge, ſtrah¬
lende Augen voller Seligkeit zu ihm aufgeſchlagen,
und Oswald vernahm ſo leiſe, liebedurchglühte Worte.
Was Wunder, daß er in dieſen wenigen Momenten,
die ihm mit dem ſüßen Kinde noch beiſammen zu ſein
vergönnt waren, Liebe für Liebe gab, daß er dem letzten
Augenblicke, der ſie trennen würde, mit kaum ge¬
ringerer Angſt entgegenſah, wie das Mädchen ſelbſt,
welches bei der Ankündigung, der Wagen ſei vor¬
gefahren, faſt in Thränen ausbrach. Emilie hatte den
Augenblick, wo Oswald ſie nach dem Tanze zu ihrer
Tante zurückführte, wahrgenommen, ihn dieſer Dame,
die bei ihr Mutterſtelle vertrat, vorzuſtellen. Ein
paar gewandte, witzige Worte hatten ihn ſchnell bei
der Matrone, die mit dem beſten Herzen von der Welt
gern auf Koſten Anderer lachte, in Gunſt geſetzt.
Auch ſie lud Oswald ein, doch ja recht bald einmal nach
Candelin (dem Gute von Emilien's Vater, der Vater
litt für den Augenblick an der Gicht und hatte des¬
halb zu Hauſe bleiben müſſen —) herüber zu kommen.


„Ja, und dann wollen wir etwas nach der Scheibe
ſchießen,“ ſagte Adolf von Breeſen, der herantrat,
um den Damen anzukündigen, daß der Wagen da ſei.
„Ich lade noch ein paar Herren dazu, damit Sie ſich
nicht allzuſehr bei uns langweilen.“


[105]

„Ich beſitze das Talent, mich zu langweilen, nur
in einem ſehr beſcheidenen Maße, und überdies glaube
ich, daß die Gegenwart dieſer Damen und Ihre eigne,
Herr von Breeſen, ein beſſeres Präſervativ gegen
dieſe Krankheit iſt, als eine Geſellſchaft von hundert
Perſonen,“ ſagte Oswald mit höflicher Verbeugung.


„Siehst Du, Adolf,“ rief die lebhafte alte Dame,
„Herr Stein ſagt daſſelbe, was ich Dir ſchon tauſend¬
mal geſagt habe: nur langweilige Menſchen langweilen
ſich; zum Beiſpiel Du und Deine Schweſter, die ihr
jeden Tag hundertmal vor langer Weile ſterben wollt.“


„Ich langweile mich nie, Tante,“ rief Fräulein
Emilie eifrig.


„Kind, Du beginnſt irre zu reden, es iſt die höchſte
Zeit, daß wir nach Hauſe kommen. Alſo au revoir,
Monsieur
.“


„Ich bitte um die Gnade, Sie bis zum Wagen
begleiten zu dürfen," ſagte Oswald, der alten Dame
den Arm bietend.


„Vous êtes bien aimable, monsieur,“ erwiederte
ſie, den dargebotenen Arm annehmend. „Sind Sie
überzeugt, Herr Stein, daß Sie nicht von Adel ſind?“


„Wie von meinem Daſein, gnädige Frau. Wes¬
halb?“


„Hm; Sie haben in Ihrem ganzen Weſen etwas
[106] Chevalereskes, das man heut zu Tage nur zu ſelten
und nur bei unſern jungen Leuten aus den beſten
Familien findet. Adolf kann in dieſer Hinſicht noch
ſehr viel lernen. Hörſt Du, Adolf?“


„Ich höre ſtets auf das, was Sie ſagen, liebe
Tante,“ antwortete der junge Mann, der mit ſeiner
Schweſter folgte, „auch wenn ich, was Sie ſagen,
ſchon ein oder das andre Mal von Ihnen gehört haben
ſollte. Emilie, Kind, wo haſt Du denn die Augen,
Du wärſt um ein Haar unter das Rad gekommen!“


Die Damen waren eingeſtiegen, Adolf von Breeſen
gab dem Kutſcher auf dem Bocke noch eine Inſtruc¬
tion über den einzuſchlagenden Weg. Oswald ſtand
an der geöffneten Thür, die Tante hatte ſich ſchon
bequem in ihrer dunkeln Ecke zurecht geſetzt, Emilie
hatte ſich etwas nach vorn gebeugt. Das Licht von
den Laternen auf dem Bocke und vor der Hausthür
fiel auf ihr Geſicht. Ihre Blicke hingen unverwandt
an Oswald; aber ſie ſah ihn wol kaum, denn ihre
großen Augen waren von Thränen verſchleiert; ſie
wagte nicht zu ſprechen, aber ihr leiſe zuckender Mund
war beredt genug. Ihr Bruder ſprang in den Wagen
und zog die Thür hinter ſich zu. „Fort!“ die Pferde
zogen an. Eine kleine Hand in weißem Handſchuh
winkte aus dem Fenſter. Das war das letzte Liebes¬
[107] zeichen. Im nächſten Augenblick ſtand ein andrer
Wagen auf demſelben Platze.


Oswald kehrte in das Haus zurück. Die Geſell¬
ſchaft war ſchon ſehr zuſammengeſchmolzen; unter den
Wenigen, die noch da waren und, in Mäntel und
Shawls gehüllt, auf ihre Equipagen warteten, war
Niemand von denen, welche Oswald im Laufe des
Tages genauer kennen gelernt hatte. Herr von Langen
war der Erſte geweſen, der aufgebrochen war, nach¬
dem er ſeinen neuen Freund auf das dringendſte
wiederholt zu einem Beſuche aufgefordert hatte. Os¬
wald hatte ſich draußen erkundigt, ob der Wagen von
Grenwitz wieder da ſei, aber eine verneinende Ant¬
wort erhalten. Je mehr die Geſellſchaft ſich lichtete,
deſto unangenehmer wurde ihm dies ganz unbegreif¬
liche Ausbleiben. Er ſah ſchon im Geiſte, wie er der
letzte von Allen ſein würde, und hatte ſchon beſchloſſen,
lieber vorher zu Fuß aufzubrechen, als ſchließlich auf
die Gaſtfreundſchaft des Herrn von Barnewitz an¬
gewieſen zu ſein. Da kam der Baron Oldenburg aus
einem der Nebenzimmer und ſchien Jemand mit den
Augen zu ſuchen. Sobald er Oswald bemerkte, lenkte
er ſeine Schritte auf dieſen zu.


„Wie iſt es, Herr Doctor,“ ſagte er, „ich dächte,
es wäre Zeit nun abzufahren.“


[108]

„Ich wäre ſchon auf nnd davon,“ antwortete Os¬
wald, nur fehlt es mir vorläufig noch an Roß und
Wagen; ich vermuthe, daß des Barons Kutſcher und
Pferde, die mich abholen ſollen, unterwegs einge¬
ſchlafen ſind.“


„Ich mache mir ein beſonderes Vergnügen daraus,
Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten,“
ſagte der Baron. „Der kleine Umweg, den ich machen
muß, um Sie vor dem Thore in Grenwitz abzuſetzen,
wird mir durch das Vergnügen Ihrer Geſellſchaft
doppelt und dreifach entſchädigt.“


„Ich nehme Ihr freundliches Anerbieten mit
Dank an.“


Eh bien partons!“


Auf dem Flure trafen ſie Herrn von Barnewitz,
der augenſcheinlich ſeinen Pflichten als Wirth nur
noch mit der größten Mühe nachkam. Seine Augen
waren blutunterlaufen, ſeine Stimme war auf eine
unangenehme Weiſe rauh und heiſer. Er ſchwatzte
allerlei tolles Zeug durcheinander, während er den
einzelnen Gäſten, die er bis an den Wagen begleitete,
eine höfliche Phraſe mit auf den Weg zu geben be¬
müht war. „Wollen ſchon fort — na, bleiben Sie
gut nach Hauſe — Johann! Deinen Wagen für Frau
von Poggendorf — gnädige Frau müſſen noch einen
[109] Augenblick anſpannen laſſen. Empfehlen mich Ihrem
Herrn Gemahl! Ah! Poggendorf, alter Junge, hatte
Dich gar nicht geſehen, laß Deine Frau in Teufels
Namen allein fahren, wollen Glas Champagner — Ol¬
denburg, Doctor, auch ſchon fort? — Unſinn! freue
mich Ihre Bekanntſchaft zu machen — ſchießen wie
der Teufel — iſt recht, daß Sie den Cloten blamirt
haben — iſt ganz recht; biſt ein famoſer Kerl, Doc¬
tor, (zärtliche Umarmung), biſt mein Herzensfreund,
(Schluchzen), mein beſter Freund, (neue Umarmung),
hätteſt ihn todt ſchießen ſollen, den Hallunken.“


„Komm, Barnewitz, ich habe Dir etwas mitzu¬
theilen,“ ſagte der Baron, Herrn von Barnewitz ziem¬
lich derb auf die Schulter ſchlagend und ihn ein paar
Schritte von dem Wagen fortführend. „Entſchuldigen
Sie auf eine Minute, Herr Doctor; Karl! Platz
machen, daß die andern Wagen vorfahren können.“


Die Beiden gingen eine Weile im Geſpräch auf
und ab, bald in dem Dunkel des Hofes faſt ver¬
ſchwindend, bald in den lichten Kreis, der das Haus
umgab, tretend. Oswald konnte ſich wol denken, wo¬
von zwiſchen den Beiden die Rede war. Ein paar
Mal erhob Herr von Barnewitz ſeine Stimme, aber
er ſenkte ſie auch alsbald wieder vor einem „St!“
oder „biſt Du nicht geſcheut?“ Oldenburg's, wie eine
[110] wilde Beſtie in der Menagerie aufbrüllt und ſofort
ſchweigt, wenn der Blick oder die Peitſche des Herrn
ſie trifft. „Dieſer Mann übt eine magiſche Gewalt
über die Andern aus,“ ſagte Oswald bei ſich, während
er die lange Geſtalt des Barons neben dem um einen
Kopf kleineren Barnewitz, wie das perſonificirte böſe
Gewiſſen neben einem armen Sünder, hin- und her¬
ſchreiten ſah — „ich ſelbſt verſpüre ſchon ſeine Ein¬
wirkung. Es iſt ein Dämon in dem Manne, ein
Dämon, den man entweder lieben oder haſſen, oder
vielmehr lieben und haſſen muß, denn ich möchte
dieſen Menſchen gern haſſen und kann es nicht. Und
was hat er Dir denn ſchließlich auch gethan? Wenn
er Melitta noch immer liebt, wie ich glaube, ſo bin
ich für ihn ein ſchlimmerer Feind, als er für mich.
Aber warum hat mir Melitta nicht geſagt, wie ihr
Verhältniß mit dem langen Geſpenſt dort war und
iſt? ich hätte ſie heute nicht gekränkt. Arme Melitta!
wie ſie mich anſah — und was würde ſie ſagen, wenn
ſie die Scene in der Fenſterniſche geſehen hätte? . . .
Das ſüße, herzige Mädchen! — und auch ihre Augen
waren voll Thränen, als ſie im Wagen ſaß und mich
ſo unverwandt anblickte. O! wer könnte ſo grauſam
ſein, die Liebe dieſes holden Geſchöpfes zurückzuweiſen?
Und dennoch:


[111]
„All dieſes Neigen von Herzen zu Herzen —

Ach, wie ſo eigen ſchaffet es Schmerzen.“

Heiliger Goethe, bitt' für mich! Du haſt ja auch
die Lilie nicht verſchmäht, weil die Roſe ſo ſchön iſt,
und deshalb umgiebt nun ein Kranz von Roſen und
Lilien Dein ambroſiſches Haupt. Du hätteſt die kleine
Emily an Dein großes Herz genommen und hätteſt
ihr ſanft die üppigen Haare aus der Stirn geſtreichelt
und hätteſt ſie zärtlich auf die zärtlichen Augen ge¬
küßt. O, ihr ewigen Sterne, wie reizend das Kind
in dem Augenblicke war! Denn, Alles in Allem, iſt
es doch nur ein Kind, und morgen wird ſie in ihrem
Daunenbettchen erwachen und glauben, daß ſie die
Scene in dem Erker geträumt hat.“


So ſuchte Oswald ſein Gewiſſen zu beſchwichtigen —
für den Augenblick gelang es ihm auch.


„Darf ich jetzt bitten einzuſteigen, Herr Doctor?“
rief der Baron, der mit Herrn von Barnewitz heran¬
trat. „Es bleibt alſo dabei, Barnewitz?“


„Verlaß Dich darauf!“ ſagte dieſer, dem die Unter¬
redung mit ſeinem Mentor und die kühle Nachtluft
ſehr wohl gethan zu haben ſchienen. „Verlaß Dich
d'rauf. Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß ich —“


„St! ſitzen Sie bequem, Herr Doctor? Adieu,
Barnewitz! fort, Karl!“

[[112]]

Sechstes Kapitel.

Die Pferde zogen im Galopp an, der leichte Hol¬
ſteiner-Wagen raſſelte über den etwas holprigen Damm
des Hofes. Im Nu lag das Schloß mit ſeinen noch
immer lichterhellten Fenſtern, die dunklen Scheunen
und Ställe, die kleinen Häuslerwohnungen hinter ihnen,
und ſie befanden ſich draußen zwiſchen den nickenden
Kornfeldern und den nebelverhüllten Wieſen. Die
kurze Sommernacht ging zu Ende. Im Oſten ver¬
kündete ein hellerer Streifen den neuen Tag; die
Dämmerung breitete über Alles gleichmäßig ihren
grauen Schleier. Gerade vor ihnen nach Norden
wetterleuchtete es von Zeit zu Zeit aus den trüben,
dichten Dunſtmaſſen. Alles war noch ſtill auf den
weiten Feldern, ſelbſt die Lerche, die Tagverkünderin,
ſäumte noch. Oswald hatte ſich in ſeine Ecke zurück¬
gelehnt, und ſah träumend in die Dämmerung hinaus,
nur manchmal, wenn der Dampf von des Barons
[113] Cigarre an ihm vorbeifuhr, wandte ſich ſein Blick auf
dieſen, der den Hut etwas in den Nacken geſetzt, den
Kragen ſeines Rockes in die Höhe geſchlagen, die
langen Beine von ſich ſtreckend, in Nachdenken ver¬
ſunken ſchien. So mochten ſie wol eine Viertelſtunde
lang ſchweigend neben einander geſeſſen haben, als
der Baron plötzlich ſagte:


„Sie rauchen ja nicht?“


„Nein.“


„Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?“


„Ich danke: ich bin kein Raucher!“


„Das iſt wunderbar.“


„Weshalb?“


„Weil ich nicht begreifen kann, wie es ein Menſch
im neunzehnten Jahrhundert aushalten kann, ohne
Taback oder Opium zu rauchen, Haſchiſch zu kauen
oder ſonſt auf irgend eine Weiſe das katzenjämmerliche
Gefühl ſeiner elenden Exiſtenz in etwas abzuſchwächen.
Und gerade von Ihnen begreife ich es am wenigſten.“


„Warum gerade von mir?


„Weil, wenn mich nicht Alles täuſcht, Sie vor
Sehnſucht nach der blauen Blume tödtlich erkrankt
ſind, und in dieſer unbefriedigten Sehnſucht auch
eines ſchönen Tages ſterben werden. Sie erinnern
ſich doch der blauen Blume in Novalis' Erzählung?
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 8[114] der Blume, nach der Heinrich von Ofterdingen's
armes Herz verſchmachtete? Die blaue Blume! Wiſſen
Sie, was das iſt? Das iſt die Blume, die noch
keines Sterblichen Auge erſchaute, und deren Duft
doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Creatur iſt
fein genug organiſirt, dieſen Duft zu empfinden; aber
die Nachtigall iſt von ihm berauſcht, wenn ſie beim
Mondenſchein oder in der Dämmerung des Morgens
ſingt und klagt und ſchluchzt, und all die närriſchen
Menſchen waren es und ſind es, die früher und jetzt
in Proſa und Verſen dem Himmel ihr Weh und Ach
klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen
kein Gott gab, zu ſagen, was ſie leiden, und die in
ihrer ſtummen Qual zum Himmel blicken, der kein
Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieſer Krank¬
heit iſt keine Rettung — keine, als der Tod. Wer
nun einmal den Duft der blauen Blume eingeſogen,
für den kommt keine ruhige Stunde mehr in dieſem
Leben. Als wäre er ein verruchter Mörder, als hätte
er den Herrn von ſeiner Schwelle geſtoßen, ſo treibt
es ihn weiter und immer weiter, wie ſehr ihn auch
ſeine wunden Füße ſchmerzen und es ihn verlangt,
das müde Haupt endlich einmal zur Ruhe zu legen.
Wol bittet er, von Durſt gequält, in dieſer oder jener
Hütte um einen Labetrunk, aber er giebt den leeren
[115] Krug ohne Dank zurück; denn es ſchwamm eine Fliege
in dem Waſſer, oder das Gefäß, und wäre es von
Asbeſt, war nicht reinlich, und ſo oder ſo — Er¬
quickung hatte er ſich nicht getrunken. Erquickung!
Wo iſt das Auge, in das wir einmal geſchaut haben,
um nie wieder in ein anderes, glänzenderes, feurige¬
res ſchauen zu wollen; wo iſt der Buſen, an dem
wir einmal ruhten, um nie wieder das Pochen eines
anderen, wärmeren, liebedurchglütheren Herzen hören
zu wollen? wo? ich frage Sie wo?“


Der Baron ſchwieg: Oswald fühlte ſich auf die
ſeltſamſte Weiſe bewegt. Was der ſonderbare Mann
an ſeiner Seite in einem faſt elegiſchen Tone, der
auffallend mit ſeiner ſonſtigen herben, rauhen Sprach¬
weiſe conſtratirte, wie träumend, wie mit ſich ſelbſt
redend, ſprach, das waren ſo ganz ſeine eigenen Ge¬
danken, die er oft und oft, als Knabe ſchon, und
immer wieder im Leben gehabt, daß ihm faſt ein
Grauen ankam vor dieſer geiſtigen Doppelgängerei.
Er fand keine Antwort auf eine Frage, die er ſelbſt
aufgeworfen zu haben ſchien.


„Es hat mir immer viel zu denken gegeben“, hub
der Baron wieder an, „daß der Menſch ſich ſelbſt, ſeine
Exiſtenz erſt mehr oder weniger vergeſſen muß, bevor
er in den Zuſtand kommt, den wir in Ermangelung
8*[116] andern Wortes mit glücklich bezeichnen, und das wir
ihn um ſo glücklicher nennen müſſen, je tiefer dieſe
Vergeſſenheit iſt. The best of life is but intoxi¬
cation, ſagt Lord Byron; ja wohl! die Liebe, die
Romeo- und Julieliebe, für die man in den Tod geht,
wie zu einem heitern Feſt, iſt auch nur ein Rauſch!
Schlafen iſt beſſer, als wachen, ſagt die Weisheit der
Inder; das Beſte von allen aber iſt der Tod.“


„Und doch tödten ſich im Verhältniß ſo wenig
Menſchen“ — warf Oswald ein.


„Ja, das iſt merkwürdig genug,“ ſagte der Baron,
„beſonders heut' zu Tage, wo die Meiſten ſich ſelbſt
vor den Hamlet-Träumen, die uns in jenem ewigen
Schlafe kommen möchten, nicht mehr fürchten.“


„Sollte dies nicht ein Beweis dafür ſein, daß es
mit dem vielgeklagten Unglück dieſer Leute ſo ſehr
arg nicht ſein kann?“


„Vielleicht, vielleicht beweiſt es aber auch nur, wie
ſchwer es dem Menſchen wird, die letzte Hoffnung
ſchwinden zu laſſen. Warum ſchleppt ſich der verirrte
Wandrer mechaniſch weiter durch den tiefen Schnee,
warum ſpäht der arme Schiffbrüchige auf Salas y
Gomez ein halbes Jahrhundert über die öde Waſſer¬
wüſte nach dem rettenden Segel? warum zerſchellt
ſich der auf Lebenszeit Eingekerkerte nicht den Kopf
[117] an der Wand ſeines Kerkers? warum erhängt ſich
der arme Schelm, der morgen früh hingerichtet wer¬
den ſoll, nicht heute Nacht ſchon in ſeinen Ketten —
weil ihr Unglück ſo groß nicht iſt? Pah, glauben Sie
doch das nicht — einzig und allein, weil noch immer
ein ſchwacher Schimmer von Hoffnung, von Rettung
durch die Hölle ihrer Leiden dämmert, wie dort der
blaſſe Streifen im Oſten. Wenn auch dieſer matte
Schimmer einmal verlöſchte, dann, ja dann muß die
alte Mutter Nacht ihr armes, verirrtes Kind wieder¬
nehmen, die milde, gute, liebevolle Todesnacht.“


Nach einer kurzen Pauſe, während welcher der
Baron mächtige Dampfwolken aus ſeiner Cigarre ge¬
blaſen hatte, fuhr er in etwas ruhigerem Tone fort:


„Ich bin ein paar Jahre älter, als Sie, und das
Geſchick verſtattete mir, in kürzerer Zeit ein größeres
Stück vom Leben zu ſehen, als es ſonst wohl den
Menſchen gegeben iſt. Ich habe das, wovon der
graue Freund dem jungen Wolfgang in Leipzig eine
möglichſt große Portion wünſchte: Erfahrung. Ich
könnte, müßte wenigſtens mittlerweile erfahren haben,
das für mich und Meinesgleichen keine Hoffnung
mehr im Leben iſt, und dennoch, trotzdem das ich
ſage: ich habe keine Hoffnung mehr, hoffe ich im
Stillen doch noch immer auf ein mögliches Glück, wie
[118] der Schwindſüchtige auf Geneſung. Nehmen Sie zum
Beiſpiel eine Geſellſchaft, wie die, aus der wir eben
kommen. Ich weiß, wie hohl die Freuden dieſer
Menſchen ſind, ich weiß wie kummervolle Geſichter,
welch' erbärmliche Armenſündermienen ſich hinter den
lachenden Geſellſchaftsmasken verſtecken — ich weiß,
daß dieſes hübſche Mädchen in zehn Jahren eine un¬
glückliche Frau, oder eine Idiotin iſt, daß dieſer
prächtige Junge, der den Kopf ſo hoch trägt und
ausſieht, als ob er ſämmtliche zwölf Arbeiten des
Herkules an einem Tage verrichten könne, ein plumper
Landjunker ſein wird, der gegen die Bauern das jus
primae noctis
geltend macht und nebenbei ſeine Frau
womöglich prügelt — das weiß ich, und weiß noch
mehr, und habe es tauſend- und aber tauſendmal im
Leben geſehen, und doch bin ich noch ſo wenig blaſirt,
daß dieſe trügeriſche Fata Morgana eine zauberiſche
Wirkung auf mich hat, bin ſo wenig ernüchtert, daß
jede hübſche Mädchenblume die Hoffnung in mir er¬
weckt, ich könnte wirklich einmal im Leben lieben oder
geliebt werden, daß jede jugendlich ſchöne männliche
Erſcheinung mich wieder an Freundſchaft glauben macht.
Hätten Sie mir ſolchen Unſinn zugetraut?“


„Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie ſo denken, ſo
fühlen könnten.“


[119]

„Und darin hatten Sie vollkommen Recht“, ſagte
der Baron; „ich denke und fühle ſo auch nur, wenn
ich, wie jetzt, complet betrunken bin. — Was war das?“


Ein greller Schrei tönte aus geringer Entfernung
durch den ſtillen Morgen zu ihnen herüber, — und
noch einmal, ſchriller, verzweifelnder, wie wenn ein
Weib — denn es war eines Weibes Stimme — das
Meſſer in des Mörders Hand blinken ſieht. Vor
ihnen in geringer Entfernung lag ein Stück Wald¬
land; der Weg führte daran herum, das Geſchrei
mußte von der andern Seite kommen, die jetzt noch
durch ein paar einzeln ſtehende Eichen und durch
dichtes Unterholz verdeckt war.


„Zu, Karl! zu!“ ſchrie der Baron.


Der Kutſcher hieb kräftig in die Pferde. Die
edlen Thiere, wie voll Entſetzen über eine ſo unwürdige
Behandlung, ſtürmten mit einer Schnelligkeit dahin,
die den Inſaſſen des Wagens leicht hätte gefährlich
werden können. Im Nu war die Waldecke erreicht.
Sobald ſie einen Blick auf die andere Seite werfen
konnten, bot ſich ihnen das ſeltſamſte Schauſpiel dar. —
Ein ſeltſam gekleidetes, braunes Weib, um deren bläu¬
lich ſchwarze Haare ein Stück rothes Zeug turban¬
artig gewunden war, lief kreiſchend her hinter drei
Reitern, die ihre Roſſe zur größten Eile ſpornend, im
[120] nächſten Augenblicke ſchon in einer neuen Biegung des
Weges hinter den Bäumen verſchwunden waren. Als
der Wagen des Barons herandonnerte, ſprang das
Weib auf die Seite, und rief mit gellender Stimme,
die Hände flehend erhebend: „Mein Kind — mein Kind!
ſie haben mir mein Kind geraubt!“


Nur mit Mühe konnte der Kutſcher die Pferde zum
Stehen bringen. Oswald, der in dem Weibe ſofort
die braune Gräfin erkannt hatte, war vom Wagen herab¬
geſprungen.


„Rette mein Kind, Herr! rette mein Kind!“
ſchrie die Zigeunerin, ſich vor ihm niederwerfend und
ſeine Knie umklammernd.


Der Baron lachte.


„Eine ungeheuer romantiſche Situation, Herr Doc¬
tor!“ rief er vom Wagen herab. „Morgendämmerung,
Wälderrauſchen, Zigeuner, des Königs Hochſtraße, —
wahrhaftig: reiner Eichendorf! Unterdeſſen daß Sie
die ſchöne Beraubte tröſten, will ich den Räubern
nachſetzen, die übrigens nur Schafe in Wolfskleidern,
das heißt ein paar unſrer hohlköpfigen Junker ſein
werden, die das Ganze für einen genialen Spaß halten.“


„Der auf dem Schimmel war der junge Herr
von Nadelitz,“ ſagte der Kutſcher, der die wilden
Pferde kaum halten konnte, über die Schulter gewandt.


[121]

„Zu!“ rief der Baron, „wir wollen die Junker
Mores lehren!“


Der Wagen donnerte weiter.


Die Zigeunerin hatte ſich wieder erhoben. Sie
ſah dem Wagen nach, der in raſender Schnelligkeit
auf dem höckrigen Waldweg dahinfuhr und jetzt hinter
der vorſpringenden Ecke verſchwand. Ein ſeltſames
Lächeln flog über ihr Geſicht, während ſie, in athem¬
loſer Aufmerkſamkeit lauſchend, daſtand. Dann, als
ihr ſcharfes Ohr das Rollen des Wagens nicht mehr
vernahm, kreuzte ſie die nackten Arme über der vollen
Bruſt, deren unruhiges Wogen einzig von dem Sturm,
der eben noch ihren ganzen Organismus erſchüttert
hatte, zeugte, und ſtarrte, in tiefes Nachdenken ver¬
ſunken, düſter vor ſich nieder. Plötzlich hob ſie den
Kopf und ſagte, die großen glänzenden Augen auf
Oswald heftend:


„Kennſt Du den ſchwarzen Mann, der mir die
Czika wiederbringt?“


„Ja, Iſabel.“


„Iſt er Dein Freund?“


„Nein.“


„Aber er wird es einſt ſein?“


„Vielleicht.“


„Iſt er gut?“


[122]

„Ich halte ihn dafür.“


„Gedenkſt Du noch des Nachmittags am Sumpfes¬
rand, Herr?“


„Ja Iſabell.“


„Kannſt Du die Stelle wiederfinden?“


„Ich glaube ja; — weshalb?“


„Willſt Du, wenn wiederum der volle Mond, wie
heute Nacht, am Himmel ſteht, den ſchwarzen Mann
an dieſe Stelle führen? O, ſage: ja! bei Deiner
Liebe zu der ſchönen, guten Frau, bei den Gebeinen
Deiner Mutter beſchwöre ich Dich, ſage: ja!“


Die Zigeunerin hatte ſich abermals vor Oswald
auf die Knie geworfen, und blickte, die Hände über
den Buſen kreuzend, flehend zu ihm empor.


„Steh auf, Iſabel;“ ſagte der junge Mann; „ich
will Deinen Wunſch erfüllen, wenn ich kann.“


Die Zigeunerin ergriff ſeine Hände, die er nach
ihr ausſtreckte, ſie vom Boden zu heben, und küßte
ſie mit leidenſchaftlicher Dankbarkeit. Dann ſprang
ſie empor, eilte über die Breite des Weges dem Walde
zu, und war im nächſten Augenblicke ſchon in dem
dichten Geſtrüpp, durch das ſie mit der Kraft und
Schnelligkeit des Hirſches brach, verſchwunden.


Ehe ſich Oswald von dem ſprachloſen Erſtaunen,
[123] in welches ihn das räthſelhafte Betragen der braunen
Gräfin verſetzt hatte, erholen konnte, vernahm er ſchon
das Rollen des Wagens, der in derſelben Eile, mit
der er ſich vorher entfernt hatte, zurückkam. Aber,
bevor das Fuhrwerk die vorſpringende Waldecke, hinter
der es verſchwunden war, erreicht hatte, hielt es
plötzlich, und um die Büſche herum kam der Baron,
im bloßen Kopf, die kleine Czika auf dem Arm tragend.


„Wir haben gejagt, wir haben gefangen;“ rief er
ſchon von weitem. „Die feigen Wölfe ließen, ſobald
ſie ſahen, daß ſie verfolgt wurden, die ſchöne Beute
fahren, und machten, daß ſie davon kamen. — So,
Du kleiner Ganymed, nun ſieh' zu, ob Dich Deine
Füße wieder tragen. —“


Der Baron ließ das Kind aus ſeinen Armen auf
den Boden gleiten. „Aber, wo iſt denn die Mutter
geblieben, oder wer ſonſt das braune Weib war?“
fragte er, erſtaunt, Oswald allein zu finden.


Oswald theilte ihm in kurzen Worten mit, was
ſich während ſeiner Abweſenheit zugetragen hatte.


„Nun, das iſt nicht übel;“ ſagte der Baron; „die
Sache wird immer romantiſcher, Vollmond, Sumpfes¬
rand, ein ſchlaues ägyptiſches Weib und zwei gute
deutſche Jungen, die ſich nasführen laſſen! — Was
ſollen wir denn mit der Czika, wie Sie die kleine
[124] Prinzeſſin nennen — denn ich wette, es iſt ein ge¬
ſtohlenes Königskind — unterdeſſen anfangen?“


„Wenn wir ſie nicht auf der offenen Landſtraße
zurücklaſſen wollen, werden wir uns wohl entſchließen
müſſen, ſie mit uns zu nehmen.“


„Aber das Kind wird nicht mit uns gehen wollen.
Höre, kleine Czika, willſt Du mit mir gehen?“


„Ja, Herr,“ ſagte das Kind, das bis jetzt, ohne
eine Spur von Beſorgniß, Furcht oder Angſt zu ver¬
rathen, ruhig dageſtanden hatte.


