Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1866.
[[III]]
von der
Innern Verwaltung.
Recht der Verwaltung.
Erſter Theil.
Das Bevölkerungsweſen und ſein Verwaltungsrecht.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1866.
[[IV]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
[[V]]
Vorwort.
Ich lege hiemit den erſten Theil meiner Inneren Verwal-
tungslehre der deutſchen wiſſenſchaftlichen Welt vor.
So gering ich auch meine eigene Arbeitskraft und meine Kennt-
niſſe anſchlagen mag, ſo hat mich dennoch dieſer Theil davon über-
zeugt, daß es kaum einen Menſchen geben wird, der allein im
Stande wäre, das ungeheure, bei jedem Schritte ſich in Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft weiter ausdehnende Gebiet der Wiſſen-
ſchaft der Verwaltung zu überwältigen. Was ich hier für einen
Theil eines Theiles zu leiſten verſucht, wird wenigſtens als Bei-
ſpiel für das dienen, was hier zu leiſten iſt, ſoll das Werk der
Aufgabe würdig ſein.
Wer daher je mit mir und nach mir es unternehmen wird,
hier weiter zu arbeiten, der bedarf mehr als der bloßen Arbeits-
kraft. Er wird einer höheren ſittlichen Idee bedürfen, um Muth
und Eifer da aufrecht zu halten, wo das Maß menſchlicher Kraft
zu gering erſcheint gegenüber demjenigen, was die Wiſſenſchaft hier
noch von ihr zu fordern hat.
Dieſe Idee iſt eine große. Mich hat ſie begleitet und ge-
tragen. Möge ſie jedem zur Seite ſtehen, der die Hand an dieß
gewaltige Werk legt!
Das Ideal der Geſchichte iſt der vollendete Menſch. Seine
Vollendung wird er nie allein aus ſich heraus gewinnen. Die
Gemeinſchaft der Menſchen muß in allen Formen ihm helfen, ihn
ſchützen und fördern. Die Gemeinſchaft aber iſt, indem ſie das
thut, die Dienerin eines höheren als des menſchlichen Willens.
Sie lebt, indem ſie das thut, ihr eigenes Leben. Sie erhebt ſich
hoch über die Willkür, den Zufall, den Unverſtand der Einzelnen.
[VI] Sie folgt Geſetzen und geht Wege, die eben ſo unwandelbar ſind,
wie die, welche die natürliche Welt beherrſchen. Sie erſcheint mit
langſam wirkender aber unwiderſtehlicher Gewalt auf allen Gebieten
des Lebens. Auf jedem hat ſie in andern Formen dieſelben Auf-
gaben, aber um ihrer Formen willen hat ſie auf jedem Gebiete
einen andern Namen. Hier, wo wir ſtehen, in der Arbeit der
Gemeinſchaft für die Bedingungen der freien individuellen Entwick-
lung heißt ſie Verwaltung. Die Verwaltung iſt daher mehr
als eine Inſtitution, mehr als eine Nothwendigkeit, mehr als ein
Recht. Sie iſt der Organismus des Lebens der Gemeinſchaft in
ihrem Verhältniß zum Leben und zur höchſten ſittlichen Beſtimmung
der Einzelnen. Sie iſt damit ein Theil des höheren Weltlebens.
Dem aber dienen wir alle, und es lohnt uns, indem es uns ſein
eigenes Weſen, ſeine eigenen Geſetze ſo weit offenbart, wie unſere
geiſtige Kraft reichen mag.
Die Subſtanz aber, in der ſich dieß Leben bewegt, iſt auch
hier weſentlich die Geſellſchaft und ihre Ordnungen. Sie ſind es,
welche der abſtracten Idee der Verwaltung Richtung und Form
geben. Die folgende Arbeit wird darthun, was wir bisher als
das allgemeine Entwicklungsgeſetz des Geſammtlebens aufgeſtellt
haben, daß nicht bloß die Verfaſſung, ſondern daß auch die Ver-
waltung und ihr Recht nur durch die Geſellſchaftsordnungen
verſtändlich werden, aus denen ſie ihre Geſtalt empfangen, für die
ſie arbeiten. Es wird keine Verfaſſungslehre, aber es wird auch
keine Verwaltungslehre mehr ihrer Idee entſprechen, ohne die
Wiſſenſchaft der Geſellſchaft.
Und indem wir ſo mit der Grundlage der Geſellſchaftsbildung
die Verwaltung erfüllt, entſtand uns eine weitere Anſchauung.
Es iſt kein Zweifel, daß die bisherige Geſchichte, und darum
auch die bisherige Verwaltung und das Verwaltungsrecht nur noch
die drei Grundformen der Geſchlechter — der Ständiſchen — und
der Staatsbürgerlichen Ordnung kennt, jede von ihnen wieder
innerlich in Claſſen getheilt und erfüllt mit allen Gegenſätzen und
Bewegungen, welche die Claſſen und ihr Element, die Vertheilung
des Beſitzes, hervorrufen. Iſt nun die Weltgeſchichte mit dieſen
Ordnungen zu Ende?
Sehen wir uns um. Wohin wir blicken, tritt uns Eine,
[VII] alles andere überragende Thatſache entgegen. Auf allen Punkten
arbeitet die Welt dahin, die niedere Claſſe durch ein immer ſteigen-
des Maß von Opfern zu heben, die ſie den höheren auferlegt; und
wunderbar, dieſe Opfer, die die letztere bringt, werden in ihrer
Hand zuletzt zu einem Segen und Genuß für ſie ſelber. Am
Horizont unſeres menſchlichen Geſammtbewußtſeins ſteigt die, noch
unklare, noch durch rohe Intereſſen und ſinnverwirrte Auffaſſung
verkehrte, und dennoch der Gottheit entſtammende Erkenntniß her-
auf, daß die erſte Bedingung alles irdiſchen Glückes und aller
menſchlichen Vollendung des Einzelnen das Glück und die Voll-
endung des Anderen ſei. Wir wagen das nicht zu läugnen,
aber wir wagen das auch noch nicht zu wiſſen. Und während
wir, alle Einzelne, zaudernd und unſicher vor dieſer Erkenntniß
ſtehen, geht jene Wahrheit ruhig, im Kleinen und Nächſten zu-
nächſt arbeitend, ihren mächtigen Gang. Sie baut Schulen für
die niedere Claſſe, ſie errichtet Krankenhäuſer, ſie ſtiftet Vereine,
ſie fordert für ſie Kredit und Hülfe, ſie ſorgt für ihre Geſundheit,
ſie lichtet ihre Häuſer, ſie pflanzt ihre Gärten, ſie gibt Waſſer,
ſie gibt Brod, ſie ruft alle Beſitzenden herbei zur Theilnahme an
allem Veredelnden, Bildenden, Erhebenden, ſie macht die Eine
Claſſe verantwortlich für die ruhige aber ſichere Entwicklung und
Hebung der andern, und was wir als die höchſte chriſtliche Pflicht
verehren, die thätige Liebe des Einen für den Andern, das erhebt
ſie mit oder ohne klar formulirtes Bewußtſein zunächſt im Namen
des Intereſſes zur Pflicht der geſellſchaftlichen Ordnung. Und
der große Organismus, durch den ſie dieſe Pflicht erfüllt, und der
unabläſſig thätig iſt in allen ſeinen Organen, das iſt die Ver-
waltung. Wollt ihr die Erde kennen, ſo löſt ihr den Stein
und das Waſſer im kleinſten Naume in ihre elementaren Beſtand-
ſtandtheile auf, und ſchaut die gewaltigen Kräfte in den Atomen
wirkend an. Wollt ihr die Verwaltung kennen, wie ſie jetzt her-
vorgeht aus dem höheren Leben, dem wir alle unterworfen ſind,
ſo thut für ſie daſſelbe; nehmt Eine Verwaltungsmaßregel, und
löſt ſie auf in ihre Gründe, ihre Objekte und ihr letztes Ziel, und
ihr werdet den unwiderſtehlichen Gang der Bewegung im kleinſten
Körper und ſeiner Geſchichte verſtehen. Eine Verwaltung, wie ſie
jetzt nun faſt unter unſern Händen entſteht, war niemals da in
[VIII] der Weltgeſchichte. Es iſt kein Zweifel, daß ſich eine neue, vierte
Geſtalt der Geſellſchaftsordnung bilden will. Sie wird hundert
oder zweihundert Jahre brauchen, aber kommen wird ſie. Und ſie
wird zum Inhalt haben, dem Reichthum, der Klugheit und ſelbſt
dem Intereſſe zu beweiſen, was die Menſchenliebe und das warme
Herz ſo gerne glauben, daß die materiellen Ordnungen des wirth-
ſchaftlichen Lebens, wie die formellen der Staatsthätigkeit doch
zuletzt einem Höheren dienen, und daß die edelſten Gefühle der
Menſchen, daß die höchſten Geſetze der Religion ein Recht haben,
dereinſt die „praktiſche“ Welt zu regieren, und die Grundlagen
der Verwaltung zu bilden.
Es iſt doch vielleicht nicht ohne Werth, auch in praktiſchen
Dingen den höchſten, abſtracteſten Standpunkt feſtzuhalten.
Dem ſei wie ihm wolle; das Folgende mag zunächſt und vor
allem ſeinen Werth als rein wiſſenſchaftliche Arbeit ſuchen. Vielleicht
daß es ihr gelingt, die Bahn für eine höhere, zugleich hiſtoriſche
und organiſche Auffaſſung der Verwaltung zu brechen. Ihr beſter
Erfolg wäre der, daß Andere dann Beſſeres leiſten.
Wien, November 1865.
L. Stein.
[[IX]]
Inhalt.
- Allgemeine Einleitung.
- Begriff. Inhalt, Syſtem und Recht der inneren
Verwaltung. - Seite
- Aeußere Definition der innern Verwaltung und der Verwaltungslehre 3
- Erſter Abſchnitt.
Die geſchichtliche und organiſche Entwicklung des Begriffs
und Inhalts der Verwaltung. - I. Die Geſchichte der Verwaltungslehre6
- 1) Der Lebensproceß der Menſchheit und die Stellung von Staat
und Verwaltung in demſelben. Die Ideen des Staats als Ge-
wiſſen der Verwaltung. Die Geſchichte des Staatsbegriffes bildet
daher die Grundlage der Geſchichte der Verwaltungslehre. Eine
andere giebt es nicht, die ausreichend wäre 6 - 2) Der Wohlfahrtsſtaat und das jus naturae et gentium. In
ihm verſchmilzt die Verwaltungslehre mit der Rechtsphiloſophie;
das jus naturae iſt im Grunde das Syſtem der Verwaltungslehre.
Chriſtian Wolf. — Die zweite Geſtalt dieſes Verhältniſſes erſcheint
darin, daß die Verwaltungslehre aus der Rechtsphiloſophie heraus-
tritt, und als ſelbſtändige Wiſſenſchaft den Namen der Polizei-
wiſſenſchaft annimmt. Juſti und Sonnenfels. — G. H. v. Berg. —
Charakter der Polizeiwiſſenſchaft am Ende des 18. Jahrhunderts 11 - 3) Der Polizeiſtaat. Darſtellung deſſelben als Uebergang vom Wohl-
fahrtsſtaat zum Rechtsſtaat 17 - 4) Der Rechtsſtaat und ſein Verhältniß zur Verwaltungslehre. Seine
hohe Bedeutung für die Idee der vollziehenden Gewalt, ſeine
geringe für die Idee der eigentlichen Verwaltung. Er entwickelt
die Ideen der Verfaſſung und des Geſetzes, und begründet die
der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens; ſeine Rechtsphilo-
ſophie hat aber keine Anknüpfung an die Idee der Verwaltung
und daher kein Syſtem und keine Wiſſenſchaft deſſelben 21 - Seite
- 5) Die drei Grundformen der Auffaſſung des Rechtsſtaats. Das
Princip des Contrat social. Die ethiſch-logiſche Auffaſſung der
deutſchen Philoſophie. Die negative Idee des Staatsbürgerthums
und des ſtaatsbürgerlichen Rechts. Norddeutſchland und Süd-
deutſchland 24 - 6) Das Schickſal der Verwaltungslehre in dieſer Epoche bis auf die
Gegenwart 30 - a) Die Cameralwiſſenſchaften und die Verwaltungslehre. — Sie
ſind die realiſtiſche Form der letzteren, verlaſſen daher das ganze
Gebiet der Staatswiſſenſchaft und werden zu bloßen Gewerbs-
lehren mit nationalökonomiſcher und adminiſtrativer Färbung 31 - b) Das Staatsrecht und die Verwaltungslehre. — Allgemeiner
Charakter des Verhältniſſes beider. Die drei Richtungen in
demſelben 33 - I. Das Verwaltungsrecht der einzelnen Verwaltungsgebiete, und
Uebergang zur Verwaltungslehre in dieſen ſpeziellen Behand-
lungen. Begriff, Inhalt und Entſtehung der rationellen
Bearbeitung der einzelnen Verwaltungslehren. Werth der-
ſelben. Doch fehlt eben die Einheit 35 - II. Territoriale Geſetzſammlungen für das Verwaltungsrecht 38
- III. Das Auftreten des ſyſtematiſchen Verwaltungsrechts neben
dem Verfaſſungsrecht. — R. v. Mohl 38 - c) Die Verwaltungslehre in der Form der Volkswirthſchaftspflege.
Die phyſiokratiſche Schule. — Die Schule von Adam Smith. —
Die deutſche Volkswirthſchaftspflege 39 - II. Inhalt und Weſen der innern Verwaltung42
- 1) Die Idee der Verwaltung als organiſcher Theil des Staatsbegriffs.
Verhältniß derſelben zur Verfaſſung 43 - 2) Das Syſtem der Verwaltung. Grundlage und Schema deſſelben 50
- 3) Das Princip und die Politik der Verwaltung 55
- 4) Der Begriff der Polizei und das Verhältniß der Polizeiwiſſenſchaft
zur Verwaltungslehre 62 - a) Das Weſen der Polizei und ihr Verhalten zur Verwaltung 63
- b) Die hiſtoriſche Grundlage des ſpecifiſchen Polizeibegriffes 67
- c) Der heutige Begriff und Inhalt einer „Polizeiwiſſenſchaft“ 72
- Zweiter Abſchnitt.
Das Verwaltungsrecht. - I. Begriff und Definition des Verwaltungsrechts. Die Begriffe der
Verwaltungsgeſetzkunde und der Wiſſenſchaft des Verwaltungsrechts.
Der Begriff der adminiſtrativen Individualität des Staats 74 - II. Die Bildung des geltenden Verwaltungsrechts78
- Seite
- 1) Die beiden Faktoren der Bildung dieſes Rechts, die Regierung
und die Volksvertretung, und ihr eigenthümlicher Charakter in
Beziehung auf das Verwaltungsrecht 78 - 2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Proceſſes, den wir die conſti-
tutionelle Rechtsbildung des Verwaltungsrechts nennen. — Begriff
und Bedeutung der ſogenannten Initiative der Regierung 81 - 3) Die Gränze zwiſchen dem geſetzmäßigen und verordnungsmäßigen
Verwaltungsrecht 83 - 4) Der Charakter der Bildung des poſitiven Verwaltungsrechts in
England, Frankreich und Deutſchland 85 - III. Codification und Wiſſenſchaft92
- Anhang. Die Idee des internationalen Verwaltungsrechts 94
- Die wirkliche Innere Verwaltung und das Verwaltungsrecht.
- Erſtes Hauptgebiet.
- Die Verwaltung und das perſönliche Leben 101
- Erſter Theil.
- Das phyſiſche Leben und die Verwaltung 103
- Die vier Gebiete derſelben 103
- I. Das Bevölkerungsweſen und die Verwaltung106
- Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsordnung 106
- A. Die Bevölkerungspolitik110
- Einleitung. Begriff, Inhalt und gegenwärtige Bedeutung derſelben 110
- Die einzelnen Maßregeln und Aufgaben der Bevölkerungspolitik 122
- I. Das öffentliche Eherecht. Begriff und Inhalt deſſelben 124
- (Die beiden Gebiete deſſelben, das Recht der Eheconſenſe und das Recht der
Ehebeförderung ſind zu unterſcheiden. — Das hiſtoriſche Princip der
Entwicklung dieſes Rechts.) - 1) Weſen des öffentlichen Rechts der Eheconſenſe 128
- (Daſſelbe muß als ein, in der Geſellſchaftsordnung begründetes Syſtem
betrachtet werden. Daher ſind vier Hauptformen zu unterſcheiden.) - 2) Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung 129
- (Das väterliche Conſensrecht wird der reine Charakter deſſelben. — Das
Hageſtolzenrecht und ſein Verſchwinden.) - II. Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung 132
- (Die drei Formen: das Eherecht der ſtändiſchen Unterſchiede des ſtändiſchen
Geſetzes, und des ſtändiſchen Berufes.) - 1) Das öffentliche Eherecht zwiſchen Freien und Unfreien. Das rein
ſtändiſche Eherecht 132 - 2) Das öffentliche Eherecht des Lehnweſens 135
- 3) Das öffentliche Eherecht des ſtändiſchen Berufes 136
- (Das Cölibat und der militäriſch-amtliche Eheconſens.)
- Seite
- III. Das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche 140
- (Wie daſſelbe den Charakter der polizeilichen Epoche überhaupt trägt. Daraus
Entſtehung der beiden Seiten deſſelben, Ehebeförderungsmittel und Ehe-
verbote. Eigenthümliches Verhältniß Deutſchlands gegenüber England
und Frankreich in dieſer Beziehung.) - 1) Die polizeiliche Beförderung der Ehe und die Kinderprämie 143
- 2) Die Ehebeſchränkungen des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts
in Deutſchland 146 - (Die Begriffe des ſtaatlichen Eherechts als der eigentlichen Ehepolizei, und
das Eherecht der Gemeindeordnungen bis auf die Gegenwart.) - a) die amtliche Ehepolizei 146
- b) Das Eheconſensrecht in den Gemeindeordnungen 149
- IV. Die Elemente des freien öffentlichen Eherechts der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft 156 - (Grundlage deſſelben iſt der Unterſchied zwiſchen der Freiheit der Ehe und
dem öffentlichen Recht ihrer Beſchränkung auch in dieſer Geſellſchaftsform.
Die letztern entſtehen gemäß den Elementen der Geſchlechts-, der ſtändiſchen
und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.) - II. Kinderpflege162
- (Verweiſung der darüber geltenden Grundſätze in das Geſundheits- und
Hülfsweſen.) - III. Einwanderung, Auswanderung und Coloniſation163
- (Die Zurückführung auf die Geſellſchaftsforderungen und die Elemente der
geſellſchaftlichen Freiheit iſt die Grundlage ihres Verſtändniſſes im All-
gemeinen, und ihres öffentlichen Rechts im Beſondern. Folgen, die ſich
daraus ergeben.) - A. Einwanderung und innere Coloniſation 168
- (Verlaſſen des bisherigen Standpunktes in Betreff dieſes Gebietes der Be-
völkerungspolitik. Begriff der Einwanderung gegenüber dem Begriff der
Fremden und der Niederlaſſung. Die Geſchichte des Einwanderungsrechts
erſcheint dadurch nothwendig mit den Grundformen der Selbſtverwaltung
alſo mit denen der Geſellſchaftsordnung verbunden)
Begriff der Einwanderung 169 - Erſte Epoche. Die Einwanderung und die Geſchlechtsordnung 170
- Zweite Epoche. Die Einwanderungen der ſtändiſchen Ordnungen.
Der Beſitz, der Beruf und der Stand als Grundlage derſelben.
Das erſte Auftreten der ſtaatlichen Einwanderung; die erſte
innere Coloniſation 171 - Dritte Epoche. Die polizeiliche Zeit. Das populationiſtiſche Ein-
wanderungsweſen 174 - Vierte Epoche. Das ſtaatsbürgerliche Einwanderungsweſen. Das
Auftreten des Princips der Freizügigkeit und der Niederlaſſungs-
freiheit. Das Einwanderungsrecht wird dadurch vollkommen
identiſch mit dem Heimathsweſen, und verſchwindet aus der
Verwaltungslehre 176 - B. Auswanderung und äußere Coloniſation 182
- (Nachweiſung, daß jede Geſellſchaftsordnung eine ihr eigenthümliche Form der
Auswanderung beſitzt, und daß demgemäß auch das Auswanderungsrecht
ein ganz verſchiedenes wird, das man nur nach den ſocialen Verhältniſſen - Seite
- richtig beurtheilen kann. Specielle Darſtellung der äußeren Coloniſation,
ihrer Entſtehung und ihres Verhältniſſes zur Verwaltung, und endlich
der Grundſätze und Beſtimmungen, welche das heutige Auswanderungs-
weſen bilden Standpunkt dieſes Rechts in England, Frankreich und
Deutſchland.) - I. Der Claſſenunterſchied als Grundlage aller Auswanderung 183
- (Natur und Bedeutung der Claſſenunterſchiede in der Geſellſchaftslehre. Alle
Auswanderung hat zu ihrer Grundlage die Stellung und den Gegenſatz der
nichtbeſitzenden Claſſe gegen die höhere herrſchende und beſitzende.) - II. Das Auswanderungsweſen der Geſchlechtsordnung 186
- (Die Grundlage deſſelben in der Vertheilung des Grundbeſitzes. Die ſo-
genannten Militär- und Handelscolonien.) - III. Das Auswanderungsweſen in der ſtändiſchen Geſellſchaft 188
- (Daſſelbe muß in das berufsmäßige, vorzüglich das kirchliche und in das
grundherrliche Auswanderungsrecht geſchieden werden.) - 1) Das berufsmäßige und kirchliche Auswanderungsrecht 188
- 2) Das grundherrliche Auswanderungsrecht 191
- (Das grundherrliche Abzugsrecht jus oder census (gabella) emigrationis,
Detractsrecht und ſeine Geſchichte.) - IV. Das Auswanderungsrecht der polizeilichen Epoche 194
- (Weſen des populationiſtiſchen Auswanderungsrechts. Das Detractrecht wird
zum Regal und verſchwindet. Grundlage und Entſtehung der Auswande-
rungsverbote. Inhalt und Geſtaltung derſelben. Die äußere Coloniſation.) - V. Das Auswanderungsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, oder
die freie Auswanderung 201 - (Begriff und geſellſchaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was das
freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entſtehung und Entwicklung der
Sorge für die freie Auswanderung. Daher denn die Scheidung von 1) Aus-
wanderungspolizei. 2) Auswanderungspolitik.) - B. Die Bevölkerungsordnung und die Verwaltung209
- (Was man unter der Geſtalt und der Ordnung der Bevölkerung zu verſtehen
hat. Beide erſcheinen als Gegenſtände der Verwaltung und enthalten die
vier folgenden Theile der Bevölkerungsverwaltung.) - I. Das Zählungsweſen213
- 1) Begriff und Bedeutung des Zählungsweſens im Allgemeinen 213
- 2) Begriff des Rechts der Zählungen. Aufſtellung des allgemeinen
Princips für dieſes Recht 215 - 3) Grundlage der Geſchichte des Zählungsweſens 216
- 4) Die Schätzungen der Volkszahl 217
- (Wahrer Begriff der Schätzungen. Sie bilden die Vorläufer der Zählungen,
Süßmilchs hohe Verdienſte um die ganze Bevölkerungslehre.) - 5) Die Geſchichte der eigentlichen Volkszählung. Juſti als der erſte
Theoretiker der Volkszählung 220 - 6) Das Zählungsweſen in den einzelnen Staaten 222
- a) Der allgemeine Gang der Entwicklung des Zählungsweſens ſeit
dem Beginn dieſes Jahrhunderts 222 - b) Die deutſchen Volkszählungen und ihr Charakter. Engels 224
- c) Das Zählungsweſen in Oeſterreich. Das Volkszählungsgeſetz
von 1856 225 - Seite
- d) Das Zählungsweſen in England. Enger Zuſammenhang mit
dem Standesregiſter 226 - e) Das Zählungsweſen in Frankreich. Die enge Verbindung
deſſelben mit der innern Verwaltung 227 - II. Die Standesregiſter. (Die Verwaltung und die Bewegung der
Bevölkerung) 229 - (Die Standesregiſter ſind ihrem Weſen nach die öffentliche rechtliche Conſta-
tirung der Thatſachen von Geburt, Ehe und Tod, und ihre Geſchichte ſo-
wie ihr gegenwärtiges Recht enthalten die Verwirklichung dieſes Gedankens.) - 1) Weſen und adminiſtrative Bedeutung der Standesregiſter 229
- 2) Ordnung der Standesregiſter 231
- (Die Begriffe des Inhalts, der Führung und des Rechts der Standesregiſter
als Grundlagen und Aufgaben dieſer öffentlichen Ordnung.) - 3) Geſchichte und Entwicklung der Standesregiſter 233
- (Die Grundlagen dieſer Geſchichten werden am beſten ausgedrückt in den Be-
zeichnungen der Kirchenbücher, der Geburts- und Todtenregiſter (oder
Kirchenregiſter) und der eigentlichen Standesregiſter. Wie ſich dieſe drei
Grundformen unterſcheiden.) - 4) Zur Geſchichte der Standesregiſter in den einzelnen Staaten. Cha-
rakter derſelben 237 - Oeſterreich. Patent vom 20. Februar 1784 238
- Preußen. Doppeltes Recht 238
- Frankreich. Geſetz von 1792 und 1807 240
- England. Geſetzgebung von 1836 242
- III. Paß- und Fremdenweſen. (Die Verwaltung und der Wechſel der
Bevölkerung) 245 - Vorbemerkung über den Charakter deſſelben.
- I. Das allgemeine Rechtsprincip und Syſtem des Paß- und Fremden-
rechts 247 - (Begriff des öffentlichen Reiſerechts. Doppelter Inhalt. Es enthält zuerſt
das Recht auf eventuelles Verbot der örtlichen Bewegung, zweitens die
Herſtellung der öffentlich rechtlichen Bedingungen der Conſtatirung der
Staatsangehörigkeit und Individualität. Die Mittel für dieſe Verwaltungs-
aufgabe.) - II. Die hiſtoriſche Entwicklung des öffentlichen Rechts des perſönlichen
Verkehrs 253 - (Die urſprünglichen Geleitsbriefe. Das rein polizeiliche Paßweſen. Die all-
mählige Scheidung in Princip und Praxis für die Päſſe der Reiſen von
und nach dem Auslande und für das innere Fremdenrecht.) - III. Das Paßweſen 259
- (Formeller und rechtlicher Inhalt des Paſſes. Die drei Grundformen des Paß-
weſens in Europa, das freie Paßweſen Englands, das polizeiliche Frank-
reichs, und die Verbindung beider in Deutſchland durch das Paßkarten-
ſyſtem.)
IV. Das Fremdenweſen im Allgemeinen 264 - (Definition des „Fremden.“ Zurückführung des geſammten Fremdenweſens
auf die zwei Grundprincipien des Meldungsſyſtems und des Legitimations-
ſyſtems. Daß nur das letztere das richtige ſein kann.) - Seite
- V. Die einzelnen Maßregeln des Fremdenweſens nach dem Meldungs-
und Legitimationsſyſtem 268 - (Die Aufenthaltskarte. — Die Legitimationskarte. — Die Fremdenbücher. —
Die Geſindemeldung. — Die Wanderbücher. — Die Gewerbs- und
Hauſirpäſſe. - IV. Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung272
- (Die Begriffe und das Recht von Competenz, Zuſtändigkeit, Gemeindebürger-
recht und Heimathsweſen.)
Vorbemerkung 272 - Der Begriff und das Recht der adminiſtrativen Ordnung der Be-
völkerung im allgemeinen 273 - Das Syſtem des Rechts der adminiſtrativen Bevölkerungsordnung 274
- (Begründung und Entwicklung der Begriffe von Competenz und Zuſtändigkeit,
von Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht. Die Begriffe und das Recht
des Staatsbürgerthums und des Indigenats und ihr Zuſammenhang mit
dem Obigen. — Schema. - Das Princip für die hiſtoriſche Entwicklung des Rechts der admi-
niſtrativen Bevölkerungsordnung und ihrer Grundverhältniſſe 282 - (Die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts muß von der Zuſtimmung der
Gemeinde, das Heimathsrecht von der Organiſationsgewalt abhängig ſein.
Daher bildet ſich das geltende Recht weſentlich erſt als Syſtem mit dem
Auftreten der allgemeinen ſtaatlichen Verwaltung.) - England. Schottland und Irland 287
- (Die Selbſtverwaltungskörper als Grundlage der adminiſtrativen Ordnung
der Bevölkerung. Die Stellung der Gerichte und ihre Aufgabe. Begriff und
Inhalt des Verwaltungsbürgerthums. Die Verſchiedenheit des Heimaths-
rechts in England, Schottland und Irland.) - Frankreich 299
- (Das allgemeine Staatsbürger- und Wahlrecht nimmt das Verwaltungs-
und Gemeindebürgerrecht in ſich auf, die amtliche Competenz und Zu-
ſtändigkeit das Heimathsrecht, ſo daß mit unbedeutenden Ausnahmen die
ganze Angehörigkeit an die Selbſtverwaltung im Wahlrecht und Domicile
untergeht.) - Deutſchland 306
- (Allgemeiner Charakter. Bei ſtrenger Durchführung der Syſteme von amt-
licher Competenz und Zuſtändigkeit faſt gänzlicher Mangel an Verwaltungs-
gemeinden; daher Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die
Ortsgemeinde) - Die geſchichtlichen Grundformen der Verwaltungsordnung der Bevöl-
kerung im Allgemeinen, beſonders in Beziehung auf Gemeinde
und Heimath 309 - 1) Die Elemente der Bevölkerungsordnung in der Geſchlechterordnung.
Reſte derſelben in unſerer Zeit 309 - 2) Die Ordnung der Bevölkerung in der ſtändiſchen Epoche 314
- (Begriff und Inhalt der Standesangehörigkeit. Die feudalen Angehörigkeiten.
Die ſtädtiſche Angehörigkeit. Bürgerthum und Bürgerrecht, Schutzbürger-
thum, Hörigkeit.) - 3) Die Entſtehung der eigentlichen Verwaltungsordnung der Bevölke-
rung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert 321 - Seite
- (Die Bedeutung des Rechts des gerichtlichen Forums. Die Entſtehung der
Oberaufſicht als amtliche Competenz. Das Heimathsweſen als noch unbe-
ſtimmte Grundlage der Armenverwaltung.) - 4) Das neunzehnte Jahrhundert und die Verwaltungsordnung der
Bevölkerung in Deutſchland, namentlich das Gemeindebürgerrecht
und das Heimathsrecht 327 - Allgemeiner Charakter 327
- Die Gemeindeangehörigkeits- und Heimathsfrage in Deutſchland 328
- (Die hiſtoriſche ſtändiſche Ortsgemeinde wird die Grundlage des ganzen Ge-
meindeweſens und damit der geſammten Selbſtverwaltung in Deutſchland.
Folgen dieſer Thatſache für die Verfaſſung und Verwaltung der letztern
im Allgemeinen und für das Heimathsweſen im Beſondern.) - Literatur und Geſetzgebung 340
- Oeſterreich 341
- Preußen 342
- Bayern 345
- Württemberg 347
- Sachſen 349
- Hannover 352
Die Innere Verwaltung.
Einleitung.
Die Geſchichte des Begriffes der Verwaltung. Die Idee der
Verwaltung, das Verwaltungsrecht, ſein Begriff, ſeine Bildung
und ſein Verhältniß zur Wiſſenſchaft.
Stein, die Verwaltungslehre. II. 1
[[2]][[3]]
Begriff, Inhalt, Syſtem und Recht der Innern
Verwaltung.
Aeußere Definition der Innern Verwaltung und der
Verwaltungslehre.
Es mag wohl verſtattet ſein, beim Beginne dieſes zweiten Haupt-
theiles unſeres Werkes einen Blick auf dasjenige zurückzuwerfen, was
wir im erſten Theil, der Lehre von der vollziehenden Gewalt, darge-
legt haben. Es bleibt unſere Ueberzeugung, daß gerade in dieſen Ge-
bieten die Beſtimmtheit und Schärfe der Definitionen die erſte Bedin-
gung für ein wirkliches Fortſchreiten in der Wiſſenſchaft iſt. Dieſe
aber werden ſtets nur dadurch gewonnen werden, daß wir den Theil
in ſeinem organiſchen Verhältniß zum Ganzen auffaſſen.
Wir haben im organiſchen Staatsbegriff die Verwaltung im weite-
ſten Sinn als die That des Staats, der Geſetzgebung als ſeinem Willen
gegenübergeſtellt. Die Entwicklung des Begriffes der That gab uns
den Inhalt der Verwaltung. Während ſie beim Individuum in ihren
Momenten äußerlich ununterſcheidbar als ein Ganzes zuſammenfällt,
erſcheinen dieſe Momente in der höheren Perſönlichkeit des Staats nicht
bloß als innerlich ſelbſtändige, ſondern auch als äußerlich geſchiedene,
mit eignen Organen und eignen Rechten begabte Functionen. Wir
haben in dieſem Sinne zuerſt die Vollziehung von der Verwaltung ge-
trennt aufgefaßt. Sie iſt die That des Staats noch ohne Objekt, das
Thun an ſich, das im einzelnen Menſchen nur als ſchwer unterſcheid-
bares pſychologiſches Moment exiſtirt, im Staate dagegen nicht bloß
ſelbſtändig daſteht, ſondern ſogar wieder in drei Momente zerfällt. Die
Verordnungsgewalt, deren Objekt das Wollen der Ausführung für ſich
betrachtet, die Organiſationsgewalt, deren Objekt das Organ der Aus-
führung, und die Zwangsgewalt, deren Objekt die materielle Thätigkeit
iſt. Jede dieſer großen Functionen iſt nicht bloß abſtrakt ſelbſtändig,
ſondern iſt es auch in der Wirklichkeit; und dieſe Selbſtändigkeit
[4] erſcheint als das Recht der vollziehenden Gewalt, ein Recht, welches wir
die verfaſſungsmäßige Verwaltung im weiteſten Begriff, oder ſpeciell
die verfaſſungsmäßige Vollziehung in dem Sinne nannten, daß ein be-
ſtändiger, in Verantwortlichkeit, Klage und Beſchwerde beſtehender Pro-
ceß im Staatsleben rechtlich anerkannt iſt, durch welchen die Harmonie
zwiſchen Verwaltung und Geſetzgebung ſtets wieder hergeſtellt wird,
wo ſie im Einzelnen als gefährdet oder gebrochen erſcheint. Dann
haben wir dieſe vollziehende Gewalt als ſolche in ihrem ſelbſtändigen
Organismus dargelegt, und zwar als die Vollziehung durch das Staats-
oberhaupt, die rein ſtaatliche, der individuellen Perſönlichkeit des Staats
angehörige Vollziehung im Staat mit ſeinem Miniſterial- und Be-
hördenſyſtem, die vollziehende Gewalt der Selbſtverwaltung, und end-
lich den ganz freien Organismus derſelben im Vereinsweſen. Und ſo
hat ſich das gebildet, was wir die Lehre von der vollziehenden Gewalt
und ihrem Rechte genannt haben.
Dieſe Vollziehung — das reine Thun des Staats — ward nun
zur Verwaltung, inſofern wir ſie in Beziehung auf das wirk-
liche Leben der menſchlichen Gemeinſchaft dachten. Der Begriff der
Verwaltung enthält daher die Vollziehung als wirkliche That, die
Geſammtheit aller wirklichen Akte der Vollziehung. Und hier haben
wir wieder mit einem bekannten und vielgebrauchten Ausdruck einen
beſtimmten Sinn zu verbinden gehabt.
Wir bezeichneten nämlich dieſe Verwaltung als eine ſolche, die in
der unendlichen Vielheit ihrer Thätigkeiten dennoch eine beſtimmte Ein-
heit und Harmonie des Wollens und Thuns, der Verordnungen alſo,
der Organiſationen und der materiellen Ausführung haben muß und
hat. Und inſofern wir die Verwaltung daher als eine ſolche, auf
beſtimmten Principien beruhende innerlich einheitliche und harmoniſche
aufſtellten, nannten wir ſie die Regierung. Regierung und Verwal-
tung ſind daher äußerlich ununterſchieden daſſelbe; ſie ſind überhaupt
nicht zu ſcheiden, ſo wenig als Seele und Körper; es kann gar keine
Verwaltung geben, die nicht Regierung wäre, noch umgekehrt; aber eins
und daſſelbe ſind ſie gerade ſo wenig oder ſo viel als eben Seele und
Körper es ſind. Dabei iſt es genügend, wenn man dieſe Unterſcheidung
nur im Allgemeinen feſthält; denn es kommt im Grunde nur darauf
an, die Ausdrücke Regierung und Verwaltung, Regierungsgewalt und
Verwaltungsgewalt mit ihrer eigentlichen Bedeutung wiſſenſchaftlich
gegenwärtig zu haben, um durch die ununterſchiedene Benutzung der-
ſelben im gewöhnlichen Leben die Sache ſelbſt nicht verwirren zu laſſen.
Aber trotz dieſer Einheit von Regierung und Verwaltung giebt es den-
noch einen, und zwar eben ſo wohl bekannten als leicht verſtändlichen
[5] Fall, wo ſich beide trennen. Es iſt der, wo ein Miniſterium abtritt.
Das Miniſterium bezeichnet eben in dieſem Fall den Träger des Prin-
cips der Verwaltung. Dieſe bleibt, aber die Regierung ändert ſich.
Und es wird daher auch leicht verſtändlich ſein, wenn wir ſagen, daß
man eine Regierung angreifen kann, ohne die Verwaltung anzugreifen,
und umgekehrt, und daß ſich bei gleicher Regierung die Verwaltung
ändern kann, und bei gleicher Verwaltung die Regierung. Der Unter-
ſchied zwiſchen beiden iſt daher ein praktiſcher; nur kann er natürlich
nicht in den einzelnen Thätigkeiten zur Erſcheinung kommen. Und da wir
im Folgenden mit den einzelnen Thätigkeiten zu thun haben, ſo iſt damit
das ganze Gebiet dieſer Frage als ein für uns hier erledigtes anzuſehen.
Nachdem wir auf dieſe Weiſe die Vollziehung von der Verwaltung
unterſchieden, haben wir dieſe eigentliche Verwaltung nun ſyſtematiſiren
müſſen. Wir haben dabei den Satz zum Grunde gelegt, daß der Be-
griff der Verwaltung, für ſich betrachtet, weder ein Syſtem hat noch
haben kann, ſondern daß ſein Syſtem ihm durch ſeinen Inhalt gegeben
wird. Dieſer Inhalt iſt das Leben des Staats; die großen Elemente
des Staatslebens bilden daher auch die großen Gebiete, und mit ihnen
das Syſtem der Verwaltung. Dieſe Lebensgebiete — oder dieſe Ob-
jekte der Verwaltung waren nun [folgende]: zuerſt das Güterleben des
Staats, welches die Staatswirthſchaft als das erſte Gebiet der
Verwaltung ergänzt; dann die rechtliche Selbſtändigkeit der Einzelnen
einander gegenüber, welche als Gegenſtand der Verwaltung zur Rechts-
pflege wird; und endlich die individuelle Entwicklung der einzelnen
Staatsangehörigen, welche als Aufgabe des Staats den dritten Theil
der Verwaltung oder die innere Verwaltung bildet.
Die innere Verwaltung des Staats umfaßt daher die Geſammt-
heit aller derjenigen wirklichen Thätigkeiten des Staats,
deren Aufgabe und letztes Ziel ſich als die individuelle
Entwicklung aller dem Staate angehörenden einzelnen Per-
ſönlichkeiten — und zwar im weiteſten Sinne des Wortes — darſtellt.
Die innere Verwaltungslehre ihrerſeits enthält die Geſammtheit der
Grundſätze im Staate, durch welche ſich dieſe Thätigkeit der innern
Verwaltung im Ganzen wie im Einzelnen beſtimmen ſoll. — Das iſt
nun dasjenige, was wir als die äußerliche Definition der Verwaltung
und Verwaltungslehre zu betrachten haben.
Wenn wir nun von der Ueberzeugung ausgehen, daß dieſe innere
Verwaltung das höchſte Gebiet des Staatslebens und die innerlich und
äußerlich reichſte Aufgabe deſſelben enthält, ſo müſſen wir dieſe Auf-
faſſung allerdings näher begründen.
[6]
Erſter Abſchnitt.
Die geſchichtliche und organiſche Entwicklung des Begriffs und
Inhalts der Verwaltung.
I.
Die Geſchichte der Verwaltungslehre.
1) Der Lebensproceß der Menſchheit und die Stellung
von Staat und Verwaltung in demſelben.
Die Geſammtanſchauung des organiſchen Staatslebens, wie wir
ſie ſo eben wieder kurz bezeichnet und in der Lehre von der vollziehen-
den Gewalt ausführlicher dargelegt, zeigt nun zwar im Allgemeinen,
daß die innere Verwaltung es mit den Elementen des Staatslebens
in ihrem weiteſten Umfang zu thun hat. Es iſt nun aber das weder
neu, noch iſt es von großem Werth, es zu ſagen, ſo lange man es in
dieſer Allgemeinheit auffaßt. So wie man aber ſich auf einen etwas
höheren Standpunkt ſtellt, gewinnt der Gegenſtand eine ganz andere,
viel höhere und faßbarere Bedeutung.
