[][][][][][][[I]]
Briefe eines Verſtorbenen.

Erſter Theil.
[[II]]
[][]
”The cross bones.”
[[III]]
Briefe
eines
Verſtorbenen.

Ein
fragmentariſches Tagebuch
aus
England, Wales, Irland und Frankreich,
geſchrieben in den Jahren
1828 und 1829.

Erſter Theil.

Muͤnchen: .
F. G. Franckh.
1830.

[[IV]][[V]]

Vorwort des Herausgebers.


Die Briefe, welche wir dem Publikum
hiermit uͤbergeben, haben das Eigen-
thuͤmliche
, daß ſie, mit ſehr geringer
und unweſentlicher Ausnahme, zu ihrer
Zeit wirklich ſo geſchrieben wurden, wie
man ſie hier findet.


Man kann ſich daher leicht denken, daß
ſie fruͤher auch zu nichts weniger als zur
[VI] Publizitaͤt beſtimmt waren. Der Schrei-
ber gehoͤrt jedoch nunmehr zu den Seli-
gen, wodurch viele Ruͤckſichten wegfallen,
und da ſeine Briefe, nebſt einigen intereſ-
ſanten Nachrichten, wenigſtens eine reelle
Individualitaͤt ausſprechen, und mit eben
ſo ungeſchminkter Freimuͤthigkeit als voll-
ſtaͤndiger Partheiloſigkeit geſchrieben ſind —
glaubten wir, bei dem nicht zu haͤufigen
Daſein dieſer Elemente in unſrer Litera-
tur, einen Beitrag ſolcher Art nicht uͤber-
fluͤſſig.


Der Verſtorbene hatte, wie ich geſtehen
muß, das Ungluͤck, waͤhrend ſeines Le-
bens Alles anders anzufangen als andere
Leute, weshalb ihm auch wenig gelang.
Viele ſeiner Bekannten hielten ihn aber
fuͤr ein kuͤnſtliches Original, und daran
thaten ſie ihm Unrecht. Niemand war
aufrichtiger in ſeinen Sonderbarkeiten, und
ſchien es vielleicht weniger, Niemand na-
[VII] tuͤrlicher, da wo Alle Abſicht zu ſehen
glaubten.


Dieſes unguͤnſtige Geſchick verfolgt ge-
wiſſermaßen auch jetzt noch die Erſchei-
nung ſeiner Briefe, indem beſondre Um-
ſtaͤnde, die hier nicht erlaͤutert werden koͤn-
nen, uns noͤthigen, das Werk, gegen alle
Gewohnheit, mit den beiden letzten Thei-
len zu beginnen, die nun zu den erſten
werden muͤſſen. Erhalten dieſe indeß Bei-
fall, ſo hoffen wir ihnen bald jene „nach-
folgend vorangehen“ laſſen zu koͤnnen,
und man wird ſie wenigſtens eben ſo ſelbſt-
ſtaͤndig finden. *) Zur Bequemlichkeit der
[VIII] Leſer haben wir jedem Brief eine kurze
Inhaltsanzeige beigefuͤgt, ſo wie einige
Noten ad modum Minelli im Ganzen ver-
theilt, derentwegen wir gebuͤhrend um Ver-
zeihung und Nachſicht bitten.



[[IX]]

Inhaltsverzeichniß
des
erſten Theils
.


BriefXXV.


Abreiſe von London. Cheltenham. Comfort in England.
Trinkquelle. Promenaden. Wie die Themſe entſpringt.
Vergleiche. Lakintonhill. Das Dorf im Walde. Altrö-
miſche Villa. Theegarten. Alleen. Der Bade-Ceremonien-
meiſter. Schlachtfelder vor Tewksbury. Worceſter. Ca-
thedrale. König Johann. Der Templer. Rangordnung
auf Prinz Arthurs Grabmahl. Annehmlichkeit des Rei-
ſens. Nebelbild. Das Thal von Llangollen. Der Kirch-
hof und ſeine Ausſicht. Bergfrühſtück. Die berühmten
Jungfern. Beſuch bei ihnen. Begegnung bei Pont-y-Glyn.
Das hohe Gebürge. Vergleich mit dem Schleſiſchen. Die
Straße. Der Stein-Biſchof. Die Unermüdliche. Scherz
und Ernſt. Penrhyn Caſtle. Die Schieferbrüche. Wie
es da zugeht. Betrachtungen einer fromm gemüthlichen
Seele aus Sandomir oder Sandomich. Seite 1.


[X]

BriefXXVI.


Wilde Fahrt. See von Llangberris. Lachs-Hunde.
Unwetter. Schutz in der alten Burg. Hütte und ihre
Bewohner. Erſteigung des Snowdon. Berg-Pony und
Bergſchaafe. Der verſchleierte Gipfel und mein Doppel-
gänger. Libation unter der Säule. Felſenweg. Ausſich-
ten. Region der Raubvögel. Rückfahrt auf dem See.
Schloß von Caernarvon. Edward’s Geburt. Liſt des Kö-
nigs. Urſprung des engliſchen Wappenmotto’s. Con-
traſt in der Ruine. Der Adlerthurm. Seebad. Billard
von Metall und Dampfkellner. Wetter und Eſſen. Caer-
narvon’s Hebe. Auszug aus der Lammszeitung. Prome-
naden um die Stadt. Bad in Bangor. Beaumaris. Das
Schloß. Craig-y-Don. Meerenge von Angleſea. Die
Kettenbrücke über das Meer geſpannt. Seite 64.


BriefXXVII.


Raubfliegen. Vorſchlag zu einer Parkanlage. Plas-
newyd. Die Cromlechs. Transport in Japan. Druiden-
Cottage. Neues Kaleidoscop. Abſchweifende Erklärungen.
Reiſe ins Innere des Gebürges. Carrs. See von Idwal.
Uebergang am Fuß des Trivaen. Der Walliſer Führer.
Mühſames Steigen. Die rothe Beleuchtung. Das Stein-
thal. Die Adler. Böſe Paſſage. Bergſümpfe. Die Ra-
ſenalp. Capel Cerrig. Thal von Gwynnant. Eliſium.
Dinasemris, der Felſen Merlin’s. Beſtandne Gefahr auf
[XI] demſelben. Verdächtiger Spuck. Die Area. Anmuthiger
Gaſthof in Bethgellert. Der blinde Harfner und ſein blin-
der Hund. Gellert der treue Gefährte Llewellin’s, und
ſein tragiſches Ende. Die Teufelsbrücke. Tan-y-Bwlk.
Schöner Park daſelbſt. Ausgetrocknetes Meer. Der Rie-
ſendamm. Tremadoc. Erinnerungen an Sand, Schmutz
und Vaterland. Abendphantaſie. Philoſophiſche Brocken.
Der Beſitzer v. Penrhyn Caſtle. Weg am Penman Mawr.
Schloß zu Conway mit 32 Thürmen. Die Villa Content-
ment. Das Cloſet der Königin. Der Fiſch Place. Hoo-
kes mit 41 Söhnen. Die Manie des Gothiſchen. Acht-
bare Engländer. Seite 95.


BriefXXVIII.


Vie de Château. Kirche v. St. Aſaph. Das Taber-
nakel. Aechter Glaube. Denbigh Caſtle. Caſino in den
Ruinen. Wettkampf und Chor der Harfner. Romanti-
ſches Thal. Die liebliche Fanny. Ihre Dairy und Aviary.
Vögel Paradies. Spazierritt und phantaſtiſche Gegend.
Kurzer Aufenthalt in Craig-y-Don. Zeitungsſtelle.
Fiſch diné. Glückliche Lage der mittlern Claſſen. Vor-
urtheile über England. Die Inſel Angleſea. Parismi-
nes. Ueber Gewinnung des Kupfers. Neue Erfindung.
Holyhead. Der Leuchtthurm. Grauenhafte Felswände
und flugübende Seemöven. Die Schwebebrücke. Stürmi-
[XII] ſche Ueberfahrt nach Irland. Erſte Eindrücke daſelbſt.
Früchte- und Blumen-Ausſtellung. Die Erſtern werden
verzehrt. Gang in der Stadt und Beſichtigung verſchiede-
ner Merkwürdigkeiten. Palais des Vice-Königs und neu-
gothiſche Capelle. Univerſität. Mein Cicerone. Orgel
der Armada. Archimedes Brennſpiegel. Portraits v.
Swift und Burke. Die Schlacht von Navarin. Der Phö-
nix Park. Charakteriſtiſches vom Volke. Lady B. …
Was in England Charakter heißt. Der Liffey. W. .. Park.
Reizender Eingang. The three rocks. Schöne Ausſicht.
Die halbnackte Bäuerin. Hölzerne Capuziner. Der Dandy.
Gemächliche Einrichtungen engliſcher Ariſtokratie. Beſuch
auf dem Lande. Erſte entrevûe mit Lady M. … Miß-
geſchick auf einem Spazierritt. Noch etwas über die Muſe
Irlands. Seite 138.


BriefXXIX.


Reiſe zu Pferd nach der Grafſchaft Wicklow. Bray.
Studenten-Einrichtung. Frömmigkeit der Engländer. Kil-
ruddery. Glen of the Downes. Pavillon und Tiger.
Thal von Dunvan. Der Rieſe. The devil’s glen. Schau-
rige Schlucht. Kühleborn. Ländliches Mahl in Roſanna.
Die Touriſten. Avondale, ein Eden im Mondſchein, Avo-
ca Inn.
Die Begegnung der Wäſſer. Schloß Howard.
Schönes Portrait der Maria Stuart. Park von Bally-
Arthur. Das Aha. Mein Pferd als blinde Kuh. Shel-
[XIII] ton Abbey. Der Neger Portier. Verluſt meines Taſchen-
buchs. Was ein Gentleman iſt. Das Thal von Glen-
malure. Einfahrt in die Bleiwerke. Die Militär-Straße.
Sonne hinter ſchwarzen Wolkenmaſſen. Die ſieben Kirchen.
Das Epheuthor. Geheimnißvolle Thürme ohne Eingang.
Der ſchwarze See des heil. Kavin. Der Rieſe Fian Mac
Comhal, und die verliebte Königstochter. Ihr tragiſches
Ende und des Heiligen zuweitgetriebene Enthaltſamkeit.
Irländiſche Toilette. Walter Scott und Moore im Munde
des Landmanns. Moraſt und Irrlichter. Eine Nacht auf
Stroh. Neblige Haide. Erſter Sonnenblick über dem
See und Thal von Luggelaw. Romantiſche Einſamkeit.
Das Felſenbild. Der Park von P ..... Intoleranz,
Frömmelei und Sonntag. Der Zuckerhut. Reiche Ge-
gend. Ruhe am Bache. Lord Byron. Seite 177.


BriefXXX.


Häusliches. Die Meſſe zu Donnybrok. Das Lieblings-
paar. Powerscourt. Der Dargle und the lovers leap.
Der Waſſerfall. Gallopade mit dem Führer hinter mir.
Der Mond leuchtet zu Haus. Gaſthofleben zu Bray, mit
Schilderung einiger engliſchen Sitten. Der Großherzog
von W .. Vortheile der Veſchränktheit. Betriebſamkeit
der Bettler. Kingston. Der Hafenbau. Maſchinerien.
Das Geſpenſterſchiff. Geſchmackloſes Monument, dem Kö-
nig errichtet. Schöne Straße nach Dublin. Engliſche
Reiter und vortreffliche Bajazzi. Der Meerpolipen Tanz.
Seite 200.


[XIV]

BriefXXXI.


Der junge Geiſtliche. Reiſe mit ihm nach dem Weſten.
Eigenthümliches Land. Aufenthalt beim Capt. B … Le-
ben ächter Irländer. Sie ſind nicht überſtudirt. Gottes-
dienſt in Tuam. Racecourſe in Gallway. Aehnlichkeit
des irländiſchen Volks mit den Wilden. Die Stadt Gall-
way. Mangel an Lecture daſelbſt. Das Wettrennen.
Unglück des einen Reiters. Gleichgültigkeit des Publi-
kums dabei. Die ſchöne Afrikanerin. Der Badeort Athenrye,
gleich einem Polniſchen Dorfe. Das Schloß König Jo-
hann’s. Die Abtei. Volks-Eskorte. Whiskey. Prag
und Carlsbad böhmiſche Dörfer. Eſel eine Merkwürdig-
keit. Caſtle Hacket. Die Feenkönigin. Sie holt ſich ei-
nen Liebhaber. Prachtvoller Sonnenuntergang. Was Tem-
per heißt. Cong. Irländiſcher Witz. Das Pigeonhole.
Unterirdiſcher Fluß. Meg Merrilis. Erleuchtete Fel-
ſengewölbe. Verzauberte Forellen unter der Erde. Der
See Corrib mit 365 Inſeln. Die Kloſter-Ruine. Ir-
ländiſche Art die Todten zu begraben. Güte des alten
Hauptmanns. Seite 216.


BriefXXXII.


Hors d’oeuvre. Abentheuer mit der Zigeunerin. Wie
man der Seele beikömmt. Mehr über die ſchöne Afrikane-
rin. Piſtolenſchießen. Blaue und ſchwarze Augen. Wie
der Teufel Sonntags angezogen iſt. Herr L. … Die ſtu-
pide Wuth der Orangemänner. Schön erdachte künſtliche
[XV] Waſſerpartieen. Gemälde-Gallerie zu M .. B … Petrus
mit einer ſcharlachrothen Perrücke von Rubens. Winter-
landſchaft v. Ruisdael. Herrlicher Jude von Rembrandt.
Irländiſche Jagdpferde. Abreiſe mit dem Briefpoſtkarren.
Der gefällige Irländer. Oede Gegend. Armuth und Lu-
ſtigkeit des Volks. Sichere Offenbarung. Die Croß-
bones. Geſchichte derſelben. The punchbowl. Park
des Lord Gort. Meine Poſtpferde wünſchen da zu bleiben.
Iriſches Poſtweſen überhaupt. Seite 250.


BriefXXXIII.


Limmerick. Alterthümlicher Charakter dieſer Stadt. Ka-
tholiken und Proteſtanten. Deputation und Anerbietung
des Liberator Ordens. Ein Vetter O’Connel’s. Die Cathe-
drale. Man macht mich zu Napoleons Sohn. Ich ſub-
ſtituire meinen Kammerdiener, und ziehe mich zurück. Un-
terhaltung in der Diligence. Der Shannon gleich einem
amerikaniſchen Fluß. Neue Induſtrie der Bettler in Lis-
dowel. Zwölf Regenbogen an einem Tage. Killarney.
Beſchiffung des Sees im Sturm. Der Dandy und der
Fabrikant. Einige Gefahr zu ertrinken. Die Inſel Inis-
fallen. O’Donnohue’s weißes Pferd. Sein Geiſterleben
und ſeine Geſchichte. Der alte Bootsmann und ſein Aben-
theuer. Modejournal der Hölle. Abtei von Mucruß. Der
große Taxusbaum. Urtel der Prieſterſchaft. Waſſerfall
O Sullivan’s. Das junge Sonntagskind. Die Wette.
Anrede an Roſſ Caſtle. Zwei Engländer zuviel. Der
[XVI] Ritter von der Schlucht. Der Narrenfelſen. Fanferluche.
Park von Brandon Caſtle. Ein Bugleman. Das Adler-
Neſt und Coleman’s Sprung. Das Diner. Friſcher Lachs
an Arbutusſtöcken geröſtet. Heimfahrt. Schwermüthige
Gedanken. Nächtliche Taufceremonie mit Branntwein.
Die Julie-Inſel. Reiſe nach Kenmare. Shileila Kampf.
Ritt bei Nacht nach Glengariff. Seltſamer Weg. Der
kluge Poni. Reizende Bey von Glengariff. Park des
Obriſten W. ein Muſter! Die Familie des Beſitzers.
Lord B … ’s Jagdſchloß. Unwetter. Unheimliche Stim-
mung. Felſenkeſſel, Sturm, Beſchwörung, Erſcheinung
des … Seite 284.

[[1]]

Fuͤnf und zwanzigſter Brief.



Meine theure Julie*).

Um zwei Uhr in der Nacht verließ ich London,
diesmal recht krank, und ſehr widrig geſtimmt, in
Harmonie mit dem Wetter, das, ganz à l’anglaise,
ſtürmte, wie auf der See, und goß, wie mit Kan-
nen. Als aber gegen acht Uhr der Himmel ſich auf-
klärte, ich beim ſanften und raſchen Rollen des Wa-
gens ein wenig geſchlummert hatte, und durch den
Regen erfriſcht, nun alles ſmaragd grün glänzte,
und ein herrlicher Duft von den Wieſen und Blu-
men in das offene Wagenfenſter drang — da ward
Dein von Sorgen gedrückter, grämlicher Freund wie-
der auf einige Augenblicke das harmloſe, in Gott
und der ſchönen Welt vergnügte Kind. Reiſen iſt
in der That in England [äußerſt] ergötzlich — könnte
ich nur Deine Freude daran ſehen, ſie ſelbſt in
Briefe eines Verſtorbenen I. 1
[2] Deiner Begleitung verdoppelt fühlen! Obgleich es
auch ſpäter noch mitunter regnete, wovon ich übri-
gens im zugemachten Wagen nicht viel empfinde, ſo
war doch, bei linder Luft, der Tag ſehr angenehm.
Der erſte Theil des Landes, durch welches unſer
Weg führte, ſtrotzte von üppiger Vegetation, gleich
dem ſchönſten Park; der folgende bot unabſehbare
Kornfelder, und zwar hier ohne Hecken dar, welches
eine Seltenheit in England iſt; und der letzte glich
faſt den reichen Ebnen der Lombardei. Ich kam bei
mehreren großen Beſitzungen vorbei, die ich aber des
ungewiſſen Wetters, und der gemeſſnen Zeit wegen
unbeſucht ließ. Es iſt auch nun, nach meinen langen
Park- und Garten-Jagden durch halb England, nicht
leicht mehr in dieſer Hinſicht etwas Neues für mich
aufzufinden. In Cirenceſter beſah ich eine ſchöne
und ſehr alte gothiſche Kirche, mit einigen leidlich er-
haltenen bunten Glasſenſtern, und merkwürdig ba-
rokkem altem Schnitzwerk. Es iſt Jammerſchade, daß
ſämmtliche gothiſche Kirchen in England, ohne Aus-
nahme, durch geſchmackloſe, moderne Grabſteine und
Monumente verunſtaltet ſind.


[Spät] Abends erreichte ich Cheltenham, einen aller-
liebſten Badeort, von einer Eleganz, die auf dem
Continent nicht angetroffen wird. Schon die reiche
Gaserleuchtung, und die, alle wie neu ausſehenden,
Villaartigen Häuſer, jedes mit ſeinem Blumengärt-
chen umgeben, ſtimmen das Gemüth fröhlich und be-
haglich. Auch komme ich in dieſen Stunden, wo das
Tageslicht mit dem künſtlichen ſtreitet, überall am
[3] liebſten an. Wie ich in den faſt prächtig zu nen-
nenden Gaſthof eintrat, und auf ſchneeweißer Stein-
treppe, die ein Geländer von Goldbronze zierte, über
friſch glänzende Teppiche, von zwei Dienern vorge-
leuchtet, nach meiner Stube ging, gab ich mich dem
Gefühle des Comforts recht con amore hin, das man
nur in England vollkommen kennen lernt. In die-
ſer Hinſicht iſt daher auch für einen Myſantropen,
wie ich bin, das hieſige Land ganz geeignet, weil
alles, was nichts mit dem Geſellſchaftlichen zu thun
hat, alles was man für Geld ſich verſchafft, vortreff-
lich und vollſtändig iſt, und man es iſolirt genießen
kann, ohne daß ſich ein Anderer um uns beküm-
mert *). Sorgenlos und unbefangen von Geſchäften,
mit Dir hier zu reiſen, wäre das ſüßeſte Vergnügen
für mich — wie ſehr entbehre ich Dich überall, und
muß Dich wohl innig lieb haben, Du Gute, weil
ich, wenn es mir übel geht, ſtets einen Troſt darin
finde, daß Du dem Moment wenigſtens entgehſt,
und dagegen wenn ich etwas ſehe oder fühle, das
mich freut, auch immer, gleich einem Vorwurf,
das peinliche Gefühl mit empfinden muß, dies Alles
ohne Dich zu genießen! Eine größere Maſſe mannich-
faltigen Lebensgenuſſes kann man aber gewiß in
England auffinden, als es bei uns möglich iſt. Nicht
umſonſt haben hier lange Zeit weiſe Inſtitutionen
gewaltet, und was den Menſchenfreund vielleicht am
1*
[4] meiſten beruhigt und erfreut, iſt der Anblick ſo all-
gemein größern Wohlſeyns und würdigerer Lebens-
verhältniſſe. Was man bei uns Wohlhabenheit
nennt, findet man hier als das Nothwendige
angeſehen, und durch alle Klaſſen verbreitet. Daraus
entſteht, bis auf die kleinſten Details, ein Streben
nach Zierlichkeit, eine ſorgſame Eleganz und Reinlich-
keit, mit einem Wort: ein Trachten nach dem Schö-
nen neben dem Nützlichen, das unſern geringern
Klaſſen noch ganz unbekannt iſt. Ich glaube, ich
ſchrieb Dir ſchon einmal von Birmingham, daß, als
ich eben dort war, die Londoner Oppoſitions-Blätter
von einer in Birmingham herrſchenden Hungersnoth
unter den Fabrikarbeitern berichteten. Dieſe beſtand
in der Wirklichkeit darin, daß die Leute, ſtatt drei
oder vier Mahlzeiten, mit Thee, kaltem Fleiſch, But-
terbrod, Beefſtakes oder Braten, ſich nun eine Weile,
vielleicht mit einer oder zwei, und blos mit Fleiſch
und Kartoffeln begnügen mußten. Es war aber zu-
gleich Erndtezeit, und der Mangel an Arbeitern hier-
bei ſo groß, daß faſt jeder Preis dafür bezahlt
wurde. Demohngeachtet verſicherte man mich, die
Fabrikarbeiter würden eher alle Maſchinen demoliren,
ja wirklich Hungers ſterben, ehe ſie ſich entſchlöſſen,
eine Senſe in die Hand zu nehmen, oder Garben zu
binden. So [verwöhnt] und eigenſinnig, durch allge-
meines Wohlleben und Sicherheit des Verdienſtes
(wenn man dieſen nur ernſtlich aufzuſuchen Luſt
hat) iſt das engliſche gemeine Volk, und man kann
ſich, nach dem Geſagten, abſtrahiren, was von den
[5] häufigen Artikeln ſolcher Art in den Zeitungen ei-
gentlich zu halten iſt.



Heute früh beſuchte ich einen Theil der öffentlichen
Promenaden, welche ich indeß unter meiner Erwar-
tung fand, und trank den Brunnen, der mit Carls-
bad Aehnlichkeit hat, mich aber ſehr erhitzte. Die
Doktoren ſagen hier, wie bei uns: man müſſe ihn
früh trinken, ſonſt verliere er einen großen Theil ſei-
ner Kraft. Das Spaßhafte iſt aber, daß hier früh,
in ihrem Sinne, gerade da anfängt, wo es bei uns
aufhört, nämlich um zehn Uhr. Das Wetter iſt lei-
der nicht günſtig, jetzt kalt und ſtürmiſch, nachdem
wir früher, ziemlich lange für England, große Hitze
gehabt hatten. Zur Reiſe iſt es aber nicht ſo übel,
und ich fühle mich dabei mindeſtens weit heiterer
als in London, freue mich auch lebhaft auf die ſchö-
nen Gegenden in Wales, denen ich entgegen reiſe.
Sey alſo wenigſtens in Gedanken bei mir, und laß
unſere Geiſter Hand in Hand über Land und Meer
gleiten, zuſammen von den Bergen herab ſchauen,
und der Thäler ſtille Heimlichkeit genießen; denn an
der Schönheit Gottes herrlicher Natur erfreuen ſich
die Geiſter gewiß durch alle Welten, in Formen ſo
unendlich verſchieden, als die Unendlichkeit ſelbſt
grenzenlos iſt.


Ich führe Dich zuerſt zu den ſieben Quellen der
Themſe, die eine Stunde von Cheltenham entſpringen.
In einer Fly, (kleine Art Landau, nur mit einem
[6] Pferde beſpannt) auf deren Verdeck ich ſaß, um die
ſchönen Ausſichten von einem höhern Standpunkte
zu betrachten, hatte ich dieſe Excurſion unternommen.
Nach langem Steigen ſieht man endlich, auf einſa-
mer Bergwieſe, unter ein Paar Erlen, eine ſumpfige
Gruppe kleiner Quellchen, die, ſo weit der Blick ſie
verfolgen kann, als ein unbedeutendes Bächlein hinab
rieſeln. Dies iſt der beſcheidne Anfang der ſtolzen
Themſe. Es ward mir ganz poetiſch zu Muthe, als
ich mir dachte, wie ich erſt vor einigen Stunden
daſſelbe Waſſer, nur wenige Meilen davon, mit tau-
fend Schiffen bedeckt ſah, und wie dort der glorreiche
Strom, obgleich ſein Lauf nur ſo kurz iſt, dennoch
vielleicht mehr Schiffe, mehr Schätze und mehr Men-
ſchen das Jahr über auf ſeinem Rücken trage, als
irgend einer ſeiner coloſſalen Brüder; wie an ſeinen
Ufern die Hauptſtadt der Welt liege, und wie von
ihnen aus allmächtiger Handel vier Welttheile be-
herrſche! — Mit reſpektvoller Verwunderung blickte
ich auf die plätſchernden Waſſerperlen hin, und ver-
glich ſie bald mit Napoleon, der, in Ajaccio incognito
geboren, kurz darauf alle Throne der Erde erzittern
machte — bald mit der Schnee-Lawine, die unter der
Zehe eines Sperlings ſich ablöst, und fünf Minuten
nachher ein Dorf begräbt — oder mit Rothſchild,
deſſen Vater Bänder verkaufte, und ohne den heute
keine Macht in Europa Krieg führen zu können
ſcheint.


Mein Wagenlenker, der zugleich ein beglaubigter
Cheltenham’er Cicerone war, brachte mich von hier
[7] auf einen hohen Berg, Lakintonhill genannt, wo eine
berühmte vûe iſt, nebſt der Zugabe eines freundli-
chen Gaſthofs zur Bewirthung der Beſuchenden. Im
Schutz einer Roſenlaube geborgen *), ſchweifte mein
Blick ſiebenzig engliſche Meilen weit in das Land hin-
ein, eine reiche Ebne mit mehreren Städten und
Dörfern überſchauend, unter denen die Cathedrale
von Glouceſter den ſtattlichſten Ausſichtspunkt bil-
det. Hinter ihr thürmen ſich zwei Bergreihen über-
einander, die von Malvern und von Wales. So
ſchön alles war, erweckten doch die fernen, blauen,
in Duft verſchwimmenden Berge nur ſehnſüchtiges
Heimweh in mir. Wie gern wäre ich, unter Fortu-
nato’s Wünſchhütlein, an Deine Seite geflogen!
Bisher hatten ſich ſchwarze Wolken am Himmel ge-
jagt, gerade als ich die Ausficht verließ, erſchien nek-
kend die Sonne. Sie leuchtete mir durch einen ſchö-
nen Buchenwald zu dem reizenden Landſitz des Herrn
Todd, der mitten im Waldesdunkel in Geſtalt eines
freundlichen Dörfchens angelegt worden iſt — lauter
Hütten, Strohdächer und Moos-Gallerien. Auf grü-
nem Raſenplatz, in der Mitte ſteht die ehrwürdige
Dorflinde, mit der Bank von drei Etagen für eben
ſoviel Generationen, nicht weit davon auf verwitter-
rem Stamme eine Sonnenuhr, und am Bergſaume
nach dem Thale zu, ein ländlicher Ruheſitz, mit einer
[8] Kuppel von Haidekraut, deren Ribben zierlich von
Wurzeln geflochten ſind. Oft wird bei Feſten das
Ganze mit Immergrün und Blumen geſchmückt, und
Abends mit bunten Lampen erleuchtet. In dem da-
neben liegenden Park, den manche ſchöne Parthieen
auszeichnen, findet man die Ruinen einer römiſchen
Villa, die erſt vor acht Jahren zufällig entdeckt wur-
de, und zwar durch das plötzliche Einſinken eines
Baumes. Einige Bäder ſind noch wohl erhalten, ſo
wie zwei Moſaik-Böden, die aber nur eine ziemlich
grobe Arbeit darbieten, und mit pompejiſchen Aus-
grabungen keinen Vergleich aushalten. Die Wände
ſind zum Theil noch mit zwei Zoll dicken, roth und
blau gefärbten Stuck bekleidet, und die Heizröhren
von Ziegeln erbaut, deren Qualität und Dauer un-
übertreffbar iſt. Eine Viertelſtunde davon verfolgt
man deutlich die alte römiſche Straße, die auch noch
zum Theil benutzt wird, und ſich von den engliſchen
Wegen dadurch hauptſächlich unterſcheidet, daß ſie,
gleich einer norddeutſchen Chauſſee, in ſchnurgerader
Linie geführt iſt. Hoffentlich aber war der Geſchmack
der Römer zu gut, um ſie auch mit unabſehbaren Rei-
hen lombardiſcher Pappeln einzufaſſen, wie es bei je-
nen der Fall iſt, deren doppelte Monotonie deshalb
eine wahre Marter für den armen Reiſenden wird.
Welcher Unterſchied mit einer engliſchen Landſtraße,
die man in ſanften Biegungen um die Berge windet,
tiefe Thäler vermeidet und alte Bäume ſchont, ſtatt,
um der fixen Idee der geraden Linie zu folgen, ſie
[9] mit ſechsfach größern Koſten durch dick und dünne,
durch Berge und Abgründe mit Gewalt zu führen.


Auf dem Rückwege nach Cheltenham kam ich durch
ein großes Dorf, wo ich einen ſogenannten Theegar-
ten zum erſtenmal beſuchte. Die Art, wie hier ein
geringer Raum zu hundert kleinen Niſchen, Bänken,
und pittoresken, oft abentheuerlichen, Sitzen unter
Blumen und Bäumen benutzt wird, iſt merkwürdig
genug, und bildet einen ſeltſamen Contraſt mit dem
Phlegma der bunten Menge, welche die Scene, nicht
ſowohl belebt, als ſtaffirt.


Da es noch ziemlich früh war, als ich die Stadt
wieder erreichte, ſo benutzte ich den ſchönen Abend,
um einige andere Brunnen zu beſuchen, wobei ich
gewahr wurde, daß ich heute früh nur auf den un-
bedeutendſten geſtoßen war. Dieſe Anlagen ſind un-
gemein glänzend, vielfach mit Marmor, aber noch
mehr mit Blumen, [Gewächshäuſern] und ſchönen
Pflanzungen geſchmückt. Die Spekulationen in Eng-
land ſteigern ſich enorm, ſo bald eine Sache Mode
wird, und dies iſt hier ſo ſehr der Fall, daß ſich bin-
nen fünfzehn Jahren in der Nähe der Stadt der
Preis eines Acre Landes von vierzig auf tauſend
Guineen erhöht hat. Die für das Publikum beſtimm-
ten Vergnügungsörter ſind hier, und ich glaube mit
Recht, ganz verſchieden von Garten- und Park-An-
lagen eines Privatmannes behandelt. Breite Prome-
naden, Schatten und abgeſonderte Plätze werden mehr,
als Ausſichten und ein großartiges, landſchaftliches
Ganze, bezweckt. Die Art, Alleen zu pflanzen, ge-
fällt mir. Es wird nämlich ein fünf Fuß breiter
[10] Streifen Landes längſt des Weges rigolt, und dicht
an einander ein Gemiſch verſchiedener Bäume und
Sträucher hineingepflanzt. Die am beſten wachſenden
Bäume läßt man ſpäter in die Höhe gehen, und die
andern hält man als unregelmäßigen niedrigen Un-
terbuſch unter der Scheere, welches den Ausſichten,
zwiſchen der Krone der hohen Bäume und dem Ge-
ſträuch, eine ſchönere Einfaſſung giebt, das Ganze
voller und üppiger macht, und den Vortheil gewährt,
daß man, wo die Gegend unintereſſant iſt, die Laub-
wand von unten bis oben dicht zuwachſen laſſen kann.



Entre la poire et le fromage erhielt ich geſtern
den ſchon zweimal abgelehnten Beſuch des hieſigen
Ceremonienmeiſters, des Herren, welcher die honneurs
des Bades macht, und in den engliſchen Badeörtern
eine bedeutende Autoritat über die Geſellſchaft aus-
übt, wogegen er mit ſonſt ganz antiengliſcher Zuvor-
kommenheit und Wortſchwall die Fremden begrüßt,
und für ihre Unterhaltung zu ſorgen ſucht. Ein ſol-
cher Engländer hat in der Regel übles Spiel, und [erin-
nert]
ſtark an den Martin der Fabel, welcher die Ca-
reſſen des Schooshundes nachmachen wollte. Ich
konnte den meinigen nicht eher los werden, als bis
er einige Bouteillen Claret bei mir ausgeſchlürft, und
alles Deſſert, was das Haus lieferte, gekoſtet hatte.
Dann empfahl er ſich endlich, mir noch das Ver-
ſprechen abnehmend, den morgenden Ball ja gewiß
[11] mit meiner Gegenwart zu beehren. Da mir aber
jetzt wenig an Geſellſchaft und neuen Bekanntſchaf-
ten liegt, ſo machte ich ihm faux bond, und verließ
am frühen Morgen Cheltenham. Die Gegend bleibt
fortwährend im hohen Grade lieblich, voller Wieſen-
gründe und tief grüner Baumgruppen, mit im-
mer deutlicher werdenden Anſichten der den Horizont
bekränzenden Berge. Faſt alle Stationen paſſirt man
eine anſehnliche Stadt, der nie ihre hoch hinaus-
ragende gothiſche Kirche fehlt. Beſonders reizend
erſchien mir die Lage der Stadt Tewksbury. Nichts
kann friedlicher, idylliſcher ſeyn, und dennoch ſind
alle dieſe blühenden Fluren, blutige Schlachtfelder
aus den Zeiten der unzähligen engliſchen Bürger-
kriege, woher ſie auch noch jetzt die im Laufe der
Jahrhunderte ſo unpaſſend gewordenen Namen von
Blutſtätte, Mordfeld, Knochenacker ꝛc. führen.


Worceſter, wo ich Dir jetzt ſchreibe, die Haupt-
ſtadt der Grafſchaft, bietet außer ihrer prächtigen
Cathedrale, nicht viel Merkwürdiges dar. Die we-
nigen, in dieſer Kirche noch übrig gebliebenen, alten
Glasmalereien ſind mit neuen ergänzt, welche
ſehr hart gegen das Weiche, und doch Glühende,
der alten Farben abſtechen. In der Mitte des Schif-
fes liegt King John begraben, ſein Conterfei in
Stein gehauen auf dem Steinſarge. Es iſt das äl-
teſte Grabmonument eines engliſchen Königs in
Großbrittanien. Man öffnete den Sarg vor einigen
Jahren und fand das Gerippe noch wohl erhalten,
und ganz ſo gekleidet, wie der König auf dem Sarge
[12] abgebildet iſt. Bei Berührung der Luft zerfiel die
Kleidung in Staub, das Schwert war aber vorher
ſchon in Roſt aufgegangen, und nur der Griff noch
zu erkennen. Ein anderes höchſt merkwürdiges Mo-
nument iſt das eines Templers aus dem Jahr 1220
mit der normänniſchen Inſchrift: Ici aist syr guil-
leaume de harcourt fys robert de harcourt et de
Isabel de camvile
. Die Figur des Ritters (bei-
läufig geſagt in einem ganz andern Coſtüme als des
Grafen Brühl Templer in Berlin) iſt vortrefflich ge-
arbeitet, und liegt mit einer Natürlichkeit, einem
abandon da, welcher eine antike Natur nicht verun-
zieren würde. Die Kleidung beſteht aus Stiefeln
oder Strümpfen, wie man es nennen will, von
cotte de maille, mit goldenen Sporen darüber; das
Knie iſt nackend, und über dem Knie geht wieder
cotte de maille an, die den ganzen [Körper] und auch
den Kopf ſo einſchließt, daß nur das Geſicht frei
bleibt. Ueber dieſem Panzerhemde trägt die Figur
ein langes rothes Faltengewand bis über die Wade
herabhängend, und über dieſes an einem ſchwarzen
Bandelier ein langes Schwerdt in rother Scheide.
Am linken Arme hängt ein ſchmaler ſpitzer Schild
mit dem Familienwappen, nicht dem Templerkreuz,
darauf eingegraben. Dieſes befindet ſich nur am
Sarge. Die ganze Figur iſt, wie Du aus meiner
Beſchreibung inne wirſt, bemalt, und die Farben
immer von Zeit zu Zeit aufgefriſcht worden. Als
größte Sehenswürdigkeit wird dem Fremden zuletzt
das Grabmahl des Prinzen Arthur gezeigt, deſſen
[13] vielverſchlungene Steinverzierungen wirklich der künſt-
lichſten Drechslerarbeit gleichkommen. Auf der einen
Seite der Kapelle ſind fünf Reihen kleine Portrait-
Figuren über einander angebracht. Die Rangord-
nung iſt folgende: Unten Aebtiſſinnen; auf ihnen
Biſchöffe; über dieſen Könige; dann Heilige, und
ganz oben Engel. Quant à moi, qui ne suis encore
ni saint, ni ange, souffrez, que je vous quitte pour
mon diner
.



Wenn ich die Ehre [hätte] der ewige Jude zu ſeyn,
(und Geld muß dieſer doch wenigſtens ad libitum
haben) ſo würde ich ohne Zweifel einen großen Theil
meiner Unſterblichkeit auf der Landſtraße zubringen,
und dies namentlich in England. His so delight-
fall
für Jemand der fühlt und denkt wie ich. Fürs
erſte [ſtört] und genirt mich keine menſchliche Seele;
ich bin, wo ich gut bezahle, überall der Erſte (den
herrſchſüchtigen Menſchenkindern immer ein angeneh-
mes Gefühl) und habe nur mit freundlichen Geſich-
tern, und Leuten zu verkehren, die voll Eifer ſind,
mir zu dienen. Fortwährende Bewegung, ohne Ue-
bermüdung, erhält den Körper geſund, und die ſtete
Veränderung in ſchöner freier Natur, hat dieſelbe
ſtärkende Wirkung auf den Geiſt. Dazu, geſtehe ich,
geht es mir zum Theil wie dem Doctor Johnſon,
der behauptete: das größte menſchliche Glück ſey,
in einer guten engliſchen Poſtchaiſe mit einem ſchö-
[14] nen Weibe raſch auf einer guten engliſchen Chauſſee,
zu fahren. Auch für mich iſt es eine der angenehm-
ſten Empfindungen, in einem bequemen Wagen da-
hin zu rollen, und mich [gemächlich] darin auszuſtrek-
ken, während mein Auge ſich an den, wie in der
laterna magica, immer wechſelnden Bildern ergötzt.
Nachdem ſie verſchieden ſind, erregen ſie meine Fan-
taſie bald ernſt, bald heiter, tragiſch oder komiſch,
und mit großem Vergnügen male ich dann in mir
ſelbſt die gegebenen Skizzen aus; und welche gigan-
tiſche, launige, ſeltſame Geſtalten nehmen ſie dann
oft mit Blitzesſchnelle an, gleich Wolkenbildern vor
meinem Geiſte auf und nieder wogend! Findet ſich
jedoch die Fantaſie einmal träge, ſo leſe und ſchlafe
ich Gottlob mit gleicher Leichtigkeit im Wagen.
Meine Packerei iſt keine Plackerei, um mit dem Ca-
puziner zu reden, ſondern ſo vortrefflich eingerichtet
(durch lange Erfahrung) daß ich ohne embarras,
und ohne meinen Dienern das Leben zu ſauer zu
machen, ſtets im Augenblick das Verlangte erhalten
kann. Zuweilen, wenn das Wetter gut und die
Gegend ſchön iſt, ſpaziere ich auch wohl meilenweit
zu Fuße, enfin ich erlange hier allein vollkommene
Freiheit — und als letztes endlich darf ich den Ge-
nuß, über alles dies meiner Herzensfreundin in ei-
ner Ruheſtunde zu ſchreiben, auch nicht gering an-
ſchlagen. Doch nun zur Sache! Ich fuhr die Nacht
durch, nachdem ich am Abend noch ein ſeltſames
Spiel am Himmel erlebt hatte. Auf der Höhe eines
Berges glaubte ich vor mir ein rieſenmäßiges ſchwar-
[15] zes Gebürge, und am Fuß deſſelben einen unermeß-
lichen See zu erblicken. Es dauerte lange, ehe ich
mich überzeugen konnte, daß ich nur eine optiſche
Täuſchung, durch Nebel und verſchiedene Wolken-
ſchichten gebildet, vor mir hatte. Der obere Himmel
war nämlich lichtgrau und ohne Schattirung, gegen
ihn aber lag eine ganz ſchwarze Wolken-Maſſe in
Form des wildeſten Gebirges, deren obere Linie,
kühn gezeichnet, vielfach auf und nieder ſtieg, wah-
rend die untere durch eine Nebelſchicht völlig horizon-
tal abgeſchnitten war. Dieſer Nebel nun ſchien ein
auf beiden Seiten unabſehbares ſilberweißes Waſſer-
becken zu bilden, und da an ihm, unmittelbar zu
meinen Füßen, ſich der grüne Vorgrund, ein bewal-
detes, ſonniges Wieſenland anſchloß, ſo erreichte die
[Täuſchung] wirklich einen ſeltenen Grad! Nur nach
und nach, wie ich den Berg herabfuhr, verſchwand
das zauberartige Bild in der Luſt. Die ſchönſte
Wirklichkeit erwartete mich dagegen heute früh in
Wales. Der Traum der Wolken ſchien mir im vor-
aus die Herrlichkeit des Thales von Llangollen ver-
künden haben zu wollen, eine Gegend die nach mei-
nem Geſchmack alle Schönheiten der Rheinländer
weit übertrifft, und dabei eine ganz beſondere Origi-
nalität in den ungewöhnlich geformten Spitzen und
jähen [Abhängen] der Berge ausſpricht. Ein reißen-
der Fluß, die Dee, windet ſich in tauſend fantaſti-
ſchen Krümmungen, die dichtes Laubholz überſchat-
tet, durch den Wieſengrund, woraus ſchroff auf bei-
den Seiten hohe Berge empor ſteigen, die bald mit
[16] uralten Ruinen, bald mit modernen Landhäuſern,
zuweilen auch mit Fabrikſtädtchen, deren thurmhohe
Feuereſſen dicken Rauch empor wirbeln, oder auch
mit grotesken, einſam ſtehenden Felſengruppen,
gekrönt ſind. Die Vegetation iſt durchgängig reich,
und Berg und Thal voll hoher Bäume, deren man-
nigfache Farbenſchattirungen ſo unendlich viel zur
Anmuth und dem Maleriſchen einer Landſchaft bei-
tragen. In dieſer üppigen Natur erhebt ſich, mit
um ſo grandioſerem Effect, eine einzige lange,
ſchwarze, kahle Bergwand, nur mit dichtem, dunk-
lem Haidekraut bedeckt, die ſich geraume Zeit längs
der Straße hinzieht. Dieſe prächtige Straße, von
London bis Holy Head (200 Meilen) *) ſo eben wie
ein Parquet, führt hier an der Seite der linken
Bergkette entlang, ohngefähr in der Mitte ihrer
Höhe, und allen ihren Krümmungen folgend, ſo
daß, während man im ſcharfen Trabe und Gallop
dahin fährt, faſt jede Minute ſich die Anſicht [völlig]
umwandelt, und man, ohne ſeinen Sitz zu verän-
dern, abwechſelnd das Thal bald vor ſich, bald ſeit-
wärts, bald rückwärts überſieht. An einem Ort
führt eine Waſſerleitung aus 25 ſchlanken Steinbo-
gen, ein Werk, das den Römern Ehre gemacht ha-
ben würde, mitten durch das Thal und über den
[17] Dee, ſo einen zweiten Fluß, 120 Fuß über dem an-
dern, [hinſtrömen] laſſend. Das Bergſtädtchen Llan-
gollen gewährt nach einigen Stunden ein köſtliches
Ruheplätzchen, und iſt mit Recht ſeiner lieblichen
Gegend wegen ſo häufig beſucht. Die ſchönſte Aus-
ſicht hat man vom Kirchhofe, neben dem Gaſthaus,
wo ich vor einer halben Stunde, auf ein Grab-
monument geklettert, ſtand, und mich, mit herzli-
cher Frömmigkeit, glückſelig des ſchönen Anblicks
freute. Unter mir blühte ein terraſſenförmiges Gärt-
chen mit Wein, Jelänger-jelieber, Roſen und hun-
dert bunten Blumen, die wie zum Bade bis an den
Rand des ſchäumenden Fluſſes hinab ſtiegen; rechts
verfolgte mein Blick die emſig murmelnden gekräu-
ſelten Wellen zwiſchen dicht herabhängendem Ge-
büſch; vor mir erhob ſich eine doppelte Waldregion,
durch Wieſenflächen mit weidenden Kühen abgetheilt,
und über alles hoch oben die kahle coniſche Spitze
eines vielleicht ehemaligen Vulcans, den jetzt die
düſtern Ruinen der uralten welſchen Burg Castel
Dinas Bran,
zu deutſch: die Krähen-Veſte, wie
eine Mauerkrone, decken; links zerſtreuen ſich die
ſteinernen Häuſer des Städtchens im Thal, und ne-
ben einer maleriſchen Brücke bildet der Fluß hier ei-
nen anſehnlichen Waſſerfall; dicht hinter dieſen an-
gelehnt aber ſtellen ſich, gleich Rieſenwächtern, drei
große Bergkoloſſe majeſtätiſch vor, und verſchließen
dem Auge alle fernern Geheimniſſe der wunderbaren
Gegend. Erlaube nun daß ich — vom Romantiſchen
zum vielleicht weniger feinen, aber doch auch keines-
Briefe eines Verſtorbenen. I. 2
[18] wegs zu verachtenden Sinnengenuß zurückkehrend —
mich nach inwärts wende, das heißt, nach der
Stube, wo mein durch die Bergluft ungemein ver-
mehrter Appetit, mit nicht geringem Wohlbehagen,
auf dem ſchön geblümten irländiſchen Damaſttuch,
dampfenden Kaffee, friſche Perlhuhneier, dunkelgelbe
Gebirgsbutter, dicken Rahm, Toaſt, Muffins, *)
und zuletzt zwei eben gefangene Forellen mit zierli-
chen rothen Fleckchen erblickt — ein Frühſtück, das
Walter Scott’s Helden in den high lands nicht
beſſer von dieſem großen Maler menſchlicher Noth-
durft erhalten könnten. Je dévore déja un oeuf —
adieu.



Der Regen der mich von London, mit kurzen In-
tervallen, ſtets begleitet hat, blieb mir auch heute
treu, doch ſcheint ſich nun das Wetter zum Guten
ändern zu wollen. Ich habe indeß allerlei zu [erzäh]-
len, und einen intereſſanten Tag zu beſchreiben. Alſo,
noch zur rechten Zeit, ehe ich Llangollen verließ, fie-
len mir die beiden berühmten Jungfern (gewiß die
berühmteſten in Europa) ein, welche in dieſen Ber-
gen nun bereits über ein halbes Jahrhundert hau-
[19] ſen, von denen ich ſchon einſt als Kind, und jetzt
wiederum in London viel erzählen hörte. Du haſt
gewiß auch durch Deinen Vater Kunde von ihnen
vernommen. Sinon, voilà leur histoire. Vor 56
Jahren kam es zwei vornehmen, jungen, hübſchen
und faſhionablen Damen in London, Lady Elleonor
Buttler und der Tochter des eben verſtorbenen Lord
Ponſonby, in ihre Köpfchen, die Männer zu haſſen,
nur ſich zu lieben und zu leben, und von Stunde
an, als Zweiſiedler in eine Einſiedelei zu ziehen. Der
Entſchluß wurde ſofort ausgeführt, und nie haben
beide Damen ſeit dieſer Zeit auch nur eine Nacht
außer ihrer Cottage geſchlafen. Dagegen reist kein
Menſch nach Wales, der präſentabel iſt, ohne ſich
einen Brief oder Empfehlung an ſie mitgeben zu
laſſen, und wie man behauptet, intereſſirt ſie „scan-
dal“
noch heute eben ſo ſehr, wie damals, als ſie
noch in der Welt lebten, und ihre Neugierde, Alles,
was in dieſer vorgeht, zu hören, ſoll ſich ebenfalls
gleich friſch erhalten haben. Ich hatte von mehreren
Damen zwar Complimente für ſie, aber keinen Brief,
den ich zu verlangen vergeſſen, und ſchickte daher nur
meine Karte, entſchloſſen, wenn ſie meinen Beſuch
ablehnten, wie man mich [befürchten] machen wollte,
die Cottage zu erſtürmen. Rang öffnete aber hier
leicht die Thüren, und ich erhielt ſofort eine gra-
cieuſe Einladung zu einem zweiten Frühſtück. In
einer Viertelſtunde langte ich in der reizendſten Um-
gebung, durch einen netten pleasureground fahrend,
bei einem kleinen geſchmackvollen gothiſchen Häuschen
2*
[20] an, grade der Krähenveſte gegenüber, auf die mehrere
Ausſichten durch das Laub hoher Bäume gehauen
waren. Ich ſtieg aus, und wurde ſchon an der
Treppe von beiden Damen empfangen. Glücklicher-
weiſe war ich bereits gehörig auf ihre Sonderbarkei-
ten vorbereitet, ſonſt hätte ich ſchwerlich gute conte-
nance
erhalten. Denke Dir alſo zwei Damen, wo-
von die älteſte. Lady Elleonor, ein kleines rüſtiges
Mädchen, nun anfängt, ein wenig ihre Jahre zu füh-
len, da ſie eben 83 alt geworden iſt; die andere
aber, eine große und imponirende Geſtalt, ſich noch
ganz jugendlich dünkt, da das hübſche Kind erſt 74
zählt. Beide trugen ihr, noch recht volles Haar ſchlicht
herabgekämmt und gepudert, einen runden Manns-
hut, ein Männerhalstuch und Weſte, ſtatt der inex-
pressibles
*) aber einen kurzen jupon, nebſt Stiefeln.
Das Ganze bedeckte ein Kleid aus blauem Tuch von
ganz beſondrem Schnitt, die Mitte zwiſchen einem
Männer-Ueberrock und einem weiblichen Reithabit
haltend. Ueber dieſes trug aber Lady Elleonor noch
Erſtens: den grand cordon des Ludwigsordens über den
Leib, zweitens: denſelben Orden um den Hals, drittens:
abermals ditto das kleine Kreuz deſſelben im Knopfloch,
et pour comble de gloire eine goldene Lilie von bei-
[21] nahe natürlicher Größe als Stern — alles, wie ſie
ſagte, Geſchenke der Bourbon’ſchen Familie. So
weit war das Ganze in der That höchſt lächerlich,
aber nun denke Dir auch beide Damen wieder mit
der angenehmen aisance, und dem Tone der großen
Welt de l’ancien régime, verbindlich und unterhal-
tend ohne alle Affectation, franzöſiſch wenigſtens eben
ſo gut ſprechend, als irgend eine vornehme Englän-
derin meiner Bekanntſchaft, und dabei von jenem
weſentlich höflichen, unbefangenen und, ich [möchte]
ſagen, naiv heitern Weſen der guten Geſellſchaft da-
maliger Zeit, das in unſerm ernſten, induſtriellen
Jahrhunderte des [Geſchäftlebens] faſt ganz zu Grabe
getragen worden zu ſeyn ſcheint, und mich bei dieſen
gutmüthigen Alten wahrhaft rührend anſprach. Auch
konnte ich nicht ohne lebhafte Theilnahme die unun-
terbrochene und doch ſo ganz natürlich erſcheinende
zarte Rückſicht bemerken, mit der die Jüngere ihre
ſchon etwas infirmere ältere Freundin behandelte,
und jedem ihrer kleinen Bedürfniſſe ſorgſam zuvor
kam. Dergleichen liegt mehr in der Art, wie es ge-
than wird, in ſcheinbar unbedeutenden Dingen, ent-
geht aber dem Gefühlvollen nicht.


Ich debütirte damit, ihnen zu ſagen, daß ich mich
glücklich [ſchätzte], ein Compliment an ſie ausrichten zu
können, das mein Großvater, der vor 50 Jahren
ihnen aufzuwarten die Ehre gehabt hätte, mir an
die ſchönen Einſiedlerinnen aufgetragen habe. Dieſe
hatten nun zwar ſeitdem ihre Schönheit, aber keines-
wegs ihr gutes Gedächtniß verloren, erinnerten ſich
[22] des G .... C … ſehr wohl, brachten ſogar ein altes
Andenken von ihm hervor, und wunderten ſich nur,
daß ein ſo junger Mann bereits geſtorben ſey!
Nicht nur die ehrwürdigen Jungfern, auch ihr [Häus]-
chen war voller Intereſſe, ja mitunter enthielt es wahre
Schätze. Keine merkwürdige Perſon faſt, ſeit dem
vergangenen halben Jahrhunderte, die ihnen nicht
ein Portrait, oder andere Curioſa und [Antiquitäten]
als Erinnerung zugeſchickt hätte. Dieſe Sammlung,
eine wohl garnirte Bibliothek, eine reizende Gegend,
ein ſorgenfreies, ſtets gleiches Leben, und innige
Freund- und Gemeinſchaft unter ſich — dies ſind
alle ihre Lebensgüter; aber nach ihrem kräftigen Al-
ter und ihrem heitern Gemüth zu ſchließen, müſſen
ſie nicht ſo übel gewählt haben. —


Unter unbändigem Regen hatte ich die guten alten
Damen beſucht, und unter demſelben Platzregen ging
jetzt die Reiſe weiter, zuerſt bei der Ruine einer al-
ten Abtei vorüber, und dann bei dem einſtigen
Palaſt Owen Glendower’s, deſſen Du Dich aus Sha-
keſpeare, und meinen Vorleſungen in M ..... erin-
nerſt. Die Mannigfaltigkeit der Gegend iſt außer-
ordentlich; zuweilen iſt man von einem wahren Ge-
tümmel von Bergen aller Formen umringt, dann
glaubt man ſich, das Land weit überblickend, faſt
wieder in der Ebne, bis man von neuem in eine
dunkle enge Waldſtraße eingeſchloſſen wird. Weiter-
hin treibt der Fluß ruhig eine friedliche Mühle, und
gleich darauf braußt er im Abgrunde über Felſen-
blöcke, und bildet in der Tiefe einen prachtvollen
[23] Waſſerfall. Gerade an dieſer Stelle, der Caskade von
Pont-Y-Glyn gegenüber, begegnete ich einer ſehr ele-
ganten engliſchen Droſchke (die ſehr verbeſſerte Aus-
gabe des Wiener Originals) mit vier hübſchen Pfer-
den beſpannt, aber mit einem noch hübſcheren Mäd-
chen darin, die von einer zwar älteren, aber auch
nicht übel ausſehenden, Frau begleitet war. Wir
hielten beide zur Beſichtigung des Waſſerfalles an,
und während unſere Wagen ſo gegenüber ſtanden,
ſchielte das Mädchen neugierig nach mir herüber,
was ich bemerkte, und lachte. Dies erſchreckte die
ſcheue Engländerin, ſie ward über und über roth,
und konnte doch gleich nachher, in jugendlicher Luſtig-
keit, ſich ſelbſt des Lachens nicht über die Pantomi-
men enthalten, welche ich, im Wagen vor der Beglei-
terin verſteckt, ihr adreſſirte. Der Kampf in dem ſie
darüber mit ſich ſelbſt gerieth, machte die Scene noch
komiſcher. In dieſem Moment fielen meine Augen
auf einen Haufen eben von mir geſammelter ſchöner
Bergblumen, und ich ſchrieb ſchnell auf ein ausge-
riſſenes Blatt meines Portefeuille folgende Worte:
„F … M .... empfiehlt ſich den unbekannten Damen
„reſpectvoll und bittet um Erlaubniß, ihnen zwei eben
„gepflückte Sträußer Gebirgsblumen zu ſenden; er
„ſollicitirt als Gegengeſchenk um die Namen der lie-
„benswürdigen Reiſenden, die ihm ſein guter Stern
„bei Pont-Y-Glyn begegnen ließ.“ — Dies befahl
ich meinem Kammerdiener zu übergeben. Es wurde,
wie ich hinter dem herabgezogenen Rouleau ſah, mit
ſatyriſchem Lächeln von der [ältern] Dame, mit Errö-
[24] then von der Jüngern aufgenommen. Die Antwort
lautete: „Sehr verbunden; aber die unbekannten
„Damen müſſen incognito bleiben .... vielleicht —
„ſehn wir uns in London wieder.“


Hierauf erfolgte das Zeichen zur Abfahrt, und da-
hin eilten wir, nur noch ein Paar ungewiſſe Blicke
tauſchend, nach ganz verſchiedenen Weltgegenden hin.
War das nicht der Anfang einer artigen kleinen
avanture? wäre ich noch ein Menſch, der ſeinen Lau-
nen nachgeben kann, ich hätte ſogleich umkehren laſſen
und das Mädchen verfolgt bis ..... doch nichts wei-
ter davon! ſie kam mir aber lange nicht aus den Ge-
danken, denn ſie war zu hübſch, um ſie ſo ſchnell zu
vergeſſen. Auf der nächſten Station erkundigte ich
mich nach ihr, aber niemand wollte ſie kennen. Ich
blieb alſo allein mit dem Ueberreſt meiner Blumen,
und ſchmollte ein wenig, bis neue Gegenſtände wie-
der meine ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch nah-
men. Denn das Thal von Llangollen iſt nur die
Vorrede zu der eigentlichen Epopäe — dem höhern
Gebirge von Wales. Nachdem man hinter dem er-
wähnten Waſſerfall, eine halbe Stunde lang in einer
faſt unbedeutenden, nur durch wenige Hügel unter-
brochenen, Ebne gefahren iſt, tritt man nicht weit
von Cernioge mawr inn mit einem Mal in das Al-
lerheiligſte — ein mächtig ergreifender Anblick! Un-
geheure ſchwarze Felſen bilden rund umher das er-
habendſte Amphitheater, deſſen gezackte und zerriſſene
Zinnen in den Wolken zu ſchwimmen ſcheinen. Un-
ter einer achthundert Fuß tief herabſteigenden Felſen-
[25] wand, bahnt der Fluß ſich ſeinen ſchwierigen Weg,
von Abgrund zu Abgrund herabſtürzend. Vor uns
lag eine perſpectiviſche Anſicht über einander wogen-
der Berge, die endlos ſchien. Ich war ſo entzückt,
daß ich mir durch lauten Ausruf Luft machen mußte.
Und dabei kann man die berrliche Straße nimmer
genug loben, welche, nie jähling ſteigend oder ſinkend,
alle die belles horreurs dieſer Bergwelt ſo gemäch-
lich betrachten läßt. Sie iſt, wo ſie nicht von Felſen
geſchützt wird, durchgängig mit niedrigen Mauern
eingeſchloſſen, und in gleichen Diſtanzen ſind eben-
falls zierlich gemauerte Niſchen angebracht, in denen
die Steine zur Ausbeſſerung aufgeſchichtet ſind, was
weit geordneter ausſieht, als die freiliegenden Stein-
haufen an unſern Landſtraßen.


Das Gebirge von Wales hat einen ſehr eigenthüm-
lichen Charakter, der ſchwer mit andern zu verglei-
chen iſt. Seine Höhe iſt ohngefähr der des Rieſen-
gebirges gleich, es erſcheint aber unendlich grandioſer
in Form, iſt weit reicher an Bergſpitzen, und dieſe
beſſer gruppirt. Auch die Vegetation iſt mannichfal-
tiger an Pflanzenarten, obgleich nicht ſo zahlreich an
Bäumen überhaupt, und es hat Flüſſe und Seen, die
dem Rieſengebirge ganz abgehen. Es fehlen ihm alſo
die majeſtätiſchen, geſchloſſenen Wälder der Heimath
Rübezahls und an einigen Stellen deſſelben hat auch
der Anbau des Menſchen die Mittelſtraße bereits
überſchritten, die meiner Anſicht nach, zu einer voll-
endet ſchönen Landſchaft gehört; dagegen iſt die bö-
here Region, von Capel Cerrig bis einige Meilen
[26] von Bangor, ſo wild und ſchroff, als man es ſich
nur wünſchen kann, und weite Strecken roth und
gelb blühender Haiden, nebſt Farrenkräutern und an-
dern Pflanzen, die in unſerm härtern Clima nicht
fortkommen, bekränzen die Felſen, und erſetzen die
Bäume, welche in dieſer Höhe nicht mehr gedeihen.
Die größte Mannichfaltigkeit des Gemäldes bewirken
aber die coloſſalen, wilden und ſeltſamen Formen der
Berge ſelbſt. Einige ſehen wirklich Wolken weit ähn-
licher, als feſten Maſſen. So iſt unter andern der
Trivaen mit ſo ſonderbar geformten Baſaltſäulen
auf ſeiner Spitze bedeckt, daß alle Reiſende überzeugt
ſind, Menſchen da oben zu ſeh’n, die eben den Berg
erſtiegen, und nun in die weite Ausſicht hineinſchauen
— es ſind aber nur die Berggeiſter, die Merlin auf
ewige Zeiten dahin gebannt.


Geſchmackvoll fand ich es, daß ſämmtliche Chauſſee-
Häuſer ſo ganz im Charakter der Gegend gehalten
waren; aus rohem röthlichen Bruchſtein erbaut, mit
Schiefer gedeckt, von einfacher, ſchwerer Architectur,
und mit eiſernen Thoren verſehn, deren Gitterwerk
die ſich kreuzenden Strahlen zweier Sonnen nach-
ahmt. Der Poſtboy zeigte mir die Ueberreſte eines
alten Druidenſchloſſes, wohin, wie ich in meinem
Buche nachleſe, Caractacus nach ſeiner Niederlage
bei Caer Caredoc retirirte. Die welſche Sprache klingt
ſelbſt wie [Krähengekrächze]. Beinahe alle Namen fan-
gen mit C an, welches mit einem Krach-Laut ausge-
ſprochen wird, den eine fremde Kehle nicht nachma-
chen kann. Dieſe Ruine iſt jetzt in zwei bis drei be-
[27] wohnte Hütten verwandelt, und ihre Lage nicht eben
ausgezeichnet. Bemerkenswerther ſchien mir weiter-
hin ein Felſen, der in der Geſtalt eines Biſchofs mit
Krummſtab und Mitra ſich darſtellte, als ſtiege er
eben aus einer Höhle, um den erſtaunten Heiden das
Chriſtenthum zu predigen. Woher kömmt es wohl,
daß, wenn die Natur ſo ſpielt, es eine faſt erhabne
Wirkung macht, und wenn es die Kunſt nachahmen
will, dies immer lächerlich erſcheint?


Ein kleines tormento im Gebirge ſind die vielen
Kinder, welche, wie Gnomen kommend und verſchwin-
dend, den Wagen mit unbegreiflicher Beharrlichkeit
bettelnd begleiten. Ermüdet von dieſer Zudringlich-
keit hatte ich mir beſtimmt vorgenommen, Keinem
etwas mehr zu geben, weil man ſonſt darauf rechnen
kann, gar nicht mehr von ihnen verlaſſen zu wer-
den; aber eines dieſer kleinen Mädchen bezwang den-
noch alle meine Entſchlüſſe durch ihre Ausdauer. Ge-
wiß eine deutſche Meile lief ſie im ſcharfen Trabe
Berg auf Berg ab, nur manchmal durch Fußwege
abkürzend, mich aber nie aus den Augen laſſend,
neben mir her, wobei ſie unaufhörlich denſelben jam-
mervoll klagenden Ton, gleich einer Seemöve, aus-
ſtieß, der mir zuletzt ſo unerträglich wurde, daß ich
mich gefangen gab, und der nicht zu ermüdenden Lau-
ferin meine Ruhe mit einem Schilling abkaufte. Der
unheilbringende Ton war mir aber, wie der Tik Tak
einer Uhr, die man täglich zu hören gewohnt iſt, ſo
im Ohre geblieben, daß ich ihn den ganzen Tag nicht
los werden konnte.


[28]

Ich habe vortrefflich ausgeſchlafen, und ſitze nun
im Gaſthof am Meere, von der Reiſe ausruhend,
und ergötze mich an den Schiffen, die auf allen Sei-
ten die klare Fluth durchziehen. Nach der Landſeite
zu ragt eine Burg, von ſchwarzem Marmor aufge-
baut, aus den uralten Eichenkronen hervor. Mit
dieſem Schloß werde ich meine Ausflüge beginnen,
und überhaupt hier, wo ich mich ſehr gut aufgeho-
ben ſehe, mein Hauptquartier aufſchlagen. Auch fand
ich hier ganz unerwartet einen unterhaltenden Lands-
mann. Du kennſt den geiſtreichen A …, der ſo ma-
ger iſt, und doch ſo ſtattliche Waden beſitzt, ſo ele-
gant gekleidet und doch ſo ſparſam, ſo gutmüthig
und doch ſo ſarkaſtiſch, ſo engliſch und doch ſo deutſch
erſcheint. Kurz A … frühſtückte zum zweitenmal gu-
ten Appetits mit mir, und erzählte dabei die luſtig-
ſten Dinge. Er kam von S ...., über welches er
ſich ohngefähr ſo vernehmen ließ:


Scherz und Ernſt,


Sie wiſſen, lieber Freund, ſagte er, daß man in
Wien Jedem, der ein gebacknes Hendel eſſen, und
NB bezahlen kann, den Titel Euer Gnaden ertheilt
— in S ..... nennt man dagegen Jeden, der einen
ganzen Rock trägt, in dubio, Herr .... Rath, oder
noch beſſer, Herr Geheimer Rath, unbekümmert ob
es ein wirklicher, oder nicht wirklicher (alſo blos
ſcheinbarer, fantasmagoriſcher) ein halber, d. h. ein
penſionirter, ein ganzer, nämlich voll bezahlter, oder
[29] ein völlig unbefruchteter, eine titulaire Null ſey.
Sonderbar verſchieden ſind dabei die Attribute und
die Functionen dieſes geheimnißvollen Raths-Weſens.
Bald führt ſeinen Namen ein invalider Staatsmann
in der Reſidenz, dem man aus Ehrfurcht für ſeine
Altersſchwäche, und zur Belohnung eines glücklich
erlebten Jubiläums, eben den gelben Greifen um-
gehangen hat; oder ein nicht allzuthätiger, aber deſto
mehr von ſich eingenommener Ober-Präſident in der
Provinz, dem ſeine Verdienſte bei der Durchreiſe
eines fremden Souverains, endlich zu Ehre und
Orden verhelfen; hier iſt es die rüſtige Stütze der
Finanzen, oder ſelbſt der rara avis, ein einflußrei-
cher Mann nahe am Throne und dennoch ein be-
ſcheidener
Mann voller Verdienſt; dort aber ſchon
wieder eine blos vegetirende Excellenz, die kein an-
deres Geſchäft kennt als von Haus zu Haus gehend,
veraltete Späße und Namenverdrehungen aufzutiſchen,
die ſeit einem halben Jahrhundert das Privilegium
haben, die crême de la bonne société in der Haupt-
ſtadt zu entzücken. Jetzt wird abermals ein genialer
Mann daraus, der als Dichter und Menſch erfreut,
und nie einen andern als den geraden Steg betritt,
— weiterhin [repräſentirt] es ein zwar weniger glän-
zendes, aber deſto mehr umfaſſendes Genie, welches,
obgleich der Themis eigen, auch eben ſo gut unter
den Sternen, ſowohl des Himmels als des Theaters,
Beſcheid weiß. Endlich verwandelt ſich dieſer Pro-
teus gar in einen Cameraliſten, berühmten Schaaf-
züchter und Oekonomen, der ſeine Felder — und ſpä-
[30] terhin in einen Doktor der die Kirchhöfe düngt; auch
bei der unüberwindlichen Landwehr iſt er zu finden,
und Poſt, *) wie Lotterie, ja Garderobe ſelbſt, ver-
mögen nicht ohne ihn zu beſtehen. Der Hof-Philo-
ſoph, der Hof-Theologe, der Hof-Jakobiner, alle bie-
ten ſich am Ende die Hand als geheime Räthe — ſie
ſind es, waren es oder werden es ſeyn — kurz kein
Land ſcheint in dieſer Hinſicht mehr berathen, und
zugleich geheimer! denn ſo beſcheiden ſind dieſe zahl-
loſen Räthe — daß ſie oft nichts geheimer halten als
ihr Talent.


Aber eine wahre Freude iſt es dagegen, zu ſehen,
mit welcher unbefangenen, ja rührenden bonhomie ſie
ſich ſelbſt unter einander Titel geben und Ehre er-
zeigen, jeder dem andern ſein Prädicat noch um eine
Stufe höher ſchraubend, zur Dankbarkeit aber, wie
ſich von ſelbſt verſteht, daſſelbe wiederum von ihm
erwartend. Die verſchiedenen Zuſätze und Wendun-
gen, die das arme Wort „geboren“, dabei erleiden
muß, blieben gewiß jedem Fremden, der hier die
deutſche Sprache erlernen wollte, ein myſtiſches
[Räthſel]. Ohne mich in dieſes Labyrinth weiter hin-
ein zu begeben, erwähne ich blos, daß „geboren“
allein, auch der Bettler auf der Straße nicht mehr
[31] ſeyn will, und „Edelgeboren“ eine empfindliche Be-
leidigung für die unteren, ſo wie „Wohlgeboren“
für die obern, auch nicht adlichen, Staatsbeamten
zu werden anfängt. Ich für meine Perſon ſchrieb
hier ſtets an meinen Schneider: Hochwohlgeborner
Herr. Es war dies allerdings ein berühmter Mann,
ein Nachkomme des bekannten Freundes Robinſon
Cruſoës, der durch den kühnen und unnachahmlichen
Schnitt ſeiner Uniformen eine welthiſtoriſche Wichtig-
keit erlangt hat. Er war alſo auf alle Weiſe we-
nigſtens
des Verdienſtadels würdig. *)


Um in ſolcher willkührlichen Titelertheilung und
Empfangung nicht genirt zu ſeyn, iſt es hier auch ſo
vortheilhaft eingerichtet, daß bei der größten Rang-
Sucht doch eine wirkliche bindende Rang-Ord-
nung
gar nicht exiſtirt, weder bei Hofe, noch durch
die Geburt beſtimmt, oder durch geſetzwerdende Mei-
nung und Gewohnheit in der Nation begründet.
Zuweilen iſt es Geburt, öfter das Amt, bald Ver-
dienſt, bald Gunſt, bald auch nur unwiderſtebliche
Impertinenz, welche den Vorrang gewährt, wie es
Zufall und [Umſtände] fügen. Dies giebt nun zu be-
ſondern Anomalieen Anlaß, die einem alten Edel-
manne, wie ich bin, einen Baron von Tunderden-
[32] dronk, qui ne scaurait compter le nombre de ses
ânes,
wie jener P ........ General ſagte —
gar nicht in den Kopf wollen. Klagen, Sorgen und
Noth haben deßhalb auch kein Ende in der Geſell-
ſchaft; nur eine gewiſſe luſtige und vortreffliche alte
Dame weiß einzig und allein, faſt überall, und bei
jeder Gelegenheit, den erſten Rang zu behaupten —
weil ſie mit vielem Geiſt viel körperliche Kräfte und
perſönliche Tapferkeit verbindet, und durch dieſe ver-
einten Eigenſchaften bald mit Witz, bald mit gött-
licher Grobheit, bald auch, wenn nichts anders hel-
fen will, mit einem derben Fauſtſtoß, bei Hof und
andern Feſten ſich als die Erſte gerirt, und die Erſte
bleibt. Ich weiß unter andern von guter Hand, daß
die Gräfin Kakerlack bei einem der Höfe (denn es
giebt deren Mehrere hier) ſich durch eine Hof-Cabale
zurück geſetzt fühlte, und auf den Rath ihres Freun-
des, des Staroſtes von Pückling, ſich direkt an den
ſtets gerechten und billigen Regenten wandte, und
offiziell um die Beſtimmung ihres Ranges bat. Man
ertheilte ihr hierauf auch dieſen, unmittelbar nach
der Fürſtin Bona, welche (hier einmal der Ver-
dienſte
ihres ſeligen Mannes wegen) den erſten
inne hat — und der Großwürdenträger, Fürſt
Weiſe, brachte ihr ſelbſt dieſe Ordre, aber ſagte er:
„Liebſte Gräfin, der Baronin Stolz müßen Sie doch
„den Rang laſſen, denn was wollen Sie mit Ihrer
„ſchlanken Taille gegen die ausrichten? ein einziger
„Ellenbogenſtoß, und Sie ſind lahm auf ewig! Alſo
„laſſen Sie die immer vorgehn, denn Sie wiſſen,
[33] „die Polizei ſelbſt fürchtet ſich vor der, ſeit der fa-
„moſen Einladung, die ſie vor einigen Jahren an
„dieſelbe ergehen ließ.“


Der Kraft muß Alles weichen, und dieß beweiſet
auch wie ſchwierig es iſt, bloß dem Verdienſte, ohne
allgemein ausgeſprochene Regel, den Vorrang zuzu-
geſtehen; denn Verdienſt iſt ja ſo relativ! Wenn der
General, der Miniſter groß ſind, wer kann läugnen,
daß auch der vortreffliche Koch, die liebenswürdige
Operntänzerin ein großes Verdienſt beſitzen? Dieß
haben ja, wie uns die Geſchichte lehrt, ſelbſt Mo-
narchen und Staaten ſtets anerkannt. So muß
z. B. in England, wo in der Regel nur Adelstitel
Rang gewähren (beiläufig geſagt wohl der ſicherſte,
und dem Königthume gemäßeſte Anhalt *) der große
Feldmarſchall und Premier-Miniſter Wellington, dem
kleinen, zwar bekannten, aber keinesweges berühm-
ten, Herzoge von St. Albans nachgehen, weil dieſer
junge Mann ein älterer Herzog iſt, d. h. das Ver-
dienſt ſeiner Ahnfrau, der Schauſpielerin Nell Gwynn,
Maitreſſe Carls des II. — älter iſt, folglich das
Prioritäts-Recht ausübt, vor dem ſpätern Verdienſte
des Herzogs von Wellington.