„Hm!“ ſagte der Baron, „da komme ich ja zu
einem Adoptivkinde, ich weiß nicht wie.“


Er war mit einem Male ſehr ernſt geworden. Er
ſtreichelte der Czika die blauſchwarzen ſeidenen Locken
von der feinen Stirn, und betrachtete ſie lange un¬
verwandt.


„Wie ſchön das Kind iſt!“ murmelte er; „wie
wunderſchön! Und wie groß es geworden iſt! — Komm
mit mir, kleine Czika, Du ſollſt es gut, ſehr gut bei
mir haben; ich will Dich mehr lieben als Deine
Mutter, die Dich ſo ſchnöde verlaſſen, Dich je geliebt
hat.“


„Mutter verläßt die Czika nicht;“ ſagte das Kind,
ruhig zum Baron emporblickend; „Mutter iſt, wo die
Czika iſt; Mutter iſt überall.“


[125]

Sich von den Männern abwendend, legte es die
Händchen an den Mund; und in den ſtillen Wald
hinein gellte ein Schrei, dem Ruf des jungen, hung¬
rigen Falken täuſchend ähnlich.


Das Kind neigte den Kopf und lauſchte; der
Baron und Oswald hielten unwillkürlich den Athem an.


Da ertönte aus dem Walde, aber offenbar ſchon
aus größerer Entfernung, die Antwort: Der helle,
wilde Schrei des alten Falken, wenn er aus ſeiner
luftigen Höhe, tief unter ſich, die ſichere Beute er¬
ſpäht hat.


„Siehſt Du, Herr,“ ſagte das Kind; „Mutter
verläßt die Czika nicht; wenn Du die Czika mit Dir
nehmen willſt, die Czika will mit Dir gehen.“


„Nun denn, ſo komm, Du junge Falkenbrut!“
ſagte der Baron das Kind bei der Hand ergreifend.
„Kommen Sie, Doctor! Ich glaube, daß Karl den
Riemen, der vorhin riß, wohl wieder zuſammengeflickt
haben wird. Da kommt er ſchon. Alles in Ord¬
nung, Karl?“


„Ja, Herr.“


Die Herren ſtiegen ein, und nahmen das Kind
zwiſchen ſich.


„Fort!“ rief der Baron; „ſcharfen Trab!“

Bald kamen ſie aus dem Walde auf die weite
[126] Haide, die ſich zwiſchen Faſchwitz und Grenwitz hin¬
zieht, dieſelbe Haide, auf der Oswald die alte Frau
aus dem Dorfe getroffen hatte. — Es war noch eine
halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Am öſtlichen
Himmel legte ſich ein Purpurſtreifen über den andern.
Die Luft wehte vom Meere her kühl über das feuchte
Moor.


Die kleine Czika hatte ſich dicht an den Baron
geſchmiegt, und war feſt eingeſchlafen.


„Wie leicht das Kind gekleidet iſt,“ ſagte dieſer;
„es wird ſich erkälten in der ſcharfen Morgenluft.“


Er richtete ſich in die Höhe, zog ſeinen Ueberrock
aus; hüllte die Kleine hinein, nahm ſie auf den
Schooß, und legte ihren Kopf an ſeine Bruſt.


„So, ſo!“ ſagte er gütig, „ſo, ſo! und dann zu
Oswald, der in Nachdenken über den räthſelhaften
Charakter des Mannes an ſeiner Seite verſunken,
ſchweigend dageſeſſen hatte: „Ich komme Ihnen ein
ganz klein wenig toll vor; nicht wahr, Doctor?“


„Nein,“ ſagte dieſer, den Kopf emporhehend;
„nicht im mindeſten.“


„Das kommt, weil Sie an derſelben Krankheit
laboriren. Was Andere vor Erſtaunen ſprachlos
macht, erſcheint uns ganz natürlich; und was die guten
Leute und ſchlechten Muſikanten für ganz ſelbſtver¬
[127] ſtändlich halten, kommt uns oft geradezu fabelhaft
vor. Ihnen wird es z. B. nicht unglaublich er¬
ſcheinen, wenn ich Ihnen ſage, daß mir dieſes Kind
hier nun ſchon zum dritten Male im Leben begegnet,
und daß ich ſo abergläubiſch bin, in dieſer dreimaligen
Begegnung viel mehr zu ſehen, als einen bloßen Zu¬
fall, wie ich denn überhaupt mit Wallenſtein der
Meinung bin, daß es keinen Zufall giebt.“


„Und wo und wann glauben Sie die Czika ge¬
ſehen zu haben?“


„Das erſte Mal vor vier Jahren in England.
Ich ritt mit einem paar meiner engliſchen Freunde in
einem abgelegenen Theile des Hyde-Park. Als wir
im Galopp um eine Ecke biegen, ſteht ein Kind da —
ein braunes Kind mit großen, glänzenden, ſchwarzen
Augen — und hebt die Händchen bittend empor.
Ich achtete ſeiner, in lebhaftem Geſpräch begriffen,
kaum. Als wir ein paar hundert Schritte weiter ge¬
ritten ſind, packt es mich plötzlich wie mit Geiſter¬
hand. Ich kann die Empfindung, die mich überkam,
nicht beſchreiben. Mir war, als hätte ich, an dieſem
holden, hülfloſen Geſchöpf gleichgültig vorüberreitend,
einen Frevel begangen, der mich zu dem Erbärm¬
lichſten aller Menſchen machte. Ich warf mein Pferd
herum, und jagte, wie wahnſinnig, nach dem Orte zu¬
[128] rück. Das Kind war verſchwunden. Ich rief nach
ihm; ich ſtieg ab; ich durchſuchte die nächſten Ge¬
büſche; die Freunde halfen, trotzdem ſie über meine
Tollheit, wie ſie es nannten, lachten. Vergebens.


Das zweite Mal ſah ich das Kind in Aegypten.
Es ſind jetzt gerade zwei Jahre. Wir, das heißt,
eine kleine Karavane von Nilfahrern, die ſich zufällig
zuſammengefunden hatten, durchzogen, auf Eſeln reitend,
die engen, winkligen Straßen Aſyuts. Neben einer
offenen Thür, durch die wir auf den ſtillen, ſchattigen
Hof einer Moſchee blickten, ſtand in der Niſche der
Mauer ein Kind, älter wie das Kind aus dem Hyde-
Park, und jünger wie das, welches hier in meinen
Armen ruht, aber daſſelbe braune Kind mit den blau¬
ſchwarzen Locken und den leuchtenden Gazellenaugen.
Wieder ſtreckte es die Händchen bittend nach den Vor¬
übergehenden aus, und rief den Ruf, den Sie überall
in Aegypten hören: Buickſchieſch, Howadji! Almoſen,
o Kaufleute! Ich ſah das Kind, und ſah es auch
wieder nicht, denn ich war in einer jener verzweifelten
Stimmungen, wie ſie mich manchmal überkommt, wo
ich Ohren und Augen offen habe, und dennoch weder
ſehe, noch höre. Als wir um eine Ecke in die nächſte
Straße biegen, überkommt mich genau daſſelbe Ge¬
fühl, wie damals im Hyde-Park. Ich ſpringe vom
[129] Eſel herab, laufe, was ich kann, nach der Stelle zu¬
rück. — Die Niſche war leer. Die Thür zum Hofe
der Moſchee ſtand, wie geſagt, offen. Der Hof hatte
auf der anderen Seite eine zweite, ebenfalls nicht ver¬
ſchloſſene Thür, die auf eine der Hauptſtraßen führte,
in der ſich um dieſe Stunde, — es war in der Abend¬
dämmerung — Menſchen, Kameele und Eſel durch¬
einander drängten. Das Kind war und blieb ver¬
ſchwunden, und mit ſchwerem Herzen kehrte ich zu
meiner Geſellſchaft zurück, die ſich mein Davonlaufen
menſchenfreundlichſt durch die Annahme, ich ſei ur¬
plötzlich toll geworden, erklärt hatte. — Halten Sie
es für möglich, daß dieſes Kind, das ich zuerſt im
engliſchen Nebel und das zweite Mal unter dem warmen
Himmel Aegytens geſehen habe, mir jetzt in dem deutſchen
Buchenwalde zum dritten Male begegnet?“


„Und wäre es nicht dasſelbe Kind, und — offen
geſtanden, ich halte es für äußerſt unwahrſcheinlich,
daß es dasſelbe iſt;“ antwortete Oswald; „es müßte
Ihnen dasſelbe ſein. Ich glaube an den Weltgeiſt,
den ewig gleichen, der ſich hinter den Dingen verbirgt,
den ewig wechſelnden; ich glaube, daß jene Lerche, die
dort aus dem Haidekraut aufſteigt, und ſingend zum
Himmel ſchwebt, dieſelbe Lerche iſt, zu der ich als Kind
entzückt emporſchaute, bis ſie den ſcharfen Augen im
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 9[130] blauen Raum verloren war; ich glaube, daß alle Helden
Brüder ſind und daß jeder Unglückliche eben derſelbe
Nächſte iſt, den, wie uns ſelbſt zu lieben, Vernunft
und Herz gleich gebieteriſch von uns heiſchen. — Ob
dieſes Kind daſſelbe iſt, nach dem Sie nun ſchon
zweimal vergeblich ſuchten — darauf kommt es nicht
an; wohl aber darauf, daß Sie nach ihm ſuchten, daß
der Ruf des armen verlaſſenen Geſchöpfes jedesmal
durch das Erz, mit dem Sie gefliſſentlich ihre Bruſt
umpanzern, bis zu Ihrem Herzen drang. . . Verzeihen
Sie einem Manne, den Sie an Erfahrung und an
Geiſt ſo weit überragen, dieſe Sprache, zu der ihn
nichts berechtigt, als die Hochachtung, die er, halb
gegen ſeinen Willen, vor Ihnen empfindet. Und ver¬
ſtatten Sie mir noch dies eine Wort! Wenn Sie ſich
entſchließen könnten, dies Kind zu lieben, ſo wäre es
für Sie ein Geſchenk, köſtlicher und reicher, als Alla¬
dins Wunderlampe. Liebe iſt allenthalben, außer in
der Hölle, lautet ein tiefſinniges Wort Wolframs von
Eſchenbach; daß heißt: wo keine Liebe iſt, da iſt die
Hölle. Die Liebe iſt der Duft der blauen Blume,
der, wie Sie vorher ſagten, die ganze Welt erfüllt, und
in jedem Weſen, das Sie von ganzem Herzen lieben,
haben Sie die blaue Blume gefunden, nach der Sie
Ihr Leben lang vergeblich ſuchten.“


[131]

Ein unſägliches wehmüthiges Lächeln umſpielte des
Barons Lippen, während Oswald dieſe Worte ſprach.


„Sie löſen ſo doch das Räthſel nicht,“ ſagte er
leiſe und traurig, „denn eben die Bedingung, daß wir
von ganzem Herzen lieben müſſen, wollen wir die
Qual los werden, die uns das Leben zur Hölle macht,
können wir ja nicht erfüllen. Wer von uns kann denn
noch mit ganzen Herzen lieben? Wir Alle ſind ſo ab¬
gehetzt und müde, daß wir weder die Kraft noch den
Muth haben, die zu einer wahren, ernſten Liebe gehören,
zu jener Liebe, die nicht ruht und raſtet, bis ſie jeden
Gedanken unſers Geiſtes, jedes Gefühl unſers Herzens,
jeden Blutstropfen unſerer Adern ſich zu eigen gemacht
hat. Wenn Sie noch jung und gut und gläubig genug
zu einer ſolchen Liebe ſind — wohl Ihnen! Von mir
kann ich nur wiederholen, was ich vorhin ſchon ſagte:
ich habe es aufgegeben, die blaue Blume zu finden,
die wunderholde Blume, die nur dem Glücklichen blüht,
der noch mit ganzem Herzen lieben kann. — Doch
hier ſind wir vor dem Thore von Grenwitz, und wir
müſſen ein Geſpräch abbrechen, daß ich in allernächſter
Zeit mit Ihnen forſetzen zu können hoffe und wünſche.
Leben Sie wohl, und erkundigen Sie ſich recht bald
perſönlich nach dem Befinden des kleinen Weſens, das
ja Ihr Schützling faſt noch mehr iſt, wie der meine.“


9*[132]

Der Wagen entfernte ſich raſch. Oswald ſchaute
ihm noch lange nach; dann ſchritt er, geſenkten Hauptes,
über die Brücke und über den Hof dem Schloſſe zu.
Die Sonne war aufgegangen und badete die grauen
Mauern in Frührothlicht; in dem thaufriſchen Garten
jubelten die Vögel, — aber für Oswald lag ein grauer
Schleier über dem köſtlichen Morgen, denn in ſeinem
Ohre klangen die Worte des Barons: Wer von uns
kann denn noch mit ganzem Herzen lieben; wer von
uns hat denn noch ein ganzes Herz?

[[133]]

Siebentes Kapitel.

„Hat Dir das Schläfchen gut gethan, lieber Gren¬
witz?“ fragte die Baronin.


„Ich danke, liebe Anna-Maria, recht gut,“ er¬
wiederte der alte Baron.


Es war in der Nachmittagsſtunde des Tages nach
dem ereignungsreichen Balle in Barnewitz; die Re¬
denden befanden ſich in demſelben, nach dem Garten
hinaus liegenden Zimmer des Schloſſes, in welchem
vor ungefähr acht Tagen die Unterredung zwiſchen
der Baronin und Melitta ſtattgefunden hatte. Die
Baronin ſaß wieder, wie damals, in der Nähe der
geöffneten Flügelthür, die nach dem großen Raſenplatz
führte, auf welchem Melitta's Augen Oswald zum
erſten Male erblickten, und wieder nähte die muſter¬
haft fleißige Frau emſig und unverdroſſen, als müßte
ſie ſich ihr tägliches Brod mit der Nadel verdienen.
Der Baron ſaß ihr gegenüber in demſelben Schaukel¬
[134] ſtuhl, in welchem ſich Melitta gewiegt hatte. Er er¬
wachte ſo eben aus einem erquickenden Nachmittags¬
ſchlaf und ſchaute mit den alten, glanzloſen Augen
freundlich durch die offene Thür auf den Raſenplatz,
wo ſein Liebling, der Pfau, das prächtige Gefieder
im Sonnenſchein erglänzen ließ.


„Recht gut!“ wiederholte er, die Glieder ſtreckend.


„Aber Du ſiehſt doch ſehr angegriffen aus;“ ſagte
die Baronin, die großen, kalten grauen Augen for¬
ſchend auf die verwitterten Züge des Barons heftend;
„dieſe anſpruchsvollen, lärmenden Geſellſchaften ſind
wahres Gift für Dich; und ich habe mir ſchon, wäh¬
rend Du ſchliefſt, im Stillen rechte Vorwürfe gemacht,
daß ich geſtern nicht früher zum Aufbruch mahnte.“


„Aber ich verſichere Dich, liebe Anna-Maria, ich
befinde mich vortrefflich, das heißt, nicht ſchlechter,
wie gewöhnlich, oder doch nicht viel ſchlechter,“ ſagte
kleinlaut der gute alte Mann, der ſchon ſeit vielen
Jahren gewohnt war, den Ausſprüchen ſeiner Anna-
Maria, die er über Alles liebte und verehrte, niemals
direkt zu wiederſprechen.


„Du mußt Dich in dieſer Zeit noch recht in Acht
nehmen,“ ſagte dieſe, wieder emſig nähend; „heute
über acht Tage ſpäteſtens müſſen wir reiſen, und Du
wirſt zu den Strapazen einer ſo großen Tour Deine
[135] ganze Kraft nöthig haben. Wollte Gott, wir wären
Alle ſchon glücklich wieder hier! Ich entſchließe mich
wahrlich höchſt ungern dazu. Deine angegriffene Ge¬
ſundheit — die Gefahren einer Seereiſe — und dann:
wird Dir das Bad in Helgoland auch wirklich gut
thun? Doctor Braun verſichert es freilich, aber wer
kann den Aerzten trauen? Schlägt eine Kur an, trium¬
phiren ſie, und ſchlägt ſie nicht an, ſind nicht ſie daran
Schuld, ſondern der Patient, der ſich nicht ordentlich
gehalten hat. Und was kümmert es den Herrn Doc¬
tor, ob Du geſund oder krank zurückkommſt, ob Du
lebſt oder ſtirbſt — aber ich, aber wir —, o Gren¬
witz, was ſollte wol aus uns werden, wenn Du uns
genommen würdeſt!“


Die Baronin blickte von ihrer Arbeit empor, und
in ihren Augen blickte etwas, das man bei einer an¬
dern Frau für eine Thräne gehalten haben würde.


Der alte Baron erhob ſich von ſeinem Stuhl, trat
auf ſeine Frau zu und küßte ſie zärtlich auf die Stirn.


„Du mußt Dir nicht ſolche Gedanken machen,
liebe Anna-Maria,“ ſagte er gütig. „Der liebe Gott
wird mich noch nicht ſo bald ſterben laſſen; ich bete
jeden Morgen zu ihm und danke ihm für jeden neuen
Tag, den er mir ſchenkt, nicht meinethalben, denn ich
bin ein alter Mann und ſterben müſſen wir ja Alle
[136] einmal — ſondern Deinethalben, weil ich weiß, wie
ſehr Dich mein Tod ſchmerzen würde, und auch, weil
ich noch gern, bevor ich ſterbe, Deine und Helenen's
Zukunft geſichert ſehen möchte.“


Der alte Mann hatte ſich wieder geſetzt und aus
einer goldenen Doſe, die neben ihm auf einem runden
Tiſchchen ſtand, eine Priſe genommen, um die Rüh¬
rung, in die er ſich hineingeſprochen hatte, ſchneller
zu überkommen; die Baronin nähte wieder eifrig an
ihrer Arbeit.


„Du biſt ſo gut,“ ſagte ſie, „viel zu gut, denn
Du biſt es ſelbſt gegen die, welche Deine Güte in
keiner Weiſe verdienen, und Du haſt Dir dadurch
manche ſchwere Sorge bereitet, deren Du mit ein
wenig mehr — ich will nicht ſagen: Egoismus, denn
ich haſſe das Wort — aber mit etwas mehr Discre¬
tion überhoben geweſen wäreſt. Du biſt jetzt für
meine und Helenen's Zukunft beſorgt, mit Recht be¬
ſorgt. Dieſe Sorge wäre unnöthig, hätteſt Du nicht,
als Du vor vierundzwanzig Jahren das Majorat
erbteſt, die Güter zu wahren Spottſummen an Leute
verpachtet, die jetzt auf Deine Koſten reich geworden
ſind und noch dazu die Unverſchämtheit haben, uns
als habſüchtig zu verſchreien, weil wir im nächſten
Jahre die Contracte nicht unter den alten Bedingun¬
[137] gen erneuern wollen; und hätteſt Du nicht — was
ich nie habe begreifen können und nie begreifen
werde, — damals ohne alle Noth die enormen Schul¬
den Harald's übernommen, deren Abtragung Alles
verſchlang, was Deine und ſpäter unſere Sparſamkeit
von unſern Renten erübrigen konnte.“


Dem alten Baron ſchien das von ſeiner Gemahlin
angeſchlagene Thema nicht beſonders angenehm: er
nahm, während ſie ſprach, eine Priſe über die andere
und antwortete, als ſie jetzt ſchwieg, nicht ohne einige
Lebhaftigkeit:


„Ich kann Dir nicht ganz Unrecht geben, liebe
Anna-Maria, aber auch nicht ganz Recht. Die alten
Contracte ſind allerdings den Pächtern ſehr günſtig,
aber die Zeiten waren damals auch andere; das Geld
war nach dem Kriege äußerſt knapp, die Güter im
Allgemeinen ſtanden ſehr niedrig im Werth, und unſere
Güter waren, allerdings durch Harald's Schuld, in
Grund und Boden gewirthſchaftet. Die Pächter hatten
wahrlich im Anfang ihre liebe Noth, und wenn ſie
jetzt mit der Zeit reich und unverſchämt geworden
ſind, ſo bin ich an dem einen ſo wenig Schuld, als
an dem andern. Ich habe es gut mit ihnen gemeint,
das weiß der liebe Gott. Was aber mein Benehmen
Harald's Gläubigern gegenüber anbetrifft, ſo weiß ich
[138] wirklich noch heute nicht, wie ich es hätte anders ein¬
richten ſollen. Die Ehre meiner Familie erforderte,
daß ich ſeine Schulden übernahm, denn nicht dem
Baron Harald von Grenwitz, der, das wußten die
Leute recht gut, bei der Unantaſtbarkeit des Majo¬
rats niemals ſeine Schulden bezahlen konnte, hatten
ſie creditirt, ſondern der Familie Grenwitz, die nicht
zugeben würde, daß Einer aus der Familie ehrlos
werde. Und dann hatte ich gegen meinen Vetter
Pflichten der Dankbarkeit. Als er und ich junge
Offiziere im Regimente waren, und auch im ſpäteren
Leben, hat er ſtets wie ein Bruder gegen mich ge¬
handelt. Es iſt wahr, ich habe ſeine Güte nie ge¬
mißbraucht, und für jedes Hundert Thaler Schulden,
die er für mich bezahlt hat, habe ich Tauſend für ihn
bezahlt, aber er würde mich, davon bin ich überzeugt,
aus jeder Verlegenheit geriſſen haben, denn ſeine Frei¬
gebigkeit kannte keine Grenzen.“


„Du ereiferſt Dich ohne Noth, lieber Grenwitz,
ganz ohne Noth,“ ſagte die Baronin ruhig, während
der alte Mann von der ungewohnt langen und leb¬
haften Rede erſchöpft in den Stuhl zurückgeſunken
war, „es fällt mir nicht ein, Dir Vorwürfe machen
zu wollen. Du weißt, wie wenig Werth ich ſelbſt
auf Reichthum lege, wie gering meine perſönlichen
[139] Bedürfniſſe ſind, und daß, wenn ich mir über die
Zukunft Sorgen mache, es nicht meinethalben, ſon¬
dern der Kinder wegen iſt.“


„Ich weiß es, liebe Anna-Maria,“ ſagte der
Baron; „ich weiß es. Ich habe Dir nicht weh thun
wollen, und ich bitte Dich wegen meiner Heftigkeit
um Verzeihung.“


Eine Pauſe in dem Geſpräche der Gatten erfolgte.
Die Baronin nähte emſiger wie je, der Baron hatte
ſich ſeine Brille aufgeſetzt, ein Zeitungsblatt ergriffen,
das der Poſtbote vor einer Stunde gebracht hatte,
und begann, die Lippen leiſe bewegend — denn Leſen
und Schreiben war des guten Mannes Sache nie ge¬
weſen — ſich in die Lecture deſſelben zu vertiefen.


„Perſonalveränderungen in der Armee‘“ murmelte
er; „der Oberſt von —, der Major von —, lauter
alte Bekannte. Der junge Grieben ſchon Premier-
Lieutenant — das geht ſchnell. Dem Seconde-Lieu¬
tenaut Felix von Grenwitz — Erſuchen — Abſchied —
ei der Tauſend! ich dachte, Felix wolle nur um Urlaub
einkommen, und hier leſe ich, daß er ſeinen Abſchied
genommen hat.“


„In der That!“ ſagte die Baronin, die betreffende
Stelle in dem Blatte, das ihr der Baron hinreichte,
leſend, „nun das freut mich, freut mich ſehr. Ich
[140] will es nur geſtehen, lieber Grenwitz, daß ich ſelbſt
Felix dieſen Rath ertheilt, und ſeinen Austritt aus
der Armee mit zu den Bedingungen gerechnet habe,
die er erfüllen müßte, bevor wir ihm unſere Helene
geben könnten.“


„Aber warum das?“ fragte der Baron erſtaunt.


„Warum?“ antwortete die Baronin. „Nun, ich
dächte, lieber Grenwitz, der Grund wäre doch klar
genug. Ich dächte es wäre die allerhöchſte Zeit, daß
Felix ein anderes Leben beginnt, und darauf möchten
wir doch wohl vergeblich warten, ſo lange er in den¬
ſelben Kreiſen und denſelben Verhältniſſen bleibt, wo
er ſeine Lebensweiſe nicht ändern könnte, ſelbſt wenn
er wollte. Ich ſehe aus dieſem Schritt, der auch
mich überraſcht — denn ich glaubte nicht, daß er ſich
ſo ſchnell dazu entſchließen würde, — daß es ihm
wirklich ernſtlich um die Hand Helenens zu thun iſt;
und, wie geſagt: ich freue mich, freue mich ſehr
darüber.“


„Aber, liebe Anna-Maria“, ſagte der Baron, ſich
hinter dem Ohr reibend, faſt verdrießlich; „wir laden
uns auf dieſe Weiſe Verpflichtungen auf, die wir am
Ende gar nicht erfüllen können. Wenn nun unſer
Kind, wenn Helene nun —“


„Nicht will — meinſt Du?“ unterbrach ihn die
[141] Baronin, ſich in ihrem Stuhl in die Höhe richtend,
und die Augenbrauen zuſammenziehend; „o, ich denke
ſie wird wollen; ich denke, ſie wird nicht vergeblich
gelernt haben, daß ein Kind den Eltern Gehorſam
ſchuldig iſt.“


„Aber, wenn ſie den [Felix] nun nicht lieben kann?“
ſagte der alte Mann bekümmert.


„Aber, Grenwitz! ich begreife Dich nicht;“ erwie¬
derte die Baronin; „dieſe Heirath iſt ſeit langer Zeit
unſer liebſter Wunſch geweſen. Helene hat die paar
tauſend Thaler, die wir bis jetzt zurückgelegt haben
und die Erſparniſſe, die wir in den kommenden Jahren
etwa noch machen können, abgerechnet, kein Vermögen;
denn Stantow und Bärwalde gehören vorläufig noch
nicht uns, ſondern, Dank der Freigebigkeit des freige¬
bigen Barons Harald — jedem beliebigen Abenteurer,
der unverſchämt genug iſt, mit ein paar gefälſchten
Zeugniſſen in der Hand, die Güter für ſich zu bean¬
ſpruchen. Felix' Güter ſind allerdings ſehr verſchuldet,
ich gebe es zu; aber er kann, wenn er nur will, und
ich bin überzeugt, daß er jetzt zur Vernunft gekommen
iſt, ſich mit unſrer Hülfe wieder herausreißen, und
wenn Malte, was der Allgütige verhüten wolle! —
aber in ſolchen Dingen muß man an Alles, ſelbſt das
Aeußerſte denken, und Malte's Geſundheit macht mir
[142] unbeſchreibliche Sorge — wenn, ſage ich, Malte ja
vor der Zeit ſterben ſollte, ſo iſt Felix Herr von
Grenwitz und ich dächte, es müßte Dir ein lieber Ge¬
danke ſein, Deine Tochter ſo gleichſam an Malte's
Stelle treten zu ſehen.“


In dieſem Augenblick öffnete ſich langſam die
Thür, ein bebrilltes Geſicht ſchaute vorſichtig herein,
und eine quäkende Stimme fragte:


„Darf ich näher treten, Gnädigſte?“


„Ah, ſieh, der Herr Paſtor!“ ſagte der Baron,
aufſtehend und dem Eintretenden entgegengehend,
„ſein Sie beſtens willkommen? Wollen Sie nicht
ablegen?“


„Bitte, bitte, Herr Baron — bemühen Sie ſich
doch ja nicht — ich kann ja ſelbſt — danke verbind¬
lichſt!“ ſagte Paſtor Jäger, Hut und Stock auf einen
Stuhl legend; „ich wollte mich gar nicht aufhalten;
— danke verbindlichſt — ich würde einen Rohrſtuhl
vorziehen — danke! — ich wollte mich nur nach dem
Befinden der gnädigen Herrſchaften erkundigen, denn
ich hörte heute Morgen, daß Sie das Zauberfeſt in
Barnewitz geſtern mit Ihrer Gegenwart beehrt haben.
Recht gut bekommen? Nicht ſonderlich? O! die Frau
Baronin ſehen in der That etwas angegriffen aus —“
und der Paſtor blickte, den Kopf, wie ein kranker
[143] Papagei auf die rechte Schulter neigend, mit dem
Ausdruck innigſten Bedauerns auf die Baronin.


„Ich befinde mich leidlich,“ ſagte dieſe, die Arbeit,
die einen Augenblick geruht hatte, wieder ergreifend;
„aber Grenwitz ſcheint die Tour weniger gut bekom¬
men zu ſein.“


„O, in der That!“ ſagte der Paſtor den Kopf
ſchnell auf die linke Schulter neigend. „Darf ich
Ihnen von meinen Tropfen offeriren, Herr Baron?
ſechs bis zwölf auf Zucker?“


„Sie ſind doch der wahre Arzt für Seele und
Leib;“ ſagte die Baronin, während der Paſtor auf
eine abwehrende Bewegung des Barons ſein Fläſch¬
chen wieder in das Papier wickelte und in die Taſche
ſteckte.


„Ja, ja: mens sana in corpore sano, ein ge¬
ſunder, das heißt ein frommer Geiſt in einem geſun¬
den Körper, — das habe ich als Knabe in der
Schule gelernt, und ſuche es jetzt als Mann zu üben.
— Wo ſind denn aber die lieben Knaben? Noch beim
Unterricht? Ja, ja, der Herr Doctor Stein ſcheint
ein ſehr ſtrebſamer, fleißiger junger Mann, unter
deſſen Anleitung die Junker es mit Gottes Hülfe
recht weit bringen werden.“


Nun glaubte der Paſtor Jäger mit dieſen Oswald
[144] geſpendeten Lobſprüchen etwas dem Baron und mehr
noch der Baronin beſonders Wohlgefälliges geſagt zu
haben. Oswald's ruhiges, ſicheres Auftreten hatte
ſeiner feigen Seele gewaltig imponirt; Primula Beris,
deren Urtheile über Dinge und Menſchen ihm Evan¬
gelien waren, hatte ſeit acht Tagen nur das Lob des
jungen „Gaſtfreundes“ geſungen, der ihr in einer
Stunde mehr Verbindliches geſagt hatte, als ihr ſonſt
vielleicht in einem Jahr geſagt wurde; heute Morgen
hatte Frau von Plüggen, die Nachbarin und gute
Freundin Primulas, dieſer einen Beſuch gemacht, um
ihr von dem geſtrigen Balle den pflichtſchuldigen Be¬
richt abzuſtatten. Frau von Plüggen, eine Dame, die
ſchon erwachſene Töchter hatte, aber noch immer gern
die jugendliche ſpielte, war entzückt von Oswald,
welcher ihr mit ſcheinheiliger Miene verſichert hatte,
ſie könne ſich getroſt für ihre jüngſte Tochter ausge¬
ben. Sie erzählte der horchenden Primula, welche
Senſation Oswald's Geſchicklichkeit im Schießen unter
den jungen Männern hervorgebracht, welche Anerken¬
nung ſeine ſchöne Geſtalt, ſeine feinen Manieren in
der Damenwelt gefunden; wie er mit Hortenſe ge¬
tanzt, Frau von Berkow zu Tiſche geführt habe; und
eigentlich, Alles in Allem, der Löwe des Tages gewe¬
ſen ſei. Schon daß Oswald an einer Geſellſchaft,
[145] deren excluſive Tendenzen dem Paſtor ſehr wohl be¬
kannt waren, überhaupt hatte Theil nehmen dürfen,
war in den Augen des Letzteren ein merkwürdiges,
tief bedeutungsvolles Zeichen. Und zu alle dieſem
kam noch ein Umſtand, welcher dem hochwürdigen
Herrn Oswald's Gunſt und Freundſchaft vorzüglich
wünſchenswerth erſcheinen ließ. Der Paſtor war nicht
ohne Ehrgeiz. Er glaubte ſich zu größeren Dingen
berufen, als den Bauern von Faſchwitz das Evange¬
lium zu predigen. Er wollte nicht umſonſt ſich bei
der Lectüre alter Manuſcripte der Grünwalder Uni¬
verſität die Augen verdorben, nicht umſonſt über die
verſchollenen Fragmente der verſchollenen Schriften
eines verſchollenen Kirchenvaters eine grundgelehrte
Diſſertation geſchrieben haben. Er war Doctor, er
wollte Profeſſor ſein, Profeſſor in derſelben Muſen¬
ſtadt, die ihn vor fünfzehn Jahren als verkümmerten
Studioſus der Theologie in abgeſchabtem Röckchen durch
ihre Gaſſen hatte ſchleichen ſehen.


