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Ein Lehrgedicht



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Die
Weisheit des Brahmanen,
ein Lehrgedicht in Bruchſtücken.


Zweites Bändchen.

Leipzig,:
Weidmann'ſche Buchhandlung.
1837.
[][[1]]

V.


Rückert, Lehrgedicht II. 1
[[2]][[3]]

1.


Mannhafte Poeſie iſt was ich hier, o Sohn,

Dir bringe, denn du haſt die knabenhafte ſchon.

Mannhafte Poeſie, die Grundſatz und Gedanken

Fuͤhrt gegen Fantaſie und Traumwerk in die Schranken:

Das Kindermaͤrchen aus der Vorzeit Ammenſtuben,

Von Saͤngern, Koͤnigen, Rittern und Reutersbuben;

Voruͤber tanzte dir der bunte Spuk, woruͤber

Du einſt dich freuteſt, freu dich nun, das iſt voruͤber.

Nicht ſtehen bleiben ſollſt du mir beim Knabenhaften;

Wer werden will ein Mann, darf nicht am Knaben haften.
1*
[4]

2.


Zum Feſttiſch ſoll man Aufgewaͤrmtes nicht auftiſchen,

Mit friſcher Speiſe ſoll man friſche Gaͤſt' erfriſchen.

Doch aufgewaͤrmt iſt nicht, was von der Vorzeit Tiſch

Uns zukam; immer bleibt die Paradisfrucht friſch.

3.


Des Bechers ſchoͤnſter Platz iſt in des Trinkers Hand,

Und nur ein ſchoͤnrer noch an ſeiner Lippen Rand.

O waͤre ſo mein Buch ein Becher jede Stunde,

Bald in des Freundes Hand und bald in ſeinem Munde.

4.


Der Menſchheit Groͤßtes moͤcht' ich euch im Spiegel zeigen,

Und ihr Geringſtes auch im Bilde nicht verſchweigen.

Denn manche werden durch des Großen Vorbild frei,

Und manche troͤſten ſich, daß ſchoͤn auch Kleines ſei.
[5]

5.


Ein anſpruchvolles Buch will im Zuſammenhang

Geleſen ſeyn, und macht euch ſchwer den langen Gang.

Dis anſpruchloſe macht die kurzen Gaͤng' euch leicht;

Denn wo ihr ſtillſtehn wollt, habt ihr ein Ziel erreicht.

6.


Ein Bruchſtuͤck, welches auf ſein Ganzes ſich beſinnt,

Ergaͤnzung immer ſucht, und nimmer ſie gewinnt:

So findet ſich der Menſch, wie er wird ſein bewußt;

Und an den Menſchen knuͤpft den Menſchen dieſe Luſt.

Ein Ganzes werden nie Bruchſtuͤcke groß und klein;

Ergaͤnzung findet doch die Welt in Gott allein.
[6]

7.


Es iſt ein altes Wort, die Seele ſei ein Licht,

Das alles um ſich her erleuchtet, ſich nur nicht.

Von ſeinem Glanze wird die Schoͤpfung dir erſchloſſen,

Allein des Lichtes Kern bleibt deinem Blick verſchloſſen.

Als wie die Sonne rings mit tauſend Stralen ſieht,

Wenn ihren Anblick ſelbſt dir ein Gewoͤlk entzieht.

Zwar vor der Sonne wird der Wolkenflor zerrinnen;

Und wird vorm Geiſte ſo die Nacht auch gehn vonhinnen?

Vonhinnen gehet ſie, du ſchauſt das Licht der Wonne,

Und ſiehſt, geblendet, nichts, als ſaͤhſt du in die Sonne.

8.


Das Gluͤck des Mannes kann nicht Etwas ſeyn, o Sohn,

Wo einer wenig hat und einer viel davon.

Das Gluͤck muß etwas ſeyn wie Luft und Licht und Leben,

Das allen allgemein, iſt allen gleich gegeben.

[7]
Nicht Reichthum kann es ſeyn und Macht und ſolche Gaben,

Wovon den einen fehlt ſoviel die andern haben.

Nicht Weisheit kann es ſeyn und Kunſt, zu deren Stufen

Die wen'gen kommen, die beſonders ſind berufen.

Nur gut ſeyn ohne Groll iſt hoͤchſtes Gut des Manns,

Weil gut ſeyn jeder ſoll, und wer es will, der kanns.

9.


Wenn du nur die Natur, wenn du nur die Geſchichte

Befragteſt, was dir die und die von Gott berichte;

In manigfacher Kraͤft' und ew'gen Streits Urkunden,

Viel Goͤtter haͤtteſt du, nicht Einen Gott, gefunden;

Und wenn nicht mehrere, doch ſtatt des Einen Zwei,

Wovon der eine gut, der andre boͤſe ſei.

In dir nur findeſt du, nicht in der Welt Getoͤſe,

Daß Einer nur iſt gut, und nichts durch ihn das Boͤſe.
[8]

10.


„Dir ſcheinet heute dis, und jenes ſcheint dir morgen;

Das Wahre, wie es ſcheint, bleibt immer dir verborgen.“

O nein, bald ſeh' ich den, bald ſeh' ich jenen Glanz;

Das vielgetheilte Licht wird nur im Wechſel ganz.

11.


Von ſo viel Lehrern ſcheint mir jeder Recht zu haben;

Als Manne geht es mir, wie es mir gieng als Knaben.

Dort war ich Schal' und Kern zu ſondern nicht im Stande,

Nun unterſcheid' ich gern die Wahrheit vom Gewande.

12.


Gar mancher haͤtte Recht, wenn man ihn recht verſtaͤnde;

Und man verſtaͤnd' ihn, wenn das rechte Wort er faͤnde.

Wir aber wollen, ſtatt beim Wort ihn ſtreng zu faſſen,

Nachſehn, was Gutes ſich dabei mag denken laſſen.
[9]

13.


Oft dient ein Irrthum nur den andern wegzuraͤumen;

Wir ſehn der Wahrheit Spur, wo mag ſie ſelber ſaͤumen?

Ein neues Vorurteil muß uns von alten heilen;

Wer aber macht uns heil von neuen Vorurteilen?

14.


Ein Doppelbuͤndelein hat jeder Mann empfangen,

Das er halb vorn herab und halb laͤßt hinten hangen.

Die Fehler traͤgt er vorn, die ſeinen Naͤchſten ſchmuͤcken,

Doch ſeine eigenen ſind ſchwer auf ſeinem Ruͤcken.

So ſieht er immer die der andern, ſeine nie,

Allein es gleicht ſich aus: die andern ſehen ſie.
[10]

15.


Haſt du den Wunſch erreicht, daß er nicht mehr entweicht,

O jauchze nicht! ein Weh lauſcht hinter ihm vielleicht.

Denn ſiehſt du? ſticht der Dorn des Knaben Finger nicht

Gerad im Augenblick, wo er die Roſe bricht?

16.


Gleich einer Herberg' iſt die Welt, in der am Abend

Ein Reiter kehret ein, am Morgen weiter trabend.

Gleich einer Blume iſt die Luft der Welt, die fruͤhe

Erbluͤhet, und nicht ahnt, daß ſie vor Nacht verbluͤhe.

17.


Was dieſe Welt dir giebt, was dieſe Welt dir nahm;

Macht dir das eine Luſt, macht dir das andre Gram?

Was ſie dir gab, davon mußt du einſt Rechnung legen;

Was ſie dir nimmt, dein Lohn dafuͤr iſt Gottes Segen.
[11]

18.


Dem Manne ſteht es an, zu thun ſoviel er kann;

Was zuthun mag das Gluͤck, das liegt nicht an dem Mann.

Wenn er das Gluͤck beſiegt, wird ſeinem Muth gehuldigt;

Und wenn er unterliegt, ſo iſt er wohl entſchuldigt.

19.


Ein Gluͤck, das ploͤtzlich kam, wird ploͤtzlich wieder gehn;

Das langſamer gereift, wird laͤnger es beſtehn?

Nein! ohne Dauer iſt hier jede Bluͤt' im Garten,

Und unverwelklich bluͤht nur das, was wir erwarten.

Laß jedes Gluͤck verbluͤhn, wenn dir nur eines bleibt,

Die Hoffnung, die am Zweig ſtets neue Knoſpen treibt.
[12]

20.


Der Zweifel treibt dich an, der Zweifel macht dich ſtocken,

Er dient zu hemmen dich, und vorwaͤrts dich zu locken.

Der vorwaͤrts treibende nie ruhende iſt gut,

Schlimm iſt der ſtockende verſtockte Zweifelmut.

Daß etwas Gutes ſei und Schoͤnes zu erſtreben,

Dem Guten wird darob kein Zweifel ſich erheben.

Daß etwas Gutes ſchon erſtrebt und Schoͤnes ſei,

Dem Beſten wohnt darob der groͤßte Zweifel bei.

Zu immer hoͤhern Hoͤhn giebt dir der Zweifel Schwung,

Doch in den Abgrund ſtuͤrzt dich die Verzweifelung.

21.


Was unterſcheidet Kunſt von Wiſſenſchaft? Das Koͤnnen;

Dem muß den Vorrang doch das ſtolze Wiſſen goͤnnen.

Wohl weiß die Wiſſenſchaft, wie etwas ſollte ſeyn,

Doch machen kann ſie's nicht, das kannſt du, Kunſt, allein.
[13]

22.


Wag' es wenn du's vermagſt, von beiden Lebensſfaͤren

Die hier fuͤr Schein, die dort fuͤr Wahrheit zu erklaͤren!

Und ſieh die Wirklichkeit fuͤr einen Schatten an,

Der dort vom fernen Licht ſich ſtreckt zu dir heran!

Dagegen laß nur auch dem andern ſeinen Glauben,

Der dieſe Wirklichkeit ſich nicht will laſſen rauben,

Und ſelbſt das Ewige fuͤr einen Schatten haͤlt,

Der von dem Sinnlichen hinaus ins Leere faͤllt.

Du kannſt den Schatten hier nicht leugnen, der dich neckt,

Und er dort jenen nicht, der ihm ein Grauen weckt.

Ihr theilet beide gleich die Welt in Licht und Schatten,

Und tauſcht die Namen nur, wer will's euch nicht geſtatten?
[14]

23.


Der Mond rollt um die Erd', und um die Sonne ſie,

Und die um hoͤhere Sonn', und um noch hoͤhere die!

Und immer weiter ſo, und immer weiter nur?

In der Unendlichkeit verliert der Geiſt die Spur.

Unendlich ſei die Kraft, unendlich ſei das Leben,

Doch nicht unendlich ſei der Raum deswegen eben.

Was waͤr' Unendlichkeit die aͤußerliche ſo?

Der innerlichen nur des Geiſtes bin ich froh.

Jenſeit der Koͤrperwelt muß eine Lichtwelt ſtehn,

Aus der ſie niederſank, in die ſie auf will gehn.

Die Sonnen leuchten nicht von ihrem eignen Lichte,

Sie leuchten von dem Licht auf Gottes Angeſichte.

Licht iſt das geiſtige Kleid, das dieſe Welt umfließt,

Das ſich an jedes Glied des großen Leibes ſchließt.

Dis geiſtige Netz, gewebt aus Gottes Liebesblicken,

Will immer bruͤnſtiger die Koͤrperwelt umſtricken.

[15]
Und jedes Glied ſchließt an ein hoͤheres ſich an,

Durch deſſen Zug es will gezogen ſeyn hinan.

Zu Sonnen werden, die ſich ſtark im Licht verklaͤren,

Von deren Ausfluß dann die ſchwaͤcheren ſich naͤhren.

Doch wie ſie nach dem Saum des Lichtes ewig greifen,

Zu Sonnen werden auch die letzten endlich reifen.

Und was auf ihnen iſt, reift durch der Sonnen Kraft,

Die Welt wird durch und durch mehr und mehr ſonnenhaft.

O Geiſt, mit dieſem Thau mußt du dich auch befeuchten,

Wenn du in dieſem Bau mit willſt als Sonne leuchten.

24.


„Der Welt Grunduͤbel“ nennt den leeren Raum ein Weiſer;

Und widerſprechen wird kein Bettler und kein Kaiſer.

Des Beutels leerer Raum, der leere Raum des Magens,

Iſt jedes Uebels Grund und jedes Unbehagens.

[16]
Ob leer kein Weltraum ſei vom Glanze der Geſtirne,

Iſt mehr als einer doch in mehr als einem Hirne.

Manch leeren Raum hat auch manch uͤbervolles Buch,

Wie dieſen hier, den fuͤllt vom leeren Raum der Spruch.

25.


Die Koͤrperwelt bedarf des Lichtes, um Geſtalten

In immer reicherer Entwicklung zu entfalten.

Die Geiſter, die im Stoff gefangen, werden frei,

Nur wo der freieſte traͤgt zur Befreiung bei.

Das Licht hinwieder auch bedarf der Koͤrperwelt,

Weil Manigfaltigkeit es nur durch ſie erhaͤlt.

Denn es iſt einfach eins und ſtrebt zu ſcheinen vieles,

Das iſt der Zweck des mit der Welt getriebnen Spieles.

Zu ſieben Farben wirds an jedem Wolkenſaum,

Und tauſendfache Bluͤt' und Frucht an jedem Baum.

Es freut ſich ſeines Spiels, und ihm zum Spiel zu dienen

Freut ſich die Welt, und wir freun billig uns mit ihnen.
[17]

26.


„Was machſt du an der Welt? ſie iſt bereits gemacht.“

Um deine Freiheit hat dich dieſer Spruch gebracht.

Ja, fertig wenn die Welt gemacht waͤr' und vollendet,

Verloren waͤr' an ihr dein Ringen und verſchwendet.

Doch ſie iſt nicht gemacht, du ſollſt ſie helfen machen,

Und dazu hat die Kraft dir Gott verliehn, dem ſchwachen.

Nicht fertig iſt die Welt, ſie iſt im ew'gen Werden,

Und ihre Freiheit kann die deine nicht gefaͤrden.

Mit todtem Raͤderwerk greift ſie in dich nicht ein;

Du biſt ein Lebenstrieb in ihr, groß oder klein.

Sie ſtrebt nach ihrem Ziel mit aller Geiſter Ringen,

Und nur wenn auch dein Geiſt ihr hilft, wird ſie's erringen:

Sie ſetzt dir Schwierigkeit entgegen zwar und Schranken;

Doch, raͤumt dein Geiſt ſie weg, ſo wird ſie dir es danken.
[18]

27.


Ich, der Gefangne, der mit ſeinen Ketten ſpielt,

Der blinde Schuͤtze, der nach hohem Ziele zielt;

Der, Geiſtern anverwandt, ans Thier gebundene,

Sich ſelber ſuchend, ſtets ſich ſelbſt entſchwundene;

Der nicht weiß, was er iſt, war oder werde ſeyn:

Was waͤr' ich denn, wenn ich nichts waͤr' als ich allein?

Ich bin auch du, weil du das biſt, was in mir iſt;

Ich bin mehr als ich bin, weil du mein Alles biſt.

28.


Ob eine Wahrheit iſt in dieſer falſchen Welt,

Ich weiß nicht; minder noch, wo ſie verſteckt ſich haͤlt.

Daß eine Wahrheit war, ſchließ' ich aus ihrem Namen,

Denn war und Wahrheit ſcheint erſproßt aus gleichem Samen.

Doch wenn ſie einmal war, wird ſie dort ewig ſeyn,

Wo alles iſt was war, dort geht ſie aus und ein.

[19]
Dort werd' ich einſt ſie ſehn in eigenſter Geſtalt:

Jetzt ſcheint ihr Licht von dort herab durch Wolkenſpalt.

Sie iſt die Sonne, die nicht ſelbſt zur Erde kommt,

Doch iſt in ihrem Schein, was uns zum Leben frommt.

Wie iſt der Wahrheit Schein genannt? Wahrſcheinlichkeit,

Damit behelfen wir uns vorderhand zur Zeit.

29.


Dein Amt, Gebildeter, und deine Aufgab' iſt,

Ausſprechen was du fuͤhlſt, darſtellen was du biſt.

Denn Alles in der Welt ringt ſich zu ſtellen dar,

Und ſpricht ſich unklar aus, du aber ſollſt es klar.

Aufklaͤren ſollſt du uns dis Dunkel, und erklaͤren,

Wie ſchoͤn die Dinge, wenn wir klar ſie ſaͤhen, waͤren.
[20]

30.


Die Sinne luͤgen nicht, ſchwach aber ſind die Sinne;

Wir werden nicht durch ſie des Dinges Innres inne.

Wir ſehn vom Aeußern auch die eine nur der Seiten,

Und die undeutlich ſelbſt, wenn wir ſie ſehn vom weiten.

Bei weitem ſehen wir dem Ding nicht alles an,

Doch alles, was daran wir ſehn, iſt wirklich dran.

31.


Am Dinge zweifeln kannſt du, was und ob es ſei;

An deinem Ich faͤllt dir gewis kein Zweifel bei.

Dis iſt der Ausgangspunkt: ſei deiner nur gewis!

Zu allem Wiſſen kommſt du ſo ohn Hindernis.
[21]

32.


Das Ding iſt außer dir, weil du von dir es trennſt,

Doch iſt es auch in dir, weil du's in dir erkennſt.

Gedoppelt alſo iſt das Ding und zwiegeſtaltig,

Im Widerſpruch mit ſich erſcheint es dir zwieſpaltig.

Doch durch den Widerſpruch hebt es ſich auf mitnichten;

Es fordert dich nur auf den Widerſpruch zu ſchlichten.

Du magſt das innre Ding ein Bild des aͤußern nennen,

Oder das aͤußre fuͤr das innere Bild erkennen.

Ein Spiegel biſt du nicht allein der Welt, ſie iſt

Ein Spiegel auch, darin du ſelbſt dich ſchauend biſt.

33.


Dort wo das Wiſſen mit dem Seyn zuſammenfaͤllt,

In dem Bewußtſeyn iſt der Mittelpunkt der Welt.

Nur im Bewußtſeyn was du findeſt, iſt gefunden,

Wo ſich ein Aeußeres dem Inneren verbunden.

[22]
Nur im Bewußtſeyn wenn dir Gott iſt aufgegangen,

Haſt du ihn wirklich, und geſtillt iſt dein Verlangen.

Du haſt ihn nicht gedacht, er ward dir nicht gegeben,

Er lebt in dir, und macht dich und die Welt dir leben.

34.


Ich bin der Geiſterſonn' ein ausgeſandter Stral,

Und ſolcher Stralen ſind unzaͤhlbar eine Zahl.

Wir ſind der Sonne Glanz zuſammen alzumal,

Doch iſt ein eigen Licht fuͤr ſich ein jeder Stral.

O Wunder, Eine Sonn' iſt Alles alzumal,

Und ganz die große Sonn' in jedem kleinſten Stral.

35.


Ich ſeh' auf dieſer Stuf', auf der ich bin geſtellt,

Nichts, wenn mein Blick ſich hebt, viel, wenn er abwerts faͤllt.

Tief ſeh' ich unter mir, und tiefer ſtets hinunter,

Ein reges Lebensheer, ein Wimmeln ewig munter.

[23]
Doch wenn ich blick' empor, ſo ſeh' ich nichts als Licht;

Reicht, die hinunter reicht, die Leiter aufwerts nicht?

Wol reicht ſie auch hinauf, wol werden zwiſchen mir

Viel hoͤhre Weſen ſtehn und, Hoͤchſtes, zwiſchen dir.

Allein ich ſeh' ſie nicht, von deinem Licht geblendet,

Das ſeine Kraft mir nur zum Niederblicken ſendet.

In tauſend Bildern ſeh' ich hier dein Bild gewoben,

Das troͤſtet mich, daß ich dich ſelbſt nicht ſehn kann droben.

36.


Gott iſt von keinem Raum, von keiner Zeit umzirkt,

Denn Gott iſt da und dann, wo er und wann er wirkt.

Und Gott wirkt uͤberall, und Gott wirkt immerfort;

Immer iſt ſeine Zeit, und Ueberall ſein Ort.

Er iſt der Mittelpunkt, der Umkreis iſt Er auch,

Weltend' und Anfang iſt ſein Wechſelauseinhauch.
[24]

37.


Wol der Gedanke bringt die ganze Welt hervor,

Der, welchen Gott gedacht, nicht den du denkſt, o Thor.

Du denkſt ſie, ohne daß darum entſteht die Welt,

Und ohne daß, wenn du ſie wegdenkſt, ſie wegfaͤllt.

Aus Geiſt entſtand die Welt, und gehet auf in Geiſt,

Geiſt iſt der Grund, aus dem, in den zuruͤck ſie kreiſt.

Der Geiſt ein Aetherduft hat ſich in ſich gedichtet,

Und Sternennebel hat zu Sonnen ſich gelichtet.

Der Nebel hat in Luft und Waſſer ſich zerſetzt,

Und Schlamm ward Erd' und Stein, und Pflanz' und Thier zuletzt,

Und menſchliche Geſtalt, in der der Menſchengeiſt

Durch Gottes Hauch erwacht, und Ihn, den Urgeiſt, preiſt.
[25]

38.


Was iſt die Schoͤnheit, Herz? das Spiegelbild der Liebe.

Die Liebe fuͤhlte Schmerz, daß ungeliebt ſie bliebe.

Die Thraͤne, die ihr quoll, mußt' ihr zum Spiegel dienen;

Sie kannte ſelbſt ſich nicht, wie ſie ſich drin erſchienen.

Sie rief: O ſchoͤn! Und Schoͤn heißt ſeitdem dieſes Bild,

Das aus dem feuchten Grund des Liebeſpiegels quillt.

Der Spiegel und das Bild darin iſt uns geblieben;

Und wer die Schoͤnheit ſieht, der muß die Schoͤnheit lieben.

39.


Das Schoͤne ſtammet her vom Schonen, es iſt zart,

Und will behandelt ſeyn wie Blumen edler Art;

Wie Blumen vor dem Froſt und rauher Stuͤrme Drohen

Will es geſchonet ſeyn, verſchont von allem Rohen.
Rückert, Lehrgedicht II. 2
[26]

40.


Was du verſteheſt, reizt dich wenig; was du nicht

Verſtehſt, ſpricht dich nicht an; was willſt du vom Gedicht?

Du willſt mit Recht, es ſei verſtaͤndlich-unverſtaͤndlich,

Vollendet an Geſtalt, doch an Gehalt unendlich.

41.


Die Abendroͤthe kam, und ſah zum Tod ermattet

Das Leben, Schlummer half, und ſanft ward es beſtattet.

Die Nacht im Trauerflor, die dunkle Klagefrau,

Gieng hinterdrein, und weint' aus Sternen kalten Thau.

Doch Morgenroͤthe kam heran mit gluͤhnden Wangen,

Und rief: Wo iſt mein Kind? ich gluͤh' es zu umfangen.

Geſtorben! rief die Nacht mit letztem Thraͤnenguß.

Da weckt' es raſch vom Schlaf der Morgenroͤthe Kuß.

[27]
Die holde Mutter ſprach: O duͤrft' ich bei dir bleiben!

Doch ſchon die Sonne flammt, von dir mich zu vertreiben.

Leb' wohl! auch dieſen Tag und jeden mußt du ſterben,

Doch neues Leben ſtets von meinem Hauch erwerben.

42.


Die Erde ſteht nie ſtill auf ihrer Sonnenreiſe,

Du kannſt nicht ſtille ſtehn in deinem Sterbekreiſe.

Du ferneſt dich von Gott, ſobald du ihm nicht nahſt,

Und fuͤhleſt deine Schuld, Herz, wann du Winter haſt.

43.


Was hat dich, Geiſt, vermocht aus Gott hervorzuwallen?

Er hat dich nicht verbannt, du biſt nicht abgefallen.

Die Liebe nur hat dich, die Liebe dich vertrieben,

Er wollte, daß er dich, daß du ihn koͤnnteſt lieben.

Waͤrſt du nicht außer ihm, wie koͤnntſt du ſuchen ihn?

Waͤr' er nicht außer dir, wie koͤnnt' er an dich ziehn?
2*
[28]

44.


Warum oft gluͤcklich ſtatt des Guten ſei der Boͤſe?

Die Frage frageſt du, und willſt, daß ich ſie loͤſe.

Den Knoten loͤſ' ich nicht, ich hau' ihn ſo entzwei:

Daß nie der Boͤſe ſtatt des Guten gluͤcklich ſei.

Er iſt begluͤckt, wenn er ein Gluͤck weiß zu verdienen,

Das einem Beſſern nicht des Dienſtes werth geſchienen.

Er iſt anſtelliger, arbeitſamer vielleicht,

Und billig wird der Lohn dem Fleißigen gereicht.

Es iſt der Erde Lohn, der mit ihm wird begraben;

Der Gute nur wird den des Himmels ewig haben.

45.


Du ſagſt: „die Tugend darbt, indem das Laſter praſſet.“

Haſt du der Tugend Werth ſo niedrig aufgefaſſet?

Iſt Ueberfluß ihr Lohn? der Lohn iſt uͤberfluͤſſig.

Die Tugend aber darbt mit Recht, wenn ſie iſt muͤßig.

[29]
Den Lohn der Arbeit, Brot, verdient der Boͤſewicht,

Wenn er die Meerflut pfluͤgt, wenn er das Feld umbricht.

Willſt du ihn, frommer Mann, verdienen, reg dich friſch!

Wo nicht, ſo nimm fuͤrlieb mit Duft vom Goͤttertiſch.

46.


Der Weiſe ſollte ſeyn ein Koͤnig, und zum Lohne

Der Weisheit tragen ſollt' er auf dem Haupt die Krone.

Doch ſoviel Weiſe giebts, wir hoffen's, in den Landen,

Daß Koͤnigſtellen gnug dazu nicht ſind vorhanden.

Auch Schade waͤr' es um den Weiſen, wenn ein Kaiſer

Er oder Koͤnig wuͤrd', und bliebe nicht ein Weiſer.

Doch ſollt' ein Koͤnig nur allein der Weiſe ſeyn,

Der's auch als Koͤnig blieb, das Koͤnigthum gieng' ein.
[30]

47.


Zuſammen traten einſt Gewalt und Macht und Staͤrke,

Gemeinſchaftliche Hand anlegend einem Werke.

Mit Waffen die Gewalt, die Staͤrke mit dem Arm

Geruͤſtet, und die Macht mit einem Dienerſchwarm.

Doch waͤre nicht hinzu getreten auch die Kraft,

Waͤr' ihr geſammtes Werk geblieben ſtuͤmperhaft.

Nur wenig richten aus Gewalt und Macht und Staͤrke,

O Koͤnig, wo die Kraft des Geiſtes fehlt, das merke.

Denn goͤttlich iſt die Kraft, und weltlich jene drei;

Was kann die Erde thun, ſteht nicht der Himmel bei!

48.


Unkoͤniglicher doch iſt keine Eigenſchaft

Als Misgunſt, durch ſie wird ein Koͤnig bettelhaft.

Ein Bettler nur misgoͤnnt dem andern ein Stuͤck Brot,

Weil ſeinem Sack entgeht, was jenem dar ſich bot.

[31]
Ein Koͤnig aber braucht nichts einem zu misgoͤnnen,

Weil er nicht ſelber braucht, was andre brauchen koͤnnen.

Dem Koͤnig ſtehet an und ziemet Gunſt vor allen,

Und ſeine Ungunſt mußt du laſſen dir gefallen.

Doch ſeine Misgunſt iſt ein Daͤmon ſchadenfroh,

Der ſelber ihm misgoͤnnt, zu werden gnadenfroh.

49.


Die Untern bilden ſich nach ihrer Obern Bilde,

Zu Dumpfheit oder Sinn, zu Herbheit oder Milde.

Die Weiſen haben dis zur unbedingten Huldigung

Der Fuͤrſten nicht geſagt, noch zu des Volks Entſchuldigung.

Denn ſchlecht nicht muͤſſen ſeyn, die ſchlechtes Muſter haben,

Doch doppelt ſuͤndigen, die boͤſes Beiſpiel gaben.
[32]

50.


Ein Fuͤhrer kraͤftigt ſich am Anblick ſeiner Treuen,

Wie ihre Kraͤfte ſich an ſeinem Blick erneuen.

Sie geben ihm Vertraun, und er gibt ihnen Muth,

Sein Gut gibt er fuͤr ſie, und ſie fuͤr ihn ihr Blut.