In der hieſigen Hauptſtadt iſt es anders. Man
Briefe eines Verſtorbenen. I. 3
[34] iſt in der Regel an zu ſchlechtes Eſſen gewöhnt, um
einen guten Koch ſehr hoch anzuſchlagen, und iſt
neuerlich allgemein zu tugendhaft geworden, um
Maitreſſen zu halten. *) Von Verdienſtſchätzung iſt
auch nicht ſonderlich mehr die Rede. Was eigent-
lich und hauptſächlich jetzt hier Rang und Anſehen
giebt, iſt: Diener zu ſeyn, des Staates oder Ho-
fes, n’importe lequel, et comment. Beati possiden-
tes
— denn auch hier waltet das gute deutſche Sprich-
wort: Wem Gott das Amt giebt, dem giebt er auch
Verſtand! Die Bureaukratie iſt an die Stelle der
Ariſtokratie getreten, und wird vielleicht bald auch
eben ſo erblich werden. Schon jetzt kann ſelbſt das
Gouvernement keinen ſeiner Beamten mehr ohne Ur-
theil und Recht entlaſſen, die Stelle im Staatsdienſt,
die jeder inne hat, wird für ſein möglichſt beſtbe-
gründetes Eigenthum angeſehen, und es iſt nicht
zu verwundern, daß überall Beamtete dieſe Einrich-
tung bis in den Himmel erheben. Sonderbar, daß
[35] demohngeachtet alle Staaten mit einer freien Ver-
faſſung, wo nämlich als Prinzip angenommen iſt,
daß die Nation, und kein bevorrechteter Stand,
ſelbſt nicht der ihrer Diener, die Hauptſache ſey,
einem ganz andern Syſteme folgen. *) Der nicht
dienende Bürgerſtand iſt auf andere Weiſe in ſeiner
Unbeachtetheit glücklich. Er genießt ſeine Wohlhaben-
heit con amore, und als Salz des Lebens führt er
Prozeſſe, wozu ihm die Juſtiz gern allen erdenklichen
Vorſchub leiſtet. Auch der Kaufmann, ſowohl chriſt-
lichen als vorchriſtlichen Glaubens findet ſein Conto
und wenn er es anzufangen weiß, auch nützliche Pro-
tektion — ja recht viel Geld zu beſitzen, iſt beinahe
ſo viel werth als wirklicher Geheimerrath zu ſeyn,
und die reichen Banquiers, wenn ſie ein gutes Haus
machen, werden zu den privilegirten Ständen ge-
rechnet, auch manchmal dafür in den Adelſtand er-
hoben.


3*
[36]

So behelfen ſich denn Viele auf’s Beſte; nur mit
dem armen Adel, beſonders dem alten, (inſofern er
nicht auch in den ſichern Hafen der Bureaukratie ein-
gelaufen iſt) ſieht es kläglich aus! Ohne Geld und
freien Grundbeſitz, ſeine Adels-Titel ins Unendliche
vervielfältigend, und ſeine Stammgüter ins Unend-
liche theilend, ohne Antheil an der Geſetzgebung als
den, welcher ihm in einer ſtändiſchen Schule vergönnt
wird, wo man ihn zur graduellen Ausbildung einſt-
weilen nach Quinta geſetzt hat, von ſeinen früher
innegehabten Stiftern und Pfründen ſchon längſt ab-
gelöst, *) von den Behörden mehr als billig gehudelt,
ja oft wegen ſeiner ſo ſchlecht ſoutenirten Anſprüche
nicht nur ausgelacht, ſondern auch angefeindet und
verfolgt, hat er, als Corporation, ſein Anſehen
beim Volke gänzlich verloren, und es bleibt ihm
kaum eine andere weſentliche Eigenſchaft mehr übrig,
als die, zur einzigen Pflanzſchule für Kammerherrn
[37] bei den verſchiedenen reſpectiven Höfen der Hauptſtadt
zu dienen; immer noch ohne Zweifel ein benei-
denswerthes Loos. —


Dieſe letztere Wahrheit wird auch gebührend von
Vielen erkannt, und manches Geiſtreiche darüber, be-
ſonders von einer berühmten Schriftſtellerin als Vor-
fechterin, ausgeſprochen, die ſeit geraumer Zeit mit
ihrem Gemahl in einer Art gemeinſchaftlichen Ro-
manenwettlauf begriffen war, welcher jede Leipziger
Meſſe dem erfreuten Publikum zwei bis drei derglei-
chen Produkte, zu eben ſo viel Bänden das Stück,
zu liefern pflegte. Das Merkwürdigſte dabei war,
daß die Werke des Mannes von der überſchwänk-
lichen Zartheit einer weiblichen Feder, die der
Frau hingegen von etwas ſchwerfälliger männlicher
Vielwiſſerei herzurühren ſchienen, ein Blei, das ſelbſt
die alchymiſtiſche Hand eines liebenswürdigen und
geiſtreichen Prinzen nicht in Gold verwandeln konnte.
Beide Schriften, beſonders die erſtern, haben indeß
ihre vogue erlebt, bis endlich die anmuthig anzu-
ſehenden, und naiv kindlichen Nordlandshelden des
edlen Ritters, die ſich mit Zärtlichkeit duellirten, und
mit klaren blauen Augen dem todtgeſtochnen Freunde
den Friedenskuß aufdrückten, eben ſo wie ſeine wun-
derbaren Roſſe, die über Felſenzacken gallopirten und
durch Meere ihren Herren nachſchwammen, ohnge-
achtet aller dieſer wundervollen Gaben, Walter Scotts
unbehosten Bergſchotten weichen mußten.


Die poetiſchen Kammerjunker und gelehrten Thee-
zirkel der gnädigen Frau waren bereits ſchon lange
[38] vorher, als ein wenig ausgetrocknet, verlaſſen wor-
den. Ein ſolcher Theezirkel war es bekanntlich auch,
in dem Ahasverus, wie wir in den Memoiren des
Teufels laſen, nach ſo langer raſtloſer Wanderung
zum erſtenmal Ruhe fand, und ſelig entſchlief. Seit
dem ſind die dicken Bände der berühmten Schriftſtel-
lerin zu ſchmalen Erzählungen eingeſchwunden, lieb-
liche Ephemeren, die zwar nur einen Tag leben,
aber dafür ſich auch nur an Höfen, in Kammern,
unter Prinzen, Hofdamen und Fräuleins, Kammer-
herren, Kammerjunkern und auch Hofkammerlakayen
(denn nichts was dem Hofe angehört, iſt gering zu
ſchätzen) bewegen. Sogar ſpukende Kammern ka-
men neulich zum Vorſchein; die Geiſter, welche er-
ſchienen, waren aber ſo matt, ſo ſehr ausgemergel-
ten Hofſchranzen [ähnlich], avec un tel air de famille,
daß ſie höchſtens an eine Gänſehaut erinnerten, ohne
ſie jedoch zu erregen. Die Pikanteſte von allen war
ohne Zweifel diejenige, welche einſt die Geſellſchaft
der Hauptſtadt perſifflirte, in der die arme Viola
eine verdächtige Rolle ſpielte, und eine vornehme
Dame auftrat, die jene für große Summen an eine
hohe Perſon verkauft haben ſollte. Dieſe Geſchichte
war mit Recht eine moraliſche zu nennen, denn ſie
erweckte bei jedem Gutgearteten, der ſie damals las,
gewiß gerechten Abſcheu vor Verläumdung und leicht-
ſinniger Verdammung. Böswillige aber ergötzten ſich
auf andere Art daran — und ſo blieb das Ganze
nicht ohne Werth, ein Meiſterſtück aber könnte man
es nennen, wollte man es gegen alle die Mittel-
[39] alterlichen, Tugend- und Jammervollen, Chriſtlichen
und Zotenreißenden, Italiäniſirenden und Deutſch-
thümelnden ꝛc. Erzählungen halten, welche die Be-
dürfniſſe unſerer Journal- und Almanachs-Literatur
jetzt Myriadenweiſe hervorrufen, und von denen man
zum Theil nicht einmal mit Schiller ſagen kann, daß
ſich darin: „wenn ſich das Laſter beſp .... die Tu-
gend zu Tiſche ſetze.“ Es kömmt hier weder zu dem
einen noch dem andern, ſondern von Anfang bis zu
Ende leidet man nur an dem geiſtigen Pendant einer
ſogenannten Ekel-Cur. Nachdem vergebens nach al-
len Seiten gezielt worden iſt, brennt zuletzt das
Ganze dennoch ohne Exploſion von der Pfanne, und
weit entfernt, ſich zu Tiſch zu ſetzen, bleibt der un-
glückliche Leſer für lange Zeit von aller Nahrung
degoutirt. *)


[40]

Doch um auf die gelehrte und liebenswürdige Dame
zurückzukommen, von der eben die Rede war, ſo
ſpielte zu der Zeit, als ich in den dortigen Regionen
verweilte, um die Winterſonne ihres Hof- und
Schriftglanzes, ein ſeltſamer Inſektenſchwarm, in der
großen Welt eine Cotterie genannt — welche, ſoviel
ich weiß, noch jetzt als Grundſatz aufſtellt (wer hätte
heut zu Tage nicht Grundſätze!): daß der Adel wirk-
lich von einer andern Sorte Blut, als andre Men-
ſchen, durchſtrömt werde, und nur höchſtens im
Wege der Impfung ein gemeiner Baum noch ver-
edelt werden möge, z. B. durch natürliche Kinder
großer Herren u. ſ. w. Dieſer Adel bleibe alſo vor
allem rein und abgeſchloſſen, lehrt ſie, er entehre ſich
weder durch Induſtrie noch gemeinnützige Spekula-
tionen, welches eine gewiſſe Frau von Tonne, in
einer fehr gehaltreichen Schrift, als einen Haupt-
grund des Verfalles des Adels im Lande aufführt.
Etwas ſchriftſtellern und künſtlern (auch für Geld,
ja ſelbſt für bürgerliches Geld) bleibt jedoch dem
Adel erlaubt, wie man überhaupt Künſtlern eine
Mittelſtufe zwiſchen Adelichen und Bürgerlichen ge-
ſtattet. Konſtitutioneller, hoher Adel und repräſen-
tative Verfaſſung iſt dagegen keineswegs nach dem
Geſchmack dieſer Parthei, aus dem ſehr natürlichen
Grunde, weil unter ſolchen fatalen Umſtänden ihr
eigner Adel, deſſen Alter ſie ſelbſt allein genau ken-
nen, und deſſen verſchuldeter Landbeſitz ſich in tau-
ſend kleine Antheile bis zur mikroskopifchen Unent-
deckbarkeit verſplittert hat — zu dem ſchrecklichen
[41] Looſe verdammt ſeyn würde, in der Kammer der
Gemeinen (wo noch?) Platz nehmen zu müſſen.
Wer kann es ihnen daher verdenken, wenn ſie in
ſolcher Lage die Kammer des Prinzen vorziehn, be-
ſonders wenn ſie Herren darinnen werden können —
doch das verhüte Gott! Hoffentlich bleiben ſie hier
immer nur titulaire, nicht wirkliche geheime Räthe
und Kammer herren.


(Die Fortſetzung ein andresmal.)



Ich konnte es doch nicht ſo lange aushalten, in
der Stube ſitzen zu bleiben; das Schloß vor meinen
Fenſtern lockte zu mächtig! Ich beſtieg alſo gleich
nach A .... s Abreiſe einen Bergklepper, und ritt
wohlgemuth darauf zu. Dieſes merkwürdige Ge-
bäude iſt von einem in jeder Hinſicht ſtein reichen
Manne aufgeführt; denn ſeine, eine Stunde weiter
im Gebirge liegenden Steinbrüche, bringen ihm jähr-
lich 40,000 L. St. ein. Er hat an einer der vortheil-
hafteſten Stellen, hier am Ufer des Meeres, einen
weitläuftigen Park angelegt, und die ſonderbare,
aber meiſterhaft ausgeführte, Idee gehabt, alle Ge-
bäude darin in dem altſächſiſchen Style zu erbauen.
Man ſchreibt dieſe Architektur fälſchlich in England
den Angelſachſen zu, da ſie doch von den ſächſiſchen
deutſchen Kaiſern herrührt, und gewiß keines dieſer
vielfachen Monumente älter iſt. Schon die den Park
umgebende, wohl eine deutſche Meile fortlaufende
[42] hohe Mauer, erhält dadurch ein ſeltſames Anſehen,
daß in ihrer obern Schicht 3 bis 4 Fuß hohe, auf-
recht ſtehende, unegale, ſpitze Schieferſtücke einge-
mauert ſind, eine zugleich ſehr zweckmäßige Vorrich-
tung. Bei jedem Eingang droht ein thurmartiges
Fort mit Fallgittern u. ſ. w. dem Eindringenden,
(kein übles Symbol für die Illiberalität der moder-
nen Engländer, die ihre Gärten und Beſitzthümer
ſtrenger, als wir unſere Wohnſtuben, verſchließen)
dann muß der Beſucher noch eine Zugbrücke paſſiren,
ehe er den dunklen Thorweg der imponirenden Burg
betritt. Der ſchwarze, nur roh bearbeitete, Marmor
von der Inſel Angleſea, aus dem die großen Maſſen
beſtehen, harmonirt wunderbar mit dem majeſtäti-
ſchen Charakter der Gegend. Bis in die kleinſten
Details, ſelbſt die Stuben der Bedienten, und noch
geringere Plätze nicht ausgenommen, iſt mit genauer
Sorgfalt alles reinerold Saxon style. Im Eß-
ſaal fand ich eine Nachahmung des Dir früher be-
ſchriebenen Schloſſes Wilhelms des Eroberers zu
Rocheſter. Was damals nur ein großer Monarch
ausführen konnte, realiſirt jetzt als Spielwerk, nur
noch größer, ſchöner und koſtbarer, ein ſimpler
Landgentleman, deſſen Vater vielleicht mit Käſehan-
del anfing. So ändern ſich die Zeiten! Der Grund-
plan des Gebäudes, den mir der gefällige Architekt
vorlegte, gab Gelegenheit zu einigen häuslichen
Informationen, die ich Dir hier mittheile, weil faſt
alle engliſche größere Landhäuſer ſo eingerichtet ſind,
und ſie, wie ſo vieles, die Zweckmäßigkeit engliſcher
[43] Gebräuche darthun. Die Dienerſchaft hält ſich nie im
Vorzimmer, hier die Halle genannt, auf, welche immer
wie die Ouverture bei einer Oper, den Charakter des
Ganzen anzudeuten ſucht. Sie iſt gewöhnlich mit Ge-
[mälden] oder Statüen geſchmückt, und dient, wie die
elegante Treppe und alle übrigen Zimmer, nur zum
beliebigen Aufenthalt der Familie und Gäſte, welche
ſich lieber manchmal ſelbſt bedienen, als immer einen
ſolchen dienenden Geiſt hinter ihren Fußſtapfen wiſ-
ſen wollen. Die Bedienten ſind daher alle in einer
entfernteren großen Stube (gewöhnlich im rez de
chaussée
) verſammelt, wo ſie auch zuſammen, ohne
Ausnahme, männliche und weibliche, zu gleicher Zeit
eſſen, und wo alle Klingeln aus dem Hauſe eben-
falls aboutiren. Dieſe hängen in einer Reihe num-
merirt an der Wand, ſo daß man ſogleich ſehen
kann, von woher geklingelt wird; an jeder iſt noch
eine Art pendulum angebracht, der ſich 10 Minuten
lang, nachdem die Klingel ſchweigt, noch fortbewegt,
um den Saumſeligen an ſeine Pflicht zu erinnern!*)
Das weibliche Perſonal hat gleichfalls ein großes
Verſammlungszimmer, worin es, wenn nichts ande-
res vorkömmt, näht, ſtrickt und ſpinnt. Daneden
befindet ſich ein Behältniß zum reinigen der Glas-
[44] waaren und des Porzellains, welches den Mädchen
obliegt. Jede von dieſen, ſo wie die männlichen Die-
ner, haben im oberſten Stock ihre beſondere Schlaf-
zelle. Nur die Ausgeberin (housekeeper) und der
Haushofmeiſter (butler) bewohnen unten ein eignes
Quartier. Unmittelbar an das der Ausgeberin an-
ſtoßend iſt die Kaffeeküche und die Vorrathskammer
für Alles, was zum Frühſtück nöthig iſt, welche, in
England wichtige, Mahlzeit ſpeciell zu ihrem Depar-
tement gehört. Auf der andern Seite iſt ihr Waſch-
etabliſſement, mit einem kleinen Hofe verbunden; es
beſteht aus 3 Piecen, die erſte zum Waſchen, die
zweite zum Plätten, die dritte bedeutend hohe, welche
mit Dampf geheizt wird, zum Trocknen bei ſchlechtem
Wetter. Neben des Haushofmeiſters Logis befindet
ſich ſeine pantry, ein geräumiges feuerfeſtes Zimmer
mit rund umher laufenden Schränken, wo das Sil-
ber aufbewahrt wird, das er auch hier putzt, ſo wie
die zur Tafel nöthigen Glas- und Porzellainwaaren,
die ihm, ſobald ſie von dem Mädchen rein gemacht
ſind, welches alles ſehr pünktlich geſchieht, ſogleich
wieder abgeliefert werden müſſen. Aus der pantry
führt eine verſchloſſene Treppe in die Bier- und Wein-
keller, welche der butler ebenfalls unter ſich hat.


Ein ſehr romantiſcher Weg brachte mich, erſt durch
den Park, dann am Saum eines ſchön bewaldeten
Bergſtroms hin, in einer Stunde nach dem Schiefer-
bruch, der 6 Meilen vom Schloß im Gebirge liegt.
Aus den Dir bereits genannten Einkünften kannſt
Du dir denken, welch’ ein bedeutendes Werk dies iſt.
[45] Fünf bis ſechs hohe Terraſſen von großem Umfang
ſteigen an den Bergen empor, und auf ihnen wim-
melt alles von Menſchen, Maſchinen, Prozeſſionen
von hundert, an einander gehängten, ſchnell auf Ei-
ſenbahnen hinrollenden Wagen, Laſten heraufziehen-
den Krahnen, Waſſerleitungen, und ſo weiter. Ich
brauchte ziemlich lange, um das Ganze nur flüchtig
zu beſehen. Um zu einem entfernteren Theile des
Werks zu gelangen, wo man eben die Felſen mit Pul-
ver ſprengte, was ich zu ſehen wünſchte, mußte ich
mich auf einem der kleinen Eiſenwagen, die zum Trans-
port des Schiefers dienen, durch eine pechſchwarze,
nur vier Fuß hohe und vier hundert Schritt lange,
durch den Felſen gehauene Gallerie auf dem Leibe
liegend fahren laſſen. Dies geſchah vermittelſt einer
Winde. Es iſt eine höchſt fatale Empfindung, ſich
durch dieſe ſchmale Schlucht mit tauſend unregelmä-
ßigen Zacken, welche man, am Eingange wenigſtens,
deutlich ſieht, bei ägyptiſcher Finſterniß mit großer
Schnelle durchreißen zu laſſen, welches Fremde auch
gewöhnlich ablehnen. Man kann ſich des Gedankens
nicht erwehren, daß wenn man, ohngeachtet der be-
ruhigenden Verſicherung des Führers, der zuerſt vor-
aus fährt, nun dennoch an irgend eine dieſer Zacken
anſtieße, man auch ohnfehlbar ohne Kopf auf der an-
dern Seite ankäme. Nach Paſſirung dieſer Gallerie
mußte ich noch auf einem, nur zwei Fuß breiten
Wege ohne Geländer, am Abgrunde hinwandern, bis
ich durch die zweite niedrige Höhle endlich zu dem
gewünſchten, in der That ſchaudervoll [prächtigen] Ort,
[46] gelangte. Hier ſchien man ſich ſchon in der Unter-
welt zu befinden! Die mehrere hundert Fuß hohen,
ſpiegelglatten, abgeſprengten Schieferwände ließen
vom blauen Himmel kaum ſo viel noch ſehen, um
Tag von Dämmerung unterſcheiden zu können. Der
Boden, auf dem wir ſtanden, war gleichfalls abge-
ſprengter Felſen, und in der Mitte bereits ein tiefer
Spalt, von ohngefähr ſechs bis acht Fuß Breite,
ſchon weiter herunter gearbeitet. Ueber dieſe Schlucht
[amüſirten] ſich einige Kinder der Steinarbeiter, hals-
brechende Sätze zu machen, um ein paar Pence da-
für zu verdienen; an den Felſenwänden aber hingen
überall Bergleute, gleich ſchwarzen Vögeln mit ihren
langen Eiſen pickend, und Schieferblöcke mit Ge-
praſſel herunter werfend. Doch jetzt ſchien das ganze
Gebirge zu wanken, lauter Warnungsruf erſchallte
von mehrern Seiten, die Pulvermine ſprang. — Ein
großer Felſen löste ſich nun von hoch oben langſam
und majeſtätiſch ab, ſtürzte gewaltig in die Tiefe,
und während Staub und abſpringende Steinſtückchen
die Luft gleich dickem Rauch verfinſterten, hallte der
Donner im wilden Echo rings um uns wieder. Die-
ſe, faſt täglich an verſchiedenen Orten des Stein-
bruchs nothwendigen, Operationen ſind gefährlich,
daß, nach der eigenen Verſicherung des Di-
rektors,
man bei dem ganzen Werk im Durch-
ſchnitt jährlich auf 150 Verwundete und 7 bis
8 Todte rechnet!
Ein zu dieſem Behuf eigens
beſtimmtes Hospital nimmt die Bleſſirten auf, und
ich ſelbſt begegnete beim Herreiten, ohne es zu wiſſen,
[47] der Leiche eines vorgeſtern Gebliebenen, car c’est
comme une bataille
. Die Leute waren ſo aufgeputzt
und mit Bergblumen geſchmückt, daß ich die Prozeſ-
ſion im Anfang für eine Hochzeit hielt, und faſt er-
ſchrack, als auf meine Frage, wo der Bräutigam ſey,
einer der Begleiter ſchweigend auf den nachfolgenden
Sarg wieß. Nach der Aeußerung des Direktors iſt
jedoch die Hälfte der Unglücksfälle der Apathie der
Arbeiter ſelbſt zuzuſchreiben, die, obgleich jedesmal
gewarnt, dennoch in der Regel zu ſorglos ſind, um
ſich bei der Exploſion zur rechten Zeit und weit ge-
nug zu entfernen, und da der Schiefer ſich ſtets in
platten meſſerſcharfen Stücken ablöst, ſo iſt oft ein
unbedeutendes, in weite Ferne geſchleudertes, Stück
hinlänglich, dem Manne, den es trifft, die Hand, ein
Bein oder gar den Kopf rein abzuſchneiden, welcher
letztere Fall, wie ich hörte, einmal wirklich vorkam.
Da wir ſelbſt von dem foyer nicht zu weit entfernt
ſtanden, ſo benutzte ich den Wink, und machte wieder
linksum, durch die hölliſche Gallerie, um mir die
friedlicheren Arbeiten zu beſehen. Dieſe haben viel-
faches Intereſſe. So kann z. B. Papier nicht zierli-
cher und ſchneller beſchnitten werden, als hier die
Schiefertafeln, und kein Kienblock kann leichter und
netter ſpalten, als dieſe Steinplatten, die der Arbei-
ter mit geringer Mühe durch einen einzigen Schlag
des Meißels in Scheiben wie die dünnſte Pappe, und
von 3 bis 4 Fuß im Durchmeſſer, zertheilt. Der
rohe Stein kömmt aus den eben beſchriebenen Regio-
nen ſämmtlich auf wahren Pariſer Rutſchbergen zum
[48] Verarbeiten herab, und wie dort, bringt die Kraft
der herabrollenden beladenen Wagen auch die leeren
wieder herauf. Die Eiſenbahnen ſind hier nicht, wie
gewöhnlich, concav, ſondern conver, und die Wagen-
räder entſprechend.



Der Tag ging mit Ruhen, Schreiben und Leſen
hin, und bietet daher wenig Stoff dar; ehe ich mich
zu Bett lege muß ich aber doch, der ſüßen Gewohn-
heit folgend, noch ein wenig mit Dir plaudern. Ich
dachte eben an die Heimath und unſern verehrten
Freund L …, der jetzt wieder umher reist, mir aber
neulich ein ganzes Heft ſeiner älteren Bemerkungen
zuſendete. Soll ich Dir einen Echantillon davon mit-
theilen? — alſo böre:


Betrachtungen einer frommgemüthlichen
Seele aus Sandomir oder Sandomich
.
*)


  • 1., Als die Sächſiſchen Poſtillone auf meine Ko-
    ſten vielen Schnaps getrunken hatten ꝛc.

Wie viel beſſer iſt es doch bei uns, als überall in
der Fremde! Freilich erlebt man dort manches Merk-
würdige. Zum Beiſpiel iſt es gewiß ein ſonderbarer
Umſtand (und doch kann ich nach vielfältiger Erfah-
[49] rung nicht mehr daran zweifeln) daß, wenn hier die
Pferde müde und faul ſind, (was leider nur zu oft
ſtatt findet) nur der Poſtillon Schnaps zu trin-
ken braucht, um jene wieder ſichtbar zu erheitern
und muthig zu machen. Die Weisheit der Natur
und ihre verborgenen Kräfte ſind unergründlich! —
Das eben erwähnte Phänomen erklärt ſich indeß viel-
leicht aus der bekannten Erfahrung, daß Wein in den
Fäſſern zu gähren anfängt, wenn der Weinſtock
blüht.*) Auf der letzten Station vor Torgau bekam
mein Begleiter, der Gardelieutenant Graf S … aus
Potsdam, bei dem das Reich der Gnade noch gar
nicht zum Durchbruch gekommen iſt, und der ſich des-
halb auch noch jeden Augenblick über weltliche Dinge
ſo unnütz ereifert — [Händel] mit unſerm Poſtillon,
und ward ſo böſe, daß er ihn, mit dem Stocke dro-
hend, einen Sächſiſchen Hund nannte. „O Jeſes
nein, mein knädger Herr Leutnant“ erwiederte
dieſer recht albern, „da erren Se ſich, mer ſind ja
ſchon ſeit mehr als zehn Jahren Preißiſche Hunde.“
Man ſieht doch, daß es den Leuten hier noch ganz
an unſrer nationalen Bildung fehlt.


  • 2., Nach meinem ſchickungsreichen Unglücksfall
    am 6ten Juli 1827.

Vier Wochen lang konnte ich nicht ſchreiben! dank-
bar und tiefgerührt ergreife ich heute zum erſtenmale
Briefe eines Verſtorbenen. I. 4
[50] wieder die Feder, um die merkwürdige Schickung auf-
zuzeichnen, die ich erlebte! Als ich vorigen Monat
nach M . . . . reiste, ward ich, grade wie der Fremde
in den Kleinſtädtern, immediat vor dem ſogenannten
Chauſſeehauſe ſchrecklich umgeworfen, und brach den
rechten Arm. Mein erſter Ausruf — ich geſtehe es
zu meiner Beſchämung — war ein garſtiger Fluch!
mein zweiter aber ſchon Dank, brünſtiger Dank dem
Schöpfer, daß ich nur den Arm und nicht den Hals
gebrochen hatte! Bei ſolchen Gelegenheiten erkennt
man deutlich die unergründlichen Wege, und
die ſchützende, uns immer zur rechten Zeit Hülfe brin-
gende Hand der Vorſehung. Hing nicht mein Leben
an einem Haare, und wollte mir Gott nicht hier ein-
dringlich beweiſen, daß es nur von ihm abhing, meine
Augen auf ewig zu ſchließen, oder mein junges Leben
noch zu ſchonen, das vielleicht, denn was iſt Gott
unmöglich! noch zu großen und wichtigen Dingen be-
ſtimmt iſt? Ja ihr Philoſophen, innig und jubilirend
fühle ich es: Nur der Glaube macht ſelig!


  • 3., Als ich bei Torgau beinahe in der Elbe er-
    ſoff ꝛc.

Gewiß iſt es, daß man nicht eher ins Waſſer ge-
hen ſollte, als bis man ſchwimmen kann, wie ſchon
ein griechiſcher Weiſe ſehr richtig bemerkt hat. Ich
war ſo unvorſichtig, mich ohne dieſe Kenntniß geſtern
zu baden, (denn von dem rebelliſchen Turnen und
Leibesübungen dieſer Art hielt ich mich immer fern)
und wäre, da ich einen Krampf in der Wade bekam,
[51] und darüber etwas die Contenance verlor, vielleicht
jetzt ſchon ein Todter, ohne einen Mann, den der
Himmel wiederum grade um dieſe Zeit herbei-
führen mußte, mich zu retten. Könnte ich gegen ſo
viele Beweiſe ſpeciellen Schutzes blind ſeyn! — Die
ganze Elbe iſt mir dennoch ſeitdem etwas zuwider
geworden. Ich [bekämpfe] dies aber als ein tadelns-
werthes Gefühl, da man bedenken muß, von welchem
Nutzen dieſer Fluß doch für ſo viele unſerer Mitbrü-
der iſt.*) Obgleich die Bemerkung, glaube ich, ſchon
früher gemacht worden iſt, ſo bleibt es doch nicht
weniger beachtungswerth, daß man bei großen Städ-
ten faſt immer auch einen Fluß findet; — aber ſo
weiſe, ſo gnädig hat es die gütige Vorſehung überall
zu unſerm Nutzen eingerichtet, wir Menſchen erken-
nen es nur zu ſelten! Ja für Alle hat die Natur
wie eine gütige Mutter geſorgt! Der Biene gab ſie
ihren Stachel, dem Biber ſeinen Schwanz, dem Lö-
wen ſeine Kraft, dem Eſel die Geduld, dem Men-
ſchen aber ſeinen hohen Verſtand, und wo dieſer,
nebſt der trügeriſchen Vernunft nicht ausreicht, himm-
liſche Offenbarung. O wie dankbar fühle ich mich
immer, wenn ich dies recht bedenke, ich, der ohnedem
für ſo viele geiſtige und körperliche Vorzüge mehr
als viele meiner Mitmenſchen zu danken habe. —
Möge ich es nie vergeſſen! Amen.


4*
[52]
  • 4., Als ich dem Juden Abraham meinen ſchon
    zweimal prolongirten Wechſel, mit alterum
    tantum
    endlich bezahlen mußte.

Es hat mich der Zweifel beunruhigt, ob die Juden
wirklich bis an der Welt Ende beſtehen, und ſo wie
jetzt, vom Fluche getroffen, zerſtreut und gedrückt auf
Erden leben, und uns deshalb, fortwährend ſo ſehr
werden prellen müſſen!


Doch, iſt dieſer Zweifel nicht ſchon Sünde, da es
ſo in vielen heiligen Büchern ſteht? Ueberdies geht
ja von unſerm Lande, wo von jeher die größte Auf-
klärung herrſchte, auch jetzo wiederum die Bekehrung
dieſer unglücklichen Verirrten aus. Ach hier drängt
mich ein neuer banger Zweifel! Werden auch gewiß
einſt alle Bewohner der Erde Chriſten heißen? Es
iſt zwar ſo verlündet, aber neulich ſtieß ich bei mei-
nen gelehrten Studien auf eine Berechnung, die mir
zu meinem wahren Schrecken zeigte, daß es überhaupt
unter 800 Millionen Menſchen bis jetzt nur noch et-
was über 200 Millionen giebt, welche ſich nach dem
wahren Namen nennen. Hoffentlich werden indeß die
braven Bibelgeſellſchaften das Ihrige thun und nicht
ermüden. Den Engländern muß es aber doch noch
nicht rechter Ernſt damit ſeyn, da ſie in Indien faſt
noch keinen Einzigen bekehrt haben. Die mögen wohl,
wie gewöhnlich, nur politiſche Zwecke damit verbin-
den *). Uebrigens las ich neulich von einem Miſſio-
[53] nair daſelbſt, daß ihm ein Hindu recht frech geant-
wortet habe: Ich laſſe mich nicht eher von Euch zum
*)
[54] Chriſten bekehren, bis Ihr Euch von mir nicht auch
zum Hindu habt bekehren laſſen — denn ich glaube
*)
[55] an die Wahrheit meiner Religion, Ihr an die Wahr-
heit der Eurigen. Was Einem recht iſt, iſt dem An-
dern billig — und einzelne Fabeln und Mißbräuche
mag es vielleicht in beiden geben, der Geiſt aber wird
wohl aus einer Familie ſeyn. Das ſind noch recht
ſchlechte Ausſichten *)! Ich ſelbſt, der, ohne mich
deshalb rühmen zu wollen, bereits in meiner Vater-
*)
[56] ſtadt einen alten Juden, mit deſſen Handel es nicht
mehr recht fort wollte, zur Taufe vermochte, wofür
er noch jetzt eine Penſion von mir erhält — ſuchte
auch mein Scherflein zu der Sinneswandelung eines
wirklichen Indiers beizutragen, der nach vielen
wunderbaren Schickſalen bis in unſere hyperborei-
ſchen Gegenden verſchlagen worden war, woſelbſt
die Herrnhuter ſich lange, und dennoch vergebens,
mit ſeiner Bekehrung bemüht hatten. Er hörte mir
recht geduldig zu, und ich muß geſtehen, ich bewun-
derte, von der Wichtigkeit des Gegenſtandes hinge-
riſſen, meine eigne Beredſamkeit. Aber was war der
ganze Erfolg? Er ſah mich lächelnd an, nahm mein
Allmoſen, ſchüttelte mit dem Kopf, wie eine Pagode,
und ließ mich ohne alle weitere Antwort ſtehen!


  • P. S. Eben erhalte ich zu meinem großen Schrecken
    die Nachricht, daß der von mir bekehrte Jude
    geſtorben, und auf dem Todbette, aus Ge-
    wiſſensbiſſen — (ſollte man ſo etwas für
    möglich halten!) wieder ein Jude gewor-
    den iſt!
  • 5., Als ich vom Begräbniß der Madame R …
    zurückkam.

Vor einigen Tagen begab ſich hier eine höchſt merk-
würdige Geſchichte! Es ſind erſt kürzlich zehn Jahre
verfloſſen, daß ein hübſches, und was mehr ſagen
will, auch ein frommes Mädchen in einem hieſigen
Conditorladen angeſtellt war. Obgleich vielen Ver-
[57] ſuchungen bei ihrem ſüßen Metier ausgeſetzt (denn
nicht alle jungen Leute, die den Conditorladen beſu-
chen, beſitzen meine Sittſamkeit) wollte ſie doch auf
Niemand hören, und fand ihre Freude blos in der
Frömmigkeit. Sie verſäumte keine Betſtunde beim
Präſidenten S … oder Andere, wo ſie nur zu einer
ſolchen Zutritt erlangen konnte, und ging vor allen
jeden Sonntag, wenigſtens einmal, in die Kirche.
Eines Sonntags jedoch (es war Martini, wenn ich
nicht irre) vergaß ſie dieſer Pflicht, und blieb, ſich
mit weltlichem Putze beſchäftigend, zu Hauſe. Da
nahte ſich ihr die Nemeſis in Geſtalt eines jungen
Mannes, dem ſie ſchon längſt heimlich geneigt war,
und der an jenem verhängnißvollen Tage es wahr-
ſcheinlich ſehr weit in ihrer Gunſt brachte, denn
kurze Zeit darauf heirathete er ſie. Im Anfang leb-
ten ſie ſehr glücklich, und bekamen mehrere Kinder.
Nach und nach jedoch ließ, in den Zerſtreuungen der
Ehe ihre Frömmigkeit bedeutend nach. Die Unglück-
liche ſchien ihre weltlichen Pflichten als Gattin und
Mutter zu lieb zu gewinnen, und von nun an dem
Genuſſe der Betſtunden und der Lektüre heiliger
Bücher ſogar vorzuziehen, aber die Folgen ihres
Leichtſinns zeigten ſich bald. Ihren Mann traf viel-
faches, wie man verſichert, ſonſt unverſchuldetes Un-
glück, einige ihrer Kinder ſtarben, die Familie verfiel
in Armuth, und der Mann [hierüber] zuletzt in die
tiefſte Melancholie. Letzten Sonntag aber, grade am
zehnten Jahrestag jenes erwähnten Sonntags, wo
das unglückliche Mädchen nicht in die Kirche ging,
[58] hat ihr Mann, in einem Anfall von Wahnſinn, ſich
und ſeine Frau grauſam ermordet! hier erkenne man,
wie die gerechte göttliche Strafe langſam, aber deſto
ſicherer ihr Opfer findet. — Ich enthalte mich aller
ſtrengen Betrachtungen, aber wer durch dieſes war-
nende Beiſpiel nicht gewitzigt wird, nicht einſieht wie
ſtrafbar und gefährlich es iſt, den regelmäßigen Be-
ſuch der Kirche auch nur einmal zu verſäumen --
den bedaure ich! er kann nur durch Schaden klug
werden, und wohl ihm, wenn er es noch dieſſeits
wird! —


  • 6., Als ich meinen letzten Korb in D . . bekam.

Ich bin ſehr unglücklich in der Liebe, eine Sache
die ſchwer zu begreifen iſt, aber dennoch bleibt es
wahr, daß mir ſchon wieder einer meiner wohl an-
gelegteſten [Pläne] mißlungen iſt!


Seit lange ſchon liebte ich Fräulein M . . mit al-
lem Feuer meines ungeſtümen Charakters. Ich wagte
zwar nicht es ihr zu ſagen, aber meine Blicke, die
ich Stundenlang ſchmachtend auf ſie heftete, ſprachen
zu deutlich, um nicht verſtanden zu werden. Dem-
ohngeachtet hatte ich meiner Angebeteten noch kaum
mehr als ein ſpöttiſches Lächeln abgewinnen können,
als endlich eine wichtige Epoche, nämlich ihr achtzehn-
ter Geburtstag eintrat. Ich beſchloß durch eine aus-
gezeichnete Galanterie jetzt ihr Herz zu beſtürmen,
was ich mir um ſo eher, und mit gutem Gewiſſen
erlauben durfte, da ich nie andre als redliche Abſich-
[59] ten hege. Ich dachte nun lange nach, was ich wohl
[wählen] ſollte. Roſenſtöcke und alle botaniſchen Ge-
ſchenke, wie Früchte u. ſ. w. ſind ſo alltäglich, Putz
durfte es nicht ſeyn, denn dies würde einer indirek-
ten Andeutung geglichen haben, daß ich ſie für eitel
halte, noch weniger hätte ich ihr mögen etwas Koſt-
bares anbieten, um ſie nicht für [intereſſirt] zu erklä-
ren, ein frommes Geſang- oder Erbauungsbüchlein
wagte ich nicht zu wählen, um nicht ſündlich bei ir-
diſchen Zwecken Heiliges zu profaniren — nein, nur
etwas Gefühlvolles und zugleich zart auf unſre Ver-
hältniſſe Anſpielendes mußte es ſeyn. — Da fiel mir
plötzlich, wie ein Blitz in dunkler Nacht, der Gedanke
ein, daß die Zeit der friſchen Heringe herannahe.
Dies Wort elektriſirte mich, und mit der gewöhnli-
chen Schnelligkeit meiner Conceptionen, gewahrte ich
im Augenblick was hier alles verborgen liege. So-
gleich ſchickte ich eine Staffette nach Berlin, um dort,
wo alles Neue bekanntlich ſtets zuerſt zu finden iſt,
wo möglich noch vor der jährlichen Annonce in den
zwei löſchpapiernen Zeitungen, beſagte Geſchöpfe Got-
tes zu erhalten. Alles ging nach Wunſch — beide
lagen vor mir, ehe wenige Tage vergingen. Ich ließ
ſie nun noch, ſtatt der Peterſilie, auf einigen Liebe-
vollen Blättern des Clauren’ſchen Vergißmeinnichts
(die nie verblühen) anrichten, und überdachte noch-
mals, was ihre ſtumme Sprache (nämlich der He-
ringe) außerdem noch alles auszudrücken fähig ſey.


Es wäre vielleicht zu weit hergeholt, wenn ich es
geltend machen wollte, wie Hering an Hymen erin-
[60] nere, und beide Worte offenbar eine etymologiſche
Verwandtſchaft haben, weil ſie beide mit einem gro-
ßen H anfangen und auch das kleine n in beiden
vorkömmt — aber deutlicher ſchon ſprach der Um-
ſtand: daß ſie ein Paar waren — die Haupt-
Pointe aus, auf die es abgeſehen war. Die blaue
Farbe, die an den Himmel erinnert, bedeutete unſre
beiderſeitige Sanftmuth, und die ſtarke Einſalzung
die Schärfe unſres Verſtandes und attiſchen Witzes.
Die unverwelkbaren Blätter ſchrieen, ſo zu ſagen:
Vergiß mein nicht: und ſpielten zugleich ſehr deut-
lich auf die nie verſiegende Wonne an, die wir em-
pfinden würden, wenn wir uns erſt ganz beſäßen!
Was aber, glaube ich, der Sache die Krone aufſetzte,
war ohne Zweifel das artige Wortſpiel, welches im
Namen ſelbſt liegt. Hering — her-Ring! deutlicher
und zugleich delikater (in jeder Bedeutung des Aus-
drucks, denn friſche Heringe ſind in Preußen und
Sachſen eine Delikateſſe) konnte ich meine Liebe, und
meine redlichen Abſichten unmöglich erklären. Um
jedoch ganz ſicher zu ſeyn, gehörig verſtanden zu wer-
den, legte ich oben darauf noch eine, auf chineſiſches
Reispapier zierlich gemalte und ausgeſchnittene Roſe,
in deren Blättern ich mit ſchüchterner Hand folgende
kleine Erſtlinge meiner Muſe verbarg:


Wem iſt’s ſo wohlig auf dem Grund,

Wer wird in blauer Fluth geſund?

Der Hering.

[61]
Die Fluth ſind Deine blauen Augen,

O laß hinab in ſie mich tauchen

Als Hering.

Ach, ſo erhöre denn mein Fleh’n,

Laß Schönſte, ach laß es geſcheh’n —

Gieb her-Ring!

Wer ſollte glauben, daß Alles dennoch umſonſt
war! In ſchlichter Proſa antwortete mir die Frau
Mutter ganz ungebunden und kurz: ihre Tochter
bedaure ſehr, von jeher eine idgoſinkratiſche Abnei-
gung gegen Heringe empfunden zu haben, ſo daß ſie
ſelbſt die letzten Theaterſtücke des berühmten Willibald
Alexis nicht mehr ſehen könne, ſeitdem ſie in Erfah-
rung gebracht, daß der Verfaſſer nur Hering heiße.
Sie ſende mir daher meine Fiſche nebſt begleitender
Poeſie mit vielem Danke für die gute Meinung, in
beifolgendem Korbe ergebenſt zurück.


Glücklicherweiſe tröſtet die Frömmigkeit ein wahr-
haft von ihr ergriffenes Gemüth über Alles, aber ich
mußte wohl zwei Stunden in der Bibel leſen, ehe
ich wieder hinlängliche Geduld und Faſſung erhielt
— und obgleich der Wallfiſch, welcher Jonas ver-
ſchlang, und mit dem ich mich heute unterhielt, ſehr
groß war, ſo verſchwand er doch jeden Augenblick in
meiner Phantaſie vor dem verhängnißvollen Herings-
Paar.


In meinem Aerger (den ich leider immer noch
nicht ganz beſiegt habe) muß ich aber den erwähnten
[62] beiden [Löſchpapiernen] nun auch etwas abgeben. Sie
ſollten doch in ihren Annoncen ſich nicht nur richti-
gerer Orthographie befleißigen, ſondern auch auf den
Sinn einige Rückſicht nehmen. Von den ſchmähligen
Wurſtbällen, Wiſotzky, und Jungfern Stechen, will
ich nichts ſagen, aber in einer Sammlung vaterlän-
diſcher Merkwürdigkeiten, die ein Berliner Freund
von mir angelegt hat, finde ich von beſagten Zeitun-
gen einige Blätter mit folgenden zwei Todes-Anzeigen
von demſelben unglücklichen Vater; und einer dritten,
ältern Ankündigung zu einem Concert.


  • 1) Heute nahm der liebe Gott, auf ſeiner Durch-
    reiſe durch Teltow, meinen jüngſten Sohn Fritz,
    an den [Zähnen] zu ſich.
  • 2) (Einen Monat ſpäter.) Heute nahm der liebe
    Gott ſchon wieder meine Tochter Agneſe zur
    ewigen Seligkeit zu ſich.
  • 3) Montag wird im hieſigen Schauſpielhauſe ein
    Concert gegeben. Der Ertrag der Einnahme
    iſt zur Grundlage eines Unterſtützungs-
    Fonds
    unſrer im Kampfe für das Vaterland
    gebliebenen Landsleute beſtimmt.

Nun frage ich Jeden, ob das nicht den Tod lächer-
lich machen heißt, gewiß eine ſchwere Sünde, auch
wenn ſie abſichtslos begangen wird.“


Soweit vor der Hand unſer Freund L . .


Aber die Nacht wird bläſſer — ſchon dämmert das
neue Licht. Ich ſage alſo wie das Lied von Moore:
[63] Es iſt ſchon Tag, d’rum gute Nacht. Ich ſende
Dir dieſen langen Brief, den ein Bekannter morgen
früh mit nach London nimmt, durch unſre Geſandt-
ſchaft und ſchließe mit einem herzlichen Kuß, der,
wohl eingeſiegelt, hoffentlich die P . . . . Douanea
unangefochten paſſiren wird.


Dein treuer L . .


[[64]]

Sechs und zwanzigſter Brief.



Geliebte Freundin!

Todtmüde komme ich eben von der Erſteigung des
großen Snowdon zurück, des höchſten Berges in
England, Schottland und Wales, was freilich nicht
allzuviel ſagen will. Vergönne mir alſo Ruhe bis
morgen, wo ich Dir meine fata treulich erzählen
werde. Indeſſen gute Nacht für heut.



Nachdem ich das Paquet für Dich Mr. S. über-
geben und auf das ſorgſamſte empfohlen, verließ ich
vor der Hand Bangor, ſo ſchnell, als vier Poſtpferde
mich davon fahren konnten. Unterwegs beſah ich ei-
nige Eiſengußwerke, die ich jedoch übergehe, da ich
nichts Neues darinnen bemerkte. Ich befand mich
etwas unwohl, als ich im Gaſthof zu Caernarvon
anlangte, wo ein bildſchönes Mädchen mit langen
ſchwarzen Haaren, die Tochter des Wirths, der ab-
weſend war, ſehr anmuthig die honneurs machte. —


[65]

Den andern Morgen um 9 Uhr ſetzte ich mich, bei
ziemlich verſprechender Witterung, auf einen char-a-
banc
mit zwei inländiſchen Pferden beſpannt, die ein
kleiner Junge führte, welcher kein Wort engliſch ver-
ſtand. Wie toll jagte er im train de chasse über
ſchmale Seitenwege durch die felſige Gegend. All
mein Rufen war vergebens, und ſchien ganz entge-
gen geſetz [...] von ihm interpretirt zu werden, ſo daß
wir die neun Meilen bis zum See von Llanberris,
in weniger als einer halben Stunde, über Stock und
Stein, zurücklegten. Ich begreife jetzt noch kaum,
wie Wagen und Pferde es ausgehalten haben. An
den Fiſcherhütten, die hier zerſtreut und einſam lie-
gen, erwartete mich ein ſanfteres Fuhrwerk, [nämlich]
ein nettes Boot, auf welchen ich mich mit zwei rü-
ſtigen Bergbewohnern einſchiffte. Der Snowdon lag
jetzt vor uns, hatte aber leider, wie die Leute es
nannten, ſeine Nachtmütze über den Kopf gezogen,
während die umgebenden niederen Verge im hellſten
Sonnenſcheine glänzten. Er iſt zwar nur gegen vier
tauſend Fuß hoch, erſcheint aber deswegen weit an-
ſehnlicher, weil er ſeine ganze Höhe ohne Abſatz vom
Seeufer hinan ſteigt, während andere Berge dieſes
Ranges ihre Spitze gewöhnlich erſt von einer ſchon
hohen Baſis erheben. Die Ueberfahrt bis zu dem
kleinen Gaſthofe am Fuße des Snowdon iſt drei
Meilen lang, und da der Wind heftig wehte, ging es
ſehr langſam und ſchwankend vorwärts. Das Waſſer
des Sees iſt ſo ſchwarz als Tinte, die Berge kahl
und mit Steinen [beſäet], nur mit wenigen grünen
Briefe eines Verſtorbenen I. 5
[66] Alpenabhängen abwechſelnd. Hie und da ſieht man
am Fuß einige niedrige Bäume, aber das Ganze iſt
wild und düſter. Ohnfern der kleinen Kirche von
Llanterris iſt der ſogenannte Heiligenbrunnen, den
eine einzige ungeheure Forelle bewohnt, die ſeit
Jahrhunderten den Fremden gezeigt wird. Oft läßt
ſie ſich jedoch nicht herauflodern, und es wird für
ein glückliches Zeichen angeſehen, wenn man ſie
ſchnell erblickt. Als ein Feind aller Orakel ließ ich
ſie unbeſucht. Man erzählte mir auch von einer ſon-
derbaren Amazone, die, mit Rieſenſtärke begabt,
hier lange ein wildes Männerleben geführt, und von
großen Bienen, welche die Walliſer ſo hoch ſchä-
tzen, daß ſie annehmen, ſie ſeyen im Paradieſe ge-
boren.


Man fängt hier auch viele und vortreffliche Lachſe.
Die Art des Fanges aber iſt originell, denn ſie wer-
den mit beſonders dazu abgerichteten kleinen Hun-
den gehetzt, die ſie aus dem Schlamm herausholen,
in dem ſie ſich zu gewiſſen Zeiten verkriechen.


Ich beſorgte mir im Wirthshaus ſchnell einen Füh-
rer und Pony, (ein kleines Gebürgspferd) und eilte
mich auf den Weg zu machen, immer noch hoffend,
daß die drohenden Wolken ſich nach Mittag verthei-
len würden. Leider aber geſchah das Gegentheil —
es wurde immer ſchwärzer und ſchwärzer, und ehe ich
noch eine halbe Stunde lang, vor meinen Pony, den der
Führer am Zaume leitete, hinan geklettert war, hüllte
ſchon ein dunkler Mantel Berge, Thäler und uns
[67] ein, und ein derber Regen ſtrömte auf uns herab,
gegen den mein Schirm mich nicht lange ſchützte.
Wir flüchteten endlich in die Ruine einer alten Burg,
und nachdem ich mühſam eine verfallne Wendeltreppe
erſtiegen, gelangte ich auf den Ueberreſt eines Söl-
lers, wo ich unter Epheuranken ein gutes Obdach
fand. Alles um mich her ſah aber gar melancholiſch
aus. Die zerbröckelten Mauern, der Wind, der kla-
gend durch ſie hinrauſchte, der monotone Fall des
Regens, und die ſo unangenehm getäuſchte Hoff-
nung, ſtimmten mich ganz traurig — ich dachte
ſeufzend, wie mir nichts, auch das Kleinſte nicht,
wie ich es wünſche, gelingt, wie Alles, was ich un-
ternehme, das Anſehen des Unzeitgemäßen und Son-
derlingartigen annimmt, ſo daß ich überall wie hier,
was Andere bei Sonnenſchein vollbringen, in Regen
und Sturm durcharbeiten muß. Ungeduldig verließ
ich das alte Gemäuer, und ſteuerte wieder bergan.
Das Wetter wurde aber nun ſo fürchterlich, und der
ſich erhebende Sturm ſelbſt ſo gefährlich, daß wir
von neuem in einer elenden verfallenen Hütte Schutz
ſuchen mußten. In dem [räuchrigen] Innern ſpann
ſtillſchweigend eine alte Frau, und einige halbnackte
Kinder kauten, auf dem Boden liegend, an trocknen
Brodrinden. Mein Eintreten ſchien von der ganzen
Familie kaum bemerkt zu werden, wenigſtens än-
derte es nichts in ihren [Beſchäftigungen]. Ei-
nen Augenblick ſtarrten mich die Kinder ohne
Neugierde an, und fielen dann wieder in die
Apathie des Elends zurück. Ich ſetzte mich auf den
5*
[68] runden Tiſch, das einzige Möbel im Hauſe, und
gab ebenfalls meinen Gedanken Audienz, die nicht
die erfreulichſten waren. Da indeſſen der Sturm
immer ärger wüthete, rieth mir der Führer ernſtlich
umzukehren. Es wäre ohne Zweifel auch das ver-
nünftigſte geweſen, um ſo mehr, da wir noch nicht
den dritten Theil unſeres Weges zurück gelegt hat-
ten. Da ich mir aber ſchon früh vorgenommen,
Deine Geſundheit, gute Julie, auf der Spitze des
Snowdon in Champagner zu trinken, den ich zu
dieſem Behuf von Caernarvon mitgenommen, ſo
ſchien es mir von übler Vorbedeutung, dies aufzu-
geben. Mit der Heiterkeit alſo, die ein feſter Ent-
ſchluß bei großen und kleinen Angelegenheiten immer
giebt, ſagte ich dem Führer lachend: Und wenn es
ſtatt Waſſer Steine regnen ſollte, ich drehe nicht
eher um, bis ich Snowdon’s Gipfel geſehen, und
hiermit beſtieg ich meinen Pony. Der armen Frau
ließ ich ein Geſchenk zurück, das ſie jedoch nur mit
geringer Theilnahme empfing. Der Weg war äußerſt
beſchwerlich geworden, da er fortwährend über loſe
und glatte Steine, die der Regen abſpühlte, oder
über ſehr ſchlüpfrigen Raſen ging. Ich bewunderte,
wie mein kleines thätiges Thier, nur mit glatten
engliſchen Eiſen ohne Griffe beſchlagen, ſo ſicher auf
dieſem Boden fortſchritt.


Es wurde indeß bald ſo ſchneidend kalt, daß ich,
ganz durchnäßt, wie ich war, das Reiten nicht län-
ge[r] aushalten konnte. Ich bin jedoch auch das
Klettern ſo wenig mehr gewohnt, daß mich einige-
[69] mal die Mattigkeit faſt übermannte, ſtets aber hörte
ich dann, wie der Ritter in des weiland Spieß zwölf
ſchlafenden Jungfrauen die encourangirenden Glöck-
chen, ermahnend das mä — mä der Bergſchnucken er-
tönen, die zu Hunderten hier auf den magern Gras-
flecken weiden. Ich unterließ dann nie, mich des
lieben Schäfchens in der Heimath zu erinnern, und
rüſtig weiter zu ſchreiten, bis ich wirklich mich nach
einer Stunde ganz erholt hatte, und friſcher zu füh-
len anfing, als beim Ausmarſch. Ausſichten ent-
[ſchädigten] mich nicht, denn von Wolken ganz um-
ſchleiert, konnte ich kaum 20 Schritt weit vor mir
ſehen, und in dieſem geheimnißvollen clair obscur
erreichte ich auch den erſehnten Gipfel, zu dem man
über einen ſchmalen Felſenkamm gelangt. Ein Stein-
haufen, in deſſen Mitte eine hölzerne Säule ſteht,
iſt als Wahrzeichen aufgerichtet. Ich glaubte hier
der Erſcheinung meines Doppelgängers zu begegnen,
als ein junger Mann aus dem Nebel hervortrat,
der mir ſelbſt völlig glich, NB wie ich ausſah, als
ich vor 16 Jahren in den Schweizer-Alpen umher-
irrte. Er trug, wie auch ich damals, ein leichtes
Ränzchen auf dem Rücken, den Alpenſtock in der
Hand, und einen ſoliden, für Bergreiſen claſſiſchen
Anzug, der allerdings einen eben ſo großen Kontraſt
mit meinen Londner Promenadenſtiefeln, ſteifer
Halsbinde und engem frockcoat abgab, als ſeine
Jugendfriſche mit meinem, in der Stadt vergelbten,
Geſichte. Er ſah aus, wie der junge Naturſohn,
ich wie der ci devant jeune homme. Er hatte von
[70] der andern Seite den Berg erſtiegen, und frug mich
nur, ohne ſich aufzuhalten, angelegentlich, wie weit
der Gaſthof, und wie der Weg beſchaffen ſey? So-
bald ich ihm meine Nachrichten mitgetheilt, eilte er
ſingend und trällernd die Felſen hinab, und ent-
ſchwand bald meinen Blicken. Ich kritzelte unterdeß
meinen Namen, neben tauſend andern, auf einen
großen Stein, und ergriff dann das Kuhborn, wel-
ches mir der Gaſtwirth als Trinkgeſchirr mitgegeben
hatte, und befahl meinem Führer, den Stöpſel der
Champagnerflaſche zu löſen. Sie mußte ungewöhn-
lich viel fixe Luft enthalten, denn der Pfropf flog hö-
her, als die Säule unter der wir ſtanden, und Du
kannſt daher, ohne Münchhauſen etwas abzuborgen,
mit gutem Gewiſſen verſichern, daß als ich am
17. Juli Deine Geſundheit trank, der Champagner-
ſtöpſel gegen 4000 Fuß hoch über die Meeresfläche
geflogen ſey. So wie das Kuhhorn überſchäumend
gefüllt war, rief ich mit Stentorſtimme in die Dun-
kelheit hinein: Hoch lebe Julie, mit neunmal neun
(nach engliſcher Manier). Dreimal leerte ich darauf
den animaliſchen Becher, und wahrlich, durſtig und
erſchöpft wie ich Urſach hatte zu ſeyn, hat mir nie
in meinem Leben Champagner beſſer geſchmeckt. Nach
vollendeter Libation aber betete ich von Herzen. Es
waren nicht Worte — aber innige Gefühle, unter
denen der Wunſch lebhaft hervortrat, daß es doch
Gottes Wille ſeyn möge, es Dir auf Erden gut er-
gehen zu laſſen, und dann auch mir — if possible
und ſiehe! ein zierliches Lamm kam durch die Wol-
[71] kenſchleier heran geklettert, und die Nebel theilten
ſich, und vor uns lag, in zuckenden Sonnenblitzen,
einen Moment lang klar die vergoldete Erde. Doch
nur zu bald ſchloß ſich der Vorhang wieder — ein
Bild meines Schickſals! Das Schöne und Wün-
ſchenswerthe, die vergoldete Erde erſcheint nur
zuweilen, gleich Irrlichtern vor mir; — ſo bald ich
ſie ergreifen will, verſchwindet alles wie ein Traum.


Da nun keine Hoffnung mehr war, daß in den
höchſten und allerhöchſten Regionen ſich das Wetter
heute bleibend aufklären [würde], ſo mußten wir den
Rückweg antreten. Ich fand mich jetzt ſo geſtärkt,
daß ich nicht nur keine Müdigkeit mehr ſpürte, ſon-
dern ſogar das ſeit vielen Jahren nicht mehr ge-
kannte Gefühl wieder empfand, wo das Gehen und
Laufen, ſtatt eine Mühe zu ſeyn, an ſich ſelbſt ein
elaſtiſches Vergnügen gewährt. Ich ſprang alſo,
gleich meinem vorher begegneten Jünglingsbilde, die
Felſen und naſſen Binſenabhänge ſo ſchnell hinab,
daß ich einen Theil des Weges, der mir hinauf an-
derthalb Stunden gekoſtet hatte, in wenig Minuten
zurück legte. Hier trat ich auch endlich aus den um-
gebenden Wolken wieder heraus, und, war ſchon die
Ausſicht weniger prachtvoll, als ſie auf dem Gipfel
ſeyn mag, ſo gewährte ſie dennoch einen großen
Genuß. Ich mochte mich immer noch drittehalb tau-
ſend Fuß über dem Meere befinden, welches ſich ohne
Grenzen vor mir ausbreitete. In ſeinem Buſen
überſchaute ich, wie auf einem Relief, die Inſel An-
gleſea, und in den ſich überall kreuzenden Schluch-
[72] ten des Gebürges in meiner Nähe, zählte ich gegen
zwanzig kleinere Seen; manche dunkel, manche ſo
hell von der Sonne beſchienen, daß die Augen ihren
Spiegelglanz kaum ertragen konnten. Unterdeſ-
ſen war der Führer auch herabgekommen, da ich
aber das Terrain nun vollkommen gut allein beur-
theilen konnte, der Abend ſchön war, und ich noch
keiner Müdigkeit Raum gab — ſo ließ ich ihn und
ſein verſtändiges Pferdchen auf der graden Straße
allein zu Hauſe wandern, und beſchloß mir meinen
einſamen Rückweg über die ſchönſten Punkte ſelbſt
auszuſuchen, et bien m’en prit — denn ſeit der
Schweiz erinnere ich mich keines reizenderen Spa-
zierganges. Ich folgte einem Felſenriß, längs des
wilden Paſſes von Llanberris, berühmt aus den
Kriegen der Engländer und Welſchen, und wo die
Letzteren, unter ihrem großen Fürſten Llewellyn, oft
den Untergang der fremden Eindringlinge, vielleicht
von derſelben Stelle, wo ich jetzt ſtand, betrachten
konnten. Die jählingen Felſenwände, die an vielen
Orten faſt ſenkrecht nach dem Paſſe abfallen, ſind
eine gute Uebung gegen den Schwindel. Ich erſtieg
nach und nach mehrere ziemlich bedenkliche Spitzen
dieſer Art, und fand in dem leichten Schauder, den
die Gefahr einflößte, nur einen Genuß mehr. L’e-
motion du danger plait à l’homme,
ſagt Frau von
Staël. Ganz allein war ich übrigens nicht. Die er-
wähnten Bergſchaafe, weit kleiner als die gewöhn-
lichen, wild und behende wie Gemſen, ſchreckten oft
vor mir nach Art der Rehe, und ſtürzten ſich auf
[73] ihrer Flucht über [Abhänge] hinab, wo ihnen ſo leicht
niemand folgen würde. Die Wolle dieſer Thiere iſt
die gröbſte, aber ihr Fleiſch dagegen das zarteſte
und wohlſchmeckendſte, das es giebt. Auch legen die
Londner Gourmands einen großen Werth darauf,
und behaupten, daß wer nicht Hammelfleiſch vom
Snowdon gegeſſen, gar keinen Begriff davon habe,
welches Ideal ein Schöpſenbraten zu erreichen im
Stande ſey.


Ein anderes mal kam ich faſt in Colliſion mit ei-
nem großen Raubvogel, der, langſam mit ausge-
breiteten Flügeln ſchwebend, den Blick ſo emſig nach
der Tiefe gerichtet hatte, und ſo wenig darauf rechnen
mochte, auf der unzugänglichen Felſenkuppe meine
Bekanntſchaft zu machen, daß er mich nicht eher be-
merkte, bis ich ihn faſt mit Händen greifen konnte.
Jetzt ſchnellte er zwar, wie ein Pfeil hinweg, ver-
ließ aber den Gegenſtand ſeiner unterirdiſchen For-
ſchungen keineswegs, und lange ſah ich ihn noch,
gleich einem Punkt, im blauen Aether ſchiffen, bis
die Sonne hinter den hervorſpringenden Bergen
hinabſank. Ich ſuchte nun in möglichſt grader Linie
zu der Hütte herab zu kommen, in der ich früher
einen Augenblick verweilt hatte. Nicht weit davon
melkte ein Mädchen ihre Kühe, deren friſche Milch
mir ſehr willkommen war, und bei der ich auch mei-
nen Führer wieder antraf. Dies machte ich mir
dankbar zu Nutze, um den Reſt des Weges, in mei-
nen Mantel gehüllt, auf dem ſichern Pony recht
wohlthuend auszuruhen. Nachdem ich mich im Gaſt-
[74] hof umgezogen, eine Vorſicht die man bei Bergreiſen
nicht verſäumen darf, ſchiffte ich mich von neuem
auf den, jetzt vom Abendrothe herrlich glühenden,
See ein. Die Luft war mild und lau geworden,
Fiſche ſprangen oft freudig in die Höhe, und Reiher
umkreisten in zierlichen Bogen die Schilfgeſtade,
während hie und da ein Feuer an den Bergen auf-
flackerte, und der dumpfe Donner geſprengter Felſen
aus den entfernten Steinbrüchen herüber tönte.


Lange ſtand ſchon des Mondes Sichel am dunkeln
Himmel, als mich die ſchwarz gelockte Hebe wieder
in Caernarvon empfing.



Ich war doch ein wenig von den lezten vier und
zwanzig Stunden angegriffen, und begnügte mich
daher beute mit einem Gange nach dem berühmten
hier liegenden Schloſſe, welches von Eduard I., dem
Eroberer von Wales, erbaut und von Cromwell
zerſtört, jetzt eine der ſchönſten Ruinen in England
bildet. Das Einzige, was ich dabei bedaure, iſt,
daß es ſo nahe an der Stadt und nicht einſam im
Gebürge ſteht. Die äußern Mauern, obwohl ver-
fallen, bilden doch noch eine ununterbrochene Linie,
welche ohngefähr drei Morgen Landes umſchließt.
Der innere, mit Gras bewachſene, mit Schutt und
Diſteln jetzt gefüllte Raum, iſt nahe an 800 Schritt
[75] lang. Sieben Thürme, ſchlank und veſt gebaut, von
verſchiedener Form und Größe umgeben ihn. Einer
derſelben iſt noch zugänglich, und ich erſtieg auf ei-
ner hinfälligen Treppe von 140 Stufen ſeine Plat-
form, wo man eine impoſante Ausſicht auf Meer,
Gebürge und Stadt hat. Beim Herabgehen zeigte
man mir die Rudera eines gewölbten Zimmers, in
welchem, der Tradition nach, Eduard II. der erſte
Prinz von Wales, geboren ward. Die Welſchen
hatten nämlich, eingedenk der Bedrückungen engli-
ſcher Hauptleute, in früheren Zeiten partieller und
momentaner Eroberung, dem Könige feſt [erklärt],
daß ſie nur einem Statthalter, der ein Prinz ihrer
eignen Nation ſey, Folge leiſten wollten. Sofort
ließ Eduard, mitten im Winter, ſeine Gemahlin
Eleonor herbeiholen, um heimlich ihre Niederkunft
in Caernarvon Caſtle abzuwarten. Sie gebar einen
Prinzen, worauf der König die Edeln und Vor-
nehmſten des Landes zuſammenberief, und ſie feier-
lich frug: ob ſie ſich der Regierung eines jungen
Prinzen unterwerfen wollten, der in Wales geboren
ſey, und kein Wort engliſch ſprechen könne? Als ſie
dies freudig und erſtaunt bejahten, präſentirte er
ihnen ſeinen eignen, eben gebornen Sohn, indem er
in gebrochenem Welſch ausrief: Eich Dyn, d. h. dies
iſt Euer Mann! — welche Worte ſpäter in „Ich
Dien“ dem Motto des engliſchen Wappens, corrum-
pirt worden ſind.


Ueber dem großen Hauptthore ſteht noch Eduards
ſteinernes Bild, mit der Krone auf dem Haupt, und
[76] einem gezückten Dolche in der Rechten, als wolle er
nach ſechs Jahrhunderten noch die Steintrümmer
ſeines Schloſſes bewachen. Ueber Entweihung hatte
er auch heute mit Recht zu klagen, denn, inmitten
der Ruine, machte auf dem grünen Platze ein Ka-
meel, nebſt Affen in rothem Treſſenrocke, ſeine Kunſt-
ſtücke, und jubelnd ſtand eine zerlumpte Menge um-
her, ſich des jämmerlichen Contraſtes nicht bewußt,
den ſie mit den ernſten Ueberreſten der ſie umgeben-
den Vergangenheit bildete.


Der Thurm, in welchem der Prinz geboren ward,
heißt der Eagletower, (Adlerthurm) aber nicht von
ihm rührt dieſe Benennung her, ſondern von vier
coloſſalen Adlern, welche die Spitze krönten, und
von denen noch einer vorhanden iſt. Man hält ihn
für einen römiſchen, denn Caernarvon ſteht auf dem
Grunde des alten Segontium, das.... doch ich ver-
ſteige mich zu weit, und war auf gutem Wege in
den Ton eines Reiſebeſchreibers von Profeſſion zu
fallen, der ennuyiren zu dürfen glaubt, wenn er
unterrichtet — obgleich er den Unterricht ſelbſt, ge-
wöhnlich erſt durch mühſames Nachleſen der Lokal-
bücher erlangt. Je n’ai pas cette prétention vous
le scavez, je laisse errer ma plume,
unbekümmert
wo ſie mich hinführt.


Der Marquis von Angleſea hat kürzlich hier ein
Seebad angelegt, das von einer Dampfmaſchine diri-
girt wird, und ſehr elegant eingerichtet iſt. Ich be-
nutzte es beim Rückweg vom Schloſſe, und bemerkte
[77] in den Erholungszimmern ein Billard von Metall,
auf Stein geſetzt. Accurater kann man ſich keines
wünſchen, ob die Dampfmaſchine auch die Parthien
markirt, vergaß ich zu fragen. Unmöglich wäre es
nicht in einem Lande, wo kürzlich Jemand ganz im
Ernſte vorſchlug, Dampfkellner in den Caffeehäuſern
einzuführen, und wo es eben nicht viel anders her-
gehen würde, wenn eine Dampfmaſchine mit 40 Pferde-
Kraft auf dem Throne ſäße.


Liebe Julie, einem Reiſenden muß es erlaubt ſeyn,
oft und viel vom Wetter und vom Eſſen zu ſprechen!
Haben doch die Romane des berühmten, einſt Unbe-
kannten, oder einſt berühmten Unbekannten, einen
nicht unanſehnlichen Theil ihrer Reize den meiſter-
haften Schilderungen dieſer Art zu danken. Wem
läuft nicht das Waſſer im Munde zuſammen, wenn
er Dalgetti, den Soldaten der Fortuna, eſſen ſieht,
und noch unbezwinglicher bei Tiſch als in der Schlacht
findet? Es iſt wirklich gar kein Scherz, wenn ich Dir
verſichere, daß ich, bei meinem reizbaren Nervenſy-
ſtem, wenn ich in Folge einer kleinen Indigeſtion den
Appetit verloren hatte, oft nur zwei Stunden im Un-
bekannten zu leſen brauchte, um mich vollkommen
wieder hergeſtellt zu fühlen. Heute bedurfte ich jedoch
dieſer Stimulanz in keiner Art. Es war hinlänglich
den vortrefflichen friſchen Seefiſch, nebſt den berüch-
tigten mountain mutton (Berghammel) auf dem Ti-
ſche dampfen zu ſehen, um mit Heißhunger darüber
herzufallen, denn ein Seebad und die Beſteigung des
Snowdon wirkt noch ſtärker als Walter Scott.


[78]

Mein ſchwarzes [Mädchen], die mich, da ich heute
der einzige Gaſt im Hauſe war, ſelbſt bediente, wurde
zuletzt ungeduldig, mich immer wieder auf beſagten
Hammel zurückkommen zu ſehen, und äußerte mür-
riſch, ich [thäte] nichts als eſſen, wenn ich nicht herum-
liefe. Sie ſelbſt war weit [ätheriſcherer] Natur, und
hatte, ſeit ich hier bin, bereits meine portative Ro-
manenbibliothek zur Hälfte ausgeleſen; jedesmal wenn
ich ſie wieder ſah, [präſentirte] ſie mir einen geiſtig
verſchlungenen Band, und bat ſo ſehnſüchtig um ei-
nen andern, daß ich ein weniger weiches Herz hätte
haben müſſen, um es ihr abzuſchlagen. Auf dieſe
Weiſe begegnete ſich unſer beiderſeitiger Appetit, der
meine nach dem realen, der ihrige nach dem idealen,
auf die unſchuldigſte Weiſe.



Von Bangor hat man mir heute ein großes Paket
nachgeſchickt, in dem ich vergebens Nachrichten von
Dir ſuchte, aber herzlich über einen Brief von L.
lachen mußte, der mir in Verzweiflung ſchreibt, wie
übel es ihm ergangen ſey. Er hat nämlich, wie er
meldet, ſeine Betrachtungen, deren Anfang ich Dir
mittheilte, in Fragmenten drucken laſſen, und eine
gewiſſe Parthei, die ſich zu wund fühlt um nicht
überſüsceptibel zu ſeyn, y a entendù malice. Sie
hat ſogleich in der Lamm’s Zeitung einen wüthenden
[79] Artikel gegen ihn einrücken laſſen, und der arme L.,
der ſeine Leute kennt, fürchtet jetzt ohnfehlbar beim
Examen durchzufallen. Da die gegen ihn gerichtete
Philippika nicht lang iſt, und überdem die Zeit gut
charakteriſirt, ich auch heute Ruhetag habe, ſo ſchrei-
be ich Dir, mit einigen Abkürzungen, die Haupt-
ſache ab.


  • Ueber die Betrachtungen einer gemüthlichen Seele
    aus Sandomir. Eine Rede vom Herrn von
    Frömmel, Adjutanten Seiner Durchlaucht
    des Fürſten von ....... Geſprochen im adli-
    chen frommen Conventikel beiderlei Geſchlechts
    zu A … Heilige Geiſtſtraße Nr. 33. am 4ten
    Mai 1828; und hier beſonders abgedruckt aus
    den Sammlungen für ächte Chriſten.

Hoch- und Hochwohlgeborne, fromme Brüder und
Schweſtern!


Mit Recht ſagt unſer Heiland: Es giebt viel Wölfe
in Schafspelzen! Ein Solcher iſt aber Träger vorlie-
genden Schafpelzes, der ungenannte Verfaſſer der
Betrachtungen ꝛc. ſonder allen Zweifel. Es iſt nicht
ſchwer zu entziffern, daß unter der Maske von Fröm-
migkeit, und einer faſt an Albernheit [gränzenden] Sim-
plicität, hier mit höhniſchem Spott dieſelbe verder-
bende Schlange ziſcht, welche einſt unſere fromme
Mutter Eva verführte, und ſeitdem unſere heilige Re-
ligion unabläſſig mit ihrem Geifer beſprützt, nur ſin-
nend wie ſie Thron und Kirche untergrabe. Wir je-
[80] doch wollen unſrer (allerdings leider etwas zu leicht-
gläubigen) Stammmutter nicht gleichen, ſondern Sa-
telliten des Teufels mit Feuer und Schwert ausrot-
ten, wo wir ſie finden. Ja meine Freunde und Ihr
meine Freundinnen, Ihr wißt es — der Teufel iſt
und lebt — nicht wie die ungläubige Rotte ſagt: in
uns, als Teufel der Leidenſchaften, der Eitelkeit, des
Haſſes, der Sünde — nein, perſönlich ſchleicht er
herum auf der Erde, wie ein brüllender Löwe, mit
Bockshorn und Pferdeſchweif, und peſtilentialiſchem
Geſtank, wo er ſich zu erkennen giebt — wer nicht
ſo an den Teufel glaubt, glaubt auch nicht an Je-
ſus… *) doch warum ereifere ich mich, hier iſt ja
[81] kein Vernünftler, hier kein Verſtändiger der Welt,
hier ſind wir ja Alle nur einfältige Chriſtuslämmer,
eine Heerde und ein Hirt.


Doch iſt Warnung ſtets vonnöthen, und drum rufe
ich heute Allarm! Wir haben bis jetzt zwar nur Bruch-
ſtücke jener giftigen Betrachtungen erhalten, und wiſ-
ſen noch nicht ganz, wo der Verfaſſer eigentlich da-
mit hinaus will, aber auf uns iſt es gemünzt, daran
bleibt kein Zweifel, und Gottlob! finden wir ja auch
ſchon in dem Vorhandenen genug, ihn als Gottloſen
anzuklagen! Iſt es nicht offenbar, daß er frevelnd der
Vorſicht und ihrer Allmacht ſpottet?


Wir hoffen, wir bitten daher gläubig und inbrün-
ſtig, daß dieſe Allmacht auch ihre Rache ſelbſt über-
nehmen, und jener gemüthlichen Seele ſchon hier ei-
nen Vorſchmack von dem geben möge, was ſie ohn-
fehlbar einſt in den ewigen Flammen erwartet; und
der allliebende Gott thue dies bald und ſchreck-
lich, damit kein reines Schaf unſrer Heerde vorher
noch verführt werde von dieſem Unreinen, und ſelbſt
*)
Briefe eines Verſtorbenen. I. 6
[82] ſchmählig zu Falle komme. Gewiß Freunde und
Freundinnen, ein Feind, ein Vampyr, ein Atheiſt
ſchrieb dieſe Worte. Nichts iſt ihm heilig, und nicht
allein die ewige Vorſicht, ja ſelbſt unſern Heiland
greift der Frevler mit verfänglichen Ausdrücken an!
der Verruchte!


Das ſüße Lamm für ihn geſtorben

Rührt ſein verſtocktes Herze nicht!

Drum mit der Seele die verdorben

O Herr! halt’ ſchleunig Strafgericht! *)

O, meine Brüder und Schweſtern! ſchrecklich wird
— wir rechnen mit Zuverſicht darauf, — das Loos
eines Solchen am jüngſten Tage ſeyn, wenn die Lei-
ber auferſtehen, und ſein irdiſches Ohr zum erſten-
mal wieder hört, um den Donner der Poſaunen zu
vernehmen, die ihm ewige Verdammniß ankündigen.
Da iſt kein Erbarmen! da wird ſeyn Heulen und
Zähnklappern! aber hieran ſollen wir uns ein Beiſpiel
nehmen, auch unerbittlich ſeyn wie jenes Strafge-
richt!


Wir glaubten kaum, daß nach allen unſern chriſtli-
chen Bemühungen, in unſrer ſo wahrhaft, ich ſage es
mit Stolz, wahrhaft chriſtlichen Stadt, wo alles an-
gewendet wird, das Gift der Toleranz und des ver-
ruchten Selbſtdenkens zu vernichten — denn wie kann
der elende Wurm, Menſch genannt, ſeine Gedanken
an das Göttliche legen wollen, ſeine Vernunft, die
[83] er ja nur von Gott hat, Gottes eigner, ſpecieller
Offenbarung entgegenſtellen wollen? der Unſinn iſt
zu offenbar! — ich ſage, wir hätten kaum geglaubt,
daß es auch bei uns noch ſolche Menſchen geben
könnte, die es wagen, unbekümmert um fremde Au-
torität, bei Erforſchung der Wahrheit ihren eignen
Weg zu gehen, Freidenker und Heiden, die aber nur
wieder auftauchen, weil die Behörden, (ſelbſt unſre
ſonſt doch thätige Cenſur an der Spitze) noch viel zu
nachſichtig gegen das größte aller Verbrechen, religiö-
ſen Unglauben, ſind. Eine moderate Inquiſition wäre
vielleicht deshalb wohlthätig mit dem neuen Gebet-
buch einzuführen geweſen, um die Rechtgläubigen zu
beſchützen, dieſe wahren Chriſten, dieſe einzigen be-
vorrechteten Lieblinge Gottes, die unbedenklich glau-
ben, was Fürſt und Kirche befiehlt, ohne zu klügeln
noch zu deuten. Nur ſolche auch können für Staat
und Kirche wahren Werth haben, hinweg mit allen
Uebrigen! Sie ſeyen verdammt, wie alle ungetauften
Kinder der Juden und Heiden. — O könnten wir
für immer aus unſern Annalen jene ſchamloſe Zeit
ausmerzen, wo ein Philoſoph (und nicht einmal ein
Ideologe, ſondern ein praktiſcher) auf einem deutſchen
Throne ſaß, und — Chriſten, werdet ihr einſt es
glauben — den Namen des Großen erhielt! Das
Mildeſte was wir jetzt, zum Gnadenreiche der Fröm-
migkeit unter blutigen Thränen zurückgekehrt, über
ihn zu ſagen vermögen, iſt: Gott ſey ſeiner armen
Seele gnädig! Lange werden aber die Frommen und
ihre heilige Legion noch kämpfen müſſen, ehe die
6*
[84] Saat, die dieſer große!!! Mann geſäet, gänzlich
zertreten, ehe die letzte Spur jener elenden Vernunft,
der er huldigte, gänzlich ausgerottet ſeyn wird. Doch
verzweifelt deshalb nicht, meine Brüder in Chriſto;
einem ſo edlen Eifer als dem unſrigen iſt nichts un-
möglich, und weltlicher Lohn erwartet Euch in viel-
facher Geſtalt ſchon jetzt, von den erhabnen Quellen,
an denen wir ſelbſt täglich ſchöpfen — einſt aber noch
größere Glorie im Palaſt des Herrn. Nur hütet
Euch vor dem Vernünfteln in jeder Geſtalt, glaubet
— nicht nach eigner Forſchung — ſondern wie es
Euch vorgeſchrieben iſt, und vor allem hütet Euch vor
Duldung! Liebet Euern Heiland, nicht nur über Al-
les, ſondern auch einzig und allein. Wer aber nicht
für ihn iſt, iſt wider ihn, und mit einem Solchen
habt kein Erbarmen. Ihn verfolgt raſtlos, kann es
nicht offen geſchehen, ſo untergrabt ihn mit böſer
Nachrede, heimlicher Verläumdung, ja ſcheut die gröb-
ſten Lügen nicht, vorausgeſetzt daß ihr ſie ſicher und
im Verborgenen ausbreiten könnt, denn hier heiligt
der Zweck alle Mittel. — Ach! wären wir doch ſtets
in der wahren Communion-Stimmung, um nimmer
in unſerm Eifer zu erkalten! Nur weil ſie weder
warm noch kalt ſind, haben jene Philoſophen die To-
leranz — dieſe Tugend der Heiden — gepredigt. Wir
haben geſehen, wohin ſie uns gebracht, als der wahn-
ſinnige Freiheitsſchwindel die Canaille ergriff, und all-
gemeine Anarchie die Throne, die Kirche, unſern alten
Adel, und alles Ehrwürdige über den Haufen zu wer-
fen drohte — darum fort mit jedem Gedanken an [...]ver-
[85] derbliche Duldung gegen anders Denkende. Chriſtus
ſagt zwar ſelbſt: Segnet die Euch fluchen, und wei-
ter: wenn ihr einen Backenſtreich auf die eine Backe
erhaltet, ſo reicht die andere hin — doch hierüber
habe ich meine eignen Gedanken. — Stellen dieſer
Art müſſen durchaus anders zu verſtehen ſeyn, denn
wie wären ſie mit den unerläßlichſten Geſetzen unſres
Standes zu vereinigen? Gebietet uns nicht die Ehre
unſres Standes, und unſrer Uniform, einen Men-
ſchen, der es wagen ſollte, ſich thätlich an uns zu
vergreifen, ſofort und ohne Zaudern niederzuſtechen
— ja, ich weiß nicht ob ſelbſt ich, der Liebling des
Prinzen, mich nach einer öffentlich erhaltnen Ohrfeige
bei Hofe und allerhöchſten Orts blicken laſſen dürfte?
Höchſt wahrſcheinlich daher meinte unſer Heiland dieſe
Vorſchrift auch nur mit Einſchränkung — mit einem
Wort, für das gemeine Volk, bei dem es auch
gewiß verdienſtlich iſt, wenn es auf eine Backe geohr-
feigt, ſtatt der Erbitterung Raum zu geben, ſofort
die andere hinreicht. Man bedenke übrigens, daß
Chriſtus ſelbſt, bei ſeiner Menſchwerdung, nicht nur
ein adliches, ſondern ſogar ein königliches Geſchlecht
ſich ausſuchte. Wer beweiſt uns auch, daß die Jün-
ger wirklich ſo gemeiner Extraction waren, als man
ſich vorſtellt, und nicht ebenfalls vielleicht alte, blos
herabgekommene, jüdiſche Edelleute geweſen ſeyn kön-
nen? die Sache iſt ja ohnedem in ſo manches hiſto-
riſche Dunkel gehüllt — und ſagt nicht Chriſtus auch
andern Orts: Meine Sendung iſt nicht um Frieden,
ſondern das Schwert zu bringen! Dieſe beiden Re-
[86] den würden ſich ja zu widerſprechen ſcheinen, wenn
man nicht annähme, daß einer Claſſe nur die Dul-
dung, der andern aber der Kampf vorgeſchrieben
ſey! Iſt aber dies eben nicht die uralte Beſtimmung
des Adels? ehemals mit den Waffen, heut zu Tage
mit Wort und Feder! — Darum alſo kämpfet meine
Brüder und Schweſtern gegen die Gottloſen! Gürtet
das Schwert der Zeiten um, und ſtreitet für den Hei-
land, mit Bibel und Jacob Böhme, mit Kammer-
herrnſchlüſſel und Hofmarſchallsſtab, mit Gebetbuch
und Unterrock. Glaubt mir, meine theuren Genoſſen,
ſchon erndten wir die Früchte unſers heiligen Eifers,
ſchon fangen wir an auf ehernem Boden zu ſtehen!
Immer mehr beugt man ſich vor unſerm heimlichen
Einfluß, und unſer feſtes Zuſammenhalten, die reiche
Unterſtützung die wir den Unſrigen zufließen laſſen,
wenn ihre Arbeit im Weinberge des Herrn es ver-
dient, manche Gunſt von oben, deren Vertheiler wir
ſind, vor Allem aber die unerbittliche Frömmigkeit,
die man an uns kennt — halten ſelbſt die Kühneren
in Schranken, und legen die Furchtſamen Haufen-
weiſe zu unſern Füßen.


Wo aber dennoch ein Antichriſt uns anzutaſten
wagt, und jeder der dieſes thut, iſt ein Solcher, da
— ich rufe es Euch nochmals zu — da wachet, da
kämpfet, vernichtet, und ruhet nicht eher, bis Euer
Schlachtopfer gefallen ſey. Es iſt ja Alles doch nur
um der Liebe willen, der letzte Verſuch an einem ar-
men Verirrten, um ihn Jeſum Chriſtum wo möglich
noch erkennen zu lehren. Amen!


[87]

Der adlichen Gemeinde in Chriſto iſt es vielleicht
angenehm, und ihre Herzen rührend, wenn ich ihnen
in hochgeehrtem Auſtrage hiermit melde, daß wir in
dieſem laufenden Monat abermals ſo glücklich gewe-
ſen ſind, 7½ verdammte Seelen zu dem allein ſelig-
machenden Glauben hinzuführen, was uns, im Gan-
zen, nicht mehr als 100 Rthlr. baar, und drei An-
ſtellungen gekoſtet hat. Da wir weltliche Rechnun-
gen über dieſes Geſchäft ablegen, ſo iſt der Kürze
wegen beliebt worden, Kinder unter 12 Jahren als
halbe Seelen aufzuführen. *) Und ſo ſegne denn der
Himmel ferner unſer frommes Bemühen, und den
uneigennützigen Eifer, mit dem die Neubekehrten in
Jeſu Schoos eingezogen ſind. Amen!


Noch kündige ich an, daß nächſten Sonntag Abends,
wiederum um 8 Uhr, in demſelben Lokal bei Fräu-
lein S …, Verſammlung bei verſchloſſenen Thüren
und im Dunkeln gehalten werden wird, um, durch
keine äußern Gegenſtände zerſtreut, den heiligen, ſüß
durchſchauernden Gefühlen hingebender Liebe, gänz-
lich freien Lauf laſſen zu können. Wir hoffen auf
eine reichliche Gemeinde, beſonders auch von Seiten
[88] des zarteren Geſchlechts, dem unſer Conventikel ohne-
hin bereits ſo viel verdankt! .......


So weit war ich in der Lecture gekommen, als die kleine
Eliſa mit meinem Frühſtück erſchien, und mir, nach dem
langen Schlafen, wie ſie ſagte, einen ſchalkhaft freundli-
chen, guten Morgen bot. Sie kam aus der Kirche — war
ſich einer hübſchen Toilette bewußt — und hatte es
mit einem Fremden zu thun — alles Dinge, die Wei-
ber ſehr weich ſtimmen. Sie ſchien daher faſt betre-
ten, als ich ihr meine Abreiſe auf morgen früh an-
kündigte, tröſtete ſich jedoch, ſobald ich ihr meine Bi-
bliothek zurückzulaſſen, und in einer Woche noch ein-
mal ſo viel Bücher ſelbſt mitzubringen verſprach.


Nachmittag beſah ich, von ihr geführt, die Stadt-
promenaden, von denen die eine, ſehr romantiſch, auf
einem großen Felſen angelegt iſt. Wir ſahen von
hier aus den Snowdon in faſt durchſichtiger Klar-
heit, ohne daß nur ein Wölkchen ſeine Reinheit ge-
trübt hätte, und ich konnte nicht umhin mich ein we-
nig zu ärgern, ſo ganz den rechten Tag bei ihm ver-
fehlt zu haben.


Nach dieſen idylliſchen Spaziergängen beſchloß wie-
der „tender mutton“ den Tag, von dem ich bedaure,
Dir nichts Intereſſanteres melden zu können. Doch
fällt mir eben noch eine ziemlich ſeltſame Anekdote
bei, die mir der Wirth heute erzählte. Am 5ten Au-
guſt des Jahres 1820 verunglückte die hieſige Fähre
bei Nacht, und von 26 Perſonen ward nur ein Mann
gerettet. Grade 37 Jahre vorher hatte die Fähre
[89] daſſelbe Schickſal, wobei von 69 Perſonen ebenfalls
nur ein Mann mit dem Leben davonkam. Ein höchſt
ſonderbares Zuſammentreffen iſt es aber, daß bei
beiden Fällen der Name der einzelnen geretteten Per-
ſon, Hugh Williams war.



Auch Bangor iſt ein Badeort, d. h. es ſteht Jedem
frei, daſelbſt in’s Meer zu ſpringen. Die künſtlichen
Anſtalten aber ſind blos auf die Privatwanne einer
alten Frau reducirt, welche in einer elenden Hütte
am Ufer wohnt, und, wenn die Beſtellung eine Stunde
vorher gemacht wird, Seewaſſer auf ihrem Heerde in
Töpfen wärmt, beim Baden ſelbſt aber sans façon
den Fremden auszieht, abtrocknet und wiederum an-
zieht, wenn er keinen eignen Diener zu dieſem Behuf
mitbringt. Nachdem ich, zufällig eintretend, ein ſol-
ches Bad, pour la rarité du fait, genommen, miethete
ich eine kleine Gondel, um mich über den Meeresarm,
welcher Angleſea und Wales trennt, nach Beaumaris
ſchiffen zu laſſen. Hier befindet ſich ein andres von
Eduard I. erbautes und von Cromwell zerſtörtes
Schloß, das einſt noch größer als das in Caernarvon
war, (denn es bedeckt noch jetzt 5 Morgen Landes)
aber als Ruine weniger pittoresk erſcheint, da es alle
ſeine Thürme verloren hat. Um es genau zu beſe-
ben, muß man auf den ſchmalen, und ſehr hohen,
[90] verfallenen Mauern entlang gehen, die durch nichts
geſchützt ſind. Der Knabe mit den Schlüſſeln lief
zwar wie ein Eichhörnchen darauf hin, der Barbier
aus der Stadt aber, der ſich mir beim Debarkiren
als Führer angeboten, und mich bis hierher gebracht
hatte, ließ mich nach den erſten Schritten im Stich.
Dieſe Ruine liegt in dem Park des Herrn Bulkley,
welcher ſehr unpaſſend ein tenniscourt (Ballſpiel)
darin angelegt hat. Von ſeinem Wohnhauſe hat man
eine ſehr gerühmte Ausſicht, die jedoch von einer an-
dern, welche man anderthalb Stunden weiter, bei
einer einfachen aber zierlichen Cottage, Craigg-Y-Don
genannt, antrifft, weit überboten wird. Dieſe letztere
Beſitzung iſt ein wahres Juwel, einer von den we-
nigen geſegneten Oertern, die faſt nichts mehr zu
wünſchen übrig laſſen. Sie liegt zwiſchen dicht be-
buſchten Felſen, hart am Meer. Nicht zu groß, aber
gleich einem boudoir aufgeputzt, mit dem friſcheſten
Raſen und dem Blumenſchmelz aller Farben umge-
ben, das ganze Haus mit ſeinem Strohdach und Ve-
randa von rankenden Monatsroſen und blauen Win-
den überzogen — bildet ſie ſo, zwiſchen Wald und
Felſen hervorlauſchend, einen unbeſchreiblich lieblichen
Contraſt mit der erhabenen Gegend. Labyrinthiſche
Fußwege winden ſich nach allen Richtungen durch das
dunkle und kühle Gebüſch, mannichfach den großen
Ausſichtsſchatz theilend, welchen die glücklichſte Lage
darbietet. Denn unter und vor Dir haſt Du den
tief blau gefärbten Meeresarm, deſſen Brandung
ſchäumend an den ſpitzen Felſen nagt, auf welchen
[91] Du ſtehſt, während weiter hin auf dem ebnen Spie-
gel hundert Fiſcherbarken und Schiffe durch einander
wimmeln, unter denen Du, beſonders hervorſtechend,
den vor Anker liegenden Cutter des Beſitzers, und
zwei Dampfboote gewahr wirſt, von denen das eine,
in weiter Ferne, mit einer ausgebreiteten ſchwarzen
Wolke ſegelt, das zweite, ganz nahe, nur eine ſchmale
weiße Säule gerade empor in die Luft haucht. Auf
der rechten Seite ſiehſt Du eine tiefe Bucht ſich in
das Land hineinziehen, die einen Archipel von kleinen
Inſeln aller Art und Formen bildet; manche belaubt,
andere kahl, und glatt von den Wellen geſchliffen,
einige mit Hütten bebaut, andere wie ſpitze Thürme
hervorragend. Wendeſt Du nun Dein Auge wieder
zurück zum Meeresarm, dieſen auf derſelben Seite
weiter verfolgend wie er ſich allmählig verengt, ſo
erblickſt Du mit Staunen die Ausſicht durch eine
ſtupende Kettenbrücke geſchloſſen, jenes Rieſenwerk,
das man mit Recht das ächte Wunder der Welt
nennt, und welches, der Natur Trotz bietend, zwei
von ihr durch Meeresfluthen getrennte Lánder wie-
der vereinigt hat. Ich werde gleich Gelegenheit ha-
ben, ſie Dir näher zu beſchreiben, von hier ſieht ſie
aus, als ſey ſie von Spinnen in die Luft gewebt.
Haſt Du bei dieſem abentheuerlichen Anblick menſch-
lichen Wirkens
eine Zeit lang verweilt, ſo ſtellt
ſich, Dir gegenüber, eins der mannichfaltigſten und
größten Schauſpiele der Natur dar — die ganze
Kette des Gebirges von Wales, das hier unmittelbar
aus dem Waſſer emporſteigt, — hell und nahe genug,
[92] um Wälder, Dörfer und Schluchten deutlich zu un-
terſcheiden, und in einer Länge von zehn deutſchen
Meilen ſich ausbreitet. — In allen Schattirungen
gruppiren ſich die Berge, manche ſind noch von Wol-
ken bedeckt, manche glänzen frei in der Sonne, an-
dere ſtrecken blaue Hörner noch über die Wolken her-
vor, und Dörfer, Städte, weiße Kirchen, ſchmucke
Landhäuſer und Schlöſſer werden in den Falten der
Abhänge ſichtbar, während blinkende Streiflichter
auf den grünen Matten ſpielen. Der Ruhe bedürf-
tig wendeſt Du Dich endlich dem Norden, der Dir
links liegt, zu. Hier zerſtreut Dich nichts mehr. Der
weite Ocean allein fließt da mit dem Himmel zuſam-
men. Nur kurze Zeit verfolgſt Du noch auf Deiner
Seite die zurückweichenden, waldigen Ufer von Angle-
ſea, wo [hohe] Nußbäume und Eichen mit ihren wei-
ten Aeſten über das Meer hinhängen, dann biſt Du
mit Himmel und Waſſer allein, höchſtens glaubſt Du
in neblicher Ferne die Segel eines Dreideckers zu
unterſcheiden, oder ein Wolkenbild malt Dir phanta-
ſtiſche Geſtalten vor.


Nach einer genußreich hier verlebten Stunde ritt
ich, meinen in Beaumaris gemietheten Klepper nach
Kräften anſtrengend, der großen Brücke zu. Der
beſte Geſichtspunkt iſt unten auf dem Sandgeſtade,
bei einigen Fiſcherhütten, ohngefähr 100 Schritt von
ihr entfernt. Je mehr, je genauer man ſie betrach-
tet, je mehr ſtaunt man, und glaubt zuweilen das
Ganze nur im Traume zu ſehen, aus Filagranarbeit
[93] von einer Fee in die Luft gehangen, ja die Phantaſie
erſchöpft ſich nicht an Bildern; und als jetzt eine
Diligence mit vier Pferden raſch über den 100 Fuß
hohen und 600 Fuß weit geſpannten Bogen fuhr,
halb von dem Kettengewebe verborgen, an dem die
Brücke hängt, ſo ſchienen es eben nur einige im
Netze flatternde Lerchen zu ſeyn. Nicht anders ſahen
die Menſchen aus, welche überall in den Ketten ſa-
ßen, die jetzt zum erſtenmal ihren neuen Oehlanſtrich
erhielten, denn das ganze Werk wurde erſt kürzlich
vollendet. Wer das Berliner Schloß kennt, dem
wird es einen anſchaulichen Begriff von den enor-
men Dimenſionen dieſer Brücke geben, wenn er hört,
daß dieſes bequem unter dem Hauptbogen zwiſchen
dem Waſſer und dem Belag ſtehen könnte, und doch
halten die Ketten den letzterm ſo feſt, daß man auch
bei dem ſchnellſten Fahren, welches keineswegs ver-
boten iſt, und bei der ſchwerſten Laſt, keine Bebung
wahrnimmt. Die Brücke iſt oben in drei Wege ge-
theilt, der eine für das Hin-, der andere für das
Zurückfahren, die Mitte für die Fußgänger. Die
Bohlen ruhen auf einem eiſernen Gitter, ſo daß ſie
leicht, wenn ſchadhaft, abgenommen und erſetzt wer-
den, nie aber durch ihr Brechen eine Gefahr beſor-
gen laſſen können. Alle drei Jahr erhält ſämmtli-
ches Eiſen einen neuen Oehlanſtrich, um den Roſt
zu verhindern. Der Baumeiſter, der ſich hier ei-
nen langen Ruhm gegründet haben wird, heißt
Telford.


[94]

Sur ce, n’ayant plus rien à dire, ſchließe ich
meinen Bericht, und wünſche Dir, meine theure
Julie, alles Glück und Segen, deſſen Du werth biſt,
et c’est beaucoup dire.


Immer dein treuſter L ....


[[95]]

Sieben und zwanzigſter Brief.



Chere et bonne.

Eine kleine Unannehmlichkeit dieſer ſonſt ſo reich
begabten Landſchaft ſind die Wirkungen der Ebbe
und Fluth, welche erſtere einen bedeutenden Theil
des Tages hindurch eine große Strecke des Menai,
wie der hieſige Meerarm genannt wird, austrocknet,
und nur ſchlammigen Sand zurück läßt. Wahrſchein-
lich ſind dieſem Umſtande auch die über alle Vorſtel-
lung hartnäckigen Fliegenſchwärme zuzuſchreiben, die
zu Tauſenden, gleich Bienen ſchwärmend und auf
Raub ausgehend, Menſchen und Vieh attaquiren,
und ihr Opfer nicht leicht wieder loslaſſen. Man
reitet vergebens, was das Pferd laufen kann. Der
Schwarm, in einen Klumpen geballt, wie ein mace-
doniſcher Phalanx, fliegt mit, und zerſtreut ſich über
ſeine Beute, ſobald man wieder anhält, nur dem
Todtſchlagen weichend. Ja ſelbſt in ein Haus hin-
einzutreten, hilft nicht immer. Denn ich habe es auf
Spaziergängen einigemal erlebt, daß dieſe Fliegen,
wenn ſie einen einmal angenommen haben, geduldig
[96] draußen warten, bis man wieder herauskömmt. Das
einzige Mittel iſt, eine Stelle aufzuſuchen, wo ein
ſtarker Zugwind weht, den ſie nicht vertragen kön-
nen. Dies wiſſen auch die an den Bergufern wei-
denden Kühe recht wohl, die man immer an ſolchen
Stellen einſam ruhen und [wiederkäuen] ſieht. Ich
betrachtete heute lange ein ſolches Thier, wie es auf
einer ganz iſolirten Felſenſpitze, die Contoure ſchroff
ſich gegen die Luft abzeichnend, ſtand — unbeweg-
lich, bis auf die leiſe Arbeit ſeiner Kinnladen, und
nur zuweilen mit dem Schwanz ſich an die Seite
ſchlagend. Wie ſchön, dachte ich mir, könnte ein
Künſtler ein ſolches Bild koloſſal und zum Apis er-
hoben, und auch mit dem Mechanismus dieſer ein-
fachen Bewegungen verſehen, nachahmen und welche
Acquiſition wäre dies für einen deutſch-engliſchen
Park in der Heimath! z. B. in Caſſel, dem Herku-
les gegenüber, oder gar in Wörlitz auf dem feuer-
ſpeyenden Berge weidend. Gewiß eine verdienſtvolle
Idee, die du fruchtbar zu machen ſuchen mußt. Er-
innerſt Du Dich noch Clemens Brentano, als ihm und
dem genialen, liebenswürdigen Schinkel der Graf L ..
die Ausſicht von ſeinem Jagdſchloſſe zeigte, von wo man
eine anmuthige aber flache Waldgegend überſieht, und
nun zu den beiden Herren gewandt, der Graf dieſe etwas
einfältig fragte, auf welche Art wohl hier eine recht
große Verſchönerung anzubringen ſey? Brentano
verfiel in tiefes Sinnen, und nach einiger Zeit ſagte
er langſam, den erwartungsvoll zuhörenden [Gönner]
mit ſeinen kurioſen Augen ernſthaft anſtarrend:
[97] „Wie wäre es, Herr Graf, wenn Sie ein Gebürge
aus Brettern aufführen, und daſſelbe mit blauer
Oelfarbe anſtreichen ließen? — Solches aber, wenn
auch nicht ſo grell und handgreiflich, geſchieht im lie-
ben Vaterlande noch täglich, ſelbſt ohngeachtet des
neuen Berliner Gartenvereins.


Geliebte Julie, willſt Du mit mir nach dem Park
des Marquis Angleſea, Plas Newyd, auf Angleſea
fahren? die Phantaſie-Pferde ſind ſchnell angeſpannt.


Wir paſſiren wieder die Rieſenbrücke, folgen eine
kurze Zeit der Chauſee nach Irland, und ſehen ſchon
von weitem die Säule emporragen, welche das dank-
bare Vaterland dem General Paget, damals Lord
Uxbridge, jetzt Marquis von Angleſea und Vicekönig
von Irland, ſtatt ſeinem in Waterloo gelaſſenen
Beine hier aufgeſetzt hat. Eine halbe Stunde weiter
öffnet ſich das Parkthor von Plas Newyd. Das
merkwürdigſte hier ſind einige Cromlech’s, deren
eigentliche Bedeutung unbekannt iſt, die man aber
für Grabmäler der Druiden hält. Es ſind ungeheure
Steine, gewöhnlich nur drei bis vier, die eine Art
rohen Thorweg bilden. Es giebt deren von ſo koloſſa-
ler Größe, daß man kaum begreift, wie man ſie ohne
die komplizirteſten mechaniſchen Hülfsmittel bewegen,
und in ſolche Höhe hinaufbringen konnte. Der menſch-
lichen hohen Kraft, von unumſchränktem Willen oder
Fanatismus angeregt, iſt indeſſen gar Vieles mög-
lich. Las ich doch einſt, daß ein Schiffs-Capitaine,
der an den Ufern Japans hinfuhr, über die ſich da-
ſelbſt hinziehende Bergkette zwei Junken der größten
Briefe eines Verſtorbenen. I. 7
[98] Art, nicht viel kleiner als unſre Fregatten, durch
Tauſende von Menſchen zu Lande transportiren
ſah.


Die hieſigen Cromlech’s, welche nicht zu den größ-
ten gehören, haben wahrſcheinlich Anlaß zu dem Ge-
danken gegeben, an einer paſſenden Stelle, wo man
unter andern eine ſchöne Anſicht des Snowdon hat,
eine Druiden-Cottage zu bauen. Es iſt aber ein ſelt-
ſames Ding daraus geworden, mit alterthümlichen
und modernen [Gegenſtänden], wie ein Chaos, ange-
füllt. In den kleinen, dunkeln piècen war auf ar-
tige Weiſe Licht durch Spiegelthüren hereingebracht,
die in andern Zimmern wiederum dazu dienten, die
vortheilhafteſten Partieen der Landſchaft, wie unter
Rahmen und Glas, zu faſſen. Im Fenſter des Sa-
lons ſtand überdies ein großer Guckkaſten, eine Ca-
mera obscura
und ein Kaleidoſcop neuerer Art,
welches nicht, wie die alten, gefüllt wird, ſondern
dem jeder Gegenſtand, auf den man es hält, ſobald
man es nur bewegt, zum nie aufhörenden Verände-
rungsſpiele dient. Blumen machen beſonders durch
den ſich ewig verſchieden brechenden Glanz ihrer Far-
ben einen wunderbaren Effekt. Sollteſt Du ein ähn-
liches wünſchen, ſo kann ich Dir es von London aus
leicht ſenden laſſen. Es koſtet 8 Guineen. Das
Schloß und die übrigen Anlagen bieten gar nichts Er-
[wähnungswerthes] dar, werden auch ſelten vom
Eigenthümer beſucht, deſſen Hauptſitz in England
liegt.


[99]

Heute erhielt ich mit großer Freude einen langen
Brief von Dir .......................
................................
............... *)


Es freut mich, daß Du L ....’s Scherze nicht
mißdeuteſt, und ihn nicht mit Frömmel für einen
Gottloſen hällſt. Er macht ſich wohl zuförderſt, nur
über den Köhlerglauben jener Menſchen luſtig, die
ſich von dem Unausſprechlichen, dem Weſen aller
Dinge, das wir nur ahnen, nicht begreifen können,
ein ſonderbares Mittelding von menſchlichem Herren,
Schulmeiſter und dienendem Schutzgeiſte bilden, ſich
ſtets am Kinder-Gängelbande von ihm geleitet glau-
ben, und Alles was ſie ſehen und hören, und ſie
irgend angeht, immer für eine, blos auf ihre We-
nigkeit ſich beziehende, Handlung Gottes halten;
wenn ſie aber gar, z. B. ins Waſſer fallen oder das
große Loos gewinnen, dann Gottes Finger un-
widerſprechlich
darin erkennen, und wenn ſie
einer Gefahr entgehen, Gott ſo dafür danken, als
habe eine fremde Kraft die Gefahr, Gott aber nur
wie ein ſorgſam herbeieilender Wächter, durch ſchnel-
les Eingreifen die Errettung gebracht. Sie möchten
doch bedenken, daß von wo die Rettung kömmt,
7*
[100] auch die Gefahr ſich herſchreibt, wo der Genuß auch
die Qual, wo das Leben auch der Tod. Das Ganze
iſt eben Weltleben, und kann nicht nach Willkühr,
ſondern nur nach unwandelbaren Geſetzen gegeben
und geordnet ſeyn. — Solche kleinliche Anſichten,
als die gerügten, ziehen die Idee der Allmacht zu
unſrer Gebrechlichkeit herab. Danken ſollen wir für
alles Seyn der ewigen Liebe, wäre es auch ohne
Worte, — und kein Gebet vielleicht, kann mehr als
dieſes: in Entzücken verſtummende Dankgefühl —
vom Menſchen dargebracht, der Gottheit würdig
ſeyn; — kindiſch aber iſt es, alle jene alltäglichen
und äußern einzelnen Begebenheiten wie Glücks-
und Unglücksfälle, Reichthum, Armuth, Sterben u. ſ. w.,
die den Naturgeſetzen unterthan ſind, oder von uns
ſelbſt, nach dem Maaßſtab unſrer Kräfte herbeige-
führt werden, immer einer ganz beſondern, und der
Himmel weiß überdieß, wie unnützen! Erziehung
unſrer lieben Individuen durch die Allmacht zuzu-
ſchreiben.


Ferner aber ſpottet er über die Chriſten — die
es ganz und gar nicht ſind, und darunter, ſagt er,
ſtehen als Nummer Eins, nicht ſogenannte Atheiſten
(überhaupt eine ſinnloſe Benennung) nicht einmal
wahre Fanatiker, ſondern jene heilloſe Race der mo-
dernen Frömmler, die entweder nervenüberreizte
Schwächlinge, *) oder Heuchler der gottloſeſten Art
[101] ſind von Jeſus erhabener Reinheit entfernter als der
Dalai Lama. Sie ſind die wahren Phariſäer, und
zugleich Händler in der Kirche, die Chriſtus heute
noch zum Tempel hinausjagen würde, und die, wenn
er unter andrem Namen wieder erſchiene, zuerſt
rufen würden: Kreuziget ihn! *)


In allem dieſen muß ich ſelbſt L … ziemlich bei-
ſtimmen, wenn auch bei dem Gegenſtand der erſten
Bemerkungen des vorliegenden Briefes jede Anſicht
nur Hypotheſe bleiben, und in der Wahrheit Alles
viel anders ſeyn muß, als wir es überhaupt zu er-
gründen fähig ſind. Hätten wir es wiſſen können
und ſollen, ſo würde der Schöpfer unſres Daſeyns
*)
[102] auch dies uns offenbart, und zwar ſo unbezweifelt
offenbart haben; als wir es mit Beſtimmtheit wiſ-
ſen, daß wir fühlen, denken und ſind. Was uns nö-
thig war, iſt uns im Innern offenbart, und dies
haben von jeher die größten Geiſter der Erde in mehr
oder minder erleuchteten Worten ausgeſprochen.


Daß die Menſchheit nicht wie eine willenloſe Ma-
ſchine ſtille zu ſtehen, oder im Kreiſe ſich ewig um-
zudrehen brauche, ſondern weiter ſchreite, und aus
ſich ſelbſt fort werde, bis ſie einſt ihren möglichen
Lebenscyclus geendigt, und ihre höchſte Perfektibi-
lität erreicht hat, daran zweifele ich keinen Augen-
blick. Meine Hypotheſe würde dabei nur die ſeyn,
daß die Erde, gleich dem einmal vom Stapel gelaſſe-
nen Schiffe, unter dem Schutz und Zwange unwan-
delbarer Naturgeſetze, nun ihrer eignen Mannſchaft
überlaſſen bleibe. Wir ſelbſt machen hinfort unſer
Leben (ſo weit es vom Menſchen und nicht von jenen
Geſetzen abhängt) ſo wie unſre Geſchichte, im Gro-
ßen wie im Kleinen, durch unſre eigne moraliſche
Kraft oder Schwäche. Keine beſonders eingreifende
Macht iſt meines Erachtens anzunehmen, die z. B.
Napoleon einen harten Winter in Rußland ſchickt,
um ihn zu ſtürzen, ſondern Napoleon ſtürzt an dem
fehlerhaften Prinzip das ihn ſelbſt leitet, und wel-
ches auf die Länge, an dieſer oder jener ſcheinbaren
Urſache, immer untergehen muß. Das Naturereig-
niß tritt, in Bezug auf ihn, nur zufällig ein, an ſich
aber ohne Zweifel in der nothwendigen Folge der
Geſetze, denen es unterworfen iſt, wenn dieſe Geſetze
[103] uns gleich unbekannt ſind. Aus eben dem Grunde
wird es dem Guten, Fleißigen, Sparſamen, Klu-
gen ꝛc. in der Regel der liebe Gott gut gehen, und
vieles was er wünſcht gelingen laſſen, dem Thoren
und Böſen aber, der ſich in Krieg mit der Welt
ſetzt, wird es nicht ſo gut ergehen. Dem, der die
Hand im Eiſe liegen läßt, wird ſie der liebe Gott
höchſt wahrſcheinlich erfrieren, und dem der ſie ins
Feuer hält verbrennen laſſen, es müßte denn der
unverbrennbare Spanier ſeyn. Wer zu Schiffe geht,
wird zuweilen vom lieben Gott die Schickung des
Ertrinkens zugetheilt erhalten, wer aber nie das
Land verläßt, den wird der liebe Gott auch gewiß
nie im Meere umkommen laſſen. Daher heißt es
auch mit Recht: Hilf Dir ſelbſt, und Gott wird Dir
helfen. Die Wahrheit iſt, daß Gott uns ſchon von
vornherein geholfen hat. — Das Werk des Meiſters
iſt vollendet und, ſoweit es beabſichtigt war, voll-
kommen. Es braucht daher keiner fernern extraordi-
nairen Nachhülfe und Corrigirung von oben. In
unſre eignen Hände iſt für jetzt die weitere Entwick-
lung gelegt. Wir können gut und böſe, klug und
thöricht ſeyn, nicht immer vielleicht wie es die In-
dividuen
frei wollen möchten, aber wie ſie die
vorhergehende Menſchheit herangebildet. Tugend
und Sünde, Klugheit und Thorheit ſind ja über-
haupt blos Worte, die ihre Bedeutung hier erſt durch
die menſchliche Geſellſchaft erhalten, und ohne
ſie gänzlich verlieren würden. Der Begriff des Gu-
ten und Böſen entwickelt ſich offenbar nur in Bezug
[104] auf Andere, denn der Menſch, welcher nie einen
Mitmenſchen ſah, kann weder gut noch böſe handeln,
ja wohl kaum ſo fühlen und denken — er beſitzt
allerdings die Fähigkeit dazu, und dies begründet
ſeine höhere geiſtige Natur, aber nur durch ihm
gleichartige Mitgeſchöpfe kann dieſe in Wirkſamkeit
treten, wie Feuer erſt entſteht, oder ſichtbar wird,
wo brennbare Materie vorhanden iſt. Der Begriff
des Klugen und Thörichten entſteht dagegen ſchon
früher, und auch in Bezug auf unſer eignes Indi-
viduum allein, denn auch der einzelne Menſch, im
Conflikt mit der ſogenannten todten Natur, kann
thöricht ſich ſchaden, oder das Gegebne mit Klug-
heit benutzen, und dies an ſich gewahr werden.
Gut ſeyn heißt alſo in jeder Beziehung nichts andres
als: andre Menſchen lieben und ſich ihren Ge-
ſetzen unterwerfen — böſe aber: ſich nicht an dieſe
Geſetze kehren, das Wohl Andrer für wenig oder
nichts achten, und bei ſeinen Handlungen nur die
eigne momentane Gratifikation vor Augen haben.
Klug ſeyn heißt dagegen nur ſeinen eignen Vor-
theil am geſchickteſten zu bewahren wiſſen — thö-
richt
, ihn zu vernachläſſigen, oder falſch zu beur-
theilen. Wir ſehen alſo ſehr bald, daß gut und
klug, böſe und thöricht, in höchſter Potenz, faſt
ſynonim werden, denn wer gut iſt wird in der Re-
gel ſeinen Mitmenſchen gefallen, von ihnen wieder
geliebt werden müſſen, folglich auch klug, für ſich
den wahrſten Vortheil erlangen, der Böſe dagegen
mit ihnen in ewigen Streit gerathen, indem er zu-
[105] letzt den Kürzeren ziehen, folglich Schaden haben
muß. Hat ſich aber das Moralprinzip noch höher
berangebildet, ſo wird der einzelne tugendhafte
Menſch ſich zwar ein eignes Geſetz ſtellen, dem er
folgt, unbekümmert um Vortheil, Gefahr oder Mei-
nung Anderer. Aber die Grundlage dieſes Geſetzes
wird immer das ſeyn, was ich eben geſchildert, Be-
rückſichtigung des Wohlſeyns der Mitmenſchen und
daraus abgezogne Pflicht, die von nun an dem ſelbſt
vorgezeichneten Wege konſequent folgt. Aber auch
dann giebt die innere Ueberzeugung, dieſe Pflicht
erfüllt zu haben, dem geiſtigen Menſchen größere
Befriedigung als alle irdiſchen Güter ihm gewähren
könnten, und es bleibt daher, in einer wie der an-
dern Beziehung, und in jedem Stande der Bildung,
wahr: daß es zugleich die höchſte Klugheit iſt, gut,
die größte Thorheit, böſe zu ſeyn.


Aber freilich treten hier, durch das Gewirr des
Lebens, noch vielfache Nüancen ein. Man kann,
für das Irdiſche oder Aeußere, ſehr wohl durch grö-
ßere Klugheit den Schein erlangen, ohne Realität.
Man kann andere Menſchen täuſchen, und ihnen ſo-
gar glauben machen, man thue ihnen wohl, ver-
diene ihre Achtung und ihren Dank, wenn man ſie
doch nur zu Werkzeugen ſeines eignen Vortheils be-
nutzt, und ihren bitterſten Schaden herbeiführt.
Thorheit bringt nur zu oft die entgegengeſetzte Wir-
kung hervor, nämlich Andere Böſes und üble Mo-
tive vorausſetzen zu laſſen, wo das Gegentheil ſtatt
findet. Aus dieſem folgt ganz natürlich die, auch
[106] durch die Erfahrung, überall begründete, wenn
gleich ſchmerzliche Wahrheit: daß in den irdiſchen
Verhältniſſen
es dem Individuo noch gewiſſeren
Schaden bringt, thöricht, als bös und ſchlecht zu ſeyn.
Die äußern Folgen des Letzteren können durch Klugheit
aufgehalten, ja ganz abgewendet werden, nichts aber
wendet die Folgen der Thorheit ab, die fortwährend
gegen ſich ſelbſt arbeitet. Das Bedürfniß und
die Erfindung poſitiver Religionen mögen dieſer Er-
kenntniß, und der daraus folgenden Unzulänglichkeit
der blos irdiſchen Strafgeſetze großentheils ihre Ent-
ſtehung verdanken, namentlich die Lehre der künfti-
gen Strafen und Belohnungen eines Allwiſſenden,
gegen den die Klugheit nicht mehr ausreicht, und
von dem der Thörichte Mitleiden und Compenſation
erwartet, denn wahrlich der Gute und Kluge braucht
keinen weitern Lohn — er findet ihn ſchon reich und
überſchwenglich in ſich ſelbſt. Wer würde nicht ohne
Bedenken Alles hingeben, um die Seligkeit zu ge-
nießen, vollkommen gut zu ſeyn! Es könnte viel-
leicht eine Zeit kommen, wo alle Staats-Religionen
und Kirchen zu Grabe getragen würden, Poeſie
und Liebe aber, deren Blüthe die wahre Religion,
wie Tugend ihre Frucht iſt — müſſen ewig den
menſchlichen Geiſt beherrſchen, in ihrer heiligen Drei-
einigkeit: der Anbetung Gottes als der Urſach alles
Seyns, der Bewunderung der Natur als ſeines ho-
hen Werks, und der Liebe zu den Menſchen als un-
ſere Brüder. Und das allein iſt ja Chriſtus Lehre
— von Keinem reiner, inniger, einfacher und doch
[107] tiefer ausgeſprochen, wenn auch den Formen und
den Vorausſetzungen ſeiner Zeit gemäß — und dar-
um iſt er auch der Kern geworden, an dem ſich
die Frucht der Zeiten anſetzt
, der wahre Ver-
mittler, deſſen Lehre einſt, wie wir hoffen müſſen,
Chriſtenthum in Wahrheit, nicht blos dem Namen
nach werden wird . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .


(Hier befindet ſich eine Lücke in dem brieflichen
Tagebuche, welches erſt mit dem 28ſten wieder be-
ginnt.)



Da das Wetter ſich aufklärte, und die Freunde,
die ich erwartete, nicht kamen, ſo beeilte ich mich,
die erſten Sonnenblicke zu benutzen, um noch tiefer
in das Gebirge einzudringen, und fuhr daher gegen
ſieben Uhr Abends, ohne Diener, und nur mit eini-
ger Wäſche, nebſt einem Wechſelanzug in meinem
leichten Mantelſacke, verſehen — in einem irländi-
ſchen carr, mit einem Pferde beſpannt, dem Berg-
paſſe von Capel Cerrig zu. Dieſe Wagen beſtehen
aus einem offnen Kaſten, der auf zwei Rädern ſteht,
auf vier horizontalen Federn ruht, und zwei einan-
der gegenüberliegende Sitzbänke enthält, wo vier
Perſonen bequem Platz finden. Von hinten ſteigt
man ein, da die Thüre zwiſchen den Rädern ange-
bracht iſt; das Ganze iſt ſehr leicht und bequem.


[108]

Der Moment war außerordentlich günſtig. Faſt
eine Woche langer Regen hatte alle Waſſerfälle,
Flüße und Bäche ſo angeſchwellt, daß ſie ſich in ihrer
größten Schönheit zeigten, Bäume und Gras hatten
ihr ſaftigſtes Grün angelegt, und die Luft war
rein und durchſichtig wie Cryſtall geworden. Ich be-
wunderte die reichen Maſſen farbiger Bergblumen
und Eriken, welche in den Felſenſpalten wucherten,
und bedauerte, zu wenig von der Botanik zu verſte-
hen, um ſie noch mehr als mit den Augen genießen
zu können. Bald indeß erreichte ich die ernſteren
Regionen, wo von Blumen nur noch wenig, von
Bäumen gar nicht mehr die Rede iſt. An dem Waſ-
ſerfall von Idwal ſtieg ich aus, um einen kleinen
See zu beſichtigen, der ſich nicht übel für den Ein-
gang des Hades paſſen würde.


Die troſtloſe Oede und Wildheit des tiefen Felſen-
keſſels iſt wahrhaft Schauder erregend. Ich hatte
geleſen, daß es möglich ſey, von hier über den Tri-
vaen (der Berg mit den Baſaltſäulen, von den ich
Dir geſchrieben) und die ihn umgebenden Felſen in
gerader Linie nach Capel Cerrig zu gelangen, die
Paſſage war aber als ſehr ſchwierig, jedoch auch
äußerſt ſchön geſchildert. Da nun eben ein Schaf-
hirte von den Bergen herabkam, ſo fühlte ich große
Verſuchung mit dem Führer, den mir der Zufall ſo
gefällig bot, dieſe Tour zu verſuchen. Ich ließ ihm
meinen Wunſch durch den Poſtillon verdollmetſchen,
er meinte aber, es ſey nun ſchon zu ſpät, und das
Herunterſteigen auf der andern Seite bei Nacht zu
[109] gefährlich; auf weiteres Dringen äußerte er jedoch,
wenn ich ihm rüſtig folgen könne, ſo glaube er, daß
wir, bei dem zu erwartenden Mondſcheine, wohl in
zwei Stunden den Weg zurücklegen könnten, es gäbe
aber ſehr mißliche Oerter zu paſſiren. Ich hatte auf
dem Snowdon meine Kraft zu gut wieder kennen
gelernt, um mich davor zu fürchten, machte daher
alles richtig, und befahl nur zur Vorſicht dem Po-
ſtillon, eine Stunde auf mich zu warten, im Fall
ich doch unverrichteter Sache zurückkehren müßte,
und dann erſt weiter auf der Landſtraße nach Capel
Cerrig zu fahren.


Wir mußten nun gleich von Anfang an ſehr ſteil,
über ſumpfigen Boden und zwiſchen enormen, ein-
zeln zerſtreuten Felſenblöcken, aufwärts klettern.
Es mochte [ohngefähr] halb acht Uhr ſeyn. Von ir-
gend einem gebahnten Fußwege war keine Spur,
der Trivaen erhob ſeine grotesken Gipfel, wie eine
crenelirte Mauer, vor uns, und nirgends war ab-
zuſehen, wie wir da hinüber kommen ſollten. Hier
thaten uns indeß die Bergſchnucken wahre Liebes-
dienſte, denn ſie zeigten, vor uns klimmend, dem
ſelbſt oft ungewiſſen Führer, häufig die gangbarſten
Stellen an. Nach einer Viertelſtunde ſehr ermüden-
den Steigens, mit manchem ſchwindelnden Blick in
die Tiefe, wogegen man aber bald gleichgültig wird,
kamen wir auf ein kleines, nur aus einem Sumpfe
beſtehendes, plateau, wodurch wir, bis an die
Kniee in den weichen Mohr ſinkend, waden mußten.
Hier war eine ſchöne Ausſicht auf das Meer, die
[110] Inſel Mann, und das am Horizont dämmernde Ir-
land. Gleich hinter dem Sumpf erwartete uns wie-
der ganz andrer Boden, nämlich eine vielfach ge-
furchte, ſchräg liegende, compacte Steinwand, an
der wir mit Füßen und [Händen] herankriechen muß-
ten. Die Sonne war ſchon hinter einen ſeitwärts
ſtehenden hohen Berg geſunken, und röthete jetzt die
ganze wilde Gegend, wie die Wand an der wir hin-
gen, mit dunkelrother feuriger Gluth, einer der
wunderbarſten Effecte, die ich je vom Sonnenlicht
geſehen. Es glich einer Theaterdekoration der Hölle.
Jetzt ging es noch durch einen angeſchwollnen Berg-
ſtrom, über den eingeſtürzte Blöcke eine natürliche
Brücke geformt hatten, und dann abermals an nack-
ten Felſen, ohne alle Beimiſchung von Erde, hinan,
bis wir endlich den hohen Kamm erreichten, der ſo
lange vor uns geſtanden, und wo ich das Ende al-
ler Beſchwerlichkeit erwartete. Ich war daher nicht
wenig betreten, als ich von neuen eine andere berg-
tiefe Schlucht vor mir ſah, in die wir erſt hinab,
und dann wieder hinauf mußten, denn auf der, den
kürzeren Weg zeigenden, halbmondförmigen Kante
des Kammes, hätte kein menſchlicher Fuß lange haf-
ten können. Wir hatten nun die frühere Ausſicht
nach dem Meere hin ganz verloren, und ſahen da-
gegen landeinwärts, wo das Gebürge von Wales in
ſeiner ganzen Breite, Gipfel an Gipfel ſich reihend, vor
uns lag — einſam, ſchweigend und gewaltig! Das
ſterile Thal unter uns war mit nichts als umherge-
ſchleuderten Rieſenſteinen angefüllt, und wahrlich:
[111] die Revolution, die einſt hier mit Felſen wie mit
Bällen geſpielt, muß ein Schauſpiel für [Götter] ge-
weſen ſeyn! Während ich, in Betrachtungen verlo-
ren, dieſes Chaos anſtaunte, hörte ich nahe über
mir einen gellenden, mehrmals wiederholten Schrei,
und ſah, aufblickend, zwei majeſtätiſche Adler mit
ausgebreiteten Schwingen über uns ſchweben, eine
Seltenheit in dieſen Gebürgen. Willkommen meine
treuen Wappenvögel! rief ich, hier wo es nur harte
Felſen, aber keine falſchen Menſchenherzen giebt —
wollt ihr mich wie der Vogel Rock in ein Diaman-
tenthal entführen, oder Kunde aus der lieben fer-
nen Heimath bringen? die Thiere ſchienen mit ih-
rem fortwährenden Rufe antworten zu wollen, lei-
der aber bin ich in der Vögelſprache noch nicht hin-
länglich bewandert, und ſo verließen ſie mich, im-
mer höher und höher kreiſend, bis ſie zwiſchen den
[Säulen] des Trivaen verſchwanden. Dieſe wiederhol-
ten Attentionen der Raubthiere für mich, ſehe ich
als ein gutes Zeichen an.


Es war höchſt unbequem, daß ich mit meinem
Führer nicht mehr als mit den Adlern ſprechen
konnte, denn er verſtand kein Wort engliſch. Wir
mußten uns daher nur durch Zeichen verſtändlich
machen. Auf dieſe Weiſe zeigte er jetzt, nachdem wir
eine Weile verhältnißmäßig ganz bequem hinabge-
ſtiegen waren, mit der Hand auf den Ort, wohin
wir nun unſere Schritte lenken ſollten. Hier waren
wir an die „böſe Paſſage“ gelangt. Dieſe beſtand
nämlich in einer ganz ſteilen Wand, von gewiß nicht
[112] weniger als 600 Fuß Tiefe, und über dieſer einen
faſt eben ſo ſteilen Erdabhang, vom Regen abge-
waſchen und mit kleinen loſen Steinen beſäet. Ue-
ber den letztern ſollten wir, wohl 1500 Schritt lang,
hinwegſchreiten. Ich hätte dieſes Unternehmen früher
für unausführbar gehalten, von der Nothwendigkeit
gezwungen, fand ich es jedoch, nach den erſten ängſt-
lichen Schritten, ganz leicht. Es ſah allerdings
halsbrechend aus, aber die vielen Steine und die
feuchte weiche Erde gaben einen feſtern Tritt als ſie
erwarten ließen. Ueberhaupt klingen dieſe Dinge
auch in einer nicht übertriebenen Beſchreibung im-
mer etwas gefährlicher als ſie wirklich ſind. Es iſt
ganz wahr, daß ein Fehltritt hier ohne Rettung
Verderben brächte, aber man hütet ſich eben ſchon
vor einem ſolchen. So müßte man auch im Waſſer
ertrinken — wenn man zu ſchwimmen aufhörte.
Wer alſo gehen kann, und einen feſten Kopf hat,
kann dergleichen ganz ohne Gefahr unternehmen.


Die Dämmerung fing nun an einzutreten, undeut-
licher wurden die Berge, und unter uns lagen, wie
ein Paar dampfende Suppenterrinen, die Nebel
aushauchenden Seen von Capel Cerrig und Beth-
gellert. Wir hatten den höchſten Punkt erreicht,
und eilten ſo viel wir konnten nach dem erſten der
genannten Seen hinab. Noch einmal durchwadeten
wir einen Sumpf, und kletterten wieder über Felſen
hinunter, bis wir an den, am wenigſten ſchwierig
ausſehenden, und dennoch ermüdendſten Theil des
Weges ankamen, eine glatte und feſte Raſenalp,
[113] ſehr ſteil, und mit einem Steinuntergrund, der an
manchen Stellen in weiten Platten zu Tage kam.
Auf dieſem abſchüſſigen Boden mußten wir oft ganze
Stellen mehr hinabgleiten als ſteigen, und die An-
ſtrengung wurde zuletzt ſo ſchmerzhaft in den Knieen,
daß ſowohl der Führer als ich, in der [Dämmerung]
einigemal fielen, ohne uns jedoch Schaden zu thun.
Die hohen umſtehenden Berge hatten den Mond bis-
her verdeckt, der nun groß und blutroth über ihre
Wellenlinien heraufſtieg. Bald darauf verloren wir
ihn jedoch wieder, und erſt nahe am Ziel ſahen wir
ihn von neuem, jetzt goldgelb, klein und klar, ſich
im ſtillen Gewäſſer des See’s ſpiegeln, an deſſen
Ufer unſer Gaſthof liegt. Der letzte Theil des We-
ges wurde auf ebner Landſtraße zurückgelegt, und
bot, im Vergleich mit dem vergangenen, eine ſolche
Bequemlichkeit dar, daß ich darauf [hätte] gehend ſchla-
fen können. Es war als wenn ich willenloſe Schritte
machte, von einem Uhrwerk fortgetrieben, wie die
Kinderſpielwerke welche aufgezogen, unaufhaltſam
auf dem Tiſche umherfahren. In 1 ¾ Stunden hat-
ten wir die Tour vollbracht, und ganz ſtolz auf
dieſe That, zog ich in Capel Cerrig ein, deſſen Wirth
kaum glauben wollte, daß wir den Weg in ſo kur-
zer Zeit bei Nacht zurückgelegt. Ich hatte mich in
den letzten Jahren ſo verweichlicht, daß ich mich faſt
alt geworden glaubte, aber der heutige Tag bewies
mir zu meiner Freude, daß ich nur Anlaß brauche,
um Geiſt und Körper wieder friſchkräftig zu fühlen,
Gefahr und Beſchwerde zeigten ſich ohnedem immer
Briefe eines Verſtorbenen. I. 8
[114] als das mir am beſten zuſagende Element, wenn die
Umſtände mir beides beſcheerten.


Mein post boy war noch nicht mit dem Wagen
angekommen, und ich mußte daher für den nöthigen
Umzug die Garderobe des dicken Wirthes benutzen,
in deſſen Kleidern ich ſeltſam genug ausſehen mag,
während ich, am Kamin die meinigen trocknend,
Dir hier abwechſelnd ſchreibe, und meinen Abend-
thee verzehre. Morgen ſoll ich ſchon um 4 Uhr aus
den Federn um — rathe was — aufzuſuchen: Mer-
lins des Zauberers Felſen, wo er dem König Vor-
tigern die Geſchichte der kommenden Zeiten prophe-
zeihte, und wo ſeine Wunderſchätze, der goldne
Thron, das diamantne Schwerdt noch heut zu Tage
in verborgnen Höhlen begraben liegen. Da gäbe
es noch eine neue, weit ſicherere Spekulation für die
Bergwerksunternehmer in London und Elberfeld!



Bewundere, liebſte Julie, mit mir die Thäler Mer-
lin’s, ſie ſind in der That bezaubernd — aber
an ſeinen Felſen, an Dinas Emris, werde ich ge-
denken! Doch laß mich in der Ordnung [erzählen].


Ich ſtand alſo, obgleich erſt um 1 Uhr zu Bett
gegangen, pünktlich um 4 Uhr auf, und in 10 Mi-
nuten war ich reiſefertig, denn ſobald man Diener
und Luxus abgeſtreift, geht alles leichter und ſchnel-
[115] ler von ſtatten. Das gute Wetter hatte ſich bereits
wieder in den gewöhnlichen Nebel dieſer Gebürge
verwandelt, und mein Regenſchirm, den ich geſtern
als Alpenſtock gebraucht, that mir heute, als Ob-
dach, gute Dienſte im offnen Wagen, ſo wie mein
alter 15jähriger Mantel, die geehrte Reliquie, in
dem ich die Franken mitbekriegen half, und den aus
hohem Luftballon ich einſt mit allem übrigen Ballaſt
herabwerfen mußte, um die Luftfahrt nicht im Waſ-
ſer zu enden.


Im Anfang war die Straße ziemlich todt und un-
intereſſant, bis wir an den Fuß des Snowdon ka-
men, der, [obgleich] eine Wolke unter ihm uns be-
regnete, ſein Haupt doch zu derſelben Zeit großmü-
thig enthüllte. Er ſieht an dieſer Stelle beſonders
majeſtätiſch aus, da er ſich faſt ſenkrecht aus dem
tiefen Thal von Gwynnant erhebt, das hier ſeinen
Anfang nimmt. Dieſes reich bewäſſerte Thal ver-
bindet die blühendſte Vegetation mit den erhaben-
ſten Anſichten. Die höchſten Berge von Wales
gruppiren ſich um daſſelbe in mannichfaltigen For-
men und Farben. Der Fluß, welcher es durchſtrömt,
bildet in ſeinem Lauf zwei Seen, die nur wenig
Breite, aber deſto mehr Tiefe haben, denn das Thal
iſt durchgehends eng, welches die Größe der Coloſſen
darum her, deſto mehr hervorhebt. In dem üppig-
ſten Theile deſſelben beſitzt ein Kaufmann aus Ches-
ter einen Park, den er nicht mit Unrecht „das Eli-
ſium“ benannt hat. An einem hohen, dicht mit
Wald bedeckten Bergrücken, aus deſſen dunklem
8*
[116] Grün vielfache, in ſeltſamen Geſtalten wetteifernde
Felſen hervortreten, ſteht über dem Bergſtrom auf
lichter Wieſe die anſpruchloſe, freundliche Villa.
Vor ihr breitet ſich in der Tiefe der See aus, und
hinter dieſem ſchließt Merlins, ganz iſolirt daſtehen-
der, Wunderfelſen ſcheinbar das Thal, welches hier
eine jählinge Biegung macht. Doppelt unvergeßlich
bleibt mir Dinas Emris, einmal wegen ſeiner ro-
mantiſchen Schönheit, und zweitens weil ich auf
ihm wörtlich zwiſchen Leben und Tod hing. Ob-
gleich nicht höher als 4 — 500 Fuß, wird er doch
nur von einer Seite als zugänglich angeſehen. Ich
hatte einen kleinen Knaben als Führer mitgenom-
men, der aber, an Ort und Stelle angekommen,
ſeiner Sache nicht recht ſicher ſchien. Der Weg, den
er durch das Eichengeſtrüpp nahm, ſchien mir gleich
von Anfang an, wegen ſeiner ungemeinen Steilheit
verdächtig, indeſſen beruhigte er meine Beſorgniß in
gebrochenem Engliſch, und ich konnte nichts andres
thun als der kleinen Gemſe, ſo gut als möglich,
folgen. Merlin ſchien uns zu zürnen, es hatte ſich
ein heftiger Wind erhoben, und die Sonne, die uns
einen Augenblick angeglänzt, lagerte ſich hinter
ſchwarze Wolken, das lange naſſe Gras aber, wel-
ches über die Steinblöcke hing, machte das Klettern
ſehr gefährlich. Den barfußen kleinen Jungen focht
dieß indeß nicht ſehr an, deſto mehr meine von geſtern
noch etwas ſteifen Glieder. Je höher wir uns em-
por arbeiteten, je ſteiler wurden die Felſen, oft war
es nur, mit Hülfe der aus den Spalten wachſenden
[117] Sträucher, und den Blick hinter ſich beſtens vermei-
dend, möglich, ſich heraufzuſchwingen. Endlich be-
merkte ich, daß der Knabe ſelbſt ganz unſchlüſſig
ward und, auf dem Bauche kriechend, ſich bald nach
der, bald nach jener Richtung ängſtlich umſah. Wir
wanden uns nun noch durch einige Spalten rechts
und links, und ſtanden dann plötzlich auf der Spitze
einer glatten hohen Wand, mit kaum ſoviel Raum,
um den Fuß darauf zu ſetzen, und über uns nichts
als eine ähnliche Felsmauer blos mit einzelnen
Grasbüſcheln bewachſen, welche zum Gipfel führte,
den ſie überall zu umziehen ſchien.


Der Anblick war entmuthigend, das Kind fing an
zu weinen, und ich überlegte mit klopfendem Her-
zen, was zu thun ſey. Gern, ich geſtehe es, wäre
ich wieder zurückgeklettert und hätte Merlins
Felſen allen Hexen und Gnomen überlaſſen, wenn
ich es für möglich gehalten hätte, ohne Schwindel
da wieder hinunter zu kommen, wo wir heraufgeſtie-
gen, oder nur denſelben Weg wieder aufzufinden.
Vor uns war aber keine Ausſicht weiter zu gelan-
gen, als die Mauer auf gut Glück zu eskaladiren.
Der Knabe, als der Leichtere und Gewandtere,
mußte alſo voran, ich folgte ihm auf dem Fuße,
und an die Grasbüſchel als einzige Stütze uns hal-
tend, Hände und Füße wie Klauen in jede kleine
Fuge einſchlagend, erſtiegen wie ſo, zwiſchen Him-
mel und Erde hängend, glücklich die halsbrechende
Zinne. Ich war gänzlich erſchöpft, als ich oben an-
kam, und faſt ohnmächtig. Ein Kühnerer mag über
[118] mich ſpotten, aber wenn ein Grasbüſchel, eine Wur-
zel in meiner Hand jetzt zu wanken ſchien, und los-
zureißen drohte, ehe ich mich noch daran hinaufge-
ſchwungen, fühle ich was Entſetzen heißt. Als ich
nun, tiefathmend, auf dem Raſen lag, erblickte ich
eine große ſchwarze Eidechſe, mir gegenüber gelagert,
die mich höhniſch anzublinzeln ſchien — als ſey ſie
der boshafte Zauberer ſelbſt im Morgennegligé. Ich
ließ ſie indeß gern gewähren, und war guter Dinge
ſo wohlfeilen Kaufs davon gekommen zu ſeyn, ob-
gleich ich dem kleinen „Imp,“ der mich, wie ein
neckender Berggeiſt, in die Gefahr gebracht, mit al-
len Schreckniſſen drohte, wenn er nicht zur Rückkehr
den rechten Weg ausfindig mache. Während ſeiner
Abweſenheit beſah ich die Ueberreſte der Area, wie
ſie hier genannt wird, die demolirten Mauern, wo


„Prophetic Merlin sat, when to the British King

The changes long to come, auspiciously he told.“

In dem Steinhaufen wühlte ich umher, in die
verfallnen Gewölbe kroch ich — aber auch mir blie-
ben, gleich andern guten Leuten, die Schätze ver-
borgen! Ohne Zweifel war der rechte Moment noch
nicht gekommen — dafür aber erſchien frohlockend
der Knabe und rühmte die Schönheit des endlich
aufgefundnen Weges. War dieſer nun auch nicht
ganz ſo eben und leicht wie der der Sünde, ſo ge-
hörte er doch wenigſtens nicht zu den inacceſſiblen,
wie der frühere. Merlins Ungnade verfolgte uns
aber noch ferner, in ſtrömenden Regengüſſen, die
[119] mich hier in Bethgellert wieder zwingen, den Kamin
zur Trockenanſtalt zu benutzen. Gar anmuthig iſt
der unter hohen Bäumen völlig verſteckte Gaſthof,
in dem ich ruhe. Nur vor meinem Fenſter grünt
eine friſch gemähte Wieſe, und dahinter brüſtet ſich
ein ungethümer Berg, von oben bis unten mit hoch-
rother Erica bedeckt, die, ohngeachtet des Streifre-
gens und des bedeckten Himmels, wie das Morgen-
roth leuchtet. Indeß man mein Mittagseſſen bereitet
(denn ich eſſe heute, wie Suwaroff, früh 8 Uhr zu
Mittag) ſpielt ein Harfner, beſcheidnes Ueberbleibſel
der welſchen Barden, originelle Weiſen auf ſeinem
uralten Inſtrument. Er iſt blind, und auch ſein
Hund iſt blind, der unermüdlich aufwartend neben
ihm auf den Hinterbeinen ſteht, bis man ſeinem
Herrn ein Stück Geld und ihm ein Stückchen Brod
geſpendet. Beth Gellert heißt Gellerts Grab, denn
Bett und Grab wird poetiſch in der welſchen Sprache
durch daſſelbe Wort ausgedrückt. Daß hier nicht
von dem deutſchen Proſaiker die Rede iſt, hat Dein
Scharfſinn ohne Zweifel ſchon errathen, es handelt
ſich ganz im Gegentheil nur um die Ruheſtätte ei-
nes Windhundes, deſſen Geſchichte aber ſo rührend
iſt, daß ich ſie Dir erzählen will, ſobald mein
déjeuné dinatoire wieder abgetragen ſeyn wird,
denn die Angſt auf dem behexten Felſen hat mich
verzweifelt hungrig gemacht.


[120]

Die verſprochene Geſchichte alſo iſt folgende:


Llewellin der Große, Prinz über Wales, hatte
einen Lieblingshund, mit Namen Gellert, ein Schre-
cken der Wölfe, aber die Freude ſeines Herren. Als
Llewellin ſich indeß ſpäter mit einer jungen und ſchö-
nen Gemahlin [vermählte], trat der Hund, wie billig,
in den Hintergrund, blieb jedoch, wenn auch weni-
ger geliebt, mit Hundestreue (car les hommes ne
sont pas si bêtes!
) ſeinem Herrn ſtets mit gleicher
Anhänglichkeit ergeben. Llewellin’s innigſte Wünſche
wurden erhört, und ein holder Knabe [krönte] ſein
eheliches Glück. Ueberall mußte nun dem überſeeli-
gen Vater der Säugling folgen, deſſen Wiege im-
mer neben ſeinem eigenen Lager aufgeſchlagen ſtand.
Einſt hatte, auf einer Jagdſtreiferei im wilden Ge-
bürge, die Fürſtin, durch Unpäßlichkeit verhindert,
ihren Gemahl nicht begleiten können, dennoch
durfte ſein Sohn, von einer Amme gewartet, ihn
nicht verlaſſen. Man hatte in einer ſchlechten Hütte
übernachtet, und früh auf die Jagd ausziehend,
übergab Llewellin den Knaben auf die wenigen
Stunden der Amme und der Wache ſeines treuen
Gellert, keine Gefahr für ihn, in dem tiefen Frie-
den, der damals im Lande herrſchte, beſorgend. Die
Amme, von gleicher Sicherheit bethört, benutzte
ſchnell die Freiheit, ihren nahen Liebhaber zu ſehen,
nur der Hund folgte ſtreng gehorſam ſeiner Pflicht.
Er ward dadurch des Knaben Retter — denn ein
[121] Wolf, die Einſamkeit des Hauſes bemerkend, hatte
ſich herangeſchlichen und mochte ſchon das ſchlafende
Kind als ſichere Beute anſehen, als Gellert hervor-
ſprang, und nach langem Kampf, ſelbſt ſchwer ver-
wundet, den Feind bezwang und tödtete. Im Blute
ſchwimmend, legte er ſich zu der Wiege Füßen, ab-
wechſelnd des Knaben zarte Händchen und ſeine eig-
nen Wunden leckend. In dieſem Augenblicke kehrt
Llewellin, noch mit dem Jagdſpieß in der Hand zu-
rück, tritt in das Zimmer nnd ſieht mit Entſetzen
die Stube, ſeinen Sohn mit Blut bedeckt, und den
Hund über die Wiege gebeut. Von Schreck und
Zorn bethört, glaubt er, dieſer habe ſein Kind ge-
mordet, und wüthend ſtößt er ihm den wiederge-
hackten Spies in die treue Bruſt. Die Augen kla-
gend auf ſeinen Herren gerichtet, und in letzter Un-
terwürfigkeit noch einmal liebkoſend mit dem Schweife
wedelnd, verſchied mit einem herzzerreißenden Schmer-
zensſchrei das arme Thier — und kaum war ſein
letzter Seufzer verhallt, als Llewellin den getödteten
Wolf, ausgeſtreckt am Boden, und ſeinen Sohn,
ſanft lächelnd, in der Wiege erblickte. Der Sage
nach, verfolgte ſeitdem des treuen Gellert’s Schmer-
zenslaut den betrübten Fürſten bei Tag und Nacht,
ſo daß er zu ſeinem Andenken ein Monument er-
baute, auf deſſen Platz noch jetzt eine alte gothiſche
Kirche ſteht, und wo er lange ſtrenge Bußübungen
verrichtete. Später wollte er ſogar ſeine neue Burg
auf dem nahen Merlin’s Felſen aufführen laſſen,
aber nimmer konnte er ſie zu Stande bringen. Was
[122] am Tage gebaut war, fand man in der Nacht wie-
der in die Erde geſunken — nie erlaubte, damals
und ſeitdem, der neidiſche Zauberer, durch fremde
Behauſung ſeinen Wohnplatz zu entweihen.


Die Sonne ſcheint wieder, denn hier dauert der
April das ganze Jahr, et je pars. Adieu.



Während meines Diner’s in Bethgellert hatte ich
den Harfner fleißig aufſpielen laſſen, und mich, wie
ein Kind, mit ſeinem Hunde amüſirt, dem das
Stehen auf zwei Beinen ſo zur andern Natur gewor-
den war, daß er noch beſſer wie der gerupfte Hahn,
als Platoniſcher Menſch hätte figuriren können. Die
vollkommene Aiſance ſeiner Stellung und ſein ern-
ſtes Geſicht dabei, hatten etwas ſo Lächerliches, daß
man ihm nur in Gedanken einen Unterrock überzu-
ziehen und eine Tabacksdoſe in die Pfote zu geben
gebraucht hätte, um darauf zu ſchwören, es ſey eine
alte blinde Dame. Wie dieſer Hund dem heroiſchen
Gellert, ſo mögen auch die modernen Welſchen den
alten gleichen. Ohne die Energie und Betriebſam-
keit der Engländer, noch weniger von dem Feuer
der Irländer beſeelt, vegetiren ſie arm und im Ver-
borgnen zwiſchen Beiden. Die Einfachheit der Berge
aber iſt ihnen geblieben, und ſie ſind weder ſo grob,
noch prellen ſie ſo unverſchämt wie die Schweizer.
Point d’argent, point de Suisse iſt hier noch nicht
[123] anwendbar. Im Gegentheil lebt man ſo wohlfeil,
daß bankerotte Engländer häufig hier ihre Lebenstage
beſchließen, wo ſie freie Jagd, den Gebrauch eines
Pony, nebſt guter Koſt und Wohnung, für 50 Gui-
neen des Jahres finden [können].


Die Umgebung von Bethgellert iſt die letzte Fort-
ſetzung des herrlichen Thales, welches ich Dir beſchrie-
ben, und das in dieſem Augenblicke durch hundert
Waſſerfälle belebt wird, die in allen Bergſchluchten
ſich, weiß und ſchäumend wie Milch, herabſtürzen.
Eine halbe Stunde hinter dem Dorfe, treten die Fel-
ſen ſo eng zuſammen, daß kaum noch Platz für Strom
und Weg neben einander übrig bleibt. Hier wölbt
ſich die Teufelsbrücke, und ſchließt das Thal, oder
vielmehr die Schlucht in die es ausläuft. Von nun
an nähert man ſich wiederum dem Meer, und die
Gegend nimmt eine Zeit lang einen lachenden Cha-
rakter an. In zwei Stunden erreichte ich das von
den Touriſten ſo viel beſuchte Thal von Tan-y-bwlch
(Tannibulck) deſſen Hauptmerkwürdigkeit ein ſchöner
Park iſt, auf zwei felſigen mit Hochwald bewachſenen
Bergen ausgebreitet, zwiſchen welchen ein reißender
Bach ſtrömt, der mannichfaltige Cascaden bildet. Die
Promenade in dieſer Anlage iſt vortrefflich geführt,
und in gehöriger Gradation und Abwechſelung auf
die verſchiedenen Ausſichtspunkte zu gelangen, wo
bald in der Ferne eine Inſel im Meere, dann ein
naher Abgrund mit dem ſchäumenden Waſſerfall, jetzt
ein entfernter Pik, oder ſpäter eine einſame Felſen-
partie unter der Nacht uralter Eichen ſichtbar wird.
[124] Ich wanderte über eine Stunde lang auf dieſen Gän-
gen, war aber ſehr verwundert, das Ganze in ſolchem
Grade vernachläſſigt zu finden, daß ich an den mei-
ſten Stellen im hohen Graſe waten, und mich durch
die verwachſenen Pflanzungen durcharbeiten mußte.
Auch das Wohnhaus ſchien verfallen. Später erfuhr
ich, daß der Beſitzer ſein Vermögen in London im
Spiel eingebüßt! Da ich fürchtete, zu viel Zeit zu
verlieren, gab ich den Beſuch von Feſtinoig und ſei-
ner berühmten Waſſerfälle auf, nahm einen friſchen
sociable*) und Pferde beim Wirth, und machte mich
nach dem 10 Meilen entfernten Tremadoc auf, eine
ſehr belohnende Fahrt, obgleich der Weg der ſchlech-
teſte war, den ich noch in Groß-Britannien angetrof-
fen. Einige Meilen führt er im Meere fort, nämlich
in einem Theil deſſelben, welchen ein reicher Particu-
lier, Herr Maddocks, durch einen ungeheuren Damm
abgeſchnitten, und dadurch ein fruchtbares Terrain,
von der Größe eines Rittergutes, gewonnen hat.
Von dieſem Damme, welcher 20 Fuß hoch und zwei
Meilen lang, genießt man eine der prächtigſten Aus-
ſichten. Das abgeſchnittene Becken formt einen faſt
regelmäßigen Halbzirkel, deſſen Wände von dem gan-
zen Amphitheater des Gebirges gebildet zu ſeyn ſchei-
nen. Hier hat der Kunſtfleiß des Menſchen den
Schleier vom Meeresboden hinweg gezogen, und
ſtatt der Schiffe zieht jetzt der Pflug ſeine Furchen
durch die weite [Fläche] — aber links deckt noch der
[125] unermeßliche Ocean alle Geheimniſſe ſeiner nie ergrün-
deten Tiefe mit ſchäumenden Waſſerbergen zu. Die
Küſte endet für das Auge in geringer Ferne mit ei-
nem kühnen Felſenvorſprung, auf dem die Ruine
des alten Schloſſes Harlech mit fünf verfallenen
Thürmen über die Fluthen hinaushängt. Vorn, am
Ende des Dammes, öffnet ſich dagegen ein freundlich
ſtilles Thal, unter hohen Bergen gelagert, mit einem
kleinen aber belebten Hafen, neben welchem Trema-
doc ſich an die Felſen ſchmiegt.


Uebrigens würdeſt Du, Herzens-Julie, Dich ſchwer-
lich entſchließen können, über dieſen Damm zu fah-
ren, da ſeine Beſchaffenheit ſich eigentlich nur für
Fußgänger eignet. Er iſt, wie ſchon erwähnt, 20
Fuß hoch aus roh übereinander gethürmten, ſpitzen
und kantigen Schieferblöcken ſteil aufgeführt, und
oben nur 4 Ellen breit, ohne irgend etwas das einer
Lehne ähnlich ſähe. Mit Wuth ſtürmt auf der einen
Seite die Brandung gegen ihn, und ſcheuten davor
die Pferde, ſo ſtürzte man ohnfehlbar in die gleich
Piken aufgerichteten Schieferſpitzen. Die Bergpferde
allein können ſolche Pfade ſicher paſſiren, da ſie die
Gefahr zu beurtheilen ſcheinen, und mit ihr vertraut
ſind. Demohngeachtet ſieht man hier ſelten einen
Wagen; nur eine Eiſenbahn für Steinkarren führt
über den Damm, welche das Fahren mit anderm
Fuhrwerk noch bedeutend erſchwert.


Tremadoc ſelbſt ſteht auf früher durch eine gleiche
Operation gewonnenem Meeresgrund. Es iſt auffal-
lend, wie [ähnlich] dieſer, erſt ſeit einigen Jahrhunder-
[126] ten Land gewordene, Strich auf die kurze Diſtanz
den nördlichen Sandgegenden Deutſchlands iſt, welche
vielleicht auch zum Theil kaum über ein Jahrtauſend
vom Meere frei wurden. Das Städtchen ſelbſt und
ſeine Einwohner, als wenn gleicher Boden auch glei-
chen Menſchencharakter [hervorbrächte], war eben ſo
vollkommen den traurigen Oertern jener Länder ver-
wandt. Oede und vernachläſſigt, ſchmutzig, die Men-
ſchen ſchlecht gekleidet, der Gaſthof nicht beſſer als
ein ſchleſiſcher, und nicht weniger unreinlich, und
um nichts fehlen zu laſſen, auch die Poſtpferde welche
ich beſtellte — auf dem Felde, ſo daß ich ſie erſt nach
anderthalb Stunden erlangen konnte. Wie ſie end-
lich kamen, entſprach ihr Ausſehen, der ſchlechte Zu-
ſtand der Geſchirre, wie die Tracht des Poſtillons,
eben ſo treu dem angeführten Modell. Dies gilt je-
doch nur von dieſem, der See abgewonnenen, Diſtrikt;
ſobald man eine halbe Stunde weiter gefahren iſt,
und die umgebenden Höhen wieder erreicht, ändert
ſich die Gegend von neuem zum Fruchtbaren und
Schönen um. Sie hatte freilich das Wilde und Gi-
gantiſche der früheren verloren, aber nach dem langen
Aufenthalt in den Felſenmaſſen that mir dieſer An-
blick wohl, da überdem heute der heiterſte und klarſte
Abend die Landſchaft beleuchtete. Die Sonne glänzte
ſo golden auf den ſmaragdfarbigen Wieſen, bebuſchte
Hügel lagerten ſich ſo friedlich, wie zur Ruhe, um
ein cryſtallhelles Flüßchen, und einzelne Hütten hin-
gen ſo einladend an ihren ſchattigen Abhängen, daß
man ſich gleich für immer dort hätte ni [...]derlaſſen mö-
[127] gen! Ich war dem Wagen zu Fuß vorangegangen,
und überließ mich, unter einen hohen Nußbaum, auf
weichem Mooſe ruhend, mit Wonne meinen Träume-
reien. Wie ſprühende Funken blitzte das Abendlicht
durch die dichtbelaubten Zweige, und hundert kleine
freudig wimmelnde Inſekten ſpielten in den rothen
Strahlen, während im Wipfel der laue Wind in Me-
lodieen ſäuſelte, die dem Eingeweihten verſtändlich
ſind, der ihnen mit ſüßem Entzücken lauſcht. — Der
Wagen kam — noch einmal warf ich den ſehnſüchti-
gen Blick auf das tiefblaue Meer, noch einmal ſog
ich den Duft der Bergblumen in mich — dann zogen
die Pferde den Zögernden raſch in das flache Land
hinab.


Von nun an hörte alles Romantiſche des Weges
in einer wohlgebauten Gegend gänzlich auf, bis ſich
in der Abenddämmerung die Thürme von Caernar-
von Caſtle über den Waldſpitzen zeigten. Hier ge-
denke ich nun einige Tage auszuruhen, nachdem ich
an dem heutigen, von 4 Uhr früh bis Abends 10
Uhr, theils zu Wagen, 74 engliſche Meilen zurückge-
legt habe.



Dieſen Morgen erhielt ich Briefe von Dir, die mich
traurig ſtimmen! Ja wohl haſt Du Recht — eine
harte Prüfung des Schickſals war es, die das bei-
terſte und ruhigſte Glück, das vollkommenſte Ein-
[128] verſtändniß ſtören, und die am beſten in der Welt
zuſammenpaſſenden Gemüther — beide noch obendrein
im behaglichen Schooße ihrer beiderſeitigen Stecken-
pferde — wie ein Sturm das friedliche Meer aufre-
gen, von einander reißen, ja auf eine Zeit faſt geiſtig
zerſtören mußte, den einen Theil zu raſtloſer Wande-
rung, den andern zu troſtarmer Einſamkeit, beide
zu Kummer, Sorge, Schmerz und Sehnſucht verur-
theilend! Aber war der Sturm nicht vielleicht unum-
[gänglich] nöthig für die Meerbewohner, wäre die nie
bewegte Luft ihnen nicht vielleicht noch verderblicher
geworden? Laſſe uns alſo nicht übermäßig trauern,
nichts Vergangenes bereuen, was immer eitel iſt
— nur vorwärts zum Beſſeren laß uns ſtreben, und
auch im ſchlimmſten Falle nicht uns ſelbſt verlieren!
Wie oft aber ſind die eingebildeten Uebel, die ſchwer-
ſten zu ertragen! welche brennende Schmerzen erregt
gekränkte Eitelkeit, welche peinigende Scham Begriffe
falſcher Ehre. Es geht mir nicht beſſer, und oft
möchte ich mir beinah Falſtaffs Philoſophie über die-
ſes Capitel wünſchen. Die Natur hat mir indeſſen
ein anderes koſtbares Geſchenk verliehen, was ich
Dir mittheilen zu können, mich glücklich ſchätzen
würde. Ich finde in jeder Lage ſchnell, und faſt in-
ſtinktmäßig, die gute Seite derſelben auf, und ge-
nieße dieſe mit einer Friſche des Gefühls, einer kind-
lichen Weihnachtsfreude an Kleinigkeiten, die gewiß
bei mir nie veralten wird. Und wo wäre nicht auf
die Länge Gutes dem Uebeln überwiegend beigemiſcht?
Dieſe Ueberzeugung aber iſt der Grundſtein meiner
[129] Frömmigkeit. Unendlich ſind die Gaben Gottes, und
man könnte faſt ſagen: es iſt nicht zu verantworten,
wenn wir nicht glücklich ſind. — Wie ſehr wir es
wirklich ſelbſt in der Gewalt haben, kann jeder ſe-
hen, wenn er auf ſein vergangenes Leben zurück-
blickt, und ſich da überzeugen muß, wie er faſt alles
Uebele ſo leicht hätte zum Guten wenden können.
Wie ich Dir früher und oft ſagte: Wir machen un-
ſer Schickſal ſelbſt — aber freilich uns ſelbſt haben
wir nicht gemacht, und da liegt eine weite, unbekannte
Vergangenheit, über die jedoch ſich den Kopf zu zer-
brechen zu nichts führen würde. Es thue nur jeder
ſein Möglichſtes, mit friſchem Muthe die äußern
Dinge dieſer Welt ohne Ausnahme leicht anzuſehen,
weil die Dinge dieſer Welt wirklich leicht wiegen, im
Guten wie im Schlimmen. Eine beſſere Waffe giebt
es nicht, nur muß man deshalb die Hände nicht in
den Schoos legen. Dein weiblicher Fehler, gute Julie
iſt bei üblen Zeiten, mit einer ſchwachen Art [Fröm-]
migkeit, Dich auf den lieben Gott und ſeine Hülfe
als Deus ex machina allein zu verlaſſen. Damit
aber geht man, wenn dieſe Hülfe endlich doch aus-
bleibt, ſicher zu Grunde. Doch kann Beides, frommes
Hoffen und rüſtiges Thun ſehr wohl mit einan-
der beſtehen, und kein Zweifel ſogar, daß dann das
erſte das zweite gar ſehr erleichtert; denn iſt auch
jene Art Frömmigkeit, wie ſie die Welt gewöhnlich
verſteht, jene ſichere Zuverſicht auf irdiſchen beſondern
Schutz von oben, jenes Bitten um Güter oder gegen
Uebel, nur eine Selbſttäuſchung — ſo iſt es doch
Briefe eines Verſtorbenen. I. 9
[130] eine wohlthätige, ja in unſrer Natur vielleicht be-
gründete, wie wir deren ſo vielen unterworfen ſind,
und die ohnedem, wenn wir wahrhaft an ſie glau-
ben, auch für uns zur individuellen Wahrheit wer-
den. Es ſcheint, unſre Natur habe das Vermögen,
da wo die Wirklichkeit nicht mehr ausreicht, uns eine
eingebildete ſelbſt gemachte, als helfende Stütze,
ſchaffen zu können. So giebt fromme Zuverſicht
auf ſpeziellen Schutz, ſelbſt in jeder Form des Aber-
glaubens, Muth. Wer mit der Ueberzeugung in die
Schlacht geht: durch einen Talisman feuerfeſt zu
ſeyn, — der kehrt ſich an die Kugeln nicht mehr;
höher aber noch wirkt der Enthuſiasmus für Ideen,
die unſer Ich gebietend über die Außenwelt ſtellen,
und ſo begeiſtert ſah man oft [religiöſe] Schwärmer
die unerträglichſten körperlichen Schmerzen an ſich
mit wahrer Wunderkraft vernichten. So bilden ſich
auch Leidende und Gedrückte beſeligende Hoffnungen
einer künftigen Glückſeligkeit, die ſie ſchon hier entſchä-
digt — alles Wirkungen des mächtigen Triebes der indi-
viduellen Selbſterhaltung im weiteſten Sinne, der
das oben erwähnte Vermögen unſrer Natur in An-
wendung bringt, ſobald er es gebraucht — daher
endlich bei ſchwachen Charakteren die, zwar an ſich
ganz nutzloſen, aber ſie doch beruhigenden Bekehrun-
gen auf dem Todbette. Jeder muß am Ende dieſem
Bedürfniß in einer oder der andern Form ſeinen Tri-
but bezahlen, d. h. jeder macht ſich ſeinen irdiſchen
Gott, und dies iſt auch eine ſich immer wiederholende
Menſchwerdung Gottes. Die Vorſtellung des all-
[131] liebenden Vaters iſt im Allgemeinen gewiß die ſchönſte
dieſer Bildungen, über die hinaus wir auch menſch-
lich nicht weiter ſteigern können, und man muß es
geſtehen, die bloße Idee des zum Unbegreiflichen,
Unnennbaren, höchſten Prinzips aller Dinge Vergei-
ſtigten, ſo zu ſagen Verflüchtigten, erwärmt das füh-
lende, ſeiner Schwachheit ſich bewußte, Menſchen-
herz
nicht mehr mit derſelben Innigkeit. Uebrigens
ſcheint mir oft Alles was den Menſchen und die Na-
tur ausmacht, nur auf zwei Haupt-Elemente ſich zu-
rückführen zu laſſen: Liebe und Furcht, die man auch
Göttliches und Irdiſches nennen könnte. Alle Ge-
danken, Gefühle, Leidenſchaften und Handlungen ent-
ſtehen hieraus, entweder aus dem einen, oder der
Miſchung beider Prinzipien. Liebe iſt die göttliche
Urſach aller Dinge, Furcht ſcheint die irdiſche Er-
halterin. Die Worte: Ihr ſollt Gott lieben und
fürchten, müßte man nur ſo erklären, oder ſie wür-
den keinen Sinn haben — denn ungemiſchte Liebe
kann nicht fürchten, weil ſie das Gegentheil von al-
lem Egoismus iſt, ja ſie wird, wo ſie wahrhaft uns
beſeelt, eins mit Gott und dem Welt-All, und wir
haben Momente, wo wir dieſes fühlen.


Wenn ich den Maßſtab jenes ausgeſprochenen Sa-
tzes an alle menſchliche Handlungen lege, finde ich
ihn überall beſtätigt. Liebe befruchtet, Furcht erhält,
und zerſtört — auch in der ganzen Natur ſehe ich
das Prinzip der Selbſterhaltung oder Furcht (es iſt
eins und daſſelbe) auf das, was wir in der menſch-
lichen
Moral böſe nennen müſſen, nämlich: auf die
9*
[132] Vernichtung einer andern Individualität, gegründet.
Ein Geſchlecht lebt immer von der Zerſtörung des
andern, Leben entſteht nur durch Tod, bis in alle
Ewigkeit der Erſcheinung, welche grade auf dieſe Art
Einheit im [fortwährenden] Wechſel bleibt.


Es iſt auch der Bemerkung werth, daß dieſe Furcht
obgleich uns Allen zu unſrem irdiſchen Beſtehen ſo
unumgänglich nöthig, dennoch, ſelbſt hier, von unſerm
göttlichen Theile ſo ſehr gering geſchätzt wird, daß
faſt kein mögliches Verbrechen uns ſo tiefe Verach-
tung
einflößt als Feigheit. Nichts bezwingt da-
gegen die Furcht beſſer als eine große Idee, die aus
dem Reiche der Liebe entſprießt. Auch Andere reißt
man, ſo beſeelt, dann mit ſich fort und ganze Völker
werden davon, ſich aufopfernd, ergriffen, wenn gleich
nichts Irdiſches ganz rein von Beimiſchung des nied-
rigerern Prinzips ſich erhalten kann. Furcht alſo
wird, in der Zeit und im Raume, Liebe iſt, und
kennt keine Zeit noch Raum. Die Liebe iſt unend-
lich und ſelig, die Furcht ſtirbt eines ewigen Todes.
Die Liebe iſt Gott, die Furcht iſt der Teufel — und
ihm gehört bekanntlich die Erde zur größern Hälfte.



Bei meiner Rückkehr nach Bangor machte ich ge-
ſtern die Bekanntſchaft des Beſitzers von Peurhyn
Caſtle (dem ſchwarzen Sachſenſchloß, das ich Dir be-
ſchrieben), ein Mann der in der Bauleidenſchaft mir
wahlverwandt iſt. Schon 7 Jahr wird an dem Schloß
[133] gearbeitet, wozu jährlich 20,000 Lſt. ausgeſetzt ſind,
und noch vier Jahre mehr vielleicht wird es bis zur
Vollendung brauchen. Während dieſer Zeit lebt der
reiche Mann mit ſeiner Familie in einer höchſt un-
anſehnlichen gemietheten Cottage in der Nähe, mit
wenig Leuten umgehend, aber ſich wöchentlich einmal
an der Beſichtigung ſeiner Feenburg weidend, die er,
an ſo einfaches Leben gewöhnt, wahrſcheinlich nie zu
bewohnen ſich entſchließen können wird. Es ſchien
ihm viel Freude zu machen, mir Alles zu zeigen und
zu erklären, und ich empfand nicht weniger Vergnü-
gen bei ſeinem Enthuſiasmus, der dem ſonſt kal-
ten Manne wohl anſtand.


Um einer Einladung zu folgen, die ich in London
erhalten, und die mir ſeitdem dringend wiederholt
worden war, reiste ich heute früh hieher. Die Straße
führt zuerſt in der fruchtbaren Aue, zwiſchen der See
und dem Fuß des Gebürges hin, zuweilen mit einer
ſich plötzlich öffnenden Bergſchlucht, und reißenden
Waldbächen, die eilig dem Meere zueilen. Am Pennan
Maws verengt ſich aber der in den Felſen geſprengte
Weg zu einem ſchwierigen Paß, deſſen linke Seite,
500 Fuß hoch, ſenkrecht und überhängend zu den
Wellen herabſinkt. Eine ſehr nothwendige Mauer-
brüſtung ſchützt die Wagen. Ich ſaß auf meiner Im-
periale, einen Platz den ich bei gutem Wetter häufig
einnehme, und genoß hier die weite Seeausſicht in
völliger Freiheit. Der Wind ſaußte dazu durch alle
Töne, und mit Mühe erhielt ich meinen Mantel.
Nach einer Stunde erreichte ich Conway, deſſen Lage
[134] eine der reizendſten iſt. Hier befindet ſich das größte
jener feſten Schlöſſer, die alle Eduard gebaut und
Cromwell zerſtört hat. Es iſt zugleich das, welches
durch Umgebung wie eigne [Schönheit], am romanti-
ſcheſten erſcheint.


Die Umfangsmauern, obwohl verfallen, ſtehen noch
ſämmtlich, mit allen ihren Thürmen, deren man bis
32 zählt. Die ganze neuere Stadt, ein ſeltſames
aber nicht unmaleriſches Gemiſch von Altem und
Neuem, findet Platz im Bezirk dieſer Mauern. Seit
kurzem hat man über den Fluß Conway, an deſſen
Felſenufern das Schloß ſteht, eine Kettenbrücke, mit
Pfeilern in Geſtalt gothiſcher Thürme, gebaut, die
das Grandioſe und Fremde des Anblicks noch ver-
mehrt. Die Umgegend iſt herrlich, bewaldete Berge
ſtehen den Ruinen gegenüber, und noch höhere ragen
über ſie hervor. Mehrere Landhäuſer zieren die Ab-
hänge, unter andern eine allerliebſte Villa, die eben
zum Verkauf ausgeboten iſt, und den verführeriſchen
Namen „Zufriedenheit“ (Contentement) führt. In
dem Schloß ſieht man noch die impoſanten Rudera
der Banquethalle mit zwei haushohen Caminen, und
die königlichen Zimmer. Im Cloſet der Königin wird
ein ziemlich gut erhaltner und ſchön gearbeiteter Bet-
altar, ſo wie ein prachtvolles Orielwindow bewundert.
Auch in der Stadt befinden ſich ſehr merkwürdige
alte Gebäude, mit wunderbaren, phantaſtiſchen Holz-
hieroglyphen. Das eine dieſer Häuſer wurde, wie ein
Grabſtein in der Kirche beſagt, von einem gewiſſen Hoo-
kes in 14ten Jahrhundert erbaut, welcher der einundvier-
[135] zigſte Sohn ſeines Vaters war, in der Chriſtenheit ein
ſeltnes Beiſpiel! Ein großes Windelkind, von einem
Storche getragen, und in altem Eichenholz geſchnitzt,
war daher auch ſo oft wie möglich als Zierrath auf
den Wänden angebracht. In gaſtronomiſcher Hinſicht
iſt Conway ebenfalls preiswürdig. Es giebt hier ei-
nen Fiſch, deſſen eben ſo zartes, als feſtes Fleiſch äu-
ßerſt wohlſchmeckend iſt. Er heißt place (Platz) ein
recht paſſender Name, als rief er: Platz für mich,
der beſſer iſt als ihr übrigen! Auch wünſchte ich ihm
öfter den Ehrenplatz an meinem Tiſche einräumen zu
können. Noch bei guter Zeit verließ ich Conway,
über die Kettenbrücke fahrend, der das zerſtörte
Schloß zum ehrwürdigen Stützpunkte dient. Die un-
geheuren Ketten verlieren ſich ſo abentheuerlich in
den felſenfeſten Thürmen, daß man das Neue kaum
bemerken würde, wenn nicht unglücklicherweiſe gegen-
über ein Chauſſeehaus, ebenfalls in der Form einer
diminutiven Burg, aufgebaut worden wäre, das ſich
wie der Harlekin der großen ausnimmt. Je mehr
man ſich St. Aſaph nähert, je milder wird der An-
blick des Landes. In einer faſt nicht zu überſehenden
halbrunden Bucht beſpült das ruhige Meer frucht-
bare Felder und Fluren, reichlich mit Städten und
Dörfern untermengt. Alle Landbeſitzer ſcheinen hier
dem gothiſchen Geſchmack zu huldigen. Dieſe Manier
war ſo weit getrieben, daß ſelbſt eine Schenke an der
Straße mit Fallthoren, Schießſcharten und créneaux
verſehen war, obgleich es keine andere Beſatzung als
Hühner und Gänſe zu beſchützen gab. Hier wäre
[136] Don Quirotte zu entſchuldigen geweſen, und der
Wirth thäte gar nicht übel, wenn er den Ritter von
der traurigen Geſtalt mit eingelegter Lanze und Bar-
bierbecken, zum Aushängeſchild erwählte.


Weiter hin ſchien ein ganzer Bergrücken mit einer
gothiſchen Stadt bedeckt. Es machte von weitem ei-
nen ſo auffallenden Effekt, daß ich mich verleiten ließ
auszuſteigen, und den beſchwerlichen Weg hinanzu-
klimmen. Lächerlich und verdrießlich war es zugleich,
als ich fand, daß der Kern der Spielerei nur ein
kleines ſich durch nichts auszeichnendes Haus war,
das übrige aber bloß verſchiedene, auf den Berg und
Felſenabhängen errichtete Mauern, die bald Thürme,
bald Dächer, bald Zinnen von großen Dimenſionen,
halb im Walde verſteckt, nachahmten, von nahen
aber nur dazu dienten, eine Menge Frucht- und
[Küchengärten] einzuſchließen. Ein Glückspilz, ein durch
Zufall reich gewordener Shop Keeper, hatte dieſe
harmloſe Raubveſte, wie man mir ſagte, in zwei
Jahren erbaut; eine wahre Satyre auf den herr-
ſchenden Geſchmack!


Gegen Abend langte ich bei meinem guten Obriſten
an, einem ächten [Engländer] im beſten Sinne des
Worts, der mich mit ſeiner liebenswürdigen Familie
auf das freundlichſte empfing. Dieſe wohlhabenden
(bei uns würde man ſie ſehr reich nennen) und an-
geſehenen Gutsbeſitzer, die ſich nicht in London zu
ängſtlich zur Faſhion drängen, aber die Liebe ihrer
Nachbarn und Untergebnen zu erwerben ſuchen; de-
ren Gaſtfreundſchaft nicht bloße Oſtentation, und
[137] deren Sitten weder exclusive noch ausländiſch ſind,
ſondern die in einer civiliſirten und durch Reichthum
verſchönten Häuslichkeit ihren Genuß, in ſtrenger
Rechtlichkeit ihre Würde finden — bilden die wahr-
haft reſpektabelſte Claſſe der Engländer. In der gro-
ßen Welt Londons ſpielen ſie zwar nur eine unbe-
deutende, in der Menſchheit aber gewiß eine ehrwür-
dige Rolle. Leider iſt jedoch in England die Ueber-
macht und Arroganz der Ariſtokratie, und über dieſer
noch die der Mode, ſo herrſchend und gewaltig, daß
ſelbſt ſolche Familien wie die hier geſchilderten, wenn
ſie mein Lob läſen, ſich wahrſcheinlich weniger da-
durch geſchmeichelt fühlen würden, als wenn ich ſie
unter denen, die den Ton angeben, aufführen könnte.
Wie weit hierin die Schwäche bei den würdigſten
Leuten in England geht, kann man kaum glauben,
ohne es erfahren und alle Claſſen der Geſellſchaft
davon auf die lächerlichſte Weiſe angeſteckt geſehen
zu haben. Doch ich habe Dir aus dem Foyer der
europäiſchen Ariſtokratie über dieſes Capitel genug
geſchrieben, und will mich daher hier nicht wiederho-
len. Ueberhaupt iſt es wohl Zeit dieſen Brief zu
ſchließen, da ich ohnedem fürchte, unſre Correſpon-
denz könnte Dir am Ende zu lang vorkommen —
denn wenn auch das Herz nicht ermüdet, der Kopf
macht andere Anſprüche. Indeſſen weiß ich, wie weit
ich Deiner Nachſicht in dieſer Hinſicht zumuthen darf. —


Dein ewig treu ergebener L . .


[[138]]

Acht und zwanzigſter Brief.



Meine theuerſte Freundin!

Ich befinde mich hier ſehr wohl. Man lebt auf
comfortable Weiſe, die Geſellſchaft iſt herzlich, la
chair excellente
und die Freiheit, wie überall hier
auf dem Lande, vollkommen. Geſtern machte ich
auf einem unermüdlichen Pferde meines Wirths einen
ſehr angenehmen Spazierritt von einigen zwanzig
Meilen, denn bei den guten Pferden und Wegen
verſchwinden hier die Diſtancen. Ich muß Dir da-
von [erzählen].


Zuerſt ritt ich nach der kleinen Stadt St. Aſaph,
um die dortige Cathedrale zu beſehen, die ein großes
Fenſter von moderner Glasmalerei ziert. Viele
Wappen waren ſehr gut ausgeführt, und man hatte
überhaupt den Fehler vermieden, Gegenſtände dar-
ſtellen zu wollen, die ſich für die Glasmalerei nicht
paſſen, welche grelle Farbenmaſſen und keine ver-
ſchwimmenden Nuancen verlangt. Um mich in der
Gegend beſſer zu orientiren, beſtieg ich den Thurm.
Dort bemerkte ich in der Entfernung von ohngefähr
[139] 12 Meilen ein kirchenartiges Gebäude auf der Spitze
eines hohen Berges, und frug den Küſter, was es
bedeute? er erwiederte in holprigem engliſch: „dies
ſey das Tabernakel des Königs, und wer ſieben Jahre
lang ſich weder waſchen, noch die Nägel abſchneiden,
oder den Bart ſcheeren wolle, dem ſey es erlaubt,
dort zu wohnen, und nach dem ſiebenten Jahre habe er
das Recht nach London zu gehen, wo ihn der König
ausſtatten und zum Gentleman machen müſſe.“
Dies tolle Mährchen glaubte der Mann im vollen
Ernſt und ſchwur auf ſeine Wahrheit. Voilà ce que
c’est que la foi!
Als ich mich ſpäter nach dem wirk-
lichen Verlauf der Sache erkundigte, erfuhr ich von
dem Urſprung der Geſchichte bloß, daß das Haus
zum Regierungs-Jubiläum des vorigen Königs von
der Provinz oder County gebaut worden ſey, und
ſeitdem leer ſtehe, ein Spaßvogel aber einſt am an-
dern Orte eine bedeutende Summe in den Zeitungen
ausgeboten, wenn Jemand die erwähnten Bedingun-
gen in einer ihm zugehörigen Höhle erfülle. Das
gemeine Volk hat nun jene Feuerprobe mit dem
„Tabernakel“ des guten [Königs] Georgs des III. in
Verbindung geſetzt.


Ich bin den Thurm jetzt wieder herabgeſtiegen, und
am Fuße ſanfter Hügel hin, kannſt Du mich weiter
gallopiren ſehen, bis ich einen felſigen einzeln ſtehen-
den Berg erreiche, auf dem die Ruinen von Denbigh
Caſtle ſtehen. An den Seiten des Berges klammern
ſich ringsum die baufälligen Häuſer und Hütten des
ärmlichen Städtchens an, und mit Mühe gelangt
[140] man durch die engen Gaſſen zum Gipfel. Ein Herr
zeigte mir gütig den Weg, welcher ſich mir nachher
als den Herrn Stadt-Chirurgus dekouvrirte, und
mit vieler Artigkeit die Honneurs der Ruine machte.
In ihren Mauern haben ſich die Honoratioren ganz
romantiſch ihr Caſino, nebſt einem ſehr zierlichen
Bulmengärtchen angelegt, von welchem letztern man
eine vortreffliche Ausſicht genießt. Der übrige Theil des
weitläuftigen Schloſſes bietet dagegen nur ein verlaſ-
ſenes Labyrinth von Mauern und Grasplätzen dar,
wo die Diſtel wuchert. Alle drei Jahre wird jedoch
auf dieſem Platz ein großes Nationalfeſt gehalten —
die Verſammlung der welſchen Barden. Gleich den
ehemaligen Minneſängern Deutſchlands, kommen hier
ſämmtliche Harfner aus Wales zum Wettkampf zu-
ſammen. Der Sieger gewinnt einen goldnen Becher,
und ein gemeinſchaftliches Chor von hundert Harfen
hallt zu ſeinem Ruhm in den Ruinen wieder. In
drei Monaten ſollte die Vereinigung ſtatt finden, zu
der man auch den Herzog von Suſſer erwartete.


Von hier kam ich, einer Bergſchlucht folgend, in
ein wunderſchönes Thal. Tiefe Waldesnacht umfing
mich, Felſen ſtreckten wieder, wie alte Bekannte,
grüßend ihre bemosten Häupter aus den Zweigen,
der wilde Fluß ſchäumte wieder, ſpringend und
tanzend durch die Waldblumen, und verborgene,
beimlich glänzende Wieſen leuchteten mir wieder mit
aller Goldfriſche des Gebirges entgegen. Wohl einige
Stunden irrte ich in dieſen Gründen umher, dann
erklomm ich die Höhe auf einem mühſamen Fußpfad,
[141] um zu erfahren, wo ich eigentlich ſey? Ich ſtand
grade über der Bucht und dem weiten ſtillen Meer,
das die ſanften [Bergabhänge] vor mir näher zu rük-
ken ſchienen als es wirklich war. Nach einiger An-
ſtrengung entdeckte ich, unter den Baumgruppen der
Ebne, auch das Schloß von K … Park, und raſch
darauf zutrabend, erreichte ich es noch zur rechten
Zeit für die Mittags-Toilette.



Mit der lieblichen kleinen Fanny, der jüngſten
Tochter des Hauſes, die noch nicht out iſt, *) ſpa-
zierte ich dieſen Morgen, als Alle noch ſchliefen, im
Park und Garten umher, wo ſie mir ihre dairy
(Milchkeller) und ihre aviary (Etabliſſement für Ge-
flügel) zeigte.


Ich ſchrieb Dir ſchon, daß der Milchkeller hier im-
mer eine der Hauptzierden jedes Parkes ausmacht
und von den Kuhſtällen ganz entfernt, für ſich, in
der Form eines eleganten Pavillons beſteht, mit Fon-
[142] taine, Marmorwänden und koſtbarem Porzellain ge-
ſchmückt, deſſen große und kleine Schalen mit allen
Arten der ſchönſten Milch und Milchprodukten ange-
füllt werden. Kein beſſeres Plätzchen als dieſes, um
ſich nach der Ermüdung des Gehens zu erfriſchen.
Es verſteht ſich, daß auch ein Blumengärtchen dabei
iſt, welches der [Engländer] gern jedem Gebäude bei-
fügt. Hier wetteiferte das Steinreich in Pracht der
Farben mit den Blumen. Der Beſitzer hat nämlich
einen Antheil an bedeutenden Kupferwerken in An-
gleſea, und kleine Berge dieſes golden, roth, blau
und grün ſchillernden Erzes dienten ſeltnen Stein-
pflanzen zum prachtvollen Bett.


Das Aviary, ſonſt wohl Goldfaſanen und auslän-
diſchen Vögeln gewidmet, war hier blos wirthſchaft-
licher Natur, nur für Hühner, Gänſe, Pfauen,
Tauben und Enten ausſchließlich beſtimmt, dennoch
aber bot es, durch ſeine außerordentliche Reinlichkeit
und Zweckmäßigkeit, einen ſehr angenehmen Anblick
dar. Deutſche Wirthinnen hört und ſtaunt! Zwei-
mal des Tages wurden die mit den ſchönſten Be-
wäſſerungs-Anſtalten verſehenen Höfe und einzelnen
Kammern, Taubenſchläge und Brütbehälter —
zweimal des Tages wurden ſie geſcheuert — und die
Strohbetten der Hühner waren ſo zierlich, die Sproſ-
ſen, auf denen ſie horſteten, ſo glatt und blank, die
mit Quadern eingefaßten Enten-Pfützen ſo klare
Baſſins, das großkörnige Gerſtenfutter und der ge-
kochte Reis, gleich dem Pariſer Riz au lait, ſo ap-
petitlich, daß man ſich im Paradieſe der Vögel zu
[143] befinden glaubte. Auch waren dieſe alle frei wie
dort, keinen die Flügel verſchnitten, und ein, imme-
diat an ihre Wohnung ſtoßendes, Wäldchen hoher
Bäume diente ihnen zum anmuthigſten Vergnügungs-
ort. Noch wiegten ſich die meiſten von ihnen behag-
lich auf den ſchwankenden Gipfeln, als wir anka-
men; kaum erblickten ſie aber die kleine roſige Fanny,
wie eine wohlthuende Fee mit Leckerbiſſen in der
Schǔrze ihnen entgegentretend, als ſie in brauſender
Wolke herabeilten, und ſich pickend und frohlockend
zu ihren Füßen niederließen. Ich fühlte mich idyl-
liſch gerührt, und trieb zu Haus, um noch vor dem
Frühſtück mich des Feuers meiner Begeiſterung zu
entledigen. Nun waren aber noch die Kindergärten
zu beſehen, und ein Haus der Laune, und Gott
weiß was alles — kurz wir kamen zu ſpät und wur-
den ausgeſcholten. Mit engliſchem Pathos rief Miß
Fanny:


We do but row —

And we are steered by fate.

Wir rudern wohl —

Jedoch das Schickſal ſitzt am Steuer!

mit andern Worten: der Menſch denkt, Gott lenkt
… und Ja wohl, dachte ich, der kleine Philoſoph
hat nur zu Recht! Es kömmt immer anders, wie
man ſich’s vorſtellt, ſelbſt bei ſo wenig bedeutenden
Dingen als die Promenade mit einem hübſchen Mäd-
chen, und das Warten der Eltern beim Frühſtück. —


[144]

Der Nachmittag ſah mich wieder zu Roß. Ich
ſuchte mir ungebahnte Wege in den wildeſten Berg-
gegenden landeinwärts, mehreremal den reißenden
Fluß ohne [Brücke] paſſirend, und oft in den ſchönſten und
überraſchendſten Ausſichten ſchwelgend. Zuweilen be-
gegnete ich einſam arbeitenden Landmädchen, auf-
fallend hübſch in ihrer originellen Tracht, die den
Wuchs hervorhebt und den Buſen ſehr frei zeigt.
Sie ſind aber dabei ſchüchtern wie Rehe und züchtig
wie Veſtalinnen. Alles zeigt die Bergnatur, mein
Pferd auch! unermüdlich, wie eine Maſchine aus
Stahl und Eiſen, gallopirt es über die Steine berg-
auf und bergab, ſpringt mit ungeſtörter Ruhe über
die Heckenthore, welche alle Augenblicke die Feldwege
verſchließen, und macht mich weit eher müde, als es
ſelbſt Müdigkeit fühlt. Das iſt die wahre Art, ſpazieren
zu reiten — viele Meilen weit, in Gegenden, die man
nie geſehen, wo man nicht weiß, wo man hinkömmt,
und ſich den Rückweg ebenfalls von einer andern
Seite ſuchen muß. Heute gerieth ich zuletzt in einen
Park, wo hölzerne, mit weißer Oelfarbe angeſtri-
chene Statüen, ſeltſam mit der erhabnen Natur kon-
traſtirten. Kein Menſch ließ ſich ſehen, nur Hun-
derte von Kaninchen ſtreckten ihre Köpfe aus den
durchlöcherten Bergabhängen hervor, oder jagten
eilig über den Weg. Allerlei wunderliche Dinge ver-
riethen den Beſitzer als einen Sonderling. Am be-
ſten nahm ſich ein ſchwarzer Fichtenwald aus, der
rund umher ein Ring von glanzfarbigen Malven ein-
faßte. Ich kam endlich auf einer kahlen Höhe wieder
[145] heraus, wie ich hereingekommen war, durch ein von
ſelbſt zuſchlagendes Fallthor; überall herrſchte dieſelbe
Einſamkeit, und bald war das verwünſchte Schloß
weit hinter mir.



Ich ſollte einige Wochen in K … Park bleiben,
aber Du kennſt meine Unſtetigkeit — bald drückt
mich das Einerley, wenn es auch gut iſt — ich
empfahl mich daher meinen gefälligen Freunden, be-
ſuchte noch einen andern Gutsbeſitzer, der mich ein-
geladen, auf einige Stunden, ſtatt Tagen, ſah einen
Sonnenuntergang von den Ruinen Conway’s, aß
eine Place, und traf wieder in meinem Hauptquar-
tier ein, das ich nun aber für immer verlaſſe. Ich
befinde mich übrigens leider nicht recht wohl, meine
Bruſt ſcheint von den Fatiguen in der letzten Zeit
etwas angegriffen, und ſchmerzt oft recht empfind-
lich, mais n’importe.



Erinnerſt Du Dich dieſes Namens? Es iſt die
ſchöne Villa, die ich Dir beſchrieben, deren liebens-
würdigen Beſitzer ich ſeitdem kennen gelernt, und
deſſen freundlicher Einladung, bei ihm die letzte Nacht
in Wales zuzubringen, ich nicht widerſtehen konnte.
Briefe eines Verſtorbenen. I. 10
[146] Wegen meinen Bruſtſchmerzen vermochte ich geſtern
Abend nur kurze Promenaden, mit dem Sohne des
Hauſes, in den lieblichen Gärten zu machen, und
der Verſuch, einen nahen höheren Berg zu beſteigen,
bekam mir faſt übel, ſo daß ich nachher bis zum Eſ-
ſen mich mit den Zeitungen amüſiren mußte. In
dem langen Wuſt war ein guter Einfall, den ich
Dir zitire. Der Artikel ſprach von der Thronrede,
worin die Worte vorkommen: „dem Speaker wird
befohlen, dem Volke zu ſeiner allgemeinen Glück-
ſeligkeit zu gratuliren.“ Dies, meint der Berichter-
ſtatter, ſey doch ſo inſolent, ſich ſo offenbar über
dieſes arme Volk luſtig zu machen, obgleich es al-
lerdings gegründet ſey, daß die Wahrheit von ihm
in dergleichen Dingen nie erwartet werden dürfe,
denn, fährt er fort, ſollte wirklich je ein König oder
Miniſter ſo wahnſinnig ſeyn, um die reine Wahr-
heit bei ähnlicher Gelegenheit ſprechen zu wollen, ſo
müſſe er ja gleich im Anfang der Rede, ſtatt dem
gewöhnlichen exordium „Mylords and Gentlemen
ſagen My knaves and dupes. (Mes fripons et du-
pes.“)


Unſer Wirth iſt ein Mitglied des Yacht-Clubs,
und ein leidenſchaftlicher Freund des Meeres. Daher
hätte auch unſer diné jedem Katholiken in der Faſten-
zeit genügen müſſen, denn es beſtand nur aus Fi-
ſchen, vortrefflich auf mannichfache Arten zubereitet.
Eine Auſterbank, unter den Fenſtern, ſandte gleich-
falls dazu ihre ſchlüpfrigen, noch Salzwaſſer feuch-
ten, Bewohner. Zum Deſſert aber lieferten die vor
[147] dem Hauſe weidenden Kühe manche Delikateſſe und
die an den Salon ſtoßenden Treibhäuſer köſtliche
Früchte.


Thut es nun nicht wohl, ſich zu denken, Hundert-
tauſende in England eine ſolche Exiſtenz, einen ſo
behaglichen und ſoliden Luxus, in ihren friedlichen Häu-
ſern froh genießen, freie Könige im Schooſe ihrer Häus-
lichkeit, die ruhig in der Sicherheit ihres unantaſtbaren
Eigenthums leben, Glückliche, die nimmer durch ſchwere
Sendſchreiben unhöflicher Behörden beläſtigt werden,
welche bis in die Wohnſtube und Schlafkammer Al-
les regieren wollen, und dem Staate ſchon einen
bedeutenden Dienſt erzeigt zu haben glauben, wenn
ſie am Ende des Jahres den armen Regierten viele
tauſend Thaler unnöthiges Porto verurſachen konn-
ten, dabei aber auch nicht zufrieden, über den Re-
gierten zu ſtehen, ſich ihnen zugleich entgegen ſtel-
len, Richter und Parthei ſo viel ſie können in einer
Perſon vereinigend; — mit einem Worte, Glück-
liche, die frei von Eingriffen in ihren Beutel, frei
von Unwürdigkeiten für ihre Perſon, frei von un-
nützen Plackereien ihre Macht fühlen laſſen wollender
Büreaukraten, frei von der Ausſaugung unerſatt-
licher Staatsblutigel ſind, und dabei als unum-
ſchränkte Herren in ihrem Eigenthume, nur den
Geſetzen zu folgen brauchen, die ſie ſelbſt mit geben
helfen — wenn man bedenkt, ſage ich, ſo muß man
geſtehen, daß England ein geſegnetes Land iſt, wenn
auch kein vollkommenes. Man kann es den Englän-
dern daher auch nicht ſo ſehr verdenken, wenn ſie,
10*
[148] des Contraſtes mit manchen andern Ländern inne
werdend, Fremden, bei aller ſcheinbaren Höflich-
keit und Verbindlichkeit, doch immer fremd bleiben.
Ihr ganz gerechtes Selbſtgefühl wirkt ſo mächtig,
daß ſie unwillkührlich uns für eine geringere Race
anſehen, ſo wie wir z. B. aller deutſchen Herzlichkeit
ohngeachtet, doch ſchwer uns mit einem Sandwich-
Inſulaner ganz verbrüdern könnten. In einigen
Jahrhunderten haben wir vielleicht die Rollen ge-
wechſelt, aber leider iſt es jetzt noch nicht ſo weit!*)



Ich habe eine üble Nacht gehabt, heftiges Fieber,
ſchlechtes Wetter und holprige Straßen. Das Letz-
tere, weil ich die große Route verließ, um die be-
rühmten Paris mines auf der Inſel Angleſea zu ſe-
hen. Dieſe Inſel iſt der völlige Gegenſatz von Wa-
les, faſt völlig flach, kein Baum, nicht einmal Büſche
[149] und Hecken, nur Felder an Felder gereiht. Die er-
wähnten Kupferbergwerke an der Küſte ſind aber in-
tereſſant. Ich wurde (vom Obriſten H . . . . ſchon
vorher annoncirt) mit Kanonenſchüſſen empfangen,
die wild in den vielfachen Höhlen wiederhallten. Das
Erz wird in dieſen Höhlen gefördert, die, wo das
Tageslicht hereinſcheint, in bunten Farben blitzen.
Ich ſammelte ſelbſt viel ſchöne Stücke. Die Steine
werden nachher klein geſchlagen, in Halden, gleich
dem Alaunerz, aufgeſchüttet und angezündet, wor-
auf die Maſſe 9 Monat lang brennt. Der Rauch
wird zum Theil aufgefangen und ſetzt ſich als Schwe-
fel an. Eine ſonderbare Erſcheinung iſt es für den
Layen, daß, [während] dieſes neunmonatlichen Bren-
nens, welches allen Schwefel austreibt, blos durch
die Kraft der Wahlverwandtſchaft, die durch das
Feuer gemacht wird, das reine Kupfer, welches vor-
her
durch den ganzen Stein vertheilt war, ſich
nachher, in ein Klümpchen zuſammengezogen, kom-
pakt in der Mitte zeigt, ſo daß, wenn man die ge-
brannten Steine zertrümmert, man in jedem das
Kupfer, wie den Kern in einer Nuß, erblickt. Nach
dem Brennen wird das Erz, ebenfalls wie Allaun,
ausgelaugt oder gewaſchen, und das Waſſer, welches
davon abfließt, in Sümpfen aufgefangen. Das
Mehl, was ſich in dieſen abſetzt, enthält 25 — 40
Prozent Kupfer, und das übrig bleibende Waſſer iſt
immer noch ſo ſtark geſchwängert, daß ein eiſerner
Schlüſſel, den man hineinhält, in wenig Sekunden
eine ſchön rothgelbe Kupferfarbe annimmt. Hierauf
[150] wird das Erz mehreremal geſchmolzen und zuletzt
raffinirt, worauf es in Quadrat Stücken von 100 Pfund
geformt, ſo verkauft, oder auf Mühlen zu Schiffs-
platten verarbeitet wird. Bei dem Gießen, das ein
hübſches Schauſpiel gewährt, ereignet ſich auch ein
ſonderbarer Umſtand. Es fließt nämlich die ganze
Maſſe in eine Sandform, welche in 8 — 10 verſchie-
dene Compartiments, gleich einem für mehrere
Thiere beſtimmten Eßtroge, abgetheilt iſt. Die Se-
parationen erreichen nicht ganz die Höhe der Außen-
wände, ſo daß das glühende Erz, welches nur auf
dem einen Ende hereinſtrömt, ſobald der Pfropf her-
ausgeſchlagen iſt, das erſte Compartiment füllen
muß, ehe es in das zweite übertritt u. ſ. w. Das
Sonderbare iſt nun, daß alles wirkliche reine Kupfer,
was im Ofen enthalten iſt, in dieſem erſten Com-
partiment verbleibt, die andern Fächer aber allein
mit Schlacke angefüllt werden, welche nur zum
Straßenbau gebraucht werden kann. Der Grund
des [Phänomens] iſt folgender: Das Erz hat Eiſen
bei ſich, welches ſich im magnetiſchen Zuſtande befin-
det. Dieſes hält das Kupfer zuſammen, und zwingt
es zuerſt auszufließen. Da man nun aus Erfah-
rung ziemlich genau weiß, wie viel reines Kupfer
die in einem Ofen geſchobne Maſſe enthalten müſſe,
ſo iſt die Größe des erſten Compartiments darauf
eingerichtet, es grade faſſen zu können. Der Inſpek-
tor, ein geſcheuter Mann, der aber halb welſch, halb
engliſch ſprach, ſagte mir, daß er dieſe Gußart erſt
erfunden, welche viele Mühe erſpare, weßhalb er
[151] auch ein Patent darauf entnommen. Der Vortheil
der daraus entſteht iſt allerdings einleuchtend, da ſich,
ohne die erwähnten Abtheilungen, das Kupfer, wenn
gleich ebenfalls zuerſt hinausfließend, doch nachher
über die ganze Maſſe verbreiten, und ſchwer ablöſen
muß. Die Ruſſen, welche im Fache der Induſtrie
jetzt nichts verſäumen, hatten bereits einen Reiſen-
den hier, um ſich das Verfahren ganz zu eigen zu
machen, welches auch nicht im Geringſten verheim-
licht wurde, wie denn überhaupt die meiſten Fabrik-
herren hierin ſehr liberal geworden ſind.


Während ich noch am Schmelzofen ſtand, erſchien
ein Offizier, um mich zum Bruder des Obriſten H.,
der ebenfalls Obriſt iſt, und ein in der Nähe ſtatio-
nirtes Huſarenregiment commandirt, für dieſen Mit-
tag und die Nacht einzuladen. Ich befand mich aber
zu ermüdet und unwohl, das Wagniß eines Offizier-
dinèrs in England zu beſtehen, wo, in der Provinz
wenigſtens, der Wein noch mit altengliſchem Maaße
zugetheilt wird; auch wünſchte ich noch dieſe Nacht
mit dem Packetboot nach Irland zu ſegeln, und
lehnte daher die Invitation dankbarlich ab, den Weg
nach Holyhead einſchlagend, wo ich um 10 Uhr an-
kam. Mein gewöhnliches Seeunglück erlaubte indeß
die Weiterreiſe nicht, da es ſo heftig ſtürmte, daß
das Packetboot ohne Reiſende abging. Ich bin je-
doch nicht unwillig darüber, mich einen Tag hier,
in einem ganz comfortablen Gaſthofe, ausruhen zu
können.


[152]

So krank und matt ich bin, hat mir doch die Ex-
kurſion nach dem neu erbauten, 4 Meilen entfernten
Leuchtthurme, ungemein viel Vergnügen gewährt.
Obgleich die Oberfläche der Inſel Angleſea ſehr flach
erſcheint, ſo erhebt ſie ſich doch, am Ufer der [irländi]-
ſchen See, in höchſt maleriſchen, abgeriſſenen Felſen-
wänden, bedeutend hoch aus den ſtets brandenden
Fluthen. Auf einem ſolchen, vom Ufer etwas ent-
fernten, einzeln hervorragenden Felſen, ſteht der
Leuchtthurm. Nicht nur ſenkrecht, ſondern unter ſich
zurückweichend, fallen dieſe, über alle Beſchreibung
wilden Geſtade, mehrere hundert Fuß tief nach dem
Meere hinab, und ſehen aus, als ſeyen ſie durch
Pulver geſprengt, nicht von der Natur ſo gebildet.
Auf einem dichten Teppich von kurzem gelben Gin-
ſter und karmoiſinrother Haide, gelangt man bis an
den Rand des Abhangs, dann ſteigt man auf einer
roh in den Stein gehauenen Treppe, von 4 bis 500
Stufen, bis zu einem in Stricken hängenden Stege
hinab, auf dem man ſich, an die Seitennetze anhal-
tend, über den Abgrund, der beide Felſen trennt, ſo
zu ſagen, hinüber ſchaukelt. Tauſende von Seemöven,
die hier zu brüten pflegen, umſchwebten uns auf
allen Seiten, unaufhörlich ihre melancholiſche Klage
durch den Sturm rufend. Die Jungen waren erſt
kürzlich flügge geworden, und die Alten benutzten
wahrſcheinlich das ungeſtüme Wetter zu ihrer Ein-
übung. Man konnte nichts Graziöſeres ſehen als
[153] dieſe Fluglektionen. Leicht erkannte man die Jünge-
ren an ihrer grauen Farbe und ihrem noch unge-
wiſſen Schwanken, während die Alten, faſt ohne einen
Flügel zu rühren, minutenlang, blos vom Sturm ge-
halten, wie in der Luft verſteinert hingen. Die jun-
gen Vögel ruhten auch öfters in den Felſenſpalten
aus, wurden aber von ihren ſtrengen Aeltern immer
ſchnell wieder zu neuer Arbeit genöthigt.


Der Leuchtthurm iſt völlig dem bereits erwähnten
in Flamboroughhead an der engliſchen Oſtküſte gleich,
nur ohne rothe revolving lights. Auch hier war die
Nettigkeit der Oehlkeller und die außerordentliche
Reinlichkeit der ſpiegelblanken Lampen bewunderungs-
werth. Außerdem bemerkte ich eine ingenieuſe Art
Sturmfenſter, die man ohne Mühe und Gefahr des
Zerbrechens, auch beim heftigſten Winde, öffnen kann,
und eine vertikale Steintreppe, gleich einer gezackten
Säge, die viel Raum erſpart. Beide Gegenſtände
laſſen ſich jedoch ohne Zeichnung nicht ganz anſchau-
lich machen.



Eine [widerwärtigere] Seefahrt kann man nicht be-
ſtehen! Zehn Stunden ward ich, zum Sterben krank,
umher geworfen. Die Hitze, der ekelhafte Geruch des
Dampfkeſſels, die Krankheit aller Uebrigen, es war
eine affreuſe Nacht, ein wahres Carl von Carlsberg-
[154] ſches Bild menſchlichen Elends. Bei einer längeren
Seereiſe aguerrirt man ſich zuletzt, und vielfacher Ge-
nuß wiegt dann die Entbehrungen auf, aber die kur-
zen Ueberfahrten, welche nur die Schattenſeite zeigen,
ſind meine wahre Antipathie. Gottlob es iſt vor-
über, und ich fühle wieder feſten Boden unter mir,
obgleich es mir noch manchmal ſcheint, als ſchwanke
Irland ein wenig.



Dieſes Königreich hat mehr Aehnlichkeit mit Deutſch-
land als mit England. Jene faſt überraffinirte In-
duſtrie und Cultur in allen Dingen verſchwindet hier,
leider aber mit ihr auch die engliſche Reinlichkeit.
Häuſer und Straßen haben ein beſchmuztes Anſehn,
obgleich Dublin durch eine Menge prächtiger Palläſte
und breiter allignirter Straßen geſchmückt iſt. Das
Volk geht zerlumpt; den Leuten von gebildeterem
Stande, denen man begegnet, fehlt auch die engliſche
Eleganz, wogegen die Menge glänzender Uniformen,
die man in London nie in den Straßen ſieht, noch
mehr nach dem Continent verſetzen. Auch die Umge-
gend der Stadt hat nicht mehr die gewohnte Friſche,
der Boden iſt vernachläßigter, Gras und Bäume
magrer. Die großen Züge der Landſchaft aber, die
Bay, die fernen Berge von Wicklow, das Vorgebirge
von Howth, die amphitheatraliſchen Häuſermaſſen, die
quai’s, der Hafen ſind ſchön. So iſt wenigſtens der
[155] erſte Eindruck. Uebrigens befinde ich mich, im beſten
Gaſthofe der Hauptſtadt, weniger comfortable, als in
dem kleinen Städtchen Bangor. Bei aller Größe
ſcheint das Haus ſtill und verlaſſen, während ich
mich erinnere, dort, nur während der Zeit meines
Eſſens, 43 Wagen ankommen geſehen zu haben, die
alle abgewieſen werden mußten. Der Zufluß der
Fremden iſt auf den Hauptſtraßen in England ſo
groß, daß Kellner in den Gaſthöfen nicht für Geld
gemiethet werden, ſondern ſelbſt für ihren Platz
dem Wirth bis zu 300 Pfd. Sterl. jährlich zahlen
müſſen. Dennoch erſetzen ihnen die Trinkgelder dieſe
bedeutende Auslage reichlich. In Irland tritt dage-
gen die Continentalſitte wieder ein. Sobald ich mich
ein wenig erfriſcht hatte, machte ich eine Promenade
durch die Stadt, während der ich bei zwei ziemlich
geſchmackloſen Monumenten vorbei kam. Das eine
ſtellt Wilhelm von Oranien im römiſchen Coſtume
zu Pferde vor; mißgeſtaltet iſt Roß und Reiter.
Das Pferd hat ein Gebiß im Mund und Hauptge-
ſtell am Kopf, aber keine Andeutung der Zügel dar-
an, obgleich die Hand des Königs grade ſo ausge-
ſtreckt iſt, als ob ſie ſie bahnenmäßig hielte. Soll
dies bedeuten, daß Wilhelm keine Zügel brauchte,
um John Bull zu reiten? Das andere Monument
iſt eine coloſſale Statue Nelſons, auf einer hohen
Säule ſtehend, und in moderne Uniform gekleidet.
Hinter ihm [hängt] ein Tau, das einem Schweife ähn-
licher ſieht; dabei iſt die Stellung ohne Adel, und
die Figur zu hoch, um deutlich zu ſeyn. [Später] kam
[156] ich an ein großes rundes Gebäude, wo das Volk ſich
drängte, und Wache vor dem Eingang ſtand. Auf
meine Nachfrage erfuhr ich, daß hier die jährliche
Ausſtellung von Blumen und Früchten ſtatt finde.
Man trug die erſteren zum Theil ſchon hinweg, als
ich eintrat, demohngeachtet ſah ich noch viel ausge-
zeichnet ſchöne Exemplare. In der Mitte dieſer Blu-
men, die eine Art Tempel bildeten, befand ſich ein
durch Barrieren verſchloſſener Raum für die Früchte,
welche zwölf daſelbſt ſitzende Richter mit Wohlbehagen
und ernſter Amtsmiene ſchmatzend verzehrten, um zu
entſcheiden, welcher von ihnen die ausgeſetzten Preiſe
zukämen. Sie mußten lange unſchlüſſig geweſen ſeyn,
denn Melonen, Birnen und Aepfelſchalen, Ueberbleib-
fel von Ananas, Pfirſich-, Pflaumen- und Aprikoſen-
kerne bildeten Berge auf den danebenſtehenden Ti-
ſchen, und obgleich die Blumen von den Eigenthü-
mern nach und nach alle fortgeſchafft wurden, ſo
ſchien doch keine der Früchte ihren Ausgang aus dem
Pomonatempel wieder zu finden.



Da ich nichts anderes zu thun wußte (denn alle
notablen Bewohner der Stadt ſind auf dem Lande)
ſo beſah ich eine Menge show places. Zuerſt das
Schloß, wo der Vicekönig wenn er hier iſt, reſidirt,
und deſſen ärmliche Staatszimmer, mit groben Bret-
terdielen, nicht viel Anziehendes darbieten. Schöner
[157] iſt eine modern gothiſche Capelle, deren Aeußeres ho-
hes Alterthum täuſchend nachahmt; ſie iſt inwendig
mit herrlichen Glasgemälden aus Italien, im 15ten
Seculum gemalt, geſchmückt und reich mit Holzſchnitts-
werk verziert, welches dem alten nichts nachgiebt.
Die ganze Kirche wird mit conduits de chaleur ge-
heizt und ein eben ſo geheizter, mit Teppichen beleg-
ter Gang, verbindet ſie mit der Wohnung des Lord-
Lieutenants.


In den [weitläuftigen] und ſchönen Univerſitätsge-
bäuden diente mir ein Student als Cicerone. Dieſe
müſſen, in dem Bereich der Univerſität, über ihre ge-
wöhnliche Kleidung, einen ſchwarzen Mantel, und
eine hohe wunderliche Mütze mit Quaſſeln von ¾
Ellen Länge tragen, was ihnen ein ziemlich grotes-
kes Anſehen gibt. Auf dieſe Kleidung wird ſtrenger
gehalten, als weiland auf Zopf und Puder von den
ſächſiſchen Staabsoffizieren.


Der junge Mann führte mich in das Muſeum, pro-
duzirte mir das Modell des Brennſpiegels, mit dem
Archimedes die römiſche Flotte verbrannte! die Harfe
Oſſians*) — einen ausgeſtopften indiſchen Chieſtain,
mit Tomahac und Wurfſpieß, und einige reelle Säu-
lenſtücke des Giants Cauſeway, welche in der That
Menſchenhände nicht accurater formen könnten, und
[158] die klingen, wie engliſches Glas. Je vous fais grace
du reste
.


Im großen Saale, wo die Examina gehalten wer-
den, (der Student kündigte mir dieſe Beſtimmung
mit einem leiſen Schauder an) ſteht eine ſpaniſche
Orgel, die auf der großen Armada erbeutet wurde.
Intereſſanter ſind die Portraits von Swift und
Burke. Beide Phyſiognomien entſprechen den be-
kannten Eigenſchaften dieſer Männer. Der Eine
zeigt einen eben ſo feinen und ſchalkhaften, als ge-
diegnen Ausdruck; der andere geiſtreiche und gewal-
tige, faſt grobe, aber doch wohlwollende und ehrliche
Züge, den donnernden Redner verkündend, der auf-
richtig, und ohne Schonung Andrer, für ſeine Mei-
nung focht, aber nimmer blos das eigne Intereſſe
mit künſtlichem Enthuſiasmus übertünchte.


Nachdem ich den Juſtizpalaſt, die Douane ꝛc., nebſt
andern prachtvollen Palläſten beſehen, und mich nun
zu Haus begeben wollte, lockte mich noch die Ankün-
digung eines Peristrephic Panorama der Schlacht
von Navarin. Dies iſt ein ſehr unterhaltendes Schau-
ſpiel, und giebt eine ſo deutliche Idee von dem „un-
gelegnen Ereigniß“ (untoward event) daß man ſich
faſt tröſten kann, nicht dabei geweſen zu ſeyn. Man
tritt in ein kleines Theater, und ſieht bald einen
Vorhang aufgehen, hinter dem ſich die Gemälde be-
finden, welche in einem großen Ganzen die Folge der
einzelnen Begebenheiten der Schlacht vorſtellen. Die
Leinewand [hängt] nicht platt hinab, ſondern iſt im
[159] zurückweichenden Halbzirkel aufgeſpannt, und wird
langſam über Rollen gezogen, ſo daß ſich faſt un-
merklich die Bilder nach und nach verändern, und
man ohne Zwiſchenraum von Scene zu Scene über-
geht, während Jemand die dargeſtellten Gegenſtände
laut erklärt, und ferner Kanonendonner, militairiſche
Muſik und Schlachtgetöſe die Täuſchung noch ver-
mehren. Durch panoramaartige Malerei, und durch
leiſes Schwanken desjenigen Theiles des Gemäldes
der die Wellen und Schiffe darſtellt, wurde oft die
Nachahmung faſt der Wirklichkeit gleich.


Die erſte Scene zeigt die Bay von Navarin, mit
der ganzen türkiſchen Flotte in Schlachtordnung. Am
entgegengeſetzten Ende der Bay ſieht man, auf ho-
hem Felſen, Alt-Navarin und ſeine Feſtung, ſeit-
wärts unter Dattelbäumen das Dorf Pylos, und im
Vorgrund die Stadt Navarin, nebſt Ibrahims La-
ger, wo Gruppen ſchöner Pferde und lieblicher, ge-
fangener, griechiſcher Mädchen, welchen die Soldaten
liebkoſen, die Augen auf ſich ziehen. In weiter Fer-
ne, am Saum des Horizonts erſcheint, wie in Duft
gehüllt, die Flotte der Alliirten. Indem nun dieſes
Bild langſam verſchwindet, wogt nur noch das offne
Meer, dann tritt der Eingang der Bay von Nava-
rin allmählich hervor. Man entdeckt Bewaffnete auf
den Felſen, und erblickt endlich die alliirte Flotte, wie
ſie die Einfahrt forcirt. Durch optiſchen Betrug er-
ſcheint alles in natürlicher Größe, und der Zuſchauer
iſt ſo geſtellt, als befinde er ſelbſt ſich an der Türken
Stelle in der Bay, und [ſähe] jetzt das Admiralſchiff
[160] Aſia mit vollen Segeln auf ſich zueilen. Man be-
merkt Codrington auf dem Verdeck, im Geſpräch mit
dem Capitaine, die andern Schiffe folgen in ſich aus-
breitender Linie und mit ſchwellenden Segeln, wie
zur Attaque bereit — ein ſchöner Anblick! Nun kom-
men auf einander folgend die einzelnen Engagements
verſchiedner Schiffe, die Exploſion eines Feuerſchiffs,
und das in Grundbohren einiger türkiſcher Fregat-
ten, endlich der Kampf der Aſia mit dem ägyptiſchen
Admiralſchiff auf der einen, und dem türkiſchen auf
der andern Seite, welche, wie bekannt, beide nach
hartnäckiger Vertheidigung und mehrſtündigem Feuer
ſanken.


Der Schlacht folgten einige Anſichten von Conſtan-
tinopel, die eine ſehr anſchauliche Idee von dem aſia-
tiſchen Treiben gaben.


Abends beſuchte ich das Theater, ein recht hübſches
Haus mit einem etwas weniger rohen Publikum als
in London. Die Schauſpieler waren nicht übel, je-
doch erhob ſich keiner über die Mittelmäßigkeit. Viele
Uniformen, mit Damen untermiſcht, füllten faſt die
ganze untere Logenreihe, was ſich recht elegant aus-
nahm. Die höhere Geſellſchaft beſucht aber, wie ich
höre, auch hier das Theater nur ſelten.


[161]

Da ich die Stadt nun hinlänglich geſehen, begann
ich heute meine Spazierritte in der Umgegend, die
ſich weit ſchöner entfaltet, als ich bei meiner Ankunft,
grade von der unvortheilhafteſten Seite, vorausſetzen
durfte. Ein Weg mit reizenden Ausſichten, erſtens
auf den Golf, den ein Molo von 3 Meilen Länge
durchſchneidet, und den, gleich zwei Säulen, die
Leuchtthürme von Dublin und Howth ſchließen; dann
auf die bewaldeten Berge von Wicklow, deren einige
wie Zuckerhüte ſich hoch über die andern erheben,
und zuletzt durch eine Allee uralter Rüſtern, längs
des Canales führend, brachte mich in den Phönirpark,
der Prater Dublins, welcher dem Wiener nicht nach-
ſteht weder an Umfang noch ſchönen Raſenflächen
zum Reiten, langen Alleen zum Fahren, und ſchatti-
gen Spaziergängen. Dem Herzog von Wellington
iſt hier ein großer, aber ſchlecht proportionirter, Obe-
lisk errichtet, und der Lord Lieutenant hat, auch im
Bezirk des Parks, einen hübſchen, von Gärten ein-
geſchloſſenen Sommerpallaſt. Ich fand im Ganzen
den Park ziemlich leer, dagegen die Straßen der
Stadt, durch welche ich meinen Rückweg nahm, deſto
belebter von Handel und Wandel. Der Schmuz, die
Armuth und die zerlumpte Tracht des gemeinen
Mannes überſteigt oft allen Glauben. Dennoch ſchei-
nen die Leute ſtets guter Dinge, und zeigten zuwei-
len auf offner Straße Anwandlungen von Luſtigkeit,
die an Verrücktheit gränzten. Gewöhnlich iſt der
Briefe eines Verſtorbenen. I. 11
[162] Whisky daran Schuld; ſo ſah ich einen halbnackten
Jüngling den Nationaltanz mit der größten Anſtren-
gung auf dem Markte ſo lange tanzen, bis er gänz-
lich erſchöpft, gleich einem muhamedaniſchen Derwiſch,
unter des Volkes Jubel bewußtlos hinfiel. Eine
Menge Betteljungen füllen überdies die Straßen,
welche, wie Fliegen um einen herſummend, unaufhör-
lich ihre Dienſte anbieten. Ohngeachtet ihrer ſchreien-
den Armuth kann man ſich doch ganz auf ihre Ehr-
lichkeit verlaſſen, und ſo gedrückt ſie von Elend er-
ſcheinen, mager und verhungert, ſo merkt man doch
ihren offenen, freundlichen Geſichtern auch keine Me-
lancholie an. Es ſind die wohlgezogenſten und ge-
nügſamſten Straßenjungen von der Welt. Ein ſol-
cher Knabe rennt, wie ein regulärer Läufer, viele
Stunden neben dem Pferde her, hält es, wenn man
abſteigt, beſorgt jede Commiſſion, und iſt mit ein
paar Groſchen die man ihm giebt, ſtets nicht nur
zufrieden, ſondern noch voller Dankbarkeit, die er
mit [irländiſchen] Hyperbeln ausdrückt. Geduldiger als
ſeine Nachbarn, durch lange Sclaverei aber etwas
erniedrigt, erſcheint überhaupt der Irländer. Ich war
unter andern Zeuge, daß ein junger Menſch, welcher
einen Comödienzettel falſch angeklebt hatte, von dem
dazukommenden Schauſpieldirektor auf offner Straße
geohrfeigt und mißhandelt wurde, ohne daß er ſich
im Geringſten widerſetzte. Jeder Engländer würde
fogleich Repreſſalien gebraucht haben.


Den Abend brachte ich in dem Familienkreiſe eines
altan Bekannten zu, eines Bruders des Lord Lieute-
[163] nants, der eben auf einige Tage in die Stadt ge-
kommen war. Wir erinnerten uns alter Zeiten, wo
ich ihn viel in London geſehen. Er hat ein beſonde-
res Talent, den ſeligen Kemble nachzuahmen, dem er
auch ähnlich ſieht, und ich glaubte wieder Coriolan
und Lenga zu hören.



Ein andrer Freund, von noch älterem Datum, be-
ſuchte mich dieſen Morgen, um mir ſein Landhaus
zum Aufenthalt anzubieten, Mr. W., dem ich einſt in
Wien einen Dienſt zu erweiſen Gelegenheit gehabt.
Er hatte mich kaum verlaſſen, als man mir meldete,
Lady B., eine irländiſche Peereß, und eine der hüb-
ſcheſten Frauen dieſes Landes, deren Geſellſchaft ich
in der letzten season in der Metropolis ſehr cultivirt
hatte, halte in ihrem Wagen unten am Hauſe und
wünſche mich zu ſprechen. Da ich noch im größten
Negligée war, ſagte ich dem Kellner, einem wahren
Jocrisse, deſſen irish blunders mich [täglich] amüſiren,
ich ſey nicht angezogen, wie er ſähe, würde aber gleich
erſcheinen. Dieſen Zuſtand meiner Toilette richtete
er zwar aus, ſetzte aber de son chef hinzu, Mylady
möge doch lieber heraufkommen. Denke Dir alſo
meine Verwunderung, als er, zurückkehrend, mir mel-
dete, Lady B. habe ſehr gelacht und ließe mir ſagen:
warten wollen ſie recht gern, aber Herren-Morgenbe-
ſuche auf ihrer Stube zu machen, ſey in Irland nicht
gebräuchlich. In dieſer Antwort zeigte ſich ganz der
11*
[164] freundlich heitere, niemals kleinlich-difficile Charakter
der Irländerinnen, den ich ſchon früher lieb gewon-
nen hatte. Eine prude Engländerin würde entrüſtet
fortgefahren ſeyn, und vielleicht die Reputation eines
jungen Menſchen über ein ſolches qui pro quo rui-
nirt haben — denn in der engliſchen Geſellſchaft [ſtößt]
man nicht nur mit Dingen an, die anderwärts ganz
das Gegentheil bewirken, ſondern das „man ſagt
iſt im Munde einer einflußreichen Perſon dort ein
zweiſchneidiges Schwert. He has a bad character*)
iſt genug um einem Fremden hundert Thüren zu ver-
ſchließen. Durch eigne Beobachtung läßt ſich der
[Engländer] weit weniger leiten als man denkt. Im-
mer ſchließt er ſich an eine Parthei an, mit deren
Augen er ſieht.


Die Villa meines Freundes, den ich Nachmittags
beſuchte, um bei ihm zu ſpeiſen, bot das Ziel für
eine ſehr anmuthige Promenade. Sie fing mit dem
Phönix Park an, und folgte dann dem Laufe des
Liffey, deſſelben Fluſſes der durch Dublin fließt, wo
er mit ſeinen ſchönen Quai’s, ſteinernen und eiſer-
nen Brücken, ſo viel zu der Verſchönerung der Stadt
beiträgt. Hier dagegen erſcheint er ländlich und ro-
mantiſch, mit den Fußbreiten [Blättern] der Fuſſilago
behangen, von ſanften Hügeln und friſchem Laubholz
[165] eingefaßt. Einen bettelnden Invaliden, den ich an-
traf, frug ich, wie weit ich noch nach W … habe,
und ob der Weg gleich ſchön bliebe? O! rief er mit
irländiſcher Vaterlandsliebe: Langes Leben Eure
Ehren! Nur getroſt vorwärts, nichts Schönres habt
Ihr noch in dieſer Welt geſehen!


Der Eingang zu W … Park iſt auch, ohnge-
fähr eine Viertel Stunde Wegs weit, wirklich das
Reizendſte was man in dieſer Art ſehen kann. Eine
an ſich ſehr ſchöne Natur iſt durch die Kunſt zum
höchſten Grade ihrer Empfänglichkeit benutzt, und
ohne ihren freien Charakter zu verwiſchen, eine
Mannichfaltigkeit und Reichthum der Vegetation her-
vorgebracht, die das Auge bezaubern. Buntes Gebüſch
und wilde Blumen, der ſaftigſte Raſen und Rieſen-
bäume mit Schlingpflanzen bedeckt, füllen das enge
Felſenthal, durch welches ſich der Weg mit dem be-
gleitenden Waldbach hinzieht. Fortwährend kleine
Waſſerfälle bildend, ſtrömt dieſer, bald ſich unter
dem Dickicht verbergend, bald wie geſchmolznes Sil-
ber im grünen Becken ruhend, oder unter Felſen-
bogen hinrauſchend, die die Natur als Triumph-
Pforten für den wohlthätigen Flußgott des Thales
aufgerichtet zu haben ſcheint. Sobald man indeß
den tiefen Grund verläßt, ſchwindet der Zauber
plötzlich. Der Reſt entſpricht den zu hoch geſpannten
Erwartungen keineswegs. Aridesgras, krüppliche
Bäume, ein unbewegtes, ſchlammiges Waſſer um-
geben ein kleines gothiſches Schloß, das einer ſchlech-
ten Theaterdecoration gleicht. In demſelben findet
[166] man jedoch wieder einiges Intereſſante, unter an-
dern Gemälde von Werth, und den herzlichſten und
beſten Wirth, den man ſich wünſchen kann. Eines
originellen pavillon rustique muß ich noch [erwähnen],
der an einer paſſenden Stelle im pleasure ground
erbaut war. Er iſt ſechseckig, die drei hintern Sei-
ten dicht und mit rohen [Holzäſten] ſehr zierlich in Ro-
ſetten aller Formen, ausgelegt; die andern drei Sei-
ten in durchbrochenen dessins à jour, zwei mit Fen-
ſtern, und in der letzten die Thüre; Der Boden be-
ſteht aus Moſaik von kleinen Flußſteinen; die Decke
aus Muſcheln, und das Dach iſt mit Weizenſtroh
gedeckt, an dem man die vollen Aehren gelaſſen hat.



Ohngeachtet meine Bruſt mich fortwährend ſchmerzt
und der Doctor zuweilen bedenkliche Geſichter macht,
fahre ich doch in meinen Ausflügen fort, die mir
allein wahres Vergnügen gewähren. In der unge-
ſchminkten Natur wird mir wohler als unter den
maskirten Menſchen.


Von den ohngefähr 4 — 5 Meilen entfernten Ber-
gen hatte ich mir ſchon lange den einen ſehnſüchtig
auserſehen, welcher auf ſeiner Spitze drei einzeln
ſtehende Felſen zeigt, und deshalb auch, „the three
rocks“
genannt wird. Die Ausſicht von dort mußte
ſehr ſchön ſeyn — ich machte mich alſo früher wie
gewöhnlich auf, um zur rechten Zeit auf dem Gipfel
anzulangen. Oefters frug ich in den Dörfern, durch
[167] die ich kam, nach dem beſten Weg, konnte aber nie
genaue Antworten erlangen. Endlich verſicherte
man mich in einem Hauſe, das am Fuße des Bergs
lag, man könne nur hinauf gehen, aber nicht rei-
ten. Dies Erſtere wäre bei dem Zuſtand meiner
Bruſt nicht auszuführen geweſen, da ich aber die
Unmöglichkeiten der Leute ſchon hinlänglich kennen
gelernt habe, ſo folgte ich der angezeigten Richtung
ganz getroſt zu Pferde, um ſo mehr, da ich mich auf
meine kleine gedrungene Stute ſehr gut verlaſſen
konnte, und die irländiſchen Pferde, wie Katzen,
über Mauern und Felſen klettern. Eine Zeit lang
verfolgte ich einen ziemlich gebahnten Fußſteig, und
als dieſer aufhörte, das trockne Bette eines Berg-
waſſers, welches mich auch, nach ohngefähr ¾ Stun-
den, ohne beſondre Beſchwerde glücklich hinauf ge-
leitete. Ich befand mich nun auf einem großen kah-
len Plateau, und ſah 1000 Schritt vor mir die drei
Felſen, gleich Hexenſteinen, ihre Kuppen hervorrecken.
Das Ganze ſchien aber nichts als ein weiter un-
gangbarer Sumpf. Ich probirte ſehr vorſichtig, und fand
bald, daß 8 — 10 Zoll tief unter dem Moder überall
eine kieſige Unterlage ruhte. Dies hielt auch aus;
nach einiger Zeit erreichte ich ganz feſten Boden,
und ſtand auf dem höchſten Punkte. Da lag die
erſehnte Ausſicht endlich vor mir. — Irland, wie
eine Landkarte, Dublin, wie ein rauchender Kalk-
ofen in der grünenden Ebne (denn der Steinkohlen-
dampf ließ auch nicht ein Gebäude erkennen) die
Bay aber mit ihren Leuchtthürmen, dem kühn ſich
[168] zeichnenden Vorgebürge Howth, und auf der andern
Seite die bis an den Horizont ausgedehnten Berge
von Wichlow, glänzten alle im Sonnenſchein, ſo
daß ich mich für die kleine Fatigue mehr als belohnt
fand. Aber die Scene wurde noch belebter durch
eine reizende junge Frau, die ich in dieſer Wüſte,
bei dem beſcheidnen Geſchäft des Streumachens,
entdeckte. Die natürliche Grazie der irländiſchen
Bauerweiber, die oft wahre Schönheiten ſind, iſt
eben ſo überraſchend als ihre Tracht, oder vielmehr
ihr Mangel an Tracht, denn ohngeachtet es recht
kalt auf dieſen Bergen war, beſtand doch die ganze
Kleidung der jungen Frau vor mir, aus nichts als
einem weiten, ſehr groben Strohhut und, wört-
lich
, zwei oder drei Lappen aus dem gröbſten här-
nen Zeuge, die ein Strick unter der Bruſt zuſam-
menhielt, und unter welchen ſie die ſchönſten weißen
Glieder mehr als zur Hälfte zur Schau trug. Ihre
Unterhaltung war, wie ich ſchon bei andern bemerkt,
heiter, neckend und witzig ſogar, dabei ganz unbe-
fangen und gewiſſermaßen frei, doch würde man
ſich ſehr irren, wenn man ſie deshalb auch für leicht-
fertig hielte. Dieſe Klaſſe iſt im Gegentheil faſt all-
gemein ſehr ſittlich in Irland, und beſonders auf
eine auffallende Weiſe unintereſſirt, ſo daß, wenn
Einzelne ja einmal vom Pfade der Tugend weichen,
es gewiß höchſt ſelten aus dieſem, bei ſolchen Din-
gen unnatürlichem und niedrigen Beweggrunde des
Eigennutzes geſchieht.


[169]

Nachdem ich den Berg, nun mein Pferd führend,
ſo gut es gehen wollte, auf einer andern Seite wie-
der herabgeklettert war, und eine große Landſtraße
erreicht, kam ich bei einem offenſtehenden Parkthore
vorbei (denn auch hierin gleicht Irland dem Conti-
nent, wo ein Beſitzer ſolcher Anlagen, vom König
bis zum Landedelmann, am Genuſſe des Publi-
kums ſeine eigne Freude vermehrt) und ritt hinein.
Ich gab aber die Unterſuchung bald auf, als ich
zwei rieſenmäßige Capuziner mit Kreuz und Kutte,
aus angemalten Brettern geſchnitten, am Scheide-
wege ſtehen ſah, deren jeder ein Buch von ſich ab-
hielt, auf dem mit großen Buchſtaben geſchrieben
war: Weg zur Faſanerie, Weg zur Abtei. Dieſer
ſchlechte Geſchmack iſt hier ſonſt ziemlich ſelten.


In der Stadt begegnete ich einem Londner Dandy,
der mich anrief, denn ich erkannte ihn nicht, herz-
lich darüber lachte, uns in such a horrid place
mit einander zu ſehen, eine Weile über die Dubli-
ner Geſellſchaft fortſatyriſirte, und am Ende damit
ſchloß, mir zu eröffnen, daß er, durch den Credit
ſeiner Familie, eben eine Directorſtelle hier bekom-
men, die ihm zwar über 2000 L. St. einbringe, auch
nichts zu thun gebe, aber doch zwinge pro forma
eine Zeit lang des Jahres dieſen chokanten Aufent-
halt zu wählen. So, und noch viel reichlicher, wird
mit Sinecuren ohne Zahl überall in England für
die jüngeren Söhne der Ariſtokratie geſorgt — ich
glaube aber, der Krug wird auch hier nicht ewig zu
[170] Waſſer gehen, ohne zu brechen, obgleich man ge-
ſtehen muß, daß dieſe Fehler in der engliſchen Con-
ſtitution, gegen die Willkühr anderer Staaten ge-
halten, immer unr Flecken in der Sonne bleiben,
verſteht ſich, Irland ganz ausgenommen, das faſt
in jeder Hinſicht ſtiefmütterlich behandelt zu werden
ſcheint, und doch faſt den ſtärkſten Beitrag zur
Größe und der Macht des engliſchen Adels geben
muß, ohne dafür einen einzigen Vortheil, wie Eng-
land deren ſo viele, zurück zu erhalten.



Deine Briefe bleiben immer noch ſo trübe, gute
Julie . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Du ſiehſt alſo, daß weniger das, was wirklich ge-
ſchieht, als Deine älter werdende, daher ſorgenvol-
lere und hipochondriſchere Anſicht Schuld an dieſem
Trübſinne ſind. Aber freilich! dieſes iſt grade mehr
als alles, ein unabwendbares Uebel! Man iſt nicht
mehr derſelbe der man war, und es bleibt der ewige
Irrthum in der Welt: daß man glaubt, man könne
noch ſich durch Kraftanſtrengung helfen, wo die
Kraft nicht mehr da iſt — eben ſo wenig wie wie-
[171] der jung werden und ausſehn! Auch ich fange ſchon
an dies zu ſpüren, doch nur da, wo mir die Ketten
der Welt angelegt ſind — bin ich mit meinem Gott
und der Natur allein, ſo kann ſelbſt der dunkelſte
Horizont des Lebens meine innere Sonne noch nicht
verfinſtern.


Ich frühſtückte heute auf dem Lande bei einer ſehr
gefeierten jungen Dame, mit der ſchon erwähnten
Lady B. Der Hausherr gab Migraine vor, und ich
mußte daher allein mit den Damen einen langen
Spaziergang in den Anlagen machen. Als wir je-
doch an das Gartenthor kamen, welches uns in die
ſchönſte Waldparthie führen ſollte, war es verſchloſ-
ſen, und kein Schlüſſel zu bekommen, da nach Ver-
ſicherung des alten Gärtners, die Kammerjungfer
der gnädigen Frau hereingegangen und ihn abgezo-
gen habe. Ein Diener mußte über die Mauer ſprin-
gen, um die Schuldige aufzuſuchen, kam aber unver-
richteter Sache zurück. Nun ließ ich eine Leiter brin-
gen, und vermochte die lachenden Weiber hinüber
zu klettern, wobei ſie ſich ſehr ungeſchickt anſtellten,
aber doch allerliebſt ausnahmen. Nach einer Viertel-
ſtunde begegneten wir dem unglücklichen Kammer-
mädchen, und zwar, da ſie ſich ſicher glaubte —
nicht allein, man kann ſich denken in weſſen Geſell-
ſchaft. — Eine ſtumme häusliche Scene erfolgte,
und zu gutmüthig um zu lachen, that es mir von
Herzen leid, durch meine Leiter ſolches Unglück an-
gerichtet zu haben. Ich refüſirte das Diner, und
eilte in die Stadt zurück, um Lady M . . . . . zu
[172] beſuchen, an welche ich einen Brief mitgebracht
und die mir ſchon früher eine artige Einladung ge-
ſendet, die ich jedoch nicht annehmen konnte. Ich
war ſehr begierig auf dieſe Bekanntſchaft, da ich ſie
als Schriftſtellerin ſehr hoch ſtelle, fand ſie jedoch
ganz anders, als ich ſie mir gedacht. Es iſt eine
kleine frivole, aufgeweckte Frau, die ohngefähr zwi-
ſchen 30 und 40 Jahr alt zu ſeyn ſcheint, nicht hübſch,
nicht häßlich, jedoch nicht ohne Prätenſion für das
erſte und mit wirklich ſchönen, ausdrucksvollen Au-
gen. Sie weiß nichts von fausse honte und Verle-
genheit, ihre Manieren ſind aber nicht die feinſten,
und affectiren eine aisance und Leichtigkeit der
großen Welt, der doch die Ruhe und Natürlichkeit
fehlt. Sie hat die ächt engliſche Schwäche: mit vor-
nehmen Bekanntſchaften zu prahlen und für ſehr
recherchirt gelten zu wollen — in zu hohem Grade
für eine Frau von ſo ausgezeichnetem Geiſt, und
wird durchaus nicht gewahr, wie ſehr ſie ſich da-
durch ſelbſt unterſchätzt. Uebrigens iſt ſie nicht ſchwer
kennen zu lernen, da ſie ſich, mit mehr Lebhaftig-
keit als gutem Geſchmack, von Anfang an ganz of-
fen hingiebt, und namentlich ihre Liberalität wie
ihren Unglauben, letzterer etwas von der veralteten
Schule des Helvetius und Condillac, bei jeder Ge-
legenheit auskramt. In ihren Schriften iſt ſie weit
behutſamer und würdiger als in ihrer Unterhaltung,
die Satyre der letzteren iſt aber eben ſo beißend und
gewandt als ihre Feder, und auch eben ſo wenig
gewiſſenhaft, was die ſtrenge Wahrheit betrifft. Du
[273[173]] kannſt Dir denken, daß mit allen dieſen Elementen
zwei Stunden ſehr angenehm für mich verfloſſen.
Ich hatte Enthuſiasmus genug um ihr einiges An-
genehme à propos ſagen zu können, und ſie behan-
delte mich mit vieler Zuvorkommenheit, einmal, weil
ich einen vornehmen Titel hatte, und dann, weil
ſie mich ſtets in der Londner Morning-Poſt als:
auf Almacks tanzend, und bei mehreren Fêten der
Tonangeber gegenwärtig, aufgeführt gefunden hatte
— ein Umſtand der ihr ſo wichtig ſchien, daß ſie
ihn mehrmals wiederholte.



Am geſtrigen Abende ſollte ich eine Soirće bei
Lord C . . . . ., dem Chef einer neuen Familie, aber
einen der älteſten Wit’s von Dublin, beiwohnen,
zu dem mich Lady M . . . ., ſeine Freundin, eingela-
den, wurde aber durch eine tragikomiſche Begeben-
heit daran verhindert. Ich war, den H . . . v. L. auf
ſeinem Schloſſe zu beſuchen (das ſich, entre nous,
ſo wenig wie er und ſeine Familie der Mühe ver-
lohnte), auf’s Land geritten, und es ſchon ſpät ge-
worden, als ich den Rückweg antrat. Um Zeit zu
gewinnen, nahm ich meine Direktion querfeld ein
à la Seidlitz. Eine Weile ging Alles vortrefflich,
bis ich, ſchon bei anbrechender Dämmerung, an ei-
nen ſehr breiten Graben kam, deſſen vor mit liegen-
des Ufer bedeutend höher als das entgegengeſetzte
[174] war, und eine weite Wieſe rund umher einſchloß.
Ich ſprang demohngeachtet glücklich in dieſen Enclos
hinein, als ich aber auf der andern Seite wieder
heraus wollte, refüſirte mein Pferd, und alle Mühe
es zum Gehorſam zu bringen, war vergeblich. Ich
ſtieg ab um es zu führen, dann wieder auf, um
den Sprung an einem andern Ort zu verſuchen,
wendete Güte und Gewalt, alles ohne Erfolg an,
bis es endlich, bei einem ungeſchickten Verſuch mit
mir ins ſumpfige Waſſer fiel, und nur mit Mühe
an der inneren niedrigeren Seite wieder zurück klet-
terte. Jetzt blieb alle Hoffnung verloren, den ver-
zauberten Platz zu verlaſſen, in dem ich mich, wie
in einer Mauſefalle, gefangen ſah — überdem war
es ganz dunkel geworden, ich fühlte mich eben ſo
erhitzt als durchnäßt, und mußte mich endlich ent-
ſchließen, das Pferd zurück zu laſſen, um zu Fuß,
tant bien que mal, über den fatalen Graben zu
ſetzen, und wo möglich eine Wohnung und Hülfe
aufzuſuchen. Der Mond kam glücklicherweiſe dienſt-
fertig hinter den Wolken hervor, um mir zur höchſt
nöthigen Leuchte zu dienen. Nur nach einem recht
ſauren Gange über Aecker und durch hohes naſſes
Gras, gelangte ich nach einer halben Stunde zu ei-
ner erbärmlichen Hütte, in der bereits Alles ſchlief.
Ich tappte hinein (denn verſchloſſen wird hier kein
Haus) ein paar Schweine grunzten unter meinen
Füßen — gleich darauf der neben ihnen liegende
Wirth. Mit Mühe machte ich ihm mein Anliegen
begreiflich, indem ich mit Silbergelde ihm vor den
[175] Ohren klapperte. Dieſer überall [verſtändliche] Klang
erweckte ihn beſſer als mein Rufen, er ſprang auf,
holte ſich noch einen Gefährten, und zurück ging’s
zu meiner Didone abbandonata. Die Irländer wuß-
ten ſich zu helfen — ſie trugen eine verloren aufge-
ſchlagene Brücke in der Nähe ab, legten ſie über
den Graben, und ſo fand ich mich endlich mit dem
befreiten Pferde wieder auf feſtem Wege, kam aber
ſo ſpät und in einem ſolchen Zuſtande zu Hauſe an,
daß ich, der Ruhe bedürftig, es gar nicht ungern
hörte, wie Lady M . . . ., die mich abzuholen gekom-
men, ſchon ſeit einer Stunde verdrüßlich wieder ab-
gefahren ſey. Am andern Morgen trug ich ihr
meine Entſchuldigungen vor, wo ſie mir auch gnä-
dig verzieh, aber verſicherte, daß ich viel verloren,
da Alles was noch Vornehmes und Faſhionables in
der Stadt ſey, jener Soirće beigewohnt habe. Ich
verſicherte mit Aufrichtigkeit, daß ich nur die Ent-
behrung ihrer Geſellſchaft bedauren könne, dafür
aber durch ihre Güte entſchädigt zu werden hoffte,
ſobald ich nur die „ſentimental Journey“ nach der
Grafſchaft Wickkow gemacht, nach der meine deutſche,
romantiſche Seele inbrünſtig verlange, und die ich
morgen früh zu Pferde anzutreten gedenke. Die
Unterhaltung fing nachher an ſehr heiter zu wer-
den — denn ſie liebt das — und endigte zuletzt ſo
läppiſch, daß ſie mir zurief: finessez! wenn ſie zu-
rückkommen, werde ich mich Ihrer blos wie eine
ältere Schweſter annehmen, und ich ihr lachend ant-
wortete: Das kann ich nicht annehmen — je crain-
[176] drai le sort d’Abufar.
Lady M … gegenüber war
das allerdings ein etwas fader Spaß.


Aus Felſen und Bergen erhälſt Du die Fortſe-
tzung. Adieu, und möge der Himmel Dich erheitern,
und alle Worte meiner Briefe Dir zurufen: Treue
Liebe bis in den Tod.


Dein L …


[[177]]

Neun und zwanzigſter Brief.



Geliebte Julie!

Gegen Mittag verließ ich Dublin ganz allein, be-
quem auf meinem guten Gaul etablirt, ließ Wagen
und Leute in der Stadt zurück, und ſandte einen
kleinen Mantelſack mit den nothwendigſten Effekten
durch die Diligence voraus. Leider aber muß mit
dieſem eine Verwechſelung vorgegangen ſeyn, denn
obgleich ich ſeinetwegen den ganzen Tag und die
Nacht, in dem nur 20 Meilen von Dublin entfernten
Bray verweilte, langte er nicht an, und ich habe da-
her, um nicht entweder zurückreiſen, oder noch länger
warten zu müſſen, mir einen ſchottiſchen Mantel, nebſt
etwas Wäſche in Bray gekauft, und die Tour ganz
auf Studentenweiſe angetreten. Ich ſoupirte mit
einem jungen Geiſtlichen von guter Familie, der mich,
bei ſonſt ſehr leichtfertigen Reden, durch ſeine Ortho-
doxie in Religionsſachen lachen machte. Aber ſo iſt
die Frömmigkeit der Engländer beſchaffen, es iſt eine
Partheiſache für ſie und zugleich eine Schicklich-
keitsſitte — und ſo wie ſie im Politiſchen ſtets ihrer
Briefe eines Verſtorbenen. I. 12
[178] Parthei, durch dick und dünn, verſtändig und unver-
[ſtändig], immer gleich unverrückt folgen, weil es ihre
Parthei iſt, oder einer Gewohnheit immerfort ſcla-
viſch ſich unterwerfen, weil es ſo bei ihnen üblich
iſt — betrachten ſie auch die Religion, ohne alle Poe-
ſie, ganz aus demſelben Geſichtspunkt, gehen Sonn-
tags eben ſo ohnfehlbar in die Kirche, als ſie täglich
eine friſche Toilette machen, um ſich zu Tiſch zu ſe-
tzen, und ſchätzen den, welcher die Kirche vernachläſ-
ſigt, faſt eben ſo gering, als Jemand, der Fiſch mit
dem Meſſer ißt.*)


Begleitet von dem jungen Theologen, der eine Zeit
lang denſelben Weg mit mir verfolgte, verließ ich
am andern Morgen Bray ſchon früh um 5 Uhr. In
einer ausgezeichnet ſchönen Gegend paſſirten wir Kil-
ruddery, ein neugebautes Schloß des Grafen Meath,
im Geſchmack der Häuſer aus den Zeiten der Köni-
gin Eliſabeth, welches aber, um einen guten Effect
zu machen, größere Maſſen verlangt hätte. Der Park
iſt nicht ſehr ausgedehnt, lang und ſchmal, die alt-
franzöſiſchen Gärten werden gerühmt, wir wurden
aber, wahrſcheinlich unſres beſcheidenen Aufzugs we-
gen, ſehr unhöflich abgewieſen als wir ſie zu ſehen
wünſchten. In England iſt dies etwas Gewöhnli-
[179] ches, in Irland aber Seltnes, was daher auch keinen
vortheilhaften Schluß auf die Humanität des Beſi-
tzers machen läßt. Mein Begleiter, der ein Anhän-
ger der grace efficace iſt, d. h. feſt überzeugt: daß
Gott im Voraus ſeine Lieblinge für den Himmel,
Andere, die ihm weniger gefallen, aber für die Hölle
beſtimme — zweifelte in ſeinem Zorne nicht, daß der
Beſitzer von Kilruddery zu den letztern gehören müſſe.
„Es iſt eine Schande für einen Irländer!“ rief er
entrüſtet, und ich hatte Mühe, ihm die Pflicht der
Toleranz begreiflich zu machen. Ein zweiter Park,
Bellevûe, einem würdigen alten Gentleman gehörig,
öffnete uns bereitwilliger ſeine Thore. Hier iſt über
dem glen of the downs, einem tiefen Abgrund, hin-
ter welchen zwei ausgebrannte Vulkane wie ſpitze Ke-
gel ſich erheben, ein Ruheſitz erbaut, der in der Luft
zu [hängen] ſcheint. Man hatte dieſen Pavillon ſehr
artig mit rothblühender Haide gedeckt. Weniger gut
ausgedacht war ein im Vorzimmer, wie lebendig da-
liegender, ausgeſtopfter Tiger.


Hier verließ mich mein Reiſekaplan, und ich ritt
allein weiter nach dem Thal von Dunvan, wo in ei-
nem engen romantiſchen Paſſe ein Felſen von 80 bis
100 Fuß Höhe ſteht, der die groben Umriſſe eines
Menſchen darſtellt, und daher von den Landleuten,
die manche Mährchen von ihm erzählen, der Rieſe ge-
nannt wird. Nicht weit davon findet man die Rui-
nen eines ſo ganz mit Epheuſtämmen überwachſenen
Schloſſes, daß man nahe davor ſtehen muß, um es
von den umgebenden Bäumen unterſcheiden zu kön-
[180] nen. Am Ende des Thales wendet ſich der Pfad,
über Wieſen, nach einer bedeutenden Anhöhe, vor der
eine der überraſchendſten Ausſichten ſich erſchließt.
Faſt mit Heimwehgefühlen erblickte ich hier wieder,
im blauen Duft über dem Meer, die Berge von
Wales.


Nachdem ich mich in einem ländlichen Gaſthofe ein
wenig mit Milch und Brod erfriſcht, ſetzte ich meinen
Weg nach the devil’s glen, (der Teufelsſchlucht) fort,
die ihren Namen mit Recht trägt. Die wilde Natur-
ſcene beginnt mit einem gothiſchen Schloß, deſſen von
Rauch geſchwärzte Mauern aus dem Walde hervor-
ragen, dann vertieft man ſich ſeitwärts in ein Thal,
deſſen Wände nach und nach immer höher werden,
ſich immer dichter zuſammenziehen, während im dunk-
len Dickicht der pfeifende Luftzug heftiger, und das
Brauſen des Stroms immer furchtbarer wird. Müh-
ſam auf dem ſchlüpfrigen Boden fortreitend, und un-
aufhörlich von den überhängenden Aeſten beläſtigt
ſieht man plötzlich den Weg durch eine prachtvolle
Cascade geſchloſſen, die, gleich einem weißen Unge-
heuer, über hohe Abſätze ſich niederſtürzt, und in der
Tiefe wühlend verſchwindet. Iſt es nicht der Teufel
ſelbſt, ſo iſt es wenigſtens Kühleborn.


Zu einer ſehr angenehmen Abwechſelung dient es,
daß auf dieſe ſchauervolle Schlucht das liebliche idylli-
ſche Thal von Roſanna folgt, wo ich unter dem
Schatten hoher Eſchen mein Mittagsmahl einnahm.
Ich fand noch zwei regulaire engliſche Touriſten hier,
[181] die, mit Pflanzenbuch und Gebürgshammer bewaff-
net, ſchon ſeit Wochen hier hausten, und eben ſo ord-
nungsmäßig, als in einem Londner Coffeehauſe, ihr
reines Tiſchtuch von dem ſchmutzigen Tiſche zum De-
ſert abnehmen ließen, und eine Stunde bei dieſem
ſitzen blieben, obgleich ſie dazu, ſtatt Claret, nur elen-
den Krätzer, und ſtatt reifer Früchte, nichts als ge-
bratne Aepfel bekommen konnten.


Um 7 Uhr ſtieg ich wieder zu Pferde, und gallo-
pirte 10 Meilen auf der großen Heerſtraße fort, bis
ich noch vor Sonnenuntergang das wunderherrliche
Avondale (Thal des Avon) erreichte. In dieſem Pa-
radieſe iſt wirklich alles Reizende vereinigt. — Ein
endlos ſcheinender Wald, zwei prächtige Flüſſe, viel-
formige pittoreske Felſen, die friſcheſten Wieſen, alle
Arten von Laub- und Nadelhölzern, in höchſter Uep-
pigkeit; fortwährend eine mit jedem Schritt abwech-
ſelnde, aber nie geringer erſcheinende Natur. Ich
hätte, da ich den letzten Theil des Thales bei Mon-
denſchein durchzog, meinen Weg ſchwer aufgefunden,
wenn nicht ein junger Herr, der von der Jagd zu-
rückkam, mit ächt irländiſcher Gefälligkeit, mich wohl
3 Meilen weit über die difficilſten Stellen zu Fuß
begleitet hätte. Die Nacht war äußerſt klar und
milde, der Himmel ſo blau wie am Tage, und der
Mond glänzend wie Edelſtein. Obgleich ich an den
Fernausſichten verlor, gewann ich auf der andern
Seite vielleicht mehr, durch den magiſchen Schein der
die Luft durchdrang, durch die dunkler, aber auch
phantaſtiſcher hervortretenden Contoure der Felſen,
[182] die gedankenſchwangere Stille und ſüßſchauerige Ein-
ſamkeit der Nacht. Um 10 Uhr erreichte ich das Ziel
meiner heutigen Reiſe, Avoca Inn, wo man, mit be-
ſcheidnen Anſprüchen, recht leidliche Bewirthung, und
ſehr freundliche Bedienung findet. Ich traf abermals
einen Touriſten aus London im Speiſezimmer, dies-
mal ein luſtiger und intereſſanter junger Mann, der
in ſeinem Entzücken über die reizende Gegend völlig
mit mir harmonirte, und mit dem ich daher noch eine
Stunde beim Abendthee ſehr angenehm verplauderte,
ehe ich mich hinſetzte, um Dir zu ſchreiben. Aber
nun gute Nacht, denn auf Bergreiſen muß man früh
aufſtehen, und daher nicht allzuſpät das Bett auf-
ſuchen.



Geſtern ritt ich 8 deutſche Meilen, heute 9 —
und meine Bruſt befindet ſich eben nicht ſchlechter
dabei. Aber Vergnügen thut viel, und ich ſah ſo
viel verſchiedene Gegenſtände, daß mir die paar Tage
wie ſo viel Wochen vorkommen.


Ich hatte gut geſchlafen, obgleich das zerbrochene
Fenſter meiner Kammer nur mit einem Kopfkiſſen
zugeſtopft war. Dem ärmlichen Nachtlager folgte
ein beſſeres Frühſtück, und auch mein Pferd fand ich
vortrefflich abgewartet. Ich reiſe, wie die Araber,
Gallop oder Schritt, dies fatiguirt am wenigſten,
[183] und man kommt am weiteſten damit. Meine erſte
Excurſion war nach dem berühmten Ort, the mee-
ting of the wators
(die Begegnung der Wäſſer) ge-
nannt, wo ſich die beiden Flüſſe Avonmore und
Avonbeg vereinigen, und die maleriſcheſte Gegend zu
ihrem Hochzeitsfeſt gewählt haben. Auf einem Felſen
jenſeits, ſteht Caſtle Howard, mit vielfachen Thürmen
und Zinnen; es ſind jedoch leider nur eben fertig ge-
wordne — die in der Nähe nicht mehr imponiren.
Ich fand im Schloß noch Alles im Schlaf, und ein
Diener, im Hemde, zeigte mir die Gemälde, unter
denen ſich ein herrliches Portrait der Maria Stuart
befindet. Dies war gewiß eine ſprechende Aehnlich-
keit. Es iſt offenbar aus ihrer Zeit, und das anzie-
hende, ächtfranzöſiſche Geſicht, mit der feinen Naſe,
dem reizenden Mund, den ſchmachtenden Feueraugen,
und jenem unnachahmlichen Ausdruck, der, ohne grade
entgegen zu kommen, doch etwas ſo Muth Einflößen-
des hat, und, obgleich nicht ohne weibliche Würde,
dennoch, ſo zu ſagen, auf den erſten Blick ſchon, Ver-
traulichkeit hervorruft — Alles überzeugt, daß ſo nur
die Frau ausſehen konnte, bei welcher faſt Jeder, der
mit ihr in nähere Berührung trat, ohngeachtet ihres
hohen Ranges, auch ſogleich die Rolle eines Liebha-
bers ſpielte. Ihre Hände ſind wunderſchön, und in
ihrer Tracht, obgleich im barocken Styl der Zeit,
herrſcht ſo viel Harmonie, daß man ſchnell inne wird,
ſie habe die Toilettenkunſt nicht weniger gut verſtan-
den, als ihre heutigen Landsmänninnen.


[184]

Eine vortrefflich unterhaltne Straße führt von hier
nach dem entire vale und dem Park von Bally Ar-
thur. Dieſes Thal hat das Eigenthümliche, daß die
Berge, auf beiden Seiten, ſo undurchdringlich dicht
mit Buchen bewaldet ſind, daß kein ſichtlicher Zwi-
ſchenraum der Maſſen bleibt, und es wirklich ſcheint,
als könne man auf den Baumgipfeln herabſteigen.
Ich verließ hier die Straße, und folgte einem Fuß-
ſteig, im Dickicht, der mich zu einer ſehr ſchönen Aus-
ſicht führte, wo, am Ende der langen Schlucht, die
Thürme von Arcklow, wie in Rahm gefaßt, erſchei-
nen. Eine halbe Stunde ſpäter endete er aber plötz-
lich und brachte mich an ein Aha, welches mein Pferd
durchaus nicht überſpringen wollte. Da ſich die her-
abgehende Mauer dieſſeits befand, und der Raſen
darunter weich war, ſo ergriff ich, in der Noth, ein
neues Mittel, nämlich, ich verband dem widerſpenſti-
gen Thier die Augen, und ſtieß es rückwärts von der
Mauer herab. Der Fall erſchreckte das geblendete
Pferd wenig, that ihm aber, wie ich vorausgeſehen,
nicht den geringſten Schaden, und ruhig mit der
Blindekuhbinde graſend, erwartete es nachher meine
Ankunft. Dies Manoeuvre erſparte mir wenigſtens
5 Meilen Weg. Der neue Park in dem ich mich
nun befand — denn dieſer ganze Theil der Grafſchaft
iſt faſt eine fortlaufende Anlage, durch Kunſt verſchö-
nerter Natur — gehörte zu Shelton Abbey, auch
eine moderne „Gothiſcherey,“ die ein altes Kloſter
vorſtellen ſollte. Die Herrſchaft war ſchon Jahrelang
abweſend, und ein Neger, der im Garten arbeitete,
[185] zeigte mir die Zimmer, welche einige ſehr intereſſante,
alte Genre-[Gemälde] enthielten. Der Held des einen
iſt ein Aeltervater der Familie ſelbſt, die Scene in
Italien, und die Tracht, wie die dargeſtellten Sitten,
äußerſt ſonderbar, ja anſtößig. Quer über die Wie-
ſen, und durch eine ziemlich tiefe Furth des Fluſſes,
deſſen eiskaltes Bad er nicht ſcheute, führte mich der
dienſtfertige Neger bis an die Stadt Arcklow, von
wo ich auf der Landſtraße zum Mittageſſen nach
Avoca Inn zurückkehrte, nachdem ich vorher noch ei-
nen Bergvorſprung beſtiegen, von dem man einen
Blick in drei verſchiedene Thäler hat, deren ganz ent-
gegengeſetzter Charakter eine höchſt originelle Anſicht
gewährt.


Kaum hatte ich mich in Avoca zu Tiſch geſetzt,
als man einen Herrn bei mir meldete, der mich
zu ſprechen wünſche. Ein mir ganz fremder junger
Mann trat ein, und überreichte mir eine Brieftaſche,
in der ich, mit nicht geringer Verwunderung, meine
eigne erkannte, die, außer andern wichtigen Papieren,
welche ich auf der Reiſe immer bei mir trage, mein
ganzes Reiſegeld enthielt. Ich hatte ſie in dem Berg-
pavillon, Gott weiß wie, aus der Bruſttaſche verlo-
ren, ohne es zu bemerken, und mir daher jetzt nicht
wenig zu einem ſo ehrlichen und gefälligen Finder zu
gratuliren. In England möchte ich meine Brieftaſche
ſchwerlich wieder zu ſehen bekommen haben, ſelbſt
wenn ſie ein Gentleman gefunden hätte, denn dieſer
hätte ſie wahrſcheinlich entweder ruhig liegen laſſen,
oder — behalten. Bei dieſer Gelegenheit muß ich
[186] doch erwähnen, was der bekannte Ausdruck „Gentleman“
eigentlich ſagen will, da die Bedeutung welche man
ihm im Lande giebt, die Engländer ungemein gut
charakteriſirt. Ein Gentleman heißt weder ein Edel-
mann, noch ein edler Mann, ſondern, wenn man es
ſtreng betrachtet, *) nur: ein durch Vermögen, und
genaue Bekanntſchaft mit den Gebräuchen der guten
Geſellſchaft unabhängiger Mann. Wer dem Pu-
blikum in irgend einer Art dient, oder für daſſelbe
arbeitet, höhere Staatsdiener und etwa Dichter und
Künſtler erſter Cathegorie ausgenommen, iſt kein,
oder höchſtens nur zur Hälfte Gentleman. Ich war
noch vor kurzem ſehr erſtaunt, einen bekannten Herrn,
den wenigſtens alle Pferdeliebhaber im In- und Aus-
lande kennen, der reich iſt, mit manchem Herzog und
Lord auf vertrautem Fuße ſteht, und überhaupt recht
viel Anſehn genießt, aber dennoch wöchentlich in einer
großen Anſtalt Pferde verauctionirt, wodurch er dem
Publikum gewiſſermaßen verpflichtet wird — von ſich
ſelbſt ſagen zu hören: „Ich kann nicht begreifen, wie
„mir der Herzog von B … den Auftrag geben konnte,
„dem Grafen M … eine Ausforderung zu überrei-
„chen, dazu [hätte] er einen Gentleman wählen
„müſſen — meine Sache iſt ſo etwas nicht.“


Ein wirklich armer Mann, der auch keine Schul-
den zu machen im Stande iſt, kann unter keiner Be-
[187] dingung ein Gentleman ſeyn, weil er von Allen der
abhängigſte iſt. Ein reicher Schuft dagegen kann,
wenn er eine gute Erziehung hat, ſo lange er ſeinen
Charakter (Ruf) leidlich zu menagiren verſteht, *)
ſogar für einen perfekt Gentleman gelten. In der
ercluſiven Geſellſchaft London’s giebt es noch feinere
Nüancen. Wer dort z. B. ſchüchtern und höflich ge-
gen Damen ſich beträgt, ſtatt vertraulich, ohne viele
Rückſicht, und mit einer gewiſſen non chalance ſie zu
behandeln, wird den Verdacht erregen, daß er kein
Gentleman ſey; ſollte der Unglückliche aber, bei einem
diné, gar zweimal Suppe verlangen, oder, bei einem
großen Frühſtück, welches um Mitternacht endet und
um 3 Uhr Nachmittags angeht, in einer Abendtoilette
erſcheinen — ſo mag er ein Fürſt und Millionair
ſeyn, aber ein Gentleman iſt er nicht.


Doch zurück von Babylon’s Zwang zu der Frei-
heit der Berge. Das Land, welches ich jetzt durch-
ritt, glich auffallend den flacheren Gegenden der
Schweiz, immer allmählig anſteigend, bis ich mich den
höchſten Bergen Wicklows gegenüber ſah, deren Häup-
ter wieder gleich dem Snowdon, von Wolken verhüllt
erſchienen. Das Thal von Glenmalure hat den Cha-
rakter einer todten Erhabenheit, mit dem das trübe
Wetter vortrefflich harmonirte. In der Mitte deſſel-
ben ſteht, wie ein verwünſchtes Schloß, eine große
[188] verlaſſene und ſchon baufällige Caſerne, weder Baum noch
Strauch iſt dabei zu ſehen, und die Seiten der hohen
Berge ſind nur mit zerbröckelten Steinen bedeckt.
Blos unterirdiſch iſt dieſes Thal belebt, und ſelbſt
dieſes Leben bringt Tod. Es befinden ſich nämlich
große Bleibergwerke hier, deren ungeſunde Ausdün-
ſtungen man auf den bleichen Geſichtern der Arbei-
ter wahrnimmt. Ich fuhr, in einen ſchwarzen Kittel
gebüllt, in die Felſenſchachten ein — eine düſtre ſchau-
rige Fahrt! Die Gänge waren kalt wie Eis, tiefe
Dunkelheit herrſchte in ihnen und ein ſchneidender
Wind wehte uns mit Grabesdüften entgegen. Von
der niedrigen Decke, die zu gekrümmter Stellung
zwang, tropfte mit hohlem Klang taktmäßig Waſſer
herab, und die unerträglichen Stöße des Karrens,
den ein Mann langſam über den holprigen Felſenbo-
den hinzog, vollendeten das Bild einer ſchrecklichen
Exiſtenz! Der leidende Zuſtand meiner Bruſt er-
laubte mir hier keinen längeren Aufenthalt, und ich
gab daher die weitere Unterſuchung auf, froh — „wie
ich wieder begrüßte das roſige Licht.“


Ich mußte nun auf einer neu gebauten ſchönen
Militairſtraße (denn das Gouvernement iſt, mit einem
üblen Gewiſſen, immer in Irland beſorgt) über einen
der Bergcoloſſen hinüber, die das Thal verſchließen. Die
Ausſicht von der Höhe war weit und herrlich, und
doch in einem ſehr verſchiednen Charakter von dem
bisher Geſehenen, wozu die glücklichſte Beleuchtung
viel beitrug, indem die Sonne hinter ſchwarzen Wol-
ken hervorblitzte. Nichts giebt fernen Gegenſtänden
[189] eine größere Klarheit und ein verklärteres Licht. Die
Strahlen legten ſich in breiten Streifen wie eine
Glorie über die vielfach ſich durchkreuzenden Berg-
flächen, und die zwei sugarloafs (Zuckerhüte) ſtanden,
alles überragend, dunkelblau in dieſer Helle am Ho-
rizont. Der Weg, den Berg hinunter, iſt ſo allmäh-
lig in Schlangenlinien geführt, daß ich ihn bequem
hinabgallopiren konnte. Demohngeachtet war es ſchon
voller Abend, ehe ich in das letzte der, während der
heutigen Tagereiſe zu beſuchenden Thäler, das der
ſieben Kirchen kam. Hier ſtand, vor mehr als tauſend
Jahren, (sic fabula docet) eine große Stadt mit ſieben
Kirchen, welche die Dänen zerſtörten. Noch iſt ein
ſchönes Thor faſt ganz erhalten, obgleich ihm der
Schlußſtein fehlt, den aber die Zeit durch einen dicken
Epheuſtamm erſetzt hat, welcher die ganze Wölbung
zuſammenhält. Sieben einzeln ſtehende Ruinen ſind,
dem Volksglauben nach, die Ueberbleibſel der heili-
gen Kirchen, welche dem Thale den Namen geben.
Nur eine davon trägt dieſen Charakter unzweifelhaft,
und iſt merkwürdig durch einen der höchſten jener
ſeltſamen myſterieuſen Thürme, ohne Thür und
Fenſter, welche man bei vielen Kloſterruinen in Ir-
land antrifft, und deren eigentliche Beſtimmung noch
immer unbekannt geblieben iſt. Weiter hin ruhen,
im tieferen Grunde und heiliger Stille, zwei dunkle
Seen, berühmt durch die Abentheuer des heiligen
Kavin. Die Felſen ſind hier ungewöhnlich ſteil, und
an manchen Orten wie Treppenſtufen geformt. In
dem einen iſt eine ſchmale und tiefe Spalte, die ganz
[190] einem gewaltſam gemachten Einſchnitte gleicht. Die
Sage erzählt, daß der junge Rieſe Fian Mac Com-
hal — als ſeine Cameraden befürchteten, er ſey noch
zu ſchwach zu dem Kriege, in dem ſie eben verwickelt
waren — um ihnen eine Probe ſeiner Kraft zu ge-
ben, mit ſeinem Schwerte dieſen Felſen ſpaltete, und
ſo jedem ferneren Zweifel ein Ende machte. Weiter
hin entdeckt man in einem, jenſeits über den See
[hängenden] Felſen, gleich einem ſchwarzen Loch im
Geſtein, die Höhle St. Kavins. Hier verbarg ſich
der Heilige vor der ihn verfolgenden Liebe der ſchö-
nen Königstochter Cathelin, und lebte lange, in tief-
ſter Einſamkeit von Wurzeln und Kräutern. In ei-
ner verhängnißvollen Stunde entdeckte jedoch die von
der Leidenſchaft umhergetriebene Schöne den Flücht-
ling, und überraſchte ihn, im Dunkel der Nacht, auf
ſeinem Mooslager. Mit ſüßen Küſſen erweckte ſie
den ungalanten Heiligen, welcher, ſeine Tugend ver-
loren ſehend, ſich kurz entſchloß, und Cathelin über
Bord warf, wo in den kalten Fluthen des Sees Liebe
und Leben ſie zugleich verließ. Doch fühlte der Mann
Gottes nachher ein menſchliches Rühren, und legte
einen Zauber über die Gewäſſer, daß fortan Nie-
mand mehr ſein Leben in ihnen verlieren ſolle, wel-
che Beſchwörung noch heut zu Tage in Kraft geblie-
ben iſt, wie mein Cicerone bezeugte. Dieſer Cicerone
war ein hübſcher, wie gewöhnlich halb nackter Knabe
von eilf Jahren, und ſeine Kleidung ein erwähnungs-
werther Echantillon [irländiſcher] Toilette. Er trug
den Leibrock eines erwachſenen Mannes, dem, außer
[191] verſchiedenen transparenten Stellen, anderthalb Aer-
mel und der eine Rockſchoos fehlten, während der
andere, wie ein Cometenſchweif, hinter ihm auf der
Erde ſchleppte. Halstuch, Weſte und Hemde waren
als gänzlich unnütz beſeitigt. Dagegen nahmen ſich
die Rudera von ein paar rothen Plüſchhoſen recht
ſtattlich aus, obgleich weiter unten nur barfuße Beine
daraus hervorguckten. Dieſe Geſtalt über die Felſen,
wie ein Eichhörnchen klettern zu ſehen, und dabei von
Tommy *) Moore und Walter Scott ſingen zu hö-
ren, war gewiß charakteriſtiſch. Als er mich nach der
Höhle führte, wo die Paſſage etwas glitſcherich war,
rief er: O, das geht ſehr gut, hier habe ich Walter
Scott auch hingebracht, der mit ſeinem lahmen Fuß
auf die ſchlimmſten Stellen hinkletterte. Der konnte
gar nicht weg davon kommen — und nun recitirte
er ſchnell vier Verſe, die Scott oder Moore, ich er-
innere mich nicht mehr welcher, auf die Höhle gedich-
tet. Dieſe Menſchen hier paſſen ſo vortrefflich zu dem
wilden, mit Ruinen des Erdbodens, wie ſeiner Be-
wohner, bedeckten Lande, daß, ohne ſie, gewiß das
Ganze einen großen Theil ſeiner romantiſchen Wir-
kung verlieren würde.


Um zur Nachtruhe in einen leidlichen Gaſthof zu
gelangen, mußte ich von hier aus, bei Mondſchein,
noch zehn Meilen über einen endloſen Torfmoor reiten,
[192] den gewöhnlichen Aufenthalt allerlei Spuck’s, von
dem mich jedoch nur einige einſame Irrlichter, vor-
beigleitend, mit ihrer Gegenwart beehrten.


Als ich im Dorfe ankam, waren beide Gaſthöfe
ſchon von Touriſten beſetzt, und ich erhielt nur mit
großer Mühe, ein kleines Vorzimmer eingeräumt, wo
ich auf Stroh ſchlafen werde. Thee, Butter, Toaſt
und Eier ſind aber vortrefflich, und der Hunger würzt
überdem das Mahl. Ich kann Dir nicht ſagen, wie
angenehm mir dieſes Leben iſt! Mit allen Entbeh-
rungen fühle ich mich doch wahrlich hundert mal
mehr à mon aise, als encombrirt und beläſtigt von
tauſend unnöthigen Bequemlichkeiten. Ich bin frei
wie der Vogel in der Luft, und das iſt ein hoher
Genuß. Uebrigens Ehre dem Ehre gebührt. Wenig
Menſchen würden nach ſolchen Fatiguen ſich mit re-
ligiöſer Ordnung alle Abend hinſetzen, um Dir ſo
langen Rapport von den Tagesbegebenheiten abzu-
ſtatten. Erfreut es Dich nur, ſo bin ich hundertfach
belohnt. —



Gall behauptete, wie Du Dich erinnern wirſt, als
er in Paris meinen Schädel unterſuchte, daß ich ein
ſehr hervorſtehendes Organ der Theoſophie habe.
Demohngeachtet halten mich Viele für einen argen
Ketzer — aber Gott hat Recht — wenn anders Re-
[193] ligiöſität in Liebe, und im aufrichtigen Streben nach
Wahrheit beſteht. In einer ſolchen frommen, frohen
Stimmung, begrüßte ich betend und dankend den
friſchen Morgen, und die innere Heiterkeit durchdrang
wohlthuend den häßlichen feuchten Nebel, der mich
umgab, denn das Wetter war herzlich ſchlecht. Auch
der Weg war öde und traurig, aber Geduld! Sonne
und Schönheit brachte dennoch der Abend. — Für
jetzt war nur dürre Haide und Torfmoor um mich,
ſo weit das Auge reichte, und ein Sturm pfiff ſtoß-
weiſe darüber hin, und trieb naſſe Nebelwolken vor
ſich her, die, wenn ich in ihren Bereich kam, mich
wie ein ſtarker Regen durchnäßten. Nur ſchwache
kurze Sonnenblicke gaben momentane Hoffnung, bis,
gegen Mittag, ſich die Wolken theilten, und grade
als ich auf der Bergſpitze über den prächtigen See
und Thal von Luggenlaw anlangte, die Sonne die
Gegend vor mir herrlich vergoldete, obgleich die Häup-
ter der Berge noch alle verſchleiert blieben. Auch die-
ſes Thal gehört einem reichen Beſitzer, der einen rei-
zenden Park daraus gemacht hat. Es iſt originell
geſtaltet, und ich will verſuchen, Dir eine anſchauliche
Anſicht davon zu geben. Es bildet einen faſt regel-
mäßigen länglich ovalen Keſſel. Die erſte Hälfte des
Grundes vor Dir füllt, bis dicht an den Fuß der
Berge, Waſſer; die zweite iſt eine mit Baumgruppen
bedeckte Wieſenfläche, durch die ein Bergſtrom ſich
mäandriſch ſchlängelt, und in deren Mitte, an einen
einzeln ſtehenden Felſen gelehnt, ſich eine elegante
shooting lodge (Jagdhaus) zeigt. Die das Thal
Brieſe eines Verſtorbenen. I. 13
[194] umgebenden Berge ſind ſehr hoch und ſteil, und
ſteigen überall, glatt und ohne Abſatz, von der wie
planirt erſcheinenden Fläche empor. Links ſind es
nackte Felſen, von imponirender Geſtalt, nur hie und
da mit rother und gelber Erica bewachſen, die andern
drei Seiten aber mit dichten und mannichfaltigen
Pflanzungen bedeckt, deren Laub bis in den See
hinabhängt. Wo der erwähnte Bergſtrom ſich, auf
glänzend grünem Grasgrunde, in den See ergießt,
bildet er einen breiten Waſſerfall. Es iſt wohl ein
ſchöner Fleck Erde — einſam und abgeſchloſſen, der
Wald voll Wild, der See voll Fiſche, und die Natur
voll Poeſie.


Da die Jagdzeit noch nicht eingetreten iſt, war
die Herrſchaft abweſend, und die Frau des Inſpec-
tors, eine noch hübſche, wiewohl etwas paſſirte Frau,
mit ſchönen weißen Händen, und Manieren über ih-
ren Stand (wahrſcheinlich hatte ſie hier eine Ver-
ſorgung
erhalten) beſorgte mir auf meine Bitte
Frühſtück, während mich ihr lebhafter kleiner Sohn
vorher im Thal umherführte. Ein ſchöner Wind-
hund, der ſo leicht wie ein vom Wind entführtes
Blatt über den Boden glitt, und dann in unbändi-
gen Sätzen ſich der gegebnen Freiheit freute, beglei-
tete uns. Wir erklimmten (nicht ohne Schmerzen
meiner kranken Bruſt, car je ne vaux plus rien à
pied
) eine etwa 400 Fuß hohe Felſenplatte, von der
man das Thal ganz überſieht. Gegenüber erblickt
man ein ſeltſames Naturſpiel, ein ganz regelmäßig
in Stein geformtes ungeheures Geſicht, das finſter
[195] und verdrießlich auf den See herabſchaut. Die Augen-
braunen und der Bart werden auf das deutlichſte durch
Moos und Haide gebildet, und die dicken Backen, wie die
tiefen Augen, durch Felſenſpalten täuſchend nachgeahmt.
Der Mund ſteht offen, wenn man aber ein Stück
weiter geht, ſchließt er ſich, ohne doch ſonſt die Züge
zu verändern. Einen ſo lebendigen Berggeiſt zu be-
ſitzen, iſt wirklich eine beſondere [Prärogative]. Dieſer
ſieht aber, wie geſagt, recht verdrießlich in die Tiefe,
und ſcheint mit ſeinem offnen Munde nach dem See
herabzurufen: Ihr Menſchengezücht! laßt mir mein
Thal, meine Fiſche, mein Wild, meine Felſen und
Bäume in Ruh, oder ich begrabe Euch Pigmäen
alle unter ihren Trümmern! Es hilft aber nichts,
der Ruf der Geiſter iſt ohnmächtig geworden, ſeit
der Menſchen eigner Geiſt erwacht — in Stein ge-
bannt bleibt Rübezahls Antlitz, und ſeine Stimme
verhallt im ſpielenden Winde, der ehrerbietungslos
ſeine buſchichten Augenbraunen ſchüttelt, und ihm
die Wellen des Sees, wie ſpottend, [entgegenkräuſelt].


Eine Intervalle von 10 Meilen unintereſſanter
Gegend, lag zwiſchen dieſem Spaziergang und meiner
Ankunft vor den Thoren des Parks von P …, ei-
nem der größten und ſchönſten in Irland. Aber —
es war Sonntag! der Herr ein Frömmler, und folg-
lich das Thor verſchloſſen. — An dieſem Tage ſollte,
nach ihm, ein Frommer ſeine Wohnung [höchſtens]
für eine dumpfige Kirche verlaſſen, aber keiner
ſich in Gottes eignem wunderherrlichen Tempel er-
freuen. Dieſer Sünde wollte der Herr v. P …
13*
[196] keinen Vorſchub leiſten, und hatte daher, bei augen-
blicklicher Verabſchiedung, die Oeffnung ſeiner Pfor-
ten verpönt. Ich verſuchte, durch meine frühere Dir
bekannte avanture in England gewitzigt, nicht einmal
durch ein Geſchenk den Eingang zu erzwingen, ſon-
dern verfolgte meinen Weg [längs] der Mauer, über
die ich zuweilen ſehnſüchtig nach dem großen Waſſer-
fall und der bezauberten Gegend verſtohlene Blicke
warf. Du lieber Gott, dachte ich, wie verſchieden
wirſt Du angebetet! die Einen braten Dir ihren
Nächſten, die Andern machen Dich zum Apis, dieſe
glauben Dich partheiiſcher und ungerechter noch als
der Teufel ſelbſt, und Jene denken: mehr als Alle
zu leiſten, wenn ſie Deine ſchöne Lebensgabe ſich
und andern verderben und entziehen! O Herr von
P …! Du wirſt dieſe Zeilen nicht leſen, aber es
wäre gut wenn du es thäteſt, und ſie beherzigteſt.
Gar mancher arme Mann, der die Woche lang
ſchwitzt um dir ſein Pachtgeld abzuzahlen, würde am
Sonntag froh in deinem ſchönen Parke ſeyn, und
des Herrn Güte ſegnen, der ihm doch nicht Alles,
ſelbſt den Anblick ſeiner Herrlichkeit, entzieht, dies
würde am Ende auch Dich erfreuen, aber — du
ſelbſt biſt wohl gar nicht zugegen, und ſendeſt deine
frommen Befehle blos von weitem? du biſt vielleicht,
wie ſo viele deiner Collegen, auch einer jener absen-
tées,
der durch heißhungrige und erbarmungsloſe
Beamten das Volk von dem letzten Lumpen entblö-
ßen, die letzte Kartoffel ihm rauben läßt, um in Lon-
don, Paris oder Italien, Maitreſſen und Charlatans
[197] zu bereichern? *) Dann freilich — kann deine Reli-
gion nicht weiter gehn, als den Sonntag und die
Ceremonieen deiner Prieſter heilig zu halten.


Von hier bis Bray prunkt eine üppige Cultur,
voller Landhäuſer und Gärten der reichen Städter.
Der Weg führt nahe am Fuß des großen Sugar
Loaf’s vorbei, deſſen weißgrauer, nackter Felſenkegel
von aller Vegetation entblößt iſt. Ich ſah einige
Reiſende, die ihn eben erſtiegen hatten, wie Schach-
figuren, darauf umher ſpazieren, und beneidete ſie um
die erhabne Ausſicht, denn der Tag war herrlich,
und der Himmel völlig klar geworden. An einer ein-
ſamen Stelle lagerte ich mich gegen Abend, unter
Feldblumen am Bache hin, und träumte, Gott dan-
kend, in die ſchöne Welt hinein; wie ein fahrender
Ritter mein zahmes Thier neben mir graſen laſſend.
Ich dachte viel an Dich und vergangene Zeiten, ließ
Lebende herankommen und Todte auferſtehen, und
blickte, wie ein Spiegel, über das geſchwundene Le-
ben hin — manchmal wehmüthig, manchmal auch
heiter lächelnd — denn durch alle Thorheiten und
Eitelkeiten dieſer Welt, durch Irrthum und Fehler
zog ſich doch ein reiner Silberſaden hin, noch ſtark
genug für lange auszuhalten — kindlich liebendes Ge-
[198] fühl, und hohe Empfänglichkeit für Freuden, die
Gottes Güte Jedem erreichbar läßt.


Bei guter Zeit traf ich in Bray wider ein, wo
auch der Mantelſack ſich endlich eingefunden hatte.
Manches was er enthielt, war nach der langen Ent-
behrung nicht zu verachten, unter andern lieferte er
mir den intereſſanteſten Tiſchgefährten Lord Byron.
Eben betrachte ich ſeine beiden Portraits, zwei mir
geſchenkte Handzeichnungen, die ich dem Giaour und
dem Don Juan beigeheftet habe. Gleich Napoleon,
erſcheint er, mager, wild und leidend, wo er noch
ſtrebte; fett geworden und lächelnd, als er erreicht
hatte. Aber in beiden ſo verſchiednen Geſichtern,
zeigt ſich doch ſchon der tief vom Schickſal aufgewühlte,
tiefer noch empfindende, und doch dabei höhnende,
verachtende, vornehme Geiſt, der dieſe Züge belebte.


Lachen muß ich immer über die Engländer, die die-
ſen ihren zweiten Dichter (denn nach Shakespeare
gebührt gewiß ihm die Palme) ſo jämmerlich ſpieß-
bürgerlich beurtheilen, weil er ihre Pedanterie ver-
ſpottete, ſich ihren Krähwinkelſitten nicht fügen, ihren
kalten Aberglauben nicht theilen wollte, ihre [Nüch]-
ternheit ihm ekelhaft war, und er ſich über ihren
Hochmuth und ihre Heuchelei beklagte. Viele machen
ſchon ein Kreuz, wenn ſie nur von ihm ſprechen, und
ſelbſt die Frauen, obgleich ihre Wangen von Enthu-
ſiasmus glühen, wenn ſie ihn leſen, nehmen öffent-
lich heftig Parthei gegen den heimlichen Liebling, oft
zu Gunſten der gemeinen Seele eines Weibes, die
nie würdig war, Lord Byrons Schuhriemen aufzulö-
[199] ſen, und deren kleinlicher Rache es dennoch leicht
wurde, ihn in der engliſchen Geſellſchaft zu Grunde
zu richten *)! Es war der anerkennenden deutſchen,
es war unſers Patriarchen würdig, durch ein gewich-
tiges und tiefes Wort dieſem Heroen, der Europa
angehört, der engliſchen Schandſäule gegenüber, eine
dauernde deutſche Ehrenpforte zu errichten.


Könnte ich Dir auch heute, mit ſeinen unſterblichen
Worten, ein Farewell, aber kein letztes, ja hoffentlich
kein langes, nur ein gleich inniges zurufen! So ge-
denke mein.


Dein treuer L …


[[200]]

Dreißigſter Brief.



Liebe und Gute!

Die vergangenen Tage brachte ich mit Schmerzen
und Fieber im Bette zu, heute erſt kann ich Deine
Briefe beantworten. Des geiſtvollen V … Schrei-
ben hat mir freilich geſchmeichelt, obgleich der Enthu-
ſiasmus, den ihm meine kleinen Schöpfungen einge-
flößt, nur in ſeiner dichteriſchen Seele entſtanden iſt,
die ſich mit der Phantaſie ſchon ein Ideal als wirk-
lich
hinmalte, was erſt entſtehen ſoll. Verlange
aber meine Rückkunft nicht, bevor ſie möglich iſt,
und glaube mir: wo man nicht iſt, da wird man
gewöhnlich hingewünſcht, iſt man aber da, ſo iſt man
bald dennoch Vielen zu viel.


Ich ritt heute zum erſtenmal wieder aus, um mir
die Meſſe in Donngbrook nahe bei Dublin zu beſe-
hen, welche als eine Art Volksfeſt betrachtet wird.
Nichts in der That kann nationaler ſeyn! Die Arm-
ſeligkeit, der Schmutz und der tobende Lärm waren
überall eben ſo groß, als die Freude und Luſtigkeit,
mit der die wohlfeilſten Vergnügungen genoſſen wur-
[201] den. Ich ſah Speiſen und Getränke unter Jubel
verſchlingen, die mich zwangen, ſchnell hinweg zu
blicken, um meines Ekels Herr zu werden. Hitze und
Staub, [Gedränge] und Geſtank, il faut le dire, mach-
ten den Aufenthalt für längere Zeit faſt unerträglich.
Dies focht aber die Eingebornen nicht an. Viele
hundert Zelte waren aufgeſchlagen, alle zerlumpt wie
der größte Theil der Menſchen, und ſtatt Fahnen,
nur mit bunten Lappen behangen. Manche begnüg-
ten ſich mit einem bloßen Kreuz, oder Reifen; einer
hatte ſogar, als Wahrzeichen, eine todte, halb ver-
faulte Katze oben drauf geſtellt! Die niedrigſte Sorte
von Poſſenreißern trieben dazwiſchen, auf Bretter-
theatern und in abgetragner Flitterkleidung, ihr ſau-
res Handwerk, bis zur Erſchöpfung in der furchtba-
ren Hitze tanzend und grimmaſſirend. Ein Drittheil
des Publikums lag, oder taumelte, betrunken umher,
die andern aßen, ſchrieen oder kämpften. Die Weiber
ritten häufig, zu zwei bis drei auf einem Eſel ſitzend,
umher, bahnten ſich mit Mühe ihren Weg durch die
Foule, rauchten dabei behaglich Cigarren und agacir-
ten ihre Liebhaber. Am lächerlichſten nahmen ſich
zwei Bettler zu Pferde aus, deren Gleichen ich blos
am Rio della Plata einheimiſch glaubte. Das Pferd,
auf den ſie ohne Sattel ſaßen, und das ſie mit ei-
nem Bindfaden regierten, ſchien durch ſeine elende
Geſtalt für ſie mit betteln zu wollen.


Als ich den Markt verließ, nahm ein ſtark betrunk-
nes Liebespaar denſelben Weg. Es ergötzte mich, ihr
Benehmen zu beobachten. Beide waren grundhäßlich,
[202] behandelten ſich jedoch mit großer [Zärtlichkeit] und
vielen Egards, der Liebhaber deplogirte ſogar etwas
Chevalereskes. Nichts konnte galanter und zugleich
verdienſtlicher ſeyn, als ſeine wiederholten Bemü-
hungen, die Schöne vor dem Falle bewahren, obgleich
er ſeine eigne Balance zu behaupten nicht wenig
Schwierigkeit fand. Aus ſeinen grazieuſen Demon-
ſtrationen und ihrem frohen Gelächter, konnte ich
entnehmen, daß er ſich zugleich nach Kräften bemühte,
ſie gut zu unterhalten, und was ihre Antworten be-
traf, ſo wurden dieſe, ohngeachtet der exaltirten
Stimmung, mit einer Coquetterie, und innigen Ver-
traulichkeit gegeben, die einer Hübſcheren gewiß aller-
liebſt angeſtanden haben würden. Der Wahrheit zu
Ehren, muß ich zugleich bezeugen, daß von engliſcher
Brutalität keine Spur in ihrem Benehmen zu ent-
decken war — eher glichen ſie Franzoſen, zeigten aber
bei eben ſo viel Luſtigkeit mehr Humor und Gut-
müthigkeit, welche beide wahre Nationalzüge der
Irländer ſind, die durch Potheen (der beſte aber
auf illicite Weiſe gefertigte, Branntwein) ſtets ver-
doppelt werden.


Tadle mich nicht über die gemeinen Bilder, die ich
Dir vorführe. Sie ſind der Natur näher verwandt,
als die übertünchten Wachspuppen unſrer Salons.


[203]

Um den Park von Powerscourt zu ſehen, den mir
neulich der Sonntag verſchloß, bin ich heute hierher
zurückgekehrt. Nicht leicht wird die Natur größere
Hülfsquellen vereinigen, als ſie hier mit freigebiger
Hand geſpendet, und ihre Gaben ſind mit Verſtand
benutzt worden.


Die erſte Hauptparthie heißt der Dargle, eine ſehr
tiefe und enge Schlucht, die mit hohen Bäumen be-
wachſen iſt. Im Grunde rauſcht ein voller und rei-
ßender Fluß. Der Weg führt oben an der rechten
Seite hin, und von hier taucht der Blick tief in die
grünen Abgründe, aus denen manchmal das Waſſer
plötzlich hervorglänzt, oder eine kühne Felſengruppe
hervortritt. Drei größere Berge ragen über die
Schlucht empor, und ſcheinen, obgleich ziemlich weit
entfernt, in unmittelbarer Nähe, da man ihren Fuß
nicht ſieht. Sie waren heute Abend von der, ganz
italiäniſchen, Sonne tief roſenroth gefärbt, und con-
traſtirten prächtig, mit dem Saftgrün der Eichen.


Später öffnet ſich, bei einer Felſenzinne, the lovers
leap
(des Liebenden Sprung) genannt, die Schlucht
in mehrere Thäler, welche durch verſchiedene niedrige
Hügelreihen gebildet werden, in einiger Entfernung
aber von den höchſten Bergen der Gegend umſchloſ-
ſen ſind. In der Mitte dieſer Landſchaft erſcheint,
auf einem ſanften Abhange, und am Saume des
Waldes, das Schloß mit Blumenanlagen zierlich
umgeben. Von hier, bis zu dem großen Waſſerfall,
[204] führt der Weg, 5 Meilen lang, durch ſtets wechſelnde
Anſichten, die mehr dem freien Lande als einem
Parke gleichen. Endlich erreicht man einen Wald,
und hört ſchon von weitem das Rauſchen der Falles,
ehe man ihn noch ſieht. Er iſt nur nach vorherge-
gangenem Regenwetter bedeutend, aber dann auch
herrlich. Die hohen Felſenwände ſind an beiden Sei-
ten dicht mit Gebüſch bewachſen, durch deren buntes
Laub er ſich hervorſtürzt, und ſein Becken umgiebt
eine duftende Wieſe. An dieſe ſchließen ſich alte ehr-
würdige Eichen an, unter deren Schatten man ein
dem Charakter der Gegend angemeſſenes, Haus auf-
geführt hat, wo man Erfriſchungen erhält, daher es
auch zum gewöhnlichen Ziel der hierher gemachten
Landparthieen dient. [Grüne] Fußſteige führen nun
von hier noch weiter in die Wildniß des Gebürges,
da es aber ſchon dunkel war, mußte ich auf den
Rückweg denken. Herwärts hatte ich die weite Strecke
größtentheils im Gallop zurückgelegt, und um mich
nicht unnütz aufzuhalten, den zwölfjährigen zerlumpten
Knaben, der mich führte, hinter mir aufs Pferd ge-
nommen, unbekümmert um die Verwunderung der
Vorübergehenden, die nicht wußten, was ſie aus die-
ſer ſeltſamen Cavalkade machen ſollten. In der Nacht
konnte ich dagegen nur langſam auf dem ſteinigen
Wege reiten, bis der Mond orangenfarben über den
Bergen heraufſtieg, und ſich in den Nachtnebeln, wie
eine große Papierlaterne, zu ſchaukeln ſchien. Um 11
Uhr erſt gelangte ich, ermüdet und hungrig, im gaſt-
lichen Hauſe zu Bray wieder an.


[205]

Der ländliche Aufenthalt hier iſt ſo angenehm, daß
ich den heutigen Sonntag noch daſelbſt verbrachte.
Dieſes Gaſthofleben giebt zur Beobachtung der mitt-
lern Claſſen gute Gelegenheit, da jeder ſich hier giebt,
wie er iſt, und ſo zu ſagen, allein zu ſeyn glaubt.
Ich habe ſchon erwähnt, daß die Engländer dieſer
Claſſen, (ich faſſe unter dem Namen hier die eng-
liſch gebildeten
Einwohner aller drei König-
reiche zuſammen) auf Reiſen, im gemeinſchaftlichen
Gaſtzimmer, Coffeeroom genannt, ihren Tag zuzu-
bringen pflegen, wenn ſie ſich nicht außerhalb des
Hauſes befinden. Abends wird dies Coffeeroom mit
Lampen erleuchtet, und nur auf Verlangen, den an
einzelnen kleinen Tiſchen ſitzenden Herren beſondere
Lichter gebracht. Es hat mich oft gewundert, daß
in einem Lande, wo Luxus und raffinirte Lebensbe-
dürfniſſe ſo allgemein ſind, dennoch, ſelbſt in den er-
ſten Gaſthäuſern der Provinz, (auch in London
größtentheils) überall Talglichter gebrannt werden.
Wachskerzen ſind ein extraordinairer Luxus, und
wer ſie verlangt, wird zwar mit verdoppelter Höflich-
keit behandelt, ihm aber auch durchgehends mit
doppelter Kreide angeſchrieben.


Es hat etwas Beluſtigendes, die große Einförmig-
keit zu betrachten, mit der ſich Alle, wie aus einer
Fabrik hervorgegangen, betragen, was beſonders bei
ihrem Eſſen ſichtbar wird. An einzelnen Tiſchen pla-
cirt, Keiner die mindeſte Notiz vom Andern nehmend,
ſcheinen ſie doch Alle dieſelben Manieren, und auch
[206] denſelben gaſtronomiſchen Geſchmack zu haben. Nie-
mand genießt Suppe, die ohne beſondere Vorausbe-
ſtellung gar nicht zu haben iſt, (der Grund warum
mich mein alter ſächſiſcher Bedienter verließ, welcher
behauptete, in ſolcher Barbarei, ohne Suppe! nicht
länger exiſtiren zu können). Ein großer Braten wird
gewöhnlich von Einem zum Andern gebracht, um ſich
beliebig davon abzuſchneiden, und zugleich im Waſ-
fer gekochte Kartoffeln, und anders eben ſo zuberei-
tetes Gemüſe, nebſt einer plat de ménage voll Eſſen-
zen, auf jeden Tiſch geſtellt, dazu Bier eingeſchenkt,
und damit hat in der Regel die Hauptmahlzeit ein
Ende; nur die Luxuriöſen eſſen vorher noch Fiſch.
Aber nun folgt die weſentliche zweite Station. Das
Tiſchtuch wird abgenommen, reines Beſteck aufgelegt,
Wein und ein friſches Glas gebracht, nebſt ein Paar
elenden Aepfeln oder Birnen, mit ſteinharten Schiff-
biscuits, und jetzt erſt ſcheint ſich der Tafelnde recht
bequem feſtzuſetzen. Seine Miene nimmt den Aus-
druck der Behaglichkeit an, und ſcheinbar in tiefes
Sinnen verloren, hinten übergelegt, und unverrückt
vor ſich hinſtarrend, läßt er von Zeit zu Zeit einen
Schluck aus ſeinem Glaſe bedächtig hinabgleiten, die
Todtenſtille nur unterbrechend, indem er gelegentlich
eins der Felſenbiscuits mühſam zermalmt. Iſt der
Wein vollendet, ſo folgt noch eine dritte Station: die
des Verdauens. Hier hört alle Bewegung auf, der
Geſättigte verfällt in eine Art magnetiſchen Schlafs,
den bloß die offnen Augen vom wirklichen unter-
ſcheiden. Nachdem ſo [ohngefähr] eine halbe oder
[207] ganze Stunde verfloſſen iſt, fährt er plötzlich auf,
und ſchreit wie beſeſſen: Waiter! my slippers
(Kellner! meine Pantoffeln) und ein Licht ergreifend
wandelt er gravitätiſch aus dem Zimmer, um den
Pantoffeln und der Ruhe entgegen zu gehen. Dieſe
Farce von fünf bis ſechs Perſonen auf einmal vor ſich
abſpielen zu ſehen, hat mich oft beſſer wie eine Pup-
pencomödie unterhalten, und ich muß hinzufügen,
daß, mit Ausnahme der Pantoffeln, die Scene ſich
in den erſten Clubs der Hauptſtadt auch von Vor-
nehmeren ziemlich eben ſo abſpielt. Leſen ſah ich bei-
nahe nie einen Engländer bei Tiſch, und ich weiß
nicht, ob ſie es nicht für eine Unſchicklichkeit oder gar
eine Gottloſigkeit anſehen, wie z. B. am Sonntag
zu ſingen oder zu tanzen. Vielleicht iſt es auch nur
eine Regel der Diätetik, die mit der Zeit zu einem
Geſetz geworden iſt, welches ſie keine Lebhaftigkeit
des Geiſtes zu übertreten nöthigt.


Engländer die nicht zur Ariſtokratie gehören, oder
ſehr reich ſind, reiſen faſt immer ohne Bedienten,
mit der Mail oder Stagecoach (königliche und Pri-
vatdiligencen), worauf man ſchon in den Gaſthöfen
eingerichtet iſt. Derjenige, welcher dort die Fremden
bedient, und ihnen die Stiefeln putzt, hat ſelbſt den
allgemeinen Namen „Stiefeln“ (boots). Stiefeln
iſt es alſo, der die Pantoffeln bringt, ausziehen hilft,
und ſich dann empfiehlt, indem er fragt, um welche
Zeit man, nicht den Caffee, wie er in Deutſchland
fragen würde, ſondern das kochende Raſirwaſſer be-
fiehlt. Sehr pünktlich erſcheint er zur beſtimmten
[208] Stunde damit, und bringt zugleich die rein geputzten
Sachen. Der Reiſende pflegt dann ſchnell ſeine Toi-
lette zu machen, verrichtet noch einige nöthige Ge-
ſchäfte, und eilt hierauf ſeinem lieben Coffeeroom
von neuem zu, wo alle Ingredienzien des Frühſtücks
reichlich auf ſeinen Tiſch gepflanzt werden. Zu dieſer
Mahlzeit ſcheint er mehr Lebendigkeit mitzubringen,
als zu der ſpätern, auch mehr Appetit, glaube ich,
denn die Quantität der Theekubel, die Maſſe von
Butterbrod, Eyern und kaltem Fleiſch die er ver-
ſchlingt, erwecken ſtillen Neid in der Bruſt, oder viel-
mehr dem Magen, des weniger capablen Fremden.
Hier iſt es ihm auch nicht nur erlaubt, ſondern ſo-
gar durch die Gewohnheit (ſein Evangelium) gebo-
ten
, zu leſen. Bei jeder Taſſe Thee entrollt er
eine, auf unendliches Papier gedruckte, Zeitung, von
der Größe eines Tiſchtuches. — Keine Speech, keine
Crim, Con, keine Mordgeſchichte, vom accident maker
in London verfertigt *), wird überſchlagen. Wie Je-
ner, der lieber an einer Indigeſtion ſterben wollte,
als etwas einmal bezahltes ungenoſſen laſſen, ſo
denkt auch der ſyſtematiſche Engländer, daß er einer
einmal begonnenen Zeitung keinen Buchſtaben erlaſ-
[209] ſen darf, weshalb auch ſein Frühſtück mehrere Stun-
den dauert, und die ſechste oder ſiebente Taſſe kalt
getrunken wird. Ich habe geſehen, daß dieſe glor-
reiche Mahlzeit ſo lange hingezogen wurde, daß ſie
endlich mit dem diné zuſammenfloß, und Du wirſt
mir kaum glauben wollen, wenn ich Dich verſichere,
daß ſogar ein leichtes soupé um Mitternacht folgte,
ohne daß die Geſellſchaft unterdeß den Tiſch verlaſſen
hatte. Hierbei waren jedoch Mehrere verſammelt,
und ich muß überhaupt bemerken, daß, wenn dies
der Fall iſt, ſich ein ganz anderes Bild darſtellt, in-
dem dann der Wein die Geſellſchaft, ſtatt ſie in le-
thargiſches Sinnen verfallen zu laſſen, oft mehr als
zu geſprächig macht. Etwas Aehnliches fiel auch heute
vor. Fünf oder ſechs Reiſende ließen ſich es wohl
ſeyn, und nachdem ſie des Guten zu viel gethan hat-
ten, entſtand ein heftiger Streit unter ihnen, der
nach langem Lärm, ſehr ſeltſam, damit endete, daß
ſie Alle auf den Kellner losſtürzten, und dieſen zur
Thüre hinaus warfen. Hierauf wurde auch der Wirth
noch gezwungen hereinzukommen, und für den ganz
unſchuldigen Menſchen um Verzeihung zu bitten.
Keiner der an den andern Tiſchen allein Eſſenden,
nahm die mindeſte Notiz von dieſer Störung; ſondern
ſtarrte eben ſo gelaſſen wie bisher vor ſich hin. Ei-
ner jedoch, der ſein diné ſehr ſpät begonnen, gab
bald darauf ſelbſt eine neue Scene zum Beſten. Er
war mit den ihm überbrachten mutton unzufrieden,
und befahl daher dem Waiter, der Köchin zu ſagen,
ſie ſey a damned bitch (eine verdammte Hündin).
Briefe eines Verſtorbenen. I. 14
[210] Die Irländerin verlor über eine ſo ehrenrührige
Beleidigung allen Reſpekt, riß ſich aus den Armen
der ſie, noch an der Saalthür, vergebens zurück hal-
tenden Gefährtinnen los, ſtürzte mit untergeſtemm-
ten Händen auf den Beleidiger zu, und überſchüttete
ihn nun mit einer ſolchen Fluth ächt nationaler Be-
nennungen, daß dieſer, vor der empörten virago er-
blaſſend, das Feld räumte. Noch einmal ſo laut als
gewöhnlich: my Stippers! brüllend, eilte er, ohne
ferneren Verſuch, der Köchin die Spitze zu bieten,
ſchleunigſt ſeiner Schlafſtube im dritten Stocke zu;
denn Du weißt, daß, wie im Colombier, die Nacht-
lager ſich hier ſtes unter dem Dache befinden.


Als der verſtorbene Großherzog von W . . . . in
England war, bekam er auch Luſt, allein und incog-
nito mit der Stage zu reiſen, um dieſe Art Leben
kennen zu lernen. Es amüſirte ihn ſehr; am näch-
ſten Morgen war er aber nicht wenig verwundert,
als ihm der boots, nouchalamment, mit den Worten
die Stiefeln brachte: Ich hoffe, daß Euere Königl. Ho-
heit recht wohl geſchlafen haben! Er glaubte indeß, viel-
leicht falſch verſtanden zu haben, und ſetzte ſeine
Reiſe, auf der imperiale ſitzend, fort. Den [nächſten]
Morgen dieſelbe Titulatur. Nun frug er genauer
nach, und es fand ſich, daß im Innern ſeines Man-
tels eine Carte, mit ſeinem wahren Namen und
Stand, angeheftet war, die das incognito vernichtete.
Was ihm aber ohne Zweifel dabei am meiſten auffiel,
war, daß man ſo wenig darauf achtete, ob ein deut-
ſcher Souverain auf der Diligence ſitze oder nicht.
[211] Der gemeine Mann in England giebt auf Nang
überhaupt wenig, auf fremden gar nichts. Nur die
mittlere Klaſſe iſt hierin ſclaviſch, und prahlt gern
mit einem fremden Nobleman, weil ſie ihrer eignen
ſtolzen Ariſtokraten nicht habhaft werden kann. Der
engliſche Edelmann ſelbſt aber [hält] ſich, auch der
Geringſte ihrer Lords, im Grunde des Herzens für
mehr als den König von Frankreich.


Uebrigens iſt dieſe Art zu reiſen für Jemand, der
nicht blos Ortsveränderung beabſichtigt, oder ſich
durch größere Ehrfurcht der Gaſtwirthe und Kellner
geſchmeichelt fühlt, gewiß die, welche der gewöhn-
lichen Art die große Tour zu machen vorzuziehen
wäre, da die verminderte Bequemlichkeit durch ſo
viel Lehrreiches und Angenehmes aufgewogen wird,
daß man bei dem Tauſche hundertfach gewinnen
muß.



Meinen Rückweg von Bray nahm ich diesmal über
Kingſton, längs der Küſte auf einem rauhen, aber
ſehr romantiſchen Wege. Eine Unzahl von Bettlern
ſtanden an der Straße, denen es jedoch nicht an Be-
triebſamkeit fehlte, denn eine alte Frau unter an-
dern ſammelte emſig etwas weißen Sand auf der
Straße, der von einer Wagenladung durch die Bret-
ter gefallen war. Warum konnte man den Armen
nicht eine Stunde lang die Schätze unſres Sand-
14*
[212] Golkonda’s öffnen! In Ermangelung beglückte ich
ſie mit einigen Pence, von denen ich immer eine La-
dung in einer meiner Rocktaſchen führe, um ſie, wie
Körner an die Hühner, zu vertheilen, denn hier bet-
telt Alles.


Kingſton iſt ein größtentheils aus Landhäuſern der
Reichen beſtehendes Städtchen, wo auch der Lord
Lieutenant zuweilen reſidirt. Seit der König Ir-
land beſuchte, iſt ein Hafen hier errichtet, an dem
fortwährend gebaut wird. Wegen der Seichtigkeit
der Dubliner Bay iſt er von bedeutendem Nutzen,
dient aber jetzt hauptſächlich als ein Mittel, den ar-
men Klaſſen Arbeit zu verſchaffen. Die vielen inge-
nieuſen Erfindungen, die man hier angewendet ſieht,
die vierfach neben einander hinlaufenden Eiſenbah-
nen, wo ein Pferd die größten Laſten zieht, die
Kettenwinden, womit die ungeheuern Blöcke wie
kleine Quader gehandhabt und in die Dämme ein-
mauert werden, und anderes der Art mehr — ſind
ungemein lehrreich und intereſſant. Es lagen bereits
verſchiedene große Schiffe in dem noch unvollendeten
Hafen, wo ſie doch ſchon hinlängliche Tiefe und
Schutz finden. Unter ihnen fiel mir ein ganz ſchwar-
zes, abgetakeltes auf, das wie ein Geſpenſt einſam
daſtand. Ganz geheuer war es auch nicht darauf —
denn es enthielt, wie man mir berichtete, die nach
Botany bay beſtimmten Gefangenen: das Trans-
portſchiff, welches ſie von hier abführen ſollte, war
auch bereits angekommen. Für die Miſſethäter iſt dieſe
Transportation keine harte Strafe, (die Seekrankheit ab-
[213] gerechnet) und macht davon zwei Drittheil wenigſtens,
von neuem zu brauchbaren Staatsbürgern. Jede
Regierung könnte ſich, nach ihren lokalen Hülfsquel-
len, eine Art Botany bay verſchaffen — aber es wird
wohl noch lange dauern, ehe das Prinzip der Rache
aus den Geſetzen, und aus der Religion, ausgemerzt
ſeyn wird.


Man hat dem König wegen ſeiner denkwürdigen
(d. h. wegen ihrer Erfolgloſigkeit denkwürdigen)
Reiſe nach Irland, am Eingang des Hafens ein
Monument geſetzt, das mit der gewöhnlichen Ge-
ſchmackloſigkeit, die in Großbritannien faſt auf allen
öffentlichen Bauten wie ein Fluch zu ruhen ſcheint,
entworfen und ausgeführt iſt. Es zeigt einen kur-
zen, lächerlichen Knüppel von Obelisk, der auf die
Kante eines [natürlichen] Felſens dergeſtalt auf vier
Kugeln geſetzt iſt, daß es ausſieht, als müßte jeder
Windſtoß ihn in die See rollen. Man kann ſich
nicht enthalten, zu wünſchen, daß dies je eher je
lieber geſchehen möchte. Wie ein Kelchdeckel iſt oben
die Königskrone über die Spitze geſtülpt, und das
Ganze, gegen die grandioſen Dimenſionen des Ha-
fens und der umgebenden Gebäude, ſo klein und
mesquin, daß man es wohl als die Spielerei eines
Privatmannes, aber gewiß nicht für ein National-
Monument anſehen kann. Vielleicht war der Archi-
tekt ein mauvais plaisant, und gebrauchte es nur ſa-
tyriſch. Als Epigramm iſt es dann auch zu loben.


Die Straße von hier nach Dublin iſt prächtig und
ſtets mit Wagen und Reitern bedeckt. Es wunderte
[214] mich, ſie nicht arroſirt zu finden, was die Land-
ſtraßen in der [Nähe] von London ſo angenehm
macht. Wahrſcheinlich geſchieht es nur, wenn der
Vicekönig hier iſt. Heute war der Staub in dem
Gewühl und Gedränge faſt unerträglich, und alle
Bäume wie mit Kalk überzogen.


Als ich in Dublin ankam, war grade Sitzung der
katholiſchen Aſſociation, und ich ſtieg daher vor dem
Hauſe ab. Leider war aber weder Shiel noch Ocon-
nel gegenwärtig, ſo daß die Verſammlung gar nichts
Anziehendes darbot. Hitze und übler Geruch (car
l’humanité catholique puê autant qú une autre
) ver-
trieben mich daher ſchon nach wenigen Minuten.


Abends amüſirte ich mich beſſer in den Vorſtellun-
gen andrer Charlatans, nämlich einer Geſellſchaft ſo-
genannter engliſcher Reiter, die hier zu Hauſe ſind.
Herr Adam, in ſeiner Art wirklich: le premier des
hommes,
dirigirte die „Akademie,“ welche dieſen
Namen beſſer wie manche andere verdiente. Man
ſah mit Vergnügen gegen zwanzig elegant gekleidete
junge Leute, faſt Alle mit gleicher Geſchicklichkeit agi-
ren, und durch die künſtliche Verwirrung, Mannich-
faltigkeit, Schwierigkeit und reiſſende Schnelle ihrer
Bewegungen das Auge oft, gleich einem Chaos, mit
Diſſonanzen betäuben, die ſich im Augenblick darauf
in die anmuthigſte Harmonie auflöſen. Noch ergötz-
licher waren zwei unnachahmliche Clowns (Bajazzi),
deren Glieder keinen Dienſt einer Marionette ver-
ſagten.


[215]

Der Eine wurde überdies vortrefflich von ſeinem
ſcheckigen Eſel unterſtützt, welcher in der Präciſion
ſeiner Kunſtſtücke ſelbſt die edlen Roſſe beſchämte
und der Andere brachte, vermöge eines eigenthüm-
lichen, ſelbſt erfundenen Inſtruments, eine ſo ächt
narrenhafte Muſik zu Wege, daß ſchon die unerhör-
ten Töne, an und für ſich, unwiderſtehliches Lachen er-
regten. Ein pas de deux der beiden Clowns, mit
Füßen und Händen getanzt, die erſteren aber in der
Luft pas machend, während die Körper auf den Hän-
den gingen, ſchloß das Schauſpiel. Hier ſchien die
menſchliche Form zu verſchwinden und grauſend zu-
gleich, wie eine Hofmanniſche Darſtellung, kam das
Ganze dem bewilderten *) Zuſchauer, wie der Tanz
zweier toll gewordnen Meer-Polypen vor.


(Hier fehlen einige Blätter der Korreſpondenz.)


[[216]]

Ein und dreißigſter Brief.



Gute Julie.

Du machſt mich lachen mit Deiner Dankbarkeit für
mein fleißiges Schreiben. — Erkennſt Du nicht, daß
es keinen größeren Genuß für mich geben kann?
Nach den erſten Worten ſchon fühle ich mich wie zu
Hauſe
, und Troſt und Kraft erfüllt mich von
Neuem. So wie ich immer geſund zu werden pflegte,
wenn ich einen Arzt konſultirt hatte, ehe ich noch
ſeine Medizin nahm, ſo brauche ich auch nur mit
der Feder in der Hand am Schreibtiſche die Worte
„Liebe Julie“ zu zeichnen, um meine Seele geſunder
zu fühlen. Du biſt übrigens in jeder Hinſicht der
beſſere Arzt, denn ſtatt Medizin, ernährſt Du mich
mit Honig. Gare aux flatteurs! Vous me gâtez. —


Erinnerſt Du Dich noch des jungen Geiſtlichen
aus Bray, der den lieben Gott zum größten Tyran-
nen aller Weſen machte, ſelbſt aber ein herzensgu-
ter Menſch iſt, qui n’y entend pas malice? Nun
dieſer hat mich ſo herzlich gebeten, ihn zu ſeinem
[217] Vater in Connaught zu begleiten, der, wie er ſagt,
ein eben ſo gaſtfreier als wohlhabender Mann iſt,
daß ich nachgegeben habe, et m’y voilà. Dieſer
wilde Theil Irlands, welchen Fremde nie, Einhei-
miſche ſelten beſuchen, ſteht in ſo üblem renommée,
daß ein Sprichwort ſagt: Go to hell and Connaught
(geh zur Hölle und Connaught). Der Entſchluß
wäre alſo der Ueberlegung werth geweſen. — Was
aber Andere abſchreckt, reizt mich oft an, und grade
da finde ich oft die beſte Ausbeute, und Alles ver-
ſpricht ſie mir diesmal reichlich, wenigſtens was das
Ungewöhnliche betrifft.


Geſtern Abends, nach dem diné, ſetzten wir uns
in meinen Wagen, und verließen die Metropolis.
Der Weg, welchen wir zurücklegen ſollten, betrug
grade 101 Meile. In England wäre dies bald abge-
than geweſen — hier iſt der Zuſtand der Poſten
nicht derſelbe, und wir brauchten über 24 Stunden
dazu.


Die hieſige Landſchaft gleicht auffallend den wen-
diſchen Gegenden der Nieder-Lauſitz, wo mein Un-
glücksſtern mich auch einmal hinverſchlug, blos mit
Ausnahme des vielen Waldes, der, einige dürre
Kiefern abgerechnet, überall nur geweſen zu ſeyn
ſcheint. Brücher und Torfmoore bedecken jetzt unab-
ſehbare Strecken, und das alte tauſendjährige Eichen-
holz, welches in der Tiefe dort gefunden wird, hat
einen hohen Preis für zierliche Meuble-Arbeiten;
man macht ſogar Tabaksdoſen und Damenparüren
[218] davon. Der übrige Boden iſt ſandig oder naß. Die
Felder ſtehen mager auf dem trocknen Lande, dage-
gen gedeiht die Bruchwirthſchaft, welche man hier
aus dem Fundamente verſteht, vortrefflich. Man
planirt die Brüche zuförderſt, indem man das vor-
ragende Terrain zu Torfziegeln verarbeitet, dann
geht das Brennen und die Beſtellung mit Früchten
erſt an. Alle Moore ſcheinen außerordentlich tief.
Haidekorn, Kartoffeln und Hafer werden am meiſten
gebaut. Die Hütten der Einwohner ſind über alle
Beſchreibung jämmerlich, und das Anſehn der gan-
zen flachen Gegend in hohem Grade dürftig, bis
man ſich dem Gute meines Freundes nähert, wo
die Natur freundlicher wird, und am Horizont blaue
Berge winken, die der Sitz vieler Mährchen und
Wunder ſind.


Capt. B., mein Wirth, iſt einer der Notablen ſei-
ner Grafſchaft, ſein Haus aber nicht beſſer als das
eines mittelmäßig [begüterten], deutſchen Edelmanns.
Mit der engliſchen Eleganz und dem engliſchen Luxus
iſt es hier aus. Wachs iſt unbekannt, ſo wie Claret
und Champagner. Man trinkt Sherry und Port-
wein, vor Allem aber Whisky-Punſch, bekömmt de-
teſtablen Kaffee, aber eine recht nährende und kräf-
tige Hausmannskoſt. Das Haus ſelbſt iſt nicht
überreinlich, die geringe Dienerſchaft zwar reſpekta-
bel durch Dienſtalter, Eifer und Ergebenheit, aber
von etwas ungewaſchenem und bäuriſchem Anſehn.


Aus meinen Fenſtern dringe ich in alle Geheim-
niſſe der Oekonomie, die jedoch hier zu beſcheiden iſt,
[219] um, wie in Norddeutſchland, auch ihren Miſthauſen
als Haupt point de vûe auszulegen. Der Regen
(denn leider regnet es) läuft ganz luſtig unter den
Fenſtern durch, und bildet einige romantiſche Waſ-
ſerfälle vom Fenſterbrett auf den Boden, wo ein al-
ter Teppich die Fluthen durſtig aufnimmt. Die
Meubeln wackeln etwas, ich habe aber Tiſche genug
(eine große Angelegenheit bei meinen vielen Sachen)
und das Bett ſcheint wenigſtens geräumig und hart
genug. Im Kamin brennt, oder glüht vielmehr,
vortrefflicher Torf, der außer der Wärme, die er
verleiht, auch, gleich dem Veſuv, wenn er ausbricht,
alle Gegenſtände mit einer feinen Aſche überzieht.
Alles das iſt nicht glänzend — aber wie hoch werden
jene Kleinigkeiten aufgewogen, durch die patriar-
chaliſche Gaſtfreiheit
, und die heitre, unge-
zwungene Freundlichkeit der Familie!
Es
iſt als wäre mein Beſuch eine erzeigte Gunſt, für
die ſich mir Alle, wie für einen weſentlichen Dienſt,
verpflichtet zu fühlen ſcheinen.



Mein Wirth gefällt mir ſehr wohl. Er iſt 72 Jahr
alt, und noch rüſtig wie 50, muß einſt ein ſehr
ſchönes Aeußere gehabt haben, und ſeine Männlich-
keit bewieſen 12 Söhne und 7 Töchter, alle von der-
ſelben Frau, die ebenfalls noch lebt, jetzt aber un-
wohl iſt, weshalb ich ſie noch nicht ſah. Einige der
[220] Söhne und Töchter ſind nun auch längſt verhei-
rathet, und der Alte ſieht zwölfjährige Enkel mit
ſeiner jüngſten vierzehnjährigen Tochter ſpielen. Ein
großer Theil ſeiner Familie iſt jetzt hier, was den
Aufenthalt ziemlich geräuſchvoll macht. Dies wird
noch durch das muſikaliſche Talent der Töchter ver-
mehrt, die ſich täglich auf einem ſchrecklich verſtimm-
ten Inſtrumente hören laſſen, ohne daß dieſer Um-
ſtand ſie im Geringſten ſtört. *) Die Männer ſpre-
chen in der Regel nur von Jagd und Reiten, und
ſind etwas unwiſſend. Ein Landjunker aus der
Nachbarſchaft z. B. ſuchte heute lange unverdroſſen,
wiewohl vergeblich, die vereinigten Staaten auf der
Karte von Europa, bis ihm endlich ſein Schwager
den glücklichen Gedanken eingab, ſein Heil auf der
großen Weltcharte zu probiren. Die amerikaniſchen
Freiſtaaten wurden deshalb geſucht, weil der alte
Herr mir zeigen wollte, wo er den Grundſtein zu
Halliſar und B . . . . town, welche letztere nach ſei-
nem Namen benannt iſt, im amerikaniſchen Kriege
gelegt. Er kommandirte damals 700 Mann, und
erinnert ſich gern an dieſe Zeit ſeiner Jugend und
Wichtigkeit. Die ſkrupuleuſe und ritterliche Höflich-
keit ſeines Benehmens, die ſtets bereitwillige Auf-
opferung ſeiner Bequemlichkeit für Andere, zeigt
[221] ebenfalls die Erziehung einer längſt vergangenen
Zeit an, und bekundet eigentlich ſein Alter ſichrer
noch als ſein Ausſehn.


Unſere Vergnügungen für die nächſten Tage ſind
nun folgendermaßen arrangirt. Morgen gehen wir
in die Kirche, übermorgen nach der Stadt Gallway,
um ein Pferderennen zu beſehen, wo die armen Thiere
nicht nur eine deutſche Meile laufen, ſondern wäh-
rend dieſem Rennen auch noch verſchiedene Mauern
überſpringen müſſen. Sie werden von Gentlemen
geritten. Den Abend darauf iſt Ball, wo man mir
den Anblick aller Schönheiten der Umgegend ver-
ſpricht. Aufrichtig geſagt, ſo gerührt ich von der
mir bewieſenen Güte bin, ſo wird mir doch bei der
Ausſicht auf einen ſehr langen Aufenhalt im Hauſe
etwas bange, ich würde aber die herzlichen Menſchen
tief bekümmern, wenn ich mir davon etwas merken
ließe. Je m’exécute donc de bonne grace.



Die Sitten ſind hier noch ſo alterthümlich, daß
jeden Tag der Hausherr meine Geſundheit aus-
bringt, und wir keine Servietten bei Tiſch haben,
ſtatt deren Schnupftuch oder Tiſchtuchzipfel aushelfen
müſſen.


Vier Stunden des Vormittags brachten wir in
der nahe liegenden Stadt Tuam in der Kirche zu,
und ſahen vier Geiſtliche vom Erzbiſchof ordiniren.
[222] Der engliſche proteſtantiſche Gottesdienſt iſt von dem
unſrigen ſehr verſchieden, und ein ſonderbares Ge-
miſch katholiſcher Ceremonien und reformirter Ein-
fachheit. Bilder an der Wand werden nicht geduldet,
wohl aber an den Fenſtern; die Tracht der Prieſter,
ſelbſt des Erzbiſchofs, beſteht blos aus einem weißen
Chorhemde, dagegen der Sitz des letztern wie ein
Thron gebaut, mit violettem Samt ausgeſchlagen,
und durch eine Erzbiſchofs-Krone geſchmückt, der
Kanzel prunkend gegenüber ſteht. Die Predigt wird
abgeleſen, und dauert ſehr lang. Am ermüdendſten
iſt aber, vor und nachher, die endloſe Herleſung
veralteter, zum Theil ſich ganz widerſprechender Ge-
bete, deren Refrain zuweilen, vom Chor aus, ſin-
gend wiederholt wird, und an denen man einen
wahren Curſus der engliſchen Geſchichte machen
kann. Heinrich des Achten Kirchen-Revolution, Eli-
ſabeth’s Politik, und Cromwell’s puritaniſche Ueber-
treibungen, reichen ſich durcheinander die Hand,
während gewiſſe Lieblingsphraſen alle Augenblicke
wiederholt werden, worunter manche Stelle mehr
kriechende Sklaven, die ſich vor einem Tyrannen des
Südens in den Staub werfen, charakteriſiren, als
der chriſtlichen Würde gemäß ſind. Man hatte
ſonderbarerweiſe das Evangelium, die Austreibung
der böſen Geiſter in eine Heerde Schweine betreffend,
gewählt, und nachdem dies eine Stunde lang aus-
einander geſetzt war, wurden die vier Prieſter ordi-
nirt. Der alte Erzbiſchof, welcher den Ruf ſtrenger
Orthodoxie hat, beſaß viel Anſtand, und eine ſchöne
[223] ſonore Stimme; dagegen mißfiel mir das Benehmen
der jungen Theologen in hohem Grade. Es war
widerlich heuchelnd. Fortwährend rieben ſie ſich die
Augen mit dem Schnupftuch, hielten es in Zer-
knirſchung vor ſich, als zerflöſſen ſie in Thränen,
antworteten nur mit erſtickter Stimme — kurz,
Herrnhuter hätten es nicht beſſer machen können.
La grâce n’y etait pas, gewiß von keiner Art.


Eine der ſonderbarſten Sitten iſt, daß Jeder, wenn
er, beim Kommen oder Gehen, ſein Gebet ſpricht,
ſich damit in einen Winkel oder doch gegen die Wand
kehrt, als ob er etwas Unſchickliches unternähme,
das man nicht ſehen dürfte.


Ich muß es gerade herausſagen — ich begreife
nicht, wie ein denkender Menſch durch einen ſolchen
Gottesdienſt erbaut werden kann. Und doch, wie
ſchön und erhaben könnte dieſer ſeyn! wenn nur der
Sektengeiſt bei uns verbannt würde; wenn wir fer-
ner das Lächerliche zweckloſer Ceremonien beſeitigend,
doch auch nicht einen abſtrakten Kultus verlangen
wollten, der die Sinne ganz ausſchließen ſoll, eine
Unmöglichkeit bei den ſinnlichen Menſchen! Warum
ſollen wir nicht, um das höchſte Weſen zu verehren,
alle unſre beſten Kräfte, von ihm verliehen, zu einem
ſolchen Zwecke anwenden, warum nicht Kunſt jeder
Art, in ihren höchſten Leiſtungen, dazu benutzen,
um Gott das Herrlichſte zu widmen, was menſch-
liche Fähigkeiten vermögen? Freilich denke ich mir
hier eine Gemeinde, deren Frömmigkeit, gleich weit
[224] entfernt von niedrigem Sclavenſinn, wie arrogan-
tem Dünkel, nur des Allvaters Größe und unend-
liche Liebe, die Wunder ſeiner Welt preiſen will,
nicht den Haß der Intoleranz in die ihm gewidmeten
Mauern mitbringt, und deren Lehren nur den
Glauben verlangen, zu dem die Offenbarung ſeines
Innern einen Jeden [fähig] macht. Vor meiner Phan-
taſie ſchweben hier nicht mehr getrennte Kirchen für
Juden und fünfzig Sorten Chriſten*), ſondern wahre
Tempel Gottes und der Menſchen, deren Pforten
zu jeder Zeit, und Jedem offen ſtehen, welcher ſinn-
liche und geiſtige Stärkung am Heiligen und Himm-
liſchen bedarf, wenn das Irdiſche ihn drückt, oder
Glück und Wohlſeyn ſein Herz mit Dank erfüllt.



Wir kamen ſehr ſpät auf dem race course an, und
ſahen heute nicht viel davon. Höchſt merkwürdig
war mir aber der Anblick des hieſigen Volkslebens.
In vieler Hinſicht iſt dieſe Nation wirklich nach den
Wilden zu vergleichen. Der durchgängige Mangel
an gehöriger Bekleidung beim gemeinen Mann, ſelbſt
an Feſttagen wie der heutige; ihre gänzliche Unfähig-
[225] keit dem „Todtenwaſſer“ (dem Branntwein) zu wi-
derſtehen, ſo lange ſie einen Pfennig in der Taſche
haben, um ſich ihn zu verſchaffen; ihre wilden, je-
den Augenblick ausbrechenden Streitigkeiten und re-
gelmäßigen Nationalkämpfe mit dem Shileila, einer
mörderiſchen Stockwaffe, die jeder unter ſeinen Lum-
pen verborgen hält, woran oft Hunderte in einem
Moment Theil nehmen, bis mehrere von ihnen ver-
wundet oder todt auf dem Schlachtfelde zurückblei-
ben; das furchtbare Kriegsgeſchrei, welches ſie bei
ſolchen Gelegenheiten erheben; die Rachſucht mit der
eine Beleidigung Jahre lang von ganzen Gemeinden
nachgetragen und fortvererbt wird; auf der andern
Seite wiederum die unbefangene frohe Sorgloſigkeit,
die nie an den [nächſten] Tag denkt; ihre harmloſe,
alle Noth vergeſſende Luſtigkeit; die gutmüthige
Gaſtfreiheit, die unbedenklich das letzte theilt; die
Vertraulichkeit mit dem Fremden, der ſich ihnen ein-
mal genähert, wie die natürliche Leichtigkeit der Rede,
die ihnen immer zu Gebote ſteht; — alles ſind Züge
eines nur halb civiliſirten Volks.


Hunderte von Betrunkenen begleiteten unſern Wa-
gen, als wir vom Racecourſe nach der Stadt fuhren,
und mehr als zehnmal entſtand Schlägerei unter
ihnen. Wir fanden bei der Menge von Gäſten nur
mit Mühe ein elendes Unterkommen, aber doch ein
gutes und ſehr reichliches Mittagseſſen.


Gallway iſt in früheren Zeiten hauptſächlich von
den Spaniern angebaut worden, und einige Nach-
Briefe eines Verſtorbenen. I. 15
[226] kommen jener alten Familien exiſtiren noch, ſo wie
mehrere ſehr ſehenswerthe Häuſer aus dieſer Epoche.
Charakteriſtiſch ſchien es mir, daß in dieſer Stadt
von 40,000 Einwohnern, auch nicht ein einziger
Buchladen noch Leihbibliothek zu finden war. Die
Vorſtädte, wie alle Dörfer, durch die unſer Weg
führte, waren von einer Beſchaffenheit, der ich nichts
bisher Geſehenes gleichſtellen kann. Schweineſtälle
ſind Palläſte dagegen, und oft ſah ich zahlreiche
Gruppen von Kindern (denn die Fruchtbarkeit des
irländiſchen Volks ſcheint ſeinem Elend gleich zu
ſeyn) nackt, wie ſie Gott geſchaffen, ſich mit den
Enten im Straßenkoth glückſelig herumſielen.



Ich ſchreibe Dir dieſen Morgen aus dem Hauſe
einer der liebenswürdigſten Frauen, die ich in mei-
nem Leben geſehen, und zwar einer Afrikanerin, die
behauptet, eine geborne Fräulein H...... zu ſeyn.
Que dites vous de cela? Doch davon nachher. Vor
der Hand mußt du mich zum Racecourſe zurück be-
gleiten, wo das Rennen mit dem Mauerſpringen
eben ſeinen Anfang nimmt, ein merkwürdiges Schau-
ſpiel in ſeiner Art, und für eine halb wilde Nation
recht paſſend. Ich geſtehe, daß es meine Erwartung
weit übertraf, und mich in ungemeiner Spannung
erhielt, nur mußte man Mitleid und Menſchlichkeit
dabei zu Hauſe laſſen, wie Du aus dem Erfolg ab-
[227] nehmen kannſt. Die Rennbahn geht in einem gedehn-
ten Kreiſe. Auf der linken Seite beginnt der Lauf,
auf der rechten gegenüber iſt das Ziel. Dazwiſchen
ſind auf den beiden entgegengeſetzten Punkten der
Kreislinie, d. h. die, welche in der Mitte zwiſchen
dem Auslauf und Ziele liegen, Mauern aus geſprengten
Feldſteinen ohne Kalk aufgeführt, 5 Fuß hoch und
2 Fuß breit. Die Bahn, welche 2 engliſche Meilen
beträgt, wird anderthalbmal durchlaufen. Du ſiehſt
alſo aus den vorigen Angaben, daß dabei die erſte
Mauer zweimal, die andere nur einmal, in jedem
Rennen überſprungen werden muß. *) Viele Pferde
concurriren, um aber zu ſiegen, muß daſſelbe Pferd
in zwei Rennen gewonnen haben, daher dieſes oft
drei, vier ja fünfmal wiederholt werden muß, wenn
jedesmal ein anderes zuerſt ankömmt. Heute wurde
es viermal durchlaufen, ſo daß der Gewinner, in
Zeit von noch nicht 2 Stunden, die Intervallen mit-
15*
[228] gerechnet, 12 engliſche Meilen angeſtrengt laufen,
und 12 mal die hohe Mauer überſpringen mußte,
eine Fatigue, von der man bei uns kaum glauben
würde, daß ſie ein Pferd auszuhalten im Stande
ſey. Sechs Gentlemen, wie Jokeys ſehr elegant in
farbige ſeidne Jacken und Kappen, lederne Beinklei-
der und Stolpenſtiefel gekleidet, ritten das race.
Ich hatte ein vortreffliches Jagdpferd von dem Sohne
meines Wirths erhalten, und konnte daher, die
Bahn kreuzend, ſehr gut folgen, um bei jedem
Sprunge gegenwärtig zu ſeyn.


Man intereſſirt ſich bei ſolchen Gelegenheiten im-
mer für einen beſondern „favourite“. Der meine,
und der des ganzen Publikums, war ein außeror-
dentlich ſchöner Dunkelfuchs, Gamecock genannt,
den ein Herr in Gelb ritt, ein hübſcher junger
Mann, von einer angeſehenen Familie, und ein vor-
trefflicher Reiter. Das Pferd welches mir, nach die-
ſem, am beſten gefiel, hieß Roſina, eine dunkel-
braune Stute, von einem Couſin des Capt. B…
geritten, ein ſchlechter Reiter, in Himmelblau. Das
dritte Pferd an Güte, nach meinem Urtheil, Killar-
ney, war ein ſtarker, aber ziemlich unanſehnlicher,
Wallach, von einem jungen Mann geritten, der
mehr Anlage, als ſchon vollendete Reiterkunſt, ver-
rieth. Sein Anzug war Cramoiſi. Der vierte Gent-
leman, vielleicht der gewandteſte unter den Rei-
tern, aber etwas kraftlos, ritt ein ſich nicht beſon-
ders auszeichnendes braunes Pferd, und war ſelbſt
auch braun angezogen. Die zwei Uebrigen verdienen
[229] keine Erwähnung, da ſie gleich im Anfang ſich
hors du jeu ſetzten. Beim erſten Sprung nämlich
ſtürzten ſie ſchon Beide, der Eine ſich bedeutend am
Kopfe beſchädigend, der Andere mit einer leichtern
Contuſion wegkommend, aber doch eben ſo unfähig
gemacht, weiter zu reiten. Gamecock, der, mit Fu-
rie anlaufend, und kaum von ſeinem Reiter zu diri-
giren, mit ungeheuern Sätzen über die Mauern
mehr flog als ſprang, gewann das erſte Rennen mit
Leichtigkeit. Ihm folgte die leer laufende Roſina,
welche ihren Ritter abgeworfen hatte, und die fol-
genden Sätze, mit großer Grazie, auf ihre eigne
Hand vollführte. Gamecock war nun ſo entſchiede-
ner favourite, daß man 5 zu 1 für ihn parirte.
Es kam indeß ganz anders, und ſehr tragiſch. Nach-
dem im zweiten Rennen dieſes herrliche Pferd wie-
der die andern Beiden (denn 3 waren, wie Du ge-
leſen haſt, ſchon beſeitigt) weit hinter ſich zurückge-
laſſen, und die erſten zwei Sprünge auf das brillan-
teſte zurückgelegt hatte, trat es bei dem dritten auf
ein Steinſtück, was eins der vorigen ungeſchickteren
Pferde beim Stürzen abgeſprengt hatte, und wel-
ches nicht erlaubt worden war, aus der
Bahn zu nehmen
— und fiel ſo gewaltig, daß
es mit dem Reiter ſich überſchlug, und beide noch
bewegungslos dalagen, als die andern Concurrenten
herankamen, welche, ohne auf den Gefallenen die min-
deſte Rückſicht zu nehmen, ihre Sprünge glücklich
bewerkſtelligten. Gamecock raffte ſich nach einigen
Sekunden wieder auf, der Reiter aber erlangte ſeine
[230] Beſinnung nicht wieder, und wurde vom gegenwär-
tigen Chirurgus für hoffnunglos erklärt, da Bruſt-
knochen und Schädel zerſchmettert waren. Sein al-
ter Vater, der dabei ſtand als das Unglück geſchah,
fiel ohnmächtig auf den Boden, und ſeine Schweſter
warf ſich über den zitternden, aber bewußtloſen
Körper, dem der Schaum auf dem Munde ſtand,
mit herzzerbrechendem Wehklagen hin. Dagegen war
die allgemeine Theilnahme ſehr gering. Nachdem
man ſchnell dem armen jungen Mann mehrmals zur
Ader gelaſſen, ſo daß er auf dem Raſen ganz in ſei-
nem Blute ſchwamm, ſchaffte man ihn weg, und das
race begann von Neuem zu der beſtimmten Zeit, als
wenn nichts vorgefallen wäre. Der braune Mann
war im vorigen Rennen der erſte geweſen, und
hoffte jetzt den entſcheidenden und letzten Lauf zu be-
ginnen. Es war was die Engländer ein hartes race
nennen. Beide, Pferde und Reiter, machten ihre
Sache vortrefflich, liefen und ſprangen faſt wie in
Reih und Glied. Nur um einen Viertelspferdekopf
kam endlich Killarney am Ziele vor. Es mußte alſo
noch einmal gerannt werden. Dieſer letzte Conteſt
war natürlich der intereſſanteſte, da nun einer von
Beiden das Ganze gewinnen mußte, und gab Ge-
legenheit zu großen Wetten, die im Anfang al pari
ſtanden. Zweimal ſchien der Sieg entſchieden und
endigte dennoch entgegengeſetzt. Beim erſten Sprung,
waren beide Pferde neben einander. Ehe ſie aber
an den zweiten kamen, ſah man daß das braune
matt wurde, und Killarney ſo viel Terrain gewann,
[231] daß er, mehr als hundert Schritt vor dem andern,
zum zweiten Sprung an die Mauer kam. Hier
aber, gegen alle Erwartung, refüſirte er zu ſpringen,
weil der Reiter ihn nicht hinlänglich in ſeiner Ge-
walt hatte. Ehe er zum Gehorſam gebracht werden
konnte, wurde er vom Braunen erreicht. Dieſer
machte ſeinen Sprung glücklich, und nun alle Kräfte
anſtrengend, kam er ſo weit vor, daß ihm der Sieg
jetzt ſicher ſchien. Die Wetten ſtanden 10 zu 1. Die
letzte Mauer drohte indeß noch — und ward ihm
auch in der That verderblich. Das ſchon matte Pferd,
im ſchnellen Rennen ſeine letzten Kräfte erſchöpfend,
verſuchte zwar willig den Satz, konnte ihn aber
nicht mehr effektuiren, und die Mauer halb einbre-
chend, kollerte es blutig geſtoßen über und über, den
Reiter unter ſeiner Laſt ſo begrabend, daß er nicht
fähig war es wieder zu beſteigen. Der Reiter Kil-
larney’s hatte, während dies vorging, ſeinen wider-
ſpenſtigen Gaul endlich bezwungen, vollendete, un-
ter dem Zujauchzen der Menge, beide ſich folgende
Sprünge, und ritt dann im Schritt, ganz gemäch-
lich und ohne fernern Rival, dem Ziele zu. Dort fand
ich ihn aber ſo erſchöpft, daß er kaum ſprechen konnte.


Während den Zwiſchenräumen der verſchiedenen
früheren Rennen, war ich mehreren Damen und
Herren vorgeſtellt worden, die mich alle ſehr gaſt-
frei auf ihre Landſitze einluden. Ich folgte aber
lieber dem Sohne meines Wirths, der mir verſprach,
mir die Schönſte aller Schönen zu zeigen, wenn ich
mich ſeiner Leitung überlaſſen wolle, und mich nicht
[232] ſcheue, noch 10 Meilen im Dunkeln zu reiten. Un-
terwegs erzählte er mir, daß die Bewußte, Miſtriß
L …, heiße, die Tochter des ehemaligen holländi-
ſchen Gouverneurs von ..... ſey, und ſich jetzt in
dem einſamen Flecken Athenrye, der geſunden Luft
wegen aufhalte, da ſie, vom Clima angegriffen, an
der Bruſt leide.


Um 10 Uhr kamen wir erſt an, und überraſchten
ſie in ihrem kleinen Häuschen (denn der Ort iſt
elend) beim Thee.


Ich möchte Dir dieſes liebenswürdige Geſchöpf be-
ſchreiben, ſo daß Du ſie vor Dir zu ſehen glaubteſt,
überzeugt, daß Du ſie, gleich mir, beim erſten Blicke
lieben würdeſt. Ich fühle aber, daß hier Beſchrei-
bung nicht ausreicht. — Alles an ihr iſt Herz und
Seele, und das beſchreibt ſich nicht! Sie war höchſt
einfach, ganz ſchwarz gekleidet, das Kleid bis an den
Hals geſchloſſen, aber dennoch zeichnete es die ſchön-
ſten Formen. Ihre Geſtalt war ſchlank und äußerſt
jugendlich, voll milder Grazie, und dennoch nicht
ohne Lebhaftigkeit noch Feuer in ihren Bewegungen.
Ihr Teint braun, rein und klar, und von einer
ſanften Glätte, wie Marmor. Schönere und glän-
zendere ſchwarze Augen, und blendend weißere Zähne
ſah ich nie. Auch der Mund, mit der engelgleichen
Kindlichkeit ihres Lächelns, war bezaubernd.


Ihr feiner, ungezwungener Anſtand, die ſpielend
geübte Grazie heiteren und witzigen Geſprächs, wa-
[233] ren von der köſtlichen Art, die angeboren iſt, und
daher eben ſo ſicher in Paris, wie in Peking, in
der Stadt, wie auf dem Dorfe, gefallen muß. Die
größte Erfahrung könnte nicht mehr Gewandheit
geben, und kein Mädchen von 15 Jahren lieblicher
erröthen, und freudiger ſcherzen. Demohngeachtet
war ihr Leben das einfachſte geweſen, und ihre Ju-
gend mehr noch die unverblühbare der Seele, als
die des Körpers, denn ſie war Mutter von 4 Kin-
dern, den Dreißigen ziemlich nahe, und eben jetzt
erſt, kaum von einer ihr Leben bedrohenden Bruſt-
krankheit geneſen. Aber das Feuer aller ihrer Be-
wegungen, die blitzesſchnelle Lebhaftigkeit ihrer Un-
terhaltung, waren ganz jugendlich friſch, und riſſen
jugendlich hin, indem ſie zugleich der innern Sanft-
muth ihres Weſens einen unwiderſtehlichen Reiz
gaben. Man fühlte, daß dieſe Natur unter einer
heißeren und glücklicheren Sonne, auf einem üppige-
ren Flecke der Erde, als unſere Nebelländer es ſind,
geboren war! Auch empfand ſie ſelbſt die wehmü-
thigſte Sehnſucht nach dieſer Heimath, und Schmerz
verbreitete ſich augenblicklich über alle ihre Züge,
als ſie erwähnte, daß ſie wohl nie jene linde, von
Wohlgerüchen geſchwängerte Luft, wieder einathmen
würde. Ich war zu ſehr in ihrem Anblick verloren,
um an leibliche Nahrung zu denken, wenn ſie nicht
ſelbſt, mit aller gütigen Emſigkeit einer Haus-
frau, Anſtalt gemacht hätte, uns in ihrer kleinen
Hütte, ſo gut es ſich thun ließ, zu bewirthen. Man
deckte nun einen Tiſch in derſelben Stube, ſo daß
[234] das frugale Mahl die Unterhaltung nicht abbrach,
und es war lange nach Mitternacht, als wir ſchie-
den, um unſre Betten aufzuſuchen. Erſt als ich
ſchon in dem meinigen lag, erfuhr ich, daß, bei der
Unmöglichkeit, in dem elenden, nur aus wenigen Hüt-
ten beſtehenden Ort ein Bett aufzutreiben, die her-
zensgute und ganz ceremonieloſe Frau mir ihr eig-
nes abgetreten, und ſich bei ihrer älteſten Tochter
einquartirt habe. Mit welchen Gefühlen ich nach
dieſer Nachricht endlich einſchlief, magſt Du Dir
denken! —


Ueber ihre Familie, deren Namen mir ſo ſehr auf-
fallen mußtet, konnte Miſtriß L .... mir ſelbſt nicht
viel mittheilen. Im zwölften Jahre hatte ſie Herr
L ...., damals Hauptmann in der engliſchen Armee,
in ....... geheirathet. Gleich darauf war ihr Vater
geſtorben, und ſie mit ihrem Gemahl nach Irland
geſchifft, welches ſie ſeitdem nie verlaſſen. Sie hatte
wohl gehört, daß ſie Verwandte in Deutſchland habe,
aber nie mit ihnen correſpondirt, bis ſie vor drei
Jahren einen Geſchäftsbrief von einem Vetter aus
A .... erhielt, mit der Ankündigung, daß der Bru-
der ihres Vaters geſtorben und ſie zur Univerſaler-
bin eingeſetzt habe. Die Gleichgültigkeit des afrika-
niſchen Naturkindes war ſo weit gegangen, daß ſie
dieſen holländiſch geſchriebenen Brief nicht nur bis
jetzt unbeantwortet gelaſſen, ſondern, wie ſie er-
zählte, auch nur zum Theil entziffern können, da
ſie die Sprache in ſo langer Zeit faſt vergeſſen habe.
Ich kenne den Mann ja nicht, ſetzte ſie entſchuldi-
[235] gend hinzu, und die Erbſchaftsſache habe ich meinen
Gemahl abmachen laſſen.


Der Badeort Athenrye (die Quelle iſt von der
Art wie Salzbrunnen in Schleſien) gehört auch zu
den Originalitäten Irlands. Ich habe Dir ſchon
geſagt, daß kein Dorf in Pohlen von elenderem An-
ſehen gedacht werden kann. Dabei liegt der Hütten-
haufen auf einer ganz kahlen Anhöhe im Torfmoor,
ohne Baum und Strauch, ohne Gaſthof, ohne
irgend eine Bequemlichkeit, nur von den zerlumpte-
ſten Bettlern, außer den wenigen [Badegäſten], be-
wohnt, welche letztere Alles mitbringen was ſie brau-
chen, und ihren Unterhalt bis auf die geringſten
Lebensmittel, fortwährend von dem 12 Meilen ent-
fernten Gallway herbeiholen laſſen müſſen. Einſt
war es anders, und noch betrachtet man mit Weh-
muth am äußerſten Ende des jammervollen Oert-
chens, die ſtolzen Ruinen einer beſſern Zeit. Hier
ſtand eine reiche Abtei, jetzt mit Epheu durchwachſen,
und über den freiliegenden Altären und Grabſteinen
die Gewölbe eingeſtürzt, die einſt das Heiligthum
ſchützten. Weiterhin ſieht man noch die 10 Fuß
dicken Mauern des Schloſſes König Johann’s, der
ſeinen Gerichtshof hier hielt, wenn er nach Irland
herüber kam.


Ich beſuchte dieſe Ruine in ſehr zahlreicher Be-
gleitung. Ich ſage nicht zu viel, wenn ich Dir ver-
ſichere, daß aus der ganzen Gegend wenigſtens über
200 halb nackte Individuen, zum Drittheil Kinder,
[236] ſich um meinen nachgekommenen Wagen ſchon ſeit
dem Frühſten nichtsthuend verſammelt hatten, und
nun unter Vivatgeſchrei mich alle bettelnd umringten,
und Mann für Mann durch die Ruinen, über Trüm-
mern und Kratzbeeren, treulich begleiteten. Die ſon-
derbarſten Complimente erſchallten zuweilen einzeln
aus der Menge heraus, einige riefen ſogar: Es lebe
der König! Als ich bei der Zurückkunft ein Paar
Hände voll Kupfer unter ſie warf, lag bald, von alt
und jung, die Hälfte im Straßenkoth, ſich blutig
ſchlagend, während die andern ſchnell in die Brann-
teweinſchenke liefen, um das Gewonnene ſogleich zu
vertrinken.


Das iſt Irland! vom Gouvernement vernachläſſigt
oder bedrückt, von der ſtupiden Intoleranz des eng-
liſchen Prieſterthums erniedrigt, von ſeinen reichen
Landbeſitzern verlaſſen, und von Armuth und Whis-
keygift zum Aufenthalt nackter Elenden geſtempelt! —


Ich habe ſchon erwähnt, daß auch bei den gebilde-
ten Claſſen der Provinz, die Unwiſſenheit für unſere
Erziehungsbegriffe beiſpiellos erſcheint. Ich will es
noch nicht als ſolche aufführen, daß z. B. heute beim
Frühſtück vom Magnetismus geſprochen wurde, und
Niemand je das Geringſte davon gehört hatte. Du
wirſt übrigens nicht zweifeln, daß ich mich gern er-
bot, Miſtriß L …, deren Lebhaftigkeit bei der Be-
ſchreibung gleich Feuer fing, darin Unterricht zu ge-
ben — aber ſtärker iſt es ſchon, daß in B .... m,
unter einer Geſellſchaft von 20 Perſonen, Niemand
wußte, daß es Oerter wie Carlsbad und Prag in
[237] der Welt gebe. Die Auskunft, daß ſie in Böhmen
lägen, half auch nichts, da ihnen Böhmen eben ſo
unbekannt war, denn alles, außer Großbrittannien
und Paris, waren für ſie böhmiſche Dörfer. „Wo
ſind Sie denn eigentlich her?“ frug mich Einer. Aus
Brodignac ſagte ich im Scherz. Ah, liegt das am
Meer? haben Sie da auch Whiskey? frug ein An-
derer. Ja der öfters erwähnte Sohn meines Wirths
erkundigte ſich ſogar einmal ganz angelegentlich bei
mir, als wir eben auf einem Spazierritt einigen
Eſeln begegneten, ob es auch bei uns ſolche Thiere
gäbe? Ach mehr als zu viel, erwiederte ich ſeufzend!



Geſtern kehrten wir hierher zurück, mit Mühe uns
von der ſchönen Afrikanerin losreißend, die uns in-
deß bald nachzukommen verſprochen hat, und heute
benutzte ich die Muße, um einen Spazierritt nach
Caſtle Hacket zu machen, einen einzeln in der Gegend
ſtehenden Berg, der, nach des Volkes Meinung, ein
Lieblingsaufenthalt der Feen, the good people wie
man ſie in Irland nennt, ſeyn ſoll. Kein Volk iſt
poetiſcher und mit reicherer Phantaſie begabt. — Ein
alter Mann, der die Aufſicht über die Waldungen
von Caſtle Hacket hat, und in dem Rufe ſteht, mehr
als Andere von dem good people zu wiſſen, erzählte
uns den Verluſt ſeines Sohnes ganz im Ton einer
Romanze. „Ich wußte es, ſagte er, ſchon vier Tage
[238] „vorher, daß er ſterben würde, denn als ich an je-
„nem Abend in der Dämmerung nach Hauſe ging,
„ſah ich ſie in wilder Jagd über die Ebne dahin
„ſtürmen. Ihre rothen [Gewänder] flatterten im
„Winde, und die Seen gefroren bei ihrem Nahen zu
„Eis, Mauern und Bäume aber bogen ſich vor ih-
„nen zur Erde, und über die Spitzen des Dickichts
„ritten ſie hin, wie über grünes Gras. Vorau
„ſprengte die Königin auf weißem hirſchartigen Roß,
„und neben ihr ſah ich mit Schaudern meinen Sohn,
„dem ſie zulächelte und ihm ſchön that, während er,
„wie im Fieber, ſie mit Sehnſucht anblickte, bis Alle
„auf Caſtle Hacket verſchwanden. Da wußte ich, daß
„es um ihn geſchehen ſey! — Denſelben Tag noch legte
„er ſich, den dritten trug ich ihn ſchon zu Grabe.
„Keinen ſchöneren, keinen beſſeren Jungen gab’s in
„Connamara — drum hat auch die Königin ſich ihn
„erwählt.“ —


Der Alte ſchien ſo unbefangen, und ſo feſt von der
Wahrheit ſeiner [Erzählung] überzeugt, daß es nur
kränkend hätte für ihn ſeyn können, den geringſten
Zweifel daran zu äußern. Dagegen erwiederte er
unſre Fragen nach weiteren Details mit großer Be-
reitwilligkeit, und ich behalte mir alſo noch vor, Dir
die genaueſte Toilette der Feenkönigin zu Deinem
nächſten Maskenball ausführlicher zu liefern.


Am Fuße dieſes nicht geheuren Berges iſt ein hüb-
ſcher Landſitz, und der Berg ſelbſt, bis an ſeine Spitze,
mit jungen, gut wachſenden Pflanzungen, bedeckt. Auf
dem ſteinigenGipfel ſteht eine künſtliche Art Ruine, blos
[239] von loſen Steinen aufgeſchachtet, die ſehr mühſam, und
wegen der leicht abrollenden Steine, nicht ohne Ge-
fahr zu erklettern iſt. Die Ausſicht iſt aber des Ver-
ſuches werth. Von zwei Seiten irrt das Auge faſt
ſchrankenlos über die unermeßliche Ebne — auf den
andern beiden ſchließt den Horizont Log Corrib, ein
30 Meilen langer See, dem die Hügel der Grafſchaft
Clare, und weiter hin das düſtere, romantiſch ge-
formte Gebürge von Connamara zum Hintergrunde
dienen. In der Mitte des Sees wendet dieſer ſich,
gleich einem Fluſſe, in das Innere des Gebürges,
wo das Waſſer ſich in einem engen Bergpaſſe nur
nach und nach zwiſchen den höchſten Spitzen verliert,
die gleichſam eine Pforte bilden, um es aufzuneh-
men. Grade hier ging die Sonne unter, und die
Natur, die meine Liebe zu ihr gar oft vergilt, zeigte
mir dieſen Abend eines ihrer wunderbarſten Schau-
ſpiele. Schwarze Wolken hingen über den Bergen,
und der ganze Himmel war umzogen. Nur da, wo
die Sonne jetzt eben hinter dem dunklen Schleier
hervortrat, erfüllte ſie die ganze Bergſchlucht mit
überirdiſchem Lichtglanz. Der See funkelte unter ihr
wie glühend Erz, die Berge aber erſchienen, wie durch-
ſichtig, im ſtahlblauen Schimmer, dem Brillantfeuer
ähnlich. Einzelne, ſtokkige Roſenwölkchen zogen lang-
ſam in dieſer Licht- und Feuerſcene, gleich weidenden
Himmelsſchäfchen, über die Berge hin, während zu
beiden Seiten des geöffneten Himmels, dichter Regen,
in der Ferne ſichtbar, herab ſtrömte, und wie einen
Vorhang bildete, der rundum jeden Blick in die üb-
[240] rige Welt verſchloß. Dies iſt die Pracht, welche ſich
die Natur allein vorbehalten hat, und die ſelbſt Clau-
de’s Pinſel nicht nachahmen könnte.


Den Heimweg entlang erzählte mir mein junger
Begleiter unaufhörlich von Miſtriß L …, die er,
wie ich wohl ſah, nicht ungeſtraft, wie die Mücke das
Licht, ſo lange umſpielt hatte. Nie ſagte er, unter
andern, bemerkte ich, bei aller ihrer Lebhaftigkeit,
auch nur einen Augenblick, üble Laune oder Unge-
duld an ihr — nie hatte eine Frau ein beſſeres
„temper.“ Dieſes Wort iſt, eben ſo wie gentle,
unüberſetzbar — nur eine Nation, die das Wort
comfort erfinden konnte, war zugleich fähig, temper
zu erdenken — denn temper iſt in der That im Gei-
ſtigen, was comfort im Materiellen. Es iſt der be-
haglichſte Zuſtand der Seele, und das größte Glück,
ſowohl für die, welche es beſitzen, als für die, welche
es an Andern genießen. Vollkommen wird es vielleicht
nur beim Weibe gefunden, weil es mehr duldender,
als thätiger Natur iſt. Dennoch muß man es von
bloßer Apathie ſehr unterſcheiden, welche Andere ent-
weder langweilt, oder Aerger und Zorn nur vermehrt,
während temper Alles beruhigt und mildert. Es iſt
ein ächt frommes, liebendes und heitres Prinzip,
mild und kühlend wie ein wolkenloſer Maitag. Mit
gentleness im Charakter, comfort im Hauſe und
temper in ſeiner Frau, iſt die irdiſche Seligkeit eines
Mannes erſchöpft. Temper, im höchſten Potenz, iſt
ohne Zweifel einer der ſeltenſten Eigenſchaften — die
Folge einer vollendeten Harmonie (Gleichgewichts)
[241] der intellectuellen Kräfte, die vollſtändigſte Geſund-
heit der Seele
. Große und hervorſtechende ein-
zelne Eigenſchaften können daher nicht damit verbun-
den ſeyn, denn, wo eine Kraft hervortritt,
hört das Gleichgewicht auf. Man kann alſo hinrei-
ßen, leidenſchaftliche Liebe, Bewunderung, Achtung
einflößen, ohne deshalb temper zu haben, — voll-
kommen
liebenswürdig auf die Dauer aber wird
man nur durch ſeinen Beſitz. Das Wahrnehmen der
Harmonie in allen Dingen wirkt wohlthätig auf den
Geiſt; — des Grundes oft ſich unbewußt, wird die
Seele doch immer dadurch erfreut, welcher ihrer
Sinne es auch ſey, der ihr dieß Gefühl zuführt.
Eine ſolche Perſon alſo, die mit temper begabt iſt,
gewährt uns beſtändigen Genuß, ohne je unſern
Neid zu erregen, noch andere zu heftige Empfindun-
gen zu erwecken. Wir ſtärken uns an ihrer Ruhe,
beleben uns an ihrer ſtets gleichen Heiterkeit, tröſten
uns an ihrer Reſignation, fühlen den Zorn ſchwin-
den vor ihrer liebenden Geduld, und werden am
Ende beſſer und froher am Geiſter-Klange ihrer
Harmonie.


Wie viel Worte, gute Julie, wirſt Du ſagen,
um eins zu beſchreiben, und dennoch habe ich nur
unvollkommen ausgedrückt, was — temper — ſey.


Briefe eines Verſtorbenen. I. 16
[242]

Die ſchöne Ausſicht des geſtrigen Abends lockte
mich, heute von nahem zu ſehen, was ich dort nur
von ferne geſchaut. Mein gefälliger Freund arran-
girte zu dieſem Endzweck ſchnell unſre Equipage, ei-
nen kleinen char â banc den wir „tandem“ (d. h.
ein Pferd vor das andere geſpannt) mit Poſtpferden
fuhren. Wir beſchloſſen: den See Corrib, Cong und
ſeine Tropfſteinhöhlen in Augenſchein zu nehmen,
und um die Zeit aufs Beſte zu benutzen, erſt in der
Nacht wieder zurückzukehren. Nach vier Stunden
ſcharfen Trabens, und einigen kleinen Unglücksfällen,
die dem gebrechlichen Fuhrwerk zuſtießen, erreichten
wir das, einige zwanzig Meilen entfernte, Cong,
wo wir zuförderſt in dem elenden Gaſthof ein mitge-
brachtes Frühſtück von irländiſch zubereiteten Hum-
mer *), wie die Chineſer mit Hölzchen, verzehrten,
da keine Meſſer und Gabeln zu haben waren, und
uns dann ſogleich nach den Höhlen auf den Weg
machten, wie gewöhnlich von einem halbnackten Ge-
folge begleitet. Jeder von dieſem ſuchte irgend einen
Dienſt zu thun; bückte man ſich nach einem Stein,
ſo riſſen ſich zehn darum ihn aufzuheben, und baten
dann um ein Trinkgeld; war eine Thür zu öffnen,
ſo ſtürzten zwanzig darauf zu, und erwarteten gleich-
falls Belohnung. Später, als ich ſchon alle meine
Münze ausgetheilt hatte, kam noch Einer der be-
[243] hauptete, mir, ich weiß nicht mehr welche Kleinigkeit,
gezeigt zu haben. Ich wies ihn unwillig ab, und
ſagte, meine Börſe ſei leer. O, rief er: A gentle-
man’s purse can never be empty!
(eines Gentle-
man’s Börſe kann nie leer ſeyn) — keine üble Ant-
wort — denn unter der Form eines Compliments
verbarg ſie einen boshaften Doppelſinn; es hieß: Du
ſiehſt zu ſehr wie ein Gentleman aus, um nicht
Geld zu haben; Biſt du aber ſo ungenereus keins
zu geben, ſo biſt du auch kein Gentleman mehr;
haſt du aber wirklich nichts, ſo biſt du’s noch weni-
ger. Die Menge fühlte dies, und lachte, bis ich mich
loskaufte.


Doch zurück zur Höhle, dem pigeonhole (Tauben-
loch), einer ſeltſamen Naturerſcheinung. Sie liegt
mitten im Felde, in einer baumloſen, öden Flur, die,
obgleich flach, mit einer eigen geformten Art Kalk-
felſen bedeckt iſt, zwiſchen denen die wenige Erde
mühſam zu Wieſen- und Feldflächen benutzt wird.
Dieſe Felſen ſind ſo glatt, als wären ſie polirt, und
gleichen regelmäßig aufgekaſteten, und halb bearbeite-
ten Steinen, die man zu irgend einem coloſſalen
Bau hier zuſammen gebracht hätte. In dieſem Stein-
felde, ohngefähr eine Viertel Stunde vom See Cor-
rib öffnet ſich nun die Höhle, wie ein weiter dunkler
Brunnen, in den dreißig bis vierzig rohe, in den
Stein gehauene, Stufen zu dem Fluſſe hinabführen,
der hier unterirdiſch ſtrömt, ſich eine lange Zeit
durch wunderlich geſtaltete Felſengewölbe ſeinen Weg
bahnt, dann nur ans Licht tritt, um eine Mühle zu
16*
[244] treiben, gleich darauf ſich aber zum zweitenmale in
den Bauch der Erde [vergräbt], und [ſpäter] wiederum
als ein breiter, kryſtallheller, und tiefdurchſichtiger
Strom zum Vorſchein kommt, der ſich in die Ge-
wäſſer des Sees ergießt.


Unfern der Höhle, vor der wir jetzt ſtanden, wohnt
eine „Donna del Lago“ welche die Berechtigung,
Fremden das pigeon hole zu zeigen, dem Gutsherrn
mit 4 Pf. Sterl. jährlich bezahlen muß. Sie paßte
vortrefflich zu der Hüterin eines ſolchen Eingangs in
die Unterwelt, und die ganze Scene konnte nicht beſ-
ſer, wie die Engländer ſagen „in character“ ſeyn.
Wir waren ſchon im Dunklen die Stufen hinabge-
klommen, und hörten des Fluſſes Rauſchen ohne ihn
noch zu ſehen, als die rieſengroße, hagere Alte, einen
ſcharlachrothen Mantel um ſich geworfen, mit langen,
flatternden, weißen Haaren und zwei lodernden Feuer-
bränden in den Händen, herabkam — das leibhaftige
Original zu W. Scotts Meg Merrilis. Es war ein
merkwürdiger Anblick, wie ihre hin und her ſchwan-
kenden Fackeln, die Wellen des Stroms, die hohen,
von Stalaktiten gezackten Gewölbe und die blaſſen
zerlumpten Geſtalten unter ihnen grell erleuchteten,
jetzt aber die Alte, unter Reden, welche wie eine Be-
ſchwörungsformel klangen, in den Fluß brennende
Strohbündel warf, die, ſchnell dahinſchwimmend, im-
mer neue Grotten, immer groteskere Formen enthüll-
ten, bis ſie endlich, gleich kleinen Lichtern, nach hun-
dert Windungen, in der Ferne verſchwanden. Wir
folgten ihnen, über die ſchlüpfrigen Steine kletternd,
[245] ſo weit wir konnten, und entdeckten zuweilen große
Forellen in dem eiskalten Waſſer, welche das Eigen-
thümliche haben ſollen, daß, welche Lockſpeiſe man
ihnen auch biete, doch noch nie ein Verſuch ſie zu
fangen gelungen ſey. Das Volk hält ſie daher für
verzaubert.


Wenn man aus der Dunkelheit wieder an die
Stelle zurückkehrt, wo das Tageslicht ſchwach, wie in
einen Schacht, hineinbricht, ſieht man Epheu und
Schlingpflanzen in höchſt maleriſchen Feſtons und
Guirlanden über die Felſen herabhängen. Hier hal-
ten die wilden Tauben in großer Menge ihre Nacht-
ruhe, wovon ſich die Benennung der Höhle herſchreibt.
Der Aberglaube des Volks erlaubt keinem Jäger, ſie
an dieſem Orte zu beunruhigen, weshalb ſie auch
ohne Furcht ſind, wie in einem Taubenſchlage.


Aus dieſen düſtern Regionen, wo Alles beſchränkt
und eingeſchloſſen iſt, wandelten wir nun dem weiten
meerartigen See zu, wo Alles ſich ins Unendliche zu
verlieren ſcheint. Die majeſtätiſche Waſſermaſſe des
Corrib füllt ein Becken von zwölf deutſchen Meilen
Länge und in der größten Ausdehnung drei deutſche
Meilen Breite. Ein ſonderbares Zuſammentreffen iſt
es zu nennen, daß der See gerade ſo viel Inſeln, als
das Jahr Tage zählt, nämlich 365. So behaupten
wenigſtens die Einwohner, gezählt habe ich ſie nicht.
Auf zwei Seiten begränzt ihn das hohe Gebürge von
Connamara, auf den andern verſchwimmen ſeine Ge-
wäſſer faſt mit der Plaine. Die Einfahrt, den Ber-
[246] gen gegenüber, war daher ungleich ſchöner als die
Rückkehr. Im Ganzen ſoll die Schifffahrt auf die-
ſem See, wegen der vielen Klippen und Inſeln, wie
den oft plötzlich ſich erhebenden Stürmen ſehr gefähr-
lich ſeyn, und erſt kürzlich meldeten uns die Zeitun-
gen, daß ein Marktſchiff, auf welchem Fleiſcher ſich
mit ihren Hammeln eingeſchifft, mit Menſchen und
Thieren ein Raub der erzürnten Seenixe geworden
ſey. Wir hatten einen ſehr ſtillen, aber nicht immer
heitern Tag. Als wir wieder gelandet, ließ ich mei-
nen Begleiter vorausgehen, um die nöthigen Beſtel-
lungen zu machen, und beſah noch, bei Sonnenun-
tergang, die am Ufer liegenden Ruinen einer Abtei,
die einige ſchöne Ueberreſte alter Baukunſt und Sculp-
tur darbot. Irland wimmelt von Ruinen alter
Schlöſſer und Klöſter, mehr als irgend eine andere
Gegend Europa’s, wiewohl dieſe Ueberbleibſel keine
ſo ungeheuren Maſſen darbieten als z. B. in Eng-
land. Dieſe alten Ruinen (denn leider findet man
hier auch gar viel neue) werden vom Volk überall
als Kirchhöfe benutzt, eine poetiſche Idee, die, glaube
ich, nur dieſem Volke eigen iſt. Da man nirgends
darin, wie in den engliſchen Kirchen, geſchmackloſe
moderne Monumente aufſtellt, ſondern nur die Erde
aufreißt, oder höchſtens einen Stein auf das Grab
legt, ſo wird durch dieſen Gebrauch das ergreifende
Bild irdiſcher Vergänglichkeit nur erhöht, nicht ent-
weiht. Was aber den Eindruck oft bis zum Grau-
ſenhaften ſteigert, iſt die wenige Rückſicht, welche die
ſpätern [...]odtengräber auf die früher Begrabenen neh-
[247] men, deren Gerippe ſie, ſobald der Platz fehlt, ohne
Umſtände herauswerfen. Daher ſind alle dieſe Rui-
nen mehr oder weniger mit Haufen von wild unter-
einander gewürfelten Schädeln und Gebeinen ange-
füllt, die nur zuweilen theilweiſe von den Kindern,
als Spielwerk, in Pyramiden oder andere Formen
aufgeſtellt werden. Ich erſtieg, über ſolche Steine
und Knochen mich emporarbeitend, ein verfallnes Ge-
mach des zweiten Stockes, und weidete mich an dem
fremdartigen romantiſchen Gemälde. Zu meiner Lin-
ken war die Mauer hinabgeſunken, und öffnete dem
Blick die ſchöne Landſchaft, die den See umgiebt, mit
hellgrünem Vorgrunde, dem Gebürge in der Ferne,
und ſeitwärts dem Schloſſe und den hohen Bäumen
des Parkes der Macnamara’s, welche hier reſidiren.
Vor mir ſtand noch ganz wohlerhalten ein vortreff-
lich gearbeitetes, wie mit point d’Alençon eingefaßtes
Fenſter; über ihm hingen, unzugänglich auf der frei-
ſtehenden Mauer, ganze Trauben ſchwarzblauer Brom-
beeren von den üppig wuchernden Sträuchern herab.
Rechts, wo die Wand des Gemachs ganz intackt ge-
blieben war, ſah man eine niedrige, mit der Hand
leicht zu erreichende Niſche, in der ſich ſonſt wahr-
ſcheinlich ein Heiliger befunden, jetzt aber nur ein
Todtenſchädel ſtand, mit den leeren Augenhöhlen
grade auf die ſchöne Ausſicht gerichtet, die ſich ihm
gegenüber ausbreitete, als erfreue ihr Glanz und
friſches Leben ſelbſt den Todten noch! Indem auch
ich derſelben Richtung von Neuem [folgte], entdeckte
ich, dicht über dem Boden, ein bisher überſehenes
[248] Gitterfenſter, das einen weiten Keller erleuchtete, und
ſah in dieſem nun eine unermeßliche Anhäufung von
Gebeinen, alle auf die erwähnte Weiſe in mannich-
faltige Formen geordnet. Die ſonnige Landſchaft
oben, die dunkeln Knochenhaufen unten, wo die Ju-
gend mit dem Tode geſpielt — es war ein Blick in
Leben und Grab zugleich, die Freuden des einen wie
die theilnahmloſe Ruhe des zweiten verſinnlichend;
tröſtend aber vergoldeten die roſenfarbnen Strahlen
der untergehenden Sonne, Lebende und Todte, gleich
Boten einer ſchönern Welt. —


Unſere Rückfahrt in der ſchwarzen Nacht bei fort-
währendem Regen war ſchwierig und unangenehm.
Wir brachen nochmals eine Feder am Wagen, und
hatten allerhand anderes Ungemach auszuſtehen. Als
wir endlich nach Mitternacht in B … anlangten,
fanden wir, zu meinem wahren Schrecken, den guten
alten Capitain mit der ganzen Familie noch auf, um
uns mit dem Eſſen zu erwarten. Die überhäuften
Attentionen, und die große Herzensgüte dieſer Leute
beſchämt mich täglich, und ich bewundere oft, wie
ihre leidenſchaftliche Gaſtfreiheit, auch nie durch
die geringſte Spur von Oſtentation verunſtaltet
wird.


Damit mein Brief nicht zu ſtark werde, und zuviel
Porto koſte (denn gewöhnlich muß ich für dieſe volu-
mineuſen Packete einige Lſt. bis an die engliſche
Grenze bezahlen) ſchließe ich ihn, noch vor meiner
Abreiſe von B . . . . . m. Du weißt mich hier wenig-
[249] ſtens gut aufgehoben, und der Pflege von Leuten
übergeben, die Dein Herz haben, wenn ſie Dir auch
an Geiſt und Bildung nicht gleich kommen. Der
Himmel ſegne und behüte Dich!


Dein treuſter L …


[[250]]

Zwei und dreißigſter Brief.



Geliebte Freundin!

All’ Dein Belehren hilft nichts, gute Julie,
Deine Rede iſt ſchön, Deine Gründe mögen triftig
ſeyn, aber ich glaube einmal das Gegentheil, und
Glaube iſt, wie Du weißt, ein Ding, das nicht nur
Berge verſetzt, ſondern ſich auch oft welche aufbaut,
über die es nicht mehr hinwegſehen kann. Deswegen
hilft auch in der Welt alles Bekehren, es mag ſeyn
in welcher Hinſicht es wolle, nicht eher, als bis der
entgegengeſetzte Glaube ſchon wankend geworden iſt.
Vorher ſprich mit der Weisheit Plato’s, und handle
mit der Reinheit Jeſu — Jeder bleibt dennoch bei
ſeinem Glauben, auf den Vernunft und Verſtand in
der Regel den wenigſten Einfluß haben. *) Wer die
Menſchen plötzlich ändern will, ehe ſie ſelbſt Luſt ha-
ben: eine neue Facette zum Abſchleifen der Weltge-
ſchichte zuzukehren, wird ſtets, entweder als ein Narr
[251] zu Hauſe geſchickt, oder als ein Märtyrer geſteinigt
und gekreuzigt werden. Die Geſchichte lehrt dies auf
jeder Seite. Was hier auf das Allgemeine Anwen-
dung findet, iſt aber auch der Fall mit dem Einzel-
nen, und nach alle dem — parlez moi raison, si vous
l’osez
. Doch muß ich eins im Ernſte ſagen. Wer
einmal zu freimüthig geboren iſt, und ſelbſt die all-
gemeine Meinung wenig achtet, wenn ſie nur eine
gemeine iſt — der bleibe ja ſein ganzes Leben ſo.
Die Folgen einer ſolchen Denkungsart, und die An-
feindungen denen ſie ausſetzt, werden nur dann
ſchmerzlich empfunden, und zuletzt gefährlich, wenn
man, ſchwach geworden, aufhört ſelbſtſtändig zu ſeyn,
und ſtatt, wie bisher, fremde Meinung zu verachten,
ſich davor zu fürchten anfängt. So etwas merkt die
Menge ſchnell, und verfolgt dann erſt mit Con-
ſequenz das vor ihr laufende Wild, über das ſie frü-
her, ſo lange es ihr Stand hielt, und keck in die Au-
gen ſah, nur erfolgloſe Gloſſen zu machen wagte.
Für die Welt giebt es überhaupt keine beſſere Lehre
als: Bouche riante et front d’airain, et vous passez
partout
. Wir Deutſche ſind faſt immer zu ernſt,
wie zu timide, und nur im Stande momentane Efforts
gegen dieſe Fehler zu machen, bei welchen Verſuchen
wir überdies auch das Ziel leicht überſchießen. Aus
dieſem Grunde hauptſächlich lieben wir wohl ſo die
Zurückgezogenheit, und verkehren am liebſten blos
mit unſerer Phantaſie, als treuer Geſellſchafterin —
ſouveraine Herren im Reiche der Luft, — wie Frau
v. Staël ſagt. Die große Welt wie ſie iſt, gefällt
[252] uns nicht, und eben ſo wenig verſtehen wir dieſer
Welt zu gefallen. Drum wählen wir lieber — Zu-
rückgezogenheit, und in dieſer Freiheit!


Wir erlebten heute ein ſonderbares Eintreffen von
Prophezeihungen. Miß Kitty, die artigſte der Töch-
ter meines Wirths, hatte geſtern auf unſerm Spa-
ziergang ſich von Zigeunern wahrſagen laſſen, und
ich ſelbſt hörte mit an, wie die Frau ihr, unter vie-
len andern gewöhnlichen Dingen, ankündigte: „daß
„ſie auf ihrer Hut ſeyn möchte, denn ehe vier und
„zwanzig Stunden vergingen, würde in ihre Fenſter
„geſchoſſen werden, und dann ihres Bleibens nicht
„lange mehr in B . . . . m ſeyn.“ Wir fanden die
Prophezeihung etwas bedenklich, und theilten ſie da-
her mit, als wir zu Haus kamen, wurden aber dar-
über nur geneckt und ausgelacht. Den andern Mor-
gen, ziemlich früh, entſtand indeß wirklich Allarm
über zwei Schüſſe die man hörte, und Miß Kitty
ſtürzte ſich, halb angezogen und faſt ohnmächtig vor
Schreck, die Treppen herunter, worauf Alles hinzu
lief, um zu unterſuchen, was es denn eigentlich gäbe.
Es fand ſich nun, daß zwei der jüngeren Brüder
Kitty’s, welche ſich zum Beſuch bei Miſtriß M . . . .
befanden, ganz unerwartet heut früh zurückgekommen
waren, um ihre Schweſter ebenfalls dorthin abzuho-
len, wobei ſie, obgleich ganz unbekannt mit der Vor-
herſagung der Zigeunerin, den albernen Spaß gemacht
hatten, zwei Schlüſſelbüchſen vor dem Fenſter abzu-
feuern, dies aber noch dazu ſo ungeſchickt ausgeführt,
daß einige Glasſcheiben beſchädigt wurden. Sie er-
[253] hielten eine derbe Merkuriale, und fuhren dann mit
Kitty ab, ſo daß Alles pünktlich eintraf, wie die
Alte es, der Himmel weiß, auf welche Weiſe, in den
Linien der Hand geleſen.



Ich war geſtern ein wenig hypochondriſch, meine
Seele war matt — mais j’ai pris medecine, elle
a operée,
und die Seele iſt wieder kurirt worden.
Ich bin von neuem heiter und daher von viel men-
ſchenfreundlicheren Geſinnungen, tugendhaft über-
dies, feute d’occasion de pêcher, und luſtig, indem
ich über mich ſelbſt lache, faute de trouver quelque
chose de plas ridicule
.


Unterdeſſen hat ſich die Scene hier geändert. Die
ſchöne Afrikanerin iſt angekommen — und wir haben
ſchon einen gemeinſchaftlichen Spazierritt, zehn Per-
ſonen ſtark, unternommen, wobei uns der alte
Hauptmann ſeine Bruchkulturen und [Bewäſſe]-
rungen
, mit der Liebhaberei eines Jünglings,
zeigte. Er war von ſeinen Kartoffelbeeten nicht we-
niger entzückt, als ich von meiner Begleiterin. In
der troſtloſeſten Gegend auf ein gut wachſendes
Knollenfeld hinweiſend, rief er mit Enthuſiasmus:
Iſt das nicht ein prachtvoller Anblick? und gewiß
kam es ihm nicht in den Sinn, daß wir an andere
Dinge denken könnten, und ihm nur aus Höflichkeit
[254] beipflichteten. Ich warb nachher einige Bauern für
meinen Coloniſations-Plan an. Sie drängen ſich
Alle zum Auswandern, aber leider haben ſie auch
nicht einen Heller darauf zu verwenden. Uebrigens
kann man ihnen leicht alles beſſer verſprechen, als ſie
es hier haben, wo ein Menſch von einem halben
Morgen Land leben muß, und wenn er noch ſo gern
auswärts arbeiten will, doch keine Arbeit findet.
Die Wohlhabendſten wohnen in Gebäuden, die un-
ſern Bauern als Stall zu ſchlecht dünken würden.
Ich beſuchte ein ſolches, und fand es aufgeführt aus
Mauern von ungeſprengten Feldſteinen, mit Moos
ausgeſtopft, und einem Dach von Stangen, das
halb mit Stroh, halb mit Raſen belegt war. Der
Boden beſtand aus der blanken Erde, und eine Stu-
bendecke unter dem erwähnten, halb durchſichtigen
Dach, gab es nicht. Schornſteine ſchienen hier auch
unnütze Luxusartikel. Der Rauch ging vom frei-
ſtehenden Heerde zu den Fenſterlöchern heraus, wor-
an ihn keine Glasſcheiben verhinderten. Ein niedri-
ger Verſchlag rechts theilte die Schlafſtelle der Fa-
milie ab, die alle zuſammen ruhen — ein andrer
links, begränzte Schwein und Kuh. So ſtand das
Häuschen mitten im Felde, ohne Garten, noch irgend
eine Bequemlichkeit — und dies nannten Alle eine
vortreffliche Wohnung.


Als wir zu Haus kamen, waren unſerm hübſchen
Gaſt beinahe die Hände, mitten im Sommer, erfro-
ren. Sie waren wirklich völlig weiß, und gefühllos
geworden, und wir mußten ſie mehr als eine Viertel
[255] Stunde reiben, ehe wieder Blut und Leben in ſie
zurück kam. C’est le sang africain. Recht behaglich
befindet ſie ſich nur an der Gluthitze des Torf-Ka-
mins, wo wir Anderen halb gebraten werden, und
nicht eher auch gelangt ſie zu aller ihrer kindlichen
Ausgelaſſenheit, die ſelbſt mich zuweilen mit anſteckt.
Sie ſcheint es wirklich ein wenig auf mich abgeſehn
zu haben, und dieſen lieblichen Neckereien iſt ſchwer
zu widerſtehen. Wenn ſie ihre rabenſchwarzen
Haare von einander ſcheitelt, und mit den dunkel-
blauen Feueraugen ſo durchdringend blickt, als könnte
ſie Einem in der Seele leſen; dann ſie ſchalkhaft nie-
derſchlägt, als habe ſie nur zu wohl die ſtumme
Sprache der Gegenüberſtehenden verſtanden, und we-
nige Momente nachher, in holder Verwirrung, durch
einen zärtlichen Streifblick, wie mit elektriſchen Fun-
ken das Herz berührt — ſo iſt es nicht immer leicht,
ſeine Faſſung zu behalten, und gleich wieder Poſſen
mit zu treiben, wenn ihre bewegliche Kindernatur,
ſchon den Augenblick darauf, vor Lachen erſticken
will, entweder über das ernſthafte komiſche Geſicht,
was man ihrer Behauptung nach mache, oder irgend
eine andere Thorheit, die ihr eben ins Köpfchen ge-
kommen iſt. Ja liebe Julie, es iſt ein verführeri-
ſches Spiel, das ſehe ich wohl ein — aber das Gift
iſt zu ſüß!


[256]

Mein Freund James fängt an, etwas eiferſüchtig
auf mich zu werden, und unterhält mich nicht mehr
ſo viel von den reizenden Eigenſchaften der Miſtriß
L … und ihrem Temper. Ich gebe ihr jetzt Unter-
richt im Piſtolenſchießen. Als ſie das erſtemal los-
drückte, erſchrack ſie ſo kindiſch, daß ſie mir faſt
[ohnmächtig] in die Arme ſank, [und] bitterlich zu wei-
nen anfing. James kam in dieſem kritiſchen Augen-
blick hinzu, und erſchien nichts weniger als erbaut
davon zu ſeyn. Ich gab ihm indeß ſchnell die Piſtole
in die Hand, proponirte eine kleine Wette zur Unter-
haltung unſrer Freundin, bis ſie ſich wieder vom
gehabten Schreck erholt haben würde. Der arme
James konnte aber nichts treffen, während ich, mit
eingeübter Sicherheit, ein ziemlich leſerliches H auf
die Scheibe zeichnete — denn ihr Name iſt Henriette
— „Harriet“ wie ſie hier genannt wird. Beſſer ans
Feuer gewöhnt — ſchoß ſie nachher ſelbſt recht gut,
und beſchämte die jungen Männer, welche ſich alle
ziemlich ungeſchickt dabei anſtellten.


Nachher ritten wir aus, ſie und ich, Miß Kitty
und einer ihrer Brüder. Wir waren ein wenig vor-
aus, und ſprachen von engliſcher Literatur. Sie er-
wähnte eines bekannten anmuthigen Liedes von
Moore, wo der Dichter abwechſelnd ſich bald für die
ſchwarzen, bald für die blauen Augen erklärt, und
frug mich neckend, welcher Art ich denn den Vorzug
gäbe? Ach, rief ich, den blauen unter ſchwarzem
[257] Haar, denn dieſe vereinigen das ſüdlich blitzende
Feuer der einen, mit der ſüßen Milde der andern. —
O non sense! lachte ſie, Sie habe das Lied ja ganz
vergeſſen — der Dichter giebt den Augen den Vor-
zug, die, von welcher Farbe ſie auch ſeyen, ihn am
zärtlichſten anblicken
. . . . Nun dann erwie-
derte ich, iſt Alles was ich wünſche, daß Sie derſel-
ben Meinung ſeyn mögen. Wie ſo? frug ſie zer-
ſtreut. Daß Sie die Augen lieben möchten, welche
ſie mit der größten Zärtlichkeit anblicken — ich ergriff
zugleich ihre Hand, und wollte ihr noch mehr zu-
flüſtern, als ſie, wie eine kleine Hexe, die ſie iſt,
lachend und ſcherzend und mit ganz unnöthigem Ge-
ſchrei Miß Kitty um Hülfe rief, weil ihr Pferd, wie
ſie behauptete, hätte durchgehen wollen. —


Als ich mich nachher, nur einen Augenblick, wie-
der allein neben ihr befand, ſagte ſie, tief Athem
ſchöpfend, mit leiſer Stimme zu mir: Now I declare,
You are a great rogue and never more I’ll be
alone with You.
*)


O Afrika! deine Töchter, ſehe ich wohl, verſtehen
die Coquetterie eben ſo gut als die Schönen Euro-
pa’s. —


Abends hatten wir viel Scherz mit Henriettens
fünfzehnjähriger Tochter, auch ein hübſches friſches
[Mädchen], doch mit der Mutter nicht zu vergleichen.
Die Kreuzung mit dem engliſchen Blut hatte diesmal
Briefe eines Verſtorbenen. I. 17
[258] nicht vortheilhaft gewirkt, und das Feuer des Pro-
metheus ſich wieder in Kieſelſtein verborgen.


Wir durchſuchten ihr album, oder sketchbook, wo
wir unter den Stellen, die ſie aus verſchiedenen
Büchern abgeſchrieben, auch folgendes irländiſche Ge-
dicht fanden, das ſie gewiß mit großer Unſchuld ex-
cerpirt hatte, aber jetzt viel darüber leiden mußte.
Es lautete folgendermaßen:


. . . . And pray, how was the devil drest?

Oh! he was in his Sundays best,

His coat was black, and his brecches steelblue

And a hole behind, that his tail went through.

And over the hill and over the dale

He rambled far over the plain,

And backwards and forwards he switched his tail

As a gentleman switches his cane.*)

Alle, ſelbſt die [Mädchen], mußten herzlich über den
balanzirenden Teufel lachen — denn es waren un-
ſchuldige Naturkinder, und keine prûde unter ihnen,
die Sittenloſigkeit, keine Neufromme, die gottloſen
Spott darin auffand. Eine Frau aus dem Conven-
[259] tikel würde freilich die Augen gen Himmel verdreht,
und die Stube verlaſſen haben, entweder — um
ihrem amant ein Rendezvous im Thiergarten zu
geben, oder einer guten Freundin die Ehre abzu-
ſchneiden, denn ſolche Dinge ſind unſchuldig!



Heute langte Herr L … hier an. Wie ſonder-
bar ſind doch die Güter dieſer Welt vertheilt! das
ſchönſte lieblichſte Weib mußte die Beute des wider-
wärtigſten Menſchen werden, der den Reichthum
ihrer Natur weder zu erwiedern [fähig] iſt, noch zu
ſchätzen verſteht! ein häßlicher, alter, in Galle ge-
tauchter Pedant, in Allem grade der Antipode ſeiner
Frau. Seine Converſation verdarb zum erſtenmal
die Heiterkeit, ja ich möchte ſagen, die Unſchuld
unſres bisherigen Lebens. Er iſt ein heftiger Oran-
geman (beiläufig geſagt, iſt auch Orange ſeine na-
türliche Farbe,) und es war zu vermuthen, daß ein
Charakter ſeiner Art, ſich auch auf der Seite des Un-
rechts und der Patheiwuth befinden würde, aber mit
welchen Grundſätzen! Da dies zugleich eine Probe
davon giebt, wie hoch hier der Partheigeiſt geſtiegen,
und wie er ſich öffentlich zu äußern nicht ſchämt,
will ich Dir die Quinteſſenz ſeiner Reden mittheilen.


„Ich habe,“ ſagte er, „meinem König dreißig
„Jahr lang in faſt allen Welttheilen gedient, und
17*
[260] „bedarf der Ruhe. Dennoch iſt mein ſehnlichſter
„Wunſch, um deſſen Erfüllung ich Gott täglich bitte,
„eine „sound rebellion“ (eine gründliche Rebellion)
„in Irland zu erleben. Dann ſoll mein Dienſt den-
„ſelben Tag wieder angehen, und ſollte ich auch mein
„eignes Leben darin mit verlieren, ich gebe es gern
„hin, wenn mit meinem Blute zugleich das von
„fünf Millionen Katholiken fließt — Rebellion —
„dahin will ich ſie haben, da erwarte ich ſie, und
„dahin muß man ſie führen, um auf einmal mit
„ihnen zu enden; denn ohne die gänzliche Ver-
„nichtung
dieſer Race kann es keine Ruhe mehr
„in Irland geben, und nur eine offene Rebellion
„und eine engliſche Armee, die ſie zerdrückt, kann
„dies Reſultat herbeiführen.“


Sollte man einen ſo boshaften Narren nicht ein-
ſperren — und ſeine Frau einem Andern geben?
qu’en dites vous, Julie?


Die jugendlichen Seelen der Söhne meines Wirths
wurden gleich mir empört, und beſtritten männlich
ſolche diaboliſche Grundſätze, erbosten aber den
wahnſinnigen Orangemann nur immer mehr, bis end-
lich Alles ſchwieg, und Mehrere einzeln vom Tiſch
aufſtanden, um dem widrigen Geſpräch ganz zu ent-
gehen.


[261]

Glücklicherweiſe hat Herrn L …’s Viſite nur ei-
nen Tag gedauert, und wir ſind wieder — unter
uns. Die gewonnene Freiheit wurde ſogleich benutzt,
um eine zwanzig Meilen weite Excurſion nach Mount
B . . . . . zu machen, dem ſchönen Beſitzthum eines
Landedelmanns, und ſpät in der Nacht erſt fuhren
wir wieder zurück, wo mir in meinem Reiſewagen
Henriettens Geſellſchaft, welche die kalte Luft nicht
vertragen konnte, zu Theil wurde — mais honny
soit qui mal y pense
. Der Park in Mount B …
bietet ein wahres Studium für die ſinnreiche Anle-
gung großer Waſſerparthien an, denen gehörige Be-
deutung und Natürlichkeit zu geben, ſo ſchwer iſt.
Man muß, für die Details, die Formen der Natur
ſtudiren, die Hauptſache iſt aber, nie die ganze Waſ-
ſermaſſe überſehen zu laſſen, und das Waſſer muß
ſich auch ſichtlich nach und nach, und wo möglich an
mehreren Stellen zugleich, verlieren, um der Phantaſie
gehörigen Spielraum zu geben — die wahre Kunſt
bei allen landſchaftlichen Anlagen.


Der Hausherr, welcher reich iſt, beſitzt auch eine
recht zahlreiche Bildergallerie mit einigen vortreffli-
chen Gemälden. Unter andern eine Winterlandſchaft
von Ruisdael, die einzige dieſer Art, die ich mich er-
innere von dieſem Meiſter geſehen zu haben. Der
Ausdruck der kalten, nebligen Luft und des kniſtern-
den Schnees waren ſo treu, daß man faſt Froſtſchauer
zu empfinden glaubte, wenigſtens das flackernde Ka-
[262] min darunter mit doppelter Behaglichkeit anblickte.
Ein ſchöner und unzweifelhafter Rubens, den Fiſch-
zug Petri vorſtellend, zeichnete ſich durch eine Selt-
ſamkeit aus. Der in ein grünes Gewand gekleidete
Petrus trägt nämlich eine ſcharlachrothe Perücke,
und dennoch ſtört ſie den Totaleindruck nicht. Sie
wirkt wie eine Glorie, das Licht um ſich vertheilend.
Es ſcheint ein Kunſtſtück des Malers, vielleicht in
Folge eines Scherzes unternommen, pour prouver
la difficulté vaincûe
. Eine ſehr fleißige Landſchaft
auf Holz, von unbekannter Hand, befand ſich früher
in der Privatſammlung Carl des I., deſſen Chiffre
und Namen, mit der Krone darüber, man auf der
Rückſeite noch deutlich eingebrannt ſieht. Als den
Juwel der ganzen Sammlung betrachte ich aber ein
Gemälde Rembrandt’s, wie man glaubt, das Por-
trait eines aſiatiſchen Juden, aber zugleich das Ideal
eines Solchen darſtellend. Die Wirklichkeit dieſer
Augen, und das Sengende ihres Blickes, iſt faſt er-
ſchreckend; das Unheimliche und doch Erhabne des
Ganzen wird noch durch die nachgedunkelte Schwärze
des übrigen Bildes vermehrt, aus welchem der glüh-
äugige Kopf, mit dem ſataniſch lächelnden Munde,
wie aus ägyptiſcher Nacht ſcheuchend herausſchaut *).
Nach dem Frühſtück produzirte man mehrere Jagd-
und Rennpferde, wo wir uns mit Reitexercizien vor
[263] den Damen ſehen ließen. Die hieſigen Jagdpferde
ſind vielleicht nicht ganz ſo ſchnell als die beſten eng-
liſchen, aber unübertreffbare Springer, wozu man ſie
von Jugend auf anhält. Sie nahen ſich einer Mauer
mit der größten Ruhe, und ſetzen während des
Sprungs mit den Vorder- und Hinterfüßen, gleich
den Hunden, auf. Iſt noch ein Graben auf der an-
dern Seite, ſo überſpringen ſie auch dieſen, indem ſie
ſich auf der Höhe der Mauer, oder des Walls, einen
neuen élan geben. Man läßt ihnen dabei in der
Regel nicht viel Luft mit dem Zügel, und thut über-
haupt am beſten, einem gut dreſſirten Pferde dieſer
Art ſo wenig Hülfe als möglich zu geben, ſondern
nur mit ſteter leichter Anlegung an den Zügel, ihm
die Sache ganz ſelbſt zu überlaſſen.


Ich weiß nicht ob dieſe Reitdetails ſehr unterrich-
tend für Dich ſeyn werden, aber da meine Briefe an
Dich zugleich mein Tagebuch ſind (denn wo ſollte
ich die Zeit zu dem andern noch hernehmen) ſo mußt
Du Dir gefallen laſſen, von Allem unterhalten zu
werden, was Dir, oder auch mir ſelbſt, Intereſſe zu
gewähren im Stande iſt.



Du weißt, meine Entſchlüſſe ſind oft ſehr plötzlicher
Natur — Du pflegſt ſie meine Piſtolenſchüſſe zu
nennen. Einen ſolchen habe ich eben ausgeführt.
[264] Ich fürchtete mich vor Capua’s Verweichlichung, und
vor Afrikaniſcher Sclaverei. J’aime à effleurer les
choses, mais pas les approfondir
. Ich bin alſo,
wichtige Nachrichten vorſchützend, geflohen. Daß
ich nicht ohne Rührung von ſo herzlichen Freunden,
von ſo reizenden Freundinnen, mich losreißen konnte,
magſt Du Dir wohl denken, es geſchah aber mit
Standhaftigkeit. Da ich auf die Poſtpferde, die aus
der nahen Stadt erſt geholt werden mußten, nicht
warten mochte, ſo ritt ich mit James, der mich,
glaube ich, recht vergnügt begleitete, zum letztenmal,
auf dem Doctor, ſeinem vortrefflichen Jagdpferde,
nach Tuam, meinem Kammerdiener die Sorge für
alles Uebrige überlaſſend. In Tuam wollte ich mit
der Mail weiter reiſen, es war aber nicht ihr Tag,
und kein andres Fuhrwerk nach Gallway zu bekom-
men, als die ordinaire Briefpoſt, ein bloßer auf zwei
Rädern ſtehender, offner Karren, mit einem Pferde
beſpannt, und Platz für zwei Paſſagiere, außer dem
Kutſcher. Ich beſann mich nicht lange, ſondern ſprang,
James zum letztenmal die Hand drückend, herzhaft in
das gebrechliche Vehikel, und clopin clopant raſſelte
der alte Gaul damit über die Straße. Der andere
Paſſagier war ein junger, rüſtiger Mann, in ziem-
lich eleganter Kleidung, mit dem ich bald in eine in-
tereſſante Unterhaltung, über die Sehenswürdigkeiten
ſeines Vaterlandes, und den Charakter ſeiner Lands-
leute, gerieth. Von der Herzlichkeit und Dienſtfertig-
keit dieſer, gab er mir ſogleich ſelbſt einen Beweis.
Ich war ſehr leicht angezogen, dabei warm vom Rei-
[265] ten, ſo daß mir der kalte Wind ſehr beſchwerlich
wurde. Ich bot alſo dem Kutſcher ein Trinkgeld,
für Ueberlaſſung ſeines Mantels. Dieſer erſchien aber
bei näherer Beſichtigung ſo furchtbar ſchmutzig und
eckelhaft, daß ich mich nicht entſchließen konnte, mich
deſſelben zu bedienen. Sogleich zog der junge Mann
ſeinen ſtattlichen, weiten Reiſeüberrock aus, und
zwang mich beinah ihn umzunehmen, indem er mit
dem größten Eifer verſicherte, daß er ſich nie [verkälte],
und die Nacht im Waſſer ſchlafen [könne], wenn es
ſeyn müſſe — den Ueberrock ſelbſt aber nur angezo-
gen, weil er nicht gewußt wo er ihn laſſen ſolle. Wir
wurden, durch dieſe freundliche Hülfe von ſeiner
Seite, ſchnell bekannter, als es ſonſt wohl der Fall
geweſen wäre, und die Zeit verging uns, unter man-
cherlei Geplauder, weit geſchwinder, als ich hoffen
durfte — denn die Diſtanz war ſechs deutſche Mei-
len, der Weg ſehr holpricht, die Equipage die ſchlech-
teſte, der Sitz unbequem, die Gegend [einförmig] und
kahl. Kein Hügel, kein Baum, nur ein Netz von
Mauern über das Ganze gezogen. Jedes Feld iſt
auf dieſe Art eingefaßt, die Mauern nur von Feld-
ſteinen, ohne Kalk, aufgeſetzt, aber doch ſo, daß ſie
ſich, ohne gewaltſames Einſtoßen, gut halten können.
Viele Ruinen alter Schlöſſer, wurden zwar auch in
dieſer Gegend ſichtbar, konnten aber in ſo flacher,
öder Flur, ohne auch nur einen unterbrechenden
Strauch, keinen romantiſchen Effect hervorbringen.
Ueberall aber fanden wir das zerlumpte, Kartoffeln-
eſſende Volk gleich luſtig und vergnügt. Es bettelt
[266] zwar beſtändig, aber unter Lachen, mit Laune, Witz
und drolligen Worten, ohne Zudringlichkeit, wie ohne
rancune, wenn es nichts erhält. Auffallend iſt gewiß,
bei dieſer großen Armuth, die eben ſo große Ehrlich-
keit dieſer Menſchen — vielleicht entſteht eben eine
aus der andern — denn der Luxus macht erſt begehr-
lich, und der Arme entbehrt das Nothwendige oft
leichter, als der Reiche das Ueberflüſſige.


Wir ſahen eine Menge Arbeiter, an der Chauſſee
auf den Steinhaufen ſitzend, wo ſie die Steine zer-
ſchlugen, und à mesure daß dieſe Arbeit fortſchritt,
erhöhte ſich ihr Sitz. Mein Reiſegefährte ſagte: das
ſind Eroberer — ſie zertrümmern nur, und ſteigen
doch durch Zerſtörung. Indem ſtieß unſer Kutſcher
in ſein Horn, ein Zeichen der Briefpoſt, dem, wie bei
uns, ausgewichen werden muß; der Ton kam aber
ſo ſchwierig heraus, und klang ſo jämmerlich, daß
alles darüber lachte. Ein hübſcher, wie Glück und
Freude ausſehender, obgleich faſt nackter zwölfjähri-
ger Knabe, der auf einem der Steinhaufen, auch häm-
mernd, ſaß, jauchzte vor Muthwillen auf, und rief
dem ſich vergebens ärgernden Kutſcher nach: „Oho
Freund! Eure Trompete muß den Schnupfen bekom-
men haben, ſie iſt ja ſo heiſer, wie meine alte Groß-
mutter. Curirt ſie ſchnell mit einem Glaſe Potheen,
oder ſie ſtirbt Euch an der Auszehrung, noch ehe Ihr
Gallway erreicht.“ Ein ſchallendes Gelächter aller
Arbeiter folgte als Chorus. „Sehen Sie, das iſt
unſer Volk“, rief mein Begleiter: „Hungern und La-
chen — das iſt ihr Loos. Glauben Sie, daß bei der
[267] Menge der Arbeiter und der Seltenheit der Arbeit,
keiner von dieſen ſoviel verdient, um ſich ſatt zu
eſſen? Demohngeachtet wird jeder noch etwas erüb-
rigen, um es ſeinem Prieſter zu geben, und wenn ſie
in ſeine Hütte kommen, wird er die letzte Kartoffel
mit ihnen theilen, und einen Scherz dazu machen.“


Jetzt näherten wir uns Gallway’s Hügeln, über
denen die Sonne prachtvoll unterging. Nie kann ich
dieſes Schauſpiel unbewegt anſehen — immer ent-
zückt es mich, und läßt ein Gefühl von Ruhe und
Sicherheit, mit der Gewißheit in mir zurück, daß
dieſe Sprache, die Gott ſelbſt zu uns redet, nicht
lügen kann — wenn Menſchenoffenbarung auch nur
Stückwerk wäre, von Jedem anders verſtanden, und
nur zu oft von Liſt und Eigennutz gemißbraucht.


Wir ſtiegen in demſelben Gaſthofe ab, den ich
beim Pferderennen kennen gelernt, und um meinem
jungen Freunde auch eine Artigkeit zu erweiſen, lud
ich ihn ein, mit mir zu Abend zu eſſen. Spät erſt
ſchieden wir, wahrſcheinlich auf immer, aber grade
ſolche Bekanntſchaften liebe ich — ſie laſſen nicht Zeit
zur Verſtellung; unbekannt mit den Verhältniſſen,
ſieht jeder, und ſchätzt am andern: nur den Men-
ſchen. Was jeder vom andern an guter Meinung
erlangt, hat er ſich dann wenigſtens ſelbſt zu ver-
danken.


[268]

Ich hatte gehofft, mein Wagen würde während
der Nacht anlangen, er iſt aber bis jetzt noch nicht
hier, und ich benutzte daher die Muße, um die al-
terthümliche Stadt noch genauer zu beſehen, als es
mir das erſte mal möglich war. Sehr nützlich iſt
mir dabei die Anleitung einer alten Chronik gewe-
ſen, deren Fragmente ich zufällig, in einem Gewürz-
laden entdeckte, wo ich mich nach den cross bones
(die gekreuzten Knochen) erkundigte. Es ſteht näm-
lich in einem abgelegnen Winkel hier ein uraltes
Haus, über deſſen Thüre man, in recht guter Ar-
beit, einen Todtenkopf über zwei gekreuzten Kno-
chen, in ſchwarzem Marmor ausgehauen, ſieht.
Dieſes Haus nennt man „the cross bones“ und
Folgendes erzählt von ihm die tragiſche Geſchichte.


Im 15. Jahrhundert war James Lynch, ein
Mann von alter Familie und großem Reichthum,
für ſeine Lebenszeit zum Maire von Gallway er-
wählt, damals eine Würde, die faſt der eines Sou-
verains an Einfluß und Macht gleich kam. Er war
beſonders angeſehen und verehrt wegen ſeiner uner-
ſchütterlichen Gerechtigkeitsliebe, aber auch wegen
ſeiner Herablaſſung und milden Sitten. Doch be-
liebter noch, ja das Idol der Bürger, wie ihrer ſchö-
nen Frauen, war ſein Sohn, der Chronik nach,
einer der ausgezeichneteſten jungen Männer ſeiner
Zeit. Mit vollendeter Schönheit, und dem edelſten
[269] Anſtand des Körpers, verband er jene ſtets heitere
Laune, jene immer überlegne Familiarität, die un-
terjocht, indem ſie zu ſchmeicheln ſcheint — und die
verbindliche Grazie der Manieren, welche, ohne An-
ſtrengung, blos durch die Lieblichkeit ihrer eignen
Erſcheinung, alle Herzen erobert. Auf der andern
Seite gewann ihm ſeine oft erprobte Vaterlands-
liebe, ſeine edle Freigebigkeit, ſeine romantiſche Tap-
ferkeit, und eine für jene Jahrhunderte ſeltene Bil-
dung, wie die höchſte Meiſterſchaft in allen Waffen-
übungen, die Dauer einer Hochachtung, welche ſein
erſtes Erſcheinen unwillkührlich gebot. Soviel Licht
war indeſſen nicht ohne Schatten. — Tiefe, glühende
Leidenſchaften, Hochmuth, Eiferſucht auf jedes riva-
liſirende Verdienſt, und ein wilder Hang zum ſchö-
nen Geſchlecht, den keine Schranke aufhielt, machten
alle ſeine Vorzüge zu eben ſo viel Gefahren für ihn
ſelbſt und Andere. Oft hatte ſein ſtrenger Vater,
obgleich ſtolz auf einen ſolchen Sohn und Erben,
Urſache zu bitterem Tadel, und noch ängſtlicherer Be-
ſorgniß für die Zukunft, doch unwiderſtehlich, ſelbſt
für ihn, ſchien die Liebenswürdigkeit des eben ſo
ſchnell bereuenden, als fehlenden Jünglings, der
dem Vater wenigſtens, ſtets gleiche Liebe und Un-
terwürfigkeit zeigte. Nach dem erſten Zorn erſchie-
nen ihm daher, wie jedem Andern, die gerügten
Mängel nur als leichte Flecken in der Sonne. Noch
mehr beruhigte ihn aber bald darauf die eben ſo
heftige als zärtliche Neigung, welche ſein Sohn für
Anna Blake, der Tochter ſeines beſten Freundes,
[270] und ein in jeder Hinſicht liebenswerthes Mädchen
faßte — von dieſer Verbindung die Erfüllung aller
ſeiner ſehnlichſten Wünſche mit Zuverſicht erwartend.
Doch die dunkeln Schickſalsmächte hatten es anders
beſchloſſen!


Während der junge Lynch mehr Schwierigkeiten
fand, das Herz ſeiner neuen Geliebten zu rühren,
als er bisher anzutreffen gewohnt geweſen war, ſah
ſich ſein Vater zu einer nicht länger aufzuſchieben-
den Handelsreiſe nach Cadix genöthigt, denn der
Adel Gallway’s hatte, gleich dem anderer bedeuten-
der [Seeſtädte] des Mittelalters, von jeher, den Han-
del im Großen, als kein eines Edelmann’s unwür-
diges Geſchäft betrachtet. Gallway war aber da-
mals ſo mächtig und weitbekannt, daß die Chronik
erzählt, ein arabiſcher Kaufmann, der aus dem
Orient lange nach dieſen Küſten gehandelt, habe einſt
um Auskunft gebeten, in welchem Theile von Gall-
way Irland läge?


Nachdem James Lynch, für die Zeit ſeiner Abwe-
ſenheit, das Ruder des Staats in ſichere Hände ge-
legt, und alles zur weiten Reiſe bereitet, ſegnete er
mit überwallendem Vaterherzen ſeinen Sohn, wünſchte
ſeinem jetzigen Streben das beſte Gedeihen — und
ſegelte wohlgemuth ſeiner Beſtimmung zu. Ueberall
krönte der beſte Erfolg jede ſeiner Unternehmungen.
Einen großen Theil trugen hierzu die freundſchaft-
lichen Dienſte eines ſpaniſchen Kaufmann’s, mit Na-
men Gomez bei, welcher dadurch in dem edlen Her-
zen des Maire’s von Gallway die lebhafteſte Dank-
[271] barkeit erweckte. Auch Gomez hatte einen Sohn,
der, gleich Edward Lynch, der Abgott ſeiner Fami-
lie und der Liebling der Stadt war, jedoch im Cha-
rakter, wie im Aeußern, von Jenem gänzlich ver-
ſchieden. Schön waren Beyde, doch Edward mehr
dem Apollo, Gonzalvo, mehr dem Johannes zu ver-
gleichen. Der Eine erſchien wie ein Felſen mit
Blumen bekränzt, der andere wie ein duftender Ro-
ſenhügel, vom Sturme bedroht. Heidniſche Tugen-
den ſchmückten Jenen, chriſtliche Demuth dieſen.
Die üppige Geſtalt verrieth mehr Weichheit als
Thatkraft, die ſchmachtenden dunkelblauen Augen
mehr Sehnſucht und Liebe, als Kühnheit und Stolz;
ſanfte Melancholie überſchattete ſein Geſicht, und
ein Zug wollüſtigen Leidens zuckte um den ſchwellen-
den Mund, den nur ſelten ein halb [verſchämtes]
Lächeln umſpielte, wie eine laue Welle über Koral-
len und Perlen gleitet. Dieſen Formen entſprechend
war auch ſein Inneres, liebend und duldend, von
ernſter und ſchwermüthiger Heiterkeit; ſtets mehr
nach innen als außen gewandt, zog er Einſamkeit
dem Geräuſch und Gewühl der Menſchen vor,
ſchloß ſich aber mit der tiefſten Innigkeit denjenigen
an, welche ihm Wohlwollen und Freundſchaft be-
wieſen. So war er im Innerſten ſeines Gemüths
von einem Feuer erwärmt, das, gleich dem eines
Vulkans, der für verheerenden Ausbruch zu tief
liegt, nur der darüber gebreiteten Erde größere
Fruchtbarkeit verleiht, und ſie ſchöner als jeden an-
dern Ort in zartes Grün und brennende Blumen-
[272] farben kleidet. — Verführeriſch, und leicht zu ver-
führen — war es ein Wunder, daß ſolch ein Jüng-
ling ſelbſt Edward Lynch unwillkührlich die Palme
aus der Hand wand? Nichts von dem jedoch ah-
nete Edward’s Vater. Voll Dankbarkeit für ſeinen
Freund, voll Wohlgefallens an deſſen hoffnungsvol-
lem Sohn, beſchloß er für Letzteren dem alten Go-
mez ſeine Tochter anzubieten. Der Antrag war zu
ſchmeichelhaft, um ihn von der Hand gewieſen zu
ſehen. Bald kamen die Väter überein, und es ward
beſtimmt, daß Gonzalvo ſogleich ſeinen Gönner nach
Irlands Küſten begleiten, und, wenn die Neigung
der jungen Leute dem gefaßten Plane entſpräche, die
Verbindung Beider mit der Edwards zu gleicher
Zeit ſtatt finden, dann aber das vereinte Paar nach
Spanien zurückkehren ſollte. Der 19jährige Gomez
ſelbſt folgte dem ehrwürdigen Freunde ſeines Vaters
mit Freuden. Sein friſches, romantiſches Gemüth
genoß im Voraus, ſtill entzückt, die mannichfaltigen
Scenen fremder Länder, die er zu ſehen, die Wun-
der des Meers, die er zu betrachten, das neue Le-
ben ihm unbekannter Völker, dem er ſich anzu-
ſchließen im Begriff ſtand, und ſein warmes Herz
umfing ſchon mit Liebe das Mädchen, von deren
Reizen der Vater, vielleicht keine ganz unpartheyiſche
Beſchreibung gemacht.


Jeder Augenblick der langen Seefahrt, die damals
mit größeren Gefahren verbunden war, und mehr
Zeit erforderte, als es jetzt der Fall iſt, vermehrte
die Vertraulichkeit und gegenſeitige Zuneigung der
[273] Reiſenden, und als ſie endlich Gallways Hafen er-
blickten, glaubte der alte Lynch nicht nur, daß ihm
Gott auf dieſer Reiſe einen zweiten Sohn geſchenkt,
ſondern rechnete auch mit Zuverſicht darauf, daß die
nie ſich verläugnende Sanftmuth und Milde des
liebenswürdigen Jünglings, den heilſamſten Einfluß
auf die wilderen und dunkleren Eigenſchaften ſeines
Eduards ausüben würden.


Dieſe Hoffnung ſchien auch durchgängig in Erfül-
lung zu gehen.


Edward, der in Gomez Alles fand, was ihm
fehlte, fühlte dadurch ſeine eigne Natur wie vervoll-
[ſtändigt], und da er ihn überdieß, nach den Eröffnun-
gen des Vaters, ſchon als ſeinen Bruder anſah, ge-
wann ihre Freundſchaft bald das Anſehn der innig-
ſten und unzertrennlichſten Neigung.


Doch ſchon nach wenig Monden trübten in Ed-
wards Seele unangenehme Empfindungen dieſe frühere
Harmonie, Gonzalvo war unterdeß der Gemahl ſei-
ner Schweſter geworden, hatte aber ſeine Rückreiſe
auf unbeſtimmte Zeit verſchoben. Alles trug ihn auf
den Händen, jeder beeiferte ſich, ihm zuvorkommende
Liebe zu zeigen. Edward ſchien ſich nicht ſo glück-
lich — zum erſtenmal vernachläſſigt, konnte er ſich
nicht verbergen, in ſeiner allgemeinen Popularität
einen [gefährlichen] Nebenbuhler gefunden zu haben —
was ihn aber weit mehr erſchütterte, ſein Herz eben
ſo ſehr verwundete, als es ſeiner Gefühle — uner-
Briefe eines Verſtorbenen. I. 18
[274] trägliche, und raſtloſe Qualen bereitete, war die Be-
merkung, die jeden Tag einen neuen Zuwachs er-
hielt: daß Anna, die er als die Seine anſah, ob-
gleich ſie dies zu erklären noch immer zögerte — daß
ſeine Anna, ſeit der Ankunft des ſchönen Fremden,
immer kälter gegen ihn geworden, — ja ſchien es
ihm nicht, als habe er ſelbſt ſchon in unbewachten
Augenblicken ihr ſeelenvolles Auge gedankenſchwer
auf Gomez holden Zügen ruhen, und ihre vorher
blaſſen Wangen dann in ſanfter [Röthe] erblühen ſehen,
— traf aber ſein Blick den ihrigen in ſolchen Mo-
menten, dann war das Roſenroth ſogleich zur Fie-
berglut geworden. Ja gewiß, ihr ganzes Benehmen
war verändert! Unregelmäßig, launig, ohne Ruhe,
bald von tiefer Schwermuth ergriffen, bald ſich mit
Wildheit ausgelaſſener Luſtigkeit hingebend, ſchien
ſie von dem beſonnenen, klaren, ſtets gleich freund-
lichen Mädchen, das ſie früher war, nur noch die
äußern Züge beibehalten zu haben. Alles verrieth
dem ſcharfſehenden Auge der Eiferſucht, daß eine
tiefe Leidenſchaft ſie ergriffen, und für wen konnte
ſie glühen — als für Gomez? für ihn, der allein,
er mochte kommen oder gehen, den Saiten ihrer
Seele die [veränderte] Stimmung gab.


Ein alter Weiſer ſagt: Liebe iſt zum größten
Theil dem Haſſe näher verwandt, als der Zunei-
gung — und in Edwards Buſen zeite ſich jetzt die
Wahrheit dieſes Ausſpruchs. Sein einziger Genuß
war fortan, der Geliebten, die er allein für ſchuldig
hielt, wehe zu thun. Wo die Gelegenheit ſich dar-
[275] bot, ſuchte er ſie zu demüthigen, ſie in Verlegenheit
zu ſetzen, mit wegwerfendem Stolz zu [kränken], oder
mit tief beleidigenden Vorwürfen zu [überhäufen], bis
— der geheimen Schuld ſich bewußt — Scham und
Empörung die Aermſte überwältigten, und ſie in
Thränenſtröme ausbrach, deren Anblick allein ihm
eine Labung gab, wie ſie den Verdammten während
ihrer Qualen zu Theil werden mag. Doch keine
wohlthuende Verſöhnung folgte auf dieſe Scenen,
und löste, wie bei Liebenden, die Diſſonanz in ſelige
Harmonie auf — jede derſelben ſteigerte nur immer
mehr ſeine Wuth, bis zum Rande der Verzweif-
lung. Als er aber nun auch in dem, der Verſtel-
lung ſo wenig fähigen Gomez, daſſelbe Feuer auf-
lodern ſah, das in Anna’s Augen brannte, als er
ſeine Schweſter ſchon vernachläßigt, ſich ſelbſt aber,
wie er meinte, von einer im Buſen genährten
Schlange verrathen fand — da erreichte ſein Zuſtand
jenen Grad menſchlicher Gebrechlichkeit, von dem
nur der Allwiſſende entſcheidet, ob er ſchon Wahn-
ſinn, oder noch der Zurechnung fähig ſey.


An demſelben Abend, wo der Argwohn Edward
ruhelos von ſeinem Lager in die Nacht hinaustrieb,
ſcheint es, daß die Liebenden, vielleicht zum erſten-
mal, eine heimliche Zuſammenkunft gehabt. — Der
ſpätern Ausſage Edwards nach, erblickte er, ſelbſt
hinter einen Pfeiler verborgen, mit ſchüchternen
Schritten Gomez, in ſeinen Mantel gehüllt, aus
dem Blake’ſchen Hauſe ſchleichen — aus einer wohl-
bekannten Seitenpforte, die zu Anna’s Zimmern
18*
[276] führte. — Bei dieſer ſchrecklichen Gewißheit nahm die
Hölle Beſitz von ſeiner Seele. Seine Augen ſtarr-
ten aus ihren Höhlen, Furien [wühlten] in ſeinem
Buſen, das Blut tobte zerſprengend gegen ſeine
Pulſe, und wie ein Verſchmachteter lechzt nach ei-
nem Trunke kühlenden Waſſers, ſo lechzte ſein gan-
zes Weſen nach dem Blute der Rache. Einem reißen-
den Tiger gleich, ſtürzte er auf den unglücklichen
Jüngling zu, der, ihn erkennend, vergebens entfloh.
In wenigen Augenblicken war er erreicht, und hun-
dertmal ſeinen Dolch, mit der Schnelle des Blitzes,
in dem zuckenden Körper begrabend, zerfleiſchte der
Raſende mit ſataniſcher Wuth die Reize, welche ihm
die Geliebte, und die Ruhe des Lebens geraubt.
Nur als der Mond jetzt hell hinter einer ſchwarzen
Wolke hervortrat, und gähling das gräßliche Schau-
ſpiel erleuchtete, die entſtellte Maſſe vor ihm, kaum
noch einen Zug des gemordeten Freundes mehr an
ſich trug, und ein Strom ſchon gerinnenden Blutes
ihn, den Todten, und die Erde um ſie her bedeckte
— da erwachte er mit furchtbarem Entſetzen, wie
aus einem hölliſchen Traume. Doch die That war
geſchehen, und das Gericht begann.


Dem Inſtinkt der Selbſterhaltung folgend rannte
er, gleich Cain, fliehend in den nahen Wald — wie
lange er dort umhergeirrt, war nachher ſeiner Erin-
nerung entſchwunden, Angſt, Verzweiflung, Liebe,
Reue, und Wahnſinn zu letzt, mochten, als ſoviel
ſchauderhafte Begleiter, ihn verfolgt, und endlich der
Beſinnung beraubt haben, in lindernder Vergeſſen-
[277] heit die Schrecken des Vergangenen eine Zeit lang
verſcheuchend — denn unerträgliche Leiden der Seele,
wie des Körpers, heilt die liebende Natur, durch
Ohnmacht oder Tod. —


Unterdeſſen war in der Stadt der Mord bereits
entdeckt, und das grauſenerregende Ende des ſanf-
ten Jünglings, der, ein Fremder, ſich ihrer Gaſt-
freundſchaft vertraut, von allen Claſſen mit Schmerz
und Empörung vernommen worden. Man hatte ei-
nen Dolch neben dem herabgefallenen Sammtbarett
des Spaniers, in Blut getaucht, gefunden, und
nicht weit davon einen Hut, mit einer Agraffe aus
Edelſteinen, und mit bunten Federn geſchmückt,
auch die friſche Spur eines Menſchen ausgemittelt,
der in der Richtung des Waldes ſeine Rettung ge-
ſucht zu haben ſchien. Der Hut wurde ſogleich für
den des jungen Lynch erkannt, und da er ſelbſt nir-
gends aufzufinden war, fing man auch für ſein Le-
ben zu fürchten an, ihn mit dem Freunde zu-
gleich ermordet
glaubend. Der beſtürzte Vater
beſtieg ſein Pferd, und von dem Rache rufenden
Volke begleitet, ſchwur er: daß nichts den Mörder
retten ſolle, müßte er ihn auch ſelbſt am Galgen
aufknüpfen. — Man denke ſich, erſt das Freude-
jauchzen, dann den Schauder der Menge, und die
Gefühle des Vaters, als man bei Tages Anbruch
Edward Lynch, unter einem Baume geſunken, le-
bend, und obgleich voll Blut, doch, wie es ſchien,
ohne gefährliche Verwundung, auffand — gleich dar-
[278] auf aber ihn ſelbſt, ſeines Vaters Kniee umfaſſend,
ſich als den Mörder Gonzalvo’s anklagen, und ſeine
ſchnelle Beſtrafung dringend verlangen hörte.


Gefeſſelt ward er zurückgebracht, und in voller
Sitzung des Magiſtrats, von ſeinem eignen Vater,
zum Tode verurtheilt. Aber das Volk wollte ſeinen
Liebling nicht verlieren. Wie die Wogen des vom
Sturm erregten Meeres erfüllte es Markt und
Straßen, die Schuld des Sohnes über der grauſa-
men Gerechtigkeit des Vaters vergeſſend, mit drohen-
dem Toben verlangte es die Oeffnung des Gefäng-
niſſes, und die Begnadigung des Verbrechers. Nur
mit Mühe konnten in der darauf folgenden Nacht,
durch verdoppelte Wachen, die immer erhitzter wer-
denden Empörer vom gewaltſamen Einbruch zurück
gehalten werden. Gegen Morgen aber meldete man
dem Maire, daß bald aller Widerſtand vergeblich
ſeyn würde, da auch ein Theil der Soldaten ſich auf
des Volkes Seite geſchlagen, nur die fremden Söld-
ner noch aushielten, und Alles mit wüthendem Ge-
ſchrei des jungen Mannes Auslieferung angenblick-
lich verlange. Da faßte der unerſchütterliche Mann
einen Entſchluß, den Viele unmenſchlich nennen wer-
den, deſſen furchtbare Selbſtüberwindung aber ge-
wiß zu den ſeltenſten Beiſpielen ſtoiſcher Feſtigkeit
gehört. Von einem Prieſter begleitet, begab er ſich
durch einen geheimen Gang in das Gefängniß ſei-
nes Sohnes, und als dieſer, mit neu erwachter Le-
bensluſt, ihm zu Füßen ſank, und durch die Theil-
[279] nahme ſeiner Mitbürger wieder erhoben, zagend
frug, ob er ihm Gnade und Verzeihung bringe? er-
wiederte mit feſter Stimme der alte Mann: Nein,
mein Sohn, auf dieſer Welt giebt es keine Gnade
mehr für dich — dein Leben iſt unwiederbringlich dem
Geſetz verfallen, und mit Aufgang der Sonne mußt
du ſterben! Ich habe zwei und zwanzig Jahr für
deine irdiſche Glückſeligkeit gebetet, doch das iſt vor-
über — richte deine Gedanken nur noch auf die
Ewigkeit, und iſt dort noch Hoffnung, ſo laß uns
jetzt gemeinſchaftlich die Allmacht anflehen, um Gnade
für dich jenſeits — dann aber hoffe ich, wird mein
Sohn, obgleich er nicht ſeines Vaters würdig leben
konnte, wenigſtens ſeiner würdig zu ſterben wiſſen. Bei
dieſen Worten erwachte noch einmal des einſt küh-
nen Jünglings edler Stolz, und mit heldenmäßiger
Reſignation ergab er ſich, nach kurzem Gebet, in des
Vaters erbarmungsloſen Willen.


Als das Volk, und der größte Theil der Krieger
in ſeine Reihen gemiſcht, unter immer wilder werden-
den Drohungen ſich eben anſchickte, das Haus zu
ſtürmen, erſchien in dem hohen Bogenfenſter des
Gefängniſſes James Lynch, ſeinen Sohn mit um
den Hals geſchlungenen Strick an ſeiner Seite, vor
der erſtaunten Menge. „Ich habe geſchworen,“ rief
er, „daß Gonzalvo’s Mörder ſterben müſſe, und
„ſollte ich ſelbſt das Amt des Henkers an ihm ver-
„richten. Die Vorſicht nimmt mich beim Wort, und
„ihr, bethörtes Volk! lernt von dem unglücklichſten
[280] „der Väter, daß nichts den Gang des Geſetzes auf-
„halten darf, und ſelbſt die Bande der Natur vor
„ihm ſich löſen müſſen.“ Während dieſer Worte
hatte er die Schlinge an einen aus der Mauer ra-
genden, eiſernen Bolzen befeſtigt, und jetzt, ſchnell
ſeinen Sohn hinausſtoßend, vollendete er die grauſe
That. — Nicht eher verließ er ſeinen Platz, bis das
letzte konvulſiviſche Zucken des bejammernswerthen
Opfers die Gewißheit ſeines Todes gab. —


Wie vom Donner gerührt hatte das vorher tobende
Volk in leichenähnlicher Stille dem entſetzlichen
Schauſpiele zugeſehen, und betäubt ſchlich dann ein
Jeder ſchweigend ſeiner Wohnung zu. Der Maire
von Gallway aber entſagte von demſelben Augen-
blick an allen ſeinen Aemtern und Geſchäften, und
Niemand, außer den Mitgliedern ſeiner Familie, hat
ihn je wieder geſehen, noch verließ er ſein Haus, bis
man ihn zu Grabe trug. Anna Blake ſtarb im Klo-
ſter, beide Familien verſchwanden endlich, im Lauf
der Zeiten, von der Erde, aber immer noch zeigen
die Knochen und der Todtenſchädel die Stelle an,
wo einſt ſo Gräßliches geſchah.


[281]

Um 10 Uhr langte endlich mein Wagen an, und
ich verließ ſogleich Gallway. So lange die Gegend
eintönig blieb, brachte ich meine Zeit mit Leſen hin.
Bei Gort wird aber das Land wieder intereſſanter,
und ein Fluß ſtrömt unweit davon, der ſich, wie
bei Cong, mehrmals in die Erde verliert. Einer
der tiefſten Keſſel, die er bildet, wird von den Ein-
wohnern „the punch bowl“ genannt. Um ſolche
Bowlen zu füllen, bedürfte man noch größerer Fäſ-
ſer als das Heidelberger. Man beginnt nun ſich den
Bergen von Clare zu nähern, und die Natur beklei-
det ſich immer mehr mit ihren maleriſchen Gewän-
dern. Ein ſchöner Park, dem Lord Gort gehörig,
überraſchte mich durch eine prachtvolle Scene. Er
ſchließt ſich nämlich an einen weiten See mit drei-
zehn ſchön bewaldeten Inſeln an, die, mit dem Ge-
bürge im Hintergrunde, und der nirgends ganz zu
überſehenden Waſſermaſſe davor, eine grandioſe Wir-
kung hervorbringen. Eins der elenden Poſtpferde
ſchien mein Wohlgefallen an dieſem Orte ſo ſehr zu
theilen, daß es nicht mehr davon wegzubringen
war. Nach vielen vergeblichen Verſuchen, es aus der
gefaßten Poſition zu treiben, wobei der Poſtillon
immer verſicherte, es ſey nur dieſer Fleck, den es
ſo liebe, hätten wir es einmal darüber hinweg,
ſo ginge es wie der leibhaftige Teufel — mußten
wir es endlich ausſpannen, da es auch zu ſchlagen
und das morſche Geſchirr zu zerreißen begann. Ge-
[282] gen das irländiſche Poſtweſen ſind die weiland ſäch-
ſiſchen Poſteinrichtungen noch vortrefflich zu nennen.
Blutende Skelette, überall gedrückt, und aufgezogen,
verhungert und über das Greiſenalter hinaus, werden
an vermodertem Geſchirr vor Deinen Wagen geſpannt,
und wenn Du den mit wenigen Lumpen bekleideten
Poſtillon frägſt, ob er glaube, daß ſolche Thiere nur
eine Meile, geſchweige denn eine Station von [zwölf]
oder fünfzehn, mit dem ſchweren Wagen und Ge-
päck fortkommen könnten, ſo erwiedert er ſehr ernſt-
haft: „Eine beſſere Equipage gäbe es in ganz England
nicht, und er werde Dich in weniger als nichts an
den Ort Deiner Beſtimmung bringen. Kaum haſt
Du aber zwanzig Schritte zurückgelegt, ſo iſt ſchon
etwas zerriſſen, ein Pferd wird [ſtätiſch], und das an-
dere [fällt] wohl gar ermattet hin; aber das dekonte-
nancirt ihn nicht im Geringſten, er hat immer eine
vortreffliche Ausflucht bei der Hand, und am letzten
Ende, wenn nichts mehr hilft, erklärt er ſich für
behext.


So ging es heute, wo wir im Park von Gort
wahrſcheinlich hätten übernachten müſſen, wenn uns
nicht ſehr gaſtfreundlich vom Schloſſe aus Hülfe und
Vorſpann geſchickt worden wäre. Demohngeachtet
hatte der Aufenthalt ſo lange gedauert, daß ich erſt
um zehn Uhr Abends in Limmerick anlangte. James
Lynch hat meinen Brief ſo dick gemacht, daß ich ihn
abſenden muß, ehe ſeine Corpulenz impayable
wird. Vor vierzehn Tagen wirſt Du ſchwerlich wie-
[283] der Nachricht von mir bekommen, da ich geſonnen
bin, mich in die wildeſten Gegenden zu vertiefen, die
des Fremden Fuß kaum noch betreten hat. Bete
alſo für eine glückliche Reiſe, und vor Allem — liebe
mich immer mit gleicher Zärtlichkeit.


Dein treuer L …


[[284]]

Drei und dreißigſter Brief.



Liebe Entfernte!

Limmerick iſt die dritte Stadt in Irland, und von
einer Art, wie ich Städte liebe — alt und ehrwür-
dig, mit gothiſchen Kirchen, bemosten Schloßruinen
geziert; mit dunkeln, engen Straßen, und kurioſen
Häuſern aus verſchiedenen Zeitaltern; einem weiten
Fluß, der ſie der ganzen Länge nach durchſtrömt,
und über den mehrere alterthümliche Brücken füh-
ren; endlich wohl belebten Marktplätzen, und einer
freundlichen Umgegend. Eine ſolche Stadt hat für
mich etwas Aehnliches mit einem natürlichen Walde,
deſſen dunkle Schatten auch, bald hohe, bald nied-
rige, vielfach geſtaltete Baumgaſſen darbieten, und
oft ein Laubdach, gleich einer gothiſchen Kirche, bil-
den. Dagegen gleichen moderne regelmäßige Städte
mehr einem verſchnittenen franzöſiſchen Garten.
Jedenfalls ſagen ſie meinem romantiſchen Geſchmacke
weniger zu.


[285]

Ich war nicht ganz wohl, und kehrte daher, nach
einem kleinen Spaziergang in den Straßen, bald
wieder nach meinem Gaſthofe zurück. Hier fand ich
einen katholiſchen Kirchendiener auf mich warten, der
mir ankündigte: man habe ſo eben mit den Glocken
für mich geläutet, ſobald man nur meine Ankunft
erfahren. Er erbat ſich dafür zehn Schilling. Je
l’envoyai promener,
bald darauf ließ ſich ein Prote-
ſtant bei mir melden. Ich frug was er wolle? Blos
Your royal Highness (denn mit Titeln iſt man hier
freigebig, ſobald Jemand mit Extrapoſt und vier
Pferden ankömmt) warnen, von den Impoſitionen
der Katholiken, die auf eine ſchamloſe Weiſe Fremde
behelligen, und ich bitte Euer Hoheit, ihnen ja nichts
zu geben; — zugleich nehme ich mir jedoch die Frei-
heit, um eine kleine Beiſteuer für das proteſtantiſche
Armenhaus zu erſuchen. Go to the d . . . . Pro-
testants and Catholics,
rief ich entrüſtet, und warf
meine Thüre zu. Es war aber ſchon eine andere,
förmliche Deputation der Katholiken davor, aus dem
franzöſiſchen Conſul (einem Irländer), ferner einem
Verwandten und Namensvetter O’ Connels und noch
einigen andern beſtehend, die mich haranguirten und
mir ſogar den Liberator-Orden ertheilen wollten.
Ich hatte alle Mühe, dieſem und einer Einladung
zum Mittagseſſen in ihrem Club zu entgehen, mußte
aber nachgeben, mich wenigſtens von zweien aus
ihrer Mitte durch die Stadt begleiten zu laſſen, um
mir die Merkwürdigkeiten derſelben zu zeigen.


[286]

Ich ließ mich alſo gutwillig zuerſt nach der Cathe-
drale bringen, ein ſehr altes Gebäude, mehr im
Styl einer Feſtung als einer Kirche, eben ſo ſolide
als roh aufgeführt, aber impoſant durch ſeine Maſ-
ſen. Im Innern bewunderte ich fünfhundert Jahr
alte, wunderſchön gearbeitete Sitze, von bogwood
(Sumpfholz) geſchnitzt, das durch das Alter ſchwarz
wie Ebenholz geworden war. Die reichen Verzierun-
gen beſtanden aus köſtlichen Arabesken und höchſt
charakteriſtiſchen Masken, die bei jedem Sitze ver-
ſchieden waren. Das Grab der Thomond’s, Könige
von Ulſter und Limmerick, obgleich verſtümmelt und
durch moderne Zuſätze geſchändet, iſt dennoch ein in-
tereſſantes Monument geblieben. Abkömmlinge des
Geſchlechts exiſtiren noch jetzt, deren Chef den Titel
eines Marquis von Thomond führt, ein Name, den
Du in meinen Briefen aus London zuweilen erwähnt
geſunden haben wirſt, denn der Beſitzer deſſelben
gab dort gute dinćs. Man findet überhaupt in Ir-
land ſehr alte Häuſer, die ſtolz darauf ſind, ihre
Familie nie durch eine mésaillance entweiht zu ha-
ben, was, des Geldes wegen, der engliſche und
franzöſiſche Adel ſo häufig that, weshalb auch reines
ſtiftsfähiges Blut, wie es in Deutſchland hieß, dort
gar nicht zu finden iſt. Die franzöſiſchen Großen
nannten ſolche Heirathen ſcherzweiſe, aber nicht ſehr
ſchmeichelhaft für die Braut, „mettre du fumier
sur ses terres,“
und gar mancher engliſche Lord
dankt gleichfalls ſolchem „Fumier“ den jetzigen Glanz
ſeiner Familie.


[287]

Als wir die Kirche verließen, um den Felſen am
Shannon zu beſehen, auf dem der Traktat von Lim-
merick mit den Engländern, nach der Schlacht von
Boyne, unterzeichnet, aber von dieſen nicht zum Be-
ſten gehalten wurde — hatte ſich ein ungeheures Ge-
folge von Volk um uns verſammelt, das wie eine
Lawine noch immer mehr anwuchs, uns aber mit
eben ſo viel Beſcheidenheit als Enthuſiasmus folgte.
Plötzlich rief man: „Es lebe Napoleon und Mar-
ſchall ......!“


Mein Gott, frug ich, für wen hält man mich denn
eigentlich hier? als ganz anſpruchsloſer Fremder be-
greife ich gar nicht, weshalb man mir ſo viel Ehre
anzuthun ſcheint. War Ihr Herr Vater, erwiederte
O’Connel, nicht der Fürſt von …? Nichts weniger,
verſicherte ich, mein Vater war zwar ein etwas älte-
rer Edelmann, aber lange nicht ſo berühmt. Dann
müſſen Sie verzeihen, fuhr Herr O’Connel ungläubig
fort, aufrichtig geſagt, hält man Sie für einen na-
türlichen Sohn Napoleons, da deſſen Vorliebe für
Ihre Frau Mutter bekannt iſt. Sie ſcherzen, ſagte
ich lachend, ich bin wenigſtens zehn Jahr zu alt, um
der Sohn des großen Kaiſers und der ſchönen Für-
ſtin zu ſeyn. Er ſchüttelte aber mit dem Kopf, und
unter wiederholtem Vivatrufen erreichte ich endlich
meine Wohnung, die ich von nun an verſchloß, und
heute nicht mehr verließ. Das Volk nahm aber ge-
duldig Poſto vor meinen Fenſtern und zerſtreute ſich
erſt mit einbrechender Dunkelheit.


[288]

Dieſen Morgen empfing mich wieder der Ruf:
„Long life to Napoléon and to Your honour!“ und
[während] mein Wagen, mit meinem Kammerdiener
darin, den man diesmal für Napoleons Sohn nahm,
unter Vivatgeſchrei abfuhr, ſchlich ich mich heimlich,
mit dem Hausknecht, der meinen Nachtſack trug, zur
Hinterthür hinaus, um einen Platz auf der Diligence
zu nehmen, die mich nach dem See von Killarney
bringen ſollte. Meine Leute hatten Befehl, mich in
Caſhel zu erwarten, wo ich in 14 Tagen ſie einzu-
holen denke.


In meinem jetzigen einfachen Aufzug fiel es keinem
Menſchen mehr ein, mir mit Ehrenbezeugungen be-
ſchwerlich zu fallen, und ich konnte nicht umhin, bei
Gelegenheit dieſer offenbaren Farce darüber zu
philoſophiren, daß aller Ehrgeiz doch auch nur zu
einer verdeckten führt. Gewiß von allen [Träumen]
dieſes Lebens iſt dieſes der ſchattenartigſte! Liebe
befriedigt zuweilen, Wiſſenſchaft beruhigt, Kunſt er-
freut, aber Ehrgeiz — Ehrgeiz giebt nur den qual-
vollen Genuß eines Hungers, den nichts ſtillen kann,
oder gleicht der Jagd nach einem Phantom, das im-
mer unerreichbar bleibt.


Nach einer Viertelſtunde war ich ganz bequem in
meiner Diligence etablirt. Außer den Paſſagieren
auf der Imperiale, beſtand die Geſellſchaft aus einer
dicken jovialen Frau, einer andern, ſehr magern, einer
[289] dritten, recht hübſchen und wohlproportionirten, und
einem Magiſterartig ausſehenden Herren, mit langem
Geſicht und noch längerer Naſe. Ich ſaß im Fond
zwiſchen den zwei ſchmächtigen Damen, und unter-
hielt mich mit der corpulenten, die ſehr geſprächig
war. Sie erzählte unter andern, als ich eben ein
Fenſter herunter ließ, wie ſie neulich auch in dieſem
Wagen gefahren, und beinahe ſeekrank darin gewor-
den wäre, denn eine ihr gegenüberſitzende kränk-
liche
Dame hätte durchaus nicht zugeben wollen, daß
man ein Fenſter öffne. Sie habe ſich aber nicht ab-
ſchrecken laſſen, und nach einer Viertelſtunde Zure-
dens ſey es ihr auch gelungen, die Dame zu vermö-
gen, einen Zoll breit Luft hereinzulaſſen, eine Vier-
telſtunde ſpäter einen andern Zoll, dann wieder einen,
und ſo habe ſie endlich das ganze Fenſter herunter-
manövrirt. Vortrefflich, ſagte ich, das iſt grade die
Art, wie Weiber alles zu erlangen wiſſen — erſt ei-
nen
Zoll, und dann ſo viel als deren zu haben ſind.
Ein franzöſiſcher Geiſtlicher erzählt hiervon auch eine
ſehr erbauliche Geſchichte. (Der Mann mit der lan-
gen Naſe verzog hier ſein Geſicht wie ein Satyr.)
Wie verſchieden agiren aber in gleichen Lagen die
Männer! fuhr ich fort. Ein engliſcher Schriftſteller
in ſeinem Handbuch für Reiſende, empfiehlt: wenn
in der mail Jemand darauf beſtehen ſollte, alle Fen-
ſter zuzuhalten, ſolle man ſich ja in kein pourparler
mit dieſer Perſon einlaſſen, ſondern ſofort, wie durch
Ungeſchicklichkeit, ein Fenſter einſchlagen, dann um
Brieſe eines Verſtorbenen. I. 19
[290] Verzeihung bitten, und ſich ruhig der hereindringen-
gen Kühle erfreuen.


Die Ruinen von Adair erregten jetzt unſere Auf-
merkſamkeit, und unterbrachen die Converſation. Spä-
ter gewährte der Shannon einen impoſanten Anblick.
Er iſt an manchen Stellen, gleich einem amerikani-
ſchen Fluß, bis über neun Meilen breit, und ſeine
Ufer herrlich bewachſen. In Lisdowel, einem kleinen
Ort, wo wir Mittag machten, verſammelten ſich, wie
gewöhnlich, hundert Bettler um den Wagen; was
mir aber neu vorkam, waren kleine Holzſchalen an
langen Stäben, die ſie, wie Klingelbeutel, in den
Wagen hineinreichten, um auf dieſe Art bequemer zu
den ſollicitirten Pence’s zu gelangen. Ein andrer
Bettler hatte ſich an der Straße ein Schilderhaus
von loſen Steinen erbaut, in welchem er für immer
zu bivouakiren ſchien.


Ich muß ſchließen, da die mail in wenig Stunden
wieder abfährt, und ich einiger Ruhe bedürftig bin.
Morgen mehr.



An dem heutigen Tage ſah ich nach und nach zwölf
Regenbogen, ein übles Omen für die Beſtändigkeit
des Wetters, aber für mich nehme ich es als ein gu-
tes an. Es verſpricht mir eine bunte Reiſe.


[291]

Die bisherige Geſellſchaft war einzeln, da und dort,
wie reife Früchte abgefallen, und ich befand mich mit
einem irländiſchen Gentleman, einem Fabrikanten
aus dem Norden allein, als ich in dem freundlichen
Killarney ankam, wo der unaufhörliche Beſuch engli-
ſcher Touriſten, den Gaſthöfen auch beinahe engliſche
Eleganz — und Preiſe verliehen hat. Wir erkundig-
ten uns ſogleich nach Booten und der beſten Art
den See zu ſehen, erhielten aber zur Antwort, daß
es bei dieſem Sturme unmöglich ſey, ihn zu beſchif-
fen; kein Boot könne heute auf dem See „leben“
wie ſich die Schiffer ausdrückten. Ein engliſcher Dandy
indeſſen, der ſich uns während dem Frühſtück ange-
ſchloſſen hatte, ridicüliſirte dieſe Betheuerungen, und
da ich, wie Du weißt, auch nicht ſehr an Unmöglich-
keiten glaube, ſo überſtimmten wir den Fabrikanten,
welcher ſehr wenig Luſt zu der Fahrt bezeigte, und
embarkirten uns, malgré vent et marée, bei Roß
Caſtle, einer alten Ruine nicht weit von Killarney.


Wir hatten ein excellentes Fahrzeug, einen alten,
charakteriſtiſch ausſehenden, eisgrauen Steuermann,
und vier tüchtige Ruderer. Der Himmel aber war
wie zerriſſen, — an wenigen Orten nur blau, an an-
dern grau in grau ſchattirt, an den meiſten aber ra-
benſchwarz, und Wolken aller Formen tummelten ſich
darin umher, von Zeit zu Zeit durch einen Regen-
bogen gefärbt, oder durch ein fahles Sonnenlicht er-
leuchtet. Die hohen Berge dämmerten kaum durch
die trüben Schleier, auf dem See aber war alles
19*
[292] Nacht. Die ſchwarzen Wellen wühlten geſchäftig un-
ter ſich, hie und da nur kräuſelte ſich blendend wei-
ßer Schaum auf ihrem Rücken. Da die Wogen faſt
ſo hoch gingen wie im Meere, bekam ich eine leichte
Anwandlung von Seekrankheit. Der Fabrikant er-
blaßte vor der Gefahr, der junge Engländer aber,
ſtolz auf ſeine Amphibiennatur, lachte uns beide aus.
Der Sturm pfiff indeſſen ſo laut, daß wir uns kaum
verſtehen konnten, und als ich den alten Steuermann
fragte, wohin wir zuerſt fahren würden, antwortete
er: Nach der Abtei, wenn wir anders hinkommen!
Dies klang nicht ſehr encourageant, auch tanzte unſer
Boot (das einzige auf dem See, denn ſelbſt die Fi-
ſcher hatten ſich nicht herausgewagt) ſo ſchrecklich auf
und nieder, ohne doch mit aller Anſtrengung der Ru-
derer avanciren zu können, daß der Fabrikant an Weib,
Kind und Fabrik zu denken anfing, und peremtoriſch
die Rückfahrt verlangte, da er nicht die Abſicht habe,
auf einer Erholungsreiſe ſein Leben zu verlieren.
Der Dandy wollte ſich dagegen vor Lachen ausſchüt-
ten, verſicherte, er ſey ein Mitglied des Yacht-Clubs
und habe ganz andere Dinge erlebt, wobei er den
Ruderern, die ebenfalls lieber zu Haus geweſen wä-
ren, Geld über Geld verſprach, um auszuhalten. Was
mich betraf, ſo folgte ich der Maxime des Generals
Yermoloff: „weder zu raſch noch zu furchtſam,“ miſchte
mich gar nicht in den Streit, ſondern erwartete, dicht
in meinen Mantel gehüllt, ruhig den Ausgang. Ich
genoß übrigens, wie es ſchien, allein die Schönheit
der Scene, da den einen meiner Begleiter die Furcht
[293] daran verhinderte, den andern ſein Wohlgefallen an
ſich ſelbſt. Eine Weile kämpften wir noch gegen die
Strömung der Wellen, auf denen wir, wie Waſſer-
vögel, in Sturm und Dunkelheit dahinflutheten, bis
uns, aus einer gegenüberliegenden Bergſchlucht, ſo
heftige Windſtöße faßten, daß es nun ſelbſt dem Mit-
gliede des Yacht-Clubs zu bedenklich ward, und er
den Bitten des Steuermanns nachgab, mit dem
Winde zurückzurudern, und an einer Inſel anzule-
gen, bis der Sturm etwas nachließe, was gewöhnlich
gegen Mittag der Fall ſey.


Dies traf auch ein, und nachdem wir einige Stun-
den auf der Inſel Inisfallen, einem lieblichen Ei-
lande, mit ſchönen Baumgruppen und Ruinen, cam-
pirt, waren wir im Stande, unſre Fahrt gemächlicher
fortzuſetzen. Alle Inſeln dieſes Sees, bis auf die
kleinſte, nur ein paar Ellen lange, welche die Maus
genannt wird, ſind dicht mit Arbutus und anderm
Immergrün bewachſen, welche hier wild gedeihen,
und deren Blüthen und Früchte Winter und Som-
mer in bunten Farben prangen. Viele dieſer kleinen
Eilande bieten eben ſo ſeltſame Formen dar, als ihre
Namen eigenthümlich ſind. Meiſtens ſind ſie nach
O’ Donnohue benannt. Hier iſt es O’Donnohue’s
white horse
(weißes Roß), an deſſen Felſenhufen ſich
die Brandung bricht, dort ſeine library (Bibliothek),
weiterhin ſein pigeon house, oder ſein flower garden
(Taubenſchlag und Blumengarten) u. ſ. w. Doch
Du weißt vielleicht nicht, wie der See von Killarney
entſtand? alſo höre!


[294]

O’ Donnohue war der mächtigſte Chieſtain eines
Clan’s, der hier, wo jetzt der See ſeine Wellen rollt,
eine große und reiche Stadt bewohnte. Alles war
dort im Ueberfluß — nur Waſſer fehlte — und die
Sage ging, daß ſelbſt der einzige kleine Brunnen,
den die Stadt beſaß, nur das Geſchenk eines mäch-
tigen Zauberers ſey, der ihn einſt, auf Bitten einer
ſchönen Jungfrau, hervorgerufen, aber dabei ſtreng
gewarnt: daß man nie vergeſſen möge, ihn jeden
Abend mit einem großen ſilbernen Deckel zu ſchließen,
den er zu dieſem Ende zurücklaſſe. Die ſeltſame
Form und Verzierungen deſſelben ſchienen die wun-
derbare Sage zu beſtätigen — auch wurde der uralte
Gebrauch nie vernachläßigt.


O’ Donnohue aber, ein mächtiger und unerſchrocke-
ner Krieger (vielleicht auch, wie Talbot, ein Ungläu-
biger) machte ſich über dieſes [Mährchen], wie er es
nannte, nur luſtig, und eines Tages, als er beim
wilden Gelage vom viel genoſſenen Weine mehr als
gewöhnlich erhitzt war, befahl er, zum Schrecken aller
Anweſenden, den ſilbernen Brunnendeckel in ſein
Haus zu bringen, wo er, wie er ſpottend meinte,
eine vortreffliche Badewanne für ihn abgeben ſolle.
Vergebens blieben alle Vorſtellungen. — O’ Donno-
hue war gewohnt ſich Gehorſam zu verſchaffen, und
als mit Wehklagen die geängſtigten Diener endlich das
ſchwere [Gefäß] herbeiſchleppten, rief er lachend: „Seyd
unbeſorgt, die Kühle der Nacht wird dem Waſſer gar
gut bekommen und morgen werdet ihr Alle es fri-
[295] ſcher finden!“ Aber die, welche dem ſilbernen Deckel
zunächſt ſtanden, wandten ſich mit Grauſen davon,
denn es deuchte ihnen, als bewegten ſich die verwor-
renen Charaktere darauf, wie ein Knäuel in einander
ſich verſchlingender Würmer, und ein ſchauerlicher
Laut ſchien klagend daraus hervorzutönen, wie einſt
aus dem Coloß zu Theben. Voll Sorge legten ſich
Alle zur Ruhe, nur Einer floh in das nahe Gebürge.
Als nun der Morgen anbrach, und dieſer Mann wie-
der hinab in das Thal blickte — da rieb er ſich ver-
gebens die Augen, und glaubte noch zu träumen —
Stadt und Land waren verſchwunden, die reichen
Fluren nicht mehr vorhanden, und der kleine Brun-
nen, aus der Erde Klüften ſchwellend fort und fort,
hatte einen unabſehbaren See geboren. — Geſchehen
war, was O’ Donnohue prophezeiht: Kühler war in
einer Nacht für Alle das Waſſer geworden, und das
letzte Bad hatte ihm die neue Wanne bereitet!


Nur bei ganz hellem klaren Wetter haben, wie
die Fiſcher behaupten, Manche noch jetzt auf des Sees
„tiefunterſtem Grunde“ [Palläſte] und Thürme, wie
durch Glas, ſchimmern geſehen, aber viele ſchon er-
blickten, wenn ein Sturm dem Ausbruch nahe war,
O’ Donnohue’s rieſige Geſtalt, auf weißem ſchnau-
benden Roß auf den Wogen reitend, oder in geſpen-
ſtiger Gondel mit der Schnelle des Falken über die
Waſſer gleiten.


Einer unſrer Bootsleute, ein Mann von [ohngefähr]
fünfzig Jahren, mit langem ſchwarzen Haar, das der
[296] Wind um ſeine Schläfe trieb, von ernſtem und ſtil-
lem, aber phantaſtiſchem Anſehn, wurde mir von den
andern verſtohlen mit dem Finger gezeigt, indem ſie
mir zuflüſterten: der iſt ihm begegnet. —


Du kannſt denken, daß ich mich ſchnell mit ihm in
ein Geſpräch einließ, und ihn zutraulich zu machen
ſuchte, da ich weiß, daß dieſe Leute, wo ſie Unglau-
ben und Neckerei vorausſetzen, hartnäckig ſchweigen.
Im Anfang war auch er zurückhaltend, bald aber ge-
rieth er in Feuer, und nun ſchwor er bei S. Patrick
und der Jungfrau, daß was er erzähle, die reinſte
Wahrheit ſey. Seiner Ausſage nach, begegnete er
O’ Donnohue bei einbrechender Dämmerung, kurz
vor dem Wüthen eines der fürchterlichſten Stürme,
die er je erlebt. Er hatte ſich beim Fiſchen verſpä-
tet, den ganzen Tag war der Regen ſchon in Strö-
men herabgefloſſen, es war ſchneidend kalt, und ohne
ſeine Whiskey bottle hätte er es kaum länger aus-
halten können. Auch war lange bereits kein lebendi-
ges Weſen mehr auf dem ganzen See zu ſehen ge-
weſen. Mit einemmal ſegelte, wie aus den Wolken
gefallen, ein Boot auf ihn zu, die Ruder arbeiteten
mit Blitzesſchnelle, und doch war kein Ruderer dabei
zu erblicken, hinten aber ſaß unbeweglich ein rieſen-
großer Mann. Sein Anzug war ſcharlachroth und
gold, und auf dem Kopf trug er einen dreieckigen
Hut mit breiter Treſſe. So flog das Geiſterboot
heran. Paddy ſah mit ſtarrem Blick darauf hin —
als aber jetzt die lange Geſtalt ihm faſt gegenüber
[297] ſaß, und aus dem rothen Mantel zwei große ſchwarze
Augen wie Kohlen ihn anbrannten — da fiel ihm
die Brannteweinflaſche aus der Hand, und er kam
nicht eher wieder zu ſich, als bis die unſanften Ca-
reſſen ſeiner Ehehälfte ihn weckten, die, voller Zorn,
ihn einen Trunkenbold über den andern ſchalt, und
ſich einbilden mochte, der Whiskey habe ihn ſo zuge-
richtet — aber Paddy wußte es beſſer! —


Iſt es nicht ſonderbar, daß das eben beſchriebene
Coſtume ſo gut mit unſerem deutſchen Teufel im vo-
rigen Jahrhundert übereinſtimmt, der jetzt wieder ſo
beliebt iſt? Vom Freiſchützen hatte Paddy aber doch
gewiß noch nichts [gehört]. Faſt ſcheint es als [hätte]
die Hölle auch ihr Mode-Journal. Sehr beluſtigend
war mir des Alten Reue und Angſt nach der Erzäh-
lung. Er tadelte ſich mehrmals laut darüber, be-
kreuzte ſich, und wiederholte beſtändig: „O’ Donnohue
habe, obgleich ſchrecklich, doch ganz wie ein ächter
Gentleman ausgeſehen, denn,“ ſetzte er, ſich ſchüchtern
umſehend, hinzu, „ein „perfekt Gentleman“ iſt er im-
mer geweſen, iſt es jetzt, und wird es immer bleiben.“
Die jüngeren Bootsleute waren nicht ganz ſo ſtark-
gläubig, und ſchienen nicht übel Luſt zu haben, den
Geiſterſeher ein wenig zu necken, deſſen Ernſt und
Zorn ihnen aber doch ſogleich wieder imponirte. Ei-
ner dieſer Menſchen war ein wahres Modell für einen
jungen Herkules. Mit aller Luſtigkeit eines ganz
kerngeſunden Körpers, trieb er unaufhörlich Poſſen,
und arbeitete dabei für Drei.


[298]

Wir landeten nun bei der Abtei von Mucruß, in
dem Park des Herrn Herbert gelegen, aber dennoch
reichlich mit Schädeln und Gerippen ausgeſtattet.
Die Ruinen ſind von bedeutendem Umfang, und voll
intereſſanter Einzelnheiten. So ſteht z. B. im Klo-
ſterhofe einer der größten Taxusbäume, die es viel-
leicht in der Welt giebt, denn er überragt nicht nur
alle Gebäude, ſondern beſchattet und verdunkelt mit
ſeinen Aeſten den ganzen Hof, wie ein darüber ge-
ſpanntes Zelt. Im zweiten Stockwerk bemerkte ich
einen Kamin, an dem zwei Epheuſtämme, einer auf
jeder Seite, die ſchönſte regelmäßigſte Verzierung bil-
deten, während ihre Blätter die darüber ſtehende
Feuereſſe ſo dicht umlaubten, daß ſie einem Baume
glich. Unſer Führer erzählte uns hier ein merkwür-
diges Beiſpiel von der unumſchränkten Gewalt der
katholiſchen Prieſter über das hieſige gemeine Volk.
Zwei Partheien, die Moynihan’s und die O’ Donno-
hue’s genannt, waren ſchon ſeit einem halben Jahr-
hundert in permanenter Fehde begriffen. Wo ſie ſich
daher in gehöriger Anzahl begegneten, entſtand ſo-
gleich ein Shileilahkampf, bei welchem manches Leben
verloren ging. Da es nun, ſeit dem Beſtehen der
katholiſchen Aſſociation, das Intereſſe der Prieſter
erheiſcht, Friede und Eintracht unter ihrer Heerde zu
Stande zu bringen, ſo verordneten ſie voriges Jahr,
bei der letzten Schlägerei dieſer Art, als Strafe für
alle Theile: daß die Moynihan’s zwölf Meilen nord-
wärts marſchiren, und dort ein Bußgebet verrichten;
die O’ Donnohue’s daſſelbe ſüdwärts ausführen;
[299] ſämmtliche theilnehmende Zuſchauer aber ſechs Meilen
nach andern Orten wallfahrten ſollten; im Wiederbe-
tretungsfalle jedoch würde die doppelte Strafe ein-
treten. Alles wurde mit religieuſer Genauigkeit be-
folgt, und der Krieg hatte ſeitdem ein Ende.


Nach einer Stunde erreichten wir am jenſeitigen
Ufer des See’s, an einer dicht bewaldeten Küſte, den
Waſſerfall O’ Sullivan’s, der, vom Regen ange-
ſchwellt, doppelt reich erſchien. Die Ueppigkeit der
Bäume und rankenden Pflanzen, die ihn maleriſch
[überhängen], ſo wie die Höhle, in der man gegenüber
trockenen Fußes die ſchäumend ſtürzenden Waſſer be-
trachtet, vermehren das Originelle der Scene. Hier
giebt es herrliche einſame Promenaden, die auf der
andern Seite des Bergrückens zu einem, von der
ganzen Welt abgeſchiedenen, mitten im tiefen Walde
liegenden Dorfe führen. Da aber die Sonne noch
immer mit den Wolken kämpfte, und wir uns hin-
länglich durchnäßt (vom Himmel und vom See, deſſen
Wellen uns mehr als einmal übergoſſen hatten) und
ermüdet fühlten, ſo beſchloſſen wir für heute die
Tour zu beſchließen, und über die freundliche Villa
der Lady Kenmare zurückzukehren.


Als wir noch ungefähr vier Meilen zu ſchiffen hat-
ten, erbot ſich der hübſche junge Mann, welcher bei-
läufig geſagt, ohngeachtet ſeiner athletiſchen Geſtalt,
im Geſicht eine merkwürdige Aehnlichkeit mit der be-
rühmten Mamſell Sontag hatte — uns, wenn wir
drei Schilling mit ihm wetten wollten, in einer hal-
[300] ben Stunde zu Haus zu bringen. Der alte Geiſter-
ſeher wollte nicht daran, ſich einer ſolchen Anſtren-
gung zu unterziehen, das junge Sonntagskind ver-
ſicherte aber, für ihn mitrudern zu wollen. Wir nah-
men daher die Wette an, und flogen von nun an,
wie ein Pfeil, über den See. Nie ſah ich eine grö-
ßere Darlegung von Kraft und Ausdauer, unter
fortwährendem Singen, Poſſen und Scherzen. Dem-
ohngeachtet gewannen die Ruderer ihre Wette nur
um eine halbe Minute, erhielten aber von uns mehr
als das Doppelte des Betrags, was ſie, in großer
Freude, alle noch dieſelbe Nacht zu vertrin-
ken verſprachen. Zu guter letzt hielten ſie eine
drollige, ſchon darauf eingerichtete, Converſation mit
dem Echo der Mauern von Roß Caſtle, deſſen Ant-
wort immer einen ſcherzhaften Sinn hatte, z. B.:
shall we have to night a good bed? (werden wir
dieſe Nacht ein gutes Bette bekommen?) Antwort:
bad (ſchlecht) u. ſ. w.



Unglücklicherweiſe kamen heute zwei mir bekannte
Engländer hier an, die ſich ſogleich zu uns geſellten,
was mich um mein liebes Inkognito brachte, denn
obgleich ich kein großer Herr bin, finde ich doch eben
ſo viel Vergnügen daran. Als Unbekannter entgeht
[301] man immer etwas gêne mehr, und gewinnt etwas
mehr Freiheit, man ſey auch noch ſo unbedeutend.
Da ich es jedoch diesmal nicht ändern konnte, ſo rich-
tete ich es wenigſtens ſo ein, daß ich die Hälfte der
heutigen Tour mit meinem ehrlichen Fabrikanten zu
Lande machte, und die drei Engländer, vor der Hand
allein, auf dem Boote fahren ließ. Es war daſſelbe,
welches wir geſtern gehabt, und dort auf heute gleich
wieder gemiethet hatten.


Der Pony, der mir zu Theil wurde, hatte den
hochklingenden Namen: des Ritters von der Schlucht,
(Kinght of the gap), war aber ein ausgearteter
Ritter, den nur Schläge und Sporen in Bewegung
ſetzen konnten. Ehe wir an die große Schlucht ka-
men, von der er ſeinen Namen führt, hatten wir von
einem Hügel in der Ebene eine ſehr ſchöne Anſicht
des Gebürges, in welcher Berge, Waſſer und Bäume
ſo glücklich vertheilt erſchienen, daß die wohlthuendſte
Harmonie daraus entſtand. Deſto wilder und ein-
förmiger iſt die lange Schlucht — im Geſchmacke von
Wales, doch weniger grandios. An einer Stelle der-
ſelben hat ſich vor mehreren Jahren ein großes Fels-
ſtück losgeriſſen, und iſt, in zwei Hälften geborſten,
mitten über den Weg geſtürzt. Ein Mann kam auf
den Einfall, dieſe Felſenſtücke zu einer Einſiedelei aus-
zuhöhlen, blieb jedoch dieſer neuen Wohnung nur
drei Monate getreu, weshalb ſie jetzt von dem ener-
giſch ſich ausdrückendem Volke, nach ihm „the mad-
man’s rock“
(der Narren Felſen) genannt wird. Ein
[302] Paar tauſend Schritt weiter fanden wir eine alte
Frau, kauernd am Wege liegen, deren Anblick alles
übertraf, was man der Art in Mährchen erfunden.
Nie ſah ich etwas Abſcheuerregenderes! Man erzählte
mir, ſie ſey ſchon 110 Jahr alt, und habe alle ihre
Kinder und Enkel überlebt. Obgleich in intellectueller
Hinſicht gänzlich zum Thier geworden, hatte ſie doch
alle ihre Sinne noch leidlich erhalten. Ihre Geſtalt
ſah aber weder Thier noch Menſchen mehr, ſondern
nur einem wieder ausgegrabnen und von Neuem be-
lebten Leichnam ähnlich. Als wir vorbei ritten, ſtieß
ſie ein klägliches Gewimmer aus, und ſchien dann
zufrieden, als wir ihr einiges Geld hinwarfen, griff
aber nicht darnach, ſondern verfiel ſogleich wieder in
Stumpfſinn und Apathie. Alle Furchen ihres grünen
Geſichts waren mit ſchwarzem Schmutze angefüllt, die
Augen ſchienen zu eitern, die Lippen waren weislich
blau — enfin Fanferluche muß ein Engel dagegen
geweſen ſeyn.


Bei Brandon Caſtle, einer bewohnbar gemachten
Ruine, mit einem hohen Thurm und einigen vernach-
läßigten Parkanlagen, durch deren Waſſerpartieen uns
die Führer (denn die Pferde wurden hier zurück ge-
ſchickt) auf dem Rücken hindurch trugen, ſtießen wir
wieder mit dem Boote zuſammen. Es kam, â point
nommé,
grade um die verdeckende Landſpitze hergeſe-
gelt, als wir das Ufer erreichten, und war, außer
den Engländern, noch mit dem beſten Bugleman von
Killarney benannt. Dieſe Künſtler blaſen eine Art
[303] Alpenhorn mit vieler Geſchicklichkeit, und rufen da-
durch an manchen Stellen herrliche Echo’s hervor.
Im Verfolg unſers Wegs paſſirten wir einen Brü-
ckenbogen, wo, bei angeſchwollenem Waſſer, zuweilen
Boote verunglückt ſind. Unſer Bugleman erzählte,
daß er ſelbſt ſchon zweimal hier umgeſchlagen, und
das letztemal beinahe ertrunken ſey. Er wollte daher
auch heute landen, und die bedenkliche Stelle, den
Felſen entlang, klettern; der alte Steuermann gab es
aber nicht zu, und meinte, wenn die fremden Herren
im Schiff bleiben, gezieme es ihm auch mit zu er-
ſauſen. Es ging aber alles ganz gefahrlos ab.


Schön, und von impoſanter Form, iſt der Felſen,
the Eaglo’s nest (Adlerneſt) genannt, wo auch faſt
immer Adler horſten. Nicht weit davon ſteht man
Coleman’s Sprung, zwei weit von einander aus dem
Waſſer ragende Felſen, auf denen die Spuren von
Füßen, 3 — 4 Zoll tief, deutlich eingegraben ſind.
Solche Sprünge und Fußſtapfen wiederholen ſich
faſt in allen Gebürgen.


Unſer Schiff war voll Victualien zu einem brillan-
ten diné (Engländer pflegen ſo etwas nicht leicht zu
vergeſſen) und als wir eine höchſt romantiſch gelegene
Cottage unter hohen Kaſtanien erſpähten, beſchloſſen
wir hier zu landen, und Mittag zu machen. Wir
würden dort auch ein ſehr angenehmes Mal gehal-
ten haben, wenn es nicht der Dandy, durch ſeine
Affectation, Mangel an allem Sinn für die Schön-
heit der umgebenden Natur, und ungütiger persif-
[304] flage
des, freilich weniger abgeſchliffenen, aber viel-
leicht doch werthvolleren Irländers, verdorben hätte.
Er gab ihm den Spottnamen des Schauſpielers Lis-
ton (der beſonders in dummen Rollen glänzt) und
machte den armen Teufel, ohne daß er es merkte,
eine ſo burleske Rolle ſpielen, daß ich zwar ſelbſt zu-
weilen wider Willen lachen mußte, aber das Ganze
dennoch völlig hors de Saison, und von ſchlechtem
Geſchmack fand. Es iſt auch möglich, daß der Irlän-
der ſich nur dumm ſtellte, und der pfiffigſte war,
wenigſtens ſprach er dem Eſſen und Trinken, wäh-
rend die andern lachten, mit ſo unermüdlicher Be-
harrlichkeit zu, daß wenig für Jene übrig blieb. Ich
kann nicht leugnen, daß ich ihn darin gut unterſtützte,
beſonders fand ich, daß der eben gefangene fette
Lachs, an Arbutus Stöcken über dem Feuer geröſtet,
ein ganz vortreffliches Nationalgericht ſey.


Bei des Mondes Silberſchein fuhren wir langſam
zurück, während des Bugleman’s Horn Echo nach
Echo aus dem Schlafe rief. Es war eine entzückende
Nacht, und von Gedanken zu Gedanken, gerieth ich
in eine Stimmung, wo ich auch hätte Geiſter ſehen
können! Die Menſchen neben mir, kamen mir blos
wie Puppen vor; nur die Natur, die Milde und
Pracht die mich umgab, erſchien mir als wirklich. —
Woher, dachte ich, kömmt es, daß deinem liebenden
Herzen doch die Geſelligkeit fehlt, daß die Menſchen
im Allgemeinen dir nur ſo wenig gelten! iſt deine
Seele noch zu klein für die Verhältniſſe der geiſtigen
[305] Welt, noch zu nah’ mit Pflanzen und Thieren ver-
wandt, oder haſt du die hieſigen Formen ſchon in
früherem Daſeyn ausgewachſen, und [fühlſt] dich un-
behaglich in dem zu engen Gewande? Wenn dann
auf dem ſtillen See der melancholiſche Klang des
Bugleman Hornes wieder in leiſen Tönen über den
Wellen zitterte, und meinen Phantaſieen, wie durch
unſichtbare Geiſterſtimme, die Worte einer fremden
Sprache gab — da war mir’s oft wie dem Fiſcher
zu Muthe, und als ſollte ich jetzt ſanft hinabgleiten,
um O’Donnohue in ſeinen Korallengrotten aufzuſuchen.


Ehe wir landeten, fand noch eine eigenthümliche
Ceremonie ſtatt. Die Bootsleute, der junge „Son-
tag“ an ihrer Spitze, welcher mich wegen eines reich-
licher von mir erhaltenen Trinkgeldes immer „ſeinen
Gentlemann“ nannte, baten um Erlaubniß, an einer
kleinen Inſel anlegen, und dieſe nach mir taufen zu
dürfen, welches nur bei Mondenſchein ſtatt finden
könne. Ich mußte mich hierauf auf einen vorragen-
den Felſen ſtellen, die ſechs Bootsmänner auf ihre Ru-
der geſtützt, bildeten einen Zirkel um mich, und der
Alte ſagte feierlich eine Beſchwörungsformel in einer
Art Rhythmus her, was in der wilden Umgebung
und Nacht ganz ſchauerlich klang. Dann brach Son-
tag einen großen Arbutuszweig ab, und erſt mir,
dann jeden der im Schiff Sitzenden, einen Büſchel
reichend, den wir an unſre Hüte befeſtigten, theilte
er die übrigen an ſeine Cameraden aus, und fragte
nun ehrerbietig und ernſt, welchen Namen die Inſel,
Briefe eines Verſtorbenen. I. 20
[306] mit O’Donnohue’s Erlaubniß künftig führen ſolle?
Julie, ſagte ich mit lauter Stimme, worauf mit don-
nerndem Hurrah dieſer Name, obgleich nicht allzucor-
rekt ausgeſprochen, dreimal wiederholt wurde. Nun
ergriff ein Dritter, der Port der Geſellſchaft, eine mit
Waſſer gefüllte Flachſe, und hielt eine kurze Anrede
in Verſen an O’Donnohue, worauf er mit aller Ge-
walt die Flaſche gegen einen aus dem Waſſer ſtehen-
den Stein warf, daß ſie in tauſend Atome zerſchellte.
Zuletzt wurde eine zweite Flaſche, aber mit Whiskey
gefüllt, auf meine Geſundheit ausgetrunken, und der
Inſel Julie nochmals ein dreifaches Hurrah gebracht.
Die Bootsleute hielten dieſen fremdklingenden Namen
für den meinigen, und nannten mich ſeitdem nicht
anders als Master Julie, was ich ganz wehmüthig
mit anhörte.


Deine Domainen haben ſich alſo um eine Inſel
auf den romantiſchen Seen zu Killarney vermehrt —
ſchade nur, daß die nächſte Geſellſchaft, die an dem-
ſelbe Flecke landet, ſie Dir wieder entziehen wird,
denn wahrſcheinlich tauft man hier, ſo oft Pathen
ſich einfinden, da das eigentliche Kind, die Whiskey-
Bouteille, immer bei der Hand iſt. Einſtweilen lege
ich indeſſen dieſem Briefe ein Arbutusblatt, vom
identiſchen Zweige, der auf meinem Hute prangte, bei,
damit wenigſtens etwas von der Inſel unbeſtritten
Dein Eigenthum bleibe.


[307]

Beſte Julie, Dir heute zu ſchreiben, iſt wirklich
ein effort, der einer Belohnung werth iſt, denn ich
bin übermäßig ermüdet, und habe, wie mein Vater
Napoleon, beſtändig Kaffe trinken müſſen, um wach
bleiben zu können. *)


Um neun Uhr früh verließ ich Killarney in einem
Carr (Karren) von der ſchlechteſten Beſchaffenheit,
und folgte der neuen Chauſſee, die längs des mitt-
lern und obern See’s nach der Bay von Kenmare
führt. Dieſe Straße entwickelt mehr Schönheiten,
als man auf den Seen ſelbſt findet, da dieſe den
großen Nachtheil haben, an den meiſten Stellen nur
auf der einen Seite eine maleriſche Ausſicht zu ge-
währen, auf der andern aber blos flaches Land dar-
bieten. Hier auf der Straße hingegen, welche am
Abhange der Berge durch den Wald führt, bilden
ſich bei jeder Wendung geſchloſſenere, und eben des-
halb ſchönere Gemälde. Ich finde überhaupt, daß
Ausſichten, vom Waſſerſpiegel aus geſehen, immer
20*
[308] verlieren, weil ihnen eine Hauptſache, der Vorgrund,
fehlt.


Neben einer hübſchen Cascade, und in der reizend-
ſten Wildniß, hat ſich, nahe der Straße, ein Kauf-
mann Garten und Park mit einer ländlichen Villa
erbaut. Die Koſten dieſer Anlage müſſen wenigſtens
5 — 6000 Lſt. betragen haben, vielleicht weit mehr,
dennoch ſteht der Grund und Boden nur 99 Jahre
der Familie des jetzigen Nutznießers zur Dispoſition;
nach dieſer Zeit [fällt] er, mit Allem was darauf er-
baut iſt, und was im vollkommen baulichen Zuſtande
übergeben werden muß, den Grundherren, den Lords
von Kenmare wieder zu. Kein Deutſcher möchte Luſt
haben, unter ſolchen Bedingungen ſein Vermögen
auf Verſchönerungs-Anlagen zu verwenden; in Eng-
land aber, wo faſt aller Grund und Boden, entwe-
der der Regierung, der Kirche, oder der mächtigen
Ariſtokratie gehört, und daher ſich nur ſelten Gele-
genheit darbietet, ſolchen frei zu aquiriren; auf der
andern Seite aber auch Induſtrie, durch ein weiſes
Gouvernement, im richtigen Verhältniß neben dem
Ackerbau befördert, den Handels- und Mittelſtand
ebenfalls reich gemacht hat, — kommen dergleichen
Contrakte alltäglich vor, und verhindern faſt alle
Nachtheile des zu großen Landbeſitzes, ohne ſeinen
großen Nutzen für den Staat zu ſchmälern.


Wir ſtiegen nun immer ſteiler heran, und befan-
den uns bald zwiſchen den kahlen Höhen, denn
Pflanzungen werden hier faſt immer nur bis zur
[309] Mitte der höheren Berge angetroffen; es iſt nicht
wie in der Schweiz, wo die üppige Vegetation ſich
überall faſt bis an die Schneeregion erſtreckt. Doch
den Maßſtab der Schweiz überhaupt hier anlegen zu
wollen, würde unpaſſend ſeyn. Beide Länder bieten
romantiſche Schönheiten von ganz verſchiedener Art
dar, aber beide erwecken Bewunderung und Staunen
über die erhabnen Werke der Natur, wenn gleich in
der Schweiz vieles noch koloſſaler erſcheint. Der
Weg war ſo gewunden gebaut, daß wir uns nach
einer halben Stunde grade wieder, hoch oben, über
der erwähnten cottage befanden, die mit ihrem
grauen, glatten Strohdach, in ſolcher Tiefe wie ein
Mäuschen ausſah, das ſich im grünen Graſe ſonnt
— denn die Sonne war endlich nach dem langen
Kampf unumſchränkte Herrin des Himmels gewor-
den. Acht Meilen von Killarney erreicht man den
höchſten Punkt der Straße, wo ein einzelnes Wirths-
haus liegt. Hier ſteht man vor der weiten Berg-
ſchlucht, die den größten Theil der drei Seen in
ihrem Schooſe beherbergt, ſo daß man ſie alle mit
einem Blick überſieht.


Von nun an ſinkt der Weg wieder, durch baum-
loſe aber kühn geformte Berge führend, dem Meere
zu. Als ich in Kenmare ankam, konnte ich, denn es
war Markt daſelbſt, kaum das Menſchengewühl mit
meinem Einſpänner durchdringen, beſonders der vie-
len Betrunkenen wegen, die weder ausweichen woll-
ten, noch vielleicht konnten. Der Eine fiel, in Folge
[310] dieſer Weigerung, mit dem Kopf ſo heftig auf das
Pflaſter, daß er bewußtlos fortgetragen werden
mußte, was jedoch, als etwas ganz Gewöhnliches,
gar nicht beachtet wurde. Die [Hirnſchädel] der Ir-
länder ſcheinen überhaupt von einer feſtern Maſſe
als bei andern Nationen, wahrſcheinlich weil ſie von
Jugend auf an die Schläge des Shileila gewöhnt
ſind. Während ich im Gaſthof zu Mittag aß, hatte
ich auch wieder von neuem Gelegenheit, mehreren
ſolchen Kämpfen zuzuſehen. Erſt ballt ſich gewöhn-
lich ein Haufen, ſchreiend und lärmend, immer dich-
ter zuſammen — dann im Nu ſchwirren hundert
Shileila’s in der Luft, und nun hört man die
Püffe, welche größtentheils auf den Kopf applizirt
werden, wie entferntes Gewehrfeuer bollern und
knacken, bis eine Parthei den Sieg errungen hat.
Da ich mich hier an der Quelle befand, kaufte ich
mir, durch Vermittelung des Wirths, eines der
ſchönſten Exemplare dieſer Waffe, noch warm vom
Gefecht. Sie iſt ſo hart wie Eiſen, und um ja den
Zweck nicht zu verfehlen, überdieß am Ende noch
mit Blei ausgegoſſen.


Der berühmte O’Connel reſidirt jetzt, ohngefähr 30
Meilen von hier, auf ſeiner einſamen Veſte, in der
wüſteſten Gegend Irlands. Da ich lange gewünſcht
habe, ihn kennen zu lernen, ſchickte ich einen Boten,
mit der nöthigen Nachfrage, von hier an ihn ab,
und beſchloß, bis die Antwort eintreffen könne, un-
terdeß eine Exkurſion nach Glengariff Bay zu ma-
[311] chen, wohin ich mich auch nach dem Eſſen ſogleich
aufmachte.


Das Fahren hat nun gänzlich aufgehört, fortan iſt
nur auf Berg-Pony’s, oder zu Fuß, weiter zu kom-
men. Ein ſolcher Pony trug mein Gepäck, der
Führer und ich gingen daneben her, und war einer
von uns müde, ſo mußte das gute Pferdchen ihn
ebenfalls tragen. Die Sonne ging bald unter, aber
der Mond ſchien hell. Die Gegend war nicht ohne
Intereſſe, der Weg aber abſcheulich, und führte oft
durch Sümpfe und reißende Bäche, ohne Brücke noch
Steg. Ueber alle Vorſtellung beſchwerlich, ward er
aber, nach ſechs bis acht Meilen, wo wir einen
hohen Berg faſt perpendikulair hinaufklimmen muß-
ten, nur auf loſes und ſpitzes Gerölle tretend, auf
welchen man jeden Augenblick halb ſo weit herab-
rutſchte, als man vorher hinangeklettert war. Noch
ſchlimmer beinah ging es auf der andern Seite hin-
ab, beſonders wenn ein vortretender Berg den Mond
auslöſchte. Ich konnte vor Müdigkeit nicht weiter
gehen, und ſetzte mich daher auf den Pony. Dieſes
Thier zeigte wahren Menſchenverſtand. Bergauf
half er ſich mit der Naſe, und den Zähnen ſelbſt,
glaube ich, wie mit einem fünften Beine, und berg-
unter ſpann er ſich, mit unaufhörlichen Drehungen
des Körpers, wie eine Spinne herab. Kam er an
einen Sumpf, in dem, ſtatt des Steges, nur von
Schritt zu Schritt einige Steine hineingeworfen wa-
ren, ſo kroch er mit der Langſamkeit eines Faul-
[312] thiers hindurch, immer erſt mit dem Fuße probirend,
ob der Stein auch ihn und ſeine Laſt zu tragen im
Stande ſey. Die ganze Scene war [höchſt] ſeltſam.
Man ſah bei der großen Helle weit um ſich her, aber
nichts, durchaus nichts als Felſen an Felſen gereiht,
von jeder Art und Geſtalt, und durch den Mond-
ſchein in noch rieſenhaftere, abentheuerlichere, ſcharf
ſich gegen den Himmel abſchneidende Formen gegoſ-
ſen. Kein lebendiges Weſen, und kein Buſch war zu
entdecken, nur unſre Schatten zogen langſam neben
uns hin, kein Laut ertönte, als unſere Stimmen,
und zuweilen das ferne Rauſchen eines Bergbachs,
oder ſeltner das melancholiſch tönende Horn eines
Hirten, die in dieſen ungemeſſenen Einöden, welche
nur aus Felſen, Moos und Haidekraut beſtehen, das
frei umherirrende Vieh durch dieſe Muſik zuſammen-
halten. Einmal nur ſahen wir eine ſolche Kuh,
welche, wie die Bergſchafe in Wales, die Flüchtig-
keit des Wildes angenommen haben, mitten im Wege
liegen, aber bei unſerer Annäherung, wie ein ſchwar-
zer Geiſt, brauſend über die Felſen ſpringen, wo ſie
bald im Dunkel verſchwand.


Eine Stunde vor Glengariff Bay wird die Land-
ſchaft eben ſo üppig und Park ähnlich, als ſie vor-
her kahl und wild iſt. Hier ragen die Felſen in den
allerwunderlichſten Formen, aus hesperiſchen Ge-
büſchen von Arbutus, portugieſiſchem Lorb [...]er und
andern lieblichen, ſüß duftenden Sträuchern hervor.
Manche dieſer Felſen erheben ſich, gleich [Palläſten],
[313] glatt wie Marmor, ohne Fugen und Unebenheit,
andere bilden ſpitze Pyramiden, oder lange fortlau-
fende Mauern. In dem Thalgrunde [glänzten] ein-
zelne Lichter, und ein leiſer Wind bewegte die Kro-
nen hoher Eichen, Eſchen und Birken, mit [ſchönem]
Holly untermiſcht, deſſen hochrothe Beeren ſelbſt im
Mondlicht ſichtbar wurden. Die prächtige Bay aber
ſchimmerte, von den zitternden Mondesſtrahlen durch-
webt, ſchon in der [Nähe], und ich glaubte mich
wirklich im Paradieſe, als ich kurz darauf ihre Ufer
erreichte, und mich an der Thür des freundlichſten
Gaſthauſes glücklich angelangt fand. So heiter die-
ſes aber auch ausſah — in ihm war dennoch Trauer!
Wirth und Wirthin, ſehr anſtändige Leute, kamen
mir, in tiefes Schwarz gekleidet, entgegen. Die
Schweſter der Frau, ſo [erzählten] ſie mir, auf meine
Frage, das ſchönſte Mädchen in Kerry, nur 18
Jahr alt, und bisher das Bild der Geſundheit, war
erſt geſtern an einem Gehirnfieber, oder vielmehr
an der Unwiſſenheit des Dorfarztes, verſchieden —
in der achttägigen Krankheit aber, wie die arme
Frau weinend hinzuſetzte, zu 40 Jahren gealtert,
ſo daß Niemand den Leichnam des blühenden Mäd-
chens mehr erkennen wolle, dieſe holden Züge, welche
noch vor ſo kurzer Zeit der Stolz ihrer Eltern und
die Bewunderung aller jungen Männer der Umge-
gend waren.


Sie ruht neben meiner Schlafſtube, gute Julie,
nur durch eine Bretterwand von mir geſchieden.
[314] Vier Schritte von ihr ſteht der Tiſch an dem ich
Dir ſchreibe. Das iſt die Welt! Leben und Tod,
Freude und Kummer reichen ſich überall die Hand.



Um 6 Uhr war ich munter, und um 7 Uhr in dem
herrlichen Park des C .. l W…, Bruder des Lords
B...., welcher Familie die ganze Umgegend der
Bayen von Bantry und Glengariff, vielleicht des
ſchönſten Punktes in ganz Irland, gehört. Der
Umfang dieſer Beſitzungen iſt fürſtlich, wiewohl in
pekuniairer Hinſicht nicht ſo bedeutend, da der größte
Theil des Terrains aus Felſen und unbebautem Ge-
bürge beſteht, das ſeine Renten nur in romantiſchen
Schönheiten und prachtvollen Ausſichten bezahlt.
Mr. W…’s Park iſt gewiß eine der gelungenſten
Schöpfungen dieſer Art, und hat ſeiner Ausdauer
und ſeinem guten Geſchmack allein ſein Daſein zu
verdanken. Freilich konnte er auch nirgends einen
dankbareren Erdfleck für ſein Wirken auffinden, aber
ſelten geſchieht es, daß Kunſt und Natur ſich ſo
vollſtändig die Hand bieten. Es ſey genug, zu ſa-
gen, daß die erſte ſich nur durch die vollſtändigſte
Harmonie bemerklich macht, übrigens in der Natur
ganz aufgegangen zu ſeyn ſcheint; — daher kein
Baum noch Buſch mehr wie abſichtlich hingepflanzt
ſich zeigt; die Ausſichten nur nach und nach, mit
[315] weiſer Oekonomie benutzt, ſich wie nothwendig dar-
bieten; jeder Weg ſo geführt iſt, daß er gar keine
andre Richtung, ohne Zwang, nehmen zu können
ſcheint; der herrlichſte Effect von Wald und Pflan-
zungen durch geſchickte Behandlung, durch Contraſti-
ren der Maſſen, durch Abhauen einiger, Lichten an-
drer, Aufputzen, oder Niedrighalten der Aeſte, er-
langt worden iſt — ſo daß der Blick bald tief in
das Walddunkel hinein, bald unter, bald über den
Zweigen hingezogen, und jede [mögliche][Varietät] im
Gebiet des Schönen hervorgebracht wird, ohne doch
irgend wo dieſe Schönheit nackt vorzulegen, ſondern
immer verſchleiert genug, um der Einbildungskraft
ihren nöthigen Spielraum zu laſſen; — denn ein
vollkommner Park, oder mit andern Worten: eine
durch Kunſt idealiſirte Gegend, ſoll gleich einem gu-
ten Buche, wenigſtens eben ſoviel neue Gedanken
und Gefühle erwecken, als es ausſpricht.


Das Wohnhaus, durch einzelne Bäume und Grup-
pen maleriſch unterbrochen, und nicht eher ſichtbar,
als bis man eine ihm gegenüber liegende Anhöhe er-
reicht, wo es auf einmal aus den Waldmaſſen, mit
Epheu, wilden Wein und Roſen überrankt, hervor-
bricht — iſt ebenfalls von dem Beſitzer nach eignen
Plänen erbaut. Es iſt weniger im gothiſchen, als
in einem alterthümlichpittoresken, eigenthümlichen
Style aufgeführt, den ein feiner Takt ſich ganz der
Gegend gemäß ausdachte. Auch die Ausführung iſt
vortrefflich, denn es ahmt wahres Alterthum täu-
[316] ſchend nach. Die Zierathen ſind ſo ſparſam und paſ-
ſend angebracht, das Ganze ſo wohnlich und zweck-
mäßig gehalten, und dem, ſcheinbar [älteſten] Theile,
das Anſehn von Vernachläſſigung und Unbewohnt-
heit ſo gut gegeben — daß ich wenigſtens vollkom-
men der Abſicht des Erbauers entſprach, indem ich
die Gebäude, für jetzt erſt wieder bewohnbar ge-
machte, und, ſoweit als es unſere Gewohnheiten ver-
langen, moderniſirte Ueberreſte einer alten Abtey an-
ſah. Die Rückſeite des Wohnhauſes nehmen Pflan-
zenhäuſer, und ein höchſt nett gehaltner, umſchloſſe-
ner Blumengarten ein, die beide mit den Zimmern
zuſammenhängen, ſo daß man fortwährend unter
Blumen, tropiſchen Gewächſen und reifenden Früch-
ten lebt, ohne deshalb das Haus verlaſſen zu dür-
fen. Auch das Clima iſt das günſtigſte, was man
ſich für Vegetation wünſchen kann; feucht und ſo
warm daß nicht nur, wie in England, Azalien,
Rhododendron und alle Sorten Immergrün, ſon-
dern ſelbſt Camelien, in einer vortheilhaften Lage,
hier im Freien durchgewintert werden können. Da-
turen, Granaten, Magnolien, Lyriodendron ꝛc. er-
reichen die größte Schönheit, und die letztern drei
werden nie bedeckt. Die Gegend bietet große Ferne,
außerordentliche [Varietät], und dennoch ein am Ho-
rizont von Bergcoloſſen wohlgeſchloſſenes Ganze dar.
Die Bayen von Bantry und Glengariff zeigen ein
Meer im Kleinen, deſſen Küſten, ſich durch und
übereinander ſchiebend, die Leere des großen Oceans
nie erblicken laſſen; landeinwärts aber ſcheint das
[317] wogende Gebürge faſt ohne Ende. Die kleinere Bay
von Glengariff, welche ſich vor dem Wohnhauſe aus-
breitet, hat 9 Meilen, die andere 50 im Umfang.
Unter den dem Park grade gegenüber liegenden Bergen,
ragt wieder ein Zuckerhut hervor, und an ſeinem
Fuß erſteckt ſich ein ſchmales Vorgebürge bis mitten
in die Bay, wo ein verlaſſenes Fort maleriſch ſeine
Spitze bezeichnet. Der Park ſelbſt nimmt die ganze
eine Seite der Bay ein, und begränzt an ſeinem
ſchmalen Ende die von Bautry, wo das Schloß des
Lord B.. am jenſeitigen Ufer den Hauptausſichts-
punkt bildet. Nur zur Hälfte vollendet und be-
pflanzt, iſt die ganze Anlage überhaupt erſt ſeit 40
Jahren aus dem Nichts hervorgerufen worden. Ein
ſolches Wirken verdient auch ſeine Kronen, und der
würdige Mann, der mit nur geringen Mitteln,
aber großem Talent, und gleich großer Ausdauer,
es ſchuf, ſollte den irländiſchen Grundbeſitzern, die
ihre Schätze im Ausland vergeuden, als ein hoch zu
ehrendes Muſter aufgeſtellt werden! Auch hörte ich
mit wahrer Genugthuung, daß, auf ſeinen und
Lord B…s Domainen, Partheyhaß unbekannt iſt.
Beide ſind Proteſtanten, alle ihre Unterthanen,
oder tenants, Catholiken, demohngeachtet iſt die
freiwillig anerkannte Autorität der Herren über ſie
grenzenlos, ja Mr. W. lebt wie ein Patriarch unter
ihnen, wie ich von den gemeinen Leuten ſelbſt er-
fuhr, und ſchlichtet alle ihre Streitigkeiten, ohne daß
Rechtsverdrehern ein Heller in dieſen abgeſchiedenen
Bergen zugewendet zu werden braucht.


[318]

Daß ich wünſchen mußte, einen ſo braven Mann
kennen zu lernen, magſt Du vorausſetzen. Es war
daher eine wahre Gunſt des Schickſals, daß ich ihm,
ſeine Arbeiter inſpicirend, im Parke begegnete. Unſer
Geſpräch nahm bald eine intereſſante, für mich höchſt
lehrreiche Wendung. Eine Einladung, mit ihm und
ſeiner Familie zu frühſtücken, ſchlug ich nicht ab, und
fand in ſeiner Gemahlin eine flüchtige Bekannte aus
dem Londner Trouble. Sie nahm das unerwartete
Wiederſehen herzlich auf und präſentirte mir zwei
Töchter von 18 und 17 Jahren, die noch nicht
„brought out“ waren, denn wie ich Dir ſchon neu-
lich ſchrieb, während man in England die Pferde
(sans comparaison) zu früh ausbringt, nämlich im
zweiten Jahr ſchon Wette laufen läßt, müſſen die
armen [Mädchen] faſt alt werden, ehe man ihnen das
Gängelband löst, um ſie in die böſe Welt zu lan-
çiren.


Die Familie erſchöpfte alle Artigkeit und Freund-
ſchaft an mir, und da mich die Damen ſo leiden-
ſchaftlich für ſchöne Natur eingenommen ſahen, baten
ſie mich dringend, einige Tage hier zu bleiben, um
ſo manche Merkwürdigkeit, namentlich den berühmten
Waſſerfall und Ausſicht von Hungryhill, mit ihnen
zu beſuchen. Es war mir unmöglich, jetzt mich län-
ger aufzuhalten, da ich mich bei H. O’ Connel ange-
ſagt, gewiß aber werde ich auf meiner Weiterreiſe
nach Cork von einer ſo lieben Einladung Gebrauch
machen, denn ſolche Geſellſchaft gehört nicht zu de-
nen, die ich ſcheue.


[319]

Ich begnügte mich alſo, vor der Hand, mit der
ganzen Familie eine lange Spazierfahrt zu machen,
erſt der Bay entlang, um eine Generalanſicht des
Parks und Schloſſes zu gewinnen, dann nach einem
Waldrevier, in der Direktion meines Rückwegs gele-
gen, wo Lord B. eine shooting lodge (Jagdhaus)
beſitzt. Dies iſt eine Gegend wie für einen Roman
erfunden! Was die abgeſchiedenſte Einſamkeit, die
ſchönſte Vegetation, das friſcheſte Wieſengrün, von
Bergen und Felſen umſchloſſen, Thäler, an deren
Seiten ſich zuweilen, 1000 Fuß hohe, ſteile Wände
erheben, dick bewaldete Schluchten, ein über Felſen-
blöcke rauſchender Fluß mit maleriſchen Brücken von
Aeſten und Stämmen, Sonndurchglänzte Haine, in
denen die kühlen Wellen Tauſende von Waldblumen
mit ihrer ſtets klaren Fluth erfriſchen, zutraulich ge-
wöhntes Wild, horſtende Adler, und buntgefiederte
Singvögel — alles durch die ſüßeſte Heimlichkeit dem
Dichterherzen lieb gemacht — was ſolche Elemente
bieten mögen, iſt hier in reichem Maße vereint, um
mit einer gleichgeſtimmten Seele alle Glückſeligkeit
genießen zu können, der dieſe Erde fähig iſt. Mit
wehmüthigem Schmerz verließ ich dieſe reizende Phan-
taſie unſrer lieben Mutter Erde, und riß mich nur
mit Mühe los, als wir am ländlichen Thore anka-
men, wo Führer und Pony ſchon meiner harrten.
So wie ich Abſchied von den neuen Freunden ge-
nommen, und dem lieblichen Thale den Rücken ge-
kehrt, umzog ſich auch der Himmel und nahm, bei
dem Eintritt in das ſchauerliche Steinreich, das ich
[320] Dir geſtern beſchrieb, die Farbe an, die zu meiner
Stimmung, wie zur Umgebung, am beſten paßte.
Ich wünſchte, noch des langſamen Reitens vom vori-
gen Tage her überdrüßig, zu gehen, als ich aber, der
[Näſſe] wegen, meine hohen Ueberſchuhe verlangte, fand
es ſich, daß der Führer einen derſelben verloren, ein
häusliches Unglück, das wichtig genug für mich war,
um es hier zu erwähnen, denn, wie man zu ſagen
pflegt: „ohne Bacchus friert Venus,“ ſo wird auch
eine romantiſche Gegend weit beſſer mit trockenen
Füßen als mit naſſen genoſſen. Ich beſchloß daher
den Mann zurückzuſchicken, um, wo möglich, wenig-
ſtens für die nächſten Tage, meiner trauernden Gal-
loſche ihre ſo lange treue Gefährtin wiederzuſchaffen,
für heute aber den ganzen Weg, durch dick und dünn,
zu Fuß zurückzulegen.


Es fing ſanft an zu regnen, ein Berg nach dem
andern verſchleierte ſich, und ich wanderte melancho-
liſch, ſehnſüchtig nach dem verlornen Paradies,
den Regionen zu, wo die Erde, gleich einem Gerippe,
nur ihre Knochen erblicken läßt. Unterdeſſen ward
der Regen immer ſtärker, und einzelne Windſtöße
verkündeten bald ein ernſtliches Unwetter. Ich hatte
den hohen Berg zu erklimmen, der inmitten der er-
ſten Wegehälfte von hier aus liegt, und ſchon kamen
mir Ströme Waſſers entgegen, die gleich kleinen Cas-
kaden, in allen Bergfurchen herabſchoſſen. Da ich den
Luxus ſo badeartiger [Durchnäſſüng] im Freien, ſelten
genieße, ſo wadete ich, mit wahrem Wohlbehagen, in
[321] dem flüſſigen Element umher, mich gewiſſermaßen in
das Seelenvergnügen einer Ente verſetzend. Der Be-
weglichkeit meiner Phantaſie iſt, wie Du weißt, nichts
der Art unmöglich; wie aber das Wetter immer fin-
ſterer und wilder ward, nahm auch meine Stimmung
allmählig einen immer unheimlicheren, ja ich möchte
faſt ſagen, höhniſchen, modern diaboliſchen Charak-
ter an. Der Aberglaube der Berge umfing mich, ich
konnte ihm nicht länger widerſtehen, dachte fortan
nur an Rübezahl, den böhmiſchen Jäger, die Fairie’s
und den Böſen, an Beſchwörungsformeln und Er-
ſcheinungen, ſo daß mir immer geſpenſtiger zu Muth
ward, und ich mich zuletzt lautdenkend ausrufen hörte:
Warum ſollte mir der Teufel nicht eben ſo gut als
andern ehrlichen Leuten erſcheinen können? Mit die-
ſen Worten war ich auf der höchſten Spitze des ſtei-
len Berges angekommen. Das Unwetter hatte jetzt
ſeinen höchſten Grad erreicht, der Sturm heulte
fürchterlich, Waſſer goß in Fluthen vom Himmel, und
der tiefe Felſenkeſſel, unter mir, erſchien, wie hinter
ſchwarzen Vorhängen nur augenblicklich auftauchend,
dann wieder verſchwindend in den rollenden Nebeln
und der einbrechenden Dämmerung. Da fiel mir
jene Beſchwörungsformel ein, nach welcher, wenn
man ſich dreimal laut lachend in einer Kirche um
Mitternacht ſelbſt gerufen, eine Erſcheinung verheißen
wird, die Niemand auszuhalten im Stande ſeyn ſoll.
Was in einer Kirche um Mitternacht ſtatt findet,
dachte ich, mag hier im Aufruhr der Elemente, in der
Briefe eines Verſtorbenen. I. 21
[322] ſchauerlichen Felsſchlucht, bei eintretender Nacht auch
geſchehen können; — und ſo, mich feſt gegen den
Sturm ſtemmend, den Regenſchirm, den ich bisher
nur als Stock gebraucht, wie einen Mantel über
den Kopf ziehend, und ſtarr in den tiefen Bergkeſſel
herabſchauend rief ich, von Geſpenſterſchauern ergrif-
fen, der Vorſchrift gemäß, mit fremder laut ſchrillen-
der Stimme meinen vollen Namen:*)


. . . . . . . . . . . . . . .


Dann wie verwundert: Wer ruft mich?


— Dumpfes halberſticktes Gelächter. —


Lauter meinen Namen von Neuem:
. . . . . . . . . . . . . . .


Erſchüttert: Wer ruft mich?


— Wildes Lachen. —


Mit donnernder Stimme meinen Namen zum dritten-
mal:
. . . . . . . . . . . . . . .


Voll Grauſen: Wer ruft mich?


— Augenblickliche Stille — dann ein leiſes,
doch helles und triumphirendes Lachen, wel-
ches das Echo ſpottend wiederholt.


Soweit hatte ich die Comödie allein geſpielt —
aber jedesmal wenn ich ſelbſt: Wer ruft mich? rief
[323] — ſchien es, als wenn von außen her, ſchwache Blitze
den Keſſel unter mir durchzuckten, was ich mir nur
durch die Windſtöße erklären konnte, die der ſeidnen
Decke des Regenſchirms, welche ich des Sturms we-
gen nahe am Geſicht feſthalten mußte, eine zitternde
Bewegung gaben, und ſo eine blitzähnliche Wirkung
auf das Auge hervorbrachten. Als aber das letzte
Lachen kaum verſchollen war — ſchlug ſich plötzlich
das Dach des Regenſchirmes um, was mich ſelbſt bei-
nahe umwarf, und ganz der Empfindung glich, als
ergriffe mich von hinten eine übermächtige Rieſen-
fauſt — es war freilich, ohne Zweifel, nur ein jäh-
linger Windſtoß — ich drehte mich indeß nach dem
erſten Schreck doch langſam um . . . . und ſah . . . .
nichts, in der That! — Aber wie? regt ſich dort
nicht etwas um die Ecke? — beim Himmel, das iſt
. . . . mein Erſtaunen war wahrlich nicht gering, als
ich jetzt in der Entfernung von zwanzig Schritten, ſo
weit als ich nothdürftig in Dunkelheit und Regen
noch unterſcheiden konnte, eine vom Kopf bis zum
Fuß ſchwarz verhüllte Geſtalt, mit einer Schar-
lachmütze auf dem Kopfe, nachläßig, und — ich
täuſchte mich nicht — hinkend, auf mich zukommen
ſah . . . . .


Nun liebe Julie, est ce le diable ou moi, qui
ecrira la reste
? — oder glaubſt Du wohl gar, ich
amüſire mich, Dir ein [Mährchen] zu erzählen? point
du tout
— Dichtung und Wahrheit iſt meine Deviſe.
[324] Aber meinen Brief wenigſtens hier zu ſchließen, iſt
billig. Ich darf hoffen, daß der nächſte nicht ganz
ohne Ungeduld erwartet werden wird. Alſo bis da-
hin — adieu.


Ganz Dein L .....


Ende des erſten Theils.
[]

Appendix B

Druck und Verlag von F. G. Franckh in Muͤnchen.


[][][]
Notes
*)
Wir geben hierdurch zugleich etwannigen Recen-
ſenten von vorn herein eine artige Gelegenheit,
ihren Witz leuchten zu laſſen. Sie könnten z. B.
ſagen: dies Werk muß man ohne Zweifel origi-
nell nennen, denn es iſt vorläufig, nur mit
zwei Beinen in die Welt geſprungen — der Kopf
ſoll erſt nächſte Meſſe nachfolgen.
*)
Dieſer Name iſt ein fingirter, weil wir nicht autori-
ſirt ſind, den wahren herzuſetzen. So haben wir auch
einige andere Namen-Bezeichnungen, und Andeutungen
geſellſchaftlicher Verhältniſſe maskiren zu müſſen ge-
glaubt. Anm. d. Herausg.
*)
Du wenigſtens weißt, daß dieſe Stimmung nicht in
Egoismus begründet iſt.
*)
Es iſt eine der großen Schönheiten Englands, daß man
dort, ſelbſt den ganzen Winter hindurch, faſt bei allen
Wohnungen die üppig blühendſten Lauben und Ranken
gefüllter Monats-Roſen antrifft.
*)
Wo andere Meilen nicht ausdr[ü]cklich benannt ſind,
iſt immer von engliſchen die Rede, deren bekanntlich
vier und eine halbe auf die deutſche Meile gehen.
Anm. d. H.
*)
Eine Art lockerer Semmel mit iroquanter Rinde, die
heiß mit Butter gegeſſen wird.
A. d. H.
*)
Die „Unausſprechlichen“ wird dieſes Kleidungsſtuͤck
in England genannt, wo eine Frau der guten Geſell-
ſchaft zwar wohl häufig Mann und Kinder verläßt;
um mit einem Liebhaber davon zu laufen, aber doch
zu decent iſt, um das Wort „Beinkleider“ öffentlich
nennen hören zu können.
*)
Die Poſt ſoll übrigens in jenem Reiche durchaus
Extra-Poſt ſeyn, und Manche es ſehr bedauern daß
ſie nicht noch einen größern Theil der Staats-Maſchine
fährt, um dem jubilariſchen Stillſtand einen neuen
Anſtoß zu geben.
A. d. H.
*)
Ich kenne übrigens Züge von dieſem Künſtler, die
manchem induſtriellen Edelmann unſerer Zeit zur Ehre
gereichen würden, z. B. der, daß er ſeine Rechnungen
nur alle fünf Jahre einſchickt, und der großmüthigſte
Gläubiger aller Iſolani’s der Armen iſt.
Avis aux lecteurs!
*)
NB. wenn der Adel darnach beſchaffen, d. h. wahrer
National-Adel iſt, ſo wie ihn England zum Theil be-
ſitzt, oder auch wie ihn Grävell in ſeinem Regenten
gut definirt.
A. d. H.
*)
Hier meint mein ſeliger Freund ohne Zweifel nur, in
der Schätzung gewiſſer Beamten, die aus guten Grün-
den die Mittelmäßigkeit über alles lieben — denn nir-
gends geht von höchſter Stelle wohl edlere Würdigung
des Verdienſtes aus, als gerade dort, wenn ich anders
den gemeinten Ort richtig deute. Das ganze Land ſah
davon erſt kürzlich ein allgemein erfreuendes Beiſpiel
in der zarten Auszeichnung des verehrten Staatsman-
nes, der, an der höchſten Stelle ſtehend, bewieſen, daß
er auch die höchſten Anſprüche darauf hat. Giebt es
Einen, der noch an dem Letztern zweifelt — ſo iſt es
gewiß nur er ſelbſt. A. d. H.
*)
Wenn ich nicht gewiß wüßte, daß mein Freund dieſe
Stelle anno 1827 geſchrieben hätte, ſo würde ich ſie
für eine Reminiscenz aus der Antritts-Rede des Prä-
ſidenten Jackſon halten. Dieſer will gar, daß die
ſämmtlichen Beamten der vereinigten Staaten (mit
wenigen Ausnahmen) gleich dem Präſidenten, alle fünf
Jahre Andern Platz machen ſollten. Eheu jam satis!
Was würden unſere Regierungs-Räthe zu einer ſol-
chen Wirthſchaft ſagen! Ganze General-Commiſſionen
könnte davon, im eigentlichſten Sinne des Worts,
der Schlag rühren! denn, wer weiß, wenn in 5 Jah-
ren es an die Renovirung ginge, ob man ihre Beibe-
haltung überhaupt noch der Mühe, ich wollte ſagen,
des Geldes was ſie koſtet, werth finden würde.
A. d. H.
*)
Ablöſen, reguliren, ſepariren — welcher Guts- und
auch bäuerliche Beſitzer in jenem aufgeklärten Lande
kennt nicht die eigentliche Bedeutung dieſer Worte!
Schön und liberal, obgleich den Knoten etwas ge-
waltſam
durchhauend, war die Idee des Geſetzes,
aber wie wird es ausgeführt! Hierüber wäre ein
Buch zu ſchreiben, und ſollte geſchrieben werden.
Die Ausführung dieſes Geſchäfts iſt nämlich vollkom-
men von der Art, wie ein gewiſſer Herr von Wanze
als Pächter verkleidet, den wohlhabenden Bauern zu
A … auf ihrer Kirmeß das Pharao lehrte. Ihr
ſetzt Euer Geld, ſagte er, ich theile die Karten rechts
und links. Was links [fällt], gewinne ich, was rechts
fällt, verliert Ihr. A. d. H.
*)
Der Billigkeit gemäß, muß man jedoch zugeben, daß
der Ausnahmen von dieſer Schilderung auch viele ſind.
Wenn z. B. Göthe nicht verſchmäht „einen Mann
von 40 Jahren“ unter die Unmündigen zu ſchicken,
wenn Tiek ſich unſerer mit einer ganz ächten No-
velle erbarmt, L. Scheſer, in ſeltſam ſich durchkreu-
zenden Blitzen, Herz und Geiſt zu berühren weiß,
Kruſe eine Criminal-Geſchichte anmuthig macht, oder
irgend eine Thereſe, Friederike ꝛc., die, ſonſt ſo un-
durchdringlichen, Geheimniſſe weiblicher Herzen ent-
hüllt (der Verdienſte anderer Haupterzähler, der Kürze
wegen, gar nicht einmal zu erwähnen) ſo ſieht man
wohl, daß einige Hand-Arbeiter gar gute und vollſtän-
dige Waare liefern könnten — wenn nicht bereits die
ganze Fabrik durch das Maſchinen-Weſen verdorben
wäre.
A. d. H.
*)
Dieſe Penduln könnten alſo von einem ſpitzfindigen
Bedienten, je nachdem ſie längere oder kürzere Zeit
nachſchwingen, zugleich als ein Thermo- oder Hygeo-
meter der Geduld ihrer reſpektiven Herrſchaften be-
nutzt werden. A. d. H.
*)
Die Einwohner ſelbſt können nicht ganz genan ange-
ben, welche Endung die eigentlich richtige ſey.
*)
NB. nicht zu vergeſſen: unſern gelehrten Profeſſor
Blindemann zu fragen, was er von dieſer Auslegung
hält?
*)
Unter andern auch für die Elbſchifffahrtscommiſſarien,
die ihre Arbeit eben ſo ſchön beendet, und Alle Orden
dafür bekommen haben. Ob mir Gott wohl auch einen
Orden beſcheren wird?
*)
Um dem Scherz ein ernſtes Wort hinzuzufügen, möchte
ich hier fragen: Wer ehrt nicht die menſchenfreundli-
*)
chen Motive, welche die Bibelgeſellſchaften hervorbrach-
ten, und Miſſionarien verſenden? aber — ſind dieſe
beiden, ſelbſt wenn nicht, wie leider ſo oft geſchieht,
der ſchändlichſte Mißbrauch damit getrieben wird, auch
die rechten Mittel zum Zweck? Der Erfolg lehrt uns
faſt überall das Gegentheil. Man bedenke, daß Gott
ſelbſt das Chriſtenthum erſt zum zweiten Bunde ſen-
dete, der erſte war rein auf irdiſches Intereſſe und
despotiſche Gewalt baſirt.
Ich möchte daher faſt ſagen, wenn ich mich nicht fürch-
tete zu ſpaßhaft zu erſcheinen, daß man erſt damit an-
fangen müßte, die Wilden zu Juden zu bekehren, ehe
man ſie zu Chriſten machte. Dies würde auch mit dem
Intereſſe des Handels, dieſem wichtigen Hebel, abſon-
derlich gut übereinſtimmen. Man civiliſirte ſie dann
vielleicht mit Schachern weit ſchneller, als durch Pau-
lus Briefe an die Corinther.
Dies könnte uns als Fingerzeig dienen, und die Naturge-
mäßheit ſolchen Verfahrens wird auch überall durch Erfah-
rung beſtätigt, wo derſelbe Gang zu gehen iſt. Menſchen, die
ſo wenig civiliſirt ſind, als z. B. die noch faſt thieriſchen
Bewohner Afrika’s, zu Chriſten machen zu wollen —
ſcheint mir faſt eben ſo unvernünftig, als den Affen
europäiſche Sprachmeiſter zu ſchicken. Auf dieſer Stufe
der Cultur ſind eben nur Intereſſe und Gewalt, der
eine wohlthätige Gewohnheit folgt, anwendbar,
und in dieſer Hinſicht möchten (einmal angenommen,
daß wir Beruf und Recht haben, weniger Civiliſirte
zu unſrer Civiliſation, auch ohne ihren Willen, empor
zu heben) ſelbſt die Bekehrungen mit dem Schwerdte
nicht ſo unzweckmäßig als die durch Bibelgeſellſchaften
ſeyn, immer vorausgeſetzt, daß ſie ohne Grauſamkeit,
und aus wahrhaft guter Abſicht bewerkſtelligt wür-
den *). Der andere Weg, nämlich: durch ihr eignes
*)
Man kann nicht läugnen, daß Carl des Großen und der Spanier Heidenbekeh-
rungen den meiſten Erfolg hatten, nur Schade daß die Spanier. eigentlich
beſſere Chriſten als ſie waren erſt zu einem neuen Heidenthume zwangen.
*)
augenblickliches Intereſſe auf die Wilden zu wirken,
kann nur durch Handel erreicht werden, und ſcheint
der gerechteſte und mildeſte von allen, würde aber doch
auch von einem gewiſſen Zwang begleitet werden müſ-
ſen, um ſchnelle und dauernde Reſultate [herbeizuführen].
Das Schlimmſte bei den Bemühungen, das Chriſtenthum
voreilig einzuführen, iſt aber ohne Zweifel, daß die Wilden,
ſobald ſie mit Chriſten in Colliſion kommen, gewahr werden
müſſen, daß dieſe ſelbſt faſt in allen Dingen, dieſer Lehre der
Liebe fortwährend, ſowohl unter ſich als gegen ſie ſelbſt ent-
gegenhandeln, Gouvernements, Corporationen und Ein-
zelne. Ihr einfacher Verſtand, der durch höhere Cultur
noch nicht rektificirt iſt, kann dies ohnmöglich zuſam-
menreimen, und da ſie überdem, wie Kinder bei der
neuen Lehre hauptſächlich nur die Mythe ins Auge faſ-
ſen, ſo iſt es ihnen nicht ſehr zu verdenken, wenn die
Liberalen oder Freidenker unter ihnen ausrufen: „Fabel
für Fabel, Morden für Morden, Sclaven verkaufen für
Sclaven verkaufen — wo iſt der Unterſchied?“ Hätten
die chriſtlichen Mächte ernſtlich den Sclavenhandel
abgeſchafft, und zugleich die, zur Schande Europa’s,
noch immer beſtehenden, Raubneſter an Afrika’s Küſten
vernichtet, England aber, ſtatt einen einzelnen Rei-
ſenden nach dem andern (die ſich noch obendrein durch
ihre engliſche chriſtliche Arroganz, ohne die Mittel ſie
durchzufüh[r]en, dort nur verächtlich und lächerlich ma-
chen) von den Einwohnern umbringen, oder am Clima
ſterben zu laſſen — eine ſich Reſpekt verſchaffende, und
durch vorgängigen Aufenthalt an der Küſte ſchon abge-
härtete, Expedition ins Innere geſchickt, die mit Würde
und mit wohlthätiger Gewalt, dem Handel eine menſch-
lichere Richtung zu geben, und die entgegenſtehenden
Hinderniſſe, wenn auch zum Theil durch die Macht der
Waffen, zu zerſtören geſucht hätte — ſo würde gewiß
*)
Kotzebue in ſeiner neueſten Reiſe um die Wele giebt
uns ein ergreifendes Gemälde von dem Unweſen der
engliſchen Miſſionaire auf Otahaiti und den Sandwichs-
Inſeln. Als man, ſagt er, den, für das Glück ſeines
neu geſchaffnen Reichs zu früh verſtorbnen, König Ta-
meamea zur Annahme der chriſtlichen Religion bewegen
wollte, erwiederte er, auf die Statuen ſeines Cultus
hinweiſend: Dies ſind unſre Götter, die ich ſeit mei-
ner Kindheit zu verehren gelehrt wurde. Ob ich Recht
oder Unrecht daran thue, weiß ich nicht; aber ich folge
meinem Glauben, der nicht ſchlecht ſeyn kann, da er
mir vorſchreibt keine Ungerechrigkeit zu begehen.
Anm. d. H.
*)
ein großer Theil Afrika’s jetzt unendlich mehr civiliſirt
ſeyn, als durch hundertjährige Miſſionen und Bibelſen-
dungen zu erreichen möglichſt ſeyn wird. Einige wer-
den hier ſagen: A quoi bon tout cela? Andere die
Frage aufwerfen, wer uns das Recht gebe, uns ungeru-
fen in die Angelegenheiten fremder zu miſchen? Die
Antwort hierauf würde zu weit führen; was mich
betrifft, geſtehe ich, den Grundſatz der Jeſuiten in ſo
weit zu theilen, daß ich annehme: Ein edler Zweck,
das heißt: ein zum Beſten Anderer gefaßter Plan, der
zugleich mit der Kraft ihn auszuführen verbunden iſt,
heiligt auf den hohen Standpunkten der Menſchheit
alle, redlich in demſelben Sinn, angewandte Mittel, in
ſofern ſie ſich nur auf offene Gewalt beziehen — denn
Verrath und Unredlichkeit kann nie zum Guten führen.
A. d. H.
*)
Wer dennoch daran zweifeln ſollte, dem können wir
auf Treu und Glauben verſichern, dem böſen Feind
ſelbſt ſchon ſo begegnet zu ſeyn, ja einem der ver-
dienſtvollſten Mitglieder unſerer heiligen Geſellſchaft,
einer hohen Dame, die wir hier nur mit dem Namen
Sexaginta bezeichnen wollen, erſchien er auf noch weit
ſchändlichere Weiſe. Sie ſtand damals auch ſchon einem
frommen Conventikel vor, gemeinſchaftlich mit dem
würdigen Herren Lieutenant Grafen von N ..... und
hatte es eben mit ſiegender Rede durchgeſetzt, daß die
Gemeinde ſich einſtimmig verpflichtete, nie heidniſche
Kunſtausdrücke, als z. B. der Gott Amor oder die
Göttin Venus, zu gebrauchen, ſondern, wo der Gegen-
ſtand nicht ganz zu umgehen ſey, doch jener unreinen
Dämonen, eingedenk unſerer chriſtlichen Pflicht, nur
als des Götzen Amor, der Götzin Venus u. ſ. w.
zu erwähnen. Dies mochte Satan auf die empfind-
lichſte Stelle getroffen haben. Racheſchnaubend ſuchte
er nun die Taube zu verderben, und erſchien ihr zuerſt,
mit verruchter Liſt, in der Geſtalt des Herrn Lieute-
*)
nants ſelbſt, mit gleißneriſchen Worten ſuchend ſie zu
bethören — doch die Frömmigkeit ſiegte, und bald
mußte er ſich decouvriren, in aller ſeiner Schmach. So
triumphiren zuletzt immer die Gerechten! Sexaginta
aber wußte ſeitdem, daß es Dinge giebt, von denen ſich
manche unſrer ſogenannten Weiſen nichts träumen laſſen,
und konnte, frömmer als der Dichter, ausrufen: Der
Teufel, er iſt kein leerer Wahn!
Anm. des Redacteurs der Lammzeitung.
*)
Altes Geſangbuch.
*)
Dieſer Gebrauch Seelen zu theilen, der Triumph poli-
tiſcher Chymie, entſtand, glaube ich, auf dem Wiener
Congreß, wo der König von D ...... k einem berühm-
ten Diplomaten, der ihm verſicherte „que S. M. avait
gagnée tous les coeurs“
ſo richtig antwortete: oui,
mais pas une àme! pas mème la moitié d’une
âme.

Anm. d. H.
*)
Dieſe und ähnliche Stellen ſind ausgelaſſen, da ſie
ſich blos auf Familien-Verhältniſſe beziehen, und gar
kein Intereſſe für die Leſer haben können.
A. d. H.
*)
Herrlich ſagt Jean Paul irgendwo von Solchen; „Ich
habe dieſe verdammte Erhebung der Seelen blos aus
*)
Man irrt ſich ſehr, wenn man glaubt, daß hier
blos Stoff zum Lächerlichen, und einiger Indignation
der Vernunft vorhanden ſey. Der Bund der From-
men
iſt nicht ohne Gefahr für die Freiſinnigen.
Hier gährt Jeſuitenmaſſe, die unter den Proteſtanten
Geſtalt gewinnen will, weil der Katholizismus zu
aufgeklärt für ſie wird. Dieſelben Grundſätze, denen
Jene ihre Macht verdankten, leiten auch ſie, derſelbe
esprit de corps herrſcht unter ihnen, eine geregelte
Organiſation bildet ſich, und ſtatt der aquetta ge-
brauchen ſie mit Erfolg den, oft noch zehnmal gifti-
geren, böſen Leumund, wie ſo manches Mittel der
Finſterniß, das einer geheimen Verbrüderung unbe-
merkt zu gebrauchen leicht iſt. Mehr aber wird
Deutſchland von ſolchen Heiligen zu leiden haben, als
von den Freiheit träumenden Studioſen auf der Wart-
burg!
*)
Niedrigkeit, öfters mit den engliſchen Pferdeſchwänzen
verglichen, die auch immer gen Himmel ſtehen, bloß
weil man ihre Sehnen durchſchnitten.
*)
Eine Art vierſitziger, leichter Caleſche, ohne Verdeck.
*)
To come out heißt bei den jungen Mädchen in
England: in die Welt treten. Die Eltern laſſen
manche dieſes Glück bis ins zwanzigſte Jahr und noch
länger erwarten. Bis dahin lernen ſie die Welt nur
aus Romanen kennen, und ſpäter geht es auch dar-
nach, wo nicht die Häuslichkeit und Tugend (denn
ein ſolches Ding giebt es zuweilen in England) einen
zu feſten Grund gelegt haben.
A. d. H.
*)
Nichts iſt lächerlicher als die häufigen Deklamationen
deutſcher Schriftſteller über die in England herrſchende
Armuth, wo es nach ihnen nur einige ungeheuer
Reiche und tauſend Nothleidende giebt. Grade die
außerordentliche Menge wohlhabender Leute des Mit-
telſtandes
, und die Leichtigkeit für den Aermſten,
ſich nicht nur das Nothwendige, ſondern ſelbſt Luxus
zu erwerben, wenn er nur ernſtlich arbeiten
will — macht England ſelbſtſtändig und glücklich.
Den Oppoſitionsblättern muß man freilich nicht nach-
beten.
*)
Wahrſcheinlich von Macpherſon ſelbſt eingeſendet.
A. d. H.
*)
Sein Charakter heißt im Engliſchen, wo der Schein
mehr gilt als irgendwo, höchſt charakteriſtiſch,
nicht das Reſultat ſeiner geiſtigen und moraliſchen
Eigenſchaften, ſondern ſein Ruf, was man von
ihm erzählt, ausſchließlich — in Deutſchland — ſein
Titel
, doch nur in der zweiten Bedeutung.
Anm. d. H.
*)
Gemeine Engländer führen das breite Meſſer gleich
einer Gabel zum Munde. Die Gebildeteren dagegen
halten ſolches für eine wahre Sünde gegen den heili-
gen Geiſt, und kreuzigen ſich innerlich, wenn ſie z. B.
einen deutſchen Geſandten ſo eſſen ſehen. Es iſt hin-
länglich ihnen die ganze Nation zu verleiden.
*)
(Denn im Allgemeinen wird freilich jeder anſtändig er-
ſcheinende Mann ein Gentleman genannt.)
A. d. H.
*)
Von Moralität iſt dabei nicht die Rede, ſondern nur
von Scandal.
Anm. d. H.
*)
So nennen ihn die Irländer am liebſten, ſtolz auf
ſeine Landsmannſchaft.
A. d. H.
*)
Das iſt keineswegs Uebertreibung, ich habe hier Acten-
kundige Dinge vernommen, und Elend geſehen, das nie
während der Leibeigenſchaft in Deutſchland erhört wor-
den iſt, und in den Ländern der Sclaverei kaum ſeines
Gleichen finden möchte.
A. d. H.
*)
Daß wir dieſem Verhältniß auch die Vernichtung By-
ron’s Memoiren verdanken mußten, iſt gewiß ein bit-
ter empfundenes Unglück, und man kann kaum begrei-
fen, wie ſein edler Freund, Thomas Moore, eine ſolche
Treuloſigkeit am Dichter, und einen ſolchen Raub am
Publikum, bei ſich ſelbſt verantworten mag.
A. d. H.
*)
Die Zeitungs-Redaktionen beſolden dichteriſche Ta-
lente, welche, wenn ſich keine wirklichen Mordgeſchichten
und ſchreckliche Zufälle ereignen, ſolche für das immer dar-
nach neugierige Publikum erfinden müſſen. Dieſe Künſt-
ler nennt man: accident makers (Verfertiger von
Unglücksfällen).
A. d. H.
*)
Bewildert iſt ein neues aus dem Engliſchen entnom-
menes Wort, mit dem ich mir die Freiheit nehme,
die deutſche Sprache zu bereichern.
A. d. H.
*)
Ich habe oft zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß die
Muſik-Liebhaberei in ganz England nur Modeſache iſt.
Es giebt keine Nation in Europa, die Muſik beſſer
bezahlt, und ſie weniger verſteht und genießt.
*)
Caraccioli ſchon pflegte darüber zu klagen, daß es in
England ſechzig chriſtliche Sekten, und nur eine Sauce
(geſchmolzene Butter) gäbe.
*)
Iſt Dir dieſe Beſchreibung vielleicht noch nicht deutlich
genug, ſo denke Dir nur einen gedruckten Kreis mit
den darauf markirten vier Weltgegenden. Im Weſten
iſt eine Säule, wo die Pferde auslaufen, im Norden
eine Mauer, über die ſie ſpringen müſſen. Hier auf
paſſiren ſie zum erſtenmal die Zielſäule im Oſten,
ohne ſich dabei aufzuhalten, und finden eine andere
Mauer im Süden. Haben ſie dieſe zurückgelegt, ſo
kommen ſie zum zweitenmal bei ihrem Auslaufspunkt
vorbei, überſpringen abermals die Mauer im Norden,
und endigen nun erſt am Ziel, nachdem ſie drei Mei-
len gelaufen, und dreimal über Mauern geſprun-
gen ſind.
*)
Ein vortreffliches Gericht! das Rezept mündlich.
*)
Höchſtens nimmt der Bekehrte den Namen an, ſtatt
der That.
*)
Beim Himmel, Sie ſind ein rechter Spitzbube und
nie will ich mit Ihnen mehr allein ſeyn.
*)
Die Ueberſetzung würde ohngefähr ſo lauten:
. . . . Und bitte, was hatte der Teufel an?

Oh! er war ſonntäglich angethan,

An Rock und Hoſen des Feuer’s Spur

Und hinten ein Loch, wo der Schwanz durchfuhr.

Und über das Thal und der Berge Kranz,

Verfolgt man ſo ſeine Fährte,

Und vorwärts und rückwärts bakanzirt’ er den Schwanz,

Wie ein Gentleman ſpielt mit der Gerte.

Ob dieſe Toilette die richtige iſt, wird Frau von
Sexaginta beurtheilen können.

*)
Wenn einer der Rothſchilde ſo ausſähe, würde er ge-
wiß König von Jeruſalem, und Salomo’s Thron
ſtünde nicht mehr leer.
*)
Der Maitre d’Hotel, welcher neulich auch uͤber
Napoleons Leben Memoiren herausgegeben, hat den
Kaiſer von dieſer Beſchuldigung mit Indignation los-
geſprochen. Dieſe Memoiren ſind gewiß die ſchmei-
chel hafteſten für den großen Mann, denn ſie beweiſen:
qú il est resté heros, mème pour son valet de
chambre!

A. d. H.
*)
Jeder braucht hier nur ſeinen eigenen Namen, wenn
er den Verſuch zu machen wünſcht, einzuſchalten.
A. d. H.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Pückler-Muskau, Hermann von. Briefe eines Verstorbenen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvw.0