Er wollte es um ſo mehr, als ſeine Primula es
wollte, Primula, welche die ländlichen Gefilde, in
denen ihre „Kornblumen“ erblüht waren, herzlich
ſatt hatte, und ſich im Geiſte als geniale Gemalin
des gelehrten Profeſſors an den äſthetiſchen Thee¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 10[146] tiſchen der Muſenſtadt glänzen ſah. — Zur Erreichung
dieſes höchſten Ziels konnte dem Paſtor der Profeſſor
Berger, deſſen Stimme in der philoſophiſchen Facul¬
tät entſcheidend war, Profeſſor Berger, den er wegen
ſeines offen zur Schau getragenen Voltaireanismus,
Spinocismus, Atheismus gründlich verabſcheute, und
deſſen Protection er doch ſchon oft vergeblich erſtrebt
hatte, außerordentlich nützlich werden. Oswald aber
war der erklärte Günſtling des großen Mannes, der
erſte Schüler des alten Meiſters. Eine Empfehlung
Oswald's war mehr werth als eine gelehrte Diſſer¬
tation — folglich Oswald's Freundſchaft ein Ziel,
„aufs innigſte zu wünſchen“, und ein gelegentliches
Lob, das ihm doch wol wieder zu Ohren kommen
konnte, gar „keine ſchlechte Theologie.“


So dachte, ſo rechnete der Paſtor.


Wie erſtaunt war er daher, als die Baronin mit
einem Ton der Stimme, der nicht viel Gutes verhieß,
ſeine huldvolle Phraſe mit der Frage beantwortete:


„Sagen Sie einmal aufrichtig, Paſtor Jäger, was
halten Sie von dem jungen Menſchen?“


Den Schüler Berger's, den Günſtling Primula's,
den Löwen vom geſtrigen Junkerfeſt ſchlechtweg als
einen „jungen Menſchen“ bezeichnen zu hören! der
Paſtor traute ſeinen Ohren kaum. Er ſchoß über die
[147] runden Brillengläſer fort einen forſchenden Blick auf
die Baronin, ob ihr Geſicht etwa einen Commentar
zu der räthſelhaften Frage geben möchte. Da er ſich
in dieſer Hoffnung getäuſcht ſah, und ſchlechterdings
nicht wußte, was er antworten ſolle, griff er zu dem
Mittel, zu welchem er in ſolchen kritiſchen Fällen ſtets
ſeine Zuflucht nahm, das heißt: er zog die Schultern
und die Augenbrauen möglichſt in die Höhe und die
Mundwinkel möglichſt tief herunter, und überließ es
dem indiscreten Frager, aus dieſer Miene zu machen,
was er wollte und konnte.


„Sie zögern mit Ihrer Antwort!“ ſagte die Baronin;
„ich gebe zu, es iſt nicht ganz leicht, über Herrn Stein
in's Klare zu kommen. Er hat unleugbar manche
ſchätzenswerthe Eigenſchaften. Seine Manieren ſind
für einen Menſchen von ſo niedriger Extraction wirk¬
lich überraſchend gut; noch geſtern glaubte die Gräfin
Grieben im Anfang, ich wolle ſie myſtificiren, als ich
ihr ſagte: der junge Mann, der mit uns gekommen,
ſei unſer Hauslehrer. Aber mit einer erträglichen
Tournüre, mit gewandter Rede und dergleichen iſt es
leider nur nicht gethan, und ich bin heute noch immer
nicht mit mir darüber einig, ob wir an dem jun¬
gen Mann eine gute Acquiſition gemacht haben oder
nicht.“


10*[148]

„Aber liebe Anna-Maria,“ ſagte der Baron;
„warum ſollen wir uns nicht auf den Profeſſor Berger
verlaſſen, der —“


„Lieber Grenwitz, ich verlaſſe mich auf Nieman¬
den, als auf mich ſelbſt. Der Profeſſor kann ſich
durch Stein's einnehmendes Weſen ſo gut haben be¬
ſtechen laſſen, wie Du und viele Andere; und geſetzt
auch, ſeine wiſſenſchaftliche Bildung ſei wirklich aus¬
reichend —“


„Nun, darüber dürfte wohl kein Zweifel obwalten,
Gnädigſte,“ ſagte der Paſtor, der, wenn er Oswald,
wie er jetzt wohl einſah, fallen laſſen mußte, ſich
wenigſtens nach dieſer Seite ſichern wollte. „Es iſt
durchaus nicht anzunehmen, daß der Profeſſor, dem
Niemand, man mag über ſeine — ich will nicht ſagen
unchriſtliche, aber wenig kirchliche Geſinnung, denken,
wie man will, einen durchdringenden Scharfblick, eine
eminente Gelehrſamkeit abſprechen kann, ſich in dem
intimen Umgange eines Ignoranten wohl gefühlt
haben ſollte.“


„Ich erlaube mir in wiſſenſchaftlichen Dingen kein
Urtheil,“ ſagte die Baronin; „und ſo mag meinet¬
wegen Herr Stein neben dem Piſtolenſchießen, worin
er ja, wie ich höre, brilliren ſoll, auch noch zu ſtreng
wiſſenſchaftlichen Studien Zeit gefunden haben; aber
[149] es kann Jemand gute Manieren haben und Gelehr¬
ſamkeit dazu, und doch ein unmoraliſcher Menſch ſein.“


„Aber liebe Anna-Maria,“ ſagte der alte Baron
ganz erſchrocken, während der Paſtor die Mundwinkel
herunterzog und beiſtimmend nickte.


„Ich bleibe dabei,“ fuhr die Baronin fort, „ein
unmoraliſcher Menſch. Hätte ich gewußt, was ich
leider zu ſpät erfuhr, daß der Profeſſor Berger bei
aller ſeiner vielgerühmten Gelehrſamkeit in dem Ge¬
ruche eines Demokraten und Atheiſten — ich weiß
nicht, welches von beiden das Schlimmere iſt, denn,
wer ſeinen Gott nicht ehrt, kann auch ſeinen König
nicht ehren und umgekehrt — ich ſage, hätte ich ge¬
wußt, daß der Profeſſor ein Freidenker und ein Mann
der Umſturzpartei iſt, ich würde ihm nimmermehr bei
der Wahl eines Erziehers für meinen Sohn eine ent¬
ſcheidende Stimme eingeräumt haben.“


„Aber liebe Anna-Maria,“ ſagte der Baron; „es
iſt doch möglich, daß Du in Betreff Stein's unge¬
gründeten Befürchtungen Raum giebſt. Ich erinnere
mich nie, ein Wort von ihm gehört zu haben, in dem
man mit Sicherheit die Beſtätigung eines ſo ſchreck¬
lichen Verdachtes hätte finden können.“


„Nun, Paſtor Jäger,“ ſagte die Baronin, „ſind
[150] Sie auch von der Unſchuld des jungen Mannes ſo
feſt überzeugt?“


„Ich würde nicht der Wahrheit die Ehre geben,“
ſagte dieſer mit der Miene und dem Ton herzinnigſten
Bedauerns, „wollte ich leugnen, aus ſeinem Munde
Aeußerungen vernommen zu haben, die an das Ge¬
biet des Frivolen, ja ich möchte ſagen Unheiligen nahe
genug ſtreiften, um mich, ich darf wohl ſagen — recht
ſchmerzlich zu berühren. Aber ich tröſtete mich mit
dem Gedanken, daß auch ein ſpäterhin trefflicher
Wein in der Zeit der Gährung unſchmackhaft und
trübe iſt, und vertraute der Allgüte deſſen, der aus
dem Saulus einen Paulus machte.“


„Das iſt ſehr ſchön und chriſtlich,“ ſagte die Ba¬
ronin, „beruhigt mich aber keineswegs. Wenn die
Seele meines Kindes einmal vergiftet iſt, kann es mir
gleichgültig ſein, ob der Vergifter ſpäter ſeinen Frevel
bereut; und ich geſtehe: nach den Ereigniſſen des ge¬
ſtrigen Tages hat ſich der Verdacht, den ich, ohne
Uebertreibung, von dem erſten Augenblicke an gegen
Stein nährte, faſt bis zur Gewißheit geſteigert.“


„Iſt etwas Beſonderes vorgefallen, Gnädigſte?“
fragte der Paſtor, mit ſeinem Stuhle einen halben
Zoll näher rückend.


„Ich ſpreche nicht gern darüber,“ antwortete die
[151] Baronin, „und wenn ich es doch thue, ſo iſt es, weil
ich Sie als einen langjährigen Freund unſers Hauſes
kenne, und zu Ihrer Discretion —“


„Meine Pflicht und Schuldigkeit, Gnädigſte,“ rief
der Paſtor, die Hand auf's Herz legend und den
Rücken krümmend.


„Sie kennen den Baron Oldenburg,“ fuhr die
Baronin fort.


„Nicht perſönlich, Gnädigſte, nur nach dem, was
ich in vertraulichen Unterredungen der gnädigen Herr¬
ſchaften, denen ich beiwohnen zu dürfen gewürdigt
wurde, über den Herrn Baron zu hören nicht umhin
konnte.“


„Sie wiſſen alſo, in welchem Ruf — Gott ſei es
geklagt — der Baron ſteht; Sie wiſſen, daß wir den
Kummer haben, ſehen zu müſſen, wie der letzte Sproß
aus einer unſrer älteſten, berühmteſten Familien mit
ſehenden Augen — denn der Baron iſt ein außer¬
ordentlich begabter Mann — in's Verderben rennt.“


„Aber, liebe Anna-Maria,“ ſagte der Baron, der
unruhig in ſeinem Stuhle hin- und herrückte, „ich
dächte, der Gegenſtand dieſes Geſpräches eignete ſich
nicht beſonders — “


„Ich kenne die Rückſichten, die ich unſerm Stande
ſchuldig bin,“ ſagte die Baronin, „und werde ſie zu
[152] beobachten wiſſen. Der Abfall des Barons von dem
Glauben ſeiner Väter iſt leider zu notoriſch, als daß
ich einem Freunde des Adels (der Paſtor krümmte den
Rücken), einem Freunde unſers Hauſes (Sr. Ehr¬
würden legte die Hand auf's Herz) gegenüber mit dem
ſchmerzlichen Geſtändniß der Wahrheit zurückhalten
ſollte. — Sie wiſſen, Paſtor Jäger, daß der Baron
unſre Geſellſchaft flieht, um die von allerlei ſonder¬
baren Menſchen, denen man ſonſt gefliſſentlich aus¬
weicht, mit Vorliebe aufzuſuchen, daß er die gottloſe
Phraſe von den ſogenannten Rittern vom Geiſt be¬
ſtändig im Munde führt, und daß von ihm ausge¬
zeichnet zu werden — namentlich, wenn dieſe Aus¬
zeichnung Jemanden trifft, deſſen geſellſchaftliche Stel¬
lung ſo himmelweit von der ſeinigen verſchieden iſt —
beinahe ſo viel heißt, als ein verlorener Menſch ſein.
Nun hat der Baron geſtern Abend Herrn Stein in
einer ganz auffallenden, um nicht zu ſagen, anſtößigen
Weiſe ausgezeichnet; er hat nicht nur ſein Möglichſtes
gethan, ihn bei der Geſellſchaft zu introduciren, ſon¬
dern ihn vollkommen wie ſeines, wie unſers Gleichen
behandelt, und um dieſem Benehmen, für das ich
keinen Ausdruck ſuchen will, die Krone aufzuſetzen,
ihn, als der Wagen von Grenwitz, der Herrn Stein
von Barnewitz abholen ſollte — wir waren ſchon vor
[153] dem Souper aufgebrochen — nicht gleich zur Stelle
war, in ſeinem eigenen Wagen bis vor unſer Hofthor
mitgenommen, das heißt, ihm zu Gefallen einen Um¬
weg von faſt einer Meile gemacht.“


„Aber, liebe Anna-Maria, das würde auch jeder
Andre —“


„Verzeihe, lieber Grenwitz, das würde nicht jeder
Andre gethan haben, und vor Allem würde es der
Baron, deſſen ſchroffes, ungefälliges Weſen, ſelbſt den
Standesgenoſſen gegenüber, ſprichwörtlich iſt, nicht
gethan haben, wenn er nicht in Herrn Stein auch ſo
einen Ritter vom Geiſt, das heißt einen Geſinnungs¬
genoſſen, einen Freidenker und Freiheitshelden, enfin
einen unmoraliſchen Menſchen, um das Wort zu wieder¬
holen, das vorhin Deinen Unwillen erregte, lieber
Grenwitz, und von dem Du mir jetzt zugeben wirſt,
daß es leider das paſſende iſt — gefunden zu haben
glaubte.“


Die Baronin ſchwieg, in dem wohlthuenden Be¬
wußtſein, ihre Anſicht ſiegreich verfochten zu haben;
der Paſtor ſchwieg, die edle Gönnerin in dieſem Ge¬
nuſſe nicht zu ſtören und der Baron ſchwieg, weil er
ſchlechterdings nichts zu ſagen wußte. In dieſes drei¬
fache Schweigen hinein ertönte vom Hausflur her,
auf welchen die Thür des Zimmers führte, das Miauen
[154] einer Katze, dem ſofort das lautige, zornige Kläffen
eines Hundes folgte. Dieſe Töne waren im Schloſſe
Grenwitz, wo weder Hunde noch Katzen geduldet wur¬
den, etwas ſo Unerhörtes, daß die im Zimmer Be¬
findlichen ſich erſtaunt anſahen.


„Was bedeutet denn das?“ ſagte der Baron auf¬
ſtehend und die Thür öffnend.


„Ah, ſieh da, Herr Baron!“ ertönte eine helle,
klare Stimme.


„Es iſt Herr Timm!“ ſagte dieſer zu den im
Zimmer Befindlichen zurückgewandt, und dann zu
Dem draußen:


„Wollen Sie nicht näher treten, Herr Geometer?“

[[155]]

Achtes Kapitel.

Der, welcher dieſer Aufforderung des Barons ſo¬
fort folgend, in das Zimmer trat, war ein junger
Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, obgleich
die friſche Farbe ſeines hübſchen bartloſen Geſichtes
ihm kaum dem Jünglingsalter entwachſen erſcheinen
ließ. Der wohlgeformte Kopf war mit einem ſchlich¬
ten, blonden Haar bedeckt, das lang genug war um
nach hinten geſtrichen zu werden, und die weiße Stirn
frei zu laſſen, die keck und feſt ſich über einem Augen¬
paare wölbte, deren Farbe, ſo weit man es durch die
Gläſer der Brille, die der junge Mann trug, erken¬
nen konnte, ein mattes Blau war. Seine Geſtalt
war mittelgroß, aber breitſchultrig und ſein gedrun¬
gener, muskulöſer Köper augenſcheinlich zur Ertragung
von Strapazen aller Art ausnehmend geeignet. Auf
ſein Aeußeres ſchien der junge Mann ſehr wenig zu
geben. Seine Kleidung beſtand aus einem hellen
[156] Sommerrock von zweifelhafter Farbe, der ſchon manchen
Sturm erlebt zu haben ſchien, und aus Beinkleidern
von demſelben Stoff und derſelben Farbe und Be¬
ſchaffenheit. Seine Wäſche war, als ſie aus den Hän¬
den der Wäſcherin kam, jedenfalls reiner geweſen.
Seine Haltung entſprach ſeiner Kleidung, daß heißt,
ſie war weniger elegant als bequem, und hatte noch
das mit jener gemein, daß Herr Timm ſie offenbar
unter Umſtänden mit einer beſſeren vertauſchen konnte.


„Bitte tauſenmal um Entſchuldigung,“ ſagte er
lachend, indem er ſich vor der Baronin ohne alle
Förmlichkeit verbeugte und dem Paſtor vertraulich zu¬
nickte, „daß ich die Unterhaltung der Herrſchaften
durch mein lyriſches Intermezzo ſtören mußte, aber
ich, wußte mir wirklich nicht anders zu helfen, da ich
nicht die Ehre habe, Frau Baronin, Ihre Bedienten
namentlich zu kennen, trotz alles Suchens keinen
Klingelzug auf dem Flur entdecken konnte, und ſchon
vergeblich in vier Thüren hineingeſehen hatte. Hätte
ich ahnen können, daß die fünfte, welche ich übrigens
gar nicht bemerkt hatte, von dem Herrn Baron ſelbſt
geöffnet werden ſollte, ſo würde ich mir natürlich
meinen muſikaliſchen Vortrag erſpart haben, der aller¬
dings nur für das weniger empfindliche Ohr eines in
der Nähe befindlichen dienſtbaren Geiſtes berechnet
[157] war. — Wie befinden ſie ſich Frau Baronin? Ange¬
griffen von der Hitze? Wäre kein Wunder — fünf¬
undzwanzig Grad im Schatten — reine Treibhaus-
Temperatur. — Ich ſoll Sie von Ihrer Frau Ge¬
malin grüßen, Herr Paſtor; ſprach ſie vor einer
Stunde in Faſchwitz. Sie wird gegen Abend mit
dem Einſpänner herüberkommen. Sie abzuholen. —
Mit der Vermeſſung von Saſſitz wären wir fertig,
Herr Baron. Wenn es Ihnen recht iſt, will ich jetzt
ſogleich die Karten zeichnen, wenn die Frau Baronin
die Güte haben will, mir ein Zimmer des Schloſſes
einzuräumen.“


So ſprach Herr Timm und griff in die Taſche
nach ſeinem Taſchentuche, um ſich die von Schwei߬
tropfen perlende Stirn abzutrocknen. Da er ſich aber
noch zur rechten Zeit darauf beſann, daß das betref¬
fende, ſo überaus nützliche Stück der Toillette ſich für
den Augenblick bei ihm in einem keineswegs ſalonfä¬
higen Zuſtand befand, ſo ließ er es, wo es war, fuhr
ſich mit der Hand über Stirn und Haar, und ſchaute
ſo vergnügt um ſich, als ob ihm die Grenwitzer Be¬
ſitzungen, die er im Schweiß ſeines Angeſichts ver¬
meſſen mußte, erb– und eigenthümlich gehörten.


„Gewiß;“ ſagte die Baronin, bei der Herr Timm
wegen ſeiner ſcheinbaren Anſpruchsloſigkeit in großer
[158] Gunſt ſtand, und die, herrſchſüchtig wie ſie war, oder
gerade, weil ſie herrſchſüchtig war, unwillkürlich einen
Mann ſchätzen mußte, der ſich durch nichts imponiren
ließ, und den nichts aus der Faſſung zu bringen ver¬
mochte; „gewiß Herr Timm. Sie wiſſen, daß Sie
uns zu jeder Zeit willkommen ſind. Sie werden hier,
wo Sie nichts ſtört, beſſer arbeiten können, als in
der Stadt, und es iſt ja zu unſerm beiderſeitigen
Vortheil, daß die Arbeit möglichſt ſchnell beendet
wird. Sie haben doch Ihre Sachen gleich mitgebracht,
Herr Timm?“


„Steht Alles ſchon auf dem Hausflur, wo es der
ländliche Jüngling, welcher die Oeländer lenkte, die
mich im Hundetrab von Saſſitz hierher kutſchirten,
deponirt hat;“ ſagte Herr Timm, deſſen „Sachen“
aus einem kleinen melancholiſch ausſehenden Koffer
beſtanden, in welchem etwas reine und nicht viel
ſchmutzige Wäſche und die ſonſtigen Stücke ſeiner nicht
eben luxuriöſen Garderobe in chaotiſcher Verwirrung
durcheinander lagen, und aus einer großen Mappe,
die ſeine Zeichnenmaterialien, Flurkarten u. ſ. w. ent¬
hielt. „Ich bedarf nur noch der Anweiſung auf
einen Ihrer dienſtbaren Geiſter, der mich auf das mir
von Ihnen gütigſt angewieſene oder anzuweiſende Zim¬
mer führt, um mich ſofort häuslich einrichten zu können.“


[159]

„Wollen ſie die Güte haben, jenen Klingelzug
zweimal zu ziehen;“ ſagte Anna-Maria mit huldvollem
Lächeln.


„Mit Vergnügen,“ ſagte Herr Timm, dieſe inſtru¬
mentale Methode des Beſchwörens dienſtbarer Geiſter
iſt viel bequemer, als meine vocale, und auch viel
wirkſamer, wie ich ſehe.“


Der eintretende Bediente erhielt den Auftrag,
Herrn Timm auf ſein Zimmer zu führen.


„Es ſteht ſchon ſeit Wochen für Sie bereit, Herr
Geometer;“ ſagte die Baronin.


„Sie ſind umſichtig und gütig, wie die Vorſehung
ſelbſt, gnädige Frau;“ ſagte Herr Timm, aufſtehend
und der Baronin ohne Umſtände die Hand küſſend;
au revoir, meine Herrſchaften, bis zum Abendeſſen,
bei dem Sie hoffentlich wie ich erſcheinen werden, daß
heißt mit guter Laune und noch beſſerem Appetit;“
und er folgte leichten Schrittes dem Bedienten aus
dem Gemache.


„Wirklich ein charmanter Menſch, der Herr Timm.“
ſagte die Baronin, „ſo harmlos, unbefangen, anſpruchs¬
los, ſo ganz ſich ſeiner Stellung in der Geſellſchaft
bewußt, und nicht ſtets hoch oben hinauswollend, wie
gewiſſe andere Leute.“


„Ei, ja wohl,“ beſtätigte der Paſtor, ein äußerſt
[160] charmanter, beſcheidener junger Mann, „und der ſo¬
wohl was ſeine Talente betrifft, die wirklich über¬
raſchend ſind, als auch wegen der angeſehenen Familie,
aus welcher er ſtammt, Beachtung verdient.


Guſtava kennt ſeine Familienverhältniſſe genau;
auch ich erinnere mich aus meiner Grünwalder Zeit
her ſehr wohl ſeines Herrn Vaters, eines ausgezeich¬
neten Advokaten, der ſein bedeutendes Vermögen kurz
vor ſeinem Tode in einer unglücklichen Speculation
verlor. Seine Verwandten befinden ſich zum Theil in
ganz reſpectabeln Stellungen. Ein Onkel vom ihm
iſt Major. Auch Herr Timm war anfangs zu einer
militäriſchen Carriere beſtimmt, und war, ſo viel ich
weiß, ſchon Fähndrich, als er in Folge der großen
Verluſte ſeines Vaters, dieſe Laufbahn aufgab, um
ſich dem Baufach zu widmen. Er wünſcht ſehnlichſt,
die Akademie in der Reſidenz beziehen zu können, nur
fehlt es ihm leider —“ der Paſtor machte mit dem
Daumen und Zeigefinger ſeiner rechten Hand eine
bezeichnende Bewegung.


„Das iſt ja jammerſchade,“ ſagte die Baronin;
„wer doch dem armen Menſchen helfen könnte! kann
ihm denn ſein Onkel, der Major, nicht die paar hundert
Thaler vorſchießen? aber freilich die Herrn vom Mi¬
litär haben meiſtens genug mit ſich ſelbſt zu thun. —
[161]Ah mademoiselle, vous arrivez bien à propos!
Veuillez avoir la bonté
— “ Die Baronin war auf¬
geſtanden, um der eben eintretenden Mademoiſelle
Marguerite eine Inſtruction zu ertheilen.


„Wollen Sie meine Bienenſtöcke einmal anſehen,
Paſtor Jäger? ſagte der Baron.


„Mit dem größten Vergnügen;“ erwiederte dieſer,
Hut und Stock ergreifend.


„Bleiben die Herrn nicht zu lange,“ ſagte die
Baronin; „wir wollen heute etwas früher ſoupiren. —
Que voulais-je dire? Ah, oui! du chocolat, mais
pas si énormement sucré que la dernière fois,
et particulièrement prenez garde
— — —“


Der Abend war gekommen, mit ihm Frau Paſtor
Jäger auf dem Einſpänner. Primula trug dasſelbe
Kleid von ungefärbter Seide, in welchem ſie Oswald
an jenem Sonntag Morgen erſchien, und ſah, von
der übergroßen Hitze des Tages angegriffen, mehr
denn je wie ein kranker Kanarienvogel aus. Ihr
Gatte hatte, ſobald der langathmige Selam zwiſchen
ihr und der Baronin vorüber war, die erſte ſchickliche
Gelegenheit ergriffen, ihr zuzuraunen, von dem „Gaſt¬
freunde“ weniger entzückt zu erſcheinen, als ſie und
er ſich vorgenommen hatten, da „der junge Menſch“
keineswegs in beſonderer Gunſt bei der Baronin zu
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 11[162] ſtehen ſcheine — eine Nachricht, welche die Bewohnerin
der Sphären höherer Bildung in ein ſolches Erſtaunen
verſetzte, daß, als jetzt Oswald kurz vor dem Abend¬
eſſen erſchien, ſie ſeine höfliche Begrüßung nur mit
einer ſehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern ver¬
mochte.


Dies wunderliche Benehmen der vorher für den
„Gaſtfreund“ ſo begeiſterten Dichterin würde wahr¬
ſcheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald's
guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt
bemerkt hätte. Leider aber befand er ſich heute Abend
in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg
es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch
weder ſieht noch hört. Die Schatten der Ereigniſſe
des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch
auf ſeiner Seele und auf ſeiner Stirn. Seine ge¬
wöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholiſchen Ruhe
gewichen; er ſah bleich und nachdenklich aus, aber ſo
ſchön und vornehm, daß Primula's zartbeſaitete Seele
alsbald den Zauber, welchen die Erſcheinung des jungen
Fremden bei der erſten Begegnung auf ſie ausgeübt
hatte, wiederum zu fühlen begann, und ſie die War¬
nung ihres vorſichtigen Gatten um ſo lieber vergaß,
als ſie ſah, mit welcher ausgeſuchten Höflichkeit und
Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denſelben
[163] Mann behandelten, der ihr ſoeben als eine gefallene
Größe denuncirt war. Sie bereitete ſich ſchon im
Stillen auf eine Strafpredigt vor, die ſie auf der
Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der „wieder
einmal nach ſeiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen
nicht geſehen hatte.“ Der würdige Geiſtliche ſelbſt
war für den erſten Augenblick durch den vollkommenen
Widerſpruch zwiſchen den Worten und der Handlungs¬
weiſe der Baronin aus der Faſſung gebracht. Er
wußte indeſſen beſſer, als irgend Einer, daß die Menſchen
nicht immer ſcheinen, was ſie ſind und nicht immer
ſind, was ſie ſcheinen, und hielt es auf alle Fälle für
das Gerathenſte, das Benehmen ſeiner Gönnerin
möglichſt treu zu copiren, was ihm bei ſeiner voll¬
endeten Virtuoſität in der edlen Kunſt der Heuchelei
natürlich nicht ſchwer fallen konnte.


Indeſſen würde trotz des ſcheinbaren guten Einver¬
nehmens der Geſellſchaft die Unterhaltung bei der
Abendmahlzeit, die auf der Terraſſe im Freien einge¬
nommen wurde, nicht beſonders lebhaft geweſen ſein,
hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenſchaft gehabt,
die Farbe ſeiner Umgebung anzunehmen. Dies war
indeſſen durchaus nicht der Fall.


Herr Timm hatte ſein Verſprechen, bei Tiſche mit
guter Laune und noch beſſerem Appetit zu erſcheinen
11*[164] wahr gemacht. Er fand die Chocolade, die diesmal
keineswegs énormement sucré war, vortrefflich, das
Brod vortrefflich, die Butter vortrefflich. Alles vor¬
trefflich. Und wie köſtlich war der Einfall, ſich an
dieſem herrlichen Abend nicht in die Stube einzuſchließen!
wie glücklich der Gedanke, die Tafel gerade auf die¬
ſem Punkt der Terraſſe zu decken, von dem man einen
ſo herrlichen Blick auf den Garten hatte! wie wunder¬
voll waren die Schatten und Lichter in den hohen
Bäumen drüben jenſeits des Raſenplatzes! wirklich ein
Gemälde von Claude Lorrain! Wahrhaftig, Herr Baron,
wenn ich nicht Diogenes wäre, ſo möchte ich wol
Alexander ſein! Aber freilich, wir können nicht Alle
in Schlöſſern hauſen, es muß auch Tonnenbewohner
geben, und wohl dem Manne, dem ſein Schloß nicht
wie eine Tonne, oder dem ſeine Tonne wie ein Schloß
erſcheint! Sie ſollten dieſen Gedanken zu einem Epi¬
gramm verwerthen, Frau Paſtor! Sie haben ein ganz
entſchiedenes Talent für dieſe Gattung; ſelbſt in Ihren
hoch-lyriſchen Gedichten findet ſich oft eine epigram¬
matiſche Wendung. So in dem reizenden Sonett auf
den Maikäfer. Wie heißt doch noch der Schluß?
„Des Maies Käfer, falſcher Liebe Bild —“ das iſt
an und für ſich ſchon ein tiefſinniges Epigramm.
Wiſſen Sie, daß man in Grünwald Ihre Ueberſiedelung
[165] nach Faſchwitz noch immer nicht verſchmerzen kann?
Noch neulich ſagte Profeſſor Lichtſcheu, den ich in
einer Geſellſchaft beim Kanonikus Schwarz traf: es
ſei unverantwortlich, daß ein gewiſſer Gelehrter, den
ich nicht nennen will, den reichen Schatz ſeines Wiſſens
in der Einſamkeit eines Dorfes, deſſen Namen mir
entfallen iſt, vergraben ſolle; worauf ich ihm erwiederte:
es ſei nicht minder unverantwortlich, daß die Dichterin
der „Kornblumen“ noch immer unter Kornblumen wandle.


So ging es mit unendlicher Zungenfertigkeit fort,
dabei war Alles, was Timm ſprach, ſo augenſcheinlich
ohne jegliche Abſicht, witzig und geiſtreich ſein zu
wollen, — trotzdem es manchmal geiſtreich und witzig
genug war — geſagt, daß man ihm zuhören konnte
wie einem luſtigen und in ſeiner Luſtigkeit freilich et¬
was überlauten Kanarienvogel, dem die Morgenſonne
in das Bauer ſcheint und der dabei auf den Einfall
kommt, ſich einmal ordentlich auszuſingen. Nur kam
es Oswald manchmal vor, als ob Herr Timm's Hu¬
mor durchaus nicht ſo natürlich ſei, als es den An¬
ſchein hatte; als ob Herr Timm nur eine wohl ein¬
ſtudirte und fein berechnete Rolle, allerdings mit voll¬
endeter Naturwahrheit, ſpiele, und als ob der gut¬
müthige Bonvivant und anſpruchloſe Naturburſche bei
Licht beſehen die ganze Geſellſchaft, die er mit dem
[166] Feuerwerk ſeines Witzes unterhielt, gründlich verhöhne
und nasführe. Er wurde in dieſem Verdachte um ſo
mehr beſtärkt, als Herr Timm, ſo bald er zu ihm
ſprach, ſtets einen andern Ton anſchlug, als wollte
er ſagen: Dir darf ich mit ſolchen Narrenspoſſen
nicht kommen, aber für den andern Pöbel ſind ſie gut
genug.


Dieſen Verdacht, auf den Oswald übrigens um
ſo leichter verfallen mußte, als er ſelbſt nur zu oft
die Geſellſchaft, gegen die er eine ſo gründliche Ver¬
achtung empfand, zum Beſten hatte, ſchien von den
Andern Niemand zu theilen, es hätte denn Bruno
ſein müſſen, der heute noch düſterer und verſchloſſener
wie gewöhnlich auf ſeinem Platze neben Oswald ſaß,
und ſeinen ſtolzen Mund nicht ein einziges Mal zu
einem Lächeln verzog, obwohl er Alle um ſich her —
ſelbſt Oswald nicht ausgenommen — lachen ſah, zu¬
mal als gegen das Ende der Mahlzeit Herr Albert
Timm mit ſeiner Nachbarin, Mademoiſelle Marguerite,
eine Converſation begann, in welcher er franzöſiſch
und deutſch auf die poſſirlichſte Weiſe durcheinander
miſchte. Die hübſche ſcheue Genferin hatte ſich die
möglichſte Mühe gegeben, Herrn Timm's Kreuz- und
Querſprüngen in der Unterhaltung zu folgen, und ſich
alle Augenblicke mit einem rapiden: qu'est ce qu'il
[167] dit? que veut dire cela?
an Malte, ihren Nachbar
auf der andern Seite, gewandt, der ihr die Antwort
um ſo häufiger ſchuldig bleiben mußte, als er ſelbſt
von Allem, was der unerſchöpfliche Albert vorbrachte,
kaum die Hälfte begriff, bis dieſer mit ihr zu kauder¬
wälſchen anfing, um mit vielem Tacte den Scherz ſo¬
fort abzubrechen, als er merkte, daß die hübſche Kleine
durch das Gelächter der Andern in Verlegenheit
gerieth.


Es war bereits dunkel geworden, als die Baronin
die Tafel aufhob, und Herr und Frau Paſtor Jäger,
die ſich jetzt unter vielen Dankſagungen für den ſo
angenehm verbrachten Abend empfehlen wollten, ein¬
lud, mit ihr und dem Baron noch ein „gemüthliches
kleines Boſton — in der alten Weiſe, wiſſen Sie,
Paſtor Jäger, wie es ſich für ſolide Leute ſchickt“
— in dem Salon zu ſpielen.


Malte war zu Bett gegangen. Oswald und
Bruno, Albert und Mademoiſelle Margueritte pro¬
menirten paarweiſe um den Raſenplatz und in den
zunächſt gelegenen Gängen des Gartens.


„Du haſt mir noch gar nicht geſagt, Oswald,“
ſagte Bruno — er nannte jetzt ſeinen Freund, wenn
ſie allein waren, ſtets mit dem brüderlichen Du —
„ob Du Tante Berkow geſtern geſehen haſt?“


[168]

„Ja, Bruno.“


„Sah ſie ſchön aus?“


„Wie immer.“


„Läßt ſie mich grüßen?“


„Natürlich.“


„Weißt Du, Bruno, daß ich glaube, Tante Ber¬
kow mag Dich ſehr gern leiden?“


„Warum, Du Närrchen?“


„Sie ſah Dich an dem Abend, als ſie hier war,
immer mit ſo glänzenden Augen an — ſo recht lieb
und freundlich, wie ſie mich manchmal anblickt, wenn
ſie mir das Haar ſtreichelt, aber doch anders —
ſo —“


„Ach, Du weißt ja nicht, was Du ſprichſt, Bruno.“


„Ich weiß es recht gut, aber ich kann mich nur
nicht ſo ausdrücken, wie ihr klugen, großen Leute.
Ich bin an dem Abend ordentlich eiferſüchtig auf Dich
geweſen, denn früher war ſie gegen mich am freund¬
lichſten. Ich nicht wiſſen, wie Tante Berkow aus¬
ſieht, wenn ſie Jemanden gern hat? ich weiß es ſehr
wohl – –“ ſagte Bruno trotzig.


„Und ich weiß auch noch mehr,“ fuhr er nach
einer Pauſe fort. „Ich ſollte es eigentlich nicht ſagen,
denn Tante hat es mir verboten, aber ich glaube jetzt,
es iſt ihr gar nicht Ernſt mit dem Verbot geweſen.“

[169]

„Was war es?“ fragte Oswald mit angenom¬
mener Gleichgültigkeit.


„Das war es;“ ſagte Bruno. „Ich war am
Sonnabend Nachmittag, als Du Briefe ſchriebſt, allein
in den Wald gegangen, nach Berkow zu, weil das
mein liebſter Weg iſt. Da kommt mir auf einmal
Tante entgegen, zu Pferde, ganz allein, nicht einmal
der Boncoeur war bei ihr. Sie ritt den Brownlock,
den ſie immer reitet, wenn ſie ſchnell reiten will, und
ſchnell mußte ſie geritten ſein, denn Brownlock's Bruſt
und Hals und ſelbſt Tantes Kleid waren voll weißer
Schaumflecken. Sieh' da, Bruno! ſagte ſie, mir vom
Pferde herab die Hand reichend, wo willſt Du hin?
— Nirgends hin, Tante, wie gewöhnlich, ſagte ich,
aber wo wollen Sie hin? — Auch nirgends! ant¬
wortete ſie lachend, da können wir ja zuſammen unſern
Weg fortſetzen. — Wenn Sie Schritt reiten wollen,
ſagte ich, ſonſt nicht. — Und da ſind wir wohl eine
halbe Stunde zuſammen durch den Wald gezogen,
und haben die ganze Zeit von nichts als von Dir ge¬
ſprochen, und Tante fragte mich, ob ich Dich lieb
hätte, worauf ich natürlich mit Nein antwortete; ob
Du wohl ausſäheſt, ob Du recht munter wäreſt? ob
Du viel ſtudirteſt? und noch hunderterlei, was ich
wieder vergeſſen habe. Zuletzt trug ſie mir auf, Dich
[170] zu grüßen und zu fragen, ob Du die Kupferſtiche
noch nicht hätteſt, von denen ihr neulich geſprochen,
und ob Du ſie ihr nicht ſchicken wollteſt — und dann
rief ſie mich wieder zurück und ſagte: ich ſolle Dich
lieber doch nicht daran erinnern, Dir auch nicht ſagen,
daß ich ſie geſprochen hätte — aber, wie geſagt, ich
glaube jetzt nicht mehr, daß es ihr Ernſt geweſen iſt.“


„Warum jetzt nicht mehr, Bruno? “


„Weil —“ der Knabe ſchwieg; plötzlich ſagte er
in gedämpftem Ton, als fürchtete er, die dunklen Ge¬
büſche neben ihnen könnten es hören.


„Sage mir, Oswald, wie iſt das, wenn man Je¬
mand liebt? “


„Wie meinſt Du das, Bruno?” antwortete Os¬
wald, den die Frage in nicht geringe Verlegenheit
ſetzte.


„Ich meine: was iſt das für eine Liebe, von der
ſo oft in den Büchern die Rede iſt? Ich habe Dich
lieb, ſehr lieb; aber es iſt mir, als müßte es noch
eine andre Liebe geben. So habe ich immer nicht
verſtanden, warum der Marquis Poſa ſo beſtürzt iſt,
als Don Carlos ſagt: ich liebe meine Mutter. —
Weshalb ſoll er ſeine Muttrr nicht lieben? Ich habe
meine Mutter nie gekannt, und ſo weiß ich gar nicht,
wie man ſeine Mutter liebt, aber ich denke ſie mir
[171] immer ſo jung und ſchön, wie Tante Berkow. Für die
könnte ich Alles, Alles thun! Ich wünſche manchmal:
ſie fiele vor meinen Augen in's Waſſer, und ich könnte
ihr nachſpringen; oder wie neulich: Brownlock bäumte
ſich, und ich faßte ihn in den Zügel und kämpfte mit
ihm, und ließe nicht los, und wenn er mich auch mit
ſeinen Hufen zerträte. — Warum kommen mir ſolche
Wünſche nie, wenn ich in Deiner Nähe bin, Os¬
wald, oder wenn ich, von Dir getrennt, an Dich
denke?“


„Weil ich ein Mann bin, Bruno, und Du weißt,
daß ich mir ſelbſt helfen könnte und helfen würde.
In die Liebe aber, die wir für eine Frau empfinden,
miſcht ſich noch das Gefühl, daß wir ſie, die ſich ſelbſt
nicht ſchützen kann, mit unſrer größeren Kraft und
unſerm kühneren Muthe ſchützen müſſen, und das
macht unſre Liebe zärtlicher, inniger, mitleidiger; und
dann noch ein Gefühl, von dem ich Dir jetzt nur ſo
viel ſagen will, daß es ein Ausfluß der ewigen Kraft
iſt, welche das Weltall ſchafft und trägt, ein Gefühl,
welches rein iſt, wie alle Natur, aber auch eben ſo
keuſch, und das deshalb, vor der Zeit wachgerufen,
dem Voreiligen ſo verderblich werden kann, als ſeine
Kühnheit dem Jüngling, den des Wiſſens Drang nach
Sais und in den Tempel trieb, wo ſie in dichtem
[172] Schleier verhüllt, thronte, Iſis, die heilige, keuſche
Göttin der Natur.“


„Ich verſtehe Dich nicht ganz, Oswald.“


„Die Welt und das Leben ſind voller Räthſel,
Bruno. Das Leben iſt die Sphinx und wir ſind der
Oedipus. Und es iſt der Fluch des Oedipus, daß er
das Räthſel löſen muß, und ihn des Räthſels Löſung
doch unglücklich macht.“


„Du biſt mir nicht böſe, Oswald?“


„Ich Dir böſe, liebes Herz? weshalb?“


„Daß ich Dir mit ſolchen wunderlichen Fragen
komme.“


„Du ſollſt mich fragen, Bruno; nach Allem fragen,
was Dich in Erſtaunen und Verwirrung ſetzt. Deine
Seele muß offen vor mir liegen, wie ein Buch, in dem
ich blättern und wieder blättern kann. Wollte Gott,
ich möchte nur Weiſes und Gutes auf die reinen
Blätter ſchreiben!“


„Du biſt ſtets ſo gut ſo unendlich gut gegen mich,
Oswald; und ich vergelte Dir all' Deine Güte nur
mit Undankbarkeit und Trotz.“


„Das thuſt Du nicht — und dann: ſind wir
nicht Brüder? Brüder müſſen ſich untereinander lie¬
ben und tragen und ſtützen, und dürfen nicht rechten
um Mein und Dein. Sieh' Bruno, wenn der fromme
[173] Glaube, der die Geiſter der verſtorbenen die auf Er¬
den zurückgelaſſenen Lieben umſchweben läßt, der meine
wäre, ſo würde ich ſagen: dort oben, von dem leuch¬
tenden Sternenhimmel, ſchauen unſre Mütter auf uns
hernieder und freuen ſich der Vereinigung und Liebe
ihrer Kinder. Laß uns zuſammenſtehen in dieſem
wirren Kampfe des Lebens zu Schutz und Trutz. Wie
lange wird es dauern und Du biſt ein Mann, wie
ich, und wollte Gott, ein beſſerer Mann. Dann wird
auch der letzte Unterſchied, der Unterſchied der Jahre
von uns nicht mehr empfunden werden, wie ich ihn
denn jetzt kaum noch empfinde. Dann werde ich viel¬
leicht zu Dir aufſchauen, wie Du jetzt zu mir; dann
wirſt Du mir doppelt und dreifach das Wenige be¬
zahlen, das ich jetzt für Dich thun kann; dann werde
ich — und wie gern! Dein Schuldner ſein!“


„O, das wird nie geſchehen;“ ſagte Bruno; „Du
wirſt immer unerreichbar weit von mir vorauseilen:
ich werde nie auch nur das werden, was Du jetzt
ſchon biſt.“


„Du Närrchen!“ ſagte Oswald und ſtreichelte
liebevoll Bruno's Haar; „Du ſitzt jetzt im Parterre
vor der Bühne des Lebens, und der Felſen von Pappe
erſcheint Deinem begeiſterten Auge ein Urgebirge, und
all die Trödelwaare echt. Wenn Du erſt ſelbſt auf
[174] die Bühne trittſt, wird Dir der holde, roſige Schleier
der Illuſion von den Augen fallen und Du wirſt
Deinen Irrthum erkennen. Aber wenn auch! Du
wirſt, wenn Du von Deinem erſten ſchmerzlichen Er¬
ſtaunen Dich erholt haſt, begreifen, daß es nicht an¬
ders ſein kann, und Deinen Bruder nicht verachten,
weil Du ſiehſt, daß ſein ſtolzer Rittermantel von ver¬
ſchoſſener Seide und arg geflickt iſt, und ſeine Sporen
eitel Meſſing — doch ſtill! da kommen uns Herr
Timm und Mademoiſelle entgegen. Es ſcheint Herr
Timm will die gute Gelegenheit, ſeine Ausſprache
des Franzöſiſchen zu cultiviren, nicht unbenutzt laſſen.
Wir wollen ihn in dieſem edlen Streben nicht ſtören.
Laß uns in dieſen Gang einbiegen.“


Herr Timm, der jetzt Arm in Arm mit Made¬
moiſelle Marguerite, ohne Oswald und Bruno zu be¬
merken, eifrig ſprechend und ſeine helle Stimme dabei
ſorgfältig dämpfend, vorüberſtrich, hatte in der That
„die gute Gelegenheit“, obgleich in etwas anderer,
als in der von Oswald angedeuteten Weiſe, zu nutzen
verſtanden. Auf ſeine Ausſprache des Franzöſiſchen,
wie überhaupt auf alles rein Aeußerliche, legte der
junge Mann ſehr wenig Gewicht, deſto mehr aber
auf den ſoliden Vortheil, den ihm die Gunſt der jungen
Dame, welche dem innern Hausweſen des Schloſſes
[175] vorzuſtehen ſchien, während eines, vorausſichtlich mehre
Wochen lang dauernden Aufenthalts in Grenwitz ge¬
währen mußten; und ſich dieſe Gunſt, die auch viel¬
leicht in anderer Weiſe die Monotonie des Landlebens
in angemeſſener Weiſe mildern konnte, möglichſt ſchnell
zu erwerben, war Herr Albert Timm in dem aller¬
liebſten verſchwiegenen tête-a-tête mit der kleinen
Franzöſin eifrigſt bedacht geweſen. Die Unterhaltung
war von beiden Seiten, ohne einem gelegentlichen
franzöſiſchen Worte das Daſein zu verkümmern, deutſch
geführt worden, da Mademoiſelle das Deutſche ziemlich
und Herr Timm das Franzöſiſche ſehr ſchlecht ſprach,
und dem jungen harmloſen, aufrichtigen, wahrheits¬
liebenden Manne nichts verhaßter war, als der Ge¬
danke, nicht verſtanden oder vielleicht gar mißverſtanden
zu werden.


„Und Sie ſind ſchon lange hier?“ fragte er.


„Drei Jahre.“


„Der Tauſend! und Sie ſind vor langer Weile
noch nicht geſtorben. Sie müſſen eine famoſe Natur
haben.“


„Plait-il?


„Ich meine, das muß doch zum Verzweifeln lang¬
weilig ſein, Jahr aus Jahr ein in dieſem öden Neſt
zu hocken, und noch dazu in ſo ausnehmend inter¬
[176] eſſanter Geſellſchaft. Aber Sie haben wohl viel zu
thun?“


„Enormément! Ich muβ arbeiten comme unforçat — “


Comme was?“


Vous ne savez pas ce que c′est qu′un forçat?


„Nein — ſchadet aber nichts. Wollen einmal ſagen:
wie ein Pferd; das wird wol auf daſſelbe herauskom¬
men. Alſo: Sie müſſen arbeiten wie ein forçat?“


Justement! ich muβ auſſchlieβen und zuſchlieβen
alle Schlöſſer —“


„Hat auch ſein Angenehmes,“ bemerkte Herr Timm.


„Ich muβ hören den ganzen Tag: Mademoiſelle,
thu Sie dies, Mademoiſelle, thu Sie das! Und des
Abends, wenn ich bin müde, daβ ich nicht kann offen
halte die Augen, ich muβ leſen aus die alte dumme
Bücher, bis Madame hat die Güte zu ſagen: c'est,
assez
! — Non, madame, ce n′est pas assez, c′est
trop
mille fois trop,“ ſagte die lebhafte kleine
Dame und ſtampfte mit dem Fuße.


„Sie ſcheinen in einer allerliebſten Stimmung,“
ſagte Herr Timm; „aber das iſt recht, ſprechen Sie
ſich aus — das erleichtert das Herz — aber, wenn
die Baronin Ihnen ein ſolches Vertrauen ſchenkt, ſo
müſſen Sie doch auch in groβer Gunſt bei ihr ſtehen."


[177]

Au contraire! Sie mich braucht, weil Sie muß.
Sie würde mir heute geben mon congé lieber als
morgen. Sie mich hat gern, weil ich nicht habe nöthig
viel Schlaf und weil ich eſſe wenig.“


„Na, da werde ich nie ihr Liebling werden,“ ſagte
Herr Timm. „Aber Sie armes Kind, da ſind Sie
ja in einer ſchauderhaften Situation. Viel Arbeiten
und keinen Dank dafür; früh Aufſtehen und dafür
ſpät zu Bette gehen; den ganzen Tag dreſchen müſſen,
wie das gutmüthige Thier in der Bibel, ohne die
demſelben verſtattete Freiheit — das halte ein Andrer
aus. Sie ſollten ſich verheirathen, Mademoiſelle.“


Marguerite zuckte die Achſeln: „Wer wird wollen
mich 'eirathen? Je suis si pauvre et si laide!“


„Was iſt das?“


„Ich ſage: ich bin arm und ich bin äßlich.“


„Das Erſtere will ich zugeben,“ ſagte Herr Timm;
„das Zweite iſt aber eine arge Verleumdung. Sie
häßlich! Au contraire: Sie ſind hübſch, Mademoi¬
ſelle, très hübſch, belle, ſehr belle —“


Vous plaisantez, Monsieur!“


„Ohne Spaß!“ ſagte Herr Timm, „Sie ſind
wirklich ein auffallend hübſches Mädchen. Erſtens
haben Sie eine reizende Figur —“


Trop petite,“ ſagte Marguerite.


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen, II. 12[178]

„Nicht die Spur,“ verſicherte Herr Timm; „Zwei¬
tens haben Sie wunderhübſche braune Augen; eine
reizende Hand, einen entzückend niedlichen Fuß —“


„Mais, monsieur!


„Was denn? es iſt ja wahr; was wahr iſt, darf
man ſagen. Ich wette, daß Monsieur le docteur
Stein vollkommen meiner Meinung iſt. Lieben Sie
den Doctor?“


„Ich ihn lieben?“ ſagte die kleine Franzöſin mit
großer Lebhaftigkeit; „ich ihn lieben? — ich ihn affe!“


„Na, na!“ ſagte Herr Timm; „warum denn? er
iſt doch ein ſehr ſchöner Mann.“


„C'est un bel homme, mais c'est un fat.“


Un was?“


„Er iſt ein Narr, oui un Narr, qui est mon¬
strueusement amoureux de lui-mème; mais avec
toute sa fierté je me moque de lui, je me moque
de sa fierté, oui, je m'en moque, moi!


„Bitte, ereifern Sie ſich nicht, und ſprechen Sie
vor allen Dingen deutſch, wenn Sie wünſchen, daß
ich Sie verſtehen ſoll. Was hat Ihnen denn der
Unglückliche gethan?“


„Lui? malheureux? Il n'est pas malheureux;
ce monsieur-la. Tout le monde le flatte, le ca¬
jole
—“


[179]

„Aber ſo ſprechen Sie doch um Himmelswillen
deutſch!“


„Glauben Sie, daß er hat geſprochen zehn Worte
mit mir, ſeitdem daß er iſt hier?“


„Das iſt freilich abſcheulich! Au! da habe ich
mir ſchon wieder den Fuß an ſo einer verdammten
Baumwurzel geſtoßen. Ich bin im Dunkeln ſo blind,
wie ein Maulwurf. Sie thäten wirklich ein Werk der
Barmherzigkeit, wenn Sie meinen Arm annehmen und
mich ein wenig führen wollten.“


Très volontiers, Monsieurs.“


„Alſo ſo ein eitler Herr iſt dieſer Doctor Stein,“
ſagte Herr Timm, den Arm der hübſchen Marguerite
in den ſeinen legend und dabei, wahrſcheinlich aus
Kurzſichtigkeit, ziemlich feſt an ſeine Bruſt drückend;
„ei, wer hätte das gedacht! Na, wiſſen Sie was,
liebe Marguerite — welch’ ein reizender Name das
iſt: Marguerite! — ich darf Sie doch Marguerite
nennen? — Ja, was ich ſagen wollte: ärgern Sie
ſich nicht über den albernen Menſchen, liebe Margue¬
rite! Wenn er nicht mit Ihnen ſprechen will, ſo iſt
das ſein eigener Schade, und wenn er Sie nicht hübſch
findet, ſo finden Sie dafür andre Leute deſto hübſcher;
ich zum Beiſpiel, obgleich ich ſehr kurzſichtig bin, be¬
ſonders hier in dieſem Baumgange, wo es ſo dunkel
12*[180] iſt, daß man wahrhaftig nicht die Hand vor den Augen
ſehen kann. — Fürchten Sie ſich, kleine Marguerita?
Nein? warum klopft denn Ihr Herz ſo? oder hätten
Sie mich gar aus Verſehen ein bischen lieb? Haben
Sie mich ein bischen lieb, Marguerite? Geniren Sie
ſich gar nicht; mir kann man Alles ſagen. Oder
ſagen Sie lieber nichts und geben Sie mir einen Kuß!
Sie wollen nicht — ſo! das iſt vernünftig: ihr Fran¬
zoſen und beſonders ihr Franzöſinnen ſeid eine char¬
mante Nation. Aber warum weinſt Du denn, kleiner
Narr? Iſt es bei euch denn ein Staatsverbrechen,
einem ehrlichen Kerl einen Kuß gegeben zu haben,
und noch dazu im Dunkeln . . . Verdammt, da kommt
der alberne Menſch, der Doctor mit ſeinem Gras¬
affen . . . Bon soir, meine Herren, wir können hier
Begegnen ſpielen.“


„Oder Blindekuh,“ ſagte Oswald, „und noch dazu
ohne Binde. Ich dächte, wir gingen hinein. Wenn
ich nicht irre, hat die Baronin ſchon nach Mademoi¬
ſelle gerufen.“


Herr und Frau Paſtor Jäger hatten ſich unter
vielen Dankſagungen und Freundſchafts- und Ergeben¬
heitsverſicherungen empfohlen, um auf dem Einſpänner
in die idylliſche Ruhe von Faſchwitz und unter „ihr
niedriges Dach“ zurückzukehren; Oswald und Herr
[181] Timm — Bruno hatte ſich ſchon einige Minuten zu¬
vor entfernt — ſtiegen die Wendeltreppe des Thurms
hinauf, um ſich auf ihre Zimmer zu begeben.


„Dies iſt Ihr Zimmer, ſo viel ich weiß, Herr
Timm,“ ſagte Oswald, vor einer der vielen Thüren
ſtehen bleibend, die auf denſelben Corridor gingen,
welcher Stufen auf Stufen ab, in vielfachen Biegungen
durch den alten Theil des Schloſſes, wo Oswald und
die Knaben wohnten, und mehere der weniger ſtattlichen
Gaſtzimmer lagen, führte.


„Und wo iſt denn Ihr Wigwam, Herr Doctor?“


„Ein paar Thüren weiter.“


„Sind Sie ſehr müde?“


„Nicht beſonders.“


„So erlauben Sie mir, noch ein paar Minuten
mit zu Ihnen zu kommen. Ich empfinde das ſehr
natürliche Bedürfniß, nach all dem Unſinn, den ich
geſchwätzt habe, und habe ſchwätzen hören, in ver¬
nünftiger Geſellſchaft eine gute Cigarre zu rauchen.“


„So kommen Sie,“ ſagte Oswald, der viel lieber
allein geblieben wär, aber eine zu hohe Meinung von
der Pflicht der Gaſtfreundſchaft hatte, um eine ſo
directe Anrufung derſelben zurückzuweiſen; „ob Ihnen
freilich meine Cigarren gut und meine Geſellſchaft
vernünftig genug —“


[182]

„Um Gotteswillen für heute nicht noch mehr Com¬
plimente!“ rief Herr Timm; „ich bin mit den bereits
Genoſſenen vollkommen zufrieden. Bitte! ſpazieren Sie
voran —“


„Ein reizender Wigwam,“ ſagte Herr Timm, als
ſie in das Zimmer getreten waren und Oswald die
Lampe auf dem runden Tiſch vor dem Sopha ent¬
zündet und ein Kiſtchen mit Cigarren aus ſeinem
Secretär geholt hatte; „eine allerliebſte Tonne für
einen Cyniker, der gelegentlich bei den Sybariten in
die Schule geht; wirklich famos behaglich, für meinen
Geſchmack faſt zu behaglich. Der große Lehnſtuhl in
der tiefen Fenſterniſche, von dem man auf der einen
Seite ſo bequem in den Garten, und auf der andern
„ſtill und bewegt“ nach dem ſchönen Apollokopfe dort
auf dem Schranke blicken kann, Natur und Kunſt
vis-à-vis, und man ſelbſt mitten dazwiſchen, wie der
Mann ſagte, als er aus dem Luftballon fiel. — Die
Cigarre iſt ſuberb, wirkliche Havannah und kein Stinka¬
dores — rauchen Sie nicht? nein? und halten ſich
für ihre Freunde und Bekannten ein ſolches Blatt! —
Edelſter der Menſchen! der heilige Crispinus iſt ja
ein Straßenräuber in Vergleich mit Ihnen! Was haben
Sie denn da in der höchſt verdächtig ausſehenden Flaſche
oben auf dem Bücherbrett? ich glaube gar Cognac—“


[183]

„Und noch dazu alten, echten,“ ſagte Oswald,
„wenigſtens verſichert es mein Freund, der Inſpector
Wrampe, der mir dieſe, jedenfalls geſchmuggelte, Flaſche
aufgenöthigt hat —“


„Und noch nicht einmal entkorkt — Me herculem!
Da müſſen wir doch einmal unterſuchen, ob der In¬
ſpector Sie nicht belogen hat. Trinken Sie auch ein
Glas Grog?“


„Ich nicht, aber laſſen Sie ſich dadurch nicht ab¬
halten;“ ſagte Oswald gutmüthig, die Flaſche herab¬
nehmend und entkorkend; „ich will auf meiner Maſchine
Waſſer heiß machen —“


„Bewahre! wozu die Umſtände! kaltes Waſſer
thut dieſelben Dienſte, beſonders in geringer Quan¬
tität — das iſt ja ein reizender Abend;“ ſagte Herr
Timm, ſich vergnügt die Hände reibend. „Nun ſetzen
Sie ſich gefälligſt in die Sophaecke, damit ich die
Ueberzeugung gewinne, daß Sie ſich ſo behaglich fühlen,
wie ſich Jemand, der nicht raucht und trinkt, über¬
haupt fühlen kann; ich werde mir den Lehnſtuhl
heranrücken — was der Kerl für eine Wucht hat! —
und nun laſſen Sie uns eins plaudern, wie es ſich
für zwei ehrliche Kerle, die dem ganzen Blödſinn der
ſogenannten guten Geſellſchaft ein Schnippchen ſchlagen,
geziemt.“


[184]

So ſprach Herr Timm, zog mit dem Fuße noch
einen Rohrſtuhl herbei, um ſeine Beine darauf zu
legen, und ſtreckte ſich behaglich, den Kopf etwas hinten¬
über gebogen, um dem Rauch ſeiner Cigarre bequemer
und länger nachſchauen zu können.


Der Schein der Lampe fiel ihm dabei voll ins
Geſicht und Oswald bemerkte jetzt zum erſten Male,
daß Herrn Timm's Züge, beſonders im Profil ge¬
ſehen, wo die kecken, ſaubern Linien zur vollen
Geltung kamen, wirklich überraſchend hübſch und in¬
tereſſant waren. Dieſe Entdeckung war für Oswald
durchaus nicht gleichgültig. Er ging noch einen
Schritt weiter als Voltaire, und hielt dafür, daß
nicht nur von den Büchern, ſondern auch von den
Menſchen das genre ennuyeux das ſchlimmſte ſei, und
bei einem überaus regen und durch Studien vielfach
gebildeten Formenſinn ließ er ſich von ſeiner leiden¬
ſchaftlichen Liebe für maleriſche und plaſtiſche Schön¬
heit in einer Weiſe beherrſchen, daß ſein Gefühl des
Wahren und Guten dabei Gefahr lief, nicht unterdrückt,
aber doch getrübt zu werden. So war es in dieſem
Falle. Herrn Timm's formloſes Weſen und nur
dünn verſchleierter derber Realismus hatten ihn im
Laufe des Abends ein paar mal recht empfindlich be¬
leidigt, und er war ſchon entſchloſſen geweſen, den
[185] Verkehr mit dem übermüthigen Geſellen während deſſen
Verweilens in Grenwitz auf das Unvermeidlichſte zu
beſchränken; aber während er jetzt die Umriſſe des
hübſchen Geſichtes im Geiſt nachzeichnete, hatte er den
kaum gefaßten Vorſatz ſchon halb und halb vergeſſen.
„Wollen Sie einmal ein paar Minuten ſo ſitzen
bleiben?“ ſagte er, unwillkürlich nach einem Bleiſtift
greifend, und auf dem erſten Blatte, das ihm auf dem
mit Büchern und Papieren bedeckten Tiſche in die Hände
fiel, anfangend, Albert's Profil zu ſkizziren.


„Eine halbe Stunde, wenn Sie wollen,“ ſagte die¬
ſer; „ich liege vortrefflich; wenn ich nur dabei rauchen,
ſprechen und gelegentlich einen Schluck dieſes irdiſchen
Nektars nehmen darf.“


„Laſſen Sie ſich ja nicht ſtören,“ ſagte Oswald,
eifrig zeichnend.


„Es iſt doch ein merkwürdiger, alter Kaſten, dies
Schloß,“ phantaſirte Albert; „ich glaube, ich habe ver¬
dammt wenig Sinn für Romantik, aber ich brauche
nur den Fuß auf die Wendeltreppe zu ſetzen, die in
dieſen Flügel führt und mich umwehen Schauer des
Mittelalters. Selbſt meine Sprache wird eine andere,
wie Sie hören, und kriegt einen Beiſchmack von van
der Velde und Tromlitz. Welche Mauern! man würde
jetzt ein Dutzend daraus machen. Wenn es damals,
[186] wie zu vermuthen ſteht, auch Leute gegeben hat, mit
denen man Thüren und Wände einrennen konnte,
welche dicke Schädel müſſen die gehabt haben!“


„Wollen Sie gefälligſt einmal die Brille abneh¬
men?“ ſagte Oswald.


„Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter ge¬
lebt, würde ich mir nicht an der Lectüre ſchlecht ge¬
druckter Schmöcker die Augen verdorben haben. Wenn
das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unſerer
Zeit hatte, ſo iſt es der, daß die Leute nichts zu ler¬
nen brauchten. Denken Sie ſich: keine Schulen,
keinen Cornelius Nepos, keine Geſchichte des Mittel¬
alters, keine Examina; blos ein paar Fechtſtunden bei
einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der
Kloſterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt
und von dem einen noch immer ein hübſcheres Schel¬
menſtückchen zu erzählen weiß, als von dem andern;
und dann etwa, wenn man Anſpruch auf höhere Bil¬
dung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei
einem luſtigen, fahrenden Geſellen, der voller hübſcher
Lieder und toller Schwänke ſteckt, der vor tauſend
Thüren geſungen und eben ſo viel ſchöne Mädchen
geküßt hat — das muß doch ein famoſes Leben ge¬
weſen ſein! Und vor allem dieſe Leichtigkeit der Orts¬
veränderung, dieſe unbedingte, oder höchſtens durch ein
[187] paar handfeſte Burſche, die einem in den erſten beſten
Hohlweg den Schädel ein ganz klein wenig einſchla¬
gen, bedingte Freizügigkeit! George Sand hat ein¬
mal ein hübſches Wort, das einzige, das ich aus
allen ihren vielen Romanen behalten habe, wahr¬
ſcheinlich weil es mir aus der Seele geſchrieben war:
„Was giebt es ſchöneres, als eine Landſtraße!“ Iſt
das nicht prächtig? Iſt das nicht die ganze Poeſie,
zum wenigſten die Poeſie des Abenteuerlichen in einem
Worte? Ich könnte die Frau küſſen für das Wort,
obgleich ſie ein Blauſtrumpf iſt, und ich die blauen
Strümpfe haſſe, wie den Teufel, oder vielmehr ärger
als den Teufel, der doch im Grunde nur ein ver¬
kanntes Genie iſt und als ſolches auf die Sympathie
jedes Gebildeten Anſpruch machen kann. Aber wenn
Einen in unſerer Zeit der Teufel und ſeine Helfers¬
helfer und Diener auf Erden, die Gläubiger, plagen,
wo ſoll man hinfliehen vor ihrem Angeſicht? Damals,
in der guten alten Zeit, packte man eines ſchönen
Morgens vor Sonnenaufgang ſeinen Ränzel, oder in
Ermangelung deſſen, ſich ſelbſt, marſchirte zum Thor
hinaus und war, wenn man nach einer Stunde das
Weichbild der Stadt hinter ſich hatte, in Sicherheit,
und, ehe der Abend kam, mußte Einem ſchon ſo viel
Abenteuerliches begegnet ſein, daß man die alte Stadt
[188] und das hübſche braune Mädel darin, für die man
geſtern noch leben und ſterben wollte, bis auf die Er¬
innerung vergeſſen hatte. — Sind Sie fertig? Na,
laſſen Sie einmal ſehen. Hm! Sie zeichnen, wie der
Maler Conti in der Emilia Galotti, nicht, was die
Natur geſchaffen hat, ſondern was ſie hätte ſchaffen
ſollen, wenn ſie in dem betreffenden Augenblicke nicht
unglücklicherweiſe blind geweſen wäre. Sehr hübſch
in der That, aber das Original iſt mir doch lieber.
Und Dichter ſind Sie auch, wie ich ſehe.“


„Wie ſo?“


„Nun, die andere Seite des Blattes iſt ja von
oben bis unten mit Verſen beſchrieben. Und noch
dazu Sonette, die ich über alles liebe. Ich darf ſie
doch leſen?“


„Es iſt nicht des Leſens werth.“ ſagte Oswald,
den Alberts Frage ſichtbar verlegen machte. — Die
Verſe waren an Melitta, waren in der Erinnerung
an die erſte köſtliche Zuſammenkunft im Waldhäuschen
geſchrieben! Er. glaubte das Blatt ſicher in ſeinem
Pult verwahrt, und bereute bitter ſeine Unvorſichtig¬
keit, die es jetzt ſeinem übermüthigen und, wie er
fürchten mußte, keineswegs ſehr discreten Gaſt in die
Hände geſpielt hatte. Glücklicherweiſe war Melitta's
Name nicht genannt.


[189]

„Nicht des Leſen werth?“ ſagte Albert; „das
wollen wir gleich einmal ſehen. Dichter haben kein
objectives Urtheil über ihre Producte. Denken Sie
einmal, ich hätte die Verſe gemacht und fühlte
mich gedrungen, ſie Ihnen vorzuleſen. Hören Siezu!“


„Sie liebt mich!“

Der Anfang iſt weniger originell, als wahr. Aber
Sie werden mir zugeben, daß man ein ſo uraltes
Thema nicht immer wieder neu behandeln kann. Alſo:


Sie liebt mich! Herz, hör auf ſo wild zu ſchlagen!

Halt aus, mein Herz! Du darfſt nicht auch zerſpringen,

Weil er zerſprang, der letzte von den Ringen,

Die Du ſo lange Jahre haſt getragen!
Sie liebt mich! wie die Wolken eilend jagen

Dort droben auf des Nachtwinds feuchten Schwingen!

Die Wälder rauſchen und der Quellen klingen,

Und Wolken, Wälder, Quellen — Alle ſagen:
Sie liebt mich! O, noch ſchwebt auf meinem Munde

Der ſüße Kuß, den ſie mir hat gegeben

In dieſer holden, gnadenreichen Stunde;
Noch fühl' ich ihre Bruſt an meiner beben

Die ſtumme, wunderbar beredte Kunde

Von ihres Herzens tiefgeheimſten Leben.

„Wie finden ſie das? Ich dächte, ich hätte das
erſte, ſtürmiſche Entzücken eines Liebenden in dem
[190] Augenblicke, wo er ſich der Gegenliebe des angebeteten
Weſens verſichert hat, gar nicht ſo übel gezeichnet.
Aber hören Sie weiter, wie das Allegro in ein Ada¬
gio verklingt:


O ſterngeſchmückte, milde, heil'ge Nacht!

Du grabesſtiller, tiefer Gottesfrieden!

Du heilſt die Kranken und erquickſt die Müden

Nach ihrer wirren, tollen Lebensjagd.
Und du haſt mich ſo überreich bedacht,

Du haſt mir gnädiglich ein Glück beſchieden,

Wie es ſo groß und ſchön noch nie hienieden

Der Erdenkinder einem hat gelacht.
O Mutter Nacht! die Du uns haſt geboren,

Die Du uns trägſt in Deinen weichen Armen,

An deren Bruſt wir Kraft und Ruhe trinken —

O, ginge einſt mein holdes Glück verloren,

Dann, große gute Mutter üb' Erbarmen,

Dann laß zurück in Deinen Schooß mich ſinken!

Albert hatte die Verſe ohne alle Affectation, klar
und verſtändig, ja mit einem gewiſſen Anflug von
Wärme vorgetragen. Oswald wußte ihm Dank dafür.
Er hatte ſchon gefürchtet, die Gedichte, auf die er
freilich nur in ſo fern Werth legte, als ſie ein treuer
Ausdruck ſeiner Empfindungen waren, von dem frechen
Spötter ihm gegenüber ſchonungslos profanirt zu ſehen.
Er war froh, ſo leichten Kaufs davon gekommen zu ſein.


[191]

„Machen Sie nie Verſe?“ fragte er, indem er das
Blatt nahm und in ein Heft legte, das noch andere
Poeſien zu enthalten ſchien.


„Ich?“ ſagte Herr Timm, einen tiefen Schluck
aus ſeinem Glaſe thuend; „bewahre! dazu bin ich
viel zu praktiſch. Die praktiſche Weltanſchauung und
die poetiſche vertragen ſich wie Hund und Katze.
Wenn das Kätzchen Poeſie gerade am zärtlichſten
miaut, bellt der Hund Proſa mit ſeiner groben Stimme
dazwiſchen und die kleine Schwärmerin verſtummt.
Warum wollen Sie zum Beiſpiel Knall und Fall
ſterben, wenn Ihnen das „holde Glück“, wie Sie es
nennen, verloren geht? Das iſt doch ſo unpraktiſch
wie möglich. Warum ſagen ſie nicht ſtatt: „Dann
laß zurück in Deinen Schooß mich ſinken“ — „Dann
laß mich ſchnell in andre Arme ſinken“ — oder der¬
gleichen, wodurch das Gemüth des Hörers beruhigt
und vor ſeinem Auge eine höchſt angenehme Perſpec¬
tive aufgethan würde. Was habt ihr Poeten über¬
haupt davon, einem das bischen Vergnügen, das man
ſich noch allenfalls auf dieſem melancholiſchen Plane¬
ten verſchaffen kann, gefliſſentlich zu verkümmern!
Aber freilich, ich ſpreche davon, wie ein Blinder von
der Farbe. Vielleicht befindet ihr euch dort oben in
Wolkenkukusheim, Alles in Allem, doch beſſer, als wir
[192] auf der höckrigen Erde, wo man von Hühneraugen¬
ſchmerzen und anderen irdiſchen Empfindungen, die
euch luſtigen Geſellen erſpart ſind, gar viel zu leiden hat.
Ich habe mir ſchon manchmal gewünſcht, ich hätte
ein beſtimmt ausgeſprochenes Talent für dieſe oder
jene Kunſt: Poeſie, Muſik, Hühneraugenoperiren, Ma¬
lerei, Grimaſſenſchneiden, Plaſtik, Gliederverrenken —
gleichviel, nur irgend einen Sparren, an dem man
ſich halten kann, wenn einem die Wellen des Lebens
über dem Kopf zuſammenſchlagen. Ich erinnere mich
einmal in einer Thierbude an einem Dachs geſehen
zu haben, welcher Segen im Unglück ein ſolches Ta¬
lent iſt. Die übrigen talentloſen Beſtien liefen wie
verrückt in ihren Käfigen umher, oder brüllten vor
Wuth und Hunger, oder ergaben ſich im beſten Falle
einer ſtummen Verzweiflung. Meiſter Dachs dagegen
ſeinem angebornen künſtleriſchen Triebe folgend, arbeitete
unverdroſſen an einer imaginären Höhle in dem Boden
ſeines Käfigs, kratzend, kratzend, immer kratzend, vom
Morgen bis zum Abend. Er vergaß dabei augen¬
ſcheinlich Hunger und Kälte, vergaß, daß er gefangen
war; in der Ausübung ſeines Talents, ſelbſt unter ſo
verzweifelt ungünſtigen Verhältniſſen, ſeine Seligkeit
findend. Ich wollte, ich wäre ſo ein Dachs! — Der
Cognac iſt wirklich ſuperb, Sie ſollten auch ein Glas
[193] trinken, Doctor, um die Wolken von ihrer Apolloſtirn
zu verſcheuchen. — Aber ich habe zu Allem Talent,
das heißt zu Nichts. In meiner Jugend war ich
weit und breit als ein Wunderkind verſchrieen, weil
ich wie ein Staarmatz Alles nachpfiff, was mir die
Andern vorpfiffen. Der Junge wird's einmal weit
bringen, ſagten die albernen Menſchen, wenn ich
wieder einmal ſo eine erſtaunliche Probe meines
Gedächtniſſes, in welchem alles Dumme und Kluge
gleich feſt haftete, zum Beſten gab. Ich wollte, ich
hätte ſitzen und ſchwitzen müſſen, wie die andern
armen Jungen, denen ich damals die Exercitien machte
und die dafür jetzt gemachte Leute ſind, während ich
nichts viel Beſſeres bin, wie ein Vagabund. Aber,
vive la joie et vive la bagatelle! Es muß auch
Vagabunden geben, aus dem einfachen Grunde, weil
es ſonſt keine ſoliden Leute gäbe. Die Vagabunden
ſind das Salz der Erde, oder wenigſtens der fliegende
Same, der die ſonſt feſt am Boden klebende, und am
Boden verrottende Cultur über die ganze Erde ver¬
breitet. Vagabunden gründeten Karthago, Vagabun¬
den gründeten Rom. Was ſoll ein ehrlicher Kerl,
der in Europa nicht mit einer echten Havana-Cigarre
im Munde geboren iſt, anders thun, als nach Amerika
F. Spielhagen, Naturen. II. 13[194] auswandern, wenn er das ſehr natürliche Bedürfniß
empfindet, einmal eine echte Cigarre zu rauchen, und
ſie nicht geradezu ſtehlen will, oder nicht das Glück
hat, einen ſo liebenswürdigen Menſchen aufzutreiben,
wie Sie, der Sie ſich echten Cognac und echte Cigar¬
ren für ihre Bekannten halten und dabei noch die
Gutmüthigkeit haben, dem Geſchwätze dieſer Bekann¬
ten zuzuhören, obgleich Ihnen die Augen beinahe vor
Müdigkeit zufallen. Der Tauſend! Der Inhalt der
Flaſche hat ſich faſt um den dritten Theil ſeines Vo¬
lumens verringert. Wie vergänglich doch alles Irdiſche
iſt! Buona notte, Don Oswaldo! dormite bene
und träumen Sie dolce von den bei occhi della
donna bella, amata, immaculuta
Ihrer Sonette.
Ich für mein Theil will, wie Hamlet, beten gehen,
denn nicht einmal zum Schlafen habe ich Unglücklicher
Talent, geſchweige denn zum Träumen. Gute Nacht,
Dottore!“


„Gute Nacht!“ ſagte Oswald, ſich ſchlaftrunken
aus ſeiner Sophaecke erhebend und Albert bis zur
Thür begleitend.


„keinen Schritt weiter, Dottore!“ ſagte dieſer,
„Alles hat ſeine Grenzen!“ und als die Thür ſich
hinter ihm geſchloſſen hatte, blieb er noch einen Au¬
[195] genblick ſtehen, legte den Daumen ſeiner rechten Hand
an die Naſe, die übrigen vier Finger ſchnell bewe¬
gend — eine Geſte, die für Oswald weniger ſchmeichel¬
haft, als für das kindlich-harmloſe Gemüth des Herrn
Timm bezeichnend war.


13*
[[196]]

Neuntes Kapitel.

Der drückenden Hitze, die in der letzten Zeit ge¬
herrſcht hatte, folgten einige kühle regneriſche Tage.


An ſolchen Tagen erſchien Schloß Grenwitz noch
öder und einſamer, als gewöhnlich. Sonſt kam, wenn
auch Niemand anders, doch wenigſtens der Sonnen¬
ſchein zu Beſuch auf Schloß Grenwitz, und blieb bis
zum Abend und drang in alle Räume, ſelbſt in die
verſchloſſenen Geſellſchaftszimmer des oberen Stocks,
wo er flüchtig über die Stühle und Sophas mit den
koſtbaren, obgleich ein wenig verblichenen Damaſt¬
überzügen weghuſchte und hier und da ein Bild an
der Wand begrüßte, das er ſchon ſeit hundert Jahren
und darüber kannte. Sonſt waren, wenn weiter auch
Niemand, doch wenigſtens die Spatzen luſtig und
guter Dinge, die in den Löchern des alten Thurmes
und in den Stuckornamenten des Neubaus niſteten und
ſchon vom früheſten Morgen ſich ſo ungenirt über
[197] ihre Angelegenheiten unterhielten und zankten, als ob
das Baronenſchloß ihnen nicht mehr Achtung ab¬
nöthigte, als eine Bauernſcheune. Und wem es trotz
alledem zu einſam und öde im Schloſſe wurde, der
konnte in den Garten hinabgehen, wo die Blumen in
noch viel ſchöneren und vor allem friſcheren Farben
prangten, als die Tapeten und die Stühle nur Sophas
drinnen in den Prunkzimmern, wo über den bunten
Blumen ſich bunte Schmetterlinge wiegten, wo die
Vögel jubilirten, die Bienen geſchäftig ſummten und
für den, welcher Augen hatte, zu ſehen, und Ohren,
zu hören, allüberall ein wunderſames, ſtill geſchäftiges,
an Leiden und Freuden reiches Leben herrſchte.


Das war nun Alles anders an Regentagen. Da
konnten ſich die Bilder an der Wand ohne Furcht vor
dem neugierigen Sonnenſchein mit den Stühlen und
Sophas alte, gemeinſam erlebte Geſchichten erzählen,
ſo viel ſie wollten; da ließen ſelbſt die Spatzen ihre
ewigen Streitigkeiten für den Augenblick ruhen, oder
biſſen ſich in aller Stille um die beſten und trockenſten
Plätze; und in dem Garten ließen die Blumen die
regenſchweren Köpfchen hängen; und all' das bunte,
reiche Leben ſchien erſtorben. In den naſſen Gängen
und über die Beete weg ſpielten die Winde Haſchens
und zerzauſten dabei mitleidlos die armen Blumen,
[198] und warfen die Bohnenſtangen um und fuhren die
Bäume hinauf, und ſchüttelten und rüttelten an den
Aeſten, daß die ſchlanken Zweige hinüber und herüber
rauſchten.


Dies melancholiſche Wetter paßte nur zu gut zu
Oswald's Stimmung. Seit dem Tage in Barnewitz
war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die er
ſich ſelbſt kaum zu erklären wußte. Es war, als ob
ihm plötzlich ein dichter Schleier über die Augen ge¬
fallen wäre, durch den hindurch ihm Alles farblos
und reizlos erſchien; es war, als ob ihm eine feind¬
liche Hand Wermuth in den Kelch des Lebens gemiſcht
hätte, aus welchem er in der letzten Zeit mit ſo vollen,
gierigen Zügen getrunken. Selbſt das Bild der ſchönen
lieben Frau, die in dem Allerheiligſten ſeines Herzens
thronte, ſchien ſeine Wunderkraft verloren zu haben.
Wo war all' die Seligkeit geblieben, die ihn ſonſt bei
der Erinnerung an ſie und an die einzig wonnigen
Stunden, die er mit ihr verlebt hatte, erfüllte? wo
die ruheloſe Sehnſucht nach ihrem Anblick, nach dem
Ton ihrer Stimme? wo die fieberhafte Ungeduld, mit
der er die Sonne in ihrem Lauf verfolgte und die
Nacht herbeiwünſchte, unter deren Schutz er ſich die
enge Treppe, die dicht neben ſeinem Zimmer in den
Garten führte, hinabſtahl, um zu ihr zu eilen, die
[199] ſeiner in der verſchwiegenen Kapelle harrte; ihm oft
ſchon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und
der Einſamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernſten,
finſtern Bäumen entgegen gekommen war! — Und
doch wußte er, daß ſie jetzt einſam um ihn trauerte,
daß ſie ihm längſt vergeben hatte, was ſein knaben¬
hafter Trotz und ſeine kindiſche Laune an ihr ge¬
frevelt; daß kein ſtrafendes Wort, kein vorwurfsvoller
Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück
käme; daß ſie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn
an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an
ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an ſich
ſelbſt, an ſeiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten,
wie Grabgeſang tönten ihm noch immer die letzten
Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch
mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn
noch ein ganzes Herz, und eine Stimme, die er nicht
zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo
er auch ging und ſtand und ſelbſt des Nachts in
ſeinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! — In
den Linien Deiner Hand ſteht es ja geſchrieben! Das
braune Weib im Walde ſah es ja auf den erſten
Blick: Du kannſt nicht treu ſein: Du nicht! Du nicht!
— Und als Du zu Melitta's Füßen ſankſt, und den
Schwur der Liebe und Treue ſtammelteſt, ſchloß ſie
[200] Dir nicht den Mund, ängſtlich, haſtig, als wollte ſie
Dir das Verbrechen des Meineids erſparen: „o,
ſchwöre nicht! Ich kann Dir Liebe ſchwören nun und
Treue auf immerdar, aber Du nicht! nicht! —


Regenwetter! wie der Wind die Tropfen gegen die
Fenſterſcheiben jagt, daß ſie trüb werden wie ver¬
weinte Augen! wie ſchwer und tief die Wolken ſchleppen,
die grauen Trauermäntel, als würden ſie mit dem
Saum die Wipfel der Pappeln drüben auf dem
Schloßwalle ſtreifen! Wer doch da draußen läge in
der ſchwarzen naſſen Erde, überhoben aller Qual des
Zweifels und der Reue! Wer doch Theil haben könnte
an dem ewigen Frieden der Natur! wer doch Eines
ſein könnte mit den Elementen! mit dem Winde über
die Erde brauſen, mit der Flamme zum Himmel
lodern, mit dem Waſſer des Stromes im Ocean ver¬
rinnen könnte!


Hat die ſchwermüthige Weisheit der Inder Recht?
und iſt das ganze Menſchenleben nur ein ungeheurer
Irrthum? ſind wir Alle, Alle nur verlorne Söhne,
die das Haus des guten alten Vaters verließen, um
uns von Träbern zu nähren? Und iſt es wahr, daß
wir jeder Zeit zu ihm zurückkehren können? daß wir
zurückſinken können in den Schooß der lieben Mutter
Nirwana, der uranfänglichen Nacht, wenn wir es
[201] nur von ganzem Herzen wünſchen? Von ganzem
Herzen? Wer von uns hat denn noch ein ganzes
Herz zum Leben und zum Sterben? Du nicht! Du
nicht! – —


Vertrauen zu uns ſelbſt iſt wie eine Götterwolke,
in die gehüllt wir die Gefahren des Lebenskampfes
unverletzt durchwandeln, und, wenn wir fallen, als
Helden fallen, mit der Todeswunde auf der ſtolzen
Stirn, in der muthigen Bruſt, Zweifel an uns ſelbſt
iſt wie ein jäher Schwindel, der uns auf ſteiler Fel¬
ſenhöhe packt, unſer Blut gerinnen macht, die Kraft
unſrer Sehnen löſt, und uns zuletzt rettungslos in
den Abgrund ſchleudert.


In ſolchen qualvollen Augenblicken ſchließt ſich der
Menſch, wie ein im Walde verirrtes Kind, an den
erſten Beſten, der ihm begegnet, an Jeden an, der
ſingend die Straße des Lebens einherzieht und der
Gefahren des Weges ſpottet.


Ein ſolcher muthiger Wanderer erſchien dem ver¬
düſterten, entmuthigten Oswald ſein neuer Bekannter,
und ſo kam es, daß er ſich in dieſen böſen Tagen an
den ſtets zu Scherz und Lachen und tollen Streichen
aufgelegten Albert mit einer Herzlichkeit anſchloß, die
ihn, der ſonſt in der Wahl ſeiner Freunde ſo äußerſt
wähleriſch war, ſelbſt in Erſtaunen ſetzte.


[202]

Albert brauchte nicht mehr Zeit, ſich an einem
fremden Orte einzurichten, wie ein Araber, um ſein
Zelt aufzuſchlagen. Und von einer Einrichtung konnte
eigentlich bei ihm keine Rede ſein. Er überließ es
jeder ſeiner Sachen, deren nicht viele waren, ſich in
ſeinem Zimmer einen Platz zu ſuchen. Wollte der
eine Stiefel lieber auf dem Stuhle ſtehen und der
andere mit dem Abſatz nach oben auf der Erde liegen —
er hatte nichts dagegen. Fand es der Frack, das ein¬
zige einigermaßen reſpectable Kleidungsſtück, deſſen er
ſich erfreute, behaglich, in einer Ecke des kleinen me¬
lancholiſch ausſehenden Koffers zu einem unförmlichen
Bündel geballt, zwiſchen ſchmutziger Wäſche ſein Da¬
ſein zu vergeſſen, — er wollte ihn in ſeinem Ver¬
gnügen nicht ſtören. Und er ſelbſt, der glückliche Be¬
ſitzer all' dieſer emancipirten Herrlichkeiten, ſtand trotz
des kühlen Wetters in Hemdsärmeln über ein großes
Reißbrett gebeugt und pfiff und ſang und zeichnete
und lachte Oswald, der am Nachmittage, ihn zu be¬
ſuchen, kam, wegen ſeiner Leichenbittermiene, wie er
es nannte, aus.


„Dottore, Dottore!“ rief er, „Sie ſehen aus, als
ob Sie von dem Grog, den ich geſtern Abend ge¬
trunken, den wildeſten Katzenjammer gehabt hätten!
Wahrhaftig, Sie beſchämen das Wetter! Die Wolken
[203] draußen ſind ja verglichen mit denen auf ihrer Stirn
in hundert bunten Farnen ſchimmernde Seifenblaſen!
Haben Sie je als Junge an einem ſchönen hellen
Sommermorgen in der Bodenluke geſeſſen und aus
einem kleinen Stummel von Tonpfeife bunte Seifen¬
blaſen in die blaue Luft hinausgeſandt, während unten
zwiſchen den bleiernen Soldaten auf dem großen Tiſch
in der Kinderſtube ein angefangenes lateiniſches Exer¬
citium lag, für deſſen fragmentariſchen Zuſtand Sie
ein paar Stunden darauf von Ihrem Lehrer die ſchön¬
ſten Prügel beſahen! Sehen Sie, das iſt das Bild
des Lebens. Unſer Wiſſen iſt Stückwerk, und unſre
beſten Exercitien bleiben Stückwerk, die bunteſten Sei¬
fenblaſen zerplatzen, und die derbſten Prügel fühlt
man eine Stunde nachher nicht mehr. Es iſt Alles
eitel, vor allem aber unſer Grämen darüber, daß
Alles eitel iſt. Zum Kukuk! Ich habe die Welt nicht
gemacht und Sie, ſo viel ich weiß, auch nicht. Wes¬
halb ſollten wir Beide uns alſo darüber den Kopf
zerbrechen? Ich zerbreche mir über Nichts den Kopf,
über gar nichts, zum Beiſpiel auch nicht über dieſe
Linie, die ich offenbar zu kurz gemeſſen habe, und die
ich nun nach Gutdünken mit Grazie verlängern muß,
bis ſie dieſe Ecke hier trifft, — nebenbei eine höchſt
romantiſche Waldecke, wo ich eine allerliebſte ſtumpf¬
[204] näſige, rothbäckige, hochgeſchürzte Bauerdirne traf, die
jedenfalls dieſe ganze Confuſion veranlaßt hat. Na,
ſchadet nicht. Die Rechnung kann ja nicht immer
rein aufgehen, wozu wären denn ſonſt die Brücke da,
und das Grenwitz'ſche Majorat bleibt darum doch,
was es iſt, eine ausgezeichnet ſchöne Erfindung, be¬
ſonders für den Spatzenkopf, den Malte. Iſt der
Junge wirklich ſo dumm, wie er ausſieht?“


„Durchaus nicht,“ ſagte Oswald, der mit einem
Stiefelknecht und einer Botaniſirkapſel, aus der ein
Strumpf von blauem Garn ſchamhaft hervorlugte,
das kleine Sopha im Zimmer theilte. „Malte kann
nicht blos bis fünf, ſondern ſehr viel weiter zählen.
Er hat für Manches ein ganz entſchiedenes Talent,
beſonders zum Rechnen, worin er Bruno, der ſehr
wenig Sinn dafür hat, weit vorausgeeilt iſt.“


„Ja, die Vorſehung iſt wunderbar weiſe,“ ſagte
Albert, in einem kleinen Näpfchen ſchwarze Tuſche
anreibend; „wem ſie die Schildkrötenſuppe des Reich¬
thums zugedacht hat, beſchert ſie gleich den ſilbernen
Löffel dazu, und wem ſie den Schiffszwieback der Ar¬
muth mittheilte, verſieht ſie freundlichſt mit hohlen
Backenzähnen, damit er ſich nicht lange über die
trockene Koſt zu ärgern braucht. Ich für mein Theil
habe aus Verſehen vortreffliche Zähne bekommen, und
[205] ſo mundet mir mein Zwieback ausgezeichnet, ſo aus¬
gezeichnet, daß ich mich nicht einmal über die hohl¬
köpfigen, dickbäuchigen, ſilberne Löffel führenden, Schild¬
krötenſuppe eſſenden, verzogenen rechten Kinder der
Stiefmutter Natur ärgern kann. Aber eines ſollte
mich doch freuen, und das wäre, wenn ſich zu dem
Codicil im Teſtamente des vortrefflichen, im Delirium
verſtorbenen und jetzt in Abraham's Schooße ſeinen
Rauſch ausſchlafenden Baron Harald ein Liebhaber
fände.“


„So kennen Sie auch die traurige Geſchichte?“
ſagte Oswald.


„Wer ſollte die nicht kennen,“ erwiederte Albert,
ſich eine Cigarre anzündend und ſich auf die Lehne
eines Stuhles ſetzend, ſo daß ſeine Füße auf dem
Seſſel ſtanden. „Wird doch die Geſchichte durch die
teſtamentariſch vorgeſchriebene Publication zum fürch¬
terlichſten Aerger der hochmüthigen und ebenſo geizigen
wie hochmüthigen Anna-Maria alljährlich in den Zei¬
tungen aufgewärmt, obgleich ich glaube, daß es in den
letzten Jahren gar nicht einmal mehr geſchehen iſt.“


„Es wundert mich,“ ſagte Oswald, „daß ich von
der Sache niemals hörte, bis ich hierher kam, und
auch in den Blättern nie davon geleſen habe.“


„Wer bekümmert ſich denn um die Publicandas,
[206] Steckbriefe und ſonſtigen heitern Bekanntmachungen,
wenn man, wie wir, von denſelben weder etwas zu
fürchten, noch zu hoffen hat! Ich wüßte wahrſchein¬
lich von dem originellen Streich, den Vetter Liederlich
Couſine Gieremund geſpielt hat, auch nicht mehr, wie
Sie, wenn mein Vater, den als Juriſten die Sache
intereſſirte, und der, glaube ich, irgendwie dabei be¬
theiligt war — möglicherweiſe war er Vetter Lieder¬
lich bei der Abfaſſung des Teſtamentes behülflich ge¬
weſen — nicht manchmal davon geſprochen hätte.
Uebrigens war die Aufforderung in ziemlich vagen
Ausdrücken abgefaßt und lief ungefähr darauf hinaus,
daß die betreffende junge Dame, oder ein von ihr
bis zum Ende, ich erinnere mich nicht mehr, welchen
Jahres, geborenes Kind, gleichviel ob masculini oder
feminini generis, ſich bei den unterzeichneten Teſta¬
mentsexecutoren — natürlich unter Beibringung der
nöthigen Legitimations-Urkunden — ſchleunigſt melden
möchten, da ihnen von dem zu ſeinen Vätern — die
jedenfalls ebenſo ſaubre Kunden waren, wie der wür¬
dige Sohn — verſammelten Baron Harald ein be¬
deutendes Legat vermacht ſei. Worin dies Legat be¬
ſtehe, iſt nicht geſagt. Ich aber weiß, und es wiſſen's
auch noch Viele, daß damit nichts weniger als zwei
der ſchönſten Güter hier auf der Inſel: Stantow und
[207] Bärwalde, die ich ganz genau kenne, da ich ſie im
vorigen Sommer vermeſſen habe, gemeint ſind.“


„Es müßte allerdings eine reizende Ueberraſchung
für unſre liebenswürdigen Freunde ſein, wenn der im
Teſtament vorgeſehene Fall einträte.“ ſagte Oswald.


