[][][][][][][]
Titan



Vierter Band.


Berlin,: 1803.
In der Buchhandlung des Commerzien-Raths
Matzdorff.
[][]

Vorrede.

Dieſer Band beſchließet den ganzen Ti¬
tan, ohne weitere komiſche Anhänge, zu
welchen der Verfaſſer ſchon ſonſt noch
Zeit und Stoff genug zu finden ſcheuet
und hofft. Aufgeweckte Köpfe mögen
vielleicht die gewöhnlichen gelehrten Ur¬
theile darüber ſelber für die ordentlichen
komiſchen Anhänge zum Werke nehmen.
[] Freilich iſt am poetiſchen Schmetterlings-
Flügel der bunte loſe Staub oft am
Ende — näher beſehen — wahres Ge¬
fieder. Meiningen, im Dezemb. 1802.


J. P. F. Richter.


[]

Inhalt des vierten Bandes.



Sechs und zwanzigſte Jobelperiode.
101 – 103 Zykel.
  • Die Reiſe — die Quelle — Rom — das
    Forum  Seite 1

Sieben und zwanzigſte Jobelperiode.
104 – 107 Zykel.
  • Peterskirche — Rotunda — Coliſeo —
    Brief an Schoppe — der Krieg —
    Gaſpard — der Korſe — Verwicklung
    mit der Fürſtin — die Krankheit —
    Gaſpards Bruder — Peterskuppel und
    Abſchied  — 36

Acht und zwanzigſte Jobelperiode.
108 – 110 Zykel.
  • Brief aus Peſtiz — Mola — die Him¬
    melfahrt eines Mönchs — Neapel —
    Iſchia — die neue Göttergabe  — 95

Neun und zwanzigſte Jobelperiode.
111 – 115 Zykel.
  • Julienne — die Inſel — Sonnenunter¬
    gang — Neapel — Veſuv — Linda's
    Brief — Streit — Abreiſe  — 142

[]
Dreißigſte Jobelperiode.
116 – 119 Zykel.
  • Tivoli — Streit — Isola bella — die
    Kinderſtube — die Liebe — Abreiſe.  Seite 211

Ein und dreißigſte Jobelperiode.
129 – 126 Zykel.
  • Peſtiz — Schoppe — Eheſcheu — Ar¬
    kadien — Idoine — Verwicklung.  — 257

Zwei und dreißigſte Jobelperiode.
127 – 130 Zykel.
  • Roquairol  — 357

Drei und dreißigſte Jobelperiode.
131 – 136 Zykel.
  • Albano und Linda — Schoppe und das
    Portrait — das Wachskabinet — das
    Dual — das Tollhaus — Leibge¬
    ber  — 416

Vier und dreißigſte Jobelperiode.
137 – 139 Zykel.
  • Schoppe's Entdeckungen — Liane — die
    Kreuzkapelle — Schoppe und der Ich
    und der Oheim.  — 482

Fünf und dreißigſte Jobelperiode.
140 – 146 Zykel.
  • Siebenkäs — Beichte des Oheims —
    Brief von Albano's Mutter — das
    Kron-Rennen — Echo und Schwa¬
    nengeſang der Geſchichte.  — 511

Sechs

Sechs und zwanzigſte Jobelperiode.

[[1]]

Die Reiſe — die Quelle — Rom — das Forum.


101. Zykel.

So lange die Nacht dauerte, ſchimmerten
Albano's Traumbilder mit den Sternbildern
fort, und erſt vor dem hellen Morgen erloſchen
ſie alle. Gaſpard ſagte ihm lächelnd, er ſey
auf dem Wege nach Italien. Unerwartet ge¬
faſſet empfing er die Nachricht ſeiner Auswan¬
derung; er fragte bloß, wo ſein Schoppe ſey.
Als er hörte, er habe nicht mit gewollt: rückte
ihm die Lindenſtadt plötzlich über die Berge
und Thäler nach und ſein letzter Freund ſtand
Titan IV. A[2] mitten auf dem Markte, ganz allein, mit ſich
ſelber im Mockirſpiele begriffen, um ein treues
ſtarkes Herz zu ſtillen, das verſchmerzen will
und lieben. An dieſem Freunde, den Albano
nicht aus ſeiner Seele ließ, zog er ſich wie an
einer Jupiters-Kette die ganze Bühne und
Welt ſeiner Vergangenheit nach und jeder
traurige Ort kam dicht an ihn. Ungeſehen
rollten die Städte, die Länder vor ihm vorbei.
Die Wellen, die der Schmerz um uns auf¬
treibt, ſtehen hoch zwiſchen uns und der Welt
und machen unſer Schiff einſam mitten im Ha¬
fen voll Schiffe. Schaudernd kehrt' er ſich
von jeder ſchönen Jungfrau weg; ſie erinnerte
ihn wie eine Klage an die erblaßte; ewig auf¬
gedeckt zog Lianens bleiches Angeſicht — wie
eine Leiche in Italien *)— auf dem unendli¬
chen Weg zum Grabe und nur unkenntliche
Geſtalten mit Larven giengen hinter ihr leben¬
dig. So iſt der Menſch und ſein Schmerz;
zum Widerſpiele des Schiffziehens, wo die Le¬
[3] bendigen den Todten mitſchleppen, nimmt der
Todte die Lebendigen mit und zieht ſie weit
nach in ſein kaltes Reich.


Durch die Zeit wurde allmählig ſein Schmerz
entwickelt, nicht entkräftet. Sein Leben war
ihm eine Nacht geworden, wo der Mond un¬
ter der Erde iſt und er glaubte nicht daran,
daß Luna allmählig mit einem wachſenden Licht-
Bogen wiederkehre. Keine Freuden, nur Tha¬
ten — dieſe entfernten Sterne der Nacht —
waren jetzt ſein Ziel. Er hielt es für Un¬
recht, die Thränen, die oft mitten im fremden
Geſpräche aus ihm drangen, darum vor dem
Vater zurückzuhalten, weil dieſer keinen Theil
an ihnen nahm; doch zeigt' er ihm durch
die Kraft ſeiner Geſpräche und Entſchlüſſe noch
den ſtarken Jüngling. Nur der Vorwurf, den
er ſich über ſeine Schuld an Lianens Tod
gemacht, hatte ſich in den Frieden aufge¬
löſet, den ihm Idoine gegeben, ob er gleich
jetzt ihre Erſcheinung nur für einen wachen
Fiebertraum von Lianen hielt.


Sein Vater ſchwieg ganz über Idoinens
Auftritt ſo wie über alle unangenehme Erinne¬
A 2[4] rungen, er ſprach aber viel von Italien und
von dem Kunſt-Gewinn, den Albano da erbeu¬
ten werde, zumal durch die vorausgehende Ge¬
ſellſchaft der Fürſtin, des Kunſtrathes und des
deutſchen Herrn, die man bald einholen könne.
Der Sohn wandte ſich endlich mit der kühnen
Erkundigung an ihn, ob er wirklich noch eine
Schweſter habe, und erzählte die Geſchichte
mit dem Kahlkopf. „Es könnte wohl ſeyn,
(ſagte Gaſpard unangenehm ſpaßhaft,) daß
du noch mehr Brüder und Schweſtern hätteſt
als ich wüßte. Aber was ich weiß, iſt, daß
deine Zwillingsſchweſter Severina in dieſem
Jahre in ihrem Kloſter geſtorben iſt. Wofür
hältſt denn du die Nacht-Geſchichte?“ —
Beinah für einen Traum, verſetzt' er. Zufäl¬
lig kam ſeine Hand hier in die Taſche und
traf zu ſeinem Erſtaunen auf den halben Ring,
den die Schweſter ihm geſchenkt. Das Wunder¬
bare trat dicht unter ſeine Sinne und jene
Schauer-Nacht gieng ſchnell und kalt durch
ſeinen Mittag. Er und der Vater beſahen
die Enden des zerſchnittenen Rings, an deren
jedem ein abgeriſſener Namenszug aufhörte.
[5] „Es giebt aber nichts Wunderbares“ ſagte der
Ritter. „Woher wiſſen wir alsdann, daß es
„etwas Natürliches giebt?“ ſagte Albano.
„Das Wunder, (verſetzte Gaſpard,) oder die
„Geiſterwelt wohnt nur im Geiſte.“ — „Wir
„müſſen uns, (fuhr jener fort,) auch bei den ge¬
„meinſten optiſchen Kunſtſtücken auf etwas an¬
„deres als auf die Auflöſung des Trugs der
„Phantaſie in einen Trug der Sinnen freuen,
„weil uns ſonſt nach der Auflöſung das Zau¬
„berwerk mehr gefallen müßte als vorher. Das
„ſind die Stillen und Pole der menſchlichen
„Natur, worüber die ewigen Polarwolken hän¬
„gen. Unſere Landkarten vom Wahrheits- und
„Geiſterreiche ſind die Landkartenſteine, welche
„Ruinen und Dörfer abbilden; dieſe ſind er¬
logen, aber doch ähnlich. Der Geiſt, ewig
„unter Körper gebannt, will Geiſter.“ — Un¬
gefähr ſo meint' ich auch, ſagte Gaſpard.


Albano drang aber beſtimmter auf deſſen
Urtheil über den Kahlkopf und die Schweſter.
„Von etwas anderem, (ſagte der Ritter ganz
„verdrüßlich,) für mich iſt's ein ſehr unangeneh¬
„mes Geſpräch. Nimm die Welt nach deiner
[6] „Weiſe und ſey ruhig!“ — Lieber Vater,
fragte Albano betroffen, klären Sie mich ir¬
gend einmal beſtimmt darüber auf? — „So¬
„bald ich kann,“ ſagte kurz der Ritter, mit ſo
ſcharfen und ſtechenden Blicken auf den Sohn,
daß dieſer ihnen wie Pfeilen ausweichend den
Kopf eilig aus dem Wagen hinausbeugte: als
er erſt merkte, daß ihn der Vater gar nicht
meine; denn noch blickte er ſo ſcharf in der vo¬
rigen Richtung fort, als ſey er nahe daran, in
ſeine alte Erſtarrung zu fallen.


Gaſpard's Wort über das Inwohnen der
Geiſterwelt im Geiſte und ſein Blick und der
Gedanke an ſein Erſtarren gaben für Albano
der Stunde und der Stille romantiſche Schauer.
Drunten am Ufer des Stroms ſtanden zuſam¬
mengelaufne Menſchen und einer eilte wie flie¬
hend oder anſagend aus dem Haufen. Ein
ferner Knabe warf ſich auf einem Hügel nie¬
der und legte das Ohr an die Erdkugel, um
ihren rollenden Wagen etwan recht zu hören.
Im Dorfe, wo ſie Mittag hielten, läutete es
unaufhörlich. Ihr Wirth war zugleich ein
Müller; das Toben der Wellen und Räder
[7] füllte das ganze Haus; und Kanarienvögel
lärmten noch durch den Lärm hindurch.


Es giebt Augenblicke, wo die beiden Wel¬
ten, die irdiſche und die geiſtige, nahe an ein¬
ander vorüberſtreifen und wo Erdentag und
Himmelsnacht ſich in Dämmerungen berühren.
Wie die Schatten der himmliſchen Glanzwolken
über die Blüthen und Ernten der Erde weglau¬
fen: ſo wirft überall der Himmel auf die ge¬
meine Fläche der Wirklichkeit ſeine leichten
Schatten und Wiederſcheine. So fand es jetzt
Albano. Der Ring und das ſchwärmeriſche
Wort ſeines kalten Vaters hatten ihn wie
Blitze geblendet. Unten an der Hausthüre
fand er ein Mädchen, das ein Waarenlager
von Zitronen vor ſich trug. Plötzlich und un¬
angenehm brach das Geläute ab; er blickte
zum Glockenthurm und ein weiſſer Geier ſaß
auf der Fahne. Bald kam der Glocken-Zie¬
her ſelber, um etwas zu trinken, und fieng mit
ſtarkem, und doch nicht übel gemeintem Flu¬
chen auf den Kammerherrn an, der ihn ſeit
drei Wochen läuten laſſe und dem er bloß
wünſche, daß ſolcher wie Er ſelber im vorigen
[8] Jahre, nur drei Tage lang ordentlich hinter
der ſeeligen Tochter nachläuten müßte. Er er¬
mahnte den Müller, „von den Zitronen zu
„kaufen, weil's gute wären, ſaftig, von dünner
„Rinde — und Er und der „„Pfarrbube““ *)
„kennten ſie von dem Begräbniß des gnädigen
„Fräuleins her — und in 14 Tagen brauch'
„Er doch für die geſammte Geiſtlichkeit welche,
„als Brautvater!“ — Wie ſind hier die Sit¬
ten? fragte Albano.


„Wenn nehmlich jemand ſtirbt, (ſagte der
Küſter ſehr ehrerbietig und freundlich,) ſo be¬
kommt der Pfarrer und meine Wenigkeit eine
Zitrone und ſo auch die Leiche. — Wird aber
jemand getrauet, ſo bekommt die Geiſtlich¬
keit und ſo auch die Braut dergleichen. Das
iſt aber bei uns ſo Sitte, mein gnädigſter
Herr!“ —


Albano gieng in den nahen Garten am
Haus, in welchen die aufgedeckten Mühlenrä¬
der ihre Silberfunken warfen und welcher vom
Glanze und Getöſe des offnen Waſſers wie ver¬
[9] ſchlungen ward. Indem er in die ſchimmern¬
den fliegenden Wirbel ſah: ſchwebten die Zitro¬
nen, welche die Leiche ſowohl als die Braut
bekommt, vor dem bewegten Geiſt. Die Rüh¬
rung iſt voll Gleichniſſe; Liane ſollte einſt, dacht'
er, in das Zitronenland und in die niedrigen
Wälder, wo der Schnee der Blüthen und das
Gold der Früchte zwiſchen Grün und Blau zu¬
ſammenſpielen, ziehen, und erquickt geneſen;
nun hält ſie die Zitrone in der erkalteten Hand,
und ſie wurde nicht erquickt.


Er blickte umher und glaubte in einer frem¬
den Welt zu ſtehen; im Himmelsblau rauſchte
wie ein Geiſt ein unſichtbarer Sturm ohne
Wolken — lange Hügel-Reihen funkelten be¬
wegt mit rothen Früchten und rothen Blättern,
aus den bunten Bäumen wurden glühende
Äpfel geworfen und der Sturm flog von Gi¬
pfel zu Gipfel und herunter auf die Erde und
rauſchte durch den langen aufgewühlten Strom
hinab. Wie wenn Geiſter um die Erde ſpiel¬
ten oder auf ihr erſcheinen wollten, ſo ſeltſam
ſchien die helle Gegend bewegt und beleuchtet.
Da war Albano unbewußt in eine dunkle Baum¬
[10] Wildniß gekommen; darin hüpfte ungeſehen,
ungehört eine reine lichte Quelle aus der Erde
auf die Erde — der Sturm drauſſen war ſtill,
nur die Quelle hörte man, — „Die Heilige iſt
„mir nahe, (ſagte ſein Herz,) iſt die Quelle
„nicht ihr Bild, nicht ihrer ewigen Thränen
„Ebenbild, dringt ſie nicht aus der Erde her¬
„auf, wo ſie wohnt?“ Auf einmal ſah er in
ſeiner Hand — als hab' es ihm eine fremde
darein gelegt — die Zeichnung von Linda's
Kopf, welche Liane mit ſterbenden Händen ge¬
macht und gegeben hatte; aber ſeine Phantaſie
drückte gewaltſam dem Bilde die Ähnlichkeit mit
der Zeichnerin auf, er ſah Lianens ſanftes Ge¬
ſicht ſo klar auf dem Blatt.


Er gieng wieder hinaus in die glänzende
Welt. „Wie arm bin ich! (rief er.) Ich ſehe
„Sie auf der goldnen Wolke, die von der Abend¬
„ſonne nach dem Morgen zieht, ich ſehe Sie in
„der kalten Quelle im Thal und auf dem Mond
„und auf der Blume — ich ſehe Sie überall;
„und Sie ruht nur an Einem Ort. O wie
„arm!“ — Und er blickte zum Himmel und
eine einzige lange Wolke zog darin eilig weiter.

[11]

102. Zykel.

So flogen die Tage mit ihren Städten und
Landſchaften vorüber und in Albano's Leben
ſpiegelte ſich wie in einem Gedichte die Welt.
Eine Kraft nach der andern, die ganze ge¬
beugte Ernte ſeines Innern ſtand allmählig
wieder auf und grünte tropfend; aber zu glei¬
cher Zeit erſtarkte auch der Dorn des Schmer¬
zes. Während ſein Auge und Geiſt ſich mit
der Welt und jeder Beute der Kenntniß er¬
füllte: ſo wohnte das böſe Geſpenſt der Pein
in der Ruine und drang hervor, wenn das
Herz allein war und ergriff es.


Er berührte Wien, wo er ſich gefallen las¬
ſen mußte, einigen vornehmen Freunden Ga¬
ſpard's vorgeſtellt zu werden, der ihm erſt hier
entdeckte, daß er nicht zu den Cavalleros del
Turone
gehöre, ſondern ein öſterreichiſcher Vlies¬
ritter ſey. „Mir iſt es hier, (ſagte Albano,) ſo
„ſonderbar bekannt, woher kommt das?“ —
„Von irgend einer ähnlichen Stadt, (ſagte Ga¬
ſpard,) wer viel reiſet, kommt aus ähnlichen
Städten in ähnliche.“ Täglich wurd' ihm der
Vater lieber und verſtändlicher; und doch nicht
[12] vertrauter und näher; nach einem warmen
Tage und vertrauten Geſpräche mit Gaſpard
ſtand man in der nächſten Zuſammenkunft
darauf wieder im Vorzimmer ſeiner Bekannt¬
ſchaft; wie bei ſtrengen Mädchen fieng nach
jedem Wonnemondstag der geſchmolzene Mai¬
froſt wieder von neuem einzufallen an. Das
Alter achtet die Liebe, aber — ungleich der Ju¬
gend — wenig die Zeichen der Liebe. Indeß
behielt Albano den Stolz, daß er ſich dem
Vater ganz und mit allen Verſchiedenheiten
ſehen ließ, ohne den Sommer vor dem Winter
zu verſtecken.


Von Tag zu Tag fand Gaſpard Briefe an
ſich auf den Poſten, beſonders von Peſtiz,
wie Albano auſſen an den Poſt-Lettern erſah;
denn es wurden ihm keine gegeben. Er wünſchte
immer mehr, der Fürſtinn nachzukommen, die
nur noch eine Tagereiſe von ihnen voraus hatte.
Sie ſahen ſchon die Rieſen des Winters, die
Schweizer- und Tyroler Alpen, im Lager; die
Götterſöhne ſtanden, mit Lauwinen und Kata¬
rakten und Wintern bewaffnet, Wache um das
göttliche Land, wo Götter und Menſchen ein¬
[13] ander wechſelſeitig nachahmten. Wie oft blickte
Albano, wenn abends die Sonne ſich glühend
mit den beſchneieten Alpenhöhen vermiſchte,
ſchmerzlich ergriffen nach dieſen Thronen hin,
die er einmal ganz anders, viel goldner, ſo
hoffend und ſo glaubend, von Isola bella an¬
geſchauet. — Die Höhen deiner Vergangen¬
heit, ſagt' er ſich, ſind auch weiß und keine
Alphörner tönen mehr droben unter ſonnenhel¬
len Tagen und du biſt tief im Thal!


Sie kamen noch vor dem Volksfeſte einer
verſpäteten Weinleſe vorüber. Der Ritter er¬
kundigte ſich nach allem mit der Wißbegierde
eines Weinhändlers und mit der Kenntniß eines
Winzers. So botaniſirte er überall auf der
Erde nach jedem Gräsgen und Kraut der Er¬
kenntniß. Albano verwunderte ſich darüber, da
er bisher geglaubt, Gaſpard ſuche und lange
nach nichts als nach den Paris- und Heſperi¬
den-Äpfeln der Kunſt, weil er alle andre
Früchte und ihr Fleiſch und ihren Kern in ſei¬
nem Stande weder zum Genieſſen noch zum
Säen brauchen konnte.


Sie verſanken in die Tiefen der Tyroler Ge¬
[14] bürge. Die Höhen ſtanden ſchon ins feſte weiſſe
Leichentuch des Winters gehüllt und durch die
Thäler gieng nur der kalte Sturm lebendig hin
und her. Albano's Sehnen nach dem milden
Lande der Jugend wuchs zwiſchen den Stür¬
men und Alpen immer höher; und Rom's Bild
breitete ſich koloſſaliſch aus, je länger es ſich
ihm näherte. Gaſpard ließ die Reiſe auf Flü¬
geln gehen, um den Regenwolken des Herbſtes
vorzukommen.


In einer dunkeln Reiſe-Nacht arbeiteten
ſie ſich gleichſam durch das Gebürge hindurch,
gleich ihrem Gefährten, dem Adigo-Strom,
der einen Rieſen-Felſen aufreiſſet und in die
milde Ebene ſtürzt und darin ſanft weiter tau¬
melt. Die Sonne erſchien — und Italien.


Es hatte geregnet, eine laue Luft flatterte
von den Zypreſſenhügeln durch das Thal und
durch die Wein-Gehenke der Maulbeerbäume
her und hatte ſich zwiſchen Blüthen und den
Früchten der Pomeranzen durchgedrängt — der
Adigo ſchien wie eine geringelte Rieſenſchlange
auf der vielfarbigen Landſchaft an den Land¬
häuſern und Olivenwäldern zu ruhen und Re¬
[15] genbogen an einander zu ſetzen. — Das Leben
ſpielte im Äther — nur Sommervögel ſchweif¬
ten in dem leichten Blau — nur der Venus¬
wagen der Freude rollte über die ſanften Hügel.


Albano's volle Seele ergoß ſich gleichſam in
das breite Bette, das ihn von der milden Ebene
zu der prächtigen Roma führte! — „Wenn wir
rückwärts reiſen, (ſagte Gaſpard,) ſo erinnere
dich an deinen Eintrit.“ — Sie hielten in
einem Dorfe mit großen ſteinernen Häuſern.
Albano ſah das warme auſſerhäusliche Leben
um ſich an, den unbedeckten Kopf, die nackte
Bruſt und die blitzenden Augen der Männer
— das große Schaaf mit Seidenwolle — das
ſchwarze kleine muntre Schwein und den
ſchwarzen Truthahn — als er plötzlich vom
Balkon herab einen deutſchen Gruß und ſeinen
Namen hörte.


Es war die Fürſtin, ihre Wagen ſtanden
ſeitwärts, Bouverot und Fraiſchdörfer bei ihr.
Wie dringt es balſamiſch durchs Herz, im frem¬
den Lande, und ſey es das ſchönſte, den Bru¬
der, die Schweſter des rauhern wiederzufinden,
gleichſam in der zweiten Welt den verwandten
[16] Erdenſohn! — Auch der Adigo, der vorher ihn
im wilden Gebürge unter dem Namen Etſch
begleitet hatte, folgte ihm mit dem ſchönern in
die Ebene nach. Die Fürſtin ſchien ihm, er
wußte nicht warum, milder, jungfräulicher ge¬
worden in Geſtalt und Blick, und er warf ſich
ſeinen frühern Irrthum vor. Aber er begieng
einen ſpätern; über ihre ſtark gezeichnete Phy¬
ſiognomie ſtiegen hinter Wien die welſchen
ſchärfern empor und die ſchreienden Farben,
worein ſie ſich gern kleidete, wurden von den
italieniſchen überſchrieen. Ein fremder Boden
iſt ein Redouten- und Brunnenſaal, wo nur
menſchliche Verhältniſſe und keine politiſche
walten und in der Fremde iſt man ſich am
wenigſten Fremdling — alles berührte ſich
freundlich, wie fremde Hände ſich ſuchen und
faſſen unter dem Steigen von Bergen. Wie
verehrend ſah Albano die Fürſtinn an! Denn
er dachte: „ſie wollte die Erblaßte mitnehmen
„in das heilende Eden. — O die Heilige würde
„ja an dieſem Morgen glücklich ſeyn und wei¬
„nen mit dem blauen Auge vor Seeligkeit.“ —
Dann that es ſeines, aber nicht vor Seelig¬
keit;[17] keit; und ſo ſind die Feuerwerke des Lebens,
wie die andern, immer an und auf Waſſer
gebauet. Da wurde in ihm der Schwur feier¬
lich vor dem ſchönen Todtenhaupte Lianens
abgelegt: „ich will der Freund ihrer Freundin
recht ſeyn!“ — Eine neue Rolle des Lebens
ſpielt der Menſch am wärmſten und beſten;
über unſern Antrittspredigten ſchwebt der hei¬
lige Geiſt brütend mit Taubenflügeln — nur
ſpäter liegen die Eier kalt. Albano, noch in
keine Freundſchaft eingeweiht als in die männ¬
liche, betete die weibliche an wie ein aufſtei¬
gendes Geſtirn und für dieſe fand er, wie für
die männliche, weit mehr Opfer-Kräfte in ſei¬
ner warmen Seele aufbewahrt, als für die
Liebe. In der Freundſchaft iſt der Mann wie
in der Liebe die Frau, — und umgekehrt —;
nehmlich mehr den Gegenſtand ſuchend als die
Empfindung für ihn.


Mit neuen vollen Segeln und Wimpeln —
in geſchmückten ſingenden Schiffen — mit gün¬
ſtigen Seitenwinden — flog die muntere Fahrt
durch Städte und Auen.


Nichts hängt über einen langen Reiſe-Korſo
Titan IV B[18] eine ſchönere Frucht- und Blumenſchnur hin —
für einen Wagen, der vorausgeht — als ein
Paar Wagen, die nachkommen. Welche Ge¬
meinſchaft der Freude und Gefahr im Nacht¬
quartier! Welches Beſprechen der Marſchroute!
Welche Freude über die nach- und vorfahren¬
den Avanturen, nehmlich über die Berichte da¬
von! Und wie liebt einer den andern!


Nur gegen Bouverot bewies Albano eine
feſte Kälte; aber der Ritter war freundlich.
Albano, mehr unter Büchern als unter Men¬
ſchen aufgewachſen, wunderte ſich oft, daß ihm
in jenen die Verſchiedenheit der Meinungen ſo
leicht vorübergieng, die ihn unter dieſen ſo
ſcharf anfiel. Am Ende fragt' ihn einmal ſein
Vater: „Warum benimmſt du dich gegen Herrn
v. Bouverot ſo fremd? Nichts erbittert mehr
als ein beſonnenes ſtilles Haſſen, das leiden¬
ſchaftlichſte weit weniger.“ — „Weil es mein
Geſetz iſt, (antwortete er,) die ewige Unwahr¬
heit der Menſchen in ihren Verbindungen zu
fliehen und zu haſſen. Aus bloßer Humanität
ſich Ungleichen gleich ſtellen, einem irgend einer
Abſicht wegen ein freundliches Geſicht machen,
[19] ſo ſeyn gegen jemand, daß man es ihm nicht
auf der Stelle herausſagen darf, das iſt wohl
ganze Knechtſchaft und verwirrt den Reinſten.“
— „Wer nichts lieben will als ſein Ebenbild,
(verſetzte Gaſpard,) hat außer ſich nichts zu
lieben. Von Bouverot (ſetzt' er lachend hin¬
zu,) iſt doch ein braver Wirth und Reiſe-Kom¬
pagnon.“ — Albano, der ſogar Menſchen wi¬
derſtehen konnte, die er verehrte, fragte nichts
nach ſeinem Vater, ſondern fand den deutſchen
Herrn nur deſto verächtlicher.


Dieſer, ganz zu Hader und Handel gebo¬
ren, hatte ſich nehmlich tiefe Fußſtapfen im
Schnee des Ritters und der Fürſtinn — wel¬
che beide, wie alle lange Reiſende, ungemein
geizig waren — dadurch gebahnt, daß er alle
Wirthe und Welſche das Patto berichtigend
überſah und überliſtete, und daß er ſogar die
Kunſt verſtand, zur rechten Zeit tief-grob zu
ſeyn, indeß er vom Wirthe ſich umkehrend ge¬
gen die Fürſtinn wieder ein Mann von Welt
war wie Fontenelle oder irgend ein Franzoſe,
der in ſolchen Fällen länger rechnet und flucht,
als zehrt. Der Vliesritter, der, wie er geſtand,
B 2[20] nie ſo wohlfeil gereiſet, bedeckte ihn daher mit
dem Lorbeer, der hier überall wuchs, und ſah
ſo heiter aus wie niemals. Nur dem Sohne
war der kalte, zornige, grobe Menſch ein Vul¬
kan, der Schlamm und Waſſer auswirft. Rei¬
tet einem gekrönten Haupte oder einem klaſſi¬
ſchen Autor, der auch eines iſt, eine Meile vor
und überhaupt Leuten, die Geld haben und
nicht ſchonen, und erkargt ihnen nur täglich
einige Goldſtücke, nie werdet ihr beide Häup¬
ter froher oder dankbarer geſehen haben, als in
dieſem Fall! —


Überall wollte Albano ausſteigen, und in
große Ruinen und in den Glanz der entfallnen
Kleinodien treten, welche den Welteroberern
auf dem Wege nach Rom von den Triumph¬
wagen verloren gegangen. Aber der Ritter
rieth ihm an, ſeine Augen und Begeiſterung zu
ſparen und aufzuheben für Rom. Wie ſchlug
ſein Herz, als ſie endlich in der wüſten
Campagna, die voll Lava-Würfe um den
Horſt der römiſchen Adler, dieſer über die Welt
getriebnen Sturmvögel, lag, auf der Flamini¬
ſchen Straße rollten! — Aber er und Gaſpard
[21] fühlten ſich wunderbar-beklommen — den ſte¬
henden See einer ſchwülen Schwefelluft glaubt'
man zu durchwaten, die ſein Vater den Schwe¬
felhütten zu Baccano zuſchrieb — er lechzete
nach dem Schnee auf den fernen Bergen —
der Himmel war ſchwarzblau und ſtill — ein¬
zelne hohe Wolken flogen pfeilſchnell durch die
ſtille Wüſte — ein Mann in der Ferne ſetzte
eine ausgegrabene Urne wieder hin und betete,
ängſtlich gen Himmel blickend, ſeinen Roſen¬
kranz — Albano wandte ſich nach den Gebür¬
gen, denen die Abendſonne, wie aufgelöſet in
ſtechendem Glanz, zuſank. — Auf einmal ließ
der Ritter den Poſtillon halten, der heftig die
Arme, da es unter dem Wagen noch fortrollte,
gen Himmel warf und rief: Heilige Mutter
Gottes, ein Erdbeben! Aber Gaſpard berührte
den ſonnentrunknen Sohn und ſagte zeigend:
ecco Roma! — Albano blickte hin und ſah in
tiefer Ferne die Kuppel der Peterskirche im
Sonnenglanz. Die Sonne gieng unter, die
Erde bebte noch einmal, aber in ſeinem Geiſte
war nichts als Rom.

[22]

103. Zykel.

Eine halbe Stunde nach dem Erdſtoße wi¬
ckelte ſich der Himmel in Meere ein, und warf
ſie ſtück- und ſtromweiſe herunter. Die nackte
Campagna und Heide verdeckte der Regenman¬
tel — Gaſpard war ſtill — der Himmel ſchwarz
— der große Gedanke ſtand einſam in Albano,
daß er dem Blut- und Throngerüſt der Menſch¬
heit, dem Herzen einer erkalteten Helden-Welt,
der ewigen Roma zueile; und als er auf dem
Ponte molle hörte, daß er jetzt über die Tiber
gehe: ſo war ihm, als ſey die Vergangenheit
von den Todten auferſtanden und er ſchiffe im
zurücklaufenden Strome der Zeit; unter den
Strömen des Himmels hört' er die alten ſieben
Bergſtröme rauſchen, die einſt von Rom's Hü¬
geln kamen und mit ſieben Armen die Welt
aus dem Boden aufhoben.


Endlich rückte das breitſtehende Sternbild
der Bergſtadt Gottes in Nächte auseinander,
Städte mit ſparſamen Lichtern lagen hinauf
und hinab und die Glocken, (für ihn Sturm¬
[23] glocken,) ſchlugen vier Uhr*), als der Wagen
durch das Triumphthor der Stadt, die Porta
del Popolo
, rollte: ſo riß der Mond ſeinen
ſchwarzen Himmel auf und goß aus der Wol¬
ken-Kluft den Glanz eines ganzen Himmels
hernieder; da ſtand der ägyptiſche Obeliskus
des Thors wolkenhoch in der Nacht und drei
Straßen liefen glänzend auseinander. So biſt
du (ſagte ſich Albano, als ſie im langen Corso
nach der zehnten Region fuhren,) wirklich im
Lager des Kriegsgottes; hier, wo er das Heft
des ungeheuern Kriegsſchwerdtes faßte, und
mit der Spitze die drei Wunden in drei Welt¬
theile machte. — Guß und Glanz durchflogen
die weiten, breiten Straßen — zuweilen kam
er plötzlich vor Gärten vorbei und in breite
Stadtwüſten und Marktplätze der Vergangen¬
heit. — Das Rollen der Wagen unter dem Rau¬
ſchen des Regens glich dem Donner, deſſen
Tage dieſer Heldenſtadt ſonſt heilig waren,
gleichſam der donnernde Himmel der donnern¬
den Erde — eingemummte Geſtalten mit klei¬
[24] nen Lichtern ſchlichen durch die finſtern Straßen
— oft ſtand ein langer Pallaſt mit Säulen-Reihen
im Feuer des Mondes, oft eine graue einſame
Säule, oft eine einzelne hohe Fichte, oder eine
Statue hinter Zypreſſen. Einmal, da weder
Regen noch Mondlicht war, gieng der Wagen
um die Ecke eines großen Hauſes, auf deſſen
Dache eine blühende lange Jungfrau mit ei¬
nem aufblickenden Kinde an der Hand, eine
kleine Handleuchte bald gegen eine weiſſe Sta¬
tue, bald gegen das Kind ſelber richtete und
ſo wechſelnd die ganze Gruppe beleuchtete.
Mitten in das erhobene Gemüth drang die
freundliche Geſellſchaft und brachte ihm manche
Erinnerungen mit; beſonders war ihm ein rö¬
miſches Kind eine ganz neue und mächtige
Idee.


Sie ſtiegen endlich aus bei dem Fürſten di
Lauria
, Gaſpard's Schwiegervater und altem
Freund. Nah' an ſeinem Pallaſt lag der Cam¬
po vaccino
(das alte Forum,) und auf die
breiten Treppen und die drei Wunder-Gebäude
des Kapitols ſchien der helle Mond; in der
Ferne ſtand das Coliseo. Zögernd gieng Al¬
[25] bano in das erleuchtete Haus, wovor der Wa¬
gen der Fürſtin ſtand, und wandte ſchwer das
Auge von dieſen Höhen der Welt, wovon einſt
ein leichtes Wort, wie eine Schneeflocke lange
rollte und ewig wuchs, bis es in einem frem¬
den Lande eine Stadt erdrückte mit der Schlag¬
lauwine.


Die Fürſtinn mit ihrer Geſellſchaft ſah er¬
freuet die neue kommen. Der alte Fürſt Lau¬
ria
empfing höflich und zurückhaltend ſeinen
Enkel. Seine unzähligen Bedienten redeten faſt
alle Sprachen Europa's durch einander. Al¬
bano fragte ſogleich den Ritter nach ſeinem
Lehrer Dian, dieſem auf den Römer geimpf¬
ten Griechen; aber gerade an das Menſchlichſte
hatte, wie immer die Großen, Gaſpard nicht
gedacht. Man ſchickte in deſſen nahe Wohnung;
er war nicht zu Hauſe.


Man ſpeiſete. Der Fürſt bewirthete ſogleich
mit ſeinem Lieblings-Schaugericht, mit dem
politiſchen Weltlauf, und gab das Neueſte von
der franzöſiſchen Revolution. Zeitungen waren
ihm Ewigkeiten, Nouvellen Antiken; er hielt
alle Blätter Europa's und daher zu jedem den
[26] deutſchen, den ruſſiſchen, den engliſchen, den
pohlniſchen Bedienten, der es ihm überſetzte.
Bei ſeiner ſatiriſchen Kälte gegen alle Men¬
ſchen und Sachen erſchien der politiſche und
welſche Eifer ſtärker, womit er gegen den Rit¬
ter die Franzoſen beſchirmte, der ſie gelaſſen
verachtete und ſich nach ſeiner Weiſe ſogar in
ſchlechten Wortſpielen auslaſſend den alten Rö¬
mern das Forum und den neuern das Campo
vaccino
, und eben ſo den alten Galliern das
Marsfeld und den neuern ein Märzfeld ein¬
gab.


Albano glaubte, ſo nah' am Forum geb' es
keinen Scherz und jedes Wort müſſe groß ſeyn
in dieſer Stadt. Der kalte Lauria ſprach warm
für Gallien, wie ein Miniſter nur Völker, nicht
Individuen achtend, und ſeine Meinung gefiel
dem Jüngling.


Da lenkte die Fürſtinn den Strom auf
Rom's hohe Kunſt. Fraiſchdörfer zerlegte den
Koloß in Glieder und wog ſie auf der engſten
Waage. Bouverot ſtach den Rieſen in hiſtori¬
ſches Kupfer. Die Fürſtinn ſprach mit vieler
Wärme, aber ohne Bedeutung. Gaſpard ſchmolz
[27] alle ein, gleichſam zu einem korinthiſchen Erz,
und umfaßte alle, ohne gefaſſet zu werden.
Auf ſeiner kalt, über ſtark aufdringenden Le¬
bensquelle ließ er die Welt wie eine Kugel
ſpielen und ſchweben.


Albano bewahrte, mit allen unzufrieden,
ſeine Begeiſterung, den unterirdiſchen Göttern
der Vergangenheit um ihn her nach alter Sitte
opfernd, nehmlich mit Schweigen. Wohl hätt'
er reden wollen und können, aber anders, in
Oden, mit dem ganzen Menſchen, mit Strö¬
men, die aufwärts ſtiegen und wüchſen. Im¬
mer ſehnſüchtiger ſah er an die Fenſter nach
dem Mond im reinen Regenblau und nach ein¬
zelnen Säulen des Forum's; drauſſen glänzte
ihm die größte Welt. — Endlich ſtand er zür¬
nend und ſchmachtend auf und ſchlich hinunter
in die dämmernde Herrlichkeit und trat vor
das Forum; aber die Mondnacht, die Deko¬
rationsmahlerinn, die mit unförmlichen Stri¬
chen arbeitet, macht' ihm faſt die Bühne un¬
kenntlich.


Welch' eine öde, weite Ebene, hoch von Rui¬
nen, Gärten, Tempeln umgeben, mit geſtürzten
[28] Säulen-Häuptern und mit aufrechten einſa¬
men Säulen und mit Bäumen und einer ſtum¬
men Wüſte bedeckt! Der aufgewühlte Schutt
aus dem ausgegoſſenen Aſchenkrug der Zeit —
und die Scherben einer großen Welt umherge¬
worfen! Er gieng vor drei Tempel-Säulen*),
die die Erde bis an die Bruſt hinuntergezogen
hatte, vorbei und durch den breiten Triumph-
Bogen des Septimius Severus hindurch, rechts
ſtanden verbundne Säulen ohne ihren Tempel,
links an einer Chriſten-Kirche die tief in den
Bodenſatz der Zeit getauchte Säulenreihe eines
alten Heidentempels, am Ende der Siegesbo¬
gen des Titus, und vor ihm in der öden wal¬
digen Mitte ein Springwaſſer in ein Granit¬
becken ſich gieſſend.


Er gieng dieſer Quelle zu, um die Ebene
zu überſchauen, aus welcher ſonſt die Donner¬
monate der Erde aufzogen, aber wie über eine
ausgebrannte Sonne gieng er darüber, welche
finſtere todte Erden umhängen. O der Menſch,
der Menſch-Traum! rief's unaufhörlich um
[29] ihn. Er ſtand an der Granitſchaale gegen das
Coliſeo gekehrt, deſſen Gebürgsrücken hoch in
Mondlicht ſtand, mit den tiefen Klüften, die
ihm die Senſe der Zeit eingehauen — ſcharf
ſtanden die zerriſſenen Bogen von Nero's gold¬
nem Hauſe wie mörderiſche Hauer darneben. —
Der palatiniſche Berg grünte voll Gärten und
auf zerbrochnen Tempel-Dächern nagte der
blühende Todtenkranz aus Epheu, und noch
glühten lebendige Ranunkeln um eingeſenkte
Kapitäler. — Die Quelle murmelte geſchwätzig
und ewig, und die Sterne ſchaueten feſt her¬
unter mit unvergänglichen Strahlen auf die
ſtille Wahlſtatt, worüber der Winter der Zeit
gegangen, ohne einen Frühling nachzuführen —
die feurige Weltſeele war aufgeflogen und der
kalte zerſtückte Rieſe lag umher, auseinanderge¬
riſſen waren die Rieſen-Speichen des Schwung¬
rads, das einmal der Strom der Zeiten ſelber
trieb. — Und noch dazu goß der Mond ſein
Licht wie ätzendes Silberwaſſer auf die nackten
Säulen, und wollte das Coliſeo und die Tem¬
pel und alles auflöſen in ihre eignen Schat¬
ten! —


[30]

Da ſtreckte Albano die Arme in die Lüfte,
als könnt' er damit umfaſſen und zerflieſſen
wie mit Armen eines Stroms, und rief aus:
„o ihr großen Schatten, die ihr einſt hier ſtrit¬
tet und lebtet, ihr blickt herab vom Himmel,
aber verachtend, nicht trauernd, denn euer gros¬
ſes Vaterland iſt euch nachgeſtorben! Ach,
hätt' ich auf der nichtigen Erde voll alter
Ewigkeit, die ihr groß gemacht, nur eine That
eurer werth gethan! Dann wär' es mir ſüß
und erlaubt, mein Herz zu öffnen durch eine
Wunde und zu vermiſchen das irdiſche Blut
mit dem geheiligten Boden und aus der Grä¬
ber-Welt wegzueilen zu euch Ewigen und Un¬
vergänglichen! Aber ich bin es nicht werth!“ —


Hier kam plötzlich auf der via sacra ein lan¬
ger, tief in den Mantel gewickelter Mann da¬
her an die Fontaine, warf, ohne umzublicken,
den Hut hin und hielt den pechſchwarzen, lo¬
ckigen, faſt ſteilrechten Hinterkopf unter den Was¬
ſerſtrahl. Aber kaum erblickte er, ſich aufwärts
kehrend, das Profil des in ſeine Bilder verſunk¬
nen Albano: ſo fuhr er tropfend auf — ſtarrte
den Grafen an — ſtaunte — warf die Arme
[31] hoch in die Luft — ſagte: amico? — Albano
ſah ihn an. — Der Fremde ſagte: Albano! —
„Mein Dian!“ rief Albano; ſie nahmen ſich
heftig und weinten vor Liebe.


Dian begriff es gar nicht; er ſagte italie¬
niſch: Ihr ſeyd es aber ja nicht, Ihr ſehet alt
aus. — Er glaubte ſo lange deutſch zu ſprechen,
bis er hörte, daß Albano italieniſch antwortete.
Beide thaten und bekamen nur Fragen. Al¬
bano fand den Baumeiſter blos bräuner, aber
den Blitz der Augen und jede Kraft im alten
Glanz. Mit drei Worten erzählt' er ihm die
Reiſe und die Begleitung. „Wie bekommt
Euch Rom?“ fragte Dian heiter. „Wie das
Leben, (verſetzte ſehr ernſthaft Albano,) es
macht zu weich und zu hart.“ — „Ich erkenne
hier gar nichts wieder (fuhr er fort); gehören
jene Säulen dem herrlichen Friedenstempel?“
„Nein, (ſagte Dian,) dem Konkordientempel;
von jenem ſteht dort nichts als das Gewölbe.“
„Wo iſt Saturnus Tempel?“ fragte Albano.
„In der St. Adrians-Kirche begraben;
(ſagte Dian, und ſetzte eilend hinzu) „neben¬
an ſtehen die zehn Säulen von Antonins Tem¬
[32] pel — drüben Titus Thermen — hinter uns
der palatiniſche Berg und ſo weiter. Nun er¬
zählt mir!“


Sie giengen das Forum auf und ab, zwi¬
ſchen den Bogen des Titus und Severus. Al¬
bano war — zumal neben dem Lehrer, der ihn
in der Kinderzeit ſo oft hieher geführt — noch voll
vom Strome, der über die Welt gezogen war
und das alles bedeckende Waſſer ſank nur lang¬
ſam. Er fuhr fort und ſagte: „Heute als er
den Obeliskus erblickt, ſey ihm der leiſe, zarte
Schein des Mondes ordentlich unpaſſend für
die Rieſenſtadt verſchienen; eine Sonne hätt' er
lieber auf ihrer weiten Fahne blitzen ſehen;
aber jetzt ſey der Mond die rechte Leichenfackel
neben dem Alexander, der zuſammenfällt nur
angerührt.“ — „Mit dergleichen Gefühlen
kommt der Künſtler nicht weit, (ſagte Dian,)
auf ewige Schönheiten ſchau' er, rechts und
links.“ — „Wo iſt (fragte Albano fort,) der
alte Curtius-See — die Rednerbühne — die
pila horatia — der Tempel der Veſta — der
Venus, und aller jener einſamen Säulen?“ —
„Und wo iſt das marmorne Forum ſelber?
(ſagte[33] (ſagte Dian,) dreißig Spannen tief liegt's un¬
ter dem Fuß.“ — „Wo iſt das große freie
Volk, der Senat aus Königen, die Stimme
der Redner, der Zug auf das Kapitolium?
Begraben unter den Scherbenberg. O Dian, wie
kann ein Menſch, der in Rom einen Vater,
eine Geliebte verliert, eine einzige Thräne ver¬
gieſſen und beſtürzt um ſich ſehen, wenn er
hierhertritt, vor dieſes Schlachtfeld der Zeit,
und hineinſchauet ins Gebeinhaus der Völ¬
ker? — Dian, hier wünſchte man ein eiſer¬
nes Herz, denn das Schickſal hat eine eiſerne
Hand!“ —


Dian, der ſich nirgends ungerner als auf
ſolchen tragiſchen, gleichſam ins Meer der Ewig¬
keit hineinhängenden Klippen aufhielt, ſprang
immer mit einem Scherze davon; wie die Grie¬
chen miſchte er Tänze ins Trauerſpiel: „man¬
ches konſervirt ſich, Freund! (ſagt' er,) dort
in der Adrians-Kirche werden Euch noch von
drei Männern die Knochen gewieſen, die im
Feuer geweſen.“ — „Das iſt eben (verſetzte
Albano,) das fürchterliche Spiel des Schick¬
ſals, daß es mit den zu Sklaven geſchor¬
Titan IV. C[34] nen Mönchen die Höhen der alten Großen be¬
ſetzt.“ —


„Neue Räder treibt der Strom der Zeit,
(ſagte Dian,) dort liegt Raphael zweimal be¬
graben*). Was macht Chariton und die Kin¬
der?“ — „Sie blühen fort,“ ſagte Albano,
aber in traurigem Ton. „Himmel! (rief
Dian mit allem Vater-Schrecken,) es iſt doch
ſo?“ — Dian!“ ſagte Albano
ſanft. „Kommt noch (ſagte Dian,) Liane oft
zu Chariton? Und was macht denn die Hol¬
de?“ — Leiſe verſetzte Albano: „ſie iſt todt.“
— „Was, todt? — Unmöglich! Froulay's Toch¬
ter, Albano? Die Gold-Roſe? O ſprecht!“
— rief er. Albano nickte bejahend. — „Nun
du gutes Mädchen, (klagt' er mit Thränen in
den ſchwarzen Augen,) ſo freundlich, ſo liebreizend,
ſo feine Zeichnerinn! Wie ging's aber zu? Habt
Ihr denn das holde Kind gar nicht gekannt?“
„Einen Frühling lang (ſagte ſchnell Albano).
Mein guter Dian, ich will jetzt zum Vater zu¬
[35] rück und antworte nicht mehr.“ — „O mei¬
netwegen! — Ich muß aber mehr erfahren,“
beſchloß Dian. Und ſo ſtiegen ſie ſchweigend
und eilend über Schutt und Säulentorſos und
keiner gab auf die große Rührung des andern
Acht.


C 2[36]

Sieben und zwanzigſte Jobelperiode.

Peterskirche — Rotunda — Coliſeo — Brief an
Schoppe — der Krieg — Gaſpard — der Korſe
— Verwicklung mit der Fürſtinn — die Krank¬
heit — Gaſpard's Bruder — Peterskuppel und
Abſchied.


104. Zykel.

Rom iſt wie die Schöpfung ein ganzes Wun¬
der, das ſich allmählig in neue Wunder zer¬
gliedert, in das Coliſeo, in das Pantheon, die
Peterskirche, in Raphael u. ſ. w.


Mit dem Durchgang durch die Peterskirche
fieng der Ritter den ſchönen Lauf durch die Un¬
ſterblichkeit an. Die Fürſtinn ließ ſich von der
Kunſt mit dem Männer-Kreiſe verbinden. Da
[37] Albano mehr von Gebäuden, als von jedem
andern Kunſtwerk ergriffen wurde: ſo ſah er
mit heiligem Herzen von weiten das lange
Kunſt-Gebürg, das wieder Hügel trug — ſo
trat er vor die Ebene, um welche zwei unge¬
heuere Kolonnaden wie Korſo's laufen, ein Volk
von Statuen tragend; in der Mitte ſteigt der
Obeliskus und zu ſeiner Rechten und Linken
ein ewiges Waſſer auf und von den hohen
Stufen ſchauet die ſtolze Kirche der Welt, in¬
nen mit Kirchen beſetzt, auf ſich einen Tempel
gen Himmel reichend, auf die Erde herunter.
— Aber wie waren in der Nähe ihre Säulen
und ihre Felſenwand ungeheuer aufgeſtiegen
und flohen den Blick!


Er trat in die Zauberkirche, die der Welt
Seegen, Fluch, Könige und Päbſte gab, —
mit dem Bewußtſeyn, daß ſie wie das Weltge¬
bäude ſich immer mehr erweitere und entferne,
je länger man in ihr iſt. Auf zwei Kinder
von weiſſem Marmor, die eine Weih-Muſchel
von gelbem hielten, giengen ſie hin, die Kin¬
der wuchſen durch das Nahen, bis ſie Rieſen
waren. Endlich ſtanden ſie am Hauptaltar und
[38] deſſen hundert ewigen Lampen — welch eine
Stille! — Über ſich das Himmelsgewölbe der
Kuppel, auf vier innern Thürmen ruhend, um
ſich eine überwölbte Stadt, von vier Straßen,
worin Kirchen ſtanden. — Am größeſten wurde
der Tempel durch Gehen; und wenn ſie um
eine Säule traten, ſo lag ein neuer vor ihnen
und heilige Rieſen ſchaueten ernſt herab. — Hier
wurde dem Jüngling nach langer Zeit das
große Herz gefüllt: „in keiner Kunſt (ſagt'
er zu ſeinem Vater,) wird die Seele ſo gewal¬
tig vom Erhabnen angefaſſet, als in der Bau¬
kunſt; in jeder andern ſteht der Rieſe in ihr
und in den Tiefen der Seele, aber hier ſteht
er außer und dicht vor ihr.“ — Dian, dem alle
Bilder deutlicher waren, als abſtrakte Ideen,
ſagte: „er hat vollkommen Recht.“ — Fraiſch¬
dörfer verſetzte: „das Erhabene ſtecke auch hier
nur im Kopfe, denn die ganze Kirche ſtehe doch
in etwas größerem, nehmlich in Rom und un¬
ter dem Himmel, wobei wir ja nichts empfän¬
den.“ Auch klagt' er, „daß dem Erhabnen der
Platz in ſeinem Kopfe ſehr verengt werde durch
die unzähligen Schnörkel und Monumente, die
[39] der Tempel zugleich mit ſich in ihn hineintreibe.“
Gaſpard ſagte, alles mit einem großen Sinne neh¬
mend: „ſteht nur einmal das Erhabne wirklich
da, ſo verſchlingt und vertilgt es eben ſeiner
Natur nach alle kleinen Zierden um ſich her.“
Er führte zum Beweiſe den Münſterthurm und
die Natur ſelber an, die durch ihre Gräſer und
Dörfer nicht kleiner werde.


Die Fürſtinn genoß unter ſo vielen Kunſt¬
verſtändigen ſchweigend.


Das Erſteigen der Kuppel rieth Gaſpard ei¬
nem regen- und wolkenloſen Tage aufzuheben,
um die Welt-Königinn Roma auf und von
dem rechten Throne zu ſchauen; er ſchlug da¬
für ſehr eifrig den Beſuch des Pantheons vor,
weil er es gern ſchnell hinter den Eindrücken
der Peterskirche wollte folgen laſſen. Sie gien¬
gen dahin. Wie einfach und groß thut ſich
die Halle auf! Acht gelbe Säulen tragen ihre
Stirn, und majeſtätiſch wie das Haupt des
Homeriſchen Jupiters, wölbt ſich ſein Tempel!
Es iſt die Rotonda oder das Pantheon. —
„O der Niedrigen, (rief Albano,) die uns
neue Tempel geben wollen! Hebt die alten
[40] aus dem Schutte höher, ſo habt ihr genug ge¬
bauet*).“ — Sie traten hinein; da wölbte
ſich ein heiliges, einfaches, freies Weltgebäude
mit ſeinen hinaufſtrebenden Himmelsbogen um
ſie, ein Odeum der Sphärentöne, eine Welt in
der Welt! — Und oben **) leuchtete die Au¬
genhöhle des Lichts und des Himmels herab
und das ferne Flug-Gewölk ſchien die hohe
Wölbung zu berühren, über die es wegſchoß!
— Und um ſie her ſtanden nichts als die Tem¬
pel-Träger, die Säulen! — Der Tempel al¬
ler
Götter vertrug und verbarg die kleinlichen
Altäre der ſpätern.


Gaſpard befragte Albano über ſein Gefühl.
Dieſer zog die größere Peterskirche vor. Der
Ritter billigte es und ſagte: „daß überall der
Jüngling gleich den Völkern das Erhabene
beſſer empfinde und leichter finde als das
Schöne, und daß der Geiſt des Jünglings
[41] vom Starken zum Schönen reife, wie der Kör¬
per deſſelben vom Schönen zum Starken; in¬
deß zieh' er ſelber das Pantheon vor.“ „Wie
könnten auch Neuere (ſagte der Kunſtrath
Fraiſchdörfer,) etwas bauen, außer einige Ber¬
niniſche Thürmlein?“ — „Dafür (ſagte der
verletzte Land-Baumeiſter Dian, der den Kunſt¬
rath verachtete, weil dieſer niemals eine gute
Figur machte, als in der äſthetiſchen Richter¬
ſtube als Richter, nie in dem Ausſtellungsſaal
als Mahler,) ſind wir Neuern ohne Widerrede
in der Kritik ſtärker, wenn wir auch in der
Praxis ſammt und ſonders Lumpe ſind.“
Bouverot merkte an: „die korinthiſchen Säu¬
len könnten höher ſeyn.“ Der Kunſtrath ſagte:
„er wiſſe doch nichts dieſer ſchönen Halbkugel
ähnlicheres, als eine viel kleinere, die er im
Herkulanum in Aſche ausgedrückt gefunden —
vom Buſen einer ſchönen Flüchtlingin.“ Der
Ritter lachte und Albano trat unwillig zur
Fürſtinn.


Sie fragte er um ihre Stimme über bei¬
de Tempel. „Hier Sophokles, dort Shakes¬
pear; aber den Sophokles faſſ' ich leichter;“
[42] verſetzte ſie und blickt' ihm mit neuen Augen
in das neue Angeſicht. Denn die überirdiſche
Erleuchtung durch das Zenith des Himmels, —
nicht durch einen dunſtigen Horizont — ver¬
klärte ihr das ſchöne bewegte Geſicht des Jüng¬
lings; und ſie ſetzte voraus, der Heiligenſchein
der Kuppel hebe auch ihre Geſtalt. Da er ihr
antwortete: „ſehr gut! Aber in Shakeſpear
ſteckt auch Sophokles, aber in Sophokles nicht
Shakeſpear — und auf der Peterskirche ſteht
Angelo's Rotonda!“ ſo gieng plötzlich das hohe
Gewölk, wie durch den Schlag einer Hand aus
dem Äther, entzwei und die entrückte Sonne
ſchauete, wie das Auge der durch den alten
Himmel ziehenden Venus, die ſonſt auch hier
ſtand, aus hoher Tiefe mild herein — da füllte
ein heiliger Glanz den Tempel und brannte
auf dem Porphyr des Bodens und Albano ſah
betroffen und entzückt umher und ſagte mit lei¬
ſer Stimme: „wie iſt jetzt alles ſo verklärt an
dieſer heiligen Stelle! Raphael's Geiſt geht in
der Mittagsſtunde aus ſeinem Grabe und al¬
les, was ſein Wiederſchein berührt, erglänzt
göttlich!“ Die Fürſtinn ſah ihn zärtlich an
[43] und er legte leicht ſeine Hand auf ihre und
ſagte wie überwältigt: „Sophokles!“ —


Am nächſten mondhellen Abende darauf be¬
ſtellte Gaſpard Fackeln, damit das Coliſeo mit
ſeinem Rieſen-Kreis zuerſt im Feuer vor ihnen
ſtände. Dem Ritter, der nur allein mit dem
Sohne düſter im düſtern Werke, wie zwei Gei¬
ſter der alten Zeit, umhergehen wollte, drang
ſich noch die Fürſtinn auf, aus zu lebhaftem
Wunſch, mit dem edlen Jüngling große Mi¬
nuten und wohl gar ihr Herz und ſeines zu
theilen. Die Weiber begreifen nicht genug, daß
die Idee, wenn ſie den männlichen Geiſt er¬
füllt und erhebt, ihn dann vor der Liebe ver¬
ſchließe und die Perſonen verdränge, indeß bei
Weibern alle Ideen leicht zu Menſchen wer¬
den. —


Sie giengen über das Forum auf der via
sacra
zum Coliſeo, deſſen hohe zerſpaltene Stirn
unter dem Mondlicht bleich herniederſchauete.
Sie ſtanden vor den grauen Felſenwänden, die
ſich auf vier Säulenreihen übereinander hinauf¬
baueten und die Flammen ſchoſſen hinauf in
die Bogen der Arkaden, hoch oben das grüne
[44] Geſträuch vergüldend; und tief in die Erde
hatte ſich das ſchöne Ungeheuer ſchon mit ſei¬
nen Füßen eingegraben. Sie traten hinein,
und ſtiegen am Gebürge voll Felſenſtücke von
einem Sitze der Zuſchauer zum andern; Ga¬
ſpard wagte ſich nicht zum ſechsten oder höch¬
ſten, wo ſonſt die Männer ſtanden, aber Al¬
bano und die Fürſtinn. Da ſchauete dieſer über
die Klippen auf den runden grünenden Krater
des ausgebrannten Vulkans herunter, der einſt
auf einmal neuntauſend Thiere verſchlang und
der ſich mit Menſchenblut löſchte — der Flam¬
menſchein fuhr in das Geklüft und ins Geniſte
des Epheus und Lorbeers und unter die gros¬
ſen Schatten des Mondes, die wie Abge¬
ſchiedne ſich in den Höhlen aufhielten, — in
Süden, wo die Ströme der Jahrhunderte und
der Barbaren hereingedrungen waren, ſtanden
einzelne Säulen und geſchleifte Arkaden —
Tempel und drei Palläſte hatte der Rieſe mit
ſeinen Gliedern genährt und gefüttert und noch
ſchauete er lebendig mit ſeinen Wunden in die
Welt. —


„Welch' ein Volk! (ſagte Albano) Hier
[45] ringelte ſich die Rieſenſchlange fünfmal um das
Chriſtenthum — Wie ein Hohn liegt drunten
das Mondlicht auf der grünen Arena, wo ſonſt
der Koloſſus des Sonnengottes ſtand — Der Stern
des Nordens *) ſchimmert geſenkt durch die Fenſter
und der Drache und die Bären bücken ſich. Welch'
eine Welt iſt vorüber!“ — Die Fürſtinn ant¬
wortete: „daß zwölftauſend Gefangne dieſes
Theater baueten und daß noch weit mehrere
darauf bluteten.“ „O die Bau-Gefangnen ha¬
ben wir auch, (ſagt' er,) aber für Feſtungen;
und das Blut flieſſet auch noch, aber mit dem
Schweiß! Nein, wir haben keine Gegenwart,
die Vergangenheit muß ohne ſie die Zukunft
gebähren.“


Die Fürſtinn gieng weg, um einen Lorbeer¬
zweig und blühenden Güldenlack zu brechen.
Albano verſank ins Sinnen — der Herbſtwind
der Vergangenheit gieng über die Stoppeln —
auf dieſer heiligen Höhe ſah er die Sternbil¬
der, Roms grüne Berge, die ſchimmernde Stadt,
[46] die Ceſtius-Pyramide, aber alles wurde zur
Vergangenheit und auf den zwölf Hügeln
wohnten, wie auf Gräbern, die alten hohen
Geiſter und ſahen ſtreng in die Zeit, als wä¬
ren ſie noch ihre Könige und Richter.


„Zum Andenken der Stelle und der Zeit!“
ſagte die kommende Fürſtinn, ihm den Lorbeer
und die Blume gebend. — „Du Gewaltige,
ein Koliſeo iſt dein Blumentopf, dir iſt ja nichts
zu groß und nichts zu klein!“ ſagte er und
brachte die Fürſtinn in einige Verwirrung, bis
ſie merkte, daß er die Natur meine. Sein gan¬
zes Weſen ſchien neu und ſchmerzlich bewegt
und wie fern entrückt — er ſah nach dem Va¬
ter hinab und ſuchte ihn auf — er blickte ihn
ſcharf an und drückte heftig ſeine Hand und
ſprach dieſen Abend über nichts mehr.

105. Zykel.

Albano wurde wie eine Welt von Rom
wunderbar verändert. Nachdem er ſo mehrere
Wochen zwiſchen Roma's Ruinen und Schö¬
pfungen gelagert war — nachdem er aus Ra¬
[47] phaels kryſtallenem Zauberbecher getrunken,
deſſen erſte Züge nur kühlen, wenn die letzten
ein welſches Feuer durch alle Adern führen —
nachdem er den Bergſtrom Michel Angelo's
bald als Katarakte, bald als Ätherſpiegel ge¬
ſehen — nachdem er ſich vor den letzten größten
Nachkommen Griechenlands gebeugt und ge¬
heiligt hatte, vor deſſen Göttern, die mit ruhigem
heitern Antlitz in die unharmoniſche Welt her¬
einblicken und vor dem vatikaniſchen Sonnen¬
gott, welcher zürnt über die Proſa der Zeit,
über dieſe niedrige Pythoniſche Schlange, die
ſich immer wieder verjüngt — nachdem er lange
ſo vor dem Vollmond der Vergangenheit im
Glanze geſtanden: ſo überzog ſich auf einmal
ſeine ganze innere Welt und wurde ein einzi¬
ges Gewölk. Er ſuchte Einſamkeit — er hörte
auf zu zeichnen und Muſik zu treiben — er
ſprach wenig mehr von Roms Herrlichkeit —
Nachts, wo der tägliche Regen aufhörte, be¬
ſucht' er allein die großen Trümmer der Erde,
das Forum, das Coliſeo, das Kapitolium —
er wurde heftiger, ungeſelliger, ſchärfer — ein
tief eingeſenkter Ernſt waltete auf der hohen
[48] Stirn und durch das Auge brannte ein düſte¬
rer Geiſt.


Gaſpard ſchickte unbemerkt ſeinen Blick al¬
len geheimen Entfaltungen des Jünglings nach.
Ein bloßer Nachſchmerz über Liane ſchien ſein
Zuſtand nicht zu ſeyn. Im nordiſchen Winter
wäre dieſe Wunde nur zugefroren und nicht
zugeheilt; aber hier, im Tempel der Welt, wo
Götter begraben liegen, ſtärkte ſich ein edles
Herz und ſchlug für ältere Gräber. Die Für¬
ſtinn, die unter dem Deckmantel des Vaters
dem Sohne nachjagte, ſuchte er weniger als
den alten kalten Lauria und den feurigen
Dian.


In derſelben Zeit ſehnt' er ſich ſchmerzlich
nach ſeinem Schoppe; an dieſer Bruſt, dacht'
er, hätte das Geheimniß der ſeinigen den rech¬
ten Ort und Troſt gefunden. Es war ihm als
hab' er ſeit dieſer Abweſenheit in Einem fort
mit ihm zuſammengelebt und ſich feſter verbrü¬
dert. So wohnen und ſchmelzen die Geiſter im
unſichtbaren Lande zuſammen; und wenn ſich
die Leiber im ſichtbaren wieder begegnen, fin¬
den die Herzen ſich bekannter wieder. Leider
hört'[49] hört' er, ſo viel auch ſein Vater Briefe aus
Peſtiz bekam, keinen Laut von dem Freunde
über die Berge herüber, den er in den dunkeln
Verhältniſſen einer wunderbaren verwirrenden
Leidenſchaft zurückgelaſſen. Er rechnete Schop¬
pen, deſſen Haß und Zank gegen alles Brief¬
ſchreiben er kannte, das Schweigen nicht an;
aber ſein eignes Herz konnt' es nicht verlän¬
gern und er ſchrieb ſo an ihn:


„Wir wurden ſchlafend von einander geris¬
ſen, Schoppe! Jene Zeit hat ſich bedeckt und
bleibt es. Sehr wach wollen wir uns wieder
erblicken. Von Dir weiß ich nichts; wenn mir
Rabette nicht ſchreibt, muß ich die brennende
Ungeduld bis zu unſerer Zuſammenkunft im
Sommer umhertragen und leiden. Was iſt
von mir zu ſchreiben? Ich bin verändert bis
ins Innerſte hinab und von einer hineingrei¬
fenden Rieſenhand. Wenn die Sonne über den
Scheitelpunkt der Länder zieht, ſo hüllen ſie
ſich alle in ein tiefes Gewölk'; ſo bin ich jetzt
unter der höchſten Sonne und bin eingehüllt.
Wie im Rom, im wirklichen Rom, ein Menſch
Titan IV. D[50] nur genießen und vor dem Feuer der Kunſt
weich zerſchmelzen könne, anſtatt ſich ſcham¬
roth aufzumachen und nach Kräften und Tha¬
ten zu ringen, das begreif' ich nicht. Im ge¬
malten, gedichteten Rom, darin mag die Muße
ſchwelgen; aber im wahren, wo Dich die Obe¬
lisken, das Coliſeo, das Kapitolium, die Tri¬
umphbogen unaufhörlich anſehen und tadeln,
wo die Geſchichte der alten Thaten den gan¬
zen Tag wie ein unſichtbarer Sturmwind durch
die Stadt fortrauſchet und Dich drängt und hebt,
o wer kann ſich unwürdig und zuſehend hinle¬
gen vor die herrliche Bewegung der Welt? —
Die Geiſter der Heiligen, der Helden, der Künſt¬
ler gehen dem lebendigen Menſchen nach und
fragen zornig: was biſt Du? — Ganz anders
gehſt Du aus dem Vatikan des Raphaels und
über das Kapitolium herunter, als Du aus ir¬
gend einer Deutſchen Bildergallerie und einem
Antikenkabinet heraustrittſt. Dort ſiehſt Du
auf allen Hügeln alte ewige Herrlichkeit, jede
Römerinn iſt mit Geſtalt und Stolz noch ihrer
Stadt verwandt, der Transteveriner iſt der
Sparter und Du findeſt ſo wenig einen Rö¬
[51] mer als einen Juden ſtumpf; indeß Du in
Peſtiz faſt unduldſam werden mußt ſchon ge¬
gen den Kontraſt der bloßen Geſtalt. Sogar
der ruhige Dian behauptet, die häßlichen Mas¬
ken der Alten ſähen wie die deutſchen Gaſſen-
Geſichter und ihre Faunen und andere Thier¬
götter wie edlere Hof-Geſichter aus; ihre Ko¬
pirbilder Alexanders, der Philoſophen, der
römiſchen Tyrannen wären, ſo ſcharf und pro¬
ſaiſch ſie ſich auch von ihren poetiſchen Statüen
der Götter abſchnitten, den jetzigen Idealen der
Mahler gleich.


Thut es da genug, mit Augen voll Bewun¬
derung und gefalteten Händen um die Rieſen
zu ſchleichen und dann welk und klein zu ihren
Füßen zu verſchmachten? Freund, wie oft pries
ich in den Tagen des Unmuths die Künſtler
und Dichter glücklich, die ihre Sehnſucht doch
ſtillen dürfen durch frohe leichte Schöpfun¬
gen, und welche durch ſchöne Spiele die gros¬
ſen Todten feiern, Archimimen der Helden¬
zeit. — Und doch ſind dieſe ſchwelgeriſchen
Spiele nur das Glockenſpiel am Blitzableiter;
es giebt etwas Höheres, Thun iſt Leben, darin
D 2[52] regt ſich der ganze Menſch und blüht mit allen
Zweigen. — Es iſt nicht von den bangen engen
Kleinthaten auf der Ruder- und auf der Ruhebank
der Zeit die Rede. Noch ſtehet an der Krönungs¬
ſtadt des Geiſtes ein Thor offen, das Opferthor,
das Janusthor. Wo iſt denn weiter auf der Erde
die Stelle, als auf dem Schlachtfeld, wo alle
Kräfte, alle Opfer und Tugenden eines gan¬
zen Lebens, in Eine Stunde gedrängt, in gött¬
licher Freiheit zuſammenſpielen mit tauſend
Schweſter-Kräften und Opfern? Wo ſind
denn allen Kräften, von dem ſchnellſten Scharf¬
blick an bis zu allen körperlichen Fertigkeiten
und Abhärtungen, von der höchſten Großmuth
und Ehre an bis auf die weichſte Thräne
herab, von jeder Verachtung des Körpers an
bis zur tödtlichen Wunde hinauf ſo alle Schran¬
ken aufgethan für einen wetteifernden Bund?
Wiewohl eben darum der Spielraum aller Göt¬
ter auch dem Larventanz aller Furien frei ſteht.
Nimm nur den Krieg höher, wo die Geiſter,
ohne Verhältniß des Gewinnſtes zum Verluſt,
nur aus Kraft der Ehre und des Zwecks, ſich
dem Schickſal verdingen, daß es unter ihren
[53] Körpern die Leichen ausleſe und das Loos des
Sieges aus den Gräbern ziehe. — Zwei Völ¬
ker gehen auf die Schlacht-Ebene, die tragi¬
ſche Bühne
eines höhern Geiſtes, um ohne
perſönlichen Haß die Todesrollen gegen einan¬
der zu ſpielen — ſtill und ſchwarz liegt die Ge¬
witterwolke auf dem Schlachtfeld — die Völ¬
ker ziehen hinein in die Wolke und alle ihre
Donner ſchlagen und düſter und allein brennt
die Todesfackel über ihr — es wird endlich
Licht und zwei Ehrenpforten ſtehen aufgebauet,
die Todespforte und das Siegesthor, und das
Heer hat ſich getheilt und iſt durch beide gezo¬
gen, aber durch beide mit Kränzen. — Und
wenn es vorüber iſt, ſtehen die Todten und die
Lebendigen erhaben in der Welt, weil ſie das
Leben nicht geachtet hatten. — Wenn aber der
große Tag noch größer werden, wenn dem
Geiſte das Köſtlichſte kommen ſoll, was das
Leben heiligen kann: ſo ſtellt Gott einen
Epaminondas, einen Kato, einen Guſtav
Adolph vor das geheiligte Heer — und die
Freiheit iſt zugleich die Fahne und die Palme
— o ſeelig wer dann lebt oder ſtirbt für den
[54] Kriegs-Gott und für Friedens-Göttinn
zugleich. — —


Laſſe mich das nicht durch Sprechen entwei¬
hen. Nimm aber hier mein leiſes feſtes Wort
und leg' es in Deine Bruſt zurück, daß ich mir,
ſobald Galliens wahrſcheinlicher Freiheitskrieg
anhebt, meine Rolle durchaus nehme in ihm,
für ihn. Abhalten kann mich nichts, auch nicht
mein Vater. Dieſer Entſchluß gehört zu mei¬
ner Ruhe und Exiſtenz. Aus Ehrgeiz ergreif'
ich ihn nicht; obwohl aus Ehrliebe gegen mich
ſelber. Schon in meinen frühern Jahren konnt'
ich nie das platte Lob einer ewigen häuslichen
Glückſeeligkeit genießen, was gewiß eher Wei¬
bern als Männern geziemt. Freilich Deine
Stärke oder Gemüthsweiſe, alles Große ruhig
aufzunehmen und die Welt ſtill in einen innern
Traum zu zerſchmelzen, hat wohl niemand.
Du ſchaueſt die Abendwolken an und hernach
die Milchſtraße und ſagſt kalt: Gewölk! Kommſt
Du aber doch nicht zu tief in dieſes Gefühl, in
dieſe kalte Gruft hinunter? Zwar will das
Gift dieſes Gefühls einen überall und gerade
in Rom, dieſem Kirchhof ſo ferner Völker, ſo
[55] entgegengeſetzter Jahrhunderte, ſüßer als ir¬
gendwo verzehren; aber wüßteſt Du vom Ver¬
gänglichen ohne den Nebenſtand des Unver¬
gänglichen und wo wohnt der Tod als im Le¬
ben? Laſſe verſtieben und verſiegen! es giebt
doch drei Unſterblichkeiten, — wiewohl Du die
erſte, die überirdiſche, nicht glaubſt — die un¬
terirdiſche (denn das All kann verſtäuben, aber
nicht ſein Staub;) — und die ewigwirkende
darin; die, daß jede That viel gewiſſer eine
ewige Mutter wird als eine ewige Tochter iſt.
Und dieſer Bund mit dem Univerſum und mit
der Ewigkeit macht der Ephemere Muth, in
ihrer Flug-Minute das Blüthenſtäubchen wei¬
ter zu tragen und auszuſäen, das im nächſten
Jahrtauſend vielleicht als Palmenwald daſteht.


Ob ich mich meinem Vater entdecke, iſt mir
noch zweifelhaft, weil ich es noch darüber bin,
ob ich ſeine bisherigen Äuſſerungen gegen die
Neufranken für ſcharfen Ernſt zu nehmen habe
oder nur für die ſcherzhafte Kälte, womit er
ſonſt gerade ſeine Gottheiten — Homer, Ra¬
phael, Cäſar, Shakeſpear — aus Ekel gegen
den nachſprecheriſchen Götzendienſt, den der Pö¬
[56] bel der wahren Hoheit wie der falſchen erwei¬
ſet, im Munde führet. — Grüße meinen bra¬
ven mannhaften Wehrfritz und erinner' ihn an
unſer Bundesfeſt am Zeitungstage der nieder¬
geriſſenen Baſtille. Lebe wohl und bleibe bei
mir!


Albano.“


An dem Abende dieſes Briefes gieng er mit
ſeinem Vater in eine Conversatione im Pa¬
lazzo Colonna
; — hier fanden ſie die ſchwarz¬
marmorne Gallerie voll Antiken und Gemälde
aus einem Kunſt- und Geſellſchaftszimmer in
einen Fechtboden verkehrt, alle Arme und Zun¬
gen der Römer waren in Bewegung und Kampf
über die neueſten Entwicklungen der galliſchen
Revoluzion, und die meiſten für ſie. Es war
damals, wo faſt ganz Europa einige Tage
lang vergaß, was es aus der politiſchen und
poetiſchen Geſchichte Frankreichs Jahrhunderte
lang gelernt hatte, daß daſſelbe leichter eine
vergrößerte als eine große Nazion werden
könnte. Der Ritter allein gab ſich lieber den
Kunſtwerken als dem leeren Gefechte ſeiner
Nachbarſchaft hin; endlich aber hört' er von
[57] weitem, wie Albano, gleich allen damaligen
Jünglingen, der Himmels-Königinn, der
Freiheit, jauchzend nachzog, unter den ewi¬
gen Freien und ewigen Sklaven mitgehend
nach der damaligen Gleichheit: da trat er nä¬
her und merkte nach ſeiner Weiſe an: „die Re¬
voluzion ſey etwas ſehr Großes; er finde indeß
an großen Werken, z. B. an einem Coliſeo,
Obeliskus, an dem Flor einer Wiſſenſchaft, an
dem Kriege, an der Höhe der Aſtronomie, der
Phyſik weniger als andere zu bewundern, denn
bloß die Menge in der Zeit oder im Raume
ſchaff' es, eine beträchtliche Vielheit kleiner
Kräfte. Aber nur große achte man *). In
[58] der Revoluzion ſeh' er mehr jene als dieſe —
Freiheit werde an Einem Tage ſo wenig ge¬
wonnen als verloren; wie ſchwache Individuen
im Rauſche gerade ihr Gegentheil wären, ſo
geb' es auch wol einen Rauſch der Menge
durch die Menge.“ —


Bouverot verſetzte darauf: „das iſt ganz
meine Meinung auch.“ Albano antwortete
recht ſichtbar nur ſeinem Vater — weil er den
deutſchen Herrn tief verachtete und ihn ganz
unwürdig des Genuſſes hoher Kunſtwerke hielt,
wofür er vornehmen Geſchmack mitgebracht,
obwohl keinen Sinn — und ſagte: „lieber Vater,
die 12000 Juden entwarfen nicht das Coliſeo,
das ſie baueten, aber die Idee war doch ir¬
gendeinmal ganz in Einem Menſchen, im Veſpa¬
ſian; und ſo muß überall den konzentriſchen
*)[59] Richtungen kleiner Kräfte irgend eine große
vorſtehen und wär' es Gott ſelber.“ — „Da¬
hin, (ſagte Gaſpard,) wo alles Göttliche ver¬
legt wird, magſt Du es denn auch verſetzen.“
— Bouverot lächelte. — „Der galliſche Rauſch
(verſetzte Albano heftig,) iſt doch wahrlich kein
zufälliger, ſondern ein Enthuſiasmus in der
Menſchheit und Zeit zugleich gegründet, wo¬
her denn ſonſt der allgemeine Antheil? — Sie
können vielleicht ſinken, aber um höher zu flie¬
gen. Durch ein rothes Meer des Bluts und
Kriegs watet die Menſchheit dem gelobten
Lande entgegen und ihre Wüſte iſt lang; mit
zerſchnittenen nur blutig-klebenden Händen
klimmt ſie wie die Gemſenjäger empor.“ —
„Die Gemſenjäger ſelber (ſagte der Ritter,)
thun das mehr, wenn ſie von der Alpe her¬
ab
wollen; indeß ſind ſolche Hoffnungen rei¬
zend und wir wollen gern ihre Erfüllung wün¬
ſchen.“ — „Signor Conte (ſetzte Bouverot da¬
zu,) nannte ſehr gut den Aufſtand einen Rauſch.
Man ſchläft ihn aus; aber am Morgen iſt
manches zerbrochen und zu bezahlen.“ —
„Rauſch? (ſagte Albano.) Welches Beſte iſt
[60] nicht im Enthuſiasmus geſchehen, und welches
Schlechteſte nicht in der Kälte? — Welches,
Herr von Bouverot? Ja es giebt einen grä߬
lichen, grimmigen Seelen-Froſt, ſo wie einen
ähnlichen phyſiſchen, der wie die größte Hitze
ſchwarz und blind und wund macht*); ſo et¬
was wie die franzöſiſche Tragödie, kalt und
doch grauſam.“ —


„Du näherſt Dich dem Tragiſchen, Sohn.
(unterbrach ihn Gaſpard und ſchützte den deut¬
ſchen Herrn.) Wir dürfen von den Franzoſen
recht viel politiſche Sagazität erwarten, zumal
in der Noth; das iſt ihre Stärke. Darin kom¬
men ſie den Weibern bei. Auch ſind ſie wie
die Weiber entweder ungemein zart, ſittlich und
human, wenn ſie gut ſind, oder wie dieſe eben
ſo grauſam und roh, wenn ſie außer ſich kom¬
men. — Es läſſet ſich weiſſagen, daß ſie in
einem Freiheitskriege, wenn er ausbräche, an
Tapferkeit es allen Partheien zuvorthun wer¬
den. Das wird ſehr blenden, da doch nichts
[61] ſeltener iſt als ein feiges Volk. Man lernt die
Kriegstapferkeit gemäßigt ſchätzen, wenn man
ſieht, daß die römiſchen Legionen gerade als
ſie feil, ſchlecht, ſklaviſch und zur Hälfte Frei¬
gelaſſene waren, nehmlich unter dem Triumvi¬
rat, muthiger ſtritten als vorher. Für den un¬
bedeutenden Mordbrenner Katilina ſtritten und
ſtarben die Bürger bis auf den letzten Mann
und nur Sklaven wurden gefangen.“ —


Dieſe Rede drückte ein heißes Siegel auf
Albano's Mund; es ſchien ordentlich als er¬
rathe ihn der Vater und mache ſich die alte
Freude, wie ein Schickſal einen Enthuſiasmus
zu erkälten und Erwartungen Lügen zu ſtrafen,
ſogar trübe. Der beleidigte, ſich ſelber aus¬
brennende Geiſt blieb nun feſt vor Gaſpard und
Bouverot zugedeckt.


Aber ſeinem Dian zeigt' er alles am Mor¬
gen darauf; er wußte, wie dieſer mit dem Ar¬
me eines Künſtlers und Jünglings zugleich die
Freiheitsfahne trug und ſchwang, und darum
brach er vor ihm das dunkle Siegel ſeines bis¬
herigen Trübſinns auf. Er geſtand dem ge¬
liebteſten Lehrer den großgewachſenen Vorſatz,
[62] ſobald der unheilige Krieg gegen die galliſche
Freiheit, der jetzt ſeine Pechkränze in allen
Straßen der Stadt Gottes aushieng, in Flam¬
men ſchlage, an die Seite der Freiheit zu tre¬
ten und früher zu fallen als ſie. „Wahrlich,
Ihr ſeyd ein wackerer Menſch (ſagte Dian).
— Hätte ich mir nicht Kind und Kegel aufge¬
halſet, bei Gott! ich zöge ſelber mit. Der Alte
wie dergleichen, ſieht viel und hört ſchlecht.
Wittern ſoll er nichts und ſeine Beſtie von Ba¬
rigello
auch nicht.“ Den Kunſtrath Fraiſch¬
dörfer meint' er, den er mit Künſtler-Eigen¬
ſinn ewig verabſcheuete, weil der Kunſtrath
ſchlechter mahlte und beſſer kritiſirte als er.
„Dian, Euer Wort iſt ſchön geſagt, ja wohl
macht das Alter phyſiſch und moraliſch weit¬
ſichtig
für ſich und taub gegen den andern
(ſagte Albano).“— „Hab' ich gut geſprochen, Al¬
bano? Aber wahrlich ſo iſt die Sache,“ ſagt'
er, ſehr erfreuet bei ſeinem Mißtrauen in ſeine
Sprache, über das Lob ihrer Schönheit.


Nach einiger Zeit ſagte der Ritter, gleich als
ſehe er durch das Siegel hindurch, einige Wor¬
te, die den Jüngling auf allen Seiten griffen:
[63] „Es giebt (ſagt' er,) einige wackere Naturen,
die gerade auf der Gränze des Genies und des
Talentes ſtehen, halb zum thätigen, halb zum
idealiſchen Streben ausgerüſtet — dabei von
brennendem Ehrgeize. — Sie fühlen alles
Schöne und Große gewaltig, und wollen es
aus ſich wieder erſchaffen, aber es gelingt ih¬
nen nur ſchwach; ſie haben nicht wie das Ge¬
nie Eine Richtung nach dem Schwerpunkt, ſon¬
dern ſtehen ſelber im Schwerpunkte, ſo daß die
Richtungen einander aufheben. Bald ſind ſie
Dichter, bald Mahler, bald Muſiker; am mei¬
ſten lieben ſie in der Jugend körperliche Ta¬
pferkeit, weil ſich hier die Kraft am kürzeſten
und leichteſten durch den Arm ausſpricht. Da¬
her macht ſie früher alles Große, was ſie ſehen,
entzückt, weil ſie es nach zu ſchaffen denken,
ſpäter aber ganz verdrüßlich, weil ſie es doch
nicht vermögen. Sie ſollten aber einſehen, daß
gerade ſie, wenn ſie ihren Ehrgeiz früh einzulen¬
ken wiſſen, das ſchönſte Loos vielartiger und
harmoniſcher Kräfte gezogen; ſowohl zum Ge¬
nuſſe alles Schönen, als zur moraliſchen Aus¬
bildung und zur Beſonnenheit ihres Weſens
[64] ſcheinen ſie recht beſtimmt zu ſeyn, zu ganzen
Menſchen; wie etwan ein Fürſt ſeyn muß, weil
dieſer für ſeine allſeitige Beſtimmung allſeitige
Richtungen und Kenntniſſe haben muß.“


Sie ſtanden gerade, als er dies ſagte, auf
dem Aventiniſchen Berge, vor ſich die Ceſtius-
Pyramide, dieſes Epitaphium des Ketzer-Got¬
tesackers, worin ſo mancher unausgebildete
Künſtler und Jüngling ſchläft, und nahe dabei
der hohe Scherben-Berg *) (monte testaccio),
wovor Albano immer mit einem ekeln kahlen
Gefühl ſchaaler Ödheit vorbeigieng. Der Stoß
der väterlichen Ideen gegen ſeine und die Ver¬
wandtſchaft des Scherben-Bergs mit dem Frem¬
den-Kirchhof machten, daß Albano mehr ſich
als dem Vater antwortete, mit einem geſchmol¬
zenen Eiſen-Tropfen des Unwillens im Auge:
„ein ſolcher namenloſer Töpfer-Berg iſt im Gan¬
zen auch die Geſchichte der Völker. — Aber man
möchte ſich doch lieber auf der Stelle tödten
als[65] als erſt nach einem langen Leben ſich ſo nahmen-
und thatenlos in die Menge eingraben.“ —


Seit ſeiner Einigkeit mit ſich ſelber wurd' er
glücklicher; mit Eifer that er ſich ſchon jetzt zum
Werk, ſeiner Natur gemäß, die wie im Saa¬
menkorn, Stamm und Wurzel aus Einer Saa¬
menſpitze trieb, Gedanken und Thaten.


Er warf alles andere Treiben weg und ſtu¬
dirte alte und neue Kriegskunſt, wozu ihm
Dian die Bücher und das Muſeum borgte
und lieferte. Mit nahmenloſer Entzückung und
Erhebung durchlief er wieder die Sonnenkar¬
ten der römiſchen Geſchichte, hier auf dem aus¬
gebrannten Sonnenkörper ſelber und oft, wenn
er ihre Entzündungen gezeichnet las, ſtand er
eben in den Kratern, wo ſie aufgegangen
waren.


Dian gab noch dazu ſeine Kenntniß des
kleinen Dienſtes und ſich gern zu körperlichen
Übungen her; wenn er ihn vorher zu dem Got¬
tesdienſte unter Raphaels-Kunſthimmel hin¬
aufgezogen, wo Grazien wie Sternbilder im
hohen Äther gehen; denn bei Dian war Leib
und Seele Ein Guß, der weichſte Augennerve
Titan IV. E[66] und härteſte Armmuskel Ein Band. Zuletzt
führt' er, da ihm ein Wort viel ſauerer wurde
als eine That und da er lieber den ganzen
Leib als die Zunge regte, dem Grafen einen
redneriſchen Kriegs-Genoſſen zu, einen korſi¬
ſchen Jüngling, lebendig wie aus lauter Mark
des Lebens geformt.


Beide Jünglinge liebten und übten ſich eine
Zeitlang in romantiſcher Freiheit, ohne einan¬
der nur die Nahmen abzufragen. Sie fochten,
laſen, ſchwammen. Der Korſe vergötterte faſt
Albano's Geſtalt, Kraft, Kopf und Muth, und
goß ſein ganzes Herz in eines, das er nicht
ganz faßte; wie viele Mädchen nirgends als
in der Liebe, ſo zeigte er nirgends als im
Kriegsſpiele Seele und Sinn. Albano's helles
Gold ſpiegelte gefällig die fremde Geſtalt zu¬
rück, ohne wie Glas dabei die eigne zu ver¬
nichten.


Einſt wurde des Korſen Gluth eine Flamme,
die das ganze eigne Leben dem Freunde be¬
leuchtet zeigte und ſeinen einzigen Zweck und
Durſt, nehmlich den nach Franzoſen-Blut,
„den er (ſagt er,) im kommenden Kriege zu
[67] löſchen hoffe.“ Wär' ihm Albano ähnlich ge¬
weſen, ſo hätten ſie ſich wie kämpfende Hirſche
in die Geweihe tödtlich verwickelt; denn die
ſtörriſche, unbiegſame Tapferkeit des Korſen —
mehr eine ſinnliche, ſo wie Albano's ſeine mehr
eine geiſtige — litt kein Gegenwort. Gleich
ſeiner Klaſſe begehrte er auf ſeine Rede ein
recht ſtarkes Zuwort von Albano; aber dieſer
ſagte: „das iſt eben das Große im Kriege,
daß man ohne leidenſchaftliche Erbitterung,
ohne perſönliche Feindſchaft alles kann und
wagt, was der Schwächling nur durch ſie ver¬
mag; wahrlich es wäre edler, in der Schlacht
einen Geliebten als einen Gehaßten zu töd¬
ten.“ — „Tolle Chimären! (ſagte der Korſe
zornig) wie? Du willſt die Franzoſen tödten und
ſie doch lieben?“ — Albano's Großſinn warf
jede bange Larve ab und ſagte: „mit Einem
Wort, ich ſtreite einſt für die Gallier mit.“ —
„Du, Falſcher? (ſagte der Korſe) Unmöglich!
— Gegen mich?“— „Nein, (verſetzte Albano,)
ich bitte Gott, daß wir uns in jener Stunde
nie begegnen.“ — „Und ich will ihn recht an¬
flehen, (ſagte der Korſe,) daß wir uns nicht
E 2[68] mehr treffen als einmal mit dem Bajonet.
Adio!“ So ſchied er entrüſtet von ihm und
kam nicht wieder.

106. Zykel.

Unähnlich andern Vätern war Gaſpard ge¬
gen Albano ſeit dem erſten Kriege über den
Krieg noch wie ſonſt, ja faſt beſſer; mit ſeiner
alten Achtung für jede ſtarke Individualität
nahm er es heiter auf, daß ſo merklich des
Jünglings Sonne in die Zeichen des Sommers
trat und über die Erde ſowohl höher ſtieg als
wärmer.


Er gab ihm den nächſten Beweis dadurch,
daß er unter den allmähligen Anſtalten zur
Rückreiſe nach Peſtiz ihm einen ganz unerwar¬
teten Wunſch der — Trennung bejahte. Nehm¬
lich Albano, der jetzt wie Epheu mit allen Blü¬
then und Zweigen immer feſter um und in alle
Denkmähler der heroiſchen Vergangenheit gieng,
wollte nicht von Rom ſcheiden, ohne Neapel
geſehen zu haben. Zu ſeiner Sehnſucht kam
noch Dian's Begeiſterung für dies Tochterland
ſeines Vaterlandes, für deſſen Glanz des Him¬
[69] mels und der Erde, für deſſen griechiſche Trüm¬
mer, die der Baumeiſter den römiſchen vorzog.
„In Rom (hatte Dian geſagt,) habt Ihr nur
Vergangenheit, hingegen in Neapel tapfere
Gegenwart — ich begleit' Euch hin und her
und wir gehen zuſammen nach Haus. Denn
eigentlich verſteht Ihr Euch doch nicht recht
auf das Schöne, ſondern auf die Natur, auf
das Heroiſche und den Effekt. Da iſt Neapel
der Ort.“ Der Ritter willigte — obgleich durch
Albano's Erheiterung der ganze Zweck der Rei¬
ſe ſchon gewonnen war — ohne Zögern in den
Zuſatz einer zweiten unter der Bedingung, daß
er nicht länger als einen Monat nachbleibe.


Aber dieſer Zeit, wo ſich ſeine innere Welt
ſo harmoniſch ſtimmen durfte, kamen feindliche
Mißtöne immer näher, die er in der Ferne
noch für Wohllaut hielt. Aus ſeinem unbe¬
ſtimmten Verhältniß mit der Fürſtinn entwi¬
ckelte ſich langſam der Mißlaut; weil jedes
unbeſtimmte mit Weibern ſich endlich hart ent¬
ſcheidet, ſeltener zu Liebe als zu Haß.


Die Fürſtinn that und litt bisher alles, um
ihm noch früher gefährlich zu werden als verſtänd¬
[70] lich. Sie ſpielte Lianen ſo gut ſie wußte nach
und nahm den Nonnenſchleier einer religiöſen
Jungfräulichkeit aus ihrer Bühnen-Garderobe
hervor, obgleich genialiſche Weiber meiſtens
ungläubig ſind wie genialiſche Männer gläu¬
big. Sie machte ihn zum Vertrauten ihrer —
Vergangenheit und gab die Geſchichte derer,
die für ſie geſtorben waren, oder doch ver¬
ſchmachtet, nach weiblicher Art mehr froh als
reuig; nur das Verhältniß mit ſeinem Vater
ließ ſie ſchonend hinter einem rührenden Leichen¬
ſchleier auferſtehen, und ahmte überhaupt dem
Sohne in der Achtung für den Ritter nach,
den ſie innerlich bitter haßte. Wenn Albano
ſtundenlang die Gegenwart vergaß und ſtarr
ins Opferfeuer der Vergangenheit und Kunſt
blickte und ihr auf den Bergen ſeiner Welt
Flammen zeigte, die nicht auf ihrem Altar
brannten, ſo begleitete ſie ihn geduldig auf
dieſem Kunſt-Wege und hielt nur wo ſie konn¬
te, vor Stellen an, wo man einige Ausſicht in
die — Gegenwart hatte.


Er wurde täglich ihr wärmerer Freund,
ohne ſie nur zu errathen. Nur ein Mann —
[71] keine Frau — kann eine fremde Liebe gänzlich
überſehen; die lang überſehene wird dann ſel¬
ten oder nie eine erwiederte. Albano war zu
zart, um in der Geliebten ſeines Vaters und
in der Frau eines Andern und in einer Freun¬
din ſeiner eignen Geliebten dieſen Wunſch einer
Unſchicklichkeit vorauszuſetzen. Auch ſetzt' er
auf ſeinen Werth immer ein eben ſo kleines
Vertrauen als auf ſein Recht ein großes.


Sie zweifelte, aber verzweifelte nicht an ei¬
ner wärmern Geſinnung. Ein Weib hofft ſo
lange als ein zweites nicht mit hofft. Albano's
nächtliche Beſuche des Kapitol's und Koli¬
ſeo's wurden von nachgeſchickten Augen im¬
mer ſeines edlen Karakters würdig befunden.
Täglich lieber wurd' ihr der feſte Jüngling
durch ſein neues Aufblühen und durch ſeine
männliche Entwickelung. Zuweilen hoffte ſie
ſtark, von ſeiner freundſchaftlichen Redlichkeit
und von jener heroiſchen Schwermuth beſtochen,
die ihr ſonſt aus keiner Ferne und Nähe zu er¬
klären war. Dieſes ihr ungewohnte Auf- und
Niederſteigen auf ihren Wellen erſchütterte ihre
Geſundheit und ihren Karakter und ſie wurde
[72] wider Willen der Liane ähnlicher, mit deren
Taubengefieder ſie ſich anfangs nur weiß ſchmü¬
cken wollen — der glänzende Sonnenregenbo¬
gen wurde ein Mondregenbogen — ſie warf
mit ihren ſtarken Kräften die Hälfte ihres vo¬
rigen Selbſtes weg, die Putz-, Kunſt- und Ge¬
fallſucht — und ſie wurde heftig getroffen,
wenn eine Römerin mit ſüdlicher Lebhaftigkeit
oft hinter dem vorbeigehenden Grafen ausrief:
wie ſchön er iſt! — Schwer wurde ſie für ihr
früheres muthwilliges Luſtſpiel mit fremden
Herzen und Leiden gezüchtigt durch das eigne;
aber in ſolchen dunkeln Tagen wurzelt eben die
Liebe mehr, wie man Bäume am beſten an
wolkigen impft.