Die höhere Idee der Perſönlichkeit zeigt uns, daß alles das, was
auf dieſe Weiſe in die Sphäre des Einzellebens hinein oder aus ihr
heraustritt, zu einem Elemente der perſönlichen Entwicklung aller An-
dern wird. Es iſt allerdings unmöglich, dieſen Proceß, der ſich aus
dem unendlichen Wechſel des gegenſeitigen Beſtimmens, des Förderns
und Hemmens aller Menſchen durch einander ergiebt, in ſeinen einzelnen
Momenten genau zu verfolgen. Wohl iſt die Natur reich an Erſchei-
nungen und an unerſchöpflichem Wechſel von Verhältniſſen und That-
ſachen; es wäre thöricht, zu glauben, daß ein menſchliches Auge die
äußern Bewegungen, eine menſchliche Berechnung die ſcheinbaren Zu-
fälligkeiten in den ſich drängenden innern und äußeren Einflüſſen der
Dinge auf einander verfolgen und meſſen könnte. Und dennoch iſt es kein
[7] Zweifel, daß dieſe unberechenbare Mannichfaltigkeit der Beziehungen der
Dinge unter einander noch als arm erſcheint gegenüber dem unerſchöpf-
lichen Reichthum der menſchlichen Berührungen und Beſtimmungen.
Und alle dieſe menſchlichen gegenſeitigen Einwirkungen, wie ſie wechſeln
und ſich ändern durch den Einfluß der Natur und der individuellen
Charaktere, durch die Hoffnungen und Intereſſen der Menſchen, durch
die guten und ſchlechten Eigenſchaften derſelben, ſind, und das iſt der
allgemeinſte Ausgangspunkt des Folgenden, Bedingungen und Elemente
des Lebens und des Fortſchrittes, des Glückes und des Unglückes, ja
des Beſtehens und des Unterganges zunächſt des Einzelnen, durch ihn
aber des Ganzen. Wie der Stein, der ins Waſſer fällt, ſeine
Kreiſe in unendlich weiten Wellenbewegungen zieht, und mit tauſend
andern gleichen und verſchiedenen Bewegungen ſich kreuzt, ohne daß ein
menſchliches Auge die Gränze zu verfolgen vermag, ſo trifft auch jede
Handlung eines Menſchen die menſchliche Gemeinſchaft, und erzeugt
Folgen, die für den nächſt Stehenden oft gewaltig und entſcheidend,
aber die niemals ganz ohne Einfluß auf die entfernteſten Lebensver-
hältniſſe der Menſchheit bleiben. Und das iſt der tiefſte Unterſchied
zwiſchen der menſchlichen That und dem natürlichen Ereigniſſe, daß das
letztere, ſeinem Weſen nach äußerlich bedingt, auch in ſeinem Inhalt
und ſeinen Folgen vorübergehend iſt; die menſchliche That aber
iſt unſterblich wie der Menſch ſelbſt, der ſie gethan; und das,
worin ſie fortlebt, die ihr angehörende Ewigkeit, iſt das Geſammtleben
der Menſchheit, das Heil oder Unheil derſelben, der Fortſchritt oder
Rückſchritt, die Geſammtentwicklung des Menſchengeſchlechts.
Und die Geſammtheit dieſer menſchlichen Thaten iſt es nun, welche
zum Subſtrat, zum Objekte der Thätigkeit des Staats in ſeiner in-
nern Verwaltung werden ſoll.
Iſt das nun ſchon der Fall für das Enge und Geringe, was
der Einzelne in Wille und That vermag, ſo iſt es klar, daß es in
tauſendfach vergrößertem Maßſtabe für das gilt, worin der Staat auf
das Leben des Einzelnen einwirkt, und das wir, äußerlich zuſammen-
gefaßt, die Thätigkeit ſeiner innern Verwaltung nennen. Denn in
Wahrheit, ob dieſe innere Verwaltung es weiß oder nicht weiß, ob ſie
es berechnet oder nicht berechnet, immer iſt es das ganze menſchliche
Geſchlecht, in deſſen Leben ihre Action ihre Spuren zurückläßt, auch
da, wo ſie ſcheinbar nur mit dem Einzelnen zu thun hat. Ob ſie Einem
oder Vielen oder Allen befiehlt und ſie beſtimmt, immer ſteht ſie mitten
in der ganzen lebendigen Welt der Menſchen, immer iſt es die Ge-
ſammtheit, in die ſie hineingreift. Und ſo viel größer und mächtiger
als der Einzelne dieß wunderbare, ſein eignes und ſo ſchwer verſtändliches
[8] Leben lebendes Weſen iſt, das wir den Staat nennen, um ſo
viel weiter und gewaltiger ziehen ſich jene Kreiſe ſeiner Willensbe-
ſtimmungen und Handlungen in die Gegenwart und Zukunft der menſch-
lichen Geſchlechter hinein. Iſt das, was der Einzelne will und thut,
ſeinem innern Weſen nach unſterblich, ſo iſt das, was durch den Staat
geſchieht, auch äußerlich unvergänglich. Die folgende Zeit bedarf nicht
erſt einer höhern Weltanſchauung, um die Dauer dieſer ſtaatlichen That
abſtract anzuerkennen; ſie kann ſie faſſen und ergreifen; ſie kann ſie
ſehen und meſſen; ſie kann das Gute und das Ueble, das daraus folgt,
wieder als ſelbſtändige Thatſache feſtſtellen; ſie glaubt nicht bloß an
die Ewigkeit dieſer That des Staats, ſie weiß und kennt ſie. Dieß
Kennen, dieß Wiſſen aber iſt die Geſchichte. Und die Geſchichte der
Staaten iſt die Unſterblichkeit der Handlungen des Staats im Allge-
meinen, und beſonders in der Verwaltung.
Wir haben nicht angeſtanden, dieſe Anſchauungen hier an die
Spitze einer höchſt concreten, ja faſt materiellen und in tiefe Einzel-
heiten gehenden Arbeit zu ſtellen. Denn ſie ſind es, welche uns allein
die wahre Höhe des Standpunktes geben, deſſen wir bedürfen.
Iſt dem nämlich ſo, ſo iſt es zwar möglich, wie es ja auch Jahr-
tauſende hindurch wirklich der Fall geweſen iſt, daß der Staat handle
und arbeite, ohne ſich von dem Weſen und der Tragweite ſeiner That
Rechenſchaft abzulegen. Allein wenn er anfängt zu erkennen, was er
iſt, und damit die Bedeutung ſeiner eignen Wirkſamkeit zu ahnen und
zu verſtehen, ſo iſt es klar, daß er dieſelbe vor allen Dingen als eine
hochwichtige und mit ſeinem innerſten Weſen in engſter Verbindung
ſtehende zu begreifen beginnen muß. Wo immer der Staat über das
nachdenkt, was er will und thut, mag es ſein, daß die Philoſophie oder
die praktiſche Theorie, oder das tüchtige Amt, oder die Volksvertretung,
oder auch das Staatsoberhaupt dieſe Function übernimmt, ſtets wird
er zunächſt durch das Gefühl jener gewaltigen Ausdehnung ſeiner Ein-
wirkung auf die Geſammtheit von dem zweiten Gefühl einer hohen
ſittlichen Verantwortlichkeit erfaßt werden. Die unmeßbaren Folgen,
die der Wille oder die Handlungen der Staatsgewalt haben, wenn ſie
das Leben beſtimmen oder hemmen, werden dieſelbe nothwendig mit
tiefem Ernſt erfüllen, indem ſie die öffentlichen Rechte und Zuſtände
beſtimmt; und der Einzelne, der dabei den Staat zu vertreten hat,
wird, iſt er anders der Aufgabe würdig, die ihm ſein Schickſal zuge-
wieſen, bei ſeinem eignen Meinen und Denken, bei ſeiner eignen Er-
fahrung und ſelbſt bei ſeinem wahrhaftigen Wollen ſich ernſtlich fragen,
ob daſſelbe nicht individuell, zufällig, oder unberechtigt erſcheine neben
der gewaltigen Aufgabe, die er auf der Höhe ſeiner Stellung überblickt;
[9] er wird nach einem Halte ſuchen, nach einem feſten Leitfaden in der
wirren Bewegung aller einzelnen Lebensverhältniſſe, in die er hinein-
greifen ſoll; er wird von ſich ſelbſt fordern, daß er in ſich an die
Stelle ſeiner ſubjektiven Anſichten, an die Stelle der individuellen Bil-
dung und des momentanen Eindrucks ein feſtes Princip ſetze, das ihn
ſelbſt gleichſam zu vertreten hat, wo er unſicher wird; er wird, für den
Staat wollend und handelnd, auch im Einzelnen ſich gleichſam an
dieſen Staat ſelbſt wenden, ihn um ſeine Natur, um ſeinen Zweck,
um ſeine Mittel, Kräfte und Aufgaben fragen, um nicht bloß als
Vertreter ſeiner ſelbſt vor ſich ſelber zu erſcheinen, ſondern als Organ
und Zeuge dieſes Staats, der ſich ganz oder zum Theil in ihm ver-
körpert hat. Er wird das Weſen des Staats ſuchen, um durch dieß
Weſen des Staats das zu finden, was er für, was er in, was er
durch den Staat zu thun hat. Ein Bewußtſein über das was Auf-
gabe und Ziel der Verwaltung iſt, iſt ihm daher ohne Bewußtſein
über das Weſen des Staats gar nicht möglich; aber das Letztere, in
dieſer oder jener Weiſe für den Einzelnen gefunden, giebt ihm dafür
auch jene Feſtigkeit und Klarheit im Einzelnen, deren er bedarf, um
nicht durch die Furcht vor dem Irrthum über das Wahre und Rechte
im Einzelnen die feſte Haltung in ſeiner Pflichterfüllung, das Ver-
trauen zu dem eignen Urtheil und den freien Blick auf das Ganze zu
verlieren.
Das iſt das natürliche, wahrhafte Verhältniß des Einzelnen,
der an der Verwaltung Theil nimmt; das iſt die Sittlichkeit der Idee
der Verwaltung. Und das iſt es nun auch, was es uns allein möglich
macht, bei dem ungeheuren Umfang dieſer innern Verwaltung und
trotz der geringen Kenntniß, die wir noch immer von demjenigen be-
ſitzen, was wirklich als Verwaltung geſchehen iſt und geſchieht, den
Entwicklungsgang dieſes ſo wichtigen und doch ſo wenig bekannten
Theiles des menſchlichen Lebens in ſeinen großen Grundzügen zu ver-
ſtehen.
In der That nämlich ergiebt ſich aus dem Obigen, daß es viel-
leicht möglich iſt, über einzelne Theile und Aufgaben der innern Ver-
waltung als abgeſchloſſene, für ſich beſtehende Fragen nachzudenken,
daß es aber unmöglich bleibt, das Ganze der Verwaltung — ob man
ſie nun „Polizei“ oder anders nennt, gleichviel — aufzufaſſen, ohne
eine Geſammtanſchauung des Staats zum Grunde zu legen, oder viel-
mehr unwiderſtehlich auf ſie zurückgeworfen zu werden. Denn dieſe Ge-
ſammtanſchauung, dieſer Begriff, dieſe Idee des Staats ſind hier
wahrlich kein bloß theoretiſches, oder gar nur ſyſtematiſches Element
für das eigene Nachdenken, deſſen man wiſſenſchaftlich oder praktiſch
[10] bedürfte, um ſich in der Fülle und dem Drängen der unendlichen Einzel-
heiten zurecht zu finden. Sie iſt nicht eine formelle Begründung des
Einzelnen, was man will oder verbietet. Die Idee des Staats iſt
vielmehr das Gewiſſen der Verwaltung. Sie iſt der einzige
Rechtstitel, der den Staat ermächtigt, in die freie Sphäre des indivi-
duellen Daſeins hineinzugreifen; ſie iſt dasjenige, was die Verantwort-
lichkeit übernimmt, die dem Individuum unendlich viel zu groß iſt; ſie
iſt das verſöhnende Element, wo die That der Verwaltung hart gefühlt
wird und die Leidenden das als nothwendig Erkannte mit Klagen
und Vorwürfen bekämpfen; ſie iſt der freie Blick in die Zukunft, wo
die Verwirrung der Gegenwart uns über die Wahrheit und den Werth
des für den Augenblick Zweifelhaften unſicher macht; niemand kann
ihrer entbehren, denn immer und zu aller Zeit hat der Gang und das
leitende Princip der Staatsverwaltung auf demjenigen beruht, was ſich
die leitenden Geiſter in dem Begriffe des Staats gedacht haben.
Und in dieſem Sinne nun ſagen wir, daß wenn man von innerer
Verwaltung und Verwaltungslehre als einem Ganzen redet, die
eigentliche Grundlage der Geſtalt derſelben, ſowie ihrer Geſchichte doch
zuletzt nur in der Geſtalt und der Geſchichte der Staatsidee gegeben
iſt. Denn die ganze Verwaltungslehre, oder wie man ſie bisher ge-
nannt, Polizeiwiſſenſchaft, erſcheint in der That nur als Anwendung
jener Idee des Staats auf die einzelnen Gebiete der innern Verwal-
tung. Für den Gang der letzteren im Großen und Ganzen hat die
Behandlung der einzelnen Theile um ſo weniger Bedeutung, als die-
ſelbe zuletzt doch immer faſt unwillkürlich auf die Idee des Staats
zurückkommt. Und wenn es daher gelingt, die große Entwicklung des
letzteren auf ihre einfachen Elemente und Grundformen zurückzuführen,
ſo iſt damit die wahre und einzige Grundlage der Geſchichte der Ver-
waltungslehre oder Polizeiwiſſenſchaft gefunden.
Wir müſſen das nachdrücklich hervorheben, denn in neuerer Zeit hat
ſich mehrfach, wie bei Mohl und zuletzt wieder bei Funk (Auffaſſung
des Begriffes der Polizei im vorigen Jahrhundert, Zeitſchrift für die
Staatswiſſenſchaft, Bd. XIX.) der Gedanke geltend gemacht, als könne man
eine Geſchichte der „Polizei“ für ſich aufſtellen, und höchſtens daneben
die Geſchichte des Staatsbegriffes als etwas, das auf jene „Einfluß“
hat, hinſtellen. Das iſt falſch. Das was wir früher Polizei genannt
und jetzt Verwaltungslehre nennen, hat gar keine Entwicklung, keine
Geſchichte für ſich. Es iſt nichts als der Reflex, die ſyſtematiſirte An-
wendung und Ausarbeitung des Staatsbegriffes für das Gebiet der
Verwaltungsaufgaben deſſelben. Der „innige Zuſammenhang“ iſt viel-
mehr ein Verhalten des Ergänzt- und Beherrſchtwerdens der letzteren
[11] durch die erſtere. Es iſt das Medium, in welchem ſie leben, an deſſen
Bruſt ſie ſich nähren, und darum haben ſie in der That nur in dem
Grade wahre Bedeutung, in welchem ſie jene Idee in den einzelnen
Verhältniſſen des praktiſchen Staatslebens zur Geltung bringen. Das
gilt für die Staatswirthſchaft als erſten Theil der Verwaltung; es gilt
für die Rechtspflege als zweiten; es gilt aber vor allen Dingen für das
Innere als dritten und umfangreichſten Theil der geſammten Staats-
thätigkeit, mit dem wir zu thun haben.
Das nun halten wir feſt. Und das iſt es auch, was uns abge-
halten hat, dem Folgenden eine ſpecielle Geſchichte der Polizeiwiſſen-
ſchaft oder Verwaltungslehre voraufzuſenden. Denn jedes Werk über
„Polizei“ oder Verwaltung wird bei einer, auf hiſtoriſchem Boden
ſtehenden Verwaltungslehre mit ſeinen einzelnen Sätzen in den ein-
zelnen Abtheilungen und Gebieten der Verwaltung ohnehin ſeine Stel-
lung empfangen. Der Geiſt aber, der daſſelbe als Ganzes durchdringt,
iſt nur an ſeinem Verhältniß zur Idee des Staats zu beſtimmen und
nur ſo weit gehört eine ſolche Arbeit eben dem Leben des Ganzen an.
Es wird daher hier genügen, eben dieſen Gang der Entwicklung im
Ganzen darzulegen; nichts wird das Beſondere unſerer Arbeit klarer
erſcheinen laſſen, als eben die große Verſchiedenheit des Standpunktes,
die dann in den kleinen Fragen ſich von ſelbſt erklärt.
2) Der Wohlfahrtsſtaat und das jus naturae et gentium.
(Chriſtian Wolf. Juſti. Sonnenfels. G. H. v. Berg.)
Indem wir nun hier von der philoſophiſchen Entwicklung und
Begründung des Staats ganz abſehen, werden wir den Begriff deſſel-
ben nur ſo weit darlegen, als er mit jener Idee der Verwaltung in
Verbindung ſteht und die wirkliche Verwaltung wie die Verwaltungs-
lehre beherrſcht und durchdringt.
Wir unterſcheiden in dieſer Beziehung zwei große Grundformen
und damit zwei Epochen, die zugleich den Staatsbegriff und die Ver-
waltungslehre geſtalten.
Die erſte dieſer Epochen bezeichnen wir mit dem bekannten Namen
des eudämoniſtiſchen Staats oder Wohlfahrtsſtaats, die
zweite mit dem des Rechtsſtaats. Jede von ihnen hat ihren Begriff
des Staats, und die ihm entſprechende Geſtalt der Verwaltungslehre.
Beide geben damit zugleich die natürliche Grundlage für die Geſchichte
der Literatur ab. Sie ſind der einzig wahre Hintergrund, auf dem
ſich die bedeutenden Arbeiten abzeichnen, welche die Literaturgeſchichte
der Verwaltungslehre bilden. Sie ſind ferner das Band, durch welches
[12] dieß bisher ſo wenig bekannte Gebiet mit den übrigen Staatswiſſen-
ſchaften in innere Verbindung gebracht wird. Denn es iſt keineswegs
zufällig, daß wir bisher einer Geſchichte der Verwaltungslehre faſt ganz
entbehren. Kein Ding hat eine Geſchichte, deſſen innerer Zuſammenhang
mit dem Ganzen nicht klar iſt, denn dieſer Zuſammenhang iſt in Wahr-
heit das Leben des einzelnen Dinges. Dieß Leben aber hat der hiſtori-
ſchen Auffaſſung der Verwaltung gefehlt. Es kommt darauf an, ihr
daſſelbe wiederzugeben. Der Weg dazu liegt offen. Eine andere Bele-
bung der Verwaltungslehre als die durch den organiſchen und ethiſchen
Zuſammenhang mit der Staatsidee giebt es nicht. Keine Biblio-
graphie, keine Summe von einzelnen Bemerkungen, vermag dieß ent-
ſcheidende Element zu erſetzen. Wenn es uns gelänge, dieß auch nur
im Großen und Ganzen klar zu machen und feſtzuſtellen, ſo würden
wir glauben, etwas gewonnen zu haben.
Es wird nun dieß erleichtert durch die große Einfachheit jener bei-
den Grundformen und durch die Klarheit, mit der ſich die Richtung der
Verwaltungslehre im Großen und Ganzen an dieſelben anſchließt.
Der Wohlfahrtsſtaat, oder die eudämoniſtiſche Staats-
idee iſt trotz der vielfachen Trivialitäten, die ihn einſt der öffentlichen
Bildung ſo leicht verſtändlich und dann, als dieſelbe ſich gehoben hatte,
faſt lächerlich machten, eine der merkwürdigſten, und, wir ſprechen es
unbedenklich aus, eine der hochachtbarſten Erſcheinungen in der Ge-
ſchichte des geiſtigen und concreten Staatslebens. Die ſtreng dialek-
tiſche Philoſophie der folgenden Zeit hat es ſich zwar zur Regel ge-
macht, mit einem gewiſſen Hochmuth auf ſie herabzuſehen, ja ihr die
Berechtigung, eine philoſophiſche Lehre zu ſein, zum Theil geradezu ab-
zuſprechen. Es iſt Zeit, daß wir dieſen ebenſo einſeitigen und eingebil-
deten, als verkehrten Standpunkt aufgeben. Am erſten ſollten die
Deutſchen bereit ſein, das zu thun. Denn jene eudämoniſtiſche Staats-
idee iſt eine ſpecifiſch deutſche Auffaſſung des Staats, und
wir ſtehen keinen Augenblick an, zu behaupten, daß dieſelbe unter allem
dem was Deutſchland geleiſtet hat, dem deutſchen Geiſte mit am
meiſten zur Ehre gereicht. Freilich iſt es vor allem die Beziehung der-
ſelben zur Verwaltung, welche ihr ihre wahre Bedeutung gegeben hat.
Und der Mangel an einer Geſchichte der letzteren mag zur Urſache des
Mangels des Verſtändniſſes der erſteren geworden ſein.
Der Grundgedanke der eudämoniſtiſchen Staatsidee iſt einfach.
Der Staat iſt dazu da, um durch die in ihm vereinigte Macht in
geiſtiger wie in materieller Beziehung die Wohlfahrt aller Staats-
angehörigen zu fördern. Vergleicht man dieſen Gedanken mit der
platoniſchen Republik und ihrer ſtarren, das [Individuum] dem harmoniſchen
[13] Ganzen, die freie That dem abſtrakten Begriffe opfernden Ordnung
oder mit der in dieſer Beziehung ſo eng beſchränkten, gleichſam
an jeder tieferen Auffaſſung verzweifelnden Ariſtoteliſchen Begriffs-
beſtimmung, welche den Staat als die einfache Thatſache der Ver-
einigung der „Dörfer zur Stadt“ beſtimmt, ſo iſt der gewaltige, wenn
auch nicht logiſche ſo doch ethiſche Fortſchritt ein unläugbarer. In jener
eudämoniſtiſchen Idee iſt der Staat als ſelbſtändige Gewalt formell
neben den Einzelnen geſtellt, und hat eine ſelbſtändige Aufgabe, die
den Einzelnen weder abſorbirt, wie bei Plato, noch ihn gleichgültig ſeinen
Weg gehen läßt wie bei Ariſtoteles. Seinem Inhalt und Zweck nach
erſcheint der Staat hier vielmehr als der Vater ſeiner Unterthanen,
als eine Anſtalt, deren Weſen und Werth in dem Guten beſteht,
das ſie hervorruft, als ein Organismus, deſſen Beſtimmung und
ſittliche Pflicht es iſt, das Heil des Ganzen zu verſtehen und das Glück
deſſelben zu verwirklichen. Kann man ſich im Grunde eine freundlichere,
edlere, den höchſten humaniſtiſchen Anſchauungen mehr entſprechende Idee
des Staats denken? Iſt es nicht wahrhaft wohlthuend aus der Zeit des
wildeſten Fauſtrechts und mitten in der Epoche des unfreieſten Stände-
thums von der Wiſſenſchaft einen Gedanken vertreten zu finden, der
bei aller Steifheit in der Form des Ausdrucks dennoch das Beſte und
Edelſte was den Menſchen bewegt, zu einem allgemein gültigen Princip
des Wiſſens und des Thuns erhebt? Und dazu kommt, daß dieſe
Staatsidee bei allen durch ſie möglichen Irrthümern am Ende die erſte
iſt, welche eben durch die in ihr zur Erkenntniß gelangende Scheidung
von Staat und Einzelnen die Grundlage der Freiheit in der harmoniſchen
Entwicklung des Ganzen geworden iſt. Die Geſchichtſchreibung, die das nicht
anerkennt, muß wahrlich als eine todte Theorie oder als Vorurtheil gerade
in den Augen unſerer Gegenwart erſcheinen! Wir nehmen nun als
bekannt an, daß der erſte, der dem Staat von jenem Standpunkt auf-
faßt, oder wenigſtens dieſe Auffaſſung zuerſt formulirt, Hugo Grotius
iſt. Pufendorf drückt ihn dann als Pflicht, officium, wir würden
ſagen, als ethiſches Weſen des Staats aus, bis Wolf ihn in ſeinem
jus naturae et gentium zu einem vollkommen ausgearbeiteten Syſtem
des Staatslebens macht. Dieſe Grundanſchauung des Staats gilt
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Es iſt auf den erſten Blick klar,
daß der wahre Schlußpunkt dieſer Auffaſſung kein anderer als eine
möglichſt vollſtändige Verwaltungslehre ſein konnte. In
der That war die Lehre vom Staat darnach die Lehre von der Ge-
ſammtheit der Mittel und Thätigkeiten, durch welche der Staat dieſe
ſeine große Aufgabe, die Verwirklichung der Wohlfahrt aller Staats-
angehörigen zu erfüllen habe. Und dieß iſt ſomit auch der eigentliche
[14] Charakter alles deſſen, was wiſſenſchaftlich in dieſem erſten Jahrhundert
der entſtehenden Verwaltungslehre geſchehen iſt.
Man kann nun den Gang dieſer Entwicklung in zwei große Theile
ſcheiden, und jeden derſelben an die dieſelben vertretenden großen Namen
knüpfen.
Der erſte Theil reicht faſt bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts.
Das Charakteriſtiſche deſſelben iſt die Verſchmelzung der Verwal-
tungslehre mit der Rechtsphiloſophie. Es iſt das für die
Sache ein großer Vortheil, aber freilich für das bisherige theoretiſche
Verſtändniß derſelben ein großer Nachtheil geworden. In der Sache
ſelbſt iſt dieſe Aufnahme der geſammten Verwaltungslehre in die philo-
ſophiſche Staatslehre ein Sporn zur tieferen Auffaſſung des ganzen
Staatslebens und der ſittliche Halt für alle Kämpfe geweſen, die
namentlich im vorigen Jahrhundert die Regierungen mit den alten,
jeder inneren Entwicklung ſich ſtarr entgegen ſtellenden Vorrechten der
Stände auszutragen hatten. Die Härte, mit der die letztern vertheidigt
wurden, machte es unmöglich, die Bedingungen der freieren Entwicklung
ohne Gewalt von Seiten des Königthums durchzuſetzen; allein es war
eben jene Philoſophie, welche dieſer Gewalt ihren ethiſchen Inhalt gab.
Sie war es, welche die Regierungen im Ganzen und das Amt im Ein-
zelnen für größere Ideen begeiſterte und den „Staat“ mit ſeiner ſitt-
lichen Macht über das Gewöhnliche und Tägliche erhob; ſie war es,
welche im reinen Rechtsſtudium und damit auch für die Schüler deſſelben,
welche am Ende im wirklichen Leben verwirklichen ſollten, was ſie an
der Univerſität gelernt, den Blick über die Definitionen und die Caſuiſtik
des herrſchenden Römiſchen Rechts erhob; ſie war es, welche in das
„Regiment“ jener Zeit das Bewußtſein der Verantwortlichkeit dafür
hineinlegte, daß die innere Entwicklung der Staaten, die allerdings in
ſeine Hand gegeben war, nunmehr auch wirklich vorwärts gehe. Und
es war wohl als ein Segen zu betrachten, daß die Verwaltungslehre
auf dieſe Weiſe mit der Rechtsphiloſophie untrennbar verſchmolzen er-
ſchien, ja daß im Grunde die Rechtsphiloſophie faſt nichts als
rationelle Verwaltungslehre war. Denn eben nur dadurch
ward dem Juriſten eine Vorſtellung von dieſer Verwaltungslehre bei-
gebracht und die Bahn für dieſelbe und ihre ſelbſtändige Entwicklung
geebnet. Der Hauptvertreter dieſer Richtung war Chriſtian Wolf.
Nur die Unbekanntſchaft mit Weſen und Inhalt der Verwaltungslehre
macht es erklärlich, daß man dieſen ſo hochbedeutenden und verdienten
Mann ſo wenig beachtet und verſtanden hat, während ſein Einfluß ſo
groß war, daß man wenige finden dürfte, die ihn übertroffen. Er war
eben kein dialektiſcher Philoſoph; aber er war im vollen Sinn des Wortes
[15] der Mann des rationellen Fortſchrittes, und für dieſen hat er ſehr
viel geleiſtet. Man kann unbedenklich ſagen, daß ſeine Gedanken die
ganze Staatswiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts bis auf Kant be-
herrſcht haben. Und den Beweis dafür liefert eben die zweite Hälfte
deſſelben.
Das Charakteriſtiſche dieſer zweiten Hälfte iſt es nämlich, daß ſich
in ihr die Verwaltungslehre aus ihrer Verbindung mit der Rechts-
philoſophie herauslöst, und zu einer [ſelbſtändigen] Wiſſenſchaft wird.
Man nannte aus einer Reihe von hiſtoriſchen Gründen dieſe neue
Wiſſenſchaft die „Polizeiwiſſenſchaft.“ In der That war ſie aber
nichts als die, aus dem alten Jus naturae herausgenommene Verwal-
tungslehre. Die Hauptträger dieſer neuen Bewegung waren Juſti
und Sonnenfels, zwei Männer, deren Namen die Nachwelt ſtets
mit hoher Achtung nennen wird. Beide, und mit ihnen die Schaar
der Kleineren, ſtehen unverhohlen und mit vollem Bewußtſein auf dem
eudämoniſtiſchen Standpunkt. Der Unterſchied von der alten admini-
ſtrativen Rechtsphiloſophie liegt dabei weſentlich in dem Weglaſſen der
abſtrakten ethiſchen Begründung der Staatsidee. Die neue „Polizei-
wiſſenſchaft“ nimmt den eudämoniſtiſchen Standpunkt als ausgemacht
an, und geht ſofort auf die einzelnen Gebiete der Verwaltung ein. Die
Behandlung iſt eine einfache, klare und objektive, aber dafür auch zum
Theil ſehr kalte, oft langweilige und im Kleinen pedantiſche. Die eigen-
thümliche Wärme, die gehobene Stimmung des Ganzen, welche ſich
durch das Bewußtſein einer großen Weltanſchauung auch dem Einzelnen
mittheilt, fehlt; die trefflichſte Abſicht vermag das nicht zu erſetzen; es
iſt bei aller Tüchtigkeit ſtets das Gefühl da, als ob die geiſtige Initiative
dem Ganzen mangle und als ob daſſelbe zwar breiter, aber nicht
tiefer werde; es iſt eben kein Gegner mehr vorhanden, mit dem
das Ganze zu kämpfen hat, und man ſieht es der geiſtigen Phyſiogno-
mie dieſer Werke an, daß ſie die leichtere Mühe haben, ein für ſie ent-
ſchiedenes Princip anzuwenden, als es aufzufinden. Dabei iſt es kein
Zweifel, daß Sonnenfels höher ſteht als Juſti. Bei Juſtis Arbeiten
ſieht man auf jeder Seite mehr den Profeſſor als den Staatsmann;
es iſt ſchon etwas darin, das an das Paragraphenthum der damaligen
und gegenwärtigen Kathederliteratur erinnert; er ſchreibt mehr für den
Zuhörer als für den Leſer. Sonnenfels dagegen iſt in ſeiner Be-
handlung viel freier, in ſeiner Diktion leichter. Man ſieht daß er
aus dem Leben und für das Leben ſchreibt. Er hat viel weniger Sorge
für das Einzelne, und iſt viel mehr erfüllt von der Wahrheit und dem
Werthe des Ganzen, als Juſti. Es liegt nahe, den Grund dieſes Unter-
ſchiedes mehr in der Stellung dieſer beiden Männer, als in ihrer
[16] Perſönlichkeit zu ſuchen; aber es iſt jedenfalls nicht richtig, wenn Mohl und
Funk jenen bezeichnenden Unterſchied ganz zu übergehen. Während nun
dieſe beiden Männer die Mitte des vorigen Jahrhunderts beherrſchen,
tritt am Ende deſſelben eine dritte bedeutende wiſſenſchaftliche Erſchei-
nung auf, die den Uebergang zu der folgenden Epoche des Rechtsſtaats
bildet und die erſte abſchließt. Das iſt Günther Heinrich von
Berg, ein Mann, ohne deſſen Werk eine Geſchichte der Polizei und der
Polizeiwiſſenſchaft nicht denkbar iſt, und der nach Gelehrſamkeit und
Geiſt als würdiger Nebenbuhler neben den Moſer und Möſer dieſer
Epoche ſteht. Berg iſt der erſte, und er iſt bis jetzt darin nirgends
übertroffen, der das poſitive Verwaltungsrecht vom allgemeinen Stand-
punkt der eudämoniſtiſchen Weltanſchauung zu verarbeiten unternahm,
während er zugleich ſchon die große Frage der folgenden Epoche, wie
weit denn das Recht der „Polizei“ gehe, mit in ſeine Arbeit aufzuneh-
men verſtand. Er iſt der Mann, der ernſtlich die Unterſuchung über
das was „Polizei“ iſt, wiſſenſchaftlich behandelt, und der daneben
zuerſt die Idee verfolgte, das geſammte geltende Verwaltungs- oder
Polizeirecht Deutſchlands als ein Ganzes darzuſtellen. Und das war
denn zugleich der Grund, weßhalb ſeine Arbeit, obwohl in der Form
eine freie und zum Theil mit der Beredſamkeit des Herzens geſchriebene,
und im Inhalt reicher, gelehrter und zuverläſſiger als irgend eine andere,
dennoch die Fähigkeit nicht beſaß, die Grundlage einer neuen feſten Ge-
ſtalt der Verwaltungslehre zu werden. Denn Berg hatte keinen Be-
griff vom Staat, ſondern nur eine Ueberſicht über die adminiſtrativen
Aufgaben deſſelben. Er hält zwar das eudämoniſtiſche Princip feſt,
aber er hat, am Ende des vorigen Jahrhunderts ſchreibend, doch ſchon
die Ueberzeugung gewonnen, daß es nicht ausreicht. Er weiß, daß der
Staat ſehr viel für das Wohl thun kann und ſoll; allein er beginnt
auch ſchon zu erkennen, daß es vom Uebel iſt, wenn er zu viel thut.
Er hat daher keinen feſten Leitfaden in der gewaltigen Maſſe des
Stoffes, die ihm in allen möglichen Reichstagsabſchieden, Geſetzen, Ver-
ordnungen, Erlaſſen, entgegen kommt. Er fühlt, daß er das Princip
der bisherigen bevormundenden Verwaltung erſchüttert, aber er hat
doch kein rechtes neues an ſeine Stelle zu ſetzen. Die eudämoniſtiſche
Syſtematik iſt durch die größeren Ideen der Kantſchen Philoſophie ab-
geblaßt und zweifelhaft geworden, allein die letztere hatte dabei nicht
die Fähigkeit ein neues Syſtem zu geben. Das eudämoniſtiſche Princip
der Wohlfahrt des Staats war zu poſitiv; das neue des Rechtsſtaats
war für einen Mann der Verwaltung zu negativ. Jenes gab dem
Staat zu viel Aufgaben, dieſes gab ihm zu wenig. Er fürchtete das
erſtere im Namen der individuellen Freiheit, die er kennt und vertritt,
[17] aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach
Ordnung und höherer Einheit drängende Maſſe von Thatſachen der innern
Verwaltung, die er darſtellen ſoll. Man ſieht, wie er in dieſem Gegen-
ſatz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip,
das Syſtem, die reine Theorie liegen, und faßt die „Polizeiwiſſenſchaft“
wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine Maſſe einzelner
Fragen auf, die jede für ſich ihre Aufgabe und ihr Princip habe,
und daher in lauter einzelnen zuſammenhangsloſen Abſchnitten behan-
delt werden ſollen. Das iſt nicht eigentlich ein Fehler; es iſt vielmehr
der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus entſteht
daher jene Vereinzelung aller, auf die Verwaltung bezüglichen
Arbeiten, die noch unſere Gegenwart charakteriſirt und die jene Verſchmel-
zung der alten Polizeiwiſſenſchaft mit den „Cameralwiſſenſchaften“ mög-
lich machte, die ſich dann in Schmalz und im großen Maßſtabe im
Baumſtark Geltung verſchafft, eine Verſchmelzung, bei der man zuletzt
zu der Anſicht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es ſich
bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wiſſenſchaft
ſondern um Kenntniſſe handelt. Es iſt von größtem Intereſſe, dieß
weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri-
ſirung des Weſens der zweiten großen Geſtalt dieſer Entwicklung, der
Idee des Rechtsſtaats und ihres Einfluſſes ſpeziell auf die Verwal-
tungslehre dargelegt werden.
Um dieſe Bedeutung des Rechtsſtaats, der wie der Wohl-
fahrtsſtaat der eudämoniſtiſchen Epoche eine der großen Thatſachen
des geiſtigen Lebens überhaupt iſt, und der namentlich für die Polizei-
wiſſenſchaft von entſcheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen,
muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrtsſtaats zu dem alten
Recht und der ſtändiſchen Ordnung der Geſellſchaft einerſeits und dem
neuen Recht der ſtaatsbürgerlichen Ordnung anderſeits ſich vergegenwär-
tigen. Den Ausdruck dieſes Verhaltens aber bildet eine Geſtaltung des
Staatsweſens, welche wir als Uebergang von der erſten Staatsidee zur
zweiten den Polizeiſtaat nennen kann. Wir wollen verſuchen, ſeine
hiſtoriſche Stellung hier zu charakteriſiren.
3) Der Polizeiſtaat.
Das Recht der ſtändiſchen Epoche beſtand trotz der Obrigkeits- und
Wohlfahrtstheorie noch ungeſchmälert am Ende des vorigen Jahrhun-
derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle
ihre Thätigkeit einem ſolchen Rechtsſyſtem gegenüber nicht zu einem
entſcheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die
Stein, die Verwaltungslehre. II. 2
[18] Organe derſelben für das wahre, und zum Theil von ihnen recht gut
verſtandene Wohl des Volkes einſchreiten wollten, traten ihnen die
rechtlichen Hemmniſſe entgegen, die auf dem Rechtstitel der Privilegien
und ſtändiſchen Unterſchiede beruhten. In der That erſchien dadurch
alles, was jene eudämoniſtiſche Theorie lehrte, im Grunde als ein leeres
Wort; ſie hätte gerne das Beſte gewollt, aber ſie beſaß nirgends die
Kraft es wirklich durchzuführen. Das wirkliche Leben, allenthalben von
dem ſtändiſchen Recht gebrochen, beſchränkt, unfrei gemacht und daher
in einer unſerer Zeit faſt unverſtändlich [gewordenen] Auflöſung begriffen,
ſprach den ſchönen Lehren Hohn, die von der Schule gepredigt wurden,
und während der Juriſt in den Vorleſungen über Rechtsphiloſophie
und Polizeiwiſſenſchaften hörte, was er zu thun habe, um das Volk
glücklich zu machen, lernte er in den juriſtiſchen Büchern und Collegien
die Grundſätze der Anerkennung der beſtehenden Rechte, der Heiligkeit
derſelben, der Unverantwortlichkeit der Unterſchiede und der Privilegien,
die es ihm principiell unmöglich machten, jene ſchönen Lehren in der
Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Das war ein tiefer Widerſpruch,
und dieſer Widerſpruch ward um ſo lebendiger gefühlt, je näher die
neue Zeit rückte. Aber ſeine Löſung lag nicht in der Philoſophie des
Wohlfahrtsſtaats mit ſeinem breiten, zum Theil pedantiſchen Wohl-
wollen. Das weſſen die Zeit bedurfte, war vor allem Klarheit über das
Verhältniß des Staats zum Recht, die Beantwortung der Frage nach
der rechtbildenden, rechtſchaffenden Kraft im Staate. Es kam nicht
darauf an zu wiſſen, welche Maßregeln gut ſeien, ſondern vielmehr
darauf zu wiſſen, mit welchem Recht man ſie gegenüber dem beſtehen-
den Rechte durchführen könne. Und ſchon in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts war es klar geworden, daß dieſe Frage, um welche ſich
nunmehr alle andern drehten, nicht mehr in dem Gebiete der Verwal-
tung, ſondern vielmehr in einem ganz andern Gebiete zur Beantwor-
tung gelangen mußte. Dieß andere Gebiet aber war die Lehre von
der Verfaſſung. Und ſo geſchah es naturgemäß, daß die ganze
Rechtsphiloſophie eine ganz neue Richtung bekam und für dieſe neue
Richtung eine ganz neue Grundlage forderte. Hatte die Hobbes’ſche
Theorie gefragt, was der Staat ſei und ob er überhaupt ſein ſolle,
hatte die Wohlfahrtstheorie gefragt, was er zu thun habe, ſo fragte die
neue Theorie vielmehr, wie in ihm die Rechtsbildung, die Bildung ſei-
nes Willens, die Geſetzgebung, geordnet werden müſſe. Die ganze
alte bisherige Arbeit der Rechtsphiloſophie erſchien neben dieſer Frage
als werthlos; man bedurfte eines neuen Princips, einer neuen Idee des
Staats; und dieſe Idee war die der Freiheit auf Grundlage der Ver-
faſſung.
[19]
So wendete ſich der Gang der Dinge von dieſer Seite von der
bisherigen Anſchauung der Verwaltung des Staats, von dem gutmüthigen
aber beſchränkt gebliebenen Wollen und Wünſchen ab, und begann eine
neue Richtung, die gegen das Alte nicht bloß gleichgültig, ja negativ
war, ſondern es auch ſein mußte. Und mit ganz gleichem Reſultat tritt
eine zweite, wenn auch faſt diametral verſchiedene Erſcheinung im geiſti-
gen Leben des Volkes neben jener erſten auf.
Jene Idee der ſtaatsbürgerlichen Freiheit, jene Bewegung nach
Selbſtändigkeit und Selbſtbeſtimmung war eigentlich in jener Zeit kei-
neswegs etwas Neues. Sie hat vielmehr von jeher die Grundlage
des ganzen germaniſchen Lebens gebildet; ſie begleitet die ganze Ge-
ſchichte deſſelben; ihre Heimath war im Grunde keineswegs bloß, wie
man zu lehren gewöhnt iſt, die Stadt, ſondern auch der Herr auf dem
Lande zeigt uns in ſeinem ſtolzen Unabhängigkeitsſinn den Grundcharak-
ter eines Volksſtammes, der es ſchwer erträgt, beherrſcht zu werden, und
der auch das Gute von ſich ſtößt, wenn es ihm von fremder Gewalt
befohlen wird. Nun aber lag es im Weſen gerade jener Wohlfahrts-
theorie, im Bewußtſein daß ſie das Gute und Heilſame wolle, daſſelbe
ohne Rückſicht auf die freie Wahl und Selbſtbeſtimmung der Staats-
angehörigen auch durchzuſetzen. Sie drängte ſich daher dem Volksleben
auf; ſie verlor das Verſtändniß ſeiner Eigenthümlichkeiten, ſeiner Beſon-
derheiten, ſeiner Intereſſen; ſie hatte nie und nirgends die Fähigkeit,
den Mangel an Bildung, die einſeitige Richtung, den traditionellen
Werth, der die letztern begleitet, in Anſchlag zu bringen; ſie verſtand
endlich nicht, die örtlichen Verhältniſſe und ihre Anforderungen, ob ſie
nun äußerlich rein local auftraten, oder ob ſie ſich durch Jahrhunderte
lange Einwirkung zu formellen Rechtsſätzen kryſtalliſirt hatten, gelten zu
laſſen. Sie wollte immer daſſelbe, weil das Gute und Nützliche in
der ſich ſelbſt gleichen Theorie immer daſſelbe iſt, und ſie war ja die
Dienerin des an ſich Guten und Nützlichen. Sie wollte es unbedingt und
unabhängig von der freien Zuſtimmung des Volkes, denn das Gute
kann und ſoll nie von der Willkür derjenigen abhängig ſein, für die
es zu gelten hat. Sie ſtellte ſich daher dem Volksleben äußerlich, als
eine ihm fremde, von ihm gar nicht verſtandene Gewalt gegenüber; ja
ſie ging in ihrer Conſequenz ſo weit, gegen dieſes Verſtändniß geradezu
gleichgültig zu ſein. Sie wollte für das Wohl des Volkes ſorgen, aber
nicht wie die Natur es thut, welche dem Wohlſein die Bedingungen
bietet und dann es dem Menſchen überläßt, ſie zu benützen, ſondern
wie der Vater, der ſeinen Kindern befiehlt, dasjenige zu thun, was
nach ſeiner Ueberzeugung ihnen heilſam iſt. Sie wollte die Völker im
Ganzen wie im Einzelnen zwingen, glücklich zu werden. Und das
[20] war es nun, was durch ſeine Ausführung im Einzelnen zuletzt den
Charakter jener eudämoniſtiſchen Verwaltungslehre im Ganzen umge-
ſtaltete. Die theoretiſchen Grundſätze der erſteren, die noch unter Pufen-
dorf und Wolf als Philoſophie erſchienen, werden namentlich im erſten
Jahrhundert zu ſehr poſitiven Vorſchriften und Maßregeln. Der Wohl-
fahrtsſtaat wird eine Zwangsanſtalt für das Glück der Völker,
negativ, indem es die letztern vor allem ſchützt, was die Eudämonie
für gefährlich hält, poſitiv, indem es ihnen gebietet, was als nützlich
erkannt wird. Und in dieſer von den Lehrkanzeln herabſteigenden, in
allem Kleinen groß, gegenüber allem Schwachen ſtark, immer aber unbe-
rufen und ohne Dank das „Gute“ und das „Wohl“ durch ſeine Zwangs-
organe vollziehenden Geſtalt wurde aus dem theoretiſchen Wohlfahrts-
ſtaat der praktiſche Polizeiſtaat.
Das iſt der Sinn und der innere, organiſche Begriff des vielbe-
ſprochenen Polizeiſtaates, der dem Rechtsſtaat voraufgeht. Nie hat eine
Staatsidee Beſſeres gewollt, nie hat ihr Wollen und Thun ſo viel Wider-
ſtand gefunden und nichts iſt leichter begreiflich, als dieſer Widerſpruch des
Polizeiſtaats. Dieſen Widerſpruch aber ertrugen die Germanen nicht.
Und doch hätten ſie ihn vielleicht lange ertragen, wenn jener Staat
als Wohlfahrtsanſtalt ſeine mächtige Hand noch an die großen und
entſcheidenden Bedingungen des Fortſchrittes, die Gleichheit des Rechts
und die Aufhebung der Privilegien gelegt hätte. Allein dieſe waren
für ihn unantaſtbar, und die Völker ſahen daher jenen Wohlfahrtsſtaat
nur da thätig, wo er im Namen des Volkswohls unbequem ward, ohne
das Ganze zu fördern, im Einzelnen und Kleinen, im täglichen Leben,
in den Sitten und Gewohnheiten, oft den harmloſen, faſt immer den
unbedeutenden Dingen, während in den großen Fragen dieſe Theorie
in den Hintergrund trat und dem poſitiven, hiſtoriſchen Rechte ſeinen
Lauf ließ. Das mußte ihr den Boden unter den wankenden Füßen
nehmen. Zu dem Bewußtſein von der Unfähigkeit derſelben, auf den
für die Entwicklung entſcheidend gewordenen Punkten auszureichen, trat
allmählig der Widerwille, einer Gewalt im Kleinen unterworfen zu ſein,
die im Großen nicht helfen wollte oder konnte. Der ganze Standpunkt
war unhaltbar geworden. Die Zeit war vorbei. Eine neue geiſtige
Welt begann ſich zu regen. Und es wird jetzt klar ſein, weßhalb die-
ſelbe, indem ſie ſich poſitiv der Verfaſſungsfrage in die Arme warf,
negativ die ganze alte Verwaltungslehre als „Polizeiwiſſenſchaft“ von
ſich wies. In der jetzt folgenden Epoche kehrte ſich daher das alte
Verhältniß geradezu um. Statt daß bisher der Schwerpunkt der Staats-
wiſſenſchaft in der Verwaltung gelegen und die Verfaſſung von der-
ſelben geradezu ausgeſchloſſen war, ward jetzt in der neuen Zeit die
[21]Verfaſſung als eigentliche Staatswiſſenſchaft betrachtet, und
die ganze Verwaltungslehre faſt ganz ausgeſchloſſen.
4) Der Rechtsſtaat und ſein Verhältniß zur
Verwaltungslehre.
Das nun iſt Weſen und Richtung des Uebergangs in die Staats-
wiſſenſchaft zu der Epoche, die wir als die des Rechtsſtaates bezeichnen.
Auch dieſer Begriff des Rechtsſtaates iſt ein urſprünglich deutſcher, und
kann nur aus den hiſtoriſchen Elementen der obigen Entwicklung ganz
verſtanden werden. Der Grundgedanke deſſelben iſt der, daß die geltende
Ordnung des ſtaatlichen Lebens, und alſo auch die der Verwaltung,
nur nach dem Rechte, das durch den organiſirten Staatswillen geſetzt
iſt, beſtimmt werden kann. Die Vorausſetzungen deſſelben aber ſind bei
näherer Betrachtung doppelt, und daher die doppelte Bedeutung, welche
jenes Wort hat. Zuerſt ſoll als Staatswille nur derjenige betrachtet
werden, der durch das geſetzlich anerkannte Organ deſſelben beſtimmt
iſt. Die Lehre von den Grundſätzen aber, nach denen eben dieſes Organ
ſich in freier Weiſe bildet, iſt die Verfaſſungslehre. Es iſt hier nicht
der Ort, die Entwicklung der Ideen zu verfolgen, welche an Wort und
Umfang der „Verfaſſung“ mitgearbeitet haben. Wir ſetzen ſie und ihre
Geſchichte als bekannt voraus. Zweitens aber erzeugte eben jenes be-
ſtändige Eingreifen der bisherigen obrigkeitlichen Gewalt den Grundſatz,
daß zwiſchen dem freien Individuum und dem Staate eine feſte, auch
von der Staatsgewalt unantaſtbare Grenze beſtehe, deren Unverletz-
lichkeit eine der großen Vorausſetzungen aller bürgerlichen Freiheit ſei, und
daß der Staat als Träger und Pfleger der Rechtsidee eben vor allem
dieſe Grenze zu wahren habe. In der Heilighaltung dieſer Grenze,
dieſer Unverletzlichkeit des „freien“ Individuums liege das eigentliche
Weſen des „Rechtsſtaats.“ Es iſt klar, daß dieſer Gedanke die natür-
liche, negative Conſequenz des bisherigen Verhaltens der „Obrigkeiten“
und namentlich der aus der alten Rechtsphiloſophie hervorgegangenen
Willkür derſelben gegenüber dem Einzelnen war. Es war das Ganze
kein neues Princip; allein es war der juriſtiſche Ausdruck einer in neuer
und friſcher Kraft auftretenden Idee, der Idee des ſelbſtändigen Staats-
bürgerthums. Es enthält an ſich zwar gar kein Element für die Auf-
gaben der innern Verwaltung als ſolche, wohl aber lag in ihm ein
mächtiger Keim für die Organiſirung ihrer praktiſchen Thätigkeit; und
dieſer war es, der ihm zunächſt die Anerkennung in den neuen
Bewegungen ſicherte.
Es iſt aber nothwendig, ſich dieſe Verhältniſſe als Ganzes zu denken.
[22] Die vollkommenſte Ausbildung jener Idee der individuellen Selb-
ſtändigkeit nämlich konnte die Nothwendigkeit nicht aufheben, vermöge
der Staatsgewalt in die Rechtsſphäre des Einzelnen einzugreifen; das
Weſen des individuellen Rechts kann das Weſen des Staats nicht auf-
heben. Auch war das im Grunde für die Idee des Rechtsſtaats nie
die Frage. Es kam daher jetzt auf etwas anderes an. Es kam
darauf an, das Princip für das Verhältniß zwiſchen Verwaltung und
Verfaſſung und dem Rechte des Einzelnen in der ſtaatsbürgerlichen
Selbſtändigkeit zu finden. Und es iſt von entſcheidender Bedeutung,
dieſes feſtzuſtellen. Daſſelbe aber war ziemlich einfach. Die Grenze
für das Eingreifen der Verwaltung in die Lebensſphäre des Einzelnen
ſoll künftig nicht in Willkür und Wohlmeinen, ſondern in dem ver-
faſſungsmäßigen Geſetze liegen. Das war der erſte, gleich an-
fangs ziemlich klare Gedanke des Rechtsſtaates. Der zweite aber, ſeiner-
ſeits hervorgegangen aus dem Elemente der Selbſtändigkeit jenes Ein-
zelnen war der, daß dieß Eingreifen der Verwaltung in das Leben der letz-
tern ſo weit als möglich durch freie, geordnete Thätigkeit der Einzelnen
ſelbſt, und nicht mehr durch die als äußerlich, ja als feindlich daſtehend
gedachte Gewalt des Amtes vollzogen werden ſolle. Dieſe geordnete
Thätigkeit der Einzelnen aber für die Verwaltung nennen wir eben die
Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen. Und ſo erzeugte die
Idee des Rechtsſtaats naturgemäß, wenn auch langſam und unſicher,
als ihre poſitive Conſequenzen das, womit der Wohlfahrtsſtaat ſich
nie beſchäftigt hatte und womit der Polizeiſtaat ſich nicht beſchäftigen
konnte, die großen Principien der Selbſtverwaltung und des Vereins-
weſens. Das iſt der Inhalt des Rechtsſtaats in ſeiner Beziehung zur
Verwaltungslehre.
Es wird jetzt, denken wir, klar ſein, wenn wir das Bisherige zu-
ſammenfaſſend ſagen; daß der Wohlfahrtsſtaat den Inhalt der Ver-
waltung oder die eigentliche Verwaltungslehre (des Innern),
der Rechtsſtaat dagegen die Lehre von der vollziehenden Gewalt
begründet hat.
Wenn man nun auf Grundlage der bisherigen Darſtellung die
Lage überblickt, in welche die alte Verwaltungslehre als Polizeiwiſſen-
ſchaft mit dem Beginn unſers Jahrhunderts gekommen, ſo iſt dieſelbe
allerdings leicht zu bezeichnen.
Einerſeits nämlich, ſchließt das einſeitig aufgefaßte Weſen des
Rechtsſtaates — und einſeitig iſt jede neuentſtehende Bewegung, ge-
wöhnlich in dem Grade mehr, je nothwendiger ſie iſt — eigentlich jedes
Syſtem, ja beinahe jedes Verſtändniß der Verwaltungslehre geradezu
aus. Der Rechtsſtaat macht das Weſen des Rechts zum Weſen des
[23] Staats, das Recht aber iſt die Gränze der Selbſtändigkeit des Indivi-
duums gegenüber dem Andern, ſei es der Staat, ſei es der Einzelne.
Andererſeits iſt die Verwaltung dagegen geradezu undenkbar, wenn eine
ſolche Gränze unbedingt aufrecht erhalten werden ſoll. Sie kann ohne
ein beſtändiges Opfer eines Theiles dieſer Selbſtändigkeit für das Leben
der Gemeinſchaft gar nicht gedacht werden. Sie kann es nicht in
Staatswirthſchaft und Rechtspflege; ſie kann es am wenigſten in der
innern Verwaltung. Aus dem Begriffe, dem Weſen, den
Forderungen des Rechts kann daher niemals ein Verſtänd-
niß oder gar eine Lehre der Verwaltung entſtehen; der
Begriff des Rechtsſtaats iſt geradezu unfähig, die Verwaltung in ſich
aufzunehmen oder ſie zu verarbeiten.
Wir müſſen nun das nachdrücklich betonen, weil ohne dieſen Satz
der gegenwärtige Zuſtand nicht verſtanden werden kann. Doch kam zu
demſelben ein zweites hinzu, und das lag in der bisherigen Geſchichte
des Ganzen. Das war die Abneigung, ja der Haß gegen die Polizei-
verwaltung und Polizeiwiſſenſchaft der vergangenen Epoche. Gerade
dieſe „Polizei“ war Grund und Form für jenes Eingreifen in das
individuelle Leben, das als der verletzendſte, wenn auch nicht als der
tiefſte Widerſpruch mit der neuen Rechtsidee des Staats, der Selbſtän-
digkeit des Staatsbürgerthums, erſchienen war. Die neue Staatsidee,
ſelbſt aber — der Rechtsſtaat — war ihrem innerſten Weſen nach der Polizei
fremd, ja feindlich, und wies dieſelbe und ihre Lehre in der neuen Ordnung
der Dinge praktiſch von ſich. So geſchah das, was in dieſer Beziehung
die Staatswiſſenſchaft unter der Herrſchaft des Rechtsſtaats charakteriſirt.
Die ganze Polizeiwiſſenſchaft oder Verwaltungslehre verſchwand mit
dem Anfang dieſes Jahrhunderts aus der Staatswiſſen-
ſchaft, und die Lehre vom öffentlichen Recht im Allgemeinen, ſpeciell
aber die Lehre vom Verfaſſungsrecht, trat an ihre Stelle.
Dieſe hochwichtige Thatſache, die eben ſo tief in die Theorie wie
in die Praxis eingriff, bedarf nun wohl einer etwas eingehenderen Er-
klärung; und obwohl es außerhalb unſrer Gränze liegt, die ſtaatlichen
Rechtsbegriffe zu unterſuchen, ſo müſſen wir doch darlegen, wie es mög-
lich war, daß eine Staatsidee ſich eine zeitlang ſelbſt zu genügen ver-
mochte, in welcher für die ganze Verwaltung und damit für das
ganze praktiſche Staatsleben weder ein ſyſtematiſcher Platz, noch ein
wiſſenſchaftliches Verſtändniß vorhanden war.
In der That nämlich hat unſre Zeit, wie ſie den Wohlfahrtsſtaat
kaum noch kennt, auch ſchon das Bewußtſein von dem eigentlichen leben-
digen Inhalt des Rechtsſtaats faſt verloren.
Die neueſte Zeit namentlich hat ſich unter dem ſog. „Rechtsſtaat“
[24] vorzugsweiſe das gedacht, was man einen juriſtiſchen Begriff des Rechts-
ſtaats nennen möchte, einen Zuſtand nämlich, der nichts enthält, als
einen fertigen Staat als ſelbſtändige juriſtiſche Perſönlichkeit auf der
einen, und den freien Staatsbürger auf der andern Seite, ſo daß der
Rechtsſtaat im Weſentlichen nur noch die juriſtiſche Ordnung des Ver-
hältniſſes beider zu einander, die Geſammtheit der Grundſätze über die
Unverletzlichkeit des Einen durch den Anderen feſtſtellen ſolle. Dieſe
ärmliche Auffaſſung des Staats gehört indeß nur der neueſten Zeit an,
und ihr Vertreter iſt bekanntlich Robert Mohl. Allein in Wahrheit iſt
das Verhältniß ein weſentlich andres. Die wahre Idee des Rechtsſtaats
iſt vielmehr eine höchſt großartige und ſelbſt erhabene, und nur durch
das Verſtändniß dieſer Idee wird es begreiflich, wie es für ſo viele
hochbedeutende, gelehrte und praktiſche Männer möglich war, der Ver-
waltung, des zweiten großen Theiles aller Staatswiſſenſchaft, während
fünfzig Jahren hindurch in einer Literatur zu vergeſſen, die doch auch
ihrerſeits eine eben ſo reiche als mächtige geweſen.
5) Die drei Grundformen der Auffaſſung des Rechtsſtaats.
Die große Frage über den Staat und ſeinen organiſchen Inhalt
war bekanntlich in der germaniſchen Welt aus der Frage entſtanden,
woher der Staat als perſönliche Gemeinſchaft des Einzelnen die ſittliche
Berechtigung nehme, den an ſich freien Einzelnen zu beſtimmen und
ihn ſich zu unterwerfen. Die Theorie des Hobbes hatte dieſe Berechti-
gung durch die Noth erklärt, welche aus dem Kriege Aller gegen Alle
entſtand. Der Wohlfahrtsſtaat gab dem Staat dieſelbe im Namen des
allgemeinen Fortſchrittes. Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt
aber der Gedanke auf, daß das Weſen des Einzelnen die freie Selbſt-
beſtimmung, alſo das grade Gegentheil der über den Einzelnen
herrſchenden Staatsgewalt ſei. Dieſe freie Selbſtbeſtimmung der ein-
zelnen Perſönlichkeit konnte die neue Zeit unter keiner Bedingung auf-
geben. Eben ſo unmöglich war es, den Staat mit ſeinem Recht auf
Herrſchaft zu beſeitigen. Es galt daher jetzt, beide großen Elemente zu
vereinigen. Und jetzt tritt eine Arbeit ein, die in drei großen Formen
ſich bewegt, und die damit die drei Grundgedanken des ſog. Rechts-
ſtaats abgiebt.
Die erſte Form iſt die, daß der Staat dieß Recht der Herrſchaft
über den ſelbſtändigen Einzelnen dadurch gewinnt, daß der Wille des
Staats ſelbſt eben nichts anderes iſt, als der gemeinſame Wille aller
Einzelnen. Dieſe Gemeinſamkeit des Willens iſt es, welche den Wider-
ſpruch zwiſchen Staatsherrſchaft und bürgerlicher Freiheit läßt. Der
[25] erſte Vertreter dieſer Idee iſt bekanntlich Rouſſeau; nur daß ſein allge-
meiner Wille den Charakter und das Recht eines Vertrages behält, der
Contrat social, und daher beſtändig gelöst werden kann. Daß daher
im Grunde nicht bloß die Ordnung der Verfaſſung ſo gut wie jeder
Vertrag, ſondern eigentlich auch der Staat ſelbſt in jedem Augenblick
durch die Contrahenten, die Geſammtheit der Staatsbürger, aufgelöst
werden kann. Die Freiheit in der Rouſſeau’ſchen Staatsidee beſtand
daher weſentlich in dieſer Berechtigung der Staatsbürger, durch ihren
individuellen Willen über die Exiſtenz des Staats ſelbſt zu verfügen.
Von einer ſelbſtändigen Verwaltung war in derſelben natürlich keine
Rede; allein aus ihr folgte das große, der ganzen franzöſiſchen Revolu-
tion zum Grunde liegende Rechtsprincip, daß dieſe volonté générale
ohne alle Rückſicht auf beſtehende Rechte ſouverän ſei. Das war es,
deſſen man bedurfte; der Uebergang von dieſem Rechtsprincip der Ver-
waltung zum Inhalt derſelben fehlt gänzlich; allein das zweite Princip
der „Egalité“ wird dann maßgebend für alles, was die ſouveräne
„Liberté“ in der Verwaltung zu thun hat. Die Verfaſſung dagegen, die
Conſtitution, iſt dann die Ordnung, in welcher unter Zuziehung Aller
jener Vertrag geſchloſſen und dieß Recht der Maßregeln des Staats
für ſein neues Leben feſtgeſtellt wird; der Staat iſt hier in die Ein-
zelnen aufgelöst, die Freiheit verwirklicht ſich wie in den alten Repu-
bliken, in der Unterwerfung des Staats unter ſeine Bürger, die zur
rein numeriſchen Herrſchaft der Kopfzahl führt. Das iſt das Recht
des Vertragsſtaats.
Den deutſchen Denkern war der Widerſpruch, der in dieſer Auf-
faſſung der Freiheit lag, doch zu groß und zu greifbar. Bei ihnen
beginnt daher eine anders geartete Arbeit, um jene Frage zu löſen.
Die Deutſchen haben es nie begriffen, wie man den Staat auf den
guten Willen der Staatsbürger zurückführen und damit ὑστεϱον πϱο-
τεϱον aufſtellen könne. Sie ſuchten daher, und ſuchen noch jetzt jene
Berechtigung des Staats gegenüber der Freiheit des Einzelnen, ſtatt in
dem Vertrage des letzteren mit einem Etwas, das zuletzt doch erſt durch
eben dieſen Vertrag ins Leben gerufen werden ſoll, vielmehr im ſitt-
lichen Weſen des Staats ſelber. Der Staat iſt ihnen eben ſo
wenig ein Reſultat des Willens ſeiner Angehörigen, als der Einzelne
ein Reſultat ſeines eignen Körpers. Er iſt durch ſich ſelber da. Um
ihn zu begreifen, muß man das Weſen des geſammten geiſtigen Da-
ſeins erkennen. Es iſt ihnen daher, mögen ſie nun die Sache aus-
drücken wie ſie wollen, eine organiſche, daher von keinem Einzelnen
abhängige, durch irgend eine mehr oder weniger großartige Weltan-
ſchauung gegebene, alſo an und für ſich daſeiende, in ſich ſelbſt ruhende
[26] ſittliche Exiſtenz. Die Freiheit der deutſchen Anſchauung beſteht daher
nicht darin, daß der Staat erſt durch den Staatsbürger geſchaffen wird,
ſondern daß in dem ſittlichen Weſen des Staats die Gränze
der Gewalt deſſelben über dem Einzelnen oder ſein Recht liege.
Das Staatsrecht iſt der deutſchen Staatsphiloſophie daher ein ſitt-
liches Recht, erkannt durch die Philoſophie vom Weſen des Staats.
Und jetzt beginnt daher eine neue Epoche, deren Inhalt nicht mehr wie
beim Wohlfahrtsſtaat die praktiſche Verwaltungsaufgabe des Staats,
ſondern vielmehr der abſtrakte Begriff von Staat und Recht und ſeine
dialektiſche Deduktion iſt. Dieſe Entwicklung beginnt bei Kant, bei
dem der Staat eine Kategorie iſt; bei Fichte erſcheint jene Richtung
in der logiſchen Unmöglichkeit, den Staat dialektiſch durch einen Ver-
trag von Perſönlichkeiten zu begründen, deren Weſen und Freiheit darin
beſteht, an die Haltung ihres Vertrages nicht durch ſich ſelbſt gebunden
zu ſein; bei Hegel iſt der Staat ein immanentes, gegebenes Moment
des ſich entwickelnden Geiſtes, deſſen Daſein ſo wenig wie das irgend
eines anderen Begriffes eines Vertrages bedarf; bei Herbart iſt er
eine Thatſache, alſo kein Produkt; bei Kraus iſt er eine geiſtige Er-
ſcheinung; bei Haller iſt er eine göttliche Inſtitution; bei Stahl iſt
er ein aus der chriſtlichen Weltanſchauung fließendes ſittliches Daſein;
kurz man mag ſehen wohin man will, die deutſche Philoſophie hat den
Begriff des Vertragsſtaats gar nie in ſich aufgenommen. Aber
um ihn dennoch in ſeiner Oberherrlichkeit über den Einzelnen zu be-
gründen, mußte jetzt die Begriffsbeſtimmung und damit das Recht des
Staats aus den höchſten Begriffen der Weltanſchauung überhaupt ent-
wickelt werden. Jene deutſche Idee des Staats mußte ihre Berechti-
gung daraus ſchöpfen, daß ſie ſich als organiſches Moment einer ganzen
ethiſchen und philoſophiſch entwickelten Weltanſchauung darſtellte. Und
daraus folgte nun das, was die Staats- und Rechtsphiloſophie Deutſch-
lands ſeit dem Beginn dieſes Jahrhunderts charakteriſirt. Die Staats-
und Rechtsphiloſophie wird — wir ſagen geradezu unwillkürlich —
aus einer Lehre vom Inhalt des Staats zu einer philoſophiſchen
Deduktion des Staatsbegriffs, deren Grundlage bei den meiſten
wieder der den Staat wie das ganze übrige Leben umfaſſende Begriff
des Rechts iſt. Dieſer rechtliche Staatsbegriff iſt eben daher, den An-
forderungen ſeiner Zeit faſt unwillkürlich entſprechend, durchdrungen von
dem Gefühl, daß die Berechtigung des Staats, die Freiheit des Einzel-
nen zu beſchränken, auf der philoſophiſch-dialektiſchen Rich-
tigkeit des Rechts- und Staatsbegriffes beruhe. So er-
ſcheint der Rechtsſtaat als abſtrakte Staatstheorie, und der charakteri-
ſtiſche Unterſchied dieſer Zeit und der vorhergehenden zeigt ſich am beſten
[27] in Weſen und Inhalt der Rechtsphiloſophie. Während dieſelbe natur-
gemäß in der vorhergehenden Epoche im Grunde kaum etwas anderes
war als eine rationelle Verwaltungslehre, iſt ſie jetzt in das Gegentheil
umgeſchlagen. Sie iſt zu einem ganz abſtrakten philoſophiſchen Syſtem
geworden, das ſich als letztes und höchſtes Ziel die Aufgabe ſtellt, den
reinen Begriff von Staat und Recht zu entwickeln. Dieſer Idee
erſcheinen alle andern Punkte als untergeordnet; aber indem ſie ſich
mit dem nicht mehr beſchäftigt, was die Rechtspflege oder die innere
Verwaltung von ihr fordert, wird ſie dadurch im gewöhnlichen Sinne
des Wortes „unpraktiſch.“ Sie hat eine große, gewaltige Bedeutung;
aber ihre Bedeutung iſt eine begränzte. Ihr Auftreten in dem Gange
der Entwicklung, den wir gezeigt, iſt zwar ein ganz natürliches, aber
ihre Herrſchaft kann keine bleibende ſein. Sie hat tiefe Spuren im
deutſchen Geiſte hinterlaſſen; aber erfüllen konnte ſie ihn auf die Dauer
nicht. Denn wenn die Idee des Rechtsſtaats durch ſie für diejenigen
wohl begründet ward, die über denſelben philoſophirten, ſo löste ſie
keineswegs alle Fragen und Widerſprüche in dieſem Rechtsſtaat für die,
welche in ihm leben ſollten. Hier entſtand daher eine neue Bewegung
und eine dritte Geſtalt der letzteren.
Gerade dadurch nämlich, daß die höhere Wiſſenſchaft jetzt bei den
abſtrakten Fragen ſtehen blieb, ward ſie denen theils entfremdet, theils
überflüſſig, die nun im wirklichen Leben mit dem Staate zu thun, ſich
ihm zu unterwerfen, ihre Freiheit von ihm beſchränken zu laſſen hatten.
Denen half der „Begriff“ ſehr wenig. Der wirkliche Staat und ſeine
Vertreter acceptirten zwar das „Recht“ als Grundlage ihrer Berechti-
gung; aber das Recht war eben unbeſtimmt, unfertig, beſtritten. Die
neue Staatsgewalt, bis dahin nur in einem ſehr kleinen Theile Deutſch-
lands von einer Volsvertretung umgeben, zögerte daher keinen Augen-
blick, mit ihren Verordnungen und Verfügungen in das Geſammtleben
einzugreifen, und auf dieſe Weiſe einſeitig und im Einzelnen ein poſi-
tives öffentliches Recht zu bilden, das in Inhalt und Richtung gar
wenig Beziehungen zum „Begriff des Staats“ hatte, und deſſen Grund-
lage, wie es in dieſer Epoche der Staatenbildung ſehr natürlich war,
die zum Theil ganz rückſichtsloſe Unterwerfung des Einzelnen unter den
Staatswillen zur Folge hatte. Der alte Polizeiſtaat ging daher trotz
der neuen Rechtsphiloſophie keinesweges unter; er lebte in viel größeren,
ernſtern Verhältniſſen auf, und läßt jetzt die Unb[e]quemlichkeiten, die er
für den Einzelnen mit ſich bringt, in dem Gefühle der Gefährdung viel
höherer und mächtigerer Intereſſen zurücktreten. Der Unterſchied dieſer
Epoche von der des vorigen Jahrhunderts lag weſentlich nur darin, daß
die Staatsgewalt ſich nicht mehr ſo ſehr in die kleinen, rein individuellen
[28] Angelegenheiten des täglichen Lebens miſchte; die großen Fragen des
Staatslebens unterwarf ſie dagegen ziemlich rückſichtslos ihrer eignen
und einſeitigen Entſcheidung, namentlich in Deutſchland. Gegen dieſe
Bewegung nun, welche die individuelle Selbſtändigkeit und die bürger-
liche Freiheit ernſtlich zu bedrohen ſchien, ſuchte die Wiſſenſchaft ſowohl
als die Praxis einen Halt; und dieſen Halt fanden beide in derjenigen
Auffaſſung des Staats, welche denſelben als ſelbſtändiges und damit
berechtigtes Individuum dem Einzelnen als einem nicht weniger
ſelbſtändigen und berechtigten Weſen gegenüberſtellt. So entſteht der,
dem deutſchen Staatsleben gleichfalls eigenthümliche, in keiner andern
Sprache genau wiederzugebende Begriff des „Staatsbürgers“ und des
„ſtaatsbürgerlichen Rechts.“ Von ihm aus wird die Staatswiſſenſchaft
vor allen Dingen zu einer Wiſſenſchaft des Rechts der öffentlichen
Gewalten, zu einer Feſtſtellung der Gränze zwiſchen dem Staat und
dem Staatsbürger, und zu derjenigen Auffaſſung der ſtaatsbürgerlichen
Freiheit, welche die letztere in der rechtlichen Begränzung der
Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Staatsbürger er-
kennt. Auch dieſe Auffaſſung des Staats enthält denſelben als einen
„Rechtsſtaat;“ aber das Recht dieſer Staatsidee liegt nicht in dem
Rouſſeau’ſchen Recht auf Theilnahme am Staatswillen oder dem ver-
faſſungsmäßigen Rechtsſtaat; es beſteht auch nicht in der philoſophiſchen
Idee der ſittlichen Berechtigung des Staatsbegriffes, ſondern vielmehr
in dem Rechtsprincip, daß die Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen
nur zu demjenigen berechtigt ſei, was die geltenden Beſtimmungen
wirklich zulaſſen. Es iſt daher die Idee des poſitiven Rechts-
ſtaats, die wir hier als dritte Geſtalt deſſelben beſtimmen, und die
bürgerliche Freiheit in demſelben iſt weder eine verfaſſungsmäßige noch
eine ideale, ſondern eine bürgerlich rechtliche, und damit vorwie-
gend negative Freiheit.
Das ſind die beiden großen Grundformen der deutſchen Staatsidee.
Die deutſche Wiſſenſchaft vom Staate, welche den Begriff der Verwal-
tung bisher nicht gekannt hat, hat daher auch den Zuſammenhang
beider nicht erkennen können. Sie hat ſich hier wie faſt in allen ihren
Arbeiten, welche verſchiedene Geſtaltungen des geiſtigen oder des materiellen
Lebens umfaſſen, in der beſchränkten Vorſtellung bewegt, daß es genüge,
das Verſchiedene neben einander zu ſtellen, und dieſe Zuſammenſtellung
für Vergleichung, das Nacheinander für eine Geſchichte zu halten. Das
Verſtändniß der Verwaltungslehre wird ſie zwingen, dieſen Standpunkt
gegen einen höheren zu vertauſchen. Wir können unſrerſeits den Inhalt
der Idee des Rechtsſtaats nicht weiter verfolgen. Allein es wird uns
eine Bemerkung geſtattet ſein, deren Begründung ſchon an ſich von
[29] Wichtigkeit werden dürfte. Die logiſch-ethiſche Idee des Rechtsſtaats
nämlich entſteht und wirkt namentlich in denjenigen Ländern, die bei
großer Volksbildung wenig verfaſſungsmäßige Freiheit haben. Der Be-
griff des Staatsbürgerthums und ſeines Rechts dagegen hat ſeine Hei-
math da, wo zwar die Verfaſſung beſteht, aber noch nicht zur wahren
Harmonie der Staatsgewalten ausgebildet, nur noch die rechtliche Form
des Kampfes zwiſchen Regierung und Volk abgibt. Daher iſt die Hei-
math der erſteren Geſtalt der Staatsidee der Norden Deutſchlands,
namentlich Preußen, die Heimath der zweiten Geſtalt der Süden, na-
mentlich Württemberg, und der eigentliche Träger und zum Theil
Schöpfer dieſer negativen Rechtsſtaatsidee iſt Robert von Mohl, wäh-
rend die Formulirung der, wir können nicht anders ſagen als „abſtrakten“
Verfaſſungsfrage weſentlich durch Rotteck gegeben, und durch Aretin
zu einer förmlichen Staatswiſſenſchaft ausgebildet ward. Doch gehört
die weitere Darſtellung dieſer Punkte einer andern Arbeit.
Wenden wir uns jetzt aber der Idee der Verwaltung wieder zu,
ſo wird, glauben wir, die Beantwortung der Frage leicht, welche Stel-
lung in dieſer Epoche die innere Verwaltungslehre finden
müßte.
In der That nämlich war in jener Auffaſſung für die letztere gar
kein Raum. Wir haben geſagt, daß jede Verwaltungslehre nur als
Conſequenz und Ausdruck einer Geſammtauffaſſung des Staats erſchei-
nen kann. Der Rechtsſtaat aber in allen ſeinen drei Formen enthält gar
keine Anknüpfung für das Weſen und den Inhalt der innern Verwaltung.
Er will das Recht. Das iſt die Gränze zwiſchen den ſelbſtändigen
Perſönlichkeiten; die Verwaltung dagegen geht im Namen der Geſammt-
entwicklung eben über dieſe Gränze hinaus. Die Abneigung gegen die
polizeiliche Gewalt fand daher in dieſem Begriff einen treuen Verbün-
deten, und ſo wird es erklärlich, daß mit dem Anfang dieſes Jahrhun-
derts die eigentliche Verwaltungslehre aus der geſammten
Staatswiſſenſchaft ſowohl in der Literatur als auf den
Univerſitäten geradezu verſchwindet und alle Theorie und
alles Nachdenken über dieſelbe von Philoſophie, conſtitutionellen Fragen
und juriſtiſchen Kämpfen gegen das Verwaltungsrecht abſorbirt wird.
Natürlich nun konnte man trotzdem des Inhaltes der Verwal-
tungslehre, oder wie man ſie unglücklicher Weiſe noch immer nannte,
der „Polizeiwiſſenſchaft“ doch nicht ganz entbehren. Man mußte ſie in
irgend einer Form aufnehmen. Und jetzt ſehen wir daher eine Reihe
von Erſcheinungen auftreten, welche, äußerlich in keiner Beziehung zum
Begriffe des „Rechtsſtaats,“ dennoch die Stellung enthalten, in welche
eben durch jene Idee die Verwaltungslehre gedrängt wird. Von dem
[30] leitenden und herrſchenden, ihre Einheit ſetzenden Begriff verlaſſen, tritt
ein Zuſtand der inneren und äußeren Auflöſung der Verwal-
tungslehre in lauter einzelne Theile und Richtungen ein,
denen der Mangel eines Begriffes der Verwaltung überhaupt und eben
ſo ſehr der Mangel eines für das ganze Gebiet gültigen Princips ent-
ſpricht, in welchem ſogar das Bewußtſein von dem Mangel der wiſſen-
ſchaftlichen Auffaſſung der Verwaltung verſchwindet, und nur ſehr
unvollkommen erſetzt wird durch das Streben jeder Richtung, für ſich
das ihrige thun zu wollen. Es wird wohl unabweisbar ſein, dieſe Epoche,
in der wir uns noch befinden, in ihren einzelnen Haupterſcheinungen
zu charakteriſiren, und dann die verſchiedenen Richtungen der Theorie
zu bezeichnen, in die ſich die Verwaltung, der ihr Haupt, die Staats-
idee, fehlt, aufgelöst hat. Erſt damit glauben wir, wird der Verſuch,
Staat und Verwaltung wieder in ihren ethiſchen und logiſchen Zuſam-
menhang als Grundlage der ganzen Verwaltungslehre zu bringen, als
ein berechtigter, ja als ein nothwendiger erſcheinen.
6) Das Schickſal der Verwaltungslehre in dieſer Epoche
bis auf die Gegenwart.
Wir haben mit dem Folgenden den nicht leichten Verſuch zu machen,
gegenwärtige Dinge hiſtoriſch, das iſt als der Vergangenheit angehörig,
darzuſtellen. So viel ſich auch dagegen ſagen läßt, ſo können wir es
dennoch nicht vermeiden. Wir ſind der innigſten Ueberzeugung, daß in
der innern Verwaltungslehre der Schwerpunkt aller Staatswiſſenſchaft
liegt; bei dem gegenwärtigen Zuſtand derſelben iſt kaum eine Kenntniß,
geſchweige denn ein Verſtändniß möglich; wir müſſen deshalb, wollend
oder nicht, ihn als einen bereits überwundenen behandeln. — Und am
Ende wird ja doch auch der Werth, den jene Beſtrebungen haben, nicht
dadurch aufgehoben, daß er nicht immer derſelbe bleibt. Auch unſrer
Auffaſſung wird die Zeit kommen, in der ſie von größeren Gedanken
und Thatſachen weit überragt werden wird. Und ſo ſtehen wir nicht
an, unſer Urtheil über ganze Gebiete der gegenwärtigen ſtaatswiſſen-
ſchaftlichen Literatur beſtimmt zu formuliren.
Wir haben den Charakter der Gegenwart, wie ſich derſelbe durch
den Sieg und die Herrſchaft der Idee des Rechtsſtaats in Beziehung auf
die Verwaltungslehre herausgeſtellt hat, als die Auflöſung der
Wiſſenſchaft der Verwaltung bezeichnet. Wir wollen jetzt ver-
ſuchen die Richtungen zu beſtimmen, in welchen dieſe Auflöſung ſtatt
findet. Sie ſind mit kurzen Worten die rein kameraliſtiſche Form,
die juriſtiſche, und die volkswirthſchaftliche. Alle drei laufen
[31] neben einander, aber eine iſt der andern fremd. Das Bewußtſein ihrer
Zuſammengehörigkeit iſt verloren, mit dieſem Bewußtſein auch das
Streben, wenigſtens in jedem dieſer Theile des großen Gebietes der Ver-
waltungslehre ein eigenes Princip, ein eigenes geiſtiges Leben zu er-
zeugen. Die Verwaltungslehre, die einſt den ganzen Begriff des Staats
beherrſchte und durchdrang, iſt in ihnen herabgeſunken zu einem
Mittel für andere Aufgaben, zu einem bloßen erfüllenden Moment von
ganz andern Wiſſenſchaften, und ſelbſt da wo ſie in ihrer vollen Größe
ſich noch erhebt, in den einzelnen Theilen der Lehre, iſt ſie ohne eine
klare, zuletzt doch das rechte Maß findenden Verbindung mit dem Gan-
zen. Das iſt der gemeinſame Charakter des Folgenden. Und wir können
daher ſchon hier ſagen, daß alle jene Richtungen zwar nichts Verkehr-
tes und Werthloſes bringen, daß ihnen aber der höchſte Werth durch
die Verbindung mit dem höchſten, einheitlichen Gedanken mangelt. Die
Aufgabe kann daher nicht die ſein, ſie zu beſeitigen, ſondern viel-
mehr nur die, ſie zu vereinigen.
Wir glauben mit dieſer erſten Gruppe von Erſcheinungen ſehr
kurz ſein zu können, da wir im Weſentlichen kaum einen Widerſpruch
zu erwarten haben. Die Cameralia entſtanden bekanntlich als Lehre
für diejenigen volkswirthſchaftlichen Bildungszweige, welche die Domänen-
verwaltung für die Anſtellung in den verſchiedenen Domänen des Staats
brauchte. Sie hatten daher ihrer urſprünglichen Idee nach mit der Ver-
waltung, oder gar mit dem Begriffe des Staats, gar nichts zu
thun. Sie bildeten daher auch in keiner Weiſe ein Syſtem, kümmerten
ſich wenig um die Funktionen, und ſtanden gleich anfangs da als eine
ganz praktiſche Lehre von allerlei wirthſchaftlichen Dingen. Als nun
aber der Begriff der Verwaltung im Rechtsſtaat verſchwand, die Auf-
gaben derſelben aber, namentlich die volkswirthſchaftlichen blieben, war
es natürlich, daß man ſich für die letztere zunächſt eben an jene Wiſſen-
ſchaften wendete, welche die Beſchäftigungen mit den praktiſchen Fragen
der Wirthſchaft lehrten, und ſo entſtand die natürliche Tendenz ſie zu
einer Art praktiſcher Nationalökonomie zu machen. Es lag nahe,
dieſem Stück der Theorie die Beantwortung der Frage aufzutragen,
was der Staat jetzt nicht bloß für ſeine eigenen wirthſchaftlichen Domanial-
intereſſen, ſondern was er für die Volkswirthſchaft als ſolche zu
thun habe, denn in den Domänen des Staats war der Staat ſelbſt
Wirthſchafter; er mußte wiſſen, was den Unternehmungen frommte,
und wußte und verwendete er das für ſich, ſo konnte er es auch für
das Ganze verwenden. So ergab ſich leicht die Vorſtellung, daß in
[32] dieſen Cameralwiſſenſchaften ein höchſt werthvolles Stück der prak-
tiſchen Verwaltungsaufgabe liege. Und ſo entſtand die Richtung,
in welcher die Frage nach Inhalt und Aufgabe der Verwaltung
des Innern, die Frage nach demjenigen was der Staat für das
Wohl der Staatsbürger zu thun habe, in ihrer poſitiven, mate-
riellen Seite zum Theile eine Frage der Cameralwiſſenſchaft ward.
Die „Cameralia“ wurden das zwar ſyſtemloſe, ungeordnete, aber keines-
wegs einflußloſe Gebiet, in das die letzten Reſte der Verwaltung des
Innern fortlebten. Es iſt von dieſem, aber faſt auch nur von dieſem
Geſichtspunkt von Intereſſe, die hiſtoriſche Entwicklung der Cameral-
wiſſenſchaften als den kindlichen, ungebildeten Träger der Theorie der
innern Verwaltung zu verfolgen.
Allerdings nun würde zur gründlichen und umfaſſenden Darſtellung
dieſes Theiles des wiſſenſchaftlichen Lebens ein viel größerer Raum ge-
hören, als wir daran zu wenden haben. Auch wird die Arbeit ſelbſt
erſt dann rechten Werth gewinnen, wenn Begriff und Inhalt der Verwal-
tung in der geſammten Staatsauffaſſung recht feſtſtehen, und wir dürfen
daher dieß ganze Gebiet berufenen Händen überlaſſen. Wir begnügen
uns daher, Weſen und Werth dieſer Richtung, und den Grund ihres
Vorſchreitens anzugeben.
Aus der reinen, materiellen Praxis entſtanden, hatte dieſe ganze
Richtung kaum die geringſte Kenntniß einer höhern philoſophiſchen Auf-
faſſung. Der Werth deſſen was ſie leiſtete, beſtand ihr von vornherein
in dem Preiſe, für den ſie das Geleiſtete verkaufen konnte. Sie begrün-
det nichts durch den Staatsbegriff, ſie übernimmt keine wie immer ge-
artete Verantwortlichkeit für eine Staatsidee, ſie führt keinen ihrer Sätze
auf das Weſen des Staats zurück. Es fehlt ihr namentlich jener Schwung,
jene Wärme der wahren Wiſſenſchaft, die ſelbſt die trockene Wohlfahrts-
idee ſich bewahrt hatte. Sie iſt daher genau im Einzelnen, aber gleich-
gültig für das Ganze. Sie hat nicht nur kein Syſtem, ſie hat auch
kein Bedürfniß nach demſelben; ja es iſt ihr ein ſolches unbequem, da
ſie es nicht zu verwenden wüßte, während ſie doch bis zu einem ge-
wiſſen Grade von ihm beherrſcht und beſtimmt wäre. Sie iſt deßhalb
zum Theil geradezu negativ gegen daſſelbe, und in ihren ſpätern, theils
auch gegenwärtigen Formationen wird ſie ſogar negativ gegen jede,
auf das höhere Leben und Weſen des Staats gerichtete Anſchauung,
die ſich in der Verwaltung Bahn brechen will. Sie iſt die rein mate-
rielle, die eigentlich realiſtiſche Methode der Staatsverwaltung.
Nun hat zwar jedes an irgend einem Orte ſeinen Platz und Werth;
aber ohne einen Staatsbegriff kann auch im Gebiete dieſer Lehre denn
doch auf die Dauer dem wirklichen Staate ſo wenig als der Wiſſenſchaft
[33] genügt werden. Es war daher ganz natürlich, daß dieſe realiſtiſche
Methode zuletzt den Staat ſelbſt verließ, und langſam, aber unaus-
bleiblich aus einem Theil der Staatswiſſenſchaften zu einer ganz prak-
tiſchen Lehre, zu einer Encyclopädie der Gewerbslehre ward.
Wir heben hier nur den letzten, in ſeinem Gebiet hoch bedeutenden
Vertreter hervor, deſſen Werk dieſelbe mit ihrer bedeutendſten That
abſchließt. Das iſt Baumſtark in ſeiner „Encyclopädie der Came-
ralwiſſenſchaften.“ Baumſtark wollte auf dem Gebiete der letztern
leiſten, was Berg auf dem Gebiete der frühern Polizeiwiſſenſchaft,
Fiſcher auf dem der Cameralpolizei leiſtete; und ſo weit eines einzelnen
Menſchen Umſicht und Gelehrſamkeit gehen, iſt ihm das gelungen. Es iſt ein
im Ganzen unmögliches, im Einzelnen vortreffliches Buch. Es iſt ein Ver-
ſuch die Gewerbslehre von dem Standpunkte aus zuſammen zu faſſen
und in allen Theilen einzeln gründlich zu behandeln, von dem ſie eben
gar nicht behandelt werden kann, vom Standpunkt des Staatsbegriffes.
Es wird ein ſolches Buch nicht mehr geſchrieben werden; aber es be-
hält ſeine Stellung in der Geſchichte der Wiſſenſchaft. Ein ſchwacher
Reflex derſelben Richtung, und den Uebergang zur Volkswirthſchafts-
pflege bezeichnend iſt F. G. Schulze’s „Nationalökonomie oder Volks-
wirthſchaftslehre“ (war dieſe Ueberſetzung ſo nothwendig?) „vornehm-
lich für Land-, Forſt- und Staatswirthe 1856,“ die weder an Gründ-
lichkeit noch an, wir möchten ſagen wiſſenſchaftlichem Bewußtſein mit
Baumſtark auch nur entfernt zu vergleichen iſt. — Die ganze Richtung
iſt wohl definitiv in die Gewerbslehre aufgelöst.
Eine weſentlich verſchiedene Erſcheinung zeigt uns nun die zweite
große Richtung, in welche die Verwaltungslehre verläuft. Es iſt die,
in mannigfacher Form und in ſehr verſchiedenen Graden auftretende
Verſchmelzung der Verwaltung mit dem öffentlichen Recht überhaupt,
oder wie es namentlich ſeit Gönners deutſchem Staatsrecht heißt, dem
Staatsrecht.
So wie nämlich aus dem zerfallenden deutſchen Reiche ſich die
einzelnen Staaten bilden, erſcheint natürlich dem Juriſten und ſelbſt
dem Volke jeder Staat als ein Ganzes, das alſo auch das ganze Ge-
biet der Verwaltung enthalten muß. Da nun aber der Begriff und das
Syſtem der letztern als ſelbſtändige Theorie fehlte, ſo war es natürlich,
daß man dieſen Theil des Staatsinhalts zunächſt da ſuchte, wo er
wenigſtens formell vorhanden war. Und das war eben in dem Gebiete
desjenigen öffentlichen Rechts, das man theils die Polizei, theils die
Regalien nannte. Unrecht hatte man darin nicht; denn wie wir
Stein, die Verwaltungslehre. II. 3
[34] ſehen werden, iſt wirklich das Verwaltungsrecht die gültige und äußer-
liche Formulirung der Verwaltung ſelbſt. Nur war die Idee der Ge-
meinſchaft des innern Lebens für die deutſchen Staaten verſchwunden;
hätte man ſie erhalten können, ſo wäre vielleicht aus dieſem Verwal-
tungsrecht eine Verwaltungslehre auch im Ganzen entſtanden, wie ſie
für gewiſſe einzelne Gebiete wirklich entſtand. Aber das war eben nicht
der Fall. Die Behandlung der Verwaltungsgegenſtände mußte ſich
daher hier auf eine rein juriſtiſche Baſis zurückziehen. Der Standpunkt
liegt nicht mehr, wie noch bei Berg, in der Unterſuchung deſſen, was
für die einzelnen Verwaltungsaufgaben an ſich richtig, ſondern viel
mehr in dem, was poſitiv für die Thätigkeit der Verwaltung ge-
ſetzlich iſt. Die Verwaltung erſcheint hier daher nicht als ein orga-
niſcher Begriff des Staats, oder in ethiſcher oder logiſcher Verbindung
mit demſelben, ſondern vielmehr als eine ganz natürliche Abthei-
lung innerhalb des öffentlichen oder Staatsrechts. Das
Syſtem dieſer Arbeiten wird dem entſprechend nicht philoſophiſch entwickelt,
ſondern es entſteht gleichſam von ſelbſt aus dem Stoffe, mit dem er ſich
beſchäftigt. Die Aufgabe dieſer Darſtellungen beſteht deßhalb auch
nicht darin, das ganze Gebiet der Verwaltung ſyſtematiſch zu erſchöpfen,
ſondern nur alles dasjenige aus der Verwaltung zu behandeln, wofür
in der poſitiven Geſetzgebung geltende Beſtimmungen vorhanden ſind.
Es war daher natürlich, daß dieſe Richtung, die in Frankreich das ſelb-
ſtändige Gebiet des droit administratif erzeugte, in England aus guten
Gründen ganz fehlte, und durch die Lehre vom Volksreichthum zum Theil
erſetzt ward, in Deutſchland mit unſerm Jahrhundert definitiv den Bo-
den des „Reiches“ verließ, dem noch Berg angehört, und ſich den ein-
zelnen deutſchen Territorien zuwendete. Der erſte und bedeutendſte Ver-
treter dieſer rein poſitiven Richtung, bei dem jedoch das „Reich“ noch
nicht untergegangen iſt, ſondern über die ganze Arbeit eine gewiſſe eigen-
thümliche Stimmung verbreitet, die an die Bearbeitung des deutſchen
Reichsrechtes mahnt, iſt F. C. J. Fiſcher, Lehrbegriff ſämmt-
licher Cameral- und Polizeirechte. Sowohl von Teutſchland
überhaupt, als insbeſondere von den preußiſchen Staaten. 1785. 5. B.
Fiſcher gehört noch zu den alten deutſchen Gelehrten. Er hat für jede
Abtheilung, für jeden Paragraphen in jeder Abtheilung noch mög-
lichſt vollſtändiges Material, über deſſen poſitiven Inhalt er durch keine
Reflexion hinausgeht; ſein Werk wird für die Geſchichte aller einzelnen
Theile der innern Verwaltung geradezu unſchätzbar, da er noch viel
ſpecieller iſt als Berg. Aber er iſt zugleich der erſte, der ſich keinen
Augenblick mehr um Begriff und Idee des Staats, um Ethik und Logik
kümmert, ſondern unmittelbar auf die Subſtanz des poſitiven öffent-
[35] lichen Rechts aller, auch der detaillirteſten Verwaltungszweige eingeht.
In dieſer Beziehung iſt er kaum erreicht, geſchweige denn übertroffen;
ſein Werk iſt ein Monument deutſchen Fleißes und deutſcher gelehrter
Zuverläſſigkeit, aber jeder höheren Anknüpfung baar. Doch wird die
künftige Geſchichte der Verwaltung den Mann als den Vitriarius der
Verwaltungsrechtskunde dereinſt zu würdigen wiſſen. Hinter ihm ent-
ſteht eine große Lücke, die nur die Sammlung von Bergius einiger-
maßen ausfüllt. „Teutſchland überhaupt“ war nicht mehr da. Die
einzelnen „Staaten“ Deutſchlands conſtituiren und ordnen ſich. Jeder
von ihnen hat nun, wenn auch keine Verfaſſung, ſo doch eine Verwal-
tung. Die Kenntniß dieſer Verwaltung iſt für die Aemter nach wie
vor nothwendig. Der Gedanke eines Verwaltungsrechtes iſt dabei zwar
nothwendig und natürlich, aber er iſt neu. Man braucht daher Zeit,
bevor man ihn verarbeitet; unterdeſſen aber wird der concrete Inhalt
deſſelben mit dem öffentlichen oder Staatsrecht überhaupt verſchmolzen
und ſo demſelben das erſte Element ſeiner neuen Geſtalt gegeben. Allein
mitten in dieſer Verſchmelzung erhält ſich die Erkenntniß, daß die Ver-
waltung denn doch ein beſonderes Gebiet ſei, und daß es ſchwierig
ſcheinen müſſe, gewiſſe Dinge, wie z. B. Zählungen, oder Maß- und
Gewichtsordnungen u. dergl. als „Staatsrecht“ zu bezeichnen. Auch
war denn doch die Idee der alten eudämoniſtiſchen Staatsphiloſophen
nicht ſo ganz verſchwunden, daß nicht der Gedanke einer innern, mit
dem Staatswohl als letzten Aufgabe gegebenen Einheit jener Verwal-
tungsgeſetze und Verordnungen übrig geblieben wäre. Daran endlich
ſchloß ſich das rein praktiſche Bedürfniß der amtlichen Verwaltung, über
die Maſſe dieſer Geſetze eine Ueberſicht zu haben. Alle dieſe Momente
zuſammengenommen erzeugten nun jene mehr oder weniger ſyſtematiſche
Sammlungen, welche die Verwaltungsgeſetzgebung für ſich in ein Ganzes,
als zunächſt äußerlich, dann auch innerlich von dem übrigen Staatsrecht
geſchieden, umfaſſen. Man kann in dieſer rein juriſtiſchen Geſtal-
tung der Wiſſenſchaft der Verwaltung, die wir mit dem Ausdruck der
„Verwaltungsgeſetzkunde“ am kürzeſten bezeichnen, in drei Formen
verfolgen.
In ihnen nämlich entſtand die Geſammtheit jener Behandlungen der
Verwaltung und des Verwaltungsrechts, die wir als die Verbindung
der Verwaltungslehre mit dem Staatsrecht oder die öffentlich recht-
liche Behandlung der Verwaltung nennen, bei der wir aber
freilich je nach dem Vorwiegen des einen oder des andern der obigen
Momente die folgenden drei übrigens leicht verſtändlichen und unſern
Leſern gewiß meiſt bekannten Grundformen unterſcheiden:
I. Die erſte und natürlichſte, wenn auch unvollſtändigſte iſt die,
[36] in welcher wir die geltenden Geſetze für die einzelnen ſpeziellen Gebiete
der Verwaltung zuſammenſtellen oder auch behandeln, wie Poſtweſen,
Schulweſen, Preſſe u. ſ. w. Dieſe einzelnen Arbeiten gehen natürlich
ſeit dem Beginne der Staatswiſſenſchaft ihren regelmäßigen Gang fort
und haben unendlich viel genützt. Im Allgemeinen aber haben dieſel-
ben ihren Charakter geändert, und dieſe Aenderung hängt innig mit
dem ganzen Gange der juriſtiſchen Studien zuſammen. Bis zum Ende
des vorigen Jahrhunderts behandeln alle dieſe Abhandlungen, wie ſie
namentlich von Fiſcher, Berg, Bergius u. a. citirt und benützt werden,
ihre in die Verwaltung ſchlagenden Gebiete weſentlich juriſtiſch und
ſelbſt caſuiſtiſch. Sie wollen alle nicht ſo ſehr das Weſen und Auf-
gabe des einzelnen Verwaltungszweiges, als die Berechtigung der ein-
zelnen öffentlichen Körper, Umfang und Inhalt ihrer Competenz dar-
legen, da gerade das Letztere bei dem frühern Zuſtande Deutſchlands
zwiſchen all den kleinen und großen Souveränetäten und Körperſchaften
beſtändig ſtreitig war. Die Verwaltung war ihnen, da ſie ſich ohnehin
nur im engen Kreiſe ſpezieller Fragen bewegen und daher den höheren
Grund einer ethiſchen Aufgabe des Staats nicht gebrauchen können,
keine ideale Pflicht, ſondern ein poſitives Recht. Sie ſind eben deßhalb
gezwungen, ſehr oft auf alte hiſtoriſche Verhältniſſe, zwar nicht vom
Standpunkt der Rechtsgeſchichte, ſondern von dem des Rechtsſtreites und
Beweiſes zurückzugehen; allein das nimmt ihnen nicht ihren hiſtoriſchen
Werth. Es wird die Zeit kommen, wo man ſie wieder eifrig ſuchen
und benützen wird. Einen Verſuch dieſer Benützung im kleinen Maß-
ſtabe bietet unſere Arbeit. — Mit unſerm Jahrhundert verſchwindet nun
das hiſtoriſche Element aus dieſen Arbeiten, weil es ſeine praktiſche An-
wendbarkeit für den Beweis der geltenden Rechte verloren hat, und da-
mit nehmen alle Arbeiten über die einzelnen Gebiete der Verwaltung
einen weſentlich andern Inhalt und einen auch äußerlich ganz verſchie-
denen Gang ihrer Darſtellungen an. Es beginnt die gegenwärtige, für
die ganze Verwaltungslehre ſo hochwichtige Epoche, die wir die ratio-
nelle Bearbeitung der Verwaltungsfragen nennen können. Auch das
nun iſt nicht mit einemmale entſtanden. Da nämlich in dieſer Zeit zu-
nächſt die neuentſtehende, meiſt ganz poſitive Verwaltungsgeſetzgebung
die einzelnen Fragen rechtlich entſcheidet, ſo kommt es den Special-
arbeiten und Sammlungen vor allen Dingen darauf an, eben dieß
geltende Recht zuſammenzuſtellen. Sie werden daher zuerſt mehr oder
weniger Sammlungen zum Amtsgebrauch, und ſind als ſolche höchſt
wichtig, da oft ſie allein uns das Material zugänglich machen. Mit
dem Auftreten der Theilnahme der Volksvertretung an den Geſetzgebungen
tritt dann aber wieder ein neues Element ein. Die Volksvertretung
[37] will ſtatt der Thatſache des Beſtehenden in den meiſten Fällen Gründe
für das Neue, das ſie herzuſtellen wünſcht. Die Specialarbeiten aus
dem Rechte der Verwaltung fangen daher jetzt an, jeden ihnen eignenden
Gegenſtand theils rationell mit allen möglichen ſachlichen Erwägungen,
theils auch hiſtoriſch zu behandeln, theils endlich ſogar die Vergleichung
fremder Verwaltungsbeſtimmungen hinzuzufügen. Dadurch wird viel
gewonnen. Aus rein objektiven, gegen adminiſtrativen Werth und Un-
werth des einmal geltenden Stoffes ganz gleichgültigen Sammlungen
entſtehen jetzt förmliche Unterſuchungen, Abhandlungen, eingehende
und zum Theil höchſt ausgezeichnete Werke, die für ihre Gebiete von
unendlichem Nutzen ſind. Es iſt ganz natürlich, daß dabei ſehr viel
Gerede und ſehr viel Parteilichkeit und Einſeitigkeit unterläuft; allein
mehr und mehr wird es der Literatur klar, daß man das Weſen des
Gegenſtandes, ſeine concrete Natur und ſein Leben durchdringen
und erfaſſen müſſe, um aus demſelben das richtige Ver-
waltungsrecht bilden zu können. Man kann dieſe Bewegung
der rationellen Behandlung der Verwaltungsfragen, die namentlich ſeit
etwa dreißig Jahren ſich Bahn gebrochen, nicht hoch genug anſchlagen.
Sie iſt es, welche die Verwaltung aus ihrer abſtrakten, gegen die
großen Geſetze und Thatſachen der wirklichen Welt gleichgültigen Stel-
lung herausgeriſſen, und ſie gezwungen hat, die Dinge zu kennen, ehe
ſie ſie verwalten will. Sie hat die Wiſſenſchaften, die früher ganz
außerhalb der Verwaltung lagen, Chemie, Phyſik, Naturlehre u. a.
in ihren Bereich gezogen, und ſie der Verwaltung zum Grunde gelegt.
Sie hat dadurch bewirkt, was bis zu einem gewiſſen Grade als höchſt
natürlich und wohlthätig angeſehen werden kann, daß ſich die Verwal-
tung in ihren concreten Aufgaben den Grundſätzen und Lehren der
übrigen Wiſſenſchaften unterordnet, ſo daß das geltende Verwaltungs-
recht ſelbſt nur noch als ein Moment an der Darſtellung des Verwal-
tungszweiges erſchien, und in dieſer ſeine beſtändige und lebhafte Kritik
findet. Das iſt ohne Zweifel vortrefflich, und Niemand wird ohne die
größte Achtung die Literatur über das Bildungsweſen, über die Preſſe,
über Eiſenbahnen, Münze, Maß und Gewicht, Bankweſen, Landwirth-
ſchaft, Forſtwirthſchaft, Bergbau, Gewerbe, anderes, nennen. Es iſt
keine Frage, daß dieſe ganze Behandlungsweiſe, wie ſie ſich aus der
urſprünglich rein caſuiſtiſchen Specialliteratur des vorigen Jahrhunderts
herausgebildet hat, einen unendlichen Fortſchritt bildet und dem weiteren
Fortſchritte überdieß zum Grunde liegt, ſei es, daß wir dabei großen
Werken wie Franke’s Medicinalpolizei, Hübners Bankweſen, Hundes-
hagens Forſtpolizei, Hingenaus Bergrecht, Knies’ Telegraphenweſen,
Kries’ Armenweſen, Bitzers Heimathsweſen, Rönne’s landwirthſchaftliche
[38] Polizei, Kochs Agrarweſen und hundert andern, oder den gleichfalls
nach Hunderten zählenden Aufſätzen in den Zeitſchriften, oder ganzen
Encyclopädien begegnen. Nur das Eine darf man dabei nicht ver-
geſſen, daß wir mit ihnen alles bis auf die Einheit der Verwaltungslehre
beſitzen. Die Verwaltungslehre wird nie ohne ſie den Namen einer
Wiſſenſchaft verdienen, aber mit ihnen allein haben wir noch keine
Wiſſenſchaft der Verwaltung. — Die folgende Arbeit ſoll es
verſuchen, für dieß ſpecifiſche Element der Einheit die Grundlagen auf-
zuſtellen.
So hat dieſe erſte Richtung ihre hochbedeutende Entwicklung.
Während dieſe aber allmälig die juriſtiſche Baſis verläßt, hält die zweite
ihrer Natur nach daran feſt und entwickelt ſich mehr ihrem Umfang als
ihrem Inhalt nach.
II. Dieſe zweite Richtung können wir wohl kurz und erſchöpfend
als die der territorialen Verwaltungsgeſetzſammlungen be-
zeichnen, wie ſie in möglichſt vollſtändiger Weiſe früher Kopetz und
jetzt Stubenrauch für Oeſterreich, Funke für Sachſen gegeben haben.
Wir haben über dieſelben nichts hinzuzufügen, als daß ſie, weſentlich
praktiſcher Natur, auch nur an das praktiſche Bedürfniß der Kenntniß
der beſtehenden Geſetze denken, dabei aber jedes Syſtems baar ſind,
und deßhalb der Ueberſichtlichkeit und der feſten Gränzen ermangeln,
ſo daß man, hätten ſie nicht ausführliche Wortregiſter, ihnen das Syſtem
der franzöſiſchen adminiſtrativen Dictionnaires vorziehen würde, das
bekanntlich durch Block ſeinen beſten Ausdruck gefunden. Das wird
erſt dann beſſer werden, wenn man ſich erſt in der Verwaltung über
ein Syſtem einigen wird. Wird das in der deutſchen Wiſſenſchaft je
möglich werden?
III. Die dritte Richtung iſt nun in ihrer Weiſe eine ſehr bedeu-
tende, und ſie zeigt, indem ſie die Verbindung des Staatsrechts mit
der Verwaltungslehre zu ihrem wahren Ausdruck bringt, den Weg, den
wir in dieſer Beziehung für die Zukunft einzuſchlagen haben. Es iſt
die Aufſtellung des Verwaltungsrechts als eines zweiten organiſchen
Theiles des Staatsrechts neben dem Verfaſſungsrecht. Dieſe Richtung
iſt bekanntlich von R. v. Mohl in ſeinem Staatsrecht des Königreichs
Württemberg zuerſt ins Leben gerufen und von den bedeutendſten Män-
nern des öffentlichen Rechts, wie Pözl für Bayern und Rönne für
Preußen, angenommen. Es iſt gar kein Zweifel, daß ſie nicht bloß
dauernd bleiben, ſondern als die einzig rationelle Grundlage der Ord-
nung des öffentlichen Rechts kräftig durchgreifen wird. Gibt es über-
haupt eine ſelbſtändige Verwaltungslehre, ſo wird es auch ein ſelbſtän-
diges Verwaltungsrecht der Staaten geben müſſen. Nur wird man
[39] natürlich in dieſem Verwaltungsrecht keine Verwaltungslehre ſuchen
und finden. Es handelt ſich für daſſelbe nicht um die rationelle Ver-
waltung, ſondern darum, das in dem betreffenden Staate geltende
Recht der Verwaltung eben als ein ſelbſtändiges, geordnetes Ganze,
und zwar in jener organiſchen Verbindung mit dem Begriff und dem
geſammten Recht des Staats darzuſtellen, deren Mangel der eigentliche
Charakter der oben erwähnten Sammlungen als der Verwaltungsgeſetz-
kunde iſt. Während die letztern der amtlichen Function einen wichtigen
Dienſt erweiſen, haben dieſe „Verwaltungsrechte“ eine andere Aufgabe;
ſie erfüllen den Begriff des Staats und den abſtracten Organismus der
Verfaſſung mit ihrem concreten Inhalt; ſie ſind die Träger der Idee,
daß der Staat erſt dann vollſtändig erkannt iſt, wenn man ihn als
thätigen, als wirkenden, als in der Mitte ſeiner poſitiven Auf-
gaben ſtehenden Organismus erkennt. Dieſe organiſche Auffaſ-
ſung des Verwaltungsrechts iſt wieder eine ſpecifiſch deutſche, und
hier haben die übrigen Völker Europa’s unbedingt von uns zu lernen.
Daß aber die Aufgabe der Verwaltungslehre nicht in ihnen gelöst
iſt, noch gelöst werden ſoll, iſt wohl klar. Und in Ermanglung der-
ſelben müſſen wir uns nun zu einer dritten Erſcheinung wenden, von
der es höchſt zweifelhaft iſt, ob ſie mehr Nutzen als Schaden ſtiftet.
Das iſt nun diejenige Richtung, welche, den Boden der deutſchen Klar-
heit und des ſtrengen Bedürfniſſes nach wiſſenſchaftlicher Unterſcheidung
verlaſſend, nach franzöſiſchen und engliſchen Vorbildern die ganze Ver-
waltungslehre mit der Volkswirthſchaftslehre zu einem
ununterſcheidbaren Ganzen zuſammenſchmilzt. Grund und Er-
ſcheinungen dieſer Richtung werden, glauben wir, leicht verſtändlich ſein.
Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Noth Frankreich
nachdenken lehrte über das, was der Staat zu ſein und zu thun habe,
ſehen wir zwei Bewegungen faſt gleichzeitig auftreten. Die eine ergreift
die Frage nach der Verfaſſung; die zweite aber, ohne der Sache ihren
Namen zu geben, wendet ſich der innern Verwaltung zu. Der Vertreter
und der erſte ſyſtematiſche Ausdruck der letzteren Bewegung iſt die phyſio-
kratiſche Schule. Die Summe von Gedanken, welche wir mit dieſem
Worte bezeichnen, wird gewöhnlich als ein eigentlich nationalökono-
miſches Syſtem aufgeführt, und ſchwerlich dürfte eine Arbeit nachge-
wieſen werden können, weder in Frankreich noch in Deutſchland, welche
derſelben einen andern Platz angewieſen hätte. Das aber iſt nicht
richtig. Die phyſiokratiſche Schule iſt ebenſo ſehr das erſte, wenn auch
vage Syſtem der Verwaltungslehre als der Nationalökonomie. Es iſt
[40] Quesnay nicht eingefallen, ſeine Theorie um der Volkswirthſchaft willen
aufzuſtellen. Er wollte vielmehr nur die Geſetze der Volkswirth-
ſchaft als die einzige und wahre Grundlage für die Auf-
gabe der Verwaltung darlegen. Der Reichthum und die Macht
von König und Staat war der Zweck ſeiner Arbeiten, das Princip
ſeiner Lehre, und nur dadurch wird ſie eigentlich verſtändlich. Es iſt
nicht unſere Sache, dieß genauer aufzuführen. Wohl aber liegt der
tiefe Unterſchied der damals noch herrſchenden eudämoniſtiſchen Staats-
idee und ſeiner Schule klar genug vor. Dieſe ſucht die Wohlfahrt in
einer abſtracten Idee der ſittlichen Vollendung des Menſchen; die Phyſio-
kraten ſind die erſten, welche die Begründung derſelben durch
die Geſetze der Volkswirthſchaft ſyſtematiſch entwickelten. Mag
man ſonſt über ihre Meinungen und Lehren denken, wie man will, auf
dieſem Punkte haben ſie gewaltige Bahn gebrochen. Durch ſie iſt die
Verſchmelzung der ſyſtematiſchen Volkswirthſchaftslehre zu einer hundert
Jahre hindurch in Europa herrſchenden Thatſache geworden. Wenn
Europa auch nicht ihre Theorie annahm, das Ziel derſelben ward
allenthalben angenommen. Und dieſe Richtung kam nun zum ent-
ſcheidenden Siege, als Adam Smith von ſeinem urſprünglich rein philo-
ſophiſchen, abſtracten Standpunkt aus, den Bucle in ſeiner History
of the Civilisation of England ſo wahr als den des ſchottiſchen Geiſtes
bezeichnet, ſein Werk über den Reichthum ſchrieb. Wie es Quesnay
nicht eingefallen war, eine Nationalökonomie zu lehren, ſo fiel es Smith
nicht ein, eine Verwaltungslehre zu ſchreiben. Und dennoch hat Quesnay
einen entſcheidenden Einfluß auf die Volkswirthſchaft gehabt, und Adam
Smith iſt es, der der Verwaltung und der Verwaltungslehre zum Theil
eine neue Geſtalt gegeben hat. Sein ganzes Werk beginnt auf jedem
Punkt mit den Principien der Volkswirthſchaft, und endet mit den
leitenden Grundſätzen für die Verwaltung. Selbſt ſein größter
Gedanke, der des Freihandels, wird eine adminiſtrative Forderung. Es
iſt unmöglich, dieß Werk zu leſen, ohne das auf jeder Seite, in jedem
ſeiner reichen Citate zu verkennen, wenn man weiß, was Verwaltung
iſt. Hat man aber den Begriff derſelben nicht, oder fragt man
nicht darnach, ſo iſt es freilich auch klar, daß die Verwaltung, die ſich
ſo unbedingt der Nationalökonomie hingibt, dabei ſelbſt nichts anderes
werden kann als eben ein natürlicher Theil der Nationalökonomie. Und
jenen Begriff hatte man eben nicht, als jene franzöſiſch-engliſche Be-
wegung nach Deutſchland kam. Es war im Anfang unſeres Jahrhun-
derts. Der Wohlfahrtsſtaat war zu Grunde gegangen, der Rechtsſtaat
begann ſich mit ſeiner vollen Gleichgültigkeit gegen die Verwaltung zu
entwickeln; das Verwaltungsrecht, welches allein die Idee der letztern
[41] noch vertrat, hatte auch ſeinerſeits keine Idee des Staats; die großen
Wahrheiten, welche innerhalb der einzelnen Zweige der Verwaltung
ſelbſtändige Arbeiten erzeugten, entbehrten der organiſchen Verbindung
in einem gemeinſamen Begriffe; das was von der alten Polizeiwiſſen-
ſchaft übrig war, wie die Bücher von Jacobs u. a., war zu unbedeu-
tend, um irgend einen Einfluß auszuüben; und ſo geſchah es in ein-
facher Weiſe, daß ſich die größeren Ideen der Verwaltung, die Geſammt-
auffaſſung derſelben auch in Deutſchland in das Gebiet flüchteten, wo
ſie in Frankreich und England blühten, in das lebendige und mächtige
Gebiet der Volkswirthſchaftslehre. Zwar hatte faſt gleichzeitig mit
Quesnay der deutſche Geiſt in Sonnenfels mit der für ſeine Zeit groß-
artigen Trilogie: Polizei, Handel und Finanz den Verſuch gemacht,
die Verwaltungslehre ſelbſtändig zu erhalten und neben ihr die Finanz-
wiſſenſchaft zu begründen, aber er war zu wenig bekannt, und der
Rechtsſtaat abſorbirte alle bedeutenden Geiſter. Es war daher natür-
lich, daß die deutſche Volkswirthſchaftslehre nach fremdem Muſter die
Verwaltung mit verarbeitete, und ſelbſt Rau konnte ſich nicht davon
losmachen, ſeine Volkswirthſchaftspflege einfach als einen zweiten Theil
der Nationalökonomie aufzuſtellen. In ſpäterer Zeit hat die letztere
dieſen Weg nicht nur nicht verlaſſen, ſondern ihn ſogar ſehr bequem
gefunden. In Wirth, Roſcher, ſelbſt in Kamtz und ſo vielen andern
iſt ſogar die Rau’ſche Unterſcheidung von Volkswirthſchaft und Volks-
wirthſchaftspflege wieder verwiſcht, und ein unbeſtimmtes Etwas unter
dem Namen „Nationalökonomik“ entſtanden, in dem ſich nur noch
ſchwach das Gefühl erhielt, daß es denn doch etwas weſentlich anderes
iſt, die Geſetze, nach denen die Güter entſtehen und verbraucht werden,
und das Verhältniß des Staats zu dieſen an ſich ſelbſtändigen,
vom Staate ewig unabhängigen Geſetzen, darzuſtellen! Freilich ward
die Sache dadurch leichter; denn zuerſt bedurfte man damit keines Be-
griffes vom Staat, man bedurfte keiner Idee der Verwaltung oder orga-
niſchen Einheit, man bedurfte keiner Kritik der ſog. Polizeiwiſſenſchaft,
keiner ſchwerfälligen Bewältigung des maſſenhaften, unbeabreiteten
Stoffes des poſitiven Verwaltungsrechts, ja nicht einmal eines wiſſen-
ſchaftlichen Syſtems, ſondern nur einer mehr oder weniger zweckmäßigen
Anordnung, und konnte gelegentlich mit Reflexionen über die Verwal-
tung den Mangel der Reflexion über das Weſen der Güter erſetzen und
ausfüllen. Doch es iſt hier nicht der Platz, eine Kritik dieſer Ab-
hängigkeit von England, in dem die Verwaltung zu wenig, und von
Frankreich, in dem ſie zu viel zu thun hat, zu geben. Gewiß iſt nur
das Eine, daß dieſe Verſchmelzung von Nationalökonomie und Ver-
waltung die wichtige Folge hatte, die Vorſtellung von der Aufgabe der
[42] Verwaltung faſt ganz auf die Volkswirthſchaftspflege zu be-
ſchränken, und ſie dadurch in hohem Grade einſeitig zu machen.
Wenn es kein Zweifel iſt, daß wir in der Volkswirthſchaftspflege einen
der Haupttheile der Verwaltungslehre beſitzen, ſo iſt es eben ſo wenig
zweifelhaft, daß ſie keineswegs die ganze Verwaltungslehre enthält,
und daß wir, indem wir neben der Volkswirthſchaftspflege alle andern
Gebiete zur Seite liegen laſſen, zuletzt den Staat ſelbſt nur noch als
eine Gemeinſchaft für wirthſchaftliche Production und Conſumtion, als
eine vollſtändig materielle Geſtaltung in der Menſchheit anſehen werden.
Doch unter allen Geſichtspunkten ſteht der Eine feſt, daß wir in dieſer
Verſchmelzung zwar einen Theil, aber nicht den ganzen, großartigen
Bau der Verwaltung, zwar hochwichtige, aber nicht der ganzen, in
ſich einheitlichen und organiſchen Verwaltung genügende Principien des
Staatslebens gewinnen können. Und zwar am letzten Orte aus dem
für alle Wiſſenſchaft der Verwaltung entſcheidenden Grunde nicht, weil
auch hier den die Verwaltung berührenden Punkten keine einheitliche,
organiſche Idee des Staats und ſeines Lebens zum Grunde liegt. Der
Verſuch, in dieſer Volkswirthſchaftspflege, ſei es nun, daß ſie ſelbſt-
ſtändig oder mit der Nationalökonomie in inniger Verbindung ſteht, die
hohe Idee des Staats und ſeiner organiſchen Aufgabe durch das greif-
bare Princip der materiellen Production zu erſetzen, iſt nicht ge-
lungen. Sie wußte die materiellen Elemente der Verwaltung zu be-
arbeiten; die Verwaltung ſelbſt begriff ſie nicht.
Faßt man nun die Ergebniſſe dieſer allgemeinen Charakteriſirung
der Entwicklung der Verwaltung und ihrer Auffaſſung zuſammen, ſo
ergibt ſich, daß das eigentlich Mangelnde zugleich der lebendige wiſſen-
ſchaftliche Kern des Ganzen iſt, der organiſche ethiſche Begriff der Ver-
waltung als Theil des Staatsbegriffes. Und wir wollen verſuchen,
denſelben hier als Grundlage für die poſitive Wiſſenſchaft der Verwal-
tung und ihre Geſchichte dem Folgenden voranzuſtellen, in der Hoffnung,
der kommenden höhern Geſtaltung der Staatswiſſenſchaften damit einen
Dienſt zu erweiſen, indem wir vor allen Dingen einmal auf unſerm
Gebiete Klarheit und Einheit ſchaffen.
II.
Inhalt und Weſen der innern Verwaltung.
Geht man mit uns auch nur einen Schritt über die äußere Defini-
tion der innern Verwaltung hinaus, ſo entfaltet ſich ſofort ein weites
und reiches Gebiet von Fragen, die wir beantworten müſſen, um der
[43] Verwaltungslehre die ihrer würdige Stellung zu verſchaffen. Hat ſie
einmal die letztere gewonnen, ſo wird man wahrſcheinlich der folgenden
Unterſuchungen nicht mehr bedürfen.
Es wird nämlich darauf ankommen, zunächſt das Weſen der
Verwaltung in ſein organiſches Verhältniß zum Staat überhaupt und
zur Verfaſſung insbeſondere zu ſtellen; dann muß das Princip der
Verwaltung als der für alle einzelnen Thätigkeiten derſelben geltende
leitende Grundgedanke hingeſtellt werden; dann müſſen wir das Syſtem
der Verwaltung in ſeinen Umriſſen geben, an das ſich der Begriff und
die Bedeutung der wirklichen Verwaltung und damit der Verwal-
tungspolitik anſchließt; und endlich wird es nothwendig, den wahren
Inhalt der Polizei zum Schluſſe darzulegen.
Es wird die Zeit kommen, wo wir über alle dieſe Dinge ſehr kurz
ſein können, weil ſie abgemacht ſein werden. Vor der Hand ſind ſie es
nicht. Möge es uns gelingen, zu ihrer endgültigen Erledigung beizu-
tragen.
1) Die Idee der Verwaltung als organiſcher Theil des
Staatsbegriffs.
Verhältniß derſelben zur Verfaſſung.
Wir glauben nicht, daß es nothwendig oder nützlich ſein wird,
den organiſchen Begriff des Staats als der zur Perſönlichkeit erhobenen
Gemeinſchaft mit Ich, Wille und That noch einmal zu wiederholen,
nachdem wir ihn und in ihm die formale organiſche Stellung und
Aufgabe der innern Verwaltung bereits hinlänglich beſtimmt haben.
Wir glauben vielmehr, daß die gegebenen formalen Definitionen jede
für ſich und in ihrem Zuſammenhange wohl für ihren nächſten Zweck
genügen werden.
Wohl aber dürfen wir, indem wir die innere Verwaltungslehre
als einen Theil der höchſten Staatswiſſenſchaft überhaupt betrachten, auf
eine gewiſſe Theilnahme rechnen, wenn wir dasjenige darlegen, was
wir die Idee derſelben nennen.
In der That erſcheint auch der Staat nur als Glied in einem
viel größeren geiſtigen und materiellen Leben. Er iſt wie der Einzelne,
zwar perſönlich an und für ſich da, aber er iſt dennoch nur ein Mo-
ment des Weltlebens, und das, wodurch er wie jeder Einzelne über
ſich ſelbſt hinausgeht, muß daher für ihn, und mit ihm für die innere
Verwaltung wohl tiefer begründet werden.
Dieſe Erkenntniß nun vom Staate ſo wie von der innern Ver-
waltung beginnt bei dem Widerſpruche, der im Menſchen liegt, und in
[44] deſſen Löſung ſelbſt der Staat als höchſte Form der Perſönlichkeit nur
ein Faktor, wenn auch ein wichtiger iſt.
Die zur unendlichen Entwicklung beſtimmte Perſönlichkeit iſt zugleich
unfähig, ſich nur durch ſich ſelbſt zur Verwirklichung ihrer eigenen Idee
hinaufzuarbeiten. Sie iſt an ſich, in ihrem innerſten Weſen ungemeſſen
und unendlich. Das einfache Verſtändniß dieſer gewaltigen Thatſache
drückt dieß in der Ahnung der individuellen Unſterblichkeit aus. Die
Wiſſenſchaft formulirt es als die „reine Selbſtbeſtimmung.“ Allein die
Perſönlichkeit iſt zugleich in ihrer Wirklichkeit faſt unendlich begränzt
und unmächtig; die Wiſſenſchaft ſagt, ſie ſei auf allen Punkten „mit
dem Maße umgeben.“ In tauſend verſchiedenen Geſtalten erſcheint im
Einzel- wie im Geſammtleben das Gefühl dieſes Widerſpruches. Seine
Löſung iſt die Lehre von der Ethik; der Kampf, in dem ſie gefunden
wird, iſt das ſittliche Pathos; ſein Verſtändniß aber iſt die Grundlage
des organiſchen Verſtändniſſes jedes Theiles und jeder Funktion im
perſönlichen Leben.
Die Logik dieſes Verſtändniſſes, ſo weit ſie hierher gehört, iſt folgende.
Jedes Streben nach Löſung jenes Widerſpruches in der Erfüllung
der perſönlichen Beſtimmung muß, wegen der gegebenen Begränzung
unſerer Kräfte, zu ſeiner erſten und unabweisbaren Bedingung, im
Gebiete dieſer perſönlichen Kräfte die Unendlichkeit wieder herſtellen,
welche dem Einzelnen fehlt. Das nun geſchieht formell durch die
unendliche Vielheit der menſchlichen Perſönlichkeiten. Allein dieſe reicht
an ſich durch ihr bloßes Daſein nicht aus. Es muß vielmehr für den
Einzelnen dieſe Vielheit wirklich zu jener Erfüllung ſeiner eigenen Kraft
werden, die ihm fehlt; das nun hat wiederum zur Vorausſetzung, daß
die Vielheit durch das Auftreten dieſer für jedes Glied derſelben gel-
tende Aufgabe zuerſt eine Einheit werde. Wir nennen alle Geſtalten
dieſer Einheit der Vielheit, inſofern ſie eben durch jenes Weſen der
Perſönlichkeit geſetzt iſt, eine Gemeinſchaft. Der lebendige Inhalt
der Gemeinſchaft, oder das Leben derſelben, erſcheint daher an und für
ſich als eine unbedingte, das iſt durch das abſolute Weſen der Perſön-
lichkeit ſelbſt geſetzte Bedingung für das Leben der letzteren. Ohne den
Begriff und das Daſein der Gemeinſchaft iſt der Einzelne ein abſoluter,
unlösbarer Widerſpruch.
Iſt nun dieſe Gemeinſchaft ihrem organiſchen Begriffe nach eine
abſolute Bedingung für das Leben der Perſönlichkeit, ſo iſt ſie eben
dadurch ſelbſt etwas Selbſtbedingtes. Das aber heißt, Perſönlichkeit
ſein. Die Gemeinſchaft als Einheit der Perſönlichkeiten wird daher
zur perſönlichen Einheit. Sie wird ſelbſt Perſönlichkeit. Und dieſe
Gemeinſchaft der Menſchen als Perſönlichkeit iſt eben der Staat.
[45]
Iſt das nun der Fall, ſo muß nicht bloß der formale Inhalt des
Staatsbegriffes, wie wir ihn bereits dargelegt haben, ſondern auch
ſein ethiſcher Inhalt in obigem Sinne des Wortes durch das höhere,
ihm wie dem Einzelnen gemeinſame Weſen des Perſönlichen und ſeines
Lebens gegeben ſeyn. Und jede Funktion des Staates, mithin natürlich
auch die wichtigſte von allen, die der innern Verwaltung, muß auf
dieſem ethiſchen Grunde der Staatsidee und des perſönlichen Lebens
beruhen. Die Auffaſſung der Funktion der Innern Verwaltung aber
von dieſem Standpunkt nennen wir die Idee der Verwaltung.
Die Grundlage dieſer Idee aber iſt folgende.
Soll die Gemeinſchaft und in ihrer höchſten perſönlichen Form der
Staat, ihrer ſittlichen Idee genügen und durch Daſein und Thätigkeit
jenen Widerſpruch im Weſen der Perſönlichkeit löſen, ſo muß ſie einen
Inhalt an Willen und an Mitteln haben. Da ſie ſelbſt aber nur
die Einheit der Einzelnen iſt, ſo kann ſie dieſen Inhalt auch nur
dadurch bekommen, daß der Einzelne einen Theil ſeines eigenen perſön-
lichen Lebens hingibt, der dann der Gemeinſchaft, das iſt jetzt dem
Staate gehört. Der Widerſpruch, der darin liegt, daß der Einzelne
ſeine eigene Selbſtändigkeit opfert, um die eines andern perſönlichen
Weſens zu ergänzen und zu fördern, erſcheint zwar als ein großer.
Allein er löst ſich dadurch, daß dieß Hingeben eben ſelbſt die unab-
weisbare Bedingung der eigenen Entwicklung wird. In der That
gibt der Einzelne ſich ſelbſt das, was er gibt; er gibt es ſich ſelbſt
durch die organiſche Vermittlung des perſönlichen Staats, der es von
ihm empfängt. So löst ſich für das concrete Leben der wirklichen
Gemeinſchaft jenes ſcheinbare Geheimniß, das in dem tiefen, für den
Einzelnen oft ſo ſchwer zu bewältigenden Gegenſatz zwiſchen ſittlicher
Hingebung und freier Selbſtändigkeit liegt. Die höchſte Wahrheit der
ſittlichen Idee, ſo weit das geiſtige Auge des Menſchen ihre Strahlen
im Unendlichen zu verfolgen vermag, iſt eben in Gewißheit der Hingabe
des Eigenſten an ſich ſelbſt durch die freie Hingabe an den Andern.
Und es gibt keinen Widerſpruch auf Erden, mit Ausnahme des
einzigen zwiſchen gut und böſe, der nicht darin am letzten Orte ſeine
Löſung fände.
Wenn nun dem ſo iſt, ſo ruht jeder Proceß des Geſammtlebens
und jede Funktion des Staates zuletzt auf dieſem ethiſchen Grunde,
und für jede derſelben iſt er die Bedingung des letzten und höchſten
Verſtändniſſes. So für alles andere, ſo auch für die, das ganze
concrete Leben des Einzelnen umfaſſende innere Verwaltung.
Auch die innere Verwaltung iſt am letzten Orte nichts als der
große Proceß der freien Hingabe von dem Einzelnen an den Staat,
[46] und ein Wiedergeben an den Einzelnen durch den Staat. Das aber,
was hier das Weſen der Verwaltung bildet, iſt das Hinzutreten zweier
mit dem Weſen der Einzelperſönlichkeit gegebenen Begriffe, dem des
Maßes und dem der Ordnung.
Es iſt offenbar hier nicht der Ort, beide Begriffe genauer zu ent-
wickeln. Sie werden ſchon an ſich ſelbſtverſtändlich ſein. Es iſt kein
Zweifel, daß jenes Hingeben von Seiten des Einzelnen, die Aufnahme
von Seiten der Gemeinſchaft, und das Wiedergeben, dieſer Proceß
des ſittlichen Lebens auf jedem einzelnen Punkte ſchon vermöge
der Beſonderheit der Entwicklung der Ordnung, und vermöge der
Stufen derſelben des Maßes bedarf. Ordnung und Maß, an ſich eben
ſo nothwendig für die individuelle Entwicklung wie für die Gemeinſchaft,
müſſen indeß durch Einen Willen beſtimmt und durch Eine That voll-
zogen werden. Sie fordern daher ſchon an und für ſich eine Perſön-
lichkeit, welche ſie ſetzt. Soll dieſe aber Ordnung und Maß in Har-
monie mit dem Weſen des perſönlichen Lebens ſetzen, ſo müſſen Ordnung
und Maß, oder Grund und Zweck zugleich das Weſen dieſer Perſön-
lichkeit ſelbſt bilden; oder es muß die Entwicklung des Einzelnen, welche
durch Ordnung und Maß in dem gegenſeitigen Leben von Gemeinſchaft
und Einzelnen durch jene Perſönlichkeit hergeſtellt wird, zugleich die
Entwicklung dieſer Perſönlichkeit ſelbſt ſein. Soll aber das der Fall
ſein, ſo kann die letztere von der Gemeinſchaft und von dem Einzelnen
nicht verſchieden ſein; ſie muß vielmehr als die zur Perſönlichkeit
erhobene Gemeinſchaft ſelbſt daſtehen. Dieſe Perſönlichkeit iſt der Staat,
und wenn die organiſche Gleichheit des Weſens des Einzelnen und des
Staats noch eines Beweiſes bedürfte, ſo wäre er hier gegeben.
Während daher das allgemeine, im Einzelnen wie im Staate ge-
legene Weſen der Perſönlichkeit das Aufgeben eines Theiles der einzelnen
Selbſtändigkeit unbedingt fordert, damit die Gemeinſchaft der Menſchen
die Bedingungen für die Entwicklung des Einzelnen wiedergeben könne,
iſt es das Weſen des Staates, die Summe der auf dieſe Weiſe ent-
ſtehenden Leiſtungen und Aufgaben in Ordnung und Maß zu beſtimmen
und ihrem Zwecke zuzuführen. Und die Geſammtheit der Thätigkeiten
des Staats, durch welche er dieß thut, iſt die innere Ver-
waltung.
Die allgemeinſte ſittliche Bedeutung der innern Verwaltung, oder
des Verwaltens, erſcheint daher ſchon hier als weſentlich verſchieden
von den bisher dargelegten Vorſtellungen von Polizei und Recht der
Verwaltung. Bei allen Begriffsbeſtimmungen der Polizei liegt immer
der Gedanke zum Grunde, als ſtände der Staat als eine ſelbſtändig
gebende, rein aus ſich heraus thätige Perſönlichkeit der Gemeinſchaft
[47] und dem Einzelnen gegenüber, und als ſei es Aufgabe der Polizei,
dieſen Gegenſatz durch die Begriffe von Sicherheit und Wohlfahrt aus-
zuſöhnen. Dieſe Vorſtellungen ſind hiſtoriſche. Für den Begriff der
Verwaltung gibt es dieſen Gegenſatz überhaupt nicht. Es gibt keine
Subſtanz der Verwaltung, keine Materie derſelben, welche der Staat
perſönlich beſäße und ſie den Verwalteten geben könnte. Die Verwal-
tung iſt vielmehr nur die ſtaatliche Ordnung und Beſtimmung deſſen,
was die eigene Natur als Antheil der Gemeinſchaft von dem Einzelnen
ohnehin fordert. Der Staat hat es daher auch in ſeiner Verwaltung
überhaupt gar nicht mit etwas zu thun, das ſein eigen wäre, ſondern
mit dem, was der Gemeinſchaft vermöge des Einzelnen und umgekehrt,
angehört. Seine Verwaltung iſt daher in der That als die
in perſönliche Form gebrachte, der perſönlichen Selbſtbe-
ſtimmung unterworfene Gegenſeitigkeit aller unterein-
ander, die perſönliche Geſtalt der Harmonie der Entwick-
lung der Menſchheit, welche zunächſt auf den untergeordneten Gebieten
als Staatswirthſchaft und Rechtspflege erſcheint, in der erſten mit dem
materiellen Subſtrat der Güter, in der zweiten mit dem negativen
Elemente der äußerlichen Unverletzlichkeit beſchäftigt, und erſt in der
Verwaltung ſich zum poſitiven Leben der harmoniſchen Entwicklung des
Einzelnen durch das Ganze erhebend.
Das nun iſt, von allem Einzelnen abgeſehen, dasjenige was wir die
ſittliche Idee der Verwaltung nennen, und wodurch ſie den höchſten
Anſchauungen angehört, die das Leben der Menſchheit erkennen lehren.
Erfaßt man nun die Verwaltung von dieſem Standpunkt, das
geſammte menſchliche Leben, die geſammte Staatsthätigkeit in der Be-
wegung der Gemeinſchaft, die ganze gewaltige Arbeit enthaltend, con-
centrirend und ordnend, durch welche die Menſchheit ihrem Ziele ent-
gegenſtrebt, ſo gewinnt ſie einen Inhalt wie kein anderer Theil der
Staatswiſſenſchaft. In der That muß man ſagen, daß ihr gegenüber
alles andere nur Mittel zum Zwecke wird, und daß der Werth alles
deſſen, was der Staat enthält, will und thut, zuletzt ſich an demjenigen
zeigen und meſſen muß, was er in der Verwaltung und für dieſelbe leiſtet.
Die letzten Ziele des gemeinſchaftlichen Lebens der Menſchheit liegen
in ihrem Gebiete; die größten und entſcheidenden Bedingungen für die
Verwirklichung derſelben werden von ihr geboten. Sie iſt es daher,
welche man vom höhern Standpunkt aus als den Ausdruck der wahren
Bildung und Geſittung des Geſammtlebens anerkennen muß; was ſie
nicht mehr zu leiſten vermag, das vermag für das wirkliche Leben
überhaupt keine menſchliche Gewalt zu leiſten. Sie iſt es daher, welche
ihrem Weſen nach den Einzelnen beſtändig umgibt, beſtändig für ihn
[48] ſorgt, beſtändig ihn ſchützt; ſie iſt es aber auch, welche gerade dadurch
den Einzelnen nach allen Seiten hemmen und unterdrücken kann, wenn
ſie falſch verſtanden oder falſch ausgeführt wird. Ihre Gefahr entſteht
dann, wenn in ihr der Staat ſich von den Intereſſen und Lebensauf-
gaben des Einzelnen trennt, und ſie, ſtatt ſie als Ziel zu ſetzen, als
Mittel benützt. Sie fordert die tiefſte Kenntniß aller menſchlichen Zu-
ſtände, die freieſte und praktiſchſte Anſchauung des wirklichen Lebens.
Und daher beſtimmt ſich in ihr auch das Weſen des ſo viel beſtrittenen
Gedankens des beſten und des freieſten Staats, ohne den man kaum
die Idee der Verwaltung auszudenken im Stande iſt. Dieſer Gedanke
aber wird ſeinerſeits nicht erſchöpft werden, ohne die Verfaſſung und
ihr Weſen ins Auge zu faſſen.
Wir haben in der Geſchichte der ſocialen Bewegung verſucht,
den Beweis zu liefern, daß die Verfaſſungen weder willkürlich noch
zufällig entſtehen, ſondern in Zeit und Inhalt ganz beſtimmten, ſchwer
zu verkennenden Geſetzen unterworfen ſind. Dieſe Geſetze der Verfaſ-
ſungsbildung haben uns gezeigt, daß es nichtig iſt zu glauben, man
könne überhaupt eine Verfaſſung machen, und als ſei die Verfaſſung
bloß vermöge ihrer Begründung durch das abſtrakte Weſen der Perſön-
lichkeit gut oder ſchlecht und als gäbe es eine beſte Verfaſſung, oder
einen beſten und freieſten Staat bloß durch die Verfaſſung. Das iſt
falſch, und iſt ein faſt jetzt ſchon überwundener, nur hiſtoriſch berech-
tigter Standpunkt. Wir haben gezeigt und erfahren, daß eine Ver-
faſſung in der That nichts iſt, als der Ausdruck der beſtehenden Ge-
ſellſchaftsordnung in der Selbſtbeſtimmung des Staats und den Formen,
in denen dieſelbe vor ſich geht. Mit dem Inhalte dieſer Selbſtbe-
ſtimmung hat die Verfaſſung an und für ſich nichts zu thun. Eine
Verfaſſung iſt daher weder gut noch ſchlecht an ſich, ſondern ſie wird
es nur dadurch, daß ſie mit den Forderungen der Geſellſchaftsordnung
harmonirt oder nicht, und eine Revolution thut vor der Hand nichts,
als daß ſie gewaltſam jene Harmonie herſtellt. Ob aber das Wohlſein
des Staats erreicht wird, das hängt eben von dem Inhalt jener
Selbſtbeſtimmung ab; und dieſer Inhalt iſt die Verwaltung. Das was
wir die freieſte Verfaſſung zu nennen pflegen, kann daher die unfreieſte,
unweiſeſte Verwaltung geben, und damit der Grund zu der vollſtän-
digſten Vernichtung des Staats werden. Kein größeres Beiſpiel hat
die Welt dafür, als die ſogenannten Freiſtaaten der Griechen und
Römer. Und umgekehrt kann das, was als die völligſte Abweſenheit
der Verfaſſung erſcheint, die beſte Zeit des Staatslebens werden, wie
es die Regierungen Maria Thereſias und Friedrichs des Großen be-
zeugen. Und wenn man daher einmal von „Freiheit“ als den Ausdruck
[49] der Vollendung der innern Zuſtände redet, ſo ſoll man nie ver-
geſſen, daß die Freiheit in der Verwaltung nicht nur einen andern
Sinn, ſondern auch einen andern Werth hat als den in der Verfaſſung.
Der Freiheit in der Verwaltung iſt die Unterwerfung jedes
Sonderintereſſes unter das Geſammtintereſſe, und die Er-
kenntniß, daß die wahre Entwicklung jedes Einzelnen erſt durch das
Ganze möglich iſt, und daß die Entwicklung des Ganzen wieder ihre
wahre Grundlage erſt im Einzelnen hat. Jede freie Verfaſſung,
die nicht in unſerm Sinne zur freien Verwaltung führt,
iſt ſchon an und für ſich keine geſunde Verfaſſung mehr. Jede Ver-
faſſung, welche dieſe freie Verwaltung vorbereitet oder verwirklicht, iſt
die beſte. Der Werth aller Verfaſſungen beruht daher in
ihrem Verhältniß zur Verwaltung. Und die Staatswiſſen-
ſchaften werden erſt dann ihre wahre Aufgabe vollziehen, wenn ſie dieß
erkennen. Denn durch das gewaltige, geſellſchaftbildende Element, das
wieder ſeinerſeits eben in der guten Verwaltung liegt, wird die Ver-
waltung von ſelbſt die beſte Verfaſſung erzeugen. Das ſind und
bleiben die Ausgangspunkte der Staatswiſſenſchaft unſerer Zeit und
unſerer Zukunft.
Hat nun die Verwaltung überhaupt, vor allem aber die Verwal-
tung des Innern, eine ſo hohe Bedeutung, ſo iſt damit natürlich nicht
bloß die rein hiſtoriſche Auffaſſung von Polizei oder ähnlicher Be-
griffe als Uebergangsſtadium zu betrachten. Wir müſſen vielmehr
jene Geſammtheit von Thätigkeiten und Aufgaben, welche wir als
Verwaltung bezeichnet haben, als ein großes und lebendiges Ganze
erkennen. Wir müſſen nicht bloß die Verwaltung von der Vollziehung
ſcheiden, welche wir als die Selbſtbeſtimmung der Verwaltung zwiſchen
Verfaſſung und Verwaltung ſelbſtändig hingeſtellt haben. Wir müſſen
ſie als ein eigenthümliches Ganze betrachten, das ſeinen Inhalt eben
durch die ſelbſtändige Aufgabe des Geſammtintereſſes und der indivi-
duellen Entwicklung bekommt, zweier ſtets thätiger und ſtets mächtiger
Faktoren, die ihr Wirken nicht etwa von dem guten Willen und dem
Verſtande einzelner Organe abhängig machen. Wir müſſen uns daher
nicht die Sache ſo vorſtellen, als ob Verfaſſung und Vollziehung erſt
dieſe Objekte freiwillig und nach Gutdünken erfaßten, und nach ihrem
gleichſam ſubjektiven Ermeſſen regelten. Im Gegentheil iſt die Sache
in Wahrheit umgekehrt. Jene Potenzen, die hohe ethiſche Forderung
der Geſammtentwicklung und der Forderung der Einzelnen greifen ſelb-
ſtändig und mächtig in Verfaſſung und Vollziehung hinein, und machen
ſie zum Mittel für ſich. Sie kryſtalliſiren gleichſam die Verfaſſungs-
und Vollziehungsgewalt um ſich herum und in ſich, und erſcheinen
Stein, die Verwaltungslehre. II. 4
[50] dadurch als eine Welt für ſich, welche Verfaſſung und Vollziehung zur
Vorausſetzung haben, und ihnen durch ihre eigene inwohnende Kraft
ein eigenes Leben geben. Und in dieſer Kraft, in dieſem eigenen Leben
gilt es nun, ſie zu erfaſſen und ihren organiſchen Inhalt darzulegen.
Das, was wir die Verwaltung nennen, löst ſich dadurch in ſeinen
eigenthümlichen Inhalt auf; jedes Stück deſſelben wird für ſich betrachtet
leicht verſtändlich; die wahre geiſtige Arbeit beſteht dann nur in dem,
wir ſagen unbedenklich künſtleriſchen Elemente der Wiſſenſchaft,
jene Theile in Einem geiſtigen Leben zuſammenzufaſſen und zu verſtehen.
Und wir wollen verſuchen, an dieſer Aufgabe mitzuarbeiten. Denn es
iſt unmöglich, ſich in dem Gefühle und der wiſſenſchaftlich auf der Ge-
ſellſchaftslehre ruhenden Ueberzeugung zu täuſchen, daß die Zukunft
aller menſchlichen Dinge, und ſpeciell diejenige der europäiſchen Staaten
nicht mehr in der Bildung der Verfaſſungen, ſondern in
der Verwaltung des innern Lebens des Volkes beruhen
wird. —
In dieſem Sinne können wir nun Weſen und Bedeutung der
innern Verwaltung und der Verwaltungslehre als organiſchen Theil
der Staatswiſſenſchaft beſtimmt charakteriſiren.
Die Verfaſſung enthält den Staat als organiſche Perſönlichkeit in
ſeiner freien Selbſtbeſtimmung, die Verwaltung im allgemeinſten Sinn
enthält ihn in ſeiner Thätigkeit. Die Vollziehung zeigt ihn in ſeiner
ſelbſtändigen organiſchen Kraft, welche die Selbſtbeſtimmung verwirk-
lichen ſoll; die Verwaltung im eigentlichen Sinne enthält ihn in ſeiner
concreten Thätigkeit. In der Staatswirthſchaft iſt er die Perſönlichkeit
des allgemeinen Güterlebens; in der Rechtspflege iſt er das Recht als
Inhalt ſeiner perſönlichen That; in der innern Verwaltung wird er
zur perſönlichen Form der allgemeinen Bedingungen der
individuellen Entwicklung. Hier iſt er der Träger der praktiſchen
ſittlichen Idee der Gemeinſchaft; in ihr erſcheint das Ethos des Staats-
lebens in der Geſammtheit der wirklichen Handlungen des Staats; und
darum iſt erſt die innere Verwaltung die Vollendung der Idee des
Staats. Und von dieſem Standpunkte aus ordnen ſich die Aufgaben
des allgemeinen Theiles der innern Verwaltungslehre zu einem har-
moniſchen Ganzen, das wir das Syſtem derſelben nennen.
2) Das Syſtem der Verwaltung und die Verwaltungslehre.
1) Soll die Verwaltungslehre den ihr gebührenden Platz und ihre
volle Bedeutung in der Staatswiſſenſchaft gewinnen, ſo iſt es unab-
weisbar, daß man ſich nicht bloß über den allgemeinen Begriff und
[51] das ethiſche Weſen derſelben, ſondern auch über ihr Syſtem einig werde.
Denn es kann ſich auf die Dauer bei einer ſo hoch ſtehenden Wiſſen-
ſchaft nicht um die ſubjektive Anſchauung des Einzelnen handeln. Iſt
es wahr, daß die Verwaltung das Geſammtleben der Einzelperſönlichkeit
und ihre Entwicklung umfaßt, ſo kann ſie ſelbſt ſich nicht willkürlich
in dieſe oder jene Gebiete theilen. Iſt ſie äußerlich ein ſelbſtändiges
Ganze, ſo muß ſie auch innerlich daſſelbe ſein. Daß dieſes Ganze
mit den Beſtandtheilen und Abtheilungen, welche es bilden, ſich voll-
ſtändig erfülle, und daß der Beſchauende zur Ueberzeugung gelange,
wie jede einzelne Thatſache und jede Frage aus dem weiten Felde der
Verwaltung ſich gleichſam von ſelbſt an den ihr gebührenden Platz
finde. Es iſt gewiß eine an ſich einfache Sache, zu behaupten, daß
eine Wiſſenſchaft von gegebenen Verhältniſſen eben ſo wenig zwei Sy-
ſteme haben, wie das Objekt ſelbſt zwei oder mehrere Naturen beſitzen
kann. Die Verſchiedenheit in der Behandlung und Darſtellung iſt aller-
dings nothwendig frei; aber die Sache ſelbſt kann doch nur Eine ſein,
und daher iſt jede Verſchiedenheit nicht im Objekt, ſondern nur in der
ſubjektiven Betrachtung des Subjekts gelegen. Aber ſo lange wir uns
nicht einig werden, welchen natürlichen Organismus die Sache an ſich
hat, ſo lange werden wir keine wahre Wiſſenſchaft beſitzen. Wir müſſen
es daher unternehmen, das Syſtem der Verwaltungslehre nicht als eine
Propädeutik, ſondern als einen immanenten Theil derſelben hier auf-
zuſtellen; denn in der That iſt es hier, was es immer ſein ſoll, nicht
eine Ordnung des Stoffes, ſondern die Grundlage und der allgemeinſte
Inhalt der Verwaltungslehre ſelbſt.
Macht es nun dieſe Anforderung, ſo muß es auch mehr ſein als
eine äußere Ordnung. Es muß vielmehr ſelbſt als die nothwendige
Conſequenz ſeines eignen Weſens erſcheinen, und ſein Werth darf nicht
auf der Zweckmäßigkeit, ſondern auf der Harmonie mit jenem Weſen
ſelbſt beruhen. Und das darzulegen iſt die Aufgabe des Folgenden.
Wir unſererſeits müſſen aber deßhalb mit ſo viel Nachdruck auf
dieſem Punkte beſtehen, weil nicht nur keine Verwaltungslehre ohne
ein feſtes und ſelbſtändiges Syſtem möglich iſt, ſondern weil in der
bisher vorhandenen Theorie die Verwirrung und Unklarheit der Grenzen
und der Gebiete eben ſo vollſtändig zu ſein ſcheint, als die der Namen
und Begriffe. Erſt wenn ſich der feſte Kern hier herausgeſchält hat,
kann man in dieſer Wiſſenſchaft weiter gelangen.
2) Das Syſtem ſelbſt aber, oder vielmehr das in ſeine organiſchen
Gebiete aufgelöste Weſen der Verwaltung iſt ſehr einfach.
Da die innere Verwaltung die Verhältniſſe des individuellen Lebens
in ihrem Bedingtſein durch die Gemeinſchaft darzulegen hat, ſo kann
[52] ſie gar kein, im Begriffe der Verwaltung liegendes, eigenes Syſtem
haben. Oder, es gibt gar keinen ſyſtematiſchen Inhalt, kein Syſtem
der Verwaltung an ſich, ſondern es kann nur ein Syſtem derſel-
ben durch das Objekt der Verwaltung geben. Dieß Objekt
aber iſt das perſönliche Leben. Es ergibt ſich daraus, daß das Syſtem
der Verwaltungslehre, oder der Bethätigung der Verwaltung in dem
wirklichen Daſein, kein anderes ſein kann, als der organiſche In-
halt des perſönlichen Lebens ſelbſt. Ein anderes iſt wiſſen-
ſchaftlich nicht füglich denkbar. Und die Frage über die Richtigkeit eines
ſolchen Syſtems der Verwaltung iſt daher nicht die, ob es an ſich richtig
ſei, ſondern die, ob der organiſche Inhalt des perſönlichen Lebens darin
wirklich vertreten iſt. Das Leben umfaſſend, wie es Gegenſtand der
Staatsthätigkeit wird, muß es das Leben enthalten. Und in der That
wird es erſt dadurch auch für die lebendige Anſchauung des Einzelnen
wie des Ganzen ſeinen Werth bekommen.
3) Dieß Leben der Perſönlichkeit theilt ſich ein faſt von ſelbſt in
drei große Grundverhältniſſe. Die Perſönlichkeit iſt zuerſt Perſon,
ein körperliches und geiſtiges Leben, für ſich daſeiend, und noch ohne
Beziehung zur Güterwelt und zur geſellſchaftlichen Ordnung; dann iſt
ſie das, was wir die wirthſchaftliche Perſönlichkeit nennen, die
perſönliche Geſtalt des Güterlebens; und endlich iſt ſie ein Glied der
großen geſellſchaftlichen Ordnung. Ihr Daſein, ihre Entwicklung,
ihr äußeres Heil und ihre äußerlicher Untergang liegen in dieſen drei
Gebieten. Es iſt ein viertes gar nicht vorſtellbar. In jedem dieſer
Gebiete iſt ſie ein Theil der Gemeinſchaft; in jedem iſt ſie durch alle
andern, durch die Geſchichte, durch die Natur, kurz durch alle Elemente,
welche das Geſammtleben bilden, bedingt und beſtimmt. In jedem
derſelben tritt daher auch die perſönliche Form der Gemeinſchaft, der
Staat auf, und ſucht die Bedingungen der individuellen Entwicklung
zu finden und zu ordnen. In jedem derſelben aber muß dieſer Staat
ſeine Thätigkeit nach der Natur des Inhalts dieſer Gemeinſchaft beſtim-
men; ſie iſt ſein Subſtrat, an das er gebunden iſt. Er erhält damit,
ganz ohne ſein Zuthun, drei Gebiete ſeiner Thätigkeit für das Indi-
viduum; das iſt, er hat drei naturgemäße Gebiete ſeiner Verwaltung.
Das erſte iſt die Verwaltung der rein perſönlichen Welt; das zweite
iſt die Verwaltung der wirthſchaftlichen Welt; das dritte iſt die Ver-
waltung der geſellſchaftlichen Welt. Das ſind die Grundlagen des
Syſtems der Verwaltung.
Jeder dieſer Theile bildet nun wieder ein innerlich ſehr reiches
Ganze. Indem wir nun allerdings jedes genauere Eingehen auf die
Ausführung des Syſtems ſelbſt verweiſen, glauben wir doch, daß
[53] wenigſtens die elementaren Gebiete innerhalb dieſer Theile ſchon hier ihren
Platz finden dürfen, da ſie in der That die organiſchen Grundlagen
nicht bloß der Verwaltung, ſondern des menſchlichen Lebens
ſelbſt ſind. Das Bild aber, das ſich daraus ergibt, iſt das folgende:
a) Die perſönliche Welt hat an ſich, und damit auch als Gegen-
ſtand und Inhalt der Verwaltung zwei Hauptgebiete, das phyſiſche
und das geiſtige Daſein des Menſchen. Dieſe Unterſcheidung wird
in zwar einfacher, aber dennoch ſyſtematiſcher Weiſe zur Grundlage dieſes
erſten Theiles des Syſtems der Verwaltung.
Das erſte Element alles menſchlichen Lebens iſt die Perſon als
ſolche. Sie entſteht, ſie vergeht; ſie empfängt Namen und Geſchlecht;
ſie lebt in ihrer Heimath, ſie vertheilt ſich nach den Verhältniſſen der-
ſelben, ſie bewegt ſich von einem Ort zum andern. Sie leidet an
Krankheiten, ſie ſieht die Elemente der Krankheiten ſich erzeugen; ſie
ſucht ſie zu bekämpfen; ſie umgibt ſich mit dem geſammten Reſultat
aller menſchlichen Naturwiſſenſchaften und Erfahrungen zum Zwecke
dieſer Bekämpfung der Krankheiten. Endlich iſt ſie oft in der Lage,
einer Vertretung durch Andere zu bedürfen, wo der Grund der Unfähig-
keit, ſich zu vertreten, nicht in beſtimmten Handlungen, ſondern in der
Perſon ſelber und ihrer theils phyſiſchen, theils geiſtigen Entwicklung
liegt. So hat die Perſon als ſolche eine Reihe von ihr eigenthüm-
lichen Lebensverhältniſſen, und dieſe nun treten mit denen anderer Per-
ſonen in beſtändige Berührung, und werden zu Elementen und Bedin-
gungen der Lebensverhältniſſe Anderer. Sie fallen dadurch unter das
Geſammtintereſſe, und werden damit Gegenſtände der Verwaltung, in-
ſoweit der Einzelne ſich nicht allein in dieſen Beziehungen zu helfen
vermag. Das erſte Hauptgebiet aller Verwaltung iſt daher das phy-
ſiſche Leben der Einzelnen, und dieß zerfällt wieder in drei, in
dieſem perſönlichen Leben ſelbſt gegebene große Abtheilungen, die in
der Verwaltung als das Bevölkerungsweſen mit der Sicherheits-
polizei, das Geſundheitsweſen und das Pflegſchaftsweſen
ſelbſtändig erſcheinen.
Das zweite Element des menſchlichen Lebens iſt der menſchliche
Geiſt mit ſeiner ſelbſtändigen Bewegung. Der Geiſt als das höchſte
Daſein der Perſönlichkeit, kann daher nur da ein Gegenſtand der Ge-
ſammtthätigkeit werden, wo der Einzelne entweder der Uebrigen bedarf,
oder wo die geiſtige Entwicklung der Uebrigen durch den Einzelnen ge-
fährdet wird. So entſtehen die naturgemäßen Gebiete der Verwaltung
des geiſtigen Lebens, als: das Unterrichtsweſen, in welchem der
Einzelne die unentbehrlichen Vorausſetzungen geiſtiger Entwicklung durch
die Organiſation der Geſammtthätigkeit erhält, das Bildungsweſen,
[54] welches die Bedingungen der höheren Entwicklung darbietet, und die
Culturpolizei, welche den Geſammtzuſtand der geiſtigen Entwicklung
gegen die unſittliche oder unwahre Thätigkeit des Einzelnen ſchützt.
b) Die wirthſchaftliche Welt, als zweites ſelbſtändiges Ele-
ment des menſchlichen Lebens, beruht auf dem wirthſchaftlichen
Gut. Zwar iſt das Gut nicht bloß zugleich Eigenthum, ſondern muß
auch durch den Einzelnen erworben werden, um für den Einzelnen
ſeinen rechten Werth zu haben. Allein eben dieſer Erwerb durch und
für den Einzelnen hat eine Reihe von beſtändig ſich erweiternden Be-
dingungen, ohne deren Erfüllung der Einzelne niemals zur völligen
Entwicklung ſeines wirthſchaftlichen Lebens gelangen kann. Dieſe Bedin-
gungen muß ihm der Staat geben, weil die Hebung des wirthſchaft-
lichen Lebens, die dadurch erzielt wird, dem Staate wieder zu gute
kommt. So iſt der dritte Theil der Verwaltung naturgemäß das wirth-
ſchaftliche Leben geworden, und die Verwaltung deſſelben hat ſchon
lange den Namen und Inhalt der Volkswirthſchaftspflege erhalten.
In dieſer nun ſcheiden ſich auf den erſten Blick zwei große Gruppen in
Beziehung auf die Aufgaben der Verwaltung. Es gibt eine Reihe von
Anſtalten und Geſetzen, welche nicht mehr für ſich beſtehen und einen
beſonderen wirthſchaftlichen Zweck erfüllen, ſondern vielmehr zu den
Bedingungen für die Entwicklung jeder Art und Richtung des Erwerbs
gehören. Die dafür beſtimmte Verwaltungsthätigkeit kann man als
den allgemeinen Theil der Volkswirthſchaftspflege bezeichnen. Wo
dagegen eine beſtimmte einzelne Richtung des Erwerbes beſtimmter ein-
zelner Anſtalten oder Geſetze bedarf, da entſteht der beſondere Theil
der Volkswirthſchaftspflege. Es iſt nicht nöthig, hier weiter zu erörtern,
daß jeder Abſchnitt in dieſen Theilen wieder für ſich ein ſelbſtändiges
Ganze bildet und einen großen Reichthum an allgemeinen Geſichts-
punkten und einzelnen Thatſachen enthält, wie es die einzelnen Kate-
gorien des folgenden Syſtems zeigen.
c) Die geſellſchaftliche Welt endlich, das dritte Element des
menſchlichen Lebens, enthält die geſellſchaftliche Ordnung, wie ſie
aus der Vertheilung der Güter und der Berufe entſteht, und als eine
allgemeine Thatſache jeden Einzelnen umgibt, in ſeinem individuellen
Streben beſtimmt, in ſeiner Entwicklung beherrſcht, und zuletzt gar zur
entſcheidenden Grundlage für die Verfaſſung und das geſammte öffent-
liche Recht der Staaten wird. Der gemeinſame Kern aller dieſer geſell-
ſchaftlichen Ordnungen iſt die Familie und ihre innere Ordnung; die
Vertheilung des Beſitzes kann von der Verwaltung jedoch nur bei dem
Grundbeſitz erreicht werden; die höchſten Formen endlich gehören der Ver-
waltung nur in den materiellen Grundlagen und formellen Aeußerungen
[55] der geſellſchaftlichen Unterſchiede an; und ſo entſtehen die natur-
gemäßen Unterſchiede der geſellſchaftlichen Verwaltung — die Ordnung
des Familienweſens — die Sorge und Ordnung des Claſſenweſens
theils in dem geſammten Hülfsweſen, in welchem die Entwicklung
des individuellen Vermögens als Grundlage für die Erhebung aus der
niederen Claſſe in die höhere die Aufgabe der Verwaltung iſt; theils
in der Agrarverfaſſung, welche den Schutz der bäuerlichen Mittel-
claſſe enthält; und endlich als dritter Theil das Ständeweſen
mit dem Rechte des Adels, der ſtändiſchen Beſitzrechte und der Orden.
Dieß ſind die allgemeinſten Grundlagen des Syſtems der innern
Verwaltung, ſo weit es hier thunlich war, ſie ohne tiefer eingehende
Begründung kurz darzulegen.
Es möge uns nun geſtattet ſein, da es zur Orientirung weſentlich
dient, dieſe ganze Auffaſſung auch ſchematiſch darzuſtellen (ſ. folgende
Seite). Denn am Ende macht ſie den Anſpruch darauf, die Grundzüge
der feſten Anatomie des perſönlichen Lebens überhaupt, ſpeciell aber des
Syſtems der Verwaltungslehre zu ſein, in die jede einzelne Bewegung
der Verwaltung und jede einzelne Unterſuchung über dieſelbe ſich ohne
Mühe ſyſtematiſch und organiſch hineinfindet.
3) Das Princip der Verwaltung und die Verwaltungs-
politik.
Während ſich nun auf dieſe Weiſe die Verwaltung durch das
Syſtem mit dem wirklichen Leben der perſönlichen Welt erfüllt, enthält
die letztere ein Moment, welches nicht in jenes Syſtem aufgeht und
dennoch in demſelben lebendig und mächtig iſt. An dieſem Moment
entſteht ein neuer und nicht weniger bedeutſamer Begriff der allgemeinen
Verwaltungslehre.
In jedem individuellen Daſein lebt nämlich als höchſter, wenn
auch inhaltsloſeſter und abſtrakteſter Inhalt das, was eigentlich erſt
die Perſönlichkeit bildet, das ſich ſelbſt beſtimmende, freie Weſen des
Menſchen, für das wir keinen andern wiſſenſchaftlichen Ausdruck haben,
als den des Ich. Das höchſte Weſen der Perſönlichkeit, die wahre
Grundlage ſeiner Entwicklung beſteht vermöge der abſoluten Natur des
Ich darin, daß nur dasjenige wahrhafte Entwicklung und Erhebung
des Menſchen iſt, was er ſich durch ſich ſelber gewonnen hat. Alles
was ihm ſomit ohne ſeine eigene That wird und kommt, bleibt ihm
äußerlich und zufällig; was er nicht durch ſich ſelbſt hat und iſt, iſt
im Grunde niemals er ſelber; das höchſte Geſetz des Lebens, das Ge-
ſetz der innern und äußern Arbeit, iſt ſeinerſeits nur der Ausdruck
[56]
[57] jenes tiefſten Weſens der Perſönlichkeit, der reinſten Natur derſelben,
nach welcher ſie nur dann ſich genügt, wenn ſie ſelbſt der Grund deſſen
iſt, was ſie iſt und beſitzt. Und dieſes Geſetz erſcheint darin, daß das,
was dem Einzelnen wird ohne ihn ſelbſt und ſeine eigenſte innerſte
Arbeit, ihn am Ende nicht nur nicht fördert, ſondern vielmehr ihm
immer Gefahr bringt und ihn nur zu oft vernichtet. Der höchſten
Pflicht, ſich durch ſich ſelber zu demjenigen zu machen, was er iſt, darf
und kann ſich niemand entziehen. Und wie ſie als tiefſte Grundlage
des eigenen Strebens die Signatur jedes bedeutenden Menſchen iſt, ſo
wird ſie zugleich zu einer unabweisbaren Pflicht für jeden Andern, der
dem Einzelnen auf ſeinem Lebenswege zur Seite tritt. Nicht das iſt
die wahre Hülfe und die verſtändige Liebe, dem Andern zu geben was
er braucht, ſondern ſie beginnt da, wo ich dem Andern die Möglichkeit
biete, ſich ſelbſt zu erwerben, was ihm fehlt. Nicht darin iſt das Heil,
daß wir uns opfern, um dem Andern das Leben reicher zu machen,
ſondern darin daß wir ihm helfen, den geiſtigen wie den materiellen
Reichthum durch ſich ſelbſt zu gewinnen. Eine Welt voll Wohlthaten
iſt keine Wohlthat, ſondern der Beginn einer arbeitsloſen, und damit
unfreien Welt. Nur der iſt hart, der nicht gibt, was der Andere durch
ſich ſelbſt nicht mehr erwerben kann, und nur der iſt unverſtändig, der
durch das Geben die Arbeit nicht zu erzwingen weiß, wo ſie noch mög-
lich iſt. Der beſſere Menſch fühlt dieß, und ſelbſt dem ſchlechteren iſt
es gewiß. Als Wächter für die eigene Kraft und Arbeit hat Gott den
Edleren den Stolz gegeben, der ſich der Gabe ſchämt; als Strafe des
unverſtändigen Gebens hat er den Undank geſchaffen, der dem Mißver-
ſtändniß der Gutmüthigkeit folgt, und der zuletzt, wie der Gedanke die
Unabhängigkeit des Geiſtes iſt, ſeinerſeits den unwiderſtehlichen Drang
nach der Unabhängigkeit des Herzens zum Ausdruck bringt. Denn in
allen irdiſchen Dingen wird ewig das Böſe mit dem Guten innig ver-
miſcht erſcheinen. Aber was ſo dem Weſen der Perſönlichkeit ſelber
gilt, das muß nun auch, wenn auch in andern Formen, doch ſeinem
Weſen nach in allen Formen derſelben gelten. Daher auch dem Staate
in ſeiner Verwaltung im allgemeinen, und in jedem einzelnen Gebiete
derſelben insbeſondere. Und dieß iſt der Punkt, wo ſich dasjenige ergibt,
was wir das Princip der Verwaltung nennen.
Der Staat nämlich, als perſönliche Gemeinſchaft der Menſchen,
iſt ſo mächtig und reich gegenüber dem Einzelnen, daß es ihm ein
Leichtes erſcheint, durch ſeine Thätigkeit in der Verwaltung alle Auf-
gaben des Einzellebens ſelbſt zu erfüllen, und damit die Entwicklung
des Einzelnen, die ja das Ziel der Verwaltung iſt, in eben ſo raſcher
als gewaltiger Weiſe zu fördern. Daß er das thue, dazu drängt ihn
[58] nicht bloß die edlere Natur der Perſönlichkeit, ſondern es liegt auch
ſeinem Intereſſe nahe genug. Denn er iſt doch der Stärkere und für
alle allgemeine Fragen und Aufgaben auch der Weiſere, da er die gei-
ſtigen Kräfte Aller in ſich faßt. Das Individuum aber, das er durch
ſeine Macht fördert und hebt, iſt nicht bloß für ihn überhaupt eine
Perſönlichkeit, die nach den ſittlichen Geſetzen ſeine Hülfe zu fordern
hat, ſondern es iſt ſein eigen; es iſt ja ein Theil ſeiner ſelbſt. Denn
er ſelbſt iſt ja die Einheit eben dieſer Einzelnen, für die er ſorgt. In-
dem er daher ſeine Hand öffnet und ſeine Kräfte für den Einzelnen
anſtrengt, um demſelben zu geben, was er nicht hat, gibt er im Grunde
ſich ſelber. Was der Einzelne gewinnt, gewinnt der Staat; es iſt ein
Kreislauf, in welchem alles, was der Staat thut, zum Staate zurück-
kehrt. Warum ſoll er Bedenken tragen, den Einzelnen reich und glück-
lich zu machen theils durch das, was er ihm gibt, theils durch das,
wozu er ihn zwingt? Und wenn er dieß Bedenken nicht hegt, wo iſt
die Gränze für die Aufgabe und Macht dieſer Thätigkeit des Staats,
oder ſeiner Verwaltung?
Offenbar nun liegt dieſe Gränze weder in der Macht noch in dem
äußerlichen Intereſſe des Staats. Sie liegt vielmehr im Weſen der
Perſönlichkeit, mit welchem die Verwaltung deſſelben zu thun hat, und
zwar in demjenigen Weſen derſelben, welches wir eben dargelegt. Wenn
das bloße Geben an den Andern, wenn das bloße Wollen für den
Andern die Selbſtändigkeit und damit das eigentlich perſönliche Weſen
des Einzelnen untergräbt und vernichtet und in Arbeitsloſigkeit auflöst,
ſo greift der Staat mit einer ſolchen Thätigkeit die Grundlagen des
eigenen Daſeins an; denn er iſt ja die Geſammtheit eben dieſer Ein-
zelnen, die einzeln nur das ſind, was ſie ſich erarbeitet und durch eigene
That ihr Eigen nennen. Jenes Hingeben des Staats muß daher da
ſeine Gränze finden, wo er jene Selbſtändigkeit der freien Perſönlichkeit
gefährdet.
Denn anderſeits kann der Einzelne ſich nicht durch ſich ſelbſt
helfen. Die Verwaltung entſteht ja eben dadurch, daß der Mangel der
Einzelperſönlichkeit durch die Gemeinſchaft aufgehoben wird. Wer und
was ſoll nun entſcheiden, wo der Staat, indem er dem Einzelnen ſeine
ſtarke Hand reicht, nicht thut, was ihn ſeines innerſten perſönlichen
Weſens berauben würde? Und offenbar kann es wenig nützen, hier
von einzelnen Fällen zu reden, ſondern es muß die Geſammtheit aller
Fragen, die hier entſtehen, von Einem Geſichtspunkt aus ſich entſchei-
den. Es muß ein Princip für die Gränze der Verwaltungsthätig-
keit geben.
Ein ſolches Princip hat nun ihrerſeits die Staatswirthſchaft, und
[59] ein ſolches hat auch die Rechtspflege. In beiden Gebieten iſt die Sache
ſehr einfach. Aber anders iſt es in der innern Verwaltung. Denn
hier handelt es ſich eben um eine poſitiv fördernde Thätigkeit, welche
die Entwicklung des Einzelnen durch die des Staats erzeugt, oder um
eine direkte Beſchränkung der perſönlichen Freiheit, welche die freie
Thätigkeit des Einzelnen beſchränkt. Und dieß Princip liegt eben nur
im Weſen der perſönlichen Entwicklung ſelbſt.
Wenn es nämlich gewiß iſt, daß der Einzelne der Andern bedarf
und zugleich ſelbſtthätig ſein ſoll, um ihrer nicht zu bedürfen, ſo iſt
es klar, daß er der Andern eben nur ſo weit bedürfen ſoll, als er mit
ſeiner Selbſtthätigkeit ſich ſelbſt nicht mehr helfen kann. An
dieſer Gränze beginnt daher die Aufgabe der Gemeinſchaft für den
Einzelnen. Da aber erſt die Selbſtthätigkeit des Einzelnen den Werth
deſſelben bildet, ſo muß dieſe Aufgabe der Gemeinſchaft dieſe Selbſt-
thätigkeit nicht erſetzen, oder überflüſſig, ſondern ſie muß ſie eben nur
möglich machen. Möglich machen aber heißt, ihr diejenigen Bedin-
gungen geben, welche ſie ſich nicht ſelbſt ſchaffen kann. Dieſe Bedin-
gungen bilden dann noch keinen Inhalt der Perſönlichkeit, ſondern
ſtehen ſelbſtändig außer ihr, liegen vor ihr; ſie kann ſie benützen, ſie
kann ſie nicht benützen; ſie kann und ſoll aber, wenn ſie ſie benützt,
ſich durch ſich ſelbſt Maß und Art dieſer Benützung beſtimmen; ſie
muß ſelbſt dasjenige, was ſie aus dieſen Bedingungen für ſich will,
mit ſich und ihren Bedürfniſſen in Harmonie bringen, Maß und Ziel
derſelben ſich ſelber ſetzen. Sie muß ihre eigene Entwicklung noch immer
ſich ſelbſt erarbeiten; ſie empfängt nicht Wohlſein und Freiheit,
ſondern ſie muß ſie ſich ſelbſt erwerben, damit beide ihr wahrhaft
gehören. Das iſt der natürliche und einfache Punkt, auf welchem die
Löſung der obigen Fragen liegt. Und damit iſt auch das einfache
Princip der Verwaltung gegeben. Der Staat ſoll durch ſeine Verwal-
tung niemals und unter keinen Umſtänden etwas anderes leiſten, als
die Herſtellung der Bedingungen der perſönlichen, wirth-
ſchaftlichen und geſellſchaftlichen Entwicklung, welche der
Einzelne ſich nicht ſelber zu ſchaffen vermag, und es dann
dem Einzelnen und ſeiner freien ſelbſtändigen That überlaſſen,
aus der Benützung dieſer Bedingung ſich ſein eigenes Leben
zu bilden und zu entwickeln.
Dieß Princip nun durchzieht natürlich die ganze Verwaltung; es
iſt ſogar faſt immer der eigentliche Maßſtab ihres rechten Werthes,
und, wohl verſtanden, gibt es uns ſeinerſeits das Mittel, den Staat
ſelbſt und die allgemeine Richtung ſeiner Regierung zu beurtheilen.
Denn ſo einfach es ſcheint, ſo hat es dennoch große und tiefgehende
[60] Vorausſetzungen in ſeiner Anwendung. Es fordert namentlich zwei
Dinge. Zuerſt fordert es von Seiten der Verwaltung ein kräftiges
und ſtets lebendiges Gefühl derſelben für das eigentliche Weſen der
Perſönlichkeit, die freie ſelbſtthätige Arbeit, die Selbſtändigkeit, die ſich
dadurch ergibt, daß der Einzelne ſich auf ſich ſelber zu ſtellen und durch
ſich ſelber zu ſeinem Ziele zu gelangen weiß. Dieß Gefühl iſt in der
Wirklichkeit des Staatslebens keineswegs ſo leicht zu gewinnen und zu
erhalten, als es ſcheint. Denn der Staat iſt ſo mächtig, daß er, zu-
letzt im eigenen Intereſſe, leicht mehr thut, als nothwendig iſt, und
noch leichter eben jene geiſtige Selbſtändigkeit für überflüſſig, ja ge-
radezu für ein ihm feindliches Element erachtet, und daher ſtets geneigt
iſt, es zu bekämpfen, am meiſten da, wo er doch als der Gebende er-
ſcheint. Dazu kommt, daß er nur zu oft mit der Unbildung, ja mit
dem baaren Unverſtand ſeiner Angehörigen zu thun hat, und in ſeinem
Unmuthe Gefahr läuft, um des Guten willen das Beſte, die Selb-
ſtändigkeit der Staatsbürger, zu vernichten. Es gehört daher ſchon
eine hohe Bildung von Seiten der Staatsgewalt dazu, um ſich dieß
Gefühl lebendig zu erhalten. Und hier iſt es, wo die Selbſtverwaltung
ihren wichtigſten ethiſchen Einfluß auf den Staat hat, denn ſie iſt es,
welche eben dieß Gefühl ſowohl im amtlichen Organismus als im
Staatswege ſelbſt erzeugt und kräftigt; ohne Selbſtverwaltung wird
daſſelbe ſtets entweder bloß eine ſittliche Forderung, oder ein inhalts-
loſes Wort bleiben. Die Ausbildung und richtige Würdigung der
Selbſtverwaltung wird daher ſtets nicht bloß für die wirkliche Verwal-
tung, ſondern eben ſo weſentlich ſein für den Geiſt derſelben, und durch
ihre Rechte einerſeits, wie durch ihre Perſönlichkeit anderſeits der amt-
lichen Verwaltung die Gränze ihres Princips wiedergeben, die ſonſt
nur zu oft gefährdet iſt.
Zweitens aber fordert die Verwirklichung jenes Princips eine ge-
naue Kenntniß der wirklichen Lebensverhältniſſe, um in ihnen
zu erkennen, wo die Hülfe der Verwaltung noch mit den Bedingungen
der perſönlichen Thätigkeit zu thun hat, oder ſie direkt erſetzen würde.
Hier kann wiederum die reine Theorie nicht viel nützen, und die Ein-
flüſſe gegebener Zuſtände ſind ſo groß, daß jene Gränze für dieſelbe
Aufgabe der Verwaltung an verſchiedenen Zeiten und Orten natur-
gemäß eine ſehr verſchiedene iſt. Das was hier vollkommen richtig und
nothwendig erſcheint, wird durch concrete Zuſtände an einem andern
Platze zu viel, an einem dritten zu wenig. Nichts iſt deßhalb ver-
kehrter, als den Werth der Verwaltung rein nur an dem thatſächlichen
Inhalte ihrer Maßregeln beſtimmen zu wollen, und das was man
die Vergleichung nennt, auf ein bloßes Meſſen und Rechnen zurück-
[61] zuführen. Wenn der Staat ſeinem Begriffe nach eine Perſönlichkeit iſt,
ſo iſt er in ſeiner Wirklichkeit ein Individuum, und am erſten und
meiſten gerade für die innere Verwaltung. Die abſtrakte Gränze für
die Thätigkeit der letztern liegt daher allerdings in der Perſönlichkeit,
die concrete Gränze dagegen liegt in den gegebenen Zuſtänden und
Bildungsſtufen des Volkes. Es iſt vollkommen unverſtändig, ohne wei-
teres etwas darum für allgemein richtig oder falſch zu erklären, weil
es zu einer gewiſſen Zeit in einem gewiſſen Volke richtig oder falſch
war. So wenig die Völker und Zeiten ſich gleich ſind, ſo wenig ſoll
und kann ihre Verwaltung eine gleiche ſein, und in ihrer Beziehung
zum Volke gleich weit gehen. Die Ungleichheit der gegebenen Zuſtände
ſetzt voraus, daß gerade die Gleichheit der Verwaltungsmaßregeln ihre
Ungleichheit enthält. Und man darf ſich daher auch nicht täuſchen über
den Werth der äußerlichen Vergleichung der Verwaltung und ihres
Rechts bei den verſchiedenen Völkern. Hier gibt es nichts abſolut Gutes,
und jene Vergleichung ſoll deßhalb auch nicht dahin führen, das Fremde
bloß darum als Muſter aufzuſtellen, weil es den Fremden heilſam ge-
weſen iſt. Die wahre Vergleichung hat die viel ſchwerere Aufgabe,
das Verſchiedene erſt auf die Gleichartigkeit der Zuſtände zu reduciren,
und erſt nachdem dieß geſchehen, an ſeine Benützung zu denken. Das
iſt deßhalb die ſchwierigſte aller Aufgaben, und fordert eben ſo viel
Erfahrung als wiſſenſchaftliche Bildung; und auch um ihretwillen
nennen wir die Verwaltungslehre den höchſten Theil der Staats-
wiſſenſchaft.
Faßt man nun dieſe Punkte zuſammen, ſo ergibt ſich das Weſen
desjenigen, was wir die Politik der Verwaltung oder die prak-
tiſche Staatskunſt nennen. Dieſelbe beſteht darin, aus dem Weſen
der ſelbſtthätigen Perſönlichkeit und aus dem Verſtändniß der gegebenen
Zuſtände das richtige Maß und die zweckmäßige Form für die wirkliche
Thätigkeit der Verwaltung eines gegebenen Volkes zu beſtimmen. Und
daher dürfen wir gleich hier hinzufügen, daß nicht bloß die Verwaltung
im Ganzen und Großen, ſondern daß auch jedes Gebiet der Verwal-
tung ſeine Politik hat. Wie es eine Politik der Staatswirthſchaft
gibt und eine Politik der Rechtspflege, ſo gibt es eine innere Verwaltungs-
politik; aber innerhalb der innern Verwaltungspolitik hat wieder jeder
Theil derſelben ſeine Politik, die dann allerdings durch die perſönlichen
wirthſchaftlichen und ſocialen Zuſtände bedingt wird. Darin liegt die
Unerſchöpflichkeit der innern Verwaltungslehre; ſie iſt nicht bloß
im Ganzen, ſondern auch in jedem Theile das ewig junge Gebiet der
lebendigen Wiſſenſchaft vom Staate.
[62]
4) Der Begriff der Polizei und das Verhältniß der Polizei-
wiſſenſchaft zur Verwaltungslehre.
Wir würden jetzt glauben, den Begriff und die ſyſtematiſche Dar-
ſtellung der innern Verwaltung hinreichend feſtgeſtellt und vor jeder
Verwechslung bewahrt zu haben, wenn nicht durch den eigenthümlichen
Entwicklungsgang einerſeits des wirklichen Lebens und andererſeits der
Theorie eine ſo große Verwirrung der Begriffe und, wie es immer da-
bei geſchieht, eine ſo große Unbeſtimmtheit und Willkür in die Bezeich-
nungen der Verhältniſſe und die Wahl der Ausdrücke hineingekommen
wäre, daß wir, wollen wir endlich ein definitives Reſultat gewinnen
und damit erſt eine ſelbſtändige Wiſſenſchaft der Verwaltung möglich
machen, eben dieſe bisherigen Vorſtellungen, Bezeichnungen und Worte
noch einmal ins Auge faſſen und auf ihre eigentliche Bedeutung zurück-
führen müſſen.
Der Ausdruck, der hier die eigentliche Schwierigkeit bildet, und
der jede wahre Wiſſenſchaft der Verwaltung ſo lange unmöglich macht,
als man ſich über ſeinen feſten Sinn nicht geeinigt hat, iſt der der
Polizei und ſein Correlat die Polizeiwiſſenſchaft.
Wenn ein ſolches Wort ſeit Jahrhunderten gebraucht worden iſt,
wenn ſeit Jahrhunderten über ſeine wahre Bedeutung hin und her ge-
ſtritten iſt bis zur Erſchöpfung aller Betrachtungen und ſelbſt des Inter-
eſſes an denſelben, wenn es ohne einen gemeinſam anerkannten, be-
ſtimmten Sinn von jedem in ſeiner Weiſe gebraucht worden iſt, und
wenn es nun gar endlich, wie wir ſehen werden, mit dem, was es
wirklich bedeutet, ein immanentes, die ganze Verwaltung durchdringen-
des Moment bezeichnet, ſo wird es wohl leicht begreiflich ſeyn, daß wir
es nicht mit ein paar Sätzen ganz erklären und auf ſein richtiges Maß
zurückführen können. Es iſt, wie die Sachen liegen, ganz unmöglich,
an die Stelle der bisherigen Verwirrung Klarheit zu bringen, wenn es
uns nicht geſtattet iſt, etwas tiefer auf die Sache einzugehen. Allein
jeder, der mit der Verwaltung und ihrer Wiſſenſchaft jemals zu thun
gehabt, wird uns zugeſtehen, daß ohne eine durchgreifende Beſtimmung
der wahren Definition und des Weſens der Polizei und damit ihres
organiſchen Verhältniſſes zur Verwaltung eine Verwaltungslehre gar
nicht möglich iſt.
Gewiß nun wird das Eingehen auf die richtige Auffaſſung viel
leichter ſein, wenn wir das Reſultat dieſes Theiles unſerer Unterſuchung
gleich an die Spitze ſtellen.
Die Thatſache, von der wir ausgehen, iſt die völlige Verſchmelzung
des Begriffes von Polizei und Verwaltung bei einigen, das Gefühl,
[63] daß dieſelbe nicht richtig iſt, bei andern, und dadurch die Unklatheit
über das Weſen beider und die Verwirrung der Begriffe und Ausdrücke
bei allen.
Die Unterſuchung des Begriffes und Weſens beider ergibt nun,
daß allerdings die Polizei ein der ganzen Verwaltung immanentes
Element bildet, daß ſie dagegen keineswegs die ganze Verwaltung ent-
hält oder erſchöpft; daß ſie aber aus geſchichtlichen Gründen dieſe ganze
Verwaltung Jahrhunderte hindurch bedeutet hat, und daß ſich erſt lang-
ſam und unſicher der Begriff der Verwaltung aus dem der Polizei her-
ausgearbeitet, unter den verſchiedenſten Namen jener gegenüber Selb-
ſtändigkeit gewonnen, aber ſich doch noch nicht zu einem organiſchen Ganzen
erhoben hat, bis wir in unſerer Zeit gezwungen ſind, die Verwaltung
als das organiſche Ganze anzuerkennen, in welchem wir der Polizei mit
ihrem ſpecifiſchen Weſen und ihrer eigenthümlichen Function ihre Stelle
anweiſen. Dieß in Kürze auszuführen, iſt die Aufgabe des Folgenden.
Und darum wünſchen wir uns auf keinem Punkte mehr die Gabe der
Ueberzeugung, als hier. Denn es iſt bei dem bisherigen Zuſtande keine
Verwaltungswiſſenſchaft möglich, und dennoch iſt ſie das höchſte Gebiet
der Staatswiſſenſchaft.
Wenn wir nun in der Geſchichte der Idee der Verwaltung den
Entwicklungsgang des poſitiven, ethiſchen Inhalts derſelben und ihr
lebendiges Verhältniß zur Idee des Staates angedeutet, ſo kommt es
hier vielmehr darauf an, die Geſchichte der Namen, der Ausdrücke, der
Formen zu geben, in denen ſich jene geäußert und durch die ſie ſich
verwirrt hat. Wir können dabei ohne eine gewiſſe Wiederholung nicht
auskommen. Aber unſer Troſt mag ſein, daß wenigſtens dieſe Aufgabe
nicht zweimal gelöst zu werden braucht.
Wir glauben, daß wenn man den von uns oben dargelegten Be-
griff der innern Verwaltung einen Augenblick feſthalten will, Begriff
und Weſen der Polizei und ihr organiſches Verhalten zur Verwaltung
leicht verſtändlich ſein wird.
Die innere Verwaltung ſoll die Bedingungen der ſelbſtthätigen
Entwicklung des Einzelnen durch die Macht des Staats in ſo weit her-
ſtellen, als der Einzelne ſich dieſelben als ſolcher nicht zu bereiten
vermag.
Dieſe Bedingungen beſtehen nun in gewiſſen Zuſtänden und Ver-
hältniſſen des äußern Lebens der Perſönlichkeit. Dieſe Zuſtände und
Verhältniſſe aber ſind theils wirkliche Thatſachen, theils aber ſind ſie
[64]Kräfte, welche erſt Thatſachen zu erzeugen ſtreben, die wir dann die
Wirkung der Kraft als Urſache der Thatſache nennen.
Es iſt nun natürlich, daß die Aufgabe und Thätigkeit der Ver-
waltung eine andere iſt, je nachdem ſie es mit wirklichen Thatſachen
oder mit den Kräften zu thun hat. Dabei iſt es kein Zweifel, daß ſie,
will ſie anders ihren Zweck erreichen, bei ihrer Thätigkeit ſich nach der
Natur ihres Objekts zu richten hat.
Daher wird es das Weſen der Kraft ſein, welches die Aufgabe
der Verwaltung beſtimmt, wo ſie mit ſolchen Kräften zu thun hat.
Jede Kraft nun, ſie mag eine natürliche oder perſönliche ſein, iſt
ihrer Natur nach ohne Gränze. Es gibt überhaupt gar keinen andern
Begriff der Kraft, als den des an ſich ſeinem Weſen nach unbegränz-
ten Daſeins. Jede Kraft empfängt daher ihre Gränze erſt von der
andern Kraft. Das iſt der wahre Ausgangspunkt der Wiſſenſchaft der
Thatſachen. Eine ſolche begränzte Kraft in ihrer äußern Erſcheinung
nennen wir, als ein Einheitliches gedacht, eine Thatſache, als eine
Vielheit von Momenten in dieſer Einheit, einen Zuſtand. Jeder Zu-
ſtand, der perſönliche wie der natürliche, iſt daher von den Kräften,
welche in allen andern ihn umgebenden Zuſtänden ihrerſeits lebendig
ſind, beſtändig bedroht, weil die jedem Zuſtande zu Grunde liegende
Kraft ihre Natur, das Streben nach unbegränzter Geltung, ſich erhält.
In jedem Zuſtande lebt daher eine Gefahr für alle andern Zuſtände.
Jeder Zuſtand erhält ſich ſomit nur dadurch, daß er ſeine Kraft gegen-
über der der andern Zuſtände geltend macht. Verliert er das Maß der
Kraft, welches ihn dazu befähigt, ſo geht er zu Grunde. Das iſt das
Geſetz für die Gegenſätze unter den Dingen in der Natur. Es iſt ferner
das Geſetz des Gegenſatzes zwiſchen der Natur und der Menſchheit. Es
iſt aber endlich nicht minder das Geſetz für den Gegenſatz des Einzelnen
gegen den Einzelnen; denn auch der Einzelne iſt, als ſeinem Weſen
nach unendliche und an ſich freie Selbſtbeſtimmung, negativ gegen jeden
andern Einzelnen, weil derſelbe die äußere Gränze ſeines Lebens und
Thuns enthält, und damit eine Gefahr für alle andern.
Die freie und ſelbſtthätige Entwicklung der Einzelnen, dieſes höchſte
Ziel des Staats in ſeiner innern Verwaltung, hat daher zu einer ihrer
weſentlichſten Bedingungen die, daß die ſie umgebenden natürlichen und
perſönlichen Kräfte dieſe freie Entwicklung nicht vernichten. Die Erfül-
lung dieſer Bedingung liegt darin, daß jede dieſer Kräfte auf das Maß
zurückgeführt wird, innerhalb deſſen die freie Selbſtbeſtimmung des Ein-
zelnen noch möglich iſt. Das nun vermag der Einzelne darum nicht,
weil theils ſeine phyſiſchen Kräfte und Mittel, theils ſein Verſtändniß
und ſeine Kenntniß der Zuſtände nicht ausreichen. Hier iſt demnach
[65] der Punkt, wo die Aufgabe der Verwaltung wieder eintritt. Sie muß
auch in Beziehung auf den Schutz und die Bändigung der die perſön-
liche Entwicklung bedrohenden Gefahren leiſten, was der Einzelne nicht
leiſten kann und was demnach für den Einzelnen eine weſentliche Vor-
ausſetzung ſeiner Entwicklung iſt. Und die Geſammtheit aller derjeni-
gen Thätigkeiten der innern Verwaltung nun, welche ſomit den Einzel-
nen vor den Gefahren ſchützt, die in den ihn umgebenden Kräften liegen,
indem ſie dieſe Kräfte auf ihr Maß zurückführt, nennen wir die
Polizei.
Es iſt daher wohl klar, daß die Polizei ihrem Weſen nach in der
That nicht etwa ein beſonderes Gebiet oder ein eigener Theil der Ver-
waltung iſt, wie etwa Unterrichts- oder Gewerbeweſen, und daß die
Verſchmelzung und Verwechslung von Polizei und Verwaltung daher
auch nicht die Verwechslung eines Theiles mit dem Ganzen enthält.
Im Gegentheil iſt die Polizei innerhalb der ganzen innern Verwal-
tung beſtändig vorhanden und thätig, wie ihr Objekt, die Gefahren,
die aus feindlichen Kräften entſtehen, das ganze Leben des Menſchen
umgeben. Sie iſt der geſammten Verwaltung immanent; ſie
iſt in jedem Theile derſelben vorhanden, denn ſie iſt eben die negative
Seite dieſer Verwaltungsthätigkeit. Sie vermag daher nicht bloß den
Umfang der Verwaltung anzunehmen, ſondern ſie entwickelt auch ver-
möge ihrer ſpecifiſchen Natur ein ihr eigenthümliches Syſtem von Maß-
regeln und Thätigkeiten, durch welches ſie die Fähigkeit empfängt, als
ein zugleich äußerliches und innerlich ſelbſtändiges Ganze aufzutreten;
und dieſes Ganze erzeugt endlich ein ihr ſpecifiſch angehöriges Recht,
das wiederum auch äußerlich ſich von dem übrigen Verwaltungsrecht
abſcheidet, und oft ſogar als ſelbſtändiges, ſyſtematiſches Geſetz auftritt.
Es muß das alles wohl in Anſchlag gebracht werden, um die Ver-
wechslung von Polizei und Verwaltung zunächſt theoretiſch zu würdigen,
und zu erkennen, daß es ſo gar einfach nicht iſt, dieſe Verſchmelzung
aufzulöſen. Und darum werden wir dieß hier zunächſt beſtimmter be-
zeichnen.
Das, was wir das Syſtem der polizeilichen Thätigkeit nennen,
beruht auf dem Weſen des Objekts der Polizei, der Natur und der
Verſchiedenheit der Kräfte, gegen welche ſie ſchützen ſoll. Der Inhalt
dieſer Thätigkeit iſt nämlich ein weſentlich verſchiedener, je nachdem die
Kräfte natürliche oder perſönliche ſind. Bei den Kräften der Natur
muß der Schutz, den die Polizei verleiht, darin beſtehen, daß ſie den
natürlichen Bewegungen thatſächlich eine Einrichtung entgegenſtellt,
die ſtark genug iſt, jene zu hemmen, wie bei Waſſer und Feuer; und
hier beſteht daher die Polizei in allen, die Naturkräfte bekämpfenden
Stein, die Verwaltungslehre. II. 5
[66] Anſtalten und Anordnungen, welche den Schutz des perſönlichen Lebens
bezwecken. Bei den menſchlichen Kräften dagegen kann der Schutz
der Polizei nur darin beſtehen, daß ſie dem Willen der Menſchen den
Willen der Verwaltung als Verbot der gefährdenden Handlung, der
wirklichen gefährlichen That aber als unmittelbare, die Gränze wieder
herſtellende Zwangsgewalt entgegentritt. Dieſer Zwang kann als
Androhung von Strafe ſich auf den Willen (die eigentliche Kraft,
welche Gefahr droht) oder als materielle Gewalt auftreten. In beiden
letztern Fällen erſcheint dieſe, gegen den Willen und die Thätigkeit der
Perſönlichkeit gerichtete Polizei als ein Eingriff in die freie Selbſtbeſtim-
mung des Individuums, und muß daher zu dieſem Ende als eine be-
ſtimmte Vorſchrift des öffentlichen Rechts, als ein Geſetz oder eine
Verordnung und Verfügung der Polizei auftreten. So entſteht das
Polizeirecht, das nun wiederum in ſelbſtändiger Codification oder
in einzelnen Vorſchriften erſcheinen kann, und das daher als ein Theil
des Rechts der vollziehenden Gewalt für die gegen den Einzelnen ge-
richtete Vollziehung der Polizeivorſchriften auftritt (Vollziehende Gewalt
198 ff.). — Dabei iſt nun freilich weſentlich feſtzuhalten, daß dieſe Polizei
es ihrem Begriffe nach niemals mit einer bereits geſchehenen That zu
thun hat, ſondern nur mit der Kraft, welche die That thut, oder
wie man ſagt, mit der Gefahr einer That. So wie die That ge-
ſchehen iſt, tritt vielmehr derjenige Theil der Verwaltung ein, den
wir die Rechtspflege nennen. Selbſt da, wo die That als Uebertretung
der Polizeivorſchrift erſcheint und die Vollziehung der in der Vorſchrift
angedrohten Strafe zur Folge hat, iſt die Vollziehung dieſer Polizei-
ſtrafe kein Akt der Polizei, ſondern ein Akt der Rechtspflege, na-
türlich auch da, wo das vollziehende Organ der Polizei über dieſe
Polizeiübertretung zu urtheilen und ihr Urtheil zu vollziehen hat, wie
es aus naheliegenden Gründen der Zweckmäßigkeit oft geſchieht. Die
Natur der polizeilichen Thätigkeit wird dieſes judicielle Verfahren des
Polizeiorganes nicht ändern, ſondern nur die adminiſtrative Function
mit der judiciellen verbinden. Der Fehler, den man dabei ge-
wöhnlich begeht, beſteht dann darin, daß man den in Urtheil und Voll-
ziehung liegenden gerichtlichen Akt des Polizeiorganes als im Weſen
der Polizei ſtatt in den praktiſchen Bedürfniſſen der Verwaltung
liegend auffaßt und dadurch den klaren Begriff der Polizei verwirrt.
Es ergibt ſich daraus, daß es gar keine ſogen. Präventiv-Juſtiz
gibt, noch geben kann. Alles, was man damit bezeichnet, iſt theils
Polizei-, theils Rechtspflege, nur meiſtens von demſelben Organe
vollzogen, niemals aber Ein Begriff oder Eine Function, die zwei
weſentlich verſchiedene Dinge zugleich wären. Dieß nun ſoll genauer
[67] dargeſtellt werden bei der Sicherheitspolizei. Das Folgende wird aber
ſchon ausreichen, den obigen Begriff im Allgemeinen feſtzuſtellen.
Jedenfalls aber ergibt ſich, ſei es nun, daß die Polizei allein oder
in Verbindung mit der Juſtiz functionire, daß dieſe polizeiliche Thätig-
keit in der ganzen Verwaltung erſcheint, und daß kein Theil als Ge-
biet der Verwaltung ohne dieſelbe ſein kann und ſoll, ein Verhältniß,
das auch durch das Aufſtellen eines eigenen Polizeigeſetzbuches keines-
wegs aufgehoben wird. Denn in jedem Theile des Geſammtlebens,
alſo auch in jedem Gebiete der Verwaltung ſind theils natürliche,
theils perſönliche Kräfte lebendig; in jeder Kraft lebt die Möglichkeit,
ja das Streben, über ihr Maß hinauszugehen; jede Kraft enthält da-
her auf jedem Punkte eine Gefahr für die freie Entwicklung; auf
jedem Punkte iſt daher die Aufgabe der Verwaltung vorhanden, ver-
möge der polizeilichen Function den Schutz gegen das Uebergreifen der
Kräfte herzuſtellen.
Iſt dem nun aber ſo, ſo wird es auch leicht klar, daß man die
geſammte Verwaltung auch vom Standpunkte der eigentlichen Polizei
betrachten und behandeln kann. Wenn man den Ausgangspunkt für
die Auffaſſung der Verwaltung in demjenigen nimmt, was dieſelbe zu
verhindern hat, ſo wird man die geſammte Verwaltungslehre an
dieſen polizeilichen Standpunkt faſt ohne Schwierigkeit anknüpfen, ja
die ganze Verwaltungslehre weſentlich als Polizeilehre anſehen und be-
trachten können. Und nun denke man ſich nur hinzu, daß das, was
die Verwaltung poſitiv anordnet und befiehlt, durch die in dem oben
bezeichneten Syſteme der polizeilichen Thätigkeit liegenden Mittel, alſo
namentlich durch polizeiliche Strafandrohung, eventuell durch polizeiliche
Zwangsgewalt zur Ausführung gebracht wird, ſo wird es in hohem
Grade als naheliegend erſcheinen, die ganze Auffaſſung der eigentlichen
Verwaltung in die der Polizei aufgehen zu laſſen, und ſomit die ganze
Wiſſenſchaft der Verwaltung als Polizeiwiſſenſchaft hinzuſtellen.
In der That iſt dieß der Gang der Dinge und die Form geweſen,
in der die Verwaltungslehre den Namen und den Charakter einer
„Polizeiwiſſenſchaft“ empfangen und bis auf den heutigen Tag be-
halten hat.
Als nämlich mit dem Auftreten der neuen Staatsgewalt ſeit dem
Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts der Staat ſich der
ſtändiſchen Grundherrlichkeit als ſelbſtändige Macht entgegenſtellt und
alles öffentliche Recht und Leben um ſich zu concentriren beginnt, tritt
[68] für ihn mit der höheren Berechtigung auch eine höhere Forderung auf.
Er muß etwas Beſtimmtes thun.
Er muß mit ſeiner Thätigkeit das Geſammtintereſſe gegen die
Sonderintereſſen und Rechte der ſtändiſchen Bildungen vertreten. Er
muß allenthalben den Widerſtand der letztern brechen. Er muß jene
Geſammtintereſſen erſtlich verſtehen und ſie dann mit ſeiner Gewalt
durchführen. Er muß, wie jene Geſammtintereſſen, allenthalben gegen-
wärtig und thätig ſein; er muß den Rechtstitel dieſes Eingreifens in
die beſtehende ſtändiſche Macht in einer höheren, abſtrakten Idee ſuchen;
er muß endlich dieſe ſeine Thätigkeit mit einem großen, ebenfalls all-
gegenwärtigen Organ verſehen; er muß verlangen, daß dieſer Organis-
mus die Geſammtintereſſen erkennen und daß er fähig ſei, jenen höhern
Rechtstitel in ſich aufzunehmen und auf allen Punkten zu vertreten.
Alles das ſind die Bedingungen des wirklichen und nachhaltigen Sieges
des Königthums über die alte Ordnung der Dinge.
Durch alles dieß zuſammen genommen empfängt nun der Staat
zuerſt ſeinen organiſchen Inhalt überhaupt. Die Idee des Staats bleibt
dadurch nicht bloß eine wiſſenſchaftliche Theorie; ſie iſt auch kein bloß
materielles Eingreifen in die beſtehenden Ordnungen; ſie iſt eben ſo
wenig bloß ein Wunſch und Streben der Herrſcher. Sie iſt eben alles
zugleich, wie jede wahre hiſtoriſche Thatſache. Die Könige dieſer Epoche
wiſſen gleichſam unmittelbar, was ſie ſind und ſein ſollen. Das Wort
„von Gottes Gnaden“ bezeichnet uns jene Anſchauung, welche der
Staat über alle Intereſſen und Gewalten der Einzelnen ſtellt. Der
große Organismus, der im Namen des neuen Königthums wirkt, iſt
die Obrigkeit. Das große geiſtige Element, das beide umgibt und be-
gleitet, iſt die junge Staatswiſſenſchaft. Sie ſelbſt hat zwei große Ge-
biete, die faſt unwiderſtehlich ineinander greifen. Königthum und Obrig-
keit bedurften für ihre ſchwere Aufgabe zweier Dinge. Erſtlich bedurften
ſie eines Rechtsbewußtſeins, und eines dieſem Rechtsbewußtſein ent-
ſprechenden, geltenden, fertigen, mit voller Autorität auftretenden
Rechtsbuches. Für das letztere können die Rechtsbücher der ſtän-
diſchen Epoche nicht dienen. Sie ſind alle zuſammen theils örtlicher
Natur, theils haben ſie zu ihrer Vorausſetzung die ſtändiſche Geſell-
ſchaftsordnung mit ihren Rechtsunterſchieden und ihrer örtlichen Gel-
tung, welche eben die Anwendung allgemeiner und gleichartiger Grund-
ſätze rechtlich ausſchließt. Die neue Staatsidee muß daher ihren eigenen
Rechtscodex haben und zur Geltung bringen; und dieſes Rechtsbuch iſt
das Corpus Juris, das eben darum zur allgemeinen Grundlage des
Studiums der „Obrigkeit,“ aller Beamteten des Königthums wird, wäh-
rend man daneben conſequent das alte ſtändiſche Recht vollkommen
[69] vernachläſſigt. Allein zweitens bedarf der junge Staat neben dieſer juri-
ſtiſchen Begründung für ſeine Thätigkeit einer theoretiſch begründeten
und wiſſenſchaftlich ſyſtemiſirten, kurz einer ethiſchen Grundlage ſeiner
praktiſchen Aufgabe. Und während nun das römiſche Reich ihm ſein
Recht im Corpus Juris gab, trat die griechiſche Welt ihm in dieſem
Bedürfniß zur Seite, und gab ihm die griechiſchen Werke über die
Staatskunſt, die πολιτεια. Es handelte ſich bei dieſer πολιτεια na-
türlich nicht darum, gerade das auszuführen, was Plato und Ariſtoteles
geſagt hatten, ſo wenig wie es jemand einfiel, gerade das ganze römiſche
Recht zur Anwendung zu bringen. Es handelte ſich vielmehr nur dar-
um, der Thätigkeit des Staates und ſeiner Obrigkeiten eine hohe ethiſche
Autorität zum Grunde zu legen. Dieſe aber gaben ihm die Werke über
die Politeia. So griffen dieſelben ſofort und auf das mächtigſte ein.
Die Staatskunſt erſchien als eine Wiſſenſchaft neben dem Recht; es
war natürlich, daß man dieſer Staatskunſt den angeſtammten Namen
gab; und ſo entſtanden die Politik oder die Polizei, urſprünglich aus
derſelben Quelle, eins und daſſelbe bedeutend.
Damit war dem erſten Bedürfniß Genüge geleiſtet. Die Politik
umfaßt das ganze Staatsleben in der ethiſchen Begründung des neuen
Staatsrechts. Bald aber entwickelt ſich daraus ein neuer Proceß.
Während jenes nämlich geſchieht, concentriren ſich die Staaten; ſie
gewinnen feſte Formen und Gränzen; ſie berühren ſich; es entſtehen
die ſpeciellen Intereſſen derſelben in dem ſich entwickelnden Geſammt-
leben Europa’s; es entſteht das, was wir das Staatenſyſtem nennen.
In dieſem Staatenſyſtem hat nun jeder Staat wieder ſeine Aufgabe
gegenüber den andern; und alle dieſe Aufgaben erſcheinen zuſammen-
gefaßt in demjenigen Momente, welches ſeinerſeits die Bedingung aller
iſt, der Machtbildung. Dieſe Machtbildung iſt aber eine Kunſt für
ſich; ſie erſcheint vor der Hand ganz gleichgültig gegen die innern Zu-
ſtände; ſie will für ſich verſtanden und gelehrt werden; und ſo trennt
ſich in der urſprünglich einfachen Staatskunſt das Gebiet der Staats-
kunſt der äußern Machtbildung, die Staatskunſt des Verkehrs der
Staaten untereinander von der innern Staatskunſt. Mit dieſer that-
ſächlichen Scheidung tritt die des Namens ein. Das Wort πολιτεια
ſpaltet ſich in zwei Theile. Die Staatskunſt des äußern Staaten-
verkehrs und der Machtbildung wird die Politik; die Staatskunſt des
innern Staatslebens wird die Polizei. Jene hat ihren Organismus
in der ſich allmählig ſelbſtändig entwickelnden Diplomatie, dieſe dagegen
iſt das wahre Gebiet der eigentlichen Obrigkeit. Und ſo hat jetzt
der Begriff der „Polizei“ ſeine eigene, leicht verſtändliche Bedeu-
tung. Sie iſt durch den Gang der Dinge zur Geſammtheit aller
[70] Thätigkeiten der Obrigkeit für das innere Staatsleben
geworden.
Auf dieſe Weiſe empfängt die „Polizei“ ihren erſten concreten In-
halt. Und nun war es ganz natürlich, daß dieſer Inhalt, oder das,
was die Polizei getrennt von der Politik lehren mußte, identiſch mit
dem war, was die „Obrigkeit“ zu thun hatte. Das letztere aber lag
eben in den Zuſtänden der Zeit, in denen der junge perſönliche Staat
entſteht.
Das Leben jener Epoche iſt erſt ſo eben aus der Periode des Fauſt-
rechts und Fehderechts, der Berechtigung zur Anwendung der perſönlichen
Gewalt hinausgetreten. Ihr erſtes Bedürfniß, die erſte Bedingung alles
ſtaatsbürgerlichen Fortſchrittes, iſt die rechtliche Sicherheit des Einzelnen.
Allerdings gab es dafür Gerichte, und wohl auch waren dieſe Gerichte
thätig. Allein ein Gericht hat als Grundlage ſeiner Thätigkeit ſtets
ein Geſetz. Allerdings nun gab es Geſetze. Allein dieſe Geſetze hatten
entweder nur, wie das ſogenannte deutſche Privatrecht in Deutſchland oder
das droit coutumier in Frankreich, die ſtändiſchen Rechte und Verhält-
niſſe zum Inhalt, oder, wie das römiſche Recht, die ſtaatsbürgerliche
Rechtsordnung. Eine Verwaltungsgeſetzgebung gab es nicht. Sie
mußte daher erſt geſchaffen und neben ihr als Complement die Straf-
geſetzgebung hingeſtellt werden. So entſtand eine ganz neue Richtung
der Geſetzgebung über das innere Staatsleben, der Anfang der Ver-
waltungsgeſetzgebung und des eigentlichen Verwaltungsrechts, die
Polizeigeſetzgebung. Dieſe Polizeigeſetzgebung hatte nun nicht zur
Grundlage ein ausgebildetes theoretiſches Syſtem der Verwaltung, ſon-
dern ſie ſchloß ſich vielmehr einfach an das praktiſche, wirkliche Leben
an, indem ſie ſich zuerſt und vor allen Dingen an dasjenige hielt, was
das nächſte praktiſche Bedürfniß fordert. Das aber iſt die öffentliche
Ordnung und Sicherheit. Die Zeit des Fauſtrechts muß aufhören, die
Zeit, in welcher der Einzelne den Nachbarn ſo weit unterdrückt oder
ſo weit ſeiner Willkür Spielraum läßt, als ſeine Macht geht. Dieſe
erſte Aufgabe iſt eine allgemeine, alles überragende; das junge Leben
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, das Geſammtintereſſe fordert vor
allen Dingen Schutz und Ruhe: es iſt ſich bewußt, daß es ſchon ſelbſt
weiter kommen wird, wenn es nur zu geſicherten öffentlichen Zuſtänden
gelangt; die einzelnen Aufgaben der eigentlichen Verwaltung liegen noch
ferner; die neuere Staatskunſt iſt zuerſt und vor allen Dingen diejenige
obrigkeitliche Thätigkeit, welche Sicherheit ſchafft. Und ſo entſteht
der Begriff, daß die eigentliche und wahre „Polizei“ vor allem die
Sicherheitspolizei ſein müſſe. Dieß rein negative Element der
innern Verwaltung iſt das urſprünglichſte und wichtigſte; es iſt ganz
[71] natürlich, daß ſich die Vorſtellung feſtſtellt, daß der Inhalt der Verwaltung
weſentlich in der Sicherheitspolizei gegeben ſei.
Damit nun beginnt die Verwaltung, und bekanntlich heißen dem-
gemäß auch die erſten großen Verwaltungsgeſetzgebungen „Polizei-Ord-
nungen.“ Allerdings nun entſteht, wie wir früher dargelegt, im 17. Jahr-
hundert mit dem Wohlfahrtsſtaate die Idee, daß der Staat vermöge
ſeiner Thätigkeit für das Wohl der Staatsangehörigen zu ſorgen habe.
Allein dieſer Gedanke erſcheint ſyſtematiſch nicht etwa in der Polizeilehre,
ſondern er bleibt ein ganzes Jahrhundert lang in der Rechtsphiloſophie,
dem Jus naturae et gentium; und als er ſich in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts mit der traditionellen Vorſtellung von der Polizeiverwal-
tung verſchmilzt, und die erſte ſelbſtändige Verwaltungslehre unter
Juſti und Sonnenfels entſtehen will, wendet ſich das Princip des
Rechtsſtaats von der ganzen Verwaltung ab, und hinterläßt die „Poli-
zeiwiſſenſchaft“ als die formale Lehre von den Verpflichtungen des
Staats und ſeinen theils juriſtiſchen, theils obrigkeitlichen Berechtigungen
gegenüber den verwirrten Zuſtänden der damaligen Zeit. So geſchieht
es, daß die Lehre vom Staat ohne den poſitiven Inhalt der wirklichen
Verwaltung, die Lehre von der „Polizei,“ die noch allein das formale
Gebiet der Verwaltung enthält, ohne den organiſchen Inhalt der
Staatsidee daſteht. Die Ahnung davon, daß dieſe Polizei im Grunde
nur ein Theil der Verwaltung ſey, tritt allerdings auf in der Unter-
ſcheidung von Wohlfahrts- und Sicherheitspolizei. Allein das was hier
Wohlfahrtspolizei heißt, iſt von der alten Vorſtellung von der Polizei
ſo durchdrungen, daß es im Grunde doch keine poſitive Verwaltungs-
lehre bildet. Denn bei dieſer Wohlfahrtspolizei denkt man ſich doch
noch immer nur das, wozu der Staat den Einzelnen vermöge ſeiner
Verordnungsgewalt um ſeiner eigenen Wohlfahrt willen zwingen kann,
und zuletzt auch ſoll. Die höhere Idee des Rechtsſtaats und der ihr
zum Grunde liegende Begriff der ſelbſtbeſtimmten freien Perſönlichkeit
will vor allen Dingen den Zwang nicht, ſelbſt wo er zum Wohlſeyn
führt. Die Polizeiwiſſenſchaft erſcheint daher als die Lehre von der, durch
den ſtaatlichen Zwang hergeſtellten Wohlfahrt aller; ſie iſt die Verwal-
tung als eine zwingende Gewalt; indem ſie dadurch ihren Charakter
der ethiſchen Aufgabe verliert, nimmt ſie den Charakter des Unfreien
in ſich auf, und jetzt iſt es natürlich, daß ſich die Verwaltungslehre in
dieſer Geſtalt der Polizeiwiſſenſchaft die Gunſt der Zeit vollſtändig ent-
fremdet. Der Inhalt der eigentlichen Verwaltung verläßt die alte
Polizeiwiſſenſchaft, und bricht ſich Bahn in andern Richtungen. Wir
haben ſie ſchon früher bezeichnet. Die Verwirrung iſt der Form nach
eine große, ja faſt unüberſehbare. Der Sache nach iſt ſie jedoch keines-
[72] wegs eine tiefgreifende. Das Ergebniß iſt im Allgemeinen, daß die
Auffaſſung der Verwaltung als „Polizei“ verſchwindet, und der ethiſchen
und organiſchen Auffaſſung der „Verwaltung“ und der „Verwaltungs-
lehre“ Platz macht. Das iſt ganz ohne Zweifel unſer heutiger Zuſtand.
An dieſen Zuſtand knüpft ſich nun die Frage, ob es denn noch
und in welchem Sinne, in der heutigen Verwaltungslehre eine „Polizei-
wiſſenſchaft“ mit einem beſonderen Inhalt geben könne?
Wir glauben die Antwort auf die obige Frage, und die Beſtim-
mung deſſen, was wir künftig noch als Polizeiwiſſenſchaft anerkennen,
leicht geben zu können.
Die Polizei als die negative, ſchützende Thätigkeit der Verwaltung
iſt und bleibt ein immanenter Theil der ganzen Verwaltung, und iſt
daher nicht bloß principiell, ſondern auch thatſächlich in jedem Gebiete
der letzteren enthalten. Die Form nun, in der ſie zur Erſcheinung
kommt, oder ihre Vollziehung gegenüber dem Einzelnen, iſt kein Theil
der innern Verwaltungslehre, ſondern ein Theil der vollziehenden
Gewalt. Die Darſtellung derſelben gehört daher der Lehre von der
vollziehenden Gewalt, und hat in der letzteren bereits ihren Platz ge-
funden. Es kann ſich daher nur fragen, ob der Inhalt der polizei-
lichen Aufgabe es möglich macht, von einer eigenen Polizeiwiſſenſchaft
ferner zu reden.
Nun iſt es klar, daß man, wenn man das will, die ſchützende
Thätigkeit der Verwaltung von der fördernden ſcheiden müßte. Es
iſt ein abſoluter Widerſpruch mit dem oben dargelegten innern Weſen
der Polizei oder der auf die Begränzung der Kräfte gerichteten Thätig-
keit des Staats, die ganze Verwaltung eine Polizei zu nennen. Es
könnte ſich alſo nur darum handeln, jene negative Seite der Ver-
waltung, von der poſitiven geſchieden, als ein innerlich und äußerlich
ſelbſtändiges Gebiet aufzuſtellen, und die alte Unterſcheidung zwiſchen
Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei damit wieder ins Leben zu rufen.
Offenbar nun iſt das für das ganze Gebiet der Verwaltung nicht
thunlich. Denn in vielen Theilen der letzteren iſt die negative Seite
von der poſitiven gar nicht zu ſcheiden, wie z. B. bei dem Fremden-
weſen, beim Eherecht, bei dem Sanitätsweſen, bei der Vormundſchaft,
bei hundert andern Dingen. Hier iſt die Ordnung, welche durch das
Verwaltungsrecht gilt, zugleich der Schutz gegen die üblen Folgen der
Unordnung. Es iſt in allen dieſen Fällen geradezu unmöglich zu ſagen,
was dem Gedanken einer Sicherheits- und dem einer Wohlfahrtspolizei
entſpräche.
[73]
Es iſt daher auch unmöglich, eine die ganze Verwaltung unfaſſende
Wiſſenſchaft auf Grundlage der Polizei aufzuſtellen. Es iſt nicht
möglich, bei der Polizeiwiſſenſchaft als Form der Verwal-
tung ſtehen zu bleiben.
Dagegen gibt es eine Reihe von Gebieten des Lebens, in denen
die Verwaltung eben gar nichts anderes zu thun hat, als einen Schutz
herzuſtellen, und in denen ſich auch äußerlich dieſe Aufgabe von der
fördernden und poſitiven Verwaltung ſehr wohl ſcheiden läßt. In allen
dieſen Gebieten und Fällen nun tritt eine ſelbſtändige polizeiliche
Thätigkeit auf, und damit wird denn eine ſelbſtändige Darſtel-
lung ihrer Aufgabe und ihres Verfahrens möglich. So
z. B. bei der Sicherheitspolizei, bei der Geſundheitspolizei, bei der Ge-
werbepolizei, bei der Feuer- und Waſſerpolizei u. ſ. w. Allenthalben
wo dieß der Fall iſt, wird nicht bloß eine ſelbſtändige Behandlung
dieſer polizeilichen Thätigkeit thunlich und nützlich, ſondern ſogar die
Bezeichnung als „Polizei,“ das iſt alſo als die Geſammtheit der
zum Schutze der allgemeinen Intereſſen zu ergreifenden
Maßregeln der Verwaltung, eine eben ſo richtige als zweckmäßige
ſein. Man kann das, wenn man durchaus will, auch „Polizeiwiſſen-
ſchaft“ nennen. Nur wird es dabei klar ſein, daß es keine durchgrei-
fende, einheitliche Darſtellung der Verwaltungslehre als „Polizeiwiſſen-
ſchaft“ mehr geben kann, ſondern daß das, was wir Polizeilehre oder
Wiſſenſchaft zu nennen haben, künftig nur in den ſelbſtändigen ein-
zelnen Polizeigebieten und der wiſſenſchaftlichen Darſtellung der Auf-
gabe und des Verfahrens für den Schutz der Gemeinſchaft innerhalb
dieſer ſpeciellen Polizeigebiete beſtehen wird. Die Polizei iſt daher
weder als Thätigkeit der Verwaltung noch als Gegenſtand der Wiſſen-
ſchaft ausgeſchloſſen. Nur iſt ſie künftig eben, was ſie ſein ſoll, ein
immanenter, und von den großen Principien der Verwaltung und des
Verwaltungsrechts beherrſchter, ſich dem Ganzen der Verwaltungslehre
nach ihrer beſondern Aufgabe und Stellung einreihender Theil der-
ſelben.
Vielleicht daß uns damit gelungen iſt, die Grundlagen des richtigen
Verhältniſſes der Polizei zur Verwaltung feſtzuſtellen. Es iſt das aber
um ſo wichtiger, als wir dieſer Vorausſetzung für das folgende Gebiet,
das Verwaltungsrecht, weſentlich bedürfen.
[[74]]
Zweiter Abſchnitt.
Das Verwaltungsrecht.
Nachdem wir nun den Inhalt der Verwaltung aus der organiſchen
Idee derſelben entwickelt haben, wird es nicht ſchwer ſein, ſich gleichfalls
definitiv über das zu einigen, was wir das Verwaltungsrecht und
die Lehre von demſelben nennen.
Wir müſſen zu dem Ende den Begriff des Verwaltungsrechts,
dann die Bildung deſſelben und endlich ſeinen Charakter in den drei
großen Kulturſtaaten mit ſpecieller Beziehung eben auf die Bildung
deſſelben darlegen.
I.
Begriff und Definition des Verwaltungsrechts.
Die Begriffe der Verwaltungsgeſetzkunde und der Wiſſen-
ſchaft des Verwaltungsrechts. Der Begriff der adminiſtra-
tiven Individualität des Staats.
Wenn wir in der Darlegung des Begriffes des Verwaltungsrechts
es nur mit dieſem zu thun hätten, ſo würden wir bald den Gegenſtand
erſchöpft haben. Allein die große Bedeutung der Sache zwingt uns
allerdings einige Schritte weiter zu gehen.
Der Begriff des Verwaltungsrechts entſteht nämlich da, wo die
durch das Weſen und die organiſche Funktion der Verwaltung gegebene
Aufgabe und Thätigkeit derſelben gleichſam aus dem abſtrakten Begriffe
des Staats heraustritt, und zum Inhalte des Staatswillens
ſelbſt wird. Die Anerkennung einer im Weſen der Verwaltung liegen-
den Aufgabe durch den Staat als ſeine eigene macht die Erfüllung
derſelben zum Verwaltungsrecht, und zwar indem jede mit
dieſer Erfüllung gegebene einzelne Thätigkeit als mit jener allgemeinen
[75] Anerkennung zugleich geſetzt erſcheint. Während daher die Verwaltungs-
lehre zeigt, was der Staat in der innern Verwaltung vermöge ſeines
Weſens zu thun hat, zeigt das Verwaltungsrecht, was ſeine Organe
vermöge des Staatswillens zu thun verpflichtet ſind. Es hat daher
einen ganz guten Sinn, wenn man ſagt, daß die Verwaltung erſt als
Verwaltungsrecht dem Staate wie ſeinen eigenen Organen und An-
gehörigen objektiv wird, und daß, während die Verwaltung an ſich
im Begriffe und der ſittlichen Idee des Staats liegt, die wirkliche
Verwaltung erſt im Verwaltungsrecht enthalten iſt.
Das Verhältniß der Verwaltungslehre zum Verwaltungsrecht iſt
daher wohl an ſich ſehr einfach. Die erſtere zeigt, was im Gebiete der
innern Verwaltung ſein ſoll, die zweite, was iſt. Allein damit iſt
dasjenige Moment gegeben, was uns auch hier zwingt, auf das Weſen
der Sache näher einzugehen; dieß iſt die das ganze menſchliche Daſein
durchziehende Differenz zwiſchen dem was ſein ſoll und was iſt, die
Verſchiedenheit des Geforderten von dem Geltenden, und damit endlich
auch die tiefe Verſchiedenheit der Aufgabe zwiſchen der Darſtellung
des reinen, poſitiven Verwaltungsrechts oder der Verwaltungsge-
ſetzkunde, und der Verbindung der Verwaltungslehre mit der Auf-
faſſung und den Thatſachen des geltenden Rechts oder der Wiſſenſchaft
des Verwaltungsrechts.
Während nämlich die Verwaltungsgeſetzkunde oder das rein poſitive
Verwaltungsrecht ſich ſeiner Aufgabe nach um die Verwaltung an ſich,
und mithin um die Differenz zwiſchen ihr und der wirklichen Verwaltung
nicht zu kümmern hat, muß die Verwaltungslehre, indem ſie das poſi-
tive, wirkliche Verwaltungsrecht in ſich aufnimmt, die Gründe, die
innern und äußern Kräfte zum Verſtändniß bringen, welche dem poſi-
tiven Verwaltungsrecht ſeine concrete Geſtalt gegeben und damit eben
jene Differenz zwiſchen ihm und den Forderungen der Verwaltunglehre
erzeugt haben. Die Verwaltungsgeſetzkunde, gleichviel ob ſie in bloßer
Sammlungsform auftritt wie bei Kopetz, Fiſcher, Bergius, Stubenrauch,
Funke u. a. oder ob ſie ſich zu einem ſyſtematiſchen Ganzen unter dem
Namen des im Gegenſatz zum Verfaſſungsrecht ſtehenden Verwaltungs-
recht erhebt wie bei Mohl, Pötzl, Rönne, kann daher ohne die Ver-
waltungslehre beſtehen und hat für das praktiſche Leben ihren hohen
Werth. Umgekehrt fällt dagegen die reine Verwaltungslehre ohne Be-
ziehung auf das poſitive Recht ſtets in die mehr oder weniger ſubjektive
Anſchauung hinein, und wird ein bloßes Wohlmeinen wie bei Jacobi
und Mohl. Eine reine Verwaltungslehre, welche nicht die Kraft hat,
das poſitive, geltende Recht in ſich organiſch aufzunehmen und zu ver-
arbeiten, hat nur einen zweifelhaften Werth. Erſt dadurch, daß ſie
[76] dieß vermag, gehört ſie dem wirklichen Leben. Und erſt dann nennen
wir ſie mit Recht die Wiſſenſchaft der Verwaltung.
Iſt dem nun ſo, ſo iſt die erſte Aufgabe der letzteren gegenüber
dem poſitiven Verwaltungsrecht die, die elementaren Kräfte und
Bewegungen ſich zu vergegenwärtigen, durch deren Weſen die ab-
ſtrakten und allgemeinen Begriffe und Forderungen der Verwaltungslehre
eben jene poſitive rechtliche und beſondere Geſtalt empfangen, und dieſe
Kräfte und Bewegungen dann bei jedem Theile der Verwaltung in ihren
Erfolgen, dem wirklich geltenden Verwaltungsrecht, wieder darzulegen.
Das erſtere müſſen wir hier thun. Das zweite iſt dann die Auf-
gabe der einzelnen Theile der Verwaltungslehre. Wir glauben aber
auch mit dem erſten kurz ſein zu können.
Zwei große, für das menſchliche Leben elementare Potenzen gibt
es, welche dem an ſich in der Perſönlichkeit liegenden Weſen der-
ſelben ſeine concrete Geſtalt geben. Sie ſind auch hier das natürliche
und das perſönliche Element. Wir nennen dieſe beiden Elemente im
Staat am kürzeſten und beſten das Land und das Volk. Das Land
mit all ſeinen Elementen, mit ſeiner Lage, ſeiner Beſchaffenheit, ſeinem
Klima, ſeinen Produkten, ſeinen Ebenen und Bergen, ſeinen Flüſſen
und Seen, liegt da, ſtill, aber unwiderſtehlich auf das Volksleben ein-
wirkend; das Volk ſelbſt mit ſeiner phyſiſchen und geiſtigen Indivi-
dualität, mit ſeiner volkswirthſchaftlichen Entwicklung, mit ſeiner geſell-
ſchaftlichen Ordnung, ihren Gegenſätzen und Forderungen bewegt ſich
auf dieſem Boden, der ihm gehört, tauſendfach ihn beſtimmend, tauſend-
fach von ihm beſtimmt. Beide zuſammen, untrennbar, erzeugen den
feſten materiellen Inhalt des Staats. An ihn muß er ſich halten.
Was er iſt, iſt er durch und in dieſem ſeinem ſelbſtgearteten Körper;
was er will, kann er nicht für einen abſtrakten Begriff, ſondern muß
es für dieſen gegebenen Staat wollen. Sein Wille, erzeugt an ihm,
verſchmilzt mit ihm. Die Bedingungen, unter denen dieſer Wille ent-
ſtand, liegen in dieſem concreten Leben; ſie beſtimmen es, wie es von ihm
beſtimmt wird; die Vorausſetzungen ſeiner Verwirklichung wie das Ziel,
welches er erreichen will, ſind hier vorhanden, concret und faßbar; er iſt
mit ſeinem Willen und ſeinem concreten Daſein ein untrennbares Ganze.
Und wie das nun im Allgemeinen richtig iſt, ſo hat es natürlich
in demjenigen Gebiete ſeine greifbarſte Gültigkeit, wo der Staat eben
vermöge ſeiner Thätigkeit mit dem wirklichen Leben am meiſten zu thun
hat, im Gebiete der Verwaltung. Während in der Staatswirthſchaft
das Bedürfniß des Staats, in der Rechtspflege die perſönliche Unver-
letzlichkeit das Objekt der Staatsthätigkeit iſt, iſt es in der Verwal-
tung Land und Volk in ihrer Wirklichkeit, welche das Subſtrat der
[77] wirklichen Verwaltung und damit den concreten Inhalt des Verwal-
tungsrechts bilden. Und damit ergibt ſich der Satz, daß aus der ab-
ſtrakten Verwaltungslehre und dem poſitiven Verwaltungsrecht ſich die
Wiſſenſchaft der Verwaltung bildet, indem die Beſonderheit der letzteren
aus den Verhältniſſen und dem hiſtoriſchen Zuſammenwirken von Land
und Volk in territorialer, national-ökonomiſcher und ſocia-
ler Beziehung entwickelt wird.
Indem dieß nun aber geſchieht, entſteht ein zweiter nicht minder
wichtiger Begriff.
Land und Volk mit allen ihren Beziehungen einerſeits, und der
an ſich ſchon einheitliche Staat andererſeits ſind auch in der Wirklichkeit
was ſie ihrem Weſen nach ſind, eine Einheit. Alle ihre Beſonderheiten
erſcheinen dem unmittelbaren Gefühle wie der Wiſſenſchaft zuletzt als
ein Ganzes. Und wie ſie in ſich ein Ganzes ſind, müſſen ſie zuletzt
auch vom Staate und ſeinem Willen als ein Ganzes betrachtet werden.
Nicht die Theile dieſes Ganzen, ſondern eben dieß Ganze erfaßt daher
der Staat in ſeiner innern Verwaltung. Er muß, indem er ſelbſt das
Ganze enthält, auf allen Punkten deſſelben thätig ſein; er muß es
als eine Einheit, deſſen Theile und Gebiete ſich gegenſeitig auf jedem
Punkte bedingen, mit ſeinem Willen umfaſſen; er muß den Erfolg in
der harmoniſchen Auffaſſung des wirklichen, gegebenen Lebens mit der
idealen Anſchauung deſſelben erkennen — kurz er muß ſich in ſeiner
Verwaltung als eine concrete Individualität erkennen und darſtellen.
Das poſitive Verwaltungsrecht daher, ſeinem Weſen nach die wirkliche
Geſtalt des einzelnen Staats, ausgedrückt in der poſitiven Auffaſſung
ſeiner Lebensverhältniſſe, die ſich in ſeinem geltenden Rechte formuliren,
iſt für jeden Staat ein beſonderes wie es die Geſtalt ſeiner Elemente
iſt; und in dieſem Sinne ſagen wir, daß auch das Verwaltungsrecht
der Staaten eine ſtaatliche Individualität habe. Es gibt gar
kein poſitives Verwaltungsrecht an ſich; es gibt nur ein poſitives Ver-
waltungsrecht des einzelnen Staats, entſprungen aus eben dieſer Indi-
vidualität, geltend für dieſelbe, und nur verſtändlich durch ſie. Sie iſt
die höchſte Erfüllung der Staatskunde, und wenn ſie ſelbſt in der ſoge-
nannten Geographie und Statiſtik ſich langſam aber ſicher in neueſter
Zeit geltend zu machen weiß, ſo iſt es Zeit, daß auch die Wiſſenſchaft
der Verwaltung ihren Platz und ihre Anerkennung finde. Und die
Lehre vom poſitiven Verwaltungsrecht oder der Verwaltungsgeſetzkunde
ſchließt daher mit dem Satze, daß die letztere innerhalb ihrer Aufgabe
ſich nur dadurch zur Wiſſenſchaft erheben kann, daß ſie Weſen und
Wirkung der ſtaatlichen Individualität als Grund und höchſtes
Ziel ihrer Darſtellungen in ſich aufnehme und verarbeite.
[78]
II.
Die Bildung des geltenden Verwaltungsrechts.
1) Die beiden Faktoren der Bildung dieſes Rechts, die
Regierung und die Volksvertretung, und ihr eigenthüm-
licher Charakter in Beziehung auf das Verwaltungsrecht.
Bei der durchgreifenden Unklarheit über Begriff und Weſen des
Verwaltungsrechts darf es allerdings nicht wundern, daß der eigenthüm-
liche und wichtige Proceß, aus dem im Leben des Staats das geltende
Recht der Verwaltung hervorgeht, nicht Gegenſtand beſonderer Beach-
tung geworden iſt. Dennoch verdient er es wie wenig andere, und wir
ſtehen keinen Augenblick an, ihn für einen der bedeutſamſten Theile des
innern Rechtslebens aller Staaten zu erklären. Es wird uns deßhalb
wohl geſtattet ſein, ihn näher zu beleuchten.
Wir dürfen uns dabei auf die, in der vollziehenden Gewalt be-
reits feſtgeſtellten Grundbegriffe beziehen.
Wir haben dort als die beiden Grundformen alles Verwaltungs-
rechts das geſetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwal-
tungsrecht beſtimmt. Jenes iſt das Recht, welches unter Zuſammen-
wirken von Volksvertretung und Regierung, dieſes dasjenige, welches
bloß von der Regierung als geltend geſetzt, und direkt oder indirekt
vom Staatsoberhaupt ſanctionirt wird. Beide großen Formen ſtehen
zunächſt neben einander. Jede derſelben hat ihre eigenthümliche Func-
tion. Es iſt nachgewieſen, daß das Staatsleben beider nicht entbehren
kann. Sie ſind daher allerdings ſelbſtändig. Allein ſie müſſen dennoch
harmoniſch in einander greifen und ſich gegenſeitig erſetzen, wenn ſie
der Idee des Staats entſprechen ſollen. Das iſt eine der großen, un-
abweisbaren Bedingungen der freien und tüchtigen Entwicklung des
ganzen innern Staatslebens. Da dieß der Fall iſt, ſo iſt dafür ge-
ſorgt, daß zunächſt und formell dieſe Harmonie hergeſtellt werde.
Wir haben nachgewieſen, daß dieß durch die drei Elemente der Verant-
wortlichkeit, des Klage- und des Beſchwerderechts geſchieht. Die Har-
monie zwiſchen Geſetz und Verordnungsrecht, welche auf dieſe Weiſe
entſteht, nannten wir das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht.
Alle dieſe Begriffe und Verhältniſſe ſind, glauben wir, genau und
einigermaaßen erſchöpfend in der Lehre von der vollziehenden Gewalt
dargelegt. Jetzt aber haben wir ein zweites Gebiet zu betreten.
Das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht nämlich hat zur Auf-
nahme den Gegenſatz zwiſchen dem formellen Recht der Geſetze und
[79] der Verordnungen zu beſeitigen. Allein es gibt in ihnen einen zweiten,
viel tiefern Gegenſatz. Und dieſem ſeine Folgen und ſeine Löſung hier
zu geben, iſt die Aufgabe des zunächſt Folgenden.
Es iſt nämlich der Natur gemäß, daß alles Recht, namentlich aber
das Verwaltungsrecht, das ſo tief in die Intereſſen und das Leben
der Einzelnen wie des Ganzen hineingreift, den Charakter der Faktoren
annehme, welche es zur Geltung bringen. Dieſe aber ſind bei dem
verordnungsmäßigen Verwaltungsrecht die Staatsgewalt, bei dem ge-
ſetzmäßigen die Volksvertretung. Und hier nun begegnen wir einer
Reihe der wichtigſten Erſcheinungen, ohne welche die Geſchichte und
Individualität des Verwaltungsrechts nur ſchwer verſtanden wer-
den kann.
Offenbar nämlich iſt der perſönliche Staat, als ſolcher thätig in
ſeiner Regierung, der Träger und Vertreter alles deſſen, was man das
einheitliche Leben, die einheitlichen Intereſſen der Gemeinſchaft
nennt. Es iſt das ſein Weſen; er kann es nie verläugnen; es beherrſcht
ihn und ſeine Organe oft mit klarem Bewußtſein und ethiſcher Erhebung,
oft in ſeiner Unklarheit zur Willkür und Pedanterie herabſinkend, aber
es beherrſcht ihn immer. Es erſcheint aber nirgends mehr als in dem
Gebiete, von dem wir reden, dem Gebiete des Verwaltungsrechts; und
es iſt eben ſo naturgemäß als unvermeidlich, daß es dieſen ſeinen Cha-
rakter den Vorſchriften, die es über die Verwaltung gibt, aufprägt.
Anderſeits iſt die Volksvertretung zwar ihrer Idee nach die Vertreterin
des ganzen Staats; in der Wirklichkeit aber kommen durch ſie nicht
nur ganz ſubjektive, ſondern auch ganz lokale und oft ganz unberech-
tigte Intereſſen und Anſchauungen zur Geltung. Die Volksvertretung
wird daher ihrerſeits ſtets geneigt ſein, jener nivellirenden Gewalt des
Staats einen Damm entgegen zu ſtellen, und den Beſonderheiten, wie
ſie eben geworden und wirkſam ſind, ihre natürliche Geltung zu ver-
ſchaffen. Das geſchieht, wie es ſich von ſelbſt erklärt, gerade am mei-
ſten und greifbarſten in den Verhältniſſen, für welche das öffentliche
Recht durch die Verwaltung gegeben wird. Sagt man nun, daß das
Verwaltungsrecht der Staatsgewalt das verordnungsmäßige, das der
Volksvertretung das geſetzmäßige iſt, ſo iſt es klar, daß ſich in Ten-
denz, Auffaſſung und wirklicher Durchführung, kurz in der ganzen
Geſtalt das Verwaltungsrecht Natur und Charakter jener beiden Fak-
toren zunächſt in dem Unterſchiede jener beiden Formen wiederſpiegeln
wird. Und das iſt in der That der Fall.
Im Allgemeinen nämlich lehrt die einfachſte Beobachtung, daß
das unmittelbar von der Regierung ausgehende, oder das verordnungs-
mäßige Verwaltungsrecht, ſtets weſentlich die Auffaſſung der großen
[80] Verwaltungsaufgaben von Seiten der, dem Volksleben ſelbſtändig gegen-
über ſtehenden Staatsgewalt, das Verwaltungsrecht, inſofern es
Inhalt von Geſetzen iſt, dagegen zugleich die Auffaſſung des Volkes von
ſeinem eigenen innern Leben und ſeinen Bedürfniſſen ausdrückt. Der
Unterſchied von Geſetz und Verordnung, äußerlich nur ein formeller,
wird dadurch zu einem tief greifenden Unterſchied des materiellen In-
halts. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht wird ſtets das reine
Geſammtintereſſe zum Inhalt haben, oder es doch zum Inhalte zu
haben glauben. Es wird ſtets geneigt ſein, die gegebenen Beſonder-
heiten des Lebens, die Sonderintereſſen, die Gewährungen und Vorur-
theile der Einzelnen und ganzer Staatstheile gering zu achten, und ſich
wenig um den wirklich vorhandenen Bildungsgrad des Volkes kümmern,
leicht vergeſſend, daß in dieſem die erſte Bedingung der größten Erfolge
jeder Maßregel des Staats liegt. Es wird dafür der Regel nach
immer beſtrebt ſein, das an ſich Wichtige und Zweckmäßige rückſichtslos
zur Geltung zu bringen. Es wird ſich auf die beſſere Natur der Sache
und auf die lebhafte Unterſtützung der Gebildeten verlaſſen, aber nicht
immer die Billigung und ſtille, oder doch ſo ſtarke Unterſtützung von
Seiten des Volkslebens finden. Es wird daher zwar wahr, aber oft
unzeitgemäß und unzweckmäßig, und faſt immer hart erſcheinen, und
noch härter in der Hand ſeiner ausführenden Organe werden. Es hat
vermöge der Einheit ſeiner Organe, des Amtsweſens, große Neigung
zur ſyſtematiſchen Einheit der Anordnungen, aber in dieſer Einheit läuft
es leicht Gefahr, unausführbar in wichtigen einzelnen Fällen zu werden.
Es trägt aus allen dieſen Gründen den Charakter einer herrſchenden,
oft geradezu äußerlichen Gewalt; es erſcheint als ein Rechtsſyſtem, dem
man gehorcht, weil man gehorchen muß. Es kann daher ſeinem In-
halte nach frei ſein; ſeiner Form nach wird es ſtets als ein unfreies
erſcheinen. — Das geſetzmäßige Verwaltungsrecht dagegen wird an ſich
niemals leicht aus einem Princip, ſondern faſt immer nur aus einem
wirklichen Bedürfniß hervorgehen. Es wird ſich deßhalb ſtets mehr an
das wirkliche Leben anſchließen; es wird nicht darnach trachten, ein
Syſtem zu werden, ſondern nur den praktiſchen Lebensverhältniſſen zu
entſprechen. Es wird durch die Theilnahme des Volkes an ſeiner Bil-
dung, wie es aus demſelben hervorgeht, auch in demſelben von dem
Einzelnen anerkannt und zwangslos gehalten werden. Es ſteht nicht
da als rein objektiv geltende Macht, ſondern als ein Theil des Volks-
lebens, und iſt, allen verſtändlich, auch allen, die es ſich je ſelber
geſetzt haben, lieb und recht. Dagegen aber läuft es Gefahr, nicht
bloß einer beſchränkten Auffaſſung im Ganzen zu unterliegen, und weil
es ſich nur an bereits lebhaft und zugleich allgemein gefühlte Bedürfniſſe
[81] anſchließt, niemals ein vollſtändiges, geſchweige denn ein einheitliches
Ganze zu werden, ſondern vor allem erſcheint es, gegeben durch
die Volksvertretung, auch den in derſelben herrſchenden Claſſen und
Stimmungen unterworfen. Denn erſt in der Verwaltung wird die
Idee der Herrſchaft einer Claſſe über die andere zu einem poſitiven
Inhalt, und unwiderſtehlich durch die Gewalt des Staats und das
Weſen des Geſetzes. Es iſt daher ſtets ſeiner Form nach frei, aber
oft ſeinem Inhalt nach unfrei; niemals öfter als da, wo es am freieſten
ſein ſollte, in den Epochen tiefgehender und lebendig gefühlter geſellſchaft-
licher Gegenſätze.
2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Proceſſes, den
wir die conſtitutionelle Rechtsbildung des Verwaltungs-
rechts nennen. — Begriff und Bedeutung der ſogenannten
Initiative der Regierung.
So ſind beide Grundformen des Verwaltungsrechts, das verord-
nungsmäßige und das geſetzmäßige, bei aller Gleichheit ihrer Objekte
und bei aller Gleichheit ihrer äußern Gültigkeit weſentlich verſchieden.
Trotz dem iſt nun dieſe Verſchiedenheit nicht der Art, daß die eine
Form die andere an ſich ausſchlöſſe, oder eine als die vorzugsweiſe
richtige erſcheinen ließe. Sondern es iſt kein Zweifel, daß ſie ſich gegen-
ſeitig zu erfüllen und zu erſetzen haben. Jede dieſer Formen leiſtet
etwas, was die andere nicht leiſtet; jede iſt bis zu einem gewiſſen
Grade das, was die andere nicht ſein kann. Es iſt daher ſchon hier
klar, daß es weder richtig iſt, die Bildung des Verwaltungsrechts aus-
ſchließlich auf die Verordnung, noch auch dieſelbe ausſchließlich auf das
Geſetz zu baſiren. Sondern wir müſſen vielmehr ſagen, daß die wahre
Bildung des Verwaltungsrechts im harmoniſchen Zuſammenwirken beider
Bildungsformen vor ſich gehen ſoll.
In der That nun ſind auch zu keiner Zeit und an keinem Orte
beide Grundformen dauernd ganz beſeitigt worden. Sie haben im
Gegentheil ſtets neben und mit einander beſtanden. Man kann im
Allgemeinen ſagen, daß in der ſtändiſchen Epoche das geſetzmäßige Ver-
waltungsrecht das verordnungsmäßige faſt ganz beſeitigt, während
umgekehrt in der darauf folgenden Zeit des abſoluten Königthums das
verordnungsmäßige Verwaltungsrecht das geſetzmäßige faſt gänzlich ver-
nichtet. Die folgende Darſtellung wird dieſen, ohnehin bekannten Satz
im Einzelnen genauer nachweiſen. Erſt in der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaftsordnung erzeugt ſich die Harmonie zwiſchen dem perſönlichen
Staate und dem freien Staatsbürgerthum, in andern Gebieten und ſo
Stein, die Verwaltungslehre. II. 6
[82] auch hier. Wenn wir mit Recht ſagen, daß der ganze ſtaatliche Cha-
rakter unſers Jahrhunderts durch die Herrſchaft der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaftsordnung beſtimmt iſt, ſo können wir in ſpezieller Beziehung
zum Verwaltungsrecht und ſeiner Bildung ſagen, daß hier die ſtaats-
bürgerliche Geſellſchaftsordnung jene Harmonie zwiſchen Geſetz und Ver-
ordnung als Grundlage der Bildung des Verwaltungsrechts
gefordert und erzeugt hat.
Dieſe Grundlage der Bildung desjenigen Verwaltungsrechts, das
wir in dieſem Sinne das conſtitutionelle nennen möchten, beruht
einfach auf den zwei allgemeinen Principien, daß man einerſeits nie
der verordnenden Gewalt als Correlat des Geſetzes entbehren kann,
und daß anderſeits das Geſetz die höchſte und vollkommenſte Form des
Staatswillens iſt. Aus dieſen zwei Elementen und ihrer natürlichen
Wechſelwirkung erzeugt ſich dann derjenige Proceß, den wir den Proceß
der Bildung des conſtitutionellen Verwaltungsrechts nennen. Derſelbe
beſteht in dem Hervorgehen des geſetzmäßigen Verwaltungs-
rechts aus dem verordnungsmäßigen. Der formale Gang
aber, den dieſer Proceß einhält, iſt der, daß das beſtehende, oder auch
das beabſichtigte Verordnungsrecht durch die Regierung der Volksver-
tretung zur Beſchlußfaſſung vorgelegt und durch die letztere zum Geſetz
erhoben werde. Das Mittel endlich, wodurch die verwaltende Gewalt
dieß hervorbringt, hat gleichfalls ſeinen conſtitutionellen Namen in der
Initiative der Regierung. Dieſe Initiative iſt hier kein Vor-
recht der Regierung, denn jeder Abgeordnete hat gleichfalls das Recht,
Geſetzesvorſchläge einzubringen; ſie erſcheint auch nicht als Regel, denn
ſie iſt mehr als eine beſtändig ſich wiederholende Thatſache; ſie iſt viel-
mehr das naturgemäße Verhältniß der Regierung zur Geſetzgebung
überhaupt und zur Bildung des geſetzmäßigen Verwaltungsrechts ins-
beſondere. Denn die Initiative iſt in der That nichts anderes, als
das Aufſtellen des Inhalts einer Verordnung, welche Geſetz werden
ſoll. Es iſt dabei für den Begriff der Initiative gleichgültig, ob die
Vorlage die bereits beſtehenden Verordnungen zuſammenfaßt, oder alte
Geſetze umbildet, oder einen ganz neuen Gedanken durchführt. Die
Initiative iſt daher ein, der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung und
ihrer Geſetzgebung ſpecifiſch angehöriger Begriff. In der ſtändiſchen
Verfaſſung gibt es eine Initiative nicht, weil theils jeder Landſtand
ſelbſtändige Vorſchläge nach Maßgabe des Landesrechts macht, theils
die Regierung noch nicht verantwortlich iſt. In der abſoluten Monarchie
gibt es keine, weil Geſetz und Verordnung identiſch ſind. Erſt in der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt ſie auf, und hier bedeutet ſie die,
durch das Weſen des perſönlichen Staats gegebene einheitliche Auffaſſung
[83] des Verwaltungsrechts und ſeiner Bedürfniſſe als Grundlage der Bil-
dung des geſetzmäßigen Verwaltungsrechts.
In dieſem Sinn wird man nun ſagen, daß unſere Zeit in dem
conſtitutionellen Verwaltungsrechte ihren ſpecifiſchen Charakter der Bil-
dung des Verwaltungsrechts habe. Dennoch müſſen wir noch eine Frage
ins Auge faſſen, die auch mit dem Obigen nicht erledigt, und keines-
wegs unwichtig iſt.
3) Die Gränze zwiſchen dem geſetzmäßigen und verordnungs-
mäßigen Verwaltungsrecht.
Allerdings nämlich geht in dem oben bezeichneten Proceſſe das
Verordnungsrecht in das Geſetz über, und dieſer Uebergang ſtellt die
Harmonie zwiſchen den beiden Faktoren, Staat und Geſellſchaft oder
Regierung und Volksvertretung, wieder her. Allein eben ſo gewiß iſt
anderſeits, daß dieſer Uebergang nicht für alle Beſtimmungen des
Verwaltungsrechts möglich, ja nicht einmal wünſchenswerth iſt. Beide
Formen werden ſich ſtets neben einander erzeugen, ſtets neben einander
erhalten. Und es entſteht daher die Frage, ob es überhaupt eine Gränze
zwiſchen dem Gebiet des verordnungsmäßigen und des geſetzmäßigen
Verwaltungsrechts gibt, und wie ſie zu beſtimmen iſt.
Die Frage iſt aber darum eine ernſte, weil, wenn man einen Schritt
weiter geht, die Volksvertretung, welche das geſetzmäßige Verwaltungs-
recht bildet, ihrer ganzen Natur zwar einerſeits die Trägerin der ſtaats-
bürgerlichen Freiheit, anderſeits aber auch der geſellſchaftlichen
Gegenſätze im Volksleben iſt. Wo es daher gelingt, das Verord-
nungsrecht dem Geſetzesrecht ganz zu unterwerfen und die Regierung
damit zu einer bloß ausführenden Gewalt zu machen, da entſteht die
Gefahr, daß das Verwaltungsrecht zu einem furchtbaren, gewaltigen
Mittel in der Hand des herrſchenden Theiles des Volkes werde, das
alsdann in keinem Regierungsrecht ein heilſames Gegengewicht hat.
Das war der, von den Hiſtorikern ſo wenig beachtete und doch ſo ent-
ſcheidende Charakter der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in den
Republiken des Alterthums; es iſt daſſelbe überhaupt das Princip des
republikaniſchen Verwaltungsrechts. Das republikaniſche Verwal-
tungsrecht hat die Form der höchſten Freiheit; aber ſein Inhalt iſt
von dieſer Form unabhängig. Denn indem die Mehrheit der Staats-
bürger formell das Geſetz beſchließt, wird naturgemäß materiell, das
iſt in ihrer Beziehung zum praktiſchen Leben, die Geſetzgebung überhaupt
und mithin weſentlich die des innern Verwaltungsrechts dabei ſtets
nach den herrſchenden Intereſſen der Mehrheit beſtimmt werden.
[84] Die aber ſind in der herrſchenden Claſſe der Geſellſchaftsordnung ge-
geben. Und ſo iſt es unvermeidlich, daß, wo immer ein Gegenſatz der
Claſſen ſich in der Republik ausgebildet hat, alles republikaniſche Ver-
waltungsrecht ein Recht der herrſchenden Claſſe über die beherrſchte
enthalte, oder wenigſtens daß dieß der letztern ſo erſcheine. Daraus
ergibt ſich, daß nur zu oft der Erfolg ſolcher Geſetzgebung durch Vor-
urtheil und Haß, welche ſie begleiten, gerade in das Gegentheil deſſen
ausſchlagen, was ſie ſein ſoll, ſelbſt dann, wenn das Geſetz an ſich
ein ganz verſtändiges iſt. Iſt es aber ein unverſtändiges, ſo bewirkt
jenes Verhältniß zur Geſellſchaft, daß der kleine Fehler Urſache eines
großen Unglücks werden kann, denn die niedere Claſſe wird ſtets für
jeden Fehlgriff nicht die menſchliche Schwäche, ſondern das Sonder-
intereſſe verantwortlich machen. Aus dieſen Gründen iſt das gänzliche
Aufgehen des verordnungsmäßigen Verwaltungsrechts in das geſetz-
mäßige, oder die rein republikaniſche Bildung des Verwaltungsrechts nicht
bloß an ſich ein verkehrtes, ſondern auch praktiſch ein gefährliches Princip.
Eben ſo gefahrvoll, wenn auch in anderer Weiſe, iſt das Ver-
nichten des geſetzmäßigen Verwaltungsrechts durch das verordnungs-
mäßige. Denn abgeſehen von dem Widerſpruche mit der ſtaatsbürger-
lichen Freiheit wird die rein ſtaatliche Gewalt niemals die Beſonderheit
der wirklichen Lebensverhältniſſe ihres Volkes ganz zu würdigen wiſſen,
da ſie ihrer Natur nach nur fähig und beſtimmt iſt, das Allgemeine
und Gleichartige in denſelben zu verſtehen und die Eigenthümlichkeiten
der concreten und örtlichen Zuſtände denſelben unterzuordnen. Dieſe
aber fordern ihr Recht, und durch ſie kann das, was im Allgemeinen
ſehr wahr und praktiſch erſcheint, in der wirklichen Anwendung ſehr
ungeeignet werden. Nicht allein nun, daß dieß der Aufgabe des Ver-
waltungsrechts an ſich widerſpricht, ſondern es liegt in der Natur der
Sache, daß das Volk in dieſem Falle die Regierung nicht bloß für
dasjenige verantwortlich macht, was ſie wirklich verſehen hat, ſondern
auch für den zufälligen Mißerfolg an ſich richtiger Maßregeln. Und
dieſe Anklage wird in ſolchem Falle ſelten bloß die machthabenden Per-
ſönlichkeiten, ſondern regelmäßig den Staat als ſolchen treffen, und
ihn zuerſt in ſeiner geiſtigen und ethiſchen Beziehung, dann oft in ſeiner
ganzen äußern Stellung erſchüttern. Es iſt daher keine geringere Ge-
fahr in dieſem Bildungsproceß des Verwaltungsrechts, als in dem, den
wir den republikaniſchen genannt haben.
Wenn dem nun ſo iſt, ſo entſteht allerdings die Frage, ob es
nicht außerhalb des Kampfes der geſellſchaftlichen Kämpfe und Mächte
unter einander und mit dem Staate ein feſtes Princip gebe, welches
jene Gränze zu finden und feſtzuſtellen im Stande und berufen iſt?
[85]
Wir halten daran feſt, daß es ein ſolches gibt. Nur wird es
ſelbſt erſt dann in Wirkſamkeit treten, wo einerſeits die ganze innere
Staatsordnung als eine feſte beſteht, und wo anderſeits der Wiſſen-
ſchaft ihre wahre Berechtigung eingeräumt wird.
Da nämlich nach dem Weſen des Verordnungsrechts überhaupt
daſſelbe ſich den gegebenen und damit wechſelnden Verhältniſſen des
wirklichen Lebens anpaſſen ſoll, während das Geſetzesrecht den über
dieſelben erhabenen objektiven Willen des Staats enthält, ſo folgt wohl
leicht, daß, ſo lange die Verhältniſſe des Lebens, auf welche das Ver-
waltungsrecht ſich bezieht, ſich noch nicht conſolidirt haben, die Ver-
ordnung mit ihrer Thätigkeit zur Rechtsbildung berufen iſt, während
da, wo bereits feſtſtehende Verhältniſſe vorhanden ſind oder als vor-
handen angenommen werden, die Geſetzgebung eintritt. Allein die
Frage bleibt, welches das Criterium für dieſe objektive Feſtigkeit iſt.
Und hier glauben wir, daß es nur Einen Weg gibt, im Allgemeinen
zu einem Abſchluſſe zu gelangen. Jenes Criterium liegt nämlich nie
in äußern Merkmalen. Es liegt darin, daß ein Lebensverhältniß erſt
dann als ein feſtes, ein Bedürfniß als Objekt der Verwaltungsthätig-
keit erſt dann als ein beſtimmt gegebenes anerkannt werden muß, wenn
daſſelbe wiſſenſchaftlich in einen beſtimmten Begriff gebracht werden
kann, und wenn dieſer Begriff für das ganze Volk ein gemeinver-
ſtändlicher iſt; ſo zwar, daß mit dem Worte, der ihn bezeichnet, eine
für alle ziemlich gleichmäßig klare Vorſtellung von demjenigen ver-
bindet, was daſſelbe bedeutet; wie z. B. Schulweſen, Bankweſen,
Grundbuchsweſen, Vormundſchaftsweſen u. a. m. So wie dieß der
Fall iſt, ſind die darauf bezüglichen Verhältniſſe ein äußeres und zu-
gleich ein inneres Ganzes, und dann tritt der Zeitpunkt ein, wo die
Rechtbildung für daſſelbe durch die bloße Verordnung nicht mehr aus-
reicht, ſondern ein feſter Halt an einem Geſetze geſucht wird und gegeben
werden muß. Weiter läßt ſich ſchwerlich im Allgemeinen kommen. Es
iſt aber Sache der Initiative, zu finden, ob dieß der Fall iſt oder
nicht; und je nachdem das Verſtändniß der Regierung hier richtig und
zeitgemäß iſt oder nicht, wird auch dieſe Initiative zum Ziele führen.
4) Der Charakter der Bildung des poſitiven Verwaltungs-
rechts in England, Frankreich und Deutſchland.
Auf dieſer Grundlage nun möge es uns verſtattet ſein, einige Be-
merkungen über die Beſonderheit der Bildung des poſitiven Verwaltungs-
rechts in den drei großen Culturvölkern Europa’s hier hinzuzufügen,
Bemerkungen, deren Vorausſetzungen allerdings, wie man ſogleich
[86] erkennen wird, theils in unſerer Geſellſchaftslehre, theils aber auch, und
vielleicht näher, in unſerer Darſtellung der vollziehenden Gewalt in dieſen
drei Ländern liegen.
Wir dürfen nämlich dabei von dem wohl unbezweifelten Satze aus-
gehen, daß es nicht zufällig iſt, ob die perſönliche Staatsgewalt
eine große oder kleine Gewalt hat, und es iſt daher auch nicht zufäl-
lig, ob dem entſprechend die geſetzmäßige oder die verordnungsmäßige
Bildung des Verwaltungsrechts vorherrſcht. Sondern die höhere Natur
des organiſchen Lebensproceſſes der Staatsbildung bringt es unbedingt
mit ſich, daß ſich die perſönliche Gewalt des Staats ſtets in dem Grade
mehr entwickelt, in welchem die geſellſchaftlichen Gegenſätze ſich gegen-
ſeitig bedrohen oder gar offen bekämpfen. Da, wo dieſer Kampf zum
Bürgerkriege wird, ſehen wir deßhalb dieſem Geſetze gemäß ſtets die
Dictatur auftreten; ſie iſt ewig das naturgemäße Ende des geſellſchaft-
lichen Krieges zu allen Zeiten und bei allen Völkern, und wird es auch
bleiben. Wo dagegen das Königthum ſich im Bürgerkriege erhält, da
wird es zwar während deſſelben nur wenige Gewalt haben, aber nach
demſelben ſtets doppelt mächtig ſein. Dictatur und herrſchendes König-
thum erſcheinen nun in der Verwaltung als verordnungsmäßiges Ver-
waltungsrecht; die Herrſchaft der geſellſchaftlichen Claſſen dagegen als
geſetzmäßiges Verwaltungsrecht. Und umgekehrt wird das Vorwiegen
des Einen oder des Andern zugleich einen Maßſtab und einen Inhalt
der innern Lebensgeſchichte der Staaten bilden.
Die Beſonderheit, welche in dem Charakter des Verwaltungsrechts
der europäiſchen Staaten obwaltet, hat demgemäß ihren tiefern Grund
in jener Geſchichte derſelben, und muß von ihr aus erklärt werden.
In England hat der Gegenſatz der Grundformen und Claſſen der
Geſellſchaft keine dauernde Geſtalt angenommen, denn es hat eigentlich
nie eine unfreie Claſſe gegeben. Der geſellſchaftliche Kampf, wie er
namentlich im 17. Jahrhundert zur Erſcheinung kommt, iſt nur der
Kampf zwiſchen der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der,
da er nicht wie in Frankreich auf allen Punkten mit unfreien Elemen-
ten leibeigener Hörigen durchſetzt iſt, und die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaft in den Städten nicht ihre Freiheit, ſondern nur ihre Geltung zu
erringen hat, auch nach errungener Geltung die ſtändiſchen Elemente
fortbeſtehen läßt. Die Verſchmelzung beider Geſellſchaftsformen zu einem
großen und gemeinſchaftlichen Leben und Wirken, wie es überhaupt den
Charakter des engliſchen Volkes bildet und ſeine wahre Kraft ausmacht,
hat nun auch Geſtalt und Charakter des Verwaltungsrechts beſtimmt.
Das Königthum hat vermöge jener Verbindung zu keiner abſoluten Herr-
ſchaft gelangen können. Daher iſt das Verwaltungsrecht in England
[87] faſt ausſchließlich ein geſetzmäßiges. Die verordnende Gewalt hat grund-
ſätzlich nur die reine Ausführung der Geſetze zum Inhalt. Die ganze
Geſtalt des engliſchen Verwaltungsrechts beruht darauf, daß durch die
Verwaltung gar kein öffentliches Recht überhaupt geſchaffen werden kann
und ſoll, ſelbſt nicht das öffentliche Recht einer einzelnen Perſönlichkeit
oder einer einzelnen Unternehmung. So wie es ſich in irgend einer
Weiſe um dauernde Rechte handelt, muß die geſetzgebende Gewalt ein-
treten und die Verordnung in der Geſtalt der Geſetze erlaſ-
ſen. Nur die ganz untergeordneten, dem täglichen und rein örtlichen
Wechſel angehörigen Verhältniſſe bilden noch das Gebiet der Verord-
nung, und auch zu dieſen haben die Organe der vollziehenden Gewalt
nur dann ein Recht, wenn es ihnen ausdrücklich zugeſtanden iſt. Dieſer
Charakter des engliſchen Verwaltungsrechts zeigt ſich hauptſächlich in
drei Punkten. Erſtlich darin, daß alles dasjenige, was wir unter
dem weiten Begriff der adminiſtrativen Genehmigung als Bewilligung,
Conceſſionen an Einzelne und Geſellſchaften u. ſ. w. zuſammenfaſſen,
in England Gegenſtand der parlamentariſchen Geſetzgebung iſt. Alle
dieſe Entſcheidungen, welche ſonſt in der Natur der Verwaltung liegen,
werden durch das Parlament in der vollen Form der Geſetze erlaſſen,
und bilden den zweiten, auch officiell geſchiedenen Theil der jährlichen
Geſetzgebung als „Private Bills.“ Die Form dieſer Geſetzgebung iſt
zwar im Einzelnen verſchieden von der eigentlichen Geſetzgebung, im
Weſentlichen jedoch dieſelbe. Für jeden ſolchen Antrag wird nämlich
ein eigenes Comité aufgeſtellt, welches die Information der Sache
hat, ſeinerſeits Sachverſtändige abhört, die Akten ſammelt, die Ver-
handlungen leitet und den Schlußantrag beim Parlamente ſtellt, der
dann faſt unbedingt von demſelben angenommen wird. Das ſcheint
die freieſte Form des Verordnungsrechts, iſt aber in der That faſt in
jeder Beziehung theurer und ſchlechter als die amtliche Verhandlung und
Entſcheidung im Verordnungswege. — Zweitens iſt es dem obigen
Charakter nach unmöglich, daß je in einem Geſetze die aus Frankreich
ſtammende Vollzugsclauſel „Unſer Miniſter iſt mit der Ausführung
dieſes Geſetzes beauftragt“ — hinzugefügt werden könne. Denn, wie
wir bereits in der Darſtellung der vollziehenden Gewalt geſehen, die
Vollziehung in England beruht auf dem Syſtem der öffentlichen Klage,
und auch bei dem Beamteten die Vollziehung des Geſetzes kann nur
der Richter mit ſeinem Urtheilsſpruch die letztere hervorbringen. —
Drittens endlich hat die in Form der Geſetze erſcheinende Verordnung
eben deßhalb auch ganz andere Gränzen als die continentale. So wie
ein Recht einer Selbſtverwaltung oder eines Privattitels ihr gegenüber
ſteht, wird die engliſche Verordnung ſtets den Charakter des facultativen,
[88] ſtatt den des befehlenden Rechts annehmen, und es den Selbſtverwal-
tungskörpern, bez. den Einzelnen überlaſſen, ſich des aus der Geſetz-
gebung folgenden Rechts zu bedienen oder nicht, je nachdem ſeine
Intereſſen es fordern, ohne die Ausführung unbedingt zu befehlen. So
iſt es z. B. im Gemeindeweſen und Grundbuchsweſen, und die folgende
Verwaltungslehre wird dafür mehrere Beiſpiele bringen. Allein dieſer
Standpunkt iſt ſelbſt für die engliſche geſetzmäßige Verordnung nicht
durchzuführen. Es gibt Fälle genug, in denen das öffentliche Intereſſe
den Vollzug der geſetzlichen Vorſchrift unbedingt fordert. Hier tritt da-
her die Geſetzgebung unbedingt auf und ſchreibt darüber Zwangsmaß-
regeln vor, gerade wie die continentale Verordnung, wie z. B. bei der
Schifffahrtspolizei, beim Impfungsweſen u. a. m. Wo dagegen nicht
dringende und unmittelbare Gefahr für das Publikum obwaltet, da
greift dieſe Geſetzgebung zu dem alten germaniſchen Syſtem der Buße
und läßt den Einzelnen, der ihr nicht gehorcht, durch den Richter zu
einer Geldſtrafe verurtheilen. Es gibt daher keine Geſetzgebung der
Welt, in welcher ſo viele Geldſtrafen vorkommen, als in England.
Durch alles dieß zuſammen genommen bietet das Verwaltungsrecht
Englands ein ganz anderes Bild, als das des Continents. Es gibt
hier kein für den ganzen Staat geltendes verordnungsmäßiges
Verwaltungsrecht, ſondern daſſelbe beſteht nur in den Geſetzen.
Alle Verordnungen ſind durchaus localer Natur. Eine Thätigkeit der
Regierung in der Bildung dieſes Verwaltungsrechts iſt eben deßhalb
auch in der Weiſe gar nicht vorhanden wie auf dem Continent, da
das ganze Gebiet der Conceſſionen und Genehmigungen ihr entgegen
iſt; ſie hat nicht einmal ein Urtheil darüber, ob z. B. ein Verein oder
eine Geſellſchaft, um die Rechte der juriſtiſchen Perſönlichkeit zu gewin-
nen, die erforderlichen Bedingungen erfüllt hat oder nicht, ſondern das
Geſetz ſchreibt ſie vor und der Richter entſcheidet. Durch dieſen gänz-
lichen Mangel an jeder Trennung der beiden Grundformen des Ver-
waltungsrechts gibt es daher auch in England überhaupt keinen rechten
ſelbſtändigen Begriff der Verwaltung, und vor allen Dingen gibt es
in England keine Theorie des Verwaltungsrechts. England hat
das ganze Verwaltungsrecht vielmehr auf das Engſte einerſeits mit ſeiner
allgemeinen bürgerlichen Rechtswiſſenſchaft in Beziehung auf das gel-
tende Recht, und anderſeits mit ſeiner Political Economy in Beziehung
auf die Grundſätze verſchmolzen. Es gibt keine Literatur des Verwal-
tungsrechts wie auf dem Continent, noch weniger eigene Lehranſtalten
für daſſelbe, ſondern dem praktiſchen Bedürfniß der Kenntniß des be-
ſtehenden Rechts wird vielmehr in zweifacher Weiſe, die von der conti-
nentalen zum Theil weſentlich abweicht, genügt. Zuerſt werden
[89] bei allen großen adminiſtrativen Geſetzgebungen die Akten nebſt Vor-
lagen und Enquêten gedruckt in den ſog. blue books, und damit dem
Publikum das Material zu eigenen Studien gegeben. Dann werden
die auf beſtimmte Gebiete der Verwaltung bezüglichen einzelnen Parla-
mentsakte beſonders herausgegeben, theils officiell, theils durch Privat-
unternehmungen. Dadurch iſt nun freilich das Material einerſeits ein
ſo gewaltiges, und anderſeits der Unterſchied der Form wie der Auf-
faſſungsweiſe von dem Continent ein ſo durchgreifender, daß es ſehr
ſchwer iſt, ſich in dem Ganzen zurecht zu finden. Die franzöſiſche prak-
tiſche Durchſichtigkeit fehlt ganz, und eben ſo die ſyſtematiſche Ordnung
des deutſchen Rechts, und jeder, der ſich daher mit dem engliſchen Ver-
waltungsrecht beſchäftigt, darf von vornherein vielfacher Irrthümer und
Auslaſſungen gewiß ſein, denen ſelbſt der Engländer nicht entgeht.
Wir unſererſeits dürfen deßhalb der Nachſicht unſerer Leſer gewiß ſein,
indem wir zum erſtenmal den Verſuch wagen, in dieß Verwaltungsrecht
eine gewiſſe Ordnung zu bringen.
In Frankreich hat der Entwicklungsgang der Staatsbildung dieſe
Verhältniſſe weſentlich anders geſtaltet. Wir dürfen über das Verord-
nungsrecht Frankreichs wohl auf den erſten Band verweiſen. Die Grund-
lage der Bildung des Verwaltungsrechts wechſelt allerdings ſeit der
Revolution je nach dem Siege der centralen Gewalt über die Volks-
vertretung. Allein der Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat den-
noch den Grundſatz ſelbſt unter Napoleon erhalten, daß das für den
ganzen Staat gültige Recht nur auf dem Wege der Geſetzgebung ge-
bildet werden dürfe. Dagegen hat der innere Kampf der ſocialen Ele-
mente, in welchem ſich in zwei Jahren die unfreie Claſſe zur freien
gemacht, die Nothwendigkeit und Kraft der centralen Staatsgewalt als
eine Lebensbedingung Frankreichs erſcheinen laſſen. Das Verwaltungs-
recht gibt uns demgemäß in ſeinen Grundformen beide großen, ſelb-
ſtändigen Elemente deutlich genug wieder. Daſſelbe beruht auf Ge-
ſetzen, der Lois, und Verordnungen in allen Formen, Ordon-
nances, décrets, arrêts, circulaires u. ſ. w. Aber dieſe beiden For-
men ſind eben ſo ſtreng im Verwaltungsrecht geſchieden, wie im wirk-
lichen Staatsleben Regierung und Volksvertretung. Beide Faktoren der
letztern, das Königthum und die Geſellſchaft, haben hier die im Weſen
der Sache liegende Form gefunden und die Gränze derſelben feſtgeſtellt.
Die Volksvertretung gibt das Geſetz, die Regierung führt es aus; das
Verhältniß beider Elemente zu einander iſt in der in Frankreich ent-
ſtandenen oben erwähnten Formel geſetzt: „Der Miniſter wird mit der
Ausführung des Geſetzes beauftragt.“ Dieß nun iſt in der Form ſo
klar, daß es von allen conſtitutionellen Staaten Europas angenommen
[90] worden iſt. Allein gerade durch dieſe Scheidung mußte auch in Frank-
reich zuerſt die Frage entſtehen, was denn ſeiner Natur nach dem ge-
ſetzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po-
ſitive Recht hat darauf ſo wenig als die Theorie eine Antwort zu geben
verſucht; die Löſung der Frage wird hier zuerſt darin gefunden, daß
die Verordnungsgewalt ſo weit naturgemäß ſei, als ſie
nicht mit bereits beſtehenden Geſetzen collidire. Damit war
das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver-
waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grundſatzes
dem geſetzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Geſetz
und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und dieſes Ganze findet
ſeine praktiſche Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs-
organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf
Grundlage der Geſchichte ein ganz ſelbſtändiges Leben in Frankreich
führt. Das Rechtsgebiet dieſes Organismus ſcheidet ſich daher ſelb-
ſtändig von dem übrigen Recht, ohne Rückſicht darauf, ob es aus Ge-
ſetz oder Verordnung beſteht; es hat ſeinen eigenen entſcheidenden Be-
hördenorganismus, ſeine eigene Jurisprudenz, ſeine eigene Theorie; es
iſt ein Ganzes für ſich, und ſo entſteht zuerſt der ſelbſtändige Begriff
des „droit administratif,“ das Recht der geſammten Thätigkeiten der
Verwaltungsbehörden, zuſammengeſtellt aus Geſetzen, Verordnungen,
Entſcheidungen des Conseil d’État und der Verwaltungspraxis, ein Rechts-
körper, den in dieſer Weiſe nur Frankreich beſitzt, und der deßhalb nicht
ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden
kann. England hat gar nichts Analoges; das Entſprechende in Deutſch-
land iſt dagegen die Verwaltungsgeſetzkunde, deren Natur und Stellung
wir ſogleich betrachten werden. Jene Selbſtändigkeit des droit admi-
stratif mußte nun in Frankreich auch bald ein ſelbſtändiges wiſſenſchaft-
liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das ſich nun, berechnet
auf die rein rechtlichen Befugniſſe des großen Verwaltungsorganismus,
um die leitenden ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und volkswirthſchaftlichen
Principien nicht kümmerte, ſondern nur das Geltende für die Beamteten
zuſammenſtellte. Es geſchah daher nicht wie in Deutſchland, daß das
droit administratif ein ſtaatswiſſenſchaftliches Syſtem ward, es hat
vielmehr das Entſtehen der ſelbſtändigen Volkswirthſchaftspflege in Frank-
reich verhindert, und der Franzoſe begreift auch jetzt nicht, was eine
„Polizeiwiſſenſchaft“ ſagen will. Aber er hat dafür den Begriff eines
ſelbſtändigen Rechts der Verwaltung erzeugt, und damit einen weſent-
lichen Fortſchritt gegenüber England gethan, den dann Deutſchland
aufgenommen hat.
Was nun endlich Deutſchland betrifft, ſo bietet daſſelbe in
[91] ſeinem geltenden Verwaltungsrecht ein nicht unweſentlich verſchiedenes
Bild von Frankreich dar. Deutſchland hat durch keine gewaltſame ge-
ſellſchaftliche Revolution mit der Vergangenheit ſeiner Staatsbildung
gebrochen. Es hat daher das öffentliche Recht der Zeit, in welcher
Geſetz und Verordnung noch identiſch waren, nicht vernichtet. Es hat
dann die Geſetzgebung auf Grundlage der Volksvertretung eingeführt,
und von dieſer Zeit an das durchſichtige franzöſiſche Syſtem nicht geſetz-
lich und auch nicht einmal theoretiſch, ſondern einfach durch Gewohnheit
acceptirt, daß die Verordnung zwar an ſich nur die Vollziehung zum
Inhalt habe, dagegen aber auch die Stelle des fehlenden Geſetzes er-
ſetzen müſſe. Das deutſche Verwaltungsrecht beſteht daher aus zwei
großen Gruppen. Die erſte iſt durch das vorconſtitutionelle, die zweite
durch das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht gebildet, welches letztere
wieder theils aus Geſetzen, theils aus Verordnungen beſteht. Dem Be-
griffe nach ſind dieſe Unterſchiede daher ſehr klar. Allein die große
Verſchiedenheit in der deutſchen Staatenbildung, ſowie das Princip der
Souveränetät der Staaten haben dafür entſcheidend gewirkt, und wir
glauben den Zuſtand in dieſer Beziehung ſehr einfach bezeichnen zu kön-
nen. Das geſammte Verwaltungsrecht jedes einzelnen Staates iſt ent-
halten in dem, was wir die „Verwaltungsgeſetzkunde“ nennen können,
ein Begriff, der dem franzöſiſchen droit administratif weſentlich ent-
ſpricht, nur mit dem Unterſchied, daß vielfach auch die verordnenden
Geſetze des vorigen Jahrhunderts darin aufgenommen ſind. Nur be-
ſitzen wir dieſe Verwaltungsgeſetzkunde nur von ſehr we-
nigen Staaten, und wir müſſen es daher faſt für unmöglich halten,
hier etwas Vollſtändiges zu liefern, bis weitere Vorarbeiten in dieſer
Richtung vorliegen und die geltenden Verwaltungsrechte der einzelnen
Staaten gehörig durcharbeitet ſind. Zu dieſer Unfertigkeit des Materials
kommt aber die Unklarheit über Begriff und Umfang des Verwaltungs-
rechts und die durchgreifende, bis jetzt jede einheitliche Darſtellung unmög-
lich machende Verſchiedenheit in der Bildung des poſitiven Verwaltungs-
rechts hinzu. Der Charakter dieſer Bildung in den einzelnen Staaten
war nun außerdem bis 1848 ſo verſchieden und ſo ſehr in der Entwick-
lung begriffen, daß ſich um ſo weniger etwas allgemeines ſagen läßt,
als nur in wenigen Staaten überhaupt der Begriff des Geſetzes gegen-
über dem der Verordnung klar war, wie wir früher gezeigt haben.
Die amtliche Verwaltung ſtrebte daher in dieſer Epoche beſtändig durch
Verordnungen Recht zu bilden und die Geſetzgebungen zu beſeitigen.
Erſt nach 1848 tritt dafür mit einer wenigſtens in den Hauptſtaaten
durchgreifenden Gleichmäßigkeit die Funktion der Geſetzgebung ein, und
das franzöſiſche Syſtem der Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung
[92] wird ein allgemeines, ohne jedoch ſchon ganz zur formellen Geltung zu
gelangen. So leidet Deutſchland auch für ſein Verwaltungsrecht an
dem ihm eigenen Widerſpruch. Seine geſellſchaftlichen und volkswirth-
ſchaftlichen Zuſtände bilden eine mehr und mehr gleichartige Einheit;
ſeine Staaten aber haben geſonderte und ſelbſtändige Verwaltungsrechte.
Dieſer tiefe Widerſpruch hat nun eine neue und eigenthümliche Erſchei-
nung hervorgerufen, welche mehr und mehr von Bedeutung wird. Das
iſt der Anfang der Bildung eines gemeinſamen deutſchen Ver-
waltungsrechts, dem ſich die einzelnen Staaten unterordnen. Die
Formen deſſelben ſind bisher dreifach. Zuerſt entſteht ein Verwaltungs-
recht durch den Bund, ein Bundesverwaltungsrecht, durch Bundes-
beſchlüſſe, welche Verwaltungsangelegenheiten betreffen (wie z. B. Preß-
polizei, Markenrecht), anderſeits entſteht daſſelbe durch internationale
Verträge (des Zollvereins, Paß- und Legitimationskarten, Poſt,
Telegraphen) und endlich durch das deutſche Vereinsweſen (wie
Eiſenbahnrecht). Daß die deutſche Staatsrechts- und Bundesrechtslehre
ſich dieſer Thatſache gegenüber nicht zu helfen weiß, beruht darauf,
daß ſie keinen Begriff der Verwaltung hat. Die Verwaltungslehre aber,
die gerade hier berufen wäre, die Einheit der Idee und endlich auch
die Praxis zu vertreten, iſt ſelbſt, wie wir früher dargelegt, in ihre
großen Theile einheitslos zerſplittert. Um ſo größer iſt ihr Beruf und
ihre Aufgabe. Nirgends hat ſie eine großartigere Beſtimmung als in
Deutſchland. Und darum möge es uns verſtattet ſein, den letzten Punkt
dieſer Einleitung, das Verhältniß der Wiſſenſchaft oder der Verwal-
tungslehre zum geltenden Verwaltungsrecht zu berühren.
III.
Codification und Wiſſenſchaft.
Es ſcheint uns ganz überflüſſig, hier im Allgemeinen von der
Stellung und dem Werthe der Wiſſenſchaft zu reden. Wohl aber dür-
fen wir zum Schluß die Stellung der Verwaltungslehre als reiner
Doctrin gegenüber dem Verwaltungsrecht als eines poſitiven und mäch-
tigen Rechtskörpers hervorheben.
Wenn nämlich das Verwaltungsrecht einerſeits in ſeinem Verhält-
niß zum praktiſchen Leben und anderſeits in dem Proceſſe ſeiner Bil-
dung eine ſo große Bedeutung hat, ſo entſteht die Frage, ob es nicht
von hohem Werthe ſei, dieß Verwaltungsrecht wie das Finanzrecht und
namentlich das bürgerliche Recht zu einem Geſammtgeſetze zu erhe-
ben, und demſelben auf dieſe Weiſe eine Codification zum Grunde
[93] zu legen, die berufen wäre, der Bildung des Verwaltungsrechts wenig-
ſtens einen formalen Abſchluß zu geben?
Offenbar nun iſt dieß nicht bloß wünſchenswerth, ſondern es iſt
ſogar nothwendig für jedes einzelne Gebiet der Verwaltung. Man
kann ſagen, daß die Bildung des Verwaltungsrechts daher erſt dann
als eine feſte und fertige betrachtet werden kann, wenn die einzelnen
Geſetze und Verordnungen, die ſich auf ein ſolches Gebiet beziehen, in
ein für daſſelbe im Ganzen geltendes Grundgeſetz zuſammengefaßt
worden ſind; denn erſt durch ein ſolches Geſetz wird das erreicht, was
das Weſen des Abſchluſſes auch hier bildet, die Feſtſtellung des Ver-
haltens aller einzelnen Theile des geltenden Rechts zu dem daſſelbe
eigentlich erzeugenden Grundgedanken. Und daher zeigt ſich denn auch
hiſtoriſch, daß formell die Rechtsbildung des Verwaltungsrechts aller
Theile der Verwaltung bei der Aufſtellung einer ſolchen Codification
für die einzelnen Verwaltungsgebiete anlangt. Wir werden
das im Folgenden auf jedem Punkte zu beſtätigen haben; und man
kann gewiß mit Recht die wichtige Anwendung dieſes Grundſatzes auf
das wirkliche Leben hier als leitenden Gedanken aufſtellen, daß umge-
kehrt, ſo lange eine ſolche Codification nicht erfolgt iſt,
auch die Lebensverhältniſſe, auf welche das Verwaltungsrecht ſich be-
zieht, ſich weder innerlich noch äußerlich zur Einheit geſtaltet
haben, während die thatſächliche Einheit der Verhältniſſe wieder ihrer-
ſeits die Codification erzeugt.
Allein neben dieſem Satz ſteht ein zweiter. Während jeder Theil
der Verwaltung zu einem in ſich geſchloſſenen Verwaltungsrecht ſich
ausbildet, iſt es unmöglich, die geſammte Verwaltung rechtlich und
geſetzlich in Ein Geſetz zuſammenzufaſſen. Eine Codification des gan-
zen Verwaltungsrechts gibt es nicht und wird es nie geben. Es ſcheint
unnöthig, die einzelnen Gründe dafür ſpeciell aufzuführen.
Dennoch iſt die Verwaltung innerlich und äußerlich ein organiſches
Ganze. Und es hat einen nicht geringen Werth, zu wiſſen und zu
erkennen, daß dem ſo iſt. Dieſer Werth liegt ſo nahe, daß es ganz
überflüſſig wird, ihn beſonders hervorzuheben. Wer ſoll nun dieſe Ein-
heit vertreten? Wer iſt der natürliche Träger und Vertreter eben dieſes
Werthes derſelben? Wer ſoll die Codification erſetzen, deren das ſtaat-
liche wie das Volksbewußtſein bedarf, um die ganze hohe Bedeutung
der Verwaltung anzuerkennen?
Es iſt kein Zweifel — hier liegt die letzte und höchſte Aufgabe
der Wiſſenſchaft. Sie iſt es, welche uns den innern Zuſammenhang
der Theile des ungeheuern Gebiets der Verwaltung zu zeigen, ſie iſt
es, welche das lebendige Wirken großer ſtaatlicher, ſocialer und volks-
[94] wirthſchaflicher Kräfte in dem Leben der Verwaltung nachzuweiſen, ſie
iſt es, welche die Macht und die Aufgabe und damit die Geſchichte der
großen elementaren Faktoren des menſchlichen Daſeins auch hier zu
verfolgen und die unendliche Vielfältigkeit und den nie ruhenden Wechſel
der Geſtaltungen, des Rechts und der Rechtsbildung als ein Ganzes
zuſammenzufaſſen hat. So lange es keine ſolche, organiſch das Ver-
waltungsleben als Theil des Staatslebens begreifende, wir möchten
ſagen ihrer ſelbſt gewiſſe Verwaltungslehre gibt, ſo lange kennen wir
das innerſte Daſein des Staates nicht. Seit Jahrtauſenden
iſt der Staat Gegenſtand unendlich mannichfacher, tiefer und umfaſ-
ſender Beobachtungen und Gedanken; ſeit Jahrtauſenden arbeitet die
Menſchheit an dem Verſtändniß und an der Bildung der großartigſten
Geſtaltung des perſönlichen Lebens, die wir den Staat nennen; alle
Gebiete deſſelben ſind durchforſcht; alle ſind als ſelbſtändige Einheit be-
griffen und verſtanden; nur die Verwaltung nicht. Wir haben die
Gründe dargelegt, weßhalb das bisher nicht geſchah. Es wird uns jetzt
verſtattet ſein, die Aufgabe zu beſtimmen, die vor uns liegt. Unſer
Jahrhundert wird das Jahrhundert der Verwaltungslehre in der Staats-
wiſſenſchaft werden; es wird das Alte, Geweſene und Ueberwundene
in ſeinem Verhältniß zur Gegenwart zu erkennen und zu würdigen
ſuchen; es wird das Gegenwärtige in ſeiner organiſchen Einheit ent-
wickeln, und es wird damit die Thore der Zukunft öffnen, die in einer
noch unbekannten Ferne vor uns liegt, noch auf keinem Punkte eine
feſte Geſtalt hat, und dennoch ſchon als gewaltige Thatſache in unſere
Zeit hineingreift, die Zukunft der ſocialen Verwaltung, der Ver-
waltung der ſocialen Geſellſchaftsordnung, welche der gegenwärtigen
ſtaatsbürgerlichen zu folgen beſtimmt iſt. Die Verwaltungslehre wird
daher nicht bloß die Codification des Verwaltungsrechts erſetzen, und
nicht bloß mit der Wahrheit und Berechtigung deſſelben auch ſeine Einheit
geben. Sie iſt beſtimmt, der noch faſt unbekannten, wenigſtens noch faſt
ganz unverarbeiteten Wiſſenſchaft der Zukunft, der Geſellſchaftswiſſenſchaft,
dasjenige zu verleihen, was ihr in unſerm Jahrhundert nicht fehlen darf,
um ihre Geltung zu ſichern, ihre praktiſche Anwendung und Bedeu-
tung für das wirkliche Leben, ſein Recht und ſeine poſitive Entwicklung. —
Und in dieſem Sinne haben wir die folgende ſchwere Arbeit übernommen.
Anhang.
Die Idee des internationalen Verwaltungsrechts.
Bei der bisherigen Darſtellung ſind wir auf allen Punkten davon
ausgegangen, daß der Staat als einzelne ſelbſtändige Perſönlichkeit ſein
[95] Leben für ſich hat. Allein der wirkliche Staat iſt in der That nur die
Erſcheinung der Idee des Staats, wie der Einzelne die des Begriffes
der Perſönlichkeit. Die Vielheit der wirklichen Staaten iſt daher kein
geſchiedenes Nebeneinander derſelben. Auch ſie bilden ein Geſammt-
leben. Dieß Geſammtleben, urſprünglich ein roher Gegenſatz der Ein-
zelnen gegen einander, wird zur Gemeinſchaft des Lebens. Der Inhalt
dieſer Gemeinſchaft iſt aber keine Abſtraktion, ſondern das concrete
Leben der Menſchen, welche ihr angehören. Damit erſcheint das geſammte
Gebiet der Aufgaben der Verwaltung, und ſpeziell das Gebiet des Innern
in der Bewegung des Lebens dieſer Gemeinſchaft; die Intereſſen werden
gleichartig; jeder Einzelne findet nicht mehr bloß innerhalb ſeines eignen
Staates die Bedingungen ſeines Lebens, ſondern dieſelben ſind allmählig
mehr und mehr in der Geſammtheit der Berührungen der Völker unter-
einander gegeben, und aus dem Staatsleben entſteht ein Völkerleben.
Das Völkerleben iſt ſo alt wie die Weltgeſchichte. Es hat, wie
die Gemeinſchaft aller Perſönlichkeiten, ein Völkerrecht erzeugt. Allein
dieß Völkerrecht iſt Jahrtauſende hindurch ein negatives geblieben, und
hat ſich im Recht des Krieges und Friedens cumulirt. Erſt in unſerm
Zeitalter hat ſich der poſitive Inhalt des Völkerlebens Bahn gebrochen,
und das gegenſeitige Bedingtſein der Völker und Staaten durch einander
hat jenes Leben eben ſo gut als das Leben der Einzelnen zu einem
Gegenſtande der Verwaltung gemacht.
Damit beginnt nun ein ganz neues Gebiet der letzteren, und
gleichfalls ein neues Gebiet des Verwaltungsrechts. Der einzelne Staat
kann die Geſammtheit der Bedingungen für die Entwicklung ſeiner An-
gehörigen, ſo weit ſie im Völkerleben liegen, nicht gleichgültig betrachten.
Er muß verſuchen, auch ſie zum Inhalt ſeines Willens zu machen.
Allein das vermag er natürlich nicht durch einfache Geſetzgebung und
Verordnung. Er bedarf dazu der Zuſtimmung des andern, gleichfalls
ſelbſtherrlichen Staates. Somit ſteht ein neues, auf dem ſelbſtändigen
und einheitlichen Willen der einzelnen Staaten beruhendes Recht, das
in ſeiner Form ein Vertragsrecht, in ſeinem Inhalt ein Verwaltungs-
recht iſt. