auserleſener
Original-Romane.
Erſte Hälfte.
Amerikaniſches Kulturbild
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1855.
An unſere Leſer!
Um der Verantwortung des „Scheins“ ſelbſt zu
entgehen, als würde die Deutſche Bibliothek nicht fort¬
geſetzt, der allerdings entſtehen könnte, wenn die — ohne
unſer Verſchulden — ohnehin lange Pauſe zwiſchen
dem Erſcheinen des erſten Bandes, dieſer Serie noch weiter
ausgedehnt würde, ſind wir genöthigt — ſo ungern wir
dies auch thun — unſern Leſern den vorliegenden Kürn¬
bergeriſchen Roman, vorerſt in ſeinen erſten 21 Bogen
zu übergeben.
Herr Kürnberger hat uns feſt verſprochen, Alles auf¬
zubieten, daß wir unfehlbar im September den Schluß
ſeines Romans folgen laſſen können, und darauf geſtützt
übernehmen wir die feſte und ſichere Zuſage unſern
Leſern gegenüber.
Mit dem Schluß des Kürnbergerſchen Romans geben
wir dann gleichzeitig den neuen Roman von Th. Mügge
„Erich Randal“ aus.
Frankfurt a. M., im Auguſt 1855.
Die Verlagshandlung
Meidinger Sohn \& Cie.
auserleſener
Original-Romane.
Zweite Hälfte (Schluß).
Amerikaniſches Kulturbild
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1856.
In allen Buchhandlungen iſt zu haben:
Illuſtrirtes Familienbuch
zur Unterhaltung und Belehrung häusl. Kreiſe,
herausgeg. vom Oeſterr. Lloyd in Trieſt.
Sechſter Jahrgang 1856.
Mitarbeiter: Bauernfeld, Bodenſtedt, Julie Burow, E. Geibel, Gerſt¬
äcker, Grillparzer, Anaſt. Grün, B. v. Guſeck, F. Halm, Hammer-
Purgſtall, Hebbel, P. Heyſe, W. O. v. Horn, J. G. Kohl, H. König,
E. Koſſak, Kürnberger, Laube, F. Löher, H. Maſius, Prokeſch v. Oſten,
G. Pfarrius, Dr. K. Reclam, Rellſtab, Louis Schneider, Seidl, Simrock,
Freiherr v. Zedlitz. Das „ill. Familienbuch“ enthält Beiträge aus allen
Gebieten, nur Originale, als Novellen, Erzählungen, Gedichte; Humo¬
riſtiſches; Geſchichtliches und Biographiſches: Schilderungen aus der
Heimath u. Fremde; Naturhiſtoriſches; Notizen über Induſtrie, neue
Erfindungen, Haushalt; Literar. Ueberſicht von L. Schücking. — Soeben
erſchienen iſt des VI. Jahrg. (1856) erſtes Monatsheft (4 ½ Bogen Text
u. 3 Stahlſtiche.) à 10 Sgr.
Jeder der älteren Jahrgänge iſt apart zu haben. — Von Seite der
Kritik fanden namentlich die letzten beiden Jahrgänge vielen Beifall und
es ſind wenig bedeutende deutſche Journale und Feuilletons, die das Werk
nicht empfahlen. — Durch Vermittelung des Wiener Kunſtvereins hat der
Oeſterr. Lloyd neuerdings einen Preis von 1000 Thlrn. für das beſte
Oelgemälde ausgeſetzt; unter den eingeſandten 11 ward F. Verheyden's
„Trauben-Diebinnen“ als das vorzüglichſte von der Künſtlerjury erkannt
und bereits einem tüchtigen Künſtler zum Stahlſtich in großem Format
übergeben, um es als Prämie den Abonnenten des F., welche die Jahr¬
gänge 1856, 57 u. 58 beziehen, ſeiner Zeit gratis zu liefern.
Gleichzeitig erſcheinen:
Unterhaltungen aus dem Gebiete der Natur,
(Ergänzungshefte zum III. Familienbuch)
mit vielen in den Text eingedruckten Abbildungen,
zunächſt in 5—6 Heften à 10 Sgr. im Formate des Familienbuchs, eben¬
ſowohl eine Ergänzung zu dieſem wie ein ſelbſtſtändiges Ganze bildend.
auserleſener
Original-Romane.
Amerikaniſches Kulturbild
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1855.
Druck von Aug. Oſterrieth
in Frankfurt a. M.
Verlag von Meidinger Sohn \& Cie.
1855.
Druck von Auguſt Oſterrieth
in Frankfurt a. M.
Erſtes Buch.
[][[1]]Erſtes Kapitel.
„Amerika! Welcher Name hat einen Inhalt gleich dieſem Namen!
Wer nicht Dinge der gedachten Welt nennt, kann in der wirklichen
Welt nichts Höheres nennen. Das Individuum ſagt: mein beſſeres
Ich, der Erdglobus ſagt: Amerika. Es iſt der Schlußfall und die
große Cadenz im Concerte der menſchlichen Vollkommenheiten. Was
unmöglich in Europa, iſt möglich in Amerika; was unmöglich in
Amerika, das erſt iſt unmöglich! Ich ſehe hier die höchſte geſunde
Kraftentwicklung des volljährigen Menſchenkörpers; — drüber hinaus
liegt Convulſion und Delirium!“
„Amerika! heilige Erſtarrung ergreift mich bei deinem Anblicke.
Die Schauer der Menſchengröße wehen von deinen Ufern. Menſchen¬
größe, wer kennt dein Gefühl in Europa? Karl der Große, Ludwig
der Große, Friedrich der Große — das ſind die Menſchengrößen der
alten Welt. Was ſonſt noch groß iſt neben ihnen, wird decorirt oder
hingerichtet! — O weiche zurück, Andenken Europa's, vor dem blühen¬
den Bilde dieſer jungen Erde! Sei mir gegrüßt, Morgenſtirn, Morgen¬
antlitz, friſche, ſchwellende, aufſtrahlende Schönheit! Ein jugendlicher
Menſch iſt die Freude des älteren, aber eine jugendliche Welt, — iſt
es möglich, dieſen Wonnebegriff in ein ſterbliches Herz aufzunehmen?
Glückliches Land! mit allen Säften unſrer Geſchichte biſt du genährt,
aber wir ſind die gröbſten, du das feinſte Gefäß dieſer Säfte. Aſien
die Wurzel, Europa der Stamm, Amerika Laub- und Blüthenkrone —
ſo gipfelt ſich das Wachsthum der Menſchheit. Und die runzeligen
Rinden Aſiens und Europa's durchkriecht das Inſect, auf Amerika's
D B. VII. Der Amerika-Müde. 1[2] Wipfel wiegt ſich der freie, fröhliche Vogel! In unſern geſchichtlichen
Schlupfwinkeln verpuppt ſich die graue, ſchläferige Raupe, aus Ame¬
rika's Blüthenkelchen trinkt der Schmetterling ſeine Pſyche-Unſterb¬
lichkeit!“
„Ein Mann von rieſigem Leibe kam an ein Waſſer, daran fand
er ein Knäblein ſpielen. Das Knäblein ſagte: Mann trag' mich über
das Waſſer, denn deine Schultern ſind ſtark. Und der Mann hob
das kleine, federleichte Körperchen auf, und trug es durchs Waſſer.
Aber im Tragen verwandelte ſich das Kind in eine ſchwere, gewichtige
Laſt. Wie geht das zu? wunderte ſich der Mann, trag' ich doch ein
ſchmales, ſchmächtiges Knäblein! Du irrſt dich, antwortete dieſes, Him¬
mel und Erde trägſt du auf deinen Schultern. — Darf ich dieſer
Legende nicht hier gedenken am Bord meines Auswandererſchiffes?
Der große Chriſtoph ſind wir, die alte Weltgeſchichte; auf unſern
Schultern ſtehſt du, Amerika, das wir in kleinſten Anfängen über die
atlantiſche Waſſergränze trugen; aber wundergleich überflügelt uns
dein Gewicht, und wahrlich! du biſt der Heiland, der uns einſt Alle
erlöſen wird! Glückzu, daß du nicht zu ſterben brauchſt für uns, daß
du leben wirſt, leben, und nichts als leben! Zurück ihr Tragiker, die
ihr den Angſtſchweiß, die Thränen, das Blut von hingerichteten Welt¬
ideen in den goldnen Schalen eurer Verſe ſammelt; hier füllen ſich
nicht eure Schalen. Nach Aſien geht, nach Europa! Dort ſpricht man
den Beſten und Tugendhafteſten die Todesſtrafe zu; — hier werden
ſie zu Präſidenten erwählt!“ —
„Amerika iſt ein Bau, bei welchem die menſchliche Vernunft zum
erſtenmale das Geſetz der Schwere fand. Die Staatsgebäude der alten
Welt fingen mit der Kuppel an. Der König und der Hoheprieſter
wölbten vor Allem das unermeßliche Dach. Dann kamen die Vaſallen,
die Ritter und Krieger und ſtellten ihre Säulen darunter. Unter die
Säulen ſetzte das Bürgerthum ſeine Sockel. Vom Sockel abwärts
endete das Gebäude. Die Sudras, die Pariahs, die Fellahs, die leib¬
eigenen Bauern, — ſie waren ein verwahrloster Untergrund. Die
Baukunſt that nichts für ihren Beſtand, ſie erlaubte blos ihr na¬
türliches Daſein. Das Fundament war geduldet. Trug es den
ſchweren überladenen Bau, ſo that es das Glück; trug es ihn nicht,
ſo ſank er langſam mit dem zerquetſchten Volksleben in die Erde, wie
[3] Aſiens Deſpotien, oder er riß gewaltſam in Trümmer unter den
Revolutionen Europa's. Weiſes Amerika, das mit dem Anfange anfing!“
„So werd' ich bewohnen ein feſtes, wohlgezimmertes Haus, ein
Haus gebaut auf die erſte aller Wiſſenſchaften, auf die Wiſſenſchaft
vom Volke. Marquis Poſa sans phrase iſt der Hausherr darin.
Ich trete ein, und umarme ſtaunend und ſchauernd den erſchoſſenen
Freund. Er lächelt. Verwundere dich nicht, Bruder, mich hier im
Gedeihen zu finden. Du wußteſt ja, ich bin unſterblich. Die Königs¬
wunde hier — traumhaft fährt er ſich an die Stirne — ſiehe, ſie
iſt glücklich vernarbt. Ach, es war ein beſchränktes Jahrhundert!
Lächeln wir, Freund, über ſeine Irrthümer. Damals verſagte man der
Humanität eine kleine Anſtellung in Holland, heute ſchwingt ſie ihr
Scepter über einen Raum, den Flandern und Brabant hundertmal
einnehmen könnten und mancher Acre erübrigte noch zu einem irren¬
ärztlichen Latifundium für den Madrider Staatsrath. Nicht wahr,
das Menſchenthum ſchreitet doch vorwärts, und die Könige ſind —
das Menſchenthum ſchreitet doch vorwärts, und die Könige ſind —
ſonderbare Schwärmer! Hier zuckt man die Achſeln über die
Ausführbarkeit ihrer Träume und auf dem Capitol zu Waſhington
findet man nichts praktiſch, als unſre Ideale. — Sei mir willkommen,
Freund, ſei mir willkommen!“ —
Alſo wurde die Küſte von Amerika begrüßt. Ein Mann von
jugendlichem Alter ſteht auf dem Vordertheil ſeines Schiffes und ſchaut
mit verſchränkten Armen und begeiſtertem Blicke ſein großes Gegen¬
über: die neue Welt. In ſeinem Hymnus ſteht ſeine Geſtalt vor
uns, kaum brauchten wir die leibliche zu betrachten. Aber auch dieſe
drückt eine edle, ſchwungvolle Perſönlichkeit aus. Auf ſeine Stirn
haben die Götter das Siegel des Gedankens gedrückt, ſein Mienen¬
ſpiel iſt eine Lyra, mit vollen, herztiefen Empfindungen beſaitet. Sein
Wuchs, mit Winkelmann zu reden, ſein Stamm iſt fein, wir möchten
ſagen artiſtiſch gebaut. Ein künſtleriſcher Wurf geht auch durch
ſeine Bekleidung. Sie hat nichts zu thun mit dem entſagenden Negligé
des abſtract Gebildeten. Sie verräth Formenſinn. Sie ſtellt eine Per¬
ſönlichkeit dar, welche über die Identität von Geſtalt und Gehalt
durch ein natürliches Gefühl, durch eine angeborene Poeſie belehrt iſt.
Der Segler paſſirt die Narrows, die Meerenge zwiſchen Long-
Island und Staten-Island. Links und rechts gezogene Hügel, Wald¬
1*[4] kronen, Wieſenteppiche, darüber verſtreut, von der Hütte bis zum Pa¬
laſt, ein Füllhorn menſchlicher Wohnungen. Im Proſpect die präch¬
tige Bai von Newyork, ſie, die ſämmtliche Kriegsflotten der Erde
aufnehmen könnte, im Tiefgrunde die Stadt ſelbſt. Das Maſten-
Gepfähl und Tau-Geſtrick ihres Hafens garnirt ſie, aus dieſer Ferne
geſehen, wie das zarteſte Spitzengewebe; kaum ſchimmert der Teint
ihres weißen, holländiſchen Häuſeranſtrichs durch. Am Borde ſtreitet
man ſich, ob dieſe Einfahrt wirklich Aehnlichkeit mit Neapel habe oder
nicht. Der hohläugige Seekranke behauptet's mit freuderothem Auf¬
erſtehungs-Jubel, der vielgereiste Touriſt zuckt die abgehärtete Kenner-
Achſel. Dem Dritten liegt die Stadt zu eben, ſie hat kein Relief.
Der Vierte ſtellt auch Hoboken und Brooklyn in ihren Rahmen und
jenes zieht den blauen Hügelkranz von Neu-Jerſey, dieſes die bewal¬
deten Bergwände Long-Islands mit in das Bild. Ein Anderer ver¬
ſchiebt Berg und Wald, ſetzt ſie hieher und dorthin und gewinnt ihnen
ſchöpferiſch einen Veſuv ab. Unſer Hochwächter im Vorder-Caſtell
wendet ſich um und ſpricht über das Verdeck hin: Meine Herren,
wenn es heißt: Neapel ſehen und ſterben, ſo wollen wir ſagen: New¬
york ſehen und leben! das iſt Gleichartiges und Verſchiedenes. Bei¬
fallszuruf folgt dem Wortſpiele des Mittlers; dieſer vereinſamt ſich
wieder und legt ſein Auge betrachtungsvoll auf Land und See hinaus.
Ein grauer Gewitterdunſt umduftet den ſchwülen Sommerhimmel.
Der Seeſpiegel ſchattet ihn ab und gleicht einer dunklen, angehauchten
Stahlplatte. Links auf Neu-Jerſey, rechts über Brooklyns Waldhöhen
hängen zwei dünnwallende Sprühregen herab. In der Mitte von
beiden bricht im Hintergrunde die Sonne durch und ſpannt ein paar
breite großgefächerte Strahlen über Newyork. Die Stadt ſchwimmt
in einem milchweißen Fernenlicht, das mattgraue Wolkengehänge des
Vordergrunds contraſtirt dazu mit einer ſchlagenden Wirkung. Wer
Neapel in dieſem Nimbus geſehen, dürfte ſich glücklich preiſen. Ein
ſolches Bild mit andern abzuwägen, kennzeichnet das Gros der Men¬
ſchenaugen. Sie ſehen die Landſchaft nur als wägbare Maſſe, der
beleuchtende Geiſt entgeht ihnen allzuoft. Unſer Ankömmling enpfin¬
det ihn voll. Sein Auge iſt wie von einem Zauber gefeſſelt vor
dieſer Lichtwirkung. Es iſt ihm, als ſähe er in der neuen Welt ein
neues, ſich ſelbſt übertreffendes Tageslicht. Und das ſinnliche Bild
[5] wie ein Symbol deutend, ruft er aus: Ja, nur Amerika hat Tag,
Europa das Phosphorlicht ſeiner faulenden Stoffe! —
Inzwiſchen treibt das Fahrzeug dem Lande immer näher. Die
Scenen der Bai werden reicher und bunter. Schiffe von allen Grö¬
ßen und Formen — im Ocean nur durch's Fernrohr geſehen, durch's
Sprachrohr angeſprochen — bewundert man jetzt in der Nähe; gleich
Delphinenſchaaren erfüllten ſie zu Hunderten das majeſtätiſche Waſſer-
Baſſin. Zwiſchen ihnen tummeln ſich kleine verwegene Ruderboote
und verſchwinden in jedem Augenblicke aus dem Geſichte, ſo oft eine
friſche Briſe über den Meeresſpiegel haucht. Aber immer ſind ſie
wieder oben, luſtig, geſchäftig, raſtlos wie die Bienen. Es iſt auch
ein Bienenvolk, das nach Honig ausſchwärmt. Die Repporters der
Zeitungen ſind's, welche meilenweit den einlaufenden Schiffen entgegen¬
kommen. Sie ſcheinen die Honneurs der neuen Welt zu machen, den
Fremden ihre Dienſte anzubieten, verfolgen aber nur den Zweck, ſich
ſelbſt allerlei Seeberichte und Reiſenotizen von ihnen einzuſammeln.
Weniger artig verhüllen ihre Honiggier die Runners, die Clerks der
Makler, der Agenten, der Gaſtwirthe. Zu Ballen und Rießen bom¬
bardiren ſie das Schiff mit ihren Annoncen, entern, erſtürmen es und
möchten es in die Sclaverei ihrer Firma gerne mit den geringſt-mög¬
lichen Umſtänden ſchleppen. Bei dieſer Gelegenheit geht mancher
Wahn in die Brüche, daß man ſein Engliſch in beſter Ausſprache
einſtudirt habe. Indeß verſtändigt man ſich doch zuletzt, läßt ſich hier
in ein Geſchäft ein, belegt dort eine Nummer im Gaſthaus. Auch
unſerm Helden präſentirt ein geſchäftsſüchtiger Runner die Karte
ſeines Hotels. Aber er bringt ſeine eigene Adreſſe mit, und dieſer
Sorge enthoben, wendet er ſich von dem Beſchwerlichen ab, denn das
Einclariren des Schiffes unterhält jetzt ſeine Aufmerkſamkeit. Er ver¬
nimmt die letzten Commando's des Lootſen, das letzte Segel ſieht
er von den Matroſen beilegen, das Schiff geht vor ſeine Hafen-
Barriere. Ein leiſer Schauer durchrieſelt ihn, indem die ſchwere Anker¬
kette über die Winde raſſelt. Ach, nur der Reiche reist, gleich dem
Elfen Puck „ſchweifend über Land und Meer” — aber wie Viele
heftet dieſe Kette bleibend an den Boden, für den ſie vielleicht ihr
Letztes eingeſetzt! Da flattern ſie hin Alle mit der gleichen Hoffnung,
Jeder mit ſeinem beſonderen Schickſale! Ein Neſt voll halbbeſiederter
[6] Brut dünkt ihm das Auswandererſchiff — wer wird aufwärts dringen
in den blauen, liederreichen Aether; wer wird niederſtürzen in den
Buſch, in die Tatze des lauernden Wildes? Das Ankerwerfen iſt ei¬
ner jener Momente, wo man die Geiſterhand deutlicher zu ſehen glaubt,
die das Menſchenſchickſal webt. Auch bei der roſigſten Ausſicht flirrt
Geſpenſterfurcht wie ein ſchwarzer Faden durch's Auge.
Im Getümmel des Landens, des Ausſchiffens, in einem Babel
amerikaniſcher Namen und Adreſſen, die jetzt von allen Lippen durch¬
einander ſchwirren, verlieren wir den Freund, der zuerſt unſre Auf¬
merkſamkeit erregt, nicht aus dem Auge. Schlägt er doch auffallend
genug ſeinen Weg ein! Während Alles um ihn her den Hotels und
Agenturen zuſtrömt, lenkt dieſer Ankömmling, nach einem minuten¬
langen Aufenthalte im Zollhauſe, ſeine Schritte auf die Battery, auf
Newyorks Promenade.
Das weltberühmte Südende Newyorks, die Battery, war im
Jahre 1832 noch nicht wie heute mit einem überhandnehmenden An¬
bau von Matroſenſchenken und Auswandererherbergen behaftet. Die
vornehmſte Atmoſphäre der Manhattanſtadt wehte damals auf dieſer
reizenden Landſpitze. Ihre Raſenteppiche, ihre Schattengänge von
Linden und Pappeln athmeten den Geiſt einer erhabenen Idylle. Im
Angeſichte der unermeßlichen Bai, am Mündungspunkte des breiten
Nord- und Oſtſtromes, in einer Lage, die vielleicht mit dem „goldenen
Horn“ um die Palme ringen kann, genoß ſie der großartigſten Schau
des Seeverkehrs und war doch nicht berührt von ihm. Er defilirte
gleichſam in Parade an ihr vorbei, zum gemeinen Dienſte ſchwenkte
er rechts ab an den Kai des Oſtfluſſes, damals ſeinem wichtigen Empo¬
rium. Auf der Battery ſchlürfte Newyork nur den Duft ſeiner Seemacht.
Dieſe Avenüe hat unſern Freund ſchon am Bord ſeines Schiffes
bezaubert; hier wandelt er jetzt im Grün und Laubſchatten, — ein
letztes intimes Stelldichein der reinen Gemüthskräfte gegenüber den
handelnden. An der Pforte einer Hemiſphäre, am Fußgeſtelle rieſen¬
hafter Wirklichkeiten will er noch einmal eine Stunde der Muße feiern
und ſeine ganze Innerlichkeit in ein großes Gegengewicht zuſammen¬
faſſen, als ſcheute er mit dem ahnungsreichen Helden der Tragödie,
daß ihn der Zufall
Blind herrſchend mit ſich führe!
[7] Wir ſehen, der flüchtige Blick auf die Perſönlichkeit dieſes Mannes
hat uns nicht getäuſcht. Ein Menſch ſteht vor uns, den nicht die ge¬
meinſte Noth beeilt, der ſein Leben nicht auf Beſtellung lebt, aber
Ein Auftrag ſcheint ihm geworden: das Subject zu vertreten in der
Welt der objectiven Aeußerlichkeiten.
Wir belauſchen ſeine Gedanken nicht mehr wie am Bord des
Schiffes. Dort waren ſie ein Aufblitz der Begeiſterung, ein Halle¬
lujah, hier ſind ſie eine ſtille Meſſe der Andacht. Er iſt mehr bei
ſich ſelbſt, als bei der Welt; von Zeit zu Zeit fließt ein leiſer Schrift¬
zug in ſein Taſchenbuch. Anfangs häufiger, bald aber ſparſamer und
mit manch ungeduldigem Correcturſtrich. Das macht, die Battery iſt
nicht ganz ſo geräuſchlos wie es zuerſt ſchien. Die Stadt, die hinter
dieſem dünnen Vorhang von Bäumen liegt, kann ihre mächtige Nähe
nicht leicht verſchweigen. Schauerlich tönt's da herein. Die indu¬
ſtriellen Donner, das friedliche Kriegsgetümmel, das Jagdgeheul der
Nahrungsſorgen, die ganze Symphonie eines Werktages, der für eine
halbe Welt arbeitet, pflanzt ſich mit dumpfem Schwalle über die Wipfel
des Parks fort. Kein Künſtler vermag das Ungeſehene lebendiger zu
veranſchaulichen, als dieſe taube Maſſe unvermiſchbarer Geräuſche das
Freskogemälde einer großen Stadt zeichnet. Einer Stadt, die noch
an ſich ſelbſt arbeitet, und ſchon ein weltgroßes Hinterland auszu¬
arbeiten hat! Ein Keſſel, der zugleich braut, da er noch unterm Ham¬
mer iſt! Kein Wunder, wenn ſich das Erdbeben dieſes Bodens nicht
unterbinden läßt mit der Schnur, die ein paar Alleen zieht! Die
Battery iſt das Erkerſtübchen Newyorks. So weit ſie ſich ausladet
in das ſchöne, blaue Meer — ſie kann dem Hauſe doch nicht ent¬
fliehen, dem ſie angehört. Und wie dieſes Haus in allen Sparren
und Balken dröhnt, ſo zittern auch die Fenſter des Erkers, auf dem
Brette wanken die Blumenſtöcke, und dem Großvater an der Wand
fährt's ſtoßweiſe durch die Glieder, daß er manchmal zu nicken ſcheint,
wie der Gouverneur zu Pferde. Da iſt das Töchterchen, das ihren
Dichter leſen, der Sohn, der ſeinen Euklid ſtudiren will, auch nicht
ſo ganz geborgen im Erkerſtübchen. Unſer Spaziergänger empfindet's.
In dem Lärm, der ſeine Promenade umbrandet, hat er von Zeit
zu Zeit eine hellgellende Knabenſtimme unterſchieden, die mit dem
robuſteſten Pathos eine Waare von unwiderſtehlicher Zugkraft auszu¬
[8] rufen ſchien. Der jugendliche Schreier war bisher ſtets unſichtbar ge¬
blieben, denn die Battery hatte in dieſer ſpäten Vormittagsſtunde wenig
Beſuch und der kleine Autochthone kannte ohne Zweifel ſeinen Markt.
Endlich aber verirrte er ſich doch in die Anlage. Zeitungen waren's
die er ausrief. Er that dies mit der ganzen Inhaltsanzeige der Tages¬
nummer. Der Fremde horchte hoch auf. So viel er hier zu hören
bekam, waren die Völker von halb Europa in Aufſtand, einige Könige
verjagt, viele Miniſter hingerichtet, die vornehmſten Börſenhäupter bankrott,
mehrere Städte verſunken, und ein teufliſch-raffinirter Doppel-Gatten¬
mord machte den unſchuldigen Schluß der Nippes-Artikelchen. Dem
Europäer blieb zwiſchen Staunen und Lachen zu entſcheiden anheimge¬
ſtellt, ob hier Orts die Redaktionen ſelbſt ihre Zeitungen ſo kühn über¬
würzen, oder ob das Genie ihrer Colporteurs auf eigene Verantwortung
dieſen ſchwindelnden Flug nimmt. Jedenfalls aber war es landesübliche
Geſchäftspraxis, denn er ſah an den Mienen der Vorübergehenden, daß
ſie nichts Außerordentliches hörten. Indeß wollte er Neugierde halber
die Nummer erſtehen und war eben im Begriffe, den marktſchreien¬
den Newsboy aus der Ferne zu ſich zu winken: da änderte ſich
die Sache. Der Knabe colportirte noch eine andere Waare — eine
unnennbare! Denn auf einmal ſchrie er den Titel eines Preßerzeug¬
niſſes in die helle, freie Luft hinaus — dem Fremden ſchoß alles
Blut in's Geſicht! Erſchrocken blickte er um ſich — leider ſahen die
Vorübergehenden ſo gleichgiltig dazu, wie zuvor! Alſo auch landes¬
üblich! Preßfreiheit und Preßſcheußlichkeit in unmittelbarſter Berührung!
Neben dem römiſchen Triumphator ging ſo ein Sclave einher, der ſein
Zerrbild und Affe war.
Aber das Aergerniß wurde noch ärger. Der Junge ſchlug mit
ſeinem ſchamloſen Geſchrei einen Baumgang ein, in welchem drei junge
Damen von feinſtem Aeußeren an der Seite ihrer Begleiter promenir¬
ten. Dieſer Umſtand beengte indeß den rückſichtsloſen Kaufmann nicht
im Geringſten. Vergebens erwartet unſer Zuſchauer, daß er verſtum¬
men wird: mit nichten; er fährt auf's Zwangloſeſte fort, ſein Kauf¬
gut auszurufen. Vergebens erwartet er ſelbſt, daß die Herren der
Damen einſchreiten werden: es unterbleibt; ſie ehren die Freiheit des
Handels und Wandels. Entſetzlich! Nimmt man dieſen Unfug hin,
wie — irgend eine Scene des Thierlebens auf der Straße? Geſchieht
[9] nichts gegen dieſe Schändlichkeit? Und ſchon begegnet man ſich von
beiden Seiten, nirgend ein Nebenweg zum Ausbeugen, — und dicht
vor den Stirnen der jungen Schönen erhebt der Freche von Neuem
ſeinen Ruf! Mit dem peinlichſten Gefühle verfolgt der junge Mann
jetzt die Haltung der Mädchen. Die Armen! was können ſie thun
dem ſouverainen Scandal gegenüber? Die Dame rechts blickt zur Seite
und faßt eifrig einen Hafenkrahn in's Auge, die mittlere verbirgt ihr
Antlitz in's Taſchentuch, die Dame links — ein kleiner blonder Engel,
das ſeraphiſch-geſcheitelte Lockenhaupt kaum im Drittels-Profil ſichtbar
— iſt es möglich, das Kind hält den Jungen an! Sie zieht ihre Börſe,
ſie winkt mit einer Handbewegung ſeewärts, der Bube läuft gehorſam
an den Wall der Battery, und im nächſten Augenblicke — entladet er
ſein ganzes Portefeuille in's Meer. Den Zuſchauer überfliegt's wie ein
Strahl. Bravo Lady, das haben Sie wohl gemacht! Zwar nicht die
Welt, aber doch Ihren Spaziergang konnten Sie reinigen von dieſem
Schmutze. Es iſt geſchehen. Jetzt erſt blickt er aufmerkſamer nach der in¬
tereſſanten Spaziergängerin. Leider, da iſt auch das Drittels-Profil hin!
Ein ältlicher Herr, dem Augenſcheine nach der Klaſſe der höheren
Tafel-Autoritäten zuzählend, ſchnaubt in der vornehmen Freiheit eines
bequem gelüfteten Sommeranzugs heran. Sein Volumen iſt das vom
trojaniſchen Pferd. Mit dem Gruße eines intimen Hausfreundes ſchließt
er ſich der Geſellſchaft an, d. h. blos ſein Schatten ſaugt all ihre
Körper auf. Namentlich die kleine blonde Lady verſchwindet neben
ihm, wie ein Schneeglöcklein unter der Lawine. Die ganze Gruppe
entfernt ſich gegen die Landſeite.
Das Alles war die Scene weniger Augenblicke. Der Fremde brach
auf. War es Abſicht, daß er die Richtung der drei Damen einſchlug,
oder — doch, was kümmert es uns? Fragt er ſich doch im eigenen
Selbſtgeſpräch: was kümmert es dich! Der die Urſchatten der Hinter¬
wälder ſucht, ſollte ſich im Paſſiren einer Hafenſtadt — ein artiger,
kleiner Charakter! Die ihre Tugend auf den Krahn hing — und die
andere mit dem Taſchentuch-Feigenblatt — es war vielleicht weiblicher
— im niederen Style, ja! Sie handelte im großen. Ueberhaupt ſie
handelte. Doch, — was kümmert es dich! In Ohio wird es eines
deiner Gedichte. — Gedichte!
[10] Ich glaube es Ihnen, Herr Geheimerath!
der Teufel ſelbſt hat Ihnen das geſagt, Herr Hofrath! Wie die Herr'n
Brüder das Leben kannten!
Damit läßt er, oder verliert er die Geſellſchaft aus den Augen.
Auch die äußere Scene um ihn iſt jetzt verwandelt. Nur wenige
Schritte haben ihn nach der Stadtſeite der Battery geführt, und ſchon
zeigt die Anlage ein weſentlich ſtädtiſches Bild. Eine Reihe glänzen¬
der Cafés gruppirt ſich hier unter den Schattengängen des Parks, ſie
ſchließen ſich zum voll gewundenen Kranze beſonders an der Fronte,
wo die Straßen Newyorks in den großen Halbzirkel der Auffahrt
zuſammenmünden. Zwar umwittert ein Geiſt von Einſamkeit dieſe
Pavillons, welche nur Sommererfriſchungen bieten, und nichts von
jenen nahrhafteren Genüſſen eines amerikaniſchen Frühſtücks, deſſen
Stunde eben regiert: deßungeachtet fehlt es den Cafés nicht an Leben.
So z. B. ſtimmt gleich im nächſtgelegenen ein Orcheſter von Schwar¬
zen ſeine Inſtrumente, und veranlaßt unſern Gaſt ein Glas Eis zu
nehmen, als Folie ſeines erſten amerikaniſchen Kunſtgenuſſes. Das
Concert beginnt. Ein ſeltſam zerhackter Rhythmus, deſſen Tactart in
einigem Dunkel ſchwebt, und überdies von jedem der einzelnen Künſtler
ziemlich ſelbſtſtändig gehandhabt wird! Aber wie wird unſerm Zuhörer,
als die Melodie, ohne alle Vermittlung, plötzlich aus Dur in Moll
überſpringt? Entſetzt fährt er auf, reißt dem Vorgeiger die Violine
aus der Hand, und ſpielt ihm die Figur correct vor. Alle Anweſenden
ſtaunen den Europäer an, Niemand begreift die Einmiſchung eines
Gentlemans in das „Handwerk“ der Schwarzen. Dieſe ſelbſt am
Wenigſten. Zwar hören ſie mit geſchmeicheltem Lächeln dem Spiele
des Fremden zu, als aber die Reihe wieder an ſie kommt, ſtellt ſich
an derſelben Stelle auch derſelbe Barbarismus wieder ein. Ob man
hier aller Orts die Ausübung der Muſik dieſen Negern überlaſſe?
fragt der beſtürzte Kunſtfreund den Aufwärter. — In der Regel, mein
Herr, war die Antwort, die Niggers haben mehr Talent dafür als
die weißen Natives. Einige Anweſende ſahen den unausſprechlichen
Geſichtsausdruck des Fremden, und er glaubt zu hören, wie ſie ſich
zuflüſterten: Ein Deutſcher! Darauf nimmt einer derſelben laut das
[11] Wort und ſagt mit dem augenſcheinlichen Beſtreben einer Ehrenrettung:
Nämlich, mein Herr, es iſt hier von öffentlicher Muſik die Rede.
Gute Kammermuſik findet ſich wohl unter uns. — Wo, mein Herr?
fragt der Ankömmling wie mit einem Hilferuf. — Bei Mr. Bennet
zum Beiſpiel. — Der Fremde ſchien geneigt, über dieſem Gegenſtande
länger zu verweilen, aber es blieb ihm unmöglich unter der [fortwäh¬
renden] Geiſel des wilden Orcheſters. Im Pavillon gegenüber begann
jetzt ſogar ein zweites zu ſpielen, natürlich eine andere Melodie und
in einem anderen Tact und Rhythmus. Beide Orcheſter vernahmen
ſich einander vollkommen gut, das ſchien aber weder ihr, noch ihrer
Zuhörer Wohlbefinden im Geringſten zu beeinträchtigen. Einige Kinder,
an ihrer engliſch-amerikaniſchen Mundart als reinſte Natives kennbar,
liefen ſogar begierig herbei und ſtellten ſich mit intelligenteſter Raum¬
abmeſſung zwiſchen die ſpielenden Orcheſter in die gerechte Mitte, um,
wie ſie ſich zujubelten „zwei Muſik“ zu haben. Der Europäer ergriff
eine wilde Flucht.
Mit der Sehnſucht eines Bräutigams dachte er einen Augenblick
lang — an ſeine Violine. Sie lagert jetzt im Zollhauſe mit ſeinem
anderen Gepäcke; bis er ſie in das bezogene Logis abholen läßt, wid¬
met er ihr ein zärtliches Andenken. Ahnt er doch, welchen Werth ſie
ihm jetzt haben wird! —
Aber wenn nach Novalis Architektur ſtarrgewordene Muſik iſt, ſo
hat Newyork mindeſtens ſeinen ſtarren Beethoven im Broadway. Das
ſollte der Unvorbereitete ſofort empfinden lernen. Er ſtand ohne es
ſelbſt zu wiſſen am ſüdlichen Mündungspunkte dieſer Rieſenſtraße —
eine geringe Wendung, und Broadway lag vor ihm aufgethan. Der
Anblick erſchüttert ihn. Den Zeus aller Straßen erblickt er! Zwei
Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten ſich ausweichen darin; — das iſt
ihre Breite! Zwei Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten an beiden Enden
ſich bombardiren, und ihre Kugeln erreichten ſich nicht; — das iſt
ihre Länge! Vergebens ſtemmt er ſich mit Trotz gegen dieſen Eindruck
des Ungeheuren. Wohl ſieht er, wie die Verhältniſſe der Häuſer —
damals in Mehrzahl noch klein und unanſehnlich — das Verhältniß
der Straße vergrößern. Wohl ſieht er, wie die einförmige Geradlinig¬
keit der Pappelallee, welche die ganze Flucht durchläuft, ein Hebel
mehr iſt zur perſpectiviſchen Täuſchung. Aber wenn die erſte der
[12] Pappeln ein Thurm und die letzte wie ein Grashalm erſcheinen kann
— wer überwände die Täuſchungskraft einer ſolchen Perſpective? Wahr¬
lich, ein Volk, das in dieſen Dimenſionen denkt, hat etwas von dem
Geiſte der die neunte Symphonie ſchrieb, oder den olympiſchen Jupi¬
ter meißelte! Es hat ein Recht an das: anch' io son' pittore! Der
Newsky-Proſpect iſt ein Kaiſergedanke, eine Linie aus dem Generalſtab;
der Broadway iſt ein Volksgedanke, ein Maß nach der Krämerelle!
Setzet ſie unter die Sterne, dieſe Krämerelle!
Die Seele unſers Helden, jedes Große und Neue ſchnell in ſeiner
höchſten Weſenheit faſſend, huldiget ſo dem erſten Anblicke des Broad¬
way. Im nächſten Augenblicke nimmt er es auf mit ihm. Er
iſt entſchloſſen, in dieſen Strom unterzutauchen, und ſtürzt ſich muthig
hinein. Und wahrlich, ein Strom iſt die Pulsader Newyorks, ohne
alle Figur. Ein Miſſiſſippi zu Lande! In der Fahrſtraße hat die
geſtaute Fluth der Fuhrwerke kaum Zeit und Raum ſich aus einan¬
der zu wirren und individuell abzufließen. Welch ein Schwall von
Wagen bedeckt hier in jedem Augenblicke jeden Quadratzoll Landes!
Die Karre des Shopkeepers zerrt ihre Ballen und Fäſſer, der urmenſch¬
lichen Schleife verwandt, niedrig am Boden dahin — das kurzbeinige
Krokodill dieſes Strombettes. Delphinenleicht und luſtig tanzt die
Karroſſe des Millionärs an ihr vorbei, hochgepolſtert über Shopkee¬
pers Niveau, das vielleicht einſt das ihrige war. Plump und brutal
wälzt ſich die fahrbare Völkerwanderung im Omnibus, die rieſige
Wallfiſchmaſchine, daher, und ſchurft, alle Fluth an die Seiten drängend,
ihre breitſpurige Wogenbahn. Wer iſt groß außer ihr? Der Cir¬
pencefahrer auf der Decke dieſes Kaſtens blickt in die Karroſſe nieder,
wie von der Belletage in's Kellergewölbe. Und doch iſt über dem keck¬
bemalten, fahnenbewimmelten Omnibus noch ein höheres Weſen.
Platz da! rette ſich wer kann! die Straße verdunkelt ſich, — ein lan¬
ger, keuchender Pferdetrain ſchleppt ihn herauf, den Alles überragenden
Transportwagen. Ein Haus transportirt er — ein fertiges Back¬
ſteinhaus! Nur das Dach und der Schornſtein fehlt, wenn ſie nicht
dem Ungeheuer wie in einem Strickkörbchen, nachgeführt werden. —
So die Straße. Gefähr jeder Größe, Form und Beſtimmung drängt
ſich ſo dicht hinter einander, daß das Ganze wie ein einziger Leib,
wie ein unſterblicher Heerwurm ſich ausnimmt. Die tägliche Bilanz dieſer
[13] Achſenumdrehungen erreicht vielleicht die Million, ihr nächſtes Product
iſt ein unausſprechlicher Lärm. Und nun das Trottoir. Kaufhalle an
Kaufhalle, Bude an Bude, jedes Haus ein Markt, jedes Wort ein Ge¬
ſchäft. Hier iſt täglich Meſſe. Die amerikaniſche Waare liebt das Dunkel
nicht. Unter dem römiſchen Sommerhimmel Newyorks lagert ſie vor
dem Laden im Freien. Beſonders Eßwaaren buhlen um dieſe Oeffent¬
lichkeit. Wir ſagen: beſonders, aber ja nicht: ausſchließlich. Denn
auch der Buchhändler verſchmäht es nicht, unter dem Schatten von
Kartoffelbergen zu wohnen, in den Viſirgläſern optiſcher Inſtrumente
ſpiegelt ſich die gerupfte Fettgans, und ſogar der Sarghändler ſtellt
ſein Produkt zwiſchen Thürme von Baumfrüchten aus, und verdirbt
ſeinem Nachbar den Markt, deſſen Kokosnüſſe, der Ideenverbindung we¬
gen, wie kahle Todtenſchädel gleißen.
Dieſe Gütermaſſen ab- und zuzuſchleppen, zu vermehren, zu ver¬
mindern, zu muſtern und aufzukaufen, iſt beſtändig ein tauſendbeiniges
Ungeheuer unterwegs, brüllend nach dem Bedürfniſſe, wähleriſch im
Genuſſe, gähnend vor Ueberſättigung. Hier ſtürzt ſich der ſchwarze
Taglöhner auf den faulenden Inhalt eines Fiſchbehälters, dort gleitet
die Auſter im Dufte des Champagnerſchaums über die feine Zunge
der Wallſtreet-Männer. Hier kauft ſich die Quaterone ein Paar baum¬
wollene Strümpfe, und macht den nächſten Thorweg zu ihrem Boudoir,
worin ſie ſcrupellos den Wechſel des Neuen und Alten vornimmt, dort
läßt ſich die vornehme Dame im Putzwaarenlager den Werth von
Fürſtenthümern vor die Füße rollen und kauft zuletzt nichts. — Unſer
Wanderer kämpft ritterlich mit all dieſen Elementen. Immer tiefer
arbeitet er ſich den Strom hinab; aber ach! wo iſt ſein Ende? Wo
nur ein Ruhepunkt? Mit jeder Seitenſtraße, die einmündet, ſchwillt
noch die Fluth, denn Alles drängt dem Broadway zu, wenig fließt
ab von ihm. Der Schwimmer weiß zuletzt nicht mehr, ſchwimmt er
mit oder gegen den Schwall; wohin er ſich wendet, jede Richtung iſt
ihm eine widrige. Die Kunſt des Flanirens iſt eine Localkunſt. Zu
ſchauen und nicht zu ſchauen, ſich zu bewegen und ſtehen zu bleiben,
hat eine andere Technik auf den Boulevards, auf dem Long-Acre und
auf dem Broadway. Der Eingeborene kennt dieſe Kunſt, unſer Frem¬
der wird fortgeſpült, wie ein äthiopiſches Sandkorn in's Nil-Delta.
Es iſt als hätte er die ganze Erde wider ſich, Bewegliches und Un¬
[14] bewegliches. Ein Blick gegen Himmel bleibt oft der einzige Ruhepunkt.
Ruhepunkt? mit nichten! Denn was ſoll er zu einer Stadt ſagen, wo
im dritten Geſtock der Schloſſer hämmert, wo ein Schmiedefeuer glüht
in jener Dachetage, die ſonſt nur das Lämpchen des Poeten kennt?
Ja, das Haus iſt hier kein Erbe auf Kind und Kindeskind; die
Fabrik hat's geliefert, die Fabrik verbraucht's als vorübergehendes
Werkzeug. So iſt auch der Weg zum Himmel nicht frei, Lärm oben
wie unten, Hammer dröhnen und Funken ſprühen zu den Fenſtern
einer Höhe heraus, in welcher der Zeiſig ſingen, von welcher ein Blatt
des Blumenſtocks niederwehen ſollte.
An einer Straßenecke, in welche der Wanderer endlich einbog, ſtand
ein kleines, reingekleidetes Mädchen, weinend, ein Zettelchen in der
Hand. Es hatte verſchiedene Verſuche gemacht, von den Paſſanten,
wie es ſchien, eine Auskunft zu erhalten, und ſtets unglückliche. Alles
rannte achtlos an dem kleinen Weſen vorbei und ließ es ſtehen. End¬
lich zupfte es auch dieſen Ankömmling am Rockärmel, und blickte mit
hellblauen Augen voll Waſſer bittend zu ihm auf. Die Kleine mußte
ihr Stimmchen wiederholt anſtrengen, um ſich in dem Straßenlärm
hörbar zu machen. Sie bat um den Weg in irgend eine Street nach
der Common-School irgend eines Mr. Mockingbird: zugleich wies ſie
ihren Zettel vor, worauf die Adreſſe ſtand. Der junge Mann wußte
nun freilich nicht beſſer Beſcheid, als das verirrte Kind ſelbſt. Aber
augenblicklich ergriff er den Gedanken, der ſich hier darbot. Iſt es
möglich, rief er ſich zu, mit ſo viel Detail des Markts ſich zu balgen,
und nicht an die Volksſchule zu denken, an den einfachen geiſtigen
Punkt, aus dem das Ganze begriffen wird? Common-School, das
iſt das Schlagwort! Das iſt der Ort, wo der Fremde ſtets zuerſt
Landeskunde ſtudiren ſoll! Komm, mein Kind! Er warf ſich mit dem
Mädchen raſch in den nächſten Omnibus, und war faſt ſo glücklich
wie dieſes ſelbſt über das gefundene Auskunftsmittel.
Die Fahrt begann mit einer unfreundlichen Scene. Einer der
Mitfahrenden hatte ſeine Beine lang vor ſich ausgeſtreckt und eben an
jene Stelle der Wagenlehne geſtemmt, welche das einſteigende Paar
zu beſetzen hatte. Er ſchien indeß nicht geneigt, ſeine Bequemlichkeit
aufzugeben, ſondern räumte dem kleinen Mädchen, ſeinem neuen
vis-à-vis, nur ſo viel ein, daß er ihr Köpfchen zwiſchen ſeine beiden
[15] Stiefelabſätze aufnahm. Der Fremde verbat ſich dieſe Zwangloſigkeit.
Jener erwiderte: Mein Herr, Sie fordern für dieſes Kind die Rechte
einer Lady zu früh. Sein Ton dabei war vollkommen ruhig, faſt
belehrend, wie der Mann überhaupt nicht ohne Façon ſchien. Aber
um ſo gereizter empfand der Fremde dieſe Sittenrohheit und ſcharf
antwortete er: Sind Sie einer Lady zuvorkommend aus Sclaverei für
ein Ceremoniell, oder aus freier Menſchlichkeit? Auf letztere werden
Sie auch dieſes Kind zählen laſſen! Der Amerikaner blieb gänzlich
eindruckslos bei dieſem Appell, und die Colliſion hätte leicht ernſter
werden können, wenn ein Marktweib nicht den Tact hatte, ihren Platz
mit dem Kinde zu wechſeln. Vor dieſer Lady zog der Ausgeſtreckte
ſeine Beine zurück. —
Nach dieſer Epiſode verlief die weitere Fahrt ruhig, und dauerte,
unter einem ſteten Wechſel von aus- und einſteigenden Perſonen, ver¬
hältnißmäßig kurz. Der Omnibus ſetzte unſer Paar in einer Straße
ab, von welcher nichts als der Name vorhanden war, den mit großen
Lettern ein prophetiſcher Pfahlanſchlag nannte. Das kleine Mädchen
fand ſich aber ſofort orientirt, und lief glückſtrahlend auf den einzigen
Anbau dieſer Straßenzukunft zu. Es war ein backſteinener, länglich
viereckiger Kaſten, ohne Maueranwurf, mit unglaſirten Dachpfannen
gedeckt. Ein Mann von derbem Leib und ſtarken Knochen, mit einem
rothen, prallen Geſichte, kurzgeſchornem Haupthaar, in Jacke und Hemd¬
ärmeln, aber einen franzöſiſchen Hut auf dem Kopfe, empfing unſern
Ankömmling mit der Frage: Wie viel Buſhel? Der Fremde wußte
dieſe Anrede nicht zu deuten. Ich dachte, Sie machten eine Beſtellung
in Zwiebeln, antwortete der Stämmige. Der Fremde wechſelte zwei¬
felnde Blicke zwiſchen dem kleinen Mädchen und dieſem Manne, und
erklärte, daß er die Volksſchule des Mr. Mockingbird zu beſuchen ge¬
glaubt. — In der ſind Sie, ſagte dieſer; — ich habe vor einigen
Wochen in Thran fallirt, und verlor mein Vermögen. Sofort er¬
öffnete ich eine Schule und unterrichte die Kinder meiner Nachbarn
in dem was ich weiß und in dem was ich nicht weiß, wozu ich einen
Hilfslehrer miethe. Da mir dieſe Beſchäftigung weder den ganzen
Tag noch den ganzen Beutel ausfüllt, ſo mache ich in den übrigen
Stunden das fehlende Geld mit einem Zwiebelhandel. Damit ſchritt
er ohne weitere Umſtände in das Innere des Hauſes. Unſer Held
[16] folgt ihm, — ein wenig zögernd und unſicher. Seine Miene drückt
ziemlich unzweideutig den Grad ſeiner Erwartungen aus. Die Per¬
ſönlichkeit des ehrenwerthen Mr. Mockingbird ſcheint ihm eine ausge¬
ſprochen ſinnliche, und die Pflege von Kinderſeelen, zwiſchen Thran
und Zwiebeln betrieben, dünkt ihm nicht deſſen natürlichſter Beruf.
Doch folgt er.
Die Schulſtube war ein geräumiges, luftiges Zimmer, deſſen ganzer
Schmuck in dem hellen Tageslichte beſtand, das reichlich einfiel. Tiſche
und Bänke waren nur aus dem Roheſten gehobelt, Lack oder Firniß
nirgend verſchwendet. Auf den Bänken ſaßen ſechzig bis achtzig Knaben,
der Mehrzahl nach in einem Alter von neun bis zwölf Jahren. Ihr
Aeußeres war reinlich gehalten, ihre Bekleidung mehr grob und formlos,
als defect, eigentliche Zerlumpungen nirgends. An einem der vorhan¬
denen Tiſche arbeitete mit einer Linirmaſchine ein junger Mann —
Mr. Benthal, Hilfslehrer, ſagte Mr. Mockingbird. Der Fremde nahm
mit einer leichten Verbeugung den Namen entgegen und erwiderte ihn
mit ſeinem eigenen, indem er ſich als Doctor Moorfeld vorſtellte. Das
kleine Mädchen war gleich bei ihrem Eintritte auf den Hilfslehrer zu¬
geeilt; ſie brachte ihm, wie es ſchien, eine Nachricht. Dann hielt ſie
ſich vertraulich an ſeine Seite, indeß er ſtillvertieft fortarbeitete.
Die Schulſtube feierte eben, wenn nicht mit dem eleganten, doch
mit dem hungerigen Newyork, ihre Mittagsſtunde. Dr. Moorfeld,
wie wir den Fremden jetzt nennen dürfen, fand die kleinen Republi¬
kaner über großen Vorräthen mitgebrachten Fleiſches und Brodes thätig.
Deßungeachtet ſah er ſeinen Zweck nicht nur nicht verfehlt, ſondern
ſogar noch beſſer erreicht. Mr. Mockingbird hielt nämlich eine Art
Brachwirthſchaft in dieſer Pauſe, eine freie Converſation. Er ließ
ſich mit ſeinen Schülern in einen Dialog ein, aus welchem der Namens¬
aufruf verbannt war: wer einen Gedanken hatte, konnte mit Auszeich¬
nung antworten, wer nicht, ohne Beſchämung ſchweigen; es war ein
zwangloſes Spiel der Individualitäten, mehr Clubb als Schule. Kurz,
dieſe Zeit der Ernährung wurde, weil Amerika überhaupt keine Zeit ver¬
liert, zwar dem Schulzwecke gewonnen, aber ihrem eigenen nicht entzogen.
Mr. Mockingbird legte behaglich die Arme auf den Rücken und be¬
gann mit ſeinem kleinen Volke ein Wechſelpiel von Fragen und Ant¬
worten, das eine lebendigere Ausführung etwa dieſes Umriſſes war:
[17]
Ich war wohl ein Thor, fing er an, indem er ſeine Stube auf-
und abſchritt, und ſich ſcheinbar dem Zufalle überließ, ich war wohl
ein Thor, daß ich mein Haus im länglichen Viereck baute. So eben
überlegt' ich mir's anders, indem ich auf der Schwelle ſtand. Wie,
wenn ich's rund gebaut hätte? rund wie dieſen Hut! Was meint ihr
zu dem Einfall?
Die Kinder, zweifelhaft zwiſchen Ernſt und Scherz, ſahen theils
ſich, theils den Meiſter an. Sie ſchwiegen.
Jener fuhr fort: Wozu braucht man das Haus? — Ein Knabe
antwortete: Zum Wohnen. — Recht; und wer wohnt in dem Hauſe?
— Die Leute. — Gut, der Menſch wohnt in dem Hauſe. Der
Menſch ... hm! der Menſch iſt ſo klein und das Haus ſo groß!
Braucht der Menſch alle Räume des Hauſes auf einmal, oder kann
er ſich auch in einem einzelnen Raume deſſelben aufhalten? — Im
Zimmer. — Richtig, einen einzelnen bewohnbaren Raum des Hauſes
nennt man ein Zimmer. Alſo der Menſch wohnt eigentlich im Zim¬
mer, nicht wahr? — Ja. — Hört, ich überlege mir die Sache.
Ehrlich zu reden, ich habe Luſt, auch dem Zimmer noch was abzu¬
ſparen. Wozu brauch' ich ein ganzes Zimmer, wenn ich z.B. ſchlafe;
wie? — Das iſt wahr, man hat kleine Schlafkämmerchen. — Ich
rathe, mir wird ſehr ſchwül d'rin im Sommer. Lieber möcht' ich
unter dem freien Sternenhimmel ſchlafen. Das ginge doch wohl? —
Wenn kein Wetter kommt, allerdings. — Seht ihr! das Schlafſtüb¬
chen brauch' ich ſo nothwendig nicht. Aber was brauch' ich doch noch
zum Schlafen? — Das Bett. — Da haben wir's, das Bett! Ich
wohne alſo, ſo zu ſagen, Nachts eigentlich im Bette? — Ja. — Ich
bin ein närriſcher Kauz! Zuvor wollt' ich mein Haus rund, anſtatt
im länglichen Viereck haben, aber ich laſſe nicht ab. Ich möchte jetzt
auch ein rundes Bett, ein kugelrundes Bett; was? Die ganze Schul¬
ſtube lachte. Mr. Mockingbird fuhr fort:
Eure Heiterkeit iſt euer Urtheil. Ihr gebt mir zu verſtehen, ein
rundes Bett wäre blanker Unſinn. Ein rundes Bett taugte nicht für
die menſchliche Figur, das länglich-viereckige Bett wäre gerade recht ſo.
Meint ihr das? — Ja, ja! — Meinen iſt gut, aber beweiſen iſt
beſſer. Wie könnt ihr mir's beweiſen? Nun, Vance! he! du
kanzelſt ja gerne; würdeſt du den Beweis wohl finden? Komm,
D.B. Vll. Der Amerika-Müde. 2[18] wir wollen ihn mit einander ſuchen; zwei richten immer mehr,
als Eins.
Der Lehrer nahm den Knaben aus der Bank und ſtellte ihn mit
dem Rücken gegen die Wand. Dann fing er an, dicht an ſeinem
Körper zwei ſenkrechte und quer über ſeinem Kopfe eine kürzere hori¬
zontale Linie zu ziehen. Hierauf ließ er ihn wieder abtreten, und
wendete ſich gegen die übrige Schule mit den Worten:
Was für eine Figur bilden dieſe drei Linien an der Wand? —
Ein Viereck. Ein längliches Viereck! — Aha! der Menſch iſt alſo,
wenn man ihn nicht auf's genaueſte abzeichnet, ſondern nur grobhin,
mit drei Strichen . . . was iſt da der Menſch? — Ein längliches
Viereck. — O, nun weiß ich Beſcheid! Geſetzt, ich müßte unſern
Freund Vance verpacken, wie eine Waare, welche Form müßte ſeine
Kiſte bekommen? — Es müßte ein längliches Viereck ſein. — Richtig,
dort ſteht ja das Maß an der Wand! Nun verpackt ſich aber der
Menſch wirklich, und zwar Nachts, wenn er ſchläft. Seine Kiſte iſt
dann das Bett. Das Bett hat daher am paſſendſten . . . welche
Form? — Die länglich-viereckige. — Und iſt im Grunde das Zim¬
mer nicht eine große Kiſte, worin man Betten einpackt? Und das
Haus eine große Kiſte, worin man Zimmer einpackt? Seht, um wie
viel klüger ſind wir jetzt, als zuvor! Das Haus muß ein längliches
Viereck ſein, des Zimmers wegen, das Zimmer des Bettes wegen, und
das Bett des Menſchen wegen, weil dieſer ſelbſt, wie uns jene Figur
an der Wand beweist, ein längliches Viereck iſt.
Die Kinder zeigten ſich ſehr intereſſirt, namentlich fiel der Knabe
Vance dem Meiſter faſt ins Wort: Jetzt weiß ich auch, rief er, warum
alle übrigen Möbel des Zimmers viereckig ſind; die Tiſche, die Bänke,
die Bilder, die Schränke, die Koffer —
Und ſelbſt das noch, was man in Schrank und Koffer packt, die
Bücher z. B., ergänzte der Meiſter. Ja, was ſoll ich ſagen! werden
in die Bücher nicht wieder die Buchſtaben verpackt? Hier haſt du
ein feines Stift, Vance. Zieh' um den Buchſtaben e dieſelben Striche,
die ich zuvor um dich gezogen . . . was für eine Figur bilden dieſe
Striche? — Ein längliches Viereck; Meiſter, Meiſter, mit dem n
geht's noch leichter! — Sehr wahr, das n iſt ja auch der Muſter¬
buchſtabe. Nun bitt' ich euch! Blickt einmal auf- und abwärts auf
[19] das, was wir jetzt gelernt haben! Ein Buchſtabe und ein Haus haben
die nämliche Figur und aus der nämlichen Urſache! Die Urſache ſteht
dort an der Wand. Der Menſch iſt ein längliches Viereck und dar¬
nach richten ſich all ſeine Formen!
Dieſes Probeſtück machte augenſcheinlich Eindruck auf ſeinen Zeugen.
Im Verlaufe deſſelben hatte die Miene des fremden Doctors einen
ungleich höheren Ausdruck angenommen, als womit er die Schwelle
des ſchulmeiſternden Zwiebelhändlers überſchritten. Er bezeugte dem
Mr. Mockingbird jetzt ſeine ganze Anerkennung.
Ja, es iſt nicht deutſche Metaphyſik, antwortete dieſer trocken. Und
zu ſeiner Schule gewendet, fuhr er ſogleich wieder fort: Wer fertig
iſt mit dem Eſſen und gute Luſt hat, der leſe uns auch ein Kapitel.
Dabei findet ſich wohl Stoff zu weiterer Unterhaltung. Viele Schüler
ſchlugen zugleich ihre Bücher auf. Der Meiſter mußte eine Wahl
treffen und bezeichnete einen der erwachſeneren Knaben, dem er zurief:
Hoby, lies uns den Rath an „junge Gewerbsleute”. Der Aufgeforderte
fing mit einer muntern, verſtändigen Stimme aus ſeinem Büchlein
alſo zu leſen an:
„Bedenke, daß die Zeit Geld iſt; wer täglich zehn Schillinge durch
ſeine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag ſpazieren geht,
oder auf ſeinem Zimmer faullenzt, der darf, auch wenn er nur ſechs
Pence für ſein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen; er
hat nebendem noch fünf Schilling ausgegeben, oder vielmehr weg¬
geworfen.
„Bedenke, daß Credit Geld iſt; läßt Jemand ſein Geld, nachdem
es zahlbar iſt, bei mir ſtehen, ſo ſchenkt er mir die Intereſſen, oder
ſo viel als ich während dieſer Zeit damit anfangen kann. Dies be¬
läuft ſich auf eine beträchtliche Summe, wenn ein Mann guten und
großen Credit hat und guten Gebrauch davon macht.
„Bedenke, daß Geld hinſichtlich ſeiner Fortpflanzung ſehr fruchtbarer
Natur iſt. Geld kann Geld erzeugen und die Sprößlinge können
noch mehr erzeugen u. ſ. w. Fünf Schillinge umgetrieben ſind ſechs,
wieder umgetrieben ſieben Schilling 3 Pence u. ſ. w. bis hundert Pfd.
Sterl. Je mehr davon vorhanden iſt, deſto mehr erzeugt das Geld beim
Umtreiben, ſo daß der Nutzen höher und höher ſteigt. Wer ein Mutter¬
ſchwein tödtet, vernichtet deſſen ganze Nachkommenſchaft bis ins tauſend¬
2 *[20] fachſte Glied. Der Verſchwender d. h. der Mörder von einem Schil¬
ling bringt ſeinen Enkel um eine Million.
„Bedenke, daß ein guter Zahlmeiſter der Herr von Jedermanns
Beutel iſt. Wer pünktlich zahlt, kann zu jeder Zeit alles Geld ent¬
lehnen, was ſeine Freunde gerade nicht brauchen. Dies iſt bisweilen
von großem Nutzen. Neben Fleiß und Mäßigkeit trägt nichts ſo ſehr
dazu bei, einen jungen Mann in der Welt vorwärts zu bringen, als
Pünktlichkeit und Gerechtigkeit in ſeinem Handel. Deßhalb behalte
niemals erborgtes Geld eine Stunde länger als du verſprachſt, damit
nicht der Aerger darüber deines Freundes Börſe dir auf immer ver¬
ſchließe.
„Die unbedeutendſten Handlungen, die dem Credite Schaden bringen,
müſſen vermieden werden. Der Schlag deines Hammers, den dein
Gläubiger um fünf Uhr Morgens, oder um neun Uhr Abends ver¬
nimmt, ſtellt ihn auf ſechs Monate zufrieden; ſieht er dich aber am
Billardtiſch oder hört er deine Stimme im Wirthshauſe, ſo läßt er
dich am nächſten Morgen um die Zahlung mahnen, und fordert ſein
Geld, bevor du es zur Verfügung haſt.
„Außerdem zeigt dies, daß du ein Gedächtniß für deine Schulden
haſt; es läßt dich als einen eben ſo ſorgfältigen wie ehrlichen Mann
erſcheinen und das vermehrt deinen Credit.
„Hüte dich, daß du Alles was du beſitzeſt für dein Eigenthum
hältſt und demgemäß lebſt. In dieſe Täuſchung gerathen viele Leute,
die Credit haben. Um dies zu verhüten, halte eine genaue Rechnung
über deine Ausgaben und dein Einkommen. Gibſt du dir Mühe,
namentlich erſtere genau zu verrechnen, ſo hat das eine gute Wirkung;
dann entdeckſt du, wie wunderbar kleine Ausgaben zu großen Sum¬
men anſchwellen und du wirſt bemerken, was hätte geſpart werden
können und was in Zukunft geſpart werden kann.
„Eine Ausgabe, auch wenn ſie noch ſo klein ſei, erlaube dir ohne
Noth doch nicht darum allein, weil ſie klein iſt. Bedenke folgendes:
der Zinsfuß in unſerm Lande iſt ſechs Procent d. h. für ſechs Pfund
jährlich kannſt du den Gebrauch von hundert Pfund haben, voraus¬
geſetzt, daß du ein Mann von bekannter Klugheit und Ehrlichkeit biſt.
Wer täglich einen Groſchen nutzlos ausgibt, gibt jährlich an ſechs Pfund
nutzlos aus, welches der Preis für den Gebrauch von hundert Pfund iſt.
[21] Wer einen Theil ſeiner Tageszeit zum Werthe eines Groſchen ver¬
ſchwendet (und das mögen nur ein paar Minuten ſein) verliert auch,
einen Tag in den andern gerechnet, das Vorrecht, hundert Pfund jähr¬
lich zu gebrauchen. Wie viel alſo, nur durch dieſe Verſchwendung
weniger Minuten des Tags, an Geld verloren geht, wenn ein junger
Mann ein höheres Alter erreicht, — das zu betrachten laß dir auf's
ernſtlichſte angelegen ſein. Es iſt in der That ein größerer Reichthum,
als den ein Phantaſt im Lotto zu gewinnen, oder ein Schatzgräber
aus der Erde zu heben hofft.“
Der Mann nimmt das Leben ein wenig peinlich, bemerkte Dr. Moor¬
feld, den dieſes Bruchſtück amerikaniſcher Disciplin offenbar minder
anſprach, als das erſte.
Mein Herr, es iſt Benjamin Franklin, der ſo ſchreibt, antwortete
Mr. Mockingbird ohne alle Erörterung.
Der Doctor hatte indeß noch Genugthuung wegen des Ausfalls
auf die deutſche Metaphyſik zu nehmen, deſſen eigentliche Zielſcheibe er
freilich nicht kannte. Er war daher nicht geneigt, dem Manne, der
ihm das Gaſtrecht zuerſt verletzt zu haben ſchien, die Parthie allzu
aufopfernd zu überlaſſen. Und indem er nach Hut und Stock griff,
verabſchiedete er ſich jetzt, zwar unter den Formen eines Gentlemans,
in Bezug auf die Antwort des Mr. Mockingbird aber erwiderte er
dieſes: Ich bin Ihnen ſehr verbunden, mein Herr, daß Sie mir den
geſchätzten Namen eines Benjamin Franklin nennen. Der Mann hat
jedenfalls in der Wiſſenſchaft noch mehr als in der Bank hinterlaſſen,
und durch ſein eigenes Leben ein höheres Ideal aufgeſtellt, als wel¬
ches in jener Schrift dem menſchlichen Trachten zugemuthet wird.
Dieſe Ausmünzung der menſchlichen Exiſtenz in Schillinge und Pfunde
gewinnt erſt durch die Erfindung des Blitzableiters den Anſpruch auf
unſre Verzeihung. Ohne ſie würden wir die Doctrine eines Mannes
vor uns haben, der ſich ſo weit vergeſſen hätte, unſre Beſtimmung
dahin zu definiren: Aus dem Rinde macht man Talg, aus dem Men¬
ſchen Geld. Mag ſein, daß ein unfertiges Volk eine Zeitlang auf
dieſen Standpunkt ſich herabſtellen muß, ein fertiges aber ſagt: Geiſt
macht man aus dem Menſchen, nicht Geld!
Der Hilfslehrer des Mr. Mockingbird, der bisher ohne aufzublicken
ſich an ſeine Linirmaſchine gehalten, legte ſein Handzeug jetzt hin,
[22] und machte mit Schüchternheit, wie es ſchien, einen Verſuch, dem
Fremden das Geleite zu geben. Unter der Thüre ergriff er ver¬
ſtohlen die Hand desſelben und flüſterte mit bewegter Stimme: Ich
danke Ihnen für dieſes deutſche Wort!
Zweites Kapitel.
Im Nachdenken über dieſe Scene beſtieg Moorfeld eine Miethka¬
leſche und fuhr jetzt der Adreſſe ſeines newyorker Abſteigequartiers zu.
Wer mochte der junge blonde Mann ſein, der mit ſeinem germaniſchen
Bart, ſeiner vollen Studentenlocke, ſeiner breiten Bruſt und trutzigen
Stirn ihm ſo mädchenhaft-ſchüchtern nachgeſchlichen und zugeſtammelt?
Ein Eingewanderter natürlich. Einer jener deutſchen Taglöhner der
Weltgeſchichte, welche auf der ganzen Erde überall am Kulturleben
mitarbeiten, aber ſelten auf eigenen Namen und nie auf den ihrer
Nation. Moorfeld nahm ſeinen Ausfall auf Mr. Mockingbird's Frank¬
lin längſt wieder zurück; er hätte ſich gerne Unrecht gegeben, daß er
mit idealiſtiſcher Einſeitigkeit gegen das erſte Stück hieſigen Volkslebens
ſo vorſchnell abgeſprochen: aber da ſtiehlt ſich eine warme Hand in
die ſeinige, ein kummervoller Märtyrerblick trifft ihn, und das Wort
ſeiner Uebereilung beſtätigt ihm, wie es ſcheint, die Erfahrung. Ein
unwillkommenes Rechthaben! Moorfeld ſuchte ſich mit Gewalt in den
ſchönen Flug ſeiner Erſtlingsſtimmung wieder zurückzuwerfen. Er er¬
gab ſich mit allen Sinnen wieder dem Ungeheuer eines Straßenlebens,
das das europäiſche übertraf, wie ein Redoutenſaal einen Latrappiſten¬
kreuzgang. Er ſah und hörte zu ſeiner Kaleſche hinaus, er bemühte
ſich neugierig zu ſein und zu erſtaunen. Umſonſt. Er bekam ſeine
Stimmung nicht mehr in ſeine Willkür und durch all das fluthende
Lärmen um ihn her verfolgte ihn der halberſtickte Flüſterton: „Ich
danke Ihnen für dieſes deutſche Wort.“
Endlich ragte eine lange Reihe von Maſtbäumen die Straße herauf,
welche der Kutſcher eingeſchlagen hatte; ein blauer Waſſerſtreif dunkelte
[23] dahinter, der immer breiter und voller wurde, Wimpel wehten, Ma¬
troſen johlten, Krahnen ſeufzten, und im Nu wiegte ſich das zierliche
Wagengebäude auf dem platanenbeſäumten Kai des Hudſon oder Nord¬
fluſſes, der ſich wohl an drei engliſche Meilen breit vor den überraſch¬
ten Augen des Europäers ausdehnte. Der Wagen rollte längs des
Fluſſes an einer Häuſerreihe hinab, welche in ihrem bunten Nebeneinan¬
der eine äußerſt heitere Enfilade bildete: dieſes Haus trug einen
lebhaften Farbenanſtrich, jenes ſtach durch ſeine hellgrünen Jalouſien
hervor, ein drittes durch eine glänzend gefirnißte Palliſadenverzäunung,
hinter welchen lombardiſche Pappeln eine ſteife Parade hielten, jedes
machte in ſeiner Einzelheit einen Verſuch zu brilliren, der wirklich im
Ganzen erreicht, wenn auch im Beſonderen faſt immer verfehlt und
oft chineſiſch verfehlt war.
Vor einem dieſer Häuſer hielt der Kutſcher. Moorfeld ſprang
aufgeweckt heraus, ließ den Klopfer ertönen, und wartete. Ein Neger
öffnete. Aber ehe Moorfeld ihm ſeinen Namen nennen, oder ſeine
Karte abgeben konnte, war der ſchwarze Hausgeiſt ſchon wieder ver¬
ſchwunden, indem er ein ſolches Ceremoniell nicht zu erwarten ſchien.
„Help you selp“ lächelte Moorfeld, und ſah ſich im Hausflur, wo man
ihn ſo republikaniſch-formlos allein ſtehen ließ, auf gut Glück um.
Er fand rechts ein Zimmer, deſſen Thüre, wahrſcheinlich der großen
Hitze wegen, halb offen ſtand. Er blickte vorſichtig hinein. Eine junge
Dame von großer Schönheit ſaß darin und ſtudirte über Landkarten
und Bücher eifrig hinter einem großen Comptoirtiſch. Der Fremdling
glaubte ſich hier an guter Adreſſe; er öffnete unter einem beſcheidenen
Klopfen auch die übrige Hälfte der Thür und ſtellte ſich der ſchönen
Einſiedlerin mit all jener Artigkeit vor, womit ein Mann von Er¬
ziehung die Tochter des Hauſes unter dieſen Umſtänden anredet. Das
Mädchen hörte ihn an, ohne eine Miene zu verändern, ja faſt ohne
den Blick zu ihm aufzuſchlagen, worüber der junge Mann, der ſich im
Beſitz eines gefallenden Aeußern wußte und vielleicht etwas verwöhnt
in dieſem Punkte war, eine unwillkommene Regung empfand. Treten
Sie gefälligſt ins Parlour gegenüber, antwortete die lakoniſche Venus
mit einer leichten Handbewegung; Moorfeld zog ſich zurück, nicht ohne
einen ſeiner bezwingendſten Blicke in das ſchöne regungsloſe Antlitz des
Mädchens zu werfen. Selbſt das offizielle Lächeln der Höflichkeit hätte
[24] ihm wohlgethan in dieſem Antlitz, aber er ſah nichts darauf als die
Ruhe einer ſauber gearbeiteten Figur unter Glasſchrank. Dagegen
traf ihn vor der Thür über das Treppengeländer des erſten Stockes
herab ein zorniger Mädchenblick aus einem Gehänge, oder vielmehr
aus einem Tauwerk von ſchlappen Locken — die Geſtalt huſchte im
Nu zurück als Moorfeld zu ihrer Loreleyhöhe ſeinen Blick erhob.
Kopfſchüttelnd ging er auf den bezeichneten Eingang des Parlours zu.
Er klopfte, ohne Antwort zu erhalten. Er beſann ſich nicht lange,
ſondern ſchloß vielmehr, daß es landesübliche Sitte ſein müſſe, geradezu
zu gehen, ohne ſich an irgend eine Form zu binden, da der Mangel der¬
ſelben unmöglich die ſpezielle Ungaſtlichkeit dieſes Hauſes ſein konnte.
Er trat alſo ein. Das Gefühl unter dem erſten amerikaniſchen Dache
zu ſtehen, brachte jetzt eine Pauſe in all ſeine übrigen Empfindungen.
Er ſah ſich im Parlour um, erfüllt und ergriffen von dem Bewußt¬
ſein, daß das Zimmer der Abdruck des Menſchen ſei.
Die Möbelformen hatten nach unſern Begriffen keinen eigentlichen
Styl, wohl aber ließen ſeltſame Holzarten manch wunderliche Spie¬
lerei zu. So ſah Moorfeld ein halb Dutzend ſpindeldürre Stühle,
welche mit ſo bizarrer Feinheit geſchnitzt waren, daß ſelbſt die Königin
Mab, wie es ſchien, darauf hätte durchbrechen müſſen. Nur eine un¬
gewöhnliche Holzfaſer konnte dieſe Bearbeitung erlauben, aber die ſinn¬
liche Vorſtellung des Sitzens war ganz bedachtlos dabei verletzt. Nach
demſelben Mißverhältniß zwiſchen Schein und Zweck präſentirte ſich
der Sophaüberzug: er brillirte in einem orange-prächtigen Farben¬
muſter, das das Auge lebhaft genug traf, aber das Muſter ſtellte
nichts weniger als einen — Waldbrand vor. Moorfeld mußte mehr als
lächeln, daß der Zumuthung, ſich auf Feuerflammen zu ſetzen, nicht das Ge¬
ringſte äſthetiſche Bedenken entgegengeſtanden hatte. Auf dem Kaminſims
ſtand eine Stutzuhr mit grellen und glänzenden Farben lackirt, ein paar
Porcellanvaſen links und rechts zeichneten ſich gleichfalls durch über¬
ladene Buntheit ungefähr im Geſchmacke unſerer Landleute aus. Im
Trumeau erblickte Moorfeld eine ſchlecht modellirte Statuette, welche
einen Mann in knappen Stiefeln und Hoſen mit Zopf und Stock,
dürftigen Beinen und einem Schlotterbauch vorſtellte. Die Unterſchrift
lehrte, daß es Waſhington ſei. Moorfeld erſchrack bei dem Anblicke
dieſes Namens und ſeufzte achſelzuckend: Das iſt der Mann, der ſie
[25] alle frei gemacht hat, und ſie konnten nicht ihn einmal von ein paar
häßlichen Linien frei machen! Sind politiſche Helden wohlfeiler als
poetiſche? Schnell wandte er ſich hinweg, um ſein Auge an gelungenen
Gegenſtänden zu entſchädigen, aber er entdeckte nichts beſonders mehr.
Nach einem Bücherſchrank ſah er ſich z. B. vergebens um. Das ein¬
zige Buch, das er im Zimmer fand, war die Bibel. Sie lag mit einer
ſeltſamen Oſtentation auf dem runden Tiſch, der vor dem waldbren¬
nenden Sopha ſtand. Die Tapeten des Zimmers, der Fußteppich und
die Vorhänge waren theilweiſe reiche Stoffe, aber harmonirten in ihren
Farben nicht, denn jede einzelne war ſo ſchreiend gewählt, als ob ſie Selbſt¬
zweck wäre, und die optiſche Belebung des Gemaches allein zu tragen hätte.
Die leeren Wandflächen wieſen ein einziges Bild auf, ein Familienportrait,
wie es ſchien; Moorfeld wandte aber eben ſo ſchnell wie von dem Waſhing¬
ton ſein Auge davon. Das Geſicht war wie mit Kalk und Ziegelroth auf
eine unerträglich rohe Weiſe gepinſelt. Ein prächtiger Goldrahmen ſchmückte
das Bild, aber das Gold ſtand ſo außer Verhältniß zur Kunſt, daß
es nur eine Satyre auf daſſelbe ſchien. Das war die Ausſtattung
des Parlours. Sie athmete den Geiſt einer bürgerlichen Frugalität,
das aufwachende Bedürfniß des Luxus und dieſer ſelbſt wieder den
craſſen und heftigen Geſchmack der Kindheit. „Vielleicht ein hübſches
Geſicht, aber eine erfrorene Naſe“ murmelte das europäiſche Urtheil
unſers Freundes; dem Zimmer fehlte der gemüthliche Zug, wir möch¬
ten ſagen die organiſche Wärme der Häuslichkeit.
Während Moorfeld dieſe flüchtige und wie wir ſehen nicht ſehr
lohnende Rundſchau gehalten hatte, öffnete ſich die innere Thür des
Parlours und Herr Staunton, der Hausherr, trat ein. Eine lange
ſchmächtige Figur mit enger Bruſt, nach vorn abfallenden Schultern
und dünnem Halſe präſentirt ihren amerikaniſchen Typus. Der läng¬
liche, nicht unedel geformte Kopf zeigt allen Zerfall des Herbſtes, aber
allen Schein des Lenzes. Gefärbtes Haar, bepinſelte Augenbraunen,
eingeſetzte Zähne, ein leicht aufgetragenes Roth auf dem glattraſirten
Geſichte ſchillert aus einer gewiſſen Ferne mit einem gewiſſen Jugend¬
glanze, natürlich zur mehreren Wehmuth des genauen Betrachters. Die
freie, weltmänniſche Haltung des Eintretenden, verbunden mit einer
Sorte geſchäftsfreundlicher Heiterkeit iſt gleichſam der moraliſche Theil
dieſer Toilettenkunſt. Ein Zug von merkantiler Selbſtſucht wird aus
[26] ſeiner obern Geſichtshälfte in der gewohnheitsmäßigen Heiterkeit der Stirn
und des Auges noch ſiegreich genug hinweggelächelt, hat aber in der untern
Hälfte, die überhaupt unbedeutend gedrängt und gekniffen iſt, zwiſchen
dünngeſpannten Lippen und krampfhaften Mundwinkeln eine ſehr be¬
merkbarte Heimath. Die ganze Erſcheinung machte den Eindruck eines
Mannes, der ſtets als Geſchäftsmenſch gelebt und ſtets als Gentleman
ſich gefirnißt hatte.
Dieſer Herr trat ſeinem Gaſt jetzt entgegen und begrüßte ihn mit
einer ſorgfältigen Herzlichkeit. Er lud ihn ein, ſich zu verbrennen,
d. h. er bot ihm das Sopha an, er ſelbſt nahm ſeinen Platz auf
einem von den Stühlen der Königin Mab. Hiermit eröffnete er die
Unterhaltung, indem er ſich wegen ſeines ſchwarzen Dieners Jack ent¬
ſchuldigte, den er ſchon vor zwei Stunden an den Landungsplatz ge¬
ſchickt hätte, um ihn, den erwarteten Gaſt nämlich, abzuholen. Das
Schiff, wiſſe er, ſei ſo pünktlich eingelaufen, als es ſignaliſirt war,
es könne nur die Fahrläſſigkeit des Dieners ſein, der ihn verfehlt habe,
er werde ihm die Genugthuung geben, den Schuldigen zu beſtrafen.
Moorfeld verbat ſich dieſe Aufmerkſamkeit, und da er nicht verkannte,
daß das Geſagte auch eine Anſpielung auf ſein eigenes Verſpäten ſein
könne, ſo geſtand er freimüthig, daß er aus dem Hafengetümmel ſich
unverzüglich auf die Battery geflüchtet, und dann der Begierde nach¬
gegeben habe, eine Promenade durch die Stadt zu machen. Der Ame¬
rikaner hörte dieſer Erklärung ſalbungsvoll zu, er erhob ſich mit einem
eigenthümlichen Ausdruck in's Große und Hohe und ſagte mit einer
gedehnten Feierlichkeit: Ich danke Ihnen im Namen unſerer unvergleich¬
lichen Hauptſtadt, daß Sie bewundern die Pracht und Größe ihrer An¬
lage, die Thätigkeit ihrer Menſchen, den Geiſt der Freiheit und der
Vernunft, der Ihnen entgegenkommt aus allen Bildern unſers öffent¬
lichen Lebens. Haben Sie in Europa ſich an ähnlichen Schauſpielen
zu erfreuen? Moorfeld der zunächſt weder von Bewunderung, noch
Freude, ſondern nur von ſeiner Schauluſt geſprochen, nahm dieſe Rede
ganz ſo auf, wie er durfte, und ſagte gemeſſen: Europa lebt viel von
altem Gelde, Arbeit und Muße harmonirt dort wie Licht und Schat¬
ten in einem fein durchdachten Bilde. Moorfeld erröthete, es fiel ihm
auf, daß er in zwei Stunden bereits zweimal ſeiner Begeiſterung wi¬
derſprochen und Europa gegen Amerika bevorzugt. Herr Staunton
[27] antwortete: Sie ſind ein Kenner der Kunſt, wie ich höre; wie gefällt
Ihnen dieſes Portrait hier, Herr Doctor? — Es iſt mit feſten Stri¬
chen und lebhaften Farben ausgeführt — war das Urtheil des Befragten.
O, es iſt ein vortreffliches Werk, rief Herr Staunton, zehn Dollars
koſtet es! — Moorfeld ſagte, dieſer Preis ſcheine ihm zwar nicht ohne
Verhältniß zu dem Gegenſtande, aber ohne alles Verhältniß zu denen
in Europa. Er nannte hierauf die letzteren. Ich weiß, ich weiß!
rief Herr Staunton mit einiger Ungeduld; aber bedenken Sie, daß
man mich für einen Verſchwender hält, überhaupt ein einzelnes Bild,
als ſolches, zu bezahlen. Man baut oder miethet hier ſein Haus, über¬
gibt es dem Tapezierer im Accord zur Ausſchmückung, und deſſen
Sache iſt es dann, einige Goldrahmen mit den betreffenden Malereien
anzubringen. Das iſt die Sitte hier, kein Menſch hält es anders. —
Kein Menſch! rief Moorfeld faſt erſchrocken und drang in den Spre¬
cher, ob er dieſe Redemsart wörtlich zu nehmen habe, oder unter gün¬
ſtigen Beſchränkungen. Das Mienenſpiel des Amerikaners zeigte einen
deutlichen Kampf zwiſchen zwei einander widerſprechenden Gefühlen;
er ſchien einen geheimen Aerger zu empfinden gegen das, was er zu
antworten hatte, und doch fiel es ihm ſchwer, etwas, das Perſonen
außer ihm für auszeichnend hielten, von ſeinem Vaterlande zu ver¬
ſchweigen. Zuletzt ſiegte ſein Nationalſtolz und er fing an, die Pri¬
vat-Gallerie eines Mr. Bennet auf der Battery im Lapidar-Styl zu
erheben. Nach dieſer Anſtrengung erholte er ſich aber durch die Be¬
merkung, daß ihm übrigens auch die geprieſene Kunſt der Deutſchen
einigen Zweifel erregt habe, ſeit er z. B. von allen Seiten hören
müſſe, wie viele Bilder nur ein einziger Herr Düſſeldorf gegenwärtig
durch die Welt verbreite. Unmöglich könne ein Mann, der ſo viel
hervorbringe, anders malen, als es die amerikaniſche Tapezierer eben
auch zu beſorgen wüßten, wenn er nicht an Wunder glauben ſolle.
Es ſcheine die Fingerfertigkeit dieſes heutigen Modekünſtlers dem Ruf
der deutſchen Solidität nicht zu entſprechen, dagegen rechne ſich's ganz
Amerika zur Ehre, daß der große Alston in Boſton, der erſte Künſt¬
ler ſeiner Zeit, ſchon zehn Jahre an einem hiſtoriſchen Tableau male,
und es noch nicht fertig habe. Moorfeld antwortete, nach dem Geiſte
der Extreme, deſſen Ruf dieſem Lande vorausgehe, und der auf den
erſten Blick ſich beſtätige, würde er ſich nicht wundern, wenn Herr Alston
[28] ſein nächſtes Tableau in zehn Minuten vollendete, und Amerika ſich's
nicht weniger zur Ehre rechnete; übrigens ſei Düſſeldorf nicht der
Name eines Künſtlers, ſondern der Name einer Stadt voll Künſtler.
In dieſem Augenblicke meldete der ſchwarze Jack, es ſei ſervirt,
worauf Herr Staunton ſich erhob und ſeinen Gaſt zum zweiten Früh¬
ſtücke bat. Ein erſprießlicher Wechſel von dem Thema der Kunſt zu
einem, das der Natur näher ſtand! — Die beiden Herren verfügten
ſich in ein Zimmer des erſten Geſtockes. Die Mitte deſſelben nahm
ein mäßiggroßer Eßtiſch ein, beladen mit einer übermäßigen Fülle
von Gerichten, deren warm gekochte Piecen das Gemach trotz des ge¬
öffneten Fenſters mit ſtarken Dünſten erfüllten. Dieſem Tiſche prä¬
ſidirte eine Dame, oder vielmehr die Tagesnummer der Newyorker-
Tribüne, denn außer den beiden weiblichen Händen, welche das rieſige
Zeitungsblatt vor ſich hin hielten, war die Geſtalt der Leſerin unſicht¬
bar. Herr Staunton ſtellte die Frau und den neuen Genoſſen des
Hauſes einander vor. Die Newyorker-Tribüne legte ſich jetzt in die
halbe Querfalte und ließ den Kopf einer Matrone ſehen, welchen drei
ehrwürdige Momente auszeichneten: die Spuren des Weisheitsalters,
der Ausdruck religiöſer Befliſſenheit und eine Brille. Doctor Moorfeld
und Mrs. Staunton wechſelten die üblichen Complimente, wobei erſte¬
rer die Bemerkung machte, daß, wenn eine ſchöne Sprache durch das
weibliche Organ noch ſchöner klingt, eine mißtönige dagegen, wie das
Yankee-Engliſch, eben ſo ihren entgegengeſetzten Charakter durch den
Frauenmund fühlbarer ausdrückt. Nach dieſer Ceremonie ſetzte man
ſich zu Tiſche. — Frau Staunton fragte: wo bleibt Sarah? —
Beſte, das frag' ich dich, antwortete der Gatte. Aber in demſelben
Augenblick trat der Gegenſtand dieſer Erkundigung ein; es war eine
lange ſchmächtige Dame von relativer Jugend und zweifelhafter Schön¬
heit; ſie wurde dem Fremden als die Tochter des Hauſes vorgeſtellt.
Moorfeld erkannte bei dieſer Gelegenheit den Irrthum ſeiner vorigen
Verwechſelung und ſparte die Worte nicht, ihn eifrigſt zu entſchuldigen;
als aber die Eltern nicht gleich begriffen, wovon die Rede ſei, flüchtete
Sarah in die Arme ihrer Mutter und verbarg ſich an ihrem Buſen,
indem ſie mit einem tiefen Gefühle von Kränkung wehklagte: Ach
Mama, das Kammermädchen iſt zuvor an meiner Statt begrüßt wor¬
den! Weder Herr noch Frau Staunton ſchienen dieſes Geberden ihres
[29] hocherwachſenen Töchterchens für übertrieben zu halten, die Mutter
ſchloß vielmehr ſehr mütterlich die reife Jungfrau an ihr Herz und
tröſtete ſie mit vielem Affecte. Mein Gott! ſeufzte ſie, und ſchlug
ihre Augen in eine Himmelshöhe, welche weit über die Richtung der
Brille hinausging, mein Gott, ſeufzte ſie, iſt es denn zu verwundern,
wenn fremde Beſucher unſers Landes die weiblichen Herrſchaften von
ihren Domeſtiken nicht mehr zu unterſcheiden wiſſen? Die Klaſſe der
Dienenden ſtellt ſich in allem Aeußern ſo anmaßend neben uns ſelbſt,
daß uns kaum eine andere Auszeichnung übrig bleibt, als das Ge¬
fühl unſerer Würde, welches uns freilich hinlänglich ſchmückt, wenn
gleich nicht auf den erſten Blick. Faſſen wir uns in chriſtlicher Ge¬
duld, liebes Kind! Was wollen wir thun? Auch noch ein ſchwarzes
Kammermädchen nehmen? Ach, ſchon eins iſt zu viel von dieſer Race!
Nicht wahr, dazu entſchließen wir uns nicht, gute Sarah? Laſſen wir
uns um der Liebe Gottes willen die Anſprüche der Weißen gefallen
und geben wir unſerer liebenswürdigen Freundin Recht, welche, wie
du weißt zu ſagen pflegt: ſie könne ſich den Himmel nur als einen
Ort voll Dienſtboten denken.
Moorfeld bezeugte ſich den Leiden der Damen ſo theilnehmend, als
es mit einem leiſen Zug von Ironie im Herzen möglich war, und
machte namentlich auf den Umſtand aufmerkſam, daß er die fragliche
Frauensperſon über Büchern und Landkarten gefunden, d. h. in einer
Beſchäftigung, welche in Europa zweifellos die gebildete Haustochter
bezeichnet hätte. Ach, in Europa! fiel Herr Staunton mit unbedach¬
ter Geringſchätzung dazwiſchen; — im alten Land fühlt ſich ſelbſt der
höchſt Beamtete als ein Diener, bei uns möchte der niedrigſte Dienſt
gern für ein Amt gelten. Die weiße Race dient überhaupt nicht hier.
Darum ließ ich Ihnen ja auch durch unſern Agenten den Rath geben,
ſich keinen Bedienten mitzunehmen, wie es Ihre Abſicht war. Er hätte
Sie in den erſten Wochen verlaſſen. Unſre Hariet betreffend, ſo be¬
reitet ſie ſich auf ein Schulamt vor, von dem Umſtand gewinnend, daß
man neuerer Zeit die Volksſchulen gerne mit weiblichen Lehrkräften
beſetzt. Sie ſahen ſie in einer dieſer Selbſtvorbereitungs-Stunden,
deren ſie ſich täglich ein Paar ausbedungen hat. Die Sache hat ihre
Unbequemlichkeiten für die weibliche Herrſchaft, aber dem Mädchen kann
ich ihr Streben nicht übel nehmen. Iſt ſie doch eine freie Amerika¬
[30] nerin, eine reine Native, ſie will vorwärts! Moorfeld verſagte dieſer
Mittheilung ſeinen Beifall nicht und fügte hinzu, er zweifle nicht, daß
die Ehre Europa's und Amerika's in allen Punkten einander verſtehen
würden. Herrn Staunton's Abfälligkeit gegen das erſtere nöthigte
ihm die gelinde Rüge ab. Die Geſellſchaft ſetzte ſich zu Tiſche.
Der junge Fremde glaubte noch immer einen beleidigten Zug in
Sarah's Mienen zu finden, und nahm ſich die Mühe, denſelben zu ban¬
nen. Er erwies dem Mädchen alle Aufmerkſamkeit, ſowohl die ſie
fordern konnte, als die ein junger geiſtreicher Mann freiwillig gegen
ihr Geſchlecht verſchenkt. Er war aber nicht glücklich. Das Gefühl
der Kränkung lag wie ein intereſſanter Thau auf dieſer abgeblühten
Blume und kein Sonnenpfeil Apollo's war im Stande ihn hinwegzu¬
glühen. Er gerieth endlich auf den Gedanken, daß dieſer Thau —
gemalt ſei und gab ſeine wohlmeinende Bemühungen auf, eh' er der
Verſuchung erlag, in eine feine Satyre umzuſchlagen und der unbe¬
ſcheidenen Spröden für das fingirte Weh ein kleines ächtes Thränchen
abzupeinigen.
Bis hieher hatte Moorfeld dem Tiſche noch keine Aufmerkſamkeit
geſchenkt, deßungeachtet wandte er ſich jetzt an die Hausfrau und machte
ihr ein Compliment darüber. Als er ſah, daß die Phraſe eindruck¬
los abprallte, ſchrieb er es ſeiner Ausſprache zu und wiederholte eine
der ſchönſten engliſchen Artigkeiten mit der correcteſten Deutlichkeit.
Der Eindruck erfolgte nun zwar, er war aber womöglich entgegenge¬
ſetzt. Die geſchmeichelte Hausfrau ſah in dieſem Augenblicke faſt ſo
beleidigt aus, wie ihre Tochter Sarah: ſie blickte kalt und ſtolz nieder,
und warf irgend ein Wort hin, das Moorfeld ſeinerſeits nicht verſtand.
Herr Staunton legte ſich in's Mittel, indem er halb gegen ſeine Frau,
halb gegen Moorfeld gewendet, erſterer auseinanderſetzte, der ſehr
verehrte Gaſt habe eine dankenswerthe Meinung geäußert, welche blos
in der Vorausſetzung irrig ſei, daß eine amerikaniſche Lady ſich in der
Küche beſchäftige. Unſere freie und aufgeklärte Nation, fuhr er fort,
findet einen ihrer ſchönſten Vorzüge vor den übrigen Völkern der Erde
in dem Bewußtſein, den Frauen eine Stellung eingeräumt zu haben,
welche dieſen zarten Blumen der Menſchheit allein als die natürliche
und berechtigte zukommt. Kein amerikaniſcher Bürger, der ſich nicht auf
der Höhe, ſondern nur auf dem Niveau der öffentlichen Meinung
[31] ſeines Landes behaupten will u. ſ. w. — Moorfeld bedurfte nicht vieler Ge¬
duld, die langathmige Pomp-Phraſe zu Ende zu hören. Es war ihm
ein Genuß höherer Schauerlichkeit, den alten kosmetiſch zuſammenge¬
haltenen Mann über die Blumen der Menſchheit peroriren zu laſſen.
Inzwiſchen hatte er angefangen mit mehr Bedacht ſein erſtes ame¬
rikaniſches dejeuner zu würdigen. Als ein Fremder, der in dem
Neuen zugleich das Charakteriſtiſche zu belauſchen die Neigung hat,
blieb die culinariſche Phyſiognomie der neuen Welt nicht der letzte
Gegenſtand ſeines Intereſſes. Die Stimmung, womit der Gentleman
ſeinen Beobachtungen auf dieſem Gebiete nachgeht, hatte bisher etwas ver¬
ſchämt Humoriſtiſches, an den Liberalismus der mittelalterlichen Hofnarren
und Kirchenkomödien Erinnerndes; wenn die fortſchreitende Naturwiſſen¬
ſchaft das Geheimniß vom Stoffwechſel in den feinſten materialiſtiſchen Aus¬
ſpitzungen ergriffen haben wird, ſo wird ſich unſer verſteckter Ernſt für
dieſe Angelegenheit vielleicht offener an's Tageslicht wagen, ungefähr
wie heute ſchon das Theekochen z. B. ein Obligat-Studium an den
japaniſchen Univerſitäten iſt.
Damals ragte aber die Küche noch wenig in die Chemie und durch
dieſe in die Philoſophie herein, unſer Held wagte alſo erſt, ſich ſeiner
Neugierde für Amerika's Tiſch zu überlaſſen, als er die Tiſchgäſte
ſelbſt, der Reihe nach ziemlich ungenießbar erprobt hatte.
Zuerſt fiel ihm ſchon die amerikaniſche Sitte des Servirens auf.
Die Tafeldeckung war hier kein europäiſches Hintereinander, ſondern ein
Nebeneinander. Sämmtliche Gerichte ſtanden gleichzeitig auf dem Tiſche.
Erkannte der Fremde das Handelsvolk darin, das die Zeit ſpart?
Oder die gleichmachende Republik, die keine Rangordnung duldet?
In beiden Fällen hatte der Anblick eines ſolchen Eßtiſches etwas
Fremdartiges, ja wahrhaft Ueberwältigendes, Brüskes. Die Phan¬
taſie ſah all ihre Perſpectiven abgeſchnitten, ſie wurde genöthigt, das
ganze Gebiet ihrer Genüſſe auf Einen Blick zu umfaſſen, ſtatt daß
die Gänge und Pauſen einer europäiſchen Tafel, wie die Kapitel eines
Romans, wie die Aufzüge eines Drama's von Spannung zu Span¬
nung fortſchreiten, und dem Gaſte zwiſchen Hoffnung, Illuſion, Ueber¬
raſchung, ja ſelbſt Furcht und Reue das intereſſante Spiel ſeiner
menſchlichen Leidenſchaften geſtatten. Dagegen durfte der unparteiiſche
Denker die praktiſche Seite dieſes Gebrauches auch nicht überſehen.
[32] Hier lief der Appetit nicht Gefahr an unverſtandenen Hintergedanken
zu verhungern und über genialen Zukunftsviſionen das Lächeln der
Göttin Gelegenheit zu verſäumen: die raſche That, die ſcharfe Un¬
mittelbarkeit Amerika's lag in dieſem Enſemble.
Moorfeld muſterte nun die Gerichte ſelbſt. Schinken, Fiſche, Ge¬
flügel, Wildpret, Coteletts, Bratwürſte, Kartoffeln, Früchte, Eier,
Kaffee, Wein, Brantwein, das Alles war der Apparat dieſes ſoge¬
nannten Frühſtückes. Es war keine Auswahl der landesüblichen Küche,
ſondern vielmehr die Summe derſelben. Alles war da. Der gebra¬
tene Speck des Hinterwäldlers dampfte neben dem feinen Puterhahn
und die plebejiſche Brandyflaſche rivaliſirte keck mit dem Adelswappen:
Jacquesson fils \& Cie. Politiſch beurtheilt ſah Moorfeld das Bild
einer unfertigen Geſellſchaft darin, in welchem die ländlichen Anſiedler¬
elemente mit den höheren Chorden der Stadtſitte noch chaotiſch durch¬
einander klangen. Von Allem koſtend wanderte ſeine Zunge gleichſam
mit den Rundköpfen Cromwell's aus, und ſaß bei Mock Turtle und
Champagner im Concerte der modernſten Geldmächte. Leider war
dieſe bunte Mannigfaltigkeit in eine traurige Einheit gebracht — es
ſchmeckte Alles gleich ſchlecht.
Ohne nach den Paragraphen der höheren Gourmandiſe zu richten,
fand unſer Gaſt ſchon als bloßer Naturaliſt das Frühſtück ungenießbar.
Sämmtliche Gerichte waren entweder halb verbrannt oder halb roh.
Es machte ihm den Eindruck, als ſeien ſie gleichzeitig an's Feuer ge¬
ſtellt und nach eben der deſpotiſchen Minutenuhr ihrer Schule wieder
entriſſen worden, ohne jenes liebevolle Eingehen auf das zartere Spiel
der Individualitäten, auf die hingebende Empfänglichkeit des Coteletts
und auf den charakterfeſten Widerſtand des Roſtbeafs. Wahrlich, es
fehlte die Frauenhand in dieſem fabriksmäßigen Geköche! Moorfeld
zweifelte keinen Augenblick, daß nicht einmal die weibliche Dienerin,
welche er ohnedies über Büchern gefunden, ſondern der Hausneger
ſelbſt ſeine ſchwarze Hand in dieſem traurigen Spiele gehabt. Rohe
Negerrache! grollte er ſich zu, nur daß die Weißen ſelbſt nicht fein
genug ſind, ſie zu empfinden.
In der That, von Feinheit war nicht die Rede hier. Die Art,
wie die zarten Blumen der Menſchheit, die Damen nämlich, auf hei¬
ßen Maisbrodſchnitten gelbe Butter zerließen und es aßen, die Art
[33] wie Herr Staunton ſeine weichen Eier mit der Schale in den
Mund führte und die zermalmten Schalenſplitter dann auf ein Teller¬
chen zurückſpülte, das Alles war für den fremden Beobachter zwar ein
Schauſpiel höchſter Originalität, aber auch Abſcheulichkeit. Der Eu¬
ropäer ließ dieſen Paſſus des amerikaniſchen dejeuners mit großer
Beſtürzung an ſich vorübergehen.
Indem unſer Held unter alſo erſchwerenden Umſtänden ſeinen
Appetit zu befriedigen ſuchte, angelte er, wie er meinte, nur nach den
feinſten und am leichteſten zubereiteten Fleiſchſpeiſen. Bei dieſen Ver¬
ſuchen kam er aber bald dahinter, daß Fleiſch überhaupt nur ein re¬
lativer Begriff ſei. Es fragt ſich bei den verſchiedenen Nationalitäten
immer, was ſie vom Thiere begehren und ſich vorſetzen. Wenn nun
der Engländer die blut- und muskelreichen Theile liebt, der Franzoſe
die galatinartigen und nervenreichen, ſo warf ſich der Amerikaner vor
allem auf das Fett des Thieres. Fett war hier Fleiſch. Es lag
entweder offen zu Tage, oder das Fleiſch ſelbſt war durch ein eigen¬
thümliches Raffinement der Maſt mit dem Fettſtoff ſo imprägnirt, daß
ſtets dieſelbe geſchmackwidrige Identität zurückkehrte. Die ganze Tafel
war gleichſam ein Tiſch für den Lichtzieher. Dieſe Talgmaſſe ſchwamm
freilich in einer Beize der ſchärfſten Gewürze; Moorfeld glaubte ſogar
deutlich zerſtoßenen Höllenſtein durchzuſchmecken; aber ſchmeckte es darum
beſſer, daß er ſich die Würze mit Satyre würzte? Zwei Verneinun¬
gen geben wenigſtens für den Geſchmack keine Bejahung.
Die Champagnerflaſchen blieben nach allen dieſen Niederlagen ſein
letzter Troſt. Als aber Moorfeld ſich das erſte Glas davon ausbat —
wie geſchah ihm auch jetzt? Hr. Staunton griff, als müßte es ſo
ſein, nach der Brantweinbouteille und goß ihm Brandy unter den
Champagner. Man verbeſſere ihn ſo, ſagte er anſtandslos. Er ſelbſt
trank gleichfalls dieſe Miſchung. Moorfeld ſah die Geſchichte mit
dumpfem Erſtaunen an; — das ging ihm doch über den Begriff!
Nicht daß er den Gipfel der bisherigen Geſchmackswidrigkeit ſah, ſetzte
ihn außer Faſſung. Die Sache ergriff ihn tiefer. Im Trinken liegt
ja bei allen Völkern eine gewiſſe Symbolik, das Trinken ſpielt im
Chriſtenthum ſelbſt eine Rolle und für den Kelch wurden Kriege ge¬
führt. Trinkt der Amerikaner ſeinen Champagner mit Brandy, wer
garantirt hier das Genie gegen die Proſa? fragte ſich der Fremdling.
D.B. VII. Der Amerika–Müde. 3[34] Dieſe Idee unterlegte er dieſer Handlung. Es war ein Augenblick
ahnungsvollen Erſchreckens, der ſich nicht näher definiren läßt.
Indeß ſich der Freund dieſen dunklen Vorgefühlen noch überließ,
trat ein Fremder in das Zimmer, glatt und glänzend wie Dollar,
lackirt, raſirt, lächelnd und höflich, ein blank geöltes Rad aus der
Maſchinerie einer großen Handlungsfirma, ein Comptoir-Gentleman
wie je einer aus brettſteifen Vatermördern guckte. Er beſchrieb Rück¬
grats-Curven nach allen Seiten hin und wechſelte dann einen Frage¬
zeichenblick zwiſchen Staunton und Moorfeld, deſſen Inhalt das Be¬
denken war, ob die Rückſichten der Höflichkeit oder der Vorſicht mit
einer Geſchäftsſache herauszurücken erlaubten? — So eben wird der
Schiffbruch der Temperance, Capitän Powell, von Sandy Hoock ſig¬
naliſirt, fing er an, ich fliege auf eine Minute von der Börſe weg,
und bitte bei Ihren eventuellen Reflectionen darauf um prompteſte
Ordre, Mr. Staunton. Dieſe Nachricht ſchien für Hrn. Staunton
von großer Erheblichkeit. Er war ſogleich ganzer Geſchäftsmann. Mit
einer eiligen Verbeugung gegen Moorfeld entſchuldigte er die verän¬
derte Richtung ſeiner Aufmerkſamkeit und vertiefte ſich dann in das
Notizbuch des Jobbers, mit dem er anfing, Ziffern hin- und her zu
kritzeln und überhaupt in Schriftzeichen, Pantomimen und eingeſtreuten,
kurzen Geſchäftsphraſen ſich zu verſtändigen. So fähig indeß die
Börſen-Hierarchie iſt, in ihrer eigenthümlichen Kunſtſprache vor dem
Profanen offene Geheimniſſe zu behandeln, ſo begriff Moorfeld doch
den ungefähren Zuſammenhang. Zufällig wußte er nämlich von den
ſogenannten Mock-Auctionen, die damals eben anfingen und ſpäter ſo
berüchtigt geworden ſind. Dieſes Geſchäft gründete ſich darauf, daß
die Unternehmer, durch Seewaſſer beſchädigte und verdorbene Schiffs¬
frachten ankauften, der Waare einen künſtlichen Schein gaben und ſie
mit großem Gewinn auctionsweiſe wieder losſchlugen. Von einem
ſolchen Geſchäfte war hier die Rede. Herr Staunton gab ſeine Auf¬
träge, der Jobber notirte und in fünf Minuten war der Schiffbruch
auf Sandy Hoock verwerthet.
Als der Börſenmann fort war, fing Mrs. Staunton, indem ſie
ſich mit der Newyorker-Tribune Kühlung zufächelte, langſam und ge¬
dehnt an: Sage mir, Beſter, haben wir mit der Temperance nicht
unſern Daniel zurückerwartet? Du hätteſt doch um Gerettete oder
[35] Verunglückte Erkundigung einholen ſollen. — Ich dachte daran, mein
Engel, ſagte Hr. Staunton, aber du ſahſt ja, wie ihn die Börſen¬
ſtunde preſſirte. Später! — Moorfeld ſtutzte. Was für ein Daniel
war das? Ein Sohn? unmöglich! Ein Handlungsdiener? Dann hätte
der engliſche Sprachgebrauch nicht „unſer“ ſondern „Miſter“ geſagt.
Alſo doch ein Sohn? Moorfeld ſchwindelte. Nein, nein, es iſt un¬
möglich! Unmöglicher wenigſtens als eine Abweichung vom Sprach¬
gebrauch.
Beſtürzt, verwirrt und mehr als geſättigt, ſprang Moorfeld auf
von ſeinem erſten amerikaniſchen Frühſtück.
Der ſchwarze Jack führte ihn auf ſein Zimmer. Es hatte eine
weite Ausſicht über Fluß und Land, eine der Bedingungen, auf die
er ja ſchon in Europa dieſes Privatlogis gemiethet. Aber indem er
eintrat kam auf einmal ein plötzlicher Schreck über ihn. Woher er
kam, wiſſen wir nicht zu erklären, wenn ſich der Leſer nicht eigener
Augenblicke dieſer Art erinnert. Es gibt ſolche Augenblicke. Die
Macht der Gewohnheit wird manchmal — auf einen Secundenblitz —
aufgehoben. Ein großes Glück, das wir gemacht, wenn wir ſchon
lange von ſeinen Früchten zehren, ſchreit oft den erſten Freudenſchrei
wieder auf in uns, ein Todtenfall, den wir ſchon lange verſchmerzt,
überſchauert uns oft mit den erſten Schrecken der Neuigkeit, ein ge¬
liebtes Muſikſtück, das wir ſchon lange mit anhören, klingt uns in
einem auserwählten Augenblicke wieder das Entzücken des erſten An¬
hörens zurück. Es wäre ganz vergeblich, den ſchrecklichen oder ſüßen
Reiz ſolcher Erſtlingseindrücke uns willkürlich zu reproduciren, es iſt
eine unbegreifliche Inſpiration, die direct von den Göttern kommt, ein
Erdbeben der Phantaſie, ein Durchſtoßen der Alltagskruſte und Auf¬
lodern der Originalität in uns. Ein ſolcher Augenblick war's, der
jetzt unſern Europäer überraſchte. „Deine Fenſter ſehen auf Amerika,“
der Gedanke packte ihn plötzlich, als hätte er ihn nie zuvor gedacht,
noch weniger ausgeführt. Ein Wunder ſchien ihm's, ein Feenwerk.
Er hielt ſich den ganzen Tag über an ſein Zimmer, gleichſam als
wäre er nur hier geborgen und draußen verloren. Der Neger wurde
eifrigſt auf's Zollhaus geſandt und fieberhaft erwartete Moorfeld mit
ſeinem Gepäcke den Anblick europäiſcher Gegenſtände. Er lag aber, ehe
ſie noch anlangten, zu Bette. Das genoſſene Frühſtück hatte ſich in
3 *[36] einer gewaltſamen Transaction Luft gemacht. Als der Verdauungs¬
kranke Abends zum Diner gerufen wurde, erbat er ſich eine Taſſe
Kamillenthee und ließ alle übrigen Genüſſe Amerika's auf ſich be¬
wenden.
Drittes Kapitel.
Ein prangender Morgen glänzte über die Welt. Spät aufwachend,
wunderte ſich Moorfeld, daß der Lärm des Hafenlebens, das unmittel¬
bar unter ſeinen Fenſtern lag, nicht längſt ihn erweckt. Er trat an's
Fenſter. Ja freilich! da lag Schiff an Schiff im Hudſon — alle
Flaggen aufgehißt, alle Räume grabähnlich ſtumm — eine ganze
Flotte des fliegenden Holländers ſchien vor Anker. Es herrſchte alſo
heute jenes Geſpenſt, das man in den puritaniſch quäckeriſchen Landen
Sonntag nennt. Die Strömung des Fluſſes war die einzige Be¬
wegung in dieſem Bilde der unheimlichſten Ruhe. — Der Europäer
ſann darüber nach, was mit einem ſolchen Tage der heiligen Lange¬
weile anzufangen ſei. Sein Blick fiel auf ſeine Koffer, welche geſtern
unberührt ſtehen geblieben. Damit war für's Erſte geſorgt. Er ſtand
auf und fing an, ſie auszupacken.
Das iſt eine der ſinnigſten Menſchenarbeiten und jedenfalls das
harmloſeſte Sonntagsvergnügen in allen fünf Zonen auf beiden He¬
miſphären. Die Bagatells, welche der kurzſichtige Sterbliche „lebloſe
Dinge” nennt, ſind keineswegs ſo leblos, als es ſcheint: Stoff, Form
oder Farbe ſpricht auf irgend eine Weiſe zu irgend einem Sinne und
ein Widerſchein geſchichtlicher Erinnerungen ſpielt um die geringſte
Einzelnheit. So gehen die Gegenſtände mit einer ſanften träume¬
riſchen Muße durch die Hand, ja, es bleibt überhaupt unentſchieden,
ob die Hand oder die Phantaſie bei einer Arbeit dieſer Art vorherrſcht.
Leuchtet dazu ein blauer geräuſchloſer Tag zu hellen Fenſtern in die
einſiedleriſche Stube, ſo faßt ſich das Ganze in eine gewiſſe Stimmung
zuſammen, welche ſcheinbar mit Taſchenſpiegeln und Raſirmeſſern nichts
zu thun hat, aber nichts deſto weniger da iſt, und recht tief und le¬
bendig da ſein kann.
[37]
In dieſer Stimmung hatte der Freund ſeine geliebte, wohlverpackte
Violine vorgefunden und aus den erſten Probegriffen um die Reinheit
des Tons wurde unvermerkt ein langgezogenes Spiel. An's Fenſter
gedrückt, das Auge über Fluß und Land und durch die tiefblaue Hei¬
terkeit des Morgenhimmels ſchweifend, ſtand er da und brachte der
neuen Welt das erſte Liebesopfer einer klangreichen Seele. Die hei¬
mathlichen Weiſen quollen in reicher Strömung aus dem ſchönen In¬
ſtrumente, eine Phantaſie, die ſich an ihrer eigenen Fruchtbarkeit hinriß,
reihte Blume an Blume, hing Kranz neben Kranz auf, und vor dem
inneren Auge des Künſtlers ſtand vielleicht ein Freundeskreis von fer¬
nen, lieben Menſchen, werth, daß ſie eine Seele in ihren guten Stunden
mitgenießend vergegenwärtigte.
Als Moorfeld eine Zeitlang ſo vor ſich hingeſpielt hatte, klopfte es.
Herr Staunton trat ein und erkundigte ſich, im hochgeſteiften Vater¬
mörder, den franzöſiſchen Hut in der Hand, um das Befinden ſeines
Gaſtes. Moorfeld dankte, und wies auf ſeine Violine, das Zeichen
ſeiner aufgeweckten Kräfte. Ein vorzügliches Inſtrument, ein klang¬
reiches, melodiſches Inſtrument, rief Herr Staunton, geſchehe mir an¬
ders als ich wünſche, wenn ich Ihr Spiel nicht mit dankbarer Freude
belauſcht habe. Ich muß die Wahrheit ſagen, Herr Doctor, ein ganz
köſtliches Holz! Ach, das Vergnügen der Kunſt wird mir zu ſelten
zu Theil, als daß ich's nicht lebhaft zu ſchätzen wüßte. In der
Woche beſetzt das Geſchäft und der Clubb die Tags- und Abend¬
ſtunden, und am Sonntage kann man in ſämmtlichen Staaten der
Union keinen muſikaliſchen Ton hören, wenn nicht glücklicherweiſe viel¬
leicht von einem Fremden. Unſer frommes Land hält Klang und
Saitenſpiel für eine Sünde am Tage des Herrn; aber ich denke wohl,
meine Nachbarn ſind bereits in den Kirchen, man wird uns kein Aerger¬
niß nachſagen, Herr Doctor. Der junge Europäer legte raſch, als ob
es entweiht wäre, ſein Inſtrument hin; ſein dunkles Auge ſchoß einen
wilden Blick, voll von dem Genie des Zorns. Der Amerikaner nahm
die Gelegenheit wahr, als er ſeine Miſſion erfüllt ſah, mit Höflich¬
keits-Formalitäten wieder ſeinen Rückzug zu nehmen.
Moorfeld fuhr im Aufräumen ſeiner Koffer fort, aber wir kön¬
nen in dieſer ausdrucksloſen Arbeit eine merkliche Veränderung des
innern Ausdrucks wahrnehmen. Das harmloſe Adagio ſeines vorigen
[38] Gebärdenſpiels iſt in ein rauſchendes Allegro verwandelt; er wirft die
Sachen mit einer genußloſen Haſt unter einander, ſeine Finger zucken
wie elektriſch, oft unterbricht er ſich und geht mit ſtarken Schrit¬
ten durch das Zimmer. Der enge Raum genügt bald ſeiner un¬
ruhigen Bewegung nicht mehr, es iſt mit dieſem häuslichen Sonn¬
tage nichts anders anzufangen, als ihn in publico anzuſehen. Er
eilt fort.
Die beſte Flucht vor dem Sonntag wäre natürlich direct in den
Sonntag hinein geweſen. Schon als Sittenbeſchauer der Menſchen
konnte der Fremde nichts anders, als heute die Kirchen beſuchen.
Wahrſcheinlich hätte es Moorfeld auch gethan — ohne Herrn Staun¬
ton's Morgenbeſuch. Dieſer aber trieb ihn begreiflich — in die Oppo¬
ſition. Andächtig zu ſein mit Andächtigen, welche „Aergerniß“ an
einem Adagio nehmen — in Europa ſieht es Jedermann ein, daß das
einem Europäer nicht möglich war.
Dazu kam das Sonntagsgeläute. Wie wurde unſerm Freund als
er in Newyork läuten hörte, wie man in Europa zum Feuer „an¬
ſchlägt“ ? Anfangs glaubte er wirklich die ganze Stadt brenne, als
das eintönige Gehämmer von allen Kirchen zu arbeiten anfing. Mit
empörter Seele rannte er in die Einſamkeit. Wir wüßten auch nichts,
was von dem Menſchen mehr hinwegſcheucht, als ſolch ein äußerſter
Grad ſeiner Rhythmusloſigkeit. Höchſtens noch ein Diner aus Fett
und Pfeffer und Champagner mit Brandy. Wahrlich, unſer Freund
zieht eine ſtarke Summe ſeit geſtern. Ein Volk das nicht einmal die
Inſtincte des Gaumens und der Andacht — alſo die Grundpfeiler
der ſinnlich-ſittlichen Menſchennatur — zu erfüllen weiß, das wandelt
doch weit ab vom europäiſchen Wege. In dieſem Augenblicke ging
ihm einſtweilen Moorfeld ſelbſt aus dem Wege. Er wandelte auf der
Battery wo eben Niemand wandelte. Das friſche Meer, der blaue
Himmel, der weite unendliche Horizont ſtammend und ſpiegelnd im
Lichte der kräftigſten Sommerſonne ließen ihn ein paar Stunden ſo
hinträumen. Notizbuch und Stift in ſeiner Hand verrathen uns, daß
wir ihn in Geſellſchaft guter Geiſter wiſſen. Freilich ſehen wir ihn eben
ſo oft ſtreichen als ſchreiben; es ſcheint ein kleiner Familienzwiſt in
dieſer Geſellſchaft zu herrſchen. Wenn es kein großer iſt — bekümmern
wir uns nicht darum.
[39]
Als Moorfeld zum Dejeuner in die geſtrige Gruppe eintrat,
fiel ihm „unſer Daniel“ wieder mit neuer Schwere auf die Seele.
Er beſchloß ſogleich die Converſation darauf hinzuleiten. Er glaubte
mit einer Artigkeit beginnen zu müſſen, und drückte dem Hauſe Staun¬
ton ſein Bedauern aus, daß er heut morgen ſeine Sabbathruhe ent¬
weiht. Er hätte ſein Violinſpiel ſogleich mit einem Spaziergang ver¬
tauſcht, als er vernommen — aber die Damen Staunton ſahen ſich
in dieſem Augenblicke ſo bedenklich an, daß Moorfeld, ohne mehr zu
ſagen, vielmehr das ſchon Geſagte in eine erſchrockene Erwägung zog.
Herr Staunton beſchwichtigte die dreifache Verlegenheit und ſagte
mit einem liberalen Ausdruck: Die Vernünftigeren in Newyork wer¬
den nicht lange mehr einen Spaziergang für eine Profanation des
Sonntags halten. Und macht es auch zur Zeit noch Niemand mit,
namentlich während der Kirchenſtunde nicht, ſo denkt man hier doch
nachſichtiger darüber als z. B. in Boſton. Ein Spaziergang, rath'
ich, wird bald ein erlaubtes Sonntagsvergnügen in unſrer erleuchteten
Weltſtadt ſein.
Iſt's möglich?! rief Moorfeld auf dem Gange draußen, denn er
hatte bei Herrn Staunton's Worten — was hilft es, die Wahrheit
zu mildern — mit einem wahren Grimm ſeine Serviette nieder¬
gelegt. Unter dem Vorwande der geſtrigen Indigeſtion war er auf¬
geſtanden.
Auf dem Corridor begegnete ihm Jack, der aufwartende Neger.
Der Burſche lachte ihn mit verzücktem Augenzwicken an, machte die
Gebärde des Violinſpielens, zuckte tanzend mit den Fußſpitzen und
ſagte kopfnickend: Sar, ſchön! ſchön! heut morgen; Banjo in Ihrer
Hand ſpricht gute Sprache, Sar! Mehr aus ſeinen Gebärden als
aus ſeinen Worten errieth Moorfeld die Meinung des Schwarzen. Er
drückte ihm beide Hände, indem er dem drolligen Geſichte gerührt, faſt
begeiſtert in's Auge ſah. Aber wir haben eine Sünde begangen, Jack,
fügte er wehmüthig lächelnd hinzu, der heilige Sonntag verbietet's.
Ach, was macht man mit eurem Sonntag hier! — Man geht zum
Feuer, Sar, ſagte der Neger, indem er den Ausruf für eine Frage
nahm und als ſolche gewiſſenhaft beantwortete. Zum Feuer, wieder¬
holte Moorfeld verwundert, zu welchem Feuer? — Ei, antwortete
Jack, die jungen Herren von den Löſchcompagnien vertreiben ſich den
[40] Sonntag mit Feuerlöſchen. Banjo iſt Sünde, aber Feuerlöſchen iſt
gut Werk, nicht wahr, Sar? Nun, ſo müſſen ſie doch erſt Feuer an¬
zünden, wenn ſie Feuer löſchen wollen, wie, Sar? Moorfeld ſah
den naiven Logiker erſchrocken an. Sie ſind Brandſtifter zu ihrem
Sonntagsvergnügen? rief er mit ſtarker Betonung, aber in dieſem
Augenblicke erdröhnten dumpfe Glockenſchläge, die ſich zwar von dem
monotonen Getön des ſogenannten Kirchengeläutes nicht unterſchieden,
die der entzückte Jack aber ſogleich für ein Feuerſignal erklärte. Mit
einem lauten Freudengejubel ſprang er in die Küche hinweg, fluchend
auf die unzeitige Neuerung der Brandſtifterpraxis, die ſchon ſo früh
anfange, und ihn nicht einmal an ſeinem Spültiſch fertig werden
laſſe. Moorfeld ging wie im Traume auf die Straße hinaus.
Er fand am Kai ſchon die erſten Anfänge eines Zuſammenlaufs.
„Rooſeveltſtreet in der vierten Ward!“ riefen die Begegnenden ein¬
ander zu. Auf Erkundigung hörte Moorfeld, daß der genannte Be¬
zirk am Oſtfluſſe liege, alſo gerade auf der entgegengeſetzten Seite
der Stadt. Vergebens ſah er ſich rings nach einem Omnibus um,
kein Fuhrwerk war irgendwo zu ſehen und zu hören. Er merkte, daß
auch hier der Sonntag im Spiele ſei, und daß ihm als Fremden nur
übrig bleibe, auf gut Glück der Richtung derjenigen zu folgen, welche
denſelben Weg einzuſchlagen ſchienen. Das that er.
Die Menge des Straßenpublikums mehrte ſich mit jedem Schritt.
Der hochgeputzte Neger in weißen Handſchuhen und Manſchetten, das
zarte Phantaſieſtäbchen balancirend, an ſeinem Arme die ſchwarze Schöne,
die im weißen Kleide mit Roſaſchleifen ihren äthiopiſchen Teint vor¬
theilhaft, wie ſie meint, zu heben weiß, der kurze Dandy-Frack, die
ſtrahlende Uniform, die ſchwere Sammtrobe, der wallende Federhut —
das Alles eilte auf einen Schauplatz vorausſichtlicher Unreinlichkeit mit
größtem Eifer. Dazu malte ſich auf allen Mienen, ſelbſt der ele¬
ganteſten Herren und Damen, eine gewiſſe Freudigkeit, ja ſchon der
Umſtand, daß ſie aus ſo weiter Ferne zu einem ſo alltäglichen Er¬
eigniß zuſammenſtrömten, war bedeutungsvoll. Kurz, Moorfeld konnte
unverhohlen wahrnehmen, daß die Leute die Zwangsjacke ihrer Sonn¬
tagsfeier begierig lüfteten, daß ihnen der Brand ein wahres Volks¬
feſt ſei, und daß Jack's Vermuthung ohne Zweifel ihre ſittenkundige
Giltigkeit habe.
[41]
Unter dieſen Beobachtungen gelangte er an den Ort des Brandes.
Aus der Tiefe der Straße, in deren Mitte ſeine Schritte unter dem Ge¬
dränge der Menſchen kurz und kürzer wurden, flackerte eine lichterlohe
Feuerſäule von einem auffallend lauten Gepraſſel und Geknatter be¬
gleitet; es war ein Haus von Fachwerk, ein ſogenanntes Framehaus,
deſſen Sparren und Balken die gefräßige Flamme zuſammenknirſchte.
Die Löſchmannſchaft in ihren rothen Jacken, weißen Hoſen und lackir¬
ten Hüten, kecke Geſtalten, denen die Welt zu gehören ſchien, bot in
ihrer Haltung einen ſonderbaren Anblick von Wildheit und Eleganz.
Vor allem machte ſich ein junger reckenhafter Burſche bemerklich, der gleich¬
ſam der potenzirte Ausdruck ſeiner ganzen Compagnie war, über die
er auch thatſächlich das Commando führte. In ihm ſchien der Muth
Uebermuth, die Wildheit Frechheit, die Eleganz Prahlerei, aber auch
ein gewiſſer Grad von Männerſchönheit war ihm nicht abzuſprechen.
Das ganze Unternehmen beſeelte er mit einer queckſilbernen Raſchheit;
den Einen riß er von der Pumpe weg, den Andern verdrängte er vom
Schlauch, den Dritten warf er von der Leiter, ſein Eifer war allge¬
genwärtig — aber wer das Gebahren des Tollen nicht blos begaffte,
ſondern ihm auf ſeinen Grund ſchaute, der merkte bald, daß ſeine
Begeiſterung entweder der Rumflaſche entſtammte, oder daß ſie Koket¬
terie vor dem Pöbel war, oder daß er Händel in ſeiner eigenen Mann¬
ſchaft ſuchte: am wahrſcheinlichſten Alles zugleich. Der Anblick dieſes
Feuerbändigers war ganz danach angethan, als ob er ſich das Feuer
heimlich erſchüfe, das er öffentlich bekämpfte. Wie er mit dem Brande
umſprang, ſo ſchien Alles an ihm zu ſagen:
Das Schauſpiel hatte jedenfalls ſeinen Sinnenreiz. Wie die jungen
Männer zwiſchen Rauch, Flamme und hochſtrahlenden Fontainen im
Wechſel der verſchiedenſten Stellungen ihre körperliche Geſchickleichkeit ent¬
wickelten und den Kampf zwiſchen Waſſer und Feuer gleichſam wie
ein ritterliches Karuſſel betrieben, ohne jenen Sudel von Geſchrei, Ver¬
wirrung und Unreinlichkeit, den der Europäer bei derartigen Gelegen¬
heiten gewohnt iſt, ſo ließ es gar wohl die angenehme Täuſchung zu,
man ſähe eigentlich ein Spiel, eine Vorſtellung der höheren Turnkunſt.
Auf einmal erſcholl der Ruf: „Die Achter! die Achter!“ Man ſah
aus einer Seitenſtraße eine neue Löſchcompagnie anrücken und die ganze
[42] Scene veränderte ſich im Nu. Der Matador, den wir zuvor beſchrie¬
ben — Howland nannten ihn die Seinigen — ſchwang ſich in Einem
Satze von der Leiter, ſeine Compagnie machte Front gegen jene Straße,
die Zuſchauer drängten ſich dichter zuſammen, Alles deutete darauf hin,
daß man dieſem Zuſammentreffen der beiden Compagnien wie der
eigentlichen Handlung des Dramas entgegen ſah. Der Recke Howland
trat vor und rief: Willkommen, meine Herren von der achten! Die
prompteſte Compagnie zwiſchen den Polen, das iſt ein Faktum! He,
meine Freunde, brenne einer von euch einen Schwefelfaden an, die
Herren von der achten wollen löſchen. — Ich rathe, Mr. Howland, Euer
verehrlicher Kopf iſt ſelbſt ein brennendes Rumfäßchen; daran wäre
zu löſchen genug, rief der Capitän der Verſpotteten, und ſeine Com¬
pagnie ſchrie das Schlagwort ſogleich im Chorus nach. Löſcht ihn!
löſcht ihn! löſcht das brennende Spritlager von James Howland und
Compagnie! Und augenblicklich kam aus der Spritze der Achter ein
Waſſerſtrahl dahergerauſcht, und ſchoß mit einer ſolchen Heftigkeit an
Howland's Kopf, daß es den mächtigen Körper faſt zu Boden riß.
Der Burſche gebärdete ſich wie toll und commandirte mit einer Sten¬
torſtimme: An die Pumpe! Seine Compagnie ſchöpfte, zielte und
ſchleuderte der achten eine wüthende Decharge zu. Die Mannſchaften
beider Partheien bombardirten ſich mit dem äußerſten Eifer aus ihren
Spritzen. Ihre Waſſerſtrahlen rauſchten im Bogen bald über bald
unter einander hin, bald begegneten ſie ſich im Kernſchuß und prallten
gegen einander, daß der ganz Schwall ziſchend zerſpritzte, und rings
im Zuſchauerkreis die koſtbaren Toiletten der Damen einnäßte, welche
mit lautem Gekreiſch auseinanderſtoben und doch immer von Neuem
ſich zudrängten, indeß die Männer mit Händen und Füßen applau¬
dirten und hochjauchzende Zurufe erſchallen ließen, um die tollen Kämpfer
noch mehr zu entflammen. Inzwiſchen ging der achten Compagnie ihr
mitgebrachter Waſſervorrath aus; ſie war nun an den Brunnen des
Ortes angewieſen, welchen aber ihre Gegner im Beſitz hatten. Es
galt einen Kampf darum. Entſchloſſen ſchoben ſie ihre elegante Spritze
vor, entſchloſſen ſtellte ſich Howland mit den Seinigen um den Brun¬
nen. Beide Parteien, naß wie Taucherenten, ſcheinen gleichwohl, den
Schmiedekohlen gleich, nur angefeuchtet um deſto lichter zu brennen.
Roth von Kampfeshitze und überfließender Begier ihr Blut zu kühlen,
[43] loderten die Geſichter der jungen Männer unter der Traufe des Waſſers,
der Augenblick, in welchem ſie handgemein an einander rückten, verſprach
eine ſtürmiſche Kataſtrophe. Da gipfelte ſich der dritte Act des Dra¬
ma's von einer andern Seite her.
Mit Fahnen und Standarten und einem lauten Hurrah! als gält's
einen Triumphzug, erſchien eine neue Compagnie auf dem Schauplatz.
Bei ihrem Anblick gerieth Howland in Wuth. Es ſchienen ſeine ärgſten
Parteifeinde zu ſein. Wie eine wilde Katze ſchwang er ſich auf die
Feuerleiter und ſchrie ihnen entgegen: Was ſucht ihr da in der vier¬
ten Ward? Zündet euch ſelbſt ein Feuer an, wenn ihr eure Jungfern-
Spritze einweihen wollt! Fort, fort, mit euch! Zugleich ließ ſeine
Compagnie einen Hagel von Schimpfreden über die Eindringlinge nie¬
derregnen; man entnahm aus ihrem Geſchrei, daß ſie die Spritze der
Andern in einem ſiegreichen Gefecht vor Kurzem zertrümmert, und
Jene mit Fahnen, Standarten und einer neuen Paradeſpritze ihnen
zum Trotz heute angerückt kamen. Selbſt die Achter ſchienen durch die
Erſcheinung einer fremden Compagnie in ihrer Ward beleidigt, und
einen Augenblick lang geneigt, ihre Partei zu wechſeln. Inzwiſchen
waren ſie, begünſtigt durch die neue Diverſion, Herren des Brunnens
geworden, hatten ihre Spritze ſchnell gefüllt, und richteten ihren
Schlauch erſt auf den hochſtehenden Howland, dann aber auch auf
die Köpfe ſeiner neuen Feinde. Dieſe wiederholten daſſelbe Manöver,
indem ſie Howland von der andern Seite bombardirten, und ſowohl
ſeine als die achte Compagnie mit einem langreichenden Waſſerſtrahle
bedeckten. Howland, wüthend wie ein angeſchoſſener Eber, zog ſeinen
Revolver und knatterte blindlings nach links und rechts unter ſeine
Feinde; augenblicklich protzten und platzten die Piſtoletts von allen
Seiten gegen einander, jede Compagnie ſtand gegen jede, die Kugeln
flogen hin und wieder, die Waſſerbogen brausten auf und ab, dazu
regnete es von der Höhe herab Feuerbrände, da die Flamme, ſchon
halb gelöſcht, während dieſes Handgemenges neu aufflackerte. Die Zu¬
ſchauer ſtoben entſetzt auseinander, hier rief eine Frauenſtimme: ich
bin getroffen! dort: ich brenne; die Männer ſchrieen: Watch! Watch!
aber Polizei ließ ſich nirgends blicken. Zuletzt verließ auch Moor¬
feld die Brandſtätte und hatte — eine amerikaniſche Sonntagsfeier
geſehen.
[44]
Zu Hauſe beim Diner ſagte Herr Staunton: Sie kommen vom Feuer?
Nun, mein Herr, dann werden Sie bewundert haben eine der herr¬
lichſten Inſtitutionen unſers freien und aufgeklärten Volkes. Wo,
zwiſchen beiden Polen, finden Sie eine Feuerwehr wie die amerikaniſche?
Unſere Spritzen ſind leicht und zweckmäßig gebaut, ihr Mechanismus
iſt der vollkommenſte, der ſich denken läßt, ihr Aeußeres iſt elegant
wie ein Uhrgehäuſe. Unſere Löſchmannſchaft iſt die Blüthe unſerer
Jugend, ein Elitencorps, dem keine Nation der Erde etwas Aehnliches
entgegenſtellen kann: auf meine Verantwortung, mein Herr, das iſt
ein Factum über allen Zweifel erhaben. Dieſe vortrefflichen Jünglinge
betrachten die Feuerwehr, was ſie auch iſt, als eine Schule des männ¬
lichen Muthes, der bürgerlichen Aufopferung, als eine Ritter-Akademie,
in welcher die edelſte aller Kriegswiſſenſchaften gelehrt wird: der Kampf
gegen das Element. Nichts gleicht ihrer kühnen Geiſtesgegenwart, ihrer
heroiſchen Entſchloſſenheit, ihrer großherzigen Verachtung der Gefahr,
ihrer Hingebung für die öffentliche Sicherheit des Lebens und des
Eigenthums. In Wahrheit, eine Muſteranſtalt unſere Löſchcompagnieen!
Wir zeigen mit Stolz auf ſie und nächſt dem Unabhängigkeitsfeſte iſt
uns kein Tag des Jahres ſo lieb, als der 14. Juni, der Gründungs¬
tag unſerer Feuerwehr in Newyork. An dieſem glorreichen Tage halten
ſämmtliche Compagnien ihren Feſtaufzug durch die Stadt, Deputationen
aus allen Gegenden der Union ſchließen ſich ihnen an, Muſikchöre
treten vor, die Straßen ſind mit Blumen beſtreut, die Fenſter mit
Teppichen behangen, die Tücher der Damen wehen, Fahnen mit ſchmei¬
chelhaften Deviſen flattern; in dieſer öffentlichen Huldigung einer freien
Nation ernten die edlen Jünglinge den einzigen Lohn ihrer uneigen¬
nützigen Bürgertugend. Es iſt ein Schauſpiel, mein Herr, werth, daß
man um ſeinetwillen allein den großen Ocean durchſchifft, und ſelbſt
die nächſten Sterne, rath' ich, müßten ihre Zuſchauer ſenden, denn die
Welt hat nichts Schöneres mehr aufzuweiſen, es thäte mir Leid wenn's
nicht wahr wäre. Ich wünſche Ihnen Glück, daß Sie noch rechtzeitig
zu dieſem erhabenen Nationalfeſte eingetroffen ſind, wenigſtens hörte
ich alle Fremde ohne Ausnahme unſern 14. Juni als den ſchönſten
Tag ihres Lebens preiſen, und ich verkehre viel mit Fremden, das darf
ich behaupten. Aber was ſagen Sie zu der heutigen Probe, Herr
Doctor? Sie waren erſtaunt — wie?
[45]
Moorfeld erwiederte: ein ritterlicher Zug habe ihn vor Allem an¬
geſprochen. In Europa ſei es gebräuchlich, nur über dem Grabe
eines verdienten Kriegers Gewehrſalven zu geben, höchſtens erweiſe noch
der romantiſche Waidmann dem letzten Röcheln eines verendenden
Edelwilds dieſe Ehre. In Amerika aber ſei es ausnehmend zart und
ſinnig, daß man auch das überwältigte Element mit militäriſcher Cour¬
toiſie behandle, und über dem gelöſchten Brande, wie über einem ge¬
fallenen Helden, die Gewehre abfeuere. Ja, der Eifer für dieſe rühm¬
liche Sitte ginge ſo weit, daß die edle Jugend dieſes Erlöſchen oft
nicht einmal abwarte, ſondern mitten im robuſteſten Brande Feuer
gebe, und zwar auf ſich ſelbſt und das Publikum. Dieſer letztere Zug
habe ihm wieder heroiſche Bilder vor den Geiſt gebracht, nämlich die
Fechterſpiele der Römer an vornehmen Scheiterhaufen, oder auch jenes
aufopferungsvolle Schlachten getreuer Waffenträger am Grabe ihres
Herrn, welches bei den meiſten Kriegervölkern des Alterthums geherrſcht
habe. Nur ſchienen ihm die Revolvers über eine ganz geringe Diſtanz
hinaus kein ſicheres Feuergeſchoß mehr, ſo daß er glaube, die morgigen
Zeitungen werden blos von Verwundungen, nicht aber von einem
eigentlichen Opfertod zu berichten haben. — Herr Staunton erblaßte,
als er in dieſer ganzen Lobrede von einer jener Rowdie-Schlachten
hörte, welche auf dem öffentlichen Leben Amerika's mit ſo großer
Schande laſten; Moorfeld fuhr aber in ſeiner ironiſchen Anerkennung
fort: daß die Sonntagsruhe Amerika's durch dieſe Sonntagsthätigkeit
erſt ihr eigentliches Relief erhalte, habe er überhaupt mit aufrichtiger
Genugthuung erfahren. Es ſtand von den ungeheuren Energien
Amerika's zu erwarten, daß das zurückgepreßte Leben auf irgend eine
Weiſe ſich zu entfeſſeln wiſſe, und zwar um ſo gewaltſamer, je ſtren¬
ger es gefeſſelt ſei — ganz nach den phyſiſchen Kraftverhältniſſen von
Druck und Gegendruck. Dieſes ſonntägliche Kampfſpiel der Newyorker-
Feuerwehr ſei ihm daher ein ſchätzbarer Commentar geweſen zu dem
Briefe Paulus an die Römer XIV. 5, da er ſchreibt: „Welcher auf
die Tage hält, der thut es dem Herrn, und welcher nichts darauf
hält, der thut es auch dem Herrn.“
Das iſt von allen verdammten Deutſchen der verdammteſte! mur¬
melte Herr Staunton zwiſchen ſeine eingeſetzten Zähne, als ſein Gaſt
mit einem verbindlichen Gruße vom Tiſche aufgeſtanden. — —
[46]
Moorfeld aber ſaß in einer ernſthafteren Stimmung, als er eben
gezeigt hatte, auf ſeinem Zimmer. Er revidirte den Plan ſeines new¬
yorker Aufenthaltes. Bekanntlich bringt ein Reiſender an den Ort
ſeiner Beſtimmung irgend eine fertige Dispoſition mit, deren Stich¬
haltigkeit indeß bald von den wirklichen Verhältniſſen in Frage geſtellt
wird. Dies war jetzt Moorfeld's Fall. Er hatte geglaubt, vor ſeiner
Weiterreiſe nach dem Landesinneren in Newyork, der erſten amerika¬
niſchen Großſtadt, Station halten zu müſſen. Das Verſtändniß der
hinterländiſchen Zuſtände, hatte er gemeint, könne er ſich dadurch
raſcher und in größeren Zügen aufſchließen. Ebenſo hatte er durch
Agentur ſich Quartier in einem Privathauſe beſtellt: das Culturbild
eines Volkes, nahm er an, könne ein Beobachter nirgends directer
ſtudiren, als an der Quelle aller Cultur, in der Familie. Dieſe
Vorausſetzungen waren es, welche er nun noch einmal durchprüfte.
Daß die Stadt nothwendig die idealiſirte Phyſiognomie des Landes
darſtelle, iſt vielleicht, überlegte er jetzt, blos europäiſch gedacht; in Amerika
möchte das Gegentheil walten. Ein Agriculturland, wie es iſt, liege
ſein höchſter Charakterausdruck wohl eben im Lande, und die Stadt
ſei nur eine Pantomime, ein Nebenumſtand, eine Art Pſeudoplasma.
In der That, ſchien es ihm jetzt deutlicher zu werden, was er ſchon
Angeſichts der Feuerlöſch-Emeute dunkel zu fühlen geglaubt. Er hatte
ſich der Wildheit dieſer Scene nicht rein zu erfreuen vermocht. Er
hatte den geſunden, naiven Kraftdrang eines Volkes, das ſich ſo ſprich¬
wörtlich das jugendliche nennt, in der Balgerei jener Burſche doch
nicht recht durchempfunden. Er glaubte, jede deutſche Bauernſchlacht
weiſe mehr robuſten Vandalismus auf; in dieſer Newyorker Jugend
läge vielmehr ein gewiſſes Etwas, das gerade das Gegentheil vermein¬
ter amerikaniſcher Urſprünglichkeit ſei: nämlich eine reflectirte, theatra¬
liſche Frechheit, eine Emotion von matten und früh verbrauchten Kräf¬
ten, die höchſtens an der Nachſicht der Polizei zu einem Strohfeuer auf¬
praſſelt, wie es den Europäer vorübergehend blendet. Kurz die Ahnung
beſchlich ihn, ob eine amerikaniſche Stadt, anſtatt die potenzirten, nicht
vielmehr die blaſirten Elemente des Volkslebens zur Erſcheinung bringe,
den oberflächlichen Schaum einer reinen und geſunden Gährung, deren
Proceß ſich auf andern Schauplätzen vollziehe. Was zweitens das Culturbild
von Herrn Staunton's Familie betraf, ſo gab ſich unſer Freund Mühe,
[47] mit größter Gewiſſenhaftigkeit darüber zu urtheilen, oder beſſer eines
vorzeitigen Urtheils ſich zu enthalten. So fremdartig und unerquicklich
zwiſchen der nationalen Arroganz des Hausherrn, der ſteifen Würde
der Hausfrau und der prätentiöſen Unnahbarkeit der Tochter ihn die
erſten Stunden ſeines Aufenthaltes anmutheten, ſo erlaubte ihm doch
die Ehrfurcht vor allem Menſchlichen noch keine Voreingenommenheit
gegen dieſe Perſonen. Selbſt die Lebensfrage „unſers Daniel“ mochte
er, nach der Auslegung, deren ſie zur Noth fähig war, auf ſich be¬
ruhen laſſen. Deßungeachtet glaubte er von der amerikaniſchen Familie
ſo wenig wie von der amerikaniſchen Stadt ſich verſprechen zu dürfen.
Auch hier ahnte er ein dem europäiſchen entgegengeſetztes Verhältniß.
In Europa betrachtet der Bürger ſeine Familie als den angebornen
und natürlichen Beirath ſeiner Angelegenheiten: Europa's Geſchichte
wird in der Familie gemacht. Anders in Amerika. Hier wehte inner¬
halb der vier häuslichen Wände ein ſo kühler Geiſt, daß augenblicklich
errathen wurde, die eigentliche Lebenswärme der bürgerlichen Exiſtenz
entbinde ſich hier auf anderem als häuslichem Schauplatze. Der Mann
gehörte, wie in den alten Staaten, der Oeffentlichkeit. Dort entfaltete
er die Summe ſeiner Eigenthümlichkeit, dort zeichnete er, dort indivi¬
dualiſirte er ſich. Zu Hauſe war er nur ein Gattungscharakter —
ein guter Ehemann. Was er den Mächten des Lebens abgeliſtet und
abgetrotzt, das legte er wie eine ritterliche Beute ſeinen Ladies zu
Füßen, der Gattin und Tochter. Ihnen kehrte er die Bildſeite ſeines
irdiſchen Webens zu; das Sauſen, Schlagen, Rupfen und Treten der
Webearbeit blieb ihnen abgewendet. Von dem gemüthlichen deutſchen
Stabreim: Wohl und Weh, Freud und Leid — theilte er nur Wohl
und Freud mit ihnen, die andere Hälfte des Reimes verſchluckte er:
er hob aber Alles auf, indem er den Gegenſatz aufhob. Seine weib¬
liche Familie vergötterte er, ſeine männliche vergaß er. Den Sohn
ſpülte ihm der Strom der amerikaniſchen Freiheit ſchon als Knabe
hinweg, und brachte ihn nie wieder, oder vielleicht als Aſſocié zurück,
mit dem man die Dividende — nicht der väterlichen Liebe — ſondern
des väterlichen Geſchäftes abrechnet.
Dieſe Betrachtungen waren es, welche Moorfeld, nicht ſo wohl
machte, als vielmehr nicht abhalten konnte von ſich. Er ſtreckte wahrlich
die Hand nicht freiwillig nach einer Erkenntnißfrucht von ſo herbem
[48] Geſchmacke aus; aber gewiſſe Naturen — dichteriſche oder weibliche
z. B. — urtheilen gleichſam unwillkürlich, divinatoriſch, mit der Spür¬
kraft der Empfindung, mit der raſchen Geſtaltungsfähigkeit der Phan¬
taſie. Es wäre ganz vergeblich, ein ſolches Urtheil zu unterdrücken, oder
zu betäuben. Auch liegt keine moraliſche Nöthigung dazu vor. Nur der
langſame Kopf nennt es Vorurtheil, der ſchnelle ſchöpferiſche darf es
mit Recht ſein Urtheil nennen. Was jenem die Erfahrung iſt, das
iſt dieſem die Iotuition. Beide haben in der That zwei verſchiedene
Gewiſſen. Ja, adoptirt ſelbſt der Geniale das Gewiſſen der Lang¬
ſamen, und leiſtet er ihm, da es das Geſetz der Mehrheit iſt, gleich¬
ſam aus Zerſtreuung Gehorſam — er wird es nie lange thun und ſtets
ſeiner eigenen Stimme vertrauen dürfen. Moorfeld konnte ihr jetzt
ſchon mindeſtens nicht gänzlich mißtrauen.
Inzwiſchen lag der Sabbath auf der Stadt draußen, wie eine
eiſerne Maske. Moorfeld ſtand in ſeinem Fenſter und betrachtete faſt
bewundernd das große, allgemeine Nichts. Es kam ihm wie eine
Art Kunſtwerk vor, dieſes Schweigen hervorzubringen. Einem Orga¬
nismus, wie Newyork, eine ſolche Generalpauſe aufzulegen, ſchien ihm
der höchſte mechaniſche Triumph. Vor ſeinem Fenſter fluthete der
Hudſon, aber die Schiffe lagen darin, wie eine Heerde geſchlachteter
Lämmer. Am Himmel brannte die Sonne zwecklos, und ſein weit¬
geſpanntes Blau zuckte und ſprühte von Licht, aber nirgends die Staf¬
fage einer einzigen Rauchſäule! Er horchte weit und breit in die
Welt hinaus — kein Wagen rollte, keine Menſchenſtimme ſcholl von
der Straße. Er dachte an die Lärmſcene des Brandes zurück — ein
Jahrhundert ſchien ihm vergangen ſeitdem.
Er brannte ſich ſeinen mächtigen Türkenkopf an und wanderte auf
und ab in der Stube. Die Scene fing an Eindruck auf ihn zu
machen. Von Zeit zu Zeit blieb er wieder am Fenſter ſtehen, und
ſtarrte in die Langweile hinaus. Allmählig füllt ſich ſein Auge mit
Geiſtern, ſeine Mienen ſpannen ſich und zeigen jenen Ausdruck, welcher
verräth, daß die inneren Gedankenkreiſe in Fluß gerathen. Ja, er
hat Funken gefangen von der Langweile. Die Langweile iſt ihm zum
Pathos geworden. Mit jener feinen dichteriſchen Saugader, welche
jeder Erſcheinung ihren Geiſt auszuſaugen weiß, zieht er Leben aus
der allgemeinen Lebloſigkeit, Ideen aus dem abſoluten Stillſtande.
[49] Das Rieſenhaupt der Meduſe draußen verſteinert ihn nicht, er iſt's,
der in ihre Züge die Seele wirft. Mit großen Blicken die große
Leerheit durchbohrend, ſagt er ihr folgendes:
Wir haben uns nicht enthalten, dieſe Verſe mitzutheilen; ſie ſchie¬
nen uns beſſer, als wir's beſchreiben möchten, die eigenthümliche Pu¬
ritanerluft, in der ſie empfangen ſind, zu verſinnlichen. Mit ſchroffer,
liebloſer Kürze berührt das Lied ſchwere Gedanken ohne ſie auszu¬
D. B. VII. Der Amerika-Müde. 4[50] führen, deutet an, ſpringt ab, winkt in entfernteſte Perſpectiven, ohne
ſich im Geringſten aufzuhalten, ob wir raſch genug das Entfernte
verbinden, bekümmert ſich wenig um Verſtändniß, noch weniger um
Zierde. Der Poet macht ein paar Schaufelſtiche in das campo vac¬
cino ſeiner Gedanken, wir hören die Torſo's klingen, ſehen ſie aber
nicht ausgraben. Sie bleiben liegen. Es iſt ja Sonntag!
Und ſo vollbrachte der Europäer ſeinen erſten amerikaniſchen Sonntag.
Viertes Kapitel.
Wiederholen wir uns im Kurzen den geſtrigen Gedankengang un¬
ſers Freundes, ſo kam er zu dem Ziele: Amerika iſt im Urwald; die
Großſtädte der ganzen Erde ſind einander familienähnlich. Und wie
die brauſende Rieſenorgel Newyork heute von Neuem ihre Werktags-
Regiſter wieder ſpielen läßt, ſo winkt ihm über all dem betäubenden
Stadtgewühl jetzt das Friedensbild von Wald und Prairie. Wie eine
ſelige Luftſpiegelung ſchwebt ihm das Bild zu Häupten, rein und
vernehmlich blickt's dem Erwachenden durch die Morgenfenſter und
läßt Tags über nicht ab, mit wonnevollem Geflüſter ſein Gemüth zu
treiben und zu kräuſeln. Das iſt ja die Schönheit des genialen
Menſchen vor dem beſchränkten und kleinlichen: wenn dieſer den Er¬
fahrungen gegenüber an Wärme verliert, ſo wirft ſie jener auf neue
und immer wieder auf neue Theile und unter der Schneelocke noch
bricht ihm ein junges, glaubensfähiges Herz.
Moorfeld geht alſo heute lebendiger als je dem Gedanken ſeiner
Anſiedlung nach. Ob wir ihn deßwegen ſogleich in die Schatten der
Urwälder verſchwinden ſehen — überlaſſen wir das dem ehrlichen Ge¬
nerallandamt. Wir werden ſehen. Begleiten wir ihn auf den Weg
dahin.
Das Generallandamt iſt der Ort, wo Congreßland verkauft wird.
Käufer und Rathgeber der Käufer umſchwärmen das Gebäude zu
allen Stunden des Tages; nie wird ſein Inneres von Menſchen leer,
[51] nie fehlt es den Karten, Plänen und Proſpecten, womit ſeine Hallen
von oben bis unten bedeckt ſind, an gelehrten Beſchauern und unge¬
lehrten Begaffern, nie verkennt man in der Straße des Hauſes jenes
Geld-wickelnde, Papier-zettelnde, Brieftaſchen aus- und einſteckende
Publikum, welches die Nähe großer Geſchäftsreſidenzen bezeichnet, in
denen der Verkehrsdrang ſo ſtark iſt, daß man die Reſte der Zahl- und
Schreibtiſcharbeiten weit und breit unter freien Himmel zu Ende kramt.
Als Moorfeld in die Straße eintrat, erregte er die Aufmerkſam¬
keit eines Herrn von feinem, faſt vornehmen Aeußern, der ihn prü¬
fend, aber nicht länger als anſtändig, betrachtete, dann vor ihm ſtehen
blieb und ihn höflich anredete:
Mein Herr, Sie ſind Ungar, wenn Sie meine Freiheit entſchul¬
digen wollen?
Ihnen zu dienen, mein Herr, — von deutſcher Familie in Ungarn
gebürtig.
Die höfliche Haltung des Fremden erwärmte ſich. Und kommen
in der Abſicht, ſich anzukaufen? fuhr er fort — in dieſem Falle er¬
lauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorſtelle. Ich bin öſterreichiſcher
Geſandtſchaftsbeamter und ſpeciell employirt, unſern Staatsangehörigen
bei Landkäufen in jenem Hauſe meine Dienſte anzubieten. Das Vor¬
urtheil der meiſten Auswanderer gegen alles was heimatliche Behörde
heißt, iſt leider ein ſolches, daß ſich die Geſandtſchaften faſt aufdrän¬
gen, ja in ihrem Charakter verläugnen müſſen, wenn ſie die Ihrigen
vor Schaden bewahren wollen. Doch Ihnen gegenüber iſt dieſes Vor¬
urtheil natürlich als nicht vorhanden anzunehmen. Ihnen präſentire
ich am beſten gleich meine Legitimation. Hier iſt ſie. Ich ſtehe
Ihnen bei Ihrem Kaufgeſchäfte mit Rath und That zur Verfügung.
Dankbar anerkannt, mein Herr; ich glaube auf Ihre Güte ver¬
zichten zu dürfen.
Es iſt auch nur eine Formel in dieſem Falle. Der intelligente
Immigrant bedarf deſſen nicht, ich weiß. Erfüllte Amtspflicht, nichts
weiter. Entſchuldigen Sie mich. Ihr Diener, mein Herr.
Der Fremde wandte ſich zum Gehen. In demſelben Augenblicke
aber hielt er inne, zog ſeine elegante Brieftaſche und überreichte Moor¬
felden ſeine Karte mit den Worten: Wenn Sie nicht preſſirt ſind,
mein Herr, ſo bitte ich mir vor Ihrer Abreiſe das Vergnügen auf
4*[52] eine Flaſche Tokaier aus. Wir beide werden unſre Landsleute —
denn auch ich bin Ungar — in der ganzen Union wohl ſchwerlich je
zu Geſichte bekommen. Und das Andenken der Heimath —.
Aus welcher Geſpannſchaft, wenn ich bitten darf, fragte Moorfeld,
der ſich erſt jetzt den artigen Herrn aufmerkſamer anſah.
Aus dem Zempliner Comitate, Ujhely iſt meine Geburtsſtadt, war
die Antwort des Fremden. Und mit einem Seufzer, den er nur
mühſam in die gemeſſenen Formen zurückpreßte, fuhr er fort: Ich
wollte, ich wär' wieder dort! Ubi bene ibi patria — ganz recht —
aber wo iſt's denn bene, wo iſt's denn optime, wenn nicht eben in
unſerm herrlichen magyár-örszag? Ach ſäß' ich noch als Conzipiſt
bei der Palatinaltafel! Sie thaten Unrecht, bárátom — Pardon
„mein Herr“ ſagt man hier — Sie thaten Unrecht, mein Herr, aus
einem Lande wie Ungarn auszuwandern. Was können Sie beſſers
dafür eintauſchen? Darf ich fragen, wo Sie Ihre Niederlaſſung
projectiren?
Ohio iſt ſtark in Aufnahme, ſagte Moorfeld.
Durch den neuen Ohio-Erie-Kanal, allerdings; aber, — fluchte
der Geſandtſchaftsbeamte mehr naturwüchſig als diplomatiſch, — Gott
verdamm' mich, wenn ein Mann von Bildung aushält in einem
Lande, das juſt in Aufnahme iſt. Ein ſolches Modeland iſt wie eine
Cloake, ein wahrer Abzugsgraben. Alles Geſindel ſtrömt da zuſam¬
men die bornirteſten Race-Unterſchiede haben ihr ekelhaftes Spiel,
Parteiſucht, Mord und Todſchlag ſind an der Tagesordnung. Nein,
mein Herr, Sie ſind ein viel zu feiner Culturmenſch für ſolche Schlamm¬
wirbel. Sollt' ich Ihnen rathen — Sie ſehen ich falle nicht aus
meinem Amte, lächelte der Sprecher — ſo ging' ich dieſem wilden
Landſpeculationsſchwindel aus dem Wege, und ſuchte mir ein reſer¬
virteres Plätzchen.
Zum Beiſpiel? fragte Moorfeld.
Die beiden Männer waren inzwiſchen, da der Beamte mechaniſch
ſeine Schritte an Moorfeld anſchloß, die Straße hinabgekommen und
in's Erdgeſchoß des Landamtes eingetreten. Sie ſtanden in einer
Halle, welche die Vorhalle zu den verſchiedenen Bureaus des Amts¬
gebäudes war, zugleich aber nach Art einer Börſenhalle den Selbſt¬
zweck eines öffentlichen Beſprechungsortes zu haben ſchien. Dazu war
[53] ſie in allen Theilen eingerichtet. Nicht nur ſah man Säulen und Wände
mit Plakaten von Fahrplänen und Reiſerouten in allen Farben und
Formaten bunt überkleidet, Situationskarten von allen Gegenden der
Union, nach allen Maßſtäben projectirt vom Fußboden bis an den
Plafond augenverwirrend durcheinander geklebt: auch Tiſche und Bänke
ſtanden zu reichlicher Bequemlichkeit überall umher und auf den
Tiſchen deuteten Schreibzeuge, Trinkgläſer und Waſſerflaſchen in Kühl¬
eimern den ſtändigen Verkehr eines großen geſchäftlichen Publikums
an. Dieſes Publikum ſah Moorfeld in den verſchiedenſten Trachten,
Phyſiognomien und Nationalitäten auch ringsum die Halle erfüllen,
indeß ein Durcheinander aller Sprachen und Mundarten babelähnlich
ſein Ohr betäubte.
Er ſelbſt bedurfte aber großer Ueberwindung, dieſe Schwelle zu
betreten, denn der erſte Blick auf den Marmorboden glitt in eine ſo
häßliche Spucknapfpfütze, daß ſich ſeine ganze Natur ſchauernd am
Eingange ſträubte. Nur der Gewandtheit ſeines Führers gelang es,
ihn geſchickt durch die gangbarſten Stellen dieſes Speichelmeers durch¬
zubugſiren, während Moorfeld ſelbſt keine andre Rettung erkannte, als
ſeine Fußſpitze überhaupt nicht mit dem Auge zu verfolgen. Sein
weißes Steg-Beinkleid gab er übrigens auf.
Sehen Sie dieſes Terrain hier; das ganze Gebiet des untern
Miſſouri, ſagte der Fremde, indem er Moorfelden vor eine der vor¬
handenen Karten führte, das iſt der vorzüglichſte Boden für unſre
Nationalität. Wir Ungarn acclimatiſiren uns ſchwer an Land und
Leute; auf dieſen Prairien aber leben Sie wie auf unſern Pußten.
Leute ſiedeln noch wenig hier und das Land — wenn zwiſchen beiden
Polen ein Erdwinkel unſerm ſchönen und fruchtbaren Ungarn gleicht,
ſo iſt es dieſer. Die Ueppigkeit des untern Miſſouri ſpottet allem
Glauben. Ganze Wälder gibt's hier, die aus dem Geſchlinge eines
einzigen Baumes beſtehen; andern Orts fanden die Landvermeſſer wie¬
der auf einem einzigen Morgen vier Arten von Wallnußbäumen, drei
Arten Eichen, zwei Arten Ulmen, den virginiſchen Kirſchbaum, den
canadiſchen Judasbaum, Pflaumenbäume, einen Maulbeerbaum, Eſchen,
Linden, Saſſafrasbäume, Storaxſtauden, Papawbäume, den blumen¬
reichen Cornelbaum, den Eiſenholzbaum, den Häckberrybaum, Platanen,
Weinſtöcke, Haſelſtauden, Brombeeren und Hollunder. Rechnen Sie
[54] zu dieſer Vegetation den entſprechenden Wildreichthum, erwägen Sie
die Waſſervortheile vom Miſſouri und Miſſiſſippi und Sie werden
keinem Lande der Welt den Vorzug geben. Ein nicht zu verachtendes
Accidenz ſind auch die Pferde, die Sie hier umſonſt haben können.
Wenn dieſe Thiere nämlich von den Hofſtellen des obern Miſſouri
entlaufen und in ihrem Inſtinkte dem Waſſer folgend, am untern
Miſſouri ankommen, ſo ſehen ſie ſich zwiſchen Miſſouri und Miſſiſſippi
plötzlich aufgehalten und in weiterer Flucht gehemmt. Dieſer Mün¬
dungswinkel iſt daher ſtets angefüllt von jener edlen und nützlichen
Thiergattung, er iſt nichts als ein großer Marſtall für den dortigen
Farmer. Wer aber bedenkt, daß Menſchenarbeit und Hausthiere die
höchſten Poſten im Ausgabebudget eines amerikaniſchen Landwirths
ſind, der wird dieſen Umſtand nicht gering anſchlagen. Doppelt ſchätz¬
bar iſt er natürlich dem Ungar, dem gebornen Reiter und Pferde¬
freund, und eine Prairie mit dieſer herrlichen Thierſtaffage kann ihm
den Heimathszauber der Pußte gar nicht mehr ſüßer vergegenwärtigen.
Das ſind die kleineren, aber wichtigen und intereſſanten Detailzüge
einer Localität, die kein Handbuch nennt, die aber an Ort und Stelle
den Entſchlüſſen des Auswanderers erſt eine entſcheidende Richtung zu
geben im Stande ſind. Wahrlich, die Abolitioniſten verfolgen eine
unverantwortliche, aber zum Glück auch unhaltbare Politik, wenn ſie
die Beſiedelung ſolcher Muſterländer, wie Miſſouri, bloß weil ſie
Sclavenſtaaten ſind, bisher ſyſtematiſch zu hindern oder in Vergeſſen¬
heit zu bringen gewußt haben. Natürlich iſt das für den heutigen
Ankäufer nur eine Chance mehr. Denn wenn jene abſtracte und un¬
geſunde Abolitioniſtenpolitik eines Tags in die Luft auffliegt, wozu
es unter Jackſon ſchon jetzt den Schein gewinnt, ſo ſchnellt Ihr Boden¬
werth in unaufhaltſamer Folge um's zehn-, hundert- und tauſendfache
empor und Ihre Hofſtelle kann gar wohl ein zweites Cincinnati wer¬
den, deſſen ganzes Stadtareal in ein- und demſelben Menſchenalter
dreißig Dollar und zwei Million Dollar werth war. St. Louis über¬
flügeln Sie reißend. Franzoſen und Katholiken halten ſich nirgend
gegen die Concurrenz der proteſtantiſchen Anglo-Amerikaner. Es iſt
Schade, daß wir das ſagen müſſen, aber was kümmert's uns? Wir
verkaufen unſer Land an dieſe Race, wir brauchen ja nicht zu leben
mit ihr! Daß wir's ein paar Jahre gethan haben, dafür ſchlep¬
[55] pen wir unſre Million nach Hauſe und das iſt doch auch etwas. Ich
ſage wir, denn auch ich habe ein kleines Kapital in Miſſouri-Land
angelegt, in der Gegend von St. Charles, die nämliche, die ich Ihnen
empfehle. Kommen Sie gefälligſt in mein Bureau, ich will Ihnen
die topographiſchen Pläne und landamtlichen Berichterſtattungen davon
vorlegen, dann ſollen Sie ſehen, von welchen Avantagen hier die Rede
iſt im Vergleich zu dem armſeligen Ohio-Erie-Kanal-Puff, der übri¬
gens größtentheils ſchon ausgebeutet und für den heutigen Speculanten
kaum noch de saison iſt.
Während der Geſandtſchaftsbeamte ſo ſprach, fingen zwei Männer
in einer benachbarten Gruppe lauter zu reden an, dem Scheine nach
zwar unter ſich, doch ſo, daß es Moorfeld deutlich vernehmen konnte.
St. Louis hat eine hügelige Lage, ſprach einer der Männer, und iſt
nur darum bewohnbar. Wer Ihnen aber St. Charles empfiehlt, den
betrachten Sie als Ihren Mörder und Todſchläger. Ich will ver¬
dammt ſein, wenn das Land nicht unterm Waſſerſpiegel von Miſſouri
und Miſſiſippi liegt. Es iſt ein Loch für Regenwürmer und Ratten,
Es iſt das Hauptquartier der Fieberpeſt. Pfui, pfui, fort mit
St. Charles! Ich ſehe den Schimmel an den Wänden, und das Waſ¬
ſer von der Decke tröpfeln, wenn ich St. Charles nennen höre. Die
Blockhäuſer vom dortigen Holze haben alle den Schwamm. Mich
ſchüttelt das Fieber, meine Natur geräth in Transaction bei dem
Gedanken St. Charles. Sprechen wir nicht mehr davon, mein Herr!
Wir Ungarn heißen Gascogner und Bramarbaſſe, ſagte Moor¬
feld's Landsmann lächelnd, aber dieſe Yankee's wiſſen die Hyperbel
noch ganz anders zu handhaben. Haben Sie den Burſchen gehört?
Der allmächtige Schuft hat wahrſcheinlich eine Handvoll Klippen und
Felſen in Agentur, und ſchwärzt ſeinem armen Opfer, das uns viel¬
leicht belauſcht hat, das köſtlichſte Bottomland unter der Sonne nun
mit des Teufels Pinſel an. Etwas fieberig iſt die Gegend, das leidet
keinen Zweifel, aber was ſchadet das einem Ungar? Sind wir in
Sumpf und Niederung nicht geboren? Ich ſpreche nämlich von der
reinen Race, denn im Gebirge ſitzen die Slowacken. Wo ſind Sie
zu Hauſe, bárátom?
Ich bin von Saros-Patak im Banate, ſagte Moorfeld mit feſter
Verwegenheit.
[56]
Nun dann kommen Sie, rief der Geſandtſchaftsbeamte entſchieden.
Das beſiegt auch den zarteſten Zweifel. Ein Mann, deſſen Wiege
von den Ueberſchwemmungen der Donau, der Theiß und der Maros
zugleich beſpült war, der kann ohne Sumpfluft gar nicht gedeihen.
Der findet zwiſchen Miſſouri und Miſſiſippi nichts als Brüſte voll
Muttermilch. Kommen Sie.
Moorfeld blieb ſtehen und maß den Mann, deſſen unerſchütterliche
Faſſung ihm faſt imponirt hätte, mit einer Art von Bewunderung.
Als aber jener ſich die freundſchaftliche Freiheit nahm, ſeinen Arm
zu ergreifen, trat er gemeſſen zurück und ſagte kalt: Alles wohl er¬
wogen, mein Herr, ſo kehre ich wieder heim nach Saros-Patak im
Banat. Vielleicht hat ſich Saros-Patak inzwiſchen fünfzig Meilen
nach Norden hinauf locomovirt, und ſich eine halbe Stunde vor Ujhely
hingelegt, was, wie ich höre, Ihr Geburtsort iſt. Dann ſind wir ja
doch wieder Nachbarn. Mit dieſen Worten wandte er dem Betrüger
den Rücken, welcher mit einem damned! zwiſchen den Zähnen ſich
aus dem Staube machte. Dem unkundigen Leſer ſei aber zu wiſſen,
daß Saros-Patak nicht eben bloß einen Ortsnamen, der möglicher¬
weiſe öfter vorkommen könnte, ſondern zugleich die Lage des Ortes
bezeichnet, ſo daß daher: Saros-Patak im Banate — ungefähr klang,
wie: Naumburg an der Saale in Würtemberg. Der Schwindler,
der ſo vieles bruchſtückartig wußte und mit hoffnungskühner Frechheit
darauf baute, wußte zufällig dieſes nicht.
Kaum war derſelbe hinweg, ſo wendete ſich von jenen beiden
Männern derjenige, welcher über St. Charles abgeſprochen hatte, zu
Moorfeld, und ſagte mit der freien lächelnden Stirn eines Glück¬
wünſchenden: Da ſind Sie einen der ärgſten Gauner los geworden,
der je einen Galgen zu zieren verdient hat, Sir. Der Weſten hat
eine große Zukunft, Sir, wer möchte es läugnen und der Miſſiſippi
wird jetzt, was vor fünfzig Jahren die Alleghanie's waren — die
zweite Parallele der Civiliſation gegen die Barbarei. Aber Donner¬
wetter, Sir, wer dürfte einen Mann von Ihrer espèce zu einem
Schanzgräber machen? Das überläßt man den Backwoodmens, den
Squatters. Wohlfeiles Land — ja, ja, aber nicht wahr die Bauge¬
fangenen in Ihrem Europa, Sir, die mit Hand- und Fußſchellen ar¬
beiten, bearbeiten auch wohlfeiles Land, verdammt wohlfeiles Land,
[57] keinen Penny koſtet es ſie, der Teufel weiß es! Nein, Sir, bleiben
Sie bei Ihrem Ohio, ich rathe Ihnen nichts anders als Sie ſich
ſelbſt rathen. Welche Anmaßung wäre es auch, einen Gentleman
Ihres gleichen für unberathen zu halten! Ohio, recht ſo, Ohio! mit
unvergleichlichem Blick iſt's gewählt. Zwiſchen dem rohen Weſten und
dem koſtſpieligen überfeinerten Oſten die goldene Mitte! Urwald,
Cultur, Wildheit, Schönheit, Luxus, Indianer, Univerſitäten, Einſam¬
keit, Meetings, Jugend, Vergangenheit und Zukunft — es gibt nichts
Angenehmes und Vortheilhaftes, das in dieſem glücklichen Staate
nicht im reizendſten Gemiſch vereinigt wäre. Zwar ſeit dem Ohio-
Erie-Kanal haben die Bodenpreiſe angezogen, es iſt wahr, und Con¬
greßland ſteht überhaupt nicht mehr im Angebot: Sie werden aus
zweiter Hand kaufen müſſen. Aber ein Gentleman von Ihrer Bil¬
dung war längſt in Europa unterrichtet von dieſen Verhältniſſen; an¬
maßend wär's, Ihnen was Neues damit zu ſagen. Ohio-Land iſt, wie
Sie alſo wiſſen, in den Händen der Actiencompagnien. Das iſt kein
Geheimniß. Und eben ſo wenig mache ich ein Hehl daraus, daß ich
Agent einer ſolchen Compagnie bin, und Ihnen Ohio-Land gerne ver¬
kaufen möchte. In Wahrheit, mein Herr, das will ich, und das iſt's
was man einen ehrlichen Handel, eine reine Kaufmannſchaft nennt;
dazu braucht man keinen öſtreichiſchen Geſandten. Jener ewige Schuft
baumelt noch mit ſeiner öſtreichiſchen Geſandtſchaft; ich will an einer
Erdbeere ſterben, wenn er nicht baumelt, Sir, aber er thut es gewiß,
verlaſſen Sie ſich darauf. Ohio-Land auf ſieben bis acht Meilen vom
Kanal ſteht fünf Dollar der Acre. So kann ich's Ihnen ablaſſen,
mein Herr. Nicht wahr, ein hoher Preis, mein Herr? ich bin der
Kaufmann, der es ſelbſt ſagt. Sehen Sie, ſolchen Handel lieb' ich.
Das nenn' ich ein loyales Geſchäft. Fünf Dollar per Acre iſt theuer,
mein Herr. Vom Congreß haben wir ihn um einen gekauft. In
Wahrheit, Sir, wir haben den Congreß wie die Wölfe ausgekauft,
das iſt ein Factum. In drei Tagen war ganz Ohio vergriffen, es
wär' ſchade wenn's nicht wahr wäre. Eins zu fünf das iſt unſer
Profit; — da haben Sie unſre ganze Bilanz: mögen alle Geſandt¬
ſchaften des Erdkreiſes baumeln, wenn ich nicht ſtets den geradeſten
Weg für den beſten Geſchäftsweg halte. Fünf Dollar pr. Acre, das
iſt der Curs. In einer Woche wird er zehn und in einem Monat
[58] vielleicht fünfzig ſein. Um Cleveland und Portsmouth iſt er heute
ſchon fünfzig. Dort wüthet die wildeſte Hauſſe. Sie wird ſich aller¬
dings nicht behaupten, Sir; die Baiſſe wird eintreten, wenn ſich die
Speculation auf neue Kanal- oder Eiſenbahnlinien wirft. Aber auf
fünf Dollar weicht Ohio-Land in Ewigkeit nicht mehr. Das Land
wird mit jedem Schaufelſtich rentabler, und die Vermehrung der
Verkehrsmittel bewirkt höchſtens im einzelnen eine relative Entwer¬
thung, im Ganzen dagegen eine abſolute Werthſteigerung. Das
iſt klar.
Um Gotteswillen auf ein Wort, Mr. Jones, die Herren ver¬
zeihen, daß ich ſtöre, aber ſo wahr ich lebe, nur eine Secunde, Mr.
Jones, ich bitte tauſendmal! —
Mit dieſen Worten und höchſt eilfertiger Gebärde wurde der Ohio-
Mäkler von Moorfeld's Seite weggeriſſen. Wir dürfen dringend ver¬
muthen, daß der Mann, der dieſes that, im Einverſtändniß mit einem
andern Makler ſtand, denn augenblicklich trat ein ſolches Individuum
heran und bemächtigte ſich Moorfeld's. Mein Herr, ſagte dieſer An¬
kömmling mit einer verbindlichen Gentlemanmanier, ich war ſtets ein
Verehrer der europäiſchen Gelehrſamkeit. Die Art, wie Sie Sprachen,
Geſchichte, Sitten- und Völkerkunde in Europa betreiben, läßt ſicher
nichts zu wünſchen, deſto mehr aber zu beneiden übrig. Ich bin über¬
zeugt, wie Sie auf dieſem Marmorwürfel hier ſtehen, haben Sie be¬
reits aus Europa eine Kenntniß Amerika's mitgebracht, die vielleicht
manchem Senator im weißen Hauſe zu Waſhington fehlt. Ich möchte
ſchwören darauf, es iſt ſo. Nur Eins ſetzt mich in Erſtaunen. Ich
mache nämlich in dieſer Halle die Bemerkung, daß alle Europäer,
welche hier eintreten und amerikaniſches Land zu beſitzen wünſchen,
von der ſeltſamen Idee ausgehen, als müßten ſie dieſes Land kaufen.
In der That, mein Herr, ein Wahn, der mich höchlich überraſcht.
Wird Amerika's Demokratie noch ſo verkannt in Europa, daß man
unſern Boden nicht anders einnehmen zu dürfen glaubt, als indem
man die Taſchen wucheriſcher und beutebegieriger Land-Jobber füllt? Denn
ich bitte Sie, mein Herr, was iſt der Kaufſchilling, den Sie für Ihr
Grundſtück zahlen, anders als ein ungerechter, ja ſchimpflicher Leibzoll,
der als Abgabe auf Ihren phyſiſchen und intellectuellen Arbeitskräften
ruht, womit Sie dem Lande doch nützen? Oder ſagen Sie ſelbſt!
[59] Iſt irgend eine Logik darin, daß man unſer Land ein freies Land
nennt und doch es verkauft — d. h., es nur der Ariſtokratie des
Geldes öffnet? Ja, der Oſten geht der Ariſtokratie entgegen, oder
vielmehr er iſt ihr mit Stiel und Stein ſchon verfallen. Aber im Weſten
thront noch der reine und unverfälſchte Begriff der Demokratie! Das
Land iſt ein freies Element, wie Luft und Waſſer, heißt unſer Pro¬
gramm; halten Sie ſich an den Weſten, mein Herr! Vom Weſten
geht jene großherzige und echt republikaniſche Agitation gegen den
Congreß aus, daß er den ſchimpflichen und engherzigen Landverkauf
endlich fahren laſſe, und das Land verſchenke. Vom Weſten werden
jene Bills eingebracht, welche dem Congreß nach einem ſyſtematiſchen
Plan zu Preisermäßigungen des Congreßlandes drängen, und auf die
gänzliche Preisaufhebung conſequent hinarbeiten. Schon hat unſre free¬
sooler-Politik ſolche Preisermäßigungen wiederholt durchgeſetzt, ob¬
gleich wir mit Schrecken ſehen, daß wir nur für den Actienwucher
arbeiten, der ſich des wohlfeilen Congreßlandes bemächtigt, um es
theurer als je wieder zu verkaufen. Wollte Ihnen jener ewige und
allmächtige Schuft doch Ohio-Land zu fünf Dollar anſchwindeln; der
Mann iſt wahrlich eben ſo ehrlich, als jener, der Ihnen den Koffer
vom Wagen abſchneidet. Hol der Teufel alle Landſpeculanten! Wir
free-soolers werden nicht ruhen, bis wir nicht Geſetze auch gegen
dieſen ſchändlichen und monopoliſirenden Landverkauf durchgebracht ha¬
ben; indeß ſollte es doch bekannter ſein in Europa, daß wir in Ar¬
kanſas ſchon jetzt unſer Land verſchenken, zum vorleuchtenden Bei¬
ſpiel der ganzen Union, von der wir fordern, daß ſie uns nachfolge.
Ja, mein Herr, Arkanſas hat durch mich die Ehre, Ihnen achtzig bis
einhundertundzwanzig Acre Landes zum Geſchenk zu machen; oder um
mich anſtändiger auszudrücken: Arkanſas erklärt Ihnen, daß es dem
Import Ihrer Hände, Ihrer Intelligenz und Ihres Capitals keine
Grenzbarrière in Form eines Kaufſchillings entgegenſetzt. Wählen
Sie nach Belieben den Ort Ihrer Niederlaſſung. Die Nähe unſrer
großen Städte Smithville, Clarkville, Lewisburg, Littlerock dürfte Ihnen
beſonders annehmlich und vortheilhaft ſein; aber ich empfehle Ihnen
nichts, ich vermeide jeden Eingriff in Ihr eigenes Urtheil, wir heißen
Sie auf jeder Hufe unſers wahrhaft freien Bodens willkommen. Nur
übernehmen Sie mit der Beſitzurkunde die einzige Verpflichtung, Ihren
[60] Beſitz auch wirklich anzutreten, eine ſelbſtverſtändliche Bedingung, die
uns gegen den Scheinbeſitz betrügeriſcher Landſpeculanten ſchützt. Soll
ich das Vergnügen haben, Ihnen einen Grundbrief ſogleich auszufer¬
tigen? Begleiten Sie mich gefälligſt in mein Bureau!
Im Augenblick bin ich zu Dienſten, mein Herr, antwortete
Moorfeld, ich wünſche nur ein paar Worte mit einem Freunde zu
wechſeln.
Schon lange hatte ihm nämlich über die Schultern ſeines Part¬
ners hinweg eine hagere, ſpindeldürre Jammerfigur Zeichen und Winke
gegeben, welche immer dringender, immer myſtiſcher und inhaltsſchwan¬
gerer wurden, ſo daß er zuletzt einen Geiſt zu ſehen glaubte, der ihn
pantomimiſch um Erlöſung beſchwor, und dem er mit dem Reiz des
Komiſch-Schauerlichen folgte.
Sie wünſchen, mein Herr? redete Moorfeld den Klappermann an.
Die Pflicht der chriſtlichen Bruderliebe wünſche ich an Ihnen zu
erfüllen, näſelte der Dürre mit einer ſentimentalen Quäckerſtimme und
preßte ſeine kalte Todtenhand in Moorfeld's warme und volle, indem
er zugleich ſein mißfarbiges Mausaugenpaar, ſchwül ſeufzend, gegen
die Decke des Saales ſchlug. Herr, ich riskire mein Leben, fuhr der
Quäcker fort, und fing faſt zu weinen an, jener Original-Gauner aus
Arkanſas, der Wallfiſch aller Diebe, wird mir meuchleriſch nachſtellen,
weil ich ihm ſein Opfer entreiße; aber ich kann nicht anders, ich kann
nicht, Gott helfe mir, ich ſtehe in ſeiner Hand. — Moorfeld machte eine
etwas ungeduldige Gebärde gegen den Betbruder, der aber hielt ihn
feſt in ſeiner Froſchklaue und zog ihn an das äußerſte Ende des
Saales, in eine heimliche Niſche. Aengſtlich um ſich blickend, als
fühlte er die Dolche der Mörder ſchon zwiſchen den Rippen, fing er
hier zu flüſtern an: Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie mir ge¬
folgt ſind. Es wird Sie nicht reuen. Hier ſind Sie im Hafen.
Einen Schritt weiter mit jenem Seelenverkäufer und Sie waren ver¬
loren. Landverſchenker nennt ſich die Teufelsbrut, ich aber ſage Ihnen,
Seelenverkäufer ſind's. Das ſage ich und das beweiſe ich. Ja, ich be¬
weiſe es, mein Herr; hören Sie mich an, wie ich es beweiſe. Man
ſchenkt Ihnen Arkanſas-Land. Gut. Man legt Ihnen Karten vor, ſchraf¬
firt, colorirt, Wald, Prairie, Bottomland, Straßen, Flüſſe, große
Städte — Alles iſt darauf gezeichnet, gemalt, daß das Herzchen im
[61] Leibe lacht, und die beigebundenen Beſchreibungen leſen ſich, wie ein
Roman; ſie ſind auch wie dieſe eine eben ſo vollendete Erfindung des
Teufels. Gut. Sie wählen Ihren Farm in der Nähe der großen
Stadt Littlerock, mit ihrem ſchiffbaren Strome, mit ihren Poſtſtraßen
und Flurwegen. Gut, mein Herr. Sie kommen an. Sie finden
einen Sumpf und im Sumpfe ſteht ein Täfelchen auf einer Stange
mit der Inſchrift: Stadt Littlerock. Aus dem Schilfe guckt eine zweite
Stange hervor, die nennt ſich: Gerichtshaus der Stadt Littlerock. Im
mannshohen Farrenkraut rennen Sie gegen eine dritte Stange, die
heißt: Akademie der Stadt Littlerock. Vor einer Stunde haben käm¬
pfende Büffel einen Pfahl niedergetreten: es war die Kathedrale der
Stadt Littlerock. Faſſen Sie nun den Mann, der die Landkarte ge¬
zeichnet hat, beim Kragen! Auf fünfzig Meilen in der Runde finden
Sie keine Seele. Wen Sie aber finden, der zeigt Ihnen ein ganz
anders Geſicht, als hier im Land-Office zu Newyork. Gut. Sie
ſind überraſcht, enttäuſcht, aber nicht entmuthigt. Sie ſtehen auf ge¬
ſchenktem Lande, und das Wort hat noch immer einen Klang für den
Europäer. So ſchnell wird die Form, in welcher wir unſre Begriffe
gießen, nicht zerbrochen. Land hat Werth in europäiſchen Augen und
wird's noch lange haben, bis Sie amerikaniſche Augen bekommen.
Sie nehmen alſo ihr Land in Beſitz. Gut. Sie bauen ſich Ihren
Hof, Sie ſchaffen ſich Hausthiere an, Sie kaufen ein paar Sclaven.
O Gott, Sclaven! Gut. Sie fangen zu wirthſchaften an. Aber
Ihre Producte können nicht durch die Luft zu Markte fliegen und die
Erde hat ſo wenig Straßen, als der Grund des Erie Sees. Ihre
Hausthiere werden Ihnen weggeſchoſſen. Ihre Sclaven entlaufen oder
werden Ihnen entführt. Sie hören zu wirthſchaften auf. Verwün¬
ſchungen auf den Lippen, den letzten Cent im Beutel wenden Sie Ihrer
Wüſte den Rücken. Gut, mein Herr. Aber die Spuren Ihres Pfluges,
die Ruinen Ihrer Hofſtelle ſind immer noch wahrnehmbar, und das
genügt, daß jener ewige und allmächtige Schuft die Backen voll nimmt:
Culturboden mit Improvements zehn Cent per Acre! Ihr Nachfolger
geht ebenfalls zu Grunde, hat aber wieder ſein Capital dreingeſteckt
— einen halben Dollar per Acre. Erſt der dritte Mann brächte es zu
der Möglichkeit ſich zu behaupten, da belehrt ihn ein Wink mit der
Kugelbüchſe, oder mit dem Bowiemeſſer, daß auch für ihn die Zeit da
[62] ſei, ſich ſchleunigſt durch die Flucht zu expropriiren, denn das Land
ſoll zum vierten Mal ausgeboten werden — einen Dollar per Acre.
Einen Dollar per Acre, mein Herr; das Ziel iſt erreicht! Mit einer
Reihe betrogener und ruinirter Capitale haben ſie ihr werthloſes Land
in Werth gebracht; — einen Dollar per Acre! Das iſt geſchenktes
Arkanſas-Land. So macht man Cultur hinter'm „blutigen Grund“.
So geſchieht's, mein Herr, und nicht anders; — heute verſchenkte
Wüſte, morgen „lovely spots“ einen Dollar per Acre — die Zauberei
der Gewiſſenloſigkeit! Ich rathe, Herr, die Hölle braucht einen neuen
Flügelbau für die „free-soolers.“ Nehmen Sie ſich in Acht, mein
Herr, nehmen Sie ſich in Acht! Wir gehen einer Zeit entgegen —
das Böſe bekommt die Oberhand auf der Erde.
Dieſe letzteren Worte fühlte Moorfeld ſchon längſt in ſich ſelbſt
Thatſache geworden, denn unüberwindlich war ſeine Luſt, dem from¬
men uneigennützigen Warner eben ſo ſchlechte Abſichten zu unterlegen,
als den übrigen Herren Collegen deſſelben. Er hielt es in der That
nicht aus, die Wendungen und Uebergänge abzuwarten, auf die ihm
das Ganze angelegt ſchien, und ſo fragte er mit jener ungeduldigen
Luſt am Böſen geradezu: Ach, ſehr ehrenwerther Herr, wenn Sie
ſelbſt Land zu verkaufen hätten! dann wäre meiner Verlegenheit auf
einmal ein Ende!
Schneller als ein Blitz zog der lamentable Tugendmann ſeine Hand
aus Moorfeld's Hand, fuhr ſich an die Augen, und trocknete ein paar
abweſende Thränen. Ich muß fort; leider, leider, ich muß fort; ich
kehre wieder zurück nach Alt-England. Sie ſollen's hören, was mich
von hinnen treibt. Die Teufel! o Gott, die Teufel! Aber ich muß
fort, das ſchönſte Landgut in den Staaten muß ich aufgeben! Schwarze
Dammerde mit Lehmunterlage und kalkhaltig, Herr, kalkhaltig — das
Chriſtenthum gebeut Faſſung, ein Unglück — aber dieſer Kalk, Herr,
und dieſe Dammerde, und dieſe Lehmunterlage — mir bricht das
Herz! Wer mir noch vor einem halben Jahre geſagt hätte, ich würde
dieſe Juwele aller erſchaffenen Erde zwei Dollar per Acre verkaufen wol¬
len, da mir Reverend Daniel Gaskin aus New-Jerſey noch bei ſeiner
letzten Durchreiſe zwanzig aufzudringen verſucht hat — ich bin Tem¬
perance-Man, mein Herr, ſonſt würde ich Sie auf eine Flaſche in
Mr. Diſtel's bar bitten, die teufliſchen Intriguen anzuhören, die mich
[63] forttreiben von Gottes geliebteſter Erde. Hier darf ich einer ſolchen
Gemüthsbewegung unmöglich freien Lauf laſſen. Armer Reverend
Daniel Gaskin! du ſtellſt jetzt in der Ewigkeit Vergleiche darüber an,
ob meine Landſtelle oder das Paradies ſchöner iſt, ſonſt könnteſt du's
heute haben, das irdiſche Paradies, zwei Dollar per Acre — doch
dann wäre dir dein Ende nicht ſo leicht geworden! Deinen Glauben
in Ehren, würdiger Gottesmann Daniel Gaskin, aber hier hätteſt du
zum erſten Mal gezweifelt, ob ein Tauſch mit meiner Hofſtelle und
dem Paradieſe ein wirklicher Lohn für den Gerechten iſt. Herr, als
ich an die jungfräulichen Schätze dieſes Bodens die erſte Hand anlegte,
da trieb ich auf einem einzigen Acre — hören Sie mich an, mein
Herr, und merken Sie wohl auf, was ich auf einem einzigen Acre an
Bäumen und Sträuchen abtrieb: vier Arten von Wallnußbäumen, drei
Arten Eichen, zwei Arten Ulmen, den virginiſchen Kirſchbaum, den
canadiſchen Judasbaum, einen Maulbeerbaum, Pflaumenbäume, Eſchen,
Linden, Saſſafrasbäume, Storarſtauden, Papawbäume, den blumenreichen
Cornelbaum, den Eiſenholzbaum, den Häckberrybaum, Platanen, Wein¬
ſtöcke, Haſelſtauden und Hollunder. Wo bleibt Ihre Beſinnung, mein
Herr, wenn Sie einer ſolchen Furchtbarkeit nachdenken? Sie ſchwindeln!
Das Alles trieb ich auf einem einzigen Acre ab; mein Herr, auf
einem einzigen Acre! —
Es muß wohl ein einziger Acre geweſen ſein, denn ſeine ganze
übrige Landſtelle iſt nichts als eine ſenkrechte Felſenwand, an die auch
keine Raupe in die Höhe kriecht, viel weniger ein menſchlicher Pflug.
Der Mann, der ſo ſprach, ſchlenderte mit den Händen in der Hoſen¬
taſche und einem friſchfrohen Apfelgeſichte um unſer Paar herum, in¬
dem er zu mehrerer Herzensvergnügung den „Yankee doodle“ pfiff.
Der Quäcker zuckte zuſammen wie eine elektriſirte Katze. Sein
Haar ſträubte ſich, ſeine grauen Glasaugen ſprühten Blitze, ſeine vor¬
fallenden amerikaniſchen Schultern neigten ſich noch tiefer, wie der
Stier zum Stoß, ſeine Fäuſte ballten ſich, ſeine Adern ſchwollen,
rothe Zornflecke loderten in ſeinem falben Geſichte auf — kurz das
ſeufzende Lämmlein ward auf einmal zu einer Mördergeſtalt.
Das Alles kümmerte den Andern nicht im Geringſten. Vertrau¬
lich zog er eine ſeiner Hände aus der Hoſentaſche und legte ſie der
gebäumten Katze auf den Rücken, indem er zu flöten aufhörte und zu
[64] ſprechen anfing. Gemach, Kamerad, ſagte er, ſtehen wir denn hier
um einander den Handel zu verderben? Was hätt' ich gegen deine
Felſenwand, wenn ich ſie nicht ſelbſt kaufte? Ja, ja, John, ſei ruhig.
Die Felſenwand iſt mein; — zweihundert Dollar — iſt's ein Ge¬
ſchäft? ſchlag' ein, Junge, abgemacht! Der Quäcker, der immer zu¬
ſammenzuckte, wenn das Wort „Felſenwand“ ausgeſprochen wurde, ſah
gleichwohl in dem Angebot des Sprechers ſo viel Ernſt, daß er anfing
verſöhnlicher auszuſehen. Dieſer fuhr fort: Siehe Junge, ich habe
mir die Sache mit deiner Felſenwand überlegt. Du trödelſt nun ſchon
ſo lange damit herum — den Donner auch! ſollen ſich Yankee's nach¬
ſagen laſſen, ein Geſchäft geht nicht, weil's auf eine Art nicht geht?
Keineswegs. Deine Felſenwand ſteht in den Kattskillbergen, nur zwei
Stunden von der großen Route nach Saratoga und den Fällen: —
das muß uns wuchern. Ich laſſ' ein paar Centner Farben an die
Wand ſchmieren und wend' ein paar Dollars daran, daß uns irgend
ein Doctor Thompſon beweist, es wären Malereien eines alten Cul¬
turvolkes. Derſelbe Dr. Thompſon führt dann als Dr. Johnſon aus,
daß Dr. Thompſon ein Eſel iſt, als Dr. Thompſon aber ſchlägt er
den Dr. Johnſon mit einer neuen Flut von Theſen auf's Maul und
die Wandmalereien des alten Culturvolks ſind durch „eine eben ſo ge¬
lehrte als gründliche Controverſe“ in allen Zeitungen ſiegreich außer
Zweifel geſetzt. Merkſt du, Burſche? Wir eröffnen jetzt am Fuße
der Felſenwand ein Hotel, denn unſere Felſenwand wird Touriſten-
Mode, und laſſen uns bei jedem Beafſteak und weichgekochten Ei unſere
Wandmalereien honoriren im Namen der Künſtler des alten Cultur¬
volks. Was ſagt John, he? Siehe, das iſt die naturgemäße Art, eine
Felſenwand zu verwerthen. Aber dieſem Gentleman hier zuzumuthen,
mit ſeinem Pflug auf einem Ding herumzufahren wie der Thurm der
Londoner Paulskirche — Freundchen, das geht nicht; das iſt zu viel
verlangt von einer Felſenwand. Steck' ſie ein, deine Situations-Pläne,
ſteck ſie ein, ehrenwerther Sir John (denn dieſer hatte bereits ange¬
fangen, ſie vor Moorfeld auszukramen), ſteck ſie ein, und ſag' deinem
Geometer, wir bedürfen nicht mehr der liebenswürdigen Zerſtreuung,
womit man ſenkrechte Linien als wagrechte zeichnet. Pfui doch, ein
garſtiger Handel; in Wahrheit ein abſcheulicher Handel; das ver¬
dirbt uns die Börſe, lieber Sir John, und um Alles zu ſagen, ſo
[65] iſt's ein ſehr zweideutiger Handel, Sir John, die Senkrechte für eine
Wagrechte zu verhandeln, ein ſehr zweideutiger Handel, das iſt ein
Factum, Sir John. Was ich ſagen wollte, wandte er ſich an Moor¬
feld. Sie kaufen doch meinen Farm drüben in New-Jerſey? ich geb'
ihn jetzt auf, da ich das Hotel an der Felſenwand projectire. Sie
ſehen, ich bin zwar ein „smart man”, aber eine ehrliche Haut. Ich
werde meinen Landsleuten ihr Geld abnehmen für die Wandmalerei
des alten Culturvolks: das iſt kein Schelmenſtreich, höchſtens ein we¬
nig Humbug, eine Glaubensſteuer, ein Wahnzoll. Sehr aber tadl'
ich meinen ehrenwerthen Freund, daß er Sie, mein Herr, als einen
Fremden und in einer ungleich ernſteren Sache — — o pfui, pfui;
ich tadle es hart, es verdirbt das Geſchäft, wir brauchen das Vertrauen
der Fremden. Merken Sie wohl, mein Herr, wir ziehen eine ſehr ge¬
naue Grenzlinie zwiſchen Humbug und Betrug; man kann der ärgſte
Humbuger und der reellſte Geſchäftsmann ſein. In der That, Herr,
Humbug und Buſineß haben gar nichts zu thun mit einander. Im
Buſineß bin ich der verläßlichſte Mann, den die Newyorker Sonne be¬
ſcheint; Humbug iſt meine Erholung, meine Privatſache außer'm Buſi¬
neß; Buſineß ſelbſt duldet keinen Humbug. Reines Geſchäft, reines
Geſchäft, mein Herr, um Gotteswillen! reines Geſchäft. Im Hum¬
bug beſteuere ich die menſchliche Thorheit; — aber im Geſchäft ſucht
der Menſch ſein Bedürfniß bei mir, ſeine Leibes- und Lebens-Noth¬
wendigkeiten — auf dieſem Boden ſein Vertrauen zu täuſchen, untergrübe
den Beſtand aller Staaten und Völker. Es wäre einfach barbariſch.
Von Religion und Gewiſſen nicht zu reden, unklug wär's, unpolitiſch,
ſelbſtmörderiſch, denn es hübe die Möglichkeit der menſchlichen Geſell¬
ſchaft auf. Und ohne menſchliche Geſellſchaft weder Humbug noch
Buſineß, das iſt klar! Das ſind meine Grundſätze, Herr; Sie ſehen,
ich bin weder ſchwarz noch weiß, ſondern grau melirt, aber unendlich
haltbar, Sie können mir tauſend Procent mehr vertrauen, als einem
Burſchen, der ſich weiß brennt, wie Jungfernwachs. Sehen Sie ſich
mein Gütchen in New-Jerſey an. Wann fahren wir hinüber, Herr?
Freie Station hin und zurück, wenn Ihnen der Farm nicht gefällt.
Keine bedruckten und lithographirten Papierwiſche — gleich amtliche
Ausweiſe, nichts als amtliche Ausweiſe; gleich vor das Staats-Audi¬
toriat, Einſicht der Ernteregiſter von heuer, vom vorigen Jahr, von
D. B. VII. Der Amerika-Müde. 5[66] fünf, von zehn Jahren; alter Culturboden, New-Jerſey, alter Cultur¬
boden, von hundert Jahren, wenn Sie wollen —
Kurz, von aller Vergangenheit, ſagte Moorfeld, nur nicht von
der Zukunft. Denn leider, mein Herr, zeigt Ihr Boden irgend einen
geheimen, angehenden Schaden, den ich zwar weder in Landſchafts¬
büchern, noch mit leiblichen Augen einſehe; aber deßungeachtet iſt er
da, und verdirbt Ihnen die Sicherheit Ihrer ferneren Rente. Wie
kämen Sie ſonſt auf den Einfall mit der Felſenwand?
Ich rathe, Sie ſind ein smart-man nach Onkel Sam's Herzen,
lachte der Mäckler, good bye, mein Herr! Reiten Sie ſo gut wie
Sie geſattelt haben, über mich ſollen Sie nicht ſtraucheln, es thäte
mir leid für Sie. In Wahrheit, ein ſchmuckes Gut, das meinige,
gehen Sie drin 'rum wie der Staubpinſel im Uhrwerk, Sie finden
kein Stäubchen Mackel dran. Denn die canadiſche Diſtel hat ſich vor¬
derhand nur im Nachbarfeld eingeſchlichen; der Würgengel alles Un¬
krauts wird bei mir erſt im nächſten Jahr aus dem Saamen ſchießen.
Aber dann Gnade Gott dem Käufer, denn verkauft wird das Grundſtück
doch, oder ich habe nicht mehr Verſtand als ein Fingerhut. Das
Grünhörnchen ſoll ſich ſchon finden, der's kauft, es thäte mir leid, wenn
ich bangte. Sie ſind's nicht, mein Herr, und das iſt gut für Sie;
aber nicht Jeder ſieht, der die Augen offen hat, und das iſt gut für
mich. Good bye!
Fünftes Kapitel.
Moorfeld hatte das Haus verlaſſen. Seine Intelligenz zerriß das
Gewebe des niedern Humbugs, der ſich im Entree herum trieb; [...]ie
fühlte ſich aber nicht intelligent genug, den höheren Humbug zu pa¬
riren, der in den Amtszimmern ſelbſt ſein Hauptquartier haben mochte.
Denn daß die Staatsbeamten, die Verkäufer des Congreßlandes von
Unions wegen, theils auf eigene Rechnung, theils im Solde der Actien¬
compagnien ihre officielle Stellung nicht minder zur Landſpeculation
[67] ausbeuten würden, daran zu zweifeln wäre nach allen Proben dieſes Volks¬
geiſtes Vermeſſenheit geweſen. Mit den höchſten Würdenträgern in der
Hierarchie des Humbugs wagte unſer Fremdling aber doch keinen ſo leich¬
ten Gang. Er durfte ſich Glück wünſchen, die geringeren los zu ſein.
Denn wahrlich, nicht Jeder war ſo glücklich. Das Publikum, das dieſe
Halle erfüllte, trug nicht durchweg Frack und Glacéhandſchuhe. Er ließ
Schaaren von Auswanderern hinter ſich zurück — grobe Bauernkittel mit
dem Holzſchnitt ehrlicher Einfalt im Geſichte, mit dem Schweiße ſaurer
Wirthſchaftsjahre in der Geldkatze, — gnad' ihnen Gott! ſelbſt ein Atheiſt
hätte für ſie gebetet. Erſt in ihrem Anblicke ſchauderte Moorfeld vor der
ſittlichen Luft dieſes Hauſes.
Als er hierauf durch die ſonnigen Straßen dem nächſt-beſten Café
auf der Battery-Promenade zuwandelte, geſchah es unter Reflexionen,
von denen wir nur den geringſten Theil wiedergeben können. Er be¬
trachtete das Verhältniß eines Gebildeten in Europa zu Amerika und
entdeckte mit Erſtaunen, daß es zunächſt gar keines war. Die deutſche
Literatur über Amerika war zu Anfang der dreißiger Jahre weder an
Umfang, noch an Gehalt in einem Zuſtande, der von der Wichtigkeit ih¬
res Gegenſtandes ein Bewußtſein verrieth. Der Umfang blieb hinter
der weitläufigen Peripherie des Beobachtungsobjectes unendlich zurück,
und die Beobachtung ſelbſt war ſchlecht. Sie trug den perſönlichen
Charakter der Stimmung, ſtatt den weltgeſchichtlichen der Kritik. Bücher,
von einem liebenswürdigen aber unhiſtoriſchen Dilletantismus geſchrie¬
ben, ſprachen von Amerika ſo, wie man ungefähr am winterlichen
Kamin von Nizza, Meran und vom Comer-See ſpricht; gleichſam als
wäre das ſociale Leiden Europa's mädchenhafte Schwindſuchts-Poeſie.
So ſchrieben Racknitz und Scherpf über Texas, Bromme über Florida,
Duden über Miſſouri, Gerke über Illinois, Andre über Anderes.
Noch mehr aber als durch die belletriſtiſche Ornamentik litt die Wahr¬
heit des Gegenſtandes durch die politiſche. Der Liberalismus der Re¬
ſtaurationsperiode fand in Wort und Schrift über Amerika eines
ſeiner wenigen erlaubten Ausdrucksmittel. Er benutzte es eifrig. Er
feierte die Sternbanner-Republik als die praktiſche Verwirklichung ſeines
geächteten Ideals. Aus dieſer Tendenz ging zwar die Wahrheit auf,
aber nicht die volle Wahrheit. Er hätte es für politiſche Unklugheit,
ja für Verrath gehalten, die Flecken ſeiner Sonne zu geſtehen. In
5 *[68] dieſer filtrirten Sonnenbeleuchtung nun überkamen die Gebildeten der
vorigen Generation Amerika's Bild. Wenn wir heute jene Schilde¬
rungen leſen, ſo thun wir es mit dem Hintergedanken ihrer Tendenz,
wir betrachten und verſtehen ſie als Kunſtwerke der oppoſitionellen
Beredſamkeit. Bedenken wir aber, daß man allen Farben und allen
Farben-Nüancen dieſer lockenden Bilder damals volle objective Wahr¬
heit zugeſtand, daß man ſie buchſtäblich nahm und gläubig beſchwor,
ſo wird uns eine Vorſtellung davon entſtehen, daß ein gebildeter Aus¬
wanderer, der aus dieſer Literatur ſich enthuſiasmirt hat, ſie dem Hum¬
bug gegenüber nun ſelbſt als Humbug empfand. In der That er¬
kannte Moorfeld ſeine europäiſche Lectüre über Amerika jetzt blos als
Unterhaltungs-Lectüre und ſah die Nothwendigkeit ein, die Be¬
lehrungs-Lectüre von vorn anzufangen. Er ſtellte ſich alſo die Auf¬
gabe, das Land aus den beſten Landesquellen ſelbſt zu ſtudiren.
Ueber das Project ſeiner Anſiedlung beſchloß er ſodann auf dem
Ländermarkt zu Newyork überhaupt gar nichts zu unternehmen. Zog
er aus dem ſo eben Erlebten die Summe, ſo gab ihm ſein eigenes
Schlußvermögen zunächſt folgende zwei Rathſchläge an die Hand: Er¬
ſtens, nur an Ort und Stelle zu kaufen; zweitens, um die Zeit der
Ernte zu kaufen, da der Acker gewiſſermaßen für oder gegen ſich ſelbſt
zeugt und der Ertrag des Jahres ſo allgemeines Landgeſpräch iſt, daß
der Fremde unmöglich mit einer übereinſtimmenden Fiction umſponnen
werden kann.
Wir wiſſen nicht, ob wir es an dieſem Orte ausdrücklich ent¬
ſchuldigen müſſen, daß ein Romanheld mit leidlichem Menſchenverſtand
zu Werke geht. Wer nach dieſer Probe die proſaiſche Perſpective ſei¬
nes künftigen Verhaltens fürchtet, dem geben wir zu bedenken, daß der
Verſtand, ſelbſt im beſten Falle, höchſtens die geſetzgebende Gewalt
iſt, Gemüth und Stimmung aber die ausführende. Wie groß unſre
Fähigkeit, uns zu behaupten, ſein mag, unſre Fähigkeit, zu Grunde
zu gehen, iſt immer noch größer.
Bis zum Anfange der Ernte in Ohio, dem Lande ſeines Anſied¬
lungsprojectes, hatte Moorfeld noch einige Wochen zu verſäumen. Er
konnte inzwiſchen jene literariſchen Ergänzungsſtudien machen, die er
zuvor als nothwendig erkannt, und überhaupt den gelehrten Theil
ſeines Haushalts, den er in der Iſolirung des Hinterwalds nicht be¬
[69] ſtellen konnte, aus der Maſſe des Stoffes zuſammenſtellen. Dazu
bedurfte er der Zeitungen und Bibliotheken Newyorks. Er entſchied
ſich daher in der Verſuchung, jene Ferien in Reiſeausflügen zu ge¬
nießen, oder ſie an ſeinen ſtädtiſchen Aufenthalt zu wenden, gewiſſen¬
haft für's letztere. Er kehrte in Mr. Staunton's Haus zurück.
Denn noch ſah er keine dringende Urſache vor ſich, mit dieſem
Hauſe zu wechſeln, zumal da er den Tag größtentheils auswärts zu¬
brachte. Genußvoll war aber ſein Aufenthalt darin nicht. Ja, wenn
wir ſpäter eine Summe von Urſachen zu einer betrübnißvollen Wir¬
kung anwachſen ſehen, ſo dürfen wir die erſten Poſten dieſer Summe
vielleicht ſchon dem Hauſe Staunton anrechnen, das mit ſeiner ſtill¬
corroſiven Langweile und Kaltherzigkeit ein energiſch-empfindendes Ge¬
müth gewiß gründlicher als es ihm ſelbſt bewußt geworden iſt, auf
den folgenden Umſchlag vorbereitet hat. Sein Verhältniß, oder viel¬
mehr ſeine Verhältnißloſigkeit zu dieſem Hauſe war aber folgendes:
Mr. Joſua Staunton öffnete über Tiſch — und ſonſt ſah ihn
Moorfeld nicht — kaum auf eine andre Veranlaſſung den Mund, als
um Amerika's Lob zu verkünden. Er war im Ausdrucke ſeiner Na¬
tionaleitelkeit eben ſo kindiſch-übertrieben, als in der Nichtachtung
fremder Nationalitäten naiv-unverſchämt. Moorfeld ließ ihn das Lächer¬
liche dieſer Schwäche, wie gleich zuerſt ſo auch fortwährend, durch die
Figur der Ironie fühlen; er antwortete ironiſch, wenn er überhaupt ant¬
wortete. Manchmal that er's auch nicht. Denn was ſollte er einem Mann
erwiedern, der ſich mit vollen Backen rühmt: unſer ſüdlicher Himmel,
unſre nordiſche Thätigkeit, Geiſt und Natur im Verein erhalten uns vor
allen Völkern der Erde bei ewiger Jugend; Sie werden in Amerika
keinen alten Mann ſehen — wenn die Backen deſſelben Redners ge¬
ſchminkt, ſeine Zähne falſch, ſeine Haare gefärbt und die Rundung
ſeiner Glieder Baumwolle iſt? Eine ſolche Herausforderung anzuneh¬
men, fand unſer Freund nicht einmal im Scherze gentil: mitleidiges
Achſelzucken blieb ihm allein übrig. Und doch ſchien der Gentleman
noch immer näher auf Staunton's, als auf Moorfeld's blühender
Seite zu ſtehen; denn jener hatte, wie er auch übertreiben mochte, ein
achtunggebietendes Vaterland zu ſeiner Folie, dieſem fehlte es. Um
ſo ſittlicher es aber iſt, eine Nation als ein Ich zu vertreten, um ſo
mehr lag Staunton's Stellung innerhalb und Moorfeld's außerhalb
[70] des guten Tones, was von Natur doch umgekehrt war. Kurz, Moor¬
feld ſollte bald empfinden, was es heißt, ohne Nationalehre, als bloßes
Individuum in die Welt zu gehen. Dieſes Gefühl, welches keinem
deutſchen Auswanderer erſpart bleibt, und auf welches ſich doch der
Seltenſte gefaßt macht, legte einen Unmuth in ihn, durch den die Licht¬
ſpiele des Humors, welchen er ſeinen Beleidiger fühlen ließ, nicht wie
Sonnenſtrahlen durchbrachen, ſondern wie ein werdender Blitz, der
ſeine Jugendſpiele hält.
Nicht gaſtlicher als Herr Staunton verſchönerte ihm die Hausfrau
ſeinen Aufenthalt. Miſtreß Livia Staunton trug zur Belebung ihres Hauſes
das ausgeſucht Wenigſte bei, was ein lebendiges Weſen zu leiſten vermag.
Moorfeld erblickte dieſe Dame kaum anders, als im Schaukelſtuhl mit der
Newyorker-Tribüne vor ſich, oder an ihrem Bureau, die Bibeln, Kinder¬
ſtrümpfe und Seelen irgend eines geiſtlichen Hilfsvereins verbuchend.
Mrs. Livia Staunton war nämlich — um ſie im vollen Rund vor¬
zuführen — actives Mitglied folgender Vereine: zur Verbreitung der
Bibeln, zur Vertheilung geiſtlicher Flugſchriften, zur Bekehrung, Ci¬
viliſirung und Erziehung der Wilden, zur Verheirathung der Prediger,
zur Verſorgung ihrer Witwen und Waiſen, zur Verkündigung, Aus¬
breitung, Reinigung und Bewahrung des Glaubens, für den Kirchen¬
bau, zur Dotirung der Gemeinden, zur Aufrechthaltung der Seminarien,
zum Katechiſiren und Bekehren der Matroſen, Neger und Freuden¬
mädchen, zur Beobachtung des Sonntags, zur Verhinderung des
Schmähens und Fluchens, zur Errichtung von Sonntagsſchulen, zur
Verhütung der Trunkenheit des weiblichen Geſchlechtes. Dieſe Ti¬
tulatur war auf der Thür ihres Drawing-rooms unter Glas- und
Goldrahmen für jeden, der die Geduld dazu hatte, zu leſen. Ein
ſolches Etabliſſement von chriſtlicher Werkthätigkeit gab freilich zu thun.
Ihre Erholung davon ſuchte und fand aber die würdige Frau nicht
in ihrer Häuslichkeit, ſondern außerhalb, wenn ſie mit Miß Sarah
Sonntags im Kirchenſtuhle träumte und Sonnabends auf den Shop¬
ping ging. Dies ſind nämlich die zwei Marktgänge, auf welchen das
weibliche Herz in Amerika ſeinen Bedarf an Galanterie ſich beſorgt.
Daß den Newyorkerinnen der Kirchenſtuhl das iſt, was den Pariſerin¬
nen die Loge in der großen Oper, ein Empfangſalon für den Anbeter,
ein Rendezvous der weltlichſten Eitelkeit, dies zu erfahren hatte Moor¬
[71] feld nur eines einzigen Beſuches in einer beliebten Damenkirche be¬
durft. Da ſtand der Prediger zwiſchen den Blumen und Goldleiſten
ſeiner zierlichen Kanzel, war ein ſcheinheilig-kokettes, lächelndes
Bürſchchen, hatte gebrannte Locken, athmete Parfüms und predigte von
den weiblichen Tugenden und wie die Mütter mütterlich und die Jung¬
frauen jungfräulich ſein ſollen und von der Würde der Ehe und von
der Süße des Brautſtandes und was ein praller Leib für ein ſchöner
Tempel Gottes und Runzeln für ein verehrungswürdiger Anblick ſeien,
und miſchte Bibelſprüche und Citate aus Byron und Walter Scott
reizend durcheinander, und die frühlebenden Fräulein und die frühver¬
lebten Frauen Newyorks dehnten ſich auf ihren Polſterſtühlen, wäh¬
rend die warme Maienſonne ihre vollen und welken Büſten beſchien;
ſie hatten die Augen geſchloſſen, ſcheinbar der Sonne wegen, in der
That aber um das Behagen zu verbergen, das ſich darin malte, und
durch die ganze Kirche ging ein wollüſtiges Gähnen und ein faules
Seufzen, und Moorfeld geſtand ſich gerne, wenn er eine Newyorker-
Lady wäre, ſo wüßte er ſich keine beſſere — Leibesbewegung als ſolch
einen Gottesdienſt. Er begriff ohne Umſtände den Enthuſiasmus des
ſchönen Geſchlechts für ihren ſonntäglichen Kirchengang. — Der
Shoppinggang war eine Variation über daſſelbe Thema, nur daß
hier Seide und Mouſſelin und dort die Bibel den vorgeblichen Text
bildeten. Auf dem Shoppinggang flanirte der buntgefiederte Wander¬
ſchwarm von Eva's Töchtern durch die Bazars der Manhattan-Stadt
und zwar nicht ſowohl um die modiſtiſche Nachkommenſchaft des paradieſiſchen
Feigenblattes zu inſpiciren, als vielmehr um die Schlange zu belauſchen,
welche jenem erſten Schnittwaarengeſchäfte den Impuls gegeben. Die
Ladendiener wußten dabei nicht weniger als die Kanzeldiener den Be¬
dürfniſſen ihres Publikums entgegen zu kommen und aus Sabbath
und Shopping ſogen die Damen Newyorks die Kraft, eine Woche
lang zu Hauſe ſo langweilig zu ſein, als es ihnen die Landesſitte
vorſchrieb. Ein Fremder gab es auf, mit dieſen Quellen zu concur¬
riren, wenn er ihnen erſt auf die Spur gekommen. Seine Huldigung
wurde von der Hausfrau, welche in ihren vier Wänden mehr Götze
als Weib zu ſein hatte, weder erwartet noch nur zugelaſſen, dafür
empfing er aber auch nichts von jenen Gegengeſchenken, womit Frauen¬
anmuth die ſchöne Geſelligkeit bei andern Culturvölkern bereichert.
[72]
Nicht mehr Weiblichkeit als in der Mutter, konnte Moorfeld in
der Tochter entdecken. Miß Sarah Staunton begegnete dem Haus¬
genoſſen mit der pflichtſchuldigen Würde einer amerikaniſchen Jung¬
frau. Freilich wiſſen wir nicht, ob ſie dieſe Würde um ihrer
ſelbſt willen repräſentirte, oder des Eindrucks wegen, den ſie damit
hervorzubringen meinte. Vermuthlich das Letztere. Und wenn ſie
ihre hochgewachſene Figur, die wir artiger aber erlogener eine maje¬
ſtätiſche nennen ſollten, in das ſtolzeſte Aufrecht zu ſchwingen meinte,
ſo zuckte oft plötzlich ein ſeltſamer Geiſt durch dieſen künſtlichen Strebe¬
pfeilerbau, der ſeine architektoniſchen Linien wunderlich verſchob, ihre
Haltung bekam etwas Einſeitiges, Hinhorchendes, ihr trübblaues Auge
fing zu lauern, zu lauſchen und zu rechnen an, ihr ganzes Weſen
hatte etwas zwecklos Geheimnißvolles; ſie glich einem ſchlechten Räthſel,
das theils zu dunkel, theils zu deutlich und in ſeiner ſchließlichen
Auflöſung nichtig iſt. Moorfeld hatte es längſt aufgelöst und war
eben nicht der Mann, einem Mädchen die Tugend der Koketterie für
ein Laſter anzurechnen; als ſie aber nach Tagen und Wochen einer
anſtändigen Vertraulichkeit Moorfeld's mit erhobenem Finger die Er¬
innerung zudrohte: Sie wiſſen, ich habe Ihnen noch zu verzeihen,
Mr. Muhrfield — da erſchrak er doch über die Armuth ihrer Mittel.
Wenn ſie ſchon das traurigſte Genre von Koketten ſind, jene Unver¬
ſöhnlichen, die ſich ſtets zu verſöhnen haben, ſo war Sarah's Thema
für dieſes Spiel bereits in der erſten Stunde ein ſo erfindungsloſes,
unglückliches, daß die Fortführung deſſelben gegen all ihre weiblichen
Inſtincte zeugte. Was konnte Moorfeld anders, als dieſer platten
Talentloſigkeit den Rücken wenden?
Damit aber war das Haus Staunton für ihn zu Ende. Die Dome¬
ſtiken des Hauſes ſchied nämlich in Amerika ſo gut, wie in Europa die
ſociale Sitte von ihm; ja ſie dictirte hier gegen den weiblichen Theil
eine Zurückhaltung und gegen den männlichen, der größtentheils der
ſchwarzen Farbe angehörte, ein Racenvorurtheil, wie beides der frei¬
ſinnigere Europäer nicht kennt. Und doch lehrte ihn der erſte Blick,
daß in dieſem Hauſe, wie häufig, den Dienenden mehr menſchlicher
Fond innewohnen möge, als den Herrſchenden.
Hariet, das Kammermädchen, oder die „Gehilfin” wie der Sprach¬
gebrauch ſich ausdrückte, beſaß ſchon den Vorzug einer großen weib¬
[73] lichen Schönheit. Das war viel für Moorfeld's Denkart, der von
einer befriedigten Natur gerne auf eine harmoniſche Sittlichkeit ſchloß
und im ſchlimmſten Falle nur Ein Laſter kannte, die Feigheit. Feig¬
heit aber iſt ausgeſchloſſen, wo es kein Bewußtſein von Mangel
gibt, ſondern nur Beſitz und Erfüllung. In der That trug Hariet
ihr Köpfchen ſo ſtolz wie alle Amerikanerinnen, aber wie ganz anders
kleidete ſie dieſer Stolz als ihre Gebieterin Sarah, deren kleinliche
Kälte ſtets den Verdacht erweckte, ſie ſei ihres lüſternen Gegenſatzes
wegen da! An Hariet war alles Kraft und Sicherheit. Sie war
Kaiſerin eines brillanten Augenpaars, Königin einer kühn geſchwunge¬
nen Oberlippe; wenn ſie die plaſtiſche Macht ihrer Sinnlichkeit brauchte,
ſo konnte ſie durchgreifend herrſchen; aber darum glaubte man an
ihren Stolz, weil er nichts that, ſich glauben zu machen. Schon die
Art, wie ſie die Fülle ihres prachtvollen Rabenhaares trug, unter¬
ſchied ſie charakteriſtiſch von Sarah. Wenn die Locke, dieſes flüſſige,
wandelbare Element, das Organ übermüthigen Nackenſchüttelns und
kriechenden Zulächelns, matt und rathlos um Sarah's erbleichenden
Frühling ſchwankte, ſo ſaßen Hariet's Zöpfe, mit Trotz à la couronne
geſchlungen, in ihren Nadeln, ein Bild in ſich verſammelter Charakter¬
feſtigkeit. Daß dieſes Mädchen nicht Dienerin blieb, begriff Moorfeld
allerdings, daß ſie aber die Wahl ergriff, ihre Verſorgung lieber im
Schulſtaub zu ſuchen, als in einem weiblicheren Verhältniſſe, wofür
ſie doch eine wahre Perle von Beruf war, das begriff er keineswegs.
Es ſchien ihm dieſer Widerſpruch ein weit tieferes und rathenswer¬
theres Geheimniß um Hariet zu legen, als Sarah je ſich anzuſtempeln
ſo eitel ſein konnte. Leider mußte er verzichten, ſie näher kennen zu
lernen: ein gewechſeltes Wort mit ihr erregte ſo viel Aufſehen, ſie
ſelbſt bezeigte ihm eine ſo unverſtellte Verſchloſſenheit, daß er dort
aus Rückſicht und hier aus Achtung den Verſuch einer Annäherung
aufgab.
Seine Bedienung lag in Jack's des Negers Händen. Dieſe Perſon
hätte ihm freilich nichts mehr als eine Maſchine ſein dürfen, wenn er ame¬
rikaniſch correct dachte. Aber ſo dachte er nicht. Zwiſchen ihm und dem
Wollkopf ſpann ſich manch zarter Faden. Erſtens liebte Jack ſein Violinſpiel.
Zweitens war Jack der Koch des Hauſes. Moorfeld, um nur phyſiſch zu
exiſtiren, gab ihm für ſeine Perſon einen kleinen Lehrcurs in der euro¬
[74] päiſchen Kochkunſt, und ſolch ein Verhältniß angeknüpft, dürfen wir
billig zweifeln, ob Chiron ein zärtlicheres Intereſſe hatte, daß Achill
ſeinen Pfeil richtig anſetzte, oder Moorfeld, daß Jack's geneigtes Ge¬
müth die Theorie der Gollaſchbereitung aufnahm. Drittens hatte Jack
einen Charakterzug von ſatyriſcher Laune in ſich, der unſern Freund
zugleich ergötzte und auch ernſthafter anregte. Der Neger liebte es
nämlich, auf eine eigenthümliche Art mit ſeinem Identitäts-Bewußtſein
von Ich und Nicht-Ich zu ſpielen: er ſetzte ſich ſein ſchwarzes Ich als
Object, und ſchimpfte im Charakter eines weißen Subjects drauf los.
Durch Haus und Flur konnte man ihn beſtändig mit, d. h. gegen
ſich hinbrummen hören: Achtung, ſchwarzer Eſel! merk auf, verdammtes
Niggervieh! Kopf oben, rußige Beſtie! Platz da, Kohlenſack, und was
ähnlicher Artigkeiten mehr waren. Hatte er Moorfelden ein kleines
Verſehen zu bekennen, z. B.: Warſt du auf der Poſt, Jack? ſo hieß
die Antwort: Verzeihung, Sar, das Rabenhirn hat's vergeſſen. —
Biſt du nach meinen Kleidern gegangen? Ach Gott, Sar, der Kerl
hat nicht mehr Gedächtniß, als eine Flaſche voll Stiefelwichs. Moorfeld
lachte Anfangs über dieſe Sorte von Humor, aber eines Tages fiel es
ihm plötzlich auf, was für ein Sinn darin lag. War's nicht der näm¬
liche Sinn, in welchem er ſelbſt Herrn Staunton gegenüber ſich der
Ironie bediente? That das der Neger nicht auch, indem er die weiße
Race verſpottete durch die Selbſtverſpottung ſeiner ſchwarzen? Welch
gleichartiger Inſtinct waltete hier? Iſt die Ironie die Mutterſprache
unterdrückter Nationalitäten? Und wie ward unſerem Freund, als er
an Europa zurückdachte und bemerken mußte, daß eben jetzt die Ironie
die herrſchende Form der europäiſchen Literatur, aber auch ein Welt¬
ſchmerz, Polenſchmerz, Judenſchmerz der herrſchende Inhalt war? War
er den Uebeln, die man für Uebel nur der alten Welt hielt, nicht
entronnen, und fand er in der neuen Welt etwa einen Deutſchen-
und Negerſchmerz? Verhängnißvolle Fragen.
Von ſolchen Betrachtungen zerſtreuten ihn nur wenig die Sprünge eines
Kaninchens, das im Hauſe aus- und eintänzelte und ſich den Genoſſen
deſſelben gewiſſermaßen anreihte. Dieſes Kaninchen war ein Geiſtlicher,
Reverend Joe Brown. Der Mann war ein ziemlich verlebter Vier¬
ziger, trug auch die wirklich alternden Züge eines ſolchen, aber man
konnte nichts Leichters und Luftigers ſehen, als wie er in Garderobe,
[75] Sitten und Manieren den grünſten Zwanziger copirte; es ging herum
wie ein wahres Geſpenſt der Jugend, ſein ausgeſchlagenes Hemdkrä¬
gelchen buhlte ſogar nicht undeutlich mit den phantaſtiſchen Licenzen
des Knabenalters, und in der That glich er einem Ferienſchüler, der
ſich auf einem Ausfluge etwa um dreißig Jährchen verſchlafen, wie
jener ehrliche Rip van Winkle, während die Nornen der Zeit ihm
ihre unheimliche Taufe ertheilt, die bewußten Krähen in ſeinen Augen¬
winkeln geſcharrt, und nichts ihm geblieben, als die ſelbſtvergnügte
Geckenhaftigkeit, das Bündel zuckerner Unverſtand, das freilich keinem
geraubt werden kann, der es ſäuberlich feſthält. Moorfeld konnte ſich
eines bittern Lächelns nicht erwehren, wenn Reverend Brown und Mr.
Staunton neben einander ſtanden — „das jugendliche Amerika“
quand même!
Zuletzt bewohnte Herrn Staunton's Haus auch noch — ein Schat¬
ten. Dieſer Schatten war ein Mann, oder ein Greis, überhaupt ein
lebendiges Etwas, von dem nichts weiter zu ſehen war, als daß es
eben lebte. Der alte Mann ſaß mitten im Sommer in einem dicken,
kragenreichen Carbonari-Mantel, den er genau bis an die breite Hut¬
krämpe heraufgezogen hatte, ſo daß es viel eher möglich war, mit dem
Detail der Mondfläche, als mit den Umriſſen ſeiner Geſichtszüge be¬
kannt zu ſein. Moorfeld hatte ſein Daſein nicht anders entdeckt, als
eines ſpäten Abends am Hauptthore, da ſie beide ſich aufſchließen wollten.
Der Alte bedankte ſich im gebrochenen Engliſch ausnehmend fein und
gewählt, als ihm Moorfeld den Vortritt ließ und huſchte dann durch
das dunkle Vorhaus nach einer entlegenen Hintertreppe. Bei einem zwei¬
ten Zuſammentreffen redete ihn Moorfeld mit einer Anſpielung auf
ſein dichtes Mantelgeheimniß an: Nicht wahr, Sir, die Sommernächte
ſind kalt hier Landes? — Anche gli giorni*), ſeufzte der Schatten,
in ſein Hinterhaus verſchwindend. Moorfeld fragte Domeſtiken nie
um häusliche Verhältniſſe aus, damals konnte er aber den Neger,
der ihn morgens weckte, kaum erwarten, um nach dem Alten zu fragen.
Ein Ueberreſt von einem italieniſchen Opernbankerott, hatte Jack gleich¬
giltig geantwortet. Aber Moorfeld vergaß jenes Wort nicht mehr.
Es war ein ſo ächter Naturlaut! Und wenn er noch manchmal das
[76] Echo in ſich hörte: „Ich danke Ihnen für dieſes deutſche Wort,”
ſo begleitete ihn jetzt ein zweites: „Anche gli giorni!”
Für das unerquickliche Leben in Staunton's Haus bot zuletzt
die Lage deſſelben einigen Troſt. Hatte doch Moorfeld ſchon in Eu¬
ropa dieſer Bedingung wahrgenommen, und hier mindeſtens war
ihm alle Genugthuung geworden. Er erkannte es mit dankbarem
Genuſſe. Wir ſehen ihn manches Stündchen in ſeinem Fenſter ver¬
rauchen oder vergeigen, das ſonſt vielleicht ein Spaziergang geworden
wäre. Bei der anwachſenden Hitze der zweiten Maihälfte und dem un¬
auslöſchlichen Staub der Newyorker Straßen lachte ihm der trockene
tiefglühende Himmel des vierzigſten Breitegrades mit grenzenloſer Be¬
quemlichkeit in's Haus herein. Unter ſeinen Fenſtern blaute der Hud¬
ſon, breit, wie der Hellespont. Am andern Ufer, ſtromabwärts zur
Linken, nagelten und hobelten Zimmerleute eine neue Stadt, Jerſey-
City, in die äußerſte Landſpitze hinaus; ſtromaufwärts, zur Rechten,
grünte der ſchattige Baumgürtel von Hoboken herüber, der alte Hol¬
länder-Park, Newyorks claſſiſche Promenade. Mit ſeinem Dollond in
der Hand miſchte ſich Moorfeld oft in's Menſchengedränge der breiten
Ulmenalleen, und las dem ſpeculirenden Kaufmann, dem leichtſinnigen
Matroſen, dem verhimmelten Quäcker und dem adoniſirten Dandy die
Prätenſionen ihrer unſterblichen Seele von der Stirn. Ueber
Jerſey-City und Hoboken hinaus, erhob ſich der Horizont zu ſanften
Hügelſchwellen, auf welchen die Kaufleute Newyork's in weitver¬
ſtreuten Landhäuſern ſaßen und Sommerruhe hielten. Auf dieſe
Eliten-Colonie, auf dieſes Blumen-Bouquet Fortuna's richtete Moor¬
feld ſein Fernrohr mit beſonderm Wohlwollen. Das vis-à-vis ſo
vieler Glücklichen erquickte ihn. Er wurde aus der Ferne Familien¬
freund ihrer Aller, er war ihnen dankbar dafür, wie roſenfarbig
ihr Wohlſtand einherging. Mochte er erworben ſein, wie er wollte;
ein Comptoir iſt noch einmal ſo tugendhaft, wenn es in der Oran¬
gerie liegt; und wer fordert auch eine beſſere Tugend vom Menſchen,
als daß er lache? Lachend aber waren ſie wirklich, jene Villen und
Gärten, lachend in des Wortes verwegenſter Bedeutung; nur Eins
mußte ihnen Moorfeld zu ihrer Ueppigkeit wünſchen — Geſchmack.
Hierin glichen ſie vollſtändig Kindern, welche mit den Süßigkeiten
ihres Lebens ſich Backen, Mund, Kinn und Näschen coloriren, und
[77] ihre Verehrer in eine etwas zweideutige Verfaſſung zwiſchen Enthu¬
ſiasmus und Horreur bringen. Gärten mit grenadierſteifen Palliſa¬
den-Zäunen, Raſengründe mit angeſtrichenen Holzſtatuen verziert, wa¬
ren ein gewöhnlicher Anblick; Pagoden, Tempel, Kiosk's, Pavillons,
welche vom chineſiſchen bis zum venetianiſchen, vom mauriſchen bis
zum Roccoco-Styl alle Bauformen der Erde verſtandlos-bunt durch¬
einander würfelten, und regelmäßig einen ſchreienden Lackfarbenanſtrich
wie eine Bedientenlivree trugen, das war der immer wiederkehrende
Anblick dieſer Luxus-Bauten. Ja, unter ſeinen Augen ſah Moorfeld
eine Colonnade entſtehen, welche in ein- und derſelben Front ſämmtliche
fünf Säulenordnungen zugleich vereinigte! Von da an brauchte er
ſeinen Dollond doch weniger häufig, und beſah ſich das kleine Narren¬
paradies lieber mit freiem Auge. Aus dieſer Perſpective blieb es
allerliebſt.
Aber wenn das Coſtüm eines Volkslebens mit unſerm Schönheits¬
gefühl im Widerſpruche ſteht, ſo iſt es immer die zarte Sache des Augen¬
blicks wie es uns afficiren ſoll. Eine ſcheinloſe Veranlaſſung, ein un¬
bedeutender Zufall und die Stimmung kann eben ſo ſchnell aus dem
Humor in Aergerniß, ja in wahre Verzweiflung umſchlagen, der äſthe¬
tiſche Sinn ſeine Verletzung anſtatt komiſch, tragiſch auffaſſen. Zweifeln
wir nicht, daß mit ſolchen Veranlaſſungen unſers Landsmanns Weg
wahrhaft beſäet war. Vergeſſen wir nicht, daß Moorfeld auf einen
verdorbenen Magen gebeten wird, wenn ihn ſein Banquier zu¬
fällig zu Gaſte bittet; vergeſſen wir nicht, daß faſt in jedem öffent¬
lichen Locale, in das er eintritt, ſein Auge ſich krampfhaft an den
Plafond klammern muß, wenn ein unbewachter Blick auf den Boden,
d. h. in den Speichel von tauſend Tabakkauern ihm nicht das Ge¬
kröſe im Leibe umwenden ſoll; vergeſſen wir nicht, daß es ſolch kleine,
aber unerſchöpflich durchvariirte Täglichkeiten ſind, aus welchen unſer
Wohl- oder Uebelbefinden gewebt wird: und wir entſchuldigen ge¬
wiß unſern Freund, daß er mitten im Anſchauen einer großartigen
Volksthümlichkeit das Große nirgends recht zu Geſichte bekommt, weil
es unter tauſend widerlichen Zügen von Volksrohheit begraben liegt,
deren Abſtoßungskraft der Anziehungskraft faſt überall das Gegenge¬
wicht hält. Kurz, wenn gemeine Naturen mit ihrem Thun und
edle mit ihrem Sein zahlen, ſo war es dem Europäer, aus deſſen
[78] Denkweiſe heraus dieſe Bemerkung geſchöpft iſt, nicht möglich, ſich für
den Amerikaner zu begeiſtern, deſſen erhabenem Thun das ſchöne Sein
fehlte. Vergebens ſtaunte Moorfeld auf Schritt und Tritt Werke
und Einrichtungen an, denen Europa nichts Gleiches an die Seite
ſetzt, ſeine Aufmerkſamkeit ermüdete bald, denn der Eindruck zerfloß
ihm in Luft, weil die Thaten herrlicher waren als die Thäter, und
das Grandios-Menſchliche nie in der Perſonificirung grandioſer Men¬
ſchen erſchien. Nicht die Vernunft, ſondern die Sitte des Volks iſt
der Gradmeſſer ſeiner Bildung, auch hat die Volksvernunft nirgends,
die Volksſitte aber überall einen Leib. Man ladet unſern Freund z. B.
ein, einer Sitzung des Newyorker Aſſiſenhofes beizuwohnen, es komme
ein intereſſanter Rechtsfall heute zum Spruche, die Gewandtheit der
Advocaten, die geſetzliche Haltung des Publikums, der durchdringende
Verſtand der Geſchwornen — Alles werde ihm ein Schauſpiel bieten,
dergleichen die Welt — u. ſ. w. Moorfeld betritt den Gerichtsſaal,
den Hunderte von Perſonen hundert Mal in jeder Minute mit Tabak¬
ſaft beſpeien, er ſieht im Nu ein Reſultat aus dieſen vereinten Kräf¬
ten anwachſen, das Alle Sinne auf's Gröbſte verletzt — wo bleibt
da der geiſtige Eindruck? Wer heißt die Göttin Themis ihre Orakel
zugleich aus einem Meere von Weisheit und von Speichel ſchöpfen?
Oder der Ruf hat ihm Croton's Waſſerleitung als das achte Welt¬
wunder bezeichnet, er fährt eines Tags hinaus und will bewundern.
Aber unterwegs macht ſich ein kleiner zehnjähriger Souverain das
Vergnügen, ſeinen Revolver in den Wagen abzufeuern, die Kugel
dringt durch das Fenſter, ſtreift zuerſt eine Dame an den Kleidern,
ſchlägt dann einem gegenüberſitzenden Herrn, der zufällig ein Polizei-
Sergeant iſt, an die ſtählerne Tabaksdoſe in der Hoſentaſche, prallt
von dieſer ab, indem ſie noch etwas Fleiſch von der rechten Hand des
Poliziſten mitnimmt, berührt dann leiſe die Schulter ſeiner Nachbarin
und fällt zwiſchen dieſer und Moorfeld auf den Boden nieder. So
nahm jener Vergnügungsſchuß des freien und aufgeklärten Bürger-
Sprößlings noch einen unſchädlichen Verlauf, aber er hätte eben ſo
gut tödten können und der Gedanke, an Croton's Waſſerleitung als
Vergnügungs Leiche anzukommen, war doch gewiß nicht die beſte Vor¬
bereitung, um dieſes Wunderwerk eines freien und aufgeklärten Vol¬
kes zu würdigen. Oder unſer Freund wird aufmerkſam gemacht, ſich
[79] ja den heutigen Leader im Newyork-Herald nicht entgehen zu laſſen —
er enthalte eine Skizze der politiſchen und ſozialen Entwicklung Ame¬
rika's ſeit dem letzten engliſchen Krieg — was Geiſtreicheres könne
eine menſchliche Feder unmöglich zu Tage fördern. Moorfeld tritt in
Riley's Café‚ eines der fasſionableſten auf dem Broadway, und ſucht
vergebens das genannte Blatt. Endlich entdeckt er es unter den
kothigen Stiefeln eines Gentlemans, der ſeine langen Beine mitten in
den Leſetiſch hineingelegt hat. Der Gentleman hebt auf Bitte des
Leſers das Bein ein wenig in die Höhe, läßt's aber ſogleich auf die
übrigen Zeitungen wieder zurückfallen, gleichſam als gehörte es dahin,
wie ein Briefbeſchwerer. Was bedeuteten nun Amerika's Fortſchritte
ſeit dem letzten engliſchen Krieg? Moorfeld dachte, es hätte ſeit dem
letzten engliſchen Krieg lernen ſollen, ſeine Beine unter den Tiſch zu
ſtellen.
Wir würden dieſe Anführungen in's Unendliche vervielfältigen
müſſen, um deutlich zu machen, wie der Gemüthszuſtand unſers Frem¬
den während dieſer Tage in ein Stadium eintrat, das ſich nur ſchwer
definiren läßt. Es iſt ein eigenthümlicher Scheideprozeß, der alle vor¬
handenen Elemente des Charakters in Auflöſung ſetzt, und indem er
die Formen der Neubildung zunächſt noch gar nicht errathen läßt,
unerträglich genug als ein eigentlich Charakterloſes bezeichnet werden
muß. Und gerade Männer, die in der Heimath Subjectivitäten und
Phyſiognomien erſten Ranges waren, ſehen wir in der Fremde auf
dieſe unbegreifliche Weiſe plötzlich weit unter ſich ſelbſt zurückgehen,
wie uns denn z. B. die Berliner Freunde und Reiſegenoſſen Rückert's, die¬
ſer markvollen Mannesgeſtalt, vor welcher die römiſchen Kindermädchen
mit dem Angſtſchrei: „Simone Mago!“*) die Flucht ergriffen, zum
draſtiſchen Gegenſatz jener Anecdote den lächerlichen, ja eigentlich fei¬
gen Zug zum Beſten geben, daß dieſer arme Zauberer ſelbſt durch
ganz Italien nirgend zu vermögen geweſen, im Freien Platz zu neh¬
men, weil er in einer beſtändigen Scheue vor Giftſchlangen einherge¬
wandelt. Dieſes Schrecken der Fremde, dieſes unbehagliche Be¬
wußtſein einer tiefen Gegenſätzlichkeit zwiſchen ſich und dem Neuen,
welches mit dem Worte der Schlangenfurcht gewiß nur poetiſch indi¬
[80] vidualiſirt, gewiſſenmaßen in einem ſcherzhaften Symbol dort ange¬
deutet iſt, haben wir nun hier in einer verwandten Weiſe von unſerm
Helden zu berichten. Moorfeld vermochte — wie nur ein paar der
wahlloſeſten Beiſpiele uns gezeigt haben — nirgends zum reinen Ge¬
fühle der Größe, die ihn umgab, durchzudringen, weil zwiſchen ihn
und dieſe Größe immer ein Etwas trat, das ihm die Beleuchtung der¬
ſelben trübte, profanirte, ja nicht ſelten ſogar in ihr Gegentheil ver¬
wandelte. Bis er nun zum deutlichen Bewußtſein gelangte, daß das
äſthetiſche Medium es war, welches zwiſchen ihm und Amerika
fehlte, glaubte er die Urſache jenes geheimen Mißverſtändniſſes einſeitig
in ſich ſelbſt ſuchen zu müſſen, als ermangelte er der Organe, zu be¬
wundern und zu genießen, was Hunderte vor ihm bewundert und ge¬
noſſen zu haben meinten, oder Andere mindeſtens meinen gemacht.
Selbſt der phyſiologiſche Gedanke trat ihm nahe, ob veränderte Luft
und Diät ihn nicht körperlich umgeſtimmt hätten; kurz wir ſehen ihn
in einer Gährung, in welcher er mit der Fremde einen durchaus un¬
gleichen und abmüdenden Kampf ringt. Noch können wir dieſen Zuſtand
keinen eigentlich unglücklichen nennen, denn er iſt kein hoffnungsloſer;
er weiß, es muß eine Zeit kommen, da es zwiſchen ihm und dem
Lande auf irgend eine Weiſe zum Durchbruch kommt: aber bis dieſer
Augenblick reif wird, liegt die Uebergangsperiode dazu mit einer Lähmung,
mit einem Gefühle von Schwäche und Selbſtverlorenheit auf ihm, das
ihn tief melancholiſch macht.
Oft weilt er einſiedleriſch zu Hauſe, oft ſtürzt er ſich in's Straßen-
und Hafengewühl: dieſes wie jenes ohne Befriedigung. Dabei verfolgt ihn
ſtets die Vorſtellung, als gebe es außer dem ſichtbaren Volksleben noch
ein zweites unſichtbares, das ihm wie hinter einem Vorhange verbor¬
gen ſei und deſſen Enthüllung beſelige. Gewiß liegt's im Urwald
dieſes Geheimniß von Amerika's Glück und Schönheit — aber New¬
york, ein Sammelplatz von dreimalhunderttauſend Menſchen, welche
Cultur treiben, ſollte nichts davon zu verrathen haben? Im richtigen
Winkel geſehen blitzt Thau und Schnee in ein Meer von Demanten
auf, außer dieſem Winkel ſehen wir graue und gefrorene Waſſertropfen.
Nur ein Ruck, eine Wendung und der Zauber wird rings um ihn
auflodern. Dieſer Gedanke iſt's, der unſern Freund fortwährend neckt,
nach jedem Verſuche ermüdend, zu jedem Verſuch anregend.
[81]
Er bereut jetzt, daß er die übliche Ausſteuer eines Reiſenden,
Empfehlungsbriefe, in Europa verſchmäht. Im ſtolzen Inſtinkt der
Originalität hatte er ſie verſchmäht und in der allerdings richtigen
Annahme, ſie möchten in Newyork eben ſo nutzlos ſein als z. B. in
Paris unentbehrlich, denn gewiſſe Völker ſeien im Salon, andere aber
auf der Straße zu ſuchen. Nur der Umſtand, daß ſeine Ankunft ohnedies
in die ſogenannte todte Saiſon fiel, konnte über jenes Verſäumniß
ihn wieder beruhigen.
Was alſo von idealeren Formen des hieſigen Volkslebens im In¬
nern der Häuſer — und zwar ſeltener Häuſer — glänzen mochte,
blieb unſerm Freunde zunächſt aus dem Sinne gerückt. Um ſo weniger
verſäumte er den Beſuch der öffentlichen Kunſtanſtalten. Zwar legt
der Amerikamer ſelbſt den geringeren Accent auf dieſe Seite ſeiner
Nationalgröße, indem er, wenn nicht von mangelnder Kunſtbegabung,
doch von „Anfängen“ redet, oder auch den „Einfluß Europa's“ gro߬
müthig anerkennt. Er täuſcht den Europöer nicht, überraſcht ihn aber
doch zugleich mit Zügen von Originalität, welche er ſelbſt nicht ge¬
ahnt hat, und welche dieſem den Beweis liefern, daß das Fremde nie
ein Vorausgeſehenes iſt.
So beſuchte Moorfeld ein Ding, das ſich Newyorker Bilder-Galerie
nannte. Er that es mit aller Beſcheidenheit ſeiner eigenen Meinung
und der der Einheimiſchen dazu. Der Galerie-Director z. B. war frei¬
ſinnig genug, ihm geradezu zu ſagen, er würde von Kunſtwerken erſten
Ranges nur Copien hier finden. Die Originale der beſten Italiener,
die Danaen, die Leden, die Ganymede u. ſ. w. müſſe man ein- für
allemale den verdammten Königen Europa's überlaſſen, ſie erhöhten
mit den Werken des Genies den Glanz ihrer Kronen, und veräußer¬
ten ein claſſiſches Gemälde ſo wenig als einen Theil ihrer Souverai¬
netät. Nach dieſem Fingerzeig erwartete alſo Moorfeld Copien. Rüh¬
ren ſie von europäiſchen Künſtlern her, ſo erwartet er gute Copien,
von amerikaniſchen, ſo macht er ſich auf ein wenig Verzeichnung, Steif¬
heit, Mangel an Vortrag u. dgl. gefaßt. Jedenfalls glaubt er vor¬
bereitet zu ſein. Aber wie geſchieht ihm, als er nun vor Figuren ge¬
führt wird, welche der Director, ſein artiger Führer, ein Danae, eine
Leda, einen Ganymed nennt, und von welchen er nichts zu ſehen be¬
kommt, als Köpfe, Finger und Fußſpitzen? Die griechiſchen Schönheiten
D. B. VII. Der Amerika-Müde. 6[82] waren mit den Newyorker Ladies auf dem „Shopping“-Gang geweſen
und brillirten in der gewählteſten Garderobe. Für ſolche Ueberraſchun¬
gen iſt auch der Gefaßte nicht gefaßt genug, und ſchrill reißt eine
Empfindung entzwei, die ohnedies nicht überſpannt war.
Ein andermal beſuchte Moorfeld das Theater. Eine Temperatur
von zwanzig Grad Réaumur nach Sonnenuntergang hatte ihm bei einem
Glas Eis, in einem Battery-Café, bisher jeden Gedanken an New¬
york's dramatiſches Kunſtleben im Hintergrunde gehalten. Aber die
Melpomene des Landes verſtand es ihn aufzurütteln. Ein zufälliger
Blick Moorfeld's an eine Straßenecke brachte ihm eines Tags folgen¬
den Theaterzettel vor Augen:
„Heute zum erſten Male: Die Abenteuer des Kapitän Ebenezer
Drivvle. — Eine Auswahl der rührendſten und heiterſten Begeben¬
heiten aus dem Bilde eines ſchickſalsvollen Menſchenlebens. (Nach
einer wahren Geſchichte.) Perſonen: Kapitän Ebenezer Drivvle —
Mr. Blount. Ein Heldenſpieler erſten Ranges; ein Kraftmenſch wie
Simſon und Goliath, mit Erlaubniß einer hochwürdigen Geiſtlichkeit. —
Benjamin Ridge, ſein Midſhippman — Mß. Dooly. Eine gefeierte
Darſtellerin jugendlicher Männerrollen. Laune, Uebermuth, Witz,
Schalkheit, eine verwegene Grazie, die mit den Grenzen des Anſtandes
ſpielt, ohne ſie zu überſchreiten, das ſind einige von den Gaben dieſer
liebenswürdigen Künſtlerin, auf welche wir alte lebensfrohe Herren,
die ſich gern ihrer ſchönen Roſenzeit erinnern, aufmerkſam machen. —
Nathanael Sanders, erſter Steuermann — Mr. Fletcher, ein mei¬
ſterhafter Trunkenbold, ſowohl im humoriſtiſchen, als im abſchreckend¬
ſcheußlichen Fache. — Jonathan Hodge, Gouverneur von Neu-Schott¬
land, aber doch ein Ehrenmann — Mr. Morſes. Bekannter Virtuos
in Darſtellung einfältiger Blaunaſen, welche, richtig behandelt, ganz
Güte und Großmuth ſind. — Black Hamk, ein Indianerhäuptling —
Mr. Murphy. Wir machen auf die eiſerne Bruſtſtimme dieſes Helden¬
ſpielers aufmerkſam. Könnte Armeen commandiren, wenn er ſie hätte.
Sein Volk ſchmilzt aber unter den Kugeln der Kentuckyer-Büchſen zu¬
letzt bis auf zehn Mann zuſammen. Iſt intereſſant tätowirt. —
Andrew Jackſon Dewis, ein Sclavenhändler — Mr. Blackely. Ein
tiefer Kenner der Nachtſeiten des menſchlichen Herzens, ein ausgezeich¬
neter Böſewicht. Weiß beſonders gräßlich zu ſterben. — Magnolia,
[83] eine reiche Kreolin in New-Orleans, Mrs. Harriſon — wechſelt
ſiebenmal ihr Koſtüm, ſo daß am heutigen Abend junge Ladies eine
ganz vorzügliche Gelegenheit haben, ihre Studien in der höheren Toi¬
lettenkunſt zu bereichern; die Darſtellerin iſt bekanntlich tonangebend
hierin. — Jane Norwood (wegen ihrer bunten und überraſchenden Schick¬
ſalswechſel kann ihre Stellung im Stücke nicht näher bezeichnet wer¬
den): Mrs. Drake Hariet Store, — ein unſchuldiges Gott ergebenes
Mädchen, welches faſt nur in Bibelſprüchen redet. Ihre Rolle zeigt
das Theater im ſchönſten Lichte einer guten Sittenſchule. — Junker Tobias
Sproul: Mr. Croghan — ein Snob ohne Gleichen! Der Charakter des
lächerlichen und affectirten Dandy hat nie einen beſſern Darſteller ge¬
funden. — Ein Stummer — zwei harthörige Deputirte — ein altes
blindes Weib — Matroſen — Sclaven — Sclavinnen — Indianer —
Volk — mehrere auf Rattenfang dreſſirte Newfoundländer — Ratten —
Mörder.“
Als Moorfeld dieſen Zettel las, mochte er ſich wohl, wie jeder
Gebildete gethan hätte, vorſtellen, daß damit ein anderes, als das
Publikum ſeiner Farbe in's Auge gefaßt ſei. Das aber iſt die
feine Menſchenkenntniß des Marktbudenſtyls, daß er mit pfiffiger Bar¬
barei ſcheinbar an die Aermſten im Geiſte appelirt und damit weit
ſicherer in die höheren Kreiſe hinaufreicht, als er umgekehrt mit der
Sprache der Cultur die niederen ergreifen würde. Moorfeld war ſo¬
fort entſchloſſen, dieſer Vorſtellung beizuwohnen, wenn er auch nichts
Anderes erwartete, als in ein Winkeltheater gefahren zu werden, wel¬
ches Leute ſeines Gleichen höchſtens aus Ironie beſuchen. Er nannte
alſo dem nächſten Stage-Kutſcher das Burton-Theater und beſtieg den
den Wagen. Aber er hatte ſich geirrt.
Das Fuhrwerk ſetzte ihn in der Chamber-Street hinterm „Park“,
d. h. im Brennpunkte der Stadt ab, und das Theatergebäude blieb
in Größe und Bauform hinter keinem der erſten Schauſpielhäuſer zurück.
Um ſo beſſer, dachte der Fremde. Er wird alſo nicht unter, ſon¬
dern mindeſtens auf der Linie der Kunſt, oder deſſen, was hier dafür
gilt, das Gebotene ſich bewegen finden und nicht der Neugierde, ſon¬
dern wie immer, des Studiums wegen da ſein. Bei dieſem Bewandt¬
niß wollen wir uns entſchließen, ſeinen Theaterbeſuch zu theilen. Folgen
wir unſerm Freunde jetzt in das Innere des Hauſes.
6*[84]
Hier ſtrahlte ihm eine Pracht entgegen, welche zwar nicht die Ele¬
ganz ſelbſt war, aber nach amerikaniſchem Geſchmacke, ſoweit ihn Moor¬
feld bereits kannte, doch den Anſpruch machte, die Eleganz zu reprä¬
ſentiren. Ein Blick auf das Publikum dünkte ihm ſchon befremdender.
Er begriff, daß es keine Beutelſchneiderei geweſen, als ihm der Kaſ¬
ſierer, da er ein Parterrebillet gefordert, einen Logenſitz für ſtandes¬
gemäß inſinuirt hatte. Das Parterre war ein ausſchließlicher Tummel¬
platz der Lehrlinge, Straßenjungen und Zeitungsausträger, kurz eines
halberwachſenen Publikums in Hemdärmeln und Schurzfell, ſeine Diele
glich überdies einer naſſen Malerpalette, voll vom aufgeſetzten Braun
des bekannten Kautabak-Extractes.
Moorfeld nahm ſeinen Logenplatz ein. Er kam neben einen Gent¬
leman zu ſitzen, der ihm einige Aufmerkſamkeit abnöthigte. Eine
prächtige Dogge dehnte und ſtreckte ſich nämlich zu den Füßen des
Mannes, und krümmte ſich, nachdem ſie die bequemſte Lage aufge¬
funden hatte, in die bekannte Hufeiſenform zuſammen, indem ſie ihre
zierlich geſpitzte Schnauze gar anmuthig zwiſchen den ſchlanken Hinter¬
beinen anbrachte. Hoho! rief der Gentleman dem Hunde zu, Sie
wollen einſchlafen? dann ſtreichelte er zärtlich, faſt rückſichtsvoll den
Rücken des Thieres und fuhr fort: Sehr vornehm, wenn man Kemble
und Talma geſehen hat, aber wenig aufmerkſam gegen unſre Gaſt¬
freunde. Nicht zu excluſiv’, mein Freund, hören Sie? Verwundert
betrachtete Moorfeld den Mann. Ein nicht zu verkennender Typus
von oſteologiſcher Steifheit, bei vollkommen geübtem Ausdruck von
Selbſtgefühl, verrieth den Engländer und den Mann von Stande zugleich.
Sein Kopf war von einem merkwürdigen Bau, denn während die
vorgetriebene Stirn ſich ſtark auswölbte und die Naſe ſcharf, gleich
einem Widerhaken, vorſprang, traten Mund und Kinn ſo plötzlich zu¬
rück, daß die obere Geſichtshälfte über die untere gleichſam hinauszu¬
fallen ſchien. Eben ſo lag ſein großes rollendes Auge beinahe gänz¬
lich außer ſeiner Höhle. Man glaubte in dem ganzen Kopfe das
Modell eines Plaſtikers zu ſehen, der in dem Streben, durch Ausbil¬
dung der Denkorgane; Geiſtigkeit zu erreichen, bis zum Exceß weit
gegangen und eine ſo monſtröſe Geiſtigkeit hervorgebracht, daß ſie di¬
rect in ihr Gegentheil umzuſchlagen ſchien. Die Anſprache an den
Hund beſtätigte dieſes phyſiognomiſche Urtheil wahrhaft verhäng¬
[85] nißvoll. Der Engländer begrüßte übrigens ſeinen ankommenden
Nachbar zuvorkommender, als es ſonſt im Charakter ſeiner Nation
liegt, und erwiderte den pſychiatriſchen Blick deſſelben gänzlich un¬
befangen. Moorfeld muſterte das übrige Publikum. Die Logen
des erſten und zweiten Rangs waren ſchwach beſetzt, und faſt durch¬
gehend nur von Herren ohne Damenbegleitung. Die Galerie dagegen
zeigte einen zahlreichen Damenbeſuch aber ohne Herrenbegleitung. Die
Herren in den Logen beſchäftigten ſich damit, mittels allerlei optiſcher
Inſtrumente die Damen der Galerie zu inſpiciren, dieſe hinwieder ver¬
riethen durch kein Zeichen, daß ſie die Huldigung der bewaffneten
Augen unterſchätzten. In dieſer Gruppirung des Publikums fand
Moorfeld ein gutes Theil Sittengeſchichte. Wenn das Wechſelverhältniß
der Geſchlechter an öffentlichen Orten überall eines der ſtärkſten Schlag¬
lichter auf das Volksleben wirft, ſo war dieſes Theaterpublikum der
beſte Schlüſſel zu jenem Theaterzettel. Das Theater fand ſich hier
nicht von der Familie beſucht, mehr bedurfte es nicht, um ſeine
Kunſtſtufe zu erklären. Eine mit dem Schauſpielhauſe verbundene
Trinkſtube, auf welche Moorfeld durch den ſtarken Zuſpruch der ab-
und zugehenden Perſonen aufmerkſam gemacht wurde, und welche die
Rentabilität der ganzen Kunſtanſtalt nicht wenig zu erhöhen ſchien,
that zur Charakteriſtik derſelben das Ihrige.
Unter dieſen Recognoscirungen des Europäers fing die Muſik an.
Das Orcheſter war nicht ſchlecht, ein Blick darauf lehrte aber, daß es
größtentheils aus deutſchen Phyſiognomien beſtand. Nun flog der
Vorhang in die Höhe. Scene: Neu-Schottland, der Gouverneur und
der Sclavenhändler. Der Gouverneur, oder wie die Yankee's ihre
engliſchen Nachbarn nennen, die Blaunaſe, ſetzte durch ihre Charakter¬
maske den Kunſtſtyl der amerikaniſchen Bühne ſogleich außer Zweifel.
Seine Glieder bewegten ſich wie die Hand- und Fußgelenke einer
Puppe, die ſich um hölzerne Kurbeln drehen, ſein großcarrirtes Bein¬
kleid ſaß ihm zu knapp, ſein ſchwalbenſchwänziger Frack ſchlotterte zu
weit, dazu umgürtete ein Shawl, wie eine Fenſtergardine ſo groß,
ſeinen Hals, obwohl die Handlung in einem Zimmer ſpielte. Kurz,
die Charaktermaske war außerordentlich faßlich. Der Dialog begann.
Der Sclavenhändler hatte die Aufgabe, dieſe Monſtroſität von Steif¬
heit geſchmeidig zu machen. Er trat, wie er merken ließ, unter fal¬
[86] ſchem Namen und Charakter auf, und hatte ſeine Gründe, ſich im
Hauſe des Gouverneurs einzuſchmuggeln. Er legte ſich auf's „Kamm¬
ſtreicheln“. So nennt der Amerikaner ſeine nationale Kunſt, durch
Flattiren einen Zweck zu erreichen. Der Darſteller machte es nicht
ſchlecht. Die verſteckte Bosheit und die geheuchelte Freundlichkeit
miſchte er in der That mit einigen Begriffen von Kunſt. Im Stücke
erreichte er auch ſeinen Zweck, denn der Gouverneur bat ihn zum
Thee, d. h. er wünſchte ſeine Bekanntſchaft fortzuſetzen. In dem
Monolog, der hierauf folgte, wies aber der Intriguant ſogleich die
Teufelsklaue. Er erklärte dem Publikum, er habe es auf die Nichte
des Gouverneurs, Jane Norwood, abgeſehen, deren außerordentliche
Schönheit ihn auf den Gedanken gebracht, ſie zu rauben und zu
New-Orleans als Sclavin zu verkaufen. Glücklicherweiſe ſei ſie eine
Brünette, und wenn er's pfiffig anfange, ſo werde er ſie als angeb¬
liche Terz- oder Quaterone (denn der letzte Tropfen Negerblut iſt ja
noch verkäuflich, ſagte er mit tendenziös erhobener Stimme) ſo werde
er ſie ohne Gefahr des Verraths theuer „an den Mann bringen“,
wie er mit fauniſcher Zweideutigkeit betonte. Aber die gelungene
Mimik kam dem armen Künſtler zunächſt ſelbſt theuer zu ſtehen.
Das Parterre-Publikum der Straßenjungen überſchüttete den' Böſe¬
wicht mit einem Hagel von faulen Eiern. Sie ſchienen ſo un¬
erſchöpfliche Ladungen dieſes übelriechenden Materials mit ſich zu füh¬
ren, daß der Geſtank deſſelben ſich bald durch's ganze Haus verbreitete.
Moorfeld bat ſeinen Nachbar, ob er dieſem Kunſtgenuß vielleicht mit
einem Flacon eau de Cologne zu Hilfe kommen könne. Der Mann
reichte ſeine Tabatiere, brummte aber den Tumultuanten im Parterre
kopfnickend zu: Brave Burſche! werden früh Abolitioniſten! Moorfeld
begriff bei dieſem Schlagworte die ganze Demonſtration, der Schauſpieler
ſelbſt aber, dem dieſelbe galt, ſchien vollkommen vertraut mit ſolchen
Auftritten, ja faſt geſchmeichelt, und trat, als ihm eben ein Ei gegen
die Stirne flog, und zum allgemeinen Jubel wie ein Horn daran
feſtkleben blieb, mit großer Gelaſſenheit vor die Lampen, indem er das
jugendliche Geſindel im Parterre anredete: Meine Herren! ich erlaube
mir, Ihnen den Vorſchlag zu machen, das ſittliche Ungeheuer, welches
ich darzuſtellen die Ehre habe, ſtatt mit faulen Eiern vielleicht lieber
mit Pomeranzenſchalen oder andern trockenen Dingen zu bewerfen.
[87] Hören Sie gütigſt meine Gründe. Es werden gleich in den folgenden
Scenen die Damen des Stückes auftreten, deren Roben auf den alſo
verunreinigten Brettern einen ſchweren Stand haben dürften. Freie
und aufgeklärte Bürger einer Nation, welche allen übrigen in der Hoch¬
achtung des ſchönen Geſchlechtes voranleuchtet, haben Sie ein Recht,
von mir zu verlangen, daß ich Sie auf dieſe Gefahr, Damen eine
Verlegenheit zu bereiten, rechtzeitig aufmerkſam mache. Meine Herren,
ich thue es hiemit. — Kaum war dieſer Appell erſchollen, ſo ſtürzten
ſich die Straßenjungen über das Orcheſter hinweg auf die Bühne,
requirirten Beſen hinter den Couliſſen, und fegten unter dem uner¬
meßlichen Jubel des Hauſes die Scene ſo rein, als es der Eifer für
eine große Nationalſache nur immer vermochte. Moorfeld ſah dieſes
Schauſpiel im Schauſpiel nicht ohne den Reiz einer großen Neuheit.
Die naive Ritterlichkeit des jungen Amerika ergötzte ihn höchlich, aber
— auf einmal klang eine Diſſonanz drein. Ein pralles, unterſetztes
Kerlchen warf ſich figurmachend ſeinen Kameraden in den Weg, fuhr
ihnen mit der Beſentünche über die Köpfe und ſchrie ſie herausfor¬
dernd an: Fort da, der große Hoby duldet keine Nebenbuhler! Moor¬
feld fand die Knabengeſtalt bekannt; wie der Range hier in Man¬
ſchetten, Jabots und geſteiften Vatermördern als Gentleman-Carricatur
ſich brüſtete, ſo glaubte er ihn ſchon andern Orts und in einem an¬
dern Aufzuge geſehen zu haben. Wirklich! Es war jener Newsboy
von der Battery der das Ohr von Damen damals mit Zoten verfolgt,
und der den Roben der Damen heute reine Bahn machte. Eine große
Sinnesänderung oder — ein frühreifer Heuchler!
Das Stück ſpielte weiter. Nach dem Sclavenhändler trat Ben¬
jamin Ridge, der junge Schiffscadett auf. Er erklärt ſich ſterbens
verliebt in Miß Jane Norwood, und geht mit dem Plane um, ſie
auf dem Schiffe ſeines Patrons, des Kapitän Drivvle, zu entführen.
Das iſt aber das nämliche Schiff, deſſen ſich zur Ausführung ſeines
Raubes auch der Sclavenhändler bedienen will. Der Mann und der
Jüngling errathen ſich gegenſeitig in ihrem Vorhaben und ſind ent¬
zückt, daß ſie ſich nolens volens zu Helfershelfern haben werden, in¬
dem Jeder ſich zutraut, den Andern zu überliſten und zu prellen.
Moorfeld wagte nach dieſer Expoſition die Durchführung einer be¬
ſtimmten Intrigue und eine gewiſſe komiſche Seele des Stücks zu er¬
[88] warten. Der angeknüpfte Faden riß aber bald wieder ab und die
Seele der folgenden Scenen war der Lärm. So ſcheiterte im An¬
fange des zweiten Actes der ewig betrunkene Steuermann an einem
wüſten Vorgebirge, und gibt dem Kapitän Drivvle, dem Simſon und
Goliath des Anſchlagzettels, Gelegenheit, ganz martialiſch zu tumul¬
tuiren. Deßungeachtet ſinkt ſein Schiff, die abgerichteten Ratten treten
auf und rennen verzweiflungsvoll auf dem Verdecke herum, die New¬
foundländer ſtürzen auf ſie, die Hunde bellen, die Ratten pfeifen, das
Publikum wälzt ſich in Wonne und Hoby der Straßenjunge von der
Battery ſchreit, es ſei der ſchönſte Tag ſeines Lebens. Nicht weniger
dramatiſch als Ratten und Hunde benimmt ſich das Schiffsperſonal.
Hilferufen, Händeringen, Auf- und Abrennen, beſtialiſches Kämpfen
um die Rettungsboote — das Alles wird mit einer Wahrheit und
Sinnlichkeit agirt, daß das Publikum auf ſeinen trockenen Sitzen die
Gräuel eines Schiffbruches nicht mehr ſchrecklicher erleben kann. Der
Sclavenhändler, ſeine Beute, Jane Norwood, im Arm, erkämpft ſich
ein Rettungsboot, und droht mit ſeinem Revolver alles niederzuſchie¬
ßen, was Miene machte, ihm nachzufolgen. Der Schiffscadett iſt wü¬
thend und wirft ſich um ſo eiliger in ein zweites Boot, womit er jenes
zu entern ſucht. Die beiden Fahrzeuge liefern ſich gegenſeitig eine
Schlacht, aber im Boot des Cadetten entſteht ſelbſt wieder ein Auf¬
ruhr darüber, daß er es den Kugeln des Sclavenhändlers ausſetzt.
Unter dieſem Spektakel verlieren ſich beide aus dem Auge des Zu¬
ſchauers, während das zurückbleibende Wrak die zweite Spektakel-Violine
ſpielt und vom Geheul der Hunde und Ratten erfüllt in's Waſſer ſinkt.
Natürlich retten ſich die Hauptperſonen. Kapitän Drivvle hat auf
dem Lande durch die öffentlichen Blätter erfahren, daß der Gouverneur
von New-Schottland für die Zurückbringung oder auch nur für eine
Nachricht von ſeiner Nichte eine hohe Prämie ausſetzt. Augenblicklich
macht er den kleinen Abſtecher nach Halifax, — eine neue Scene mit
der Blaunaſe. Doch das iſt nur ein Intermezzo. Die Hauptaction
ruft nach New-Orleans auf den Sclavenmarkt. Der abſcheuliche An¬
drew Jackſon Dewis hat ſeine Beute glücklich an Ort gebracht und
bezieht mit ihr die Verkaufshalle. Menſchen von allen Schattirungen
erfüllen dieſelbe. Und eben wird wieder ein ſtarker Negertrupp aus
den Züchtereien der Carolinen angetrieben, ſie ſingen ihr Heimatslied
[89]
während ihre Banjo's dazu klingen, und Jim Crow, die luſtige Perſon
ihrer Volkskomödien, auf Commando Poſſen reißt, um der Menſchen¬
waare durch Heiterkeit einen Firniß zu geben. — Treten auf: Magnolia,
die reiche Kreolin, und Junker Tobias Sproul, der Geck, ihr Cicisbeo.
Magnolia ſucht ein Kammermädchen zu kaufen; Junker Tobias lenkt
die Aufmerkſamkeit auf Jane Norwood, indem ihn der begreifliche
Wunſch leitet, für das Haus ſeiner ziemlich paſſirten Gönnerin etwas
Schönes zu erſtehen. Die Scene könnte intereſſant werden, wie der
arme Ritter die Börſe ſeiner Tyrannin zu dem größten Aufwande
vermögen ſoll, ohne doch ihre geringſte Eiferſucht zu erregen. Leider
hat der geprieſene Charakter-Darſteller der „Snobs“ nur wenig Ge¬
legenheit, die komiſche Situation auszubeuten, denn der Platzregen des
Spektakels bricht ſogleich wieder herein. Der vorwitzige Amoroſo tritt
auf, Benjamin Ridge, der Schiffscadett, dem es geglückt war, der
Fährte des Sklavenhändlers zu folgen. Das Idol ſeiner Liebe er¬
blicken, den Gegenſtand ſeines Haſſes finden und Scandal anfangen,
iſt das Werk eines Augenblicks. Der Tumult wird furchtbar. Na¬
türlich unterliegt der kleine Cadett, aber Jane Norwood hat nicht
umſonſt alle Verſe der Bibel aufgeboten in Mitte der großen Bedräng¬
niß. Plötzlich erſcheint Kapitän Ebenezer Drivvle, ein furchtbarer
Deus ex machina. Er kommt von Halifax. In einer Hand die
vollwichtige Prämie des ſehr ehrenwerthen Sir Jonathan Hodge, in
der andern die Identitäts-Papiere über Jane Norwood ſchwingend,
entlarvt er den Böſewicht, den ſchändlichen Sclavenhändler, d. h., er
gibt dem Spektakel eine ungleich gräulichere Dimenſion als ſein ſchlankes
Midſhippmänchen. Sämmtliche Sclavenhändler treten auf die Seite
ihres Collegen, fürchterlich blitzen ihre Bowiemeſſer, herzzerreißend
durchläuft Jane Norwood alle großen und kleinen Propheten der Bibel,
die Stadtpolizei von New-Orleans tritt auf und nimmt ſeltſamer
Weiſe Partei für den Sclavenhändler, da zerſchneidet im Tumulte
Benjamin Ridge die Bande aller anweſenden Sclaven, ſchenkt ihnen
mit dem Rufe brandy for ever! die Freiheit und ſtürzt ſich an der
Spitze dieſes friſch geſchaffenen Contingents, das nicht wenig heult, in
die Schlacht. Auch der geübteſte Theaterbeſucher kann jetzt vergeſſen,
[90] daß er vor einer Bühne ſitzt. Ein Stucker hundert Menſchen, wie
Percy ſagen würde, ſind hier im Handgemenge und Alles prügelt ſich
wirklich. Es iſt ein Hochgenuß. Die Parterre-Jugend ſtrampelt
vor Wonne, Hoby der Newsboy wirft ſeine Mütze gegen den Kron¬
leuchter, das übrige Publikum bleibt aber doch verhältnißmäßig ruhiger
als bei der Schiffbruchs-Scene. Es iſt zwar warm und befriedigt,
der Europäer ſieht aber, daß es nichts Geringeres erwartet, und daß
dieſe Monſtre-Darſtellungen des Volkslebens die gewohnten Bühnen¬
genüſſe des Amerikaners ſind.
Der Prügel- und Walkmühlen-Prozeß endet zwar mit dem Siege
der Unſchuld, aber der Sieg iſt kein vollſtändiger. Der Sclavenhändler
iſt vertrieben, aber er ſchnaubt Rache. Jane Norwood iſt gerettet,
aber während der Kapitän ſie ehrlich nach Hauſe führen will, ge¬
denkt ſie ſein Schiffscadett nun erſt auf eigene Rechnung zu entführen.
So wechſelt ſinniger Weiſe mit der Prügel- eine neue Intriguen-
Scene. Der liebenswürdige Benjamin macht ſich nicht das geringſte
Gewiſſen daraus, ſeinen Herrn der Hafen-Polizei zu verrathen und
ihn am Auslaufen nach Halifax zu verhindern, was ihm auch vor¬
trefflich gelingt, da ganz New-Orleans ſclavenhändleriſch geſinnt und
auf den Kapitän erbittert iſt. Dieſer hat Noth, ſich mit Jane Nor¬
wood auf den Landweg durchzuſchlagen. Das eben ſucht der Cadett
zu erreichen, denn der Landweg verſpricht ihm ungleich günſtigere
Chancen für ſeine Jagd auf das Mädchen. Ja, ſo wenig ſcrupulös
iſt der holde Jüngling in ſeinen Mitteln, daß er unterwegs nahe daran
iſt, ſogar mit dem Sclavenhändler ſich wieder zu verbinden; denn, cal¬
culirt er, es wäre doch beſſer, daß ſie in New-Orleans verkauft würde,
er könnte ſie ihrer Herrſchaft dann jedenfalls mit beſſerer Muße ent¬
führen, als ſo. Moorfeld erwartete an dieſer Stelle nichts Anderes, als
ein neues Eier- oder vielmehr Orangenſchalen-Bombardement, aber er
verzichtete ſogleich auf jedes Urtheil über die ſittlichen Anſchauungen
des Hauſes, denn das Publikum applaudirt vielmehr und ruft theil¬
nehmend: a smart fellow! Alſo keine gêne einer moraliſchen Volks¬
meinung, nur die höhere Rückſicht auf eine ergiebige Prügelernte
ſchien den Dichter geleitet zu haben, daß er die ſchmähliche Allianz
nicht doch verwirklichte. Denn während Benjamin Ridge und der
Sclavenhändler, der inzwiſchen durch einen Bund mit den Indianern
[91] mächtig geworden, in aller Gemüthlichkeit ihre Compactaten beſprechen,
ändert ſich die politiſche Sachlage. Die Handlung ſpielt ungefähr in
dem Winkel zwiſchen Miſſiſſippi, Teneſſee und Alabama. Von Ken¬
tucky herüber paſſirt ein Zug von Anſiedlern durch, welche nach Texas
auswandern, — wilde, gerüſtete Hinterwaldsgeſtalten wobei dem lieben
Benjamin das Herz im Leibe lacht. Schnell verläßt er die Parthie
des Sclavenhändlers, der ohnedies nicht „geſund“ wäre, und ſucht
das Bündniß dieſer neuen Abenteuerer für ſein Vorhaben. Nun
denke man! Von einer Seite der Sclavenhändler mit Black Hamk und
einem aufgewiegelten Indianer-Stamme, von der andern Benjamin
Ridge mit den wilden Kentuckyern und endlich der Kapitän Drivvle,
der zu ſeinem Schutze ein paar Compagnien Alabamer Landmiliz re¬
quirirt — ſo thürmen ſich drei Prügel-Gewitter zugleich am Horizonte
auf: wen ſollten nicht Wonneſchauer ſchütteln? Viele der Zuſchauer
ſieht man ihre Plätze verlaſſen, um im benachbarten „bar“ durch ein
Glas Rum ihre Nerven für den bevorſtehenden Kunſtgenuß zu ſtählen.
Der Sturm bricht los. Kentuckyer, Indianer, Alabamer — die
Parteien ſind ſo geſtellt, daß Alle gegen Alle kämpfen. Denn nicht
Kampf, ſondern Chaos ſoll es zugleich ſein. Nicht Schläge müſſen fallen,
ſondern ſie müſſen auch unverſehens fallen, Jeder muß doppelt angegriffen
werden: wie er's erwartet und wie er's nicht erwartet. Das gibt Ueberra¬
ſchung und Schadenfreude, das belebt das allgemeine Getümmel mit einer
Menge intereſſanter Detailzüge. Oder was kann wonnevoller ſein, als zu
ſehen, wie der Schlagriemen gegen das Bowiemeſſer klatſcht, während
die Flinte auf den Schlagriemen anlegt, und der Stahldegen rücklings
die Flinte anfällt? Solche Gruppen führen ſich blitzgleich dem Zu¬
ſchauer vor, löſen ſich auf, arrangiren ſich wieder, Alles reißt ſich im
Wirbel einander fort, die ganze Maſſe iſt im glühenden Fluß, ein
Feuer durchrast dieſe Action, das gegen deutſche Theaterſchlachten ab¬
ſticht, wie eine Brandrakete gegen ein fliegendes Glühwürmchen. Das
Gemälde fällt freilich aus dem Scheinbaren in die baarſte Wirklichkeit,
aber wenn die dramatiſche Kunſt hier aufhört, ſo wird wenigſtens die
unglaubliche Gymnaſtik bewundert, womit ſich der Menſchenknäuel wirk¬
lichen Tödtungen und Verwundungen entzieht, da er gleichwohl einen
wirklichen Kampf aufführt. Auch die exacteſten Theaterproben, ſcheint's,
können ein ſolches Enſemble nicht herſtellen, und wie enorm wären die
[92] Koſten zahlreicher Theaterproben mit ſo zahlreichen Comparſen? Moor¬
feld konnte kaum das Austoben des ärgſten Lärmes erwarten, um ſich
mit dieſem Bedenken an ſeinen Nachbar zu wenden. Die Bedenken,
die er gegen denſelben ſelbſt hatte, mußten momentan verſtummen davor.
Zu löſenswerth ſchien ihm das Räthſel.
Der Engländer fuhr wie aus dem Traume empor und fragte den
Frager naiv: Sind Sie dem Stücke gefolgt? Moorfeld erſtaunte. War
das ariſtokratiſche Gleichgiltigkeit, oder — die Zerſtreutheit eines Irren?
Betreten antwortete er: daß ihm der Verfolg eines Theaterſtücks aller¬
dings der Zweck des Theaterbeſuches ſei. Wahrſcheinlich ſind Sie ſelbſt
Dichter? gab der Engländer zurück. Wir wiſſen nicht, ob wir das Er¬
ſtaunen Moorfeld's in dieſem Augenblicke Bewunderung nennen dürfen,
aber mit einem Ausdrucke, der ſonſt viel zuſammengeſetzter zu beſchrei¬
ben wäre, antwortete er: Ich bin nicht dramatiſcher Dichter. — Alſo
doch, erwiederte der Engländer ohne Umſtände. Damit war der Dialog
zu Ende. Der Engländer ſchien Moorfeld's erſte Anrede vollſtändig
vergeſſen zu haben. Aber vor dem Spektakel war inzwiſchen ſeine
Dogge erwacht, ſie ſprang mit den Vorderfüßen gegen die Brüſtung
und fing unter dem Gelächter des Hauſes laut nach der Bühne zu
bellen an. Der Engländer brachte das Thier zur Ruhe — nicht
wahr, das appellirt an die beſtialiſche Natur? ſagte er im Tone eines
freundſchaftlichen Vorwurfes. Moorfeld ſchüttelte den Kopf. Auf ein¬
mal wandte ſich Jener wieder an ihn: — Von den Comparſen ſpra¬
chen Sie? Es ſind lauter Volontairs. Die Newyorker Rowdies
wirken aus Liebhaberei mit, auch kommen Wunden und Tod wohl
im Ernſte dabei vor. Ich bin nicht mehr fremd genug hier und habe
dergleichen ſelbſt ſchon erlebt. — In der That, das war die einzig mög¬
liche Erklärung einer ſolchen mise en scene. Mit einer ironiſchen
Form dieſer Anerkennung ſagte Moorfeld, er hätte es allerdings den¬
ken ſollen, daß nur die aufopferndſte Theilnahme des Publikums
ſolche Kunſtblüthen zeitige. Der Engländer nickte lächelnd.
Staub, Pulverdampf, Geſchrei und Getrampel hatte endlich aus¬
geſpielt; das Schlachtfeld wurde leerer. Zurück blieb zuletzt nur der
Sclavenhändler Andrew Jackſon Dewis. Er war in der „Affaire”
tödtlich getroffen worden, und hatte jetzt ſein großes Spiel. Er hatte
zu ſterben. Sollte das ein Glanzpunkt in der Kunſtleiſtung des
[93] Mimen ſein, ſo war der Moment vom Dichter übel gewählt; denn
nach dem Gewühl der großen Maſſen-Action war der Zuſchauer ent¬
weder zu aufgeregt, als daß das Spiel eines Einzelnen durchſchlagen
konnte oder dieſer Einzelne mußte ſeiner Sache ſehr gewiß ſein.
Der Künſtler führte nun folgende Scene auf. Mit der klaffen¬
den Todeswunde in der Bruſt, aus welcher er einen wirklichen
Strom von rother Flüſſigkeit hervorrinnen ließ, dachte er vorerſt an's
Sterben noch nicht. In beſtialiſcher Kampfeswuth rast er wie unſinnig
auf der Bühne umher, ganz Rache gegen ſeine Mörder, ſchwingt ſeinen
Schlagriemen, peitſcht, geißelt, klatſcht in die Luft, gegen die Couliſſen,
an den Boden. Fürchterliche Gießbäche von Flüchen ſchallen aus ſeinem
Munde und bezeichnen eine noch kraftvolle Lunge, während das rinnende
Blut überall ſeinen Schritten nachtröpfelt. Aber indem ſeine Lebens¬
geiſter noch unbändig ſtrotzen, fängt ſein Körper zu brechen an. Glied
für Glied knickt ein, man ſieht den Tod durch ſeinen Körper laufen,
wie über eine ſtufenreiche Treppe, die Ober- und Unter-Gelenke der
Arme, die Ober- und Unter-Gelenke der Beine, jeder einzelne Wirbel
des Rückgrates bricht zuſammen und muß dazu dienen, die Fortſchritte
des Todes zu veranſchaulichen. Der Künſtler weiß ſeine oſteologiſchen
Mittel mit einem Reichthume zu entfalten, der ein nur allzu genaues
Studium beſtaunen läßt. Der Zuſchauer verwundert ſich über die
Gliederung ſeines eigenen Körpers. Dieſen zerhackten, zerknickten, zer¬
ſprungenen Leib jagt der Sterbende nichts deſto weniger heulend und
brüllend noch eine Zeit lang umher, und ſtößt, ſchleppt und ſchleift
ihn gewaltſam in wilden Tigerſprüngen herum, während ſeine Bewe¬
gungen immer eckiger und brüchiger, von Tempo zu Tempo immer
zuſammenhangloſer werden. Er ſpielt ſein Leben ab, wie ein ohrzer¬
reißendes Drehorgelſtück, bei welchem Stift für Stift, von der Walze
bricht. Und doch ſcheint er bis hierher ſeinen Tod nicht empfunden
zu haben. Dieſer Moment tritt jetzt ein. Mitten im wildeſten Sprunge
packt er ihn. Der Donner der Lippe erſtirbt, der gehobene Fuß ge¬
friert, der geſchwungene Schlagriemen erſtarrt in der Luft, ſo ſteht er
da mit ausholendem Körper, und kann nicht mehr weiter. Der Schlag¬
riemen in der rechten Hand taumelt ſchlaff am Stiele herab, und leiſe
zittert ſeine Spitze. Die linke Hand läßt von der Bruſtwunde los
und fährt mit den blutigen Fingern über die Augen, gleichſam den
[94] Todesnebel hinweg zu wiſchen. Dieſe Gebärde iſt namenlos traurig.
Aber der Nebel war nicht zu verwiſchen, und der Sterbende erkennt
ſeinen ganzen Zuſtand. Der Gedanke: aufhören, ergreift ihn zum
erſtenmal mit vollem Bewußtſein. Verzweiflungsvoll rollen ſeine Augen,
klappernd ſchlagen ſeine Kinnbacken an einander, die geballte Fauſt
zittert heftiger, ſie löst ſich auf, der Schlagriemen ſchlottert einen Augen¬
blick darin, dann fällt er dröhnend auf die Erde herab. Die Hand
ſinkt nach. Alle Glieder ſinken nach. Er ſtürzt; die Hände tappen
in Todesfinſterniß nach einem Halt, ſie tappen und greifen in's Leere,
der Körper ſtolpert taumelnd über ſich ſelbſt, — da liegt er! Er liegt
zu Boden. Aber todt iſt er noch lange nicht. Nur die willkürlichen
Bewegungen haben aufgehört, die convulſiviſchen treten jetzt ein. Er
fängt zu zucken an, er wälzt ſich unruhig hin und her, die Augen
rollen nicht mehr, ſondern ſind blöd und groß herausgetrieben, ſeine
Miene durchläuft eine Reihe der fürchterlichſten Grimaſſen und wird
immer unkenntlicher. Auch die Stimme verändert ſich. Er ſpricht
noch fort und fort, ſeine heißen Lebensgeiſter kühlen ſich zu ſchwer
ab, er wird ſprechen bis zum letzten Athemzug. Aber es iſt keine
Sprache mehr; die Stimme hat keinen Ton, keine Klangfarbe mehr.
Hohl wimmert er die Töne in ſich hinein, er blöckt, er heult, er röchelt
und ſtöhnt in Lauten, welche nicht mehr dieſer Welt gehören. Der
fürchterliche Klang dieſer Stimme trifft von Zeit zu Zeit ſein eigenes
Ohr, er erſchrickt, gibt ſich Mühe ſich zu verbeſſern — wechſelt zwi¬
ſchen menſchlichen und thieriſchen Lauten und bezeichnet dadurch den
Kampf des Bewußtſeins mit der überhandnehmenden Bewußtloſigkeit.
Der letzte Ton, den er in der menſchlichen Stimmlage verſucht, mißlingt
endlich gänzlich; ein raſpelnder Athem wälzt ſich durch ſeine Bruſt,
ſeine Stimme kommt hervor wie zwiſchen Feilen und Kratzbürſten. Es
iſt eine entſetzliche Erfindung um dieſe Sterbeſtimme. Gleichzeitig mit
ſeinem Ausathmen verdunkelt ſich die Bühne. Sei es, daß es in dem
Stücke ſelbſt Abend wird, oder daß das Auslöſchen eines Lebenslichtes
mit dieſem ſymboliſchen Effect gehoben werden ſoll. Doch nein, es
wird ein dritter Zweck davon deutlich. Der Sterbende wälzt ſich nach
dem Hintergrund. Er ſtreckt ſeinen Körper dicht an den Vorhang
deſſelben aus und ſcheint ſich in eine ruhige Lage zurecht zu rücken.
Sein Röcheln wird nicht mehr gehört, ſein Zucken nicht mehr geſehen;
[95] die Agonie iſt aus, der Augenblick tritt ein, da ſich die Seele von
dem Leibe ſcheidet. Aus einmal erblickt man dieſe Seele! Ja,
man erblickt ſie! Vom Haupte des Sterbenden hervor taucht ein weißer
durch Transparent erleuchteter Schatten, der die ungefähren Umriſſe
einer menſchlichen Figur entwickelt, aber zerfedert und loſe, wie eine
Dampfwolke, wie ein Nebelflor. Langſam löſt ſich dieſes Lichtbild von
dem dunkeln Erdenkörper ab und ſchwebt an dem Vorhang empor.
Da regt ſich der Körper noch einmal. Die Hände tappen und greifen
nach dem Lichtbilde aus, wie mit magnetiſchem Zuge folgt der übrige
Körper nach, der ganze Leib richtet ſich auf und folgt ſeiner Seele!
Er klettert an den Vorhang hinan, die Hände immer nach der ent¬
ſchwebenden Seele ausfahrend, im tiefſten Gurgelſchlunde ein dumpfes
wimmerndes Brüllen. Aber das Lichtbild iſt nicht zu halten. Ver¬
gebens ſtreckt ſich der Körper, der angehende Leichnam, in gräßlich
übernatürlicher Länge, ſein neblicher Licht-Extract ſteigt über ihn hinaus
wie eine Rauchſäule, höher, immer höher ſteigt die Geſtalt, endlich
ſteht ſie mit ihrer unterſten Fußſpitze auf dem Haupte des Sterben¬
den, es iſt der Moment der gänzlich vollzogenen Loslöſung. Noch
macht der Leib einen galvaniſch-zuckenden Sprung nach dieſer äußerſten
Fußſpitze, er erreicht ſie nicht mehr, — ein gellender Schrei — letz¬
tes Aufflackern — ein ſchwerer dröhnender Fall — der Körper ſtürzt
um, — er iſt todt. —
Moorfeld fand ſich in einer der unangenehmſten Empfindungen
nach dieſer Scene. Es war keine Geſchmacks-Faſer in ſeinem ganzen
Leibe, die nicht unerhört beleidigt, zu Gelächter und Abſcheu entſchie¬
den bereit war. Und doch mußte er ſich geſtehen, daß in dieſer bru¬
talen Farce ein falſcher und mißbrauchter Funke von Genie ihm das
reine Aergerniß daran verkümmerte, daß die Affenfratze gewiſſe Züge
von der Menſchheit entlehnt hatte, die man ſich erſt aus dem Sinn
ſchlagen mußte, um die Affen-Identität nicht zu verkennen.
Inzwiſchen übertäubte der Lärm des Hauſes jede ſtillere Reflexion
in ihm. Namentlich zog das Parterre ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich.
Die Jungen klatſchten, als ob man ſich neue Finger, wie neue Hand¬
ſchuhe anſchaffen könnte, ſie ſtrampelten gegen den Boden, daß das
Fundament des Hauſes zitterte. Hoby, der Newsboy, warf endlich
vor Begeiſterung ſeiner nicht mächtig, ein Münzſtück auf die Bühne,
[96] und ſchrie, mit dem Modell aller Menſchenlungen: „Noch einmal ge¬
ſtorben! für einen Dime, Mr. Blackely, noch mal geſtorben“, — und
als der beſcheidene Künſtler dieſem Appell an ſein Genie nicht allſo¬
gleich Folge leiſtete, ſtürzte der ſeltſame Kunſtmäcen wie raſend ſeine
Taſchen um, warf ein Münzſtück um's andere über die Lampen, und
ſchrie dazu: „Gott verdamm' Euch, Mr. Blackely, wir ſchmeißen Euch
mit Dollars todt, wenn Ihr nicht gutwillig ſterbt, Ihr allmächtiger
Satan.“ Und zugleich hagelte es aus allen Taſchen der Straßenjun¬
gen, Lehrlinge und Newsboys eine Sprühwolke von zehn Centſtücken
auf die Bretter, welche die Welt bedeuten.
Iſt's möglich! rief Moorfeld mit einer unwillkürlichen Bewunde¬
rung, dieſer Roheſte der Rohen wirft ſeine ganze Tagesrente hin, weil
er die Beſtie, der er ſie opfert, für Kunſt hält. Welche Höhe müßte
bei ſo viel Empfänglichkeit die Kunſt ſelbſt hier erreichen, wenn ſie
den Gott ſtatt des Thieres im Menſchen entzündete!
Pardon, mein Herr! rief der Engländer bei dieſem Ausbruch ohne
eine Miene zu verziehen, es iſt hier zunächſt von einem Geldgeſchäft
die Rede. Der Burſche wirft keinen Cent auf die Bretter, den er
nicht doppelt zurückerhält, weil er ihn einzig in der Abſicht wirft, die
Centſtücke ſeiner dupirten Kameraden damit zu ködern. Er iſt der
agent provocateur ſeines Mr. Blackely, er wird von dem Mimen be¬
zahlt, wie der maître de la claque in Paris. Nur die Form dieſer
Claque iſt amerikaniſch.
Moorfeld ſenkte ſein Haupt. Können Sie mir ſagen, mein Herr,
ob Newyork etwa Liebhaberbühnen von Ruf beſitzt? begann er nach
einer Pauſe.
Mr. Bennet, mein ſchätzbarer Freund, unterhielt ſonſt ein vor¬
zügliches Haustheater — antwortete der Engländer, und fügte mit
Haſt hinzu: Ich bitte mir das Vergnügen aus, Sie ihm vorzuſtellen,
Sir. Er hält zwar in der saison morte auf New-Jerſey Villeggiatur,
aber wir wollen hinausfahren, Sir. Ich will Sie auf New-Jerſey vor¬
ſtellen, Sir; wahrhaftig ich will es, Sir, nennen Sie mir Tag und
Stunde, ich bin ganz zu Ihren Dienſten, Sir.
Moorfeld fand ſich, um die Wahrheit zu ſagen, mehr verlegen als
dankbar für dieſe Güte geſtimmt. Konnte er annehmen? Die unge¬
wöhnliche Zuvorkommenheit des Fremden — zwar war ſie nicht mehr,
[97] als folgerichtig von dem Manne, der ſchon ſeinen Hund ſo artig be¬
handelte — aber eben dieſes Letztere? — In dieſem Augenblicke
hatte die Claque des Newsboys geſiegt, und Mr. Blackely erklärte ſich
bereit, indem er das zugeworfene Spielhonorar mittelſt Beſen einſam¬
meln ließ, ſeine bewunderte Sterbeſcene zu wiederholen. Das war
mehr, als Moorfeld an einem ſchwülen Sommerabend für wünſchens¬
werth hielt. Er griff nach ſeinem Hute; der Engländer wiederholte
ſein Anerbieten, ihn vorzuſtellen — ja, gleich morgen ihn abzuholen.
Moorfeld, zwiſchen dem Wunſche, den vielgenannten Kunſtmäcen, Mr.
Bennet, endlich kennen zu lernen, und dem Bedenken gegen die vor¬
liegende Gelegenheit, beſann ſich auf einen aufſchiebenden Mittelweg,
worauf die Herren ihre Karten austauſchten, ſich wechſelweiſe einladend.
Mit Ueberraſchung las Moorfeld auf der Karte des Fremden den Na¬
men: Lord Arthur Ormond. Da geſchah ein Krach durch das Haus
— es war die Stimme Mr. Blackely's, der von Neuem zur Todes¬
verzweiflung anſetzte. Moorfeld ergriff die Flucht. —
Sechstes Kapitel.
Als Moorfeld unter den ſtillen Nachthimmel heraustrat, ward ihm
eine freundliche Ueberraſchung. Deutſche Handwerker zogen am Hauſe
vorbei und ſangen eines ihrer ſchönen Heimathslieder. Das Lied be¬
wegte ſich von den wohlklingenden Männerſtimmen getragen in weni¬
gen glücklich gruppirten Accorden, es ſtieg wie reine Goldſtrahlen aus
dem Herzen. Moorfeld ſtand und lauſchte. Es war ihm wie die
Berührung einer Freundeshand, nach dem Anfall eines Straßenräubers.
Nie hatte ein Lied eine glücklichere Wirkung. Wie hob ſich deutſches
Maß von amerikaniſcher Graßheit hier ſo ſonnenhell ab! Die Sänger
woben ihrer Nation ein Ehrenkleid, von dem ſie ſelbſt nichts ahnten.
Moorfeld folgte ihnen durch mehrere Straßen. Es that zu wohl,
von dieſen Klangwellen ſich ſo fort ſpülen zu laſſen. Und als erſt
D. B.Vll. Der Amerika-Müde. 7[98] Wagengeraſſel und Menſchenverkehr aufhörte, die Muſik ſtörend zu
kreuzen, genoß er um ſo behaglicher.
So wurde der Zuhörer unverſehens in eine Region verlockt, welche
nicht nur wenig befahren, ſondern ſelbſt wenig betreten ſchien. Mit
jeder Wendung, mit jedem Schritte nahm der Charakter der Einſam¬
keit überhand. Newyork zerſplitterte ſich plötzlich wie ein aufgelöster
Roſenkranz in alle Winde. Der Fremde ſtand ſo zu ſagen im freien
Felde. Zwar ließ ſich die gradlinige Anlage der Straßen auch hier
wie überall wahrnehmen, aber die lückenhafte Art, womit dieſe Linien
angebaut waren, gab dem ganzen Bezirke etwas Chaotiſches trotz dem
mathematiſchen Grundriſſe. Es war offenbar das jüngſte Quartier
von Newyork. Die Anſiedlungen beſtanden großentheils aus Gärt¬
nereien, wie ſie an den Rändern der Städte zu lagern pflegen, bis
ſie von dem nachrückenden Culturleben weit und weiter hinaus gedrängt
werden. Handel- und Gewerbsleben war hier noch wenig vorhanden,
die Grundſtimmung des Ganzen eine vorherrſchend ländliche. In
regelloſen Entfernungen blinzelten Laternenpfähle, hie und da guckte
ein talg-helles Fenſter in die Dämmerung — zerſtreute Lichtpunkte,
welche den Wüſten-Charakter dieſes Bezirkes noch ſinnlicher ausdrücken
halfen.
Der Chorgeſang war inzwiſchen verſtummt und die Sänger um
eine Straßenecke verſchwunden. Moorfeld ſtand plötzlich allein auf
dieſem unbekannten Boden. Jetzt erſt wurde die Einſamkeit einſam
um ihn. Er mußte ſich wie ein Erwachender beſinnen, ob er wirklich
noch in Newyork ſei. Ein Glied dieſer ewig ſchlafloſen Stadt, das
mit einbrechender Dämmerung ſchon Nachtruhe hielt, — es war ſo
gar nichts Amerikaniſches in dieſer Scene. Doch ja, der Charakter
des Unheimlichen fehlte ihr, die verdächtige Gauner- und Hochſtappler-
Luft. Wenn in Europa's entlegenen Stadttheilen die Aermſten woh¬
nen, ſo wohnen hier, wußte er, höchſtens die Neueſten. Es wehte
jener beklemmende Athem der Unſicherheit aus dieſem Nachtbilde nicht,
in das er ſo unverſehens als Staffage geſtellt war. Er ſah ſich daher
getroſt um einen Führer um, dem er es überlaſſen mochte, in Er¬
manglung einer Fahrgelegenheit, ihn auf den rechten Weg zurück zu
bringen. Zu dieſem Ende that er einige Schritte vorwärts gegen ein
einzelnſtehendes Haus mit einem Wirthsſchilde, welches die Deutſchen
[99] vermuthlich aufgenommen hatte. Das Wirthsſchild trug, wie beim
Dämmer des Tages und eines rothen Lämpchens überraſchend zu leſen
war, die Aufſchrift: Gaſthaus zum grünen Baum. Bei dieſem An¬
blicke zweifelte Moorfeld keinen Augenblick, daß er ſich in jenem nord¬
öſtlichen Ende der Stadt befinde, welches er, wie er ſich erinnerte,
Kleindeutſchland hatte nennen hören. Nur an einem Punkte, wo
er ſich in einem Lager von Landsleuten fühlte, konnte ein deutſcher
Wirth es gewagt haben, dieſe erzdeutſche Firma zu führen. Er kannte
alſo das unbekannte Stadtviertel jetzt wenigſtens dem Namen nach.
Er trat in den grünen Baum ein. Ja hier war Deutſchland!
Die Geſellſchaft deutſche Phyſiognomien, die Schenkeinrichtung deutſch,
die mäßig-große, längliche Gaſtſtube von einer Durchzugswand in
zwei gleiche Hälften getheilt, augenſcheinlich um der deutſchen Sonde¬
rungsſucht das beliebte „Extrazimmer“ zu bieten. Und doch nahm
das Publikum dieſes Locales eben ſo augenſcheinlich eine ziemlich gleiche
Glücksſtufe ein: gleicher, als Manchen vielleicht lieb ſein mochte. Die
Meiſten der Anweſenden waren in dieſem Augenblicke mit ihrem
Abendbrode beſchäftigt, welches ſie auf deutſche Art einnahmen, d. h.
nach der Karte und an geſonderten Tiſchen, anſtatt daß die ameri¬
kaniſche Sitte ſelbſt zum Frühſtück und Thee Table d'hôte hält. Auch
ihre Mienen waren mit ganzer Andacht und Bedächtigkeit bei dem
Genuſſe; hier wurde nicht amerikaniſch gejagt und geſchluckt, jeder
Biſſen ging in's Bewußtſein über, man ſpeiſte im Geiſte wie in der
Form deutſch. Ja, manch ernſte Stirn, manch ſprechender Blick ſchien
zu verrathen, wie viel dem Manne die Mahlzeit werth ſei, die er vor
ſich hatte, wie viel ſeines eigenen Arbeiterwerthes er darangeſetzt, ſie
zu erringen. — Der Ankömmling dachte vornehmer, als daß er mit
einem Geldſtück in der Hand ſich zum Herrn über die Tafelmuße ei¬
nes dieſer Hungrigen aufgeworfen hätte. Mit jener Menſchenachtung,
die des Gebildeten echteſtes Merkmal iſt, ſah er auf den anweſenden
Nährſtand, der hier den angenehmeren Theil ſeiner Standesehre er¬
füllte, und wollte ihm keinerlei Abbruch thun. Vielmehr nahm er
ſelbſt Platz in dem Gaſtzimmer, beſtellte ſich ein Souper gleich den
Uebrigen und engagirte ſich im Verlaufe deſſelben den benöthigten
Wegweiſer gelegentlich.
Da er ſich der deutſchen Sprache bediente, ſo konnte er mit Ver¬
7 *[100] gnügen bemerken, wie wenig ſein Eintreten den Leuten, die offenbar
unter ſich ſein wollten, Zwang auferlegte. Nur im erſten Augenblicke
gab ſich eine Neugierde kund, wie ſie eine ungewohnte Erſcheinung in
einem Kreiſe von Bekannten wohl zu erregen im Stande iſt. Nament¬
lich ſchien es zu intereſſiren, ob man einen Mann vor ſich habe, der
auf eine verdeckte, geſchäftskluge Art vielleicht Arbeitskräfte anzuwerben
bezwecke, oder das Gegentheil: ob er ſelbſt als ein angehender Schick¬
ſalsgenoſſe der verſammelten Kleindeutſchen gekommen ſei. Moorfeld
wußte zu befriedigen, und den Geiſt des Fremdartigen, das um ihn
lag, mit dem einheimiſchen ſchicklich auszugleichen. Es gelang ihm
mit wenigen Griffen, die Unterhaltung dahin zurückzulenken, wo er ſie
vorgefunden zu haben glaubte. Hierauf überließ er ſie wieder ihrem
eigenen Gange, dem ſie nach wenigen Minuten auch ſo unbefangen
folgte, als ob nichts Neues dazwiſchen getreten wäre.
Die Scene des grünen Baums, wie ſie dem Ankömmling in Kur¬
zem erkennbar wurde, war folgende. Der Wirth hieß „der deutſche
Kaiſer“. Er trug eine körperliche Größe und Maſſe zur Schau, wie
man ſie nur hinter dem Vorhang einer Jahrmarktsbude zu erwarten
gewohnt iſt; frei und unbezahlt ſie zu ſehen, erhöhte den Effect ſeines
Anblicks. Sein breites ſchwäbiſches Geſicht drückte übrigens jenes be¬
ſcheidene Geiſtesmaß aus, welches den Rieſen ſeines Schlages in der
Regel inne zu wohnen pflegt, auch ſtand er bis zum Kindermärchen
unter der Autorität eines klugen ſtumpfnäſigen Töchterchens. Dieſes
Mißverhältniß zwiſchen ſcheinbarer und wirklicher Machtfülle hatte
offenbar jener heitere Kopf im Auge gehabt, der mit einem beſſeren
Inſtinct des Lächerlichen als des Tragiſchen das bankerotte Kaiſer-
Ideal Deutſchlands auf eine ſo bedeutungsvolle Perſönlichkeit über¬
tragen. Die Gäſte des grünen Baums waren deutſche Handwerker
und kleine Geſchäftsleute; — ein Publikum von höchſt gemiſchtem
Schickſale, das aber bei Allen, wie es ſchien, auf demſelben Endpunkte
angekommen war. Die Unterhaltung bewegte ſich über das Thema
von ſchlechter oder fehlender Arbeit, von trüben Ausſichten oder un¬
mittelbarer Noth. Chorführer von dieſer traurigen Converſation waren
ein Bäcker mit Sachſen-Altenburg'ſcher Mundart, ein Schneider aus
dem Würtemberg'ſchen, und ein pfälziſcher Schreiner; dazu geſellte ſich
zeitweilig ein Gärtner aus der Frankfurter Gegend, welcher nach
[101] jedem Schluck Whisky den deutſchen Kaiſer zu einem Importverſuch
von Aepfelwein aufforderte, oder die Tochter deſſelben um „den Zweck
des Daſeins“ befragte. Einer abweſenden Perſon, deren Ankunft
eben erwartet wurde, gedachte man unter dem Titel des „Rector
magnificus“, — offenbar ein Scherzname gleich dem obigen, wie
überhaupt der Geiſt jenes Humors, welcher mißliche Verhältniſſe mit
ihrem ironiſchen Gegenbilde aufzuheitern liebt, der Geſellſchaft des
grünen Baums nicht gänzlich verſiegt zu ſein ſchien.
In dieſem Geiſte redete der Pfälzer jetzt zu einem Ecktiſch hinüber,
der eben erſt bedient wurde, und offenbar von jenen Chorſängern be¬
ſetzt war, welche dem tragiſchen Kunſtgenuſſe Moorfeld's ein ſo ſchönes
Nachſpiel geliefert. Der Pfälzer forderte einen jener Tiſchgenoſſen
auf: Henning, was bringſt du uns Gutes mit? Laß dich hören! Wir
ziehen wieder Mäuler, wie gebrühte Katzen.
Der Angeredete antwortete: Iß Käſe! Käs erfreut des Men¬
ſchen Herz.
Wie auf ein Signal erhoben alle Tiſche ein Gelächter. Es war
erſichtlich: der Menſch, der das geſprochen, war die luſtige Perſon
dieſes Kreiſes. Er gehörte zu jener Sorte von Geſellſchaftstalenten,
welche, ſie mögen thun oder laſſen was ſie wollen, ein- für allemale
den Credit der komiſchen Kraft für ſich haben. Gewöhnlich werden
Spaßmacher dieſes Genres ſchon durch ihre Perſönlichkeit unterſtützt.
Henning, der Schriftſetzer, war eine lange, hagre Figur, ſchlotternd
und ſcheinbar abgeſpannt bis zum Schatten eines Menſchen. Was er
ſprach, trug er mit äußerſter Gleichgiltigkeit vor, und in einem ſo
hohlen Baſſe, wie ihn etwa Menſchen annehmen, welche am Nikolaus-
Abend den Kindern Geſpenſter vormachen. Seit ſeiner Geburt, wie
er ſagte „im letzten Stadium der Schwindſucht“ begriffen, hatte er
von dieſer vielleicht wirklich jenes dumpfe Timbre ſeiner Stimme, ſo
wie den hohläugigen groß-ſtarrenden Blick, mit deſſen fürchterlichem
Rollen er nicht die geringſte ſeiner komiſchen Wirkungen erzielte.
Kurz, Herr Henning war einer jener beliebten Geſellſchafter, welche
Alles um ſich her lauſchen ſehen, ſo wie ſie den Mund öffnen, deren
Anblick allein ſchon erheitert, deren Wort regelmäßig einen Chorus
dankbaren Gelächters nach ſich zieht, ohne Unterſchied, ob es mehr
oder weniger witzig gerathen iſt, ja ob es nur immer verſtanden wird,
[102] oder nicht. Eine ſolche Scene ſah Moorfeld jetzt ſpielen, ungefähr
in folgender Weiſe.
Dem Schriftſetzer wurde ſein Abendeſſen gebracht, Beafſteak mit
Kartoffeln. Bedächtig wendete er das Beafſteak um und um und ſah
es mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke an. Dann ſagte er ruhig:
das Beafſteak ſeh' ich wohl, aber das Fleiſch nicht.
Gelächter.
Der Pfälzer rieb ſich vergnügt die Hände. Er freute ſich auf
den Sprudel der Unterhaltung, die er herankommen ſah, und die
Sache in Schwung zu bringen, hetzte er an dem Wirthe: Haben
Sie's gehört, Herr Häberle?
Der monſtröſe Wirth ſpielte mit den Fingern in ſeinem Schwarz¬
wälder Hoſenträger und lächelte geduldig. Der Pfälzer wendete ſeine
erwartungsvollen Blicke wieder auf den Schriftſetzer zurück. Dieſer
griff nunmehr zu Meſſer und Gabel und fing an ſeine Portion in
Stücke zu ſchneiden. Dazu brummte er: Das iſt ein Beafſteak wie
ein Ohrläppchen ſo groß.
Gelächter.
Was ſagen Sie, Herr Häberle? bohrte der pfälziſche Schreiner.
Aber der ehrliche Schwabe ſchmunzelte nur, wie Einer der es ge¬
wohnt iſt, Zielſcheibe zu ſein, und nie daran denkt, Gleiches mit Glei¬
chem zu vergelten.
Henning ſagte: Laß ihn gehen, den grünen Baumwirth. Er iſt
ja noch ärger als unſer Schiffsrheder. Da hatten wir doch täglich
zwölf Loth Fleiſch auf den Kopf, die Maus nicht mitgerechnet, die
ich einſt aus dem Suppenkeſſel ſchöpfte. Sie war ganz ausgewachſen.
Gelächter.
Aber des Wirthes Töchterlein nahm ſich der väterlichen Ehre jetzt
an und fragte ſpitz: Wiſſen Sie auch, Herr Henning, was die Lenden¬
ſtücke heute koſteten?
Henning antwortete gelaſſen: Je theurer die Sachen ſind, deſto
wohlfeiler muß ſie der Wirth geben können. Das iſt ſein Profit.
Gelächter.
Dann fuhr er fort: Weil mein Magen eben falſche Toilette macht,
geben Sie mir zu dieſem Schönpfläſterchen von einem Beafſteak auch
ein Flacon Bier.
[103]
Gelächter.
Und mit gänzlicher Abſpannung ſetzte er hinzu: Das heißt leben!
Wollte Gott, ich wäre die Seeſchlange, ſo würd' ich doch Einmal
ausgeſtopft, nach meinem Tode wenigſtens. Aber unſer deutſcher
Kaiſer, der Mehrer des Reichs, gibt mich auf, wie die Rheingränze.
Zum Skelett bin ich ausgedorrt unter ſeiner Regierung. Die Würmer
ſterben am Hungertyphus, die ſich einſt an mich machen; Gott ver¬
damm' mich! man wird mich in Schmalz backen müſſen, wenn ich or¬
dentlich aufgeſpeist werden ſoll.
Schallendes Gelächter.
Unter dieſem Stoßſeufzer verſchlang der arme Phthiſiker ſein Beaf¬
ſteak mit dem ganzen Heißhunger ſeiner Conſtitution. Dazu rollten
ſeine Augen mit einem höchſt grimmigen Ausdrucke, nur ſeine Zunge
ſchwieg. Letzterer Umſtand ſchien der Geſellſchaft indeß gar nicht ge¬
müthlich. Der pfälziſche Schreiner ſuchte wieder Gelegenheit. Nach
einer Pauſe fing er an:
Was ſeh' ich, Henning, du trägſt ja noch einmal ein gewaſchenes
Hemd? Und deine chriſtliche Miſtreß Waſchfrau, Mitglied von einem
Schock Bibelgeſellſchaften, Conventikeln und Miſſionen, hat dir doch
den Dienſt gekündet. War's nicht ſo?
Der Schriftſetzer nickte.
Sie wollte dir, ſagte ſie, diesmal nicht aus dem Zimmer gehen,
wenn nicht der letzte Cent bezahlt würde? Verſtand ich dich recht ſo?
Der Schriftſetzer nickte.
Ei, das müſſen wir hören! Wie lief die Geſchichte ab? Wie
kamſt du zu dem Hemde? Wie kam Frau Appendage oder Affentiſch
um ihre Six-Pence? Wie iſt dir's gelungen, den frommen Klauen des
Waſchbären zu entrinnen?
Der Schriftſetzer würgte ſo viel ſeines Mundvorraths hinunter,
daß er zur Noth die Eßwerkzeuge als Sprachwerkzeuge frei bekam,
und brummte im tiefſten Baſſe: Inſpiration!
Der Schreiner machte eine aufmerkſame aber fragende Miene.
Der Schriftſetzer illuſtrirte ſein Wort, indem er ſtumm mit der Gabel
an die Stirne deutete, und dem Schreiner mit einem Blick voll welt¬
bezwingender Genialität in's Geſicht ſtarrte.
Der Burſche fühlte ſich ordentlich imponirt und ſagte mit einigen
[104] Ehrfurchtsſchauern: Um Gotteswillen ſtelle dein Licht nicht unter den Schef¬
fel! Laß uns von deinem Genie profitiren! Wir Alle leiden ja an unſrer
Frau Affentiſch; was hat Kleindeutſchland dem amerikaniſchen Yankee-
Tricke entgegenzuſetzen, wenn nicht ſeinen alten ehrlichen Mutterwitz?
Warum man doch Mutterwitz ſagt? fragte der deutſche Kaiſer,
dem dieſer Gegenſtand freilich ſehr fraglich war.
Warum ſagt man denn Blaſewitz? antwortete Henning mit
ruhiger Würde. Das Gelächter, das dieſer Belehrung folgte, brachte
indeß den Schreiner von ſeinem Thema nicht ab. Er fuhr fort, das
Abenteuer des Schriftſetzers mit ſeiner Waſchfrau zu urgiren. Dieſer
wiſchte ſich endlich mit der Serviette den Mund, um welchen in der
That ein goldnes Lächeln ſpielte. Dann fragte er gegen das Wirths¬
töchterchen hin: Haben Sie ein zartes Gehör, Fräulein Veronika?
Wägerli, es mag mir ein ſchön' Späßle ſein! antwortete das
Schwabenmädchen.
Practiſch war's wenigſtens, verſetzte Henning. Und ohne auf die
weibliche Zuhörerin weiter zu achten, die ja keineswegs abgelehnt hatte,
ſprach er mit ſeiner ſaloppen, phlegmatiſchen Manier: „Männerkeuſch¬
heit“ iſt ein ſchönes Gedicht von Gottfried Auguſt Bürger. Aber Gott¬
fried Auguſt Bürger hat in Göttingen waſchen laſſen, nicht in Ame¬
rika, wo das Dutzend Wäſchſtücke einen Dollar koſtet, ohne Ausnahme: ſind's
Taſchentücher oder Bettücher. Sonſt hätte der Herr Profeſſor wahrſchein¬
lich meine Keuſchheit beſungen, ſtatt ſeine Männerkeuſchheit: es wäre
ſeinem Kennerauge nicht entgangen, um wie viel ſie der Unſterblichkeit
würdiger iſt. Ich prahle nicht; die Geſchichte war nämlich ſo: Heut morgen
ſtand mir die Stunde bevor, wo mir die Frau Appendage ohne Geld
nicht aus dem Zimmer gehen wollte, wie mir angedroht war. Dieſem
Schickſale gegenüber erfand ich folgende einfache Vorrichtung. Ich
blieb liegen. Nicht daß ich etwa für krank gelten wollte, pfui der
Heuchelei! aber ich blieb eben liegen. Punktum. Ich heuchle nicht,
im Gegentheile; ich bin immer ein unverblümter Kerl geweſen, und an
dieſem Morgen war ich's erſt recht. Alſo blieb ich liegen. Das er¬
findungsreiche Haupt tief in's Kiſſen gewühlt, die Decke ſittiglich bis
an das Kinn gezogen, erwartete ich ruhig das Weib des Gewäſches.
Es klopft. Herein! Nun müßt ihr wiſſen, eine echte amerikaniſche
Lady wäre gleich an der Thüre in Ohnmacht gefallen über den An¬
[105] blick eines Mannsbildes im Bette. Aber meine Frau Appendage,
Mitglied von ſo und ſo viel Religions- und Sittlichkeits-Compagnien,
trat herzhaft ein. Das verrieth ſchon ihre unerſchütterliche Entſchloſſen¬
heit, ſich diesmal Geld auszufechten. Sie warf ſich auf's chriſtliche
Mitleid, und ſtellte ſich, als ob ſie mich für unpäßlich hielte: ſo kam
ſie um die weibliche Sittſamkeit herum. Ich dachte mir: Warte, du
falſches Stück Katzenvieh, du findeſt doch noch einen Klügern. Alſo:
Guten Morgen, Herr Henning. — Guten Morgen, Frau Appendage. —
Ei, du mein ſüßes Gottchen, fehlt Ihnen etwas? Wollen Sie in die
Apotheke geſchickt haben? — Danke, danke, es geht wohl. — Nun
deſto beſſer; hier bring' ich die Wäſche. — Schön, legen Sie's dort¬
hin. — Wie, mein werther Herr Henning, das Hinlegen allein kann
mir nichts helfen! Sie wiſſen doch, daß ich heute Geld haben muß? —
Haben ſollen Sie allerdings was, aber Geduld, das iſt viel chriſt¬
licher als Geld. — Sie gottloſer Spötter! Ich kenne die Moral und
lerne ſie noch von ganz andern Geiſtern als Sie mir ſind. Sie ſollen
mir ſagen, was chriſtlich iſt! Zahlen iſt heute chriſtlich. Ich will
Geld haben! — Da ſchlagen unſre Herzen vollkommen einig, Frau
Appendage, denn auch ich will Geld haben; ich hab's aber nicht. —
Das kümmert mich wenig; kurz ich gehe heute nicht aus dem Zimmer,
bis ich nicht auf den letzten Cent bezahlt bin. — In dieſem Augen¬
blicke ſtand ich auf, ſie zu bezahlen. — Wer lacht da? Honny soit
qui mal y pense! ſagt die Königin Eliſabeth eine Scene zuvor, als
ſie den Mortimer zum Giftmorde dingt, und ihm eine Nacht verſpricht.
Das war ein Weibsbild! Wenn unſer einer ſo wär'! Aber nein; im
Gegentheile, ich war nie unſchuldiger als heut Morgen, da ich aufſtand,
meine Frau Appendage zu bezahlen. Auf Ehre, ich zeigte mich ihr
wie ein neugebornes Kind, ſo unſchuldig, will ich ſagen. Ihr hättet's
ſehen ſollen, wie hübſch dem langen Henning das Kleid der Unſchuld
zu Geſichte ſtand. Wenigſtens paſſend ſind ſolche Kleider, ſie machen
kein Fältchen, ich verſichere euch. Aber meine Frau Appendage —
Herr Jeſes, ſo ſoll ich kreiſchen hören! Gott weiß, was ſie hatte;
konnte ich ahnen, daß ihr die helle pure Kinderunſchuld ſo ein Dorn
im Auge war? Kriſch, kraſch, kruſch! kreiſcht ſie auf, als ob ein gan¬
zes Neſt von Kibitzen zerſtöbe, und zur Thüre war ſie hinaus, wie
ein Kreiſel. Durch's Schlüſſelloch rief ich ihr nach: Ei, Frau Appen¬
[106] dage, Sie wollten mir ja nicht aus dem Zimmer gehen, das heißt wohl
ſpringen wollten Sie draus? Wie Sie meinen, Frau Appendage,
ganz nach Ihrem Belieben. Drauf ruf' ich meinen Kammerdiener,
laß mir Toilette machen — et sic me serfafit Apollo!
Nach dieſem Vortrage brach ein Sturm von Beifall und Heiter¬
keit los. Die ganze Gaſtſtube erhob ſich mit impoſantem Tumulte.
Alle Arme fuhren mit ihren Gläſern empor, Mann für Mann, Tiſch
für Tiſch ſtieß an, und wie auf ein Zeichen erſcholl's im Chorus:
Unſer Bruder Henning der ſoll leben! Dazwiſchen ſprang der Pfälzer,
kirſchroth vor Begeiſterung, in die Mitte und fing mit bombenähnlicher
Betonung der erſten Note zu fingen an: Feierlich ſchalle der Jubel¬
geſang! Auf einmal ſchrie eine Stimme: Einen Kranz! einen Kranz!
eine Bürgerkrone für den Retter Kleindeutſchlands! Der Vorſchlag
zündete augenblicklich; die Geſellſchaft ruhte nicht bis des deutſchen
Kaiſers Vronele einen Strohkranz aus der Küche geholt hatte. Der
pfälziſche Schreiner ergriff ihn, und um Fallſtaff's Wort zu bethätigen:
ich bin nicht nur ſelbſt witzig, ſondern auch Urſache, daß Andere Witz
haben, — ſchickte er ſich an, die Krönung des witzigen Schriftſetzers
mit einer witzigen Anſprache vorzunehmen. Er ſprang auf einen Stuhl,
hielt pathetiſch den Kranz über Henning's Haupt und ſprach: Meine Herren!
ich fühle die Ohnmacht in mir, eine Rede zu halten. Und da der
Menſch die moraliſche Verpflichtung hat, jedes Talent, das ihm ver¬
ſagt iſt, zu gebrauchen, ſo werden Sie mir Ihr gütiges Mißfallen
nicht entziehen, wenn ich meinen Rednermangel hiermit glänzen laſſe. —
Aber ſchon ſtockte er. Der Kreis fing bereits an, ihn auszulachen, als
er ſich wieder ſammelte und fortfuhr: Ruhig! Das war nur eine
Kunſtpauſe. Eine Kunſtpauſe, die ſich ſtets dann am Geeignetſten
einſtellt, wenn die Gedanken eine Naturpauſe machen. Zum Teufel
auch mit allen Gedanken! Wozu braucht der Menſch Gedanken? In
der That, wir brauchen nur Einen Gedanken hier! Dieſen Einen Ge¬
danken — wären wir darauf vorbereitet, wir ließen ihn ausgeſchnitten
in geöltem Papiertransparent über dem ſinnreichen Haupte unſers
Gefeierten leuchten. So leuchte er denn mit Flammenſchrift in unſern
Herzen und mit Flammenzunge ſei er ausgeſprochen der große, welt¬
geſchichtliche Gedanke:
Gott verläßt keinen Deutſchen!
[107]
Henning brummte unter ſeinem Strohkranze: Das ſag ich auch!
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß ich noch gehängt werde. Und
ſogleich fiel der Chorus ein: Unſer Bruder Henning der ſoll hängen!
Aber ... Feierlich ſchalle der Jubelgeſang! —
In dieſem Augenblicke that ſich die Thüre auf, und Alles begrüßte
— den Rector magnificus. Der Eintretende mochte Scenen, wie
ſie die Gaſtſtube mit ihrem ſtrohgekrönten Mittelpunkte jetzt darſtellte,
ſchon gewohnt ſein, denn ohne ſich umzuſehen, durchſchritt er einfach
grüßend die Stube und begab ſich ſogleich in's Extrazimmer. Alles
drängte ihm nach mit dem Rufe: In die erſte Kajüte! auf, in die
erſte Kajüte! Der deutſche Kaiſer kam mit einer Flaſche Bier gemäch¬
lich hintendrein. — Moorfeld beſann ſich auf die Geſtalt des Rector
magnificus. Sie ſchien ihm ſo bekannt, daß er über den Mangel
ſeines Gedächtniſſes faſt erſchrack, wenn nicht das fremdartige Bunterlei
ſeines hieſigen Aufenthaltes die Verwirrung genügend erklärte. Als
aber der Rector magnificus ſeine Stimme hören ließ, da löste ſich
ihm der Zweifel. Es war dieſelbe Stimme, die ihm in Mr. Mocking¬
bird's Schule zugeflüſtert hatte: Ich danke Ihnen für dieſes deutſche
Wort. Es war der Hilfslehrer Benthal.
Für Moorfeld gewann die Scene jetzt ein neues Intereſſe. Es
war offenbar: der Angekommene nahm ſeinen Platz nicht wie jeder
andere Gaſt in dieſer Geſellſchaft ein. Seine Miſſion ſchien eine be¬
ſondere hier. Und da das innere Zimmer von dem äußeren nur durch
eine vorhangloſe Glaswand getrennt war, ſo bedurfte Moorfeld nicht
langen Abwartens, um in ſeinem bequem ſituirten Winkel, dicht an
eben dieſer Wand, Augen- und Ohrenzeuge deſſen zu werden, was
Benthal's Ankunft in dieſen Räumen für Zwecke hatte. Wenigſtens
überſah er auf den erſten Blick, daß der heitere Geiſt, der ſich ſo eben
ausgelaſſen, eine ſchnelle Wendung zum Ernſte nahm: es gab auf
einmal geſetzte Mienen, bedächtige Aufmerkſamkeit. Benthal nahm ein
Tiſchchen ein, welches über das Niveau der übrigen Gaſttiſche durch
eine kleine Eſtrade erhöht ſchien, er zog ein Notizbuch aus ſeiner Taſche,
blätterte darin und bereitete verſchiedene Papiere, Schnitzel, Adre߬
karten u. ſ. w. vor ſich aus. Er begann:
Was mich wundert, das iſt, daß unter uns Deutſchen, wie einſt
unter den Juden, nicht längſt ſich die Sage von einem Meſſias ge¬
[108] bildet. So oft ich dieſe Bezirke betrete, — und ich betrete ſie gern,
denn man liebt das Vaterland in zwölf Quadratſchuhen noch eben
ſo ſehr, als in zwölftauſend Quadratmeilen, — ſo oft ich dieſe Schau¬
plätze deutſcher Leiden und Kränkungen beſuche, geſchieht es nicht ohne
das Geleite irgend eines beſchämenden Gedankens. Heut fiel mir der
Name Kleindeutſchland auf's Herz. Kleindeutſchland! Als die Griechen
Italien anpflanzten, nannten ſie es Großgriechenland; die Engländer
haben ihr New-Hampſhire, New-Jerſey, New-Caledonien, die Hol¬
länder ein Neu-Holland, die Franzoſen ein Neu-Orleans gegründet;
nur Deutſche vermochten es, an ihr Vaterland den Begriff klein zu
knüpfen: ſie ertragen, ſie wählen den Namen eines Kleindeutſchland!
Wie wir uns hier verſammelt ſehen, würde ich ſofort die Tilgung
dieſes Nennwortes beantragen; aber leider! das Schmerzliche unſrer
Umſtände iſt, daß es paßt. Was hilft es, einem todten Stück Erde
die Schmach abzunehmen, die dem Lebendigen bleibt? Von uns geht
der Name auf dieſen Boden über. Wir ſind die Kleinen und Klein¬
lichen hier. Wir erröthen nicht, ein leeres und niedriges Daſein auf
dieſer Sandſtätte hinzuſchleppen, und glauben Alles gethan zu haben,
wenn wir den Namen unſers edeln Vaterlandes mit unſrer bleich¬
wangigen Exiſtenz in's Spiel bringen. An einer Lüge wärmen wir
uns, und indem wir den gemüthlichen Traum feſthalten, in Deutſchland
zu ſein, kommen wir blos nicht dazu, in Amerika uns einzuwurzeln,
es ſei denn in ſeinen Hoſpitälern und in ſeiner Verachtung. Meine
Herren! ich beeile mich, Ihre Verzeihung nachzuſuchen, daß ich dem
Schamgefühle, womit ich hierhergekommen, dieſes ſtarke Echo erlaube.
Seien Sie überzeugt, nur Ihr Schickſal iſt's, das mich demüthigt,
Ihr Anblick erhebt und begeiſtert mich. Es gibt nichts Herrlicheres
auf Erden als Deutſche. In Ihrer Mitte denke ich mich, wie in einem
Märchenkreis von verzauberten Fürſtenſöhnen. Königlich iſt Ihr Erbe
und Großthaten werden Sie ausführen, wenn nur erſt die Entzau¬
berung gelingt. Aber indem ich weiß, daß der Talisman dazu zwiſchen
Himmel und Erde nirgend ſonſt wo liegt, als in Ihrer eigenen Bruſt,
werden Sie einen ſtarken und eindringlichen Ruf dahin nicht mit Ihrem
Mißfallen beſtrafen. Dieſen Ruf wollte ich vorausſchicken, denn er
iſt der wahre Kugelſpruch unſrer Lage. Was ich von Daten und
Notizen die Woche über eintreibe, liegt zuletzt nur wie ein Häufchen
[109] Aſche vor uns; Alles kommt auf den Geiſteshauch an, der die Funken
drinn anbläſt. Ihr Muth, Ihr Wille, Ihre tapfere Entſchloſſenheit
iſt Alles, dieſe Papierſchnitzel Nichts. Ein deutſcher Profeſſor, der
ein deutſcher Charakter war, pflegte ſeine Studioſen zu begrüßen:
Guten Morgen, Henker, Büttel, Gerichtsdiener, Richter, Staatsſecretäre,
Miniſter, Kanzler! denn das Alles werden Sie machen aus ſich, je
nachdem Sie Ihr Collegium hören. Meine Herren, ich denke wir
ſtimmen dem alten Taubmann bei; und ſo wollen wir zu unſrer
Tagesordnung übergehen.
Er ſichtete ſeine Papiere zurecht und fuhr fort: Ich habe in Er¬
fahrung gebracht, daß in den Kupferminen am obern See Bergleute
geſucht werden. Eine Geſellſchaft hier in Newyork ſchließt die Enga¬
gements ab und befördert gegen Vorauslage der Koſten an den Be¬
ſtimmungsort. Anmeldungen Murray-Street No. 218. Ich dachte
an Sie, Herr Merbach.
Der Aufgeforderte antwortete langſam und unſchlüſſig: Ja — aber
— in Freiberg baut man auf Silber Herr Rector. Ich weiß nicht —
Kupfer oder Silber, in euern Neugroſchen läuft's auf eins hinaus,
warf der Schriftſetzer dazwiſchen.
Benthal erwiederte: Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Merbach,
ein amerikaniſcher Kohlengräber aus Pennſylvanien baut in ein paar
Wochen auf alles Mögliche. Er fragt nicht: biſt du fähig? er greift
zu und denkt: du wirſt fähig. Aber freilich, wenn Sie dieſe Beſchei¬
denheit in's Aufnahmsbureau mitbringen, ſo koſtet ſie Dollars. Man
engagirt Sie nach der Höhe oder Niedrigkeit Ihres Selbſtgefühls.
Entdecken Sie dann an Ort und Stelle, daß Ihre deutſche Sinnigkeit
viel gewandter ſich in's Fremdartige findet, als Sie ſich zugetraut, ſo
ſteigern Sie zu ſpät. Im tiefſten Hinterland, abgeſchnitten von aller
Welt, ohne Reiſegeld, ſind Sie in den Händen des Geſchäfts zu
jedem Preis.
Der Sachſe antwortete: Aufſchneiden kann ich nicht, aber in mei¬
nem Fach ſoll mich Keiner klein bringen.
Benthal fuhr fort: Die Reiſe nach Albany koſtet drei Dollars. Auf
dem Eriekanal etwa fünf bis ſechs. Von Buffalo nach Chicago, tauſend
engliſche Meilen, zahlt man nicht mehr als dreißig Dollars. Alles
mit Verpflegung. Ich empfehle Ihnen, dieſe Preiſe zu merken, ſonſt
[110] berechnet man Ihnen mehr. Auch werden Sie im Contract ſich aus¬
drücklich Cajütenpaſſagier nennen laſſen, ſonſt bringt man Ihnen
die Cajüte in Abzug und verwendet Sie auf der Fahrt zu Schiffs¬
dienſten.
Eine Stimme unterbrach dieſe Anweiſung mit den Worten: Er
mag thun was er will, betrogen wird er doch.
Benthal blickte auf und rief mit Verwunderung: Ei, Herr Sall¬
mann, wie kommen denn Sie wieder hieher? Es war der Bäcker aus
Altenburg, einer der früheren Geſprächsführer bei Moorfeld's Eintritt.
Sallmann war eine ſtattliche Perſönlichkeit. Eine wahre Bürgermeiſter¬
figur. Alles an ihm hatte beſſere Tage geſehen. Er ſchien ein Stück
ſo recht aus der Mitte geſchnitten eines deutſchen Gemeinweſens, einer
ehrbaren Häuslichkeit. Die Trümmer des gebrochenen Selbſtgefühls
waren kläglich anzuſehen auf dieſer vollen, faſt herriſchen Geſtalt. Er
ſaß da, in düſtrer, grimmiger Reſignation, und mit einer Stimme
voll Bitterkeit antwortete er: Wie ich hieher komme? das will ich Ihnen
ſagen. Ich höre, Sie kennen das liebe Amerika; wohlan, merken Sie
ſich auch dieſes Stückchen dazu. Ich hatte mein Metier, wie Sie
wiſſen, mit einem kleinen Backofen in Miethe angefangen, und da
mir für's Erſte die Kundſchaft fehlte, ſo trug ich auf eigenem Rücken
mein Erzeugniß hauſiren. Das war mir freilich nicht geſungen, als
ich in Altenburg eben ſo die Adreſſe für unſern braven Moosbach
herumtrug, der jetzt im Königſtein fault. Aber in Gottes Namen!
Keine Arbeit iſt hier geſchänd't und Frau und Kind wollen nachkom¬
men ſo eher ſo beſſer: da greift man aus. Ich hatte mich alſo auf
ein paar hundert Dollars gebracht, auf einmal ereignet ſich's, daß ich
das Capital anlegen kann im großen Styl, wie ich mein Geſchäft ge¬
wohnt bin. Mein Nachbar will abreiſen, und verkauft mir ſeine
namhafte Kundſchaft. Er läßt mit drei oder vier Bread-Drivers
austragen, indeß ich allein mein Transportgaul bin. Wir waren des
Handels bald eins. Als er das Geld hatte, machte er eine Spazier¬
fahrt auf drei Tage, kommt zurück, ſagt, er habe ſich anders beſonnen,
und arbeite weitert in ſeiner Kundſchaft. Mein Geld jedoch verweigert
er mir mit frecher Lache. Natürlich, werde ich klagbar. Aber wie im
Schlaraffenland der Dummſte und Faulſte König iſt, ſo ſcheint das
Recht hier eine Prämie des lumpigſten Lumpen. Denn was ſagt die
[111] Jury? Der Mann hat allerdings ſeine Verpflichtung erfüllt; er iſt
abgereist. Gegen ſeine Rückkehr ſtand aber nirgends eine Verwehrung
in meinem Contract, dagegen könne ich denn auch nicht einſchreiten.
Pfui! meinem Jungen ſteckt' ich eine Ohrfeige, wenn er mit ſolchen
Diebskniffen mir unter's Geſicht trät' — aber we are in a free
country! So judiziren ſie im Lande der Freiheit!
Dieſe Mittheilung des Mannes erregte unter den Uebrigen eine
Art dumpfes Entſetzen, welches weit über den Antheil an dem Ein¬
zelnſchickſal hinaus ging. Es war, als fühlte Jeder. ſeine perſönliche
Sicherheit bedroht auf einem Boden, wo ſolche Gefahren möglich wa¬
wen. Benthal ließ dieſe Regungen eines aufgeſchreckten Inſtinctes ſich
ausſprechen, eh' er ſelbſt wieder das Wort nahm.
Ihr Unglück, Herr Sallmann, geht mir nah', ſagte er, aber ver¬
zweifeln Sie darum am Lande der Freiheit nicht. Es iſt die wahre
und wirkliche Freiheit, glauben Sie, die ſich im Buchſtaben ſo leicht
nicht einfangen läßt. Der Buchſtabe muß auf's Bündigſte und Be¬
ſtimmteſte geſtellt ſein, denn mit der Auslegung kommt ſchon die
Willkür. So hat die Legiſlatur von Newyork kürzlich das Neun-
Kegelſpiel verboten. Gehen Sie aber auf den Broadway in Gothic-
Hall, zweiten Stock, ſo finden Sie dort nicht weniger als fünf Kegelbahnen
neben einander. Wird ein verbotenes Spiel hier geſpielt? Bei Leibe
nicht; die Parthie hat blos einen Kegel mehr bekommen. Man ſpielt
ein Zehn-Kegelſpiel jetzt.
Das ſei wie's ſei, ſeufzte der Bäcker, und ſtützte ſeinen Kopf in
beide Hände; ruinirt bin ich doch! Adieu Weib und Kind, ſchlagt euch
den Vater aus dem Sinn!
Benthal biß die Lippen und ſah mit dem Blicke des ſchmerzlichen
Mitleids auf den armen Verzagenden. Er ſchien einen Augenblick zu
überlegen, dann ſagte er entſchloſſen: Hören Sie mich an, Herr Sall¬
mann, was mir da einfällt. Ein kurioſes Mittel, aber es iſt ameri¬
kaniſch. Wir laſſen ihr Abenteuer als Pamphlet drucken und machen
den Kerl determinirt ſchlecht. Natürlich ſcherzhaft, witzig, mit der beſten
Miene zum böſen Spiel. In das Pamphlet wickeln Sie Ihre Sem¬
meln und Brote, und verſchenken ſie Stück für Stück an die
Kunden, die Sie gekauft haben. Geht auch der letzte Dollar dabei
drauf, — meinen Kopf zum Pfande! die Kunden treten zu Ihnen
[112] über. Wagniß und Scandal liebt der Yankee. Sind Sie auf gut
amerikaniſch betrogen, ſo ſoll uns derſelbe Landesgeiſt auch zur Re¬
vanche herhalten. Man muß überall das Mittel beim Uebel ſuchen.
Der Schriftſetzer fügte hinzu: Und ich gehe beim Austragen neben
Ihnen her und lache für einen halben Dollar per Tag. So haben Sie
ſchon den erſten Lacher auf Ihrer Seite.
Damit war ein heiterer Ton angeſchlagen, worauf Benthal ſeine
Tagesordnung fortſetzte. Herr Carrey, Inhaber der großen Kupfer¬
fabrik, Chatham-Straße No. 9, hat ſich gelegentlich der Präſidenten¬
wahl mit einem Theil ſeiner Arbeiter entzweit, welche gegen ihn
ſtimmten. Er entläßt ſie und erſetzt ſie durch neue. Ich notirte mir
das für Sie, Herr Bertling.
Eine Stimme in thüringer Mundart antwortete: ne, ich hab's
verred't. Die Kerls verdienen keinen Deutſchen. Wenn mein Vor¬
ſpann aus Deutſchland eintrifft, eröffne ich mein eignes Geſchäft.
Sie warten aber ſchon lange auf dieſen Vorſpann, bemerkte der
Frankfurter Gärtner; und wer ſich inzwiſchen ein Thalerchen ver¬
diente, wie? 's wär' beſſer als in Finger geſchnitten; nichts für
ungut.
Iſt's meine Schuld, fragte der Kupferſchmied, daß es bei Ludlow
in Brooklyn nur drei Tage dauerte? Was ein gelernter Meiſter iſt
und ſoll ſich unter das Volk ſtellen — Menſchen von neunerlei Hand¬
werk, die alle Sättel reiten, kein Teufel weiß, was für einen Pro¬
feſſioniſten man eigentlich vor ſich hat bei ſo Yankee, ein wahrer
Rattenkönig von Handwerken, — probiren Sie das, meine Herren:
lieber Fuchsprellen, werden Sie ſagen. Wie ſie die Branntweinblaſen
hier machen, iſt die Conſtruction ſo, daß man die einzelnen Theile
nicht auseinanderlegen und reinigen kann; nothwendig wird dabei das
Product unreinen Geſchmacks, und der Deſtilateur hat noch eine zweite
Arbeit mit'm Abziehen. An ſo einer Blaſe bekam ich mein erſtes
Stück; da dacht' ich hollah! jetzt zeigſt du den Meiſter, und ſchlage
die Sache vor nach deiner Art, nämlich mit den Schwarz'ſchen
Apparaten. Was meinen Sie daß ich Dank dafür hatte? Ausge¬
grunzt wurd' ich noch. Eingeſtanden, daß mein Engliſch nicht fix war
und meine Zeichnung nicht eben correct; was ſchadet's? ein Deutſcher
merkt doch auf und faßt, was man ihm beibringt. Aber dieſe lang¬
[113] beinigen Rothhaare ſind wie ungeleckte Bären. Da iſt kein Sinn und
Begriff drin. Was hilft der Kuh die Muskate? heißt's da. Wir
ſchrieen uns die Ohren taub wie bei'm babyloniſchen Thurm und
fuhren uns vor den Augen herum wie in der ägyptiſchen Finſterniß;
ſie ſpuckten mir ihre Tabaksknülle ein paar tauſendmal vor die Füße,
das war all ihre Kunſt. Garſtig becomplimentirten wir uns aus
einander.
Danken Sie Gott, rief Benthal, Sie haben ſich ein Capital ge¬
rettet. Wie in aller Welt wandelt Sie die Großmuth an, Herr
Bertling, daß Sie den Schwarz'ſchen Brennapparat ſo ohne Weiters
zum Beſten geben? Werden Sie nicht ſelbſt Ihr Hauptgeſchäft damit
machen, wenn Ihr Vorſpann, wie Sie ſagen, anlangt? O Deutſchland,
wann wirſt du aufhören, die Welt auszuſtatten, und anfangen, an
dich ſelbſt zu denken! Anſtatt die eigenen Kunſtgriffe für ſich zu be¬
halten und fremde dazu zu lernen, machen Sie's umgekehrt; den
Schwarz'ſchen Apparat geben Sie hintan und tauſchen nichts ein dafür
von der hieſigen Technik. Herrn Ludlow auf Brooklyn kenne ich nicht,
wie ich mir überhaupt in drei Tagen nichts Amerikaniſches kennen zu
lernen getraue, aber laſſen Sie die Fabrik Carrey ja nicht ungeſehen
als Fachmann. Sehen Sie ſich die großen Arbeiten für die ſüdlichen
Zuckerſiedereien an, das kommt uns in Deutſchland doch nicht vor.
Was ſag' ich? Betrachten Sie den nächſt beſten amerikaniſchen Nagel!
Er hat an ſeinen vier Ecken feine ſcharfe Widerhacken, die ihn unaus¬
reißbar mit dem Holze verbinden, iſt auch gegoſſen, nicht geſchmiedet.
Ich wollte, es läge auf allen deutſchen Agenturen nur ein einziger
ſolcher Nagel auf, daß wir bis in's Kleinſte ein Bild davon bekämen,
wie verſchieden von uns hier fabricirt wird. Mancher deutſche Pro¬
feſſioniſt wäre dann weniger raſch, auf ſeine Profeſſion auszuwandern.
Der Rector magnificus hat Recht, ſagt ein Berliner Maſchinen¬
bauer; ich kam herüber in der Meinung, wenigſtens Werkführer oder
Factor zu werden mit meinen Kenntniſſen. Es iſt mir auch nicht
bange, daß ich's in einigen Jahren bin, für den Anfang aber muß
ich froh ſein, auf halben Sold einen halben Lehrling zu machen. Es
ſind ganz andere Conſtructionen hier. Es iſt ein Unterſchied, wie
Feuerſteinſchloß und Percuſſionsſchloß; jedes Stift wird hier anders
D.B. VII. Der Amerika-Müde. 8[114]
Und manches Metier kommt gar nicht an, ſetzte ein Hanauer Gold¬
arbeiter hinzu. Ich fragte um Arbeit herum. — Sind Sie ein Uhr¬
macher? hieß es überall. Ich bitt' Einen: Goldarbeiter und Uhr¬
macher! Ob im Schmuckfache gar nicht gearbeitet wird? fragt' ich
weiter. — Wenig, das kommt von Paris und London. Vergebens
verdolmetſche ich den Leuten, daß wir Hanauer es nach Paris und
London ſchicken, — wer glaubt es Einem? Und ſo arbeite ich jetzt
auf Probe in einem Geſchäft, — um's Waſſer! rief der Hanauer
mit Zorn und Mißmuth.
So verhält es ſich, ſagte Benthal, nur Eines verſchweigen Sie,
meine Herren. Eine raſche Kenntniß des Engliſchen, eine raſche Um¬
wandlung in die Nationalformen des „sham“ würde Sie als Ma¬
ſchinenbauer wie als Schmuckarbeiter ganz anders accreditiren. Sie
müßten kein deutſches Wort mehr hören. Indeß rechte ich freilich nicht
mit Ihrem vaterländiſchen Gemüthe, wenn es ſich auch „beim Waſſer“
noch wohler befindet in — Kleindeutſchland!
Der Sprecher hielt ſich einen Augenblick lang über ſeinen Papieren
auf, um dieſe Worte gehörig nachwirken zu laſſen. Das betroffene
Schweigen der beiden Vorredner bewies auch, daß er dieſen Zweck,
momentan mindeſtens, erreichte.
Hierauf fuhr er fort: Für Sie, Herr Poll, habe ich die Nachricht,
daß in einer Apotheke auf dem Bowery eine Stelle offen iſt. Sie
trägt freilich nur fünf Dollar monatlich bei freiem Board; aber
wie Ihnen die Verhältniſſe bekannt ſind —
Der Angeredete — ein munterer Lockenkopf in den letzten Faden
eines ſtudentiſchen Sammtrocks — rief mit erſchrockener Stimme: Bei
freiem Board? wie ſchade! Pardon, Herr Rector magnificus, aber
auf eine Condition mit Beköſtigung muß ich verzichten. Ich habe
keinen Magen für dieſes naſſe glitſchige Brod, für dieſes ewige
Schweinefleiſch, für dieſe trocknen, ausgekochten Braten, für dieſe Talg-
und Thran-Meere von öligen Saucen, für dieſe ſchlechten Gemüſe,
für dieſe alten Hülſenfrüchte, für dieſe Fuder von Pfeffer, Salz und
Gewürzen, die ein Aufputz ſein ſollen für Alles, aber blos Gaumen,
Zunge und Zahnfleiſch zerfreſſen, für dieſes abſcheuliche Tiſchgetränk
von gewärmtem und gewäſſertem Brandy, für dieſe —
Es iſt wahr, unterbrach ihn Benthal, man muß ſich die hieſige
[115] Küche erſt anerziehen. Ich z. B. aß nur einmal in der Woche ame¬
rikaniſch, dann zweimal, dreimal, u. ſ. f. bis ich mich vom grünen
Baum entwöhnt hatte. Man fällt auf Liſten, wie Demoſthenes, voraus¬
geſetzt, man hat auch von ſeinem Willensernſte Etwas.
Der Lockige antwortete mit einer Art komiſcher Tragik: Gewiſſe
Dinge liegen außer unſrer Selbſtbeſtimmung, Herr Rector. Deutſch
zu hungern, wird mir leichter, als amerikaniſch zu eſſen. Auf Ehre!
Benthal zuckte die Achſeln und ſagte: Zufällig habe ich noch etwas
an der Hand für Sie. Es kam mir ein Brief zu Geſichte, ein deut¬
ſcher Arzt in einer Shaker-Gemeinde bei Pittsburg freut ſich darin
über den Aufſchwung ſeiner Praxis, und da er bisher die Arzeneien
größtentheils ſelbſt bereitete, wie es bei Aerzten kleiner Landſtädte
hier Brauch iſt, ſo würde er dieſes Geſchäft jetzt gerne einem Colla¬
borator überlaſſen. Notabene, er wünſchte ausdrücklich einen Deutſchen
dafür. Vielleicht führt er denn auch noch deutſche Küche. Genug,
ich notirte mir's gleichfalls für Sie, Herr Poll.
Dankſchuldigſt anerkannt! erwiederte der Gelockte, aber mit einem
langen Geſichte und bedächtigem Griff in ſeine Rocktaſche, fragte er
gedehnt: Bei Pittsburg, Herr Rector, ſagten Sie ſo?
In der Gegend von Pittsburg, ja!
Der Apotheker hatte eine Druckſchrift aus der zerriſſenen Rocktaſche
zu Tage gewickelt und ſchlug jetzt mit der Hand, daß es klatſchte, in
das entfaltete Papier. Richtig! Pittsburg, im Mai, da ſteht es! oh
ich Schlemihl! rief er beſtürzt.
Alles blickte auf ihn und ſeine Papiere, umdrängte ihn und
forſchte.
Das iſt ja im Narrenland! dieſes Pittsburg, brach Poll mit
erhobener Stimme los. Und die Gruppe voll geſpannter, neugieriger
Geſichter anredend, fuhr er fort: Stellen Sie ſich vor, meine Herren,
ich promenire heute am Nordfluß, weiß Gott woran ich dachte, da
kommt ein Bengel mit einem Austräger-Portefeuille auf mich zu, und
ſchenkt mir dieſes Tractätlein. Man kennt die Waare, die ſich Einem
ſo auf den Straßen an den Hals wirft; indeß, ich denke: du übſt dich
im Engliſchen, und müßig wie ich bin, las ich den bedruckten Lumpen.
Aber da hört doch Alles auf. Ich überſetze nicht ſo fließend, Sie
bemühen ſich wohl, Herr Rector!
8 *[116]
Benthal empfing das Blatt, überflog die erſte Seite und fragte
gleichgiltig: Hm! der Verein will das neue Jeruſalem aufbauen und
beſchreibt den Tempel wie eine Art Blockhaus. Was weiter?
Die zweite Seite, wenn ich bitten darf, wo er das Coſtüm der
Gläubigen vorſchreibt.
Benthal wendete um und las vom Blatte weg deutſch:
Das Kleid, welches vollkommen dem Innern des heiligen Men¬
ſchen und ſeiner reinſten Umgebung entſpricht, ſoll beſchaffen ſein, wie
folgt: die Hoſen dürfen nicht zu weit und nicht zu eng ſein, — die
Unterhoſen verbinde man ſo mit den Hoſen, daß ſie frei darin hängen
und mit denſelben angezogen werden. Jeder wählt ſich die Farbe ſeiner
Kleidung nach der Art des Schmutzes ſeiner Arbeit; zu den Zeiten
aber, wo man keine ſchmutzende Beſchäftigung hat, ſoll man tragen
Hoſen von glänzendem Hellgelb, einen ſchneeweißen Rock und einen
glänzend gelben oder goldenen Gürtel. Ein goldener Hut, von glän¬
zend hellgelber Farbe iſt der beſte. Er ſoll da, wo er am Kopfe an¬
liegt, kleine Luftlöcher haben, welche durch loſe Einfaſſung mit den
edelſten Perlen und Steinen, ſo edel als man ſie kaufen kann, ver¬
deckt werden ſollen. Die weiblichen Perſonen, welche von Natur lange
Haupthaare tragen, ſollen dieſe zu dem einzig richtigen Zwecke derſel¬
ben, ihren Hals damit zu erwärmen, benützen, und ſie auf paſſende
Weiſe gebunden, um den Hals herumwinden. Die männlichen Per¬
ſonen, denen zur Beihilfe ihrer kürzeren Haupthaare auch Bärte ge¬
geben ſind, ſollen dieſe nicht hinwegraſiren, denn der Bart iſt ein
Hauptbeſtandtheil des männlichen Körpers nach Gottes allmächtigem
Willen, und durch wiederholtes Abraſiren deſſelben verwachſen die
Wurzeln dermaßen, daß ſie das Geſicht ſehr verderben, und es kann
auch das Abſchneiden des Bartes nur von ſehr naturwidrigen Folgen
ſein. Die im Amte ſtehenden Lehrer und Aelteſten des Volks ſollen
auf weißen Pferden reiten, denn die Pflichten ihres Amtes machen ſie
zur unmittelbarſten Umſicht im hellen Geiſte aller Erkenntniſſe verbind¬
lich ; weßhalb ſich dieſes Amt hiebei auch durch die Helle äußern muß.
Die Richter ſollen auf Pferden von lebhafter braunrother Farbe reiten;
denn aus ihrem Amte ſoll der Eifer einer feurigen Energie ſprechen.
Die Kaſſenverwalter ſollen auf ſchwarzen Pferden reiten, ſo wie die
unmittelbarſte Aeußerung ihres Amtes ſich mit den Bedürfniſſen be¬
[117] ſchäftigt, welche gleich einer Schattenſeite des Lebens ſich verändern
und verſchwinden. — Die Bewohner unſrer heiligen Stadt mögen
nicht heirathen; denn welcher edle Chriſt wird bezweifeln, daß Gott
vermag, dem Abraham Kinder aus Steinen zu erwecken.“
Hier legte Benthal die Flugſchrift lächelnd aus der Hand, und
das ſchallende Gelächter der ganzen Gaſtſtube begleitete ihren Abgang. —
Sie haben gut lachen, meine Herren, ſagte Poll, ſelbſt lachend, aber
ich armer Schächer! Dort riskire ich den Magen und hier das Gehirn.
Adieu, — „Pittsburg im Mai!“ Sie ſehen, Herr Rector, ich muß
leider noch einmal verzichten.
O ſchade! hieß es, ich möcht' ihn ſehen im gelblakirten Hut —
Und im ſchneeweißen Rock —
Und wie er Kinder aus Staincher zieht, ſagte der Frankfurter
Gärtner.
Das Gelächter fing von Neuem an.
Machen wir all unſre Tollhäuſer auf; rief der Bäcker aus Alten¬
burg; wenn in Amerika die Narren frei herum laufen, warum ſperrt
man ſie ein in Europa?
Meine Herren, ſagte Benthal, es iſt uns Deutſchen mit Recht eine
Erquickung, daß wir an ſolchen Zerrbildern unſre eigne Kultur fühlen
lernen. Dieſer plumpe Prophet hier will geiſtige Tendenzen verfolgen
und verwickelt ſich dabei in Unter- und Oberhoſen! Das iſt echt
amerikaniſch. Freilich iſt er zugleich auch praktiſch wie ein Amerikaner.
Was z. B. das Hängen-laſſen der Unter- in den Oberhoſen betrifft,
ſo ſteht wohl Niemand unter uns, der als Lehrling oder Geſelle in
ungeheizten Kammern ſchlief und dieſes Dogma nicht am Abend be¬
folgt hätte zur großen Förderniß ſeiner Morgentoilette. Hierin ſind
wir wohl naturwüchſige Gläubige des neuen Jeruſalems. Auch die
Wahl unſrer Farben zu Gunſten der ſchmutzenden Berufsarbeiten, wie
er ſagt, iſt, wenn nicht appetitlich, doch nützlich erinnert. Dabei läßt
ſich zugleich einſehen, warum unſere Böſewichter von Präſidenten, unſre
Kieſelherzen von Financiers, kurz das ganze feine, alſo laſterhafte
Europa mit Vorliebe Schwarz trägt. Es iſt die officielle Farbe des
neuen Jeruſalems für ſehr ſchmutzige Beſchäftigungen.
Ein donnerndes Bravo der Auswanderer krönte dieſen radicalen
Scherz.
[118]
Benthal fuhr fort: Gemach, meine Herren! Fremde Narrheit be¬
lachen iſt der Zucker des Lebens, heilſame Nutzanwendung davon das
Salz. Was wollen Sie? dieſer Prophet da, wie Sie ſehen, hat ganz
gute Verſtandesmaximen; komiſch wird er nur dadurch, daß er den
Verſtand in die falſche Beleuchtung der Religiöſität ſtellt. Aber macht
es der deutſche Rationalismus anders? Den gemeinen Verſtand ſchiebt
er an die Stelle der alten wunderthätigen Heiligthümer, und iſt ſo
naiv, die alte religiöſe Begeiſterung für denſelben in Anſpruch zu
nehmen. Und nun das Bart-Dogma! Iſt es nicht eine von den acht
Seligkeiten des „Vater Jahn“ und haben wir — wenigſtens bis zur
Juli-Revolution, — „Vater Jahn“ nicht mit Andacht ſeine Borſten-
Religion predigen laſſen? Ach, meine Herren, die Narrenleine iſt gleich
der Linie des Aequators, ſie läuft um die ganze Erde herum. Daß
alſo ein Geſcheidter in Kleindeutſchland verhungern ſoll, weil um
Pittsburg herum Narren ſitzen, das ſcheint mir eine Logik, die viel¬
mehr eine Verwandtſchaft als einen Gegenſatz mit den Pittsburgern
beurkunden dürfte.
Bei dieſer Pointe hatte der Lockige ſeinerſeits eine kleine, freund¬
ſchaftliche Lache zu beſtehen; aber die Zärtlichkeit für ſein Gehirn war
damit niedergeſchlagen. Er zauderte nun nicht mehr, das Offert an¬
zunehmen. Die Geſellſchaft unterhielt ſich noch eine Weile damit, ihn
als Mitglied des neuen Jeruſalems zu parodiren, während Benthal
den ernſteren Wink anbrachte, ſeiner Landsleute zu gedenken, wenn er
ſelbſt reüiſſirte, — was die Spötter doch auch wieder gerne hörten.
Benthal fuhr hierauf in ſeinen Mittheilungen fort: Die hieſigen
Verhältniſſe des Tuchmachergewerks — iſt Herr Sorau nicht hier? —
leider! er verſäumt nichts; ſeine Profeſſion iſt gleich Null hier: das
gröbſte Fabrikat ausgenommen, iſt Alles Import.
Er glaubte ſich auf die Teppichweberei einzuſchießen, ſagte der
Bäcker Sallmann, den Abweſenden vertretend; wir hörten zu Hauſe,
daß der Teppich hier allgemeine Mode ſei, — bis in die Bauern¬
hütte herab.
Benthal antwortete: Das hat ſeine Richtigkeit, wie wir ſehen; nur
webt ſich der Farmer von ſelbſterzeugter Wolle ſeine Hausteppiche ſelbſt
in den müßigen Wintertagen. Was aber die feinere ſtädtiſche Waare
betrifft, ſo engagirt man an den großen powerlooms oder Dampf¬
[119] webſtühlen ausſchließlich Leute vom Fach, die gut eingearbeitet ſind,
nicht Praktikanten. Ueberdies verſteht Herr Sorau kein Wort engliſch.
Sagen Sie ihm alſo, es iſt ein Glückſpiel wie Pharao, wenn er länger
auf Verdienſt in ſeinem Metier wartet.
Was ſoll er machen? fragte Sallmann achſelzuckend.
Cigarren, antwortete Benthal hingeworfen.
Damit ſind wir abgefahren, rief augenblicklich eine gute Anzahl
von Stimmen.
Ich will Ihnen auch erzählen wie es zuging, antwortete Benthal.
Sie nahmen die nächſtbeſte Zeitung zur Hand, und ſuchten und fanden
darin Annoncen, nach welchen, wie es hieß, „unter den ſolideſten Be¬
dingungen“ Lehrlinge angenommen wurden. Iſt es ſo?
Ja! ja!
Die Bedingungen waren: vier Wochen Lehrzeit und zehn bis
ſechzehn Dollar Lehrgeld bei eigener Beköſtigung. Waren das Ihre
Bedingungen?
Ja! ja!
Sie gingen auf dieſelben ein. Nach der erſten Woche waren Sie
fähig, die ordinärſte Penny-Cigarre zu fertigen. Dabei blieb's aber
auch die drei folgenden Wochen. Ihr ſogenannter Meiſter verharrte
bei der Penny-Sorte. Sie aber kannten als Neulinge weder den ge¬
ringen Tabak, noch den geringen Preis, Sie kannten die ſchlechte
Rentabilität dieſer Sorte nicht, wußten alſo auch nicht, was das ganze
Manövre mit Ihnen zu bedeuten hatte. Es bedeutete aber dieſes:
Ihr ſogenannter Meiſter hatte auf drei Wochen einen Arbeiter, den
er nicht bezahlte, von dem er umgekehrt bezahlt wurde. Als Sie dann
ſelbſtändig zu arbeiten anfingen, merkten Sie erſt, auf welch' geringer
Stufe Ihrer Ausbildung Sie ſtanden. Die Penny-Sorte hatte zwar
Ihrem ſogenannten Meiſter rentirt, der ja Lohn ſparte und Lohn
empfing; Sie dagegen verdienten nicht das Salz dabei. Für die fei¬
nere Arbeit, die beſſer bezahlt wird, hätten Sie einer neuen Lehrzeit
bedurft. Dazu fehlte aber jetzt: Muth, Geduld, Geld! So gaben
Sie das Cigarrenmachen auf. Iſt es ſo?
Ja! ja! war die einſtimmige Antwort der Obigen.
Benthal fuhr fort: Ich habe mich ſpeciell über dieſe Verhältniſſe
belehren laſſen, weil ich annehmen muß, daß Viele von Ihnen davon
[120] fortwährend werden Gebrauch machen wollen. Ich bedauere nur, daß
Sie die Beute von Betrügern geworden ſind, eh' ich das Vergnügen
hatte, Sie zu beſuchen. Die Richtſchnur ſich vor zukünftigem Schaden
zu bewahren iſt im Weſentlichen dieſe: der Lehrling accordirt ein
Lehrgeld von zehn Dollar auf unbeſtimmte Zeit, d. h. bis er die
Fabrikation ſämmtlicher Cigarren-Sorten gut und tüchtig gelernt
hat. Zugleich läßt er ſich jedes ſelbſtgefertigte, brauchbare Stück Ci¬
garre bezahlen, und zwar zu dem üblichen Preis. Das iſt das einzig
reelle Verfahren. Meiſter, welche andere Bedingungen ſtellen, ſind
Schwindler; Sie finden aber auch auf dieſe noch der Ehrlichen genug.
Ich notirte mir eine Reihe derſelben zu Ihrem beliebigen Gebrauch.
Benthal gab eine Anzahl von Zetteln hintan zur großen Befrie¬
digung Vieler, welche mit Eifer darnach griffen. Nur hin und wieder
ſah man eine Hand unſchlüſſig zucken — unſchlüſſig zwiſchen dem
Orange der Noth und einem ſehr bemerkbaren bürgerlichen Meiſter¬
ſtolz, der noch ſchnell zu überrechnen ſchien, ob ſeine Kaſſe vorhalten
würde, auch ohne dieſes dargebotene Auskunftsmittel. Hin und wieder
hörte man aber auch den halb unterdrückten Seufzer eines Armen,
der traurig die vertheilten Adreſſen an ſich vorübergehen ließ, weil
ſeine Umſtände bereits ſo ſchlimm waren, daß ſie ihm einen Aufwand
von zehn Dollar Lehrgeld nicht mehr erlaubten. Perſonen dieſer beiden
Farben waren es, welche den Rector jetzt mit Fragen anlagen, was
ihm Entſcheidendes über ihre betreffenden Berufszweige etwa bekannt
geworden. Benthal beſchied ſie ſo gut er's vermochte, ermangelnden
Falls machte er ſich Noten und verſprach möglichſte Auskunft für das
Nächſtemal. Daneben gab es aber auch welche, die ſich ſelbſt weder
in dieſe noch in jene der bezeichneten Schickſalskategorien zu rangiren
wußten, und offenbar noch keinerlei Mittel zwiſchen ſich und der neuen
Welt gefunden hatten. So z. B. geſtand der Schneider aus Würtem¬
berg unverhohlen, daß er ſich in totaler Confuſion über ſein Geſchäft
befinde. Agenten, Briefe von Auswanderern, kurz Alles hätte zu
Hauſe übereingeſtimmt, nichts ſei ſicherer und lohnender hier als die
Schneiderei. Nun laufe er aber ſchon wochenlang ohne einen Stich in
Newyork herum. Auch Landsleute am Hafen hätten ihm jede Hoffnung —
Nichts von den Landsleuten am Hafen! fiel Benthal lebhaft da¬
zwiſchen, die Race [...]kennen wir! Das ſind aller Welt Landsleute.
[121] Schotte, Holländer, Deutſcher, Franzoſe, — jeder iſt ihr Bruder, jeden
dutzen ſie in ſeiner Mutterſprache und verderben ihn ohne eine Spur
von Gewiſſen. Wer ihnen traut, hat immer den ſchlechteſten Stand
hier, ſein Gewerbe iſt immer das elendeſte, es ſei was es ſei. Bis
auf die letzte Ader ſaugen ſie ihm den Muth aus der Seele und
füllen ſie dafür mit Whisky-Begeiſterung und Arac-Moral. Sie
ſchleppen ihn von Schenke zu Schenke, halten ihn frei, vermitteln ihm
Alles und Jedes, laſſen ihm keinen ſelbſtändigen Schritt zu, nur durch
ihre Brille darf der „Landsmann“ die neue Welt ſehen. Endlich haben
ſie ihn für jeden Preis, ſchleppen den „glücklich Placirten“ in ſeine
Sclaverei, und wenn es je möglich iſt, einen Menſchen lebendigen
Leibs zu viertheilen, ſo iſt ein ſolches Opfer geviertheilt. Ein Viertel
bekommt der Zubringer, ein Viertel der Herbergswirth, ein Viertel
der Arbeitgeber und nur das letzte Viertel ſeines Verdienſts er, der
Arbeiter ſelbſt. Davon mag er vegetiren bis ihm der letzte geſunde
Tropfen ausgepreßt iſt, bis er hingeht, Lump mit den Lumpen, und
den neuen Landsmann verdirbt, wie er ſelbſt verderbt wurde. Wahr¬
lich, vergebens jubelt der arme Auswanderer, der Peſt und dem Ekel
des Zwiſchendecks zu entfliehen: ſo wie er den Fuß an's Land ſetzt,
verwandelt ſich ihm das Schiffsungeziefer in Loafer's, Runner's und
Rowdie's, und Fleiſch und das Mark in den Knochen verſchwindet
unter den Freßzangen dieſer Brut. Ich beſchwöre Sie, meine Herren,
würdigen Sie dieſe Hafen-Landsmannſchaft Ihres Umganges nicht!
Von dem Augenblicke an, als ich das Treiben dort kennen lernte,
hielt ich es für meine heilige Pflicht, mein Glas Bier in Ihrer Mitte
zu trinken, um das Wenige aber mindeſtens Wahre und Wohlgemeinte
Ihnen mitzutheilen, was meine Zeit mir von hieſiger Ortskunde ein¬
zuſammeln erlaubt.
Eine Stimme rief aus der Mitte der Uebrigen: Iſt ſtets dankbar
anerkannt worden, Herr Rector, und wir Alle wünſchen, Sie mach¬
ten uns endlich die Freude, und ließen ſich eine regelmäßige Grati¬
fication für Ihre Bemühungen gefallen. Es wäre nicht mehr als in
der Ordnung.
Benthal antwortete hurtig: Ich bitte das ruhen zu laſſen, ich
habe es eben ſo oft gewünſcht. Sie wiſſen, daß ich kein Verdienſt
daraus mache, im grünen Baum einzukehren und mich mit Ihnen zu
[122] unterhalten, ob von Wind und Wetter oder von Geſchäften: 's iſt
immer Zeitvertreib. Das müßte noch ganz andere Maßſtäbe annehmen,
wenn es des Lohnes werth ſein ſollte. Ein Berichterſtatter müßte
ſeinen Beruf daraus machen, — was ſag' ich, Einer? Ein ganzes
Comité wäre nicht zu viel. Wahrſcheinlich erleben wir auch die Grün¬
dung eines ſolchen; es müſſen erſt ein paar tauſend unſers Volks zu
Grunde gehen in den Händen der Hafenauskünftler. Das iſt auch in
der Ordnung! — Und abſpringend von dem patriotiſchen Sarkasmus
fuhr er fort: Ihr Gewerbe, Herr Eckerlein, hat goldenen Boden in
Newyork, ſeien Sie ganz ruhig darüber. Die Sache iſt einfach die:
Sie haben die ſogenannte „gute Zeit“ ungefähr um Oſtern herum
auf der See zugebracht; nicht wahr? Herbſt und Frühling iſt
aber auch hier die gute Zeit für die Schneider, und Winter und
Sommer die ſchlechte. Indeß iſt auch die ſchlechte keineswegs brodlos
in Newyork. Es floriren da die ſogenannten South-Shops, die großen
Kleiderfabriken, welche ganze Schiffsladungen ihrer Waare nach dem
Süden abſetzen. Sie können denken, wie für die Schafhirten Virginiens,
oder für die Neger der Reis- und Zuckerplantagen genäht wird. So
bekommen Sie denn auch für ein Beinkleid fünfundzwanzig Cent, eine
Näherin gar nur achtzehn, während in der eleganten Newyorker Seaſon
der Lohn ein, ſogar anderthalb Dollar iſt. Dieſes Lohnerſparniß macht
natürlich den enormen Vortheil der South-Shops aus, während der
Schneider ſelbſt doch auch wieder Vortheil davon hat: den Vortheil
einer ſtets offenen Verſorgungsanſtalt in ſeinen ſchlimmſten Tagen.
Ich rathe Ihnen alſo, Herr Eckerlein, nehmen Sie bis zum Herbſt
mit ſo einem Shout-Shop verlieb.
Der Würtemberger antwortete: Ei, Herr Rector, ich frug ſchon
herum bei Einigen, aber man ſchlug mir überall fixes Engagement
vor, und da bat ich mir doch Bedenkzeit aus.
Benthal lächelte: Die Rackers! wie ſie nur ein deutſches Geſicht
ſehen, verſuchen ſie gleich die Prellerei. Fixes Engagement in einem
Shouth-Shop! Ein theures Linſengericht in einer hungrigen Stunde!
Ueberhaupt, meine Herren, betrachten Sie das ſo ziemlich als Regel:
wer Ihnen gar zu prompt feſten Contract anbietet, der ſpeculirt auf
Ihre Landesunkenntniß, auf Ihre augenblickliche Noth, und will Sie
zum weißen Sclaven machen. Nein, Herr Eckerlein, nichts von ſolchen
[123] Engagements! Fahren Sie nur fort in den Shout-Shops Arbeit zu
ſuchen; aber laſſen Sie ſich merken, daß Sie die Verhältniſſe kennen,
daß Sie noch Subſiſtenzmittel haben, ziehen Sie ein patentes Röckchen
an, auch wenn's geborgt wäre, — und man wird Sie gerne an¬
nehmen, ohne daß Sie dem Teufel für die magre Seaſon Ihre fette
verſchreiben. Probiren Sie's nur ſo.
Mir ſcheint, ich bin in dem gleichen Falle mit Herrn Eckerlein,
hörte man die ſchwere Stimme eines Weſtphalen, die zu der ſchwäbiſchen
Mundart des Würtembergers ſo markig contraſtirte, daß Alles faſt
erſchrocken aufblickte.
Sie ſind? fragte Benthal.
In Deutſchland war ich Tapezierer, antwortete der Weſtphale, was
ich hier bin weiß Gott, ich nicht. Mein Bruder, der als Zimmer¬
maler im biſchöflichen Schloſſe zu Münſter Brod hatte, wurde abge¬
dankt, weil er ſich die Proteſtantin nicht ausreden ließ, da man ihm
ein katholiſch' Küchenmädchen zugedacht hatte. Indem er ſich nun
wegen der Auswanderung erkundigte, hieß es einſtimmig: für Zim¬
mermaler wär's nichts, man hätte nur Tapeten drüben. Hollah, dacht'
ich, denn ich ſtand ſchon zuvor ſprungfertig, der Eimer, der nicht
Waſſer hält, mißt doch Hafer; das iſt eine Hacke auf deinen Stiel.
Ich geh' alſo voraus auf meine Profeſſion, da ſie die beſſere iſt, und
ſollte mich umthun, wie der zu Hauſe nachzubugſiren wäre: aber was
find' ich? wollte Gott, ich ſäh' ſelbſt wieder die Lippe fließen, ſtatt
North- und Eaſt-River! Die Tapezierer, oder wie man's hier heißt,
die Paperhangers, haben nur drei Monat' im Jahr: April, Mai,
Juni; — das war juſt die Zeit meiner Ueberfahrt. Ich mußte alſo
friſchweg neun Monate warten — Bagatell! in neun Monaten wird
ſonſt zwei aus eins; ich aber wurde Null. Daß dich der Schwed!
dacht' ich, ſollte denn die Papierleimerei das ganze Geſchäft hier ſein?
Matratzen haben Sie doch! So frag' ich nach Polſtererarbeit. Die
macht der Möbelſchreiner, hieß es. Auch nicht übel! Ich geh' nun zum
Möbelſchreiner. Ob ich anſtreichen und malen könnte! Mich trifft der Don¬
ner! Anſtreichen und malen! ich mal' euch was! Am Ende fragt das Beeſt,
ob der Tapezierer ein Glockengießer iſt! Aber ſo geht's hier; Herr Bertling
hat Recht, wahre Rattenkönige von Handwerk findet man hier. Das
eine Fach iſt oft auseinandergeſchlagen, daß man die Scherben in
[124] zehnerlei andern Branchen ſuchen muß, und umgekehrt mengſeln ſie
Handwerker zuſammen — es iſt toll! Ich möcht' hier in keiner Ba¬
taille bleſſirt werden: ein Yankee-Chirurg iſt im Stande und ſetzt mir
den Fußknöchel in's Schulterblatt.
Geht mir's anders? hub ein Glaſer an; aber Benthal unterbrach
ihn: Mit Erlaubniß, Herr Thalhofer iſt nicht zu Ende.
Der Weſtphale fuhr fort: Was meinen Sie nun, Herr Rector,
ſoll ich meinen letzten Penny in die Cigarrenmacher-Schule tragen?
Iſt es der letzte? fragte Benthal.
Der allerletzte; und wenn der deutſche Kaiſer ſein Pöſtchen ein¬
forderte —
Das ſind freilich keine Umſtände für einen Lehrcurſus, erwiederte
Benthal; mit Schulden anzufangen iſt überall verdrießlich, doppelt
in Auswandererslage, wo vielmehr ſtets ein paar Dollar Reiſegeld
übrig ſein ſollten für den Fall eines Unterkommens im Innern. Ich
will Ihnen dieſes ſagen: In Williamsburg weiß ich zwei deutſche
Doctoren, welche Pappſchachteln machen; ihr Abſatz iſt bereits ſo
gut, daß auch ein Dritter Arbeit fände. Fahren Sie einmal hinüber.
Der Tapezierer ſagte bedenklich: Aber, Herr Rector, werden ſich
die Doctoren einen ſimplen Handwerksmann auch gefallen laſſen?
Benthal ſchrieb ihm die Adreſſe auf und hielt den Einwand kaum
der Mühe werth, mit Gemurmel darauf zu antworten: Ich hoffe,
die Herren haben begriffen, daß ſie in Newyork ſind, und nicht in
Schilda; — worauf er ſogleich fortfuhr: Was wollten Sie ſagen,
Herr Loßbert?
Der Glaſer antwortete: Neues gar nichts, Herr Rector, gar
nichts. Ich bin eben dran, wie wir Deutſche alle. Der Goldarbeiter
ſoll Uhrmacher ſein, der Tuchmacher Teppichdampfweber, der Tapezierer
Möbelſchreiner, der Möbelſchreiner Anſtreicher — nur was der Glaſer
hier ſein ſoll, konnt' ich noch nicht loskriegen. Aber daß er nichts iſt,
ſo viel weiß ich bereits. Auch ich tappe im Finſtern herum nach einem
Zipfel meines Handwerks und kann ihn nirgends erwiſchen.
Suchen Sie ihn beim Bautiſchler, antwortete Benthal.
Aber wenn auch dem Bautiſchler Arbeit fehlt? fragte der phälziſche
Schreiner.
So hat ſie der Zimmermann, war Benthal's Antwort.
[125]
Und wenn der Zimmermann feiert? erhob ſich ein tiefbrauner Kopf
mit dem länglich-ſcharfen Profil des Oberfranken.
Was! der Zimmermann feiert? rief Benthal; hier, wo jede Som¬
merſtunde ein Haus ausbrütet, jeder Tag der Geburtstag einer Straße
iſt? Nicht möglich!
Dann lüg' ich, ſagte der Franke kurz.
Benthal hielt einen Augenblick inne, hierauf erwiederte er: Sie
mögen Recht haben. Newyork liegt an der Front von Amerika, es
hat den ſtärkſten Anprall der Einwanderung auszuhalten. Ich gebe
die Localconcurrenz zu. Aber, iſt Newyork die Union? Wo bleibt
das weltgroße Hinterland? Gibt's nicht für tauſende von Ackern Jahr
aus Jahr ein Fenzen zu machen, iſt Pennſylvanien nicht bedeckt mit
Sägemühlen, die Alles beſchäftigen, was ſeine Holzart führt?
Reiſegeld! rief der Zimmermann, und das Wort traf in ſeiner
baaren Beſtimmtheit ſo ſchlagend die einfache Situation vieler Andern,
daß man es augenblicklich nachhallen hörte: Reiſegeld! ja, Reiſegeld!
Reiſegeld iſt immer zu haben, antwortete Benthal; wer es ſo ent¬
ſchieden ſucht, wie ich es hier äußern höre, der findet es am Hafen¬
krahn, bei den Eiſenbahnen, beim Canalgraben, im Arſenal auf Broo¬
klyn, mit der Handkarre, mit der Schaufel — wo und wie Sie wollen!
Ich wüßte keine Sorte öffentlicher Arbeiten, welche nicht Taglöhner
beſchäftigte, ſo viel ſich deren melden.
Das Wort Taglöhner machte einen aufregenden Eindruck auf die
deutſchen Handwerker. Einige fuhren wild durch einander, Andere
ſcharrten mit den Füßen, Manche ſchrieen laut auf und ſchickten ſich
zum Weinen an bei der Nennung eines Wortes, das ohne alle Illuſion
eine deſperate Lage bezeichnete. Ein Schmerzensausruf nach Deutſch¬
land erſcholl, und Einer nahm dem Andern das Wort der Rückkehr
vom Munde.
Benthal ließ all dieſe Aeußerungen eine Zeitlang ruhig gewähren,
dann ergriff er wieder das Wort und ſagte, als ob es nichts Beſon¬
deres wäre: Was die Rückkehr nach Deutſchland betrifft, ſo habe ich
eine Notiz darüber, welche von den Schiffsrhedern, wie es ſcheint, in
tiefſtes Dunkel gehüllt wird, denn es wäre ſonſt befremdend, daß
ſie nicht allgemeiner benutzt wird. Es beſteht nämlich ein Geſetz, wel¬
ches jeden Schiffseigenthümer verpflichtet, den Auswanderer, der binnen
[126] Jahr und Tag keinen Erwerb hier gefunden, an den Hafenplatz, von
dem er gekommen, wieder zurückzuführen, und zwar unentgeltlich. Die¬
jenigen nun, welche im äußerſten Falle —
Hier wurden die Worte des Sprechers unhörbar, denn die ganze
Verſammlung war wie elektriſirt bei dieſer Mittheilung. Alles ſprang
von den Stühlen auf, als ſollte es ſtehenden Fußes nach Deutſchland
zurückgehen. Der Zuſtand jedes Einzelnen ſchien mit Einemmale kopf¬
über geſtürzt, jede Sachlage in ihr Gegentheil verwandelt, jeder ge¬
faßte Entſchluß unhaltbar, und nur der eine Gedanke lebensfähig:
Rückkehr nach Deutſchland. Wie ein ausfliegender Bienenſchwarm ent¬
ſtand plötzlich eine äußerſt lebhafte, ja tumultuariſche Debatte in der
Gaſtſtube, und ihr Inhalt war — wenn in dem allgemeinen Durch¬
einander überhaupt ſich ein Inhalt verfolgen ließ — daß Jeder dem
Andern zu beweiſen ſuchte, ſein Erwerb ſei unzulänglich, war es nie an¬
ders, und werde es nie anders ſein; kurz, er ſei im vollſten Rechte,
jenes Geſetz zu ſeinen Gunſten in Anſpruch zu nehmen. Dazwiſchen
wurde mit glühenden Farben das Leben in Deutſchland geſchildert, es
ſtellte ſich ſonnenklar heraus, daß man zu Hauſe das Beſte verlaſſen
und das Schlimmſte dafür eingetauſcht, man könne nicht ſchnell genug
den Fehler gut machen; ja, die hitzigſten Köpfe ließen ſogar den Vor¬
wurf hören, daß Benthal dieſe Nachricht all' ſeinen übrigen nicht gleich
vorausgeſchickt, ſie ſei ja mehr werth, als das ganze Amerika.
Benthal verſuchte ein paar Mal zu Worte zu kommen, aber ver¬
gebens: er wurde der Aufregung nicht mächtig. Mit ſchwülem Auf¬
athmen griff er ſich an die Stirne, that einen Zug aus ſeinem Glaſe,
und ſah über das ordnungsloſe Element dahin, mit einem Blicke, der
halb dem verachtenden, halb dem erbarmenden Mitleid angehörte. End¬
lich gewann das Erbarmen die Oberhand, er ſprang auf, und griff
mit folgender Anſprache muthig an ſein Steuer.
Meine Herren, rief er, da Sie ſämmtlich nach Deutſchland
zurückkehren, ſo erlauben Sie mir ein Wort des Abſchiedes, denn wir
ſehen uns in dieſem Falle wahrſcheinlich zum letzten Male heute. Nach
dieſen Worten wiederholte er einen Zug aus ſeinem Glaſe, aber wenn
je eine Kunſtpauſe wirkte, ſo that es dieſe. Es wurde plötzlich ſtille,
man ſah ſich mit langen Geſichtern an, einige fingen zu lachen an.
Dieſen Moment ergriff Benthal, er ſetzte ſein Glas ab, und lächelte
[127] mit. Dann fuhr er fort: Ich muß nothwendig lächeln, wenn ich mir
vorſtelle, wie Sie ſelbſt nach fünf oder zehn Jahren an dieſen Augen¬
blick zurückdenken werden. Sie führen dann Ihre großen Firmen auf
dem Bowery, haben Häuſer oder ganze Straßen gebaut, befahren durch
Ihre Actien den obern See oder den mexikaniſchen Meerbuſen, ſind
Schul- und Kirchenvorſtände, Stadträthe, vielleicht Deputirte und
Gouverneure geworden, — denn das iſt die Carrière des Deutſchen:
mit der Thräne im Auge fängt er an, und mit der Million endet er.
Seiner weinerlichen und verſchließenen Geſtalt läuft heute der Straßen¬
junge nach mit dem Spottrufe: „ein Dutchman!“ und nach zehn
Jahren complimentirt ſich derſelbe Straßenjunge mit einer Candidaten¬
liſte durch Ihren Clubb, und ſpricht: „Die Deutſchen ſind die beſten
Bürger Amerika's. Wir empfehlen Ihrer einſichtsvollen und patrioti¬
ſchen Wahl — u. ſ. w.“ Thun Sie mir den Gefallen, meine Herren,
denken Sie an den grünen Baum zurück und an den Rector magni¬
ficus, der Ihnen das wörtlich ſo vorhergeſagt hat. Iſt es möglich,
werden Sie ausrufen, wußten wir nicht ſelbſt, daß aller Anfang ſchwer
iſt, und braucht uns Jemand den gemeinſten aller Gemeinplätze in
Erinnerung zu bringen? Ja, es iſt natürlich, ſo verkehrt es auch zu
ſein ſcheint: Reiten und Schwimmen lernen Tauſende von ſelbſt, aber
Gehen und Stehen lernt jeder Menſch unter Anleitung.
Möchten Sie das Glück, wovon ich ſpreche, in Tagen und Stunden
erreichen! wer wünſchte es aufrichtiger als ich? Aber wie ſchnell iſt
auch eine Handvoll Jahre herum! Der Lehrling ſieht ſich als Ge¬
ſelle, der Soldat als ausgedient, der Gefangene in der Freiheit —
Jahre ſind kurz, wenn das Ziel feſtſteht, das dahinter liegt; ohne dieſes
wird auch ein Tag zur unerträglichen Laſt. Glauben Sie an Ihr
Glück und es wird ſich erfüllen. Was macht den Yankee groß? Daß
er keinen Moment zu fixiren, ſondern jeden zu überbieten ſtrebt. An¬
ders der Deutſche. Er liebt das Beharren, Alles, auch das Schlech¬
teſte, wird ihm zum Ruhepunkte. Fragen Sie ſich ſelbſt, wie Sie
dahin kamen, dieſes kleindeutſche Kartenhaus feſtzuhalten? Ihre an¬
fängliche Abſicht war es nicht. Man wollte nur vorläufig beiſammen
bleiben bis Jeder ſeinen Weg gefunden hätte, aber dieſes „vorläufig“
wurde zur Gewohnheit. Man fand zwar ſeinen Weg nicht, aber doch
einen winzig ſchmalen Pfad, und der Deutſche iſt ja genügſam. Auf
[128] dieſem Pfad geht's nun dahin mit zerriſſenen Kleidern und wunden
Füſſen: wer ſein trocken Brod verdient hört ſchon zu ſtreben auf, ja
er theilt noch mit dem Andern, der es nicht verdient, und der nun
gleichfalls zu ſtreben aufhört im gewohnheitsmäßigen Genuſſe dieſer
Penſion. „Bruder, ich verlaß dich nicht“, heißt es; aber es ſollte
heißen: „Bruder wir verlaſſen uns ſelbſt alle Beide“.
Das geht uns an, murmelte der Schriftſetzer dem Frankfurter
Gärtner zu.
Benthal faßte die Beiden in's Auge, ſchwieg einen Augenblick, dann
ſagte er: Ich nenne keinen Namen, aber ich verleugne auch nicht, wer
ſich ſelbſt nennt. Allerdings, das geht Sie an, meine Herren. Herr
Henning, metteur-en-page, abſolvirter Gymnaſiaſt, ein Mann, der
nöthigen Falls irgend einen halblateiniſchen Humbuger von ſeinem
Katheder jagen könnte, zieht den Ruhm der Beſcheidenheit allen übri¬
gen Erdengütern vor. Er findet ſein Geſchäft überfüllt am hieſigen
Platze, feiert, und hat die Selbſtverläugnung — Waſſereimer zu
ſchöpfen in dankbarer Erwiederung der Verdienſte, welche Herr Birk
die Großmuth hat, ſich um Herrn Henning zu erwerben. Nun iſt
zwar Ziehbrunnenarbeit nicht die heilſamſte Leibesübung für einen
Menſchen, welcher im letzten Stadium der Phthisis pulmonalis ge¬
boren zu ſein den Anſpruch macht, auch wird die Nützlichkeit dieſer Be¬
ſchäftigung nach einigen der heißeſten Sommerwochen zu Ende ge¬
gangen ſein: indeß beſcheide ich mich gerne, vorwitziger zu ſein als
mir ziemt. Der Deutſche iſt ja ſo unendlich reich an Hilfsmitteln —
ſicher iſt das, was nach dem Ziehbrunnen kommt, noch immer ori¬
gineller als meine dürftige Phantaſie. Hat ſich doch ein deutſcher Offi¬
zier dem Glöckner an der Trinitatis-Kirche als Aushelfer für die
Vergünſtigung aſſocirt, daß er die Sperlinge auf dem Trinitatis-
Thurm ſchießen darf. Von dieſen Sperlingen lebt er!
Der Schriftſetzer brummte: Was kann denn er dafür, daß auf
dem Trinitatisthurm nicht Truthühner niſten!
Herr Birk ſelbſt — fuhr Benthal fort — kam aus der Frank¬
furter Gemarkung, aus der Hochſchule des deutſchen Gemüſebau's und
wird mit Schrecken inne, daß die Gemüſeſchüſſel keine Rolle ſpielt
zwiſchen den Fleiſchbergen der hieſigen Tafel. Mit Noth findet Herr
Birk noch ein Stückchen Sand, das ihm einer der wenigen und ſchlechten
[129] Gärtner hier in einen höchſt pfiffigen Pacht gibt — ſo lange natür¬
lich bis der Grund verbeſſert und die Frankfurter Gartenkunſt vom
Yankee abgemerkt iſt. Herr Birk hat ſich nicht mit Unrecht die Frage
eigen gemacht, was der Zweck dieſes Daſeins ſei? Deßungeachtet hat
Herr Birk ausgeſorgt auf dieſem Sandparadieſe — es liegt ja in
Kleindeutſchland! Freilich hat Herr Birk gehört, daß in Cincinnati
eine gewinnreiche Blumenkultur florirt, daß ferner Cincinnati ein Hauptſitz
der Deutſchen iſt, und alſo ohne Zweifel auch guten Gemüſe-Conſum
hat: aber — hier bedrängt uns eine andere Verlegenheit — Reiſe¬
geld! Das iſt der Punkt, „der Unglück läßt zu hohen Jahren kommen“,
wie Hamlet ſagt. Zwar trete ich mit dem Rath hervor, Reiſegeld im
nächſtbeſten Taglohn zu verdienen — das heißt jedoch die große Allarm¬
kanone abprotzen! Der deutſche Handwerksſtolz iſt empört bei dem
Gedanken des Taglöhners, das deutſche Handwerk fürchtet an ſeiner
Ehre zu freveln, wenn es Steine klopft oder die Schiffswinde dreht.
Meine Herren! wir alle hatten einen Hügel, von dem unſre El¬
tern, Geſchwiſter und Freunde zum letzten Male ihre Taſchentücher
ſchwenkten; auch wir knüpften die unſrigen an die Wanderſtöcke, das
wehmuthsvolle Geflatter ging hin und her, wir glaubten nicht, daß
es ein Ende nehmen könne. Als es aber doch zu Ende war, da
rafften wir uns mannhaft empor und nun hieß es tapfer: Deutſchland
ade! Wir verſprachen uns, als neue Menſchen die neue Welt zu be¬
treten. Wie, meine Herren, halten wir ſo Wort? Wehen die ver¬
weinten Taſchentücher noch einmal? Wo bleibt der herzhafte Ab¬
ſchiedsruf: Deutſchland ade? Ha, ſind wir Auswanderer, die nicht
ausgewandert ſind? Das verhüte Gott, meine Herren, denn dann wä¬
ren wir die unglücklichſte Baſtard-Gattung von allen Gattungen des
Thierreichs.
Verſtehen Sie mich recht, meine Herren. Sie haben keinen jener
falſchen Propheten vor ſich, welche den perfiden Gemeinplatz ausbreiten,
der Deutſche müſſe ſich möglichſt ſchnell yankeeſiren, um ſein Glück
zu machen. Nichts weniger. Ich beſchwöre Sie ſogar: ſchärfen und
ſchleifen Sie alle Spitzen Ihrer Nationalität wie ein chirurgiſches
Beſteck, und zerfleiſchen Sie Jeden damit, der Ihnen zu nahe tritt.
Ihren deutſchen Tiefſinn ſtemmen Sie entgegen der routinirten Flach¬
heit, Ihr deutſches Gemüth der höflichen Herzenskälte, Ihre deutſche
D.B. VII. Der Amerika-Müde. 9[130] Religion dem trockenen Sectenkram, Ihr deutſches Perſönlichkeitsgefühl
dem heerdemäßigen Parteitreiben, Ihr deutſches Gewiſſen dem Humbug
und Yankee-Trike, Ihre deutſche Sprache dem Mißlaut und der Ge¬
dankenarmuth, Ihr deutſches Weinglas der Mäßigkeitsheuchelei, Ihre
deutſche Sonntagsluſt dem Sonntagsmuckerthum Amerika's. Das Alles
halten Sie feſt; und hätten Sie bei Neufoundland oder zu Sandy
Hook bis zum letzten Faden Schiffbruch gelitten, Ihre deutſche Sitte
müßten Sie doch gerettet haben, oder ich wünſchte, Sie wären mit zu
Grunde gegangen. Aber Eins werfen Sie über Bord, wie die aus¬
gediente Matratze eines Zwiſchendeckbettes — die deutſche Handwerks-
Pedanterie. Sie könnten den Amerikanern eben ſo gut Ihre Flei߬
zettel aus der Schule vorzeigen, als daß Sie verſeſſen ſind auf das
Handwerk, worin Sie Ihr „Meiſterſtück“ gemacht. Die europäiſche
Zunft war nur eine Schule des Handwerks; die Schule iſt durchge¬
macht und nun fallen die Zünfte in Europa ſelbſt, um wie viel mehr
in Amerika. Wiſſen Sie, was hier Ihr Handwerk iſt? Jedes Werk
Ihrer Hand. Die Sache hat hier ihren urſprünglichen Wortbegriff.
Finden Sie Ihr Handwerk im gewohnten europäiſchen Style hier —
gut; wo nicht, ſo ergreifen Sie das verwandte und vom verwandten
wieder das verwandte, und durchlaufen Sie den ganzen Kreis wie eine
Windroſe, bis Sie den Punkt gefunden haben, auf dem ſchön Wetter
wird. So kommt der Amerikaner fort; das nennt er „ſein Leben
machen“. Nur kein Leben auf halbe Diät! Ueberlaſſen Sie das den
Kranken und Alten. Hier iſt man jung und geſund und verwandelt
ſich zehnmal des Tags, unternimmt Alles und verzweifelt an Nichts.
Das erſte Laſter in Amerika iſt die Zufriedenheit. Beharren Sie in
keinem Zuſtande, der Sie nicht ganz befriedigt. Hüten Sie ſich über¬
haupt vor dem deutſchen Triebe des Beharrens. Warum erſchreckte
Sie das Wort Taglöhner ſo außerordentlich? Weil Sie es mit deut¬
ſchem Ohre hörten, weil Sie ſich unwillkürlich ein Beharren in der
Taglöhnerei dachten. Behüte der Himmel! Taglöhnern Sie ein paar
Wochen, bis einige Dollars erſpart ſind zu der nächſtbeſten Unterneh¬
mung, ſparen Sie bei dieſer ein größeres Sümmchen zu einer noch
vortheilhafteren Geſchäftsart und fahren Sie ſo fort in dieſem Staffel¬
bau, es wird ſchneller gehen, als Sie denken. Vielleicht eben ſo ſchnell,
als ob Sie nach Deutſchland zurückkehrten und ſich in die alten aus¬
[131] gefahrenen Geleiſe wieder einkarreten. Abgeſehen, daß Ihre Anſprüche
auf jene geſetzliche Retourfahrt lange nicht ſo liquid ſein dürften, als
Sie ſich vorzuſtellen ſcheinen. Wer aber ein wirkliches Recht daran
hat, der mache es geltend — zum Scheine wenigſtens — denn der
Erfolg wird dieſer ſein: der Schiffsmakler wird verſuchen, Ihnen ein
paar Dollars Abſtandsgeld zu bieten, die nehmen Sie an, nachdem
ſie ſo viel als möglich geſteigert haben, und nun haben Sie Reiſe¬
geld! Gehen Sie damit nach Pennſilvanien oder Ohio und ich will
„damned dutch“ ſein, wenn Sie dort die Arbeit nicht finden, die Ih¬
nen hier verſagt. Das iſt der Gebrauch, den Sie von jener Mit¬
theilung machen können. Ich wollte, Sie hätten dieſelbe, anſtatt teu¬
toniſchen Rückwärts-Chorus anzuſtimmen, gleich ſelbſt in dieſem Sinne
aufgefaßt; es wäre ein hübſches Zeichen geweſen, daß Sie vom ame¬
rikaniſchen Geiſte bereits ein paar Tropfen Taufwaſſer empfangen. —
Und nun, meine Herren, laſſen Sie mich noch einmal Abſchied
nehmen. Nächſte Woche finde ich vielleicht Manchen von Ihnen nicht
mehr hier, aber nicht weil er nach Deutſchland zurückkehrte, ſondern
weil er nach Taglohn aus iſt — wenn ich mir's, ſchmeicheln darf.
Wer es immer ſei, der ſich zu dieſem Anfang entſchließen wird — er
ſei beglückwünſcht! Und wer es nicht thut, der ſtöre mindeſtens den
Andern nicht. Der Amerikaner achtet jede Arbeit, denn keine iſt
ihm ein Dienſt. Diener und Dienſtherr ſpeiſen an demſelben Tiſche
und jeder ſpuckt genau in dieſelbe Diſtanz vor ſich aus — ein äußerer
Gradmeſſer ihres inneren Selbſtgefühls. Nur der Deutſche iſt's, der
ſeinen Landsmann mißachtet, oder der ſich ſelbſt erniedrigt und ver¬
knechtet fühlt, und kaum zum Tageslicht aufzublicken wagt, wenn ihn
Jemand mit der Schaufel in der Hand betritt, der ihn mit der Feder
hinterm Ohr gekannt hat. Fluch dieſem Unſinn! Fluch dieſer Hand¬
werksehre, welche Menſchenſchande iſt! Ich ſpeiſte einſt, meine Herren,
bei einem Banquier in Deutſchland. Es war mitten im Januar und
wir hatten friſche Erdbeeren und Pfirſiche zum Deſſert. Aber draußen
auf der Galerie weinte das kleine Töchterchen des Hauſes, und fragte
mich im Vorbeigehen, ob ich ihr kein Brodrindchen zuſtecken könnte.
Nach drei Tagen war der Banquier todt und ſeine Leute begruben
ihn ſchnell, damit die Giftflecke an der Leiche nicht zum Vorſchein
kämen. Das war deutſche Handwerksehre! — Mein Mr. Mockingbird
9 *[132] hat mit einer Viertelmillion in Thran fallirt, und ſtreift ſich luſtig
die Hemdärmel auf, um rechts ein Buſhel Zwiebel zu meſſen, und
links ein Rudel Schulrangen zu Paaren zu treiben — der Anfang
zu einer neuen Viertelmillion. Und ich, der Rector magnificus, wie
Sie ſagen, helfe ihm Zwiebel meſſen und Schulkinder kämmen, da ich
doch jede Profeſſorenſtelle am Harvard-College verſehen könnte, —
nur daß ich ſie noch nicht habe. Das iſt amerikaniſche Handwerks¬
ehre! Nichts iſt ſo gering hier, womit man nicht anfängt, aber nichts
ſo hoch, womit man nicht enden wollte. Der Deutſche macht's um¬
gekehrt. Es ekelt ihm vor der ſeichten Stelle, wo Fröſche laichen, er
wagt ſich aber auch nicht hinaus', wo Silberflotten ſegeln. Er kennt
kein Fortſchreiten von Einem zum Andern, ſondern ein hübſches Be¬
harren in der Mitte. Meine Herren, das taugt nichts, und wär' es
nicht ſchon ſo ſpät, ich würd' es eine Millionmal wiederholen: es
taugt nichts! Dieſe freie Beweglichkeit, dieſe entſchloſſene Thatkraft,
dieſe vollkommene Herrſchaft über ſich in allem äußern Handeln müſſen
Sie von Amerika lernen. Fürchten Sie deßhalb nicht gleich im Yankee¬
thum aufgehen zu müſſen. Sie können dem Yankee tauſend deutſche
Tugenden dafür zurückgeben, und ihn eben ſo gut in unſerm Volks¬
thum aufgehen laſſen. Das iſt ja der Plan, den die Vorſehung mit
der deutſchen Einwanderung nach Amerika im Schilde führt. Die
zwei reichſten Völker der Erde ſollen ihr Kapital auf Einen Satz
einlegen, ein Product ſoll entſtehen, welches der beſte Jahrgang im
Weinberge der Menſchheit wird. Der Amerikaner hält ſeine Hand
über Meer und Erde, jede Muskel an ihm iſt ein Königreich werth —
er iſt der Gott der Materie. Dafür hat er ſich auch das Geiſtige
vom Halſe geſchafft und Kunſt, Wiſſenſchaft und Religion in einer
blechernen Formelbüchſe getrocknet zum haſtigſten Verzehr mittelſt einer
Kanne Theewaſſer. Der Deutſche kommt aus dem Lande der Wald¬
vögel, der Dichter, der Univerſitäten, der Dome — er iſt ſelbſt ein
lebendiger Dom, ein immerwährender Gottesdienſt der Begeiſterung.
Aber er blieb auch unvollendet dieſer Dom, die Erde ließ ihn im
Stiche, weil er ihr gradeswegs gegen Himmel davonlief. Wohlan,
der rührige Yankee iſt ganz der Mann dazu, dieſen himmliſchen Stum¬
mel auszumauern. Laſſen Sie ſeine Winden und Hebel ſpielen an
ſich, aber während er nur „Maſchinenarbeit in Accord“ zu machen
[133] glaubt, ſchlage das Wunderweben des Doms zu den farbigen Spitz¬
bogenfenſtern heraus, und Orgelton und Glockenklang und flammende
Kerzen und beſeeltes Bildwerk werfe den Zunder eines höheren Le¬
bens in ſein Herz, daß er vom Gerüſt herabkomme, ausgebaut in
ſeinem Innern, wie Sie im Aeußern. — Ja, meine Herren, halten
Sie Ihre Nationalität feſt: Sie ſind es dem Lande ſchuldig; aber
fügen Sie ihr vom Yankeethum das brauchbarſte Stück ein: Sie ſind
es ſich ſelbſt ſchuldig. — Gute Nacht, meine Herren, ich empfehle
mich Ihnen. —
Kleindeutſchland ſaß noch lange um ſeine Lichter herum, als Ben¬
thal mit einem raſchen Verſchwinden zur Thüre hinaus war. Vor
der Thüre aber fühlte er eine Hand auf ſeiner Schulter und eine
klangvolle Männerſtimme ſprach: Ich danke Ihnen für dieſe deutſche
— That!
Siebentes Kapitel.
Benthal wendete ſich dem Sprecher dieſer Worte zu, und erkannte
denſelben ſchneller, als es zuvor umgekehrt der Fall geweſen. Freudig
erſtaunt lüftete er den Hut, womit er ſich eben bedeckt hatte, und er¬
wiederte Worte wie dieſe oder ähnliche: Herr Doctor, die Ehre Sie
wieder zu ſehen iſt mir eine unſchätzbare. Moorfeld antwortete leb¬
haft: Nicht ſo, mein Beſter! Laſſen wir dieſe Sprache, wenn's beliebt.
Die Höflichkeit kommt mir vor wie die Mönchsſchrift auf alten Per¬
gamenten: ſie erbaut, ſo lang nichts beſſers da iſt, aber man beſeitigt
ſie, wenn ein guter Dichter unter ihr entdeckt wird. — Ich wette, Sie
ſind ſelbſt Dichter, erwiederte Benthal auf dieſes Bild. Moorfeld
lächelte ſchalkhaft: Um Verzeihung! keine Wette ohne Gegenwette; aber
eine ſolche wünſchte ich nicht.
Die beiden jungen Männer nahmen ſich unter den Arm. Benthal
behielt ſeinen Hut in der Hand, trocknete ſich die Stirn und lüftete
der geringen Nachtkühle ein paar Knöpfchen. Moorfeld ſagte: Klopſtock
[134] meint, die Unſterblichkeit iſt des Schweißes der Edlen werth, ich möchte
gerechter ſein und es umkehren: der Schweiß der Edlen iſt der Un¬
ſterblichkeit werth. Aber leider, daß der edelſte Schweiß juſt am we¬
nigſten auf die Nachwelt kommt! Darum bewundere ich immer von
Neuem Männer wie Sie, welche die entſagende Größe haben, das
Beſte an das Vergänglichſte zu ſetzen.
An das Vergänglichſte! wiederholte Benthal; — freilich! aber wer
weiß denn was vergänglich iſt? Bis dieſes Wiſſen kommt, handelt
man im Glauben an dauernde Erfolge. Das kann unter Umſtänden
ſehr lange währen. Der Glaube iſt dann das eigentlich Unſterbliche
an der Sache.
Recht ſo! recht ſo! rief Moorfeld mit Wärme, der Glaube! der
iſt überhaupt Alles! Er iſt die größte Heldenthat des Menſchen. Ich
werde nicht müde, das zu behaupten. Der Glaube iſt der Vater der
Menſchheit; die Skepſis iſt eine alte unfruchtbare Jungfer.
Benthal warf einen beſorgten Blick auf ſeinen Begleiter. Moor¬
feld bemerkte es und fuhr lachend fort: Sein Sie ganz ruhig,
Beſter. Ich bin weder Jeſuit, noch Kapuziner, noch Conſiſtorialrath.
Von jenem Glauben iſt ja hier nicht die Rede. Oder vielmehr von
ihm nicht allein. Glaube iſt Selbſtgefühl. Ich frage keinen Tiſchler,
was er glaubt: er glaubt an ſeinen Hobel. Ach, Europa wimmelt
von Tiſchlern, die nicht mehr an ihren Hobel glauben! Darum ergriff
ich Ihre Hand, weil ich Sie ſo impoſant glauben ſah.
Benthal antwortete: Ach wohl! ich glaube wie jener Jude, der in
Rom Chriſt wurde, der ſchlechten Chriſten wegen. So glaube ich hier
an unſer Volksthum. Wenn ich dem zerfahrenen Leben der Deutſchen
zuſehe, und wie eifrig ſie ſich ihren eigenen Untergang angelegen ſein
laſſen, ſo möchte ich mir oft mit Glüheiſen meine deutſche Haut vom
Leibe brennen. Es iſt ein Schauſpiel zum Raſendwerden. Wenn ich
aber erſtaune, daß ihnen ihre Selbſtzerſtörung doch nicht gelingt, daß ſie
immer wieder lebendig vom Boden aufſtehen, auf dem ſie todt hinge¬
ſunken; wenn ich die hieſigen Nativiſten betrachte, wie ſie im Beſitze des
mächtigſten Staatslebens der Erde Bollwerk um Bollwerk aufthürmen
gegen dieſe armen verlornen Söhne; wie ſie in ihrer Preſſe die raf¬
finirteſten Gifte deſtilliren, um uns zum Teufel zu befördern; wie ſie
mit offenen Judenverfolgungen in unſre Quartiere einfallen; wie unſre
[135] Fehler ihnen winzig dünken müſſen, weil ſie nur Herſchel-Telescope in
Gebrauch nehmen, wenn davon die Rede iſt; kurz, wie die eitelſte
Nation der Welt ihr Fröſteln und Beben nicht los wird vor einem
Menſchenhaufen, der noch gar keine Nation iſt; wenn ich mitten unter
dieſen Wahrnehmungen täglich aufſtehe und mich niederlege: ſo härtet
ſich mir, wie im zehnfachen Feuer, die Ueberzeugung: es gibt nur
einen Gott, und die Deutſchen ſind ſein auserwähltes Volk! Für
dieſen Glauben könnte ich dann eben ſo gut ſpießen und braten laſſen,
wie Torquemada für den ſeinigen.
Moorfeld ſagte: Und Ihre Ketzer, glaube ich, wären noch etwas
ſtraffälliger. Ich hörte hier von ſchändlichen Proben des Humbugs.
Kaum glaubt' ich ſie, wenn ich perſönlich nicht auch ſchon Erfahrungen
über dieſe Galeeren-Moral hätte.
Eigentlich betrügt der reine Amerikaner nicht um der Beute willen,
antwortete Benthal; kein Volk iſt weniger habſüchtig und leichter ge¬
neigt, das erworbene Privatvermögen zu wohlthätigen und nützlichen
Zwecken der Oeffentlichkeit wieder zurückzugeben. Seine Liſten und
Tücken ſind's, die den Yankee nicht ruhen laſſen, auch wenn er wollte.
Er kann nicht leben ohne das Gefühl der Ueberlegenheit über Andere.
Dieſen Kitzel befriedigt er im Guten wie im Schlimmen. Seine Beute
iſt nicht ſowohl ein Raub, als vielmehr ein Preis; denn ſtillſchweigend
beſteht im ganzen Volke eine beſtändige Wette, wer es dem Andern
an Kniffen zuvorthut. Tropf, paß auf! iſt die allgemeine Looſung.
Sie betrügen nicht, ſie gewinnen nur die Preiſe ihrer ewigen National¬
wette. Sie ſind mehr Schelme als Schufte. Freilich hat auch der
gemeine, echte Betrug um ſo leichteres Spiel unter dieſem Schutze
der öffentlichen Meinung. Und wieder iſt der böſeſte Betrug der Ver¬
zeihung gewiß, wenn er gegen den Deutſchen geübt wird. Den Deut¬
ſchen herunterzubringen iſt gleichſam Nationalſache. Viel verzeihen ſich
die Amerikaner einander, was nirgend ſonſt durchginge; aber — leider
darf ich es ſagen! Alles verzeihen ſie ſich dem Deutſchen gegenüber.
Es iſt ein Deutſcher! hat ihnen ungefähr die Bedeutung, wie den
alten Spaniern: es iſt ein Moriske! Hier fehlt jede Gränze. Vor
Kurzem wurde in Newyork ein deutſcher Familienvater erſchlagen.
Ein Amerikaner that's, mit dem der Deutſche Wortwechſel hatte; aber
die brutalen Seevölker wechſeln überhaupt nicht Worte, wie der den¬
[136] kende Deutſche: ſie antworten mit Hieb und Stich. Der Mörder
wird vor Gericht gezogen. Zufällig ſteht ſein Name in der Klage¬
ſchrift nicht ganz correct, der Beklagte ſieht es, und wendet dem Ge¬
richtshof mürriſch den Rücken. Warum man ihn ſeine Zeit verſäumen
laſſe, fragt er den Anwalt, hier ſei eine Perſon mit einem Doppel-m
citirt, was gehe das ihn an? er ſchreibe ſich mit einem einfachen.
Vor dem engliſchen Geſetzbuche war das ein vollgiltiges Argument.
Der Beklagte wird freigeſprochen. Eine neue Anklageſchrift mit cor¬
rectem Namen iſt nicht mehr zuläſſig, denn Niemand kann deſſelben
Vergehens wegen zweimal belangt werden. So geht der Mörder un¬
gekränkt ſeinen Geſchäften nach, alle Welt kennt ihn als ſolchen —
aber was ſchadet das? Er hat ja nur einen Deutſchen umgebracht!
und in ſeinem Schul- und Kirchenvorſtand bleibt er das reſpectable
Mitglied, als hätte er ein Schwein von Cincinnati geſchlachtet.
Entſetzlich! rief Moorfeld; Sie haben dieſe Geſchichte im beſten
Henkerſtyl erzählt: kurz und kalt, wie ein Fallbeil. Ich träume
heute davon, vorausgeſetzt, daß ſie mich ſchlafen läßt. Und nach einer
Pauſe fuhr er fort: Sagen Sie, zu welcher Schönheit blickt man hier
auf, wenn die Erde ihre wüſteſten Fratzengeſichter ſchneidet?
O weh, rief Benthal, Schönheit und Amerika! Aber Sie ant¬
worten ſich ſelbſt. Blicken Sie immerhin auf, droben wohnt überall
die Schönheit, drunten nie. Der Schwindelnde macht's ja nicht an¬
ders: aufwärts ſieht er, nicht abwärts, um ſich zu halten. Darum
haben ſie auch die Sterne zu ihrem Banner gemacht. Sie erriethen's
inſtinktmäßig, ihre Erde hat weniger Schönheit, ihr Sternenhimmel
wird dringender geſucht, als irgend ſonſt wo. Ja, faſſen wir's feſt
in's Auge: nicht was dieſes Volk iſt, ſondern was es bedeutet!
Es bedeutet Höheres als Griechen und Römer, es bedeutet die Welt¬
freiheit! Von einem andern Sterne geſehen iſt nicht Rom, nicht
Athen der lichteſte Punkt unſers Planeten — Waſhington iſt's. Ame¬
rika's Schönheit iſt Amerika's Idee!
Das ſagt' ich mir auch als ich herfuhr, antwortete Moorfeld, aber
ich komme hinter den Fehler meiner Definition. Die Schönheit iſt nicht
eine Idee, ſie iſt eine ſinnliche Form. Die Idee wird nur vom abſtracten
Geiſte erfaßt; das iſt eine Mühe, kein Genuß. Wie exiſtirt hier das Herz?
Das Herz exiſtirt nicht in Amerika, war Benthal's Antwort.
[137]
Das iſt ja nicht möglich! Wovon leben denn die Weiber?
Vom Putz und von der Bibel.
Leider, Sie ſcheinen Recht zu haben. Aber Sie — wovon leben
Sie ſelbſt.
Von meiner Pauline.
Gott ſegne ſie! Es muß ein herrliches Mädchen ſein, das Sie bei
ſo viel Heldenkraft erhält. Ich bitte, erzählen Sie mir von ihr.
Es war einmal ein ſchönes Mädchen. Ich habe erzählt.
Klaſſiſcher Lacedemonier! Kleindeutſchland hat Ihnen dieſen Styl
angewöhnt? Ein wahrer Palliſaden-Styl. Schroff, ſtarr, Männer
dahinter! Indeß der Frühling frägt nichts nach Palliſaden. Brauchen
Sie zur Freundin einen Freund? Sie haben ſich ihn heute erworben.
Dann aber — Herz um Herz! Gilt's?
Benthal antwortete: Es hat gegolten, in jenem erſten Augenblicke
ſchon, als Sie in Mr. Mockingbird's Schule eintraten. Ihre ganze
Erſcheinung war mir ein Freimaurerzeichen, das ich zu beantworten
dürſtete. Ich bin ſtolz darauf, daß Sie das, was ich in Kleindeutſch¬
land zu wirken verſuche, für meine Antwort halten wollen. Aber von
Paulinen wollten Sie hören. Sie iſt, wie Sie leicht ſchließen werden,
keine Amerikanerin, ſie iſt eine Deutſche. Auf dem Auswanderer¬
ſchiffe wurde ich bekannt mit ihr. Und da es mir ſchwer werden
dürfte, von einer ſo verſchloſſenen, nur in Thaten ſich äußernden Na¬
tur Ihnen ein Bild zu entwerfen, ſo will ich lieber das Geſchichtchen
dieſer Bekanntſchaft ſelbſt erzählen.
Sie finden den dankbarſten Zuhörer, antwortete Moorfeld.
Benthal fuhr fort:
Meine Geſchichte ſpielt auf dem Verdecke des Kauffahrers, der mich
von Havre nach Newyork bringt. Da zähle ich die Schritte auf und
nieder, und ſehe in das viele Waſſer hinaus. Möwen, Delphine,
fliegende Fiſche und das übrige Etcätera der See iſt die einfache Aus¬
ſtattung der Scene. Bei heiterem Wetter kriechen aus Cajüte und
Zwiſchendeck nach einander all die wohlbekannten Geſichter hervor, die
man täglich mit ſtiller Freundlichkeit, mit reſignirter Geduld grüßt,
indem ſich Jeder inwendig denkt: Ich wollte, ich ſähe einmal was
Anderes. Unter den Paſſagieren der Cajüte wandelt dann mit ihrem
ſtillen, ſittigen Frauenſchritt eine ältere Dame — unendlich ruhig, un¬
[138] endlich mild: wie ein Sabbath unter den Wochentagen. Spuren der
feinſten Schönheit ihres Geſchlechts verklären noch die zarten, blaſſen
Züge der Matrone. Aber ſie führt ihr einſtiges Selbſt lebendig an
der Seite in einem jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, wel¬
ches ſeinerſeits wieder ein Schweſterchen von fünf Jahren an der Hand
führt. Beide Töchter ſind das reinſte Ebenbild der Mutter. Das
ältere Mädchen hat braunes, ſchlichtgeſcheiteltes Haar, ein tiefes brau¬
nes Auge unter dämmerungsvollen Wimpern, ein edles Oval des Ge¬
ſichts und in ihrer ganzen Erſcheinung einen ſo ergreifenden Ernſt, daß
mir, ſo oft ich ſie einherwandeln ſah, immer dieſelbe Vorſtellung zu¬
rückkehrte: ich ſähe ein Mädchen zur Confirmation gehen. Man kann
die weibliche Modeſtie in keiner andern Perſonification denken. Ich
ſage abſichtlich Modeſtie, und nicht Beſcheidenheit: das Wort mit
ſeinen zwei breiten Diphthongen klänge ganz unmaleriſch für dieſen
Characterausdruck. Modeſtie muß es heißen.
Wie artiſtiſch empfunden! rief Moorfeld mit der Freude des Ken¬
ners, ſagen Sie noch, daß Ihnen ein Bild ſchwer wird, ohne geſchicht¬
lichen Grund! Ein rein dichteriſcher Zug, eine Nüance voll Plaſtik!
Ich bin kein Dichter, ſagte Benthal mit einer gewiſſen Genauigkeit
der Definition, ich habe nicht die Imaginationskraft, zu ſchaffen,
höchſtens, das Geſchaffene zu empfinden. Aber Moorfeld's Sympathie
war in ihrem Kern getroffen, Benthal ſelbſt hätte es nicht mehr än¬
dern können. In Kleindeutſchland hatte ihn Moorfeld achten gelernt,
wie ein Mann den Mann achtet, dieſer Zug befriedigte das Beſondere
in ihm, das Eigene. Er drückte unwillkürlich Benthal's Arm brüder¬
licher an ſich; dieſer fuhr fort: Die Matrone verkürzte ſich von Zeit zu
Zeit die Langweile der Seefahrt mit Lectüre. Eines Tags ſah ich
ſie mit einem alten Zeitungsblatt in der Hand an mir vorübergehen.
Wie wurde mir, als ich nach dem Kopfe des Blattes ſchielend, eine
liberale pfälzer Zeitung erkannte, an welcher ich unter dem bewegteſten
Wechſel von Privat- und öffentlichen Geſchicken ein Hauptmitarbeiter
geweſen! Mein Blick mochte lebhafter, als er ſollte, meinen Rapport
mit dieſem Stück Papier ausgedrückt haben, denn die Dame reichte
mir es, zwar nicht als Neuigkeit, wie ſie ſich entſchuldigte, aber ſolch
kräftiges Stammholz halte ſich lange, ſagte ſie, man ſchnitze ſich jetzt
erſt mit gehöriger Andacht Reliquien daraus. Sie fügte dann zum
[139] Lobe des leitenden Artikels noch Mehreres bei, aber ich unterbrach ſie
mit den Worten: Madame, ein gewiſſes Gefühl ſagt mir, daß ich Sie
nicht fortfahren laſſen ſoll, ohne Sie aufmerkſam zu machen, daß hier
von keinem Abweſenden die Rede iſt. Der Verfaſſer dieſes Artikels
hat die Ehre, ſich für Ihre Güte perſönlich zu bedanken. Die Ueber¬
raſchung der Frauen war groß. Natürlich lag für mich die Auffor¬
derung vor, von meiner Geſchichte ſo viel mitzutheilen, als ſchicklich
war, die erregte Neugierde von Damen zu befriedigen. Ich erzählte
das Drama des Hambacher Feſtes. Meine Betheiligung daran ver¬
ſtand ſich von ſelbſt. Meine Flucht durch Frankreich und Einſchiffung
in Havre war eine Folge jenes Mißlingens. So ſtand ich am Bord
des Auswandererſchiffes. Als Gegengeſchenk erhielt ich nun auch von
den Verhältniſſen der drei weiblichen Paſſagiere einen Abriß. Die
Matrone war Witwe eines preußiſchen Beamten aus der Schule Steins.
Die Vexationen der politiſchen Gegenſtrömung haben ihn aus der
Activität gedrängt, vielleicht ſelbſt ſeinen raſcheren Tod mit verſchuldet.
Die nächſte Verwandtſchaft ſchien dem jenſeitigen Lager ſo rückſichtslos
anzugehören, daß es die verwaiſte Familie bis in's Innerſte ihres
Privatlebens empfand. Die Matrone berührte den Punkt der Ver¬
mögensverhältniſſe mit keiner Sylbe dabei; doch hielt ich's für wahr¬
ſcheinlich, daß ſie namentlich auch hier viele Kränkungen erlitten und
empfindliche Opfer gebracht. Mein Anerbieten, die Töchter im Eng¬
liſchen vorzubereiten, wurde mit ausweichendem Danke beantwortet;
ich glaubte zu bemerken, daß es nach einem Geſetze entſagendſter Oeco¬
nomie geſchah. Leider verbot mir eben dieſer Umſtand die Anſpruch¬
loſigkeit meines Offertes ſo weit zu betonen, daß ich die Urſache jenes
Verzichtes zu errathen ſchien. Das Vertrauen der Matrone war über¬
haupt nicht leicht zu beanſpruchen. In der angeborenen Fähigkeit ihres
Geſchlechtes, mit dem ſchicklichſten Muthe jene bebende Blumenſcheu zu
verbinden, welche ſchon vor der Berührung ſich ſchließt, war ſie wohl
einzig. Was ſagen Sie dazu, wenn der Hauptgrund ihrer Auswan¬
derung der Gedanke war, daß die Heilighaltung des Weibes in Ame¬
rika ihren Waiſen einen beſſeren Schutz verſpreche, als in Europa?
Iſt es nicht großartig, eine ganze Nation zur Hüterin ſeiner Haus¬
ſitte zu machen? — Indeß — eine Art Bekanntſchaft war immer
eingeleitet, und wir begegneten uns jetzt nicht mehr auf dem Verdecke,
[140] ohne daß ſich irgend ein Geſpräch anknüpfte. Eines Tages war von
der Wortkargheit der Schiffsleute die Rede; ich bemerkte bei dieſer
Gelegenheit, wie eigenthümlich mir's mit dem Kapitän ergehe: ich
könne von ihm nur die geographiſche Breite erfahren, nie die Länge,
unter welcher wir ſegelten. Meine Fragen nach der Länge ſeien ihm
ſtets verdrießlich, aber ſein Stillſchweigen darüber mir noch verdrie߬
licher. Ich vergaß nämlich nicht, den Damen zu bemerken, daß nach
den Längengraden der eigentliche Fortſchritt der Fahrt angezeigt werde.
Bald darauf kam ich auf's Verdeck und fand Paulinen allein oben,
was wohl zuweilen, aber nur auf Augenblicke vorkam. Ich hatte be¬
reits aus der Ferne gegrüßt und wollte näher treten, da ging juſt
der Kapitän an ihr vorbei. Er grüßte und blieb ſtehen, ſie ſchien
ihn mit irgend einer Anſprache feſtgehalten zu haben. Es entſpann
ſich eine Converſation, von welcher etwa Folgendes in meine Nähe
herüberſcholl. Werden wir dieſen heitern Himmel behalten, Herr
Kapitän? — Es iſt wahrſcheinlich, mein Fräulein. — Was war das
für ein Fiſch, den Ihre Leute geſtern harpunirten? — Ein junger
Hai, white shark heißt die Art. — Die Matroſen ſchienen ſehr er¬
freut; iſt das Thier ſo koſtbar? — Doch nicht, mein Fräulein, aber
kleinere Fiſche einer andern Gattung begleiten ihn, und halten ſich
wohl auch in ſeinem Rachen auf; die haben prächtige Farben, und
ſchmecken wie die beſten Forellen. — Die Thierwelt des Meeres ſcheint
nicht weniger intereſſant als auf dem Feſtlande und noch viel reicher.
Schade, daß man ſie nicht in ſo beſtimmten geographiſchen Grenzen
überblicken und behalten kann, wie etwa die Regionen der Gemſe oder
des Rennthiers. — Das möchte ich in vielen Fällen doch ſagen. Wir
kennen ſo ziemlich die Landſchaften und Provinzen, um den Ausdruck
zu gebrauchen, in welchen jede Gattung vorkommt. — Das ſagt viel!
Ich glaube, Sie ſind auf Ihrem Ocean zu Hauſe, wie wir in unſern
vier Wänden? — Das geſchmeichelte Lächeln des Kapitäns machte
einen breiten Riß durch ſein muskulöſes Geſicht. — Paulinen aber
hörte ich fortfahren: In welcher Länge z. B. ſegeln wir jetzt,
Herr Kapitän? Der Seemann riß die Augen auf, und maß das
junge Mädchen mit einem verblüfften Geſicht. Er blickte auf dem Ver¬
decke umher, gleichſam als ſuchte er die Quelle dieſer gelehrten Frage
irgendwo außer der Fragenden. Zuletzt ſagte er zögernd: Sie meinen
[141] doch von Ferro gezählt? — Ja, ſtotterte das Mädchen verwirrt,
und wurde über und über roth. — Der Kapitän murrte ihr eine
Antwort zu, die ich nicht mehr vernehmen konnte, und zog ſich dann
ziemlich brummig zurück. — Wir ſegeln im vierzehnten weſtlicher Länge
von Ferro berichtete mir hierauf Pauline, indem wir einander entgegen
gingen. Ich empfing das Wort, wie man eine ſüße verbotene Frucht
empfängt. Ich ergriff ihre Hand, küßte ſie, und behielt ſie noch in
der meinigen, als ich ſie ſchon längſt geküßt hatte. Wir ſegeln im
vierzehnten weſtlicher Länge von Ferro, wiederholte ich, — und klang mir
das Wort nicht wie der ſeelenvollſte Vers eines Dichters? Sie ſehen,
ſelbſt die Mathematik iſt nicht trocken, wenn — wenn es anders ſein
ſoll! So wurde ich mit Paulinen bekannt, ſchloß Benthal mit einer
veränderten Stimme; — ich lehrte ſie von da an Engliſch, und ſie
lehrt mich: Amerika ertragen, wo möglich — es beſiegen!
Moorfeld ergriff die Hand des Erzählers, und drückte ſie lebhaft:
Ich danke Ihnen mit meinem ganzen Herzen für Ihr bereitwilliges
Vertrauen! Noch liegt Kleindeutſchland nicht weit hinter uns, aber
um wie viel näher ſind Sie mir wieder gerückt! Wird Einem doch
erſt recht wohl am Menſchen, wenn man ihn lieben ſieht!
Ich wenigſtens, antwortete Benthal, erkenne meinen günſtigſten
Stern darin. Vielleicht ſäß’ ich ſelbſt unter der verirrten Herde
Kleindeutſchlands, ſchleppte in einem empfindſamen Thränenſack das
Hambacher Andenken herum, und ſchliche als ein müſſiger Schatten
durch die Jahre der Kraft. Mein Glück hat mich bewahrt davor.
Es zeigte mir ſchon im Ocean, wofür ich am Ufer ringen ſollte. In
jener Wüſte von Ekel, Langweile, körperlichem und geiſtigem Siechthum,
welche eine Unmaſſe von Auswanderer-Kräften ſchon vorweg aufzehrt,
und welche man eine Zwiſchendecks-Seefahrt nennt, — in dieſen mat¬
teſten Jammertagen eines menſchlichen Erdenwallens legte es ſeine Lunte
an mich, und entzündete meine brennendſten Energien. Ein Glück
nenne ich das, denn es iſt das Einzige, das den Namen Glück ver¬
dient. Nicht mit einem großen Lotterietreffer die menſchlichen Kräfte
zu penſioniren, ſondern ſie im rechten Augenblicke mit einem Ziele
heißer Begehrung aufzuregen, das iſt das Glück!
Moorfeld erwiederte: Im Namen der europäiſchen Poeſie müßte
ich eigentlich Einſprache thun gegen dieſe Auffaſſung der Liebe. Sie
[142] erſcheint wie ein Nützlichkeitsprincip, wie eine dynamiſche Kraft nach
Ihren Worten. Aber freilich ſprechen Sie nicht von der Liebe, ſon¬
dern von einer Liebe. Uns lyriſchen Luxusmenſchen iſt Liebe, nicht Preis
und Ziel eines Kampfes, ſondern in ſich ſelbſt Kampf, ja, der Siede¬
punkt jenes Kampfes, welchen Geiſt und Natur (denn das ſind ja
Mann und Weib) in ihrer ewigen Gegenſätzlichkeit mit einander aus¬
zukämpfen haben. Das iſt eine heiße Bataille. Es iſt etwas Dämoniſches
um die Liebe; was ſag' ich, geradezu Feindliches, auf gegenſeitige Ver¬
nichtung Ausgehendes; aber darin liegt eben der Genuß; das iſt die be¬
rühmte Süßigkeit der Liebe, daß ſie eine Extremität bezeichnet, eine Affaire,
wo's um den Hals geht. So verſteh' ich von Europa her die Liebe, wo
man ſeine Kräfte hat, um den Himmel zu ſtürmen, und die Hölle zu
verdienen. Hier wo es gilt, die Erde in Beſitz zu nehmen, iſt's freilich was
Anderes. Hier gibt's außerhalb Kampf genug; hier ſind allerdings Sie
im Rechte, wenn Sie die Weiblichkeit als etwas Fertiges empfinden,
als reine einfache Beſeligung.
Ich nehme Ihren poetiſchen Proteſt doch nicht ungern zu Protocoll,
antwortete Benthal. Ach, ſo wohlthuend iſt die Erſcheinung hier,
die Sie lyriſcher Luxusmenſch nennen! Ueberhaupt macht der Euro¬
päer in Amerika den vornehmen Eindruck eines grand Seigneur.
Da iſt ſo viel Ueberfluß, ſo viel Unnöthiges, Unfruchtbares! Seine
ganze moraliſche Landſchaft iſt wie eine Parkanlage; ein Sperling fin¬
det kein Kirſchchen darin, aber ein Torquato Taſſo die Stanzen des
befreiten Jeruſalems.
Bravo, rief Moorfeld, einen Lorbeerkranz für dieſes Wort! Ich
glaube, Sie werden vollſtändig die Aufgabe löſen, die Sie unſern
Landslenten dort proclamirt haben: deutſcher Geiſt, amerikaniſcher Arm!
Ich möchte es verſuchen, ſagte Benthal. Ja, laſſen Sie mich's
machen wie der Ruderer: — das Ufer, dem er zuſteuert, hat er im
Rücken, wovon er abſtößt, im Angeſicht. Laſſen Sie mich in Amerika
anlanden, das Auge geheftet auf Europa und ſeine beſten Vertreter.
Er drückte ſeinem Begleiter die Hand.
Was mich betrifft, antwortete Moorfeld, ſo bin ich faſt in gleicher
Lage, nur umgekehrt. Wir müſſen nothwendig mit einander gehen.
Unſere neuen Freunde waren während dieſes Geſpräches wieder in
der Nähe des Theaters, von welchem Moorfeld ausgegangen, ange¬
[143] langt; ſie ſtanden nämlich in dem Square an der City-Hall, welcher
der Park heißt. In dieſem Mittelpunkte Newyorks, von welchem nach
Norden und Süden die große Schlagader der Stadt, der Broadway,
auslief, fand ſich Moorfeld vollſtändig orientirt. Er dankte für
das fernere Geleite Benthals, deſſen Weg gegen den Oſtfluß zu, ſo
wie ſein eigener weſtlich an den Hudſon hinab, alſo in direkter Ent¬
gegenſetzung auseinanderging. Die jungen Männer verabſchiedeten
ſich hier und tauſchten ihre Adreſſen gegen einander aus zum Unter¬
pfande fortzuſetzender Freundſchaft. Benthal gab die ſeinige mit den
Worten ab:
Es iſt die Wohnung der Frau von Milden, meiner Schwie¬
germutter in spe, die ich Ihnen hier mittheile. Ich pflege meine
freien Stunden dort zuzubringen, und wenn Sie es nicht ver¬
ſchmähen, der Vierte in einem Bunde zu ſein, der ſich einander nicht
kreuzigt und erdolcht, ſondern blos eine Parthie Whiſt ſpielt, ſo iſt
Ihnen das Lorettohäuschen meiner Frauen, das ich ſonſt Niemanden
öffnete, mit aller Beſcheidenheit aufgethan. Gewiſſermaßen ſind Sie
ohnedies ſchon eingeführt dort, denn Ihr Beſuch in Mr. Mockingbirds
Schule war mir eine zu wohlthuende, für Amerika zu ſeltene Erſchei¬
nung, als daß ich ihn nicht auch unter meinen Frauen gefeiert hätte.
Ja, und ſind Sie nicht der Ritter unſrer kleinen Malvine geworden,
der Sie ſo freundlich aus der Noth halfen, als ſie auf einem Boten¬
gang zu mir ſich verirrte, und von halb Newyork im Stich gelaſſen
wurde? Unſer Haus wird ſich freuen, Ihnen zu danken, es war ein
Ereigniß in der kleinen Idylle! Das Kind fand ſeinen Weg ſonſt
ſpielend zu Mr. Mockingbird, er iſt auch kurz genug; aber damals
war das arme Schneckchen ein Opfer der Politik geworden; es lief
einem Straßenaufzug der Clay-Partei und ſeinen Fahnen und Standarten
nach, da trieb es im Umſehen mitten in Newyork, wie eine Bachforelle
im Ocean. Die kleinſte der Damen Milden iſt nicht wenig liebens¬
würdig, wenn ſie von Ihnen ſpricht — was ſollen die großen dabei
thun? Am Ende ſind's doch die Kinder, welche den Ton angeben!
Ich liebe die Kinder, ſagte Moorfeld; in der ganzen weiten Welt
ſind ſie's allein, zu denen ein uneigennütziges Verhältniß möglich iſt.
Die Natur unterwirft man der Kunſt, die Kunſt eiferſüchtelt mit der
Natur — wir mögen uns ſtellen wie wir wollen: unſer Leben iſt
[144] Neid und Verzweiflung. Das Kind allein iſt weder todte, objective
Natur, noch bewußte und überbewußte Menſchheit: es hat zwiſchen
beiden den rechten Moment, dieſen Moment lieb ich. Neben dem
Geſpenſt, das den Menſchen draußen abſtößt und dem Geſpenſt das
ihn innen zerfleiſcht, ſteht es in der Mitte, — ein anziehendes und
verſöhnendes Geſpenſtchen. — Verlaſſen Sie ſich drauf, ich werde
meine kleine Eroberung nicht vergeſſen. — Mit dieſen Worten hän¬
digte Moorfeld auch ſeine Karte aus.
Die jungen Männer hatten ſich eben getrennt, als Benthal, eh'
er die empfangene Karte einſteckte, beim Lampenſchein einen Blick
darauf warf. Er rief den Hinweggehenden ſogleich zurück und ſtellte
ihm die Karte mit den Worten zurück: Um Verzeihung; ich habe
hier keinen Dr. Moorfeld, ſondern einen Herrn von —
Moorfeld ergriff haſtig das dargereichte Blättchen und erröthete.
Eine Verwechslung mit irgend einer fremden Karte, ſagte Benthal. —
Sie irren, antwortete Moorfeld, oder ſcheinen zu irren. Es war mein
eigener Name in Europa. Nach dieſem Geſtändniß folgte eine Pauſe
zwiſchen beiden Männern. Von Benthal's Beſcheidenheit war nicht
zu erwarten, daß er um Aufklärung bitten würde, obwohl ihn aller¬
dings eine gewiſſe Empfindlichkeit anwandeln mochte — nicht über
dieſes Incognito, als vielmehr über die ungenirte Weiſe, womit es
ſich eingeſtand. — Moorfeld nahm endlich gegen Benthal das Wort:
Sagen Sie, wie ward Ihnen zu Muthe, als Ihr Name zum erſten¬
male von amerikaniſchen Lippen ausgeſprochen wurde? Vielleicht wie
einem Badenden, dem ſeine Kleider geſtohlen ſind. Es war ein heil¬
loſes Gefühl, wie? In Europa unter bekannten Verhältniſſen bezeich¬
nete Ihr Name einen gewiſſen Werth, wie die Ziffer auf einem
Münzſtücke: hier waren Sie eine Ziffer ohne das Münzſtück — Sie
hätten eben ſo gut No. 20 heißen können. Iſt es ſo?
Ich kann Sie vollkommen verſtehen, antwortete Benthal. Die alte
ſociale und ideele Bedeutung hat man am andern Ufer abgelegt, und
doch bringt man noch den Träger derſelben, den Namen, herüber.
Da iſt's nun ganz eigen, den Namen zu hören und zu wiſſen, daß
dabei nicht mehr gedacht wird, was ſonſt gedacht wurde.
Sehen Sie! So trag' ich denn lieber einen angenommenen Na¬
men für Amerika. Man kann ein- und denſelben Namen nicht zugleich
[145] unter Cotta's Preſſe und in den Mund eines Waterclerks legen, der
ihn mit ſeinem Kautabak ausſpuckt. Das geht nicht.
Benthal antwortete: Sie ſprechen von Cotta's Preſſe und ich muß
mit Bedauern ahnen, daß Sie mir kein bleibender Freundesbeſitz ſind.
Sie gehören alſo nicht, wie ich, mit Ihrer ganzen Zukunft dem Lande
an? Sie treiben's mit dem Schweden nur zum Schein?
Ich treib' es mit dem Schweden nur zum Schein! wiederholte
Moorfeld mit einer Nachbetonung, welche eine Einkehr in ſein inner¬
ſtes Selbſtbewußtſein verrieth. Ein ſonderbares Wort! Wie eigen¬
thümlich ſchickſalsvoll klingt es mir! Sie ſtellen mich mit dem Ge¬
mordeten von Eger zuſammen?
Benthal erſchrack faſt über den Eindruck, den er ſo zufällig auf
Moorfeld gemacht hatte, und nahm wieder das Wort zu Ausbeugungen,
aber dieſer fiel ihm raſch in die Rede: Nein, nein, Sie haben nicht
weniger als der Pappenheimer das Recht, Ihre Frage zu ſtellen, wie
es Ihnen einfällt. Hingegen die Antwort darauf! Das iſt's, was
mich ſo wunderlich hier berührt. Die gleiche Polarität mit dem
Manne, der zwiſchen Küraſſieren und Sternen die ideale und reale
Welt in ſich verbinden will. Steh' ich nicht eben ſo zwiſchen Europa
und Amerika? Iſt mir's beſtimmt, in Prag eine Königskrone, in
Eger eine Todeswunde zu holen? Ja, ahn' ich denn nur, in welcher
der beiden Welten mein Prag, mein Eger liegt? So habe ich in Ih¬
rem Citat eine jener Stimmen gehört, welche ſcheinbar von menſch¬
lichen Sprachwerkzeugen kommen, aber es ſind keine Menſchenſtimmen.
Sie faßte mich tiefer.
In dieſem Augenblicke kam auf dem Giebel von Aſtorhouſe ein
rother feuriger Rand zum Vorſchein, — es war der abnehmende
Mond, der in dieſer ſpäten Nachtſtunde aufging. Benthal ſtreckte die
Hand aus und rief: Sehen Sie, da kommt unſer Landsmann! Der
Mond iſt ein geborener Deutſcher. Dacht' ich's doch! wo zwei Deutſche
beiſammen ſind, kann er nicht ausbleiben. Iſt das nicht ein Zeichen,
daß wir verweilen ſollen? Der Park bekommt jetzt erſt ſeine rechte
Magie und das marmorene Stadthaus dort mit ſeinen ſchlechten Ver¬
hältniſſen die beabſichtigte Nobleſſe. Der Marmor iſt überhaupt nur
ein Stein für die Mondbeleuchtung. Und die Gedanken, die Sie da
anregten — ſetzte er hinzu — die ſind erſt recht geſchaffen für's
D. B. VII. Der Amerika-Müde. 10[146] Mondlicht! Wollen wir ſie nicht fortſpinnen? Ich werde dringender,
ſeit ich weiß, daß ich Sie verlieren kann. Bitte, ſprechen Sie von
ſich ſelbſt, wenn ich ſo viel eintauſchen darf für ein Geſpräch von
Paulinen.
Pfui! rief Moorfeld, man ſollte die Geliebte ſelbſt nicht im
Scherze nachſetzen. Von ihr zu hören, machte uns beiden Freude;
aber mein Verhältniß zu Europa und Amerika? Freilich iſt's auch
eine Dame, es iſt eine Sphinx! Die ſagt mir nicht, in welchen Längen
ich ſegle — ſie gibt mir ſelbſt Fragen und Räthſeln auf. Schlimm
wenn ich ſie nicht löſe, und ſchlimm wenn ich ſie löſe — ein König
Oedipus! Doch Sie haben Recht. Profitiren wir von dem ſpäten
Mondbeſuch, es plaudert ſich ganz hübſch zwiſchen Mond und fahren¬
dem Poeten, es klingt ſo en famille! Gebt dem Dämmer was des
Dämmers iſt!
Die beiden Freunde faßten ſich von Neuem unter dem Arm und
gingen in den Lindenalleen des Parks auf und nieder. Moorfeld be¬
gann: Als ich vor einigen Jahren anfing, meinen Dichterberuf zu
fühlen, überkam mich eine unermeßliche Unruhe. Ich ſah um mich
her und fand, daß unſre geſammte poetiſche Literatur das nicht aus¬
drückte, was ſie ausdrücken wollte und ſollte.
Benthal machte eine überraſchte Gebärde.
Das fand ich, wiederholte Moorfeld. Ich fand mich in einen Hexen¬
ſabbath geworfen, in einen Maskenball, die ganze Poeſie kam mir
vor, wie eine verabredete Vermummung, eine Verrätherei, eine Ver¬
ſchwörung, und auf mich war's gemünzt. Ich fühlte einen ſtarken
und eigenen Inhalt in mir, und die Masken huſchten in antiken und
romantiſchen Lügengewändern um mich her, und wie das munkelte,
ziſchelte, flüſterte, ſo ward mir nicht anders, als ſie wollten mich ver¬
leiten, zu horchen, damit ich meine eigene Stimme überhörte. Es
war ein unnennbares Gefühl. Ich bin verlegen, es Ihnen ganz deut¬
lich zu machen. Denken Sie ſich einen Muſiker, der mitten in einem
rauſchenden Concert einen eigenen Einfall bekommt. Von dem Au¬
genblicke an ſpielt ihm das Orcheſter in gräulichen Disharmonien.
Mit größter Anſtrengung hält er den eigenen Gedanken feſt, es ge¬
lingt nicht, die äußeren Sinne überwältigen ihn, der Gedanke ſinkt, er
geht unter, ſchon vernimmt er ihn nicht mehr, da ergreift ihn die
[147] Angſt, er ſpringt auf, rennt was er kann aus dem Bereich des Or¬
cheſters — und zu glücklich, wenn nicht der Nachklang noch fortfährt,
ihm ſeine innere Stimme zu verwirren! Das ungefähr war mein
poetiſcher Erſtlingszuſtand. Ich machte eiligſt eine Skizze von meiner
Melodie, warf ſie in Cotta's Briefſchalter und rannte auf und davon
nach Amerika. In der Stille des Hinterwalds will ich ſehen, ob ich
die Skizze ausführe. — Moorfeld fuhr fort: Ich ſagte zuvor: unſre
ganze Poeſie drückte nicht aus, was ſie ſollte und wollte: das befrem¬
dete Sie. Ich bin Ihnen, wie es ſcheint, eine Erklärung darüber
ſchuldig?
Es intereſſirt mich, ſie zu hören, antwortete Benthal.
Ich meine es ſo, ſagte Moorfeld: die ganze Literaturgeſchichte
zerfällt mir in zwei Perioden; die eine zähle ich von Homer bis
Racine, die zweite von Racine bis in unbekannte Zeiten. Dieſe Pe¬
rioden mögen Ihnen wunderlich dünken; in der erſten ſtehen z. B. die
großen Gegenſätze von antik und romantiſch, chriſtlich und heidniſch
unberückſichtigt neben einander, — aber ich finde ein Merkmal der
Gleichartigkeit für ſie: den Ausdruck des nationalen Inhalts. Homer
ſingt ſeine Griechen, Cervantes ſeine Spanier, Camoens ſeine Portu¬
giſen, Shakespear ſeine Engländer, bis herauf zu Racine, welcher
ſeine Franzoſen ſingt. Das iſt das einheitliche Moment dieſer Pe¬
riode — die Poeſie der Nationalität. Nach Racine folgt eine
andere Periode — die Poeſie der Individualität. Recht ſchla¬
gend für dieſe Eintheilung mag ich zwei Engländer nennen — Shakes¬
peare und Byron. Was wäre Shakespeare außer England, was Byron
in England geworden? Nichts. Jener hatte die Nationalität, dieſer
die Individualität zu ſingen. Ihre Poeſie iſt in der Wurzel ver¬
ſchiedener, als die von Virgil und Taſſo. Sie repräſentiren die alte
und neue Zeit meines Begriffes. — In Deutſchland, wie billig für
deutſche Verhältniſſe, hatten wir keine große Nationalitäts-Poeſie; deſto
ungeſtümer brach die Individualitäts-Periode an: — das war die
Sturm- und Drang-Periode. Man hat von einem Abſchluß dieſer
Periode durch Schiller und Goethe geſprochen. Aber Sie ſehen wohl,
wie lächerlich das iſt. Haben wir denn bis auf dieſe heutige Stunde
ſchon einen andern Inhalt gewonnen, als den der Sturm- und Drang-
Periode — unſer armes drangvolles Ich? Oder iſt dieſes Ich ſo
10 *[148] verſöhnt, in ſeinen thieriſch-göttlich-menſchlichen Widerſprüchen ſo har¬
moniſch gelöſt, der Glaube ſo ſtark, das Wiſſen ſo weit, die Erde ſo
himmliſch geworden, daß uns der Zuſtand von Sturm und Drang
nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Fauſt nicht ein
diſſonirendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Meiſter nicht dadurch
um die Piſtole herumkäme, daß die geſammte Weiblichkeit weniger
pretiös vor ihm thut, als vor Werther's armen lechzenden Sinnen!
Eigentlich hätte er ſich aus entgegengeſetzten Gründen erſchießen müſſen.
Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit iſt auch in
ihm nicht gelöſt, denn Mignon ſtirbt und iſt eine Abnormität. Kurz,
das Weimarer Miniſterial Reſcript, mit ſeiner griechiſchen Contra¬
ſignatur, war eben eine Regierungsmaßregel, wie die meiſten andern:
ſie drang nicht in's Volk, ſie war ein Willküract des Einzelnen. Und
als die Olympier mit ihrer erkünſtelten Griechen-Harmonie ſchon längſt
Ruhe und Ordnung geſtiftet zu haben glaubten, — ſiehe, da ſchlägt
uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem engliſchen Lord zu
Tage und wir hören das alte markzerreißende Pan-Geſchrei aus
Werther's brünſtigſten Tagen. Nichts iſt abgeſchloſſen ſeit Werther,
gar nichts; höchſtens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die
Nothwendigkeit, das ſubjective Recht und die objective Pflicht kämpfen
mit einander nach wie vor. Unſre Religion, unſer Staat, oder der
Weimarer reflectirtes Griechenthum haben die Ausgleichungsformel noch
nicht gefunden.
Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abge¬
ſchloſſen, ſondern blos unterbrochen und verwirrt. Als ſie von Werther
und Karl Moor abfielen, fielen ſie vom ganzen modernen Weltalter ab.
Sie legten den Inhalt der Poeſie aus der Individualität wieder in
die Nationalität zurück; allerdings griffen ſie nach der ſchönſten Na¬
tionalität — nach der griechiſchen. Aber es war immer eine will¬
kürliche Wahl und Andere konnten anders wählen. Das thaten denn
auch die Romantiker. Sie führten die Poeſie in die indiſche, ſkandi¬
naviſche, germaniſche, romaniſche, überhaupt in ſämmtliche Nationali¬
täten der Welt. Natürlich behauptet das Herz ſein Recht und ſelbſt
Münchhauſen wird manchmal die Wahrheit ſagen. So verrieth ſich
im nationalen Coſtüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber ſonder¬
bar! bei ſolchen Gelegenheiten lachte man ſich entweder ſelbſt oder
[149] gegenſeitig einander aus: es war als ob man ſich die Löwenhaut ver¬
ſchoben hätte und das Eſelsohr durchgucken ließe. Andere erkannten
dann in dieſer kleinen Zerſtreuung wieder einen neuen Toiletteneffect,
wie der junge Heine, und gingen auf abſichtliche Verſchiebungen und
Entblößungen aus, um jenes ironiſche Gelächter häufiger zu erregen.
Wieder Andere wären dagegen am liebſten in ihrer natürlichen Stürmer-
und Drängerhaut einhergegangen, aber die Mode war ſtärker als ihre
Courage, ſie entſtellten ſich wie Hölderlin mit einer griechiſchen, oder wie
Heinrich von Kleiſt mit einer romantiſchen Fremdartigkeit und verdarben
die wahre Diſſonanz mit einer falſchen. So wurde überall der Lüge kein
Ende. In dieſem Zuſtande fand ich unſre poetiſche Literatur, als ich
zum Bewußtſein derſelben erwachte, und darum ſagte ich: ſie drückte
nicht aus, was ſie wollte und ſollte.
Ich floh. Sollte ich meinen Beruf erfüllen: eine moderne In¬
dividualität rein auszudrücken — ſo mußte ich das manierirte Deutſchland
fliehen, wie Byron das verrottete England. Warum ich eben nach
Amerika floh, das allein bliebe mir zu erklären noch übrig.
Es iſt hier von den ernſteſten Intereſſen der Menſchheit die Rede.
Sie dulden keine Frivolität, keine Uebereilung. Man erſchießt ſich
nicht, weil es hübſch knallt und ein wenig Lärm macht. Lotte kommt
darum kein einzigmal weniger in die Wochen, es macht keinen blei¬
benden Eindruck. Unſterblich wird man nicht damit. Unſterblich iſt
nur das Leben, nicht der Tod. Das erkannten Schiller und Goethe,
als ſie die Partei des Todes verließen, und ſich für's Leben erklärten.
Ihr ewiges Verdienſt bleibt es, daß ſie mit Ernſt und Würde nach
dem ſuchten, was wir heute Weltordnung nennen. Die Beſchränktheit
ihres Zeitalters bleibt es, daß ſie die Weltordnung nur im Reiche
des Gedankens zu finden vermochten, daß ſie auf eine abſolute Tren¬
nung von Kunſt und Leben antrugen, und die Wirklichkeit preisgaben
zu Gunſten „des ſchönen Scheins“. Aber wenn wir ihren Fund
nicht annehmen dürfen, ſo müſſen wir doch von ihnen lernen zu ſu¬
chen. Dieſe Pflicht bleibt uns. Und wer möchte verkennen, wie ſie ſehr
uns heute erleichtert iſt, wie das Gebiet unſers Suchens heute ein
weiteres iſt? Wenn die Lenze, die Hölderlin's, die Stürmer und Dränger
alten Styls am Leben verzweifelten, ſo war es das Leben ihres Schilda's
mit der Thorſperre um acht, mit dem barſchen Bürgermeiſter und dem
[150] ſüßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen ſie auf und unter, oder ſie
fanden im nächſten Schöppenſtedt der Neuheit höchſtens ſo viel, daß
der Kirchthurm rechts ſtand, ſtatt links, und daß der Mühlbach nicht
Schleie hatte, ſondern Gründlinge. Das Deutſchland, in welchem
Werther's Piſtolenſchuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, — und
das Deutſchland von heute ſind doch verſchiedene Weltordnungen. Es
lehrt uns, daß der Unterſchied von Ideal und Leben kein ſtehender
iſt, ſondern ein wandelbarer. Wir ſind dem Ideale näher gekommen.
Das iſt eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortſchritt ſeit Schiller's
und Goethe's Jugendtagen. Darum — und nicht weil ſie griechiſch ge¬
logen haben, — ſind uns ihre Jugendexceſſe nicht mehr ſo leichthin erlaubt.
Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann
dem Ideale auf Erden näher kommen. Dieſe Wahrheit zeichnet den
Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern.
Der Poet wird künftig Touriſt ſein. Er ſucht das Ideal auf Erden, oder
vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh er ſie verdammt
und zum Recht der Verzweiflung greift. — Byron ging nach Grie¬
chenland, ich nach Amerika. Er beſuchte ein abſterbendes Volk, ich
ein aufblühendes. Ich glaube den beſſern Weg gewählt zu haben.
Mag der große glänzende Lord ein beneidenswertheres Aufſehen erregen
als ich, der kleine ungariſche nemes-ember; eins habe ich vor ihm
voraus: ein tieferes Gewiſſen. Es iſt mir nicht um eine vorüber¬
gehende Emotion, um eine nationale Rage zu thun, die nach dem
Friedensſchluß zuſammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie
die Menſchheit ihre Freiheit erkämpft, ſondern wie ſie ihre Freiheit
täglich, ſtündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht — das muß
mir die Menſchheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach
Amerika. Hier ſind die größten Maßſtäbe, die weiteſten Perſpectiven,
hier iſt das Leben eine Wahrheit, und die Todten werden alle be¬
graben, nicht blos theilweiſe, wie in Europa. Hier iſt die Werkſtätte
des Ideals. Soll ich unſern Rationaliſten glauben, daß die Menſch¬
heit die Gottheit iſt — hier mußte ſich's zeigen, wo mit jeder Erfin¬
dung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird;
ſoll ich unſern Liberalen glauben, daß der Vernunftſtaat im allge¬
meinen Stimmrecht liegt, und die geſchichtliche Gewohnheit ein Fluch
iſt — hier mußt' ich's erfahren, wo ich Geſetze ſehe, die der Millionär
[151] und der Schuhputzer des Millionärs gemeinſam gemacht haben. Hieher
bracht' ich den Proceß zwiſchen Ideal und Wirklichkeit, die Entſcheidung
über Leben und Tod in letzter Inſtanz. Hier iſt die höchſte Appellation
in göttlichen und menſchlichen Dingen. Mißlingt auch auf dieſem
Boden der Sühneverſuch unſrer widerſpruchsvollen Geiſt-Stoff-Ehe, muß
ich mich ſcheiden von Menſchheit, Gottheit, Glaube und Liebe, und
behält der teufliſche Geiſt der Verneinung Recht — wohlan, dann
komm' ich zurück nach Europa, „und bin geſcheidter als alle die Laſſen“,
die die Welt zertrümmern, weil ihr Röschen heirathet. Dann hab'
ich mir meine Piſtole, meinen Wahnſinn verdient wie ein Mann, nicht
wie ein Knabe. —
Hier ließ Moorfeld Benthal's Arm los, und verabſchiedete ſich
raſch. Bitten Sie mir morgen Abend eine Taſſe Thee bei Ihren
Frauen aus, rief er im Weggehen zurück, ſeinen Beſuch ſo nahe
rückend gleichſam zur Entſchuldigung für dieſe heftige Trennung.
Gute Nacht, Freund; damit verſchwand er in der Richtung gegen das
Poſt-Office hinab. Benthal's Schritte hörte er aber nicht ſich ent¬
fernen; der Freund muß noch lange geſtanden und ihm nachgeſehe
haben.
Moorfeld's Lebensgeiſter vermochten keineswegs die Ruhe zu ſuchen,
als er in dieſer ſpäten Nachtſtunde ſein Zimmer erreicht hatte. Er
lag noch lange im Fenſter. Auf New-Jerſey drüben flimmerte eine
Villa in Illumination; der Bewohner mochte irgend ein Familienfeſt
feiern. Wie ein Buſch voll Johanniswürmchen ſah das Glück des
reichen Mannes auf dieſe Entfernung aus. Rings herum lag große,
ernſthafte Nacht; die Baumanlage von Hoboken war eine maje¬
ſtätiſche Schattenmaſſe. Der Hudſon rauſchte, in der Finſterniß dop¬
pelt breit, unter den Kielen der Schiffe hin, welche mit einer melan¬
choliſchen Wachtlaterne an Bord ſchlaftrunken in ihren Piers vor Anker
lagen. Man hörte in der Nachtſtille das Plätſchern der Wellen an
ihren Flanken. Zuweilen durchſchnitt auch ein Kahn die dunkelpolirte
Waſſerfläche, lautlos, mit umwundenen Rudern, ſei's daß er das nacht¬
ſchleichende Verbrechen trug oder die nie ruhende Themis, deſſen Ver¬
folgerin. Unten im Süden, wo der Strom in die Bai übergeht, ſtand
[152] der Mond und umſäumte mit ſeinem vollen Glanze den Meereshori¬
zont. Am äußerſten Rande der Sehweite fand das Auge einen Ruhe¬
punkt dort; ein dunkler Körper, anzuſehen wie Harniſch und Gewaffen
einer Heldentrophäe, lag großartig vereinſamt mitten im Meeresſpiegel.
Es war das Fort Gibſon auf dem kleinen Eilande Ellis.
In dieſe Nachtſcene träumte Moorfeld hinaus, aber ſein Inneres
war abgezogen von ihr. Die Bilder des heutigen Abends gingen an
ſeiner Seele vorüber. Ein toller Menſchenhaufe mit Ratten und
Hunden durchwirkt ſteht als dramatiſche Kunſtgenoſſenſchaft vor ihm —
wie verblaßt iſt dieſes übergrelle Bild ſchon! Der ſeltſame Engländer
mit ſeiner Dogge, — Hoby, der Staßenjunge — ach, und mit dieſem
ein lichtes, lockendes Andenken — blast es hinweg wie ein Gold¬
blättchen jenes Mädchenbild von der Battery! Kleindeutſchland breitet
ſich aus in ſeiner Stimmung. Dieſe Urne voll Nieten rauſcht ver¬
hängnißvoll an ſein Ohr. Unheimlich und doch wohlthuend ſtellt ſich
dies Schickſalsgemälde vor ihn. Er ſieht eine Reihe von Menſchen,
welche zu Grunde gehen ohne moraliſche Schuld, blos an der Unmöglich¬
keit der That. Er fühlt lebendiger als je, wie günſtig das Loos
des Sterblichen ſei, deſſen innerer und äußerer Cenſus ihm erlaube,
ſich ſelbſt zu vertreten, der in jedem Augenblicke an der Urne ſeines
Schickſals das Votum einer ganzen und vollen Freiheit abgeben darf.
Er freut ſich des Gedankens an ſeine Anſiedlung; was Menſchen ſo
ſelten ſchätzen, ſchätzt er jetzt hoch, nämlich das Glück, daß überhaupt
etwas möglich ſei.
Und nun Benthal! Der junge Mann iſt ein Stück deutſche Ar¬
beitskraft, das nicht unterzugehen verdient. Und doch — wer ſchützt
ihn auf die Länge davor? Wenn Moorfeld mit weniger Poeſie und
mehr Wirklichkeitsſinn die ſonderbare Stellung dieſes Propheten zu
Kleindeutſchland abwog, ſo mußte er ſich fragen: was iſt wahrſchein¬
licher? daß der geſunde Eine die kränkliche Mehrheit bewältige, oder
daß die Schwachen nach und nach den Starken ſich einverleiben wer¬
den? Schien es doch jetzt ſchon, daß Benthal's Adhäſion an Klein¬
deutſchland eigentlich auf einer verhängnißvollen Verwandtſchaft der
Extreme beruhe! Es lag etwas Nervöſes, Ekſtatiſches in der Spann¬
kraft dieſes wackeren Ringers, das nicht blos aufgeregte Manneskraft
verrieth, ſondern zugleich einen gewiſſen weiblichen Zug des Charakters,
[153] ein reizbar-ungeduldiges, ſchmerzhaft-ſehnſüchtiges Element, von wel¬
chem die Erweichung und Zerſetzung dieſes tüchtigen Kernes ausgehen
konnte, wenn ihm nicht rechtzeitig Genugthuung ward. Und wer
bürgte dafür, daß der junge Mann ſeine thätigen und ſtrebenden
Kräfte nicht erſchöpfte, eh' er ſein Ziel erreichte und dann um ſo
unaufhaltſamer die Beute der weiblichen Seite ſeiner Natur wurde?
Wie, wenn Moorfeld dieſem Retter auf dem Schauplatze ſeiner
Thaten begegnet wäre, um ihn ſelbſt wieder zu retten?
Es liegt etwas Herzerhebendes in dem Gedanken, auf eine Exiſtenz
außer uns beſtimmend wirken zu können! Ja, der ſogenannte egoiſtiſche
Menſch datirt eigentlich erſt von da an ſein Glück, wo es ihm mög¬
lich wird, einem Mitgeſchöpf die Richtung zum Glücke zu geben. In
neuen Perſpectiven erblickt Moorfeld jetzt ſeine Anſiedlung im Urwald.
Welchen Sinn gewinnt ihm dieſes Project! Sollte es nicht berufen
ſein, der Ausgangspunkt einer Exiſtenz zu werden, die, einmal in
ihrer Wurzel befeſtigt, gar nicht abſehen ließ, in welchen Radien der
Palmenfächer ihrer Triebkraft ſich ausſpannen wird? Können denn
überhaupt die neuen Freunde ſich je wieder trennen? Benthal, die po¬
ſitive, handelnde Natur mit ihrer tiefen Andacht für das Ideale, Moor¬
feld, der Idealiſt mit ſeinem tiefen Bedürfniß, ſich realiſtiſch zu er¬
füllen, — begegnen ſich dieſe zwei Charaktere nicht gewiſſermaßen typiſch,
und iſt nicht die ganze Menſchheit hergeſtellt, wenn ſich dieſe Indivi¬
duen ergänzen? Welche Wirkungen laſſen ſich hoffen aus den An¬
fängen eines ſo naturgemäßen Bundes! Wahrlich, es wäre auf dieſem
Boden nicht das erſte Mal, daß zwei junge ſtrebende Männer Väter
einer Stadt geworden ſind. Moorfeld brauchte nicht einmal Dichter
zu ſein, um ſo weit zu phantaſiren.
Romulus und Remus! — Unternehme es, wer ſich ſtolz genug
dazu fühlt, die Nachtgedanken unſers Freundes zu Ende zu denken! —
Solche Momente ſind ſelbſt für die Poeſie zu groß. Die Poeſie iſt
die Kunſt des „ſchönen Scheins“, hier iſt von ſchöner Wirklichkeit die
Rede. Die Poeſie iſt die Sprache des Wunſches, hier winkt Beſitz.
Wir können von dieſer Stunde kein Gedicht unſers Freundes über¬
liefern. Er dichtet nicht. Der Dichter beſingt die Geliebte: am Braut¬
abend verſtummen die Hymnen.
Moorfeld fühlt ſich am Vorabend eines Unternehmens, das kein
[154] deutſcher Dichter je vor ihm begonnen: kein deutſcher Vers iſt vor¬
bereitet, ſich zum Ausdruck eines ſolchen Inhalts zu erheben. Aber
Newyork und die Rolle des Beſchauenden reizt ihn nicht länger.
Sein Gedicht iſt: daß er unverzüglich zu reiſen beſchließt.
In dieſem Augenblick erloſch die beleuchtete Villa auf New-
Jerſey, welche bisher der Augenpunkt unſers nächtlichen Träumers
geweſen.
Moorfeld ſtutzte.
Dann aber blickte er am Himmel aus — ob nicht das Licht des
Morgenroths anbräche. — —
Am Tage fand ihn Jack — das Bett unberührt — im Fauteuil
eingeſchlafen.
Achtes Kapitel.
Moorfeld behielt von der Trunkenheit ſeiner geſtrigen Nacht-Phan¬
taſien am ernüchternden Tageslichte noch ſo viel Bewußtſein, daß er
ſich heute mindeſtens vornahm, den neuen Freund über ſein Project
auszuholen. Denn das ſagte er ſich nach dem Ausglühen jenes dich¬
teriſch angeſchürten Traumzuſtandes, daß es noch ſehr die Frage ſei,
ob Benthal ſeine Stellung in Newyork überhaupt ſo hoffnungsdürftig,
wie er ſelbſt, betrachte, und die Stadt mit dem Urwald auch willig
werde vertauſchen wollen. Enthielt ſich Moorfeld aller Ueberredung
und verſprach er gewiſſenhaft, wie es ſolche Fälle heiſchen, eher zu
wenig als zu viel, ſo erſtaunte er jetzt, daß er dem werthen Genoſſen
eigentlich nicht mehr zu bieten hatte, als etwa einen freien Platz im
Schiffe; Gunſt oder Ungunſt der Fahrt blieb immer noch das Wag¬
niß des Andern. Freilich hielt er ſich vor, daß ein tüchtiger Mann
größere Unterſtützungsmittel ſich kaum bieten ließe, und daß das Selbſt¬
gefühl des Thatkräftigen nicht mehr verlange, als der Grieche in ſeinem
δος μοι ποῦ στω,*) oder Archimedes in jenem Punkt außer der Erde,
[155] von welchem er ſeinen Hebel an dieſe zu ſetzen verſprach. Aber ſolch
einen Punkt hatte Benthal in ſeiner Lehrſtelle zur Noth eben auch, es
blieb alſo immer ſeine Geſchmacksſache, ob er von einem Hinterwälder-
Blockhaus oder von Mr. Mockingbird's Volksſchule aus ſeine Hebel
würde anſetzen wollen. Dieſe Ueberzeugungen ſchlugen unſern Freund
ziemlich darnieder. Er hatte ſich den Gedanken an Benthal's Genoſſen¬
ſchaft ſo raſch und feurig eigen gemacht, daß dieſer Gedanke, wie ein
Gerüſt nach dem Brillantfeuerwerk, heute noch feſt ſtand, wenn auch
ohne die magiſche Verklärung von geſtern. Viel ehrer erwartete das Gerüſt
die Wiederholung des Feuerwerks als das Schickſal, abgetragen zu werden.
Bei dieſer Stimmung ſah Moorfeld mit Ungeduld der Stunde
ſeines geſtern angekündigten Abendbeſuches entgegen. Endlich brach ſie
an. Auf Flügeln eilte er fort. Doch, wir wollen ihm, wie er es im
Geiſte längſt ſelbſt that, in Perſon voraneilen und uns um einige
Augenblicke den Vortritt vor ihm herausnehmen.
Im letzten Tagesdämmer finden wir uns in einer der einſamſten
Straßen Newyorks — und außer dem Broadway und Bowery können
ſie ſehr einſam ſein dieſe weiten Straßen Newyork's — wir finden
uns in einer der Nebenſtraßen des Winkels von Bowery und Grand¬
ſtreet vor einem kleinen niedlichem Framehauſe von drei Fenſtern
Front. Es iſt hellgelb angeſtrichen, hat grasgrüne Jalouſien und
ein paar Acazienbäumchen vor'm Eingang. Der gewöhnlich hol¬
ländiſch-amerikaniſche Aufputz. Wir treten durch ein paar das
Baſement überbauende Stufen in's Parterre. Nach hieſiger Sitte
würden wir hier das Parlour finden. Aber in den Glücksver¬
hältniſſen der deutſchen Mietherin iſt weder von Parlour noch von
Drawing-room die Rede. Im Parterre wohnt die Hauseigenthü¬
merin ſelbſt, die penſionirte Wittwe eines Seeoffiziers, der im letzten
engliſchen Kriege gefallen. Wir beſteigen demnach das Geſtock. Die¬
ſes iſt Frau v. Milden's Wohnung. Zwei kleine Zimmer und
ein Cabinet bilden den beſcheidenen Haushalt, welchen Benthal ſein
„Lorettohäuschen“ nennt. Mit dem Geiſterrechte, einzutreten ohne an¬
zuklopfen, und zu lauſchen ohne erröthen zu dürfen, ſtehen wir jetzt
im erſten dieſer Gemächer. Da es kein Bett enthält, würde es der
Pariſer einen Salon nennen; bilden wir uns alſo ein, wir ſtehen im
Salon der Frau v. Milden. Es iſt eine ſchweigſame Viſite, die wir
[156] da machen. Eine ſummende Theemaſchine erfüllt die vier Wände mit
ihrer myſtiſchen Sourdinen-Muſik; ſonſt regt ſich kein Laut darin.
Ueberblicken wir die Gruppe, die, „um des Lichts geſellige Flamme“
verſammelt, den runden Tiſch inne hat, und von einer Milchlampe,
unter der Blende ihres Lichtſchirms, beleuchtet wird. Es iſt eine Gruppe
von drei Frauenköpfen, welche auf den erſten Blick die Gleichheit des
Familienzugs erkennen läßt. Es iſt Frau v. Milden mit ihren beiden
Töchtern. Die Gruppe befindet ſich in dem Zuſtande jener vollkommenſten
Ruhe, in welcher der Künſtler ſein Modell zu beſchauen liebt. Frau
v. Milden heftet ihr Auge auf eine feinere weibliche Arbeit, eine von
denen, welche den Geſichtsausdruck denkend beleben, aber doch die
Sicherheit des Gelingens nicht beunruhigen. Ein zartes, ſinniges Antlitz.
Ein mädchenhafter Schmelz liegt auf dieſen Zügen, eine nervöſe
Geiſtigkeit, welche es vor dem gemeinen Altern ewig bewahren wird.
Die Spuren der Jahre ſind in ihren Mienen zwar zu leſen, aber nicht
in jener groben Runenſchrift der ſogenannten Erfahrung, ſondern
nur in dem geübteren Ausdruck einer angeborenen weiblichen Intuitions¬
kraft. Ihr gegenüber erblicken wir Pauline, die ältere Tochter. Im
Anſchauen dieſes Mädchens glauben wir erſt die Jugendlichkeit der
Mutter zu verſtehen. Es iſt die gereiftere Milde, von welcher die Matrone
verſchönt wird, man fühlt, die Mutter kennt den Umgang der Grazien, ſie
kann lächeln, ſie nimmt das Menſchliche menſchlich. Der Tochter be¬
zweifeln wir das. Es iſt ein ergreifender Anblick dieſes Mädchen.
Die volle Strenge der Jungfräulichkeit. Ihr ganzes Bild iſt in Ernſt
getaucht. Vor ihr ſteht der dampfende Theecomfort, ſie hält eine Art
veſtaliſche Flammenwacht daran. Eine nicht zu bezwingende Innigkeit
liegt in dem Blicke, womit ſie — der Spiritusflamme zuſchaut. Man
erſchrickt faſt über ſo viel feierlichen Ausdruck in Mitte der Alltäglich¬
keit, man ſieht eine Seele, die kein Hauskleid zu tragen weiß. Benthal
nannte ſie die verkörperte Modeſtie; der Charakter liegt in dem Worte,
aber das Wort iſt noch ſeine Gränze nicht. Zwiſchen der Mutter und
Paulinen bücken wir uns etwas tiefer zu dem dritten Frauenbild oder
Bildchen herab, und blicken der kleinen Malvine in ihr friſchfrohes,
ſinnliches Kinderauge. Ihr petulantes Geſichtchen iſt zu einem kräf¬
tigen Nachdenken angeſpannt, ſie hat ein engliſches Leſebuch vor und
mag nicht wenig ſtudiren. Auch dieſe Trägerin der leichteſten Blut¬
[157] wellen ſtört alſo die allgemeine Stille unſerer Gruppe nicht. Frau
v. Milden mit dem kleinen Mädchen nimmt die eine Hälfte des Tiſches
auf einem ſchmalen Canapee ein; neben ihrer Schweſter an der untern
Seite hat Pauline Platz, an der oberen neben Frau v. Milden ſteht
ein leerer Stuhl mit Manuſcripten und einem Schreibzeug davor.
Indem wir uns um den Inhaber deſſelben umſehen, entdecken wir die
Umriſſe eines jungen Mannes, der reglos am Fenſter verweilt, halb
von der zurückgeſchlagenen Gardine, ganz aber von dem großen kreis¬
runden Schatten verborgen, womit der Lampenſchirm die Mitte des
Zimmers verdunkelt. Es iſt Benthal.
Die Ruhe, in welcher wir dieſe Geſtalt verharren ſehen, iſt es
wahrſcheinlich, welche auf die tiefe Stille im Zimmer zurückwirkt.
Man wird ihn nicht ſtören wollen.
Draußen aber am abendlichen Himmel hallt ein Gewitter.
Benthal hat das halbe Fenſter geöffnet (das amerikaniſche Fenſter
iſt nur halb zu öffnen) und ſcheint in die Scenerie am Himmel ver¬
tieft. Pauline ſucht ihn von Zeit zu Zeit mit einem Blicke jener
zärtlichen Inſpiration, worin ſich nur die bräutliche Angehörigkeit zweier
Perſonen ausſprechen kann.
Der Donner hallt näher, Blitze begleiten ihn, und raſch, wie
Amerika's Wetter ſich entladen, rauſcht ein Platzregen nach. Die Luft
iſt ſtill, aber wie ſie vom Waſſerſtrom jetzt durchſchnitten wird, fan¬
gen die Fenſtergardinen lebhaft zu wehen an.
Erkälten Sie ſich nicht, Theodor, ſpricht Frau v. Milden bei
dieſem Ausbruch zu dem Träumer am Fenſter hin. Es iſt das
erſte Wort, welches ein langes Schweigen unterbricht.
Benthal ſchließt das Fenſter, d. h. nach der hieſigen Conſtruction,
er ſchiebt es zu, den Frauen zugewendet aber antwortet er: Mama,
wir hatten an der Rokolbank wohl andere Gelegenheit uns zu er¬
kälten!
Seitdem iſt mir's eben gründlich verleidet, was man romantiſch
„den Aufruhr der Elemente nennt“ ſpricht Frau v. Milden zurück.
Ich bewundere auch nicht den Aufruhr bei ſolchen Scenen, ſondern
die Ruhe, antwortete Benthal. Ich halte mir vor, daß auch die höchſten
Winde und Wolken, von den fünfzehn Meilen unſrer Lufthöhe nur
in den zwei unterſten ihr Spiel treiben, und daß das heftigſte Meer
[158] unter einer Tiefe von zehn Klaftern unbewegt liegt. So dünn ſind
die Platten, zwiſchen welchen wir unſre Eindrücke empfangen — und
der Erdenwurm ſpricht von einer „empörten Schöpfung“!
Wenn Frauenumgang bildend den Excentricitäten der Männer
ſteuert, ſo war's einer jener leiſen aber ſichern Frauengriffe an's
Steuer, als Frau v. Milden mit einer unſchuldigen Stimme jetzt
fragte: Wie meinen Sie, Theodor? Sie ſtrafte das Verſchobene, in¬
dem ſie es nur zur Erklärung ſeiner ſelbſt aufforderte.
Aber Pauline hob einen bittenden Blick zur Mutter auf und
ſagte: Laß, Mama, wie ſollte die Welt nicht klein werden, wenn es
das Leben iſt!
Benthal wandte ſich raſch um. Er ſah das Mädchen verſtimmt an.
Pauline erſchrack. In Benthal's Blick erſt ward ihr's bewußt, daß ſie die
harmloſe Berührung der Mutter mit einer viel empfindlicheren parirt
— und doch hatte ſie nichts gethan, als ihr tiefſtes Verſtändniß für
ein mitgefühltes Lebensweh ausgeſprochen.
Frau v. Milden ſchien das Mißliche von Paulinens Wort zu empfin¬
den und redete Benthal ablenkend an: Wollen wir die Geſchichte von
Pennſylvanien für heute in den Schrank ſchließen?
Demüthig ſagte Pauline: Oder laß mich ſchreiben und dictire du.
Du concipirſt fließender, wenn der Kopf allein arbeitet.
Das läßt ſich hören, antwortete Frau v. Milden. Unſer Baron —
auf einen Blick Benthal's verbeſſerte ſie ſich — unſer Doctor Moor¬
feld, wollte ich ſagen, kommt bei dieſem Wetter ohnedies nicht mehr.
Mama! rief die kleine Malvine halb trotzend, halb bittend.
Du bildeſt dir doch nicht ein, wies die Mutter das Kind zurecht,
daß man in ſolchen Wolkenbrüchen Viſiten macht? Oder biſt du ſo
ſelbſtſüchtig, dir zu wünſchen, was andern Menſchen Beſchwerde macht?
Aber der Doctor kommt doch, antwortete das Mädchen vergnügt,
ohne einen Zug von Eigenſinn.
In dieſem Augenblick geſchah ein betäubender Donnerkrach, ein
jacher Windſtoß riß in das Zimmer herein, denn die Thüre war auf¬
gethan und Moorfeld ſtand im Zimmer.
Die Wirkung dieſes Zuſammentreffens war ſo ſchlagend, und Mal¬
vine jubelte ſo trunken, daß Frau v. Milden nicht umhin konnte, den
vorausgegangenen Augenblick von Prophetie zu erzählen.
[159]
Moorfeld nahm das kleine Mädchen beim Kopf und küßte es
lebhaft.
Die Herzhaftigkeit, womit das Kind es litt, glaubte die Mutter mit
einer üblichen Neckerei rügen zu müſſen. Sie ſagte: Nun wirſt du aber
auch einen ſo ſchwarzen Ungarbart bekommen, wie der Herr Doctor.
Ach! replicirte die Kleine, da hätte Pauline ſchon längſt einen
blonden Ungarbart bekommen, ſo groß!
Die Wirkung dieſes naiven Kinderwortes und der vierfach variirte
Ausdruck von der Verlegenheit der Erwachſenen wäre nicht wohl wie¬
derzugeben, wenn nicht in demſelben Augenblicke ein vernünftiger Don¬
nerſchlag der Familie die willkommene Veranlaſſung geboten hätte, zu
erſchrecken und zu überhören. Frau v. Milden ergriff überdies das
Wort, und bewunderte Moorfeld's Ausgang bei dieſem Wetter.
Ich gehe oder fahre in ſolchem Wetter am liebſten aus, antwor¬
tete Moorfeld, ich kenne kein größeres Vergnügen als eine Platzregen-
Promenade durch die eleganten Paſſagen einer Stadt. Wie wunderſchön
das herabklatſcht in die lackirte und friſirte Puppenſchachtel! Nennen
Sie's nicht Schadenfreude. Es iſt ein äſthetiſcher Eindruck. Es iſt
komiſch und pathetiſch zugleich. Ja, es iſt der einzige Fall, wo vom
Erhabenen zum Lächerlichen gar kein Schritt iſt. Auch leide ich ja
mit. Aber im Geiſte bin ich dann gar nicht auf der Erde, ſondern
droben. Wie ſympathiſire ich mit dem grauen Ungeheuer in ſeiner
Vogelperſpective! Das kam über Land und Meer dahergerauſcht,
ſcheuchte den Bären hier, brach die Ceder dort, plötzlich hängt es auf
ein Stückchen Boden herab, wo der Pelz zur Peliſſe wird, die Ceder
zum Glockenthurm, die Wildhöhle zur City-Hall — ein goldenes,
zuckernes Ding, Stadt genannt, unter Glasſturz zu ſtellen. Und nun
die Fluten, die Blitze, die Orkane da drein! das erquickt! Da weiß
man doch, wer noch das große Wort im Hauſe führt, die Glace¬
handſchuhmacher oder die Natur?
Sie hatten eine heitere Ueberfahrt? fragte Frau v. Milden.
Ja, das iſt ein Anderes, rief Moorfeld, indem er ſich augenblick¬
lich in dieſe Frage fand und ernſthaft ward; wenn Sie einen Seeſturm
erlebt haben, dann verzichte ich darauf, Sie für Sturmpoeſie zu be¬
geiſtern. Gott weiß es, woher die Dichter ihre prächtigen Seeſtürme
haben, wahrſcheinlich aus ſonnigen Garten-Veranden, aus Cajüten
[160] nimmermehr. Herumzukollern wie eine Kugel im Roulett, auf dem
Boden, an der Decke, in allen Ecken, Schwindel im Kopf, das jüngſte
Gericht im Magen, die Lucken voll Seewaſſer, ſämmtliche Paſſagiere
ſprudelnde Fontainen — hinweg davon, auch im entfernteſten Andenken!
wir wollen dieſer appetitlichen Theekanne ihren Beruf nicht ſauer machen!
Auf dieſes Signal ſetzte ſich die Geſellſchaft zu Tiſche. Moorfeld
konnte bald ſehen, daß ſeine lebhafte unmittelbare Natur gefiel. Die
Unterhaltung nahm einen friſchen Gang, Wirth und Gaſt fanden ſich
ſchnell und angenehm in einander.
Im Fluſſe des liebenswürdigſten Beiſammenſeins hatte natürlich
Moorfeld's Frage an Benthal der günſtigen Gelegenheit zu harren.
Dieſes diplomatiſche Apropos ſpannte ihn keineswegs unangenehm,
nur war er nicht geduldig genug, es lange auszuhalten. Er ſuchte
bald nach einem Anknüpfungspunkte. Beim Niederſetzen der kleinen
Theegeſellſchaft war eine Mappe mit Manuſcripten vom Tiſche ent¬
fernt worden. Moorfeld erinnerte ſich an den Bäcker Sallmann aus
Kleindeutſchland, und bat ſich dringend aus, das Pamphlet zu hören,
welches Benthal demſelben verſprochen, wenn es dort vielleicht eben unterm
Ambos liege. Aber die Mappe enthielt es nicht mehr. Benthal hatte
es bereits geſchrieben und in die Druckerei geſchickt. Es beſchäftige
ihn ein anderer Aufſatz, erklärte er auf Moorfeld's Bewunderung dieſer
raſchen Thätigkeit, und wie er dieſen ebenfalls gerne ſchon druckreif ſähe,
ſo treibe eines das andere. Moorfeld erſtreckte ſeine Bitte natürlich
auch auf Mittheilung dieſes zweiten Artikels. Benthal machte Ein¬
wände und ließ ſich lebhafter nöthigen, bis er die Lectüre nach dem
Thee zuſagte.
Der Name Kleindeutſchland, der jetzt genannt worden war, gab
Moorfelden die Gelegenheit, die er ſuchte. Er bewegte ſich ein paar
Augenblicke um dieſes Thema, und wie im Vorbeigehen bat er dann
den Rector magnificus, ob er ihm ein paar tüchtige deutſche Arme
verſchaffen könne — einen Zimmermann und einige Ackerleute; er denke
nämlich ernſtlich daran, demnächſt ſeine Anſiedlung in Ohio zu be¬
gründen. Bei dieſer vorläufigen Ankündigung hielt er inne, und er¬
wartete den nächſten Eindruck derſelben.
Der Eindruck war ein bedeutender. Zwar erwiederte Benthal
das Geſchäftsmäßige von Moorfeld's Frage mit der rückſichtsvollen
[161] Faſſung, die ihn nicht leicht verließ: er werde ſich, ſagte er, die Sache
angelegen ſein laſſen, er hoffe jedenfalls die gewünſchten Arbeitskräfte
zu gewinnen; dann aber, — und er bedurfte einer Pauſe um über¬
haupt weiter zu ſprechen, — ſetzte er hinzu, dieſe Mittheilung über¬
raſchte ihn lebendig. Kaum erinnere er ſich noch, daß das Wort Ur¬
wald flüchtig geſtern genannt worden ſei und mehr bildlich als ei¬
gentlich, wie es geſchienen, es klinge ihm heute neu, und er habe ge¬
waltige Ehrfurcht vor Moorfeld's Gewiſſenhaftigkeit, der ein Land, um
es zu ſtudiren, gleich kaufe. Er ſagte dieſe Worte mit immer wach¬
ſender Bewegung, die Frauen blickten ihn an und blickten dann ſich
ſelbſt an. Auch ihnen, ſah man, gab das Gehörte zu denken.
Frau v. Milden that — was in ſolchen Momenten das Tactvollſte
iſt — ſie ſprach die Bewegung, die vorhanden war, freimüthig aus.
Mit der richtigen Miſchung von Gelaſſenheit und Antheil in ihrer
Stimme ſagte ſie zu Moorfeld: Sie beabſichtigen eine Anſiedlung,
Herr Doctor? Ich glaube es gern, daß es Herr Benthal überhört
hat, er wird es ungerne gehört haben. Wenn man ſich im menſch¬
lichen Umgang nur an eine Art Aſtronomie gewöhnen könnte! die
Menſchen wie Sterne zu nehmen; — ſie kommen und gehen am
Horizont und man hätte das freie Intereſſe der Wiſſenſchaft an ihnen.
Aber das Gemüth will alles gleich feſthalten und in Eigenthum ver¬
wandeln: das iſt freilich ungezogen. Ich fürchte, Herr Benthal wird
Ihnen eine kleine Ungezogenheit dieſer Art abzubitten haben.
Jetzt war Moorfeld's Augenblick da. Gnädige Frau, ſagte er,
ſeine Spannung unter einem Scherz verbergend, daß wir Beide, Herr
Benthal und ich, nur nicht jenen zwei Bettlern gleichen, welche ſich
im Dunkeln wechſelſeitig um Almoſen angeſprochen haben! Für Herrn
Benthal ſetze ich hinzu: sans comparaison! für mich aber nicht. Ich
fühle mich nämlich gerade jetzt einen rechten und ſtandesmäßigen
Bettler, daß ich nicht einen virginiſchen Grundbeſitz kaufen kann, ſon¬
dern höchſtens ein paar tauſend Acres. In jenem Falle würde ich
zu meinem Sterne ſagen: wollen Sie mein Intendant ſein? in dieſem
darf ich höchſtens ſagen: wollen Sie mein Mit-Bauer ſein? und, hier
liegt der Bettler. Deßungeachtet bin ich nicht blöde genug, es nicht
wirklich zu ſagen, wenn ich erſt hoffen darf, daß es mir verziehen
wird. Alſo: Herr Benthal, wollen Sie — was ſein? was, weiß ich ſelbſt
D. B. VII. Der Amerika-Müde. 11[162] nicht. Sie wiſſen das beſſer als ich. Sie haben es geſtern ſo ſchön
geſagt, daß man in Amerika nur Eins und ein Einziges iſt — ein
Mann! Wohlan, will es dieſer Mann ſtatt mit Mr. Mockingbird mit
mir und meinem Urwald verſuchen? — Der Bettler hält Ihnen ſeinen
Hut hin. Meine Hand, wenn Sie das Gold Ihrer Fähigkeiten drein¬
legen wollen, ſteht Ihnen ſtets offen.
Diesmal blickten die Frauen nicht mehr auf, und ſelbſt Benthal
ſagte mit niedergeſchlagenem Auge: Es läßt Ihnen wohl, Herr Doctor,
mit lachendem Munde Geſchichte zu machen. Was Sie da ſprechen,
iſt ſo wichtig, daß Proſaiker nicht ermangeln würden, es wirklich wich¬
tig zu traktiren. Aber der höhere Menſch, welcher weiß, daß wir nur
beginnen können, und daß unermeßliche Schickſale weiter führen was
ſich aller Vorausſicht entzieht, der hat Recht, wenn er ſeine Saatkörner
auswirft, wie Bonbons im römiſchen Carneval. Ihre Worte ſind das
Signal zu einer neuen Richtung meines Lebens. Sie ſind ein Wende¬
punkt in einer oder mehreren Biographien. Daß die Wendung eine
glückliche iſt — wer möchte vor dem Gegenbild von Mr. Mocking¬
bird's Volksſchule daran zweifeln? Der Zweifel liegt hier anderswo.
Ich ſehe in Ihren Worten allerdings den Hut, den Sie mir hinhalten.
Aber — ſoll ich was hineinwerfen, oder — ſoll ich was herausholen?
Das iſt die Frage hier. Es iſt eine Ehren-Frage. Reizend verwirrt,
nehmen ſich ſolche Fragen denn doch auch proſaiſch gelöſt nicht ſchlecht aus.
Moorfeld verbiß ſein Lächeln, er wußte wohl was er für einen
Charakter vor ſich hatte, und war gefaßt darauf, daß ihm ein bischen
Metaphern-Spiel nicht ſo leicht durchgehen würde. Mit ganz verän¬
dertem Tone ſagte er daher: Der Mann, der in Hambach nicht ge¬
fragt hat, ob er in einem Kerker verfaulen wird, ſollte in Ohio nicht
fragen, ob er emporblühen wird. Mißverſtehen Sie mich nicht. Ich
muthe Ihnen nicht zu, die Ehre Ihres Unglücks an den nächſtbeſten
hergelaufenen Freund zu verkaufen. Was Sie der Nation geopfert
haben, darf Ihnen nur die Nation vergüten, und ich habe kein Mandat
von Deutſchland. Es iſt nicht der Rede werth, was ich Ihnen biete.
Ein paar Kornähren zur Nahrung, ein paar Schafe zur Kleidung
und rings herum ſtarre Wildniß, das iſt kein Lebensglück. Halten
Sie es dafür, ſo ſetzt dieſes Dafürhalten Ihr Verdienſt, nicht das meinige.
Sie denken dabei an ihre große Productionskraft, welche die rohe
[163] Vorbedingung des Lebens erſt in Lebensglück verwandeln muß. Und
wahrlich, an dieſe Kraft dachte ich auch bei meinem Anerbieten. Ich
bin der Krämer, der einem Shakespeare ein Buch Papier überreicht mit
den Worten: hier, mein Herr, haben Sie die Unſterblichkeit, — ſie
thut ſechs Pfennige. Der Werth meines Materials und der Werth
Ihrer Arbeit liegt lächerlich weit aus einander. Ja, ob ich Ihnen
ſelbſt dieſe ſechs Pfennige ſchenke, iſt noch die Frage. Ich ſchenke ſie
aber nicht, ſondern ich lege ſie auf furchtbaren Wucher. Sie wiſſen
beſſer als ich, daß ein Menſch hier viel, ein Grundſtück wenig Preis
hat. Um einen Kopf mehr gedacht, um eine Hand mehr gerührt auf
meinem Farm, erhöht ſeine Rente. Ich treibe Agiotage mit meiner
Gaſtfreundſchaft. Kurz, es iſt hier von einem Compagnie-Geſchäfte
die Rede; ich ſchieße das Geld dazu her und Sie ein Capital, das
Geldes werth iſt. Ich bin Poet und ein ſchlechter Wirthſchafter.
Eine Strophe kann mich am Erntetag gründlicher beſchäftigen als die
ganze Ernte. Ein paar Kälber verkauf' ich vielleicht zum günſtigſten
Preis nicht, weil mir die Zeichnung ihrer Haut gefällt. Fragen Sie
nicht, ob ein ſolcher Wirth die praktiſche Vernunft zu Gaſte bitten
darf. Mein Einfall, Grund zu beſitzen, konnte überhaupt nur auf
der Hoffnung ruhen, daß das Glück ſeine Ausführung übernimmt.
Beſitzer von Gütern zu ſein, iſt ein Talent, ſo gut, als Beſitzer von
Ideen zu ſein. Mir fehlt jenes Talent. Will ich Grund beſitzen, ſo
iſt es mein Vortheil, den Vortheil Anderer daran zu knüpfen. Ich
muß mich mit meiner Erde durch Procuration vermählen laſſen.
Moorfeld hatte ſich in eine Ueberzeugung geſprochen, die ihn des
Sieges gewiß machte. Jetzt zog er ſich wohlweislich auf ſein Ziel,
gleichſam wie auf eine Rückzugslinie, zurück, und ſagte mit jener
Mäßigung, die der Abſchluß einer Sache iſt: Ich gebe Ihnen
gerne zu, daß Sie für den Augenblick noch kein klares Bild von dem
Verhältniſſe haben. Ich verlange daher auch Ihr klares unumwun¬
denes Wort nicht. Es genügt mir ſchon, daß wir uns in der Vor¬
frage orientirt haben. Auch iſt meine Stimme nicht die einzige Po¬
tenz für Ihre Entſchließung. Mit aller Ehrfurcht erkenne ich höhere
Potenzen. Der nächſte Stand der Dinge bleibt daher, wie er iſt.
Sie behalten Mr. Mockingbird's Schule; ich gehe meinem Projecte
nach auf eigene Hand und Gefahr. Ich reiſe nach Ohio. Ich ſehe
11*[164] mich um, ich wähle, ich kaufe. Ich mache aus meinen Gedanken eine
fertige Thatſache. Dieſe fertige Thatſache lege ich Ihnen vor, Sie
werden Ihr Verhältniß zu ihr dann ſelbſt finden. Sind wir aber ſo
weit — ein Wort für Alle, liebſter Herr, Sie laſſen mich nicht
ſitzen! Sie bleiben ſelbſt nicht ſitzen in Kleindeutſchland! Sie bringen
mir die Beſten Ihres Volkes mit und den erſten rücken ſpätere nach
und, den wenigen mehrere und eine Stadt zimmern wir uns auf,
darin ſind Sie Paſtor primarius, Rector magnificus, Redacteur en
Chef, Kaufmann en gros und en Detail, kurz, was ein Amerikaner
in einer jungen Anſiedlung iſt: eine indiſche Gottheit mit hundert
Händen und Füßen. Ich aber verkaufe meine Acres um das Hundert¬
fache und werde Millionär. Mit dieſer paſſiven Rolle begnüge ich
mich neben ihrer activen. Darauf ziel' ich; daß ich es nur geſtehe!
ein freiwilliges Geſtändniß iſt immer ein mildernder Umſtand. Das
ſind meine Tendenzen. Freilich ſollt' ich ſie nicht am Theetiſch ent¬
hüllen. Eine „Loretto-Kapelle“ iſt keine Börſe. Was werden unſre
verehrungswürdigen Damen denken! Ein Dichter iſt angemeldet und
ein Landſpeculant kommt. Welch ein Abfall von geſtern und heute!
Sehen Sie, ſo ſchnell entartet die europäiſche Race in Amerika. Es iſt
Zeit, daß ich abbreche und von ganzem Herzen um Verzeihung bitte.
Damit erledigte Moorfeld ſeinen Antrag für's Erſte. Und wie
nach ſolchem Thema nicht wohl ein leichterer Ton wieder anzuſchlagen
war, ſo erinnerte er ſich jetzt rechtzeitig an Benthal's zuvor verſpro¬
chenen Aufſatz. Er zweifelte nicht, daß derſelbe jenes Element ent¬
halten werde, deſſen die Situation jetzt bedurfte: irgend ein gedanken¬
reiches Etwas, fähig, die Stimmung, ohne ihr Zwang anzuthun, an
ein neues Intereſſe zu feſſeln. Er wiederholte daher ſeine Bitte.
Aber Benthal war jetzt noch zurückhaltender, als er ſich gleich zuerſt
gezeigt hatte. Man ſah ihm eine große Verlegenheit an. Er ſuchte
Ausflüchte, er behauptete, kein Augenblick ließe ſich ungünſtiger, als
der gegenwärtige wählen, die Lectüre ſei ganz und gar nicht an ihrem
Platze jetzt. Auf Moorfeld's Befremden verrieth er endlich ſo viel:
es ſei in jenem Schriftchen von Amerika etwas heterodox geſprochen;
eine günſtigere Meinung müſſe ſich nothwendig davon verletzt fühlen;
eine ſolche Diſſonanz getraue er ſich aber nicht zu verantworten, am
wenigſten in gegenwärtigem Augenblicke.
[165]
Moorfeld hörte dieſe Erklärung überraſcht, faſt betreten an. Er
antwortete: Ich würde mich ſehr mangelhaft ausgedrückt haben, Herr
Benthal, wenn ich eine Vorliebe, oder ein Vorurtheil für Amerika an
den Tag gelegt hätte. Man hält es für ein Land der menſchlichen
Vollkommenheiten in Europa und darum macht' ich mich auf, es ken¬
nen zu lernen. Das iſt Alles. Ich will es mir anſehen, wie ein
Pferd das ich kaufe. Daß ich die Neigung hätte, abſichtliche Täu¬
ſchungen darüber feſtzuhalten, ſollte ich, wie mir dünkt, mit keinem
Worte verrathen haben. Es wäre auch entfernt nicht der Fall. Ab¬
geſehen, daß der Einzelne, bei der freundlichſten Abſicht mich zu ſcho¬
nen, den Andrang einer allgemeinen Enttäuſchung doch nicht abweh¬
ren könnte von mir. Was Sie eine günſtige Meinung nennen, hatte
ich über Amerika's Stadtleben eigentlich nie und meinen Glauben an
die Urwalds-Poeſie möchte ich eben auch nicht zu abſtract cultiviren;
ein wenig Bilderdienſt wird ihn ſtets unterſtützen müſſen; warb ich
doch ſo eben um einen lieben Heiligen für meine Waldkapelle! Nein,
leſen Sie immer, ich bin wohl der Mann zu hören. Glauben Sie
überhaupt nicht, daß die Poeſie noch Täuſchungen liebt. Die moderne
Poeſie iſt ſkeptiſch. Eine Negation iſt uns lieber, als ein Wahn.
Eine Negation iſt uns lieber als ein Wahn! wiederholte Ben¬
thal — ja, dann darf ich leſen, rief er beſtimmt, faſt freudig. Seine
Haltung veränderte ſich augenblicklich. Hatte ſie ſo eben noch jene
ergebene, rückſichtsvolle Schüchternheit, die Moorfeld bei Mr. Mocking¬
bird an ihm gefunden, ſo zeigte ſie jetzt den mannhaften Aufblitz, die
entſchiedene unerbittliche Sicherheit, in der ihn Kleindeutſchland kannte.
Der Mann, von äußeren Lebenslagen in den Schatten geſtellt, ging
immer im vollſten Lichte wo er auf dem Boden von Ueberzeugungen
ſtand. Im Selbſterrungenen fühlte er ſich.
Er holte ſeine Manuſcripten-Mappe. Moorfeld rückte zurecht.
Frau v. Milden nahm wieder ihre Arbeit vor; die Mädchen räumten
den Theetiſch ab. Die Kleine machte ihre Sache flink und zierlich.
Sie bot in ihrer Thätigkeit ein Schauſpiel voll ſchicklicher Angewöh¬
nungen; Alles war Applicatur an ihr. Dabei hatte ſie nichts von
jenen Uebergeſchäftigen, die wir die Koketten der Häuslichkeit nennen
möchten. Sie huſchte hin und wider mit einer dezenten, faſt dürften
wir ſagen, vornehmen Geräuſchloſigkeit. Moorfeld beobachtete ſie innig
[166] vergnügt. Nicht Malvine, Möwe muß ſie heißen, ſagte er, als er
ihr eine Zeitlang ſo zugeſehen. Das Kind reichte ihm die Hand und
lächelte ihn freundlich an. Sie ſchien zu glauben, er habe ſie mit
einem großen Ehrentitel beſchenkt.
Benthal hatte inzwiſchen einige Octavblätter von feinem Poſtpapier
aus ſeiner Mappe geholt und leitete jetzt ſeine Lectüre mit folgenden
Worten ein: Eine der erſten Zeitungen Newyorks machte unlängſt mit
einem Leitartikel Aufſehen, welcher die politiſche und ſociale Entwick¬
lung Amerika's ſeit dem letzten Kriege behandelte. Der Haufe fand
ſich von ſeinem Sclaven, den er die freie Preſſe nennt, ſo maßlos
darin geſchmeichelt, daß der wirklich freie Mann unwillkürlich in Op¬
poſition dagegen gerieth. Ich will nun eben nicht ſagen, daß dies
mein Fall war, aber ich fühlte doch mein Recht die Sache auf meine
Weiſe anzuſchauen. Genug, die Gelegenheit war mir ein Antrieb,
einiges von dem niederzuſchreiben, was ich dem Lobredner mündlich
entgegnet hätte; da ich aber gern Zwecke vor Augen habe, ſo ſchrieb
ich gleich auf Poſtpapier, und werde nun den Artikel, der die hieſige
Lynch-Cenſur doch nicht paſſiren würde, vielleicht an Cotta für die
Augsburger Allgemeine ſchicken. Ich würde es als eine Art Sühne
betrachten für unſre politiſch-liberalen Schönfärbereien von weiland.
Meine Hambacher Collegen werden freilich wieder einmal Verrath
wittern, aber — amicus Platonis u. ſ. w.
Moorfeld nickte ſchweigend vor ſich hin. Er ſaß ſtill und in ſich
gekehrt. Benthal begann:
„Zur Beurtheilung des Beſtandes der nordamerikaniſchen
Geſellſchaft.
Als ich vom Havrer Landungsplatze meinen Gang durch Newyork
antrat, war die erſte Neuigkeit, die mich anzog, ein rieſiges Plakat an
der Ecke der Greenwich- und Liberty-Street. Ein Verein „the
Workies“ genannt, lud zu einer Generalverſammlung ein. Was
ſind das für Leute? fragte ich zwei Bürger, welche vorübergingen.
Tollhäusler! ſagte der Eine, ein Deutſcher; Lichtzieher, die Präſidenten
werden wollen, lächelte giftig der Andere, ein Amerikaner. Ich aber
pflanzte mich auf und ſtudirte nun ſelbſt das jener Einladung beige¬
fügte Programm der Workies.
[167]
Das Programm beſtand aus Forderungen einer ſocialiſtiſchen Ar¬
beiter-Organiſation. Die Sprache war ohne Schwung und prophe¬
tiſche Salbung, ohne das Koſtüm des europäiſchen Ikarismus, ſie war
klar und einfach wie eine Möglichkeit. Und doch war es nichts ge¬
ringeres als eine jener Schuldforderungen der Beſitzloſen an die Be¬
ſitzenden, welche mit dem Bankerott beantwortet werden. Sie klang
aber viel eher wie eine fürſtliche Cabinetsordre, welche Degradation
verhängt. Sie ſprach wie ein trockener Machtgebrauch, wie eine ſimple
Pflichtübung. Es wurde mir ſehr leicht, mich zu belehren.
Was ſind die Workies?
Die Workies ſind eine Verbindung von Arbeitern. Sie ſind
nicht nur in Newyork, ſondern in allen größeren Städten verbreitet.
Sie verfügen über eine gut redigirte Preſſe und über Straßenecken ſo
viel ſie deren begehren. Kein Hausbeſitzer wagt, ihre Plakate zu beleidigen.
Was fordern die Workies?
Die Workies fordern ſtreng genommen nur Eins: Gleiche und
allgemeine Erziehung. Es iſt falſch, ſagen ſie, wenn man behauptet,
wir hätten keine privilegirte Ariſtokratie im Lande. Wir haben viel¬
mehr die gehäſſigſte Sorte derſelben, die Ariſtokratie der Kenntniſſe.
Wir nennen ſie die gehäſſigſte, weil ſie vor unſern Augen täglich und
ſtündlich wird und nicht im mildernden Dämmer der Geſchichte ge¬
worden iſt. Jedes Kind, welches zur Schule geht, begründet ſich
eine Herrſchaft über dasjenige, welches zur Fabrik geht. Der Arbeiter
iſt von der Gelegenheit höheren Unterrichts abgeſchnitten, d. h. er iſt
von den höheren Staatsämtern ausgeſchloſſen. Die Staatsämter wer¬
den in der That unter eine kleine Klaſſe der Geſellſchaft vertheilt;
diejenigen dagegen, welche die Kraft des Landes ausmachen, gelangen
nie zur Ausſicht, aus den Regierten unter die Regenten einzutreten.
Das iſt eine Unvollkommenheit. Dieſe Unvollkommenheit muß abge¬
ſtellt werden, erklären die Workies, wenn die Freiheit eines Ameri¬
kaners mehr als ein eitler Schall ſein ſoll. Sie erklären feierlichſt
nicht eher ruhen zu wollen, als bis jeder Bürger in der Union den¬
ſelben Grad der Bildung erlange, wie ſein Mitbürger. Eh' aber die
Workies von dieſem Programm die obere Gränze erreichen, begnügen
ſie ſich (und das iſt das Bedenkliche an der Sache) mit der untern
Gränze. Bis ſie in höhere Bildungsregionen aufſteigen, ziehen ſie die
[168] Gebildeten zu ſich herab, wie ſich denn ſchon mehr als Eine Legislatur
genöthigt geſehen hat, Vermächtniſſe ihrer freien Bürger umzuſtoßen
und Fonds, für Univerſitäten beſtimmt, niederen Schulen zuzuwenden.
Sagen die Workies doch ausdrücklich, und wir zweifeln, ob es blos
in der Blume gemeint iſt, es verrathe eine ſchlechte Volkswirthſchaft,
wenn die Einen ſich in Champagner baden, indeß die andern ſchänd¬
liches Waſſer trinken. Das öffentliche Vermögen müſſe offenbar ſo
vertheilt ſein, daß Jeder Brandy haben könne. So umſchreibt ſich
die Theorie von „demſelben Bildungsgrad“ in der Praxis. Derſelbe
Bildungsgrad wird, das iſt klar, durch Degradation eben ſo gut er¬
reicht, wie durch Avancement.
Dieſe Logik haben denn auch die Reichen bewunderungswürdig
ſchnell begriffen. Sie kommen den Workies durch ihren Cynismus
entgegen. Zwar wählen ſie Lichtzieher noch nicht in's Repräſentanten¬
haus, aber Repräſentanten haben ſich doch ſchon beohrfeigt und ange¬
ſpieen wie Lichtzieher. Das iſt immer auch anzuerkennen. Und
als Präſident Jefferſon am Abende ſeines Lebens gefragt wurde, welche
Staatsbeamten ein erfahrener Politiker für die tauglichſten halten
würde, antwortete er: ſolche, die ſich nicht betrinken. So hört man
auch in den alten Staaten bejahrte Notabilitäten darüber klagen, daß
ſie nur noch von den engliſchen Traditionen zehren und das Grab der
Bildung ſich täglich erweitere. Zur Colonialzeit hätten ärmere Bür¬
ger mehr Cultur beſeſſen, als jetzt die reichſten. Der Fremde geht
noch weiter. Nicht nur der Abgang der Bildung iſt's, ſondern ge¬
radezu die Verachtung derſelben, ihre offene Proſtituirung, die ihn
hier ſo ſchneidend verletzt.
Moorfeld blickte auf.
Hat nun der Einwanderer — fuhr die Lectüre fort — zum erſten Gruß
ein ſolches Workies-Plakat geleſen, ſo iſt das denkende Weſen in ihm
aufgefordert und er reflectirt den Zuſtänden des Landes weiter nach. Die
Thatſache eines amerikaniſchen Socialismus iſt ſo zerſtörend in das Gewebe
ſeiner Roſenträume gefahren, daß er jetzt erſt mit wachen Augen um ſich
blickt. Und wie an dem Sommerhimmel New-Orleans ein Gewitter
von allen Seiten zugleich aufſteigt, ſo ſchwärzt ſich ihm jetzt der Ho¬
rizont der Union an mehr als einer Stelle von drohenden Zukunfts-
Geſichten. Aber noch kann er die Workies ſelbſt nicht vergeſſen.
[169] Iſt's auch nur ein Proletariat, das Präſident werden und nicht blos
ſatt werden will, ſo weiß er wohl: der Nothſchrei Lear's um ſeine
hundert Ritter und der ſchleſiſche Nothſchrei nach einem Mißjahre ſind
beide ein Nothſchrei. Die Noth, die welterſchütternde, treibt hier wie
dort, und wer heute noch den Luxus bedarf, bedarf morgen ſchon das
Bedürfniß. In der That: um dieſes Heute und Morgen bewegt ſich
Europa's und Amerika's ganze Differenzial-Rechnung vom Glücke. Darum
wird man ſich hüten, die Workies gering anzuſchlagen. Man wird
ſich hüten, zu wähnen, es ſei hier von einer jener unzähligen Parteien
im Staate die Rede, welche ſich in Gottes Namen gegen einander
reiben, und „im feurigen Bewegen ihre Kräfte kundthun“ mögen. Ge¬
wiſſen Organismen wohnt die Prädeſtination der Alleinherrſchaft inne.
Die Bauern in Latium waren nicht ein kriegeriſcher Volksſchlag neben
andern Völkern Italiens; ſie wußten es gleich von vorn herein nicht
anders, als daß ſie die Welt erobern würden. Die verachtete Secte
der Nazarener fühlte ſich nicht etwa collegialiſch neben der Secte der
Sadducäer, Phariſäer und Eſſäer: ſie nannte als ihren Beruf —
„hinzugehen in alle Welt“. So die Workies. Ihre Anfänge ſind
die geringſten, denn Amerika iſt überwiegend mehr ein Ackerbau- als
ein Induſtrieſtaat; ihre Zukunft dagegen iſt die größte, denn der erſte
Blick auf die Oberfläche des amerikaniſchen Bodens zeigt uns einen
ſo ungeheuren zu Tage liegenden Schatz von Kohlen und Eiſen, ein
ſo vortreffliches Syſtem von Meer-, See- und Fluß-Bahnen, daß wir
dem Lande wie an der Stirne ſeinen Beruf leſen: der erſte Induſtrie¬
ſtaat der Welt zu werden. Bedenken wir dazu, daß die hieſige Be¬
völkerung in raſcheren Proportionen als irgend auf der Erde zunimmt,
bedenken wir ferner, daß der Geiſt nicht nur des heutigen Gouver¬
nements, ſondern die National-Eitelkeit des ganzen Volkes nach der
verhängnißvollen Ehre einer großen Induſtrie wahrhaft dürſtet und
das Unglaublichſte leiſtet um eine ſolche raſch möglichſt emporzukünſteln:
ſo werden wir nicht daran zweifeln, daß dieſer unendlich mit ſich ſelbſt
multiplicirte Kankrin ſein Ideal bald und gründlich erreichen wird.
Ja, auch Amerika geht den Zuſtänden entgegen, in welchen Millionen
Exiſtenzen von der Nachfrage um ein einziges Fabrikat abhängen; auch
hier wird dieſe Nachfrage einem beſtändigen Schwanken unterworfen
ſein und das Pendel Reichthum und Ueberfluß auf die eine, Noth
[170] und Verzweiflung auf die andre Seite beſtändig umherſchnellen. Die
Veränderungen der Mode, die Ueberführungen der Märkte, auswärtige
Kriege mit ihren Abſatzſtockungen und Bankrotten, tauſend Urſachen
werden auch hier beſtändig unterwegs ſein, große Menſchenmaſſen ihres
Unterhalts zu berauben und dem Hunger zu überliefern. Dieſe Hun¬
gernden aber werden — Souveraine ſein! Wenn der europäiſche Beſitz,
ich will nicht ſagen in der Waffenmacht, ſondern in den Rechtsbegriffen
der Beſitzloſen ſelbſt, eine Bürgſchaft ſeiner Unantaſtbarkeit genießt
und im Ganzen genommen ſich des Gehorſams erfreut, ſo wird der
amerikaniſche Beſitz nicht berechtigt, ſondern nur geduldet ſein, und die
Duldung wird ihm verſagt werden, ſo oft ſie Opfer erheiſcht. Der
ganze Geſellſchafts-Contract zwiſchen Beſitz und Arbeit wird in Amerika
ſo lauten, daß die Arbeit mit dem Beſitze zwar den Vortheil, nicht
aber den Nachtheil trägt; den letzten wird ſie vielmehr mit der vollen
Wucht eines agrariſchen Spoliations-Syſtems der Gegenpartei aufladen.
Ob ſolche Contracte aber unter wahrhaft Freien eingegangen zu wer¬
den pflegen, und ob ſie den Beſtand, das Glück und den Flor
der ſeltſam ſituirten Theilhaber verbürgen, das werden praktiſche
Rechtsgelehrte beſſer als ich zu beantworten wiſſen. Die Geſchichte
wenigſtens hat keine Beiſpiele davon. Das Schauſpiel der Workies-
Regierung wird beiſpiellos ſein. Die Kämpfe der Gracchen erröthen
davor und flüchten in's Genre der Idylle.
In gegenwärtigem Augenblicke ſind die Vereinigten Staaten vor
revolutionären Erſchütterungen vielleicht ſicherer, als irgend ein Staat
in der Welt. Sonderbarer Weiſe ſchreibt der Amerikaner aber dieſes
Glück nicht dem Umſtande zu, daß der größte Theil der Nation vor¬
läufig noch Eigenthum beſitzt, ſondern er hält es für eine Wirkung
ſeiner „unverbeſſerlichen Conſtitution“ und bedenkt nicht, daß dieſe
Conſtitution eben nur für eine agrariſche Bevölkerung mit Eigenthum
berechnet iſt. Was „unſre unverbeſſerliche Conſtitution“ — „das un¬
überwindliche Bollwerk unſrer Freiheit“ — aber leiſten ſoll, wenn
der Hunger im Repräſentantenhauſe und der Bankrott im Senate
ſitzen wird, das verlangte mich den Geiſtern der Zukunft abzulauſchen.
Unter den Menſchen habe ich mich vergebens umgethan, die wunder¬
wirkende Kraft der amerikaniſchen Conſtitution kennen zu lernen. Ich
konnte nur ſehen, daß ſie ein Ding ſei, welches Allen wohlgefällt;
[171] beſtrebt' ich mich aber hinter die Urſache dieſes Wohlgefallens zu kom¬
men, ſo merkt' ich wohl, daß meine Beſtrebung eitel Pedanterie war,
denn der Liebenswürdigkeit muß man keinen Grund abfragen. Solch'
eine grundloſe Liebenswürdigkeit iſt die amerikaniſche Conſtitution. Die
Liebhaber derſelben definiren ſie, wie Liebhabern billig, auf die con¬
fuſeſte Weiſe. Fragt man den Präſidenten der Vereinigten Staaten,
worin das Weſen der Regierung beſtehe, welche er mit ſo viel Ehre
für ſich und mit ſo großen Vortheilen für ſein Vaterland verwaltet,
ſo wird General Jackſon antworten, ſie ſei ein Gouvernement der
Conſolidation, mit voller Macht begleitet, ihre Beſchlüſſe in allen Di¬
ſtricten der Union durchzuſetzen. Fragt man den Vice-Präſidenten, ſo
wird er das Gegentheil antworten: das Gouvernement ſei nur con¬
föderativ und rückſichtlich ſeiner Beſchlüſſe von der freien Einwilligung
der Einzeln-Staaten abhängig. Fragt man Mr. Clay oder Mr. Web¬
ſter, worin das Geheimniß ihrer großen âme incomprise, der Con¬
ſtitution beſtehe, ſo werden ſie wahrſcheinlich das Privilegium, den
Handel des Landes nach Gutdünken zu beſteuern und aus den Zoll¬
einkünften Straßen und Schulen zu bauen, dafür anſehen wollen.
Man richte dieſelbe Frage an General Hayne und Mr. van Buren
und ſie werden behaupten, dieſes Gewaltſyſtem nach der einen und
Protectionsſyſtem nach der andern Seite hin ſei eine Doctrine der
beleidigendſten Tendenz und gehe aus einer nicht zu duldenden Aus¬
legung der Conſtitution hervor. Dennoch ſtimmen alle überein, daß
dieſe Conſtitution das höchſte, deutlichſte und fehlerfreiſte Werk aller
menſchlichen Geſetzgebungen ſei. Solche Mißverſtändniſſe müſſen ſich
offenbar ſchwer rächen. Nicht nur daß die Conſtitution unter dieſen
Umſtänden kein Bollwerk gegen Anarchie iſt, ſo ſcheint ſie weit eher
noch ein Saamen- und Treibhaus derſelben. Und hier berühren wir
eine andere Seite. Es wird gar nicht des ſocialen Gährungsſtoffes
bedürfen, um das, was ſich heute Union nennt, aufzulöſen; politiſche
Ereigniſſe können den Zerfall ſchon früher herbeiführen. In der That
vergeht kein Jahrzehnt, daß nicht irgend eine politiſche Kriſis die Vi¬
talität der Union auf eine harte Probe ſtellt. Zur Zeit der Hart¬
forder Convention war Onkel Sam nahe daran den Geiſt aufzugeben;
vor anderthalb Jahren litt er entſetzlich am Carolina-Fieber. Und
iſt von letzterem Krankenbette nicht das tödtliche Gift der Nulli¬
[172] fications-Lehre im Leibe zurückgeblieben? Kann man von einer Bundes-
Einheit ſprechen, wo jedes einzelne Bundesglied ſich das Recht zu¬
ſchreibt, die Beſchlüſſe des Ganzen für ſeinen eigenen Theil unbefolgt
zu laſſen? Und kann man von der Vortrefflichkeit — was ſag' ich?
— nur von der nothdürftigſten Zulänglichkeit einer Conſtitution ſpre¬
chen, wenn die übrigen Bundesglieder dem renitenten, oder wie es
hier heißt, dem nullifizirenden Mitglied die Pflicht des Gehorſams
aus dem Wortlaut dieſer Conſtitution keineswegs klar und unzweifel¬
haft nachzuweiſen vermögen? Wären die Vereinigten Staaten eine
gleichartigere Maſſe, ſo könnte man dieſe Lockerheit ihres Zuſammen¬
hangs noch ruhiger anſehen; man tröſtete ſich, daß die Nothwendigkeit
ſelbſt die Stelle des geſchriebenen Buchſtabens ſupplirt. Dieſe Noth¬
wendigkeit aber war höchſtens in den dreizehn Staaten vorhanden; in
den heutigen ſechsundzwanzig dürfte ſie wenig mehr zu entdecken und
bald wird ſie gänzlich verſchwunden ſein. Die ungleichartige Maſſe
wächst täglich über die gleichartige hinaus, was einſt Organismus
war iſt jetzt oder demnächſt nur noch Aggregat, zuſammengehalten von
der Einbildung, die durch die alten Traditionen noch genährt wird,
aber verflüchtigt von dem Augenblicke an, wo die Intereſſen ſtärker
ſein werden, als die Einbildung. Dieſe Betrachtung wird Diejenigen
aus einem ſüßen Traume wecken, welchen es das Herz erhebt, ſo oft
das Sternbanner mit einem neuen Sterne ſich beſtickt. Denn was ſie
für Macht-Zuwachs halten, erſcheint jetzt als Beförderung des Zer¬
falls. Aber ſie mögen ſich's ſelbſt ſagen! Welche Verwandtſchaft iſt
zwiſchen dem Franzoſen in New-Orleans und dem Puritaner in
Boſton? zwiſchen dem Palmenlande Florida und den Eisblöcken in
Maine und Vermont? Ja! ſchon die geographiſche Ausdehnung der
Union proteſtirt gegen die Zuſammengehörigkeit ihrer Bundesglieder.
Wer wird auf die Dauer Deputirte von Archangel nach Madrid ſchi¬
cken? Und wenn die Union, wie es ihr Project iſt, erſt den ſtillen
Ocean erreicht haben wird — was dann? Dann mag ſie den Re¬
gierungsſitz von Waſhington ſelbſt an die centralſte Stelle, nach
irgend einem bisher noch namenloſen Sumpf in Nebraska verlegen,
ſie wird eine Rotation um dieſen Mittelpunkt, ſie wird eine Centri¬
pedal-Kraft von Maine und Californien doch nicht erkünſteln können.
Die Meridiane haben auch ein Wort dreinzureden. Man ſage nicht,
[173] Petersburg und London müſſen eben ſo rieſige Dimenſionen ihrer
Regierungsgebiete bezwingen. Rußland centraliſirt durch den Despo¬
tismus und den Schnee, England coloniſirt für den Abfall. Und
wahrlich, Amerika geht dieſen beiden Schickſalen zugleich entgegen.
Mit dem Abfall bedrohen ſich Nord und Süd ſchon jetzt, iſt das ſtille
Meer erreicht, ſo werden ſich auch Oſt und Weſt damit bedrohen.
Der Despotismus wird gleichfalls ſeine Entrepreneurs finden.
Dieſe letztere Behauptung könnte die kühnſte, und in Bezug auf
ein ſo großes menſchliches Ideal, wie Amerika's Freiheit, wahrhaft
unſittlich ſcheinen. In der That wäre ſie zu unverantwortlich, als
Raiſonnement, man wird ſie ſchon als Thatſache gelten laſſen müſſen.
Die Anfänge dieſer Thatſache aber ſind da. Denn wenn wir die
Ungleichartigkeit der amerikaniſchen Beſtandtheile nicht nur im allge¬
meinen betrachten, ſondern, was für Republiken ein ſo zarter Punkt
iſt, ſie ſpeciell als Ungleichartigkeit der Machtverhältniſſe auf's
Einzelne anwenden, ſo finden wir die Thatſache, daß drei große weſt¬
liche Staaten: Newyork, Pennſilvanien und Virginien, in Beſitz einer
Macht ſind, wodurch ſie in Wahrheit an der Spitze der Sternbanner-
Republik ſtehen, allen republikaniſchen Gleichheitstiteln ihrer Geſchwiſter
zum Trotz. Dieſe Macht iſt freilich kein conſtitutionelles Vorrecht, aber ſie
iſt das natürliche Vorrecht des Reichthums, der Intelligenz, der politiſchen
Erfahrung, kurz, materielle und moraliſche Macht. So ſind jene
Staaten ein Triumvirat, das die Angelegenheiten der Republik nur
mit einem höflicher betonten: Roma locuta est*) entſcheidet, ſie ſind
ein politiſches Rund für ſich, das nöthigen Falls nicht dem Uebrigen
zu folgen braucht, wohl aber folgt das Uebrige ihm. Was fehlt da
noch zum Begriffe der Oberherrſchaft oder des Despotismus? Wie
groß iſt der Unterſchied, ob der Despot ein Einzelner oder eine Pro¬
vinz ſei, ob ſeine Autorität mit friedlicher Inſtinctmäßigkeit anerkannt,
oder unter härterer Nöthigung erduldet wird? Das Fehlende aber
kann, und was höchſt wahrſcheinlich iſt, es wird im Laufe der Zei¬
ten auch noch hinzutreten. Denn wenn die ſociale Revolution oder
der politiſche Zerfall, wovon wir geſprochen, unter einer Reihe von
Bürgerkriegen nun vor ſich gehen wird, ſo werden die Generäle dieſer
[174] Bürgerkriege wohl nicht ſämmtlich Männer von Waſhington's Tugend
oder Mittelmäßigkeit ſein. Militär-Dictatur war immer der Steig¬
bügel zur Monarchie und wie die genannten Staaten die beſitzreichſten
ſind, diejenigen die am meiſten zu verlieren haben, ſo wird ihr ſtär¬
keres Intereſſe für den Frieden ſie auch am eheſten geneigt machen,
abzuſchließen und unter irgend einer Form, ich ſage unter irgend
einer ihr wichtiges Güterleben in Sicherheit zu bringen. Vielleicht,
daß ſogar ſchon die erſte Panique über den Bruch der Union, über
die Entzauberung ihres allmächtigen Talismans ſie zur Beute des
Uſurpators macht. Derſelbe wird ja ohnedies als Republikaner an¬
fangen; er wird hier Protector, dort Conſul, am dritten Orte Prä¬
ſident heißen, er wird hier raſcher, dort langſamer an ſeiner Krone
ſchmieden, überall aber wird ſie fertig werden.“
Hier legte Benthal ſein Manuſcript nieder und ſagte: An dieſem
Punkte bin ich einſtweilen zu Ende mit meiner Lectüre, wenngleich
nicht mit dem Aufſatze ſelbſt. Ich werde im Folgenden noch der
Sclaven-Verhältniſſe gedenken, die ich bei den Schlagwörtern Carolina-
Fieber und Nullification im Contexte noch zur Seite liegen ließ. Es
gebührte dieſem Thema eine eigene Ausführung. Es iſt in doppelter
Beziehung verhängnißvoll für den Beſtand der Union, nämlich erſtens
als religiös-humaniſtiſche Frage, wobei der Norden die Bekämpfung
des Südens als Gewiſſensſache führt; dann aber auch als national¬
ökonomiſche, wobei Sclaven- und Nicht-Sclavenſtaaten dadurch feindlich
zuſammentreffen, daß jene für den Freihandel, dieſe aber für den Zoll¬
tarif intereſſirt ſind. Ohne das Sallmann'ſche Pamphlet hätte ich
dieſe Schlußſtelle wahrſcheinlich heute noch ausgeführt; entſchuldigen
Sie nun, daß Sie ein Bruchſtück gehört haben.
Bei Gott, ein Bruchſtück! rief Moorfeld unter der Laſt des Ge¬
hörten — Alles geht ja hier in die Brüche!
Bei dieſem Worte wendete ſich Pauline an Benthal: Haſt du nicht
etwas zu ſtreng geurtheilt? fragte ſie beſcheiden. Moorfeld fühlte die ganze
Aufmerkſamkeit dieſer Frage für ſich. Er vergalt der Fragenden mit einem
dankbaren Blicke. Aber des Mädchens Auge war niedergeſchlagen, ſie
konnte ſeinen Blick nicht geſehen haben. Deßungeachtet erröthete ſie.
Benthal ſagte zu Moorfeld: Nun, richten Sie den Richter! Wie
paſſiren mir meine Negationen?
[175]
Aber Moorfeld fuhr in ſeiner Ergriffenheit fort: Und mich
wollten Sie geſchont haben! Herr, wie ſpannt ſich Ihnen ſelbſt noch
eine Ader für das Land, über welches Sie ſo ſchreiben konnten?
Weil handeln immer mehr werth iſt als ſchreiben, antwortete Ben¬
thal, und in dieſem Lande darf ich handeln.
Dämon von einem Manne! Aber ich begreife Sie doch nicht. Wie
ſagten Sie geſtern? „Amerika's Schönheit iſt Amerika's Idee“ — „Waſhing¬
ton bedeutet höheres als Rom und Athen, es iſt das Capitol der Weltfreiheit.“
— Und das Alles durften Sie ſagen mit dieſem Manuſcript im Pulte?
Wir bemerken wohl, antwortete Benthal, es iſt hier nicht von der
nächſten, ſondern von der fernen Zukunft Amerika's die Rede. Für
unſre Zeiten bleibt die Sternbanner-Republik das Kleinod der Welt.
Amerika iſt die Baumſchule, in welcher die Freiheitsbäume Europa's
gezogen werden; Amerika iſt die große Ciſterne, welche die Erde grün
erhält in den Hundstagen des Abſolutismus. Dieſen Beruf habe ich
im Auge, wenn ich ſpreche wie geſtern. Von Amerika's Gegen¬
wart kann ich nicht groß genug denken. Seh ich aber dunkler in
Amerika's Zukunft, ſo benimmt mir das nicht die Spannung mei¬
ner Adern, wie Sie ſagen, denn in dieſer Zukunft erblicke ich wieder
eine andere Größe — unſre, die deutſche Größe. Das nämlich iſt
meine Ueberzeugung und mein Wiſſen, wie ich von den Fingern mei¬
ner Hand, wie ich von den Haaren meines Hauptes weiß: dieſes
Amerika geht nicht zu Grunde bis Deutſchland ſeine Stuart-Periode
durchgekämpft, bis es ſeine Revolutionen, hinter welchen ſeine Einheit
und Freiheit liegt, vollendet hat. Wie England ein Gefäß des äu¬
ßerſten Elends war, als es die Beſiegten und Geächteten ſeiner Bürger¬
kriege an dieſes Geſtade warf, ſo kämpft Deutſchland dieſelbe Ge¬
ſchichts-Periode heute durch, ſo werden deutſche Auswanderer jetzt
Amerika erfüllen und ſich über die angelſächſiſchen herlagern als eine
ſecundäre über die primäre Schichte. Unſer neunzehntes Jahrhundert
iſt das ſiebzehnte der Engländer. Deutſchland zeugt von heute an
keine andere Generationen mehr, als Hambacher Jugend. Die erſte,
vielleicht auch die zweite wird unterliegen, aber die dritte, längſtens
die vierte wird uns jenen Zuſtand erkämpft haben, den in England
das Haus Oranien bedeutete. Und wahrlich, ſo lange kann ich
warten. So lange ſoll deutſches Volksthum in dem Leben, das ich
[176] vererbe, lebendig bleiben. Oder wie? Was die deutſchen Bauern
Pennſylvaniens in tiefſter Bewußtloſigkeit gewußt haben: deutſches Leben
ein Jahrhundert lang feſtzuhalten, ſo feſtzuhalten, daß heute noch
ganze Gemeinden von ihnen kein engliſches Wort verſtehen, das ſollte
ich mit dem begeiſterten Bewußtſein deutſcher Art und Bildung we¬
niger weit tragend zu überliefern vermögen? Ich fürchte es nicht.
Nein, ich werde ausdauern, Deutſcher im Yankeethum, und der Sturz,
den ich dieſem Miſchvolke bevorſtehen ſehe, kann mich ſo wenig be¬
kümmern, als uns das Loos einer Ziege kümmert, die einen Jupiter
groß geſäugt hat. Mag's dann hereinbrechen, wie dieſe Blätter zu
prophezeien wagen, wir werden in den Bürgerkriegen der Union nicht
zu Grunde gehen. Deutſchland wird ſeine Flotte ſchicken, und ſeine
deutſche Provinz Pennſylvanien ſich zu ſchützen wiſſen. Was ſag' ich:
Pennſylvanien? Ganz Nord-Amerika wird deutſch werden, denn unſre
Einwandrung ſtützt ſich dann auf ein mächtiges Mutterland ſowie ſich
Yankee-Engliſch auf Alt-England ſtützte. Aber was ſag' ich ganz
Nord-Amerika? Die ganze Welt wird deutſch werden, denn mit
Deutſchland's Aufgang wird England untergehen, wie Holland vor
England unterging, und ſämmtliche engliſche Colonien werden dann dem
Deutſchthume zufallen, wie die Franzoſen in Canada, die Spanier in
Florida, die Holländer auf dem Kap und die Portugiſen in Indien den
Engländern gewichen ſind; die Wachpoſten der Cultur werden auf dem
ganzen Erdenrund abgelöſt und mit deutſcher Mannſchaft bezogen
werden. Deutſchland erwacht, und kein Volk der Welt behauptet
ſeinen alten Rang, denn Alle leben vom deutſchen Schlafe und ver¬
derben mit deutſchem Auferſtehen.
Und ich heiß' ein Dichter! rief Moorfeld, als Benthal's letztes
Wort in dieſem Erguſſe verhallt war. Er trat an's Fenſter und ſah
nach dem Himmel, der mit all ſeinen Sternen auf ihn zurückblickte.
Das Gewitter war fort.
In der Stube aber umfing die Geſellſchaft jene tiefere Einigkeit
jetzt, welche mit Wortumtauſch nicht mehr gefördert werden kann.
Moorfeld war voll von Benthal's Charakterbild, das wie ein ſcharfer
Abdruck in heißem Wachs von ihm empfangen wurde, die Frauen
konnten nie aufgehört haben, den neuen Urwalds-Gedanken, der ja
unmittelbar ſie ſelbſt anging, ſtillbildend weiter zu denken, Benthal
[177] endlich, um einen Freund reicher, einer Braut näher, auf zwei Seiten,
wie durch eine plötzliche Flankenbewegung, zugleich ſiegesglückllch,
mußte am ſtrömendſten bewegt ſein. Alle fühlten einen Geiſt der Zuſam¬
mengehörigkeit über ſich verbreitet, der ſich jetzt noch nicht ausſprechen ließ,
der aber nicht duldete, daß Anderes ausgeſprochen würde. Man konnte
ſich nicht mehr als Geſellſchaft behandeln, man fühlte ſich als Gemeinde.
Bei dieſer Stimmung trennte man ſich für heute. Benthal ging
nach Hauſe und Moorfeld begleitete ihn. Es gefiel unſrem Freunde,
daß Benthal und Pauline beim Abſchied ſich küßten, und nicht prüde
genug dachten, die bräutliche Gewohnheit jedes Tags vor dem fremden
Beſuch aufzugeben.
Die jungen Männer aber ſetzten ſich nach ihrer Taſſe Thee noch
zu einer guten Flaſche in Railroad-Houſe. Wir bleiben nicht zwei¬
felhaft über den Zweck dieſer Einkehr, denn als ſie an der Einmün¬
dung der Centre-Street in den Park ſich verabſchieden, hören wir die
Worte hin und zurück: gute Nacht, Bruder!
Neuntes Kapitel.
In tiefen Gedanken wandelte Moorfeld Tags darauf durch die
Wallſtreet, als ein Tilbury vor ihm anhielt und ein Kopf, ganz Stirn
und Naſe, wie ein Luft-Meteor in ſeine Träume hereinfiel. Guten
Tag, Herr Doctor, ſo eben fahre ich zu Mr. Bennet; darf ich Ihnen
die Hälfte meines Wagens anbieten? ich werde das Vergnügen haben,
Sie vorzuſtellen. — Es war Moorfeld's Logen-Nachbar von vor¬
geſtern, der ſeltſame Lord Ormond.
Moorfeld erinnerte ſich kaum noch des Begegniſſes; — Klein¬
deutſchland, Benthal, der Urwalds-Traum, in's unmittelbarſte Stadium
der That tretend, das Alles erfüllte wie eine Welt für ſich die acht¬
undvierzig Stunden ſeit der Vorſtellung des „Kapitän Ebenezer Drivvle“.
Auch lehnte er dankend ab, er ſei auf einem Geſchäftsgang zu ſeinem
Banquier begriffen.
D.B.VIII. Der Amerika-Müde. 12[178]
Aber der Lord war nicht irre zu machen. Er ſprang aus dem
Wagen, den er ſelbſt kutſchirt hatte, warf die Zügel dem Bedienten
zu und nahm Moorfeld unter den Arm, indem er ihm auseinander
ſetzte, wie nothwendig er ihn heute vorſtellen müſſe.
Der Mann hat wirklich einen Sparren, dachte Moorfeld bei ſich;
wäre der Engländer nicht jüngeren Alters geweſen, ſo hätte er faſt
geglaubt, mit dem nämlichen Sonderlings-Exemplar zu thun zu haben,
welches, nach Graf de la Garde's Memoiren, auf dem Wiener Con¬
greß durch ſeine Sucht, vorzuſtellen und vorgeſtellt zu werden, eine
Art Berühmtheit erlangte und dem Prinzen Ligny zu einem ſeiner
unzähligen Bonmots Veranlaſſung wurde. Wenn ſich Moorfeld ihm
doch überließ, ſo geſchah es nur, weil die Gelegenheit in der That
keinen Aufſchub geſtattete. Der Engländer theilte nämlich mit, die
Familie Bennet ſtünde auf dem Punkte nach Saratoga in die Bäder
zu gehen, und eben heute ſei letzter Empfang in der Stadt, nachdem
im Landhauſe drüben auf New-Jerſey die große Abſchieds-Soiree vor¬
geſtern Statt gehabt. Das alſo war die beleuchtete Villa geweſen,
welche ihm vorgeſtern in Stunden unausſprechlicher Phantaſien vor
Augen geruht! Zu jenem Wonnetraum ſeiner amerikaniſchen Zukunft
hatte dem Dichter der Freund der Dichter wie zu einer Brautnacht
die Fackel vorgetragen! Von dieſer Aſſonanz des Zufalls fühlte ſich
Moorfeld ſeltſam angeklungen. Eine ganz neue Luftſtrömung ging durch
ſein Gemüth und änderte auf einmal das innere Wetter. In der That
entſchied ihn dieſer Umſtand. Er ergriff den dargebotenen Gedanken
erſt jetzt mit voller Lebendigkeit, wie einen freudigen, eignen Entſchluß.
Er zog dem Namen Bennet gleichſam mit klingendem Spiel ent¬
gegen. Er folgte dem Engländer.
Unterwegs ließ ihn aber ein Zufall bedenklicher Art ſeine raſche
Fügſamkeit faſt wieder bereuen. Lord Ormond hatte ſeine Dogge bei
ſich, an die er ſchon im Theater ſo verwunderliche Anſprachen gehalten.
Auf dem Hannover-Square begab es ſich nun, daß das edle Thier Ge¬
ſellſchaft fand und nachdem es mit ſeinem intelligenten Näschen eine
ſorgfältige Wappenprobe an dem neuen Standesgenoſſen gehalten, zu
der Ueberzeugung gelangte, daß es die Würde ſeines Stammbaumes
bei dieſem Rendezvous nicht im Geringſten compromittire. Man ſah
alſo eine Verbindung eingehen, welche den Freunden und Verwandten
[179] beider Parteien gewiß eine ehrenvolle gedäucht hätte, anders aber dem
eigenſinnigen Briten. Er rief ſeinen Hund zurück, faßte ihn ſanft
beim Ohr und ſah ihm mit einem wehmüthigen Blick Aug' in Auge.
Iſt das Ihre Aufführung, Omar? Erröthen Sie nicht? Wie oft habe
ich Ihr rückſichtsloſes Betragen gegen Perſonen des anderen Geſchlechts
verabſcheut! Empfinden Sie nicht das Unanſtändige Ihrer Galanterien?
Sehen Sie mich an, Omar! Können Sie dieſen Blick über ſich er¬
gehen laſſen, ohne eine beſſere Regung zu fühlen? Leichtſinniger! Sie
werden meine Geduld noch erſchöpfen. — Der Hund hörte dieſe zweck¬
loſen Reden mit der ganzen Faſſung eines unbefangenen Naturweſens,
Moorfeld aber erſchrack lebhaft darüber. Er ſchielte mit ſcheuem Blicke
ſeitwärts nach den Leuten, welche anfingen ſtehen zu bleiben, und in¬
dem ihm der Reflex, der von der Tollheit ſeines Begleiters auf ihn
ſelbſt zurückfallen mußte, nichts weniger als gleichgiltig war, ſagte er
zu dieſem auf franzöſiſch: Laſſen Sie uns gehen, Sir, dieſes Volk
ſcheint mir wenig im Stande, den Humor Alt-Englands zu würdigen.
Der Lord ignorirte die Begaffer mit der Sorgloſigkeit des vornehmen
Mannes, zu Moorfeld aber ſagte er im Weitergehen: Pardon, Sir,
ich möchte es nicht für Humor gehalten wiſſen, was ich mit dem
jungen Omar ſpreche; mir gilt es den Ernſt. Wie denken Sie von
der Perfectibilität der Thierſeele, Sir? Ich weiß nicht, ob Sie die¬
ſes Philoſophem Ihres ſpeciellen Intereſſes zu würdigen pflegen, was
mich betrifft, ſo thue ich es. Und um mein Bekenntniß über dieſen
Gegenſtand abzulegen, ſo geſtehe ich gerne, daß mir eine nicht zu um¬
gehende Conſequenz darin zu liegen ſcheint, von der Bildungsfähigkeit
der menſchlichen Seele auf die des Thieres zu ſchließen. Denn wo,
dürfen wir fragen, liegt die Grenzlinie zwiſchen der einen und der
andern? In Wahrheit, man hat ſie bisher noch nicht feſtſtellen kön¬
nen; oder, um mich genauer auszudrücken, man hat eine Thatſache
der Erfahrung, die nur nach einer Seite galt, irrthümlich für beide
gelten laſſen. Man ſchließt von der Thatſache, daß die Thierſeele
bisher nicht in dem Zuſtande der menſchlichen Cultur erblickt worden
iſt, auch auf die Unmöglichkeit, daß ſie dieſen Zuſtand erreichen könne;
aber man bedenkt nicht, daß man umgekehrt oft genug Menſchen im
Zuſtande völliger Thierheit vorgefunden hat, ohne daß es indeß ver¬
ſucht worden wäre, auch in dieſem Falle die Perfectibilität zu leugnen.
12*[180] Darin liegt eine Inconſequenz. Dieſe Inconſequenz nun ſehen Sie
mich in der Behandlung meines Omar's aufheben, indem ich rück¬
ſchließend alſo denke: Iſt es möglich, daß ein Thier, welches der Jäger
bald für eine Wildkatze geſchoſſen hätte, nachträglich noch ein Menſch
wird, bloß darum weil man es zum Menſchen erzieht: warum ſoll,
darf oder muß ich nicht vielmehr von dem Thiere, das wir hier vor
Augen haben, gleichfalls erwarten, daß es durch Erziehung erzogen
werden kann? Man zeige mir die Lücke in dieſem Syllogismus.
Nein, mein Herr! kann die Menſchheit zur Thierheit verwildern, ſo
kann die Thierheit zur Menſchheit veredelt werden: dieſer Satz muß
nothwendig gelten, wenn von Logik überhaupt die Rede ſein ſoll. Aber
gewiſſe Entſcheidungen werden ſtatt durch die Logik, durch unſern
Egoismus gefaßt. Dahin gehört unſre ganze Behandlung des Thier¬
lebens. Wir regieren die Thierwelt nicht loyal-conſtitutionell, ſondern
mittels lettres de cachet. Weil der Stoff des Thieres uns zum
Verbrauche dient, ſo hütet ſich unſer Eigennutz, den Geiſt des Thieres
in ſeinen verfaſſungsmäßigen Rechten anzuerkennen. Sie ſehen wohl,
es iſt hier von Gewalt, nicht von Vernunft die Rede. Nehmen wir
z. B. dieſe Union hier. Sie bedient ſich einer unzähligen Menge von
Menſchenkörpern ſtofflich, indem ſie die ſchwarzen Sclaven ganz ſo
verbraucht, wie man ein Hausthier verbraucht. Der Nigger iſt Thier.
Sie erweitert das Thierreich mit einer neuen Species. Umgekehrt wird
die große britiſche Nation durch das glorreiche Beiſpiel der Sclaven-
Emancipation eine Thier-Species, um mich ſo auszudrücken, in die
menſchliche Gattung avanciren laſſen. Da haben Sie die Wandel¬
barkeit der Grenzlinie, wovon ich zuvor ſprach. Aber laſſen wir das
bei Seite. Fleiſcheſſer mögen ſagen, es iſt Nothwendigkeit, den
Thiergeiſt zu ignoriren, um den Thierſtoff zu verbrauchen, Sclaven¬
halter mögen ſage n, es iſt Intereſſe, die Nigger-Perfectibilität zu
leugnen, um die Nigger-Hausthier-Arbeit nutzbar zu machen: meinem
Hunde gegenüber fallen dieſe Rückſichten weg. Ich will weder ſein
Fleiſch verzehren, noch ſeine Arbeitskraft benützen, ich habe keinen
Grund das intellectuelle W eſen in ihm aufzuopfern. Der Jeſuit Pater
Bougeant hindert mich wenigſtens nicht, indem er die Thierſeele für
eine Teufelsſeele erkannt wiſſen will. Es liegt auf der Hand, daß
ſein Syſtem nur der Verſuch einer Vermittlung zwiſchen dem Mißbrauch
[181] des Thierſtoffes und der Anerkennung des Thiergeiſtes iſt. Wir neh¬
men Act von der philoſophiſchen Seite ſeines Bekenntniſſes und laſſen
die theologiſche auf ſich beruhen. Ich behandle alſo meinen Omar
als Geiſt. Ich ignorire ſeine niedere Natur und wirke auf ſeine
höhere. Ich wecke ſeine ſchlummernde und gebundene Sittlichkeit. Ich
begegne ihm mit Achtung und werde dadurch ſeine Selbſtachtung an¬
regen. Kurz, ich verfahre mit ihm, wie man mit jenem Wilde ver¬
fährt, welches Wurzeln gräbt, Gras ißt, Vögel und Ratten jagt, un¬
artikulirte Laute ausſtößt, behaarten und zottigen Leibes iſt, und wel¬
ches man doch nicht im Stalle, ſondern im Boudoir erzieht, weil es
nach Familien-Erinnerungen und Kirchenbüchern ſich als eine Baroneſſe
ausweist. Sie werden ſagen, dem Thier fehlt die Sprache. Dieſer
Eine Mangel ſtehe ſeiner Perfectibilität entſcheidend im Wege. Aber
fehlt die Sprache den Taubſtummen nicht auch? In der That, Sir,
ſobald ich meinen Omar nur ſo weit gebracht habe, daß das Perſön¬
lichkeitsgefühl in ihm wach iſt, ſo will ich es auch mit der Zeichen¬
ſprache verſuchen. Man hat zu Boſton ein vortreffliches Taubſtummen-
Inſtitut. Omar ſoll hin, denn ich zweifle nicht, daß der Director
ein vorurtheilsfreier Mann ſein wird.
Hier ſchwieg der Engländer. Moorfeld hatte dieſe ganze Demon¬
ſtration mit jener Bewunderung angehört, die ihr nicht wohl zu ver¬
ſagen war. Er ſann im Stillen darauf, wie er ſich der Einführung
durch einen Mann entziehen könne, der nach dieſer Probe offenbar die
bête noire der Salons ſein mußte. Aber ſchon hatte unſer Paar
Whitehall-Street quer durchſtrichen und das Schmuckkäſtchen Neuyorks,
die Battery, that ihre Pracht und Herrlichkeit auf. Die olympiſche
Luft, die durch dieſe Park-Anlagen, durch dieſe Palaſt-Enfiladen voll
geſchäftsloſer Ruhe und vornehmer Verſchloſſenheit wehte, goß alsbald
ihren berauſchenden Duft um die dichteriſchen Sinne unſers Freundes.
Hier iſt Mr. Bennet, ſagte der Lord auf ein Haus deutend, das ſchönſte
des ganzen Quartiers, eine wahre Blume von Bauſchönheit. Moor¬
feld erſchrack mächtig, wie kopfhängeriſch-trüb er ſonſt hier promenirt
haben müßte, daß ihm dieſe Perle nicht längſt in die Augen geleuchtet.
Eine Begierde, eine Art leidenſchaftliche Genußſucht hier einzutreten,
ergriff ihn ſogleich, die ihm über alles Andere hinweghalf. Er dachte
von dem Engländer jetzt mit einer gewiſſen Liberalität, ſeine vorigen
[182] Bedenken ſchienen ihm kleinlich, er beurtheilte ihn auf einer Höhe, wo
ſelbſt der Narr berechtigt iſt und die Tollheit nur für sport gilt. Zu
ſolch geiſtiger Vornehmheit erhob ihn der Anblick eines Gebäudes!
Das Haus hatte aber wirklich ſeines Gleichen nicht in allem Glanz
ſeiner Umgebung. Es ſtand da, wie ein Menſch, der nichts Gemeines
denkt, unter Menſchen, die ihre Gemeinheit mit Gold bedecken. Seine
Verhältniſſe waren einfach, ſeine Ornamente ſchicklich, jede Linie mit
dem Tacte des Genies getroffen. Das Auge lief auf und ab daran
und empfand nichts Störendes, nur Harmonie und höchſte Idealität
der Formen. Moorfeld fragte nach dem Baumeiſter — es war freilich
eine Copie des Palazzo Pandolfini Nencini in Florenz und die ge¬
borene Kunſtſchönheit hatte den Plan dazu gemacht — Raphael.
Ein Reflex der untergehenden Sonne warf ein charakteriſtiſches
Schlaglicht über das Haus und die Ulmen-Parthie vor demſelben und
adelte den Anblick noch mehr. Moorfeld pries die gute Stunde, da
er gekommen; ſein Gefühl für dieſen Beſuch wurde immer voller,
immer ahnungsreicher. So ſtieg er die geſchliffenen Granitſtufen der
Freitreppe hinan, der Lord zog die Klingel, ein Neger in weißen
Glacehandſchuhen öffnete. Wie befindet ſich der junge Herr? rief
derſelbe ſogleich die Dogge an, die ihm wedelnd entgegenſprang. Er
iſt eurer Geſellſchaft überlaſſen, ich hoffe ſie iſt eine gute, ſagte der
Lord, worauf der Neger ſich ernſthaft verbeugte. Aber Moorfeld hatte
keine Zeit mehr, dieſen Eintritt ſich zu Herzen zu nehmen. Jetzt galt
ihm's, von dem Hauſe, deſſen Aeußeres Raphael war, das Innere
in ſich aufzunehmen, das Bennet war. Er ſtand im Veſtibül. Der
Eindruck war ein vollkommener. Marmorboden, Marmorwände,
Marmortreppen mit vergoldetem Bronce-Geländer u. ſ. w. verſtand
ſich von ſelbſt. Worauf es hier ankam war das Wie? Moorfeld
hatte manch reichornamentirtes Vorhaus geſehen, reicher als dieſes.
Im Hauſe ſeines Banquiers hüteten zwei marmorene Sphinxen den
Eingang; ohne Frage ein prächtiges Ornament, aber die Sphinxen
trugen blau und roth gemalte Schabracken. Andere Veſtibüls waren
mit Gold- und Lackfarben im Arabesken-Styl ausgemalt, aber leider
hatte man auch die Pracht gemalter Fenſtergläſer über dem Hausthore
nicht miſſen wollen und Niemand fühlte, daß die einfallenden Bunt¬
lichter mit den inwendigen Malereien einen optiſch-gräßlichen Krieg
[183] führten. Mr. Bennet's Veſtibül dagegen war einfach und nichts als
dieſes. Das Tageslicht transparirte durch milchweiße mattgeſchliffene
Spiegelſcheiben, die Marmorwände waren glatt und flach, durch Niſchen,
Canellirungen, Pilaſtern und Büſten nicht unterbrochen; das Vorhaus
wußte was es zu ſein hatte, ein Vorhaus. Nur eine Zierde beſaß
es, aber eine klaſſiſche; in der Mitte ſtand auf römiſchem Sockel —
ein Appolino. Selig blickte die Schönheit des nackten Gottes dem
Eintretenden entgegen, Prüderie hatte den Anblick in keinem ſeiner
Theile beleidigt. Moorfeld faßte den höchſten Begriff von dem
Hausherrn.
Der dienſtthuende Neger meldete die Gäſte und öffnete die Flügel¬
thüren des Parlours. Mit höherem Herzſchlage trat Moorfeld über
dieſe Schwelle. Es war das erſtemal in Newyork, daß ihm die menſch¬
liche Fähigkeit der Pietät wieder in Uebung gebracht wurde.
Das Gemach, in welchem er jetzt ſtand, war ein Füllhorn von
Reichthum und Kunſt. Der Fuß verſank in den Blumen und Blättern
eines koſtbaren Brüſſeler Teppichs. Das Auge taumelte an den
Wänden von Goldrahmen zu Goldrahmen durch einen Himmel ita¬
lieniſcher Schönheitswunder. In Ottomanen, Fauteuils, Bergéren und
Tabourets ſtrahlten die Meiſterwerke franzöſiſcher Ebeniſten und Ta¬
pezierer umher, von der Decke hingen zwei ſchwere, goldene Kronleuchter.
Ein prächtiger Goldſpiegel über dem Kamin und auf dem Geſimſe
des letztern eine Copie der Dannecker'ſchen Ariadne in Alabaſter ſchmückten
den wirthlichen Mittelpunkt des Salons. Das Tageslicht fiel durch
gelbſeidene Gardinen ein, welche in reichen Falten, von lanzenförmigen
Haltern getragen, an den Boden herabfloſſen. Vor den Fenſtern blühte
in einer Art Glashaus ein kleines Schiras von ſeltenen Pflanzen und
Blumen, dazwiſchen hingen vergoldete Käfige mit Kanarienvögeln, ein
noch ſeltenerer Luxus dieſes Vogelſang-loſen Landes. Im Wandpfeiler
zwiſchen den zwei mittlern Fenſtern ſtand die Statue einer Diana unter
einem Laubwerk von Epheu. Die beiden oberſten Erker des Gemaches
nahmen zwei Scagliola-Tiſche ein, bedeckt mit Nippes und Büchern in
Pracht-Einbänden. Der Farben-Grundton des ganzen Gemaches klang
unter dem Reichthum dieſer Ausſtattung eben nicht übermächtig durch,
die Tapeten ſchienen broncefarbige Seide mit Golddruck.
Dies war das raſche Totalbild des Saales, welchen Moorfeld im
[184] erſten Augenblicke nur flüchtig muſtern konnte. Die Perſon des Haus¬
herrn ſtand vor den Eintretenden.
Der Engländer präſentirte ſeinen Begleiter mit dem Air eines
Habitue's: Doctor Muhrfield, ein literary gentleman aus Deutſch¬
land, Kunſtkenner und —
Selbſt Künſtler, ergänzte Mr. Bennet in eben jenem Charakter
von Bequemlichkeit. Ich ſetze das voraus, Mylord, bei meinen ver¬
ehrten Gäſten aus Deutſchland. In Deutſchland entſpringt der Ge¬
ſchmack an den Künſten aus der angebornen Fähigkeit ſie auszuüben.
Ein wunderbares Land, dieſes Deutſchland. Ich war in Wien in ein
College eingeführt — ein Eſtaminet das unſern iriſchen Brandy-
Stuben nicht unähnlich ſah — aber da hieß es: dieſer Herr hat die
Ahnfrau gedichtet und jener Gentleman die Todtenkränze und ein
dritter den öſtreichiſchen Dialect auf den Parnaß erhoben und die
Spitze von Allen war ein kleiner unanſehnlicher — Shopkeeper hätte
ich bald geſagt, aber man nannte ihn Beethoven! In Stuttgart zog
ich mein Wagenfenſter auf, als ich durch die Friedrichsſtraße fuhr,
aber im nämlichen Augenblick rief auch ſchon mein Begleiter: Sehen
Sie da, ſo eben tritt Uhland aus jenem Hauſe. Mit dem erſten
Luftzug hatten wir einen Dichter erſten Rangs geſchnappt. In Weimar
erwartet man nichts anders als eine Peerage von Genies; neben dem
ehrwürdigen Goethe, den ich noch zu ſehen das Glück hatte, verſchwinden
dort Namen, die bei uns nicht Planeten, ſondern Sonnen eines eigenen
Planeten-Syſtems wären. Fährt man von Weimar über Leipzig und
Dresden nach Berlin — ein Gebiet beiläufig wie eine Baumwollen-
Plantage, oder das Jagdgebiet eines einzigen Indianers, — ſo lernt man
auf dieſer Spanne deutſcher Erde mehr Verdienſt für Kunſt und Wiſſen¬
ſchaft kennen, als in den fünf Zonen der übrigen Erde zuſammen.
In Berlin könnte man bequem ein Bataillon formiren aus Männern,
welche Jeder den Marſchallsſtab eines klaſſiſchen Werkes in ihrer Patron¬
taſche tragen. Ich ſage klaſſiſch, Mylord, und unterſcheide ausdrücklich
von modiſch. Ich heiße Sie beſtens willkommen, Herr Doctor!