„Na, ob!“ erwiederte Albert; „leider iſt dazu nur
noch ſehr wenig Ausſicht, da das Legat nur fünfund¬
zwanzig Jahre in suspenso bleibt und dann an die
Familie zurückfällt. Von den fünfundzwanzig müſſen
aber mindeſtens zwei- oder gar ſchon dreiundzwanzig
verfloſſen ſein, denn ich bin jetzt ſechsundzwanzig und
erinnere mich, daß ich mich jedesmal ärgerte, nicht
das teſtamentariſche Alter zu haben.“


„Warum?“


„Um mich wenigſtens in der reizenden Ungewißheit
wiegen zu können, ob ich nicht am Ende doch der
Ivanhoe wäre, der, aus ſeinem väterlichen Erbe ver¬
trieben, unbekannt in dem Lande umherirrt, trotz ſeiner
ritterlichen Abſtammung mit Schweinehirten Freund¬
ſchaft ſchließen und von alten ſchmutzigen Juden borgen
muß, bis er endlich das Incognito fallen laſſen und
die ſchöne Rowena als ſein ehelich Gemahl heim¬
führen kann, obgleich ich für mein Theil auf den
letzten Punkt weniger Gewicht legen würde.“


„Haben Sie Ihrem Herrn Vater, wenn ſie ſich
[208] mit ihm von dieſer myſteriöſen Angelegenheit unter¬
hielten, auch dieſen für denſelben ſo äußerſt ſchmeichel¬
haften Wunſch mitgetheilt?“


„Ich erinnere mich nicht; indeſſen, wenn ich es
gethan habe, ſo hat der Alte meine kindliche Regung
wahrſcheinlich ſehr natürlich gefunden, denn er war
ein ſehr aufgeklärter Mann. Einen Vater muß doch
nun einmal jeder Menſch haben, obgleich dieſe ſo
äußerſt weiſe Einrichtung der Natur auch manchmal
zum Beiſpiel, wenn man eben einen dummen Streich
ausgeführt hat, oder auszuführen gedenkt, ziemlich
unbequem iſt; und da ſehe ich nicht ein, weshalb ich
einem Vater, der mir zwei prachtvolle Güter hinter¬
läßt, nicht einem andern, der mich in die Welt laufen
läßt, wie ein Krokodil ſein Junges ins Waſſer, das
heißt mit zwei Reihen ausgezeichneter Zähne und nichts
zum Beißen dazu, nicht den Vorzug geben ſollte, auch
wenn der Erſtere in Betreff gewiſſer, bei chriſtlichen
Nationen landesüblicher Gebräuche mehr orientaliſch¬
muhamedaniſchen Anſichten huldigte.“


„Das iſt Geſchmacksſache,“ ſagte Oswald.


„Gewiß,“ erwiederte Albert; „obgleich ich über¬
zeugt bin, daß von hundert Menſchen, wenn ihnen
die Alternative nicht blos als Problem, ſondern in
greifbarer Wirklichkeit geſtellt würde, ſi[c][h][n]eunund¬
[209] neunzig, verſteht ſich, mit obligatem ſchamhaften Er¬
röthen, zu meiner Anſicht bekennen, oder ſich auch noch
immer zu Ihrer Anſicht bekennen, jedenfalls aber mit
beiden Händen zugreifen würden. Verſpürte doch
ſelbſt der große Goethe ähnliche Gelüſte, obgleich er
natürlich vermöge ſeiner Größe noch ein paar Zweige
höher nach den goldenen Aepfeln ſchielte, und gern
eines Kaiſers Sohn geweſen wäre, während ich ſchon
mit einem Papa Baron zufrieden bin.“


„Der große Goethe war, als er dieſe Gelüſte
verſpürte, eben noch nicht der große, ſondern ein
ganz kleiner Goethe, und hatte wie andere Kinder,
kindiſche Einfälle.“


„Na, ich weiß nicht, ob dem alten Geheimerath
die beiden Güter nicht auch willkommen geweſen wären:
denn in gewiſſer Hinſicht, zum Exempel darin, daß
uns gebratene Aepfel beſſer ſchmecken als rohe Kar¬
toffeln, bleiben wir alle Kinder, und wenn wir Me¬
thuſalems Alter erreichten. Indeſſen, dem ſei, wie
ihm wolle. Wenn Sie ein beſonderes Gewicht darauf
legen, Ihres Herrn Vaters Sohn zu ſein, ſo wäre
es Unrecht von mir, Ihnen dies kindliche Vergnügen
zu verleiden. — Wie wär's, Dottore, wenn wir unſer
philoſophiſches Geſpräch als Peripatetiker im Freien
fortſetzten? Der Himmel ſieht freilich noch immer aus
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 14[210] wie ein naſſer Scheuerlappen, aber es hat doch we¬
nigſtens für den Augenblick aufgehört zu regnen, und
ich meinestheils will lieber in die Sündfluth hinein¬
ſchwimmen, als den ganzen Tag in dieſer langweiligen
Arche Noah ſitzen, wo man ſogar gegen alle Natur-
und bibliſche Geſchichte gezwungen iſt, ohne das be¬
treffende weibliche Exemplar der Species, die man
ſelbſt repräſentirt, leben zu müſſen. Sie können doch
ſchwimmen?“


„O ja,“ ſagte Oswald lächelnd.


„Nun, dann ſetzen Sie ſich eine Mütze auf und
kommen Sie; die Jungen ſind jetzt unten beim Vesper¬
brod und werden ihren Mentor wol auf eine Stunde
entbehren können.“


Die beiden neuen Freunde gingen die enge Treppe,
die dicht neben Oswald's Zimmer durch die gewaltige
Mauer des unteren Stocks in den Garten führte,
hinab. Es regnete nicht mehr, auch der Wind hatte
aufgehört zu wehen, aber der ganze Himmel war mit
ſchweren trüben Wolken bedeckt, die mit jedem Augen¬
blick tiefer zu ſinken ſchienen. Aus den Kelchen der
Blumen tropften die Regenperlen wie helle Thränen
aus überſtrömenden Kinderaugen. Dann und wann
ertönten leiſe klagende Vogellaute aus den breiten
Kronen der Bäume, ſonſt tiefe Stille allüberall.


[211]

Eine unausſprechliche Wehmuth bemächtigte ſich
Oswald's Herz. Das Leben erſchien ihm wie ein
dumpfer, beängſtigender Traum, durch den geliebte
Geſtalten mit verhülltem Antlitz glitten. Er gedachte
Melitta's, aber wie einer Todten. ...


Auch Albert war ſtill geworden in dem ſtillen
Garten: „Laſſen Sie uns weiter gehen,“ ſagte er;
„es iſt hier wie auf einem Friedhof.“


Sie gingen aus dem alten verfallenen Thore über
die Zugbrücke in den Wald, den Weg nach Berkow,
denſelben Weg zwiſchen den hohen ernſten Tannen,
den Oswald an dem Abend ſeiner Ankunft auf Schloß
Grenwitz dahergefahren kam, und den er ſeitdem mit
wie verſchiedenen Empfindungen nun ſchon ſo oft
zurückgelegt hatte.


Jener Abend hatte eine Kluft in ſein Leben ge¬
riſſen, deren Tiefe er jetzt erſt inne ward. Seit jenem
Abend war die weite Welt draußen hinter den ſtillen
Wäldern für ihn verſunken, und eine neue Welt war
für ihn emporgeblüht, eine paradieſiſche Welt voll
Liebe und Sonnenſchein; und jetzt war es ihm, als
verſänke ihm auch dieſe Welt unter den Füßen, und
die alte Welt draußen jenſeits der ſtillen Wälder läge
ihm weit, unerreichbar weit. Würde er je mit friſchen,
muthigen Sinnen in dieſe Welt zurückkehren? nicht
14*[212] ſtets ſich zurückſehnen nach der blauen Blume, die
ihm hier nahe wie noch nie geblüht hatte, ſo nahe,
daß ihm der Duft bis in's Herz gedrungen war?
Was war aus den ſtolzen Ideen geworden, denen
nachzudenken ſonſt die Freude ſeines Lebens geweſen?
aus den kühnen Plänen, mit denen er ſich ſchon Jahre
lang getragen? war Alles nun dahin? und dahin um
eines Weibes willen, um der Liebe willen zu einer
Frau, die nie die ſeine werden konnte?


Nein und tauſendmal nein! Er mußte ſich los¬
reißen aus dieſer ſinnverwirrenden Zauberwelt, und
ſollte es ihm das Herz zerreißen! ihm! was war an
ihm gelegen! er hatte ja kein ganzes Herz mehr zu
verlieren! aber ſie — was ſollte dann aus ihr werden?


„Ich glaube, Ihre Melancholie ſteckt an, Dottore,“
ſagte Albert, als ſie eine Zeit lang ſchweigend neben¬
einander hergegangen waren; „wie kann ſich nur ein
ſo geiſtreicher Mann wie Sie von den Einflüſſen der
Witterung, oder was Ihnen ſonſt in den Gliedern
ſteckt, ſo gänzlich beherrſchen laſſen! Ihr melancho¬
liſchen Genies ſeid doch pudelnärriſche Menſchen. Im¬
mer heißt es bei euch: hie Welf! oder: hie Waiblingen.
Die aurea mediocritas des Horaz iſt für euch um¬
ſonſt gepredigt. Ihr wollt nicht darauf hören, weil
euch der Stolz nicht erlaubt, jemals mittelmäßig zu
[213] ſein, und doch müßtet ihr einſehen, daß wir mittel¬
mäßigen Kinder der Natur uns zehntauſendmal wohler
in unſerer Haut fühlen, als ihr. Wahrhaftig, Dot¬
tore, Sie können ſich porträtiren und unter die Fa¬
milienbilder der Grenwitzer, oben im Saale, hängen
laſſen; es findet Sie Keiner als einen Fremden her¬
aus. Die haben auch Alle ſo verteufelt melancholiſche
Geſichter. Mir däucht, man ſieht es der Race an,
daß Jeder von ihnen ſo oder ſo zum Teufel gehen
mußte, wie ſie es denn auch, ſo viel ich weiß, bis
jetzt ohne Ausnahme gethan haben. Die Geſichter —
ich habe ſie heute nach Tiſche der Reihe nach durch¬
gemuſtert — können alle als Titelkupfer zu grauslichen
Räuber- und Rittergeſchichten geſtochen werden. Dieſe
Geſichter erzählen von tauſend übertollen Streichen,
von durchzechten Nächten, und vor allem von vielen,
vielen ſchönen Weibern, die ſich an ihnen den Tod
küßten. Denn für die Weiber, wie ich ſie kenne,
müſſen Kerle mit ſolchen Fratzen unwiderſtehlich ſein,
vor allem, wenn die Kerle, wie in dieſem Falle, reiche
Barone ſind. Beſonders iſt mir der Harald, dieſer
Rattenfänger von Hameln, aufgefallen. Er iſt nicht
ſo ſchön wie ſein Vater Oscar, mit dem Sie nebenbei,
wenn Sie ſo finſter ausſehen, wie eben, ohne Schmei¬
chelei eine merkwürdige Aehnlichkeit haben — aber
[214] er ſcheint mir mit ſeinen großen, verführeriſchen blauen
Augen, ſeinen ſo feinen und doch ſo wollüſtigen Lippen
der wahre Typus dieſer hochadeligen und hochgefähr¬
lichen Raçe.“


„Sie thun mir wahrlich eine unverdiente Ehre an,
wenn Sie mich ſo ohne Weiteres mit dieſer noblen
Sippſchaft zuſammenſtellen,“ ſagte Oswald.


„Nein, Scherz bei Seite,“ erwiederte Albert, „Sie
haben wirklich in Ihrer Phyſiognomie den verhäng¬
nißvollen Grenwitzer Zug; ich will Ihnen damit nicht
etwas Angenehmes ſagen, denn Andre, ich für mein
Theil zum Beiſpiel, ziehe es bei weitem vor, denſelben
nicht zu haben. Ja, ich gehe noch weiter. Ich wette
meine Karten der Grenwitzer Güter gegen die Güter
ſelbſt, daß Sie, im erb- und eigenthümlichen Beſitz
dieſer Güter, daſſelbe Leben führen würden, das den
Grenwitzern bis auf die jetzt regierende Seitenlinie,
die gänzlich aus der Art geſchlagen iſt, erb- und
eigenthümlich war.“


„Sie verpflichten mich in der That durch die ſo
überaus wohlwollende Meinung, die Sie von meinen
Fähigkeiten und Neigungen haben, zu dem lebhafteſten
Dank.“


„Ironiſiren Sie, ſo viel Sie wollen, ich bleibe
dabei, Sie würden es gerade ſo machen, wie die
[215] tollen Barone, gegen die Sie eine ſo gründliche An¬
tipathie zu haben vorgeben, vielleicht auch wirklich
haben, etwa ſo wie eine Dogge, die an den Karren
geſpannt iſt, eine Anthipathie gegen die andere hat,
die frei umherläuft.“


„Aber was, ums Himmelswillen, bringt Sie —
was berechtigt Sie zu dieſen wunderlichen Hypo¬
theſen?“


„Meine tiefſinnigen und ebenſo oberflächlichen, wie
tiefſinnigen Studien in der Phyſiognomik,“ erwiederte
Albert. „Ich war ein Adept dieſer Wiſſenſchaft von
Kindesbein an, ja ein Märtyrer derſelben, denn ich
habe mir für den allzugroßen Eifer, mit dem ich ihr
oblag, oft ſehr derbe Prügel geholt, wenn ich in den
Schulſtunden, anſtatt aufzupaſſen, die geiſtreichſten
Karrikaturen von den Spatzen-, Affen-, Schafs- und
anderen Köpfen um mich her zeichnete; denn Ihnen
brauche ich natürlich nicht zu ſagen, daß man das
Charakteriſtiſche eines Geſichts, einer Geſtalt am
ſchnellſten faßt, wenn man ſie zu karrikiren verſucht.
Aus Ihrem Geſicht nun, wenn ich das Charakte¬
riſtiſche ſtark betone, wird das ſchmermüthige, und bei
aller Schwermuth ſo verführeriſch-ſinnliche Gottſeibei¬
uns-Geſicht der Grenwitzer, — Gottſeibeiuns-Geſicht,
nämlich aus der armen Seele oder für die arme
[216] Seele der Mägdelein geſprochen, die ſich darin ver¬
gaffen. Ich will mich hängen laſſen, wenn ſie nicht
noch im Leben ein raſendes Glück bei den Weibern
machen, — und ſchon gemacht haben.“


„Und wenn ich Ihnen nun das Gegentheil ver¬
ſicherte?“


„So iſt der Baron Harald kein Rattenfänger,
ſondern ein Nachtwächter geweſen, und nicht von ſeiner
allzugroßen Neigung für junge ſchöne Weiber und
guten alten Wein, ſondern von vielem Studiren ge¬
ſtorben; ſo hat die kleine Marguerite — die nebenbei
ein bildhübſches und auch nicht allzuſprödes Kind iſt
— gelogen, die mich geſtern verſicherte: ſie haſſe Sie,
was doch auf deutſch ſo viel heißt, als; ſie ſei ſterb¬
lich in Sie verliebt, und ſo hat die Fama gelogen,
die Ihren Namen mit dem einer andern und aller¬
dings zu höheren Anſprüchen, als die kleine Mague¬
rite berechtigten Dame in Verbindung bringt.“


„Was meinen Sie?“ fragte Oswald, welcher
fühlte, daß ihm das Blut in die Schläfen ſchoß.


„Nichts, mein Prinz, nichts!“ erwiederte Albert
lachend; „muß man denn immer etwas meinen, wenn
man etwas ſagt? Ich wollte nur auf den Buſch
klopfen, ob die Vögel vielleicht herausflögen. Denn
daß an Ihrer Melancholie nicht blos das Wetter
[217] ſchuld iſt, das zu ſehen, braucht man nicht einmal,
wie ich, eine Brille zu tragen und ein Phyſiognom
trotz Lavater und Lichtenberg zu ſein. Wenn unſer
Einer melancholiſch iſt, ſind immer ein paar ſchwarze
oder blaue Augen mit im Spiele. Die ſchwarzen
Augen der kleinen Marguerite ſind es aber nicht,
denn ich habe ſelbſt geſehen, mit welcher ſouveränen
Gleichgültigkeit Sie das arme Ding behandeln, folg¬
lich ſind es ein paar andere Augen; und folglich,
wenn es ein paar andere Augen ſind, müſſen dieſe
Augen doch irgend wem gehören; und wenn ſie irgend
wem gehören —“


„Genug, genug!“ ſagte Oswald, trotz ſeiner böſen
Laune über das luſtige Geſchwätz des wunderlichen
Geſellen an ſeiner Seite lachend; „Sie werden mir
noch nächſtens beweiſen, daß ich der Mann im Monde
bin und vor Liebe zu einer ſchönen Prinzeſſin, die
auf dem Sirius wohnt, mich kopfüber in den Welten¬
raum hineinſtürze.“


„Warum nicht?“ ſagte Albert; „ich bin Merlin
der Weiſe. „Ich kenne alle Raupen, die ein Menſch
im Kopf haben kann; ich höre einen Bären, beſon¬
ders wenn ich ihn ſelber angebunden habe, ſchon von
weitem brummen, und prophezeihe, daß, wenn wir nicht
in fünf Minuten unter Dach und Fach kommen, wir
[218] ſo ausgewaſchen werden, wie man es nur im Inte¬
reſſe ſeiner Reinlichkeit wünſchen kann.“


Die Beiden befanden ſich jetzt, nachdem ſie aus
dem Walde getreten waren, auf dem offenen Felde
zwiſchen dem Walde und den Häuslerwohnungen von
Grenwitz. Alberts [Prophezeihung] ſchien in Erfül¬
lung gehen zu ſollen. Die trüben, ſchweren Dunſt¬
maſſen ſenkten ſich tiefer und tiefer, daß es trotz der
nicht allzuſpäten Stunde beinahe Nacht wurde; ſchon
fielen einzelne große Tropfen.


Sauve qui peut“; rief Albert. „Wie wär's
mit einem kleinen Dauerlauf, Dottore, bis zu jenem
Häuschen?“


„Nur zu!” ſagte Oswald —


„Na, das war noch gerade vor Thorſchluß“, ſagte
Albert, als ſie unter dem vorſpringenden Dache der
Hütte angelangt waren, und ſchüttelte ſich wie ein
Pudel. „Meinem Rock hätte die Wäſche freilich nichts
geſchadet, aber ich bin hier doch lieber. Nein, wie
das regnet! wollen wir nicht in das Innere dieſes
Palazzo dringen, Dottore, oder glauben Sie, daß
das alte Weib, das da zum Fenſterchen hervor¬
lugt, dieſelbe Hexe iſt, die dieſes Hexenwetter gemacht
hat?“


„Guten Tag, Mutter Clauſen!“ ſagte Oswald,
[219] der ſeine alte Freundin vom Kirchgang nach Faſchwitz
erkannte.


„Schön Dank, Junker;“ ſagte Mutter Clauſen
und nickte freundlich mit dem grauen Haupte; „ich
hab Dich ſchon erwartet. Komm nur herein, und der
Andere auch, wenn er Dein Freund iſt.“


„Na, was bedeutet denn das?“ fragte Albert ver¬
wundert.


„Folgen Sie mir nur;“ erwiederte Oswald; „Sie
ſollen eine merkwürdige alte Frau kennen lernen.“


Und ſie traten, nicht ohne ſich zu bücken, durch die
niedrige Thür in die Hütte.

[[220]]

Zehntes Kapitel.

„Nur hier herein,“ ſagte Mutter Clauſen, Os¬
wald bei der Hand ergreifend, und ihn von dem
dunklen Flur in ein einfenſtriges Stübchen ziehend,
das der größeren Stube auf der andern Seite, in
welche Oswald mit dem Inſpector Wrampe den kranken
Knecht an jenem Abend getragen hatte, gegenüberlag,
während ſie ſich um Albert nicht weiter bekümmerte,
als wüßte ſie, daß dieſer junge Mann das Talent
hatte, ſeinen Weg auch im Dunkeln zu finden: „ich
habe ſchon nach Dir ausgeſchaut, denn ich weiß von
Alters her, daß Du nur zu gern in ſolchem Wetter
umherläufſt, das heiße junge Blut ein bischen abzu¬
kühlen. Biſt wohl wieder durchgeweicht, wie gewöhn¬
lich? Nu, das geht ja heute noch. Da, ſetze Dich in
den großen Stuhl. Es hat Niemand von Euch darauf
geſeſſen, ſeitdem Baron Oskar heute vor dreiundvierzig
Jahren darin geſtorben iſt.“

[221]

„Für abergläubiſche Gemüther keine beſondere
Empfehlung,“ ſagte Albert, auf einer großen hölzernen
Lade im Hintergrunde des Stübchens Platz nehmend,
während die alte Frau Oswald in den Lehnſtuhl
drängte, und ſich zu ſeinen Füßen auf einen niedrigen
Schemel ſetzte; „indeſſen Ehre, wem Ehre gebührt.
Sie nehmen ſich auf dem einzigen Prunkmeubel in
dieſem ſonſt äußerſt prunkloſen Gemach ganz famos
aus, Dottore, beſonders bei dieſer Rembrandt'ſchen
Beleuchtung und mit der alten Frau à la Murillo zu
Ihren Füßen; wie ein vertriebener König, der bei
einer alten Fee im Walde Schutz ſucht und findet,
während ſein getreuer Eckart im Hintergrunde ſitzt
und nickt. Ich glaube wirklich, das Laufen hat mich
müde gemacht, und ich könnte ein paar Minuten
ſchlafen. Wecken Sie mich, Dottore, wenn es wieder
aufgehört hat, zu regnen —“ und Albert ſtreckte ſich
der Länge nach auf der Lade aus, legte die Hände
unter den Kopf und ſchien trotz der, für jeden Andern
wenigſtens, höchſt unbequemen Lage nach wenigen
Minuten, während deſſen nur das monotone Tik-tak
der alten Schwarzwälder-Uhr in der Ecke und das
Rauſchen des noch immer in Strömen herabfallenden
Regens die lautloſe Stille in dem kleinen Gemache
unterbrachen, alles Ernſtes eingeſchlafen zu ſein.


[222]

Mutter Clauſen hatte ihr Strickzeug zur Hand
genommen, und ſtrickte wieder wie neulich an einem
winzigen Kinderſtrümpfchen, emſig, emſig, emſig, daß
die Nadeln klapperten. Nur von Zeit zu Zeit ſchaute
ſie zu Oswald empor und nickte ihm freundlich
zu, als freute ſie ſich, daβ er gar ſo bequem in
dem alten weichen Lehnſtuhl ſäße, hier in der
trockenen Stube, während es draußen ſo unbarm¬
herzig regnete.


„Nicht wahr, Junker, es ſitzt ſich gut in dem
Stuhl?“ ſagte ſie für einen Augenblick das Strickzeug
in den Schooß und die rechte Hand auf Oswald's
Knie legend. „Die gnädige Frau hat ihn mir ge¬
ſchenkt, als der Baron geſtorben war. Sie konnte
den Anblick nicht ertragen, ſagte ſie, denn ſie müſſe
dabei ſtets an den Augenblick denken, wo die Leute
ihn hereintrugen, als er mit dem Wodan geſtürzt
war, und hier in dieſen Stuhl ſetzten; und Harald
kam herbeigelaufen, und ſchrie, als er den Vater ſo
bleich und entſtellt ſah, und ſie ſelbſt lief im Zimmer
umher und rang die Hände, und ich ſtand neben dem
Baron, und wiſchte ihm den Todesſchweiß von der
blaſſen Stirn. Ich hatte damals keine Zeit zum
Weinen, ich wußte es wohl, daβ ich hernach Zeit
genug dazu haben würde.“


[223]

„Und wie alt war Baron Harald, als ſein Vater
ſtarb?“ fragte Oswald.


„Zehn Jahre,“ antwortete Mutter Clauſen; „und
ihm wäre beſſer geweſen, er wäre an dem Tage ge¬
ſtorben, — ihm und manchem Andern.“


Die Alte hatte das Strickzeug, das in ihrem Schooß
müßig gelegen hatte, wieder zur Hand genommen und
ſtrickte emſiger wie zuvor, als müſſe ſie die verlorne
Zeit einholen.


„Ja, ja,“ ſagte ſie; es wäre beſſer geweſen. Da¬
mals war er ein bildhübſcher, unſchuldiger Junge
mit Augen, blau wie Veilchen und roſenrothen Wan¬
gen; und als er ſtarb —“


Die Alte ſchwieg — die Nadeln klapperten und
der Regen klatſchte gegen die Scheiben.


„Nun, ſagte Oswald, „und als er ſtarb —“


„Da ſtarb ein böſer Mann, und es war ein böſes,
böſes Sterben. Ich weiß es allein, denn ich war allein
mit dem Unſeligen, als der Tod ihn packte mit ſeiner
eiſernen Fauſt. Da rangen ſie Beide, der ſtarke Harald
und der ſtarke Tod, und gräßlich genug war es anzu¬
ſehen, ſo gräßlich, daß die Andern davon liefen — aber
ich wollte ihn nicht verlaſſen in ſeiner letzten Noth, denn
er war, böſe wie er war, doch Oskar's Sohn und
ich hatte ihn, als er ein unſchuldig Kind war, auf
[224] meinen Armen getragen und auf meinen Knien ge¬
wiegt. So hielt ich aus und betete, während er ſich
und Gott verfluchte, bis der Tod ihm auf's Herz
ſchlug, daß er laut aufſchrie und auf ſein Kiſſen zu¬
rückfiel. Da war es aus mit ihm, und ſeine arme
Seele hatte Ruhe.“


„Und hatte der Baron keinen Freund, der ihm
in ſeiner letzten Stunde hätte beiſtehen können?“


„Freunde genug, und es waren Männer dabei, die
ſich vor einem Sterbebette nicht fürchteten; aber vor
Harald fürchteten ſie ſich; er hätte den erwürgt und
zerriſſen, der ihm in dieſer Stunde vor die Augen ge¬
treten wäre. Ja, ich möchte, ſie wären gekommen,
Einer nach dem Andern; es verdiente Jeder von
ihnen, daß ihm der Hals wäre umgedreht worden.“


„Und wer waren dieſe ſchlimmen Freunde?“


„Zuerſt Herr von Barnewitz, nicht der auf Süllitz,
der noch lebt, der Vater von dem jungen Herrn von
Barnewitz — das iſt ein guter Menſch, dem Keiner
nichts Böſes nachſagen kann, — ſondern der auf
Schmittow, der hernach all' ſein Geld an Herrn von
Berkow verſpielte, und ihm dafür ſeine Tochter ver¬
kaufte.“


„Melitta?“ ſtöhnte Oswald und ſeine Hände
griffen krampfig nach den Lehnen des Stuhls.


[225]

„Was haſt Du, Junker?“ ſagte die Alte.


„Nichts, nichts; murmelte Oswald, mit überna¬
türlicher Anſtrengung das aus Abſcheu, Mitleid, Haß
und Rachedurſt grauenhaft gemiſchte Gefühl nieder¬
kämpfend, das in ſeiner Bruſt aufkochte, als er der
Geliebten heiliges Bild ſo in den Schmutz gemeiner
Leidenſchaften geſchleift ſah. — Melitta verkauft, von
ihrem eignen Vater einem Mann verkauft, den ſie
nicht liebte, dem ſie ſich nur vermählte, ihren Vater
von der Schande zu retten — Oswald fühlte, daß
dieſer Gedanke ihn wahnſinnig machen würde, wenn
er ihn bis zu Ende verfolgte; und zugleich fürchtete
er, der ſcharfſinnige Albert, von deſſen feſtem Schlaf
er keineswegs überzeugt war, obgleich ein gelegent¬
liches leichtes Schnarchen von der Lade her ertönte,
könne ſeine Aufregung bemerken. So zwang er ſich
denn, ſitzen zu bleiben und mit ſcheinbarer Ruhe zu
fragen:


„Gehörte Herr von Berkow auch zu den Freunden
des Barons? war er damals nicht noch zu jung?“


„Er war der Jüngſte,“ ſagte Mutter Clauſen,
und auch der Beſte. Er that, was er die Andern
thun ſah, ohne weiter zu überlegen, ob es Recht ſei
oder Unrecht. Auch hatte er nicht die mächtige Natur
der Andern. Wo er eine Flaſche trank, trank Harald
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. II. 15[226] drei, und dabei blieb Harald bei Beſinnung und Ber¬
kow lag unter dem Tiſch.“


„War es ein hübſcher Mann?“ fragte Oswald.