Er fuͤhlt in ſeinem Arm von tauſenden die Macht,

Und tauſend Sinn' hat er auf einen Sinn gebracht.

Wo alſo Herr und Heer ſich fuͤhlet als ein Mann,

Kein Wunder iſt es wenn der Wunder wirken kann.

Aus lockerm Staube wird ein Erdwall aufgeſchuͤttet;

Sonſt wehte weg ein Wind, was jetzt kein Sturm zerruͤttet;

So feſt und ſtark iſt, was der Eintracht Kitt verkuͤttet.
[33]

51.


Wenn Du die Deinen fuͤhrſt, biſt du ihr Fuͤrſt zu nennen;

Fuͤhrſt du zum Guten an, wer wird zum Schlechten rennen?

Selbſtherrſcher iſt, wer ſich beherrſcht, ſein eigner Obrer,

Und wer ſich Herzen hat erobert, ein Erobrer.

52.


Die leichtſte Kunſt fuͤr dich iſt, Fuͤrſt, geliebt zu werden;

Nur liebreich brauchſt du dich, nur menſchlich zu geberden.

Viel ſchwerer faͤllt es euch, daß ihr verhaßt euch macht;

Und doch in dieſer Kunſt habt ihrs ſo weit gebracht.
[34]

53.


Ein ſchlimmes Treiben iſts, bei dem es nicht kann bleiben,

Wenn keiner bleiben will bei dem was er ſoll treiben;

Wenn jeder treiben will das was der andre treibt,

Nicht Schafe treiben will, weil jener Boͤcke treibt;

Nicht Moͤrtel reiben will, weil jener Farben reibt,

Nicht Zahlen ſchreiben will, weil jener Verſe ſchreibt;

Nur hoͤher treiben will, was jeder hoͤher treibt,

Nicht unten bleiben will, wenn einer oben bleibt.

Ein ſchlimmes Treiben iſts, bei dem es nicht kann bleiben;

Kein Bleiben iſt im Land, wo ſie es alſo treiben.
[35]

54.


Ein Schlechtes iſt, wenn kommt das Gute, leicht verdrungen;

Ein Leidliches nur wird vom Beſſern ſchwer bezwungen.

Denn Welt und Leben macht nicht Anſpruͤch' unbeſcheiden;

Solang es leidlich iſt, wie ſollten wirs nicht leiden?

55.


Das Mittelmaͤßige nur iſt des Guten Feind,

Das Schlechte nicht, weil Schlecht und Gut ſich nie vereint.

Das Schlechte laͤßt ſich nie dem Guten aͤhnlich drechſeln,

Sie ſehn ſich gar nicht gleich und ſind nicht zu verwechſeln.

Das Mittelmaͤßige dagegen, weil es zwiſchen

Gutem und Schlechtem liegt, droht beides zu vermiſchen.
[36]

56.


Ein alter Weiſer ſprach: Den Mann mag's auch erbauen,

Mit rechtem Sinne ſich im Spiegel zu beſchauen.

Sieht er ſein Antlitz ſchoͤn, ſo denk' er, etwas fehle,

Wo nicht ein ſchoͤner Geiſt die ſchoͤne Form beſeele.

Und wo Unlieblichkeit er ſieht in ſeinen Zuͤgen,

So huͤt' er ſich, hinzu unholden Sinn zu fuͤgen.

57.


Aus vier Grundſtoffen iſt gemiſcht die Koͤrperwelt,

Die als Grundſtimmungen dein Innres auch enthaͤlt.

Der Zorn iſt eine Glut, dem heißen Feuer gleich,

Die Traurigkeit wie Flut des Waſſers feucht und weich.

Die Luſt iſt wie die Luft, leicht, licht und wandelreich,

Die Furcht wie Erdengruft, ſchwer, dumpf und todtenbleich.

Laß deines Zornes Glut nie werden wilde Wuth;

Sie ſei ein ſteter Muth im Kampf fuͤrs hoͤchſte Gut.

[37]
Den Glutmuth daͤmpfe dir die Traurigkeit zur Demuth;

Schwimm, und verſchwimm nur nicht, in Sehnſucht und in Wehmuth;

Im Weh' iſt eine Wonn', und in der Luſt ein Leid;

Die reinſte Lebensluſt iſt Liebe ohne Neid.

Aus Furcht kommt Neid und Geiz und aller Selbſtſucht Pein;

In deinem Herzen ſei nur Gottesfurcht allein.

58.


Das Waſſer ſtrebt hinab, das Feuer ſtrebt hinauf,

Und zwiſchen beiden hat die Luft den ſtaͤten Lauf.

Die Erde aber ruht, geht weder auf noch nieder.

Das ſind des Weltgebaͤus nothwendige vier Glieder.

Dieſelben ſind in dir; dein Waſſer kommt von oben,

Und zu der Hoͤhe hat dein Feuer ſich erhoben.

Frei ſchwebet deine Luft, der Weltvermittlung Odem,

Und unerſchuͤtterlich ruht deiner Erde Bodem.
[38]

59.


Die Erd' im Schweſterchor kann wohl mit ihrem Loße

Zufrieden ſeyn, und du ſei's auch in ihrem Schoße!

Gemeſſen iſt ihr Theil nach gutem Mittelmaße,

Sie wandelt, ſich zum Heil, die goldne Mittelſtraße;

Der Sonne nicht ſo fern, um wie Saturn zu frieren,

Noch wie Merkur ſo nah, um drin ſich zu verlieren.

Du ſiehſt am beſten auch des Koͤnigs Angeſicht,

Nicht ganz und gar entfernt, doch alzu nahe nicht.

Und wenn ſie mit Gefolg wie Jupiter nicht ſchreitet,

So geht ſie auch wie Mars nicht voͤllig unbegleitet.

Ihr einer treuer Mond genuͤgt ihr zum Begleiter,

Und dir genuͤgt ein Freund, du braucheſt keinen weiter.
[39]

60.


Sieh, wie in einem Wort die Zukunft du vereinſt

Mit der Vergangenheit, in voreinſt und dereinſt.

Einmal geweſen iſts, und einmal wird es ſeyn,

Das Gluͤck, das niemals iſt, es iſt doch zweimal dein.

61.


Ein Reich des Friedens iſt, der Unſchuld einſt geweſen,

Und wieder wird vom Weh die Menſchheit einſt geneſen.

Fern in der Zukunft ſteht und in Vergangenheit

Das Heil, und troͤſtet uns im Unheil dieſer Zeit.

Gewis, es war einmal, und wird auch einmal werden,

Nur fragen laͤßt ſich, ob im Himmel, ob auf Erden?

Dort gnuͤgt' es ſelber mir zu meinem eignen Frommen,

Allein ich wuͤnſcht' es hier fuͤr die ſo nach mir kommen.
[40]

62.


Das Sehn hat man umſonſt, wenn nicht das Sprichwort luͤgt;

Verluſt iſt beim Beſitz: wohl, dem das Sehn genuͤgt!

Doch ſagt ein andres Wort! Vom Sehn wird man nicht ſatt;

Wohl dem, der vieles ſieht, und etwas eignes hat!

63.


In jeder neuen Lag' iſt freilich etwas ſchlimmer

Als in der alten, doch auch etwas beſſer immer.

Soll dir die neue Lag' ertraͤglich ſeyn, ſo ſchlag

Das Beßre richtig an, das Schlimmre ſtill ertrag.

64.


Sind wir zum Lebensmahl berufen, um zu faſten?

O nein! da waͤre ſchlimm bei unſerm Wirthe gaſten.

Zum Faſten lud uns nicht der Herr zu ſeinem Feſte,

Er freut ſich, daß des Mahls ſich freuen ſeine Gaͤſte.

[41]
Fuͤrlieb nur nehmen ſollt ihr, nicht euch uͤbernehmen,

Vertraͤglich jeder auch dem Nachbar ſich bequemen,

Mit ſinnigem Geſpraͤch des Wirthes Tafel wuͤrzen,

Und wenn ihr ſatt ſeid, euch zum Abzug dankbar ſchuͤrzen.

65.


O Seele, glaub es nicht, was jene Denker ſagen,

Beim Denken muͤße man ſich des Gefuͤhls entſchlagen.

Gefuͤhl ein Hindernis ſei auf des Denkers Spur,

Und ſelbſt das Schoͤne ſteh' im Licht dem Wahren nur.

Streng ſei vom reinen Thun des Geiſtes auszuſchließen

Der Sinn; alsob ſo Sinn und Geiſt ſich trennen ließen!

Ich weiß nicht was ſie ſo rein denkend vorgebracht,

Ich aber habe ſtets gefuͤhlt, was ich gedacht.
[42]

66.


Kind, lerne was du kannſt, und frage nicht, wozu

Einſt das Gelernte dient, fuͤr jetzo lerne du.

Das iſt der Vorzug den die Jugend hat im Lernen,

Daß ihr das Was ſteht nah, und das Wozu im Fernen.

Dem Alter nachundnach muß dieſer Muth verrauchen,

Zu lernen ohne Zweck, wozu es ſei zu brauchen.

67.


Wievieles Waſſer fließt in einem Strom zuſammen,

Und Holz wievielerlei geht auf in gleichen Flammen!

Wer zaͤhlt die Geiſter, die in einem Geiſt verſchwammen?

Das Rieſenkindlein ſaugt ſich groß an vielen Ammen.

Aus welchem Welttheil die und jene Blumen ſtammen,

In einem Garten ſtehn ſie alle ſchoͤn beiſammen.
[43]

68.


Zwei Sonnenſtrale, von der Sonne ausgegangen,

Vergaßen unterwegs, vonwannen ſie entſprangen.

Und haͤtten ſie es nicht vergeſſen, waͤren ſie

Zur Sonne heimgekehrt, gelangt zur Erde nie.

Zur Welt gelangten ſie, und wirkten da geſchaͤftig,

Sonnenvergeſſen zwar, wirkten ſie ſonnenkraͤftig.

Da kamen ſie ſich nah in ihrem Wirkungskreiſe;

Wer biſt du und woher? befragten ſie ſich leiſe.

Ich weiß es nicht, allein du ſcheinſt ein Fremdling mir;

So bin ich einer auch, ich fuͤhls, ich gleiche dir.

Und ſind wir Fremdlinge, wo iſt die Heimat nun?

Dahin zuſammen laß uns doch die Reiſe thun. —

Der Sonn' Erinnrung gieng in beiden Stralen auf,

Und freudig Hand in Hand nahmen ſie heim den Lauf,

[44]
Sich denkend unterwegs, daß jeder das gefunden

Im Blick des andern, was ihm ſelber war geſchwunden.

Wie ſollten ſie vereint zur Sonne nicht gelangen,

Die hier dem einen ſchon im andern aufgegangen?

69.


Du klageſt, daß die Welt ſo unvollkommen iſt,

Und fragſt, warum? Weil du ſo unvollkommen biſt.

Wenn du vollkommen waͤrſt, waͤr auch die Welt vollkommen,

Die Unvollkommenheit waͤr ihr von dir genommen.

Sie will Vollkommenheit nur mit dir ſelbſt empfahn,

Und du biſt noch ſo weit zuruͤck auf dieſer Bahn.

Dank' ihr daß ſie mit dir will halten gleichen Schritt,

Und ſpute dich, daß ſie auch vorwerts kommt damit!
[45]

70.


Den Koͤrper mit dem Stein, das Leben mit der Pflanze,

Die Seele mit dem Thier theilſt du, o Menſch, fuͤrs Ganze.

Vor Pflanze, Thier und Stein haſt du voraus den Geiſt,

Daß du ein Ganzes ſelbſt, nicht nur fuͤrs Ganze ſeiſt.

71.


O glaube nicht, daß du nicht ſeieſt mitgezaͤhlt;

Die Weltzahl iſt nicht voll, wenn deine Ziffer fehlt.

Die große Rechnung zwar iſt ohne dich gemacht,

Allein du ſelber biſt in Rechnung mit gebracht.

Ja mitgerechnet iſt auf dich in alle Weiſe;

Dein kleiner Ring greift ein in jene groͤßern Kreiſe.

Zum Guten Schoͤnen will vom Mangelhaften Boͤſen

Die Welt erloͤſt ſeyn, und du ſollſt ſie miterloͤſen.

Vom Boͤſen mache dich, vom Mangelhaften frei;

Zur Guͤt' und Schoͤne ſo der Welten traͤgſt du bei.
[46]

72.


Daß unerreichbar hoch das Vorbild alles Guten

Und Schoͤnen ob dir ſteht, das ſollte dich entmuthen?

Ermuthen ſollt' es dich, ihm ewig nachzuſtreben;

Es ſteht ſo hoch, um dich ſtets hoͤher zu erheben.

73.


Daß heilige der Zweck die Mittel, wird beſtritten,

Wir aber muͤßen nur Scheinheiligkeit verbitten.

Der gute Zweck macht gut die Mittel, recht verſtanden,

Weil wir nie guten Zweck durch ſchlechte Mittel fanden.
[47]

74.


Der Geiſt des Menſchen fuͤhlt ſich voͤllig zweierlei,

Abhaͤngig ganz und gar, und unabhaͤngig frei.

Abhaͤngig, inſofern er Gott im Auge haͤlt,

Und unabhaͤngig, wo er vor ſich hat die Welt.

Vorm Vater unfrei fuͤhlt ſich ſo ein Sohn vom Haus,

Selbſtaͤndig aber wohl, ſobald er tritt hinaus.

75.


Sechs Woͤrtchen nehmen mich in Anſpruch jeden Tag:

Ich ſoll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.

Ich ſoll, iſt das Geſetz, von Gott ins Herz geſchrieben,

Das Ziel, nach welchem ich bin von mir ſelbſt getrieben.

Ich muß, das iſt die Schrank', in welcher mich die Welt

Von einer, die Natur von andrer Seite haͤlt.

Ich kann, das iſt das Maß der mir verliehnen Kraft,

Der That, der Fertigkeit, der Kunſt und Wiſſenſchaft.

[48]
Ich will, die hoͤchſte Kron' iſt dieſes, die mich ſchmuͤckt,

Der Freiheit Siegel, das mein Geiſt ſich aufgedruͤckt.

Ich darf, das iſt zugleich die Inſchrift bei dem Siegel,

Beim aufgethanen Thor der Freiheit auch ein Riegel.

Ich mag, das endlich iſt, was zwiſchen allen ſchwimmt,

Ein Unbeſtimmtes, das der Augenblick beſtimmt.

Ich ſoll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag,

Die ſechſe nehmen mich in Anſpruch jeden Tag.

Nur wenn du ſtets mich lehrſt, weiß ich, was jeden Tag

Ich ſoll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.

76.


Bei ſeinem Vater hat das Kind nicht lernen wollen,

Und in die Schule ſchickt' er es mit Liebesgrollen.

Da ſchnarchte ſtreng es an der Lehrer, der es lehrte,

Daß zu des Vaters Lehr' es bald zuruͤck begehrte.

In ſeine Lehre nahm der Vater es zuruͤck,

Und nun gewitzigt lernt es fleißig und mit Gluͤck.
[49]

77.


Ihr ſagt, den Glanz des Lichts zu hoͤhen dient der Schatten;

Und fuͤr die Koͤrperwelt will ich euch das geſtatten.

Doch fuͤr die Geiſterwelt was ſoll des Boͤſen Schatten,

Der nie dem reinen Licht des Guten ſich kann gatten?

Ohnmaͤchtig ſcheint die Kraft des Lichtes zu ermatten,

Das nicht in ſeinen Glanz aufloͤſen kann die Schatten.

Wie aber koͤnnten ſich ins Licht aufloͤſen Schatten,

Nachdem ſie ſelber ſich verſtockt dagegen hatten?

Wer loͤſt den Widerſpruch? Ein Ausweg kommt zu Statten:

Licht wird er nicht, es wird in ſich zunicht der Schatten.

In Selbverzehrung wird des Boͤſen Grimm erſatten;

Rein bleibt des Guten Licht, wo blieb des Boͤſen Schatten?
Rückert, Lehrgedicht II. 3
[50]

78.


Begreif, o Sohn, der Menſch iſt eine kleine Welt,

Enthaltend alles was die große nur enthaͤlt.

Doch wie am Spiegelbild ſich Rechts und Links umkehren,

So gilt fuͤr Menſch und Welt Verſchiedenheit der Lehren.

Wenn Freundſchaft Einheit iſt, wenn Feindſchaft iſt Entzweiung,

So hilft die Feindſchaft erſt dem Leben zur Befreiung.

Sie bricht, daß Vieles ſei, das ſtarre Eins entzwei;

Verſchieden iſt was lebt, der Tod iſt einerlei.

Du laß im Reich der Welt die hehre Zwietracht walten,

Und lern' in deinem Zelt ihr Gegenbild entfalten.

Laß aus der Kraͤfte Kampf des Lebens Fuͤlle ſprießen,

Um Frieden ſtill mit dir und Gott und Welt zu ſchließen.
[51]

79.


Begluͤckt der Weiſe, der ein kluges Weib gefunden,

Die den genuͤgenden Beruf darin empfunden,

Mit Sinnigkeit das Haupt des Sinnenden zu kraͤnzen,

Den himmliſch ſtrebenden auch irdiſch zu ergaͤnzen,

Der Sorge vorzuſtehn des Hauſes und der Zeit,

Daß ſeine Sorge ſei nur Welt und Ewigkeit.

80.


Verſtand iſt vom Verſtehn, Vernunft iſt vom Vernehmen;

Die beiden brauchen ſich nicht ihres Stamms zu ſchaͤmen.

Verſtanden haben zwar iſt mehr als blos vernommen,

Ein unverſtandenes Vernommnes kann nicht frommen.

Doch kann der Menſch verſtehn nur was er recht vernahm,

Was ihm von außen her, was ihm von oben kam.
3*
[52]

81.


Unendlich fuͤhleſt du dich in dir ſelbſt, doch endlich

Nach außen hin, und biſt dir ſelber unverſtaͤndlich.

Verſteh! Unendliches und Endlichs, das dir ſcheint

So unvereinbar, iſt durch Eines doch vereint.

Du biſt ein werdendes, nicht ein gewordnes Ich,

Und alles Werden iſt im Widerſpruch mit ſich.

Unendliches, das wird, muß endlich ſich geberden,

Und Endlichs will, indem es wird, unendlich werden.

82.


Wenn du das Hoͤhere vom Niedern voͤllig trennſt,

Nur jenes wahres Seyn, dis nicht'ge Taͤuſchung nennſt,

So wird, emporgeruͤckt, dir jenes fern erblaſſen,

Und dis, herabgedruͤckt, dir ſcheinen gottverlaſſen:

Du wirſt, was dich umgibt, als zu gering verachten,

Als unerreichbar doch das, was dir fehlt, betrachten.

[53]
Dann macht die Wirklichkeit, wie du ſie moͤgeſt ſchelten,

Ihr Recht auf dein Gefuͤhl nur um ſo derber gelten;

Und jenes Ideal, wie hoch du's moͤgeſt preiſen,

Wird als ein Schattenbild unwirkſam ſich erweiſen.

So wird das eine dir durchs andere zunichte,

Und deinem Bilde fehlts am Schatten wie am Lichte.

Drum rath' ich dir, ſo ganz die zwei nicht zu entzwein;

Erſprießlich iſt dir nur von beiden der Verein.

Du ſiehſt, wie jeder Baum zum Sprießen haben muß

Den Wipfel frei im Raum, im Boden feſt den Fuß.

Was du im Himmel ſchauſt, das bring zur Erd' heran;

Und was im Grund du bauſt, laß ſtreben himmelan.

Du magſt an einer Frucht wol Kern und Schale trennen,

Doch jeder mußt du Kern und Schale zuerkennen.

Heil dir, wenn ſich der Kern dir zum Genuſſe beut!

Doch iſts kein Schade, wenn dich auch die Schal' erfreut.
[54]

83.


Den koͤrperloſen Geiſt mit ſchoͤnem Koͤrperſchein

Bekleiden, iſt von Kunſt die eine Seit' allein.

Die andre Seite iſt, den Leib zu Geiſt verklaͤren,

Das Bild das ſinnliche zum Sinnbild umgebaͤren.

Beim halben Dichter laͤßt ſich eins vom andern ſcheiden;

Ein ganzer iſt, wer ungetrennt vereint die beiden.

84.


Das Gold der Menſchheit wird beſtaͤndig umgepraͤgt,

Fuͤrſt aber iſt, wer Geld auf ſeinen Namen ſchlaͤgt,

Im Reich des Geiſtes auch, nur daß er nicht ſo ſcharf,

Wie jeder weltliche, Falſchmuͤnzer ſtrafen darf.
[55]

85.


Das Boͤſe hat nicht Macht, die Welt zu Grund zu richten,

Denn nichtig iſts in ſich, und kann nur ſich vernichten.

Doch ſeine Wirkung kann es mittelbar erſtrecken,

Der boͤſen Seuche gleich, Geſundes anzuſtecken.

Mittheilen kann ſein Gift den Hang der Selbſtzerſtoͤrung;

Kein Weiſer halte ſich geſichert vor Bethoͤrung.

Hier iſt die Leidenſchaft, die ſelbſt ihr Leiden ſchafft,

Und dort der Zweifel, der hin zur Verzweiflung rafft.

Das iſt die Doppelform der Selbſtzerſtoͤrungswuth;

Dagegen iſt gering, was Welt und Zeit dir thut.
[56]

86.


Traͤgt jeder doch genug! ſoll er nun helfen tragen

Den andern auch, und ſich mit ihrer Plage plagen?

Selbſt hilfſt du ihnen nicht, wenn du dich plagſt mit ihnen,

Allein mit beßrer Huͤlf' und leichtrer kanſt du dienen:

Zeig' ihnen an dir ſelbſt, daß nichts die Plage ſei,

Daß, wenn ſie wollen, ſie davon wie du ſind frei.

87.


Warum das große Ich der Menſchheit ſich geſpalten

In viele kleine, die uns auseinander halten?

Daß auseinander ſie uns halten, ſtatt zuſammen,

Iſt Schuld der Einzelnen, die aus dem Einen ſtammen;

Daß ſie in Einzelheit die Einheit nicht behuͤten,

Wie einen Bluͤtenbaum ausmachen alle Bluͤten:

So ſollten, ohne daß ſie ineinander ſchwammen,

Die Eine Glut beſeelt, auch ineinander ſtammen;

[57]
Ein Baum der Weltvernunft, verzweigt in ſeine Ranken,

Sich denkend Eines Geiſts eintraͤchtige Gedanken;

Wo jeder goͤttliche Gedanke waͤr' ein Glanz

Fuͤr ſich, doch erſt ein Licht zuſammen alle ganz.

Annaͤherung dazu iſt jedes Geiſtes Macht,

Der alles denket nach, was andre vorgedacht,

Der ſelber denket vor, was nach ihm fort ſich denkt,

In jede Denkform ſich, und jed' in ſich verſenkt.

Vorahnend loͤſt ſein Geiſt der Geiſter Widerſpruch,

Wie Fruͤhling Wald und Feld in Einen Wohlgeruch.

88.


Wenn du ans Goͤttliche ſtets halten willſt dein Streben,

Wie kanns davor beſtehn? du mußt es ganz aufgeben.

Doch, iſt vom Goͤttlichen dein Streben abgekehrt,

So hats gar alle Kraft verloren, allen Werth.

In einer Mitte nur von fern und nah gewannſt

Du einen Standpunkt, wo du etwas willſt und kannſt.

[58]
So hat dich Gott geſtellt, und laͤßt dich wirken gerne

Dein Werk, und wirkt durch dich, dir nah zugleich und ferne.

Sowie ein Wandelſtern die Kraft der Sonne braucht,

Der er ſich nicht entzieht, und nicht hinein ſich taucht.

89.


Wenn dich der Unmuth plagt in deiner Einſamkeit,

Trag unter Menſchen ihn, und ſei davon befreit.

Du ſiehſt, ſie ſind vergnuͤgt; warum willſt du dich graͤmen?

O Schande, wenn ſie dich an Lebensmuth beſchaͤmen.

Sie leiden und ſind ſtill, laß dirs zur Lehre dienen;

Und klagen ſie wie du, ſo troͤſte dich mit ihnen.

Nicht nur von Starken fuͤhlt der Schwache ſich geſtaͤrkt,

Er ſelber fuͤhlt ſich ſtark, wo er noch ſchwaͤchre merkt.
[59]

90.


Du ſagſt, nothwendig hat das Beſte Gott gemacht,

Nicht beſſer konnte ſeyn die Welt hervorgebracht.

Denn dem Allmaͤchtigen, Allguͤtigen, Allweiſen,

Geziemt das Beſte nur aus des Denkbaren Kreiſen.

Nicht einmal willſt du ihm, dem Allerfreiſten, goͤnnen

Die Freiheit, daß ers auch hab' anders machen koͤnnen!

Ich aber ſage dir, was mir ein Dichter ſagte,

Den ich um den Verhalt des hoͤchſten Dichters fragte.

Er ſprach: die Laien haͤlt ein Vorurteil gebunden,

Wenn ein vollkommnes Werk ſie haben vorgefunden,

Zu meinen, daß es gar nicht anders koͤnne ſeyn,

Und ſich am ganzen Bau nicht ruͤcken laſſ' ein Stein.

Am Bau, dem fertigen, iſt freilich nichts zu ruͤcken,

Doch zur Verfertigung gab es gar viele Bruͤcken.

Und jeder Dichter weiß, wie gut ihm ſo die Sachen

Gelungen, daß er ſie auch anders konnte machen.

[60]
Und macht' er anders ſie, ihr ſtimmtet wieder bei,

Daß dis das Beſt', und gar kein andres moͤglich ſei.

Gott der nach ſeiner Wahl hier macht' ein Beſtes ſo,

Ein andres Beſtes macht er irgend anderswo.

91.


Der Maler in der Nacht ſehnt ſich dem Tage zu,

Denn was er malen ſoll, laͤßt ihm nicht Raſt noch Ruh.

Er kann es in der Nacht bei Kerzenſchein nicht malen,

Denn ſein Gebilde ſoll von Lebensfarben ſtralen.

Laß ihm den Tag aufgehn, und einen hellen Tag!

Weil er am truͤben auch nichts helles malen mag.

92.


Mein Goldſchmidt, in Geduld mußt du die Zeit erwarten;

Die Knappen laß im Berg erſt machen ihre Fahrten.

Im Huͤttendampfe laß Pochjungen wacker pochen,

Und im Hochofen rein das Erz aus Schlacken kochen.

[61]
Hier gilt die derbe Fauſt ſtatt feiner Fingerſpitze,

Und vorarbeiten muß Handwerkerfleiß dem Witze.

Wo ihr Beruf erliſcht, beginnet deine Sendung;

Sie liefern dir den Stoff, du gibſt ihm die Vollendung.

93.


Wenn es nicht weiter geht, gelobt ſei Gottes Macht!

Manch beſſerer als du hats nicht ſoweit gebracht.

Und wenn es weiter noch ſoll gehn, in Gottes Namen!

Solang ich vorwerts ſoll, laͤßt er mich nicht erlahmen.

94.


Mich freuts am Abend nicht, daß mir manch Lied entſprungen;

Mich freuts nur, wenn ich weiß, daß keines mir mislungen.

Was thuts, wenn keins entſprang? doch wenn nur eins mislang,

Mit dieſem muß ich dann mich plagen tagelang.

Ich kann ihm nicht entziehn das Leben, ihm verliehn;

Das misgeborne Kind, ich muß es doch erziehn.
[62]

95.


Am Schoͤnen fehlt es nicht, fuͤrs Schoͤne nicht am Sinn

Warum wird nie der Welt das Schoͤne zum Gewinn?

Das Schoͤne, wie der Sinn dafuͤr, iſt ſo zerſtreut,

Daß ſelten eines ſich des andern recht erfreut.

96.


Sie ſagen dir, nichts ſei wie Eigenlob zu haſſen:

Uns ſollſt du loben, und von uns dich loben laſſen!

Doch wenn du ſie nun lobſt, daß ſie dich wieder loben,

Und ſie dich preiſen, um von dir zu ſeyn erhoben;

Iſt dieſer Eigenruhm, weil er umſtaͤndlicher

Geworden iſt, darum ein minder ſchaͤndlicher?

Ihr habet nur das Amt einander zugeſchoben,

Einer den andern, ſtatt jeder ſich ſelbſt, zu loben.
[63]

97.


Das Uebel iſt beſtrebt ſich ſelbſt zu uͤberwinden,

Denn nur das Uebel lehrt den Menſchen Kuͤnſt' erfinden;

Das aber iſt der Zweck von Kunſt und Wiſſenſchaft,

Dem Uebel in der Welt zu brechen Spitz' und Kraft;

Aus der Nothwendigkeit und des Naturzwangs Ketten

Den Menſchen ins Gebiet der Freiheit hinzuretten.

Durch Kunſt und Wiſſenſchaft iſt er ſoweit entronnen,

Hat durch ſie der Natur ſoviel ſchon abgewonnen;

Durch Uebung mehr und mehr wird er derſelben Meiſter,

Bis endlich wird ſein Geiſt beherrſchen ihre Geiſter.

98.


Das zu entwickeln, was Gott in den Keim gelegt,

Iſt des Erziehers Amt; wohl, wenn ers recht erwaͤgt!

Du kanſt mit deinem Geiſt auf einen Geiſt einfließen,

Um, wie den Pflanzenkeim die Sonn', ihn aufzuſchließen.

[64]
Das Licht entwickelt zwar nur was im Keime lag,

Doch ohne Licht waͤrs nicht gekommen an den Tag.

So kanſt du auch ins Herz, was drin nicht liegt, nicht legen,

Doch jenachdem du es anregeſt, wird ſichs regen.

Nur iſt ein wirklicher, der unentwickelt blieb,

Bei weitem vorzuziehn falſchangeregtem Trieb.

Denn Unentwickeltes kann ſpaͤter ſich entfalten,

Doch Falſchentwickeltes ſteht feſt in Misgeſtalten.

99.


Zum Unbedingten, das nicht hier iſt bei den Dingen,

Ringt, o bedingter Geiſt, dein unbedingtes Ringen,

Denn von den Dingen weiſt dich ein bedingtes fort

Zum andern, und zuletzt zum Unbedingten dort.

Im Unbedingten dort, in welchem die Bedingung

Alles Bedingten ruht, iſt deiner Ruh Erringung;

[65]
Im Unbedingten, das, indem es ſich bedingt,

Die Dinge und hervor dich ſelbſt, Bedingter, bringt.

Das Unbedingte hat ſich ſelbſt hervorgebracht,

Bedingter Geiſt, in dir, indem du's haſt gedacht.

100.


Das iſt nicht Weisheit, die nur ſich fuͤr Weisheit haͤlt,

Und ſich in fremder Bloͤß' Entdeckung wohlgefaͤllt.

Einſeitig iſt und war die Weisheit aller Weiſen;

Du wirſt Allſeitigkeit nicht als dein Vorrecht preiſen.

Jedweder Menſch iſt doch nur eine von den Seiten

Der Menſchheit, welche ſich ergaͤnzen und beſtreiten.

Auch eine biſt du nur; daß du dich ſtill ergaͤnzeſt

Mit andern, nuͤtzt dir mehr, als daß du ſtreitend glaͤnzeſt.
[66]

101.


Des armen Menſchen Gluͤck iſt meiſtens ein Vermeiden

Des Ungluͤcks, ſeine Luſt Abweſenheit der Leiden.

Verderben droht, und weicht, frei hebt er ſeine Bruſt,

Das nennt er dann ſein Gluͤck, das nennt er ſeine Luſt.

102.


Hat doch jede Geburt des Lebens ihre Wehn!

Sie ſind zu uͤberſtehn, weil ſie voruͤbergehn.

O waͤre jedes Gluͤck mit Schmerzen nur geboren,

Nicht einſt mit ſchmerzlichern Gefuͤhlen auch verloren!

103.


Auch dieſes biet' ich dir, o Herr, zum Opfer an,

Was, wenn dus forderſt, ich ja nicht verweigern kan.

Allein verſchweigen kann ichs weder mir noch dir:

Nimm die Willfaͤhrigkeit, und ſpar das Opfer mir!
[67]

104.


Laß uͤber dich ergehn, was du nicht kanſt abhalten,

Des Zeitenſturmes Wehn, der Schickſalsmaͤchte Walten.

Sie haben dir herbei gewehet mancherlei,

Und wehen es hinweg, alsob nicht dein es ſei.

Sie haben ſelber dich geblaſen her, von wannen?

Und raſten nicht bis ſie dich hauchten auch von dannen.

Von deines Lebens Laub iſt Blatt auf Blatt entzittert,

Und endlich iſt der Stamm der morſche ſelbſt zerſplittert.

105.


Dich traͤgt Erinnerung zu deiner Kindheit Schwelle,

Den vollen lauten Strom zuruͤck zur ſtillen Quelle.

Dort aber angelangt, begehrſt du weiter nur

Zu dringen, und verlierſt im Dunkel bald die Spur.

Und nur die Sternenſchrift im Dunkeln kanſt du leſen:

Du wareſt eh du warſt, und bleibſt wann du geweſen.

[68]
Alswie aus einem Traum erwachteſt du, geboren,

Und fandeſt eine Welt, wie eine du verloren.

Du ſaheſt ſie vor dir ſich wechſelnd umgeſtalten,

Und lernteſt deine Kraft im Kampf mit ihr entfalten.

Sovieles kam und gieng; laß alles gehn und ſchwinden!

Du wirſt dich anders ſtets, und ſtets denſelben finden.

106.


Ich finde dich, wo ich, o Hoͤchſter, hin mich wende;

Am Anfang find' ich dich, und finde dich am Ende.

Dem Anfang geh' ich nach, in dir verliert er ſich;

Dem Abſchluß ſpaͤh' ich nach, aus dir gebiert er ſich.

Du biſt der Anfang, der ſich aus ſich ſelbſt vollendet,

Das Ende, das zuruͤck ſich in den Anfang wendet.

Und in der Mitte biſt du ſelber das was iſt;

Und ich bin ich, weil du in mir die Mitte biſt.
[69]

107.


Du biſt der Widerſpruch, den Widerſpruͤche loben,

Und jeder Widerſpruch iſt in dir aufgehoben.

Die Widerſpruͤch', in die ſich die Vernunft verſtrickt,

Zergehn, und ſie zergeht, wo dich der Geiſt erblickt.

Die Welt iſt nicht in dir, und du biſt nicht in ihr;

Nur du biſt in der Welt, die Welt iſt nur in dir.

108.


Ein herrliches Gefuͤhl iſt es, in ſich empfinden,

Wie Lichter tauchen auf, und dunkle Wolken ſchwinden;

Obauch der Lichter Glanz nicht mag zu ſehn geſtatten,

Und von den Wolken noch geblieben ſind die Schatten:

Du knieſt am Heiligthum der halbenthuͤllten Wahrheit,

Und ſiehſt vertrauenvoll entgegen voller Klarheit.
[70]

109.


Ohn' einen hoͤchſten Gott und ohn' ein kuͤnft'ges Leben,

Sagſt du, ſei kein Geſetz der Sittlichkeit gegeben.

Doch die Geſchichte ſagt, daß, in die Bruſt gepraͤgt,

Das ſittliche Geſetz ſich ſelber haͤlt und traͤgt.

Wer dort es eingepraͤgt, kann freilich Gott nur ſeyn,

Und fuͤr dis Leben nicht iſts eingepraͤgt allein.

Doch kann vergeſſen ſeyn, wozu er es gegeben,

Vergeſſen, der es gab, und das Geſetz doch leben.

So ſind von Gott bedacht, auch die ihn nicht erkennen,

Und ehren ſeine Macht, auch wenn ſie's anders nennen.
[71]

110.


Nicht darum ſollſt du dich verbunden halten, Kind,

Zu Handlungen, weil ſie von Gott geboten ſind.

Vielmehr als goͤttliches Gebot ſei das empfunden

Von dir, wozu du dich fuͤhlſt innerlich verbunden.

Was iſt der Unterſchied? dort mußt du andern glauben,

Hier glaube nur dir ſelbſt, und nichts kann dich dir rauben.

111.


Thu recht und ſchreibe dir nicht als Verdienſt es an,

Denn deine Schuldigkeit allein haſt du gethan.

Thu's gern! und wenn dir das nicht zum Verdienſt gereicht,

Gereicht dirs doch zur Luſt, daß dir die Pflicht ward leicht.
[72]

112.


Heil, wenn das Gute du aus freiem Triebe thuſt,

Und das Geſetz erfuͤllſt, weil es iſt deine Luſt.

Dann fuͤhleſt du allein nicht des Geſetzes Zwang,

Wenn du's verwandelt haſt in deines Herzens Drang.

113.


Mein wandelbares Ich, das iſt und wird und war,

Ergreift im Dein'gen ſich, das iſt unwandelbar.

Denn du biſt, der du warſt, und biſt, der ſeyn wirſt, du!

Es ſtroͤmt aus deinem Seyn mein Seyn dem deinen zu.

Ich haͤtt' in jeder Nacht mich, der ich war, verloren,

Und waͤr' an jedem Tag, als der nicht war, geboren,

Haͤtt' ich mich nicht, daß ich derſelbe bin, begriffen,

Weil ich in dir, der iſt, bin ewig inbegriffen.
[73]

114.


Du fragſt, was iſt die Zeit? und was die Ewigkeit?

Wo hebt ſich Ew'ges an, und hebet auf die Zeit?

Die Zeit, ſobald du ſie aufhebſt, iſt aufgehoben,

Wo dich das Ewige zu ſich erhebt nach oben.

Die Zeit iſt nicht, es iſt allein die Ewigkeit,

Die Ewigkeit allein iſt ewig in der Zeit.

Sie iſt das in der Zeit ſich ſtets gebaͤrende,

Als wahre Gegenwart die Zeit durchwaͤhrende.

Wo die Vergangenheit und Zukunft iſt geſchwunden

In Gegenwart, da haſt du Ewigkeit empfunden.

Wo du Vergangenheit und Zukunft haſt empfunden

Als Gegenwart, da iſt die Ewigkeit gefunden.
Rückert, Lehrgedicht II. 4
[74]

115.


Wo ſchließet ſich der Raum, und ſtehet ſtill die Zeit?

Wo endet hier und dort ſich die Unendlichkeit?

Dort endet ſie in Gott, hier endet ſie in dir;

Der Schein Unendlichkeit ſteht zwiſchen dort und hier.

Den Schein, der zwiſchen dir und Gott ſteht, raͤume fort,

Und einfaͤllt Raum und Zeit, dein hier iſt ewig dort.

116.


Was ich geworden bin, bin ich durch dich geworden;

Du ordneſt um dich her nach Wahl der Geiſter Orden.

Den einen ziehſt du vor, und ſtelleſt den zuruͤck,

Und dieſer auch entbehrt nicht ſein beſcheidnes Gluͤck.

Der, welchen du erhoͤhſt, wird von der Welt erhoben,

Und der am tiefſten ſteht, kann dich den Hoͤchſten loben.

Den einen fuͤhreſt du des Kampfes rauhe Bahn,

Den andern hebeſt du auf Fluͤgeln leicht hinan.

[75]
Nicht ſoll ſich der des Kampfs, noch der des Fluges bruͤſten;

Du mußteſt den mit Kraft, und den mit Schwingen ruͤſten.

Und keiner bruͤſten ſoll vor keinem ſich der beiden;

Bewundern will ich den, und dieſen nicht beneiden.

Ich ſeh gleichhoch geſtellt ſie auf verſchiednen Hoͤhn;

Erhaben iſt der Kampf, und Goͤttergluͤck iſt ſchoͤn.

Preis dem, der ſeine Kraft, dem, der ſein Gluͤck erkennt,

Und ſie nicht ſein, ſie dein, dankbar erkennend, nennt.

117.


Gott, der Luftwaſſererdundfeuergeiſter ſchuf,

Gab jedem eignen Sinn und eigenen Beruf.

Den Menſchen ſchuf er nicht aus Fluten noch aus Flammen,

Aus Lufthauch noch aus Staub, aus alle dem zuſammen.

Du kanſt bald dieſem Geiſt, und jenem bald verfallen,

Doch Aller Einheit ſollſt du ſeyn, nicht eins von allen.
4*
[76]

118.


Zunft und Vernunft, mein Sohn, ſind leider zweierlei,

Doch unſre Aufgab' iſt, zu einigen die Zwei.

Mein Sohn, in keiner Zunft iſt die Vernunft zwar zuͤnftig,

Doch ſeyn ſoll die Vernunft in jeder Zunft vernuͤnftig.

119.


Abhaͤngig von der Welt mußt du dich nicht betrachten,

Doch auch nicht gegen deins das Recht der Welt verachten.

Nicht du lebſt und die Welt iſt todt, nicht lebt die Welt

Und du biſt todt; ihr ſeid zwei Leben gleichgeſtellt.

Magſt du dich nun als Mann, ſie ſich als Weib verhalten;

Mag weiblich dein Gemuͤth, der Weltgeiſt maͤnnlich walten:

Es ſei nun, daß in dir die Welt ſich eingebar,

Es ſei, daß du in ihr dich ſelber ſtelleſt dar;

[77]
So wirſt du hier als Mann ins Weltgetriebe greifen,

Und dort in ſtiller Bruſt der Welt Geheimnis reifen.

Drum ſoll einander Held und Dichter nicht beneiden,

Denn nur verſchieden iſt die Welt verklaͤrt in Beiden.

120.


Vom Thurme wird erzaͤhlt, den einſt die Menſchen bauten,

Als ſie auf eigne mehr dan Gottes Kraft vertrauten;

Wie Gott, aufdaß er ſie im kuͤhnen Bauwerk irrte,

Die Sprachen wunderbar der Bauenden verwirrte;

Sodaß nach manchem Streit ſie endlich raͤthlich fanden,

Auseinander zu gehn, weil ſie ſich nicht verſtanden:

Da griff zu guter Letz jeder nach ſeinem Sack,

Und alle zogen ſie nun ab mit Sack und Pack;

Davon, wie vielfach nun geſprochen und geſchrieben

Die Sprachen ſeien, iſt in jeder Sack geblieben:

[78]
Denn jeder hat, ſo groß iſt Eigennutzes Macht,

Als alles er vergaß, an ſeinen Sack gedacht;

Und keiner hat ſeitdem in ſeines Lebens Plack

Vergeſſen den vom Thurm mit heim gebrachten Sack.

121.


Wie wenig wiſſen doch die Menſchen ſich zu ſagen

Des ſagenswerthen, die ſich in Geſellſchaft plagen.

Alsob ertraͤglicher dadurch die Langeweile

Dem einen ſei, daß er ſie mit den andern theile.

Wo Ungelehrte unertraͤglich thun gelehrt,

Da thun Gelehrte nun gar klaͤglich ungelehrt.

Nur ſelten im Geſpraͤch entwiſcht ein guter Spruch,

Weil jeder, was er weiß, ſpart lieber fuͤr ein Buch.
[79]

122.


Du biſt nur halb, o Menſch, wie dich hervorgebracht

Hat die Natur, und halb, wie du dich ſelbſt gemacht.

Sie hat den feſten Grund gelegt, an den du ruͤhren

Nicht darfſt, dir aber bleibt der Bau drauf auszufuͤhren.

Bei jenem kanſt du nichts, bei dieſem alles thun,

Und dieſes iſt genug, um traͤge nie zu ruhn.

Nie ruhe, bis du gut das was du ſchlecht gemacht

An dir, und was du falſch gemacht, haſt recht gemacht.

Dazu iſts nie zu fruͤh, dazu iſts nie zu ſpaͤt;

Denn ſtets im Werden, biſt du nie geworden ſtaͤt.
[80]

123.


Oft hab' ich umgeſtimmt die Saiten meines Pſalters

Im Wechſel meiner Zeit und meines Lebensalters.

Nun toͤnen ſie voll Ernſt, und wer da will, entſcheid' es,

Ob Alter oder Zeit dran ſchuld ſei, oder beides.

Die Zeit iſt ernſt ſogar der jugendlichen Schaar,

Wie mehr noch einem, dem mit ihr gebleicht das Haar.

124.


Wer Anmuth, Freundlichkeit, Gefaͤlligkeit und Milde

Nicht braucht in ſeinem Haus, doch draußen fuͤhrt im Schilde,

Mit dieſen Tugenden iſt er nicht reich bedacht,

Weil er zum Feierkleid und Feſttagſchmuck ſie macht.

Er ſucht nur vor der Welt mit ſeinem Flitterputze

Zu glaͤnzen, und daheim geht er in ſeinem Schmutze.
[81]

125.


Wer gar nicht ſcherzen kann, der iſt ein armer Mann,

Und nur noch aͤrmer iſt, wer nichts wan ſcherzen kann.

Schwach iſt ein Ernſt, der ſtets vorm Scherz iſt auf der Hut,

Und ſchwaͤcher noch ein Scherz, der nicht auf Ernſte ruht.

126.


Die Eitelkeit der Welt erkennen, iſt nicht ſchwer,

Denn die Erkenntnis draͤngt von allen Seiten her.

Doch nur die beſſere Erkenntnis macht dich frei:

Daß in der eitlen Welt dein Seyn nicht eitel ſei.

Die Eitelkeit der Welt mußt du an dir erfahren,

Um deine hoͤhere Beſtimmung zu gewahren.

Nie, wie du gnuͤgſam ſeiſt, thut dir die Welt genug,

Bis von ihr nahm dein Geiſt zum Himmel ſeinen Flug.

Dann wirſt du gern der Welt die Eitelkeit vergeben,

Die dir ein Strebepunkt geworden zum Erheben.
[82]

127.


Iſt da die Welt fuͤr mich? bin ich da fuͤr die Welt?

Fuͤr Beute hielt ich ſie, die mich fuͤr Beute haͤlt.

Als ich zu meinem Raub zu machen ſie gedachte,

Erkannt' ich, daß ſie mich zu ihrem Raube machte.

Ruͤckgeben kann ich nicht, was ich von ihr genommen,

Und nicht ruͤckfordern, was ſie hat von mir bekommen.

Ihr vorenthalt' ich nichts, die nichts mir vorenthaͤlt;

Die Welt iſt da fuͤr mich, ich bin da fuͤr die Welt.

128.


Die Jugend war mir truͤb umwoͤlkt durch meine Schuld,

Und daß mein Alter nun hell ward, iſt Gottes Huld.

Wie duͤrft' ich gegen dich mit meinen Gaben prahlen?

Nie kann ich meine Schuld, nie deine Huld bezahlen.
[83]

129.


Der Himmel iſt ſo voll von Sternen nah und fern,

Von allen welcher wol iſt meines Gluͤckes Stern?

Ich wuͤnſchte, daß einmal ich meinen Gluͤckſtern ſaͤhe,

Und daß kein Ungluͤckſtern auch ſtuͤnd' in ſeiner Naͤhe.

Nun, iſt es mir verſagt, den guten zu entdecken,

So iſt mirs auch erſpart, vorm boͤſen zu erſchrecken.

130.


Den einen ſiehſt du nie, doch ſteht er dir zur Seiten,

Den andern ſiehſt du ſtets, der immer ſteht vom weiten.

Was ſteht am fernſten dir? dein Wunſch in der Erfuͤllung:

Und was am naͤchſten, Menſch? dein Tod in der Verhuͤllung.
[84]

131.


Die Seele vom Genuß, o Freund, iſt deſſen Kuͤrze;

Die Furcht des Todes iſt des Lebens ſcharfe Wuͤrze.

Ein Thor klagt uͤberm Schmaus, daß er zu fruͤh ſei aus;

Ein Weiſer ißt ſich ſatt, und geht vergnuͤgt nach Haus.

132.


Kein Kranker laͤßt vom Arzt das Leben ſich abſprechen,

Kein Dichter uͤber ſich den Stab vom Richter brechen.

Ein jeder hat ein Recht zu leben wie er kann,

Zu ſtuͤmpern wie er mag ein Recht auch jedermann.

133.


Von Freunden ſagt man dir, die mit dem Gluͤcke kaͤmen,

Mit ihm verweileten, und mit ihm Abſchied naͤhmen.

Die falſchen heißen ſie, dagegen in der Noth

Der wahre kommt, der dir Huͤlf' oder Troſt doch bot.

[85]
Glaub nur den Weiſen, was ſie tadeln oder loben,

Doch moͤgeſt du an dir die Weisheit nie erproben.

Nie brauchen moͤgeſt du den leidigen getreuen,

Stets mit den falſchen dich, den froͤhlichen, dich freuen.

134.


Die Welt verſprach dir nichts, mach' ihrs nicht zum Verbrechen,

Du mußt dir ſelber nicht zuviel von ihr verſprechen.

Warum beluͤgſt du dich, ſie habe dich belogen?

An ihr betrogſt du dich, ſie hat dich nicht betrogen.

135.


Das Gute mußt du hin, wo's angewandt iſt, wenden;

Wo ſie iſt wohlgethan, mußt du die Wohlthat ſpenden.

Denn mancher ſchlechte hat ſo einen ſchlechten Magen,

Was wohl dem Guten thut, das kann er nicht vertragen.
[86]

136.


Was, Dichter, ſuchſt du? Ruhm? „Wen reizt die Seifenblaſe?“

Reichthuͤmer? „Haͤtt' ich auch Luſt am gefaͤrbten Glaſe?“

Mitwirkung in der Zeit? „Ich bin nicht deren Sohn.“

Der Geiſter Bildung? „Sie ſind uͤberbildet ſchon.“

Was alſo ſucheſt du? dir ſelber zu genuͤgen?

„Mich mit dem Schein, als thu' ich etwas, zu betruͤgen.“

137.


Du ruheſt weichgepfuͤhlt am Ufer ſtrombeſpuͤlt,

Dich ſchlaͤfert ein die Flut, die leis dich unterwuͤhlt.

Dich ſchaukelt Sommerluft, umgaukelt Bluͤtenduft,

Und losgeriſſen traͤgt dein Bette dich zur Gruft.

Sollt' ich erwecken dich, um zu erſchrecken dich?

Schwimm hin, und ſanft im Traum die Flut ſoll decken dich.
[87]

138.


Erwirb ein Gut, daß du es einem Erben laſſeſt,

Und einen Namen, der ihn ſchmuͤckt, wann du erblaſſeſt.

Wie wenig, was ein Menſch von dieſer Welt genießt,

Wenn ſeine Spanne Zeit die Zukunft nicht umſchließt.

Genießen wird dein Kind, was du nicht haſt genoſſen;

In dieſem Traume ſind die Augen ſanft geſchloſſen.

139.


Du klageſt: Was ich dort dem Mann hab' angetragen,

Er hats nicht zugeſagt, und hats nicht abgeſchlagen.

Und frageſt: Soll ich nun damit zufrieden ſeyn?

Frag' ich noch einmal, daß er Ja ſag' oder Nein?

Ja, wenn das harte Wort du ohne Herzverdruß

Kanſt hoͤren, mach ihm den, daß er es ſagen muß.
[88]

140.


Wie wirſt du beide los, die dich zudringlich plagen?

Sag jedem: ſchon hab' ichs dem andern abgeſchlagen;

Und wenn ichs dir gewaͤhrt', er wuͤrd' es uͤbel nehmen.

So werden alle zwei zum Abzug ſich bequemen.

141.


Wer iſt begluͤckt? wers waͤhnt. Wer unbegluͤckt? wers glaubt.

Vom Glauben wird die Welt geſchenkt dir und geraubt.

Wenn er den Starken laͤhmt, und wenn er ſtaͤrkt den Schwachen,

Wird er zum Koͤnig den, zum Bettler jenen machen.

Die Erde dienet ihm, und iſt ihm unzulaͤnglich.

Denn ihm allein iſt nicht der Himmel unzugaͤnglich.

Er tritt mit Zuverſicht vor Gottes Angeſicht,

Und weiß gewis, daß er beſtehn wird im Gericht.
[89]

142.


Wenn gelten zwiſchen zwein die Freundſchaft ſoll und taugen,

Im Bunde muͤßen ſeyn die beiden wie zwei Augen.

Wohin das eine zielt, dahin das andre ſpielt,

Und ſelber ſchielen wird dis mit, wenn jenes ſchielt.

143.


Waͤr' es mit einem dir mislungen oder zweien,

Du koͤnnteſt ſagen, daß ſie ſchuld am Zwieſpalt ſeien.

Da es mit mehreren, mit allen dir mislingt,

Wie kannſt du zweifeln, daß die Schuld aus dir entſpringt?

144.


Wer vom gebahnten Weg im Unverſtand abirrt,

Und ſich im Waldgeheg des Eigenſinns verwirrt,

Dann klagt, daß uͤberal ſich Schwierigkeiten finden,

Und niemand weg ſie raͤumt, der iſt wol gleich dem Blinden,

[90]
Der von dem Sehenden ſich nicht will laſſen leiten,

Und lieber auf gut Gluͤck und ſeine Fahr hinſchreiten,

Bald tritt in einen Dorn, bald ſtoͤßt an einen Stein,

Bald in den Graben faͤllt, bald ſtolpert uͤber'n Rain,

Hier rennt an einen Baum, dort wider eine Mauer,

Den Pflanzer hier verwuͤnſcht, und flucht dort dem Erbauer,

Und klagt, die Welt ſei ſchief und jeder Weg verbaut,

Da er nur zwiſchendurch den graden Weg nicht ſchaut.

145.


Lern' ohne Klagen, Herz, ein brennend Weh ertragen;

Der Kerze brennt der Kopf, doch hoͤrſt du nicht ſie klagen.

Aus reinem Stoff gemiſcht, ſtill brennt ſie bis ſie liſcht;

Rein iſt nicht Wachs und Docht, wenn ſie im Brennen ziſcht.
[91]

146.


Mein Sohn, wenn du gelangſt zum Umgang ſchoͤner Frauen,

Mit Andacht lerne ſie, mit Ehrerbietung ſchauen.

Leichtfertigkeit veruͤbt am Heiligſten Verrath;

Denk an die Mutter, Sohn, die dich geboren hat.

Zu ſolcher Wuͤrde iſt ein jedes Weib berufen;

Willſt, kanſt du, darfſt du ſie hinfuͤhren zu den Stufen?

147.


Mein Sohn, geſteh ichs dir, daß ich vergeſſen habe

Gar manches nun als Greis, was ich gelernt als Knabe.

Nicht zur Entſchuldigung gereicht dir das indeſſen;

Erſt lernen mußt du's auch, eh du es darfſt vergeſſen.
[92]

148.


Wie durch Gewoͤhnung lernt das Aug' im Dunkeln ſehn,

So lernt man Dunkles, durch Vertiefung drein, verſtehn.

Des Geiſtes Augen gehn dir auf, und wunderbar,

Was nie ſchien einzuſehn, ſcheint dir nun voͤllig klar.

149.


Wer gerne thaͤtig iſt, hat immer was zu thun;

Kind, ſage nie: Ich bin nun fertig und will ruhn.

Mit dem Nothwendigen wenn du ſchon fertig biſt,

Doch bleibt dir etwas noch zu thun das nuͤtzlich iſt.

150.


Zu ſeinen Soͤhnen ſprach ein Koͤnig: Seid befliſſen

Zu lernen jede Kunſt und alle Art von Wiſſen.

Wenn ihr vielleicht es braucht, ſo iſts ein Kapital;

Und wenn ihrs nicht beduͤrft, ein Schmuck iſts allemal.
[93]

151.


Wie trefflich iſt geſagt das Wort des alten Weiſen:

Mein Sohn, die Zunge iſt von Fleiſch, das Schwert von Eiſen.

Laß deine Zunge nie das Amt des Schwertes fuͤhren;

Zweiſchneidig, ſpitz und ſcharf, das will ihr nicht gebuͤhren.

152.


Du bleibſt in deiner Klauſ' und gehſt nicht aus dem Haus,

So blicke manchmal doch zum Fenſter nur hinaus.

Und wenn zu deiner Wuͤrd' auch das ſich nicht will ſchicken,

So laß die Welt zu dir manchmal durchs Fenſter blicken.

Dein Fenſter liegt ſo hoch, nichts Niedres ſchaut herein,

Am Tage nur die Sonn', und Nachts der Sterne Schein.

Was nicht die Sonne ſieht, das werden Sterne ſehn;

Und theilen ſie dirs mit, ſo wird dir nichts entgehn.
[94]

153.


Sei du die Traube nicht, o Herz, die unterm Laube

Sich birgt, damit der Dieb im Garten ſie nicht raube.

Gefunden freilich hat ſie unterm Laub kein Dieb,

Doch auch kein Sonnenſtral, daher ſie ſauer blieb.

154.


Wenn du die Nacht durchſchlaͤfſt, bedarfſt du keines Lichts,

Doch wenn du wachen mußt, iſt noͤthiger dir nichts.

Es iſt ein Herzensfreund, der in Weltkuͤmmerniſſen

Dich troͤſtet; moͤchteſt du dis Licht im Dunkel miſſen?

155.


Warum ich euch ſoviel Sinnbildliches berichte?

Weil Klein-Alltaͤgliches nur ſo wird zum Gedichte.

Als Sinnbild muß man es fuͤr etwas Groͤßres faſſen;

Ein Großes an ſich ſelbſt darf man wie's iſt nur laſſen.
[95]

156.


Dem muͤden Wandersmann iſt doch die Nacht willkommen,

Die den beſtaubten Stab ihm aus der Hand genommen.

Und wenn das Leben nun iſt eine Wanderreiſe,

Was freuet Lebende der Tod nicht gleicherweiſe?

Den Wandrer freut die Nacht, nur wenn er iſt am Ziel,

Auf halbem Wege nicht wenn ſie ihn uͤberfiel.

Die meiſten fuͤrchten ſich darum vorm Tod vielleicht,

Weil ſie des Lebens Ziel noch haben nicht erreicht.

157.


An Schoͤnes, Wahres hat uns oft ein Traum gemahnt,

Was nicht in ſeinem Schatz der wache Geiſt geahnt.

Doch Falſches, Haͤſſliches auch hat er angedeutet,

Was im Gemuͤthe laͤngſt wir glaubten ausgereutet.
[96]

158.


Der du erſchufſt die Welt, ohn' ihrer zu beduͤrfen,

Erſchaffen haſt du ſie nach deiner Lieb' Entwuͤrfen,

Nach deiner Weisheit Plan, dem Zwecke deiner Macht;

Und kein Nachdenken denkt, was du haſt vorgedacht.

Vorbringen kann kein Wort, was deins hervorgebracht.

Doch haſt du die Vernunft geſchaffen, dich zu denken,

Den Geiſt, nach dir den Flug, Unſichtbarer, zu lenken,

Der Sehnſucht Stroͤm', o Meer, in dich ſich zu verſenken:

Den wir am Anfang, den wir ſehn am Ende ſtehn,

Von dem wir kommen und zu dem wir alle gehn.

Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht,

Nur dis, von Gott zu Gott, iſt meine Zuverſicht.
[97]

159.


Zur Unvergaͤnglichkeit fuͤhlt ſich der Menſch berufen,

Und ſo vergaͤnglich doch iſt alles was wir ſchufen;

Und alles, was wir ſind, iſt ebenſo vergaͤnglich,

Doch in uns das Gefuͤhl des Ew'gen unverdraͤnglich.

Was ich geſtrebt, vollbracht, empfunden und gedacht,

So ewig wie ich ſelbſt iſt es von Gott gemacht.

Mein Leben iſt ein Schiff den Strom hinab getrieben,

Dahinter keine Spur im Waſſer iſt geblieben.

Wer nach mir gleitet, weiß nicht wer voran ihm glitt;

Wer nach mir ſchreitet, fragt nicht wer voran ihm ſchritt.

Wer nach mir ſtreitet, ahnt nicht, daß ich vor ihm ſtritt;

Wer nach mir leidet, fuͤhlt nicht, was ich vor ihm litt.

Wie ſeines Lebens Strauch erſchuͤttert mancher Hauch,

Iſt doch ihm unbewußt darunter meiner auch.
Rückert, Lehrgedicht II. 5
[98]

160.


Dir zeigt dis Sinnbild an den falſchen Troſt der Welt:

Ein Krokodil, das man fuͤr einen Rachen haͤlt.

Im Strome ſchwimmt ein Mann, und fuͤrchtet zu ertrinken,

Doch dem Verſinken nah, ſieht er die Rettung winken.

Er rudert angeſtrengt nach dem vermeinten Rachen,

Das Krokodil empfaͤngt ihn dort mit offnem Rachen.

161.


Je ſtand in einem Buch dis Gleichnis, lieber Sohn:

Die Welt iſt wie ein Wald, dein Thun iſt wie ein Ton.

Wie in den Wald du rufſt, ſo ruft er dir zuruͤck,

Und alſo ſelber ſchufſt du in der Welt dein Gluͤck.

Wenn in den Wald du ſchiltſt, wirſt du heraus geſcholten;

Und wie du uns vergiltſt, wird wieder dir vergolten.
[99]

162.


Ein Schiff vor Anker, doch die Segel aufgeſpannt;

Mein Sohn, dis Sinnbild iſt der Widerſinn genannt.

Nicht Widerſinn, mein Sohn, du darfſt es Unſinn nennen:

Feſt unten wurzeln und in Luͤften weiter rennen.

Wenn nicht das Segel reißt, ſo reißt das Ankerſeil;

Und ſtets gefaͤhrdet iſt ſo oder ſo das Heil.

163.


Das Schoͤpfrad ſchoͤpft ſich matt, und Athem ſchoͤpft es kaum;

Sieh, ſeine Schoͤpfung iſt die Gruͤne rings im Raum.

Auf ſeine Schoͤpfung wird das Schoͤpfrad ſtolz und eitel,

Als Schoͤpfer fuͤhlt es ſich und hebet hoch die Scheitel.

Doch, trank die Saat ſich ſatt, zieht man das Schoͤpfrad nieder;

Im Staube liegt ſein Haupt, im Schmutze ſeine Glieder.
5*
[100]

164.


Das Meſſer, wenn es auch iſt oben noch ſo ſcharf,

Hat unten einen Stiel, wo man's anfaſſen darf.

Das alte Sprichwort ſagt: Wie ſcharf das Meſſer ſei,

Es ſchneidet niemals doch den eignen Stiel entzwei.

165.


Mein Sohn, der innre Werth macht nicht die Dinge gelten;

Wohlfeil iſt, was in Meng', und theuer iſt, was ſelten.

Im Goldland geben ſie Goldketten ihren Hunden,

Die Maͤnner tragen Schmuck von Eiſen umgebunden.

166.


Bleib in der Mittelhoͤh mit deinen Wuͤnſchen ſtehn,

Und laß zu hoch hinaus die Hoffnungen nicht gehn.

Gar ſchoͤn iſts wenn du mehr erlangſt als du gehofft;

Unangenehm betraf das Gegentheil dich oft.
[101]

167.


Geh, ſuche Menſchen auf, um dich als Menſch zu fuͤhlen

In andern, ohne truͤb' im Buſen dir zu wuͤhlen.

Such einen Gluͤcklichen, wenn du es ſelbſt nicht biſt;

Sei gluͤcklich daß du ſiehſt, daß es ein andrer iſt.

Such auf Ungluͤckliche, wenn du es waͤhnſt zu ſeyn,

Und es dich troͤſten mag, daß du's nicht biſt allein.

Such einen auf, den du verſtehſt, der dich verſteht;

Wo nicht, wenn's nur zum Ohr, wenn nicht zum Herzen, geht.

Verſtoͤren wird ihn um ſo minder, was du klagſt,

Und dich erleichterts wenn du dein Anliegen ſagſt.
[102]

168.


Ein Sprichwort ſagt, darauf magſt du dein Gluͤcke bauen:

Dem Feinde ſoll man ſelbſt zur Flucht die Bruͤcke bauen.

Im Feld des Krieges zwar iſt manches auch dawider;

Laß heut den Feind entfliehn, ſo kommt er morgen wieder.

Hingegen unbedingt gilts in des Lebens Krieg:

Verfolge nicht zu weit den Feind und deinen Sieg.

169.


Die gute Abſicht macht das Boͤſe niemals gut,

Denn gute Abſicht hat gar nie, wer Boͤſes thut.

Das Gute aber was du thuſt, wo nicht dabei

Die gute Abſicht iſt, ſag' ich, daß boͤſ' es ſei.

Doch etwas, weder gut noch boͤſe, was vollbracht

In guter Abſicht wird, das hat ſie gut gemacht.
[103]

170.


Die Lieb' iſt vielerlei: es liebt das Allgemeine

Sich ſelber, Gott mit ſich im ew'gen Luſtvereine.

Das Allgemeine dann liebt das Beſondre auch,

Die ganze Welt durchdringt von Gott ein Liebeshauch.

Und das Beſondre liebt das Allgemeine dann,

Das iſt ſoviel ein Menſch, o Gott, dich lieben kann.

Nur das Beſondre kann ganz das Beſondre lieben,

Die Liebe zu dir ſelbſt hat mich zur Welt getrieben.

Ich bin ein Blumenſtaub und will auf Blumen ſtieben.

171.


Geh mit dem Knecht nicht um, waͤhl' ihn zum Freunde nicht,

Der frei nicht, wie du ihm, dir ſchaun darf ins Geſicht.

Schlimm iſt Vertraulichkeit da wo Vertrauen fehlt,

Und man verachtet, den man zum Vertrauten waͤhlt.
[104]

172.


Wenn Seuche herrſcht und ſelbſt die Luft iſt Krankheitszunder,

Bleibt davon einer unergriffen, iſts ein Wunder.

Ein ſolches Wunder iſts, wenn in der Zeit, befleckt

Von ſoviel Boͤſem, bleibt ein Herz unangeſteckt.

173.


Wenn in Geſchichten wir von Noth und Jammer leſen,

So troͤſtet dieſes uns: dis alles iſt geweſen.

Die Herzen ruhen laͤngſt, die das erlitten haben,

Und ihre Suͤnden ſind mit ihnen auch begraben.

Doch ihre Lieb' und Treu, ihr Glauben und ihr Muth,

Sind die auch hin wie Schaum geſchwommen auf der Flut?

Mitnichten, dieſe ſind am Leben uns geblieben,

Denn wozu wuͤrde wol Geſchichte ſonſt geſchrieben?
[105]

174.


Der Menſch, dem Engel halb und halb dem Thier zu eigen,

Kann ſich zu dieſem bald und bald zu jenem neigen.

Strebt er dem Engel nach, wird er noch hoͤher fliegen,

Und ſtrebt er nach dem Thier, ſogar noch tiefer liegen.

175.


Hier auf der Tafel, Sohn, liegt manche Pomeranze,

Und eine gleicht davon der anderen an Glanze.

Nicht taͤuſche dich der Glanz! es hat des Himmels Gunſt

Erſchaffen einige, doch andere die Kunſt.

Gewachſen, wenn du willſt, magſt du ſie alle nennen,

Doch ein'ge ſind von Wachs, woran wirſt du's erkennen?

Sie haben nebſt Geſtalt und Farb' auch den Geruch,

Nur der Geſchmack allein fehlt ihnen beim Verſuch.

Doch auch von denen, die am Baum gewachſen ſind,

Sind ſuͤß die wenigſten, die meiſten herb, o Kind,

[106]
Und bitter einige; doch laß dich nicht verdrießen

Das Bißchen Bitterkeit, auch ſie ſind zu genießen.

Und halt in Ehren auch die waͤchſernen Geſtalten!

Sie werden, ohne Saft, ſich deſto laͤnger halten.

176.


Von allen Tugenden iſt Scham genannt mit Recht

Die Mutter, keine hat ſo bluͤhend ein Geſchlecht.

Die Tugendmutter, Sohn, ſie ehre, wie du ehrſt

Die eigne Mutter, der du nie den Ruͤcken kehrſt.

Solange du ſie haſt vor Augen, lieber Sohn,

Biſt du unwuͤrdigen Verſuchungen entflohn.

177.


Verlier, o Juͤngling, nur Geduld und Hoffnung nicht;

Richt' auf die Welt Vertraun, auf Gott die Zuverſicht,

An dich die Forderung zu kaͤmpfen als ein Mann,

Und freue dich am Kampf, wenn dir der Sieg entrann.

[107]
Wenn er dir oft entrann, wird er nicht ſtets entrinnen;

Nur wer noch nichts gewann, hat alles zu gewinnen.

Mir ſelber iſt, was mir gelang, gar ſpaͤt gelungen,

Doch mehr nun freut mich, daß ich rang, als was errungen.

Ich wuͤnſche nicht, daß ſie ſo gar lang hin dich halten,

Doch gut iſts, daß ſie Zeit dir goͤnnen zum Entfalten.

178.


Was iſt der Weg, mein Sohn, an dem du noch nicht biſt,

Der gleich dem vor'gen lang, und doch viel kuͤrzer iſt?

Das iſt der Weg den Berg hinab, den ich nun ſchreite,

Viel langſamer kam ich herauf die andre Seite.

Dort war ich ruͤſtiger, doch ward der Weg mir laͤnger,

Hier wird er kuͤrzer mir, dem doch ſchon muͤden Gaͤnger.
[108]

179.


Wol iſt das Gegentheil von der Gelegenheit

Das Alter, denn es kommt zur ungelegnen Zeit.

Gelegenheit iſt kahl von hinten, vorn behaart,

Davon das Gegentheil iſt meiſt des Alters Art.

Gelegenheit iſt uns entflohn mit ſchnellem Schritt,

Das Alter aber geht gemach und nimmt uns mit.

180.


Das Bild der Ewigkeit, die Schlange die im Reif

Sich kruͤmmt, und mit dem Kopf ſich beißet in den Schweif,

Mich wunderts, wie ſie nicht erkrankt und ſtirbt, verwundet

Vom gift'gen Biß, von dem nichts auf der Welt geſundet.

Sie ſtirbt in Wahrheit auch in jedem Nu davon,

Doch iſt in jedem Nu auch neu geboren ſchon.
[109]

181.


Das Leben magſt du wohl vergleichen einem Feſte,

Doch nicht zur Freude ſind geladen alle Gaͤſte.

Gar manchen, ſcheint es, lud man nur, um die Beſchwerde

Zu uͤbertragen, daß die Luſt den andern werde.

Den Eſel lud man einſt zu einem Hochzeitſchmauſe,

Weil es zu tragen Holz und Waſſer gab im Hauſe.

Der Eſel dachte ſtolz, geladen bin ich auch.

Ja wohl, beladen mit dem Tragref und dem Schlauch.

182.


Der preiſe ſein Geſchick, wer irgend hat zu klagen;

Erleichtert fuͤhle ſich, wer Schweres hat zu tragen.

Denn alle ſind wir hier zu Zins und Zoll verpflichtet

Dem Ungluͤck; gluͤcklich iſt, wer ihn ſchon hat entrichtet.
[110]

183.


Ein altes Sprichwort ſagt: Es haͤngt ſich an den Frevel

Die Strafe ſo geſchwind, wie Feuer an den Schwefel.

Der Schwefel brennt, ſobald ihm kommt ein Flaͤmmchen nahe,

Und Frevel zittert ſtets, daß er den Lohn empfahe.

184.


Wenn Weisheit thoͤricht wird, ſucht ſie den Stein der Weiſen,

Die Arzenei, die gleich fuͤr jedes Weh zu preiſen,

Die allgemeine Sprach' und einen ew'gen Frieden,

Und alles was nie war, und nie wird ſeyn hienieden.

Das Allgemeine iſt beim Ew'gen ewig dort,

Hier beim Vergaͤnglichen iſt des Gemeinen Ort.

Das Unbedingte iſt, wo keine Dinge ſind,

Von welchen iſt dein Witz bedingt, o Menſchenkind;

[111]
Ein Gutes, Schoͤnes ſteht, Ein Wahres dort gewis;

Doch macht kein Sternenſchein zum Tag die Finſternis.

Kein Gutes hier iſt gut, kein Schoͤnes ſchoͤn fuͤr alle,

Gewiſſes ſelbſt gewis nur im gewiſſen Falle.

185.


Daß in der Mitte ſei die Wahrheit, iſt wol wahr,

Und, daß beim Aeußerſten zu irren ſei Gefahr.

Doch nicht wird Wahrheit durch zwei Aeußerſte, verbunden,

Noch durch Vermeidung auch der Aeußerſten gefunden.

Denn nichts ergeben ſie, wenn man ſie nur verneint,

Und ſelbſt aufheben ſie ſich, aͤußerlich vereint.

Nur wo lebendig zwei ſich einen, um das dritte

Zu zeugen, findet ſich die Wahrheit in der Mitte.
[112]

186.


Der Welt ſoll man vertraun, auf ſie nicht ſich verlaſſen;

Hab' auf dich ſelbſt Vertraun, wo andre dich verlaſſen.

Und wo dein Selbſtvertraun wie das auf Menſchen bricht,

Da hab' auf Gott Vertraun, nur er verlaͤßt dich nicht.

187.


Der Salamander ſprach zu einem Schmetterlinge,

Als er am Feuer ihn verſengen ſah die Schwinge:

Wie biſt du doch gewebt aus gar ſo leichten Stoffen!

Mich hat in dieſer Glut kein Unfall noch betroffen.

Mein Blut macht um mich her die gluͤhen Kohlen kuͤhl,

Und recht behaglich iſt mirs auf dem Roſenpfuͤhl.

Du ruͤhreſt nur daran und geheſt auf in Flammen;

Wie kommt dein Ungemach und mein Gemach zuſammen?

Kann Tod und Leben ſo von gleicher Weide ſtammen?

[113]
Da ſprach der Schmetterling zum Salamander ſterbend:

So iſt, was den erquickt, dem anderen verderbend.

Vielleicht beneidet wer dich um dein zaͤhes Leben,

Die Liebe aber liebt das ihre aufzugeben. —

Mein Herz, vergleicheſt du die beiden mit einander,

Du ziehſt den Schmetterling wol vor dem Salamander.

188.


Rechne nicht auf die Welt und ihren Freudenzoll;

Sie gibt es tropfenweis und nimmt den Becher voll.

In Groſchen ſtreckt ſie vor, und will zum Zins den Thaler,

Kein Stuͤndchen Stundung auch gibt ſie dem ſaͤum'gen Zahler.

189.


Du ſteuerſt, Steuermann, dein Schiff nach einem Sterne,

Der dir die Richtung zeigt, und deutet in die Ferne.

Die Richtung, wo du kommſt zum Ziele, zeigt der Stern,

Er ſelbſt iſt nicht das Ziel, und bleibt dir ewig fern.
[114]

190.


Im Sonnenſchein des Gluͤcks iſt Schwachen Stolz erlaubt;

Der Kuͤrbis wuchs der Eich' im Sommer uͤbers Haupt.

Der Winter kam und hat die Eiche kahl geſchoren,

Doch immer blieb ſie friſch, der Kuͤrbis iſt erfroren.

191.


Was ſchlichtet, Herz, den Streit, der dich mit dir entzweit?

Die Gottesfurcht, die dich von aller Furcht befreit;

Von aller Furcht der Welt und weltlicher Geſchicke,

Von aller Furcht vor dir, dem quaͤlendſten der Stricke.

Verſtoͤren kann dich nichts, wenn du dich nicht verſtoͤrſt,

Und frei nur fuͤhlſt du dich, wenn du dem Herrn gehoͤrſt.

Wie ſchoͤn iſts einen Herrn ſtatt vieler Herrn zu haben,

Der ſeine Diener kann mit Herrlichkeit begaben.
[115]

192.


Das Ungluͤck in der Welt ſuch', als du kanſt, zu lindern,

Soweit umher du reichſt, zu mildern und zu mindern.

Warum? ſchon weil es dich im eignen Gluͤck wird hindern.

Doch reicheſt du nicht weit mit deinem ſchwachen Troſt;

Vom Mund drei Spannen ſtirbt dein warmer Hauch im Froſt.

Was bleibt dir da zum Troſt, als daß, was Ungluͤck ſcheint,

Von dem, der Aller Gluͤck will, anders iſt gemeint;

Und wer die Gabe nur, wie ſie gemeint iſt, nimmt,

Den foͤrdert ſie dazu, wozu ſie war beſtimmt.

Nicht heben kann dein Blick den ſchwarzen Trauerſchleier,

Darunter ſaͤhſt du ſonſt das weiße Kleid der Feier.
[116]

193.


Der Armen Anblick iſt ein ſtummer Vorwurf dir,

O Reicher, frage dich: Wer gab den Vorzug mir?

Der dir den Vorzug hat gegeben vor den Armen,

Gab er nicht auch fuͤr ſie dir in die Seel' Erbarmen?

Und ſind ſie dankbarer fuͤr ihre Bloͤße gar,

Als du fuͤr deine Pracht, wie biſt du undankbar!

Und wenn an freudigem Vertraun ſie dich beſchaͤmen,

So braucht zur Strafe dir Gott nicht den Schatz zu nehmen.

Er laſſe dir den Schatz, damit du wie die Schlange,

Die ſchaͤtzehuͤtende, dich kuͤmmerſt zag und bange,

Daß es die Armuth ſeh' und nicht ſolch Gluͤck verlange.
[117]

194.


Ein alter Weiſer lehrt, daß Tugend vielerlei,

Doch ſtets ein Mittleres von zweien Aeußern ſei;

Im Weſen ſelber eins, doch von verſchiednen Namen,

Wie viele Schoͤßlinge aus einer Wurzel kamen.

Gerechtigkeit, entfernt von Zu- und Gegenneigung,

Von Vorlieb' und Mislieb', Abgunſt und Gunſtbezeigung.

Leutſeligkeit, entfernt von Schmeichelei und Trutz,

Wie Wohlanſtaͤndigkeit von Flitterpracht und Schmutz.

Mannhaftigkeit, entfernt von Trotzigkeit und Zagnis,

Und Tapferkeit, von Furcht und uͤbermuͤth'gem Wagnis.

Freigebigkeit, gleichfern von Geiz und von Verſchwendung;

Beſonnenheit, ſo fern von Argliſt als Verblendung.

Der Glaube, gleich entfernt von Un- und Ueberglauben,

Der nichts dir dringet auf, und nichts ſich laͤſſet rauben.

Die Nuͤchternheit, entfernt von Schlemmerei und Faſten;

Die Ruͤhrigkeit, entfernt von Uebereil' und Raſten.

[118]
Demuth, gleichweit von Stolz und Niedertraͤchtigkeit,

Wie Leibeswohlgeſtalt von Fett und Schmaͤchtigkeit.

Das Mittelmaß iſt gut dem Alter wie der Jugend,

Nur Mittelmaͤßigkeit allein iſt keine Tugend.

Im Mittelmaß vereint ſich zweier Aeußern Kraft,

Doch Mittelmaͤßigkeit iſt beider untheilhaft.

195.


Was einmal iſt geſchehn, das laß auf ſich beruhn,

Verſaͤume nicht, auch das, was du noch kannſt, zu thun.

Ergib dich nur in das, was du nicht aͤndern kannſt,

So fuͤhlſt du, daß du gleich zu Anderm Kraft gewannſt.

196.


Man ſagt, die Traͤgheit ward vom Unverſtand gefreit,

Und ihrer Eh entſproß Armuth und Duͤrftigkeit.

Die Eltern legten nur die Haͤnde in den Schooß,

Doch ohne Unterhalt wurden die Kinder groß.

[119]
Die waren undankbar, und trieben aus dem Haus

Die Eltern, und das Paar zog in die Welt hinaus.

Da war es wunderbar, ſie ließen doch die Kinder

Zu Haus, und fanden nun ſie da und dort nicht minder.

Voll Schrecken flohen ſie und wollten ſich verſtecken,

Doch ſtets bedrohen ſie die Kinder aus den Ecken.

197.


Vertrau auf Gottes Schutz! Wer koͤnnte ſonſt dich ſchuͤtzen?

Und ſtuͤtze dich auf ihn! Auf wen willſt du dich ſtuͤtzen!

Der Welt Bosheit gereicht zum Beſten Gottes Kindern,

Und foͤrdern werden dich ſelbſt Feinde die dich hindern.

198.


Mein Kind, du biſt ſchon lang der Mutter aus der Wiegen,

Nun hilf dir ſelbſt; wie du dir betteſt, wirſt du liegen.

Mein Kind, du biſt ſchon lang der Mutter aus der Wiegen,

Die Fluͤgel wuchſen dir, gebrauche ſie zum Fliegen.

[120]
Mein Kind. du biſt ſchon lang der Mutter aus der Wiegen;

Der kommt nicht auf den Berg, wer nicht hinauf geſtiegen.

Mein Kind, du biſt ſchon lang der Mutter aus der Wiegen;

Greif an die Schwierigkeit, ſo wirſt du ſie beſiegen.

199.


Laß kommen, was da mag, ohn' es zuvor zu klagen!

Zum Klagen iſt die Zeit wann wir das Weh ertragen.

Hier iſt noch trockner Grund, wir ziehen Schuh und Strumpf

Nicht ehr zum Waten aus als bis wir ſind am Sumpf.

200.


Durch Schaden wird man klug. Du gehſt auf Heiles Pfaden,

Wenn ſtatt durch eignen klug du wirſt durch fremden Schaden.

Beiſpiele ſtehn vor dir, nimm Warnung an von ihnen,

Daß du nie moͤgeſt ſelbſt zum Warnungsbeiſpiel dienen.
[121]

201.


Ein Bild von Großmuth iſt der Loͤw' und Tapferkeit,

Es iſt ihm angeſtammt der Ruhm aus alter Zeit.

Zwar ſagen Maͤnner, die auf Laͤnderkunde reiſen,

Allbeides ſei an ihm nicht unbedingt zu preiſen.

Allein wir glaubens nicht, und glauben ſonſt doch gern,

Was zur Verkleinerung gereichet großen Herrn.

Von koͤniglichem Muth wo wuͤrde denn gefunden

Ein Vorbild, wenn es waͤr' am Loͤwen auch verſchwunden!

202.


Ein Sinnbild des Vereins der Schale mit dem Kerne

Iſt die Vereinigung des Lichts und der Laterne.

Wer die Laterne traͤgt, und hat kein Licht darinn,

Davon hat weder er noch irgendwer Gewinn.

Rückert, Lehrgedicht II. 6
[122]
Wer offen traͤgt ſein Licht, von keinem Schirm umwacht,

Hat unverlaͤſſiges Geleit bei wind'ger Nacht.

Nur wem das Licht zugleich und die Latern' iſt eigen,

Sieht ſelber ſeinen Weg, und kann ihn andern zeigen.

203.


Dein wahrer Freund iſt nicht, wer dir den Spiegel haͤlt

Der Schmeichelei, worin dein Bild dir ſelbſt gefaͤllt.

Dein wahrer Freund iſt, wer dich ſehn laͤßt deine Flecken,

Und ſie dir tilgen hilft, eh Feinde ſie entdecken.

204.


Wie ſelten ahnt ein Freund, was dein Gemuͤth bekriegt;

Ihm ſteht von weitem, was dir naͤchſt am Herzen liegt.

Auch zwiſchen Freunden gibts unmittheilbare Sachen,

Die jeder mit ſich ſelbſt und Gott hat abzumachen.
[123]

205.


Es iſt ein alter Spruch: Reiß ein dein altes Haus,

So findeſt du den Schatz, und bauſt ein neues draus.

Was iſt damit gemeint? die ernſtliche Belehrung:

Bekehrung gruͤndliche, verkehrten Sinns Umkehrung.

An alt baufaͤlligem Gebaͤude hilft kein Flicken,

Zum morſchen Balken wird kein derber Stein ſich ſchicken.

Du magſt hier einen Klaff, dort einen Sprung verkleben,

Stets wird ob deinem Haupt der Einſturz drohend ſchweben.

Drum faß ein ſtark Vertraun, laß dir vorm Schutt nicht graun,

Und bau von Grund-auf neu, was nicht iſt umzubaun.

Der aber iſt begluͤckt, wer ſtets, zur rechten Zeit

Nachhelfend, hielt ſein Haus im Stand der Baulichkeit.
6*
[124]

206.


Wer viele Diener hat, hat viele zu bedienen;

Denn alle dienen ihm nur weil er dienet ihnen.

Bedienen muß er ſie mit Unterhalt und Lohn;

Haͤlt das ſie nicht im Dienſt, ſo laufen ſie davon.

Sie dienen mit dem Leib, ihr Geiſt iſt ſorgenfrei,

Sie laſſen ihrem Herrn der Sorgen Sklaverei.

207.


Wozu ein großes Haus? es nuͤtzt nicht voll noch leer.

Zu einem großen Haus gehoͤrt ein großes Heer.

Zu einem großen Heer gehoͤrt ein reicher Sold,

Zum reichen Sold gehoͤrt ein eigner Schacht von Gold.

Zum Schacht von Gold gehoͤrt viel Muͤh wol, ihn zu graben;

Drum will ich auf der Welt ein kleines Haus nur haben.

Das groͤßte Haus iſt eng, das kleinſte Haus iſt weit,

Wenn dort iſt ein Gedraͤng und hier Zufriedenheit.
[125]

208.


Das Sprichwort ſagt: Wenn ſich der Fuchs in ſeinem Bau

Verſchanzet, und verſchließt die Pforten recht genau,

Und davor ſteht der Loͤw' und droht mit grimmem Streich,

So iſt der Schwache drin dem Starken draußen gleich.

209.


Wenn einer hat genug, ſoll er nach mehr nicht ſtreben;

Allein das ſchwere iſt genug zu haben eben.

Nie hat genug ein Mann an dem was er gewann,

So lang er denkt, daß er noch mehr gewinnen kann.

Kaum die Betrachtung hemmt ſein thoͤrichtes Beginnen,

Daß, wer viel hat, mehr kann verlieren als gewinnen.
[126]

210.


Ein ſchlimmer Tiſchfreund iſt Begierde, die nicht ſatt

Von Kleinem wird, und nicht genug am Groͤſten hat.

Ihr Schlund verſchlingt, was ſie vom Mund dir weggeriſſen,

Und ſchmecken laͤßt ſie dir in Ruhe keinen Biſſen.

211.


Oft war ich ſo gebeugt, wenn alles mir gegluͤckt,

Und ſo erhoben oft, wenn alles mich gedruͤckt.

Aus etwas anderm als Gelingen und Mislingen

Der Außendinge muß mein Wohl und Weh entſpringen.
[127]

212.


Der Kranke, wenn er klagt um bittern Schmack im Munde,

Nicht ſuͤße Arzenei gibt ihm der Arzt zur Stunde;

Er gibt ihm bittre, nicht damit ihm bitter bleibe

Der Mund, nein, Bitterkeit die Bitterkeit vertreibe.

Der Kranke, wenn er ihm vertraut, geneſt vom Grunde,

Und ſchmeckt die Suͤße der Geſundheit neu im Munde.

213.


Die Weiſen lehren dich, ſo ſchwierig als Entſagung

Des Wuͤnſchenswerthen ſei des Widrigen Ertragung.

Ich aber darf es dir wol im Vertrauen ſagen:

In dem Sinn hab' ich nie entſagt und nie ertragen.

Was ich gegeben hin, was ich auf mich genommen,

Ich kann nicht ſagen, ſchwer ſei es mir angekommen.
[128]

214.


Der Meiſter hat geſagt: Es ſtaͤnden unſre Sachen

Viel beſſer, koͤnnte man nur alles zweimal machen.

Im Kleinen magſt du das am Einzelnen probieren,

Im Großen geht es nicht, du wirſt die Zeit verlieren.

Was hilft im Einzelnen des Zweimalmachens Qual?

Das ganze Leben doch man lebt es nur einmal.

215.


Der Menſch dem Leibe nach wohnt in verſchiednen Zonen,

Und nach dem Geiſt in gar verſchiednen Regionen.

Nicht iſt von Nordens Eis bis Suͤdens Sonnenbrand

Verſchiedner abgeſtuft das aͤußre Vaterland,

Als von der nuͤchternſten Betrachtung bis zum Schwung

Der hoͤchſten Andacht iſt die innre Steigerung.

Nicht wohnen kann ein Menſch zugleich in allen Zonen,

Doch wechſelweis der Geiſt in allen Regionen.
[129]

216.


Gezogen iſt ein Kreis, lang eh du tritſt darein,

Worin der Tummelplatz ſoll deiner Kraͤfte ſeyn.

Erweitern kanſt du ſelbſt ihn weder noch verengern,

Nicht deine Bahn darin verkuͤrzen noch verlaͤngern.

Zufrieden kanſt du ſeyn bei jedem Schritt darinn,

Daß, ſtatt nach deiner Wahl, es geht nach Gottes Sinn.

217.


Verſtand iſt zweierlei: der ein' iſt angeboren,

Dein Wiegeneingebind und Mahlſchatz unverloren.

Erſt zu erwerben iſt der andre, zu erſparen,

Der mit den Jahren waͤchſt durch Lernen und Erfahren.

Der zwei Verſtaͤnde kann ein Mann entbehren keinen,

Und erſt ein ganzer wirds, wo beide ſich vereinen.
[130]

218.


Zwei Gleiche koͤnnen nicht im gleichen Felde gelten;

Doch Anſpruch machen zwei aufs voͤllig gleiche ſelten.

Meiſt hat doch jeder Mann ſein eignes Feld, und kann

Dem Nebenmanne wohl das goͤnnen nebenan.

219.


Dich ehr' ich, wenn du nie verwechſelt Zweck und Mittel;

Doch Anſpruch haſt du dann auf hoͤchſten Ehrentitel,

Wenn, was als eigner Zweck genuͤgend waͤr' erſchienen,

Als Mittel ſich erweiſt dem hoͤhern Zweck zu dienen.

220.


Seh' ich in ſeiner Huͤlfsbeduͤrftigkeit ein Kind,

So fuͤhl' ich, wie vor Gott wir alle Kinder ſind.

Wie haͤlfeſt du dir, Herz, wollt' er nicht dein des armen

Sich ebenſo, wie du dich deines Kinds, erbarmen!
[131]

221.


Wenn Gutes dir gelang, warum willſt du dich ſcheun,

Weil es nicht dir entſprang, dich deſſen doch zu freun?

Da du ſo oft bereun mußt, was du ſchlecht gemacht,

Soll dich nicht einmal freun auch was du recht vollbracht?

222.


Das Unkraut, ausgerauft, waͤchſt eben immer wieder,

Und immer kaͤmpfen mußt du neu das Boͤſe nieder.

Wie du mußt jeden Tag neu waſchen deine Glieder,

So die Gedanken auch an jedem Tage wieder.

223.


Ein Weiſer, einſt gefragt, wozu ſei nutz das Leben

Auf Erden?, ſprach: um ſich zum Himmel zu erheben.

Zum Himmel wollen hier ſich alle lebenden

Erheben, alle wie verſchieden ſtrebenden.

[132]
Zum Himmel heben will der eine ſich durch Ruhm,

Der andere durch Macht und hoͤchſtes Herſcherthum;

Ein dritter durch Genuß der Guͤter dieſer Erde,

Ein vierter durch die Flucht vor Muͤhſal und Beſchwerde;

Ein andrer wiederum durch Duldmuth und Ertragung,

Und endlich einer durch Gebet und Weltentſagung.

Der Weiſe ſieht die buntgetheilten Lebenskreiſe,

Und freut ſich, daß ſoviel mit ihm auf gleicher Reiſe

Verſchiedne Wege gehn, er laͤßt ſie gehn auf ihren,

Und ſorget im Gedraͤng nicht ſeinen zu verlieren.

224.


„Du, der du einſt geklagt, dich fuͤhlend unbefriedigt,

Nun klageſt du nicht mehr, und biſt du nun befriedigt?“

Befriedigt bin ich nicht, doch geb' ich mich zufrieden,

Daß nicht Befriedigung zu finden ſei hienieden.
[133]

225.


In Unentſchiedenheit und Zweifelmuth beklommner!

Einſt wirſt du gluͤcklicher, einſt wirſt du ſeyn vollkommner.

Einſt wirſt du wiſſender, einſt beſſer als du biſt;

Weil jeder das nur wird, was er ſchon ſtrebend iſt.

Dein fremdes Streben reicht weit uͤber dich hinaus

Wo du dich ſelbſt erreichſt, da biſt du erſt zu Haus.

226.


Die helle Gotteswelt, wie ſteht ſie voll Gebilde

Schoͤnleuchtender, wie hell voll Blumen ein Gefilde.

Und was du ſelber thuſt, und was du ſelber biſt,

O fuͤhle wie's voll Luſt Blum' unter Blumen iſt.

So bluͤhe dich nur aus, ſo dufte nur und lebe;

Und pfluͤckt man dich zum Straus, vor Blumentod nicht bebe!
[134]

227.


Du meine Mutter nicht, doch, Erde, meine Amme,

Von deren Milch genaͤhrt bluͤht meine Geiſtesflamme!

Du haſt zur Freude mir dich immer bunt geſchmuͤckt,

Und unter Blumen mich am Buſen feſtgedruͤckt.

In deinem Bande lernt' ich ſtehn und gehn, mich wiegen

Im Traum der Luſt, und nun lernt' ich dir zu entfliegen.

Leb wohl! vom Segen ſei des Himmels uͤberthaut,

Der zur Erziehung mich ſolang dir anvertraut.

Dort nach dem weiten Haus des Vaters geht mein Lauf,

Die Mutter ſuch' ich dort, die unbekannte, auf,

Die hohe, die ſich mir im Traum nicht hat verhehlt,

Und Ammenmaͤrchen haſt du mir von ihr erzaͤhlt.
[135]

228.


Was iſt des Geiſtes Leib? Der Koͤrper iſt es nicht,

Der, aufgebaut aus Staub, in Staub zuſammenbricht.

Das iſt des Geiſtes Leib: die Form, die er ſich baut,

In der mit Geiſtesblick ein Geiſt den andern ſchaut.

Das iſt der Leib, der jetzt die grobe Koͤrperhuͤlle

Durchſchimmernd, wann ſie faͤllt, vortritt in klarer Fuͤlle.

In dieſem Leib ſehn wir uns dort, laßt uns vertrauen:

Der Geiſt hat ſeinen Leib, um, ſelbſt geſchaut, zu ſchauen.

229.


In Andacht ſtehn wir feſt, o Erd', auf dir, und preiſen

Die Elemente, die in dir und um dich kreiſen;

Die Flut, die dich umſchließt, die Glut, die dich durchfließt,

Die Luft, die um dich weit ſich wie ein Mantel gießt.

So uͤberſchwaͤnglich ſind die drei und wunderbar,

Daß ſich jedwedes ſtellt als ein Weltanfang dar;

[136]
Sodaß die Weiſen, die zuerſt Welturſprung dachten,

Zum Erſten dieſe dis und jene jenes machten.

Aus Waſſer ließen die hervor die Schoͤpfung tauchen,

Und die aus Feuerglanz, und die aus Aetherhauchen.

In Eintracht faſſen wir die ſtreitenden zuſammen,

Und ſehn die Welt erbluͤhn aus Luͤften, Fluten, Flammen.

Wer koͤnnt' am Weltgeweb recht ſondern alle Faͤden,

Dreifach zuſammen wol geſchlungen faͤnd' er jeden.

Doch wir zerpfluͤcken nicht den Teppich der Natur,

Und freun uns der aus Drei gewebten Buntheit nur.

230.


Der Punkt iſt eins fuͤr ſich, zwei Punkte ſind der Strich,

Drei Striche Flaͤchenraum, vier Flaͤchen koͤrperlich.

Sobald die Vierzahl iſt, eins zwei drei vier, vorhanden,

Iſt aus dem Punkt, dem Nichts, die Koͤrperwelt entſtanden.

Und aus eins zwei drei vier muß alle Zahl beſtehn,

Denn wer vier drei zwei eins zuſammenzaͤhlt, hat zehn.
[137]

231.


Der Zahlen Grenz' iſt zehn, die Grenze fuͤr die Todten

Und Lebenden beſteht in Gottes zehn Geboten.

Zehn Finger haſt du drum, o Kind, um ohne Fehlen

An deiner Hand die zehn Gebote herzuzaͤhlen.

232.


Die Dinge, ſpielen ſie mit dir, ſpielſt du mit ihnen?

Zur Irrung gegenſeits nur ſcheint ihr euch zu dienen.

In dieſem Augenblick will dieſes wahr dir ſcheinen,

Im andern Augenblick willſt du's als falſch verneinen.

Was iſt von beiden nun? iſt beides wohl zugleich?

Iſt nacheinander es, ein Werden wechſelreich?

Allbeides iſt in dir, von einem Nu getrennt.

Was iſt nun das in dir, das ſo und ſo es nennt?

Das iſt dein Wechſelndes, das Wechſel bringt den Dingen;

Wo iſt ein Stehendes, um ſie zum Stehn zu bringen?

[138]
Dis Stehende kann ſeyn das Ewige allein,

Vor dem die Wahrheit ſteht und niederfaͤllt der Schein.

Zieh alles Irdiſche vor dieſes Gottgericht!

Wahr iſt, was mit ihm ſtimmt, und falſch was widerſpricht.

233.


Daß in denſelben Fluß du kannſt nicht zweimal ſteigen,

Weil jeden Augenblick ihm andre Flut iſt eigen,

Und daß du ſelber auch, dir ſelber nicht getreuer,

Biſt jeden Augenblick ein anderer und neuer;

Der Weiſe, der dis ſprach, du meineſt wol, daß ſchwach

Er war und wandelbar, beweglich wie der Bach?

Vielmehr unwandelbar war er, und blieb dabei,

Beharrlich, ſteif und ſtaͤt, daß Alles unſtaͤt ſei.

Selbſt unbeweglich, ließ er alles ſich bewegen,

Und dachte nicht daran ſich ſelbſt zu widerlegen.
[139]

234.


Ein Lehrer lehrt dich, daß es keine Wahrheit gebe,

Und geb' es eine, ſie doch unerkennbar ſchwebe,

Und wenn erkennbar, ſei ſie doch nicht mitzutheilen.

Was kann den Lehrling vom dreifachen Zweifel heilen?

Des Lehrers Lehre ſelbſt, die er als wahr ausſpricht;

Denn, ſeiner Lehre nach, iſt ſie auch Wahrheit nicht.

Nun wenn nicht dis, ſo iſt das Gegentheil denn wahr,

Daß eine Wahrheit ſei, erkenn- und mittheilbar.

235.


Daß gar kein Wiſſbares, daß nichts unwiſſbar ſei,

Iſt einerlei im Sinn, im Ausdruck zweierlei.

Im Ausdruck theilten ſich, im Endzweck einverſtanden,

Scheinweiſe, die im Kampf mit wahren Weiſen ſtanden.

Scheinweiſe wiſſen, auf in gleichen Schein zu loͤſen

Wahrheit und Unterſchied des Guten und des Boͤſen.

[140]
Doch Weiſe wiſſen feſt den Unterſchied zu halten,

Die Wahrheit im Geweb des Irrthums zu entfalten:

Daß etwas nicht gewußt, etwas gewußt kann werden,

Und dis iſt noth uns juſt, und jenes nicht, auf Erden.

236.


Wie unvollkommene Vorſtellungen von Sfaͤren

Des Himmels und der Welt kannſt du im Geiſte naͤhren,

Und doch vollkommen feſt in deiner Sfaͤre ſeyn;

So wenig fließet auf das Thun das Wiſſen ein.

Wer recht thut in der Welt, hat rechten Weltverſtand,

Ob er auch nicht die kunſtgerechten Formeln fand.

Der Ausdruck fehlt ihm nur, doch nicht der Einſicht Kern;

Und wer entbehrt nicht um den Kern die Schale gern?
[141]

237.


Das Gute kommt von dir, das Boͤſe von der Welt

Zum Theil, zum Theil von mir, mit dem es ſteht und faͤllt.

Das Boͤſe von der Welt das werd' ich leichter daͤmpfen,

Das Boͤſe von mir ſelbſt hilf mir du ſelbſt bekaͤmpfen!

238.


Die Fehler, die zu tief dir waren angepraͤgt,

Sie plagen dich noch lang, wann du ſie abgelegt.

Zum Vorſchein kommen ſie an deinen Kindern wieder,

Und durch Erziehung kaͤmpfſt du ſie noch einmal nieder.

239.


Die Weltbetrachtungsart und Ueberzeugungsweiſe,

Die ſich gebildet hat ein Volk in ſeinem Kreiſe,

Erſchuͤttert muß ſie ſeyn und innerlich geſtoͤrt,

Sobald ein Volk allein nicht mehr ſich angehoͤrt;

[142]
Sobald es auch nur hoͤrt von fremden Sitten ſagen

Und Meinungen, die nicht mit ſeinen ſich vertragen:

Zuerſt erwehrt es ſich andringender Gefahren

Dadurch, daß es mit Stolz die Fremden nennt Barbaren.

Doch halten kann nicht lang des ſtolzen Wahns Umſchildung,

Und die Einbildung ſchmilzt mit fortgeſchrittner Bildung.

Dann droht ein andrer Wahn mit naͤherer Gefahr:

Daß in der Menſchenwelt nichts ſei unwandelbar.

Das eine gelte hier, das andre gelte dort,

Und an ſich Geltendes ſei drum an keinem Ort.

Kein an ſich Geltendes des Guten, Schoͤnen, Rechten;

Das iſt der Kampf, den nun die Bildung durch muß fechten.

Ihn helfe fechten, wer zuerſt ihn angeregt,

Weltweisheit, die die Welt vor Augen uns gelegt:

Sie zeig' uns, daß die Form des Guten mancherlei,

Doch ſtets an einem Ort nur eins das Rechte ſei.

Der Bildung Gipfel ſei, an Fremden anerkennen

Das Fremde, doch ſich ſelbſt nicht von ſich ſelber trennen.
[143]

240.


Noch jede Zeit hat umgeformt nach ihrem Brauch

Die Weisheit alter Zeit, und ſo thun wir es auch.

Wir nehmen ſie nur an, wie wir ſie brauchen koͤnnen,

Und fuͤgen muß ſie ſich, wo wir den Platz ihr goͤnnen.

Nimmt ſie ſich minder aus im Haus, als einſt im Zelte,

Doch iſt es beſſer, daß ſie ſo, als gar nicht, gelte.

241.


Gar manche glauben, ſprach ein Weiſer wohlbefliſſen,

Nicht minder ihrem Wahn, als andre ihrem Wiſſen.

Das eben iſt der Wahn, der was zu wiſſen meint,

Da wahres Wiſſen ſich unwiſſend immer ſcheint.

Drum waͤchſt das Wiſſen, das nie gnug zu wiſſen glaubt,

Des Fortſchritts aber hat der Wahn ſich ſelbſt beraubt.
[144]

242.


Vom Glauben gehſt du aus, und kehrſt zuruͤck zum Glauben;

Der Zweifel ſteht am Weg, die Ruhe dir zu rauben.

Gehſt du ihm aus dem Weg? er iſt auf allen Wegen,

In anderer Geſtalt tritt er dir dort entgegen.

Drum flieh nicht vor dem Feind, und ſuch' ihn auch nicht auf;

Wo er dir aufſtoͤßt, raͤum' ihn fort aus deinem Lauf!

Bekaͤmpfen mußt du ihn, du mußt ihn uͤberwinden,

Willſt du durch ſein Gebiet den Weg zur Wahrheit finden.

Du zweifelſt nicht, weil du geworden weiſer biſt;

Du zweifelſt, weil noch reif nicht deine Weisheit iſt.

Der Zweifel iſt die Huͤll', in der die Frucht ſoll reifen,

Und die gereifte Frucht wird ihre Huͤll' abſtreifen.
[145]

243.


Die Zukunft habet ihr, ihr habt das Vaterland,

Ihr habt der Jugend Herz, Erzieher, in der Hand.

Was ihr dem lockern Grund einpflanzt, wird Wurzel ſchlagen;

Was ihr dem zarten Zweig einimpft, wird Fruͤchte tragen.

Bedenkt, daß ſie zum Heil der Welt das werden ſollen,

Was wir geworden nicht, und haben werden wollen.

244.


Mein Kind, o koͤnnt' ich dich, da du nun auf die Schwellen

Des Lebens eintritſt, gleich ans Ziel im Geiſte ſtellen;

Damit du, was gethan am Schluß einſt deiner Bahn

Du moͤchteſt, thaͤteſt jetzt, indem du ſie tritſt an.

Mein Kind, auf dieſem Weg bin ich vor dir gegangen;

Was hilfts, vor Dornen dich zu warnen und vor Schlangen?

Mein Kind, mit deinem Gang heb' ich neu meine Schwingen;

Was ſelbſt mir nicht gelang, das moͤge dir gelingen.

Rückert, Lehrgedicht II. 7
[146]
Was ſelbſt ich nicht errang, das moͤgeſt du erringen;

Was unvollbracht ich ließ, Gott laſſ' es dich vollbringen.

Mein Kind, ich zittre beim Gedanken ſchon, daß fallen

Du koͤnneſt, und allein muß ich dich laſſen wallen;

Allein, in Gottes Hut, allein mit deinem Muth;

Schreit und bedenk, daß man zuruͤck den Schritt nie thut.

245.


Zum Himmel blick' empor, er iſt voll heller Kerzen;

Kind, freudig habe Gott vor Augen und im Herzen.

In jedem Augenblick ſollſt du ihm angehoͤren,

Das will er, doch dich nicht in deiner Freude ſtoͤren.

Er will nicht, daß du ſollſt in ſtetem Bangen ſchweben,

Denn er iſt nicht der Tod, er iſt das ew'ge Leben.

Verſchließeſt du dich ihm, ſo dringt er doch herein,

Und macht mit ſeinem Blitz zunicht den falſchen Schein.

Doch nimmſt du ſelbſt ihn ein, wird er mit Luſt dich naͤhren,

Und nicht dein Irdiſches vernichten, nur verklaͤren.

[147]
Entweichen kannſt du nicht, er wird dich uͤberſchleichen;

Vergleichen mußt du dich, die Hand zum Bund ihm reichen.

Mit ihm im Kampfe, biſt du nie mit dir im Frieden!

Im Frieden ſei mit ihm, ſo iſt der Kampf geſchieden.

246.


Kind, lerne zweierlei, ſo wirſt du nicht verderben;

Zum erſten lerne was, um etwas zu erwerben.

Zum andern lerne das, was Niemand dich kann lehren:

Gern das, was du nicht kannſt erwerben, zu entbehren.

247.


Noch ſorgen andere, mein Kind, fuͤr dich und wachen;

Bald es fuͤr dich zu thun mußt du dich fertig machen.

Und biſt du fuͤr dich ſelbſt von Sorgen einſt geborgen,

Fuͤr andre haſt du dann zu wachen und zu ſorgen.

Der Menſch wird niemals frei von dieſer Sorgenwacht,

Die er bald anderen, und bald ſich ſelber macht.
7*
[148]

248.


Der groͤßre Bruder ſoll die kleinern uͤberwachen,

Und dieſe ſollen ihn zu ihrem Vorbild machen.

So tritt er halb und halb ſchon an des Vaters Statt,

Die ihnen er vielleicht einſt zu vertreten hat.

249.


So mancher klagt, und ſagt, daß ihn die Welt verkennt;

Doch kann er ſagen wol, daß er ſich ſelber kennt?

Kennſt du dich nicht, woran erkennſt du mein Verkennen?

Wer nicht verkannt will ſeyn, muß erſt ſich ſelbſt erkennen.
[149]

250.


Wer ſeine Schwaͤchen kennt, wird fremde nicht beſchreien,

Und wo er Nachſicht ſelbſt bedarf, auch gern verzeihen.

Doch wird er uͤberlaut auch Glaͤnzendes nicht loben,

Weil menſchliches Verdienſt er kennt aus eignen Proben.

Gleich von Bewunderern entfernet wie von Spoͤttern,

Wird er ſowenig, als verdammen, auch vergoͤttern.

251.


Das Tonſpiel kennen muß, wer's brauchen will zum Spiele;

Und ſo die Menſchen wer ſie leiten will zum Ziele.

Denn Niemand will allein und kann zum Ziele ſchreiten,

Wo nicht zum gleichen Ziel der andern viele ſchreiten.

Und iſt das Ziel nur gut, ſo iſt nichts einzuwenden,

Wenn du zu deinem Ziel weißt andre fein zu wenden.

Denn leider ohne Ziel gehn in der Irre viel,

Die es dir danken, wenn du ihnen zeigſt ein Ziel.
[150]

252.


Kein Vorbereiten hilft, das Rechte recht zu thun,

Denn anders dachteſt du, und anders thuſt du nun.

Ein andrer fuͤhlſt du dich im Thun, als du dich dachteſt,

Und findeſt andres vor, als du in Rechnung brachteſt.

Drum iſt kein Rath, als dich im Ganzen recht zu faſſen,

Und dann das Seinige dem Augenblick zu laſſen.

253.


Iſt in dir etwas noch, das du dich ſchaͤmſt zu zeigen,

Zu deiner Ehre was du andern mußt verſchweigen?

Was hilft es dir, wenn du's dem Blick der Welt entziehſt,

Da wider Willen doch du es vor Augen ſiehſt?

Das wirf aus dir heraus, wenn du dir willſt erſparen

Des Anblicks Unluſt ſammt der Muͤh es zu verwahren.
[151]

254.


Den innern Widerſpruch im Menſchen zu erklaͤren,

Verneinten manche, daß in ihm zwo Seelen waͤren,

Und ihn zum Guten die, zum Boͤſen jene triebe,

Er aber unterthan bald der bald jener bliebe.

Und andre nahmen an, daß ihn zu beiden Seiten

Zween Engel, einer boͤſ' und einer gut, begleiten,

Die hier ins rechte Ohr ihm fluͤſtern, dort ins linke,

Hier, daß er ſich erheb', und dort, daß er verſinke.

Zwo Seelen ſollſt du nicht, noch auch zween Engel glauben;

Die Freiheit wuͤrdeſt du, die eigne Kraft dir rauben.

Der Widerſpruch iſt da, woher iſt er gekommen?

Aus dem Verſchiedenen, woraus dich Gott genommen.

Genommen hat er, daß du beider Einheit ſeiſt,

Von Erde deinen Leib, von Himmel deinen Geiſt.

Der Leib von Erde kann nur Irdiſches begehren,

Der Geiſt vom Himmel nur zum Himmliſchen ſich kehren.

[152]
So hat er dich gemiſcht, daß du dich ſelbſt bekriegeſt,

Mit deinem Hoͤheren dein Niederes beſiegeſt,

Ein Bild der Schoͤpfung ſelbſt, die er nur dazu ſchuf,

Daß dienſtbar Leibliches ſei geiſtigem Beruf.

255.


Wer ſelber ſich beherrſcht, beherrſchet auch die Welt,

Weil ſtets das Aeußere des Innern Spiegel haͤlt.

Wer ſich beherrſcht, den kann beherrſchen außenher

Kein Herrſcher, denn allein im Aeußern herrſchet der.

Bedingen kann er dich mit Macht und dich umringen,

Eindringen kann er nicht und in dir dich bezwingen.

Antaſten kann er nicht dein eignes Herrſcherthum,

Du aber goͤnneſt gern ihm ſeinen Herrſcherruhm;

Wie du dem Blitze goͤnnſt, dem Sturmwind ſeine Fluͤgel:

Im Zuͤgel halte dich! Gott haͤlt die Welt im Zuͤgel.
[153]

256.


Der Menſch kann was er will, wenn er will was er kann;

Iſt wohl ein guter Spruch, doch gnuͤgt er nicht dem Mann.

Der Menſch kann was er will, wenn er will was er ſoll;

In dieſem iſt das Maß der Mannestugend voll.

Das iſt der Zauberbann, womit du alles ſtillſt:

Wolle nur was du ſollſt, ſo kanſt du was du willſt.

257.


Ein gutes Werkzeug braucht zur Arbeit ein Arbeiter,

Und gute Waffen auch zum Waffenſtreit ein Streiter.

Du Streiter Gottes und Arbeiter, merk's, o Geiſt,

Daß deines eignen Leibs du nicht unachtſam ſeiſt.

Das iſt dein Arbeitszeug, das iſt dein Streitgewaffen;

Das halte wohl in Stand, zu ſtreiten und zu ſchaffen!

[154]
O wie du dich bethoͤrſt, wenn du den Leib zerſtoͤrſt,

Der dir ſo angehoͤrt, wie du Gott angehoͤrſt.

Wie du Gott angehoͤrſt, gehoͤrt dein Leib dir an,

Und ohne deinen Leib biſt du kein Gottesmann.

258.


Sei maͤßig im Genuß, nicht bloß gewuͤrzter Speiſen,

Geiſtiger Wuͤrzen auch in Buͤchern deiner Weiſen.

Mit Speiſen wirſt du nur den Magen uͤberladen,

Doch fremdes Denken kann dem eignen Denken ſchaden.

Drum, wie du iſſeſt nur ſoviel du kanſt verdauen,

So lis auch mehr nicht als du brauchſt dich zu erbauen.
[155]

259.


In der Literatur unendlichem Gedraͤnge

Lehr' ich ein Mittel dich, zu kuͤrzen deine Gaͤnge.

Sieh darauf jeden Mann, den du begegneſt, an,

Was er nach ſeiner Art, und was nicht leiſten kann.

Haſt du ihn ſo geſchaͤtzt im Ganzen, laß ihn machen

Im Einzlen was er will, und mache deine Sachen.

260.


Ein Buͤcherkatalog fiel heut in meine Hand,

Schwer wie ein Rieſe wog der ſtarke dicke Band.

O weh, Literatur wie breit biſt du geworden,

Wenn das die Titel nur ſind deiner Buͤcherhorden.

Wer kann die Titel bloß, wer erſt die Buͤcher leſen?

Der Zeiten Gluͤck war groß, als du noch klein geweſen.

Doch wir, die Waͤchterſchaar bei dem geſchwollnen Drachen,

Arbeiten immerdar ihn dicker noch zu machen.
[156]

261.


Es wird mit Recht geſagt Markt der Literatur;

Denn ſie vergleichet ſich mit einem Markte nur.

Wie auf dem Markte ſtehn zum Kaufe Waaren feil,

Und jeder nach Bedarf nimmt davon einen Theil:

Der eine waͤhlt ſich dis, der andre das vom Haufen,

Doch keinem faͤllt es ein, den ganzen Markt zu kaufen:

So auch wer koͤnnte jetzt ſich noch einfallen laſſen,

Sich mit Literatur der ganzen zu befaſſen?

Der greift ſich hier ein Stuͤck, der eines dort heraus,

Nach eigenem Geſchmack und zum Verbrauch im Haus.

Der Zufall waltet, wo am Urteil es gebricht,

Und im Gewuͤhl iſt ganz unmoͤglich Ueberſicht.

Unmerklich unter'm Glanz der ausgeſtellten Guͤter

Wird an den Mann gebracht auch mancher Ladenhuͤter.

[157]
Heut hat den Zulauf der, den andere beneiden,

Die morgen am Verfall ſich ſeines Krames weiden.

Es bietet kurzen Ruhm mit ungewiſſem Brode

Der uͤberfuͤllte Markt mit wechſelhafter Mode.

262.


Sie ſagen mir, ich glaubs, allein ich fuͤhl' es nicht,

Daß nun mein Haupt ein Kranz von Dichterlaub umflicht.

Was hilft, den andre ſehn, der Kranz, den ich nicht fuͤhle,

Nicht fuͤhle, daß er mir die heißen Schlaͤfe kuͤhle!

263.


Und locket wieder dich das Gaukelſpiel der Welt,

Was ſie dir vorhaͤlt ſtets, und ſtets dir vorenthaͤlt!

O nimm in deine Bruſt nicht dieſen harten Stein;

Zwei Herzen koͤnnen nicht in Einem Buſen ſeyn.

[158]
Er druͤckt das Herz dir ab, das ſich daran will laben;

O habe du das Herz, dein Herz fuͤr dich zu haben!

In dir biſt du geſund, und fuͤhlſt in ihr dich krank;

Gib, was du haſt, der Welt, und nimm nicht ihren Dank!

264.


In meiner Wohnung bin ich wohnlich eingewohnt,

Mit Ungewohnetem will ich da ſeyn verſchont.

Das Ungewoͤhnliche zu ſehen geh' ich aus,

Doch zum Gewoͤhnlichen kehr' ich mit Luſt nach Haus.

Gewohnheit, aber nur die uͤble, iſt zu ſchelten,

Gewoͤhnung beſſere muß fuͤr das beſte gelten.

Denn Gutes, zur Natur geworden, haftet nur,

Gewohnheit aber wird zur anderen Natur.
[159]

265.


Gefragt ein Weiſer: denkſt du nie ans Vaterland?

Doch, ſprach er, ſtets! und wies zum Himmel mit der Hand.

Des Weiſen Vaterland iſt all des Himmels Weite,

Und, uͤberwoͤlbt davon, der Menſchheit ganze Breite.

Hat er beim Weiteren das Engere vergeſſen?

Vergiſſet er doch auch beim Denken nicht das Eſſen!

Doch maͤßig iſſet er, und ſo ermiſſet er

Klein Kleines, Großes nicht darob vergiſſet er.

266.


Du biſt begluͤckt, wenn dir gegeben iſt, zuſammen

Mit vielen wirkend, dich mit ihnen zu entflammen.

Doch wenn du ſtehſt allein, ſo laß dich's nicht verdrießen,

Statt Menſchen mußt du nur der Menſchheit dich erſchließen.

Aus jeder Raumesweit', aus allen Zeitenfernen,

Gruͤßt den der Menſchheit Geiſt, der von ihm weiß zu lernen.

[160]
Gedanken ſteigen aus vermorſchter Buͤchergruft,

Und andre ſchwimmen in der Luft wie Bluͤtenduft.

Noch kein gedachter je gieng Denkenden verloren,

Und ungeahnet wird kein neuer auch geboren.

Drum troͤſten magſt du dich, wenn aufgieng dir ein Licht,

Theilſt du's auch keinem mit, der Welt entgeht es nicht.

Sie ſtreiten, wer zuerſt dis habe vorgebracht;

Der Geiſt der Menſchheit hats gemeinſchaftlich erdacht.

267.


In ſeinem eignen Kreis wer laͤßt ſich gerne ſtoͤren?

Jedweder hat ein Recht ſich ſelbſt anzugehoͤren.

Und alſo haſt auch du dein Recht, zuruͤckzuweiſen,

Wer irgend oder was dich ſtoͤrt in deinen Kreiſen.

Doch nur wie ſich's gehoͤrt, fein ſtill und unentpoͤrt!

Sonſt hat nicht Fremdes dich, du haſt dich ſelbſt verſtoͤrt.

Gib lieber etwas preis, und zieh zuruͤck dich leiſe

In einen innern Kreis aus einem aͤußerm Kreiſe;

[161]
Wie ein Befehliger, der Veſtung Außenwerke

Aufgebend, ſich verlaͤßt auf ſeines Hauptwerks Staͤrke:

Die aͤußern Linien mußt du zu weit nicht dehnen,

Sonſt zu vertheidigen haſt du zuviel an denen.

268.


Wer nur beſchaͤftigt iſt, daß er ſich ſelber bilde,

Beſchaͤmen mag ihn wol die arbeitſame Gilde,

Die nur beſchaͤftigt iſt zu bilden fuͤr die Welt,

Und jeden Tag dafuͤr den baaren Lohn erhaͤlt.

Ja ſchaͤme dich, die Hand zu legen in den Schoß;

Der Lohn, den du dir ſelbſt dafuͤr gibſt, iſt nicht groß.

Und wie du vom Verſteck der Abgeſchiedenheit

Hervortritſt, ſchmilzt der Traum der Selbzufriedenheit.

Was hilfts daß du dir ſagſt, du bildeſt dich der Welt?

Die doch als Muſterbild dich nie vor Augen haͤlt.
[162]

269.


Nie ſtille ſteht die Zeit, der Augenblick entſchwebt,

Und den du nicht benutzt, den haſt du nicht gelebt.

Und du auch ſtehſt nie ſtill, der gleiche biſt du nimmer,

Und wer nicht beſſer wird, iſt ſchon geworden ſchlimmer.

Wer einen Tag der Welt nicht nutzt, hat ihr geſchadet,

Weil er verſaͤumt, wozu ihn Gott mit Kraft begnadet.

270.


Mein Sohn, wenn du dich haſt vergangen, buͤß' es gleich;

Denn des Vergehens harrt fruͤh oder ſpaͤt der Streich.

Wie aber buͤßeſt du's? Dadurch, daß du bereueſt,

Und dich des ſicheren Gefuͤhls der Beßrung freueſt.

Mein Sohn, ſei uͤberzeugt, es gibt noch Herzenskuͤnder,

Und Gott allein nicht ſieht ins Innre jedem Suͤnder.

[163]
Ins Innre ſiehet auch dir jeder, dem getruͤbt

Des Geiſtes Sehkraft ſelbſt nicht iſt, noch ungeuͤbt.

Und welchem Blicke du begegneſt, mußt du bangen,

Daß er von Gott die Kraft, dich zu durchſchaun, empfangen.

An deiner Stirne ſteht's, dort wird er es entdecken;

Wegwiſchen kannſt du's nicht, du kannſt es nicht verſtecken.

Drum wenn dort Boͤſes ſteht geſchrieben, ſchreibe du

In leſerlicher Schrift die Beßrung auch dazu.

Nicht ungeſchrieben zwar wird, was iſt ausgeſtrichen,

Doch fuͤr den Rechnerblick die Rechnung ausgeglichen.

Mein Sohn, nicht darin ſuch' hier Gottes Strafgericht,

Daß jedem Suͤnder man die Strafe ſichtbar ſpricht;

Darin, daß keiner hier geſuͤndigt und verbrochen,

Der nicht ſich ſelber hat ſein Strafurteil geſprochen.

Straf' iſt ihm das Gefuͤhl, daß er ſtrafwuͤrdig ſei,

Und mehr noch Strafe dis, daß er von Straf' iſt frei.

Denn denken muß er, wenn ſie hier ihn nicht ereilt,

Entgegen eil' er ihr dort wo ſie ewig weilt.

[164]
Und dis Geſchwuͤr, das er doch pochen fuͤhlt und kochen,

Noch beſſer waͤr' es aufgebrochen, aufgeſtochen.

Ja beſſer waͤr' es dir, du heilteſt hier dich aus,

Und kaͤmeſt dort geſund in deines Vaters Haus.

271.


Vor allen Thieren, die dem Menſchen aͤhnlich ſcheinen,

Hat dis der Menſch voraus, zu laͤcheln und zu weinen.

Durch Laͤcheln ſuchet er und Weinen uͤbers Thier

Hinuͤber, o Natur, den Weg zuruͤck zu dir.

Denn deine Blume auch, ſie laͤchelt und ſie weint,

Wenn ſie dein Thau benetzt, wenn ſie dein Licht beſcheint.

Dein Weinen das Gewoͤlk, dein Laͤcheln iſt die Sonne,

Dein Laͤchelweinen iſt wie unſres Wehmuthswonne.

Du, weil wir weinen, weinſt: wir laͤcheln, weil du lachſt;

Wir machen vor und nach dir alles, wie du's machſt.
[165]

272.


So lange du noch kanſt erroͤthen und erblaſſen,

Biſt du von menſchlichen Gefuͤhlen nicht verlaſſen.

Nie moͤgen menſchliche Gefuͤhle dir entweichen

Soweit, daß du nicht kanſt erroͤthen und erbleichen!

Erbleichen macht dich Furcht, erroͤthen macht dich Scham,

Furcht die vorm Boͤſen kommt, und Scham die nach ihm kam.

Nur wenn du dieſe Furcht und Scham in dir zu toͤdten

Vermagſt, wirſt du nicht mehr erblaſſen und erroͤthen.

Wer nicht das Boͤſe kennt, erblaßt, erroͤthet nicht,

Das Thier am Boden hier, der Siddha dort im Licht.

Vom Thiere fern, kanſt du nicht an den Siddha reichen,

Deswegen Furcht und Scham dich wechſelnd uͤberſchleichen.

Du kanſt dem Thiere nicht, noch auch dem Siddha gleichen,

Dagegen wechſelt dein Erroͤthen mit Erbleichen.

O fuͤrchte dich nur nicht, noch ſchaͤme dich der Zeichen

Der Menſchlichkeit im Schamerroͤthen, Furchterbleichen!

[166]
Doch wenn zur rechten Zeit vorm Boͤſen ſtets dir kam

Die Furcht, ſo kommt dir nach zur Unzeit nie die Scham.

Vorm letzten Boͤſen dann, dem Tod, wirſt du erblaſſen

Furchtlos, und druͤben ſei Schamroͤthe dir erlaſſen.

273.


Nicht leicht ein Schoͤnes wird, ein Gutes ſeyn, wovon

Ich nicht geſagt ein Wort, geſungen einen Ton.

Drum kann ich wohlgemuth gehn durch die Einſamkeiten,

Wo ſolche Choͤre mich von Genien begleiten.

Aufſproſſet ſanft und mild mir hier und dort ein Bild,

Und ſchmuͤckt mit Fruͤhlingstraum das winternde Gefild.

274.


Was du erlangen kanſt, das ſtillt nicht dein Verlangen;

Was dein Verlangen ſtillt, das kanſt du nicht erlangen.

Viel niedre Guͤter hat dein Hochſinn aufgegeben,

Aufgeben aber kanſt du nicht dein hoͤchſtes Streben.

[167]
Vertrau! umſonſt iſt nicht in dich gelegt der Trieb;

Erſchließen wird ſich dort, was hier verſchloſſen blieb.

Dann wirſt du ſehen, wann du ſchauſt was du geahnt;

Dis Ahnen hat den Weg zu jenem Schaun gebahnt.

275.


Gott, alſo hat geſagt ein hoher Glaubenslehrer,

Gott ſelber waͤchſt in dir, o glaubiger Verehrer.

Er waͤchſt nicht in ſich ſelbſt, da iſt er ſtets vollkommen,

Der zur Vollkommenheit nur auch in dir ſoll kommen.

Und waͤchſt er nicht in dir, jemehr du ihn begreifſt,

Jemehr in deiner Bruſt du ſein Geheimnis reifſt?

Wenn dich ein maͤßiges Verſtaͤndniß geſtern freute,

So freuet hoͤhere Verſtaͤndigung dich heute.

Noch tiefre Einſicht geht dir morgen auf villeicht,

Und immer waͤchſt der Glanz, der nie die Spitz' erreicht.

Und ſollt' es Gott nicht freun, ſowie es dich erfreut,

In dir ſich zu erneun, indem er dich erneut?

[168]
Beſchaut ein Lehrer doch in ſeines Schuͤlers Bruſt

Stets reiner ausgepraͤgt ſein eignes Bild mit Luſt.

Nicht minder ſchauet Gott im Spiegel von Kriſtallen,

Wozu dein Herz er ſchuf, ſich ſelbſt mit Wohlgefallen.

O Herz, das zum Behuf des Spiegels Er erſchuf,

Wie weit biſt du entfernt zu gnuͤgen dem Beruf!

276.


Es gibt noch Gluͤckliche, wenn du auch keiner biſt;

Die Freud' iſt auf der Welt, wenn ſie auch dein nicht iſt.

Doch dieſe Freud' iſt dein, daß viele freun ſich koͤnnen,

Und dieſe Freud' allein wird Niemand dir misgoͤnnen.

277.


Je laͤnger du's gehabt, je laͤnger willſt du's haben,

Und ein Geliebtes wird dir ſtets zu fruͤh begraben.

Du bildeteſt dir ein, es ſei auf ewig dein,

Und ſollteſt Gott, der dir's ſolang ließ, dankbar ſeyn.
[169]

278.


Beim hoͤchſten Streben iſt nothwendig hoͤchſte Wage;

Den Sieg begleitet ſtets Gefahr der Niederlage.

Im Weg zum Guten kanſt du in des Boͤſen Krallen,

Und auf der Wahrheit Weg in jeden Irrthum fallen.

279.


Gekommen in die Nacht der Welt iſt Gottes Licht;

Wir ſind daran erwacht, und ſchlummern fuͤrder nicht.

Wir ſchlummern fuͤrder nicht den Weltbetaͤubungſchlummer,

Wir blicken, wach im Licht, aufs Nachtgraun ohne Kummer.

Wo iſt der Naͤchte Graun? es iſt vom Licht bezwungen;

Wir blicken mit Vertraun ins Licht, vom Licht durchdrungen.

Daß wir durchdrungen ſind vom Lichte, dem wir dienen,

Wir zeigens dem Geſind der Nacht in unſern Mienen.

In hellen Mienen macht ſich kund die Kraft des Herrn,

Und wer nicht in der Nacht kann leuchten, iſt kein Stern.
Rückert, Lehrgedicht II. 8
[170]

280.


Gar manche Schale muß von deinem Ich ſich loͤſen,

Zufaͤllig Irdiſches, und mancher Roſt des Boͤſen.

Doch waͤhrend immermehr dein Ich ſich alſo reinigt,

Wird immer mehr mit ihm des Neuen auch vereinigt.

Du ſtrebeſt Tag fuͤr Tag durch Lernen wie durch Lehren,

Durch Denken wie durch Thun, den Kern des Ichs zu mehren.

Der Edelſtein bedarf viel Mittel, ſich zu ſchleifen;

Viel Nahrungsmittel braucht der Saamen, um zu reifen.

Wer kann zuletzt mit Luſt im fert'gen Ich beruhn?

Wer nichts hinzuthut, was er wieder weg muß thun.
[171]

281.


Warum vertragen ſich verſchiedne Menſchen ſelten?

Weil jeder gelten will, und keinen laſſen gelten.

Und doch verſchieden iſt nur darum Mann von Mann,

Daß jeder, jedem unbeſchadet, gelten kann.

In der Verſchiedenheit der Stellung und der Meinung

Iſt wol der Spaltung Grund, doch der auch der Vereinung.

282.


Die Unzufriedenheit mit deinem Thun, die Reue,

Hilft dazu, daß ſich nicht das falſche Thun erneue.

Allein zum rechten Thun hilft ſie dir wenig nur:

Die Reue reutet aus, doch wer beſtellt die Flur?

Um deines Herzen Flur gedeihlich zu beſtellen,

Muß Selbſtvertraun, genaͤhrt von Gottvertraun, dich ſchwellen.
8*
[172]

283.


Daß in der Einſamkeit dir nicht der Reiz gebraͤche

Der Unterhaltung, haͤltſt du mit dir Selbſtgeſpraͤche.

Du haſt den Vortheil, dis Geſpraͤch allein zu leiten,

Und laͤſſeſt, was du gern nicht hoͤreſt, leicht beiſeiten.

Einſeitig iſt darum doch nicht die Unterhaltung,

Es iſt in dir ein Keim unendlicher Entfaltung.

Viel Unterredner ſind in dir, du mußt nur jeden,

Von dem du lernen willſt, nicht hindern auszureden.

284.


Steht denn ſo gar nichts feſt in dir, daß du geſchwinde

Die Ueberzeugung beugſt nach jedem neuen Winde?

Es ſteht wol etwas feſt gewurzelt wie der Baum;

Die Zweige beugen ſich, die Wurzel merkt es kaum.
[173]

285.


Von deiner Eitelkeit was kann dich, Dichter, heilen?

Und wollte dich die Welt vereinigt aburteilen;

Berufſt du gegen ſie nur auf die Nachwelt dich,

Und hoͤrſt von der dich nie verurteilt ſicherlich.

286.


Unruhig iſt die Welt, unruhig iſt das Herz,

Und eins das andre ſetzt in Unruh allerwerts.

Im Himmel nur iſt Ruh, im Himmel nur iſt Frieden;

O faͤnd' ich Ruh, von mir und von der Welt geſchieden!

Komm, Gottesruh, den Sturm mir aus der Bruſt zu hauchen!

Laß mich den Krieg der Welt in deinen Frieden tauchen.
[174]

287.


Du mußt die Gruͤbelei'n der Forſchung nicht verachten;

Das iſt dein Gluͤck, daß ſie dir nie zu ſchaffen machten.

Doch gibt es andere, die anders aus nicht kommen;

Die Plag', ihr einz'ger Troſt, ſei ihnen nicht genommen.

288.


Ob die Erklaͤrungen der Sache falſch auch waͤren,

Soviel erklaͤren ſie, ſie ſei doch zu erklaͤren.

Und ob als falſche noch viel andre muͤßen ſchwinden,

Sie ſind der Weg zuletzt die wahre doch zu finden.

289.


Einfacher Haushalt iſt im Staate zu empfehlen;

Den ſollſt du, wie im Haus, auch im Gemuͤte waͤhlen.

Ob enger ſei der Leib, ob weiter ſei der Bogen,

Geſchloſſen ſei er nur, ſo feſt als rein gezogen.

[175]
Was Fremdes tritt herein, anweiſ' ihm ſeine Stelle,

Und was nur ſtoͤren kann, abweiſ' es von der Schwelle.

Ein Manigfaltiges, ein Vielgeſtaltiges,

Zuſammen ſei's gefaßt durch ein Gewaltiges,

Durch ein Gewaltiges, das in der Mitte ſteht

Als Sonn', um die ſich ein Planetenwirbel dreht.

Den Mittelpunkt des Lichts, den Mittelpunkt der Ruh,

Der Zieh- und Schwerkraft, haſt, mußt haben in dir du.

Verdunkle nur ihn nicht und bring ihn nicht ins Schwanken

Durch thoͤrichte Begier und eitele Gedanken.

Du gibſt den Dingen Werth, und mußt dich ſelbſt verklagen,

Wenn du, was du entbehrt, zu hoch haſt angeſchlagen.

Mit Vielem haͤlt man Haus, mit Wen'gem kommt man aus;

Der ſchont den Magen, wem genuͤgt ein Ohrenſchmaus.

Nimm nur, was dir ſich beut, und thu was du vermagſt,

So lebſt du ohne daß du dich noch andre plagſt.
[176]

290.


Wenn Gott in dir nur iſt, ſo wird in Hoͤhn und Gruͤnden

Der Schoͤpfung uͤberall ſein Wirken dir ſich kuͤnden.

Dis iſt, und dieſes nur, die Huͤlfe der Natur:

Sie lehret dich nicht Gott, doch zeigt dir ſeine Spur.

Das weſentliche Licht muß in dir ſeyn dein eigen,

Wenn ſich ſein Abglanz ſoll in tauſend Spiegeln zeigen.

Der Schluͤſſel der Natur muß dir in Haͤnden ruhn,

Um ihre ewigen Schatzkammern aufzuthun.

Wie aber iſt nun Gott in dich hineingekommen?

Haſt du ihn auf- und an-? hat er dich eingenommen?

Du haſt ihn nicht erdacht, noch ſelbſt hervorgebracht;

Schlief er villeicht in dir, und waͤre nur erwacht?

Du biſt die Wiege, die er ſelber ſich erkoren;

Nicht du gebareſt ihn, er hat ſich dir geboren.

[177]
Er hat, um einzuziehn, die Pforten dir verliehn,

Und auch dazu die Macht, ſelbſt auszuſchließen ihn.

Er ſteht und klopfet an, und wenn du aufgethan,

So haſt du auch dazu von ihm die Kraft empfahn.

291.


Du biſt ſchon, weil ich bin; denn alſo fuͤhl' ich mich,

Daß ich durch mich nichts bin, und alles bin durch dich.

Der du zum lebenden Beweiſe dir mich ſchufeſt;

Dich zu beweiſen, iſt, wozu du mich berufeſt:

Dich zu beweiſen durch mich ſelbſt mir und der Welt,

Die den Beweis von dir nicht kennt, den ſie enthaͤlt.

292.


Ein heller Morgen bringt dir einen guten Tag;

Was iſt nun, das dir hell den Morgen machen mag?

Ein froher Abend wirkt wie Zauber durch die Nacht;

Und ſei der Morgen truͤb, doch biſt du hell erwacht.

[178]
Was aber konnte dir den frohen Abend bringen?

Daß du am Tage ſahſt dein Treiben dir gelingen.

Auf hellen Morgen weiſt das wiederum zuruͤck;

So aus ſich ſelbſt im Kreis entfaltet ſich das Gluͤck.

Laß es, einmal im Schwung, in Stocken nicht gerathen!

Stets Saamen traͤgt die Saat, und ſtets der Saame Saaten.

293.


Den Forſcher freuts daß er den Vorrath nie verliert,

Weil jeder Aufſchluß ihm Aufgaben neu gebiert.

Hier von der Wurzel dort zum Apfel kamſt du kaum;

Er hat ein Dutzend Kern', und jeder wird ein Baum.

294.


Ein Kind, das laͤuft vorm Jahr, geſchiht ihm ſonſt kein Schade,

Kriegt krumme Beine doch, die nie mehr werden grade.

Mein Sohn, erſt lerne ſtehn, eh du verſuchſt zu gehn;

Wer ſicher gehn will, muß durchaus erſt ſicher ſtehn.
[179]

295.


In Schulen plagte man uns mit der Steigerung

Von Moͤglich-, Wirklich- und Nothwendigkeit genung.

Von Moͤglich ging man aus, zu Wirklich ſchritt man weiter,

Und legte endlich ans Nothwendige die Leiter.

Gering ſei Moͤglichkeit, und Wirklichkeit vornehmer,

Nothwendigkeit noch mehr, und deſto unbequemer.

Doch Moͤglichkeit iſt leicht, Nothwendigkeit ſo ſchwer;

Iſt Leichtes unten wol, und Schweres obenher?

Drum kehren wir es um, das erſte ſei das dritte,

Doch zwiſchen beiden bleibt dem zweiten ſtets die Mitte.

Die Wirklichkeit, die ſich nicht ſenken darf noch heben,

Bleibt zwiſchen Moͤglich- und Nothwendigkeit im Schweben.

Nothwendigkeit iſt ganz nothwendig Sklaverei,

Halbfrei iſt Wirklichkeit, nur Moͤglichkeit ganz frei.

[180]
Nothwendig iſt der Grund, und Wirklich ſteht darauf,

Daruͤber aber nimmt das Moͤgliche den Lauf.

Laßt aus Nothwendigkeit zur Wirklichkeit uns ſchreiten,

Aufſchweben dann befreit ins Reich der Moͤglichkeiten.

296.


Sprachkunde, lieber Sohn, iſt Grundlag' allem Wiſſen;

Derſelben ſei zuerſt und ſei zuletzt befliſſen!

Einleitung nicht allein und eine Vorbereitung

Zur Wiſſenſchaft iſt ſie, und Mittel zur Beſtreitung;

Voruͤbung nicht der Kraft, um ſie geſchickt zu machen,

Durch Ringen mit dem Wort, zum Kampfe mit den Sachen:

Sie iſt die Sache ſelbſt im weitſten Wiſſenskreiſe,

Der Aufſchluß uͤber Geiſt und Menſchendenkungsweiſe.

In jeder raͤumlichen und zeitlichen Entfernung

Den Menſchen zu verſtehn, dient ſeiner Sprach' Erlernung.

Nur Sprachenkunde fuͤhrt zur Weltverſtaͤndigung;

Drum ſinne ſpaͤt und fruͤh auf Sprachenbaͤndigung!
[181]

297.


Mit jeder Sprache mehr, die du erlernſt, befreiſt

Du einen bisdaher in dir gebundnen Geiſt,

Der jetzo thaͤtig wird mit eigner Denkverbindung,

Dir aufſchließt unbekannt geweſne Weltempfindung,

Empfindung, wie ein Volk ſich in der Welt empfunden;

Nun dieſe Menſchheitsform haſt du in dir gefunden.

Ein alter Dichter, der nur dreier Sprachen Gaben

Beſeſſen, ruͤhmte ſich, der Seelen drei zu haben.

Und wirklich haͤtt' in ſich nur alle Menſchengeiſter

Der Geiſt vereint, der recht waͤr' aller Sprachen Meiſter.

298.


Du freuſt dich, wenn du lernſt, und freuſt dich, wenn du ſpieleſt,

Wie mehr noch wenn zugleich allbeides du erzieleſt.

Dann freueſt du dich ſtets, wenn dir zu jeder Friſt

Ein Spiel dein Lernen und dein Spiel ein Lernen iſt.
[182]

299.


Die Wiſſenſchaft verlangt ein heiteres Gemuͤte,

Der innern Guͤte froh bewußt und Gottes Guͤte.

Ein Herz, dem untergieng die Klarheit in der Truͤbung,

Das heilt nicht Wiſſenſchaft, das heilt allein Bußuͤbung.

300.


Wer ſich in ſich vertieft, kann nicht die Welt regieren;

Und wer ſich hin ihr gibt, der wird ſich ſelbſt verlieren.

Dich hinzugeben ihr, und wieder dich zuruͤck

Von ihr zu nehmen, das allein iſt Luſt und Gluͤck.

Des Geiſtes Athem ſoll wie der des Mundes ſeyn:

Du ſendeſt warm ihn aus, und zieheſt friſch ihn ein.
[183]

301.


Die Kunſt iſt um den Stamm des Lebens nur die Ranke,

Die ihn umringelt, daß er bluͤhnden Schmuck ihr danke.

Mit reichlichem Geweb laß ſie den Stamm umſtricken,

Doch ſo nicht, daß der Stamm muͤß' unterm Schmuck erſticken.

302.


Nur eine ſchoͤne Kunſt iſt nuͤtzlich in der That,

Haushaltungskunſt im Haus, im Leben und im Staat,

Haushaltungskunſt, die ſo der Kuͤnſte Schaugepraͤnge

Verwendet, daß kein Spiel den ernſten Zweck bedraͤnge.

303.


Wenn mit Gefaͤlligkeit du einen willſt verbinden,

Laß ihn zuſehr dabei dein Anſehn nicht empfinden.

Du mußt ihm fuͤr die Gunſt erniedrigende Bitt'

Erſparen, oder er haͤlt ſich des Dankes quitt.
[184]

304.


Vermeiden ſollen ſich, die nicht zuſammenpaſſen;

Wahl der Geſellſchaft iſt jedwedem freigelaſſen.

Zu wen'gen paſſen, iſt ein nicht geringes Leiden,

Denn ſchwer iſt mit der Welt Beruͤhrung zu vermeiden.

Doch ganz ungluͤcklich iſt, wer allen Umgang haßt,

Und, auf ſich ſelbſt beſchraͤnkt, auch zu ſich ſelbſt nicht paßt.

305.


Ein Buch, geleſenes, bringt dir die Welt ins Haus,

Und ein geſchriebnes bringt dich in die Welt hinaus.

Gefall' es wohl dem Gluͤck, und moͤg' es dir gelingen,

Dir immer ſchoͤn die Welt, dich ſchoͤn der Welt zu bringen.
[185]

306.


Aufmerkſamkeit, mein Sohn, iſt was ich dir empfehle:

Bei dem, wobei du biſt, zu ſeyn mit ganzer Seele.

Wenn du an andres denkſt, als was dein Lehrer ſpricht,

So hoͤrſt du dis nur halb, und in dir haftets nicht.

Du aber brauchſt zum Gluͤck an andres nicht zu denken,

Und kanſt Aufmerkſamkeit mir ungetheilte ſchenken.

Das iſt der Vorzug, den der Knabe hat vorm Mann,

Der eignen Denkens ſich nicht mehr entſchlagen kann.

Er hat bei allem, was er hoͤrt, ſoviel zu denken,

Daß er kein voll Gehoͤr kann dem Gehoͤrten ſchenken.

307.


Das Gaͤhnen, lieber Sohn, es iſt zwar unwillkuͤrlich,

Doch abgewoͤhnen mußt du dir's als ungebuͤrlich.

Ich habe nie geſehn, daß, wenn du auf den Zaͤhnen

Was Gutes haſt zu [kann], dir kam dabei ein Gaͤhnen.

[186]
Auch wuͤrde dir dadurch des Kauens Kraft entriſſen,

Und fallen moͤchte dir aus offnem Mund der Biſſen.

Beim Lernen aber iſt das Gaͤhnen gleich erweckt;

Ich ſehe, daß es dir nicht wie das Eſſen ſchmeckt.

Wenn gaͤhnend ſich der Mund aufthut, ſchließt ſich das Ohr

So daß es ungehoͤrt des Lehrers Wort verlor.

Wenn gaͤhnend ſich der Mund aufthut, gehn zu die Augen,

Daß ſie des Buches Schrift nicht aufzufaſſen taugen.

Des Lernens Suͤßigkeit haſt du noch nicht empfunden,

Sonſt waͤre dir die Luſt zu gaͤhnen ganz verſchwunden.

Das Wiſſen, wiß o Sohn, iſt auch ein guter Biſſen,

Dem Seelengaumen wird durchs Gaͤhnen er entriſſen.

Drum wenn beim Lernen dir ein Gaͤhnen kommt, ſo hemm' es,

Entſchloſſen mit dem Schloß der Zaͤhne niederklemm' es!

So hat es dir vorerſt den Biſſen nicht genommen,

Und endlich wird ihm ſelbſt die Luſt vergehn zu kommen.
[187]

308.


Du ſollſt mir auch dein Ohr vor boͤſer Rede ſparen

Nicht minder als davor die Zunge ſelbſt bewahren.

Denn auch das Hoͤren ſchon von boͤſer Red', o Sohn,

Theilt einem Herzen mit die Stimmung und den Ton.

309.


Muth iſt die beſte Kraft, zu allem Guten noͤthig,

Und willig ſollſt du ſeyn dazu mit Luſt erboͤtig.

Der Muth iſt alſo gut, und beſſer noch Gutwillig;

Wie wird aus beiden denn das boͤſe Wort Muthwillig?

Du lernſt daraus, o Kind, viel Gutes wird zuletzt

Ein Boͤſes, wenn man es verkehrt zuſammenſetzt.

Ein muth'ger Will' iſt gut, noch beſſer will'ger Muth,

Doch Willmuth und Muthwill' iſt eine boͤſe Brut.
[188]

310.


Wol dient ein freier Mann in mehr als einem Feld,

Er dient dem Freund, dem Haus, der Stadt, dem Staat, der We [...]

Die Dienſte mancherlei weiß er, die ſich verſchlingen,

In weit- und engerm Kreis, in Einklang auch zu bringen.

Es tritt der fernſte Dienſt dem naͤchſten nicht zu nah,

Noch auch vor ihm zuruͤck, zur Stell' iſt jeder da.

Begluͤckt, wenn jeder Dienſt fand, unter der Benennung

Verdienſt, verdienten Lohn, verdiente Anerkennung.

Wenn er die nicht erdient, hab' er ſie nur verdient;

Zum Lohn dient dis Gefuͤhl, und macht den frei, der dient.

311.


Wer wird von Sorgen frei? kein Menſch in keiner Lage;

Wie gluͤcklich deine ſei, doch bleibt: wielang? die Frage.

Und wer in ſich nicht, fuͤhlt in andern ſich gedruͤckt;

Denn wer iſt gluͤcklich, ſieht er andre unbegluͤckt?
[189]

312.


Wenn du im Gluͤcke ſchwimmſt, das Ungluͤck nur vernimmſt

Von außen, iſts nicht fein daß du den Ton anſtimmſt

Von Gluͤckes Nichtigkeit, Ungluͤcks Unwichtigkeit;

Dein thatlos guter Rath iſt ohne Richtigkeit.

Nur was du ſelbſt vermagſt zu tragen, zu entbehren,

Kanſt du mit ein'gem Recht an andre auch begehren.

Und ſelber da mußt du den Schwachen Nachſicht goͤnnen,

Wenn ſie, was leicht dir wird, ſo leicht nicht nehmen koͤnnen.

313.


Man ſagt wol, ein Erſatz, ein zeit'ger Luͤckenbuͤßer,

Nicht jeder Forderung genuͤgen ſoll' und muͤß' er.

Doch wenn er wirklichem Beduͤrfnis nicht genuͤgt,

Iſts beſſer daß man nicht den Wunſch mit ihm betruͤgt.

Denn das Beduͤrfnis wuͤrkt, ſolang die Luͤck' iſt offen;

Iſt ſie zum Schein gefuͤllt, bleibt Beſſrung nicht zu hoffen.
[190]

314.


Die Kunſt veredelt, was ſie mit der Hand beruͤhrt,

Darum der hoͤchſte Rang ihr im Verkehr gebuͤhrt.

Sie findet Holz und Stein, und braucht den Zauberſtab,

Der ihnen Lebensſchein und Geiſtesformen gab.

Was ungebildetes ihr in die Hand gekommen,

Wie es hindurch gieng, hat es Bildung angenommen.

Und auch das Handwerk hat in allen ſeinen Gilden

Dis mit der Kunſt gemein, den rohen Stoff zu bilden.

Der Handel aber, der von Hand und Handeln traͤgt

Den Namen, hat dem Stoff kein Zeichen aufgepraͤgt.

Gleichguͤltig handelt er mit Allem; ſein Behandeln,

Statt zu veredeln, will es nur in Geld verwandeln.

Nicht edler wird die Waar', indem ſie durch die Hand

Des Kaufmanns geht und wird gefuͤhrt von Land zu Land.

[191]
Doch wird ſie theuerer nach Maß, Gewicht und Elle,

Indem er uͤberall ſie bringt zur rechten Stelle.

Dis lern von ihm, ohn' ihn zu loben noch zu ſchelten:

Mach' alles, was du haſt, am rechten Orte gelten.

315.


Man ſagt: Im Großen ſei, gewollt zu haben, gnug.

Glaubs nicht! Unmaͤßiges zu wollen, iſt nicht klug.

Entſchuld'gen magſt du dich, daß dir die Kraft gebrach;

Die Schuld bleibt immer dein: was langteſt du danach?

316.


Nicht fuͤr die Menſchheit nur und fuͤr den Geiſt der Welten,

Du mußt auch fuͤr dich ſelbſt Geſchichte laſſen gelten.

Denn Gleiches iſt in dir, wie in der Welt die ſtreitet,

Ein Streben, das durch Kampf beſtaͤndig vorwerts ſchreitet.

Und wie die Geiſter, die der Zeiten Teppich weben,

Stets neues wirkend, doch des Alten Bild aufheben,

[192]
Und nie vergeſſen, wann ſie ſich zu hoͤhern Stufen

Erhoben, was mit Fleiß ſie auf der niedern ſchufen;

So du auch, wenn du ſcheinſt neuſchaffend zu zerſtoͤren

Geſchaffnes, fuͤhlſt es doch dir ewig angehoͤren.

Nur als du drinnen warſt, war drin dein Thun befangen

Nun erſt herausgelangt, ſiehſt du es unbefangen.

Du ſiehſt, daß mit im Strom zaͤhlt jede Einzelwelle,

Und auch das Groͤſte goͤnnt dem Kleinſten ſeine Stelle.

Nicht miſſen moͤchteſt du auch das was du verfehlteſt,

Wenn es dir half dazu, daß du ein Beßres waͤhlteſt.

317.


Sonſt hat ein hoher Wahn, ein Glaube mich gehoben:

Ich muͤße leben, weil ich viel noch muͤß' erproben;

Ich muͤße leben, weil ich viel noch muͤße ſchaffen;

Nun will der hohe Wahn, der Glaube, mir erſchlaffen.

[193]
Ich fuͤhle, daß geprobt, geſchaffen iſt genug;

Und unterbleiben kann, was uͤbrig iſt, mit Fug.

Nun kann, ſtatt der, die brach, mich nur die Stuͤtze halten

Gott, der gewaltet hat ſolang, mag ferner walten!

317.


Was ſucht der Geiſt? das was als Widerſpruch betiteln

Die Sinne, ſuchet er ergaͤnzend zu ermitteln.

Des Menſchen Hoͤchſtes iſt des Streitenden Verbindung,

Mit der Erkenntnis Frucht die Bluͤte der Empfindung.

Als hohes Vorbild ſei der Baum dir eingepraͤgt,

Der hier im Garten Frucht zugleich und Bluͤte traͤgt.

[[194]][[195]]

VI.


9*
[[196]][[197]]

1.


Weil eben wir die Fahrt zu thun ſind im Begriffe,

Von der du biſt gekehrt mit wohlbehaltnem Schiffe;

So gib Erfahrungen von dir uns zu Geleitern,

Damit wir ſicher ſind, an Klippen nicht zu ſcheitern.

Denn ſchwierig iſt die Fahrt, ſo ſagt man, und gefahrvoll,

Und unternehmen ſoll ein Mann ſie fein gewahrvoll. —

So nehmet meinen Rath! wol braucht hier Rath ein Mann;

Doch wißt, daß keinen Rath man hier gebrauchen kann.

Wen nicht das Gluͤck beraͤth, wer ſich nicht kann berathen,

Mit keinerlei Geraͤth wird ihm die Fahrt gerathen.

Die Wege ſind ſo breit, wer ſchief kommt, kommt ſo ſchief;

Der Abgrund iſt ſo weit, wer faͤllt, der faͤllt ſo tief.

[198]
So viele Schiffe ſchon gefahren dieſe Straſſen,

Hat keines hinter ſich ein Fahrgeleis gelaſſen.

Sie zogen eine Spur ſolang nur als ſie fuhren,

Und wer nach ihnen fuhr, zog wieder andre Spuren;

Die, wann er iſt vorbei, im Glatten wieder ſchwinden;

Und jedem ſteht es frei, ſtets eignen Weg zu finden.

Verſehn iſt dieſer Weg mit keinen Meilenzeigern,

Als nur mit Sternen, die die Anzeig' oft verweigern.

Zwar mit Markſteinen iſt des Weges Rand beſetzt,

Doch merkt dein Rad ſie nicht, bis es ſich dran verletzt.

Ein hoͤlzern Roͤſſlein rennt auf endlos gruͤnen Raͤumen,

Ihm waͤchſt kein Haͤlmchen Gras, es wird nur ſatt von Schaͤumen.

An Waſſer fehlt es nicht zur Rechten noch zur Linken,

Zum Trinken iſt es nicht, es iſt nur zum Ertrinken.

Du weißt nicht, ob der Weg wird ſteil ſeyn oder eben,

Da nach Gefallen er ſich ſenken kann und heben.

Was hilfts, ausfuͤhrlich dir das Fahrnis zu beſchreiben?

Erfahr es ſelbſt, wenn du nicht willſt zu Hauſe bleiben.
[199]

2.


Wenn einen Henkel zum Anfaſſen hat der Krug,

Mag bei dem Henkel ihn anfaſſen, wer iſt klug.

Doch wenn der Henkel fehlt, ſo greift, wer es verſteht,

Auch ohne Henkel an, und trinkt ſogut es geht.

Man muß Gelegenheit, wo ſie ſich zeigt, benutzen,

Und vor Verlegenheit, wo ſie erſcheint, nicht ſtutzen.

3.


Was iſt bei dieſem Spiel des Lebens zu gewinnen?

Wer's nicht verlieren will, der ſollt' es nicht beginnen.

Denn zum Verlieren nur iſt ein Gewinn der Luſt,

Und zu gewinnen iſt nichts ſicher als Verluſt.

Dich ſchmerzt, was du verlorſt, dich, was du nicht gewannſt,

Am meiſten ſchmerzt dich, was du noch verlieren kannſt.

Und alles haſt du, wenn du haſt den Muth gewonnen,

Es auszuſpielen weil es einmal iſt begonnen.

[200]
Du ſiehſt, es waͤre faſt der Muth mir ſelbſt abhanden

Gekommen, als einmal mir ſchlimm die Karten ſtanden.

Doch hab' ich mich bedacht und dieſes Lied erſonnen:

Was auch verloren ſei, die Lieder ſind gewonnen.

4.


Des Freundes denkend, wenn ich Gluͤckliches erſtrebt,

Sprech' ich: O haͤtteſt du doch dieſes miterlebt!

Dann ſeiner denkend, wenn mich druͤcket eine Laſt,

Sprech' ich: O gluͤcklich, daß du's miterlebt nicht haſt!

Iſt zu bedauern, iſt zu preiſen, wer geſchieden?

Daß er hingieng und du noch dabiſt, ſei zufrieden!
[201]

5.


Nicht Ruh im Leben hat, wer Schaͤtz' hat in der Truhe;

Und wer den Schatz vergraͤbt, hat auch im Tod nicht Ruhe.

Solange muß er gehn als Geiſt um jeden Platz,

Wo er den Schatz vergrub, bis jemand hob den Schatz.

Freu dich, daß du kanſt Ruh im Tod und Leben haben,

Weil du haſt keinen Schatz verſchloſſen noch vergraben.

6.


Wie herzerquickend iſt erfuͤllter Pflicht Gefuͤhl!

Im Froſte macht es warm, und in der Hitze kuͤhl.

Gleichwie des Wachsthums Trieb durch Knoten an dem Rohr,

So treibt aus Hemmungen des Sieges Kraft empor.

Doch immer iſt ein Kampf, wo wir zu ſiegen haben;

O ſelig, wer ſein Herz in Frieden hat begraben.
[202]

7.


Mit Einzelliebe wer beginnet zu verſchwenden

Den Schatz des Herzens, wird mit Eigenliebe enden.

Allliebe ſei es die zuerſt das Herz erfuͤllt,

Aus deren Zauberduft ſich Einzellieb' enthuͤllt.

Die Einzelliebe bluͤht und welkt, der Traum ſinkt nieder,

Und wie am Anfang ſteht am End' Allliebe wieder:

Allliebe zur Natur, zu jeder Kreatur,

Zu Gott, und in dir ſelbſt zu jeder Gottesſpur.

8.


Am Ort, wo du einmal entgiengſt des Tigers Krallen,

Wirſt ohne Wallung du nicht leicht voruͤber wallen.

So ſeh' ich nahn den Tag nicht ohne Herzenspochen,

An dem vor Jahren mir das Ungluͤck eingebrochen.

Voruͤber kann ich nicht ihm kommen ohne Schauern,

Es moͤcht' im Hinterhalt ein Ungluͤck wieder lauern.
[203]

9.


Ich denk' an euch, die ihr vom Schooß mir aufgeflogen,

Und nun herab auf mich laͤchelt vom Himmelsbogen.

Der holde Fruͤhling kommt, wo alles Schoͤne nieder

Vom Himmel ſteigt, da kommt auch euer Bild mir wieder.

Nun fliegt der Schmetterling, nach welchem ſonſt ihr lieft;

Der Vogel ſingt, von dem ihr eingeſungen ſchlieft.

Nun bluͤhn die Blumen, die an eur Verbluͤhn mich mahnen,

Und Luͤfte wehn, die eure Naͤh mich laſſen ahnen.

Was ihr mir waret, was ich euch geweſen bin,

Und was ihr jetzt mir ſeid, beſchaͤftigt meinen Sinn.

Ihr wart an mich geknuͤpft durch ein natuͤrlich Band,

Das aber hat geloͤſt des Todes kalte Hand.

Nur daß ihr im Gefuͤhl der Liebe waret mein,

Verheißt mir, daß ihr auch mein werdet ewig ſeyn.

Um dis Gefuͤhl und euch in ihm nie zu verlieren,

Will ich noch oft mein Lied mit euern Namen zieren.
[204]

10.


Du fragſt, warum ſo fruͤh geſcheite Kinder ſterben,

Indes die dummeren ein laͤngers Leben erben?

Die Antwort iſt: weil man geſcheitres Nichts kann thun

Als ſterben in der Welt, die gar ſo dumm iſt nun.

Drum danket alle Gott, die ihr nicht zu geſcheut

Geworden, ſondern noch der dummen Welt euch freut.

11.


Wer alt geworden, mag ſich an der Jugend Spruͤngen

Ergoͤtzen, doch ſie nachzuthun ſich nicht verjuͤngen.

So mag ſich dieſe Zeit auch der Betrachtung freun

Kindlicher Sagenwelt, nicht aber ſie erneun.
[205]

12.


Wenn du den lauten Streit vom Poͤbel ſtillen willſt,

Ich ſage dir, wie du am ſicherſten ihn ſtillſt.

Erſt laß die Streitenden recht an einander toben,

Bis ſich zur Heiſerkeit die Wuth hat ausgeſchnoben.

Koͤnnen ſie nicht mehr ſchrein, dann werden ſie dich hoͤren,

Dann ſchlage Frieden vor, ſie werden ihn beſchwoͤren.

13.


An Winterabenden (mir ward der Schwank erzaͤhlt

Von einem Freunde, den die Bibel viel gequaͤlt)

Ließ leſen, weil er horcht' in feierlicher Stille,

Ein alter Herr die Schrift den Diener mit der Brille.

Die Brill' auf ſeiner Naſ', in ſeiner Hand ein Stift,

So las er, bis er kam an einen Punkt der Schrift,

Der fuͤr des Herrn Verſtand zu hoch war und zu kraus

„Verſtehſt du's, Hans?“ - Nein, Herr!-„Ich auch nicht, Hans, ſtreich's aus!“

[206]
So ausgeſtrichen ward viel Unverſtandenes.

Doch blieb am Ende noch genug Vorhandenes.

Wol denkt der alte Herr, daß ohne viel Beſchwerden

Gemeinverſtaͤndlich ſo die heil'ge Schrift ſoll werden.

Doch als von vorn ins Buch es wieder gieng aufs Jahr,

Fand heuer dunkel ſich, was ferden deutlich war.

„Verſtehſt du's, Hans?“ - Nein, Herr!-„Ich auch nicht, Hans, ſtreich's aus!“

Da ward im dritten Jahr ein einz'ger Strich daraus.

Was lehret uns der Strich? daß man in Schriften heilig

Nicht Unverſtaͤndliches ausſtreichen ſoll voreilig.

Das Unverſtaͤndliche, laß nur mit drein es gehn,

Sonſt wirſt du ſelbſt nicht das Verſtaͤndliche verſtehn.

14.


Zu ſchreiben leſerlich iſt durchaus zu empfehlen;

Beſonders laß es nicht am eignen Namen fehlen.

Es iſt Anmaßung, nur den Koͤnigen zu goͤnnen,

Als muͤßte deinen Zug entziffern jeder koͤnnen.
[207]

15.


Wenn dir das Himmelslicht durchs Fenſter iſt zuwider,

So zuͤnde Kerzen an, und laß den Vorhang nieder!

Leicht haſt du dir zur Nacht den Stubentag gemacht,

Doch draußen in der Welt wird es davon nicht Nacht.

16.


Zu den Makrobiern ein Abgeſandter kam,

Der ſtaunend in Betracht des Landes Wunder nahm.

Zuletzt, damit er noch erſtaunen muͤßte ſtaͤrker,

Ließen ſie ihren Gaſt beſichtigen die Kerker,

Wo die Gefangenen Goldketten trugen alle,

Weil nicht das Land erzeugt unedlere Metalle.

Doch er ſah's unerſtaunt, als ſei es ihm gelaͤufig,

Und laͤchelnd ſprach er: Dis hab' ich geſehn gar haͤufig.

[208]
Denn wem iſt unbekannt des Goldes ſtarke Kraft,

Die jeden uͤbermannt und alle legt in Haft?

Der Unterſchied iſt nur, daß goldgefangen ſeien

Hier die Gefangenen, bei uns daheim die Freien.

17.


Ein Wuͤrfelſpieler, dem ſchlimm jeder Wuͤrfel fiel,

Der jedes Spiel verlor, doch nie die Luſt am Spiel,

Hat keine Ruh, bis er aufs Gluͤck des Wuͤrfelfalles

Setzt alles was er hat, und hat verloren alles.

Aufs Spiel hat er zuletzt die Wuͤrfel ſelbſt geſetzt;

Villeicht gewinnt er Ruh, wenn er verlieret jetzt.

18.


Ihr ſprecht: Misguͤnſtiger! du haueſt lieber ab

Am Baum den untern Aſt, weil er die Fruͤcht' uns gab.

Ich ſprach: weil mit dem Aſt den Stamm geſchlitzt ihr haͤttet!

Verloren iſt der Aſt, allein der Stamm gerettet.
[209]

19.


Wenn wir dich gruͤßen, fuͤhlſt du dich vom Dank beſchwert,

Und gruͤßen wir dich nicht, ſo biſt du ungeehrt.

So ſage denn wie man es dir zu Danke macht,

Wenn dich von uns verdrießt die Unacht wie die Acht?

20.


Wer ſich im Spiegel, im Betragen, in der Welt,

Im Reden und im Thun und Nichtthun ſelbſt gefaͤllt,

Wird auch im eigenen Gedichte ſich gefallen,

Und iſt begluͤckt, misfiel' er auch den andern allen.

21.


Viel ſchneller als der Schall iſt, wie man weiß, das Licht;

Was aber ſchneller als das Licht ſei, weiß man nicht.

Viel ſchneller als das Licht iſt, denk ich, der Gedanke,

Der jeden Augenblick beruͤhrt des Denkens Schranke.

[210]
Doch auch die Schnelligkeit des Denkens ſcheint geringer

Als ein gedankenlos bewegter Schreibefinger.

Und uͤbertroffen wird die Schnelligkeit im Schreiben

Von der des Leſens nur; wer kanns noch weiter treiben?

22.


Um eine Blum' im Korn, von Knabenaug' erblickt,

Um eine Blume wird wie mancher Halm geknickt!

Dem Landmann waͤr' es gut, wenn unter ſeinem Rocken

Gar keine Blume wuͤchſ', um Knaben anzulocken.

Dem Landmann waͤr' es recht, wenn unter ſeinem Weizen

Gar keine Bluͤte ſtuͤnd', um Knabenluſt zu reizen.

Recht waͤr' es ihm und gut, wenn unter ſeinen Saaten

Nicht waͤre, weshalb ſie die Knaben ihm zertraten.

Die Blumen nennet er Unkraut mit Recht, ſie ſind

Das allerſchaͤdlichſte fuͤr ſeiner Pflege Kind.

[211]
Alswie am Toͤchterchen ein ſtrenger Vater ſchalt

Die Schoͤnheit, die bei ihm nur als Verfuͤhrung galt;

Nur daß der Vater nicht wie jener auch ausraufen

Das Unkraut will noch darf, wonach die Knaben laufen.

23.


Wenn einen Teller mehr hat auf den Tiſch geſetzt

Die Hausfrau, als am Tiſch ſich finden Gaͤſte jetzt;

So raͤume ſie nur nicht den Teller wieder ein!

Ein hungeriger Gaſt wird auf dem Wege ſeyn.

24.


Wenn dir die Luſt noch nicht vergangen iſt, den Herden

Der Weltberuͤhmtheiten auch beigezaͤhlt zu werden,

Soll ſie dir jetzt vergehn, wo zum beruͤhmten Mann

Ein Moͤrder, frech im Tod wie Leben, werden kann,

Und eine Metze, weil ſie ſeine Metze war,

Als eine Schoͤnheit ſich darſtellt, einaͤugig zwar.
[212]

25.


O aͤrgre dich nur nicht, wenn deinen Werth vergißt,

Dich ein Unwuͤrdiger mit ſeinem Maße mißt.

O aͤrgre dich nur nicht! ſonſt wirſt du gleich dich faſt

Noch aͤrger aͤrgern, daß du dich geaͤrgert haſt.

26.


Arbeite, wenn dichs treibt; und geht es nicht, ſo ruh;

Schmeckt auch die Ruhe nicht, Zerſtreuung ſuche du.

Unfaͤhig, aͤrmſter, biſt du jeglicher Erfreuung,

Wenn weder Arbeit dir noch Ruh ſchmeckt noch Zerſtreuung.
[213]

27.


Die Eigenſucht iſt nicht, nicht Theil an Andern nehmen;

Denn dazu muß ſich doch, wer auch nicht will, bequemen.

Der Eigenſuͤchtige nimmt Theil an Gluͤck und Leid;

Denn dieſes macht ihm Luſt, und jenes macht ihm Neid.

Die Eigenſucht iſt nur, annehmen ſolchen Schein

Von Theilnahmloſigkeit, als gaͤlt' ihr alles klein.

28.


Mich riß die Lieb' einmal zum Haß des Haſſes hin,

Des Haſſes gegen das, des Liebender ich bin.

Mich reut mein Haß, nicht weil er nicht haßwuͤrd'ges traͤfe,

Doch ziemt die Neſſel nicht um reine Liebesſchlaͤfe.

Laß haſſen wer da will und beßres nicht vermag,

O Lieb', und liebe du jung bis zum juͤngſten Tag.
[214]

29.


Wer ehrenwerth ſich fuͤhlt, will auch geehrt ſich ſehn;

Wie jedem ſieht er gern auch ſich ſein Recht geſchehn.

Selbſt unbedenklich nimmt er aͤußres Ehrenzeichen

Von denen an, die ihm nicht andres koͤnnen reichen.

Auch ehrerbiet'ger Gruß, anſtaͤndige Verbeugung,

Iſt dem Geehreten willkommene Bezeugung,

Nicht ſeines Werthes, den er fuͤhlt, des Werthes deren,

Die ſo bezeugen daß ſie Ehrenwerthes ehren.

30.


Wenn du dein Leben ſelbſt in That verwandeln kannſt,

Dann magſt du ruͤhmen dich, daß Freiheit du gewannſt.

Gemuͤthsbewegungen loͤſ' auf in dein Erkennen,

Dann thuſt du, leideſt nicht, und darfſt ſo frei dich nennen.
[215]

31.


Der Geiſt iſt als geſund und krank auch zu betrachten

Alswie der Leib; geſund iſt uͤber krank zu achten.

Wer nur das Gute thut, damit er Boͤſes meide,

Iſt krank, und werth daß er, um zu geneſen, leide;

Dem leiblich-kranken gleich, der bittre Arzeneien

Mit Unluſt nimmt, um ſich vom Uebel zu befreien.