Albano merkte ihre Veränderung; die rei¬
zende Schwermuth ihres ſonſt kräftigen Ge¬
ſichts, dieſer Niederſchein ihres ſtillen Nebels,
bewegte ihn zur theilnehmenden Frage über
ihr Glück. Sie antwortete immer ſo verwor¬
ren und verwirrend — zuweilen ſogar bei Al¬
bano's Scharfſinn mit dem Glauben an deſſen
Verſtellung und Bosheit — daß ſie ihn in den
ſonderbarſten Irrthum führte.


[73]

Nehmlich bei ſo großer Gewißheit, daß ein
Erdſchatte durch ihr ganzes jetziges Leben gehe
und nicht rücke, mußt' er den Weltkörper dazu
ſuchen; — dieſer ward ihm Gaſpard, den ſie,
wie er glaubte, noch liebe. Er führte dieſe Ver¬
muthung leicht durch alle ihre frühern Geſprä¬
che und Blicke hindurch; — es war ſo natür¬
lich, daß die früher durch einen Thron Ge¬
trennten ſich jetzt im ſchönen Lande der freien
Verhältniſſe wieder zuſammenſehnten; — noch
dazu hatte der Ritter nach ſeiner unerbittlichen
Ironie ihren Schein, ihn zu ſuchen, auch mit
Schein, nehmlich mit Ernſt aufgenommen und
ſich daher immer zu ihrem Genuſſe des Sohnes
als Zukoſt geſetzt und einen Nachwinter in den
Frühling verlegt; — dieſen doppelten Schein rief
ſich Albano zurück als doppelte Wahrheit. — —


Da trat das Schickſal plötzlich unter ſeine
neuen Schlüſſe — ſein Vater wurde bedenk¬
lich krank an einem entnervenden Frühlingsfie¬
ber unter dem Scirocco-Wind. „Nimm kei¬
nen beſondern Theil (ſagte Gaſpard zu ihm)
weder an meinen Leiden noch Äuſſerungen;
ich habe in ſolchem Zuſtande eine Erweichung
[74] deren ich mich nachher ſchäme und doch nicht
erwehre.“ Albano wurde von manchen un¬
erwarteten Herzens-Ausbrüchen des kran¬
ken Mannes bis zur wärmſten Liebe be¬
wegt. Wenn die Ruinen eines Tempels weh¬
müthig begeiſtern, dacht' er, warum ſollen es
mich nicht noch mehr die Ruinen einer großen
Seele? Es giebt Menſchen, voll koloſſaliſcher
Überreſte, gleich der Erde ſelber; in ihrem tie¬
fen ſchon erkalteten Herzen liegen verſteinerte
Blumenbilder einer ſchönern Zeit; ſie gleichen
nordiſchen Steinen, auf welchen Abdrücke in¬
diſcher Blumen ſtehen. —


Die Krankheit grub unter ſich. Gaſpard
blieb ohne Theilnahme an ſich ſelber; nur ſeine
Geſchäfte, nicht ſein Ende, bekümmerten ihn.
Mit ſeinem Schwiegervater Lauria hielt er ge¬
heime Unterredungen, um auf ſein Leben das
ſchwarze Gerichtsſiegel ſchließend zu drücken.
Ein Eilbote mußte fertig ſtehen, um nach ſei¬
nem Todesaugenblick mit einem Brief zu Linda
zu fliegen, ſein Sohn ſollte einen ſelber erbre¬
chen und einen verſiegelten an die Fürſtinn
übergeben. Sehr hart und gebietend benahm
[75] er ſich gegen dieſen, als er von ihm den Eid
begehrte, ſogleich nach ſeinem Tode nach Pe¬
ſtiz abzureiſen. Denn da Albano, der ſo gern
Neapel ſah und dem alle dieſe den väterlichen
Tod vorausſetzenden Bedingungen ſchwer an¬
kamen, zögernd weigerte: ſo ſagte Gaſpard:
„das ſey ſo recht menſchlich und üblich, fremde
Schmerzen ungemein zu beklagen und redlich
mitzufühlen, ſie aber ohne Anſtand zu ſchär¬
fen, ſobald das Geringſte gethan werden ſolle.“
Albano gab das Wort und den Eid; und zeigt'
es ihm nie mehr, wenn er weinte aus Kin¬
desliebe.


Unerwartet erſchien vor dieſem Kranken¬
bette Gaſpards nächſter und früheſter Anver¬
wandter, ſein Bruder. Albano ſtand dabei,
als das ſeltſame Weſen ankam und den Todt¬
kranken anſprach und zwei ſtarre gläſerne Au¬
gen, als wären ſie eingeſetzte, weit von dem
wegdrehte, womit es redete — ſo phantaſtiſch
und doch voll kalter Welt gegen den ſterben¬
den Bruder — mit hängender Geſichtshaut auf
bedeutenden Geſichtsknochen — ein aufgerichte¬
ter falber Währwolf, erſt aus der thieriſchen
[76] Haut in die menſchliche getrieben — gleich dem
Würgengel, ein Würgmenſch und doch ohne
Leidenſchaft. — Es ſtreckte nach Albano die
lange Hand aus, aber dieſer, von etwas Un¬
nennbarem abgeſtoßen, konnte ſie nicht anfas¬
ſen. Dieſer Bruder ſagte, er komme von Pe¬
ſtiz — übergab zwei Briefe daraus, einen an
Gaſpard, einen für die Fürſtinn — und fieng
an, einiges über ſeine Reiſen zu ſagen, was
ungemein ſcharfſinnig, phantaſtiſch, gelehrt,
unglaublich und oft recht unverſtändig ſchien.
Einmal ſagte Albano: „das iſt geradezu un¬
möglich.“ Er fieng die Erzählung wieder an,
machte ſie noch unglaublicher und betheuerte,
es ſey ſo in der That. Darauf gieng er fort,
wie er ſagte, nach Griechenland und nahm vom
ſterbenden Bruder den kühlſten Abſchied.


Gaſpard ſagte jetzt zu Albano: „er möge
nach ſeinem Tod dieſen Sonderling, wenn er
ihm nahe komme, recht wägen oder lieber
meiden, da er nie ein wahres Wort ſage, blos
aus reiner Freude an reiner Lüge ohne Eigen¬
nutz; noch mehr, (fuhr er fort,) weiche dem
tiefen tödtlichen Skorpionſtachel Bouverot's
[77] aus, ſo wie ſeinem betrügeriſchen Spiel.“ Al¬
bano wunderte ſich über die Anſicht dieſer An¬
rede, (freudig über die moraliſche Schärfe,) da
er bisher ganz andere Geſinnungen für Bou¬
verot im Vater anzutreffen geglaubt.


Am Tage darauf fand er den Vater ſchon
wieder auf der Treppe aus der Gruft. Der
Eilbote wurde abgedankt — alle Briefe zurück¬
gefodert — der Fürſt Lauria ſtand heiter da —:
„bloß eine fremde Krankheit hat meine geheilt“
ſagte der Vater. Der Brief, den ihm der Bru¬
der aus Peſtiz gebracht, hatte die Nachricht
enthalten, daß ſein alter Freund, der daſige
Fürſt, der letzten Stunde ſchnell zueile, weil
man ſeine Waſſerſucht bloß für Embonpoint
gehalten und ihn verſäumet habe. — „Ich
hoffe, (ſagte Gaſpard,) durch meinen Antheil
ſo heilſam erſchüttert zu ſeyn, daß ich noch früh
genug die Reiſe zur letzten Stunde der Freund¬
ſchaft zu machen vermag.“ Er ſetzte dazu, daß
dann dieſe Reiſe wieder Bahn zu Albano's ſei¬
ner nach Neapel mache.


Da kam die Fürſtinn in der Beſtürzung über
den Brief, der ihres Gemahles Gefahr und
[78] ihre Abreiſe anſagte. — Gaſpard antwortete
mit einem verlangenden Winke zur Einſamkeit,
den er dem Sohne gab. Sie blieben lange
allein. Endlich kam die Fürſtinn verändert
wieder und bat ihn faſt ſtotternd, heute ſie in
die Opera seria zu begleiten. Sie war bewegt
und verlegen, ihre Augen ſchimmernd, ihre
Züge begeiſtert; — auch den Vater fand er auf¬
geregt, aber wie geſtärkt.


Hier ſchoß ihm ein langer Mittagsſtrahl
durch den ganzen bisherigen Irrwald, nehmlich
die beſtätigte Vermuthung der Liebe ſeines Va¬
ters, die jetzt durch die annahende Löſung der
Ehekette der Fürſtinn und in der kränklichen
Erweichung ſtärker ausgebrochen ſey; daher
Gaſpard's Brief an die Fürſtinn, daher ihr
Beiſammenbleiben in Rom und auf dem Wege
dahin u. ſ. w.


Nie liebte Albano ſeinen ſtarken Vater mehr
als nach dieſer Entdeckung einer zärtern Geſin¬
nung; und gegen die Fürſtinn wurde nun ſein
Herz aus einem Freunde auf einmal ein Sohn.
Da er ohnehin von den fünf Treffern der
menſchlichen Erb-Liebe nur einen, den Vater,
[79] (keine Mutter, keinen Bruder, keine Schweſter
und kein Kind,) gewonnen: ſo war er ſo neu ent¬
zückt über den Gewinn einer Mutter. Was
die Achtung thun, die Wärme ſprechen und die
Hoffnung verrathen durfte, das ließ er zu.


Es war eine Nacht, wo in Rom ſchon wie¬
der der Frühling Blumen durch die Wolken
des Winters warf. Im Schauſpielhauſe gab
man Mozarts Tito. Wie nimmt den Men¬
ſchen auf fremdem Boden das vaterländiſche
Lied dahin, das ihm nachgezogen! Die Lerche,
die über römiſchen Ruinen gerade ſo ſingt wie
über deutſchen Feldern, iſt die Taube, die uns
mit ihrem bekannten Geſang den Ölzweig aus
dem Vaterland bringt. — Bis hieher hatte
Albano auf dem Alpenwege über Ruinen,
das Auge ſtraff nur durch die künftige Kriegs-
Laufbahn blicken laſſen und es ſelten gen Him¬
mel gehoben, wo die verklärte Liane war und
hatte gewaltſam jede Thräne darin zerſtäubt.
Aber jetzt hatte der kranke Vater den Vorhang
des unterirdiſchen Bettes aufgezogen, wo ihre
Hülle ſchlief. Nun drang auf einmahl der helle
Strom der Töne, der durch ſeine Jugendländer,
[80] in ſeinen Paradieſen gegangen war, über die
Gebürge herüber und rauſchte mit den alten
Wellen herab ſo nahe an ihm. Anfangs wehrte
ſich ſein Geiſt gegen die alte eingeſchlafne Zeit,
die im Schlummer ſprach; aber als endlich die
Töne, die Liane ſelber einſt vor ihm geſpielet
und geſungen hatte, über die Bahre der Ge¬
bürge herüber kamen und ſich herunter hiengen
als glänzende Teppiche der goldnen Tage; als
er daran dachte, welche Stunden er und Liane
hier geſunden hätten aber nicht fanden: da
lief der ſchwarze Gram wie ein böſer ausplün¬
dernder Genius die Tonleiter hinauf und Al¬
bano ſah ſeinen entſetzlichen Verluſt hell im
Himmel ſtehen. Da kehrt' er das Auge nicht
gegen die Fürſtinn, aber in der Weihe der
Töne drückt' er die Hand, an der einſt die
Verklärte hatte in dieſe Gefilde kommen ſollen.
Spät ſagte er: „ich werde mich im reichen
Neapel immer ſehnen nach meiner einzigen
Freundin und den Glücklichen beneiden, der ſie
begleiten darf.“ Sie kam in große Bewegung
über dieſe neue Nachricht von ſeinem trennen¬
den Abweg, und in eine noch größere über
ſeine[81] ſeine leidenſchaftliche Veränderung, die ſie mit
der reichſten Ausſteuer für ihre zarteſten Hoff¬
nungen, aus ihrer Abreiſe und ſogar aus ih¬
res Gemahls bevorſtehender herzuleiten wußte.
Aber ſie verbarg die größere Bewegung hinter
die kleinere. Beide ſchieden mit gegenſeitigen
Freuden und Irrthümern aus einander. Al¬
bano wurde immer ſeeliger durch den geneſen¬
den Vater; die Fürſtinn wurd' es durch den
wärmern Sohn, und ihr Leben ſtieg aus dem
Kriegsſchiff in ein fliegendes Friedensſchiff über.
So kamen beide immer dichter an den Vor¬
hang, deſſen Gemählde ſie für die Bühne ſel¬
ber hielten, um deſto mehr zu ſtaunen, wenn
er aufgieng.

107. Zykel.

Im Ritter war das vertrocknete Bette des
Lebens wieder reichlich angequollen durch die
Erſchütterungen ſeines Herzens; — eben weil
er in geſunden Tagen ſich gleich Bergen durch
Eis und Moos zuſammenhielt, ſo ſtellte in
kranken, ſchien es, eine rechte innere Bewe¬
gung leichter die alte Kraft und Ruhe wieder
Titan IV. F[82] her. Er rüſtete ſich zum Reiſen, das am be¬
ſten ſeinen eigenſinnigen Körper auf- und
nachbauete. Die Fürſtinn verſchob das ihrige
von Tag zu Tag, bloß in der feſten, feurigen
Erwartung, Albano werde ihr das ſchönſte
Endwort ihres ganzen Lebens mitgeben auf
den Weg. In Albano war die Sehnſucht nach
— Spanien aufgewacht im blühenden Land,
und Neapel, hofft' er, werde ſie ſtillen. Der
Frühling dämmerte ſchon in Rom und gieng
auf in Neapel — die Nächte durchſang die
Nachtigal und der Menſch — und die Man¬
delbäume blühten überall. Aber es ſchien als
ob die drei Menſchen mit dem Reiſen auf ein¬
ander warteten. Konnte die Fürſtinn von dem
Herzen eilen, auf welchem ihr Daſeyn blühte
und wurzelte, ſie gleich einem abgeriſſenen Ros¬
marienzweige, deſſen Wurzeln zugleich mit de¬
nen eines keimenden Waizenkorns doppelt in
die Erde greifen? — Auch Albano wollte nicht die
Stunde beſchleunigen, die ihn zugleich von dem
Vater und der Freundinn in ferne Erd-Ecken
warf, jene in den Nachwinter, ihn in den Vor-
und Nachfrühling; — gerade jetzt am wenig¬
[83] ſten; ſein Geiſt hatte ſich durch den Entſchluß
zum Kriege befriedigt und verſöhnt mit ſich,
ſein Portici war glänzend aufgebauet auf dem
verſchütteten Herkulanum ſeiner Vergangenheit.


Ein Brief von Peſtiz entſchied — der todt¬
kranke Fürſt ſchrieb an die Fürſtinn und bat
um das Wiederſehen — der Brief war ein
Feuer, das den gemeinſchaftlichen Boden und
wer darauf ſtand auseinander ſprengte — die
drei Verbündeten faßten den Schluß, an Ei¬
nem Tage abzureiſen, an Einem Morgen, ſo
daß Eine Morgenröthe ihr Gold zugleich in
drei Reiſewagen würfe.


Noch etwas begehrte die Fürſtinn am Abend
vor der Abreiſe, am Morgen Albano's Beglei¬
tung auf die Peterskuppel; ſie wollte Rom
noch einmal in die ſcheidende Seele faſſen, wenn
es Morgenroth und Morgenglanz bedeckten.
Auch Albano wollte gern den Moſt einer feu¬
rigen Stunde trinken, der ſich zu einem ewigen
Wein für das ganze Leben aufhellt; denn er
wußte nicht, daß die lebhafte Fürſtinn — noch
lebhafter durch Italien — nach langem Har¬
ren auf das ſchönſte Wort von ihm, endlich
F 2[84] zornig ſich in eine Abſchiedsſtunde wagte, in
der es ihm entfahren ſollte.


Früh vor Sonnenaufgang, wo in Rom noch
mehrere einſchlafen als aufſtehen, holte er ſie
ab; nur ihre treue Haltermann begleitete ſie.
Von der durchwachten Nacht glühte ſie noch
und ſchien ſehr bewegt. Rom ſchlief noch; zu¬
weilen begegneten ihnen Wagen und Familien,
die eben ihre Nacht beſchließen wollten. Der
Himmel ſtand kühl und blau über dem däm¬
mernden Morgen, dem friſchen Sohn der ſchö¬
nen Nacht.


Der weite Zirkus vor der Peterskirche war
einſam und ſtumm, wie die Heiligen auf den
Säulen; die Fontainen ſprachen; noch ein
Sternbild erloſch über dem Obeliskus. — Sie
giengen die Wendeltreppe von anderthalb hun¬
dert Stufen auf das Dach der Kirche und ka¬
men aus einer Gaſſe von Häuſern, Säulen, klei¬
nen Kuppeln und Thürmen durch vier Thüren
in die ungeheuere Kuppel, — in eine gewölbte
Nacht — unten in der Tiefe ruhte der Tempel
wie ein weites finſteres einſames Thal mit
Häuſern und Bäumen, ein heiliger Abgrund,
[85] und ſie giengen nahe vor den muſiviſchen Rie¬
ſen, den farbigen breiten Wolken am Himmel
des Doms vorbei. Während ſie in der hohen
Wölbung ſtiegen, blinkte immer röther Auro¬
rens Goldſchaum an den Fenſtern und Feuer
und Nacht ſchwammen im Gewölb' in ein¬
ander.


Sie eilten höher und blickten hinaus, da
ſchon ein einziger Lebensſtrahl wie aus einem
Auge hinter dem Gebürg in die Welt zückte
— um den alten Albaner rauchten hundert glü¬
hende Wolken, als gebähre ſein kalter Krater
wieder einen Flammentag und die Adler flo¬
gen mit goldnen in die Sonne getauchten Flü¬
geln langſam über die Wolken. — Plötzlich
ſtand der Sonnengott auf dem ſchönen Ge¬
bürg, er lichtete ſich auf im Himmel und riß
das Netz der Nacht von der bedeckten Erde
weg; da brannten die Obelisken und das Co¬
liſeum und Rom von Hügel zu Hügel, und auf
der einſamen Campagna funkelte in vielfachen
Windungen die gelbe Rieſenſchlange der Welt,
die Tiber — alle Wolken zerliefen in die Tie¬
fen des Himmels und goldnes Licht rann von
[86] Tuskulum und von Tivoli, und von Reben¬
hügeln in die vielfarbige Ebene, an die zer¬
ſtreueten Villen und Hütten, in die Zitronen-
und Eichenwälder — im tiefen Weſten wurde
wieder das Meer wie am Abend, wenn es der
heiße Gott beſucht, voll Glanz, immer von ihm
entzündet und ſein ewiger Thau.


In der Morgenwelt lag unten das große
ſtille Rom ausgebreitet, keine lebendige Stadt,
ein einſamer ungeheuerer Zaubergarten der al¬
ten verborgnen Heldengeiſter, auf zwölf Hügel
gelegt. — Der menſchenloſe Luſtgarten der Gei¬
ſter ſagte ſich durch die grünen Wieſen und
Zypreſſen zwiſchen den Palläſten an und durch
die breiten offnen Treppen und Säulen und
Brücken, durch die Ruinen und hohen Spring¬
brunnen und den Adonisgarten, und die grü¬
nen Berge und Götter-Tempel; die breiten
Gänge waren ausgeſtorben; die Fenſter waren
vergittert; auf den Dächern blickten ſich die
ſteinernen Todten feſt an — nur die glänzen¬
den Springwaſſer waren rege und eine einzige
Nachtigall ſeufzete als ſterbe ſie zuletzt. —


„Das iſt groß (ſagte endlich Albano), daß
[87] unten alles einſam iſt und man keine Gegen¬
wart ſieht. Die allen Heldengeiſter können in
der Leere ihr Weſen treiben und durch ihre al¬
ten Bogen und Tempel ziehen und oben an
den Säulen mit dem Epheu ſpielen.“


„Nichts (verſetzte die Fürſtinn) mangelt der
Pracht als dieſe Kuppel, die wir auf dem Ka¬
pitolium gar dazu ſähen. Aber nie werd' ich
dieſe Stelle vergeſſen.“


„Was wär' es ſonſt mit Allem (ſagt' er).
Ohnehin gehen die flachen Gegenden des Le¬
bens ohne Merkmal vorüber, aus mancher lan¬
gen Vergangenheit ſchlägt kein Echo zurück,
weil kein Berg die breite Fläche ſtöhrt! — Aber
Rom und dieſe Stunde neben Ihnen leben ewig
in uns.“


„Albano, (ſagte ſie) warum muß man ſich
ſo ſpät finden, und ſo früh trennen? Dort geht
Ihr Weg neben der Tiber her, Gott gebe in
kein verſchlingendes Meer!“ —


„Und dort geht Ihrer über die hellen Ber¬
ge (ſagt' er).“ Sie nahm ſeine Hand, denn
ſein Ton war ſo bewegt und bewegend. Gött¬
lich leuchtete die Welt von den dunkeln Früh¬
[88] lingsblumen bis zum hellen Kapitol empor,
und die Horen-Glocken tönten herauf — die
Freudenfeuer des Tags loderten auf allen Hö¬
hen — das Leben wurde weit und hoch wie
die Ausſicht — ſein Auge ſtand unter der Thräne,
aber keiner trüben, ſondern unter jener, wo
es wie das Weltauge unter dem Waſſer ſonnig
glänzt und höhere Farben hat, welche die trockne
Welt verzehrt. — Er drückte ihre Hand, ſie
ſeine. — „Fürſtinn, Freundinn, (ſagt' er) wie
acht' ich Sie! — Nach dieſer heiligen Stunde
trennen wir uns — ich möchte ihr ein unver¬
gängliches Zeichen geben und meinem Vater
ein kühnes Wort ſagen, das mich und meine
Achtung ausſpräche und das wol manche Räth¬
ſel löſete.“


Sie ſchlug das Auge nieder und ſagte bloß:
„dürfen Sie wagen?“ — „O verbieten Sie
es nicht! (ſagte er.) So manches Götterglück
gieng durch eine zaghafte Stunde verloren.
Wenn ſoll denn der Menſch ungewöhnlich
handeln als in ungewöhnlichen Lagen?“ Sie
ſchwieg, den Morgenlaut ſeiner Liebe erwar¬
tend und beide giengen im fortgeſetzten Hand¬
[89] druck von der hohen Stelle herab. Alban's
Weſen war eine bebende Flamme. Die Für¬
ſtinn begriff nicht, warum er noch dieſen Früh¬
lingston verſchiebe; er errieth ſie eben ſo we¬
nig, ungeübt die Weiber und deren halbe ab¬
getheilte Wörter zu leſen, dieſe Bildergedichte,
halb Geſtalt und nur halb Wort. — Gleich¬
ſam als wäre ein Adler aus ſeinem Morgen¬
glanz herabgeflogen und hätte als ein Raub-
Genius die Flügel über ſeine Augen geſchla¬
gen: ſo hatt' ihn der leuchtende Morgen ſo
ſehr verblendet, daß er wagen wollte, jetzt in
der Abſchiedsſtunde zwiſchen ſeinem Vater und
der Fürſtinn der Mittler durch Ein Wort zu
werden, das beiden die Scheidewand zwiſchen
ihrer Liebe wegzöge. Vieles wandt' ihm ſeine
Zartheit dagegen ein, aber gegenüber einem
wichtigen Ziele verabſcheute er nichts ſo ſehr
als zagende Vorſicht; und Wagen hielt er für
einen Mann ſo viel werth als Gewinnen.


Die Fürſtinn, mißverſtehend, doch nicht mi߬
trauend, folgte ihm in des Vaters Haus, mit
einer Erwartung — kühner als ſeine —, er be¬
kenne vielleicht gar dem Ritter die Liebe gegen
[90] ſie. Sie fanden den Vater allein und ſehr ernſt.
Albano fiel ihm, wiewohl er deſſen Abneigung
gegen körperliche Herzenszeichen kannte, um
den Hals mit den halb erſtickten Worten des
Wunſches: „Vater! Eine Mutter!“ — Zu die¬
ſem kindlichen Verhältniß hatte ſich ſein bishe¬
riges gehoben und gereinigt. „Gott, Graf!“
rief die Fürſtinn über Albano beſtürzt und ent¬
rüſtet. — Der zornfunkelnde Ritter ergriff voll
Entſetzen eine Piſtole, ſagte: unglückliches —
aber ehe man nur wußte, auf wen von drei
Menſchen er ſie abdrücken wolle, faßte ihn
ſeine Starrſucht und hielt wie eine umwindende
Schlange ihn in der mörderiſchen Lage gefan¬
gen. „Graf, verſtand ich Euch?“ ſagte die
Fürſtinn wegwerfend gegen ihn, gleichgültig
gegen den verſteinerten Feind. — „O Gott,
(ſagte Albano, von der väterlichen Geſtalt be¬
wegt,) ich verſtand wol niemand.“ — „Das
konnte (ſagte ſie) nur ein Unwürdiger. Lebt
wohl. Mög' ich niemals Euch mehr begeg¬
nen!“ — Dann gieng ſie.


Albano blieb, unbekümmert ob er nicht ſel¬
ber mit der Piſtole gemeint ſey, bei dem Kran¬
[91] ken, der einer vornehmen Männer-Leiche ge¬
genüber entgegenſtarrte, die man eben zu ſchmin¬
ken beſchäftigt war. Allmählig rang ſich das
Leben wieder aus dem Winter auf und der
Ritter ſetzte, wie Starrſüchtige müſſen, die mit
dem Worte „Unglückliches“ angefangne Anre¬
de ſo fort: „Weib, von wem biſt du Mutter?“
— Er kam zu ſich und ſah wach umher; aber
ſchnell rann wieder die Lava des Zorns durch
ſeinen Schnee: „Unglücklicher, wovon war die
Rede?“ Albano entdeckte ihm mit gerader un¬
ſchuldiger Seele, daß er bei dem wahrſcheinli¬
chen Tode des Fürſten auf eine Vereinigung
zwiſchen beiden und auf das Glück, eine Mut¬
ter zu erhalten, ſich die Hoffnung gemacht.


„Ihr junges Volk bildet euch immer ein,
man könne keine ächte Liebe haben, ohne ſie
nach auſſen zu treiben und auf jemand zu rich¬
ten,“ verſetzte Gaſpard und fieng an, hart
zu lachen und das „ſentimentaliſche Mißver¬
ſtändniß“ ſehr komiſch zu finden; aber Albano
fragte ihn nun ſehr ernſt nach dem Urſprunge
des ſeinigen. Gaſpard gab ihm dieſen. Neu¬
lich in ſeiner Krankheit hatt' er bei der erſten
[92] Nachricht von des Fürſten naher Abblüthe ei¬
nen erbitterten Kampf mit der Fürſtinn, welche
in deſſen Todesfalle eine Regentſchaft — oder
Vormundſchaft — begehre, ſchon wegen der
Möglichkeit eines Fürſtenhut-Erben. Der Rit¬
ter ſagt' ihr gerade zu, dieſe Möglichkeit ſey
eine Unmöglichkeit und er werde, mit neuen ihr
unbekannten Beweiſen ſie ohne Weiteres an¬
greifen. Er gab ihr geradezu zu verſtehen,
daß er ſogar gegen den Fall gerüſtet ſey, wo
ein augenſcheinlicher Beweis des Gegentheils
(ein Erbprinz) ihm entgegengeſtellet würde. Die
Fürſtinn verſetzte erbittert, ſie errathe nicht, war¬
um er für die Haarhaarſche Linie und Erbfolge
ſich im Geringſten mehr bekümmere und ſorge
als für die Hohenflieſſer. Er brachte ſie bis zu
Thränen; denn er konnte ohne Schonung ihr
die grauſamſten Worte wie Wiederhaken tief
ins Herz werfen; er hatte die vollendete Ent¬
ſchloſſenheit eines Staatsmannes, der wie ein
großer Raubvogel, das Opferthier, das er nicht
bezwingen oder ſchleppen kann, an einen Ab¬
grund treibt und mit den Flügeln hinunter¬
ſchlägt, um es drunten beſiegt zu finden. Ein
[93] Leben, das ſo wie es fortrückt, gleich den fort¬
rückenden Gletſchern, alte Leichen aufdeckt! So
wie der Glückliche ſeine Liebe eines Individu¬
ums wärmend über die Menſchheit ausbreitet,
ſo hält der Menſchenfeind den ſtechenden Brenn¬
oder Froſtpunkt ſeiner weiten Kälte gegen die
Menſchheit auf Einen großen Feind allein, in¬
deß vorher jede kleinere Beleidigung dem Ein¬
zelnen vergeben, und nur der geſammten Menſch¬
heit angeſchrieben wurde.


Das war alſo jene geheime Unterredung,
deren Spuren Albano für ſchönere Bewegun¬
gen genommen hatte als des Haſſes. „Als Du
nun (ſagte der Ritter jetzt gerade heraus, um
mit der ſchneidenden Frechheit ſein Hochgefühl
zu ſtrafen,) die kurz- und dunkelgefaßte An¬
rede: Eine Mutter! hielteſt, mußt' ich Dich für
den Vater nehmen, und daraus magſt Du
leicht das Übrige erklären.“ — „Vater, (ſagt'
er) das war ſchreiend unrecht gegen jeden“;
und ſchied mit drei heiſſen Wunden, vom Drei¬
zack des Schickſals geriſſen. Beim Abſchiede
erinnerte ihn Gaſpard, ſein Wort der monat¬
lichen Zurückkunft zu halten, und fügte noch
[94] ſcherzend bei: „der Alte, den man drüben
ſchminke, ſey ein deutſcher Herr, womit er
ehedem wohl den Spaß getrieben, ihn eilig
zu bekehren*).“


Noch in dieſer Stunde reiſete Albano mit
ſeinem Dian aus dem erleuchteten Rom. Auf
den Höhen und auf der Peterskuppel wogte
herunter ſchwebend der blaue Himmel und lan¬
ge Schatten ſchliefen noch mit Thauperlen um¬
kränzt, auf den Blumen; aber der ſeelige Mor¬
gen war weit zurückgeflohen aus dem harten
Tage. Beide begegneten vor dem Thore einer
Kreis-Menge, die um einen ſchönen Ermor¬
deten ſtand und ſtatt unwillig über den Mör¬
der, freudig über die Geſtalt wiederholte:
quanto è bello! **)— und Albano dachte
daran, wie oft man hinter ihm geſagt: quanto
è bello
! —


[95]

Acht und zwanzigſte Jobelperiode.

Brief aus Peſtiz — Mola — die Himmelfarth eines
Mönchs — Neapel — Iſchia — die neue Göt¬
tergabe.


108. Zykel.

Ein kleines Licht in unſerm Zimmer kann uns
gegen das Blenden des ganzen himmelbreiten
Blitzes ſchirmen; ſo braucht es in uns eine ein¬
zige fortleuchtende Idee und Tendenz, damit
uns der ſchnelle Flammen- und Licht-Wechſel
von auſſen nicht betäube. Hätte Albano nicht
ein weit zu ſehendes Ziel, einen Obeliskus in
ſeiner Lebensbahn vor ſeinem Auge behalten:
wie lange würde ihn die letzte Szene mit ih¬
ren durcheinandergreifenden Schmerzen verwirret
[96] haben! — Jetzt glich er den angezündeten Öl-
und Lorbeerblättern um ihn, deren Flammen
ſo gut grünen wie ſie ſelber.


Dian, der fremde Schmerzen wegtrieb, weil
er leicht beweglich bald aus einem Zuſchauer
derſelben ein Mitſpieler wurde, machte Albano
und ſich durch ſeine feurige Theilnahme an je¬
der ſchönen Geſtalt, an jeder Ruine, an jeder
kleinen Freude heiter. Er hatte die ſchöne ſel¬
tene Gabe, auf Reiſen froh zu ſeyn, jede Blu¬
me zu brechen, aber keine Diſtel; indeß der
größere Theil mit der Schlafmütze unter dem
Hute, von Stazion zu Stazion unter dem Fah¬
ren gährend und im murrenden Kriege mit je¬
dem Geſichte ganze Paradieſe wie Vorhöllen
durchziehet.


In den leeren pontiniſchen Sümpfen, wor¬
in nur Büffel gedeihen und die Menſchen er¬
bleichen, ſuchte Dian alles und auch ſeine Brief¬
taſche hervor, um über das letzte Fiſchwaſſer
des Kirchenſtaats aus Petrus-Nachfiſchern, zu
kommen, ohne tödtlich einzuſchlafen. Da ſtieß
er mit einem neu-griechiſchen Fluch auf einen
Brief an Albano, der in einen von Chariton
ein¬[97] eingeſchloſſen geweſen und den er in Rom in
der Eile der Abreiſe zu geben vergeſſen; aber
er lachte bald darüber und fand es gut, daß
man in dieſem „Teufelsthal“ etwas gegen den
Schlaf zu leſen habe.


Es war folgender von Rabette:


„Herzlieber Bruder, man möchte wohl wis¬
ſen, ob Du noch ein Bischen an Deine Blu¬
menbühler denkſt, da Du in dem prächtigen
Italien gewiß ganz in Deinem Essée biſt, daß
Du in unſer aller Herzen lebſt, das weißt Du
längſt, und Du ſollteſt nur wiſſen, wie lange
wir alle bei Deinem Abſchied um Dich geweinet
haben, ſowohl die Mutter als ich, und ein
Gewiſſer *) denkt jetzunder ganz anders von
Dir als vordem. In dieſem Winter fiel viel
vor. Die Miniſterin hat ſich von ihrem Ge¬
mahl geſchieden und lebt auf ihrem Gute, zu¬
weilen in Arkadien bei der Prinzeſſe Idoine,
unſer Fürſt iſt an der Waſſerſucht gefährlich
krank und kann der Vater ein Stück Arbeit
Titan IV. G[98] von der Landſchaft dabei kriegen, wie er ſagt.
Dein Schoppe iſt auf ein paar Monate ver¬
reiſet mit Zurücklaſſung eines Briefs an Dich,
den er dem Vater anvertrauet. Er hielt ſich
letztlich bei uns auf in Deiner Stube und be¬
ſuchte fleißig die Gräfinn Romeiro. Es iſt
Schade für ihn, denn er meints gut, aber der
Magiſter Wehmeier und wir alle im Orte ſind
überzeugt, daß er in Kurzen toll wird und er
glaubts auch und ſagt, er beſtelle deshalb
ſchon ſein Haus. Was die Gräfinn Romeiro
anlangt, ſo iſt ſie mit der Prinzeß *) abgerei¬
ſet, kein Menſch weiß aber wohin, man ſagt,
der Fürſt hab' ihr zu deutliche attentions be¬
wieſen und ſie ſey lieber fort nach Spanien.
Andere reden von Griechenland, aber mich ver¬
ſichert der Gewiſſe, ſie ſey nach Rom zu ihrem
Vormund, das wirſt Du nun beſſer wiſſen als
ich. Der Gewiſſe unternahm alles Menſchmög¬
liche, ſie zu gewinnen, theils durch Briefe, theils
ſelber, umſonſt, keinen guten Blick konnt' er er¬
langen, ſo oft er ſie auch bei cour anredete.
[99] Das alles hab' ich (wirſt Du es glauben?)
aus ſeinem Munde, denn er iſt wieder oft bei
mir und vertraut mir ſein ganzes Herz. Mei¬
nes aber halt' ich feſt zuſammen, daß nur kein
Blutströpfchen daraus quillt, und Gott allein ſieht,
wie es darin hergeht und weint. Ach Albano,
ein armes Mädchen, das geſund iſt, muß viel
ausſtehen eh' es ſterben kann. Oft kann mein
Auge nicht länger trocken bleiben und ich ſage
dann, ſein Reden thu es, was doch theils auch
wahr iſt. Dir aber zeig' ich das dessous des
cartes
. — Nie, nimmer kann ich mehr die Sei¬
nige werden, denn er hat nicht redlich an mir
gehandelt, ſondern ganz ruchlos und er weiß
es auch. Es wird ihm auch kein Kuß geſtat¬
tet und ich ſag ihm, er möge das nur nicht
ums Gottes willen für eine coquette Manier
halten, ihn an mich zu ziehen. Die guten El¬
tern wiſſen nicht recht was ſie aus unſerem
Umgang machen ſollen und ich fürchte, der
Vater bricht los, dann hab ich ſehr bittere
Tage. Aber ſoll ich das arme kranke blaſſe
Gemüth auch von mir verſtoßen, ſoll die glü¬
hende Seele wie Rauch verduftend gen Him¬
G 2[100] mel ſteigen und ſich consumiren? Wem will
nicht das Herz zerſpringen, wenn er bei einem
Festin iſt und ſie ſeinetwegen ſogleich beleidigt
nach Hauſe zurückfährt, wie neulich geſchah
und er mir im vollen Toben ſagte: gut, gut,
Linda, einmal wird Dir doch um mich Dein
Auge naß. Da weiß ich ja, daß er nichts Gu¬
tes meint und ich ſchone ihn aus Angſt davor,
ſollen denn die zwei Geſchwiſter in ihrer Blü¬
the untergehen? Er wäre ihr längſt nachge¬
reiſet, wenn er nicht täglich hoffte, ſie komme
wieder. Ach könnt' ich mein liebendes Herz aus
meiner Bruſt ausreiſſen und in ihre einſetzen
ſtatt des andern, damit ſie ihn recht liebte mit
meiner ganzen Liebe, Albano ich wollt es gerne
thun. Das Papier geht aber auf dieſer Seite
zu Ende und die Mutter will auf die andere
einen Gruß ſchreiben. Lebe wohl, das wünſcht
Deine treue Schweſter
Rabette.


Wie geht es meinem theuerſten Sohn? Iſt
er glücklich, noch fromm, und geſund? Denkt
er ſeiner treuen Pflegeeltern noch? Das fragt
[101] und wünſcht im Namen des Vaters, und in ih¬
rem eignen
ſeine treue Mutter
Albine v. W.


P. S. Auch der alte Lehrer Wehmeier grüßet
ſeinen Liebling in fernen Landen; und wir
alle freuen uns auf ſeine Wiederkehr. A.


P. S. Bruder, ich muß auch ein P. S. machen,
Schoppe hat die Bewußte gemahlt, und
auch daraus entſtanden Scenen. Aber ein
Mehres Mündlich. Die Prinzeſſe Idoine
fuhr dieſen Winter oft zu unſerer. R.“


Da Briefe ſich mehr nach dem Orte, wo ſie
geboren, als nach dem, wo ſie abgegeben wer¬
den, richten: ſo kommt oft, was als Saame
abgieng, ſchon keimend und mit Wurzeln an nach
dem langen Wege und umgekehrt Blüthen als
trockner Saame; und jedes Blatt iſt eine Doppel¬
geburt von zwei fernen Zeiten, der ſchreibenden
und der leſenden. So wurde jetzt Albano unter
dieſem hellern Himmel, auf dieſem Boden einer
[102] größern Vorzeit und mit dem Geiſte voll neuer
Triebfedern weniger von Rabettens Brief,
durch welchen die nordiſchen Winternebel zo¬
gen, erreicht und verfinſtert. Die redliche Ra¬
bette, die linde Albine, kamen ihm nur ſanft
über die fremden Berge und Lüfte nach und
legten an ſeine heiſſe Stirn die kühlende Hand;
ſein alter Schoppe ſtand in alter Würde vor
ihm und Liane ſchwebte wieder durch das hohe
Blau. Gegen den verwitterten Roquairol fühlt'
er nicht einmal Mitleid, ſondern eine harte
Geringſchätzung; und Linda's ſtandhafter Sinn
war recht nach ſeinem, wie der ſtolze Blick und
Gang der Römerinnen. Jetzt dacht' er über
Manches heiterer als ſonſt und wünſchte ſogar,
einmal jener Heroine ins Zauber-Geſicht zu
ſchauen.


In Fondi ſieng der neapolitaniſche Welt¬
garten an und ſie fuhren auf dem Wege nach
Mola, in immer dichtere Blüthen und Blu¬
men. In fliegenden Blättern — vielleicht an
ſeinen Vater, noch wahrſcheinlicher an ſeinen
Schoppe — ſprach ſich ſein Glück und ſeine
Seele aus; ſie bewahrte gleichſam einige ent¬
[103] fallne Orangenblüthen des ſchnell durchflognen
Edens auf. Hier ſind ſie:


Kurz vor Sonnenuntergang kamen wir am
Himmelfahrtstag in Mola an, der eingebohrne
Dian war eben ſo überwunden von der grü¬
nenden Herrlichkeit, die er lange nicht geſehen,
wie ich und ich glaub' ihm noch nicht, daß es
um Neapel ſchöner blühe und dufte. Ich gieng
gar nicht in die Stadt, denn die Sonne hieng
ſchon gegen das Meer. Um mich quillt der
Blumenrauch aus Zitronenwäldern und Jes¬
min- und Narziſſen-Auen — zu meiner Lin¬
ken wirft der blaue Apennin ſeine Quellen von
Berg zu Berg und zu meiner Rechten dringt
das gewaltige Meer an die gewaltige Erde an
und die Erde ſtreckt den feſten Arm aus und
hält eine glänzende Stadt*), mit Gärten be¬
hangen, weit ins Wogen-Gewimmel hinein —
und ins unergründliche Meer ſind hohe Inſeln
als unergründliche Berge **) hinein geworfen —
[104] tief in Süden und Oſten greift ein ſchimmerndes
Nebelland, die Küſte von Sorento, wie ein ge¬
krümmter Jupiters-Arm, um das Meer und hinter
dem fernen Neapel ſteht der Veſuvius mit ei¬
ner Wolke im Himmel unter dem Mond. „Fall'
auf Deine Kniee, Glückſeeliger, (ſagte Dian)
vor der koſtbaren Weite!“ O Gott, warum
nicht ernſtlich es thun? Wer kann denn im
Abendſcheine das ungeheuere Wellen-Reich
anſchauen, wie dort das Regen ſich in der
Ferne ſtillt und nur glänzt und endlich blau
und golden mit dem Himmel verſchwebt, und
wie hier die Erde das weiche ſchwebende Feuer
mit ihren langen Ländern in einen roſigen fe¬
ſten Erdſchatten einſchlieſſet, wer kann den
Feuerregen des unendlichen Lebens, den weben¬
den Zauberkreis aller Kräfte im Waſſer, im
Himmel auf der Erde erblicken, ohne niederzu¬
knieen vor dem unendlichen Natur-Geiſte und
zu ſagen: wie biſt du mir ſo nahe, Unaus¬
ſprechlicher! — O hier iſt er in der Nähe und
Ferne, die Seeligkeit und die Hoffnung ſchim¬
mert von der Nebel-Küſte her, und auch aus
den nahen Quellen, die das Gebürge in das
[105] Meer heruntergieſſet und in der weißen Blüthe
über meinem Haupt. O rufet denn nicht dieſe
Sonne von brennenden Wellen umflattert, und
das Blau droben und drüben und die erglü¬
henden Menſchen-Länder, die Welten in der
Welt, rufet nicht dieſe Ferne das Herz und alle
ſeine ſtolzen Wünſche heraus. Will es nicht
ſchaffen und in die Ferne greifen und ſeine Le¬
bensblüthe vom höchſten Gipfel des Himmels
reiſſen? Wenn es aber ſich umſieht auf ſeinen
Boden, auch da wieder iſt der Gürtel der Ve¬
nus um den blühenden Umkreis geworfen, hell
grünt der hohe Myrtenbaum neben ſeiner klei¬
nen dunkeln Myrte, die Orange ſchimmert im
hohen kalten Graſe und oben duftet ihre Blü¬
the, der Waizen weht mit breiten Blättern
zwiſchen dem Mandel- und Narziſſen-Schmel¬
ze und ferne iſt die Zypreſſe und die Palme
ſtolz; alles iſt Blume und Frucht, Frühling
und Herbſt. Soll ich hin, ſoll ich her, das
fragt das Herz in ſeinem Glück.


So gieng mir die Sonne unter die Wellen
hinab — die rothen Küſten flohen unter ihre Nebel
— die Welt erloſch von Land zu Land, von ei¬
[106] ner Inſel zur andern — der letzte Goldſtaub
auf den Höhen wurde verweht — und die Ge¬
betglocken der Klöſter führten das Herz über
die Sterne hinauf. —


O wie war meines ſo froh und ſo ſehnend,
zugleich ein Wunſch und ein Feuer, und in
meinem Innerſten ſprach ein Dankgebet fort,
dafür, daß ich war und bin auf dieſer Erde.


Nie vergeſſ' ich das! Wenn wir das Leben
wegwerfen als zu klein gegen unſere Wünſche:
gehören nicht dieſe zu jenem und kamen von
ihm? Wenn die bekränzte Erde ſolche Blüthen-
Ufer, ſolche Sonnen-Gebürge um uns zieht,
will ſie damit Unglückliche einſchließen? War¬
um iſt unſer Herz enger als unſer Auge, war¬
um erdrückt uns eine kaum meilenlange Wolke,
die doch ſelber unter unermeßlichen Sternen
ſteht? Iſt nicht jeder Morgen ein Frühlings¬
anfang und jede Hoffnung? Was ſind die dich¬
teſten Lebensſchranken anders als ein Rebenge¬
länder, zum Reifen der Weingluth aufgebauet?
— Und da das Leben ſich immer in Viertel
zerhackt, warum ſollen es lauter letzte ſeyn,
nicht eben ſo oft erſte, auf welche ein voll¬
[107] ſtrahlender Mond nachfolgt? — O Gott, ſagt'
ich, als ich durch die grünende Welt zurückgieng,
die am nächſten Morgen eine glühende wird,
nie laſſe mich deine Ewigkeit irgend einer Zeit
leihen, ausgenommen der ſeeligſten; die Freude
iſt ewig, aber nicht der Schmerz, denn du haſt
ihn nicht geſchaffen.


„Freund,“ ſagte Dian unterwegs zu mir,
da ich ihm meine innigſte Bewegung nicht recht
verhüllen konnte, „wie kann Euch erſt ſeyn,
wenn Ihr nach Neapel zurückſchauet etwan
auf der Überfahrt nach Iſchia! — denn man
merkt's ſehr, daß Ihr in Nordland geboren
ſeyd.“ — Lieber, ſagt' ich, jeder wird mit ſei¬
nem Norden oder Süden gleich geboren, ob
in einem äuſſern dazu — das macht wenig.


So weit ſein Blatt über Mola. Aber eine
wunderbare Begebenheit ſchien ihn über die letzte
Verſicherung deſſelben noch dieſe Nacht beim
Worte zu nehmen. Im Hofe des Gaſthauſes
ſammleten ſich viele Schiffer und Andere, alle
ſtritten heftig über eine Meinung und die mei¬
[108] ſten ſagten immer: es iſt doch heute Himmel¬
fahrt und Wunder hat Er auch gethan. „Him¬
melfahrt?“ dachte Albano und erinnerte ſich
ſeines Geburtstages, der an dieſem Feſte oft
fiel. Dian kam herauf und erzählte lachend,
das Volk drunten erwarte die Himmelfahrt ei¬
nes Mönchs, der ſie in dieſer Nacht verſpro¬
chen, und viele glaubten ihm darum, weil er
ſchon ein Wunderwerk gethan, nehmlich einem
Todten auf zwei Stunden die Sprache gege¬
ben vor ganz Mola. Beide wurden eins, das
Werk mit anzuſehen. Die Menge ſchwoll an
— der verſprochene Menſch kam nicht, der ſie
zu dem Orte der Auffahrt leiten ſollte — alles
wurde zornig mehr als ungläubig — endlich
ſpät in der Nacht erſchien eine Maske und gab
mit einem Wink der Hand das Zeichen ihr zu
folgen. Alles ſtrömte nach, auch Albano und
ſein Freund. Der reine Mond ſchien friſch aus
blauen Lüften, der weite Garten der Gegend
ſchlief in ſeinen Blüthen, aber alles duftete, die
ſchlummernden und die wachen Blumen.


Die Maske führte die Menge an die Rui¬
nen von Zizero's Haus oder Thurm und zeigte
[109] aufwärts. Oben auf der Mauer ſtand ein zit¬
ternder Menſch. Albano fand ſein Geſicht im¬
mer bekannter. Endlich ſprach der Menſch:
„ich bin ein Vater des Todes — der Vater
des Lebens ſey mir gnädig. — Wie es mit mir
geht, weiß ich nicht — Unter Euch (ſetzt' er
auf einmal in fremder, nehmlich in ſpaniſcher,
Sprache dazu) ſteht einer, dem ich auf Jsola
bella
am Charfreitage erſchien und den Tod
einer Schweſter kundthat; er reiſe fort nach
Jschia, dort trifft er ſeine Schweſter an.“


Ergriffen und ergrimmend mußte Albano
dieſe Worte hören, die Geſtalt des Vaters des
Todes auf jener Inſel ſah er jetzt recht klar
auf der Ruine; und deſſen Verſprechen, ihm
an einem Charfreitage zu erſcheinen, fiel ihm
wieder ein. Er ſuchte ſich jetzt an der Ruine
hinaufzuarbeiten, um den Mönch zu packen.
Ein Molaner rief, da er die fremde Sprache
hörte, der Mönch ſpricht mit dem Teufel. —
Der Himmelfahrer ſagte nichts darwider — er
zitterte heftiger — aber das Volk ſuchte den,
der es geſagt, und ſchrie: der mit der Maske
ſey es, denn der ſey nicht mehr zu finden.
[110] Endlich bat der Mönch bebend, ſie möchten
ſtill ſeyn, wenn er verſchwinde, und für ihn
beten, und nie ſeinen Körper ſuchen. Albano
war ihm jetzt, von Dian ungeſehen, nahe hin¬
ter dem Rücken. Da kam hoch im dunkeln
Blau ein Zug Wachteln langſam geflogen.
Der Mönch hob ſich ſchnell und wankend auf
— zerſtreuete die Vögel — rief in dunkler
Ferne: betet — und ſchwand in die weiten
Lüfte dahin.


Das Volk rief und jauchzete und betete zum
Theil, viele glaubten jetzt, der Teufel ſey im
Spiel. Unter den Zuſchauern lag ein Menſch
mit dem Geſicht auf der Erde und rief immer:
Gott ſey mir gnädig! Aber niemand brachte
ihn zu einer Erklärung. Dian, heimlich ein
wenig übergläubig, ſagte: hier ſteh' ihm der
Verſtand ſtill. Aber Albano erklärte, ſchon
lange zucke und ziehe ein Geiſter-Komplott
an ſeinem Lebensvorhang, allein irgend ein¬
mal greif' er gewiß glücklich durch den Vor¬
hang durch, und er ſey feſt entſchloſſen, ſo¬
gleich von Neapel nach Iſchia überzugehen,
um ſeine Schweſter zu ſuchen. „Wahrlich, (ſetzt'
[111] er dazu,) in dieſem Mutterlande der Wunder¬
phantaſie und jeder Größe glaubt man ſo leicht
ſchöne gebende Wunder des Schickſals, wie in
Norden entſetzliche raubende Wunder der Gei¬
ſter.“


Dian war auch für den frühſten Beſuch der
Inſel Iſchia, „weil ſonſt (ſetzt' er dazu), wenn
Albano in Neapel ſeine Briefe übergeben hätte
und in die Ricevimenti hinein oder auf den
Poſilippo und den Veſuv hinaufgerathen wäre,
dann kein Wegkommen ſeyn würde.“


Am Tage darauf giengen ſie von Mola ab.
— Das ſchöne Meer deckte ſich an ihrem Wege
auf und zu und nur der goldne Himmel ver¬
hüllte ſich nie. Neapels Freudenbecher berauſch¬
te ſchon von Fernen mit ſeinem Dufte und
Geiſte. Albano warf trunkne Blicke auf die
campania felice, auf das Coliseo im Kapua
und auf den weiten Garten voll Gärten und
ſogar auf die rauhe appiſche Straße, die ihr
alter Nahme ſanfter machte.


Aber er ſeufzete nach der Inſel Iſchia, die¬
ſem Arkadien des Meers, und dieſer Wunder¬
ſtelle, wo er eine Schweſter finden ſollte. Sie
[112] konnten nicht eher als Sonnabends in der Vor¬
nacht — wenn anders Wachen und glänzendes
Leben eine iſt, beſonders eine welſche Sonn¬
abends-Nacht — in Aversa ankommen. Al¬
bano beſtand darauf, in der Nacht fortzurei¬
ſen nach Neapel. Dian wollte noch ungern.
Zufällig ſtand ein ſchönes etwan vierzehnjähri¬
ges Mädchen im Poſthauſe, ſehr betrübt über
die verfehlte Poſt, und entſchloſſen, noch dieſe
Nacht nach Neapel zu gehen, um am heiligen
Sonntag noch früh genug nach Iſchia zu kom¬
men, wo ihre Eltern waren. „Aus Santa
Agata
(ſagte ſie) komme ſie her, heiße aber
nur Agata, und nicht Santa.“ „Wahrſchein¬
lich ihr alter Spaß,“ ſagte Dian, war aber
nun — bei ſeinem Umſchweben jeder ſchönen
Form — ſelber recht zur Nachtreiſe aufgelegt,
damit man die Schwarzäugige, die freudig und
hell in fremdes Augenfeuer blickte, fortbringen
könnte. Sie nahm es luſtig an, und ſchwatzte
vertraut wie ein Naturforſcher viel vom Epo¬
meo und Veſuv und weiſſagte ihnen unzählige
Freuden auf der Inſel und zeigte überall eine
verſtändige Beſonnenheit weit über ihr Alter.
Endlich[113] Endlich flogen ſie alle unter die hellen Sterne
in die ſchöne Nacht hinaus.

109. Zykel.

Albano fährt in der Beſchreibung ſeiner
Reiſe ſo fort:


„Eine helle Nacht ohne Gleichen! Die
Sterne allein erhellten ſchon die Erde und die
Milchſtraße war ſilbern. Eine einzige mit
Weinblüthen durchflochtene Allee führte der
Prachtſtadt zu. Überall hörte man Menſchen,
bald nahes Reden, bald fernes Singen. Aus
ſchwarzen Kaſtanienwäldern auf mondhellen
Hügeln riefen die Nachtigallen einander zu.
Ein armes ſchlafendes Mädchen, das wir mit¬
genommen, hörte das Tönen bis in den
Traum hinab und ſang nach und blickte,
wenn es ſich damit geweckt, verwirrt und
ſüßlächelnd umher, mit dem ganzen Ton und
Traum noch in der Bruſt. Singend rollte auf
einem dünnen leichten Wagen mit zwei Rä¬
dern, ein Fuhrmann auf der Deichſel ſtehend
luſtig vorüber. — Weiber trugen in der Kühle
ſchon große Körbe voll Blumen nach der Stadt:
Titan IV. H[114] — in den Fernen neben uns dufteten ganze
Paradieſe aus Blumenkelchen; und das Herz
und die Bruſt ſogen zugleich den Liebestrank
der ſüßen Luft. — Der Mond war hell wie
eine Sonne an den hohen Himmel heraufgezo¬
gen und der Horizont wurde von Sternen ver¬
goldet — und am ganzen wolkenloſen Himmel
ſtand die düſtere Wolkenſäule des Veſuv's in
Oſten allein. —


Tief in der Nacht nach zwei Uhr rollten
wir in und durch die lange Prachtſtadt, worin
noch der lebendige Tag fortblühte. Heitere
Menſchen füllten die Straßen — die Balkons
warfen ſich Geſänge zu — auf den Dächern
blühten Blumen und Bäume zwiſchen Lampen
und die Horen-Glöckchen vermehrten den Tag
und der Mond ſchien zu wärmen. Nur zuwei¬
len ſchlief ein Menſch zwiſchen den Säulengän¬
gen gleichſam an ſeinem Mittagsſchlafe. —
Dian, aller Verhältniſſe kundig, ließ an einem
Hauſe auf der Süd- und Meerſeite halten,
und gieng tief in die Stadt, um durch alte
Bekannte die Abfahrt nach der Inſel zu be¬
richtigen, damit man gerade bei Sonnenauf¬
[115] gang aus dem Meere herüber die herrliche
Stadt mit ihrem Golf und ihren langen
Küſten am reichſten auffaſſete. Die Iſchia¬
nerinn wickelte ſich in ihren blauen Schleier
gegen Mücken und entſchlief am ſchwarzſandi¬
gen Ufer.


Ich gieng allein auf und ab, für mich gab's
keine Nacht und kein Haus. Das Meer ſchlief,
die Erde ſchien wach. Ich ſah in dem eiligen
Schimmer (der Mond ſank ſchon dem Poſi¬
lippo zu,) an dieſer göttlichen Gränzſtadt der
Waſſerwelt, an dieſem aufſteigenden Gebürg
von Palläſten hinauf bis wo das hohe Sant'
Elmo-Schloß weiß aus dem grünen Strauße
blickt. Mit zwei Armen umfaſſete die Erde
das ſchöne Meer, auf ihrem rechten, auf dem
Poſilippo trug ſie blühende Weinberge weit in
die Wellen und auf dem linken hielt ſie Städte
und umſpannte ſeine Wogen und ſeine Schiffe
und zog ſie an ihre Bruſt heran. Wie eine
Sphinx lag dunkel das zackige Kapri am Ho¬
rizont im Waſſer und bewachte die Pforte des
Golfs. Hinter der Stadt rauchte im Äther der
H 2[116] Vulkan und zuweilen ſpielten Funken zwiſchen
den Sternen.


Jetzt ſank der Mond hinter die Ulmen des
Poſilips hinab, die Stadt verfinſterte ſich, das
Getöſe der Nacht verklang, Fiſcher ſtiegen aus,
löſchten ihre Fackeln und legten ſich ans Ufer,
die Erde ſchien einzuſchlafen, aber das Meer
aufzuwachen. Ein Wind von der Sorrentini¬
ſchen Küſte trieb die ſtillen Wellen auf — hel¬
ler ſchimmerte Sorrento's Sichel vom Monde
zurück und vom Morgen zugleich wie ſilberne
Fluren — Veſuv's Rauchſäule wurde abgeweht
und vom Feuerberg zog ſich eine lange reine
Morgenröthe über die Küſte hinauf wie über
eine fremde Welt.


O es war der dämmernde Morgen, voll
von jugendlichen Ahnungen! Spricht nicht
die Landſchaft, der Berg, die Küſte gleich ei¬
nem Echo deſto mehr Sylben zur Seele, je fer¬
ner ſie ſind? — Wie jung fühlt' ich die Welt
und mich und der ganze Morgen meines Le¬
bens war in dieſen gedrängt!


Mein Freund kam — alles war berichtigt
— die Schiffer angekommen — Agata wurde
[117] zur Freude geweckt — und wir ſtiegen ein, als
die Morgenröthe die Gebürge entzündete, und
aufgebläht von Morgenlüften flog das Schiff¬
chen ins Meer hinaus.


Ehe wir noch um das Vorgebürg des Po¬
ſilippo herumſchifften, warf der Krater des Ve¬
ſuv's den glühenden Sohn, die Sonne, lang¬
ſam in den Himmel und Meer und Erde ent¬
brannten. Neapels halber Erdgürtel mit mor¬
genrothen Palläſten, ſein Marktplatz von flat¬
ternden Schiffen, das Gewimmel ſeiner Land¬
häuſer an den Bergen und am Ufer hinauf
und ſein grünender Thron von S. Elmo, ſtan¬
den ſtolz zwiſchen zwei Bergen, vor dem Meere.


Da wir um den Poſilippo kamen, ſtand
Iſchia's Epomeo wie ein Rieſe des Meers in
der Ferne, mit einem Wald umgürtet und mit
kahlem weiſſen Haupt. Allmählig erſchienen
auf der unermeßlichen Ebene die Inſeln nach
einander wie zerſtreuete Dörfer und wild dran¬
gen und wateten die Vorgebürge in das Meer.
Jetzt that ſich gewaltiger und lebendiger als
das vertrocknete vereinzelte ſtarre Land, das
Waſſerreich auf, deſſen Kräfte alle, von den
[118] Strömen und Wellen an bis zum Tropfen, zu¬
ſammengreifen und ſich zugleich bewegen. —
Allmächtiges und doch ſanftes Element! Grim¬
mig ſchießeſt du auf die Länder und verſchlingſt
ſie und mit deinen aushölenden Polypenarmen
liegſt du an der ganzen Kugel. Aber du bän¬
digſt die wilden Ströme und zerſchmilzeſt ſie
zu Wellen, ſanft ſpieleſt du mit deinen kleinen
Kindern, den Inſeln, und ſpieleſt an der Hand,
die aus der leichten Gondel hängt, und ſchickſt
deine kleinen Wellen, die vor uns ſpielen, dann
uns tragen, und dann hinter uns ſpielen.


Als wir vor dem kleinen Niſita vorbei ka¬
men, wo einſt Brutus und Kato nach Zäſar's
Tod Schutzwehr ſuchten — als wir vor dem
zauberiſchen Baja und dem Zauberſchloſſe, wo
einſt drei Römer die Theilung der Welt be¬
ſchloſſen, und vor dem ganzen Vorgebürge vor¬
übergiengen, wo die Landhäuſer der großen
Römer ſtanden, und als wir nach dem Berge
von Cuma hinabſahen, hinter welchem Szipio
Afrikanus in ſeinem Linternum lebte und ſtarb:
ſo ergriff mich das hohe Leben der alten Großen
und ich ſagte zu meinem Freunde: „„Welche
[119] Menſchen waren das! Kaum erfahren wir
es gelegentlich im Plinius oder Zizero, daß
einer von ihnen dort ein Landhaus hat, oder
daß es ein ſchönes Neapel giebt, — mitten
aus dem Freudenmeer der Natur wachſen und
tragen ihre Lorbeer ſo gut wie aus dem Eis¬
meere Deutſchlands und Englands, oder aus Ara¬
biens Sand — in Wüſten und in Paradieſen ſchlu¬
gen ihre ſtarken Herzen gleich fort und für
dieſe Weltſeelen gab es keine Wohnung, außer
die Welt. Nur bei ſolchen Seelen ſind Em¬
pfindungen faſt mehr werth als Thaten, ein
Römer konnte hier groß vor Freude weinen!
Dian, ſage, was kann der neuere Menſch dafür,
daß er ſo ſpät lebt hinter ihren Ruinen?““ —


Jugend und Ruinen, einſtürzende Vergan¬
genheit und ewige Lebensfülle bedeckten das
miſeniſche Geſtade und die ganze unabſehliche
Küſte — an die zerbrochnen Aſchenkrüge todter
Götter, an die zerſtückten Tempel Merkurs,
Dianens, ſpielte die fröhliche leichte Welle und
die ewige Sonne — alte einſame Brückenpfei¬
ler im Meer, einſame Tempelſäulen und Bo¬
gen ſprachen im üppigen Lebensglanze das
[120] ernſte Wort — die alten heiligen Nahmen der
elyſäiſchen Felder, des Avernus, des todten
Meers wohnten noch auf der Küſte — Felſen-
und Tempeltrümmer lagen unter einander auf
der bunten Lava — alles blühte und lebte,
das Mädchen und die Schiffer ſangen — die
Berge und die Inſeln ſtanden groß im jungen
feurigen Tage — Delphine zogen ſpielend ne¬
ben uns — ſingende Lerchen wirbelten ſich im
Äther über ihre engen Inſeln heraus — und
aus allen Enden des Horizonts kamen Schiffe
herauf und flogen pfeilſchnell dahin. Es war
die göttliche Überfülle und Vermiſchung der
Welt vor mir, brauſende Saiten des Lebens
waren über den Saitenſteg des Veſuv's und
Poſilip's herüber bis an den Epomeo geſpannt.


Plötzlich donnerte es Einmal durch den
blauen Himmel über das Meer her. Das
Mädchen fragte mich: „„warum werdet Ihr
bleich? es iſt nur der Veſuv.““ Da war ein
Gott mir nahe, ja Himmel, Erde und Meer
traten als drei Gottheiten vor mich — von
einem göttlichen Morgenſturm wurde das
Traumbuch des Lebens rauſchend aufgeblättert
[121] und überall las ich unſere Träume und ihre
Auslegungen. —


Nach einiger Zeit kamen wir an ein lan¬
ges den Norden verſchlingendes Land, gleich¬
ſam der Fuß eines einzigen Bergs, es war ſchon
das holde Iſchia und ich ſtieg ſeelig-trunken
aus und da erſt dacht' ich an das Verſprechen
daß ich da eine Schweſter finden ſollte.“

110. Zykel.

Bewegt, gleichſam feierlich betrat Albano
das kühle Eiland, es war ihm als wehten ihm
die Lüfte immer die Worte zu: der Ort der
Ruhe. Agata bat ſie beide, bei ihren Eltern
zu wohnen, deren Haus am Ufer, nicht weit
vom Vorſtädtchen*), liege. Als ſie über die
Brücke giengen, die den grünen mit Häuſern
umwundenen Fels mit dem Ufer und dem Städt¬
chen zuſammenhängt: ſo zeigte ſie freudig in
Oſten das einzelne Haus. Wie ſie ſo langſam
giengen und ſich der hohe runde Felſen und
die Häuſerreihe im Waſſer abſpiegelte — und
wie auf den flachen Dächern die ſchönen Wei¬
[122] ber, welche die Feier-Lampen für den Abend
ordneten, zu einander ämſig herüberſprachen
und wie ſie die wiederkommende Agata grü߬
ten und fragten — und wie alle Geſichter ſo
heiter waren, alle Geſtalten ſo zierlich und ſel¬
ber die ärmſte in Seide — und wie die leben¬
digen Knaben kleine Kaſtaniengipfel niederzo¬
gen — und wie der alte Vater der Inſel, der
hohe Epomeo, vor ihnen ganz in Weinlaub
und Frühlingsblumen gekleidet ſtand, aus de¬
ren ſüßem Grün nur zerſtreuete weiſſe Luſthäu¬
ſer beglückter Berganwohner ſchaueten: ſo war
es Albano als ſey ihm das läſtige Gepäcke des
Lebens in die Wellen entfallen und die aufrech¬
te Bruſt ſauge weit den kühlen von Elyſium
her wehenden Äther ein; — über dem Meere
drüben lag die vorige ſtürmiſche Welt mit ih¬
ren heißen Küſten.


Agata führte beide ins elterliche Haus am
öſtlichen Abhang des Epomeo und rief ſogleich
im lauten frohlockenden Empfang eben ſo laut:
„Das ſind zwei brave Herren, die ins Haus
wollen.“ Der Vater ſagte ſofort: „Willkom¬
men, Exzellenzen! Ihr ſollt gern die Zimmer
[123] behalten, wenn auch nachher viele Badgäſte
kommen. Ihr findet nirgends beſſeres Quar¬
tier. Ich war ſonſt nur ein „„Dreher““ in der
Fayence-Fabrik; aber ſeit acht Jahren bin ich
ein Winzer und kann etwas geben. Wenn
war denn irgend ein Dezember und März *)
beſſer als diesmal? Befehlt, Exzellenzen!“ —
Plötzlich weinte Agata; die Mutter hatt' ihr
das Begräbniß der jüngſten Schweſter berich¬
tet, zu deſſen Feier, nach der Sitte der Inſel,
heute ein Freuden-Abend angeordnet war,
weil man einander zur ewigen ſeeligmachenden
Beſtätigung einer Kindes-Unſchuld durch den
Tod Glück zu wünſchen pflegte. Der Alte wollte
erſt recht ins Erzählen eingehen, als Dian ſei¬
nen Albano bat, nach ſo langer Seelen- und
Körperbewegung ſchlummern zu gehen bis
Sonnenuntergang, wo er ihn wecke. Agata
wies ihm ſein kühles Zimmer an und er gieng
hinauf.


[124]

Hier vor dem kühlenden See-Zephyr war
das Einſchlummern ſchon der Schlummer, und
das nachklingende Träumen ſchon der Schlaf.
Sein Traum war ein unaufhörliches Lied, das
ſich ſelber ſang: der Morgen iſt eine Roſe, der
Tag eine Tulpe, die Nacht iſt eine Lilie und
der Abend iſt wieder ein Morgen.


Er träumte endlich ſich in einen langen
Schlaf hinab. — Spät, im Dunkeln, ſchlug
er verjüngt wie ein Adam im Paradies das
Auge auf, aber er wußte nicht, wo er war. —
Er hörte fernes ſüßes Tönen, — unbekannte
Blüthendüfte durchſchwammen die Luft — er
ſah hinaus, der dunkle Himmel war mit gold¬
nen Sternen wie mit feurigen Blüthen beſtreuet
— an der Erde, auf dem Meere ſchwebten
Lichter-Heere und in tiefer Ferne hieng eine
helle Flamme mitten im Himmel feſt. Ein un¬
bekannter Traum verwirrte noch die wirkliche
Bühne mit einer verſchwundenen, und Albano
gieng durch das ſtille menſchenleere Haus fort¬
träumend heraus ins Freie wie in eine Gei¬
ſterinſel.


[125]

Hier zogen ihn Nachtigallen zuerſt mit Tö¬
nen in die Welt herein. Er fand den Namen
Iſchia wieder, und ſah nun, daß das Schloß
auf dem Felſen und die lange Dächer-Gaſſe
der Ufer-Stadt voll brennender Lampen ſtand.
— Er gieng auf die erleuchtete von Menſchen
umlagerte Stelle der Töne zu, und fand eine
ganz in Freudenfeuern ſtehende Kapelle. Einer
Madonna und ihrem Kinde in der Niſche wurde
unter dem geſchwätzigen Rauſche der Freude und
Andacht eine Nachtmuſik vorgeſpielt. Hier fand
er ſeine Wirthsleute wieder, die ihn alle im
Jubel ganz vergeſſen hatten, und Dian ſagte:
„ich hätt' Euch ſchon geweckt, die Nacht und
die Luſt währt noch lange.“


„Hört und ſeht doch dort den göttlichen
Vesuvio, der das Feſt ſo recht gut mitfeiert,“
rief Dian, der ſich ſo tief in die Wellen der
Freude eintauchte, als irgend ein Iſchianer.
Albano ſah hinüber nach der hoch im Ster¬
nenhimmel webenden Flamme, die wie ein Gott
den großen Donner unter ſich hatte, und die
Nacht hatte das miſeniſche Vorgebürg wie eine
Wolke neben dem Vulkan aufgerichtet. Neben
[126] ihnen brannten tauſend Lampen auf dem kö¬
niglichen Pallaſte der nahen Inſel Prozita.


Indem er über das Meer hinblickte, deſſen
Küſten in die Nacht verſunken waren und das
unermeßlich und finſter als eine zweite Nacht
dahin lag: ſo ſah er zuweilen einen zerfließen¬
den Glanz darüber ſchweifen, der immer brei¬
ter und heller floß. Auch zeigte ſich eine ferne
Fackel in der Luft, deren Lodern lange Feuer-
Furchen durch die flimmernden Wellen zog. Es
kam eine Barke näher mit eingezognem Segel,
weil der Wind vom Lande gieng. Weibliche
Geſtalten erſchienen auf ihr, worunter eine nach
dem Veſuv gewandte von königlichem Wuchs,
an deren rothem Seidenkleide der Fackelſchein
lang herunterfloß, das Auge feſt hielt. Wie
ſie näher ſchifften und das helle Meer unter
den ſchlagenden Rudern auf beiden Seiten
aufbrannte: ſo ſchien eine Göttinn zu kommen,
um welche das Meer mit entzückten Flammen
ſchwimmt und die es nicht weiß. Alle ſtiegen
ln einiger Ferne ans Land, wo beſtellte Die¬
ner, wie es ſchien, dazu gewartet hatten, um
alles zu erleichtern. Von der langen Geſtalt
[127] nahm eine kleine mit einer Doppellorgnette
verſehene einen kurzen Abſchied und gieng mit
einem anſehnlichen Gefolge fort. Die rothge¬
kleidete zog einen weißen Schleier über das
Geſicht und gieng, von zwei Jungfrauen be¬
gleitet, ernſt und einer Fürſtinn ähnlich, der
Stelle zu, wo Albano und die Töne waren.


Albano ſtand nahe an ihr, zwei große
ſchwarze Augen mit Feuer gefüllt und mit in¬
nigem Ernſt auf dem Leben ruhend ſtrahlten
durch den Schleier, der die ſtolze gerade Stirn
und Naſe verrieth. In der ganzen Erſcheinung
war für ihn etwas Bekanntes und doch Gros¬
ſes, ſie kam ihm als eine Feenköniginn vor, die
vorlängſt ſich mit einem himmliſchen Angeſicht
über ſeine Wiege lächelnd und begabend her¬
eingebückt und die nun der Geiſt mit alter Lie¬
be wieder erkennt. Er dachte wohl an einen
Nahmen, den ihm Geiſter genannt, aber dieſe
Gegenwart ſchien hier nicht möglich. Sie hef¬
tete ihr Auge mit Wohlgefallen und Aufmerk¬
ſamkeit auf das Spiel zweier Jungfrauen,
welche niedlich in Seide gekleidet, mit Gold
beſetzten ſeidnen Schürzen zur Tamburine ei¬
[128] ner Dritten anmuthig mit verſchämt geſenktem
Haupte und geſenkten Augen tanzten; die bei¬
den andern von der Fremden mitgebrachten
Jungfrauen und Agata ſangen mit italieniſcher
halber Stimme ſüß zur holden Luſt. „Es ge¬
ſchieht alles (ſagte ein alter Mann zur Frem¬
den,) in der That zur Ehre der heil. Jungfrau
und des heil. Nikola.“ Sie nickte langſam ein
ernſtes Ja.


Da ſtand plötzlich Luna, vom Opferfeuer
des Veſuv's umſpielet, drüben am Himmel, als
die ſtolze Göttinn des Sonnengottes, nicht bleich
ſondern feurig, gleichſam eine Donnergöttinn
über dem Donner des Bergs — und Albano
rief unwillkürlich: „Gott, der große Mond!“ —
Schnell hob die Fremde den Schleier zurück
und ſah ſich bedeutend nach der Stimme wie
nach einer bekannten um; als ſie den fremden
Jüngling lange angeblickt, wandte ſie ſich nach
dem Monde über dem Veſuv.


Aber Albano war von einem Gott erſchüt¬
tert, und von einem Wunder geblendet; er ſah
hier Linda de Romeiro. Als ſie den Schleier
hob, ſtrömte Schönheit und Glanz aus einer
auf[129] aufgehenden Sonne; zarte jungfräuliche Far¬
ben, liebliche Linien und ſüße Fülle der Jugend
ſpielten wie ein Blumenkranz um eine Götter¬
ſtirn, mit weichen Blüthen um den heiligen
Ernſt und mächtigen Willen auf Stirn und
Lippe, und um die dunkle Gluth des großen
Auges. Wie hatten die Bilder über ſie gelo¬
gen und dieſen Geiſt und dieſes Leben ſo ſchwach
ausgeſprochen!


Als wollte die Zeit die glänzende Erſchei¬
nung würdig umgeben, ſo ſchön ſpielten Him¬
mel und Erde mit allen Strahlen des Lebens
in einander — liebesdurſtig flogen Sterne wie
Himmelsſchmetterlinge ins Meer — der Mond
war über die ungeſtüme Erdflamme des Veſuv's
weggezogen und bedeckte mit ſeinem zarten Licht
die frohe Welt, das Meer und die Ufer — der
Epomeo ſchwebte mit ſeinen verſilberten Wäl¬
dern und mit der Einſiedelei ſeines Gipfels hoch
im Nacht-Blau — darneben lebten die ſingenden,
tanzenden Menſchen mit ihren Gebeten und ih¬
ren Feſt-Raketen, die ſie in die Höhe warfen.
— — Da Linda lange über das Meer nach
dem Veſuv geſehen: redete ſie den ſtillen Al¬
Titan IV. I[130] bano, um ſeinem Ausruf zu antworten und
ihr ſchnelles anblickendes Umwenden nach ihm
gut zu machen, ſelber an: „ich komme vom
Veſuv, (ſagte ſie,) aber er iſt eben ſo erha¬
ben in der Nähe als in der Ferne, was ſo
ſelten iſt.“ — Ganz fremd und geiſtermäßig
klang es ihm, daß er dieſe Stimme wirklich
hörte. Mit ſehr bewegter verſetzt' er: „aber in
dieſem Lande iſt ja alles groß, ſogar das Kleine
durch das Große — dieſe kleine Menſchenfreu¬
de hier zwiſchen dem ausgebrannten Vulkan *)
und dem brennenden — alles iſt eins und dar¬
um recht und ſo göttlich.“ Zugleich an- und
weggezogen, ihn nicht kennend, obwohl vor¬
hin von ſeiner Stimmen-Ähnlichkeit mit Ro¬
quairol getroffen, ſeinen einfachen Worten gern
nachdenkend, blickte ſie länger als ſie merkte
das redliche, aber trotzige und warme Auge
des Jünglings an; antwortete nichts, wandte
ſich langſam ab und ſah wieder ſtill den Spie¬
len zu.


Dian, der ſchon lange die ſchöne Fremde
[131] angeſehen, fand endlich in ſeinem Gedächtniß
ihren Nahmen und kam zu ihr mit der halb
ſtolzen halb verlegnen Miene der Künſtler ge¬
gen den Stand. Sie kannte ihn nicht wieder.
„Der Grieche Dian, (ſagte Albano,) edle Grä¬
finn!“ — Verwundert über des Grafen Erken¬
nung ſagte ſie zu dieſem: „ich kenne Sie nicht.“
— „Meinen Vater kennen Sie, (ſagte Albano,)
den Ritter von Ceſara.“ — „O dio!“ rief
die Spanierinn erſchrocken, wurde eine Lilie,
eine Roſe, eine Flamme, ſuchte ſich zu faſſen
und ſagte: „wie ſonderbar! Eine Freundinn
von Ihnen, die Prinzeſſinn Julienne, iſt auch
hier.“


Das Geſpräch floß jetzt ebener. Sie ſprach
von ſeinem Vater und drückte als Mündel ihre
Dankbarkeit aus: „es iſt eine mächtige Na¬
tur, die ſich vor allem Gemeinen bewahrt,“
ſagte ſie, ſogleich gegen die vornehme Sitte
ſchon theilnehmend von Perſonen ſprechend.
Den Sohn beglückte das Lob auf einen Vater,
er erhöhte es und fragte in froher Erwartung
wie ſie ſeine Kälte nehme.


„Kälte? — (ſagte ſie lebhaft,) das Wort,
I 2[132] haſſ' ich recht; wenn einmal ein ſeltener Menſch
einen ganzen Willen hat und keinen halben
und auf ſeiner Kraft beruht und nicht wie ein
Schaalthier ſich an jedes andere klebt: ſo heis¬
ſet er kalt. Iſt die Sonne in der Nähe nicht
auch kalt?“ — „Der Tod iſt kalt, (rief Al¬
bano ſehr bewegt, weil er oft ſelber mehr Kraft
als Liebe zu haben glaubte,) aber eine erha¬
bene Kälte, eine erhabene Quaal kann es wohl
geben, die mit Adlersklaue das Herz in die Hö¬
he entführt, aber es zerreiſſet mitten im Him¬
mel und vor der Sonne.“


Sie ſah ihn groß an: „Ihr ſprecht ja wie
ein Weib; (ſagte ſie) das allein hat ohne die
Macht der Liebe nichts zu wollen und zu thun;
aber es war artig.“ — Dian, zu allgemeinen
Betrachtungen verdorben und nur zu indivi¬
duellen tüchtig, unterbrach ſie mit Fragen über
einzelne Kunſtwerke in Neapel; ſie theilte ſehr
offen ihre eigenthümliche Anſicht mit, obwohl ziem¬
lich entſcheidend. Albano dachte zuerſt an ſeinen
zeichnenden Freund Schoppe und fragte nach
ihm: „bei meiner Abreiſe (ſagte ſie) war er
noch in Peſtiz, ob ich gleich nicht begreife, was
[133] ein ſo ungemeines Weſen da will — es iſt ein
gewaltiger Menſch, aber verworren und nicht
klar. Er iſt ſehr Ihr Freund.“ — „Was
macht (fragte Dian halb ſcherzend) mein alter
Gönner, der Lektor Auguſti?“ — Sie ant¬
wortete kurz und faſt über deſſen vertrauliches
Fragen empfindlich: „es geht ihm gut am
Hofe.“ — „Wenigen Naturen (wandte ſie ſich
über Auguſti fortfahrend an Albano) geſchieht
ſo viel Unrecht des Urtheils als ſolchen einfa¬
chen, kühlen, konſequenten wie der ſeinigen.“
Albano konnte nicht ganz Ja ſagen; aber er
erkannte in ihrer Achtung für die fremdeſte Ei¬
genthümlichkeit froh die Schülerin ſeines Va¬
ters, der ein Gewächs nicht nach der glatten
oder rauhen Rinde, ſondern nach der Blüthe
ſchätzte. Nie zeichnet der Menſch den eignen
Karakter ſchärfer als in ſeiner Manier, einen
fremden zu zeichnen. Aber Linda's hohe Of¬
fenherzigkeit dabei, die feingebildeten Weibern
ſo oft abgeht als kräftigen Männern Feinheit
und Hülle, ergriff den Jüngling am ſtärkeſten
und er glaubte zu ſündigen, wenn er nicht ſeine
große natürliche gegen ſie verdoppelte.


[134]

Sie rief ihre Jungfrauen zum Fortgehen.
Dian gieng fort. „Dieſe ſind mir nöthiger, (ſagte
ſie zu Albano) als ſie es ſcheinen.“ Sie habe
nehmlich, erzählte ſie, etwas von der Augen¬
krankheit *) vieler Spanierinnen, Nachts unend¬
lich kurzſichtig zu ſeyn. Er bat, ſie begleiten zu
dürfen, und es geſchah; er wollte ſie führen
ihrer Anmerkung wegen, ſie verbat's.


Unter dem Gehen ſtand ſie oft ſtill, um
nach der ſchönen Flamme des Veſuvs zu bli¬
cken. „Er ſteht (ſagte Albano) in dieſem Hir¬
tengedicht der Natur als eine tragiſche Muſe
da und hebt alles wie ein Krieg die Zeit.“ —
„Glauben Sie das vom Krieg?“ ſagte ſie. —
„Entweder große Menſchen, (verſetzte er) oder
große Zwecke muß ein Menſch vor ſich haben,
ſonſt vergehen ſeine Kräfte, wie dem Magnet
die ſeinigen, wenn er lange nicht nach den rech¬
ten Welt-Ecken gekehrt gelegen.“ — „Wie
[135] wahr! — (ſagte ſie.) Was ſagen Sie zu ei¬
nem galliſchen Krieg?“ — Er bekannte ſeinen
Wunſch für deſſen Entſtehung und die eigne
Theilnahme daran. Er konnte, ſogar auf Ko¬
ſten ſeiner Zukunft, gegen ſie nichts ſeyn als
offenherzig. „Seelig ſeyd Ihr Männer, (ſagte
ſie) Ihr grabt Euch durch den Lebens-Schnee
durch und trefft endlich die grüne Saat darun¬
ter an. Das kann keine Frau. Ein Weib iſt
doch ein dummes Ding der Natur. Ich ehre
ein Paar Häupter der Revoluzion, beſonders
das politiſche Kraft-Ungeheuer, den Mira¬
beau, ob ich ihn gleich nicht lieb haben kann.“


Unter dieſen Reden ſtiegen ſie am Epomeo
auf. Agata begleitete die beiden Geſpielinnen
ihrer frühern Zeit mit voller Zunge und hun¬
grigem Ohre für ſo viele gegenſeitige Neuig¬
keiten. Da er jetzt neben der ſchönen Jung¬
frau gieng und zuweilen in das Angeſicht blick¬
te, das durch die geiſtige Kraft noch ſchöner
wurde, zugleich Blume, Blüthe und Frucht,
ſtatt daß ſonſt umgekehrt der Kopf durch das
Geſicht gewinnt: ſo richtete er ſtrenge über ſein
bisheriges Betragen gegen dieſes edle Weſen;
[136] ob er gleich wie ſie aus Zartheit über das bis¬
herige Gaukelſpiel mit ihrem Nahmen ſo wie
über das Wunder des heutigen Begegnens
ſchwieg. — Still giengen ſie in der ſeltnen
Nacht und Gegend. Auf einmal blieb ſie auf
einer Höhe ſtehen, um welche der Brautſchatz
der Natur nach allen Seiten in Bergen aufge¬
häufet war. Sie blickten im Glanze umher,
der Schwan des Himmels, der Mond, wogte
fern vom Veſuve im hohen Äther — die Rie¬
ſenſchlange der Erde, das Meer, ſchlief feſt in
ihrem von Pol zu Pol reichenden Bette — die
Küſten und Vorgebürge dämmerten nur wie
Mitternachts träume — Klüfte voll Baumblü¬
then floſſen über von ätheriſchem Thau aus
Licht und unten in Thälern ſtanden finſtere
Rauchſäulen auf heiſſen Quellen und verwall¬
ten oben in Glanz — hoch lagen überall er¬
leuchtete Kapellen und tief um das Ufer dunkle
Städte — die Winde ſtanden ſtill, die Roſen¬
düfte und die Myrtendüfte zogen allein —
weich und lau umfloß die blaue Nacht die ent¬
zückte Erde, um den warmen Mond wich der
Äther aus und er ſank liebestrunken mitten aus
[137] dem Himmel immer größer auf den ſüßen Er¬
denfrühling herein — der Veſuv ſtand jetzt
ohne Flamme und ohne Donner, weiß von
Sand oder Schnee, in Morgen — im dunk¬
lern Blau waren die Goldkörner der feurigen
Sterne weit auseinander geſäet. — —


Es war die ſeltene Zeit, wo das Leben den
Durchgang durch eine überirdiſche Sonne hat.
Albano und Linda begegneten ſich mit heiligen
Augen und die Blicke löſeten ſich wieder ſanft
auseinander; ſie ſchaueten in die Welt und in
das Herz und ſprachen nichts aus. Linda kehrte
ſich ſanft um und gierig ſtill weiter.


Da rief auf einmal eines der nachgehenden
geſchwätzigen Mädchen aus: „es kommt wahr¬
lich ein Erdbeben, ich fühl' es recht, gute
Nacht!“ — Es war Agata. „Gott geb' ei¬
nes,“ ſagte Albano. „O warum?“ ſagte Lin¬
da eifrig aber leiſe. — „Alles was die unend¬
liche Mutter will und giebt, iſt mir heute kind¬
lich-lieb, ſogar der Tod — gehören wir nicht
mit zu ihrer Unſterblichkeit?“ ſagt' er. — „Ja,
das darf in der Freude der Menſch fühlen und
[138] glauben, nur im Schmerze ſprech' er nicht von
Unſterblichkeit, in ſolcher Seelenohnmacht iſt er
ihrer nicht würdig.“


Albano's Geiſt ſtand hier von der Fürſten¬
bank auf, um die hohe Verwandte zu grüßen
und ſagte: „Unſterbliche! und wär' es ſonſt
niemand!“ Sie lächelte ſtill und gieng fort.
Sein Herz war ein beſchriebenes Asbeſtblatt
ins Feuer geworfen, brennend, nicht verbren¬
nend, das ganze vorige Leben loſch weg,
das Blatt glänzte feurig und rein für Lin¬
da's Hand.


Als ſie die letzte Anhöhe erreichten, worun¬
ter Linda's und Juliennens Wohnung lag und
ſie neben einander zur Trennung ſtanden, da
rief plötzlich unten das Mädchen: „ein Erdbe¬
ben!“ — Aus der Hölle heran rollte ein Don¬
nerwagen in den unterirdiſchen Wegen — ein
breiter Blitz ſchlug die Flügel am reinen Him¬
mel unter den Sternen auf und zu — die Er¬
de und die Sterne zitterten und aufgeſchreckte
Adler flogen durch die hohe Nacht. — Albano
hatte die Hände der wankenden Linda ergrif¬
[139] fen. Ihr Angeſicht war vor dem Monde zu
einer blaſſen Götter-Statue aus Marmor ver¬
blüht. Es war ſchon vorbei; nur einige Sterne
der Erde ſchoſſen noch aus dem feſten Himmel
ins Meer und wunderbare Wolken zogen un¬
ten ringsherum auf. „Bin ich nicht recht furcht¬
ſam?“ ſagte ſie weich. Albano ſchauete ihr le¬
bendig und heiter wie ein Sonnengott im Mor¬
genroth ins Angeſicht und drückte ihre Hände.
Sie wollte ſie heftig wegziehen. „Gieb ſie mir
ewig!“ ſagte er heftig. — „Kühner Menſch,
(ſagte ſie verwirrt,) wer biſt Du? — Kennſt
Du mich? — Wenn Du biſt wie ich, ſo ſchwöre
und ſage, ob Du immer wahr geweſen?“ —
Albano ſah gen Himmel, ſein Leben wurde ge¬
wogen, Gott war nahe bei ihm, er antwortete
ſanft und feſt: „Linda, immer!“ — „Ich
auch!“ ſagte ſie und neigte ſchamhaft das
ſchöne Haupt an ſeine Bruſt, hob es aber ſo¬
gleich wieder auf mit den großen feuchten
Augen und ſagte ſchnell: „gehen Sie jetzt!
Früh Morgens kommen Sie, Albano! Adio,
adio!“ —


Die Mädchen kamen herauf, Albano gieng
[140] hinab, die Bruſt gefüllt mit Lebenswärme, mit
Lebensglanz — die Natur wehte mit friſchern
Düften aus den Gärten her — das Meer
rauſchte unten wieder und auf dem Veſuv
brannte eine Amors-Fackel, ein Freudenfeuer
— durch den Nacht-Himmel zogen noch einige
Adler nach dem Mond wie nach einer Sonne
— und an das Himmels-Gewölbe war die
Himmelsleiter aus goldnen Sproſſen von Ster¬
nen gelehnt.


Da Albano ſo einſam in der Seeligkeit
gieng, aufgelöſet in die Wonne der Liebe, in
den Duft der Thäler, in den Glanz der Hö¬
hen, träumend, ſchwebend: ſo ſah er Zugvö¬
gel über das Meer gegen den Apennin nach
Deutſchland fliegen, wo Liane gelebt. „Heili¬
ge droben, (rief ſein Herz,) du wollteſt dies
Glück, erſcheine und ſegne es!“ Unerwartet
ſtand er vor einer Kapellen-Niſche, worin die
heilige Jungfrau ſtand. Der Mond verklärte
die blaſſe Statue — die Jungfrau belebte ſich
unter dem Glanze und wurde Lianen ähnli¬
cher — er knieete hin und heiß gab er Gott
die Dankgebete und Lianen die Thränen. Als
[141] er aufſtand, girrten in Träumen Turteltauben
und ſchlug eine Nachtigall, die heißen Quel¬
len dampften ſchimmernd, und er hörte das
frohe Singen der fernen Menſchen herauf.


[142]

Neun und zwanzigſte Jobelperiode.

Julienne — die Inſel — Sonnenuntergang — Nea¬
pel — Veſuv — Linda's Brief — Streit — Ab¬
reiſe.


111. Zykel.

Nach einer langen Nacht wehte der friſche
Morgen, wo Albano die Schätze des ſeeligſten
Traums, die vom Monde geöffneten Blumen
des Glücks, vor der Sonne wiederfinden ſollte.
Ihm jauchzete das Leben, da er die geſtrigen
Höhen, die vom Firniß des Lichtes überzogen
glänzten, wieder beſtieg; nicht zu einem Ro¬
ſenfeſt, ſondern zu allen Blumen- und Erndte¬
feſten auf einmal, zu Myrten- und Lilienfe¬
ſten, zu Ährenleſen und Blüthenleſen gieng die
[143] Sonne über den glücklichen Boden hervor, und
wie ein Pfau mit ſeinem ſchleppenden Regen¬
bogen in einen Blüthenbaum hineinfliegt, ſo
hob ſich der junge Tag farbenſchwer und mit
Gärten beladen und voll Wiederſcheine auf die
blauen Höhen und lachte kindlich in die Welt.
— Albano ſah jetzt von ſeiner Höhe unten das
Zauberſchloß, worein ſich geſtern die mächtige
Zauberinn verloren.


Er kam unten an. Ein ſingendes Mädchen
auf dem blumenvollen Dache, das auf ihn ge¬
wartet zu haben ſchien, zeigte unter dem Fort¬
ſingen ſich herüberbeugend, ihm das nahe Zim¬
mer unter ihr, in das er gehen ſollte. Er trat
hinein; es war einſam — durch die Fenſter aus
geöltem Papier quoll ein wunderliches Mor¬
genlicht — auf die hölzerne Stubendecke wa¬
ren Figuren aus dem Herkulanum gemahlt —
in einer kampaniſchen Vaſe ſtanden gelbe
Schmetterlingsblumen und Myrtenblüthen und
zogen einen ſüßen Duftkreis um ſich her. Die
ſonderbare Umgebung umſchloß ihn immer enger,
da er gar einige Bilder und Geräthe fand,
die ihm bekannt vorkamen. Endlich erblickte
[144] er beſtürzt auf dem Tiſche einen halben Ring.
— Er nahm ſeinen halben hervor, den er im
gothiſchen Zimmer in jener Geiſternacht von
der angeblichen Schweſter bekommen und den
er für den Zufall der Vergleichung immer bei
ſich trug. Er drückte die Halbzirkel in einan¬
der — plötzlich ſchloſſen ſie einfaſſend ſich zu
einem feſten Ringe zu — Gott! dacht' er, was
greift wieder ins Leben! —


Da wurde haſtig die Thür geöffnet und die
Prinzeſſinn Julienne eilte lächelnd und weinend
herein und rief, ihm zufliegend: „o mein Bru¬
der! Mein Bruder!“ — „Julienne, (ſagt' er
ernſt und innig,) biſt Du endlich meine Schwe¬
ſter wirklich?“ — „O lange genug iſt ſie es,“
verſetzte ſie und ſah ihn zärtlich und ſeelig an
und lächelte ins Weinen. Dann umarmte ſie
ihn wieder, und ſah ihn wieder an und ſagte:
„Du ſchöner Albano-Bruder! — So lange
bin ich wie ein Mond um Dich herumgezogen
und mußte kälter und weiter bleiben wie er;
nun will ich Dich auch ausnehmend liebhaben,
ſo recht zurücklieben und vorwärts dazu!“ —
„Allmächtiger, (brach Albano weinend aus,
da[145] da er ſich ſo plötzlich von einem gebenden Arm
aus der Wolke umſchlungen fand,) das alles
giebſt Du mir auf einmal jetzt?“ — „Ach,
(rief Julienne lebhaft,) weint' ich nur auch
vor lauter Freude! Aber ich eſſe mein bit¬
teres Stück Schmerz mit dazu! Lieber Bruder,
Luigi ſchreibt mir geſtern aus Peſtiz, ich ſollte
zurückeilen, ſonſt erleb' er ſchwerlich meine Wie¬
derkunft. Dacht' ich das bei der Abreiſe? So
ſoll ich, was ich mit der einen Hand einnehme,
mit der andern ausgeben.“ Albano ſchwieg
dazu, weil er am Fürſten keinen Antheil neh¬
men konnte. Deſto mehr erquickt' er ſich mit
friſcher klarer Freude, am offnen wehenden
Orient der früheſten Lebenstage, an dem Bli¬
cke auf dieſe junge reine Blume, die gleichſam
in und aus der hellen friſchen Quelle ſeiner
Kindheit wuchs und ſpielte.


„Aber Himmel! erkläre mir (fieng Albano
an) wie alles zugieng.“ — „Jetzt, weiß ich,
hebt das Fragen an (verſetzte ſie). Die oſten¬
ſible Hauptſumme ſollſt Du kurz haben — fragſt
Du nach mehr, willſt Du ins Geheimbuch gu¬
cken, ſo ſchlag' ichs zu und ſage Dir einige
Titan IV. K[146] Lügen vor. Im nächſten Oktober, wohl eher,
kommt alles ans Licht. Zu allererſt! Meine
Mutter war und bleibt wahrlich rein und hei¬
lig bei dieſer Verwandtſchaft, bei dem allmäch¬
tigen Gott!“ —


„Welch ein Räthſel! (ſagt' er.) Biſt Du
die Tochter meines Vaters? Iſt Luigi mein
Bruder? Iſt meine todte Schweſter Severina
Deine Schweſter?“ fragt' er.


Julienne. Frage den Oktober!


Albano. Ach Schweſter!


Julienne. O Bruder! Traue der Tochter
Melchiſedeks. Ferner: ich war wohl die erſchei¬
nende Schweſter, die der Menſch mit dem kah¬
len Kopfe Dir in Lilar zuführte; ich konnte
nicht, ich mußte Dich haben, eh' Du ins Aus¬
land entflogſt. Das Alter, das ich damals im
Spiegel hatte, war wie Du ſiehſt nur vom
Kunſtſpiegel *) gemacht.


Albano. Wahrlich, ich dachte damals an
niemand als an Dich. Nur wie kommt ein
[147] Menſch wie der Kahlkopf und wie der Vater
des Todes — der mir ſo unbegreiflich in Mola
vorausgeſagt, daß ich Dich finden würde — —


Julienne. Das iſt unmöglich — Meinen
Nahmen nannt' er?


Albano. Bloß dieſer fehlte. Der Pater
iſt übrigens nach aller Wahrſcheinlichkeit mit
dem Kahlkopf Ein Menſch. Er fuhr dabei gen
Himmel.


Julienne. Da bleib' er ja und der An¬
dere mit. Geht und ficht mich oder Dich dieſer
dunkle Zauber-Bund etwas an, der in ſeinen
falſchen Wundern bisher immer durch ſeltſame
wahre unterbrochen wurde? Ich kam damals
in Lilar unſchuldig dazu und verhütete vielleicht
etwas Fürchterliches.


Albano. Bei Gott, ich muß fragen. Was
iſt denn ſein Zweck, wer ſein Leiter, ſein Obe¬
rer? —


Julienne. Vermuthlich der Vater der Grä¬
finn, denn der lebt noch unbekannt und unge¬
ſehen, hör' ich, obgleich Dein Vater Vormund
iſt. Erſtaune, wenn Du zu Hauſe biſt und
laſſe die Räthſel, die ſich ja für uns beide ſchon
K 2[148] ſo freudig entwickeln und erwarte die Okto¬
bertage.


Albano. Aber eins, geliebte Schweſter,
verſage mir doch nicht ein klares Wort über
mein und Dein wunderbares Verhältniß zur
edlen Gräfinn! Nur das!


Julienne. Hat Dir's denn ſchon mein
Herz verſagt? — Die Herrliche! — Wohl ihr
und mir und Dir! Dein erſtes Wort der Lie¬
be — die Götter ſetzten dies nun ſo feſt —
ſollte das Merkwort zu dem meinigen an Dich
werden, erſt von der Geliebten durfteſt Du die
Schweſter empfangen. Was Gaukler und Gei¬
ſter dazu und davon thaten, das weiß niemand
beſſer als der — Oktober; was ſoll ich erſt
lange zwiſchen Lüge und Meineid ausleſen?
Ich that bloß alles, euch beide nur vor einan¬
der hinzuſtellen; das Übrige wußt' ich voraus.
Nichts gelang — lauter erwürgender Wirrwarr
— alles gieng bergan — ich ſah theuere Men¬
ſchen *) in einem unſeeligen Frühling entſetzli¬
che Schmerzen ſäen, und dabei ſo voll Hoff¬
[149] nungen lächeln und konnte ihre unglücklichen
Hände nicht halten — ich, die ſo gewiß allen
Jammer voraus wußte. „O du fromme reine
Seele droben!“ ſagte ſie auf einmal mit zit¬
ternder Lippe zum Himmel hinauf — die Ge¬
ſchwiſter umfaßten ſich ſanft und weinten ſtill
über das unſchuldige Opfer.


„Nein, (ſagte Albano ſehr warm,) kein
Höllenbund konnte uns ſcheiden, wäre Sie nur
bei mir geblieben oder doch auf der Erde.“ —
„Sieh Albano, (ſagte Julienne, ihre frohern
Lebensgeiſter wieder zuſammenrufend und öff¬
nete alle dunkele Fenſter,) wie der Morgen-
Hügel auf und ab prangt und wallet! — Las¬
ſe mich ausreden! Recht zum größten Glück
erfuhr ich im Winter, daß Du nach Neapel
gedächteſt. Linda war ſchon einmal da gewe¬
ſen, und ihre Mutter in den hieſigen Bädern.
„„Mir (ſagt' ich zu ihr) thäten Iſchia's Bä¬
der ſo wohl als einer, reiſe mit, den triſten
Vormund in Rom wollen wir gar nicht berüh¬
ren und beſuchen.““ Sie willigte leicht ein.
Deiner wurde natürlich nicht gedacht, vorher
aber oft genug in Briefen und ſonſt, wo ich
[150] Dich immer unmäßig lobte. — Und nun nous
voici donc
. — Geſtern erhielt ich in Neapel den
traurigen Brief meines Bruders. Von Deiner
Ankunft wußt' ich noch nichts. Ich ließ die
Gräfinn allein zu Deinem Ton-Feſt gehen und
eilte mit dem ſchweren Herzen heim. Da ſie
freudig kam, that ſie ihres auf und ſagte mir
alles — und dann ich ihr alles. — Ach, Gott
Lob, (ſetzte ſie ihm an den Hals fallend dazu,)
daß wir nun endlich im Elyſium ausgeſtiegen
ſind und daß uns der morſche Charons-Kahn
nicht hat erſaufen laſſen. — Aber für ganz
Europa, auch für Deinen Dian, bleibet auf un¬
ſerer Verwandtſchaft das Sekretsinſiegel daran,
merke!“ Er mußte noch einige Fragen thun;
ſie antwortete immer aufgeweckt, der Oktober,
der Oktober! bis ſie auf einmal wie erwachend
ausrief: „o wie kann ich das ſo luſtig ſagen?“
aber ohne ſich darüber zu erklären.


„Jetzt will ich Dich, wie ichs bisher machte,
zur Gräfinn bringen, aber über einen kürzern
Weg!“ ſagte ſie, nahm ſeine Hand, führte ihn
hinaus, öffnete das Zimmer gegenüber, wo
Linda wohnte, und ſagte: „ich ſtelle Dir mei¬
[151] nen Bruder vor.“ Hoch erröthend gieng ihnen
die edle Geſtalt entgegen und umarmte ohne
ein Wort die liebe Freundin. Als ihr Auge Al¬
bano wiederfand, wurde ſie ſo betroffen, daß
ſie die Hand zurückzuziehen ſuchte, die er küßte;
denn ſie hatte geſtern kaum nur dämmernd ſein
ſchönes Auge und ſeine edle Stirn und den
Mund der Liebe geſehen; und dieſer blühende
Menſch ſtand, von doppelter Rührung beſeelt,
ſo hell und ſtill und ernſt vor ihr, voll edler,
rechter Liebe. Ihr Herz wäre gern an ſeines
gefallen; wenigſtens ihre Hand gab ſie ihm
in ſeine wieder und wünſchte ihm Glück zu die¬
ſem Morgen. Die nahe Antwort: „und zum
geſtrigen Abend,“ konnt' er nicht über die Lippe
bringen, aus eigner verſchämter Scheu, Lob zu
geben wie zu nehmen. „Endlich iſt der dritte
Mann zum Reiſe-Kollegium gefunden (ſagte
Julienne). Denn Du mußt in einigen Tagen
gleich fort, nach Peſtiz mußt Du mit, Albano.'‚
„Ich mit, Schweſter? (ſagt' er) ich wollte ei¬
nen Monat bleiben, in einige Tage aber iſt
der Beſuch des Veſuvs, Herkulanums und
Neapels zuſammengedrängt.“ — Er wunderte
[152] ſich nachher ſelber über den ſüßen Gehorſam
unter die ſchönen Befehle der Liebe, da er ſonſt
zu ſagen pflegte: „befiehl mir, zu befehlen: ſo
gehorch' ich nicht.“ — „Ich begleite meine
Freundinn, (ſagte Linda,) ſo gern ich nach Grie¬
chenland gegangen wäre, dem ich ſchon zwei¬
mal ſo nahe bin.“ —


„Noch in dieſer Nacht flieg' ich fort, (ſagt'
er) ich will nur wachen, ſehen, leben, lieben.“
Julienne fieng ſchon mit Schweſter-Sorgen
für ſeine Geſundheit und ſeine Zwecke an —
getheilt zwiſchen zwei Brüder, hätte ſie ſich
gern, wär' es nur möglich, beiden zugleich ge¬
opfert. — „Ischia hat der gute Menſch auch
noch nicht genoſſen, (ſagte ſie) das muß er
heute haben.“


Albano fühlte bei dieſer neuen weiblichen
Liebe, das Weib ſey das Herz in der ſchönſten
Geſtalt. In ihm klang ein Freudenlied: welch'
ein Tag liegt vor dir, und welche Jahre! —
Vom Überhang der doppelten Liebes-Blüthen
ſüß umſchlungen und eingeſponnen, ſah er das
Leben und die Erde voll Duft und Licht —
über den Morgenthau der Jugend war nun
[153] eine Sonne heraufgeführt und die dunkeln Tro¬
pfen ſtrahlten durch alle Gärten hinauf und
hinab.


Er warf endlich einen Blick auf den Ort,
der ihn umgab; Niobe's Gruppe, der Genius
von Turin, Amor und Pſyche, ſtanden abge¬
goſſen da, aus dem Kabinette eines Künſtlers
in Neapel entlehnt — die Wände waren mit
ſeltenen Gemählden geſchmückt, worunter der
— nieſende Schoppe war. Dieſer allein drang
mit der nordiſchen Vergangenheit heftig in ſein
erweichtes Herz und er ſagte der Geliebten ſein
Gefühl. „Sie ziehen (ſagte ſie) der Kunſt die
Freundſchaft vor, denn das Portrait iſt das
Schlechteſte in meiner Sammlung; aber das
Original verdient wohl alle Achtung.“


Sie gieng ins Kabinet und holte ein Mi¬
niaturbild von ſich ſelber, das ſie nach türki¬
ſcher Sitte darſtellt, eingeſchleiert und nur Ein
Auge aufgedeckt. Wie neben der Schleier-Däm¬
merung das offne Seelen-Auge lebendig blickte
und traf! Wie die Flamme ihrer Macht die
Hülle der Milde durchbrannte! — Linda nannte
den Meiſter des herrlichen Bildes, eben dieſen
[154] Schoppe und ſetzte dazu: er habe geſagt, hier
müſſe der Meiſter aus Gegengefälligkeit ſelber
ein Werk loben, das ihn ſo partheiiſch und
kräftig lobe, wie noch kein anderes Werk von
ihm. Sie erklärte dieſe Verſchiedenheit ſeines
Pinſels aus einer Urſache, die er ihr ſelber faſt
wörtlich geſagt: er habe nehmlich in ſeiner frü¬
heſten Jugend ihre Mutter ſo lange geliebt,
als er ſie geſehen und hernach niemand weiter
und darum hab' er, da ſie ihr ähnlich ſey, ſie
con amore gemahlt und wirklich etwas zu lei¬
ſten geſucht.


„O redlicher alter Menſch!“ ſagte Albano,
und konnte ſich kaum der Thränen aus Augen,
die ſo oft glücklich waren, erwehren; aber nur
aus heiligem Freundſchafts-Schmerz. Denn es
fuhr nun durch ihn — wie ein Wetterſtrahl
durch den hellſten Himmel — die durch alles,
durch Schoppens Tagebuch und Linda's Worte
und Rabettens Brief gewiſſe Vermuthung, daß
Linda die Seele ſey, die der ſonderbare Menſch
verborgen geliebt. Ein ſcharfer Schmerz ſchnitt
eilig aber tief durch ſeine Stirn; und er über¬
wand ſich bloß durch ſeine jetzige jüngere Fri¬
[155] ſche des Geiſtes, durch neu geſammelte Kraft
und Gewalt und durch den freien Gedanken,
daß ein Freund dem Freunde wohl und leicht
die Geliebte, aber nicht die Liebende ge¬
ben und opfern könne oder dürfe.


Julienne ſagte: „ein Wunder iſt's nur, daß
der Bruder zwiſchen zwei ſolchen Phantaſten
— wie dieſer Schoppe und Roquairol — nicht
ſelber einer geworden.“ Ein flüchtiger Krieg
brach aus. Linda ſagte: „Schoppe iſt nur eine
ſüdliche Natur im Kampfe mit dem nordiſchen
Klima.“ „Eigentlich mit dem Leben ſelber,“
ſagte Albano. Julienne blieb dabei: „ich lie¬
be überall Regel im Leben; bei beiden iſt
man nie ruhig und à son aise, ſondern nur
à leur aise.“ Sie fragte ihn geradezu über
Roquairol. „Er war einmal mein Freund und
ich ſpreche nicht mehr von ihm;“ ſagt' Albano,
dem des zernichteten Lieblings folternde Liebe
gegen Linda und ſelber deſſen Verwandtſchaft
mit Liane die Zunge band. Linda gieng mit
dem bloßen Urtheile eines überſpannten Schwäch¬
lings leicht und ohne beſonderes Gedenken ſeiner
Liebe gegen ſie oder ihres Abſcheues vor ihm
[156] darüber hin; ſie vergaß in der Ferne eben ſo
kalt jeden, der ihrem Innern widrig war, als
ſie in der Nähe ihn heftig davon ſtieß.


Julienne entfernte ſich, um die Anſtalten
zur kleinen Tag- und Inſelreiſe zu treffen. Al¬
bano ſchickte ein Blatt an Dian als Marſch¬
route nach Neapel; Linda ſagte über Julienne:
„ein tief- und feſt gegründetes Gemüth!“ —
„Das Stamm und Zweige nur in lauter kleine
duftende Blüthen einhüllt,“ ſetzt' er hinzu. —
„Und gerade, was ſie in Büchern und Geſprä¬
chen haſſet, die Poeſie, die treibt ſie recht in
Thaten. Individualität iſt überall zu ſchonen
und zu ehren als Wurzel jedes Guten. — „Sie
ſind auch ſehr gut,“ ſetzte ſie mit ſanfter Stim¬
me dazu. „Wahrlich, jetzt bin ichs, (ſagt' er,)
denn ich liebe recht; und nur ein vollendetes
Weſen kann man recht lieben und ganz unei¬
gennützig!“ —


So muß das Sonnenbild vollendet und
rund auffallen, um zu brennen. „Oder ei¬
nes, das man dafür hält (ſagte ſie). Ich
bin was ich bin und werde ſchwerlich an¬
ders. Wenn nur der Menſch einmal einen Wil¬
[157] len hat, der durch das Leben geht, nicht von
Minute zu Minute, von Menſch zu Menſchen
wechſelt — das iſt die Hauptſache.“ — „Lin¬
da, (rief Albano,) ich höre meine Seele — es
giebt Wörter, welche Thaten ſind, Ihre ſind's.“
Wenn ſie ſo ihre Seele ausſprach, verſchwand
vor ſeinem bezauberten Geiſte die ſchöne Ge¬
ſtalt, wie die goldne Saite verſchwindet, wenn
ſie zu tönen anfängt. Von der Vergangenheit
verwundet und beſtraft für ſeine oft harte Kraft
hauchte er — ob ihn gleich jetzt das Leben, die
Welt und ſelber das Land kühner, heller, fe¬
ſter und heiſſer gemacht — die uniſonen
Äolsſaiten, dieſer vieltönigen Seele, nur mit
leiſem Athem an. Aber wie mußte ſie ein
Mann bezaubern, zugleich ſo mächtig und ſo
zart — ein ſanftes Sternbild aus nahen Son¬
nen — ein ſchöner Kriegsgott mit der Lyra —
eine Sturmwolke voll Aurora — ein muthiger,
heiſſer Jüngling, der ſo redlich dachte! — Aber
ſie ſagte es nicht, ſondern liebte bloß wie er.


Er warf einen zufälligen Blick auf ihre
kleine Tiſch-Bibliothek. „Lauter Franzoſen!“
ſagte ſie; er fand den Montaigne, das Leben
[158]der Guyon, den Contrat social nnd zuletzt
Mdme Stael, ſur l'influence des passions. Er
hatte dieſe geleſen und ſagte, wie ihm die Ar¬
tikel über die Liebe, die Partheien und die Ei¬
telkeit unendlich gefallen und überhaupt ihr
deutſches, oder ſpaniſches Feuerherz, aber nicht
ihre franzöſiſche kahle Philoſophie, am wenig¬
ſten ihre unmoraliſche Selbſtmordſucht. — „Lie¬
ber Gott, (rief Linda,) iſt nicht das Leben ſel¬
ber ein langer Selbſtmord? — Albano, alle
Männer ſind doch irgendwo Pedanten, die gu¬
ten in der ſogenannten Moralität, und Sie
beſonders — kantiſche Maximen, breite weite
Fächer, Prinzipien müſſen ſie alle haben. —
Ihr ſeyd alle geborne Deutſche, recht deutſche
Deutſche, Sie auch, Freund. Hab' ich Recht?“
ſetzte ſie ſanft dazu, als begehre ſie ein Ja.


„Nein! (ſagte Albano.) Sobald einmal ein
Menſch etwas recht ernſtlich und ausſchlieſſend
treibt und verlangt: ſo heiſſet er ein Phantaſt
oder Pedant.“ — „O die ewigen Leſer und
Leſerinnen!“ rief Julienne, hereintretend, über
ſein Buch in der Hand aus. „Nie hat die
Prinzeſſinn eine Vorrede und eine Note gele¬
[159] ſen, (ſagte Linda,) wie ich noch keine wegge¬
laſſen.“ — Weiber, die Vorreden und Noten
leſen, ſind bedeutende; bei Männern wäre höch¬
ſtens das Gegentheil wahr. — „Wir können
reiſen, alles iſt fertig,“ ſagte Julienne.

112. Zykel.

Wie wehte drauſſen — als ſie in die feſtli¬
che Welt kamen — das kühle Himmelsblau
herab ſtatt der Erdenlüfte! Wie glänzte die
Welt und der Tag — und die Zukunft! Wie
ſchäumte im Lebenskelche der Liebestrank, für
jeden der drei Menſchen aus zwei berauſchen¬
den Mitteln gemacht, glänzend über! —


Sie folgten dem Wege nach dem Gipfel des
Epomeo, aber in ausweichender Freiheit und
in einem Wechſel der Natur, der nirgends wei¬
ter auf der Erde ſo iſt. Sie begegneten Thä¬
lern mit Lorbeern und Kirſchen, mit Roſen und
Primeln zugleich. — Es kamen kühle Schluch¬
ten mit reifen Orangen und Äpfeln ausgefüllt,
neben heiſſen Felſen von Aloe und Granaten
und an die Gipfel des Kirſch- und Apfelbaums
rührten oben die Wein- und Orangenblüthen.
— In den blühenden Klüften ſchlugen ſichere
[160] Nachtigallen und aus den Ritzen ſchoſſen gift¬
loſe Schlangenköpfe ans Licht — Zuweilen kam
ein Kloſter in einem Zitronenwäldchen, zuwei¬
len ein weißes Haus am Weingarten, bald
eine kühle Grotte, bald ein Kohlgarten neben
rothen Klee, bald eine kleine Aue voll weißer
Roſenblumen und Narziſſen, und überall ein
Menſch, der ſingend, tanzend und anredend
vorübergieng. — Wechſelnd deckten Höhen und
Gärten das Land und das Waſſer auf und zu
und lange ſchimmerte oft das weite ferne Meer
und ſeine Wolken-Küſte wie ein zweiter Him¬
mel durch die grünen Zweige nach. — —


Sie kamen dem Hauſe des Einſiedlers auf
dem Gipfel immer näher, auf bunten goldnen
Schwungfedern des Lebens ſich wiegend. Sie
ſagten einander zuweilen ein freudiges Wort,
aber nicht um ſich mitzutheilen, ſondern weil
das Herz nicht anders konnte und ein Wort
nichts war als ein freudiger Seufzer. Sie ſtan¬
den endlich auf dem Erden-Thron und blickten
wie von der Sonne herunter. Rings um ſie
war das Meer gelagert, ins Blau des Hori¬
zonts verſchmolzen — von Kapua her zog in
der[161] der Tiefe der weiße Apennin um den Veſuv
und herüber auf der langen Küſte Sorrento's
fort — und vom Pauſilip an verfolgten die Län¬
der das Meer bis über Mola und Terracina —
auf der geöffneten Welt-Fläche erſchien alles,
die Vorgebürge, die gelben Krater-Ränder
auf den Küſten und die Inſeln rings umher,
die der verhüllte fürchterliche Gott unter dem
Meere aus ſeinem Feuerreich an die Sonne ge¬
trieben — und das holde Iſchia, mit ſeinen
kleinen Städten an den Ufern und mit ſeinen
kleinen Gärten und Kratern, ſtand wie ein grü¬
nendes Schiff im großen Meer und ruhte auf
zahlloſen Wogen.


Da verſchwanden drunten die Größen der
Erde, nur die Erde allein war groß und die
Sonne mit ihrem Himmel war's. „O wie ſind
wir glücklich!“ ſagte Albano. Ja, ihr waret
glücklich dort, wer wird es nach euch ſeyn?
— Sich auf dem Baum des Lebens wiegend,
auf welchen ſchon ſein Kindes-Auge ſo früh
und ſehnſüchtig geblickt, ſagt' er alles was ihn
erhob und ergriff: „daran erkenn' ich die All¬
gewaltige, zornig und flammend ſteigt ſie aus
Titan IV. L[162] dem Meersboden herauf, pflanzt ein brennen¬
des Land und dann theilt ſie wieder lächelnd
an ihre Kinder Blumen aus; ſo ſey der Menſch,
Vulkan — dann Blume.“ — „Was ſind da¬
gegen (ſagte Julienne) alle Winterluſtbarkei¬
ten des deutſchen Wonnemonds! Iſt das nicht
eine kleinere Schweiz nur in einem größern
Genferſee?“ — Die Gräfinn, durch ihr Spa¬
nien einheimiſcher in ſolchen Reizen, hielt ſich
meiſtens ſtill. „Der Menſch (ſagte ſie) iſt die
Oreade und Hamadryade oder ſonſt eine Gott¬
heit und beſeelet Wald und Thal und den Men¬
ſchen ſelber beſeelet wieder ein Menſch.“


Der Einſiedler erſchien und ſagte, ihr her¬
aufgeſandtes Mahl ſey längſt angekommen; er
lobte ſeine Höhe mit: „oft (ſagt' er und machte
Julienne lachen,) raucht mein Berg wie der
Veſuv und Badgäſte ſehen herauf und fürchten
etwas, es iſt aber, weil ich mein Brod hier
oben backe.“ — Sie lagerten ſich im ſchattigen
Freien. Man mußte immer wieder auf die
lieblichen verkleinerten Inſeln hinabſehen, die mit
ihren in Gärten geſäeten Gärten, mit ihren mit
Herbſten durchflochtenen Frühlingen ſo ganz
[163] und nahe lag, ein großer Familiengarten, wo
die Menſchen alle beiſammen wohnen, weit
nicht Länder ſich mit Ländern verwirren, und
die Bienen und die Lerchen fliegen nicht weit
über den Garten des Meeres hinaus. Gleich
offnen ſtillen Blumen waren die drei Seelen
neben einander, duftend fliegt der Blumenſtaub
hin und her, neue Blumen zu erzeugen. Linda
verſank ganz in ihr großes tiefes Herz; der
Liebe ungewohnt, wollte ſie ſie darin anſchauen
und genießen, indeß kein Wort Albano's ihr
entfloh, denn es gehörte zur Liebe im Herzen.
Von Milde übergoſſen und ſinnend war ſie da,
mit dem großen Auge halb unter dem nieder¬
gehenden Augenlied — nach ihrer Sitte immer
lange ſchweigend wie lange ſprechend. Wie der
Diamant eben ſo glänzt wie der Thautropfe,
nur aber mit feſter Kraft und auch ohne Sonne:
war ihr Herz dem weichſten in jeder weiblichen
Milde und Reine gleich und übertraf es nur
an Stärke. Entzückt ſah Julienne es an, wenn
ſie etwa — nach einem kindlichen Vergeſſen Al¬
bano's, weil ihr Rede-Strom ſie von einer
Welt in die andere geriſſen — plötzlich und mit
L 2[164] unbefangener Freude mit ihrer feingeformten
Hand zu des Jünglings ſeiner zurückkehrte,
dem ihr Händedruck nichts kleineres war als
eine zärtere Umarmung.


Sie nahmen den nähern Rückweg gegen Al¬
bano's Wohnung herab, die immer in ihrem
Reben-Geniſte zu ihnen heraufſah. Man war
noch ſo kurz bei einander — am Morgen rei¬
ſete Albano. — Er ſollte von Portici aus ſchrei¬
ben, ein Bote den Brief holen — „und er
bringt mir auch einen,“ ſagt' er; — „gewiß
nicht!“ ſagte Linda. Albano bat. „Sie wird
ſich ſchon ändern und ſchreiben,“ ſagte Julienne.
Sie verneinte. Allmählig liefen Schattenfurchen
neben den ſchwarzen Lavaſtrömen den Berg
hinab, und in den Pappeln fiengen Nachtigal¬
len ſchon ihre melodiſche Dämmerung an. Sie
kamen Albano's Hauſe nahe; Dian lief entzückt
der Prinzeſſinn entgegen. Albano bat ihn, ohne
beide gefragt zu haben, eine Barke zu ſchaffen,
damit man den Abend genieße. Gerade zu ge¬
waltſamen Anträgen der Freude ſagen die Mäd¬
chen am liebſten das Ja. Dian war ſogleich
[165] mit einer zur Hand; mit ſeiner Freude hieng
er ſchnell an jeder fremden.


Sie ſtiegen alle ein, und fuhren unter die
Sonnenblumen, die jeder Sonnenſtrahl auf die
Wellen-Beete immer dichter pflanzte. Albano
vergaß — im jetzigen Feuer, gewohnt an die
Sitten des warmen Landes, wo der Liebende
vor der Mutter ſpricht und ſie von ihm mit
der Tochter, wo die Liebe keinen Schleier trägt,
nur der Haß und das Geſicht und wo die
Myrte in jedem Sinne die Einfaſſung der Felder
iſt — ſich einen Augenblick vor Dian und nahm
Linda's Hand; ſchnell entriß ſie ihm ſie, der Mäd¬
chen Sitte treu, die den Arm verſchenkt und den
Finger und Fingerhut verweigert. Aber ſie ſah
ihn ſanft an, wenn ſie abgeſchlagen.


Sie kamen auf ihrer Fahrt von Oſten nach
Norden wieder vor dem Felſen mit den Häu¬
ſern und vor den Gaſſen der Ufer-Vorſtadt
vorüber. Alles war froh und freundlich — al¬
les ſang, was nicht ſchwatzte — die Dächer
waren mit Webſtühlen ſeidner Bänder beſetzt
und die Weberinnen ſprachen und ſangen zu¬
ſammen von Dach zu Dach. Julienne konnte
[166] kaum das Auge von dieſem ſüdlichen Vereine
ablaſſen. Sie zogen weiter ins Meer, und die
Sonne gieng ihm näher zu. Die Wellen und
die Lüfte ſpielten mit einander, jene wehend,
dieſe wogend — Himmel und Meer wurden
zu Einem Blau gewölbt und in ihrer Mitte
ſchwebte, frei wie ein Geiſt im All, das leichte
Schiff der Liebe. — Der Umkreis der Welt
wurde ein goldner geſchwollner Ährenkranz voll
glühender Küſten und Inſeln — Gondeln flo¬
gen ſingend ins Weite und hatten ſchon Fackeln
für die Nacht bereit — zuweilen zog hinter ih¬
nen ein fliegender Fiſch ſeinen Bogen in der
Luft, und Dian ſang ihnen ihre bekannten
vorübergleitenden Lieder nach. — Dort ſeegel¬
ten ſtolz und langſam große Schiffe her, mit
rothem und blauem Helmbuſch gleich dem Him¬
mel flatternd, und als Sieger dem Hafen zu.
— Überall war Lebens-Moſt ausgegoſſen
und arbeitete brauſend — So ſpielte eine gött¬
liche Welt um den Menſchen! „O hier an
dieſer großen Stelle, (ſagte Albano,) wo alles
Platz hat, die Paradieſe und die ſchwarzen Or¬
kus-Ufer aus Lava — und das weiche Meer
[167] — und Veſuv's graues Gorgonenhaupt — und
die ſpielenden Menſchen — und die Blüthen
und alles — hier wo man glühen muß wie
eine Lava — dürfte man da nicht ſich gleich der
heißen Lava umher in die Wellen begraben in
ſeiner Gluth, wenn man wüßte, es könne et¬
was vergehen von dieſer Stunde, nur etwas
von Andenken davon, oder ein Pulsſchlag für
ein Herz? — Wäre das nicht beſſer?“ — „Viel¬
leicht“ ſagte Linda. — Julienne wurde durch die
weiche Freude vor das ferne Krankenbette ihres
Bruders gezogen und ſagte lächelnd: „kann
man es nicht wie die ſchöne Sonne drüben
machen, und unter die Wellen gehen und doch
wiederkommen? — Schauet doch ihrem Unter¬
gange recht zu, nirgends iſt er auf der Erde
ſo.“ —


Die Sonne ſtand ſchon zu einem großen
Goldſchild gewachſen vom Himmel gehalten
über den Ponziſchen Inſeln und vergoldete das
Blau derſelben — die weiße Krone aus Felſen-
Stacheln, Kapri, lag in Gluth und von Sor¬
rento's bis Gaeta's Küſten war den Welt-
Mauern dämmerndes Gold angeflogen — die
[168] Erde rollte mit ihrer Axe wie mit einer Spiel¬
welle nahe an der Sonne und ſchlug aus ihr
Strahlen und Töne — ſeitwärts lagerte ſich
verſteckt der Rieſen-Bote der Nacht auf das
Meer, der unendliche Schatte des Epomeo. —


Jetzt berührte die Sonne ihr Meer und ein
goldner Blitz zitterte durch den naſſen Äther
umher — und ſie wiegte ſich auf tauſend feu¬
rigen Wellen-Flügeln — und ſie zuckte und
hieng liebesbrünſtig, liebeglühend an dem
Meere und das Meer ſog brennend alle ihre
Gluth — Da warf es, als ſie vergehen wollte,
die Decke eines unendlichen Glanzes über die
erblaſſende Göttinn — — Dann wurd' es ſtill
auf der Welt — eine bewegliche Abendröthe
überfloß mit Roſen-Öl alle Wogen — die hei¬
ligen Untergangs-Inſeln ſtanden verklärt —
die fernſten Küſten traten heran und zeigten ihr
Roth der Entzückung — auf allen Höhen hien¬
gen Roſenkränze — der Epomeo glühte bis
zum Äther hinauf und auf dem ewigen Wol¬
kenbaum, der aus dem hohlen Veſuv aufwäch¬
ſet, verglomm im Gipfel der letzte dünne
Glanz.


[169]

Sprachlos wandten ſich die Menſchen von
dem Weſten nach dem Ufer um. Die Schiffer
fiengen wieder an zu ſprechen. „Mache, (bat
Linda ihre Freundinn leiſe,) daß Dein Bruder
ſich immer nach Abend wendet.“ Sie erfüllte
die Bitte, ohne deren Grund ſogleich zu erra¬
then. Immer ſah Linda in ſein ſchön beglänz¬
tes Angeſicht. „Bitt' ihn wieder, (ſagte ſie
zum zweitenmal,) es dämmert zu ſehr und
meine kranken Augen ſehen ohne Licht ſo übel.“
Es geſchah nicht; denn ſie ſtiegen ſogleich ans
Ufer. Die Erde zitterte ihnen, da ſie ſie betra¬
ten, als ein Sangboden der ſeeligen Stunde
nach. Albano war in ſprachloſer Rührung auf
das geliebte Angeſicht geheftet, das er bald wie¬
der verlaſſen ſollte: „ich ſchreibe Ihnen,“ ſagte
ſie unaufgefodert mit einem ſo rührenden Wi¬
derrufe der vorigen Drohung, daß er ſich, wär'
er nicht unter fremden Augen geweſen, dank¬
trunken auf ihre Hand, an ihr edles Herz ge¬
ſtürzet hätte. Das Scheiden und das Ende ei¬
nes harmoniſchen Tages wurde ſchwer, worin
der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein
Dreiklang geweſen. Jetzt ſchied Dian ſchon.
[170] „Nicht einmal die Roſen des Abends (ſagte
Julienne) ſind ohne Dornen.“ „Abgebrochen,
iſt überall das Beſte; wir wollen nach Hauſe,“
ſagte Linda. Albano bat, daß er begleiten
dürfe. „Wozu?“ ſagte Linda. — Leiſe ſetzte
ſie ihrer Augen wegen dabei: „ich kann Euch
kaum mehr ſehen — indeß kommt nur, ich hö¬
re doch.“ — „Schöne Veränderliche!“ ſagte
Julienne. „Ich verändere mich, (ſagte ſie,)
aber kein Anderer — nur bis zur Kapelle, Al¬
bano, Ihr ſchiffet morgen früh fort,“ — „Nicht
einmal, heute noch vielleicht,“ ſagte er.


Indem ſie nun ſo langſam und immer lang¬
ſamer den Berg hinangiengen und die Nachti¬
gallen ſchlugen und die Myrtenblüthen dufte¬
ten und die lauen Lüfte flatterten und oben die
ganze zweite Welt wie eine verſchleierte Nonne
durch die Silber-Gitter der Sternbilder heilig
ſchauete: ſo überfloß jedes Herz von treuer
Liebe, und der Bruder und die Schweſter und
die Geliebte nahmen wechſelnd einander die
Hand.


Auf einmal ſtand Linda an der Stelle der
geſtrigen Vereinigung und ſagte: „hier ſoll
[171] Er gehen, Julienne!“ und zog ſchnell ihre
Hand aus ſeiner und ſtreichelte leicht über ſeine
Locken und ſeine Wange, und dann über ſein
Auge und fragte: Wie? in einen Traum
verirrt. „Gleich, (ſagte Julienne,) aber auf
den italieniſchen Winter muß man doch, um
nur heimzukommen, gar warten, auf den
Mond.“ Da fiel der Bruder der zarten
Schweſter, welche ihm dadurch die längere
Gegenwart und der Freundinn das Wiederſe¬
hen durch die ſtärkere Beleuchtung zubereiten
wollte, an das Herz und rief mit Thränen
aus: „O Schweſter, wie viel haſt Du nicht
für mich gethan, eh' ich etwas thun oder Dir
danken konnte, — Du reichſt mir ja alles, jedes
Glück, die höchſte Seeligkeit, o wie biſt Du!“
— „Der Mond iſt da! (rief ſie) nun reiſe glück¬
lich und ſcheide!“


Wie ein ſilberner Tag war der Mond auf
die Gebürge heraufgetreten und die verklärte
Geliebte ſah des Geliebten blühendes Angeſicht
wieder. Er nahm ihre Hand und ſagte: „lebe
wohl, Linda!“ — ſie ſahen ſich lange an, die
Augen voll Seelen und ſie wurden ſich frem¬
[172] der und höher — da drückte er, ohne zu wis¬
ſen wie, die erhabene Jungfrau wie ein ſeeli¬
ger Geiſt eine Frühlingsſonne, ſich an das Herz
— und er berührte das Heiligthum ihres Ange¬
ſichts mit dem ſeinigen und wie Morgenröthen
zweier Welten ſchmolzen ihre Lippen zuſammen.
Linda ſchloß die Augen und küßte zagend und
nur ein einziges Leben und Glück rollte und
glühte zwiſchen zwei Herzen und Lippen. Ju¬
lienne umſchlang leiſe die Umarmung mit ihrer
und begehrte kein anderes Glück. Darauf ſchie¬
den alle, ohne wieder zu ſprechen, oder ſich
umzuſehen.

113. Zykel.

Albano flog mit der neuen Haſtigkeit, die
jetzt in ſeinen Handlungen regierte, ſchon un¬
ter dem kühlen Morgenſtern von dem glückli¬
chen Boden davon. Er ſagte dem Baumeiſter
Dian ſein ganzes Glück, weil er wußte, wie
ſehr der Mann noch ein Jüngling für die Lie¬
be blieb: „bravo! (antwortete Dian.) Wer
kann ohne Liebe in Italien auskommen? Un¬
ſer einer wenigſtens nicht. Hoffentlich iſt Euere
[173] prächtige Juno gegen Euch nicht ſo ſtolz wie
gegen andere Leute: dann mag's wohl ein Göt¬
terleben geben.“


In den Morgenlüften, von Sonne und
Woge angeſtrahlt, ſchwebt' er gleitend auf dem
blauen Spiegel-Meer zwiſchen zwei Himmeln,
und ſein Auge war ſeelig, wenn es nach dem
Olymp, Epomeo, zurückſah, und war ſeelig,
wenn es wieder auf die hinauf und hinabſchim¬
mernden Küſten, auf den langen ausgelegten
Markt der Erde blickte.


Als ſie unter den ſchwimmenden Palläſten,
den Schiffen, vorbei an die ſtehenden kamen:
trafen ſie das Volk im Taumel eines Heiligen-
Feſtes. Er vergrub gezwungen den blauen Tag
und das Meer in Tempeln — in Bilderſälen —
in vierten Stockwerken, wo nach der Sitte ei¬
nige Große wohnten, an welche er von ſeinem
Vater Briefe abgab — und ſchöner in der un¬
terirdiſchen finſtern Gaſſe, die ſich durch den
blühenden Poſilippo wölbt.


Nur die Ausſicht, daß er in der erſten näch¬
ſten Einſamkeit mit dem entrückten Herzen re¬
den werde, beruhigte ſeinen immer aus der Ge¬
[174] genwart fliehenden Geiſt. Abends beſtiegen ſie
die ſchönſte Höhe über Neapel, das Kamaldo¬
lenſer Kloſter, wo er unter den Freuden der
Ausſicht in grauer Ferne hinter dem Poſilippo
den hohen Epomeo ſtehen ſah. Er hielt ſich
nicht länger, ſondern fieng, an einer dichter
umblühten Stelle, die er ſich dazu ausſuchte,
dieſen Brief an Linda an:


„Endlich, edle Seele, kann ich zu Dir reden
und Deine Inſel wieder ſchauen, wiewohl nur als
eine aufgerichtete ſonnenrothe Abendwolke am
Horizont. Linda, Linda, o daß ich Dich habe
und hatte! Dauert denn der zweitägige Götter-
Traum noch herüber ins kalte Heute? Du biſt jetzt
ſo fern und ſtumm und ich höre kein Ja. Als
ich in Rom auf der Peterskuppel in den blauen
Morgenhimmel ſah und das Leben um mich
brauſend ſchwoll, wie die Lüſte mich umwehten:
ſo war mir als müßt' ich mich in ein fliegendes
Königsſchiff werfen und ein Ufer ſuchen, das
unter dem tiefſten Sternbild grünt; als müßt'
ich wie eine Kaskade hinabflattern durch den
Himmel und mich drunten durch das ſteinige
[175] Leben reiſſen, dringend und zerſtörend und tra¬
gend. Und ſo iſt mir jetzt wieder und noch
ſtärker; ich möchte zu Dir hinüberfliegen und
ſagen: Du biſt mein Ruhm, mein Lorbeerkranz,
meine Ewigkeit, aber ich muß Dich verdienen;
ich kann nichts für Dich thun, außer für mich.
— In der alten Zeit waren geliebte Jünglinge
groß, Thaten waren ihre Grazien und der Pan¬
zer ihr Feierkleid. — Heute als ich auf den Golf
von Baja und auf die Ruinen hinüberſah, wo
die Gärten und Palläſte der großen Römer
noch mit Trümmern oder Nahmen liegen; und
als ich die alten trotzigen Rieſen ſtehen ſah
mitten in Blumen und Orangen und in lauen
Duftlüften, davon erquickt, aber nicht erweicht,
mit der Hand den ſchweren Dreizack hebend,
der drei Welttheile bewegte und mit der mar¬
kigen Bruſt entgegentretend dem Winter in
Norden, der Gluth in Afrika und jeder Wun¬
de: da fragte mein ganzes Herz: biſt du ſo?
O Linda, kann der Mann anders ſeyn? Der
Löwe geht über die Erde, der Adler geht durch
den Himmel und der König dieſer Könige habe
ſeine Bahn auf der Erde und in dem Himmel
[176] zugleich. Noch war und that ich nichts; aber
wenn noch das Leben ein leerer Nebel iſt,
kannſt Du ihn überſteigen, oder feſtgreifen
und zerſchlagen? Willſt Du einmal, Du Ura¬
nide, einen Mann lieben, ſo tret' ich vor kei¬
nem zurück. Aber Worte ſind an Thaten nur
Sägeſpähne von der Herkuleskeule, wie Schop¬
pe ſagt. Sobald der Krieg und die Freiheit
auf einander ſtoßen, ſo will ich Dich im Sturm
der Zeit verdienen und Dir Thaten mitbringen
und die unſterbliche Liebe.


Hier ſteh' ich auf der göttlichen Höhe des
Kloſtergartens und blicke in ein grünes Him¬
melreich ohne Gleichen hinab. Die Sonne iſt
ſchon über den Golf hinüber und wirft ihre
Roſenfeuer unter die Schiffe und ein ganzes
Ufer voll Palläſte und voll Menſchen brennt
roth — durch die langen ausgebreiteten Stras¬
ſen unter mir rollt das Feſtgetümmel ſchon her¬
auf, und die Dächer ſind voll geſchmückter Men¬
ſchen und voll Muſik, Balkons und Gondeln
erwarten die göttliche Nacht zu den Geſängen.
Und hier bin ich allein und bin doch ſo glück¬
lich und ſehne mich ohne den Schmerz. Aber
wär'[177] wär' ich vor vier Tagen, Linda, wo ich Dich
noch nicht kannte und noch nicht hatte, hier
geſtanden und hätte angeſehen dieſen Abend —
das goldne Meer — das heitere Portici, das
Sonne und Meer mit Flammen anſpühlen —
den herrlichen Veſuv mit goldgrünen Myrten
umwunden und mit dem grauen Aſchen-Haupt
voll Sonnengluth — und hinter mir die grüne
Ebene voll Wolken aus Blüthenſtaub, die aus
Gärten ſteigen und in Gärten regnen — und den
ganzen webenden Zauberkreis freudiger Kräfte,
dieſe in Licht und Leben ſchwimmende Welt: —
dann, Linda, hätte ohne Dich durch die warme
Seeligkeit ein kalter Schmerz gezückt und im
goldnen Abendlicht wären Erinnerungen mit
Trauer-Larven gegangen.


O Linda, wie haſt Du meine Welt gerei¬
nigt und erweitert und ich bin nun überall
glücklich. Du haſt den ſchweren ſcharfen Pflug
des Lebens, der mühſam an der Ernte arbeitet,
in einen leichten Griffel und Pinſel verwandelt,
der umherſpielt bis er eine Götter-Geſtalt er¬
ſchafft. Sah' ich heute nicht jeden Tempel und
jeden Hügel froher, wie von Dir vergoldet und
Titan IV. M[178] jede Schönheit, ſie mochte an der Statue, auf
der Leinwand, oder auf der ſingenden Lippe
oder auf den Gipfeln blühen, prangte und duf¬
tete üppiger und dann flog ich von der kleinen
Blume auf zur blühenden Linda? —


Wie herrſchet die dunkle Gewalt hinter der
Wolke! Verſiegelte Befehle giebt ſie uns mit,
damit wir ſie auf einer ſpäten fremden Stelle
erbrechen. Gott, erſt auf Iſchia's Epomeo
mußt' ich meinen öffnen, da gieng ein Augen¬
blick über das Leben und gebahr die Ewigkeit,
der Schmetterling brachte die Göttinn!


Der Abend geht unter und ich muß ſchwei¬
gen. Wüßt' ich nur, wie der Deinige iſt!
Mein Leben beſteht jetzt aus zwei Stunden,
Deinen und meinen, und ich kann nicht mehr
mit mir allein leben. — Dieſer Tag ſey Dir
doch reich und mild entwichen und Dein Abend
wie meiner! Die Sonne röthet nur noch den
Veſuv, die Inſeln verglühen langſam im dun¬
keln Meer, ich ſchaue nun ohne mit Dir zu
ſprechen, den großen Abend an, aber o Gott
ſo anders als in Rom! Seelig werd' ich mein
Auge nur an Deine auslöſchende Inſel im
[179] Glanz-Getümmel des Abendroths heften und
lange noch hinſehen, wenn ſchon Epomeo's Gi¬
pfel in der Nacht verwittert; und dann werd'
ich heiter in das mit Lichtern umſtellte Grab
der Farben unter mir ſchauen — frohe Geſän¬
ge werden durch die Dämmerung ziehen — die
Sterne werden liebreich ſchimmern — und ich
werde ſagen: „„ich bin allein und ſtill, aber
unausſprechlich ſeelig, denn Linda hat mein
Herz und ich weine nur aus Liebe, weil ich an
ihres denke,““ und trunken werd' ich durch den
Blüthenrauch des Bergs hinuntergehen.“ —


Er kam langſam nach Neapel zu ſeinem
Freunde Dian zurück, alle Feſt-Luſt, die ihm
begegnete, das ganze Odeum der Wonne, in
welchem das klingende Rad der Leier ſchwin¬
delnd umrollte, ſchien ihm bloß ſein Nachklang
zu ſeyn, indeß ſonſt erſt den äußern ſinnli¬
chen Saiten des Menſchen die innern nachklin¬
gen. Er wollte nur immer weiter, und noch
— wenn es gienge — dieſe Nacht auf den
Weg nach dem Veſuv, für ihn gab es jetzt
M 2[180] nur Eine Tagszeit. Das wärmere Klima ſammt
der Liebe und dem Mai ſchienen alle Frühlings¬
winde ſeiner Kräfte zu wecken, ſie wehten un¬
geſtüm, ihm ſelber ſogar bewußt; nur vor der
Geliebten war er, noch wund von der Vergan¬
genheit, bloß ein Zephyr, der die ſtäubende
Blüthe ſchont.


Am andern Tage wollt' er nun den Veſuv
beſteigen und am Morgen darauf ſeinen Dian
in Portici erwarten, wenn er vorher auf dem
Vulkan die Sonne hatte aufgehen ſehen.

114. Zykel.

Seine Reiſe beſchrieb er ſeiner Geliebten:


In der Hütte des Einſiedlers auf
dem Veſuv.


„Warum liegt nicht der Menſch auf den
Knieen und betet die Welt an, die Berge, das
Meer, das All? Wie erhebt es den Geiſt, daß
er iſt und daß er die ungeheuere Welt denkt
und ſich! — O Linda, ich bin noch voll von
dem Morgen; auch wohne ich noch auf der er¬
habnen Hölle. Geſtern reiſete ich am Morgen
mit meinem Bartolomeo durch den reichen vol¬
[181] len Gartenweg nach dem heitern Portici, das
ſich an den Rieſen anſchmiegt wie Katana an
den Ätna. Immer dieſelbe große durch dies
erhabene Land ziehende epiſche griechiſche Ver¬
ſchmelzung des Ungeheuern mit dem Heitern, der
Natur mit den Menſchen, der Ewigkeit mit der
Minute. — Landhäuſer und eine lachende Ebene
gegenüber der ewigen Todesfackel — zwiſchen al¬
ten heiligen Tempelſäulen geht ein luſtiger Tanz,
der gemeine Mönch und der Fiſcher — die Gluth-
Blöcke des Bergs thürmen ſich als Schutzwehr
um Weingärten und unter dem lebendigen Por¬
tici wohnt das hohle todte Herkulanum — ins
Meer ſind Lavaklippen gewachſen, und in die
Blumen ſchwarze Sturmbalken geworfen. Das
Steigen war anfangs meiner Seele Erquickung,
der lange Berg wurde der vollen Wolke ein
Ableiter. Spät Nachts im ewigen Steigen
kamen wir ohne Genuß der Abendſonne, durch
deren rothen Glanz auf der Aſche wir ſchnell
waten mußten, hier beim Einſiedler an; der
Mond war noch nicht herauf, Deine Inſel
noch unſichtbar. Oft donnerte es unter dem
Fußboden der Stube. Da wurd' ich auf ein¬
[182] mal vom Einſiedler ſchön an meinen alten
Schoppe erinnert, indem er mir erzählte, daß
einmal ein hinkender Reiſende mit einem Wolfs¬
hund hierüber geſagt: im Veſuv ſey der Stall
der unaufhörlich polternden Donnerpferde. Das
war nach Allem gewiß nur Schoppe.


In der Mitternacht, meine Linda, als der
Mond über dem Apennin herüber war und
mit einem entzückten langen Silberblick vom
Himmel ſah und ich an Dich dachte, ſtand ich
auf und gieng leiſe hinaus, um wieder zu ſe¬
hen, wo Du wohneſt, meine Linda. Drauſſen
war es überall ſtill, ich hörte gleichſam die Er¬
de auf ihrer Bahn im Himmel donnern — die
Schatten der Lindenbäume um mich ſchliefen
feſt auf dem grünen Raſen — Veſuv's Rauch
ſtieg empor in die reine Luft — über das
dampfende Meer hin glänzte wunderlich der
Mond, und mühſam ſucht' und fand ich end¬
lich den einſamen Berg Deiner Inſel, hoch ins
Blau gezogen, ſilbern blühend unter den Ster¬
nen um ihn her, eine ſchimmernde Tempelzinne
für mein Herz. — „„Dort wohnt und ſchlum¬
mert Sie auf dem Thabor, eine Verklärte des
[183] Elyſiums!““ ſagte ich mir. — Um mich war
Aſche der Jahrhunderte, Stille des Sargs,
und nur zuweilen ein Poltern, als werfe man
auf jenen den Grabhügel — ich war weder im
Land des Todes noch der Unſterblichkeit —
Die Länder wurden Wolken — Neapel und
Portici lagen verdeckt — das weite Himmels¬
blau umfieng mich — ein hoher Nachtwind
bog die Rauchſäule des Vulkans nieder und
führte ſie wechſelnd-beglänzt in langen Wolken
durch den reinen Äther fort. — Da ſah ich
nach Iſchia, und ſah gen Himmel, o Linda, ich
bin aufrichtig, hör' es, daß ich die fromme
Liane, die Dich ſo unendlich liebte, bat, jetzt
um Dich zu ſchweben und Dir das Glück zu
bereiten, das ſie Dir ſonſt ſo gönnte. Auf
einmal wurden die Donner des Berges ganz
ſtill, die Sterne blitzten heller; da ſchauderte
mich die Stille und das Leben und ich gieng
in die Hütte zurück, aber lange noch weint' ich
vor Entzückung über den bloßen Gedanken, daß
Du glücklich würdeſt.


Der Morgen gieng auf; und mitten in ſei¬
nem dunkeln Winter traten wir die Reiſe nach
[184] der Feuer-Schlucht und Rauchpforte an. Wie
in einer abgebrannten dampfenden Stadt gieng
ich neben Höhlen um Höhlen, neben Bergen um
Berge vorbei, und auf dem zitternden Boden
einer ewig arbeitenden Pulvermühle dem Pul¬
verthurm zu. Endlich fand ich den Schlund die¬
ſes Feuerlands, ein großes glühendes Dampf-
Thal wieder mit einem Berg — eine Landſchaft
von Kratern, eine Werkſtätte des jüngſten Tags
— voll zerbrochner Welt-Stücken, gefrorner
geborſtener Höllenflüſſe — ein ungeheuerer
Scherbenberg der Zeit — aber unerſchöpflich,
unſterblich wie ein böſer Geiſt, und unter dem
kalten reinen Himmel ſich ſelber zwölf Donner¬
monate gebährend.


Dunkelröther ſteigt auf einmal der breite
Dampf, wilder gehen die Donner in einander,
heißer raucht die ſchwere Höllen-Wolke —
plötzlich fährt Morgenluft herein und ſchleppt
den flammenden Vorhang den Berg hinab —
— Da ſtand die helle gütige Sonne auf dem
Apennin, und der Somma und Ottayano und
Veſuv blühten im Friedens-Glanz und die
Welt gieng langſam nach der Sonne auf
[185] mit Gebürgen, Inſeln und Küſten. Der Ring
der Schöpfung lag auf dem Meere vergoldet
vor mir und wie die Zauberſtäbe der Strah¬
len die Länder berührten, ſo fuhren ſie leben¬
dig empor. — Und der alte Königs-Bruder des
Veſuv's, der Ätna, ſaß auf ſeinem goldnen
Thron und ſchauete über ſein Land und Meer.
— Und wie Schnee rollte von den Gebürgen
der lichte Tag in das Meer herunter, in Glanz
zerrinnend und floß über das weite glückliche
Kampanien und in dunkle Kaſtanien-Thäler.
— Und die Erde wurde unabſehlich und die
Sonne zog im weiten Strahlen-Netz die ſü߬
gefangne Welt im ſchönſten Äther weiter.


O Linda, da prangte Deine Inſel ausge¬
breitet, ſtolz gelagert im Meer mit herun¬
terflieſſendem Morgenrothe, ein hochmaſtiges
Kriegsſchiff — und ein Adler, der Vogel des
Donnergottes, flog in die ſeelige Weite, als
trag' er mein Herz in ſeiner Bruſt zu Deinem
Epomeo hin. — O ich möchte ihm nach, ſagte
mein Geiſt. — Der heiſſe Boden that Don¬
nerſchläge und der Rauch umhüllte mich. —
[186] Ich möchte ſterben, damit ich dem Adler nach¬
flöge und jetzt in Iſchia wäre . . . .


Hier hielt die heftig erregte Seele ſich innen.
Er gieng oder glitt den Abhang nach Portici
herab. In einem gegenſeitig vorher feſtgeſetzten
Hauſe glaubt' er ſeinen Freund wiederzufinden.
Aber er fand weder Dian noch den erwarteten
Brief von Linda. Entkräftet von Gehen, Wa¬
chen und Glühen fiel er im kühlen, ſtillen Zim¬
mer in einen Traumſchlaf. Da er erwachte,
ſtand die Mitternacht des italieniſchen Tags
um ihn, die Sieſta — alles ruhte unter dem
heiſſen ſtillen Lichte — im Himmel war keine
Lerche — die grünen Sonnenſchirme neben ſei¬
nem Fenſter, die Fichten, ſtanden ungeregt in
der Erde und nur die Pappeln wiegten leiſe
die neugebohrne Blüthe des Weins, die in ihren
Armen lag — und der Epheu, der von Gipfeln
hieng, ſchwankte ein wenig. — Solche Schat¬
tenzweige ſpielten einſt in Lilar in Chariton's
Zimmer, als er Lianen erwartete und damals
an Italien dachte. — Der große ebene einfa¬
[187] che Garten von Portici nach Neapel, ein von
Wellen umſpültes Garten-Gewebe von Dör¬
fern, Baumwäldchen und Landhäuſern, führte
ſein Auge über Blüthen nach ſeinem Paradies
im Meer. — Dieſe einſame ſtille Zeit voll
Sehnſucht erweichte unendlich ſein ſchönes Herz.
Er endigte ſo den abgebrochnen Brief:


In Portici.


O meine Linda! Ich bin Dir wieder nä¬
her, aber die Ferne zwiſchen uns wird mir hier
in der Stille ſo weit! O Linda, ich liebe Dich
mit Schmerzen, in der Nähe, in der Ferne —
o mit welchen verlör' ich Dich erſt? — War¬
um bin ich denn Deiner Liebe ſo gewiß? Oder
ſo ungewiß? Leiſe ſpricht Dein Herz zu mir.
Leiſe Muſik und Liebe iſt einer entfernten
gleich, — und die ferne auch wieder der leiſen.
hat mich der erhabne Säulenſtuhl des Donner¬
gottes neben mir ſo ſehr erſchüttert, oder denk'
ich zu lebhaft an das hohle todte Herkulanum
unter mir, wo Eine Stadt Ein Sarg iſt: wei¬
nend und beklommen ſeh' ich über das Meer
an die ſtille Inſel, worauf Du wohnſt. — O
daß es ſo lange wird, bis wir uns ſehen, daß
[188] Du nicht gleich jeden Gedanken aus meinem
Herzen ſchöpfſt und ich aus Deinem! Warum
ſtellt mir das Ausbleiben Deines Briefs auf
einmal größere Schmerzen, ach die größten vor
die Seele? Warum denk' ich die tiefſten Schmer¬
zensſtriche auf unſerer Stirn, die Runzeln des
Lebens ſind nur kleine Linien aus dem unge¬
heuern Bauriß, den der Weltgeiſt zieht, unbe¬
kümmert, welche Stirnen und Freuden ſeine
Glückslinie ſchmerzhaft durchſchneide? — Wenn
dieſe Linie einmal durch unſere Liebe gienge —
O vergieb den voreilenden Schmerz, in dieſem
Leben, dem Wechſel zwiſchen Strichgewittern
und Sonnenblicken, iſt er wohl erlaubt . . . .


Hier unterbrach ihn die Freude und Dian
in Begleitung eines Iſchianers, der einen
Brief von Linda brachte, um ſeinen mitzuneh¬
men. Er las ihn heftig und gab ſeinem noch
die Worte wie eine Freudenthräne mit: „Über¬
morgen komm' ich auf die Inſel. Was iſt
die Erde gegen ein Herz? Du biſt mächtig,
Du hältſt mein ganzes blühendes Daſeyn em¬
[189] por in den Himmel und es ſtürzt auf Dich,
wenn es ſtürzt. Lebe wohl! Ich fürchte wahr¬
lich weder das heiſſe Öhl noch die Flamme der
Pſyche.“ — Hier iſt Linda's Brief:


Wir beide leben ſehr ſtill, ſeit der artige
Flüchtling auf Bergen und in Palläſten umher¬
ſchwärmt. Wir ſprachen faſt zu viel von ihm
und ließen uns noch dazu die ſchwatzende Agata
holen, um gar von ſeiner Reiſe zu erfahren.
Ihre Julie iſt voll Seegen und Hülfe für Lin¬
da. Noch nie ſah' ich eine ſo klare, beſtimmte,
ſcharf durchblickende und doch kalte Natur, die
nur gebend liebt, mehr als liebend giebt. Sie
wird zwar nie die Schmerzen fühlen, die Ve¬
nus Urania ihren Erwählten ſchenkt; aber ſie
iſt eine gebohrne Mutter und eine gebohrne
Schweſter; und ich frage ſie zuweilen, warum
haſt Du nicht alle Brüder und alle Waiſen?


Seit dem Erdbeben bin ich etwas kränklich.
Ich habe es vielleicht nicht gewohnt, zu lieben
und ſo zu ſterben. Ich nehme ein philoſophiſches
Buch — denn Dichter greifen mich jetzt zu hef¬
[190] tig an — und glaub' ihm noch zu folgen,
wenn ich ſchon längſt weggeflogen bin über
das Meer. Ich leſe jetzt das Leben der herrli¬
chen Guyon, dieſe weiß wie man liebt — die¬
ſer göttliche Affekt gegen das Göttliche, dieſes
Selbſt-Verlieren in Gott, dieſes ewige Leben
und Beſtehen in Einer großen Idee — dieſe
wachſende Heiligung durch die Liebe und die
wachſende Liebe durch die Heiligung! Mir ent¬
ſinkt das Buch, ich ſchließe die Augen, ich
träume und weine und liebe Dich. O Albano,
komme früher. Was willſt Du jetzt an Ber¬
gen und Ruinen ſuchen? Kommen wir nicht
wieder? Aber ihr zerſtreueten Männer! Nur
die Weiber lieben, es ſey Gott oder Euch lei¬
der. Die Guyon, die heilige Therese, die et¬
was proſaiſche Bourignon, liebten Gott wie
kein Mann (außer der heilige Fenelon), der
Mann geht mit dem höchſten Weſen nicht viel
beſſer als mit dem ſchönſten um. Albano, haſt
Du eine andere Sehnſucht als ich, begehrſt
Du mehr auf der Erde als mich, mehr im Pa¬
radies als mich: ſo ſag' es, damit ich aufhöre
und ſterbe. Wahrlich, wenn Du Deine Schwe¬
[191] ſter umarmeſt: ſo bin ich eiferſüchtig und möchte
Deine Schweſter ſeyn, und Dein Freund Schop¬
pe und Dein Vater und alles was Du liebſt,
und Dein Ich, wenn Du es liebteſt und Dein
ganzer Himmel und Dein ganzes Du im Ich,
Dein Ich im Du.


Ich will Euch einiges von meiner Geſchichte
erzählen. Still gieng ich lange über die Erde
— ich ſah die Höfe, die Nazionen und Länder
und fand, daß die meiſten Menſchen nur
Leute ſind. Was gieng es mich an? Man
ſage gar von nichts, das iſt bös, ſondern nur,
das iſt dumm — und denke nicht mehr daran.
Was ich nicht liebe, exiſtirt für mich auch nicht und
anſtatt lange zu haſſen oder zu verachten, hab'
ichs vergeſſen. Ich wurde für ſtolz und phan¬
taſtiſch geſcholten und konnt' es niemand recht
machen. Aber ich bewahrte und nährte mein
Inneres, denn kein Ideal darf aufgegeben wer¬
den, ſonſt erliſcht das heilige Feuer des Lebens
und Gott ſtirbt ohne Auferſtehung. — Ich ſah
die Männer und fand immer bloß den Unter¬
ſchied unter ihnen, daß die einen fein, verſtän¬
dig und zart waren ohne Enthuſiasmus und
[192] Gemüth, die andern ſehr herzlich und enthuſi¬
aſtiſch mit bornirter Rohheit, alle aber ſelbſt¬
ſüchtig; wiewohl ſie, wenn ihr Herz voll und
nicht im Abnehmen iſt, eben wie der volle Mond
die wenigſten Flecken zeigen. Neben den Leh¬
ren meiner großen Mutter, neben Ihrem gros¬
ſen Vater beſtand Keiner. Ihren Roquairol
konnte man weder lieben noch haſſen noch ach¬
ten noch fürchten, wiewohl ſehr nahe an alles
dieſes zuſammen kommen.


Es machte viel auch, daß ich immer reiſete;
Reiſen erhält oft kälter. Wenn ich nach der
Küſte ſehe und denke, daß ein großer Römer
bald in Baja, bald in Deutſchland, bald in
Gallien bald in Rom war, und daß ihm die
Erde eine große Stadt wurde: ſo begreif' ich
leicht, daß ihm die Menſchen zu Maſſen wur¬
den. Reiſen iſt Beſchäftigung, was uns Wei¬
bern immer fehlet. Die Männer haben immer
zu thun und ſchicken die Seele auswärts, die
Weiber müſſen den ganzen Tag daheim bei ih¬
rem Herzen bleiben. In der Schweiz legt' ich
mir (ſo wie die Prinzeſſinn Idoine) eine kleine
Ökonomie an und ich weiß, wie man über
kleine[193] kleine Ziele, die man täglich erreicht, ſich über
das Hohe tröſtet, das wie ein Gottes-Thron
in der Höhe liegt.


Da kam ich gerade in dieſer ſtillen Wo¬
che
des Lebens an den Eisſee in Montanvert.
An pittoresken Bergen, Ebenen, Klüften hatt'
ich mich in Spanien ſatt geſehen, und an Eis¬
bergen in der Schweiz. Aber ein Eismeer in
dieſer Höhe, ein einſames uraltes blaugrünes
Meer von rothen Felſen umſtanden, eine breite
Wüſte voll reger aufſtehender Wellen im Sturm,
die ein plötzlicher Tod, ein Meduſenhaupt ſo
mitten im Leben ſtarr und feſt gemacht! Es
ſchlug ein Gewitter, mir ſonſt furchtbar, da¬
mals mit Flammen den Berg herauf, ich merkt'
es kaum, meine Seele hieng ſinnend an der
Stille eines verſteinerten Sturms, an der Ruhe
des — Eiſes! Ich erſchrack, weinte ungewöhn¬
lich den Berg herab und in derſelben Woche
legt' ich das ökonomiſche Spielwerk bei Seite
und reiſete fort.


Ich machte aber keine Wettergebete, ſondern
wohnte drunten ohne Klage in der Regenſchlucht
eines dunkeln kalten Daſeyns. Da brachte mich
Titan IV. N[194] das Schickſal auf den Epomeo und da wollten
die Götter, daß es ſich änderte.


Aber nun muß es ſo bleiben. Wenn ein
ſeltenes Weſen zu einem ſeltenen Weſen geſagt
hat: Du biſt's! ſo ſind ſie nur durch und für
einander. Die Pſyche mit der Lampe wird es
nicht fühlen, wenn die Lampe ihre Locken und
ihre Hand und Herz ergreift und verbrennt,
während ſie ſeelig den ſchlummernden Amor
anſchauet; aber wenn der entſchlüpfende heiſſe
Öhltropfe aus der Lampe den Gott berührt und
er aufwacht und ihr zornig entfliegt auf ewig
— auf ewig. Ach du arme Pſyche! — Was
hilft dir der Tod im aufgelöſ'ten Eismeer? —
— Hat denn noch kein Mann den Schmerz
der verlohrnen Liebe empfunden, damit er wiſſe,
wie noch tauſendmal härter er eine Frau ver¬
heere? Welcher hat denn Treue, die rechte, die
keine Tugend und keine Empfindung iſt, ſon¬
dern das Feuer ſelber, das den Kern der Exi¬
ſtenz ewig belebt und erhält? —


Ich bin krank, Albano, ſonſt weiß ich nicht,
wie ich zu dieſen triſten Ideen komme. Ich
bin ſo ruhig im Innerſten; ich habe nur die
[195] Saiten, nicht die Stimmung gezeigt. Wir ſol¬
len nicht auf die Zukunft wirken und ſehen,
ſondern auf die nächſte Gegenwart. Erſchiene
je die Zeit, — ich habe weder Reue noch Ge¬
duld —, je die Zeit, wo Du mich nicht mehr
und recht liebteſt: ach ich würde ſtiller, ſtärker,
kürzer ſeyn als jetzt, und was giebt es weiter
als entweder für den Geliebten ſterben oder —
durch ihn?


Komme bald, Holder! Es iſt ſehr ſchön um
uns, es hat geregnet, alle Welt jubiliret und
ſieht die Sonnen-Tropfen und hat ſich einen
Himmels-Trank geſammlet; auch ich habe für
Dich Taſſen und Vaſen in der Eile hinausge¬
ſtellt. Komme, ich will Dir das Öhlblatt
und den Myrtenzweig bringen und um das
Haupt Roſen und Violen winden. Komme,
ich dachte ſonſt nicht, daß ich ſo oft nach dem
Poſilippo ſehen würde. — L.


N. S. Auch die Nebenbuhlerinn ſieht nach
dem Poſilippo und freuet ſich auf Dein
Wiederſehen. Doch übereile nichts. Adio,
caro. I.


N 2[196]

Albano fand in dieſem Karakter eine ſtille
Rechtfertigung und Erfüllung aller Foderungen,
die er früher bei Lianens Leben immer an ein
geliebtes Weſen machen mußte; er nahm aber
in der Unſchuld ſeiner Liebe nicht wahr, daß
gerade dieſem Weſen die in ſeinem Briefe re¬
gierende Sehnſucht nach Krieg und Thaten nicht
gefallen könne.


Er beſuchte nun die unterirdiſche Stadt in
ihrem Gottesacker, gleichſam neben der Ceſtius-
Pyramide des Vulkans. Dian gieng mit ihm
das Herkulanum als ein antiquariſches Lexikon
durch, um ihm die ganze Haushaltung der Al¬
ten bis zum Mahlen hinauf aufzublättern; aber
Albano war bewegter als ſein Freund von die¬
ſer mitten in der Gegenwart wohnenden Ver¬
gangenheit, von den ſtillen Häuſern und nächt¬
lichen Gaſſen und von den häufigen Spuren
der fliehenden Verzweiflung. „Wären denn
nicht dieſe Leute alle jetzt doch todt ohne den
Veſuv?“ fragt' ihn Dian heiter im heitern
Lande. „Ich frag' Euch lieber (fuhr er fort,)
ob ein Baumeiſter, wenn er aus dieſer Kunſt¬
kammer oder Kunſtſtadt gekommen, in Eurem
[197] Deutſchland noch viel Luſt haben kann, nach
der größten Ruine der Erde die erbärmlichen
winzigen für Eure Fürſtengärten anzugeben?“
— Sie ſahen in einem dunkeln Vorhaus eben
eine irdene Maske an, die man in Gräber ſtell¬
te, mit Lampen wie Augen darhinter. Da
blickte ihn Albano ſtarr an und ſagte: „ſind
wir nicht blitzende Larven aus Erde am Grab?“
— „Pfui, die häßliche Idee!“ ſagte Dian.


Noch lange drauſſen im lebendigen Sonnen¬
ſchein giengen ihm dunkle Gedanken nach, neben
dem glänzenden Portici ſtand der Veſuv als Schei¬
terhaufen und der Todesengel darauf. Er dachte
an Hamiltons Weiſſagung, daß das ſchöne
Iſchia einſt auf der Mine eines Erdbebens
ſterbe. Selber Linda's Brief betrübte ihn mit
dem bloßen Gemählde ihres möglichen Verluſts.


In Neapel beſah er noch einige Merkwür¬
digkeiten; dann ſchifft' er ſich am andern Mor¬
gen nach dem Eden der Wellen ein.

115. Zykel.

Und als ſie ſich wieder ſahen und wieder
faßten: waren ſie entzückter und verbundner,
[198] als es jedes glückliche Herz vorausgeſehen. Lin¬
da ſaß ſtill und ſanft, ſah den ſchönen Jüng¬
ling an und ließ ihn und die Schweſter erzäh¬
len, die ſich oft unterbrach, um beide zu küs¬
ſen. Er ſprach ſehr erfreuet über Linda's Brief;
Männer machen überall mehr aus dem Geſchrie¬
benen, als Weiber. Linda ſprach gleichgültig:
„Ach was! Iſt's geſchrieben und geleſen, ſo
ſey es vergeſſen. In Ihren iſt zuweilen auch
ein nordiſches Faux-brillant.“ — „Die Grä¬
finn (ſagte Julienne,) lobt niemand ins Geſicht,
als ſich.“ Linda ertrug mit eigner Gutmüthig¬
keit den Spott. Albano, ihr oft gefallend und
mißfällig, wo ers nicht wußte, vergab der Lie¬
be ſo leicht. Der Freundſchaft vergiebt die be¬
leidigte Eitelkeit ſchwerer.


„Zwar doch! (holte Julienne plötzlich unter
dem Schleier der Luſtigkeit zu einer ernſten Re¬
de aus,) Dein Emigrir-Projekt nach Frank¬
reich iſt ein Faux-brillant. Kannſt Du denn
glauben, daß man es Dir zuläſſet, daß eine
Prinzeſſinn-Schweſter von Hohenflies dem Bru¬
der Päſſe zu einem demokratiſchen Feldzuge
unterſchreibt? Nimmermehr! Und gar kein
[199] Menſch, der Dich liebt!“ — Albano lächelte,
wurde aber am Ende ernſt. Linda war ſtill
und ſenkte das Auge. „Zeige mir (ſagte er
ſanft wie nur mit halbem Ernſt und Scherz) auf
der Landkarte eine beſſere Laufbahn!“ — „Ei¬
nen böſern Laufgraben? (ſagte ſie ſpielend.)
Wohl kaum!“ Nun ſchattete ſie mit ariſtokra¬
tiſchen, weiblichen und fürſtlichen Farben zu¬
gleich, mit dreifarbigen Farbenerden alle Flam¬
men, Rauchwolken und Wellen ab, womit der
Monte nuovo der Revoluzion aus dem Grunde
aufgeſtiegen war. Und ſetzte dazu: „lieber ein
müßiger Graf als das!“ — Er wurde roth.
Von jeher war ihm das weibliche Binden der
männlichen Kraft, das liebende Krummſchlies¬
ſen zu Blumen herab, das ungerechte Umſchmie¬
den des Liebes-Rings Galeeren-Ring zum ſo
aufſchreckend und verhaſſet; — „in einer Welt,
die nur eine Meßwoche und ein Maskenball
iſt, nicht einmal Meß- und Maskenfreiheit zu
behalten, iſt ſtark,“ hatte einmal Schoppe ge¬
ſagt und er nie vergeſſen, weil es aus ſeiner
Seele in ſie kam. „Schweſter, Du biſt entwe¬
der nicht mein Bruder, oder ich Deine Schwe¬
[200] ſter nicht, (ſagt' er,) ſonſt verſtänden wir uns
leichter.“ Linda's Hand zuckte in ſeiner, und
ihr Auge gieng langſam zu ihm auf und ſchnell
nieder. — Julienne ſchien vom Vorwurfe des
Geſchlechts betroffen zu ſeyn. Albano dachte
an die Zeit, wo er ein Herz aus Wachs zer¬
drückte mit einem aus Eiſen und ſagte, heller
und kälter: „Julienne, ich will gern kein Nein
zu Dir ſagen, wenn Du es nur für kein Ja
anſiehſt.“ — Er könnte, fiel ihm ein, ſeinen
Widerſpruch leicht hinter die Zukunft verſtecken,
da ja noch kein Krieg in Europa entſchieden
war; aber er fand das nicht ehrlich und ſtolz
genug. — „Quäle nicht!“ ſagte Linda zu ihr.
„Ja wohl, (ſagte Julienne aufſpringend,) ich
darf ja nur an das und an das denken —
was weiß ich!“ und ſah ſehr ernſthaft aus.
„Noch zwei Tage (ſetzte ſie dazu und ſuchte
aus dem Ernſt zu kommen,) können wir auf
der Inſel wie Götter, ja wie Göttinnen, ver¬
leben; wiewohl zu einem Gott taug' ich allen¬
falls, nur zu keiner Göttinn; dieſe muß länger
ſeyn; ich bin nur die Folie der Gräfinn aus
unendlicher Güte.“ Denn Juliennens Geſtalt
[201] verlohr durch die Nachbarſchaft der majeſtäti¬
ſchen Linda.


Aber der Krieg der liebenden Menſchen hatte
ſich durch keinen Frieden geſchloſſen und blieb
daher in ſeinen Waffen. Wie der Veſuv glü¬
hende Steine, ſo wirft der Menſch ſeine Vor¬
würfe ſo lange in ſich empor und erhebt und
verſchlingt ſie wechſelnd, bis endlich eine glück¬
lichere Richtung ſie über den Rand hinaus¬
treibt.


In Albano arbeitete wohl die Frage, was
Linda's Schweigen zum kleinen Kriege über und
wider den großen bedeute; allein er legte ſie
nicht vor. Der Unabänderlichkeit ſeines Ent¬
ſchluſſes ſich bewußt, war er milder gegen die
Schweſter, die er, glaubt' er, doch einmal ſehr
damit verwunden würde. So war er durch den
kalten und warmen Wechſel des Lebens ſanft
geworden, wie ein Edelſtein durch ſchnelles Er¬
glühen und Abkühlen ſich in Arzenei verwan¬
delt.


Schnell und ſchön giengen die letzten Freu¬
dentage über die Inſel hinüber, die nach dem
Regen wie ein deutſcher Garten grünte. Die
[202] weiche kühle Luft — die Myrten- und die Oran¬
gendüfte — einzelne Glanzwolken am warmen
Himmel — der Zauberrauch der Küſten — die
goldne Sonne am Morgen und am Abend —
und die Liebe und die Jugend ſchmückten und
krönten die einzige Zeit. Hoch brannte auf der
blühenden Erde die Opferflamme der Liebe in
den blauen ſtillen Himmel. Wie zwei Spiegel
vor einander ſtehen und der eine den andern
und ſich und die Welt abmahlt und der andere
alles dies und auch die Gemählde und den
Mahler: ſo ruhten Albano und Linda vor ein¬
ander, Seele in Seele ziehend und mahlend.
Wie der Montblanc herrlich ſich im ſtillen Che¬
derſee hinabſpiegelt in einen blaſſern Himmel:
ſo ſtand Albano's ganzer feſter lichter Geiſt in
Linda's ihrem. Sie ſagte: er ſey ein Redlicher
und Edler zugleich und habe, was ſo ſelten ſey,
einen ganzen Willen; nur woll' er, wie oft
die Männer, noch mehr lieben als er liebe,
und daher merk' er ſeine ſtille Erbſünde vor
Selbſtſucht nicht genug. Gegen nichts ſträubt'
er ſich zorniger und aufgebrachter, als gegen
den letztern Tadel und er vergab ihn niemand
[203] als der Gräfinn. Er widerlegte ſie ſo ſtark er
konnte; aber ihre Meinung wurde durch die
beſte Vertilgung nur eine Scheinleiche und trat
ihm in der nächſten Stunde wieder lebendig
entgegen.


Mit ſich wurd' er durch ſie näher bekannt
als mit ihr ſelber. Er nannte ſie die Uranide,
weil ſie ihm wie der Himmel zugleich ſo nahe
und ſo fern erſchien; und ſie hatte nichts ge¬
gen dieſen vollen Lorbeerkranz. Es giebt eine
himmliſche Unergründlichkeit, die den Menſchen
göttlich und die Liebe gegen ihn unendlich macht;
ſo ließen die Alten die Freundſchaft der Tochter
der Nacht und des Erebus ſeyn. Wenn Alba¬
no ſo über den weiten reichen Geiſt Linda's hin¬
ſah — ſie, zugleich ihrer Liebe lebend, und jede
fremde beſchirmend und doch gleichſam vom
Wiſſens-Durſte trunken — zugleich ein Kind,
ein Mann und eine Jungfrau — oft hart und
kühn mit der Zunge, für und gegen Religion
und Weiblichkeit und doch voll der zärteſten
kindlichſten Liebe gegen beide — glühend zer¬
ſchmelzend vor dem Geliebten und ſchnell er¬
ſtarrend bei kaltem Anrühren — ohne alle Ei¬
[204] telkeit, weil ſie immer vor dem Throne einer
göttlichen Idee ſtand und der Menſch nie eitel
iſt vor Gott, aber ſich alles zutrauend und vor
niemand demüthig, ohne doch ſich oder andere
zu vergleichen — voll männlicher kecker Auf¬
richtigkeit und voll Achtung für Gewandtheit
und liſtigen Welt-Verſtand — ſo ohne Eigen¬
nutz und kindlich über Frohe froh, ohne beſon¬
dere Sorge und Achtung für Menſchen — ſo
unbeſtändig und unbiegſam, jenes in Wünſchen,
dieſes im Wollen — aber ewig ihr Auge und
Leben gegen die Sonne und den Mond des
geiſtigen Reichs, gegen Würde und Liebe ge¬
richtet, gegen das eigne und gegen ein gelieb¬
tes Herz: — wenn Albano das Alles vor ſich
ſpielen und weben ſah, ſo lebt' er gleichſam
auf dem einfachen, und doch unabſehlichen,
dem beweglichen und doch allgewaltigen Mee¬
re, deſſen Gränze bloß der klare Himmel iſt,
der keine hat.


An dem Himmel der drei Liebenden erſchien
endlich die Morgenröthe des Reiſe-Tages. Es
wurde von beiden Freundinnen beſtimmt, daß
Albano ſie nur bis Neapel, wo ihre Leute ih¬
[205] rer warteten, begleiten — dann ſie in Rom
einmal zufällig — dann auf Isola bella zum
letztenmale zufällig finden dürfte; eine ſehr
unfreundliche Unterwürfigkeit unter den Welt-
Schein, auf welche aber Linda ſo ſtark als Ju¬
lienne drang und zu welcher ſelber Albano,
durch ſeine Geburt mehr zum Standes-Zwange
abgehärtet als ein bürgerlicher Jüngling von
gleicher Seele leicht das ſchmerzliche Ja unter
dem ſchweren Schleier aller Verhältniſſe her¬
gab. Julienne entſchied über alle kleinern Maa߬
regeln; ſie war auf der ganzen Reiſe die Ge¬
ſchäftsträgerin der Gräfinn geweſen, die, wie
ſie ſagte, nicht Kopf genug habe, um ſich einen
Hut darauf zu kaufen, ſo raſch, geldvergeſſen
und träumend ſey ſie. Die Schweſter war ſo
munter und ganz hergeſtellt, ſagte aber, alle
fünf und dreißig heiße Quellen der Inſel hät¬
ten nicht halb ſo viel für ihre Geneſung gethan,
als eben ſo viele Freudenthränen, die ſie zum
Glück vergoſſen habe.


Sonderbar erſchien alles um ſie am Reiſe-
Morgen; ein helles warmes Gewölk' vertropfte
ſilbern — die Sonne ſchien zwiſchen zwei Ber¬
[206] gen darein — die entzückten Eiländer ſangen
ein neues Volkslied unter der Regen-Ernte
oder Tropfen-Leſe — indeß ihre Freunde eilig
von den Wellen aus ihrem Freuden-Kreiſe weg¬
gezogen wurden. Agata ſtand, um ſich zu küh¬
len, mit einer Schlange in der Hand am Ufer
und Albano fühlte dabei einen Schmerz, den er
ſich nicht zu erklären wußte. Jetzt warf der
Epomeo den Wolken-Himmel aus einander und
glänzende Wolken-Stücke zogen langſam ihnen
voraus, nach dem Apennin dem Norden zu,
dem Wohnhimmel der Nebel und ſchnell und
leicht glitten die Schatten des Himmels über
die wimmelnden Wellenſpitzen.


„Immer (ſagte Albano nach der nach We¬
ſten zurückſchwimmenden Inſel blickend,) be¬
ſtehe mit deinem Berg; nie reiße ein Unglück
das ſchönſte Blatt aus dem Buche der Seeli¬
gen!“ — „Wie wird es mit uns allen ſeyn,
(ſagte Linda,) wenn wir einmal wiederkommen
und den ſchönen Boden wieder ſuchen?“ —
Da erblickten ſie einen hochgewölbten Regen¬
bogen, der halb auf der Inſel und halb auf
den Wellen ſtand, die ihn wie einen gewölbten
[207] bunten Waſſerſtrahl auf das Ufer auszuwerfen
ſchienen. „Wir werden (ſagte Julienne ent¬
zückt) durch den Bogen des Friedens einge¬
hen.“ Bei dieſem Worte verſchwand der Re¬
gen und der Farbenkranz; und allein die Sonne
glänzte hinter ihnen.


Durch den Fackeltanz der Wellen lief die
Fahrt. Die Fernen glänzten und dampften
herrlich. „Warum ergreifen die Fernen ſo
mächtig die Seele, obgleich aus denſelben Far¬
ben wie die Nähe gemahlt?“ — ſagte Albano.
„Das iſt eben die Frage,“ ſagte Dian. Ge¬
waltig lag das Meer wie ein Ungeheuer an
den Küſten über ihren ganzen Weg nach Rom
hin, ausgeſtreckt und hob die Schuppen von
Wellen auf und nieder. Albano ſagte: „Da
ich auf dem Veſuv das Gebürg' anſah und das
Meer: ſo dacht' ich daran, wie klein und falſch
theilet der enge Menſch die zwei Koloſſen der
Erde in kleine benannte Glieder entzwei und thut
als reiche nicht daſſelbe Meer um die ganze
Erde.


Seine Freundinnen konnten, zu innig und
trübe bewegt, nichts antworten und vor den
[208] fremden Augen ſtanden ihnen keine Worte,
kaum Blicke frei. Als Albano wieder das
Schlachtfeld der Zeit, die Ruinen-Küſte nä¬
her ſah, die den Mann ewig faſſen und heben
die alten Tempel und Thermen, wie alte
Schiffe auf dem Lande ſterbend — hier einen
niedergedrückten Rieſentempel, dort eine Stadt¬
gaſſe unten auf dem Meersboden *)— die
heiligen Gedächtnißſäulen und Leuchtthürme vo¬
riger Größe leer und ausgelöſcht neben der
ewig jungen Schönheit der alten Natur: ſo
vergaß er die Nachbarſchaft ſeiner eignen Ver¬
gänglichkeit und ſagte zu Linda, deren Auge
er dahin gerichtet: „vielleicht errath' ich, was
Sie jetzt denken, daß die Ruinen der zwei grö߬
ten Zeiten, der griechiſchen und römiſchen, uns
nur an eine fremde Vergangenheit erinnern,
indeß andere Ruinen uns nur gleich der Muſik
an die eigne mahnen, das dachten Sie viel¬
leicht.“ — „Wir denken hier gar nichts, (ſagte
Julienne,) es iſt genug, wenn wir weinen, daß
wir[209] wir fort müſſen.“ „Wahrlich, die Prinzeſſinn
hat Recht,“ ſagte Linda und ſetzte wie unmu¬
thig über Albano und alles dazu: „und was
iſt das Leben weiter als eine gläſerne Himmels¬
pforte? Sie zeigt uns das Schönſte und jedes
Glück, aber ſie iſt doch nicht offen.“


Durch Zufälle fremder Umgebung waren ſie
gezwungen, ſich mit kaltem Scheine zu verlas¬
ſen und nach der Gewohnheit des neckenden
Schickſals eine große Vergangenheit mit einer
kleinen Gegenwart zu beſchließen.


Albano reiſete ſo ſchnell ſein Sinn es ver¬
mochte über die erhabne Welt um ihn her.
Als er in Mola ankam, hört' er die ſeltſame
Nachricht, daß man in Gaeta eine ganze le¬
derne Kleidung mit einer Maske weit im Meere
ſchwimmend gefunden, die des aufgefahrnen
Mönchs ſeine geweſen ſeyn müſſe und bei wel¬
cher man nichts ſo unbegreiflich gefunden als
die Leerheit ohne einen todten Leib. — In
Mola verduftete endlich die ſchöne Iſchias-In¬
ſel, die hohe Himmelsburg und der ſteigende
Pol bedeckte unter andern ſüdlichen Sternbil¬
dern auch dieſes warme, das mit Glücksſonnen
Titan IV. O[210] ſo lange über ihm geſchimmert; und der letzte
Stern des kurzen Frühlings gieng hinab.


Das iſt das Leben, das iſt das Glück. Wie
der ſpielende Mond, beſteht es aus erſten und
letzten Vierteln und langſam nimmt es zu und
langſam ab, — in ſeiner Hoffnung, in ſeiner
Furcht —; ein kurzer Blitz iſt der Vollmond
der innerſten Entzückung, eine kurze Unſichtbar¬
keit der Neumond der innerſten Öde; — und
immer hebt das leichte Spiel wie der Mond
ſeinen Kreis von neuem an.


[211]

Dreißigſte Jobelperiode.

Tivoli — Streit — Isola bella — die Kinderſtube
— die Liebe — Abreiſe.


116. Zykel.

Albano trat wieder bei dem Fürſten Lauria
ab, der bisher in einem ſolchen Zuſtrom neuer
Begebenheiten geſchwommen war, daß er die
Abweſenheit kaum innen geworden und ſich
über die Wiederkunft wundern wollte. Es war
unterdeſſen der deutſche Krieg gegen Frankreich
feſtgeſetzt worden. Dieſe Bothſchaft trug er
ſeinem Enkel voll von der freudigen Erwar¬
tung entgegen, welche große Szenen ein ſol¬
cher Kampf entfalten müſſe. Auch Albano wur¬
de lange mit ihm von dieſem hohen Strome
O 2[212] gezogen, eh' er daran dachte, daß dieſe Nachricht
anders und niederſchlagender auf ſeine Schwe¬
ſter wirken würde als auf ihn. Aber das he¬
roiſche Feuer, in welches er ſich mit dem poli¬
tiſchen Lauria hineinſprach, ſpielte ihm einen
leichten Sieg über die ſchweſterliche Liebe vor.


Er wollte den Freundinnen ſeine Ankunft
ſagen, als er vom Fürſten vernahm, daß bei¬
de, wie er von der Fürſtinn Altieri, bei der ſie
wohnten, gehört, ſchon nach Tivoli gegangen.
— Wie glücklich reiſete er, die freundliche Ab¬
ſicht dieſer Zwiſchenreiſe errathend, aus dem
von Liebe und Frühling ſtrahlenden Rom und
ſah eben ſo heiter nach der Zukunft, wo ſein
Leben ſich blühend auseinanderſchlug, als nach
Tivoli, wo er zwei Herzen an eines zu drü¬
cken hoffte.


Er fand, da er in der Stadt Tivoli ankam,
die feurigen Mädchen ſchon entwichen nach der
Kaskade. Wie ein Menſch im Tempe-Thal
oder vor dem Genferſee nur im unachtſamen
Traum am Ufer vor den Waſſerbildern des
Himmels und der Erde vorübergeht, weil ihn
die blühenden Urbilder rings umher umfangen
[213] und entzünden: eben ſo glitten die Felſen der
bevölkerten Landſchaft und der runde Veſta's-
Tempel und die in einander flieſſenden Thäler
vom römiſchen Thore an bis zum Tempel, dieſe
glänzenden Reihen glitten nur als Traum- und
Waſſerbilder vor dem Herzen vorüber, worin
eine Geliebte lebendig blühte und mit der Fülle
einer Welt eine Welt verdrängte.


Er irrte unter dem Gewühle der Ausſichten
umher, ohne die ſchönſte zu finden, als ihn ein
kurzer blaßgelber reichgekleideter Menſch mit
eingeſchrumpftem Geſichte erblickte und mit
dem ſeidnen Arm auf den Weg zur Kaskade
zeigte ungefragt ſagend: wenn er die Damen
ſuche, ſo ſeyen ſie bei der großen Kaskade.


Albano ſchwieg, gieng weiter, ſah zwei und
erkannte Linda an ihrer hohen Geſtalt. End¬
lich ſahen, fanden, umfaßten ſich die drei Men¬
ſchen und der herrliche Waſſerſturm wehte in
die Entzückung. Linda ſagte zärtliche Worte
der Liebe und glaubte ſtumm zu ſeyn, denn
das ſchöne Gewitter aus Strömen zerriß die
zarten Sylben wie Schmetterlinge. Sie hatten
ſich nicht gehört und ſtanden, ſchmachtend nach
[214] ihren Lauten, umrungen von fünf Donnern,
mit weinenden Augen voll Liebe und Freude
vor einander. Heilige Stelle, wo ſchon ſo viele
tauſend Herzen heilig brannten und ſeelig wein¬
ten und ſagen mußten: das Leben iſt groß!
— Heiter und feſt glänzt in der Sonne oben
die Stadt über dem Waſſer-Krater dahin —
ſtolz ſchauet Veſta's zerriſſener Tempel, mit
Mandelblüthe bekränzt, von ſeinem Felſen auf
die Strudel nieder, die an ihm graben — und
ihm gegenüber ſpielet der ſtrudelnde Anio alles
auf einmal vor, was Himmel und Erde Gros¬
ſes hat, den Regenbogen, den ewigen Blitz
und den Donner, Regen, Nebel und Erdbeben.


Sie gaben ſich Zeichen zu gehen und das
ſtillere Thal zu ſuchen. Wie klangen ihnen dar¬
in die Worte: Bruder, Schweſter, Linda, wie
neue Menſchenlaute im Paradies! Hier, ehe
ſie den Hügel voll neuer Waſſerſtürze, Blitze
und Farben beſtiegen, ſuchten ſie ſich ihre Reiſen
und ihre Nachrichten einander zu erzählen. Ju¬
lienne berichtete die frohe, ihr Bruder, der Fürſt,
gebe wieder Hoffnung der Geneſung, ſeitdem er
wachend, wie er betheuere, ſeinen todten Vater ge¬
[215] ſehen, der ihm längeres Leben verſprochen. Die
ſchöne Linda blühte im Paradies wie eine verhüllte
Göttinn, die ihren Geliebten auf der Erde lan¬
ge ſuchte und endlich gefunden hat. Sie nahm
oft ſeine Hand und drückte ſie wider ihre Au¬
gen und Lippen und liſpelte kaum hörbar, wenn
er mit ihr oder Juliennen ſprach: „Lieber! —
Freundlicher Menſch!“ — Über die Gegend
ſchwieg ſie; denn über jede ſprach ſie erſt, wenn
ſie aus ihr gekommen war.


Julienne, über die brüderliche Geneſung ſo
froh, fieng allerlei Scherze an, ſagte, daß ſie
bedauere, aus Neapel ihrem Ludwig ein ver¬
gebliches Spezifikum gegen ſein Übel geſandt
zu haben und fragte endlich Albano: „kennſt
Du nicht einen Jüngling Nahmens Cardito,
er will Dich kennen?“ — Er ſagte nein, er¬
zählte aber, ein kleiner ſtämmiger Menſch hab'
ihn hier zu kennen geſchienen und zur Kaskade
gewieſen. Julienne fuhr auf und ſagte, es ſey
entſchieden der Haarhaariſche Prinz, der auf
Luigi's Tod und Thron ſo boshaft hoffe, er
wohne in Tivoli im Hauſe des Herzogs von
Modena und gehe gewißlich als ihrer aller
[216] Spion umher. Um ſich ſelber nach dieſem ge¬
haßten Mißlaut wieder auszuſtimmen, ſetzte ſie
die Frage über Cardito fort und ſagte: „es iſt
ein ſehr ſchöner derber Korſe (der Prinz iſt ja
die lebendige Ungeſtalt) und er kündigt Dir
ganz ernſthaft den Krieg an.“


„Den ſoll er wahrlich haben,“ ſagte Albano,
der nun alles begriff; und — alles erzählte.
Cardito war jener Korſe, mit dem er früher
ſich über den galliſchen Krieg entzweiet hatte.
„Bruder, das iſt noch Dein Ernſt?“ ſagte Ju¬
lienne mit gedehntem Akzent. „Jetzt beſon¬
ders!“ ſagt' er entſchieden, um den Streit ſo¬
gleich auszuſchließen. Heftig drückte Linda ſeine
Hand in ihre Augen, als wolle ſie ſie damit
bedecken. „Nun, ſo verhandle Deinen Prozeß
mit mir, ſo vernünftig Du kannſt, und laſſe
Deine Rechtsgründe hören, aber laſſ' uns erſt
auf den Hügel, damit man dabei auch etwas
ſieht,“ ſagte die Schweſter.