„Nicht ſo hübſch, wie Harald und lange nicht ſo
hübſch wie Du, Junker. Er war kleiner und ſchwäch¬
licher, wie ihr, und Harald hätte es mit ſechs ſolchen
Männern zugleich aufnehmen können. Aber es war
auch weit und breit Niemand ſo ſtark und ſo kühn,
wie Harald. Er konnte das wildeſte Pferd im Lauf
aufhalten und zahm und folgſam machen, wie einen
Hund, und in den Sattel ſprang er, ohne die Bügel
zu berühren. Sie erzählten ſich Wunderdinge von
ſeiner Rieſenkraft, aber es war juſt ſo, als ſie ſagten.
Wenn er zornig war, und er war es nur zu oft, zer¬
brach er einen ſchweren eichenen Stuhl oder Tiſch,
als wären ſie von Glas. Dann ſchwollen ihm die
Adern auf der Stirn an, wie Aeſte, und der weiße
Schaum trat ihm vor dem Mund, daß er gräulich an¬
zuſehen war; aber wenn er lachte und freundlich that,
da mußte man ihn doch wieder lieb haben. Da konnte
er ſo ſchön thun, und ſo gute Worte geben, daß kein
Menſch nicht glauben konnte, wie böſe er war. Denn
böſe war er bei alledem; was ihm gefiel, das mußte
er haben, es mochte koſten, was es wollte, und wenn
Alles darüber zu Grunde ging.“

[227]

„Waren Sie denn während dieſer ganzen Zeit
noch auf dem Schloſſe?“


„Warum nennſt Du mich Sie, Junker? Du haſt
es ja ſonſt nie gethan — ja wol war ich auf dem
Schloſſe. Mein Mann war ja geſtorben und die
Jungen und die Dirnen waren geſtorben und ich war
ja die einzige, die nach dem Tode der gnädigen rau
Mutter noch ein bischen auf Ordnung ſah. Ich war
nicht gern da, das weiß der Himmel, denn im Schloſſe
ging es zu wie zu Sodom und Gomorrha. Alle Tage
die ſaubern Freunde, und oft noch ein halbes Dutzend
dazu und dann geſpielt und gezecht bis an den hellen
Morgen.“


„Kamen denn nie Damen aufs Schloß?“


„Nein, ſelbſt die frechſten und übermüthigſten
fürchteten ſich vor dieſen wilden Männern. Und es
waren die Meiſten von ihnen auch nicht verheirathet,
wie Herr von Berkow; oder ihre Frauen waren ge¬
ſtorben, wie dem Herrn von Barnewitz ſeine Frau;
ſo konnten ſie denn ihr böſes Leben ganz ungeſtört
führen. Freilich, an Weibern fehlte es nie auf dem
Schloſſe, aber ſie blieben niemals lange und es waren
immer nur ſolche, an denen nichts zu verderben war,
bis auf Eine, bis auf Eine —“


„Und wer war dieſe Eine?“

15*[228]

„Die Letzte — ein ſchöner, unſchuldiger Engel,
der auch die Teufel hätte bekehren können, aber Ha¬
rald und ſeine Geſellen waren ſchlimmer wie die Teufel.“


„Wie hieß ſie? woher kam ſie?“


„Wir nannten ſie nur Fräulein Marie; woher ſie
kam, habe ich nie erfahren, und eben ſo wenig, wo¬
hin ſie ging.“


„So hat ſie ſich nicht das Leben genommen, wie
die Leute ſagten?“


„Nein, denn dazu war ſie zu fromm und gut; ſie
hätte ihr Kreuz bis Golgatha getragen. O, ſie war
ſo jung und ſchön und ſo ſanft und ſo lieb, wie
meine alten Augen nie, weder vorher noch nachher,
etwas geſehen haben. Wenn ich gewußt hätte, daß ſie
gemeint war, als Baron Harald über dem Weine mit
Herrn von Barnewitz um, ich weiß nicht wie viel
Tauſend Thaler wettete, das Mädchen ſolle ihm frei¬
willig nach Grenwitz folgen und freiwillig ein Jahr
auf dem Schloſſe bleiben — ich hätte ſie Alle, wie
ſie da ſaßen, mit Gift vergeben, wie ſchnöde Ratten.“


„Und wie fing es Baron Harald an, um ſeine
Wette zu gewinnen?“


„Es iſt eine lange Geſchichte, Junker, und ich will
ſie Dir erzählen. Ich ſage Dir, wenn alle Tropfen,
die draußen fallen, Thränen wären, und alle um das
[229] arme Kind geweint würden — ich würde ſagen: es
ſind nur eben genug.


Als Harald mit Herrn von Barnewitz die ſchlimme
Wette machte, war er vorher zwei oder drei Wochen
mit ihm zuſammen verreiſt geweſen; ich weiß nicht
wohin; ich glaube in eine große Stadt, weit von hier,
und da hatten ſie, denke ich, daß arme Kind geſehen.
Bald darauf reiſte er wieder fort und diesmal blieb
er beinahe zwei Monate aus. Endlich ſchrieb er, er
komme zurück, aber nicht allein. Seine Tante Gren¬
witz komme mit; ich ſolle die Zimmer der verſtorbenen
gnädigen Frau auslüften und die Möbel gut aus¬
klopfen laſſen und Alles zu ihrem Empfang herrichten.
Nun wußte ich wol, daß der Baron eine Großtante
hatte, die Schweſter ſeines Großvaters; aber ſie mußte
nach meiner Rechnung achtzig Jahre und drüber ſein;
ſie war zu meinen Lebzeiten nie in Grenwitz geweſen,
und hatte ſich nie um Harald bekümmert, ſo wenig,
wie er ſich um ſie. Deshalb war ich denn nicht wenig
erſtaunt über den ſonderbaren Entſchluß, noch in ſo
hohen Jahren eine ſo weite Reiſe zu unternehmen,
denn ſie wohnte viele, viele Meilen von hier; aber ich
that, was mich der Baron geheißen hatte. Sie kamen
auch an dem von ihm beſtimmten Tage; ich empfing
ſie und wunderte mich, wie rüſtig die alte Dame noch
[230] war, trotzdem ſie an einem Stock ging und ſilbergraue
Haare und Augenbrauen hatte. Harald war voller
Reſpect gegen ſie; er führte ſie an ſeinem Arm durch
alle Zimmer des Schloſſes und zeigte ihr Alles ganz
genau, beſonders die Familienbilder oben im großen
Saale, wo auch ihr eigenes hing, wie ſie als achtzehn¬
jähriges Mädchen geweſen war. Davor blieben ſie
ſtehen und wollten ſich todtlachen, und die Alte kriegte
den Huſten und Harald klopfte ſie derb in den Rücken.
Ich wußte nicht, weshalb ſie ſo lachten — ich glaubte,
weil aus dem ſchönen Mädchen ein ſo häßliches altes
Weib geworden war, denn damals ahnte ich noch nichts
von dem ſchändlichen Spiele.


Am Morgen des nächſten Tages ließ der Baron
wieder anſpannen und die Tante ſetzte ſich zu ihm in
den Wagen. „Wir kommen heute Abend wieder,“ ſagte
er „wenn es auch ſpät werden ſollte. Wir bringen
noch eine junge Dame mit, die Geſellſchafterin bei
Tante Grenwitz iſt. Sie muß das Zimmer nebenan
haben, hörſt Du, Alte?“ „Aber Herr,“ ſagte ich „in
der rothen Stube iſt die Baronin geſtorben und es
liegt und ſteht noch Alles ſo darin, wie an ihrem
Todestage.“ „So laß Alles ausräumen,“ ſagte er,
„hörſt Du, Alles, und ſchaffe es in ein anderes Zimmer
und ſetze dafür andere Möbel hinein. Die junge
[231] Dame muß in Tante Grenwitz's Nähe ſchlafen.“ „Was
ſagſt Du, lieber Harald?“ fragte die Tante, die auf
dem einen Ohre taub war, und auf dem anderen auch
nicht beſonders hörte, ſo daß ſie mich durchaus nicht
verſtehen konnte, ſo laut ich auch ſchrie. „Nichts,
nichts, liebe Tante!“ ſagte der Baron; „fort Jochen!“


Es war ſpät in der Nacht, als ſie wieder kamen.
Ich hatte alle Leute zu Bett gehen laſſen mit Aus¬
nahme des neuen Kammerdieners, den der Herr von
ſeiner Reiſe mitgebracht hatte. Die junge Dame
war mit im Wagen. Als ſie auf den Flur traten
und der Schein des Lichtes, das der Baptiſte, ſo hieß
der Menſch, in der Hand trug, auf das roſige Ge¬
ſichtchen der jungen Dame fiel, verzog ſich ſein Ge¬
ſicht zu einem recht widerlichen Lachen. Aber ich ſah,
daß Harald die Stirn runzelte, und mit dem Augen
winkte; da war Baptiſte gleich wieder ganz Ernſt und
Dienſteifer.


„Führe die Damen auf Ihre Zimmer, Alte!“
ſagte Harald zu mir, und dann verbeugte er ſich
ſtattlich vor den Frauen und wünſchte ihnen wohl zu
ſchlafen.


„Wollen Sie mir Ihren Arm geben, liebe Marie?“
ſagte die Tante, als ich mit dem Licht vor ihnen her
die Treppe hinaufging; „meine alten Glieder ſind doch
[232] etwas müde von der heutigen Fahrt.“ „Wie ſoll ich
Ihnen Ihre Güte danken, gnädige Frau!“ ſagte das
Mädchen mit einer ſo weichen, ſüßen Stimme, daß
ich mich unwillkürlich umſehen mußte. Die Alte und
das Mädchen ſtanden auf dem Abſatz der Treppe.
Der Schein von den drei Kerzen auf dem Armleuchter,
den ich trug, fiel hell auf die Beiden und ich werde
den Anblick nie vergeſſen, und ſollte ich noch einmal
achtzig Jahre leben. So wiederlich häßlich war mir
die Tante noch nie erſchienen, und ſo etwas Holdes
und Schönes, wie die junge Dame, hatte ich im Leben
noch nicht geſehen. „Sie wiſſen es am beſten, liebes
Kind,“ ſagte die Alte und dabei zog ſie eine ſchein¬
heilige Fratze, die ſie wo möglich noch häßlicher machte.
„Ich habe nur noch einen Wunſch auf Erden; es ſteht
bei Ihnen, ob mir dieſer Wunſch erfüllt werden ſoll,
oder nicht.“ Das Mädchen antwortete nicht, aber
die hellen Thränen traten ihr in die Augen, und dann
beugte ſie die ſchlanke, hohe Geſtalt nieder und küßte
der alten Hexe die Hand. „Nun, nun,“ ſagte die,
„Sie ſind ein gutes Kind, wir werden uns ſchon ver¬
ſtehen, und mein Harald, mein Augapfel, wird noch
glücklich werden. — Laſſen ſie ſich den Leuchter geben
liebe Marie; ich kenne das Schloß meiner Ahnen noch
recht gut, obgleich ich es nun ſeit ſechzig Jahren nicht
[233] geſehen habe. Gehe Sie zu Bett, liebe Clauſen; ich
bemühe die Leute nicht gern unnöthiger Weiſe.“


Und das mußte man der Tante laſſen; wir be¬
kamen nur ſehr ſelten ihre Klingel zu hören. Sie
zog ſich ſelbſt an und aus; freilich brauchte ſie mehre
Stunden dazu, aber Keiner von uns durfte ihr die
geringſte Hülfe leiſten; ja, ſeitdem eins der Mädchen
einmal, während ſie ſich anzog, in ihre Stube ge¬
kommen war, ſchloß ſie ſtets hinter ſich ab. Sie
hatte ſonderbare Gewohnheiten, die alte Frau. So
konnte ſie des Abends nicht müde werden, und ich
ſah ſie manchmal noch bis zum hellen Morgen in
ihrem Zimmer umherwandern, dafür ſchlief ſie aber
bis in den Nachmittag hinein. Bei Tiſche hatte ſie
nie Appetit, aber auf ihrem Zimmer konnte ſie deſto
mehr eſſen und trinken, manchmal zwei, drei Flaſchen
alten Wein an einem Tage. Aber was das Merk¬
würdigſte war, ſie ſchien heute fünfzig und morgen
achtzig Jahre alt zu ſein; ſie konnte in dieſer Minute
das leiſeſte Wort hören und in der nächſten war ſie
ſtocktaub; ſie ſchleppte ſich das eine Mal nur ſo an
ihrem Stocke fort und das andere Mal kam ſie die
Treppen ſchneller hinab, wie ich, obgleich ich damals
erſt ſechszig Jahre und noch vollkommen rüſtig war.
Mir war es ganz unheimlich bei der alten Frau, und
[234] ich war froh, wenn ich ihr möglichſt weit aus dem
Wege gehen konnte.“


„Und wie lebte Fräulein Marie unterdeſſen?“


„Sie war faſt immer in Harald's Geſellſchaft.
Ich ſah ſie des Morgens zuſammen zwiſchen den
thaufriſchen Beeten des Gartens umherſchweifen, Arm
in Arm, ſie die Augen verſchämt niederſchlagend und
Harald, eifrig und leiſe zu ihr ſprechend. Ich ſah
ſie des Nachmittags in den kühlen Zimmern, die nach
dem Park hinausliegen, ſitzen, ſie, mit einer Arbeit
beſchäftigt, die aber oft müßig in ihrem Schooß lag;
ihn, aus einem Buche vorleſend, noch öfter aber den
Arm auf die Lehne ihres Stuhles geſtützt, während
ſie ſelig lächelnd zu ihm emporſchaute, ſie mit glü¬
henden Blicken verſchlingend und ihr von Zeit zu
Zeit das ſeidenweiche braune Haar aus der ſchönen
Stirn ſtreichend. Ich ſah ſie des Abends wieder
draußen umherſchweifen, oder in den hellerleuchteten
Zimmern, Arm in Arm, langſam auf- und abwandeln,
während Tante Grenwitz auf dem Sopha ſaß und
las, oder doch that, als ob ſie läſe. — Ach! es war
eine köſtliche Zeit für das arme Kind; und ſie ſah
ſtets ſo glücklich und ſelig aus, daß es einem angſt
und bange wurde, wie das enden ſolle; und wenn ſie
mich traf, hatte ſie ſtets ein freundliches Wort für
[235] mich: „Wie geht's, liebe Frau Clauſen?“ oder: „kann
ich Ihnen nicht helfen, liebe Frau Clauſen? Sie
laſſen es ſich gar ſo ſauer werden. Ich ſchäme mich,
daß ich hier ſo müßig gehe.“


Eines Nachmittags begegnete ſie mir im Garten.
Es war ein ſonniger heißer Tag; ſie hatte ein weißes
Kleid an und ein Strohhut mit breitem Rande hing
an ihrem ſchönen runden Arm. Der Baron war aus¬
geritten, ſeit langer Zeit zum erſten Male, die Tante
war noch nicht aufgeſtanden. Ich hatte mir ſchon
lange vorgenommen, wenn es die Gelegenheit erlaubte,
ein Wort mit dem Mädchen zu ſprechen und ihr die
Augen zu öffnen. So faßte ich mir denn ein Herz,
als ſie mit einem: Guten Tag, Mutter Clauſen, wie
geht's? an mir vorüber wollte, und ſagte: „Schön
Dank, Fräulein Marie; haben Sie einen Augenblick
Zeit? ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen
ſprechen?“ — „Was giebt's?“ ſagte ſie, und als ſie
in mein Geſicht ſah, das wol recht ernſt und traurig
ſein mochte, rief ſie: „Um Gotteswillen, es iſt doch
kein Unglück paſſirt?“ — „Nein, Fräulein Marie,“
ſagte ich, „aber es könnte leicht eins paſſiren, wenn
Sie ſich nicht beſſer vorſehen; und das ſollte mir
herzlich leid thun, denn Sie ſind ſo jung und ſehen
ſo engelsgut und rein und unſchuldig aus.“ — „Was
[236] meinen Sie?“ ſagte das arme Kind und wurde dunkel¬
roth. — „Kommen Sie hierher, Fräulein Marie,“
ſagte ich und zog ſie in einen Buchengang, wo wir
vom Schloſſe aus nicht geſehen werden konnten, „ich
will Ihnen Alles ſagen, was ich auf dem Herzen
habe. Ich bin eine alte Frau und Sie ſind ein junges
Ding, das viel weiß, wie's in der Welt ausſieht und
wie es hier in Grenwitz zugeht.“ Und nun ſchilderte
ich ihr das Leben auf dem Schloſſe, wie es bis zu
ihrer Ankunft geweſen war, und welch' ein wilder,
wüſter Menſch Harald ſei, und daß er falſch und
grauſam ſei, wie ein Tiger. Sie hörte mir mit glü¬
henden Wangen und die langen dunkeln Wimpern
nicht von den ſchönen blauen Augen aufſchlagend, ohne
mich nur einmal zu unterbrechen, ruhig zu, dann ſagte
ſie leiſe: „Ich danke Ihnen, liebe Frau Clauſen —
aber was Sie mir da ſagen, das weiß ich Alles
ſchon.“ — Ich war wie vom Donner gerührt. „Sie
wiſſen das,“ rief ich, „und haben der gnädigen Frau
Tante hierher folgen können? Sie wiſſen das und
ſind noch hier? Sie wiſſen das und fürchten ſich
nicht, mit dem Baron ſtundenlang, halbe Tage lang
allein zu ſein? O, Kind, Kind, was ſoll ich von
Ihnen denken!“ — „Denken Sie nichts Schlechtes
von mir, gute Frau,“ ſagte ſie, mir die Hand auf
[237] die Schulter legend. „Und denken Sie auch nicht ſo
ſchlecht vom Baron. Er wird nie wieder ſo wild
und bös ſein, wie er vormals geweſen iſt.“ — „Wo¬
her wiſſen Sie das, Fräulein?“ ſagte ich. — „Weil
er es mir verſprochen hat.“ — „Und glauben Sie,
daß er dies Verſprechen hält?“ — „O, gewiß.“ —
„Warum.“ — „Weil er mich liebt.“ — „O, Kind,
Kind,“ rief ich, „um Gotteswillen, es iſt die höchſte
Zeit: fliehen Sie, oder Sie ſind rettungslos verloren.
Unglückliche, die Sie ſeinen Schwüren glauben! Er
ſchießt das Pferd todt, das ihm nicht länger gefällt,
und er bricht den Schwur, der ihm läſtig wird. Was
er Ihnen geſchworen hat, iſt ein altes Lied; er pfeift
es, wie ein Staar ſein Stückchen pfeift, ohne etwas
dabei zu denken. Was er Ihnen ſchwur, hat er ſchon
hundert Andern geſchworen, von denen freilich die
Meiſten nicht viel beſſer waren, wie er ſelbſt, und
ſich einen Treubruch ſchon gefallen ließen, wenn er
nur gut bezahlt wurde.“ — „Hören Sie auf,“ rief
Fräulein Marie heftig; „ich kann und darf Sie nicht
länger anhören.“ Und dann ſetzte ſie lächelnd hinzu:
„Sie werden bald einſehen, gute Frau, wie bitter
Unrecht Sie meinem Harald — wie ſehr Sie dem
Baron Unrecht gethan haben.“ — „Ihrem Harald?“
ſagte ich, „armes Kind, er wird nie Ihr Harald.
[238] Der nimmt, was ihm der Zufall in den Weg führt,
und weil Sie nun einmal zufällig hier ſind“ — „Und
wenn ich nun nicht zufällig hier wäre?“ ſagte ſie,
ſchelmiſch lachend; „wenn ich nun nicht der alten
Baronin, ſondern die alte Baronin meinethalben hier
wäre? und wenn ich nun gar nicht wieder fort ginge
und ganz hier bliebe — “. In dieſem Augenblick kam
Harald plötzlich in den Baumgang, in welchem wir
redend auf und ab gingen. Er ſtutzte, als er mich
mit dem Mädchen allein ſah. — „Fräulein Marie,“
ſagte er, „ich glaube, die Tante wünſcht Sie zu ſpre¬
chen.“ Und als das Mädchen fort war, trat er an
mich heran und ſagte leiſe durch die weißen Zähne:
„Was haſt Du ihr geſagt, Alte?“ — „Daß Du ſie
an der Naſe führſt, Harald,“ antwortete ich. — „Ich
werde Dir dafür den Hals umdrehen,“ ſagte er, und
die Zornesader auf ſeiner Stirne ſchwoll. — „Immer
noch beſſer, als wenn Du dem armen Dinge das Herz
brichſt,“ ſagte ich. — „Höre, Alte,“ ſagte er, „und
wenn ich es nun diesmal wirklich ehrlich meinte; wenn
ich das wüſte Leben, bei dem man ja doch früher
oder ſpäter zum Teufel gehen muß, herzlich ſatt hätte;
wenn ich nun das Mädchen heirathete, wie dann?“ —
„Iſt ſie von Adel?“ ſagte ich. — Harald lachte:
„Eines Schneiders Tochter iſt ſie. Ich werde die
[239] Scheere und das Bügeleiſen in unſer Wappen zeichnen
laſſen müſſen.“ — „Wenn ſie nicht von Adel iſt,“
ſagte ich, „wirſt Du ſie nie heirathen, und es wäre
auch nur eine Grauſamkeit mehr. Das arme Geſchöpf
würde unter Deinem Spott und dem Hohn Deiner
Freunde verbluten, wie ein gehetzter Hirſch unter den
Zähnen der Hunde. Schicke das Mädchen fort; ich
beſchwöre Dich, Harald, heute lieber, wie morgen.
Und die alte Baronin auch;“ ſetzte ich hinzu. — Er
ſah mich groß an und dann lachte er und ſagte: „Du
biſt doch dummer, als ich gedacht habe, Alte.“ —
Damit wandte er mir den Rücken und ging trällernd
in das Schloß.


Ich wußte nicht, was ich von dem Allen denken
ſollte. Hatte Harald dem Mädchen die Ehe ver¬
ſprochen? und glaubte ſie alles Ernſtes, daß er —
von dem ſie ſagte, daß ſie ſein früheres Leben kenne
— dies Verſprechen halten würde? Sie ſchaute ſo
klug und verſtändig aus ihren großen blauen Augen,
wie konnte ſie ſich ein ſolches Märchen aufbinden
laſſen? Wie hatte es Harald angefangen, ihre Klug¬
heit ſo ganz zu umnebeln? Was meinte das Mädchen
damit, daß die Tante ihrethalben hier ſei? Mir ging
das Tag und Nacht im Kopf herum, daß ich faſt krank
darüber wurde. Ich hätte das arme unſchuldige
[240] Lamm ſo gern gerettet, und dem Harald dieſe Sünde
erſpart — hatte er doch ſchon genug auf dem Ge¬
wiſſen? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen
ſollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬
lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch
des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des
heißen Wetters den Kopf ſtets dicht in Tücher ein¬
gewickelt. Harald hatte ſchon ſeit Tagen kein Wort
mehr mit mir geſprochen. Er ſchien wirklich ein ganz
anderer Menſch geworden zu ſein. Er war, ſo lange
Fräulein Marie auf dem Schloſſe war, nicht ein ein¬
ziges Mal betrunken geweſen; hatte keinen der Leute
geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während
doch ſonſt kein Tag hinging, wo er nicht dieſen oder
jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er ſonſt
bei der geringſten Veranlaſſung tobte und fluchte und
ſich wie ein Raſender gebehrdete, ſo war er jetzt ge¬
gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich,
weil er wußte, daß er ſich vor mir nicht verſtecken
konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte —
und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein
widerwärtiger Menſch, der beſtändig lächelte, und im¬
mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht
leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu
thun, als mit den Händen in den Taſchen umherzu¬
[241] ſchlendern und Grimaſſen zu ſchneiden. Für den
Baron that er gar nichts, im Gegentheil, ſeitdem Ha¬
rald ihm einmal einen Fußtritt gegeben, daß er noch
vierzehn Tage nachher hinkte, ging er ihm überall
aus dem Wege. Kein Menſch konnte begreifen, wes¬
halb ihn der Baron nicht wieder fortjagte. — Wäh¬
rend dieſer ganzen Zeit war keiner von den Herren,
die ſonſt bei uns aus- und eingingen, zum Beſuch
auf dem Schloſſe geweſen. Ich hatte immer gehofft,
es ſollten welche kommen, damit ich Gelegenheit be¬
käme, mit Fräulein Marie zu ſprechen, der Harald
jetzt gar nicht mehr von der Seite ging. Wenn ſie
vorher ſchön mit einander gethan hatten, ſo war das
jetzt noch viel ſchlimmer geworden. So wie ſie ſich
unbeobachtet glaubten, lagen ſie einander in den Ar¬
men, und das war ein Herzen und Küſſen! — Du
lieber Himmel, das iſt unter Liebesleuten ſo der
Brauch, und ich hatte es nicht beſſer gemacht, als ich
ein ſo junges Ding war, wie die, und ich wußte am
beſten, wie die Grenwitzer Barone einem armen hüb¬
ſchen Mädchen ſchön thun und ſchmeicheln können;
aber ich wußte auch, daß man jeden ihrer Küſſe mit
hunderttauſend Thränen bezahlen muß. — Und eines
ſchönen Morgens, als ich Fräulein Marie wieder ein¬
mal begegnete, und fragte: wie gehts Fräulein Marie?
F. Spielhagen, Problemalische Naturen. II. 16[242] gut geſchlafen? da wurde ſie purpurroth und konnte
vor Verlegenheit kein Wort hervorbringen und ſtand
da und zitterte, wie ein Espenblatt. Und als ich
das ſah, wußte ich auch, was geſchehen war, und da
wurde mir das Herz ſo centnerſchwer, daß ich mich
auf eine Bank ſetzte und weinte. Als das Fräulein
Marie ſah, fing ſie auch an zu weinen und ſetzte ſich
zu mir, ſchlang ihren Arm um meinen Hals und
ſagte ſchluchzend: „Weinen Sie nicht, gute Mutter
Clauſen! Es wird noch Alles gut werden!“ — „Das
gebe Gott, Kind, ſagte ich; aber ich glaube es nicht.“
— „Aber, ſagte ſie, Sie ſehen ja ſelbſt, wie gut und
freundlich der Baron jetzt iſt, und er iſt doch nur ſo,
weil er mich liebt, und wenn er mich nicht heirathen
wollte, warum hätte er dann die Tante mitgebracht?
und wenn die Tante nichts dagegen hat, die ſo ſtolz
und hoffärtig iſt, wie Harald ſagt, da können ja die
andern Verwandten doch auch nicht Nein ſagen!“ —
„So ſind Sie nicht Geſellſchafterin bei der alten Ba¬
ronin?“ fragte ich verwundert. — „Nein, ſagte ſie,
ich habe ſie hier zum erſten Mal geſehen.“ — „Aber
ums Himmelswillen, Kind, rief ich, wie kommen Sie
denn hierher, wenn Sie nicht mit der Baronin ge¬
kommen ſind?“ — Die Kleine weinte noch ſtärker,
wie zuvor. „Ich darf es Ihnen nicht ſagen, rief ſie,
[243] ich habe dem Baron verſprochen, gegen Jedermann
zu ſchweigen, bis wir uns öffentlich“ — ſie ſchwieg,
als hätte ſie ſchon zu viel geſagt. „Ich darf nicht
ſprechen, wiederholte ſie; aber glauben Sie mir, ich
bin kein ſo ſchlechtes Mädchen, wie Sie denken.“ —
Damit küßte ſie mich auf die Stirn und eilte von
mir fort ins Schloß.


Seit dieſem Tage ſah ich Fräulein Marie oft mit
verweinten Augen; und wohl mochte ſie Urſache zum
Weinen haben, das arme Kind. Harald that, was
ich ſchon längſt gefürchtet hatte: er fing ſein altes
Leben wieder an; freilich nur allmälig. Die Freunde
kamen noch immer nicht aufs Schloß, aber er ſelbſt
ritt oft aus, und blieb halbe und manchmal ganze
Tage lange fort. Wenn er wieder kam, war er oft
in ſeiner böſen Weinlaune, wo er die Diener mit
Fußtritten und Stockſchlägen tractirte, und die armen
unſchuldigen Möbel zerſchlug. Doch war es noch im¬
mer golden, im Vergleich mit ſonſt, und er war auch
noch immer zärtlich gegen Fräulein Marie, beſonders
wenn er ſah, daß ſeine wüthende Heftigkeit ſie bis
zum Tode erſchreckt hatte. Mit der Tante verkehrte
er beinahe gar nicht mehr, ſeitdem ſie ſich des Abends,
wenn Fräulein Marie zu Bette gegangen war, ein
paar Mal im Salon gezankt hatten, daß wir es
16*[244] draußen hörten. Ich glaubte, die Alte ſetzte ihm den
Kopf zurecht und da ſchickte ich ihr gern ſo viel
Braten und Wein auf ihr Zimmer, wie ſie haben
wollte, obgleich es unglaublich war, was ſie verzehren
konnte.


Da geſchah es, daß, als ich einmal in der Nacht,
nachdem Alle zu Bett waren, die Runde durchs Haus
machte, wie ich es immer that, um zu ſehen, ob die
Lichter überall ausgelöſcht waren, mir auf einmal auf
dem Corridor, der von dem Thurm aus in das alte
Schloß führt, wo die Damen logirten, ein heller
Schein entgegenleuchtete. In dem erſten Schrecken
und ohne noch zu wiſſen, ob die Gefahr groß oder
klein war, ſchrie ich Feuer! Feuer! ſo laut ich konnte.
Zugleich lief ich den Corridor entlang nach der Stelle
zu, wo es brannte. Auf einmal war Harald an
meiner Seite. Ich wußte nur zu gut, aus welcher
Thüre er gekommen war, obgleich ich ihn nicht hatte
kommen ſehen. — Still, Alte, rief er, Du ſiehſt ja,
es brennt nur die Gardine vor dem Fenſter. Und
damit fing er an, die brennenden Fetzen herabzureißen
und mit den Füßen auszutreten. Plötzlich öffnete ſich
die Thür, die zu dem Zimmer der Baronin führte,
und die dem brennenden Fenſter gerade gegenüber
lag, und heraus ſtürzte die alte Hexe mit einem
[245] großen Bündel unter dem Arm, und der Kammer¬
diener mit einem noch größeren Bündel auf der
Schulter, kam hinterher. Sie hätten uns beinahe
umgerannt, aber Harald packte den Kammerdiener
und ſchleuderte ihn ſo gewaltig zurück, daß der Menſch
ſammt ſeinem Packet zu Boden ſtürzte. „Steckt ihr
wieder einmal bei einander, Lumpenpack?“ herrſchte
er die Alte an, die, als ſie den Baron ſo wüthend
ſah, am ganzen Leibe zitternd ſtehen geblieben war;
„ſchert Euch in die Stube zurück, oder ich will euch
auf den Marſch bringen.“ Auf einmal fing er laut
zu lachen an, denn er ſah, und ich bemerkte es auch
erſt jetzt, daß die Alte in der Eile vergeſſen hatte,
ſich die Perrücke aufzuſetzen, und ihr eigenes rothes
Haar in nicht allzu kurzen Zöpfen aus der ſchmutzi¬
gen Haube herabhing. Den Stock hatte ſie natürlich
auch ſtehen laſſen, und ſah überhaupt ſo ganz verän¬
dert aus, daß ich meinen Augen kaum traute. —
„Scher Dich zum Teufel, alte Hexe, rief Harald, noch
immer aus vollem Halſe lachend, und laß Dich erſt
wieder anſtreichen, ſonſt ſieht man doch gar zu deut¬
lich, woher Du ſtammſt.“ — Die Alte murmelte
etwas, das ich nicht verſtand, und ging in das Zim¬
mer zurück; der Kammerdiener hatte ſich unterdeſſen
wieder aufgerafft und war die kleine Treppe, die von
[246] dem Corridor in den Garten führte, hinab, davonge¬
ſchlichen. — „Geh zu Bett, Alte, ſagte der Baron
zu mir, und denke, Du haſt dies Alles geträumt, oder
denke auch, was Du willſt, mir gilt es gilt es gleich.
Die Komödie kann ja doch nicht ewig dauern.“


Und die Komödie war denn nun auch vorbei. Am
nächſten Morgen waren die Alte und der Kammer¬
diener verſchwunden und Niemand von uns hat je
wieder etwas von ihnen geſehen oder gehört; Keiner
jemals erfahren, wer ſie waren, woher ſie kamen.
Nur das Eine war ſicher, daß die Alte ſo wenig des
Barons Tante geweſen war, wie ich ſeine Mutter.
Die Leute lachten, und der Baron lachte, trotzdem die
Beiden an Silberzeug und Koſtbarkeiten mitgenommen
hatten, was ſie forttragen konnten, aber ich lachte
nicht, und da war noch eine Andre, die auch nicht
lachte. Das arme herzige Kind! ſie wollte es zuerſt
gar nicht glauben, daß der Baron ſie ſo ſchändlich
hätte betrügen können. Sie ging mit weiten, ſtarren,
thränenloſen Augen umher, und wenn ſie mir be¬
gegnete, ſah ſie mich an, ſo angſtvoll, ſo kummervoll,
daß es mir in's Herz ſchnitt. Ach, ich konnte ihr ja
nicht helfen; ich konnte nur mit ihr weinen und das
that ich denn redlich, als das arme Kind ſich von
ihrem erſten Entſetzen erholt und wieder Thränen ge¬
[247] funden hatte. Wir waren jetzt oft beiſammen, denn
ſeit jener Nacht kümmerte ſich Harald nicht mehr viel
um Fräulein Marie. Er ritt alle Tage aus, und nun
kamen auch die Herren wieder auf's Schloß, wie ſonſt,
und das alte Leben fing wieder an. Ob Harald ſeine
Gewiſſensbiſſe zum Schweigen bringen, ob er die ver¬
lorene Zeit nachholen wollte, er war jetzt wilder und
unbändiger, als ich ihn je geſehen hatte, und die Leute
gingen ihm aus dem Wege, wo ſie konnten.


Eines Abends, als die Herren wieder einmal zu
Beſuch auf dem Schloſſe waren, — es war gegen
ſieben und ſie hatten ſeit drei Uhr bei Tiſche ge¬
ſeſſen — Fräulein Marie war bei mir auf dem Zim¬
mer, wo ſie jetzt die meiſte Zeit zubrachte — kam
Harald plötzlich zur Thür herein. Ich ſah auf den
erſten Blick, daß er betrunken war. Sein Geſicht
glühte und ſeine Augen funkelten, wie die einer wilden
Katze. Als er Marie erblickte, die im Fenſter geſeſſen
hatte und bei ſeinem Eintritt voller Schrecken auf¬
geſprungen war, lachte er und ſagte: „Treffe ich Dich
hier, mein Täubchen? ich habe das ganze Schloß nach
Dir durchſucht. Komm, Schatz, ich will Dich den
Herren vorſtellen; einen davon kennſt Du ſchon —
Du mußt aber hübſch artig und freundlich ſein, hörſt
Du?“ —


[248]

Marie war bei dieſen Worten bleich wie der Tod
geworden und zitterte an allen Gliedern; ich ſah, wie
ſie die Lippen bewegte, um etwas zu erwiedern, aber
ſie brachte keinen Laut hervor. Ich konnte es nicht
länger mehr mit anſehen.


„Schämſt Du Dich nicht, Harald,“ ſagte ich, „das
arme, unſchuldige Lamm ſo zu quälen. Pfui, Ha¬
rald, — daß Du ſchlecht warſt, habe ich immer ge¬
wußt, aber für ſo ſchlecht hätte ich Dich nicht ge¬
halten!“ — Er ſprang mit einem Satze auf mich zu
und packte mich mit ſeinen Eiſenhänden an der Kehle. —
„Sprich noch ein Wort,“ knirſchte er zwiſchen den
Zähnen, „und ich breche Dir das Genick, verdammte
Hexe!“ — Ich wußte, daß er ſeine Drohung aus¬
führen könnte, aber ich fürchtete mich nicht vor dem
Tode. — „Thu', was Du willſt,“ ſagte ich ruhig,
„aber ſo lange ich noch einen Athemzug habe, will
ich Dir's in's Geſicht ſagen: Du biſt ein Elender.“ —
Ich ſah ihm feſt in's Auge; ich ſah, wie der Zorn
immer wüthender in ihm aufkochte, und fühlte, daß
ſeine Finger ſich wie eiſerne Klammern um meine
Kehle ſchloſſen. Ich glaubte meine letzte Stunde ge¬
kommen. — Da ſtand Marie plötzlich neben uns; ſie
legte ihre Hand auf Harald's Arm und ſagte ganz
leiſe: „laß ſie los, Harald; ich will mit Dir gehen.“ —
[249] Weiter ſagte ſie nichts, aber es war genug, ſelbſt ein
ſo wildes Herz wie Harald's zu rühren. Er ließ die
Arme ſinken und ſtarrte Marie an, als ob er aus
einem ſchweren Traum erwachte. Plötzlich fiel er vor
ihr auf die Knie, verbarg ſein glühendes Geſicht in
den Falten ihres Kleides und ſchluchzte: „Vergieb mir,
Marie; vergieb mir!“ Dann ſprang er auf, und als
er ſah, daß ſie durch Thränen ihn anlächelte, hob er
ſie in ſeinen Armen empor, wie ein Kind, trug ſie
in der Stube auf und ab und herzte und küßte ſie.
Dann ſetzte er ſie hier in den Lehnſtuhl, auf dem Du
jetzt ſitzſt, und kniete vor ihr nieder, ihre Hände und
ihre Kleider küſſend, und wandte ſich zu mir und rief:
„Geh, Alte, und ſage dem Karl: er ſolle die Pferde
für die Herren ſatteln laſſen. Ich ſei krank geworden,
oder geſund geworden, oder was ſie wollen, aber ich
könnte ſie heute nicht mehr ſehen und morgen auch
nicht. Iſt es ſo gut, lieb' Herz? nicht wahr, ich bin
nicht ſo ſchlecht, wie die Alte ſagt?“ — Ich ging, vor
Freude laut weinend, aus der Stube und dachte: es
kann doch vielleicht noch Alles gut werden.


Aber das wurde es nicht. Schon nach wenigen
Tagen war Alles wieder beim Alten. Aehnliche Sce¬
nen kamen noch manchmal vor, aber Harald's gute
Vorſätze hielten immer nur wenige Tage Stand, und
[250] wir mußten jede Spottrede der Herren mit bitteren
Thränen bezahlen. Ich ſage: wir, denn ich hatte die
ſüße Dirne ſo lieb, als ob ſie mein eigen Kind ge¬
weſen wäre. Und jetzt hatte die Aermſte Troſt und
Liebe nöthiger als je. Sie wußte ſchon ſeit Monaten,
daß ſie die Frucht ihrer Liebe zu Harald unter dem
Herzen trüge, und das Schickſal dieſes Kindes, ihres
und ſeines Kindes, bekümmerte ſie tauſendmal mehr
als ihr eigenes. — „Was aus mir werden ſoll,“
ſagte ſie, „was iſt daran gelegen? Ich ſtürbe lieber
heute wie morgen; aber meines Kindes halber muß
ich leben und will ich leben. Und ich will auch nicht
mehr weinen und klagen; es hilft ja doch zu nichts,
und Harald ſagt ja, daß ihm nichts ſo verhaßt ſei,
als verweinte Augen.“ — Ich fragte ſie, ob ſie keine
Eltern, keine Verwandte, keine Freunde hätte, zu denen
ſie ihre Zuflucht nehmen könnte. Sie ſchüttelte traurig
den Kopf: „ich habe Niemand auf der weiten Welt,
Niemand, als Sie, liebe Mutter Clauſen, und noch
Einen, der Alles für mich thun würde, wenn er wüßte,
wo ich wäre; aber er weiß es nicht und ſoll es auch
nie erfahren.“ — Ueber ihr früheres Leben ſprach ſie
nie; „ich habe dem Baron verſprochen, darüber zu
ſchweigen, bis er ſich öffentlich mit mir verlobte;
und,“ ſetzte ſie wehmüthig lächelnd hinzu, „da ſehen
[251] Sie ſelbſt, daß ich wohl ewig werde ſchweigen
müſſen.“


Sie kam faſt nicht mehr von meiner Seite, und
was Harald betrifft, ſo ſchien er in der letzten Zeit
ganz vergeſſen zu haben, daß Marie noch auf dem
Schloſſe war. Nur manchmal, wenn ich mit ihm
allein war, erkundigte er ſich in kurzen, abgeriſſenen
Fragen nach ihr, aus denen ich ſah, daß er über
ihren Zuſtand vollkommen unterrichtet war.


So ſtanden die Sachen. Der Sommer war zu
Ende; der Herbſt kam mit Sturm und Regen, und
die dürren Blätter wehten von den Bäumen. Es
war an einem Nachmittage, Harald war ein paar
Tage verreiſt geweſen; ich war mit Marie im Garten
und ſuchte ihr Troſt zuzuſprechen, da ſie heute ganz
beſonders traurig war. Da ſchaute plötzlich ein Scha¬
cher-Jude über das Stacket und ſchrie, als er uns
erblickte, in den Garten hinein: nichts zu handeln?
nichts zu handeln? Ich brauchte gerade, ich weiß
nicht mehr was, und ſo rief ich ihn. Er kam. Es
war ein alter, ſchmutziger, ſchlottriger Menſch, mit
einem weißen Bart und einer Brille mit blauen Glä¬
ſern über den Angen. Er kramte ſeine Waaren aus,
und weil die Sachen hübſcher waren, wie ſie dieſe
Leute ſonſt wol führen, ſo kauften Marie und ich ihm
[252] Verſchiedenes ab. Er forderte einen mäßigen Preis,
aber es war doch mehr, als wir bei uns hatten, und
ſo ging ich in's Schloß, das Uebrige zu holen. Zu¬
fällig konnte ich den Schlüſſel zu meiner Commode
nicht gleich finden, und als ich ihn gefunden hatte,
fiel mir ein, daß ich in der Küche nothwendig etwas
beſorgen mußte; ſo verging wol eine halbe Stunde,
bis ich wieder in den Garten kam. Ich traf Marie
allein. „Wo iſt der Jude?“ ſagte ich. „Er will
morgen wieder kommen,“ antwortete ſie. „Was haben
Sie, Kind?“ ſagte ich, denn ich ſah, daß ſie roth¬
geweinte Augen hatte und ganz verſtört ausſah. —
Da fiel ſie mir um den Hals und weinte, aber ſo
ſehr ich ſie auch bat, mir zu ſagen, was vorgefallen
ſei, ich konnte nichts aus ihr herausbringen.


Der Jude kam am nächſten Tage nicht, aber Ba¬
ron Harald kam. Er brachte ein paar Herren mit.
Sie waren auf der Jagd geweſen und tüchtig müde
geworden. So gingen ſie heute früher zu Bett, nach¬
dem ſie ein paar Flaſchen Wein getrunken hatten.


Ich mochte wohl ſchon ein paar Stunden im
Bett gelegen haben, ohne einſchlafen zu können, denn
es regnete und ſtürmte in dieſer Nacht gar heftig
und die Laden klappten und die Jagdhunde heulten.
— Da hörte ich einen leiſen Schritt auf dem Gange
[253] vor meiner Stube, eine Hand ſuchte nach dem
Drücker meiner Thür und als ich mich erſchreckt im
Bett emporrichtete, ging die Thür auf; es trat Je¬
mand herein und kam auf mein Bett zu. — „Wer
iſt da?“ rief ich. — Ich bins, Mutter Clauſen,“
ſagte eine leiſe Stimme. Es war Marie. „Sind
Sie krank geworden, Kind?“ ſagte ich. Nein, ſagte
ſie, ſich zu mir aufs Bett ſetzend, ich wollte nur Ab¬
ſchied nehmen, und Ihnen für all' die Liebe und
Güte danken, die Sie an mir gethan haben.“ — Ich
glaubte, ſie wollte ſich das Leben nehmen, und ſagte
voller Entſetzen: „Um Gotteswillen, Kind, was haſt
Du vor?“ — „Fürchten Sie nichts, Mutter Clauſen,
ſagte ſie, und dabei umarmte und küßte ſie mich
unter vielen heißen Thränen; ich will fort, aber nur
fort von hier. Ich habe es ſchon längſt gewollt und
jetzt iſt die Stunde gekommen.“ — „Warum jetzt?“
ſagte ich; „wo willſt Du hin mitten in der Nacht?
und noch dazu in ſolcher Nacht! Hörſt Du nicht, wie
Wind und Regen mit den Hunden um die Wette heu¬
len? Und Du kennſt ja weder Weg noch Steg —
Du rennſt ja gerade ins Verderben, und wenn Du
nicht an Dich denkſt, ſo denke wenigſtens an das
Kind, das Du unter dem Herzen trägſt.“ — „An
das eben denke ich, ſagte ſie. Es ſoll nicht hier, wo
[254] ſeine Mutter ſo grenzenlos elend geweſen iſt, das
Licht erblicken; es ſoll nie erfahren, wer ſein Vater
war. Leben Sie wohl, liebe Mutter! möge der all¬
gütige Gott Sie behüten! und fürchten Sie nichts für
mich! Ich gehe nicht allein; es iſt Jemand bei mir,
der mich beſchützen und über mich wachen wird, und
der ſein Leben für mich laſſen würde.“ — „Weißt
Du das auch gewiß, Kind?“ ſagte ich; „ich dächte,
Du hätteſt jetzt gelernt, was den Männern ihre
Schwüre werth ſind. Wer iſt es?“ — „Ich darf es
nicht ſagen,“ antwortete ſie; „und jetzt muß ich fort,
es iſt die höchſte Zeit.“ — Sie hatte ſich von dem
Bett erhoben. „Warte,“ ſagte ich, „ich will Dir we¬
nigſtens das Geleit aus dem Schloſſe geben.“


Sie bat mich inſtändig, zu bleiben; aber ich kehrte
mich nicht daran. Schnell hatte ich ein paar Kleider
übergeworfen; ich war feſt entſchloſſen, ſie nicht eher
fort zu laſſen, bis ich mich überzeugt hatte, daß ſie
wußte, was ſie that. Ich fürchtete noch immer, ſie
wolle ſich das Leben nehmen.


Als ſie ſah, daß ich von meinem Vorſatz nicht ab¬
zubringen war, half ſie mir, mich vollends ankleiden
und ſagte: „So kommen Sie, Mutter Clauſen; er
ſieht dann doch, daß ich auch hier nicht ganz verlaſſen
geweſen bin.“

[255]

Wir gingen, uns an den Händen haltend, auf den
Zehen durch die Corridore, dann die Treppen hinab,
die aus dem alten Schloſſe in den Garten führt.
Es hatte aufgehört zu regnen, und der Mond ſchien
auf Augenblicke durch die ſchwarzen, treibenden Wol¬
ken. Ich hatte noch immer Mariens Hand in der
meinigen; ſie eilte, mich mit ſich ziehend, durch die
wohlbekannten Wege. Als wir an einer Bank vor¬
überkamen in einem der dichteren Baumgänge, wo ich
ſie oft mit Harald hatte ſitzen ſehen, blieb ſie einen
Augenblick ſtehen, und ich fühlte, wie ihre Hand
zuckte. Aber ſogleich raffte ſie ſich wieder auf: „Nein,
nein! murmelte ſie, er hat Recht; Harald hat mich
nie geliebt, und darum darf ich auch nicht länger
bleiben.“


Wir gingen aus dem Garten in den Hof, aus
dem Hof durch das große Thor in den Wald hinein,
die Straße nach Berkow. Als wir ein paar hundert
Schritte gegangen waren, kam uns ein Mann entge¬
gen. „Er iſt es;“ ſagte Marie; „Sie müſſen mich
jetzt verlaſſen, Mutter Clauſen; ich habe ihm ver¬
ſprochen, allein zu kommen, und keinem zu ſagen, daß
ich fortgehe.“ „Du hätteſt das nicht verſprechen
ſollen, Kind, ſagte ich; ich glaube, ich habe das Recht,
zu wiſſen, wo Du bleibſt.“ —


[256]

Unterdeſſen war der Mann herangekommen. „Biſt
Du's, Marie?“ ſagte er; „warum kommſt Du nicht
allein?“ — „Weil ich ſie nicht losgelaſſen habe; ſagte
ich, und ſie auch nicht loslaſſen will, bis ich weiß, wo
ſie bleibt.“ — „In Gottes Hut, und unter dem
Schutz eines Freundes;“ ſagte der Mann. Das klang
ſo treu und gut, daß all' meine Angſt und Sorge in
einem Augenblick verſchwunden war.


Der Mond trat aus den Wolken hervor, und ich
konnte den Mann, der jetzt neben uns herging, etwas
deutlicher ſehen. Er war klein und nicht mehr jung;
und hatte eine Habichtsnaſe, wie der Jude von geſtern
Morgen. Er hatte einen langen Ueberrock an, und
als der Wind denſelben auseinander wehte, ſah ich
beim Schein des Mondes den Lauf einer Piſtole
blinken, die in einem Gürtel ſteckte, den er um den
Leib geſchnallt trug.


Einige Schritte weiter hielt eine mit zwei Pferden
beſpannte Kutſche. „Es iſt die höchſte Zeit“; ſagte
der Mann auf dem Bocke. Er ſprach plattdeutſch,
und mir war, als ob ich die Stimme kannte. „Schnell,
ſchnell“, ſagte der kleine Mann mit der Brille und
drängte Marie nach dem herabgelaſſenen Wagentritt.
„Adieu, adieu“, ſchluchzte Marie, mich noch einmal
umarmend, und als ihr Kopf für einen Augenblick
[257] auf meiner Schulter lag, flüſterte ſie mir ins Ohr:
Sagen Sie ihm, daß ich ihm Alles, Alles vergeben habe!
„Schnell, ſchnell, Marie“; rief der Mann und ſtampfte
ungeduldig mit dem Fuß. Er hing ihr einen weiten
Mantel um und half ihr in den Wagen; dann wandte
er ſich zu mir: „Wenn Sie das unglückliche Mädchen
wirklich lieb haben, ſagte er, ſchweigen Sie zwei mal
vierundzwanzig Stunden. Ich bin freilich auf Alles
gefaßt, aber ich möchte um Mariens willen gern, daß
es ohne dieſe hier abginge.“ Er ſchlug mit der Hand
an die Piſtole. „Verlaſſen Sie ſich auf mich, ſagte
ich, und ich will mich auf Sie verlaſſen.“ „Thun
Sie das, ſagte er: es ſind ja nicht alle Menſchen
Schurken und Barone.“


Er ſprang in den Wagen und ſchlug die Thür zu.
Die Pferde zogen in Galopp an, und ſchon nach
wenigen Minuten hörte ich nur noch das Sauſen des
Windes in den Tannen.


Ich ging langſam in das Schloß zurück; und ge¬
langte auf mein Zimmer, ohne von Jemand geſehen
zu werden. Ich ſchloß hinter mir ab; dann warf ich
mich auf mein Bett, und weinte, als ob mir ein lie¬
bes Kind geſtorben wäre; und doch war ich glücklich
und dankte Gott, daß er ſich des armen Kindes er¬
barmt und ſie aus dieſer Hölle erlöſt hatte.


F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. ll. 17[258]

Als ich am andern Morgen erwachte, ſtand die
Sonne ſchon hoch am Himmel. Es war ein heller,
kühler Morgen und Harald ging mit ſeinen Gäſten
auf die Jagd. Ich war froh darüber; ſo konnte ihm
doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigſtens ver¬
ſchwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich
ſchon gegen Mittag ſagen, daß Fräulein Marie nir¬
gends zu finden ſei, und ob ſie ſie nicht geſehen hät¬
ten? Die waren nicht wenig erſchrocken, denn da war
Keiner, der das ſanfte, ſchöne Mädchen nicht gern ge¬
habt hätte. Sie durchſuchten das Haus, die umlie¬
gende Gegend, den Wald bis zum Strande und ſelbſt
den Wallgraben, denn daß ſich die Aermſte das Leben
genommen habe, darüber waren ſie Alle einig.


Spät am Abend kam Harald zurück. Er war
allein. Als er in das Haus trat, ſah er auf den erſten
Blick an den verſtörten Geſichtern der Leute, daß
etwas vorgefallen ſein müſſe. Sein böſes Gewiſſen
ſagte ihm ſogleich, was. „Iſt ſie todt?“ fragte er
und wurde weiß wie Kalk. „Wir wiſſen es nicht,
Herr,“ ſagte der alte Jochen; „wir haben den
ganzen Tag geſucht, aber haben ſie noch nicht ge¬
funden.“


Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den
Leuten vorbei nach ſeinem Zimmer. Als er in der
[259] Thür war, drehte er ſich um, und winkte mir, ihm
zu folgen.


Er ſchritt in dem Gemache auf und ab, endlich
blieb er vor mir ſtehen und ſagte mit dumpfer Stim¬
me: „Hat Dir Marie je geſagt, ſie wolle ſich das
Leben nehmen?“ „Nein“, ſagte ich. „War ſie in der
letzten Zeit beſonders traurig?“ „Ja.“


Wieder ging er im Zimmer hin und her, mit un¬
gleichmäßigen Schritten und unverſtändliche Worte durch
die Zähne murmelnd. Dann blieb er abermals vor
mir ſtehen. „Und wenn ſie ſich das Leben genom¬
men hätte, ſo wäre ich ihr Mörder; murmelte er.
„Wer ſonſt?“ antwortete ich.


Er zuckte zuſammen, als ob ihm ein Meſſer in die
Bruſt geſtoßen wäre. „Es kann nicht ſein,“ ſagte er
mit bleichen Lippen, „es wäre zu gräßlich.“


Ich wußte, welche Qualen er in dieſem Augenblicke
ausſtand, aber ich wußte auch, daß der ſtolze Mann
ſie doch noch lieber dem Tod, als einem Andern gönnte,
und überdies hatte ich zu ſchweigen verſprochen. So
blieb ich ſtill und wartete ab, was er beginnen würde.


Er hieß mich klingeln und die Leute hereinrufen.
Sie kamen. „Wer von Euch zu müde iſt, mag zu
Bette gehen:“ ſagte er, „wer noch weiter mit mir
ſuchen will, ſoll dafür haben, was er verlangt.“

17*[260]

Es meldeten ſich Alle, nicht des Lohnes wegen,
ſondern weil doch Keiner vor Angſt und Aufregung
hätte ſchlafen können.


Er ließ ſo viel Lichter anzünden, als nur aufzu¬
treiben waren und nun fing das Suchen von Neuem
an, unten in den Kellern, durch alle Zimmer, Trepp
auf, Trepp ab, auf den Böden, bis hinauf auf den
Thurm, — Harald immer voran, jeden Winkel durch¬
ſpähend, überall die Augen habend, mit feſter Stimme
Befehle ertheilend, unermüdlich, bis der Morgen kam.


Nun mußten ſich die Frauen zu Bett legen, aber
von den Männern, nahm er, was ſich noch auf den
Beinen halten konnte. Mit denen durchſuchte er jedes
Gebüſch im Garten, und den Wallgraben von der
Zugbrücke an bis wieder zur Zugbrücke. Es regnete
an dem Tage, was nur vom Himmel wollte, und die
Leute fielen beinahe um vor Müdigkeit, aber Harald
gab ihnen — wohl zum erſten Mal in ſeinem Leben —
gute Worte und bat und beſchwor ſie, nicht nachzu¬
laſſen und verſprach ihnen Geld, ſoviel ſie wollten.
So hielten ſie bis gegen Mittag aus; da konnten ſie
nicht mehr. Nun nahm Harald die Andern, die ſich
ausgeruht hatten und mit denen ging er auf das Moor
nach Faſchwitz und in den Wald nach Berkow und
bis an den Strand.


[261]

Gegen Abend kamen ſie wieder, triefend von Regen
und dem Moorwaſſer, in welchem ſie ſtundenlang um¬
hergewatet hatten. Die Männer waren ſo müde, daß
ſie im Gehen ſchliefen, aber Harald's Kraft war noch
nicht gebrochen. Er hieß mich ein paar Flaſchen
Wein holen, und während er ſie hinuntergoß, ſagte
er zu mir: „Höre, Alte! ich glaube nicht, daß ſie ſich
ertränkt hat. Es wäre zu gräßlich; ich müßte ver¬
rückt werden über dem Gedanken. So grauſam hat
ſie ſich nicht an mir rächen können; dazu war ſie viel
zu gut und hatte mich viel zu lieb. Hat ſie nie ge¬
ſagt, ſie wolle mich verlaſſen? hat ſie nie von einem
Manne geſprochen, der alle Zeit bereit ſei, ſie bei
ſich aufzunehmen?“


Ich dachte, daß ich Harald einen Funken Hoff¬
nung laſſen müſſe, und ſagte: ja, Marie, hätte öfter
und beſonders in der letzten Zeit ſo geredet.


„Siehſt Du?“ ſagte er und ſtieß das Glas, aus
dem er getrunken hatte, auf den Tiſch, daß es zer¬
brach; „jetzt kommt die Meute endlich auf die Spur.
Nun wollen wir eine richtige Hetzjagd machen.“


Er riß an der Klingel, daß ihm der Griff in der
Hand blieb. „Anſpannen laſſen!“ ſchrie er dem alten
Jochen, der eintrat, entgegen, „ſofort!“


Ich bat ihn, ein paar Stunden wenigſtens zu
[262] ſchlafen, denn ich ſah, daß ſeine Augen wie im Fieber
glühten und ſeine Glieder flogen. „Pah,“ ſagte er,
„ſchlafen? Ich habe mehr zu thun, als zu ſchlafen.
Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleibe, Alte; aber
ich komme entweder mit ihr zurück oder — wird's
bald?“ ſchrie er auf den Flur hinaus, „ich will Euch
Beine machen, Ihr verdammten Hallunken!“


So fuhr er ab, ohne auch nur die Kleider ge¬
wechſelt zu haben. Er blieb vier Wochen fort; Keiner
wußte, wo er geblieben war. Eines Abends ſpät
kam er wieder. Die erſte Frage, die er an mich
richtete, war: „Haſt Du Nachricht von ihr?“ — Er
ſah ſo bleich und verfallen aus, daß ich ihn kaum
wieder erkannte. Seine Augen waren tief in den
Kopf geſunken und blitzten wie glühende Kohlen.
„Ich habe ſie nicht gefunden;“ ſagte er, als wir
Beide in ſeinem Zimmer allein waren; „gieb mir
Wein, Alte; ich muß das hölliſche Feuer, das in mir
brennt, erſäufen.“


Mich jammerte des unglücklichen Mannes, denn
jetzt erſt fühlte ich, wie ſehr ich ihn liebte. Ich ſagte
ihm Alles, was ich von der Flucht Mariens wußte.
Gegen mein Erwarten blieb er ruhig: „Es kommt
auf eins heraus, ſagte er; ob ſie geſtorben iſt oder
nicht; für mich iſt ſie doch todt; ſie konnte nicht an¬
[263] ders, als mich verlaſſen; ſie war zu ſtolz, um ſich
wie ein Hund behandeln zu laſſen. Ich habe ſie be¬
handelt wie einen Hund, ſchlimmer wie einen Hund,
ich Elender!“


Er ſchlug ſich mit der geballten Fauſt vor die
Stirn; dann warf er ſich in einen Lehnſeſſel, legte
den Kopf in die Hände und ſchluchzte: „Und doch
habe ich ſie geliebt! und doch liebe ich ſie! o mein
Gott, mein Gott!“


Es war ſchrecklich, den wilden Harald weinen zu
ſehen. Ich hob ſeinen Kopf in die Höhe, er legte
ihn an meine Bruſt und weinte, wie er oft als Knabe
in meinen Armen geweint hatte. Ich bat ihn, ſich
zu beruhigen, ich ſagte ihm, daß Mariens letzte Worte
geweſen ſeien: „ich vergebe ihm Alles.“


„Und wenn ſie mir auch vergeben hat, ich werde
es mir nie vergeben,“ rief er. „Geh zu Bett, Alte.
Wir wollen morgen weiter darüber ſprechen.“


Aber als der alte Jochen am nächſten Morgen zu
ihm kam, lag Harald in hitzigem Fieber. Das währte
ſieben Tage, ſieben fürchterliche Tage und Nächte.
Da war es aus mit Harald von Grenwitz.


Die alte Frau ſchwieg; ſtrich den Strumpf, an
dem ſie geſtrickt hatte, über den Knieen glatt, legte
ihn zuſammen und ſagte:


[264]

„So, Junker! nun mache, daß Du nach Hauſe
kommſt. Ich muß nach den Kindern ſehen, die drüben
auf dem Jochen ſeinem Bette ſchlafen. Es hat eben
aufgehört zu regnen, aber es wird bald ſtärker an¬
fangen. Deshalb halte Dich nicht auf unterwegs.
Adjies.“


„Kommen Sie;“ ſagte Oswald zu Albert, der ſich
ſo eben, gähnend und ſich reckend, von ſeinem harten
Lager erhoben hatte. „Es iſt die höchſte Zeit, wenn
wir noch zum Abendeſſen auf dem Schloſſe ſein wollen.
Adieu, Mutter Clauſen.“


Adjies, adjies Junker!“ ſagte die Alte, ſchon in
der Thür.


Als die beiden jungen Männer auf der ſchmutzigen
Dorfgaſſe ſtanden, deutete Albert mit dem Daumen
über die Schulter nach dem Häuschen, das ſie ſo eben
verlaſſen und ſagte:


„Schnurrige alte Dame das! War die Geſchichte
nicht famos, Dottore?“


„Haben Sie denn nicht geſchlafen?“


„Nicht die Spur. Ich wollte anfänglich, aber ihr
ließt einen ja nicht dazu kommen, und hernach, als
die Geſchichte von Baron Harald anfing, war ſo an
Schlafen nicht mehr zu denken. Aber ich blieb ruhig
liegen, und ſchnarchte von Zeit zu Zeit, um die Alte
[265] ſicher zu machen, die die Geſchichte jedenfalls nur
ihrem „Junker“ erzählen wollte. Weshalb nennt die
alte Dame Sie, Junker, Dottore, und Du?“


„Ich weiß nicht; ſagte Oswald.“


„Oder wollen es nicht wiſſen; erwiederte Albert;
na, ſchadet nicht. Man darf auch nicht Alles wiſſen
wollen. Warum wollte Baron Harald wiſſen, wo
das hübſche Ding, die Marie, geblieben war? Ohne
dieſe überflüſſige Neugierde könnte er noch heute ſeinen
Burgunder trinken. Merkwürdig, daß ſo ein vernünf¬
tiger Mann ſolche verrückte romantiſche Grillen im
Kopf haben konnte! Können Sie das begreifen,
Dottore?“


„So ziemlich,“ ſagte Oswald; „aber ſprechen wir
von etwas Anderm.“


„Wie Sie wollen, Theuerſter. Was halten Sie
zum Beiſpiel von der Unſterblichkeit?”


Ende des zweiten Bandes.

[]

Appendix A

Druck von F. Hoffſchläger in Berlin.


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TextGrid Repository (2025). Spielhagen, Friedrich. Problematische Naturen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmzp.0