Doch ein Geſunder ißt und trinkt, was ihm behagt,

Und iſt geſund nicht weil er etwas ſich verſagt.

So der geſunde Geiſt thut was er will, und thut

Deswegen Boͤſes nicht; denn was er will iſt gut.

32.


Du ſagſt: Begier iſt boͤſ', es ſei nun daß ſie ruͤhre

Vom Boͤſen her, es ſei daß ſie zum Boͤſen fuͤhre.

Ich aber ſage dir: Begier begehret nur

Ihr Gutes, und verabſcheut Boͤſes von Natur.

[216]
Vielmehr: Was ſie begehrt, wird darum gut ſie nennen,

Und was ſie ſcheuet, das davon als Boͤſes trennen.

Die Trennung boͤſ' und gut bringſt du nur in die Welt,

Indem du ſagſt wie ſie ſich zur Begier verhaͤlt.

Und haͤtte boͤſ' und gut der Menſch nicht unterſchieden,

Waͤr' er begierdelos, mit der Natur im Frieden.

33.


Verrede nicht, zu thun, was du dir vorgenommen

Zu laſſen! Uebernacht kann es dir anders kommen.

Und auch zu laſſen das verrede nicht, was du

Zu thun dir vorgeſetzt; viel aͤndert oft ein Nu.

Schwach iſt das Menſchenkind, ein Rohr bewegt vom Wind;

O tadle nicht, daß du biſt wie die andern ſind.

Nur wo gebeut die Pflicht, und wo ſie widerſpricht,

Da thut und unterlaͤßt ein Mann, und aͤndert nicht.

Doch vieles kann geſchehn und kann auch unterbleiben,

In ſolchem darfſt du dich von außen laſſen treiben.
[217]

34.


Den Menſchen ſollſt du dich inſoweit anbequemen,

Um jeden in der Art, wie er ſich gibt, zu nehmen.

Nur ſelber jedes Art und Unart anzunehmen,

Inſoweit ſollſt du dich den Menſchen nicht bequemen.

35.


Ereigniſſe ſind nicht das Wichtigſte am Leben,

Wenn, ohne dir bewußt zu werden, ſie entſchweben.

Was innerlich nur ward, wie klein es ſei, iſt wichtig;

Was aͤußerlich dir blieb, das Groͤſte ſelbſt iſt nichtig.

Drum draͤnge nicht zuviel hinaus dich in den Braus,

Laß aber unbemerkt vorbei nichts deinem Haus.

Zieh ein Ergebnis dir aus dem, was ſich begab

Bedeutendes, und frag' ihm die Bedeutung ab.

Setz' ihm ein Denkmal, das dir zeig' in kuͤnft'gen Stunden,

Daß der geſchwundenen dir keine leer geſchwunden.
Rückert, Lehrgedicht II. 10
[218]

36.


Oft mahnt ein jaͤher Stoß den ſorgenloſen Gleiter

Auf glatter Lebensflut an Truͤmmerung und Scheiter.

Du dank' ihm, daß er aus Gedankenloſigkeit

Dich weckt, zu danken Gott fuͤr gnaͤdiges Geleit;

Fuͤr gnaͤdiges Geleit zu danken und zu flehn,

Daß weiter ſanft gewiegt dein Schifflein moͤge gehn.

37.


Die Schlange fuͤhlte lang ein innerliches Quaͤlen,

Daß ihre alte Haut nicht ab ſich wollte ſchaͤlen.

Sie wußte keinen Rath noch Mittel zu ergreifen,

Die unbequeme Huͤll' auf einmal abzuſtreifen.

So rathlos wie ſie gieng, unachtſam fiel die Schlange

In eine Schling' am Weg, geſtellt zu ihrem Fange.

Geblieben waͤre ſie ſonſt in der Schlinge hangen,

Nur durch den alten Balg iſt ſie der Schling' entgangen.

[219]
Sie ließ den Schlauf darin, und iſt hindurch geſchluͤpft,

Und hat die laͤſt'ge Haut zugleich nun abgeſtruͤpft.

So iſt der innre Menſch durch den Verluſt entronnen

Des aͤußeren, und hat dadurch ſich ſelbſt gewonnen.

38.


Schoͤn iſt der Tropfen Thau am Halm, und nicht zu klein

Der großen Sonne ſelbſt ein Spiegelglas zu ſeyn.

Schoͤn iſt das Baͤchlein dann, das kaum zu kuͤſſen wagt

Die Blum', und murmellaut zu werden halb noch zagt.

Und ſchoͤn iſt auch der Strom, der ſich mit Kraft ergießt,

Im Spiel der Woge ſich mit Rauſchen ſelbſt genießt.

Und ſo freu immer dich, wenn Schoͤnes dir und Gutes

Quillt, Thau, Bach oder Strom, perl' oder rieſl' und flut' es.
10*
[220]

39.


In Koͤnigshallen tritt man unbeſchuhter ein,

Weil ſie ſind ausgelegt mit koͤſtlichem Geſtein.

O ſieh, der Morgen hat mit thauigem Geſchmeide

Belegt die Gottes Flur; komm und den Fuß entkleide!

Wer in des Maien Thau fruͤhmorgens wandeln mag,

Fuͤhlt ſich von unten auf geſtaͤrkt den ganzen Tag.

Froh fuͤhle, daß der Herr im Thau den Fuß dir waſche;

Setz' ihn auf Suͤndenſchmutz nie noch auf Kummeraſche!
[221]

40.


Wir bringen unſern Preis der Morgenſonne dar,

Die hell die Schoͤpfung macht und unſre Seele klar.

Vor ihrer Ankunft geht der Morgenwind als Bothe,

Und ihres Einzugs Fahn' erſcheint im Morgenrothe.

Ein Schauer meldet ſie; und nun erſcheint ſie gleich,

Und nimmt mit einem Blick Beſitz von ihrem Reich.

Den Nebelſchleier hebt ſie von den Berggeſtalten,

Und draͤngt den Reſt der Nacht zuruͤck in Thaͤlerfalten.

Sie fuͤllt mit Glanz das Thal gleich einer Opferſchale,

Und einen eignen Stral trinkt jede Blum' im Thale.

Und wie die Blum' in Luſt zum Licht empor ſich richtet,

So hat in Menſchenbruſt Bewußtſeyn ſich gelichtet.

Traumſchattengaukelei, Nachttaͤuſchungstruggeſpinnſt,

Zerreißt, Licht der Natur, wo du den Sieg gewinnſt.

Streck' aus die Stralenhand, das Opfer zu empfangen,

Das dir die Schoͤpfung bringt und Herzen voll Verlangen.

[222]
Erheb mit deinem Blick und ſtuͤtze, wie die Ranken

Des Baumes, thauſchwer ſich aufrichtende Gedanken.

Die Wuͤnſch' und Hoffnungen, die Vorſaͤtz' und Entſchluͤſſe,

Beleb', erfriſche, ſtaͤrk' und zieh wie Sommerſchuͤſſe.

Gib allen Knoſpen, daß ſie ſich zur Bluͤt' entfalten,

Und allen Blumen, daß ſie ſich nach dir geſtalten.

Und allen Herzen gib, nach Blumenart zu wandeln,

Unwandelbar zum Licht gewandt, im Licht zu wandeln.

Das iſt das Fruͤhgebet, das wir dir tragen vor;

Trag es empor zu dir, und uͤber dich empor!

Denn als ein Mittler gehſt du durch der Schoͤpfung Mitte,

Zu bringen Oberen der untern Weſen Bitte.

Bring zu der Sonne ſie, die dich am Faden leitet,

Daß die ſie bringe der, in deren Dienſt ſie ſchreitet.

Der goldne Eimer reicht von immer hoͤhern Sonnen

Zu immer hoͤhern bis zum hoͤchſten Sonnenbronnen.

Dort fuͤllt ihr mit dem Thau den Eimer, der uns letzt;

Dorthin, mit Dank gefuͤllt, tragt mir den leeren jetzt!
[223]

41.


Komm her und laß uns in den heil'gen Fluten baden,

Die mit dem Silberblick zur Reinigkeit uns laden.

Die Sonne breitet aus des Stralenmantels Fuͤllen,

Um in ein ſchoͤnres Kleid als ird'ſches dich zu huͤllen.

Ein lindes Badetuch reicht dir die Morgenluft,

Das dich mit Wohlgeruch abtrocknet und mit Duft.

Das Waſſer ſelber wallt ein Guͤrtel von Kriſtallen,

Der dir um die Geſtalt ſich ſchmiegt mit Wohlgefallen.

Und auf dem Grunde ruht, geſchmeidigt von der Flut,

Die Erde, die dir weich Sandalendienſte thut.

So tauche rein dich ein in jedes Element,

Und ſei von dem, der iſt in jedem, ungetrennt.

Die Flut, die ewig traͤuft von ſeinen Augenlieden,

Hat er zum Labequell dem Erdendurſt beſchieden.

Die Thiere ſelbſt der Flur ſie kommen groß und klein

Zur Traͤnke, aber nur des Nachts im Mondenſchein.

[224]
Sie ſollen in der Nacht die kuͤhle Labe ſchmecken,

Daß Menſch und Thier am Tag einander nicht erſchrecken.

Und die unſchuldigſten, die reineſten der Innung,

Tauchen am tiefſten ein, andaͤchtiger Geſinnung.

Das Reh, das furchtſame, bleibt nicht am Ufer ſtehn,

Zu trinken, ſondern laͤßt die Flut ans Herz ſich gehn.

Und leiſ' entweicht es durch die Flut zum andern Rand,

Wenn druͤben ſeinen Feind, den Tieger, treibt ſein Brand.

Der kuͤhne Tieger tritt nicht in die heil'ge Flut,

Am Rande leckend loͤſcht er ſeiner Zunge Glut.

Die gift'ge Schlang' allein von allen Feldes Thieren

Geht nicht zur Traͤnke, um ihr Gift nicht zu verlieren.

Sie flieht die Fluten, weil ſie ihr das Gift entziehn;

Sei reine Flut, ſo wird die Suͤnde ſelbſt dich fliehn.
[225]

42.


Sieh, auf dem Pfuhl wie ſchwimmt das zarte Lotosblatt!

So bleibt der Reine rein auch an unreiner Statt.

Es ſinkt nicht in die Flut, es iſt von ihr gehoben,

Die Flut netzt unten es, doch immer ſchwimmt es oben.

Es wandelt druͤben Schlamm in Bluͤten himmelblau,

Und freudig faͤllt darauf in jeder Nacht der Thau.

O ſchilt mir nicht den Pfuhl, der ſolche Bluͤte naͤhrt!

Die dunkle Mutter iſt durchs lichte Kind verklaͤrt.

Schilt nicht die Welt, ſie woll' ein reines Herz verderben;

Sie will durchs reine Herz die Reinheit ſelbſt erwerben.

Die Lotosblume bluͤht darum in Herzgeſtalt,

Daß du zufrieden ſeiſt mit deinem Aufenthalt.
[226]

43.


Die Pfeile des Geſchicks fliegen nach allen Seiten,

Und Menſchentugend iſt machtlos zum Gegenſtreiten.

Nur eine Schutzwehr bleibt, ſich ohne Schuld bewahren,

Um nicht zu aͤußerm Sturm auch innern zu erfahren.

Denn zwar nicht ganz aufwiegt Unſchuld des Schickſals Laſt,

Doch leideſt du nur halb, was du verdient nicht haſt.

44.


Wol manger Mann, wie groß geworden iſt ſein Heil,

Mag meinen, daß ihm viel zu wenig ward zu Theil;

Und wollt' er ſich mit Ernſt erpruͤfen, nicht zum Spiel,

Muͤſt' er geſtehn, daß ihm zu Theil ward viel zu viel.
[227]

45.


Ich lehre dich, daß du auf keinen Lehrer baueſt,

Auf eignen Fuͤßen ſtehſt, mit eignen Augen ſchaueſt.

Und wie du keinem trauſt, ſo traue mir auch nicht,

Und dieſes ſei der Lohn fuͤr meinen Unterricht.

46.


Ungluͤcklich kan ein Menſch vor lauter Gluͤck ſich fuͤhlen;

Ein kleines Ungemach kan großen Schaden kuͤhlen.

Ich denk' an einen Freund, der, weil bei Nacht und Schlaf

Nie eine Feuersbrunſt, ein Diebſtahl nie ihn traf,

Sich muſte Nacht fuͤr Nacht vom Traume laſſen aͤffen,

Jetzt endlich ſollte, was ihn noch nicht traf, betreffen.

Wie gluͤcklich haͤtt' ein Dieb, ein Feuer ihn gemacht!

Geruhig haͤtt' er dann geſchlafen jede Nacht.
[228]

47.


Im Anfang hofft ein Menſch mit gluͤcklichem Erdreiſten

Was unerhoͤrtes unvergleichliches zu leiſten.

Bald ſieht er ſich enttaͤuſcht, von Schranken eingehemmt,

Vergebens daß er noch die Kraft entgegenſtemmt.

Er fuͤhlt es wohl, und ſucht ſichs aus dem Sinn zu ſchlagen,

Daß auf der Welt heraus nichts kommt mit ſeinen Plagen.

Doch zur Gewohnheit ward ihm ſeine Plage ſo,

Nur durch die Plage wird er noch des Lebens froh.

48.


Beklage dich nur nicht, daß dir ſo viel mislang;

Sieh wie dabei auch viel Erſprießliches entſprang.

Reich iſt an Koͤrnern wie an Spreu die Ernte; ſcheue

Nur nicht die Muͤh, und lis die Koͤrner aus der Spreue.
[229]

49.


Das Reſtchen Leben iſt wie das Zigarrenendchen,

Je naͤher ſchon am Mund, je duftiger das Braͤndchen.

Du moͤchteſt mit der Lipp' es erſt recht ſcharf nun faſſen,

Allein es brennt am Mund, du mußt es fallen laſſen.

50.


Man reiſt, damit es uns zuhaus erſt recht gefalle;

Und wer durchs Leben reiſt, der iſt im gleichen Falle.

Nur daß der Reiſende hier nicht die Heimath kennt,

Und nur am Heimweh fuͤhlt, er iſt von ihr getrennt.

Gereiſt zu ſeyn, wie wird dich's in der Heimat laben;

Und einſt wie lieblich wird es ſeyn gelebt zu haben.
[230]

51.


Biſt du geſtuͤrzt und hat der Sturz dir nicht geſchadet,

So denke: dismal hat der Himmel dir gegnadet.

Die Gnade haſt du nicht verdient, verdiene ſie!

Steh auf mit Zuverſicht und falle nie mehr, nie!

52.


Wie nicht die Baͤume nur, zur Dauer auferzogen,

Die Blumen auch mich freun, auf kurze Zeit gepflogen;

So nicht nur Kinder, die, wills Gott, mich uͤberleben,

Mich freuen jene auch, die ich dem Grab gegeben.

53.


Wem ein Geliebtes ſtirbt, dem iſt es wie ein Traum,

Die erſten Tage kommt er zu ſich ſelber kaum.

Wie ers ertragen ſoll, kann er ſich ſelbſt nicht fragen;

Und wenn er ſich beſinnt, ſo hat ers ſchon ertragen.
[231]

54.


Du haſt der Freunde viel, und geizeſt nicht um einen;

Ich habe wenige, und nannte dich den meinen,

Und muß im Herzen noch den meinigen dich nennen,

Und darf es, wenn nicht dir, mir ſelber wol bekennen.

Was dich entfremden konnt', hab' ich nicht Luſt zu fragen;

Doch daß es moͤglich war, das hab' ich zu beklagen.

55.


Das beſte Lebensgut iſt leichter froher Sinn,

Mit ihm iſt kein Verluſt und ohn' ihn kein Gewinn.

Doch, ward dirs nicht ſo leicht, und iſt dein Weſen ſchwerer,

So troͤſtet dich villeicht ein Wort von deinem Lehrer:

Die dunkle Nelke, nicht die bunte Tulp' hat Duft,

Und auch zum Himmel geht der Weg nur durch die Gruft.

O ſcheu nicht durch die Gruft den Weg zu deinem Himmel;

Und laß wer gehn will gehn durchs bunte Weltgewimmel.

[232]
O ſcheu nur durch die Gruft den Weg zum Himme nicht!

Im Herzen dunkler Duft, im Auge ſanftes Licht.

Im Auge ſanftes Licht, im Herzen dunkler Duft;

Du gehſt, o bange nicht, zum Himmel durch die Gruft.

56.


Mein Freund im fernen Gau! wie oft noch denk' ich nach

Dem Worte, das dein Mund einſt unbefangen ſprach:

Daß dirs unleidlich ſei, im Leben wem zu nahn,

Ohn' ihm zu geben Lieb' und Liebe zu empfahn.

Sag', haſt du warm bis jetzt den Anſpruch fortgeſetzt?

So hat die kalte Welt gewis dich oft verletzt.

Doch gluͤcklich wenn dir ward zum Stachel dis Verletzen,

Herzhaft die Forderung des Herzens durchzuſetzen.

Ja, Liebe laͤßt nicht ruhn den ſo ſie recht durchdrungen,

Bis er von allem was kan lieben Lieb' errungen.
[233]

57.


O klage nicht, mein Herz, daß dir zu ſpaͤt nun kommen

Der Liebe Zeichen, da die Jugend dir verglommen.

Ja, waͤr' es Gold und Gut, und Wuͤrd' und Wohlbehagen,

So moͤchteſt du, daß nun zu ſpaͤt es komme, klagen.

Bald laſſen muͤßteſt du zuruͤck dis Hausgeraͤth;

Doch was hinuͤber du mitnimmſt, kommt nicht zu ſpaͤt.

58.


Mein Meiſter (in der Bruſt genannt mit Andacht ſei er)

Sprach auch: Melodiſch klingt die durchgeſpielte Leier.

Er ſprach es ſich zum Troſt und zur Beruhigung,

Weil er ſo ſchoͤn noch ſpielt' und war ſchon alt genung.

Auch mir erzittert, und er ſprachs auch mir zum Troſt,

Die Bruſt von anderm Schaur als von des Alters Froſt.

Der Geiſt, der mir dis Spiel beſaitet, laß es zittern

Noch froh in ſeinem Hauch, bis es daran wird ſplittern.
[234]

59.


Dein Donner rollt, und ſpricht, wenn ichs vergeſſen habe,

Du ſeiſt mein Herr, und ich ſteh' unter deinem Stabe.

Du waͤgſt in deiner Hand beſtaͤndig mein Geſchick,

Doch deutlicher fuͤhl' ichs in dieſem Augenblick.

Ich weiß nicht, was du, Herr, mit mir beſchloſſen habeſt,

Wann du ruͤcknehmen willſt das Pfand, das du mir gabeſt.

Bereit zur Ruͤckgab' hier leg' ich es vor dir nieder,

Und als dein neu Geſchenk nehm' ich mit Dank es wieder.

Das Leben iſt mir werth, weil es iſt eine Gabe,

Die von der hoͤchſten Lieb' ich zum Andenken habe.

60.


Wie leicht mag Flur und Land dem Juͤnglingsblick gefallen,

Mit Liebe Hand in Hand traͤumt er darin zu wallen.

Das ſchoͤnſte Landſchaftsbild reizt Greiſenaugen kaum,

Sie ſuchen im Gefild nicht mehr der Liebe Traum.
[235]

61.


Der uͤber Ungemach du ſo dich darfſt beklagen,

Mußt hoͤhrer Wuͤrdigkeit Gefuͤhl als ich wol tragen.

Weit uͤber mein Verdienſt iſt mir noch Heil beſchieden,

Und ſchaͤmen muͤßt' ich mich, wollt' ich nicht ſeyn zufrieden.

62.


Mein Herz iſt lauter Dank, indem ich ruͤckwerts blicke,

Aus welcher Truͤbe ſich gehellet mein Geſchicke,

Wie dumpfem Ringen ſich entrang der lichte Schwung;

Jung war ich kummeralt, und alte freudenjung.
[236]

63.


Ich ſchmelz' in Dankbarkeit und Ruͤhrung, wenn ich denke,

Daß ich durch deine Kraft nach deinen Zielen lenke

Die Schritte, die ſolang, ſo oft, ſo tief, ſo ſchwer

Geſtrauchelt, und hinfort, hoff' ich, nicht ſtraucheln mehr.

Daß ich nicht weiter kam durch meine Schuld, o Scham!

O Gluͤck, daß ich ſo weit durch deine Gnade kam.

64.


Was du nie muͤde wirſt zu fuͤhlen, wirſt du nie

Zu ſagen muͤde, doch zu hoͤren werden ſie,

Die ausgenommen die wie du desgleichen fuͤhlen,

Nicht die aus Langerweil' in Neuigkeiten wuͤhlen.

Was dir am Herzen liegt, das ſagſt du nie genug,

Und unermuͤdlich iſt der Bauer hinterm Pflug.

So unermuͤdlich bin ich meinen Pflug zu treiben,

Und euch mein beſtes Korn ins Herz zu ſaͤn durch Schreiben.
[237]

65.


Wenn etwas Schoͤnes fuͤr mich ſelbſt und fuͤr die Welt

In mir geworden iſt den Kaͤmpfen zum Vergelt,

Die ich gekaͤmpft, ſo will ich gern gekaͤmpft ſie haben,

Und moͤgen ſich mit mir am Schoͤnen viele laben!

Doch manchmal denk' ich, ob nicht ſei erkauft zu theuer

Ein Bischen lautres Gold fuͤr ſoviel Laͤutrungsfeuer.

66.


In dieſen Zeiten darfſt du Achtung keiner Arten

Von keinem, wie er tief ſteh' unter dir, erwarten,

Wenn du nicht aͤußerlich Macht uͤber ihn gewannſt,

Und ihm unmittelbar empfindlich ſchaden kannſt.

Kein Anſehn der Perſon, wie vorlaͤngſt keins bei Gotte

Gegolten, gilt nunmehr auch keins bei dieſer Rotte.

Nothwendig iſt auch das, ſoll freies Volk erſtehn,

Doch mußt du freiem Volk huͤbſch aus dem Wege gehn.
[238]

67.


Soweit hab' ichs gebracht mit dieſer Welt Vergnuͤgung,

Daß ich ſie ſtelle gern zu dieſer Welt Verfuͤgung,

Und daß, wenn ich von fern ſeh die Vergnuͤganſtalten,

Ich bin vergnuͤgt darob, daß ich nicht mit muß halten.

68.


O ſchwoͤre nicht, weil izt du haſſeſt, ſtets zu haſſen;

Erlaß den Haß dem Feind! der Schwur ſei dir erlaſſen.

Auch ſchwoͤre nicht, wen izt du liebeſt, ſtets zu lieben;

Die Freundſchaft kann vergehn, dann iſt der Schwur geblieben.

Treu ſeyn dir ſelber nur und Gott und der Natur,

Auch dieſes ſchwoͤre nicht, doch halt es ohne Schwur!
[239]

69.


Die Dankbarkeit ergeht nicht in des Handelns Schranken,

Die Dankbarkeit beſteht, das Wort ſagts, im Gedanken.

Mein Denken dankt, es iſt mein Dank euch zugedacht,

Wenn auch ihn weder Wort noch Werk bemerklich macht.

Undankbar waͤr' ich ſonſt in einem wicht'gen Falle;

Denn wem am meiſten Dank ich ſchulde, todt ſind alle.

Mit Worten kann ich mich bei ihnen nicht bedanken,

Doch ſie begnuͤgen ſich mit dankenden Gedanken.

70.


Wer einmal hier hat in geliebtem Angeſicht

Des Todes Bild geſehn, vergißt es ewig nicht.

Der Schatten legt, wohin fortan dein Auge ſchaut,

Sich uͤber alles was dir lieb iſt oder traut.
[240]

71.


Oft faßt mich, wenn ich ſeh ein zartes Kinderleben,

Wehmuth, wie ihm die Zeit wird Muͤh und Dornen weben.

Viel ſeltner fuͤllet mich ſein Anblick, mit Behagen

Der Fruͤcht' und Bluͤten, die ihm noch die Welt wird tragen.

Ich ſchließe nicht daraus, daß eitel ſei die Welt,

Doch daß ſie mir nunmehr als eitel dar ſich ſtellt.

72.


Wie gleicheſt du, o Menſch, und dein Geſchick den Saaten,

Von denen Niemand weiß zuvor, wie ſie gerathen.

Wie manches Ungemach, Froſt, Naͤſſe, Duͤrre, Brand,

Gibt ihnen zu beſtehn des Himmels Unbeſtand.

Und wenn ſie gluͤcklich nun beſtanden die Beſchwerden,

So iſt ihr Ende, daß ſie abgeſchnitten werden.
[241]

73.


Sieh an den Waſſerfall, wo du ihm nahe ſtehſt,

Und ſieh ihn wieder an, wenn du ihm ferne gehſt!

Er iſt dir bald im Aug' und iſt dir bald im Ohr,

Iſt in und außer dir, toͤnt nach und ſchwebt dir vor.

Er fuͤllt dir jeden Sinn, und ſpricht zu allen Sinnen;

Verſuch es und entrinn, ihm iſt nicht zu entrinnen.

Er rauſcht und rauſcht und rauſcht, die Gegend hoͤrt ihn rauſchen,

Und lauſcht und lauſcht und lauſcht, und wird nicht ſatt zu lauſchen.

Er wuͤhlt und wuͤhlt und wuͤhlt, der Boden fuͤhlt ihn wuͤhlen,

Und fuͤhlt und fuͤhlt und fuͤhlt, und reicht nicht aus zu fuͤhlen.

Er ſchaͤumt und ſchaͤumt und ſchaͤumt, die Blume laͤßt ihn ſchaͤumen,

Und traͤumt und traͤumt und traͤumt, und hoͤrt nicht auf zu traͤumen.

Er ſtralt und ſtralt und ſtralt, der Maler ſieht ihn ſtralen,

Und malt und malt und malt, und wird nicht muͤd zu malen.

Er haucht und haucht und haucht, feucht fuͤhlt die Luft ſein Hauchen,

Und taucht und taucht und taucht, ſich ſatt darein zu tauchen.

Rückert, Lehrgedicht II. 11
[242]
Er quillt und quillt und quillt, und wird nicht matt zu quellen;

Er ſchwillt und ſchwillt und ſchwillt, und wird nicht ſatt zu ſchwellen.

Und wie er quoll und quoll, und wie er ſchwoll und ſchwoll,

Sein Quellen wird nie leer, ſein Schwellen wird nie voll.

Kein Gleiches hat die Flur, ein Gleiches ihm hat nur

Die ewig ſich aus ſich gebaͤrende Natur.

74.


Sieh an die Pflanze, die empor aus dunklem Grunde

Zum Lichte treibt, von dem ſie auch hat dunkle Kunde.

Mit ihrem Stengel ſteht ſie erſt in Einigkeit,

Und im Gezweige dann iſt ſie mit ſich entzweit.

Nicht in der Einung noch Entzweiung iſt gefunden

Das Licht, bis hoͤhere Vereinung ſie verbunden.

Die Knoſpe rundet ſich, aus der die Bluͤt' erwacht,

In deren Farbenduft das Licht iſt angefacht.

Durch ſoviel Stufen hat das Licht die Pflanz' erzogen,

Um auf der oberſten zu ruhn als Irisbogen.

[243]
Das Leben der Natur iſt eine ſolche Pflanze,

Die aus ſich ſelber ringt empor zu Gottes Glanze.

Die Wurzel iſt Geſtein, Gewaͤchsreich iſt der Stiel,

Blaͤtterverzweigungen Thierlebens reges Spiel.

Doch neues Leben iſt von oben angezuͤndet,

Wo der Naturtrieb ſich im Menſchenantlitz ruͤndet;

Da iſt des Himmels Stral im Irdiſchen verkuͤndet.

Die Roſe der Natur hat ihre Bluͤtenkrone

Entfaltet, daß in ihr der Duft der Seele wohne.

Die Roſe, ſterbend, haucht den Duft in Himmelsluft;

So ſtirb, ein himmeleingeſogner Bluͤtenduft!

Die Roſe, lebend, haucht Duft uͤber Liebesgruͤften;

So leb', ein himmelan entbundnes Liebesduͤften!
[[244]]

Appendix A

Leipzig, Druck von Hirſchfeld.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Weisheit des Brahmanen. Die Weisheit des Brahmanen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvz.0