Auf dem Hügel — vor dem Grün des bli¬
tzenden Thals, wo überall der Strom wie ein
verwundeter Adler mit dem Flügel an der Erde
ſchlug — vor den auf die Blumen herunter¬
[217] blitzenden drei Kaskatellen — fieng Albano be¬
wegt und begeiſtert an: „ich habe nur Einen
Grund, liebe Schweſter — ich bin noch nichts —
ich bin kein Dichter, kein Künſtler, kein Philo¬
ſoph, ſondern nichts, nehmlich ein Graf. Ich
habe aber Kräfte zu manchem, warum ſoll ichs
nicht ſagen? — Wahrlich wenn ein Da Vinci
alles iſt, oder ein Crichton, oder wenn ein Ri¬
chelieu, ob er gleich den politiſchen Thron be¬
hauptet, doch noch den poetiſchen beſteigen
will: ſoll ein anderer mit kleinern Wünſchen
nicht entſchuldigt ſeyn? — Und bei Gott! ei¬
gentlich will ein Menſch doch alles weiden,
denn er kann nicht anders, er ſehnet und treibt
ſich dazu hin und das innige verſteckte Herz
weint Blutstropfen, die keine Menſchenhand ab¬
trocknet, nur die hohen Eiſenſchranken der Noth¬
wendigkeit halten ihn auf — Schweſter, Linda,
was hab' ich denn noch gethan auf der Erde?“ —


„Dieſe Frage; — und dieſe iſt genug vor
Gott,“ ſagte Julienne, bewegt von der wund¬
ſtolzen Beſcheidenheit des Jünglings und von
ſeiner ſchönen Stimme, welche zornig ſo klang
wie gerührt. „Worte! was ſind Worte? (ſagt'
[218] er.) O man ſchämt ſich wohl freilich, daß man
etwas früher nur denken und ſagen muß, eh'
man's thut, obgleich der dürftige Menſch nicht
anders kann, ſondern jede That wie eine Sta¬
tue vorher im elenden Wachs der Worte mo¬
delliren muß. Ach, Linda, liegen hier nicht
überall um uns Thaten, ſtatt der Worte und
Wünſche? — Hab' ich nicht auch einen Arm,
ein Herz, eine Geliebte, und Kräfte wie andere
und ſoll mit einem morſchen mürben ſpaniſch-
oder deutſchen Grafenleben aus der Welt ge¬
hen? — O meine Linda, ſtreite Du für mich!“


„Ich bin (ſagte ſie, ſcharf nach der großen
Kaskatella blickend, die hoch aus Bäumen her¬
niederſtürmte,) nicht von vielen oder beredten
Worten und verſtehe Sie auch nicht ganz. Ich
muß mir immer die Worte in Ideen und Wahr¬
heiten überſetzen und vermag es nicht allzeit.
Bei Ihren Worten, Graf, denk' ich mir gar
nichts. Wem die Liebe nicht allein genügt, der
iſt von ihr nicht erfüllet worden. Freilich, ſo
mit dem Herzen alles vergeſſend, wie wir, ſo
konzentrirt in Eine Idee des Lebens ſind die
Männer nie. Ach und ſo wenig iſt der Menſch
[219] dem Menſchen, ein Menſchen-Bild iſt ihm mehr
und jede kleine Zukunft!“


„Auch Du Brutus?“ ſagte Albano betrof¬
fen. „Würden Sie (fuhr er ſich faſſend fort)
dem Elyſiums-Leben auf Ischia eine Ewigkeit
für einen Mann geben? Würden Sie ihn als
Jüngling ins Kloſter der ſeeligſten Ruhe ſchi¬
cken? Gewiß nur als Greis. Jenes hieſſe den
Baum mit dem Gipfel in die finſtere Erde
pflanzen.“


„Das iſt wieder der Deutſche (ſagte ſie);
nur immer recht Betriebſamkeit. Die ruhigen
Neapolitaner, die Völker am Apennin, an den
Pyrenäen, am Ganges, in Otaheiti, voll Ge¬
nuß und Beſchauung, ſind dieſem Spanier ein
Greuel. Ich dächte, wenn ein Menſch nur für
ſich etwas würde, nicht für andere; das reichte
zu. Was große Thaten ſind, das kenn' ich
gar nicht; ich kenne nur ein großes Leben;
denn jenen Ähnliches vermag jeder Sünder.“ —


„Wahrlich, das iſt wahr (ſagt' er); es giebt
nichts erbärmlicheres als einen Menſchen, der
ſich durch dies oder das zeigen will, was ihm
ſelber groß, ſelten und ohne Verhältniß zu ſei¬
[220] nem Weſen vorkommt, und ihm daher gar nicht
angehört. Jede Natur treibt ihre eigne Frucht
und kann es nicht anders; aber ihr Kind kann
ihr niemals groß erſcheinen, ſondern immer nur
klein oder gerecht. — Iſt's anders, ſo iſt ihr
eine ganz fremde Frucht an den Zweig ge¬
hangen.“


„Albano! wie wahr! Aber Ihr hattet ſonſt
nie einen halben Willen, wie iſt's?“ ſagte Lin¬
da. „Jetzt auch nicht!“ ſagt' er ohne Härte.
Man iſt am ſanfteſten, wo man am ſtärkſten
iſt mit dem Entſchluß. Er ſuchte nun ſeine eig¬
nen Worte — das Ohl und den Wind für ſein
Feuer — recht zu ſparen und zu meiden; um
ſo mehr, weil Worte doch gegen nichts helfen
ſondern vielmehr das fremde Gefühl anſtatt
aus-nur anblaſen; wurd' er noch der
häufigen Fälle eingedenk, wo er Linda mit ei¬
nem einzigen Worte bei aller Unſchuld zur
Flamme aufgetrieben. Sie ſtanden, und er
ſchauete hin über das göttliche Land, als Lin¬
da, nach einem ſtummen Blicken in ſein Ange¬
ſicht, ungeachtet ihres ſcheinbar-ruhigen Phi¬
loſophirens, auf einmal heftig ſeine Hand an¬
[221] faßte und rief: „Nein, Du darfſt nicht, bei
meiner Seeligkeit, bei allen Heiligen — bei
der heiligen Jungfrau — bei dem Allmächti¬
gen! — Du darfſt, Du ſollſt nicht!“ Einen
Raub giebt es, wogegen ewig der Mann un¬
aufhaltſam entbrannt aufſteht und begieng' ihn
eine Göttinn aus Liebe und böte ſie dafür
eine Welt von Paradieſen, es iſt der Raub
ſeiner Freiheit und freien Entwickelung. Ja,
daß es Liebe iſt, aber deſpotiſche, zugleich Frei¬
heit übende und raubende, das erbittert ihn nur
noch mehr, und aus dem Nebel des Irrthums
wird ſpäter das Gewitter der Leidenſchaft. —
Linda wiederholte: „Du darfſt nicht.“ Er ſah'
ihr bewegtes glänzendes Antlitz an, deſſen ſüd¬
liche Heftigkeit doch mehr einem Enthuſiasmus
glich als einem Zorn und ſagte feſt: „O Lin¬
da, ich werde wohl dürfen und wollen!“ —
„Nein, ich ſage nein!“ rief ſie. —


„Bruder!“ ſieng die Schweſter an. „O
Schweſter, (rief er,) ſprich ſanft, ich bin ein
Mann und habe heftige Fehler.“ Ihn zog
der erhabene Krieg des Waſſers mit der Erde
und mit Felſen, das Durcheinanderſtürmen der
[222] blitzenden Regengeſtirne umher wie an Flügeln
in die Wirbel — die große Kaskatella warf
aus hohen Bäumen ihren Wolkenbruch her¬
aus, und aus dem Himmel ohne Donner
ſtäubte eine ſchimmernde Welt — und in Oſten
zeigte ſich fern das Meer im dunkeln Schlaf
und die untergehende Sonne drang glänzend
in den Glanz herein.


„Gewiß werd' ich ſanft reden, (ſagte die
Prinzeſſinn, die viel empfindlicher und nach¬
klingender als Linda, einige Mühe hatte, den
Sprachton zu ihrem Verſprechen zu ſtimmen. —)
Es braucht nichts weiter als die Betrachtung,
daß unſer Streit zu früh iſt; ich thue bloß die
Bitte, ihn bis zum Oktober auszuſetzen, und
das Verſprechen, daß er dann anders aus¬
geht.“ — „O es ſey.“ ſagte Albano. Linda
nickte ſanft und langſam und legte wider Er¬
warten ſeine Hand mit beiden an ihr Herz und
ſah ihn an aus großen Augen weinend, denen
ſonſt Feuer gewöhnlicher war als Waſſer. Ihn
zerſchmolz der Anblick, daß dieſe kräftige Na¬
tur nur Heftigkeit ohne Haſſen und Zürnen
hatte, und ihn erfriſchte unendlich ſein voriges
[223] geheimes Niederſchlagen ſeiner auffahrenden
Flammen.


Die Schweſter wurde durch beide erweicht
und eine Minute der zärteſten Liebe umſchlang
bald die drei Menſchen mit Einer Umarmung.
Die Hyperbeln des Zorns ſind dem Menſchen
nie ſo ernſt als die der Liebe, jene ſoll nur der
andere glauben, dieſe glaubt er ſelber; alle
hatte das Ausſprechen ausgeheitert.


Wenn ſonſt eine vergangne kalte Minute
den Liebenden wie eine kalte Nacht den Bie¬
nen, noch die Blumen zuſchlieſſet, woraus ſie
den Honig nehmen, ſo war hier nach dem
Sturm aus klarer blauer Luft der Himmel, rei¬
ner und ſtiller und die Ruhe wurde Seeligkeit
wie die Seeligkeit Ruhe. Durch Albano war
obwohl ſchnell die Furie der Furcht gegangen,
die ein umgekehrtes Sternrohr hält und da¬
durch den Menſchen einen ganz fernen ausge¬
leerten Himmel ohne Sterne zeigt; aber nicht
ſo durch Linda; ſie hatte immer in Liebe und
Hoffnung fortgeſprochen und für ihr glühen¬
des Herz gab es keine Stellen mit Eis. Dar¬
um war er jetzt ſo ſeelig, und ſo beglückt vom
[224] Anſchauen der kräftigen Natur! Eine hohe
lange Thal-Kette, worin Wein und Öhl in
Blüthendüften floſſen, führte alle dem großen
Rom entgegen. Eine Zeitlang durfte ſie der
Jüngling begleiten; endlich mußt' er zu einer
langen Entfernung Herz und Auge von den
Geliebten reiſſen, als über die grünen Thäler
her ſchon die mächtige Peters-Kuppel herüber¬
glänzte und die Zypreſſen, ſtolz nur von Zy¬
preſſen umgeben, das Gold des Abends auf
den Zweigen trugen, ohne ſie zu regen. Alle
hatten das Auge am ſchönen Rom, aber ihr
Herz war nur auf Isola bella, wo ſie einan¬
der wiederzufinden verſprachen.

117. Zykel.

Auf dem Wege nach Isola bella dacht' er
ſeiner kriegeriſchen Stunde mit der heftigen
Linda nach und dem Karakter dieſer Kriegsgöt¬
tinn. Er erſchrack über die ſteile Höhe, über
welche er ſich vor wenigen Tagen ſo weit her¬
übergebückt, da Linda ſo entſchieden iſt, nichts
kennt als Leidenſchaft oder Vernichtung. Und
doch fand er jetzt in der Abkühlung ihre gebie¬
tende[225] tende Foderung an ſeine Freiheit noch härter
und ſagt' es ſich ſtark, das Weib dürfe nicht
das heilige Gebiet der männlichen Entfaltung
einengen oder beherrſchen. Von der andern
Seite war ja alles Liebe und deren Übermaaß
— und je länger er reiſete und verglich, deſto
einſamer und dunkler wurd' es auf der Stelle
ſeines Lebens, auf welche nur ſie die große
Flamme warf. Sie rückte ihm durch ſein ſtil¬
les Beſchauen ihres Geiſtes im Geiſte viel hel¬
ler und näher als durch die Gegenwart vor¬
her, weil jenes ſie auf einmal in Harmonie,
dieſe ſie mit den einzelnen Diſſonanzen ohne
die Auflöſung gab. Ihre Kraft der allſeitigen
Unpartheilichkeit für alle Karaktere war ihm
an einem Weibe eben ſo ſelten als groß erſchie¬
nen; zumal da er ſelber dieſe Kraft mehr in
der Achtung für ſie und in dem freudigen freien
Auffaſſen großer, exzentriſcher, poetiſcher Er¬
ſcheinungen, aber nicht aller und der platten
und ſchlechten wirken ließ.


Gleich mächtig und gewachſen ſtanden in
ihm neben einander Liebe und Freiheit; nur
durch einen neuen Entſchluß wurden ſie ver¬
Titan IV. P[226] bunden und verſöhnt, ſanft zu ſeyn, nicht bloß
ſtark, ihr ſein Freiheitsrecht und ſeine liebende
Seele recht offen hinzulegen und das edle We¬
ſen zu werden, das ihr gehört: bin ich's nicht,
wenn ich's recht will? sagt' er.


In der höchſten Lebensfreude, in der Einig¬
keit mit ſich und dem Schickſal, machte er ſeine
Reiſe nach Isola bella ſo ſchnell, als hab' er
da die Geliebte ſchon zu finden, nicht erſt zu
erwarten. Wie manches ſtand jetzt kleiner an
ſeinem Wege, an das er das römiſche Maaß
und nicht das deutſche legte und wovor er nun,
wie ihm ſein Vater vorausgeſagt, flüchtiger
vorübergieng! —


Endlich ſah er die Kunst-Alpe Isola von
bella in den Wellen ſtehen; und landete freu¬
dig mit ſeinem Lehrer in dem Kindheits-Gar¬
ten an, wo er ſo viel erwarten und mit neuen
welſchen Lebens-Blüthen am Herzen aus dem
gelobten Lande ſcheiden ſollte.


Er wartete mehrere lange Tage, ſich ſeh¬
nend und bangend nach den Freundinnen, ob
ihm gleich der heitere Freund immer die Ge¬
ſchwindigkeit ſeiner Reiſe vorrechnete. Sein
[227] Entſchluß, recht ſanft zu ſeyn, wurde immer
unnöthiger und unwillkührlicher. Die Inſel
ſelber löſete ſchon mit ihren Frühlingen aus
Düften und mit dem fernen Kranz aus Alpen
die Seele auf. Im vorigen Jahre hatt' er ſie
mehr in Blättern als in Blüthen geſehen. Es
war ja ſein Kindheitsland — an vielen Plä¬
tzen an der See ſchimmerten ihm Sterne aus
einer tiefen nachmitternächtlichen Lebens-Frühe
herauf — hier hatt' er zuerſt ſeinen Vater ge¬
funden, und zuerſt Linda's Geſtalt über den
Wellen geſehen — hier findet und verliert er
ſie nach der längſten Trennung wieder für eine
noch längere — und hier ſteht er im Thore
zwiſchen Norden und Süden. Das freie duf¬
tende Land voll Inſeln, die Himmelsleiter des
Lebens ſteigt ihm in den Äther zurück und er
geht herab in ein kaltes voll Zwang und voll
Augen — ſeine Liebe wird gerichtet vom Va¬
ter, ſie wird angefallen vom untergegangnen
Freund. „Ihr Tage in Iſchia, (ſeufzte er,)
ihr Stunden auf dem Veſuv und in Tivoli,
könnet ihr umkehren? könnet ihr je wieder¬
kommen und das unerſättliche Herz von neuem
P 2[228] überſtrömen, daß es trinken und ſagen kann:
es iſt genug?“


Zu ſeinem Dian ſprach er, gleichſam um
ſich und ſein gränzenloſes Sehnen zu entſchul¬
digen, häufig von Chariton und ihren Kindern
und fragt' ihn, wie es ſeinem Herzen dabei gehe:
„ſprecht mir nicht ſo viel davon, (ſagt' er,
nach ſeiner Weiſe mehr empfindend als erra¬
thend und verrathend,) wir ſind noch ſo hä߬
lich weit davon — man verdirbt ſich die Reiſe
ohne Grund — hab' ich ſie alle aber . . . . nun
ei Gott!“ — — Dann ſchwieg er, riß ſich den
Jüngling in die Arme und küßt' ihn nicht.


An einem blauen friſchen Morgen ſtand Al¬
bano noch eh' die Sonne am Himmel aufer¬
ſtanden war, auf der hohen umblühten Terras¬
ſen-Pyramide, wo er einmal im Erwachen
den theuern Vater ohne Abſchied hatte entflie¬
hen ſehen — und blickte bewegt in den leeren
weiten See hinab — und an die Gipfel der
Eisberge umher, welche ſchon im Niederſcheine
der hoch herabziehenden Aurora blühten — und
niemand war bei ihm als die Vergangenheit. Er
blickte auf ſich und in ſeine Bruſt und dachte:
[229] welche lange ſchwere Zeit iſt ſeitdem durch dieſe
Bruſt gezogen! Eine ganze Welt iſt darin zum
Traum geworden! Und das Herz ſchlägt noch
friſch und feſt darin! — Auf einmal ſah er im
lichten Morgen-Rauche des See's ein Fahr¬
zeug rudern. Langſam, träge watet' es, denn
er ſah es aus großer Ferne. Endlich glitt es,
flog es, das Seegel blühte auf im Morgen¬
brande und die grünen Wellen wurden ein um¬
ſpielendes Lauffeuer wie damals in Iſchia um
Linda's Schiff. — —


Linda war es und die Schweſter. Sie ſa¬
hen hinauf und grüßten winkend. Er rief in
eiliger Wonne: „Dian, Dian!“ und lief die
vielfachen Treppen hinab, ganz verwundert
und entzückt über den ausgebreiteten Glanz,
weil er unter der frohen Erſcheinung den Auf¬
gang der Sonne nicht geſehen, welche vor der
Geliebten die ſchönen Flammen, die Morgen¬
blumen gleichſam in den Weg des Waſſers un¬
terſtreuete.


„Seyd Ihrs wieder, Ihr Göttlichen? O
ſprecht, weint vor Freude, daß ich ſeelig wer¬
de und Euch habe! Kommt Ihr denn mit al¬
[230] ter rechter Liebe wieder?“ ſo ſprach er fort in
beredter Trunkenheit, aus dem langen träu¬
menden Warten geſchöpft. Linda ſah mit heim¬
licher Engels-Luſt, mit lieblichem Wiederſchein
in die hoch ſpielenden Flammen ſeiner Liebe;
und die Schweſter genoß in ſüßer Regung die
ſchöne Milde auf beider Angeſicht, welche an
der Kraft ſo bezaubert wie Mondlicht an einem
Gebürg'. Reiſebeſchreibungen wurden von bei¬
den Seiten angefangen, aber keine geendigt;
Tags- und Inſel-Ordnungen vorgelegt, aber
keine gewählt. Julienne hielt ihm ſein Wort
und ihre Bedingung, daß er abends weiter zie¬
hen müſſe, ans Herz als eine kleine Kühlung
gegen das Freudenfeuer darin; traurig ſah' er
zur freundlichen hellen Morgenſonne auf, als
ſteige ſie nicht höher ſondern ſchon tiefer.


Sie giengen nun in ſchönem Irren durch
die Inſel, überall blühte neben der Gegen¬
wart eine ſtille Vergangenheit, unter der Roſe
ein Vergißmeinnicht. Hier in dieſer Grotte vor
den aufhüpfenden Wellen hatt' er einſt mit ſei¬
ner Schweſter Severina geſpielt und auf die¬
ſem Eiland wurde ihm ihr Tod verkündigt;
[231] „Aber Julie, Du biſt meine Severina und
mehr“ ſagt' er; „ich denke (ſagte ſie ſanft)
eben ſo viel.“ — Nicht weit von der Arkade
hatt' er zum erſtenmal in das Angeſicht ſeines
Vaters geſchauet: „o wenn findeſt Du aber
Deinen endlich? Sprich darüber, gute Linda!“
ſagt' er. Sie erröthete und ſagte: „ich werd'
ihn finden, wenn das Schickſal es zuläſſet.“
„Wenn aber iſt das?“ — „Ich weiß nichts,“
ſagte ſie zögernd ſanft. Da rührte ihn Julienne
winkend an und ſagte in ſo vielem franzöſiſchen
Latein, als ſie zuſammentreiben konnte, aber in
einem gleichgültigen Ton als ſpreche ſie vor ſich
ſelber hin: „non eam interroga amplius, nam
pater veniet (ut dictur) die nuptiarum
*).“
Er blickte ſie verwundert an, ſie nickte ſehr oft.
„Julie iſt (ſagte Linda lächelnd) wie die Wei¬
ber, ſo liſtig im Handeln als offen im Spre¬
chen. Ich hätte mich keinem Bruder ſo lange
verſtecken können.“ — „Dafür (verſetzte ſie)
bekamen die Geſchwiſter einander gleich ausge¬
[232] wachſen und mit allen Vollkommenheiten, und
können ſich leicht liebhaben, wenn andere Schwe¬
ſtern erſt viele Jahre die Fehler des heranwach¬
ſenden Bruders zu verwinden haben.“


Jetzt kamen ſie auf die Gallerie zwiſchen
Limonien-Blüthen, wo Gaſpard ſeinem Sohne
ſo viele Schleier und Masken um die Zukunft
hängend hatte ſehen laſſen; da ſagte Albano
mit Unwillen: „hier mußt' ich mir viele Räth¬
ſel ankündigen laſſen — und dort (er meinte
die Stelle im Meer, wo ihm zuerſt Linda's Bild
auf den Wellen erſchien,) wurde ſogar dieſe
theuere Geſtalt nachgeäfft.“ — „Mein Gott,
(ſagte Linda heftig,) warum es noch gar aus¬
ſprechen? o es war ſo ſchlecht, es zu thun!“ —
„Eingebüßet aber hat doch niemand viel da¬
bei, (ſagte ſcherzend Julienne,) ausgenommen
ein Paar die Herzen und ich die Anonimität!“
„Könnten wir beide nicht antworten, Albano?“
ſagte Linda leiſe und hob die Augen auf. „Bei
Gott!“ ſagte er ſtark, denn ohne jene Vor¬
ſpiele hätten ſie ſich früher geſucht und ge¬
funden.


Unter dieſen Blicken in eine ſeltſame mit
[233] Zukunft durchwebte Vergangenheit waren ſie
in den borromäiſchen Pallaſt, der dieſen Tag
zum Glück ohne die Beſitzer war, getreten; weil
Albano beide, auf Linda's Geſuch, in die Zim¬
mer führen ſollte, wo er mit Severina erzogen
worden. Der Schloßwärter wollte ſie, glau¬
bend, ſie ſuchten nur Ausſicht — denn die Kind¬
heitszimmer lagen im fünften Stockwerk — auf
das Dach hinaus bringen; er betheuerte, es
wären ſtaubige Kinderſtuben und ſeit undenkli¬
chen Jahren zugeſperrt. Mühſam drehte der
Mann mit einem roſtigen Schlüſſel ein einge¬
roſtetes Schloß auf. Sie traten ins beſtäubte
helldunkle leere hohe Zimmer, worin eine leere
Wiege, ein Blumentopf mit einem gleich ſeiner
Erde vertrockneten ſineſiſchen Roſenſtöckchen, eine
Kinder-Zinn-Uhr, eine weibliche Spiel-Kü¬
che mit altmodiſchem Geſchirr, eine gerollte glän¬
zende Klavierſaite, ein deutſcher Kalender von
1772, viele ſchwarze Siegel mit bloßen antiken
Köpfen, ein ausgetrockneter Lianenzweig und
dergleichen verlohren umher lag. Der Menſch
ſieht bewegt in die tiefe Zeit hinunter, wo ſeine
Lebensſpindel faſt noch nackt ohne Faden um¬
[234] lief; denn ſein Anfang gränzt näher als die
Mitte an ſein Ende, und die aus- und ein¬
ſchiffende Küſte unſers Lebens hängt ins dunkle
Meer. Albano wurde wehmüthig angeregt von
der Umgebung und von dem Blicke auf das
Menſchenleben und auf ſeine eignen grünen
noch winterlich-niedrig ſtehenden Felder hinaus
— und von der Stätte, wo er mit einer Mut¬
ter und Schweſter gelebt, die aus der Er¬
de, ja ſogar aus ſeiner Phantaſie entwichen
waren. — Er nahm die Zinn-Uhr zu ſich und
ſagte: „giebt es für das Alter, das keine Zeit
ſondern eine Ewigkeit hat, eine beſſere Uhr als
die mit dem Zeiger ohne Gewerk?“


Überraſcht wurde Linda als ſie von einem
Glaskäſtchen einen Vorhang wegzog und als
ein engelſchönes Kind von Wachs darin in die
hellen Augen Licht bekam. „Es iſt die todte
Severina,“ ſagte Albano eilig, mit dem rauhen
Beiwort „todt“ was Linda nicht gern litt.
Immer mehr wurd' ihm in der helldunkeln
Stube unheimlich — ein Sonnenſtreif brannte
ſeltſam durch das hohe Fenſter herab — beſeel¬
ter auferſtandner Staub ſpielte in ihm — die
[235] Geiſter der Schweſter und Lianens konnten
jede Minute durch das Erdenlicht blitzen —
und entfernter ſtanden die Gebürge draußen
im Leben. Er ſah die blühende Linda an, da
kam ſie ihm auf einmal anders vor, fremd,
überirdiſch, als erſcheine ſie unter den Geiſtern
und gehe wieder von hinnen. Sie ſah ihn be¬
deutend an mit den Worten: „hier iſt's un¬
heimlich, gehen wir!“ „Weib,“ ſagt' er mit
ſtarker Stimme auf deutſch, einem innerlichen
Schrecken antwortend und faßte ihre Hand,
„wir wollen zuſammenhalten wie ein lebendi¬
ges Herz, wenn man es zerreiſſen will.“ Lin¬
da verſetzte: „ich bleibe nicht länger Julienne!“
Und man gieng.


Auf der Schwelle kam es dem Grafen ein,
in das Nebenzimmer zu ſchauen; er macht' es
auf und fuhr zuſammen, rief aber: „geht nur
voraus,“ und gieng hinein. Er hatte nehmlich
ſich im Spiegel zweimal nachgeſpielt erblickt.
Drinnen fand er ſich in einer Niſche in franzö¬
ſiſcher Uniform ſtehen in Wachs, aber ſchon als
Jüngling, und darneben, was die Thür bedeckt
hatte, ſeinen Vater auch als Jüngling, altmo¬
[236] diſch bekleidet, aber ſchön wie ein griechiſcher
Gott; das warme volle blumige Geſicht war
noch nicht im ſtarren Leben überwintert und
blühte noch liebend. Er ſtürzte tief ins Meer
der Vergangenheit. Die koloſſaliſchen Statuen
drauſſen, und die beglänzten Gebürge halten
ſich aus dunkeln Wellen aufgerichtet und ſtan¬
den in tropfendem Schimmer. Man rief draus¬
ſen. Er blickte wieder in ſein Geſicht, aber zor¬
nig. „Wozu zweimal,“ ſagt' er und zerquetſchte
ſein Geſicht, aber ihm war es wie Selbſtmord
und Betaſten des Ichs. Die väterliche Geſtalt
gönnte er noch weniger der fremden unbewach¬
ten Stelle, aber ſie war ihm zu heilig zur klein¬
ſten Berührung.


Er gieng zurück und ſchwieg über die Bil¬
der, um nicht an Linda's Phantaſie die großen
widerſpenſtigen Flügel aufzumachen. Der grü¬
nende, blühende, glänzende Tag verſchlang bald
die kalten Schatten, die von Höhen und Grä¬
bern der Vergangenheit hereingefallen waren.
„Aber jetzt, (ſagte Albano zu Linda,) da Sie
eben aus meiner Kinderſtube gekommen ſind,
führen Sie mich einmal in die Ihrige.“ —
[237] „Ich will Dich nur erſt bekränzen, da wir am
rechten Orte ſind,“ ſagte ſie und brach und
band aus dem Lorbeerwald, durch deſſen Ge¬
wimmel von lichten und dunkeln Wellen ſie
jetzt giengen, Zweige zum Kranz. Körperliche
Geſchäftigkeit gab dieſer Jungfrau, welche leich¬
ter Töne und Farben und Ideen verknüpfte,
ein beſonders rührendes Anſehen von Kindlich¬
keit und naiver Herablaſſung. Sie flocht die
Krone aber mühſam, verwechſelte einmal den
ähnlichen Erdbeerbaum mit dem Lorbeerbaum,
that noch einen blühenden Myrtenzweig hinein
und ſchmückte damit ſein lockiges Haar, aber
ſehr ernſt: „der Kranz geziemt Dir; die hohen
Lorbeern oben am Gipfel wirſt Du Dir ſchon
einmal ſelber holen,“ ſagte ſie. Er glaubte, ſie
ſpiele unter dem Ernſt, allein ſie ſah den Be¬
kränzten freudig und prüfend an und lächelnd,
aber wie eine Mutter und ſagte: — „So iſt's
recht! Was willſt Du noch? Ich bring' es.
Albano, ich habe in dieſer Stunde eine ganz
beſondere und neue Liebe zu Dir, ich möchte
für Dich viel thun, viel leiden. Mein Herz iſt
bewegt von überſchwenglicher Liebe. Küſſe mich
[238] nicht. Ich will Dir erzählen.“ Die ſchöne
Weiblichkeit, die den Geliebten heiſſer und nä¬
her liebt, wenn ſie zum erſtenmale ſein Eigen¬
thum, ſeine Kindheitsörter, ſeine Wohnungen
betreten, erfüllte unerkannt ihr ſtarkes Herz.
Er küßte ſie nicht — er ſah ſie an und weinte
in Liebes-Wonne — ſie neigte ſich herüber und
ſagte, aber heiter: „ich weine ſehr ſchwer, Lie¬
ber! Ich will Dir das von meiner Kindheit er¬
zählen, was Du verlangteſt. Von meinen er¬
ſten Kindheits-Plätzen iſt mir wenig geblieben,
vielleicht weil wir immer reiſeten und weil ich auch
mehr nach Menſchen als nach Gegenden ſehe
— außer mein längſter Aufenthalt in Valenzia.
— Vom frühen hab' ich wohl meine
Reiſe-Sucht. Am Ende liegt ſie doch in mir.
Aber Ihr glaubt immer, wie die Deutſchen,
das zu erlernen, was Ihr eigentlich ererbt oder
erſchafft. Von meiner Mutter wurd' ich mehr
als von jemand gehaſſet und geliebt. Jetzt bin
ich klar über ſie. Sie war ganz für die Kunſt
oder für die Künſte gebohren, ob ich wohl
glaube, daß ſie von den Göttern eigentlich für
die Bühne auserſehen war. Sie war alles in
[239] dieſer Minute, nichts in der andern — Flüche
und Gebete, Glaube und Unglaube, Haß und
Liebe wechſelten ab in dieſer epiſchen Natur. —
Sie hätte eine Welt verſchenken und eine ſtehlen
können. — Sie drückte mich einmal an ihr
Herz und ſagte: wärſt Du nicht meine Toch¬
ter, ich würde Dich ſtehlen oder tödten aus
bloßer Liebe; — und das war, als ich geſagt
hatte: ich liebe die Medea mehr als Kreuſa! —


Indeß war ſie zu inkonſequent, um ganz
geliebt zu werden; meinen unſichtbaren Vater
liebt' ich weit mehr, ich dacht', er ſey Gott der
Vater. Ich bildete mir einmal ein, er müſſe
in Porta Celi*) wohnen; ſtundenlang gieng
ich um den Todtengarten des Kloſters und blickte
ſehnſüchtig durch die Palmen über die Roſen
der Gräber. Ich hieng an allem Lebendigen
bis zum Schmerz; ein ſterbender Kanarienvo¬
gel machte mich einmal krank und die Todten¬
meſſe glaubt' ich werde für ihn geleſen. Auch
an Gott und Geiſtern hieng ich trunken. Im
Feuer, das ich im Dunkeln einmal aus dem
[240] Zucker ſchlug, blitzten ſie mir vorüber. Ich
habe nie geſpielt, ſondern früh geleſen. Da ich
ſehr ernſt war und meine Geſtalt ſich zeitig
entwickelte, ſo wurd' ich früh als eine Erwach¬
ſene behandelt und ich begehrt' es auch. Nie¬
mand war mir ernſt genug, außer der Vor¬
mund, der mit heimlicher Hand meine Entwick¬
lung regierte. Vor Büchern und im Reiſewa¬
gen da vergieng mein erſtes Leben. Ich be¬
neidete die Männer um ihr Wiſſen und ihre
Freiheit, aber ſie gefielen mir nicht, die Weiber
noch weniger. Ich galt für ſtolz — und frü¬
her war ich's auch — und für phantaſtiſch; ich
nahm es nicht übel, und ſagte: ihr habt euere
Weiſe und ich meine.“ — — Durch Dian und
Julienne wurde die Erzählung geſtöhrt.

118. Zykel.

Die erſte einſame Minute, die Albano mit
ſeiner Schweſter fand, legte er zur Nachfrage
über ihre lateiniſche Nachricht an, daß Lin¬
da's Vater gerade an ihrem Hochzeittage er¬
ſcheinen würde; aber ſie verwies ihn auf ſeinen
eignen, der ihm alles über Linda's ihren ſagen
könne[241] könne — und bat ihn, „Linda zu ſchonen,
nicht nur in ihrer Zartheit, ſondern auch in
ihrer eignen Ehe-Scheu, die ſehr weit gehe.
Sie konnte nicht einmal eine Freundinn an den
Traualtar begleiten, (ſetzte Julienne dazu,) ſie
nannte dieſen den Richtplatz der weiblichen
Freiheit, den Scheiterhaufen der ſchönſten freie¬
ſten Liebe und ſagte, das Heldengedicht der
Liebe werde dann höchſtens zum Schäfergedicht
der Ehe. Freilich weiß ſie nicht, wohin ſolche
Grundſätze endlich führen.“ — „Ich hoffe auch,
daß Du ihr vertraueſt,“ ſagte Albano, ſich die¬
ſe Seltſamkeit anders und höher ableitend als
ſeine ſtrenge Schweſter. Sie brach ſchnell ab,
um ihm noch den Rath nach Peſtiz mitzuge¬
ben, die Fürſtinn zu fliehen, die ins Innerſte
hinein kalt, falſch, rach- und ſelbſtſüchtig ſey.
„Sie hat etwas und zwar viel mit Dir vor'
— und ihr Haß gegen die Gräfinn kommt jetzt
dazu — Linda faſſet ſie ſcharf auf, aber doch
läſſet ſie ſich aus Heftigkeit durch alle hinreis¬
ſen und benutzen, die ſie überſieht und voraus¬
ſieht.“ Albano blieb bei ſeinem alten ſanftern
Urtheil über die Fürſtinn — um ſo mehr, da
Titan IV. Q[242] er Juliennens moraliſche Härte gegen jede ge¬
nialiſche ſchon aus ihrem Mißurtheil über Lia¬
nen kannte —; aber er gab ihr das leichte
Wort, ſie zu fliehen, ohne ihr den Grund,
nehmlich ihre ſo hart entzauberte Liebe für ihn,
zu ſagen. Für ſein Zartgefühl gab es keine
größere Rohheit als dieſes öffentliche Erbre¬
chen und Vorleſen eines Liebesbriefs, als das
männliche Auffangen und Ausrufen eines weib¬
lichen Seufzers der Liebe durch ein Sprach¬
rohr fürs Volk.


Alle kamen wieder zuſammen — lagerten
ſich auf eine Stelle, die den See und die Al¬
pen und die Blüthen-Schatten gab — der
Tag glühte ſich ab und ſank von Schönheit
zu Schönheit zum Abend hinunter. — „Auf
dieſer feinen Inſel (ſagte Dian) fängt ſich
ſchon das nordiſche Weſen an und wir ſte¬
hen bald zu Hauſe unter einem ſpitzen Dach.“
— „Nun ja, (ſagte Julienne,) aber endlich
hat man's doch auch gern, wenn man wieder
einen reinlichen Menſchen, eine Blondine und
einen Schatten ſieht und ein Paar Vögel
[243] hört*).“ — „An Tivoli und Iſchia und den
Poſilippo denk' ich hier nicht, (ſagte Albano,)
ich denke an meine Kindheit und an die Alpen.
— Drüben am Ufer des Langſee's (lago Mag¬
giore
) mögen ſich freilich die beiden Inſel-Zu¬
ckerhüte nicht zum Beſten darſtellen, aber da¬
für ſtellet ſich hier auf dem Zuckerhut das Ufer
und der See deſto beſſer dar, und für den der
auf dieſer Seealpe ſteht, iſt ſie doch gemacht.“
— „Mir iſt alles gleichgültig, (ſagte Linda,)
denn ich finde mich hier ganz wohl. Das Re¬
zenſiren ſchöner Gegenden iſt auch ein nordiſch
Weſen, weil man ſie da nur aus Büchern ken¬
nen kann; der Italiener, der ſie hat, genießet
ſie wie die Geſundheit und iſt ſich nur der Ent¬
behrung bewußt; deswegen iſt er nicht einmal
ein großer Landſchaftsmahler.“


„Man ſollte (ſagte Dian) das prächtige
Welſchland noch auf der Gränze beſingen, wenn
man von dem Kaſtellan eine Guitarre bekäme.“
Er gieng und brachte eine. Nun fieng er ita¬
Q 2[244] lieniſch zu improviſiren an. Er ſang: „in Apol¬
lo wurde die alte Liebe nach dem vorigen Schä¬
ferlande auf der Erde und nach der verlohrnen
verhüllten Daphne wieder wach — er ſtieg vom
Himmel, um beide zu finden — ihm hatte Ju¬
piter den Momus mitgegeben, der ihm das
Häßliche zeigen ſollte, damit er zurückfliege —
als ein ſchöner lächelnder Jüngling gieng er
über die Inſeln, durch die Ruinen der Tem¬
pel, durch ewige Blüthen, vor göttlichen Ge¬
mählden einer unbekannten hehren Jungfrau
mit einem Kinde und vor neuen Tönen vor¬
über, und zog wie über die Zauberkreiſe einer
ſchönern neuen Erde. — Vergeblich zeigte Mo¬
mus ihm die Mönche und Seeräuber, und ſeine
von der Zeit niedergeworfnen Tempel und ließ
ihn ſpottend Thermenſäulen für Tempelſäulen
nehmen — der Gott ſah hinauf zum hohen
kalten Olymp und ſah herab auf dies warme
Land, auf dieſe große goldne Sonne, dieſe
hellblauen Nächte, dieſe ewigblühenden Düfte,
dieſe Zypreſſen, dieſe Myrten- und Lorbeer¬
wälder und ſagte: hier iſt Elyſium, nicht
in der Unterwelt, nicht auf dem Olymp —
[245] da gab ihm Momus einen Lorbeerzweig von
Virgils Grabe *) und ſagte: das iſt deine
Daphne. Jetzt erzürnte ſich ſeine große Schwe¬
ſter Diana, ſie gab Daphnen ihre Geſtalt und
Kleidung, als komme ſie aus den Wäldern der
Pyrenäen herüber; aber er erkannte die Ge¬
liebte und gieng mit ihr in den Olympus zu¬
rück.“ — Als Dian das ſang und die Lieder
mit den Saitentönen fliegen ließ, ſo ſtanden
hoch drüben im Himmel die ewigen Glanz-Ge¬
bürge aus Eis, von den Bergen flatterten Quel¬
len und Schatten in den hellen See und der
Abend bewegte ſich entzündet und entzückt. Da
ergriff der ſtille Albano die Saiten, ſenkte das
Auge in den Blitz der Gebürge ein und fieng
erröthend an: „verweile, o Sänger, bei den ho¬
hen Geiſtern, die auf das Schlachtfeld zogen,
tödtend, ſterbend — und die aufbaueten die
ewigen Tempel der Menſchheit — verweile bei
den reinen Demanten, die glänzend und feſt
unter dem Hammer des Schickſals blieben —
verweile bei der alten Zeit, bei dem Meere
[246] Roms, das einen Welttheil trug und die an¬
dern untergrub — aber fliehe vor der Zeit, die
ihren Gipfel in ihren eignen Krater ſenkte. —
Verweile, Sänger, auf der Höhe und ſchaue
in den Garten der Welt herunter, der ein ſpie¬
lendes Menſchenleben iſt — die Ruine wird
Fels, und der Fels Ruine — auf dem hohen
Vorgebürge duftet die Blüthe, unten liegt das
Meer mit offnem Rachen — über die Szylla
glänzen ſchöne Häuſer und Gaſſen zwiſchen
dem Lager erſchrecklicher Felſen. — Und der
Gott fliegt über das Land, und ſieht das Kind
auf der Tempelſäule am Ufer und die Götter¬
tempel voll Mönche, die Sümpfe voll namen¬
loſer Ruinen und die Küſte voll Blüthen und
Grotten — und die blühenden Myrten und
Reben und die Feuerberge und die Inſeln —
und Iſchia . . . .“


Aber ihm entſank die beſtürmte Guitarre
und die Stimme, das Auge gieng tief in den
Himmel und in das Leben des Menſchen ein
und er entfernte ſich, um das laute Herz zu
ſtillen. In der kühlenden Einſamkeit bemerkte
er, wie weit ſchon die Sonne hinabgeflogen
[247] ſey wie mit Amorsflügeln durch einen kältern
Himmel; — er kehrte ſchnell zurück, in der Abend¬
röthe ſchlug ſeine Scheideſtunde aus.


Als er wiederkam, war Linda allein — denn
Julienne hatte ſeinen Dian unter dem Vor¬
wande, das Bilderkabinet zu beſehen, von den
Liebenden weggezogen, denen heute ohnehin
nur ein kürzeſter Tag des Glücks beſchieden
war — und die Geliebte ſah ihn bedeutend an:
„Dian ſang eigentlich beſſer (ſagte ſie) und
epiſcher, aber Euer lyriſches Weſen hab' ich
doch auch ſehr lieb.“ Sie blickte ihn wieder
an, dann wieder, dann in ſein Auge, dann
umarmte ſie ihn ſchnell und kein Laut erklärte
den plötzlichen Kuß. „Wir wollen auf die Ter¬
raſſe,“ ſagte ſie leiſe. Sie beſtiegen die ſchöne
Höhe der zehn Terraſſen, welche mit Lorbeer-
und Zitronenbäumen und mit Pyramiden und
koloſſaliſchen Statuen und mit der Ausſicht auf
das ferne von Dörfern und Alpen umzogne
Ufer das Auge füllt und wo einſt Albano ſei¬
nen Vater hatt' entfliehen ſehen. „Du gefällſt
mir immer mehr, Albano, (ſagte Linda,) ich
glaube faſt, Du kannſt recht lieben; erzähle
[248] mir Deine erſte Liebe, ich habe Dir auch er¬
zählt.“ — „O Linda, (ſagt' er,) wie viel be¬
gehrſt Du! Aber ich bin wahr und ſage Dir
alles; Du wirſt Sie lieben wie Sie Dich liebte.
— Sieh hier Dein Bild, das Sie ſterbend
machte und mir gab!“


Er reichte ihr die kleine Zeichnung und ihr
Auge wurde naß. Darauf fieng er leiſe und feier¬
lich das Gemählde ſeiner erſten Liebe an — wie
er Sie ſo früh noch ungeſehen und in erſten
Morgenſtrahlen des Lebens verehrt und ge¬
ſucht — und wie er Sie fand — und wie Sie
glücklich machte und es nicht wurde — wie
ſanft Sie war und er ſo wild und hart — wie
er ſeinen eignen Ungeſtüm des Herzens Ihr zu¬
muthete — wie grauſam er Ihre Entſagung
aufnahm und wie Sie durch ihn untergieng.
Linda weinte mehr als gewöhnlich. „O ich
habe hart gehandelt, gute Linda!“ ſagt' er.
„Nein, (ſagte ſie,) ich wein' über Euch beide.“
— „Ich habe große Mängel,“ ſagt' er. „Alle
vergeb' ich Dir, (ſagte ſie,) wenn Du nur lie¬
ben kannſt; aber das liebliche Weſen hat auch
ſehr gefehlt und gegen die Liebe.“ — Sie hielt
[249] innen, dann fragte ſie leiſe: „Albano, iſt Sie
noch in Deinem Herzen?“ — „Ja, Linda,“
ſagte er. „O Du redlicher und treuer Menſch,
(rief ſie begeiſtert und legte ihr Haupt an ſeine
Bruſt und betete:) heiliger Gott, gieb deinen
Unſterblichen alles, nur laß mir ewig dieſes
Menſchen Bruſt, damit er recht geliebt wird,
recht unausſprechlich und damit ich nicht un¬
tergehe! — Willſt Du, Lieber, (liſpelte ſie plötzlich
und richtete ſich auf, ihn anblickend mit unend¬
licher Liebe und Hingebung,) daß ich in Lilar
wohne, ſo gebiet' es nur.“


Dieſes weibliche gehorchende Ergeben eines
ſo freien mächtigen Geiſtes machte ihn ſprach¬
los — wie ein Adler faßte ihn die Liebesflam¬
me und hob ihn empor — er glühte an ihrem
blühenden Angeſicht und die Brautfackel der
untergehenden Sonne ſchlug mit großen Flam¬
men zwiſchen beide herein. „Linda, (fieng er end¬
lich mit zitternder feierlicher Stimme an,) wenn
wir es wiſſen könnten, daß wir uns je verließen
oder verlöhren — O! Linda, (fuhr er müh¬
ſam fort, unter ſeinen Thränen und Küſſen,)
wenn das möglich wäre, es ſey durch meine
[250] Schuld, oder durch das kalte Schickſal: wär' es
dann nicht ſchöner, wenn wir uns in dieſer
Minute hinunterſtürzten in den See und in
unſerer Liebe ſtürben?“ — Die Sonnengluth
brannte wie eine Aurora herein, welche Jüng¬
linge und Jungfrauen zu den Göttern entführt;
und die Lebens-Dämmerung war zu hellem
Morgenroth entzündet. „Wenn Du das weißt,
(ſagte Linda,) ſo ſtirb jetzt mit mir.“ — —


Da weckte beide Juliennens ferne Stimme
— endlich kam ſie ſelber mit Dian zum Ab¬
ſchied. Sie ſahen erwachend, von der Sonne
und Liebe geblendet umher und alles war ver¬
ändert — die Sonne war verſunken, der weite
See mit Nebel-Schatten bezogen und die Welt
erkältet, nur die hohen Eisberge loderten noch
roſenroth ins Blau, wie Gedächtnißſäulen der
flammenden Bundes-Stunde.


Vor Albano's Seele ſtand noch das men¬
ſchentrennende Schickſal, die kalte verhüllte Fel¬
ſen-Geſtalt, deren Schleier auch ſteinern iſt
und den niemand hebt. Er wollte nun durch¬
reißen und ſogleich ohne feiges Zögern in den
Winter hinunter. „O bis der Heſperus unterge¬
[251] gangen, verzieh!“ liſpelte Linda. Er blieb; aber
beide hatten keine Worte mehr, nur die Au¬
gen; die feſtgehaltenen Adler, die vorhin den
himmliſchen Venuswagen durch den Himmel
geriſſen, flatterten daran wild auf. Der Abend¬
ſtern gieng unter; der halbe Mond in der Him¬
melsmitte legte Strahlen als Zauberſtäbe an
die Erde an und verwandelte ſie in eine heili¬
ge blaſſe Welt des Herzens. „Nur noch den
großen Stern laſſ' hinab“ — ſagte ſie und
ſah ihn ſehnſüchtig an. Er that's. Die Nach¬
tigallen hüpften tönend zwiſchen den Silber¬
zweigen; nur die Menſchen hatten Himmel und
Liebe ohne Stimme.


„Nur noch ein Sternchen!“ bat ſie; er ge¬
horchte, ſchon vom Worte gerührt; aber ſie
entſchied ſich ſelber und ſagte: „Nein, geh!“
— „Wir wollen, Dian!“ ſagt' er. Dieſer gieng
Liebe-ſchonend die Terraſſen voraus hinab.
Heftig und lange lagen die beiden Geſchwiſter
einander am Herzen und wünſchten ſich ein hei¬
teres unbeſtürmtes Wiederfinden. Linda gab
ihm nur die Hand und ſagte kein Wort; wie
der ſtille Himmel der Nacht ſeine heiſſe Sonne be¬
[252] deckt, ſo war ihr ſtammendes Herz verborgen;
und da er gieng, ſchloß ſie, ohne nachzublicken,
ſeine Schweſter an die wallende Bruſt.


Glanz und Nacht und Duft beſtreueten die
Himmelsleiter der Terraſſen, die er herunter
gieng. Leiſe flog ſein Schiff durch den Ster¬
nen- und Blüthen-Schnee, der auf den Wel¬
len wehte — die Nachtigallen der beiden In¬
ſeln klangen zuſammen — die Schiffer ſangen
ihnen frohe Lieder zurück — die Orangendüfte
führte der günſtige Wind dem Schiffchen nach;
— aber Albano hatte Herz und Angeſicht wei¬
nend nach der verſinkenden Pyramide gewandt.
Die Schweſter hatte allein auf der Höhe nach¬
geſehen, dann war auch dieſe verſchwunden —
die Nachtigallen riefen noch leiſe nach — end¬
lich war alles verhüllt. — Er kehrte ſich um nach
den blaß-ſchimmernden Eisgebürgen, wie nach
den Leuchtthürmen ſeiner Fahrt und vom Him¬
mel dieſes Tags war ihm nun nichts geblieben
als die leitende Liebe, wie der Schiffer dem
Magnete folgt, wenn die heiligen Sterne ſich
verborgen haben und ihn nicht mehr führen.

[253]

119. Zykel.

Albano und Dian flogen über die deutſchen
Gefilde freudig ſo manchem theuern Herzen
entgegen und nichts wurde getäuſcht als ihre
— Furcht vor dem Abſtande ihrer Reiſe-Län¬
der. Statt des ſchwarzen Lavaſandes und des
verbrannten Bodens hinter ihnen deckte jetzt
das helle friſche Grün die Ebenen und kühlte
das geblendete Auge. Die Wellen grüner Äh¬
ren-Fluren ſchlugen ſich ſo luſtig als die Wel¬
len des blaugrünen Meers. In dichtern, län¬
gern, höhern Wäldern wehten neue Schatten,
gleichſam ſchöne kleine Abende, die ſich vor dem
Tag verkrochen. Nach dem ſchwarzen Grün
der welſchen Bäume kehrte das helle lachende
der deutſchen Gärten zurück; und neue Vögel-
Chöre wiegten ſich in Wolken und in Wäldern
und grüßten das Menſchen-Herz und ſchickten
ihm ihre leichte ſchuldloſe Freude herab.


Von Frühling zu Frühling zog der glück¬
liche Albano mit ſeinen Liebesträumen; wie
hinter ihm eine ſüdliche Blüthe fiel, ſo that
ſich vor ihm eine nördliche auf; und ſein Rei¬
ſewagen blieb auf dem bunten Wege und
[254] unter den Blüthen-Schatten eines langen
Gartens.


Endlich ſtand er vor dem Hauſe, wozu ihn
der Garten führte, vor der Lindenſtadt; ſo
ſtand er auch im vorigen Jahre auf der Höhe
vor ihr, zum Wolkenzuge der Zukunft aufſe¬
hend ohne zu errathen wozu das Gewölk' ſich
bilde, ob zur Aurora, oder zum Abendgewitter.
Wie viele alle Schmerzen ſtreiften jetzt gleich
Schatten von Wolken über die alte Gegend,
über die Blumenbühler Höhen und über die
Häuſer hinüber, als er die bekannten zuweilen
mit Thränen bezeichneten Wege der Vergan¬
genheit überſchauete! Er gieng jetzt, das be¬
dacht' er, ſeinem Vater mit der Nachricht ſei¬
nes neuen Glücks entgegen — ſeinem abtrünni¬
gen Freunde mit der geraubten Geliebten —
mit alter und neuer Liebe ſeinem wiederkehren¬
den Schoppe, deſſen Herz und Schickſal ihm
jetzt zugleich ſo dunkel und ſo wichtig waren —
und der ſonderbaren Zeit und Stunde, wo die
unterirdiſchen Waſſer, deren Treiben und Rau¬
ſchen er bisher ſo oftmals erfahren, auf ein¬
mal aufgedeckt, und mit allen Krümmungen und
[255] Quellen entblößet vor dem Tagslicht liegen ſol¬
len — und der heiligen Stelle, wo er die Ge¬
liebte, die ihm jetzt auf dem utſchen Wege
und in der Nähe der vorigen Schwierigkeiten
noch größer und unerreichbarer erſchien, als
auf dem Epomeo in der Nachbarſchaft alles
Erhabnen am Himmel und auf der Erde, kühn
ans Herz nehmen und ſchließen durfte auf ewig,
ohne wieder zu fragen: wirſt Du mich lieben?
— Da dacht' er an ein Bild zurück, das er auf
dem Veſuv *) gefunden und ſagte zu Dian:
„hinter dem Menſchen arbeitet und geht ein
langſamer Strom, der glühend ihn verzehrt
und zermalmt, wenn er ihn ergreift; aber der
Menſch ſchreite nur tapfer vorwärts und ſchaue
oft rückwärts, ſo entkommt er unbeſchädigt.
Mein geliebter Lehrer, ſo will ich's jetzt in mei¬
[256] nen neuen bedenklichen Verhältniſſen machen;
wende Du mich aber nach der Lava um, wenn
ich's in ſchön[u][n] [...] Gegenden zuweilen vergeſſen
ſollte!“ —


„Sprecht beſſere, günſtigere Worte! (ſagte
Dian.) Heil uns, die Götter ſind ſchon gewo¬
gen! — Dort kommt Euer Vater den Schlo߬
berg herauf und ſieht ſo luſtig und glücklich
aus wie ich ihn nie getroffen!“


Ein[257]

Ein und dreißigſte Jobelperiode.

Peſtiz — Schoppe — Eheſcheu — Arkadien —
Idoine — Verwicklung.


120. Zykel.

Gaſpard hatte gegen ſeinen Sohn die gewöhn¬
liche vornehme Kälte der erſten Stunde, wie
Briefe kälter anfangen als endigen. Erſt als
dieſer Morgen-Reif geſchmolzen und es wär¬
mer um ihn geworden, entdeckte ihm Albano
ohne Furcht und ohne kleinmüthiges Erröthen
mit gereifter Männlichkeit den Bund, den er
mit Linda und mit ſich auf ewig geſchloſſen und
bat ihn um das dritte Ja. „So hat es doch
(verſetzte der Ritter) der alte Zauberer am Ende
noch durchgeſetzt; freilich unter dem Beiſtand
Titan IV R[258] einer jungen Zauberinn. Daß ich Dich in dem
was Du mit ganzer Seele und auf immer er¬
greifeſt, niemals ſtöhre, das weißt Du noch
vom vorigen Jahre aus einem ähnlichen Fall.“
Albano wurde über die bittere Erwähnung ſei¬
ner erſten Liebe roth, hatte aber ſeit einem hal¬
ben Jahre die Kraft gewonnen, da männlich
zu ſchweigen, wo er ſonſt jugendlich ſprach.
Gaſpard, heute froher und gegen ihn wärmer
als ſonſt, fuhr doch, als er deſſen Empfindlich¬
keit bemerkte, fort: „Ich heiſſ' es gut! Wie
der Siegelgräber das Wappen anfangs in
Wachs, und erſt dann in den Edelſtein ſticht,
ſo verſucht der Mann das ſeinige in mehr als
ein Herz zu graben, bis er endlich das feſteſte
hält. Man muß bekennen, Du haſt nicht am
ſchlimmſten ausgewählt in meiner Mündel und
ich gebe gern mein Wort dazu.“ —


Albano drückte die Hand, die den ſüßen
Knoten der Liebe noch feſter zog und ſagte im
Rauſche des Danks: „auch meine Schweſter
fand ich, die Prinzeſſinn, aber ich thue an Sie
keine Frage wie neulich, ſondern rechne auf
die Zeit.“ — „Spötter! (ſagte Gaſpard und
[259] nahm, ihn abzukühlen, wie es ſchien den grau¬
ſamen Schein an als denk' er, der reine edle
Sohn hab' ihm mit der Erwähnung der Schwe¬
ſter den Spott der vielfachen Liebe zurückgeben
wollen,) ſchweige nur über alles im Innerſten
wie ich ſelber bisher; und verbirg dein Wiſſen
dem Hofe; gieb mir Dein Ehrenwort.“


Albano ſagte, auch Juliennen hab' er's ſchon
gegeben; er wurd' aber durch Gaſpards gan¬
zes Betragen auf Schlüſſe zurückgetrieben, die
weder ſeinem Vater noch Juliennens Mutter
ſittliche Kränze aufſetzten.


Gaſpard ſetzte noch dazu, es ſey für einen
Mann ein Unglück, mit phantaſtiſchen Weibern
— wie Albano ſchon ſeine Mutter kenne — und
zwar mit dreien auf einmal verwickelt zu ſeyn
und rieth ihm, ſeinen Schritt wie bisher tapfer
durch alle Räthſel fort zu thun und ſie ihrer
eignen Auflöſung zu überlaſſen; darauf legt' er
ihm als eine Probe der dritten Phantaſtinn die
Frage vor, ob er ſchon wiſſe, daß die Gräfinn
ungeachtet ſeiner Vormundſchaft ihren lebendi¬
gen Vater noch habe, der erſt an ihrem Hoch¬
zeittage erſcheinen wolle. Er bejaht' es. Ga¬
R 2[260] ſpard fuhr nun fort: ſchon dieſer Grund allein
— damit Linda ihren Vater und ſie alle end¬
lich die Ruhe der Klarheit fänden — beſtimme
ihn für eine frühe heimliche Verbindung beider
durch den ehrlichen Spener.


Albano — ordentlich erſchreckend vor der
ſchnellen nahen Verwandlung ſeeliger Stunden
in ſeelige Jahre und eben ſo unvermögend, ſich
ſeine Titanide als Gattinn zu denken wie als
Kind — antwortete beſcheiden und mit uneigen¬
nütziger Rückſicht auf Linda's Ehe-Scheu: über
die Zeit ſeines beſiegelten Glücks dürfe und
könne niemand entſcheiden als Linda ſelber.


Gaſpard war zufrieden: „nur um einen
Aufſchub halt' ich bei Euch an (fügt' er noch
bei); mein Freund, der Fürſt, iſt ſeinem Ende
wieder näher — die wohlthätige Wirkung, die
auf ihn eine Geiſter-Erſcheinung gemacht, hat
allmählig nachgelaſſen, und er fürchtet täglich
die Wiederkunft des Phantoms, das ihm die
letzten Stunden vorauszuſagen verſprochen. —
In ſolcher Zeit taugt mir Euer Feſt nicht. —
Im Vertrauen geſagt, der arme Kranke hatte
ſelber ein Auge auf die ſchöne Braut. — Es
[261] iſt doch billig, ihn mit der größten Gewißheit
ſeines Verluſtes zu verſchonen. Seinetwegen
verſchieb' ich auch meine Abreiſe.“


Wie wenn ein Menſch in das junge Para¬
dies träte und alle Vögel auf einmal, Nachti¬
gallen und Adler und Eulen und Paradiesvö¬
gel und Geier und Lerchen umzögen ihn: ſo
verworren fühlte ſich Albano durch dieſe durch¬
kreuzende Anſichten erregt und er merkte, hier¬
in geb' es keinen Verlaß und Vorhalt als auf
ſein eignes Herz und Linda ihres.


Gaſpard ſchien ungeduldig auf das Wieder¬
ſehen der Gräfinn zu ſeyn, die er ſeine einzige
Freundinn nannte. „Ich glaubte leider in Rom
meinem Bruder nicht, (ſetzt' er dazu,) da er
beiden Frauen in Neapel wollte begegnet ſeyn.
— Apropos dieſer iſt vor einiger Zeit hier durch
nach Spanien gegangen; in Rom behauptete
er, nach Griechenland zu reiſen — Du ſiehſt,
mit welcher poetiſchen Luſt und Genialität er
das reine Lügen treibt.“


Gaſpard ſchied ſehr warm von ihm mit den
Worten: „Albano, ich bin mit Dir zufrieden,
ich wär' es unendlich, wenn die Reinheit des
[262] Jünglings in den Mann übergienge — noch
hab' ich's nie gefunden.“ — Albano wollte
gerührt betheuern und beſchwören. „Darum
(fuhr er mit einer leichten den Eid wegtreiben¬
den Hand-Bewegung fort) fandeſt Du mich
ſo froh über Dein Glück, denn die Fürſtinn,
Freund, hatte mir Deine Liebe ſchon am Mor¬
gen verkündigt. Nimm Dich in Acht vor ihr,
denn ſie haſſet Dich ohne Gränzen.“


Hart und ſchauerlich tritt wie ein neues
wunderbares Raubthier hinter dem Gitter, zum
erſtenmal ein rechter wenn auch waffenloſer
Haß vor ein gutes Herz. Albano begehrte
keine Bekräftigung und Erklärung dieſer trau¬
rigen Nachricht, denn der Fürſtinn Liebe und
Irrthum, ihre Bekanntſchaft mit ſeiner vorigen
Kälte gegen Linda, ihr ſtiller Ingrimm gegen
dieſe ſelber, waren ja für ſie Flammen genug,
um daran den ſtärkſten Gift zu kochen.


Er wohnte wieder auf des Vaters Erſuchen
bei dem für ihn unbedeutend in der Tiefe lie¬
genden D. Sphex; und Gaſpard wieder im
Schloß nahe am kranken Freund. Der Ritter
ſtellte ihn ſchnell dem Hofe vor, der das Reiſe¬
[263] Braun, den ſchärfern Augen-Blitz und die
ganze letzte Entwicklung ſeiner großen Geſtalt
ſchnell bemerkte und bemerken ließ. Die Für¬
ſtinn empfing ihn mit der leichteſten feinſten
Kälte, gleichſam einer aqua toffana, die nur
reines geſchmackloſes Waſſer ſcheint. Der Fürſt
ſaß im Krankenbette aufrecht mit verdrüßlichem
Geſicht vor herkulaniſchen Zeichnungen und ließ
ſich darüber von Bouverot belehren. Wie ein
Geſicht, auf welchem in den ſpäten grauen Jah¬
ren des Lebens noch ſchöne Freudigkeit ſich bil¬
den kann, ein ſchönes Leben und ſchönes Herz
verkündigt: ſo lächelt der Heilige nie himmli¬
ſcher als auf dem Krankenbette, und der Ver¬
lohrne nie härter als eben da. Albano wandte
ſein Auge ab vom ſiechen verzerrten Bruder
ſeiner Schweſter.


Schmachtend ſah er nach dem vergangnen
Heſperien zurück und auf die Paradieſes-Pforte
hin, die endlich aufgehen und Linda und die
Schweſter im Eden zeigen ſollte. „Es wird
Dir recht ſeyn, (hatte Gaſpard geſagt,) daß
ich es unter dem Vorwand der Krankheit Lui¬
gi's
gemacht, daß beide im alten Schloß zu Li¬
[264] lar wohnen, wo Du ſie unbemerkter ſehen
kannſt.“ Er begegnete dem Miniſter Froulay,
und ihm kam entgegen der Lektor; — mit bei¬
den gieng ein dunkles vielfaches Schatten-Ge¬
folge von harten alten Erinnerungen mit. Noch
hatt' er den Hauptmann Roquairol nicht geſe¬
hen, jetzt für ihn der Abendnebel eines unter¬
gegangnen Frühlingstags.


Er trug ſo ſchnell er konnte ſein ſtummes
Herz — das eine Äolsharfe in der Windſtille
war — nach dem kindlichen Blumenbühl, um die
elterlichen Menſchen zu begrüßen und die Blät¬
ter ſeines nächſten Seelen-Nachbars Schoppe
zu leſen, nach deſſen verſprochner Wiederkunſt
er ſich jetzt mehr als jemals ſehnte.

121. Zykel.

Es war ein blauer friſcher Sommertag, da
Albano nach ſeinem alten Blumenbühl gieng,
ohne zu wiſſen, daß er's gerade an dem Ja¬
kobi- oder väterlichen Geburtstag thue, den
er einmal in der Kindheit mit ſo ſeltſamen Vor¬
ſpielen ſeines Lebens verbracht. In den alten
Gärten und auf den alten Höhen umher bis
[265] nach Lilars Walde hinüber lag überall noch
der junge ſchimmernde Thau der Kindheit un¬
vertrocknet von der Sonne Heſperiens; auch
manche Thränentropfen ſtanden darunter auf
Blumen; aber ſein friſcher geneſender Geiſt
wehrte ſich jetzt gegen weiches Verſchwimmen
in die laue Verfloſſenheit, dieſe Lethe der Ge¬
genwart. Im Dorfe wurd' er über ein Pferd,
das man beſchlug, betroffen, weil ers an Zeu¬
ge und allem als Roquairol's Freudenpferd er¬
kannte. Ein Feſt trug er in das Feſt hinein,
als er in die laute Vaters-Stube voll Geburts¬
tagswähler trat, blühend, entwickelt, gerade,
ein befeſtigter Mann mit entſchiednem Blick
und Zug. Rabette ſchrie auf — Roquairol
rief: „Aha!“ — und der alte Lehrer Weh¬
meier: „Gott und mein Herr!“ — und ſeine
Kindheits-Engel, die Eltern, umfaßten ihn
unverändert und aus Albinens blauen Augen
rannen die hellen Tropfen.


Aber verändert ſtand die fremde Jugend
neben ſeiner. Rabettens Angeſicht, die vorigen
vollen Wangen und blühenden Lippen waren
niedergefallen und mit dem aufliegenden weis¬
[266] ſen Schleier überlegt und verwachſen und ſie
hatte zwei graue Thränen ſtatt der Augen; in¬
deß lächelte ſie ſehr. Wie ſein eignes Gorgo¬
nenhaupt, erſchien Roquairol's Geſicht blaß und
hart, gleichſam auf ſeinen Grabſtein gehauen;
nur ſchroffe Pfeiler ſtanden in der Fluth ohne
die leichten Bogen der ſchönen Brücke. Zu Al¬
bano's Blüthen-Stamme ſahen Albine und
Rabette unverwandt hinauf, er ſchien ein ita¬
lieniſches Gewächs zu ſeyn, ein Neapolitaner,
im täglichen Bade des Golfs genervigt. Ro¬
quairol hatte ſogleich ſeine Rolle in der Ge¬
walt, leichter als Albano ſeine Wahrheit; er
benahm ſich gegen den, der ihm den Zauber¬
ſtab des Lebens entzweigebrochen und als zwei
Bettelſtäbe hingeworfen hatte, mit der höchſten
Höflichkeit, küßte ihn auf die Wange, hielt in dem
leichteſten oft franzöſiſchen Sprachton aus, zog
die nächſten Nachrichten über Welſchland ein und
gab wieder die erheblichſten, ſo gut er ſie, ſagt'
er, für einen Mann mit heſperiſchem Maa߬
ſtab auftreibe, aus dem Lande zum Beſten.
Auch erzählte er, „daß des Ritters Bruder
dageweſen, ein Mann voll Talente, zumal
[267] mimiſcher der Art, und von der ſonderbar-hef¬
tigſten Phantaſie bei der höchſten Kälte des
Karakters, vielleicht aber nicht immer wahr
genug.“ — „Bei meinem Trauerſpiel (ſetzt'
er dazu) wär' er Goldes werth. Lieber Bru¬
der, ſey bei dieſer Gelegenheit auch gleich ein¬
geladen dazu; es heiſſet: der Trauerſpieler —
Ich geb' es bald — Rabette kennt's.“ Sie
nickte, Albano ſchwieg unter ſeiner Gluth. Un¬
ter allen Rollen gelang dem Hauptmann die
eines Weltmanns am reinſten; auch iſt der
Schein der Kälte leichter und wahrer als der
Schein der Wärme. Albano blieb in einem
ſtolzen Abſtande. Der gekränkten welken Ra¬
bette gegenüber konnte Roquairol durch nichts
gewinnen, auch nicht durch die Vorbitte ſeiner
Geſtalt voll zertrümmerten Lebens; etwas auf
ewig verworrenes und die Wachsflügel zu ei¬
nem Klumpen gequetſcht, fand Albano und ihm
war hier enge wie einem, der von der hel¬
len Welt herab auf einmal in eine niedrige
feuchte Kellerhöhle kriecht.


Der Hauptmann ſtand auf, erinnerte noch
einmal an ſeine Bitte für den „Trauerſpie¬
[268] ler,“ und ſprengte auf dem Freudenpferde
davon.


Hinter ihm ſchwieg jeder von ihm wie ver¬
legen. Die Weiber, von Albano's glänzender
Gegenwart ein wenig ſcheu, getraueten ſich nur
ſchwer mit der alten einheimiſchen Vergangen¬
heit hervor, indeß der Pflegevater Wehrfritz, in
ſeinen Meinungen und Sitten fortgewachſen,
noch in das alte Geſchrei der Kanarienvögel,
und Hunde eingefaſſet, gar keine Zeit kannte,
dem Pflegeſohne innigen Dank für die verbind¬
liche Erinnerung und Wahl ſeiner Geburtstags¬
feier ſagte, den Albano nothwendig und ver¬
geblich ausſchlug, im vorigen Du und Vater¬
weſen fortfuhr, ſich über die Franzoſen und
ihre künftigen Siege entzückte und jetzt dem äl¬
tern Pflegeſohne mehr Prämien des Lobes als
jemals dem jüngern bewilligte, um ihm da¬
durch, hofft' er, ein ſo großes Vergnügen zu
machen wie ſonſt. Der Magiſter unterſtützte
von weitem das Lob, ob er gleich nicht unter¬
laſſen konnte, ſofort als ſein Schüler Neapel,
Baja, Cuma ausgeſprochen hatte, eine Gelegen¬
heit zu ergreifen, um Neapel, Baja, Cuma aus¬
[269] zuſprechen. Albano war rein, wahr, menſchlich,
offen und herzlich gegen alle; Eitelkeit war
nicht in ſeinem ſelbſtvergeſſenen Stolz.


Rabette fand endlich ein Hebezeug, den
glänzenden und doch trauten Bruder aus dem
Gaſtzimmer in ihres oder ſein voriges aufzu¬
winden, um allein zu ſeyn an ſeiner Bruſt.
Als ſie hineintraten: ſo fieng ſie ſogleich mit
den Worten: „kennſt Du die Stube noch, Al¬
bano?“ unendlich zu weinen an mit den
ſo lange geſammelten Thränen; und Alba¬
no zeigt' ihr in den ſeinigen ſein langes bis¬
heriges Mitleiden, riß aber dadurch die ganze
wundenvolle Vergangenheit auf. Sie griff ſel¬
ber zum Heilmittel, zum Erzählen — ſo ſehr
er auch vorſchützte, er wiſſe und errathe ja al¬
les —; und berichtete die Augen trocknend, wie
alles ſtehe — und „daß Karl viel bei ſeiner
Mutter in Arkadien ſey — daß der Miniſter noch
gegen das einzige Kind den alten Wüthrich
mache und ihm nicht einen Heller mehr als
ſonſt zuſchieße, ob er gleich immer große und
größere Schulden häufe, zumal ſeitdem keine
Liane ſie mehr im Stillen tilge — daß er über¬
[270] all borge, nur aber von ihr nichts annehme —
daß er noch immer weiter nichts begehre und
kenne als die Gräfinn — und daß Gott wiſſe,
wohinaus das alles noch wolle.“ — Allem Fra¬
gen zuvorkommend, ſetzte ſie dazu: „er weiß
ſchon jetzt alles, Dein ganzes Leben mit derſel¬
bigen Perſon — er thut dabei ſtill und luſtig,
aber ich kenn' ihn genugſam.“ — „Ach! (ſeuf¬
zete ſie in der Jammer-Fülle; und ſetzte ſogleich
mit derſelben Stimme dazu:) Du ſiehſt mich
an, nicht wahr, Du findeſt mich ſehr mager
gegen ſonſt?“ — „Ja wohl, Arme!“ ſagte er.
„Ich trank viel Eſſig ſeinetwegen, weil Karl
ſchlanke Taillen liebt; und der Gram thut auch
viel,“ ſagte ſie.


Albano wollte ſie tröſten mit der nähern
Möglichkeit einer Verbindung Karls mit ihr,
ſeit der entſchiednen Unmöglichkeit jeder andern
und bot ſich ihr gern zu jedem Vorwort und
Zwangsmittel an —; „er iſt vor Gott und uns
Dein Mann,“ ſagt' er. „Das hat er nie (ver¬
ſetzte ſie erröthend) ſeyn mögen, nehmlich ho¬
nett; ich ſchrieb Dir ja, daß ich jetzt auch zu
ſtolz bin dazu.“ — Nichts beſtach ihn mehr
[271] als ſittlicher Stolz: „ſo wirf ihn einmal weg
auf immer!“ ſagt' er.— „Ach, (ſagte ſie bäng¬
lich,) weiß ich denn, daß er kein Leid gegen
ſich ſelber vorhat? — Dann würf' ich mir's
ewig vor.' ' Unwillkührlich mußte er mit dieſer
liebenden heiligen Furcht die Härte der Fürſtinn
vergleichen, die es ſo froh und ſtolz erzählen
konnte, daß manches verliebte Leben das Opfer
ihres ſpröden Herzens und koketten Geſichts ge¬
worden. „Was willſt Du nun thun?“ fragt'
er. „Ich weine, (ſagte ſie,) ach Alban, das
iſt ja genug, daß Du mir Gehör und Rath
gegeben; ich bin wieder ganz heiter. Aber wer¬
de wieder ſein Freund.“


Er ſchwieg, über die weibliche Unart ein
wenig erzürnt, die unter dem Vorwand, Rath
zu ſuchen, nur Gehör verlangt. „Was iſt das,
(fragt' er, ein Blatt ihr zeigend,) das iſt völ¬
lig meine Hand und ich hab' es nie geſchrie¬
ben?“ — Sie ſah es an und ſagte: „Karl pro¬
bire oft ſo in den Händen bei ihr.“ Es wun¬
derte ihn und er ſagte: „überall nur Nachſpie¬
len und Nachmachen! Aber wie kannſt Du den¬
ken, daß ich ihm vergebe?“ — Einige Reiſe¬
[272] beſchreibungen auf ihrem ſonſt bücherarmen
Nachttiſch fielen ihm auf: „ich wollte doch
wiſſen, (ſagte ſie,) wie es Dir etwan da und
dort mochte ergehen und las deshalb das lan¬
ge Zeug.“ — „Du bleibſt meine Schweſter!“
ſagt' er und küßte ſie herzlich. Sie fragte ihn
noch viel und zudringlich über ſein neues Ver¬
hältniß, aber er eilte wortkarg mit dem vollen
Herzen hinab. —


Das erſte Wort drunten an den Landſchafts¬
direktor war die Bitte um das „deponirte Schop¬
piſche Schreiben.“ Wehrfritz brachte den im Eiſen¬
käſtchen der Schuldſcheine aufbewahrten breiten
Brief und lieferte ihn hoffentlich, wie er ſagte,
richtig ab. Kaum hielt Albano die Thränen zu¬
rück, als er die krauſen aber werthen Spuren
der geliebten Hand, die gewißlich nie im Le¬
ben gewankt oder ſich befleckt, in der ſeinigen
hielt. Da er nichts erbrach, ſo fiengen ſie alle
gutmüthig an, ihm ſeinen Freund Schoppe noch
den Muthmaßungen und Anſichten, die ſich der
Menſch über jeden höhern Geiſt ſo keck und
froh erlaubt, mit allen ſeinen Thaten oder Far¬
ben vorzuſchildern, als wären Thaten oder Far¬
ben[273] ben Striche und Umriß. Wehrfritz und Weh¬
meier bedauerten, daß er toll würde, wenn er's
nicht ſchon ſey. Der Magiſter hielt mit ſeinem
Hauptbeweiſe zurück, bis der Landſchaftsdirek¬
tor die kleineren Nebenbeweiſe beigebracht.


Sein Leben unter dieſem Schloßdache wurde
ab- und aufgedeckt, aber im Guten. Er hatte
bisher — ſo giengen die Berichte — nichts Re¬
elles oder Solides „bezweckt“. Wehrfritz ſchwur,
er habe ſelber zugeſehen, daß er die Litteratur¬
zeitung ſo geleſen, wie ſie ineinander Halbbo¬
gen-Weiſe ſteckte, und ſagte, daß er's freilich
weniger der Tollheit als einer Geiſtes-Abwe¬
ſenheit zuſchreibe, weil er wiſſe, mit welcher
Luſt er immer den Reichsanzeiger — den ſol¬
cher ſelber für den Thorſchlüſſel der Reichsſtadt
Deutſchland erkläret — in die Hand genommen
und verſtändig durchgegangen. Mitten in der
Geſellſchaft hab' der Bibliothekar ſeine Hände
angeſehen mit den Worten: da ſitzt ein Herr
leibhaftig und ich in ihm, wer iſt aber ſolcher?
— Gearbeitet hab' er ſehr wenig, Bücher von
Gewicht, wie H. Wehmeier wiſſe, ſelten ange¬
ſehen, leichter die allerſchlechteſten von Bauern,
Titan IV. S[274] z. B. ganze Traumauslegebücher. — Sein lieb¬
ſter Umgang ſey ihm ſein Wolfshund geweſen,
mit dem er Stundenlang ordentlichen Diskurs
geführt und von deſſen Murren er ernſthaft
behauptet, es klinge wie ein ſehr ferner Don¬
ner. — Gern ſey er vor dem Spiegel geſeſſen
und habe ſich in ein langes Geſpräch mit ſich
eingelaſſen; zuweilen hab' er in die camera
obscura
geſehen, dann ſchnell wieder in die
Gegend, um beide zu vergleichen, und habe
unoptiſch genug behauptet, die laufenden re¬
gen Bilder der camera würden von der äus¬
ſern Welt vergrößert, aber täuſchend nachge¬
äfft. „Ein ſchlauer Vogel (ſetzte der Direktor
dazu) blieb's bei alle dem; verſchiedene mei¬
ner Bekannten auf den benachbarten Ritterſi¬
tzen ließen ſich von ihm mahlen, weil er's wohl¬
feil gab; er wußte aber immer etwas ins Ge¬
ſicht einzuſchieben, daß einem die Phyſiognomie
ganz lächerlich oder einfältig vorkam; und das
hieß er ſein Schmeicheln. Natürlich ſaß ihm in
die Länge nichts Honettes mehr.“


„Wär' es mir verſtattet, (fieng Wehmeier
an,) ſo würd' ich jetzt dem H. Grafen ein Fak¬
[275] tum vom H. Bibliothekar mittheilen, das viel¬
leicht, das iſt wenigſtens meine Meinung, ſo
frappant iſt als manches andere. Die Schul¬
wohnung iſt, wie Sie gewiß noch wohl wiſſen,
dicht an der Kirche.“ Darauf gab er in einer
langen Erzählung dieſe: Einſt ſey in der tie¬
fen Mitternacht die Orgel gegangen — Er
habe an der Kirchthüre gelauſcht und Schop¬
pen deutlich einen kurzen Vers aus einem Haupt¬
lied ſingen und orgeln hören — Darauf ſey
dieſer laut vom Chore herab und auf die Kan¬
zel hinauf geſtiegen und habe eine Kaſualpre¬
digt an ſich ſelber mit den Worten angefan¬
gen: mein andächtiger Zuhörer und Freund in
Chriſto — Im Exordium hab' er das ſtille lei¬
der ſo ſchnell vergangne Glück vor dem Leben
berührt, obwohl nicht nach rechter Homiletik,
da der zweite Theil faſt den Eingang repetire
— Darauf einen Kanzelvers mit ſich geſungen
und aus Hiob, Cap. 3., wo dieſer die Freude
des Nicht-Seyns zeigt, den 26ſten Vers verle¬
ſen, der ſo lautet: „war ich nicht glückſeelig?
war ich nicht fein ſtille? hatt' ich nicht gute
Ruhe? Und kommt ſolche Unruhe“ — Vor¬
S 2[276] geſtellt hab' er ſich: die Leiden und Freuden
eines Chriſten, im erſten Theil die Leiden, im
zweiten die Freuden — Hierauf hab' er, aber
auf närriſche Art und Sprache, aber doch auch
mit Bibelſprüchen die Noth auf der Welt kurz
zuſammengedrängt, worunter er ſehr unerwartet
ſonderbare Sachen, lange Predigten, die beiden
Pole, häßliche Geſichter, die Komplimente, die
Spieler und die Welt-Dummheit gezählt — Dar¬
auf ſey er zum Troſt im zweiten Theile vorge¬
ſchritten und habe die künftigen Freuden eines
Chriſten beſchrieben, welche, wie er läſterlich
geſagt, in eine Himmelfahrt ins zukünftige
Nichts, in dem Tode nach dem Tode beſtände,
in einer ewigen Befreiung vom Ich — Da
hab' er, grauſend ſey es zu hören geweſen, die
benachbarten Todten unten in der Kirche und
in der fürſtlichen Gruft angeredet und gefragt:
ob ſie zu klagen hätten? „Erſteht, (ſagt' er,)
ſetzt euch in die Stühle und ſchlagt die Augen
auf, falls ſie naß ſind. Aber ſie ſind trockner
als euer Staub. O wie liegt die unendliche
Vorwelt ſo ſtill und ſchön gewickelt in den eig¬
nen Schatten, auf das Bette der Selbſt-Aſche
[277] weich gelegt und hat nicht ein Traum-Glied
mehr, in das eine Wunde geht. Swift, alter
Swift, der du ſonſt ſo ſehr in der letzten Zeit
nicht bei Verſtande warſt und an jedem Ge¬
burtstage das ganze Kapitel durchlaſeſt, wor¬
aus der h. Text unſerer Erntepredigt genom¬
men iſt, Swift, wie biſt du nun ſo zufrieden
und gänzlich hergeſtellt, der Haß deiner Bruſt
ausgebrannt, die Zahlperle, dein Ich in der
heiſſen Thräne des Lebens endlich zerbaizt und
zerlaſſen und dieſe ſieht allein hell da! — Und
du hatteſt vor dem Küſter gepredigt wie ich.“
— Hier habe Schoppe geweint und ſich über
die Rührung, Gott weiß vor wem, entſchuldigt
— Darauf ſey er an die Nutzanwendung ge¬
gangen und habe ſcharf auf Beſſerung des Zu¬
hörers und Predigers gedrungen, auf lautere
redliche Wahrhaftigkeit, Freundestreue, ſtolzen
Muth, bittern Haß der Süßlichkeit, des Schlan¬
gengangs und weicher Unzucht — Endlich hab'
er mit einer Bitte an Gott, daß er ihn, ſollt'
er einmal Geſundheit oder den Verſtand oder
dergleichen verliehren, doch möge ſterben laſſen
wie einen Mann, die Andacht beſchloſſen und ſey
[278] auf einmal aus der Kirchenthüre herausgefahren.
„Er brachte mich (ſetzte Wehmeier dazu) faſt
um meinen Verſtand durch Schrecken, da er
auf einmal zornig mich anfuhr: Scheinleiche,
was ſchleichſt du ums Grab; und ich machte
mich entfärbt und hurtig nach Hauſe, ohne ihm
das Geringſte darauf verſetzt zu haben. Was
ſagen aber der Herr Graf?“ —


Albano ſchüttelte den Kopf mit Heftigkeit,
ohne ein belehrendes Wort, mit Schmerz und
Thränen auf dem Geſicht. Er nahm bloß ſchnell
von allen Abſchied und bat ſie um Vergebung
der Eile; — und ſuchte Abend-Sonne und die
Freiheit, um des edlen Menſchen Brief und die
Abſicht ſeiner Reiſe zu leſen. Er ſchlug den al¬
ten Weg nach Lilar ein, wo er an der frohen
ſüdlichen Bruſt ſeines frohen Dian's wieder die
ſüdliche Heiterkeit und Gewohnheit zu finden
hoffte; denn ſein Herz war durch ein Erdbeben
aufgedrängt und aufgehoben, weil ihm in die¬
ſem Schoppe doch manches wilde Zeichen, gleich¬
ſam ein übermäßiges Leuchten und Blitzen die¬
ſes Geſtirns, einen Untergang und jüngſten
Tag zu melden ſchien, den er zu ſeinem höch¬
[279] ſten Schmerz dem Aufgehen des neuen Sterns
der Liebe, der dieſe Welt anzündete, zuzuſchrei¬
ben gezwungen war.

122. Zykel.

Er las folgenden Brief von Schoppe:


„Dein Schreiben, mein lieber Jüngling,
kam mir richtig zu. Ich preiſe Deine Thränen
und Flammen, die einander wechſelnd unter¬
halten und nicht löſchen. Werde nur etwas,
auch viel, nur nicht alles, damit Du es in ei¬
ner ſo äußerſt leeren Sache wie das Leben iſt
— ich möchte wiſſen wer's erfunden hat —
ausdauern kannſt vor Wüſtenei. Ein Homer,
ein Alexander, die nun die ganze Welt erobert
und unter ſich haben, müſſen ſich oft mit den
verdrüßlichſten Stunden plagen, weil nun ihr
Leben aus einer Braut eine Frau geworden.
So ſehr ich mich dagegen verpalliſadirte und
mich feſtmachte, um nicht über Jedermann zu
ſteigen und als das Faktotum der Welt oben
zu ſitzen: ſo kam ich doch am Ende unvermerkt
und ſtehend in die Höhe, bloß weil unter mei¬
nem langen Beſehen der ganze Erdkreis voll
[280] Schaumberge und Nebel-Rieſen immer tiefer
aufthauete und zuſammenkroch; und ſchaue nun
allein und trocken von meinem Berghorn her¬
unter, ganz beſetzt mit den Blutigeln des Welt-
Ekels.


Bruder, es wird aber in dieſem Jahre an¬
ders und ich flott. Deswegen wird Dir hier
im Februar ein langer mir ganz verdrüßlicher
Brief geſchrieben, der Dir über meine nahe
Einſpinnung und Verpuppung ſagt, wo und
wie; denn bin ich einmal eine glänzende Chry¬
ſolide, ſo kann ich mich nur ſchwach mehr re¬
gen und zeigen.


Ich will mich deutlicher erklären, ſetzen
die Deutſchen hinzu, wenn ſie ſich deutlich
erklärt haben. Es ſchickt und trifft ſich beſon¬
ders glücklich — was ich ſchätze wie einer —,
daß gerade Ende des Jahrs Ende meines bis¬
herigen väterlichen Vermögens iſt und folglich,
wenn Amſterdam aufhört zu zahlen, ich auch
falle und nichts mehr in Händen habe als ſchwa¬
che chiromantiſche Wahrſagungen und nichts
im Leibe habe außer dem Magen. Ich wollte,
ich könnte noch von meinem Nabel leben wie
[281] in meinen frühern Zeiten und mich ſo weich
betten.


Was ſoll ich dann machen? Mich von den
Herren Menſchen Jahraus Jahrein beſchenken
zu laſſen, dazu acht' ich ſie nicht genug; und
die wenigen, die man etwa bei Gelegenheit
achtet, ſollen wieder mich zu hoch achten, es
anzubieten. Was, ein Floh ſoll ich ſeyn am
dünnſten goldnen Kettlein und ein Herr, der
mich daran gelegt, damit ich ihm ſpringe, aber
nicht davon, zieht mich öfters auf den Arm und
ſagt: ſaug' nur zu, mein Thierchen! — Teu¬
fel! Frei will ich bleiben auf einer ſo ver¬
ächtlichen Erde, — keinen Lohn, keinen Befehl
in dieſem großen Bedientenzimmer erhaltend:
— kerngeſund, um kein Mitleiden und keinen
Hausarzt zu erwecken — ja wollte man mir
das Herz der Gräfinn Romeiro unter der Be¬
dingung zuſchlagen, es zu erknieen, ſo würd'
ich das Herz zwar annehmen und es küſſen,
aber gleich darauf aufſtehen und davonlaufen
(entweder in die zweite oder in die neue Welt)
ehe ſie Zeit hätte, ſich die Sache zu rekapitu¬
liren und mir vorzurücken.


[282]

Werden freilich etwas — und dadurch eben
ſo viel verdienen —, das könnt' ich (ſchlägt
man mir vor) dach verſuchen, ohne ſonderliche
Einbuße von Freiheit und Ungleichheit. In der
That ſeh' ich hier aus meinem Zentrum an 360
Weg-Radien laufen und weiß kaum zu wäh¬
len, ſo daß man lieber das Zentrum zum Um¬
kreis auszuplätten oder dieſen zu jenem einzu¬
ziehen verſuchen möchte, um nur fortzuſtehen.
Dienen, wie die Regimentsſtäbe ſagen, wäre
freilich das nächſte am Herrſchen. Du willſt
ſelber, wie Du ſchreibſt, ins Feld. (Deinen
Brief hab' ich richtig erhalten und darin Deine
Scheu und Sucht recht und gut gefunden und
Dich ganz.) Und in Wahrheit, errichtete der
Erzengel Michael eine heilige Legion, eine legio
fulminatrix
von einigen ſchwachen Septuagin¬
ta's gegen das gemeine Weſen der Welt,
kündigte er den Rieſenkrieg dem Pöbelsaufge¬
bote an, um vier oder fünf Welttheile durch
ein ſechstes Welttheilchen (auf einer Inſel hätt'
es vielen Platz) aus der Welt zu treiben oder
in die Kerker und um alle geiſtige Knechte zu
leiblichen zu machen: ſey verſichert, in dieſem
[283] glücklichen Fall ſtellte ich mich am erſten hinter
die Spitze und führte die Kanonen mit der kur¬
zen flüchtigen Bemerkung, wie Händel zuerſt
Kanonen in die Muſik, ſo brächte man hier
umgewandt zuerſt Muſik in die Kanonen. Kä¬
men wir nun ſämmtlich zurück, wehte der hei¬
lige Landſturm wieder herwärts: ſo ſtände Got¬
tes Thron auf der Erde und heilige Männer
giengen mit hohen Feuern in Händen hinauf,
viel weniger um droben den Weltkörper zu re¬
gieren als dem Weltgeiſte zu opfern.


Mit der Franzmannſchaft demnach ſtehſt Du
für Deine Perſon, wie Du ſchreibſt, künftig für
Einen Mann. Freilich hält mir's ſchwer, ſon¬
derlich von 25 Millionen zu denken, wovon
zwar die Kubikwurzel frei lief und wuchs, aber
Stamm und Gezweig doch Jahrhunderte lang
am Sklaven-Gitter trocknete und dorrte. Wer nicht
vor der Revoluzion ein ſtiller Revoluzionär war
— wie etwan Chamfort, mit deſſen feuerfeſten
Bruſt ich einmal in Paris an meiner ſchönes
Feuer ſchlug, oder wie Montesquieu und J. J.
Rouſſeau — der ſpreize ſich mit ſeiner Tropfen¬
haftigkeit nicht breit unter ſeine Hausthür aus.
[284] Freiheit wird wie alles Göttliche nicht gelernt
und erworben, ſondern angebohren. Freilich
ſitzen im Frank- und Deutſchreich überall junge
Autoren und Muſenſöhne, die ſich über ihren
ſchnellen Selbſt-Gehalt verwundern und erklä¬
ren, nur verflucht erſtaunt, daß ſie nicht früher
ihr Freiheitsgefühl gefühlt, weiche Schelme, die
ſich als ganze blaſende Wallfiſche anſehen, weil
ſie einiges Fiſchbein davon um die Rippen zu
ſchnüren fanden — Immer würd' ich in einem
Kriege, wie ihn die todte Zeit geben kann,
glauben, zwar gegen Thoren zu kämpfen, aber
auch für Thoren.


Die jetzigen, zyniſchen, naiven, freien Na¬
turmenſchen — Franzen und Deutſche — glei¬
chen faſt den nackten Honorazioren, die ich in
der Pleiſſe, Spree und Saale ſich baden ſah;
ſie waren, wie geſagt, ſehr nackt, weiß und
natürlich und Wilde, aber der ſchwarze Haar¬
zopf der Kultur lag doch auffallend auf den
weiſſen Rücken. Einige große lange Menſchen
und Väter der Zeit, wie Rouſſeau, Diderot,
Sidney, Ferguſon, Plato, haben ihre abge¬
tragnen Hoſen abgelegt und dieſe tragen ihre
[285] Jungen nach und nennen ſich, weil ſie ihnen
ſo weit, lang und offen ſitzen, deswegen Ohne-
Hoſen.


Zwar ſtatt des Degens, könnte ich auch ſehr
gut das Federmeſſer ergreifen und als ſchrei¬
bender Zäſar aufſtehen, um die Welt zu bes¬
ſern und ihr und ſie zu nutzen. Es wird mir
denkwürdig bleiben, das Geſpräch, das ich dar¬
über mit einem berliniſchen allgemeinen deut¬
ſchen Bibliothekar aushielt, als wir ſtill im
Thiergarten auf- und abgiengen. „„Jeder wu¬
chere doch ſeinem Vaterland mit ſeinen Kennt¬
niſſen, die ſonſt vergraben liegen,““ ſagte
der deutſche Bibliothekar. Zu einem Vater¬
land gehört zuvörderſt einiges Land, ſagt'
ich, der maltheſer Bibliothekar aber, der hier
ſpricht, erblickte das Licht der Welt zur See
unter einem pechfinſtern Sturm. Kenntniſſe be¬
ſitz' ich freilich genug und weiß, daß man ſie
wie ein Glas voll Kuhpocken, vernünftig ge¬
nommen, nur dazu hat, um ſie einzuimpfen —
der Schüler ſeiner Seits ſchlingt ſie wieder nur
ein, um ſie von ſich zu geben und ſo giebt ſich
das Weitere. So fährt das Licht, wie im Spiel
[286] „ſtirbt der Fuchs, ſo gilt's den Balg“ der
glimmende Spahn, von Hand zu Hand, bis
aber doch der Spahn in einer — meiner —
verlöſcht und verbleibt.


„„Launig genug! (ſagte der allgemeine
Bibliothekar.) Mit einer ſolchen Laune ver¬
binden Sie nur noch Studium ſchlechter Men¬
ſchen und guter Muſter, ſo bilden Sie uns ei¬
nen zweiten Rabener, der die Narren geis¬
ſelt.““ — „„Herr, (verſetzt' ich ergrimmt,)
ich würde die Weiſen vorziehen und Euch den
erſten Schlag verſetzen. Weiſe laſſen ſich be¬
richten und waſchen, haben überall ihr Einſe¬
hen und ſind gute Narren und meine Leute;
ein Mann wie ein allgemeiner deutſcher Kur¬
ſchmidt, der dem Muſenpferd an den Puls
greift, halte mir ſeinen vor und ich befühl' ihn
gern. Aber der Welt-Rest, Sir ? Wer kann
das Weltmeer abſchäumen, wenn er ihm nicht
die Ufer wegbricht? Iſt's nicht ein Jammer
und Schade, daß alle genialiſche Menſchen,
von Plato bis zu Herder, laut und gedruckt
worden und häufig geleſen und ſtudirt vom
gelehrten Pack und Packhof, ohne daß dieſer
[287] ſich im Geringſten ändern können? Bibliothe¬
kar, ruft und pfeift doch alles, was in den kri¬
tiſchen Hundshütten neben jenen Tempeln Wa¬
che liegt, heraus und fragt ſämmtliche Wind¬
ſpiele, Doggen und Packer, ob in ihren See¬
len ſich etwas anders bewege als ein poten¬
ziirter Magen, ſtatt eines poetiſchen und hei¬
ligen Herzens? Im Bergkeſſel ſehen ſie den
Wurſt- und Braukeſſel, im Laub die Schelle
der Karte und der Donner hat für ſie — als
ein größerer elektriſcher Funke — einen ſehr
ſäuerlichen Geſchmack, den er nachher dem März-
Biere einflößet.““


„„Spielen Sie an?““ fragt' er. Sicher!
— (ſagt' ich.) Aber weiter, Bibliothekar, ge¬
ſetzt wir beide wären ſo glücklich, uns auf
dem Abſatze herumzudrehen und mit Einem Um¬
herhauchen alle Thoren wie mit einem Hütten¬
rauche ganz verpeſtet umzuwehen und maus¬
todt hinzuwerfen: ſo kann ich doch nicht abſe¬
hen, wo der Seegen herauskommen will, weil
ich außerdem daß wir noch ſelber neben einan¬
der ſtehen und auch uns anzuhauchen haben,
[288] in allen Ecken umher Weiber ſitzen ſehn, welche
die erlegte Welt von neuem hecken. —


Beſter Püſterich *) voll Feuer, (fuhr ich
fort,) kann aber das ſehr zum ſatiriſchen Hand¬
werke rufen und prägen? — O nein! Ächte
Laune iſt bei mir da, vielleicht fremde Tollheit
gleichfalls, vielleicht — aber ach wird nicht der
ſeltſame Scherzmacher, ſogar in ihrer ungemei¬
nen Bibliothek, dem Stachelſchweinmanne in
London (dem Sohne) gleichen, der bei dem
Thierhändler Brook den Dienſt hatte, den Frem¬
den im wilden Viehſtand und ausländiſchen
Thiergarten herumzuführen und der auf der
Schwelle dabei anfieng, daß er ſich ſelber zeig¬
te als Menſch betrachtet: — Bedenken Sie es
kalt und vorher! Noch ſchwing' ich meinen
Satyr-Schweif ungebunden und luſtig und
etwan gegen eine gelegentliche Bremſe; wird
mir aber ein Buch daran gebunden wie in
Pohlen an den Kuh-Schwanz eine Wiege, ſo
rüt¬[289] rüttelt das Thier die Wiege der Leſer und giebt
Luſt, der Schwanz aber wird ein Knecht.““


„„Zu ſolchen Bildern (ſagte der Bibliothe¬
kar) wäre allerdings die gebildete Welt durch
keinen Rabener oder Voltaire gewöhnt und ich
erkenne nun ſelber die Satyre nicht für Ihr
Fach.““ — „„O ſo wahr!““ verſetzt' ich und
wir ſchieden gütlich.


— Aber ernſthaft genommen, Bruder, was
hat nun ein Menſch übrig (ſowohl an Aus¬
ſichten als an Wünſchen), dem das Säkulum
ſo verſalzen iſt, wie mir und das Leben durch
die Lebendigen — den die allgemeine matte
Heuchelei und die glänzende Politur des giftig¬
ſten Holzes verdrieſſet — und die entſetzliche
Gemeinheit des deutſchen Lebenstheaters — und
die noch größere des deutſchen Theater-Lebens
— und die pontiniſchen Sümpfe Kotzebuiſcher
ehr- und zuchtloſer Weichlichkeit, die kein hei¬
liger Vater austrocknen und feſt machen kann
— und der ermordete Stolz neben der lebendi¬
gen Eitelkeit umher, ſo daß ich mich, um nur
Luft zu ſchöpfen, ſtundenlang zu den Spielen
der Kinder und des Viehs hinſtellen kann, weil
Titan IV. T[290] ich doch dabei verſichert bin, daß beide nicht
mit mir kokettiren ſondern nichts im Sinne
und liebhaben als ihr Werk — was hat, fragt'
ich auf der letzten Zeile des vorigen Blattes,
einer nun übrig, den wie geſagt ſo vielerlei
anſtinkt und vorzüglich noch der Punkt, daß
Beſſerung ſchwer iſt, aber Verſchlimmerung ganz
und gar nicht, weil ſogar die Beſten den Schlimm¬
ſten etwas weißmachen und dadurch ſich auch
und weil ſie bei ihrer verborgnen Verwünſchung
und Sänften- und Achſelträgerei der Gegen¬
wart wenigſtens um Geld und Ehre tanzen und
ſich dafür gern vom feſtern Pöbel brauchen las¬
ſen, als Weinfäſſer zu Fleiſchfäſſern — was hat
ein Mann, ſag' ich, Freund, in Zeiten, wo
man wie jetzt im Druck, aus Schwarz zwar
nicht Weiß macht, aber doch Grau und wo
man, wie Katecheten ſollen, gerade die Fragen
auf Nein und Ja vermeidet, noch übrig aus¬
ſer ſeinem Haſſe der Tyrannen und Sklaven
zugleich und außer dem Zorne über die Mi߬
handlung ſowohl als über die Gemißhandel¬
ten? Und wozu ſoll ſich ein Mann, dem der
Panzer des Lebens an ſolchen Stellen dünn
[291] gearbeitet oder dünn gerieben iſt, ernſthaft ent¬
ſchließen?


Ich meines Orts, falls von mir die Rede
iſt, entſchloß mich im halben Scherze zu einer
dünnen hellen Anfrage für den Reichsanzeiger,
die Du vielleicht ſchon in Rom geleſen, ohne
mich eben zu errathen.


„„Allerhand


Wohl zuverläſſig ſteht geſunder Ver¬
ſtand
u [...][d] (mens sana c. s.)
unter den zu würdigenden Gütern des Lebens
zunächſt nach einem reinen Gewiſſen oben
an. Ein Satz, den ich bei den Leſern dieſes
Blattes vorauszuſetzen wage. Was ſonſt hier¬
über noch geſagt werden kann (ſowohl von
als gegen Kantner,) [ſo ſchreibt Campe ſtatt
Kantianer viel richtiger,] gehört gewiß nicht
hieher in ein ganz populäres Volksblatt.
Unterzeichneter dieſes iſt nun in dem betrüb¬
ten
Falle, daß er hier genöthigt die Ärzte Aus-
und Deutſchlands befrägt. — Mitleiden mit
Leiden gebe, ſchicke die Antworten ein —, wenn
er (gerade heraus vor Deutſchland!!) ganz toll
T 2[292] werden werde, indem der Anfang davon ſchon
einen genommen.


Das Wenn aber nicht das Ob liegt edeln
Menſchenfreunden zu beantworten ob. Hier
meine Gründe, Deutſche! Abgeſehen, daß man¬
cher ſchon aus der Anfrage folgern könnte —
was doch wenig entſcheidet — ſo ſind folgende
Stücke bedenklich und gewiß: 1) des Verfas¬
ſers bunter Styl ſelber, der weniger aus die¬
ſem Inſerat (in den überlegteſten Intervallen
gemacht) als aus der ähnlichen S[c][h][r]eibart ei¬
nes ſehr beliebten und geſchmackloſen Schrift¬
ſtellers zu erkennen iſt, wie denn ein buntes
Übermaaß ganz wildfremder Bilder ſo gut am
Kopfe wie buntes Farbenſpiel am Glaſe, nahe
Auflöſung bedeuten — 2) die Weiſſagung ei¬
nes Spitzbuben*), an die er immerfort denkt,
was ſchlimme Folgen haben muß — 3) ſeine
Liebe und ſein Treiben Swift's, deſſen Tollheit
Gelehrten nicht fremd iſt — 4) ſeine gänzliche
Vergeßlichkeit — 5) ſeine häufige ſchlimme Ver¬
[293] wirrung geträumter Sachen mit erlebten und
vice versa — 6) ſein Unglück, daß er nicht
weiß was er ſchreibt bis er's nachgeleſen, weil
er gegen ſeinen Zweck bald etwas ausläſſet
oder bald etwas hinſetzt, wie das durchſtrichne
Manuſkript leider am beſten bezeugt — 7) ſein
ganzes bisheriges Leben, Denken und Spaßen,
was hier zu weitläuftig wäre und 8) ſeine ſo
unvernünftigen Träume. Nun iſt die Frage,
wenn in ſolchen Verhältniſſen (ſchlagen nehm¬
lich keine Fieber, keine Liebſchaften dazu) voll¬
ſtändige Verrückung (Idea fixa, mania, rap¬
tus
) eintritt. Bei Swift fiel's ſehr ſpät, im
Alter, wo er ohnehin ſchon an und für ſich
halb närriſch ſeyn mochte und nachher alles nur
mehr zeigte. Wenn man betrachtet, daß ein¬
mal der Profeſſor Büſch ausrechnete, daß ſeine
Augen-Schwäche ſehr gut ohne ſeinen Schaden
von Jahr zu Jahr wachſen könnte, weil die
Periode ſeiner gänzlichen Erblindung über ſein
ganzes langes Leben hinausfiele blos auf ſein
Grab, ſo ſollt' ich annehmen, daß meine Schwä¬
che ſo ſtufenweiſe aufſchwellen könnte, daß ich
keine petites maisons brauchte als den Sarg ſel¬
[294] ber; ſo daß ich vorher dabei heirathen und
amthiren möchte wie jeder andere rechtſchaf¬
fene Mann.


Was ich hiermit bezwecke, iſt bloß, mich
hierüber mit irgend einem Menſchenfreunde (er
ſey aber philoſophiſcher Arzt!!) in Korreſpon¬
denz zu ſetzen. Meine Adreſſe hat die Expedi¬
zion des R. Anzeigers. Näher bekannt mach'
ich mich vielleicht körperlich und bürgerlich in
eben dieſem Blatte auf dem Blatte, wo ich eine
Gattinn ſuche. Peſtiz, den Februar.


S—s L—d, L—r, G—l, S—e.““


Albano, Du weißt, unter welchem Gebüſch
mein Ernſt liegt. Der Reichs- und Schoppens-
Anzeiger hat acht Gründe für die Sache, die
nicht nur mein Ernſt ſind, ſondern auch mein
Spaß. Seit der Kahlkopf mir nach einem
Jahre den Aufgang meines tollen Hundsſterns
anſagte, ſah ich immer die Aurora dieſes Fix-
Geſtirns vor mir und ſah mich daran zuletzt
blind und feige; ich muß es herausſagen. O
ich hatte im Januar, Bruder, acht furchtbare
Träume hintereinander — nach der Zahl der
Gründe im Anzeiger und ſelber unter den ach¬
[295] ten Grund gehörig — Träume, worin ein wil¬
der Jäger des Gehirns durch den Geiſt jagte
und ein reiſſender Strom voll Welten, voll Ge¬
ſichter und Berge und Hände wallete — ich
will Dich nicht damit ängſtigen — Dante und
ſein Kopf ſind Himmel dagegen.


Da würd' ich verdrüßlich über die Feigheit
und ſagte zu mir: „„Haſt bisher ſo lange ge¬
lebt und die reichſten Ladungen leicht ins Was¬
ſer geworfen, ſogar dieſe und die zweite Welt,
und dich von allem, und von Ruhm und von
Büchern und Herzen ſo rein entkleidet und haſt
nichts behalten als dich ſelber, um damit frei
und nackt und kalt auf der Kugel zu ſtehen
vor der Sonne: auf einmal krümmſt du dich
unverſehends vor dem bloßen tollen fixen Ge¬
danken an eine tolle fixe Idee, die dir jeder
Fieber-Pulsſchlag, jeder Fauſt-Schlag, jedes
Giftkorn in den Kopf graben kann und ver¬
ſchenkſt auf einmal deine alte göttliche Freiheit
— Schoppe, ich weiß gar nicht, was ich von
dir halten ſoll; wer irgend etwas noch fürchtet
im Univerſum, und wär' es die Hölle, der iſt
noch ein Sklave.““ —


[296]

Da ermannte ſich der Mann und ſagte, ich
will das haben was ich fürchtete; und Schop¬
pe trat näher an den breiten hohen Nebel und
ſiehe! es war (man hätte ſich gern auf der
Stelle hineingebettet,) nur der längſte Traum
vor dem längſten Schlaf, mehr nicht, was ſie
Wahnſinn nennen. Geht man nun auf einige
Zeit z. B. in ein Irrhaus zum Scherz: ſo kann
man den Traum haben, läſſet es ſich ſonſt al¬
les ſo dazu an wie bei Manchem. Und dahinein
will ich nun allgemach ſinken, in den Traum,
wo an der Zukunft die Dolchſpitze abgebrochen
iſt und an der Vergangenheit der Roſt abge¬
wiſcht — wo der Menſch ohne Stöhrung in dem
Schattenreich und dem Barataria-Eiland ſei¬
ner Ideen das regierende Haus allein iſt und
der Johann ohne Land und er wie ein Philoſoph
alles macht was er denkt — wo er auch ſei¬
nen Körper aus den Wellen und Brandungen
der Auſſenwelt zieht und Kälte, Hitze, Hunger,
Nervenſchwäche und Schwindſucht und Waſſer¬
ſucht und Armuth ihn nicht mehr antaſten und
den Geiſt keine Furcht, keine Sünde, kein Irr¬
thum im Irrhaus — wo die 365 Träume jähr¬
[297] licher Nächte ſich in einen einzigen, die flüchti¬
gen Wolken in Ein großes Gluth-Abendroth
zuſammengewebt — —


Da ſitzt etwas Böſes! Der Menſch muß
im Stande ſeyn, ſich ſeinen Traum, ſeine gute
fixe Idee — denn ein hoher Ameishaufen der
grimmigſten und der liebreizendſten wimmelt
vor ihm — mit Verſtand auszuklauben und
zuzueignen, ſonſt kann er ſo ſchlimm fahren
als wär' er noch bei Verſtand. Ich muß nun
beſonders meine Anſtalten treffen, daß ich ei¬
nen liebreichen favorablen Fix-Wahn finde
und anerkenne, der gut mir mir umgeht. Kann
ich's dahin bringen, etwan der erſte Menſch
zu ſeyn im irrigen Hauſe — oder der zweite
Momus — oder der dritte Schlegel — oder
die vierte Grazie — oder der fünfte Kartenkö¬
nig — oder die ſechste kluge Jungfrau — oder
die ſiebente weltliche Chur — oder der achte
Weiſe in Griechenland — oder die neunte See¬
le in der Arche — oder die zehnte Muſe —
oder der 41ſte Akademiker — oder der 71ſte
Dolmetſcher oder gar das Univerſum — oder
gar der Weltgeiſt ſelber: ſo iſt allerdings mein
[298] Glück gemacht und dem Lebens-Skorpion der
ganze Stachel weggeſchlagen. Aber was ſteht
nicht noch für goldnes edelſteinernes Glück of¬
fen? Kann ich nicht ein ſehr begünſtigter Lieb¬
haber ſeyn; der den Sonnenkörper einer Ge¬
liebten den ganzen Tag im Himmel ziehen ſieht
und hinaufſchauet und ruft: ich ſehe nur Dein
Sonnen-Auge, aber es genügt? — Kann ich
nicht ein Verſtorbner ſeyn, der voll Unglauben
an die zweite Welt in ſolche gefahren iſt und nun
da gar nicht weiß wo er hinaus ſoll vor Luſt?
— O kann ich nicht — denn der kürzere Traum
und das Alter verkindern ja ſchon — wieder
ein unſchuldiges Kind ſeyn, das ſpielt und nichts
weiß, das die Menſchen für Eltern hält und
das nun einen aus der bunten Blaſe des Le¬
bens zuſammengefallenen Thränentropfen vor
ſich ſtehen hat und den Tropfen wieder mit der
Pfeife geſchickt zum flimmernden Farben-Welt¬
kügelchen aufbläſet?


Es iſt eben Mitternacht; ich muß jetzt in
die Kirche gehen, meine Veſper-Andacht zu
halten.


[299]

Drei Wochen ſpäter.


Nota bene!


Gewiſſermaßen war ich ſeit Deiner Reiſe
verdammt unglücklich bis dieſen Morgen gegen
1 Uhr; — um 2 Uhr faßt' ich meinen Ent¬
ſchluß, jetzt um 5 die Feder, um 6, wenn
ich ausgetrunken und ausgeſchrieben, den Rei¬
ſeſtab, deſſen Stachel nach 2 Monaten in den
Pyrenäen ſteht. O Himmel! mußte etwas Ge¬
ſtacheltes längſt neben mir ſtehen, was ich ſo
lange für einen Heriſſon nahm, indeß es die
beſte Spielwalze voll Stifte iſt, aus der ich
nichts Geringeres (ich drehte ſie vor einigen
Stunden) haben kann als das beſte Flötengedakt
— unverfälſchte Sphären- und Kreismuſik zu
den Bravourarien der drei Männer im Feuer
— einen ganzen lebendigen Vaucanſons Flö¬
tenſpieler von Holz — und unerhörte Sachen,
womit die Maſchine nicht ſich einen Bruch
bläſet, ſondern einigen Spitzbuben, wovon ich
vorzüglich den Kahlkopf nenne? —


O höre Jüngling! Es geht Dich an. Ich
will Deinetwegen, was die Welt offenherzig
nennt, jetzt ſeyn, nehmlich unverſchämt, denn
[300] wahrlich ich decke lieber meinen Steiß als mein
Herz auf und bin weniger roth.


Es gab einmal in alten Zeiten eine junge
Zeit, eine voll Feuer und Roſen, wo der alte
Schoppe ſeines Orts auch jung genug war —
wo der alerte, anſchlägige Vogel leicht her¬
aushatte, wo der Haſe liegt und die Häſinn —
wo der Mann ſich noch mit den bekannten
vier Welttheilen in Güte ſetzte, oder auch eben
ſo leicht wie ein Stier, mit dem Horn nach
jeder Fliege ſtieß — wo er, jetzt ein Silberfa¬
ſan kühler Zeit, noch als ein warmer Goldfa¬
ſan im ganzen Welſchland auf- und abſchritt
oder flog, und bald auf Buanorotti's Moos
ſaß, bald auf dem Koliſeo, bald auf dem Ät¬
na, bald auf der Peterskuppel, und vor Luſt
krähete, die Flügel ſchlug, und gen Himmel
ſtieg. —


Es war nehmlich dieſelbe Zeit, wo der noch
ungerupfte Sturmvogel einmal in Tivoli ſich
durch die Waſſerfälle hin - und herſchwang,
koſtbar ſeelig war und da gelegentlich — plötz¬
lich — oben — in Veſta's Tempel — zum er¬
ſtenmale — weiter nichts erblickte als — die
[301] Prinzeſſinn di Lauria, nachher, muthmaß' ich,
von einem Vliesritter weggeholt als ſein güld¬
nes Vlies. Solche ſehen — ſich aus einem
Sturmvogel in einen Tauber an der Venus
Wagen verwandeln — von Geſpann und Zü¬
gel ſich abreißen — vor jene Göttinn fliegen —
ſie in immer engern Kreiſen umziehen, das al¬
les war nicht eins, ſondern dreierlei. Ich mußte
erſt zu einem Paradiesvogel wachſen und mich
färben, um in ein Paradies zu fliegen; ich
mußte nehmlich Mahlerei erlernen, um vor
Sie zu dürfen.


Als ich endlich den Portrait-Pinſel und
die Silhouetten-Scheere in der Gewalt hatte
und an einem Morgen mit beiden vor der
Prinzeſſinn und dem Fürſten erſchien, mußt' ich
ihn ſelber mahlen und ſchneiden; ſeine Tochter
war ſchon vermählet und heimlich abgereiſet;
denn Dein Großvater weiſſagt, (anſtatt wie
andere ihr Treiben voraus,) ſeines nur hin¬
tennach und öffnet den Mund bloß zum —
Hören.


Ich ſchnitt ihn ſchnell aus, den Mann —
packte ein — gieng in alle Welt — nach bei¬
[302] nah drei Jahren ſtand ich auf der zehnten
Terraſſe der Isola bella ganz unerwartet vor
der Gräfinn Ceſara — Himmel und Hölle!
welch ein Weib war Deine Mutter! Sie warf
jeden in beide auf einmal, ich weiß nicht ob
Deinen Vater auch. Schreiber dieſes ſtand in
ſeiner letzten ornithologiſchen Verwandlung vor
ihr, als ſtiller Perlhahn (Thränen müſſen die
Perlen ſeyn) und konterfeiete ſie ab, nach we¬
nigen Wochen.


Sie hatte zwei Kinder, Dich — Deiner ſchon
damals geſchärften Bildung entſinn' ich mich
klar — und Deine Schweſter, die ſogenannte
Severina. Dein Vater war nicht da, aber ſein
Wachsbild, wornach ich ihn gleich achtzehn
Jahre ſpäter in Rom wieder erkannte. Auch
Deine Schweſter war noch wächſern wiederholt,
nur Du nicht. Eine Dir von weitem ähnliche
Wachsfigur, die Dich als einen Mann vorgau¬
kelte, ſtellte der Bruder Deines Vaters, der
mit da war, Dir immer als einen Flügelmann
Deiner Zukunft vor, ſagte, Du ſeyeſt hier im
voraus kubirt und ſchon ins Große getrieben,
von der Flaſche auf das Faß gefüllt, um Dich
[303] anzufeuern, damit Du erwüchſeſt. Man mußte
Dir eine ähnliche Uniform, wie der Wachsmann
trug, anziehen — ich weiß nicht welche — Du
forderteſt dann keck, um Deinen eignen Mi¬
kromegas ſchreitend, ihn heraus, aus der Zu¬
kunft in die Gegenwart. Jetzt weißt Du was
Du geworden und magſt wohl wieder und mit
mehr Recht ſo ſtolz auf den Kleinen herabſehen
wie der Kleine ſonſt zu dem Großen hinauf.
Ich wollte nie Deinem Oheim dieſe Maſchine
der geiſtigen Streckbarkeit gutheißen; dabei
hab' ich vor allen Wachs-Marionetten einen
ſo haſſenden Schauder!


Mein einziger Zweck auf der ſchönen Inſel
war die Abreiſe von ihr und von der ſchönen
Inſulanerinn, ſobald ich dieſe abgemahlt hätte.
Dummes Jahrhundert, ſagt' ich, will ich denn
mehr von Dir? Sie ſaß mir gern — wie auf
einem Thron — ich riß, halb im Gewitter
halb im Regenbogen wohnhaft, ſie ab und
mußt' ihr natürlich das Bild laſſen unkopirt.
Aber, Jüngling, einige Buchſtaben, die meinen
damaligen Namen formirten und die ich aufs
Bild an der Stelle des Herzens unter die Was¬
[304] ſer-Farben ſchrieb und verſteckte, können für
Dich ein Tetragrammaton, elf Sonntagsbuch¬
ſtaben und Leſemütter (matres lectionis) Dei¬
nes Daſeyns werden, falls ich glücklich nach
Spanien komme und in Valencia am Bildniß
die Färberei von meinen Buchſtaben wegwi¬
ſchen und nun in deſſen Herzen leſen kann:
Löwenſkiold. So däniſch hieß ich damals.


Dann iſt die Gräfinn Linda de Romeiro
ohne Gnade Deine Schweſter Severina. Gott
ſchenke nur, daß Du ſie nicht vor dieſem Brief
etwan geſehen haſt und geheirathet; ſie ſoll,
wie ich geſtern hörte, nach Italien abgerei¬
ſet ſeyn.


Denn als ich die Gräfinn Linda hier zum
erſtenmale ſah, war mir auf dem Peſtizer
Markt-Viereck als ſtänd' ich oben auf der
Terraſſe der Isola bella, und ſchauete die Al¬
pen. Deine Mutter, meine Jugend kaum drei
Schritte vor mir! Bei Gott, wie als wäre
aus der tiefen Ferne im Pfeilerſpiegel der Zeit
auf einmal das weiße Roſenbild Deiner ver¬
hüllten Mutter heraufgeriſſen worden dicht ans
Glas heran und hienge davor nun rothblühend,
ſo[305] ſo ſtand Linda vor mir! Denn die göttliche Ähn¬
lichkeit beider iſt ſo groß! Gar kein Arianiſches
Homoiouſon, ſondern ein ganzes orthodoxes
Homouſion iſt hier zu glauben, würd' ich
Dir gerne ſchreiben, hätteſt Du ſonſt die nö¬
thige Kirchengeſchichte dazu auf dem Lager.


Ich mahlte auch Linda in dieſem Winter.
Was ſie mir vom Karakter ihrer Mutter er¬
zählte, war ganz daſſelbe, was ich ihr hätte
vom Karakter der Prinzeſſinn di Lauria berich¬
ten können —


Linda's Vater oder Herr von Romeiro
wollte nie erſcheinen und doch iſt er noch nicht
verſchwunden wie ich höre —


Linda's Mutter hieß ſich eine Römerinn
und eine Verwandte des Fürſten di Lauria


In Spanien, wo ich zweimal war und
fragte, wollte nirgends der Nahme einer Ce¬
ſara wohnen —


Trillionen Spinnenfäden der Wahrſcheinlich¬
keit ſpinnen ſich zum Ariadnens-Strick im
Labyrinth —


Eine neue unbekannte Schweſter wird Dir
Titan IV. U[306] im gothiſchen Hauſe mit Schleiern und in Spie¬
geln vorgeführt — —


Und zwar wird vom redlichen Kahlkopf, —
dem faſt mehr zum Chriſtuskopf fehlt als die
Locken, und den ich im Herbſte einen Hund
geheißen — Dirs vorgeſpiegelt aus wirklichen
Spiegeln —


Gedachter Anubis- oder Kahl-Kopf ſtand
nun (der Himmel und der Teufel wiſſen am
beſten warum, aber ich glaub' es,) als Vater
des Todes auf Isola bella, lag als Handwerks¬
purſch am Fürſtengrabe und in jedem Hinter¬
halt, um Dir Deine Schweſter zur Frau zu ge¬
ben — — falls ichs litte; aber ſobald ich jetzt
zugeſiegelt, brech' ich nach Spanien auf, und
in Linda's Bilderkabinet ein, ſuche nach einem
gewiſſen Bilde ihrer Mutter, deſſen Stelle und
Zimmer ich mir deutlich angeben laſſen — und
iſt es das Bild von mir: ſo iſt alles richtig
und der Donner kann in alles ſchlagen —


Der Kahlkopf iſt ſchon ein Fünfviertelsbe¬
weis — er gehört unter die wenigen Menſchen,
die ſchon, kaum Spinnen-dick, in ihrer Mut¬
terleib aus Bosheit pißten —


[307]

Vielleicht treff' ich Deinen Oheim, der mich
hier, wie er ſagte, wieder erkannte und der
wirklich nach Valencia abgereiſet iſt*)


O Himmel, wenn mir's gelänge (aber war¬
um nicht, da meine Zunge von Eiſen bleibt
und dieſes Blatt in Eiſen kommt, beim redli¬
chen Wehrfritz, deſſen Herz ein alter Deut¬
ſcher iſt, und mit Recht ſtellt in der Jungfer
Europa Deutſchland das Herz vor?), ich
ſchreibe, wenn mir's gelänge, daß ich anbrennte
an einem verfluchten Geheimniß eine Strohthür,
riſſe alles auf, ein und weg, blinde Thore und
Opferthore und ein ſtarkes Licht fiele herein
auf die tapfere Linda und den tapfern Jüng¬
ling, anleuchtend den nahen Kahlkopf (viel¬
leicht noch jemand), der eben in der Dunkel¬
heit mit zwei langen blanken Okulir- und
Schlachtmeſſern in die Geſchwiſter ſchief herun¬
terſtechen will — —


U 2[308]

Wenn mir das einmal gelänge, nehmlich
im Erntemonat — denn da käm' ich in Peſtiz
wieder an und hätte das Bildniß in der Ta¬
ſche — und ich hätte mich und zwei Unſchuldi¬
ge tapfer gerächt an Schuldigen: dann würd'
ich mir's für ſehr erlaubt halten, an meinen
Kopf zu greifen und zu ſagen: à bas, gare,
Kopf weg! Wozu gewiß, da ja von keiner
dummen Abtreibung des Leibes durch ein Wer¬
ther-Pulver die Rede iſt, ſondern nur vom
Vorſatze, das was Sachverſtändige meinen
Verſtand nennen, gelegentlich zu verlieren —
meine Freunde ſtimmen müßten, weil ſie mich
noch hätten (der Körper wird dabei anbehal¬
ten) obwohl als das Nachtſtück eines Men¬
ſchen, weil ich dann einen vernünftigen Dis¬
kurs ſo gut über alles (nur den Fix-Wahn
greife keiner an) führen wollte als einer und
dabei einen geſitteten guten Spaß (wahrlich
die wahre Würze) einzuſtreuen gewiß nicht
vergäße und weil der Staat mich Tag und
Nacht gerüſtet und geſattelt finden ſollte, ihm
nach dem Beiſpiele der Berliner Irrhäusler,
die einmal beim Feuer im Haus am beſten
[309] löſchten und retteten, zu dienen und zu Hülfe
und zu Paſſe zu kommen, wenn die dunkeln
Intervalle ſeiner andern Staatsdiener nicht an¬
ders auszufüllen wären als mit unſern hellen.


Lebe wohl! Ich brech' auf. Die Welt lacht
mich heiter an. In Spanien find' ich ein Stück
Jugend wieder — wie in dieſem Schreiben.


Schoppe.


Apropos! Stieß Dir der Kahlkopf nirgends
auf? — Ich kann Dir nicht ſagen, wie ich täg¬
lich jetzt arbeite, um mir vor dem Wunſche, ihn
künftig in der Tollheit niederzuſtoßen, wahren
Abſcheu und Greuel im Voraus einzuprägen
und eigen zu machen, damit nachher die etwa¬
nige That mir nicht als eine Spätfrucht des
vorigen vernünftigen moraliſchen Zuſtandes
könne herüber zugerechnet werden in den andern.


Vernichte dieſen Brief!


Als Albano die feurigen Augen von dem
Briefe aufhob, ſtand er vor Lilar unter einem
hochgewölbten Triumphbogen und die Sonne
gieng in Pracht hinter dem Elyſium unter.
[310] „Kennſt Du mich nicht?“ fragte leiſe neben
ihm Linda in Reiſekleidern weinend in heller
Liebe und Wonne — und Julienne drängte
ſich, beiden Vorſicht zuwinkend, aus dem Ein¬
gangsgebüſch des Flötenthals hervor und rief
zum liſtigen Scheine: „Linda, Linda, hörſt Du
denn die Flöten nicht?“ — Und Albano hatte
den ſchweren Brief vergeſſen.

123. Zykel.

Wie ein ſchnell mit hundert Flügeln aufrau¬
ſchendes Konzert, ſo ſchlug die ſchnelle Gegen¬
wart alter Liebe und Freude über den verlas¬
ſenen, um den Freund bekümmerten Jüngling
in ſchönen Fluchen zuſammen; und von der
Entzückung getroffen, ſah er Linda wieder wie
auf Iſchia; aber dieſe ſah ihn wieder wie in
einem andern Elyſium, ſie war weicher, zärter,
heißer, eingedenk ſeiner Vergangenheit in die¬
ſem Garten. Sie wollte gar nichts von ihrer
eignen Reiſe, Geſchichte erzählen oder hören.
Albano bedeckte ſein Geheimniß von Schoppe
mit mächtiger aber zitternder Bruſt; nur ſeinem
Vater brannt' er ſie aufzuthun. Unaufhörlich
[311] hielt er ſich die Unmöglichkeit einer Verwandt¬
ſchaft vor und die Leichtigkeit, daß Schop¬
pe die angebliche Schweſter mit der wahren,
mit Juliennen, verwechſ'le; noch dieſen Abend
wollt' er den Vater fragen.


Er gab ihr das Ja deſſelben zu ihrem Bun¬
de mit großer Freude, aber nicht mit der grö߬
ten, weil Schoppe's Brief nachtönte. Julienne
nahm es wahr, daß nur eine Kaskatella ſtatt der
Kaskade heute aus ihm komme und ſucht' ihn
luſtig-liſtig auszuholen, indem ſie ihn leicht
durch das ganze wichtige Perſonale ſeiner und
ihrer Bekanntſchaft durchantworten ließ. Sie
hatte einige Neigung, am Theatervorhang zu
weben und zu mahlen oder auch ein Soufleur¬
loch in ihn zu ſtechen. Sie fieng die Fragen
von Idoine an, — welche kurz nach ſeiner An¬
kunft ihren Rückweg aus der Stadt genommen
— und hörte mit ihnen bei Schoppen auf, —
nach deſſen Reiſe-Ziele ſie forſchte —; aber
Albano hatte jene nicht geſehen, dieſer, ſagt'
er, hab' es ihm allein vertraut. Eine ſchöne,
unbiegſame Marmorader der Feſtigkeit lief durch
ſein Weſen. Linda's ſchwarzes Auge war ein
[312] offnes treues deutſches und ſah ihn nur an,
um ihn zu lieben.


Aus dem Flötenthal kam der Reſt der Ge¬
ſellſchaft, der Lektor u. a.; Julienne nöthigte
die Liebenden zur Scheidung, und ſagte: „hier
iſt kein Iſchia; ohne mich könnt ihr euch hier
im Schloß gar nicht ſehen; ich werde Dirs
durch Deinen Vater allzeit ſagen laſſen, wenn
ich da bin.“


Als er allein ſtand in Lilar, mit dem ſchwe¬
ren Gedanken an Schoppe und Linda, und er
die anmuthigen Gegenden und Stellen ſchöner
Stunden überſah: ſo kam ihm auf einmal vor
als verziehe ſich in der Dämmerung das Ely¬
ſium wie ein reizendes Geſicht zu einem Hohn
über ihn und über das Leben — kleine bos¬
hafte Feen ſitzen an den kleinen Kinder-Tiſch¬
chen als wären ſie ſanfte Kinder und ſähen ſehr
gern Menſchen und Menſchenluſt — ſie fahren
auf als wilde Jägerinnen und rennen durch die
Blüthen — tauſend Hände wenden den Garten
mit Blüthenbäumen um und richten ſein ſchwar¬
zes finſteres Wurzeln-Dickigt wie Gipfel im
Himmel auf — aus den Zweigen blicken Gor¬
[313] gonenhäupter und oben im Donnerhäuschen
weint und lacht es unaufhörlich — nichts iſt
ſchön und ſanft als der tapfere große Tar¬
tarus.


Indeß gieng Albano, da es der kürzere
Weg zu ſeinem Vater war, hart und zornig
durch den Garten, über die Schwanenbrücke,
vor dem Traum-Tempel, vor Charitons Häus¬
chen, vor den Roſenlauben vorbei und über
die Wald-Brücke; und kam bald im Fürſten¬
ſchloſſe bei ſeinem Vater an, der eben vom
kranken Luigi zurückgekommen. Mit ironiſcher
Mine erzählte ihm dieſer, wie der Pazient von
neuem ſchwelle, bloß weil er fürchte der todte
Vater, der ihn zum zweitenmal als Zeichen
des Todes zu erſcheinen verſprochen, gebe das
Zeichen und hole ihn darauf. Nun erzählte
Albano, ohne allen Eingang und ohne Erwäh¬
nung von Schoppen und von deſſen Verhält¬
niſſen, die Hypotheſe der ſeltſamſten Verwandt¬
ſchaft, ohne etwa ausforſchende lange Fragen
oder auch nur die kurze ſchnelle: „iſt Linda
meine Schweſter?“ zu thun aus Achtung für
den Vater. Dieſer hörte ihn ruhig aus: „je¬
[314] der Menſch (ſagt' er erzürnt) hat eine Regen-
Ecke ſeines Lebens, aus der ihm das ſchlimme
Wetter nachzieht; die meinige iſt die Geheim¬
nißträgerei. Von wem haſt Du die neueſte?“
— „Darüber muß ich ſchweigen aus Pflicht,“
verſetzt' er. „In dieſem Falle (ſagte Gaſpard)
hätteſt Du beſſer ganz geſchwiegen; wer den
kleinſten Theil eines Geheimniſſes hingiebt, hat
den andern nicht mehr in der Gewalt. Wie
viel glaubſt Du, daß ich von der Sache
weiß?“ — „Ach was kann ich glauben?“
ſagte Albano. „Dachteſt Du an meine Erlaub¬
niß Deiner Verbindung mit der Gräfinn?“
ſagte zorniger Gaſpard. „Sollt' ich denn ſchwei¬
gen, und entwickelte ſich nicht am Ende aus
allen Geheimniſſen die Schweſter Julienne?“ —
Hier ſah ihn Gaſpard ſcharf an und fragte:
„kannſt Du auf das ernſte Wort eines Man¬
nes vertrauen, ohne zu wanken, zu irren, wie
auch der Schein dagegen rede?“ „Ich kann's,“
ſagte Albano. „Die Gräfinn iſt Deine Schwe¬
ſter nicht; vertraue mir!“ ſagte Gaſpard. —
„Vater ich thu' es! (ſagte Albano ganz freu¬
dig) und nun kein Wort weiter darüber.“
[315] Aber der ruhigere Alte fuhr fort und ſagte,
dieſer neue Irrthum veranlaſſe ihn, jetzt ernſt¬
lich bei Linda auf ein Ja zur ſchnellen Verbin¬
dung zu dringen, weil der Vater derſelben,
vielleicht der geheime bisherige Wunderthäter,
ſeine Erſcheinung durchaus an einen Hochzeit¬
tag gebunden. Noch einmal ließ er den Sohn
ſeinen Wunſch nach dem Wege merken, auf
welchem er zu jener Hypotheſe gekommen; aber
umſonſt, die heilige Freundſchaft konnte nicht
entheiligt oder verlaſſen werden, und ſeine
Bruſt ſchloß wie der dunkle Fels um den
hellen Kryſtall, ſich mächtig um ſein offnes
Herz.


So ſchied er warm und glücklich vom ſchwei¬
genden Vater. — In der harten Stunde des
Briefs hatt' er nur eine künſtliche Felſenpartie
des Lebens überſtiegen, und die bunten Gärten
lagen wieder da bis an den Horizont; — doch
der vergebliche mühvolle Irrthum ſeines Schop¬
pe und deſſen von Haſſen und Lieben verheer¬
ter Geiſt, der ſich ſogar im Ton des Briefes
niederzubeugen ſchien, und die Zukunft eines
Wahnſinns giengen wie ein fernes Leichenge¬
[316] läute in ſeiner ſchönen Gegend klagend und
das glückliche Herz wurde voll und ſtill.

124. Zykel.

Bald darauf ließ die gütige Schweſter Al¬
bano's an der Spieluhr ſeines Glücks, deren
Wächterin ſie war, wieder eine heſperiſche Stun¬
de ſchlagen und ſpielen, wo das ganze Leben
hinauf und hinab mittönte und ſich aushellte
und wo nun wie in der Schweiz, wenn eine
Wolke ſich öffnet, auf einmal Höhen, Eisber¬
ge, Berghörner aus dem Himmel blicken. Er
ſah ſeine Linda wieder, aber in neuem Licht,
glühend, aber wie eine Roſe vor dem glühenden
Abendroth; ihr Lieben war ein weiches ſtilles
Flammen, nicht ein Hüpfen irrer ſtechender
Funken. Er ſchloß, daß ſein wortfeſter Vater
die Bitte um eine prieſterliche Verbindung ihr
ſchon gethan und ſogar ihre Bejahung bekom¬
men. Julienne ſagt' ihm, ſie woll' ihn den
nächſten Abend um 6 Uhr auf dem väterlichen
Zimmer ſprechen; das macht' ihn noch gewis¬
ſer und froher. Mit neuen noch zärter anbe¬
tenden Gefühlen ſchied er von Linda; die Göt¬
tinn war eine Heilige geworden.


[317]

Als er den andern Tag ins väterliche Zim¬
mer kam: fand er niemand darin als Julienne.
Sie küßte ihn kurz und kaum, um ſchnell mit
ihren Nachrichten fertig zu werden, da ihre Ab¬
weſenheit auf ſo viele Minuten eingeſchloſſen
war als die Fürſtinn brauchte, um vom Kran¬
kenbette des Mannes in das Zimmer der Prin¬
zeſſinn zu kommen. „Sie heirathet Dich nicht,
(fieng ſie leiſe an,) ſo ſehr und ſo fein auch
Dein Vater ihr bei dem erſten Empfang nach
der Reiſe die Freude über das neue Glück ſei¬
nes Sohnes ausdrückte, für das er nun bloß
nichts mehr zu wünſchen brauchte, ſagt' er, als
das Siegel der Fortdauer — Es war noch fei¬
ner verſilbert und vergoldet, ich weiß es nicht
mehr. — Darauf erwiederte ſie in ihrer Spra¬
che, die ich nie behalte, ihr und Dein Wille
wären das rechte Siegel, jedes andere politi¬
ſche drücke Ketten und Sklaven auf dem ſchön¬
ſten Leben aus.“ —


Hart wurd' Albano von einer offnen Wei¬
gerung verletzt, die ihn bisher als eine ſtille
und als Philoſophie auftretende nur wie we¬
ſenloſer Schatte unberührt umfloſſen hatte.
[318] „Das war nicht recht; ſpät konnte ſie ſagen,
aber nicht nie“ ſagt' er empfindlich. — „Ge¬
mäßigt, Freund, (ſagte Julienne,) daeauf er¬
innerte ſie Dein Vater freundlich an die be¬
dingte Erſcheinung des ihrigen, indem er ſagte,
daß er ſehr wünſchen müſſe, ihr Glück aus ſei¬
nen Händen in nähere zu übergeben. Keine
künſtliche Bedingung darf einen Willen zwin¬
gen oder vernichten, ſagte ſie. Dein Vater
fuhr ruhig fort und ſetzte dazu, er habe den
ſchönſten Lebensplan für Euch beide in dieſem
Falle entworfen; im andern aber ſtehe ſeine Ein¬
willigung in die Liebe nur ſo lange offen, als ſein
Hierſeyn, das mit dem Tode ſeines Freundes endi¬
ge. Dann gieng er gelaſſen fort wie die Männer
pflegen, wenn ſie uns recht entrüſtet haben.“


„Heſperien, Heſperien! (rief Albano zornig.)
Linda verdoppelte doch ihr Nein?“ — „O lei¬
der! Aber Bruder?“ fragte ſtaunend Julienne.
„Laſſe mich, (verſetzt' er,) iſt es denn nicht unge¬
recht, dieſes elterliche Antaſten der ſchönſten zarte¬
ſten Saiten, deren Klang und Schwung ſie auf ein¬
mal tödten, um einen neuen aus ihnen zu ru¬
pfen? Iſt's denn nicht ſündlich, Göttergeſchen¬
[319] ke zu Staats-Zöllen und Partie-Geldern, ja
wohl Partie-Geldern herabzuziehen? — Gute
Linda, nun ſtehen wir wieder auf dem Boden,
wo man die Blumen der Liebe zu Heu an¬
ſchlägt — und wo es im Paradies keine an¬
dere Bäume giebt als Gränzbäume. — Nein,
freies Weſen, durch mich ſollſt Du nie aufhö¬
ren, es zu ſeyn!“ —


Julienne trat einige Schritte zurück, ſagte:
„ich will Dich nur auslachen,“ that es und
ſetzte ernſt dazu: „Sie alſo, willſt Du, ſoll
Dir den Tag anberaumen, wo der alte Vater
ſichtbar werden ſoll?“ — „Das folge gar nicht,“
ſagt' er. Sie bemerkte ruhig, daß immer ein
hitziger Mann über die Hitze des andern klage
und daß Albano ſchon in der Ruhe zu ſtrenge
auf fremdes und eignes Recht dringe; daß ſol¬
che Leute dann in der Leidenſchaft etwas über
das Recht hinaus verlangten, wie ein Stift,
der in der Uhr zu genau paſſet, erwärmt ſie
durch ſeine Größe anhält. Jetzt bat ſie ihn
liebreich, das Auseinanderzupfen des „gan¬
zen Wirrwarrs“ bloß ihren Fingern zu überlas¬
ſen und ſanft und ſtill zu bleiben, damit nicht
[320] noch mehr Leute, etwa gar ihre „belle-soeur
zwiſchen ihren Bund ſich drängten. Albano
nahm es freundlich an, bat ſie aber ernſt, nur
keine Plane zu machen, weil er zu ehrlich da¬
zu gegen Linda ſeyn und ihr ſogleich das ganze
Wort der Charade ſagen würde.


Sie entdeckte ihm, ſie habe weiter keinen
zu etwas gemacht als zu einem frohen Tage
für morgen, den nehmlich, mit Linda die Prin¬
zeſſinn Idoine in Arkadien zu beſuchen, der ſie
außer dem Beſuch noch größere Dinge ſchul¬
dig ſey, beſonders ihr halbes Herz: „Du rei¬
teſt uns zufällig nach und triffſt uns mitten
im Schäferleben an (ſetzte ſie dazu), und über¬
raſcheſt Deine Linda.“ — Er ſagte ſehr ent¬
ſchieden Nein; weil er vor Idoinens Ähnlich¬
keit mit Lianen — ob er gleich nur wußte daß
Liane jene im Traum-Tempel vorgeſpielt, noch
nicht aber, daß Idoine dieſe vor ſeinem Kran¬
kenbette nachgebildet — und vor der Gegen¬
wart der Miniſterinn die Flucht aus Scheu ſo¬
wohl der bittern Erinnerungen als der ſüßen
nahm, welchen beiden Roquairol in ſolchem
Falle nachgezogen wäre. Julienne wandte bos¬
haft[321] haft ein: „fürchte nur nichts für die Prinzes¬
ſinn; ſie mußte, um vom verhaßten Bräutigam
nur loszukommen, allen Ihrigen eidlich ange¬
loben, nie einen unter ihrem Stande zu wäh¬
len — und das hält ſie, ſogar bei Dir.“ —
Er beantwortete den Scherz bloß mit der ern¬
ſten Wiederholung des Neins. Nun ſo beſtehe
ſie darauf, verſetzte ſie, daß er ihnen beiden
wenigſtens auf halbem Weg entgegenkomme
und ſie im „Prinzengarten“ — einem von
Luigi als Erbprinz angelegten und auf dem
Fürſtenſtuhle vergeſſenen Park — erwarte. Das
ergriff er ſehr freudig.


Sie fragte ſcheidend noch ſcherzhaft: „wer
hat Dich von neuem mit einer Schweſter be¬
ſchenkt?“ Er ſagte: „das konnte mein Vater
nicht von mir erfahren.“ — „Bruder, (ſagte
ſie ſanft,) ein Herr war's, der Prinzeſſinnen
leicht für Gräfinnen nimmt und der nächſtens
noch toller zu werden glaubt als er ſchon iſt
— Dein Schoppe“ und flog davon.

125. Zykel.

Am Morgen darauf fuhren beide Freundin¬
nen nach Arkadien. Julienne — obwohl be¬
Titan IV. X[322] trübter durch ihren kränkern Bruder — hei¬
terte ſich durch das Vertrauen auf einen Plan
auf, den ſie ungeachtet ihrer Verſicherung zum
Glücke des geſunden entworfen, um ihn in
Arkadien auszuführen. Sie verbarg öfters, wie
andere hinter den ſchwarzen Trauerfächern der
Trauer und Empfindung, ſo hinter den heitern
Putzfächern des Lachens, der den Zuſchauern
die bemahlte Seite zukehrte, ihren Kopf mit
ſeinen Entwürfen; unter Lachen und Weinen
gieng und dachte ſie dieſen nach. So hatte ſie
an Albano die Bitte, Idoine mit zu beſuchen,
nur aus Schein und in der Gewißheit gethan,
daß er ſie abſchlage oder im Falle er komme,
daß es dann Idoine thue; denn ſie wußte aus
Idoinens Beſuchen im vorigen Winter, daß
dieſe an den von ihr hergeſtellten ſchönen Fi¬
berkranken häufig in Geſprächen gedacht und
daß ſie jetzt vor ſeiner Ankunft geflohen war,
um nicht über ſeine helle liebende Gegenwart,
die ihr am leichteſten durch die Fürſtinn be¬
kannt geworden, als ein Gewölke aus der Ver¬
gangenheit hereinzuziehen voll trüber Ähnlich¬
keiten. Julienne hatte ſogar erfahren, daß die
[323] Fürſtinn ſie umſonſt länger halten und aufbe¬
wahren wollen, um vielleicht den Jüngling
durch ſie zu erinnern, zu ſchrecken, zu ändern,
oder zu ſtrafen. Juliennens Liebe gegen die
Prinzeſſinn wäre durch jene zarte Flucht vor
Albano vielleicht ſo warm geworden als die
gegen Linda war, wenn eben dieſe Liebe nicht
dazwiſchen geſtanden hätte; wenigſtens hatt'
ihr dieſe ſchöne Flucht ein ungemeſſenes
Vertrauen — was eben das rechte und einzige
iſt — auf die Prinzeſſinn gegeben.


Der Reiſetag war ein ſchöner Erndte-Mor¬
gen voll bevölkerter Kornfluren, voll Kühle und
Thau und Luft. Linda freuete ſich kindlich auf
Idoine, und ſagte die Gründe in frohem Tone:
„zuerſt weil ſie Deinem Bruder das Leben ge¬
rettet — und weil ſie doch wußte, was ſie
wollte und darauf muthig beharrte und ſich
nicht wie andere Prinzeſſinnen zum Opfer des
Thrones verhandelte — und weil ſie die deut¬
ſcheſte Franzöſinn iſt, die ich kenne, außer der
Mdm. Necker — Ja mir gehört ſie ordentlich
mit aller ſchönen Jugend unter die alten Frauen,
und dieſe ſucht' ich von jeher vor, denn es iſt
X 2[324] doch etwas von ihnen zu lernen. Dich liebt ſie
ſehr, mich glaub' ich weniger, einem ſo reizen¬
den Mittelding von Nonne und Ehefrau ſchein'
ich zu weltlich, ob es gleich nicht iſt.“


Beide kamen im ſchönen Zauberdorfe — als
ſchon die netten Kinder ſich zur Ährenleſe ver¬
bündeten und die Wagen ſchon den Sammlern
der Garben entgegenfuhren — Nachmittags vor
dem Mittagseſſen an. Idoinens Bruder, der
künftige Erbfürſt von Hohenflies, — der Zwerg in
Tivoli — ſah aus dem Fenſter und Julienne
bedauerte faſt die Reiſe. Idoine flog ihr ent¬
gegen und drückte ſie herzlich an die Bruſt.
Als Julienne dieſes große blaue Auge und je¬
den verklärten Zug der Geſtalt, die einſt ihr
Bruder ſo ſeelig und ſchmerzlich geliebt, vor
und auf ihrem Angeſicht hatte: ſo glaubte ſie
jetzt, da ſie ſeine Schweſter geworden, gleich¬
ſam als ſeine Stellvertreterlnn die Liebe der
Stellvertreterinn Lianens zu empfangen; und
ſie mußte, wie allzeit ſeit dieſem Tode bei dem
erſten Empfange, innig weinen.


Linda wurde von der Prinzeſſinn mit einer
ſo tiefen Zärtlichkeit empfangen, daß ſich Ju¬
[325] lienne wunderte, da ſonſt beide in einem Wech¬
ſel von Kälte und Liebe lebten. Die Miniſte¬
rinn Froulay ſtand da, von der Trauer ſo alt,
kalt, ſtill und höflich, ſo kalt gegen die Zeit
und die Menſchen, (ausgenommen das Eben¬
bild ihrer Tochter) beſonders gegen Linda, de¬
ren kecker, entſchiedner, philoſophiſcher Ton ihr
unweiblich und eine Trommete an zwei Frauen-
Lippen zu ſeyn ſchien.


Der künftige [Erbprinz] von Hohenflies ent¬
fernte ſich zum Glücke bald von einem ſo un¬
bequemen Ort, wo er auf einem Schiffbruchs¬
brett, ſtatt in einer Gondel fuhr. Nachdem er
Julienne mit Antheil um das Befinden ihres
Bruders, ſeines jetzigen Vorfahrers, gefragt —
und ſie und Linda an ihre und ſeine welſche
Reiſe erinnert hatte: ſo würd' er über Julien¬
nens Kaltſinn und über die moraliſchen Geſprä¬
che der Weiber und über einen gewiſſen ſittli¬
chen Gewitterdruck — den Lüſtlinge bei Wei¬
bern empfinden, wo alles Rauhe, die Gelb¬
ſucht, die Anmaßung als Mißton ſchreiet —,
und über die allgemeine plagende Heuchelei —
wofür er ſogleich alles nehmen mußte —, ſo
[326] verdrüßlich und verſtimmt, daß er leicht auf¬
brach und dieſes Schäferleben um den einzigen
Wolf verkürzte, der darin ſchlich. Lüſtlinge hal¬
ten es unter vielen edlen Frauen, gedrückt von
deren vielſeitigen ſcharfen Beobachtungen, nie
lange aus, obwohl leichter bei einer allein, weil
ſie dieſe zu verſtricken hoffen. Was ihm am we¬
heſten that, war, daß er ſie alle für Heuchle¬
rinnen erklären mußte. Er fand keine gute
Weiber, weil er keine glaubte; da man ſie glau¬
ben muß, um ſie da zu ſehen wo ſie ſind; ſo
wie die Tugend üben, um ſie zu kennen, nicht
umgekehrt.


Mit ihm ſchien eine ſchwarze Wolke aus
dieſem Eden und Äther wegzuziehen. Die Mi¬
niſterinn erhielt eine Karte von ihrem Sohne
Roquairol, der eben angekommen, und gieng
auch — zu Juliennens Freude, die an ihr ein
kleines Hinderniß ihres Bekehrungsplans für
Linda fand, weil dieſe die Miniſterinn für eine
einſeitige, enge, bängliche, unnachgiebige Na¬
tur anſah. Idoine bat die beiden Jungfrauen,
ihr kleines Reich mit ihr zu bereiſen. Sie gien¬
gen hinab ins reine weite Dorf. Auf den Trep¬
[327] pen begegneten ihnen heitere dienſtgefällige Ge¬
ſichter. Aus den fernen Zimmern des Schloſſes
hörte man bald Singen bald Blaſen. Wie am
Vogel ſich das glänzende Gefieder ſchnell und
glatt in- und auseinander ſchiebt: ſo bewegten
um Idoine ſich alle Geſchäfte; ihre ökonomiſche
Maſchine war keine plumpe knarrende Thurm¬
uhr, ſondern eine ſpielende Bilderuhr, welche
hinter Töne die Stunden, hinter Bilder die Rä¬
der verſteckt.


In einem Wieſengarten ſpielten die jüngſten
Kinder wild durch einander. Herrnhutiſche und
Holländiſche Reinlichkeit hatten das Dorf zu
einer glatten hellen Putzbude gewaſchen und
gemahlt. Neu und blank hieng der Eimer über
dem Brunnen — unter der Linden-Rotunda
des Dorfs war die Erden-Diele ſauber gekehrt
— überall ſah man reine, ganze, ſchöne Klei¬
der und freudige Augen — und Idoine zeigte
unter der fremden Heiterkeit bedeutenden Ernſt
in den Blicken, womit ſie ihr Arkadien Blume
nach Blume prüfte.


Sie führte ihre Freundinnen über die ver¬
ſchiednen Sonntags-Tanzplätze der verſchied¬
[328] nen Alter, vor dem Hauſe des Amtmanns vor¬
über, worin die Miniſterinn wohnte und jetzt,
zu Juliennens Furcht, ihr Sohn war — in die
helle ſchmuckloſe Kirche. Bald kamen ihr der
Pfarrer und Amtmann, für welche das Vor¬
übergehen ein Wink geweſen, in die Kirche
nach und holten von ihr Aufträge; beide wa¬
ren junge ſchöne Männer mit offner Stirn und
ein wenig Jugendſtolz. — Als man aus der
Kirche war, ſagte ſie: durch dieſe jungen Män¬
ner regiere ſie über den Ort und ſie ſelber len¬
ke ſie ſanft; nur junge ſeyen mit Haß und
Muth gegen den Schlendrian und mit Enthu¬
ſiasmus und Glauben ausgerüſtet. Sie ſetzte
ſcherzhaft dazu, nichts beherrſche ſie als eine
Schule von Mädchen, an der ihr mehr gele¬
gen ſey als an der andern, weil Erziehung An¬
gewöhnung ſey und dieſe ein Mädchen mehr
als ein Knabe brauche, dem die Welt doch
keine laſſe; und ſie habe einigen Hang eine
la Bonne zu ſeyn, weil ſie es ſchon als
Mädchen oft bei ihren Schweſtern habe ſeyn
müſſen.


Sie führte beide darauf in mehrere Häus¬
[329] chen; überall fanden ſie ausgeweißte geordnete
Zimmer, Blumen und Weinreben an Fenſtern,
ſchöne Weiber und Kinder, und bald eine Flöte,
bald eine Violine, und nirgends ein ſpinnen¬
des Kind. In allen hatte ſie Aufträge zu ge¬
ben und was bloßer Spaziergang ſchien, war
auch Geſchäft. Sie zeigte einen ſcharfen Durch¬
blick durch Menſchen und ihr verwachſenes Trei¬
ben und einen Geſchäftsverſtand, der das All¬
gemeine und Beſondere zugleich beſaß und ver¬
knüpfte: „ich wünſchte freilich auch (ſagte ſie)
nur Freuden und Spiele um mich; aber ohne
Arbeit und Ernſt verdirbt das Beſte in der
Welt; nicht einmal ein rechtes Spiel iſt mög¬
lich ohne rechten Ernſt.“ — Linda lobte ſie,
daß ſie alle an Muſik gewöhnte, dieſen rechten
Mondſchein in jedem Lebens-Dunkel; „ohne
Poeſie und Kunſt (ſetzte ſie dazu) vermooſe und
verholze der Geiſt im irdiſchen Klima.“ — „O
was wäre ohne Töne der meinige?“ ſagte
Idoine feurig.


Linda fragte nach dem Bürgerrechte in die¬
ſem heitern Staate. „Meiſtens bekamen es
Schweizerfamilien, (ſagte Idoine,) die ich an
[330] Ort und Stelle ſelber kennen lernte auf meiner
Reiſe. Nach den Franzöſinnen ſtell' ich ſogleich
meine Schweizer.“ — Julienne verſetzte: „Sie
ſagen mir Räthſel vor.“ Sie löſete ihr ſie,
und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich ge¬
weſen, beſtätigte es, daß da unter den Wei¬
bern von gewiſſem höhern Ton, zu denen kein
Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutſch¬
land ungewöhnliche Ausbildung der zarteſten
Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. „Nur
(ſetzte Linda hinzu) hatten ſie in der Sittlich¬
keit wie in der Kunſt, Vorurtheile des feinen
Geſchmacks und mehr Zartheit als Genie.“ —


Sie giengen zum Dorfe hinaus, der ſchön¬
ſten Abendſonne entgegen; auf den Bergen ant¬
worteten ſich Alphörner, und im Thale gien¬
gen heitere Greiſe zu leichten Geſchäften. Die¬
ſe grüßte Idoine mit beſonderer Liebe, weil es,
ſagte ſie, nichts ſchöneres gebe als Heiterkeit
auf einem alten Geſicht, und unter Landleuten
ſey ſie immer das Zeichen eines wohl und fromm
geführten Lebens.


Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegen¬
wart und ſagte: „wie müßte dies alles in ei¬
[331] nem Gedicht erfreuen! Aber ich weiß nicht, was
ich dagegen habe, daß es nun ſo in der wirk¬
lichen Wirklichkeit da iſt?“ —


„Was hat Ihnen (ſagte Idoine ſcherzend)
dieſe genommen oder gethan? Ich liebe ſie,
wo ſind Sie für uns denn anders zu finden als
in der Wirklichkeit?“ — „Ich (ſagte Julienne)
denke an etwas ganz anderes, man ſchämt ſich
hier, daß man noch ſo wenig that bei allem
Wollen. Vom Wollen zum Thun iſt's hier
doch weit (fügte ſie dazu, indem ſie den klei¬
nen Finger aufs Herz aufſetzte und die Hand
vergeblich nach dem Kopf ausſpannte). Idoi¬
ne, ſagen Sie mir, wie kann man denn ans
Große und Kleine zugleich denken?“ — „Wenn
man ans Größte zuerſt denkt (ſagte ſie). Wenn
man in die Sonne hineinſieht, wird der Staub
und die Mücke am ſichtbarſten. Gott iſt ja un¬
ſer aller Sonne.“


Die Erden-Sonne ſtand ihnen jetzt tief auf
einer unabſehlichen Ebene unter milden Roſen
des Himmels entgegen — eine ferne Wind¬
mühle ſchlug breit durch die ſchöne Purpur-
Gluth — an den Bergabhängen ſangen Kin¬
[332] der neben den geweideten Heerden und ihre klei¬
nern Geſchwiſter ſpielten bewacht — die Abend¬
glocke, welche in Arkadien allzeit unter dem
Scheiden der Sonne gezogen wurde, wiegte
Sonne und Erde mit ihren Tönen ein — nicht
nur jugendlich, ſogar kindlich lag das ſanfte
Dörfchen und ſeine Welt um ſie her — kein
Sturm, dachte man, kann hereingreifen in dies
ſanfte Land, kein Winter im ſchweren Eispan¬
zer hereinſchreiten, hier ziehen nur, dachte man,
Frühlingswinde und Roſenwolken, keine Regen
fallen als Frühregen und keine Blätter als der
Blüthen ihre, nur Staub aus Blumen kann
ſteigen und den Regenbogen halten nur Ver¬
gißmeinnicht und Maiblumen auf ihren blau
und weißen Blättchen — die Gegend und alles
und das Leben ſchienen hier nur eine unauf¬
hörliche Morgendämmerung zu ſeyn, ſo friſch
und neu, voll Ahnung und Gegenwart ohne
Gluth und Glanz, und mit einigen Sternen über
dem Morgenroth.


Kinder mit Ähren-Sträußern in der Hand
ſaßen auf fremden Wagen voll Garben und
fuhren ſtolz herein.


[333]

Idoine hieng mit inniger Liebe, als wär'
alles neu durch dieſen Abend, an den doppel¬
ten Gruppen. „Nur der Landmann allein iſt
ſo glücklich, (ſagte ſie,) daß er in allen ar¬
kadiſchen Verhältniſſen ſeiner Kindheit fort¬
lebt. Der Greis ſieht nichts um ſich als Ge¬
räthſchaften und Arbeiten, die er auch als Kind
geſehen und getrieben. Endlich geht er jenen
Garten drüben hinauf und ſchläft aus.“ —
Sie zeigte auf den Gottesacker am Berge, der
ein wahrer Garten mit Blumenbeeten und ei¬
ner Mauer aus Fruchtbäumen war. Julienne
blickte erſchüttert hin, ſie ſah den ſchwarzen
Vorhang zittern, hinter welchen ihr kranker
Bruder bald getrieben wurde.


Mit durchſichtigem Abend-Goldſtaub war
der Garten überweht — der laute Tag war
gedämpft und das Leben friedlich, Öhlzweige
und ihre Blüthen ſanken aus dem ſtillen Him¬
mel langſam nieder. — „Dort iſt der einzige
Ort, (ſagte Idoine,) wo der Menſch mit ſich
und andern einen ewigen Frieden ſchließet,
ſagte ſo ſchön zu mir ein franzöſiſcher Geiſtli¬
cher.“ — „Solchen chriſt-katholiſchen Jam¬
[334] mergedanken (verſetzte Linda) bin ich ſo gram
wie den Geiſtlichen ſelber. Wir können ſo we¬
nig eine Unſterblichkeit erleben als eine Ver¬
nichtung.“ — „Ich verſteh' das nicht, (ſagte
Julienne,) — ach Idoine, wenn es nun keine
Unſterblichkeit gäbe, was thäten Sie?“ —
J'aimerois*) ſagte ſie leiſe zu ihr.


Plötzlich wurde vor ihnen wie aus weiter
Ferne geſungen: „Freut“ — dann ſpät
Euch des“ — endlich „Lebens“ — „Das
iſt aus dem Gottesacker das Echo,“ ſag¬
te Idoine und ſuchte zur Rückkehr zu bere¬
den. „Echo und Mondſchein und Gottesacker
zuſammen (fuhr ſie ſcherzend fort) ſind wohl
zu ſtark für Frauenherzen.“ — Dabei berührte
ſie ihr Auge mit einem Wink an Julienne,
gleichſam als thu' es ihr weh, daß die Gräfinn
nur hinter dem Nebel ihrer Augen den ſchönen
Abend von Fernen ſtehen ſehe. „Die Sing¬
ſtimme klingt mir ſo bekannt,“ ſagte Linda.
„Roquairol iſt's, nichts weiter, wollen wir
[335] fort!“ ſagte Julienne; aber Linda bat zu
bleiben und Idoine willigte höflich ein.


Nun gab das Echo — das Mondlicht des
Klangs — wieder Töne wie Todtenlieder aus
dem Todten-Chor; und es war als ſängen
die vereinigten Schatten ſie in ihrer ſtillen Wa¬
che unter der Erde nach, als regte ſich der Lei¬
chenſchleier auf der weißen Lippe und aus den
letzten Höhlen tönte ein hohles Leben wieder.
Das Singen hörte auf, Alphörner fiengen auf
den Bergen an. Da gieng wieder das Nach¬
ſpiel des Tonſpiels feurig herüber als ſpielten
die Abgeſchiednen noch hinter der Bruſtwehr
des Grabhügels und kleideten ſich ein in Nach¬
klänge. Alle Menſchen tragen Todte oder Ster¬
bende in der Bruſt; auch die drei Jungfrauen;
Töne ſind ſchimmernd zurückflatternde Gewän¬
der der Vergangenheit und erregen damit das
Herz zu ſehr.


Sie weinten, und keine konnte ſagen, ob
trübe oder froh. Die bisher ſo gemäßigte
Idoine ergriff Linda's Hand und legte ſie
ſanft an ihr Herz und ließ ſie wieder ſinken.
Sie kehrten ſchweigend und einig um. Idoine
[336] behielt Linda an der Hand. Die unterirdiſchen
Waſſer der Todten-Echos und Alphörner rauſch¬
ten ihnen nach, obwohl ferner. Juliennen ent¬
gieng es nicht, wie ſehr Idoine ihr Geſicht,
bloß um es ihr mit den großen Tropfen in den
großen Augen zu entziehen, immer der dicht
verſchleierten Linda zuwandte; und ſie ſchloß
daraus, daß Idoine vieles wiſſe und kenne und
die Braut des Jünglings ehre, dem ſie durch
ihre ſchöne Ähnlichkeit das frohe Leben zurück¬
gegeben.


„Was haben wir nun davon? (ſagte Idoine
ſpät und nahe am Dorfe.) Wir ſehen's vor¬
aus, daß wir zu weich würden und geben uns
doch hin. Darum nennen uns eben die Männer
ſchwach. Sie bereiten ſich auf ihre Zukunft
durch lauter Abhärtungen vor, und nur wir
uns durch lauter Erweichungen.“ — — „Was
ſoll man denn machen, (ſagte Julienne,) in
Flüſſe ſpringen, auf Berge, auf Pferde und
ſo weiter?“ — „Nein, (ſagte Idoine,) denn
ich ſeh' es an meinen Bäuerinnen; ſie leiden an
Nerven bei aller Muskel-Arbeit ſo gut wie
andere — Mit dem Geiſte, glaub' ich, müßten
wir[337] wir alle mehr thun und ſuchen; aber wir las¬
ſen immer nur die Finger und Augen ſich üben
und regen, das Herz ſelber weiß nichts davon
und thut dabei was es will, es träumt, weint,
blutet, hüpft — Ein wenig Philoſophiren wär'
uns dienlich; aber ſo geben wir uns allen Ge¬
fühlen gebunden dahin und wenn wir denken,
iſt's bloß, um ihnen noch gar zu helfen.“ —


Sie kamen ins Dorf zurück, es war voll
geſchäftigen Abendlärms, Kinder tanzten Idoi¬
nen entgegen, von den Höhen klangen Alphör¬
ner herein und aus den Häuſern Flöten und
Lieder heraus. Idoine gab heiter Abendbefehle.
„Wie doch (ſagte ſie) die äußere Ruhe ſo leicht
die innere aufhebt. Ein beſchäftigtes Herz iſt
wie ein umgeſchwungenes Gefäß mit Waſſer;
man halt' es ſtill, ſo fließet es über.“


Julienne hatte ſchon einigemal, aber vergeb¬
lich, nach dem Steuerruder der Zeit und Rede
gehaſcht, um ihren Plan zu vollführen; jetzt da
ſie Linda's Schweigen, Rührung und Träumen
bemerkte, glaubte ſie die lang' erwartete gün¬
ſtige Stunde zu treffen, wo einige Worte, die
Idoine über die Ehe ausſtreuete, in Linda einen
Titan IV. Y[338] aufgeweichten Boden für ihre Wurzeln finden
würden. Durch die leichte Wendung eines Lobs,
das ſie Idoinen über ihren muthigen Wider¬
ſtand gegen das Schiffziehen in einer verha߬
ten Fürſten-Ehe und über den Gewinn eines
ewigen Jugendlebens gab, brachte ſie die Grä¬
finn dazu, ihren ketzeriſchen Haß gegen die
Ehe zu offenbaren und zu ſagen, daß dieſe die
Blume mit einem ſcharfen Eiſenringe an ihren
Stab peinlich gefangen lege — daß Liebe ohne
Freiheit und aus Pflicht nichts ſey als Heuche¬
lei und Haß — und daß das Handeln nach
der ſogenannten Moral ſo viel ſey als wenn
einer nach der Logik, die er vor ſich hätte, den¬
ken oder dichten wollte und daß die Energie,
der Wille, das Herz der Liebe etwas Höheres
ſey als Moral und Logik.


Jetzt kam ein Briefchen von der Miniſte¬
rinn, worin ſie ihre heutige Abweſenheit mit dem zu
traurigen Abſchiede entſchuldigte, den ihr Sohn
dieſen Abend ſo ſonderbar und wie auf immer
von ihr genommen. So viele ſtille Gedanken
auch dieſe Nachricht in Julienne und Linda
nachließ: Idoine kam durch ſie nicht aus der
[339] lebhaften Bewegung, worein die vorige Rede
ſie geſetzt, ſondern mit einem edlen Zürnen,
das aus der ſchönen Jungfrau einen ſchönen
Jüngling machte und ihr Minervens Helm auf¬
ſetzte, erklärte ſie der hohen Gegnerin, die we¬
niger durch fremde Heftigkeit als durch fremde
Geſinnung aufzureizen war, dieſen Krieg: gewiß
ſey nur ihre Abneigung gegen die „Prieſter“
an der zweiten Abneigung gegen die Ehe ſchuld
— ſey denn das Eheband etwas anders als
ewige Liebe, und halte ſich nicht jede rechte für
eine ewige? — eine Liebe, die einmal zu ſter¬
ben glaube, ſey ſchon todt und die ewig zu le¬
ben fürchte, fürchte umſonst — wenn ſogar
Freunde am Altare verbunden würden, wie ir¬
gendwo geſchehen ſoll*), ſie würden höchſtens
ſich nur noch heiliger binden und lieben —
man zähle eben ſo viele wo nicht mehrere un¬
glückliche Liebeshändel als unglückliche Ehen —
man könne zwar eine Mutter, aber nicht ein
Vater ſeyn ohne die Ehe und dieſer müſſe jene
Y 2[340] und ſich durch die Sitte ehren — „ich bin
eine Deutſche (beſchloß ſie) und achte die al¬
ten Ritterfrauen, meine Ahnen, hoch, ſeelig iſt
eine Frau wie eine Eliſabeth und ein Mann
wie Götz von Berlichingen, in ihrer heiligen
Ehe.“ — —


Auf einmal fand ſie ſich ſelber überraſcht
von ihrem Feuer und ihrem Strome: „ich bin
ja (ſetzte ſie lächelnd hinzu) eine pedantiſche
Predigerswittwe geworden; das macht, ich bin
die höchſte Obrigkeit von dem Dörfchen, und
laſſe, da faſt in jeder Hütte eine glückliche Wi¬
derlegung der Eheloſigkeit wohnt, ungern an¬
dere Meinungen hier aufkommen.“


„O, Mädchen (ſagte Julienne luſtig, weil ſie
Linda ernſt ſah,) ſprechen immer mitunter ein
wenig von Liebe und Ehe; ſie ziehen ſich gern
aus einem Brautkranz Blumen.“


„Daraus, wiſſen Sie, könnt' ich mir wohl
keine nehmen“ ſagte Idoine, auf das eidli¬
che Verſprechen anſpielend, welches ſie ihren
über ihre enthuſiaſtiſche Kühnheit argwöhniſchen
Eltern geben müſſen, nie unter ihrem Fürſten¬
ſtande zu heirathen, was ihr nach ihrer ſchar¬
[341] fen Geſinnung und Lage ſo viel hieß als Ehe¬
loſigkeit. — „Recht hatten Sie indeß, (verfolgte
Julienne und wollte ſcherzhaft bleiben,) die
Liebe ohne Ehe gleicht einem Zugvogel, der
ſich auf einen Maſtbaum ſetzt, der ſelber zieht,
ich lobe mir einen hübſchen grünen Wurzelbaum,
der da bleibt und ein Neſt annimmt.“ —


Wider ihre Gewohnheit lachte Linda darüber
nicht, ſondern gieng allein, ohne ein Wort zu
ſagen, in den Garten und Mondſchein hinunter.


„Die Gräfinn (ſagte Idoine zur Freundinn,
bekümmert über die Bedeutung des ſtummen
Ernſtes,) hat uns, hoff' ich, nicht mißverſtan¬
den.“ — „Nein, (ſagte Julienne mit freudi¬
gen Mienen über den errungnen Eindruck, den
die Rede auf Linda gemacht,) ſie hat die ſel¬
tenſte Gabe, zu verſtehen, und das häufigſte
Unglück, nicht verſtanden zu weiden.“ — „Das
iſt immer beiſammen,“ ſagte ſie, ſann nach, ſah
Juliennen an, endlich ſagte ſie: „ich muß ganz
wahr ſeyn, ich wußte der Gräfinn Verhältniß
durch meine Schweſter — Freundinn, iſt Er
ihrer ganz werth?“ Eine Frage, deren Quelle
[342] die P.inzeſſinn nur in rachſüchtigen Einflößun¬
gen der Fürſtinn ſuchen konnte.


„Ganz!“ antwortete ſie ſtark. „Ihnen glaub'
ich gern,“ verſetzte Idoine, mit den Lauten ei¬
lend, aber mit Blicken ruhend. Sie ſah die
Schweſter Albano's immer länger an — die
großen blauen Augen ſchimmerten ſtärker —
Minervens Helm war vom jungfräulichen Haup¬
te abgehoben — das ſanfte Angeſicht erſchien
lieblich, ruhig, klar, nicht ſtärker bewegt als
es ein Gebet vor Gott erlaubt, und ſo wenig
begehrend wie eine Verklärte, und doch immer
himmliſcher glänzend — Juliennens ſchönes Herz
ſtürmte auf, ſie ſah Liane wieder, als ſey ſie
vom Himmel gekommen, den geliebten Men¬
ſchen an einem neuen Herzen einzuſegnen; —
ſie ſagte mit Thränen: „Du, Du haſt Ihm
einſt den Frieden gegeben.“ — Idoine wurde
überraſcht — aus ihren hellen Augen drangen
zwei Thränen — mit Nachdruck antwortete ſie:
gegeben“ — erſchrocken und heftig drückte
ſie ſich an die Freundinn — ſagte: „ich liebte
Sie ſchon lange“ und weiter ſprachen ſie
nichts.


[343]

Schnell faßte ſie ſich, — erinnerte Julienne
an Linda's Nachtblindheit — und bat ſie ge¬
radezu, ihr als ihre Freundinn nachzugehen,
ob ſie gleich ſelber gern ihr dieſes Verdienſt
abſtehlen würde, wenn ſie dürfte. Julienne
eilte in den Garten, fühlte es aber nach, daß
Idoine ihr Du nicht erwiedert hatte. Idoine
mied das weibliche Du; ungleich den Orienta¬
lerinnen, welche vor Verwandten den Schleier
weglaſſen, nahm ſie wie ihre Franzöſinnen, ſo¬
gar in die Herzlichkeit die zarten Geſetze der
Politeſſe herüber.


Julienne fand ihre Freundinn im Garten
in einer dunkeln Laube ſtill, mit tief geſenkten
Augen, in Träume eingegraben. Linda fuhr
auf: „Sie liebt Ihn! (ſagte ſie mit Schmerz
und Feuer) Hör' es, Julienne, Sie I
— Dieſe konnt' ihr über das Ausſprechen einer
Wahrheit, mit der ſie gerade aus Idoinens
Armen gekommen war, nichts als ihr Erſchre¬
cken zeigen; aber Linda nahm es für Erſtau¬
nen und fuhr fort: „bei Gott! — Mein Blick
hat ſie aufgehaſcht. O ſonſt war ſie weit nicht
ſo lebhaft und ernſt und rührbar und weich —
[344] Ihre innerſte Bewegung bei meinem Erblicken
— und ihr Weinen bei Roquairol's Stimme,
weil ſie ſeiner gleicht — und ihre lange feuri¬
ge Hochzeitpredigt — Und die Seelenblicke auf
mich — o hat ſie Ihn denn nicht im großen
herrlichen Augenblick geſehen, da der Blühende
weinend knieete und das göttliche Haupt gen
Himmel hob und die Verklärte und den Frie¬
den herunterrief? — O daß ſie es nur wagte,
ihm beides vorzuſpielen! Und kann ſie das ver¬
geſſen?“ —


Julienne kam endlich zum Worte: „ſo ſetz'
es denn; iſt Idoine aber nicht edel und fromm?“
— „Ich habe nichts wider ſie und nichts für
ſie (antwortete Linda). Wenn aber Er ſie nun
ſieht, wenn er die Fromme noch einmal der
Verſtorbnen ähnlich findet, wenn die ganze er¬
ſte Liebe umkehrt und über die zweite trium¬
phirt? ... Bei Gott! Nein, (ſetzte ſie ſtolz
und ſtark dazu,) nein, das duld' ich nicht; bit¬
ten will ich nicht, weinen nicht, oder reſigni¬
ren, um ihn aber kämpfen will ich. — Bin
ich nicht auch ſchön? Ich bin ſchöner, und
mein Geiſt iſt kühner geſchaffen für ſeinen.
[345] Was kann ſie geben, was ich ihm nicht drei¬
fach biete? Ich will's ihm geben, mein Glück,
mein Daſeyn, auch meine Freiheit, ich kann
ihn ſo gut heirathen wie ſie, ich will's . . . .
O ſprich, Julienne! Aber Du biſt eine kalte
Deutſche und ihr heimlich zugethan aus glei¬
cher Gottesfurcht. O Gott, Julienne, bin ich
denn ſchön? Betheuer' es mir doch. Bin ich
der Verklärten gar nicht ähnlich? Säh' ich nur
ſo aus wie er es gerade wollte! Warum war
ich nicht ſeine erſte Liebe, und ſeine Liane und
wäre auch geſtorben? — Gute Julienne, war¬
um ſprichſt Du nicht?“ —


„Laſſe mich nur ſprechen“ ſagte dieſe, wie¬
wohl nicht ganz wahr. Sie war ergriffen und
geſtraft von Linda's treffender Wahrheit und
vom eignen Bewußtſeyn, daß ſie einen Plan,
Linda's Vorurtheile gegen die Ehe aufzulöſen,
angelegt, deſſen Hülfsmittel ihr von Linda ge¬
rade als Rechtfertigungen der Eiferſucht vorge¬
zählt worden; und daß ſie einen Felſen auf der
Spitze eines Felſen in Bewegung und in den
Fall gebracht, den ſie nun nicht mehr regieren
konnte. Auch war ſie betäubt, ja erzürnt von
[346] einem ihr fremden Ungeſtüm der Liebe, vor
welchem ſie den verhaßten Troſt gar nicht aus¬
ſprechen durfte, daß Albano ſtets nach der
Pflicht der Treue handeln würde. — Schön
war ſie überraſcht von der geglückten Bekeh¬
rung zum Trauungs-Ja. Mit einiger Unge¬
wißheit des Erfolgs bei Linda, die durch das
Mondlicht und die ferne milde Bergmuſik nur
ſtürmiſcher geworden, fuhr ſie fort: „ich wollte
Dich nicht gern unterbrechen mit dem Lobe Dei¬
nes Entſchluſſes zur Ehe — Unrecht haſt Du
ſonſt in allen Stücken. Freilich iſt Sie jetzt ern¬
ſter; aber ſie ſtand am Sterbebette ihres Eben¬
bildes und ſah ſich in Lianen erbleichen — das
mäßigt ſehr. Ihn anlangend: ſo, hätt' Er Dich
früher geſehen ....“


„Sah er nicht früh das Bild auf dem Lago¬
maggiore
, aber unähnlich wie er ſagt?“ —


„So will ich Dir's denn geſtehen, Wilde,
(verſetzte Julienne,) weil man Dich nicht über¬
raſchen ſoll, daß ich ihn geſtern gebeten, mit
zur Prinzeſſinn zu reiſen und daß er eben aus
Rückſicht und Kälte gegen alle Ähnlichkeiten
[347] mir es derb abgeſchlagen; aber morgen erwartet
er uns im Prinzengarten.“


Verändert — weich — mit verklärten Au¬
gen ſagte Linda mit geſunkner Stimme: „mein
Freund liebt mich ſo ſehr? — Ich lieb' ihn
aber auch ſehr, den Reinen. Morgen will ich
zu ihm ſagen, nimm meine Freiheit und bleibe
ewig bei mir. Vom Altare ziehen wir davon,
meine Julienne, Du und er und ich nach Va¬
lencia
, nach Isola bella oder wohin er will
und bleiben beiſammen. Du guter Mond und
Muſik! Wie die Töne und die Strahlen ſo
kindlich mit einander ſpielen! — Umarme mich,
meine Geliebte, vergieb, daß Linda unartig
geweſen!“ — Hier war der Sturm des Her¬
zens in ſüßes Weinen zergangen. So wird in
den Ländern unter der ſcheitel-rechten Sonne täg¬
lich der blaue Himmel Donner, Sturm und
ſchwarzer Regen, und täglich geht die Sonne
wieder blau und golden unter.


Julienne verſetzte bloß: „Schön! nun wol¬
len wir hinauf!“, weniger als ſie zu ſchnellen
Übergängen fähig. Als ſie oben die ſtille, helle,
nichts begehrende Idoine wieder ſah — die feſt
[348] und heiter Handelnde — klagenlos und hoff¬
nungslos — nur den Ährenkranz der Thaten,
nie den blumigen Brautkranz tragend — ſo
viele weiße Blüthen zu ihren Füßen, die zu
keinem Kranz und Gewinde zuſammengehen —
ihre helle reine Seele einem hellen reinen Tone
gleich, der ſeinen Reiz durch naſſe wolkige Luft
ungetrübt und ungebrochen trägt: ſo fühlte ſie,
Idoine ſey ihr ſchweſterlicher verwandt als Lin¬
da, jene ſey ihr ein Ideal und Sternbild in
ihrem Himmel über ihr, dieſe ein fremdes, das
fern und unſichtbar in einer zweiten Halbkugel
des Himmels glänzt; aber in ihr wirkte die
weibliche Kraft, fortzulieben faſt bis in den
Haß hinein, ſtärker als in irgend einer Frau
und ſie blieb der alten Freundinn getreu. Idoi¬
ne gehörte unter die weiblichen Seelen, die
dem Monde ähnlich ſind; blaß und matt muß
er am prächtigen Abendhimmel, den Glanz
und brennende Wolken ſchmücken, ſtehen und
kann auf der Erde keinen einzigen Schatten
verdrängen, und ſteigt mit unſichtbaren Strah¬
len, aber das fremde Licht verblicht und ſeines
wächſet aus dem Schatten auf, bis zuletzt ſein
[349] überirdiſcher Glanz die Erden-Nacht umzieht
und in eine zweite Welt umkleidet und alle
Herzen lieben ihn weinend und die Nachtigal¬
len ſingen in ſeinen Strahlen.


Alles war nun beſtimmt und geendigt. Lin¬
da hielt ſich in ihrer Ferne und bloß aus Ge¬
ſetz der geſelligen Artigkeit, das ſie niemals
übertrat. Idoine zog ſich, eine Veränderung
errathend, aus der vorigen Nähe ſanft zurück.
Früh am dunkeln Morgen ſchieden ſie, aber
Julienne ſagte es ihrer Freundinn nicht, daß
ſie Idoinen, als ſie von einander giengen, ſich
mit naſſen Augen hatte wenden ſehen.

126. Zykel.

Albano hatte während Linda's Abweſenheit
von Roquairol die Bitte bekommen, nur jetzt
nicht lange zu verreiſen, damit er in einigen
Tagen ſein Trauerſpiel „den Trauerſpieler
noch ſehen könne. Gaſpard, den er unwillig
über Linda's Eheſcheu antraf, gab ihm ein
ſonderbares Kartenblatt für Linda mit, worauf
von ihrem unſichtbaren Vater nichts ſtand als
dies:

[350]

Ich genehmige Deine Liebe. Ich erwarte,
daß Du ſie beſiegelſt, damit ich meine Tochter
endlich umarme.   Der Zukünftige.


So viele fremde wichtige Wünſche, die mit
dem ſeinigen zuſammenfloſſen, hielten nun von
ſeinem zarten Ehrgefühl den Verdacht der Selbſt¬
ſucht und Zudringlichkeit ab, wenn er ſie um
das ſchönſte Feſt ſeines Lebens bat. Er machte
ſeinen Vater ſehr zufrieden durch dieſen Entſchluß
zu bitten. Gaſpard theilt' ihm geheime Kriegs¬
nachrichten mit und ſagte ihm ſcherzend, nun
ſey es bald Zeit, daß er für ſeine Freunde, die
Neufranken, fechten helfe. Albano ſagte, es
ſey ſogar ſein Ernſt. Das hör' er gern von
einem Jüngling — ſagte Gaſpard — der Krieg
bilde für Geſchäfte und das Recht oder Unrecht
deſſelben thue nichts zur Sache und gehe andere
an, die ihn erklären.


Albano machte ſeine Reiſe froh durch Erin¬
nerung, noch froher durch Hoffnung. Er hat¬
te jetzt den Muth, ſich den Tag auszudenken,
wo Linda, eine Königinn, in die glänzende
Krone ihres Geiſtes den weichen Brautkranz
ſchmiegt — wo dieſe Sonne als eine Luna auf¬
[351] geht — wo ein Vater, den der ſeinige liebt,
das hohe Feſt unterbricht durch ein höchſtes —
und wo einmal zwei Menſchen zu ſich ſagen dür¬
fen: nun lieben wir uns ewig. — So beglückt
und mit einer unendlichen Liebe und ſonnen¬
warmen Seele kam er im Prinzengarten an.


Überall kam er viel zu früh nach ſeiner lei¬
denſchaftlichen Pünktlichkeit. Niemand war noch
da als zwei — Abreiſende, Roquairol und die
Fürſtinn. Beide ſah man jetzt oft und ſo öf¬
fentlich beiſammen, daß das Scheinen Abſicht
ſchien. Roquairol gieng ihm höflich entgegen
und erinnerte ihn an das erhaltene Billet:
„das iſt der Schauplatz, Lieber, (ſagt' er) wo
ich nächſtens ſpiele, die meiſten Zurüſtungen
hab' ich ſchon getroffen, beſonders heute. Meine
treffliche Fürſtinn hat mir dieſen Platz vergönnt.“
— „Sie kommen doch auch?“ ſagte dieſe zu
Albano freundlich. „Ich hab' es ihm ſchon ver¬
ſprochen“, ſagte Albano, den mitten in ſeinem
Frühling zwei Eiskeller anwehten. Das Fräu¬
lein v. Haltermann allein zeigt' ihm großen ent¬
ſchiedenen Zorn. „Gehen wir zu meiner Schwe¬
ſter vorher?“ fragte Roquairol die Fürſtinn
[352] unter dem Wegführen. Albano verſtand das
nicht. Die Fürſtinn nickte. Sie nahmen von
ihm Abſchied. Fräulein v. Haltermann ſchien
ihn zu vergeſſen. Sie entflogen, hielten oben
auf einem von der ganzen blühenden Gegend
umrungnen Berge neben einem Blumengärtchen
ſtill und rollten dann hinunter.


Der Himmelswagen mit den geliebten Mäd¬
chen kam jetzt in den franzöſiſchen Prinzengar¬
ten herein. Feurig drückten ſich Albano und
Linda einander an die Herzen, die ſie ſich —
gleichſam zum zweitenmale für einander ge¬
ſchaffen und geſchmückt durch das Schickſal —
mit neuen Hoffnungen und Welten heute noch
einmal täuſchend geben wollten! — Alles war
ſo glänzend um ſie her, alles neu, ſelten, ru¬
hig, die ganze Welt ein Garten voll hoher
flatternder Springbrunnen, welche vor der
Sonne glanztrunken ihre Bogen durch einan¬
der warfen! — Julienne zog ihn bei Seite,
um ihm Linda's ſchönen Entſchluß zu ſagen;
aber er kam ihr mit der Nachricht des ſeinigen
zuvor. Sie beſtärkte ihn durch die ihrige, ent¬
zückt[353] zückt über das ſeltne Getriebe zuſammengrei¬
fender Glücksräder.


Als Albano wieder bei der Braut war,
und ſie bei ihm, fühlten ſie eine neue Wärme
des Herzens, — keine von einer ausbrennen¬
den dumpfen Gluthkohle, die am Ende ſchwarz
zerbröckelt, ſondern die einer höhern Sonne,
die aus lauten Flammen ſtille Strahlen macht
und die die Menſchen mit einem warmen mil¬
den Frühlingstag umgiebt. Albano ſchob nicht
auf und leitete nicht ein, ſondern er gab ihr
das Blatt ihres Vaters hin und ſagte unter
dem Leſen mit bebender Stimme: „Dein Va¬
ter bittet mit mir und für mich.“ — Linda's
Thränen ſtürzten — der Jüngling zitterte —
Julienne rief: „Linda, ſieh wie er Dich liebt!'
— Albano nahm ſie an ſein Herz — Linda
ſtammelte: „ſo nimm ſie denn hin, meine liebe
Freiheit und bleibe bei mir“ — „bis zu mei¬
ner letzten Stunde“ (ſagt' er) — „und bis zu
meiner und gehſt in keinen Krieg“ — ſagte ſie
zärtlich-leiſe — er drückte ſie beſtürzt und ſtark
ans Herz — „nicht wahr, Du verſprichſt es
mein Lieber?“ wiederholte ſie. —


Titan IV. Z[354]

„O, Du Göttliche, denke jetzt an etwas
Schöneres“ ſagte er. — „Nur ja, Albano,
ja?“ fuhr ſie fort. — „Alles wird ſich durch
unſere Liebe löſen“ ſagt' er. — „Ja? Sage
nur Ja!“ bat ſie — er ſchwieg — ſie erſchrack:
„Ja?“ ſagte ſie ſtärker. — „O Linda, Linda!“
ſtammelte er — ſie entſanken einander aus den
Armen — „ich kann nicht“ ſagt' er — „Men¬
ſchen verſteht Euch“ ſagte Julienne — „Alba¬
no ſprich Dein Wort“ ſagte Linda hart. —
„Ich habe keines“ ſagt' er.


Linda erhob ſich beleidigt und ſagte: „ich
bin auch ſtolz — ich fahre jetzt Julienne.“ Kein
Bitten der Schweſter konnte die Staunende oder
den Staunenden ſchmelzen. Der Zorn, mit ſei¬
nem Sprachrohr und Hörrohr, ſprach und hör¬
te alles zu ſtark.


Die Gräfinn gieng fort und befahl anzu¬
ſpannen. „O ihr Leute, und Du Hartnäckiger,
(ſagte Julienne) geh ihr doch nach und ſtille
ſie.“ Aber der empfindlichen Sinnpflanze ſeiner
Ehre waren jetzt Blätter zerquetſcht; das ihm
neue Auffahren, der Schlagregen ihres Zorns
hatt' ihn erſchüttert; er fragte nach nichts.
[355] „Schau hinauf zu jenem Garten, (ſagte die
Schweſter außer ſich,) dort liegt Deine erſte
Braut begraben und ſchone die zweite!“ —
Das wirkte gerade das Gegentheil: „Liane
(ſagt' er kalt) wäre nicht ſo geweſen; begleite
nur die Gräfinn!“ „O die Männer!“ rief ſie
und gieng.


Bald darauf ſah er beide davon fahren.
Allmahlig zerſtob das wilde Heer des Zorns.
Aber er hatte, fühlt' er, nicht anders gekonnt.
Er war ihr, ſie ihm mit ſolcher neuen Zärtlich¬
keit entgegengereiſet — keines wußte von der
fremden — und der unbegreifliche Kontraſt ent¬
rüſtete darum beide ſo ſehr — Er haßte ſchon
an andern Menſchen das Bitten, wie viel mehr
an ſich ſelber, und nie war er vermögend, ei¬
nen Menſchen, der ihn verkannte, zurecht zu
weiſen. Er ſah jetzt um ſich, alle prangenden
Springbrunnen der Freude waren plötzlich nie¬
dergefallen, die Lüfte verödet und das Waſſer
murmelte in den Tiefen. Er ritt hinauf zum
Garten, wo Lianens Grab ſeyn ſollte. Nur
Blumenbeete, einen Lindenbaum mit einer Zir¬
kelbank ſah er darin, aber kein Grab. Betäubt
Z 2[356] und verworren blickt' er hinein und in den
glänzenden Gegenden umher. Verſtockt — thrä¬
nenlos — mit einem im zurückgetriebnen Strom
der Liebe erſtickenden Herzen — hinſchauend in
die weite Zukunft, die zwiſchen Bergen in krum¬
me Thäler gieng und ſich verſteckte, ritt er dü¬
ſter nach Hauſe. Hier traf er folgendes Blatt
von Schoppe an, das der vorauseilende Oheim
bei ihm abgegeben:


„Es iſt richtig — Ich fand das bewußte
Portrait — Ich bring' es in der Jagdtaſche
mit — In wenigen Wochen oder Tagen komm'
ich — Den Kahlkopf hab' ich angetroffen, und
hinlänglich todtgemacht — Ich bin ſehr bei
Sinnen. Dein ſeltſamer Oheim reiſete lange
mit mir.

S.“



[357]

Zwei und dreißigſte Jobelperiode.

Roquairol.


127 . Zykel.

Linda hatte den ganzen Tag darauf in ſchwei¬
gendem Seelenſchmerze zugebracht über den Ge¬
liebten, der ihr, wie einſt Liane ihm, nicht im
ganzen lebendigen Feuer der Liebe zu leben
ſchien wie ſie — ſie war lange von der Für¬
ſtinn umlagert und dann durch ſie Juliennens
für eine Luſtreiſe beraubt worden, die ihr nur
die Nachricht zuwerfen konnte, daß Albano die¬
ſen Tag auch einen Ausflug gemacht, um Schop¬
pen früher zu umarmen — ſie war ſtill geblie¬
ben nach ihrem Grundſatze, daß der weibliche
Stolz hier Schweigen, Ruhe und ſogar Ver¬
[358] geſſen gebiete: — als ſie Abends durch das blin¬
de Mädchen aus Blumenbühl, das ſie in ihre
Dienſte genommen, folgenden Brief erhielt:


„Du Meine! Sey es wieder! Ich will noch
ſterben, aber für Dich, nicht für ein Volk auf
dem Schlachtfeld. Vergieb das Geſtern und
beglücke das Heute. Ich habe meinen Vorſatz
einer Entgegenreiſe wieder aufgegeben, um Dir
heute noch an das Herz zu ſtürzen und Deinen
Himmel auszuſchöpfen und meinen zu füllen.
Ich kann nicht warten bis Julienne wieder¬
kommt; mein Herz brennt nach Dir. Morgen
muß ich ohnehin im Prinzengarten ſeyn, wo
Roquairol ſeinen Trauerſpieler endlich giebt.
Komme dieſen Abend — ich flehe Dich bei un¬
ſerer Liebe an — um 8 Uhr entweder, wenn
es hell iſt, in die Tartarus-Höhle, deren Tod¬
tengräber-Putz und Orkus-Ameublement
Dir gewiß nur lächerlich ſeyn wird, oder wenn
es wolkig iſt, in das Ende des Flötenthals.


Dein blindes Mädchen nimmſt Du nur mit.
Du kennſt ja das Spionenweſen, das gerade
uns umſtellt. Ich erwarte und begehre keine
Antwort von Dir, ſondern Schlags acht Uhr
[359] ſchleich' ich durch das Elyſium, um zu ſehen,
wo die Göttinn ſteht, der Himmel, die Sonne,
die Seeligkeit, Du.   Dein
Albano.“


Wie durch einen Wetterſtrahl des Himmels
war ihr ganzes Weſen geſchmolzen zu weicher
ſeeliger Gluth; denn ſie glaubte der Handſchrift,
daß das Blatt von Albano ſey — ſo unerwar¬
tet ihr auch an ihm eine ſo ſchnelle Umkehrung
erſchien —; ob es gleich von Roquairol ge¬
ſchrieben war. Laſſet uns zurückgehen bis an
die finſtere Quelle des reiſſenden Höllenfluſſes,
der ſeinen eiskalten Arm nach der Unſchuld und
nach dem Himmel ausſtreckt.


Roquairol war im Winter bei allen Fehl¬
ſchlagungen ſeiner unbändigen Wünſche ziemlich
glücklich und gut geblieben; der Abendſtern der
Liebe, ob er wohl für ihn mehr ab- als zu¬
nahm, ſtand doch noch nicht unter dem Hori¬
zont, ſondern nur unter Gewölke. Aber ſobald
Linda mit Julienne abgereiſet war — und zwar,
wie er ſogleich errieth und früh erfuhr — nach
Italien: ſo bewegte ſich ein neuer Sturm durch
ſein Leben, der ihm die letzten Blüthen abriß
[360] und mit dem lange gelegenen Staub verfinſter¬
te, weil er nun, wie er Albano ſelber voraus¬
geſagt, das Netz zu dieſem und der Gräfinn im
Strome heraufkommen ſah, das beide eng ge¬
fangen nahm. Das freſſende Gift der Viel-
Liebhaberei und Vielgötterei lief wieder heiß
in allen Adern ſeines Herzens um —: er machte
wilden Aufwand, Spiele, Schulden, ſo weit
es nur gieng — ſetzte Glück und Leben auf die
Waage — warf ſeinen eiſernen Körper dem
Tode zu, der ihn nicht ſogleich zerſchlagen
konnte — und berauſchte ſich in der Wilden¬
Trauer um ſein gemordetes Leben und Hoffen
im Leichentrunk der Schwelgerei; ein Bund,
den Wolluſt und Verzweiflung ſchon oft auf
der Erde mit einander auf Kriegsſchauplätzen
und in großen Städten geſchloſſen haben.


Nur etwas hielt den Hauptmann noch auf¬
recht, die Erwartung, daß A!bano in ſeiner
Ferne von Linda beharre, und die, daß dieſe
wiederkomme. Jetzt kam die Fürſtinn zurück,
noch mit allem friſchen Haſſe gegen den kalten
Albano, für deſſen „dupe“ ſie ſich hielt. Ro¬
quairol bewog leicht ſeinen Vater, ihn ihr nä¬
[361] her zu bringen, da er bei ihr über Albano und
alles Nachrichten zu finden hoffte. Er wurd'
ihr bald durch die ähnliche Stimme und die
vorige Freundſchaft gegen ihren Feind bedeu¬
tend, und noch mehr durch ſeine ſeltene Ge¬
wandtheit, einer Frau immer das zu ſeyn, was
ſie gerade begehrte.


Da ſie alle ſeine frühern Verhältniſſe und
Wünſche ſchon längſt gekannt: ſo warf ſie,
ſobald ihre Fernſchreiber von Albano ihr die
Nachricht von ſeiner neuen Liebe gegeben, ihm
leicht die Erwähnung davon hin. Trotz der
warmen Rolle, die Roquairol gegen ſie zu
ſpielen hatte, wurd' er doch vor ihr wüthend¬
blaß, athemlos, bebend und ſtarrend im Ab¬
wechſel, „iſt's ſo?“ fragt' er leiſe — ſie zeigt'
ihm einen Brief — „Fürſtinn, (ſagte er wü¬
thend ihre Hand an ſeine Lippen fortpreſſend,)
Du hatteſt Recht, vergieb mir nun alles.“


Wie groß er von Albano gedacht, ſah er
erſt jetzt aus ſeiner Verwunderung über das
Natürlichſte von der Welt. Nie haſſet das
Herz bitterer als wenn es den Gegenſtand,
den es vorher unter dem Haſſen achten mußte,
[362] nun ohne Achten haſſen muß; ſo wie aus dem¬
ſelben Grunde den ſchlimmen Menſchen die Heu¬
chelei des andern weit tiefer und eigennütziger
entrüſtet als den frommen. Roquairol glaubte
jetzt, den ſtolzen Freund recht anfeinden zu dür¬
fen; er wurde aus einer deutſchen Ruine eine
welſche voll Skorpionen. Die Fürſtinn wurde
das heiſſe Klima, das die Skorpionen erſt recht
vergiftet. Sie erzahlte ihm, wie Albano ſie ſo
lange zu gewinnen und auf ſeine tiefen Mie¬
nen zu locken geſucht, bloß um bei deren Auf¬
ſpringen den Genuß der Kälte und des Hohns
zu haben und wie er ſo gleichgültig vom Haupt¬
mann geſprochen, ohne ihn nur des Haſſes zu
würdigen.


Die Fürſtinn erlaubte dem Hauptmann eine
Stufe noch der andern an ihrem Throne hin¬
aufzugehen, bis er keine mehr hatte als ihre
eigne Perſon. Sie gab ihm auch die letzte
Stufe unter der Bedingung Preis, ſie zu rä¬
chen. Er ſagte, er räche ſie und ſich, denn Al¬
bano habe feierlich in dem Tartarus der Grä¬
finn für ihn entſagt. So ſchienen beide ihre
wahre Liebe unter die Larve der Rache zu ſte¬
[363] cken, die Fürſtinn ihre für den Hauptmann, er
ſeine für Linda.


Sie brachte ihm einen Plan immer dichter
vor das Auge, den er nicht erblickte, ſo ſehr ſie
ihn reizte durch die Bemerkung, daß Albano
ein größerer Weiber-Liebling ſey und ſeyn
werde als man bisher noch dachte, daß ſogar
ihre fromme beſonnene Schweſter Idoine nach
ihren ſtillen Fragen in Briefen und nach an¬
dern Zeichen faſt beides durch ihn verloren,
was ſie ihm am Krankenbette wiedergegeben,
Geſundheit und Friede und daß er nie hoffen
ſolle, die Gräfinn je abtrünnig zu ſehen oder
auch zu machen.


Endlich ſagte ſie langſam das fürchterliche
Wort: „Roquairol, Sie haben Seine Stimme
und Sie hat abends kein Auge.“ — „Himmel
und Hölle!“ rief er aus, wechſelnd roth und
blaß und zugleich in Himmel und Hölle ſehend,
deren Thüren vor ihm aufſprangen. „Va!“
ſetzt' er ſchnell dazu, ohne die ſchwarze Tiefe
dieſes weißſchäumenden Meers noch durch¬
drungen zu haben. Die Fürſtinn umarmt' ihn
feurig, er ſie noch feuriger. „In einer poeti¬
[364] ſchen Dichtung (ſagt' er) wäre mir Dein Ge¬
danke leicht gekommen, aber in der Wirklich¬
keit hab' ich keine Liſt!“— „O Schalk!“ ſagte
ſie. So früh und ſo lang' er nur durfte, ſagte
er Du, weil er das Herz kannte, beſonders das
weibliche. — Bald darauf, als ſie noch offen¬
herziger gegen einander geweſen waren, ſagte
ſie: „bleibt Sie unſchuldig bei Ihnen, ſo ha¬
ben Sie niemand beleidigt und niemand hat
verlohren; bleibt Sie es nicht, ſo war Sie es
entweder nicht, oder ſie verdiente die Probe
und Strafe, getäuſcht zu werden.“ — „Ja,
das iſt göttlich — das gehört in den herrlichen
Trauerſpieler kurz vor dem Ende“ ſagt' er,
wollte ſich aber nicht darüber erklären.


Jetzt kam Ziel und Mittelpunkt in die wil¬
den Kreiſe ſeines Treibens. Er zerlegte kalt
Albano's Briefe der Liebe in große und kleine
Buchſtaben, bloß um ſie pünktlich nachzuma¬
chen; daher fand einmal Albano bei Rabetten
ſeine Handſchrift ohne ſeine Gedanken. Er
fragte Rabetten alle kleine Verhältniſſe Al¬
bano's ab, um ſeine Rolle bis ins Kleinſte
auszuarbeiten; und eben ſo las er alle italie¬
[365] niſche Reiſebeſchreibungen, um mit Linda über
jede ſchöne Stelle frei zu ſprechen, wo er als
Schein-Albano mit ihr das heſperiſche Leben
genoſſen. Es kitzelte ihn, ſo mit der Flamme
in der Bruſt und mit dem kalten Eislicht im
Kopfe einmal alle theatraliſchen Zurüſtungen
und Verwickelungen, ſo wie ſonſt für die Bühne,
jetzt für das Leben anzulegen und beſonnen zu
regieren.


Er ſah Albano von der Reiſe kommen, der
ihn ſtolz behandelte — er ſah die blühende
Göttinn in Lilar gehen — er hörte durch die
Spionen der Fürſtinn von ihrer Verbindung:
hoch gieng ſein todtes Meer in ſchweren Wel¬
len und ſuchte die Opfer aus ihrem Fluge bis
vom Himmel herabzuziehen. Unmittelbar nach
dem Trauerſpiel, das er mit Linda zu ſpielen
vorhatte, ſollte ſein eigenes im Prinzengarten
kommen, das er von Zeit zu Zeit zu geben
verſprach und verſchob; er mußte lange harren
und ſpähen bis eine Zeit erſchien, in welche ſo
viele Zähne eines doppelten Maſchinenwerks zu¬
gleich eingreifen konnten.


Endlich erſchien die Zeit und er ſchrieb das
[366] oben mitgetheilte Blatt an Linda. Alles war
berechnet und abgethan und jede Hülfe des
Zufalls in den Plan gewebt. Sein Trauer¬
ſpiel war von ſeinen Bekannten längſt einge¬
lernt, obwohl niemals einprobirt, weil er, wie
er ſagte, die Mitſpieler ſelber mit ſeiner Rolle
mitten im Spiele überraſchen wollte. Die Freu¬
de, die er von jeher hatte, Abſchied zu neh¬
men, — weil ihn hier die Rührung zugleich
durch Kürze und Stärke erquickte — macht' er
ſich bei ſo vielen als ihn liebten. Von Ra¬
bette ſchied er ſo ſtürmisch-weich, daß ſie er¬
ſchrocken zu ihm ſagte: „Karl, das bedeutet
doch nichts Böſes?“ — „Jetzt iſt alles böſe
an mir“ ſagt' er.


Durch Verwendung der Fürſtinn waren für
ſein Trauerſpiel auf den nächſten Tag die be¬
deutendſten Zuſchauer geworben, auch Gaſpard
und Julienne ſammt dem Hof. Das Geheim¬
niß zog an; auch der Fürſtinn war ſeine Rolle
verdeckt. Nur ſeinen Vater, der dem Hof gern
folgen wollte, ſtrich er aus der Zahl durch ei¬
nen großen Zorn, worein er ihn ſetzte, weil er
ihn mit keiner andern als dieſer Dornhecke ab¬
[367] zuhalten wußte. Seine Mutter und Rabette
hatt' er beſchworen bei ihrem Glück, bei ſeinem
Glück, keine Zuſchauerinnen ſeines Spiels zu
werden.


Ein neuer Wind des Zufalls war ihm zum
Heben ſeiner Flugmaſchine durch den ſeltſamen
Bruder des Ritters gekommen, der mit ſolcher
Freude von der eiſernen Maske ſeiner tragi¬
ſchen Maske hörte, daß er mit dem Antrag zu
ihm kam, er wolle ihm einen neuen wunderba¬
ren Spieler zuführen. „Alles iſt beſetzt“ ſagte
der Dichter. „Man mache ein Chor zwiſchen
den Akten und geb' es Einem“, ſagte der Spa¬
nier. Roquairol fragte nach dem Namen des
Spielers. Der Spanier führt' ihn in ſeinen
Gaſthof; innen im Zimmer rief ſchon eine thie¬
riſch-dumpfe Stimme: „kommſt Du denn ſchon
wieder, mein Herr?“ ſie fanden darin nur eine
ſchwarze Dohle. „Man ſtelle den Vogel auf
das Theater, er ſey das Chor, er ſage in hal¬
bem Geſang mezza voce bloß zwei, drei Zei¬
len her, die Wirkung wird kommen,“ ſagte
der Spanier.


Roquairol ſtaunte über die langen Sprüche
[368] der Dohle. Der Spanier erbat ſich einen län¬
gern von ihm, um ihn ihr vor ſeinen Ohren
einzulernen. Roquairol gab ihm den: im Le¬
ben wohnt Täuſchung, nicht auf der Bühne.
Der Spanier ſagte anfangs bloß ein Wort
zum Nachſprechen vor, dann wieder eins, wie¬
derholte es dreimal, ſagte dann mit den Fin¬
gern den Vogel ermunternd: „allons diables¬
se
!“ und das Thier ſtotterte dumpf die ganze
Zeile her. Roquairol fand in dieſer komiſchen
Thier-Larve etwas Fürchterliches, und nahm
den Vorſchlag, einige Chorzeilen zu dichten
und dem Vogel anzuvertrauen, unter einer eig¬
nen Bedingung an, — daß nehmlich der Spa¬
nier ſeinen Neffen Albano den Abend vorher
von Peſtiz entferne unter irgend einem Vor¬
wand und dann mit ihm im Prinzengarten er¬
ſcheine. Der Spanier ſagte: „Herr Haupt¬
mann, ich brauche keinen Vorwand, ich habe
Wahrheit! Ich werde mit ihm ſeinem Freund
Schoppe entgegenreiſen, er will morgen abends
kommen; auch dieſer wird mit zuſehen.“ —


Albano konnte in ſeiner verworrenen Stim¬
mung gegen Linda und in der erwartungsvol¬
len[369] len gegen Schoppe nichts ſo leicht annehmen
als einen kleinen Reiſeplan, um dieſen gelieb¬
ten Schoppe früher an der Bruſt zu haben.
Julienne wurde in Gegenwart des kranken Für¬
ſten von der Fürſtinn gebeten, ſie zu Idoine zu
begleiten, die ihrer auf halbem Wege in einem
Gränzſchloß wartete, und den andern Tag in
den Prinzengarten zurückzugehen. Sie weigerte
ſich. Der kranke angeſtiftete Bruder that die
von ihm erbetenen Bitten dazu. Die Schwe¬
ſter erfüllte ſie.


Nun war alles für den Abend, woran Ro¬
quairol Linda ſehen wollte, berichtigt — So
glimmen Nachts in den Scheuern eines ſchuld¬
loſen Dörfchens die eingelegten Brände — der
Sturmwind brauſet um die müden ſchlafenden
Einwohner — die Räuber ſtehen auf den Ber¬
gen im Abendnebel und ſchauen wartend her¬
ab, wenn die Feuerſchwerter der Flammen auf
allen Seiten durch die Nebel glänzen und mit
ihnen rauben und morden werden, um zu ih¬
nen herabzukommen.

128. Zykel.

Linda las das Blatt unzählige mal, weinte
Titan IV. A a[370] vor ſüßer Liebe und dachte nicht daran, zu —
vergeben. Dieſes Wehen der Liebe, das alle
Blumen beugt und keine pflückt, hatte ſie ſchon
ſo lange gewünſcht; und jetzt auf einmal nach
der nebligen Windſtille des Herzens, gieng es
lebendig und friſch durch den Garten ihres Le¬
bens. Sie konnte ſchwer acht Uhr erwarten.
Sie half ſich über die Zeit hinweg durch Wäh¬
len des Putzes, der zuletzt ganz in dem Schleier,
Hute, Kleide und allem beſtand, was ſie ge¬
tragen, als ſie ihren Geliebten zum erſtenmal
auf lschia gefunden.


Sie ſteckte die Paradieſes- oder Orangen¬
blüthen, die Zeiger jener Zeit und Welt, an
ihr klopfendes Herz und gieng zur beſtimmten
Stunde, mit dem blinden Mädchen am Arme,
in den Garten hinunter. Sowohl aus Haß
gegen den Tartarus als aus Willigkeit gegen
den Brief nahm ſie den Weg ins Flötenthal.
Die Nacht war finſter für ihr Auge und das
blinde Mädchen wurde ihre Führerin.


Oben auf dem Lilarsberg mit dem Altare
ſtand wie der böſe Geiſt auf der Zinne des Pa¬
radieſes, Roquairol und blickte ſcharf in den
[371] Garten herab, um Linda und ihren Weg zu
finden. Sein Freudenpferd war unten im tie¬
fen Gebüſch an ausländiſche Gewächſe ange¬
bunden. Voll Ergrimmung ſah er noch Dian
und Chariton mit den Kindern in dem Garten
gehen; und oben im Donnerhäuschen ein klei¬
nes Licht. Er verfluchte jede ſtörende Seele,
weil er entſchloſſen war, heute im Nothfall je¬
den Stürmer ſeines Himmels zu ermorden. End¬
lich ſah er Linda's lange rothe Geſtalt gegen
das Flötenthal zugehen und das Schwellen-
Gebüſch aufziehen und darhinter verſchwinden.


Er eilte den langen Schneckenberg herab,
warm wie eine vergiftete Leiche. Hinter ſich
hörte er im langen Buſch-Gewinde jemand
nacheilen — er entbrannte und zog ſeinen Stock¬
degen, den er nebſt einem Taſchenpiſtol bei
ſich hatte — endlich ſah er eine häßliche Ge¬
ſtalt, einem böſen Geiſte ähnlich, die ihm nach¬
rannte — ſie packte ihn — es war der Für¬
ſtinn langarmiger Affe — Er durchſtach ihn
auf der Stelle, um nicht von ihm verfolgt zu
werden.


Unten im freien Garten gieng er langſam,
A a 2[372] um keinen Verdacht zu wecken. Er ſchlich leiſe
wie der Tod, der auf dem Donnerwagen einer
Wolke ungehört durch Lüfte über den Blüthen¬
baum zieht, worunter eine Jungfrau lehnt,
und verſteckte den mörderiſchen Wetterſtrahl in
ſeine Bruſt. Er öffnete das hohe Pforten-Ge¬
ſträuch des Flötenthals; alles war darin ſtill
und dunkel; nur hoch im Himmel gieng ein
ſeltſamer brauſender Sturm und jagte die Wol¬
ken-Heerde, aber auf der Erde war es leiſe
und kein Blatt bewegte ſich. „Iſt jemand da?“
fragte die blinde Thürhüterin. „Guten Abend,
Mädchen!“ ſagte Roquairol, um durch ſeinen
Sprachton für Albano zu gelten.


Tief im engern laubigen Thale ſang Linda
leiſe ein altes ſpaniſches Lied aus ihrer Kinder¬
zeit. Endlich wurde ſie erblickt — die Rieſen¬
ſchlange that den giftigen Sprung nach der
ſüßen Geſtalt und ſie wurde tauſendfach um¬
wunden.


Er hieng an ihr ſprachlos — athemlos —
die Wolke ſeines Lebens brach — Thränen
der Gluth und Pein und Wonne rannen bren¬
nend fort — alle Arme, worein der Strom
[373] ſeiner Liebe bisher ſeicht umhergelaufen war,
ſchoſſen brauſend zuſammen und faßten und
trugen Eine Geſtalt — — „Weine nicht, mein
guter Menſch, wir lieben uns ja immer wie¬
der,“ ſagte Linda und die zarte ſchöne Lippe
gab ihm den erſten innigen Kuß. Da kreiſete
das Feuerrad der Entzückung mit ihm reiſſend
um und um den darauf geflochtenen Kopf weh¬
ten die Flammen-Kreiſe hoch auf. Aus Furcht,
erblickt zu werden, wenn er erblicke und aus
Luſt hatt' er die Augen geſchloſſen, jetzt that
er ſie auf, — ſo nahe an ſich und in ſeinen
Armen ſah er nun die hohe Geſtalt, das ſtolze
blühende Antlitz und die feuchten warmen Lie¬
bes-Augen. „Du Himmliſche, (ſagt' er,) tödte
mich in dieſer Stunde, damit ich ſterbe im Him¬
mel. Wie will ich nachher noch leben? —
Könnt' ich meine Seele in meine Thränen gies¬
ſen und mein Leben in Deines, und wäre dann
nicht mehr!“


„Albano, (ſagte ſie) warum biſt Du heute
ſo anders, ſo traurig und weich?“ —


„Nenne mich (ſagt' er) lieber bei Deinem
Namen, wie die Liebenden auf Otaheiti die Na¬
[374] men tauſchen. — Vielleicht hab' ich auch etwas
getrunken — aber ich bereue ja das Geſtern —
und ich liebe Dich ja neu. Ach, Du, liebſt
Du denn auch mein Innres, Linda?“


„Süßer Jüngling, kann ich es denn jetzt
nicht ewig lieben? — Ich bleibe ja bei Dir
und Du bei mir.“


„Ach Du kennſt mich nicht. Wenn weiß es
denn der Menſch, daß gerade Er, gerade die¬
ſes Ich gemeinet und geliebet werde? Nur
Geſtalten werden umfaſſet, nur Hüllen umarmt,
wer drückt denn ein Ich ans Ich? — Gott
etwa
. —


„Und ich Dich“ — ſagte Linda.


„O Linda, liebſt Du mich fort in meinem
Grabe, wenn die Spreu des Lebens verflo¬
gen iſt — liebſt Du mich fort in meiner Hölle,
wenn ich Dich aus Liebe gegen Dich belogen
habe? Iſt denn Liebe die Entſchuldigung der
Liebe?“ —


„Ich liebe Dich fort, wenn Du mich liebſt.
Biſt Du die Giftblume, ſo bin ich die Biene
und ſterbe in dem ſüßen Kelch.“


Die Braut ſank an ſeinen Hals. Er um¬
[375] klammerte ſie heftig — und wurde immer ähn¬
licher dem Gletſcher, der durch Wärme weiter
rückt und ſchmelzend verheert. Um ihn zogen
die Freuden mit glänzenden, mit himmliſchen
Geſichtern, zeigten ihm aber in den Händen
Furienmasken.


„Du willſt ſterben aus Liebe; ich bin ſchon
geſtorben aus Liebe — O Du weißt nicht, wie
lange ich Dich ſchon liebte!” antwortete er.


„Glühender (ſagte ſie) denk an dieſe Nacht,
wenn Du einſt Idoinen ſiehſt!“ — „So ſeh'
ich nur meine aufgeſtandne Schweſter“ ſagt'
er, aber ſogleich über die entfahrne Wahrheit
erſchreckend. „Man ſteht (ſetzt' er eilig dazu)
das auferſtandne Herkulanum, aber man wohnt
im blühenden Portici darüber; ich und Du ſa¬
hen im Baja-Golf unter dem Meer die ver¬
ſunknen Bogen und Thore und wir ſchifften
nach lebendigen Städten weiter. — Iſt mir
doch auch Roquairol in ſo manchem ſo ähnlich
und liebt Dich ſo ſehr und ſo lange und ſtarb
auch einmal wie Liane?“ —


„Aber dieſen hatt' ich nie geliebt und nun
bin ich Deine ewige Braut.“

[376]

„Der arme Menſch! Aber ich that, glaub'
ich, doch nicht Recht, da ich einſt in der Tar¬
tarushöhle Dir Ungeſehenen im Voraus ent¬
ſagte aus Liebe gegen den Freund.“


„Gewiß nicht; aber wie kommen wir beide
auf dieſes unheimliche Weſen?“ ſagte ſie
küſſend.


Heimlich möcht' ich's eher nennen“ ver¬
ſetzt' er, entbrennend in haſſender Liebe, im
Zwieſpalt der Rache und Luſt und entſchloſſen,
nun den Leichenſchleier über ihre ganze Zukunft
zu weben Er ſchlug die ſchwarzen Adlerſchwin¬
gen um das Opfer, und erſtickte und erweckte
Küſſe, er riß die Orangenblüthen von ihrer
Bruſt und warf ſie zurück. „Liebe iſt Leben
und Sterben und Himmel und Hölle, (ſagt'
er,) Liebe iſt Mord und Gluth und Tod und
Schmerz und Luſt — Kaligula wollte ſeine Zä¬
ſonia foltern laſſen, um nur von ihr zu wis¬
ſen, warum er ſie ſo liebe — ich wäre das
auch im Stand.“


„Göttlicher Albano! trinke nicht mehr ſo!
Du biſt zu ungeſtüm, Deine Augenbraunen
ſtürmen ſogar mit — wie biſt Du denn?“

[377]

„Alles auf einmal, wie ein Gewitter, voll
Gluth — und mein Himmel iſt hell durch den
Blitz — und ich werfe kalten Hagel — und
eine Zerſtöhrung nach der andern und es reg¬
net warm auf die Blumen — und Himmel
und Erde verknüpft ein ſtiller Bogen des Frie¬
dens.“


Jetzt ſah er am Himmel die Sturmwolken
wie Sturmvögel zwiſchen den Sternen und ne¬
ben dem zornigen Blutauge des Mars ſchon
heller fliegen; der Mond, der ihn verjagte und
verrieth, warf bald das Richter-Auge eines
Gottes auf ihn. Im Hohne gegen das Schick¬
ſal riß er auf für ſeine küſſende Wuth den
Nonnenſchleier und Heiligenglanz ihrer jung¬
fräulichen Bruſt. Fern ſtand der Leuchtthurm
des Gewiſſens von dicken Wolken umzogen.
Linda weinte zitternd und glühend an ſeiner
Bruſt. „Sey mein guter Genius, Albano!“
ſagte ſie. — „Und Dein böſer; aber nenne
mich nur ein einzigesmal Karl“ ſagt' er voll
Wuth. „O heiſſe denn Karl, aber bleibe mein
voriger Albano, mein heiliger Albano!“ ſag¬
te ſie. —


[378]

Plötzlich fiengen im Thal die Flöten an, die
der fromme Vater zu ſeinen Abendgebeten
ſpielen ließ. Wie Töne auf dem Schlachtfeld,
riefen ſie den Mord heran — da ſchmolz Lin¬
da's goldner Thron des Glücks und Lebens
glühend nieder und ſie ſank herab und das
weiſſe Brautkleid ihrer Unſchuld wurde zerris¬
ſen und zu Aſche.


„Nun die Deinige bis in meinen Tod!“
ſagte ſie leiſe mit Thränenſtrömen. „Nur bis
in meinen“ ſagte er und weinte jetzt weich mit
den weinenden Flöten. An der goldnen Kugel
auf dem Berge glomm ſchon der Mond, der
wie ein bewaffneter Komet, wie ein einäugi¬
ger Rieſe heraufdrang, den Sünder aus ſeinem
Eden zu jagen. „Bleibe bis der Mond kommt,
damit ich in Dein Angeſicht ſehe“ bat ſie.
„Nein, Du Göttliche, mein Freudenpferd wie¬
hert ſchon, die Todesfackel brennt herab in
meine Hand“ ſagte er tragiſch-leiſe. Der Sturm
war vom Himmel auf die Erde gezogen; ſie
fragte: „der Sturm iſt ſo laut, was ſagteſt
Du, Schöner?“ — Er küßte wild ihre Lippe
und ihren Buſen wieder; er konnte nicht gehen,
[379] er konnte nicht bleiben: „gehe morgen nicht
(ſagt' er) in den Trauerſpieler, ich flehe Dich,
das Ende, hör' ich, iſt zu erſchütternd.“


„Ich liebe ohnehin dergleichen nie. O blei¬
be, bleibe länger, ich ſeh Dich ja morgen wie¬
der nicht.“ Er preßte ſie an ſich — deckte ihre
Augen mit ſeinem Angeſicht zu — das Gorgo¬
nenhaupt des Mondes wurde ſchon in den Mor¬
gen heraufgehoben — er ließ das Leben los,
wenn er ſie entließ — und doch zehrte jedes
geſtammelte Wort der Liebe an der kurzen Zeit.
Der Sturm arbeitete in den geriſſenen Bäu¬
men und die Flötentöne ſchlüpften wie Schmet¬
terlinge, wie ſchuldloſe Kinder unter dem gros¬
ſen Flügel weg. Roquairol, wie betäubt von
ſolcher Gegenwart, war nahe daran zu ſagen:
ſieh 'mich an, ich bin Roquairol; aber der
Gedanke ſtellte ſich ſchnell dazwiſchen: „das
verdient ſie nicht um Dich; nein, ſie erfahr' es
erſt in der Zeit, wo man den Menſchen alles
vergiebt.“ — Noch einmal heftig hielt er ſie
an ſich gedrückt, das Mondlicht fiel ſchon auf
beide herein, er wiederholte tauſend Worte der
Liebe und Scheidung, ſtieß ſie zurück, fuhr
[380] ſchnell um und ſchritt in Albano's Kleidung
durch das Thal hindurch.


„Gute Nacht, Mädchen“ ſagt' er vorüber¬
gehend zur Blinden. Linda ſang nicht wieder
wie vorhin. Die Sterne ſahen ihn an, die
Sturmwinde redeten ihn an — die Freuden
giengen neben ihm, hatten aber die Furien¬
masken nun auf den Geſichtern — aus dem
Himmel griff ein Arm herab, aus der Hölle
griff ein Arm herauf und beide wollten ihn
faſſen, um ihn auseinander zu reiſſen — „nu,
nu, (ſagt' er,) ich war wohl glücklich, aber ich
hätt' es noch mehr ſeyn können, wär' ich Ihr
verdammter Albano geweſen“ — und ſchwang
ſich auf ſein Freudenpferd und jagte noch in
der Nacht nach dem Prinzengarten.

129. Zykel.

Albano und ſein Oheim zogen dem ange¬
kündigten Schoppe von Dorf zu Dorf weiter
entgegen; der Oheim ſchob die Hoffnung wie
einen Horizont immer vor ihnen voraus; ein¬
mal abends glaubte der Graf, Schoppe's Stim¬
me nahe neben ſich zu hören — umſonſt, der
[381] geliebte Menſch kam noch nicht an ſein Herz
und ſchmachtend ſah Albano die Wolken im
Himmel auf dem Weg herziehen, den ſein Theue¬
rer unter ihnen auf der Erde nahm. Der Oheim
erzählte ihm lange von einem geheimen Kum¬
mer, der den Bibliothekar oft niederdrücke, und
von deſſen Anſatz zur Tollheit, der ihn auch
früher von ihm weggetrieben, weil er unter
allen Menſchen keine ſo fürchte als tolle. Von
Romeiro's Portrait ſchien er nichts zu wiſſen.
Albano ſchwieg verdrüßlich, weil der Spanier
unter die unleidlichen Menſchen gehörte, die
mit glattem feſten Geſicht und mit zugeſchraub¬
ter gehelmter Seele den fremden Widerſpruch,
ohne eignen Widerſpruch, ohne Echo, ohne
Spiegel und Änderung um ſich flattern laſſen
können und für welche die fremde Rede nur ein
ſtiller Thau iſt, deſſen Fallen keinen Stein aus¬
höhlt. Dazu kam Albano's Erbitterung gegen
deſſen neue Unwahrhaftigkeit über Schoppens
Nähe und gegen ſein eignes Unvermögen, eine
Stunde lang alles ungläubig anzuhören, was
ein Lügner ſagt.


„Schoppe iſt auf mein Wort durch einen
[382] andern Weg ſchon im Prinzengarten“ ſagte
endlich der Spanier ganz munter, und rieth
umzukehren an, im warmen Genuſſe ſeiner fre¬
chen kalten Kraft, jeden der ihm nicht huldigte,
zwiſchen ſcharfe langſame Eisfelder zu preſſen.


Sie kamen vor dem Prinzengarten unter
lauter Wagen an, aus welchen die Zuſchauer
des heutigen Spielfeſtes ausſtiegen. Albano
fand ſchon unter jenen ſeinen Vater, die Für¬
ſtinn und Julienne; und unter den Mitſpielern
Bouverot, ſeinen alten Exerzizienmeiſter Falterle
und die gelbgekleidete Kaufmannsfrau in ro¬
them Schaul, die einmal weniger in als an
Roquairol's Herzen geweſen, und dieſen ſelber.
Der Hauptmann trat vor aller Welt ſofort den
bekannten Albano an und ſagte mit geſuchter
Leichtigkeit, das Spiel beginne bald, nur Dian
mit ſeiner Frau werde noch erwartet. Dian,
überall leicht beweglich, am meiſten durch eine
Bitte, konnte einer für die Kunſt am wenigſten
widerſtehen; durch ihn wurde bald auch Cha¬
riton für das Spiel gewonnen, aber nicht ohne
den Umſtand, daß ſie im Stücke eine Geliebte
gegen niemand als ihren Gemahl zu ſpielen
[383] hatte. Als Roquairol mit Albano ſprach, ſo
wurde ſeinem Geſicht ſo wie einem geſchwollnen
oder gefrornen das leichte Lächeln ſchwer und
das Aufheben des Augenlieds; und innen drück¬
te ein ſtrafender beugender Geiſt den ſeinigen
vor dem frohen reinen Freunde zur Erde, aus
deſſen Frühling er die helle Sonne weggeriſſen
und geworfen und dem er eine ewige Peſtwol¬
ke über das Leben gehangen.


Unter dem Getümmel der Gartenreden und
im fruchtloſen Wunſche, der Schweſter Julienne
drei ſanfte Worte für die ihm ſo lange ver¬
deckte Linda mitzugeben, ſah Albano den Wa¬
gen der Gräfinn auf die Höhe an Lianens letz¬
ten Garten rollen, da halten, und ſie und Dian
und Chariton ausſteigen.


Da kannt' er weiter nichts als den Flug zur
entbehrten Geliebten, der ſich vor den vielen
Augen leichte in die Sehnſucht nach Dian ein¬
kleidete; und jetzt fragt' er im Durſt der Liebe
nach gar keinem Auge. „Ach da bin ich doch!“
ſagte Linda und gieng ihm entgegen, mit den
weichen Rebenſchlingen zarter Blicke ſich in
ſeine verwebend — ſo ſcheu und ſo liebevoll —
[384] und das Abendroth der Verſchämtheit zog, wie
Frühlingsröthe in der Nacht, um ihren Himmel
und der weiſſe Mond der Unſchuld ſtand mit¬
ten darin! — Albano zergieng vom Thauwind
dieſer Verzeihung, warf ſich ſeine ſüße Freude
an ihrer Umkehrung als ſelbſtſüchtigen Stolz
über ſein Siegen vor und konnte in der ſchö¬
nen Verwirrung des Glücks kaum das ſüße
Staunen regieren und das aufgelößte Herz, das
vor ihr zerrinnen wollte wie ein Gewitter in
Abendthau. Er legte in ſein Auge die Seele
und gab ſie der Geliebten. Vor Chariton mußt'
er ſich verhüllen. Zu Dian und Linda ſagt' er,
als ſie in die hinunterſteigende Sonne ſahen,
bloß das Wort: Iſchia!


„Da liegt nun freilich, lieber Anaſtaſius
(ſagte Chariton zu Dian,) meine gute Fräulein
Liane begraben und man weiß nicht eigentlich
wo im Garten, denn man ſieht ja nichts als
Blumen und Blumen; ſie hat's aber ſo be¬
ſtellt.“ — „Das iſt ſehr betrübt und hübſch,
(ſagte Dian,) aber laſſ' es, — weg bleibt
weg, Chariton!“ und führte ſie ſeitwärts von
den Liebenden ſchonend. An Albano, der nichts
über¬[385] überhörte und überſah, war die Erſchütterung
davon ſo ſichtbar. Auch Linda nahm ſie wahr.
„Sprich nur aus Dein Weh, (ſagte ſie,) ich
liebe ſie ja auch.“ — „Ich denke an die Le¬
bendigen (ſagt' er, ſich zuſammenfaſſend und
blickte ſcheu nicht auf den Blumengarten, ſon¬
dern auf die ſonnentrunkne Abendgegend,) —
kann man denn genug auf der Erde vergeben
und errathen? — Linda, o wie vergiebſt Du
mir heute!“


„Freund, (ſagte ſie,) wenn Ihr ſündigt,
ſollt Ihr Vergebung empfangen; aber bis da¬
hin ſeyd noch ſtill!“ Er ſah ſie bedeutend an:
„haſt Du nicht ſchon vergeben und ich noch
nicht? — Aber wüßteſt Du, wie ich in dieſen
Tagen auf dem Weg zu meinem Schoppe
innigſt bei Dir lebte und die göttliche Vergan¬
genheit in die Zukunft brachte — ach, kann
ich Dir denn alles ſagen an dieſem Orte?“ —
Zum Glück hörte ſie — gleich andern Frauen,
weniger auf Worte als auf Minen, Winke und
Thaten merkend — mehr mit dem geiſtigen als
leiblichen Ohre und trat nicht in den ſo nahe
aufgeſperrten Abgrund ſeiner Worte. So ſpiel
Titan IV. B b[386] ten jetzt beide, wie Kinder, neben der kalten
mit Donner durchzognen Gewitterſtange, aus
welcher bei der kleinſten nähern Nähe die bli¬
tzende Senſe des Todes fährt.


Beide gaukelten neben dem Gewitter fort.
Die Sonne zog neben dem kleinen Berge und
ebenen Blumen-Grabe, mit ihren Flammen in
die fernen Ebenen hinein. Aus dem tiefen
Prinzengarten flatterten Töne durch die lan¬
gen Abendſtrahlen herauf und vergötterten die
goldne Gegend. — Die Töne waren einſame
Schwingen, die ſich ihr Herz ſuchten und dann
an ihm weiter flogen — und die liebenden Her¬
zen wurden voll Flügel — Die Strahlen ſan¬
ken, die Töne ſtiegen — Um Linda und Alba¬
no lag ein goldner Kreis aus Gärten und Ber¬
gen und grünen Tiefen und jede Blume ſchwank¬
te reich unter dem letzten Gold und wurde die
Wiege des Auges, die Wiege des Herzens —
Die Liebenden blickten ſich und die Erde begei¬
ſtert an, die glänzende Welt erſchien ihnen nur
im Zauberſpiegel ihrer Herzen und beide ſelber
waren darin leuchtende ſchwebende Bilder.


„Linda, ich will ſanfter werden, (ſagt' er,)
[387] bei der Heiligen ſchwör' ichs, in deren Garten
wir ſtehen!“ — „Werd' es, Lieber, in Lilar
warſt Du es eben nicht!“ ſagte ſie. Er ver¬
ſtand es von dem Sturme gegen Liane: „ver¬
hülle dies Andenken in Deine Liebe!“ ſagt' er
erröthend. Sie ſah ihn jungfräulich an, ihr
Inneres war jungfräulich geblieben und un¬
ſchuldig; wie die Pfirſich ſich roth und glühend
der Sonne zukehrt, aber in den Blättern das
zarte Weiß erhält. Ihr Auge trank aus ſei¬
nem, ſeines trank aus ihrem, der Himmel ver¬
miſchte ſich mit ihrem Himmel, die Purpur¬
ſonne ſchimmerte aus dem warmen Liebesthau
der Liebesaugen zurück. „O dürft' ich Dich
jetzt küſſen!“ ſagte Albano. „Ach dürfteſt Du
es!“ ſagte Linda. „So golden gieng einſt die
Sonne auf dem Meere unter!“ ſagte er. —
„Und nachher gaben wir uns den erſten Kuß!“
ſagte ſie. — „Wir wollen uns jetzt viel öfter
ſehen“ ſagt' er. „Ja wohl, und länger am
Tage, Nachts hab' ich Arme ja kein Auge.
Nun geht mir dort ſchon mein Auge unter“
ſagte ſie, als die Sonne verſank.


Es w [...] ein guter, ſanfter Geiſt, oder Lia¬
B b 2[388] nens ihrer — jener, der den Menſchen nur an
der Dämmerung in die Nacht führt, der uns
mildernde Thränen in den Jammer und in die
Entzückung gieſſet und der dem Abendſtern der
Liebe die kurze Bahn nicht überwölkt — Die¬
ſer Geiſt war es, welcher ihre Zungen und
Ohren vor dem ſchrecklichen Laute bewahrte,
der auf einmal den goldnen Abendkreis in
eine ringsumher aufbrennende Hölle aufgeris¬
ſen hätte.


„Wer kommt dort ſo eilig?“ ſagte Linda.
„Mein Feind“ ſagte Albano. Roquairol hatte
ihn vermiſſet und Linda's Ankunft vernommen;
in der Höllenangſt, daß ſich an dieſem Abende
vor ihnen der geſtrige aufdecke, eilte er unter
dem Vorwande, Dian zum Spielen und Al¬
bano zum Hören zu holen, den Berg heran.
Wie ein Zentaur, halb Menſch, halb Wild,
trat er mit verworrenem dumpfen Kriege ſei¬
nes ganzen Weſens unter die melodiſchen See¬
len und Freuden. Aber kaum daß er an ihnen
die Weihe der Entzückung wahrnahm und die
ſchwarze Decke noch auf ſeinem Morde feſtlie¬
gen ſah: ſo lichtete ſich in ihm der grimmige
[389] Geiſt der Eiferſucht auf: „ſie iſt nun meine
Verlobte“ ſagt' er ſich; und die Sonnenfinſter¬
niß verworrner Reue wurde vom Gewitter des
Unmuths verdeckt. Linda, über ſeine Stim¬
menähnlichkeit zürnend aus innerm Schauder,
ſtand vor ihm wie ein Diamant, hell, glän¬
zend, hart und ſchneidend, Albano aber ſanft,
im Nachtönen der Harmonie, auf dem Gottes¬
acker der Schweſter dieſes Bruders und in eini¬
ger Verwirrung. In Roquairol ſchlich wieder
der geſtrige unreine Argwohn herum, daß viel¬
leicht Albano und Linda nicht mehr unſchuldig
ſeyn.


Zornig bat er heute Linda, ſein Trauerſpiel
mit anzuſehen. „Sie ſagten mir (ſagte ſie zu
Albano) es ſchließe ſo tragiſch, ich bin davon
keine Freundinn.“ — „Er kennt es gar nicht,“
ſagte Roquairol. „Nein“, ſagte Albano. —
Wie die Schlange ſah er auf das Paradies
der erſten Menſchen herab, ſich froh bewußt,
daß er ihnen vom Baume ſeines Erkenntniſſes
den Apfel reichen konnte, der ſie ſogleich dar¬
aus verjagte. „Zudem (fügte ſie dazu) ſeh' ich
abends ſchlecht oder gar nicht.“ Roquairol ſtellte
[390] ſich fremde dabei, ſcherzte über den Gewinn, den
er als erſter Liebhaber dabei habe, wenn ſie ihn
nur höre und bat Dian, mitzubitten. Nicht an¬
gebohrne, ſondern erworbene Kälte iſt der höch¬
ſten Falſchheit mächtig, jene nur der Verſtellung,
dieſe auch noch der Anſtellung, weil ſie zugleich al¬
le Wege und Mittel des Feuers kennt und nützt
und ſich auf dem Glatteis durch die Aſche vo¬
riger Gluth feſt macht. Da endlich Albano ihr
ſelber anrieth, an der tragiſchen Freude Theil
zu nehmen, und ihren Freunden und Freundin¬
nen drunten die ſchöne, reine ihrer Gegenwart
zu gönnen: ſo willigte ſie ein, verwundert über
den Widerruf.


Sie nahm Chariton in ihren Wagen. Die
Männer giengen voraus. Unterwegs ſagte Ro¬
quairol zu Dian, der im Stücke Albano's Rolle
zu ſpielen hatte: „ſobald ich im vierten Akte
geſagt habe: auch die geiſtige Liebe geht der
ſinnlichen entgegen und kommt wie ein See¬
fahrer, auf dem Wege nach Oſten endlich doch
in den Ländern des Untergangs an: ſo fallen
Sie ein.“ — Dian lachte und ſagte: „ich fall'
ein. In Italien aber fängt die Fahrt gleich
[391] ſüdlicher und weſtlicher an.“ Albano ſchwieg
verdrüßlich und bereuete, daß er Linda zu die¬
ſem ungewiſſen Feſte bereden helfen. Die Für¬
ſtinn warf einige ſchnelle Blicke der Verachtung
auf die betrogne Linda, und dieſe antwortete
darauf mit gleichen; ausgezeichnete Weiber ver¬
rathen ihr Geſchlecht am meiſten im feindlichen
Zuſammenſtoßen mit ausgezeichneten.

130. Zykel.

Die meiſten Zuſchauer waren anfangs mehr
der Zuſchauer und Spieler wegen als des Spieles
halber gekommen; aber bald wurden ſie vom Ge¬
heimniß und der ſeltſamen Bühne ſelber ange¬
zogen. Die Bühne war auf der ſogenannten
Schlummerinſel des Prinzengartens, welche
mit einer wilden dicken Vermiſchung von Blu¬
men, Gebüſchen und hohen Bäumen zugedeckt
war. Ihre Morgenſeite zeigte einen offnen
freien Vorgrund, auf welchem geſpielt werden
ſollte, mit einer weiſſen Sphinx auf einem lee¬
ren Grabmahl tiefer im Grün. Die Kuliſſen
waren die dunkeln Laubpartien; Parterre und
Logen das jenſeitige Ufer, das von der Inſel
[392] ſich durch einen See abtrennte, der ſo breit
war als ein mäßiges Schiff. An zwei Bäume
der beiden Ufer gebunden hieng in die Mitte
des Sees wie eine Laterne, der Käfig der Dohle
oder des Chors herab, um ihre dumpfe Stim¬
me den Zuſchauern zu nähern. „Ich bin in
der That neugierig, (ſagte der Ritter zu ſei¬
nem Sohne,) woher Er das Tragiſche nehmen
wird.“ — „Doch! (ſagte Roquairol, der bis¬
her ſchweigend und unruhig und auf den Bo¬
den ſchauend auf- und abgegangen war.) Nur
muß ich allgemein um Vergebung des Aufſchubs
erſuchen. Da ich im fünften Akte den Mond
anrede, ſo kann ich den wahren ſehr gut brau¬
chen, wenn ich nur gerade ſo anfange, daß
ſein Aufgang mit der letzten Szene zuſammen¬
trifft.“


Endlich ſtieg er blaß werdend in den Cha¬
rons-Nachen, wie er ſagte, und fuhr allein
hinüber. Dann ſchifften die übrigen Spieler
nach einander fort. Alle verlohren ſich hinter
die Bäume. Nun hob ſich hinten in den zuge¬
laubten Abend-Ländern der Inſel die ewige
Ouvertüre aus Mozarts Don Juan wie ein
[393] unſichtbares Geiſterreich, langſam und groß in
die Lüfte.


Diablesse!“ rief darauf der Bruder des
Ritters zur Dohle und klatſchte dabei zum Zei¬
chen in die Hände.


„Macht auf den Sarg (begann dumpf
das Thier, begleitet von einzelnen lugubern
Tönen des Orcheſters) auf dem Gottesacker
und zeigt zum letztenmale die Leichenbruſt und
Sein trocknes Augenlied und dann drückt ihn
zu auf immer.“


Jetzt traten Lilia (Chariton) und Carlos
(Dian) heraus, zwei Liebende noch in der er¬
ſten Zeit der erſten Liebe — noch kein trüber
Thränenregen verſchwemmte den goldnen Mor¬
genthau — ſie ſind ſich ſo treu. Lilia freuet
ſich mit ihm, daß jetzt ihr Bruder Hiort von
ſeinen Reiſen kommt und ſeinen Jugendfreund
Carlos als ihren ewigen findet. „Vielleicht iſt
er auch recht glücklich“ ſagte Lilia. „O ſo ge¬
wiß, (ſagte Carlos,) er iſt ja ſonſt alles.“
Zuweilen ſchwiegen beide im frohen Anblicken,
dann giengen Töne aus dem verhüllten Abend
der Inſel und trugen die ſtumme Wonne in
[394] den Äther und zeigten ſie ihnen ſchwebend und
verklärt. Unter den Zuſchauern breitete ſich
eine ſüße Theilnahme an Dians und Charitons
zartem aber mit ſüdlicher Gluth verwebtem Nach¬
ſpielen ihrer ſchönen Wirklichkeit aus; man hörte
und ſah die Griechen. — Auf einmal entfloh
Lilia hinter die Blumen-Gebüſche; denn ihr
Feind Salera, Carlos Vater, kam, von Bou¬
verot geſpielt.


Salera verkündigte dem Sohne zürnend
die Ankunft ſeiner Braut Athenais. Carlos
offenbarte ihm jetzt das Geheimniß ſeiner frü¬
hern Liebe und zeigte ſich gewaffnet gegen eine
ganze Zukunft. Salera rief erbittert: „wäre
Sie doch nicht ſchön, damit ich Dich zwänge
und ſtrafte! Aber Du wirſt Sie ſehen und
mir gehorchen, und ich werde Dich doch has¬
ſen.“ Carlos verſetzte: „Vater, ich habe ſchon
Lilia geſehen.“ — Salera gieng mit zornigen
Wiederholungen ab und Carlos wünſchte jetzt
noch heftiger Hiorts Wiederkehr, um mit ihm
die Schweſter leichter zu entführen durch deſſen
Bereden und Begleiten zugleich. Hier ſchloß
ſich der erſte Akt.


[395]

Der Bruder des Ritters rief zur Dohle:
Diablesse!“ und ſcharrte zum Zeichen mit dem
Fuße.


„Erſcheine blaſſer Mann (ſprach das Thier),
die Uhr wiegt die Zeit, Menſch des Jammers,
lande auf der ſtillen Inſel an!“


Hiort trat blaß geſchminkt hervor mit off¬
ner Bruſt, blickte das Grabmahl an und ſagte
aus innerſter Seele: „endlich!“ Die Muſik
ſpielte einen Tanz. „Ja wohl Schlummerinſel
— unſer Tag endigt mit Schlaf,“ ſetzt' er da¬
zu. Jetzt kam ſein Carlos: „Hiort biſt Du
todt?“ rief er im Schrecken über die Leiche.
„Ich bin nur bleich,“ ſagt' er. „O wie kommſt
Du ſo aus der ſchönen bunten Erde zurück!“
ſagte Carlos. „Ausgeſchöpft Karl — mit todt¬
gebohrnen Hoffnungen — meine Gegenwart iſt
von der Vergangenheit enterbt — das Sin¬
nenlaub iſt gefallen — nicht einmal die ſchöne
Natur mag ich mehr und Wolken wie Gebür¬
ge ſind mir lieber als wahre Gebürge — ich
habe das bittere Unkraut auf dem Leben recht
abgeerndtet — Und doch muß ich in dieſer lee¬
ren Bruſt einen Würgengel herumtragen, der
[396] ewig gräbt und ſchreibt, und jeder Buchſtabe
iſt eine Wunde — Rathe nicht! Sie nennen's
das Gewiſſen. Aber ein wenig Schlaftrunk her
auf der Schlafinſel, Karl!“


Man brachte Wein. Er erzählte [nun] dem
Freunde ſein Leben — ſeine Fehler, worunter
er auch den aufführte, den er eben fortſetzte,
das Trinken — ſeine ſich wiedergebährende Ei¬
telkeit ſogar mit ihrem Selbſt-Geſtändniß —
ſeine Weiber-Siege, die ihn zu einem Mag¬
net-Berge voll angeflogner Nägel zerfallner
Schiffe machten — ſeinen Hang, wie Kardan
Freunde zu beleidigen, ein eigenes oder frem¬
des Glück zu unterbrechen, wie ſchon als Kind
den Prediger, oder im ſchönſten Spiel das Kla¬
vier zu zerſchlagen, und in einem Enthuſias¬
mus das Frechſte zu denken —


„Sonſt hatt' ich doch noch zwei Ichs, eines
das verſprach und log, eines, das dem andern
glaubte; jetzt lügen ſie beide einander an und
keines glaubt.“ Carlos antwortete: „ſchreck¬
lich! — Aber Deine Trauer iſt ja ſelber Hülfe
und Gabe“ — „Ach was! (verſetzt' er.) Der
Menſch verdammt weniger das Schlimme als
[397] die vergangne Lage, worin ers begieng, indeß
er es in einer friſchen wieder neu und ſüß fin¬
det und fortliebt. — Was dort kalt liegt,
das iſt mein Bild (indem er auf die Sphinx
zeigte), das bewegt ſich lebendig in meiner
blutigen Bruſt — hilf mir, ziehe das reiſſende
Unthier heraus!“ —


Albano ergrimmte im Innerſten über die
frevelnde Wiederholung jener bekennenden zärt¬
lichen Nacht mit ihm*). „Er iſt frech genug
(ſagte leiſe Gaſpard zu Albano), weil er, wie
ich höre, wirklich ſich ſelber ſpielen ſoll; aber
da er ſich ſo ſieht, iſt er doch beſſer als er ſich
ſieht.“ — „O (ſagte Albano), ſo dacht' ich
ſonſt! Aber iſt denn das Schauen auf den
ſchlechten Zuſtand ein guter? Iſt er nicht de¬
ſto ſchlechter, daß er dieſes Bewußtſeyn erträgt
und wird deſto ſchwächer, daß er einen unheil¬
baren Krebsſchaden an ſich wachſen ſieht? Das
Höchſte hat er ohnehin verlohren, die Un¬
ſchuld.“ — „Eine flüchtige Wiegen-Tugend!
— Ein helles, keckes Reflektiren hat er doch“
[398] ſagte Gaſpard. „Nur weichliche, ehrloſe, zwei¬
deutige, vielſeitige Mattigkeit des Herzens hat
er; ſpricht von Kraft und kann nicht die dünn¬
ſte Luſt-Schlinge zerreißen“ ſagte Albano.


„Karl, (ſagte Hiort weich als antwortete
er jenen,) ja, noch Eine Hülfe giebts. Wenn
am Leben eine friſche Farbe nach der andern
verſchießet — wenn das Daſeyn nun nichts
wird, kein Luſt- kein Trauer-Spiel, nur
ein fades Schau-Spiel: ſo iſt dem Menſchen
noch ein Himmel offen, der ihn aufnimmt, die
Liebe. Schließet ſich dieſer zu, ſo iſt er ewig
verdammt. Carlos, mein Carlos, ich könnte
noch glücklich werden — denn ich habe Athe¬
nais
geſehen — aber ich kann noch unglückli¬
cher werden, denn ſie liebt mich nicht. In mei¬
nem Herzen liegt dieſer prangende, aber ſcharf
fortſchneidende Demant, an dem es blutet ſo
oft es ſchlägt.“ — Ueberall ließ jetzt Roquai¬
rol Linda's Bild mitſpielen. Hier brachte an¬
fangs Carlos den Freund mit der Nachricht in
Aufruhr, daß Athenais von ſeinem Vater zu
ſeiner Braut erleſen ſey und bald komme; aber
er ſtillte ihn, da ſeine Schweſter Lilia erſchien,
[399] indem er ſchnell ihre Hand nahm und ſagte:
„nur dieſe lieb' ich.“ — Sie ſprachen über die
Hinderniſſe von Seiten des alten Salera, den
Carlos ein Eisfeld nannte, das unter keiner
Sonne trüge und nicht anzubauen wäre. „Ste¬
he mir bei, Karl, (ſagte Hiort,) denke was
Du mir geſchrieben: wie zwei Ströme wollen
wir uns vereinigen und mit einander wachſen
und tragen und eintrocknen*).“ — So ver¬
ſtändigten, verketteten und erhoben die drei
Menſchen ſich einander wechſelſeitig, alle hat¬
ten Ein Ziel, das gemeinſchaftliche Glück. —
Carlos beſchwor ewigen Widerſtand gegen ſei¬
nen Vater, Hiort den Schutz ſeiner Schweſter
und rief: „Endlich gieſſet das leere Füllhorn
der Zeit, das bisher nichts gab als Klänge,
wieder Blumen aus — O die Weiber! Wie
gemein und alltäglich ſind faſt alle Männer!
Aber faſt jede Frau iſt neu!“ — Lächelnd ſagte
Gaſpard: „das Umgekehrte ſagen die Weiber
[400] von uns und ſich.“ — Froh und friedlich ſchloß
der zweite Akt.


Diablesse!“ rief der Spanier und ſtreckte
ſeine Rechte hoch in die Luft.


„Flüchtig (fieng die ſchwarze Dohle un¬
ter Tönen an) iſt der Menſch, flüchtiger iſt
ſein Glück, aber früher ſtirbt der Freund mit
ſeinem Wort.“ —


Der dritte Akt drang ſofort nach und hob
durch die ununterbrochne Fortſetzung des Kunſt-
Zaubers — welche jedem Schauſpiel und jedem
geleſenen Kunſtwerk gebührte — alles proſai¬
ſche kalte Erſtaunen auf, ſogar das über das
wunderbare Sprechen der Dohle auf dem See.
Eine große ſchöne ſtolze Frau erſchien — Athe¬
nais, (von der Kaufmannsfrau, Roquairol's
Nebengeliebte, geſpielt) voll Hoffnung auf ihre
alte Freundinn Lilia, die ſich „die kleine Athe¬
nais“ nannte, und ſüß nachträumend den Traum
der vorigen Zeiten. Lilia ſinkt in ihre Arme
mit doppelten Thränen; in ihrer Hand trägt
Athenais ja drei Himmel und drei Höllen.
„Wie ſchön kommſt Du wieder! — Mein ar¬
mer Bruder!“ ſagte Lilia leiſe. — „Nenn ihn
nicht,[401] nicht, (ſagte ſie ſtolz,) er kann für mich ſter¬
ben, aber ich kann nicht für ihn leben.“ —
Hier fliegt Carlos herein zu ſeiner Lilia — er¬
ſtarrt im Fluge — faſſet ſich und nähert ſich
Lilia. Dieſe ſagt: „Graf Salera — Athe¬
nais“ — er wurde blaß, dieſe roth. Eine pein¬
liche enge Verwirrung verſtrickte ſie drei; jeder
Honigtropfen wurde aus einer Dornhecke ge¬
holt. Lilia wird ſchaudernd immer ſtärker Athe¬
nais plötzlichen Sieg über ihr Glück und Lie¬
ben gewahr. Athenais gieng ab. Beide Lie¬
bende ſehen ſich lange zitternd an: „hab' ich
Recht?“ fragt Lilia. „Hab' ich Schuld?“ ſagt
Carlos. „Nein, (ſagt ſie,) denn Du biſt ein
Menſch und, was noch ſchlimmer, ein Mann.“
— „Was ſoll ich denn thun?“ verſetzt Carlos.
„Du ſollſt (ſagte ſie feierlich) nach einem Jahr
in einen Garten auf einer Höhe gehen und
Dich umſehen und mich ſuchen im Garten —
im Garten — unter den Beeten — tief unter
Einem — ich weiß nicht wie tief“ — Sie
eilte wie wahnſinnig davon und ſang: „vor¬
über, vorüber, das Lieben und Leben!“


Carlos ſtand einige Minuten mit dem wil¬
Titan I V C c[402] den Blick am Boden und ſagte dumpf: „Du
thuſt's, Gott!“ und gieng ab — begegnete ſei¬
nem Freund, der ungeſtüm und froh ausrief:
„Sie iſt da!“ — eilte aber ſtolz weiter und
rief nur zurück: „jetzt nicht, Hiort!“ Zu die¬
ſem kam weinend Lilia und führte ihn fort:
„Komm, (ſagte ſie,) ſieh das Grabmahl nicht
an, wir ſind beide zu unglücklich.“


Da trat der alte Salera auf mit Athenais
— vergriff ſich zwiſchen Eis und Brand und
nahm ſeine kalte Münze für warme — lobte
männlich ſie, und väterlich den Sohn — und
ſagte wie in einem Schauſpiel: da kommt er
ſelber. „Hier ſtell' ich Dir, Sohn, (ſagt' er,)
Dein Glück vor, wenn Du es verdienen kannſt.“
Carlos hatte Lilia's Herz verlohren — der
Wunſch des Vaters, die Macht der Schönheit,
die Allmacht der liebenden Schönheit ſtanden
vor ihm, ſeine Sehnſucht und der Gedanke der
Grauſamkeit gegen dieſe Göttinn, und endlich
eine Welt in ihm, die ſo nahe an ihrer Sonne
ſtand, ſiegten über eine doppelte Treue — er
ſank aufs Knie vor ihr und ſagte: „ich bin
ſchuldlos, wenn ich glücklich bin.“ — Das
[403] Paar geht auf der einen Seite ab; Salera
auf der andern und trifft auf Lilia, deren
Hand er mit den Worten nimmt: „Sie als
eine Freundinn meines Hauſes und Sohnes neh¬
men gewiß den innigſten Antheil an dem neue¬
ſten Glück deſſelben durch Athenais.“ — So
ſchloß ſich der dritte Akt, der Albano durch
ungerechte alles verdrehende Anſpielungen mit
dem erbitterten Wunſche des Endes entflammte
und füllte, bloß um Roquairol über dieſes
meuchelmörderiſche Zücken des tragiſchen Dolchs
zur Rede zu ſtellen. „Der Patron (ſagte la¬
chend Gaſpard) glaubt mich auch hereinzumah¬
len; ich wünſche aber, daß er derbere Farben
nehme.“


Ehe der vierte Akt ſich anfieng, hob der
Spanier die Linke empor und die ſchwarze
Dohle ſprach ſogleich: „die Sünde ſtraft die
Sünde und den Feind der Feind; zaumlos iſt
die Liebe, zaumlos auch die Rache — Seht,
nun kommt der Menſch, den ſie nicht mehr lie¬
ben und bringt ſeine Wunden mit und ſeinen
Zorn.“ Hiort ſtand da, wie vor ſeinem Grab,
das ſeinen Kopf niederzog — unendlich wei¬
C c 2[404] nend und trinkend — ſanfte Abend-Töne der
Muſik verſchmolzen mit dem aufgelößten Le¬
ben: — „ach ſo iſt's! (rief er aus tiefer,
ſchmerzender Bruſt.) Wirf ſie nur endlich weg,
die zwei letzten Roſen des Lebens *)— zu viele
Bienen und Stacheln ſtecken in ihnen — ſie
ziehen dein Blut und geben dir Gift — O
wie ich liebte! Allmächtiger droben, wie ich
liebte! Ach nicht Dich! — Und nun ſo ſteh' ich
leer und arm und kalt, nichts, nichts iſt mir
geblieben, kein einziges Herz, nicht mein eig¬
nes — das iſt ſchon hinunter ins Grab — Der
Docht iſt aus meinem Leben gezogen und es
rinnt dunkel hin — O ihr Menſchen, ihr dum¬
men Menſchen, warum glaubt ihr denn, daß
es noch Liebe gebe hienieden? Schauet mich
an, ich habe keine — Wohl ein luftiges Far¬
benband der Liebe, ein Regenbogen zieht ſich
hin und ſtellt ſich feſt herüber unter uns wan¬
kende Wolken, als binde und trag' er ſie —
Spaßhaft! er iſt auch Wolke, und lauter Fall
— anfangs glänzen bunte Freudentropfen, dann
ſchlagen ſchwarze!“ —

[405]

Er ſchwieg — gieng langſam auf und ab
— ſah ernſt einem Waffen- und Larventanz
innerer Geſpenſter zu — ſtand ſtill — Die Schat¬
ten ſchwarzer Thaten ſpielten durch einander
um ihn — plötzlich fuhr er auf, ein Wetter¬
ſtrahl eines Gedankens hatte in ſein Herz ge¬
ſchlagen — er lief auf und ab, ſchrie: „Töne
her, gräβliche Töne her!“ — und die Hochzeit¬
muſik aus Don Juan, die ihn bisher begleitet
hatte, erhob das Zetergeſchrei des Schreckens
— „göttlich!“ ſagte er und nur einzelne Wor¬
te, nur Tygerflecken erſchienen verſchwindend
am vorübergehenden Unthier — „teufliſch! —
das Roſen-Seyn, das Blüthen-Seyn — nun
ja! — — ich wickle mich ſelber in die Lauwine
und rolle hinunter — und dann ſterb' ich ſchön
auf meiner Schlummerinſel“ beſchloß er ſanft
und matt.


„O Lilia! gewähre mir Eine Bitte!“
rief er der kommenden Schweſter entgegen.
„Jede, die mich nicht am Sterben hindert“
ſagte ſie. Er legte ihr die Bitte vor: ſie ſollte
ihre Freundinn Athenais in die „Nachtlaube“
der Inſel jetzt Nachts unter dem Vorwand be¬
[406] reden, daß ihr Bräutigam Carlos ihr zwei
Geheimniſſe über Lilia noch heute zeigen wolle
— „ich habe (ſetzt' er dazu) Carlos Stimme,
mit ihr ſag' ich ihr mein liebendes Herz und
dann, wenn ſie mich liebt, nenn' ich mich Hi¬
ort.“ — „Iſt Deine Bitte Wahrheit?“ fragte
die Schweſter. „So wahr ich morgen noch le¬
ben will,“ ſagt' er. „So iſt ſie bald erfüllt,
denn Athenais erwartet mich eben in der Nacht¬
laube — komme mir nur nach ſieben Minuten
nach.“ Sie gieng; er ſah ihr nach und ſprach
mit ſich: „eile, beſtelle den Himmel! Schöne
Schlummerinſel, zugleich die Schlafſtätte für
das Brautgemach und für den ewigen Schlaf
— O wie wenige Minuten ſtehen zwiſchen mir
und ihrem Herzen!“ —


„Du biſt doch da?“ ſagt' er und ſah nach
ſeiner Piſtole. — „Jetzt (rief er feierlich im Ab¬
gehen) iſt's Zeit zur helldunkeln That, dann
wird das Leichentuch darüber geworfen“ und
gieng ſchnell ins Laub hinein.


Der Spanier warf einen Zweig ins Was¬
ſer und die ſchwarze Dohle ſprach leiſe: „ſtill
iſt das Glück, ſtill iſt der Tod.“

[407]

„Der Menſch (ſagte Gaſpard) hat etwas
im ganzen Spiele wie wahren Ernſt, ich ſtehe
nicht dafür, daß er ſich nicht wirklich vor uns
allen todtſchießet.“ — „Unmöglich, (ſagte Al¬
bano erſchreckend,) zu einer ſolchen Wirklich¬
keit hat er keine Kraft;“ indeß vermocht' er
doch ſich ſelber nicht recht von dieſer bangen
Möglichkeit loszubringen.


Verſtört, ungeſtüm, mit loſem Haar kam
Hiort zurück und ſagte leiſe: „es iſt geſchehen.
— Ich war ſeelig — niemand wird's nach
mir.“ — „Bei der Gelben und jetzt in der
Nacht ſteh' ich für nichts,“ ſagte Gaſpard. Al¬
bano erröthete über die freche Vermuthung
verſchämt und noch mehr über Roquairols
Frevel erzürnt, im Spiele die geheiligte Ge¬
liebte zu entehren und zu entführen. „Töne
her, aber weiche, gute“ rief er und ließ ſich
vom Zephyr der Harmonie umwehen und trank
unaufhörlich „Leichentrunk“ oder Wein; bei¬
des zum Verdruſſe des Ritters, der das Trin¬
ken verabſcheuete und die Muſik vermied, weil
dieſe oder beide weich machten.


[408]

Er legte ſich auf den Raſen und die Pi¬
ſtole neben ſich und ſagte ſtammelnd: „ſo lieg'
ich denn in der warmen Aſche meines aufge¬
brannten Lebens — und meine kalte kommt
dazu — (Er legte ſeine Doppellorgnette an die
Augen feſt und blickte funkelnd hinüber zu
Linda) Ich habe ſie am Herzen gehabt, die
göttliche Schönheit, meine ewige Liebe; meine
Tulpe, die ſich nun am Abend über der Biene
ſchließet, damit ſie im Blumenkelche ſterbe —
auf den Raſen meines Abends ruh' ich und
ſterb' ich — Ich ſchaue die Holde noch ſeelig
an — Ich kann nicht bereuen — Vergieb nur,
armer Carlos, ich ſtreiche die Schuld mit Blut
durch, aber mit Buß-Thränen kann ich nicht
— Sollte ſich am Ufer der Ewigkeit das, was
die Zeit an dieſem Ufer abſpühlt, wieder anle¬
gen: ſo hab' ich's dort ſchlimm, ich kann mich
dort ſo wenig ändern als hier.“ —


Jetzt geſchah in der Stadt ein Kanonen¬
ſchuß, um einen Deſerteur anzukündigen. Er
nahm ſeine Piſtole in die Hand: „ja ja, ein
Schuß bedeutet einen Flüchtling, — auch aus
der Welt — O wenn hebt ſich die ſcharfe Si¬
[409] chel *) am Morgen und zerſchneidet das Le¬
ben! Ich bin ſo müde.“ Er ſah nach dem
Morgenhimmel, aber ein Gewitter, das ſchon
leiſe donnerte, überzog die Pforte des Monds.
Er lächelte bitter:


„Auch dieſe kleine letzte Freude mißgönnt
mir das Geſchick! Ich ſoll den Mond nicht
mehr ſehen — Nun, ich werde wohl höher
kommen als er und ſein Gewitter — Nur wer¬
den mir meine lieben Zuſchauer und Zuhörer
des Todes durch den Regen vertrieben — Ja!
biſt du aus, ſo bin ich aus!“ Er zeigte auf
die Flaſche.


„Wilde, gräßliche Töne aus der Tiefe her¬
auf! — Mein blutiges Brautkleid her! Es iſt
Zeit, die abgehende Freude wirft einen langen,
wachſenden Schatten hinter ſich.“ Albano und
Julienne erkannten erſtarrend im kleinen Rocke,
den man ihm brachte, den mit Blut beſpritzten,
den er auf der Redoute getragen, wo er als
Knabe ſich vor Linda ermorden wollen. „Sie
ſollen es auf meine kalte Bruſt legen“ ſagt'
[410] er, da ers von Falterle empfieng. Der Donner
zog näher, die Blitze wurden glühender und
ans Gewitter wuchs eine Wolke nach der an¬
dern. Er trank die Gläſer ſchnell. „Schaden
kann's mir jetzt nichts, (ſagte er,) auch der
Blitz nicht ſonderlich, ob ich gleich unter Bäu¬
men liege — in dieſer Röhre ſteckt ein Blitz
gegen alle Blitze, ein rechter Gewitterableiter.“
— Das eilende Wetter drängte ihn der Zu¬
ſchauer wegen zum Ziel und er wurde zornig
empört vom Spotte des Zufalls über ſeine thea¬
traliſchen Zurüſtungen.


„Nichts iſt luſtiger und paſſender als dies
Gewitter, (ſagte Gaſpard,) indeß ſcheint ihn
das Reden und Warten ziemlich zu ergötzen.“
Die andern Zuſchauer wurden von der Szene
gepeinigt und doch riß ſich keiner los. Den
Mitſpielern war befohlen, den Schuß als das
Merkwort zu nehmen und nicht früher zu kom¬
men. Er ſagte: „die Todesſchlange klappert
in der Nähe — dort auf der Zukunft ſchwimmt
die Leiche heran“ — Man hörte, daß er durch
einander ſprach und aus dem Stegreif, vom
Gewitter gequält. Er ſah die Piſtole an: „dein
[411] Aufblick! ſo iſt der Blick des Lebens gethan und
wieder unter dem Augenlied — Ein Funke, ein
einziger Funke, ſo iſt der Theatervorhang hin¬
aufgelodert und ich ſehe die Zuſchauer ſtehen,
die Geiſter — oder auch nichts und den weiten
Äther der Welt füllt die ewige ſchwere Wolke
— So ſteh' ich denn am todten Meer der
Ewigkeit, ſo ſchwarz, ſtill, weit, tief liegt's
unter mir, ein Schritt und ich bin drinnen und
ſinke ewig — Meinetwegen! Ich ſchwamm ja
vor der Geburt auch drinnen. — — Nu nu —
(ſagt' er, indem es tröpfelte und er nahm das
letzte Glas,) der Regen will den armen Er¬
kaltenden erkälten — Spielt jetzt etwas Sanf¬
tes, Schönes, ihr guten Leute!“ —


Darauf ſpannte er den Hahn des Ge¬
wehrs, ſtand auf, ſagte weinend: „lebe wohl,
ſchönes und hartes Leben! — Ihr paar ſchö¬
nen Geſtirne, die ihr oben noch niederblickt,
mög' ich euch näher kommen — Du heilige
Erde, du wirſt noch oft beben, aber der nicht
mehr mit, der in dir ſchläft — Und ihr guten
fernen Menſchen, die ihr mich liebtet, und ihr
nahen, die ich ſo liebte, es geh' euch beſſer als
[412] mir und verdammt mich nicht zu hart, ich
ſtrafe mich ja ſelber und Gott richtet mich ſo¬
gleich — Lebe wohl, mein lieber beleidigter
aber ſehr harter Albano, und Du, Du bis in
den Tod heiß geliebte Linda, verzeihet mir und
beweinet mich!“ —


„Liane, lebſt Du noch, ſo ſtehe Deinem
Bruder in der letzten Stunde bei und bitte bei
Gott für mich.“ Hier drückte er ſchnell das
Gewehr an der Stirne ab und ſtürzte hin, ei¬
niges Blut floß aus dem zerſpalteten Kopfe
und er athmete noch einmal und dann nicht
mehr.


Bouverot flog nach ſeiner Rolle heraus
und fieng ſie an: „eben, mein lieber Hiort,
beſinnt ſich mein Carlos;“ aber er fuhr zurück
vor der Leiche, ſtammelte: „mais! — Mon
dieu
! il s'est tué re veradiable, il est
mort
Oh qui me payera?“ *)— Linda ſank
ohnmächtig an Juliennens Buſen und dieſe
[413] ſtammelte: „o der Sünder und Selbſtmörder!“
— Die Fürſtinn rief erzürnt: „oh le traitre!“
— Albano ſchrie: „ach Karl! Karl!“ und ſtürzte
in den See und ſchwamm hinüber — warf
ſich über die zertrümmerte Geſtalt — und jam¬
merte weinend: „o hätt' ich das gewußt! —
Bruder und Schweſter todt — und ich bin
ſchuld — o! wäre ich unglücklich geblieben —
ach mein Karl, Karl vergieb — Ich war nicht
Dein Feind — wie er jammervoll zerworfen
da liegt, der große Tempel!“ — „Sey doch
ruhiger, (ſagte Gaſpard — der endlich im
Kahne herübergekommen war und der mit ei¬
ner anatomiſchen Kälte und Neugier jede Ver¬
ſtümmlung ertrug —) er hatte auch ſeine Re¬
gimentsſchulden und fürchtete die Unterſuchung
bei einer neuen Regierung — Jetzt kann man
doch Reſpekt vor ihm haben, er hat ſeinen Ka¬
rakter wirklich durchgefühlt.“


Albano richtete ſich auf und ſagte in der
Taubheit der Quaal: „wer ſprach das? Ihr,
jammervoller Bouverot, Ihr kennt nur Schul¬
den!“ „Monsieur le Comte!“ ſagte dieſer tro¬
tzig. „Ich ſagt' es,“ ſagte Gaſpard zum Sohn.
[414] — „O mein Dian, (rief Albano und ſtreckte
die Hand nach dieſem aus, der ſeine weinende
Chariton ſelber weinend hielt,) komme Du her,
laß uns ihn verbinden, es kann ja helfen.“


Zur beſtürzten Fürſtinn, welche an ihrem
Ufer blieb, trat der Kunſtrath Fraiſchdörfer mit
den Worten, die ableiten ſollten: „von der
bloßen Seite der Kunſt genommen, wäre die
Frage, ob man dieſe Situazion nicht mit Effekt
entlehnte. Man müßte wie im genialiſchen
Hamlet ein Schauſpiel ins Schauſpiel flech¬
ten und in jenem den ſcheinbaren Tod zum
wahren machen; freilich wär' es dann nur
Schein des Scheins, ſpielende Realität in reel¬
lem Spiel und tauſendfacher, wunderbarer Re¬
flex! — Aber wie es jetzt regnet!“ — Der
Fürſtinn wurde von ihrer Haltermann etwas
ins Ohr geſagt — ſie fuhr auf, mit Armen
und Tönen: „oh monstre! homicide! Mein
armer, unſchuldiger Gibbon! — Du Unthier!“
— Den Affen-Mord hatte ſie gehört und ſchied
untröſtlich.


Auf einmal trat ins tiefe Blau der ent¬
blößte Mond und jeder merkte ihn, aber das
[415] Regnen vorher halte niemand außer Fraiſch¬
dörfer wahrgenommen. Albano ſah nun die
todten Augen und weiſſen, ſtarren Lippen recht
deutlich: „nein, ſie regen ſich nicht“ ſagt' er.
Da klang es wie aus Roquairol's Bruſt und
eiſernem Mund: „ſeyd ſtill, ich werde gerich¬
tet!“ Und ſogleich fieng, die Dohle als Schluß-
Chor des letzten Aktes an: „der Arme ruht
nun feſt und Ihr könnt ihn zudecken!“ —


Gaſpard ſah ſeinen Bruder ſehr ernſt an:
„Bei Gott! (erwiederte dieſer) ſo ſteht in ſei¬
nem Stück.“


Der ganze Sternenhimmel klärte ſich auf.
Die Geſellſchaft fuhr nach Hauſe. Albano und
Dian mit Chariton blieben bei der Leiche.


[416]

Drei und dreißigſte Jobelperiode.

Albano und Linda — Schoppe und das Portrait —
das Wachskabinet — das Dual — das Toll¬
haus — Leibgeber.

131. Zykel.

Albano wollte am Tage darauf ſich einker¬
kern, bitter weinen und büßen, und ſich nicht
erquicken durch den Sonnenſchein der Liebe;
aber er fand abends folgendes von unbekann¬
ter Hand geſchriebene Blatt auf ſeinem Tiſch:


„Herr Graf! Man benachrichtigt Sie hie¬
mit, daß Freitags Nachts, da Sie verreiſet
waren, der ſeel. Hauptmann R. v. Froulay
Ihre Rolle bei der Gräfinn Romeiro durch
alle Akte durch im Flötenthal geſpielt. Sie
müſſen[417] müſſen ſich der Nebenbuhler wegen eine an¬
dere Stimme und der Gräfin Nachts Augen
ſchaffen, wiewohl es dieſer nicht ſo ganz un¬
angenehm ſeyn mag, ſich auf dieſe Weiſe öf¬
ters in Ihnen zu täuſchen. Leben Sie wohl
und künftig ein wenig beſcheidener!“


Bleich ſtarrte er das Todtengerippe an, das
zwei Rieſenhände gewaltſam aus blühenden
jugendlichen Gliedern auf einmal herausgezogen
emporhielten. Aber das Feuer der Pein ſchoß
ſchnell wieder auf und erleuchtete den Jammer
rings umher. Mit ſchmerzlicher Gewalt, mit
blutigen Armen mußte ſein Geiſt den felſen¬
ſchweren Gedanken, den Leichenſtein ſeines Le¬
bens hin und her werfen, um zu prüfen, ob
er ſich einfüge in die Todtengruft: — in Ro¬
quairol's ganzes Spiel und Ende und Leben griff
der Jammergedanke ſo faſſend ein — aber wieder
nicht in Linda's Karakter und in den göttlichen
Augenblick, den er mit ihr in Lianens letztem
Garten zugebracht — und doch wieder ſehr in
ihre ſchnelle Verſöhnung und in einzelne Worte
— und gleichwohl war vielleicht dieſes vergif¬
tete Blatt nur eine Frucht der rachſüchtigen
Titan IV. D d[418] Fürſtinn, von deren Zorn über Roquairol's
eignen und Affen-Mord ihm Dian erzählet
hatte.


So ſchmerzlich bewegte er ſich auf ſeinen
Wunden hin und her und entſchloß ſich, noch
dieſen Abend Linda aufzuſuchen, wo ſie auch
ſey: als er von ihr dieſes Briefchen bekam:


„Komme doch dieſen Abend zu mir ins
Elyſium; er wird gewiß heiter ſeyn. Jetzt lad'
ich ein wie Du neulich. Du ſollſt mich auf die
ſchönen Berge führen, und es ſoll mir genug
ſeyn, wenn Du nur ſehen und genießen kannſt.
Julienne brauchen wir immer weniger. Dein
Vater dringt auf unſere Verbindung durch
Vorſchläge, die Du heute hören und wägen
ſollſt. — Komme unausbleiblich! — In mei¬
nem Herzen ſtehen noch ſo viele ſcharfe Thrä¬
nen über das böſe Trauerſpiel. Du mußt ſie
verwandeln in andere, Du Geliebter!


Die Blinde.“


Er lachte über das Verwandeln; „in ge¬
frorne eher,“ ſagt' er. Die heiſſe Liebe war ihm
ein heftiger Kuß in die Wunde. Er gieng nach
Lilar, dumpf, haſtig, tief in einen rothen
[419] Mantel gewickelt wie gegen böſes Wetter, —
blind und taub gegen ſich und die Welt —
und wie ein Menſch, der ſtirbt, den Augen¬
blick erwartend, wo er entweder vernichtet hin¬
abraucht oder neu belebt in göttliche Welten
hinein fliegt.


Als er Lilar betrat, verzerrte ſich der Gar¬
ten nicht wie neulich ſondern er verſchwand ihm
bloß. Er gieng nahe an einigen vermummten
Leuten vorüber, die ein Grab zu machen ſchie¬
nen: „Unrecht iſt's doch, (ſagte einer davon,)
er gehört auf den Anger wie jedes Vieh.“ Al¬
bano blickte hin, ſah eine bedeckte Leiche, glaubte
ſchaudernd, es ſey der Selbſtmörder, bis er den
zweiten Gräber ſagen hörte: „ein Affe, Peter,
wenn er vornehm gehalten wird, in Kleidern,
ſieht reputirlicher aus als mancher Menſch,
und ich glaube, er ſtände auch wieder von
Todten auf, wenn man ihn nur ordentlich
taufte.“ —


Eben da ihm der Gibbon der Fürſtinn,
der hier begraben wurde, wieder jenen gewit¬
tervollen Freitag vor die Seele zog: erblickte
er Linda, unweit des Traumtempels am Arme
D d 2[420] einer ſehenden Kammerfrau. Sie grüßte ihn,
nach ihrer Weiſe vor andern, nur leicht, ſagte
zur Frau: „Juſta, bleib' nur hier im Traum¬
tempel, ich gehe hier auf und ab.“


Durch dieſe Einſchränkung auf die Perſpek¬
tive des Traumtempels ſchloß ſie jedes ſchöne
ſichtbare Zeichen der Liebe aus und Albano
kannte an ihr ſchon jene ſtille Zufriedenheit mit
der bloßen Gegenwart des Geliebten ſo wie
zuweilen die Wildheit ihres ſüßen Mundes.
Als er ſie zitternd berührte und nahe neben ſich
wiederſah: ſo überfiel ihn dieſes Weſen voll
Macht mit der ganzen göttlichen Vergangen¬
heit. Aber er verzögerte nicht die Frage der
Hölle: „Linda, wer war Freitag Abends bei
Dir?“ „Niemand, Guter; wenn?“ verſetzte
ſie. — „Im Flötenthal“ — ſtammelte er.
„Mein blindes Mädchen“ antwortete ſie ru¬
hig. — „Wer noch?“ fragte er. — „Gott!
Dein Ton ängſtigt mich; (ſagte ſie,) Roquai¬
rol brachte in jener Nacht den Affen um. Iſt
er Dir begegnet?“ —


„O ſchrecklicher Mörder! — Mir? (rief er.)
Ich war verreiſet die ganze Nacht, ich war
[421] mit Dir in keinem Flötenthal“ — — „Sprich
aus, Menſch, (rief Linda, ihn an beiden Hän¬
den mit Heftigkeit ergreifend,) ſchriebſt Du mir
nicht die rückgängige Reiſe und kamſt?“ —
„Nichts, nichts, (ſagt' er,) lauter Höllenlüge.
Das todte Ungeheuer Roquairol brauchte meine
Stimme — Deine Augen — und ſo iſt's —
ſage das Übrige.“ — „Jeſus Maria!“ ſchrie
ſie von der Schlagfluth getroffen, worein die
ſchwarze Wolke zerriß — und griff mit beiden
Armen durch die Laubzweige des Laubengangs
und preßte ſie an ſich und ſagte bittend: „Ach
Albano, Du biſt gewiß bei mir geweſen.“


„Nein, bei dem Allmächtigen nicht! —
Sage das Übrige,“ ſagt' er. — „Weiche auf
ewig von mir, ich bin ſeine Wittwe!“ ſagte
ſie feierlich. — „Das bleibſt Du,“ ſagt' er hart
und rief Juſta aus dem Traumtempel.


„So lebt er fort, Dein Schmerz, mein
Schmerz, ich ſehe Dich nie mehr. Ich will Le¬
bewohl zu Dir ſagen. Sage Du keines zu mir!“
Sie ſchwieg und er gieng. Juſta kam, und er
hörte ſie noch in der Laube beten: „Laß, o
Gott, mir dieſe Finſterniß morgen, verſchone
[422] mit deinem Tageslicht die ſchwarze Wittwe!“
Das Mädchen weckte ſie auf, nahm ſie an der
Hand und ſie freuete ſich am Arm derſelben
ihrer Nachtblindheit.


Albano gieng in die Nacht. Auf einmal
ſtand er wie hinaufgetragen auf einer jähen
Felſenpitze, unten ſchlug ein ſchäumender Strom.
Er kehrte ſich um und ſagte: „du irreſt dich,
böſer Genius; mich ekelt des Selbſtmords, er
iſt zu leicht und gehört für Affen-Mörder —
aber es giebt etwas Beſſeres, und du ſollſt
mich begleiten.“


Er verirrte ſich — konnte den Weg zur
Stadt nicht finden — glaubte wieder in Lilar
zu ſeyn und trieb ſich bange umher ohne Aus¬
weg, bis er zuletzt ermüdet niedergezogen in
den Arm des Schlummers ſank. Als er er¬
wachte am Morgen: war er im Prinzengarten
und die Schlummerinſel wehte mit ihren Gi¬
pfeln vor ihm. Eine jähe Felſenſpitze über ei¬
nem reiſſenden Strom gab es in der ganzen
Landſchaft nicht.


Er ſah den Himmel an und den Tag und
ſein Herz. „Ja, ſo iſt denn das Leben und
[423] die Liebe (ſagt' er)! Ein gutes, rechtes Feuer¬
werk, beſonders wenn man eine Linda durch
viele Zurüſtungen haben ſoll! Lange ſteht es
da mit einem bunten hohen Schaugerüſt, voll
Statuen, mit kleinern Gebäuden, Säulen und
wunderlich und verſpricht noch mehr als es
ſchon verkleidet und verräth — Dann kommt
die Nacht in Jschia, ein Funke ſpringt, die
Formen reiſſen, es ſchweben weiſſe, helle Pal¬
läste und Pyramiden und eine hängende Son¬
nenſtadt am Himmel — in der Nachtluft ent¬
faltet ſich gewaltig eine rege fliegende Welt
zwiſchen den Sternen und füllt das Auge und
das arme Herz und der glückliche Geiſt, ſelber
ein Feuer zwiſchen Himmel und Erde, ſchwebt
mit — — Einen ganzen Augenblick lang, dann
wird's wieder Nacht und Wüſte und am Mor¬
gen ſteht das Gerüſt da, dumm und ſchwarz.“ —

132. Zykel.

„Krieg“ — dies Wort allein gab Albano
Frieden; Wiſſenſchaft und Dichtkunſt ſteckten ihm
ihre Blumen nur in ſeine tiefen Wunden. Er
rüſtete ſich zur Reiſe nach Frankreich. Nur et¬
[424] was verſchob noch den Aufbruch, Schoppens
Ausbleiben, den er mit ſeinen Räthſeln erwar¬
ten mußte und, wo möglich, mit entführen
wollte. Er hielt ſich den ganzen Tag in Wäl¬
dern auf, um ſeinem Vater und Juliennen
und jedem zu entgehen. Linda's unglückliche
Nacht wurde tief in ſeine Bruſt hinabgeſenkt,
und nur er allein ſah hinunter, kein Fremder.
Er wünſchte, daß ſie ſelber gegen Julienne
ſchweige, weil dieſe nach ihren frommen weibli¬
chen Ordensregeln hiegegen keine Nachſicht kann¬
te. In ſeiner Seele hatte jetzt die erſte eiferſüchtige
Aufbrauſung einem ſchmerzlichen Mitleiden mit
der betrognen Linda, deren heiliger Tempel
ausgeraubt da ſtand, Platz gemacht. Was
ihn unleidlich ſchmerzte, war das Gefühl der
Demüthigung, mit welchem die ſchöne Stolze
nun, wie er glaubte, an ihn denken mußte,
und das er bei ſeiner jetzigen bittern Verach¬
tung Roquairol's deſto ſtärker annahm. „Nie,
nie, wenn ſie auch meine Schweſter würde,
dürfen wir uns mehr erblicken; ich kann ſie
wohl blutend vor mir ſehen, aber nicht ge¬
beugt,“ ſagt' er ſich. Zuweilen überfiel ihn
[425] ein kalter Grimm gegen das Verhängniß, das
immer mit einem ſchnellen Wirbelwind zwiſchen
ſeine Umarmungen fuhr und alles auseinander
drängte — bald ein Zorn gegen Linda, die
nicht wie eine Liane gehandelt hatte und die
den Irrthum der Verwechslung durch ihren
Grundſatz, der Liebe alles zu vergeben, ſelber
mit verſchuldete — bald inniges Mitleiden, da
ſie ohne alle geiſtige Ähnlichkeiten nicht hätte
verwechſeln können, wie ihm das heimliche Ge¬
richt des Gewiſſens ſagte, und da ſie nun al¬
lein [dafür] büßte, daß ſie ihm, ihm ſich opfern
wollte.


Unausſprechlich haßte er den todten Ver¬
führer, weil durch ſeine That ſein Tod nur
zu einer feigen Flucht geworden war. Den
armen Deſerteur, deſſen Entwiſchen unter dem
Trauerſpiel laut geworden, ſah er gefangen
vor ſich vorüber führen; aber der Hauptmann
deſſelben war auf immer der Rache entronnen.
Nach einigen Tagen wurden ihm Papiere von
dem Todten zugeſtellt; aber er ſah ſie voll Ab¬
ſcheu nicht an. Sie enthielten Rechtfertigungen
und zugleich Nach-Sünden. Roquairol hatte
[426] nach der Freuden-Nacht den ganzen Morgen
lm Prinzengarten ſchreibend verlebt, um die
Erinnerung zu koloriren, die allein ihn, ſchrieb
er, belohnet und beredet habe, daß er nicht
ſchon in der Nacht den fünften Lebens-Akt
ausgeſpielt.


Der Lektor gab in Albano's Abweſenheit
kleine Briefe von Juliennen ab, worin ſie ihn
um ſeine Erſcheinung bat und ihm Ort und
Zeit im Schloß beſtimmte, wohin ſie aus Lilar
gezogen war. Er kam nicht. Sein Vater ſchien
ſich nichts um ihn zu bekümmern. Zuweilen
kam ihm vor, als wenn ferne Spür-Menſchen
ihn in weiten Kreiſen umſchlichen.


Einſt ſtand er abends noch unten an einem
Waldhügel, als er oben einen herausſchreiten¬
den Wolf erblickte — der Wolf ſah ihn, ſprang
zu ihm herunter und wurde Schoppe's Wolf¬
hund — bald trat oben ſein Freund ſelber mit
einem alten Manne aus den Bäumen heraus
— erblickte ihn, gab dem Manne ſchnell Geld
und gieng langſamer zu ihm herunter als er
zu ihm hinauf. „Ei, einen guten Abend, Al¬
bano,“ ſagte Schoppe mit der alten Kälte,
[427] womit er ſprach, wenn er nicht ſchrieb, und lä¬
chelte dabei, aber mit ſo vielen Linien, daß er
Albano ganz fremd erſchien. Albano preßte
ihn heftig ans Herz und verwandelte die heis¬
ſen Worte, die jener nicht liebte, in heiſſe Thrä¬
nen. Es war ein alter Stern aus dem Früh¬
lingsmorgen, wo ſeine Liane noch lebte und
liebte; er gieng ihm unter an einem Grabe in
jener Reiſe-Nacht; jetzt gieng er auf und Al¬
bano war wieder unglücklich.


Schoppe beſah mit ſichtbarem Wohlbeha¬
gen Albano's gereifte Geſtalt und zog gleich¬
ſam deſſen ſchimmernde Flügel auseinander:
„Du haſt Dich (ſagt' er) recht gut geſtreckt
und angefärbt — haſt Mai und Auguſt auf
Einem Aſt, wie ein Pomeranzenbaum.“ Al¬
bano hatte keine Freude darüber: „erzähle mir
nur Dein Leben, mein Bruder,“ ſagte er. —
„Ich dächte, Du erſt Deines, ich bin müde bis
zur Dummheit“ ſagte Schoppe, indem er ſich
ſetzte und ſeine Jagdtaſche aufſchnallte. „Künf¬
tig (verſetzte Albano). Was Du brauchſt, will
ich Dir ſagen — ich bekam Deine Briefe —
ich liebte wirklich die Bewußte — ein Unglück
[428] trennte uns — ich bin unſchuldig, und ſie iſt
groß — o Gott, ſey heute damit zufrieden!“
Nie konnt' er ſeinen Freunden Schmerzen kla¬
gen; noch weniger jetzt das Unglück einer Ge¬
liebten entblößen. „Noch länger, (verſetzte
Schoppe,) nur ſage, ſetzt es neues Elend,
wenn ich die Beweiſe für eure Schweſter- und
Bruderſchaft aus Spanien mitbringe und aus¬
packe?“ — „Nein, (ſagte Albano,) ich brau¬
che über keine Vergangenheit zu erſchrecken.“
— „Du gehſt noch nach Frankreich?“ fragte
Schoppe. „Morgen, wenn Du mitgehſt,“ ver¬
ſetzte Albano.


„Allerdings als Deine Feldpredigerei —
Nicht aus Mangel an Kunſtgeiſt, wie Du aus
Rom ſchreibſt, ſondern aus Überfluß daran
gehſt Du unter die Soldaten. Ich ſäh' es
gern, wenn Du bedächteſt, daß auch Dante,
Zäſar, Cervantes, Horaz vorher dienten, eh
ſie koſtbar ſchrieben — nur Studenten kehrens
um und dichten etwas Kurzes und Gutes und
nehmen ſpäter Dienſte. — Auf meine Reiſe zu
kommen, ſo koſtet's mich ſchon viel, nämlich
Zeit, wenn ich Dir erzähle, daß ich Deinen
[429] närriſchen Oheim mit einem Wagen Gepäck im
Neſte Ondres anderthalb Poſten von Bayonne
ertappte. Ich geſtand ihm, ich gienge nach
Valencia, um die daſigen Seidenſtrumpfwür¬
kerſtühle zu zergliedern, meinen Tropfen Eis
und eine Weſtentaſche voll Valenz-Mandeln
dabei zu genießen und die wenigen Profeſſoren
zu beſuchen, die beſſere Kompendien für 3000
Realen geliefert*). Er komme vor mir gewiß
an, ſagt' er. Wir beſtellten uns in Einen Gaſt¬
hof in Valencia. Mir war an ihm gelegen,
da er mich am leichteſten einführen konnte in
Romeiro's Haus. Aber ich paßte da 14 Tage um¬
ſonſt auf ihn. — Bei dem Haushofmeiſter fand
ich kein Gehör, ob ich ihm gleich ſeinen dum¬
men Schatten fünfmal mit der Bitte ausſchnitt,
einem reiſenden Mahler das Bilderkabinet auf¬
zuſperren, wo ich das mütterliche Bild der Grä¬
finn ſuchte.


[430]

Jetzt war ich halb und halb entſchloſſen,
ſchwanger zu werden und in dieſem Habit al¬
les für meine Sehnſucht zu fordern, was ſel¬
ber der ſpanische König keiner Schwangern ab¬
ſchlägt*). In Italien hat man das Kind auf
dem Arm, um zu erbitten; in Spanien braucht's
dieſe Sichtbarkeit nicht einmal. Aber zum Glück
kam der Oheim. Die Bilderkabinetsthür wurde
aufgethan. Ich machte mich ans Kopiren, —
eines dummen Küchenſtücks — und ſchauete
überall nach meinem Inſel-Portrait. Aber
nichts war zu ſehen — (Hier zog er ein höl¬
zernes Futteral aus der Jagdtaſche und legt'
es vor ſich und fuhr fort): bis ich's ſah
zuletzt — ein Bild lehnte auf der Diele an
der Wand, mir die Winter- und Hinter¬
ſeite zuweiſend — — es war mein Pinſel-
Kind und ſeine Zurückſetzung gieng mich an
— verdrüßlich und ruhig ſteckt ich's bei —
und ſchnappte im Küchenſtück mitten in einem
[431] halben Iltis ab — — Sieh das Bildniß
an!“ —


Er zog den Futteral-Deckel davon ab —
und Linda ſtrahlte ſeinen Freund mit einem
Strom von Geiſt und Reizen an, nur in äl¬
tere Tracht gehüllt. Albano konnte kaum ſtam¬
meln vor Bewegung: „das wäre meines Va¬
ters Gemahlinn und meine theuere Mutter?
Und Du weißt gewiß, daß dieſes hier das Bild
iſt, das Du auf Jsola bella von ihr gemacht?“ —


„Eben thu' ich's dar!“ (ſagte er und ſcheu¬
erte an einer Roſe des Bildes auf der Stelle
des Herzens.) Mein damaliger Paphos-Name
Löwenskiould ſteckt sub rosa und wird gleich
vorkommen. Hätt' ich ihn ſchon unterwegs
aufgekratzt, ſo hättet Ihr geglaubt, ich hätte
mich erſt unterwegs hineingeſchrieben.“ — Wie
vor einer ſchreibenden Geiſterhand ſchauderte
Albano zurück, als wirklich ein L und ö unter
der Roſe vortraten: „weiter ſchab' ich (ſagte
Schoppe) nicht vor, das Übrige heb' ich Ihr
auf.“ Albano goß nun vor ſeinem biedern
Herzensfreund ſein Herz aus; ihm durft' er ſa¬
[432] gen und einwenden, daß Julienne ſeine Schwe¬
ſter ſey — „wogegen ich gar nichts habe“
ſagte Schoppe — und daß Gaſpard eine künf¬
tige Heirath zwiſchen ihm und Linda geneh¬
migt habe: „es iſt kein Ausweg, (ſetzt' er da¬
zu,) iſt ſie ſeine Tochter, ſo bin ich nicht ſein
Sohn — ich kann ſein heiliges Ehrenwort un¬
möglich zur Lüge machen — und Gott! in
welchen ungeheueren Laſterpfuhl müßte man
dann ſchauen.“ — „Anlangend das Wort und
den Pfuhl, (ſagte Schoppe ganz kalt,) ſo las¬
ſen ſich, wiewohl ich überflüſſig doch mit Dei¬
nem Vater vorher aus der Sache ſpreche und
vorher mit der Gräfinn, wahrſcheinliche Be¬
weiſe führen, daß der Kahlkopf, der wie er
mir ſelber beichtete, Deines Vaters Meßhelfer,
Braut- und Bärenführer geweſen, kein Mann
von den friſcheſten Sitten war, ſondern daß
er — obwohl ſonſt in viele Sättel gerecht, den
moraliſchen ausgenommen — ſeine Stunden
und Jahrhunderte hatte, wo er als ein ſolcher
Hund und Strauchdieb handelte, daß mein
Hund da ein Monatsheiliger gegen ihn iſt und
ein Kirchenvater. Ich hätt' ihm nur das Le¬
benslicht[433] benslicht nicht ausblaſen ſollen, das freilich
mehr ſtank als glomm.“


Albano konnt' ihm ſeinen Schauder über
die That nicht verhehlen. „Ich kann nichts be¬
reuen, höre“ ſagte Schoppe und berichtete die¬
ſes: „Schon in Valencia erzählte mir Dein
Oheim, daß er in Madrid einen Kerl ſo und
ſo — ganz wie der Kahlkopf — angetroffen, der
ein Wachsfigurenkabinet von lauter Tollen an¬
führe und herumzeige; oft ſpreche das ganze
Kabinet und er ſitze ſelber mit darin als Wachs
und helfe reden — Dein abergläubiger Oheim
warb und lieh ihm Geiſter dazu und machte
böſe und fürchterliche Sachen daraus.“


„Einſt in einer Posada hört' ich im Schlaf¬
zimmer neben dem meinigen allerlei Stimmen
durch einander murmeln und ſagen: „„Schop¬
pe kommt auch zu uns.““ Ich ſtand auf, das
fremde Zimmer war zugeſchloſſen. Ich hör' es
wieder, das teufliſche: „„Schoppe kommt auch
herein.““ Meine Stube hatte einen Erker,
aus dem konnt' ich durch das nahe Fenſter in
die Murmel-Stube bei dem Mondlicht ſehen.
In Graus und kraus ſaß ſämmtliches Wachs
Titan IV. E e[434] drinnen und ließ ſich hören, der wächſerne Kahl¬
kopf mitten darunter, ich ſuchte aber den leben¬
digen auf. Die Wachs-Beſtien wechſeln ge¬
gen einander ihre fixen Ideen aus und mich
wechſeln ſie ein — „„dort guckt unſer Ehren¬
mitglied herein““ ſagte der Wachs-Kahle. —
Bei Gott! ich muß kurz ſeyn, mir brennt das
Blut wieder durchs Herz. — Ich wüthe, hole
Geſchoß und erſuche Gott um ein verträgliches
Gemüth, das nachgiebt. Zum Unglück merk'
ich hinten in einer mondleeren Ecke neben ei¬
nem Vater des Todes und einer Schwangern
von Wachs einen ſchwarzen Mantel, der ſich
legt und aus welchem der lebendige Tongeber,
der Kahlkopf, guckt. „„Schwarzer Bauch¬
ſprachmeiſter, (rief ich,) ſchweige um Gottes¬
willen, ich ſeh Dich dort hinten und ſchieße
hinein.““ — Ich hielt's für Bauchſprache.“


„Jetzt fieng erſt das Tollhaus recht an, ich
hörte es lachen — mich hineinrufen und einen
Kameraden und Klubiſten mich betiteln —
„„Präſes, (ſagt' ich,) ich bin bekanntlich ein
Menſch und ſeh Dich ganz deutlich““ — Es
half nichts, der wächſerne Kahlkopf verſetzte
[435] vielmehr: „„dort ſitzt ja Bruder Schoppe
ſchon““ und ich ſah wirklich auch mich bos¬
ſirt und pouſſirt alldort. — „„Hier iſt er
auch zu haben,““ rief ich grimmig und ſchoß
auf den Logenmeiſter hin, der blutend um¬
ſtürzte.“


„Ich machte mich in dieſer Stunde davon.
— Dem Oheim kam ich ſpäter in den Wurf
für kurze Zeit; er ſcheuet Tolle und wollte mich
aus Furcht, ich ſchlage ſelber dahinein, nicht
lange haben. Er befragte mich, ob mir der
Wachsfiguren-Direktor des fahrenden Tollhau¬
ſes aufgeſtoßen; ich konnt' ihm nur wenig an¬
vertrauen — behalt' es allein.“ — „Du biſt
ein wilder, treuer Menſch, (ſagte Albano mit
ſo innigem Wunſch, ihn zu umarmen,) Du
thuſt viel für andere und biſt doch viel für
Dich. Ich kann Dich nun nicht mehr laſſen.
Meine vorige Lebens-Inſel mit allen Blumen
ſteht tief unter Waſſer; und ich muß mich ins
unendliche Weltmeer werfen; gieb mir Deine
Hand und ſchwimme mit. Wir reiſen morgen
nach Frankreich!“ —


„Morgen? (ſagte Schoppe.) Ja wohl!
E e 2[436] ſo geh' ich heute abends zur Gräfinn und dann
zu Don Ceſara.“ — „Sag' ihr (bat Albano),
daß ich ſie auch als Bruder, wenn ich's wür¬
de, nicht beſuche, nicht aus Kälte ſondern weil
ich ihr großes Gemüth verehre, ſag' ihrs —
und Gott helfe Dir.“ Albano wollte gehen
und ihn allein ins nahe Lilar wandern laſſen.
„Nein, begleitet mich, mein Herr; (ſagte Schop¬
pe ungeſtüm) ich habe den alten Kerl abge¬
dankt droben im Wald durch redliche Auszah¬
lung des Geleite-Geldes — und wäre jetzt al¬
lein vis-à-vis vis de moi.“ „Ich verſteh' Dich
nicht, (ſagte Albano,) wovor ſcheueſt Du
Dich?“ — „Albano (ſagte er leiſe und wichtig
und ſeine ſonſt geraden Blicke ſchlugen ſcheu
ſeitwärts und ſeinen lächelnden Mund umzin¬
gelten unzählige große Faltenkreiſe,) der Ich
könnte kommen, ja ja!“


Verwundert und fragend, wer das ſey,
blickte ihm Albano ins Geſicht. „Verflucht,
(ſagte Schoppe,) ich errathe Euch ganz gut,
Ihr haltet mich nicht für achtels ſo vernünftig
als Euch ſelber, ſondern für toll. Wolf, komm
herauf! Du Beſtie warſt häufig auf einſamen
[437] Wegen und Stegen mein Schirmvoigt und Teu¬
felsbanner gegen den Ich. — Herr, wer Fich¬
ten und ſeinen Generalvikar und Gehirndiener
Schelling ſo oft aus Spaß geleſen wie ich, der
macht endlich Ernſt genug daraus. Das Ich
ſetzt Sich und den Ich ſamt jenem Reſt, den
mehrere die Welt nennen. Wenn Philoſophen
etwas, z. B. eine Idee oder ſich aus ſich ab¬
leiten, ſo leiten ſie, iſt ſonſt was an ihnen, das
reſtirende Univerſum auch ſo ab, ſie ſind ganz
jener betrunkne Kerl, der ſein Waſſer in einen
Springbrunnen hinein ließ und die ganze Nacht
davor ſtehen blieb, weil er kein Aufhören hör¬
te, und mithin alles, was er fort vernahm,
auf ſeine Rechnung ſchrieb — Das Ich denkt
Sich, es iſt alſo Ob-Subjekt und zugleich der
Lagerplatz von beiden — Sapperment, es giebt
ein empiriſches und ein reines Ich — die letzte
Phraſis, die der wahnſinnige Swift nach She¬
ridan und Oxford kurz vor ſeinem Tode ſagte,
hieß: ich bin ich — Philoſophiſch genug!“ —


„Und was ſchließeſt Du Furchtbares aus
allem?“ ſagte Albano mit innigſter Trauer.
„Alles kann ich leiden, (ſagte Schoppe,) nur
[438] nicht den Mich, den reinen, intellektuellen
Mich, den Gott der Götter — Wie oft hab'
ich nicht ſchon meinen Namen verändert wie
mein Namens- und Thaten-Vetter Sciop¬
pius
oder Schoppe und wurde jährlich ein
Anderer, aber noch ſetzt mir der reine Ich merk¬
bar nach. Man ſieht das am beſten auf Rei¬
ſen, wenn man ſeine Beine anſchauet und ſie
ſchreiten ſieht und hört und dann fragt, wer
marſchirt doch da unten ſo mit? — Ewig re¬
det er ja mit mir; ſollt' er einmal leibhaftig
vor mir auffahren; dann wär' ich nicht der
letzte, der ſchwach würde und todtenblaß. Frei¬
lich braucht kein Hund Zahnpulver. Aber Kin¬
der ſollte man ſchminken, es ſtände und gien¬
ge. Ich für meinen Theil beobachte das Zeit¬
alter ſo ſo und lächle, weil ich nichts ſage;
man bricht Menſchen wie Servietten auf Tel¬
lern in ſchönſte, vielſte Formen, zu Schlafmü¬
tzen, zu Pyramiden, zu Kreuzſchnäbeln, Sap¬
perment, Albano, zu was denn nicht? Aber
die Folge, Bruder? — O Himmel die Folge?
Ich ſage nichts, verflucht, ich bin mausſtill wie
wenige — aber Zeiten können kommen, wo et¬
[439] wa ein Herr anmerkt, Menſchen und Muſik¬
noten, Muſiknoten und Menſchen, kurz und
gut und ſchlecht, bald iſt bei beiden der Kopf
oben, bald der Schwanz, wenns nämlich ſchnell
gehen ſoll. Das ſind Gleichniſſe, ich weiß wohl,
Beſter, aber die Bäcker kündigen das weiche
Gebäck durch ſteinernes oder tönernes im La¬
den an, Menſchen indeß ihre härteſten Sachen,
worunter das Herz gehört, durch ihre weichſten,
wozu Worte gehören.“


Stumm auf dieſe Ströme führte Albano
ihn an der Hand nach Lilar vor Linda's Woh¬
nung. Alles war an dieſer ohne Licht und
ſchwarz. „Sprich droben ſanft Dein Wort,
mein Schoppe, und morgen ziehen wir wei¬
ter!“ ſagte ſehr leiſe unten Albano ſcheidend
und ließ ihn ins finſtere Trauerſchloß allein hin¬
aufgehen. — „Welch eine Gegenwart!“ ſagte
Albano auf dem Rückweg durch den Garten.

133. Zykel.

Lange erwartete Albano ſeinen Freund am
andern Tag, niemand erſchien, kein Menſch
wußte von ihm. Am zweiten Morgen lief das
Gerücht, die Gräfinn ſey in der Nacht und
[440] Gaſpard am Morgen abgereiſet. „Hat Schop¬
pe beide durch Wahrheit fortgetrieben?“ fragt'
er ſich verlaſſen und allein. Vergeblich ſpürte
er Schoppen mehrere Tage nach; nicht einmal
geſehen war er worden. „Auch Du, lieber
Schoppe!“ ſagt' er und ſchauderte über die
Grauſamkeit des Schickſals gegen ſich. Als er
ſo über ſich und die ſtille dunkle Wüſte ſei¬
nes Lebens hinſah: ſo war ihm auf einmal,
als würde ſein Leben plötzlich erleuchtet und ein
Sonnenblick fiele auf den ganzen Waſſerſpie¬
gel der verfloſſenen dunkeln Zeit; es ſprach in
ihm: „was iſt denn da geweſen? Menſchen —
Träume — blaue Tage — ſchwarze Nächte —
Ohne mich hergeflogen, ohne mich fortgeflogen,
wie fliegender Sommer, den die Menſchenhand
weder ſpinnen noch befeſtigen kann. Was iſt
da geblieben? Ein weites Weh über das ganze
Herz — aber das Herz auch — Es iſt freilich
leer, aber feſt — unzerrüttet — heiß — Die
Geliebten ſind verlohren, nicht die Liebe, die
Blüthen ſind herunter, nicht die Zweige — Ich
will ja noch, wünſche noch, die Vergangenheit
hat mir die Zukunft nicht geſtohlen — Noch
[441] hab' ich die Arme zum Umfaſſen, und die Hand,
um ſie ans Schwerdt zu legen, und das Auge
zum Schauen der Welt — — Aber was unter¬
gegangen iſt, wird wieder kommen und wieder
fliehen und nur das wird Dir treu bleiben, was
verlaſſen wird, — Du allein. — Freiheit iſt
die frohe Ewigkeit, Unglück für den Sklaven
iſt Feuersbrunſt im Kerker — — Nein, ich will
ſeyn, nicht haben; Wie, kann der heilige
Sturm der Töne nur ein Stäubchen rücken,
indeß die roh' bewegte Luft Aſchenberge ver¬
ſetzt? Nur wo gleiche Töne und Saiten und
Herzen wohnen, da bewegen ſie ſanft und un¬
geſehen. So klinge nur fort, frommes Saiten¬
ſpiel des Herzens, aber wolle nichts ändern an
der rohen, ſchweren Welt, die nur den Winden
gehört und gehorcht, nicht den Tönen.“


Hier fand ihn der Lektor Auguſti, der
mündlich von der Prinzeſſinn Julienne inſtän¬
dige Bitten brachte, mit ihm in Gaſpards Zim¬
mer zu gehen, wo ſie ihm die wichtigſten Wor¬
te über Schoppen zu ſagen habe. Er gieng
leicht mit; über das bedeckte Schickſal ſeines
Schoppe erwartete er am erſten bei ihr Auf¬
[442] ſchluß; auch ſah er aus der kühnen Wahl des
Boten, wie wichtig der armen Schweſter ſeine
Erſcheinung ſey.


In Gaſpards Zimmer verließ ihn Auguſti
ſchnell, um ihn anzukündigen und — allein zu
laſſen. In ſeinem Leben gieng jetzt ein langer
Donner; kam er vom Himmel, von einem
Strome, oder nur von einer Mühle, das wußt'
er noch nicht. Julienne ſtürzte weinend herein,
konnte nicht ſprechen vor heftigem Herzen:
„Du gehſt fort?“ fragte ſie. „Ja!“ ſagt' er
und bat ſie ſehr, weniger heftig zu ſeyn; denn
er wußte, wie leicht ihn fremder Ungeſtüm an¬
ſteckte, da er ohne Zorn nicht einmal lange
Schach ſpielen oder fechten konnte. Sie flehte
ihn noch heftiger, nur zu bleiben, bis Gaſpard
wieder komme. — „Kommt er wieder?“ fragte
Albano. „Wie anders? Aber die Unwürdige
nicht“ ſagte ſie. — (verſetzt' er ernſt,)
o ſey nicht ſo hart gegen Sie wie das Schickſal
— und laſſe mich ſchweigen!“ — „Ich haſſe
jetzt alle Männer und Dich auch (ſagte ſie).
Das kommt aus poetiſchen Gemüthern heraus.
— O welche rechtſchaffene Braut hätte ſich ſo
[443] leicht von einem ſolchen Selbſtmörder verblen¬
den laſſen, welche? — Aber ich ſehe, Du weißt
nicht alles.“ — „Dient's aber zu was?“ frag¬
te er. —


Sie fieng, verwundert über dieſe Frage,
ohne Antwort die Erzählung an.


Am Tage, wo Albano Schoppen gefunden,
wollte Julienne ihre Freundin Linda, die ſie
ſeit dem Abende des Trauerſpiels nicht geſehen,
wieder beſuchen. Alle Zimmer in Lilar waren
dicht verhangen gegen den Tag. Julienne fand
ſie in der Finſterniß ſitzend, mit niedergeſenkten,
halboffnen Augen, äuſſerlich ſehr ruhig. Nur
in langen Zwiſchenräumen fiel eine kleine Thräne
aus den Augen heraus. Der reiſſende Strom
gieng hoch über die Räder ihres Lebens und
ſie ſtanden tief unter ihm ſtill. „Biſt Du es,
Julienne? (ſagte ſie ſanft.) Verzeih' die Fin¬
ſterniß; Nacht iſt für meine Augen jetzt Grün.
Es thut mir weh, etwas zu ſehen.“ Die Braut¬
fackel ihres Daſeyns war ausgelöſcht, nun woll¬
te ſie Nacht zur Nacht.


Julienne that bange Fragen der Verwun¬
derung; ſie gab keine Antwort darauf. „Iſt's
[444] ein Unglück zwiſchen Dir und meinem Bruder?“
fragte Julienne, in welcher die Verwandtſchaft
immer wärmer ſorgte als die Freundſchaft. „Er¬
warte nur den Ritter, (antwortete ſie,) ich hab'
ihn herbitten laſſen.“


Er trat eben herein. Sie bat ihn, ſich in
dieſe kurze Nacht zu fügen. Nach einigem
Schweigen ſtand ſie ſtolz vom Stuhle auf, die
ſchwarzgekleidete lange Geſtalt hob vor dem
Ritter, den ſie nicht ſah, die großen Augen
gen Himmel, ihr ſtolzes Leben, bis jetzt ins Lei¬
chentuch gewickelt, ſchlug das Tuch zurück und
ſtand blühend von Todten auf und ſie redete
den Ritter an: „verehrter Gaſpard, Sie ver¬
ſprachen es mir, ſo wie auch mein Vater, daß
dieſer an meinem Hochzeittage mir erſcheinen
werde. Der Tag iſt vorbei. — Ich bin eine
Wittwe. Nun erſchein' er mir.“


Hier unterbrach ſie der Ritter: „vorbei?
— O, ganz recht! Iſt er denn etwas geſcheu¬
teres und ſittlicheres als ein Menſch?“ — und
ſpottete wider ſeine Weiſe zornig-aufglühend,
weil er glaubte, voa Albano, dem er ſo lange
vertrauet, ſey die Rede.


[445]

„Sie verkennen mich, (ſagte Linda,) ich
ſpreche von einem Verſtorbenen.“ Vor Ju¬
lienne fuhr plötzlich Roquairol's Schatte, ferne
Anklänge der Fürſtinn hatten ihn eingeläutet:
„Allmächtiger Gott, (ſchrie ſie auf,) des ver¬
fluchten Selbſtmörders Spiel hat Wahrheit?“
— „Er ſpielte, was geſchah, (ſagte Linda ru¬
hig.) Wir brechen ab. Ich reiſe. Ich verlan¬
ge nichts als meinen Vater." — Hier hielt
Gaſpard den von Starrſucht verſteinerten Arm
wie von einem gezückten Dolch bewaffnet, ge¬
gen die Gräfin — die Finſterniß machte die
Erſcheinung ſchwärzer und wilder — aber er
brach das Eis des Todes wieder mit kalten
Händen entzwei und bewegte ſich und antwor¬
tete mit gelähmter Zunge: „Teufel und Gott!
Der Vater iſt da! — Der wird alles ſo neh¬
men — wie es iſt — Weiß Er's?“ — „Wer?“
(fragte Linda.) — „Und was beſchloß Er? —
Himmel! Albano nehmlich.“ — Gaſpard hatte
in der Leidenſchaft zugleich Cromwell's Blöd¬
ſinn der Zunge und deſſen Schlauſinn der Tha¬
ten; und blieb daher jeder Aufwallung, ſogar
der liebenden ſo gram und fern wie „der
[446] Dummheit, die ihm (wie er ſagte) noch viel
verhaßter ſey als das gerade Laſter.“ —


„Ich weiß nicht (ſagte Linda.) Ich ge¬
höre allein dem Todten an, der zweimal für
mich geſtorben iſt. Sagt das meinem Vater.
O ich wär' ihm längſt nachgefolgt, dem Unge¬
heuren, ins tiefe Reich; ich ſtände nicht hier
vor dem kalten böſen Tadel oder der chriſtli¬
chen Verwunderung, da es noch Dolche gegen
das Leben giebt! — Aber ich bin Mutter
und darum leb' ich!“ —


„Noch dieſen Abend ſeh ich Sie wieder“
ſagte Gaſpard gefaſſet und eilte hinweg. „Ich
glaube, liebe Julienne, (ſagte Linda,) jetzt ver¬
ſtehen wir uns nicht mehr ſo recht, wenigſtens
nicht bis zum höchſten Punkte, ſo wie wir frü¬
her über Ihre belle-soeur differirten, und Sie an
Ihr die Koketterie, ich aber gerade die Prüderie
groß und unſittlich fand.“— „Das iſt wohl wahr,
(ſagte Julienne kalt,) Sie ſind ſo wahrhaftig poe¬
tiſch, ich bin ſo proſaiſch und altfromm. Ein Un¬
geheuer darum zu lieben, weil es mich ſo grau¬
ſam betrügt wie ſeine Regimentskaſſe oder weil
es ſich genialiſch ſo viele Freiheit läſſet als ſei¬
[447] nem Regimente, oder weil es nach ſeinem Tode
noch Rollen für die übrigen Schauſpieler nach¬
läſſet oder Briefe an mich Betrogene“ — —
„That er das?“ fragte Albano. — „Sie pries
es ſogar als genialiſch an ihm, (verſetzte Ju¬
lienne.) — Einen Solchen zu lieben, ſagt' ich,
oder ſolche Leute, die ihn lieben, dazu find' ich
in mir kein Herz. Leben Sie denn ſo wohl
als es gehen mag.“ Linda antwortete: „ich
haſſe alle Wünſche;“ gab ihr die Hand, drückte
ſie nicht, ſchwieg ſtill und ſah in ihre Nacht.
Sie wußte wenig vom leichten und ſchlaffen
Abſchied der verlohrnen Freundin.


Noch in derſelben Nacht reiſete Linda,
nachdem ſie ganz allein lange mit dem Ritter
geſprochen, in einem Wagen ohne Fackeln, in
ihre Schleier gehüllt, ganz einſam ab und nie¬
mand wußte, ob ſie geweinet oder nicht.


Als Albano ſeine Schweſter ausgehört hat¬
te, ſagte er mit ſanfter, bewegter Stimme:
„ſchließe Frieden mit der Vergangenheit, ſie
kann der Menſch nicht ſtürmen. Der großen
Unglücklichen laſſe die Nacht, in die ſie ſelber
hineingezogen iſt. — Weswegen wollteſt Du
[448] mich aber ſo eifrig zu Dir haben? Beſonders
weißt Du etwas von meinem Schoppe, ſo fleh'
ich darum.“ — „Ich antworte Dir; (ſagte ſie
weinend und verwundert,) aber Bruder, be¬
theuere, daß Deine Stille nicht wieder der Vor¬
hang eines neuen Unglücks iſt — Ich kenn'
Euch Männer darin, man ſollt' Euch alle has¬
ſen und ich thu' es auch.“ — „Ich habe nichts
Trübes vor, vor Gott bezeug' ich's. Ihr Wei¬
ber, die ihr euere Hölle erſt ausgieſſen wollt
mit Thränen und ausblaſen mit Seufzern, be¬
greift nicht, daß oft eine einzige Stunde Den¬
ken dem Manne einen Stab oder Flügel geben
kann, der ihn auf einmal aus der Hölle hebt
und dann mag ſie fortbrennen.“ — „So zeige
mir (ſagte ſie weinerlich-komiſch) Deinen Flü¬
gel.“ — „Daß ich (verſetzt' er) nicht auf Men¬
ſchen baue, ſondern auf den Gott in mir und
über mir. Der fremde Epheu geht um uns
herum, an uns herauf, ſteht als ein zweiter
Gipfel neben unſerem und der iſt dadurch ver¬
dorrt. Die Geiſter ſollen neben einander, nicht
auf einander wachſen. Wir ſollten lieben wie
Gott, als Unvergängliche die Vergänglichen.“ —


„Recht[449]

„Recht gut, (ſagte ſie,) wenn's Dir nur
Ruhe ſchafft. Was Deinen armen Schoppe
betrifft, ſo iſt er zur Strafe ins Tollhaus ge¬
ſteckt, aber hör' erſt ordentlich. Er kramte ein
Mährchen von einer zweiten Schweſter von
Dir bei Deinem ohnehin durch ſo vieles gereiz¬
ten Vater aus. Man konnt' ihm dieſe neue
Verſtandes-Verwirrung hingehen laſſen; aber
Dein Oheim wurde gerufen, der ihm ins Ge¬
ſicht ſagte, er habe den Kahlkopf ermordet;
und ihm wurde ſtolz die Wahl zwiſchen Ge¬
fängniß und Irrhaus gelaſſen; ſo begab er
ſich in dieſes. Bleibe, bleibe! Das Wichtigſte
kommt. Wie ich auch von ihm denke, ich ſehe,
er iſt Dein redlicher Freund; und frei heraus
zu reden, ſogar Linda legte noch vor der Ab¬
reiſe eine Vorbitte im letzten Blatte an mich
für ihn ein. Nicht bloß die närriſche Reiſe
nach Spanien macht' er für Dich, auch Deine
Kur; vielleicht biſt Du ihm das Leben ſchuldig.
Mich wundert, daß ich oder irgend jemand es
Dir noch nicht geſagt.“


Sie fieng nun an mit Idoinens mildthäti¬
gem feſten Karakter, mit ihrem Arkadien und
Titan IV. F f[450] mit dem letzten Tage, da ſie bei ihr gelebt und
ihr in die helle Seele geblickt. Sie kam dann
an ſein Fieber- und Trauerbette neben Lianens
Bahre und auf des alten Schoppe Reden und
Laufen und auf ſeinen ſchönen Sieg, da er die
verklärte Liane endlich in Idoinens Geſtalt vor
ſein Auge gebracht, damit ſie das Heil-Wort
ſage: habe Frieden.


Jetzt war er in Sturm und Julienne in
Frieden: „darum (fuhr ſie fort) halt' ich's für
Pflicht, mich Deines Freundes ein wenig an¬
zunehmen. Der arme Teufel iſt unſchuldig —
durch Gewiſſensbiſſe und ſelber durch ſeinen
jetzigen Ort kann er das, was er von Ver¬
ſtand noch hat, vollends verlieren — ganz
unſchuldig ſag' ich; denn Dein Oheim, den ich
längſt haſſe und der nur erſt vor kurzem, aber
vergeblich verſuchte, meinem kranken Bruder
geiſtermäßig und mordmäßig zu erſcheinen —
er hätt' es auch bei Lianen wohl gethan, wenn
ſie es erlebt hätte — dieſer Menſch iſt — war¬
um darf ich's nicht ruchbar machen, da ſich
alles geändert und umgeworfen — eine und
[451] eben dieſelbe Perſon mit dem Kahlkopf und ein
Bauchredner — Bruder!?“


Aber Albano war ihr ſchon entflogen.

134. Zykel.

Albano wollte ſeinen Freund früher be¬
freien als rächen; daher wollte er erſt zu Schop¬
pe eilen und dann zum Oheim. Aber als er
an des letztern erleuchteten Zimmern vorüber¬
gieng, erfaßte ihn ein plötzlicher Zorn und er
mußte hinauf. Der lange, hagere Oheim gieng
dem aufgebrachten Jüngling mit der Dohle
auf der Hand langſam entgegen. Albano warf
ihm ohne Umſtände ſeine Doppel-Rolle, ſein
himmelſchreiendes Zerſtören Schoppens und
die Blendwerke gegen ihn ſelber mit Flammen¬
augen vor und forderte Antwort und Rache.
„Ja, ja, (ſagte der Spanier ſeine Diableſſe
ſtreichelnd,) ich habe die Piſtolen — ich habe
keine Zeit, keine Zeit Reden.“ — „Sie
müſſen ſie haben“ ſagte Albano. „Ich habe
keine deo patre et filio et spiritu sancto testi¬
bus
; es iſt bald zwiſchen 11 und 12 und der
Finſtere ſteht hier.“ — „Himmel! wozu dieſe
F f 2[452] einfältige tragiſche Szenerie? O Gott, iſt es
denn nicht möglich, daß Ihr einmal ein Menſch
ſeyd, (ſagte Albano, mit Grauſen in ſeine Ge¬
ſichtshaut blickend, die durchaus nicht freudig
und nicht liebend ausſehen konnte,) daß Ihr
erſchrecken, erröthen, bereuen, Euch erfreuen
könnt? — Was wußten Sie von meinem
Schoppe, da Sie ſich einſt im Keller bei Ratto
als Kahlkopf anſtellten, als wüßten Sie eine
fürchterliche That von ihm?“ — „Niemand
braucht etwas zu wiſſen, (verſetzt' er,) man
ſagt zum Menſchen: ich kenne Deine verruchte
That, der Menſch denkt zurück, er findet ſo
eine.“ — „Aber was hatt' er Ihnen gethan?“
fragte Albano erſchüttert. Er verſetzte trocken:
„Er hat zu mir geſagt: Du Hund! — Es
ſchlägt 11 Uhr, ich ſage nichts mehr als was
ich will.“


Hier brachte der Spanier zwei Piſtolen
und einen Sack, wieß ihm, daß ſie nicht ge¬
laden wären, bat, eine zu laden (er gab ihm
Pulver und Blei), aber die andere nicht. „In
den Sack, jede in den Sack, (ſagt' er,) wir
looſen!“ Je kühner, je beſſer, dachte Albano.
[453] Der Spanier rüttelte beide um, und erſuchte
Albano, mit dem Fuße auf eine zu treten zum
Wahlzeichen. Es geſchah. „Wir ſchießen zu¬
gleich, (ſagte der Oheim,) ſobald es die zwei
Viertel ausſchlägt.“ — „Nein, (ſagte Albano,)
ſchießet bei dem erſten Schlag, ich bei dem
zweiten.“ — „Warum nicht?“ verſetzte jener


Sie ſtellten ſich in den entgegengeſetzten
Zimmer-Winkeln einander gegenüber — mit
den Piſtolen in den Händen den Schlag halb
zwölf Uhr erwartend. Der Spanier machte
im ſtummen Horchen die Augen zu. Als Al¬
bano in dieſes geſchloſſene Büſten-Geſicht ſah,
kam ihm vor, als könne an einem ſolchen We¬
ſen gar keine Sünde begangen werden, ge¬
ſchweige ein Todtſchlag. Plötzlich murmelten
im leiſen Zimmer fünf Stimmen durcheinander,
als kämen ſie von den alten Philoſophen-Bü¬
ſten an den Wänden; der Vater des Todes,
der Kahlkopf, die Dohle ſchienen zu reden und
eine unbekannte Stimme als ſey es der ſoge¬
nannte Finſtere. Sie ſagten unter einander:
„Finſterer, nicht wahr, ich habe keine Wahr¬
heit geſagt? — Ich bringe fünf Thränen,
[454] aber kalte — Ich trage die Räder des Leichen¬
wagens auf dem Kopf — Ich führe das Pan¬
therthier am Strick — Ich ſchneid' es los —
Ich zeige mit dem weiſſen Finger auf Ihn —
Ich bringe den Nebel — Ich bringe den käl¬
teſten Froſt — Ich bringe das Schreckliche.“ —


Hier that es den erſten Glockenſchlag und
der Spanier ſchoß ab — bei dem zweiten feu¬
erte Albano — beide ſtanden unverwundet da;
Pulverdampf zog umher, aber eine Zerſplitte¬
rung erſchien nirgends, als ſey die Kugel nur
eine mit Queckſilber gefüllte gläſerne geweſen.
Mit grimmiger Verachtung ſah ihn Albano
wegen der vorigen Stimmen an: „ich mußte,“
ſagte der Oheim.


Plötzlich brach der Lektor athemlos herein,
den Julienne abgeſchickt, um einen wahrſchein¬
lichen Zweikampf zu hindern. „Graf! (ſtam¬
melte er) iſt etwas geſchehen?“ — „Es muß
(verſetzte der Oheim) in der Nähe etwas ge¬
ben, der Dampf zog herein; wir wollten uns
eben zur guten Nacht umarmen.“ Er klingelte
und befahl dem Bedienten, den Wirth zu be¬
fragen, wer ſo ſpät noch abfeuere. Albano
[455] ſtaunte und konnte ſcheidend nur ſagen: „es
ſey! Aber fürchtet den Wahnſinnigen, den ich
loskette!“ — „Ach thut's nicht!“ ſagte der
Spanier und ſchien zu fürchten.


Auguſti begleitete ihn auf die Gaſſe und
ließ ihn nur nach dem Ehrenworte los, nicht
wieder hinauf zu gehen. Albano aber flog
noch in der ſpäten Nacht dem Hauſe des Jam¬
mers und dem gekränkten Herzen zu.

135. Zykel.

Kaum hatte Albano dem Irrhaus-Inſpek¬
tor, einem jungen glatten rothen Männchen,
ſeinen Namen, den dieſer ſchon kannte, und
ſein Geſuch um Schoppe's Freiheit ſamt ſei¬
ner Bürgſchaft für ihn bekannt gemacht: ſo
lächelte der Inſpektor ungemein vergnügt ihn
an und ſagte: „ſtill beobacht' ich ſeit Jahren
das ganze Haus — die kleinſten Züge haſch'
ich für ein künftiges philoſophiſches Publikum;
und ſo legt' ich's ſehr ernſthaft auch auf Hrn.
Schoppen an. Aber nie, mein Herr Graf, nie
ertappt' ich ihn über einem Zuge, der Tollheit
verſprochen hätte; alle meine engliſchen und
deutſchen Werke darüber lieſet er vielmehr
[456] und beſpricht ſich m mir über die Heilanſtal¬
ten in Irrenanſtalten. Ein Fichtianer kann er
ſeyn (aus ſeinem Ich ſchließ' ich's) und ein
Humoriſt auch; iſt nun aber eines von beiden
ſchon ſchwer von Verrückung zu trennen, wie
viel mehr ihre Einigung! Mit welcher Freude
über das Zuſammentreffen unſerer Beobachtun¬
gen ich Ihnen hier den Schlüſſel zu ſeiner Stu¬
be gebe, das denken Sie ſich ſelber!“ — „Wenn
er kein Narr iſt, (ſagte ſeine Frau,) warum
zerſchlägt er denn alle Spiegel?“ „Eben dar¬
um (verſetzte der Inſpektor), iſt er aber einer,
ſo iſt Dein Mann ein noch größerer.“


Keine Thür öffnete Albano je beklommener
als die zu Schoppens kleinem Zimmerchen.
„Ich hole Dich ab, mein Bruder,“ rief er ſo¬
gleich, um ſich und ihm Schamröthe zu erſpa¬
ren; aber als er den alten Löwen näher ſah,
fand er ihn in dieſer Fanggrube ganz verwan¬
delt, nicht zahm, kriechend, wedelnd, aber ent¬
zweigeſchlagen und mit zerbrochnen Tatzen auf
die Erde gedrückt; — die Anklage des Mords,
die er rechtſchaffen eingeräumt, verbunden mit
Gaſpards unbarmherziger Verurtheilung, hat¬
[457] ten ſeine ſtolze freie Bruſt mit giftiger Scham
gefüllt und zerfreſſen. „Es geht mir hier wohl,
nur verſpür' ich mich unpaß;“ ſagte Schoppe
mit glanzloſem Auge und tonloſer Stimme.
Albano konnte die Thränen nicht verbergen, er
ſchlang ſich um den Kranken und ſagte: „gro߬
müthiger Menſch, Du gabſt mir einſt in mei¬
ner Krankheit Geneſung und Heil zurück und
ich wußte es nicht und dankte Dir nicht, gehe
mit mir, ich muß Dich in der Deinigen pfle¬
gen, Dich heilen und tröſten wie ich kann, dann
reiſen wir.“


„Glaubſt Du, mein Kriton, (verſetzte er,
durch den Balſam ſeines wunden Stolzes ge¬
ſtärkt,) daß ich etwan kein Socrates bin, ſon¬
dern wirklich herausgehe aus meinem torre del
filosofo
? Ein Ehrenwort iſt eine dicke Kette.“
— „Erzähle mir alles, verſchone niemand; aber
ich ſage Dir darauf eine Neuigkeit, an der ſo¬
gleich Deine Kette ſchmilzt“ ſagte Albano.


„Ei! — Indeſſen iſt der Ort hier ſeines
Orts gut genug, wie geſagt ein torre del filo¬
sofo
, quai de Voltaire und Shakespeare's
Streat
und wie man ſonſt ſagen mag und ſoll
[458] — Auch hör' ich immer Nachts einen oder den
andern Mann neben mir an ſpechen; und ſo
fürcht' ich gar nicht, daß der Ich kommt. Ich
werfe täglich fünf Brodkügelchen; bilden ſie
ein Kreuz, ſo bedeutet es — denke was Du
willſt — daß ich mir noch nicht erſcheine — Sie
machen aber immer eines. Ich bin hier in die¬
ſem Anticyra über ſo manches Wahnbild ſo be¬
ruhigt worden — auch durch jene Bücher —
ſieh ſie an, lauter Traktate über den Wahn¬
ſinn — daß ich, wenn's auch meinen Mor¬
dian *) eben ſo wenig anſteckt wie mich, gern
hier geweſen ſeyn will. Mein Umgang iſt frei¬
lich nicht ohne Gefahr, es iſt das Inſpek¬
torats-Ehepaar, (ein Reim) die beide das
hieſige Kerkerfieber tüchtig weghaben. Der
Mann hat ſich — und dadurch der Frau —
die fixe Idee in den Kopf geſetzt, er ſey unſer
zeitiger Inſpektor und habe aufzuhelfen, auf¬
zuſehen und trefliche Bücher zu leſen, die in
ſein Amt einſchlagen — jene Traktate ſind vom
Narren — Vermuthlich hat er drauſſen in der
Stadt ſeine Inſpektorats-Idee zu breit vor¬
[459] gucken laſſen, und das mediziniſche Kollegium
ſteckte ihn mit ſeiner brauchbaren Idee herein,
weil ſie am Ende doch jeder Inſpektor zum Am¬
thieren haben muß, er ſey toll oder nicht. Un¬
ter allen hier im Hauſe gefallen wir uns bei¬
de am meiſten. Er ſondirte mich zu meinem
Vortheil; und ich kann ihn ſehr brauchen zur
Freiheit, nur greif' ich ſeinen faulen fixen Fleck
nicht an. Bloß einen Abendſegen — weil ſie
kein Gebetbuch haben — improviſir' ich oft
beiden vor und flechte in den Segen Winke, die
kurmäßig für das Paar ſeyn könnten, wenn's
wollte. So wandeln wir beide in den Irrgän¬
gen dieſes Irrgartens vor den Pazienten vor¬
bei — hinter ihm, dem unheilbaren Hub von
allen, geh' ich ganz tolerant — im Kränzchen
herrſcht allgemeine Polemik und Skepſis wie
in keinem andern Univerſitätsgebäude — — Es
iſt zum Tollwerden, ſagt er leiſe zu mir, es iſt
zum Tollſeyn, ſagt man in dieſem Palais d'éga¬
lité
, verſetz' ich — Ich ſchneide ihm die Pa¬
zienten in Schatten aus für ſein Manuſkript
— Wie die Kinder noch etwas haben, das ih¬
nen ſelber kindiſch vorkommt, ſo haben die
[460] Tollen etwas, das ihnen ſelber toll erſcheint —
Deutlicher aber werd' ich ihm nie und halte
ſchärfern Spaß an mich. Ach was iſt der
Menſch, zumal ein geſcheuter und wie dünn
ſind ſeine Stecken und Stäbe! — — Rührt
Dich etwas an mir, Albano? Etwan mein
dummes blaſſes Geſicht?“


Aber Albano konnt' es ihm unmöglich ge¬
ſtehen, daß dieſer umgebrochene edle Menſch
mit ſeinen Täuſchungen und ſogar mit ſeinem
Stiele, deſſen Flügel auch gerädert waren, ihm
die Thränen in die Augen treibe, ſondern er
ſagte bloß: „ach ich denk' an vieles; aber er¬
zähle doch endlich, Lieber!“ — Schoppe hatt'
es aber ſchon wieder vergeſſen, was er erzäh¬
len ſollte; Albano nannte den Ablauf der
Portrait-Geſchichte bei der Gräfinn und jener
fieng an:


„Die Prinzeſſinn Julienne ſprang eben
in ihren Wagen, als ich das blinde Mädchen
die Treppen hinaufführte, um ſagen zu laſſen,
Bibliothekar Schoppe ſey aus Spanien da.
Ich wurde in ein verfinſtertes Gemach gelaſſen,
worin ich ruhig auf und abgieng, auf Leute
[461] paſſend, bis die Gräfinn mich grüßte aus dem
Dunkeln. „„Die Finſterniß (ſagt' ich) iſt mir
bei dem Lichte, das ich zu geben habe, er¬
wünſcht, nur möcht' ich lieber iriſch oder let¬
tiſch oder ſpaniſch ſprechen, weil ich nicht weiß,
wer mich behorcht.““ — „„Spaniſch!““ ſag¬
te ſie ernſt. Ich erzählte ihr, ich hätte Deine
Mutter gekannt und gemahlt und ſo weiter
und meinen Nahmen ins Bildniß eingeſchwärzt
— lange darauf, neulich im Herbſte, hätt'
ich Sie ſelber auf hieſigem Marktplatz ange¬
troffen und für das Spiegelbild Deiner Mutter
genommen, ſo ähnlich ſey ſie ihrer eignen —
„„Ich weiß nicht, fuhr ſie hier mit hitzigem
Stolz zwiſchen meine Narrazion, in wiefern
Ihre Geheimniſſe zu meinen werden können.““
— „„Dadurch, (ſagt' ich ernſt,) daß Sie mich
nach Licht klingeln laſſen; denn ich halte das
Portrait der Frau von Ceſara und von Ro¬
meiro, zweier Namen Einer Perſon, hier in der
Hand.““ Sie faßte nichts, fragte nichts und
ich ſollte nicht klingeln. Ich bekannte ihr, daß
ich mich genöthigt ſähe, mit der rhetoriſchen
Schach-Figur mich zu decken, die man allge¬
[462] mein die Wiederholung der Erzählung nennte;
und griff zur Figur. Aber ſobald ich darin
wieder auf Deinen Nahmen kam, ſagte ſie: „„ich
hätte vermuthlich ganz aufgehobene Verhält¬
niſſe im Sinne““ — „„nein, (ſagt' ich,) ein
ewiges und hergeſtelltes hab' ich darin, auch
ſeinen Gruß voll innigſter Achtung mit.““ —
Der Gruß ſchien ihr empfindlich zu fallen,
gleichſam als halte man ſie einer ſolchen Ver¬
ſicherung für bedürftig, und ſie bat mich, Dich
lieber wegzulaſſen. „„Himmel! er iſt Ihr Bru¬
der, und hier hab' ich das Portrait Ihrer Mut¬
ter aus Valencia geſtohlen bei mir, und nur
kein Licht!““


„Da wurde Licht gefodert. Als die Flam¬
me die lange trefliche Geſtalt in Gold einfaßte,
ſagte ich geradezu bei mir ſelber: „„ſie war es
ſo gut werth als der Bruder, daß man den
langen Weg nach beider Stammbaum zog,
denn ſie iſt nicht ohne ihre Annehmlichkeiten.““
— Albano, wär' ich ihr Bruder, wie Du die
Ehre haſt, mein Blut müßte, wenn ſie eine
Gondel aber keinen Paradieſesfluß dazu hätte,
für ſie ſchiffbar ſeyn, ich trüge ſie auf den Hän¬
[463] den nicht nur, ſondern wie ein Äquilibriſt, auf
Naſe und Mund, die Leidliche! Kaum ſah ſie
das Bild, ſo rief ſie: „„Mutter, Mutter!““
und fuhr immer über die Augen, klagend, daß
ſie jetzt noch ſchlechter wären als ſonſt. Ich
hob wieder das Schaben an und grub endlich
vor ihren Augen meinen ganzen Nahmen Lö¬
wenskiould
aus, ſogar mit dem Beiſatz, der mir
entfallen war: liebt sehr.“


„„Der Mahler hieß ſo? (fragte ſie.) Sie
ſind's? — Sie liebten auch?““ — „„Schön¬
heit iſt eine Klippe, (verſetzt' ich ernſt,) an der
denn ein und der andere Mann zu ſcheitern
ſucht, weil ſie voll Perlen und Auſtern ſitzt.““
Freundlich bat ſie mich um die deutlichſte Wieder¬
holung der Wiederholung, ſie wolle beſſer aufmer¬
ken; Hören und Denken werd' ihr jetzt ſo ſchwer
als leben. Albano, Ihr hättet mich mit mehr Vor¬
kenntniſſen zu ihr abſchicken ſollen. So aber wurd'
ich halb verwirrt und neblig und als ihr un¬
ter meiner Schilderei der Langſee-Inſel etwas
Naſſes aus den Augen ſprang, ſank ich in den
Tropfen hinein und erſoff beinahe darin und
wurd' erſt ſpät von mir ins Leben gerieben.
[464] Endes meiner Rede ſtand ſie langſam auf, fal¬
tete die Hände und betete mit Weinen, als wenn
ſie dankte: „„o Gott, o Gott! Du haſt mich ge¬
ſchonet!““ — Was ich doch nicht ganz verſtehe.“


Albano verſtand's wohl, daß ſie dem Schick¬
ſal für die zufällige Verſpätung Schoppens
dankte, welche ſie mit der kurzen aber furcht¬
baren Verwandlung Roquairol's in einen Bru¬
der verſchonet hatte.


„Sie brach darauf in zu vielen Dank gegen
den Mahler, Räuber und Lieferanten des ge¬
mahlten Geburtsſcheins aus. Wem das Herz
wie ein Arm eingeſchlafen und ſchwer und fühl¬
los zu bewegen iſt, dem durch- und überläufts
das erwachende Glied ſehr närriſch, wenn er's
regt: „„weniger (ſagt' ich) konnt' ich nicht thun
für den H. Bruder; die Sonnenſeite iſt dann
die Mondſeite,““ — Sie ſprang auf Deinen
Vater über und fragte, da er ſogleich komme,
ob ſie oder ob ich ihm dieſe Räthſel vorlegen
ſollte. „„Oder lieber beide!““ verſetzt' ich
kaum, da trat er wild ein.“


„Nun iſt Gaſpard freilich und entſchieden
Dein Dir und der Schweſter angebohrner Va¬
ter[465] ter — und kindliche Liebe gegen ihn iſt Dir
nie zu verdenken; — aber wenn ich zu Dir ſagen
wollte, er ſey kein Bär, kein Nashorn, kein
Währ- und anderer Wolf, ſo thät ichs mehr
aus ſeltener Politeſſe. Er ſchnaubte mir einen
guten Abend zu, ich ihm. Viele Menſchen glei¬
chen dem Glas, glatt und geſchliffen und ſtumpf
ſo lange als man ſie nicht zerbricht, dann ver¬
flucht ſchneidend und jeder Splitter ſticht. Die
Sache würd' ihm vorgehalten und das mitge¬
brachte Geſichtsſtück. Wärſt Du weitläuftiger
mit ihm verwandt, ſo ließ' ich mich heraus.
Denn ſein Geſicht wurde vom Nordſchein des
Grimms überzogen, aus den Augen flogen
mir gelbe Weſpen zu, gerade Linien fuhren
auf ſeiner Gewitterſtirn wie elektriſche Spieße
auf, beſonders zwei ſteilrechte Unglückslinien.
Aber wie geſagt biſt Du meines Wiſſens ſein
Sohn. „„Mein Freund, (donnert' er los,)
mit welchem Rechte ſtehlet Ihr denn Gemähl¬
de?““ — „„Das ſollte mir (verſetzt' ich ſanft)
ſchwer anzuſagen fallen; aber ein Unvermö¬
gen
hab' ich, einem ungerechten Truge zuzu
ſchauen, ich fahre d'rein.““ „„Gräfin, (ſagt
Titan IV. G g[466] er dampfend,) in drei Minuten ſollen Sie die¬
ſen Herrn genau kennen.““ O nein, nein! Er
brauchte ein anderes Wort als Herr, aber ich
greif ihn einmal dafür an die Bruſt und ſtän¬
den wir auf den höchſten Stufen des Gottes-
Thrones und rängen im Glanz.“ — „Schoppe!“
ſagte Albano: „Erhitze mich nicht!“ verſetzte
Schoppe und fuhr fort:


„Er klingelte — ein Bedienter flog mit ei¬
ner Karte — wir alle ſchwiegen — „„Nach¬
ſicht, Gräfin, (ſagt' er,) nur auf eine Minute
lang!““ — Er gab ihr darauf einige elende
Hof-Novitäten, ſie aber blickte ſchweigend zur
Erde. Da kam Dein langer Oheim, nickte
16mal mit dem kleinen Kopf, denn das hält
er für eine Verbeugung — und trat weit von
mir weg. „„Bruder, ſage bloß, was hat
dieſer Herr da hinter Valencia gethan?““ —
„„Umgebracht, umgebracht,““ ſagt' er ſchnell.
„„Unter welchen Umſtänden?““ fragte Dein
Vater. Hier fieng er an, die kleinſten bei mei¬
nem Nothſchuß auf den Kahlkopf ſo unbegreif¬
lich-ſcharf vorzulegen, daß ich ſagte: „„das iſt
wahr!““ — und ſelber fortfuhr und immer fragte:
[467] „„nicht ſo?““ — und er hurtig nickte — bis
ich am Ende war, dann fragt' ich: „„aber
Spaniard, ſagt's bei Gott! woher wiſſet Ihr
es denn?““ „„Von mir““ antwortete eine
fremde, dumpfe Stimme, ganz wie des Kahl¬
kopfs ſeine.“


„Das Herz wurde mir kalt wie eine Hunds¬
ſchnauze und die Zunge voll Stein. „„Als
convictus und confessus (fieng Dein Vater an)
könnet Ihr Euch nun leicht Euer Schickſal pro¬
phezeien..““ — „„Freilich, (murmelte der
Oheim, packte ſein Schnupftuch aus und ein,
faßte das Gemählde an und legt' es weg,)
prophezeien, prophezeien.““ — „„Inzwiſchen
(fuhr Dein Vater fort) bleibt es Euch freige¬
ſtellt, ob Ihr bis zu näherer Unterſuchung ſtatt
des Gefängniſſes, das Euch für den Mord und
Diebſtahl gehört, den gelindern Ort, das Irr¬
haus, das Euch für Euere Reiſe gebührt, er¬
wählen wollt; wählet Ihr nicht, ſo wähl' ich.““
— „„Ins Tollhaus, ins Tollhaus, (rief ich,)
wahrer Geſelligkeit wegen, auf meine Ehre —
Aber ich frage nach nichts, auf dem Waſchzettel
meines Gewiſſens ſteht kein Mord — Brennt Ihr
G g 2[468] Euch nur weiß und rein — Euer Sonnen- und
Ehrenwagen geht bis an den Radnagel in
Koth — Gräfin, laſſet Euch doch alles beſtens
aufklären und denkt unaufhörlich an mich, um
einen Vater zu bekommen, freilich dem Lan¬
desvater der Studenten gleich, der in einem
Loch durch den Hut beſteht.““ — „„Tritt
weiter weg, (ſagte Dein Vater zu Deinem
Oheim,) die Tollheit iſt ausgebrochen.““ Da
that der Haſe achtzehn Sätze über Schwellen
und Treppen hinüber. Ich vollzog mein eig¬
nes Marſch- und Sitzreglement. Dein Vater
wedelte mir noch mit einem leckenden Flam¬
menblick nach; ich lud Gift in mein Auge
und ſah ihn unter der Thüre davon niederſtür¬
zen.“ — —


Albano fuhr zuſammen, fragte nach dem
Wie. Da ſchwieg Schoppe, ſann lange und
ſagte betrübt: „das hat mir wohl freilich nur
geträumt, aber ſo meng' ich jetzt den Traum
ins Wahre und umgekehrt. Ich ſollte mehr
über Schoppe gerührt ſeyn — er iſt doch ein
Greis und Greiſe weinen gleich dem Eulenſpie¬
gel, wenn es bergab geht.“ — „Ich will Dich
[469] nun tröſten, mein Freund, (ſagte Albano mit
zerriſſener Bruſt,) ich will einen Irrthum von
Deinem treuen Herzen nehmen und dann gehſt
Du gewiß mit mir; dieſer Kahlkopf, unſer
Spötter und Gaukler, iſt nach dem heiligen
Wort meiner Schweſter eine und dieſelbe Per¬
ſon mit meinem Oheim, und iſt ein Bauchred¬
ner.“


Lange ſtand Schoppe wie todt als hab'
er nicht gehört, plötzlich ſtürzte er mit aufblü¬
hendem Geſicht, mit funkelnden Augen auf die
Kniee und ſtammelte: „Himmel! Himmel! Ver¬
rücke mich! — Das Weitere thu' ich — —“
Hier macht' er eine böſe abwürgende Bewe¬
gung mit den Händen und ſagte erſtarkt: „ich
kann Dir folgen.“


Jetzt konnt' er das wirklich, vorher aber
kaum ſtehen. Und ſo führte Albano den un¬
glücklichen gereizten Freund betrübt in ſeine
eigne Wohnung.

136 Zykel.

Albano wandte nun alles an, was Freund¬
ſchaft im Vermögen hat, den edlen Kranken
[470] wieder innerlich und äußerlich aufzurichten und
zu verjüngen. Beſonders ſuchte er den Steg,
worüber alle ſeine Saiten gezogen waren und
den der Ritter und ſein Bruder vor Linda um¬
geriſſen hatten, wieder aufzuſtellen, nehmlich
ſein ſtolzes Bewußtſeyn, das an der grauſa¬
men Demüthigung ſo ſehr darnieder lag. Wie
nur reine Bruder-Achtung und heiliges Anbe¬
ten einer göttlichen Reliquie einen wunden Stolz
ſanft erwärmen und beleben kann, ſo verſucht'
es der biedere Albano. Allein ohne Genug¬
thuung am Spanier, dem Anſtifter des Unheils
und dem Verführer des Ritters, laufe, wie
Schoppe ſelber ſagte, ſein Rückgrad nie wieder
ſteilrecht und ſein Rückenmark bleibe gebogen.
Nur Albano's Duel mit dem Oheim war fri¬
ſches Waſſer für ihn; es mußte ihm mehrmals
erzählt werden. Sein durſtiger Wunſch war,
ſo geſund zu werden als er zum Kriege mit
dem Spanier brauchte und dann als ein Tol¬
ler ihm die Beichte aller Streiche und Gaukle¬
reien auf einem Sterbebette, worauf er ihn zu
legen dachte, abzupreſſen: „dann (ſetzt' er je¬
desmal lächelnd hinzu) kann es mir wohl egal
[471] ſeyn, ob die Welt rund wird oder eckig und
nach Frankreich iſt mein erſter Schritt.“


Albano mußte dieſes griechiſche Feuer des
Zorns, das am Ende zur ſtärkenden Kur des
durch Demüthigung erfrornen Körpers wirkte,
immer tiefer unter ſich brennen laſſen, da jedes
Löſchen es nur nährte; nur mußt' er wachen,
daß er keine freie einſame Minute bekäme, um
brennend zu entſpringen und den Spanier auf¬
zuſuchen. Albano wich Tag und Nacht nicht
von ſeinem Kanapee-Lager, auch aus andern
Gründen. Denn war Schoppe einſam und ſein
Mordian ſchlief, (den er niemals weckte, weil
der Hund, ſagt' er, offenbar träume und da
in idealiſchen Welten fliege und ſchnuppere,
wovon auf den Gaſſen der wirklichen kaum
eine Schatten-Spur zu wittern ſey,) war er
alſo allein mit dem ſtillen Thier (denn wacht'
es, ſo hatt' er Geſellſchaft genug) und ſein
Blick fiel zufällig auf ſeine Beine oder Hände:
ſo fuhr ſeine kalte Furcht über ihn her, daß er
ſich erſcheinen und den Ich ſehen könne. Der
Spiegel mußte verhangen werden, damit er
ſich nicht fände.


[472]

Seine Nächte waren ohne Schlaf, aber
die Träume giengen nackt und keck um ihn.
Albano opferte ihm leicht ſeine geſunden Näch¬
te, konnt' aber doch nicht alle Träume des
Freundes, dieſe Geſpenſter, die ſonſt vor Le¬
bendigen entfliegen und einſinken, von dannen
treiben. Sie ſchlichen und blickten in Winkel-
Schatten der Stube. — Einſt gegen Mitter¬
nacht war Albano hinausgegangen und traf
wiederkommend ihn an, wie er eben mit einer
Hand die andere fieng und ſagte: „wen hab'
ich da, Menſch?“ — „O guter, beſter Schop¬
pe, (rief Albano halbzürnend,) ſolche grund¬
loſe Spiele! Eben ſo gut könnte ein Finger
den andern faſſen!“ — „Ja freilich,“ verſetzt'
er. „Aber höre (ſagt' er leiſe, und kauerte
ſich, bückte den Kopf und wies mit dem rech¬
len Zeigefinger über die Naſe hin in die Höhe),
Du nannteſt mich Schoppe — ſo heiß' ich nicht,
aber ich darf meinen Nahmen nicht ausſpre¬
chen, der Ich, der mich ſo lange ſucht, hört's
und fährt her — Ein langer Leichenſtein liegt
auf dem Nahmen. Schoppe oder Scioppius
konnt' ich mich ſehr wohl nennen, weil mein
[473] vielnahmiger Nahmensvetter und Nahmensva¬
ter (im Bayle ſteht alles) ſich ſelber bald ſo
bald ſo hieß, bald Junipere d'Amone, bald
Denig Vargas, oder Groſippe, oder Krigſö¬
der, Sotelo, bald Hay. — Daß der Mann
noch wirklicher Titular-Fürſt von Athen und
Herzog von Theben war durch ottomanniſche
Kanzlei und Gnade, muß ich ganz zu verges¬
ſen ſcheinen, wenn ich Maltheſer-Bibliothekar
bleiben will. In der That trat ich ſonſt in
Gaſthöfe noch mit manchem Nahmen ein, der
dem nachſetzenden Ich prächtig mitſpielte und
vormachte, z. B. Löwenſkiould, Leibgeber, Graul,
Schoppe ohnehin, Mordian (den ich meinem
Hund ſchenkte), Sakramentirer und einmal hu¬
leu
— manche kann ich ganz vergeſſen haben
— Der wahre iſt (ſagte er ſcheu liſpelnd) ein
ß oder Ss*) — Gieb mir eine dritte
Hand her — Aus Todtenkleidern wird der
[474] Nahme herausgeſchnitten und ich liege darin
ſchon unter dem Grabe. — „„Ich bin ich““
das waren zwar des alten hübſchen Swifts
Endworte, der ſonſt wenig ſagte in ſeiner ſo
langen Tollheit — Ich möcht' es aber nicht
wagen, ſo bei mir zu ſeyn — Nu, getroſt,
die unendliche Weisheit hat alles geſchaffen,
auch Tollheit in Menge. — Aber Gott gebe
nur, daß Gott ſelber niemals zu ſich ſagt: Ich!
Das Univerſum zitterte auseinander, glaub' ich,
denn Gott findet keine dritte Hand.“


Albano ſchauderte über den Sinn des Un¬
ſinns — Schoppe ſchien Eis — dann warf er
ſich plötzlich an die Bruder-Bruſt — beide
ſprachen nichts über die Sache — und Albano
fieng heitere Schilderungen vom glücklichen He¬
ſperien an.


So bracht' er pflegend, ſchonend, liebko¬
ſend, geduldig und einſam die Tage, die er
*)[475] gern zu ſeiner Flucht aus Deutſchland verwen¬
det hätte, mit dem kranken Freunde zu; und
liebte ihn immer heftiger, je mehr er für ihn
that und ausſtand. Er wollt' es durchaus vom
Schickſal nicht leiden, daß eine ſolche Welt voll
Ideen ihrem Erdbrand und ein ſo freies Herz
voll Redlichkeit dem letzten Schlage näher kom¬
me. Schoppe hatte in des Jünglings Herzen
ſogar noch ein größeres Reich als Dian; denn
er nahm das Leben freier, tiefer, größer, mu¬
thiger; und wenn Dians Lebensgeſetz Schön¬
heit war, ſo hieß ſeines Freiheit und er gieng,
wie unſer Sonnenſyſtem, nach dem Geſtirne
des Herkules zu.


Aller Bitten ungeachtet nahm er keine Heil¬
mittel vom D. Sphex; denn er habe ſchon, ſagt'
er, ſich einem alten bekannten Praktiker und
Kreisphyſikus anvertrauet, der Zeit. Er ver¬
ſtattete Sphexen gern, ein Rezept aufzuſetzen,
es zu bringen, ſah es willig durch, diſputirte
über den Inhalt, merkte an, es ſey leichter ein
Geſundheitsrath zu ſeyn als einen Geſundheits¬
rath zu geben, und er ſehe wohl, daß er ſei¬
nen Zuſtand treffe, weil er ihn ſchwächend be¬
[476] handle, was bei Wahnſinnigen das Erſte ſey;
aber er ſetzte dazu, er begehre eben keine Ver¬
nunft, ſondern nur ein Paar tapfere Schenkel
zum Gehen und Stehen und ein Paar gefüllte
Arme zum Zuſchlagen und übrigens ſey er ihm
gram, weil er Hunde zerſchneide. Auch Albano
nahm zuletzt an, habe Schoppe nur Muskel¬
kräfte zu einer geſelligen Reiſe mit ihm wieder¬
gewonnen, ſo fliehe der Wahnſinns-Traum,
worein ihn die ungeſellige gewiegt, leicht von
ſelber hinweg.


Immer fuhr er den Arzt am meiſten an.
Einſt ſagte dieſer: „folgen Sie wenn nicht mir,
doch Ihrem zweiten Ich“ und zeigte auf
Albano. „Zum Teufel, (verſetzt' er,) mein
zweites Ich, das möget Ihr ſelber ſeyn — ich
ſcheue mich genug davor — aber der da iſt
gewiß, das verhoff' ich, kaum mein ſechstes,
zwanzigſtes oder dergleichen Ich.“ —


Indeß blieb Sphex bei der Meinung, ſeine
ſtheniſche Schlafloſigkeit, die wechſelnd die Toch¬
ter und die Mutter ſeiner Fieberbilder, zumal
des Kahlkopfs ſey, verſperre die Kur und müſſe
[477] ſchwächend bezwungen werden. Als einſtmals
Dian, der ſeinen Freund Albano oft beſuchte,
dies vernahm, fragte er, warum man ihn nicht
geradezu mit der Nachricht, der Spanier ſey
aus Furcht vor ihm abgereiſet, etwan nach
Frankreich, täuſchen und heilen wolle. Albano
verſetzte: „wahrlich ich wollt' es gern ſagen,
aber ich kann's nicht, ich könnte eben ſo gut
Gott oder mir eine Lüge ſagen wollen.“ —
„Einbildungen! (ſagte Dian) ich ſag's ihm ſel¬
ber.“ — „Weſſen ich mir auch gleich vom
Spaniard verſehen habe,“ verſetzte Schoppe
auf die offizinelle Rezept-Lüge. Als Dian
fortgegangen war, fragt' er Albano: „ſitz' ich
jetzt nicht viel kühler und eiſiger da? Und
zwar ſeit der Kahlkopf in Frankreich iſt, bin
ich faſt ſo ein neuer Menſch. Freilich lüg' ich,
aber Dian log früher.“


Endlich entſchloß ſich der Arzt, ihm gera¬
dezu einen Schlaftrunk in ſein Getränk zu mi¬
ſchen. Albano erlaubt' es. Schoppe bekam
ihn; glühte und phantaſirte einige Minuten
lang, endlich ſtieg der Nebel des Schlafs und
überdeckte bald den Kranken.


[478]

Albano beſuchte da nach langer Zeit das
Grün der Erde und das Blau des Himmels
wieder und ſeinen Dian in Lilar. Wie viel
war ſeitdem verändert, durch einander, über ein¬
ander geſtürzt! Wie viele Blätter waren wie¬
der Knoſpen geworden! Und mancher Schaum
des Lebens, der weiß und zart und leicht ihn
ſonſt erfreuet hatte, erkältete ſetzt als graues,
ſchweres Waſſer ſeine Bruſt, und er hatte aus¬
ſer ſeinen Lebensmuth faſt wenig behalten. Bei
Dian hört' er von neuen Veränderungen, von
des Fürſten nahem Sterben, von Idoinens na¬
hem Kommen zur Schweſter vor der Trauer.
Wie wunderbar-verſtöhrt ſchlug ſeine Seele
aus ihrem Winter-Schlafe in den warmen
Sonnenſchein, den dieſes Ebenbild Lianens um
ſein Leben legte, die Augen auf! — In man¬
cher ſtillen Nacht neben Schoppens Geiſter-La¬
ger war ihm ſchon, ſeitdem Julienne ihn zum
erſtenmal die Erſcheinung dieſes Friedensengels
ohne den Schleier ſehen laſſen, die vorige Zeit
und Liebe wie ein Himmel ferner Sterne wie¬
der aufgegangen, und in dem Helldunkel der
von Schlaf entkleideten Träume ſah er auf dem
[479] Meere der Zeit eine ferne, ferne Inſel — hin¬
ter ſich, oder vor ſich, wußt' er nicht —, wo
eine weiſſe abgewandte Geſtalt Lianen gleich
oder ähnlich ſchwebte und als Nachhall ſang
— Jetzt dicht nach dem Sterbemonat des Bru¬
ders folgte der Sterbemonat der Schweſter
Liane. Wär' es möglich, daß die Überirdi¬
ſche aus dem ſtillen Spiegel der zweiten Welt
und aus deſſen unabſehlichen Fernen heraus¬
träte wieder in den irdiſchen Luftzug und nach
der Verklärung wieder verkörpert hier gienge?


Aber die Freundſchaft foderte Raum für
ihre Schmerzen und dieſe Wolken-Bilder wur¬
den bald von ihr bedeckt oder umgeſtürzt. Er
war nicht im Stande, ſo ſehr er's auch wünſch¬
te, von Schoppe eine Beſchreibung jener Hei¬
lungs-Nacht zu fodern, ja nur zu leiden, worin
Idoine Liane geweſen; und doch war dieſe Ge¬
ſtalt der einzige lebendig-ſpielende Juwel im Tod¬
tenring an dem Skelet der harten Zeit, das vor
ihm ſtand. Welche Tage! Was ihm die Grä¬
ber nicht wegſchlangen, hatte die Erde dahin
genommen und Gaſpard, ſonſt ſein hoher Va¬
ter auf einem reinen Thron des Himmels, war
[480] nun ſeiner Phantaſie mit fürchterlichen Höllen-
Kräften und Waffen nach unten erſchienen, auf
einem Throne des Abgrunds ſitzend. —


Deſto milder umfloß ihn nun, als er in
Dians Hauſe war, die ſtillere Gegenwart, der
Gedanke des ruhenden Freundes, der Anblick
des nahen Traum-Tempels, wo Liane einmal
Idoine geweſen, und die Verkündigung, daß
das Ebenbild der Geliebten nahe. Er mahlte
ſich den ſüßen und bittern Schrecken ihrer Er¬
ſcheinung vor ihm; denn wie in dem Strome
die hinübergebogne Blume nicht nur ihr Bild,
auch ihren Schatten entwirft, ſo iſt ſie Lia¬
nens ſchönes Bild und Schatten zugleich —
und in der Lebendigen würde ihm eine Ver¬
lohrne und eine Verklärte zugleich erſcheinen.


Unter dieſem träumeriſchen Helldunkel und
Abendroth, aus Vergangenheit und Zukunft zu¬
ſammengefloſſen, kam er in ſein Haus zurück.
Ein ſcharfer Blitzſtrahl ſchlug weiß über das
träumeriſche Roth, ſein Schoppe war nach we¬
nigen Minuten des Zwangſchlafs wild aufge¬
fahren und wahnſinnig entſprungen, niemand
wußte[481] wußte wohin. Der Arzt kam und ſagte ent¬
ſcheidend, entweder hab' er ſich ins Waſſer ge¬
ſtürzt oder jeden andern, er ſey wild dahin
gerannt und habe noch ſeinen Stockdegen mitge¬
nommen.


Titan IV. H h[482]

Vier und dreißigſte Jobelperiode.

Schoppe's Entdeckungen — Liane — die Kreuz¬
kapelle — Schoppe und der Ich und der
Oheim.


137. Zykel.

Da Schoppe ſeinen großen Degenſtock mitge¬
nommen: ſo vermuthete Albano, daß er als
Würgengel zum Spanier gegangen. Er eilte
in den Gaſthof des Oheims. Ein Bedienter
ſagte ihm, ein Rothmantel mit einem dicken
Stocke ſey da geweſen und habe vor den Herrn
gewollt, aber man habe ihn auf des letztern
Befehl ins Schloß geſchickt, unterdeſſen ſey der
Herr nach dem Prinzengarten abgereiſet, um
dem ſtarken Bruder entgegen zu gehen. Al¬
[483] bano fragte: „Wer iſt der ſtarke Bruder?“
„Dero Herr Vater,“ verſetzte der Bediente.
Albano eilte auf das Schloß. Hier war lau¬
fende Verwirrung um das Krankenbette des
Fürſten, der es bald mit dem Paradebette zu
vertauſchen drohte. Eilige Diener begegneten
ihm. Einer konnt' ihm ſagen, er habe einen
Rothmantel ins große Spiegelzimmer gehen
ſehen. Albano trat hinein, es war leer, aber
voll ſeltſamer Spuren. Ein großer Spiegel
lag auf der Erde, eine Tapetenthür darhinter
ſtand offen, ein offnes Souvenir, Räder und
weibliche Kleidungsſtücke waren um einen wäch¬
ſernen alten Kopf verſtreuet. Ihm war als
ſeh' er etwas was er ſchon geſehen und konnte
ſich's doch nicht nennen. Plötzlich erblickte er
in einem Eckſpiegel tief hinter ſeinem jungen
Geſicht ſich noch einmal, aber mit Alter bedeckt,
und dem wächſernen Kopfe ähnlich. Er blickte
ſich um, ein erhobner Spiegel-Zylinder ſchloß
ihm gleichſam die Zeit auf und er ſah in ihrer
Tiefe ſein graues Alter.


Schauernd verließ er das ſonderbare Ge¬
mach. Eine Kammerfrau Juliennens ſtieß ihm
H h 2[484] auf, ſie konnte ihm ſagen, daß ſie den „Schat¬
ten-Schneider“ im rothen Mantel mit einem
Perſpektive in der Hand über den Schloßhof
habe hinausgehen ſehen. Er eilte nach, da kam
ihm Auguſti unter dem Thore entgegen mit der
Bitte des Fürſten, ihn noch einmal zu beſu¬
chen; „jetzt unmöglich, ich muß erſt den wahn¬
ſinnigen Schoppe wieder haben“ verſetzt' er.
In ſeiner Bruſt lebte nur der Freund; auch
nahm er den Fürſten nur für die Maske ſeiner
ſprechſüchtigen Schweſter. „Ich ſah ihn auf dem
Wege nach Blumenbühl“ ſagte der Lektor. Er
flog davon. Am Thore wurde Auguſti's Nach¬
richt von der Wache beſtätigt.


Auf der Blumenbühler Straße begegnete
ihm der Wagen des Hofpredigers Spener, der
zum Fürſten fuhr. Albano fragte nach Schop¬
pe. Spener berichtete, er habe mit ihm, da
er vor einem einzelnen Hauſe einer kranken al¬
ten Beichttochter wegen, eine Stunde lang ge¬
holten, viel geſprochen, ihn geſund, ungemein
vernünftig, nur älter und zurückhaltender als
gewöhnlich gefunden. Auf die Frage nach ſei¬
nem Wege, verſetzte der Hofprediger: er ſey
[485] nach der Stadt. Das ſchien ihm unmöglich,
aber Spener's Leute beſtätigten es vom Grün¬
rock. Albano ſprach von einem rothen Man¬
tel, alle und Spener blieben bei dem grünen
Rock.


Er kehrte wieder um in ſein eignes Haus,
wo vielleicht ihn ſelber, dacht' er, Schoppe ſu¬
che und erwarte. Der Leibeigne des Doktors,
der hagere Malz, ſprang ihm mit der Nach¬
richt entgegen, Herr v. Auguſti hab' ihn eben
geſucht und der kranke Herr ſey zum alten Thor
hinaus ſpazieren gegangen in einem neuen grünen
Rock. Es war die Straße nach dem Prinzengar¬
ten, die er nach Albano's Vermuthung gewiß ge¬
nommen, ſobald ihm des Spaniers gleiche kund
geworden. Drauſſen wurde ſie durch Falterle
beſtätigt, welcher erzählte, er habe bei dem
Ausritt ihn eingeholt und ſogleich befragt:
„wohin ſo eilig, Herr Bibliothekar?“ darauf
ſey er ſtill geſtanden, hab' ihn ernſthaft ange¬
ſehen und die Antwort gegeben: „wer ſind
Sie? Sie irren ſich“ und ſey fortgegangen.
Albano fragte nach der Kleidung: „in grüner“,
verſetzte Falterle. Jetzt war ſein Weg entſchie¬
[486] den. Der müßige Reiter konnte ſogar bekräf¬
tigen, daß der Oheim früher denſelben ge¬
nommen.


Spät abends kam Albano im Prinzengar¬
ten an. Er ſah einige Wagen an dem Hofe
des kleinen Gartenſchloſſes. Endlich begegneten
ihm Leute ſeines Vaters, die ihm ſagen konn¬
ten, Schoppe ſey ruhig, froh und lange in dem
Garten mit einem Herrn von Haſenreffer aus
Haarhaar umhergegangen und mit ihm nach
der Stadt gefahren. „An einem Menſchen hat
er doch wieder einen Schutzgeiſt und Wärter“
dachte Albano und der kalte Regen, der ihn
bisher quälte, war weggezogen, obgleich der
Himmel noch trübe blieb. Er wich mit ſeinem
angegriffnen Herzen, das in dieſer Landſchaft
nur von einem dunkeln Horizont umgeben war,
jeder Geſellſchaft und dem Luſtſchloß aus. Fern
vorübergehend wagt' er es, einen traurigen
Blick auf die Schlummerinſel zu werfen, wo
Roquairol's Grabhügel, wie ein ausgebrannter
Vulkan, neben der weiſſen Sphinx zu ſehen war.
„Still liegt endlich das unbändige Schwungrad
um, aus dem Strom der Zeit gehoben, nur
[487] mit dem Grabe ſchloß ſich der Janustempel
deines Lebens zu, du gequälter und quälender
Geiſt,“ dachte Abano voll Mitleiden, denn er
hatte den Todten ſonſt ſo ſehr geliebt. Droben
auf dem Gartenberg mit einem Lindenbaum
ruhte ſeine ſanfte Schweſter, der freundliche,
liebliche Friedensengel mitten im Kriegsgetüm¬
mel des Lebens, Sie der ewige Friede, wie
Er der ewige Krieg. Er beſchloß hinauf zu
gehen und allein oben bei der Himmelsbraut
zu ſeyn und auf dem den Blumen geweihten
Boden das Beet aufzuſuchen, unter welchen
ihre Blumen-Aſche ſich vor den Stürmen zu¬
gedeckt. Da er den Vorſatz nur dachte, ſo
drangen Thränenſtröme wie Schmerzen aus
ſeinen Augen; denn die bisherigen Nachtwa¬
chen und Sorgen hatten ihn träumeriſch-auf¬
gelöſet und ſo manches Unglück in ſo kurzer
Zeit dazu, das ihm das ſchöne feſte Leben von
einem Ende zum andern mit giftigem Stachel
und Zahn durchgraben hatte.


A!s er in der noch mondloſen aber ſtern¬
reichen Dämmerung, worin nur der Abendſtern
der Mond war, gleichſam ein kleinerer Spie¬
[488] gel der Sonne, den Hügel hinaufgieng: ſah er
aus dem Prinzengarten ein Paar graugeklei¬
dete Menſchen heftig winken, als wollten ſie
ihm den Gang verbieten. Er gieng unbeküm¬
mert weiter, ja er wußte nicht einmal, ob
nicht ſein vom Wachen glühendes und von
Lebens-Stößen erſchüttertes Gehirn ihm dieſe
Geſtalten wie aus einem Hohlſpiegel vorflat¬
tern laſſe.


Wie in einen griechiſchen dachloſen Tem¬
pel, trat er in den heiligen Kloſter-Garten
der ſtillen Nonne, worin der Lindenbaum laut
ſprach und die ſtillen Blumen wie Kinder über
der Ruhenden ſpielten und ſich neigten und
wiegten. Hoch und weit giengen die Sternen¬
bogen wie ſchimmernde Ehrenbogen über die
kleine Erdenſtelle her, über den geheiligten Ort,
wo ſich Lianens Hülle, das kleine Licht- und
Roſenwölkchen, niedergeſenkt, als es den En¬
gel nicht mehr zu tragen hatte, der in den Äther
gegangen war und aller Wolken nicht mehr
bedurfte. Plötzlich erblickte der ſchaudernde Al¬
bano Lianens weiſſe Geſtalt an die Linde ge¬
lehnt und gegen den Abendſtern und die Abend¬
[489] röthe gewandt; lange ſchauete er an der ſeit¬
wärts gekehrten Geſtalt die himmliſch-herab¬
ſteigende Antlitz-Linie an, womit Liane ſo oft
als eine Heilige unbewußt neben ihm geſtan¬
den — noch glaubt' er, ein Traum, der Pro¬
teus der menſchlichen Vergangenheit, ziehe das
Luftbild aus dem Himmel hernieder und ſpiel'
es vor und er erwartete das Vergehen. Es
blieb, aber ruhig und ſtumm. Hinknieend, wie
vor der offnen Pforte des weiten langen Him¬
mels voll Verklärung und Gottheit, und auf¬
geriſſen aus den Erden-Thälern, rief er aus:
„Erſcheinung, kommſt Du von Gott, biſt Du
Liane?“ und ihm war als ſterb' er.


Schnell blickte die weiſſe Geſtalt ſich um
und ſah den Jüngling, ſie ſtand langſam auf
und ſagte: „ich heiſſe Idoine, ich bin unſchul¬
dig an der harten Täuſchung, ſehr unglückli¬
cher Jüngling.“ — Da bedeckte er ſeine Au¬
gen, aus ſchnellem Schmerz über die Wieder¬
kehr der ſchweren kalten Wirklichkeit. Darauf
ſah er die ſchöne Jungfrau wieder an und ſein
ganzes Weſen zitterte vor ihrer verklärten Ähn¬
lichkeit mit der Todten, ſo lächelte ſonſt Lianens
[490] zarter Mund im Lieben und Trauern, ſo öf¬
nete ſich ihr mildes Auge, ſo gieng ihr feines
Haar um das blendend-weiſſe, gefällige An¬
geſicht, ſo war ihr ganzes ſchönes Gemüth und
Leben aufrichtig in ihr Antlitz gemahlt — Nur
ſtand Idoine größer da, wie eine Auferſtan¬
dene, ſtolzer und länger ihre Geſtalt, blaſſer
ihre Farbe, denkender die jungfräuliche Stirn.
Sie konnte, da er ſie ſo ſchweigend und ver¬
gleichend anblickte, ſich der Rührung über den
getäuſchten Unglücklichen nicht erwehren und ſie
weinte, und er auch.


„Betrüb' ich Sie auch?“ ſagte er in höch¬
ſter Bewegung. Mit dem Sprachtone der
Jungfrau, die unter den Blumen lag, ſagte
unſchuldig Idoine: „ich weine nur, daß ich
nicht Liane bin.“ Schnell ſetzte ſie hinzu: „ach
dieſe Stelle iſt ſo heilig, und doch iſt's der
Menſch nicht genug.“ — Er verſtand ihre
Selbſt-Rüge nicht. Ehrfurcht und Offenher¬
zigkeit und Begeiſterung bemächtigten ſich ſei¬
ner, das Leben ſtand glänzend aus der engen,
bangen Wirklichkeit auf, wie aus einem Sarg,
der Himmel ſank näher herzu mit hohen Ster¬
[491] nen und beide ſtanden mitten unter ihnen:
„Edle Fürſtinn, (ſagt' er,) hier entſchuldigen
wir uns beide nicht — Die heilige Stelle nimmt,
wie eine zweite Welt, das Fremdſeyn weg —
Idoine ich weiß es, daß Sie mir einſt den Frie¬
den gegeben und vor der verborgnen Hülle des
Geiſtes, in deſſen Sinne Sie ſprachen, dank'
ich Ihnen hier.“


Idoine antwortete: „ich that es, ohne Sie
zu kennen und darum konnt' ich mir den kur¬
zen Gebrauch oder Mißbrauch einer entfliehen¬
den Ähnlichkeit erlauben. Hätt' es von mir ab¬
gehangen, ſo hätt' ich Sie nie mit einer ſo
unbedeutenden, wie eine äuſſere iſt, doch ſo
ſchmerzlich erinnert. Aber ihr Herz verdient
Ihr Andenken und Ihre Trauer. Man ſchrieb
mir, Sie wären nicht mehr in Lindenſtadt.“ —
Sie ſuchte jetzt zum Fortgehen zu eilen. „In
einigen Tagen (antwortete er) werd' ich auch
reiſen. Ich ſuche Troſt im Kriege gegen den
Frieden des Grabes und der Wüſte, der mein
Leben ſtille macht.“ — „Ernſte Thätigkeit, glau¬
ben Sie mir, ſöhnet zuletzt immer mit dem Le¬
ben aus“ ſagte Idoine, aber die ruhigen Wor¬
[492] te wurden von einer bebenden Stimme getragen,
denn durch Hülfe ihrer Schweſter hatte ſie das
ganze graue Regenland ſeiner Gegenwart vor
das Auge bekommen und ihr Herz war voll
tiefen Mitleidens gegen die Menſchen.


Er ſah ſie hier ſcharf an, ihre Nonnen-Au¬
genlieder, die immer unter dem Sprechen ſich
über die ganzen großen Augen niederſenkten,
machten ſie einer entſchlummerten Heiligen ſo
ähnlich; — er wurde von ihren letzten Worten
an ihr fruchttragendes Leben in Arkadien erin¬
nert, wo der bunte Blüthenſtaub ihrer Ideen
und Träume, ungleich dem ſchweren todten
Goldſtaub des bloßen Reichthums, leicht im
heitern Leben flatternd, unbemerkt belebend,
endlich feſte Wälder und Gärten auf der Erde
ausbreitete — alles in ihm liebte ſie und rief:
nur ſie könnte deine letzte wie deine erſte Lie¬
be ſeyn — und ſein ganzes Herz, durch Wun¬
den offen, war der ſtillen Seele aufgethan.
Aber ein ernſter, harter Geiſt ſchloß es wieder
zu: „Unglücklicher, liebe keine mehr, denn ein
dunkler Würgengel geht hinter Deiner Liebe
mit dem Schwerdt, und welche Roſenlippe Du
[493] an Dich drückſt, dieſe berührt er mit der ſchar¬
fen Schneide oder mit der Giftſpitze, und dann
vergeht oder verblutet ſie.“ —


Er ſah ſchon den Glanz dieſes Schwerdts
im langen Dunkel ziehen; denn Idoine hatte
das Gelübde gethan, nie unter ihrem Fürſten¬
ſtande die Hand zum Bunde der Liebe zu rei¬
chen. So ſtanden beide geſchieden neben ein¬
ander in Einem Himmel, eine Sonne und ein
Mond, durch eine Erde getrennt. Sie beſchleu¬
nigte ihre Entfernung. Albano hielt es nicht
für recht, ſie zu begleiten, da er jetzt errieth,
daß die graugekleideten Menſchen, die ihm zu¬
rückgewinket, ihre Bedienten geweſen, die ihr
Einſamkeit zuſichern ſollen. Sie reichte ihm an
der Gartenthüre die Hand und ſagte: „leben
Sie glücklicher, lieber Graf; einſt hoff' ich Sie
ſo glücklich wieder zu finden als Sie ſich ma¬
chen ſollen.“ Die Berührung der Hand wie
einer himmliſchen, die ſich aus den Wolken
giebt, durchſtrömte ihn mit einem verklärten
Feuer jener Welt, wo Auferſtandne leicht und
ſchimmernd ſchweben und die hohe Ehrfurcht
gebende Geſtalt begeiſterte ſein Herz; — er
[494] konnte nicht ſagen, was er in ſich beſiege und
bedecke, aber auch kein anderes kaltes verklei¬
detes Wort; — er knieete nieder, drückte ihre
Hand an die Bruſt, ſah weinend an den Ster¬
nenhimmel und ſagte bloß: „Frieden, Allgüti¬
ger!“ — Idoine wandte ſich eilig ab und gieng
nach einigen ſchnellen Schritten langſam den
kleinen Hügel in den Prinzengarten hinunter.


Nach wenigen Minuten ſah er die Fackeln
ihres Wagens durch die Nacht fliegen, in der
ſie gern zu reiſen wagte. Um den Hügel war
es dunkel, die Abendröthe und der Abendſtern
waren untergegangen, die Erde wurde ein
Rauch und Schutt der Nacht, am Horizont
bauete ein Trauergerüſt von Wolken ſich auf.
Aber in Albano war etwas unbegreiflich Freu¬
diges, ein lichter Punkt in der Finſterniß des
Herzens. Und als er den Leucht-Atom an¬
ſchauete, breitete er ſich aus, wurde ein Glanz,
eine Welt, eine unendliche Sonne. Jetzt er¬
kannt er es, es war die rechte unendliche und
göttliche Liebe, welche ſchweigen kann und lei¬
den, weil ſie nur Ein Glück kennt, aber nicht
das eigne.


[495]

Er war erfreuet über das Überhüllen feiner
Bruſt und über ſeinen Entſchluß, ſie nicht wie¬
der zu ſehen in der Stadt. „So ſtill (ſagt'
er halb betend halb ſprechend) will ich Sie
ewig lieben — ihre Ruhe, ihr Glück, ihr ſchö¬
nes Streben bleibe mir heilig und ihre Geſtalt
mir verdeckt und fern wie die ihrer Himmels-
Schweſter — Aber wenn die Schlacht für das
Recht anfängt und die Töne neben den Fah¬
nen in die Höhe wehen und das Herz eifriger
ſchlägt, um ſtärker zu bluten, dann ziehe dein
Bild, o Idoine, mir im Himmel voran und
ich ſtreite für dich; und wenn im Getümmel
ein unbekannter Würgengel die giftige Schnei¬
de über die Bruſt zieht: ſo will ich im ermat¬
tenden Herzen dich feſthalten bis mir die Erde
vergeht.“


Er ſah ſich nach dieſem Gebete heiter um
auf dem Gottesacker des jungfräulichen Her¬
zens, er fühlte, Liane allein dürf' es wiſſen
und ſie werd' ihn ſegnen.

138. Zykel.

Albano konnte in einer Gegend, in wel¬
cher die einzelnen Säulen und Bogen des zer¬
[496] ſtörten Sonnentempels ſeiner Jugend umher¬
lagen, keine Nacht zubringen: ſondern er be¬
gab ſich traurig-träumend auf den Weg zur
Stadt. Unterwegs fand er den Landſchafts-
Direktor Wehrfritz zu Pferd, der ihn ſuchte.
„Herr Sohn, (ſagt' er,) es ſind mir von Dei¬
nem intimen Freunde, Herrn Schoppe, die
wichtigſten Sachen zu Händen geſtellt wor¬
den, die ich nur in Deine eignen wieder
auszuhändigen habe, was ich denn hiemit eilig
thue. Denn Muße hab' ich bei Gott wenig,
der Fürſt iſt dieſen Abend mit Tod abgegangen
vor Schreck, weil jemand ſagte, ſein alter Va¬
ter, der ihm zum Todes-Anzeichen ſoll zum
zweitenmal zu erſcheinen verſprochen haben, ſey
im Spiegelzimmer zu ſehen, was aber nur,
hör' ich, was von Wachs geweſen. Es ſind
die Sachen, die ich auszuliefern habe, erſtlich
ein Perſpektiv, womit Du Deine Mutter und
Schweſter gemahlt ſehen wirſt (ich bediene mich
mit Fleiß Herrn Schoppens eigner Ausdrücke),
zweitens ein geſchriebenes Paquet, addreſſirt
an: Albano, erzogen bei Wehrfritz, das noch
halb in einer zerſchlagnen ſchwarzen Marmor¬
ſtufe[497] ſtufe ſteckt und drittens Dein Portrait.“ Das
Portrait ſtellte Albano im jetzigen Alter dar,
fand man — ſo viel die Sterne zu ſehen gönn¬
ten —, indeß er ſich doch nie mahlen laſſen.
Die ſchwarze Marmorſtufe und das Perſpek¬
tiv brachten ihm die Prophezeiung ſeines Va¬
ters auf Isola bella*) vor die Seele: ihm wer¬
de in einem Bilderkabinet eine weibliche Geſtalt
aus der Wand entgegen treten und ihm einen
Ort aufſchreiben, wo er die ſchwarze Stufe
und vorher einen zeigen, wo er das Per¬
ſpektiv zu finden habe, deſſen Okularglas ihm
aus dem alten Bilde ſeiner Schweſter ein jun¬
ges kenntliches und deſſen Objektivglas aus
dem jungen Bilde ſeiner Mutter ein altes kennt¬
liches machen werde.


Albano that ängſtliche Fragen nach Schop¬
pe und der Fundgeſchichte der ſeltſamen Fracht.
„Mit H. Schoppe geht es gut genug, (ant¬
wortete Wehrfritz,) er muß hier in der Nähe
ſeyn mit einem fremden Herrn.“ Albano frag¬
te nach ſeiner Kleidung; dieſe wurde zu ſeinem
Titan IV. I i[498] Erſtaunen wieder aus einer grünen zur rothen.
Kaum hatte Wehrfritz die wunderbare Geſchich¬
te, wie Schoppe jene Wunderdinge überkam,
zu geben angefangen: ſo unterbrach Albano,
der daraus die Auflöſung der väterlichen Pro¬
phezeiung abnahm, vor Erwartung den Bericht
mit der Bitte, ihn zu der nahen Kreuzkapelle
zu begleiten, um welche mehrere Laternen ſtan¬
den. Er hatte beide Medaillons immer bei
ſich, und war jetzt ſo begierig, das Angeſicht
ſeiner Mutter durch das Objektivglas zu ſehen
ſo wie das Papier zu leſen.


Bei der äuſſerſten Laterne hielten ſie, Al¬
bano nahm das Medaillon der veralteten Ge¬
ſtalt hervor, worunter ſtand: nous nous ver¬
rons un jour, mon frère
, er beſah es durch
das Okularglas: ſiehe, das alte Geſicht war
das junge ſeiner Julienne. Vertrauend und
ungeſtüm hielt er das altmachende Glas ans
junge Bild, worunter ſtand: nous ne nous
verrons jamais. mon fils
, — ein freundliches
aus einem langen Leben herüberlächelndes al¬
tes Geſicht erſchien, deſſen erblicktes Urbild ihm
in einer tiefen, dunkeln Erinnerung lag aber
[499] nahmenlos; von Linda's Mutter hatt' es indeß
keinen Zug.


Auf einmal hört' er eine bekannte Stimme:
ecco ecco! — Mein Neveu, mein Herr!“
Es war Albano's Oheim, der den ſchwarzge¬
kleideten, wehklagenden Schoppe zu ziehen
ſchien und weinerlich den Neffen anredete:
„ach, Neveu! O ich ſage die Wahrheit, nur
Wahrheit pour jamais.“ Er ſah lachend aus und
glaubte zu weinen. Der Schwarzrock trat näher,
wurde ein Grünrock und ſagte: „Herr Graf,
täuſchen Sie ſich keine Minute, unſre Bekannt¬
ſchaft beginnt mit einem gemeinſchaftlichen Ver¬
luſt.“ — „Mein Schoppe, (ſagte Albano er¬
ſchüttert,) kennſt Du mich nicht mehr?“ —
„O wär' ich es jetzt! Ich heiße Siebenkäs,“
verſetzte der Grünrock und hob jammernd die Hän¬
de in die Höhe. „Er liegt aber da in der Ka¬
pelle, (ſagte der Spanier,) ich will alles ſo
wahrhaftig erzählen, daß es ſchön iſt. Ich
glaube nicht, daß der Finſtere kommt.“ — Al¬
bano warf einen Blick in die Kapelle und mit
einem Schrei des Schmerzens ſtürzt' er dar¬
nieder.


I i 2[500]

139. Zykel.

Schoppens Geſchichte war nach Wehrfritzens
und des Oheims Ausſagen dieſe: er war aus
dem Nothſchlummer glühend aufgefahren, auf
dem ſchnaubenden Streitroß der Rachſucht ge¬
gen den Spanier wurd' er fortgeriſſen. Im
Gaſthofe des letztern wies ihn der Bediente
mit einer Lüge nach dem Schloſſe. Hier ge¬
langt' er, im verworrenen Getümmel um den
leidenden Fürſten, ungefragt, ungeſehen in das
Spiegelzimmer, wo er einmal die Gräfin Lin¬
da um Idoinens Friedenswort für den wahn¬
ſinnigen Freund gebeten hatte. Als der Zylin¬
der-Spiegel, der die langen Jahre des Alters
auf das junge Geſicht gräbt und Moos und
Schutt der Zeit darauf ſchüttet, ihm ſein Bild
vermooſet und verraſet entgegen warf, ſagt'
er: „ho ho, der alte Ich ſteckt wo in der Nä¬
he“ und ſchauete grimmig umher.


Aus den Spiegeln der Spiegel ſah er ein
Ichs-Volk blicken. Er ſprang auf einen
Stuhl, um einen langen Spiegel loszumachen.
Indem er den Nagel deſſelben rückte, ſchlug in
der Wand eine Uhr zwölfmal. Hier fiel ihm
[501] die Weiſſagung Gaſpards ein, die ſein Freund
ihm auvertrauet hatte, und alle Regeln, die
dieſem zur Löſung der Räthſel vorgeſchrieben
waren. In der Weiſſagung war zwar die Re¬
de von einem Bilderkabinette, aber ein Spie¬
gelzimmer iſt auch eines, nur flüſſiger und tie¬
fer hinter der Wand. Er nahm (folgſam den
von Gaſpard gegebnen Regeln) den Spiegel
herab, — fand und öffnete die Tapetenthür in
der Größe des Spiegels — die hölzerne weib¬
liche Geſtalt mit dem offnen Souvenir in der
Linken und dem Crayon in der Rechten ſaß
darhinter — er drückte (nach der Vorſchrift)
den Ring am linken Mittelfinger — die Ge¬
ſtalt ſtand, innen rollend, auf — trat in das
Zimmer hinaus — hielt an der entgegengeſetz¬
ten Wand ſtill, zeichnete daran mit dem Crayon
in der Hand eine Linie herab, er zog die
Wandleiſte auf — das Perſpektiv und der
wächſerne Abdruck des Sargſchlüſſels lagen in
einem Fach darhinter — Jetzt drückt' er den
Ringfinger, die Figur ſetzte den Crayon aufs
Souvenir und ſchrieb: Sohn, gehe in die Für¬
ſtengruft in der Blumenbühler Kirche und öffne
[502] den Sarg der Fürſtin Eleonore, ſo findeſt Du
die ſchwarze Stufe. —


Wenn das geſchehen, hatte der Ritter zu
Albano geſagt, und die Marmorſtufe doch nicht
im Sarge gefunden ſey: ſo ſoll' er den dritten
Ring am Ohrfinger drücken, worauf etwas ge¬
ſchehe was er ſelber nicht vorauswiſſe. Schop¬
pe verſuchte vorher, eh' er in die Blumenbüh¬
ler Kirche gieng, den Druck dieſes Fingers —
die Figur blieb ſtehen — aber innen fieng es
zu rollen an — die Arme dehnten ſich aus und
fielen ab — Räder rollten heraus — endlich
zerlegte ſich die ganze Geſtalt durch einen me¬
chaniſchen Selbſtmord und ein alter Kopf von
Wachs erſchien.


Hier gieng Schoppe davon, um nach Blu¬
menbühl zu laufen und aus der Gruft die Leuchte
für dieſes Nachtſtück zu holen. Eben waren
Mittags Kirche und Gruft — vielleicht weil
man dem neuen ſterbenden Höhlen-Gaſt Raum
vorbereitete — offen gelaſſen. Ohne erſt den
wächſernen Schlüſſel in einen eiſernen zu ver¬
wandeln, erbrach er ungeſtüm mit einem Ar¬
beitseiſen den Sarg und holte die Marmorſtu¬
[503] fe und Albano's Portrait ſchnell heraus. Er
zerſchlug jene hinter einem Buſch. Als er die
Aufſchrift las, unterſucht' er nicht weiter; er
eilte in Albano's Haus, um alles zu überge¬
ben. Beide aber ſuchten ſich wechſelſeitig um¬
ſonſt. Indeß traf er den rechtſchaffenen Wehr¬
fritz an, durch welchen allein er eine ſo wich¬
tige Beute abſchicken konnte; er ſelber war jetzt
dem Todfeinde, dem Spanier, auf der Spur
und keine Gewalt konnt' ihn aus der zornigen
Jagdbahn treiben.


Bei Sonnenuntergang erblickte Schoppe
den Spanier, der aus dem Prinzengarten dem
Ebenbilde Siebenkäs entfliehend, ihm in die
Hände gelaufen kam — Er erſtarrte vor des
Wahnſinnigen Anblick, rief: „Herr und Gott,
ſeyd Ihr hinter mir und vor mir? ſeyd Ihr
roth und grün“ — und ſtürzte ſeitwärts in die
alte Kreuzkapelle hinein, um die heil. Jung¬
frau knieend anzurufen. Schoppe ſpannte ſeine
Kontursſchwingen aus, ſchoß hinzu und ſchlug
ſie vor der Kapelle zuſammen: „dreh Dich um,
Spaniard, ich freſſe Dich von vorne“ ſagte er.
„Heilige Mutter Gottes, hilf mir, — guter
[504] böſer Geiſt, ſteh mir bei, o Finſterer!“ betete der
Kahlkopf. — „Rutſche herum, Spitzbube, ohne
weitern Spaß,“ ſagte Schoppe, indem er mit
dem gezognen Stockdegen in der Luft von hin¬
ten ein Hufeiſen vor deſſen Geſicht beſchrieb.
Er drehte ſich elend auf den Knieen herum und
der Kopf hieng ſchlaff vom Halſe herab. Schop¬
pe fieng an: „nun hab' ich Dich, Miſſethäter,
Du beteſt mich ohne Nutzen auf den Knieen
an — ich habe das Richtſchwerdt — toll bin
ich auch — in wenigen Minuten, wenn wir
uns ausgeſprochen haben, ſtech' ich gegenwär¬
tigen Stockdegen in Dich — denn ich bin ein
Toller voll fixer Ideen.“ — „Ach Herr, (ver¬
ſetzte der Kahlkopf,) Ihr ſeyd gewiß ſehr ver¬
ſtändig und bei Verſtand und bei ſich, ich bitte
zu leben, es iſt ſo große Todſünde das Todtma¬
chen.“ — Schoppe verſetzte: „von meinem Ver¬
ſtande ein andermal! In effigie hab' ich Dich
ſchon erſchoſſen, nun will ich die Todſünde und
den Gewiſſensbiß nicht umſonſt herumtragen,
ſondern mich in natura dazu thun, Du Seelen-
Henker, Du Herz-Trepan!“


„Schoppe, Schoppe!“ rief es jetzt einige¬
[505] mal von Fernen mit Albano's Stimme. Er
ſah ſich ſchnell um, nichts war zu ſehen. „Gu¬
ter Schoppe, (fuhr es fort,) laſſe meinen Oheim
gehen!“ Jetzt entbrannte Schoppe und hob den
Dolch zum Stich: „Du gar zu verſteinerter
Bauchredner! Sollte man nicht gleich ins Zeug
hineinſtechen wie in ein bleſſirtes Pferd? Siehſt
Du denn nicht den hölliſchen verdammten Mord
und Todſchlag vor der Naſe, Deinen Peſtwa¬
gen ſchon angeſpannt, das ausgepolſterte Ge¬
rippe des Todes in mein Fleiſch geſteckt und
jetzt die Senſe heben? — Beichte, Spaniard,
um Jeſus Willen, beichte, Fliege, eh' ich ſpies¬
ſe, ſteche! Etwas präkavirſt Du Dich doch da¬
mit vor den Teufeln in der Hölle; biſt ſonſt drü¬
ben ein ganz ruinirter Mann.“


„Wo ſitzt der Pater? Ich beichte ja wohl.“
ſagte der Spanier.


„Hier ſteht Dein Galgenpater, ſchau' die
Schur“, ſagte Schoppe, vom gebückten tonſu¬
rirten Kopf den Hut abſchüttelnd.


„Hört meine Beichte! — Aber Nachts lei¬
det es der Finſtere nicht, daß ich die Wahr¬
[506] heit ſage — er kommt gewiß, er holt mich,
Vater, räuchert mich, wäſſert mich ein gegen
den Teufel.“


„Stief-Beichtſohn und Dieb, bin ich Dir
nicht Beichtpaters und Beichtvaters genug, der
Dich ſchon einwäſſern wird? Sage nur, Hund,
alles, ich abſolvire Dich und ſchlage Dich dann
todt zur Pönitenz. — Sage an, Du Krönungs¬
münze des Teufels, biſt Du nicht der Kahlkopf,
und der Vater des Todes und der Mönch zu¬
gleich, deſſen Figur voll Gas in Mola gen
Himmel fuhr, und hatteſt Bauchrednerei und
Wachsbilderei und einige Spitzbüberei bei der
Hand?“


„Ja, Vater, Bauchrednerie und Wachs¬
bildnerie und den Spitzbuben. Aber der böſe
Geiſt war überall dabei, ich ſagte oft nichts,
und es wurde doch geſagt und die Geſtalten
liefen.“ —


„Mordian, (ſagte Schoppe darüber er¬
grimmt,) faſſ' den Hund! — Noch lügſt Du,
Du Kloak ins Paradies gegraben, noch ins
Ohr der großen Parze hinein, Du mimiſche
[507] Mumie, Dein Todtenkopf ohne Lippe und
Zunge regt ſich noch zur Lüge? O Gott, was
ſind Deine Menſchen!“


„O Pater, nicht Lügen! Aber der Finſtere
will ſie Nachts, ich habe einen Bund mit ihm
angeſtiftet — Ich hab' ihn heute abends geſe¬
hen, er ſah wie Ihr aus und grün — O Ma¬
ria, o Pater, ich habe die Wahrheit geſagt,
dort kommt er grün — o Pater, o Maria,
und hat Eure Geſtalt und ein feuriges Auge
in der Hand — —“


„Niemand hat meine Geſtalt, (ſagte Schop¬
pe erſchüttert,) als der Ich.“


„O umguck'! Der böſe Geiſt kommt zu
mir — abſolvire — ſtich — ich will wegſter¬
ben!“ —


Schoppe ſchauete ſich endlich um. Der
ſchreitende Abguß ſeiner Geſtalt bewegte ſich
her — das Feuerauge in der Hand ſtieg in
das Geſicht — die Ichs-Larve war grün ge¬
kleidet — „Böſer Geiſt, ich bin doch in der
Ohrenbeichte, Du kannſt nicht her, ich bin hei¬
lig“ rief der Spanier und faßte Schoppen.
[508] Ihn faßte der Hund. Schoppe ſtarrte die grüne
Geſtalt an — der Degen entfiel ihm. „Mein
Schoppe, (rief ſie,) ich ſuche Dich, kennſt Du
mich nicht?“


„Lange genug! Du biſt der alte Ich —
nur her mit Deinem Geſicht an mein's und ma¬
che das dumme Seyn kalt“ rief Schoppe mit
letzter Manns-Kraft. „Ich bin Siebenkäs,“
ſagte das Ebenbild zärtlich und trat ganz nahe.
— „Ich auch, Ich gleich Ich“ ſagt' er noch
leiſe, aber dann brach der überwältigte Menſch
zuſammen und dieſer reinigende Sturm wurde
ein ſeufzendes, ſtilles Lüftchen. Mit weiß wer¬
dendem Geſicht, krampfhaft ſich ſelber die ſtar¬
ren Augen zuziehend ſtürzte er um, die ſpielen¬
den Finger ſchienen den Hund noch anzulocken
und die Lippen wollten ſich zu einem Spott¬
wort ſpitzen, das ſie nicht ſagten — Sein
Freund Siebenkäs, der nichts errathen konnte,
hob weinend die kalte, feſtgeſchloſſene Hand
an ſein Herz, an ſeinen Mund und rief: „Bru¬
der, blick' auf, Dein alter Freund aus Vaduz
ſteht ja neben Dir und ſieht Dich in der Todes¬
[509] noth, er ſagt Dir tauſend Lebewohl, Lebe¬
wohl!“ —


Das ſchien durch die dem Leben noch offnen
Ohren ins brechende Herz noch ſüße Töne der
alten lieben Zeit und heitere Träume der ewi¬
gen Liebe zu führen — Der Mund fieng ein
kleines Lächeln an, von Luſt und Tod zugleich
gezogen — die breite Bruſt ſtieg noch einmal
voll auf zu einem frohen Seufzer — es war
der letzte des Lebens und lächelnd blieb der
Verſtorbne auf der Erde zurück.


Nun haſt Du hienieden geendigt, ſtrenger,
feſter Geiſt, und in das letzte Abend-Gewitter
auf Deiner Bruſt quoll noch eine ſanfte, ſpie¬
lende Sonne und füllte es mit Roſen und
Gold. Die Erdkugel und alles Irdiſche, wor¬
aus die flüchtigen Welten ſich formen, war
Dir ja viel zu klein und leicht. Denn etwas
höheres als das Leben ſuchteſt Du hinter dem
Leben, nicht Dein Ich, keinen Sterblichen,
nicht einen Unſterblichen, ſondern den Ewigen,
den All-Erſten, den Gott. — — Das hie¬
ſige Scheinen war Dir ſo gleichgültig, das
böſe wie das gute. Nun ruhſt Du im rech¬
[510] ten Seyn, der Tod hat vom dunkeln Herzen
die ganze ſchwüle Lebens-Wolke weggezogen,
und das ewige Licht ſteht unbedeckt, das Du
ſo lange ſuchteſt; und Du, ſein Strahl, wohnſt
wieder im Feuer.


[511]

Fünf und dreißigſte Jobelperiode.

Siebenkäs — Beichte des Oheims — Brief von
Albano's Mutter — Das Kron-rennen — Echo
und Schwanengeſang der Geſchichte.


140. Zykel.

Lange lag Albano im einſamen finſtern Ab¬
grund, bis endlich Licht die Schlucht und die
grüne Höhe erleuchtete, von welcher er herun¬
ter ſtürzte. Das ſonſt lebensfärbige männliche
Geſicht des Freundes lag weiß vor ihm, der
rothe Mantel erhöhte noch den Leichenſchnee.
Der Hund lag mit dem Kopfe auf der Bruſt,
als woll' er ſie wärmen und ſchützen. Als Al¬
bano den nackten Degen ſah: blickte er im Krei¬
ſe umher, ſchauderte vor dem kalten Oheim,
[512] vor dem lebendigen Bruderbild des Todten und
vor dem erſten Argwohn zwiſchen fremden und
Selbſtmord und fragte leiſe: „wie ſtarb er?“
— „Durch mich, (ſagte Siebenkäs,) an unſe¬
rer Ähnlichkeit, er glaubte ſich zu ſehen, wie
dieſer Herr hier verſichert.“ Der Oheim er¬
zählte einige Punkte, Albano kehrte Ohr und
Auge von ihm ab; aber in den warmen Wie¬
derſchein der befreundeten Geſtalt ſenkt' er den
Blick, dem das Tageslicht der Freundſchaft un¬
tergegangen war. Siebenkäs ſchien ſich in ei¬
ner ſeltenen männlichen Haltung zu behaupten.
Auch Albano, der jüngere Freund, verbarg ſei¬
nen Jammer, daß er ſo viel verlohren und daß
nun ſein Waiſen-Herz ausgeſetzt ſey wie ein
hülfloſes Kind in die Wüſte des Lebens.


Wehrfritz fragte ihn, ob er ihm ein Pferd
zur Reiſe in die Stadt noch ſchicken ſolle?
„Mir? Ich jemals mehr in die Stadt? (frag¬
te Albano.) Nein, guter Vater, ich und Schop¬
pe gehen heute in den Prinzengarten.“ Er ent¬
ſetzte ſich vor der bloßen ſchwarzen Kirchhofs-
Landſchaft der Stadt, wo einmal ein goldner
Sonnenſchein und Laubengänge und Himmels¬
pforten[513] pforten voll Blumengewinde für ihn geblühet
hatten. O der junge Honig der Liebe, der alte
Wein der Freundſchaft, beide waren ja vom
Schickſal in Gräber gegoſſen! —


Der Todte wurde in das neue Schloß des
Prinzengartens gebracht. Nur Albano und
Siebenkäs folgten ihm nach. Als ſie allein
waren, ſah Albano erſt, daß der Freund ſei¬
nes Freundes bebe und wanke und daß bis
jetzt nur der Geiſt den Körper getragen. „Nun
wir beide (ſagte Albano) dürfen vor einander
trauern; aber nur Ihnen glaub' ich. Gott wie
war denn ſein Ende?“ Siebenkäs ließ vor ihm
die letzten Mienen und Laute des Armen vor¬
übergehen. „O Gott, (ſagte Albano,) er ſtarb
nicht leicht, wenn der Wahnſinn der Monate
zu Einer Minute wurde — reißend mußte der
Höllenfluß ſeyn, der ein ſo feſtes Leben weg¬
riß.“ — Siebenkäs nahm ſchwer den Glauben
an deſſen Wahnſinn an, weil der Todte ſo oft
in ſeinen ſchönſten Momenten auf ähnliche
Weiſe verkannt worden; aber Albano über¬
wand ihn endlich. Er erzählte weiter, daß er
auf der Heimreiſe begriffen geweſen, als ihn
Titan IV. K k[514] die wiederholte Verwechslung ſeiner Perſon mit
dem Todten auf die Vermuthung geleitet, hier
müſſe ſein lang entbehrter Leibgeber wandeln,
wiewohl er vor der erſten Erſcheinung und Ver¬
gleichung ſich faſt fürchten müſſen: „denn, H.
Graf, (ſagt' er,) Jahre und Geſchäfte, juriſti¬
ſche vollends, ach das Leben ſelber ziehen den
Menſchen immer weiter herab, anfangs aus
dem Äther in die Luft, dann aus der Luft auf
der Erde — Wird er mich kennen? ſagt' ich.
Ich bin ja nicht mehr der ich war und die phy¬
ſiognomiſche Ähnlichkeit möchte wohl die einzige
und feſteſte noch geblieben ſeyn. Aber auch
dieſe war vergangen; der Seelige ſieht noch
aus wie vor 10 Jahren. O nur eine freie See¬
le wird nicht alt! — Herr Graf, ich war
ſonſt ein Mann, der einen und den andern
Spaß mit dem Leben trieb und mit dem To¬
de auch und ich konnte ausrufen: Himmel!
wenn die Hölle aufgieng und derlei mehr — —
Ach Leibgeber, Leibgeber! Die Zeit hat wei¬
che, kleine Wellen, aber am Ende wird doch
der eckigſte, ſchärfſte Kieſel darin glatt und
ſtumpf.“ —


[515]

„Zählen Sie mir jede Kleinigkeit ſeiner Vor¬
zeit, (bat Albano,) jeden Thautropfen aus ſei¬
nem Morgenrothe zu, er war ſo karg mit ſei¬
ner dunkeln Geſchichte!“ — „Und das gegen
jeden (ſagte der Fremde). So viel will ich
Ihnen einmal aus wahren an Ort und Stelle
geſammelten Datis beweiſen, daß er ein Hol¬
länder iſt wie Hemſterhuis und eigentlich Kees
heiſſet wie Vaillants Affe, woran er Sieben
oder Seven geſetzt; denn Siebenkäs iſt ſein er¬
ſter Nahme. Aus der Amſterdammer Bank be¬
zog er ſeine Intraden. An jedem Neujahrs¬
abend verbrannt' er die Papiere des vorigen
Jahrs; und wie ſeine clavis Leibgeberiana be¬
kannt geworden, begreif' ich noch nicht.“ —
Darauf erzählte er ihren erſten Nahmen-Wech¬
ſel, wo Schoppe von ihm den Nahmen Leibge¬
ber annahm, dann jede Stunde und That ſei¬
nes treuen Herzens gegen den vorigen Armen-
Advokaten, dann ihren zweiten Nahmentauſch,
wo Siebenkäs ſich nahmentlich begraben ließ
und als Leibgeber fortfuhr, und ihren ewigen
Abſchied in einem voigtländiſchen Dorf.


Als Siebenkäs hier ſtand bei der Erzäh¬
K k 2[516] lung, faßte er die kalte Hand mit den Wor¬
ten: „Schoppe, ich dachte, ich fände Dich erſt
bei Gott!“ und neigte ſich weinend über den
Todten. — Albano ließ ſeine Thränen ſtürzen
und nahm die zweite todte Hand und ſagte:
„wir faſſen treue, reine, tapfere Hände.“ —
„Treue, reine, tapfere, (wiederholte Siebenkäs
und ſagte mit einem Schoppiſchen Lächeln:)
ſein Hund ſieht zu und bezeugt es einmal.“
Aber er wurde von der Bewegung blaß und
ſah jetzt ganz wie der Todte aus. Da berühr¬
ten er und Albano ſinkend ſich auf dem kal¬
ten Geſicht und Albano ſagte: „ſey auch mein
Freund, Lebendiger, wir können uns lieben,
weil er uns liebte. — Blaſſer, Deine Geſtalt
ſey das Siegel meiner Liebe gegen Deinen al¬
ten Freund.“


Albano riß jetzt das Fenſter auf und zeigte
ihm ein Grab in Oſten und eines in Süden
neben dem offnen dritten in der Nacht und
ſagte: „ſo weint' ich dreimal über das Leben.“
— Siebenkäs drückt' ihm die Hand und ſagte
bloß: „die Parzen und Furien ziehen auch
mit verbundnen Händen um das Leben, wie
[517] die Grazien und die Sirenen.“ Er ſah den
ſeltenen ſchönen feurigen Jüngling mit innig¬
ſter Liebe an; aber Albano, der nur wenig
geliebt zu ſeyn vorausſetzte und den die Feuer¬
zeichen eines Dians und Roquairol's verwöhnt,
wußt' es nicht, wie ſehr er das ruhigere Herz
gewonnen hatte.

141. Zykel.

Am Morgen kehrte mehr Sonne und Kraft
in Albano's Bruſt zurück. Er mußte nun in
der plattgedrückten Ebene ſeines Lebens ſich
den Berg ſelber vorheben. Nur Peſtiz wieder
zu ſehen, wo alle Turnirgenoſſen ſeiner glän¬
zenden Tage verſchwunden waren, den einzi¬
gen Dian ausgenommen, verabſcheuete er; „hat
dieſer ſein Grab auf der Bruſt, ſo zieh ich und
ſcheide von niemand“ ſagte er.


Da langte der verhaßte Oheim mit den
Wagen voll Zauberſtäbe an und ſagte weiner¬
lich, er geh' ins Karthäuſer-Kloſter, büße für
viele Sünden, und er wolle vorher dem Nef¬
fen gern alles erklären, ſowohl mit Worten als
mit den Wagen, was er begehre. „Ich glaub'
[518] Euch nichts“ ſagte Albano. „Jetzt darf ich alle
Wahrheit ſagen, denn der Finſtere thut mir
nichts, ich denke, Cousin (verſetzte der Spa¬
nier) — iſt der da (ſetzt' er leiſe mit einem
ſcheuen Blick auf Siebenkäs dazu) nicht der
Finſtere, Cousin?“ Albano wollte nichts wis¬
ſen und hören. Siebenkäs fragt' ihn, wer der
Finſtere ſey. „Es ſey der unendliche Mann,
(begann er,) ſehr ſchwarz und finſter, und ſey
zum erſtenmal vor ihn geſchritten über das
Meer her, als er an der Küſte ſtand vor einem
Nebel — Nachts hab' er ihn oft rufen hö¬
ren und zuweilen hab' er ſeine Bauchreden wie¬
derholt — er ſey ihm ſogleich erſchienen mit
einer Hand voll Drohungen, ſobald er nach
Sonnenuntergang viele Wahrheiten geſagt, da¬
her hab' er ſich in der Kreuzkapelle vor dem
gegenwärtigen Herrn ſehr gefürchtet — aber jetzt,
ſeitdem er ſich ohne allen Schaden in der Ka¬
pelle bekehret habe, ſag' er den ganzen Tag
Wahrheiten und im Karthäuſer-Kloſter gedenk'
ers noch mehr.“


„In Klöſtern wohnen ſie ſonſt eben nicht,
daher wird glaub' ich eben das Gelübde des
[519] Schweigens gefodert, das immer der Wahr¬
heit zuträglicher iſt als deſſen Bruch“ verſetzte
Siebenkäs. „O Ketzer, Ketzer!“ rief der Spa¬
nier ſo unerwartet zornig, daß Albano durch die¬
ſe Menſchlichkeit auf einmal von deſſen jetziger
Wahrhaftigkeit Pfänder bekam, ſo wie von des¬
ſen engerm Geiſtes-Umfang. Nun erſt fragt'
er ihn über die Erde und den Samen aus, die
er bisher gebraucht, um ſeine ſchnellen Wunder¬
blumen vorzutreiben.


Er ließ auf dieſe Frage einen Kaſten her¬
auftragen. „Fragt“ ſagt' er. „Wie ſtieg aus
dem Lago Maggiore Romeiro's Geſtalt?“ ſag¬
te Albano. Der Oheim ſchloß auf, zeigte eine
Wachsfigur und ſagte: „es war nur ihre Mut¬
ter.“ Albano ſchauderte vor dieſer nahen Ne¬
benſonne ſeiner untergegangnen Sonne und vor
der Vermuthung der Verwandtſchaft, die ihm
Schoppe eingeflößet: „bin ich ihr verwandt?“
fragt' er ſchnell. Der Oheim verſetzte beſtürzt:
„es wird wohl anders ſeyn.“ Albano fragte
nach dem himmelfahrenden Mönch in Mola:
„er oben mit Gas gefüllt, ich unten an der
Mauer ſtand,“ ſagte der Oheim. Albano
[520] wollte nichts weiter wiſſen; im Kaſten waren
noch Hör- und Sprachröhre, eine Geſichtshaut,
blaues Glas, durch welches die Landſchaften
beſchneiet erſcheinen, ſeidene Blumen mit Pul¬
ver von einem endormeur u. ſ. w.; Albano
wollte nichts mehr ſehen.


„Böſes Weſen! wer ſtiftete Dich dazu an?“
fragte Albano. „Der ſtarke Bruder, (ſagte der
Oheim, denn ſo nannte er den Ritter gewöhn¬
lich,) er gab mir zu leben und er wollte mich
todtſchießen; denn er lacht ſehr, wenn die
Menſchen ſehr hübſch betrogen werden.“ —
„O keinen Laut darüber (rief Albano peinlich,
dem der Zorn gegen den Ritter alle Adern mit
Thränen-Feuer und Gift ausſprützte) — Un¬
glücklicher! wie wurdeſt Du der?“ — „So?
Bin ich unglücklich?“ fragt' er eiskalt. Er be¬
richtete — aber abgebrochen und verworren,
welches ihm in jeder Sprache in ſeiner eignen
Rolle begegnete, indeß er in fremdem Nah¬
men, z.B. des Kahlkopfs, gut und lange ſpre¬
chen konnte —: er habe ein ſchwarz-graues
und ein blaues Auge, ſeit der Mannbarkeit
einen verborgnen Kahlkopf, und ein beſonde¬
[521] res Gedächtniß und habe daher Schauſpieler
werden wollen; weil er nichts zu thun gehabt,
denn er ſey nie verliebt geweſen; aber ſo lang'
er nicht improviſirt, ſey es nicht gegangen. —
Den Joſeph Klark, der alle Verwachſene nach¬
machen können, und den Betrüger Price, der
in dreifacher Perſon herumgegangen, hab' er
immer im Sinne gehabt — Da ſey ihm der
Finſtere Abends wieder in einem Nebel des
Ufers über dem Waſſer entgegengetreten und
habe wie aus dem Bauche gemurmelt: „Pep¬
po, Peppo
! *) ſchluck' das wahre Wort zu¬
rück, ich will das andere ſchon ausſprechen“
— Und von dieſer Stunde an hab' er die
Bauchſprache gekonnt — Er habe damit Todte
und Stumme und Sprachmaſchinen und Pa¬
pagaien und Schlafende und fremde Leute ins
Theater, gut reden laſſen, aber niemand in
der Kirche, und das hab' ihn wohl ergötzt —
Ein unaufhörliches Echo hab' er oft auf Fel¬
ſen gegeben, ſo daß die Menſchen gar nicht
wußten, wenn ſie fortgehen ſollten. Er habe
[522] auch einmal ein ganzes Schlachtfeld voll Tod¬
ter untereinander reden laſſen, in allen Spra¬
chen, zum Erſtaunen des alten Generals.


„Wo war das?“ fragte Siebenkäs. —
Der Spanier kam zu ſich und verſetzte: „ich
weiß es nicht; iſt es denn wahr? Omnes, ho¬
mines ſunt mendaces
, ſagt die heil. Schrift.”
— „So wenig wahr (ſagte Albano) als Euer
finſterer Geiſt!“ — „O Maria, nein (ſagt'
er entſchieden,) — wenn ich etwas weiſſagte, ſo
macht' er ja, daß es doch eintraf; dann er¬
ſchien er mir und ſagte: ſiehſt Du, Peppo,
aber ſage nur keine Wahrheit! — Und in der
Nacht, da ich neben Euch nach Lilar gieng,
gieng, er unten im Thale als ein Menſch durch
die Luft hin.“ — „Das ſah ich auch, (ſagte
Albano,) er ſchwebte weiter ohne ſich zu re¬
gen.“ — „Das war bloß einer (ſagte Sieben¬
käs lächelnd) der in einem fortſchwimmenden
Kahne mit verſteckten Beinen ſtand und nichts
weiter.“ — Da blickte der Spanier dieſes Eben¬
bild der Leiche mit dem alten Grauſen an, wo¬
mit er es bisher heimlich für den finſtern Geiſt
ſelber gehalten, murmelte Albano ins Ohr:
[523] „ſieh, dieſes Weſen weiß es“ und ſagte zur
Entchſuldigung der Wahrheiten: „die Sonne
iſt noch nicht untergegangen“ und eilte, ohne
auf Menſchen-Bitten zu hören, deren Kraft
ihm nie bekannt geworden, ohne Leid und
Freud' davon, um noch vor Sonnenuntergang
ins nahe Karthäuſer-Kloſter einzutreten. Al¬
les Trugs-Geräthe hatt' er ſtehen laſſen.


„Ein fürchterlicher Menſch! (ſagte Sieben¬
käs.) Als er vorhin einmal ſich über etwas
freuen wollte, ſah er aus als greif' ihm ein
Schmerz über das Geſicht — Und daß er ſo
dünn und hager daſteht, und ſeitab blickt und
die Silben verſchluckt! — Ich weiß gewiß, er
könnte tödten, ohne die Miene zu ändern,
nicht einmal zum Zorn.“ — „O, er iſt der
finſtere Geiſt, den er ſieht — zitiren Sie ihn
nicht!“ ſagte Albano, in eine ganz neue Welt
wegeilend, die jetzt plötzlich vor ſeinen Geiſt
gezogen war.

142. Zykel.

Er dachte nehmlich an das bisher vom
Nebel des Schmerzens verdeckte Papier, das
[524] Schoppe aus der Fürſtengruft geholet und an
das Mutterbild, das er unter dem Okularglas
hatte finden ſollen. Eh' er anfieng zu leſen,
legt' er das Bild unter dem Glaſe dem Frem¬
den vor, ob er's etwan zufällig kenne. „Sehr!
Es iſt die verſtorbene Fürſtin, Eleonore, ſo weit
ein Kupferſtich vor dem Landes-Geſangbuch
Ähnlichkeiten vorauszuſetzen verſtattet; denn ſie
ſelber ſah ich nie.“


Bewegt zog Albano das Papier aus der
zerbrochnen Marmorkapſel, aber er wurd' es
noch mehr, da er die Unterſchrift „Eleonore“
und Folgendes in franzöſiſcher Sprache las:


„Mein Sohn!


Heute hab' ich Dich nach langen Zeiten
wieder geſehen *) in Deinem B. (Blumenbühl);
mein Herz iſt voll Freude und Sorge und Dein
ſchönes Bild ſchwebet vor meinen weinenden
Augen. Warum darf ich Dich nicht um mich
haben und täglich anblicken? Wie bin ich ge¬
bunden und geängſtigt! Aber von jeher ſchmie¬
dete ich mir Feſſeln und erbat andere, mich da¬
[525] mit zu binden. Höre Deine eigne Geſchichte
aus dem Munde Deiner Mutter an; ſie wird
Dir aus einem andern nicht lieber und wahr¬
hafter kommen.


Ich und der Fürſt lebten lange in einer
unfruchtbaren Ehe, welche unſerem Vetter in
Hh. (Haarhaar) immer lebhafter mit der Hoff¬
nung der Succeſſion ſchmeichelte. Spät ver¬
nichtete ſie ihnen Dein Bruder L. (Luigi).
Man konnte uns das kaum vergeben. Der
Graf C. (Ceſara) bewahrt die Beweiſe einiger
ſchwarzen Handlungen (de quelques noirceurs),
die Deinen armen ohnehin ſchwächlichen Bru¬
der das Leben koſten ſollten. Dein Vater war
eben mit mir in Rom, als wir es erfuhren.
„Man wird doch endlich über uns ſiegen“,
ſagte Dein Vater. In Rom lernten wir den
Fürſten di Lauria kennen, der ſeine ſchöne Toch¬
ter dem Grafen C. (Ceſara) nicht eher geben
wollte, bis er Ritter des goldnen Vlies-Or¬
dens geworden wäre. Der Fürſt wirkte ihm
dieſen Orden am kaiſerlichen Hofe aus.


Dafür glaubte die Cesara mir ſehr dank¬
bar ſeyn zu müſſen, une femme fort decidée,
[526]se repliante sur elle même, son individualité
exagératrice perca à travers ses vertus et ses
vices et son sexe
. Wir lernten uns lieben.
Ihr romantiſcher Geiſt theilte ſich dem meini¬
gen mit, beſonders in dem romantiſchen Lan¬
de. Dazu half mit, daß ich und ſie uns im
rechten Zuſtande der weiblichen Schwärmerei
zugleich befanden, nehmlich der Hoffnung zu
gebähren. Sie kam nieder mit einem wunder¬
ſchönen ihr ganz ähnlichen Mädchen, Severina
oder wie man ſie nachher nannte Linda. Hier
machten wir den ſeltſamen Vertrag, daß wir,
wenn ich einen Sohn gebähre, austauſchen
wollten; ich konnte ohne Gefahr eine Tochter
erziehen, und bei ihr konnte mein Sohn ohne
diejenige aufwachſen, die Deinem Bruder bei
mir ſchon gedrohet hatte. Auch ſagte ſie, ich
könne beſſer eine Tochter, ſie einen Sohn lei¬
ten, da ſie ihr Geſchlecht wenig achte. Der
Graf war es gern zufrieden, der Hh. Hof hat¬
te ihm kurz vorher die älteſte Prinzeſſin, um
die er geworben, unter dem ſpöttiſchen Vor¬
wande ihrer noch kindiſchen Jugend, abgeſchla¬
gen, und er aus Rache beleidigter Ehre und
[527] verletzter Eitelkeit, denn er war der ſchönſte
Mann und aller Siege gewohnt, war zu allen
Maaßregeln und Kämpfen gegen den ſtolzen
Hof bereit. Nur der Fürſt billigte es nicht, er
fand eine Erziehung außer Landes u. ſ. w. ganz
zweideutig und mißlich. Aber wir Weiber ver¬
webten uns eben deſto tiefer in unſere roman¬
tiſche Idee.


Zwei Tage darauf gebahr ich Dich und —
Julienne zugleich. Auf dieſen reichen Zufall
hatte niemand gerechnet. Hier warf ſich vieles
ganz anders und leichter ſogar. „Ich behalte
(ſagt' ich zur Gräfin) meine Tochter, Du be¬
hältſt die Deinige; über Albano (ſo ſoll er
heiſſen) entſcheide der Fürſt.“ Dein Vater er¬
laubt' es, daß Du zwar als Sohn des Geafen,
aber unter ſeinen Augen, bei dem rechtſchaffe¬
nen W. (Wehrfritz), erzogen würdeſt. Indeß
traf er Vorkehrungen, deren guten Werth ich
damals im phantaſtiſchen Rauſche der Freund¬
ſchaft nicht ganz abzuwägen im Stande war.
Jetzt wunder' ich mich nur, daß ich damals
ſo muthig war. Die Dokumente Deiner Ab¬
ſtammung wurden nicht nur dreimal gemacht
[528] — ich, der Graf, und der Hofprediger Spener
wurden in deren Beſitz geſetzt — ſondern ſpä¬
ter wurdeſt Du auch dem Kaiſer Joſeph II. als
unſer Fürſtenſohn präſentirt, und ſein gütiges
Blatt, das ich einſt Deinen Geſchwiſtern ver¬
traue, entſcheidet allein genug.


Der Graf nahm jetzt ſelber am Geheimniß
thätigen Theil, indem er — ſey es aus Liebe
für ſeine Tochter, ſey es aus dem Wunſche ei¬
ner geſchärftern Rache am Hh. Hofe — als
Lohn des Antheils verlangte, daß einſt Du und
Linda ein Paar werden möchten. Hier trat
wieder die Gräfin mit ihren Wundern und
Phantaſiren ein: „Linda wird mir gewiß ähn¬
lich an Gemüth, wie ſie jetzt es iſt an Geſtalt
— Gewalt bewegt ſie dann nie — aber Ma¬
gie des Herzens, der Feenwelt, Reiz des Wun¬
ders mag ſie ziehen und ſchmelzen und bin¬
den.“ Ich weiß ihre eignen Worte. Ein ſon¬
derbarer Zauberplan wurde dann entworfen,
deſſen Gränzen der Graf durch die Abhängigkeit,
worin ſein tauſendkünſtleriſcher Bruder ſich zu
allem dingen ließ, noch mehr erweiterte, ſo wie
er den Plan dadurch annehmlicher machte. —
Linda[529] Linda wird lange vorher, eh' Du dies geleſen,
Dir erſchienen, ihr Nahme genannt, Deine Ge¬
burt geheimnißvoll verkündigt ſeyn — — Mö¬
ge, möge Dein Geiſt ſich in alles wohl finden
und möge das ſchwere Spiel Dir Gewinn auf
ſeinen aufgeſchlagnen Blättern reichen! — Ich
bin bange, wie ſoll ich es nicht ſeyn? — O
welche Nachrichten hab' ich nicht eben aus Ita¬
lien durch den Grafen empfangen, vor denen
nun alle meine Hoffnungen auf meinen Lud¬
wig (Luigi) auf einmal erlöſchen! Geſiegt
hätte nun Hh. (Haarhaar) durch den böſen B.
(Bouverot), wenn Du nicht lebteſt. Und ich
muß ſo froh ſeyn, daß Du dieſen giftigen Ein¬
flüſſen entzogen lebſt — Ja es ſcheint, als ha¬
be der Graf die Zernichtung Deines Bruders
abſichtlich gern geſchehen laſſen, um deſto ſtär¬
ker mit Deiner Auferſtehung zu ſchrecken. Doch
will ich ihm nicht Unrecht thun. Aber wem ſoll
eine Mutter am Hofe vertrauen und mißtrauen?
Und welche Gefahr iſt größer? —


Drei Jahre lang mußteſt Du des Scheines
wegen auf Isola bella mit Deiner ſcheinbaren
Zwillingsſchweſter Severina, obwohl unter den
Titan IV. L l[530] Augen des Fürſten, bleiben, indeß ich mit Ju¬
liennen nach Deutſchland zurückgieng. Länger
aber durft' es nicht dauern, ſo gern es Deine
Pflegemutter geſehen hätte; Du wurdeſt Dei¬
nem Vater zu ähnlich. Dieſe Ähnlichkeit koſtete
mich manche Thräne — denn darum durfteſt
Du nie aus B. nach P. (Peſtiz), ſo lange der
Fürſt noch Jugendzüge trug — ſogar die Por¬
traits ſeiner Jugendgeſtalt mußt' ich darum
allmählig wegſtehlen und ſie dem treuen Spe¬
ner zu bewahren geben — ja dieſer gelehrte
Mann ſagte mir, daß ein erhobner Spiegel,
der junge Geſichter zu alten formte, bei Seite
zu bringen ſey, weil Du ſogleich als der alte
Fürſt daſtändeſt, wenn Du hineinſäheſt — O,
da mein guter, frommer Fürſt in ſeinen mat¬
ten Tagen allerlei unbewußt ausplauderte und
mich über das ſichere Schickſal des wichtigen
Geheimniſſes immer ſorglicher machte: wie er¬
ſchrak ich, als er einſtens am Morgen (zum
Glück war nur Spener und eine gewiſſe Toch¬
ter des Miniſters v. Fr. dabei, eine ſanfte,
fromme Seele) geradezu und freudig ſagte:
„unſer lieber Sohn, Eleonore, war geſtern
[531] Nachts oben am Altar, er wird gewiß ein
frommer Menſch, er knieete und betete ſchön,
und ich ſagt' ihm nur, denn ich wollte mich
nicht decouvriren, nach Haus, nach Haus, mein
Freund, es donnert ſchon nahe.“ *) Ich weiß,
daß verſchiedene über einen natürlichen Sohn
des Fürſten ſchon Winke fallen lieſſen.


Die Gräfin C. (Cesara) gieng nun mit S.
(Severina) nach V. (Valencia) ab; gab ſich
aber vorher den Nahmen R. (Romeiro) und
der Tochter den Nahmen L. (Linda.) Der
Prinz di Lauria mußte der Erbſchaft wegen
mit ſeiner Einwilligung in dieſes Spiel gezo¬
gen werden. Durch dieſen Nahmen-Wechſel
konnte alles ſo dicht zugehüllet werden, als es
jetzt noch ſteht. Neun Jahre darauf ſtarb die
edle R. (Romeiro) und der Graf hatte unter
dem Vorrecht eines Vormunds die Tochter al¬
lein in ſeinem Schutze und in ſeiner Vorſorge.


Ich ſah ſie kurz nach dem Tode der Mut¬
ter hier**); entfaltet ſich die Blume ganz aus
L l 2[532] dieſer vollen Knoſpe, ſo gehört ſie als die voll¬
ſte Roſe an Dein Herz. Möge nur das Gei¬
ſterſpiel, das ich der Gräfin zu leichtſinnig zu¬
geſchworen, ohne Unglück vorüberziehen! —
Sollt' ich vor dem Fürſten auf das Sterbe¬
bette kommen, ſo muß ich noch Deine Schwe¬
ſter und Deinen Bruder in das Geheimniß zie¬
hen, um ganz geſichert meine Augen zu ſchlies¬
ſen. Ach ich werd' es nicht erleben, daß ich
Dich öffentlich als meinen Sohn in meine Ar¬
me ſchließen darf! Die Ahnungen meiner Hin¬
fälligkeit kommen immer häufiger. Es gehe
Dir wohl, theueres Kind! Werde fromm und
redlich wie Dein Vater! Gott lenke alle un¬
ſere ſchwachen Hülfsmittel zum Beſten!


Deine
treue Mutter
Eleonore.


N. S. Noch ſehr wichtige Geheimniſſe kann
ich nicht dem Papier vertrauen, ſondern
ſterbend wird ſie mein Mund in das Herz
Deiner Schweſter niederlegen. Leb' wohl!
Leb' wohl!“

[533]

143. Zykel.

Albano ſtand lange ſprachlos, ſchauete gen
Himmel, ließ das Blatt fallen und faltete die
Hände, und ſagte: „Du ſchickſt den Frieden —
ich ſoll nicht den Krieg — wohlan, ich habe
mein Loos!“ Lebensluſt, neue Kräfte und
Plane, Freude am Throne, wo nur die geiſti¬
ge Anſtrengung gilt wie auf dem Schlachtfelde
mehr die körperliche, die Bilder neuer Eltern
und Verhältniſſe und Unwille gegen die Ver¬
gangenheit ſtürmten durcheinander in ſeinem
Geiſt. Er riß ſich von ſeinem ganzen vorigen
Leben los, die Seile des bisherigen Todten¬
geläutes waren entzwei, er mußte, um die Eu¬
ridice aus dem Orkus zu gewinnen, wie Or¬
pheus das Zurückſchauen auf den vergangnen
Weg vermeiden. Er enthüllte dem neuen Freun¬
de alles, denn er kämpfe, ſagt' er, nunmehr
öffentlich auf freier offner Bahn um ſein bis¬
her verſtecktes Recht und reiſe ſogleich in die
Stadt. Unter dem Erzählen erzürnte ihn das
lange gewagte Spiel mit ſeinen heiligſten Ver¬
hältniſſen und Rechten noch mehr, und das
Mißtrauen in ſeine Kräfte und Waffen gegen
[534] die Feinde, denen Luigi unterlag, und dieſer
Bruder ſelber, der ihn bisher in einer ſo har¬
ten unbrüderlichen Maske umarmen konnte.
„Wie anders war die treue Schweſter!“ ſagt'
er. „Warum (fuhr er fort) ließ man mich ſo
manchem ſtolzen harten Geiſte ſo vielen Dank
ſchuldig werden für mein bloßes — Geburts¬
recht? — Warum traute man nicht meinem
Schweigen eben ſo gut? — O ſo mußt' ich
die arme Todte droben *) verkennen, weil ſie
meinem geoffenbarten Stande in jener feindli¬
chen Nacht am Altare ihr ſchönes Herz auf¬
opferte! So mußt' ich durch Vermuthungen
und Vorſätze ſo manche rechte Seele verletzen!
Wie unſchuldig könnt' ich ſeyn ohne dies al¬
les!“ — „Beruhigen Sie ſich, (ſagte Sieben¬
käs mit ſeiner Rüge,) die Stärke des Feindes
wird zu dem Widerſtande geſchlagen und von
der Niederlage abgezogen; und was wäre ein
Sieg auf leerem Schlachtfelde geweſen?“

[535]

Siebenkäs war vor dem glänzenden Stan¬
de und vor dem Feuer der Leidenſchaftlichkeit,
die er nur in gemeiner, nicht in edler Erſchei¬
nung kannte, um einige Schritte zurückgetre¬
ten, die Albano nicht bemerkte, weil er ſie nicht
vorausſetzte. So gut es gieng, ſuchte Sieben¬
käs — indem deſſen innerer Menſch ſeine im
Grabe des Freundes ſtarr gefrornen Glieder
allmählich wieder aufwickelte — den ſanften
Scherz wieder zu gewinnen und in dieſe Blu¬
menketten den heftigen Jüngling einzuſchließen:
„ich freue mich, (ſagt' er,) daß ich der erſte
bin, der zu Ihrem Geburts- und Krönungs¬
tage Wünſche bringt, die aber alle in den ein¬
zigen gehen, daß ſie immer Ihren Taufnahmen
behaupten mögen — denn Alban iſt der be¬
kannte Schutzheilige der Landleute. — Außer
dem Haarhaarſchen Prinzen, dem der Ritter
recht mit der Deviſe ſeines Ordensſtifters Phi¬
lipp trifft: ante ferit quam flamma micet, iſt
wohl niemand dabei zu bedauern als der Fi¬
nanzſtempelſchneider, der jetzt nichts neues zu
ſchneiden erhält, da die Linie weiter regiert.“
Er ſetzte noch leicht hinzu, weil er den ſchweren
[536] Wälder- und Wolkentragenden Fels Gaſpard
nie geſehen: „welches ſonderbare Namenſpiel,
das noch wenige Cavelleros del Tuzone ge¬
ſpielt, iſt es, daß er ſich gerade de Cesara
nennt, da, wie Sie wiſſen, die Spanier ſich
wie die alten Römer oft die Nahmen von ih¬
ren Thaten und Begegniſſen zutheilen. So iſts
aus den Pièces interéssantes T. I. überall be¬
kannt, daß z. B. Orendayn ſich den Nahmen
la Pas zuerkannte, weil er 1725 den Frieden
zwiſchen Oeſtereich und Spanien unterſchrieben,
— mit einem dritten Nahmen, Transport Réal,
tauft' er ſich ein, um es zu behalten und zu
bemerken, daß er den Infanten nach Italien
abgeführt. Cesara iſt wohl freilich mehr Zu¬
fall.“


Albano wurde durch ſolche geiſtige Ähnlich¬
keiten mit dem freien Schoppe erſt recht ſeinem
Herzen zugezogen. Er nahm Abſchied von ihm
und ſagte: „Freund unſers Freundes, wollen
wir beiſammen bleiben.“ — „Wahrlich, der
Zweifel an der Entſcheidung Ihres Schickſals,
Prinz, (verſetzte Siebenkäs,) wäre allein da¬
für entſcheidend, wenn nur mein Herz allein
[537] entſchiede; aber —“ Albano zuckte die Ach¬
ſeln wie entrüſtet, ſchwieg aber. „So lange
bleib' ich indeß hier, (fuhr jener ſanfter fort,)
bis der Hügel auf dem Seeligen liegt; dann
ſteck' ich das hölzerne ſchwarze Kreuz auf ihn,
und ſchreibe alle ſeine Nahmen daran.“ —
„Wohl! So werd' es (ſagte Albano)! Aber
ſeinen Hund nehm' ich, weil er mich länger
kennt. Ich bin ein junger Menſch, noch jung
an verlohrnen Jahren, aber ſchon ſehr alt an
verlohrnen Zeiten und verſtehe ſo gut wie man¬
cher, den die Zeit bückt, was Menſchen-Ver¬
liehren iſt. Sonderbar iſt's, daß ich immer
auf Gräbern Spiegel finde, worin die Todten
wieder lebendig gehen und blicken. So fand
ich auf Lianens Grabe ihr lebendiges Bild und
Echo; meinen alten liegenden Schoppe fand ich,
wie Sie wiſſen, auch hinter einem Spiegelglas
aufrecht und rege, durch das meine Hand eben
ſo wenig durchkann. Ich verſichere Sie, ſogar
meine Eltern werden mir vorgeſpiegelt,
meinen Vater kann ich in einem Zylinderſpie¬
gel, und meine Mutter durch ein Objektivglas
ſehen. — Hier iſt nun nichts zu thun, wenn
[538] man in einer Nacht ſteht, wo alle Sterne des
Lebens hinunterziehen, als ſehr feſt darin zu
ſtehen. — Aber zu meinem alten Humoriſten
muß ich noch Adio ſagen.“


Er gieng ins Leichenzimmer. Schweigend
folgt' ihm Siebenkäs, betroffen über die unge¬
wöhnliche Laune der — Schmerzen. Mit trock¬
nen Augen zog Albano das weiſſe Tuch von
dem ernſten Geſicht, deſſen feſte Augenbraunen
ſich zu keinem Scherze mehr zogen und das
eiſern hinſchlief ohne Zeit. Der Hund ſchien
den kalten Menſchen zu ſcheuen. Albano ſuchte
durch ſcharfe, heftige, trockne Blicke das Tod¬
tengeſicht bis auf jede Falte tief abzudrücken
in ſein Gehirn wie in Gyps, zumal da ihm
der lebendigſte Abdruck, der Freund, entgieng.
Dann hob er ſich die ſchwere Hand auf die
Stirn, die den Fürſtenhut tragen ſollte, gleich¬
ſam um ſie damit zu ſegnen und einzuweihen.
Endlich bückt' er ſich auf das Geſicht nieder
und lag lange auf dem kalten Mund; aber
als er ſich ſpät aufrichtete, weinten ſeine Au¬
gen und ſein ganzes Herz, und er reichte dem
Zuſchauer bebend die Hand und ſagte: „nun,
[539] ſo lebe Du auch wohl!“ — „Nein, (rief Sie¬
benkäs,) ich kann das nicht, wenn ich gehe, —
Schoppe! ich bleibe bei Deinem Albano!“ —


Da kamen Wehrfritz und Auguſti und un¬
terbrachen die weinende Feier der dreifachen
Liebe durch heitere Mienen und Worte.

144. Zykel.

Der alte Pflegevater nannte ihn zwar Prinz
und nicht mehr Du, aber in landeskindlicher
Entzückung drückte er ſich den Pflegling ſeines
Hauſes innig ans Herz. Auguſti übergab ihm
mit ernſter Höflichkeit und kurzem Glückwunſch
folgendes Schreiben von Julienne.


„Liebſter Bruder! Nun kann ich Dich erſt
recht Bruder nennen. Ich hab' in einem Auge
Trauerthränen und doch im andern frohe, da
nun alle Wolken von Deiner Geburt genom¬
men ſind und in Haarhaar auch alles ziemlich
gut geht. Der Lektor iſt abgeſchickt, Dir alles
zu erzählen, wo hätt' ich Zeit? Auch von H.
von Bouverot ſoll er Dir ſagen, deſſen rothe
Naſe und aufgebognes Kinn und geizige Grau¬
ſamkeit gegen ſeine wenigen Leute und vielen
[540] Gläubiger und deſſen Grobheit und Weichlich¬
keit und trockne Bosheit ich dermaßen haſſe
— — Inzwiſchen wird er jetzt durch Deine Er¬
ſcheinung ſo recht beſtraft. Freilich alles iſt
wie ich in Unordnung und Beſtürzung. Lud¬
wigs Teſtament wurde dieſen Morgen nach
ſeinem Willen eröffnet und er gab Dir Dein
ganzes Recht. Ich will nicht über dieſen Bru¬
der mitten unter dem Weinen zürnen; er war
eigentlich hart gegen ſeine zwei Geſchwiſter,
gegen mich ſehr auch, denn er haßte alle Wei¬
ber, bis zu ſeiner Frau, die nur etwas taugt,
wenns ihr gut geht, und die Kunſtwerke ſelber
härteten ihn ordentlich ab gegen die Menſchen.
Aber er ruh' in ſeinem Frieden, ach den er
wohl wenig gefunden! Dieſen Abend muß er
ſchon wegen ſeiner Krankheit und wegen des
langen Wegs nach Blumenbühl voraus beer¬
digt werden. Da bin ich nun bei Deinen Pfle¬
geeltern in der Nähe unſerer eingeſchloſſenen
Eltern. Deswegen komm' unabänderlich! Du
biſt allein mein Troſt in der trüben Nacht, ich
muß Dich wieder am Herzen halten, das ſehr
an Dir klopfen will und weinen und reden,
[541] wenn es nur darf. Nur komme! Nunmehr
wird doch Gott, da alles im Tanzſaal zu den
Reigen bereit ſteht, keine kalte Geſpenſter und
und entſetzliche Larven hineinbringen laſſen!
Ich bete. Auch nur Deinetwegen bin ich ſo
froh und ich weine genug.


Julie.“


Kaum hatte Albano dem Pflegevater das
erfreuliche Verſprechen, dieſen Abend in ſeinem
Hauſe zu ſeyn, gegeben, als dieſer ohne Wei¬
teres davon eilte, um die Seinigen auf die
Freude des zwiefachen Beſuches vorzubereiten.


Der Lektor wurde um ſeine Nachrichten ge¬
beten, mit welchen er bedenklich über Sieben¬
käs zu zögern ſchien, bis Albano bat, ihm und
ſeinem neuen Freund frei alles mitzutheilen.
Seine Erzählung war bis auf einige Einſchal¬
tungen, die Albano ſpäter zukamen, dieſe:


Bouverot — bei welchem er auf Fragen
des neugierig gemachten Albano anfieng — war
bisher in verborgner Verbindung mit dem Haar¬
haarſchen erbſüchtigen Prinzen geweſen und hat¬
te in entſchiedener Berechnung, durch dieſen das
längſte Glück und ſogar eine unerwartete Hei¬
[542] rath zu machen, auf deſſen Wort hin ſein mit
Eheloſigkeit und Einkünften zugleich verknüpftes
Ordenskreuz eines Deutſch-Herrn abgehangen
und an die Schweſter dieſes Prinzen, an Idoine,
durch dieſen ſelber, der ihm für die Aufhebung
ihres ähnlichen Gelübdes *) ſtand, ein Minia¬
türbild von ihr, das er im Fluge geſtohlen ha¬
ben wollte, ſammt einem halben Bilderkabinet
und mit vielen feinen Anſpielungen auf ſeinen
Wahl-Nahmen Zefiſio als eines römiſchen Ar¬
kadiers und auf den Nahmen ihres Arkadiens
übergeben laſſen. „Oh la différence de cet
homme au diable, comme est
- elle petite!“
ſagte ganz ungewöhnlich-heftig Auguſti. Al¬
bano mußte fragen warum; „ein ganz ande¬
res Bild gab er für der Prinzeſſin ihres aus“
ſagte der Lektor. Mithin war's Lianens ihres,
ſchloß Albano und hatte leicht durch wenige
Fragen jene traurige Geſchichte von der blin¬
den vom Tyger Bouverot gejagten Liane er¬
forſcht. —


„O ich Unglücklicher!“ rief Albano halb
[543] in Grimm und halb in Schmerz. Die Leiden
thaten ihm weh, womit das heilige Herz die
kurze reine karge Liebe gegen ihn bezahlen
müſſen — die zum erſtenmal blind wurde, weil
ſie ſeinen Vater ſo liebte *), und zum zweiten¬
mal, weil ſie der Sohn verkannte und liebte.
Aber er bezwang ſich und ſprach nicht darüber,
die Vergangenheit war ihm wie Bienen das
Echo ſchädlich. Siebenkäs bezeugte ſeine Freu¬
de über Bouverots Beſtrafung durch das Fehl¬
ſchlagen aller Plane.


Albano hörte, daß auch Luigi die ehelichen
Abſichten Bouverots zu unterſtützen den Schein
angenommen, bloß um ihn deſto höher herab¬
fallen zu ſehen. „Mit welch' einer bittern kalten
langen Schadenfreude, (dachte Albano,) konn¬
te mein Bruder in der Hoffnung auf die Gru¬
be, die ſein Tod dem feindlichen Hofe und des¬
ſen Anhängern graben würde, allen ihren Er¬
wartungen zuſehen und alle ihre Maaßregeln
[544] von der Ehe der Fürſtin an bis auf die Glück¬
wünſche dazu freundlich aufnehmen, indeß er
die Fürſtin und alles haßte! Und wie konnt' er
dieſe lebenslange ſchweigende Kälte gegen mich
behaupten? —“ Aber Albano bedachte zwei
nahe Urſachen nicht, ſein eignes ſtolzes Beneh¬
men gegen den Fürſten und den gewöhnlichen
Fürſtengeiz, der ſich vor Apanagen-Geldern
ſcheue.


Gaſpards Verhandlungen in Haarhaar, wel¬
che der Lektor nur mit einigen von Juliennen
anbefohlnen Auslaſſungen gab, waren dieſe:


Mit eigner Luſt und Stille ſah der Ritter
von jeher den Einwirrungen der menſchlichen
Verhältniſſe zu und gab ſie ihrer eignen Auf¬
löſung oder Zerreiſſung hin. Hier ließ er alle
fremde Träume immer lebendiger und wilder
werden, bis er mit einem Griff an die Bruſt
ſie alle dem Schläfer wegraffte. Der alte Zorn
über die ſtolze Verweigerung der Fürſtenbraut
wurde befriedigt, da er ihnen unter dem ſchim¬
mernden Triumphthore ihrer Wünſche und Ar¬
beiten die Dokumente über Albano's Geburt,
von der Hand des alten Fürſten an bis auf
die[545] die des Bruders Luigi als eben ſo viele bewaff¬
nete Wachen zeigen konnte, die ſie aus dem
Siegesthore wieder rückwärts trieben. Man
erſtaunte mitleidig, gieng auf nichts ein, Al¬
bano war weder dem Lande noch Reiche vorge¬
ſtellt. Gaſpard trug ſehr ruhig eine frühe Aner¬
kennung von Joſeph II. nach. Auch dieſes wurde
außer der Regel und als ungültig gefunden.
Darauf geſtand er mit dem entſchloſſenen Zorn,
mit deſſen Blitzfunken er ſo oft plötzlich Men¬
ſchen und Verhältniſſe durchbohrte, daß er
ohne Weiteres das ganze Betragen des Hofs
gegen Luigi's achtes Jahr und deſſen Reiſe-
Jahre allen Höfen entſchleiern werde.


Hier brach man erſchrocken die vormittägi¬
gen Unterhandlungen ab, um ſich zu neuen
nachmittägigen zu rüſten. In dieſen — welche
der Lektor Albano zu verheimlichen beordert
war — wurde von weitem der Wunſch eines
fortdauernden nähern Bandes zwiſchen beiden
Häuſern gezeigt. Unter dem Bande wurde
Idoine verſtanden, deren Ähnlichkeit mit Lia¬
nen und dadurch Albano's Liebe gegen letztere
längſt als Anekdote bekannt geweſen. Aber
Titan IV. M m[546] Gaſpards ganzem Entwurfe ſeiner vollſtändi¬
gen Genugthuung ſtand dieſer eingemiſchte
ſchuldloſe Engel entgegen; er — der mit ſei¬
nem hohen zackigen Geweih doch leicht durch
das verworrene niedrige Gezweig des Weltle¬
bens flog — ſtieß gegen die Schranke ſeiner
Vollmacht an, ſagte geradezu Nein und man
brach entrüſtet ab, mit der höflichen Erinne¬
rung, daß Herr v. Hafenreffer als Bevollmäch¬
tigter ihn begleiten und in Peſtiz das Übrige
verhandeln ſolle.


So kamen beide an. Hafenreffer, eben ſo
fein und kalt als redlich, erforſchte leicht alle
Verhältniſſe der Wahrheit. Gaſpard theilte
Juliennen — noch im Wahne ihrer alten Liebe
gegen ſeine Tochter Linda — den Wunſch des
fremden Hofes mit; aber er wurde beſtürzt
über ihre Eröfnungen, welche ſo ſehr für Idoi¬
ne ſprachen, als ihre bisherigen geheimen Ein¬
wirkungen auf Albano. Dazu entrüſtete ſie
ihn noch im verworrenen Helldunkel ihres Zu¬
ſtandes durch den gutgemeinten Antrag, ihm
ſeine väterlichen Auslagen für Albano einiger¬
maßen zu erſtatten. „Der Spanier lieſet keine
[547] Haushaltungsrechnungen, er bezahlt ſie bloß“
ſagt' er und nahm empfindlich Abſchied auf
immer, um alle Inſeln der Erde zu bereiſen.
Albano wollt' er nicht mehr ſehen, aus Ver¬
druß über den Zufall, daß ihm durch Schop¬
pens Kirchen- und Gräberraub das Vergnü¬
gen entwendet war, Albano durch die Entde¬
ckung, daß er nur Linda's Vater und nicht ſei¬
ner ſey, für kühne Zweifel an ſeinem Werthe
zu ſtrafen und zu demüthigen. Wohin Linda
noch in jener Nacht ſeiner Entdeckung als Va¬
ter gegangen war, verbarg er allen kalt.


Darauf nahm er auch feierlichen Abſchied
von ſeiner vorigen Braut, der fürſtlichen Witt¬
we. „Er halte es für Pflicht, (ſagte er ihr,)
ihr die neueſte Erbfolge zu hinterbringen, da
er einigermaßen ſich ſelber ſehr in den Gang
der Sache habe verflechten laſſen.“ Nie war ihr
Blick ſtolzer und giftiger: „Sie ſcheinen (ſagte ſie
gefaſſet) in mehr als einen Irthum verleitet zu
ſeyn. Wenn es Sie ſo intereſſirt, wie Sie Sich
denn überhaupt für dieſes Land zu intereſſiren
ſcheinen, ſo mach' ich mir eine Freude daraus,
Ihnen zu ſagen, daß ich das Glück bekannt zu
M m 2[548] machen nicht mehr anſtehen darf, dem ich nun
gewiß entgegenſehe, dem Lande vielleicht durch
einen Sohn ihres geliebten verſtorbnen Fürſten
jede Veränderung zu erſparen. Wenigſtens
darf man vor der Entſcheidung der Zeit keine
fremde Einmiſchung dulden.“ Gaſpard, über
das Erwartete erzürnt, verſetzte darauf bloß
ein unendlich-freches Wort — weil er leichter
Geſchlecht als Stand zu vergeſſen und zu
verletzen vermochte — und nahm darauf von
ihr ſeinen höflichen Abſchied mit der Verſiche¬
rung, daß er gewiß ſey, die Beſtätigung die¬
ſer ſonſt ſo angenehmen Nachricht, wo er auch
ſeyn werde, zu erhalten und daß es ihm dann
Leid thun würde, ihr aus Liebe zur Wahrheit
öffentlich einige ſeltſame — gerichtliche Papiere
entgegen ſetzen zu müſſen, die er ungern in
Umlauf bringe. „Sie ſind ein wahrer Teu¬
fel“ ſagte die Fürſtin außer ſich. „Vis-à-vis
d'un Ange
? Mais pourquoi non?“ verſetzt'
er und ſchied mit den alten Zeremonien.


Albano, deſſen Herz in allen dieſen Tiefen
und Abgründen die nackten verletzten Wurzeln
und Fibern hatte, konnte nichts ſagen. Aber
[549] ſein Freund Siebenkäs äußerte ohne Weiteres,
„daß Gaſpard bei jedem Schritte, und mit dem
ewigen feinen Wanken und Zögern, wie z. B.
über die Heirath ſeiner Tochter und ſonſt, nichts
dargeſtellt habe als den lebendigen Spanier,
wie ihn Gundling im I. Theil ſeiner Otia ſo
gut ſchildere.“ Auguſti verwunderte ſich über
dieſe Offenheit, indeß erſchien ſie ihm leidlicher
und zierlicher als Schoppens rauhe. „Was
mich am meiſten frappiren würde, (ſetzte Sie¬
benkäs dazu, der wie es ſchien die Weltge¬
ſchichte zum Nebenfach genommen,) wäre das
lange Verſchwiegenbleiben einer ſo wichtigen
Abſtammung unter ſo vielen Theilhabern des
Geheimniſſes, wenn ich nicht zu wohl aus
Hume wüßte, daß die Pulver-Verſchwörung
unter Karl I. über ganze anderthalb Jahre
von mehr als zwanzig Mitwiſſern wäre ver¬
borgen gehalten worden.“


Viel verwundet und durch ſich gereinigt
gieng Albano nach dieſen Erzählungen Nach¬
mittags ab ins zwieträchtige Reich, aber mit
heiterer heiliger Kühnheit. Er war ſich höherer
Zwecke und Kräfte bewußt als alle harten
[550] Seelen ihm ſtreitig machen wollten; aus dem
hellen, freien Ätherkreiſe des ewigen Guten ließ
er ſich nicht herabziehen in die ſchmutzige Land¬
enge des gemeinen Seyns — ein höheres Reich
als was ein metallener Zepter regiert, eines,
das der Menſch erſt erſchafft, um es zu beherr¬
ſchen, that ſich ihm auf — im kleinen und in
jedem Ländchen war etwas Großes, nicht die
Volksmenge ſondern das Volksglück — höchſte
Gerechtigkeit war ſein Entſchluß, und Beför¬
derung alter Feinde, beſonders des verſtändigen
Froulay. — So ſprang er nun zuverſichtsvoll
aus ſeinem bisherigen ſchmalen, nur von frem¬
den Händen getriebnen Fahrzeug auf eine freie
Erde hinaus, wo er allein ohne fremde Ruder,
ſich bewegen kann und ſtatt des leeren, kahlen
Waſſer-Weges ein feſtes, blühendes Land und
Ziel antrifft. Und mit dieſem Troſt ſchied er
von dem todten Schoppe und dem lebendigen
Freund.

145. Zykel.

In der Dämmerung kam er auf dem Berge
an, wo er die Stadt, die der Zirkus und die
Bühne ſeiner Kräfte werden ſollte, überſchauen
[551] konnte, aber mit andern Augen als ſonſt: —
Er gehört nun einer deutſchen Heimath an —
die Menſchen um ihn ſind ſeine Landesver¬
wandte — die ahnenden Ideale, die er ſich
einſt bei der Krönung ſeines Bruders von den
warmen Strahlen entwarf, womit ein Fürſt
als ein Geſtirn Länder beleuchten und befruch¬
ten kann, waren jetzt in ſeine Hände zur Er¬
füllung gelegt — ſein frommer, von Landes-
Enkeln noch geſegneter Vater zeigte ihm die
reine Sonnenbahn ſeiner Fürſten-Pflicht —
nur Thaten geben dem Leben Stärke, nur
Maaß ihm Reiz — Er dachte an die um ihn
her in Gräber gelegten eingeſunknen Menſchen,
zwar hart und unfruchtbar wie Felſen, aber
auch hoch wie Felſen, an die vom Schickſal
geopferten Menſchen, welche die Milchſtraße
der Unendlichkeit und den Regenbogen
der Phantaſie zum Bogen ihrer Hand ge¬
brauchen wollten, ohne je eine Sehne darüber
ziehen zu können. — „Warum gieng ich denn
nicht auch unter wie Jene, die ich achtete?
Wallete in mir nicht auch jener Schaum des
Übermaßes und überzog die Klarheit?“

[552]

Das Schickſal trieb jetzt wieder Spiele der
Wiederholung mit ihm; ein flammender Wagen
rollte auf einem ſeitwärts vom Prinzengarten
ablaufenden Wege davon; langſam rückte der
Leichenwagen des Bruders mit ſeinen Todten¬
lichtern den Blumenbühler Berg hinan. „Den
langſamen Wagen kenn' ich, wer iſt der ſchnel¬
le?“ fragte Albano den Lektor. „Herr von
Ceſara hat uns verlaſſen“ verſetzt' er. Albano
ſchwieg, aber er empfand den letzten Schmerz,
den ihm der Ritter geben wollte. Er bat den
Lektor ſehr, ihn allein den Weg nach Blumen¬
bühl gehen zu laſſen, weil er lauter Umwege
nehme.


Er wollte im Tartarus das Grabmahl des
Vater-Herzens ohne Bruſt beſuchen. Als er
durch die lärmvolle Vorſtadt gieng, ſah ihn
ein alter Mann lange ſtarr an, floh plötzlich
mit Schrecken davon und rief einer Frau, die
ihm begegnete, zu: „der Alte geht um!“ Der
Mann war in der Jugend ein Bedienter des
alten Fürſten geweſen, war blind und vor kur¬
zem wieder heil geworden; darum ſah er den
ähnlichen Sohn für den Vater an. — In der
[553] Stadt war die gewöhnliche Volksfreude über
Wechſel laut. In einem Hauſe war ein Kin¬
derball, in einem andern eine Truppe von
Sprichwörterſpielern; indeß die Landtrauer je¬
den Tanzſaal und jede Bühne verſchloß. Aus
Roquairol's Stube ſahen fremde luſtige Mu¬
ſenſöhne heraus. Im Wirthshauſe des Spa¬
niers hatte ein Knabe die Dohle an einem Fa¬
den. Einige Leute hört' er im Vorbeigehen ſa¬
gen: „wer hätte ſich das träumen laſſen?“ —
„Ganz natürlich, (verſetzte der andere,) ich
mauerte damals auch mit an der fürſtlichen
Gruft und ſah Ihn wie Dich.“ In der Berg¬
ſtadt waren am Trauer-Schloß alle Fenſter¬
reihen hell beleuchtet, als geb' es ein froheres
Feſt. Im Hauſe des Miniſters waren alle fin¬
ſter, oben unter den Statuen des Dachs ſchlich
ein einziges Lichtchen umher.


„Nein, (dachte Albano,) ich brauche nicht
nachzuſinnen, warum ſank ich nicht auch mit
unter. O genug, genug fiel von mir in die
Gräber — Ich muß mich doch ewig nach al¬
len entflohenen Menſchen ſehnen; — wie Tau¬
cher ſchwimmen die Todten unten mit und hal¬
[554] ten mein Lebensſchiff oder tragen die Anker.“
Drauſſen ſah er die alte Leichenſeherin auf dem
Blumenbühler Wege ſtehen, die ihm einſt bei
der Begleitung des Kahlkopfs begegnete; ſie
ſchauete ſtarr hinauf dem erleuchteten Leichen¬
wagen nach und glaubte, Träume zu denken
und die Zukunft, als ſie der Wirklichkeit zu¬
ſchauete. Überall lagen in ſeiner Bahn die zu¬
ckenden Spinnenfüße, welche der erdrückten
Tarantel der Vergangenheit ausgeriſſen wa¬
ren. Durch einen Flor ſah er das Leben lie¬
gen, wiewohl es kein ſchwarzer ſondern ein
grüner war.


Sehnſüchtig kam er im Tartarus, aber
ſchaudernd vor ihm, weil ihm die Vergangen¬
heit mit ihren Geiſtern nachzog, auf dem herrn¬
hutiſchen Gottesacker an, wo in einem Garten
ohne Blumen, den eingeſunkne, eingeſchlafne
Trauerbirken umſtanden, der weiſſe Altar mit
dem Vater-Herzen und der goldnen Inſchrift
ſchimmerte: „nimm mein letztes Opfer, Allgü¬
tiger!“ Vor dem in eine Bruſt von Stein ge¬
ſchloſſenen Herzen, das ſich mit nichts regte,
nicht mit einem Stäubchen, that er ſein kindli¬
[555] ches Gebet zu Gott und fühlte, daß er ſeine
Eltern würde geliebt haben und ſchwur ſich,
ihnen zu gefallen, wenn ihre hohen Augen ſich
noch in das tiefe Thal des Lebens richten. Er
drückte den kalten Stein wie eine Bruſt an
ſich; und gieng mit ſanften Schritten weg als
gienge der Greis neben ihm in ſeiner eignen ihm
ſo ähnlichen Geſtalt.


Er ſah auf von ſeinem Wege zum Berge,
wo ihn der Vater abends am Pfingſt- und
Abendmahlstage gefunden, wie zu einem Tha¬
bor der Vergangenheit; und im Gange durch
das Birkenwäldchen erinnerte er ſich noch wohl
der Stelle *), wo einſt zwei Stimmen, ſeine
Eltern, ſeinen Nahmen ausgeſprochen hatten.
So von der heiligen Vergangenheit eingeweiht,
kam er in ſeinem Kindheits-Dörfchen an und
ſah die Kirche wie das Wehrfritziſche Haus von
Lichtern erfüllt, obwohl jene zu traurigem Zweck
und dieſes zum frohen der Gäſte.

[556]

146. Zykel.

Albano fand in der Verklärung, worin der
Himmel ihm nur der Vergrößerungsſpiegel ei¬
ner ſchimmernden Erde war und die Vergan¬
genheit nur das Vater- und Mutterland hei¬
liger Eltern, in dieſem Seelenglanz fand er
das Erziehungshaus, worein er trat, feſtlich
und als einen Tempel und alles Gemeine und
Schwere geläutert oder nur nachgeſpielt auf
einer Bühne. Seine Mutter Albine und die
Schweſter Rabette kamen mit ihren freudigen
Minen als höhere Menſchen an ſein bewegtes
Herz. Sie wichen eilig zurück, Julienne flog
die Treppe herab und küßte den Bruder zum
erſtenmal öffentlich, in einer ſchweigenden Ver¬
miſchung von Luſt und Weh. Als ſie ihn los¬
ließ, fieng aus der Nacht im Kirchthurm das
Geläute als Zeichen an, daß der todte Bruder
in die Kirche einziehe; da ſtürzte ſie wieder auf
Albano zurück und weinte unendlich. Sie gieng
mit ihm hinauf, ohne zu ſagen, wen er droben
neben dem Pflegevater finde. Eine alte Flö¬
tenuhr, deren mühſames Spiel von jeher ſelte¬
nen Gäſten dargeboten wurde, quoll ihm, als
[557] er die Thüre öffnete, mit den Nachklängen der
Kindertage entgegen.


Eine weibliche lange ſchwarzgekleidete Ge¬
ſtalt mit einem ſeitwärts herabgehenden Schleier,
welche mit ſeinem Pflegevater ſprach, wandte
ſich um nach ihm, da er eintrat. Es war Idoine,
aber der alte Zauberſchein fuhr wieder über
ſeine heute ſo bewegte Seele, als wenn es Liane
aus dem Himmel ſey, mit Unſterblichkeit gerü¬
ſtet, auf überirdiſche Kräfte ſtolzer und kühner,
nichts von der vorigen Erde mehr tragend als
die Güte und den Reiz. Beide fanden ſich mit
gegenſeitigem Erſtaunen hier wieder. Julienne
ſah — ihrer kleinen Verhehlungen und Anſtal¬
ten ſich bewußt — ein rothes Wölkchen des Un¬
willens über Idoinens mildes Geſicht fliegen;
es war aber bald unter dem Horizont, ſobald
Idoine es bemerkte, daß die Schweſter unter
dem Leichengeläute des Bruders die Thränen
nicht bezwingen konnte, und ſie gieng ihr freund¬
lich entgegen, ihre Hand aufſuchend. Idoine
hatte, durch ihre Strenge leicht zum launiſchen
Zürnen, dieſem kleinen Kriege des Zorns, ge¬
neigt, ſich durch ſcharfe lange Übung von die¬
[558] ſem feinſten, aber ſtärkſten Gift des Seelenglü¬
ckes freigemacht, bis ſie zuletzt an ihrem Him¬
mel ſtand als ein reiner, lichter Mond ohne
einen Regen- und Wolkenkreis der Erde.


Albano, dem die Erde, mit Vergangenheit
und Todten gefüllt, eine Luftkugel geworden
war, die in dem Äther gieng, fühlte ſich frei
zwiſchen ſeinen Sternen und ohne irdiſches Ban¬
gen; er nahete ſich Idoinen — obwohl bei dem
Bewußtſeyn der kämpfenden Verhältniſſe ihres
und ſeines Hauſes — mit heiligem Muthe:
„Ihr letzter Wunſch im letzten Garten (ſagt' er)
wurde vom Himmel gehört.“ — Mit jung¬
fräulich-entſchiednem Sinn gieng ſie durch die
Wildniß, worin ſie bald Blumen bald Dornen
auseinander zu beugen hatte, um weder verle¬
gen noch verletzt zu werden; ſie antwortete ihm:
„ich freue mich von Herzen, daß Sie Ihre
treue Schweſter auf immer gefunden haben.“
Wehrfritz war über die Freimüthigkeit, womit
ſie die Wahrheit redlich wider alle Familien-
Verhältniſſe ſprach, eben ſo erfreuet als ver¬
wundert. „So muß man immer auf der Erde
viel verlieren, (erwiderte ihr Albano,) um viel
[559] zu gewinnen“ und wandte ſich an ſeine Schwe¬
ſter, als woll' er dadurch dieſem Worte einen
vieldeutigern Sinn verwehren.


Das Todtengeläute dauerte fort. Die ſelt¬
ſame, frohe und trübe Vermiſchung der irdi¬
ſchen Schickſale gab allen eine feierliche und
freie Stimmung Albine und Rabette kamen
herauf, feſtlich dunkel gekleidet zum Gange in
die Begräbnißkirche. Julienne theilte ſich zwi¬
ſchen zwei Brüder und nie hob ſich ihr Herz
romantiſcher auf, das zugleich in Thränen und
in Flammen ſtand. Sie errieth, wie über ih¬
ren Bruder Albano ihre Freundin Idoine den¬
ke, an der ſie eine feſtere Stimme kannte als
die heutige war und deren ſüße Verwirrung
ihr am leichteſten aus dem kurzen Berichte klar
wurde, den ihr die offne Seele von dem Wie¬
derſehen Albano's in Lianens Garten gemacht;
auch das kleine jungfräuliche Zurückzittern ih¬
res heutigen Stolzes, da ſie ſich hier überall
für eine auferſtandene Liane, dieſe Geliebte
des Jünglings, verlegen mußte gehalten fin¬
den, machte Juliennen nicht irrer, ſondern ge¬
wiſſer.


[560]

„An einem ſchönen Abend (ſagte Albano
zu Idoinen) ſah ich einſt in Ihr ſchönes Arka¬
dien herab, aber ich war nicht in Arkadien“ —
„Der Nahme (verſetzte ſie und ſenkte wieder
die klaren Augen bezogen zur Erde) iſt auch
bloß Scherz; eigentlich iſts eine Alpe und doch
nur mit Sennenhütten in einem Thale.“ Sie hob
die großen Augen nicht wieder auf, als Ju¬
lienne ſchweigend ihre Hand nahm und ſie fort¬
zog, weil jetzt das Leichengeläute mit traurigen
einzelnen Stößen ausklang, als Zeichen daß
die Todtenfeier angehe, deren Theilnahme Ju¬
lienne ihrem ſchweſterlichen Herzen unmöglich
abdingen ließ. „Wir gehen in die Kirche“
ſagte Idoine zur Geſellſchaft. „Wir wohl alle“
verſetzte Wehrfritz ſchnell. Als die beiden Mäd¬
chen an Albano vorübergiengen, bemerkte er
zum erſtenmal an Idoinen drei kleine Blatter¬
narben, gleichſam als Erden- und Lebens-Spu¬
ren, die ſie zu einer Sterblichen machten. Er
blickte der hohen edeln Geſtalt mit dem langen
wehenden Schleier nach, welche neben ſeiner
Schweſter eben ſo majeſtätiſch, nur zärter gebauet,
erſchien als Linda, und deren heiliger Gang
eine

[561] eine Prieſterin verkündigte, die in Tempeln vor
Göttern zu wandeln gewohnt geweſen.


Kaum waren beide verſchwunden, als die
alten Bekannten Albano's, zumal die Wei¬
ber, denen Juliennens Gegenwart immer Al¬
bano's Stammbaum nahe gehalten, mit allen
Zeichen der lang zurückgedrängten Herzlichkeit,
voll Wünſche, Freuden und Thränen auf ſein
Herz eindrangen. „Bleibt meine Eltern“ ſagte
Albano. „Bravheit iſt alles auf der Erde“
ſagte der Direktor. — „Ich that das Meinige
wie eine Mutter, (ſagte Albine,) aber wer
konnte das wiſſen?“ — Rabette ſagte nichts,
ihre Freude und Liebe waren überſchwenglich
wie ihre Erinnerung. „Meine Schweſter Ra¬
bette (ſagte Albano) hat mir, als ich das er¬
ſtemal nach Italien gieng, die Worte auf eine
Börſe geſtrickt mitgegeben: gedenke unſerer —
Dieſe werd' ich Euch allen in jedem Schickſal
erfüllen“ — und hier dacht' er, obwohl zu ver¬
ſchämt-beſcheiden, um es zu ſagen, an das
was er etwan als Fürſt für ſeinen Pflegevater
thun könnte, worunter die Zurückgabe von des¬
ſen heimfallenden Männer-Lehn zuerſt gehörte.
Titan IV. N n[562] „So wird uns denn manches zeitherige Herze¬
leid —“ fieng Albine an. „O was Herze, was
Leid, (ſagte Wehrfritz,) heute wird alles rich¬
tig und glatt.“ Aber Rabette verſtand die
Mutter ſehr wohl.


Alle begaben ſich auf den Weg zum Trauer-
Tempel. Sie hörten aus der Kirche die Muſik
des Liedes: „wie ſie ſo ſanft ruhn“; in eini¬
ger Ferne verſuchten ſich Waldhörner zu fro¬
hern Tönen. Rabette drückte Albano's Hand
und ſagte ſehr leiſe: „es iſt gut mit mir ge¬
worden, weil ich alles erfahren habe.“ Sie hat¬
te dem unglücklichen Roquairol, ſeitdem er ein
vielfaches Glück und ſich ſelber ermordet hatte,
ihre ganze Liebe ins Grab zum Verweſen nach¬
geworfen, ohne eine Thräne dazu zu thun.
Sie ſprang auf Idoinens Güte über, auf ihre
Ähnlichkeit, „mit deren Erwähnung der Vater
den Engel heute roth gemacht“ und auf ihr
ſchönes Tröſten Juliennens, die vor Albano's
Ankunft unaufhörlich geweint. Albine lobte
mehr Juliennen wegen Ihrer Geſchwiſter-Liebe.
Rabette ſchwieg über dieſe; beide waren ſchwe¬
ſterliche Nebenbuhlerinnen; auch hatte Julienne
[563] ſie als Schlachtopfer des von ihr verachteten
Roquairol's nach ihrem ſcharfen unerbittlichen
Syſtem ſehr kalt angeſehen, indeß Idoine, welche,
durch ihre größere Kenntniß der Menſchen, Milde
gegen die weiblichen Irthümer des Herzens
und Augenblicks mit Strenge gegen Männer
verbinden lernen, nur ſanft und gerecht gewe¬
ſen war.


Als ſie in die Kirche voll Trauerlampen
traten: ſchlich ſich Albano in eine unbeleuchtete
Ecke weg, um nicht zu ſtören und geſtört zu
werden. Am hellen Altare ſtand heiter der
ehrwürdige Spener mit dem unbedeckten Haupt
voll Silberlocken, der lange Sarg des Bruders
ſtand vor dem Altare zwiſchen Lichter-Linien.
Am Gewölbe der Kirche hieng Nacht und die Ge¬
ſtalten verlohren ſich in das Dunkel, unten durch¬
kreuzten ſich Strahlen und Schlagſchatten und
Menſchen. Albano ſah wie eine Todespforte
die eiſerne Gitterthüre des Erbbegräbniſſes auf¬
gethan, worein ſeine frommen Eltern gezogen
waren; und ihm war als ſchreite noch einmal
Schoppens brauſender Geiſt hinein, um in das
letzte Haus des Menſchen einzubrechen. Der
N n 2[564] Bruder rührte ihn nur wenig, aber die Nach¬
barſchaft der ſtillen Eltern, die ſo lang für ihn
geſorgt und denen er nie gedankt, und die un¬
aufhörlichen Thränen der Schweſter, die er in
der Empor über der Todespforte ſah, ergrif¬
fen heftig ſein Herz, aus welchen die tiefen
ewigen Trauertöne die Thränen, gleichſam das
warme Blut der Trauer und Liebe ſogen. Er
ſah Idoine, mit ihrer halb rothen halb weis¬
ſen Lankaſter-Roſe auf der ſchwarzen Seide
neben der Schweſter ſtehen, ſich gegen man¬
chen vergleichenden Blick den Schleier über die
Augen ziehend — Hier neben ſolchen Altarlich¬
tern hatte einſt die bedrängte Liane unter dem
Abſchwören der Liebe geknieet — Das ganze
Sternbild ſeiner glänzenden Vergangenheit, ſei¬
ner hohen Menſchen, war hinunter unter den
Horizont und nur Ein heller Stern davon ſtand
noch ſchimmernd über der Erde, Idoine.


Da erblickte den Jüngling ſein Freund Dian
und eilte herzu. Ohne viele Rückſichten um¬
armte ihn der Grieche und ſagte: „Heil, Heil
der ſchönen Veränderung! Dort ſteht meine
Chariton, auch ſie möchte nach ihrer Spra¬
[565] che *) grüßen.“ — Aber Chariton blickte un¬
aufhörlich Idoinen wegen ihrer Ähnlichkeiten an.
„Nun, mein guter Dian, ich habe manches Herz
und Glück dafür hingezahlt und mich wundert
es, daß Dich mir das Geſchick gelaſſen“ ſagte
Albano. — Darauf fragt' er ihn als den Bau¬
meiſter der Kirche nach der Beſchaffenheit des
Erbbegräbniſſes, weil er nachher ſich wolle
die Aſche ſeiner Eltern aufdecken laſſen, um
wenigſtens ſtumm und dankend hinzuknieen.
„Davon (ſagte Dian betroffen) weiß ich ſehr
wenig; aber ein grauſamer Vorſatz iſt's und
wozu ſoll er führen?“ —


Die Muſik hörte auf, Spener fieng leiſe
ſeine Rede an. Er ſprach aber nicht von dem
Fürſten zu ſeinen Füßen, auch nicht von ſeinen
Geliebten in der Erbgruft, ſondern von dem
rechten Leben, das keinen Tod kenne und das
erſt der Menſch in ſich erzeuge. Er ſagte, daß
er, obwohl ein alter Mann, weder zu ſterben
noch zu leben wünſche, weil man ſchon hier
bei Gott ſeyn könne, ſobald man nur Gott in
[566] ſich habe — und daß wir müßten unſere hei¬
ligſten Wünſche wie Sonnenblumen ohne Gram
verwelken ſehen können, weil doch die hohe
Sonne fortſtrahle, die ewig neue ziehe und pfle¬
ge — und daß ein Menſch ſich nicht ſowohl
auf die Ewigkeit zubereiten als die Ewigkeit in
ſich pflanzen müſſe, welche ſtill ſey, rein, licht,
tief und alles.


Für manche Menſchen-Bruſt in der Kir¬
che wurde durch die Rede der Vergangenheit
die Giftſpitze abgebrochen. Auf Albano's ſtei¬
gendes Meer halte ſie glattes Öhl gegoſſen
und um ſein Leben wurd' es eben und glän¬
zend. Juliennens Augen waren trocken und
voll heitern Lichtes geworden; und Idoinens
ihre hatten ſich ſchimmernd gefüllet, weil heute
ihr Herz zu oft in Bewegung gekommen war,
um nicht in der ſüßen, andächtigen und erhe¬
benden zu weinen. Einmal war Albano, da
er zu ihr blickte, als glänze ſie überirdiſch und,
wie auf eine Luna die Sonne unter der Erde,
ſtrahle Liane aus der andern Welt auf ihr An¬
geſicht und ſchmücke das Ebenbild mit einer
Heiligkeit jenſeits der Erde.


[567]

Nach dem Schluſſe der Rede gieng Albano
ruhig zu beiden Freundinnen, drückte ſeiner
Schweſter die Hand und bat ſie, nicht das
Ende der dunkeln Feier abzuwarten. Sie war
getröſtet und willig. Da ſie aus der Kirche
traten, war ein wunderbarer heller Mondſchein
auf der Erde verbreitet wie ein ſüßes Morgen¬
licht der höhern Welt. Julienne bat ſie, ſtatt
zwiſchen die Mauern, die Kerker der Augen
und Worte, und unter das Getümmel hinein¬
zugehen, lieber vorher die hellen ſtillen Gegen¬
den zu ſchauen.


Alle trugen in ihrer Bruſt die heilige Welt
des heitern Greiſes in die ſchöne Nacht hinaus.
— Kein Wölkchen, kein Lüftchen regte ſich am
weiten Himmel, die Sterne regierten allein, die
Erdenfernen verlohren ſich in weiſſe Schatten
und alle Berge ſtanden im ſilbernen Feuer des
Mondes. „O wie lieb' ich Ihren heitern hei
ligen Greis (ſagte Idoine zu Albano und hat¬
te ſchon oft Juliennens Hand gedrückt) — Wie
gut iſt mir! — Ach das Leben wird wie das
Meerwaſſer nicht eher ganz ſüß, als bis es
gen Himmel ſteigt.“ — Plötzlich kamen zu ih¬
[568] nen ferne Waldhorntöne heraus, welche gut¬
meinende Landleute vor Albano's Erziehungs¬
hauſe als Grüße brachten. „Wie kommt's,
(ſagte Julienne,) daß im Freien und Nachts
auch die unbedeutendſte Muſik gefällig und rüh¬
rend wird?“ — „Vielleicht weil unſere innere
heller und reiner dazu mittönt“ ſagte Idoine.
— „Und weil vor der Sphärenmuſik des Uni¬
verſums menſchliche Kunſt und menſchliche Ein¬
falt am Ende gleich groß ſind“ ſetzte Albano
dazu. „Das meint' ich eben, denn ſie iſt doch
auch nur in uns“ ſagte Idoine und ſah ihm
liebreich und offen in die Augen, die vor ihren
zuſanken, wie wenn ihn jetzt der Mond, der
milde Nachſommer der Sonne, blendend über¬
glänzte.


Sie wandte ſich ſeit der Kirchenfeier öfter
an ihn, ihre ſüße Stimme war theilnehmender
obwohl zitternder, die jungfräuliche Scheu vor
Lianens Ähnlichkeit ſchien beſiegt oder verges¬
ſen, ſo wie an jenem Abende im letzten Gar¬
ten; in ihr hatte ſich unter Speners Rede ihr
Daſeyn entſchieden und an der Liebe der Jung¬
frau waren, wie an einem Frühling durch
[569] Einen warmen Abend-Regen alle Knospen
blühend aufgebrochen. Indem er jetzt dieſes
klare milde Auge unter der wolkenloſen reinen
Stirn anſchauete und den feinen vom uner¬
ſchöpflichen Wohlwollen gegen jedes Leben über¬
hauchten Mund: ſo begriff er kaum, daß dieſe
weiche Lilie, dieſen leichten Duft aus Morgen¬
roth und Morgenblumen aufgeſtiegen, der fe¬
ſte Geiſt bewohne, der das Leben regieren
konnte, ſo wie die zarte Wolke oder die kleine
Nachtigallen-Bruſt der ſchmetternde Schlag.


Sie ſtanden jetzt auf dem vom Immergrün
der Jugenderinnerung bedeckten hellen Berge,
wo Albano ſonſt in den Träumen der Zukunft
geſchlummert hatte, wie auf einer lichten hohen
Inſel mitten im Schatten-Meere zweier Thä¬
ler. Die Lindenſtädter Gebürge, das ewige
Ziel ſeiner Jugendtage, waren vom Mond be¬
ſchneiet und die Sternbilder ſtanden blitzend
und groß auf ihnen hin. Er ſah Idoine nun
an — wie gehörte dieſe Seele unter die Ster¬
ne! — „Wenn die Welt rein iſt vom niedrigen
Tage — wenn der Himmel mit ſeinen heilig¬
ſten fernſten Sonnen das Erdenland anſieht —
[570] wenn das Herz und die Nachtigall allein ſpre¬
chen: — nur dann geht ihre heilige Zeit am
Himmel an, dann wird ihr hoher ſtiller Geiſt
geſehen und verſtanden und am Tage nur ihr
Reiz“; dachte Albano.


„Wie manchmal, mein guter Albano, (ſagte
die Schweſter,) haſt Du hier in Deinen verlas¬
ſenen Jugendjahren zu den Bergen nach den
Deinigen geſehen, nach Deinen verborgnen El¬
tern und Geſchwiſtern; denn Du hatteſt immer
ein gutes Herz!“ Hier blickte ihn Idoine un¬
bewußt mit unausſprechlicher Liebe an — und
ſein Auge ihres. — „Idoine, (ſagt' er und
ihre Seelen ſchaueten in einander wie in ſchnell
aufgehende Himmel und er nahm die Hand der
Jungfrau,) ich habe noch dieſes Herz, es iſt
unglücklich, aber unſchuldig.“ — Da verbarg
ſich Idoine ſchnell und heftig an Juliennens
Bruſt und ſagte kaum hörbar: „Julienne, wenn
mich Albano recht kennt, ſo ſey meine Schwe¬
ſter!“ —


„Ich kenne Dich, heiliges Weſen“ ſagte
Albano und drückte Schweſter und Braut an
Eine Bruſt. — Und aus allen weinte nur Ein
[571] freudetrunknes Herz. „O ihr Eltern, (betete
die Schweſter,) o du Gott, ſo ſegne ſie beide
und mich, damit es ſo bleibe!“ Und da ſie
gen Himmel ſah, als die Liebenden im kurzen
heiligen Elyſium des erſten Kuſſes wohnten, ſo
blickten unzähliche Unſterbliche aus der blauen
tiefen Ewigkeit — die fernen Töne und die
milden Strahlen verwoben ſich in einander —
und das ſchlummernde Reich des Mondes er¬
klang — „ſchauet auf zum ſchönen Himmel,
(rief die freudentrunkne Schweſter den Lieben¬
den zu,) der Regenbogen des ewigen Friedens
blüht an ihm und die Gewitter ſind vorüber
und die Welt iſt ſo hell und grün — wacht
auf, meine Geſchwiſter!“ —


Ende.

Appendix A

Berlin, gedruckt bei Gottfried Hayn.

Appendix B Druckfehler des vierten Bandes.

[]

Seite 5 Zeile 12 ſtatt Stillen lies Stellen


— 32 — 13 — verſchienen l. erſchienen


— 38 — 2 — Stille l. Stelle


— 162 — 3 v. u. lies: liebliche verklei¬
nerte Inſel


— 188 — 5 nach denk' ich ſetz' ein :


— 193 — 2 ſtatt Hohe l. hohe


— 268 — 3 v. u. ſtatt Neapel l. Napel


— — letzte Zeile ſtatt Baja, Cuma lies: Bajä,
Cumä.


— 300 Zeile 14 ſtatt Moos l. Moſes


— 335 — 6 — Wache l. Woche


— 408 — 11 — Raſen l. Roſen


— 421 — 4 v. u. nach: zu mir! fehlt: ſagt' er


— 460 — 11 ſtatt Stiele l. Stile


— 541 — 5 — Auch l. Ach

[][][]
Notes
*)

Die Leiche gehet aufgedeckt zum Begräbniß,
ihre Begleiter folgen vermummt.
*)

So heiſſet z. B. in Ungarn der Diakonus.
*)

Zehn Uhr.
*)

Des Jupiter tonans.
*)

Der Leib im Pantheon, der Kopf in der heil.
Luka-Kirche.
*)

Die Pantheons-Halle ſcheint zu niedrig, weil
einen Theil ihrer Stufen der Schutt verbirgt.
**)

27 Fuß hat die Dach-Öfnung im Durchmeſſer.
*)

Der Polſtern ſteht wie andere nördliche Stern¬
bilder in Süden tiefer.
*)
Die Summe und das Syſtem elektriſcher, gal¬
vaniſcher, chemiſcher, anatomiſcher Erfahrun¬
gen, die Taktik, ein corpus juris u. ſ. w. kön¬
nen uns wol in Erſtaunen ſetzen, aber die
Menſchheit ſelber erſcheint nicht größer durch
Rieſengebäude, die von Millionen Elephan¬
tenameiſen
zuſammengetragen werden; allein
wenn Ein Elephant ein Gebäude trägt, wenn
ein Individuum irgend eine Kraft in neuen Gra¬
*)
den und Verhältniſſen zeigt, Newton die ma¬
thematiſche Anſchauung, Raphael die bildende,
Ariſtoteles, Leſſing, Fichte den Scharfſinn, oder
ein anderes die Güte, die Feſtigkeit, den Witz
u. ſ. w.: dann gewinnt die Menſchheit und ihre
Schranken rücken hinaus.
*)

In Grönland macht die heftige Kälte ſchwarz
und blind.
*)

Wohin ſeit Servius Tullius Zeit alle Scher¬
ben geworfen werden.
*)

S. Titan I. S. 33.
**)

Wie ſchön iſt er!
*)

Roquairol.
*)

Julienne.
*)

Gaeta.
**)

Die Inſel Iſchia mit dem Berg Epomeo, ſo
hoch wie der Veſuv — Kapri u. ſ. w.
*)

Borgo d'Jschia.
*)

Er meint die Traube, die dreimal des Jahres
da gewonnen wird, im Dezember, März und
Auguſt.
*)

Die Inſel Iſchia ſelber.
*)

Taggeſicht (Hemeralopie) iſt gewöhnlich in
heiſſen Ländern; der ſtärkſte Grad iſt, Nachts,
ſogar gegen Licht blind zu ſeyn und erſt am
Morgen wieder ſehend.
*)

Es giebt metamorphotiſche Spiegel, die junge
Geſichter veraltet darſtellen.
*)

Ihn und Liane.
*)

Bei Baja.
*)

Frage ſie nicht länger, denn ihr Vater ſoll,
wie man ſagt, an ihrem Hochzeittage kommen.
*)

Eine ſehr ſchöne Karthauſe bei Valencia.
*)

Die Sangvögel ſind in Italien ſelten, weil
man ſie für die Küche auf dem Markt verkauft.
*)

Dian liebte den Virgil nicht.
*)

So ſchwer und langſam wälzt ſich der breite
Lavaſtrom herunter, daß ein Menſch vor dieſem
glühenden Todesfluß, der alles verſchlingt, er¬
ſtickt und zerſchmilzt was er berührt, vorausge¬
hen und die Zerſtöhrung hinter ſich ſehen kann,
ohne ſich in die Gefahr einer eignen zu ſetzen.
*)

Oder Püſter, die bekannte altdeutſche Götzen¬
ſtatue voll Löcher, Flammen und Waſſer.
*)

Des Kahlkopfs, der ihm nach 14 Monaten
Wahnſinn prophezeiete.
*)

Der Oheim hatte wieder gelogen, denn er war,
wie man aus dieſem Bande weiß, vorher nach
Rom gegangen, wo er dem Ritter und der Für¬
ſtinn die Peſtizer Briefe übergeben.
*)

Ich würde lieben.
*)

Bei den Morlacken. S. Sitten der Morlacken.
Aus d. Italien. 1775.
*)

Titan II. Seite 30 ꝛc.
*)

Eine Stelle aus Albano's Brief an Roquairol.
Titan I. S. 468.
*)

Liebe und Freundſchaft.
*)

Der Mond.
*)

Aber! — Gott, er hat ſich re vera umgebracht
— Teufel, er iſt todt! — O wer wird mich be¬
zahlen?
*)

So viel bekommt jeder Profeſſor Preis-Geld
für jede beſſere Grammatik und jedes beſſere
Kompendium; ſo für jede Diſſertazion 50 Du¬
katen u. ſ. w. Tychſens Zuſätze zu Bourgoings
Reiſe. 2. B.
*)

Eine verlangte z. B. den König zu ſehen; er
trat ſo lange auf den Balkon heraus, bis ſie be¬
friedigt war.
*)

ſeinen Hund.
*)
Ss, heiſſet Siebenkäs. Aus den Blumen-,
Frucht- und Dornenſtücken iſt bekannt,
daß Schoppe früher Siebenkäs ſich genannt —
Dann dieſen Nahmen an ſeinen ihm bis zum
*)
Geſichte ähnlichen Freund Leibgeber abgegeben,
von dem er den ſeinigen angenommen — und
daß der Freund ſich zum Schein ein Grabmahl
als Siebenkäs errichten laſſen.
*)

Titan I. Band S. 58 u. ſ. w.
*)

Joſephchen.
*)

S. 245 im I. Band des Titans.
*)

1. Band des Titans, S. 239.
**)

1. Bd. S. 173.
*)

Er meint Liane, welche Spener durch die feier¬
liche Enthüllung von Albano's Geburt und Be¬
ſtimmung einer unter lauter giftigen Blumen
aufgewachſenen Liebe zu entſagen nöthigte.
*)

Nie unter ihrem Stand zu heirathen.
*)

Liane wurde, wie bekannt, als ihr Bruder ne¬
ben dem alten Fürſten auf die Bruſt ohne Herz
die Rede hielt, krank und blind. I. Bd. des
Titans, S. 303.
*)

Titan, 1ter Bd. S. 138.
*)

Nehmlich freue Dich.

Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Anonymous. Titan. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmwd.0