Dieſer Empfang war mehr, als Moorfeld erwartet hatte. Sein
Auftreten im Hauſe Bennet war ihm durch die Einführung des aben¬
teuerlichen Engländers alſo nicht nur nicht verdorben — wovon er
freilich nicht ſchon im erſten Augenblicke Symptome fürchten gedurft —
[185] ſondern die Zuvorkommenheit des Wirthes übertraf nach der entgegen¬
geſetzten Seite noch das Maß des Gewöhnlichen. War's möglich,
daß Deutſchland in Amerika ſo gehuldigt wurde? Freilich huldigte
der Amerikaner eigentlich ſich ſelbſt, wie überhaupt ſeine ganze Em¬
pfangsrede nach europäiſchen Begriffen von gutem Tone zu lang und
wortreich war. Aber Moorfeld kannte bereits den transatlantiſchen
Styl und die Perſönlichkeit Mr. Bennet's rechtfertigte denſelben vollends.
Mr. Bennet war eine mittelgroße Figur von ſchlanker Beweglichkeit,
raſchen Gebärden, reizbarem Mienenſpiel, um den Mund etwas humo¬
riſtiſcher Lebemann, im Blicke geiſtreich, ſcharf, raſtlos, wie auf be¬
ſtändigem Bienenflug der Gedanken, in ſeiner Haltung freier und ent¬
wickelter, als es dem Amerikaner ſchon ſeine phyſiſche Bruſtbildung
zuläßt: das ganze Charakterbild ſchien überhaupt mehr franzöſiſche, als
angelſächſiſche Race; Moorfeld urtheilte, daß mindeſtens das galliſche
Blut Irlands in Mr. Bennet's Adern fließe. Er hatte ihn während
ſeiner Rede wie vor einem Flintenlauf viſirt, aber auch Bennet ver¬
tiefte ſich in Moorfeld's halbwilden, urmenſchlichen Blick mit einer
Art von Bezauberung. Die beiden Männer fühlten, daß ſie ſich ge¬
genſeitig am höchſten Maße maßen. In Jedem regte ſich das Eigenſte
beim Anblicke des Andern. Sie ſtanden einen Augenblick lang wie
im Duell und indem ſie wechſelweiſe die Macht ausübten ihr Perſön¬
lichkeitsgefühl auf die Spitze zu treiben, erkannten ſie ſchnell den ge¬
meinſamen Familienzug des Genies in ſich. Ihr vis-à-vis befriedigte,
denn es verſprach.
Mr. Bennet bat ſich die Ehre aus, ſeinen neuen Gaſt der Haus¬
frau vorzuſtellen, was dieſer dankbar annahm. Die drei Herren ver¬
fügten ſich in die Etage und durchſchritten eine Reihe von Zimmern,
wobei ſich der Wirth mit dem Gaſte im gelegentlichen Geſpräche
vor manchem Kunſtgegenſtand aufhielt, indeß der Lord mit dem Ge¬
wohnheitsrechte des Hausfreundes ſeinen Weg in's Drawing-room allein
fortſetzte. Dieſen Umſtand benutzte Moorfeld, ſich über ſein Verhältniß
oder Nicht-Verhältniß zu dem bedenklichen Mann ſo weit zu erklären,
als es die Rückſicht gegen Bennet und die Rückſicht für ſich ſelbſt in
die Möglichkeit legte. Bennet ſeinerſeits befand ſich in dem nämlichen
Falle, daher eine Verſtändigung wie von ſelbſt erfolgte. Ein Original!
lächelte Mr. Bennet, ein Doppel-sportman, bei dem ſich Menſch und
[186] Thier wohl befinden. Die Thiere erzieht er zu Menſchen und die
Menſchen bringt er einander näher. Letzteres hat ihm ſo eben meinen
Dank erworben; wir wollen Sr. Lordſchaft darum mit Anerkennung
gedenken. Ich ſage, Sr. Lordſchaft, und darin liegt meine Erkennt¬
lichkeit ſchon. Denn eigentlich iſt er ein jüngerer Sohn ſeines Hauſes
und ein noch jüngerer Sohn der Fortuna, welche ſeinen Maßſtab am
grünen Tiſche einſt ſo verjüngte, daß es Se. Herrlichkeit ſeitdem vorzog,
in unſrer Mushroom-Ariſtokratie der erſte, ſtatt im Londoner-Weſtend
der zweite oder zweihundertſte zu ſein. Nun, er iſt willkommen! Sind
wir doch alle ein Volk von Flüchtlingen hier; die politiſchen Flücht¬
linge des Pharao dürfen auch nicht fehlen. Damit war der Gegen¬
ſtand, ſo viel hier nöthig, abgefertigt; das Saitenſpiel der Göttin
Mediſance ſollte vorerſt nicht weiter ausklingen über dieſes dankbare
Thema. Moorfeld's Aufmerkſamkeit war bei den Kunſtſammlungen
Bennet's. Er machte auch gar kein Hehl daraus, daß er wie ein
Wilder, oder wie ein neugieriges Kind dieſe Säle durchſchreite, er ge¬
nieße wieder das erſte jugendliche Gefühl ſeiner Geſundheit hier; in
Newyork lähme der Schlag eine ganze Menſchheitsſeite, und wirklich
ſei die Stadt ſo unbefangen, das Haus Bennet ungefähr wie die Adreſſe
eines berühmten Arztes zu nennen. Die Bevölkerung ſei ſtolz darauf,
aber ohne das Gefühl, ähnliche Ehren erwerben zu ſollen, jeder Ein¬
zelne bezahle ſeine äſthetiſche Schuld höchſt ſorglos mit einer Anwei¬
ſung auf Mr. Bennet. Und doch gab es eine Zeit, antwortete Bennet,
indem das geſchmeichelte Lächeln ſeines Antlitzes ſchnell dem Ernſte,
ja einem gewiſſen Zug von Kummer wich, doch gab es eine Zeit,
wo die Sache ganz anders lag. Ich habe eine ſeltſame Poſition zu
meinen Mitbürgern. Sie lieben mich und meine Richtung eigentlich
nicht, aber ſie ſchmeichelt ihrem Nationalſtolze. Einen guten Ruck
zur Verſöhnung würde ich vielleicht thun, wenn ich meine Samm¬
lungen geradezu Bennet's Muſeum oder noch beſſer amerikaniſches
Muſeum taufte. In der That haben mir Wohlmeinende dieſen Schritt
wiederholt gerathen. Als ob die Cabinetſtücke eines Privatmanns zu
ſolchem Titel berechtigt wären! Aber dergleichen bedenkt man hier
wenig. Wenn's nur klingt. Und dann bekenn' ich aufrichtig, daß
mich die Ausſicht disguſtirt, einem gewiſſen Spectakel-Humbug zu ver¬
fallen, den ich von dieſen Räumen nicht abhalten könnte, wenn ich
[187] ihnen einen öffentlichen Charakter verliehe. Kurz, ich kann mich zu
dieſer Avance nicht entſchließen. Auch denk' ich der dringendſten Nö¬
thigung überhoben zu ſein. Die eigentlichen Kämpfe ſind beſtanden.
Moorfeld ahnte in letzterem Worte, was gleich im Entree dieſes
Hauſes zum lebhafteſten Gefühle kommt, und verſagte ſeinem Wirthe
die Anerkennung nicht, es laut auszuſprechen. Er bewunderte vor
allem Bennet's Muth, ſeine Kunſtpflege ſo rein durchgeführt zu ha¬
ben, daß er auch dem höchſten aber zarteſten Stoff der Kunſt, den
Darſtellungen des Nackten, nicht aus dem Wege gegangen ſei, ein
Muth, der den flüchtigſten Kenner der hieſigen Sitten noch mehr über¬
raſchte, als das Vorhandenſein dieſer Kunſtpflege ſelbſt. Und ich bin
ein Mann, der drei Töchter hat! antwortete Bennet, gedenken wir
dieſes Umſtands nicht zuletzt, mein Herr. Jede Verdammungstheſis
wider mich fand ihren Vorder-, Mittel- und Schlußſatz in meinem
eigenen Hauſe. Ja, mein Herr, General Jackſon hat viel Muth bei
New-Orleans bewieſen, gegen die Bank noch mehr, aber gegen die
Prüderie ich den meiſten. Und doch macht mich Niemand zum Prä¬
ſidenten dafür, ich bin froh, daß ich das Leben davontrage, das nackte
Leben! ſcherzte der aufgeweckte Mann mit einem wohlangebrachten
Sinnſpiele. Er fuhr ſich mit einem echt franzöſiſchen Wurf durch den
Buſch ſeiner Stirnhaare, wobei der Solitär an ſeiner Hand, gleich
einem Stern aus Wolken blitzte, und ſagte, wie im Andenken großer
Erinnerungen: Zweimal ſpielt' ich va banque mit meinem Leben,
zweimal warf ich den Würfel eines kühnen Entſchluſſes über meine bürger¬
liche Exiſtenz. Das erſtemal war's eine Handelsunternehmung. Ich be¬
frachtete mit einem kleinen oder auch großen Capital — denn es war
mein ganzes väterliches Erbe — ein Schiff nach der Habanna in
Seide. Ich war vierzehn Jahre, mein Steuermann ſiebenzehn. Wir
hatten einen luckigen Eindecker, der kaum noch See hielt, dazu Gegen¬
wind aus Südweſt, und um ſchneller reich zu werden, ſparte ich auch
noch die Aſſecuranz. Kurz, ein completer Knabenſtreich. In Europa
hätte man uns mit der Ruthe nach Hauſe gejagt, hier ſtanden die
Leute am Ufer und wetteten um den Punkt, wo wir ſcheitern mußten.
By Jasus! am Cap Hatteras! ſchrie der Eine; Good damn! ſie
kommen nicht über Shandy-Hoock, fluchte der Andre; 'pon honour!
im Florida-Golfſtrom gehen ſie auf den Grund, betheuerte der Dritte.
[188] Ich hatte eine gute Ladung Cognac im Kopf, und dieſe Wetten machten
mich vollends des Teufels. Beim Old Nick! ſchrie ich außer mir,
nun wett' ich auch, ich! Jungens, wenn ihr die grüne Erbſenſuppe
ſchlucken müßt, verſchwor ich mich meinem Steuermann-Buben und
ſeinen vier Matroſen — denn das war unſere ganze Bemannung —
wenn's euer Leben gilt, ſo halt' ich mit, ich jage mir ein Loth Blei
in den Kopf. Dabei rief ich Umſtehende, Fremde und Freunde zu
Zeugen an, und nur ein alter Geiſtlicher verhinderte mich den Notar
zu rufen. Enfin, die Buben lavirten ſich durch, auf halber Fahrt
ſchlug der Wind um, wir hatten den Concurrenz-Vorſprung, und mach¬
ten enormen Gewinn. Das aber iſt gewiß, kam's anders, ſo war ich
Mann genug mein Wort zu halten. Rathen Sie nun, was ich jener
Wagethat an die Seite ſetze? die That als ich zwanzig Jahre ſpäter
— den Walzer hier einführte. Ja, Herr, das war mein zweites va
banque! Man hatte bis dahin nur langweilig-ſittſame Quadrillen und
Ecoſſaiſen gekannt; daß man im Tanze die Taille eines Weibes be¬
rühren könne, ging über all unſre Vorſtellungen. War ja noch vor
meiner grande route ein Pariſer Ballet nach Newyork herüber ge¬
kommen — es iſt ſchlechterdings mit Worten nicht wiederzugeben, wel¬
ches Aufſehen ſeine Vorſtellungen erregten. Ich war bei der erſten
zugegen. Schon der bloße Anblick der kurzen Balletröcke brachte eine
Bewegung im Hauſe hervor, die dem Ausbruch eines Volksaufſtandes
nicht unähnlich war. Als aber die erſte Pirouette gemacht wurde, be¬
ſagte Röcke rundum flogen und die Beine eine horizontale Richtung
nahmen — da ſchrieen die weiblichen Zuſchauerinnen laut auf, und
die nicht auf eigenen Füßen hinausſtürzten, die wurden ohnmächtig
fortgetragen. Die Männer aber erhoben ein Gelächter — kein wohl¬
gefälliges, bewahre, ein ſatyriſches, ein Hohngelächter, nur lächerlich
ſchien ihnen dieſe Kunſt; die Sprache der Grazie verſtanden ſie nicht
darin, in ganz Newyork war keine Ahnung darüber aufzutreiben. So
ſah das Land aus, in welches ich bei meiner Rückkehr von Europa den
Walzer verpflanzen wollte. Laſſen Sie mich ſagen, mein Herr, neue
Städte gründen iſt etwas, aber neue Sitten gründen, mehr. Noch
habe ich die Geige im Glasſchrank ſtehen, womit der deutſche Tanz¬
meiſter meinen Töchtern den Senfſaamenwalzer einſtudirte, — Gott
weiß es, ich vergeſſe dieſe Klänge nie wieder. Der Ballabend brach
[189] an. Meine Töchter konnten damals noch für unmündig gelten, meine
Frau ließ ich auf's Land gehen, — ich wollte die Verantwortung allein
tragen. So ging ich in die Schlacht. Die Quadrillen und Ecoſſaiſen
ſchickt' ich natürlich voran. Als aber das Orcheſter den erſten Bogen¬
ſtrich vom Senfſaamenwalzer machte, als ich meine Cöleſte an die Hand
nahm, in die Mitte des Saales trat, und nun anfing unſern freien
und aufgeklärten Bürgern das böſe Beiſpiel eines Walzers zu geben
— ſehen Sie, Sir, da lief mein unverſicherter Eindecker von Neuem
gegen den Wind aus. Meine bürgerliche Exiſtenz ſtand zum zweiten¬
male auf dem Spiele. Mit dem Angſtſchweiß auf der Stirne erwar¬
tete ich die Wirkung. Mein Gott, ich durfte nicht lange warten! Da
war die Miß Arabella Comonach, früher Fabriksmädchen in Lowell,
jetzt eine Fregatte von Würde und Anſtand, die fiel in eine pomp¬
hafte Ohnmacht und ſchrie um ein Riechfläſchchen. Da war die Miß
Lydia Hundington, die Frau des Hauptpaſtors an der Trinity-Church,
die ſchoß wie eine Brandrakette zum Saale hinaus, und grollte mir
wüthend zu, ſie glaube in Singſang zu ſein, d. h. im Zuchthaus.
Da war aber auch der Colonel Burr — erinnern Sie ſich gefälligſt
an dieſen großen, jetzt verſchollenen Namen. Sie wiſſen, dieſer Satan
war nahe daran, König von Amerika zu werden. Seine Verſchwörung,
— ein unſterbliches Meiſterwerk von menſchlicher Weisheit und Frech¬
heit, mißglückte zwar, aber ſo ſtark war der Anhang dieſes Catilina,
daß kein Gerichtshof ihn zu verurtheilen wagte, aus Furcht vor ſeinen
Dolchen. Entlaſſen mit einem „Nichtſchuldig“, aber geſcheucht und
gemieden von aller Welt, lebte er ſeitdem vereinſamt in Newyork, mein
Salon allein war's, der dieſer unheimlichen Exiſtenz noch offen ſtand.
Ich verehrte das Genie in ihm; ich hatte Herz für ſein Familien¬
unglück. Denn ſeine Tochter iſt heutiges Tags noch nicht wieder¬
gefunden, da ſie ſich in der flagranteſten Kriſis der Verſchwörung
auf eine Landreiſe von tauſend Meilen aufgemacht hatte, um ſich
mit ihrem verfolgten Vater zu vereinigen. Kein Menſch weiß
was aus ihr geworden; eine Beute der Räuber, der wilden Thiere
und der Novellendichter verſchwand ſie in unſern ungeheuren Wild¬
niſſen. Nun, dieſer Colonel Burr kommt auf mich zu, — es
war das Letztemal, daß ich dieſen kleinen muskulöſen Raubvögel¬
körper, dieſen Alligatorenblick, dieſe Jupitersſtirn ſah, und mit
[190] der Haltung, womit er in ſeinen beſten Tagen die Menſchen wie Wachs
bewältigte, ſagt er mir unter die Augen: Wenn meine Tochter in
dieſem Augenblick ſo herumgeſchleift würde, ſo möchte ich ſie lieber
todt wiſſen. Ich wollte Amerika beherrſchen, aber nicht zerrütten,
Mr. Bennet. Ich danke von heut an für Ihre Gaſtfreundſchaft. —
Wenn Sie ein graues Haar auf meinem leidlich ſchwarzen Kopf
finden, ſo bekam ich's jene Nacht. Colonel Burr, der ſich gegen einen
Walzer empört! Lange wälzt' ich mich ſchlaflos auf meinem Lager,
und ſann darüber nach, wo der Gränzſtein der menſchlichen Natur
ſtehe. War ich wirklich der Felddieb, der ihn verrückt hatte, und mor¬
gen vor ganz Amerika die Stäupe dafür bekommen ſollte? Es war
eine Hölle, das zu fragen und die Antwort darauf abzuwarten wie
ein wehrloſes Schlachtopfer. Gegen Morgen endlich hatt' ich einen
geſcheidten Einfall. Ich ſprang auf, nahm hundert Dollar, wickelte
ſie in ein Papier und adreſſirte ſie an eine unſrer erſten Redactionen,
daß ſie das Tagesereigniß freundlich beſpreche. Darauf wurde ich
ruhiger und ſchlief ein paar Stunden in den hohen Tag hinein. Als
ich aufwachte lag die gedruckte Zeitung ſchon auf meinem Toiletten¬
tiſch. Meine Apologie ſtrahlte heller darin, als die friſche Morgen¬
ſonne. Der Mob machte Chorus dazu, und ich war gerettet. Das
iſt die Geſchichte des erſten Walzers in Amerika.
„We are in a free country!“ murmelte Moorfeld erſchüttert.
Bennet, dem das Wort „frei“ an's Ohr klang, bezog es anders
und jubelte auf: Es lebe die freie Preſſe! ja ja, mein Herr, das iſt
die Perle unſers aufgeklärten und glücklichen Landes. Die Knechtung
der Preſſe iſt ein vortreffliches Mittel der Freiheit; denn das Publi¬
kum bildet ſich in dieſem Falle ſein eigenes Urtheil; aber die freie
Preſſe iſt ein köſtliches Werkzeug der Tirannei, — der Mob vertraut
ihr und betet ihr blind nach. Das Mittel mit dem Walzer ſchlug
mir noch öfter an. Ich muß immer ein ſardoniſches Lächeln bekämpfen,
wenn mich die Leute fragen, was meine Apollino, meine Ariadne und
dgl. gekoſtet hat. Ich weiß wohl, wem ich dieſe göttlichen Nackt¬
heiten am theuerſten bezahlt habe. Es lebe die freie Preſſe!
Moorfeld zuckte zuſammen. Er ſtierte mit einem todten Blicke
vor ſich hin. Was haben Sie? fragte Bennet, Anlage zur Melan¬
cholie? Hang, die Sachen von ihrer ſchwarzen Seite zu nehmen? Auf,
[191] in Frauengeſellſchaft! Meine arme Frau! Sie muß ſchon ſeit einer
Stunde auf die Perfectibilität der Thierſeele ſchwören. Kommen Sie,
ich will ihr eine ſchöne Menſchenſeele vorſtellen!
Wenn die Artigkeit des Herrn Bennet nicht ein angeborener, lie¬
benswürdiger Hang zur Galanterie war, ſo konnte ſie Moorfeld jetzt
in einem neuen Lichte ſehen. Es ſchien ihm nicht unmöglich, daß Herr
Bennet ſeinen fremden Gäſten darum ſo viel Aufmerkſamkeit, ja,
Devotion erzeige, um den Ruf ſeines Salons auch in Europa aus¬
zubreiten. Eine Rückwirkung davon auf ſein eigenes Vaterland mochte
dem amerikaniſchen Kunſtmäcen, nach dem was Moorfeld gehört, in
der That weder gleichgiltig noch ſelbſt entbehrlich dünken. Und Moorfeld
geſtand ſich, daß er auch — Tendenzverſe dichten könne.
Er trat jetzt an der Seite ſeines Wirthes in das Drawing-room,
deſſen offenſtehende Flügelthüren ſchon auf die Entfernung mehrerer
Zimmer das Innere dieſes Boudoirs in's Auge fallen ließen. Moor¬
feld glaubte in einen Blumenkelch zu blicken. Decke, Plafond, Wände
Möbel, Teppiche, Tapeten — das ganze Gemach ſchmolz in ein ein¬
ziges Laubwerk, in eine große Blätter-Arabeske zuſammen. Nichts
war Bedürfniß hier, Alles Ornament, Nichts Kante und Ecke, Alles
Wellenlinie, Nichts Stein und Holz, Alles eine lockere Blüthenſchnee¬
decke, Auflöſung in Faſer, Falte, Flocke, Spitze, ein Sommernachts¬
traum aus Seide und Flor, eine Phantaſie, ein Duft. Die Pracht
hatte ſich hier verflüchtigt, als ſcheute ſie, durch irdiſche Schwere zur
Laſt zu fallen, nirgend drückte die Erinnerung an Goldgehalt oder
Karatgewicht, der Beſucher konnte in Mitte eines unſchätzbaren Wer¬
thes glauben, Alles ſei mit größter Leichtigkeit da, quelle aus ſich
ſelbſt wie eine Schaumperle auf. Die alabaſterne Orchislampe an der
Decke ſchien noch das einzige Stück von Maſſe hier; wie ſie den ſchwe¬
ren, goldenen Kronleuchtern im Parlour contraſtirte, ſo ungefähr ver¬
glich ſich dieſer Empfangſalon der Hausfrau dem des Hausherrn.
Wenn wir ſagen, Moorfeld trat in dieſes Gemach ein, wie Fauſt den
Himmelsathem der weiblichen Temperatur im ärmlichen Bürgerſtüb¬
chen trinkt, ſo ſagen wir zu wenig. Anders und höher noch athmet dieſer
Geiſt doch, wenn im Boudoir der Millionären die Flammen unendlichen
Reichthums aus allen Fugen ſchlagen und der Taubenflügel der weiblichen
Beſcheidenheit tuſchend und dämpfend das Ganze zur Ruhe niederfächelt.
[192]
Die Bewohnerin dieſes reizenden Aufenthaltes war eine kleine
zarte Dame — eine Vignette von einem Frauenbild. Tiefe Bläſſe
bedeckte ihr Antlitz, nicht jene Bläſſe der Amerikanerinnen, die einer
immerwährenden Dispepſie entſpringt, es war eine ächtere Aetherfarbe.
Stille und Sinnigkeit lag um ſie her, und der Ausdruck des allge¬
meinen Frauenloſes, Geduld und Duldung. Wie ſie im einfachen
grauſeidenen Kleide, die feine Hand im roſa Glacehandſchuh, den zar¬
ten Fuß im geſtickten Atlaspantoffel, den Nacken von einem ſchmalen
Spitzenkragen umrändelt, ohne Gold und Juwelenſchmuck da ſaß, und
von dem weitgeſchlungenen Schaukelſtuhl faſt nur den kleinſten Raum
einnahm, ſo war es ein Anblick, als ob das weiche Glück zwar nicht
wie eine Bürde auf ihr ruhte, aber wie jener Flaum, womit man das
Leben eines Entſchlafenen erprobt, und der ſich nicht regt. Nicht beſchei¬
den, — ergeben in ihren Stand ſchien dieſes milde, ruhige Frauenbild.
Herr Bennet machte die Vorſtellung Moorfeld's franzöſiſch; Miſtreß
Bennet antwortete in derſelben Sprache und mit einem Accente, wo¬
mit man nur die Mutterſprache ſpricht. Moorfeld konnte ſie ohne
Frage für eine Pariſerin nehmen. Es ſchien ihm dieſe Wahl nicht
der unbedeutendſte Charakterzug für Bennet's Geiſtesrichtung — ob
er auch ahnen durfte: für das gedämpfte Lebensgefühl der verpflanz¬
ten Seine-Blume?
Mrs. Bennet ſprach von den Schönheiten des Rheins und der
deutſchen Literatur. Moorfeld antwortete mit Paris und Frankreich.
Seine Lobesäußerungen wurden mit Dank erwiedert, aber das Thema
nicht fortgeſetzt. Moorfeld ging auf Saratoga über. Mrs. Bennet
ſagte: ſie hoffe viel für das Vergnügen ihrer Kinder von dieſem
Ausfluge. Die Formalität ſchlang dann noch einige andere Fragen
und Antworten in ein loſes Bouquet zuſammen, das man ſich gegen¬
ſeitig überreichte, und als ſich Moorfeld wieder erhob, erfüllte ſich
dieſes Bild auch im eigentlichen Sinne; die Hausfrau reichte dem
Gaſte aus einer Blumenvaſe ein feines Sträußchen von Vanille-Blüthen.
Es ſchien damit eine ſtändige Sitte beobachtet, denn ſelbſt der Eng¬
länder, der Habitur des Hauſes, hielt, wie Moorfeld ſehen konnte,
eine ſolche Gabe zwiſchen den Fingern.
Den ſich Entfernenden ſchloß ſich auch die Perſon des Letztgenann¬
ten jetzt wieder an. Die drei Herren traten jetzt in eine andere
[193] Enfilade von Zimmern über, als durch die ſie gekommen, in die Ge¬
ſellſchaftsſäle. Hier waren die Gardinen bereits niedergelaſſen, die
Kronleuchter angezündet, und Alles für den Empfang der abendlichen
Gäſte in Verfaſſung. Aber Moorfeld that ſeinem Wirthe die Bitte,
beziehentlich Abbitte, er möge ihm erlauben flugs nach Hauſe zu fah¬
ren und Toilette zu machen, er habe ſich dieſes Umſtands verhängni߬
voller Weiſe keinen Augenblick früher als im Boudoir der Hausfrau
zu erinnern vermocht, dort aber zu ſeiner großen Verlegenheit. Herr
Bennet lachte und ſprach von poetiſchen Charakterzügen; er erſuchte
übrigens ſeinen Gaſt zu bleiben, er ſei ja nur auf einen Rout ge¬
kommen. Es iſt dieſes eine Geſellſchaftsform, erklärte er auf Moor¬
feld's freimüthige Aeußerung ſie nicht zu kennen, welche vor einigen
Jahren von England ausgegangen iſt, und in Newyork ſich ſchnell
eingebürgert hat. Sie empfiehlt ſich See- und Handelsvölkern durch
eine gewiſſe demokratiſche Saloperie, wie ſich etwa ein bequemer
Sürtout empfiehlt, der für jede Geſtalt paßt, aber freilich keine her¬
vortreten läßt. Man könnte den Rout faſt den Clubb nennen, in's
Privathaus verlegt. Seine wahre Form iſt eigentlich die Formloſigkeit.
Der Engländer ſetzte hinzu, ſeines Wiſſens ſeien im Weſtend und
Downingſtreet die erſten Routs in der ſogenannten Reſtaurations-
Periode gehalten worden, in jener Zeit der politiſchen Aufregung, wo
der Ernſt des Tagesgeſprächs angefangen habe, der Handhabung der
Frauen zu entwachſen, und die Behandlung von Fragen, welche faſt
lauter Lebensfragen waren, den leichteren Converſationston unmöglich
zu machen. Der Rout ſei ganz eigentlich ein Männer-Convent. Es
iſt ſeltſam, reflectirte der Engländer weiter, daß hier in Amerika, wo
der Cultus der Frauen ſo hoch wie in keinem Lande der Welt ge¬
trieben wird, der Einfluß der Frauen auf die öffentlichen Formen
außer allem Verhältniß gering, ja eine Tonangebung des weiblichen
Elements im Grunde gar nicht vorhanden iſt. Der Typus aller
Geſelligkeit iſt hier ein ſchroff männlicher; der Rout herrſchte ſchon
längſt in Amerika, eh' ihm England den Namen lieh. Um Bennet's
Lippen ſpielte ein pikantes Lächeln bei dieſer Bemerkung, nach einer
Pauſe nahm er das Wort. Sie ſprechen von der Abweſenheit der
Frauen aus unſern geſelligen Zirkeln, ſagte, er — meine Herren,
ich will Ihnen ein Geſchichtchen erzählen. Es war bei einer der
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 13[194] glänzendſten Matinées des vorigen Präſidenten in Waſhington und
Mädchen und Frauen die wünſchenswertheſte Menge anweſend.
Sie waren da mit ihren Herren Brüdern, Vettern, Ehegatten, Sena¬
toren, Offizieren, Staatsbeamten aller Grade und Würden. Den
Reiz der Geſellſchaft erhöhte ein Indianer-Häuptling, eine rothhäutige
Majeſtät aus dem Weſten, ein wild-maleriſcher Kriegsgott. Er war
auch der Abgott manch ſchönen Augenpaars, das die Salonfähigkeit
dieſes romantiſchen Mitmenſchen gewiß nicht bezweifelte. All men
are equal! Der Präſident führte ſeine Gäſte in den Sälen herum und
ließ ſie die Sehenswürdigkeiten ſeines Hauſes in Augenſchein nehmen.
Der ſtolze, ſchwarze Blick des Indianers verfolgte Alles mit lebhaftem
Antheil; jeder Cigarren-Aſchbecher, jedes Feuerzeug-Etui intereſſirte
ihn. Endlich ging's in den Bilderſaal. Hier zeigte ihm der Präſident
die Portraits unſerer politiſchen Größen, unſerer Land- und Seeheroen,
Abbildungen unſerer merkwürdigſten Bau-Denkmäler, unſerer ſchönſten
Fregatten. Unverhofft machten dieſe Bildwerke den geringeren Ein¬
druck auf unſern Naturſohn. Nun, Krieger, ſagte der Präſident ihn
bei der Hand faſſend, was denkſt du davon? — Bruder, antwortete
der Häuptling, — dieſe groß ſind, ſie leben und athmen und ganz
gegenwärtig ſein; dieſe großen Gemälde, ich ſage dir, ſehr wirklich
groß ſind; aber ich habe noch beſſer. Und dabei drehte er ſich um,
bückte ſich, zog ſeinen Mantel über den Kopf, und ſagte, indem er
mit der flachen Hand ſich auf die beiden Schenkel klatſchte: Schau,
Bruder, hier tätowirt iſt Alligator, und hier Waſchbär; ſind das nicht
prächtig Bild? — Es wird mich im letzten Stündchen noch erheitern,
was im Bilderſaale das ſelbſt für ein Bild war: die kreiſchenden
Weiber, die lachenden Männer, die Verlegenheit des Präſidenten, die
Stellung des Indianers! Ich möchte das Bild gemalt haben, es iſt
ein Symbol. Es iſt das einzig richtige Bild von der amerikaniſchen
Geſellſchaft, obgleich Genre, ein wahres Hiſtorienbild! Aber Sie ſehen
wohl, meine Herren, wie nahe uns noch die Wildniß liegt, wie das
vorherrſchende Koſtüm unſrer Zirkel noch die Inerpreſſibles ſein müſſen,
nicht die Roben. Denn wo Frauen unſicher ſind, ſind ſie nicht. —
Bennet fuhr fort: Wie lange nur iſt es her, daß ich und einige
Gleichgeſinnte den Anfang machten, die Meldung der Hausbeſucher
einzuführen? Noch vor wenigen Jahren konnte man zu den erſten
[195] Parthien geladen, nichts als ein Oellämpchen im Vorhauſe antreffen,
häufig auch das nicht, noch weniger einen Concierge, kurz nichts. Es
geſchah öfter als einmal, daß man auf gut Glück nach dem Salon
tappte und in ein Gemach gerieth, wofür man ſeine Glacehandſchuh
nicht angezogen. Mir ſelbſt widerfuhr es einſt. Und doch, wie übel
nahm man mir meine Neuerung! Denn kein Luxus iſt den Amerikanern
zu luxuriös, aber jede Form zu formell. Ach ja, ſie ſind ſchwer zu
discipliniren außer dem Schiffe!
Moorfeld hatte während dieſer Converſation — die Herren ſtanden
im äußerſten Ende eines Eckzimmers und blickten von einer Art Erker¬
balkon auf die noch tageslichte Straße hinab — ſeine Aufmerkſamkeit
zu theilen gehabt zwiſchen drolligem Hören und drolligem Sehen. Sein
Auge war auf der Straße. Ein wunderliches Schauſpiel zog es
hinaus. Ein Rudel junger Schweine, wie Menſchen gekleidet, ſchlum¬
perte das Trottoir herab, eine abſurde Sammlung von Jünglingen,
zu kenntlich für die Maskerade, zu unkenntlich als Wirklichkeits-Weſen,
Kerle, die eine Garderobe trugen und eine Toilette gemacht hatten,
welche phantaſtiſch ſein ſollte, aber nach einem Style es war, als ob
ſich die Göttin Phantaſie an irgend einem Mondkalbe verſehen hätte,
da ſie die Stutzer-Witze dieſer Erbärmlichen gebar. Der Eine trug
ſchlotternde Pumphoſen mit ſchuhgroßen Quarré's, das Beinkleid des
andern war eng und knapp wie Tricots. Dem Einen hing die Weſte
über den Bauch herab, dem andern endete ſie auf der Herzgrube, dieſer
balancirte ein Spazierſtöckchen kurz und dünn wie eine Stricknadel,
jener ſchleppte einen Prügel wie eine Herkuleskeule. Die Cravatte des
Dritten war ein Zwirnsfaden, die des Vierten eine mäßige Garten¬
mauer. Der Fünfte hatte ſeinen Kopf durch einen Pfannkuchen ge¬
ſteckt, ſo flach war ſein Hut, der Sechſte trug eine Kopfbedeckung von
der halben Höhe ſeiner ganzen Perſon. Was ſonſt Rock oder Frack
heißt, war am Leibe dieſer Dandy's ein Stück tollgewordenes Segel¬
tuch, das den Fiebertraum träumte, nach allen Winden zugleich zu
hängen und die widerſprechendſten Formen, die es je angenommen, in
einen einzigen Moment zu vereinigen. Dazu hatten die Wichte einen
Gang wie Känguruh's, ein Mittelding zwiſchen Rutſchen und Stol¬
pern, indem ſie entweder, weil ſie es für Faſhion hielten, oder aus
wirklicher Markloſigkeit, bei jedem Schritt in die Knie brachen und die
13 *[196] Unterbeine liederlich nachſchleiften. Moorfeld ſah dieſem Zuge mit ei¬
ner Art Faſſungsloſigkeit zu; er hatte im Straßenleben Newyorks ein
ſolches Enſemble von Karrikaturen noch nicht geſehen. Aber wie ward
ihm, als das Geſindel an Mr. Bennet's Haus die Klingel zog! Un¬
willkürlich blickte er den Hausherrn an; Herr Bennet ſenkte mit einiger
Verlegenheit ſein Auge, dann aber ſagte er achſelzuckend: Die Armen!
Wo ſollten ſie ſich beſſern lernen, wenn ich ihnen auch noch mein
Haus verſchlöſſe! — Moorfeld fand dieſe Antwort groß. Die doppelte
Liberalität gegen ſich ſelbſt und gegen die Andern, denen er noch
Beſſerungsfähigkeit zuſchrieb, ſchien ihn den Nagel einer noblen Ge¬
ſinnung auf den Kopf zu treffen. Uebrigens, ſetzte Bennet hinzu, iſt
ihr ärgerliches Aeußeres das Aergſte an ihnen. In der Geſellſchaft
ſind ſie die unſchädlichſten Haſenfüße die man ſich wünſchen kann. Es
iſt nie erhört worden, daß ein Dandy on short allowance — denn
das iſt ihr Kunſtname — die Sitte des Salons freventlich durch¬
brochen hätte. Ihre ganze Selbſtändigkeit liegt in der Affenfratze ih¬
res Anzugs, ihr innerer Affe muxt nicht in der Welt des guten Tons.
Sie ſollten ſehen, wie lammsfromm ſie unter Damen ſind, wie ſie das
Pfötchen reichen, wenn meine Frau oder Töchter von ihrem Daſein
Notiz nehmen. Und das geſchieht zuweilen. Denn die Weiber haben
bei aller Verachtung für unmännliche Männer doch auch eine Art
Gutherzigkeit gegen den armen Narren, der ſo unglücklich iſt, ihre
Verachtung zu verdienen. Sie entdecken mit ihrem mikroſcopiſchen
Blick ſein geringſtes Verdienſt, ſie ſagen ſelbſt der Null, daß ſie eine
Compoſition aus Wellenlinien iſt. So haben meine Frauen auch
dieſen Jünglingen ihr Gutes abgelauſcht. Der Eine weiß z. B. wo
man die hübſcheſten Hemdknöpfchen kauft, der Andere will ein Putz¬
pulver erfinden, gelbes Elfenbein wieder weiß zu machen, der Dritte
beſitzt eine Nagelfeile, womit er den platteſten Nagel conver feilt.
Beſonders meine Jüngſte, Cöleſte iſt es, die ſolche parfaits dans le
petit, sublimes en bijoux, grands inventeurs de riens ich ſage
nicht zu ſchätzen, aber doch zu erziehen weiß. Das Mädchen lebt in
einem Babel von Bagatells, ſie umgibt ſich ſtets mit dem Ueber¬
flüſſigſten, das superflu, chose très-nécessaire iſt eigens für ſie ge¬
ſagt. Die Sachen ſelbſt ſind ihr unendlich gleichgiltig, die Wahl reizt
ſie, das Arrangement, eine Art ſchöpferiſcher Geiſt, der ſie treibt.
[197] Wenn etwas bildend für dieſe Burſche ſein kann, ſo iſt es ſie. Von
der Auswahl eines netten Hemdknöpfchens bis zur Würdigung eines
Raphael’ſchen Gemäldes kann ich mir ſehr wohl eine Stufenleiter
denken. Heute ſchickt man den Gallopin nach Hemdknöpfchen aus,
morgen läßt man ihn ein hübſches Muſter für durchbrochene Strumpf¬
zwickel auftreiben, übermorgen ſchon eins für Fußſchemel oder Licht¬
ſchirme, ſo wird das Hämmelchen in die bildende Kunſt eingeführt.
Auch deliriren die Kerls nicht immer ſo in ihrer Garderobe. Wie
wir ſie heute ſehen, läßt's keinen Schluß zu auf morgen, es iſt ihnen
nicht habituell. Schon im nächſten Salon können ſie ſo wohlgekleidet
eintreten, wie andere Vernunft-Weſen. Sie ſind eben die Schaum¬
perlen einer Geld-Ariſtokratie, die in der Gährung begriffen iſt. Der
Reichthum hat ſeine Flegeljahre jetzt in Amerika. Er iſt in einem
Stadium der Abgeſchmacktheit begriffen, aber es iſt nur ein Stadium.
Denn Geld wird immer zu Geiſt. Das iſt mein Wahlſpruch.
Völker, die Geld ohne Geiſt hatten, wie Phönizier, Babylonier u. ſ. w.
ſind heute doch nicht mehr möglich. Die Bildung iſt cosmopolitiſch
geworden.
Moorfeld ließ ſich dieſe Apologie gar wohl gefallen. Der geiſt¬
reiche Mann hatte ſeinen Verdruß über jenes melée wie weggehaucht.
Mr. Bennet befeſtigte ſich immer mehr in der Meinung, die ihm
Moorfeld entgegengebracht.
Inzwiſchen hatte ſich die jeunesse dorée durch die Geſellſchafts¬
ſäle — auch den letzten — verbreitet und betrug ſich ziemlich ſäu¬
berlich. Moorfeld entdeckte ſogar, daß ſie erröthen könne. Denn als
Einer der Bengel ihn durch ſein Kneif-Lorgnon etwas ungezogen an¬
ſtarrte, ſteckte Moorfeld ſein eignes Lorgnon vor und fixirte ihn eben
ſo. Da erröthete der Junge, ließ ſein Lorgnon fallen und ging. Moor¬
feld und Bennet lächelten ſich zu.
Nach und nach fand ſich zahlreichere Geſellſchaft ein. Im Laufe
einer Stunde war ſchon ſo viel „Welt“ da, daß die Dandies on
short allowance ſich erträglich genug darin verloren. Zwar blieb
das Publikum noch immer gemiſcht, wie Moorfeld im Kommen und
Gehen dieſer Menſchen überhaupt einen erſtaunlichen Grad von repu¬
blikaniſcher Sittenfreiheit wahrnahm; auch bedauerte Mr. Bennet
wiederholt, daß er Moorfelden nicht vorgeſtern auf New-Jerſey bei
[198] ſich geſehen, die Elite der Geſellſchaft wohne jetzt draußen, und der
heutige Rout ſei mehr eine Förmlichkeit gegen die Stadt, gewiſſermaßen
eine Beobachtung der demokratiſchen dehors; doch zweifle er nicht, es
werde ſich noch immer eine kleine Geiſtes-Gemeinde für's Eſtaminet
zuſammenfinden, an die halte man ſich dann und laſſe den Mob laufen.
In der That erſchienen bald darauf einige von den Häuptern,
auf welchen ein dem Europäer mehr oder minder bekannter Name
ruhte. Die erſte dieſer Geſtalten war ein Mann von majeſtätiſcher
Hoch-Statur, ſtark gewölbter Bruſt und noch ausgebildeterem Abdominal-
Syſtem, das plaſtiſch-viereckige Haupt bis an den Scheitel kahl, im
Nacken aber mit einer derben Fülle herabfallender Locken beſchwert,
was ein ſeltſamer Anblick war und einen Ausdruck von unzerbrech¬
licher Manneskraft gab. Das Erhabene war vorherrſchend in dieſem
Bilde, wenngleich nicht alleinherrſchend, denn ſeine Augen waren klein
und die etwas hervortretende Unterlippe, ſo wie das weiche ſchwellende
Kinn verriethen, daß der Mann den gutſchmeckenden Dingen dieſer
Welt nicht allzu ungerecht begegnete. Es war Doctor Channing,
der erſte Proſaiſt Amerika's, nach der Stimme des Landes — Ame¬
rika's Cato! wie Mr. Bennet Moorfelden zuflüſterte, die öffentliche
Vorſtellung mit einer geheimen ergänzend.
Dieſem Mann auf dem Fuße folgte ſein directeſtes Gegenſtück.
Es war ein hageres, faſt gebrechliches Männchen, deſſen graue Augen
ſchüchtern wie die eines Schulmädchens blickten, indeß ſein kleines
fleiſchloſes Köpfchen auf die Seite neigte, als ob es ihm durch zu viel
Lernen beſchwert wäre. Er war nicht alt, ſah aber aus als ob er
nie eine Jugend gehabt hätte und die Knabenjahre wie ein nothwen¬
diges Uebel ſo ſchnell als möglich paſſirt wäre. Mr. Bennet begrüßte
ihn mit tiefer Hochachtung und ſtellte ihn als Doctor Griswold vor,
Bibliothekar an der neu errichteten Univerſität in Newyork, der flei¬
ßigſte Gelehrte des Landes, ein Mann, der eine ganze Akademie werth
iſt, ſetzte er Moorfelden in obiger Weiſe hinzu.
Auch der vormalige Präſident Monroe erſchien. Eine ſchwache
abgemagerte Geſtalt, gebeugt von Alter, oder alt-machenden Gemüths¬
ſtimmungen. Moorfeld ſah in ein mildes aber glanzloſes Auge, auf
eine breite und gut begrenzte aber platte Stirn, es verdroß ihn über¬
haupt, daß der ganze Charakter-Ausdruck des Mannes, der den edelſten
[199] der Indianer-Stämme um ſein Land betrogen, nicht einmal von
geiſtiger Ueberlegenheit oder energiſchen Leidenſchaften zeugte. Moor¬
feld haßte ihn noch von ſeinen glühendſten Studentenjahren her, in
welche die Unterdrückung der Georgia-Creeks gefallen, und unſer
Freund, den wir nur nicht „Jüngling“ nennen, um ein pathetiſches
Wort nicht abzunützen, hatte jene Jahre nicht ſo weit hinter ſich, daß
ihm der Anblick dieſes Mannes nicht immer noch eine lebhafte Mi߬
ſtimmung verurſacht hätte. Nur der Umſtand, daß Monroe, wie er
hörte, jetzt in Armuth lebe, und von den Beſtechungen, die in jenem
diplomatiſchen Räuberroman geſpielt, nicht perſönlich gewonnen habe,
milderte zum Theile ſeine Empfindungen.
Noch ſtand Moorfeld über dieſes Thema mit Mr. Bennet im Geſpräche,
als durch die Säle eine ehrerbietige Bewegung ging, von denjenigen
ausgehend, welche die Perſon des jetzt Eintretenden kannten, und um
ſo ſpannungsvoller fortgepflanzt auf die, welche ſie nicht kannten.
Man machte dem Ankömmling links und rechts Platz und doch be¬
gleitete ihn von allen Seiten das Gedränge eines natürlichen Wohl¬
wollens. Mr. Livingſtone, Amerika's erſter Juriſt, ſagte Herr
Bennet. Verfaſſer des claſſiſchen Carolina-Strafcodex? fragte Moor¬
feld — von welchem ich Ihnen eine Geſchichte erzählen will, eine Ge¬
ſchichte in zwei Worten, ſetzte Bennet hinzu. Das Manuſcript dieſes
Codex ging Abends um zehn Uhr bei einer Feuersbrunſt ſeines Hau¬
ſes in Flammen auf. Morgens um ſieben Uhr ſaß Livingſtone in
einem andern Hauſe vor einem andern Buch Papier und begann es
von Neuem. Das iſt nicht von einem Gelehrten erzählt, ſondern
von einem Enthuſiaſten, werden Sie ſagen. Ich widerſpreche nicht.
Livingſtone iſt Dichter in ſeinem Berufe!
Wirklich war Mr. Livingſtone eine außerordentlich gewinnende
Perſönlichkeit. Seine Geſichtszüge konnten keineswegs fein heißen,
aber eine Herzenswärme lag darin, die Alles, was ſelbſt Herz und
Menſchlichkeit hatte, gefangen nahm. Seine Statur war über Mittel¬
größe, ſeine Manieren die des vollendeten Gentlemans. Das Gepräge
einer natürlichen Zartheit und Harmonie des Gefühls adelte ſie, ſeine
Sitte war Sittlichkeit.
Dieſe Perſonen wurden alsbald die Mittelpunkte von Gruppen,
in welchen ſich das eigentliche Leben des Routs kryſtalliſirte. Zwar
[200] wurde Moorfeld, der literary gentleman, noch immer einer Anzahl von
Anweſenden vorgeſtellt, welche ein großer, zum Theil weltbewegender
Name in Handel und Induſtrie ebenbürtig neben die geiſtigen Kori¬
phäen der Geſellſchaft ſtellte. Es verdroß ihn aber bald, daß er
Kaufleute, Fabrikanten und Schiffsrheder als Oberſte, Colonels, Ka¬
pitäns u. ſ. w. durch alle Grade der Kaſernen-Hierarchie zu ſalutiren
hatte. Ein Land, das in ſeinem ganzen Begriff das Friedensreich der
modernen Bürgerlichkeit bedeutet, mit ſo viel Vorliebe im Epauletten-
Reflex ſich beſpiegeln zu ſehen, war dem Europäer, dem zu Hauſe
ſchon ſein „Soldaten-ſpielen“ culturwidrig dünkt, eine der widerwär¬
tigſten Schwächen des amerikaniſchen Volkscharakters. Er dankte Gott,
daß Mr. Bennet ſelbſt ſeine Muſen und Grazien nicht nach irgend
einem imaginären Korporalſtock dirigirte. Wie entlegen und eigen¬
thümlich waren die Momente, die hier zur vollen Würdigung eines
Mannes beitrugen!
Vom andringenden Strome der Gäſte war in den letzten Augen¬
blicken der Hausherr Moorfeld's vorherrſchendem Beſitze entführt worden,
und bis ſie zu ſtillerem Begegniß ſich wieder zuſammenfanden, gefiel
ſich unſer Freund, auf eigene Hand aus den Wellen der Geſellſchaft zu
ſchöpfen. Den bedeutendſten Perſonen auf's rückſichtsvollſte vorgeſtellt,
war ihm der Charakter des Fremden benommen; er hatte den Vor¬
theil, in die einzelnen Gruppen einzutreten und ſie zu verlaſſen nach
freier Wahl und Bequemlichkeit. So konnte er wie in einem leben¬
digen Index die amerikaniſchen Zuſtände durchblättern: dort ſtand ein
Kapitel Bankweſen, hier Schutzzoll und Freihandel, in dieſem Trink¬
zimmer zechte die Sclavenfrage, in jenem die Indianer-Expropriation,
in der Niſche rechts zupfte die neue Univerſität an den Gardinen¬
quaſten im eifrigen Vortrag über die literariſchen Landeszuſtände, in
der Niſche links kritiſirte ein Börſenſyndicus, d. h. ein Oberſtlieute¬
nant die Bankrote vom Jahre dreißig und ſtellte das Prognoſtikon der
nächſten Calamität.
Das war nun ein Amerika, nicht aus papierenen Quarterly-
Reviews, noch aus dem Tabakskoth öffentlicher Sittenroheit zu ſtudiren,
ſondern im Goldrahmen eines kunſtſinnigen Salons, unter den Blu¬
men des Landes. Dieſe Gedankenflora durchſchwärmend, mußte ſich's
zeigen, ob Moorfeld auf einem jener optiſchen Punkte hier ſtand, wo
[201] ihm das Grau und Kalt des amerikaniſchen Reifſchauers zu ſchönem
Farbenſpiel aufloderte — ein Punkt, der ſeinen Ahnungen in all
dieſen Tagen gläubiger oder verzagender vorgeſchwebt. Wie er hier
ſtand, fühlte er, ſtand er auf einem Gipfel; — haben die Götter
einen heiteren Tag geſchenkt, oder liegt ein Nebel auf der vielverheißen¬
den Ausſicht? Moorfeld war ganz Empfänglichkeit.
Die Rolle des unbetheiligten Beobachters blieb ihm aber nicht
ganz ſo frei überlaſſen, als es in ſeinem Wunſche und in der Frei¬
heit des Routs ſelbſt gelegen hätte. Er war heute der einzige Fremde
aus Europa, der in Mr. Bennet's Salon eingeführt war, es wurde ihm
dadurch eine Aufmerkſamkeit zu Theil, deren Vortheile er lieber entbehrt,
hätte. Auch war dieſe Aufmerkſamkeit ſelbſt nicht ganz von der wohl¬
thuenden Art; der Mangel an Frauen verurſachte, daß ſie nicht eigent¬
lich als zarter Perſönlichkeitsſinn, ſondern vielmehr als ſachliches
Intereſſe für Europa gegen ihn ſich kund gab, wenigſtens glaubte
unſer Freund, dem wir ein feines Gefühl für dieſe Unterſcheidung
wohl zutrauen dürfen, etwas Aehnliches durchzuempfinden. Wenn
es bekannt iſt, daß der Amerikaner keine Frage beantwortet, ohne eine
Gegenfrage zu thun, ſo kam Moorfeld überhaupt zunächſt weniger zum
Empfangen als zum Geben; die Neugierde forderte ihren Tribut, ob¬
gleich in der geglättetſten Form. So fiel es ihm auch auf, daß die
Männer, deren Namen und Bedeutung wir zuvor genannt, nicht ganz
jene ſtillbewußte Zurückhaltung beobachteten, womit in Europa der
Mann von Verdienſt ſich bekleidet; ſie wußten im Gegentheil vor¬
trefflich die Attitude zu finden, die ſie ihren Mitbürgern im vollen
Rund darſtellte. Ebenſo nahm ſich Moorfeld vor, ſcharf darüber zu
beobachten, ob die Artigkeit, die ihm mit einer wahren Farbenpracht
von allen Seiten entgegen getragen wurde, wirklich vom ächteſten
Stempel des Bonton's ſei, oder eine gewiſſe tendenziöſe Befliſſenheit
gegen den „literary gentleman“ durchblicken ließ, der ohne Zweifel
über ſeine Reiſe ein Buch ſchreiben würde. Kurz, unſer Freund, der
es nachdrücklich betont hat, nicht auf „abſichtliche Täuſchungen” nach
Amerika gegangen zu ſein, verwahrte ſich auf dieſem Boden, der ein
Boden des idealiſirten „shams" ſein konnte, außerordentlich ſorgfältig
dagegen roſiger zu ſehen als er ſollte. Dürfen wir fragen, ob es
mit der geheimen Luſt geſchieht, ſchwarz zu ſehen?
[202]
Zuerſt finden wir unſern Gaſt in der Geſellſchaft des Mr.
Livingſtone, des Criminalgeſetzgebers von Louiſiana, dem Moorfeld
für die Abſchaffung der Todesſtrafe in dieſem Staate ſeine ganze
Pietät ausdrückt. Er ſpricht von den Hoffnungen der europäiſchen
Reformers über dieſen Punkt, oder vielmehr von dem Stand der Frage,
da die „Hoffnung“ noch weit aus die Minorität der europäiſchen
Gewiſſen habe. Moorfeld findet es frappant, daß Livingſtone die
Todesſtrafe eine — Präventivjuſtiz nennt. Denn, da der Mord durch
ſeine Verdoppelung nicht ſittlicher wird, ſagt der Rechtsphiloſoph, ſo
könne von einer Sühne des verletzten Sittengeſetzes durch eine Hin¬
richtung nicht wohl die Rede ſein. Man habe daher die Talions-
Theorie mehr und mehr aufgegeben, oder thue es noch täglich, dafür
ſpreche man deſto überzeugter von einem Rechte der Nothwehr, welches
durch die Todesſtrafe ausgeübt würde. Die Geſellſchaft müſſe ſich
ſchützen gegen den Feind der Geſellſchaft. Nun wird ſich aber die
Geſellſchaft gegen das geſchehene Verbrechen kaum noch ſchützen
können, ſondern nur gegen das künftig zu wiederholende. Das
heißt alſo man ſpielt dem böſen Prinzip ein Prävenire durch Hin¬
wegnehmung des Lebens. Allerdings die ſicherſte Präventivhaft iſt das
Grab. Moorfeld ſprach die Vermuthung aus, ob Mr. Livingſtone
den erſten Keim ſeines großherzigen Syſtems, nicht in dem Beſtreben
gefunden habe, zunächſt das Leben der Sclaven ihren Herren gegen¬
über zu ſichern. Der herrliche Mann antwortete lächelnd: Verzeihung,
mein Herr, man tödtet ein nützliches Hausthier nicht leicht. Die
Todesſtrafe beſtand zwar in Louiſiana wie ſie in andern Sclavenſtaaten
noch jetzt beſteht; aber die Praxis bringt ſie faſt gar nicht zur
Anwendung gegen den Sclaven. Das Tribunal findet in den
meiſten Fällen eine ausbeugende Interpretation des tödtlichen Para¬
graphen. Ein Virginier, in deſſen unmittelbarer Nähe die Unterhal¬
tung gepflogen wurde, wendete ſich gegen Moorfeld, und ſagte mit
würdevoller Einfachheit: Ich darf mir vielleicht erlauben hinzuzuſetzen,
wie das Loos unſerer Sclaven überhaupt ein menſchliches, und beſſe¬
rer Vorſtellungen würdiges iſt, als unſre Gegner verbreiten zu können
das traurige Glück haben. Es entgeht uns nämlich an dieſem Punkte
nicht, daß die öffentliche Meinung Europa's über die Sclaverei faſt
allein das Product des Nordens iſt, der ſeit allen Zeiten durch die
[203] Literatur, durch die Einwanderung, durch den Fremdenbeſuch weit aus
inniger mit der alten Welt zuſammenhing, als wir Südländer. In
Wahrheit, wir ſtehen dieſen Einflüſſen gegenüber eigentlich unvertreten
in Europa da. Wir handeln mit Europa nicht wie der Norden,
unſre Zeitungen gehen nicht dahin, Gäſte kommen uns nicht daher,
oder in der Regel hat doch der Reiſende früher den Norden beſucht, und
betritt den Süden mit den Inſpirationen unſrer glücklicheren Brüder.
Vielleicht halten Sie es unter dieſen Prämiſſen für einen verzeihlichen
Eigennutz, mein Herr, wenn ich Sie geradezu einlade, von virginiſchem
Gaſtrecht nach Ihrer Möglichkeit Gebrauch zu machen. — Der Pflanzer
nannte County und Hof nebſt ſeinem Namen — es war der alt¬
ariſtokratiſche der Mortons — und Moorfeld glaubte nur mit der
Mittheilung ſeines unaufſchiebbaren Vorhabens die edle Zuvorkommen¬
heit dieſes Anerbietens ablehnen zu dürfen. Doch ſetzte er mit der Feſtig¬
keit, womit er ſeinen innern Widerſpruch bisher nie unter ein äußeres
Schweigen gebeugt, offen hinzu, daß auch das liberalſte Gaſtrecht mit
dem illiberalſten aller Prinzipien ihn nicht ausſöhnen würde.
Der Virginer ſchüttelte leiſe das Haupt und antwortete mild lächelnd,
als ob von den angenehmſten Dingen der Welt die Rede wäre: Ich
zweifle, mein Herr, daß Sie Ihr Herz dem Zauber dieſes illiberalen
Prinzips verſchließen würden. Sie würden unſre Neger wohnen ſehen
in geſunden und freundlichen Hütten, gekleidet nach Bedürfniß, genährt
mit Freigebigkeit, wie ihre vollen und kräftigen Glieder bewieſen. Sie
würden ſehen ein Volk von zufriedenen Familien, das ſein Leben
zwiſchen zweckmäßiger Thätigkeit und freier Erholung ſo nützlich-ange¬
nehm hinbringt, wie wir nur immer menſchliche Zuſtände, wenn nicht im
goldenen Zeitalter, welches abſoluter Müſſiggang geweſen ſein ſoll,
doch im ſilbernen, will ich ſagen, uns dichteriſch ausmalen mögen.
Sie würden bei ihnen Arbeit mit Geſang, Fleiß mit Muße, Anſtrengung
mit Genuß, die ernſte Handlung ihres Lebens mit der ſcherzhaften ihrer
Volks-Comödien naturgemäß wechſeln ſehen. Sie würden überall die wün¬
ſchenswertheſte Herrſchaft der Vernunft erblicken. In der That, die
Vernunft des Negers iſt ſein Herr. Sie ſteht verkörpert außer ihm,
und das iſt das Ganze des Unterſchieds zwiſchen Freien und Sclaven.
Wie der Dichter mit der glücklichen Kunſt des Contraſtes das empfin¬
dende und das denkende Weſen in uns oft in zwei getrennten Per¬
[204] ſonificationen darſtellt — Ihr Goethe liebte das — ſo ſtellen wir
den Carlos, den Antonio, den Mephiſto, wenn Sie wollen, und unſre
Sclaven das inſtinktivere Weſen des Clavigo, des Taſſo, des Fauſt
dar. Aber nicht die Vernunft allein, auch die Liebe laſſen wir ihr
göttliches Amt erfüllen in unſrer Obergewalt über den ſchwarzen
Bruder. Wir betrachten unſre Neger als Glieder unſrer Familie;
ihre Kinder ſind die Geſpielen unſrer Kinder, wir nehmen wechſelſei¬
tigen Antheil an den freudigen und traurigen Ereigniſſen, womit das
Schickſal in der Colonnade des Herrn wie in dem log cabin des
Sclaven einkehrt. Wir haben unſern Negern Schulen errichtet, Spi¬
täler und Verſorgungshäuſer, wir unterrichten ſie im Chriſtenthume.
Kurz, Sie erblickten in unſern Sclaven einen glücklichen und zufriedenen
Bauernſtand, und würden lächelnd inne, wie ſeltſam-kindiſch das
Spiel iſt, das die Menſchen mit Worten treiben. Was noch von
Reſten alter, romantiſcher Schauer in Ihnen zurückbliebe, verſchwände
vollends, wenn Sie, da ich jetzt nur von der ſchwarzen Race ſprach,
Ihren Blick auf die weiße Race eines Sclavenſtaates richteten. Bei
uns erfüllt die weiße Race den Sinn des allgemeinen Geſetzes, daß
die Mehrheit für die Minderheit arbeitet, durch wirkliche Cultur und
nicht blos durch äußerlich-ſcheinbare. Die Arbeit unſrer Sclaven ge¬
währt uns die Muße, den höheren Functionen der Menſchheit obzu¬
liegen. Wir lieben Künſte und Wiſſenſchaften, pflegen die Literatur,
verfeinern die geſellige Sitte, bilden uns für den Staat und die ſchwere
Erfüllung unſrer patriotiſchen Pflichten. Wir liefern dem Congreß
die hervorragendſten Mitglieder, der Republick die beſten Präſidenten,
Waſhington ſelbſt war ein Sclavenhalter. Von all dieſen Vorzügen
iſt im „freien“ Norden nicht die Rede. Der Fabriksarbeiter lebt that¬
ſächlich ſchlechter, als unſer wohlverpflegter und ſorgenfreier Sclave,
der Fabriksherr ſelbſt aber kommt über den Unruhen ſeines bürger¬
lichen Erwerbes und als unfreies Glied in der Kette eines Credit-
und Concurrenzſyſtems, das ihn willenlos fortreißt, eben ſo wenig zur
Veredlung ſeines menſchlichen, noch weniger zur Ausbildung ſeines
großen ſtaatsbürgeriſchen Daſeins. Wenn Amerika ſeine Freiheit ver¬
lieren kann, ſo wird die erſte Gefahr von dort ausgehen, bei uns
werden die unerſchöpflichen Hilfsmittel eines wahrhaft republikaniſchen
[205] Patriotismus ſein. Ja, ohne alle Paradoxie dürfen wir behaupten,
die Sclavenſtaaten ſind die beſten Stützen unſrer Freiheit.
Quantum periculum immineret, si servi nostri numerare nos
coepissent!*) ſagte Moorfeld mit tiefer, ernſthafter Betonung. Ob
Seneka's Wort, fuhr er fort, nur vom römiſchen und nicht naturge¬
mäß und nothwendig von jedem Sclavenſtaate der Erde gilt, mögen
die Götter in der praktiſchen Beantwortung eben ſo auf ſich beruhen
laſſen, wie ich in der theoretiſchen. Ich geſtehe gerne, daß ich über
dieſen Gegenſtand — Kundigeren das Wort laſſe.
Mr. Livingſtone nahm den Wink auf und antwortete zwiſchen
Moorfeld und dem Virginier: Da die Virginier nach den Geſetzen der
Vernunft und der Liebe ihre Sclaven behandeln, ſo muß es ihnen
außerordentlich unangenehm ſein, überhaupt noch Sclavenhalter zu heißen.
Wäre es nicht beſſer, ſie erklärten ihre Sclaverei demnach für aufge¬
hoben? Thatſächlich änderte ja dieſer Großmuthsact nichts, denn die
Sclaven, die ſich heute ſo glücklich fühlen, würden ſich wohl hüten,
das beſtehende Verhältniß zu löſen. Löſeten ſie's aber doch —
nun, dann hätten ſie ſich eben nicht glücklich gefühlt. Und das iſt
der einfache und immer wiederkehrende Syllogismus, wenn vom Glücke
der Sclaven die Rede iſt. Laßt es auf ihre Wahl ankommen! —
In der That, Herr General, in dieſen Tagen, da uns zu jeder Stunde
die Nachricht werden kann, das engliſche Parlament hat die Emanci¬
pationsacte erlaſſen, fühlt die Union ein tödtliches Herzklopfen, und
wir ſind aufgeregter als je, unſer Herrenrecht über unſre Sclaven
uns ſelbſt und Andern recht unzerſtörbar einzureden. Als ob das
Gift im Magen durch die Einbildung, es ſei Honig, auch nur eine
Secunde lang in ſeinen tödtlichen Wirkungen inne hielte! Von ganzem
Herzen beglückwünſche ich Mortonhall, daß es dieſen Honigtraum zu
träumen vermag; daß es ihn zu träumen verdient, bezeuge ich dem
edlen Beſitzer deſſelben mit größtem Vergnügen. Aber der ganze übrige
Süden lebt in einem fürchterlichen Wachen! Aus allen Regionen zwi¬
ſchen dem Red-River und Potomac werde ich ſtündlich mit Briefen
überhäuft, in welchen die Sclavenbeglücker mit jenem Angſtſchweiß
[206] auf der Stirne, den die Verurtheilten der Geſchichte an ſchwülen
Vorabenden ſchwitzen, mich um Rath in ihren Geſetzgebungen beſtür¬
men. Wie ſeltſam! Sie meinen, ich könne Geſetze erfinden, nach welchem
eine Perſon zugleich als Sache zu behandeln, eine Macht zugleich
als Recht auszuüben iſt; dieſen Widerſpruch zu löſen ſchwebt ihnen als
eine Kunſt vor, und ſollte ihnen doch als eine Unmöglichkeit einleuchten.
Eben ſo gut könnte der Räuber von mir Geſetze verlangen, die ſeinen Raub,
den Erwerb einer Gewaltthat, garantiren. In der That haben auch die
Räuber Geſetze unter ſich, die ſie mehr oder weniger gut beobachten;
nur ſchade, daß ſie von uns Andern gleichmäßig gehängt werden. Die
Unglücklichen! ſie wollen gerecht ſein, und merken nicht, daß ſie es
nicht können! Aus einer ungerechten Prämiſſe wollen ſie gerechte Con¬
ſequenzen ziehen! Es iſt nicht wahr, daß ihr eure Sclaven ſo gut
behandelt wie eure Hausthiere. Ein unaufhörlicher Argwohn, eine
Eiferſucht, die durch nichts zu beſchwichtigen iſt, leitet das Betragen
des Herrn gegen den Sclaven. Die Intereſſen Beider liegen in einem
ewigen Kampfe, und nie und nimmer, auch bei ſeinem beſten Willen
nicht, kann der Herr den Sclaven in dem Lichte erblicken wie ſeinen
Eſel oder ſein Pferd. Denn das Thier iſt ihm ſicher, der Sclave
mit nichten; ohne Sicherheit aber kein Vertrauen, und ohne Vertrauen
keine Behandlung, die eine gute heißen könnte. Könnt ihr den Scla¬
ven aber nicht einmal als Hausthieren gerecht werden — und das
wäre doch euer Geringſtes! — wie mögt ihr euch überreden, ihnen
als Menſchen gerecht zu werden? Ihr unterrichtet ſie? aber die fünf¬
undzwanzig Buchſtaben des Negers werden ſogleich ein Kriegsherr ge¬
gen euch, denn er lieſt die Reden eines Wilberforce und Canning
damit, und wird euch erwürgen. Ihr erzieht ſie zu Chriſten? Aber
der Schwarze wird über den Weißen herfallen, und — auf St. Do¬
mingo iſt es geſchehen — mit Rachegeſchrei euch anklagen: die Weißen
haben den Heiland ermordet! Wahrlich ſie brauchen nur die Art für
die Gattung zu nehmen, — ein ſehr gebräuchlicher Tropus! — ſo ſind
ihre Maſſacres mindeſtens eben ſo gerecht, als die Judenverfolgungen
unſrer mittelalterlichen Chriſten: denn die Juden waren doch unzwei¬
felhaft Weiße und nicht Schwarze! Seht, ſo unverſöhnlich iſt ein
Verhältniß von Sclaven und Herren, daß ſelbſt die alles-verſöhnende
Bildung den Abgrund nicht ſchließt, ihr mögt hineinwerfen was ihr
[207] wollt. Nein, ein unſittliches Prinzip iſt nicht ſittlich zu hand¬
haben. Zu verbeſſern iſt nicht, was nur aufzuheben iſt. Der Mo¬
dus der Aufhebung kann allein hier Gegenſtand des vernünftigen
Nachdenkens ſein, oder ſagen wir beſſer: des ernſtlichen Beſtrebens.
Leider verabſcheuen meine Conſulenten im Süden die Aufhebung in
all ihren Modalitäten. Was habe ich nicht verſucht, Ganzes und
Halbes! Ich habe das mild-menſchliche Sclavenweſen Aſien's und
Afrika's ſtudirt, und von dort her mindeſtens die erträglichſten For¬
men des Sclavenbeſitzes entlehnen gewollt. Denn ſo troſtlos liegt
leider die Sache, daß Amerikaner, die exacteſten Chriſten der Welt,
von Muhamedanern lernen könnten! Ich habe das Beiſpiel auf¬
geſtellt: auf dem Sclavenſtande hafte im Orient keine Schande.
Der Muhamedaner hat nicht Racenhaß; die ſchmähliche Sophiſtik,
den Negern die volle Menſchheit abzuſprechen, womit ſich Chriſten
befleckt haben, iſt den Ungläubigen nie in den Sinn gekommen.
Der Muhamedaner hat keinen Code noir; die Verbrechen der
Sclaven werden von ihm mit einer ſehr richtigen Würdigung ihrer
bürgerlichen Unzurechnungsfähigkeit in allen Fällen nur mit der Hälfte
der Strafen belegt, welche das gleiche Verbrechen des freien Mannes
träfe. Wir Chriſten machen es bekanntlich umgekehrt. Eben ſo habe
ich angerathen, gleich den Muhamedanern, die Sclaven vom Herrn erben,
ja ſie in die Familie heirathen zu laſſen; welch letzteren Gebrauch
chriſtliche Sclavenhalter leider in gleichfalls umgekehrter Tendenz,
und zwar dergeſtallt pflegen, daß der Herr, oder ſein Sohn mit der
Sclavin Kinder erzeugt, um aus Herrenblut Sclavencapital zu münzen,
ſtatt entgegengeſetzt. Gebet es auf, habe ich gepredigt, eure Verhältniſſe
zu den Schwarzen als das von Herren zu Sclaven zu betrachten; be¬
trachtet es beſſer als ein Nebeneinander zweier Nationen: ihr wäret die
ſiegende, jene die beſiegte Nation. Wohlan, vermiſcht euch, rieth ich,
Sieger und Beſiegte, zu einer neuen Nationalität, wie ſich die Normanen
mit den Sachſen zur engliſchen vermiſcht haben. Von eurem Blute
tragen ſie ja doch längſt ſchon in ſich, und von eurer Intelligenz
ebenfalls; phyſiſch wie geiſtig ſtehen eure Niggers den afrikaniſchen
Bozals, was ihr auch ſagen mögt, bereits ferne. Sie ſind Bürger
eures Bodens, erkennt es an und euer Uebel iſt geheilt. Aber ſie
wollen nicht. — Andere zeigten ſich beſſer geſinnt, riefen aber rath¬
[208] los: Wohin mit unſern Freigelaſſenen? Gerne wären wir bereit unſer
überflüſſiges Capital an ſich ſelbſt zu verſchenken, aber wohin damit?
Liberia hat ſich als ein Puppenſpiel erwieſen, die weißen Staaten
wehren und erſchweren den Eintritt von Niggers auf jede denk¬
bare Weiſe — wie abolitioniren wir das Uebel? Und in der Ver¬
legenheit wiſſen ſie ſich nicht andern Rath, als das Uebel fort und
fort einander ſich zuzuwälzen, jeden neu der Union zuwachſenden Staat
mit allen böſen Künſten der Partei-Politik für den Fluch ihres Sclaven¬
ſyſtems zu werben, wie kürzlich wieder Miſſouri, und athmen hoch
auf, wenn die Geiſel eine Secunde lang ruht, blos darum weil ein
neuer Riemen hineingeflochten wird. Denen ſchrieb ich: iſt’s möglich,
daß wir bei dem guten Willen für Liberia nicht längſt ſchon einen
näher liegenden Gedanken gefunden haben? Räumen wir unſern
Niggers ein Territorium in der Union ein! Machen wir ſie zu
einem Stern unſers Sternbanners, gönnen wir ihnen ihr eigenes
Staatsleben in einem unſrer eigenen Staaten. Ein Liberia jenſeits
des Oceans hat ſich als unpraktiſch ausgewieſen, ein Liberia jenſeits
des Miſſiſſippi wird praktiſch ſein. Aber ſie wollen wieder nicht.
Sie wollen nichts. Sie wollen nichts was ſie können, ſie können
nichts was ſie wollen. So läßt man den Ernſt des Augenblicks heran¬
kommen, man zittert der engliſchen Abſtimmung entgegen, man erkennt
die Solidarität der Sclavenſache in ihrer ganzen fürchterlichen Wahr¬
heit, und doch ſcheut man die Solidarität mit der Klugheit und dem
Muthe der engliſchen Emancipations-Politik. Unſer Sprichwort ſagt:
die Engländer prügeln die ganze Welt, aber die Amerikaner prügeln
die Engländer. Wollte Gott, wir thäten's den Engländer auch dies¬
mal nicht zuvor, ſondern nur nach', und nur zu Hälfte nach. Das
erſtemal, daß wir uns hier auf einer Lüge ertappen laſſen, kann uns
verderben für immer. In Wahrheit, meine Correſpondenten im Süden
ſind darauf gefaßt, daß mit der erſten Nachricht von der Freiheit der
engliſchen Sclaven der Sclavenaufſtand in Amerika ausbrechen wird.
Entſetzliches Angſtgeſtöhn liegt in meinem Pulte. Alle die weißen
Hände, die heute noch an mich ſchreiben, haben das Vorgefühl, ſie
können binnen Jahr und Tag von der Erde verſchwunden ſein. Ja,
meine Herren, die größere Hälfte der Union, durch Sclavenarbeit ein
Paradies, kann ſchauderhafte Sclavenarbeit bald in eine ausgebrannte
[209] Wüſte, in einen Leichenanger voll gebleichter Gebeine verwandelt haben
— We are in a free country! bebte es unwillkürlich von Moor¬
feld's Lippen; der Virginier aber ſagte blaß lächelnd: er vertraue der
göttlichen Vorſehung. Mr. Livingſtone ſchwieg.
Die beängſtigende Pauſe unterbrach der barocke Lord Ormond, der
wie die luſtige Perſon nach der Tragödie ſich jetzt zu unſrer Gruppe
fand. Er mußte dem Geſpräche aus der Nähe gefolgt ſein, denn er
redete Mr. Livingſtone an: Erlauben Sie, mein Herr, daß ich auf
meinem Standpunkte Ihrer Philoſophie mich anſchließe. Sie haben
die Bemerkung ausgeſprochen, daß die amerikaniſchen Nigger um vieles
höher ſtünden, als ihre afrikaniſchen Stammgenoſſen. Dieſe Bemerkung
iſt ſo fruchtbar an Folgerungen, daß ſie noch weit über Ihr gegen¬
wärtiges Ziel hinausführt. Sie haben die Perfectibilität der Neger¬
race ausgeſprochen; — bei dem Worte „Perfectibilität“ wußte Moor¬
feld ſogleich, wohin der edle Lord ziele. Er ſah ſich nach einem paſ¬
ſenden Rückzuge um, der Engländer aber nahm ihn freundlich bei der
Hand und hielt ihn feſt. Moorfeld ſeufzte. Der Engländer fuhr
fort: — und doch iſt dieſe Perfectibilität ſeit dem Anbeginn der
Schöpfung in Afrika latent geblieben. Wäre ſie in Amerika nicht
zum Vorſcheine gekommen, man hätte ſie ganz und gar geleugnet.
Das iſt wichtig. Denn nun werden wir mit Recht weiter gehen und
fragen dürfen: Hat ſich der Bozal durch den Umgang mit einer ge¬
bildeten Race veredelt, müßte ſich eine Art von erſchaffenen Weſen,
die zunächſt unter den Bozals ſtünden, im Verkehre mit dieſen nicht
gleichfalls vermenſchlichen? Ja, dürfen wir dieſe Frage auf jeder
nächſt tieferen Stufe der beſeelten Schöpfung nicht ſtets von Neuem
wiederholen? Gewiß dürfen wir das. Damit iſt aber eine Continuität
der intellectuellen Welt gewonnen, welche die unlogiſchen Grenzen
zwiſchen Menſch und Thier aufhebt. Sie ſprechen von der Emanci¬
pation der Neger, — ich ſpreche von der Emancipation der Thiere
ſelbſt. Ich wünſchte nichts ſo ſehr — denn noch iſt es nicht allen
Menſchen verliehen, einen Syllogismus wie eine Thatſache auf ſich
wirken zu laſſen, — ich wünſchte nichts ſo ſehr, als daß es neueren
Entdeckungsreiſenden gelingen möchte, den Gorilla-Affen wieder auf¬
zufinden, deſſen Gattung der karthaginienſiſche See-Forſcher Hanno ge¬
ſehen hat und deſſen Menſchenähnlichkeit in dem „Periplus“ ſo
D. B. Vlll. Der Amerika-Müde. 14[210] merkwürdig beſchrieben iſt. Hätten wir dieſen Gorilla-Halbmenſchen,
dieſen Einen ausgebrochenen Zahn in dem Uhrwerke der lebendigen
Schöpfung, ſo würden wir wohl für immer aufhören, die Natur in
eine thieriſche und menſchliche zu zerreißen, d. h. wir würden anfangen,
das Thier zum Menſchen zu erziehen. Bis dahin, meine Herren, —
und ſo demonſtrirte der britiſche Philoſoph weiter. Wir wiederholen
im Salon nicht mehr was wir ſchon auf dem Wege dahin zu bewun¬
dern Gelegenheit hatten. Zu bedauern fand es Moorfeld nur, daß
es ſich auch hier wiederholte. Nach der tief-ernſten Stimmung, welche
der vorige Gegenſtand angeregt, war dieſe Farce doch recht unpaſſend
an ihrem Platze. Sie wirkte nicht komiſch, ſie war nur widerwärtig.
Noch mehr.
Eine Bewegung im Saale erweckte Moorfeld's Aufmerkſamkeit.
Drei Damen hatten einen Gang durch die Geſellſchaftszimmer ge¬
macht — ihr Bild traf Moorfeld's Auge nur noch wie ein Streiflicht. Die
mittlere der drei Frauen war Mrs. Bennet, die Hausfrau; aber Moorfeld
verwunderte ſich, daß auch eine der beiden andern, ein blonder Mädchen¬
kopf, ihm nicht unbekannt ſchien. Wie ein Strahl blitzte es auf in
ihm, wie aus einem Traume fuhr er empor, er riß ſich von dem
Engländer los, er ſtaunte, er drängte der Erſcheinung nach, welche
mit den reizenden Bewegungen eines jugendlichen Körpers am Arme
der älteren Dame und unter dem Andrang allſeitiger Huldigungen
ſich durch die Wogen der Geſellſchaft wand. Er kam zu ſpät. Der
Engländer hatte im Eifer ſeiner Diſſertation ihn wie mit Greifſcheeren
feſt gehalten. Ja, zu ſeinem Verdruſſe glaubte Moorfeld ſogar zu
bemerken, daß das Blondköpfchen die Zuhörergruppe des verrückten
Lords mit einem fein-ſatyriſchen Lächeln auf den Lippen vorüber¬
gewandelt.
Das Ganze war das Werk eines Augenblicks.
Dieſe Epiſode riß unſern Freund aus allem Zuſammenhang mit
dem Rout. Er ſtand eine Weile lang in jener tiefſten Vereinſamung,
welche mit Unrecht Geiſtesabweſenheit heißt. Sein Geiſt war von der
Außenwelt abweſend, wie es ein Taucher von der Erde iſt. Er ver¬
ſenkte ſich in ein Element, worin keine Geſellſchaft möglich iſt. Die
Damen verſchwanden mehr und mehr in die Tiefe der Säle hinab und
[211] Moorfeld's Auge folgte noch immer, gleichſam wie man einen Gegen¬
ſtand oft in perſpectiviſcher Entfernung betrachtet und hofft, ſeines
Bildes ſich deutlicher zu verſichern als in der Nähe.
In dieſem Zuſtande fand ihn Mr. Bennet. So in Gedanken,
Sir? Nicht wahr, man kann recht ſich ſelbſt leben auf einem Rout?
Aber was höre ich! General Morton aus Virginien ſagt mir ſoeben,
Sie beabſichtigten demnächſt eine Anſiedlungsreiſe an den Ohio? Iſt
es an dem? Im Schreck darüber ließ ich den Biſchof Paxton ſtehen,
der mich juſt zum Vertrauten ſeiner Kirchenbedürfniſſe gemacht hat,
und dem ich doch artig ſein muß, denn der Zelot hat Einfluß und ich
erwarte jeden Augenblick eine Ladung Gipsabgüſſe — nach dem Museo
Borbonico!
Es war Moorfeld eigenthümlich zu Muthe, jetzt an ſein Urwalds-
Project erinnert zu werden. Er erſchrack faſt.
Bennet fuhr in ſeiner affablen Manier fort: Freilich gratulire ich
uns anderſeits wieder, daß Sie ein Bürger unſrer Staaten werden
wollen. Und dürfte ich dreinreden, ſo würde ich erinnern, daß unſer
Hudſon hier auch ein angenehmes Flüßchen iſt. Seine Naturſchön¬
heiten —
Ich halte die Winter-Saiſon vielleicht in Newyork, antwortete
Moorfeld. Das Wort war geſprochen, er wußte nicht wie. Doch
fühlte er ſein brennendes Erröthen darüber.
Tant mieux! tant mieux! jubelte Mr. Bennet. Moorfeld hörte
ihn und mußte ſich zuſammen nehmen, ihn auch zu ſehen. Sein Auge
war wie gebannt. Und doch waren die Damen in der Reihe der
Säle längſt nicht mehr ſichtbar, nur die Bewegung der Geſellſchaft
kräuſelte noch, wie Furchen die der Schwan zieht, den Verſchwunde¬
nen nach.
Ich bin gekommen, fuhr Bennet fort, Sie um Ihre Geſellſchaft
ins Theepavillon zu bitten. Wir wollen unſern Thee nehmen, wenn
es Ihnen gefällig iſt. Mr. Livingſtone wird von unſrer Parthie ſein
und noch einige andre Gentlemens meiner engeren Bekanntſchaft.
Sollte Moorfeld ſeine augenblickliche Stimmung opfern, ſo that
er's noch am liebſten in Bennet's Geſellſchaft. Er folgte.
14*[212]
Der Hausherr führte ſeinen Gaſt die Converſationsſäle, Spiel¬
zimmer und Trinkſtuben entlang an das äußerſte Ende der Apparte¬
ments. Dort lud ſich ein niedlich verſtecktes Plaudercabinet erker¬
artig auf eine Terraſſe aus, welche mit einer Fülle tropiſcher Gewächſe
beſetzt war. Das Cabinet bildete eine Art Glaspavillon, ſeine Form
war die des Achteckes. Ein runder in dieſem Augenblicke reich gar¬
nirter Theetiſch nahm die Mitte des Gemaches ein; den übrigen Raum
erfüllten breite Divans, niedrige Fauteuils, ſogar einige Schaukelſtühle,
zum Beweis, daß das reizende Reduit, außer ſeiner Beſtimmung als
Eſtaminet, auch ſchöneren Beſuches gewürdigt wurde. Die acht Ecken
des Gemaches verzierten Blumen- und Fruchtkörbe aus japaniſchem
Bambusrohr auf vergoldeten Poſtamenten. Das Licht fiel von oben
durch eine Conſtruction von Spiegelgläſern ein, welche aber ein Netz
von Schlingpflanzen ſo anmuthig überkleidete, daß vom ganzen Apparat
nichts zu ſehen war, als ſeine Leiſtung ſelbſt, eine milde dämmerige
Mondeshelle. Die Gardinen der Fenſter waren niedergelaſſen mit
Ausnahme eines einzigen. Dieſes zeigte im Vordergrunde eine
charakteriſtiſche Laubmaſſe vom Battery-Park, darüber ein ritterliches
Stück Mauerwerk vom Caſtel Garden, im Hintergrunde das Meer.
Vor- und Mittelgrund lagen in tiefer Nacht, das Meer warf von
ſeiner fernen Höhe das letzte purpurne Abendlicht herein. Der offene
Fenſterraum contraſtirte zu den Gardinenfarben, die ihn rechts und
links einrahmten, und zu der eigenthümlichen Beleuchtung des Cabinets
ſo täuſchend, daß der Eintretende im erſten Augenblicke keine natür¬
liche Ausſicht, ſondern ein bezauberndes Landſchaftsbild, durch irgend
einen optiſchen Effect erzeugt, vor ſich zu haben wähnte. Moorfeld
ſchickte aus vollſter Seele dem Meere ſeinen Gruß hinaus.
Den Eingang des Cabinets bildete nach gewöhnlichem Brauch
engliſcher Trinkſtuben ein Vorhang. Dieſer Vorhang war halb zurück¬
geſchlagen, ſo daß ein Theil des hier beſchriebenen Inneren den
Ankömmlingen ſchon aus einer gewiſſen Diſtanz bemerkbar wurde.
Moorfeld erkannte von den anweſenden Gäſten Dr. Channing,
Dr. Griswold und Mr. Livingſtone. Er erblickte aber noch drei oder
vier andere Herren an der Tafelrunde, welche ihm unbekannt waren.
Herr Bennet erklärte ſie ihm folgender Weiſe: Rechts neben
Dr. Channing ſitzt Oberſt Gault, Director der Militärakademie in
[213] Weſtpoint. Ein ſehr gelehrter Militär, der aber möglicherweiſe den
ganzen Abend den Mund nicht öffnen wird, wenn wir nicht zufällig
von Mathematik ſprechen. Auf der andern Seite erblicken wir
Mr. Wood mit Schwager und Schwiegerſohn. Die drei Herren ſind
die Firma einer patentirten Licht- und Seifenfabrik; ſie zogen es
aber, wie wir ſehen, heute vor, in ihren glänzenden Uniformen zu
erſcheinen. Die beiden jüngern tragen weißes Beinkleid, blauen
Frack und Lederzeug von rothem Maroquin. Es iſt die Uniform der
Kaufleute von den Freiwilligen-Compagnien unſrer Miliz. Mr. Wood,
der ältere, iſt Major eines Freiwilligen-Schützenbataillons und trägt
die theatraliſche Uniform der Bergſchotten. Das Coſtüm iſt durch
W. Scott's Romane faſhionable geworden. Dieſe Schwäche aus¬
genommen, ſind es vernünftige Leute, die keine Partie verunzieren;
ſie beſitzen vielmehr einen gewiſſen Verfeinerungstrieb, womit ſie,
wie ich mich ausdrücken möchte, ungefähr auf der Grenze von Böotien
und Attika zu ſtehen kommen. Ohne ſelbſt Juwelen zu ſein, gleichen
ſie jenen Folien etwa, welche der Joailleur unter ſeine Juwelen legt,
um ihren Glanz zu erhöhen. Sie ſind als anregende und ſecundirende
Elemente verwendbar. Dabei beſitzen ſie die ſeltenſte Eigenſchaft
eines Amerikaners: Autoritätsglauben. Bemerken Sie gefälligſt,
Dr. Channing, unſer Cato, hält wieder einen ſeiner catoniſchen Vor¬
träge. Er macht ſo eben unſer Volk ſchlecht. Der Mann hat ein
eigenes Talent dafür. Er ſecirt uns ſo deliciös, wie man eine
Trüffelpaſtete zerſchneidet. Und ſehen Sie, die Herren Decorations¬
offiziere ſitzen dabei und beobachten eine bewaffnete Neutralität. Das
iſt viel für einen Amerikaner.
In der That war es ſo. Die impoſante Geſtalt Dr. Channing's
ſaß, wie ein heraldiſches Bruſtſchild, hinter einem Eisaufſatz, welcher
eine Fruchtpyramide bildete, beſtehend aus künſtlich geformten Trauben,
Granatäpfeln, Ananasorangen, Citronen, Mandeln und ähnlichen
Fruchtformen. Das Hauptſtück dieſer Pyramide war eine Melone,
gefüllt mit zuſammengefrorenem Champagnerſchaum. Indem Dr.
Channing die Rinde dieſer Eismelone anſchnitt, redete er unter einem
Duftſtrom der köſtlichſten Aromen ohne Barmherzigkeit auf die Herren
Woods ein, welche mit geſenkten Häuptern zuhörten und in der köſt¬
lichen Süße des Augenblicks den Contraſt des Herben geduldig mit
[214] hinunterſchluckten. Die Herren mußten ihre amerikaniſchen Inſtitutionen
geprieſen haben; denn Moorfeld hörte in dem Augenblick, den wir
beſchreiben, von Channing's Rede noch Folgendes:
In Einer Hinſicht haben unſre Inſtitutionen uns Alle getäuſcht.
Sie haben nicht jene Veredelung des Charakters bewirkt, welche die
köſtlichſte und in Wahrheit die einzig weſentliche Segnung der Frei¬
heit iſt. Unſre Fortſchritte des Gedeihens ſind in der That ein
Weltwunder geworden, aber dieſes Gedeihen hat auch viel dazu
beigetragen, dem veredelnden Einfluß freier Inſtitutionen entgegen¬
zuarbeiten. Beſondere Umſtände der Zeit und unſrer Lage haben
einen Strom von Wohlſtand über uns ausgeſchüttet und die menſch¬
liche Natur iſt nicht ſtark genug geweſen, dem Anfalle einer ſo ſchwe¬
ren Verſuchung zu widerſtehen. Tugend iſt theurer geworden als
Freiheit. Die Regierung wird mehr als ein Mittel zur Bereicherung
des Landes als zur Sicherung der Einzelnen betrachtet. Wir ſind mit
dem Gewinne als mit unſerm höchſten Gute eine Ehe eingegangen
und Niemanden darf es wundern, daß aus dieſer Ehe die gemeinſten
Leidenſchaften entſproſſen ſind, welche alle beſſern moraliſchen Stützen
unſers Gemeinweſens entfeſtigen, während ſelbſtiſche Berechnung,
Neigung nach äußerm Schein, Verſchwendung, unruhige, neidiſche und
niedere Begierden, wilder Schwindelgeiſt und tolle Speculationswuth
die Stelle dafür einnehmen. In Wahrheit, es geht ein Geiſt der
Zügelloſigkeit und der Verwilderung durch unſer Land, der, wenn er
nicht unterdrückt wird, der gegenwärtigen Geſtaltung der bürgerlichen
Geſellſchaft die Auflöſung droht. Selbſt in den älteren Staaten der
Puritaner nehmen Pöbelhaufen die Regierung in ihre Hand und eine
verworfene Zeitung findet es leicht, die Menge zur Gewaltthätigkeit
anzureizen. Ich ſage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß die über¬
hand nehmenden Beiſpiele unſrer Volksjuſtiz, denen nicht das dunkelſte
Rechtsgefühl, ſondern bloßer Hang zur Ausſchweifung zu Grunde liegt,
uns als ein Volk hinſtellen, welches von den erſten Grundſätzen der
Freiheit keinen Begriff hat.
Der weiche ſchwellende Mund, der dieſe Strafrede gehalten, er¬
quickte ſich hierauf mit der beſagten Eismelonenſchnitte. Die Miliz¬
offiziere dagegen erquickten ſich gar nicht. Es war ein eigenthüm¬
liches Schauſpiel, unter welchen Gefühlen dieſe glänzenden Herren in
[215] ihren koketten Uniformen daſaßen, und keines Einfalls, keiner Erwie¬
derung fähig waren, um deretwillen ſie den Mund hätten öffnen
können.
Die Niederlage, ſah man, war vollſtändig auf ihrer Seite.
Endlich erhob doch Mr. Wood, der Bergſchotte, ſeinen Blick von
dem ſilberplattirten Korkpfropfen, mit dem er bisher gedankenlos ge¬
ſpielt, und ſagte kleinlaut:
Aber unſre Erziehung, Doctor! unſre Schulen!
Und ſogleich ſtimmten Schwiegerſohn und Schwager des Herrn
Wood mit ſichtlich erleichterten Herzen ein:
Ja, ja, unſre Schulen! das iſt's. Welche Nation der Welt thut
ſo viel für ſie wie wir? Unſre Schulen mehren ſich täglich, und mit
ihnen wächſt ſtündlich die Hoffnung —
Unſre Schulen mehren ſich täglich, antwortete Doctor Channing
gelaſſen, aber mehrt ſich der Geiſt, den unſre Schulen zu überliefern
haben? Wie wird der junge Amerikaner erzogen? fragen wir uns
vor Allem das, meine Herren. Der Geiſt unſrer Pädagogik iſt nicht
der, Menſchen zu bilden, ſondern Rechenmaſchinen zu machen. Der
Amerikaner ſoll baldmöglichſt ein Dollar erzeugendes Automat werden,
das allein iſt's, wofür die Schule zu ſorgen hat. Für ſein warmes,
aufquellendes Menſchenherz kümmert ſich kein gemietheter Lehrer, der ja
ſelbſt nur Dollars erzeugt aus dem menſchlichen Rohſtoff ſeines Schülers.
Eine zartere Vorſorge findet der Amerikaner eigentlich nur in ſeiner
früheſten Kindheit; da aber allerdings mehr als bei jedem andern Volke. Die
Mühe und Sorgfalt, die auf die Wartung und Ausſchmückung unſrer Kinder
verwendet wird, iſt in der That groß genug, den reichſten Mann arm zu
machen, wenn ihm der Himmel der Nachkommen Viele beſchert. Die
weichlichſte Pflege entkräftet frühzeitig den Körper, die Fütterung mit
ſüßen und ſtarkgewürzten Sachen verdirbt den natürlichen Geſchmack,
die Stubenerziehung und Verhätſchelung erſtickt den derben Kern der
Geſundheit. Freilich ſind unſre Kinder dafür wahre Modells von
Engeln, und ich gebe gerne zu, es ſei kein holderer Anblick in der
Welt als ein amerikaniſches Baby. Trauriger Ruhm, daß wir die
ſchönſten Puppen erziehen, zu unſchönen Menſchen. Denn kaum ver¬
mag nun das Kleine Händchen und Füßchen zu regen, ſo läßt man
[216] dieſen zarten Spiegel der Volksſouverainetät bereits nach Herzensluſt
ſchalten und walten. Wo ſich Trotz, Muthwillen, Starrſinn und Hang
zur Widerſetzlichkeit kund gibt, wird ſie mit Freude begrüßt, als ein
Zeichen künftiger Mannestüchtigkeit. Die Kinder üben vollkommene
Ueberlegenheit gegen ihre Eltern. In die erſte Schule kommen ſie
ſchon als unbeugſame Republikaner-Gamins, und die Luſt, nach ihren
Einfällen ihre Kraft zu verſuchen, wächſt mit jedem Tage. Sie lernen
bereits nach ihrem Tadler mit Piſtolen ſchießen, und ſchieben das erſte
Primchen Kautabak in den verſchlemmten Süßmund. Auch betrinken
ſie ſich. Mit dem zwölften Jahre wird der Knabe in die höhere
Schule geſchickt, er denkt aber wenig mehr an Schulen, ſondern an Dinge,
welche die Natur ſonſt nur auf die Gedankenbahn bringt, wenn der
Bart keimt. Sein Griechiſch und Latein, ſeine Phyſik und Mathe¬
matik und endlich jene banauſiſche Miſchung von Denk- und Naturge¬
ſetzen, Sittenlehren und Geſchichts-Anekdoten, welche man Philo¬
ſophie nennt — das Alles nimmt ihm nur vier, oft nur zwei Jahre
weg. Von einer tieferen claſſiſchen Bildung, welche dem Jüngling
die geiſtigen Beſitzthümer der Menſchheit alter und neuer Zeit über¬
mittelte, welche ebenmäßig ſeine Seele ausbildete und ihm ein- für
allemale die Gerechtigkeit und die Schönheit, ſtatt die Nützlichkeit zum
Lebensprinzip machte — von einer ſolchen Bildung iſt in unſern Schulen
nicht die Rede. Es wird ſchnell und oberflächlich viel gelernt, der Unter¬
richt in der Weltgeſchichte fällt ſo gut wie gänzlich weg. Kann der Knabe
nur die Aeußerlichkeit, die Handgriffe einer Sprache oder Wiſſenſchaft
zur Schau tragen, ſo iſt man ſehr zufrieden. Bei den öffentlichen Prü¬
fungen ein Stück her zu überſetzen, darauf allein ſteuert man los; gerade
ſo wie der Muſiklehrer am Beſten fährt, der ſtatt das Verſtändniß
eines mehrſtimmigen Tonſatzes zu lehren, viele neue und melodiſche
Muſikſtückchen einfingern läßt. So werden die Klaſſen durchlaufen,
die Zeugniſſe darüber in die Taſche geſteckt, die Schule iſt abgethan.
Der junge Mann, denn Mann iſt er nunmehr, und hätte er auch das
ſechszehnte Jahr nicht zurückgelegt — der junge Mann ſchlendert hierauf
eine gute Weile frei und müſſig umher und nennt das, die Welt kennen
lernen. Dieſe Welt ſind die Promenaden, die Auſternkeller, die Kegel¬
bahnen, die Theater, die Matroſenkneipen und — die dritte Avenüe!
Aeußerſt zufrieden mit ſich ſelbſt, ſieht man ihn durch die Straßen
[217] ſtolziren, den Mantel maleriſch, nämlich für Carricaturmaler, um die
Schultern geworfen, den langen nackten Hals über den niedrigen Hemd¬
kragen emporſtreckend, das ſchnell verknöcherte Haupt in einer Tackelage
von zottigen Locken. Die ganze Welt ſteht ihm offen, er iſt Bürger
des freieſten Volkes der Erde. Die Weichheit und Keuſchheit, die Be¬
geiſterung des erſten Jünglingsalters liegt ſchon lang hinter ihm, oder
beſſer, er hat ſie nie gekannt. Jetzt ſteht ſein einziger Ehrgeiz dar¬
nach, der Welt zu zeigen, was er für ein Mann iſt. Zu dieſem Ende
wird er Mitglied einer Feuerlöſchcompagnie, lieſt die Zeitungen, ent¬
ſcheidet ſich für eine Partei, und ſpricht klein von großen Verdienſten.
Aber das Alles greift ihn fürchterlich an. Er muß bereits ſeine erſte
Geſundheitsreiſe machen. Gewiß, er muß nach dem Süden, oder nach den
Rocky-Mountains, oder nach Baden-Baden, nach Nizza, nach Vauxhall.
Ohne die letzte Suppe mit der Familie zu eſſen, ohne den letzten
väterlichen Gruß, aber mit deſto mehr väterlichen Wechſeln ſitzt er
eines Morgens auf der Eiſenbahn, im Schiffe, und durchſtöbert die Erde,
ſo weit der letzte Cent reicht. Man könnte dies Schwärmen dichte¬
riſch nennen, wäre nur etwas Gemüth dabei, etwas Luſt oder Qual.
Aber er langweilt ſich, genießt gähnend und im Contraſt mit der
Fremde beſchleicht ihn dann doch ein gewiſſes Bewußtſein ſeiner Schein¬
bildung. Das Alles macht ihm das Reiſen unbehaglich. Zu Hauſe aber
ſagt er, die Sehnſucht nach unſerm freien und aufgeklärten Lande habe
ihn heimwärts getrieben, denn Alles Uebrige wäre ja doch nur Bettel.
Jetzt iſt er zwanzig Jahre alt und beginnt ſeine Bekehrung. Er
überzeugt ſich, daß er zu dem sham ſeiner Studien, zu dem sham
ſeiner Reiſebildung, zu dem sham eines weit gereisten smart-mans
zu guter Letzt auch den sham des Chriſtenthums nöthig habe, um
unter ſeinen Mitbürgern zu reüſſiren. In dieſer Stimmung trifft
ihn der Prediger, der Freund ſeiner Mutter. Er redet auf den jun¬
gen Mann ein, er zeigt ihm, wie viel Geld das tolle Leben koſtet,
wie wohlfeil dagegen das Abonnement eines Kirchenſtuhls ſei. Er empfiehlt
ihm das Sacrament der Ehe — natürlich mit einem reichen Mädchen.
Er ſtellt ihm die Ausgaben für die dritte Avenüe und die Einkünfte
aus dem Vermögen einer „reſpectablen“ Frau ſo faßlich gegeneinander,
daß Zahlen, welche Alles beweiſen, in dieſem Falle auch die Tugend
beweiſen. Zuweilen kommt es aber auch vor, daß die Bekehrung länger
[218] auf ſich warten läßt. Dann iſt die gewöhnliche Kriſis eine heftige
Scene zwiſchen Vater und Sohn. Der Letztere verläßt noch einmal
das Haus und jahrelang hört und ſieht man nichts von ihm. Fragt
man den Papa, wo John ſei, ſo heißt es: John iſt gegangen, er
wollte nicht gut thun, er wird eines Tags wohl wieder kommen —
und im Stillen ſetzt er hinzu: als Millionär.
Und ſo kommt er auch! randalirte Mr. Bennet, im ſcherzhaften
Charakter eines Yankee-Boys, indem er mit ſeinem Gaſte jetzt vor¬
trat — hören Sie, Doctor, die Million iſt ſehr gut! Aus Geld
wird Geiſt, kein armes Volk bringt's zur Cultur. Es lebe die
Million!
Die Tiſchgeſellſchaft blickte auf. Jubelnd begrüßte man den Haus¬
herrn. Jubelnd applaudirte man ſeinem Impromptü zu, alle Gläſer
erhoben ſich, und im bacchanaliſchen Chor ſcholl es von Mund zu
Mund: Es lebe die Million! Man ſah es den vergnügten Geſichtern
der armen Milizoffiziere an, wie unendlich froh ſie über dieſe glück¬
liche Ausbeugung waren.
Bennet und Moorfeld nahmen ihre Plätze ein. Moorfeld fand
es nicht ohne Reiz, daß in einem amerikaniſchen Salon Reden gehalten
werden konnten, wie er zuvor von Mr. Livingſtone und jetzt aus
Dr. Channing's Munde gehört. Dieſe Strafoden ſchienen ihm ein
weit beſſeres Zeugniß für Amerika's Kraft und Geſundheit, als ſeines
Herrn Staunton's Bauſch- und Bogen-Patriotismus. Er ſah in
Bennet's Salon einen jener Centralpunkte, in welchem die wahrhaft
vorwärts treibenden und idealiſirenden Kräfte einer Nation pulſiren.
Nicht plattes Selbſtlob, ſondern der ariſtokratiſche Ton der Abſprechung,
der Voltaireanismus, die Kritik, die Satyre — horaziſche wie juve¬
naliſche — verrichten dieſes Amt. Man erweitert die Volksſitte, in¬
dem man ſie negirt; der Spott iſt productiv und der Tadel wird zum
Verdienſt in ſolchen Zirkeln, man beleidigt das Volksleben nicht, man
nützt ihm. Man bricht das Herkommen, man macht Zukunft.
So war es der Yankee ſelbſt, der ſich zum luſtigen Verbrauche
dieſes Kreiſes hergeben mußte. Der Ton, den Dr. Channing ange¬
ſchlagen, klang fort, nur ſeit dem Eintritt Bennet's und Moorfeld's
in minder tragiſcher Weiſe. Der heitere Schaumwein von der Marne
mouſſirte, die Temperatur der Anecdoten-Blüthe entwickelte ſich. Man
[219] beutete das originelle Volksthum Oncle Sams in zahlloſen Charakter¬
zügen aus: von vielen derſelben erkannte Moorfeld wohl, daß ſie zu
jenen geſtempelten gehörten, dergleichen jede Nation als ſtehende Symbole
ihres Begriffes aufzuweiſen hat. Andere aber waren unmittelbare,
rein perſönliche Erlebniſſe. Mr. Bennet erzählte z. B., er habe in
Rom eine Parthie alter koſtbarer Italiener verpackt, als über dieſer
Arbeit ein Yankee aus Connecticut in's Bureau des Spediteurs trat.
Ei, ei, Miſter, rief er ſogleich, ich rathe, Ihr werdet da ein dickes
Stück Geld Eingangszoll bezahlen; Oelgemälde bezahlen doch Zoll,
das wißt Ihr. Aber was thut's? Ofenſchirme bezahlen keinen. Nun,
Miſter, ich wäre meines Vaters ſchlechteſter Sohn, rathe ich, wenn ich
nicht eine Auflöſung aus Kalk oder Leim nähme, und den ganzen
Krickelkrackel damit übertünchte. Verdammt ſeien meine Augen, ich
importirte das Zeug wahrhaftig unter Ofenſchirm-Declaration; an Ort
und Stelle ließe ſich der Anſtrich ja wieder ablöſen. Das thät' ich,
oder ich will nicht mehr weiß ſpucken, Miſter. Und in der That be¬
griff der smart-man aus Connecticut nicht, was mich abhielt, ſeinen
vortrefflichen Rath zu befolgen.
Von der naiven Roheit des amerikaniſchen Kunſtgefühls erzählte
Moorfeld, der dieſe Saite nicht ſtärker berühren mochte, als er ſonſt
wohl gekonnt, jenen artigen Zug aus der erſten Stunde ſeines Landens,
da er ein Kinder-Träubchen in die Mitte zweier ſpielender Neger-
Orcheſter ſich ſtellen ſah, weil ſie „zwei Muſik“ hören wollten.
Der gelehrte Doctor Griswold ließ den ſtets verehrten Ton ſeiner
dünnen Kinderſtimme hören und ſagte: Von dieſem Thema können
wir nicht ſprechen, ohne des unſterblichen Factums zu gedenken, daß
eine ganze Nation ein Spottlied auf ſich ſelbſt in Text und Muſik
verkennt und es zu ihrer National-Hymne macht. In einem ſatyriſchen
Schlagworte, Parteinamen u. dgl. ſich ſelbſt zu ironiſiren, iſt be¬
kanntlich ein hiſtoriſcher Lieblingszug der Völker: aber Satyre und
Ironie gar nicht zu merken, das konnte nur unſerm Bruder Jonathan
paſſiren. Ich ſpreche von dem Urſprunge des Yankee-Doodle. Sie
wiſſen, meine Herren, wie lange uns dieſer Urſprung apokryphiſch
war, und heute noch weiß man im größeren Publikum nicht, welcher
der vielen Verſionen darüber man die hiſtoriſche Aechtheit zuſprechen
ſoll. Authentiſch aber iſt folgende Verſion: Im Anfange des Jahres
[220] 1755 verſammelten ſich die Colonialtruppen von Neu-England bei
Albany, um mit den Truppen des Mutterlandes unter General John¬
ſton gegen die Franzoſen in Crownpoint zu marſchiren. Die Ame¬
rikaner bildeten den linken Flügel, die Europäer den rechten der bri¬
tiſchen Streitmacht. Von der altengliſchen Truppe berichtet die Chronica
nichts, wohl aber von der unſrigen. Der Aufzug der amerikaniſchen
Milizen ſoll nämlich ſo lächerlich geweſen ſein, wie das Corps jener
wahrhaft Unſterblichen unter Sir John Fallſtaff. Einige waren in
langen Röcken erſchienen, Andere in kurzen, wieder Andere in gar
keinen. Einige trugen ihre Haare kurz geſchoren, nach Art der Rund¬
köpfe Cromwell's, Andere ſtolzirten in gravitätiſchen Puderperücken
à la Louis-quatorze. -quatorze. Ihre Uniformen imitirten alle Farben des
Regenbogens, ihre Bewaffnung ſpielte mitunter ins Nachtwächterliche.
Von ihrer Feldmuſik war das neueſte Stück zweihundert Jahre alt.
Letzteren Umſtand benützten die engliſchen Offiziere, die ſchon längſt
darauf geſonnen, für das Ridikül einer ſolchen Kameradſchaft mit einem
luſtigen Streich ſich zu entſchädigen. Dieſer ganzen Pyramus- und
Thisbe-Truppe, ſagten ſie, fehlt nichts, als daß ein Tonſetzer, ſo wie
ſie leibt und lebt, ſie in Muſik ſetzte. Die Kerls müßten offenbar
nach einem traveſtirten Feldmarſch marſchiren, der ihre militäriſche
Lächerlichkeit auch muſikaliſch ausdrückte. Geſagt, gethan. Die Eng¬
länder hatten einen Spaßvogel unter ſich, einen gewiſſen Dr. Shekbourg.
Dieſer erinnerte ſich einer Schweinstreiber-Melodie, die er einſt von
einem Hannoveraner gehört hatte, welcher ſie von einer weſtphäliſchen
Bauernhochzeit herübergebracht. (Unſre National-Hymne iſt alſo deutſch,
ſchaltete der Doctor verbindlich gegen Moorfeld ein.) Dieſer Dr. Shek¬
bourg, fuhr er fort, war ein Stück von einem Componiſten, daneben
Dilettant in der Poeterei, vor Allem aber, wie es ſcheint, ein Genie
in der bas-comique. Er ſchrieb alſo ſeine Dudelſack-Melodie al marchia
nieder, verſchnörkelte ſie und dichtete einen ſpaßhaften Text dazu —
d. h. ſpaßhaft wie man es vor hundert Jahren war. Satyriſche Stupfer
mit Zaunpfählen. Als ein Humoriſt von Tact verſäumte er aber
auch den eingeſtreuten Ernſt nicht. So ſcheinen namentlich die zwei
Verſe im Refrain:
[221] unſere Vorfahren dergeſtalt ſatisfacirt zu haben, daß ſie darüber den
burlesken Ton des ganzen Liedes, beſonders aber den katzbuckelnden
Bedienten-Styl in der fortwährenden Wiederholung des Wortes Sir,
Sir, nicht im mindeſten krumm nahmen. Die Chronik ſagt, das
Offiziercorps ſoll ſich halb todt gelacht haben, als Dr. Shekbourg ſein
Machwerk zum erſtenmal producirte. Natürlich kam alles auf die
mimiſche Selbſtbeherrſchung an, womit dieſer ſeinen Bären aufzubinden
verſtand. Und nun ſeh' ich den närriſchen Kauz von den Schuhſchnallen
bis zur Stutzperücke mit ſeiner Habichtsnaſe und ſeinen kleinen klugen Augen
hinter der großen Brille leibhaftig vor mir, wie er gravitätiſch in unſer Lager
hinüberſchreitet und die Yankee's mit der ernſthafteſten Miene von der Welt
verſichert, ihre Brüder am jenſeitigen Flügel hätten ſich ihre veraltete Feld¬
muſik zu Herzen genommen. Er bringe da ein neues, feines Feldſtückchen,
habe auch neue liebliche Verſe dazu, das Alles ſei fine, very fine. Sie
möchten ſich nur bedienen, die Engländer gäben es gern. Ihr großer
Händel verſorge ſie überflüſſig mit ſo galanten Sachen, — dies ſei
freilich eins der galanteſten. In Wahrheit, der alte luſtige Herr muß
ſeine Sache gut gemacht haben, denn unſre Jugend tanzt nun für
ewig nach ſeinem Dudelſack. Der Pfiff war vollkommen geglückt.
Unſer Theezirkel erbaute ſich, ſo harmlos, als ſie erzählt war, an
dieſer Entſtehung von Amerika's National-Hymne. Nur die Miliz¬
offiziere lächelten etwas ſäuerlich dazu, eingedenk, daß ſie den Voll¬
genuß ihrer ſtrahlenden Uniformen ſelbſt nur unter den ſüßen Klängen
des Yankee-Doodle feierten, wenn ſie nämlich zweimal des Jahres,
am 14. Juni, dem Gründungstage der Newyorker Feuerwehr, und
am 4. Juli, dem Unabhängigkeitsfeſte der Union, in voller Parade
ihre Aufzüge hielten. Mr. Wood, der hochſchottiſche Seifenſieder, der
nie ermangelte, den Director der Kriegsſchule zu Weſt-Point Herr
College zu tituliren, ſtrengte darum ſchleunigſt ſeinen Witz an, das
Thema des amerikaniſchen Kunſtgefühls mit einem dankbareren zu
überbieten. Er erzählte Anecdoten aus dem Gebiete jener National-
Eigenſchaft, die der Amerikaner „smart“ nennt und worin ſeine ſtärkſte
Seite liegt. Von der Kunſt, dem Geſetze eine wächſerne Naſe zu
drehen, wollte er ſelbſt folgende zwei Beiſpiele erlebt haben. In Con¬
necticut, wo am Sonntag das Reiſen verboten iſt, fuhr ich mit einem
Eingebornen am Sonntag ſpazieren. Mitten auf der Landſtraße wurde
[222] die Equipage von einem Konſtabler angehalten. Der Konſtabler hielt
uns das Geſetz vor, und forderte uns auf, ſofort mit ihm umzukehren.
Gott bewahre, mein Freund, rief der Mann aus Connecticut ohne
Anſtand, wenn es bei uns Geſetz iſt, am Sonntage nicht zu fahren,
was ich leider nicht wußte, ſo kann dem Geſetze nicht prompt genug
Folge geleiſtet werden. Ich darf die Pferde jetzt keinen Huf mehr
aufheben laſſen, weder vor- noch rückwärts. Es bleibt uns nichts
anders übrig, als auf dieſem Punkte hier ſtehen zu bleiben und den
Montag abzuwarten. Das iſt klar. Nicht wahr, Herr Major, Sie
bringen unſern heiligen Inſtitutionen dieſes Opfer. Mit Vergnügen,
ſagte ich. Der Konſtabler machte ein langes Geſicht und zog ab.
Als wir ihn aus den Augen verloren hatten, fuhren wir weiter. —
Ein andermal begegne ich meinem alten Freund, dem luſtigen Kapitän
Tim Auſpice, auf der Straße von Newburyport nach Salem in
Maſſachuſetts. Der gute Alte hatte längſt „beigelegt“ und rauchte
ſeine Friedenspfeife im ſicheren Port, damals aber trabte er einen
wahren Bräutigamstrab mit ſeinem hartmäuligen Cyrus; ich denke,
es gilt irgend eine capitale Wette. Wo hinaus, flotte Seele? ruf'
ich ganz erſtaunt über den närriſchen Ritt, ich rathe, Ihr habt des
Orts hier herum eine halbe Million aufzuheben? Nicht doch, lieber
Major, ich will bloß die hübſchen Mädchen in Salem küſſen. Gut,
dann reiten wir miteinander, ſag' ich lachend. Das ſollt' Euch übel
bekommen, ich denke, Ihr ſeid noch ein wenig zu jung dazu, Herr
Major. Ich will verdammt ſein, wenn man nicht ſchon einen beſſern
Scherz von Euch hörte, ſagt' ich empfindlich, denn das werd ich bald.
Gut, dann ſeid Ihr verdammt, lieber Major, denn ich rathe, es iſt
mein beſter Scherz, den ich da vorhabe. Was meint Ihr? Ich leſe
auf meine alten Tage allerlei alten Schnack durcheinander, unter an¬
deren auch die Geſchichten und Rechtsgewohnheiten unſrer Neuengland¬
ſtaaten hier. Nun haben die Narren zu Salem heutiges Tags noch
ein Geſetz, lieber Major, ein puritaniſches Geſetz, das lautet buchſtäblich
wie folgt: Wenn ein junger Mann ein Mädchen ohne Zuſtimmung
ihrer Eltern anzureden wagt, oder wohl gar es küßt, ſo ſoll er das
erſtemal um fünf Pfund, das zweitemal um das Doppelte beſtraft, und
das drittemal eingeſperrt werden. Wie gefällt Euch der Spaß? Nicht
wahr, das iſt „ſchlechte Medicin“ wie ein Indianer ſagen würde. Ihr
[223] ſeht aber wohl, daß ein alter Nigger, wie ich, nirgends ungeſtrafter
küſſen kann als in Salem. Denn das Geſetz ſagt nur: wenn ein
junger Mann — und die Jury möcht' ich wohl ſehen, die mir beweist,
daß ich ein junger Mann bin. In Wahrheit, Sir, ich werde denen
zu Salem einen hübſchen Eſel bohren, rath' ich. Darauf allein reit'
ich jetzt aus. Hi, Cyrus, hi! Good everning, Sir! Und ſo ritt der
alte Schelm von dannen.
Mr. Livingſtone ſagte: Was der Amerikaner mit dem Worte
„smart“ bezeichnet, ſcheint in unſerer Luft ſelbſt zu liegen, nicht bloß
in unſrer Race; denn ſmart kann der Nigger ſo gut ſein, als der
Weiße. Natürlich wird bei dieſem mehr oder minder die gentlemänniſche
Form, der Tact des Maßes und der Schicklichkeit fehlen, und der
Charakter des Grotesken oder Burlesken dafür an die Stelle treten.
Solch ein burlesker smart-man war jener Neger Scipio, ein freier
und ſtimmberechtigter Bürger der Union, ſeines Berufes aber Dienſt¬
mann im Hauſe des berühmten Girard zu Philadelphia. Das Ge¬
ſchichtchen, von dem ich ſpreche, trug ſich bei Gelegenheit der letzten
Präſidentenwahl zu. Girard hielt natürlich, wie alle großen Finan¬
ciers, zur ſchwarzen Cocarde, der Neger Scipio war für Jackſon.
Girard's Charakter iſt bekannt. Er konnte großherzig wie ein Lord
und mesquin wie ein Holländer ſein, und letzteres war er ſicher, wenn
ihm irgend etwas gegen ſeinen eigenſinnigen Gascogner-Kopf ging.
Er ſchämte ſich dann der kleinlichſten Tracaſſerien nicht, ſich an ſeinem
Widerſacher auszulaſſen. So ärgerte ihn die politiſche Gegnerſchaft
ſeines Hausnegers. Er war feſt entſchloſſen, den General Jackſon
um die Stimme dieſes Einen Mannes zu bringen. Am Wahltage
erſann er ſich alle möglichen Arbeiten, um den armen Neger ſo zu
beſchäftigen, daß es ihm unmöglich ſein ſollte, ſeinen Stimmzettel ab¬
zugeben. Scipio ließ ſich Alles gefallen. Zuletzt, als ſchon der Tag
zu Ende ging, und die Wahlurne nur noch eine halbe Stunde offen
ſtand, beordert ihn Girard auch noch auf's Dach hinauf, er möge den
ſchadhaften Schieferziegeln nachſehen. Scipio that auch das. Schon
war der intriguante Franzoſe ſeines Sieges gewiß. Solch blödes
Nigger-Vieh iſt doch für Dollar-Klang ein willenloſes Werkzeug, dachte
der goldgewaltige Eigenthümer von zwanzig Schiffen; — und das
will Staatsbürger ſein! Scipio revidirt indeß ſeine Dachziegel. Auf
[224] einmal nimmt er die Miene an, als erblickte er vom Dachfirſt herab
einen Kameraden auf der Straße und ruft mit überlauter Stimme
herab: Lauf, lauf, Tom, du ſtimmſt doch für Jackſon, mein Gold¬
junge? Dann thu mir den Gefallen und nimm deine Beine über
Achſeln, und lauf was du kannſt! Ein Schuft, der nicht für Jackſon
ſtimmt! Jackſon for ever! fort mit dem Schwein! und ſo ran¬
dalirt er im Nu die Straße voll Leute zuſammen. Ruft mir den
ſchwarzen Hallunken herunter! ſtürzt der Franzoſe in ſein Bureau, die
verdammte Plattnaſe verführt mir ganz Philadelphia. Und als er
ſeinen Hausmann vor ſich hat — hier iſt dein Lohn, ich brauche kei¬
nen Spektakelmacher in meinem Hauſe, mach' daß du fort kommſt. —
Nicht alſo, Miſter, antwortet Scipio ruhig, wenn ich abgedankt ſein
wollte, ſo hätt' ich Euch offen Widerſtand geleiſtet. Denkt Ihr denn,
ich merkte den ganzen Tag über nicht, wo Ihr hinaus wolltet? Nun
aber hat die Geſchichte Aufſehen gemacht — Euer eigenes Dach war
meine Kanzel — das Volk weiß, um was es ſich handelt, und wenn
ich wegen Jackſon von Eurer Schwelle gejagt werde, ſo zündet es Euch
das Haus an, verbrennt Eure Magazine und Schiffe, denn Ihr wißt
wohl, daß das Gros der Bevölkerung überall für den alten Hickorry
iſt. Ich rathe, Miſter, Ihr laßt mich im Dienſte. Du biſt mein
Mann, ſagte Girard, du bleibſt und rückſt vor, Leute von ſolchem
Charakter lieb' ich in meinem Geſchäfte. Und Scipio lief ſchnell noch
auf's Stadthaus, und gab ſeinen Wahlzettel ab. Ob nun der Fran¬
zoſe bloß ſtaatsklug oder aus einer wirklich edlen Regung dieſen Ton
anſchlug, bleibt bei der Doppel-Natur jenes merkwürdigen Mannes
ungewiß; gewiß aber iſt, daß ein armer Neger diesmal ſmarter war,
als der ſmarteſte Kaufmann der Union.
Unter ſolchen und ähnlichen Erzählungen waren die Zungen trocken
geworden, und als Mr. Bennet die Gläſer von Neuem füllte, hatte Mr.
Wood den Einfall, einen Toaſt auf die bevorſtehende Saratoga-Badereiſe
auszubringen. Bei dieſer Gelegenheit nahm Dr. Channing wieder das
Wort. Ein ſatyriſches Lächeln ſpielte um ſeine vollen, üppigen Lip¬
pen, und wie in Mr. Livingſtone's Anecdote zuvor Stephan Girard,
der großmüthigſte Privatmann der Welt, ein Mann, der der Stadt
Philadelphia ſechszig Millionen Dollars zum Geſchenke gemacht, dem
Witze und dem patriotiſchen Gewiſſen eines armen Negers nachſtehen
[225] gemußt, ſo lag es ganz in der attiſchen Liberalität dieſes Kreiſes, daß
jetzt der Hausherr ſelbſt von der Laune ſeiner Gäſte nicht unberührt
bleiben ſollte. Denn Dr. Channing, von dem Toaſte Gelegenheit zu
einem ſeiner ſatyriſchen Streifzüge nehmend, erwiederte denſelben zwar
in der gebührenden Haltung, entwarf aber gleich hinterdrein folgendes Bild
von der Saratoga-Saiſon: Ich ziehe mich mit Vorliebe nach Saratoga
zurück, ſagte er, wenn ich von Geſchäften ausruhen will. Man ruht
nirgends gründlicher aus als dort. Wie Bären einen Winterſchlaf
halten, ſo iſt Saratoga gleichſam die gemeinſame Höhle, in welcher
freie und aufgeklärte Bürger einer Art Sommer-Erſtarrung genießen —
man erlaube das paradoxe Wort. Der Saratogabrunnen ſchien mir
von jeher das, was die Alten ihren Lethe nannten. Es iſt wirklich
der Hoch- und Fein-Gehalt jener Langweile dort, welche Fremde in
unſrer ſonſtigen Geſelligkeit mitunter entdeckt haben wollen — zumal
an Sonntagen. Saratoga iſt eine Welt voll Sonntagen. Eigentlich
iſt von Welt nicht wohl die Rede mehr in Saratoga; das Wort iſt
viel zu körperlich, Saratoga fängt erſt an, wo die Welt aufhört.
Saratoga iſt eine Null, die Umgränzung eines leeren Raumes mit
einer Linie. Wir ſind auch hierin vorzüglicher als andere Völker,
welche ihre Bäder mit den lockendſten Anreizungen zur Sünde aus¬
ſtatten. In Saratoga ſündigt man nicht. Das Leben iſt dort ſo
rein von Flecken, wie ein Menſch, dem man die Haut abgezogen hat,
von Sommerſproſſen. Man trinkt Morgens ſeinen Brunnen und
macht eine Promenade. Die Gäſte, welche natürlich alle verdauungs¬
krank ſind, unterhalten ſich dabei ſtets von ihrem Magen und nie von
ihrem Herzen. Das iſt eine moraliſche Converſation; denn das Herz
iſt verderbter als der verdorbenſte Magen, wie fromme Leute behaupten,
in deren Munde dieſer Satz ſeine vollſte Glaubwürdigkeit hat. Zu
Mittag ſpeiſet die ganze Geſellſchaft in einem langen ſchmalen Saal
mit einer niederen Decke, der, wie ich mich erinnere, mir den Eindruck
eines Sarges gemacht hat. Die Gäſte unterhalten ſich über Tiſche
von ihren Verdauungsbeſchwerden, was eine heilſame Reaction auf
ihren Appetit ausübt, wobei dem Laſter Fraß und Völlerei ein Damm
geſetzt wird. Iſt abgeſpeist, ſo lehnen ſich die Herren über die Balkons
und rauchen eine Cigarre, die Damen ſitzen in ihren Geſellſchafts¬
zimmern, leſen, ſtricken Filet, oder quälen ein verſtimmtes Piano mit
D.B.Vlll. Der Amerika-Müde. 15[226] falſchgegriffenen Noten. Abends iſt in dieſem oder jenem Hôtel viel¬
leicht Ball; junge Herren, die in irgend einem Quäcker-Seminar Tanz¬
ſtunden bezahlt haben, riskiren eine Ecoſſaiſe, welcher man nicht leicht
anmerkt, wie viel Honorar-Marken in ihr ſtecken. Die Tänzerin unter¬
hält gewöhnlich den Tänzer von ihren Verdauungsbeſchwerden. Sie
lenkt dadurch auf eine keuſche Weiſe ſeine Phantaſie von den Bahnen
der Sünde zwar räumlich nur wenig, im Uebrigen aber deſto gründ¬
licher ab. Ich habe in Saratoga oft den Gedanken gehabt, eine Zei¬
tung für Unverdaulichkeit herauszugeben. Bei der ungemeinen Popu¬
larität dieſes Themas, welches in Saratoga von der Elite unſerer
Bevölkerung repräſentirt wird (die Stadt iſt ein wahrer Congreßort,
ein zweites Waſhington dafür) könnte ich mich zu der erſten Macht
des Landes dadurch emporſchwingen. Ich bitte die Herren um Dis¬
cretion, denn vielleicht ſetze ich mir wirklich noch die Krone der Diſpepſie
auf dieſes Haupt. Inzwiſchen bin ich mit der Tagesordnung unſres
reizenden Badeaufenthaltes zu Ende. Zuweilen verabredet man aber
wohl auch eine Vergnügungsfahrt nach einem kleinen See, der wenige
Stunden in der Nähe liegt. Dort ſteht die ganze Geſellſchaft auf
einem plattbehauenen Steine am Uferrand, wirft ihre Angeln aus
und hat Geduld. Uebereingekommener Maßen nennt man das ein
Vergnügen. Ein Vergnügen mag es wohl ſein, aber eines jener
beſcheidenen, von welchen Goethe ſagt, daß ſie von Leiden kaum zu
unterſcheiden. Freilich ereignet ſich's faſt in jeder Saiſon einmal, daß
eine junge Lady aus dem Inſtitute wirklich ein Schneiderlein fängt.
Dieſer Fiſch wird dann mit großem Jubel aufgenommen, blos weil er
lebendig iſt. Es iſt ein Ereigniß, das nicht ohne erſchütternden Ein¬
fluß auf das Gleichgewicht der Alltagsſtimmung bleibt. Die Geiſter
beginnen wilder zu ſchwärmen. Die junge Lady, die ſich überzeugt
hat, daß nicht blos in Bilderbüchern, ſondern in der Natur ſelbſt Fiſche
vorkommen, wächst auf einmal über ihren See hinaus. Sie phantaſirt
vom Erie und von den „Fällen“. Der Einfall zündet, und an die¬
ſem Punkte iſt es, wo wir das faſhionable Saratoga aus unſern
Augen verlieren. Eh' wir es uns verſehen, iſt die ganze Geſellſchaft
am Niagara. Sie iſt fort, unaufhaltſam fort. Man brauchte den
Gedanken nur anzuregen, um ihn auszuführen. Denn der Yankee
liebt die erhabene Natur und hat einen angebornen poetiſchen Sinn
[227] für ſie. Er macht weite Reiſen und läßt ſich ſeine geliebten Dollars
nicht reuen, um einen Waſſerfall, oder einen Löwen zu ſehen. Frei¬
lich würde es ſeinen Genuß wunderbar erhöhen, wenn der Waſſerfall
zugleich eine Mühle triebe und der Löwe einen Bratſpieß drehte.
Mr. Bennet ſtimmte dem Spötter lachend bei. Sein Geſchmack
ſei Saratoga nicht, aber jeder rechtgläubige Yankee müſſe Einmal in
Saratoga, wie jeder Mahumedaner in Mekka geweſen ſein. Und in
der That freuten ſich ſeine drei Ladies auf das Schneiderlein im See
mindeſtens eben ſo ſehr, als er, Doctor Channing, auf ſeine Unver¬
daulichkeitszeitung. Man ſcherzte noch weiter über dieſes Thema, bis
Bennet die Gläſer von Neuem füllte, da er es dann nicht anders als
paſſend fand, nach Mr. Wood's Toaſt auf Saratoga, einen Toaſt auf
das Ohio-Project ſeines verehrten Gaſtes, Doctor Moorfeld, auszu¬
bringen. Die Amerikaner hörten von Moorfeld's Vorhaben, wie dieſer
ſogleich bemerken konnte, mit geſchmeicheltem Selbſtgefühle. Ein
Europäer, der weder aus Noth, noch aus Speculation, ſondern —
wie es hier lauten mußte, was wir nur in ſtiller Mondnacht einem
ſtillen Deutſchen gegenüber ſinniger gehört haben, —aus Liebhaberei
in den Schatten ihres Sternbanners ſich begab: eine ſolche Erſcheinung
war ihnen offenbar ſehr wohlthuend. Es verbreitete ſich jene Tempe¬
ratur behaglicher Eitelkeit im Kreiſe, ohne die der verfeinerte Menſch
nicht leben mag, und die ihn um ſo comfortabler im Inneren durch¬
wärmt, je mäßiger ſie durch die vornehme Kühle des äußeren Anſtan¬
des ausſtrahlt. Das ſüße Schlürfen in Negationen ging in ein po¬
ſitiveres Nationalgefühl über; die Heiterkeit des Tones blieb zwar,
aber ſie nüancirte aus dem Humoriſtiſchen ins Pathetiſche. Man
machte dem Gentleman-Urwäldler die Avance, ſeine Phantaſie auf
den Schauplatz ſeines künftigen Wirkens zu führen. Man verlegte
die Unterhaltung in die Geſchichte der erſten Anſiedlungen Amerika's.
Das heroiſche Zeitalter des Landes wurde der Stoff des Geſpräches.
Homeriſche Helden tauchten aus dem Champagnerſchaum empor und
blutige Scalps und bluttriefende Tomahawks erfüllten das elegante
Theepavillon. Jene härteſten Männergeſtalten ſchritten im Geiſte
vorüber, die im Kampfe mit dem ſchlachtgierigen Indianer, im Kampfe
mit Panther und Alligator, im Kampfe mit einer tauſendjährigen
Waldwurzelung den Boden für eine Handvoll Mais eroberten, den das
15 *[228] Füllhorn der Kultur jetzt mit Perlen und Juwelen bedeckte. Da ſtürzte
der Schlachtengel Whalley, der wunderbare Einſiedler von Hartford,
ſich zwiſchen die mordheulenden Indianer und das unbeſchützte Chriſten¬
häuflein im Gotteshauſe; da wurden Michael Fink und Johann Wetzel
die Märtyrer für Pennſylvaniens Anbau; da brachen Daniel Boone
und Simon Kenton, der Diomedes und Odyſſeus Amerika's, in die
pfadloſen Wildniſſe Kentucky's vor und Städte erblühten aus ihren
Fußſpuren. Endlos reihte ſich die Iliade der Thaten und Abenteuer
im Munde der kundigen Patrioten, ſtaunend überblickte der Zuhörer
mehr als ein Privatleben, das die Geſchichte eines Landes war. So
wuchs das Pathos der Unterhaltung aus markvollem Schafte in die
Höhe und Breite, weihevoller ſaß die Geſellſchaft da, wie unter dem
Baldachin ihres Götterolymps, und als Doctor Channing, mit der
klangvollſten Bruſtſtimme, die Moorfeld in Amerika gehört, jetzt in
die Saiten des modernen Dichterfürſten griff, und aus Byron's Don
Juan jene ſieben Stanzen recitirte, welche Daniel Boone's ſchlicht ur¬
menſchliches Kraftleben feiern: da waren Schwungfedern ausgeſpannt,
auf welchen wohl Gemüther ſich wiegen mochten, die zur Größe ſich
genießend, nicht aber erzeugend verhalten.
Anders Moorfeld. Für ihn ging dieſe Wendung über die Frei¬
heit der Converſation hinaus. Das Spiel der Rede rührte an den
vollſten, brennendſten Ernſt ſeines Lebens. Er ſaß da, wie ein
Menſch, der ſich perſönlich getroffen fühlt. Eine flammende Röthe
durchloderte ſein Antlitz, es war ihm zu Muthe, als müßte er dieſen
Glaskäfig direct durchſtoßen und auffliegen den Winken ewiger Geiſter
nach. — Er fühlte ſich tief und ſchmerzlich vereinſamt. Das Sym¬
poſion des Theepavillons hatte ſich ſelbſt aufgehoben. Mit einem
Ruck ſeines Fauteuils wendete er ſich der Ausſicht nach dem Meere
zu. Aber der violettne Abendſchimmer darauf war erloſchen, das
magiſche Bild von zuvor nicht mehr vorhanden. Kein äußeres Sym¬
bol kam der Sehnſucht ſeines Innern entgegen. Er ſtand auf und
verließ unter irgend einem Vorwande das Pavillon. Er machte einen
Gang durch die Geſellſchaftsſäle. Uebervollen Herzens warf er ſich
in die Einſamkeit des dichteſten Gewühles.
All ſeine Kräfte trieben im Sturme. Es war eine jener Lunten
an ihn gelegt, welche unmittelbar zum Handeln auffordern. Daniel
[229] Boone und Lord Byron! Und ein Name, der an die Möglichkeit
glaubt, zwei ſolche Namen in ſich zu vereinigen! Und dieſer Name
namenlos auf einem nichtswollenden Newyorker-Rout!
Wie ein Löwe der Wüſte ſtreifte er durch die prunkvollen Apparte¬
ments — die Kronleuchter brannten ihm matt — die Luft war
ſchwül und entnervend — ſeine innere Staffage brandete und blitzte.
Die Poeſie in ihm lechzte nach Thätigkeit. Glücklich pries er den
ſüdlichen Improviſator, der in jedem Momente aus der Menge heraus¬
tritt, Markt, Wieſe, Meerſtrand zu ſeinem nie verſagenden Schauplatz
hat und ein Volk um ſich her, das die Begeiſterung verſteht, wo ſie
auftritt. Die Geſellſchaft ſollte das Pathos entweder nie zu erregen
wiſſen, oder in ihren Formen phantaſievoll genug ſein, ihm Raum
zu geben.
In dieſem Augenblicke feſſelte eine Gruppe ſeine Aufmerkſamkeit,
welche auch von der trunkenſten Verinnerlichung nicht leicht überſehen
worden wäre. Im Fond des nächſten Salons erblickte er die Schaar
jener toll coſtümirten Stutzer wieder, der Dandies on short
allowance, wie ſie Bennet genannt hatte, denen er außer dem Mo¬
mente ihrer Ankunft nicht weiter begegnet war. Sie ſtanden auf
einen Haufen gedrängt, wie Kaninchen, nach dem Volksglauben, um
ein Licht ſich verſammeln, und das Licht war — ein blonder Mädchen¬
ſcheitel — ein Antlitz —.
Moorfeld ſah und ſah wieder.
Da kam Lord Ormond ihm in den Weg. Er ſah Moorfeld's
beobachtende Stellung, und indem er der Richtung ſeiner Blicke folgte,
redete er ihn an:
Gut, daß ich Sie finde, Sir. Ich werde Sie jener Dame dort
vorſtellen müſſen. Ich habe es leider veräſumt, als Miſtreß Bennet
mit Ihren Töchtern zuvor dem Rout die Honneurs gemacht, d. h.
nach hieſiger Sitte die Appartements einmal hin und zurückpaſſirt.
Aber wir behandelten eben, ich erinnere mich, das wichtige Thema
der Thieremancipation, ich hoffe darum auf Ihre Entſchuldigung.
Die beiden ältern Schweſtern haben ſich inzwiſchen zurückgezogen, —
ich werde mich bei denſelben verantworten. Erweiſen Sie mir die
Ehre, Sie der jüngſten Tochter des Hauſes, Miß Cöleſte, jetzt zu
[230] präſentiren. Der Moment iſt günſtig, Sie werden die Cour des
Winkels verbeſſern.
Die Cour des Winkels? fragte Moorfeld — was iſt das? mir
iſt Name und Sache dieſes Ausdrucks gänzlich fremd; ich muß um
Erklärung bitten.
Ihnen zu dienen, Sir. Die Cour des Winkels iſt eine amerika¬
niſche Form von Salongalanterie. Ein Kreis von Herren umringt
eine Dame und ſucht ſie im Geſpräche allmälig nach einer Ecke des
Saales zu drängen. Natürlich wird das Geſpräch angenehm, feſſelnd,
intereſſant ſein müſſen. Und zwar ſowohl von Seite der Herren,
als der Dame ſelbſt. Iſt die Dame unzufrieden, ſo wird ſie mit
einer leichten Wendung den Kreis durchbrechen; ſind es die Herren,
ſo wird ſich ihr Ring allmälig auflöſen. Gelingt die Cour des
Winkels aber, d. h. wird die Dame der Ecke glücklich zuge¬
führt, ſo heißt ſie „die Dame des Winkels.“ Sie iſt dann die
Königin des Abends. Wir ſehen, dieſe Art Huldigung ſpielt ein
wenig auf der Grenzlinie der Equivoque. Der Grundgedanke iſt
frivol genug, die Ausführung aber ein Spielraum für Geiſt und
Grazie. Man ſollte die Erfindung für franzöſiſch halten, daß ſie
amerikaniſch iſt, leuchtet in der That nicht recht ein. Jene Dandies
aber — Snobs ſollte ich ſagen — haben vollends keinen Begriff
ihrer Aufgabe. Wie ſie das arme Mädchen umdrängen! Sie er¬
ſticken ſie faſt in dieſer Sommerſchwüle. An ihrer Stelle hätte ich
den Kreis längſt durchbrochen. Aber ſie weiß ſich nicht zu helfen.
Sie iſt noch halb Kind. Hält auch nichts von der Perfectibilität der
Thierſeele. Aber kommen Sie, Sir!
Da blieb keine Wahl. Die Poeſie des Augenblicks hatte jetzt
ihre Muſe. Dort ſtand ſie verkörpert. Sie ſtand auf dem Scheide¬
wege von Saratoga nach Ohio. Moorfeld erkannte die Göttin Gele¬
genheit und verzieh ihr die capriciöſe Wahl ihres Sendlings. Er
nahm den Arm des Engländers an.
Die Herren promenirten die beiden Säle hinab, im Vorbeigehen
an der Gruppe winkte der Engländer mit dem vertraulichen Gruß
des Hausfreundes dem jungen Mädchen zu und ſagte mit einer
Handbewegung gegen Moorfeld: Doctor Muhrfield, a literary gentle¬
man aus Deutſchland.
[231]
Die langen Hälſe der Snobs drehten ſich auf ihren Wirbeln
herum, den Vorgeſtellten neugierig muſternd. Das ſatyriſche Lächeln,
das ſie bei der Annäherung des Lords gezeigt, verſchwand ſofort wie¬
der beim Anblicke Moorfelds. Es machte dem Ausdruck eines ge¬
wiſſen Verdruſſes Platz, einem undefinirbaren Mienenſpiel von Einfalt
und Naſeweisheit, welches verrieth, daß ſie zwar zu dumm waren,
ein höheres Genie als ſich ſelbſt zu erkennen und zu fürchten, aber
doch auch zu feig, ſich ganz behaglich und ſicher dabei zu fühlen.
Jedenfalls wies ſich dem Ankömmling eine Gallerie von übelwollenden
Geſichtern. Moorfeld ließ ſich das nicht anfechten. Sein Auge
feierte den Anblick Cöleſtinens. Es war zum erſten Male, daß er
ihr in Front gegenüberſtand. Damals hatte er ſie aus einer ge¬
wiſſen Ferne und nur flüchtig geſehen; auch trug ſie an jenem Mor¬
gen ein Peignoir und eine Coiffüre von kleinen Ringellöckchen; heute
war ſie à l'enfant friſirt, und das glatte Leibchen ihrer eleganten
Robe von indiſchem Muſſelin hob ihre feine Taille eben ſo edel her¬
vor, als jener Morgenüberwurf ſie dem Blicke verhüllt hatte. Kurz, die
äußere Erſcheinung bot zwei ganz verſchiedene Bilder, und Moorfeld er¬
ſchrack faſt, wie treu er das eine feſtgehalten. Auch die Geſichtszüge
des Mädchens ſchienen nicht geeignet, der Imagination ſich ſcharf ein¬
zuprägen; da ſie Blondine war, ſo fiel der Begriff einer „markirten”
oder „ausdrucksvollen” Schönheit von ſelbſt weg. Fänden wir es
nicht tadelnswerth, das Lebendige durch ſeine eigene Nachahmung zu
definiren, ſo würden wir mit dem ſchlechten, aber viel gebrauchten
Behelf, unſer Kunſtmittel einer andern Kunſt zu entlehnen, uns etwa
ſo ausdrücken: nicht die Zeichnung, ſondern das Colorit war das
Bezaubernde ihres Kopfes, ſie war kein Buonarotti, ſondern ein Guido
Reni. Die Roſe der Geſundheit war zu dem zarten Roſa der
Mandelblüthe auf ihren Wangen verfeinert, der Strahl ihres Auges
leuchtete weich und mild wie Mondesſtrahl und hatte etwas Ueber¬
wachtes, einen Dämmer ſüßer Müdigkeit, welchen die fatiguirteſte
Ariſtokratin dem kleinen verwöhnten Bürgerkinde Newyorks beneidet
hätte. Es ſchien ungefährlich, in dieſes Auge zu ſehen. Es athmete
einen Ausdruck von Ruhe, welche capuaniſch ſicher machte. Der Be¬
ſchauer vertiefte ſich darin mit vollkommenſter Freiheit; aus dem
Arſenal der Mädchenwaffen zuckte ihm keines der wohlbekannten
[232] Geſchoſſe entgegen. Aber eine ſchwüle Atmoſphäre, ein narkotiſcher
Duftnimbus zitterte mit magiſchen Schwingungen um den ganzen
Horizont dieſes Mädchens und überwand alle Seelenkräfte. Die Ruhe
ihres Anblicks war orientaliſche Ruhe. Die Phantaſie fühlte ſich vor
ihrem Bilde wie in ihrer Urheimath und all ihre Kulturfrüchte wuch¬
ſen wild in dieſem Clima. Das war das Feſſelnde, das Unvergeßliche
auch ihres flüchtigſtens Anſchaun's.
Das Mädchen erwiederte die Vorſtellung Moorfeld's mit einer
der üblichen Redensarten, woran ſie die Frage reihte: Sie kommen
aus dem alten Lande, Sir? Wie gefällt Ihnen Newyork? Die
junge Amerikanerin that dieſe Frage — deutſch.
Moorfeld antwortete ſogleich mit einer Anſpielung auf dieſen Um¬
ſtand : die Stadt wendet viele Kunſt daran, auf ihre Weiſe ſchön zu
ſein; aber es ſind doch nur die ſchönen Schöpfungen der Natur,
welche uns überall heimiſch anſprechen.
Cöleſte ſchlug das Auge nieder und gab ſich Mühe, ein geſchmei¬
cheltes Lächeln zu verbergen. Auch unterdrückte ſie den Eindruck die¬
ſer Antwort ſogleich mit der neuen Frage: Kommen Sie unmittelbar
aus Deutſchland, Sir?
Die Snobs vermerkten mit großem Mißvergnügen die Abſicht
ihrer Huldin, den Ankömmling im Geſpräche feſtzuhalten. Sie gaben
dieſe Seelenregung durch ein unartiges Scharren mit den Füßen zu
erkennen, indem ſie demſelben einen Platz in ihrer Mitte einräumten.
Der Engländer hatte den Tact, ſich zu entfernen.
Moorfeld aber war nicht geſtimmt, conventionell zu antworten.
Er benutzte das Terrain der Poeſie, das ihm das Gegenüber dieſes
reizenden Mädchens bot, und ließ den dithyrambiſchen Flutungen
ſeiner Begeiſterung jetzt freien Lauf.
Ich komme zunächſt von Cuba, Miß, antwortete er ohne Anſtand.
Von Cuba? rief Cöleſte mit einem Anflug von Schwärmerei —
ah, wie herrlich! Da haben Sie die Perle der Welt geſehen!
Ich gehe ſeitdem wie mit einem Gefolge unſichtbarer Genien.
Die Bilder, die Schatten dieſes Paradieſes ſind eine ſelige Begleitung
auf jedem meiner Schritte. Noch umwölben mich — doch ich bin
egoiſtiſch. Warum ſoll ſich dieſer Saal nicht in einen Salon de
verdure verwandeln, der die Königin der Antillen uns vergegen¬
[233] wärtiget? Kann die Phantaſie dieſen Zauber vollbringen, dann
umwölben uns die Laubdome großblättriger Bignonien und Piſang's,
hoher luftiger Caſſien, ſtolzer und mächtiger Latanen, deren Blätter,
an langen Schaften gerollt, einer grün glänzenden Sonne gleichen;
es umſchattet uns der dunkle, majeſtätiſche Lebensbaum, und ſein präch¬
tiger Contraſt, der helle, glänzend belaubte Kampher; die Magnolie,
die ihre breiten Roſen hoch trägt, das ganze Gebüſch beherrſcht und
keine Nebenbuhlerin als die Rieſenpalme hat, welche mit leichter Grazie
ihre grünen Fächer in den Lüften ſchaukelt, der Wollbaum, bewaffnet
mit ritterlichen Stacheln, der weithin die dicken Aeſte verbreitet und
ſeine gefingerten Blätter in bewegliche Maſſen gruppirt; weißſtämmige,
großgeblätterte Cecropien werfen ihr phantaſtiſch durchbrochenes Gitter¬
werk zwiſchen uns und das Himmelsblau und ein Heer von namen¬
loſen Waldkoryphäen erdrückt uns in ſeinen bilderreichen Korallen¬
armen. Ein Volk von buntgefiederten Papageien ſchwirrt über uns
hin, läßt ſich ſchreiend auf Blüthengipfeln nieder und pickt in ſaftige
Granaten. Durch undurchdringliche, tauſendfarbige Schmarotzerpflanzen,
Convolven und andere Waldparaſiten ziehen ſich Schnüre blattloſer
milchiger Lianen, die mit ſpiralförmigen Stengeln bald von ſtolz¬
wogenden Gipfeln fallen, bald freiſchwebende Guirlanden bilden, welche
von unſichtbaren Feenhänden getragen ſcheinen. Die Buffi's des ſüd¬
lichen Thiertheaters, die Affen, ſpringen humoriſtiſch von Zweig zu
Zweig, ſchüchtern flieht die Gazelle in tieferes Gebüſch, ſchmelzend er¬
hebt die Nachtigal aus traumhaftem Walddunkel ihre Liebesklagen,
während die hellen Töne der Cicaden durch ihre Monotonie die Seele
in ſüße Melancholie verſenken. Myriaden glänzender Käfer durch¬
ſchwirren die Luft und blicken gleich Edelſteinen aus herrlichen Blumen.
Unſchädliche Schlangen wetteifern an Glanz mit den Farben des
Regenbogens, und ſchauckeln ſich gleich Lianen von den Gipfeln der
Bäume. Pfeilſchnell durchſchwirrt der Kolibri, der kleine Liebesgott
der Blumen, ſein immer blühendes Serail. Von Bewegung ein Vogel,
von Pracht und Feuer ſeiner Farben ein fliegender Smaragd oder
Rubin, nennen wir ſeine Familien ein Potoſi in der Luft. Dieſes
Paradies umfluthet uns Tag und Nacht mit Duftwellen, welche gleich
Weihrauchwolken gegen den Himmel wallen, daß der kühnſte Luft¬
ſchiffer die Grenze ihres würzigen Bezirkes nicht erreichte. Die
[234] kleine chineſiſche Thuja und die königliche Magnolia vermiſchen nach¬
barlich ihr Aroma. Die zarte Vanilleblüthe, der ſüßathmende Orangen¬
hain, Auen von honigreichen Paullinien und die würzigen Blumen¬
büſchel unzähliger Palmenarten unterhalten eine Ebbe und Flut von
Wohlgerüchen. Waſſerfälle, die ſich unaufhörlich ihr eigenes Grab
wühlen, contraſtiren mit natürlichen Springbrunnen, die ihren Giſcht
fröhlich gegen Himmel ſpritzen und wetteifern im Aushauch erquickender
Kühle. Dort ſchlummert ein Wieſengrund ſanft in eines Stromes
traulicher Umarmung. Kolokinthen kriechen vom Fuße der Tulpen¬
bäume bis zu ihren Gipfeln empor und bilden hundert Grotten, Thore
und Dächer; ſie ranken von Zweig zu Zweig über Bäche und Flüſſe
hinweg, und hängen Blumenbrücken zwiſchen den dichtbewachſenen Ufern
auf. Mimoſenbäume folgen den Windungen mäandriſcher Flußränder
und umſäumen ſie maleriſch mit Doppelcolonnaden: der Abend ſinkt
nieder auf ſie; ſie falten ſchlaftrunken ihre Blätter zuſammen. Seine
Blätter ſchließt in den abendrothen Flußwellen der Lotos, die heilige
Blume, die das Leben bedeutet, das keuſche Myſterium der Weiblichkeit.
Von den hohen Stämmen der Cedern hängt weißbärtiges Moos
herab, — der Wanderer hält es für eine Geiſtererſcheinung in
Dämmerlüften, aber das Nachtgeſpenſt hat keine Schrecken hier; denn
jeder Lebendige fühlt, dieſer Boden müſſe noch den abgeſchiedenen Geiſt
feſthalten, wie er den genießenden Sinnenmenſchen beglückt hat.
Moorfeld hatte im Fluſſe dieſer Schilderung Cöleſten ununter¬
brochen ins Auge geſehen und ein leiſer, lächelnder Zug ſagte das
Uebrige. Das Mädchen errieth bald, daß Moorfeld aus dieſem Auge
heraus und nicht aus einer Reiſeerinnerung dichtete, daß ſie ſelbſt
das Motiv dieſer Arabesken, daß ſie ſelbſt Cuba ſei.
Gleichzeitig hatte Moorfeld einige jener bedeutungsvollen vorſchrei¬
tenden Bewegungen verſucht, aus welchen Cöleſte erkannte, daß der
Fremde mit der „Cour des Winkels“ bekannt ſei. Sie gab unver¬
merkt dieſen Bewegungen nach.
Das Alles war ſtummes Spiel. Das Mädchen erwiederte die
Beſchreibung von Cuba aber auch mit einigen Dankesworten. Die
Dandies on short allowance gebärdeten ſich dabei wie Vergiftete.
Einer derſelben (er mochte den Gedanken irgendwo geleſen haben)
antwortete ohne Weiteres: Pah, was mach' ich mir aus den Tropen!
[235] Es iſt weltbekannt, die Tropen haben noch keinen großen Mann
geboren.
Aber wenig große Männer gab's, die nach den Tropen ſich
nicht geſehnt hätten, antwortete Cöleſte, das Mädchen, das der halb
tolle Engländer für ein Halbkind ausgegeben.
Moorfeld machte die Geberde eines Suchenden und erwiederte
augenblicklich: War mir's doch ſo eben, Sie hätten einen Juwel ver¬
loren, Miß.
Zur Antwort trat Cöleſte zurück, gleichſam wie man einem
Suchenden Platz macht, aber es war eine Bewegung gegen den
Winkel!
Unſer Freund geſtand ſich bald, daß dieſe „Cour des Winkels“
eine höchſt liebenswürdige Nationalſitte ſei und die Telegraphie des
Unausſprechlichen im Schooße der Convenienz recht anmuthig und
glücklich bereichere.
Cöleſte indeß fuhr fort: Wenn ich rathen darf, Sir, ſo haben
Sie gewiß auch den hohen Norden beſucht? Bitte, erzählen Sie
uns etwas Freundliches von dem Eismeer.
Etwas Freundliches von dem Eismeer! Moorfeld berichtigte ſein
Urtheil ſofort dahin, daß die Dame des Winkels ihren Pfad doch
auch ein wenig epineuſe machen könne, vorausgeſetzt, daß ſie
die Caprice geſchickt zu handhaben wiſſe. Er blickte der kleinen
Verſucherin in's Auge, das ſo unſchuldig ſah, als ob es ſich nicht
fern ſeiner Schelmerei bewußt wäre. Aber auch er blieb ſicher, die
Phantaſie war ihm bereit. Mit freudiger Rüſtigkeit, wie ein Vogel
die thaubenetzte Schwinge ſchüttelnd zur Sonne auffliegt, griff er in's
Füllhorn der Inſpiration. Er antwortete:
Sie haben richtig gerathen, theure Miß. Auch der eisſtarrende
Norden hat meine Reiſeluſt in ſeinen ſtrengen Bann zu zaubern ge¬
wußt. Aber wahrlich, es erlebt ſich nichts Freundliches dort. Wo
der Eskimo ſich und ſeine Lampe aus ein- und derſelben widerlichen
Thranquelle nährt; wo der überwinternde Europäer ſeine Hand wie
einen Handſchuh verliert und vor Hunger ſeinen Handſchuh verſpeist
wie eine delicate Bärenklaue: dort iſt die Erde nicht freundlich. Höch¬
ſtens könnte ich das Nordlicht beſchreiben; aber ſeit Lord Byron ſich
ein Nordlicht in Verſen nannte, hat die faſhionable Welt dieſe hehre
[236] Naturerſcheinung hinlänglich ſtudirt. — Moorfeld genoß den Triumph,
daß die Snobs um ihn her bereits triumphirend und auch Cöleſte
zweifelnd, wenn nicht enttäuſcht blickte. Aber eben das wollte er.
Er machte eine kleine „Kunſtpauſe“ und fuhr dann mit einem leichten
Selbſtbelächeln dieſer Koketterie fort: Zu glücklich preiſe ich mich daher, daß
mich deßungeachtet das Eismeer mit einem Bilde beſchenkt hat, welches mir
ewig als der ſchönſte Augenblick meines Lebens vorleuchten wird. Es war in
der Baffinsbai. Wir lagen an einem Eisberge vor Anker, rings um uns her
große, gewaltige Eismaſſen, funkelnd und farbenſpielend unter den Strah¬
len der Mittagsſonne. Das Wetter war ruhig, der Himmel blau und
klar. Ein Theil der Mannſchaft war ans Land gegangen, um Eier
von wilden Seevögeln zu ſammeln, welche an den einſamen Felſen
und Abgründen der Baffinsbai niſten. Die übrige Schiffsbeſatzung,
ermüdet von den Anſtrengungen des vorhergegangenen Tages, hatte
ſich der Ruhe in die Arme geworfen. Ich ging allein auf dem Ver¬
decke auf und ab, die ganze Natur um mich her feierte ein tiefes,
erhabenes Schweigen. Da bemerkte ich in der offenen See einen un¬
geheuren Eisberg, der in der Mitte durchbrochen war, ſo daß er eine
Art Tunnel bildete. Ich konnte mich nicht erinnern, gehört oder
geleſen zu haben, daß ein Reiſender in den arktiſchen Regionen etwas
Aehnliches geſehen hätte. Die Neuheit der Sache reizte mich, ich
beſchloß die Fahrt durch dieſen Eistunnel. Bald fand ich auch
zwei Matroſen, die bereit waren, mich zu begleiten. Das kleine
Boot wurde ausgeſetzt, die Entdeckungsreiſe angetreten. Wir näherten
uns dem Koloß und erkannten, daß in der Höhle Waſſer genug war,
dem Boote die Durchfahrt zu geſtatten. So wagten wir denn das
Abenteuer. Wir ruderten langſam und ſchweigend in die Pforten des
Eisberges hinein. Es war ein feierlicher Augenblick. Ich durfte
mir ſagen, daß ich jetzt ſah, was kein Menſch vor mir geſehen,
und nach mir kaum wieder einen ſehen wird. Denken Sie ſich
einen ungeheuren Bogengang, breit, hoch, kühn geſpannt und ſo
regelmäßig gebildet, als ob er vom geſchickteſten Baumeiſter aus¬
geführt wäre, an allen Stellen ſo glatt und eben, wie es nur der
ſorgfältigſt polirte Alabaſter ſein kann, denken Sie ſich das Ganze als
eine halb durchſichtige Maſſe von der wunderbarſten, ſchönſten Opal¬
farbe — kurz einen Broadway aus Kryſtallglas gegoſſen, und die
[237] ſelbſt errichtet. Es war ein kühler, bläulicher Dämmerſchein, zu
durchſichtig für die Nacht, zu gedämpft für den Tag, ein weicher
Perlenglanz, ein filtrirter Mond, ein klarer, duftig laſirter Mittel¬
ſchatten, der ſich wie Balſam auf das Auge legte. Ein wonnevolles
Licht! Es berührte den Sehnerv ſo geiſterhaft, ſo züchtig, möchte
ich ſagen, daß ſich alle Sinne in Ruhegefühl tauchten, und doch war
der Zuſtand Begeiſterung und das ganze Daſein eine ſelige Aufregung.
Cöleſte ließ die langen ſeidenen Wimpern über ihr ſchönes Mond¬
auge fallen. Moorfeld hielt inne, als ertrüge er den Verluſt dieſer
dichteriſchen Quelle nicht, oder beſänne ſich, wie weit er überhaupt, ohne
die Allegorie zu nahe zu legen, von ſeinem Zauberlichte ſprechen dürfte.
Nach einer Pauſe fuhr er fort: Als wir ungefähr in die Mitte
unſers Tunnels vorgedrungen waren, änderte ſich auf einmal die
Scene. Eine überirdiſche Helle verbreitete ſich in der Grotte. Ver¬
wundert blickten wir auf, und ſiehe! die ganze Kuppel des Eisgewöl¬
bes entlang regnete es Sonnenſtrahlen herein. An Einer Stelle
ſchoſſen ſie in dünnen Goldfäden, an einer andern in breiten Feuer¬
garben nieder, hier fielen ſie in ſtumpfen, dort in ſpitzen Winkeln,
hier direct, dort gebrochen ein — wir ruderten unter einem Kreuz¬
feuer von prismatiſchen Raketen. Wo das Licht unmittelbar den
Spiegel der Eiswände traf, loderten ſie auf wie geſchmolzenes Gold
und Silber; Parthien, die in Schatten lagen, contraſtirten mit einem
tiefkräftigen Dunkelblau voll Ernſt und Majeſtät dazwiſchen, und der
Uebergang von der blendendſten Strahlung zum vollſten Schatten be¬
lebte den Bogengang mit einer Scenerie von Schein und Widerſchein,
von Licht- und Farbenſpielen, die ſich mit jedem Ruderſchlag bilder¬
reich auflöste und bilderreicher zuſammenſetzte. Wir trieben in einem
unermeßlichen Kaleidoſkop. Unſre Sinne umſpannten die Pracht die¬
ſes Schauſpieles nicht mehr. Der Sinnenmenſch war todt, die Erde
verſchwand vor mir, ich war ein ſeliger Geiſt, die Pforten des Para¬
dieſes ſchienen mir aufgethan. Welch ein verklärender Wechſel! Die
Eisgrotte, eben noch ein kühler, dämmeriger Knoſpenkelch, ſchlummerte
traumblöden Zauberſchlaf — ein Strahl von oben traf ſie — und
die Undine hatte ihre Seele empfangen!
Das Auge des Mädchens blitzte auf. Es begegneten ſich ſpre¬
chende Blicke. Eine Pauſe — Moorfeld fuhr fort:
[238]
Einige Secunden lang berauſchte dieſe Scene uns völlig. Allmälig
kehrte der Gebrauch der äußeren Sinne wieder zurück. Und jetzt ge¬
ſchah uns ſonderbar. Wir bemerkten, daß das Meer um uns her in
einen Wellenſchlag gerieth. Auch die Wände des Eisberges ſchienen
außer der Ortsveränderung unſeres Bootes einer ihnen eigenthüm¬
lichen Bewegung zu folgen. Der Eisberg ruhte nicht, er ſchwamm.
Gleichzeitig zeigte ſich's, daß die Lichtzugänge ins Berginnere ſich ab¬
wechſelnd ſchloſſen und öffneten und zwar in ziemlich raſcher Folge des
Einen wie des Andern. Bei dieſer Beobachtung wurde uns über¬
haupt der Grund dieſes Lichtzufluſſes klar. Wir entdeckten, daß der
Eisblock in ſeiner ganzen Breite von Einem Ende zum andern —
zerborſten war! Dieſer Riß war es, der zu Häupten uns den Him¬
mel öffnete, indem er zu Füßen uns den Todesabgrund legte. Der
ſchwimmende Eiscoloß konnte in jedem Augenblick in ſich zuſammen¬
ſtürzen. Mit angehaltenem Athem flüſterte ich dieſe Entdeckung mei¬
nen beiden Gefährten zu. Sie nickten mir ſtumm zurück und die
Bläſſe ihrer Mienen zeigte, daß ſie unſern Zuſtand bereits kannten.
Unſre Lage war fürchterlich. Wir ſahen vor und hinter uns, überall
ſchien der Ausweg eine gleich lange Bahn von Gefahr. Wir lauſch¬
ten mit wirbelnden Sinnen, in welcher Richtung die Meeresſtrömung
treibe; aber die Wellen taumelten unregelmäßig durcheinander. End¬
lich legten wir inſtinctmäßig die Ruder ein, Jeder von uns empfahl
im Stillen ſeine Seele, und pfeilſchnell ſchoſſen wir die Eiswände
dahin. Glücklich gelangten wir unter den freien Himmel hinaus.
Ein donnerndes Hurrah der Matroſen begrüßte ihn. Noch hatten
wir unſer Schiff nicht erreicht, da krachte die mürbe Eismaſſe zuſam¬
men, regte das Meer weit und breit auf und erfüllte es mit ihren
Trümmern. Traurig ſah ich ſie treiben. Sie hatten mir einen
Hochpunkt des Lebens geſchenkt, und leicht vergaß ich, daß ſie bald
das Leben ſelbſt dafür gefordert. Aber gibt ſich die Schönheit über¬
haupt wohl für geringeren Preis? — Das, verehrteſte Miß, iſt es,
was ich „Freundliches aus dem Eismeere berichten kann.“
Das junge Mädchen war mit regſamſter Phantaſie dieſer Er¬
zählung gefolgt. Sie hatte zuletzt vergeſſen, daß ſie Dichtung höre,
ſie hatte der „Cour des Winkels“ vergeſſen, und wie ſie ihre Aner¬
kennung innerhalb dieſer Sitte ausdrücken könne. Gefeſſelt ſtand ſie
[239] an ihrem Platze, und erhob ihr Auge zaudernd, faſt furchtſam jetzt wieder
zu Moorfeld, indem ſich ihr Mund zu irgend einer Erwiederung öffnete.
Aber nicht ihr Wort ſollte Moorfeld vernehmen. Die Gemeinheit begehrte
auch ihres Rechtes. Moorfeld ſollte erinnert werden, in welcher Umgebung
er ſtand, und daß er die Höhe dieſes Augenblicks nur der Niedrigkeit
abkämpfen könne. Derſelbe Menſch, welcher zuvor geſprochen, trat
jetzt wieder als Wortführer ſeines Cötus auf und ſagte raſch, in der
deutlichen Abſicht, jedem andern Eindrucke zuvorzukommen: Wahr¬
haftig, Sir, Sie haben ſchöne Reiſen gemacht, das iſt ein Factum.
Reiſen, will mich bedünken, iſt überhaupt das beſte, wozu ein Gentle¬
man ſeine Mittel und ſeine Muße verwenden kann. Es hilft entweder
große Lebensweisheit erwerben, oder mindeſtens — eine große Leere
ausfüllen.
Sehr wahr, Sir, antwortete Moorfeld gemeſſen, aber leider ſehe
ich Viele zu Hauſe bleiben, welche namentlich in letzterer Beziehung
das dringendſte Motiv hätten, auf Reiſen zu gehen.
Moorfeld begleitete dieſe Zurechtweiſung mit einem entſprechenden
Blicke. Sein Widerſacher war eine echte Rowdy-Geſtalt. Er hand¬
habte eine Baguette, lang und dünn wie eine Macaroni, und fuchtelte
höchſt ſittſam gegen ſein grotesk chinirtes Beinkleid damit. Alle
Faſſung aber benahm es, zu ſehen, daß der Menſch in zweierlei
Schuhen ging: der eine lief in eine Spitze zu, der andere war breit
abgehackt. Moorfeld erfuhr bei einer ſpätern Gelegenheit, daß es ihm
eine ſtarke Wette gegolten, in ſolchem Fußzeug Bennet's Salon zu
beſuchen. Uebrigens genoß er vor ſeinen Cammeraden die Auszeich¬
zeichnung einer ſchönen und tüchtigen Männerfigur, die ihre Ver¬
ballhornirung in forcirter Frechheit und Albernheit doppelt be¬
dauern ließ.
Der Rowdy antwortete: Wir Amerikaner kommen weniger zum
Reiſen, als irgend ein Volk der Welt. Denn erſtens haben wir zu
viel zu thun, und zweitens reist ſich's nur als Garcon leicht; der
Amerikaner aber heirathet früh, und das iſt jedenfalls das beſte was
er thun kann.
Allerdings, die Ehe beſſert, ſagte Moorfeld.
Was wollen Sie damit ſagen, Sir? Bedarf unſre Jugend in Ihren
Augen der Beſſerung?
[240]
Ich hoffe nicht, daß ihr die Fähigkeit dazu abgeht. Beruhigen
Sie ſich übrigens. Die Frage geht zur Hälfte auch die Frauen an.
Und ich geſtehe Ihnen gern, ich kenne Amerika's Frauen wenig.
Darf ich mir ein Urtheil erlauben, Sir, ſo ſind Sie überhaupt
ein Verächter des Geſchlechts?
Ich bedauere, daß Sie einen ſo barbariſchen Einfall ein Urtheil
nennen. Woraus ſchöpfen Sie dieſes ſogenannte Urtheil?
Aus Ihren Reiſen, Sir. Wo die Phantaſie auf ſo großartige
Bilderjagden auszieht, dort iſt das Herz ſchwer zu feſſeln. Sie haben
zwiſchen Tropen und Pol viel Schönes geſehen, Sir, aber wir ſind
zu Hauſe geblieben, Sir, und ſehen Sie, Sir, wir haben der Schön¬
heit doch voller und unmittelbarer in's Auge geſchaut.
Wir brauchen kaum zu bemerken, in welcher Haltung Cöleſten
gegenüber dieſe Worte geſprochen waren. Der Sprecher bemühte ſich
offenbar, ſein Geſpräch ſo beziehungsvoll als möglich zu wenden.
Aber Moorfeld hatte kein Intereſſe ihn hier zu ſtören, ſondern nur zu
überbieten. Er antwortete:
Was Sie an Ihrem Platze Holdes und Vortreffliches bewundern,
das geſtehe ich Ihnen von ganzem Herzen zu, Sir. Ich ſagte es ja:
ich kenne Amerika's Frauen wenig. Und ſehen Sie, Sir, daß ich
ſelbſt jetzt an dieſem Platze ſtehe, das ſpricht nur für das Prinzip
der Reiſen: wie wäre ich ſonſt hergekommen? Weiber erfüllen freilich
die ganze Welt; aber die ganze Welt will auch durchwandert ſein,
um das Weib zu finden, das Idealweib, die Blüthe und den Hoch¬
begriff ihres Geſchlechts.
Cöleſte blickte fragend auf. Es war faſt ein kindlicher Zug von
dem Mädchen, daß ſie naiv zweifelte, ob ſolch ein hohes Wort für ſie
geſprochen. Moorfeld's Auge aber mußte ſie hinlänglich orientirt haben,
denn ſie ſchlug das ihre nieder und — gewährte als „Dame des Winkels“
Raum zwiſchen ſich und Moorfeld, den dieſer ſogleich einnahm.
Der Rowdy warf ſich in Fechterpoſitur.
Nun, bei Gott, rief er emphatiſch, ſo möchte ich mein Vaterland
nicht hintanſetzen! Sie werfen auf die Frauen Ihres Vaterlandes
ein Licht, Sir —
Erlauben Sie, Sir. Das Wort Vaterland hat einen vollgehalti¬
gen Begriff in der Politik. Der Amerikaner denkt ſich ein lebens¬
[241] volles, reichgegliedertes Gewebe von Parteiungen, Standpunkten, In¬
tereſſen und Vortheilen darunter, — vielleicht denkt er ſich auch
Mädchenblick und Händedruck darunter. Es ſteht ihm das ganz frei.
Ich aber bitte Jeden, mich aus dem Spiele zu laſſen, der ſo geiſtreich
iſt, eine ſo große und rein menſchliche Sache unter einem beſchränkten
Horizont zu betrachten: dieſe Beſchränkung heiße nun Vaterland oder
wie immer.
Cöleſte ſah den Dandy mit jenem Auge an, welches ſagt: was
willſt Du darauf antworten? Zugleich näherte ſie ſich wieder dem
„Winkel“.
Der Nebenbuhler knirſchte. Aber er ſchien entſchloſſen, die Parthie
nicht aufzugeben. Das Idealweib! ſagte er achſelzuckend. Man muß
das Weib auch mit ſeinen Schwächen lieben können.
Ich gebe Ihnen noch mehr zu, antwortete Moorfeld, nicht nur
mit, ſondern wegen ſeiner Schwächen! In den idealen Zügen der
Weiblichkeit dürften die Schwächen wahrlich nicht fehlen. Nur müſſen
es auch wieder gewählte Schwächen ſein.
Das iſt unverſtändlich, ſagte der Andere.
Verzeihung, Mr. Howland, das finde ich nicht, wendete Cöleſte
ein. — Bei dem Namen Howland erkannte Moorfeld auf einmal
ſeinen Mann. Er ſah jenen Rowdy-Elegant wieder, den er zuerſt
als Commandant eines Löſchbataillons ſein ritterliches aber kokettes
Weſen treiben geſehen. Er verwunderte ſich nicht wenig, daß man
ſolchen Straßenhelden auf dem Parquet des Salons begegnen könne.
Howland antwortete kurz, faſt rauh: Nun wohl, es iſt nicht un¬
verſtändlich. Sie haben Recht. Ich brauche auch nur jene Geſchöpfe
zu ſehen, die wir hier deutſche oder vielmehr heſſiſche Mädchen heißen,
ſo verſtehe ich ſehr wohl, was Sie gewählte Schwächen nennen. Es
iſt eine Argumentation durch's Gegentheil.
Mich dünkt, um nicht pöbelhaft zu ſprechen, ſpreche man überhaupt
von dem Pöbel keiner Nation, ſagte Moorfeld nachdrücklich. Cöleſte aber
trat begütigend dazwiſchen: In der That, meine Herren, wir können
hier unmöglich eine Gelegenheit zu Mißverſtändniſſen haben. Der
Ruf der deutſchen Mädchen erfüllt ja die Welt. Ihr weiblicher Cha¬
rakter iſt anerkannt der liebenswürdigſte, ja er wird oft für den muſter¬
giltigen ſelbſt gehalten. Haben wir nicht deutſch gelernt, um jener
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 16[242] Uhland'ſchen Königstöchter, um jener Goethe'ſchen Gretchens und Klär¬
chens willen, die in der ſchlichten Tiefe, in der ſüßen Innigkeit, in
der duftigſten Zartheit und gewagteſten Kraft ihrer Empfindung als
reizende Typen des Geſchlechtes, ja als der weibliche Genius über¬
haupt uns erſchienen ſind? Warum wollten wir dieſe Wahrheit leugnen,
Mr. Howland?
Der leichte Seufzer, womit das ſchöne Kind Newyork's dieſes Wort
begleitete, ſchien unſerm Freunde nicht ohne einen Anflug graciöſer
Koketterie. Er hätte das weibliche Herz ſehr mißverſtanden, wenn er
dieſe Anerkennung nicht mit einer leichten Schattirung von Mediſance
erwiedert hätte. Er antwortete:
Sie überzeugen mich auf's angenehmſte, verehrte Miß, daß der
Schönheitsadel aller Nationen mit Leichtigkeit an ſeinen gemeinſamen
Familienzügen ſich erkennt. Sie nennen glänzende Dichternamen als Träger
des deutſchen Frauenruhms und umgehen es mit Zartſinn, daß nur
die eigene Vortrefflichkeit das Verſtändniß des Vortrefflichen vermittelt,
und daß der goldenſte Dichtermund ohne ſympathetiſche Herzen ſo
ſtumm wäre, als ſpräche er in einem Luftballon jenſeits der Grenze,
wo die Atmoſphäre den Schall nicht mehr fortpflanzt. Aber ich muß
mich vertheidigen. Nicht aus Widerſpruchsluſt, ſondern nur, damit
die Imputation, welche dieſer ehrenwerthe Gentleman ausſprach, nicht
mehr Wahrſcheinlichkeit gewinne, als ihr gebührt, erlaube ich mir doch
zu bemerken, daß der deutſche Frauencharakter weit entfernt iſt, auf
der Höhe jenes Abſchluſſes zu ſtehen, welcher den, der auch anderer
Länder Menſchen kennen lernen will, als einen Verächter des vater¬
ländiſchen Ideals erſcheinen ließe. Das poetiſche Deutſchland iſt nicht
das wirkliche. Die Dichter ſagen die Wahrheit, aber nicht die ganze
Wahrheit. Der ſchöne grüne Jungfraunkranz könnte immer noch ſchö¬
ner und grüner ſein. Es liegt viel Mehlthau darauf. Empfindung
iſt häufig Sentimentalität, d. h. Empfindung ohne Gegenſtand, oder
ohne großen Gegenſtand; vermeinte Sinnigkeit bedeutet oft die Ab¬
weſenheit der Sinne, und jene kühle, nur deutſchen Mädchen eigen¬
thümliche Schwermuth, welche aus dem dunklen Bewußtſein geiſtiger
Kraftloſigkeit kommt; durch den Blumenflor aller weiblichen Tugenden
ſchleicht ſich die Prüderie und pinſelt die ſchönſten Roſen mit Zinober
an, gleichſam um mit Pferdekraft zu erröthen. Es iſt viel Schwäch¬
[243] liches, viel Abgeſtandenes in dem blaßblonden Geſchlechte Thusnelda's.
Man hat in Deutſchland, oder überhaupt in der alten Welt, einen
Niederſchlag des langen geſchichtlichen Lebens, welchen man Philiſterei
nennt, und wovon Amerika gottlob keinen Begriff hat. Ich bin ver¬
legen, Miß, wie ich Ihnen dieſen Begriff definiren ſoll, denn Philiſterei
iſt nicht ſowohl ein Uebel, als vielmehr der Inbegriff aller Uebel.
Philiſterei iſt Beſchränktheit des Geiſtes und Herzens. Sie entſteht
aus der Pflege des Hergebrachten, aus der Pflege der unveränderlichen Ge¬
wohnheit. Eine ſolche Pflege entwickelt ſtark den Detailſinn, Detailſinn
aber iſt nur bis zu einer gewiſſen Grenze gut. Innerhalb dieſer Grenze
macht man ſeine Sachen ſauber, appetitlich, hat viel Empfindung für's
Formelle, einen gewiſſen Kunſtſinn, iſt in Freundſchaft und Liebe ein
Bienenkorb voll fleißiger Aufmerkſamkeiten. Innerhalb. Drüber hinaus
aber wird's ſchauerlich. Da hat dann der Sinn für's Detail ſo überhand
genommen, daß er höckerhaft auf alle edleren Organe drückt, und Herz,
Phantaſie, Enthuſiasmus, raſche Entſchlüſſe, kühne Ideen, feurige Hin¬
gebungen, das Alles muß elend zu Grunde gehen. Detailſinn verſchlingt
in ſeiner Ueber- und Mißbildung den ganzen Menſchen, der Menſch wird
kleinlich. Dieſe Kleinlichkeit iſt es, welche Philiſterei heißt. Und ich bin
leider das Geſtändniß ſchuldig: Philiſter und Philiſterinnen ſind im
Hauſe der heiligen Germania ein ſehr zahlreiches Genre.
Cöleſte trat, wie verwundert, einen Schritt zurück. Es war aber
nur eine Bewegung gegen den Winkel. Moorfeld's Entgegnung war
aufgenommen, wie er ahnte. Er fuhr fort:
Sie ſelbſt nannten zuvor Clärchen, verehrteſte Miß. Aber die
Spuren der Philiſterin entdecken wir auch in ihr. Wie ſie ihren
aufgeputzten Helden abtätſchelt, ſeinen Sammt und ſeine Ordenskette
anſtaunt, das hat mir nie gefallen. Das iſt philiſterhaft. Das Mäd¬
chen, das ein Bube ſein will, um ihrem Auserwählten die Fahne vor¬
zutragen, mußte ihn überhaupt nicht als Ritter vom goldenen Vließ,
ſie mußte ihn im Reitercollet ſehen wollen, das er in der Schlacht
von Gravelingen trug. So gefällſt du mir am beſten! Aber ſolche
Züge zeichnen den Charakter der deutſchen Mädchen. Nur daß ſie
nicht die Brüſſeler Bürger haranguiren und Gift nehmen, ſon¬
dern zu Hauſe ihre vier Wände haranguiren und den Brakenburg
nehmen.
16 *[244]
Clärchens Entzücken über das goldene Vließ ſcheint mir ſo ſchlimm
nicht, ſagte Cöleſte, indem ſie mit einiger Verlegenheit die Augen
niederſchlug. Wir erinnern uns, daß ſie ſelbſt, nach den Worten ihres
Vaters, in einem „Babel von Bagatell's“ lebte.
Schlimm! antwortete Moorfeld, was könnte das köſtliche Mädchen
ſchlimm kleiden? Ihre weibliche Größe macht vielmehr dieſen Contraſt
des Minütiöſen nothwendig. Schlimm wird das Kleinliche erſt, wenn
die Größe dazu fehlt, oder noch beſſer, wenn das Kleinliche ſelbſt wieder
zu einer Art Ungeheuerlichkeit ausartet. Schlimm war gewiß jene Her¬
zogin von Buckingham. Der Herzog, ihr Gemahl, hatte in einem der
Bürgerkriege Englands das politiſche Verbrechen begangen, ſich beſiegen
zu laſſen und wurde zum Tode verurtheilt. Er beſtieg das Schaffot.
Schon ſchwang der Nachrichter das Schwert über ſein Haupt, da er¬
ſcheint ein Bote von Mylady. Mylady läßt ihrem Manne ſagen —
es wäre doch ſchade, wenn ſeine diamantenen Hemdknöpfchen ein Erbe
des Henkers würden; er möge nicht vergeſſen, ſie im letzten Augen¬
blicke abzulöſen und umgehend zurückzuſchicken.
Welch ein Rabencharakter! rief Cöleſte.
Und doch war das gute Weib, fuhr Moorfeld fort, vielleicht kein
Monſtrum von Herzloſigkeit, ſondern nur von Kleinlichkeit. Sie war
gewohnt, ihre Sachen in Ordnung zu halten. Sie war ein Krüppel
des Detailſinns. Sie war eine Philiſterin.
Cöleſte blickte nachdenklich, faſt in ſich gekehrt. Sie ſah ihre Vor¬
liebe für Bijouterientand offenbar in einem neuen Lichte; ſie war in
dieſem Augenblicke zum erſtenmale über die harmloſe Mädchenliebhaberei
zur Reflexion gebracht.
Mr. Howland, dem der häusliche Charakter des jungen Mädchens
natürlich bekannter war, als unſerm Fremden, der nur in flüchtiger
Converſation davon gehört, wußte dieſem Anflug von Beſtürzung auch
beſſer auf den Grund zu blicken, und glaubte davon gewinnen zu
können. Jetzt, dachte er, ſei der Augenblick gekommen, den läſtigen
Gaſt aus dem Felde zu ſchlagen. Er ergriff die Gelegenheit, ſich um
das beunruhigte Kind verdient zu machen und die Ausfälle auf den
Nebenbuhler zu erneuern. Mit einer Siegesgewißheit, die bereits
Schadenfreude ſelbſt war, nahm er das Wort:
[245]
Ihr Urtheil drückt auf das zarte und leicht verletzliche Geſchlecht mit
einer Laſt, ſagte er zu Moorfeld gewendet, die ich faſt grauſam nennen
möchte. Sie verbinden, Sie ziehen Schlüſſe, Sie combiniren Cha¬
rakterzüge der unſchuldigſten und gravirendſten Art mit einer ſo dra¬
koniſchen Logik, daß Sie den Charakter des Weiblichen eigentlich auf¬
heben zu wollen ſcheinen. Wenigſtens ſehe ich nicht, wie vor der
Methode Ihres Urtheilens zwiſchen dem Liebenswürdigen und dem
Abſcheulichen noch eine Unterſcheidung beſtehen ſoll, wenn die leichteſte
Nüance eine Art Hängebrücke abgibt, auf welcher der kecke Fuß des
Conſequenz-Kundigen ſchwindelfrei hin und wieder hüpft. Was Sie
Detailſinn oder Sinn des Kleinlichen nennen, wurde mir übrigens
dankenswerth klar in Ihrer Ausführung; ſo klar, daß mir zu Muthe
war, ich ſähe dieſen minütiöſen Sinn gleichſam vor meinen Augen
ſtehen. Und nicht nur jenem Geſchlechte —
Mr. Howland dachte nicht anders, als er würde die Dame des
Winkels mit dieſem Plaidoyer der claſſiſchen Ecke anzunähern im
Stande ſein. Nur ein Schritt war noch zu thun. Aber Cöleſte
gewährte ihm dieſen Schritt nicht. Sie ſtand vielmehr und erwartete
mit unverhohlener Spannung Moorfeld's Antwort.
Moorfeld unterbrach ſeinen Gegner in dem Augenblicke, als jener
eine directe Injurie ausgeſprochen hatte und noch fortzuführen im
Begriffe war. Er unterbrach ihn im Tone eines ruhigen, obgleich
ernſten Verweiſes.
Halten Sie ein, mein Herr, ſagte er. Wenn Sie für Frauen
ſprechen, ſo engagiren Sie Ihr Geſpräch ſo, daß Sie Frauen nicht
erſchrecken. Sie haben herausfordernd geſprochen und wollte ich her¬
ausfordernd antworten, ſo würden wir eine Dame verſcheuchen, die
wir zu feſſeln wünſchen. Alſo nichts mehr von dieſem Genre, wenn
ich bitten darf. Und mehr gegen Cöleſte gewendet, fuhr er fort: Es
iſt wahr, ich ſchließe von kleinen Zügen oft auf den ganzen Charakter.
Dieſe Mikrologie mag ihr Grauſames haben, wenn der Schluß un¬
günſtig ausfällt. Ich gebe das zu. Ich ſehe aber nicht ein, warum
ich den Baum nur am Stamm und nicht auch in ſeinen zarteſten
Ausſpitzungen erkennen ſollte. Und iſt es ein edler Baum, ſo erkenne
ich ſeinen Adel eben ſo leicht an. So hat es einſt mein günſtigſtes
Vorurtheil erregt — aber ich will mir erlauben, den kleinen Zug zu
[246] erzählen. Ich promenirte vor nicht langer Zeit hier auf der Battery.
In einiger Entfernung von mir gingen drei junge Ladies in eleganten
Morgentoiletten die Laubgänge entlang. Sie waren ohne männliche
Begleitung — ſei's, daß ihre Equipage am Eingang des Parks hielt,
oder daß ihr Haus ſelbſt in der Nähe lag, was das wahrſcheinlichſte
war, denn ſie gehörten, wie ich ſehen konnte, jener Geſellſchaftsſphäre
an, welche auf der Battery ihre Reſidenz hat. Dieſen Damen kam
ein Newsboy entgegen, welcher ſeine Zeitung ausrief. Der Junge
handelte aber gleichzeitig noch mit einer andern Literatur und dieſe
rief er eben ſo unverhohlen aus. Ich traute meinem Ohre nicht.
Dicht vor den Mädchen erhob er ſeine Stimme zu einem obſcönen
Proclam, daß mir zu Muthe war, eine moraliſche Pulvermine fliege
vor ihnen auf. Die armen Kinder konnten weder vor, noch zurück,
noch ſeitwärts; der freche Knabe lief ihnen geradezu in den Weg; ſie
mußten hören wohl oder übel. Sie hörten auch. Die Eine begrub
ihr Geſicht in's battiſtene Taſchentuch, die andere wandte das Köpfchen
ſeitwärts, als wäre ſie eben geiſtesabweſend, die Dritte aber ſah ich
ſtille ſtehen. Sie hielt den Jungen an, nahm ihre Perlbörſe zur
Hand, winkte, und im nächſten Augenblicke flog das obſcöne Portefeuille
über den Batterywall ins Meer. Sehen Sie, ſagte Moorfeld, indem
er ſeine Stimme mit einem eigenthümlichen Timbre ausklingen ließ,
dieſer Zug gefiel mir. Den Buben zu ignoriren, ſich zu ſtellen, als
verſtände man ihn überhaupt nicht, war freilich auch mädchenhaft, ſo¬
gar mädchenhafter, aber in jenem Philiſterſinne, von dem ich zuvor
ſprach. Es hatte faſt etwas Komiſches, etwas vom Vogel Strauß,
wenn er ſeinen Kopf in den Sand ſteckt. Die Dritte fühlte das und
trat mit einer edlen Freimüthigkeit aus der kleinlichen Modeſtie heraus,
um nach einer größeren zu handeln. Das Unſittliche war freilich in
der Welt, das konnte ſie nicht hindern; aber ſie ließ es nicht vorüber¬
gehen an ſich. Der Moment, da es an ſie herankam, war auch ſein
letzter. Eine Berührung ihrer reinen Hand und es verſchwand. Das
war äſthetiſch. Es lag eine ſo ſchöne Harmonie in dieſem Zuge, —
man nenne ihn ſcheinlos, wie man will, aber ich ſchäme mich nicht zu
geſtehen, ich würde nach dieſem Zuge jener Dame für ewig eine ge¬
wiſſe Genialität ihrer Weiblichkeit zutrauen.
Moorfeld ſchwieg.
[247]
Cöleſte ſtand da in tiefe Purpurglut getaucht. Sie ſtand da in
einem Momente ihrer höchſten Mädchen-Schönheit. Freude, Scham,
Stolz, der tiefſte Kern ihres weiblichen Bewußtſeins geſchmeichelt, wie
es die Galanterie der Alltäglichkeit auch bei geräuſchvollerer Oſtentation
nimmermehr in ihren Mitteln hat — der ganze Nimbus ihres Ge¬
ſchlechtes umſpielte das reizende Mädchen. Sie wagte nicht zu Moor¬
feld das Auge zu erheben. Er hatte ſie erkannt — der Ton ſeiner
Stimme, der ganze Accent ſeines Vortrages verrieth ihr's. Und wenn
ſie jetzt den letzten Schritt nach dem Winkel zurückthat, ſo geſchah es
kaum noch im conventionellen Sinne, — es war der natürliche Aus¬
druck des Augenblicks; ſie bebte zurück wie eine Venus verſchämt vor
ihrer eigenen Schönheit flüchtet.
Die „Cour des Winkels” war jetzt zu Ende. Aber die Snobs
waren wüthend. Mr. Howland ſann auf eine neue Tücke, ſeinem
Nebenbuhler beizukommen. Und iſolirt wie er ſich ſah, fing er zu decla¬
miren an:
auf einmal blickte Cöleſte auf zu ihm. Der Dandy copirte jetzt ganz
Moorfeld's Attitüde von zuvor. Er warf ſich in ein Air von Be¬
geiſterung, welches das Vorgeben durchſchimmern ließ, den dichteriſchen
Ausdruck allegoriſch zu gebrauchen, er heftete ſeinen Blick ſchwärmeriſch
auf Cöleſten und declamirte aus ihrem Auge heraus:
Das Gedicht heißt „Des Schäfers Botſchaft“ wandte er ſich gegen
Moorfeld, — wie gefällt es Ihnen, Herr Doctor?
Ich begreife zunächſt nicht, wie es hieher gehört, antwortete Moor¬
feld, erzürnt über die forcirte Störung.
Mit Erlaubniß, Sir, ein gutes Gedicht gehört überall hin.
Ein gutes!
Wie, Sir, iſt das Gedicht ſchlecht?
Ganz außerordentlich, Sir.
Hätte Moorfeld bei ſeiner eigenen inneren Fülle jetzt einen Blick
haben können für den verſteckten Geiſt dieſes Augenblicks, ſo hätte
es ihm auffallen müſſen, daß ſich eine eigenthümliche Verlegenheit in
Cöleſtens Antlitz malte, während Mr. Howland mit einer fauniſchen
Schadenfreude ſich die Lippen biß.
Ihre Gründe, Sir! Ihre Gründe! rief der Snob mit einem un¬
gewöhnlichen Eifer.
Gründe! ſagte Moorfeld wegwerfend, mein Gott, ja! ſie ſind
wohlfeiler als Brombeeren hier.
Nun, Sir?
Moorfeld antwortete mit einer Gelaſſenheit, die nur die Bändigung
ſeiner inneren Aufregung war:
Betrachten wir, um einer amerikaniſchen Anſchauungsweiſe entgegen¬
zukommen, das Gedicht zunächſt nur unter der Kategorie der Zweck¬
mäßigkeit. Das Gedicht iſt eine Adreſſe. Es adreſſirt ſich an die Ge¬
liebte. Wie, denken Sie ſich nun, erreicht dieſe Adreſſe ihren Zweck?
Der Kern des Gedichtes iſt der Vergleich eines weinenden Liebhabers
mit einem weinenden Berg. Ein Liebhaber und ein Berg! Der Dich¬
ter hat auch nicht den leiſeſten poetiſchen Inſtinct für die Neben¬
begriffe eines Bildes, ſonſt würde er ſich nicht ſelbſt zum Fallſtaff
machen. Er thut es aber, und ſo iſt der Zweck ſeiner Adreſſe verfehlt.
Die Schäferin ſoll doch nicht einen Fallſtaff lieben? Dies der Neben¬
begriff des Bildes; nun aber das Bild ſelbſt. Iſt das Quellrieſeln
eines Berges ein zweckmäßiges Bild für das Weinen eines Liebhabers?
Warum ſoll der Berg weinen? „Weil noch ſein Lenz nicht kommen
will“? Aber der Berg hat ſeit tauſend und mehr Jahren die Erfah¬
rung gemacht, daß der Lenz regelmäßig kommt. Weinen denn wir,
wenn einmal ein Frühling ſchlecht geräth? Und der Berg hat ungleich
[249] mehr Zeit zu verſäumen. Sie merken alſo, der Gedanke des Gedichts
iſt Unſinn. Und dieſer Unſinn ſoll der Geliebten viel tauſendmal
geſagt werden! Ich danke ſchön. Es liegt auf der Hand, warum
der Dichter ungeliebt iſt. Das Mädchen will von dem langweiligen
Kauz nichts wiſſen. Er kann lange ſingen! Er wird keinen Eindruck
machen. Er ſingt — ich wiederhole es, um Sie mit allen höheren
Diſtinctionen zu verſchonen — er ſingt nicht zweckmäßig.
Howland hatte Mühe, den wilden Freudenglanz ſeines Auges zu
verbergen. Cöleſte ſagte ſchüchtern, faſt bittend: Es iſt ja nur erotiſche
Poeſie!
Moorfeld glaubte, das Mädchen ſtehe für Howland ein, und wolle
ihm mit weiblichem Tacte aus der Klemme helfen. Aber ſelbſt wenn
er dem Gegner dieſe Gunſt hätte gönnen wollen — und es wäre in
in dieſem Augenblicke nicht gemeine Selbſtverleugnung geweſen — er
durfte die Intereſſen der Poeſie nicht preisgeben. Er freute ſich viel¬
mehr, daß Cöleſte ſelbſt an dem Stoffe theilnahm; es gab ihm Ge¬
legenheit, ſich mit jener Wärme des Moments zu äußern, die er vor
dem Andern nur mühſam zurückdrängte.
Voll Eifer antwortete er: Warum, theuerſte Miß, ſoll erotiſche Poeſie
zur Trivialität verdammt ſein? Doch nicht, weil ſie den Frauen ge¬
weiht iſt? Aber in der That, das iſt die Urſache. Die erotiſchen Dichter
begehen alle Einen Fehler. Sie glauben die Geliebte nicht genug
feiern zu können und vergeſſen ſich ſelbſt. Sie raffiniren auf den for¬
cirteſten Ausdruck der Liebe, der Zärtlichkeit, der Ergebenheit, ſie
leiſten das Möglichſte und Unmöglichſte, um Herz zu zeigen, und thun
nichts, um Charakter zu zeigen. Das iſt das Grundübel. Sie opfern
Alle das männliche Element dem weiblichen. So geſchieht's, daß keine
Kunſtgattung mehr Witz aufbraucht, ihre Ausdrucksmittel ſtets zu er¬
neuern und zu verſtärken, und keine rettungsloſer der einen und ewi¬
gen Ohnmacht verfehmt iſt, als die erotiſche Poeſie.
Eine paradoxe Forderung: den Frauen zu huldigen und ſich ſelbſt
dabei zu bedenken, warf Howland ein.
Als ob den Frauen gedient wäre mit Männern ohne Selbſtgefühl!
antwortete Moorfeld. Der erotiſche Dichter gewöhnlichen Schlags
ſcheint es aber faſt zu glauben. Er plagt ſich auf's Ausgeſuchteſte,
die Leidenſchaft zu malen, und vergißt darüber, die Kraft anzu¬
[250] deuten, die von dieſer Leidenſchaft beſiegt worden iſt. Das iſt's, was
ich ſeinen Grundfehler nenne. Denn die Frauen wollen Männer er¬
obert, nicht Strohhalme geknickt haben.
Howland entgegnete aufreizend: Ich finde es ſeltſam, Sir, welche
Mühe Sie aufwenden, ein gutes Gedicht, das Sie herabſetzen wollen,
nach einem Ideale zu meſſen, das nie exiſtirt hat und nie exiſtiren wird.
Beiſpiele, Sir, Beiſpiele!
Endlich haben Sie Recht, rief Moorfeld lebhaft. Beiſpiele!
Dabei allein kann uns wohl werden! Ich diene mit größtem Ver¬
gnügen. Nur die Poeſie ſelbſt kann die Poeſie erklären.
Howland ſah mit finſterſter Miene, wie wenig Verlegenheit er
ſeinem Rivalen bereitet, vielmehr wie glücklich er ihn gemacht zu haben
ſchien. Moorfeld war plötzlich verwandelt, aus Ton und Haltung
verſchwand alle Bitterkeit der Polemik, man ſah, ein Geiſt der Freude
und Befriedigung kehrte in ihm ein, der Wohllaut einer ſchönen, rein¬
geſtimmten Empfindung zog durch ſeine Seele. Mit dieſem Ausdruck
ſprach er folgende Strophen:
[251]
An dieſer Stelle würde ein anderer Liebhaber vielleicht zu ſeuf¬
zen erſt anfangen, ſagte Moorfeld; — der unſrige braucht es nicht.
Die Empfindung an ſich zu halten, iſt unter allen Umſtänden aus¬
drucksvoller, als ſie auszudrücken. Hier der Schauplatz der Weiblich¬
keit — das enge niedrige Hüttchen, — dort der Schauplatz der
Mannhaftigkeit, — die weite thätige Welt — und das Hüttchen
[252] Siegerin in dieſem Contraſte. Das ſagt genug. Aber Sie ſehen,
eben dieſes Contraſtes bedurft' es.
Hören Sie weiter, fuhr Moorfeld fort. Von dem Geiſte der
Poeſie hingeriſſen, aufgeregt in ſeiner tiefſten Klangfähigkeit, war ihm
Howland kaum noch etwas Anderes als ein blindes, ja günſtiges Zu¬
fallsſpiel, das ihm erlaubte, an erwünſchteſter Stelle das Hochgefühl
dieſer Stunde auszuſtrömen. Er recitirte folgendes Gedicht:
[253]
Hier iſt der Liebe, ſagte Moorfeld, nichts Geringeres als die
ganze Menſchheitsgeſchichte entgegengeſetzt. Familie — Stamm —
Volk — Cosmopolitismus — vier Weltalter überwindet ſie und ſetzt
ſich als ihr Letztes, wie ſie ihr Erſtes war. So verſtärkt ſich das
Gefühl durch die Macht der Idee. Was hilft es, den Profeſſor zum
Schäfer zu verkleiden, und im Zeitalter der Reflexion das Haferrohr
des Naturlauts zu blaſen? Viel beſſer, man geſteht dieſe Reflexion
tapfer ein, holt aber eben aus ihr die tiefere und tiefſte Begründung des
Naturlauts. Iſt das geſchehen, dann darf der Liebende wieder wei¬
nen wie das erſte einfachſte Menſchenkind, und wahrlich, er weint
dann erſchütternder, als der Berg weint, „weil noch ſein Lenz nicht
kommen will.“ Thränen, die über Gedanken rieſeln, das ſind Thrä¬
nen! die ſind des Weibes werth!
Howland antwortete auf dieſe Demonſtration mit einem gänzlichen
Abſpringen von derſelben: Wahrhaftig, Sir, ſagte er, ich finde es
wenig paßlich, in Amerika ein amerikaniſches Gedicht herabzuwürdigen!
Jetzt erkannte Moorfeld die deutliche Abſicht dieſes Menſchen,
einen Eclat herbeizuführen. Hatte er ſo lange ihm Rede geſtanden,
[254] ſo geſchah es aus Achtung vor Ort und Umgebung; dieſe Achtung
gebot endlich die entgegengeſetzte Behandlung. Moorfeld wandte ihm
ſchweigend den Rücken.
Aber Howland drang heftig in ihn: Was ſagen Sie, Sir?
Mit dem Aufwande ſeiner letzten Geduld antwortete Moorfeld:
Die amerikaniſche Lyrik theilt gegenwärtig das Schickſal aller Nach¬
ahmer; ſie copirt die ſchlechten Seiten ihres europäiſchen Originals.
Wir dürfen hoffen, dieſes Stadium wird vorüber gehen.
Wie, Sir, alſo ſind Sie ein- für allemal entſchloſſen, unſern
Dichter en chien zu behandeln? Ich ſage Ihnen aber, eine Lady
hat dieſe Verſe gemacht; werden Sie jetzt Ihr Urtheil mildern, Sir?
Moorfeld, dem der Ausdruck „Verſe machen“ allein ſchon ein Gräuel
war, antwortete kalt: Das iſt für die Kritik ein Adiaphoron.
God damn, Sir! Miß Cöleſte Bennet hat dieſe Verſe ge¬
macht; wie nun?
Der Dandy hatte ſeinen Zweck erreicht. Die Sitte iſt nur für
den Sittlichen und das Geſetz für den Geſetzlichen da. Wie ein
Vandale eine koſtbare Vaſe zerſchlägt, ſo war der glänzende Augen¬
blick jetzt in Trümmer geſchlagen. Cöleſte erlag unter einer Wucht
von Scham, Zorn und Betrübniß; das Weinen trat ihr nahe. How¬
land, ihr Beleidiger, brüſtete ſich als ihr Ritter, Moorfeld, der ihr
Blumen der zarteſten Huldigung gereicht, wurde als ihr Beleidiger
angegriffen, — alle Schönheitslinien liefen verwirrt durcheinander,
die Rohheit war Meiſterin der Situation.
Cöleſte flüchtete aus dem Kreiſe. Howland nahm ſich dabei heraus,
ſie an der Hand zu faſſen, und ſeine Frechheit zu krönen, wandte er
ſich an Moorfeld mit den Worten:
Mein Herr, ich fordere im Namen dieſer Dame Genugthuung von
Ihnen.
Der Herr Doctor wird ſie ihr geben, erſcholl eine Stimme über
Howland's Achſel.
Moorfeld wandte ſich um und ſah mit Verwunderung, daß ſich der
größte Theil der Geſellſchaft als Zeuge dieſer Scene eingefunden
hatte. Der Saal war faſt voll gedrängt von Menſchen. Herr
Bennet und der Kreis ſeines Theepavillons ſtanden unter den
Vorderſten.
[255]
Herr Bennet trat zwiſchen Moorfeld und Howland vor. Der Herr
Doctor, ſagte er zu Howland, werden die Saiſon an dem Ohio zu¬
bringen, indeß ich ſelbſt nach Saratoga gehe. Wir beide ſtehen auf
dem Punkte der Abreiſe. Aber den Winter, wie ich höre, wird unſer
verehrter Gaſt Newyork zum Aufententhalte wählen, und dann — wandte
er ſich an Moorfeld — darf ich Sie vielleicht bitten, Sir, ohne dem Berufe
Ihrer Privatmuße ſonſt nahe zu treten, die äſthetiſche Ausbildung
meiner Tochter im Fache der ſchönen Redekünſte vollenden zu helfen.
Miß Cöleſte, wie Sie hörten, verſucht ſich in der Poeſie, und wie Sie
gleichfalls hörten, ſind dieſe Verſuche noch derart, daß daran allerdings
genug zu thun übrig bleibt. Das iſt die Genugthuung, von
welcher Mr. Howland ſprach; laſſen Sie mich meine Bitte mit ſeiner
vereinigen, daß Sie dieſe Genugthuung zuſagen wollen.
Wer zu beſchreiben unternommen hat, ſollte von dem Ausdrucke:
eine Sache ſei nicht zu beſchreiben, nur den ſparſamſten Gebrauch
machen; an dieſem Orte aber müſſen wir bitten, den Ausdruck uns
zu geſtatten. Es iſt ſchwer zu beſchreiben, welche Wendung dieſe
Dazwiſchenkunft Bennet's der ganzen Situation wie auf einen Zauber¬
ſchlag mittheilte. Moorfeld ſah ſich plötzlich an einem ſeiner flüchtig¬
ſten Worte gebunden, und unter anſpruchloſem Namen von einem
Verhältniß ergriffen, daß er eher ein Orakel als eine Menſchenſtimme
zu hören glaubte, — Cöleſte war überraſcht, verwirrt, verlegen, be¬
ſtürzt, erfreut, fliegende Farben wechſelten widerſpruchsvoll auf ihrem
Antlitze, und das leichtverletzliche Mädchenherz ſchien vor Allem nur
Eins zu empfinden: den Gewaltact des Zufalls, — der Rowdy
Howland ſtand da, blaß und zitternd vor Aufregung; Wuth, Scham,
Neid, ein Heer von giftigen Leidenſchaften durchjagte ſeine ausdrucks¬
vollen Züge, — Mr. Bennet ſelbſt, die verkörperte Salonſitte dieſes
Augenblicks, konnte ein leichtes Wanken ſeiner Stimme nicht ganz
verbergen, und der Sturm, den ſein Zauberſtab ſo plötzlich erſtickt,
pulſirte unter ruhiger Oberfläche in ſeinem Innern. Und wie die
feineren Formen der Geſellſchaft dem Ueberraſchenden als ſolchem
keinen Ausdruck geſtatten, ſo war es ein ſeltſamer, ja humoriſtiſcher
Contraſt, daß Jeder der Betheiligten dieſe ungewöhnliche Bewegung in
den Umgangsformeln des alltäglichen Curſes abfinden mußte. Moor¬
feld ſprach von ſeiner „Bereitwilligkeit“, Cöleſte ſtotterte von ihrem
[256] „Vergnügen“, Mr. Bennet von ſeiner „Freude“ und ſelbſt Howland
von einem „kleinen Mißverſtändniſſe“.
Man ſei im Cirkel dieſes Salons, ſagte er, ſo ſehr gewohnt, die
Kunſtübungen der Miſſes als bekannt vorauszuſetzen, und namentlich
„des Schäfers Botſchaft“ als eine Celebrität unter den Freunden des
Hauſes zu betrachten, daß der ausnahmsweiſe Fall mit einem Frem¬
den ihn zu einer Uebereilung verleitet. Dazu erklärte der Engländer,
deſſen abnormer Geſichtsvorſprung im Kreiſe dieſer Gruppe jetzt auch
bemerkt wurde, daß er das Verſehen auf ſich nähme, den neu ein¬
geführten Gaſt über dieſe Punkte im Dunkel gelaſſen zu haben. Ein
dringendes Motiv habe ſeine Aufmerkſamkeit unterwegs auf das Thema
der Thier-Perfectibilität gelenkt.
Das Alles mochte nun gelten, ſo viel es werth war. Genug, die
Rohheit und die Narrheit hatten ihre Miſſion hier erfüllt. Ihrer
bedurfte es, um den Abend zu enden, wie er endete.
Das ſagte ſich Moorfeld, indem der beleidigende Mißklang dieſer
Scene ſeine Seele verließ und ein Strom von goldenen Harmonien
darüber herfloß.
Den weiteren Verlauf dieſes Abends übergehen wir.
Es war ſchon tief in der Nacht, als Moorfeld unter den dunklen
Bäumen der Battery das Haus hinter ſich zurückließ, dem ein
Raphael die Form gegeben. Er ſollte jetzt Geiſt hineintragen. Er
ſollte dem Mädchen, das ihm ein Adelswappen ihres Geſchlechtes
war, lehrend und bildend zur Seite ſtehen, ſollte in der ſchönſten
Gruppe zu ihr ſtehen, die in der ſinnlich-geiſtigen Welt denkbar iſt,
weil ſie die reinſte und fließendſte Bewegung geſtattet, Sinn und
Geiſt in vollwirkendem Wechſelverhältniß zu erfüllen.
Auf dem ſpäten Nachhauſeweg ging der abnehmende Mond über
ihm auf. Romulus und Remus! hatte ihm Moorfeld vorgeſtern zu¬
gerufen — gewiſſe menſchliche Verhältniſſe haben für ewig ihre
Symbole — Abälard und Heloiſe! rief er heute.
Zweites Buch.
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 17[[258]][[259]]Erſtes Kapitel.
Wir begleiten unſern Helden jetzt auf ſeiner Reiſe nach Ohio.
Er ſchied aus Newyork in einer Stimmung, die dem Bleiben eigent¬
lich günſtiger, als dem Reiſen war. Unter andern Umſtänden hätte
er ſich wahrſcheinlich dem Zuge nach Saratoga angeſchloſſen. Ueber¬
haupt konnte der Plan ſeines ganzen Aufenthaltes durch den Abend
bei Bennet in eine neue Frage geſtellt ſein. So hatte Dr. Griswald
— gleichſam in Concurrenz mit Bennet — ſpäter noch zu verſtehen
gegeben, es ſei eigentlich wünſchenswerth, daß an der Univerſität ſelbſt
die Lehrkanzel für Literatur und Aeſthetik mit europäiſcher Kunſtbildung
beſetzt werde, und es hätte unſern Freund nur ein Wort gekoſtet, die
öffentliche Stellung, die ihm dieſer Wink zudachte, anzunehmen. Sein
Zweck, Amerika's Leben und Treiben kennen zu lernen, ſtand durch
eine ſolche Betheiligung an der Menſchenkultur mindeſtens eben ſo gut
zu erreichen, als durch die an der Bodenkultur. Kurz, Moorfeld
hätte an jenem Abend Stadt gegen Urwald, Newyork gegen Ohio in
ſeiner Wahl vielleicht umgetauſcht, wenn — die Freiheit dieſer Wahl
noch bei ihm geſtanden hätte. Aber vierundzwanzig Stunden zuvor
hatte er ſich, wie wir wiſſen, zu Gunſten Benthal's gebunden. Und
er bereute dieſen Schritt nicht. War es ihm ſchon ſorgenswerth er¬
ſchienen, einen Charakter wie Benthal ſo bald als möglich auf ein
Feld der That zu verpflanzen, ſo wurde er in dem Gedanken noch
unendlich beſtärkt, als er Benthal's Braut, Pauline, geſehen hatte.
Dieſes dunkle, ſinnige Mädchenbild hatte er an jenem Abend mit
einer ſeltſamen Regung ſich gegenübergeſehen. Er bangte für ſie.
17 *[260]
Sie erweckte ihm die Vorſtellung, daß ſie als Hausfrau in einer
großen Stadt an dem verfehlteſten und unglücklichſten Platz ihres
Lebens ſtehe. Der ganze Himmel Newyorks, dachte er, müßte über
ihrem Haupte voll Damocles-Schwertern hängen. Ahnungen treiben
oft mehr, als Ueberzeugungen, und Moorfeld fühlte ſich getrieben, das
Loos Paulinens wie einer Schweſter zu bedenken. Dies ſcheue, ſchüch¬
terne Mädchenleben dem gefräßigen Egoismus der Welt zu entrücken,
ſchwebte ihm bald als ein natürlicher Beruf ſeiner Anſiedlung vor.
„Jungfräulicher Boden”, wie es der Sprachgebrauch nennt, war allein
der Boden ihres Gedeihens. Ganz von ſelbſt verband ſich ihr Bild
mit dem Bilde einer ſtilldämmerigen Urwaldsbucht. Schien ſie doch
gleichſam ein verkörperter Waldſchatten! —
So reiſte denn Moorfeld. Er ſieht jetzt Amerika außer Newyork.
Vom Hudſon an dem Ohio zieht er eine neue Linie Landes- und
Volksſchau in das Buch, das ihm Newyork aufgethan. Aber es wird
uns nicht überraſchen, wenn Ton und Stimmung auch in dieſer Reihe
von Bildern wenig erfreulich ſein ſollte. Er tritt aus dem Hauſe
Bennet's in der glücklichſten Herzenswärme, die den jungen, lebhaft
fühlenden Mann ergreifen kann. Aber dieſer Aufſchwung kommt nicht
ſeiner Reiſe zu Gute. Nach der Natur der menſchlichen Seele dürfen
wir vielmehr das Gegentheil annehmen. Der Kontraſt iſt groß; die
Wirklichkeit, die vor dem Muſen- und Grazien-Tempel auf der Bat¬
tery lagert, wird dem Heraustretenden mit ihren ſchärfſten, nüchternſten
Lichtern in's Auge fallen. Ihre Kälte wird kalt, ihre Häßlichkeit
häßlich ſein; er wird das Gemeine ſchneidender als je empfinden. Mit
dieſer Vorausſicht wird es räthlich ſein, Moorfeld's Reiſetagebuch auf¬
zuſchlagen. Die roſigen Zukunftsträume, welche die Kataſtrophe von
Bennet's Rout in ſeiner Seele entzündet, dürfen wir nicht darin
ſuchen; — ſie bilden die duftige Fernſicht ſeiner inneren Landſchaft.
Was wir im Vordergründe ſehen, wird ſo ſchroff, hart, trocken ge¬
färbt ſein, wie es leibt und lebt, und wie ein leidenſchaftlich bewegtes
Gemüth, deſſen Abſtoßungskraft wahrhaftig nicht gebrochen iſt, bald
ſatyriſch, bald ironiſch, bald tragiſch, ſtets aber mit der ganzen Fülle
des unmittelbaren Eindrucks es auffaßt.
Darum zogen wir's auch vor, unſern Helden ſeinen Reiſeerleb¬
niſſen gegenüber ſich ſelbſt vertreten zu laſſen, indem wir ſein Tagebuch
[261] mittheilen. Es iſt in Briefform an Benthal geſchrieben, alſo in der
unbefangenſten, die wir wünſchen mögen. Mit Soratoga hingegen
wird vorläufig noch kein Briefwechſel gepflogen, und zwar aus gutem
Grunde. Moorfeld's Stellung zu Cöleſte lag im Gebiete der reinen
Ahnung, ſie gehörte den Göttern des Schweigens. Dieſe Anfänge
waren zu anfänglich, als daß das geſchriebene Wort ſie ausbilden
konnte, zumal den Schicklichkeitsgeſetzen einer amerikaniſchen Lady
gegenüber. Moorfeld fühlte, der Briefſtyl könne hinter das vielleicht
ſtillſchweigend Vorhandene nur zurückgehen, nicht aber es weiterführen.
Er war alſo klug genug, ein Correſpondenzverſprechen, das Höflichkeit
ohne Zweifel gewechſelt, eben nicht wörtlich zu nehmen.
Mit Benthal aber reiſt er gleichſam wie mit einem geſtigen Wander¬
geſellen. Reiſt er doch faſt nur für ihn, ein natürlicher Zug ſeines
Gemüthes iſt's, daß er mit ihm reist. Alles, was der Tag Neues,
Charakteriſtiſches, Eindrucksvolles bringt, erlebt er zugleich in der un¬
ſichtbaren Geſellſchaft Benthal's, und indem er es aufſchreibt, nimmt
es von ſelbſt die Adreſſe dieſes Freundes an. Die äußere Briefform
dabei iſt Nebenſache, Ort und Tag gleichgiltig, nur daß ſich ein
Wanderzug durch Pennſylvanien gleichſam unwillkürlich um die drei
Hauptſtädte Pennſylvaniens: Philadelphia, Harrisburg, Pittsburg grup¬
pirt und entweder in oder dahin der äußerliche Anhaltspunkt des
Datums wird. Dieſe Ortsangaben fehlen nicht. —
Das ſchien uns in Kürze die nothwendigſte Verſtändigung, die wir
den nachfolgenden Blättern vorauszuſchicken hatten. Mögen wir uns
geſtimmt finden, ihnen mit Antheil und Aufmerkſamkeit zu folgen.
Mo'orfeld's Reiſetagebuch von Newyork nach Ohio.
Nach Philadelphia. — Die Locomotive brauſt durch New-Jerſey.
Das Land iſt flach und bietet dem Auge wenig Beſchäftigung. So
weit von den Alleghanen und ſo nahe am Meere erwarte ich es nicht
anders. Dagegen ſtiegen prächtige Wälder vorüber, die mich auf ſo
altem Culturboden überraſchen. Der Urwald, ſcheints, liegt noch
überall näher, als man glaubt. Aber der Anblick der Bäume ſetzt
mich in Verwirrung. Ich kenne ſie nicht. Die europäiſchen Bäume
[262] haben es faſt alle gemacht wie ich: ſie ſind pſeudonym in Amerika
da. Als Europäer geben ſie ſich ſehr ſelten; namentlich die Eichen
ſind verſtockte Geheimnißkrämer; ſie kommen unter allen möglichen
Formen vor, nur nicht unter der, die wir an ihr kennen. Ich muß
es meinen Nachbarn oft auf Treue glauben, daß irgend ein pächtiger,
aber mir völlig fremder Baum eine Eiche ſei. Am beſten iſt noch
die Kaſtanie kennbar; ich ſehe ſie ſehr häufig und immer als guten
europäiſchen Bekannten; nur iſt ſie groß und ſtolz hier, etwa wie ſie
in Serbien oder in Italien prangt. Bekannt heimeln auch ſolche
Bäume an, die man aus europäiſchen Parks bereits als Amerikaner
kennt; — z. B. Lyriodendron tulipifera mit ſeinem feinen, zierlich
ausgeſchnittenen Laub, der hier ziemlich gemein iſt. Kurz, der hieſige
Baumſchlag gibt im erſten Augenblick genug zu ſchauen, er hält die
Imagination in beſtändiger Aufregung. Nur ſoll michs wundern, ob
er auch das Gemüth zu feſſeln weiß. Fremde Bäume ſind eigentlich
ſchauerlich. Wenn ſie nicht Kindheitsſprache mit uns reden, ſo bleiben
ſie unverſtändlich wie Geſpenſter. Indeß hat mich der Anblick großer
Waldfluren doch wieder ganz eigenthümlich gepackt. Ich brenne vor
Begierde, dieſem Naturleben näher zu treten.
Nach Philadelphia. — Ja, dieſes Volk iſt groß! Ein Freiheits¬
geiſt, deſſen Bewußtſein keinen Augenblick unterdrückt werden kann,
durchdringt es in allen Klaſſen und Schichten; überall ſiehſt du den
Menſchen als Menſch. Mein Mr. Staunton hat ein wahres Wort
durch ſeine falſchen Zähne geſprochen, als er ſagte: „im alten Land
fühlt ſich ſelbſt der höchſte Beamtete als ein Diener; bei uns möchte
der niedrigſte Dienſt gern für ein Amt gelten.“ Auf halber Fahrt
zwiſchen Newyork und Philadelphia erſchien ein Gentleman in unſerm
Wagen, der mit einer Haltung, die einem Staatsrath Ehre gemacht
hätte, diplomatiſch kühl und höflich von Paſſagier zu Paſſagier wan¬
delte, Jedem irgend eine intime, gewichtige Depeſche zuflüſterte, worauf
er mit einer graciöſen Handbewegung in ſeine Buſentaſche (Bruſttaſche
klingt zu gemein) ſeinen lauſchigen Fuß weiter ſetzte. Bald kam auch
die Reihe an mich. „Es wird Ihnen gefällig ſein, mein Herr, die
Fahrtaxe zu entrichten.“ Und dabei ſtand der Mann vor mir —
[263] „ein Cavalier wie andere Cavaliere.“ Da ich unvorbereitet war und
ihn etwas länger aufhielt, als meine Mitreiſenden, fragte er inzwiſchen
meinen Nachbar, was die neueſte Rede des Hrn. Clay „gemacht habe“
und ob er der Meinung ſei, daß General Jackſon den Bundesgerichts¬
ſpruch für die Cherokees vollziehen werde. Folgte eine kleine, ſtaats¬
männiſche Unterhaltung, indeß ich mein Kleingeld zählte. Ich geſtehe,
die Scene war mir neu. Ich muſterte mir den Gentleman-Conducteur
noch mit manchem Blicke; ich konnte aber nicht das geringſte Abzei¬
chen an ihm entdecken. Zuletzt war ich „grün“ genug, mein Befrem¬
den gegen meinen Nachbar merken zu laſſen. Mein Nachbar war ein
langer, hagerer Mann, aber meine Frage blähte ihn auf wie eine
friſche Briſe ein ſchlappes Segel. Er ſtreckte Arme und Beine aus
wie ein Bachkrebs, der an einer ſchwierigen Stelle ans Ufer klettert,
ſpuckte weit von ſich, zog ſeinen Vatermörder in die Höhe und ſagte
„mit Sonnenſchein in der Bruſt“: Ich rathe, Miſter, ein Conducteur
iſt kein Hund, das iſt ein Factum; wozu ein Abzeichen? Sollen Bürger
im Dienſte ihrer Mitbürger mit Halsbändern herumlaufen und ſich
zeichnen laſſen wie eine Galloway-Kuh, als wären ſie die Hausthiere
der Nation und nicht freie und ſelbſtſtändige Männer, die unter ihres
Gleichen wandeln? Verdammter Unſinn wär's! Wir ſind ein Volk
von Souverainen. Was wir von einander zu wiſſen brauchen, das
iſt: wie wir politiſch geſinnt ſind; darum tragen wir die Abzeichen
unſrer Partei. Was wir aber nicht zu wiſſen brauchen und was in
guter Geſellſchaft überhaupt Keiner vom Andern fragt, das iſt: wovon
er lebt; darum tragen wir keine Abzeichen unſeres Gewerbes — der
Conducteur ſo wenig, als der Präſident. So iſt es, mein Herr, es
wär' Schade wenn's anders wäre, das iſt ein Factum. Reiſen Sie
durch die ganze Union und Sie werden keinen einzigen Officianten in
irgend einer Branche finden, der ein Abzeichen trüge. Nicht am
Zeichen erkennen Sie ihn, ſondern an der Sache ſelbſt, einfach daran,
daß er Sie bedient und höflich bedient. Im Uebrigen iſt er Gentleman
wie Sie. In Wahrheit, mein Herr, Alles was im hundertſten Gliede
mit der Livree verwandt iſt das haſſen wir mit jenem heilſamen In¬
ſtinkte der Gleichheit, welcher die unzerſtörbare Grundlage der Repu¬
bliken iſt. Ein freier und aufgeklärter Bürger der Union duldet kein
Abzeichen an ſeinem Leibe. All men are equal! Wir ſind eine
[264] Nation von Souverainen. Es thäte mir leid, wenn's nicht ſo wäre. —
Klingt das nicht prächtig? Schade nur, daß das Schöne einen ſo
kurzen Moment hat! Denn kaum waren wir eine Meile weiter ge¬
fahren, als an der nächſten Station ein Conducteur ſeine Streife
durch den Wagen machte und uns die Fahrtaxe nach Philadelphia ab¬
forderte. Wir ſtaunten nicht wenig. Der Mann trug ditto kein Ab¬
zeichen, aber ſeine Legitimation, die wir ihm abfragten, war in Ord¬
nung, und ſo blieb nichts anders übrig, als die Börſe zum zweiten¬
male zu ziehen. Das iſt die Lehre von der Toilette dieſer Republik.
Bürgermilizen prangen in höchſt überflüſſigen Uniformen, und Con¬
ducteure perhorresciren höchſt nothwendige Abzeichen. — „Wir ſind
eine Nation von Souverainen“; das iſt freilich die Wahrheit: aber
auch von Beutelſchneidern, — das iſt die ganze Wahrheit.
Philadelphia. — Ich bin in der zweiten Hauptſtadt Amerika's
angekommen. Wie ſie mir gefällt? Lieber Bruder! Nimm einen
Weſtenſtoff, der bekanntlich ein viereckiger Fleck iſt, laß das Muſter
ſelbſt wieder quadrillirt ſein, und denke Dir, Du ſiehſt Philadelphia.
Die ganze Stadt iſt ein großes Quadrat, und wie ſich ſämmtliche
Straßen im rechten Winkel ſchneiden, ſo beſteht ſie aus lauter kleinen
Quadraten. Ich komme mir in Philadelphia vor wie das Thier
„von einem böſen Geiſt — nicht im Kreis, ſondern im Viereck
herum geführt.” Ich gehe ſtundenlang in der Stadt herum und be¬
merke nicht, daß ich von der Stelle komme. Jede Straße wiederholt
die vorhergehende, jedes Quarré von Häuſern iſt wie ein Feld im
Schachbrett allen übrigen gleich. Berlin und Mannheim ſind
mit wahrhaft orientaliſcher Phantaſie gebaut gegen die ſtockſteife
Einförmigkeit von Philadelphia. Die Häuſer, die Bäume, die
Geſichter könnten aus einer Schneidemaſchine herausgefallen ſein,
ſo fabriksmäßig uniform iſt Alles einander. Ja, auch die Geſichter.
Hinter jeder Fenſtergardine ſteht genau die nämliche dünnſpitze Fuchs¬
naſe, blinzelt das nämliche mißfarbige Augenpaar, das mit einem
Blick in den Himmel und mit dem andern in die Dollarkiſte ſchielt,
und das von dem blauen und gelben Reflex des Himmels und des
Dollars einen verflucht grünlichen Farbenton annimmt, den wir mit
[265] einem eigenen Kunſtausdruck Quäcker-Augen-Grün nennen müſſen.
In der That, dieſe Fuchsnaſen und Katzenaugen ſind die phyſiogno¬
miſchen Grundzüge der Bruderſtadt. Dabei herrſcht für ein ſo großes
Straßenleben eine widernatürliche Stille und Sauberkeit hier. Die
Stadt ſoll 300,000 Einwohner haben — und ſind ſie alle lebendig?
fragt' ich unwillkürlich, als ich's zum erſtenmal hörte. Die guten
Quäcker bilden ſich freilich ein, ihre Reſidenz habe ein ariſtokratiſches
Air; zugeſtanden meinethalben; man glaubt nämlich eines jener hoch¬
ariſtokratiſchen Skelette vor ſich zu haben, denen allerdings kein ſterb¬
licher Schweißtropfen mehr an die Haut tritt, aus dem einfachen Grunde,
weil ſie überhaupt nicht mehr lebendig functioniren und ihre ganze
Diät auf einen Hühnerflügel und eine Morriſon'ſche Pille reducirt iſt.
So laufen auch hier jene Schweine nicht herum, welchen man in
den Nebenſtraßen Newyorks begegnet; dafür begegnen Dir auffallend
viele Pfarrer hier, was noch ärger iſt. So ein Quäcker-Pfarrer, der
in Vater Penns Bruderliebe macht, iſt vollends unbeſchreiblich. Da
wandelt er einher in ſeinem langſchößigen oxfordfarbigen Rock, den
Kopf in einen ſteifen Kragen eingekeilt, einen Hut mit niedriger Krone
und breiter Krämpe auf den mausgrauen Haaren, ſilberne Schnallen
an den blankgewichsten Schuhen, und im Geſichte, das eine Miſchfarbe
von Talg und welken Herbſtblättern hat, ein altgebackenes ſchimmeliges
Lächeln, eine unausſprechlich-erlogene Miſchung der ſchärfſten egoiſtiſchen
Gifte mit ſüßlichen Ingredienzen — nein, dieſes Lächeln iſt nicht zu
copiren, ich wiederhole es noch einmal. Im mildeſten Falle gleicht es
einem Topf voll verdorbener Compote, in welchem die Zuckergährung
mißlungen iſt, in der Regel aber iſt es bösartiger. Wahrlich, der
wunderliche Girard wußte was er that, als er mit fürſtlicher Munifi¬
cenz ſein Girard-College, die größte Privatſtiftung der Welt, gründete,
aber die teſtamentariſche Beſtimmung hinzufügte, daß kein Geiſtlicher
von was immer für einer Glaubensſecte die Schwelle ſeiner Anſtalt
betreten dürfe. In Europa, wo man herrſchende Kirchen hat, lebt
der Geiſtliche, namentlich der katholiſche, im Corporationsgefühl einer
gefeſtigten und angeſehenen Stellung mit einer gewiſſen Naivetät, die
ihn zum bequemen, häufig zum liebenswürdigen Geſellſchafter macht;
hier, wo die Kirche als ſolche nichts gilt, wo geiſtliche Gemeinden ſich
bilden und auflöſen wie Theekränzchens, wo es leichter iſt, eine Wieſe
[266] voll Heuſchrecken zu hüten, als eine religiöſe Geſellſchaft zuſammen¬
zuhalten, hier kommt Alles nicht auf die kirchliche Autorität, ſondern
auf die Autorität der Perſönlichkeit an; in Folge deſſen hat ſich unter
den hieſigen Pfaffen ein Phariſäerthum ausgebildet, an deſſen Ekel¬
haftigkeit eine europäiſche Vorſtellung ſchwer hinreicht. Philadelphia
ſcheint nun die wahre Zionsburg der geiſtlichen Heuchelei. Ich glaub'
es dem alten Girard, der ein munterer Franzoſe war, herzlich gern,
daß er ſich dieſe Race vom Leibe halten wollte, vom lebendigen, wie
vom todten. Die Quäcker duzen ſich noch wie zu Vater Penns Zeiten
und alle Welt nennt ſich einander „Freund“. Das verbreitet nun
einen Geruch in Philadelphia als ob alle Leichen ſeit Vater Penn
unbeerdigt herumlägen. Wahrlich, man muß den geſtorbenen Geiſt
begraben, wie den geſtorbenen Körper. Unſre Regierungen thun ganz
wohl, wenn ſie die Bildung jener Secten nicht dulden wollen, welche
ſcheinbar auf das reine und unſchuldige Urchriſtenthum zurückgehen.
Eine infame Lüge iſt's, den patriarchaliſchen Kleingemeindengeiſt im
modernen Induſtrie- und Intereſſenleben etabliren zu wollen. So ein
Quäcker-„Freund“ klingt mir immer, wie das „ſei gegrüßt, Rabbi“.
Die Kerls ſehen auch ganz darnach aus wie Judas und Kaiphas auf
der Seelenwanderung begriffen. Was ſag' ich? Die jüdiſchen Phari¬
ſäer kreuzigten von Chriſtus nur den Leib, aber das Evangelium ließen
ſie laufen. Die hieſigen vergöſſen kein Blut, bewahre! aber ſie ver¬
urtheilten ihren „Freund“ Chriſtus auf lebenslänglich zu ihrer ver¬
maledeiten Schweigehaft und das Evangelium ſelbſt wäre gemordet.
Die Schweigehaft iſt eine echt pennſylvaniſche Erfindung. Man muß
dieſe frommen ſäuberlichen Straßen mit ihrem heimtückiſchen Still¬
ſchweigen, dieſen Virtuoſenſitz der Langweile und Scheinheiligkeit kennen
lernen, um zu begreifen, wie hier und nirgend anders jenes Henker¬
thum in Glacehandſchuhen, jene teufliſche Bruderliebetortur erfunden
werden konnte, welche das pennſylvaniſche Syſtem heißt.
Philadelphia. — Als ein gewiſſenhafter Reiſender beſucht'
ich es auch, — das State penetentiary, mein' ich, das hoch¬
berühmte Original des pennſylvaniſchen Syſtems. Ja freilich
iſt's ein Wunder des menſchlichen Scharfſinns. Ein einziger
[267] Wächter überſieht fünfhundert Zellen! Der Kerl ſitzt wie eine Spinne
in ihrem Sacke, von ihm ſpannt ſich der ganze grauenvolle Fächerbau
des Gefängniſſes aus, kein Zellenfenſter blickt in das andere und er in
ſie alle! Eben ſo predigt Sonntags der Prediger aus dieſem Mittel¬
punkte den Sträflingen das Wort Gottes; an ihre Eiſenthüren ge¬
klammert, ſtrecken ſich fünfhundert bleiche Köpfe nach ihm vor, eine
ganze Volksverſammlung! und jeder Einzelne iſt einſam und
Keiner bekommt den Andern zu Geſichte. Das heiß' ich Netze
flechten! Das Haus verwahrt gegenwärtig dreihundert Gefan¬
gene. Nur dreißig davon ſind Deutſche. Und ſelbſt dieſe büßen
größentheils wegen Pferdediebſtahl, ein Vergehen, das in Amerika ſehr
ſchwer wiegt, aber in Ungarn ſehr leicht. Ei Miklós, warum ſo traurig,
fragt' ich in meinem Geburtsorte einſt einen Czikós. Ein Schlingel
hat mir Pferd von der Heerde geſtohlen, antwortete der Roßhirt. Dann
zeig's den Gerichten an, erwiderte ich. Wo ſind Gerichte? Stuhl¬
richter liegt beſoffen auf der Hochzeit von János Jranyi, Vicegeſpann
iſt gefahren auf Jagd — Nun was willſt du machen? — Bassama!
ſtehl ich mir anders Pferd, ſagte der offenherzige Naturſohn, ein Kerl,
dem ich mein letztes Hemd vertraut hätte, aber das Pferd hat er mit
höchſter Wahrſcheinlichkeit wirklich geſtohlen. Kurz, es iſt ein ungeheurer
moraliſcher Unterſchied, ob ich Jemanden Geld aus der Kiſte nehme,
oder Geldeswerth vom freien Felde weg in Geſtalt eines freien Natur¬
geſchöpfes. Das ſcheint aber der Yankee, der nicht empfinden, ſondern
nur rechnen kann, nicht zu unterſcheiden und unſre armen Deutſchen,
die von Schiffsmaklern, Agenten, Land-Jobbern u. ſ. w. vielleicht zehn¬
fach ärger geplündert worden, verzweifeln nun, weil ſie ſich vier noth¬
wendige Beine von fremder Weide holten, in den grauenvollen Penn¬
ſylvaniazellen. Ich ſage, ſie verzweifeln und das iſt wahrlich keine
ſentimentale Unterſtellung. Die ſtatiſtiſchen Schneiderellen, die überall
das Maß nehmen, haben ſich eingebildet, es auch hier nehmen zu
können, und glücklich herausdividirt, daß nur zwei Procent Selbſt¬
morde oder Wahnſinn im Pennſylvaniagefängniß vorkommen. Wohl
verſtanden: im Gefängniß, wie viel aber draußen als Nachwirkung
einer Pennſylvaniahaft, ſo weit reicht die Schneiderelle nicht mehr. —
Mein Beſuch in dieſem Marterhauſe traf auf einen Deutſchen aus
Rheinbaiern, ein junger Mann nicht ohne Bildung. Auch ſeine Ge¬
[268] ſichtszüge mußten glücklich geweſen ſein, ließen aber ihr Einſt kaum
noch errathen. Das Geſicht war offenbar länger geworden, eine aſch¬
fahle Bläſſe bedeckte es durch und durch, ſein Blick ſtierte gläſern.
Und doch war er noch nicht zwei Jahre hier, denn ſeine erſte Frage
war, wie der Sturm auf Warſchau ausgefallen? Das Bevorſtehen
desſelben hatte er noch „draußen” geleſen. Wie weh ward mir zu
antworten! Ich ſprach dafür von Börne und von der Rührigkeit der
republikaniſchen Partei in Paris, um nur etwas zu ſagen. Er hörte
mir mit einem ſtillblöden Lächeln zu, ſchien aber von dem Inhalte
nicht ſo bewegt wie ich meinte; er weidete ſich offenbar am bloßen
Klang der deutſchen Sprache. Auf dem Tiſch ſah ich ein Buch liegen.
Es war die Bibel. Das ganze Ameublement einer Pennſylvaniazelle
beſteht nämlich bloß aus vier Stücken: Tiſch, Stuhl, Bettſtelle, Bibel.
Ich fragte den Gefangenen, ob auch andere Lectüre geſtattet würde?
Er verneinte es. Ob ihm die Bibel hinlänglich Gedanken gäbe?
Er ſtreckte ſeine Hand nach dem Plafond aus und ſagte: In dieſer
Ecke, mein Herr, denke ich darüber nach, wie der' Geiſt des zwanzig¬
ſten Kapitels vom zweiten Buch Moſis mit der katholiſchen Prieſter¬
lehre ſich in Einklang bringen laſſe. Ich ließ mich, da ich nicht
ſtark in der Bibel bin, auf dieſes Problem nicht ein und fragte ihn
bloß, ob er dazu die Stubenecke bedürfe? Allerdings, mein Herr,
war ſeine Antwort, ich lebe nur von drei oder vier Phantaſien hier
und die wohnen in den Zellenecken. Wiſſen Sie das nicht? Er ſah
ganz unbefangen dazu aus. Mir ward ſeltſam zu Muthe. Wer
wohnt denn in der zweiten Ecke? fragte ich. In dieſer Ecke ſehe ich
die ſechſtauſend Sclaven kreuzigen, die nach dem Aufruhr des Sparta¬
kus gefangen wurden. Die ganze Straße zwiſchen Rom und Capua
gab's eine Allee von Kreuzen und zwar eine Doppelallee. Darunter
promenirten die römiſchen Damen und Herren und genoſſen des
Schattens, — ſo lange bis der Duft nicht kam. — Ich ſtarrte den
Menſchen an. — Und in der dritten? — Der Sträfling antwortete:
Ich war in Kentucky einſt in der üblen Lage, einen Sclavenaufſeher¬
dienſt nehmen zu müſſen. Da unterhielt ſich mein Herr einmal mit
einer jungen Negerin damit, daß er aus einer gewiſſen Entfernung
mit einem Bowiemeſſer nach ihrem nackten Leibe warf. So oft er ſie
getroffen, mußte ſie das Meſſer eigenhändig aus der Wunde ziehen,
[269] es ihm zurückbringen, ihm die Hand küſſen und ſich von Neuem auf¬
ſtellen. Das ganze Spiel dauerte ſo lange bis ſie hinſank. Voll Abſcheu
verließ ich das Ungeheuer; in dieſer dritten Ecke aber kam die Scene
wieder zum Vorſchein und — leider muß ich's geſtehen — mit einer
Art von Genuß. Ach, mein Herr, was ſind die Freuden des Ein¬
ſamen! — Ich war außer mir. Und in der vierten? hatte ich kaum
doch den Muth zu fragen. In dieſe Ecke blicke ich nie! flüſterte der
Unglückliche abgewendet; ſeine Stimme klang hohl und ein Schauder
überflog ihn.
Mich auch. Ich bekam eine entſetzliche Anwandlung in dieſem
Augenblicke. Es iſt ein gewöhnliches Phantaſieſpiel von mir, daß
ich mir einen blonden, lächelnden Kindskopf in's zitternde Greiſenalter
überſetze; umgekehrt kann ich kein blutleeres Runzelgeſicht anſehen,
ohne mir ſein vollwangiges Jugendbild herauszuſtudiren. In dem¬
ſelben Sinne tret' ich manchmal vor den Spiegel, um den Menſchen
darin zu erblicken, der ich ſelbſt nach zwanzig oder dreißig Jahren ſein
werde. Ein ſolcher Phantaſieſpuk war's, der mir jetzt begegnete.
Blitzſchnell verwechſelten ſich die Perſonen und ich ſtand an ſeiner
Stelle. Hu! fort von hier. Eine Schauderthräne trat mir in's Auge.
Ich machte, daß ich aus dem Hauſe kam.
Nun ſage mir! In Europa gibt's Cenſoren, welche die Gedanken
morden, in Amerika Strafhäuſer, welche den Menſchen an ſeine Ge¬
danken ausliefern. Was iſt der größere Jammer? Ich glaube das
Letztere. Streicht, Cenſoren! ſtreicht! Phantaſie iſt ein Bruthaus des
Wahnſinns! Verſchlinge der Abgrund das pennſylvaniſche Syſtem!
Philadelphia. — Schinderhannes war ſehr bornirt, ſein Weſen am
Rhein zu treiben. Er hätte Director einer amerikaniſchen Bank ſein müſſen.
Wir leſen die Zeitungen über Amerika viel zu flüchtig in Europa.
Sonſt würden wir nicht von Vereinigten Staaten, ſondern einfach von
Raubſtaaten reden. Ich war geſtern, um mir das Zellengefängniß aus
dem Sinne zu ſchlagen, noch in einer hieſigen „Wistar-Parthie“. Mein
Wirth, oder vielmehr mein „Freund“ hatte mich daſelbſt eingeführt,
wahrſcheinlich zur Entſchädigung, daß er mir die Baltimore-Ducks,
eine delicate Entengattung, um die Hälfte theurer als in Newyork an¬
[270] rechnete, da ſie doch in Philadelphia um die Hälfte billiger ſein könnten.
(Ich ſpeiſe nämlich ſtandhaft nach der Karte.) Die Wistar-Parthien
ſollen die hieſigen Eliten-Soireen ſein und der Philadelphier läßt ſich
merken, daß ein Reiſender, der von Newyork kommt, Augen und Mund
aufſperren muß über ſeine beſſere Bildung. Aber die Amerikaner haben
nun einmal Unglück mit mir. Ich kann ſie nirgends in ihrer rechten
gloire ſehen. Die Wistar-Parthie vollends war ein Rendezvous, wie ge¬
ſagt, mit dem Schinderhannes. Freilich fand ich die parfümirteſte
Geſellſchaft dort, Menſchen, die, wenn es auf ihr Havannahblatt und
auf ihren East-lndia-Madeira allein ankäme, die Crême der Geſellſchaft
wären; als aber beſagter East-India-Madeira meine freien und auf¬
geklärten Bürger etwas unfrei und trübe zu machen begann, da wagte
ſich der Schinderhannes in Lebensgröße aus ſeinem Schlupfwinkel.
Die Geld-Frommen von Philadelphia ſind noch ganz außer ſich über die
Zerſtörung ihres Tempels, der ſchönen marmornen Nationalbank am
Schuylkill die der gottloſe Nabbuchodonoſor, General Jackſon, ge¬
ſchloſſen hat. Ach, es ließ ſich ſo hübſch Bruderliebe darin machen!
Die Herren Actionärs hatten bereis drei Viertel des Nationalvermögens
in der Taſche, und nur noch ein weniges, ſo ſackten ſie auch das letzte
Viertel ein. Da wählte das Land im gemeinen Inſtinkt ſeiner Selbſt¬
erhaltung den alten Eiſenfreſſer von New-Orleans, der nun auch ein
Papierfreſſer wurde, und um die nobleren Inſtinkte war's geſchehen.
Die Dollar-Heiligen zu Philadelphia mußten ſich begnügen, East-India-
Madeira bloß zu trinken, nicht auch zu baden darin: iſt das nicht zu
viel des Märtyrerthums? Darob Heulen und Zähnklappern in Israel
und Taufe diverſer Hunde auf den Namen Jackſon.
In der That, einer der gläubigſten Papier-Prieſter meiner Wistar-
Parthie ſtand, als die Discuſſion dieſes Gegenſtandes ſchon den Siede¬
punkt erreicht hatte, mit der fanatiſchen Prophezeihung auf: Jackſon
würde am Galgen oder im Gefängniſſe ſterben, die Bank der Ver¬
einigten Staaten aber auferſtehen und alle menſchlichen Inſtitutionen
der Welt überdauern. Ein Kerl, der ſich Biſchof nannte, weiß Gott
von was für einer Winkelkirche, bekämpfte heftig einen engliſchen Ba¬
ronet, der die Vortheile und Nachtheile des Papiergeldes mit Ruhe
aus einander ſetzte, aber vom elenden Widerſpruch ſeines Gegners ge¬
reizt, zuletzt ſich gleichfalls erhitzte und auch die Vortheile mit dem ſchwär¬
[271] zeſten Raiſonnement verfinſterte. Es iſt hier nicht mehr von Geld und
Papier die Rede, es iſt die Rede von Catilina und Cicero, rief er mit
erhobener Stimme. Die Bank war Catilina, General Jackſon Cicero.
Um die Verfaſſung war's geſchehen, der Staat war umgeſtürzt, wenn
die Bank beſtehen blieb. Oder ſollen wir Fremde, meine Herren, nicht
ſo weit unterrichtet ſein über Ihre inneren Zuſtände, daß wir nicht
wüßten, wie die Bank zu einer Macht herangewachſen war, welche dem
Catilinariſchen oder Robespierre'ſchen Terrorismus nichts nachgab? Der
Schrecken herrſchte in Ihrer Republik, der Schrecken des Credits!
Wohin das Lächeln der Bank ſtrahlte, da wucherte ein papiernes
Zauberleben von Glück und Ueberfluß empor, wo der Blitz ihres Zor¬
nes niederfiel, erſtarrte Handel und Induſtrie zu Nordpols-Winterſchlaf.
Ganze Städte und Provinzen hielt ſie in Abhängigkeit und Gehorſam
gegen ſich; was ſag' ich, die ganze Union lag ihr zu Füßen, denn
dreihundertunddreißig über das Land vertheilte Schwindelbanken buhlten
um die Gunſt ihrer Notenannahme zu Philadelphia; Philadelphia
herrſchte wie der Großkhan der goldenen Horde über ein Heer von
Satrapen, Vaſallen, Unter-Despoten und Subaltern-Tyrannen. Was
war dieſer Macht gegenüber die Verfaſſung? Die Bank zu Phila¬
delphia war die Verfaſſung! ſie wählte, ſie machte Präſidenten, Se¬
natoren und Deputirte, ſie handhabte Legislative und Executive, ſie
war Papſt, Cäſar, Omniarch! Die Gefahren Ihrer Freiheit — Neider!
Neider! Neider! ſchrie der Biſchof oder vielmehr das Faß Madeira in
ihm mit einer Wuth als wäre er vom Beelzebub beſeſſen, — man
bedroht gern unſere Zukunft, wenn man den Flor unſrer Gegenwart
nicht leugnen kann. Ob in einem Wahlflecken das Gewiſſen oder
die Guinee votirt, iſt ein Ding das dies- und jenſeits des Oceans
beſſer aus dem Lichte bleibt. Was kümmert uns der ſpäte Verlauf
einer Inſtitution, die uns täglich und ſtündlich mit Wohlthaten über¬
häuft? Laſſen wir die politiſche Seite hier aus dem Spiele, Sir, und
halten wir uns an die ſociale, Sir! Iſt das Papier nicht die Quelle
unſres Wohlſtands, unſrer Macht, unſrer Nationalgröße geworden?
Wer hat unſre Städte gebaut, unſre Canäle und Straßen gebahnt,
unſre Häfen mit Flotten gefüllt, unſre Wälder und Prairien mit
Menſchen bevölkert; wer führt den Pflug, das Steuerruder, die Berg¬
mannshacke, das Schwert und die Lunte, wenn nicht das Papier?
[272]
Laſſen Sie uns mit Metall wirthſchaften und der Indianer ſkalpirt
uns heute noch am Delaware, ſtatt daß er hinter'm Miſſiſſippi uns
um Gnade bittet. Die Banknotenpreſſe macht uns zum erſten Volk der
Welt; die Bank ſtürzen heißt den Staat ſtürzen. War das Privilegium
unſrer Nationalbank nicht abgelaufen im Jahre elf und haben ihre eif¬
rigſten Gegner nach fünf Jahre nicht ſelbſt auf ihre Wiederherſtellung
gedrungen, weil uns der Krieg mit England inzwiſchen gelehrt hatte, daß
ohne Papier kein civiliſirter Staat ſelbſterhaltungsfähig iſt? Wie, Sir? leug¬
nen Sie das, Sir? Als Engländer gewiß, aber als Vernunftweſen nicht.
Und wenn der bornirteſte Schuft unter der Sonne, General Jackſon,
geſtern ſein Veto einlegte, — glauben Sie nicht, Sir, daß mein ge¬
ehrter Vorredner recht hat: der Kerl baumelt eher am Galgen, als
daß morgen die Bank nicht von neuem erneuert wird? Was ſagen
Sie, Sir? Eine triumphirende Beifallsſalve belohnte den brüllenden
Logiker. Die Erinnerung an den letzten engliſchen Krieg, den die
Union bekanntlich ſiegreich geführt, ſchien eine zu glückliche und bei¬
ßende Argumentation, als daß der arme Baronet nicht überwältigt
ſein mußte. Aber das Gegentheil. Gerade dieſe Anſpielung pflanzte
er ſelbſt auf ſein Bajonnet. Und wie dem Manne eine kräftige Bruſt¬
ſtimme zu Gebote ſtand, die durch ein Bataillon engbrüſtiger und
näſelnder Yankeeſtimmen ſchlug, ſo klang es wie eine Gerichtspoſaune,
als er anfing, ſeinen Widerſpruch aufzubauen. Ganz recht, meine
Herren, rief er, daß Sie der letzte engliſche Krieg den Vortheil, oder
beſſer, das Bedürfniß des Papiergeldes fühlen lehrte; auch wir haben
den Napoleon mit Papiergeld beſiegt. Der Krieg, der die ſittlichen
Güter einer Nation vertheidigen ſoll, entzieht derſelben in allen Fäl¬
len ein mehr oder minder großes Quantum materieller Güter, Ca¬
pitalien genannt, und gibt ſie der Zerſtörung preis, um jene höheren
Güter zu retten. Dieſe Capitalien müſſen auf dem Altar des Vater¬
landes verbrannt werden, wie irgend ein Brandopfer; es wird alſo
Zündſtoff nothwendig ſein, ſie in Brand zu ſetzen. Dieſer Zündſtoff
iſt das Papier. Das Papier verwandelt die Nationalopfer von Capi¬
talien in Aſche, freilich ohne daß die Opfernden ſelbſt es wiſſen, oder
geduldig wollen. Genug, wenn bei der menſchlichen Schwäche des
Egoismus ein Opfer für's Ganze nicht anders zu erhalten iſt, als
indem man es verhüllt, und mit einem momentanen, erlogenen Werth
[273] erſetzt. Als die karthaginienſiſchen Frauen aus ihren Kopfhaaren
Bogenſehnen flechten ließen, als die polniſchen Großen die ſilbernen
Särge ihrer Ahnen in die Münze ſchickten, leiſteten ſie das Opfer
bewußt, der Staat brauchte ihnen nicht Papierwerthe dafür vorzu¬
ſpiegeln. Aber das ſind Ausnahmsfälle der Begeiſterung, der Ver¬
zweiflung, wenn Sie wollen, und in der Regel wird der Krieg von
denen, die er vertheidigt, die Mittel ihrer Vertheidigung nicht anders
erhalten können, als indem er ſie ihnen ſcheinbar vergütet, bis ſie
den wirklichen Verluſt kennen lernen, da ſie dann freilich betrogen,
aber auch gerettet ſind. Dies der Krieg. Aber herrſcht in dieſem Lande
beſtändig Krieg? Leben Sie in einem Krieg mit ſich ſelbſt, meine Herren?
Bei Gott, ſo iſt es. Sie führen einen Krieg der Reichen gegen die
Armen, nein, nicht einmal das! denn in Michigan weiß ich eine Bank,
deren ganzes Vermögen in den Metallplatten beſteht, womit ſie ihre
Noten druckt, und in Miſſouri weiß ich eine andere, deren Baarfond
ein einziger Dollar iſt! Michigan und Miſſouri ſind aufſtrebende
Staaten, Staateneier wie ſie hier Landes vor der Hälfte der Brutzeit
die Schale ſprengen, es koſte was es wolle. Und wahrlich eine Metall¬
platte zum Banknotenpreſſen koſtet blutwenig. Iſt erſt der Strom
der Anſiedler da, jene unglücklichen Helotenſchwärme von deut¬
ſchen und iriſchen Einwanderern, die mit einem zerriſſenen Zeltwagen,
einem Pferdegerippe, zwei harten Männerfäuſten und ſechs hungernden
Familienmägen auf tauſend Meilen von der Cultur wegagentirt
worden ſind, was bleibt ihnen anders übrig, als zu arbeiten für
Alles, was man ihnen als Geld anzubieten die Laune hat? zu arbei¬
ten für eine Handvoll jener Lumpen, deren ſie ſelbſt ihren Wagen voll
beſitzen, nur daß dieſe noch nicht die Papiermühle paſſirt? So zahlen
Sie auf dem Lande, ſo zahlen Sie in den Städten, und indem die
papierne Lüge von Hand zu Hand geht, können Tauſende von Aus¬
wanderern ihr Glück in die Heimat berichten, bis Jene zum Worte
kommen, an welchen die Execution des Bankbruchs vollzogen wird.
Leider gelangen nur Bankbrüche erſten Rangs zu einiger Oeffentlichkeit,
alſo daß der Ruf der Prosperität und Calamität in den Vereinigten
Staaten fortwährend ein unrichtiger iſt. Ich aber, meine Herren, ich
habe den Falliſſements Ihrer Banken ſeit dem Jahr 1811 nachgerechnet
und gefunden, daß Sie bis heute, alſo innerhalb einer Generation,
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 18[274] für zweihundert Millionen Dollars fallirt haben. Schlage ich einen
Taglohn durchſchnittlich zu 1½ Dollar an, ſo haben Sie einer ein¬
zigen Generation Ihrer Mitbürger 150 Millionen Arbeitstage geſtohlen!
Damit läßt ſich was ausrichten! Das thut Ihnen allerdings keine Na¬
tion der Erde gleich. Von dem Geheimniß Ihrer Fortſchritte iſt das
der Schlüſſel. Aber ſehen Sie bei einer ſolchen Lage der Dinge von der
politiſchen Seite Ihres Bankweſens nicht länger mehr ab zu Gunſten
der ſocialen Seite. Wahrlich noch ſchwärzer wird letztere dabei. Ge¬
ſtehen Sie, daß Sie mit einer ſolchen Summe von Robottagen Ihre
arbeitende Klaſſe ärger mitnehmen, als die Spartaner ihre Heloten,
oder die polniſchen Magnaten ihre leibeignen Bauern.
So oder mindeſtens ähnlich durfte ein Engländer in der Fremde
reden. Was für eine herrliche Sache iſt's um einen großen nationalen
Rang! Wie blaß ſtand ich als Deutſcher daneben!
Aber ſein Raiſonnement that mir in der Seele wohl. Ich weiß
nun, was ich den Amerikanern zu antworten habe, wenn ſie mir ihre
Nationalgröße vorprahlen. Ich werde ſagen: hätte Fallſtaff ſeinen
Sekt bezahlt, ſo wäre er nicht ſo dick geworden, und ein Fallſtaff
iſt auch noch kein Rieſe! Der hieſige Materialismus braucht mir nun eben
ſo wenig zu imponiren, als es der Idealismus gleich anfangs nicht
that. So werde ich Schritt für Schritt freier.
Nach Harrisburg. — Pennſylvanien heißt „der Garten der
Union.“ So viel ich ſehen kann, verdient es dieſen Namen. Wohin
man blickt, iſt der Geſichtskreis voll von Bildern des Wohlſtandes
und der Zufriedenheit. Farm an Farm reiht ſich unabſehbar über
die hügelige Bodenfläche eines Landes, dem es nirgends an Wald,
Waſſer, Weide und wie es ſcheint an Fruchtbarkeit gebricht. Jeder
Farm liegt in der Mitte des Seinen — für das Auge ein volles
Rund. Das Haus umgibt der Blumen- und Obſtgarten, lange Feld¬
breiten von Mais und Waizen ſchließen ſich an, grasreiche Wieſen¬
gründe folgen, und das Ganze begrenzt gewöhnlich irgend ein Halb¬
zirkel von Wald, deſſen Nähe der Farmer gerne ſucht. Wie die
Flüſſe ſchweifen, die Thäler ziehen, ſanfte Abhänge, bewaldet oder
bebaut, ſich durch die Ebene miſchen, zerſtreute Bauernhöfe nach Oſt
[275] und Weſt ihre Fronten ins Land kehren, ſo gibt es auf jeden Hügel
von ein paar Ellen Höhe eine freundliche, anmuthige Umſchau. Kurz
das Land iſt nicht eben maleriſch, aber heiter, behaglich.
Nach Harrisburg. — Im Poſtwagen iſt der Menſch faſt
auf der ganzen Erde unliebenswürdig, der reiſende Yankee aber iſt
ein Ungeheuer. Ich erlebte heute eine Probe davon, die auch
einen Holländer toll gemacht hätte. Ich fuhr im Stagewagen
nach Reading, oder vielmehr in der Richtung dahin. Meine Reiſe¬
gefährten waren: erſtens, ein Kaufmann aus Sunbury, zugleich
Schuldiſtrictsvorſteher, Milizlieutenant, Geſchworner, Straßenbau¬
commiſſär, Bibelverbreiter, Sträflingsbeſſerer und Temperance-
Ausſchuß-Mitglied, Zweitens, ein Indian-Trader, einer aus
dem Orden jener ſpeculativen Induſtrie-Ritter, welche zur Zeit,
wenn die expropriirten Indianerſtämme ihre Renten für abgetretene
Ländereien ausbezahlt bekommen, mit nichtsnutzigem Hauſirerkram,
hölzernen Muskatnüſſen, hörnernen Feuerſteinen, ſchlechtem Branntwein
u. dgl. den fernen Weſten bereiſen und ſich das Blutgeld wieder heim
holen. Drittens, die blaſſe, grämliche Frau eines Philadelphier-Advokaten,
welche viel über Unverdaulichkeit klagte und ein noch bläſſeres Kind
auf dem Schooße hielt, ein Würmlein — Gott verzeih's — wie eine
Made. Nun höre, wie mir's zwiſchen dieſen drei Menſchen erging.
Der Indian-Trader hatte mir gleich beim Einſteigen ſeinen dick¬
benagelten Stiefelabſatz in die Herzgrube gedrückt und mir das Herz
faſt abgedrückt. Als er dann ſaß, legte er ſeine zwei langen Beine
wie Greifſcheeren auseinander und zwar auf meine Schultern. Da¬
gegen durfte ich eigentlich nichts einwenden, denn das Recht der Bein¬
ausſtreckung gehört in jeder Lage des Körpers zu den wichtigſten
Privilegien des Yankee. Blos auf dem Wege des friedlichen Ver¬
trages erſchlich ich mir ſo viel, daß er die Beine nach Art eines
Viaducts über meinen Kopf ſpannte, und ſich's gefallen ließ, da
ihnen die Unterlage meiner Schultern entzogen war, daß ich ſie mit
meinem Taſchentuche oben an die Wagendecke knüpfte. Der Kaufmann
von Sunbury, der uns ſo eifrig von ſeiner bürgerlichen Vielſeitigkeit
unterhielt, war im Laufe dieſer Anſtrengung eingeſchlafen, und erkor mich
18*[276] zu ſeiner Matratze, indem er ſein ganzes Gewicht ſo über meinen Körper
herlegte, daß ich darunter verſchwand und gleichſam vernichtet war.
Mit dem Manne ließ ſich noch weniger pacisciren. Ich nahm alſo
zur Liſt meine Zuflucht. Ich ſtahl mich mit meiner eingeklemmten
Hand in meine Taſchen, was mir nach vielen ſchmerzhaften Exkorſionen
gelang. Nun ſucht' ich alles Spitzige darin zuſammen, Federmeſſer,
Cigarrenſpitzen, Haarkamm, und bemühte mich, dieſen Gegenſtänden
eine ſolche Aufſtellung zu geben, daß ſie als Stacheln die Rippen
meines Alps von mir abhalten ſollten. Kaum aber freute ich mich
meiner kleinlichen Erfolge hierin, als ſich das blaſſe Schooßkind meiner
unverdaulichen Nachbarin übergab, und zwar auf mein rechtes Bein.
Entſetzt fuhr ich auf, aber die Lady hieß mich ruhig ſein, denn ihr
Baby wäre eigentlich nicht krank, ſagte ſie, es komme nur vom ſchwachen
Magen. — Wie gefällt dir dieſes ganze Culturbildchen? Möchte ſich doch
die Erde ein ganz klein wenig ſpalten und dies liebenswürdige Volk ſanft
in ihr Centralfeuer hinabgleiten laſſen. Ich rathe, dort wär's gut
aufgehoben.
Nach Harrisburg. — Auf der Eiſenbahn geplündert, im Stage¬
wagen zerquetſcht und beſpieen, wollt' ich es mit dem Dampfſchiff
verſuchen. Ich wanderte ein paar Meilen zu Fuß dem Thale des
Susquehanna zu und beſtieg in Lancaſter das Boot. Schlechtere
Reiſegeſellſchaft hat wohl ſelten ein Wanderer gefunden, als ich, Un¬
glücklicher, bei dieſer Fahrt. Es umgab mich ein Genre von Men¬
ſchen, das gar nicht zu charakteriſiren iſt, denn Alles fehlte ihnen,
um Menſchen zu ſein, und Alles beſaßen ſie, was zur Beſtialität
gehört. Ihre Moralität und ihre Sitten waren gleich abſcheulich.
Eine kalte, dickhäutige Selbſtſucht, eine Nichtachtung jedes ge¬
ſellſchaftlichen Anſtandes prägte ſich ſo ſehr in ihren Zügen,
Worten und Handlungen aus, daß ich unmöglich den Wunſch
unterdrücken konnte, das Regiſter ihrer Untugenden möchte noch
mit einer einzigen vermehrt ſein, — mit der Scheinheiligkeit.
Dieſe konnte man ihnen aber nicht vorwerfen. Das Geſpräch in der
Cajüte ſtrotzte von den frevelhafteſten Gemeinheiten, die aber ohne alle
Wärme des Temperamentes, mit einer wahrhaft teufelsartigen Ruhe
und Kaltblütigkeit ſich äußerten. Letzterer Umſtand macht die hieſige
[277] Gemeinheit beſonders empörend. Den Kerls iſt nicht etwa wohl, wie
den bekannten fünfhundert Säuen, ſie ſind als Zotenreißer ſo trocken,
wie als anſtändige Menſchen. Es iſt nicht der geringſte Humor in
ihren Ausſchweifungen. Ein presbyterianiſcher Geiſtlicher war an Bord,
ſeine Gegenwart that aber keinen Augenblick Einhalt. Kurz, ich litt
bis zur Verzweiflung unter dieſer Reiſegenoſſenſchaft. Da ich merkte,
daß der Geiſtliche kein Landeskind, ſondern ein Schottländer ſei,
ſo fing ich an mein Herz gegen ihn zu erleichtern; er antwortete
aber mit ziemlichem Phlegma: Das wird man bald gewohnt auf
Reiſen; außer dem Zwang ihrer häuslichen Verhältniſſe ſind ſie ſo.
Da ſteht der Verſtand ſtill! Der freie Amerikaner außer dem
Zwang ſeiner häuslichen Verhältniſſe! Und doch hält er durch die
ganze Union dieſen Zwang aufrecht, und canoniſirt die häusliche
Langeweile unter dem Namen temper, was man für un¬
überſetzbar hält, was aber ganz einfach Muckerthum heißt! —
Als ich morgens Toilette machte, circulirte für die ganze
Schiffsgeſellſchaft ein einziges Handtuch; eben ſo hing ein allge¬
meiner Kamm ſammt Haarbürſte an einem Nagel. Jedermann be¬
diente ſich unbedenklich dieſer Gegenſtände der Reihe nach. Ich hätte
gerne gefragt, ob nicht auch eine General-Zahnbürſte da ſei, aber
ich glaube, dieſes Muſtervolk braucht überhaupt keine Zahnbürſte.
Was mich betrifft, ſo proteſtirte ich feierlich gegen das Gleichheits-
Handtuch und verlangte mein eignes. Da fing der ſouveräne
Schweinſtall eine Rebellion gegen mich an und ſelbſt der Capitän
verſicherte mich mit der empfindlichſten Miene, daß mein Begehren
auf jedem amerikaniſchen Schiffe Aufſehen erregen würde. All men
are equal! Heißt das ſo viel als: all hogs are equal? Welch eine
erlogene Kultur! Zu Hauſe wandeln ſie bis zum Kohlenträger herab
auf Teppichen und im Schiff hat die ganze Bande ein Handtuch!
Meinethalben. Ich nähere mich mit jedem Schritt meinem Urwalde,
ſehe aber nichts anders übrig, als mir ein Reitpferd zu kaufen, ich
wüßte ſonſt nicht, wie ich fort käme. Körper an Körper mit dem
Amerikaner zu reiſen, iſt weder zu Waſſer noch zu Lande möglich, ſo
viel belehrt bin ich nun. Gott, was es heißt, ein Volk en detail
kennen lernen!
[278]
Harrisburg. — Wie neugeboren bin ich aus dem verruchten
Schiff ans Land geſtiegen. Der niedere Waſſerſtand hat die heilloſe
Fahrt noch mehr verzögert. Aber das Flußbett war ihm eine große
Verſchönerung ſchuldig. Meilenweit war der Susquehannah überſäet von
Felstrümmern voll wilden Formenſpiels Bald ragten ſie wie Ruinen
römiſcher Triumphbogen aus dem Waſſer, bald glaubte man Löwen,
Sphinxe, Greife und ſonſt ſolch' heraldiſches Wildpret zu ſchauen;
kurz, die Phantaſie war ſchöpferiſch angeregt. Es iſt gar herrlich, wenn
ſo ein Felſenbett niederen Waſſerſtand hat. Da zeigt der Strom doch
ein ander' Geſicht, als ſeine platte, geduldige Oberfläche, die nur
Schiffsgüter expedirt. Man ſieht ihm ins Herz, man ſieht ſeine innere
poetiſche Werkſtätte und mit welcher Muskelkraft er feilt, ſägt, häm¬
mert und bohrt, um aus den Urwaldsblöcken ſeine Gedanken zu for¬
men, — rohe, kyklopiſche Rieſengedanken! Ueberhaupt hat die Gegend
von Harrisburg einen heldenhaften Charakter. Das Thal des Sus¬
quehannah, auf der öſtlichen Flußſeite beſonders, zeigt ſchöne, markige
Felſenpartien. Die knorrigen Steineichen darauf glaubt man ordentlich
knattern zu hören, wie die Hitze ihr altes Holz ſprengt. Hoch über
ihnen ſchweift der Geier und kreiſcht ſeinen rauhen Geſang von Hunger
und Liebe, daß Einem das Herz im Leibe lacht. Wer das Auge hätte,
womit ſo ein Racker unter'm vierzigſten Breitengrad in die Mittags¬
ſonne ſchaut!
Harrisburg. — Es fängt an, mir ernſtlich bange zu werden,
welchen Weg die Culturgeſchichte Amerika's einſchlagen wird. Von den
Tauſenden und Tauſenden, die jährlich als Neu-Siedler in unge¬
bahnten Wildniſſen ſich niederlaſſen, erwartet man, wie billig, nichts
anders, als die erſte roheſte Arbeit. Pioniere der Cultur heißen ſie,
die Cultur ſelbſt ſoll ihnen erſt nachrücken. Von dieſer nachzurückenden
Cultur wird man aber wieder die großen See- und Handelsſtädte
abziehen müſſen, deren Leben Taumel iſt — Taumel des Geſchäfts
und Taumel des Genuſſes. Nun dächte man, läge die Cultur in der
Mitte; ſie läge in jenen glücklich ſituirten Städten, die, gleich ent¬
fernt von der Roheit des Hinterwäldlers und von der Verderbniß der
Seehafen-Ariſtokratie, Beſitzer eines ruhig arbeitenden Kapitals ſind,
[279] das den bürgerlichen Athmungsprozeß in normalen, geſunden Schwin¬
gungen vollzieht. Mit dieſer Erwartung betrat ich Harrisburg. Harris¬
burg iſt in jeder Hinſicht ein reinerer Sitz des amerikaniſchen Deutſch¬
thums als Philadelphia. Unſere Kinder ſollen nicht engliſche Affen
werden, ſagten die deutſchen Anſiedler Pennſylvaniens, welche mit
einem Grundſtock guter proteſtantiſcher Bildung herüberkamen, deutſche
Schulen anlegten, deutſche Lehrer und Paſtoren mitbrachten und ſie
noch lange, oft mit großer Aufopferung, aus Deutſchland, namentlich
aus Halle, der damaligen Metropole deutſch-theologiſcher Gelehrſam¬
keit, verſchrieben. Wohlan, die Söhne und Enkel dieſer Rektoren,
dieſer Paſtoren, dieſer Offiziere aus Waſhington's Armee, dieſer bra¬
ven, bildungsfähigen Pennſylvania-Bauern bilden den Grundſtock der
hieſigen Bevölkerung. Ihr altes Vater-Erbe hat ſeitdem zehn- und
hundertfachen Bodenwerth erreicht, das Bauerngut rentirt längſt als Ritter¬
gut, oder es iſt vortheilhaft verkauft — kurz, dieſe ganze Geſellſchafts¬
klaſſe iſt aus dem bäuerlichen in den bürgerlichen Rang vorgerückt: ſie
iſt der Stadtkern von Harrisburg. Aber wie ſieht ſie aus, dieſe
deutſch-amerikaniſche „Gentry“, die es mindeſtens ſein könnte in ſo
gutem Sinne wie die engliſche? Ihr Wohlſtand iſt gewachſen, ihre
Bildung nicht. Sie hat zu ſtreben aufgehört, genau auf jener
Stufe, wo die Noth und der Kampf um die Exiſtenz aufgehört hat.
Ich habe Häuſer von Reichthum und geſellſchaftlichem Rang betreten,
aber ihre Bibliotheken waren nicht hinaus über den hundertjährigen
Kalender, Doktor Fauſt's Höllenzwang, Theopraſtus Paracelſus, Jacob
Böhme und Burkard Waldis. Das neueſte deutſche Buch, das ich in
Harrisburg fand, waren Gellert's Fabeln. Von den beſſern deutſchen
Charakterzügen pflegen ſie nur noch den Hang für Gartenkunſt; von
der anglo-amerikaniſchen Race haben ſie den sport für Pferde ange¬
nommen, die aber bei allzu reichlicher Fütterung mehr dick als ſchön
werden. Das iſt Alles. Eine ſanfte, unſchuldige Ehe der National-
Liebhabereien, kein Durchdringen des National-Geiſtes mit
großen, produktiven Reſultaten, keine Kreuzung des Beſten und Edel¬
ſten von deutſch und amerikaniſch zu einem neuen Menſchheits-Adel,
wie wir es als möglich — träumten!
Dieſe Miſchung von Nationalitäten, eher zu einem Zerrbilde, als
zu einem Ideale, finde ich wie in einem Spiegel in dem Sprach¬
[280] Kauderwelſch des Pennſylvania-Deutſch abkonterfeit. Es wird einem
Ach und Weh, an einem lebendigen Organismus eine ſo fortſchreitende
Verödung — möchte ich als Arzt ſagen — zu beobachten. Ein
Fiſcher z. B. ſpricht: Below werden die Fiſche umgepackt, inspected
und dann wieder vereingepackt again. — Ein Tiſchler erklärt:
Wenn Sie ein loghouse bauen wollen und dasſelbe inwendig geplasterd
und von außen geclapboarded wird, ſo koſtet es ſiebenhundert Dol¬
lars. — In einem hieſigen deutſchen (?) Blatte fand ich folgende
Blüette; ich bemerke aber, daß die Sprache darin noch lange nicht die
verdorbenſte iſt.
1. Sechs Monate nach der Hochzeit.
Well, liebe Härriett, willſtu heut Abend auf den Ball gehen?
Du weißt, wir ſind höflich eingeladen worden. — Juſt wie du ſagſt,
William, du weißt, ich wünſche nichts zu thun, als was dir Vergnü¬
gen macht. — Well, denn Harriett, ſuppos wir gehen, das iſt, wenn
du perfektly Willens biſt; nau, ſag' aber nicht ja, juſt weil ich ſo
ſage; denn Du weißt, wo du biſt, da fühle ich vollkommen glücklich.
— Ei, lieber William, ich weiß, daß du auf dem Ball Vergnügen
haben würdeſt, und wo du vergnügt biſt, da habe ich auch, of cours.
Was für 'nen Dreß ſoll ich anthun, William? meinen weißen Gaun
oder den groben mit pink Trimmings, oder den ſchwarzen Merino,
oder den weißen Sätin? Du weißt beſſer, was mir gut ſteht. —
Liebe Härriett, du biſt ſchön in jedem Dreß. Nau, nimm heut Abend
deine eigene Wahl. Ich denke aber, dein weißer Sätin Dreß ſteht
dir ausnehmend ſchön. — Nun ſieh, William, ich wußte, daß du juſt
meine Gedanken haben würdeſt. O wie glücklich werden wir heut
Abend ſein!
2. Sechs Jahre nach der Hochzeit.
Härriett, reich mir 'mal die Zuckerbohl, du haſt mir juſt einen
Theelöffelvoll in meinen Thee gethan. — Well, William Schnuck,
du juhſt wahrhaft Zucker genug in deinen Thee, um ein Bärrel Eſſig
ſüß zu machen. Hier Tſchanni, witt du die Finger aus der Schüſſel
thun? Suſen, ſei ſtill! was die kleine Sau net kreiſcht; wahrhaftig
ſ'iſt genug, um Eins närriſch zu machen. Witt du ſtill ſein! Da! da!
[281] (ſie ſchlägt) du kleiner Satan! — Ei, Härriett, was hat denn das
Kind gethan? Du biſt wahrhaftig zu ſchnell. — Ich wollt, Miſter
Schnuck, du thätſt deine eigne Büßnes meinten; du bekümmerſt dir
allsfort, um was dir nichts angeht. — Wäll, Härriett, ich möchte
wiſſen, wer ein beſſeres Recht hat als ich? Du zankſt und maulſt ja
auch immerwährend. — Däddi, Tſchanni zerreißt Eure Zeitung zu
Stücken. — Tſchanni, komm her. Wie kannſt du dich unterſtehen,
meine Zeitung zu zerreißen? Da, du Räskel! wie ſchmeckt das? Und
nau pack dich ins Neſt. — Ei William, du Böſewicht, wie kannſt du
mein Kind ſo unvernünftig ſchlagen? Komm her, Tſchanni, armes
Kind! hats weh gethut? never min; da, da nimm ein Stück Zucker;
ſo, das is'n ſchmär Bübchen. — Härriett, ich will dir ſagen, du ver¬
dirbſt die Kinder ganz und gar. Du weißt, ich mittle mich niemals
drein, wenn du ein Kind beſtrafſt. Es iſt erſtaunlich, was ein Weibs¬
menſch niemals Recht thun kann. — Nie Recht thun? Wahrhaftig,
Miſter Schnuck, wenn Niemand hier im Hauſe recht thäte als du, ſo
wundere ich, was am Ende aus uns werden ſollte. — Härriett, du
ſprichſt wie ein Narr, ich wills nicht länger ſtänden. Du biſt an¬
fangens ſo ſchnappiſch und beißig, wie 'ne Bſchidog, und wenn noch
irgend eine Eheſcheidung im Land zu haben iſt, will ich ſie haben. —
Halloh, was das Männchen ſo wüthig iſt! Well, gute Nacht, Miſter
Schnuck, träume nichts Böſes. —
Kannſt du dir in dieſer Sprache einen Dichter denken? Eine Na¬
tionalität aber, die keiner Dichter fähig iſt, gleicht einem Baum, der
keine Blüthen treibt. Sie iſt abgeſtorben. Das iſt der Fall mit dem
Pennſylvania-Deutſchthum.
Nimm mir dieſen Brief nicht übel, lieber Bruder. Sein ganzer
Inhalt zeugt gegen dein Ideal. Aber nicht wahr, wir ſind nach
Wahrheit ausgegangen?
Harrisburg. — Mein Pferd iſt gekauft. Ich bin mit meinem
Entſchluſſe vortrefflich zufrieden. Das Reiten hat etwas Auf¬
heiterndes, Idealiſches, Dramatiſches, — es iſt die ſchönſte Scene
zwiſchen Menſch und Natur. Mein Brauner iſt ein leichter und kräf¬
tiger Traber, echtes Racepferd, nur die Schule fehlt etwas; der
[282] Amerikaner iſt nicht der beſte Zureiter. Aber es iſt jung und ich
werde es noch erziehen. Dann wollen wir in Huf und Gehirn manch
ſchönen Rhythmus miteinander tanzen. Warum ſoll ich nicht eine
eigne Gangart erfinden: die lyriſche? Pegaſus hat ſie gehabt, aber
ſie iſt ſeitdem vergeſſen worden; die Flügel ſind nur ein Symbol da¬
von, ich will den Begriff ſelbſt wieder herſtellen. Apropos! die Art,
wie das Thier zum Kaufe ſtand, iſt originell genug. Es war einer
jener charakteriſtiſchen Yankeepuffs, welche das hieſige Volksthum ſo
weltbekannt kennzeichnen. In dem Harrisburger Advertiſer las ich die
Annonce: „Ein Pferd zu verkaufen gegen die Inſertionsgebühr. Bei
Mr. Bradley, Waſhington Square.“ Ein Pferd gegen die Inſertions¬
gebühr! Mein erſter Gedanke war: dieſer Mr. Bradley ſei ſelbſt ein
Puff; exiſtirte er aber, ſo verdiente er ſich jedenfalls einen Beſuch.
Und ſiehe! er exiſtirte wirklich. Mr. Bradley in Waſhington Square
war ein munterer alter Fuchs mit grauem Kopf, zwei hellen Aeuglein
und einer glührothen Naſe. Sein Thier koſtete hundert Dollars.
Darüber läßt ſich ſprechen, ſagt' ich, für ein Reitpferd iſt's ein
Preis; aber für eine Inſertionsgebühr? wie geht das zu, Miſter, he?
Sehr einfach, Miſter, ſagte der alte Schelm; kündige ich das Pferd
mit ſeiner ganzen Beſchreibung an, ſo brauch' ich die halbe Spalte
und es kommt doch Niemand, die Sache iſt zu gewöhnlich. Dieſe An¬
nonce dagegen ſpart mir Geld und zieht brav. Steht mir der Käufer
einmal im Hauſe, ſo läßt ſich ſchon eher ein Geſchäft machen; die
Hauptſache iſt, daß er hereinkommt. — Sehr wahr, Miſter; aber der
Zeitverluſt von Seite des Publikums? Wißt Ihr auch, daß man Euch
verklagen könnte auf den Wortlaut der Annonce und wahrſcheinlich
Recht behielte in dieſem Lande, wo Zeit Geld iſt? — Gar nicht,
Miſter; ich würde in dieſem Falle ein Redactionszeugniß vorlegen und
beweiſen, daß ich wirklich 100 Dollars Inſertionsgebühr bezahlt;
welcher Gerichtshof der Union kann dem Redacteur ſeine Preiſe vor¬
ſchreiben? — Iſt das nicht echt yankeeſch? In der That wurden wir
bald des Handels eins; es handelt ſich wunderleicht mit dem Ameri¬
kaner, wenn er Menſchen vor ſich hat, die ſeinen Kram verſtehen.
Und meine gute ungariſche Pferdekennerſchaft ließ ſich kein X für ein
U machen. Das Thierchen iſt übrigens wirklich preiswürdig, heißt
auch Cäſar, wie in dieſem bombaſtiſchen Lande überhaupt alle Pferde
[283] entweder Cyrus oder Cäſar heißen. Wäre der Fall ſeltner, ſo würd'
ich vielleicht abergläubiſch ſein und ſagen: Nun reiſ' ich mit Cäſar's
Glück! Indeß wollen wir ſehen.
Nach Pittsburg. — Mein Weg geht jetzt durch die Region der
Alleghanen. Leider halten ſie nicht, was ſie bei Harrisburg zu ver¬
ſprechen ſchienen. Dort ſchlitzte der Susquehannah das Gebirg bis
auf ſein innerſtes Knochengerippe auf und zeigte Fels und Geſtein.
Das ſeh ich nun ſchon lange nicht mehr. Fels und Geſtein iſt über¬
polſtert mit dem philiſtröſen Alluvialboden, — und dieſe Polſter
heißen die Alleghanen. Nirgends hat ſie der Vulcanismus kräftig
gehoben und zerriſſen, er begnügte ſich mit einer leichten Verbiegung
und Verſchiebung der neptuniſchen Tafelſchichten, und nichts kann ein¬
töniger ſein, als die parallele Regelmäßigkeit dieſer Gebirgszüge. Ihr
Material iſt ein Gemengſel von Trapp und Granit, metamorphoſirten
Gneis- und Glimmerſchiefer; der wilde Phantaſt Melaphyr oder Augit¬
porphyr, Trachit oder Dolomit ſpielt keine ſeiner hochromantiſchen
Rollen hier. „Ein unentwickeltes Bergſyſtem“ nennt die Wiſſenſchaft
ſolch mürbes Paſtetengebäcke, — genug, das Genre iſt langweilig,
es heiße wie es will. Die Amerikaner ſehen es freilich vom Nützlich¬
keitspunkte an und ſind außerordentlich zufrieden damit. Eine ſolche
Bodenfiguration erleichtere den Verkehr, ſei der Canaliſirung günſtig,
ja, ſie rühmen ſich, Waſſerſcheiden zu haben, über welche bei Ueber¬
ſchwemmungen ein Kahn ſchon natürlicherweiſe hinwegkomme! Gut
für die Deconomie des Volks, aber gewiß ſchlimm für die Entwicklung
ſeiner höheren Anlagen. In der That wird mir im Anblick dieſer
Alleghanen die proſaiſche Sinnesrichtung Bruder Jonathans ein gutes
Stück klarer. Genauer hingeſehen, kommt aber auch ſein Materialis¬
mus zu kurz dabei. Denn ſeine Gebirge, indem ſie nur Hoch-
Plateau's ſind, bieten dem Wind und Wetter viel breitere Flächen,
ermangeln der „geſchützten Lagen“ und Höhen ſind hier rauh, in
welchen bei uns noch Rebe und Kaſtanie blühte. Unermeßliche Strecken
fallen ſo für den Anbau aus; bedenkt man aber dazu, daß auch die
fruchtbaren Flußthäler, als Bruthäuſer des Fiebers, in ſtarken Abzug
zu bringen, ſo wird Amerika überhaupt viel kleiner, als die Götzen¬
[284] diener der Quadratmeilen gewöhnlich ausrechnen. — Ich ſprach von
Wind und Wetter, die ſind gleichfalls proſaiſch in den Alleghanen.
Geſtern erlebt' ich ein Gewitter, das war ſo zahm, daß es mir faſt
aus der Hand fraß. Alles, was ein Gewitter in europäiſchen Mittel¬
gebirgen gleicher Höhe an Effekten der Optik und Akuſtik leiſtet, fehlt
hier. Engpäſſe, Schluchten, Abgründe, reichgegliederte Bergwande¬
rungen, Zacken, Spitze, Kante — nichts dieſer Art wirkt hier auf die
atmoſphäriſche Landſchaft zurück. Ueberraſchende Lichtwechſel, kühne
Wolkenbildungen, ſtarke Donner, phantaſtiſche Echo's gehören nicht
zum Heerbann des Alleghany-Gewitters. Der Himmel iſt ſo arm
wie die Erde. Droben geiſtlos, drunten formlos — ſo reiſe ich
durch dieſes „unentwickelte Bergſyſtem”.
Nach Pittsburg. — Auch die heutige Strecke war arm an
Naturſchönheiten. Manch freundliche Anſicht — aber man wird das
Freundliche doch endlich müde, wenn es ewig das Nämliche bleibt.
Es fehlt gar zu ſehr an Abwechslung. Die amerikaniſche Landſchaft
gleicht jenen Weibern, welche eben nichts zu ſein wiſſen, als Geſchlecht.
Da iſt ein gewiſſes Inventar von natürlichen Mitteln; wirken ſie —
gut; wenn nicht — nicht. Aber Holz und Waſſer iſt noch nicht Wald
und Fluß. Ueberall fehlt der Natur Sinn für ſchöne Gruppirung;
ſie weiß nicht zu überraſchen, nicht zu zürnen, nicht zu verſöhnen;
was Licht und Schatten, was die Macht der Nüance ſei — nichts
weiß ſie, nichts. Jener Ober-Chineſe, der den Ausdruck erfunden
hat „Vorrathskammern der Natur”, verdient Entſchuldigung; was ich
von dem Lande hier ſehe, hätt' ich ihn ſelbſt erfunden. So und ſo
viel Centner Braunkohle, Eiſenſtein, Gyps, Mergel, das iſt hier die
Natur. Ob dieſe „Bodenſchätze“ (auch ein verfluchtes Wort!) mit
einer maleriſchen Oberfläche das Auge erfreuen, dafür iſt nirgends
geſorgt. Auch von „Culturlandſchaft“ iſt eigentlich nur unter deutſchen
Händen die Rede. Amerikaniſche Cultur entſtellt das Land eher, als
daß ſie es verſchönert. Der Amerikaner iſt nicht Bauer, nur Frei¬
beuter. Er ſetzt ſeinen Fuß auf die Erde, haut, ſticht, ſengt und
brennt in ſie hinein, und verläßt ſie dann wieder. Er hat kein Ge¬
müthsverhältniß zum Boden, auf dem er ſitzt. Sein Haus liegt da
[285] wie ein viereckiger Kaſten, der vom Möbel-Transportwagen herabge¬
fallen iſt. Es blickt dich an, ſo kalt, ſo nüchtern, ohne Horizont, ohne
Perſpektive. Kein Blumengarten, kein Baumſchatten umgibt es mit
traulichem Gehege. Die Felder ſind ein wüſter Anblick, kaum aus
dem Gröbſten gearbeitet, haſtig, oberflächlich, denn die Arbeit iſt theuer,
das Land wohlfeil, man preßt's eilig aus, verkauft und verläßt es
dann. Die Zickzack-Zäune, die ſog. Virginia-Fenzen vollenden den
widerwärtigen Anblick. Es iſt geradezu eine Marter für das Auge,
einen weiten Landſtrich zu ſehen, angefüllt mit dieſer Unzahl gebrochner
und geknickter Linien, — die „freie Natur“ in lauter Dreiecke ausge¬
neſtelt. Und wie der einzelne Farm, ſo die Gruppe. Ihr Neben¬
einander gibt ſo wenig ein harmoniſches Bild, als zuſammengefloſſene
Kleckſe ein Gemälde geben. Ein Dorf ſuchſt du vergebens hier. Iſt
das Blockhaus-Stadium überwunden, ſo baut ſich das Neſt aus Stein
oder Fachwerk auf, übertüncht ſich mit ſchreienden Lackfarben und
nennt ſich Stadt. Die Kaffern heißen dann Ladies und Gentlemens,
ihre ABC-Schule Univerſität, ihr Gemeindehaus City-Hall, ſie führen
eau de Cologne, abonniren ein Pariſer Moden-Journal und auf
den Karten findeſt du die ganze Hühnerſteige unter dem Namen Athen,
Rom, Troja, Karthago, Syrakus, Petersburg, Nanking. Oft kommt
die ganze Stadt auf dem Transportwagen, noch glänzend vom Hobel
her, und ſtellt ſich auf wie aus der Puppenſchachtel. Fällt dir vor
ſolch einem lackirten Ding irgend ein bemooster Dorf-Knorren in Franken
oder Schwaben ein, ſo vergehen dir alle Sinne. Es ſind gar zu
ſcharfe, ſchneidende Lichter in dieſem Lande.
Nach Pittsburg. Müde und hungrig erreichte ich geſtern Abend
ein einzelnes Haus an der Straße, ein ſogenanntes Privat-Enterain¬
ment, das ſich aber doch mit ſeiner Aufſchrift auf einer Schindel,
welche an einem Pfahl ſteckte, ein County-Hotel nannte. Ich reſig¬
nirte auf ein ſumptuoſes Souper in dieſer Taverne und nahm mit
zufriedenem Herzen was da war — eine Taſſe ſchlechten Thee zu ein
paar Eiern und gebratenen Speck. Indem ich an dieſe Tafelgenüſſe
aber Hand anlege, fährt ein Geſpenſt aus einer dunkeln Stubenecke
auf, ein alter gelber Knochen, ein Menſch wie eine Leiche und donnert
[286] mich an: Halten Sie ein, mein Herr! Die ſündige Creatur ſoll
nicht Speis und Trank genießen, ohne Ihm, dem Geber aller Gaben,
zu danken. Ich ſtarrte den Klappermann an wie einen Verrückten,
diagnoſticirte auf Gehirnvertrocknung und glaubte deßhalb ihm ſein
Attentat verzeihen zu müſſen. Ruhig ſetzte ich mich an mein Gericht.
In dieſem Augenblicke aber riß mir die Wirthin ſo Taſſe als
Schüſſel vom Munde weg und rief: Wenn Sie der Aufforderung
unſers frommen und ehrwürdigen Reverend nicht Folge leiſten, mein
Herr, ſo habe ich für Gottesleugner kein Brod unter meinem Dache;
dazu iſt mir das Heil meiner Seele zu lieb. Was war zu machen?
Ich ſelbſt hätte hungern können, aber meinem Gaul zu liebe betete
ich. — We are in a free country! Mit dieſem Zucker ſchluckt
man ſolche Pillen hinunter.
Nach Pittsburg. — Gewitzigt von geſtern Abend, dirigirte ich
mich heute in ein Städtchen, dem ein frequenteres Hotel zuzutrauen
war, als daß es die Andachtsübungen ſeiner Gäſte überwachen ſollte.
In der That war es ſo frequent, daß ichs von oben bis unten beſetzt
fand, als ich ziemlich ſpät vortrabte und den ſchläfrigen Stewart
herauspochte. Er ſchleppte mich ein halb Dutzend Etagen unters
Dach hinauf und warf meinen Leichnam in eine enge niedere Boden¬
lucke wie in die Wolfsſchlucht. Ich fiel faſt um, als ſich beim Ein¬
treten ein Schwadem ſchwüler Stickluft mir auf die Lunge legte, auch
glaubt' ich's raſcheln zu hören. Deßungeachtet behauptete der Auf¬
wärter, es ſei der einzige freie Raum im Hauſe. Unter dieſen Um¬
ſtänden hieß ich ihn das nöthigſte Bettzeug mitnehmen, ich wolle mich
lieber auf irgend einem Balkon oder Vorhaus, oder wie es ſonſt käme,
einrichten. Indem wir darüber delibrirten, gingen wir im erſten Stock
an einem allerliebſten niedlichen Zimmer vorüber, das offen ſtand und
unbewohnt war. Hier iſt's ja frei, bedeutete ich dem Hausknecht.
Das iſt das parlour of the Ladies, ſagte er gleichgiltig und ging
weiter. Ich ſtarrte ihn an, wie geſtern den Reverend. Wie? ein
müder Reiſender ſoll um Mitternacht auf ein Zimmer verzichten, weil
am Tage darin die Weiber plaudern? Augenblicklich warf ich meine
Betten hinein und hieß den Burſchen mir zum Auskleiden leuchten.
[287]
Aber Sir, es iſt das parlour of the Ladies! bleckte der Golem und
hatte faſt Luſt mich am Arme fortzuziehen. Ich ſchleuderte ihn aber
ſehr unſanft auf den Gang hinaus — ich war wie ein angeſchoſſener
Eber. Geſtern kein Nachteſſen, heute kein Bett — der Teufel hole
dieſe Volksſitten. Ich zog mir die Stiefeln aus. Der Oelgötze auf
dem Gang glotzte mich an, wie Einen, der die Welt aus ihren Angeln
hebt, und brummte: Was wird Miſter und Miſtreß dazu ſagen;
ich muß es melden. Meld' es dem Peter Bell! rief ich, aber wer
mir heraufkommt und mir die Nachtruhe ſtört, dem jag' ich eine
Kugel durch den Kopf. Damit wies ich ihm die Mündung meiner
Piſtolen, warf die Thür in's Schloß und war für diesmal zu Hauſe.
Es ließ ſich Niemand mehr blicken. Ich erleichtere mein Herz, indem
ich noch dieſe Zeilen an dich ſchreibe und mir den hübſchen Kanarien¬
käfig mit dem Behagen eines Eroberers durchmuſtere. Ginge die
Reiſe nicht ſo langſam, ich müßte längſt in Ohio ſein. Aber die
Tage ſind heiß und ich mache Kreuz- und Querzüge in allen Rich¬
tungen von der Straße ab. Will mich indeß doch ſputen, denn du
ſiehſt wohl, wie wenig behaglich ich reiſe. Im Urwald ſind wir eine
Welt für uns und wollen auf zwanzig Meilen ein Beiſpiel ſein.
Ja, allmählig geht der Umſchlag in mir vor, ich halte nicht mehr zu
dieſem Lande, um Muſter zu ſehen, ſondern um Muſter zu geben.
Dieſe Freien müſſen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden.
Gute Nacht, Bruder.
Nach Pittsburg. — Lieber Bruder! Ich habe Dir heute eine
ſchmutzige Novelle zu erzählen, die ich zuletzt mit meinen Thränen
wuſch. Ja, es iſt mir verhängt, ich ſoll dieſes Landes nicht froh
werden. Ich ſpreche von meiner Nachtherberge. Wollte mich heute ein¬
mal in ein Privathaus zu Gaſte bitten, an einen traulichen deutſchen
Familienherd. Denn ein deutſcher Farm war's, der Abends vor mir
lag, — man kennt ſolche Hofſtellen ſchon meilenweit. Der Garten,
der ſich ſanft um einen ſchwellenden Hügel wand, ſtrotzte von köſtlichem
Edelobſt — das zieht nur der Deutſche. Feld und Hof umkränzten
grüne lebendige Hecken und nicht jene abſcheulichen Fenzenzäune des
amerikaniſchen Styls — es ſind nur deutſche Zäune. Und wie die
[288] Furchen des Ackers, die Bewäſſerungsrinnen der Wieſen gezogen wa¬
ren, der Schwung und Schluß in dem ganzen Feld- und Waldwuchs
umher, das Alles verrieth die Hand, die die Natur nicht beraubt, ſon¬
dern ſinnig pflegt, die deutſche Hand, die das Genie hat, ihre Erde
ſo zu zieren, wie der Franzoſe ſeinen Menſchen. Es war nach län¬
gerer Zeit wieder der erſte deutſche Farm, der mir begegnete — der Ge¬
danke, hier Einkehr zu halten, that mir in der Seele wohl. Meines
Wegs zog ein junger Menſch von wohlgefälligem Aeußern. Er ſaß
ritterlich in ſeinem Sattel, handhabte volle prächtige Glieder und ſah
mit einem warmen, faſt ſchwärmeriſchen Blick in die Welt hinaus;
mich überraſchte ſeine Jünglingsſchönheit. So, dacht' ich, müßten die
Cooper's und Irwing's ausſehen, ein gewöhnlicher Amerikaner iſt ſelten
ſchön; ſoll er der Sohn jenes Hauſes ſein, ſo ſei mein Eingang
geſegnet.
Letzteres äußerte ich denn auch, indem ich das Geſpräch anknüpfte.
Der Sohn dieſes Hauſes?! rief er ſchnell und mit Abſcheu, Gott
bewahre mich davor!
Wie ſo? fragt' ich betreten, iſt der Beſitzer dieſes Landgutes ein
ſchlechter unmoraliſcher Menſch?
Nein, war die Antwort.
Dann iſt ſein ganzes Verbrechen wohl nur, daß er ein Deutſcher
iſt? erwiderte ich nicht ohne Gereiztheit.
Ja, er iſt ein Deutſcher! beſtätigte der Jüngling, aber mit ei¬
nem unnachahmlichen Zug von Verachtung; auch gebrauchte er nicht
das Wort German, ſondern Dutchman.
Mir wallte das Blut, und nur ein Blick in ſein ſchönes Auge
begütigte mich wieder ſo weit, daß ich dem Verächter mit Mäßigung
ſeine Gründe abfragen konnte.
Der Jüngling war mir willfährig, obwohl ich zu bemerken glaubte,
daß es mit Widerwillen gegen das, was er zu ſprechen hatte, geſchah.
Er zog die Zügel an, ließ ſein Thier kurzen Schritt gehen und er¬
zählte mir Folgendes:
In Philadelphia war einſt eine Schiffsladung von deutſchen Pau¬
pers gelandet, unter andern eine Familie, die aus Mann, Frau, zwei
Knaben und einem Mädchen beſtand. Sie wurden auf zeitweilige
Dienſtbarkeit verſteigert, wie es zur Schadloshaltung des Capitäns in
[289] Fällen der mangelnden Bezahlung für die Ueberfahrt gebräuchlich iſt.
Mein Vater erſtand den Mann, Martin oder Merten wie er ſich aus¬
ſprach, Mr. Howth, ein Nachbar von uns, die Frau mit dem Mäd¬
chen; die Knaben wurden an einen dritten Ort vergantet. So ging
die Familie in drei Bruchſtücke aus einander, ſie zeigte übrigens keinerlei
Leidweſen darüber, namentlich der Mann nicht. — Als mein Vater den
deutſchen Mann auf ſeinem Wagen mit nach Hauſe nahm (ich war als
junges Kind mit dabei, erinnere mich aber ſehr wohl daran), da huckte
dieſer einen gewaltigen Bündel von Lumpen auf ſeinen Rücken
auf, ein Ding, das einen entſetzlichen Geſtank verbreitete. Mein Vater
befahl ihm ſofort das Zeug an ſein Weib zu überlaſſen, oder noch
beſſer, es in den Delaware zu werfen. Der Mann bat aber ſo dringend,
ſo unterthänig, ſeine Habe, wie er den Schmutz nannte, behalten zu
dürfen, daß es ihm endlich erlaubt wurde, aber unter der Bedingung,
hinten beim Neger damit Platz zu nehmen. Kein Weißer des hieſigen
Volks hätte ſich das gefallen laſſen, der Deutſche aber nahm es hoch¬
erfreut an.
Als wir zu Hauſe ankamen, wies ihm mein Vater eine unſrer
verlaſſenen Negerhütten an, wie ſie aus der Sclavenzeit Pennſyl¬
vaniens noch auf den Höfen ſtanden, ſeitdem aber unbewohnt und
unbenutzt geblieben waren. In dieſer verlaſſenen Hütte nun de¬
ponirte Martin jenen ſchmutzigen Bündel, und bald diente dasſelbe
ſtatt eines Vorhängſchloſſes, denn Geſtank und Ekel trieb auf zwanzig
Schritte Diſtanz jeden Menſchen aus dem Umkreis; zum Hineintreten
war außer Martin ſelbſt Einer der Unſrigen nie zu bewegen. In¬
zwiſchen vermehrte der Deutſche dieſen Schatz noch täglich mit allen
Lumpen, die er habhaft werden konnte; zerfetzte Kleider, abgelegte
Hoſen, vernutzte Strümpfe, das Alles ſammelte er wie toll zuſammen
und hinterlegte es in ſeiner Depoſitenbank. Sonſt waren wir mit
dem Manne ganz gut zufrieden, er arbeitete fleißig und umſichtig,
verſtand die Landwirthſchaft vortrefflich und wo ſie vom deutſchen Style
abwich, zeigte er ſich ganz beſonders aufmerkſam, die Urſache davon
zu begreifen und zu lernen was zu lernen war. Dabei erlaubten ihm
ſeine Begriffe von häuslicher Oekonomie kein einziges Mal, ſich vom
Hauſe zu entfernen, obwohl ihm mein Vater wiederholt die Freiheit
einräumte, ſein Weib zu beſuchen. Wozu die Schuhe zerreißen? war
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 19[290] immer ſeine Antwort; und als die Frau mit dem Töchterchen in fünf
Jahren einmal zu ihm kam, ließ er ſie hart an, daß ſie die Schuhe
nicht ſpare. Auch ſeine beiden Knaben beſuchten ihn einſt, die waren
baarfuß hergelaufen und kamen ſchon gnädiger weg; nur fragte er ſie,
ob ſie unterwegs hübſch gebettelt? Trotz alledem wollten wir den
Menſchen nehmen wie er war, und der Vater hatte ſich ſo ſehr an
Martin gewöhnt, daß er beſchloß, nach Ablauf ſeiner Dienſtzeit ihm
ein fünfzig Acres zu verlehnen ſammt einem Häuschen, das zu der¬
ſelben Zeit leer werden ſollte. Als nun dieſe Zeit bis auf acht Tage
heranrückte, kam Martin eines Morgens zu meinem Vater und redete
ihn an: Squire, wollen Sie mir wohl erlauben, morgen hinüber auf
die Auction nach Bedford zu gehen? — Auf die Auction nach Bedford,
Martin? was wollt Ihr auf einer Auction? erwiderte mein Vater; es
werden, ſo viel ich aus den Zeitungen erſehe, zwei Sheriff sales über
zwei Farms morgen abgehalten, davon jede dreihundert Acres Landes und
Wohn- und Wirthſchaftsgebäude hat, die wenigſtens auf fünftauſend Dol¬
lars geſchätzt werden. Die wolltet Ihr doch nicht erſtehen? — Ja wenn's auf
den Willen ankäme! Indeß habe ich ſo lange meine Schuhe geſpaart und
diesmal kommt mir es juſt in den Schuß. — Nun ſo geht, erwiderte mein
Vater; nehmt den alten Rappen und hier iſt ein Dollar als Zehrungsgeld
für Euch und das Thier; aber daß ihr Nachts wieder zu Hauſe ſeid! Wirk¬
lich war Martin pünktlich auf die Nacht zurück, hatte aber ſeinen Dollar
geſpaart und mit dem Pferd nichts als ein paar Pfund Brod ge¬
noſſen, die er von Hauſe mitgenommen. Das Thier fiel nämlich mit
ſolchem Heißhunger über den Hafer ſeiner heimatlichen Krippe her,
daß ihm ſeine Diät nur allzuſprechend abgemerkt wurde. Ich war mit
meiner ſcharfen Kinder-Aufmerkſamkeit bei der Fütterung zugegen und
verſtand mich darauf, denn das Pferdeweſen war ſeit dem frühſten Knaben¬
alter meine Leidenſchaft. — Am folgenden Morgen ſprach Mr. Gor¬
don, der damalige Sheriff, bei uns vor und gratulirte dem Papa
von wegen des guten Kaufes, den er mit Hawke's Farm gethan. Ich
habe Hawke's Farm gekauft? hörte ich den Vater verwundert aus¬
rufen; welcher Müßiggänger trägt ſolch' unnütze Reden durch die
Grafſchaft? Der Sheriff ſchüttelte den Kopf und zog ſtatt aller Ant¬
wort das Auctionsprotocoll aus der Taſche, in das mein Vater ſo¬
gleich neugierige Blicke that. Wen erblickte er als Käufer des Farms?
[291] Niemand ſonſt als unſern deutſchen Knecht Martin. Wir trauten
unſern Sinnen nicht. Der Mann wurde augenblicklich gerufen und
zur Rede geſtellt. Verzeihung, Squire, ſagte er unbefangen, ich habe
den Farm gleichſam ſtillſchweigend auf Ihren Namen gekauft, da ich
als Redemtioniſt noch nicht mein eigner Herr bin, ſondern erſt nach
acht Tagen es werde. Unſer ganzes Haus ſtarrte den Menſchen ſprach¬
los an. Aber wie in aller Welt, Ihr verdammter Narr, wollt Ihr
denn die Farm bezahlen, mein Name iſt ja noch nicht meine Kaſſa!
Da lächelte der Kerl verſchmitzt in ſich hinein und ſtolperte nach
ſeiner Hütte, wo er den bewußten Sack mit ſeinen ſtinkenden Lumpen
auf den Fußboden auszuſchütten begann. Wir waren ihm gefolgt und
ſahen ſeinem Treiben mit verhaltener Naſe durch die Thüre zu. Es
war ein Sack, der wohl an die hundert Pfund wiegen mochte, aber
wie geſagt, lauter Abfälle von allen möglichen Verbrauchsgegenſtänden
enthielt: durchgeſchwitzte Hemden und Strümpfe, Fetzen von Flanell¬
leibchen, Hoſen und Pferdedecken, dazwiſchen Stücke von altem Eiſen,
zerbrochene Hufeiſen, Nägel, Zinn, Blei, Kupfer — Alles dies fiel
aus dem Sacke. Nachdem er ihn gänzlich geleert, kehrte er ihn um
und hielt ihn über einen Trog, indem er mit einem Taſchenmeſſer
nun auch die Nähte des Sackes, der um und um geſtickt war, auf¬
zutrennen begann. Und ſiehe da! es fiel ein Louisd'or heraus und
noch einer und wieder einer, und ein vierter, fünfter, ſechster und
das ging ſo fort, bis der ganze Sack nur noch ein löcheriges Gerippe
ohne Zuſammenhang war. Dann war aber auch die Summe voll und
Hawke's Farm in blankem baaren Gelde bezahlt bis auf den letzten
Dime. Sehen Sie, das iſt meine Schatzkammer, ſprach der Langver¬
ſchwiegene bei dieſer Enthüllung; nicht wahr, es iſt eine ſo ſchöne
Schatzkammer, als die Bank der Vereinigten Staaten nur ſein kann.
Ja, ja, ſtaunen Sie nur! Hätte ich gleich bei meiner Ankunft im
Lande etwas gekauft, ſo wäre ich ſicherlich betrogen worden, oder durch
eigene Unkenntniß zu Grunde gegangen. Gegentheils hatte ich die
Ueberfahrt und die Erfahrung umſonſt, gab den edlen Herren Ameri¬
kanern kein Lehrgeld, ſondern wendete es ſo, daß ſie mir noch drauf¬
zahlten. Ja, ja, ſind verdammt pfiffig, die Herren Amerikaner, aber
ein Deutſcher kann's auch ſein. Und dazu lachte der Lump mit einer
Selbſtzufriedenheit — verdammt ſeien meine Augen, wenn wir nicht
19*[292] Alle ſchauderten! Dieſer totale Begriffsmangel von menſchlicher Ehre
und Würde, dieſes hündiſche Wegwerfen ſeiner ſelbſt, dieſe fünfjährige
Niedertracht einer freiwilligen Sklaverei mit Weib und Kind um
einer lumpigen Handvoll Dollars willen, und die Meinung dazu, das
Alles wäre nur weltklug, weltklug im amerikaniſchen Sinne — wir
waren außer Faſſung, bei dieſer Art, ſich mit dem niedrigſten
Knechtsſinn in das freieſte Land der Erde einzuſchleichen. Warum ich
nicht der Sohn jenes Hauſes ſein wollte, mein Herr! Wohlan, jenes
Haus iſt's, wovon ich dieſes Geſchichtchen erzählte. Es iſt Hawke's,
oder, wie es jetzt heißt, Martin's Farm. Die Buben ſind indeß auf¬
gewachſen, gleich mir, und können die höchſten Staatswürden erreichen,
die unſere freie und herrliche Verfaſſung allen Bürgern dieſes Landes
zugänglich macht; aber noch einmal: Gott behüte mich, aus dieſem
Blute entſproſſen, Gott behüte mich, der Sohn dieſes Hauſes zu ſein!
So erzählte der Jüngling. Dichteriſch wie ſeine ſchöne Perſönlich¬
keit mich anſprach, wünſchte ich nichts mehr, als ich hätte aus ſeinem
Munde eine Dichtung vernommen! Aber leider! jedes Härchen iſt
deutſch an dem alten Martin; das Portrait iſt vernichtend wahr.
Und wenn ich nun künftig die ſchmucken Muſter-Höfe der Pennſylvania-
Deutſchen vorüberreite, ſo werde ich den ſtinkenden Sack im Hintergrund
riechen — und auch um dieſe Freude iſt's gethan!
Der ſchöne Jüngling bot mir Herberge in ſeinem eigenen Hauſe —
es war mir nicht möglich, Beſiegter, in die Pforten des Siegers einzu¬
ziehen. Aber auch von Martin's Farm lenkt' ich mein Pferd weg. Ich
führte es ſachte ab in ein Gehölz, bettete mich dieſe Nacht in's Gras
und weinte über die Nation, welcher Alles verliehen iſt, nur Eines
nicht: der alleinſeligmachende Nationalſtolz.
Später ging der Mond auf, es war das erſtemal, daß er mich
kalt ließ. Armer Proletarier, dacht' ich, was kann man Elenderes
ſein, als ein Trabant dieſer Erde!
Nach Pittsburg. — Heute fiel mir das Herz wie nie. Ich ſah
den erſten Hinterwalds-Anbau. Grauſenhaft! Ich finde kein Wort,
das Unverſöhnliche eines ſolchen Anblicks für das europäiſche Gefühl
zu beſchreiben. Iſt's denn möglich? Was man längſt geleſen hat —
[293] muß man's mit leiblichen Augen ſehen, um es doch noch anders zu
finden, als es die Einbildungskraft im Leſen ſich dachte? So leſen
wir: der Hinterwäldler brennt den Urwald nieder, den er in Acker¬
land verwandeln will, und denken nichts weiter dabei. Wir ſtellen uns
vor, die Bäume fallen in Aſche zuſammen und auf dieſem Aſchen¬
dünger, den wir vielleicht noch mit der Egge hübſch ausebnen, erhebt
ſich das glatte wallende Kornfeld. Wie erſchrack ich! Ich bieg' um eine
Waldecke und vor mir liegt ſo ein ausgebranntes Waldfeld. Aber die
Bäume ſind nicht niedergebrannt, ſondern nur angebrannt;
ſie ſtehen noch da mit ihren ganzen rieſenlangen Stämmen, ja mit
ihren Zweigen und Ausſprüngen: aber das Alles verkohlt! ſchwarz
von oben bis unten! Nun denke dir ſo einen Wald von rußigen
Stummeln; wie ſich das abhebt vom ſammtenen Himmelsblau, vom
goldnen Korn dazwiſchen! Dieſe Millionen ſchwarzer Ruthen und
Spieße aus dem blonden Aehrenfeld aufſtarrend, in den veilchenblauen
Himmelsatlas hineinfahrend! Du biſt im Augenblick wie vor die Stirne
geſchlagen. Der Zügel war mir entfallen, der Puls, glaub' ich, ſtand
mir ſtill, ſo ſtarrte ich mir dieſes Bild an — das erſte Bild von
der Hinterwaldspoeſie! Pennſylvanien, das alte Culturland, geht zu
Ende, und dieſes Schauſpiel werde ich nun öfter haben. Freilich wird
ſich Aug' und Gefühl dann abſtumpfen dagegen — aber — ja, was
ich ſagen wollte? Aug' und Gefühl dann abſtumpfen! Das iſt's. Auf
dieſes Eine läuft Alles hinaus. Aug' und Gefühl abſtumpfen! Leb
wohl, Bruder!
Nach Pittsburg. — Ich ritt unter der heißeſten Mittagsſonne über
eine menſchenleere Prairie. Ich war dem Verſchmachten nahe. Meiner
Karte nach ſollten zwar einige menſchliche Wohnſitze nicht fern ſein — Con¬
nesville, oder Smithfield, oder Union — aber möglich, daß ſie auch nur auf
der Karte exiſtirten, möglich, daß ich mich verirrt — kurz, ich ritt über
eine unabſehbare Grasebene, und nichts war da, gar nichts. Die Luft
glühte wie in einem Hochofen. Kein Vogel, kein Schmetterling, kein
Thierlaut weit und breit; was nicht Salamander war, ſchien todt zu
ſein. Nur Eidechſen ſchwänzelten zwiſchen den verbrannten Gras¬
reſpen hin und wieder, die aus den geborſtenen Erdritzen hervorkamen,
[294] um im tiefſten Moos vielleicht ein verſpätetes Thautröpfchen zu lecken.
Ich und mein Pferd litten martervoll. Die Zunge hing dem armen
Thier weit aus dem Halſe, und doch konnte ich ihm meine Laſt nicht
erſparen, denn auf dem heißen Boden, gepeitſcht von dem glühenden
Steppengeſtripp, war kein menſchliches Fortkommen. Ich theilte mit
dem Thier redlich den Reſt meiner Bouillontafeln und Chokolade, aber
zuletzt half Alles nichts mehr, was uns allein Noth that, war ein
ein Trunk Waſſer. Meiner Meinung nach ritten wir auf ziemliche
Nähe dem Monongahela entgegen, und ich war ſehr beunruhigt, daß
das Pferd die Witterung des Waſſers nicht hatte. Aber es regte ſich
auch kein Lüftchen. Endlich merkte mein Auge in der gradlinigen
Fläche eine kleine Erhebung. Der Boden formte ſich zu einem jener
platten Hügel, die man hier Bluffs nennt, und die, wo ſie die
Prairie unterbrechen, gewöhnlich einer menſchlichen Wirthſchaft zur
Anlehne dienen. Und wirklich war es ſo. Als ich dem langgeſtreckten
langweiligen Hügelding näher kam, lag denn ſo ein viereckiger Farm¬
kaſten glücklich vor mir. Aber um das Haus herum regte ſich nicht
die geringſte menſchliche Spur; die Thür ſtand ſperrangelweit offen.
Die ganze Avenue war nichts weniger als wirthlich. Deßungeachtet
ſprang ich mit beiden Füßen aus den Steigbügeln und war mit
Einem Satz im Innern der Hütte. In demſelben Augenblick erhob
ſich eine Stimme darin: Um Gotteswillen, einen Trunk Waſſer! Es
war eine Frau, welche angekleidet auf dem Bette lag und offenbar
nur einen menſchlichen Fußtritt erwartet hatte, um ſo zu ſtehen. Die
Frau hatte das Fieber. Matt ſchlug ſie die Augen auf, ich las darin,
daß ich der Mann nicht war, den ſie erwartet, aber Ueberraſchung,
Beſtürzung las ich nicht darin. Es war die tiefe hohle Gleichgiltigkeit
der reſignirten Verzweiflung. Ohne mich zu beſinnen, ergriff ich den
Waſſerkrug, der bis zum letzten Tropfen geleert war. Die Frau be¬
ſchrieb mir mit ſchwacher Stimme die Richtung zu der nahen Quelle
und warf ſich nach dieſer Anſtrengung wieder hin, wie Einer, der ein
gutes Teſtament gemacht hat. Cäſar, der den Waſſerkrug ſah, trabte
inſtinctmäßig mit mir, und ſeinen Nüſtern mehr als dem todesmatten
Gemurmel der Frau verdankt' ich das directe Auffinden der Waſſer¬
quelle. Wir labten uns ſo eilig als möglich, das Thier ließ ich an
dem weidigen Plätzchen, mit dem Krug eilte ich an den Mund der
[295] Fieberkranken zurück. Die arme Leidende leerte ihn ſofort wieder zur
Hälfte. Sie ſchlug die Augen auf, die einſt ein ſchönes Veilchenpaar
waren, ihre Züge verriethen Jugend und weibliche Reize, aber alles
hoffnungslos zerſtört von Fieber und Seelenleiden. Wir fingen zu
ſprechen an. Sie war die Tochter eines Marburger Profeſſors; ihr
Mann, wie ich hörte, der blühendſte und geiſtvollſte Studioſus, der
im Hauſe ihres Vaters Zutritt gehabt. Demagogenhetzen vertrieben
ihn. Ich ſprach von dem Aufopferungsmuth, womit ſie ſein Schick¬
ſal getheilt. Ein ſchmerzliches Lächeln überflog das Antlitz der Dul¬
derin. Verzeihung, mein Herr, ich war ja Miß Temple von Temple¬
town und unſere Thee's gratulirten mir lebhaft zu der Luſtparthie.
Alſo Cooper'ſche Roman-Ideale! Welcher Unſtern ſie in dieſe waſſerloſe
Steppe verſchlagen? Das traurige Lächeln wiederholte ſich wieder.
Als uns der Landagent hierherführte, waren wir umrauſcht von
Waſſerkräften. Dort floß der Monongahela und hier ein Nebenfluß
von ihm. Der eine iſt ausgetrocknet, Sie müſſen über ſein ſpurloſes
Bett geritten ſein. Der andere iſt nur bei Hochwaſſer hier, ſonſt auf
drei Meilen entfernt. — Da haſt du das Ganze der deutſchen Auswan¬
derung. Zur Hälfte betrügt man ſich ſelbſt, zur Hälfte wird man be¬
trogen; Reſultat: ganzer Ruin! Die wenigen Worte hatten das arme
Weib wieder ſo erſchöpft, daß ſie ſeufzend auf's Lager zurückſank. Sie
trank fortwährend Waſſer, aber immer mit weniger Labniß. Der
Mann war nach Milch aus, d. h. es mußte ihm gelingen, ſeiner
Milchkuh habhaft zu werden, da das Vieh halbwild hier im Freien
weidet. Ich konnte es nicht über mich bringen, die Aermſte einſam zu
laſſen, obwohl ſie es wahrſcheinlich tagelang iſt. Ich ſuchte mir
die Zeit zu vertreiben. Einen meiner erſten Blicke in der
Hütte hatte ein Bücherregal auf ſich gezogen; das muſterte
ich jetzt. Ich fand eine ſchöne juriſtiſche Literatur aufgeſtellt,
dazwiſchen deutſche und engliſche Claſſiker, Chateaubriand's Natchez,
Duden's Miſſouri und ähnliche Phantaſiewerke über Amerika. Alles
von dickem Staub überzogen. An der Wand hing eine Flöte, deren
Mundloch das Kunſtwerk einer Spinne ausfüllte. Die Tinte im Tinten¬
faß war vertrocknet und hatte ſich in dürre Kruſten geſpalten. Neben
dieſen Betrachtungen griff ich wieder zum Krug und ging hinaus, ihn
von neuem zu füllen. Ich entdeckte jetzt einen Pfad, deſſen Steigung
[296] verhältnißmäßig merklich war und der eine Art Ausſicht verſprach.
Ich machte ein paar hundert Schritte darauf vorwärts und überſah
bald das Terrain. Der Bluff war eine Erderhebung wie etwa der
Kreuzberg bei Berlin oder das Laaer-Wäldchen bei Wien, oder der
Röderberg bei Frankfurt: von mehreren Seiten vollkommene und wie
es ſchien ſterile Ebene, nach einer aber hügeliger Abhang, wo die
Quellwaſſer abſickern mochten; in dieſer Richtung war auch Feldanbau
und etwas Wald. Ein Mann kam von dort herauf, — es war der
Mann! Ich erkannte ihn am Milcheimer, den er bei ſich hatte, und
der leider! leer war. Die Kuh würde nun vor Abend nicht zu Hofe
kommen, ſagte er. Wir maßen uns übrigens mit unerquicklichen Blicken.
Er mich mit Mißtrauen und einer ſtörriſchen Menſchenſcheu, ich ihn
mit einem Ausdruck von Mitleid und Enttäuſchung, der vielleicht
nicht ganz ſchmeichelhaft war. „Der blühendſte und geiſtvollſte Stu¬
dioſus“ war ein gelbes Gerippe, den das Fieber durch und durch
entfleiſcht hatte, phyſiſch und moraliſch aufgezehrt. Ich ſprach von
Europa, er war ſtill; ich ſprach von Amerika, er war ſtumm; ich
ſprach von den Wiſſenſchaften, er ſchwieg; ich ſprach von der Land¬
wirthſchaft, er antwortete nicht. Ich glaubte endlich ſein Herz beſſer
zu treffen und ſprach mit menſchlichem und ärztlichem Antheil von
der Krankheit ſeiner Frau zu ihm; er unterbrach mich trocken: Das
Fieber müſſen wir Alle durchmachen; — Sie werden auch nicht ver¬
ſchont bleiben, ſetzte er hinzu und ſein Blick fiel mit einem Ausdruck
von Neid auf meine Geſtalt. Mein Anerbieten, womit ich ihm dienen
könne, nahm er übrigens ohne Umſtände an; ich möge ihm von
Pittsburg ein paar Pfund Pulver und Schrot ſchicken, er verſchieße
leider viel und treffe wenig, die Hand zittere ihm noch. An letztere
Bemerkung ſuchte ich wieder theilnehmend anzuknüpfen, er ließ ſich
aber außer dem Nützlichkeitspunkt in nichts weiter ein, und war
ſtumm wie zuvor. Ich fühlte, wie ich ihm zur Laſt fiel, und nur um
der Frau Lebewohl zu ſagen, begleitete ich ihn bis an die Hütte zu¬
rück. Die Frau war aber eingeſchlummert. Ich brauchte mit meinem
Abzuge entſetzlich wenig Umſtände zu machen. Ich ſchied aus dieſem
Farm wie man ſich mit gebildeten Aegyptiern begrüßt, — wenn ſie
Mumien ſind und in den Hypogäen liegen.
[297]
Das iſt das Land, in welchem Niemand zu Grunde geht, wenn
er arbeiten kann! Richtig, gewiß; denn von den zu Grundegegan¬
genen braucht man blos zu ſagen, ſie konnten nicht arbeiten. Vom
Fieber braucht man nichts zu ſagen. O, Herr, ſchick' uns alle Jahre
eine Peſt, und nimm dafür eins unſrer Vorurtheile von uns. —
Amerika iſt ein Vorurtheil.
Pittsburg. — Endlich bin ich hier angekommen. Pittsburg iſt
mit Philadelphia und Harrisburg die dritte Hauptſtadt Pennſylvaniens.
Sie gefällt mir ſo wenig wie die beiden andern. Philadelphia, ein aalglat¬
tes Ouäckerneſt, Harrisburg, eine Motte und Runzel aus dem vorigen Jahr
hundert, Pittsburg brauch' ich nicht weiter anzuſchwärzen, es iſt ſchon
ſo ſchwarz genug. Pittsburg iſt eigentlich keine Stadt, ſondern eine
große bituminöſe Steinkohle, welche Jahr aus, Jahr ein entſetzlich
dampft und ſtinkt, die Luft verpeſtet und die Geldbeutel füllt. Letzte¬
res entſchädigt denn in bekannter Weiſe den Yankee für alles Andere.
Die große und volkreiche Stadt hat keine einzige Promenade, auf der
man den Kohlenruß ein wenig von ſich ſchütteln könnte, was doch ſo
ſehr Bedürfniß iſt. Dieſe Gartenloſigkeit ſcheint überhaupt ein Grund¬
zug amerikaniſcher Städte, ſelbſt Neuyork verdankt ſein Hoboken den
Holländern. Ich werde mich in dieſem Rauch- und Schmauchſchlott
auch nicht länger verweilen, als nöthig iſt, um Verſchiedenes ein- und
nachzukaufen, dann geht's an den Ufern des Ohio weiter. Der Ohio
entſteht hier; die Vereinigung des Alleghany und Monongahela bilden
ihn. Der Alleghany iſt klar und hell, der Monongahela trüb und
ſchlammig — nehm' ich den Ohio für ein Bild meiner Anſiedlung,
oder vielmehr des menſchlichen Lebens überhaupt? Eine Miſchung des
Heitern und Trüben, des Lichten und Dunklen, welches die ewigen
Gegenſätze unſrer Schickſale ſind? Wie Gott will! Ich entziehe mich
dieſer Miſchung nicht, liebe ſie aber freilich am meiſten in dem, was
wir bei uns „einen Melange“ nennen, da nämlich das lichte Element fette
Sahne, das dunkle kräftiger Mokka-Kaffee iſt. Solche Schickſalstaſſen
ſchlürfe ich gerne. Dazu eine brave Pfeife echt Türkiſchen, einen
guten Freund, dem man ein gutes Gedicht vorliest, und muß es ſein,
irgend ein „ſüßes Schnäbelchen“ für die ſchwächſte Seite des menſch¬
[298] lichen Herzens, — sufficit! Gott, was man beſcheiden iſt! und doch
handeln ſie Einen noch herab und das Leben wird dem Mindeſt¬
fordernden zugeſchlagen.
Meine Sachen, die ich nach Pittsburg adreſſirt hatte, ſind ange¬
kommen; ich packte vor allem meine Violine aus und ſpielte mir ſtei¬
riſche Ländler vor. Gott weiß, es iſt auch höchſte Zeit, daß ich mir
ein bischen Humor an's Bein zeche; ſo eben laufe ich dieſe Blätter
durch, die von hier an Dich abgehen ſollen, und erſchrecke über das Grau
in Grau. Wahrlich, es iſt ſehr praktiſch von mir, einem Compagnon,
den ich mir nachlocken will, eine ſolche Reiſebeſchreibung zu liefern!
Wäreſt Du nicht der große, heroiſche Benthal, ſo würf' ich das ganze Ge¬
ſchreibſel in einen Kohlenſchlott, wie ſie mir zn Dutzenden in das Fenſter
hereinſtarren. Aber ich ſehe Dich ſchon, wie Du dieſe Blätter ruhig bei
Seite legſt: — nun gut; das iſt Amerika, und das bin ich!
Recht auch; man muß dieſem Lande Trotz bieten. Leider! ein
Poet trotzt nicht, er zertrümmert. In der That, es wird mir täglich
und ſtündlich klarer: ohne Dich iſt meine Anſiedlung eine Unmög¬
lichkeit. Ich ſpüre einen Vernichtungstrieb in mir, der einem Coloniſten
ſchlecht zu Geſichte ſteht. Mein Gehirn iſt wie ein Neſt von unaus¬
gebrüteten Blitzen; es kommt mir oft vor, als müßt' ich Unglück an¬
richten oder unglücklich werden, wie's keine Zunge nennt. Wie ein
Orpheus mit klingenden Saiten die Hölle zu zähmen — dieſes Schlags
iſt meine Poeſie nicht. Die Orpheus-Sage iſt der Ausdruck der höch¬
ſten und mir wahrhaft unbegreiflichen Milde des griechiſchen Geiſtes.
Ich hätte das infernaliſche Geſindel zum Kampfe fordern müſſen;
ich glaube überhaupt: Kampfluſt iſt meine Sangesluſt; ich bin ein
metriſcher Huſar. Das Pack, das Einem die Blume des Lebens ge¬
ſtohlen hat, das höhere idealiſche Selbſt, mit wohllautenden Accorden
noch anzuleiern, das erfordert eine große Stärke — in der Schwäche!
Darum biſt Du ſo ein Prachtmenſch, weil Dich Dein Herrgott aus
einem Zeug geſchnitten hat, das ich für den beſten menſchlichen Stoff
halte. Du wirſt Dich mit den Höllenhunden nicht auf die Menſur
ſtellen, Du wirſt ihnen aber auch kein Adagio in die haarigen Ohren
träufeln: Du hätteſt Deine Guridice überhaupt nicht mehr auf die
Erde zurückgeführt. Nein, Du hätteſt es unternommen, die Hölle
[299] ſelbſt wohnlich für ſie einzurichten, Du würdeſt die Hölle urbar
gemacht haben. Und ich glaube, es wäre Dir gelungen.
Ich kann Dir nicht ſagen, mein lieber Rector magnificus, wie ich
mich freue auf Deinen Amtsantritt im Urwald. Es muß eine Luſt
ſein, einen Mann, wie Du, ſich rühren zu ſehen. Ich glaube, die
Alten hatten Recht, wenn ſie die Landſchaft vernachläſſigten über den
kräftigen und anmuthigen Menſchen darin. Und das thaten ſie doch
mit griechiſchen Landſchaften, was thäten ſie erſt mit amerikaniſchen!
Höchſtens ließen ſie den Menſchen auch daraus weg. Mein Wirth
hier hat ein Söhnchen von wunderlieblicher Knabenſchönheit; ich lächelte
ihn freundlich an, faßte ihn ſanft unterm Kinn und ſtreichelte ihm
die reizenden Goldlöckchen aus der koſtbaren Antinous-Stirn. Das
achtjährige Bübchen ſchnitt aber ein beleidigtes Geſicht dazu, und ſah
mich ſo pedantiſch-altklug an, daß ich's in ſeinem Innern deutlich
ſprechen hörte: Darüber ſind wir hinaus, du deutſcher Narr, du
ſchmeichelteſt mir weit beſſer, wenn du mir das erſte Primchen Kau¬
tabak in den Mund ſchöb'ſt. Es iſt gräßlich, ein Volk, von dem man
nicht einmal die Kinder lieben kann! — Deß ſattl' ich mein Gäulchen
noch einmal ſo eifrig, und will nun in Ohio das Plätzchen auf¬
ſtöbern, wo weder das Fieber, noch die Langweile graſſirt, wo
es einem ſo recht bergesfriſch und waldheimlich und waſſerkühl zu
Muthe wird, daß ich mit gutem Gewiſſen ſagen darf: liebe Deutſche,
kommt zu mir, deutſche Feen haben das für euch geſchaffen! denn ich
hoffe, die Feen ſind auch ein wenig emigrirt wie die Menſchen.
Hol's der Teufel! Indem ich ſchreibe, wälzt mir der nächſte Schlott
eine Rauchſäule durch's offene Fenſter, daß Herculanum und Pompeji
dran erſticken könnten. Und ſchließ' ich das Fenſter, ſo erſtick' ich
wieder. Ich ſchließe demnach dieſes Briefpaquet, es bleibt nichts
anders übrig. Adieu! ich hoffe vom Ohio ſoll Alles beſſer klingen.
La belle rivière nannten die Franzoſen den Ohio, und die Fran¬
zoſen wiſſen was ſchön iſt. Aber warum behaupteten ſie ihn nicht?
Geht's uns mit allem Schönen ſo? Du haſt Recht: der Menſch
kann nur beginnen!
[300]
Zweites Kapitel.
Daß unſer Held vierundzwanzig Stunden nach dieſem Briefe ſeinen
Grundbeſitz erworben haben würde, ahnte ihm in jenem Augenblicke
nicht im mindeſten noch. Der wichtigſte Moment, der eigentliche Ziel-
und Mittelpunkt ſeiner amerikaniſchen Reiſe überraſchte ihn ſo — wie die
flüchtigſte Epiſode eines Wandertags, ja, faſt wie ein Stein des An¬
ſtoßes am Wege. Wir könnten das Ereigniß wieder aus ſeinen Briefen
erzählen, haben aber Grund es diesmal nicht zu thun. Denn da es
unmittelbar ein Act der Großmuth war, und unſer Freund edel
genug dachte, dieſes Umſtands mit keiner Sylbe zu erwähnen, ſo
würde der Briefton nicht nur zur Wiedergabe der eigentlichen Ge¬
müthsfärbung nicht beitragen, ſondern die geſchichtliche Thatſache ſelbſt
weſentlich entformen.
Moorfeld ritt alſo von Pittsburg die ſchönen Ufer des Ohio
hinab. Als er die Gränze Pennſylvaniens bei Beaver erreichte, las
er in einem Localblatte dieſer Stadt daß in einem benachbarten Orte,
der aber ſchon dem Staate Ohio angehörte und ſich ſehr großartig
Neu-Liſſabon nannte, eine Landauction oder ſogenannter Sheriff
ſale abgehalten würde. Um ſich eine ſolche Scene „einſtweilen“,
wie er dachte, mit anzuſehen, wandte er nun in Beaver vom Flu߬
thale des Ohio ſein Pferd ab und begab ſich landeinwärts auf die
Straße nach New-Lisbon. Bald verſchwanden die Höhen des Ohio
mit ihren laubreichen Eichwaldungen hinter ſeinem Rücken und das
Land fing an, in niedrig geſtreckten Hügelwellen ſich abzuflachen. An
die Stelle des Eichwuchſes traten Weiden, Pappeln und Cypreſſen,
welche einen Sumpfboden bewaldeten, der vielleicht fruchtbar, vielleicht
auch ungeſund war. Dazwiſchen lagen wie Inſeln und Halbinſeln
dürre Sandſtriche, die ihre ſterile Natur in traurig-eintönigen Fichten¬
waldungen ausdrückten. Die Gegend war einſam und nichts verrieth
die Nähe einer Stadt. Im halbgelichteten Walddunkel erblickte
[301] der Reiſende hin und wieder einen aufgeſchichteten Haufen von
Baumſtücken, welcher im Innern hohl war und eine menſchliche Hütte
vorſtellte. Gluckte ein Huhn, oder grunzte ein Schwein an ſolchen Grabes-
Einöden, ſo wurde der Localton ſchon ſehr warm dadurch. Aber plötzlich
ſingen dieſe Blockhäuſer an einer Stelle, wo ſie etwas dichter ſtanden,
an, ſich Liſſabon zu nennen. Es war eine Ueberraſchung der traurigſten
Art, als ſich Moorfeld nach einer Paſſage durch einen hochſtämmigen
Fichtenſtrich auf einmal im Angeſichte dieſer ſogenannten Stadt befand.
Die Sonne verbreitete ihr Licht über eine elende Wüſte von dürrem Gras,
trübſeligen Weiden und ſchmutzigen Hütten, deren Anblick eher einer
Colonie von Selbſtmördern glich, welche blos zwiſchen dem Strick und
dieſer Exiſtenz gewählt hatten. Die Vegetation war weit und breit
herum mulſterig, übelriechend und von jenem eklen Grün, wie es
etwa die faule Pflanzendecke auf ſtehenden Waſſern zeigt. Die Fu߬
ſtapfen der Pferdehufe oder die Wagenſpuren in dem ſchwammigen
Boden ſtanden von Pilzen voll, ja Moorfeld konnte Schwämme und
Pilze noch reichlich an den Wohnhäuſern ſehen, wo ſie aus den Ritzen
der Wände wie Hexenkorallen in ganzen Schnüren und Ketten hervor¬
quollen. Es war ein ſchauderhafter Fleck Erde: weder Wald, noch
Sumpf, noch Haide, das Ganze ſchien wie ein ungeſunder Magen,
der Eſſig und Calomel getrunken, und den Anblick ſeiner inneren
Scenerie an die Sonne gewendet hat. Solche Stellen konnte im prak¬
tiſchen Amerika nur der Humbug beſiedeln. Der erſte Anbauer hat
ſein Land durch Agentur, vielleicht ſchon in Europa, gekauft, und war er
nicht in der Lage, den Verluſt zu tragen, indem er es wieder auf¬
gab, ſo konnte er nur vom raſcheſten Menſchenzuwachs Verbeſſerung
hoffen. Er verführte alſo Andere, welche in der gleichen Lage wieder
Andere verführten; ſo verwandelte ſich der krankhafte Landſtrich in einen
Stadtbauplatz und auf ſeiner Oberfläche ſchwebt jetzt eine Anzahl von
Menſchen eine Zeit lang zwiſchen Tod und Leben, bis es ſich bleibend
entſcheidet, ob der Ausfluß des Bodens oder der Einfluß des Menſchen
die Oberhand davon trägt. Siegt der Menſch, ſo wird mit Poſaunen¬
ſtößen die wunderbare Culturkraft des Amerikaners durch die Welt
verkündigt; ſiegt das Naturgift, ſo begräbt eine Handvoll von Hum¬
bugern im tiefſten Stillſchweigen ſeine Leichen, während der Ueberreſt
[302] im tiefſten Stillſchweigen abzieht, — Gras wächst über die Stätte und
ihrer wird nicht mehr gedacht.
Dies waren Moorfeld's Betrachtungen, als er den häßlichen Ort
langſam durchritt. Er gelangte auf einen freien Platz in der Mitte
deſſelben und fand einiges Leben hier. Eine hölzerne Bude, welche
ſich City-Hall nannte, aber vielmehr einem Wagenſchuppen glich, war
von oben bis unten mit ellenlangen Placaten von Buntpapier beklebt,
während Fahnen und Standarten in allen Farben auf langen Stangen
in der Luft flatterten; er ſah den Schauplatz der Landauction. Dieſem
Hauſe gegenüber ſtand ein gothiſches Unding, die Kathedrale von
Neu-Liſſabon. An jedem andern Orte hätte das barbariſche Machwerk
die Sinne beleidigt, in der Umgebung der elendeſten und ſchmutzigſten
Hütten aber machte es immer noch Staat. Der Raum zwiſchen dieſen
beiden öffentlichen Gebäuden, welcher je nach Umſtänden eine Pfütze
oder eine Staubwüſte war, in beiden Geſtalten aber der Square von
Neu-Liſſabon hieß, diente jetzt einer Menge von Zeltwagen, Markt¬
buden und ſonſtiger fahrender Zigeunerhabe zum Standorte; es war
das Feldlager von Zuzüglern, welche die Landauction aus näherer
oder fernerer Umgebung herbeigelockt hatte. Ein ſpeculirender Irländer
hatte dieſe Gelegenheit benutzt, Geſchäfte in ein paar Fäſſern Fuſel
zu machen, welchen er von ſeinem Karren herab für mint julep
ausrief; ein fliegender Buchhändler neben ihm verkaufte den Himmel
in beliebiger Auswahl, nämlich Tractätlein aller möglichen Glaubens¬
bekenntniſſe. Das gläubige und ungläubige Publikum tractirte ſich aber
mit mehr Vorliebe in einer Trinkſtube, auf welche Moorfeld erſt auf¬
merkſam wurde, als er ſich überhaupt um Publikum umſah und ver¬
hältnißmäßig wenig am Platze fand. Er entdeckte bei dieſer Gelegen¬
heit noch ein drittes öffentliches Gebäude, nämlich ein Croceryſhop
mit einem Wirthshaus verbunden und zwar dicht am gothiſchen Dome,
dem es zur Seite ſtand, wie ein Miniſtrant ſeinem Prieſter. Der
Kramladen mochte einſt beſſer in die Augen gefallen ſein, als nämlich
die Farben der colorirten Lithographien an ſeinem Schaufenſter noch
greller erglänzten. Moorfeld muſterte dieſe Lithographien und fand
bunt nebeneinander den Alpenübergang Napoleon's, Mrs. Siddons
als Lady Macbeth, das Rennpferd Eclipſe, einen Fauſtkampf zwiſchen
John Bull und Bruder Jonathan, die Rückkehr des Geliebten, Roth¬
[303] jacke im indianiſchen Coſtüm, Edmund Kean als König Lear, die Schlacht
bei Bunkershill, eine Newyorker Regatta, General Waſhington, Lord
Nelſon, das Fegefeuer u. a. Ueber all dieſe Blätter hatte ſich eine
Unzahl von Fliegen verbreitet mit überreichlicher Hinterlaſſung ihrer
wohlbekannten Spuren. Die Spelunke erreichte daher durch ihr Schau¬
fenſter ſo ziemlich das Gegentheil der beabſichtigten Anziehungskraft;
da überdies die Trinkſtube nebenan Rauchwolken des ſchlechteſten Ta¬
baks vermiſcht mit den Peſtdünſten abſcheulicher Getränkeſorten durch
alle Fugen und Ritzen ausſchwitzte, ſo fand ſich Moorfeld wenig ein¬
geladen, das wirthliche Dach dieſes Hauſes zu beſchreiten. Nur ſein
Pferd ſtellte er hier ein; ſeine Perſon, die, wie er aus hinlänglicher
Erfahrung wußte, ſelbſt unter dem widerlichſten Pöbelhaufen in keiner
öffentlichen Herberge auf irgend eine Sonderung dringen durfte, rettete
er wieder in's ſogenannte Freie. Er kaute für all ſein Nahrungs¬
bedürfniß ein Stückchen Bouillontafel, deren er in Pittsburg einen
neuen Vorrath eingekauft. Irgend ein nettes Privathäuschen zu ent¬
decken, wo er an einem leidlich menſchlichen Tiſch ſich zu Gaſte bitten
könnte, ohne das „Hôtel von New-Lisbon“ zu frondiren, darauf ver¬
zweifelte er in dieſer Kaffernſtadt.
Inzwiſchen ertönte ein greller Trompetentuſch von einer Dachlucke
des Schuppens, d. h. vom Balkon der City-Hall. Das brachte einige
Bewegung auf dem Marktplatz hervor. Unter den Dächern der Zelt¬
wagen ſtreckten ſich lange Amerikaner-Beine hervor, die dort ihre
Mittagsruhe gehalten hatten, aus der Trinkſtube des Croceryſhops
kamen die Gäſte gruppenweiſe über den Square daher geſtolpert, der
fliegende Buchhändler ſchloß ſeine Mappen und der Irländer trank
ſeinen mint julep ſelber. Alles drängte ſich durch die unbehauenen
Thürpfoſten des Stadthauſes. Moorfeld folgte. Er ſtand in einem
Stalle, den die Väter der Stadt vielleicht ihren Sitzungsſaal nannten,
aber der Fußboden dieſes Saales war die rauhe unbedielte Erde, die
Fenſterlöcher hatten keine Fenſter, was zwar einen dankenswerthen
Luftzug gegen die Hitze bewirkte, aber auch einer Unzahl von läſtigen
Mücken die Paſſage frei gab, die Decke endlich war ſo niedrig, daß
die Beleuchtung, obſchon ſie ungetrübter als durch das reinſte Kryſtall¬
glas einfiel, doch etwas Düſteres und Kellerartiges hatte. Das Ameu¬
blement beſtand in einem Tiſch und einigen Stühlen für die Auctions¬
[304] beamten nebſt zwei langen Bänken für das Publikum, welche an den
beiden Längenſeiten, des oblongen Quadrats hinliefen. Das Publikum
nahm dieſelben theilweiſe ein, theils ſtand es umher oder ging auf und ab.
Es waren meiſt Hinterwäldler, die in Kitteln von ſelbſtgewebtem
Zwilch oder Callico, den groben Strohhut auf dem Kopfe und ein
Primchen Tabak zwiſchen ſchlechten Zähnen, herumlungerten. Dieſer
Aufzug war aber auch alles Ländliche an ihnen; Moorfeld bemühte
ſich vergebens, gewiſſe allgemein giltige bäuerliche Grundtöne in ihrem
Weſen herauszufinden. Kein einziger ſah zufrieden, glücklich oder —
ehrlich aus. Ihre Leiber waren vom Fieber abgemagert, welk und
ſchlotterig, ihre gefurchten Geſichter bleich und von Luft und Sonne
mehr übermalt als geſund gebräunt, ihre hohlen Augen gingen un¬
ruhig umher, voll Liſt und Verſchlagenheit und wie von allſeitigen
Sorgen umlagert. Es war eine traurige Heerſchau für unſern Euro¬
päer. Sind das die Bürger eines freien und glücklichen Landes? fragte
er ſich unwillkürlich. Zwiſchen dieſen Geſtalten bewegten ſich noch
einige Exemplare aus einer andern Schichte der Geſellſchaft; dieſe
waren mehr oder minder ſtädtiſch gekleidet, trugen goldene Uhren und
affectirten eine gewiſſe gentlemaniſche Haltung, Moorfeld erkannte ſie
aber mühelos als Subjecte von gemeinem Charakter und Gewerbe,
ſie machten ihm ungefähr den Eindruck von verkommenen Advocaten,
oder durchgegangenen Handlungscommis, kurz von Induſtrierittern auf
allen Gäulen. Indem unſer Freund das Treiben dieſer Leute ſchärfer
beobachtete, merkte er bald, daß ſich ihre Tendenzen gemeinſchaft¬
lich an einem Manne begegneten, den ſie wie Flammen einen
feſten Körper umzüngelten; wenigſtens ſchien ihre Rolle die angrei¬
fende und die des Andern die paſſive oder ſelbſt die abwehrende.
Der ganze Anblick erinnerte ihn auffallend an ſeine eigene Stellung
weiland im Generallandamt zu Newyork. Dieſe Aehnlichkeit vermehrte
noch das Intereſſe ſeiner Beobachtung, das übrigens das Bild jenes
einzelnen Mannes ſchon durch ſich ſelbſt zu erregen geeignet war.
Derſelbe war unverkennbar ein Deutſcher, ſtand in den mittleren
Mannesjahren und trug die tiefſten Spuren einer ſchweren kummer¬
vollen Lebenslaſt zur Schau. Sein Weſen ſchien das eines ehrlichen,
ja ſelbſt noblen Charakters, die eiſerne Hinterwaldsarbeit hatte ſein
Aeußeres verknechtet, ſein Inneres machte noch eine Art von Figur.
[305]
Er contraſtirte eben ſo fremdartig als vortheilhaft zu den Phyſiogno¬
mien um ihn her, denen die Wolfs- und Luchsnatur eines ſchlauen
und raubgierigen Materialismus grell aufgeprägt war. Er machte
neben ihnen mehr den Eindruck eines ausgedienten braven Soldaten,
der den Pflug ergriffen, oder eines kleinen Landedelmanns, der ſein
Feld beſtellt, als eines Landproletariers, der es iſt mit der ganzen
Verkommenheit ſeines ſittlichen und geiſtigen Zuſtandes. — Sein mo¬
mentaner Zuſtand erweckte im ſteigenden Grade Sympathie. Er be¬
fand ſich jenen Induſtrierittern gegenüber offenbar in einer ſchwierigen,
vielleicht ſelbſt verzweifelten Lage. Moorfeld vergaß alles Uebrige um
ſich, indem er den Fortgang dieſer Scene verfolgte. Sie hatte ihren
Anfang genommen damit, daß einer der Induſtrieritter geſprächweiſe
zu dem Manne trat, und ihm, wie es ſchien, im Vorbeigehen ein
Offert machte, das er mit der Miene eines Gönners, ſonſt aber mit
großer Gleichgiltigkeit behandelte, gleichſam als wäre hier von einem
Vortheile die Rede, den nur der Andere allein genöſſe, während er ſelbſt
kein Intereſſe dabei habe. Der Deutſche hatte ihn angehört, einige
Gegenfragen gemacht und dann, wie von einer Nothwendigkeit über¬
zeugt, die ſich nicht ändern läßt, ſeine Brieftaſche gezogen, aus der
er langſam und bedächtig eine Banknote hervorholte, die der Andere
leicht und ungedankt in ſeine Weſtentaſche ſchob. Hierauf trat ein
zweiter der Uhrketten-behängten Gentlemens zu dem Manne. Es wie¬
derholte ſich von erſterer Seite mit geringen, von letzterer aber mit
bedeutſameren Variationen daſſelbe Spiel. Es war dem Deutſchen, wie
man ſehen konnte, eine ſehr ernſthafte Sache, auch von dieſer Perſon
in Anſpruch genommen zu ſein. Seine Miene verdunkelte ſich, ſeine
Stirnfalten wurden tiefer, ſeine Augenbrauen zogen ſich in die Höhe,
einer ſeiner Füße trat unwillkürlich zurück, die ganze Stellung drückte
das Schrecken aus, womit man ſich gegen ein unvorhergeſehenes Phä¬
nomen in Poſitur ſetzt und einen Augenblick ſtutzt, ob man ſich ihr
unterwerfen muß, oder entziehen kann. Der Deutſche machte eine Ge¬
berde, mit der er offenbar auf den Mann wies, welcher ſo eben von
ihm gegangen: der Induſtrieritter dagegen wendete kaum den Kopf,
zuckte die Achſeln und ſagte mit einer wegwerfenden Handbewegung:
pah! Der Deutſche war unentſchloſſen, rathlos. Er warf einen ver¬
ſtörten Blick auf ſeinen Gegner, maß ihn von oben bis unten und
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 20[306] ſchien die ganze Kraft ſeiner Menſchenkenntniß zuſammenzuraffen, um
denſelben zu durchſchauen. Dieſer wandte ſich ſtolz zum Gehen. Der
Deutſche ſchüttelte den Kopf, ſeufzte und folgte Jenem, indem ihm zu
bangen ſchien, die Verhandlung abzubrechen. So wandelten die Beiden
in kurzen Schritten auf einem ſchmalen Bodenſtreifen eine Zeitlang
auf und ab und ſetzten ſich ernſtlich auseinander. Das Ende war, daß
der Eine wieder ſeine Brieftaſche zog und dem Andern eine Banknote
daraus reichte, von der er ſich mit ſichtlicher Aufopferung trennte.
Hierauf trat er an ein Fenſter oder vielmehr in eine der leeren Fenſter¬
höhlen und erholte ſich mit ein paar Athemzügen friſcher Luft von ſei¬
nem Kummer. Aber er ſtand nicht lange ſo. Zwei Schächer nahmen
ihn in die Mitte, indem ſie links und rechts an ſeine Seite traten.
Dritte und vierte Wiederholung der nämlichen Pantomime. Nur ſchie¬
nen ſich die Rollen diesmal umzukehren. Der Deutſche ſtellte ſich kalt,
gelaſſen, gleichgiltig und verſuchte es, die zwei neuen Quälgeiſter über
ſeinen eigentlichen Zuſtand, auf den ſie ſpeculiren mochten, irre zu
führen. Der Verſuch blieb aber vergebens. Sei es, daß ſie ſein Be¬
nehmen in den beiden vorigen Fällen allzu genau beobachtet, oder
überhaupt untrüglich gut orientirt waren: genug ſie hatten ſich bald
feſt in den Mann gehackt, der zwiſchen ihnen jetzt ein ſo tragiſches
Bild bot, wie Laokoon zwiſchen den Schlangen. Er litt, er duldete.
Seine Mimik war ganz Schmerz, aber düſtrer, hoffnungsloſer Schmerz,
der nur ein Unterliegen vor Augen hat, kein Ueberwinden. Er kämpft,
weil er noch die Kraft dazu fühlt, — Schritt für Schritt dieſe Kraft
aufzubrauchen, kann der einzige Preis des Kampfes ſein. So ſah man
ihn mit ſeinen beiden Tyrannen handeln und unterhandeln, Vorſtel¬
lungen machen, ſchroff und entgegenkommend, nachdrücklich und ge¬
linde ſein, man ſah die ganze Arbeit eines Menſchen, der Alles ver¬
ſucht, einen billigen Frieden zu erlangen, und weiß, daß Alles um¬
ſonſt ſein wird. Seine Partner ſtanden und ließen ihn gewähren, wie
man einen Menſchen etwa Höflichkeitshalber anhört. Wie dringend
er die Action belebte, ſie waren todt und ließen ihn Schläge ins
Waſſer thun. Ein kaltes Achſelzucken, ein Schnippchen mit dem Finger,
ein Ruck auf dem Abſatz, ein ſtummes Getändel mit der Uhrkette,
mitunter ein ſpitzer Mund, als pfiffen ſie geiſtesabweſend ein Lied¬
chen — das war ihre ganze Antwort. Es war die Rhetorik von
[307] Granitherzen. Endlich ergab ſich der Andere in ſein Schickſal. Er
zog ſeine Brieftaſche und händigte ihnen zwei Banknoten aus. Dann
ſetzte er ſich auf die Bank hin und begrub den Kopf in ſeine beiden
Hände, welche er auf die Knie ſtützte. Wenn ein Maler eine Mannes¬
thräne malen wollte, ohne ſie ſehen zu laſſen, ſo würde er dieſe
Stellung wählen — ſagte ſich Moorfeld.
Jetzt trat durch einen untern Eingang des „Saales“ der Sheriff
mit zwei Clerks ein. Er ſtellte ſich hinter ſeinen Tiſch und gab mit
einem Hammer das Zeichen des Anfangs. Die anweſenden Waldfäuſte
erhoben ſich vorwurfsvoll über ſein langes Ausbleiben. Der Scheriff
bat die „Herren“ ſehr artig um Verzeihung, worauf ſich das ſou¬
veräne Volk zufrieden gab. In dieſem Augenblicke näherte ſich ein
fünfter Induſtrieritter dem Mann auf der Bank. Er legte ihm die
Hand auf die Schulter und mußte ihn mit einem Worte aufgeſcheucht
haben, das genau die Tendenz der vier Andern ausdrückte, denn der
Mann zuckte, wie von einem elektriſchen Schlage getroffen zuſammen,
und ſtarrte den Fünften an, gleichſam als begriffe er nicht, wie es
möglich ſei, daß ſich nach all ſeinen Opfern die alte Zumuthung von
Neuem vor ſein Auge hinpflanzen könne. Indem Moorfeld ſein ſo er¬
hobenes Geſicht betrachtete, ergriffen ihn die rührenden Züge des
inneren Menſchen darin. Der Kopf kam ihm ſchöner vor als zuvor, gleich¬
ſam als hätte der Schmerz inzwiſchen Zeit gefunden, ſich über ſein
ganzes Ich auszugießen und es zu einem reinen Modell des Seelen¬
leidens zu idealiſiren. Deſto abſcheulicher ſtach die Phyſiognomie
des Fünften neben ihm ab. Der Mann war ungefähr ein naher
Sechziger, ſein Schädel eine ſchwere und unförmliche Maſſe, ſeine
Züge grob geſchnitten, das Geſicht aufgetrieben, wulſtig, voll War¬
zen und beulenartiger Unebenheiten, welche durch die Ideenver¬
bindung mit Krankheitsurſachen noch zurückſtoßender wurden; er hatte
eine niedrige Stirn, eine platte Naſe, einen dicken brutalen Mund
und hervorragende Backenknochen. Seine Augen waren klein, grau und
von einem böſen Blick; zottige Augenbrauen hingen darüber in finſtern,
ſchweren Büſchen herab und vollendeten den Ausdruck eines unge¬
ſelligen, harten, rachſüchtigen Charakters. Dieſer Wehrwolf ſtellte ſich
jetzt dem vielgebeugten Manne entgegen und wiederholte, wie man
ſah, das Manöver der vier Vorhergegangenen. Der Deutſche ſtand
20 *[308] da, ſein Haupt auf die Bruſt geſunken, die eine Hand im Barte, die
andere ſchlaff niederhangend, den Blick auf dem Boden. Er war auf
einem Punkte angelangt, wo er verzweifelte. Nur einmal ſah man
ihn eine leichte Frage thun, gleichſam verſuchsweiſe, wie über einen
Gegenſtand, den man aufgibt. Der Häßliche antwortete, — der
Deutſche maß ihn mit einem langen, ſtummen Blick, dann wendete er
ſich um, holte ſeinen Wanderſtock von der Wand und ſchritt ohne
Weiteres dem Ausgange zu. Nahe an der Thüre wurde ſein Gang
langſamer, noch einmal blickte er in das Auctionszimmer zurück, wie
auf eine Poſition, die man mit ſchweren Opfern erkauft und ſchwer
wie das Leben ſelbſt verläßt, ein Seufzer unendlichen Wehs entwand
ſich ſeiner Bruſt, er fiel mehr hinaus als er ging.
Um Gotteswillen, was geht hier vor? rief Moorfeld, den Mann
zurückhaltend.
Ein Schickſal! antwortete dieſer tonlos.
Erklären Sie ſich, mein Herr, ich bitte!
Es iſt entſchieden! Ich ſoll nicht leben. Auch der letzte Faden
reißt. Laſſen Sie mich.
Es gelang Moorfelden erſt nach einigen Minuten, andere als
ſolche und ähnliche Antworten zu erhalten, welche den Glauben an
ein düſtres Alles vereitelndes Fatum athmeten. Der Deutſche entzog
ſich mehr ſeiner Theilnahme, als er ihr entgegenkam; er ſchien eine
jener wackern Naturen, welche ihre Kraft lange zuſammen halten, aber
gebrochen auch vollſtändig brechen. Dieſen Verluſt ſeiner männlichen
Faſſung fühlte er auch mit Scham; er ſtrebte hinweg und nicht leicht
war es, ihn feſt zu halten. Selbſt die deutſche Anrede, womit Moor¬
feld gleich vorweg ihn zu gewinnen gedacht, verfehlte jedes Zaubers
auf ihn. Ich bin in allen Zungen betrogen worden, ſagte der Un¬
glückliche. Moorfeld ſchleppte ihn endlich mit Gewalt in eine einſame
Ecke und forderte ſein Vertrauen wie die Erfüllung einer Menſchen¬
pflicht.
Das Unglück muß ſich erzählen, ſagte der Andere, es iſt wahr;
jeder Weinende iſt dem Concertſaal ein Andante ſchuldig. Wohlan,
mein Herr, ich war deutſcher Offizier, mein Name iſt von Anhorſt. Ich
hatte ein Duell mit einem andern Offizier, welcher die Ehre meiner Frau
beleidigt hatte, weil ſie ein armes, braves Bürgermädchen war, indeß
[309] er ſelbſt die Maitreſſe eines Großen und die natürliche Tochter eines
andern Großen geehlichet. Der Ausgang des Duells brachte mich auf
die Feſtung. Man verhalf mir zur Flucht, ich ging mit Frau und
Kind nach Amerika. Aber — unterbrach ſich der Erzähler mit plötz¬
lich veränderter Stimme — aber, mein Herr, indeß ich ſo anfange,
wird dort geendet mit mir. Haben Sie gehört? ſchon rief der Sheriff
das Land aus, das ich mit dieſer Hornhaut auf den Händen, das ich
mit dem vierfach erkauften Recht zu kaufen, mein nenne. Steht Ihnen
noch mehr von meiner Geſchichte zu Dienſten?
Moorfeld gab ſich die Miene, die Bitterkeit des Tiefverſtimmten
zu überhören und ſagte mit Wärme: Allerdings, mein Herr, bitte ich
darum, wenngleich nicht in dieſem Augenblicke. Gegenwärtig würde
ich Ihnen Dank wiſſen, wenn Sie mir blos die letzten Ihrer Worte
zu erklären ſo freundlich wären. Das Land, worauf Sie gerechte An¬
ſprüche haben und das Ihnen deßungeachtet ſo eben entgehen ſoll —
wie verhält es ſich damit?
Anhorſt, wie wir den Deutſchen jetzt nennen können, widerſtand
der fortgeſetzten Freundlichkeit Moorfeld's nicht länger; er fühlte ſeinen
eigenen Culturmenſchen wieder erwacht in ſich, und antwortete etwas
geſelliger: Sie wiſſen, mein Herr, was ein Squatter oder Vorſiedler
iſt. Er iſt ein Feſtungsſträfling im Freien. Er verrichtet die härteſten
aller menſchlichen Arbeiten, denn er geht allen übrigen Arbeiten vor¬
aus. Mit Axt und Flinte wirft er ſich in den Ocean der Urwälder
und Prairien und wo er die Spuren einer Büffelherde entdeckt, dort
iſt ſeine Etappenſtraße; der folgt er. Eine Waldeinöde links, eine
Graseinöde rechts, und in der Front vielleicht ein trüber Abfluß von
einem moraſtigen See — das iſt ihm genug zur Heimath: den Winkel
wählt er und fragt nichts darnach, ob er zur nächſt-größeren Stadt
ungefähr ſo weit hat, wie von Baſel nach Leipzig. Er zündet das
erſte menſchliche Licht an, wo ſonſt nur der Blitz in Bäume gezündet
hat, er haut ſich ein paar Schock Eichen um, welche mit Friedrich
von Hohenſtaufen zugleich flaumbärtige Kinder waren, er ſtellt ſich ſeine
rohe Blockhütte auf. Er bricht den Wald und Prairieboden um, der
mit zahlloſen Wurzeln wie mit einem Eiſendraht durchflochten iſt, er
rodet raſtlos das ewig nachwuchernde Unkraut aus, er ſchützt ſich end¬
lich das halbwegs geklärte Feld gegen die wilden Thiere und gegen
[310] ſein eigenes bald verwilderndes Hausthier mit dem bekannten Fenzen¬
zaun, zu welchem Ende er die gefällten Eichen jetzt in Hunderte
von Scheitern aushackt. Das Alles ſind gräßliche Arbeiten, Herr.
Der Squatter bekommt Hände davon wie ein Petrefact — ſehen Sie,
ſolche Hände ungefähr. Der Sprecher wies ſeine Hände und ließ ſie
gegen einander klirren wie Schildpatt. Ich ſehe nicht ab, wie das
im Grabe verweſen ſoll, ſetzte er mit einem tragiſchen Scherze hinzu.
Dann fuhr er fort: Iſt nun das Hausweſen alſo feſtgenagelt in den
widerſpänſtigen Boden, ſind die Sommerfieber glücklich überſtanden,
kommen weder Ueberſchwemmungen, Windbrüche, Waldbrände vor,
geht nicht gleich die erſte Ernte an der heſſiſchen Fliege zu Grunde:
ſo — nun, ſo hat ſich eben kein Unglück ereignet, aber der Vorſiedler
iſt darum noch nicht ſicher in ſeiner Exiſtenz. Ein Käufer erſcheint,
welcher das Land, das bis dahin herrenlos war, kauft. Der Vorſiedler
kann dann gehen, wenn es dem Käufer beliebt. Das iſt eine Kata¬
ſtrophe, die er früher oder ſpäter über ſich ergehen laſſen muß. Frei¬
lich gibt's eine Partei, die free-soolers, welche den Grundſatz auf¬
ſtellt: amerikaniſcher Boden werde durch Arbeit, nicht durch Geld er¬
worben. Dieſe Partei würde dem Vorſiedler das Land als Eigenthum
zuſprechen. Aber ihre Politik hat noch nicht die Majorität. Bis
dahin kann jeder Vorſiedler ausgekauft werden und Alles, was ihm der
Congreß als jus primae occupationis zu bewilligen für gut findet,
das iſt das Recht des Vorkaufs. Aber ſelbſt dieſe kleine Wohlthat,
von der Geſetzgebung gewährt, wird von den Geſetzgebern, nämlich
vom Volke ſelbſt, wieder illuſoriſch gemacht. Ein Beiſpiel davon
ſehen Sie an mir. Nachdem ich in verſchiedenen Städten meinen
Wohlſtand gegründet, aber dem großen und kleinen Krieg der Yankee-
Tricks ſtets wieder erlegen war, gab ich den ungleichen Kampf endlich
auf und vergrub meinen Ekel vor dieſem Volke in dieſe Wald¬
einöde. Das Land, worauf ich mich niederließ, gehörte einem
Manne, Namens John Stutering, der einen notoriſchen Mord be¬
gangen, aber durch die Umtriebe ſeines Advocaten es dahin gebracht,
daß er gegen tauſend Dollars Caution, wofür er eben dieſes Land
verpfändete, aus der Perſonalhaft entlaſſen wurde. Kaum freigegeben,
ergriff er ſofort die Flucht. Sein Grundſtück — es war ein roher
Waldboden auf Speculation gekauft, — blieb herrenlos hinter ihm
[311] zurück. Ich ſiedelte mich in einem äußerſten Waldeckchen davon an,
ſo genügſam als möglich. Die Unterſuchung nahm indeß ihren Fort¬
gang und ſtellte die Beweiſe gegen John Stutering vollſtändig her.
Er war fort. Die Gerichte ziehen nun die Caution ein und verſtei¬
gern das Land. Das Wort Verſteigerung iſt aber in dieſem wie in den
meiſten Verſteigerungsfällen nur ein Wort. Niemand beeilt ſich, zu bieten,
denn das unverkauft gebliebene Land iſt bedeutend niedriger, oft unter
Einen Dollar per Acre, zu erſtehen. Auf dieſe Gelegenheit wartet
man. Aber dies iſt dann auch der Fall, wo ein Vorſiedler, wenn ein
ſolcher da iſt, das Vorkaufsrecht hat. Bleibt alſo Stutering's „Loos”
bei der heutigen Verſteigerung unverkauft, ſo bin ich der Berechtigte,
zu dem herabgeſetzten Preis es vor allen Mitwerbern an mich zu bringen.
Das iſt die Gunſt des Geſetzes.
Nun aber die Menſchen! Sehen Sie mein Herr — doch, Sie
haben es, wie ich höre, geſehen. Sie haben es genau verfolgt, wie
dieſe Meute mir zuſetzt. O es ſind Teufel! Es iſt keine Menſchlich¬
keit in ihnen. Herr, in Deinem Reich! es läßt ſich am Ende noch be¬
greifen, wenn ſie mich als Geſchäftsmann betrogen, da ich im geſtick¬
ten Pantoffel auf Brüſſeler Teppichen wandelte: — ſie mochten denken:
Schelm, wer weiß, woher du es haſt; wir nehmen's Einer vom Andern.
Aber der arme Settler, der mit ſchwielenvoller Fauſt das härteſte
Stück Brod, das von Menſchen gegeſſen wird, aus der Erde gräbt,
der nichts hat als ſeinen Schweiß, der mit Pflug und Karſt Niemand
übervortheilen kann, wohl aber die Grundlage aller übrigen Geſchäfte
und Vortheile iſt — doch ich will kurz ſein. Ich habe geſagt, die
Verſteigerung iſt kaum mehr als eine Form, es findet ſich nicht leicht
ein Steigerer ein. Wohl! Es finden ſich aber ſchlechte nichtswürdige
Menſchen ein, welche ſich für Steigerer ausgeben, um dem armen
Vorſiedler ein Stück Geld abzupreſſen. Dieſe Leute haben oft keinen
halben Adler in der Taſche, deſſenungeachtet treten ſie dreiſt mit der
Miene auf die Auction, als ob ſie das ausgebotene Land zu jedem,
auch dem höchſten Preis kaufen würden. Es liegt für ihre Geſchäfts¬
verbindungen wunderbar bequem, ſie werden Kardirmaſchinen, Dreh¬
maſchinen, Marmormühlen, Lohmühlen, Kreisſägen, und Gott weiß,
welche „Improviments“ darauf errichten, ſie wiſſen ganz ſicher, daß
ein Kanaldurchſtich, oder eine Eiſenbahnlinie durch dieſes Grundſtück
[312] projectirt iſt, und daß es demnächſt hundertfachen Werth haben wird:
kurz ſie ſteigern jedenfalls. Da aber ein Vorſiedler da iſt, ſo wollen
ſie freilich nicht rückſichtslos ſein. Zu ſeinen Gunſten ſtehen ſie von
dem Handel ab und bitten ſich nur ein „hush-money“ von etwa
fünf oder zehn Dollars aus. Dieſe kleine Erkenntlichkeit dürfen ſie
billig in Anſpruch nehmen. Wer wollte ſie verweigern? Es wäre ſein
eigener Schaden. Der arme Settler zahlt es denn auch. So muß er
ſich ſein Vorkaufsrecht kaufen, das er durch die „freien und aufgeklär¬
ten Inſtitutionen“ dieſes Landes hoch-wohl-klingender Weiſe umſonſt
hat. Manchmal darf er freilich das hush-money ungeſtraft verweigern.
Zuweilen ſtatuirt aber auch der Scheinkäufer ein Exempel und kauft
wirklich. Den Kaufſchilling bringt er durch die Hilfe ſeiner Zunft¬
genoſſen zuſammen. Ein ſolcher Fall wirkt dann gleich vielen. Der
Settler kann nie wiſſen, was für eine Potenz er vor ſich hat. Er
läßt ſich alſo, es ſchmerze wie's wolle, gutwillig brandſchatzen.
Daß man auf jeder Landauction, fuhr Anhorſt fort, einem ſolchen
hush-money-Reiter begegnen werde, darauf kann man ſchon längſt
und regelmäßig gefaßt ſein. Die Entſittlichung der Bevölkerung ſchrei¬
tet noch mehr vor, als dieſe ſelbſt. Auch ich kam auf dieſe Lisboner
Auction in keiner beſſern Erwartung. Ja, ich glaubte gefaßt zu ſein.
Leider! dem gegenüber, was mich erwartete, ging mir die Faſſung
aus in Börſe wie in Gemüth. Nicht ein, fünfhush-money-Wölfe
nahmen mich diesmal in Empfang. Das war mir überwältigend-neu!
Ach, mein Herr! ich habe in den Städten viel Unglück erlebt: die
Bowery-Jungen zu Neuyork haben mich gewaltſam geplündert, die
Quäcker zu Philadelphia gaben in Geld- und Wechſelſachen falſch
Zeugniß wider mich, und die erſten Häuſer in Cincinnati bankro¬
tirten mich nieder, während ſie ſelbſt ihren pile dabei machten. In
dieſer Wildniß, mit dieſer Kieſelfauſt, glaubt' ich um den Preis
Alles deſſen, was das Leben ſchön macht, das Leben behaupten zu
können. Umſonſt. Es geht noch einmal nicht. Viermal, wie Sie ſahen,
zog ich meine Brieftaſche und fütterte die Wölfe; was ein Menſch
geben kann, der entſchloſſen iſt, lieber ſämmtliches Ackergeräth aus
Eiſen zu verkaufen und mit hölzernen Stangen und zehnfacher An¬
ſtrengung zu arbeiten, das gab ich dieſen Unbarmherzigen dahin, um
mein letztes unwirthliches Waldaſyl feſtzuhalten. Umſonſt. Viere konnt'
[313] ich befriedigen, den fünften nicht mehr. Der iſt unter den Wölfen der
Wehrwolf. Sehen Sie dieſen grauen beſtialiſchen Satan mit ſeinem
böſen Auge, und verthiertem Geſichte, ein Kerl, der eher einer Kreuzung
von Schwein und Tiger als einem Menſchen gleicht, Mr.Wogan iſt's, einer
jener unzähligen Winkeladvocaten, die wie Peſt und Finnen im Staatskörper
dieſer diſoluten Republik ſtecken, ein Herumtreiber, der Alles mit¬
nimmt, was nach Schlechtigkeit riecht, ein Ignorant, der noch nie einen
ordentlichen Proceß vor der Barre gewonnen hat, aber deſſenungeachtet
von einer gewiſſen Clientenſorte geſucht wird, weil die Geſchwornen,
die gegen ſein Plaidoyer votiren, nicht ſelten an einem anonymen
Drohbrief erkranken, und bald darauf irgendwo todt gefunden werden —
dieſer Kanibale iſt's, der mir jetzt Alles vereitelt, mein Recht, meine
Ausſichten und meine Geldopfer, die ich beiden ſchon gebracht. Ein
Menſch, der ſo eben in Mr. Clahane's Bar — ich lege einen Eid
darauf ab — ſeinen letzten Dime in Slings vertrunken, wagt es,
mir vorzuſchwindeln —
In dieſem Augenblick unterbrach Moorfeld ſeinen Mann, und
fragte mit jenem Tone, der einen fertigen Entſchluß ausdrückt, welcher
nur noch der letzten Feile bedarf: Sie ſcheinen ſich übrigens, mein
Freund, an der hieſigen Gegend ein traurig' Stück Erde zum Wohn¬
platz erwählt zu haben?
Die Gegend iſt gut, antwortete Anhorſt mit Unbefangenheit. Wenn
Sie vom Ohio heraufgekommen ſind, ſo werden Sie bemerkt haben,
daß der Boden theils zu naß, theils zu trocken war; hier in Lisbon z. B.
das erſtere. Die Weide oder die Fichte ſtand da einſeitig. Stutering's
Waldland hingegen hat eine ſehr reiche Miſchung von Baumarten, was
bekanntlich ſchon allein hinreicht, über den Werth eines Grundſtücks jedes
Laienauge zu orientiren. Wenn Lisbon ſich ausdehnt, ſo wird es vor
all ſeinen übrigen Radien der Richtung Stutering folgen müſſen. Dort
ſind die Bodenbeſtandtheile —
Die Unterhaltung der beiden Männer ward an dieſer Stelle unter¬
brochen. Der Sheriff hatte die Auction über das beſprochene Grund¬
ſtück eröffnet, ein Act, auf welchen unſre zwei Freunde nicht ſonderlich
geachtet, da Moorfeld inzwiſchen auf Anhorſt's Mittheilungen gehört,
und dieſer ſelbſt, wie wir wiſſen, das ganze Steigerungsgeſchäft mehr
wie eine Vorarbeit, als wie den Mittelpunkt der Handlung betrachtete.
[314] Wie groß war daher Anhorſt's Beſtürzung, als der Sheriff das
Grundſtück zu tauſend Dollars kaum ausgerufen hatte, und eine
Stimme ſogleich tauſend zweihundert dagegen rief. Es war die Stimme
Mr. Wogan's. Feſt und trotzig rief er ſein Angebot und wendete ſein
häßliches Geſicht bedeutungsvoll auf Anhorſt zurück.
Er bietet wahrhaftig! ſtammelte dieſer erblaßt und ſah mit einem
ſchreckenseiſigen Blicke auf Moorfeld.
Tauſend fünfhundert! rief eine zweite Stimme. Aber in ſeinem
ganzen ſchickſalsreichen Leben hatte Anhorſt wohl nie einen ſo plötz¬
lichen Wechſel von Gemüthsbewegungen erfahren, denn dieſe zweite
Stimme war Moorfeld's Stimme ſelbſt. Ein wallendes Freudenroth
überflog die harten, zerarbeiteten Züge des Deutſchen und kaum glau¬
bend an dieſe plötzliche Hilfe in der Noth, blickte er ſeinen Retter
zwiſchen Furcht und Hoffnung an. Moorfeld nahm ſich keine Zeit, den
Zagenden ſeines ausdrücklichen Schutzes zu verſichern, denn Funke auf
Funke ſtob's jetzt zwiſchen ihm und Wogan; er konnte nur durch
Thaten antworten. Tauſend ſechshundert, hatte Wogan geantwortet,
ſiebenhundert gab Moorfeld zurück, achthundert Wogan, neunhundert
Moorfeld, neunhundert fünfzig Wogan, zweitauſend Moorfeld.
Der ganze Saal wendete ſich jetzt nach den beiden Kämpfern,
während einige der erfahrenſten Landhändler das Haus verließen,
überzeugt, daß jedes weitere Verweilen unnütz und die Auction
„feſt“ ſei. Der Sheriff ſelbſt ſtreckte mit einiger Verwunderung
ſeinen langen Hals aus den Vatermördern und es geſchah of¬
fenbar zu ſeiner eigenen Ueberraſchung, daß er John Stutering's Loos
nunmehr zu zweitauſend Dollars zu auctioniren fortfahren konnte.
Und ſchon ſah man den Hammer in ſeiner Hand erhoben und zum
Niederſchlagen bereit, als Wogan ſchnell noch ein neues Hundert da¬
zwiſchen rief. Moorfeld überbot mit zweihundert, Wogan ſteigerte
drei-, Moorfeld vier-, Wogan fünfhundert. Zweitauſend fünfhundert!
rief Wogan. Jetzt hielt Moorfeld inne. Wogan ſtutzte. Unwillkür¬
lich blickte er hin nach Moorfeld, aber nicht triumphirend, erſchrocken
war der Blick. Ertappt! rief Moorfeld ſeinen Schützling anſtoßend,
jetzt wollen wir ihn zappeln laſſen. — Zweitauſendfünfhundert wieder¬
holte mit heller Stimme der Sheriff. Moorfeld ſchwieg noch einmal.
Wogan blickte nicht mehr nach ihm, er mochte fühlen, das ſein voriger
[315] Blick ihn verrathen. Deſto unerbitterlicher durchbohrte Moorfeld's Auge
den Betrüger. Dieſer ſtand da, den Kopf geſenkt und zur Seite ge¬
neigt, wie ein Menſch, der dem, was herankommen ſoll, nicht in's
Auge zu ſchauen wagt. Es war eine Stellung, kleinlaut und grimmig.
Zweitauſendfünfhundert! rief der Sheriff zum drittenmale. Moor¬
feld beharrte in ſeinem Schweigen. Er beharrte in ſeinem Blicke
auf den zermalmten, elenden Geſichtsausdruck ſeines Gegners. Die
Scene fing an Aufſehen zu machen. Alles blickte mit Moorfeld auf
Wogan, der ſeinerſeits mit einem kriechenden Blicke von unten auf dem
Niederfallen des erhobenen Hammers rath- und hilflos entgegen zitterte.
Zuletzt holte ſich Moorfeld eine Cigarre aus ſeinem Etui, biß ihre
Mundſpitze ab, ſchnellte ſie mit der Zunge von ſich und ſagte dazu:
Dreitauſend! Es lag für Wogan etwas unendlich Verächtliches in
dieſer Action. Er bat nicht mehr. Die Lection, die ihm Moorfeld ge¬
geben, verfehlte ihre Wirkung nicht. Er ſchlich ſich aus der Verſamm¬
lung. An Moorfeld vorübergehend murmelte er mit tückiſch geſenktem
Haupte und einem böſen, wölfiſch-ſchielenden Seitenblick: Ich heiße
Wogan! — Mir ſehr gleichgiltig, erwiderte Moorfeld ſchnell und
ſchwang ſeine Cigarre durch die Luft, um ihr Feuer anzufachen.
Drittes Kapitel.
In ſeinen Wünſchen zeichnet der Menſch ſich ſelbſt. Wie kommt
es, daß er die Zeichnung ſo ſelten lobt, wenn ſie äußerlich vor ihn
hintritt — wenn der Wunſch erreicht iſt? Wie kommt es, daß ein
erreichter Wunſch uns oft düſterer ſtimmt, als ein verſagter? Im
verſagten Wunſch haben die Götter Unrecht, im erreichten wir ſelbſt!
Nur an Thatſachen lernt ſich der Menſch kennen. Nur dem ver¬
körperten Wunſche gegenüber wird uns das Urtheil, das Gefühl mög¬
lich, ob dieſer das Maß unſers Innern wirklich enthielt, oder nicht.
Und es iſt der gemeinere Menſch, der dieſe Frage ſich bejaht. Die
Beſten und Tiefſten geben in ihren erreichten Wünſchen ſich am här¬
teſten Unrecht. Mit Schauder und Ekel wenden ſie ſich von dem
[316] endlichen Bilde ihres unendlichen Ichs, wie von einem Zerrbilde, hin¬
weg, um in höheren, kühneren Zielen der Sehnſucht ſich würdiger zu
genügen; dieſe erreicht, beleidigt ſie von neuem die kleinliche Formel
für einen großen Sinn: ſo ſchreiten ſie von Unbefriedigung zu Un¬
befriedigung die erhabenen Pfade der Selbſtqual zu Ende, bis ſie am
Markſtein der Verzweiflung oder Vergötterung das Bewußtſein er¬
ringen, daß Irdiſches und Ewiges nimmer ſich decken, daß nichts Ir¬
diſches wünſchenswerth!
Dieſen Naturzug des menſchlichen Herzens müſſen wir uns gegen¬
wärtig halten, wenn wir begreifen wollen, mit welchen Gefühlen Moor¬
feld Tags nach der Landauction in Anhorſt's Blockhütte erwachte. Er
hatte zum erſtenmal auf dem Seinigen geruht, er ſtand zum erſten¬
male im Seinigen auf. Aber Alles in ihm widerrief dieſe Thatſache.
Das Wort „Urwald“ tönte fremd und abſchreckend im Herzen. Mit
Anſtrengung beſann er ſich jetzt auf den Ideengang, den die Entwick¬
lung dieſes Wunſches in Europa genommen und — er fand den Faden
nicht mehr. Er fühlte ſich tief unglücklich. Es war ihm, als ſei er
kein moraliſches Weſen, ſondern ein Mechanismus, deſſen Beſtand¬
theile eine fremde Hand auseinandergelegt, und er ſelbſt könne ſie
nicht wieder zuſammenſetzen. Er wußte nicht, habe er in Europa
geirrt, oder irre er heute. In ſeinem Gemüthe war plötzlich der
Grundton verſtummt, auf welchem ſein Ich und der Urwald ſonſt im
Accorde geſtimmt. Er ſah ſeinen Wunſch vor ſich nicht wie einen ver¬
trauten, langgenährten Umgang, ſondern wie einen zweideutigen Ge¬
ſellſchafter, mit dem man im Taumel Brüderſchaft gemacht, und der
bei ernüchterten Sinnen in Verlegenheit ſetzt. Alles iſt Mißton hier,
den angeklungenen Ton fortzuſetzen und auch von ihm abzuſpringen.
Nach beiden Seiten hin fehlt die Wahrheit, — und ſo findet ſich
unſer Freund heute in einem Verhältniſſe, das eigentlich eine Unmög¬
lichkeit iſt.
Als er in früher Morgenſtunde vor die Hütte trat, fehlte wenig,
daß er nach ſeinem geſattelten Pferde gerufen. Er fühlte ſich wie
ein ſtädtiſcher Spaziergänger, der eine Nacht auf dem Lande zuge¬
bracht und im jungen Tagesſtrahl fröhlich davon fliegt. Warum er
hier weilen ſollte, war ihm unverſtändlich. Er hatte zum erſtenmale
eine dumpfe Ahnung davon, was es heiße, den europäiſchen Cultur¬
[317] menſchen an dieſem rauhen Boden zu befeſtigen. Er erſchrak, wie
wenig ſeine Reiſe ihn vorbereitet. Sonſt war er frei und heute ge¬
bunden — das allein entſchied.
Moorfeld hatte wenig geſchlafen und ſein Auge war phyſiſch wie
moraliſch überwacht, indem er die Scenerie ſeiner neuen Umgebung
jetzt überblickte.
Anhorſt's Blockhaus war ein ſogenanntes Log shanty und be¬
ſtand, wie alle Obdachungen dieſes primitiven Schlags, aus einer
einzigen Kammer. Sie war aus Baumſtämmen aufgeführt, welche
roh behauen übereinanderlagen, die Zwiſchenlucken mit Moos und Lehm
verſtopft oder mit dünnen Holzſpänen ausgefugt. Eine der Seiten¬
wände zeigte den Ausſchnitt für den Kamin und dieſe war aus Back¬
ſteinen erbaut. In der Nähe des Kamins ſtand die Bettſtelle; ein
Tiſch und eine Bank von barbariſcher Arbeit vollendeten das Ameuble¬
ment. An den Wänden hingen die Werkzeuge von einem Dutzend
Handwerken herum, in denen der Hinterwäldler ſämmtlich ſein Schüler
und Meiſter zugleich ſein muß. Die Diele beſtand aus geſchlagenem Lehm,
die Fenſter waren zwei in die Längenſeiten der Hütte geſchnittene Löcher,
ſtatt des Glaſes mit Holzläden verſehen. Die Hütte lehnte ſich an
den Wald, doch waren die Bäume auf einige Entfernung von ihr
weggebrannt. Vor der Hütte lag das Feld. Es war ein wüſter
Fleck Erde, überſäet mit verkohlten Baumpflöcken, zwiſchen welchen
ein paar ſpärliche Raufen Getreidegelb faſt ſich verloren. Das Ganze
umgab jener häßliche Zickzackzaun — halb ironiſch, wie es ſchien, denn
erſt er machte aufmerkſam, daß hier überhaupt etwas einzuſchließen.
Dieſes traurige Gehöft lag in einem Meere von Einſamkeit. Kein
Vogel pfiff, kein Hausthier brüllte, wieherte oder krähte in ſeiner Nähe
— die Hausthiere ſtaken im Walddickicht und gaben ſich nicht zur länd¬
lichen Staffage her. Es war ein trübſeliges Stück Menſchen-Exiſtenz.
Das Grab eines Unbegrabenen! ſagte Moorfeld bei ſich. Doch nahm
er ſich zuſammen, um ſeine Wohlthat nicht ſelbſt zu verkürzen, indem
er ſeine Stimmung verrieth.
Bald erwachte auch Anhorſt. Nach den wechſelnden Aufregungen
von geſtern hatte ihn der Schlaf wie mit eiſernen Armen umklam¬
mert. Er ſtand jetzt rüſtig da, aber das Glück ſeiner neuen Schick¬
ſalswendung, ja nur die Friſche eines geſunden Morgengefühls be¬
[318] mühte ſich Moorfeld vergebens, in ſeinen Mienen wahrzunehmen.
Dieſes Antlitz ſchien nur noch des Ausdrucks der Sorge fähig. Die
Sorge war heute gewichen, aber der Glanz der Freude darum nicht
aufgegangen. Der ernſte Gleichmuth der Alltäglichkeit herrſchte
darin.
Anhorſt bemühte ſich, ſeinem „Grundherren“ ein erträgliches Früh¬
ſtück vorzuſetzen und lobte den relativen Werth einiger Kaffeebohnen,
über die er verfüge. Moorfeld überreichte ihm ſeinen ſtändigen Reiſe¬
vorrath von Bouillon- und Chokolate-Tafeln. Bei dieſem Anblick
ſah Moorfeld das erſte Lächeln auf Anhorſt's Miene. „Ach, mein
Herr, was ſind die Freuden des Einſamen!“ vernahm er's in ſeinem
Innern. Er dachte an den Zellengefangenen in Philadelphia.
Die rauhe Blockhütte duftete bald von dem feinen Arom der Va¬
nille. Moorfeld fing an, von Benthal zu ſprechen. Der Dritte iſt
ſtets das beſte Auskunftsmittel, wo Zwei ſo vollen oder fremden
Herzens ſind, daß ihr Gegenüber ſtockt. Ueberdies ſtand dieſes Thema
mit unter den nächſten, welche hier Boden hatten.
Anhorſt ſchien mit Vergnügen von Moorfeld's Plänen zu hören,
— mit mehr ſogar, als womit dieſer ſelbſt in gegenwärtiger Ge¬
müthsverfaſſung von ihnen ſprach.
Er ergriff die Gelegenheit, auch ſeinerſeits mit einem kleinen
Projekte hervorzutreten. Durch Moorfeld's Güte, ſagte er, habe er
den Kaufſchilling für ſein Grundſtück erſpart und zur Dispoſition.
Er wiſſe ihm eine vortheilhafte Beſchäftigung. Der Einfall ſei ihm
ſchon geſtern im Nachhauſereiten aufgetaucht. An den oberen Seen
ſtröme jetzt viel Volk zuſammen. Ueber weite Diſtrikte ergieße ſich
ein Andrang von Coloniſten, die Alles bedürften und Nichts hätten.
Eine Zufuhr von Saatkorn und Lebensmitteln dahin müſſe ungeheuer
rentiren. Er hätte Luſt, ſein kleines Capital in ſolch einem Verſuche
arbeiten zu laſſen. Er würde an der Erie hinabgehen, unterwegs von
den kleineren Farmern, die frühzeitig einärnten, um raſch Geld zu
machen, wohlfeiles Neukorn haben können, und damit einen Export
nach dem Weſten wahrſcheinlich höchſt lohnend unternehmen.
Moorfeld erſtaunte über die Zähigkeit der menſchlichen Natur. Sie
wagen ſich noch einmal auf die hohe See der Spekulation! rief er
mit unverholener Bewunderung.
[319]
Mit nichten, antwortete Anhorſt ruhig. Ich verkaufe gegen Käſch
an den Abnehmer, nichts weiter. Ich laſſe mich nicht auf Commiſſions¬
geſchäften ein, ich gebe nicht Credit.
Aber warum wollen Sie überhaupt wieder handeln? fragte Moor¬
feld noch immer verwundert.
Anhorſt ſah ihn groß an. Heißt es denn handeln, wenn man all¬
jährlich einmal eine Ernte zu Markt führt? Und was iſt meine Expe¬
dition an die Seen? Kommt es doch vor, daß Farmer dieſer Gegend
ſich zur Erntezeit ein paar Hickory's ſchlagen, ein Boot zimmern,
und mit der Frucht den Ohio und den Miſſiſſippi hinab nach Neu¬
orleans fahren! Dort verkaufen ſie Ladung und Schiff zugleich
und machen dann tauſend Meilen den Landweg zurück auf einem
Klepper, den ſie im Süden gekauft haben und hier ebenfalls wieder
losſchlagen. Das ſind amerikaniſche Marktfahrten, Herr Doktor. Ja,
der Bauernſtand iſt kein Ruheſtand bei uns. Hier handelt Alles, was
ſein bischen Mark noch fühlt. Schlimm genug, wen das Fieber nieder¬
knebelt; wer ſich aber rühren kann, dem iſt die Straße ſein Haus;
ſein Haus nur Abſteigquartier.
Moorfeld ſchwieg. Schlagender konnte das Ungemüthliche des
hieſigen Landlebens nicht mehr ausgedrückt werden.
Nach dem Frühſtücke ſattelte Anhorſt ſein und Moorfeld's Pferd
indem er es nicht anders zu erwarten ſchien, als daß Moorfeld ſeinen
Kauf jetzt beſehen wolle. Moorfeld nahm die Parthie an und verbarg,
ſo gut es ihm möglich war, mit wie wenig Intereſſe er's that.
Indeß hatte Anhorſt doch wahr geſprochen, als er geſtern die Ge¬
gend von Lisbon und die hieſige außer Vergleich geſetzt. Wenn Moor¬
feld einen Molch- und Unkenpfuhl erwartet hatte, ſo war wenigſtens
dieſe Erwartung übertroffen. Zwar als die Reiſigen ausritten, ging's
nicht unmittelbar in den Waldesgrund, der vor ihnen lag: ein böſer
Schwaden ſchlug aus ſeinen nächtlichen Schattentiefen, der Menſch
und Thier dämoniſch anſchauerte. Aber Moorfeld wußte, das ſei eben
der ungeſunde Athem Amerika's in den Früh- und Abendſtunden, die
denn auch kein Amerikaner „im Freien“ zubringt, namentlich in der
Nähe von Neuboden nicht. Die Reiter traten ihre Urwaldparthie auf
einem Umwege an und dieſer war nicht ohne Reiz. Sie faßten in
einem großen Bogen den Wald von der Oſtſeite, wo die Sonne ſchon
[320] anfing Sieger über die Dünſte zu werden. Sie ritten durch eine
kleine Prairie, der man faſt die Würde einer Boccage zuſprechen
konnte; der Grund war maleriſch mit Baumgruppen beſtanden und
ein Bach durchſchnitt ihn in mäandrigen Krümmungen. Moorfeld
lobte das Parkartige dieſes Anblicks, während Anhorſt ihn auf die
Pflanzendecke des Bodens aufmerkſam machte, wo das Timotheusgras,
der Wieſenfuchsſchwanz, der Lolch, das Schwingel- und Knäuelgras
überall hervorſteche, und den Boden wie von ſelbſt zur ſchönſten Cultur¬
wieſe ſtempele. Hierauf ſchloß ſich der Ritt dem Laufe des Baches an.
Der Bach war ein trübes, lebloſes Waſſer, wenn es nicht etwa für
Belebung galt, daß Anhorſt mittheilte, vor dreißig Jahren ſoll er von
Bibern gewimmelt haben. Sein durchweichtes Ufer war von üppigem,
aber rauhen Graſe bewachſen, zwiſchen welchem hie und da wilder
Reis ſeine zierlich gefiederten Reſpen emporſtreckte. Später umſäumte
ihn ein Geſtripp von Cedern, Cypreſſen, Thuja's und ſonſtigem Sumpf¬
holz, welches bald ſo dicht wurde, daß es das ſchmale Rinnſal wild
überwucherte, ja ſtellenweiſe gänzlich zuwölbte.
Anhorſt ſagte bei dieſem Anblicke, er ſei ſchon oft im Begriffe ge¬
weſen, dieſes Dickicht niederzubrennen, denn das Waſſer habe hier
einiges Gefäll, was es unterhalb nicht mehr habe, und hier ſeien die
Punkte, wo ſich „Improvements“ anbringen ließen. Moorfeld ſagte
nichts.
So ritten ſie in den Urwald. Die Morgenſonne ſtand hinter
ihnen und warf ihre langgeſtreckten Schatten auf die angeleuchteten
Baumſtämme voraus, indeß ſie die ſchweren Walddünſte in gefiederten
Nebeln vor ſich her trieb, und den Wanderern reine Luft machte. Der Gang
durch ein Waldinneres war unſerm Helden kein neuer mehr, und hatte
ihn nie europäiſch-waldfroh angemuthet. Auch heute that er's nicht.
Die amerikaniſche Waldphyſiognomie hatte für Moorfeld's Auge etwas
Hohles, Starres, Gitterhaftes, da faſt überall das Unterholz fehlt, alſo
neben dem Gewordenen das Werdende. Daſſelbe Bild wiederholte ſich hier.
Die ganze Vegetation ſchien ihm fertig wie ein Drahtgeflecht, die Idee des
freien Hineinrankens eiſern ausſchließend. Dabei mangelte dem Walde aber
doch auch der Ausdruck der ruhigen Größe und Erhabenheit. Die
Baumarten ſtanden charakterlos in unendlicher Buntheit durcheinander.
Nicht nur die Zonen der Coniferen und Laubbäume vermiſchten ſich
[321] auf jeder Zollbreite — Fichten, Föhren, Tannen, Cedern, Tarus und
Lärchenbäume mit Ulmen, Pappeln, Eſchen, Erlen und Birken: ſelbſt
polariſche und tropiſche Waldbilder fielen auf dieſen Boden herein,
der, zwiſchen Canada und Virginien in der Mitte liegend, nicht um¬
ſonſt Thürhüter der Extreme zu ſein ſchien. Moorfeld ſah die Kiefern
und Wachholderbäume des froſtigen Nordens neben der orientaliſch¬
rieſigen Sycomore, neben dem prachtvollen Tulpenbaum, der Myrthe
und dem Lorbeer. Die Eichenarten blieben ihm nicht minder fremd¬
artig als ſonſt; nur Anhorſt wies ihn mit Sicherheit durch dieſes La¬
byrinth und zeigte ſich als ein gründlicher Kenner — denn die
Schwarzeiche, ſagte er, liefere dem amerikaniſchen Farmer gute
Dachſchindel, die Rotheiche vorzügliche Schweinmaſt und die Weißeiche
ſei in allen Geſtalten nützlich, da ſie als Schößling elaſtiſches Reifen¬
holz, im mittleren Alter Korbflechterſpänne und ausgewachſen die beſten
Balken zu Blockhaus und Fenzriegeln gebe, auch ſei ihr Laub ein
brauchbares Viehfutter.
Unſerm Freunde ſchnürte aber inzwiſchen ein anderer Charakterzug
des amerikaniſchen Waldes das Herz zuſammen: die eigenthümliche
Sang- und Duftloſigkeit. Kein Vogelton belebte das Holz, kein
würziger Hauch durchathmete es. Er ritt wie durch ein Schau¬
gericht.
Selbſt von Wild fand Moorfeld nichts, als ein zahlreiches Volk
grauer Eichhörnchen, das ſich auf den luftigen Aeſten der Wallnu߬
bäume wiegte und in den dickſchaligen Früchten derſelben, die kaum
der Reife entgegengingen, ſeine Nußknackerkünſte hören ließ. Die
Jagd auf dieſes „fruchtbare Ungeziefer“, wie Anhorſt ſich ausdrückte,
gehöre zu den ärgſten Tribulationen des Farmers, er müſſe jedes
Körnchen ſeines Feldes mit Pulverkorn gegen die Brut vertheidigen.
Die vermeinte Jagdluſt werde eine wahre Jagdqual im Urwalde.
Moorfeld ſchwieg dazu.
Nach einem Ritt von einer kleinen engliſchen Meile, den das Paar
zwar unbehindert, doch im Schritt durch den freiwüchſigen Baumſchlag
zurückgelegt, veränderte ſich die Scene. Der Boden ſtieg aus dem
Ebenen mit einem ſanften Schwung empor und auch Unterholz ſtellte
ſich ein. Zwiſchen den hohen Baumpfeilern drängte ſich allerlei Buſch-
und Strauchwuchs in's Leben, üppige Schling-, Kletter- und Hänge¬
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 21[322] pflanzen halsten ſich in die Höhe und bald war der ganze Waldraum
von der Wurzeltiefe bis zu der oberſten Schaftſpitze der Alles über¬
ragenden Wheymouthtanne vollſtändig und wie es ſchien undurchdring¬
lich ausgefüllt. Die Wanderer ſtanden wie vor einer Mauer aus
Laubwerk. Nur einzelne Breſchen dieſer Mauer erlaubten ein weiteres
Vordringen; man ließ die Pferde bald hinter einander gehen, bald
trennte man ſich gänzlich und ſchlug ſich auf eigene Hand durch, in¬
dem Jeder durch Zuruf ſich des Andern verſicherte und hin und wieder
über die Auffindung des gangbarſten Pfades correſpondirt wurde. Hier
wurde es Moorfeld zum erſtenmal wohler. Gibt's Panther oder Schlangen
hier? rief er nicht ohne den Reiz des Romantiſchen und legte Hand an
ſeine Büchſe. Nichts als unermeßliche Dollars gibt's, antwortete Anhorſt
zurück; — das Alles wartet nur auf's Niederpraſſeln; wir gehen
über den koſtbarſten Alluvialboden; reines Bottom-Land!
Utilitarier! ſchalt Moorfeld für ſich.
Nach einer zweiten engliſchen Meile erreichte man die Platte des
Hügels zu dem der undulirende Boden bisher emporgeführt hatte.
Moorfeld und Anhorſt fanden ſich kurz nach einander auf dem Plateau
ein. Sie ſtiegen vom Pferde und raſteten aus.
Die Stelle war ſchön im Sinne der Wildniß. Einſam, öd, tief¬
ſtill, umgeben von der breiten Einförmigkeit des Waldes, welchen ſie
nirgend dominirte, vielmehr fiel er allſeits über ſie herein und deckte
ſie zu, wie ein Geheimniß.
Das Strauchwerk überwucherte die Höhe des Hügels noch ſo
dicht wie den Abhang, doch ſtanden die ſtarken ſchweren Stammholz¬
bäume hier etwas ſpärlicher. Dagegen lagen viele Stämme am Boden
umgeſtürzt, verwitternd, zerbröckelnd und neue Schößlinge treibend, —
Alles wüſt durcheinander. Das Ganze ſchien die Stätte eines ver¬
jährten Windbruches.
Nach der Natur ſolcher Stätten, welche der Schauplatz einer zeu¬
gungsreichen Pflanzenverwitterung ſind, war die Waldſtelle wahrhaft
erſtickt von einem prachtvollen Blumenwuchs.
Moorfeld ließ ſich auf einen Baumſtamm nieder und betrachtete
das Spiel eines Kolibris, der wie berauſcht dieſe Flora durch¬
taumelte und ſeine zierliche Erſcheinung als eine willkommene Epiſode
der tiefen Einſamkeit ſpendete. Anhorſt aber muſterte die Ahornbäume,
[323] welche den ſtillen Bezirk umgrenzten, und führte bald Klage darüber,
daß ſie gleichfalls zu alt zur Zuckergewinnung ſeien; er habe den
Wald ſchon viel durchforſcht nach jüngeren Exemplaren, aber überall
vergebens. Moorfeld lud ihn ein, ſich neben ihn zu ſetzen und zeigte
ihm das reizende Vöglein, das der Gegenſtand ſeines ſchöneren Inter¬
eſſes war. Das Kolibri hatte ſich dicht in Moorfeld's Nähe an eine
flammrothe Magnolie gefeſſelt, und vertiefte ſich mit der ganzen
Süßigkeit einer ſelbſtvergeſſenen Liebe in ſein trunkenes Koſen und
Naſchen. Vollkommen reglos hing es an dem Blumenkelch, ſein präch¬
tiges Körperchen ruhig zur Schau geboten. Der kleine Amor hatte
kaum die Leibesfülle einer Hummel, aber der Schönheit war's Raum
genug, darauf ihre Wunder zu thun. Sein Gefieder ſtrahlte vom
reinſten Juwelenglanz, ſmaragdgrün und opalblau ſpielten Leib und
Flügel an der Sonne, ſeine kleine Kehle war ein Rubin von Farbe
und Feuer. Schade, daß wir nicht ein wenig Vogeldunſt bei uns
haben! ſagte Anhorſt und ſetzte hinzu: Ob ſich mit den Thierchen
nicht überhaupt ein Geſchäft machen ließe? Im Mai kommen ſie in
ganzen Schwärmen vom Süden nach den Seen durch. Freilich die
Amerikaner halten nichts auf Naturalienſammlungen — aber nach Deutſch¬
land könnte man ſie verſchicken; — was ſagen Sie, Herr Doctor?
Moorfeld ſah in das braune, zerfurchte Antlitz des deutſchen
Mannes und ſah lange hinein. Wie lange ſind Sie ſchon in Amerika?
fragte er ihn.
Fünfzehn Jahre, antwortete Anhorſt.
Fünfzehn Jahre! — das iſt freilich eine lange Zeit! Er ſchüttelte
die Magnolia mit dem Fuße, daß das Kolibri pfeilſchnell davon flog.
Hierauf folgte eine Pauſe des Schweigens zwiſchen den Beiden.
Zwei Männer, welche der Zufall an Einem menſchlichen Berührungs¬
punkt zuſammengeführt, dachten zum erſtenmal, wie man ſah, darüber
nach, ob ſie deren mehrere haben könnten. Moorfeld fühlte das
Bedürfniß deſſen, was man in der Sprache der Empfindſamen
Herzensergießung nennt. Wenn es für einen Menſchen einnimmt,
daß man ihm eine Wohlthat erweist, ſo mußte Moorfeld dieſe
Theilnahme für Anhorſt haben. Ihm zu Liebe hatte er ohne alle
Wahl ſich auf eine Scholle gekauft, die er mit ſorgfältigſter Wahl
kaufen wollte, und das Bruchtheil, das Anhorſt davon inne hatte,
[324] ihm ohne Weiteres geſchenkt. Anhorſt war rettungsbedürftig wie
ein Ertrinkender geweſen, und Moorfeld hatte ihn gerettet. Aber
bei dem Bande der rohen Noth kann ein feineres Gemüth nicht
ſtehen bleiben. Er durfte wünſchen, daß Anhorſt jetzt von ſeinem
Eigenen — Innern etwas herausgebe. Seit geſtern war es noch nicht
geſchehen. Dieſer Augenblick aber war einem innigeren Austauſch
günſtig. Er forderte von ſelbſt dazu auf.
Moorfeld zog den fremden Mann treuherzig an ſeine Seite und
ſagte: Und wie ging es Ihnen in dieſen fünfzehn Jahren? Laſſen
Sie mich hören, wie das Menſchenleben auf den Pfaden, auf wel¬
chen Sie es durchwandelten, ausgeſehen hat.
In den Zügen des Deutſchen malte ſich's faſt wie Schamgefühl
bei dieſer Aufforderung. Und wie das germaniſche Auge immer trotzig
blickt, wenn das Gefühl an ſich ſelbſt erinnert wird und ſich zugleich
ehrt und verbirgt bei dieſer Erinnerung, ſo ſah das blaue Auge des
abgehärteten Mannes jetzt mit einem gewiſſen Barbarismus drein, der
im Aeußern Trotz ſchien, im Innern aber keuſche Selbſtbewahrung
war.
Mit dieſem Ausdruck antwortete Anhorſt: Sie haben mir geſtern
Gutes gethan; ich könnte es heute kaum vermeiden, mich ſo zu ſchil¬
dern, als ob ich's recht ſehr werth wäre. Das geht nicht. Aber mein
Tagebuch ſteht Ihnen zu Dienſten. Drinn ſtehen Gott und dieſer
Burſche hier etwas unparteiiſcher neben einander.
So eben hab' ich's geleſen, ſagte Moorfeld, und drückte dem
Manne die Hand. Seine Gefühlsanwandlung war vorüber. Er ſtand
auf und ging weiter mit ihm. Zwiſchen den beiden Männern war von
der Vergangenheit weder in Schrift noch in Wort je wieder die Rede.
[325]
Viertes Kapitel.
Wir werden nicht erwartet haben, daß die Stimmung, in welcher
Moorfeld den erſten Blockhaus-Morgen erblickt, und die wir zu An¬
fang des Vorigen zu berichten hatten, die bleibende ſeines neuen Le¬
bens geworden. Wir haben ſie gewiß nur als eine Kriſis erkannt,
welche den Wechſel der Gewohnheiten mit Naturnotwendigkeit be¬
gleitet. Dieſe Kriſis ging um ſo raſcher vorüber, je heftiger ſie ſich
eingeſtellt. Es iſt am dritten Tage und wir finden Moorfeld's
Gemüth wieder im Gleichgewichte. Die Schauder der Fremde haben
ſich gemildert, die Liebe zum Eigenthum iſt erwacht. Moorfeld fing
an, ſeinem Boden entgegen zu kommen. Lag er auch nicht im ſchönen
Ohio- oder Miami-Thale oder am waldreichen Geſtade des majeſtäti¬
ſchen Erie-Sees, ſo hätte eine reizvollere Außenſeite leicht auch als
ein Werkzeug der Landſpeculation dienen können, um mancherlei innere
Schäden damit zu vergolden, wogegen die umſichtigſte Auswahl zu¬
weilen nicht ſchützt. Moorfeld's blinder Griff aber — Alles in
Allem — war kein verfehlter. Erſt indem er ſein Land mit eigenen
Augen ſah, indem er das Geſchäft des Ankaufes ratificirte und die be¬
treffenden Documente eines näheren als flüchtigen Zuſchauerblicks wür¬
digte, ging ihm der Begriff des Geſchehenen in einem befriedigenden
Bilde auf. John Stutering's ſogenanntes „Loos“ war ein Complex
von zwei „Sectionen“ d. h. eine Bodenfläche von tauſend achthundert
zwanzig Acres. Das ungefähr war eine der größten Realitäten, welche
zu dem gleichen Preiſe erreichbar. Dieſer Boden beſtand, wenn nicht
aus einer romantiſchen, doch nützlichen Miſchung von Wald und Prairie
und war, wie Baum- und Graswuchs zeigte, im Ganzen betrachtet,
vortrefflich. So kam es, daß Kenner — unparteiiſche, oder vielmehr
eiferſüchtige — den Erwerb des neuen Gentleman-Farmers leicht auf
den doppelten und dreifachen Werth ſchätzten, wozu beſonders politiſche
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 22[326] Köpfe noch den Umſtand rechneten, daß in dieſer Gegend der Ohio¬
ſtrom ſich auf die geringſte Entfernung dem Erie-See nähere, ein
Canal-Durchſtich über kurz oder lang hier ſeine Unternehmer finden
und die Bodenpreiſe wohl auf das Zehnfache bringen könne. Mochten
nun ſolche Conjecturen werth ſein ſo viel ſie wollten, und auch hier
die allgemeine Sitte wirken, daß, wenn ein Kauf erſt realiſirt iſt,
Alles umher von den beneidenswerthen aber verſäumten Vortheilen
deſſelben ſpricht: genug, Moorfeld hatte wenigſtens keinen Mißgriff
gethan. Die Raſchheit ſeines Herzens war nicht zugleich ökonomiſche
Uebereilung.
Dieſe Raſchheit des Herzens lieh dem Ankaufe Moorfeld's übrigens
doch auch einigen Werth. Und konnten wir gleich nicht ſo prompt,
als Moraliſten vielleicht erwarteten, mit dem Geſtändniß herausrücken,
daß „das Bewußtſein einer guten That“ ihn für ſein Grundſtück mit
jener Selbſtverliebtheit eingenommen, welche gewiſſe Menſchen als
„Lohn der Tugend“ in Cours bringen möchten: ſo fing dieſes Be¬
wußtſein doch an, freundlich nachzuwirken, nachdem die Abſtoßungskraft
des erſten Eindrucks der Natur ihren Tribut gezollt. Moorfeld hatte
die Genugthuung, das, was noch Liebhaberei an ſeinem Unter¬
nehmen geweſen, die Auswahl der landſchaftlichen Lage, einem reinen
realen Bedürfniß geopfert zu haben. Damit war das letzte Moment
des Gefühligen von ſeinem Unternehmen abgeſtreift, damit erſt war
es ganz That. Und da vor Geiſtern ſeines Rangs die That über¬
haupt gut iſt, ſo fühlte er dieſe gute That jetzt, wenn nicht mit der
Süßigkeit des Tugendphiliſters, doch wie einen friſchen ſtählernen
Luftſtrom, der all ſeine Nerven ausheiterte. Er war im Fahrwaſſer
der Unternehmungsluſt.
Zwar die eigentlichen Geſchäfte der Beſitzergreifung, die Pläne und
Arbeiten der Coloniſation, konnten jetzt noch nicht beginnen; Anhorſt
machte ſeine Marktfahrt und Benthal war noch nicht da. Moorfeld
fand ſich vorläufig auf Ferien geſetzt. Aber als ein guter Wirth,
der zum Ernſte ſeines Haushalts entſchloſſen iſt, wollte er dieſe
Ferien nicht ungenützt verpaſſen. Was einem Manne, der zu exiſtiren
gedenkt, außer ſeinem eigenen Schwerpunkte das Wichtigſte ſein muß,
das iſt ſeine Umgebung. Moorfeld verlegte ſich zum Erſtlings-Anfang
auf die Kenntniß ſeiner Nachbarſchaft.
[327]
Der nächſte Nachbar war ihm Anhorſt ſelbſt. Mit dieſem Manne
ging es ihm ſonderbar. Wir haben bei Gelegenheit der Landauction
bemerkt, daß ſein erſter Anblick ihm einen faſt chevaleresken Eindruck
gemacht. Moorfeld verwunderte ſich, daß dieſer Eindruck nicht wieder
kommen wollte. Er vergaß, daß das ausgefieberte dollarhungrige
Volk der Yankee-Bauern damals ſein vortheilhafter und daß er ſelbſt
jetzt ſein verdunkelnder Contraſt ſei. Was von Anhorſt auf der Oberfläche
ſeines Lebens zu erblicken, das war und blieb der Nützlichkeitsmenſch.
In den erſten Tagen und Stunden zwar hatte Moorfeld alle Urſache,
ſich dazu Glück zu wünſchen. Anhorſt aſſiſtirte ihm bei dem Abſchluſſe
ſeines Kaufes und dem ganzen Notariatsgeſchäfte auf dem Landamte
zu Lisbon, er ritt mit ihm auf die Hofſtellen der Nachbarn und machte
ihn mit den Communalangelegenheiten des County bekannt, er half
ihm die vortheilhafteſte Lage zum Neubau eines Farms wählen und
ſtellte ihm den ganzen Schatz ſeiner praktiſchen Erfahrungen zur Ver¬
fügung, worauf es in Moorfeld's gänzlich neuer und fremdartiger Lage
ſo weſentlich ankam. Er legte ſelbſt wieder Hand an Axt und Säge
und hatte im Nu ſein log shanty um eine Kammer erweitert, da
Moorfeld bis zur Anlegung einer größeren Hofſtelle vorläufig bei An¬
horſt wohnen blieb. Kurz, er ſorgte für ihn, wie ein älterer Bruder
für den jüngern, ja, um ein weichlicheres Bild nicht zu ſcheuen, wie
eine Mutter für ihr Kind. Aber das Alles that er, nicht weil es
freundlich, ſondern weil es — zweckmäßig war. Er that es, wie
die Alpenroſe blüht oder die Erdbeere reift, auch an Orten, wo kein
Menſch ihrer genießt. Moorfeld fühlte ſich kaum Gegenſtand davon.
Denn ein andermal konnte Moorfeld mit ihm einen Ritt machen, ver¬
tieft in die warme begeiſterte Ausführung irgend eines Lieblings¬
gedankens — ihn treulich anzuhören wäre nur der allergewöhnlichſte
Gemüthsinſtinct geweſen. Aber Anhorſt war im Stande, mitten in
ſolchen Ergießungen den nächſtbeſten Begegnenden anzureden: was das
Buſhel Weizen in Cleveland mache, und ob es wahr ſei, daß Mr.
Youatt's Durham-Kuh zu Petersburg eben ſo gut milche, als Mr.
Berry's Ayrſhire-Kuh zu Neu-Alexander. Daß man aus freund¬
ſchaftlicher Aufmerkſamkeit die ökonomiſche auch einmal opfern könne,
ſchien nicht in der Begriffsſphäre dieſes ſtreng geſchulten Mannes zu
liegen. Moorfeld achtete ihn deswegen nicht geringer. Er fühlte,
22*[328] daß jede Empfindlichkeit hier eine krankhafte wäre, und unterſchied ſehr
gewiſſenhaft, wo ſeine Bildungsariſtokratie berechtigt ſei und wo nicht.
Aber freilich konnte er nicht umhin, — wenn nicht zwiſchen ſich und
Anhorſt, — doch zwiſchen Europa und Amerika bei ſolchen Gelegen¬
heiten Vergleiche zu machen und ſich zu fragen: warum hat dieſes
Land den Ruf, daß es ſich leichter und freier darin leben läßt, als
in der alten Welt, wo der Bauer nicht den hundertſten Theil jener
Anſtelligkeit bedarf, wie der amerikaniſche Farmer.“ Und er bedachte
bei dieſem Vergleiche, wie charakteriſtiſch er ſich ſelbſt in den beider¬
ſeitigen Redensarten ausdrücke, denn der Amerikaner ſagt „ſein Leben
machen;“ der Europäer aber „ſein Glück machen.“
Ueber ſeine Blockhütte hinaus wies die ökonomiſche Magnetnadel
vor allem Andern nach Neu-Lisbon. Dort war der Pol für den Land¬
verkehr ſeines „Townſhips“. Das ſociale Terrain dieſer Stadt nahm
ſomit den nächſten Rang unter den Gegenſtänden ſeines Intereſſes in
Anſpruch.
Leider lag dieſes Element in bodenloſeſter Trübheit. Die Zuſtände
von Neu-Lisbon gehörten zu jenen ſittlichen Erſcheinungen, welche man
nach Jahren nicht durchſchauen lernt, aber auf den erſten Augenblick
erräth. Zweideutig iſt der rechte Ausdruck für das Coſtüm ſolcher
Myſterien.
So liefen z. B. alle Fäden, denen Moorfeld nach einer greiflichen
Autorität zu Neu-Lisbon nachging, in dem Kramladen des daſigen
Storekeepers, Mr. Clahane, zuſammen, und gruppirten ſich um Fäſſer
voll Schmierſeife, Butter, Schweineſchmalz, Whisky, Syrup, Zucker,
Kaffee, Mehl, um Haufen von Stiefeln und Schuhen, Röcken und
Beinkleidern, Mützen, Umſchlagtüchern, Sätteln, Zäumen, Eiſen- und
Blechwaaren, und — um eine ſchmutzig abgegriffene Brieftaſche. Dieſe
Brieftaſche war der eigentliche Dämon des Orts. Sie war der Sitz
jener geheimnißvollen Kraft, welche in Afrika Fetiſch, in Amerika
Humbug heißt. Was ſie enthielt wußte Niemand. Sie enthielt eine
lebendige Spinne. Das Netz dieſer Spinne war nichts weniger als Neu-
Lisbon ſelbſt, die Grundfäden dieſes Netzes waren vielleicht angeknüpft
in Neuyork, in Baltimore, in Philadelphia, — wer weiß es? wer hat
der Organiſation der amerikaniſchen Landjobberei je auf den Grund ge¬
blickt? Wer kann ſagen, daß Mr. Clahane von der geheimen Polizei der
[329] Landſpeculation war und halb Lisbon die Baugefangenen, die er auf
die Feſtung gebracht? Man müßte dieſe Brieftaſche eingeſehen haben.
Daß eine Stadt auf ſo ungeſundem Platze nicht mit rechten Dingen
zugehe, hatte Moorfeld allerdings ſchon bei ihrem erſten Anblicke
herausgefühlt. Das zweite Räthſel blieb nur noch, wie es zuging,
daß ſie überhaupt im Uebel verharrte und nicht weiter wanderte.
Dieſes Räthſel lag ſchon in einem durchſichtigeren Helldunkel. Natürlich
führte es ſich ebenfalls wieder auf Mr. Clahane zurück. Mr. Clahane
war Storekeeper, d. h. er verſah ſeine ländlichen Mitbürger mit den
Producten der Induſtrie und nahm an Zahlungs Statt ihre Natur¬
producte dafür. Da fügte es nun ein merkwürdiges Schickſal, daß
die Natur ſtets im Rückſtande blieb gegen die Waarenwerthe des
Mr. Clahane. Der hieſigen Natur mochte das allerdings nicht ſchwer
fallen. Wer ſich aber vom Schuldbuche des Storekeepers losgemacht,
der brachte es wenigſtens zu keinem Baarerſparniß, um den rebelliſchen
Gedanken des Auszuges zu faſſen. Konnte aber Mr. Clahane durch¬
aus nicht umhin, auch einmal ein baares Stück Geld herauszugeben,
ſo zahlte er entweder in Banknoten irgend einer brüchigen Bank, oder
er ſpeculirte auf irgend eine ſchwache Seite ſeines von der Paſſiva
zur Activa abgefallenen Kunden, und Tauſend gegen Eins war zu
wetten, daß in den nächſten Tagen hier ein Stallion aus Kentucky,
dort ein Uhrenhändler aus Connecticut herbeigeſchneit kam, und in ei¬
nem feurigen Vollblutpferd, oder einer buntlackirten Stutzuhr das
fatale Baar-Geld, den Hebel der Unabhängigkeit, wieder hinweg¬
manövrirt wurde.
Nächſt dieſem Würdigen war es ein Hochwürdiger und ein Ehr¬
würdiger, welche ſich in die Herrſchaft Neu-Lisbons theilten. Die Be¬
völkerung von mehreren hundert Seelen beſtand nämlich aus zwei
Confeſſionen: Katholiken und Methodiſten. Der „Pater“ der Erſten
und der „Reverend“ der Zweiten trübten nun weiterhin die trüben
Verhältniſſe dieſer Stadtſchaft. Die Herren bekämpften ſich — wir
würden ſagen auf Leben und Tod, wenn die Redensart nicht zu euro¬
päiſch wäre. Aber der Amerikaner bekämpft ſich nur auf Leben allein.
Die beiden Pfaffen gingen nicht auf ihre gegenſeitige Vernichtung,
ſondern Ueberbietung und Steigerung aus. So hatte der katholiſche
ſein Gotteshaus erſt kürzlich in einem Style aufgebaut, der es zum
[330] dominirendſten Gebäude von Neu-Lisbon machte. Die „Kathedrale“
war freilich nur aus Schindeln und Latten zuſammengenagelt, aber
ihre gothiſche Form imponirte höchlich, und ihr Umfang hätte hundert
Lisboner Gemeinden aufnehmen können. Nebenbei, aber ganz im
Vertrauen, wollen wir verrathen, daß Mr. Clahane das Geld dazu
vorgeſchoſſen. Ließ ſich doch nun in den Zeitungen aller Seehäfen
von dem „Dombau“ zu Neu-Lisbon trompeten! ließen ſich doch die
Abbildungen von Neu-Lisbon jetzt mit der prächtigen Anſicht der
Kathedrale bereichern! und ob dieſe ſpaniſche Fliege von Quadern
oder Brettern war, lief für die Landjobberei auf eins hinaus. Die
Lithographie verſtummte für beides, daß aber der Zeichner mit einer
ſchätzbaren Plumpheit und Härte ſeiner Striche viel näher dem Stein¬
als Holzcharakter kommen würde, ſtand von ſeiner amerikaniſchen Kunſt¬
ſinnigkeit ganz von ſelbſt zu erwarten. Dieſer Dom-Humbug war erſt
im laufenden Sommer in Scene geſetzt worden, und der methodiſtiſche
Humbuger rüſtete ſich nun gleich umgehend darauf zu antworten. Er
wollte nach der Ernte einen Waldgottesdienſt, ein ſogenanntes camp¬
meeting, vom Stapel laſſen. Zu ſolchen Monſtre-Andachten ſtrömen
die Confeſſionellen auf hundert und mehr Meilen im Umkreis zu¬
ſammen und gelingt es, einen Gaſtprediger von Ruf dafür heran¬
zuziehen, ſo hat der Ortsregiſſeur mit dieſem Kaſſenſtück oft einen
bleibenden Sieg errungen. Nebenbei, aber ganz im Vertrauen, wollen
wir verrathen, daß gleichfalls Mr. Clahane es war, welcher dem Re¬
verend zuerſt dieſen glücklichen Gedanken ſufflirt hatte. Bei einem
ſolchen Volksauflauf mußte nämlich nicht nur der methodiſtiſche Him¬
mel, ſondern auch der irdiſche Storekeeper ſeinen „Pile“ machen; das
war klar.
Daß Moorfeld nun zu dieſen Ortsautoritäten kein Verhältniß haben
könne, ſtand ſo ziemlich in der erſten Stunde feſt. Die beiden Pfaffen
verketzerten ihn gleichzeitig. Der Methodiſt haßte ihn als einen „Pa¬
piſten“ und der Katholik verſchrie ihn gar als „Atheiſten“, weil Moor¬
feld als neu ankommender „Sohn der Kirche“ verſäumt hatte, ihn
zum Thee auf ſeinen Farm zu bitten, was des Paters erſter Gedanke,
aber Moorfeld's allerletzter war.
Auch von Mr. Clahane, ſagte Anhorſt, haben wir wenig Gutes
zu erwarten. Meine Marktfahrt an die Seen wird ihm als Con¬
[331] currenz erſcheinen, denn er hat im Productenhandel ſein Schäfchen
ſonſt ziemlich allein geſchoren. Gut, wir werden Feinde haben, ant¬
wortete Moorfeld.
Ueber Lisbon hinaus verengerte ſich der ſociale Horizont jener ein¬
ſamen Gegend. Die übrigen Waldnachbarn Moorfeld's waren es nur
ſehr relativ, denn der nächſte lag noch immer zehn Meilen fern. Wir
werden nicht Urſache haben, Moorfeld's Runde durch dieſelben auf jedem
Schritte zu begleiten, da weder der rohe Styl dieſer culturloſen Far¬
men, noch das ſtumpfe Menſchenthum ihrer Inhaber ihm irgend ein
nennenswerthes Intereſſe abnöthigt. Doch wollen wir einzelne ſeiner
Beſuche nicht mit Stillſchweigen übergehen.
Gleich den erſten können wir mit ſeinen eigenen Worten nach ei¬
nem Briefe an Benthal erzählen. Noch war unſer neuer Anſiedler
nicht dazu gekommen, die Geſchichte ſeines Ankaufs, die Charakteriſtik
von Neu-Lisbon, von Anhorſt u. ſ. w. zu Papier zu bringen, als
er ſich eines Tages hinſetzte, und folgende Zeilen niederſchrieb:
Eine kleine Liebſchaft! daß mir aber Möwe ja nicht eiferſüchtig
wird! Anhorſt war nach Neu-Lisbon geritten in Beſorgung einiger
Allotria zu ſeiner Marktfahrt. Ich ſaß in meinem Blockpalaſt allein,
ſpielte Violine, concipirte in Gedanken ein paar rückſtändige Briefe
an Dich, welche dem gegenwärtigen vorzudatiren ſind und, will's Gott,
nächſtens auch dran ſollen. Aber noch binden ſich meine Lebensgeiſter
ſchwer an's Haus, ich warf Violine und Concepte bald hinter mich,
und trabte auf ein paar Meilen in's Freie hinaus. Ohne meinen
Stallmeiſter ſollt' ich's freilich bleiben laſſen, meine wilde Grafſchaft
zu inſpiciren; das Ländchen hat ſo wenig Weg und Steg als der
blaue Himmel, oder das grüne Meer. Es ging mir auch darnach.
Denn kaum hatt' ich den Platanen und den Fichten, den Eichen,
Gummi- und Eiſenholzbäumen ꝛc. ihren ſechstägigen Herrn und
Meiſter in verſchiedenen Façaden gezeigt, als ich mit meinem Cäſar
vollkommen im Irren trieb. Es ging wie mit einem Zauber zu, daß
ich mich plötzlich in wildfremden Bezirken ſah. Ich war einem Bache
gefolgt, welchen ich lange für meinen Bach hielt, denn es iſt merk¬
würdig wie gleich ſich hier alle Naturanſichten ſind. Die ſtille Quell¬
rinne führte mich aber allmälig tiefer in das Geholz anſtatt auf meine
Boccage heraus; ich ſetzte ein paarmal über, je nachdem mir dieſer
[332] Uferſaum oder jener wegſamer ſchien, und als ich endlich meinen Irr¬
thum einſah und dem Bach entlang wieder zurückkehren wollte, ſchlug
ich eine Nebenader deſſelben ein, da der Hauptarm, von jenſeits ge¬
ſehen, unter Schilf- und Sumpfgeſtripp faſt verſchwand. Dieſer Ab¬
weg führte mich nun gänzlich in's Oede. Ein unermeßliches Wald¬
labyrinth verrammelte mir in jeder Richtung den Weg. Stamm an
Stamm ſah ich nirgend zehn Schritte tief, es war ein Meer von
Einſamkeit. Unter dieſen Umſtänden wäre ich froh geweſen, nicht
meinen, ſondern nur irgend einen Farm zu erreichen, aber nicht die
leiſeſte Hieroglyphe einer menſchlichen Nähe war rings zu entziffern.
Die Merkmale, die den geſchulten Hinterwäldler auf ſeinem chaotiſchen
Terrain leiten, waren mir als Neuling natürlich noch fremd, meinen
gelehrten Apparat aber, Taſchencompaß und topographiſche Karte des
County, hatte ich zu Hauſe liegen laſſen. Kurz, das Abenteuer war
mehr unbehaglich, als romantiſch, ich kreuzte ſtundenlang hin und her,
und ſchon fing ich zu ſorgen an.
Auf einmal erfreute mein Ohr die Stimme eines lebendigen Weſens
und mein Auge erblickte ein kleines rothes Röckchen. Es war ein
Kind, welches Hühner aus dem Walddickicht zu locken ſchien. Voll
Freude rief ich das Mädchen an, welches Roß und Reiter nicht ſobald
gewahr wurde, als es emſig die Flucht ergriff. Mir aber war der
Fund zu koſtbar. Und mußte ich mir meine Wegweiſerin erſt erjagen,
ſo bebte ich vor dem kleinen Sabinerinnenraub auch nicht zurück. Ich
ſprang vom Pferde, das hier nicht gut fortkam, und verfolgte das
rothe Röckchen mit lieblichen Worten und langen Schritten. Letztere
waren glücklicher als erſtere, denn bald ergriff ich mein kleines ſcheues
Waldfräulein in der Höhlung eines kurzen und dicken Papawſtammes,
wohin ſie zuletzt — für das Auge gar zierlich — ihre Zuflucht ge¬
nommen. Sie ſah wirklich wie die Seele des Baumes aus, ſo zart
und geiſtig ſtand ſie in dem rauhen Rahmen. Es war ein Bild wie
im Kirchenſtyl gemalt. Ihr Köpfchen kein muthwilliges Apfelrund
mit klugem Stutznäschen und braunen Rehaugen — nein, ein ernſt¬
haftes, ehrbares Oval, mit edel gezogener, nachdenklicher Naſe, großem,
waſſerblauem Blicke, der Teint weiß, die Ringellocken gelb wie der
Mondſchein und ein langes ſchweres Gehänge. Kurz, ein Charakter¬
bild echten germaniſchen Magdthums. Ich redete ſie auch ſofort
[333] deutſch an, und hatte richtig gerathen. Das erſchrockene Kind zeigte
Spuren von Zutrauen. Warum ſie mich geflohen, und ob ich denn
wie ein Räuber ausſehe? Sie rückte etwas ſcheu zur Seite, hob
bedächtig ihr blaues Auge zu mir auf und ſagte: ich ſähe aus
wie ein Herr. — Was ein Herr Schlimmes ſei? ich mußte es wieder¬
holt fragen. Zaudernd antwortete ſie: Der Vater ſagt — aber mehr
war ihr nicht abzugewinnen. Sie legte ihren Arm vor die Augen
und ſagte: ich ſag's nicht! Ich ſchloß das keuſche Kind in meine Arme
und verſucht' es auch nicht weiter, auf die reinen, kindlichen Lippen
ein Schmähwort heraufzubeſchwören. Ich fragte nach ihrer Familie.
Sie war das einzige Kind eines deutſchen Farmers in der Nähe, eines
ausgewanderten Landmanns vom Niederrhein. Das erklärte mir frei¬
lich, was der Vater gegen die Herren hatte. Leider hat man das
Landvolk gewöhnt, im ſtädtiſchen Rock die ſummariſche Quelle ſeiner
Uebel zu ſehen. Deßungeachtet hörte ich mit Verwunderung, daß ſie
ein Bauernkind ſei. Ich faßte ſogleich den höchſten Begriff von der
Mutter; — es mußte eine mütterliche Mutter ſein nach der muſter¬
haften Art, wie ſie das Aeußere ihres Kindes hielt. Ihr Haar war
offenbar ſchlicht, und die ſchönen langen Locken nur ein Kunſtwerk der
Zärtlichkeit. Ihr weißes Leibchen, ihr rothes Sergeröckchen, die Schnur
von Glasperlen an ihrem Halſe — Alles ſo ſchmuck, ſo inſpirirt!
möchte ich ſagen. — Was ſie hier ſchaffe? Sie ſagte, ſie ſei aus¬
gegangen, nach Eiern zu ſuchen, indeß wie immer vergeblich, denn —
belehrte ſie mich — die Hinkel kämen zu ihrer Zeit wohl mit einem
Schwarm Küchlein aus dem Walddickicht hervor, aber die Eier ließen
ſie ſich ſelten ablauern. Sie habe ſchon den ganzen Vormittag ihre
Noth mit dieſer Aufgabe gehabt. Das Alles ſprach ſie im reinſten
Hochdeutſch, indem ſie ihre Ehre darein zu ſetzen ſchien, das Platt
ſorgfältig zu vermeiden, das ihr ohne Zweifel mundgerechter war.
Auch bewegte ſich ihre Zunge etwas ſchwer dabei, da das Zungenband
ein wenig länger als normal. Ihre Rede bekam dadurch etwas Be¬
dächtiges, Abgemeſſenes, das ihr ungemein wohl ſtand. Es ſtimmte
wunderbar zu ihrem Charakter von Ernſt und Zurückhaltung.
Das nun war meine Erlöſerin aus den Wirren dieſer Waldfahrt.
Wir ließen die Eier Eier ſein und machten uns nach Annettens
Heimweſen auf. Ich nahm die Kleine vor mich auf's Pferd, und ſie gab
[334] mir den Weg an. So kamen wir bald aus dem Walde. In Kurzem
lag Vater Ermar's Hofſtelle vor uns.
Der Hufſchlag lockte ſchon von Weitem die Eltern vor das Haus.
Sie ſahen verwundert ihr Kind zu Pferd ankommen, das zu Fuß
ausgegangen war.
Ich gab kurz meine einfachen Erklärungen.
Ich kann nicht ſagen, daß ich im erſten Augenblicke beſonders gaſt¬
lich angeſehen war. Der Deutſche in Amerika hat immer etwas —
Verſchämtes oder Abſtoßendes, wenn er auf ſeinem einſamen Hof
überraſcht wird. Und Weſtphälier ſind ſchon von ſelbſt nicht die in¬
finuanteſten Menſchen.
Der Mann ſah mich aus harten und ſcharfen Zügen, wie aus
einer eiſernen Maske an. Er war ſchlank und hoch gewachſen — eine
lebendige Lanze. Seine Hakennaſe eine wahre heraldiſche Siegelprobe
von Energie und Charakter, ſein Blauauge treu, wie der ſicherſte
Ankergrund. Die Mutter eine blaſſe, reine Frau, eine Erſcheinung
wie ein Stück Damaſt. Ganz wie ich ſie gedacht. Sie war ohne
Zweifel eine Honoratiorentochter ihrer einſtigen Heimat. Der Vater
Teutoburg, die Mutter Bielefeld, würde dieſes weſtphäliſche Paar ein
neumodiſcher Jung-Deutſcher in ſeinem Ideen-Aſſonanzen-Etyl charak¬
teriſiren.
Die Frau wartete das Benehmen ihres Mannes ab und der Mann
mein eigenes. Beide empfingen mich eigentlich gar nicht; es mußte
ſich aus mir ſelbſt zeigen, „was für ein Vogel ich ſei”.
Ich ſprach natürlich von ihrem Kinde, der nächſten Veranlaſſung
dieſes Rendezvous, und erkundigte mich, wie es hier um die Schule
ſtehe. Dieſe praktiſche Frage ſchien den Nagel auf den Kopf zu treffen.
Ich konnte ſogleich ſehen, daß man damit zufrieden war. Vor Allem
ſeufzte die Mutter lebhaft und antwortete: das ſei allerdings traurig.
Eine deutſche Schule beſtände nicht in der Gegend und zu den Engel¬
ländern ſchicke man ſeine deutſchen Kinder gar zu ſchwer, ſie lernten
nur ihre eigenen Eltern verunehren.
Ich erbot mich ſofort zu Annettens Lehrer.
Die Frau ſah ihren Mann an und der Mann hatte offenbar was
gehört, „was ſich hören ließ”. Ob ich gut lutheriſch ſei? war ſeine
erſte Antwort darauf.
[335]
Doctor Luther hat auch für mich gelebt, ſagte ich, nicht ohne einige
Verwirrung, und war froh, daß mir die Phraſe ſo durchging. Es
geſchieht Einem doch ganz eigen, wenn man mit ſeiner weitſchichtigen
Aufklärung ſo knapp-poſitiven Gemüthern confrontirt iſt! Verſchiedene
Stände ſind verſchiedene Jahrhunderte.
Wir verſtändigten uns. Ich habe nun eine Anſtellung im Ur¬
walde, — ich bin Erzieher. Wahrlich, das kleine Abenteuer freut
mich mehr, als es ſcheinen mag. Ich bin, wie du weißt, Kinderfreund.
Freilich hat mir eine geiſtreiche Frau einſt geſagt: dann ſind Sie
Menſchenfeind, und ich war wie vom Blitz gerührt, daß ſie Recht
hatte. Aber iſt's meine Schuld? Ich läugne es nicht, die Kinder
repräſentiren mir die Menſchheit reiner als die Erwachſenen. Der
muthige Knabe entartet zum ſervilen Unterthan, und wie ſelten findet
das Mädchen zwiſchen Prüderie und Koketterie den Begriff der Weib¬
lichkeit. Blüthen ſiod Bienenkoſt, ausgewachſene Frucht oft nicht
Schweinekoſt. Die Nähe dieſes Kindes ſoll mir wohl thun. Ich
nehm's wie ein glückliches Unterpfand von dem Gott, der mich hier¬
hergeführt.
Nächſt dieſer Bekanntſchaft, die unſern Freund ſo ſehr anmuthet,
wollen wir von ſeinen übrigen Nachbar-Beſuchen noch zwei erzählen,
zwar nicht ihrer Anmuth wegen, ſondern weil ſie ſonſt nicht ohne
einiges Intereſſe an ihm vorübergingen. Moorfeld machte ſie beide
Tags nach dem hier mitgetheilten Begegniß und diesmal in Anhorſt's
Begleitung.
Auf dem Wege ſagte Anhorſt: die Farm, die wir zunächſt beſuchen
werden, gehört einem Amerikaner, Miſter Thorne. Wir werden ihn
ſelbſt nicht zu Hauſe treffen — er iſt ſeit einigen Wochen auf
irgend ein Buſineß abweſend. Indeß lohnt es ſich doch den Gang
dahin. Er hat einen Knecht, oder „hand” wie man hier ſagt,
der eigentlich ein Tiſchler und zwar ein vorzüglicher deutſcher Ar¬
beiter iſt. Wenn Sie ſich einzumöbliren gedenken, ſo können Sie
mit dem Manne gleich Rückſprache darüber nehmen. Er iſt auf ſein
Handwerk ſehr zu empfehlen.
Dann ſitzt er wohl auch nicht aus Geſchmack am Landleben hier?
ſagte Moorfeld.
Gewiß nicht, antwortete Anhorſt.
[336]
Können Sie mir ſeine Geſchichte erzählen?
Geſchichte eben nicht, aber eine Anekdote daraus, den Dirty
job, der ihn zunächſt hieher verſchlug. Indeß, ſolche Sachen ſpielen
ja täglich und ſtündlich.
Laſſen Sie immer hören, forderte Moorfeld.
Und Anhorſt erzählte, indem der Weg eine reizloſe Gegend
durchmaß:
Es war drüben in Pennſylvanien im Mercer County, Stadt
Mercer. Dort hatte ein Mr. Baine für einen Kaufmann, ich weiß
nicht mehr welche Arbeit übernommen, einen Neubau oder Anbau
ſeines Ladens, gleichviel. Mr. Baine war aber mehrerſeits beſchäftigt,
und übertrug die Arbeit an Herrn Rapp, unſern deutſchen Tiſchler.
Man machte einen Accord auf 38⅜ Dollar, mit der Bedingung, daß
der Bau in einer beſtimmten Zeit, ſachgerecht und zur gänzlichen Zu¬
friedenheit des urſprünglichen Contrahenten, des Kaufmanns, zu vollen¬
den ſei. Das geſchah. Unſer Tiſchler plagte ſich zwanzig Tage lang
unter der heißeſten Auguſtſonne, und ſtellte ſein Werk her. Als er
zu Ende war, forderte er von Mr. Baine ſeine accordmäßigen 38⅜ Dol¬
lars. Mr. Baine beanſtandet die Bezahlung, da man ja erſt das
Urtheil des Kaufmanns, der eben verreist ſei, abzuwarten habe. Der
Kaufmann kommt, und unſer Rapp, der ſein Geld braucht, bittet jetzt
dieſen darum. Der Kaufmann natürlich wendet ihm einfach den Rücken:
er kenne ihn gar nicht, er habe nichts mit ihm zu thun. Der Tiſch¬
ler geht wieder zu Mr. Baine. Dieſer antwortet: er habe mit dem
Kaufmann Rückſprache genommen, und gehört, daß die Arbeit keines¬
wegs probehaltig ſei. Der Deutſche merkt jetzt, worauf es abgeſehen,
und nachdem er erſt noch zwiſchen dem Kaufmann und Mr. Baine ein
paar Wochen lang hin und wieder gelaufen, reicht er endlich ſeine Rech¬
nung klägeriſch ein. Zu Ende October erhält er den Termin. Mr. Baine
kam mit ſeinem Advocaten, der Kaufmann mit einem Comitee von
„ſachverſtändigen und unparteiiſchen“ Zimmerleuten. Der Deutſche
kam allein. Er mochte bei ſo klarem Rechte einen Advocaten für
überflüſſig halten, oder die Koſten ſchwer empfinden, genug, er ver¬
traute ſich. Die Verhandlung beginnt. Der Advocat der Gegenpartei
liest den Contract zwiſchen Mr. Baine und Herrn Rapp vor, hierauf
wird der Kaufmann vereidigt und befragt, ob er mit dem Bau zufrie¬
[337] den ſei? Durchaus nicht, antwortete er mit feſter Stimme. Nun
werden die ſachverſtändigen Zimmerleute vereidigt und befragt, was
das Reſultat ihrer Beſichtigung geweſen ſei? Sie antworteten, daß ſie
den Bau, in einer nicht ſachgerechten Art und Weiſe aufgerichtet ge¬
funden. Der Tiſchler ſtand wie vom Donner gerührt. Die Eides¬
ausſagen allein waren es ja, auf welchen ſeine Hoffnung geruht. Dieſe
Hoffnung verſagte ihm jetzt, er ſah mit Schrecken, daß ſolch ein Pro¬
ceß auch verloren werden könne. Thränen traten dem vierzigjährigen
Mann in's Auge. Aufgefordert, was er zu ſeiner Vertheidigung vor¬
zubringen habe, ſtotterte er mit muthloſer Stimme Folgendes: Ich habe
drei Jahre lang für den Stadtrath in Breslau gearbeitet, Fußböden
gelegt, Thüren, Fenſter und Geſimſe gemacht, aber nie nicht! iſt mir
ein Stück zurückgegeben, oder getadelt worden. Mr. Baine hat meiner
Arbeit täglich nachgeſehen, und mich oft aufgefordert, ich möchte es
nicht ſo genau nehmen, auf ein paar Fugen käme es ja nicht an, den
Fußboden zu hobeln verbot er mir förmlich. Zwanzig Tage habe ich
unter der ſiedigſten Sommerhitze geſchafft; ich frage bei Gott und
Welt, ob es erlaubt iſt, daß ſo etwas unbezahlt bleiben ſoll. Ich
frage jeden ehrlichen Tiſchler, der meine Arbeit verſteht, ob 38⅜ Dollars
ein übermäßiger Preis dafür iſt. Gewiß, das iſt es nicht, meine
Herren! Die Nennung des Preiſes veranlaßte die Richter nun auch
nach dem Contract zwiſchen Mr. Baine und dem Kaufmann zu fra¬
gen. Der Vertheidiger verwarf zuerſt dieſe Frage als ungehörig, gab
aber zuletzt, mit Zuſtimmung ſeiner Clienten, nach. Der Contract
wurde verleſen. Er lautete mit dem vorigen ganz gleich, nur in der
Ziffer ergab ſich eine kleine Verſchiedenheit. Nicht 38⅜, ſondern
200 Dollars hatte ſich Mr. Baine von dem Kaufmann bedungen!
Und der Kaufmann fügte noch hinzu, daß er dieſe Summe theils in
Geld, theils in Waaren, dem Mr. Baine bereits bezahlt. Dieſe Mit¬
theilung war eigentlich unbeſonnen, denn der Kaufmann bewies damit
augenſcheinlich, daß ihm die Arbeit ja doch gut genug geweſen, und
nicht, wie er dem Deutſchen gegenüber geſchworen: „durchaus nicht!“
Aber dieſer kleine faux pas wurde nicht mehr bemerkt, denn im gan¬
zen Gerichtsſaal machte ſich ein Unwille laut, — ein Unwille gegen
den Deutſchen. Er nämlich, nicht Mr. Baine war es, den jene Ent¬
deckung direct todt machte. Daß ſich ein Menſch für 38 Dollars zu
[338] einer Leiſtung hergibt, die ein Anderer auf 200 ſchätzt, das war dem
Amerikaner zu tief verächtlich. Der Amerikaner war wieder einmal
recht groß dem ſchoflen Deutſchen gegenüber. Und ſo fällte denn der
Richter, wie er auf Grund der beiden eidlichen Ausſagen wohl nicht
anders konnte, zuletzt den Urtheilsſpruch: daß der Deutſche ſeinen Con¬
tract nicht erfüllt habe; doch dürfte er allerdings der Großmuth des
Mr. Baine zu empfehlen ſein, welcher ihm wenigſtens einen Theil der
accordirten Summe möge zukommen laſſen. Keinen Cent ſoll er ha¬
ben, der verfluchte Dutchman! rief Mr. Baine, und damit war die
Sache zu Ende. Der Richter machte nur noch ſeine und des Con¬
ſtablers Rechnung, die er dem Deutſchen ſchnell, denn es war Eſſens¬
zeit, überreichte, und woran dieſer zehn Monate lang zu bezahlen hatte.
Von Allem entblößt, griff er vor ſechs Wochen zu, auf jenem Farm
ſich als Knecht zu vermiethen, — um's augenblickliche Brod.
Anhorſt hatte inzwiſchen Moorfeld's Pferd in's Auge gefaßt, und
machte jetzt einige Bemerkungen über die incorrecte Schule deſſelben.
Freimüthig antwortete Moorfeld: Nicht doch, nicht doch! Wir müſſen
ſolche Geſchichten künftig nur zu Fuß erzählen.
Schweigend erreichte das Paar die Farm. Man fand den Tiſch¬
ler Rapp beim Ausbeſſern des Fenzenzauns, den ein paar muthige
Bullen über Nacht eingeriſſen. Schon aus der Ferne hatte man ihn
die ſchweren Pflöcke einrammen gehört. Es war ein Mann von mitt¬
lerer Statur, die Haare ſchon hoch in dem Scheitel ausgefallen, der
Körper ein wenig gebeugt, und wie es ſchien nicht mehr allzu kräftig.
Sein Geſichtsausdruck war unbeholfene Argloſigkeit und ein tüchtiges,
aber beſchränktes Selbſtvertrauen. Moorfeld fand ganz das Charakter¬
bild aus jenem Proceſſe in ihm.
Er fing ein Geſpräch mit ihm an, das ſich, wie es in deutſcher
Zunge geführt ward, zunächſt auch auf deutſches Heimathsandenken
bezog. Die Augen des Tiſchlers leuchteten wie trunken, und aus
tiefſter Seele brach er in den Ausruf aus: Ach, hätten wir in Deutſch¬
land Gewerbfreiheit, es wäre das erſte Land in der Welt! Und die
politiſche Freiheit Amerika's iſt Euch gleichgiltig? ſagte Moorfeld,
— indeß mehr um die Begriffe des ſogenannten gemeinen Mannes
darüber kennen zu lernen, als in irgend einer directen Abſicht.
[339]
Politiſche Freiheit, erwiederte der Tiſchler — wo iſt ſie denn?
und blickte dabei um ſich, wie um ein verlorenes Taſchenmeſſer, —
ich ſeh nichts von. Ich war in Pittsburg als ſie im vorigen Jahr
den Präſidenten wählten, — Prügeln ſah ich wohl, aber keine Frei¬
heit. Da liefen ſie die eine Straße herauf mit ſchwarzen Cocarden
und die andere Straße mit rothen, und wie ſie an der City-Hall zuſam¬
men ſtießen, ging der Tanz an. Es war ein Crawall — Riot heißen
ſie's — von einigen tauſend Perſonen, und da wählten ſie den Prä¬
ſidenten, daß man bis in die Nacht die Piſtolen hörte, und das Blut lief
herum wie in einem Schlachthaus. Es ſind gar unbändige Menſchen
hier. Wo wir Deutſche einen Wortwechſel führen, da rennen ſie gleich
mit Meſſern und Schießgewehr gegen einander los. Immer geſchoſſen,
immer geſtochen! Wie das unvernünftige Vieh! Es iſt, als ob ſie gar
nichts im Schädel hätten, alles in der Fauſt. Nein, Gott weiß, ich
habe einen Ekel an den großen Städten. Aber auf dem Lande ſitzt die
Freiheit eben auch nicht zu dick. Bäume umhauen, Fenzen machen,
Blockhäuſer bauen, Wild ſchießen, Vieh hüthen, das iſt die erſte Frei¬
heit. Man ſieht die Leute wie Sclaven ſich rackern, wer nie in der
Näh war, hat keinen Begriff von. Dabei wohnen ſie halbe Tagreiſen
auseinander, und kommen ſie zuſammen, ſo verſteht oft keiner den an¬
dern nicht, die ganze Gemeind' iſt neunerlei Volk. Das macht ſich
dann irgend ein verlaufener Yankee prächtig zu Nutzen. Der thut in
ſolch einer Wüſtenei einen Storeladen auf, und damit iſt er König.
Vom Kleinſten bis zum Größten, Alles, was der Menſch braucht,
führt er in ſeinem Kram. Wer nicht fünfzig Meilen weit in die Stadt
fahren oder reiten will, der findet jeden Brettnagel bei ihm, und jede
Zwiebel nimmt er an Zahlungs Statt an. Die ganze Gemeind' ſteht
in Rechnung bei ihm, er ſpielt abſolut den Meiſter. Der hat dann
die Stimmen von ſelbſt. Ich möcht's Keinem rathen, und ihm die
Wahl verweigern. Dieſe Rackers ſind meiſtens auch Poſtmeiſter, und
ſo ein Kerl iſt im Stand und hält Einem die Briefe auf, wenn man
ihn nicht auf den Stimmzettel ſchreibt. Ja, ja, das thun ſie. Sie
ſind wie Räuber, ſie erlauben ſich Alles. Einem Amerikaner iſt jedes
Mittel recht. So bringen es die Leute von Amt zu Amt, die Gegend
wird volkreicher, es kommen oft die beſten Köpfe heran, aber der La¬
denhalter hat für ewige Zeiten das Prä. Hat er vielleicht noch einen
[340] Advocaten zum Schwager und einen Pfaffen zum Vetter, ſo fliegt er
auf, wie ein Luftballon. Es iſt merkwürdig, was ſich ſo ein Flötz
Ehren und Würden zu begehren traut. Dann prahlen ſie aber noch
in den Zeitungen: Wieder hat es Einer unſrer Mitbürger zum Gou¬
verneur eines Staates gebracht, der früher ein Grobſchmied oder ein
Schweinmetzger war, das iſt die Herrlichkeit eines freien Landes! Ach,
geht mir fort. Ich wollte, wir hätten Gewerbfreiheit in Deutſchland,
keinen Nagelſchnitzel gäb' ich für eure Herrlichkeiten!
Moorfeld hörte dieſe Rede mit Staunen an. Sein Blick fiel zum
zweitenmale, aber mit einem ganz andern Ausdruck auf den armen
Tiſchler. Er erfuhr hier von Neuem, wie fähig der Deutſche ſei, ob¬
jective Verhältniſſe groß und richtig zu beurtheilen, und wie wenig
Mangel an Weltklugheit in ſeinen perſönlichen Angelegenheiten einen
Schluß auf ſein übriges Denkvermögen zulaſſe. Eh er die Farm
verließ bat er den Tiſchler, er möge es ihm wiſſen laſſen, wenn der
Eigenthümer des Farm ihm etwa einen längeren Dienſtcontract an¬
bieten wolle. Der Tiſchler ſagte es unter frohen Ahnungen zu.
Nach dieſem Beſuche lenkte das Paar wieder dem Heimwege zu,
— Moorfeld fragte im Vorbeigehen: Wer kommt morgen dran?
Wären wir gemeldet, antwortete Anhorſt, ſo könnten wir noch
heute hinüber reiten; von hier ſind's nur fünf Meilen, und vom Hauſe
weg fünfzehn. Aber, es wird Abend, wir kämen direct zum Thee,
und ſind nicht gemeldet.
Moorfeld blickte groß. Thee? gemeldet? Mich dünkt, wir ſind
im Hinterwalde.
Wir, aber Lady Brubaker nicht, oder vielmehr Lady Morgan,
wie ſie ſich nach der hieſigen Gewohnheit, europäiſche Namengrößen
zu adoptiren, nennt.
Dieſe Lady Morgan iſt wohl eine betrübte Wittwe?
Doch nicht, Herr Doctor, ſie iſt die Frau eines deutſchen Narren,
Michael Braubacher, der ſich aber yankeeſirt hat und nun Brubaker
pronocirt wird. Ein trauriges Hausweſen! und aufrichtig geſagt, ich
ſelbſt ließ' es links liegen; es regt ſich die Galle, nur dran zu denken!
Der Mann hat bei einem Bankrott ihrer Familie in Newyork ſein
Vermögen eingebüßt, die Humbuger von Schwäger und Schwiegervater
treiben ſich nun in aller Welt herum, während er ſelbſt noch immer
[341] Mittel wußte, aus Deutſchland ein letztes Tauſend Thaler heraus¬
zuziehen, womit er dieſen Farm hier anlegte und wenigſtens Frau und
Kind redlich ernährt. Deßungeachtet! Wenn Sie den Ton hören
werden, der dort über Deutſch und Deutſchland herrſcht, ſo haben
Sie wahrlich zu würgen daran. Das Weib ſpricht von ihrer Natio¬
nalität als ob ſie in ihrem Newyorker Schaukelſtuhl alle Flotten der
Welt commandirte; die Nation ihres Mannes aber tritt ſie mit Füßen.
Leider! der deutſche Michel duldet's. Es iſt ſo weit gekommen, daß
ihn ſeine zwei Buben in ſeinem eigenen Hauſe old dutschman ſchimpfen
dürfen, und wie er nur den Mund öffnet, um von Deutſchland zu er¬
zählen, ſo lachen ſie ihm in's Geſicht. Die „Ma“ iſt Alles, der „Pa”
gar nichts. Mordio! Von allen dummen Streichen, die der Deutſche
in Amerika macht, iſt es ſicher der dummſte und unverzeihlichſte, eine
amerikaniſche Frau zu heirathen.
Anhorſt wunderte ſich, daß während dieſer Worte auf Moorfeld's
Lippen ein — Lächeln entſtanden. Es ſpielte freilich ein wenig in's Diabo¬
liſche, aber er hatte ſich auf ein zornvolles: Rechts um! gefaßt gemacht.
Moorfeld dagegen ſagte: Reiten wir hin!
Anhorſt blickte ihn fragend an, erwiederte aber nichts. Er fühlte, er
kannte ſeinen Mann noch viel zu wenig, um ſich über das, was Wider¬
ſpruch ſchien, oder nicht, ein Urtheil zu erlauben. Hatte er doch
das Seinige gethan! —
Die Wanderer trabten friſch zu und erreichten Braubacher's Farm
noch im vollen Tageslichte. Es war ein kahles Gehöft, ganz im lieb¬
loſen Yankeeſtyl. Keine lebendige Feldhecke, kein Baum vor dem
Hauſe, keine Blume am Fenſter, nichts, was den ſchönen Naturſinn
eines Deutſchen verrieth. Sie traten ein. Die Hütte war noch roh
genug und durfte vielleicht nur darum nicht mehr Blockhaus heißen,
well ſie zwei Wohnräume enthielt. Und einer davon nannte ſich
auch richtig „Parlour”.
Die Ankömmlinge waren ſo glücklich, Miſter und Miſtreß zu Hauſe
zu treffen. Nach den erſten Begrüßungsformeln führte Anhorſt, auf
einen Wink Moorfeld's, den Miſter zu einer landwirthſchaftlichen Um¬
ſchau vor das Haus und Moorfeld blieb mit der Miſtreß allein. Die
Hinterwäldler-Hausfrau wiegte ſich in ihrem Schaukelſtuhl und —
garnirte ein Bonnet.
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 23[342]
Moorfeld lobte das Häubchen im eleganteſten Engliſch. Er zeich¬
nete der Lady Morgan ſogleich auf ein Pergamentblättchen ſeines
Notizbuches das Muſter eines Bonnets von Madame Daſſe in Paris
vor, welches kurz vor ſeiner Abreiſe nach Ohio den Ton der dies¬
jährigen Saiſon angegeben. Der Stoff glatter Tüll, erklärte er ſeine
Zeichnung, rechts eine Bauſche mit einigen Roſen, links zwei Mara¬
bouts an die Wange herabfallend, hinten eine weiße Atlasſchleife.
Der Fond recht tief am Scheitel zu tragen, mit einer Neigung gegen
die Stirn wäre es provinziell.
Die Lady Morgan maß ihren Gaſt mit erſtaunten Blicken. Aber
Moorfeld beherrſchte ſeine Miene vollkommen. Die Dame merkte
nichts und war ehrlich genug zu ſeufzen, das reizende Modenbild
werde ſich in dieſer „verdammten Wildniß“ leider nicht wohl präſen¬
tiren laſſen. Moorfeld ſeufzte mit. Er heftete ſein Auge mit einem
bedeutungsvollen Ausdruck auf die arme Leidende, und warf, gleichſam
vom Mitgefühl abgepreßt, das Wort hin: Es könnte in Kurzem ſich
Vieles ändern in dieſer Wildniß. Mrs. Brubacker blickte aufmerkſam.
Es iſt wahr, es werden neueſter Zeit ſtarke Landkäufe hier gemacht,
ſagte ſie, zweifelhaft was ſie eigentlich zu ſagen habe. Mein Ankauf
iſt nicht der Rede werth, antwortete Moorfeld, ohne Umſtände das
Wort auf ſich beziehend, und mit der vornehmſten Gleichgiltigkeit. Aber
für eine Probe, fuhr er fort, bedurfte es einſtweilen nicht mehr. —
Für eine Probe? Von welcher Probe ſprechen Sie, Sir? fragte Mrs.
Brubacker, indem ſie anfing ganz ſo geſpannt zu werden, wie Moor¬
feld beabſichtigte. Moorfeld ſchien zerſtreut und tändelte mit dem
Bonnet. Wie hübſch ſich das in einem elegant decorirten Salon,
unter ſtrahlenden Girandolen und Candelabern, zur Tanzmuſik eines
guten deutſchen Orcheſters ausnehmen wird! fantaſirte er wie im
Traume vor ſich hin. Die Farmersfrau machte ungeduldige Bewegun¬
gen. Ihr Geiſt iſt bei deutſchen Geigen und Flöten, mein Herr! ſagte
ſie empfindlich, aber doch nicht ohne ahnungsvolle Aufregung. Ah,
Madame, Sie ſind nicht für den Urwald geboren! fuhr Moorfeld
plötzlich auf und ſah ſeine Wirthin mit jener Dreiſtigkeit an, die den
Cavalier als Galan der Bürgersfrau auszuzeichnen pflegt. Die New¬
yorker Kaufmannstochter hatte darüber auch, wenn nicht ein deutliches
Gefühl, doch eine dunkle Ahnung und verſuchte eine Miene aus den
[343] beſten Tagen ihrer Impertinenz. Aber ihre Eitelkeit war bereits er¬
regt; ſie hütete ſich, mit dem merkwürdigen Farmer-Galanthomme zu
brechen. Moorfeld ſah faſt mit Augen, wie der kalte Stolz und die
heiße Neugierde in ihrem Innern gegen einander ziſchten.
Was ich da von Flöten und Geigen fantaſirte, rückte er ver¬
traulich heraus, iſt nicht ganz ohne. Wenn Sie mich nicht verrathen,
Madame, ſo will ich Ihnen ein Geheimniß ausplaudern. Geheimniß
eigentlich nicht. Es wird bald genug Stoff der Tagespreſſe ſein.
Aber eine Dame von ſo gutem Geſchmack — das Getändel mit dem
Bonnet dauerte fort — iſt im Grunde näher dabei intereſſirt, als die
dumme Publiciſtik, die nicht überall ſo ungalant ſein ſoll, den Vor¬
tritt zu haben. Lady Morgan horchte hoch auf. Eine Geſellſchaft
deutſcher Edelleute — laſſen Sie mich das Wort nicht entgelten, Ver¬
ehrteſte, es klingt barbariſch, ohne Zweifel, aber wer das Unglück hat,
mit dem Adel behaftet zu ſein, leidet mindeſtens an einem unver¬
ſchuldeten Unglücke; er verdient weniger den Abſcheu als das Mitleid
aufgeklärter Republikaner. Ich bin nicht republikaniſch geſinnt, ſagte
Lady Morgan verlegen lächelnd. All men are equal, iſt nicht all
women. Frauen ſind dem Principe der Gleichheit nicht hold. — Mon
Dieu! rief Moorfeld, dann hört die ſchönere Hälfte der Union auf
Republik zu ſein; und Lady Morgan mußte ſich's ſchon gefallen laſſen,
eine leichte Artigkeit in einer boshaften Wendung gegen ihr vergöt¬
tertes Vaterland hinzunehmen. Moorfeld fuhr fort: Eine Geſellſchaft
deutſcher Edelleute, disguſtirt von der Juli-Revolution, gerieth auf
den Einfall, ſich ein Reduit, eine Art Adelscolonie in Amerika zu
gründen, wenn das erkrankte Jahrhundert einſt die Hahnemanniſche
Cur empfehlen ſollte, einer deutſchen Republik in eine amerikaniſche
zu entfliehen. In der Wahl des Orts wollten wir die alten Bour¬
geoisſtaaten des Oſtens wie die langweiligen Wüſteneien des Weſtens
gleichmäßig vermeiden und entſchieden uns zunächſt für Ohio. Doch,
um die ganze Wahrheit zu ſagen, geſtehe ich allerdings, daß noch
zwei Verſuche in zwei andern Staaten gemacht ſind. Mein Probekauf
iſt nur einer von dreien.
Wir Drei werden nun — das iſt der Plan — als gewöhnliche
Farmer wirthſchaften, und ohne alles Aufſehen unſere Lokalverhältniſſe
beobachten. Nach Jahresfriſt ſchicken wir dann unſere Berichte ein, und
23*[344] welcher am günſtigſten lautet, jenes Terrain wird erwählt. Bei einem
Ankauf von einer halben Million Acres mochten wir einige Vorſicht
nicht ganz verſchmähen. Uebrigens ſind wir nicht anſpruchsvoll. Wir
achten die fremde Nationalität, der wir uns anſchließen, und fordern
bloß, daß ſie uns wieder achte, das iſt unſre ganze Prätenſion. Der
Chef des Unternehmens, der gefürſtete Reichsgraf von Tettan, iſt der
liberalſte Ariſtokrat, der ſich denken läßt. Ein Muſter von einem lie¬
benswürdigen Gentleman. Sie haben vielleicht den General Lafayette
bei ſeinem letzten Beſuch in den Staaten geſehen? Ein ſo populärer,
leutſeliger Charakter iſt der Reichsgraf. Nur nicht ſo tricolor. Der
Graf legt ſeiner Geburt einen hohen Werth bei, aber er ſchätzt ſie
nicht als perſönliches Privilegium, ſondern als einen Theil der Na¬
tionalehre. In der That, Nationalſtolz iſt vielleicht die einzige Leiden¬
ſchaft des deutſchen Reichsgrafen. Darin geht er etwas weit, ich ge¬
ſtehe es. Europa iſt voll von Charakterzügen ſeines National-sports,
und er vermehrt ſie noch fortwährend. Ein Paar davon werden den
Mann kennzeichnen. Als vor drei Jahren in Haymarket der berühmte
arabiſche Hengſt Almanſor, Vater Abdallah, Mutter Mirza, zum Ver¬
kaufe ſtand, war die ganze haute volée d'Angleterre in einer Art
Aufregung. Das edle Thier ſah ſich vom Morgen bis zum Abend
von der Crême der Geſellſchaft umſchwärmt: Herzöge waren ſeine
Stallbedienten. Die Pairs des Landes überboten ſich in enormen
Summen, die Wetter überboten ſich über den Sieg der Bieter, kurz
Almanſor war der Löwe des Tags. Der Reichsgraf ging damals mit
Plänen anderer Art in London um, war auch eben erſt angekommen,
ich glaube, der ganze Lärm verhallte an ihm allein ſpurlos. Aber ein
müſſiger Reitknecht aus ſeinem Gefolge, der ſich auf eigene Hand
Haymarket anſah, fand Gefallen an Almanſor, und fragte in aller
Unſchuld nach dem Preis. Die anweſende Stallariſtokratie umwiehert
ihn mit Gelächter. Der Stallion klopft ihm hochgnädig auf die
Schulter: Guter Freund, dieſes Pferd bezahlt ein Deutſcher Cavalier
nicht! Der Reitknecht läßt ſich das nicht zweimal ſagen. Er tritt vor
den Grafen: Erlaucht, da draußen ſteht ein Gaul, den ein deutſcher
Cavalier nicht bezahlen kann. Der Graf horcht und hört was geſchehen.
Wie ein Blitz reitet er nach Haymarket. Er ſteht vor Almanſor.
Was koſtet der Araber? fragte er und zwar auf deutſch wie ſein
[345] Reitknecht. Der Stallion iſt betreten, beſinnt ſich aber, und hat die
Unverſchämtheit zu antworten: Fünfzig Tauſend Pfund, Sir. Der
Graf zeichnet — „präſentirt das meinem Intendanten“, ſagt er —
zieht eine Piſtole und ſchießt das Pferd nieder. „So füttert ein
deutſcher Cavalier engliſche Raben.“
Moorfeld weidete ſich an dem Schuß, der der erſchrockenen Lady
faſt perſönlich durch den Leib zu gehen ſchien; dann fuhr er, ſich
leicht auf dem Stuhle wiegend, zu plaudern fort: In eben ſo großem
Styl aber reizender für Frauenohren war jenes Impromptü, welchem
ich ſelbſt dieſen Winter in Paris beiwohnte. Unter den Feinen der
Feinſte, unter den Brüsken der Brüskeſte — der Graf iſt wie ſein
Boden. Zu einem Maskenballe der Herzogin von — Livadien, laſſen
Sie mich ſagen, denn die enthuſiaſtiſche Philhellenin hieß in der That
ſcherzweiſe ſo — hatte ein Kränzchen der fashionableſten Cavaliere
gewettet, wer unter ihnen in der koſtbarſten und originellſten Maske
erſcheinen würde. Der Reichsgraf ſetzte zum Beſten Griechenlands
Zwanzig Tauſend Francs, daß er die Wette gewinnen wolle. Er
erſchien aber im Habit eines — Hauſirers, trug das Tuch und die
Wäſche eines ſervirenden Laden-Commis, dazu nur noch am grünen
Bande ſeinen Tabulettkaſten von Ebenholz vor ſich an der Bruſt.
Mit dieſen Kaſten promenirte er ausrufend durch die Appartements —
Messieurs et Mesdames, achetez, achetez, s'il vous plait!
Objets de toilette, objets de fantaisie, bijoux, parfums, avancez,
Messieurs et Mesdames!
Lachend und gloſſirend drängten ſich die reizenden Damen des
Balls um die drollige Charaktermaske, der Graf theilte nach links und
rechts ſeine Quelquechoſerien aus, und die Waare fand um ſo ſchnelleren
Abgang, als man ſie ohne Zweifel für unächt hielt. Aber, — welch ein
angenehmes Staunen wogte, erſt flüſternd, dann laut und immer lauter,
durch die Säle, als man die Entdeckung machte, daß der blitzende
Inhalt der vielerlei Schächtelchen und Käſtchen, daß die Bonbonnièren
mit Türkiſſen oder Rubinen, die Ringe und Ohrringe, die damascir¬
ten Flacons mit ihren Steinen, die reichbeſetzten Damenuhren von
Breguet, die Colliers von Bot, mit großen Chryſopraſen geſchmückt,
die maſſiven antik gearbeiteten Armſpangen, die modernen Berliner
Eiſengürtel mit Sapphiren oder Amethyſten à jour gefaßt, kurz, daß
[346] der ganze Galanteriekram ächt war! In Wahrheit, Madame, der Graf
hat an jenem Abend einen Werth von Hundert Tauſend Francs
verſchenkt für Zwanzig Tauſend Francs zu Gunſten Griechenlands und
— für den Nachruf: Der artige deutſche Cavalier! — Wir wollen
nun ſehen, ſchloß Moorfeld aufſtehend, wo wir in Amerika die Stelle
finden, dies Treiben des luſtigen alten Europa möglichſt original¬
getreu fortzuſetzen. Aber, bitte, Madame, verrathen Sie mich nicht.
Wir möchten den Cynismus der Land-Jobberei nicht vor der Zeit
aufregen, und dann — kommt ja Alles noch, wie geſagt, auf mein
und meiner Collegen Referat an.
In dieſem Augenblicke kam Mr. Braubacher mit Anhorſt zurück,
hinter ihnen zwei ſchmalleibige Knaben mit matten Augen und bleichen
Geſichtern, verzärtelte Newyorker-Sprößlinge. Einer derſelben pflanzte
ſich ſogleich vor Moorfeld hin und rief: Ma, iſt das auch ein Dutch¬
man? Aber die Ma klapſte mit eigener feiner Hand den Frager auf
den Mund und zürnte ſehr ernſthaft: Unartiger! Wie oft habe ich
dir geſagt: German heißt ein Deutſcher, nicht Dutchman! Dann wandte
ſie ſich mit einem verzerrten Lächeln zu Moorfeld: Entſchuldigung,
Sir! deutſch — dutch — es liegt den Kindern ſo im Munde. —
Hat nichts zu ſagen, Madame; ich werde es an meiner Bemühung nicht
fehlen laſſen, den lieben Kleinen einen regelmäßigen deutſchen Sprach¬
unterricht zu verſchaffen. — O, ich wäre unendlich dankbar, Sir,
grinste Lady Morgan überſüß. Die Kinder aber ſtaunten ihre Ma,
Miſter Brubaker ſeine Miſtreß, Anhorſt ſeinen Moorfeld an, und
Moorfeld griff mit einer cavaliermäßigen tour de main nach ſeinem
Hut, und empfahl ſich nach allen Seiten im herzlichſten Einverſtändniß.
Unſer Paar hatte den Farm lange hinter ſich, als Anhorſt endlich
eine Art verſteinertes Schweigen brach:
Darf ich mir erlauben, Sir, Ihrer — wickedness meine ganze
Huldigung darzubringen?
Bitte! Ich habe der Gans bloß ein wenig Vogeldunſt geſtreut,
antwortete Moorfeld. Er erzählte ſeinen Einfall. Sie hat nun
ein Jahr lang Beſſerungsfriſt, ſagte er, und kommt der Reichsgraf
nicht, ſo kommt vielleicht doch die Karbatſche. Ihren Mann will ich
inzwiſchen auch noch ein wenig abrichten.
[347]
Anhorſt bezeigte ſich ungemein erfreut über das Gehörte. Vielleicht
gefiel ihm Moorfeld's Puff darum ſo ungewöhnlich, weil er nicht
bloß ein müſſiges Spiel des Witzes, ſondern eine praktiſche That mit
einem beſtimmten ſittlichen Zwecke war. Unter dieſem Geſichtspunkte
begriff er das Geiſtreiche leicht und lebhaft.
Es war das Erſtemal, auf dem abendlichen und theilweiſe nächt¬
lichen Nachhauſeritt, daß dieſe ſo ungleich gearteten Männer ſich beſſer
als je verſtanden. Jeder ſchien bei ſich ſelbſt gegen den Andern zu wider¬
rufen, daß er ausſchließlich Proſaiker oder ausſchließlich Schöngeiſt ſei.
Dieſe Meinung transpirirte mit einer warmen Ausſtrahlung durch ihr
Geſpräch. Anhorſt's und Moorfeld's Unterhaltung in dieſer Stunde
war von jener Art, welche dauernde Freundſchaften zu begründen
pflegt. So erreichten ſie ihren einſamen Waldwinkel.
Fünftes Kapitel.
Aber jetzt war auch der Tag für Anhorſt's Marktfahrt heran¬
gekommen. Allerorts begannen die Ernten und wenn Anhorſt die
Chance nicht verlieren wollte, ſo hatte er keinen Augenblick zu ver¬
ſäumen. Er brach auf. Ungern ſah Moorfeld ihn ſcheiden. Anhorſt
war offenbar, wenn auch langſam, geiſtig wieder aufgelebt, Moorfeld
dagegen meinte an praktiſchem Sinne ihm näher gerückt zu ſein. Es
ſchien ihm wie eine Sünde gegen Natur und Kunſt zugleich, den begin¬
nenden Fluß der Melodie jetzt mit einer Pauſe zu zerhacken. Es war
unſchön, es war widerſinnig. Moorfeld hatte faſt das Gefühl, als müßte
ſich hier etwas ſtrafen, als geſchähe den Mächten des Gemüthes Ge¬
walt durch die Mächte der Materie. Aber freilich war dieſes Gefühl
unausſprechlich. Wie ſollte Moorfeld die ahnungsvolle Spürkraft des
äſthetiſchen Sentiments in einen ſo rechtwinkeligen, unvermiſchten
Charakter wie Anhorſt hinübertragen? Er ſchämte ſich, die alte Me¬
lodie zu variiren: Bleibe bei mir, Max! und darauf lief ſeine Re¬
gung doch wohl allein hinaus. Es war faſt rührend, wie Anhorſt am
Vorabend ſeines Auszugs mit einem langen ſtarken Mann vor das
[348] Blockhaus gerückt kam, Moorfelden verſicherte, das ſei weit und breit
der zuverläſſigſte „Knecht“, den er auftreiben gekonnt, und nun treu¬
herzig überzeugt war, er habe ſeinen Remplaçant geſtellt! Da blieb
denn unſerm Freunde nichts weiter übrig, als dem braven Geſellen
glückliche Reiſe zu wünſchen und nur ſchüchtern hinzuzuſetzen, wenn er
etwa in Detroit ſchon guten Abſatz fände, ſo möge er für diesmal
nicht weiter ſchweifen und hübſch bald wieder heimkehren. Das ver¬
ſprach Anhorſt und ging.
Moorfeld ſtand jetzt in ſeiner Waldhütte allein. Es fehlte wenig,
daß die Schauer des erſten Momentes von Neuem über ihn her¬
fielen. Die nächſten Tage und Stunden brachten ihm ganz das
bodenloſe Gefühl der Fremde wieder zurück. Wie flüchtiger Goldſchaum
ging von den Dingen ſeiner Umgebung der Hauch der Gewohnheit
hinweg, woran er noch allzu zart gehaftet. Beſtürzt wurde Moorfeld
inne, daß er nicht mit Einem Ruck, wie er ſchon gewähnt, Herr ſeiner
Situation geworden: — nein! ſein Zuſtand war wie das Treiben in
einer Meerenge, und Anprall und Widerprall extremer Stimmungen
mußte noch lange hin und her zerren an ihm, bis ihm feſte Richtung
gewonnen war.
Wer freilich die äußere Lage Moorfeld's in dieſen Tagen betrach¬
tete, der hätte leicht in einen Spiegel der ſeeligſten Idylle zu ſchauen
geglaubt. Von dem Theater-Apparat des ſogenannten, angenehmen
Lebens“ fehlt wenig oder nichts. Eine elegante Doppelflinte, — ein
ſtattliches Reitpferd, — ein Waldrevier hinter dem Hauſe, in welchem
unſer Backwood-Baron nicht nur das Jagdrecht, ſondern — nach
der pfiffigen Verſion eines modernen Junker-Anwalts — ganz eigentlich
die Jagdpflicht hatte, denn ſein Wildſtand war vor Allem reich an
Eichhörnchen, welche, wie wir gehört, eine Landplage des amerika¬
niſchen Farmers ſind. An dieſer Jagdpflicht konnte unſer Held in
Amerika hier vollauf zum Ritter werden. Daneben konnte er mit
Cirkel und Winkelmaß in der Hand Baupläne entwerfen, Felder,
Gärten, Häuſer und Dörfer abmeſſen, Straßen bahnen, Parks ein¬
hegen, kurz das Bewußtſein des Grundbeſitzes in tauſend hübſchen
Faltenwürfen ſich umlegen und zwiſchen Project und Spiel angenehme
Halbträume träumen. Dürſtete er nach den Wonnen dichteriſchen
Schaffens — hing nicht das Abendlicht wie eine goldene Harfe dort
[349] auf dem Rieſenwipfel der Wheymouthtanne, dieſer Lurley der Pflanzen¬
welt, griffen nicht Morgennebel mit oſſianiſchen Geiſterarmen durch
das Gezack der windungsreichen Lebenseiche, ließ nicht der Mond an
weißen Birkenſtämmen ſein bleiches Silberlicht hängen, zog nicht ein
myſtiſches, wehmüthiges Elfengeflüſter durch die zitternden Grasreſpen
der Prairie, und ſprach nicht rings um ihn her die große freie Wild¬
niß das Wort aus, das ein fühlender Menſch nur nachzuſprechen
braucht, um langen Reihen von Geſchlechtern und Zeiten unvergeßlich
zu bleiben? Ja, die Scene ſtand. Aber wenn die gefangene Königin
ihre fühlende Kennedy auf Augenblicke bei Seite ſetzt, um nach Wind
und Wolken ihre Arme zu breiten, ſo eilte hier der Geſellſchafter von
Wind und Wolken, von Bäumen und Graswogen wieder und wieder
ans Schreibpult in die Arme eines Menſchen, ſelbſt eines abweſenden,
und aus dem Tiefſten heraus ſchrieb er an Benthal einſt das Wort
nieder: Ich bin nicht einſam hier, ſondern nullſam! —
In der That, ſo war es geworden. Moorfeld ſaß in ſeinem Ur¬
walde und ſein liebſtes Urwalds-Vergnügen war — ſein Schreiben
an Benthal! Es verging kein Tag, kaum eine Stunde, daß er nicht
ſchrieb. Eine Unzahl von Blättern und Blättchen datirt aus dieſer
verhältnißmäßig ſo kurzen Spanne Zeit. Wir können ſie unmöglich
ſo wie ſie liegen mittheilen: denn wer ſollte ſich nicht wiederholen,
wer, der ſo gährend und gierig in ſich hineinlebt, ſollte ein Gedächtniß
dafür haben können, was er geſchrieben, wie er's geſchrieben, wie oft
dieſelbe Welle an die nämliche Stelle zurückrollte? Und doch lebt
Moorfeld nach außen hin ein ſo ſpurloſes, ſtillſtehendes Leben jetzt,
daß wir, da es einen fortlaufenden Erzählungsfaden nicht zuläßt,
gerne in jene Blätter zurück greifen werden, um Figur und Farbe
dieſer Tage uns bildlich zu machen. Freilich wird dazu nur die
kleinſte Auswahl genügen, wenige werden die Dienſte aller thun,
und indem wir die äußere und innere Landſchaft unſeres Einſiedlers
nur an einzelnen Punkten beleuchten, wird Gemüth und Fantaſie es
nicht als Abbruch, ſondern als ſein Recht empfinden, die dazwiſchen¬
liegenden Parthien ſelbſtthätig zu beleben.
Vor Allem wollen wir Denen, welche im Handeln, nicht im
Empfinden Heil ſehen, Bericht davon geben, daß Moorfeld nicht in
„ſchöner Muße“ allein ſeinen Genuß ſuchte. Der Rothſchrei des
[350] Fiebers erſcholl jetzt im Lande, und unſer Held trug zwar einen adop¬
tirten Namen, doch ſein Dr. nicht umſonſt davor. Unaufgefordert bot er
Nahen und Fernen Hilfe. Leider werden wir belehrt, daß auch die
That des Thätigen nicht Zufriedenheit gibt, wo der Boden fehlt, das
Schöne ſchön zu empfangen.
Beginnen wir in ſeinen Aufzeichnungen unſre Leſe:
Es iſt Hochſommer, das ganze Land liegt im Fieber. Ich reite
weit und breit herum und bin, wie man ſagt, nützlich. Aber ich habe
keine Freude daran. Der Amerikaner verſteht den europäiſchen „Ret¬
tungsengel“ nicht. Er honorirt ihn mit ſeinen Dollars, und wenn's
der Engel ausſchlägt, ſo hält er ihn für einen Simpel. Oder es
kommen die giftigen Kannegießer und Mediſance-Pächter, die auch bei
der dünnſten Urwaldsbevölkerung in dieſem Claquen- und Cliquen¬
lande nicht fehlen, die ſtecken die Köpfe zuſammen und munkeln:
Was will der Kerl? gebt Acht, der will was. Er macht Partei
für die Dütchmens, er iſt ein Papiſt, er bringt die Cholera in's
Land und ähnlichen Unſinn. Und dann — hab' ich am Ende doch
die Arzneikunſt verlaſſen, weil ich Poet bin und der Anblick der lei¬
denden Materie den Geiſt zu Boden drückt, ſtatt ihn zu erheben.
Bin ich nach Amerika gegangen, um dunſtige Bettdecken aufzuheben
und belegte Zungen zu ſehen, — dieſelben Zungen, deren geübteſte
Muskelbewegung das „damn'dDutchman“ iſt? So komme ich oft
Abends nach Hauſe — mit einem langen Schatten-Queue von Me¬
lancholie hinter mir her, ich könnte zehn Schlemihls damit verſorgen
und bin am Ende ſelbſt einer.
Das iſt deutlich. Aber vollends ins Zerrbild gezogen fand Moor¬
feld den Werth ſeines guten Willens, wenn er auf demſelben Gebiete
frivolſtem und frevelhafteſtem Unwerth begegnete und die Affenliebe
amerikaniſcher National-Eitelkeit kein Hehl hatte, was für ein Prinzip
ſie hielt und begünſtigte. Wir leſen:
Am Krankenbette Mr. Gull's, des County-Clerks zu New Lisbon
traf ich heute mit einem wandernden Arzte zuſammen. Zur Zeit der
Fieber ſind nämlich die Schüler Aeskulap's hier Landes ſtark unterwegs,
indem ſie in dünn bevölkerten Strichen von Farm zu Farm, von Städt¬
[351] chen zu Städtchen ziehen und den geſteigerten Bedarf bei äußerſt unzu¬
reichender Local-Deckung durch das Syſtem der Ambulance befriedigen.
Gerechter Gott, was nennt ſich hier Arzt! Ich ſah einen Burſchen vor
mir mit einem Buſineß-Geſicht, wie man ſie, die Hand in der Hoſen¬
taſche, den Yankee-Doodle-Pfiff auf den Lippen, beim Wollballen, beim
Pferdehandel, bei der Mock-Auction, kurz in allen Branchen der Dollar¬
Macherei ſtereotyp findet. Ein Ausdruck von Leichtſinn und Unverſchämt¬
heit lag auf dieſem Geſichte, der mich ſchaudern machte. Die Art, wie
ſich der Menſch um den Zuſtand des Kranken erkundigte, verrieth mir,
daß er die mediciniſchen Kenntniſſe ungefähr ſo beſaß, wie ein Bücher¬
verleiher die Literatur-Kenntniß. Es waren leere Repräſentations-
Fragen, womit er ein Viertelſtündchen ausfüllte, um ſodann eine
exorbitante Doſis China zu verordnen, welches Medicament er aus
ſeiner mithabenden Apotheke in möglichſt großen Quantitäten gegen
möglichſt viele Dollars zu verabfolgen, offenbar für ſeinen Hauptberuf
hielt. Ich ſah dem Treiben in laienhafter Verwunderung zu. Noch
hatte ich keinen Begriff von dem ganzen Umfange der Schlechtigkeit,
deren Verkörperung vor mir ſtand. Beim Anblicke ſeiner Chinarinde,
die überdies zu der ſchlechteſten Sorte gehörte, bemerkte ich daher, —
bloß auf die Empfehlung und Ausbreitung des Guten bedacht — daß
ſich Amerika, wo dieſes Medicament eine ſo große Rolle ſpiele, mehr
und mehr den Gebrauch des Chinins aneignen ſollte. Es ſei frei¬
lich eine theure Arzenei, aber man erſpare dem Kranken die Ver¬
dauung vieler nutzloſer Stoffe, indem man die größere Maſſe der
Chinagabe auf das Volumen des eigentlich Wirkſamen reducire, auch
ſetze Chinin uns in den Stand, mit genau beſtimmbaren Gewichts¬
mengen auf den Körper zu wirken, während in demſelben Gewichte
der Chinarinde ſehr wechſelnde Mengen des wirkſamen Stoffes vor¬
handen ſeien. — Der Humbuger erblickte mit einiger Beſtürzung einen
Fachmann in ſeinem Bereich, faßte ſich aber ſogleich und antwortete
ſchnell: Ganz Ihrer Meinung, ganz Ihr Meinung, Herr Collega;
nichts über Chinin, ja wohl, Chinin, — good, very good! ganz
Ihrer Meinung. Aber, ſetzte er mit gedämpfter Stimme, mich an
das Fenſter ziehend, hinzu — verdammter Unſinn wär's, Miſter, für
mehr Geld weniger Arzenei zu bieten. Die Leute wollen das Maul
recht voll. Ich entzog mich kalt dieſer empörenden Vertraulichkeit und
[352] ſprach von der Würde der Therapie. Ueberdies, fuhr ich fort, —
denn meine Beobachtung des Kranken hatte mir inzwiſchen ſehr deut¬
liche diagnoſtiſche Reſultate geliefert, — überdies ſollte es ſcheinen, daß
hier vor allem Anderen Aderläſſe indicirt ſeien, welche bei der hohen
Expanſion des Blutes, den gewaltigen congeſtiven und entzündlichen
Affectionen, ſowie der bedeutenden Hirnerregung, deren Symptome wir
offenbar vor uns haben, jedenfalls der China vorauszugehen hätten,
wenn anders von einer rationellen Behandlung die Rede ſein ſollte. —
Gewiß, gewiß, antwortete der Aeskulap ſo raſch und heimlich, wie
zuvor, aber die Leute hier glauben, nur das Geben curire, nicht
das Nehmen. Und lauter ſetzte er in einem ganz andern Tone
hinzu: Ich habe über Blutentziehung meine eigenen Anſichten, mein
Herr. Blut iſt der Träger der Lebenskraft, wie wir wiſſen; das
Heilbeſtreben der Natur liegt vorzüglich im Blute, es äußert ſich
am kräftigſten und wirkſamſten durch dieſes. Mit welchen Waffen
ſollte die Natur den Krankheits-Dämon bekämpfen, wenn nicht mit
dem Blute? Das Blut iſt gewiſſermaßen das ganze active Ver¬
mögen der Natur; um dem Bankrott, d. h. dem Tode zu entgehen,
kann ſie die Paſſiva, d. h. die Krankheit nur allein aus der Blut¬
maſſe decken. Das iſt klar. Auch wiſſen wir ja, daß die neueren
Schriftſteller unſrer Wiſſenſchaft von der Theorie der Blutentziehung
mehr und mehr zurückkommen. — Mir ſtand der Verſtand ſtill. In
der Verlegenheit, daß Worte nicht Haſelſtöcke ſeien, fehlte mir
einen Augenblick lang das Wort. Einzig im Intereſſe des Kranken
verſchonte ich ihn mit einer Scene, die er verdiente, und beſchränkte
mich darauf, mit äußerſter Kälte zu antworten: Was immer der
Werth des Blutes ſei, es ſei zunächſt werth, daß der Heilkünſtler es
kennen lerne. Was neuere Schriftſteller über Aderläſſe in remittirenden
Fiebern ſagen, empfehle ich ihm nachzuleſen bei Shapter, bei Irvine und
Burnett, bei Esmarſch in Hufeland's Journal, Band ſechsundſiebenzig,
Heft ſechs, Bericht über die Marſch-Epidemien zu Eiderſtädt aus den
Jahren achtzehnhundert ſiebenundzwanzig bis neunundzwanzig, was hof¬
fentlich „neu“ heißen wird. Dieſe neueren Autoritäten hätten den lethalen
Verlauf des Fiebers nur durch Oeffnen der Adern verhindert, Burnett
ſelbſt durch die der Arteria temporalis. — Der Papagei plapperte
ſogleich, wie folgt: Arteria temporalis; ja, ja, ich kenne ſie wohl
[353] die Arteria temporalis. Aber ich rathe, mein Herr, die zeitliche (!!)
Arterie würde bald eine ewige ſein, wenn ich ſie öffnete. Darum
nenn' ich auch die Dinge beim rechten Namen und nicht lateiniſch.
Ich verſchmähe es, mein Herr, vor Laien lateiniſche Ausdrücke zu ge¬
brauchen, ſei's in Wörtern, oder in ganzen Phraſen; ich halte es für
unpaſſend, für gelehrtes Uebernehmen. Sonſt bediene ich mich wohl
auch dieſer Sprache der Wiſſenſchaft, und zwar ſo gut als Einer, aber
aufrichtig geſagt — nunquam opinavi, ut lingua latinum aliquot
est, quod maladum potest sanare.
Ich brauche Dir nicht zu ſagen, wie wir noch weiter aus einander
kamen, und wie ich meine Pflicht, Diebſtahl und Meuchelmord vom
Hauſe des Mr. Gull abzuhalten, zu erfüllen beſtrebt war. Es ge¬
lang mir nicht einmal. Frau, Töchter und ein Sohn ließen mich
nicht undeutlich merken, zu welcher Partei ſie ſtanden, denn der Ruf
des Doctors Meakhead ſei ja ein weltbekannter, und man habe längſt
gewünſcht, er möchte in hieſiger Gegend ſich bleibend niederlaſſen, was,
wenn auch vielleicht nicht ſo lucrativ für ihn, doch für die Wiſſen¬
ſchaft deſto wünſchenswerther ſei, denn bei einem ſtätigen home (eine
der Miſſes [erröthete]), könnte er mit mehr Bequemlichkeit als jetzt
„Lehrlinge“ annehmen und ſeine Kunſt weiter verbreiten.
Alſo dieſer Menſch wird noch „Lehrlinge“ annehmen! Nun, ich
bin ja ruhig. Denn viele Dinge können Einen hier verwirren und
in Widerſpruch ſetzen; aber der blanke einfache Todtſchlag iſt bis zur
Erquickung faßlich. Und ſiehe! jetzt weiß ich auch, warum die Ein¬
wanderung nach Amerika im Plane der Verſehung liegen muß. Ohne
ſie würden die Amerikaner innerhalb einer Generation
von ihren Aerzten ausgerottet ſein. Du kannſt mir dieſen
Satz keck nachſchreiben, wenn Du wieder über Amerika ſchreibſt. Sogar
durchſchoſſen, oder mit fetter Schrift. Ich verantworte ihn.
Wir finden es gewiß menſchlich, wenn Moorfeld den Beigeſchmack
der Betiſe, der unter dieſen Umſtänden ſeinen ärztlichen Tugend-
Uebungen beiwohnt, nicht beſeligend genug findet, um ihn — quand
même! zu ſuchen. Dieſe Art Thätigkeit war ihm verleidet. Er zieht
ſich wieder dumpf auf ſich ſelbſt zurück, oder widmet die beſſeren Kräfte
ſeines Herzens faſt ausſchließlich auf ſeine „Flucht nach Aegypten“.
[354]
So nenne ich nämlich — ſchreibt er — die kleine weſtphäliſche
Familie des Vaters Ermar. In der That, Annette iſt wie ein weib¬
liches Jeſus-Kindlein, ihre Eltern entfernen ſich nicht allzuſehr von
einem Joſeph- und Maria-Modell und auf der Flucht ſind ſie auch,
denn es liegt ein ſo elegiſcher, heimatsloſer Hauch über dieſem Hauſe
— Du ſollteſt dieſe Luft hier athmen! Man ſieht den Deutſchen
überhaupt nur in zwei Formen diesſeits des Oceans: entweder Rene¬
gaten-Fratze, hyper-yankeeſirt, oder —
Zeitloſe Herbſtwieſen-Blumen, auch unter dem fließendſten Sonnen¬
ſtrahl von der Ahnung durchſchauert: wir ſind der Vergänglichkeit
geweiht, wir gehören nicht in die Welt! Aus dieſer Flora ſind meine
Weſtphälier.
Der Mann hält an ſich, ſtockt und trotzt. So viel ich errathe,
hat er ſchwere Verluſte erlitten, iſt viel betrogen worden; aber keinen
Augenblick öffnet er den Mund zu klagen darüber. Nicht den Yan¬
kee's ſchreibt er's zu, ſich ſelbſt. Er fordert ohne Weiteres von ſich,
er hätte als Mann den „Bubenliſten“ gewachſen ſein ſollen. Daß
die Büberei ein großes ausgebildetes Syſtem, daß ſie „Induſtrie“ iſt,
darüber fehlt ihm jede Anſchauung. Er ſieht nur den einzelnen
Clerk, den einzelnen Mäkler. Mann gegen Mann, meint er, ſei
Alles gekommen. So liegt er offenbar noch gegenwärtig in den
Netzen der Blutſauger, ohne es zu wiſſen, ja, ohne es wiſſen zu
wollen. Sein Farm iſt hundert Acres groß, die er ſcheinbar zu einem
billigen Preis überkommen. Aber nur zehn davon ſind geklärtes
Land, die übrigen neunzig Waldboden. Denn das iſt einer jener un¬
zähligen Kunſtgriffe der Land-Jobberei, eine kleine Parcelle urbaren
Bodens nie appart zu verkaufen, ſondern ſtets mit einem großen Zu¬
ſchlag von Waldboden. Nach geklärten Parcellen aber geizt Jeder¬
mann, da das Klären ein furchtbares, Geſundheit-erſchütterndes und
bei verfehltem Erfolg oft die Exiſtenz einer ganzen Familie gefährdendes
Unternehmen iſt. So hat nun Ermar von ſeinen zehn urbaren Acres
nicht nur ſeinen Lebensunterhalt zu ziehen, ſondern auch die Zinſen
für die neunzig übrigen Acres aufzubringen, und der übliche Zinsfuß
iſt hier 12 bis 20 Procent! Sein Kaufcontract aber lautet ſo, daß
[355] er Theile des Grundſtückes nicht wiederverkaufen kann, bis das
Ganze bezahlt iſt, ſelbſt wenn ihm eben dazu der Erlös mehr als
reichlich verhülfe. Es bleibt ihm alſo nichts übrig, als die neunzig
Waldboden-Acres nach und nach abzuklären und aus ihrem Ertrag
den Kaufſchilling zu tilgen, wenn er ihn als Zins nicht zehn- oder
hundertfach inzwiſchen zahlen will. Das Klären geht aber ſo leicht
nicht ohne fremde Beihilfe, und dieſe unterliegt gleichfalls wieder den
Manövres der Landſpeculanten. Denn kaum iſt ein Knecht oder viel¬
mehr „hand“ auf ſolch eine Hofſtelle zugezogen, ſo währt es nicht
lange und irgend ein unſchuldiges Ding, das ein wandernder Hauſirer,
Arzt, ſogar Seelſorger zu ſein ſcheint, in Wahrheit aber ein Agent
der allgegenwärtigen Landſpeculation iſt, — ein ſolcher Emiſſär ſpricht
dann auf dem Hofe ein, nimmt den Knecht bei Seite, was er doch
für ein Thor ſei, auf dem freien Boden Amerika's in einem Dienſt¬
verhältniſſe zu leben, er könne ſein eigener Herr ſein, man wiſſe ihm
hier und dort eine hübſche Location, Geld brauche er nicht, der Boden
überfließe von Fruchtbarkeit, er könne ſchon mit den erſten Ernten den
Kaufſchilling herausſchlagen, u. ſ. w. u. ſ. w. Der Unſelbſtſtändige
geht natürlich mit Freuden in dieſe Falle der Selbſtſtändigkeit, läßt
ſich einen geſchickt geknüpften Kaufcontract über den Kopf netzen und
iſt nun kein Knecht mehr, — nämlich kein Farmersknecht, ſondern ein
Frohnknecht der Landcapitaliſten. So beſtocken dieſe Vampyre weite
Landſtrecken mit ſogenannten freien Grundbeſitzern, die aber Alle ihre
gedrückteſten Leibeigenen ſind. In dieſem Syſteme von Exploitation
iſt nun auch mein ſteinſtarrer Weſtphale befangen. Er fühlt, daß
ihm der Genuß des Lebens dabei fehlt, daß er mit eiſernem Fleiß
nicht von der Stelle rückt; aber er meint, er könne immer noch eiſer¬
ner ſein. „Da ſtehe der Mann vor! bete und arbeite!“ ſagt er,
und das Uebrige ſperrt er in ſich hinein und keine Seele hat Schloß
und Riegel dazu. Es iſt etwas Thurmhaftes um den echt deutſchen
Mann, um ſeinen Selbſtbegriff, um ſeine Forderung an ſich, und —
um ſeine Beſchränktheit! Der Mann zieht mich an in ſeinem Cha¬
rakter; aber will ich wirken auf ihn, ſo kann ich's nur durch die Frau.
Ich ſtrebe nämlich darnach, die Lage dieſer Familie, laß mich
den knuffigen Ausdruck gebrauchen — zu entamerikanern. Zu¬
nächſt handelt es ſich darum, das Grundſtück frei zu zahlen, was
[356] eigentlich keine Aufgabe iſt. Da es aber dann aus einem zehrenden
erſt in ein müſſiges Capital verwandelt iſt, ſo handelt es ſich ferner
darum, ihm einige tüchtige und vorzüglich treue Knechte zu werben,
die es ihm klären helfen. Dazu kannſt Du vielleicht Hand bieten.
Und endlich kommt es darauf an, ihn zu bewegen, das Alles — an¬
zunehmen. Hier liegt wahrſcheinlich die unüberwindlichſte Schwierigkeit.
Er wird ſtolz genug ſein, einen Vorſchuß zurückzuweiſen, er wird
eigenſinnig genug ſein, Knechten, die er nicht ſelbſt gewählt hat, zu
mißtrauen, ja, den ganzen Wirthſchaftsplan, den er nicht ſelbſt erzeugt
hat, kurzweg abzulehnen. Hierin hab' ich es nun mit der Frau.
Sie ſoll mir helfen ihn vorzubereiten, ihn zugänglich zu machen. Die
Frau iſt über dieſe Sachen vernünftig, wie in der Regel die Frauen,
nur fehlt es ihr faſt gänzlich an Selbſtſtändigkeit. Auch glaube ich
ihr tiefer auf der Seele Grund zu ſchauen und — dieſe Seele iſt
mit ihren zarteſten und feſteſten Faſern noch in Deutſchland. Sie
erſchrickt eigentlich vor meinem Projecte. Es thut ihr weh, mit dieſem
Boden ſich tiefer einzulaſſen. Ihr Verſtand möchte wohl, aber das
Herz dazu fehlt.
Dieſer Zug nach der Heimat iſt's, was mich auch an dem Kinde,
an der kleinen Annette, rührt. Natürlich, daß ſie die Heimath nur unter
dem Symbol des — Spielzeugs in ſich trägt. Ihr Spielzeug aber
waren Blumen. Sie hatte „zu Hauſe“ ein paar Ellen Gartenland,
das ihre „Grafſchaft“ hieß, und das, ſo oft ſie den Eltern eine beſon¬
dere Freude gemacht, um ein paar Spannen vergrößert wurde. Die
Grafſchaft avancirte nach und nach zum Fürſtenthum, Großfürſten¬
thum, Herzog- und Großherzogthum, und eben war es daran, König¬
reich zu werden, als „der Hof“ verkauft wurde und ſie ans große
Waſſer reisten. In dieſem ſchnell entwickelten Staatsgebiete nun zog
ſie Blumen. Wenn ſie darauf zu ſprechen kommt, ſo glaubt man
einen Fürſten zu hören, der ſeine Souveränetät verloren. Ich finde
ſie auffallend bewandert in dem Bereiche der Botanik, das ſie dabei
umſpannte. Sie zeigt einen fein unterſcheidenden und individualiſiren¬
den Sinn für dieſe Seite des Naturlebens, ſie ſcheint ihre Blumen-
Stöcke und -Büſche mit einer Aufmerkſamkeit, ich möchte ſagen mit
einer Geſchwiſterlichkeit gehegt zu haben, wie ich es einer kleinen
Annette auch tauſendmal eher glaube, als einer heirathsfähigen Sa¬
[357] kontala. Wohlan, ihre Grafſchaft kann ſie freilich hier wieder haben,
aber ihre Blumen nicht mehr. Die ſind ihr verwandelt in fremde,
duft- und gemüthloſe Schauſtücke, die keinen Anſpruch an ihre frü¬
here Liebe haben. Als ſie mir zum Erſtenmale dieſes Leid klagte —
doch nein! ich kann nicht einmal ſagen, daß ſie klagte; ſie ſprach bloß
von Unterſchieden, ſie contraſtirte bloß, nach ihrer Art, die deutſche
und die amerikaniſche Flora: aber die Wahl ihrer Ausdrücke, die
Mittel, ſich deutlich zu machen, Ton, Mimik, die ganze Schwingung
ihres Naturgefühls gab einen ſo elegiſchen Klang, daß mich die
bitterſte Wehmuth dabei ergriff. „Das iſt ein Taubenkropf, hier ſteht
Hartheu, dort Schafgarbe, dort Weidenröschen am Sumpfrand der
Wieſe; aber ſehen Sie, wie verelendert das Alles am Boden kriecht!
Und wie ſie bei uns zu Hauſe in die Luft wachſen! Es iſt wie eine
Schule, wo die Einen in der Strafe ſtehen, die Anderen haben Flei߬
zeichen bekommen und ſind luſtig.“ — „Haben Sie im Frühling den
Goldlack geſehen? Er riecht nicht und hat auch kein Gold; er iſt
bleich und garſtig — wie ein Spielzeug, von dem die kleinen Kinder
die Farben abgeleckt haben.“ So ſteht ſie, wie eine Heliotrope nach
der Sonne ihrer Heimath gewendet, verliert kein Wort der Sehnſucht,
und iſt nichts als die Sehnſucht verkörpert. Ein Blumenkelch voll
ungeweinter Thränen!
Das Kind geht vor mir herum, wie eine Monade von mir. Nicht
Muskel, Nervengeiſt. Reines, paſſives Gefühl deſſen, was bei uns als Be¬
wußtſein, als Geiſt- und Leibeskraft ſeine Wellen ſchlägt. Welch ein
Zauber, dieſes beſcheidene, unſchuldige Leiden! Wir beflecken mit unſerm
Haß die Welt, die unſere Ideale befleckt. Dieſes Kind — laß mich
den neuen Ausdruck gebrauchen — haßt platoniſch, wie man pla¬
toniſch liebt, d. h. ſie erwidert das Häßliche nicht, ſie empfindet es bloß.
Ich nenne ſie mein Schweſterchen, da ich ſie nicht meine Monade
oder Pſyche nennen kann. Sie ſollte mich Bruder nennen. Das ging
dem weſtphäliſchen Hartkopf erſt nicht ein, zuletzt erreichte ich doch, daß
ſie mich Herr Bruder nennen darf. Die Hauptſache iſt, daß wir uns
dutzen. Ich kann mich von der Vignette meines eignen Ich nicht „Sie“,
oder gar „Herr Doctor“ anreden laſſen.
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 24[358]
Mein braver Anhorſt! Was er mir dieſen Knecht, den Schottlän¬
der Adin Ballan, mit Sorgfalt ausgeſucht hat! Und wie undankbar
bin ich! Der Mann iſt fleißig, nüchtern, treu, wachſam, exemplariſch
bis zur naturhiſtoriſchen Merkwürdigkeit. Seine Tugenden gehen wie
eine Uhr. Er hat keine Bedürfniſſe, keine Wünſche, keine Genüſſe, —
man kann ihn mit nichts glücklich machen. Ein Primchen Tabak, ein
Quart Cider und geröſteter Speck — für dieſen Preis hält er die
Erde aus. Das iſt heute wie morgen der Uhrſchlüſſel womit er auf¬
gezogen wird. Nichts drüber. Nie! Meine feinen Rumflaſchen könn¬
ten eben ſo gut mit Sand gefüllt ſein. Wie oft bot ich ihm davon,
in der Abſicht ihm die Zunge zu löſen, denn er iſt zu ſeinen übrigen
Tugend-Laſtern ſo geſprächig wie ein Fiſchteich. Umſonſt. Selbſt in
Geſellſchaft hält er nicht mit. Unlängſt hatte ich den Tiſchler Rapp
zu einer Powle Punſch gebeten, und ihn ein paar wackre Bekannte
mitnehmen laſſen. Wir waren aufgeweckt, wie das Salz der Erde;
mein Ballan aber trank ſein Quart Cider, und abſolut nichts weiter.
Er iſt nicht Temperance-Mann, er bildet ſich keine Krankheit ein, die
Enthaltſamkeit iſt eine Art Monomanie bei ihm. Er iſt ein Mann
in den mittleren Jahren, hat einen Sohn in den Kohlengruben von
Newcaſtle verloren und ſeine Frau auf der Ueberfahrt. Unglück ge¬
nug, um eine Anlage zur Melancholie auszubilden. Er iſt aber auch
nicht melancholiſch. Möglich, daß er es war und auch dieſes Stadium
ſchon überwunden hat; wenigſtens kannt' ich als Knabe einen Sieben¬
bürger Sachſen, der im Hauſe meiner Eltern öfter von ſeinen trau¬
rigen Lebensſchickſalen erzählte, und ſtets damit ſchloß, wie gefaßt er
ſei, und wie chriſtlich er überwunden habe. Ich erinnere mich deut¬
lich, wie peinlich mir der Mann war. Daß man nach ſeinen Schick¬
ſalen anſtatt wahnſinnig oder todt zu ſein, mit Leinwand handeln
könne, verwirrte und demüthigte mein eigenes Menſch-Bewußtſein.
Bei meinem Schotten ſpeculirte ich Anfangs auf Oſſian und alte
Balladen — es war mein craſſeſter Fehlſchuß, den ich gethan. Er
ſagte, in ſeiner Jugend habe er wohl zum Dudelſack geſungen. Er
ſagt' es mit einem Ton, als ob ohne Jugend und Dudelſack ſo wenig
Schall im Menſchen, wie in einem ausgeweideten Leib. Auch meine
Geige macht ihm keinen Eindruck. Es ſcheint, Muſik ſind ihm nur
die ſchrillen, ſchnarrenden Klangfarben — Klarinett, Dudelſack. Welch
[359] ein Geſellſchafter für mich! Der brave Anhorſt! Hätt' er mir einen lider¬
lichen aber luſtigen Irländer zugebracht, — meine Rumflaſchen wür¬
den leerer, aber meine Einſamkeit voller. Welch eine Geſellſchaft!
Und wenn ich nun Nachts im Bette liege und aufwache und mich
beſinne, ich bin in Amerika, dem Lande meiner langen, alten Sehnſucht,
ſo komme ich mir vor — wie eine ägyptiſche Mumie, die unter
Mehmet Ali die Augen aufſchlägt! Seit ich in den Hafen von New¬
york einlief, dünkt es mir Jahrtauſende und doch — wenn ich einen
tüchtigen Brocken, einen guten Schluck Lebensgefühl haben will, kann
ich nur daran anknüpfen, und Alles dazwiſchen liegende iſt ſo ver¬
dünnt! ſo unſättlich! Wenigſtens in der hohen Erregbarkeit einer
ſchlafloſen Nacht. Ja, mitten in der Finſterniß, wo ich nichts ſehe,
empfinde ich die Fremde noch weit empfindlicher, als am hellen, bilder¬
vollen Tage. Die feineren Sinne kommen dann in's Spiel. Denn
das iſt richtig, die Nacht hat ihren Geruch, ihre Acuſtik, wie der Tag;
nur ſind die Sinne dafür ſchärfer, etwa wie die eines Blinden.
Wach' ich in Europa aus dem Schlafe auf: ein bellender Hund —
ein Hahnſchrei — ein Flämmchen im Nachbarhauſe, — ein Poſthorn
auf der Landſtraße — den claſſiſchen Nachtwächter nicht zu vergeſſen, —
das Alles hat ſeine eigene, dem Gemüth feſt verwachſene Staffage.
So athmen, wie bekannt, auch die Pflanzen ſtärker des Nachts, und
der eigenthümliche Geruch eines ganzen Landes, ja Welttheils, kann
nur in der Nacht vernommen werden. Es geht ein ſchwärmeriſcher
Zug durch die europäiſchen Nächte, eine zaubervolle, geiſtige Hell¬
ſeherei, — was ſind ſie denn ſonſt, die Elfen, als dieſe ſpielenden
körpergewichtsloſen Regungen? Hier dehnt die Nacht nicht aus, ſie
drückt zuſammen, iſt kalt — ſchrill — hart. In meinem Kamin
bläſt ſich eine Kröte auf, in den Wandſpalten des Blockhauſes klemmt
ſich eine Natter ein und pfeift in Todesangſt, — das ſind die Nachttöne,
die mich hier wecken. Ich ſtiere zur Fenſterlucke hinaus, ob die Sonne
Homers ſchon komme oder die roſenfingerige Eos, und im Finſtern,
ſtatt kühlender, weich-wehender Lindenſchatten, glotzen mich verkohlte
Baumſtrünke an. Und nebenan ſchläft mir der Schottländer, und
träumt von dem erſtickten Sohn im Kohlenſchacht und von der ver¬
24*[360] ſenkten Leiche ſeines Weibes am Meeresgrunde, wacht auf, und —
ſchweigt! Ach! ich werde Opiate nehmen müſſen. Dormi, che voi
tu più!
Jetzt, nach der Erntezeit, wird's geſelliger. Für unſere Gegend iſt
ein camp-meeting angeſagt, das allernächſt ſeinen Anfang nehmen
ſoll. Auch die „Frolic's“ mehren ſich jetzt, d. h. Fröhlich- oder Luſt¬
barkeiten, namentlich in den deutſchen Bezirken. Zu einem ſolchen
Frolic ritt ich vorgeſtern nach Pennſylvanien hinüber. Noch ſind mir
alle Glieder zerſchlagen, — nicht nur des Leibes, der Seele noch mehr.
Der Schauplatz der ländlichen Orgie war mitten in einem der
wildeſten Waldſtriche, denn Wald und Wildniß ſtarrt noch überall,
und ſelbſt nach kürzeſtem Aufenthalt in Amerika kommt man bald
dahinter, daß die ſogenannten alten Culturſtaaten noch immer Einöden
ſind, wogegen die rheiniſche Eifel, oder der ungariſche Bakonyerwald
an wahrer Uebervölkerung leiden. Erſt hier im Hinterlande merkt
man, was Newyork oder Boſton für große Lügen ſind, — ungefähr
wie Petersburg und Odeſſa. Auch die Straßen, — man iſt bei mir zu
Hauſe an der untern Theiß eben nicht verwöhnt in dieſem Artikel,—
aber auf meinem ganzen Ritt fand ich keine einzige Wagenſpur. Wenn
das keinen Schluß auf Geiſtescultur zuläßt, ſo gibt's keine Logik.
Aber freilich, Geiſt zu ſehen, war ich nicht ausgeritten. Und ich
fand ihn auch nicht. Gott iſt mein Zeuge! Das Erntefeſt ging in
einer Kneipe vor ſich, zu der ein Kramladen gehörte — Store mit
Privat-Entertainment. Da mir unterwegs weit und breit keine
Bauernfuhr aufgeſtoßen, ſo ſchloß ich, daß der Spektakel ſchon ange¬
fangen. Und ſo war es. Als ich mich dem Neſte näherte, ſchlug mir
von Muſik und Stimmen ein Lärm daraus entgegen, der nicht mehr
abſcheulicher ſein konnte. Die Leute hier haben eine Art zu jauchzen,
ſo barbariſch, ſo fremdartig, daß ein Europäer ganz außer Faſſung
geräth. Ich vermuthe, dieſe eigenthümlichen nicht zu definirenden
Schreie ſind dem Kriegsgeheul der Indianer entlehnt. Wenigſtens
findet man ſie durch ganz Amerika; auch jene Schiffsgeſellſchaft, die
mich auf dem Susquehannah ſo unvergeßlich moleſtirte, ſtieß genau
die nämlichen Mißtöne aus. Es iſt ein ſchrilles, blutrünſtiges Gellen,
[361] wie von befriedigter Mordgier. Man begreift die Gemüther nicht, die
den Naturlaut der Freude darin finden. An ſteieriſche Alpenjodler
darf man nicht dabei denken.
Die Waldherberge ſchwitzte aus allen Fugen vom Andrang eines
verehrungswürdigen Publikums und weit und breit ſtanden die Equi¬
pagen umher. Ich ſah bunt durcheinander Wagen und Karren, mit
Pferden, Ochſen und Kühen beſpannt, dazwiſchen Fuhrwerke, von denen
ſich die Schulweisheit eines Offenburger Stellmachers nichts träumen
läßt. Ueber allen Ausdruck wild war aber der Anblick der Menſchen.
Männer, Burſche, Knaben und Frauen wimmelten, kaum unterſcheid¬
bar, in Anzügen umher, von denen ſich ſchwer eine Vorſtellung ma¬
chen läßt. Ihre Röcke und Hoſen, ihre Mäntel und Jacken waren
aus ſelbſtgewebtem Tuche ſelbſt zuſammengeſchneidert, mit Flicken und
Flecken überſäet, von Farben oder Muſtern, was ſag' ich, oft von der
Grundform des Kleides ſelbſt keine Spur. Kappen aus ſelbſtpräpa¬
rirtem Pelze von wilden Katzen, ſelbſtverfertigte Schuhe aus wilden
Thierhäuten, hohe Waſſerſtiefeln, indianiſche Mocaſſins, phrygiſche
Mützen und Carbonari-Mäntel der jüngſten Emigration, — das Alles
miſchte ſich zu einem ſinnverwirrenden Höllenbreughel untereinander.
Die Geſichter blickten verwittert, verwildert, verthiert mitunter, und
ließen mich häufig, unterſtützt zumal durch die zigeunerhafte Unbeſtimmt¬
heit der Kleidungsſtücke, zwiſchen männlichen und weiblichen irren. Deſto
merkwürdiger ſcharf zeichneten ſich die Nationalitäten. Der ſpintiſirende
Amerikaner, der pflegmatiſche Deutſche, der heißköpfige Irländer wurden
auf den erſten Blick herausgefunden. Eben ſo beſtimmt erkannte man die
Neueingewanderten von den alten. Und da leugne noch Einer die
transatlantiſche Entartung der Racen! Die geknechteten Europäer ſahen
wie geiſtige Menſchen, die freien Amerikaner wie verdummte Heloten.
Ich betrat den Tanz-Salon. Es war ein langer, ſchmaler Kaſten,
rauh gediehlt, vierwändig-kahl und durch nichts ausgezeichnet, als durch
die Art, wie das Orcheſter angebracht war. Das Orcheſter beſtand aus
zwei Künſtlern, Onkel Tom und Onkel Jim, d. h. Negern, welche hier
überall die Rolle der Dorfmuſikanten ſpielen. Aus Raumerſpar¬
niß nun hatte man dieſes Götterpaar auf ihren Seſſeln, wie in
Vogelbauern, oben an die Wand aufgehängt, indeß ihre verehrliche Beine
über den Köpfen der Tänzer baumelten. Bei dieſem Anblick ergriff
[362] mich eine Art ſatyriſche Begeiſterung; ich hätte für nichts in der Welt
es unterlaſſen, auf dem Frolic jetzt mitzutanzen. Die deutſchen Far¬
merstöchter waren gigantiſche Schönheiten: Roſen und Roſetten, ohne
Zweifel, aber aus Stein gehauen, wie am Stephansthurm oder Stra߬
burger Münſter. Ich forderte eine dieſer ziegelrothen Grazien auf, und
tanzte — was? weiß ich bei Gott nicht! Die Aufgabe iſt gar nicht ſo
leicht, Tact und Rythmus jener Valse americaine oder vielmehr
africaine zu beſchreiben, die wir zu Banjo und Piccolo-Pfeife der
zwei Neger hopsten. Doch brachte ich die Tour mit Ehren zu Ende,
ein Beweis, daß ich viele Anlage zur — Barbarei habe. Ich ſuchte
ſodann meine Schöne nach ſchwachen Kräften zu unterhalten, und bei
der Gelegenheit möglichſt viel ethnographiſche Notizen einzuheimſen.
Settchen war in Amerika geboren und verſtand doch kein Wort engliſch.
Das machte mir Anfangs deutſchthümelnde Freude, die aber bald ge¬
dämpft wurde. Denn ſie wußte auch von Deutſchland nicht mehr, als
daß es hinter einem großen Waſſer liege, und Bremen die Hauptſtadt
davon ſei. Auch wußte ſie noch, daß die „Deutſchländer“ nicht Einen
König hätten, ſondern ſehr viele. Von der Schlacht von Leipzig aber
wußte ſie nichts. Den Namen Napoleon hatte ſie nie gehört. Ich
ſchauderte bei mir, indem ich an Annette dachte. Ich will Alles thun,
das feine Kind vor ſolcher Verwilderung zu retten. — Deßungeachtet
war Settchen zur Schule gegangen, und zwar, wie ich mit Erſtaunen
hörte, beſuchen die Farmerskinder ihre Waldſchulen bis in das Alter
hinauf, wo ſie heirathen, was faſt unmittelbar von der Schule weg
geſchieht. Auch für die Burſchen gilt das. Freilich währt der Schul¬
gang nur drei bis vier Monate im Jahre und die Lehrgegenſtände
ſind einzig: Bibel und amerikaniſche Geſchichte. In letzterer war Settchen
genau bewandert. Den Unabhängigkeitskrieg z. B. kannte ſie ſo im Detail,
als ob jedes Vorpoſtengefecht wichtiger, als die Schlacht bei Leipzig
geweſen wäre. Verdammte Prahlſucht dieſes Volks, das alle Geſchichte
zu verachten affectirt, nur nicht ſein eigenes Geſchichtchen! Den deut¬
ſchen General Steuben dagegen kannte ſie wieder nicht. So
redigirt der Yankee ſeine Schulbücher! Ich knirſchte. Settchen knirſchte
auch, aber in ihre Pics, was eine Art ſchlechter Obſtkuchen iſt, die
ſie mit erſtaunlichem Appetite verzehrte. Dazu trank ſie Quantitäten
von Cider, daß mir nichts übrig blieb als in ſtiller Andacht zu bewundern.
[363]
Das Depot dieſer Genüſſe war der Storeladen, der unmittelbar
mit dem Tanzlocal in Verbindung ſtand. Er hatte ſich heute zu einer
Art Büffet traveſtirt, ohne daß es indeß möglich geweſen wäre, die
verſchiedenen Talg- und Butterfäſſer, Tabakkiſten, Wollballen, Kohlen¬
ſäcke ꝛc. ꝛc. in eine rückſichtsvolle Entfernung zurückzudrängen. Sie
wurden indeß ſehr ſinnig als Tiſche und Bänke benutzt, an welchen
Alles ſchmauſend und zechend „umhergegoſſen“ lag, was das Tanz¬
vergnügen nicht theilte. Es waren ungemein plaſtiſche Gruppen. In
der Menge fielen mir auch zwei „Gebildete“ in's Auge, und ſiehe da!
eine derſelben war eine mir bekannte Geſtalt. Es war der junge
Apotheker Poll aus Kleindeutſchland. Er trug nicht mehr ſein faden¬
ſcheiniges Sammtröckchen, klagte auch nicht mehr über die unverdau¬
liche amerikaniſche Küche, und ſchien überhaupt ſeinen Geſchmack mit
den Reizen des Hinterwaldes in Einklang geſetzt zu haben. Der An¬
dere war ſein Prinzipal, Doctor Althof, an den Du ihn damals em¬
pfohlen. Dieſe zwei Stadtröcke unter den rauhen Waldjobben leuch¬
teten mir wie freundliche Heimathsſterne. Wie armſelig belügt ſich doch
der Stubenpoet, der Waldbrünnlein und Köhlerhütte über die Cultur
ſetzt! In dieſem Storeladen hier ſchlug der Contraſt ganz anders aus.
Denn als ich, da es inzwiſchen Abend geworden, mit dem Store¬
keeper über mein Nachtlager verhandelte, erklärte mir der Menſch, daß ein
Bett für mich allein eine Forderung wäre, auf die er nicht wohl vor¬
bereitet ſei. Er könne mir ein Bett nur mit Geſellſchaft „einiger
Anderer“ zuſichern, aber, ſagte er naiv, „im Parterre rückten ja auch
Fremde an einander, warum nicht im Bette?“ Geſtehe doch der Stu¬
benpoet, daß unter dieſen Umſtänden die Auſſicht auf zwei gekämmte
Schlafkameraden mindeſtens kein verächtliches Culturgelüſte war.
Uebrigens beſchloſſen wir drei die Nacht zu durchwachen; der Doctor
war ohnedies als Reſerve da und hatte ſeine Bandagen, Charpien und
Vomitive nicht umſonſt mitgebracht. Er erwartete die Nacht über
Prügel und morgen Indigeſtionen.
Wir machten etwas vom Hauſe weg eine Promenade am Wald¬
ſaum hin, und tauſchten aus, was Europäer bei ſolchem Begebniß ſich
zu ſagen haben. Ich erzählte mein Rencontre mit dem Fieberdoctor
nunquam opinavi und wiederholte meine Anſicht über den Untergang
der amerikaniſchen Nation durch ihre Aerzte — und Apotherker, ſetzen
[364] Sie hinzu! fiel mir der Doctor ſogleich bei; — Sie wiſſen, daß der
Handel mit Medicamenten nach amerikaniſchem, leider auch engliſchem
Rechte frei iſt. Was nun die Aerzte übrig laſſen, vergiften die Apo¬
theker vollends. Von pharmaceutiſchen Studien iſt bei den ſogenann¬
ten Apothekern nirgends die Rede; ſie ſind einfach Materialiſten und
Droguiſten. Wie dieſe Menſchen, — entlaufene Schuljungen, verdor¬
bene Schneider ꝛc. — ein ärztliches Recept maltraitiren, darüber könnte
ich unglaubliche Details niederſchreiben. Bei mir zu Gadshill begegnete
es einmal — als ich den jungen Poll noch nicht hatte — daß mir
ſo ein Droguiſtenſchwengel willkürlich einen versus ſtrich und mit einem
andern erſetzte. Das hat Mr. Althof wohl nicht recht verſtanden, ſagte
er weiſe lächelnd dazu und ſchüttelte ſein gekräuſeltes Haupt zwiſchen dem
feinen Hemdkrägelchen. Als mir die Geſchichte wieder zugebracht wurde,
eilte ich nach dem Laden, ohrfeigte das Bürſchchen ein Dutzendmal auf
und ab, zog ein paar geladene Piſtolen und ſagte, wenn er noch beſſer
bedient ſein wolle, ſo möge er vor's Haus kommen. Das wirkte. Ich
habe in meinen erſten fünf Monaten drei Aerzte im Duell erſchoſſen,
das heißt Humbuger, die ſich für Aerzte ausgaben und meinem An¬
ſehen zu nahe traten.
nirgend gilt's mehr als hier. Den Ladies hofiren wie Prinzeſſinnen,
die Männer niederſchießen wie Hunde: das ſetzt feſt in Amerika,
das macht Dollars! —
Unter ſolchen Geſprächen kehrten wir immer wieder zum bal
champêtre zurück, der ſich jetzt, bei Fackelbeleuchtung, beſonders effect¬
voll machte. Freund Poll genoß ſein junges Leben mit einer heißen,
ſchwarzäugigen Irländerin, die dem hübſchen Burſchen gewaltig zuſetzte
und wohl auch ſtärker armirte Feſtungen mit Erfolg blockirt hätte.
Aller Appetit verſchwand aber, als ich das Mädchen wahre Schiffsla¬
dungen von Brandy trinken ſah, womit ſie ihr Tänzer tractirte. Das
deutſche Settchen hatte dieſelben Quantitäten doch nur in Obſtmoſt ver¬
tilgt. So lernte ich nachträglich erſt noch ihre Modeſtie ſchätzen. Auch
machte mich Doctor Althof aufmerkſam — ich htte ihm das Ver¬
ſchwinden ihrer nationalen Erinnerungen geklagt — daß die Mädchen
[365] deutſcher Abſtammung denn doch noch ihre Blumenſträuße vor der
Bruſt trügen; — iriſche und amerikaniſche nicht. Dieſer deutſche Na¬
turzug lebte wenigſtens fort. Das gefiel mir wieder.
Da die Nächte ſchon länger werden, ſo vertrieben wir uns die Zeit
— Doctor Althof und ich — gelegentlich wieder mit Tanzen. Dabei
paſſirte es einmal, daß ein junger, baumlanger Pennſylvania-Deutſcher
mit einem beſonderen élan in die Höhe ſprang, und auf Einen Ruck
die zwei Neger ſammt ihren Seſſeln aus den Angeln hob. Der Arme
ſtürzte mit blutendem Kopfe zu Boden, die zwei Neger über ihn her,
die ganze Tanzkette, die ſich im Schwung nicht mehr zu halten ver¬
mochte, über die Neger, und im Nu lagen wir Alle, wie die ehrſamen
Lallenburger, aber nicht ſehr ehrſam, in einem unentwirrbaren Knäuel
durcheinander. Es wollte was ſagen, bis Jeder und Jede aus dem
verworrenen Inventar von Beinen das ihm zuſtändige Paar wieder
herausgefunden; auch will ich gar nicht leugnen, das manche Täuſchung
nicht abſichtlich feſtgehalten wurde. Der Tanzluſt that dies kleine
Intermezzo freilich wenig Eintrag. Nur meine Toilette kam übel
dabei weg; namentlich hatte mir ein rüſtiger Tabakkauer bei dieſer
Gelegenheit einen Cotillonorden an die Bruſt geſpuckt, deſſen Spuren
weniger zu vertilgen waren, als die Blutflecken der Lady Macbeth.
Mit dieſer Decoration und einigen ähnlichen vermied ich denn für den
Reſt der Nacht die „Geſellſchaft“. —
Am Morgen ſah das Frolic nun traurig aus. Oder vielmehr ab¬
ſcheulich. Wie rings herum in allen Lagen und Zuſtänden des menſch¬
lichen Körpers „die Beſtialität ſich gar herrlich kund gab“, — laß
mich davon ſchweigen. Wahrlich, verdorbene Magen bedurften keines
weitern Vomitivs, als ſich einander nur ſelbſt anzuſehen. So ſattelte
ich, um ein amerikaniſches Sittenbildchen reicher, meinen Cäſar, ließ
das beſoffene und ſtinkende Arkadien hinter mir und trabte mit ſehr
gemiſchten Gefühlen wieder heimwärts.
Du kennſt gewiß auch den Ruf der Kentuckyer, der Männer „vom
blutigen Grunde“? Sie ſind als die par excellence berühmt,
ſie ſind der phyſiſche Adel Nordamerika's. Dieſe Nimrods-Ideale in
ihrer Urpracht zu ſchauen, nahm ich mir lange ſchon einen Ausflug
[366] nach Kentucky vor. Einer Newyorker Soire, wär' ich bald einſt ſtehen¬
den Fußes davon gelaufen, ſo brannte mir Byron's effectvoll declamirte
Kentucky-Begeiſterung an den Sohlen. Wohlan, dieſen Wahn bin ich
nun auch los. Einen einäugigen Kentuckyer traf ich auf meinem Penn¬
ſylvania-Frolic. Ohne was zu denken, gewiſſermaßen aus ärztlichem
Inſtincte, bracht' ich die Rede auf dieſen Defect, und erkundigte mich
um ſeine Urſache. Das hätte mir bald übel bekommen. Der Kerl
nahm eine Miene an, als ob ich ihn foppte, ſo daß ich wohl merkte,
dahinter ſtecke etwas. In der That belehrte mich Doctor Althof. Der
Mann trug ſeine Niederlage von einer Boxerwette zur Schau. Aber
der Ausdruck iſt uneigentlich, denn die Kentuckyer boxen ſich nicht wie
die Engländer, ſondern die Kämpfer wetten über die Geſchicklichkeit,
wer von ihnen dem andern ein Auge ausdrehen könne! Hat die
Menſchencanaille je ſolch eine Scheußlichkeit ausgedacht? Augenausdrehen
ein Geſchicklichkeitsſpiel! eine Bravour der männlichen Kraftübung!
Aber dieſer Zug geht durch ganz Amerika. Der friſche Stahlbrunnen
der Barbarei, den man hier zu trinken meint, ſchmeckt überall verdor¬
ben. Es iſt Raffinement in der Wildheit! Bei den großſtäd¬
tiſchen Rowdies merkt' ich das ſchnell, und hier bei den Hinterwalds¬
helden des blutigen Grundes find' ich's nun wieder. Sich boxen auf
Augenausdrehen!
Noch ein Nachtrag von meinem Frolic. An der Grenze von Ohio
und Pennſylvanien ſteht ein Poſthaus, heißt Marlington und ſcheint
eine Stadt werden zu wollen. Als ich im Vorbeireiten mein Pferd
hier fütterte, kam eben die Poſt von Erie an. Sie gab in Marling¬
ton ein paar Zeitungen unter Kreuzband ab, darunter auch eine deutſche
wie ich ſehen konnte. Der Poſthalter ſonderte die deutſche von den
übrigen aus und warf ſie mit einem dam’nd dutch! in den Enten¬
pfuhl vor ſeinem Hauſe. So expedirt man hier deutſche Blätter. —
Wir haben freilich gut ſagen, das Volk fürchtet inſtinctiv die
deutſche Geiſtesüberlegenheit, von der es ſchon jetzt in allen Zwei¬
gen ſeines Nationallebens zehrt, und ſein Haß müſſe uns eigentlich
ſchmeicheln; aber Menſch iſt Menſch, und es zückt Einem wie Dolches¬
gier in den Fingern, dieſer Brut nach ihrem Rechte zu thun.
[367]
Heute Nacht weckte mich ein Flintenſchuß und Angſtgeheul und
Todesgeſchrei, wie von einer menſchlichen Stimme. Ich ſtand mit Adin
Ballan auf; wir zündeten Fackeln an, bewaffneten uns und ritten
hinaus in die Waldnacht. Wir knallten unſere Doppelflinten ab und ſchrien
dazu, um einem Hilfebedürftigen unſere Richtung, einem Mörder die Nähe
von Rächern zu ſignaliſiren. Schuß und Schrei von der andern Seite aber
wiederholte ſich nicht wieder, ſo daß wir ziemlich im Unklaren trieben, wo¬
hin wir uns in der unermeßlichen Waldweite zu wenden. Wir ſetzten
unſre Streife noch lange fort und wiederholten unaufhörlich unſre
Allarmzeichen, aber nichts regte ſich mehr. Endlich kehrten wir wieder
nach Hauſe zurück. Ich war begreiflich in großer Aufregung und
ſchloß kein Auge mehr. Im Laufe des Tags erklärte ſich das Nacht¬
abenteuer. Von der benachbarten Virginiergrenze hatte ſich ein ent¬
laufener Sclave über den Ohio gerettet. Aber die Verfolger waren
ihm dicht auf der Fährte und zwiſchen meinem und dem Lisboner
Gebiet erreichte ihn die tödtliche Kugel. Farmer von Neu-Lisbon
fanden die Leiche im Walde. Die Lisboner behandeln die Unthat wie
etwas Alltägliches, von einer Fahndung auf den Mörder iſt keine
Rede. Jeder Sclavenbeſitzer hat das Recht, entflohene Sclaven leben¬
dig oder todt wieder einbringen zu laſſen. Sie halten zu dieſem
Zwecke eigene Leute und — Hunde! We are in a free country!
Vielleicht genügt es uns an dieſen Proben. Blatt für Blatt
würden wir ſo durchblättern und auch nicht Ein lichter Moment, auch
nicht Ein reiner, ungetrübter Strahl der Freude wäre die Ausbeute
davon. Urwaldspoeſie, Jugend- und Freiheitswelt, Menſchheitsglück
im Weſten, Stern einer beſſern Zukunft, immer unaufhaltſamer wer¬
den dieſe Worte zu — Wörtern, das große Diluvium der Ent¬
täuſchung iſt nirgend mehr einzudämmen. Es wäre unter dieſen Um¬
ſtänden eine ungerechte Parteilichkeit, von einer perſönlichen Anlage
zur tragiſchen Weltanſchauung zu reden. Denn erſtens iſt dieſe An¬
lage das Erbtheil jedes tieferen Menſchen, und dann — bliebe ſie
eben nur Anlage, wenn nicht die Außenwelt ſie weckte und nährte.
Zwar der idealiſtiſche Glaube an Amerika hat in der Bruſt unſers
Helden längſt ausgelebt. Wir erinnern uns, daß er ſchon auf ſeiner
[368] Pennſylvania-Reiſe ſich die Umſtimmung bezeugte: „in dieſem Lande
nicht Muſter zu ſehen, ſondern Muſter zu geben. Dieſe Freien, hieß
es, müſſen durch uns Verknechtete ein wenig freier werden.“ Allmälig
aber langen wir an dem Punkte an, wo es ſich frägt, ob er auch
dazu noch Luſt und Kraft übrig behält.
Anhorſt iſt fort und Benthal noch nicht da. Ein ſchlimmer Um¬
ſtand in einer Lage, die durch ſich ſelbſt ſo wenig Anziehungskraft übt!
Daß aber dieſe beiden Geſchenke des Zufalls unſerm Helden ſo bald
zur Nothwendigkeit geworden, kann nicht gegen die Kraft und Selbſt¬
ſtändigkeit ſeines Charakters zeugen. Kein Menſch erträgt einen
neuen Gedanken, geht einen neuen Weg ohne das Princip der
Genoſſenſchaft. Ohne Remus kein Romulus, ohne Caſſius kein Brutus,
ſelbſt kein Columbus ohne die Pinzon's.
Was Anhorſt's Rückkehr betraf, ſo entzog ſie ſich einer ſtrikten
Wahrſcheinlichkeitsrechnung; einem Briefe Benthal's dagegen rechnete
Moorfeld ſeine Ankunft ſchon nach Stunden und Minuten zu. Zwar
währt ſein Aufenthalt in Ohio noch nicht ſo nennenswerth lange,
keinesfalls ſo lange, als es unter ſo vielen neuen Bildern und Ein¬
drücken, welche überdies faſt alle die Fähigkeit haben, ſich raſch wieder
auszuleben, den Schein gewinnen mag. Wir zählen kaum die achte
Woche der Anſiedlung Moorfeld's, und ging ſeine erſte Briefſendung
an Benthal von Pittsburg ein wenig früher ab, ſo datirt das Packet,
welches erſt ſeine Adreſſe enthielt, auch etwas ſpäter. Bedenken wir
dazu, daß wir von einer Zeit ſprechen, in welcher das Pennſylvaniſche
Eiſenbahnſyſtem zwar im Beginn, aber noch nicht am Ziele, und na¬
mentlich die großartige Alleghanny-Portage-Eiſenbahn Hudſon und
Ohio noch nicht mit Dampfeskraft verband, ſo wird in den Tagen,
welche wir gegenwärtig darſtellen, ein Brief von Benthal zwar ankom¬
men können, aber eben nur können. Moorfeld überſtürzte auch ſeine
Berechnung keineswegs. Aber genug, daß eine Berechnung nie zur
Beruhigung führt, vielmehr juſt an dem Punkte anfängt, wo auch die
Unruhe anfängt. Wie ein Menſch, der ſich ein ausnahmsweiſe frühes
Erwachen vornimmt, ſeinen Schlaf nicht etwa um dieſe Morgen¬
ſtunden kürzt, ſondern den ganzen Schlaf ſich verdirbt, weil die Seele
im Traume rechnet und überhaupt nichts anders träumt als das
Erwachen: ſo ſtört ſolch ein Rechnen den Genuß, die Perſpective, das
[369] ganze Leben des Tages, denn ſtatt allem Gegenwärtigen ſetzt ſich ein
Abweſendes, ſtatt allem Erſten ein Zweites, der ganze Vordergrund
liegt in einem Schatten, aber die Ferne nicht im Lichte. Mit Ben¬
thal's Brief hat Moorfeld einen Genuß, eine Freude zu erwarten,
aber die Erwartung ſelbſt iſt Qual, iſt Sorge. Der trübe Horizont
des Einſamen wird ſo um Vieles trüber. Mit jedem Sandkorn, das ver¬
rinnt, ohne die Erfüllung zu bringen, fühlt ſich von Neuem die Frage
berechtigt: Iſt er krank? Sind es die Seinen? Ging dein Brief ver¬
loren? Iſt ſeine Antwort verunglückt? und ſiehe! wie erſchrak Moor¬
feld, als er bei letzterer Frage ſich an den Poſtmeiſter erinnerte, der
die deutſche Zeitungsnummer veruntreute! Wie, wenn Benthal den
Einfall gehabt, deutſch zu adreſſiren, der Brief einem ähnlichen
Native-Fanatiker zu ähnlichem Frevel in die Hand gerathen, und alles
Hoffen für jetzt und für ewige Zeiten überhaupt vergebens? Alſo
ein neues, geflügeltes Blättchen: engliſch zu adreſſiren, und neues Ab¬
warten des Poſtengangs hin und zurück!
Es iſt eine beängſtigende Pauſe. Unſer europäiſcher Freund, um¬
geben von ſeinen Fähigkeiten, Gemüthskräften, Strebniſſen, Erwar¬
tungen und Entwürfen, macht uns in dieſen Tagen den Eindruck einer
vollen offenen Scene, welche ein plötzlicher Zwiſchenfall in Stockung
verſetzt. Mit reichem, breitem Wurf ſteht eine glänzende Gruppe
mitten im geſpannteſten Nerv der Handlung da, — eine Feder fehlt,
ſie ſtockt. Schnell verſendete Boten ſind nach prompter Ergänzung
aus — wird ſie gefunden? wird ſie es nicht? Wird neues ſtrömen¬
des Leben durch dieſe gebundene Organe rollen? oder fällt ſchrill und
raſch der Vorhang über ein Fragment? Bis es ſich entſcheidet, führt
uns der Held der Scene einſtweilen ein anderes Bild vor. Er ſchau¬
kelt ein kleines blondes Mädchen und lauſcht einer ſtammelnden Zunge
auf Klagen um europäiſche Blumen!
Die „Flucht nach Aegypten“ wie wir wiſſen iſt Moorfeld's einzige
Erhohlung in dieſen Tagen. Eine gefährliche Erhohlung! Hier ſaugt
er in milden, ſchmeichelnden Zügen die Melancholie in ſich, die ihn
zu Hauſe vielleicht unerträglich, aber eben darum zum Widerſtand
auffordernd, beſtürmt. Flucht nach Aegypten! Mit welchem Gefühle
für das ſchmerzlichſte Ungenügen einer menſchlichen Lage hat Moorfeld
nur dieſes Bild gewählt! Aber was bedürften wir den geheimen Zug
[370] der Selbſtbeſpiegelung, der ihn an dieſes Gegenüber feſſelt, erſt deut¬
licher aufzudecken? Hier liegt ja volles Bewußtſein. Seine Monade —,
Pſyche, — Schweſterchen, — Vignette ſeines eigenen Ich iſt ihm das
Kind, dem ſich — wenn auch nur über Blumen — zu Amerika das
Herz verſperrt! Was ſonſt ſucht er alſo dort, als den Genuß ſeiner
Selbſtqual, das Echo ſeiner eigenen Verneinungen? Nur daß das
Kind der einfachſte Ausdruck, er ſelbſt der unbändigſte für den gleichen
Seelenzuſtand iſt. Es läuft, dürfen wir ahnen, ſogar ein Zug des
künſtleriſchen Wohlgefallens hier durch. Das kleine Mädchen iſt
ihm die naivſte Form deſſen, was auf den höheren Stufen ſeines
Gedanken-Lebens zerklüftet und widerſpruchsvoll in unkünſtleriſcher
Maßloſigkeit ſich abmüdet. Wir würden daher ein tiefes Verkennen
an den Tag legen, wenn wir an dieſer Kindes-Freundſchaft unſern
Troſt fänden. Ja, ſie eine Davidsharfe, in der Sauls-Melancholie
unſers Helden. Aber hat die Harfe den Saul geheilt? So ſchmei¬
chelt ſich in Annette’n ſüß und wohlklingend der ſchwarzblütige Dämon
ein, den Moorfeld ohne ſie vielleicht kräftig zurückſtieße. Sie zertheilt
die Gewitterwolke, welche ſtürmen, blitzen und — reinigen ſollte, in
ein weiches, nebelhaftes Geflör, das den Horizont leichter umſchleiert,
aber ſchwüler am Marke ſaugt. Dieſe zarte Geſelligkeit lindert die
Schmerzen des Einſamen — gewiß! nur daß mit den Schmerzen auch
die Kraft zerſtreut, auch der Wille aufgelöſt wird, der vom Schmerz
frei macht, nur daß am unſchuldigen Mitleid mit ſeiner kleinen
Verbannten Moorfeld ſchuldig wird an ſich ſelbſt, denn er leidet in
ungleich größerem Style mit, — er leidet gelinder, aber erſchöpfend,
ſchwächend bis zur Ohnmacht.
Aus dieſer Ohnmacht blitzte dann plötzlich wieder das höchſte Le¬
bensgefühl auf. In Momenten, wo Moorfeld Alles verloren zu haben
ſchien, verlor er doch das Eine nicht: die Erinnerung ſeiner ſelbſt.
Aber ſeine Täuſchung war es dann, daß er Erinnerung zugleich für
Beſitz hielt! Er verkannte die Natur ſolcher Rückſchläge, nahm als
Begeiſterung, was nur Stolz, als Fülle, was nur Glaube an Er¬
füllung. Mit einer Gier, welche die Stelle des geſunden Enthuſiasmus
vertrat, griff er dann in die Saiten und ſang — wir kennen ſein
Thema. „In Ohio wird's eins deiner Gedichte!“ hatte er ſich ſchon
im erſten Augenblicke geſagt; — hier lag ein theurer tiefgehüteter
[371] Schatz. Nur in ſeinen beſten, überzeugteſten Dichterſtunden kann die
Newyorker-Battery durch ſeine Leier rauſchen.
Moorfeld griff wiederholt dieſe Melodie, aber — ſie verſagte.
Mit tödtlicher Verwunderung erfüllte ihn dieſer Wortbruch der Muſen.
Vertrauen und Mißtrauen wechſelten ſo in gleichmäßiger Selbſttäu¬
ſchung. Wie ein plötzlicher Anflug ihm ausdauernde Kraft, ſo ſchien
die verſagte Gabe des Augenblicks ihm bleibender, unwiederbringlicher
Verluſt. Er glaubte an eine Abnahme ſeiner Geiſteskräfte. Seine
Blätter überfloſſen von Klagen eines Unglücklichen. Die Termiten
der Selbſtbeobachtung fielen ihn an, und jeder Zug wurde zum Zeug¬
niſſe ſeines Verfalls. So finden wir die Klage verzeichnet, daß er
jetzt einen Nachmittagsſchlummer halte, was er ſonſt nur Philiſtern
überlaſſen, und was ein verhaßtes Zeichen ſeiner ausgehenden Jugend.
Daß er in Ohio um zehn Breitegrade dem Aequator näher als in
Deutſchland ſchlief, für dieſes Zeichen nahm er es nicht. Auch die
Beobachtung zufälliger Vergeßlichkeit ſchien ihm verhängnißvoll.
Geſtern — ſchrieb er — commandirte ich meinen Schottländer nach
Neu-Lisbon, das Buch Poſtpapier zu holen, das ich nebſt anderen
Sachen in Mr. Clahane's Store eingekauft, aber in der Zerſtreuung
wieder liegen gelaſſen. Der Knecht kam zurück, das Papier hätte ſich
nicht gefunden, ich müſſe es haben. Die Gauner haben es Euch ver¬
leugnet, aber hättet Ihr doch um Gotteswillen ein neues Buch gekauft,
ich will ſo eben ſchreiben, und ſoll nun paſſen, bis Ihr noch einmal
hin- und zurückreitet. So fuhr ich auf. In demſelben Augenblicke
aber hielt ich inne, denn ich ſchrieb ja wirklich an Dich. Und erſt
daran merkte ich, daß ich das vermißte Papier vor mir unter der Feder
hatte. So ſteht's mit mir. Das iſt der Dämon der Einſamkeit.
Wahrlich, die Klöſter haben nicht verdummt, ſie müſſen ſelbſt dumm
geweſen ſein. — Und ein anderes Mal leſen wir: Kennſt Du die Tra¬
gödie von dem elektriſchen Aal? Man hat lange die Bemerkung ge¬
macht, wenn der elektriſche Aal von den Gewäſſern Süd-Amerika's
nach England verführt wird, ſo kam er entweder todt, oder todes¬
matt an, kurz, ſtarb ab unterwegs. Man forſchte vielfach über dieſe
Erſcheinung nach, zog Klima, Nahrung, Gewohnheiten des Thieres ꝛc.
in Betracht und erkünſtelte ihm in all dieſen Stücken auf's Genaueſte
ſeine Heimath. Umſonſt; er ſtarb ab. Endlich entdeckte man's. Holz
[372] und Eiſen der Fäſſer, worin der elektriſche Aal transportirt wurde,
wirkten als Conductoren auf ihn, und verſetzten ihn in einen ſteten
Zuſtand von Erſchöpfung. In Geſchirren aus Steingut kam er wohl¬
behalten nach England. Sind wir Menſchen ſolche elektriſche Aale?
Ich bin's. Es iſt etwas wider mich in der Natur, ein Feindſeliges,
Tragiſches, das nach einem ewigen Geſetz auf mich einwirkt. Alles
zeitliche Glück hilft nichts dagegen. Ich werde im Bann eines fata¬
liſtiſchen Elementes durch die Welt geſchleift, das mich umbringt. Ich
bin in einen falſchen Raum geſtellt, oder in ein falſches Jahrhundert —
was weiß ich? Nur fühlen kann ich's und in lichteren Momenten
ſeh' ich's. Ja, ich ſehe das Unglück oft vor mir, wie eine Perſon.
In Deutſchland hab' ich einen Freund, der ſieht Geiſter, wie Stamm¬
gäſte im Caſino. Die Proſaiſchen zucken die Achſeln über ihn, aber
die Poetiſchen haben zu keiner Zeit ſich auf den Senſualismus allein
vereidigt. Nein, nicht unverhofft trifft mich mein Buttler! Ich habe
Miragen von ihm, ich weiß, daß er kommen wird. Das iſt's, was
mich ſo traurig macht.
So ſchwelgte Moorfeld in den Foltern ſeiner Phantaſie, und erſchöpfte
den ganzen Reichthum eines geiſtig-Reichen, ſich unglücklich zu machen.
Aus der Fülle dieſer imaginären Leiden, aus dem innerſten Drang
dichteriſcher Selbſtanklage entſtrömten ihm in dieſer Periode die Verſe:
[373]
Ja, die Klage um die Poeſie brachte ihm die Poeſie ſelbſt wieder
zurück. Dieſe Strophen waren ſein erſtes Gedicht in Ohio. Freilich
blieben ſie Fragment. Das gehaltene Aneinanderreihen elegiſcher Ge¬
danken und Empfindungen zweiter Ordnung ſcheint den heftigen Affekt
des Dichters nicht befriedigt zu haben; ungeduldig ſpringt er ab davon,
um in dem ſtrafferen Schlußgedanken Alles auf Einmal auszuſprechen:
ſein Geiſt erkenne ſich in dem Spiegel größerer Zeiten, das Alterthum
hat die Fülle des Lebens erſchöpft, der Epigonen iſt das Nichts! Wir
finden zu jenem Fragmente nur noch die Schlußſtrophe:
Sechstes Kapitel.
In dieſen Schmerzen der Acclimatiſation wurde Moorfeld von
einem Ereigniſſe überraſcht, das den ſtilleren Zug ſeiner geiſtigen
Gährungen grell unterbrach, und ihn ſchrecklich vorbereitet fand, das
Unglück mit offenen Armen zu empfangen.
Die Geſchichte, von der wir ſprechen, findet ſich in Briefform an
Benthal gleich ſeinen übrigen Aufzeichnungen. Wir haben keine Ur¬
ſache, für die Form dieſer Erzählung eine andere zu wählen; mit
traurigem Danke vielmehr nehmen wir das Bild hin, ſo wie es iſt,
wie es von dem ſchwerbetheiligten Herzen ſich unmittelbar losgelöſt,
mit allen eigenen Zügen des Selbſterlebniſſes. Keine Kunſt der Dar¬
ſtellung ſoll dieſes Blatt entweihen. —
Wir erinnern uns, daß die Methodiſtengemeinde zu Lisbon unter
Vortritt ihres Predigers einen Waldgottesdienſt, ein ſogenanntes camp¬
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 25[374]meeting, zu veranſtalten beſchloſſen. Die Zurüſtungen zu dieſem
Feſte lagen bisher gänzlich ab von dem Kreiſe unſeres Intereſſes; ſie
zu verfolgen fanden wir uns ohne jede Veranlaſſung. Dieſes camp¬
meeting aber iſt es, welches in unſerer Aufmerkſamkeit jetzt plötzlich
ſeinen unheilvollen Platz begehrt. Es rückte heran, es war da, und
erſt indem die Sonne ſeines Tages aufgeht, reißt uns das Schickſal
unvorbereitet in ſeine Mitte.
Unvorbereitet — nach der Ordnung jedes bekannten Naturgeſetzes. Aber
Moorfeld ſpricht von einer Vorahnung, die zu merkwürdig ſcheint, als
daß wir den ſchmerzlichen Bericht jenes Ereigniſſes nicht mit ihr ſelbſt
ſchon beginnen ſollten.
Moorfeld erzählt:
....Tags vor dem camp-meeting hatte ich eine meiner melan¬
choliſchen Viſionen. Es war am hellen, heißen Mittage da ſie mir
widerfuhr. Ich war früh morgens ausgeritten, den Tiſchler Rapp zu
beſuchen, der einen kleinen Fieberanfall bekommen. Ich plauderte eine
gute Weile mit ihm, denn ſein Zuſtand ſchien großentheils deprimirte
Gemüthsſtimmung und die ganze Indication — ein theilnehmendes Herz.
Die Sonne brannte ſchon ziemlich heiß, als ich ihn verließ. Ich wollte
hierauf zu Vater Ermar hinüberreiten, oder zum „Meier“ wie er nach
weſtphäliſchem Landesbrauch ſich gerne noch nennt. Der Weg war mir nicht
ſo geläufig, als von meiner eigenen Farm aus, ich hatte mich daher
bald verirrt. Die berühmte Herbſtpracht des amerikaniſchen Waldes
beginnt ſchon und that das Ihrige, mich kreuz und quer herumzu¬
narren. Das Auge des Neulings ſchwelgt in einem Farben-Kaleidoſcop,
wovon der Europäer ſchwer eine Vorſtellung hat, — das Gemüth
freilich klingt wenig mit. Die ſtille geſchloſſene Ruhe eines deutſchen
Herbſtwaldes iſt mir lieber. Es iſt ein raſtloſes Effecthaſchen in
dieſer Fülle von unvermiſchbaren Tinten, — ſpäter ſcheint es ſich zur
erklärten Muſterkarte auswachſen zu wollen. Von dem grellen Ge¬
pränge ſprang ich daher bald ab und vertiefte mich über eine Strophe,
die mir ſchon ſeit Tagen zu ſchaffen macht. Inzwiſchen knusperten in
den Wallnüſſen Schaaren von Eichhörnchen rings um mich her: da
ſchoß ich bis zum letzten Pulverkorn darein. Endlich fing stomachus
an ſeine Spieluhr klingen zu laſſen und auch Cäſar ſchaubte und
ſchnobberte wenigſtens nach Waſſer. Ich wäre herzlich froh geweſen
[375] ein Ziel meiner Irrfahrt zu finden. Ich ſpannte meine Aufmerk¬
ſamkeit nach allen Richtungen, umſonſt. Tiefe unberührte Waldfremde
rings, — keine Spur, kein Merkzeichen eines Menſchen. Wäre ich
noch Herr eines Pulverkörnchens geweſen, ſo hätte ich's jetzt zu Noth¬
ſignalen verſchoſſen; dagegen verführte mich lange Zeit eine hieſige
Spechtart, der wood-cock, der mit einem menſchenähnlichen Klopfen
die Bäume behackt, und deſſen Treiben ich ſelbſt für Signale hielt.
So gerieth ich immer tiefer ins Waldöde. Einmal ſtand ich an
einer gräßlichen Stelle. Der Boden war bedeckt mit Gerippen von
Hornvieh; die Schädel der Thiere glotzten fürchterlich in allen Lagen
und Richtungen aus dem verworrenen Beinhaufen. Schaudernd ſtarrte
ich das Räthſel dieſes geſpenſtiſchen Bildes an, bis ich mich auf ſeine
Erklärung beſann. Die Heerden überwintern bekanntlich im Freien
hier; aber in dieſem aus Scandinavien und Italien zuſammenge¬
backenen Clima erfriert das Vieh oft maſſenhaft in kalten Winter¬
nächten. Der Leichenanger ſolch einer verunglückten Heerde war's, der
mir da aufgeſtoßen.
Krankenbeſuch — Waldſchattirung — Gedicht — Eichhörnchenjagd
— Hunger — gefallenes Vieh — ich ſkizzire dieſe Scenerie, um
darzuthun, wie ſehr ich mit meinem Sinnenleben am Aeußerlichen
betheiligt war, und nichts weniger als zur Schwärmerei aufgelegt.
Zuletzt brachte mich das Geläute einer weidenden Heerde wieder
auf die rechte Bahn. Sie weidete zwar nach Landesart frei im
Walde, aber indem ich ihren Spuren folgte, erreichte ich den Rand
deſſelben. Vor mir lag ein Ackerfeld, in der Ferne entdeckte ich eine
Hofſtelle, doch konnte ich nicht erkennen, welche? Ich ſetzte mich
auf einen der niedergebrannten Baumſtämme am Waldesſaum und
ruhte aus.
Die Sonne ſtand im Zenith; es war die Panſtunde. Der Himmel
glühte in einem grau-roſtigen Dunſt. Die Luft vor mir zitterte wie
über einem Kalkofen. Auf dem Acker kniſterte das Stroh, als würde es
langſam geröſtet. Der ſtrohene Acker war ein häßlicher Anblick.
Indem man hier nur die Aehren abſichelt, das Stroh aber ſtehen
läßt, ſo ſieht ſich das Beſenfeld an, als hätten Buben die ganze
Ernte muthwillig geköpft und gemeuchelmordet. Später brennt man
das Stroh nieder und die Aſche iſt der einzige Dünger des Feldes.
25 *[376] Die Sonne ſchien es aber ſchon jetzt anzuzünden. Die Glühhitze leckte
ſo lüſtern über das blanke Stoppelfeld, als wäre ihr die Speiſe
wohlbekannt. Ich erwartete wirklich, es in jedem Augenblick aufflackern
zu ſehen.
In dieſem Mittagsbrande dachte ich an die Miasmen, die er aus¬
brütet. Wie aus der Vogelſchau überblicke ich die amerikaniſche Erd¬
fläche: aus allen Flußthälern, aus allen Niederungen, Sümpfen und
Neubrüchen ringt ſich das Fieber los. Wer hat dieſem Präſidenten
der Sommermonate ſeine Stimme gegeben? Arme, arme Freiheit der
freien Erde, er nimmt die Stimmen! Oh wie ſie matt hinſinken mit
ausſeufzenden Bruſthöhlen; ihre Stimme iſt auf ewig dahin! Wer
zählt die Tauſende? Ich treibe die ſchöne Spiegelfläche des Ohio
hinab — was wimmert aus den Blockhäuſern des Landes hunderte
von Meilen entlang, wie aus einer langen Katakombe? „Matt, matt,
lieber Herr, o einen Trunk Waſſer!“ Ich folge der langen Wellen¬
bahn des Miſſouri hinauf — was flüſtert über die dürren Grasreſpen
der Prairien? „Die Ernte iſt eingethan, Herr, Väterchen auch!“ Ich
taumle mit den Wirbeln des Miſſiſſippi der Vergeſſenheit des ewigen
Meeres zu, — auf welche Länder ſeh ich herab! Nennt man ſie
Alabama, Arkanſas, Louiſiana, Florida, oder — Pèrelachaiſe? Ein
Volk von Aethiopiern ſeh ich geſchäftig, die häufen moderne Pyramiden
aus Reis, Zucker und Baumwolle zuſammen — aber wie geſchieht
mir? Sind das die langlebenden Aethiopier des Herodot? Seht, wie
ſie Reihen auf Reihen ſich am Boden gruppiren! Wenig Anmuth iſt
in dieſen ruhenden Gruppen. Jetzt kommt der Maſſa und berührt ſie
mit dem Lebensſtab ſeiner Peitſche, aber das Leben bleibt aus. Er
macht kleine Striche durch ſein Namensverzeichniß und geht weiter. —
Auf einmal flogen von ſämmtlichen Kirchen des Landes die Dächer
ab und ich ſah die ſchwarzen Paſtoren auf ihren Kanzeln. Sie
dankten Gott für die geſegnete Ernte. Ein Schauer überlief mich.
Denn die ſchwarzen Paſtoren waren Niemand anders als das verklei¬
dete Fieber und das Fieber dankte hohnlachend für ſeine Ernte.
Gott mußte ſich's gefallen laſſen. — Von den Fieber-Paſtoren kam
ich auf das morgige camp-meeting. Ich wußte jetzt ganz beſtimmt,
daß die Methodiſten pſeudonyme Teufel ſeien. Was ſie ſeit Wochen
rüſteten und ſchürten war ein Menſchenopfer. Dieſe Sonnenglut und
[377] dieſer Religionsbrand konnten nicht anders, als eine verſengende Ehe
eingehen. Es war ein Fackeltanz in einer Pulverkammer. Das Un¬
glück ging ſo deutlich vor meinen Augen vor, ich konnte ſogar das
Opfer nennen, wenn ich nur etwas genauer hinſah. Auf einmal
ſah ich es auch. Ein Kindesbild zart und leicht, ſtand meinem
Auge gegenüber auf dem Stoppelfeld. Es war Annette. Sie lächelte
und war jugendlich glücklich. Plötzlich griff ſie ſich an die Stirn, ein
blauer Funke ſprang aus ihrem Scheitel, ſie ſchrie durchdringend auf,
dann war ſie weg! Ich lief in die Stoppeln um das verſchwundene
Körperchen aufzufinden; das heiße Stroh geißelte mich wie mit glü¬
henden Ruthen, ich rief Annette! Annette! — umſonſt; nirgends eine
Spur des lieben Mädchens.
In dieſem Augenblicke rief die Glocke der Hofſtelle das Vieh zur
Maisfütterung. Ich wunderte mich, denn die Glocke war von Meiers-
Farm. An welcher Seite des Waldes war ich herausgekommen, daß
mir die Farm hier ſo ganz eine unbekannte Anſicht bot? Aber froh
dieſer Entdeckung rannte ich ſogleich dem Gehöfte zu. Die Familie
ſetzte ſich juſt zu Tiſche als ich eintrat. Annette hatte an einem Klei¬
dungsſtück für das camp-meeting genäht, und war über den Eifer
der Arbeit ganz roth geworden. Ich nahm das liebliche Köpfchen
zwiſchen meine Hände und ſagte: Schweſter, wenn du mich lieb haſt,
ſo bleibſt du morgen zu Hauſe. Es kommt ein Gewitter und du wirſt
vom Blitz erſchlagen. Das Kind ſah mich verwundert an und der
Meier murmelte mit dem bekannten Ausdruck ſeiner düſtern Reſig¬
nation: Wir haben nicht Geld genug für den Blitz. Der Blitz wird
vom Geld angezogen, wie die ganze Welt.
Nach Tiſche regten ſich alle Hände im Hauſe zur morgigen Wald¬
fahrt. Ich ſuchte meine Stimmung zu übermannen, indem ich nach
Kräften mithalf. Annette war voll Jubel. Sie freute ſich auf die
große Geſellſchaft von Menſchen, ſie hoffte Mädchen ihres Gleichen als
Geſpielinnen zu finden, ſie wollte nach Blumenſaamen umfragen und
handeln und tauſchen, kurz ihr kleines Leben war im Nothglühen.
Ich hörte zu mit unbezwinglicher Wehmuth. Sie fragte zuletzt: Herr
Bruder, biſt du bös? Ich zog ſie an mich und ſagte, indem ich mich
ganz meiner Trauer überließ: Siehe, Schweſterchen, ich bat dich, zu
Hauſe zu bleiben, und du liegſt mir mit der Reiſe im Ohr. Du haſt
[378] kein Gemüth zu mir. Wenn dir morgen ein Unglück widerfährt, ſo
ſage nicht, daß du unſchuldig zu Grunde gehſt. Du ſollteſt ein Liebes¬
opfer bringen können und bringſt es nicht, — das iſt deine Schuld.
Mir war die Seele ſo voll, ich mußte dieſes oder Aehnliches aus¬
ſprechen, unbekümmert ob es verſtanden wurde oder nicht. Aber das
Mädchen hatte immer einen Begriff des Geſagten, ſie brach in Thränen
aus, legte weinend ihren Kopf auf meinen Schooß und ſprach: Ich
will ja Alles, was du willſt, aber warum willſt du denn? Darauf
hatt' ich freilich nichts zu antworten. So angeboren iſt den Deutſchen
die Logik! Die Italienerin Mignon hätte ſich fraglos hingegeben;
die Deutſche gibt ſich zwar auch hin: „ſie will Alles was ich will“;
aber, fragt ſie deutſch-proteſtantiſch, „warum willſt du denn?“
Warum wollte ich denn? Ich ſchalt mich ſelbſt, das arme Kind ſo zu
quälen und ſagte zuletzt, gewaltſam-heiter: ich prüfte dich nur, Schweſter¬
chen, und bin ja zufrieden mit dir; ſei wieder ruhig.
Abends ritt ich nach Hauſe und ſchlief nach der Ermüdung des
heißen Tages gut und traumlos. Dies war der Vorabend des camp¬
meeting. Tags darauf nahm mich beim Erwachen das ganze troſt¬
loſe Gefühl von geſtern wieder in Beſitz. Auch an meine Viſion glaubt'
ich wieder, und ſo lebhaft, als ſtünde ſie noch einmal vor mir. Daß
eine Stimmung, ohne äußere thatſächliche Urſachen, ſo mit uns näch¬
tigen kann, war mir ſehr ernſthaft zu erfahren. Ich wurde nun erſt
über meine Trauer traurig, griff aber zu meiner Violine und ſtrich
mir die luſtigſten Sachen, die mir einfielen. Dazu tanzte ich in der
Stube herum. Kurz, ich machte Oppoſition. Hierauf ging's aufs Pferd.
Meinem Schottländer übergab ich die Aufſicht des Hauſes und ritt
hinüber auf Meier's Farm, wo ich ſchon Alles zur Abreiſe bereit fand.
Ein großer Zeltwagen ſtand beſpannt, mit Vorräthen und häuslichen
Nothwendigkeiten verſorgt. Die kleine Familie war in ihrem Sonn¬
tagsſtaat. Amerikaniſcher Sonntagsſtaat! Ihre guten weſtphäliſchen
Stücke verbrauchten die Deutſchen zu Hauſe, um öffentlich der lang¬
weiligen Landestracht die Ehre zu geben. Um der Frauen willen
that mir dieſe Probe der deutſchen Selbſtſtändigkeit beſonders leid.
Ihr halb-ſtädtiſcher Kleiderſchnitt drückte ſo gar nichts aus! Ein
Manſchetten-Bauer iſt ein übler Anblick, aber eine Manſchetten-Bäuerin
— doch freilich, Bäuerinnen ſind ſie nicht, die Myladies der Hinter¬
[379] wäldler! — Und der Dutchman mißhandelt ſeine Frau, wenn er ſie
nicht zur Lady traveſtirt.
Ich hatte alſo, dieſem Fuhrwerk zur Seite reitend, die größte Aehn¬
lichkeit mit Don Quixotte, indem er eine ſeiner ſonderbaren Herzo¬
ginnen begleitet. Dieſes Bild war mir willkommen und ich malte
mir's weiter aus, um von der Heiterkeit deſſelben zu profitiren. Mein
Meier hatte unterdeſſen heiligere Gedanken. Während der Knecht
(ich ſehe ab von dem hieſigen Euphemismus „hand“ —), während der
Knecht kutſchirte, machte der Meier Miene, das Geſangbuch aufzu¬
ſchlagen, und einen bibliſchen Pſalm anzuſtimmen. Ich geſtehe, daß
mich dieſe Ausſicht wenig erquickte. Glücklicherweiſe war Annette zu
lebhaft. Sie war ganz Kind. Alles kam ihr neu vor, ich mußte
durchaus jedes Stämmchen und Zweiglein für ein Wunder erklären.
Wie gerne that ich's! Entrannen wir wenigſtens dem Morgenſegen,
nach welchem Vater Ermar lechzte, wie nach einem guten Schluck.
Was für ein prächtiges Morgenlied ſein eigenes Kind war, fühlte er
nicht. Leider dauerte mein Feld- und Waldduett mit dem kleinen
Mädchen nicht lange. Die Andacht ereilte uns doch. Ein Wagen
mit Männern, Frauen und Kindern kam in unſern Fahrweg eingelenkt
und alle überraſchten aus vollen Kehlen ihren lieben Gott mit einem
Frühgeſang, wobei es mir merkwürdig blieb, daß die Pferde nicht
ſcheuchten davor. Zwiſchen eine ſpielende Batterie und dieſes Geheul
geſtellt, hätte ich jedenfalls bei den Kartätſchen Sicherheit geſucht. Wie
wenig kann man ſich doch das höchſte Weſen nach dem menſchlichen
Bilde vorſtellen, wenn ein amerikaniſcher Chor im Himmel angenehm
klingt! Das ganze Volk hat keine einzige muſikaliſche Note in ſeiner
Kehle. Daß ſich dieſe Sangesluſt nun unfehlbar unſerm Wagen mit¬
theilen würde, war ein Gedanke, der mich ſehr beunruhigte. Ich ließ
dem Cäſar die Zügel und erwartete mein Schickſal. Auf einmal
galloppirte es ſeitwärts zum Walde heraus, ein Kerl kam zum Vor¬
ſchein mit aufgeſtreckten Hemdärmeln und einem kupfernen Keſſel als
Sonnenſchirm über'm Kopf, — nie ſaß was Tolleres zu Pferde, ſelbſt
den Barbier mit Mambrin's Helm nicht ausgenommen. Der Burſche
hatte kaum den ſingenden Wagen wahrgenommen, als er den Vor¬
ſänger mit heller Stimme anrief: He Jones, ſing' gegen den Wind,
daß Niemand merkt, wie viel Maisbranntwein heute ſchon den Weg
[380] deiner Nieren ging. Der Spötter war eine jener verwegenen Rowdy¬
geſtalten, und bezog das camp-meeting offenbar als Scandalmacher
und Boxer. Für dieſesmal unterblieb aber noch ein Hahnenkampf
zwiſchen dem Herausforderer und dem Geforderten, wahrſcheinlich der
Ladies wegen, welche bereits Zion und Israel um Gnade ankreiſchten.
Der Beleidigte begnügte ſich damit, daß er zu unſerm Wagen herüber¬
rief: Nathanael Cutter ſpricht nur mit ſeinen Pferden die Wahrheit,
mit den Menſchen nie. Nathanael aber machte ſich an uns und er¬
zählte uns, wie jener pſalmſingende Wagenlenker, ein eifriges Mitglied
der Mäßigkeitspropaganda, nichts ſo ſehr liebe als ein volles Whiskey¬
glas, das bei gehöriger Tiefe die entſprechende Breite habe. Jüngſt
ſei ihm ein artiges Abenteuer paſſirt. Der Mann unterhalte ein
Croceryshop auf ſeinem Farm, das er natürlich mit einem Schilde
verſehen habe: Hier werden keine Spirituoſen verkauft. Nun war es
aber Nacht, das Schild nicht mehr zu leſen, oder vielleicht ſchon ein¬
gezogen, kurz, ein ſpäter Wanderer hält mit ſeinem Wagen vor dem
Laden und fordert in aller Unſchuld ein Quart Whiskey. Der Fromme
war in einiger Verlegenheit. Er führte allerdings Whiskey, aber nur
für ſich ſelbſt und ſeine guten Freunde; er ſieht ſich alſo den fremden
Kunden ein wenig bedächtig an. Dabei gerieth aber dieſer in Ver¬
legenheit. Er ſteckte ſich, um dem Mantel der Nacht unter die Arme
zu greifen, möglichſt tief in ſeinen eigenen, und drehte ſich mit der
allergeringſten Fläche dem Inhaber des geforderten Labſals zu. Trotz¬
dem erkannte ihn dieſer, denn der Fremde war Ehrn Joe Johnſon,
der Mäßigkeitsmiſſionär des daſigen Townſhips, derſelbe, der den
Farmer ſogar perſönlich affiliirt hatte. Bei ſo bewandten Umſtänden
wurde das Quart Whiskey mit aller Discretion verabreicht, und eben
ſo ſchweigſam genoſſen, die beiden Frommen verloren kein Wort über
ihr erkanntes Incognito und am hellen Tage im Miſſionshauſe be¬
glückwünſchen ſie ſich als die auserwählten Kinder dieſer gottloſen
Welt. — Mit dieſer Schnurre galloppirte der Spottvogel wieder von
dannen, der ſingende Wagen aber hatte ſchamvoll einen Seitenweg
eingeſchlagen und ließ noch lauter als zuvor ſeine Lungen arbeiten. —
Der Waldweg wurde inzwiſchen immer lebhafter. Von allen Seiten
kamen Farmer von ihren einſamen Hofſtellen herangefahren, hielten
aber nie dauernd unſere Richtung ein, denn Jeder ſchlug ſich nach
[381] eigenem Gutdünken durch den Wald — Kunſtſtraßen hat unſere Gegend
noch nicht. Auf der letzten Strecke bekamen wir ein längeres Geleite.
Ein Farmer ſchleifte ſeinen Reiſekaſten neben uns her — ein echtes
Dollargeſicht. Ich hatte das Glück, daß er mich in ſeine beſondere
Affection nahm. Er ertheilte mir über amerikaniſchen Landbau und
Productengewinn eine Fülle der nützlichſten Rathſchläge, die mir nur
leider verloren gingen, denn ſie blieben ihm zwiſchen der Zunge und
einer ungeheuren Tabaksprime in der Gaumenhöhle ſtecken. Dazu ſali¬
virte er überreichlich: mit der Uhr in der Hand zählte ich, daß er in
fünf Minuten vierzigmal meinem Pferd in die Mähne ſpuckte. De߬
ungeachtet erkannte ich gegen Nachbar Ermar ſeine ſeltene Dienſt¬
willigkeit bewundernd an, aber der Meier antwortete: Denken Sie,
das ſpricht er fürs ſchöne Wetter? Auf den erſten Blick ſah er,
daß Sie ein Lateinfarmer und trüber Laune ſeien, und indem er
letztere mißrathenen Wirthſchaftsverhältniſſen zuſchreibt, fürchtet er,
Sie möchten Ihre Hofſtelle eingehen laſſen und fortwandern, da uns
doch Zuzug nicht Abzug willkommen ſein muß. Darum bemüht er
ſich ſo kräftig um Ihre Rente. Bei dieſer Enttäuſchung ſchlug ich
vor, dem Manne aus der Nähe zu fahren, aber der Meier machte
mich darauf aufmerkſam, wie er mit einem eigenen Kennerauge das
beſte Niveau der ganzen Waldregion befahre. Eine blumige Stelle,
mit den prächtigſten Aſtern überſäet, erregte das laute Entzücken An¬
nette's. Und mitten in dieſen Juwelenhain trieb der Farmer ſein
plumpes Fuhrwerk. Ich machte ihm Vorwürfe darüber, da antwortete
mir der Verwüſter Folgendes: Hören Sie, mein Herr, die Locomotive,
die hinter uns nachbraust? In zehn Jahren iſt meine Wagenſpur eine
Eiſenbahn und ich war der erſte Ingenieur, der ſie abſteckte! Was
macht man mit dieſen Leuten? Sie formuliren ihre Proſa mitunter
doch großartig! Dann begreift man wenigſtens den Charakter darin
und für die nächſte Minute ſind ſie wieder amneſtirt!
Arme Annette! daß ich ſo ruhig all das Geſchwätz niederzuſchreiben
vermag! Aber freilich — ich bin ruhig, ſehr ruhig! Geßner ſchrieb
ſo ruhig nicht ſeine ſchweizeriſchen, als ich dieſe — amerikaniſche
Waldidylle!
Es war wirklich idylliſch. Wir fuhren in eine tiefe geräumige
Wieſenbucht wie in einen Hafen: der Wald umdämmte uns rings
[382] mit ſeinem kräftigſten Stammholz. Die hohen Laubkronen ſchliefen
kapuaniſch wollüſtig in der ſammtenen Himmelsbläue, — aber wenn
ſie abendlich zu rauſchen anfingen und die Wachfeuer der Verſammlung
aufloderten, und ein feierlicher Bußgeſang dreinſcholl, ſo mußte — den
Standpunkt in halbdeutlicher Ferne genommen — das Bild eine ge¬
waltige Wirkung thun. Die Waldwieſe, auf der wir jetzt hielten,
war bereits das Lager des camp-meeting. Auf ihrer Mitte ſahen
wir die Fuhrwerke der Pilger in ein längliches Viereck zuſammen¬
geſtellt, eine Art Wagenburg. Näher am Waldſaume waren Zelte
und Laubhütten zur profanen Haushaltung aufgeſchlagen, das Innere
der Wagenburg aber war das Allerheiligſte, der penn. An der
Längenfronte deſſelben in der Mitte ſtand aus Brettern und Baum¬
äſten gezimmert die Tribüne des Predigers; horizontal vor dieſer liefen
die Bänke der Zuhörer, ein Querſchnitt durch dieſelben bildete einen
Gang, welcher die Geſchlechter trennte. Die acht Ecken der beiden
Vierecke, in welche durch dieſen Querſchnitt das oblonge Quadrat des
penn's zerlegt wurde, ſah ich mit Herdſtellen verſehen. Das Brenn¬
material lag ſchon jetzt darauf in Bereitſchaft zum Anzünden für
den Nachtgottesdienſt. Noch war die Wagenburg leer; alle Hände
tummelten ſich, die Waldſtelle erſt häuslich in Beſitz zu nehmen.
Daß der ganze Ort übrigens ziemlich ab von dem ungeſunden Lisbon
lag, verſteht ſich unter smart-mens von ſelbſt.
Wir Neulinge ſahen ſonderbar drein. Da ſtanden wir nun in
der Mitte des fremden Volks — es mochten wohl einige Tauſende
da ſein. Ich muſterte mir die Verſammlung, — auf den erſten Blick
war's kein reiches Charakterbild. Was ich ſchon im Einzelnen bemerkt,
fand ich hier ausgedehnter beſtätigt: ein Amerikaner ſieht dem andern
ähnlich. Es iſt ohne Uebertreibung wahr: Amerika, das größte Acker¬
bauland der Erde, hat keinen Bauernſtand. Dieſe Geſichter ſieht man
auf unſern Börſen. Jedes drückt Liſt und Sorge aus, ihre ſpitzen
pfiffigen Naſen ſtecken gleich Widerhacken in der Zukunft — nirgend
ein bäuerliches Sattſein in der Gegenwart oder Vergangenheit. Satt
iſt Amerika überhaupt nicht, trotz ſeiner größten Fleiſchconſumtion.
Ich ſah noch keine Corpulenz. Alles ſpindelt und ſchlottert, nament¬
lich ſind die Köpfe ſo dürr, wie es die edelſte Race, mindeſtens bei
den Pferden, bedeutet. Hier aber bedeutet es das Fieber.
[383]
Wir betrugen uns ſtill und einſam in dem Menſchenhaufen. Das
camp-meeting, ſo manche Woche zuvor der Gegenſtand unſerer Unter¬
haltung, gab uns in dieſer erſten Stunde nicht zu reden von ſich.
Indem wir mitten drinn ſtanden, verloren wir keine Sylbe darüber.
Annette machte große offene Augen zu Allem, aber der Blick drückte
faſt Schrecken aus. Sie ſah überall umher und lief nirgend hinzu.
Sie entfernte ſich keinen Schritt von unſerer Seite. Es kam mir
nicht vor, als ob ſie viel nach Geſpielen und Blumenſaamen Luſt hätte.
Als die Sonne den höchſten Stand hatte, beſtieg ein langer,
ſchwarzer reverend die Predigerkanzel, ſein Clerk neben ihm zog die
Glocke. Alles ſtrömte in die Wagenburg. Ein Menſch im geiſtlichen
Rock trennte am Eingange die Geſchlechter, inſofern ſie der Ordnung
unkundig waren — Annette wurde faſt gewaltſam in die weibliche
Abtheilung gezogen. Als ſchiene ihr der Schutz einer ſchüchternen
deutſchen Frau nicht genügend in dieſer Verbannung, blickte ſie angſt¬
voll nach uns hinüber und zeigte ſich ſehr aufgeregt. Mein dumpfes
Ahnungsgefühl wurde bei dieſem Anblicke um nichts deutlicher, aber
um vieles ſchwerer und drückender. Ich ſagte dem Meier (nur mit an¬
dern Worten) ſein zartes Kind ſcheine mir nicht gemacht, dieſe Feier¬
lichkeit Wochenlang auszuhalten. Er antwortete, man hätte ihm geſagt,
ſpäter laſſe die ganze Ceremonie nach und in den letzten Tagen ſei
es nur noch eine Geſchäftsbörſe der Landſchaft.
Der Prediger auf der Tribüne verkündigte den Leuten, daß er bei
Gelegenheit des Mittags ſie zum Tiſchgebet verſammelt habe und mit
dieſer erſten Andacht erkläre er denn das camp-meeting für eröffnet.
Hierauf ſtimmte er ein Lied an, in das die Gemeinde einfiel — was
ſoll ich ſagen? Wenn ich in dieſem Lande der Graßheiten noch er¬
ſtaunen könnte, ſo wäre ich aus den Wolken gefallen. Die Methodiſten
ſangen ihren Bußgeſang nach der Weiſe:
Es iſt bekannt, daß das ſangesarme Volk der Yankees ſeine Kirchen¬
lieder den weltlichen Melodien der eingewanderten Deutſchen nachbildet.
Dieſe muſikaliſche Anleihe ſetzte mich aber doch außer Faſſung. Herr
Ermar wurde lutheriſch roth dabei und brummte mir zu: Das Predi¬
gen wäre die Hauptſache bei den Methodiſten Als das Lied zu Ende
[384] war, ſagte der Geiſtliche, er überlaſſe die Frommen ihrer ſtillen Be¬
trachtung und trat ab. Folgte die ſtille Betrachtung. Jeder Kopf
ſank auf ſeinen Bruſtknochen, die Blicke ſchloſſen ſich, oder ſtarrten ſo
vor ſich hin. Schwere Seufzer, dem Tone des Schnarchens nicht un¬
ähnlich, gingen durch die Verſammlung. Ueber das Ganze brannte
die Mittagsſonne, — es war getreu das Bild von geſtern Mittag.
Die geſenkten Köpfe das abgeſichelte Stoppelfeld — die Seufzer das
glühheiße Gekniſter im Stroh — warum mußte ich unwillkürlich mit¬
ſeufzen? — Ich blickte nach Annetten hinüber: — ſie war an der
Seite ihrer Mutter eingeſchlafen.
Die Andächtigen erhoben ſich nach und nach aus der ſtillen Be¬
trachtung und zerſtreuten ſich durchs Waldlager zu den Verrichtungen
des Mittags. Frau Ermar ſah ängſtlich um ſich; ſie fühlte offenbar
die gleiche Pflicht dieſes Berufes, aber ſie gönnte auch ihrer Schlum¬
mernden die Ruhe. Wir konnten bemerken, wie verlegen ſie war,
einen Entſchluß zu faſſen. Endlich weckte ſie das Mädchen, aber der
Augenblick war übel gewählt. Denn eben wandelte der lange ſchwarze
reverend den Gang hinab. Indem Annette verwirrt und erſchrocken
aus dem Schlafe fuhr, erregte ſie ſeine Aufmerkſamkeit. Er blieb
flüchtig vor ihr ſtehen und maß ſie mit einem finſtern Blicke. Mich
überlief's. Das „böſe Auge“ des Volksglaubens fiel mir ein. Wäre
ich Mutter geweſen, ich hätte mein Kind bedeckt gegen dieſen Blick.
Ohne ein Wort zu ſagen, wandelte er weiter, aber ich hatte das Ge¬
fühl, als wäre hier eine Einweihung vor ſich gegangen.
Der Prediger — nicht der Lisboner, ſondern ein auswärtiger
Matador — war ein widerlicher Menſch. Seine gemeinen Züge
ſtempelte ſinnliche Rohheit. Die breite Anlage ſeiner untern Ge¬
ſichtshälfte, die ſtarke Muskulatur der Eßorgane gab ihm ſogar
etwas thieriſch Brutales. Sein ganzer Charakterausdruck wies keine
Spur von Geiſtlichkeit auf, ſelbſt nicht von geiſtlichen Laſtern. Ich
kann nicht ſagen, daß ihn das geheimnißvolle Schrecken des Fanatismus
umkleidete; die gänzliche Abweſenheit jeder Gemüthskraft, ſelbſt einer
verirrten, war vielmehr das Schreckliche ſeines Bildes. Sein leeres
blaßgraues Auge ſprach eigentlich gar nichts aus; wie bitterböſe er
damit blickte, ſchien's die giftige Mißlaune eines Geſchäftsmannes, der
ſich nicht ſchnell genug reich melkt an ſeiner Geſchäftskuh. Das war
[385] das Grauen ſeines Daſeins, daß er nicht da war in der Welt die er
leitete. Er machte zittern, aber nicht wie ein europäiſcher Torquemada,
ſondern wie ein Tölpel, der durch ein Kunſtkabinet geht. Er wird
Unheil ſtiften aus platter blinder Flegelhaftigkeit. Er wird die Spiel¬
uhr anfaſſen, wie einen Mühlſtein.
Wir gingen an unſere Feldmahlzeit. Ein eigenthümliches Mißbe¬
hagen drückte unſern kleinen Kreis. Den Waldraum durchwürzte das
traulichſte Parfüm unter der Sonne — Küchen- und Bratenduft:
auch ein Ueberfluß von lebendigen Gliedern war da, der dran herum¬
arbeitete. Aber das Alles wollte noch keine Verſammlung werden.
Jedem Einzelnen fehlte das Gefühl der Zuſammengehörigkeit. Man
überblickte dieſen Menſchennumerus wie einen aufgelösten Roſenkranz,
ja, wie einen bloßgelegten Kirchhof, deſſen innern Beſtand eine Ueber¬
ſchwemmung aufdeckt. Das camp-meeting ſchien ein Haufe von
Schnecken, die dicht zuſammenrücken, aber ſie erwärmen ſich doch nicht.
Das Ganze bleibt ſo kalt wie das Einzelne. Die Sonne zerfloß in
Erbarmen und gab ſich alle Mühe einer äußern Erwärmung. Umſonſt.
Wie mochte ſie ſich wundern! drüben in Neapel gelang ihrs ſo trefflich.
Fünf Menſchen machen den Lärm eines Volkes dort. Hier Tauſende
nicht. In welchen Verhältniſſen leben Sonne und Erde auf ein und
demſelben Breitegrad? Iſt ſie dort die Geliebte und hier die Ver¬
ſchmähte, die um ſo kälter macht, je heißer ſie wird? Unglückliche,
wie tragiſch biſt du in deiner Unſchuld! Du brennſt herab, eine Ta¬
rantella zu zeitigen und zeitigſt das Fieber. Da waren meine Ver¬
weſungsgedanken von geſtern wieder! Wen ſoll man hier anklagen?
die Sonne, die Erde, die Menſchen? Ich hätte in die Schöpfung
ſchreien mögen, wie König Lear: Mach mich nicht toll!! —
Viel Volks war in der ſtillen Betrachtung zurückgeblieben: ent¬
weder im erſten Drang ſeiner Andacht oder aus pfiffiger Concurrenz
um den Frömmigkeitsruf. Das nöthigte auch die Andern, ſchleuniger
nachzukommen, und ebenſo trieb es den Prediger vorwärts. Kurz, ich
erlebte die Raſerei, daß ſtatt eines geſunden Mittagsſchläfchens das
meeting in der ärgſten Hitze zuſammenrannte und die Wagenburg
füllte. Da gab denn der Clerk das Zeichen, der Prediger ſtieg auf
die Kanzel und der Nachmittags-Gottesdienſt fing ſchon am Mit¬
tage an.
[386]
Die Erbauung eröffnete wieder ein Gaſſenhauer-Pſalm; ich kannte
zwar diesmal die Weiſe nicht, aber denke Dir etwa: „O mein lieber
Auguſtin“ oder dergleichen, es verſchlägt nicht viel. Dem ſeelenvollen
Liede folgte die Predigt. Alſo die erſte Methodiſtenpredigt! „Rede, daß
ich dich ſehe!“ ſagte Sokrates. Amerika's Idealismus hat ſich auf die
Religion zurückgezogen: hier ſollt' ich ihn jetzt ſehen. Er fing zu reden an.
Aber ſchon nach den erſten Perioden verging mir Hören und
Sehen im barſten Sinne des Worts. Wie ſoll ich Dir dieſe Predigt be¬
ſchreiben? Nichts Amerikaniſches iſt zu übertragen, Du weißt es. An¬
nähernd ein Urbild iſt in Heinrich IV. die Stelle, wo Fallſtraff eine
Scene am Hof zwiſchen Vater und Sohn repräſentirt. Er ſpricht im
vermeintlichen Charakter eines Königs: „Es gibt ein Ding, Heinrich,
wovon du oftmals gehört haſt, und das Vielen in unſerm Lande
unter dem Namen Pech bekannt iſt; dieſes Pech, wie alte Schrift¬
ſteller verſichern, pflegt zu beſudeln. — So idealiſirt ein Falſtaff
den Satz: wer Pech anrührt, beſchmutzt ſich! So machte es die Pre¬
digt. Und doch iſt mit dieſem Beiſpiel nur der geringſte Theil des
Aergerniſſes angedeutet. Falſtaff's Grundgedanke iſt gemein; zu ver¬
derben war blos die einfache Form daran. Hier aber war das Ein¬
fache zugleich das Erhabene; die gänzliche Ohnmacht des Methodiſten,
aus ſeiner Gemeinheit ſich zu erheben, ſchändete Form und Inhalt zugleich.
Der elendeſte aller Gottesknechte erſetzte dieſen geiſtigen Abgang durch
phyſiſche Mittel. Nichts konnte alberner ſein als die Art, wie er
einzelne Grundſylben betonte und durch eine übermäßige Länge ihre
Feierlichkeit nach dem Klaftermaße dehnte. Ein halbhundert Pendel¬
ſchläge z. B. dauerte das Längenmaß der erſten Sylben in holy oder
glory. Solche Götterworte legte er förmlich unter Streckwalzen und
quetſchte ſie zu Ewigkeitsdraht. Wenn er auf den devil zu ſprechen
kam (und er ſprach von nichts anderm) ſo verſank die Streckmaſchine
in einen Keller. Zu der Dehnung kam dann eine fürchterliche Hohl¬
heit und Tiefe des Tons — in der Wirklichkeit iſt kein Gleichniß
dafür. Man muß es aus der Möglichkeit holen und ſich vorſtellen,
eine ähnliche Klangfarbe gäbe es vielleicht, wenn ein Bär in das
Spundloch des Heidelberger Faſſes brummte. Aus dieſem Bauchredner¬
baße in die kreiſchendſte Fiſtel umzuſchlagen, war eins ſeiner belieb¬
teſten Kunſtmittel. Man glaubte einen verzweifelnden Hahn zu hören,
[387] der zwiſchen Mardern und Iltiſſen um die Integrität ſeines Harems ſchreit,
wenn er im ſchneidendſten Falſett auf einmal den Aufſchrei einer ver¬
dammten Seele losließ. Kurz, der Weihevolle ſchlug ſich in Gedanken,
Worten und Geberden über alle Hinderniſſe der menſchlichen Grenzen
direct zum Pavian durch.
Das war der Hirt. Und dieſem Hirten entſprach die Heerde. Die
Heerde ſteht hier ganz ohne Allegorie da. Sie war es wirklich. Zwar
in der erſten Viertelſtunde hielt die mitgebrachte Menſchenhaut noch
ihre Näthe. Aber bald fing ſie zu platzen an. Zuerſt brachte die
Bußpredigt eine ſonderbare, gewitterähnliche Unruhe unter den Zuhö¬
rern hervor, ein Zappeln und Trippeln von einem Bein auf das an¬
dere, ein Stöhnen, Seufzen, Wimmern und Schluchzen, gemiſcht mit
einem faſt zornigen Murren, das einem Aufruhrgemurmel glich —
Aufruhr gegen den Teufel. Dieſe Geräuſche erhoben ſich nach und
nach zu der Höhe des Lärmes. Wie man in einem ſchwülen Raum
die Kleidungsſtücke ablegt, ſo begannen die Seelen, die ins Schwei߬
treiben geriethen, ſich zu lüften. Man verzweifelte, man verfluchte ſich,
man ſchrie laut die Namen derjenigen Laſter umher, von denen man
ſich am ſchwerſten bedrückt fühlte, und forderte Andere auf, das Gleiche
zu thun, man ſchrie dem Prediger Beifall zu, ließ ſich die kräftigſten
Stellen wiederholen, brüllte ſie im Chor nach, — kurz, man betäubte
ſich gewaltſam. Einer Verſammlung von Tauſenden gelingt das wun¬
derbar ſchnell. Im Nu waren die menſchlichen Stimmen verſchwunden
und ein Heulen, Blöcken, Bellen, Grunzen, Miauen und Schnarren
hub an, als ob eine Noahsarche im Schiffbruch begriffen wäre, und
alle Thiergattungen der Erde um Hilfe ſchrien. Dazu ſtrampften die
Beine, die Arme fuhren in der Luft, die Hände ſchlugen um ſich,
man ſchüttelte die Leiber, ſtieß, rieb, trieb, zwickte und zwackte ſich,
um der Teufelsaustreibung ſo gewiß als möglich zu werden. In
dieſem Tumulte gingen endlich die Donner des Predigers unter. Nur
in einzelnen langgehaltenen Pauſen ſchlug noch ſein hohler Weheruf
durch, wie Glockenſignale in einer feuerlärmenden Stadt. Zuletzt
verhallte auch das — der Brand war fertig, das Schürreiſen ruhte.
Ich ſtand da, von Scham übergoſſen. Die Unkeuſchheit dieſer
Scene ließ mich bereuen, ein Menſch zu ſein. Darum alſo mähte der
Würgengel der Civiliſation die eingebornen Naturvölker vor ſich her,
[388] um dieſes Chriſtenthum nachzupflanzen! Ich ſah unwillkürlich nach
Weſten aus, als müßt' ich der Staubwolke des letzten abziehenden
Indianerſtammes mich anſchließen können.
Aber hier war kein Ort zu Betrachtungen.
Auf einmal ſchoß ein Schrei neben mir auf — ich prallte zurück
wie vor einer Exploſion. Jeſus komm herab! Jeſus komm herab!
lärmte ein Knabe in meiner Nähe mit einer Lunge aus Granit. Und
es genügte ihm nicht etwa der ein- und zweimalige Anruf, ſondern er
wiederholte dieſe Formel fort und fort, [ungefähr] wie unſere Kinder
ihr: Maikäfer flieg! oder: Schmetterling, buntes Ding! auf warmen
Frühlingswieſen rufen. Erſtaunt fragte ich meinen Nachbar, wie es
komme, daß der Muthwillige dieſen Unfug ſich erlauben dürfe und
kein Erwachſener ihm wehre. Der Angeredete maß mich mit einem
großen Blicke, dann hub er an: Es ſcheint, Sie ſind fremd, mein
Herr. Dieſer tugendhafte Knabe lag ſchon geſtern im brünſtigen Ge¬
bete und will es mit des Allbarmherzigen göttlicher Hilfe zu einer
Wiederbelebung bringen. Gebe der Himmel ſeinen Segen dazu!
Aber die Kräfte des Leibes müſſen mit aller Thätigkeit mitwirken,
wenn die gebundene Seele ihre Feſſel ſprengen ſoll. Brav arbeitet
er, der Kleine! Sehen Sie, wie ihm die Halsadern ſchwellen! Wie
das Geſicht ihm anläuft! Er wird den wunderwirkenden Blutdruck aufs
Gehirn früher zu Stande bringen als wir träge Gewohnheitsſünder.
Er bringt es zu einem der glänzendſten reviews, geben Sie acht.
Methodiſtenprediger will er werden, der Sohn der Gnade. Wir
wünſchen uns Glück dazu. Nie hatte ein Kind des neuen Landes beſſere
Gaben für dieſen Beruf. Welch eine Lunge, mein Herr!
Während dieſer Worte hatte ich den Knaben nachſinnend betrachtet.
Es kam mir vor, als ob dieſe Lunge ſchon öfter geglänzt hätte. Wie
war ich überraſcht, ihn endlich zu erkennen — es war Hoby der
Straßenjunge! — Es war derſelbe Lump, der auf der Battery Schand¬
ſchriften verkauft, der im tragiſchen Theater als Chef du succès ſpecta¬
kulirt hatte — zwei Begegniſſe, von denen ich Dir erwähnt, wenn ich
nicht irre. Und zum drittenmale fand ich jetzt dieſe amerikaniſche Jugend¬
blüthe in den Wäldern Ohio's als Candidaten des geiſtlichen Lehramts!
Bei dieſer Entdeckung ertrug ich die Scham meiner Anweſenheit
nicht länger. Ich drängte mich ſachte nach dem Ausgange zurück, und
[389] gewann, obwohl mit einigem Aufſehen das Freie. Ich ſattelte mein
Pferd und beſtieg es. Eine Stunde von hier lag die pennſylvaniſche
Grenze und Gadshill, wo Doctor Althof wohnte. Dort wollte ich
Aufnahme ſuchen für die kleine Annette. Denn daß ich das Kind von
dem camp-meeting entfernen müſſe, verſtand ſich nach dieſer Erſtlings¬
probe von ſelbſt. Den Meier nöthigenfalls zu beherrſchen, war mein
Recht und meine Pflicht. Um ihm Fertiges zu bieten, ſäumte ich
keinen Augenblick, die Sache mit dem Doctor gleich abzumachen. Ich
ritt davon und hörte, glaub' ich, ziſchen und grunzen hinter mir.
Hoby's Geſchrei: Jeſus, komm herab! tönte mir vor Allem nach.
Aber nahe vor Gadshill begegnete mir Doctor Althof ſelbſt, mit
Poll dem Apotheker. Er ritt eben auch zum camp-meeting. Ich
verwunderte mich, daß ihm ſeine Praxis erlaube, ſolchen Schauſpielen
nachzugehen. Er ſah mich groß an. Gerade dort iſt mein Poſten
jetzt, Herr College — war ſeine Antwort; — ſchöne Apoplexien,
Convulſionen, Ohnmachten, Krämpfe, Neuralgien in allen Sorten und
Muſtern, capitale Paroxismen — was denken Sie denn von einem
camp-meeting! Dabei wies er auf ein drittes Pferd, welches mit
einer Feldapotheke bepackt, hinter den beiden Reitern hertrabte. Ich
ſah mir den Gaul mit einer Art von Reſpect an; dies alſo war die
Perſon, die in dieſem Conventikel das letzte Wort hatte!
Ich verſagte mir nicht, meinen Gefühlen über die Scene, von der
ich ſo eben kam, freien Lauf zu laſſen.
Die Religion, ſagte der Doctor, iſt in Italien ein Ballet, in Spa¬
nien eine Verſchwörung, in Deutſchland eine philoſophiſche Liebe, in
Amerika iſt ſie eine Maſchine von ſo und ſo viel Pferdekraft.
Ich verwundere mich überhaupt, war meine Antwort, daß die
hieſige Menſchheit nicht längſt ſich eine neue Religion gegeben. Das
Chriſtenthum ward der leidenden Welt verkündet, der Sehnſucht nach
dem Jenſeits; hier haben wir ein Reich der That, eine leidenſchaftliche
Befangenheit im Dieſſeits, eine abſolute Unfähigkeit zur Vertiefung
und Verinnerlichung. Lauter Gegenſätze zum Chriſtenthum. Amerika
braucht eine eigene Religion.
Ich glaube, es bekommt ſie auch noch, ſagte Althof; das Volk
arbeitet an allen Punkten daran. Was bedeuten dieſe hunderte von
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 26[390] Secten, die täglich entſtehen und vergehen, anders, als das Suchen
nach einer nationalen Form der Religion?
Der Apotheker lächelte ſchalkhaft. Ich ſah ihn befremdet an, da
hier zunächſt kein Anlaß zur Heiterkeit gegeben war; der Doctor be¬
merkte Beides und gab mir mit der beſten Miene folgende Erklärung:
Herr Poll denkt an meine geweſene Braut, jetzige Prophetin im Killany¬
thal. Wohlan, wenn Sie geneigt ſind, ein Pröbchen von amerikaniſcher
Religionsmache zu hören — die Geſchichte iſt dieſe: Ich hatte meine
Mina aus Deutſchland mitgenommen, in der Abſicht unſere Ehe zu
vollziehen, ſobald mein Wirkungskreis ein geſicherter würde. In der
Dauer dieſer Wartezeit verſchwand mir auf einmal das Mädchen.
Niemand wußte, wohin? Sie hatte mir zwar Zeilen zurückgelaſſen von
entweder freiwilliger oder unfreiwilliger Myſtik des Styls; genug, ich
konnte Alles drinn leſen, ich las aber, da ich überhaupt kein weib¬
liches Motiv einer ſolchen Flucht kenne, gar nichts darin. Ich zählte
das Mädchen zu jenen Entarteten, die den ungeheuren Uebergang von
der alten zur neuen Welt moraliſch nicht beſtehen, und vergaß ſie.
Die Kleine hatte ſich aber, in aller Stille gereift an der hieſigen
Humbugluft, folgendes Plänchen ausgedacht: Sie lief nach Philadelphia
und nahm Condition in einer Modewaarenhandlung. Da ſie in ihren
neuen Verhältniſſen nur deutſch ſprach, ſo war die unterſte Stelle,
die ſchlechteſte Gage und eine demgemäße Behandlung ihr Loos. Dieſes
Loos ſchien ihr ſehr nahe zu gehen. Nach reicherer Sprachkenntniß ſah
man ſie das heftigſte Verlangen tragen. Sie ließ ſich berechnen, was
engliſche und franzöſiſche Lectionen koſten möchten. Sie ſparte mit
peinlicher Entſagung, verzweifelte an der Unzulänglichkeit ihrer Mittel,
raffte ſich wieder auf, erlahmte von Neuem, man ſah ſie ſtundenlang
ihr Unglück beweinen, ſie rief die Kraft der Religion zu Hilfe, warf
ſich in die Arme der Conventikeln und Miſſionen, ja ihre Lippen fingen
oft mitten im Verkaufsladen zu beten an. Da rauſcht eines Tags
ein glänzendes Bouquet von Ariſtokraten des „alten Landes“ in ihren
Bazar. Herren und Damen, Kinder und Bediente bezaubern ihr Ohr
mit der Muſik der heiß erſehnten Sprachen. Die arme deutſche Magd
lauſcht wie auf das Säuſeln der Gottheit. Ihr Herz ſchwillt, ſie
vergißt ſich, ſtatt zu ſerviren, fängt ſie zu beten an. Die Directrice
begegnet ihr ſtreng, ſie bricht in einen Thränenſtrom aus. Die Directrice
[391] weist ſie voll Zorn und Verlegenheit fort, da wird das Maß der
überreizten Seele voll. Ekſtatiſch fällt ſie auf die Knie, ringt die
Hände, und fleht in dem impoſanten, ſinnlos-erhabenen Schwall ihrer
Miſſionsmyſtiker den Himmel um ſeinen Beiſtand an. Das Wunder
geſchieht. Verklärt ſpringt ſie auf. Sieg leuchtet ihr ſeheriſches Auge,
ſie öffnet den Mund, die Sprache der Staël und der Martineau
ſprudelt wie eine Cascade über die gottbegnadeten Lippen. Der Salon
erſtarrt. In einer Minute hat Fama ihre Lauffeuer angezündet, das
Volk ſperrt die Straße, ſelig wer zuerſt die neuen Sprachlaute der
neuen Prophetin vernimmt; Kranke laſſen ſich ihre Hände auflegen,
der Saum ihrer Kleider wird geküßt. — In einem Thale Pennſyl¬
vaniens, wohin ſie der Einladung eines Gläubigen folgte, iſt ſie jetzt
Prophetin. Sie bewohnt einen Palaſt und fährt mit Vieren und
zählt ihre Gemeinde nach Tauſenden. Aus dieſem Glanze heraus —
denn wunderbar iſt das Frauenherz — hat ſie mir wieder ihre Hand
angeboten; zum Danke für ſo viel Treue gelobt' ich ihr auf ewig
jenes Mädchenpenſionat zu verſchweigen, in welchem ſie franzöſiſch und
engliſch gelernt. Haben Sie aber Luſt, einen Kopf voll Tiefſinn und
Vernunft zu riskiren, ſo gehen Sie in das Killanythal und zweifeln
Sie an dem Pfingſtwunder der Miß Mina. Der Yankee ſchlägt ſich
für ſie, wie nur ein Menſch für das Göttliche kämpft. Die witzige
Ladenmamſell iſt ein Theil des amerikaniſchen Logos geworden.
Ich antwortete: Wo die Menſchheit in ſo verzerrten Zügen auf¬
tritt, wie hier, da bleibt nichts anders übrig, als ſie zu begreifen.
Denn nur holde Räthſel läßt man ſich gefallen, ärgerliche muß man
wenigſtens auflöſen, um ſie erträglich zu machen. Ich kann die Mög¬
lichkeit dieſes plumpen Wunderglaubens einſehen. Das Volk hat nun
einmal keine Vergangenheit. Warum ſollte es vergangene Wunder
haben? Es will gegenwärtige! Es iſt zu praktiſch, zu ungeduldig, um
nicht ſelbſt zu leiſten, was andere Menſchen, was andere Zeiten auch
geleiſtet haben. Seine einzige Geiſtesnahrung, die Bibel, ſtellt ihm
ein auserwähltes Volk mit ſeinen Propheten auf. Man denke ſich
dabei die Gährung iu einer amerikaniſchen Bruſt! Bekanntlich iſt
Bruder Jonathan ſich ſelbſt das auserwählteſte aller Völker. Der liebe
Gott ſollte mit Juden umgegangen ſein und mit Amerikanern nicht
26*[392] umgehen wollen? Concurrenz! Wahrlich, das Wort darf uns nicht zu
profan ſein, es iſt auch hier das wahre Schlagwort der Sache.
Ich möchte ſagen, der Amerikaner verhält ſich zur Bibel, wie Don
Quixotte zu ſeinen Ritterbüchern — sans comparaison! — warf
Poll jovialiſch hin.
Sehr richtig! ſagt' ich mit lebhafter Zuſtimmung. Don Quixotte
fühlt ſein eigenſtes Weſen ſich erklärt und enträthſelt im Anſchaun
ſeiner romantiſchen Vorbilder. So ſind auch dem Amerikaner die bib¬
liſchen Wunder ganz aus der Seele geſprochen. Geht er doch allent¬
halben darauf aus, die Natur zu überwinden, und wo wäre ſie gründ¬
licher überwunden als im Wunder? Meine Herren, ſehen wir genauer
hin, es herrſcht die natürlichſte Wahlverwandtſchaft zwiſchen den neu¬
amerikaniſchen und altjüdiſchen Humbugern!
Sollte der künftige Islam dieſes Welttheils nicht überhaupt Hum¬
bug heißen? fragte der Doctor.
Wenigſtens, antwortete ich, iſt dieſer Ausdruck der erſchöpfendſte
für den amerikaniſchen Nationalgeiſt; und um den Nationalgeiſt han¬
delt es ſich ja in der neuen Religion, von ihm ſind wir ja ausge¬
gangen. Das iſt's, was die kleinen Secten-Humbuger reuiſſiren läßt:
daß ſie dieſen einen Nerv glücklich berühren. Es frägt ſich dabei
gar nicht, wie überall, um die Authenticität ihrer Wunder; ihr Wunder
iſt, die Eigenthümlichkeit des Volksgeiſtes zu errathen. Nicht die
Wahrheit iſt glaubwürdig, ſondern dasjenige Märchen, das den Mär¬
chengeſchmack am beſten erräth. Tritt nun nach dieſen kleinen Hum¬
bugern ein Groß-Humbuger auf, der nicht einen, ſondern alle Nerven
zugleich berührt, die ganze Klaviatur der Volksgefühle auf einmal
ſpielt, ſo iſt die neue Religion fertig, die Secten münden in ſie wie
die Nebenflüſſe in den Miſſiſſippi. Sie haben das Wort „Islam“, fuhr
ich fort, glücklich gebraucht. Der Islam iſt eine Redaction der Bibel
und des Evangeliums in arabiſche Formen, geſtützt auf die Ueber¬
lieferungen des Volks und die Perſönlichkeit des Propheten. Das un¬
gefähr iſt's, worauf es hier ankommt. Bibel und Evangelium werden
auch dem amerikaniſchen Mahumed die Grundlage liefern: weſentlich
wird aber immer die Umdichtung in amerikaniſche Formen, die Befrie¬
digung des coloſſalen amerikaniſchen Nationalpathos dabei ſein. Und
in dieſem Sinne werden wir die hieſige Zukunftsreligion ohne alle
[393] Frivolität Humbug nennen dürfen. Sie wird eine Religion des Unter¬
nehmungsgeiſtes, der Eroberung, eine Religion go ahead ſein. Sie
wird das: liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt, ſo lange nationaliſiren,
bis ein help your ſelp! daraus wird. Kurz, ſie wird national ſein.
Dieſes Moment darf keiner Religion fehlen, vielmehr iſt es der innerſte
Kern und das tiefſte Bedürfniß einer jeden. Die Römer und Griechen
hatten kein Nationalgefühl mehr und die Germanen hatten's noch nicht,
als ſie ihre heutige Religion annahmen. Hier ſtehen die Sachen anders.
Es iſt eigentlich die größte Anomalie, daß das Volk nur die Stempel¬
acte und nicht auch die Religion des Mutterlandes abwarf. In ſeinen
Verhältniſſen kann es gar nichts brauchen von Europa. Der Grund iſt
einzig, daß man Religionen nicht ſo ſchnell macht, wie Conſtitutionen,
obwohl man auch dieſe mitunter zu ſchnell macht. Aber eben darum
ſteht der Islam Amerika's noch bevor.
Bis dahin, ſagte der Doctor, müſſen wir freilich methodiſtiſche
Tobſucht und puritaniſche Starrſucht für unſer liebes altes Chriſten¬
thum gelten laſſen. Unſer einer ſteht ſich am beſten dabei. Man wird
ordentlich Doctor der Medicin und Theologie zugleich bei dieſen chriſt¬
lichen Suchten.
So unterhielten wir uns, indem wir über dieſes Stück amerika¬
niſche Erde ritten. Unſere Zungen lechzten, unſere Pferde ſuchten ohne
alle Anleitung den kurzen Schatten am Wegſaum. Wir waren froh,
das Waldlager zu erreichen. Das Geſchrei: Jeſus komm herab! ertönte
noch immer. Faſt zwei Stunden war ich abweſend geweſen.
Als wir unſere Pferde abgezäumt hatten und in die Wagenburg
eintraten, fand ich Vieles verändert. Die ganze Menſchenwoge lag
nicht mehr breit über den vorhandenen Raum ausgegoſſen, ſondern
zugeſpitzt wie zur Springflut; Alles culminirte in einem dichtge¬
drängten Kreis. Der Kreis war inwendig hohl; drinnen erſcholl jetzt
die Stimme: Jeſus komm herab! aber die umgebende Menge verhielt
ſich ſchweigend. Hoby, der Straßenjunge, war zum Mittelpunkte der
Andacht geworden. — Ich merke, er ſitzt auf dem „Angſtſtuhl“ ſagte
Doctor Althof — bitte, Poll, reichen Sie mir das Beſteck, wenn ich
etwa eine Ader ſchlagen müßte. Erſchrocken machte ich Fragen, aber
Althof antwortete: Wir werden ſehen, mein Herr. Er und der ſtuden¬
[394] tiſche Poll betrugen ſich auf einmal knapp und gemeſſen. Unter den
Amerikanern nahmen ſie ihre amerikaniſche Miene vor.
Wir drängten uns aus der Pheripherie des Menſchenknäuels
muthig ins Centrum durch. Die Scene hier war folgende. Hoby ſaß
in der That auf einem niedern Stuhl, nach der vorigen Aeußerung,
dem Angſtſtuhl. Der Prediger und ſein Gehilfe ſtanden ihm links
und rechts zur Seite und hielten, oder vielmehr rüttelten und ſchüttelten ihn
wie ein Sieb, um ſeine wunderthätigen Circulationen zu befördern. Er lag
oder ſtreckte ſich in ihren Armen, und that, zwiſchen den Ausrufungen an
Jeſu, ſeine Wiederbelebungsbeichte. Ich habe geſtohlen — Jeſus komm
herab! ich war unzüchtig — Jeſus komm herab! — ich entweihte den Sab¬
bath — Jeſus komm herab! u. ſ. w. So oft er eine Sünde nannte, ſtieß
er heftig mit dem Bein, gleichſam unter Fußtritten ſie verabſchiedend; bei der
Formel: Jeſus komm herab! fuhr er dagegen mit der Hand in die
Luft, wie Macbeth der nach dem Dolche haſcht. Dieſe Geberden löſten
ſich faſt canoniſch-regelmäßig einander ab: es ſah aus wie Maſchinen¬
arbeit, wie Drahtpuppenbewegung. Ein ähnliches Manöver wiederholte
er mit der Stimme. Das Bekenntniß einer Sünde ſtöhnte er dumpf
und röchelnd wie ein Sterbender, den Refrain: Jeſus komm herab!
ſtieß er gellend heraus wie im aufſchreienden Schmerzgefühl. Dabei
athmete ſein heiſerer, offen ſtehender Schlund kurz und lechzend, ſeine
Augen rollten wild, ſein Geſicht war aufgedunſen, verdummt und
verquollen, Schweiß und Schaum bedeckte es reichlich. Die Umſte¬
henden blickten mit großer Andacht auf dieſes Bild des Abſcheu's.
Ich wendete geekelt das Auge davon. Wäre es möglich geweſen,
das dichte Gedränge von Menſchen zu durchpirſchen wie ein Wald¬
dickicht, ſo hätte ich ſogleich die Familie Ermar aufgeſucht. Ich brannte
vor Ungeduld mich zu überzeugen, daß ihre deutſche Natur entweder
ſelbſt ſchon abgeſchreckt ſei, oder mindeſtens meine Sorge für Annette
gutheiße. Zufällig ſtanden ſie mir näher als ich ahnte. Indem ich
den Kreis überblickte, ſah ich Vater, Mutter und Kind an einem mir
entgegengeſetzten Punkte des Cirkels in den vorderſten Reihen ſtehen.
Annette hielt ſich ihr Taſchentuch vor die Augen, weil ihr die Sonne
grell in's Geſicht ſchien, oder um ſich vor dem barbariſchen Schauſpiele
der Wiederbelebung zu ſchützen. Ich mochte gerne das Letztere glau¬
ben. Die Mutter ſtand etwas zurück, ich ſah nur ihre vorgeſtreckten
[395] Hände auf Annettens Schultern ruhen. Ich ſuchte mich zu nähern.
Ich rückte ſachte aber beſtändig von meinem Platz dem ihrigen zu.
Von Zeit zu Zeit gab ich Winke meines Daſeins. Endlich wurde ich
bemerkt. Annette fuhr bei meinem Anblick freudevoll auf, ſie ſprang
aus der Reihe und rief mir voll Selbſtvergeſſenheit zu: Ach, Herr
Bruder, laß uns gehn! Ich erſchrack nicht wenig. Fern, wie ich noch
war, gab ich ihr ein Zeichen der Beſchwichtigung. Aber das Unglück
packte ſie ſchnell. Der ſchwarze Prediger warf ſich ihr entgegen und
donnerte ſie an: Halt, junge Sünderin, wohin? Warum willſt du fort?
Steh und verantworte dich: Biſt du für Gott oder für den Teufel?
Annette bebte zuſammen. Sie wurde brennend roth, ſchlug das Auge
nieder, zitterte heftig und antwortete wie ein erſchrockenes Kind: mit
Thränen. Das ſinnloſeſte aller Thiere hielt dieſe Stummheit für Ver¬
ſtocktheit. Schreib ſie in das Buch des Teufels! brüllte der Pfaff
ſeinem Schreiber zu. Da fuhr ſich das Mädchen an die Stirne, ein
durchdringender Schrei, ein Riß durch alle Geſichtsmuskeln, ſie ſtürzte
zu Boden.
Man ſagte mir, ich habe wie eine Tigerkatze an der Kehle des
Methodiſten gehangen, und zwei Parteien haben mich wechſelweiſe be¬
ſchützt und geprügelt.
Ich kam wieder zur Beſinnung; Annette nicht mehr. Der Schlag
hat ihr Gehirn gelähmt; ſie delirirt.
Man will das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus
bringen. Das Irrenhaus zu Columbus hat eine Façade von Säulen
und Pilaſtern, eine prächtige Marmorbekleidung und iſt, wie alle Nar¬
ren- und Zuchthäuſer dieſes Landes, das ſchönſte Gebäude ſeiner Stadt.
Wenn dich der Dircetor darin herumführt, ſo wird er ſein reſpectvollſtes
Nationalgeſicht vorlegen, und in ſeinem langweiligen Engliſch feierlich
peroriren: Dieſes Haus iſt errichtet worden und ausgeſtattet von den
Beiträgen großmüthiger Bürger des Staates Ohio zum Heile derjenigen
unſerer leidenden Mitchriſten, welchen der göttliche Rathſchluß die Ge¬
ſundheit des Geiſtes entbehren läßt. Es enthält dreihundert Wohnun¬
gen, Betſäle, Leſeſäle, Badeſalons und einen Garten von fünfzig Acre
Landes. Es wird ärztlich geleitet von dem ſehr ehrenwerthen Herrn
Doctor Jehadiah Bykbookbeaker, die Koſten ſeines jährlichen Unterhalts
betragen die Summe von hunderttauſend Dollars. Die Einrichtungen
[396] und Zuſtände der Anſtalt ſind ſolche, welche den Fortſchritten der
Wiſſenſchaft, der Blüthe des Staates Ohio, dem Ruhme unſrer großen
und erleuchteten Nation in allen Theilen entſprechen. Unſre Wohl¬
thätigkeitsanſtalten ſind der Stolz unſers Landes.
Aber wie ſie ſich füllen, ſagt er nicht.
Siebentes Kapitel.
Dieſer Brief war der letzte, den Moorfeld aus Ohio an Benthal
ſchrieb. Die ſcheinbare Ruhe und Mäßigung, womit er die unglückliche
Begebenheit erzählt, war vielleicht ſchon in dem Augenblicke, da er's
that, entweder nur die Ohnmacht des Betäubten, oder das mühſamſte
Product der Reflexion, womit er — ein Mann vor einem Mann —
ſich zuſammennahm. Anders ſah ihn ſeine nächſte Umgebung. Der
Ausbruch der Wuth, von welchem er in knappeſter Gemeſſenheit Er¬
wähnung macht, daß er ihn unmittelbar gegen den Urheber des Un¬
glücks gerichtet, fluthete ungezähmt auch über die feſteren Dämme der
geſelligen Ordnung und Verträglichkeit. Zunächſt zerfiel er mit Doctor
Althof. Was er in ſeinem Briefe ſo ruhig ausſpricht: „Man will
das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus bringen“ be¬
kämpfte er in der Wirklichkeit mit dem heftigſten Widerſpruch. Er
wolle ſie nun und nimmermehr „unter den Fäuſten der Yankees“
wiſſen, ſchwor er ununterbrochen, wie er überhaupt alle Heilvorſchläge
des Doctors, welche die gewöhnliche Praxis in Lähmungsfällen befolgt,
leidenſchaftlich verwarf. Er ſchalt den Doctor einen „craſſen Soma¬
tiker“, wollte das Kind mit Adagios auf der Violine heilen, wollte
ihr friſche Blumen aus Deutſchland kommen laſſen und malte einen
„Heilplan der Liebe“ aus, der vielleicht eine ſchönere Eingebung der
Poeſie als der Wiſſenſchaft war. Ganz außer ſich gerieth er aber, als
Vater Ermar ſelbſt, ohne von dem ärztlichen Streite einen Begriff zu
haben, nur dem natürlichen Inſtincte des Verſtandes folgend, die Partei
des Beſonnenen gegen den Excentriſchen ergriff und ſeine Kranke der
[397] ausſchließlichen Behandlung des Doctor Althof anheimſtellte. So
vergingen die erſten Stunden und Tage im Hauſe des Doctor Althof
zu Gadshill, dem unmittelbaren Schauplatze nach jener traurigen Ka¬
taſtrophe, unter einem fortwährenden Sturme von Aufregungen, die
Alles verwirrten, Meinungskämpfen, die Niemanden belehrten, Sorgen,
die ſich ſelbſt im Wege ſtanden, Thätigkeiten, die ohne Frucht blieben,
und Moorfeld war nahe daran, das zweite Opfer zu werden. In ſei¬
nen brennendſten Energien ohne Nutzen und Einfluß, von dem eige¬
nen Triebe der Selbſterhaltung dunkel gemahnt, daß ſein erſchüttertes
Nervenleben die Gefahr nur theilen, nicht aufheben könne, ergab er ſich
zuletzt in den Gedanken, einen Menſchenkreis zu verlaſſen, in welchem
das ungeſtümſte Herz das unfruchtbarſte war. Er nahm dem Doctor
Althof ſein Manneswort ab, vor ſeiner Zurückkunft Annetten nicht
nach Columbus zu ſchicken, dann ritt er aus, um von dem ſchweren
Unglücksſchlage zunächſt ſich ſelbſt zu erhohlen.
An ſein Haus konnte er nicht denken. Die öde Waldhütte, des
Schottländers dumpfe Geſellſchaft waren doppelt unheimlich in dieſen
Augenblicken. Eben ſo war ihm die geſellige Nähe anderer Menſchen¬
wohnungen verleidet. Die Natur in ihrer wilden Schönheit und
Unſchuld, die unberührten Reize verſchwiegener Einſamkeiten hatten
vielleicht allein das Wort, — eines jener einfachen, ewigen Worte hier
auszuſprechen, an denen das Menſchenherz zu allen Zeiten geſundet.
Moorfeld folgte dieſem Zuge.
Er dachte an die Schönheit der „Seen“. Erie — Huron —
Michigan — Saginaw — Makinaw — St. Clair — St. Marie —
das waren die Namen, welche damals von den Thauperlen ſehnſüchti¬
ger Einbildungskraft glänzten. Jene wunderbaren Binnenmeere, mit
ihren durchſichtigen, chriſtallhellen Gewäſſern, mit ihren undurchforſchten
Labyrinthen friedensſeliger Eilande, mit ihrem dichtbelaubten Kranze
länderbedeckender Wälder, jene duftigen Grenzbezirke der Menſchheit,
an welchen der ſeltene Reiſende damals ankam, wie Alexander an den
Thoren des Paradieſes, — ihre Kunde erſcholl in den Regionen der
Civiliſation mit einem Zauberklange, den das Gemüth tief in ſich auf¬
nahm, in die Wünſche und Träume der inneren Welt leiſe mitklingen
ließ, den frecheren Geräuſchen der zudringlichen Gegenwart vielleicht
unterordnete, aber brach der rechte Augenblick an, dann ſtieg das troſt¬
[398] verheißende Bild dieſer engelreinen Erde hinreißend vor dem inneren
Auge empor und alle Stimmen des qualbeladenen Herzens riefen laut:
Auf nach den Seen!
Wir vergeſſen nämlich nicht: Zwiſchen uns und unſrer Geſchichte
liegt eine Generation. Wenn die Phraſe von dem „Belecken der Cultur“
ſchon in den meiſten Fällen eine übereilte iſt, da vor den ungeheuren
Formen von Meer und Land die einzelne Umformungen durch Menſchen¬
arbeit in der Regel doch infuſoriſcher erſcheinen, als der Schöpfungs-
König ſich ſchmeichelt, ſo lag vor dreiundzwanzig Jahren die Region
der nordamerikaniſchen Süßwaſſerſeen in der That noch in dem zau¬
beriſchen Kindheitsdämmer einer halbmythiſchen Geographie. Zwar
wehte die Rauchflagge des Steamers ſchon in jenen Urweltsregionen,
aber dieſe fruchtbare Gattung von Seeungeheuern hatte ihr Geſchlecht
noch nicht zu der Ausbreitung von heute gebracht. Noch war die ein¬
ſame Welle dieſer Gewäſſer des indianiſchen Ruders gewohnter, als der
wühlenden Dampfmaſchine, noch ſtand der Eichwald in ungelichteten
Reihen um die heimatliche Seebucht, der heute in allen Schiffsgeſtalten
die Meere der Welt durchfurcht, noch hielt der Bär ſeinen ruhigen
Winterſchlaf in Höhlen, wo heute Bijouterieläden ſtrahlen, und im
gasflammenden Leſecabinet die Zeitungen von London und Paris auf¬
liegen.
Dahin nun richtete Moorfeld nach der Verblutung des erſten, wil¬
deſten Schmerzes ſeine ſtillen Wege. Im Augenblicke des Abſchieds
blieb ihm mit Doctor Althof noch ein harter Kampf zu beſtehen. Der
vorſichtige Mann beſtand darauf, Moorfeld ſollte, wie er ſich ſcho¬
nend ausdrückte, einen — Diener mitnehmen. Der Arzt errieth aber
den Arzt und kalt-beleidigt gab Moorfeld die Antwort: Kann unbe¬
gleitet zur Hölle gehn! Auch ſeinen Abſchied von Annetten ſuchte
Doctor Althof um jeden Preis hintanzuhalten. Ein Schlaganfall hatte
ſich noch Tags zuvor wiederholt und das Kind einen entſetzlichen Schritt
weiter in ſeiner Krankheit geführt. Die Geſichtszüge waren von der
Lähmung bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, die Zunge kaum noch eines
thierähnlichen Stammeles fähig, die Irre des Geiſtes vergröberter, finſtrer.
Es war ein peinlicher Augenblick, als Moorfeld den letzten Kuß auf
die „entgeiſterte Stirne“ zu drücken begehrte. Der Doctor, der Vater,
die Mutter ſelbſt ſtellten ſich mit Bitten und Thränen davor. Je ge¬
[399] reizter Moorfeld ſeinen Willen behauptete, deſto gefährlicher ſchien es, ihn
zu erfüllen. Zuletzt bewältigt aber die Menſchen nichts ſo ſehr als
die Leidenſchaft, wo ſie in ihrem Berufe iſt, und das Nachgeben mußte
gewagt werden. Man führte ihn vor das Bild der Unglücklichen. Alles
bangte einem entſetzlichen Ausbruche entgegen, als Moorfeld mit offenen
Armen auf die gräßlich Verlorene zuſchritt. Aber er blieb ruhig.
Stillſinnend hielt er das Kind vor ſich hin, und vertiefte ſich in ſein
Anſchauen. Nach einer langen Pauſe rief er aus:
Warum nannt' ich dich auch Schweſter! Dann legte er ſeine Hand
auf ihren Scheitel und ſprach: Sei geſegnet, mein Kind! Der Gott
der Menſchenopfer hat dein Schickſal erlaubt. Das reine Weib und
die Schuld dieſer Welt haben eine alte, myſtiſche Gegenſeitigkeit. Edle
Jungfrauen ſeh ich den Ungeheuern des Alterthums opfern, und noch
dem Kreuze bringt die Jungfrau blutigen Tribut. Es mußte ſo ſein!
Dieſem Lande fängt ſein zweites Zeitalter an. Als Leiber mit Leibern
hier rangen, riß die Rothhaut den Scalp vom Haupte des Weißen;
heut rollen Geiſtersſchlachten über dieſen Boden und die Wilden ſcal¬
piren Geiſter. Zu groß iſt, was hier beginnt, es muß barbariſch be¬
ginnen. Die Sieger von Teutoburg, die zweimal Rom überwunden,
ſollen deutſches Geiſtesbanner auf Waſhington's Kapitol pflanzen. Die
neue Welt iſt ihnen gegeben, wie die alte. Voran, deutſche Jungfrau,
heilige, weihe! Du leideſt für dein Volk; du biſt Deutſchland! armes,
frommes, mißhandeltes Kind. Mit deinem Unglück iſt dieſer Boden
deutſch geworden; — könnte der Geiſt denn ſiegen, wenn er nicht zer¬
treten wird? Wir haben, liebes Kind, eine große Schuld in dieſes
Land eingeführt: wir ſind unſchuldig! Wir ſind wahrhaftig unter den
Lügnern, wir ſind aufopfernd unter den Selbſtlingen, wir ſind zart
unter den Ungeſchlachten, wir ſind keuſch unter den Frechen, wir ſind
tiefſinnig unter den Stumpfen, wir ſind fromm unter Heuchlern, wir
haben Herzen unter Ziffern, wir ſind Menſchen unter Beſtien! Ob
wir ſiegen werden; — wer darf zweifeln, wenn Columbus nicht der
Vater der Atheiſten ſein ſoll? Aber bis dahin, werden ſie uns er¬
würgen. Viel ſchönes Leben wird untergehen. Sie haben ſcharfe
Meſſer und volle Kanonen die weißen Delawaren und Mohikaner. Sie
haben uns das Zauberwort der Cultur nachgeſtammelt, aber unrein, daß
ſie nicht gute, nur verderbte Geiſter citiren können. Und ſie kommen, ſie
[400] kommen die hölliſchen Schaaren! Beelzebub-Reverend voran! Auf
Teufel, auf, das Schlachtmeſſer bloß! Hier liegen wir; deutſche Häup¬
ter liegen da, morgen deine Könige, heute noch deine Knechte! Schnell!
ſchnell! greif zu, innre Stirnhäute ſind zu gewinnen; reiße, zerre,—
ſie zucken, ſie bluten, — ha, da raucht ihr Gehirn! Da raucht es!
es iſt gethan! klatſchet, Teufel: der Deutſche iſt wahnſinnig und
Yankee iſt ein kluger Mann! — Moorfeld ſtürzte mit gellendem
Lachen hinaus, ſchwang ſich auf's Pferd, und riß in die Straße hinein,
eh' ein Arm zu ſeiner Rettung ſich erheben konnte. Wir haben ihn
zum letztenmal geſehen! ſagte Doctor Althof, einſylbig hinter ihm.
Die gewöhnliche Prophezeihung des Verſtandesmenſchen gegenüber
dem Gefühlsmenſchen. Leider, er verſteht das Fatum ſchlecht genug!
Denn längſt würde ihn die Erfahrung gelehrt haben, daß eben er
ſelbſt es iſt, der Verſtandesmenſch, der regelrechte, geordnete Geiſt, der
vollwangige, behagliche Lebekünſtler, der von jeher die raſcheſten Blitze
des Verhängniſſes angezogen hat. Auf luſtiger Hochzeitsreiſe, beim
ſchmackhaften Lieblingsgericht, über wohlabgezählten Summen und ſchön
ausgerundeten Codicillen packt ihn die Raubtatze des Todes und brüllt
ihm in's Ohr: ein Ungeheures iſt in der Welt, ein Racheſchrei gegen
alles Leben, dein Daſein nur der ſecundenlange Fall eines Fallbeils!
Menſchen wie Moorfeld dagegen ſind vorher beſtimmt nur in langen,
langſamen Zügen den tragiſchen Schickſalsbecher zu trinken. Von der
Lebendigkeit ihres Gefühls, von der Reizbarkeit ihrer Phantaſie, von
der Bahnloſigkeit ihres Geiſtes, von der raſchen Verbrauchskraft all
ihrer menſchlichen Mittel erwartet die Welt fortwährend irgend ein
directes, wundergleiches Verderben, das neu und plötzlich mit ihnen
ende. Mit nichten; ſie wandeln ſicher, wie Somnambüle, ihre gefähr¬
liche Bahn. Die Poeſie des Schickſals geht den Poeten aus dem
Wege. Ja; die dämoniſche Nachtluft dieſer Welt dringt ihnen zu
allen Poren an's Herz, ihr Horizont iſt voll den Schattenbildern der
Furien, welche die Schaubühne der Erde umkreiſen; ſie wittern den
Hauch des Todes, dem alles Leben geweiht iſt, mit einer verhängni߬
vollen Nervenſchärfe: ihre Poeſie ſelbſt iſt nichts als das Schnauben,
Sträuben, Bäumen und Fliehen des edlen Roßes, des den ſprung¬
fertigen Tiger in ſeinem Bereiche ſpürt: aber wie lange zaudert der
Sprung! wie lange iſt der Weg, den die Senſitiven der Lebens¬
[401] Tragik auf der entſetzlichen Kante ihrer ſtets geſchärften Selbſtqual
zurücklegen, bis dann der Tod, der endliche, perſönliche Tod, irgend
einmal ein vergeſſenes, blödſinniges Greiſesauge bricht, und die Welt
wieder erinnert wird, das war einer jener Kometen, deſſen erſtes Erſcheinen
ſchon ihm und ihr den vernichtenden Zuſammenſtoß zu bedeuten ſchien! —
Nein! nicht hier und nicht heute endet die Bahn unſers Helden;
ſeine Uhr hatte noch länger zu laufen. —
Moorfeld ritt bis zur Erſchöpfung. Wohl nannte er das Reiten
einſt die ſchönſte Ehe zwiſchen dem Menſchen und der Naturkraft.
Pferd und Reiter wirken auf einander ſympathetiſch zurück. Moorfeld's
Raſerei war mit Blitzesverſtändniß in das Thier gefahren, die Ohn¬
macht des Thieres gab ihm hierauf Ruhe und Sanftmuth. Sein ver¬
ſtörtes Auge gewann wieder Blicke für die Außenwelt.
Die Gegend, die Moorfeld durchritt, zeigte größtentheils einen öden,
unbeſtimmten Charakter. In den früheren Grenzkriegen mit den In¬
dianern waren zwiſchen dem Erie und Ohio große Waldſtrecken nieder¬
gebrannt worden, um den Eingebornen das Jagdgebiet zu verderben.
Der jüngere Waldanflug hatte nirgend noch die Kraft und Fülle des
alten, geſchloſſenen Urwalds erreicht; hätte die Sonne nicht ſo erſtickend
heiß gebrannt, ſo konnte der Wanderer häufig glauben, durch die Re¬
gionen des Buſchholzes im hohen Norden zu reiſen. Die verwüſteten
Bodenblößen, einer langen Austrocknung preisgegeben, ſingen nur lang¬
ſam an, unter dem Schutz des Nachwuchſes Feuchtigkeit und Humus
wieder zu ſammeln. Oft lagen ſie als nackte Wüſtenſtriche da, nicht
Wald, nicht Prairie, ja und nicht einmal Haide mit dem äſthetiſchen
Charakter der Haide-Tinten und Linien. Hin und wieder ſtand eine
flache, formlos begrenzte Sumpflache auf dieſen Steppen, wahrſchein¬
lich die entartete Nachkommenſchaft früherer Quellen und Bäche, welche
des Waldſchattens, ihrer natürlichen Leiter, beraubt, das urſprüngliche
Rinnſal verloren. Jetzt irrten ſie heimatlos über die veränderte Erde,
verſchwanden auf ſandigem Boden, ſtanden auf fettem und thonigem
als Moräſte. In dieſen Einöden ſcheuchte Moorfeld's Ritt nur ſelten
ein wildes Truthuhn, oder ein verirrtes virginiſches Repphuhn auf;
aber Schwärme von Raben befleckten den klarblauen Herbſthimmel, oder
ein Aasgeier kreiſchte hoch über Schußweite. In Buſch und Geſtripp
raſchelte zuweilen eine Ratte — Waidwild, überall ſeltener als man
[402] den Europäer glauben macht, war hier gänzlich ausgerottet. So ließ
ſich auch von Waldſängern einzig die Spottdroſſel hören, welche das Ohr
unſers Wanderers bald mit dem kräftigen Zungenſchlag des Finken,
bald mit den weichen Kehllauten eines zärtlichen Sproſſers äffte, in
den Sprachen aller Vögel redete und das Gemüth keines einzigen aus¬
drückte, bis ſie zuletzt als ſtylloſe Manieriſtin gründlich ärgerte.
Von Menſchenwohnungen fand Moorfeld nur den ſpärlichen An¬
flug deſſen, was ſich heute — hall, oder — city in dieſer Gegend nennt.
Es waren rohe, eintönige Blockhütten von ſtets wiederholter Form,
die ſo ermüdend durch jede Einzelnheit lief, daß ſich Moorfeld mit
graueſter Ueberzeugtheit eines Glaſers erinnerte, welcher ihm einſt ge¬
rühmt, „jedes Fenſterglas paſſe in jeden Fenſterrahmen der Union“.
Ein paarmal überraſchten ihn auch Gruppen von eleganten Frame¬
oder Bretterhäuſern, welche mit hellgelbem Anſtrich, rothen Dächern und
grünen Jalouſien keck an ein ſumpfiges Fuhrwerkgeleiſe wie an die
ſchönſte Poſtſtraße ſich hinſtellten, und irgend einen Balkon, Portikus,
oder eine caktusgeſchmückte Veranda mit der Koketterie eines nur zu
naheliegenden Bildes ausluden. Das waren Häuſer von Humbugern,
welche als Lockvögel der Landſpeculation vor den unerfahrenen Augen
der Einwanderer „Farmerglück“ zu ſpielen hatten. Ihre „lovely spots“
ſtanden entweder ſelbſt zum Kaufe, oder das käufliche Land war ſo
geſchickt zwiſchen ſie einparzellirt, daß der Käufer nicht umhin konnte,
künſtliche geſchraubte Preiſe dafür zu zahlen. In einer dieſer bemal¬
ten Oſtereiſchalen hielt Moorfeld ſeine Mittagseinkehr. Der Wirth,
der ihn für eine Beute halten mochte, belagerte ihn mit lauernden Ge¬
ſprächen. Unwillig blickte ihm Moorfeld auf den Grund, und legte
in raſchen, kurzen Antworten ſeine Sacheinſichten zu Tag. Da ſprang
der Yankee ab, und gefiel ſich hierauf den Frommen zu ſpielen. Er
erkundigte ſich eifrig nach dem camp-meeting. Moorfeld ließ ſein
Pferd abfüttern und ritt ungeſättigt von dannen.
Er überließ ſich planlos der Irre. Die beſuchtere Straße nach
Erie, der Stadt, hatte er abſichtlich vermieden, ſein Weg ging in die
einſamſten Richtungen.
Erſt als der Abend niederſank, am Horizont dichtere Waldmaſſen
in finſterer Geſchloſſenheit zuſammenrückten und die Rieſenſchatten der
Wheymuthtanne, wie Landzungen der Nacht tief und das ſonnige
[403] Mattgold des wieſenflachen Vordergrundes einſchnitten, dachte Moor¬
feld zum zweitenmale an ſeine Einkehr. Indem er den Zirkel der
Gegend nach Spuren menſchlicher Nähe durchflog, tönten ihm aus dem
nahen Waldgrund Artſchläge entgegen. Moorfeld folgte ihnen. Er
fand einen Mann im Schurzfell und baumwollenen Hemde, welches
bis an den Gürtel eingeſtreift war, beim Holzfällen. Sein Körper
leuchtete kupferroth vom Widerſchein der untergehenden Sonne. Doch
nein; Moorfeld erkannte dieſe Röthe bald als die natürliche Hautfarbe
des Mannes. Der Holzſchläger war ein Indianer.
Zum erſtenmal ſeit er Amerika's Boden betreten, hatte Moorfeld
den Anblick der rothen Race. Der Indianer gehörte offenbar der Ci¬
viliſation an. Sein Weſen unterſchied ſich in nichts von dem arbeit¬
gewohnten Proletarier. Spuren kriegeriſcher Wildheit leuchteten nicht
daraus vor. Seine Züge waren die eines alternden, ſorgenvollen
Menſchen, ſeine ſchwarzen Augen lagen hohl und wenn ſie nicht eben
mit „der Gedankens Bläſſe“ blickten, ſo war es doch ein — chriſt¬
licher Leidensblick.
Moorfeld hielt ſein Thier an, und fragte nach der Lage der nächſten
Farm. Der Indianer maß ihn mit argwöhniſchen Blicken, indem er
für alle Fälle ſeine Axt an ſich faßte. Moorfeld durchſchaute die Lage
des Mannes. Aus der kurzen Erfahrung ſeines Grundbeſitzes wußte
er, daß der Beſitz ausgedehnter Waldſtrecken von den Nichtbeſitzenden
kaum als ein Recht, ja faſt wie eine Verſündigung an dem Natur¬
rechte betrachtet, und Jagd und Holzſchlag auf ſogenanntem fremden
Boden dieſer Anſchauung gemäß überall ausgeübt wurde. Moorfeld
war kein Gegner dieſer Rechtsbegriffe. In Amerika, wo das Holz
mehr Laſt als Revenüe iſt, wo durch die Landſpeculation aufgekaufte
Waldmaſſen überall herrenlos liegen und ſogar oft nicht anders als
mit den Noten einer Schwindelbank bezahlt ſind: kann der größere
Waldfrevel leicht beim Monopol des Beſitzers ſelbſt zu ſein ſcheinen.
Deßungeachtet handhabten viele Beſitzer den Schutz ihrer Wälder un¬
erbittlich, mehr mit dem Inſtinkte der Grauſamkeit als der Gerechtigkeit,
und der Indianer fürchtete ſeinem ganzen Benehmen nach Verrath.
Moorfeld ſah daher ein, daß er zuerſt um das Vertrauen des rothen
Mannes werben müſſe. Er bot dem Arbeitsmüden ſeine Feldflaſche an,
überzeugt, den kürzeſten Weg zu ſeinem Zweck damit einzuſchlagen. Aber
[404] der Indianer ſtieß die Flaſche mit Abſcheu zurück. Moorfeld ſtaunte.
Seid Ihr Temperance-man? fragte er verwundert. Der Indianer
griff feſter an ſeine Axt, gleichſam als ſei es gut, das was er ſage,
in wehrhafter Verfaſſung zu ſagen, dann ſtieß er mit Ingrimm die
Worte aus: Wollte Gott, nur der rothe Mann wäre es und der weißen
Männer kein einziger. Was habt Ihr Mäßigkeitsvereine und führt
dem rothen Mann das Evangelium nie anders als in Begleitung des
Whisky-Barrels zu? Moorfeld wurde aufmerkſam. Er antwortete vor
Allem, daß er nicht dem Volke der Amerikaner angehöre. Die Züge
des Indianers milderten ſich. Moorfeld fuhr fort und lobte das tiefe
Gefühl des Indianers für das Nationalunglück der rothen Race. Der
Indianer, auf ſein Beil gelehnt, hörte mit einer traurigen Reſignation
zu. Es iſt nicht das, ſagte er kopfſchüttelnd. Es iſt nicht das. Der
rothe Mann muß untergehen. Ich ſehe den Beſchluß des Himmels
ein, und ob dieſer Beſchluß mit Pulver oder mit Branntwein voll¬
zogen wird, kann mir gleichgiltig ſein. Ich habe es öfter als einmal
geſehen, Sir, wie der weiße Mann im Nanking ſchmunzelnd dabeiſtand,
wenn ein Haufe halbnackter Indianer nach der Wirkung ſeines Brannt¬
weinfaßes ſich mordgierig in die Schlachtmeſſer rannte; ich habe
es geſehen, wie der feine Staatsmann aus Waſhington lächelte, wenn
betrunkene Häuptlinge ihren Pfeil, ihren Waſchbär, ihre Schildkröte,
oder was ſonſt ihren Namenszug bedeutete, beſinnungslos unter einen
Staatsvertrag malten, der Tauſende von heldenmüthigen Kriegern
und Jägern in die Verbannung trieb; ich habe es geſehen, wie der
Indian Trader ſich die Hände rieb, wenn er die Jahresrente eines
ausgekauften Indianerſtamms, wie ſie blank von Waſhington kam, im
Branntweinhandel an ſich riß und habe es geſehen wie für den Ge¬
nuß des Augenblicks Hunderte von armen Rothhäuten den Winter
darauf verhungerten. Ich habe den Branntweinkrieg in allen Geſtal¬
ten geſehen, Sir, und habe es fühllos geſehen, wie man das Un¬
vermeidliche ſieht. Aber Eins habe ich nicht fühllos geſehen.
Von dieſem Tage an trank ich kein gebranntes Waſſer mehr.
Es war vor zwei Jahren. Der Congreß ſchickte eine Com¬
miſſion zur Schlichtung von Grenzſtreitigkeiten an die obern Seen;
ich ging im Solde einer Bibelgeſellſchaft mit. Der Ort der Staats¬
verhandlung war in der Nähe von Fort Howard zwiſchen Greenbay
[405] und dem Winnebagoſee. Dort wurde das Berathungsfeuer angezündet.
Die Ufer des Foxfluſſes wimmelten von Indianern. An dreitauſend
waren gekommen im Gefolge ihrer Häuptlinge. Die Menomenies, die
Winnebagoes, die Stockbridges, die Oneidas, die Chippeways, die
Brothertons und noch viele andere, bekehrte und wilde, Oſt- und
Weſtvölker ſah man vertreten. Vor allen herrlich ſchritten die Männer
und Frauen der ſtolzen Winnebagoes. Sie trugen die ſchönſten Waffen,
den ſchönſten Schmuck, hatten die beſten Canoes, die ſtattlichſten Zelte.
An einem ſtrahlenreichen Morgen, als über der ſtillen Fläche des Fox¬
fluſſes die Nebel zu wallen und ſich zu brechen anfingen, betrat ich
zuerſt ihr weitverſtreutes Zeltlager. Hier erblickt' ich die Tochter eines
Häuptlings, ein junges, ſchönes, reichgekleidetes Mädchen. Sie ſchritt
einher mit dem ganzen Stolze jungfräulicher Reinheit und Anmuth.
Eine natürliche Heiterkeit ſtrahlte aus ihrem Auge, jede ihrer Bewe¬
gungen war reizend und würdevoll. Sie glich einer Blume im Glanze
des erſten Morgenthau's. Nach drei Tagen führte mich mein Dienſt
wieder zu den Winnebagoes. Ich begegnete demſelben Mädchen. Sie
ſaß in einſamer Entfernung von dem väterlichen Zelte am Ufer des
Foxfluſſes. Ihr Haar war los, ihr Schmuck, ihre koſtbaren Kleider
verſchwunden, ein Tuch hing über ihre Schultern und bedeckte noth¬
dürftig ihren Körper. Ihr ganzes Aeußere war ein Bild von ver¬
lorener Selbſtachtung. Geiſt und Adel hatten ihr Antlitz verlaſſen, ihr
Auge ſtierte todt in die Wellen des Fluſſes. Beſtürzt fragte ich. Ach,
ſie war zu unſchuldig ihr Unglück zu verheimlichen. Ein weißer Mann
hatte ihr Feuerwaſſer gegeben und ſie entehrt. Als ich dieſes hörte,
warf ich meine Bibeln in den Foxfluß, kehrte zurück, und gewinne
mein armes Leben mit dieſer Axt.
So ſprach der Indianer. Moorfeld aber fragte nicht mehr nach der
nächſten Farm; er übernachtete in dem Reiſigzelte des rothen Mannes.
Wie erwachte er morgens! Verdroſſen, nicht leidenſchaftlich ſchleppte
er dieſen Tag ſich weiter. Sein Reiſetrieb war gedämpft, der Schmelz jener
duftigen Waldregionen dahin. Hätte er nicht Anhorſt in Detroit zu
finden, oder zu erwarten gehofft, ſo ſtand er ganz ziellos jetzt auf ſei¬
nen wilden Irrwegen. Dieſer Eine Zug bewegte ihn noch vorwärts.
Die Landſchaft war heute angenehmer, die Luft dagegen gänzlich
verſtimmt.
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 27[406]
Gegen Mittag verfinſterte ſich der Horizont. Vom Norden brach
ein heftiger Sturm ins Land, überflügelte den Himmel im Nu mit
einer Beduinenarmee von kaltgrauen Haufwolken. Wildbrüllend wälzte
der gigantiſche Schwarm ſich übers Firmament und auf der Erde ver¬
rannte ſich Schatten in Schatten. Die Temperatur ſank empfindlich;
ſchneller wechſelt auf einer Schaubühne die Scene nicht, als an dieſem
Tage der Perſonenwechſel von Sommer und Herbſt vorzugehen ſchien. Moor¬
feld ſuchte jetzt nothgedrungen den Schutz der Wälder, deren Einſamkeit und
dunkleres Colorit er ſonſt nur geſucht. Sie ſtanden ſtreckenweiſe wieder ſo
unwüchſig heute, daß unter ihren Gewölben, wie in Kaſematten einer natür¬
lichen Feſtung, dem ſtärkſten Bombardement eines Wetters zu trotzen.
Ein ſolches erwartete Moorfeld. Aber der Ausbruch war kein Sommer¬
gewitter mit Blitz und Donner und dem raſchen Abpraſſeln eines Strom¬
regens. Moorfeld ritt manche Stunde zu, bis er erkannte, daß nicht die letzte
Wuth des Sirius, ſondern die erſte der Aequinoktialſtürme über ihn
ausgebrochen. Der Regen begann zwar, aber in unruhigen, zerflatter¬
ten Zwiſchenpauſen; das wüſte Getriebe der Haufwolken ballte ſich
regellos in verſchiedener Dichtigkeit, Temperatur und Lufthöhe, eine
Wolke regnete in die andere, und die froſtſchauernden Windſtoße rißen
ſie eben ſo oft auseinander, als ſie im nächſten Nu, wie mit Keulen
der Treibjagd, den naſſen Pferch zuſammenhetzten.
Die Nacht fiel an dieſem Abend früher herein, als es Geſetz der
Jahreszeit. Moorfeld erkannte an der Harzluft und an den verwor¬
renen Figuren der Bäume, daß es ein Wald von Nadelholz war, in
welchem ſie mit plötzlich verzehrendem Dunkel ihn überraſchte. Er
ſtieg vom Pferde, ſchlug Feuer, hieb ſich einen Fichtenzweig ab, und
leuchtete ſeinen unergründlichen Wegen. Sein Thier war vor Angſt
und Anſtrengung gebadet in Schweiß, von ſeinen Weichen wirbelte
Dampf auf. Moorfeld führte es am Zaume neben ſich her. Aber
ſeltſamer Weiſe zeigte es einen begierigen Trieb nach vorwärts, es
warf den Kopf hoch an den Hals zurück, ſchnob mit weiten Nüſtern
ſehnſüchtig in die Luft und ſetzte ſich wiederholt in einen Trab, dem
Moorfeld zu Fuße nicht folgen konnte. Er ſchloß, daß das Thier
irgend eine Waſſerſtelle wittere. So beſtieg er es wieder und überließ
es ſeinem Inſtinkte. Das Pferd griff ſogleich mit munterem Gewieher
aus. Der Wald war ſo frei, wie raſirt, von Unterholz; das Thier
[407] trabte lebhafter, als ſeit Stunden. Raſch flogen die Stämme der
Bäume an Moorfeld's Fackel vorüber, die Beleuchtung ſchnitt ein Bild
um das andere aus der allgemeinen Finſterniß heraus, um es eben
ſo ſchnell wieder verſchwinden zu machen. Droben aber verſchränkte
ſich Alles zu einer dichten undurchdringlichen Schattenmaſſe, durch
welche Sturm und Regen dumpfbrauſend heulte; zuweilen fand ein
gebrochener Aſt im Herabfallen bis auf den Boden des Waldes ſeinen
Weg und verrieth den Wurzeln und Stämmen der Bäume, in welchem
Schlachtgewühl ihre Spitzen trieben.
Nach einem Ritt von ungefähr einer engliſchen Meile glaubte
Moorfeld eine veränderte Luft zu athmen. Auf einmal ſah er durch
die Bäume des Waldes ſeinen Boden wanken und ſchwanken, ein flüſſig
gewordener Horizont rannte auf und ab vor ſeinen Augen, auf eine
tief graue Ferne hinaus erblickte er nichts als einen Taumel zer¬
brochener Linien die in blitzſchnellen Veränderungen über einander her¬
ſtürzten und mit Wind und Wolken vermiſcht in rythmusloſen Ziſch¬
lauten ſiedeten und ſurrten, daß Aug' und Ohr vor dem ſinnloſen
Wunder erſtarrten. Moorfeld hielt die Fackel hoch, blickte, ſtaunte,
combinirte wie im Traume und erkannte endlich das Bild einer großen
ſturmbewegten Flut. Er ſtand am Erieſee.
Es war ein Bild wie zur Verzweiflung gemacht. Oben eine Decke
grauer und formlos zerfließender, unten ein Chaos ſchwarzer und ſtarrer
Schatten, dort die Wolken- hier die Waldlandſchaft einräthſelnd; da¬
zwiſchen eine wilde Jagd von Wellen und Wogen, in raumloſer Fin¬
ſterniß unendlich für die Sinne wie für die Ahnung, und drüber her
ein reißender Sturm, der über den See mit einem hohen und ziſchen¬
den, über den Wald mit einem tiefen und brüllenden Ton fuhr und
ſo die ungefähre Grenze von Waſſer und Erde aus dem grobſten
Naturlaut heraus verkündete. Moorfeld ſtand und erlabte ſich in ei¬
nem langen bewundernden Blicke an dieſer Unterwelts-Scene.
Er hörte ſein Pferd unter ſich in tiefen Zügen ſchlürfen, leuchtete
hinab und ſah eine Waſſerlache, welche die Brandung des Sees landein¬
wärts ausgegoſſen. Es war gewiß, daß das Ufer in mehr oder minderer
Tiefe rings her eine gefährliche, wenn nicht unmögliche Paſſage bot.
Moorfeld ſtieg zum zweiten Male vom Pferde und dachte an einen Rück¬
zug in das Waldinnere. Es galt das Standquartier dieſer Nacht auszuwählen.
27 *[408]
Da geſchah ihm, als trüg' ihm der Sturm Geſangſtöne zu.
Moorfeld horchte hoch auf. Die Entdeckung war zu anſprechend,
wenn ſie ſich beſtätigen ſollte. Eine neue Windeswelle leitete den
Schall deutlicher. Es war ohne Zweifel, es ſang Jemand in der Nähe.
Moorfeld ließ einen hellen Jagdruf erſchallen, aber er hatte den
Wind gegen ſich. Er kehrte ſein Auge mit Anſtrengung in die Fin¬
ſterniß, ob er nicht die Begleiterin menſchlicher Cultur, eine Lichtflamme,
entdecken könne, aber gleichfalls vergebens. Er mußte ſich darauf be¬
ſchränken, ſein Pferd vorſichtig der Richtung der Töne entgegen zu
führen, dem Zufall anheimgeſtellt, daß ſie vielleicht wieder aufhörten
und ihre Spur ihm entzogen.
Glücklicherweiſe geſchah dieſes nicht. Der Geſang erhob ſich viel¬
mehr immer vernehmlicher. Es war ein marſchartiger Rythmus und
eine leichte, leichtſinnige Baudeville-Melodie nach altem Zuſchnitt.
Moorfeld konnte ſich bald darauf verlegen, die Textworte ſelbſt heraus¬
zuhören. Buvons — buvons — klang es einige Male, — dann
brüllte ein breiter Sturmdonner dazwiſchen, daß der Wald krachte,
Cäſar's erhitzte Haut ſchaudernd zuſammenfuhr und Moorfeld aus dem
See heraus den ſpritzenden Giſcht im Geſichte ſpürte. Das ſchien
aber den nächtlichen Sänger wenig zu geniren. Denn bald darauf
hatte ſein fröhliches Herz mit le vin bon zu thun und der nächſte
Windſtoß war noch galanter, er kam avec ma Lison.
Als Moorfeld erſt die Sprache herausgehört, war es ihm um ſo
leichter zu folgen. Ein gut gelaunter Franzoſe, wahrſcheinlich ein
„heureux Canadicn“ vom nördlichen Erieufer herübergekommen, trieb
ſich in der Nähe. Wahrlich, der Sänger konnte auch nur Franzoſe,
oder Irländer ſein. Ein Amerikaner hätte nicht geſungen. In dieſer
einſamen, melancholiſchen Lage vielleicht kaum ein Deutſcher.
Moorfeld tappte ſich am Leitſeile dieſer Vocal-Production Schritt
für Schritt näher. Der ſyllabiſch-recitirende Styl des franzöſiſchen
Geſanges ließ ihn bald jedes einzelne Wort vernehmen, wozu noch
beitrug, daß die accentuirten Sylben durch ihren regelmäßigen Fall
auf die guten Tacttheile ungemein markirt hervortraten, was auch dem
Chanſon, trotz ſeiner Schäferlichkeit, ſeinen galliſchen, ſturmſchrittartigen
Geiſt verlieh.
Der Sänger nahm zu einer neuen Strophe ſeinen Aufſchwung.
[409]
forderte er patheiiſch,
gab er aufrichtig zu;
behauptete er.
ein witziger Windſtoß machte hier wieder eine Pauſe, worauf Moor¬
feld nur noch
hörte, welche der arme Schelm ſich davon verſprach.
Moorfeld fürchtete mit poetiſcher Kennerſchaft, daß dieſe ſchönſten
Momente auch billig die letzten und das Lied damit an ſeiner Pointe
angelangt ſei. Er erhob daher von Neuem ſeine Stimme, in der
Vorausſicht, den Leitton jetzt einzubüßen. Aber ſein kritiſcher Blick
hatte ihn diesmal getäuſcht. Der unverwüſtliche Chanſonier fuhr fort:
eine directe Satyre zu der Promenade unſers Wanderers —
diesmal mußte ſelbſt Moorfeld lächeln. Rossignol und dieſe Scene!
In demſelben Augenblicke verſchränkte ſich der Wald ſo dicht vor
ſeinem Fuße, daß er ſich genöthigt ſah, auf einen ziemlichen Umweg
auszubeugen. Bevor er es that, rief er zum Drittenmal die ſingende
Stimme an, und Cäſar begleitete ihn mit einem kräftigen Gewieher.
Dieſes Doppelſignal weckte den Sänger endlich aus ſeinen Träumen.
Q’est-ce que cela? un chevalier avec son cheval? Soyez les
bien–venus me bons camarades!
Je vous rendes bon grace, Monsieur! mais dites-moi s'il
vous plait ...
Je comprend, je comprend! Je serais votre guide. Le
passage est horrible. Restez, s'il vous plait. Je serais di¬
rectement à votre service. Tenez place, Monsieur. C'est votre
flambeau, qui me dirige.
[410]
Der Sturm pfiff, der See brandete, die Waldwipfel brauſten, die
Nacht lag undurchdringlich auf jeder Fußbreite Weges und durch dieſen
Tartarus ſang ſich dieſer Amor, als wäre Cerberus nur ein Wachtel¬
hündchen ſeiner Iris!
Werden wir heute unſeren armen Irrenden bei dieſem Franzoſen
beſſer betten, als geſtern bei dem Indianer?
Moorfeld hörte Baumäſte knattern, Büſche rauſchen, Fußſchritte
ſchreiten, ſpringen, im Sumpfwaſſer quitſchen und mit einem bon soir,
Monsieur! traten die Umriſſe eines Menſchen aus der Waldfinſterniß.
Die Kienfackel beleuchtete den beiden Begegnenden ihr tête à tête.
Was für ein anderes Bild hatte ſich Moorfeld von dem Schäfer
der ſchönen Iris gemacht!
Es war ein Mann von mittlerem, ja ſpäterem Lebensalter, ſeine
Stirne gefurcht, wir möchten ſagen gekerbt, ſein Teint tief dunkel¬
braun, ſei’s von der Sonne und Luft, oder von einem ſtarken Zuſatz
indianiſchen Blutes, — kurz der ganze Kopf, hart und erzfarbig wie
eine Büſte aus Bronce. Sein Auge, klein und ſchwarz, blickte faſt
hohl und nichts weniger als ſorglos; ſeine ſtark hervortretenden Backen¬
knochen, gleichfalls der indianiſchen Abſtammung verdächtig, verliehen
ihm ſogar etwas Abſchreckendes; nur um Kinn und Mund ſpielte ein
Abglanz des feinen, ſinnlichen Frankreichs. Seine Tracht war äußerſt
roh und wild; er trug ein Hemd von Hirſchleder, mit eben ſolchen
Beinkleidern, beide Stücke durch lange Abnutzung faſt unkenntlich, die
Füße ſtanden in indianiſchen Mocaſſins, um die Schultern hing ein
gräulicher Mantel von Büffelhaut. Als er Moorfelden die Hand
zum Gruß reichte, glaubte dieſer, er habe ihm einen Kieſelſtein in die
ſeinige gelegt.
Nun will ich Sie in mein Pavillon führen, ſagte der Halbwilde,
und Moorfeld empfand erſt jetzt die ganze Heiterkeit des Contraſtes
der belle France mit dem sauvage de Canada.
[411]
Was der Franzoſe ſein Pavillon nannte, war eine Erderhebung,
die ſich wie eine natürliche Terraſſe in den See auslud, gekrönt mit
einem Hain von prachtvollen Ulmen.
Die Stelle bildete eine kleine Landzunge, aber die Eroſion des
Sees hatte beide Seiten derſelben in tiefen Einſchnitten verſumpft,
den Sumpf jedoch mit einer trügeriſchen Vegetation von Erlen-, Weiden-,
Berberizen- und Thuja-Geſtripp ſo reichlich überwuchert, daß der Reiſende,
der etwa einen feſten Weg durch dieſe Au-Striche ſuchte, unfehlbar
darin zu Grunde ging. Der Franzoſe führte Roß und Reiter den
einzig praktikablen Zugang, einen kieſigen Pfad, der ſanft aufwärts
führte und nach einer kurzen Strecke die Spitze der Landzunge er¬
reichte. Dieſe Spitze war faſt ein Vorgebirge.
Der Platz war ungemein wirthlich. Der Wald hatte hier, wo er
unmittelbar in den See abſtürzte, gleichſam ſeine trotzigſte Kraft zu¬
ſammengerafft und auf die Landzungenterraſſe eine Fülle ſeines ſtol¬
zeſten Holzes geworfen. Man ſtand wie in einer Kammer. Der
Franzoſe hatte den Ausdruck Pavillon kaum ſcherzweiſe gebraucht. Er
führte ſeinen Gaſt, man konnte ſagen, in ein geheiztes Cabinet; denn
in einem Winkel von drei dicht neben einanderſtehenden Ulmen ſah
Moorfeld ein Feuer lodern, welches eine behagliche Wärme verbreitete.
Die Zwiſchenräume der drei Bäume waren mit Reiſig vollgeſchichtet,
und auf dieſe Weiſe eine vollkommen windfeſte Wand hergeſtellt. Auf
der andern Seite des Feuers dagegen ſchloß ein um die Baumſtämme
gepflöcktes Segeltuch den Raum ein, indeß am Boden ein Teppich aus
Büffelhaut ausgeſpannt lag, hinter welchem ein Erdaufwurf dem darauf
Sitzenden ſybaritiſch zur Rücklehne diente. Das Dach bildeten die
zuſammengedrängten Ulmenkronen feſt und dicht wie ein Gewölbe.
In ihren oberſten Spitzen hörte man den Sturm rauſchen, im See
drunten klatſchten die brandenden Wellen, — in der Mitte von Bei¬
den dieſer Raum voll Sicherheit war wie ein Ding des Zaubers.
Für die Höhe der Civiliſation hat der Rückblick auf ihre Anfänge
unter allen Umſtänden etwas wohlthuend Ergreifendes. Dieſer Sänger
in dieſem Foyer war ein Rendezvous, das unſerm Repräſentanten der
europäiſchen Cultur mächtig und freundlich in die Seele griff. Er
fühlte es zum erſtenmale ſeit ſeinem zweitägigen Ritt wie einen Mo¬
ment des Friedens in ſich.
[412]
In dieſer Stimmung ließ ſich Moorfeld an die gaſtliche Heerdſtelle
nieder. Monſieur, wir werden ſoupiren wilden Reis in Waſſer ge¬
kocht, ein paar Waſſerſchnepfen und eine Ente. Brod wollen wir für
ſchädlich erklären. Cider-Bordeaux von Charlotteville in Ober-Canada
wird uns dieſe Kürbisbouteille liefern. Charlotteville iſt meine Hei¬
math, Monſieur. Dort drüben liegt es. Wagh! eine Location mitten
unter Engländern, die Gott verdammen möge. Hätt' ich nicht ein
paar gute Freunde in New-Orleans, die ich Winters über beſuche
pour avoir quelque conversation, ich möchte mehr Waſchbär ſein
als Menſch. Wagh!
Der Canadier hing einen kleinen Keſſel mit Reis über ſein Feuer,
ſteckte ſein genanntes Geflügel an ein paar Bratſpieße und reichte
Moorfelden die Kürbisflaſche.
Die ganze Scene war unſerm Helden ſo neu, ſo ſehr im Geiſte
deſſen, was ſich wohl ſonſt europäiſche Poeſie unter dem „romantiſchen
Weſten“ denkt, daß Moorfeld aus ſeinem dumpfen, ſelbſtertödtenden
Brüten mehr und mehr zu erwachen anfing. Und konnte er gleich ſein
krampfhaft zuſammengeſchnürtes Herz nicht frei und fröhlich als Gaſtge¬
ſchenk bieten, ſo erinnerte er ſich doch, daß zur Unterhaltung auffordern
auch unterhalten heiße. Wie ſchwer aber hätte ihm dieſe Aufgabe werden
ſollen bei einem Manne, der von Canada nach New-Orleans reiſt
pour avoir quelque conversation?
Er begann ſich's an der Feuerſtelle bequem zu machen. Bitte, ſtellt mich
auch Frau und Kind vor! ſcherzte er dazu. Der Franzoſe aber ſchien dieſes
Compliment über ſeine glückliche Nachahmung von Häuslichkeit zu ver¬
kennen, denn er ſchlug ein Schnippchen und antwortete faſt mürriſch:
Wagh! Familienleben ſchönes Leben! Ich bin Amateur von dem Familien¬
leben — anderer Leute! Ich liebe es außerordentlich. Aber zu Hauſe
will ich frei ſein. Wagh! Familie iſt Silber, Freiheit iſt Gold!
Und plaudernd fuhr er fort: Als ich vor mehreren Jahren für
die Nordweſt Biberjagd trieb, da beſaß ich zwei Weiber, wie es im
Weſten der Trapper Brauch. Ah, Monſieur, Schöneres hat die Welt
nicht geſehen! Die Eine, Juanita, hatte ich aus einer Miſſion in
Kalifornien entführt; aus ihren ſchwarzen Augen brannte es wie der
Blitz einer Doppelflinte, aber das dunkle ſpaniſche Feuerblut ihrer
Wangen verrieth, daß ſie eben ſo berufen, Wunden zu heilen als zu
[413] ſchlagen. Ihr weißes Chemiſettchen war im Beſitz von Geheimniſſen, die
einen König glücklich gemacht hätten, ihr kurzes rothes Sergeröckchen ſchloß
ſich an einen bunten mit Glasperlen verzierten Gürtel um Hüften — das
war ein wonnevoller Anblick. Als ich ſie von ihrer verdammten Stampf¬
mühle auf meinen Sattel hob und rief — ah, Juanita, du biſt zu
beſſern Dingen geboren, als ewig Korn zu ſtampfen und Tortilla's
zu backen — parbleu! da wußt' ich was ich in Armen hielt. Wenn
mir die Engländer und die Yankees — Gott verdamme ſie; — in
Bentsfort nicht um die Wette zehn der ſchönſten Pferde und Maul¬
thiere für ſie geboten, ſo will ich ein todter Biber ſein; die mexika¬
niſchen Fettlappen aber klimperten mir mit Dublonen und Dolchen
vor die Ohren, daß ich mehr als Einem mein Meſſer bis zum Green¬
viver in den Leib jagen mußte, um mir Ruhe zu ſchaffen. Die Zweite
war eine Yuta-Indianerin, hieß Chil-cho-the, das ſchwankende Rohr.
Ihre Schilfrohrtaille bildete zu der Fülle der Spanierin den reizendſten
Gegenſatz, ſie war noch ein ganz junger Schößling. Ich hatte ſie nach
Kriegsrecht im Kampf mit den Indianern erbeutet, und brauchte ihr
nur die verdammten Ockerfarben, das abſcheuliche fanfaron der Wilden,
aus dem Geſichte zu reiben, um zu ſehen, was für eine Perle ich
gefiſcht. Sie war gehorſam wie ein zahmes Kaninchen und in Künſten
geſchickt wie eine Spinne. Sie verſtand die zierlichſten Mocaſſins, die
dauerndſten Teppiche zu flechten, ſie machte aus Glasperlen und den
gefärbten Nadeln des Stachelſchweins fanfaron, das uns im Handel
mit Indianerſtämmen allerorts zu ſtatten kam, und Niemand wußte
zähes Büffelfleiſch ſo weich zu klopfen, wie ſie; Sie mögen das glauben,
wie Geſchriebenes Monſieur! Enfin, von einer Nacht auf die andere fort
waren meine Squaws beide. Als wir über das Gebirge durch das
Bayou Solade nach dem Platte gingen, verlor ich bei einem nächt¬
lichen Ueberfall der verdammten Schlangenindianer meine Pferde,
meine Maulthiere, meine Biberfelle, meine Weiber, Alles. Nichts be¬
hielt ich, als meine doppelläufige Flinte. Bon! Ein Schuft, der ſich
nicht ſeine Ehre gibt. Und wenn ich geſtehen müßte, daß ich aus
dieſer Flinte an dieſem Tage einen ſchlechtern Schuß gethan, als an
jedem andern, daß mir das Auge trüber ins Viſirglas guckte, oder die
Hand nur ein Zehntels Haar zitterte, ſo wollt ich vor die Hunde
kommen. Wagh! Was ein rechter Philoſoph iſt, der ſieht Dinge, die
[414] er hat, von ihrer guten, und Dinge, die er verliert, von ihrer ſchlimmen
Seite. Und meine Juanita war doch ein verdammt übermüthiges Ding,
und meine Chil-cho-the nur ein willenloſes Schaf. Wagh! Weiber
ſind gut, aber die Freiheit iſt beſſer!
Das klingt wild, mein Freund, antwortete Moorfeld, und experi¬
mentirend wie weit der Leichtſinn oder das Selbſtvertrauen dieſer
Naturſöhne gehe, fügte er hinzu: Fürchtet Ihr nicht die Tage des
Alters? wenn eine liebevolle Hand nicht mehr Luxus, ſondern Be¬
dürfniß iſt?
Wagh! ſagte der Canadier ſich ſchüttelnd, haben Sie ſchon einen
alten Franzoſen geſehen? So wenig als einen jungen Engländer! Alt?
qu'est ce que cela? Ein Franzoſe wird nicht alt!
Eine charakteriſtiſche Antwort! Ein Sittenforſcher könnte ſich wohl
an ihr genügen laſſen.
Und damit war zugleich auch das Thema für eine ausreichende
Abendunterhaltung gefunden. Der Canadier hatte an eine Zeit ſeines
Lebens erinnert, wo er „Trapper“ geweſen. Moorfeld brauchte ihn
nur zu Erzählungen aus dieſer bewegten Sphäre zu ermuntern, und
er unterhielt ſeinen freundlichen Wirth ganz auf ſeine eigenen Koſten,
während er ſelbſt die paſſive Rolle, die ſo ſehr zu ſeinem Gemüthe
ſtimmte, ohne Zwang inne haben konnte. Der Canadier ließ ſich nicht
nöthigen. Im dämmerungsvollen Schein ſeines Herdfeuers und bei
einer ziemlich unverkürzten Mitgift franzöſiſcher Selbſteingenommenheit
hatte er wenig Blick für den Seelenzuſtand ſeines Gaſtes. Auch fragte
er nicht: woher? und wohin? Eine Reiſeerſcheinung wie Moorfeld bot
einem Manne wie ihm nichts Merkwürdiges. So überließ er ſich ganz
ſeinen eigenen Merkwürdigkeiten. Wahrlich, er war ein unerſchöpflicher
Erzähler! Nach Stoff und Neigung. Der Himmel ſtürmte, der See
ziſchte, die Schnepfen brieten, der Reis kochte, der Canadier ſah fleißig
zur Küche, man ſpeiſte, trank dazu, und hatte abgeſpeiſt, und der
Fluß ſeiner Rede ſchwebte wie ein ewiges Element über all dieſen
endlichen Dingen. Leider können wir uns nicht darauf einlaſſen, unſern
Antheil an dieſer Converſation zu fordern. Welche Epiſode dürften
wir herausheben, ohne Parteilichkeit gegen die übrigen? Und welcher
Raum dieſer Blätter wäre geräumig genug, das Ganze zu geben?
[415] Wo begänne und wo endete der groß und wild gezeichnete Carton
eines amerikaniſchen Trapperlebens? Jede Stunde darin iſt ein Bild
für einen Michael Angelo, jeder Tag ein Epos von Abenteuern,
Kämpfen, Gefahren, Heldenthaten, Unthaten. Wenn der Trapper von
St. Louis oder Independence aufbricht mit ſeinen Pferden und Maul¬
thieren, ſeinen Zeltwagen, ſeiner ungeheuren „Rifle“ ſammt ſeinen
Vorräthen an Pulver und Blei, — ſo hat er das Uhrblatt der Civi¬
liſation hinter ſich zertrümmert, ſein Tag iſt nicht mehr Sonnen-,
ſondern Kometenbahn. Ueberſprungen iſt der ſchützende, nivellirende
Damm des Geſetzes, er wirft ſich in den Ocean der ewig originellen,
ewig erfinderiſchen, ewig vernichtenden und im Guten und Schlimmen
ewig ſich ſelbſt gehorchenden Noth. Aus dieſem Ocean tauchen dann
alle jene Schwärme von Ungeheuern wieder auf, die der Menſch ſeit
Theſeus und Herkules, ſeit Thyeſt und Atreus von der Erde gebannt
glaubte. Friſche Schrecken und friſche Freuden ſchöpft er aus einer
jugendlichen Urweltsnatur, — die Freuden kurz und ausſchweifend,
wie eine Hochzeit der Lapithen und Centauren, die Schrecken anhaltend,
mit einem feſten, mannherzigen, unter uns nicht mehr leſerlichen
Muthe. Sein oſtenſibles Ziel iſt: Biber zu fangen, im Grunde geht
er aber ohne es ſelbſt zu wiſſen, nur jenem Urruf nach Freiheit nach,
welcher in keiner menſchlichen Bruſt je verſtummt, und wenn er ſich
den Grenzen eines Landes nähert, worin auf einer Quadratmeile ſechs
Ackerbauer ſitzen, ſo klagt er über den „verengten Raum“.
Dieſen Freiheitstrieb faßte Moorfeld auch als den eigentlichen Kern
all jener überwuchernden Begebenheitspoeſie. Pſychologiſch merkwürdiger
als die ganze Romantik des Trapperlebens wurde ihm daher bald die
Frage: wie ein Trapper aufhören könne ein Trapper zu ſein? Seine
äußere Aufmerkſamkeit war lang ſchon geſättigt, vielleicht überſättigt,
als er ſich's nicht verſagen mochte, noch dieſe Frage zu thun.
Es fehlte wenig, daß ſie der Canadier faſt übel nahm. Parbleu!
antwortete er, ich war kein vite-poche-Mann, das mögen Sie glauben.
Auch mein Kamerad ſtand ſeinen Mann, der gute Au Reſte, das hat er hun¬
dertmal bewieſen. Der arme Teufel kam freilich mit einem verflucht gebro¬
chenen Herzen, wie ſie's nennen, in unſere Geſellſchaft; die Bourgeois in
Cincinnati hatten ihn abſcheulich ausgerieben und Weib und Kind war
ihm darüber untergegangen, — er hatte Unglück haufenweis! Sein
[416] Anſchluß an die Trapper war eine Sache mehr der Deſperation als
der Erholung, er wollte unter ein indaniſch' Meſſer, das war klar
wie eine Biberfährte. Enfin, ſolche Dünſte verdunſten nach dem erſten
Schluck Büffelblut in der Prairie und Au Reſte war bald ein Kerl,
dem zwiſchen Platte und Arkanſas Keiner das Viſirglas von der
Flinte ſchlug — ich freſſe mich ſelbſt, wenn ich lüge! Ich muß plai¬
dyren für den armen Gaul, denn ich hatte mich ſo attachirt an ihn,
daß ich mit ihm zugleich das Trapperleben ließ, und ſoll mir Nie¬
mand ſagen, er war ein Bleichgeſicht wie die andern Kornknacker; ich
mache Fleiſch aus dem Kerl, der das behauptet. Urtheilen Sie ſelbſt,
mein Herr. Im Sommer war er zu uns gekommen und gleich im
Spätherbſt paſſirte folgendes Abenteuer.
Wir kaſchten, von einer größern Schaar abgeſchnitten, zu fünf
Mann vor einem Haufen Sioux-Indianer, welche in übermächtiger An¬
zahl uns auf den Ferſen waren. Wir entrannen glücklich und erreichten
an einem ſtürmiſchen Abend in der Nähe des Hochgebirgsthales, welches
man den ſtillen Park nennt, eine wilde Schlucht. — Es war das
felſige Bett eines ausgetrockneten Bergſtroms. Schroff und ſteil ſtiegen
die Uferwände von allen Seiten aus dem Creek auf, und gewährten
ſelbſt dem flüchtigen Dickhorn, welches zuweilen hoch über uns in die
gräuliche Steinſpalte niederlugte, kaum einen Platz zum Fußen. Dazu
verrammelten Fichtenſtämme, die der Sturm oben abgeriſſen und in
die Tiefe geſtürzt, beſtändig den Weg, und Felsblöcke, welche das
Flußbett beinahe ausfüllten, hinderten noch mehr am Vordringen. So
krochen wir unter unſäglichen Beſchwerden in das Berginnere und
Mann und Pferd war öfter als einmal in Gefahr unterzugehen. —
Gegen Abend gelangten wir endlich an einen Punkt, wo die Schlucht
ſich zu einer kleinen abſchüſſigen Prairie von einigen hundert Schritten
erweiterte, deren Zugang ein Dickicht von Zwergfichten und Cedern
wie ein Vorhang verbarg. Hier beſchloſſen wir das Nachtlager aufzu¬
ſchlagen. Nie waren Trapper vor Indianern beſſer gekaſcht: wir hielten
uns Alle überzeugt, kein menſchlicher Fuß habe je vor uns dieſe Stelle
betreten, oder nur je zu betreten verſucht. — Wie groß war daher
unſer Erſtaunen, als wir hinter dem Dickicht ein Pferd ſtehen ſahen!
Einſam und unbeweglich ſtand es in der Mitte der Prairie —
wie das Bruchſtück einer Reiterſtatue! Es war ein alter ergrauter
[417] Muſtang, oder indianiſcher Pony, mit geſtutzten Ohren, von der Kälte
zuſammengekrümmt, vom hohen Alter aufs Aeußerſte herabgebracht,
und hungrige Maulthiere hatten weiland ſeinen Schweif ausgerauft.
Parbleu, es war ein pitoyabler Anblick! Die Knochen drangen dem
Thiere durch die ſteife Haut, es hatte ſeine Beine unter ſich eingezogen,
ſein müder Kopf und ausgeſtreckter Hals hingen gleichgiltig herab,
und ſchienen ein Uebergewicht zu bilden, das der ſchwankende Körper
kaum mehr zu tragen vermochte! Das verglaste und eingeſunkene Auge,
die heraushängende, ſchaumbedeckte Zunge, die keuchende Flanke und
der zuckende Schweif — Alles verrieth, daß die Laufbahn dieſes
Thieres zu Ende, und Schnee- und Hagelgeſtöber und der durch¬
dringende Herbſtſturm machten kaum noch einen Eindruck auf ſeinen
unempfindlichen Körper. Ah, ein erbärmlicher Anblick! — Wir hatten
aber Einen unter uns, der das Thier in all ſeiner Decadence auf den
erſten Blick erkannte. Hört ihr's, rief er, das iſt das berühmte nez¬
percé-Pferd des berühmten Bill Williams, des älteſten, tapferſten
und ſchlaueſten Gebirgsjägers, der Krone aller Trappers! Man hat
lange nichts gehört von dem alten Gaul, gebt Acht, er muß in der
Nähe ſein. Und ſo war es! Als wir das Fichten- und Cederngebüſch
ſorgfältig zu durchſuchen anfingen, ſtießen wir auf ein altes Lager,
von welchem die geſchwärzten Ueberreſte einer Feuerſtelle aus dem
frühen Herbſtſchnee hervorragten. Hier ſaß die Leiche des alten Wil¬
liams. Sie ſaß mit untergeſchlagenen Beinen, den Rücken an einen
Fichtenſtamm gelehnt, den Kopf tief auf die Bruſt hängend und mit
Schnee bedeckt. Sein bekannter Jagdrock von Elenleder hing ſteif um
ſeine Glieder, welche der Nachtfroſt ſteif wie Glas gemacht hatte,
ſeine Büchſe, ſeine Munition, ſeine Biberfelle und Fallen lagen un¬
verletzt um ihn her, ſein Körper zeigte neben den vernarbten, keine
friſche blutgeronnene Wunde. Er hatte die Laufbahn eines Trappers
unbeſiegt zu Ende gemeſſen, er war eines natürlichen Todes — ver¬
hungert! — Ah, dacht' ich, das iſt kein Anblick für einen Anfänger.
Au Reſte wird zurückſchrecken. Aber Au Reſte erſchrack nicht. Wir
gaben dem Pferd einen mitleidigen Schuß, machten ein großes Grab,
wozu der aufgehende Mond uns leuchtete, legten Roß und Reiter
hinein, und Au Reſte half ſo unverzagt, wie jeder Andere und nach
gethaner Arbeit ſagte er: wagh! — Ha, Monſieur! ob mein braver
[418] Kamerad ein feſtes Herz hatte! Denſelben Winter, fuhr der Canadier
fort, wär' es uns auf ein Haar ſelbſt ſo paſſirt, wie dem alten Bill
Williams. Ich ſpreche von Au Reſte und mir. Denn wir zwei waren
von den Fünfen allein übrig geblieben. Einer hatte ſich verirrt, zwei
waren am nächtlichen Wachtfeuer hungernd und frierend eingeſchlafen,
und ein Indianerknabe, der ſie beſchlich, hatte ſie mit Pfeilen getödtet
wie Sperlinge. Wir beide alſo Au Reſte und ich —
Moorfeld ſah wohl, daß dieſer Geiſt voll Erinnerungen eine ein¬
fache Frage nicht anders als durch eine Reihe von Abentheuern zu
beantworten im Stande war. Sein geſpannter Geiſt und ſein er¬
ſchöpfter Körper lagen bereits in einem bedenklichen Conflict, den die
ruhende Lage und die behagliche Feuerwärme mit jeder Minute mehr
zu Gunſten des letztern entſchied. Unumwunden: es fielen ihm die
Augen zu. Indeß recitirte der Improviſator im ſchlimmſten Falle noch
während Moorfeld ſchon ſchlief und er hatte dann doch die Genug¬
thuung, daß ſich ſein Wirth gut unterhalte, wenn gleich die einzige
Frage, die er ſelbſt mit wirklichem Intereſſe geſtellt, leer ausging.
So ſtreckte er ſich auf ſein Büffellager hin und überließ ſich zwiſchen
den Forderungen der Natur und der Kunſt, ihn wach zu erhalten,
ganz der Neutralität.
Au Reſte und ich, erzählte alſo der Trapper, hatten uns vergebens
bemüht, einen Paß über das Gebirge auszukundſchaften und in eine
Region mit Wild und Weide zu gelangen. Der Winter war unge¬
wöhnlich früh und rauh angebrochen; Froſt, Hunger und Erſchöpfung
überraſchten uns, eh' wirs dachten. Von unſern Pferden war eins
gefallen, das andere ſchlachteten wir ſelbſt und verzehrten es: ein
weiteres Vordringen war damit aufgegeben. Ueberdies wurde Au Reſte
krank um dieſe Zeit, eine Kugel hatte ihn kürzlich an der Ferſe ver¬
wundet und war noch nicht ausgezogen. Durch das Gehen und die
übermäßige Kälte verſchlimmerte ſich die Wunde, nahm ein häßliches
Ausſehen an, und machte ihn bald unfähig zu jeder anhaltenden Be¬
wegung. So ſahen wir uns genöthigt, in die Tiefſchlucht des Creeks
wieder zurückzukehren, auf die kleine verſteckte Prairie, wo wir den
alten Bill Williams begraben. Hier mußten wir uns entſchließen zu
überwintern. Wir bauten uns eine kleine Hütte, Au Reſte wurde auf
ein Lager von Fichtenzweigen gebettet, mein Geſchäft ſollte es ſein,
[419] auf Jagd auszugehen und für Fleiſch zu ſorgen. Mon Dieu, eine
Büffelfährte, die vielleicht mehrere Monate alt war, war alles was
ich von Wildſpuren in vielen Tagen entdeckte! Der Hunger ſetzte uns
gräßlich zu. Es kam eine Zeit, da wir in drei Tagen nichts zu eſſen
hatten, als ein Stück Parflêche, welches die Rückſeite von Au Reſtes
Kugeltaſche bildete: das weichten wir im Waſſer des Creeks ein und
verzehrten es gierig. Am vierten Tag kroch ich wieder zur Jagd aus
aber ich konnte mich kaum ſchleppen, konnte kaum die Büchſe heben,
und aufrichtig, ich machte mich fort um draußen vor der Hütte zu
verhungern und nicht vor den Augen meines Kameraden. — Da rief
mich Au Reſte an. Er hatte meinen Zuſtand wohl gemerkt. Mit
ſterbender Stimme hieß er mich zu ſich ſetzen und redete mich alſo an:
Höre, Junge, ſagte er, es iſt dieſem alten Gaul, als ob er untergehen
müßte und zwar in Kurzem. Ihr aber ſeid mir in Kräften um eine
Kopflänge noch voraus, und wenn Ihr Fleiſch fändet, ſo würdet Ihr
bald wieder herumkommen. Nun Junge, ich werde wie geſagt, ehe
viele Stunden vergehen, fort ſein, und wenn Ihr kein Fleiſch findet,
wird es Euch nicht beſſer werden. Ich ſelbſt eſſe nie Aasfleiſch und
würde von Keinem verlangen, daß er's thun ſoll, aber gehörig ge¬
ſchlachtetes Fleiſch iſt immer eßbar. Stecht mir alſo Euer Meſſer in
den Leib, ſo lang dieſer Leichnam noch Puls macht. Ihr werdet mich
freilich dürr und zäh genug finden, aber vielleicht ſitzt um die Nieren
noch etwas und — ein Schelm gibt mehr als er hat! — Langt zu.
Oho, ſagt' ich, Ihr ſeid ein guter Kamerad, aber ich bin noch kein
Nigger. Und damit macht ich, daß ich aus der Hütte kam, denn ich fing
an weich zu werden wie eine Squaw. Eh bien, was erblickt ich, als ich vor
die Hütte trat? Ich dachte, es müßte eine Mirage ſein! Ein Büffel lag
mitten auf der Prairie im Schnee! das Thier war freilich unſer eigenes
Conterfei. Es lag in den letzten Zügen des Hungertodes. Es wiegte
ſeinen ſchweren Kopf ohnmächtig von einer Seite auf die andere,
während große mit Blut vermiſchte Schaumflocken aus ſeinem Maule
auf den langen zottigen Bart herabhingen, und ſeine ſtieren, blut¬
unterlaufenen Augen wüthend auf zwei Wölfe ſchielten, welche auf
ihren Hintervierteln in der Nähe ſaßen und mit lechzendem Rachen
das Ausathmen des alten Patriarchen erwarteten. Bei dieſem Anblick
ſtand ich wie verſteinert. Mein erſter Gedanke war die Furcht, daß ſich
[420] der Büffel doch noch aufraffen und weiter marſchiren möchte: — ſo lang¬
ſam es geſchehen wäre, ich hätte ihm nicht zu folgen vermocht. Dann
war es wirklich — eine Mirage! Ah, wie nahm ich mich zuſammen!
Wie klopfte mir das Herz, als ich heranſchlich, als ich den Hahn auf¬
zog, als ich anlegte! Von dieſem Schuße hing mein und meines Bru¬
ders Leben ab. Endlich fühlte ich meine Hand feſt, der Schuß krachte, —
ich ſah hin. Der Büffel ſchüttelte ſein ſtruppig verworrenes Kopfhaar,
warf den Schädel wild hin und her, dann ſtreckte er convulſiviſch ſeine
Glieder, legte ſich auf die Seite und war todt. Grace à Dieu! Ich
athmete auf. Au Reſte, der in der Hütte den Schuß gehört hatte,
kam jetzt auf allen Vieren heraus. Hurrah, Fleiſch! rief er mit
matter Stimme und ſank vor Freuden in Ohnmacht. Ich ließ ihn
liegen und machte mich hurtig an die Arznei, die allein hier helfen
konnte. Erſt wies ich den Wölfen noch meine Flinte, die ohne Ver¬
zug Reißaus nahmen, dann ging ich dran, den Büffel auszuweiden.
Ein ſchweres Stück Arbeit! Ich ſchnitt vor Allem einen Theil der
Leber aus, tauchte ſie in die Gallenblaſe, und ſchlug es meinem Pa¬
tienten um's Geſicht. Wußt' ich's doch! das wirkte, trotz Riechſalz
und Vinaigrette. Au Reſte ſchlug die Augen auf und fing zu eſſen
an. Von dem Tage an erholten wir uns Schritt für Schritt, es be¬
ſuchten den Winter noch mehrere Büffel die Thalſchlucht, früher als
ſonſt brach auch diesmal der Frühling an, — wir waren gerettet.
Aber, dacht' ich, Au Reſte wird ſich dieſe Paſſage gemerkt haben. Die
erſte Pflanzung, die wir zu Geſichte bekommen, werd' ich's zu hören
haben: Junge, wir wollen wieder Kornknacker werden! Pardon, mon
brave! Es kam ihm nicht in den Sinn. Au Reſte trappte fort mit
mir, und trappte in ſeinem erſten Jahre, wie ein Anderer in ſeinen
dreißigſten. Ah, Monſieur, ſagen Sie, ob mein Camerad ein homme
du coeur war!
Nun ſollen Sie hören, was dieſes Herz wendete, fuhr der Cana¬
dier fort, und wir dürfen vielleicht das Concept des wilden Erzählers
anerkennen, der den begonnenen Faden doch nicht verloren. Wir wollten
den hierauf folgenden Sommer nach Californien aufbrechen, um uns
Pferde und Maulthiere aus der Miſſion San Fernando zu holen,
derſelben, woher ich früher meine Gattin Juanita geholt. Wir hatten
uns einer größeren Trappergeſellſchaft angeſchloſſen und Alles ging
[421] gut. Die Prairien waren dunkel von Büffelheerden, die Creeks wim¬
melten von Bibern, täglich wurden ſiegreiche Gefechte mit den India¬
nern beſtanden, wir behingen uns um und um mit Scalps, erbeuteten
Weiber und lebten en Seigneur. Da geſchah's mit dem Teufel, daß
wir eines Tags gegen den Führer des Zugs uns einbildeten, eine
kürzere Route, als die er ſelbſt vorſchlug, einſchlagen zu können; Kürze
aber war nöthig, denn wir betraten eben das Land der Gräber-Indianer,
was ein heilloſes Geſindel iſt, und in ſeiner feigen, tückiſchen Kriegs¬
weiſe viel gefährlicher als die muthigſten Stämme. Wir konnten uns
nicht einigen und trennten uns zu Vieren von der größeren Compagnie,
der wir nach längſtens drei Tagen, wie wir behaupteten, an einer
Station unter befreundeten Stämmen vorausgekommen ſein wallten.
Das war mein letzter Zug. Wir waren wie geſagt zu Vieren: Au
Reſte und ich, ein Canadier Namens Sublette und ein mexikaniſcher
Spanier, der aber kein Fettlappen war, wie die übrigen Männer ſeiner
Nation. Außerdem führten wir drei gefangene Squaws mit uns.
Wir nahmen unſern Weg, welchen wir abzuſchneiden gedachten, durch
eine Wüſte, die von Wild und Waſſer völlig entblößt war und nichts
als den Anblick einer öden ſandigen Fläche mit einer dünnen Bedeckung
von Zwergfichten und Cedergeſtrüpp bot. Indeß erwarteten wir ſchon
am Abend deſſelben Tags einen kleinen Creek unter Kirſch- und Cotton¬
bäumen und morgen meinten wir wieder in die Region des fetten Büffel¬
graſes zu kommen. Der Tag ging zu Ende, aber weit und breit zeigte
ſich von einer Waſſerſtelle keine Spur. Wir mußten unſer Lager auf¬
ſchlagen ohne die Pferde tränken zu können, indeß wir ſelbſt vor Trock¬
niß faſt verſchmachteten und in jeder Stunde der Nacht aus dem er¬
bärmlichen Schlafe fuhren. Nur die Ueberzeugung, den Creek deſto
gewiſſer morgen zu erreichen, hielt uns bei Muthe. Indeß ſtürzten
ſchon Tags darauf drei von unſern Thieren, und eins ſchleppte ſich
ſo erſchöpft, daß wir es tödteten und ſein Blut tranken. Den Creek
aber erreichten wir auch heute nicht. Beim Anbruch des dritten Tages
lagen abermals drei von unſern Thieren an den Pfählen, woran ſie
angepflöckt, todt. Wir beſaßen jetzt nur noch eines und zwar in einem
marſchunfähigen Zuſtande. Wir ſchlachteten es, tranken ſein Blut und
machten es zu Fleiſch, denn zu der gräßlichen Trockniß hatte ſich nun¬
mehr auch wüthender Hunger eingeſtellt, und die Wüſte war eben ſo
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 28[422] leer von Wild als von Waſſer. Das Thier verſchwand unter uns
Sieben faſt auf Eine Mahlzeit, den Reſt aber verloren wir Nachts bei
einer Ueberumplung oder vielmehr bei Beſchleichung der elenden Grä¬
berindianer, welche uns das Fleiſch mit wölfiſcher Gier ſtahlen, da das
miſerable Volk keine andere Nahrung als getrocknete Ameiſen gewohnt
iſt. Leider ging uns bei dieſer Attake auch unſer Gefährte Sublette
unter. Wir ſechs ſchleppten uns nun gänzlich unberitten weiter. Es
half uns nichts, daß wir längſt unſers Irrthums inne wurden, wir
hatten bei einem Rückzug bereits eben ſo viel zu verlieren und vor¬
wärts leuchtete uns doch die Hoffnung. So krochen wir von Neuem
zwei lange, ewige Tage durch. Der Hunger packte uns wieder ſo
wüthend an, als zuvor, der Durſt aber war martervoll über allen
Ausdruck. Die Lippen wurden uns glühend und aufgeſchwollen, unſre
Augen unterliefen mit Blut, ein ſchwindelndes Unwohlſein befiel uns
in gewiſſen von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Pauſen. Mit dem Aus¬
drucke der Verzweiflung ſtierten wir Alle nach Rettung in die Wüſte
hinaus. Da ließ der Spanier das Wort hören: Fleiſch und Blut iſt
uns vielleicht näher als wir denken; — es klang aber nicht nach Troſt,
ſondern nach Entſetzen in ſeiner Stimme. Wir verſtanden ihn wohl.
Wir ließen das Wort fallen und ſchleppten uns ſchweigend weiter.
Die drei Indianerinnen aber folgten uns in ergebenem Stumpfſinn.
Von Zeit zu Zelt bückten ſie ſich, um einen Käfer am Wege zu fan¬
gen, welchen ſie gierig verſchluckten. — Am vierten Tage theilten wir
einander mit, daß wir wölfiſch ſahen. Unſere Geſichter waren ver¬
dummt und verquollen und Keiner ſah mehr ſich ſelbſt ähnlich. Wir
ſchlugen Rath. Der Untergang lag uns dicht zu Füßen, es galt, etwas
zu thun ſo lange noch die letzten Funken unſerer Kräfte flimmerten.
Wir beſchloſſen alſo uns zu trennen und anſtatt in einer einzigen in
drei verſchiedenen Richtungen nach Wild- oder Waſſerſpuren auszugehen.
Die Indianerinnen ſollten zurückbleiben und eine große Rauchſäule an¬
zünden, die uns den Punkt der Wiedervereinigung bezeichnete. Das
geſchah. Au Reſte und ich, wir jagten vergebens. Als wir aber beim
letzten Tageslicht nach dem Rauchzeichen zurückkrochen, duftete uns ſchon
von Ferne Bratengeruch entgegen. Wir fanden den Spanier an einer
Herdſtelle, er war glücklicher geweſen als wir, und hatte, wie er ſagte,
eine Antilope geſchoſſen. Wie fielen wir her über das Fleiſch! So haben
[423] Menſchen, ſeit die Welt ſteht, nicht geſchmaust. Erſt als die wüthendſte Gier
geſtillt war, fiel es uns auf, daß Eine unſrer Gefangenen fehlte. Sie
habe ſich verlaufen, ſagte der Spanier. Wir ſahen ihn an, und in¬
dem ich gleichzeitig einen Streifen Fleiſch in den Kürbis voll Blut
tauchte, warf ich die Bemerkung hin, daß der Geſchmack der Anti¬
lope eigentlich wenig zu ſpüren, wenn man bedächtiger eſſe. Da wurde
der Spanier wild, riß ſeinen Mantel von einem Dinge weg, das ſeit¬
wärts hinter einem magern Dornbuſch lag und ſchrie: Valga me Dios!
Fleiſch iſt Fleiſch; ſeid ihr ſatt oder nicht? Unter dem Mantel lag
der Kopf und der blutende Körperreſt des fehlenden Indianermädchens. —
Da war es, mein Herr, aber auch nicht früher als da, wo Au Reſte
ausrief: Auf der nächſten Straße kehr' ich zu den Kornknackern zu¬
rück. Er hat Wort gehalten. So, mein Herr, hörten wir auf, Trap¬
per zu ſein.
Mit Recht! rief Moorfeld aus, der ſchreckensſtarr nur die einfachſte
Antwort für ſo viel Entſetzen hatte.
Es folgte eine längere Pauſe zwiſchen unſern Gaſtfreunden. Moor¬
feld's Lebensgeiſter waren gewaltſam wieder ermuntert. Vor Allem
rege war ſein Intereſſe für Au Reſte. Der Mann, der ſich bei leben¬
digem Leibe ſeinem Freunde zur Nahrung geboten, und doch vor der
gleichen Nahrung mit unbefleckter Menſchlichkeit zurückgeſchreckt, — er
war in einem Petrefact von Barbarei ein ſo unſchätzbarer, tiefliegen¬
der Juwel des Menſchengemüthes, daß ihn Moorfeld lebhafter ergriff,
als die Schattengeſtalt einer flüchtigen Abendunterhaltung.
Und was iſt aus Au Reſte geworden? war daher ſeine erſte
Frage, als er von dem Eindruck des gehörten Gräuels ſich erholt.
Ah, le pauvre diable! ſeufzte der Canadier, mehr für ſich als
zur Antwort.
Erreichte er noch die Bezirke der Civiliſation? ging er zu Grunde?
ſtarb er? wie?
Monsieur, ce sont des choses bien — bien — ah, fort damit!
Was wäre das Leben ohne Wein und Geſang!
Trinken wir aus! Primaſorte, mein Cider; ſpüren ihn bis in die
Fußſpitze! Wir müſſen luſtig ſein, quand même!
28*[424]
Wie, mein Herr, ehrt man ſo das Andenken der Braven? Was
iſt aus Au Reſte geworden?
Mon Dieu — wenn es ſein ſoll — Sie ſchlafen auf ſeinem
Grabhügel.
Moorfeld ſprang auf.
Auf ſeinem Grabhügel?
Ja, hier unten liegt er und kommt nicht wieder herauf. Freut
es mich doch, daß ihn die Yankee's — Gott verdamme ſie! — nicht
eingeſcharrt haben. Sie haben ihm das Leben leid genug gemacht.
Ruhe ſeiner Seele! Ich danke Gott, daß ich wenigſtens berufen war,
ihm den letzten Dienſt zu erweiſen.
Mann! Was ging hier vor? Auf welchem Boden ſteh' ich? Bei
Gott, ſprechen Sie!
Nun ja doch — ja! Ich will Ihre curiosité pour des evene¬
mens funestes befriedigen. Aber behalten Sie Platz, Monſieur.
Glauben Sie, man ſchläft auf einem Grabhügel wie in jedem andern
Fauteuil. Wenn wir im Weſten einen Trapper begruben, — und
keine Woche verging ohne das —
Auf einem friſchen Grabe! Sie litten Schiffbruch auf dem ſtür¬
miſchen See, und Er blieb das Opfer?
Pardon, der Sturm war ſehr gut; — ſteifer Strich aus Nord,
mein Canoe flog wie eine Schwalbe! Ja freilich litt er Schiffbruch;
aber nicht mit mir — ah, je comprends; Sie denken wir fuhren
ensemble von Canada herüber? Keineswegs, mein Herr, zwei Trapper
bleiben unter dem Bourgeois nie beiſammen, die beſten Freunde nicht.
Mon Dieu, was ſind Trapper in den Städten? Wachsſtumpen in
des Küſters Lade. Meidet Einer den Andern. Nein, ich wußte in
Wahrheit nicht, was aus Au Reſte geworden. Wir hatten uns getrennt
als gute Freunde und Brüder, aber wir hatten uns getrennt. Erſt
heute, erſt hier ſah ich ihn nach fünf Jahren zum erſten- und letzten¬
mal wieder. Hier landete ich, dort zog ich mein Canoe in's Dickicht,
wo ich es, von New-Orleans retour, regelmäßig wieder zu finden
pflege, und ſo war Alles gut für diesmal, dacht' ich. Stehenden
Fußes ſollte es nun weiter gehen nach dem Ohio. Ein paar hundert
Schritte von hier kenn' ich eine der beſten Waldpaſſagen, dahinab
marſchirte ich längs dem Seeufer. Nun, was ſoll ich finden unter¬
[425] wegs dieſer détour? Eine Leiche am Strande. Und wer ſoll dieſe
Leiche ſein? Mein alter Gaul, Au Reſte, der arme brave Narr!
Zwar Leiche war er noch nicht. Der See hatte ihn beſinnungslos
an's Ufer geworfen und was ſolch eine blinde, dumme Welle vermag,
das war hier geſchehen. Sie hatte ihn anſtatt in's weiche Gras, gegen
einen verdammten alten Eichknorren geſchnellt, der in der lieben weiten
Welt juſt auch dort ſeinen einfältigen Stamm vorhangen ließ. Das
Gehirn war erſchüttert, wie es ein Büffelſchädel vielleicht eben noch
verknus't hätte, aber hier war's genug zum letzten Datum. Wagh!
Sturzwellen und Eichkloben verſtehen ſich ſchlecht auf gute Manieren;
hätt' ich nur den verdammten Yankee vor meiner Rifle, den Hund
von einem Kapitän! Das Schiff konnte ſich noch ganz gut retten.
Es war von Detroit nach Stadt Erie in Ladung und hatte das Un¬
glück heut Nacht im Nebel gegen einen Propellor zu ſtoßen, welcher
in der entgegengeſetzten Richtung kam. Die zwei Waſchbären von
Kapitäns fuhren beide mit ihrer vollen Maſchinenkraft trotz Nacht
und Nebel; Au Reſte's ſeiner hatte überdies noch verſäumt, die War¬
nungsglocke anſchlagen zu laſſen. 'Sind Niggers dieſe Yankees ſchwö¬
ren Sie drauf, Monſieur. Eh bien, ſie ſtießen zuſammen. Beide
im vollen Gange, wie ich ſage. Der Choc kann nicht ſanft geweſen
ſein. Nun, ſollen Sie ſagen, ob die Yankees verdammte Seehunde
ſind. Unmittelbar nach dem Zuſammenſtoß ſetzt der Propellor ſeinen
Weg fort, ohne ſich um den Zuſtand des andern Dampfers nur im
Mindeſten zu bekümmern. Dieſer aber bekümmert ſich auch um
ſich ſelbſt nicht. Der Kapitän läßt dem Leck kaum nachſehen, ſchlägt
ihn gering an, und will ſo wie er iſt Stadt Erie noch erreichen. Go
ahead! ſagen dieſe Niggers, und der Menſch gilt nichts, die Waare
Alles unter der verdammten Deviſe. Enfin, das Schiff ſinkt, als es
beizulegen ſchon zu ſpät war, im Nu ſind die Lichter aus, Maſchin-
Heitzung gelöſcht, und — ein Schelm will ich ſein, wenn ich ein Wort
nur verſtanden, was Au Reſte noch weiter röchelte. Nehmt dieſe Brief¬
taſche, alter Gaul, ſchrie er mit ſeinem letzten Funken, und merkt aus
den Namen, Freund Leichtfuß: ſie ſoll für Doctor Moorfeld bei Neu
Lisbon, der hat ein Recht daran.
Moorfeld ſah das Geſicht einer Meduſe.
Anhorſt! ſchrie er außer ſich.
[426]
C'est juste! Das war ſein Name. Mon Dieu, un nome très
difficile; die Yankees verhunzten ihn, Gott verdamme ſie; und ich
prononcirte Anoreſt — Oreſt und zuletzt Au Reſte, denn wahrlich er
war arrivé au reste, als er zu den Trappers kam. Aber kannten
Sie ihn, Monſieur?
Achtes Kapitel.
Eine finſtere Herbſtnacht bedeckt Himmel und Erde. Der Wind
braust kalt und ſchneidend über Wald und Prairie. Naſſe Wolken
ſprengen ſtoßweiſe Regenſchauer nieder, — harte körnige Tropfen, die
ſchon den Eisgedanken denken. Raſſelnd fahren ſie durch das Gelaub
der Bäume und ſtreifen Strich um Strich Hekatomben von Blättern ab.
Die Erde ſchauert in's innerſte Mark hinein. Es dröhnt ihr wie
Trommelwirbel im Ohr, — das Martialgeſetz des Winters hört ſie
verkünden. Horch, wie entſetzte Thierlaute durch die hohle Finſterniß
dringen! Das Volk der Wildhöhlen kreiſcht angſtzerriſſen den Gott des
irre gewordenen Lebens an. Eine Eule raſchelt mit ſchwerem Flügel
durch's Dickicht — ein ſcharfer Schrei — da ſank noch ein Opfer der
Local-Tyrannei, eh' der Winter ſie Alle, Alle gebieteriſch anherrſcht:
Schlafet und ſterbet!
Hufetrab ſchallt durch die Nacht, erhitztes, abgehetztes Schnauben
und Schnaufen, — es iſt ein Pferd mit ſeinem Reiter. Sie haben
einen langen Gang gethan. Das Pferd iſt wund geritten, mit Schweiß
und Schaum bedeckt, die Beine hoch hinauf von Sand ſtarrend, Schweif
und Mähne von tauſend Dornen zerrauft. Der ſtädtiſch-elegante
Reiter theilt das verwüſtete Ausſehen ſeines Thieres. Ein Wild achtet
ſeines Felles mehr, als hier ein Menſch einer menſchlichen Bedeckung
geachtet. Der feine Anzug iſt zerzaust, zerriſſen, beſchmutzt, jedes
Stück in Unordnung, von Wind und Regennäſſe, Waldesgedorn und
nacktem Erdlager geſtaltlos, formlos. Das Antlitz des Reiters iſt
[427] bleich, entſtellt, überwacht, die Geſichtsmuskel abgeſpannt wie die eines
Hinzurichtenden, aber das Auge darüber ſchneidig, blitzfunkelnd, wie
ein Henkerbeil.
Der Reiter iſt Moorfeld.
Wir erzählen ſeine, ſeit dem Nachtlager am Erieſee durchlebten
Stunden durch — Schweigen. Dieſe Oreſtie ſei der Phantaſie des
Leſers überlaſſen! Genug, daß den Furien, die ihn jagten, kein Weg
zu unwegſam, kein Dickicht zu dicht, kein Dorn zu dornig, keine Nacht
zu nächtlich war, ſie fegten dies Herz über den herzloſen Boden Ame¬
rika's wie ein dürres Baumblatt im Winde. Aber es war kein dürres
Baumblatt, es lebte und blutete, und blutend ſchleifte es ſich von dem
methodiſtiſchen camp-meeting, von Gadshill, von Anhorſt's Grabhügel
jetzt ſeiner verlaſſenen Hütte zu.
Es war ſpäte Nachtſtunde, als Moorfeld ſein ödes Heimweſen
wieder erreichte.
Wie ein abgetakeltes Wrack trieb Roß und Reiter in den nacht¬
bedeckten Hafen. Kein Salutirſchuß der Freundſchaft empfängt den
Heimkehrenden freudig oder ehrenvoll; als ſchliche er ſich in einen
Piratenhafen, iſt's traurig-ſtumm bei ſeiner Annäherung. Ach, er
liegt ja im Grabe, der Mann, für den Moorfeld Dank und Freund¬
ſchaft hier ausgeſäet! Hinter jenen Blockwänden lungert theilnahmlos
ein Miethling.
Aber das Blockhaus iſt erleuchtet und zwar ungewöhnlich wie es
ſcheint. Noch mehr, lärmende Zecherſtimmen hallen daraus durch die
Waldnacht.
Moorfeld ſtaunt.
Seltſames Beiſpiel von Dienertreue! Der trübſinnige Schottländer
kennt alſo doch die Freuden des Trinkgelages; nur — hinter dem
Rücken des Herrn! Oder iſt ihm ein Schwarm wilder, ungebetener
Gäſte in's Haus gefallen, ein Schlag von Backwood-Rowdies, die er
anders nicht los wird? Das war Moorfeld's beſſerer Gedanke.
In dieſem Augenblicke ſtürzte Cäſar über ein paar querliegende
Baumſtämme. Moorfeld fiel und ſah im Finſtern den Boden rings
bedeckt von friſch geſchlagenem Stammholz. Es war wie eine Art
Barrikade.
Halloh! Ballan heraus! rief Moorfeld mit hellem Waldruf.
[428]
Niemand antwortete.
Hört, Ballan, hört! Heraus mit Licht!
Das Blockhaus rührte ſich nicht.
Ungeduldig raffte ſich Moorfeld, ſo gut es gehen wollte, auf und
half auch ſeinem Pferde auf die Beine. Er führte es vorſichtig am
Zaume nach ſich gegen die Hütte, deren Thüre er mit Einem Fu߬
tritte aufſtieß.
Aber jetzt war auch Empfang da.
Ein Mann trat ihm unter der Thüre entgegen und leuchtete ihm
mit einer Kienfackel in's Antlitz.
Moorfeld prallte zurück. Das war Adin Ballan der Schottländer
nicht, dieſes Geſicht war — Wogan!
Hollah, was ſoll's? Was wollt Ihr vor meinem Hauſe? polterte
der barſche häßliche Mann.
Moorfeld blickte unwillkürlich um ſich, ob er den Ort nicht ver¬
fehlt, aber kein Irrthum waltete. Welch neue Ungeheuerlichkeit das!
Hölle! rief er, iſt ein Toller hier eingebrochen; wo iſt Ballan?
In allen Winden; was kümmert's mich! laßt mir mein Haus in
Frieden!
Teufel! Herr, packt Euch in's Tollhaus; Piſtolen ſpaßen nicht.
Wo iſt Ballan, mein Diener?
Wogan trat zurück und machte Miene die Thüre zuzuwerfen.
Moorfeld riß eine Piſtole aus dem Gürtel und feuerte. Das
Hausrecht gegen die koloſſalſte aller Frechheiten zu vertheidigen, hätten
wir ſelbſt, um ein Gleiches zu thun, vielleicht nicht erſt des Zuſtandes
bedurft, worin dieſe Frechheit ihn antraf.
James! Dick! Bill! Charles! Heda, ſchüttet Zündkraut auf! Knallt
ihn nieder! Schmeißt ihn todt! Und im Nu ſtand der Eingang ge¬
drängt von einem Halbdutzend wilder, betrunkener Galgengeſichter.
Moorfeld zog eine zweite Piſtole. Da geſchah ein Schlag gegen
ſeine Hand und die Waffe fiel zu Boden. Ein hölliſches Gelächter
umwieherte ihn, das Geſindel packte ihn von allen Seiten. Moorfeld
riß ein Jagdmeſſer aus der Scheide und ſtürzte blind auf den Schwarm.
Dieſer ſtob augenblicks auseinander. Moorfeld fiel im Schwung ſeines
Stoßes zu Boden und ſein Meſſer rannte tief in die ungedielte Erde.
Die Meute johlte unbändig über den gelungenen Raufer-Kunſtgriff.
[429]
Na, Jungens, laßt's gut ſein, fing jetzt eine Stimme mit iriſchem
Accent zu lallen an. Verklagt den Burſchen of trepass vi et
armis und ſetzt ihn für diesmal an die Luft. Man iſt doch Frie¬
densrichter ſo zu ſagen, und für Blutvergießen verantwortlich, ſo zu
ſagen. Ich rathe, Miſters, es wär' ein verdammtes Accident, wenn
ein Friedensrichter und ein Bündel Geſchworne Selbſthilfe genommen.
Wofür ſind die Geſetze unſrer freien und aufgeklärten Verfaſſung da?
Was will der Kerl eigentlich? Nachtlager? O pfui, Miſter, wer wird
mit Piſtolen in der Hand Gaſtfreundſchaft fordern? Aber die arme
Maus ſteht nicht mehr feſt in ihren Schuhen. Gebt ihm ein Glas
ſteifen Grog, Jungens, Hitze muß Hitze vertreiben; ich rathe das wird
ihm gut thun, wie der Nachtigall die Kreuzſpinne.
Moorfeld packte den Mann, der ſo ſprach, an, und rief: Ihr ſeid
Friedensrichter? Nun denn im Namen Eures Amtes! Wißt Ihr auf
welchem Boden Ihr ſteht? Wißt Ihr an welchem Verbrechen Ihr mit¬
ſchuldig ſeid? Ich überblicke, was hier vorgegangen iſt. Man hat
meinen Diener verjagt und ſich in den gewaltſamen Beſitz meines
Hauſes geſetzt. Ihr ſeid von einem Räuber bewirthet und Mitſchul¬
dige Eures Räubers. Geht! Taumelt Euer frevelhaftes Gelage zu
Ende und erwachet morgen unter dem Schwert des Geſetzes.
So ſprechend ſchleuderte Moorfeld den Betrunkenen hin, warf ſich
auf's Pferd und ſprengte davon. Wald und Finſterniß verſchlang ihn.
Das Ganze war die Scene eines Augenblicks. —
Wenn Menſchen durch Untertauchen in's Waſſer ſich den Genuß
eines ſchwungvollen Glockengeläutes verſchaffen, Andere durch ſtarke
Narkoſen, oder durch künſtliches Erhängen, oder durch was immer für
eine Hervorbringung von momentanem Blutdruck auf's Gehirn ſich
eine plötzliche Traumwelt an die Stelle der realen Wirklichkeit ſetzen,
ſo müſſen wir an die Abnormität ſolcher Augenblicke erinnern, wenn
wir von Moorfeld's Zuſtand jetzt ſprechen ſollen. Das Abenteuer
dieſer Minute war ſo herausgeriſſen aus dem Zuſammenhange Alles
deſſen, was ein Heimkehrender an ſeiner Schwelle erwartet, es war ſo
unerhört, ja ſo wahrhaft unmöglich, daß es faſt einzig nur im Cha¬
rakter des Abſurden auf Moorfeld wirkte. Moorfeld hatte die ganze
Zeit über an die Perſon Wogan's nicht wieder gedacht. Und dachte
er ja an ſie, ſo verſah er ſich eines böſen, feindſeligen Streiches zu
[430] ihr: — dieſer aber war ein dummer! Es blieb ihm unbegreiflich,
was ein Feind, der zu ſchaden oder auch nur zu kränken denkt, Plan¬
mäßiges ausgeführt hat, wenn er ſich dem Geſetze gegenüber in eine
völlig offene, ungedeckte Lage begibt, ſich einer ſchweren Strafe ſchuldig
macht, und nichts erreicht hat dafür, was einer logiſchen Bosheit ein
entſprechender Erſatz ſcheinen könnte. Denn daß der rechtmäßige Herr
eines Hauſes eine Nacht außer ſeinem Hauſe zubringt, ſollte das ein
lange vorbereiteter Racheact, ſollte das ein Genuß ſein, der das Straf¬
urtheil einer unrechtmäßigen Beſitzergreifung mittels gewaltthätigen Ein¬
bruchs aufwäge?
So war nach der Betäubung des erſten Augenblicks Moorfeld's
Eindruck von dieſem Erlebniſſe eigentlich kein anderer, als der einer
ſchlechtbefriedigten — Verwunderung. Noch nie war eine Beleidigung
ſinnloſer angelegt, noch nie eine Genugthuung gewiſſer.
In dieſer Zuverſicht ſtand Moorfeld Tags darauf vor dem Can¬
tonsrichter in New Lisbon, und forderte nach einem kurzen Referate
der nächtlichen Begebenheit einen Conſtabler, der ihn in den Beſitz
ſeines Hauſes zurück- und den unbefugten Eindringling in Haft daraus
wegführte.
Kaum aber hatte Moorfeld ſein Begehren vorgebracht, als Mr. Wo¬
gan ſelbſt vor dem Richter erſchien. Er behauptete eine große Kalt¬
blütigkeit bei Moorfeld's Anblick.
Zu dem Friedensrichter gewendet ſagte er, er komme, um das
Ortsgericht zur Uebernahme eines Depoſitums aufzufordern. Es ſtün¬
den ihm die Fahrniſſe im Wege, welche der vorige „Inhaber“ von
John Stuterings Loos in ſeinem log ſhanty zurückgelaſſen. Seine
Rechtstitel erſtreckten ſich nur auf das Immobiliar, die bewegliche Habe
anzutaſten oder zu benutzen getraue er ſich nicht zu verantworten.
Uebrigens beläſtige ſie ihn nachgerade, da er endlich daran denke, ſich
mit einer eigenen Einrichtung zu verſehen, ja vielleicht breche er über¬
haupt die vorgefundene Blockhütte ab und fange einen größeren Bau
an; — kurz, er wolle dieſen Nachlaß auf eine legale Art los ſein.
Mit großem Gleichmuthe fügte er hinzu, er ſehe zwar in dieſem
Augenblicke die Perſon des Eigenthümers jener Möbel ſelbſt vor ſich,
er nehme aber Anſtand, deren Uebernahme von ihm zu begehren, da
derſelbe vorausſichtlich und demnächſt eine Haft werde anzutreten haben,
[431] indem er ſo eben of trepass vi et armis ihn anzuklagen im Be¬
griffe ſtehe.
Moorfeld traute ſeinen Ohren nicht. Er glaubte in Wogan eine Art
Automat zu hören, welches zwar eingerichtet iſt, articulirte Laute hervorzu¬
bringen, aber auf's Gerathewohl, ohne Sinn und logiſche Ordnung. Und da
der Menſch, ſelbſt, wo ihm der Verſtand gänzlich ſtille ſteht, ſeiner Natur
nach doch noch Gedanken erzeugt, ſo war Moorfeld's einziger Gedanke:
der Mann iſt verrückt.
In dieſem Sinne antwortete er auch. Er ſagte, er ziehe ſeine
Klage auf widerrechtliche Beſitzergreifung mittels Einbruchs zwar
nicht zurück, aber er ſuſpendire ſie ſo lange, bis die gerichtsärztliche
[Expertiſe] über die Imputationsfähigkeit des Angeklagten entſchieden.
Für jetzt wünſche er unter Gerichtsgeleit in ſeine Wohnung zurückzu¬
kehren, und ſei es ja möglich, dem geiſteskranken Uebelthäter hier einen
lichten Gedankenmoment abzugewinnen, ſo möge er vor allem inquirirt
werden, was aus Adin Ballan, dem Schottländer, geworden.
Ein Yankee macht nicht leicht ein verblüfftes Geſicht, es wäre denn
in ſupernaturaliſtiſchen Dingen. Aber ſelbſt dann affectirt er ſtatt der
verblüfften bloß eine verächtliche Miene.
Der Friedensrichter von New-Lisbon behauptete in dieſer wider¬
ſpruchsvollen Lage ſeine vollkommenſte Faſſung. Ja, ſo groß war
dieſe Faſſung, daß er während des Vortrages der beiden Parteien
keinen Augenblick aufhörte, zu nieten und zu ſchweißen, denn wir dür¬
fen nicht vergeſſen zu bemerken, daß Moorfeld den ehrenwerthen Mr.
Cartwright bei der Ausbeſſerung eines Pittsburger Packwagens an¬
getroffen, welcher einer durchreiſenden Auswandererfamilie aus Penn¬
ſylvanien auf der ſchlechten Lisboner Straße in Brüche gegangen, und
welchen der barmherzige Ortsrichter ſo eben zur Cur vorhatte, da die¬
ſer Würdige, ſeines Zeichens ein Schmid, aus überfließender Menſchen-
und Dollarliebe mitunter auch gerne noch zu ſeinem vorigen Hand¬
werk griff.
Der Richter antwortete daher unter Hammerſchlägen und dem
Ziſchen glühender Stifte gegen Moorfeld gewendet: Stehe gleich zu
Dienſten, Miſter. Erlauben Sie nur, daß ich das Eiſen ſchmiede, da
es warm iſt. Haben ja auch noch Zeit zu verſäumen. Geht ſo raſch
nicht wie Sie denken, Miſter. Vertreiben da einen Mann, der in
[432] einem Hauſe ſitzt und befinden ſich ſelber außer dem Hauſe. Wird ſo
leicht nicht gehen, Miſter. Unter welchem Titel locomoviren Sie Mr.
Wogan von ſeiner Feuerſtelle, wenn ich fragen darf?
Bei dieſer Frage hätte Moorfeld gerne den Richter ſelbſt für ver¬
rückt erklärt. Seine Stellung gemahnte ihn nachgerade an die Situa¬
tionen jener parodiſtiſchen Romane, in welchen der geſunde Menſchen¬
verſtand die negative Rolle ſpielt, und irgend ein allegoriſcher Narren¬
ſpuck von Pflanzen, Thieren oder gefabelten Weſen den Unſinn als
poſitive Weltordnung treibt. Er ſtand einen Augenblick und beſann
ſich, ob er mit ſolchen Menſchen ſich weiter befaſſen wolle. Im Ernſte
gewiß nicht. Nur indem er der Vorſtellung folgte, ſie als „Clowns“
eines Schauſpiels vor ſich zu haben, nur indem er ſich erinnerte, er
ſei nach Amerika gekommen, um zu experimentiren, zu erfahren, ken¬
nen zu lernen, entſchloß er ſich, den Gang dieſer Scene einzuhalten,
ſo lang bis ſein Eckel größer als ſeine Wißbegier ſein würde. Dieſer
Ideengang ging voraus, als er auf Mr. Cartwright's Frage: unter
welchem Titel locomoviren Sie Mr. Wogan von ſeiner Feuerſtelle?
endlich antwortete.
Er antwortete einfach durch Vorweiſung ſeines Kaufbriefes.
Der Richter warf einen flüchtigen Blick auf das Papier, indem er
einen kleinen Blasbalg an ſein Kohlenbecken ſetzte und ſagte phlegma¬
tiſch: Hm, ein beſchriebenes Blatt! Ich rathe, Mr. Wogan hat deren
mehrere. Von was für einer Sorte, wenn ich bitten darf, iſt dieſe
Schrift?
Es iſt ein Kaufbrief!
Ein Kaufbrief, hm! das iſt ſo übel nicht. Und wenn dieſer Kauf¬
brief mit dem Grundbuche ſtimmt, — allerdings; dann hätte eine
Klage auf Reſtitution vielleicht Ausſicht.
Wirklich? fragte Moorfeld mit einer ironiſchen Heiterkeit.
Noch einen Augenblick, Miſter, bat der Friedensrichter, dem der
Packwagen ſehr am Herzen lag; — noch einen Augenblick, dann gehen
wir hinüber auf die Cityhall und collationiren —
Daß ich nicht wüßte! unterbrach Moorfeld die Zumuthung, in
Geſellſchaft Wogan's und des Schmieds über die Straße zu gehen.
Der Schmied hörte dieſe Weigerung offenbar mit Vergnügen und
hämmerte noch einmal ſo eifrig auf ſeinen Wagen ein. Gut er mag
[433] kommen, ſagte er. Heda, Tom! Lauf hinüber: Mr. Gull, wenn
es ihm gefällig iſt, möge mit dem Grundbuche ſich bei mir ein¬
finden.
Moorfeld hörte dieſen Befehl mit Erſtaunen. Aber freilich erin¬
nerte er ſich zugleich, in einem Reiſewerke über Amerika einſt geleſen
zu haben, daß dem Reiſenden ein ſehr achtungswerther Staatsſecretär
die auf Pergament geſchriebene Stiftungsurkunde eines großen Union¬
ſtaates vorgezeigt habe, welche wie ein gewöhnlicher auf die Poſt ge¬
gebener Brief zuſammengelegt, in den Falten abgeſchabt und in den
Ecken durchlöchert war. Auf die Bemerkung des Reiſenden, daß man
ſolche Documente in Europa in Folio zwiſchen Papp und andern Tafeln
aufbewahre, habe der Staatsſecretär dieſes Verfahren zwar ſehr ſchön
gefunden, aber deßungeachtet ſeine Urkunde höchſt kaltblütig wieder in
die alten Falten eingebrochen. So ſchien es denn ein Seitenſtück dieſes
Verfahrens, ein Grundbuch ohne Weiters aus der Regiſtratur zu reißen
und damit über jede beliebige Straße zu laufen.
Tom, ein ſchwarzer Hausdiener, war inzwiſchen fortgelaufen, der
Richter fuhr fort, ſeine glänzenden Schmiedekünſte an dem alten Pack¬
wagen zu erſchöpfen.
Mr. Wogan hatte die Unverſchämtheit, dem Richter Parteilichkeit
vorzuwerfen, daß er bisher nur Moorfeld's Sache berückſichtigt, ſeine
eigene Klage of trepass vi et armis aber durchaus ignorirt.
Eure Zeugen? fragte der Richter.
Mr. James Pettigraw, Advokat von New-Lisbon, Mr. Richard
Luke, Farmer im County und Lieutenant bei der Landmiliz, Mr.
William Clisby, ein Holzhändler aus Virginien, Mr. Charles Adoir,
ein Pferdehändler vom Süden, Mr. Phelim O'Brien, Friedensrichter
von Ravenna —
Was? der Phelim war auch dabei? fiel der Richter lebhaft da¬
zwiſchen. Ei, Mr. Wogan, dann ſeid ihr ja Alle, nehmt mir's nicht
übel — voll geweſen. Ja, ja, ich rathe, ihr ſeid tüchtig im Lee ge¬
legen. Den Teufel auch, der Phelim! Wo mein ehrenwerther College
von Ravenna einfährt, dort ſchwimmt man im Grog bis an die
Ohren, — lehrt mich den Irländer kennen! Nein, Mr. Wogan, Be¬
trunkene ſind keine Zeugen, das iſt ein Factum. Vi et armis!
ach geht mir doch! Wo ſeid Ihr denn verletzt? Wo thut's Euch denn
[434] weh? und der Schmied-Richter ſpie mit großer Selbſtüberzeugung einen
ganzen Mund voll Rauchtabakextract in ſeine Kohlen, die laut
aufziſchten.
Moorfeld ſah mit Verwunderung, daß er am Ende noch die
Freiſinnigkeit dieſes Juſtizbeamten anerkennen müſſe. Freilich
indem er ſeine Leute näher beobachtete — ſtieg ihm der Verdacht auf,
es verdrieße den ehrlichen Mann eigentlich, daß er nicht ſelbſt mit
von dem beſagten Gelage geweſen. Natürlich fand es Moorfeld unter
ſeiner Würde, von ſolch einer Nachſicht zu profitiren und die That
ſeines gerechten Zorns zu verſchweigen. Aber Mr. Cartwright häm¬
merte wieder auf ſein Wagenrad ſo vulkaniſch los, daß die zwei zu¬
geſtandenen Piſtolenſchüſſe abſichtlich wie es ſchien übertönt wurden.
Mr. Wogan wendete kein Wort dagegen ein. Er ſtand da, ſeine wul¬
ſtigen Lippen in die Zähne gekniffen, ſeine Schultern hoch an den
häßlichen Schädel gezogen, und ſchien Kraft und Erwartung wie zu
einem Hauptſchlag zuſammenzudrängen.
Dieſer Augenblick kam jetzt. Man ſah Mr. Gull, den County
Clerk, über den „Square“ von New-Lisbon heranſchreiten, Tom, der
Neger, trug ihm das Grundbuch nach. Mr. Cartwright warf ſchnell
noch einen prüfenden Blick auf den Pittsburger Patienten und ſchien
von der Reconvalescenz deſſelben ſo weit überzeugt, daß er es wagen
mochte, den Gegenſtand ſeiner zärtlichen Sorge endlich zu verlaſſen.
Er hatte nämlich den Tact, die drei Herren jetzt in ſeine Amtsſtube
zu bitten, da der bisherige Schauplatz unter freiem Himmel geweſen.
Man trat ein.
Mr. Gull, der County Clerk, war dieſelbe Perſon, an deſſen
Krankenlager Moorfeld das von ihm beſchriebene Zuſammentreffen mit
dem reiſenden „Doctor“ gehabt. Der Mann begrüßte unſern Helden
mit einer Artigkeit darüber, der es nicht an Herzlichkeit fehlte. Er
habe von ſeinem Bette aus die Controverſe wohl begriffen, ſogar mit
einer Klarheit und Leichtigkeit, die ihn ſelbſt verwundere. Es ſei ihm
eine ausgemachte Sache, daß der Doctor Mackhead ein Ignorant und
Moorfeld ſein Meiſter. Ein Kind habe ja das beurtheilen können.
Auch habe er ſofort ein paar Aderläſſe genommen und er ſei überzeugt,
daß er dieſer Kur allein ſein Leben verdanke. Wogan blies wie ein
[435] erſtickendes Schwein ſeinen Grimm von ſich und ſchnauzte barſch: Zur
Sache, wenn's beliebt.
Die Gegeneinanderſtellung des Kaufbriefes und des Grundbuches
war das Werk eines Augenblicks, der Befund vollkommen richtig.
Moorfeld hielt den Gegenſtand hiermit für erledigt. Er forderte jetzt
Rechenſchaft wegen Adin Ballin.
Wogan ließ ſich mit mürriſcher Kürze und Gleichgiltigkeit zu der
Ausſage herbei: er habe dem Schottländer ſein Recht auf John Stutering's
Grundſtück deutlich gemacht, ſo weit es dem Rechtsunkundigen begreiflich
geweſen, habe ihn ferner auf die Mittel aufmerkſam gemacht, mit
welchen er dieſes Recht gegen einen unbeſonnenen Widerſtand in
Vollzug ſetzen könne, und ihn dadurch gütlich vermocht, den Platz zu
räumen, indem er ihn zugleich zu einer andern Dienſtſtelle nach Whel¬
ling empfohlen, wohin derſelbe auch abgegangen.
Moorfeld wiederholte ſofort mit nachdrücklicher Betonung: Sie
haben ihn auf die Mittel aufmerkſam gemacht, Ihr angebliches Recht
gegen ſeinen Widerſtand in Vollzug zu ſetzen; — d. h. Sie haben
ihn unter Androhung von überlegener Gewalt von dem Poſten
ſeiner Pflicht vertrieben. Nehmen Sie das zu Protocoll, meine Herren.
Die weitere Glaubwürdigkeit dieſer Ausſage wird eine ſofort in
Whelling anzuſtellende Requiſition lehren. Moorfeld ließ die Schritte
dazu unter ſeinen Augen verfügen.
Erſt nachdem er dieſe Obliegenheit gegen ſeinen Diener erfüllt,
verlangte er jetzt die Verantwortung über Wogan's Verbrechen des
Einbruchs.
Wogan holte eine geräumige Brieftaſche hervor, aus welcher er
eine Unmaſſe von Schriftſtücken, gleich dem Inhalt eines trojaniſchen
Pferdes, ausſchüttete. Er begleitete dieſe Entfaltung ſeiner Papier¬
ſchätze mit folgender Erklärung:
Ich werde die Rechtmäßigkeit meiner Anſprüche an John Stute¬
ring's Loos aus einer Reihe von Documenten beweiſen, wovon jedes
für ſich und alle zuſammen mich als unzweifelhaften Eigenthümer des
genannten Grundſtückes legitimiren ſollen. Mit dieſen Papieren in der
Hand hätte ich jeden vorfindlichen Inhaber jener Realität ohne Wei¬
teres außer Beſitz zu ſetzen die Befugniß gehabt; ich fand aber das
Land nicht beſeſſen, es lag herrenlos da, ein Menſch niſtete darin,
[436] dem jedes Erforderniß fehlte, daſſelbe rechtlich zu behaupten oder zu
vertheidigen, ja dem ich nicht einmal zu glauben brauchte, daß er der
Diener eines angeblichen Beſitzers derſelben Landſtelle ſei, kurz den ich
als Fremdling und Eindringling zu präſumiren das Recht hatte, was
ich denn auch gethan.
Moorfeld wendete ſich an den Richter und ſagte: Haben Sie die
Güte, dieſen Poſſenreißer an den Ernſt einer gerichtlichen Verant¬
wortung zu erinnern. Mich dünkt, ich höre einen Menſchen, welcher
jede Ehefrau im Lande, deren Gatte verreist, als Wittwe präſumirt
und je nach Befund in Anſpruch nimmt. Ich liebe den Scherz, aber
ich wähle mir meine Geſellſchaft dazu. Ich räume jenem Menſchen
das Recht nicht ein, mich zu unterhalten!
Die beiden Gerichtsperſonen ſahen ſich auf eine Art an, welche
verrieth, daß ihnen die ſophiſtiſche Sprache Wogan's offenbar weniger
neu war, als der hohe Ton des Europäers. Aber doch lag in Moor¬
feld's Haltung ein Etwas, deſſen Macht nicht unempfunden auf ſie
wirkte. Mr. Gull ſagte daher kurz zu Wogan hinüber: Erklären
Sie Ihre Papiere.
Wogan begann:
Sie wiſſen, meine Herren, daß John Stutering auf die Ausſagen
zweier Hauptzeugen hin, eines Mr. Samuel Flint, Farmer im Beaver-
County im Staate Pennſylvanien, und eines Mr. Vane, Storekeeper
in Cleveland am Erieſee für ſchuldig befunden und verurtheilt wurde.
Hier lege ich Papiere vor, welche das Zeugniß dieſer Zeugen geſetzlich
aufheben. Mr. Samuel Flint hat ſeine Ausſage unter dem göttlichen
Einfluſſe einer Wiederbelebung auf dem camp-meeting der Metho¬
diſtengemeinde zu New-Lisbon feierlich wiederrufen, worauf er eines
ſeligen Todes verblichen. Sie werden die Acte des Widerufes von drei
Aelteſten, zwei circuit riders, und dem ehrwürdigen Reverend Jere¬
mias Windowſhutter, Methodiſtenprediger dahier, unter Obſervanz
aller legalen Formen ausgefertigt finden. Hier iſt ſie. Was die Aus¬
ſage des zweiten Kapitalzeugen, Mr. James Vane, betrifft, ſo lege ich
hier ein Certificat ſeiner Ortsbehörden vor, aus welchen erſichtlich, daß
beſagter Mr. James Vane als Sergeant bei der Landesmiliz in der
Schlacht bei Bunkershill den rechten Arm verloren. Mr. Vane hat
alſo mit den Fingern der linken Hand geſchworen. Nun habe ich
[437] nach ſorgfältigſter Durchſicht der Prozeßacten des John Stutering nir¬
gends finden können, daß der Gerichtshof den Zeugen Vane von der ge¬
ſetzlich gebotenen Form der Aufhebung der rechten Hand ausdrücklich
entbunden hätte. Das Zeugniß des Mr. Vane iſt alſo unter
einer ungiltigen Form, d. h. im rechtlichen Sinne gar nicht abgelegt
worden. Eine Wiederholung ſeiner Eidesausſage iſt aber unſtatthaft,
da in einem Prozeſſe auf Leben und Tod kein Zeugniß eines Zeugen
zweimal abgefordert werden kann. John Stutering kehrt demnach voll¬
kommen rechtlich rehabilitirt in den Beſitz ſeines Grundſtückes zurück
und hat der Gerichtshof daſſelbe eingezogen und veräußert, ſo iſt hier
von einem Prozeſſe des Käufers mit dem Gerichtshofe die Rede, der
John Stutering in keiner Weiſe berühren kann. Der Käufer hat ſich
an den Gerichtshof zu halten, und ein Attentat auf John Stutering's
Eigenthum, wie es heute Nacht verſucht worden, fällt in die Kate¬
gorie der ſtrafbaren Handlungen.
Ich lege nunmehr eine Ceſſionsurkunde beziehungsweiſe einen Kauf¬
brief vor, womit ich erweiſe, daß John Stutering's Loos inzwiſchen
auf mich übergegangen, und zwar unter allen geſetzlichen Formen und
Obſervanzen.
Wenn die geringe Summe in Verwunderung ſetzen ſollte, womit ich
das Eigenthumsrecht von John Stutering's Landloos erworben, ſo bin
ich ferner zu erklären bereit, daß dieſes Eigenthumsrecht ſelbſt ein zwei¬
felhaftes, ein anzufechtendes, ein ungewiſſes. John Stutering hat von
den Erben eines Majors Solon Robinſon in Conekticut gekauft, welcher
die Landſtelle im Jahre 1784 durch Ankauf von den Eingebornen
an ſich gebracht haben will. Es war aber damals ſchon das Geſetz
erlaſſen und in Giltigkeit getreten, daß zur Vermeidung aller Grenz¬
ſtreitigkeiten, welche den Beſtand der jüngeren Colonien aufs äußerſte
zu verwirren angefangen, künftig kein Privatmann durch Abtretung
von den Indianern Land erwerben könne. Der Major hat dieſes
Geſetz verletzt und ſcheint überdies zur Zeit des weſtlichen Vorbehalts
mit ſeinem ungeſetzlichen Eigenthum furtim durchgeſchlichen zu ſein,
anſtatt es dem öffentlichen Grundbeſitze Conekticuts anzuſchließen, als
dieſer gegen eine Entſchädigung von Einer Million zweimalhundert¬
tauſend Dollars an die Föderalregierung abgetreten wurde, eine Summe,
aus welcher der Major gleichfalls ſeine Entſchädigung zu fordern ge¬
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 29[438] habt hätte, wenn er ſich der Abtretung nicht illegaler Weiſe entzogen.
Die Erben des Majors waren daher nicht rechtliche Eigenthümer
dieſes Grundſtückes, ſondern beſaßen höchſtens einen Anſpruch auf die
für daſſelbe entfallende Ablöſungsquote, vorausgeſetzt, daß ihnen eine
ſolche überhaupt zugeſprochen wurde, da eine Erwerbung durch Privat¬
vertrag mit den Eingebornen, wie bemerkt, ſchon vor dem Jahre
1784 ein ungeſetzlicher Rechtstitel des Beſitzes. Gleichzeitig finde ich
weiter, daß weder der Major noch ſeine Erben das Landloos ſchul¬
denfrei beſeſſen, wie ich aus vorliegender Reihe von legaliſirten Vidi¬
mirungen nach älteren Grund- und Hypothekenbüchern in Conekticut
darzuthun in der Lage bin. Einige dieſer Inſätze habe ich bereits auch
käuflich an mich gebracht, über die Ablöſung anderer ſtehe ich noch in
Unterhandlung. Bei näherer Unterſuchung begegnete mir ferner ein
gleichfalls zu beachtender Rechtstitel, welcher auf einer der beiden Sec¬
tionen des Landlooſes aus früheren Zeiten haftet. Nach dem alten
Pennſylvaniſchen common law erwarb es nämlich Rechtstitel auf ein
Land, wenn ein Anſiedler drei Nächte nach einander ſein Herdfeuer
darauf angezündet. Mr. Chauncez Gulbert in Pittsburg vermag nun,
wie ich in dieſen Papieren vorlege, den Nachweis zu führen, daß ihm
unter jenem Titel des jus primae occupationis für die Section
Numero fünf von John Stutering's Landloos ſchon aus dem
Jahre 1778 zuſteht. Ich habe dem Mr. Chauncez Gulbert dieſen
Anſpruch gleich den übrigen abgekauft; hier iſt die Urkunde darüber.
In einer ganz beſonders verwickelten Rechtslage befindet ſich aber die Sec¬
tion ſechs des beſprochenen Grundſtückes. Ich werde aus dieſem Fascikel
von Contrakten, Ceſſionen, Pfandbriefen, vidimirten Codicillen —
Nicht nöthig, Miſter — unterbrach Moorfeld — ich zweifle nicht,
daß halb Amerika John Stutering's Loos beſitzt', und daß Sie das
Alles abgelöst. Aber ich bin nicht gekommen, um mir eine Indigeſtion
an Advocatenkünſten zu holen, deren Vorkoſt nicht beſonders gewählt
und glücklich iſt, wenn der Effect nicht in der Steigerung der Gänge
liegen ſoll. Genug, daß ich Ihre Abſicht erkenne, mich durch ein
shingled over, wie ſie's nennen, zu decontenanciren, und daß ich
den geringſten Begriff faſſen darf von dem Publikum, in deſſen Schule
Ihre Erfindungsgabe im Ganzen genommen ſo herzlich roh geblieben
iſt, — ich ſag' es mit aller Anerkennung Ihres ſonſtig guten
[439] Willens. Nicht mit Ihnen habe ich es zu thun. Ich fahre fort, Sie,
als Partei, unter aller Schätzung zu betrachten. Ich frage Sie viel¬
mehr, mein Herr, — wandte ſich Moorfeld an den Friedensrichter —
ob Sie als Ortspolizei verpflichtet ſind, mir jetzt mein Haus aufzu¬
ſchließen, und als Untergericht meine Klage gegen dieſen Verbrecher
zur geeigneten Weiterbeförderung entgegen zu nehmen?
Das Letztere ohne Zweifel, antwortete Mr. Cartwright nach einer
Pauſe, aber eine eigenmächtige Reſtitution, wie Sie von mir fordern,
Sir — er vertauſchte doch nachgerade das Miſter mit Sir —, ich könnte
nicht ſagen, — ich weiß nicht, Sir — die Sache hat eben den Pro¬
zeßweg zu gehen.
Das verſteht ſich von ſelbſt; nur daß ich nicht geſonnen bin, den
Prozeß unter freiem Himmel abzuwarten.
Der Friedensrichter zuckte die Achſeln.
Moorfeld warf einen erſtaunten Blick auf Mr. Gull. Aber auch
dieſer Beamte ſah ernſter, als es Moorfeld begreifen konnte.
Sie nehmen die Sache in der That leichter — erlauben Sie die
Bemerkung — als ſie uns Andern erſcheinen will.
Mein Herr! rief Moorfeld groß, ſoll ich denn zweifeln müſſen,
daß in dieſem Lande die Anfänge und Ausgangspunkte aller menſch¬
lichen Geſittung fehlen? Hier mein Kaufbrief, dort Ihr Grundbuch —
Sie erkennen mich als Eigenthümer und mein Eigenthum ſoll mir
verſchloſſen bleiben?
Ach, mein Herr, ein Kaufbrief hat hier Landes weniger zu be¬
deuten, als irgendwo zwiſchen den Polen. Und Sie ſehen wohl, was
Mr. Wogan Ihnen an Rechtstiteln entgegenſetzt. A dirty job! in
Wahrheit; aber iſt nur ein Zehntel davon „geſund“ — es thut mir
wirklich leid, Sir! aber ich weiß nicht, was dann das Schickſal Ihres
Eigenthums ſein wird. Sie hätten wahrſcheinlich auf eigenes Riſiko
gekauft.
Von einer Behörde?
Von einer Behörde, Sir. Was kümmern ſich unſre Behörden um
Rechtstiteln? Sie überliefern, wie ſie überkommen. Bei uns gilt der
Grundſatz: Caveat emtor! *)
29 *[440]
Moorfeld ſtand erſtarrt. In Wogan's Zügen verkroch ſich ein
tückiſches Hohnlachen. Nach einer Pauſe kurzer Ueberlegung ſagte
Moorfeld: Wohl! Das hat auf den Ausgang dieſes Prozeſſes Be¬
zug. Ich mag's erwarten. Und eine Stimme ſagt mir, daß auch
nicht das Zehntel von jenem dirty job geſund iſt. Kaum werde ich
einen Livingſtone auffordern dürfen, die Truggewebe eines Wogan
zu zerreißen. Aber —
Bei dem Namen: Livingſtone blickte Wogan überraſcht und er¬
blaßte. Er murmelte etwas von einem „billigen Vergleiche“, zu dem
er ſich bereit finden laſſe.
Aber — fuhr Moorfeld fort ohne ihn eines Blicks zu würdigen —
unter allen Umſtänden kehrt meine Forderung zurück, mir mein Haus
aufzuſchließen. Wenn ich's erlebe, daß ein amerikaniſches Gericht den
Raub nachträglich heiligt, ſo ſoll mich das Urtheil einer Mehrheit von
Flibuſtiern ſo gehorſam finden, wie jede Mehrheit. Das Gut ſei ſein.
Jetzt, wo es noch nicht ſein iſt, erſuche ich Sie indeß, dieſe Scene zu
enden. Handeln Sie Ihres Amts. Ich wünſche, unter der Autorität
Ihres Gerichts nach Hauſe zu kehren.
Mr. Gull antwortete in einem ſanften aber beſtimmten Tone: In
Wahrheit, Sir, auch das macht ſich nicht, wie Sie denken. Ihr Geg¬
ner ſitzt in dem Hauſe, Sie ſtehen außer dem Hauſe. Das iſt der
factiſche Thatbeſtand hier. Und bis zu einem Urtheilsſpruch, der dieſen
Thatbeſtand ändert, dürfte kein Sheriff in Amerika die Verantwor¬
tung auf ſich laden, ihn einſeitig aufzuheben. Mr. Wogan präſen¬
tirt ſich uns im Beſitze, der Beſitz aber iſt prima facie ein Beweis
des Rechts.
Moorfeld war ſprachlos. Er hatte gehört, aber das Wort irrte
unverſtanden am äußeren Ohre umher: es vermiſchte ſich nicht ſinn¬
voll mit der Beſinnung. Beamte dieſer Republik, rief er aus, verſteh'
ich Sie recht? Ein Räuber bricht Nachts in mein Haus und Morgens
ſtellt Ihr Amerika's Themis als Schutzwache an ſein Haus?
Und die Beamten der Republik ſahen ernſt und bejahten.
Der Menſch iſt noch ungeboren, den der Anblick des Geſetzes
nicht überwältigte. Dem Unnatürlichſten iſt es natürlich, dem Ehr¬
furchtsloſeſten eine Majeſtät, und ſelbſt dem Gottesleugner ein Gott. —
Betäubt verließ Moorfeld das Haus. Ueber all ſeinen Seelenqualen
[441] war es ihm möglich geblieben, mit Ruhe und Würde dieſer Stunde
zu ſtehen; — jetzt brach er zuſammen. Mit dem Reſt ſeiner Beſin¬
nung eilte er hinweg, ſeine Beſinnungsloſigkeit zu verbergen.
Dies war das Ende von Moorfeld's Aufenthalt in Ohio. Noch
verweilte er, die Recherchen über Adin Ballin abzuwarten, der zwar
in Whelling gefunden wurde, aber in dem elendeſten Zuſtande. Für
die arme Annette warf er eine Rente aus, um die Benutzung einer
öffentlichen Heilanſtalt für immer entbehrlich zu machen. Zuletzt er¬
wirkte er gegen Wogan ein vorläufiges writ de ne exeas, wodurch er
dieſe Beute ſeines gerechten Zornes — nach einem annäherungsweiſen
Begriffe — unter polizeiliche Aufſicht ſtellte und ſich der Haftung
für deſſen Perſon verſicherte. Dann eilte er nach Newyork, lechzend der
mißhandelten Gerechtigkeit einen Ritter des Rechts aufzurufen.
Drittes Buch.
[[444]][[445]]Erſtes Kapitel.
Von der Landſeite des Philadelphia-Bahnhofs bietet Newyork
keine Avenüe wie von der Seeſeite ſeines Hafens. Von Neu Lisbon
zurück bot ſie auch keine, wie von Europa heran! Im Aeußern und
Innern verglich Moorfeld ſeine zweite Ankunft mit ſeiner erſten, und
— der Vergleich war traurig genug.
Deßungeachtet konnte er ſich eines gewiſſen Heimathsgefühls nicht
erwehren, wenigſtens im erſten Augenblicke nicht. Dieſe Straßen —
dieſe Kirchenthürme, — dieſes Menſchengewühl — um wie viel näher
ſtand es dem Europäer, als die blöde, glotzende Einſamkeit und Bar¬
barei des Urwaldes! Schon das Wehen der Seeluft, die Nähe des
Oceans, — wie lockend! wie beflügelnd! Iſt das Meer nicht der Nach¬
bar aller Menſchen, die Pforte aller Länder? Dieſe Welle hat den
Dom von Rouen zurückgeſpiegelt, dort liegen die Länder Homer's,
Shakespear's, Petrarka's! Und ein Stück Leinwand trägt hinüber leich¬
ter als vogel-leicht, denn ſelbſt die Möwe ruht aus auf ihr! Wahrlich,
jede Seeſtadt iſt die Heimath jedes Menſchen!
Leiſe und angenehm ſpielen dieſe Empfindungen in Moorfeld's
Seele: — ſie ſind ihr ahnungsreicher Hintergrund, indeß die ſtrengen
Sorgen des Tages in den vorderſten Reihen einherdröhnen. Es war
bei einbrechender Abenddämmerung, als er mit dem Philadelphia-
Bahnzug in Newyork ankam. Er ſtieg in dem nächſten Boardinghouſe
am Bahnhofe ab, und eilte ſogleich, Benthal zu ſehen. Zwar erlaubte
ihm die ſpäte Tageszeit nicht mehr, bei Frau v. Milden vorzuſprechen,
[446] doch erinnerte ſich Moorfeld an Kleindeutſchland. Die vorgerückte
Stunde, ſonſt zu jedem Beſuch unpaſſend, eignete ſich eben zu dieſem.
Dort konnte er den einzigen Verſuch, Benthal zu finden, noch heute
machen. Das that er. Glücklicherweiſe fand er in ſeinem Notizbuch
die Adreſſe jenes abgelegenen Stadtwinkels vor, wohin er ſich ſonſt
wohl ſchwerlich zurechtgefunden hätte. So warf er ſich in die nächſte
Miethkutſche und flog dahin.
Das Gaſthaus zum grünen Baum ſtand jetzt in einer Straße, das
vor drei Monaten faſt noch auf freiem Felde geſtanden. Im Innern
aber war es ſo ziemlich beim Alten geblieben. Herr Häberle, „der
deutſche Kaiſer“, war noch immer ein rundes Bild von leiblichem Ge¬
deihen bei geiſtigen Vacanzen; Vronele, ſein flinkes Töchterlein, oder
vielmehr ſeine Vormünderin, führte noch immer ſchnippiſch und gut¬
müthig das Reichsregiment nach ſtabilen Satzungen und Maximen, die
anweſenden Gäſte waren noch immer deutſche Zungen und deutſche Ge¬
ſichter, welche behaglich bei ihrem Schoppen ſaßen, nicht wie der haſtige
Yankee ſtehend an der Bar tranken, und ſo meinte Moorfeld die Perſon
des Rector magnificus könne gar nicht fehlen, wie ihn um und um
Alles ſo hübſch gewohnheitstreu anheimelte. Erblicken aber konnte er
ſie noch nicht.
Ueberhaupt bemerkte Moorfeld bei einiger Aufmerkſamkeit doch
mehr Veränderung in der Phyſiognomie der Trinkſtube, als es auf
den erſten Blick ſcheinen mochte. Das Local war beſuchter, was er
theils der ſpäteren Jahreszeit, theils dem vermehrten Anbau zuſchrieb.
Das Publikum ſelbſt war gemiſchter: die Gäſte ſchienen nicht mehr
ausſchließlich der Einen Klaſſe von arbeitſuchenden Handwerkern anzu¬
gehören, noch verrieth ihr Beiſammenſein jenes familienhafte Gemein¬
gefühl, jene Brüderlichkeit des Bedrängniſſes, was dem Hauſe damals
ein ſo eigenthümliches Gepräge verliehen. Moorfeld erblickte zufriedene
Geſichter, welche offenbar mit ihrer Subſiſtenz im Reinen waren, dann
wieder verdutzte, rekrutenhafte, welche vielleicht Auswanderern ange¬
hörten, die erſt während ſeiner Abweſenheit angekommen. Daß er ſelbſt
von dem ſchwäbiſchen Wirth und ſeiner Tochter nicht wieder erkannt
wurde, brauchen wir kaum hinzuzufügen.
Indem Moorfeld ſich Letzteren näherte, um über die Perſon, die
er ſuchte, Nachfrage zu thun, hielt er plötzlich inne. Es ſchlug ihm
[447] wie eine wohlbekannte Stimme ans Ohr — er brauchte ſich nicht lange
zu beſinnen, — es war die hohle Baßſtimme Herrn Hennings, des
Schriftſetzers. Sie kam aus dem ſogenannten „Extrazimmer“. Dahin
ſchienen ſich die Intimen des alten Kleindeutſchlands für diesmal zu¬
rückgezogen zu haben.
Herr Henning ſprach lebhaft, mit Feuer. Auch ſein Aeußeres um¬
ſpielte ein gewiſſer Glanz, es lag wie ein erhöhter Moment, wie ein
Goldſtaub von „guten Tagen“ auf ihm. Er war ſorgfältig raſirt,
ſein Stirnhaar genial in die Höhe geworfen, ſeine Backen von einer
leichten Röthe angehaucht, und ein feiner, blüthenweißer Hemdkragen,
der in Erinnerung ſeiner ſchweren Kämpfe mit der Waſchfrau wie
eine wahre Siegesflagge prangte, lag breit über einem, wie es ſchien,
ſeidenen Halstuche. Er war in einer aufgeweckten angenehm-nervöſen
Stimmung, ganz herausgetreten aus dem pflegmatiſch-ſchlotterigen Cha¬
rakter früherer Tage. Bald hätte Moorfeld an eine wirkliche Glücks¬
wendung bei dieſem Anblicke geglaubt, wenn nicht die jugendlich-ſtrah¬
lende, faſt kokette Laune des Schriftſetzers im Grunde ebenſo viel
ſchalkhafte Selbſtironie durchzog, als früher ſeine ſcheinbare Abſpan¬
nung und Todesahnung der phthisis pulmonalis. Auch ſprach er
laut genug, daß Moorfeld durch die dünne Glaswand jedes ſeiner
Worte vernehmen konnte, und dieſe ließen allerdings keinen Zweifel
über ſeine Glücksumſtände zu, denn eben ſie waren das Thema ſeiner
Unterhaltung.
Ich bin Vorſtand eines Vereins zur Verbreitung guter und nütz¬
licher Volksſchriften — rühmte Herr Henning von ſich; — der Verein
liegt freilich noch in der Wiege, wenn ſich anders behaupten läßt, daß
ich, der lange Henning, ein Wiegenkind ſei; denn die Wahrheit zu ge¬
ſtehen: ich ſelbſt bin das einzige Mitglied meines Vereins. Das ſchadet
aber nichts. Mein Verein wirkt nichts deſto weniger ſegensreich, das
heißt ſegensreich für mich und das iſt doch wohl die unerläßlichſte Probe
jedes gemeinnützigen Unternehmens. Hört mich an. Seit wir uns
das Letztemal nicht geſehen, haben einige von meinen ſieben magern
Kühen ihr Embonpoint weſentlich verbeſſert. Ich habe eine Fütterungs¬
methode erfunden, — doch nein! nicht ich; der Zufall, der Vater aller
merkwürdigen Entdeckungen, hat's gethan. Man muß ſich auch nicht
mehr Vaterſchaften, als nöthig, zuſchreiben. Nachdem Frau Appendage
[448] mit mir umgegangen war, wie Ihr es wißt, — Gott, es iſt kein
Gemüth unter dieſen Amerikanern! — beſchloß ich meine Kundſchaft
den Deutſchen zuzuwenden. Dieſer patriotiſche Zug belohnte ſich. Zwar
war auch meine neue Leibwäſcherin, Frau Scheuderlein, ſo herzlos, mir
Geld abzufordern — dieſe Gier nach dem Mammon liegt überhaupt
ſchon in der Luft, wie es hier ſcheint; aber — die Sache aberte ſich
doch. Ich hatte, als ſie mir die erſte Wäſche brachte, juſt eine An¬
weiſung auf zweitauſend Dollars an die Gebrüder Sweet u. Comp.
in der Wall-Street einzukaſſiren, was ſich freilich nicht ſo leicht machte,
denn ich lag gleichzeitig an einem verſtauchten Fuß darnieder, den ich
mir Tags zuvor bei dem berühmten Longisland-Wettrennen geholt, in¬
dem ich einen ſchrecklichen Sturz vom Pferde mit angeſehen. Die
Verrenkung ſchmerzte außerordentlich, ich konnte das Bein nicht rühren,
es ging mir erbärmlich.
Natürlich ließ ſich der Incaſſo eines ſo bedeutenden Cheque's wie
meine zweitauſend Dollars keiner fremden Hand anvertrauen, und doch
forderte Frau Scheuderlein ihr Geld, juſt wie es Frau Appendage
auch gethan — es war als ob ſich die zwei Weiber verabredet hätten.
Mißmuthig über dieſe Entartung der deutſchen Race warf ich ihr ein
Buch an den Kopf: ſie ſollte damit auf den Bowery gehen zu Hei¬
man Levi, der kaufe antiquariſche Bücher. Ich geſtehe gern: ich dachte
nichts bei dieſem Puff, — nichts, als nur eben ſie los zu werden.
Aber nun lernt den Fond des deutſchen Charakters kennen. Nach einer
Stunde kommt Frau Scheuderlein zurück: ſie hätte auf dem ganzen
Bowery keinen Haiman Levi gefunden, ſie hätte aber in das Buch
„a bisle ingeguckt“, und es wäre eine ſchöne Geſchichte. Da hört ihr's!
Ein ſchlichtes Weib aus dem Volke, die verſchämte, aber reinliche Ar¬
muth — Kennerin der deutſchen Literatur! empfängliches Gemüth für
die äſthetiſchen Schönheiten unſerer Geiſtesblüthen! Ich wäre ein Bar¬
bar geweſen, hätte mich dieſer Moment nicht erleuchtet. Jetzt erkannt'
ich meine Miſſion. Hier mußte was geſchehen. So viel geſunde und
tüchtige Elemente unſres Volkslebens ſollten nicht in Zerſplitterung
und geiſtiger Nahrungsloſigkeit untergehen. Ich gründete meinen Ver¬
ein zur Verbreitung guter und nützlicher Volksſchriften. Ich beſaß
noch die deutſche „Männerbibliothek“ mit Clauren's ſämmtlichen Wer¬
ken, Schlenkert's hiſtoriſche Romane, zwölf Theile vom Pantheon, zwei
[449] Jahrgänge Mitternachtsblatt für gebildete Stände, zwei Jahrgänge
vom Geſellſchafter, Fouque's Zauberring, Philippine von Geldern, die
Grafen von Hohenberg, Caſanova's Memoiren und hatte überhaupt eine
ganze Kiſte von Büchern mit nach Amerika gebracht, ſowohl aus an¬
geborenem Intereſſe für die ſchöne Literatur als auch um, in Erman¬
gelung anderer Fahrniſſe, meinem Schiffsrheder das contractliche Paſſa¬
gier-Freigut nicht zu ſchenken. Dieſe Schätze machte ich jetzt flüſſig.
Ich ernannte meine Kiſte zur Volksbibliothek und mich ſelbſt zum
Vorſtand eines Vereins, der ſich die patriotiſche Aufgabe ſetzte, jene
ehrwürdigen Denkmäler des deutſchen Geiſtes der weiteſten Oeffentlich¬
keit zugänglich zu machen. Ein ſchwieriges Amt! ein aufopferungs¬
voller Beruf! Als ein Mann, der im letzten Stadium der Phthisis
pulmonalis begriffen iſt, ſchleppe ich, ſo weit die deutſche Zunge reicht,
in Newyork und Brooklyn jetzt meine Bücher herum; keine Manſarde
iſt mir zu ſteil, keine Kellertreppe zu abſchüſſig, Herr Henning, der
Büchermann, verbreitet Aufklärung. So treib' ich es jetzt. Schwer
laſtet der Volksdienſt auf ſeinen Auserwählten, aber Deutſchland iſt dank¬
bar und meine Kiſte iſt tief, — ich ſehe einer ſorgenfreien Zukunft
entgegen. Ich werde heirathen. —
Unſer Bruder Henning der ſoll leben! erſcholl es im Chorus, —
die Stimme des pfälziſchen Schreiners gab den Grundton dazu an.
Merci! bedankte ſich der Schriftſetzer mit geſchmeichelter Eitelkeit und
lächelte liebenswürdig nach allen Seiten. Aber, fuhr er fort, nun gebt
mir auch zu leben! Ihr ſeid mir Kerls! Ihr hört von meiner Leih¬
bibliothek und abonnirt nicht. Für euch beſonders hätt' ich rare Sachen.
Da ſind z. B. Thümmel's Reiſen in das mittägige Frankreich — die
acht Bände liegen mir ſchwer am Herzen! Das iſt Kaviar für's Volk.
Der Plebs will nur ſpannende Handlung, Entführungen und Mord¬
thaten, und der Thümmel iſt ihnen viel zu geiſtreich. Das wäre ein
Deſſert für meine engeren Freunde. Ein Cent per Tag, ohne Einſatz,
der Band mit Titelkupfer, — und welche Kupfer! Das Aushänge¬
ſchild der holländiſchen Wirthin —
In dieſem Augenblicke ſervirte Vronele einige Gläſer Bier im
Extrazimmer. Als ſie den Rücken wandte, ſah ihr der Schriftſetzer
kenneriſch nach, und brummte mit einem bedeutſam ſpannenden Kopf¬
nicken: das wäre kein übles Aushängſchild der holländiſchen Wirthin!
[450] Seine Stimme ging hierauf in ein gedämpftes Flüſtern über, die
Köpfe rückten zuſammen um ihn, und Alles verrieth, daß er das be¬
kannte Myſterium von dem phyſiognomiſchen Quiproquo der hollän¬
diſchen Wirthin zum Beſten gab. Ein wieherndes Gelächter folgte
hierauf.
Das war denn Kleindeutſchland, wie es leibte und lebte! Die alte
Noth — die alte Gemüthlichkeit — Moorfeld ließ ſich an dieſer Skizze
genügen und verlor keine Zeit mit ihr. Ihm handelte es ſich um das
Haupt dieſer Glieder. Mit klopfendem Herzen fragte er jetzt, ob Herr
Benthal heute noch zu erwarten, eine bangere Eventualität in dieſer
Frage umgehend. Herr Häberle, der Wirth, ließ ſeine Finger in ſeinem
breiten Schwarzwälder Hoſenträger ſpielen und beſann ſich auf den
Namen. Der Rector magnificus? antwortete er nach einer langen
geiſtigen Operation; hierauf rief er ſein Töchterchen herbei, damit ſie
ihn im Reden ſubſtituire. Bronele gab mit einem geläufigen Zünglein
den Beſcheid, der Rector magnificus ſei ſchon lange nicht mehr da¬
geweſen, die Abende wären überhaupt nicht regelmäßig gehalten worden,
es hätte dieſen Sommer gar zu arg das Fieber gewirthſchaftet; ganze
Häuſer ſeien ausgeſtorben, ganze Bezirke abgeſperrt geweſen, die „Hohen“
hätten zwar lange Placate anſchlagen laſſen, daß die Krankheit nicht
anſteckend ſei, aber die Leute hätten ſie wieder herabgeriſſen und Alles
ſei auseinander gegangen, nirgends gab's Geſellſchaft. In Fife Point,
wo die „Jauner“ hausten, ſtürben noch jetzt Leute, und die Doctoren
hätten geſagt, bis nicht der erſte Froſt käme, würde es wohl gehen,
wie im Jahre neunzehn und einundzwanzig. Sie, Gott ſei Dank,
wären geſund geblieben und die Leute ſeien rechte Narren, die ſich nicht
zu eſſen und trinken getrauten und den grünen Baum leer ſtehen ließen.
Dazu lächelte das friſche Schwabenmädchen ſo naiv-kokett aus ihren
ſchelmiſchen Roſengrübchen, daß ſich die Thorheit, den grünen Baum
zu meiden, wohl einſehen ließ. Herr Häberle aber ſtand hinter dem
Zahltiſch und hörte mit ſchmunzelnder Bewunderung dem Concept ſei¬
nes Töchterchens zu.
Dieſe Auskünfte klangen nichts weniger als beruhigend. Und wei¬
ter war nichts zu erhalten. Denn der Rector magnificus, hieß es,
laſſe nicht viel von ſich wiſſen; wenn er komme, ſo ſei er eben da,
ſein Logis hingegen ſei ein Geheimniß, Niemand könne ihn beſuchen,
[451] wahrſcheinlich wolle er „den Schwarm“ nicht nach ſich ziehen. Der
Herr ſei gar kurz und propre mit den Leuten.
Indeß das Mädchen noch redete, that ſich die Thüre auf, und
Moorfeld, der ſie fortwährend im Auge behalten, glaubte ſchon an der
Art, wie ſie in der Angel geſchwungen wurde, etwas erwarten zu
dürfen. Allerdings war's eine ungewöhnlichere Erſcheinung, die da ein¬
trat, aber Benthal war's nicht. Es waren drei bis vier junge Ameri¬
kaner von auffallendem Aeußern, Burſche jenes eleganteren Rowdy-
und Loafer-Schlags, wie ſie Moorfeld als Dandies on short allow¬
ance etwa auf Bennet's Rout geſehen. Die Schwengel traten mit
einer unerträglichen Parodie des Anſtandes in die überraſchte Gaſt¬
ſtube, warfen ſtolz und wichtig ihre Augen umher, und ſchritten, in¬
dem ſie ſich im Gehen gegen einander verweilten, im nachläſſigſten
Promenirſchritt nach dem Schenktiſch hinab. Der deutſche Kaiſer
erblaßte bei ihrem Anblicke und murmelte zitternd: Gott, da ſind ſie
ſchon wieder! Die anweſenden Gäſte wendeten ſämmtlich ihre Köpfe
nach ihnen.
Aus dem Cötus trat ein Sprecher vor, ein Menſch, der unmittel¬
bar die Luſt erregte, ihn zu ohrfeigen. Es war ein Bürſchchen mit
einem merkwürdig mädchenhaften Geſichte, wenn anders ein ſchmales,
knöchernes Köpfchen, von zerbrechlicher, nicht zarter Form, und einem
Ausdruck von Fadheit, der auf die Speicheldrüſen wirkte, mädchenhaft
genannt werden dürfte. Er knickte auf ein paar Beinchen einher, die
eher gemacht ſchienen, eine Strickmaſche aufzufaſſen, als einen menſch¬
lichen Leib zu tragen; bei ſeinem Anblicke mußte ſich Jedermann ſa¬
gen, dieſes Inſect würde, allein, vor einem Haſen davonlaufen. Hier
aber ſpreitzte er ſich in dem feigen Bewußtſein einer Genoſſenſchaft,
welche ihrerſeits wieder mit einem Ausdruck von Hochachtung auf ihn
blickte, wie ſie etwa einem Mutterſöhnchen zu Theil wird, das im
ſechzehnten Jahr eine halbe Million durchgebracht, und vielleicht Mit¬
tel, wenn auch nicht Nerven genug hat, noch eine zweite durchzu¬
bringen.
Der deutſche Kaiſer zupfte Moorfeld am Rockärmel und flüſterte
flehentlich: Bleiben Sie hier! bleiben Sie hier! Verwundert fragte
Moorfeld: Haben Sie zu fürchten von dieſen Laffen? und iſt doch
die halbe Stube voll Leuten? — Ach Gott, Sie tragen einen Schnurr¬
[452] bart, — haben ſo ſchwarze grimmige Augen, — Sie ſind ganz ein
anderer Menſch! ſtotterte der Kaiſer in Seelenangſt. Die Loafers
waren inzwiſchen dicht an den Schenktiſch getreten und jenes Knaben¬
geſicht, das ſich als Sprecher gerirte, hatte ſein fahles Köpfchen auf
dem langen ſpindeldürren Hals bereits in die Höhe geworfen, und mit
allen Zügen einer unwiderſtehlichen Frechheit bereits den Mund geöff¬
net, als ſein Blick auf Moorfeld fiel. Er ſtutzte, maß den Fremdling
mißtrauiſch von oben bis unten und blickte zweifelhaft auf ſeine Ka¬
meraden zurück. Dann wendete er ſich an den Wirth, indem ſeine
ganze Haltung verrieth, daß er ſein mitgebrachtes Concept einiger
Maßen abänderte, und fragte mit einem dünnen Stimmchen, das aus
ariſtokratiſcher Affectation äußerſt leidenſchaftslos klang: Haben Sie
ſich entſchloſſen, die Ordre der Compagnie zu erfüllen? — Nein! rief
Vronele ſtatt ihres Vaters und ſtampfte trotzig mit dem Fuße. Der
Bube warf ſeine ausgelöſchten Augen auf das wackere Schwaben¬
mädchen, und gab ſich offenbar die ohnmächtige Mühe, eine Begierde
zu empfinden. Es iſt gut, ſagte er ſanft, wir werden ein Glas Mint¬
juleb nehmen. Die Loafers ſchwenkten hierauf von der Schenkbude ab,
wobei ſie Mann für Mann ihre verdächtigen Blicke auf Moorfeld wie¬
derholten, dann ſetzten ſie ſich ſtill an einen Tiſch. Bleiben Sie hier!
bat der deutſche Kaiſer noch einmal.
Moorfeld begriff von Alledem nichts. Mechaniſch nahm er den
Loafers gegenüber Platz, welche fortfuhren ihn zu fixiren. Er ſaß auf
Nadeln. Seine Gedanken waren bei Benthal. Was er gehört oder
nicht gehört, erfüllte ihn mit einem dumpfen, unbeſtimmten Kummer.
Die Bruſt war ihm zum Zerſpringen voll von Unglücksgedanken. Die
Loafers ziſchelten indeß berathend hin und her, während ſie mit ihren
Schnitzmeſſern eifrig die Stühle unter ſich bearbeiteten. Einmal hörte
ſie Moorfeld im ſchlechten Franzöſiſch ſagen: Der Gaul ſieht verflucht
widermäulig, und was die Hauptſache iſt, ſo ein Kerl wird einer ganzen
Schafheerde zum Anführer — wobei ſie verächtlich auf die friedſamen
Deutſchen um ſich wieſen. Hierauf zog Einer von ihnen ſeinen Re¬
volver und fing bedeutſam damit zu ſpielen an, indem er verſtohlen
aber ſcharf nach Moorfeld hinüberſchielte. Moorfeld zog ein paar
Sackpiſtolen — ſchon längſt ſeine ſtändigen Begleiter in Amerika —
und begehrte von des Wirthes Vronele ein ledernes Läppchen, um ſie
[453] zu putzen. Er beſchäftigte ſich anſcheinend ſehr harmlos damit. Die
Loafers blickten einander an, nickten ſich zu, dann ſtanden ſie auf und
gingen ſittſam zur Thür hinaus.
Der deutſche Kaiſer fühlte ſich ſehr glücklich über die abgewendete
Gefahr. Er liebkoste Moorfeld's Piſtolen faſt wie lebendige Weſen.
Bronele dagegen erzählte ihm: Dieſe „Herrenbuben“ ſeien nun ſchon zum
drittenmal da, und es wäre ſchändlich! Das hätte ſie in Deutſchland wiſſen
ſollen! Vorige Woche wäre die Geſchichte paſſirt, da ging ein Mädchen,
dem man von eheher eine üble Aufführung nachredet, über den Bowery.
Einer ihrer vorigen Bekannten begegnete ihr und wurde dreiſt. Das
Mädchen aber war längſt wieder auf guten Wegen, hatte ein ehrliches
Verhältniß mit einem deutſchen Maurer, der ſie heirathen wollte, dann
ſollt's nach Cincinnati gehen, weit weg von Newyork, wo auch gute
Arbeit auf die Maurerei iſt. Das Mädchen erwehrte ſich darum ihres
Verfolgers, und da Alles nichts helfen wollte, flüchtete ſie in einen
deutſchen Bierkeller auf den Bowery. Der Strolch verfolgte ſie auch
in den Keller, bekam Streit mit den Deutſchen und erſtach Einen. Das
ſei aber noch nicht Alles. Jetzt komm's erſt. Die Amerikaner —
man könnte ſich's nicht einbilden! — ſchrien Zeter über den deutſchen
Wirth, weil er die Frechheit gehabt, den Mörder verhaften zu
laſſen! Und da wäre ein Geſindel beiſammen, es nenne ſich Feuer¬
löſchcompagnie und der Mörder ſei ihr ſauberer Hauptmann. Dieſe
Compagnie habe es durch ſpitzbübiſche Advocaten dahin gebracht, daß
derſelbige Hauptmann auf Caution wieder herauskommen könnte. Sie
hätten Geld genug, die nichtsnutzigen Buben, aber zu Schimpf und Schand
unſers Volks wollten ſie die Caution von den deutſchen Wirthen zu¬
ſammenbringen. Die ſollten Buße thun. Sie ſtrichen jetzt durch
ganz Newyork und legten jedem Wirth eine Steuer auf. Der Vater
ſollte zehn Dollars zahlen. Aber ſie wolle Fußſchläge haben, wenn
er nur einen Cent gebe. Sie dulde den Unfug nicht. Sie gebe
nichts.
Die anweſenden Gäſte waren mehr oder weniger vertraut mit die¬
ſer Tagsbegebenheit und tauſchten ihrerſeits aus, was ſie von neueren
Gerüchten und Stadtgeſprächen darüber wußten. Das Gaſtzimmer ge¬
rieth in eine lebhafte Unterhaltung. Moorfeld verzichtete unter dieſen
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 30[454] Umſtänden darauf, das Geſpräch auf Benthal noch einmal zurück¬
zuführen. Es ließ ſich noch manche Wendung erdenken, um aus einem
Gramen der Umſtände zufällig oder ſchlußweiſe an ein feſteres Wiſſen
zu gelangen, aber er fühlte wohl, wie dieſe Rowdiegeſchichte die Be¬
richtigung einer ganzen Aufmerkſamkeit für Kleindeutſchland hatte, wenn
ſie gleich, nach ſeinen eigenen Erlebniſſen und vor ſeinen gegenwärti¬
gen Sorgen, nur ein dumpfes Echo in ihm haben konnte.
Erſt zu Hauſe trat ihm der Fall von einer eigenthümlichen Seite
wieder näher. Indem er ſich von einer vorgefundenen Nummer des
„Sun“ einen Anzünder riß, um möglicherweiſe in einer kräftigen Pfeife
Unruhe und Ungeduld zu narkotiſiren, blieb ſein Auge an einer jener
Phraſen heften, welche oft unwillkürlich zum Weiterleſen einladen.
Er las. Der Artikel behandelte eben jenes Ereigniß. Er that es zu¬
nächſt in polemiſcher Form gegen den „Newyorker Herald“, denn auch
dieſes „accident“ war in die Sphäre des politiſchen Parteitreibens
gezogen, wie überhaupt Alles in dieſem Lande. Im weiteren Verlaufe
dieſes Artikels hieß es nun: Was man bei dieſer Gelegenheit über den
Charakter des Mädchens und ihres deutſchen Bräutigams angemerkt hat,
möchten wir nicht gern als das Urtheil der öffentlichen Meinung hingeſtellt
wiſſen. Der Ausdruck, „daß nur ein Deutſcher gut genug ſein könne,
die Abfälle amerikaniſcher Proſtitution vom Boden aufzuleſen“, hat uns
ſchmerzlich überraſcht. Wenn wir unſern ehrenwerthen Collegen im
jenſeitigen Lager nicht geradezu der abſichtlichen Verleumdung zeihen
wollen, ſo können wir ihn doch von einer befremdlichen Unkenntniß
in der Völker- und Sittenkunde nicht freiſprechen. Weiß der „Newyorker
Herald“ nicht, daß die Deutſchen über Proſtitution ein- für allemale
anders denken, als wir, ja daß einige ihrer verehrteſten Dichter ſie
kurzweg idealiſirt haben? Wir geſtehen gern, daß wir dieſen National¬
zug der Deutſchen nicht begreifen, aber wir trauen uns nicht den Er¬
weis zu führen, daß die Deutſchen deßwegen unſittlicher ſeien als wir.
Zahlen hindern uns daran. Wir haben Tabellen der deutſchen und
amerikaniſchen Laſterſtatiſtik vor uns, und — erkläre es wer will! —
die deutſchen Sitten ſind beſſer, als die deutſchen Grundſätze. Laſſen
wir übrigens die Deutſchen. Sprechen wir von der traurigen Urſache
dieſes Scandals, von unſerer unglücklichen Mitbürgerin. Wahrlich es
iſt ſehr gentlemanlike, eine Schande, die wir nicht entſchuldigen zu
[455] können glauben, mit der Etiquette: „Abfall amerikaniſcher Proſtitution“
geſchwind in ein fremdes Nationaleigenthum zu verwandeln! Ei, be¬
halten wir ſie doch, aber wenden wir unſer bischen Witz daran, ſie
immer noch zu entſchuldigen! Mißlingt der Verſuch, ſo war er min¬
deſtens chriſtlich, denn das Neue Teſtament will den Tod des Sünders
nicht. Man wird uns hier nicht vorwerfen, daß wir Dinge ans Licht
ziehen, denen das Dunkel wohlthätiger wäre. Die Sache hat eine
Publicität erlangt, bei welcher es geradezu lächerlich iſt, das Blinde¬
kuhſpiel halber Worte, myſtiſcher Phraſen und zimperlicher Unwiſſen¬
heit zu ſpielen. Leider, wir haben die ſchmerzliche Freiheit Alles zu
ſagen, denn Alles iſt bekannt. Nun! Ein Mädchen, aus einer der
erſten Familien, ein Ideal von Schönheit, ein Muſter von Sittſam¬
keit, ein Inbegriff aller weiblichen Tugenden, verſchwindet plötzlich aus
dem väterlichen Hauſe und — affiliirt ſich einem Nymphenchor der
dritten Avenüe. Nemo repente turpissimus! Was iſt das Mittelglied
zwiſchen zwei ſo unermeßlichen Extremitäten? Ein abonnirter Kirchen¬
ſtuhl! Der Prediger ihres Kirchſpiels iſt ein ſogenannter Damenpredi¬
ger, einer jener geiſtlichen Glücksritter, welche den Fuhrmannsgrundſatz
im Munde führen, wer die Vorderräder eines Wagens in Bewegung
ſetzt, dem folgen die Hinterräder von ſelbſt, d. h., welche ſich in ihrer
Gemeinde dadurch feſtſetzen, daß ſie auf die weiblichen Mitglieder der¬
ſelben ſpeculiren. Dieſe Damenprediger ſind das Unzüchtigſte, was
die Welt kennt. Sie malen den chriſtlichen Himmel in einem Style,
wogegen Mahomed's Paradies zum Nonnenkloſter wird; ſie halten ſich
in unſrer ehrwürdigen Bibel zumeiſt an gewiſſen Stellen auf, wie
Wildſchweine an Sümpfen und Moräſten; ſie leſen aus ihrem ſchwarz¬
ſammtnen Buche mit ſilbernem Kreuzbeſchlag Romane heraus und Ro¬
mane hinein, die einen Faublas ſchamroth machen könnten. Ihre Art,
die Gemeinde zu „kammſtreicheln“ gleicht einer bekannten Art von
Forellenfiſchfang. Die sport-mens verſtehen uns. Wie alſo? Wenn
ein raſches, lebhaftes Mädchen, bis ins Blut gepeitſcht von den Stacheln
einer Rhetorik, welche an der Grenzlinie des Polizeicodex gerade noch
vorbeilavirt, aber die zarten Grenzen der Phantaſie aufs wildeſte durch
einander wirrt, wenn die Verführte ſolcher Sonntagserbauungen, ſagen
wir, unaufhaltſam den lockenden Bildern ihrer Phantaſie zuflattert und
zu Aſche brennt: dann ſtehen wir phariſäiſch vor der Schnuppe und
30*[456] rufen: Warum haſt du dieſe Phantaſie! Seit wann ſind wir Idealiſten?
Seit wann nehmen wir die Menſchen nicht wie ſie ſind, ſondern wie
ſie ſein ſollen? Daß ein Mädchen Phantaſie hat, können wir nicht
ändern; daß ein Prediger aber den Schwerpunkt ſeiner Exiſtenz in
dieſe Phantaſie lege, das können wir ſicherlich ändern. Man beſolde
die Prediger von Staatswegen, anſtatt ſie auf die Freiwilligkeit der
Gemeinde anzuweiſen, und Faune werden ſich wieder in chriſtliche Kan¬
zelredner verwandeln. Kurz, man überzeuge ſich endlich von der Fehler¬
haftigkeit des Volontary-Syſtems, das wir ſtets ebenſo eifrig bekämpft
haben, als es unſer politiſcher Gegner befürwortete. Das, wenn wir
moraliſiren wollen, iſt die einzige geſunde Moral, die wir als praktiſche
Amerikaner aus dieſem Aergerniß ziehen können. Doch, es iſt hier
noch von andern Aergerniſſen die Rede. Die Verirrte z. B. kehrt aus
den Armen des Laſters zurück, und bekennt jetzt, zum Entſetzen der
Welt, nicht das Laſter ſelbſt habe ſie zum Rückſchritt getrieben, ſondern
das habe ſie mit Schauder und Ekel, ja mit zerrüttender Verzweiflung
erfüllt, daß die gefeiertſten Tugendſpiegel Newyorks in hellen Haufen
die Beſucher ihres Hauſes geweſen! Das iſt freilich ungalant von einer
Dame, welche die Galanterie zu ihrer Specialität gemacht. Deßunge¬
achtet finden wir den gellenden Aufſchrei über dieſe Denunciation ſehr
bedenklich. Wer nicht direct unter ihr zu leiden hat — und das Re¬
dactionsbüreau des „Newyorker Herald“ hat's hoffentlich nicht — der
lege ſeinen Stein getroſt wieder hin. Daß eine entdeckte Schande zur
Hölle der allgemeinen Verachtung nicht anders fahren will, als eine Welt
von Mitſündern nach ſich ziehend, iſt zwar tragiſch aber berechtigt.
Weiter erhebt ſich gegen dieſe Miß B** der Vorwurf, daß ſie
nach ihrer Bekehrung ſich an einem entgegengeſetzten Ende unſerer
großen Reichsſtadt unter fremdem Namen in ein achtbares Haus als
Magd eingeſchlichen und dadurch die Heiligkeit eines reinen Familien¬
lebens „gemeuchelmordet“. Wer iſt noch ſicher, heißt es, ſein Tiſch¬
gebet ohne Frevel zu beten, wenn die Proſtitution ihm ſervirt hat?
Wir geſtehen, dieſe Vorſtellung hat etwas unverſöhnlich Beleidigendes.
Aber, wenn Gott die Sünde duldet in der Welt, ſo muß er ſie doch
in irgend beſtimmten Verhältniſſen dulden, und welche beſcheidenere
Stellung könnte die Sünde ſich auswählen, als die einer bußfertigen
Magd? Das Haus St** gibt übrigens zu, das Mädchen habe ſich
[457] einer muſterhaften Aufführung befliſſen, habe unter Anderem nicht am
Familientiſch, wie es doch Recht und Sitte unſerer weiblichen Do¬
meſtiken, ſondern abgeſondert geſpeist, — eine vorgebliche „Grille“,
in welcher Miß B * * allen Zartſinn verrieth, der ihr in ihrer Lage
überhaupt möglich war.
Moorfeld hielt plötzlich inne. An dieſer Stelle blitzte eine Ahnung
in ihm auf. Er errinnerte ſich an das Kammermädchen Betty bei
weiland Staunton. Der Zug, welcher hier angegeben war: abgeſon¬
derter Tiſch von der Herrnfamilie, wies zuerſt mit Beſonderheit auf
ſie. Augenblicks überlas er von Neuem, und nun fiel aus jeder Zeile
Licht in ſein Auge. Auch die Vorbereitungsſtudien zu einer Schul¬
ſtelle fanden ſich beſprochen. Moorfeld ließ das Blatt aus den Hän¬
den ſinken und ſtarrte. Welch eine Entdeckung! welch ein Sittenbild!
welch ein Erſtlingsgruß Newyork's an den Zurückkehrenden!
Er ſank verworren in ſich zuſammen. Ein ſpäter, unruhiger Schlaf
jagte ihn durch ein Chaos von Träumen. Benthal und das Fieber
drangen aus allen Fugen dazwiſchen vor. Eine nebliche Morgenſonne
erhob ſich über ſein Lager und rief ihn in ein wüſtes Tagesbewußt¬
ſein. Er warf den „Sun“ ins Kamin, machte verſtört Toilette und
ſtand — nachdem er noch einen Umweg über die Battery genommen, um
ſeinen Namen in Bennet's Viſitenbuch zu ſchreiben, — zur üblichen
Beſuchsſtunde iu Frau v. Milden's Zimmer.
Zweites Kapitel.
Nun, mein Kind, wie nimmſt du dich? Kennſt du den Herrn
Baron — den Herrn Doctor, wollt' ich ſagen, nicht mehr?
Die kleine Malwine drückte ſich ſcheu in den Winkel von Wand
und Sopha und ſchüttelte den Kopf.
Iſt das nicht derſelbe Herr, welcher die Güte gehabt, dich nach
Mr. Mockingbird's Schule zu fahren und welcher uns einſt einen
freundlichen Beſuch zum Thee geſchenkt?
[458]
Das Mädchen blickte aufmerkſam auf.
Moorfeld faßte die Kleine unter's Kinn: wahrhaftig, meine Möwe
hat mich vergeſſen?
Die „Möwe“ wirkte. Malwine machte ſchnell eine entgegenkom¬
mende Bewegung, rief aber unwillkürlich dazu: Ach, Sie ſehen ſo blaß!
Wirſt du? zürnte Frau v. Milden, indeß Moorfeld einen erſchrocke¬
nen Blick nach dem Spiegel warf. Sie hat Recht, ſagte er ſeuf¬
zend, damals kam ich auch von Europa und heute nur — von Ohio! —
Frau v. Milden aber lenkte ab, indem ſie ihrem Gaſte mit der
Frage entgegenkam: Ich werde vermuthen dürfen, daß ich die Ehre
Ihres Beſuches Herrn Benthal verdanke? Ich bin bereit, Beſtellungen
an ihn nach Kräften zu beſorgen.
Er lebt alſo?! rief, oder vielmehr jauchzte Moorfeld auf.
Die Hausfrau blickte verwundert: Ging zu irgend einer Zeit ein
Gerücht ſeines Todes?
Moorfeld ſchüttet ſein ganzes Herz über ſeinen geſtrigen Beſuch in
Kleindeutſchland aus.
Frau v. Milden ſieht mit einem faſt mütterlichen Blicke in das
verſtörte Antlitz des armen Leidenden. Sie „iſt glücklich“, ſagt ſie,
ſo „lebhaft empfundene Sorgen“ verſcheuchen zu können.
Moorfeld athmet leichter. So müſſen doch nicht alle Schreckens¬
träume in Erfüllung gehen!
Indem ſich aber ſein Antlitz jetzt aufheitert, vermißt er den gleich¬
geſtimmten Ton bei Frau v. Milden. Er hat in ſeiner Freude ein
ſcharfes Auge dafür, daß dieſe Freude nicht getheilt wird. Er glaubt
zu fühlen, die Frau athmet nicht die reine Atmoſphäre, die ſie ſelbſt
über ihn verbreitet hat. Es fehlt etwas zwiſchen ihm und ihr, gleichſam
ein Medium, eine Vorausſetzung. Selbſt ihre Züge, bedünkt es ihm
bald, haben ſeit drei Monaten Vieles gelitten. Er wollte das Wort,
das ihm Malwinens Kindes-Naivetät entgegengetragen, leicht wieder
zurückgeben können. —
Die Hausfrau nimmt mit ihrem Gaſte Platz. Sie richtet Fragen
höflicher Theilnahme über ſeinen Ohio-Ausflug an Moorfeld. Unſer
Freund antwortet in demſelben Tone. Er erzählt vor Allem die Ge¬
ſchichte ſeines ärgerlichen oder wunderlichen Prozeſſes mit dem Räuber
Wogan, indem er annimmt, daß er mit dieſem Bericht eigentlich vor
[459] Mitintereſſenten trete. Frau v. Milden bezeugt dem Ereigniſſe ſchul¬
digen Antheil, — aber auch nur ſchuldigen, glaubt Moorfeld zu
ſehen. Er findet keinen Zug, womit die Frau ein perſönliches In¬
tereſſe daran verriethe, und auch die feinſte Selbtbeherrſchung, meint
er, müßte in ſolch einem Falle einen Moment von Durchſichtigkeit
haben. Frau v. Milden indeß bleibt augenſcheinlich außer Partei
dabei. Sie geht eben ſo unbefangen zu andern Mittheilungen über.
Moorfeld antwortet fortwährend, wie Einer, der ſich wiederholt, denn
ſtillſchweigend bezieht er ſich auf ſeine Briefe. Frau v. Milden da¬
gegen ſieht ſich bei dieſer Art zu antworten oft zu Ergänzungsfragen
genöthigt. Dieſe Unterhaltung währte gar nicht lange, als Moorfeld
erkannte, daß ſie ſchlechterdings auf einer Lücke beruhe. Er ſpricht
endlich direct von ſeinem Reiſe-Tagebuch, und daß er nicht anders als
der Meinung lebe, Benthal habe es in ſeinem „Lorettohäuschen“ mit¬
getheilt. Die Hausfrau ſtutzt. Sie blickt verlegen. Mit dieſem
Worte iſt ein Punkt erreicht, auf welchem es nicht mehr möglich blieb,
reſervirt zu ſein. Die Dame faßt ſich indeß ſo gut es gehen will
und antwortet gelaſſen: Ich bedauere, daß uns Herr Benthal dieſes
Vergnügen nicht gemacht hat. Er war viel beſchäftigt. — Er iſt ein
Verräther! ſchrie Moorfeld auf einmal wie von einem Dämon inſpirirt.
Als das Wort geſprochen war, blickte er ſelbſt erſchrocken dazu. Es
lag ein Gedanke darin, den nicht er denken konnte; ein fremdes Weſen
in ihm hatte gedacht.
Aber es war geſprochen, es war gedacht. Die Förmlichkeit der
conventionellen Haltung war durchbrochen, Frau v. Milden verwandelte
ſich ſichtlich. Sie zeigte das leidende troſtbedürftige Weib. Es ziemt
uns Frauen nicht, ſagte ſie in einem Tone wehmüthiger Weichheit,
unſre Ausdrücke über Männer ſo entſchieden zu wählen, wie dieſe es
ſelbſt dürfen. Ich möchte Ihr Wort nicht wiederholen, Herr Doctor. Um
Ihrer ſelbſt willen nicht. Sie waren ſein Freund, ich weiß es. Sie
haben gebaut auf ihn, feſt, unerſchütterlich. Wie hielten wir deßwegen
auf Sie! So müſſen Männer Freunde werden, ſagten wir oft. Ein
Blick, ein Griff — und es iſt der rechte! Denn im alltäglichen Um¬
gang nehmen wir meiſt für Freundſchaft was nur Gewohnheit iſt, und
ein ſo und ſo oft wiederholtes Sehen der Außenſeite gibt gedankenloſen
Credit fürs Innre. Sie wurden Freunde von innen heraus, nicht
[460] von außen hinein. Wir fanden unſre Bürgſchaft in Ihnen. Wie hätten
wir ſchwache Frauen nicht gläubig ſein ſollen, wo ein Mann den Mann
ſo raſch überzeugte? Ja, er war zum Vertrauen geſchaffen; er war
ein Charakter. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Theodor war brav —
bis zur Stunde, von der wir Alle ſprechen: Führe uns nicht in Ver¬
ſuchung!
Moorfeld ſaß da, — der letzte Blutstropfen aus ſeinem Geſichte
gewichen. Alſo doch! ſtammelte es dumpf in ihm.
Trag' dieſes Buch zu Miſtreß Norbert, hieß Frau v. Milden ihr
Töchterchen, indem ſie das Kind damit entfernte.
Malwine ging. Moorfeld ſah ihr nach und als ſie die Thüre ge¬
ſchloſſen, ſagte er zur Mutter gewendet: Geſchloſſener Hofraum! Die
Execution kann beginnen. In Philadelphia richtet man ſo: ein tête
à tête nur zwiſchen Henker und Delinquenten. Ich bitte, ſprechen
Sie, gnädige Frau.
Könnt' ich uns Beiden dieſe Stunde erſparen! ſeufzte die edle
Frau, deren Züge der Schmerz eben ſo zu verſchönen ſchien, als Moor¬
feld wild, ja, gräßlich blickte. Und gleichſam als klängen ihr Moor¬
feld's Worte jetzt erſt ans Ohr, ſagte ſie ſanft: Ich richte Niemanden.
Auch iſt er noch nicht gerichtet. Ach, ich erzähle ja nichts als ein paar
veränderte Aeußerlichkeiten! Urtheilen Sie' ſelbſt, ob ſie ein Schick¬
ſal ſind.
Moorfeld ſtarrte vor ſich hin.
Frau v. Milden begann: Es war am Tage Ihrer Abreiſe, Herr
Doctor. Die letzten Stunden, wenn ich nicht irre, brachten ein wie¬
derholtes Hin- und Wiedergehen zwiſchen Ihnen und Theodor, wie es
ſolche Gelegenheiten pflegen. Einmal kam Theodor zu ſpät. Herr
Staunton, der zwiſchen Thür und Angel ihn empfing, kündigte ihm
an, Sie wären ſo eben abgereist. Das ſind aber auch Entfernungen!
rief Theodor erhitzt und beſtürzt, wie flog ich zurück von der Croton'¬
ſchen Waſſerleitung! Und ſtehenden Fußes wandte er ſich, um Sie
noch einzuholen. Herr Staunton hielt ihn auf: Wie, mein Herr, Sie
haben unſern Croton-Aquadukt geſehen? Sie ſtaunen, wie? ein echt
römiſches Bauwerk, wie? — Verdammt römiſch! rief Theodor unwillig
über die zudringliche Eitelkeit, — ich glaube in der That, die Ameri¬
kaner kennen ſo wenig als die alten Römer das hydroſtatiſche Geſetz,
[461] nach welchem das Waſſer in Röhren, die untereinander verbunden ſind,
überall auf denſelben Höhepunkt ſteigt. Koloſſale Verſchwendung dieſer
Aquaduct! in Europa richten wir's wohlfeiler. Herr Staunton horchte
mit offenem Munde. Sie ſind Ingenieur? war der halb geiſtesab¬
weſende Ausdruck ſeiner Ueberraſchung. — Ingenieur, Phyſiker, Che¬
miker, Techniker, was Sie wollen! — Wie hoch taxiren Sie ein
Jahresengagement in all dieſen Branchen? — Sechstauſend Dollars!
warf Theodor hin, um den Läſtigen zu brüskiren. Aber Herr Staun¬
ton fuhr mit beiden Händen nach den ſeinigen und rief: Topp, Sie
ſind mein Mann! Hätten Sie zweitauſend geſagt, — adieu! So viel
Selbſtvertrauen erwirbt Beachtung. Kommen Sie in mein Parlour. —
Das Alles war das Werk einer Secunde.
Theodor folgte wie im Traume. Herr Staunton hieß ihn auf
ein feuerflammendes Kanapee niederſetzen, indeß er ſelbſt mit großen
Schritten das Zimmer durchmaß. Er fing eine weitausholende pathe¬
tiſche Rede von der Größe und Herrlichkeit ſeines Vaterlandes an.
Er ſchien es darauf abzuſehen, den jungen Mann zu betäuben, zu
berauſchen. Er ſtreckte ſich zu einer Art höherem Weſen vor ihm
aus. Er pries ihn glücklich, daß die Erde Newyork's ihn trage. Der
Winkel am Hudſon und an der Manhattanbai ſei auf dem ganzen Globus
der auserwählteſte Sitz für Menſchencultur. Wer es hier zu nichts
bringe, der läſtere den ſechsten Schöpfungstag, er ſteige von der Höhe
ſeiner Gattung herab zum Thiere und zur Pflanze. Faſſen Sie dieſen
gottbegnadeten Punkt unſers Planeten näher ins Auge! rief er mit aus¬
geſtreckten Händen. Denken Sie ſich z. B.: Afrika ſei ein wohlbevölkertes,
civiliſirtes Land, die Spanier ſeien ein thätiges, aufgeklärtes Volk, mit
einem hohen Sinn für Handelsverkehr, und nehmen Sie dann an, daß
Gibraltar nicht nur der vorzüglichſte, bequemſte und geſundeſte Hafen
der Welt, ſondern auch durch ſeine Lage den Vorrang im Handel von
Europa zu behaupten berufen ſei. Entfernen Sie alle bedeutenderen
Nebenbuhlerinnen, welche durch Zufall oder Betriebſamkeit in den
übrigen Theilen Europa's entſtanden, kurz geben Sie Gibraltar unter
den erſten Handelsſtädten unſrer Halbkugel die erſte Stelle. Denken
Sie ſich hierauf das mittelländiſche Meer mit ſeinen Fortſetzungen als
einen bloßen Strom, der in unmittelbarer Verbindung mit großen
Seen ſteht, an deren Ufern Menſchen von gleicher Erziehung, glei¬
[462] chen Anſichten und Bedürfniſſen wohnen, welche dieſelbe Staatsmari¬
men befolgen und unter denſelben, allgemeinen Geſetzen ſtehen, nennen
Sie dieſes Gibraltar endlich Newyork, und ich überlaſſe es Ihrer eige¬
nen Einbildungskraft, was für ein Schauplatz menſchlicher Thätigkeit
und Machtentwicklung dieſer unſchätzbare Fleck Erde ſein kann und
ſein muß.
Ja! rief er aus, indem er vor einer Karte Amerika's ſtehen blieb,
vor dieſem Bilde muß jedes menſchliche Knie ſich beugen. Welch ein
Anblick! Dieſes Profil, dieſe Gliederung, dieſer wunderbare Zuſammen¬
hang der fähigſten Organe — welch ein Göttergebilde! Das iſt ein
Leib, wie die Schöpfung des Prometheus! Aber nicht das Feuer fehlt
ihm — beim Himmel, das haben wir ſelbſt! — bloß der Ausarbei¬
tung ſeines Geäders ſind wir die letzte Hand ſchuldig. Dieſer Hudſon,
dieſer Miſſiſſippi, dieſer Ohio und Miſſouri, dieſe Seen und dieſer
Golf — er beſchrieb mit der Hand ſchwungvolle Linien — welcher
Landkörper der Erde hat ähnliche Venen und Arterien aufzuweiſen?
Alles iſt da, bloß in den Kapillargefäßen bleibt uns noch eine letzte
Feile. Ein paar hundert Eiſenbahnen und Kanäle ſind wir dieſem
Lande ſchuldig!
Hierauf folgte eine weitere Liturgie über den großartigen Thätig¬
keitstrieb der amerikaniſchen Nation, über die ſtaunenswerthen Unter¬
nehmungen, die auf allen Punkten des Landes, wie eben ſo viele Ju¬
piters, gerüſtete Minerven erzeugten, — der Mann verwandelte ohne
Weiters ſein Amerika in einen Olymp von Göttern, indem er dürftige
Schulerinnerungen am rechten Orte mit Pomp paradiren ließ. Den
Schluß machte ein Engagement für eine der reichſten und mächtigſten
Eiſenbahncompagnien Nordamerika's. Den gänzlichen Schluß bildete
der kleine Nachſatz, Herr Benthal könne gelegentlich der Tracirungen
wohl auch in montaniſtiſcher, hydrographiſcher, chemiſch-agrariſcher, über¬
haupt in nationalökonomiſcher Beziehung die Landſchaften ein wenig
exploriren und nebenher ſeine Berichte und Zeichnungen darüber der
Compagnie einſenden. Auf letzteres Offert antwortete Theodor mit
großer Kaltblütigkeit: Alſo von einem Doppelgeſchäfte iſt hier die Rede!
Unſre Eiſenbahncompagnie iſt zugleich eine Geſellſchaft für Landhandel.
Eine glückliche Combination, die einen ungeheuren Gewinn abwerfen
muß! Indeß modificirt das unſre Abrede ein wenig, Herr Staunton.
[463] Soll ich die Seele ſolch eines zweilebigen Körpers ſein, wie es den Schein
hat, ſo wären ſechstauſend Dollars ein wahres Almoſen für dieſe Stellung.
Ich würde in dieſem Falle eine Tantième an dem Geſchäfte ſelbſt be¬
anſpruchen. Herr Staunton traute ſeinen Ohren nicht. Er hatte den
ſchlichten, blonden Deutſchen ſo geſchickt überraſcht, wie er meinte, und
nun mußte er dieſe Geiſtesgegenwart finden! Aber der Eindruck war
ein bezaubernder. Herr Staunton ſtrahlte; er fiel mit offenen Armen
über Theodor her und rief: Sie ſind ein smart man! Sie ſind werth
ein Amerikaner zu ſein! Aber nun genug, Freundchen! Laſſen Sie's
gut ſein. Ueberlaſſen Sie ſich mir und Sie ſollen es nicht bereuen.
Wir können den Baum nicht auf Einen Schlag fällen, ſeien Sie in¬
deß verſichert: dem Genie bewilligt der Amerikaner Alles,
Alles! Sie ſollen nicht zu kurz kommen.
Das, fuhr Frau v. Milden fort, war der Inhalt eines Ergußes,
womit Theodor ſprudelnd und glühend am ſelben Abend uns über¬
raſchte. Er riß unſere Lebensgeiſter mit hin, wir vernahmen wieder¬
holt das glückliche Ereigniß aus ſeinem Munde. Sie hören, ich behielt
ſeine Worte, wie ich aus dem Mädchenpenſionat noch manche Me¬
morienaufgabe behalten. Wir waren begeiſtert mit ihm.
Frau v. Milden hielt inne. Sie kämpfte einen Augenblick mit
dem Schmerze, den ihr die Natur dieſer Mittheilungen aufzuregen ſchien,
bis ſie mit unbewegter Stimme fortzufahren vermochte:
Seit jenem Abend aber kam Alles anders. Theodor verwandelte
ſich raſch, im Fluge. Die feſte, männliche Beſcheidenheit, womit er
ſonſt unſer Loos, wie eine Würde, ertrug, machte einer wilden, haſti¬
gen Emotionsſucht Platz. Er erlaubte ſich, unſern einfachen Thee mit
allerlei Genüſſen zu garniren, die höchſtens ein Kind naſchen, eine an¬
gehende Hausfrau aber nicht wirthſchaften lehrten. Daneben fing
er an, einzelne Abende ausfallen zu laſſen, — ſeine neue Clubbver¬
bindungen mit den Männern des Commerce und der Induſtrie zögen ihn
nach außen. Wir glaubten es gerne. Erſchien er dann, ſo trat er
ein wie ein Gott, kramte glänzende Geſchenke aus, und wurde empfind¬
lich, ſelbſt verletzend, wenn ſie ihm nur die Bewunderung meiner
Kleinen, von Paulinen aber ein tiefſinniges Kopfſchütteln, von mir
eine mütterliche Ermahnung eintrugen. Allmählig fing er auch an, ſein
Aeußeres umzuformen. Erſt verſchwand ſein ſchöner, blonder Vollbart,
[464] dann kamen Vatermörder, dann dieſes und jenes, nach und nach die
ganze Tranſcription in den ſteifen, unkleidſamen Comptoir- und Bör¬
ſenmenſchen. Als Pauline ihr Leidweſen um die liebe, vaterländiſche
Tracht bezeigte, antwortete Theodor: ſie ſcheine auch nur zum „Leid¬
weſen“ geſchaffen, ſeine Freuden theile ſie wenig.
Uebrigens ſtanden dieſe Freuden ſelbſt noch hinter manchem Meilen¬
ſtein. Wovon Theodor depenſirte, das ſcheint nur ein glänzendes, oder
vielmehr lockendes Handgeld geweſen zu ſein. Der Abſchluß des eigent¬
lichen Engagements ließ auf ſich warten. Es iſt das ein dunkler,
labyrinthiſcher Handel, den eine Frau ſchwer durchdringt, wohl auch
nicht durchdringen will. Ich habe mich nie in die Karten gemiſcht.
Wenn es indeß erlaubt iſt, aus Gerüchten, Winken, Andeutungen und
dergleichen Halbheiten ein Urtheil zu bilden, ſo dürfte auf Herrn
Staunton's Charakter und bürgerliche Stellung ein Schein von Zwei¬
deutigkeit fallen. Dieſer Herr, wie man ſagen will, hat ſich von ver¬
ſchiedenen Geſchäften mit wiederholten Bankrotten zurückgezogen, was
freilich in Amerika anders, als bei uns beurtheilt werden wag. Das
hieſige Creditſyſtem, und der volksthümliche Geiſt des kühnen Wagens
mögen dafür Maßſtäbe haben, welche nicht die unſrigen ſind; ich will
darüber nicht abſprechen. Auch will ich nicht entſcheiden, ob er den
Verſuch, ein faſhionables Boardinghouſe erſt im Kleinen, dann im
großartigeren Style zu halten, direct zu dem Zwecke unternommen
hat, um reichere Auswanderer, welche er in Europa ſelbſt ſchon an¬
zuködern wußte, den Händen einer myſtiſch-organiſirten Landſpeculation
zu überantworten. Unzweifelhaft dürfte nur ſein, daß er in ſeinem
Geſchäfte mit Theodor wirklich oder auch wirklich nur als Makler
einer großen hinter ihm ſtehenden Actiengeſellſchaft handelte. Er ſcheint
aber außer den Zwecken dieſer Geſellſchaft noch gewiſſe ihm allein eigene
verfolgt zu haben; wenigſtens leuchtete aus all ſeinen verworrenen
Manövres der Eine Grundgedanke durch: Theodor' in ſeiner Hand zu
behalten. Er brachte den jungen Mann nie unmittelbar in Verbin¬
dung mit den Leitern der Geſellſchaft, er ließ ſein Engagement ſelbſt
eine Reihe von verſchiedenen Chancen durchlaufen, heute ſtreckte ein
unermeßliches Capital ſichtlich und greiflich ſeine goldgefüllte Hand nach
Theodor aus und morgen war Alles wieder ſo ſchattenhaft, ſo ent¬
legen, daß die Hoffnung auf immer Abſchied zu nehmen ſchien. Ich
[465] kann dieſe Vorgänge unmöglich beſtimmter ſchildern, als ſie mir ſelbſt
erſchienen, und Sie ſehen wohl, ihr Licht war trübe genug. Herr
Staunton bediente ſich ohne Zweifel gegen Theodor des Vorgebens,
und wer ſagt mir, ob und wieweit dieſer es nicht gegen uns gethan?
Augenſcheinlich aber war es allerdings, daß Theodor ſelbſt zwiſchen Hoff¬
nung und Täuſchung unendlich herumgetrieben wurde, daß er Tantalus¬
qualen litt, daß man ihn wie einen Schweißhund an der Leine gehen
ließ, daß ein unerbittlicher Rechner es darauf abgeſehen hatte, ihn
durch und durch moraliſch mürbe zu machen, ehe er den vorhabenden
Zwecken zugeführt wurde. All ſeine Leidenſchaften waren aufgeregt
und keine einzige befriedigt; es griff wirklich ſeinen Körper an; er ſah
oft recht elend aus.
In ſolch einem Augenblick fragte ihn Pauline einmal: ob er ſchon
Briefe aus den Urwäldern Ohio's habe? Ich verſtand dieſe Frage
wohl und auch Theodor hat die Erinnerung an das ſtille Naturleben
mitten aus ſeinen ſtädtiſchen Geſchäftsfoltern heraus keineswegs mi߬
verſtanden. Deßungeachtet gab er ihr als Antwort zurück: Frägſt du
des Urwalds, oder des Doctors wegen ſo? Sie hören es! Das geſchah
in meiner Gegenwart. Pauline erblaßte, ſtand auf, ging in das
Nebenzimmer und weinte den ganzen Abend darin. Auch ich gerieth
außer Faſſung diesmal. Ich bin ſonſt geneigt, manche Ungezogenheit,
manche Laune dem Geſchlechte nachzuſehen, das, wenn es nicht das
ſtarke, doch gewiß das freie iſt: aber dieſe niedrige Bosheit empörte
mich. Ich ließ dem Menſchen eine ernſthafte Rüge angedeihen. Es iſt wahr,
das Mädchen iſt eine etwas ſchwere Natur, ſie artet viel ihrem Vater nach.
Es mochte nicht ganz gewählt ſein, daß ſie einem Manne, der mit vollen
Segeln dem high life zuzufliegen meint, zu verſtehen gibt, ſie ſehe die
rauhe Farmersaxt lieber in ſeiner Fauſt. Es iſt wahr, ſie hat die
ganze Wendung ſeines Geſchicks mehr mit einem ſtillen ahnungsvollen
Grauen, als mit lachendem Mitgenuß angeſehen. Aber wenn ſie kei¬
nen Begriff davon hat, daß das Weib, unbeſchadet ſeiner tiefen und
wahren Empfindungen ſcheinen muß: ſo kannte Theodor längſt ihr
Naturell, und hat ſie, eben ſo wie ſie iſt, gewählt, geſchätzt, vergöttert.
Sie iſt unverfälſcht wie die Elemente! war ſein Lieblingsausdruck.
Und er hatte Recht damit. Das Mädchen iſt eine ſtrenge, geradlinige
Weiblichkeit. Sie iſt wie eine Fackel, ſie flammt in jeder Richtung
[466] nach oben. Theodor's Wort, überall ſonſt ein eiferſüchtelnder Scherz,
war hier eine freche Entheiligung. Auch erkannte er ſein Unrecht und
that mir reuige Abbitte. Aber ſolche Aeußerungen kehrten öfter, es
ſchien ſeine Abſicht, Zwietracht zu ſäen. Er beträgt ſich fortwährend
herriſch, launenhaft, nachläſſig, oder noch ärger gnädig und prahleriſch und
meint mit irgend einem goldenen Gehängſel ganze Reihen von Kränkungen
gut zu machen. Auch bleibt er wiederholt weg. Eben jetzt haben wir ihn
länger als je, eine volle Woche lang, nicht geſehen. Er iſt aber
weder verreist, noch geſtorben, denn andere Leute haben ihn geſehen. —
Das iſt Benthal von heute, — ſchloß Frau v. Milden aufſtehend.
Als Moorfeld ſprechen wollte, fiel ihm die ſenſible Frau raſch ins
Wort: Ich bitte, ſagen Sie mir nichts zum Troſte. Ich danke vor¬
weg für Ihre gute Meinung. Ich weiß, was ich zu denken habe. Ich
weiß, daß Sie einen Verſuch machen werden, das Schwungrad, das
ihn ergriffen hat, aufzuhalten. Das werden Sie thun, aber ver¬
ſprechen können Sie nichts. Dann reichte ſie Moorfeld die Hand
zum Abſchiede und ſagte mit einer ſchmerzlichen Heiterkeit: Doch, beſter
Herr! Eins können Sie mir verſprechen: Vor ihr wollen wir feſt
bleiben. Wenn Sie Pauline irgendwie ſehen ſollten, verrathen Sie
nichts! Ich zeige dem Mädchen die heiterſte Miene, und noch, denk'
ich, ahnt ſie die Möglichkeit ihres Unglücks nicht. Ach, ſie hat keine
Vorſtellung von der ſchlechten Seite des menſchlichen Herzens!
Auf dieſes Verſprechen reichte Moorfeld ſeine Hand. Sie zitterte
heftig in Frau v. Milden's Hand. Nur mit einem ſtummen Blick
vermochte er ſein unausſprechliches Inneres auszudrücken.
Trunken von Schmerz wankte er zur Thüre hinaus.
Als er am Fuß der Treppe angelangt war, öffnete ſich die Thüre
des Baſements, wo die Eigenthümerin des Hauſes wohnte. Pauline
trat zu der Thüre heraus. Sie hatte eine Arzneiſchale in der Hand.
Als ſie Moorfeld anſichtig wurde ſchrack ſie heftig zuſammen. Der
volle Gegenſatz zwiſchen Einſt und Jetzt überwältigte ſie bei dieſem
Anblicke. Sie ſank mit einem gebrochenen Schmerzensruf an ihm nie¬
der. Moorfeld eilte ſchnell, ſie zu ſtützen. Die Berührung eines
fremden Arms ſchien allein ſchon mächtig, das züchtige Mädchen aus
ihrer Ohnmacht aufzurütteln. Sie entwand ſich den Armen Moorfeld's,
ſtützte ſich halblehnend gegen das Treppengeländer und hauchte ihm die
[467] Worte zu: Ich bitte, ſchonen Sie meine Mutter. Noch tragen ihre
Ahnungen nicht ſo weit wie die meinigen. Ich nehme mich übermenſch¬
lich zuſammen.
Menſchen! Menſchen! rief Moorfeld mit einem zerriſſenen Blick
zum Himmel, weint, wenn ihr weinen müßt, mit einander, denn ſo
eben ſagte mir Frau v. Milden daſſelbe!
Mit wilder Haſt ſtürzte er zum Hauſe hinaus.
Drittes Kapitel.
Es war keine Perſon, es war eine — Rede, die jetzt durch New¬
yorks Straßentumult fuhr, als ſich Moorfeld in ſeinen Wagen ge¬
worfen. Unaufhaltſam ſtrömten ihm die Gedanken zu, unter deren
Wucht Benthal erliegen mußte. Sein Zorn loderte als dichteriſche
Begeiſterung auf, — und nie hatte Begeiſterung mit ſolcher Frucht¬
barkeit ihn überſchüttet, wie in dieſer Stunde. Alles gab ſie ihm ein,
was Herz und Gehirn fähig iſt, er war Alles, was ein Menſch ſein
kann, — er war ganz ſein Gegenſtand. Wohin ſein Auge fiel, jeder
Anblick des Straßenlebens wurde von der Gährung ſeines Inneren
aufgenommen und verbraucht. Dieſer Abbruch eines alten Hauſes,
jener Aufbau eines neuen, dieſes Schaufenſter, jenes Aushängeſchild,
die Conſulatsflagge, der Matroſenhut, das Negerantlitz, die ſchlagende
Thurmuhr — kein Bild führten ihm ſeine Sinne zu, das nicht in
ein poetiſches Bild, in ein tiefſinniges Gleichniß ſich verwandelte, —
ganz Newyork gab ſich der Moral zum Schmucke her.
So erreichte Moorfeld ſein Boardinghouſe. Er ſchickte zu Staunton
und ließ anfragen, wenn und wo Benthal zu ſprechen. Seinen Namen
nannte er nicht, wie er ſeine Perſon nicht zeigte. Er wollte dem trau¬
rigſten Fall einer Verleugnung vorbeugen.
Es war die Börſenſtunde, in welcher dieſe Anfrage geſchah, und
Hr. Staunton nicht zu Hauſe. Im Laufe des Nachmittags ſendete
[468] Moorfeld noch einmal hin, da kam der Lohnbediente zurück mit dem
Namen der Straße und des Clubbhauſes, in welchem Mr. Benthal
von acht Uhr Abends an zu finden.
Moorfeld brachte den Reſt des Tages auf ſeinem Zimmer zu.
Er ordnete ſeine Gedanken und gebot ſeinen Leidenſchaften. Er ſtellte
ſich im Geiſte erfindungsreicher, als im erſten Augenblick, die mancherlei
Möglichkeiten und Geſtalten vor, in welchen dieſer Fall ſich ihm zeigen
könne, und bereitete ſich auf all ſeine denkbaren Seiten vor. Er
wunderte ſich ſelbſt, wie raſch er ihn als Thatſache ergreifen konnte.
Denn mitten in ſeinem Gedankenſtrom kamen dann wieder Momente,
wo all ſein Denken plötzlich ſtill ſtand, wo die ganze ſchreckensſtarre
Neuheit in ihm aufſchrie: Das war mit Benthal möglich?! —
Der Tag ſank, die Straßenlichter brannten, der wälzende Lärm
des Volksgewühls löste ſich in ſeine einfacheren Elemente auf, die ab-
und zu rollenden Fuhrwerke zum Philadelphia-Bahnhof verhallten mit
ihrem letzten Getöſe, als Moorfeld den Wagen holen ließ, der ihn
ſeinem verhängnißvollen Ziele entgegenbringen ſollte. Es war ein
weiter Weg zurückzulegen. Moorfeld hatte ſeine Aufmerkſamkeit nichts
weniger, als auf die Außenwelt gerichtet; aber er fuhr nicht lange, ſo
fiel ihm Manches auf, das in der Phyſiognomie eines ſtädtiſchen Straßen¬
lebens zu dieſer Stunde eben nicht alltäglich iſt. Er ſah im dämme¬
rungsvollen Laternenlicht Arbeiterzüge von ihrem Tagewerk heimkehrend,
mit einer gewiſſen Haſt und Unruhe durch die Straßen eilen, welche
von der Kälte, die in den Bewegungen der Amerikaner ſich ſonſt kund
gibt, wunderlich abſtach. Aus hohlem Straßendunkel hörte er hie und
da einen jener gellenden Rufe anſtimmen, welche nach ſeinem Dafür¬
halten dem indianiſchen Kriegsgeheul entlehnt: in gewiſſen Abſtänden
gab es dann Antwort darauf, wie eine Signalkette. An einſamen
Orten wimmelte es plötzlich von Menſchen, welche nach allen Rich¬
tungen auseinanderſtrömten; anderswo lief Alles auf Einen Punkt
zuſammen, und ſchloß ſich im Nu zu geheimnißvollen Kreiſen und
Gruppen.
Eine dieſer Gruppen ſtand endlich an einer Seitenſtraße, welche
Moorfeld zu ſchneiden hatte, ſo dicht, daß eine Stimme den Kutſcher
ohne Weiters anrief: Um in die Centre-Street! Der Kutſcher machte
Vorſtellungen, aber es war ein Schwarm von Rowdie's, welcher dieſe
[469] Paſſage ſperrte, gegen den ſich nicht aufkommen ließ. Durch ſeine
Ueberzahl und das Dunkel der Nacht ermuthigt, fühlte ſich der Haufe
im ſouveränſten Beſitze des Platzes. Es waren, was Moorfeld beim
Lampenſcheine ſehen konnte, wohlgekleidete, aber ſtark bewaffnete Banden,
und faſt wie die Stimme der Würde klang es, womit dieſe Straßen¬
macht dem Kutſcher die drohendſten Befehle entgegenſchleuderte. Der
arme Neger (denn ein ſolcher war er) erbat ſich endlich von Moor¬
feld die Erlaubniß, umkehren zu dürfen, obwohl, wie er ſagte, das
Clubbhaus nur noch hundert Schritte weit drüben liege. Moorfeld
ſprang aus dem Wagen, als er dieſes hörte, und ſchritt zu Fuß hin¬
über. Der leere Wagen kehrte um.
Kaum hatte Moorfeld das Gedränge der Rowdies durchbrochen
und ſeinen Weg in die Tiefe der bezeichneten Straße eingeſchlagen,
als er einige Schritte vor ſich einen Menſchen in Ohnmacht ſinken
ſah. Die Geſtalt hatte ſich erſt gegen die Mauer eines Hauſes gelehnt,
und war dann längs derſelben langſam zu Boden geglitten. Raſch
eilte Moorfeld hinzu. Hat Ihnen das wilde Volk Gewaltthätigkeiten
zugefügt? fragte er den Verunglückten, indem er ihn aufhob. Der
Mann ſchüttelte, ohne aufzublicken, ſchwach und zitternd den Kopf vor
ſich hin. Aber in demſelben Augenblicke glaubte Moorfeld die Geſtalt
zu erkennen. Schon der faltenreiche Mantel mit den vielen kurzen über¬
einanderliegenden Kragen gehörte in das Inventar ſeiner Erinnerungen.
„Anche gli giorni!“ war das Schlagwort dieſer Erinnerungen. Ohne
ſich zu beſinnen, redete er den Alten an: Se non m'inganno, Signore,
é la sua lingua materna, in cui la saluto? Der Fremde zuckte
zuſammen. Ah, non é Americano, Signore, ſeufzte er aufathmend, —
per grazia di Dio, un bichiere di vino! *) Moorfeld erſchrack. So
war der alte Mann aus Hunger und Durſt hier zuſammen gebrochen?
Seine Bitte ließ keinen Zweifel darüber.
Moorfeld warf ſeine Blicke ſchnell nach einem Gaſthofe umher und
entdeckte wenigſtens, womit Newyork damals ſchon überſäet war, die
illuminirte Aufſchrift einer Kellerwirthſchaft in der Nähe. Er führte
oder trug den Verſchmachtenden dahin.
D.B. VIII. Der Amerika-Müde. 31[470]
Die Taverne fand ſich unangenehmer Weiſe von einem ſtark ab-
und zugehenden Publikum jener Rowdies beſetzt, welche vorn an der
Straßenecke ihr Standquartier aufgeſchlagen. Moorfeld zeigte Gold
und forderte ein ruhiges Zimmer mit der beſten Flaſche Wein. Man
übergab ihm eine Stube des Hinterhauſes, und brachte Wein, der
mindeſtens ſeiner Etiquette nach, Oſt-India-Madeira war.
Bei der Eile, die Moorfeld für die Beſtimmung dieſes Abends
hatte, konnte er nicht daran denken, ſeinem unerwarteten Gaſte die
Pflicht der Gaſtfreundſchaft zu erfüllen. Einzig die Pflicht als Arzt
und Menſch gebot augenblickliche Erfüllung hier.
Moorfeld erlaubte ſich die nöthigſten Fragen um das körperliche
Befinden des Unglücklichen. Der Alte antwortete nicht. Er ſtarrte
ſtill vor ſich hin. Er drückte ſich in die Ecke des Kanapee's und zog
feſt ſeinen Mantel an ſich. Moorfeld, auf eine ſcharfe Beobachtung
durch das Auge, wie ſo häufig in ſolchen Fällen, faſt ausſchließlich
beſchränkt, folgte der geringſten dieſer Bewegungen mit Aufmerkſamkeit.
Die Züge des Greiſes zeigten den Ausdruck tiefer Erſchöpfung und
langwieriger Seelenleiden. Eigentliche Krankheitsſymptome konnte
Moorfeld nicht darin erforſchen. Sein Kopf war von zarten und
edlen Formen, das Auge glanzvoll, entſchieden geiſtig. Die ſchön ge¬
bleichte Stirne ſtrahlte vom blendendſten Weiß, der Mund, der übri¬
gens auch nicht Einen Zahn nachwies, ſchien gegen die greiſenhafte
Erſchlaffung der Muskel, welche die Mundwinkel abwärts zieht, ziem¬
lich ſtandhaft geblieben. Man ſah die lange Uebung des wohlredenden
Italieners, den Abglanz witziger Scherze und feiner Tafelgenüſſe darauf.
Wenigſtens glaubte Moorfeld, indem die phyſiognomiſchen Transponir¬
künſte ſeiner Phantaſie zu ſpielen anfingen, aus dieſer Greiſenmaske die
Jugend eines eleganten Lebemannes zu dechiffriren, und wir dürfen es ſehr
dahingeſtellt laſſen, ob ſein ſtudienhafter Blick mehr mit poetiſchem oder
pathologiſchem Tiefſinn in die Züge des alten Mannes hineinträumte.
Moorfeld ſchenkte zwei Gläſer voll. Der Alte wickelte eine ſeiner
Hände aus dem Mantel, und ſtreckte ſie zitternd nach dem Weine aus.
Moorfeld gab ſich die Miene, ihm das Glas in die Hand zu drücken,
wobei er die Gelegenheit benützte, ſeinen Puls zu fühlen. Er war
herabgeſtimmt, aber gleichmäßig. Beruhigter ſtieß Moorfeld an mit
dem Alten. Dieſer aber führte das Glas nicht zum Munde. Er hielt
[471] es nachdenklich vor ſich hin. Er lächelte das dunkle Rothbraun mit
einer Art kindiſcher Freude an. Die Idee, Wein in der Hand zu
halten, ſchien ihm ein Genuß, den er durch Befriedigung nicht ſogleich
aufheben wollte. So ließ er das Glas gegen das Licht funkeln und
ſah immer darauf. Sein Blick wurde zuletzt wie geiſtesabweſend, er
verſank, wie es ſchien, in ein Meer alter Erinnerungen. Moorfeld
ſtand ſeitwärts und betrachtete den Greis eben ſo ergriffen, wie dieſer
ſein Labſal. Das währte eine geraume Weile. Hierauf gab der Alte
dem Glas eine leichte Schwenkung und murmelte faſt feierlich: Evviva
Vienna! Damit leerte er es.
Moorfeld hatte den Toaſt belauſcht. Er erſtaunte. Ha, mein
Herr, Ihre Erinnerungen knüpfen ſich an Wien! rief er aufwallend
von Heimathsgefühl. Er ſtreckte dem Greiſe beide Arme entgegen.
Es waren die zehn ſchönſten Jahre meines Lebens! antwortete dieſer
traumverſunken. — O wie bedauere ich die Schickſale, die dieſes Glück
Ihnen geraubt. Sie müſſen trauriger Art geweſen ſein! — Zwei
Todesfälle waren es, Signor. Den 20. Februar 1790 ſtarb Kaiſer
Joſeph, der wärmſte Freund und Beſchützer der Künſte, und den
5. December 1791 Amade Mozart, der Kaiſer ſeiner Kunſt ſelbt.
Was ſollte da ich noch in Wien! — Moorfeld ſah den Alten groß
an. Wer iſt es, der mit mir ſpricht? rief er in höchſter Spannung. —
Wenig, antwortete der Greis, und kauerte ſich tiefer in ſeinen Mantel
zuſammen, — ich heiße da Ponte.
Da Ponte! rief Moorfeld außer ſich: Caſti’s und Metaſtaſio’s Rival,
verſchmachtend am Strande der Manhattan! Er ſtand vor dem alten Manne
wie vor der Reliquie eines Heiligen. Unausſprechlich war ſeine Bewegung.
Der Gedanke, mit ſeinem Blick auf einem Haupte zu ruhen, das in
Mozart's brüderlichem Schoß gelegen, ergriff ihn betäubend. Staunen
und Ehrfurcht hielt ihn wie mit Bezauberung vor dem Bilde des
alten Mannes gefeſſelt. Er bedurfte einiger Minuten um ſich zu
faſſen. Dann trat er vor den Greis und ſprach mit einer faſt ritter¬
lichen Courtoiſie: Herr Abbé, ich bitte Sie, den Tribut meiner begeiſtert¬
ſten Hochachtung anzunehmen. So weit die Erde Cultur hat, iſt jeder
einzelne Menſch Ihnen Dank ſchuldig. Wie tief mich das Unglück
erſchüttert, das dieſer unwirthliche Boden Ihnen zu bereiten ſcheint, ſo
muß ich den Zufall ſegnen, der es meine Hand ſein ließ, welche in
31 *[472] dieſer Stunde die Ihrige ergreifen durfte. Keinem Amerikaner hätte
ich die Ehre gegönnt, die Hand zu berühren, aus welcher Mozart das
Gedicht ſeines Don Juan empfangen. Ganz füllt mich die Vorſtellung
aus, was dieſe Hand der Welt geleiſtet hat. Iſt doch Muſik die ein¬
zige Kunſt, in der wir mit einer ſelbſtſtändigen Cultur dem Alterthum
gegenübertreten, in der wir unſre Laokoone, unſere Illiaden ohne Vorbild
erſchaffen! Iſt doch Don Juan die höchſte Blüthe dieſer muſikaliſchen
Kunſt, die ſüßeſte und gewaltigſte Botſchaft des modernen Menſchen¬
herzens ! Und daß dieſer Ehrenkranz der neueren Kunſt vor Allem
aus Ihren Verſen herauslaubte, bei Gott, das hat kein Zufall gefügt!
Ich habe Ihr Drama giocoso: Don Giovanni, ossia il dissoluto punito
ſtets bewundert. Es iſt ſchwierig, vielleicht unmöglich ein muſikaliſches
Drama zu ſchreiben. Die Muſik bedarf der Leidenſchaften und Affecte; das
Drama motivirt Leidenſchaften und Affecte. Motivirung iſt eine Ver¬
ſtandesoperation; dieſe widerſtrebt der Muſik. Eine Handlung voll wirk¬
licher Leidenſchaften, welche auf dem kürzeſten Wege ſich motiviren: das
iſt das Ideal eines muſikaliſchen Dramas. Ihr Don Giovanni hat dieſes
Ideal wie unter einer Conſtellation aller günſtigen Sterne erreicht. Nur
Einmal, ſeit für Muſik gedichtet wird, trat ſolch eine Gruppe zu ſol¬
chen Wirkungen zuſammen! Das ganze Buch iſt muſikaliſches Vollblut.
Ich ſehe allerlei Perſonen in ihrem Singſpiele auftreten, hohe und
niedere. Die niederen, Leporello, Maſetto, Zerline, ſind muſikaliſch
durch ſich ſelbſt. Sie ſitzen an der Quelle der Muſik, im Volke, und
dem Volke wird nicht der höchſte, ſondern aller Affect zum Liede. Dieſe
Menſchen ſind ſangbar ohne Weiteres. Dann aber ſtellen Sie auch
vornehme und gebildete Perſonen in Ihr Gedicht, welche eine unge¬
heure Kluft von der Leidenſchaft trennt. Sollen erzogene Menſchen
nicht Gemeinplätze ſingen, ſo iſt kaum abzuſehen, wie ſie der Quelle
des Geſanges, der Aufregung, auf kürzeſtem Wege nahe zu bringen.
Wir haben ein deutſches Drama: Torquato Taſſo genannt und dieſes
kann, wie in einem Spiegel, uns zeigen, welch weitläufiger und künſt¬
licher Operationen es bedarf, daß ein Hofcavalier den Degen zieht,
und daß ein anderer Hofcavalier eine Prinzeſſin umarmt — das heißt,
daß die Sitte zur Leidenſchaft vordringe. Und nun fliegt der
Vorhang Ihres Dramas auf! Und nun ſehe ich einen Don Juan, einen
modernen Giganten, welcher ſeine Sinnenkraft über die Weltordnung ſetzt, —
[473] eine Donna Elvira, welche ein ewiges Herz gegen die endliche Zeit zu
vertheidigen unternimmt, — einen Gouverneur, welcher im Leben zur
Rettung für ſein Heiligſtes aufgefordert wird, nach dem Tode im Namen
des Allerheiligſten ſelber zur Rettung einer unſterblichen Seele auf¬
fordert, — eine Donna Anna, welche von ein- und demſelben Schick¬
ſale zugleich auf den höchſten Gipfel und in den tiefſten Abgrund des
weiblichen Bewußtſeins geſchleudert wird, — einen Don Ottavio, wel¬
cher in einer Welt, die aus ihren Fugen iſt, um ſo berechtigter jenes
einfache Naturgeſetz ſingen darf, durch das ſie ewig ſich neu ergänzt:
ich ſehe Geſtalten, welche Sie aus dem Banne der conventionellen
Menſchheit, der ſie angehören, mit dem glücklichſten Wurf in die volle
muſikaliſche Strömung ſchleudern. Sie treten auf in den außerordent¬
lichſten und verſtändlichſten Zuſtänden, klar einfach, unmittelbar, ihre
eigene Erklärung, wie das Daſein ſelbſt. Ihr erſter Schritt auf die
Bühne ſchon iſt die höchſte pathetiſche Scene; und wahrlich nur aus
ſolch einem Eingang kann ſolch ein Finale herauswachſen! Welch ein
Ocean an Umfang und Tiefe dieſes Finale! Zwei rächende Bräutigame,
drei beleidigte Frauen, ein Mord im Hintergrunde, Champagner und
Ballet im Vordergrunde, Blitz und Donner im Zenith, und mitten in
dieſem Aufruhr ein verwilderter Gott, eine geſträubte Löwenmähne,
gepackt von dem Rachen, packend im Sinnenfieber der Liebe! So lang
eine Bühne ſteht, wird die kunſtbegnadete Menſchheit anbetend vor
dieſem Finale liegen, und wenn wir nicht begreifen können, daß Mo¬
zart ein Menſch war, ſo wird Da Ponte in dieſem Myſterium als
Mittler verehrt werden müſſen!
So ſprach Moorfeld hingeriſſen von ſeiner dichteriſchen Begeiſterung.
Der alte Mann, auf deſſen gebleichtem Scheitel der Name Da Ponte
ruhte, horchte aus der Ausdrucksweiſe eines vorgeſchrittenen Ideenlebens
nur ſo viel heraus, daß das erſte Don Juan-Finale gelobt wurde.
Er ſchien zufrieden mit dieſer Anerkennung und beſtätigte ſie mit folgen¬
den Worten: Ja wohl will ein Finale gearbeitet ſein! Sie ſagen es recht,
Signor! Ein Finale iſt eine Art Komödie, oder ein kleines Drama in
ſich ſelbſt; es muß mit der übrigen Oper eng verbunden ſein, und doch
erfordert es einen neuen Eingang und ein neues Intereſſe. Im Finale
muß das Talent des Kapellmeiſters, die Kunſt und Kraft der Sänger
hauptſächlich hervortreten, es muß als Glanzpunkt der Oper den größten
[474] Effect hervorbringen. Die Recitative ſind ganz davon ausgeſchloſſen,
man ſingt Alles, und jede Art des Geſanges muß darin entwickelt wer¬
den. Das Adagio und Allegro, das Andante, das Amabile, das Ar¬
monioſo, das Strepitoſo, das Arciſtonpitoſo und das Fortiſſimo, womit
ſich in der Regel das Finale ſchließt, und was man die Chieſa oder
Stretta nennt: — ich weiß nicht, ob man es ſo benennt, weil darin
die ganze Kraft des Dramas ſich zuſammenzieht, oder weil es allgemein
das arme Gehirn des Poeten, der er zu ſchreiben hat, nicht ein- ſon¬
dern tauſendmal in die Enge treibt. In einem Finale müſſen nach
theatraliſchem Brauch alle Sänger auf der Bühne erſcheinen und wä¬
ren ihrer noch ſo viele, um einzeln, zu zweien, zu drei, zu ſechs, zu
zehn und zu ſechzig Arien, Duette, Terzette, Sextette und große
Chöre zu ſingen. Sollte der Inhalt des Dramas das nicht erlauben,
ſo iſt es Aufgabe des Dichters, ſich einen Weg zu ſuchen, auf dem er
es bewerkſtelligen kann, ohne gegen die geſunde Vernunft oder die
ariſtoteliſchen Vorſchriften allzu gröblich ſich zu verſündigen. Gewiß,
es iſt eine große Sache, ein gutes Finale zu ſchreiben.
Dieſe Sprache eines altmodiſchen Jahrhunderts ſtach nicht ohne
Reiz für Moorfeld von ſeiner eigenen ab. Der Grundton der ſchlich¬
ten Wirklichkeit, der aus ihr klang, ermangelte nicht, ſeine Begeiſterung
ſelbſt zu ergreifen, die er dem ehrwürdigen Haupte des Dichters jetzt
in der vertraulicheren Färbung einer jugendlichen Zärtlichkeit für das
Alter entgegenbrachte.
Und nun, ſprechen Sie, Herr Abbé, fragte er, wie war es möglich,
daß ich das Schickſal in ſo ſchwerer Schuld gegen Sie finden konnte?
Sprechen Sie, wie hat dieſes unſelige Land an Ihnen gefrevelt?
Da Ponte ſchüttelte nach einer Pauſe das Haupt. Er zog einen
ſeiner oberſten Mantelkrägen über Kopf und Stirne und machte ſich
eine Art Lichtſchirm daraus, gleichſam als ſtörte der ihn bedeckende
Lampenſchimmer ſeine Gedankenbildung, wie er den Nerv ſeines Auges
beläſtigen mochte. Aus dieſem Dunkel heraus ſprach er:
Warum ich in einem Lande nicht gedieh, das für die Kunſt ſo
viele Mittel und wohl auch guten Willen hat, — ich wüßte äußere
Widerwärtigkeiten vielleicht kaum zu nennen, Signor. Aber einen Zug
will ich Ihnen erzählen, von welchem Sie ſelbſt ſagen ſollen, ob ich
ex ungue leonem daran erkennen und für immer zurückſchrecken durfte.
[475] Es war in einer der beſſeren Soireen hieſiger Stadt, wo ich als neu
eingeführter Fremdling von einer jungen Miß die Arie Vedrai carino
ſingen hörte. Ha, dachte ich, hier iſt dein Krug am rechten Brunnen,
Newyork empfängt dich vortrefflich. Indeß trug das arme Mädchen
die Arie ſo über alle Maßen ſchleppend und ſeelenlos vor, daß man
mit leichter Mühe mich überredet hätte, der berühmte Epimenides, der
neun Jahre geſchlafen haben ſoll, ſei von keinem andern als dieſem
Liede eingeſungen worden. Ich vermochte natürlich nicht, an mich zu
halten. Ich ſchmuggelte mich auf eine gute Art ans Clavier, wo ein
Bouquet von jungen Damen und Herren, wie ein Neſt bunter Papa¬
gaien umherſaß und ſich nach allen Regeln des bon ton's langweilte.
Ich miſchte mich ins Geſpräch und brachte es wirklich dahin, daß ich
die junge Sängerin begleiten durfte. Gleich nach den erſten Accorden
verlor ſie den Tact. Sie wußte ſich in die Art, wie ich declamirte,
durchaus nicht zu finden. Meine verehrungswürdige Lady, wendete ich
mich nun zur Erklärung meines Vortrags an ſie — die bezaubernde
Aiſance, womit Sie dieſe Noten ſingen, macht mich außerordentlich be¬
gierig die erſte Arie der Zerlina: Batti, batti, o bel Masetto von
Ihnen zu hören. Dort müßte ſie von ganz unvergleichlicher Wirkung
ſein. Dort nämlich geht Zerlina damit um, allerlei überflüßige
Scrupel ihres Bräutigams einzuſingen, einzulullen, wenn Sie wollen;
ihr Geſang muß ſich wie lindes Oel, wie Mondlicht auf die Nerven
legen. In der erſten Arie, ſprech' ich. In dieſer zweiten dagegen
herrſcht jener Charakter nur theilweiſe, theilweiſe nicht. Beruhigen will
ſie freilich auch diesmal wieder, aber ſie ſelbſt iſt nicht mehr ruhig.
Sie nimmt ihren Bräutigam jetzt offenbar ernſthaft, der früher nahezu
ihr Düpe war, die Stunden erfüllter Liebensſehnſucht rücken unauf¬
haltſam näher, das Abenteuer mit Don Giovanni ſelbſt, obwohl in
der Spitze gebrochen, muß ihre Phantaſie lebhaft ergriffen haben: —
ſo weht durch dieſes ganze Vedrai carino eine Luft des Brautge¬
machs, möcht' ich ſagen, und das: sentillo battere ſteht nicht umſonſt
da. Man muß das Herz wirklich ſchlagen hören darin. In meinem
Kunſteifer merkt' ich nicht, daß ſämmtliche Ladies ſich die Taſchentücher
vor die Augen hielten. Ein junger Affe aber, der ſich den Muſik¬
lehrer des Hauſes nannte, übernahm es, meine Anſicht „shoking” zu
finden. Ich ſuchte vergebens ein Fünkchen geſundes Gefühl in ihm
[476] anzublaſen, und da er fortfuhr, mich durch den abſurdeſten Widerſpruch
aufs Aeußerſte zu treiben, ſo rief ich zuletzt: Mein Herr, wenn ich
Ihnen ſage, daß ich ſelbſt der Dichter dieſer Verſe bin, daß Mozart
ſelbſt ſeine Muſik dazu für die glücklichſte Inſpiration der Liebe erklärt
hat, ſo habe ich vielleicht einige Auctorität für mich. In dieſem Augen¬
blick aber ſchritt der Hausherr auf mich zu, ein gelblederner Herr in
ſchwarzem Frack, an dem nichts Lebendiges war, als die rothe Nelke,
die er im Knopfloch trug, der näſelte mich an: Mein Herr, es küm¬
mert uns blutwenig, womit Sie und Ihr Mozart ſich in Europa Ihr
Brod verdient. Daraus fließt kein Geſetz für uns in Amerika, die
Kunſt andres zu treiben, als es uns beliebt. — „Sie und Ihr Mo¬
zart ihr Brod verdient!“ — Hören Sie es, Signor? Von dieſem
Worte war mein Nerv für immer durchſchnitten. Ich trug noch ein an¬
ſehnliches Fascikel Empfehlungsbriefe bei mir, aber ich fühlte keinen
Halt mehr daran. Denn was in einem fremden Lande Muth und
Vertrauen, ſich geltend zu machen, gibt, das ſind nicht einzelne Fäden,
es iſt der öffentliche Geiſt des Ganzen. Mich ſchauerte die ſcharfe Luft
dieſes Landes. Ich gab es auf in Amerika als Künſtler einen Beruf
zu ſuchen.
Und freilich, in jedem andern Beruf mußten Sie unglücklich ſein! ſagte
Moorfeld mit dem überzeugteſten Blick auf den fein organiſirten Italiener.
Ich wurde Kaufmann, antwortete da Ponte. Die Muſen drehten
Pfefferdüten und maßen Schnittwaaren ab. Ich kann nicht ſagen, daß
ſie es ungeſchickt thaten. Ich prosperirte im Kleinen, und verſuchte
mich bald in größeren Unternehmungen. Auch da ging Alles herrlich
und im ſchönſten Flor, ſo lang ich — Credit gab. Dann aber ſtürm¬
ten Banquerotte auf mich ein — ah, laſſen Sie mich ſchweigen, Signor.
Amerikaniſche Banquerotte ſind ein eigenes Genre. Ich werde meine
Memorabilien ſchreiben. Genug, ich kam an den Bettelſtab und meine
Debitoren bauten ſich Häuſer. Von Einem derſelben, Herrn Staun¬
ton, erreicht' ich's mit Mühe, daß er mich von der Straße unter ſein
Dach aufnahm, und die Sache müßte eigentlich umgekehrt ſtehen. Ich
habe eine liquide Forderung von fünftauſend Dollars an ihn. Freilich
nicht an ihn, ſondern an eine ſeiner geweſenen Firmen, und kein Kauf¬
mann und kein Advocat der Welt weiß geſchickter ſeine Firma von
ſeiner Perſon zu trennen, als ein Amerikaner. Ja, ja, mein Herr,
[477] ich werde mein Leben beſchreiben. Die Welt wird um nichts beſſer,
aber um Manches klüger daraus werden. Der Europäer mag ſich
vorſehen mit dieſen Menſchen.
Moorfeld hatte inzwiſchen ein Souper beſtellt, aber Da Ponte
dankte lebhaft für ſeine Aufmerkſamkeit. Er pflege Abends nichts
zu genießen. Nur ein Glas Wein ſei ihm zuvor Bedürfniß geweſen
eine Ohnmacht, ein plötzlicher Schwindel habe ihn angewandelt; „denn
ach, mein Herr, es iſt eine harte Arbeit, im zweiundſiebenzigſten Jahre
auf Gönnerſchaften auszugehen!“ Alles, was er annehmen wollte,
war ein Wagen.
So führte der Dichter Moorfeld den Dichter der alten kaiſerlichen
Wiener Oper jetzt in ſein dürftiges Aſyl zurück. Er behielt ſich vor,
den unglücklichen Greis demnächſt wieder zu ſehen: heute überließ er
ihn ſeiner Ruhe und ſich ſelbſt — ſeinen Reflexionen. —
Wo waren ſie jetzt, die ſchönen Reden, die glänzenden Gedanken,
die fruchtbaren, hinreißenden, überzeugenden Ideen, die Moorfeld zum
Entſatze Benthal's tagsüber in ſo kampffertige Schlachtordnung auf¬
geſtellt? Und doch ſollte, mußte dieſer Gang noch geſchehen, — ſtumm,
mit zurückgepreßten Thränen, zitterten zwei edle Frauen jeder Secunde
ſeines Erfolges entgegen! Mühſam ſammelte Moorfeld ſeine Lebens¬
geiſter — ach, da lag Alles auseinander, wüſt, zerſtückt, ſinnlos!
Der freie Zug, der zuckende Nerv, die unwiderſtehliche Strömung —
kalt, lahm, todt war das Alles jetzt! Aber er mußte!
So fuhr er nach dem Clubbhauſe zurück.
Die lange Fenſterreihe des Hauſes flammte lichterloh in die Nacht
hinaus. Jüngling im Feuerofen, werd' ich dich retten können? ſeufzte
Moorfeld ſchwer beladenen Herzens, indem er die Treppen hinanſtieg.
Ein Stewart führte ihn durch eine glitzernde, etwas grell ausge¬
ſchmückte Zeile von Sälen. Im Anblicke der Geſellſchaft, die Moor¬
feld durchſchritt, jener glattraſirten, gantirten und toupirten Härings-
und Thran-Dynaſten, die als flüſternde, vornehm-kühle Gentlemens
mit einer Bildung, die vom heutigen Dollar datirt, der morgen wie¬
der verbanquerottirt ſein kann, ihre in Eis geſtellten, geſpenſtiſch-jugend¬
lichen Geſtalten oder vielmehr Etiquetten gegenſeitig ſich hier präſen¬
tirten: im Anblick dieſer bleizuckernen Welt des Egoismus fühlte
Moorfeld ſeine ganze Streitluſt wieder erwacht. So trat er vor einen
[478] Menſchen im ſchwarzen Frack und weißer Cravatte und mit einem
Lächeln à la hausse auf der blank raſirten Lippe, den ihm der
Stewart als Miſter Benthal vorſtellte. Moorfeld hätte ihn kaum
noch erkannt. Aber Benthal erkannte ihn um ſo ſchneller. All
ſeine Züge gingen in Freudigkeit auf. Mit dem Ton ſeiner alten
Stimme und ſeines alten Herzens begrüßte er den wiederkehrenden
Freund. Vor Allem meine Entſchuldigung, Verehrteſter, für mein
Schweigen auf Ihr Reiſejournal, redete er Moorfeld an. Sie denken
wohl, wie viel ich darauf zu antworten hatte, und ich war ſo occu¬
pirt! Aber Sie wiſſen ſchon, Sie waren bei Frau v. Milden, nicht
wahr? Gott! dort war ich nun auch ſchon nicht — laſſen Sie mich
zählen; — mit Schaudern bring' ich's heraus, — ja, ſieben Tage
ſind es! ſieben Tage! Wie man in die Schulden geräth! Wer mir
das noch vor Kurzem geſagt hätte! Freilich hat mich mein liebes
Lorettohäuschen neuerer Zeit nicht immer ſo liebenswürdig behandelt,
wie ich's aus beſſern Tagen, — ach, es waren beſſere Tage! — gewohnt
bin. Ich weiß nicht, was die Frauen haben, ihr Ton iſt manchmal
ein ſo fremdartiger! es ſcheint ordentlich, als ob ſie einen unüberwind¬
lichen Stolz vor einem reichen Manne hätten. Und es iſt doch nicht
meine Schuld, wenn ich mit meinem bischen Wiſſen endlich auch einen
Treffer ziehe. Aber vielleicht liegt's an mir ſelbſt. Der Menſch beob¬
achtet ſich vortrefflich, wenn er allein iſt; wie ich mit den Frauen
umgegangen bin, darüber habe ich wahrhaftig kein Urtheil. Möglich,
daß ich nicht ganz correct war; mein Gott! eine ſolche Veränderung
der äußeren Lage darf wohl auch inwendig Manches verſchieben —
aber nein! nein! was ſag' ich: inwendig? Ein wenig Kopf verlieren,
ein wenig ſtrudeln und wirbeln im Betragen, das hat ja mit dem
Herzen nichts zu thun. Ach, in ſolchen Lagen iſt ein Freund wie Sie
ein wahrer Segen! Sie kommen jetzt wie vom Himmel geſchickt. Wenn
man ſich hier und dort mißverſteht, hier und dort zu ſtolz oder zu
empfindlich iſt, es einzugeſtehen, wenn unzeitiger Trotz, ſelbſtgebildete
Leiden, wenn der ewig rege Kitzel der Verliebten: ſich unglücklich zu
fühlen, kleine Zwiſte zu raſchem und unheilbarem Bruche auszuklüften
droht: da iſt der treue, ſtätige Charakter eines Mittlers in ſeinem
ſchönſten und dankenswertheſten Berufe. Ich bitte, übernehmen Sie ihn
gleich, dieſen Beruf. Entſchuldigen Sie mich bei den Frauen, ehe ich
[479] ſelbſt wieder erſcheine. Ich ſetze nämlich voraus, verehrteſter Freund,
daß Sie ſelbſt wenigſtens ganz und voll mit meiner neuen Richtung
einverſtanden ſind. Von den Frauen bin ich das leider nicht gewiß.
Ich will eben nicht ſagen, daß ſie Murmelquellen- und Strohdach-
Schwärmereien wären; nein! Frau von Milden denkt viel zu ver¬
nünftig für ein ſolches Genre von Poeſie. Aber zuletzt iſt ſie doch
nur Frau, und Frauen ſind für das Mittlere, Bürgerliche. Was an's
Ungeheure, an's Million-Große geht, das ſcheint ihnen wieder ſo un¬
praktiſch und ſchwindelhaft wie die Murmelquelle. Mit Ihnen iſt's
anders, das bin ich überzeugt. Ja, Ihr Reiſejournal ſelbſt iſt's, auf
das ich mich berufen darf. Was Sie über die Verrottung der Deut¬
ſchen in Pennſylvanien geſagt haben, glauben Sie, das wird man
ewig zu ſagen haben. Von der Idee ſind wir wohl Beide zurückge¬
kommen, das Deutſchthum auf den Pflug zu gründen. Sie ſehen,
wie's geht damit. Tauſende von Bauern, Tauſende von Handwerkern
können wir in's Land werfen, und ſie werden immer eine Seitenſtel¬
lung einnehmen. Ein einziger Bankdirector, ein einziger Großhand¬
lungs-Chef aus unſerem Volke iſt ein ſtärkerer Keil unſerer Macht
als Maſſen von nützlichen, aber verachteten Heloten. Nicht Härings-
Schwärme ſind die Gebieter des Meeres: der Leviathan iſt's. O dieſe
Yankees! Wir müſſen ſie in ihrer höchſten, heiligſten Citadelle be¬
ſchleichen: in ihrer Börſe. Dort, wo das Fett und Mark der Natio¬
nen ausgekocht wird, dort müſſen wir mitkochen. Ein Quadratfuß an
dieſem Heerde iſt mehr werth, als eine halbe Million Acres in Miſ¬
ſouri. Ja, ſo Gott will — ich ſinne Manches! Ich will dieſe Yankees
— ein Cäſar in der Wallſtreet — aber kommen Sie — ich mache
ſchon wieder Aufſehen. Noch trauen ſie mir nicht ganz — Inſtinkt
mindeſtens hat das Vieh, wenn gleich nicht Vernunft. —
Das war nun einer jener häufigen Fälle! So glaubt ein Menſch
wohlgerüſtet ins Geſpräch mit einem anderen zu gehen, hat Alles
vorausgenommen, was vorauszunehmen war, und im Momente betritt
ihn dann doch das Neue, Unvorgeſehene, und mit Ueberraſchung ent¬
deckt er das Allernatürlichſte: daß ein Einziges ſich nie wahrhaft als
ein Zweites zu ſetzen vermag. Vor dieſem Benthal erröthete Moor¬
feld bei ſich, wie raſch ihn die Verwandtſchaft zwiſchen Dichter und
Frauen in die nervöſe Furcht des Lorettohäuschens mit hingeriſſen.
[480] Er verplauderte noch eine Weile mit dem alten Wiedergefundenen,
den er immer mehr von Neuem erkannte, wen n auch in kühneren Linien
und weiterem Zirkel, gleichſam das Ideal ſeiner ſelbſt. Es war ein
Geſprächsgang im höchſten Style, und Moorfeld mochte ſelbſt die
freundſchaftliche Smollis-Buße des vergeſſenen Du auf eine Stunde
vertagen, die mehr vertraulich als geſchwungen war.
Tief befriedigt kehrte er nach Hauſe.
Des andern Tages war unſer junger Europäer ſicher der unruhigſte
Gaſt, der in ſeinem Boardinghouſe an der Tafel des zweiten Früh¬
ſtücks oder ſogenannten „Lunch“ ſaß. Nach Aufhebung des Lunch ſchlug
die legitime Stunde der Morgenviſiten. Der Wagen nach Frau
v. Milden's Wohnung war ſchon früher beſtellt. Hundertmal zog
Moorfeld die Uhr, mit ungeduldigen Blicken ſah er dem Meſſer des
ſchwarzen Vorſchneiders zu, der dir verſchiedenen Rumſteaks, Cote¬
letts u. ſ. w. in all jene unzähligen Atome zerfällte, in welchen ſie
den Gäſten dargereicht wurden. Da öffnete ſich die Thüre und ein
Menſch, deſſen Aeußeres, wie gewöhnlich durch nichts ſeine Function be¬
zeichnete, überreichte den Damen des Hauſes, einem jungfräulichen
Schweſterpaar von myſtiſchen Jahren, welches der Tafel präſidirte,
eine Karte. An einer hämiſchen Bemerkung, welche die herbſtlichen
Fräuleins ſich zuflüſterten, bemerkte Moorfeld, daß es eine Verlobungs¬
karte war. Hat die auch noch einen Mann bekommen! klang der
chriſtliche Spott der welken Lippen, indeß die dürren Finger mit
äußerſter Geringſchätzung die Karte von ſich ſchnellten. Das Blatt
flog Moorfeld faſt in den Teller. Unwillkürlich fiel ihm die Schrift
ins Auge. Er las:
Mr.Theodor Benthal
Engineer and Surveyor
with
Mss.Sarah Staunton.
[481]
Viertes Kapitel.
Moorfeld flog auf ſein Zimmer, lud ſeine Piſtolen, warf ſich in
einen Wagen und eilte nach Staunton's Haus. Er hatte bei dieſem
Ereigniß vor Allem den Mißbrauch ſeiner Perſon zu rächen, welcher
Benthal einen Auftrag an die Damen Milden gegeben, in dem Au¬
genblicke, da ſeine Verlobungskarten mit Miß Sarah gedruckt waren.
Aber er fand Staunton's Haus verſchloſſen, die Jalouſien nieder¬
gelaſſen und nur Jack, der Neger, war da, welcher zu verkünden hatte,
daß ſeine Herrſchaft heute Morgen eine Reiſe angetreten. Er zog von
dem alt-anhänglichen Diener noch weitere Erkundigungen ein und ge¬
langte zu der Ueberzeugung, daß er ſein Opfer aufgeben müſſe. Es
war die öffentliche Meinung der Stadt ſelbſt, welche dem Hauſe
Staunton, wegen des Ereigniſſes mit ſeinem Kammermädchen, dieſen
zeitweiligen Rückzug auferlegte. Aber geſchickt hatte das Haus ſeine
Ehrfurcht vor den Dehors mit dem Rückzuge des Schwiegerſohnes
combinirt, der bei ſeinem raſchen, praktiſchen Auffaſſungstalente, ſeit
geſtern Abend wohl wußte, was ihm bevorſtand. Dies war die Ein¬
ſicht der Sachlage, welche Moorfeld in wenigen Augenblicken davontrug.
Er kehrte nach Hauſe zurück. Er fing an, einen Brief an Frau
v. Milden aufzuſetzen. Aber bald fühlte er, daß ſeine Hand keiner
geraden Linie fähig war. Noch minder waren es ſeine Gedanken. Er
warf ſich hin und ließ ſich zermalmen. Ein dumpfes Feuer breitete
ſich aus in ihm, in welchem Alles ſtill und geſtaltlos zuſammen¬
brannte. Er wunderte ſich, daß der Philadelphia-Bahnhof ſtand, daß
Wagen raſſelten, daß Glocken im Hauſe ſchallten, daß er auf den
Treppen den Yankee Doodle pfeifen und mit der Baguette an Pan¬
talons ſchlagen hörte. Die Welt kam ihm wie ein Bilderbogen vor;
er hatte das Gefühl, als ſei Alles um ihn her nur gemalt. Bei
dieſer fürchterlichen Zerſtörtheit im Innern marterte ihn die äußere
[482] Geſundheit ſeiner Sinne, die deßungeachtet fortfuhren, ihm Vorſtellun¬
gen und Bewußtſein zu vermitteln, ganz unerträglich. Ein Fieber-
Delirium wäre ihm Wohlthat geweſen.
In dieſem Zuſtande traf ihn der Aufwärter, der ihm ein Billet
abzugeben hatte. Es war eine Einladung vom Hauſe Bennet zum Thee.
Mit den gemiſchteſten Gefühlen empfing Moorfeld dieſes Blatt.
Sein erſter Schritt war vor den Spiegel. Leider! er ſah Alles darin,
was ſeit dem camp-meeting in Ohio bis zu dieſer Stunde auf ihn
eingeſtürmt. Und hätte er ſelbſt ſich darüber täuſchen mögen: noch
ſcholl ihm das unverfälſchte Kindeswort Malvinens im Ohre: Ach,
Sie ſehen ſo blaß! Dieſes Wort für einen Gang zu Bennet galt
ihm, was alten Staaten ihre politiſchen Orakel.
Was war zu thun? Sich zu entſchuldigen und das Haus ſeiner
Sehnſucht ſo lange zu meiden, bis die Zeit über ihre eigenen Ver¬
wüſtungen ihr Grün und ihre Roſen wieder geſchlungen? Aber Das,
was „die Zeit“ heißt, dieſe jugendliche Huldgöttin alles Lebens, dieſe
herrliche Kraft des Vergebens und Vergeſſens, — ſtand ſie nicht mit
den vollſten Fruchtkörben ihres Labſals an Bennet's ſchönem Haus¬
altare ſelbſt? Stand ſie außer ihm, in trüber, ſelbſtquäleriſcher Muße,
im verzehrenden Hinbrüten, im bodenloſen Betrachten und Durchdenken
Deſſen, was ohne Boden iſt, weil der Gute und Gebildete Roheit
und Egoismus im letzten Augenblicke ſo wenig begreift, wie im erſten?
Moorfeld wog ſeinen Entſchluß hin und her. Er trat wiederholt vor
den Spiegel. Alſo, ein Kranker, ſollte er dieſes Heiligthum betreten,
ein Bedürftiger, Elender, ſtatt ein Mittheilender, Reicher? In einer
Entſtellung, die jedes Kind verſcheucht, ſollte er ſich zeigen, wo Alles
in ihm brannte, ſeine beſte, glänzendſte Geſtalt dem Auge zu bieten?
Aber indem Moorfeld noch zu ſchwanken ſchien, durchdrang Licht
und Wärme ſchon alle Räume ſeiner Phantaſie. Die Scenerie des
Abends fing unwiderſtehlich in ihm zu leben an. Es wogte von Flam¬
men, Bildern, Geſtalten, Glanz, Fülle und Wohllaut um ihn her,
Sinne und Seele waren nicht mehr ſein, er dachte nichts Anderes
mehr, als was in Verbindung mit jenem idealiſchen Schauplatze ſtand.
Noch hatte er keinen Entſchluß gefaßt, aber die Stimmung ſelbſt war
ſein Entſchluß.
[483]
In dieſer Stimmung entraffte er ſich der dumpfen Leidensöde ſei¬
nes Zimmers und ſuchte die „friſche Luft“. Die Luft war mehr als
friſch, ſie war rauh. Seit jenem zweiten Tagesritt an den Erieſee lag
der Sommer, wie von einer ſcharfen Klinge geköpft, als plötzliche
Winterleiche da. Unſer Europäer hatte zu erfahren, daß Amerika den
Uebergang der Jahreszeiten gleich mancher anderen Schönheit entbehre.
Er warf ſich in ein Segelboot und fuhr ſcharf dem ſchneidenden
Nordwind entgegen. Ja, die froſtige Klarheit des Hudſon erregte ihm
die ſchauerliche Begierde zu baden. Er fuhr den letzten Newyorker-
Bauten aus den Augen und that es. Nach einem zweiſtündigen Aus¬
flug ließ er das Boot wieder wenden, das mit dem Winde ſtrom¬
abwärts in einer Viertelſtunde zurückflog. Den Reſt des Tages brachte
er unter den Händen des Friſeurs, am Toilettentiſch, vor dem Klei¬
derſchrank zu. Er wollte mindeſtens vorbereitet ſein, wenn bis zum
Abend ſein Entſchluß reif wäre, ihn auch ausführen zu können.
Wußte er nicht, daß all dieſe Vorbereitungen ſelbſt nichts waren, als
die Frucht der entſchiedenſten Reife? Und ſo ſtand ſein träger Stun¬
denzeiger kaum auf ſieben Uhr, als er mit Muth, Luſt, Jugend,
Stolz und Vertrauen ſich in den Wagen warf, — mit dem Stolze,
daß der geiſtig überlegene Menſch ſich ſelbſt Erſatz ſei für einen un¬
günſtigen Moment ſeiner Aeußerlichkeit, mit dem Vertrauen, ja mit
der Zuverſicht, daß er endlich, endlich hier einen Gang mache, der ihm
die erſte und letzte Genugthuung in Amerika biete.
Waren das Schneeflocken, die ein barbariſcher Nordoſt gegen ſein
Wagenfenſter peitſchte? waren es Feuerſignale, die von dem Thurm
der City-Hall tönten und die Stadt zu ſchauerlichem Tumulte auf¬
regten? Liefen die Menſchen zu dem Brande, fegte ſie der raſſelnde
Hagelſturm ſo herbſt-wild durch die Straßen? Der Kutſcher hieb auf
die Pferde ein, der Wagen jagte wie auf einer verzweifelten Flucht,
— Moorfeld ſah und hörte nur mit vorübereilenden Sinnen: es war
ein unheimliches Stück Straßenleben, dem er auf dieſer Fahrt zur
Staffage diente.
Endlich hielt der Wagen unter den ſturmzerzausten Pappeln und
Platanen des Parks auf der Battery.
Die hellbeleuchtete Reihe von Bennet's Fenſtern warf irrende
Lichter auf die Bäume, welche mit ihren triefenden Wipfeln unruhig
[484] hin und her wogten. Moorfeld dachte bei dieſem Bilde an ſeinen
Fackelritt in der Waldnacht am Erieſee.
Haſtig ſprang er aus dem Wagen, gegen alles Weh ſeiner Er¬
innerungen in dieſes Haus, wie in einen delphiſchen Hain, zu flüchten.
Er fand an der Auffahrt noch mehrere Equipagen vor und trat
mit mehreren Gäſten zugleich jetzt durch die weitgeöffnete Vorhalle.
Zwei Neger in Livree ſtanden rechts und links am Eingange, welche
ſich die Namen der Ankommenden ausbaten, um ſie mit einer, nicht
ſtets correcten Ausſprache ins Parlour vorauszurufen.
Als Moorfeld ſeinen Namen nannte, öffneten ihm die Neger nicht
das Parlour, ſondern einer derſelben bat ihn im Namen der Miſtreß
Bennet, ihm ins Drawing-Room zu folgen.
Moorfeld überließ ſich ihm.
Er dachte unterwegs über die Ausbildung bes republikaniſchen
Geiſtes in Amerika nach. Der neue Gebrauch der Livree in der
Newyorker haute Finance ſchmiegte ſich jedenfalls als eine pikante Illu¬
ſtration um die Deviſe: all men are equal; ja, und hatte er nicht
an einer der Equipagen, die vor dem Hauſe hielten, im Halbdunkel
des Lampenſcheines deutlich ein Wappen erblickt?
Indeß führte ihn der Neger durch jene Reihe von Apartements,
welche die, Kunſtſammlungen des Hauſes enthielten, der den Geſell¬
ſchaftsſälen entgegenliegenden Seite zu nach dem Empfangzimmer der
Hausfrau.
Moorfeld trat in das Gemach, welches eine Milchlampe unter
blaßrothem Lichtſchirm mild erleuchtete. Miſtreß Bennet verweilte
ganz allein in demſelben. Sie erhob ſich bei Moorfeld's Anmeldung
aus einem Schaukelſtuhl und trat ihm mit einer Blume in der Hand
nicht ohne Bewegung, wie es ſchien, entgegen.
Ich habe Sie bemüht, Herr Doctor, ſagte ſie, indem ſie ihm die
Blume überreichte, um ſie mit einer Veränderung in unſerem Familien¬
leben au fait zu ſetzen, von welcher es Mr. Bennet lieb ſein wird,
wenn er ſie, im vis-á-vis mit Ihnen, ſchon als eine Vorausſetzung
behandeln kann. Sie hatten die Aufopferung, in einem etwas —
charakteriſtiſchen Augenblicke den Dehors unſerer Parthien einen großen
Dienſt zu leiſten, indem Sie mit dem Verſprechen, die äſthetiſchen
Studien meiner jüngſten Tochter zu leiten, einem peinlichen Eclat die
[485] Spitze brachen. Mr. Bennet hätte vielleicht unſeren Vortheil ſo ſehr
geliebt, das Impromptü jenes Augenblicks wörtlich zu nehmen; ja,
Sie ſelbſt hätten vielleicht die Güte gehabt, demſelben eine gewiſſe
Verbindlichkeit beizulegen. Ich darf Sie in dieſem Falle, Herr Doctor,
indem ich Sie unſeres herzlichſten Dankes verſichere, von dieſer Ver¬
bindlichkeit frei ſprechen. Miß Cöleſte hat inzwiſchen aufgehört, der
väterlichen Gewalt zu unterſtehen. Sie iſt Braut mit Sir Edmund
Ormond, Esquire.
Moorfeld unterdrückte einen lauten Aufſchrei.
Aber auch Mrs. Bennet ſchien ihrer Mittheilung nicht froh ge¬
worden zu ſein. Mit einem leichten „darf ich bitten“ machte ſie
Miene, den Arm ihres Gaſtes zu nehmen, mehr gepreßt von dieſem
Gegenſtande weg-, als beeilt, in die Geſellſchaft hin zu kommen.
Moorfeld ſtand reglos. Er war keiner Beſinnung fähig. Er
bedurfte einer furchtbaren Kraftanſtrengung bis er die Unmöglichkeit,
überhaupt zu ſprechen, beſiegt hatte. Nach einer Pauſe antwortete er:
Madame, erlauben Sie mir, zu bleiben. Ihr Haus iſt heute, wie ich
ahnen muß, nicht in den großen Geſellſchaftsſälen, es iſt hier in
dieſem ſtillen Raume. Und für mich, der ich ein Fremder bin, wird
es bald weder dort noch hier mehr ſein. Was ich gehört habe, gilt
in der Regel für ein frohes Ereigniß; wie ich's gehört habe, ſcheint
es eine Ausnahme von der Regel. Dieſer Zweifel martert mich. Ich
nehme den innigſten Antheil an Ihrem Hauſe. O, geben Sie mir
die Genugthuung, Madame, ehe wir uns in jene Säle verlieren, wo
Glück und Unglück die gleichen Züge tragen, geben Sie mir die
Genugthuung, daß Sie mir ein glückliches — ein Ereigniß, das
Sie glücklich macht, mitgetheilt haben!
Verzeihung, mein Herr, ich kann unmöglich geben, was ich ſelbſt
entbehre.
Jetzt ergriff Moorfeld den zarten Arm der Dame, aber er führte
Sie an ihren Schaukelſtuhl zurück. Sie haben mir viel zu ſagen,
Madame, ſtammelte er; Sie ſollen es ſagen! Ein Menſchenherz für
ein Mutterherz!
Dieſe Art poetiſcher Dictatur mußte etwas haben, das gefiel;
auch war Miſtreß Bennet Pariſerin genug, den Umgangsformen eine
gemüthvollere Freiheit zu bewilligen, als es eine Amerikanerin gethan
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 32[486] hätte. Sie nahm ihren Platz ein und bat Moorfeld mit einer Hand¬
bewegung, das Gleiche zu thun.
Ich bin ſchwach genug, Ihre Theilnahme anzunehmen, ſagte die
edle Frau mit einem Ausdruck des müdeſten Schmerzes. Aber nicht
wahr, die Unglücklichen dürfen mit einander zwangloſer umgehen!
Und ach, wir ſind unglücklich, mein Herr, wir ſind es, wie wenige
Familien dieſer Stadt! Es wird mir von Jahr zu Jahr ſchwerer, den
Troſt des Mitleids zu entbehren, den theilnehmende Freunde uns ent¬
gegenbringen. Mr. Bennet mag mir's verzeihen! Wir laſſen uns
ja willig zertreten, wird es uns doch erlaubt ſein, uns zu krümmen!
Moorfeld war wie vom Blitze gerührt. Mr. Bennet — ? das
Wort erſtarb ihm auf den Lippen.
Ja, Mr. Bennet! Mr. Bennet! wiederholte die Hausfrau mit
Affect. Es wird dem Mann, deſſen glorreicher Ehrgeiz es iſt, zu
den Medicäern ſeiner Nation zu zählen, es wird ihm in Ihrer Mei¬
nung nicht ſchaden, wenn Sie ihn in ſeinem Hauſe, der Schattenſeite
ſo vieler ausgezeichneter Männer, kennen lernen. Ich kann nicht
anders! Es iſt mir Troſt, es iſt mir Lebensbedürfniß, den Schmerzens¬
laut meiner Schmerzen hören zu laſſen. Ich reiße in dieſem Augen¬
blick mit Verzweiflung mein Kind von meinem Herzen, und muß mir
Glück wünſchen laſſen zu meiner Verzweiflung! Ha, ich ſollte nicht
Ein, nicht Ein Herz den Vertrauten meiner Muttergefühle nennen
dürfen? O, mein Herr, der Himmel hat Sie mir in dieſer Stunde
geſchenkt! Helfen Sie mir weinen um das liebenswürdige Kind!
Sechszehn unerfahrene, unſchuldige Jahre und — un mariage de
déspération! Die Unglückliche! Das Genie des geiſtreichſten Vaters
treibt ſie in die Arme eines — imbecille! Muß ich meine Cöleſte
opfern für den Beweis, wie alle Gegenſätze ſich ihren eigenen Fluch
erzeugen? Leider, ich muß es!
Ich werde Ihnen nichts Neues zu ſagen haben, fuhr Miſtreß
Bennet ruhiger fort. Sie kennen den Enthuſiasmus meines Mannes
für die ſchönen Künſte. Er möchte ſeinem Vaterlande ein Auguſtus,
ein Perikles werden. Ich glaube es aufrichtig, daß er es könnte.
Ja, ich glaube an ihn. Hätte er die Kräfte einer Nation zur Ver¬
fügung, er arbeitete mit dem Werkzeug, das er bedarf. Er wäre
glücklich und der Kunſtadel der ganzen Erde mit ihm. Leider ſind
[487] wir kein Reich, wir ſind nur ein Haus. Das iſt unſer Unglück. In
weiten Entfernungen würde er erwärmen und beleben, im engen Fa¬
milienraume verzehrt und tödtet er. Er iſt ein Jupiter und wir
ſind — die Aſche der Semele!
Moorfeld ſtöhnte unter Bergeslaſten.
Ja, die Künſte haben keine Freiſtätte hier, eine Werkſtätte ſollen
ſie haben. Ein Bennet will erſchaffen, was er genießt. Und ſo
war es meinen Kindern ſchon in der Wiege dictirt: Du maleſt, du
dichteſt, du modelirſt, du muſicirſt! Die Natur hatte nur das Recht,
die Steuern zu bewilligen, die ihr Bennet auferlegte, ſie durfte Ja
ſagen, aber nicht Nein.
Und wahrlich, ſie ſagte nicht nein! Die Kinder dieſes Vaters hatten
wirkliche, angeborene Talente. Aber gibt es Mittel, das Talent ſich
ſelbſt verhaßt zu machen, ſo gebrauchte ſie Bennet. Die Art, wie er
die Talente weckte, — was ſag' ich, „wecken“? So weckt nicht das
Morgenlied der Lerche, ſpielende Batterien wecken ſo. Er donnerte
die armen Kleinen ſchon aus ihrem zarteſten Kindheitsſchlafe empor.
Auf zur Arbeit! war das erſte Wort ſeiner Vaterlippe. Daß ſie in
drei Sprachen zugleich erzogen werden, rechne ich noch für nichts, die
Natur leiſtet wirklich Außerordentliches hierin. Daß ſie den Freuden
ihrer Spiele, den geringſten Erhohlungen und Genüſſen ihres Alters
entſagen mußten, daß ihre Kinderſtube ein Gedränge von Lehrern und
Büchern erfüllte, zwiſchen welchem das flüchtigſte Lächeln einer Muße¬
ſtunde erdrückt wurde, daß ihnen die friſche Luft, die Nahrung, die
Ruhe des nächtlichen Lagers entzogen wurde, „weil die Götter den
Sterblichen nur Alles für Arbeit verkaufen“, — das iſt ſchon etwas,
mein Herr! cela commence à compter! Aber was ſoll ich ſagen,
was ſoll ich als Frau ſagen, wenn dieſe dämoniſche Begeiſterung ſelbſt
das Opfer der Schicklichkeit, des Anſtandes, des weiblichen Schamge¬
fühls nicht für zu groß hält, um es ohne Weiteres zu fordern? Jenny,
meine älteſte, modellirt. Die Diana im Trumeau unſers Parlours
iſt von ihr. Aber nicht Dilletantin ſoll ſie bleiben, ſie ſoll wetteifern
mit Künſtlern, welchen das Studium der Antike, welchen der Anblick
der unmittelbaren Natur zu Gebote ſteht. Und wir leben in Puritaner-
Staaten, mein Herr! O, laſſen Sie mich ſchweigen! Von welchen Stür¬
men, von welchem Thränenmeere rede ich da! Papa, ſie werden mit
32*[488] Steinen nach mir werfen! jammerte das verzweifelnde Mädchen. Laß ſie
werfen, mein Kind, aber die letzten Steine werden Edelſteine ſein! ant¬
wortete der Papa.
Ja, das iſt ein griechiſcher Gott in einen Yankee gefahren! rief
Mrs. Bennet mit Bitterkeit und Bewunderung zugleich. Jede Ader
voll Poeſie — aber dieſe Gewaltthätigkeit gegen das Leben, dieſe Nicht¬
achtung der Natur, dieſer grauſame, unerbittliche Vertilgungstrieb
gegen Alles was frei wachſen, was ſein eigener Zweck auf ſeiner eige¬
nen Bodenſpanne ſein will, — das iſt Culturtrieb in amerikaniſchem
Styl! Abſolute Unfähigkeit zu ſchonen und zu lieben — neunzig¬
gradiger Egoismus! Und doch — dieſes Ich, welch ein ſchönes, herr¬
liches iſt es! Er macht unglücklich, nur weil er die Welt für unglück¬
lich hält, die nicht ſeines Sinnes iſt. Auch war ich weit entfernt,
und war er lange, mich ſelbſt und meine Kinder für berechtigt zu
halten neben ihm. Es iſt was Ueberzeugendes, Hinreißendes in ſeinem
Temperamente, etwas Fascinirendes, das in That und Willen den
Widerſtand irre macht. Man fühlt ſich beſchämt von ſolcher Größe,
man glaubt immer von Neuem, daß ſie möglich iſt. Erſt als ich die
bleichen Wangen, die erloſchenen Augen, die ſchleichenden Pulſe, die
kränkelnde Zartheit und Durchſichtigkeit von den jugendlichen Geſtalten
meiner armen Kleinen mit keinem Vorwand hinwegleugnen, mit keiner
Geduld zu Ende warten konnte, fing ich an, die Erſtlingseinwürfe
meiner Mutterangſt zu ſtammeln. Ah, Bennet belehrte mich eines
Beſſeren! „Das iſt die Flamme des Genies, welche die Materie auf¬
zehrt; man muß ihr Luft ſchaffen!“ und nun kamen Bücher zu den
Büchern, und Lehrer zu den Lehrern, und Aufgaben zu den Ar¬
beiten, und Luft wurde geſchafft, daß uns der Athem ſtockte!
Das iſt unſer Familienleben, mein Herr. In Unterwerfung zu
Grunde zu gehen, oder uns zu retten — durch Rebellion, dieſe
traurige Wahl bleibt uns allein. Die Kinder nähern ſich dem Einen
oder dem Andern, je nach der Verſchiedenheit ihrer Inclinationen.
Mein Sohn Edgar empörte ſich zuerſt. Als ein Knabe von eilf
Jahren lief er in die Kriegsſchule nach Weſt-Point, und keine Macht
der Welt wäre im Stande geweſen ihn zurückzuführen. Dort ſtudirt
er nun, — mein mütterliches Auge entbehrt ſeinen Anblick. Erſt ſeit
Kurzem ſehen wir uns öfter; lange hießen meine Beſuche Conſpiration!
[489]
Der Meißel, der ihm beſtimmt war, ging auf Jenny, meine zweite
Tochter über. Die duldet, ſo weit ſich dulden läßt. Charakterfeſter wie¬
der iſt mein viertes Kind, Cöleſte. Ihre Specialität iſt die Poeſie.
Die Entſcheidung dafür dadirt von einem Zufalle. Wir erwarteten
den Papa von ſeiner zweiten europäiſchen Reiſe zurück, es war im
Jahre zweiundzwanzig. Cöleſtine ſtand im ſiebenten Jahre. Ma, ſagte
ſie, ich will den Pa mit einem Gedichte empfangen. In der That
ſchrieb das Kind in dieſem Alter ein paar franzöſiſche Strophen, an
denen ich wenig oder nichts zu corrigiren fand. Bennet aber kam direct
von Genua, von der poetiſchen Hofhaltung Lord Byron's. In welchem
Zuſtand ſeiner Imagination, mögen Sie ſelbſt denken. So trat ihm
nun ein kleines, ſtammelndes Kind an der Schwelle ſeines Hauſes
entgegen, mit einem Orangeblüthenzweig in der Hand, mit dem Wohl¬
laut ſelbſtgedichteter Verſe auf den Lippen — verhängnißvoller Eindruck!
Wer dieſes Kind nicht für den erſten Genius ſeiner Zeit hielt, der
verlor ſeinen Anſpruch auf Bildung. Bennet war außer ſich. Auf,
auf, Bücher! Lehrer! Studirlampen! welche Vaterpflichten ſind hier
zu erfüllen! Schlaf, Spiel, Erholung, — gemeine Einreden! Der
verſteht den Genius ſchlecht, der nicht weiß, daß er an ſich ſelbſt ſich
erholt. Es gibt nur Eine Erholung von der Arbeit, — die Arbeit!
Nun iſt aber Cöleſte eigen geartet. Die ganze Wucht der väter¬
lichen Erziehungstyrannei drückte auf ſie überwiegend, und doch war ſie
es zugleich, die am wenigſten klagte. Sie hatte Ehrgeiz. Was immer
ihr auferlegt wurde, ſie verrichtete es nicht nur, ſie that noch drüber.
Sie rivaliſirte gleichſam mit ihrem Vater. Die Thränen traten mir
oft ins Auge, das Mädchen zu ſehen. Statt mit dem Roth der Ge¬
ſundheit, mit der ſeinen geiſtigen Glut des Wetteifers auf den Wan¬
gen ſaß ſie da, überbot ihre Aufgabe, überbot ſich ſelbſt und brannte vor
Begierde, zu überraſchen. Nicht der Vater, der Gentleman nur allein, hätte
ſeinen Degen ſenken müſſen vor der Galanterie ſeines Kindes. Leider!
Bennet war nicht zu überraſchen. Seine Anſprüche wuchſen mit der
Befriedigung, und das arme Kind erarbeitete ſich nur Mißhandlungen.
Da wandte ſich ihr Herz. Mit dem Stolze des beleidigten Adels trat
ſie in ſich zurück. Ihre Stimmung wurde eine gereizte, feindſelige.
Sie ließ alle Forderungen über ſich ergehen und ſchärfte ſich trotzig
die Lippen dazu. Sie machte nicht den Eindruck einer leidenden Na¬
[490] tur, ſondern einer, die ihren Tag abwartet. Bennet verſtand ſie nicht.
Er hielt den Himmel für ruhig und glaubte, er ſei der Donnerer
darauf, nicht ſie, der kleine reſervirte Trotzkopf.
In dieſer Verfaſſung waren die Gemüther, als der Tag von
Saratoga anbrach. Ich hoffte von der veränderten Hausordnung, von
dem heiteren Naturgenuß, von dem ganzen Schwung dieſer Ferien einen
heilſamen, mildernden Einfluß. Das Gegentheil kam. Wir waren di¬
rect in die Löwenhöhle getreten. Die Saiſon von Saratoga war eine
der glänzendſten: man ſah, daß die Pairskammer Karls X. und die
Fürſten der polniſchen Nation Nomaden geworden. Bennet begrüßte
von ſeinen drei europäiſchen Reiſen her viele alte Bekanntſchaften und
machte noch mehr neue. Die Albumsblätter wanderten im lebhafteſten
Austauſch hin und wieder. Kein Tag verging, daß nicht mehrere Un¬
ſterblichkeiten zu ſtiften waren. Denn ſo faßte es Bennet auf. Welch
eine Gelegenheit! Europas Pforten waren dem Dichterruhm ſeiner
Tochter geöffnet. Die haute volée aller Länder gab ſich zur Colpor¬
tage ihrer Verſe her. Wen dieſe Gelegenheit nicht begeiſterte, das war
ein Cretin, kein Menſch! Bennet's Forderungen kannten keine Grenzen
mehr! Er hatte alles Bewußtſein verloren, was menſchlich zu leiſten.
Sechsmal zerriß er Cöleſten ein Albumsblatt für einen griechiſchen
Palikarenhäuptling. Welche bassesse in Form und Gedanken! Das
muß anders tönen, meine Gute! Dieſes Volk iſt an die Solitaire
eines Byron gewöhnt, und Apoll ſelbſt nennt es ſeinen Landsmann.
Er vergaß ſich ſo weit, daß er ſie einſperrte und ihr die Nahrung
entzog, bis ſie ſo klaſſiſch geworden, wie es ihm vorſchwebte. „Sing¬
vögel und Jagdhunde muß man kurz halten!“ Sie ſehen, es eilte
zum Ende.
Und juſt an dieſem Tage kam der Pudel Omar mit ſeinem Ver¬
ehrer, Lord Ormond, an. Der edle Herr war inzwiſchen zwar nicht
wirklich Lord geworden, aber er hatte einen Seitenverwandten aus der
Gentry beerbt und konnte wieder ſtandesgemäß in England auftreten.
Er verabſchiedete ſich von uns. Bei dieſer Gelegenheit beobachtete er es
als eine Form der Höflichkeit, meiner Tochter die Hand zu bieten.
Racheglühend, ich muß das Wort betonen, mein Herr, racheglühend
nahm Cöleſte an. Augenblicklich ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb — an
Mr. Bennet ihre Verlobungskarte! Es iſt dieſer Gebrauch kein ſelteneer
[491] zwiſchen Kindern und Eltern in Amerika — leider! kam er jetzt auch
in meiner Familie vor! Hohnlachend ſtürzte der Vater vor ſeine
Tochter. Gut gemacht, Lady, gut gemacht! Und das ſoll Bennet's
Blut ſein! — Es iſt's, Sir! Eine Bennet iſt lieber die Herrin eines
Narren, als die Sklavin eines Genies! Bennet erblaßte. Es ahnte
ihm zum erſtenmale, daß ſein Kind ein Charakter. — So, mein
Herr, iſt Miß Cöleſte Braut geworden.
In dieſem Augenblicke fiel ein Schuß auf der Straße.
Werther! rief Moorfeld emporfahrend.
Es iſt ſeit geſtern und heute ein wenig unruhig in der Stadt, ein
Riot ſcheint im Anzuge, ſagte Mrs. Bennet mit tiefer Gleichgiltigkeit.
Moorfeld kam zu ſich. Glücklicherweiſe — wußte er — klingt
Werther zumeiſt Worther im Engliſchen; das gräßliche Streiflicht über
ſein Inneres konnte unzündend abgeblitzt ſein.
Er kehrte an ſeinen Platz zurück.
Die gebeugte Frau war mit ihrer Mittheilung zu Ende. Mühſam
nahm Moorfeld das Wort: Ich muß mich mäßigen, Madame, mein
Mitgefühl Ihnen auszuſprechen. Sie haben mir gezeigt, was an dem
Fluche unſerer Poeſie der Antheil der Frauen iſt; könnte es Ihnen
zum Troſte gereichen, ſo würde ich Sie auffordern zu einem Rück¬
ſchluß auf uns ſelbſt. Sie würden Schuld und Strafe, dünkt mir, in
einer ſchauerlichen Harmonie finden. Doch nichts davon! Tragen Sie
den Widerſchein eines Unglücks als ein ganzes und volles Unglück,
ich will nichts verkürzen daran. Nur noch meinen Dank für Ihre
Schonung. Daß ich in dieſe Verhältniſſe als ein verkörperter Nero
über Ihre Schwelle trat, daß die Ausſicht auf einen Wintercurſus mit
dem Kritiker von „Schäfer's Botſchaft“ das Maß füllen mußte ſchon
vor Saratoga — Sie haben es mir, verehrteſte Frau —
Verzeihung, Herr Doctor, unterbrach Miſtreß Bennet. Ihr Auge
ruhte mit jener Anerkennung auf Moorfeld's Geſtalt, wie nur die
Franzöſin, im Beſitze ſouveräner und berechtigter Geſchmacksherrſchaft,
blicken darf. Allerdings konnte Ihre Erſcheinung nicht ungezählt blei¬
ben in unſerm Hauſe. Aber gefürchtet wurde ſie nicht. Das Gegen¬
theil iſt wahr. Cöleſte, die ſich zuweilen in Paradoxien gefällt, ſagte
gradezu: Ich vertraue dieſem Europäer, er wird Poet genug ſein,
gegen die Poeſie mich zu ſchützen.
[492]
Moorfeld ſchrack zuſammen. Er überblickte den ganzen Werth die¬
ſes Mädchens. Wo hatte ſie den höchſten Begriff der Poeſie gefunden:
Eigenthümlichkeiten zu verehren, nicht umzubilden, wenn nicht in ihrer
eigenen herrlichen Seele?
Und doch!
Und doch, fuhr Mrs. Bennet fort, für uns gibt es keine Hoff¬
nung! Auf meinen Mann iſt nicht anders zu wirken, als mit ihm.
Keine Oppoſition iſt einflußloſer als gegen Mr. Bennet. Wir werden
einen Freund gewinnen, ſagten Doctor Channing und Doctor Gris¬
wold, das heißt: wir werden einen Mann mehr haben auf unſerm
Rückzuge. Leider iſt es ſo. Wir haben unſern Freunden nur eine ver¬
lorne Sache zu bieten. Neue Opfer den alten hinzuzufügen, wäre
nach unſern Erfahrungen grauſam geweſen. Wir können uns nicht hel¬
fen, — mindeſtens nicht anders, ach! als es Cöleſte gethan.
Während Mrs. Bennet noch ſprach, öffnete ſich leiſe die Thür des
Drawingrooms. Cöleſte ſelbſt war es. Als ſie Beſuch ſah, trat ſie ſo¬
gleich wieder zurück, aber ſchon hatte ihr halb ſichtbares Bild zwiſchen
Thür und Angel Moorfeld's Auge geſtreift. Moorfeld ſprang auf
und ging dem Mädchen entgegen. Er nahm ſie bei der Hand mit den
Worten: Wir ſprachen von Ihnen, theuerſte Miß; ſchenken Sie uns
einen Augenblick Ihre Nähe. Ich habe Ihnen meinen Glückwunſch zu
Füßen zu legen. Sie werden, wie ich höre, in die große Welt ein¬
treten. Auf dieſem Wege werden Sie einen großen Schatz finden, —
das Bewußtſein, was für ein unermeßlicher Beſitz es iſt, ſich ſelbſt
zu haben! Sie werden inne werden, daß die Welt, in welcher Jeder
ſein eigener Mittelpunkt zu ſein glaubt, nichts ſo naturgemäß ſucht,
als ſich um den Hof einer edlen und ſchönen Selbſtſtändigkeit zu grup¬
piren. Dieſes Glück zu finden, erwartet Sie unter allen Umſtänden
und dazu bringe ich Ihnen meine aufrichtigſten Wünſche.
Ein tiefes, kraftgebändigtes Beben klang durch Moorfeld's Stimme,
als er dieſe Worte ſprach. Cöleſte ſelbſt vermochte nicht anders zu
antworten, als mit ſtummer Gebärde.
Indem ſie jetzt tiefer ins Licht vortrat, rief Mrs. Bennet bei
ihrem Anblick: Aber welche Toilette, mein Kind? Das junge Mädchen
trug ein ſchwarzes Atlaskleid mit einem Schmucke von Coque-Perlen.
Es contraſtirte mit einer magiſchen Wirkung zu der ſtillen, marmornen
[493] Bläſſe ihres Antlitzes. War es eine Caprice, ſo war es auch — eine
Wahl.
Cöleſte hatte inzwiſchen die Faſſung errungen, Moorfeld anzu¬
reden. Sie ſprach ohne aufzublicken: Meine Mutter wird Ihnen ge¬
ſagt haben, Herr Doctor, wir ſehr es mich gefreut hätte, dieſen Winter
einen Theil meines Bildungsweges mit Ihnen zurückzulegen. Meine
— plötzliche Reiſe nach Europa bringt mich um dieſen Gewinn.
Darf ich Sie jetzt bitten, mir ein Zeichen mitzugeben, das ich als
Denkmal — ſelbſt einer vereitelten Hoffnung noch werth halten werde?
Darf ich mir erlauben, Herr Doctor, Ihnen mein Gedenkbuch vor¬
zulegen?
Indem Moorfeld den Klang dieſer Stimme wieder hörte, ſchauerte
ſein ganzes Inneres zuſammen. Mit Mühe ſtotterte er eine übliche
Formel der Bejahung. Cöleſte holte das Buch. Moorfeld rückte an
den Tiſch und verſuchte zu ſchreiben. Aber ſeine Hand zitterte heftig.
Er ſetzte wiederholt an, — es gelang nicht.
Ich bitte, mit dem Blatte nach Zeit und Muße zu verfügen —
ſagte Cöleſte — wir reiſen wahrſcheinlich erſt in vierzehn Tagen.
Verzeihung, Miß, ich ſchon morgen, war Moorfeld's Antwort.
Cöleſte blickte erſchrocken-fragend auf.
Moorfeld war nicht im Stande, ihren Blick zu ertragen. Er ſtand
auf und machte einige Schritte durchs Zimmer. Der Moment wäre
nicht zu bewältigen geweſen — da fiel Moorfeld's Blick auf eine
Violine im unterſten Fach des Glasſchrankes. Es mochte jene monu¬
mentale Violine ſein, welche Mr. Bennet zum Andenken an den er¬
ſten amerikaniſchen Walzer aufbewahrte. Wie der Blitz auf ſeinen
Ableiter, ſo ſtürzte Moorfeld auf das Inſtrument. Er that ein paar
Probegriffe, dann fing er zu phantaſiren an. Die Geige hatte einen
weiten großartigen Ton; der Spieler empfand ſogleich ihren ganzen
Geiſt. Er begann einen breiten heroiſchen Satz, ſchwebend, wie aus¬
gebreitete Adlerflügel, hoch in der Höhe. Er zog Töne von hinreißen¬
der Beredſamkeit, es war Schmerz darin, aber der Schmerz eines
Demoſthenes um die ſchönſte Weltrepublik. Nicht lange declamirte er
ſo. Dieſer erſte, volle Trunk der muſikaliſchen Seele gethan, ſchöpfte
ſie gieriger, wilder. Bald hackten ſich kurze, ſcharfſchnäbliche Triolen
in die breite Prometheus-Bruſt des Eingangsſatzes ein, und die ehr¬
[494] bar-ſchöne Weltordnung der Antike zerfetzte romantiſches Galgen- und
Zwielichts-Gevögel. Auf einmal war der Jammer entſchieden; in
einem humoriſtiſch-verzweifelten Tremolo ſprang's wie ein Pudel, —
ein wohlbekannter Pudel! — in die vier Saiten und apportirte dem
olympiſchen Griechenland bulgariſches Zigeunergeſindel. Schneller jagt
Aprilſchnee ſich mit Aprilſonne nicht, als Gluck's Styl in eine Fan¬
taſie nach dem Rakoczy-Marſch umſprang. Als Cöleſte dieſe
Rhythmen hörte, bedeckte ſie ihr Antlitz mit beiden Händen und ſank
kniend in den Schooß ihrer Mutter. Der ſpornklirrende Kriegsgeſang
jagte über ſie hin, unaufhaltſam. Zaum- und zügellos flogs haide¬
wild dahin: Schlachtluſt, Abſchiedsweinen. Ein Narbengeſicht in Thrä¬
nen! In dieſen Klängen athmete Moorfeld Heimatsluft. Schenken¬
luſtige Tänze wirbelten, türkiſche Krummſäbel und ungariſche Pallaſche
klirrten, man ſah das Schlachtfeld der Völker, das Schlachtfeld der
Herzen, denn immer und immer weinte es in jenen herzzerreißenden
Molltönen dazwiſchen und am Horizont des Kriegsgetümmels ſtand
verlaſſene Liebe! So trieb's Moorfeld bis der letzte Tropfen Herzblut
herausgeſchüttet war, dann warf er die Geige wild hin und rief nach
der Thüre ſtürzend: „Auch das iſt ein Andenken!
Nein, ſo dürfen Sie nicht von uns! rief Cöleſte aufſpringend,
außer ſich. Sie hielt Moorfeld zurück. Der weibliche Genius des Be¬
ruhigens flehte um einen Sonnenblick in ſeinem Auge. Dringend
faßte ſie Moorfeld's Arm — ſo dürfen Sie nicht von uns! das darf
Ihr letztes Wort nicht ſein!
Es iſt's nicht! antwortete Moorfeld, — ich werde den Frauen¬
herzen noch manches Souvenir ſchreiben! Verfolgen Sie den Dichter¬
namen Nicolaus —
Seine Stimme brach, — ein Blick, — ein Händedruck — er
ſtürmte hinweg.
[495]
Fünftes Kapitel.
So erwachte Moorfeld zu ſeinem letzten Morgen in Amerika.
Tags nach dieſem Abend fuhr er mit der erſten Geſchäftsſtunde an
den Hafen, entſchloſſen, jede Gelegenheit nach jeden europäiſchen See¬
platz anzunehmen, einzig bedingend, daß die Anker noch heute gelichtet
wurden. Er fand ein Dampfboot, deſſen Abfahrt auf zehn Uhr
feſtgeſetzt war. Natürlich waren die Plätze beſetzt, aber ein junger fran¬
zöſiſcher Arzt, der in Amerika eine Studienreiſe gemacht, hatte die Ar¬
tigkeit, ihm ſeinen erſten Cajütenplatz zu verkaufen. Das Dampfboot
hieß — Riego.
Die Stadt Newyork feierte der Einſchiffung Moorfeld's ein wildes
Abſchiedsfeſt. Wie die Fugen der Alltagsordnung ſchon ſeit zwei Ta¬
gen oder vielmehr Abenden in ein verdächtiges Schwanken und Krachen
gerathen, haben wir mitten aus dem erſchütterungsvollen Eigenleben Moor¬
feld's heraus im Fluge bemerkt. Aber bei ſeinem heutigen Erwachen fand
er die Pulvermine in voller Exploſion. Schon auf der Fahrt nach
dem Hafen zeigte die Stadt ein entſetzliches Antlitz. Arbeiter, welche
in ihre Fabriken zogen, ſtanden überall in beſtürzten Gruppen umher,
Kaufläden blieben verſchloſſen, und ſtierten, wie von einem böſen Traum
befangen, mit den Vorhängſchlöſſern der Nacht in den hellen Tag hin¬
ein, die belebteſten Paſſagen waren unverhältnißmäßig öde, oder was
ſich von Menſchen und Wagen bewegte, ſchien wieder in rückgängiger
Bewegung vom Tagesgeſchäft begriffen — Alles trug die Miene der
Angſt und Verwirrung. Moorfeld, in ſeinem gräßlichen Seelenkrampf
keines äußeren Eindruckes fähig, fuhr durch dieſe Scene ohne ſie zu
bemerken, bemerkte ſie, ohne zu fühlen und zu denken. Erſt am Ha¬
fen drang ſich das öffentliche Zittern unwillkürlich ſeinem Intereſſe
aus. Ueberall begegnete er bangen Geſichtern. Ueberall wurde er be¬
fragt, was er von den Ereigniſſen der Nacht wiſſe, überall liefen Men¬
[496] ſchen hin und wieder, welche ihrerſeits Gerüchte darüber ausbreiteten.
Seltſam, wie eine große Stadt von den Lebensvorgängen in ihren Extre¬
mitäten ſo unzuverläſſig und ſo ſpät eine beſtimmte Empfindung im
Centrum ihrer Nervengefäße erlangen kann! Im Hafen wußte man we¬
nig oder nichts von dem, was Schreckliches in den nördlichen Ausläu¬
fen Newyorks vorgefallen. Im Allgemeinen verlautete nur von einer
großen Feuersbrunſt. Aber Niemand wußte zu ſagen, was verbrannt,
wie weit der Brand um ſich gegriffen, ob die Flamme ſchon bewältigt, —
ja, es ſchlich ſelbſt der Zweifel umher, ob man überhaupt löſchen
wollte, und eine Furcht, die alles Blut von den Wangen trieb, rieſelte
durch die Adern der Bevölkerung, daß ſie auf dem Krater geheimni߬
voller Verbrechen, gräßlicher Verſchwörungen ſtehe, daß ein unbe¬
kanntes Verderben über ihrem Haupte ſchwebe, von welchem Niemand
eine beſtimmte Vorſtellung hatte, welches anzudeuten, allein ſchon für
Mitſchuld galt, welches aber durch ſtockendes, zähneklapperndes Schwei¬
gen eben am fürchterlichſten vergrößert wurde.
Als Moorfeld vom Hafenplatze wieder zurückfuhr, ſollte es ſein
letztes Geſchäft ſein, ſich den Prozeß um ſein Landloos vom Halſe zu
ſchaffen. Er lenkte nach dem Hotel ſeiner Geſandtſchaft, um unter den
erforderlichen Rechtsformen ſeine Vollmachten auszuſtellen und dann
den widerlichen Handel auf ewig zu ignoriren. Ein blutiges Aben¬
teuer begegnete ihm auf dieſem Wege. Ein Menſch ſtürzte dem Broad¬
way herab, gehetzt er von ein[ ]Meute Rowdies, welche Revolvers nach
ihm abfeuerten, abgefeuerte Revolvers nach ihm warfen und ihm mit
dem Geſchrei: Schlagt ihn todt, ſchlagt ihn todt! ein deutſcher Mord¬
brenner! wie eine Bande entfeſſelter Höllengeiſter zuſetzten. Moorfeld
ſchrie ſeinem Kutſcher augenblicklich die Weiſung zu, zwiſchen Verfol¬
ger und Verfolgten quer in den Weg zu fahren, aber der Zuruf
war offenbar eine Interjection der Verzweiflung, und hätte ſie direct
der Vernichtung ausgeſetzt. Auch beugte der Kutſcher gerade entgegen¬
geſetzt aus, und im Nu war die wilde Jagd aus den Augen. Schauer¬
lich tönte es aus der Ferne zurück: Schlagt ihn todt! ein deutſcher
Mordbrenner!
Eine entſetzliche Ahnung ſtieg in Moorfeld auf. Er dachte an die Scene,
der er vor zwei Tagen in Kleindeutſchland beigewohnt. Es blieb kein
Zweifel übrig; hier war ein Riot gegen die Deutſchen ausgebrochen.
[497]
Ohne Beſinnen befahl er dem Kutſcher, in das nördliche Stadt¬
quartier zu fahren. Der Kutſcher weigerte ſich. Nach langem Wort¬
wechſel entſchloß ſich Moorfeld, auszuſteigen und die unermeßliche Strecke
zu Fuß auf ſich zu nehmen, dem Zufall überlaſſend, ob ihm unterwegs
ein willigerer Kutſcher aufſtoßen würde.
Aber kaum hatte er einige hundert Schritte zurückgelegt, als ihm
wiederholt Menſchen entgegen kamen, welche mit haſtigen Schritten und
erſchrockenen Mienen ihm die Worte zuriefen: Kehren Sie um, Sir,
die Stadt iſt heute in ſchlimmen Händen! Und je weiter er vordrang,
deſto ſprechender beſtätigte Alles dieſe Warnung. Er fand hier einen
Revolver, dort einen Schlagriemen, hier eine grimmig zertretene Alarm¬
trommel, dort Blutſpuren auf ſeinem Wege.
So erreichte er City-Hall. Welch ein Schauſpiel! Das Stadthaus,
der Sitz der Ordnung und Gewalt, der Thron der bürgerlichen Maje¬
ſtät, der Herzmuskel, von welchem Geſetzes-Kraft und Anſehen, wie
das Blut, bis in die fernſten Aeſte des öffentlichen Gemeinweſens aus¬
ſtrömen ſollte: das Stadthaus fand er wie einen hilfloſen Hirſch, an
dem die Meute der Hunde mit tödtlichen Biſſen hängt. Tauſende von
Rowdies belagerten das Haus. Sie ſtacken theils in den eleganten
Uniformen der Löſchcompagnien, theils waren ſie anſtändig, ja fein in
Civil gekleidet — ein fürchterliches Geſindel, das mit ſeinem Wohl¬
ſtande nicht den brutalen Thiertrieb, ſondern die raffinirte, teufliſche
Bosheit verräth. All dieſe Banden waren mehr oder minder betrun¬
ken, zerfetzt, beſudelt, der Part ſelbſt von den vielen Feuerſpritzen in
einen Sumpf verwandelt, in welchem ſich die Herren des Platzes mit
johlender Wolluſt wälzten. Geſchrei, Flüche und Piſtolengeknall
erfüllte die Luft, vermengt mit dem Rufe: Heraus die Deutſchen! die
deutſchen Mordbrenner heraus! welches mit einer ſo kanibaliſchen Mord¬
gier gebrüllt wurde, als ſollte der Marmor des Stadthauſes, wie
Jerichos Mauern, davor in Trümmern ſpringen.
An dieſer Stelle hatte Moorfeld zugleich das Ziel ſeines Vordrin¬
gens erreicht. Nach jeder nördlichen Richtung hin fand er die Straße
geſperrt. Die Fortſetzung des Broadways, die Centre-Street, die Cha¬
tam-Street, keine Ausmündung war zugänglich. Tief in all dieſe
Straßen hinein lagerten die Banden der Rowdies, trieben ſich Geſtal¬
ten von Ruß, Blut und Brandy in wilde Thiere verwandelt, pol¬
[498] ternd, heulend, und im Beſitz aller möglichen Waffen zu jedem Ver¬
brechen aufgelegt, umher. Sie ſperrten den Brand ab, wie ſie ſagten,
d. h. ſie ließen ihrem Wüthen in Kleindeutſchland keine Intervention zu.
Moorfeld mußte ſeine Verſuche, an jenen Schauplatz des Unglücks
durchzudringen, der Reihe nach aufgeben. Bei dieſer verhängnißvollen
Unmöglichkeit blieb ihm nichts übrig, als der ſchwache Troſt, daß die Inſaſſen
des grünen Baums vielleicht eben im Stadthauſe ſelbſt ein momentanes Aſyl
gefunden. Das Geſchrei nach dem Blute der Deutſchen, das wolfsgierig zu
allen Fenſtern hineinheulte, ſchien dieſe Vermuthung zu erlauben. Freilich
blieb es dann zweifelhaft, wie lange dieſer Schutz ausreichen und ob
die anarchiſchen Rotten nicht zum Sturm ſelbſt vorſchreiten würden.
Wie frech ihre Dictatur das obrigkeitliche Anſehen mit Füßen trat,
davon ſah Moorfeld mit eigenen Augen eine Probe. Als das Mord¬
geſchrei nach den Deutſchen den wildeſten Grad erreicht hatte, trat der
Mayor von Newyork mit einigen Aldermens auf den Balkon. Meine
Herren, haranguirte er die Aufrührer, wir ſind ſoeben mit dem Ver¬
höre der geflüchteten Deutſchen beſchäftigt, und machen Sie darauf auf¬
merkſam, daß Ihre Ungeduld um prompte Juſtiz nur geeignet iſt, das
Werk der Juſtiz aufzuhalten. Ich verſichere Sie übrigens als Gentle¬
man, daß eine exacte Gerechtigkeit gehandhabt werden ſoll. Sie mögen
ſich, meine Herren, über dieſen Punkt vollkommen beruhigen. Bis da¬
hin empfehle ich die Stadt Ihrem Schutz und hoffe zu der Loyalität
freier und aufgeklärter Bürger, daß Sie einer ſo billigen und geſetz¬
lichen Aufforderung Folge leiſten werden. — Moorfeld traute ſeinen
Ohren nicht, als er in dieſen Worten Newyork in die Discretion von
Meuterern ſtellen hörte. Wo bleibt die Polizei, die Stadtmiliz? fragte
er ſtaunend einen wohlgekleideten Bürger neben ſich. Ich rathe, Miſter,
wir thun wohl, das Wort Polizei und Stadtmiliz heute nicht auszu¬
ſprechen, antwortete dieſer erſchrocken und rückte von Moorfeld's Seite.
Die Rowdies aber waren von der Anrede des Mayors noch ſo wenig
befriedigt, daß ſie mit einer Feuerſpritze vorfuhren und unter betäu¬
bendem Gebrüll einen Waſſerſtrahl auf das Haupt der Stadtobrigkeit
ſchleuderten.
Moorfeld kehrte wieder um. Unvermögend, dem Brennpunkte die¬
ſer Frevel einen Zugang abzugewinnen, noch mehr, irgend eine nütz¬
liche That zu thun, mußte er ſich darauf beſchränken, in Europa aus
[499] Zeitungsnachrichten zu erfahren, wie der Lavaſtrom dieſes Tages noch
ſeinen verderblichen Lauf genommen. Er hatte jetzt keinen Augenblick zu
verlieren, ſein Geſchäft im Geſandtſchaftshotel abzumachen. Als Moor¬
feld dieſes Gebäude erreichte, ſah er die Fenſter des Baſements von
kriegeriſchen Geſtalten erfüllt, welche Gewehr im Arm, auf alle Fälle
gerüſtet daſtanden. Es war ein braves Häuflein deutſcher Newyorker
Bürger, welche zum Schutz ihrer Landsleute, die ohne Unterſchied der
provinziellen Abſtammung in das Geſandtſchaftshotel der erſten deut¬
ſchen Großmacht geflüchtet, ſich in unerſchrockener Bürgerwehrpflicht
eingefunden. Sie ſagten, ſie hätten ſchon vor Tags eine Locomotive
nach Philadelphia requirirt, um den Zuzug der dortigen deutſchen
Schützencompagnie, die jetzt in jedem Augenblick eintreffen werde.
Dann möge der Tanz wohl aus einer andern Tonart gehen. Es habe
nicht viel auf ſich mit dieſen Burſchen. Strohfeuer ſei's, üppige Büberei,
das Geſindel hüte ſich wohl, deutſches Pulver zu riechen. Dieſe Sprache
war ein Lichtblick in dein Pfuhl ſo vieler Abſcheulichkeit. Und daß ſie
nicht übertrieb, bewies die That. Kein Rowdy ließ ſich blicken in dem
weiten Umkreis des Hotels, und doch belief ſich die ganze Beſatzung
deſſelben kaum auf dreißig Mann.
Moorfeld fand alle Räume des Hauſes von flüchtigen Deutſchen
beſetzt. Es war der bunteſte Wirrwar, der ſich denken ließ. Männer,
Frauen, Kinder, Herrſchaften und Domeſtiken, alle Stufen der bürger¬
lichen Rang- und Glücksſcala, alle Anzüge der Nacht und des Tags,
Koſtbares und Gemeines, im Moment der Flucht ſinnlos übereinander
geworfen, was Jeder an ſeinem eigenen Leibe retten zu können glaubte,
trieb ſich im ſchauerlichen Coſtümball durch das angſterfüllte Gebäude.
Dazwiſchen lag ein Jahrmarktskram von geretteten Fahrniſſen auf je¬
dem Schritt und Tritt im Wege; man ſah Betten, Töpfe, Waſchkörbe,
Stutzuhren, Porzellangeſchirr, Bücher, Schüreiſen, allerlei Handwerks¬
zeug, Nützliches und Entbehrliches, Werthvolles und Lächerliches ohne
Wahl zuſammengeſchleppt. In dieſem Wirrniß war das Geſchrei der
Kinder zu hören, die ihre tägliche Hausordnung vermißten, der Müt¬
ter, welche die Bedürfniſſe ihrer Kinder unter Jammer und Zeter zu
improviſiren ſuchten, die Fluch- und Zornausbrüche der Männer, welche,
ſcheinbar oder wirklich, ſich nach wehrhafter Verfaſſung ſehnten, wohl
auch ein- oder das andere Waffenſtück mit ſich führten, da dann dem
[500] Einen die Munition, dem Andern die Büchſe fehlte, dieſe Patrone nicht
zu jener Flinte paßte, und mit vielen Worten wenig erzielt wurde.
In dieſem Bienenſchwarm begegnete Moorfeld denn auch dem
Wirthe von Kleindeutſchland mit Vronele, ſeiner Tochter. Der
deutſche Kaiſer war kaum mehr zu erkennen. Todtenbläſſe bedeckte
ſein vollwangiges Antlitz, er zitterte am ganzen Leibe wie Espenlaub.
Sein erſtes Wort, als er Moorfeld erblickte, war, daß er mit über¬
ſtürzter Zunge die Frage ſtammelte: Kommt Polizei? kommt Polizei?
Moorfeld antwortete: We are in a free country!
Vronele hielt ſich wackerer. Sie war vor Vielen um ſich her allein
einer vernünftigen und unerſchrockenen Rede Meiſterin. Die Herren¬
buben haben uns ausgebrannt und ſagen öffentlich, wir ſelbſt hätten's
gethan, das iſt Evangelium und Epiſtel an dieſer Sache, ſagte ſie.
Da ſie uns nicht verſimpeln und klein kriegen konnten, — Sie ſahen's
ja ſelbſt Herr Doctor — ſo kamen ſie uns ſo. Sie legten das Feuer
bei uns und bei einigen Nachbarn, dann waren ſie aber — hurrah!
von allen Seiten mit ihren Spritzen da, wie das wilde Heer. Wups
hatten ſie einen deutſchen Maurer beim Flügel und ſchrien drauf los:
Den hätten ſie beim Brandſtiften ertappt. In einer Minute baumelte
der arme Menſch an der Dachrinne. Das war aber meertief erlogen
und hat freilich Schein und Art vor den Leuten — die Maurer woll¬
ten Arbeit haben, ſagen ſie, und wollten ſich auch rächen für den er¬
ſtochenen, Maurer vom Bowery. Es iſt ſchon recht! Beim Verhör
wird Alles herauskommen. Es gibt noch Leute, Gott ſei Dank! die
auch zu reden wiſſen von dieſer Nacht. Die Spitzbuben genirten ſich
ſo wenig, daß ſie mit hellflammigen Bränden herumliefen; hier löſch¬
ten ſie, dort zündeten ſie und ſchrien immer dazwiſchen: Tod den
deutſchen Mordbrennern! die Schinderhunde! und glaubten uns Alle
auszutilgen, daß kein Einziger übrig bleiben wird, der eine Zung'
rühren kann! Da müßt' Newyork nicht gebaut ſein, daß neun Katzen
keine Maus fangen! Jetzt haben ſie vielleicht zugeſtopft und gnade
Gott, wer ſeine Beine nicht bei Zeiten über die Achſel nahm! Jetzt
iſt die richtige Mördergrub' los da droben. Aber es muß einen zah¬
lenden Tag geben! Wär' ich nur ein Mann! Ich wüßt' mir was
Beſſeres, als da vorn im Geſindezimmer zu ſtehen, Gewehr im Arm,
wie auf einem Nürnberger Bilderbogen! Aber unſer ganzes Haus
[501] will ich verſchmerzen, wenn nur die Philadelphier kommen! Selbe
Schützen ſind die richtigen noch aus dem Freiheitskrieg her, was die
ganze Welt weiß. Das iſt der Dank jetzt! Engländer und Heſſen
haben ſie aus dem Land getrieben, — ich begreif' gar nicht, warum
die Yankees allein die Herren im Lande ſpielen wollen. — Aus dieſer
weittragenden Reflexion wandte ſich das Mädchen dann wieder an die
nächſte Gegenwart, indem ſie ſich nach einer jungen Frau umkehrte,
die in einem Winkel des überfüllten Hauſes auf einer Treppenſtufe
ſaß und Ströme von Thränen in ihren Schooß niederfließen ließ.
Laßt's gut ſein, lieb Fraule, tröſtete ſie mit einer naiven Herzlichkeit, eure
Bäckle blieben doch ſchön, verderbt ſie euch mit dem abſcheulichen
Kummerwaſſer nicht. Es wird euch kein Menſch darum Schlechtes
nachſagen. Gewiß nicht. Wär' ſo ein Haderlump an euch gekommen
wie an mich, ihr hättet ihn wägerle überwältigt. Guck, was für ein
Hutzelmännchen um die Macht mit mir rang! Das war ein Kerl wie
aus Mehl und Waſſer gebacken, ſein Geſicht ſah aus wie ein Reſtchen
Schmierſeife. Es iſt merkwürdig daß ſich ſolche Buben noch fühlen.
Aber der wird denken an eine Schwabenhand! Ich fuhr ihm mit
einem groben Kamm über den Kopf. Ich ohrfeigte ihn in die tiefſte
Schand hinunter.
So fand Moorfeld die Reſidenz ſeines Geſandten. Daß er ſeine
Angelegenheit im Flug, oder vielmehr gar nicht austrug, brauchen wir
bei dieſer fürchterlichen Geſtalt der Umſtände kaum zu erwähnen. Ein
ziemlich jugendlicher Secretär empfing ihn, mit welchem ſich Moorfeld
nicht einmal zuerſt über ſeine Sache, ſondern über das öffentliche Un¬
glück des Tages unterhielt. Die jungen Männer blickten ſich bald in
ihre Parteiverwandtſchaft, und ohne Umſtände berichtete der Secretär
die Abweſenheit ſeines Chefs mit folgenden Worten: Se. Excellenz
ſind auf dem Stadthauſe. Wir proteſtiren, wir machen verantwortlich
und thun, was wir vermögen, das heißt, Nichts. Wer ſollte auch im
Stande ſein, ohne Kriegsflotte einem Seevolk zu imponiren?! — Seinen
Proceß führte Moorfeld ſpäter von Europa aus durch den Hof- und
Gerichtsadvocaten B * *, den ihm der Secretär der Newyorker Legation
mit tiefer Hochachtung empfahl. Dieſer ausgezeichnete Juriſt führte
ihn zu einem Ende, welches der Ungunſt der Umſtände die möglichſt
günſtige Seite abgewann. —
D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 33[502]
An da Ponte dachte Moorfeld zu ſpät. Vor den unaufhörlichen
Schlägen der letzten Stunden war das Schattenbild dieſes Unglücklichen
in ſeiner zernichteten Seele zurückgetreten. Indem wir dieſen Bericht
ſchreiben, wird dem Andenken Metaſtaſio's in Wien ein Denkmal ge¬
ſetzt. Der Dichter des Don Juan ſtarb in Newyork in einem
Hoſpitale. —
Wir begleiten nun unſern Helden auf ſeinem letzten Gange in
Amerika. Er eilt von dem Geſandtſchaftshotel in der Whitehallſtreet
nach der Stateſtreet, ſchneidet die Nordſeite der Battery und lenkt nach
einer kurzen Strecke in der Waſhingtonſtreet der Weſtſtreet zu, dem
Landungsplatz der Bremer-, Hamburger- und Havrer-Schiffe. Als er
über die Battery ging, bot ihm ein grauſiger Anblick den letzten Abſchieds¬
gruß. Schon aus der Ferne ſah er an einem Baume des Parks die
langgeſtreckte Geſtalt eines Menſchen hängen. Er vermuthete, jener
Unglückliche ſei's, den er zuvor über den Broadway herab verfolgen
geſehen. Als er näher kam, erkannte er in der Leiche eine Geſtalt aus
Kleindeutſchland. Es war der Schriftſetzer Henning. —
Im Geleite aller Furien erreichte Moorfeld den Landungsplatz. Endlich
ſchaukelt ihn die Jolle, die ihn an Bord des Riego bringt. Endlich
beſteigt er die Bretter, die in einem andern Sinne die Welt bedeuten,
denn ſie führen gleich dem Ideale erlöſend von Zone zu Zone, und
nur durch die Schifffahrt lernt die Menſchheit ihr eigenes Ich kennen.
Die öffentliche Unordnung hatte die Einſchiffung vieler Paſſagiere
verſpätet und auch Moorfeld ließ noch vom Schiffe aus ſein Reiſegut
abholen. Alle übrigen Vorgänge waren für ihn die Phantasmagorie
eines Traumes. Er hörte die Paſſagiere in den mannigfachſten
Sprachen, Anſichten und Parteinahmen die Schandthat dieſes Tages
beſprechen, er hörte das Praſſeln des Stadttumults aus der Ferne,
und unterſchied namentlich einen Augenblick, in welchem ein ſtarkes,
heftiges Gewehrfeuer lauter als je aufloderte, was ohne Zweifel die
Ankunft der Philadelphia-Schützen bedeutete: er ſah und hörte und —
ſehnte ſich nach der Alles verſchlingenden Betäubung der Seekrankheit.
Nach einer dumpfdurchharrten Stunde fing die Maſchine zu arbeiten
an, das Boot ſetzte ſich in Bewegung — hinaus ging's. Mit jeder
Achſenumdrehung des Rades verlor die Stadtanſicht Newyorks an
Beſtimmtheit der Umriſſe. Die Luft war grau und nebelſchwer und
[503] tauchte ſchlammfarbig, wie in die Hefe eines Lethe, das verſchwindende
Stadtbild ein. Zuletzt blieb nur noch die Rauchſäule von Klein¬
deutſchland übrig, die von der bleiernen Luft nach unten und in die
Breite gedrückt, als ein trüber, häßlicher Klecks zwiſchen Himmel und
Erde hing. Es war in der Nähe der Narrows, wo ein ankommendes
Auswandererſchiff am Riego vorbeidampfte. Das dichtgedrängte Verdeck
erblickte dieſe Rauchſpur des eingeäſcherten Kleindeutſchlands, hundert
Hände wieſen ſich's einander als das erſte Zeichen Newyork's und aus
hundert deutſchen Kehlen donnerte der Jubelruf in die Luft:
„Vivat das freie Amerika!“
Appendix A Druckfehler.
Seite 48 Zeile 8 v. o. ſtatt Iotuition lies: Intuition.
„ 158 „ 7 „ „ „ verſchobene l. verſchrobene.
„ 161 „ 4 „ „ „ überraſchte l. überraſche.
„ 175 „ 11 „ „ „ fernen l. ferneren.
„ 181 „ 4 „ u. „ müßte l. mußte.
„ 183 „ 6 „ „ „ oberſten Erker l. oberen Ecken.
„ 187 „ 10 „ o. „ überraſchte l. überraſche.
„ 189 „ 14 „ „ „ Miß l. Miſtreß.
„ 192 „ 4 „ u. „ Habitue l. Habitué.
„ 195 „ 7 „ „ „ Dandy's l. Dandie's.
„ 206 „ 6 „ „ „ die Art für die Gattung l. die Gattung füür
die Art.
„ 212 „ 18 „ „ „ Caſtel l. Caſtle.
„ 231 „ 11 „ o. „ Cöleſtinens l. Cöleſtens.
„ 236 nach der letzten Zeile unten lies: Phantaſie wird eine ſchwache Voor¬
ſtellung jener Tempelhalle haben, der ſchönſten, welche je ddie
Natur an irgend einem Punkte der Erde ſich.
„ 259 Zeile 6 v. o. ſtatt Griswald lies Griswold.
„ 261 „ 12 „ „ „ geſtigen l. geiſtigen.
„ 269 „ 7 „ „ „ doch l. noch.
[]
Appendix B
Im Verlage von J. P. Diehl in Darmſtadt iſt erſchienen und
durch alle Buchhandlungen zu erhalten:
Geſchichte
der engliſchen Poeſie.
Von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Von Dr. Alexander Büchner.
50 Bogen in 2 Thln., broſchürt, Rthlr. 2. oder fl. 3. 36 kr.
Der Verfaſſer, durch ſeine Ueberſetzung von Byron's Childe Harold
rühnhmlichſt bekannt, ſchildert in vorſtehend angezeigtem Werke mit ebenſoviel
Gründlichkeit und Klarheit als zweckmäßiger Kürze den Charakter der ein¬
zelnen Epochen, der Dichter und ihrer Werke ſo lichtvoll, anziehend und
belehrend und theilt den Inhalt der Dichtungen ſo unterhaltend und
bezeichnend mit, daß den Leſern ſich in friſcher Lebendigkeit ein Bild der
engliſchen Poeſie darſtellt, das Ueberblick und Urtheil in vollem Maaße geſtattet.
Im Verlage von Victor v. Zabern in Mainz erſchien ſoeben
die z zzweite vermehrte und genau revidirte Auflage von:
Jac. Moleſchott,
der Kreislauf des Lebens.
Phyſiologiſche Antworten auf Liebig's chemiſche Briefe.
32 Bogen eleg. geheftet fl. 3. 54 kr. oder Rthlr. 2. 8 gr.
Inhaltsverzeichniß.
An Juſtus Liebig.
1. Brief: Offenbarung und Naturgeſetz.
2. " Erkenntnißquellen des Menſchen.
3. " Unſterblichkeit des Stoffs.
4. " Das Wachsthum von Pflanzen und Thieren.
5. " Die Erde als Werkzeug der Schöpfung von Pflanzen und
Thieren.
6. " Kreislauf des Stoffs.
7. " Die Pflanze und der Boden.
8. " Pflanzen und Thiere.
9. " Ernährung und Athmung.
10. " Entwicklung der Nahrung im Thierkörper.
11. " Aſche der Thiere und Menſchen.
12. " Rückbildung im Thier.
13. " Rückbildung in der Pflanze.
14. " Die Wärme von Pflanzen und Thieren.
15. " Die allmählige Entwicklung des Stoffs.
16. " Der Stoff regiert den Menſchen.
17. " Kraft und Stoff.
18. " Der Gedanke.
19. " Der Wille
20. " Für's Leben.
Anmerkungen.
Appendix C Im Verlag von Hermann Coſtenoble in Leipzig erſchien:
Nach Amerika!
Ein Volksbuch
von
Friedrich Gerſtäcker.
Illuſtrirt von Theodor Hoſemann.
In 12 Heften. Jedes Heft mit 2 Illuſtrationen.
Preis für jedes Heft 16 Sgr.
Alljährlich verlaſſen mehr und mehr Deutſche aus allen Ländern das
Vaterland um „Nach Amerika“ zu gehen und ſich dort eine neue Hei¬
math zu gründen; es gibt jetzt faſt keine Familie, von der nicht irgend
ein Glied in der neuen Welt ſein Heil geſucht, wenn auch nicht immer
gefunden hätte.
Das Intereſſe für Amerika, wie für das Schickſal unſerer Landsleute
dort, wächſt dadurch faſt täglich in allen Kreiſen des Vaterlandes, und
doch iſt dies Intereſſe noch recht ſelten zur Unterhaltung, Belehrung und
Aufklärung des deutſchen Publikums benutzt werden.
Der allgemein beliebte und an eignen intereſſanten Erlebniſſen un¬
zweifelhaft reichſte und dazu geeignetſte Schriftſteller Deutſch¬
lands hat es deßhalb unternommen, uns eine treue Schilderung von Per¬
ſonen und Zuſtänden aus allen Klaſſen der Geſellſchaft, in
unterhaltender erzählender Form zu geben, welche aus den verſchieden¬
artigſten Gründen das Vaterland verließen.
Wir werden dieſe Leute mit ihren ſich oft kreuzenden Intereſſen aus
der Heimath in die deutſche Hafenſtadt und auf das Schiff begleiten, um
ſie endlich in den häufig entgegengeſetzteſten Situationen und Verhältniſſen
in Amerika wieder zu finden. Wir werden ſie begleiten mit unſerer Auf¬
merkſamkeit bis in den fernen Weſten Amerika's, auf ihre Farm, in die
ſtille Werkſtatt des Handwerkers, in die geräuſchvolle Fabrikſtadt der Union,
oder wohin ſonſt unſere Landsleute das Schickſal und ihre eigne Hand¬
lungsweiſe ſie führen werden.
In der Dieterichſchen Buchhandlung in Göttingen iſt erſchienen
und als Weihnachtsgeſchenk beſonders zu empfehlen:
Hogarth's Werke
von H. Riepenhauſen.
Neue Ausgabe vonH. Lödel.
Mit Lichtenberg's Text.
Liefrg. 1–12. Subſcriptionspreis 10 Rthlr.
Die reichen, charaktervollen, ewig wahren Lebensbilder dieſes See¬
len-Malers werden überall lebhaftes Intereſſe erregen. Die gefällige Aus¬
ſtattung und der mäßige Preis macht die Werke Hogarth's zu einem Ge¬
meingut der gebildeten Welt.
Appendix D
Druck von Auguſt Oſterrieth in Frankfurt a. M.
fingen!
ich Sie begrüße?
Ah, Sie ſind kein Amerikaner, mein Herr, — um Gotteswillen, ein Glas Wein!
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der Amerika-Müde. Der Amerika-Müde. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmw7.0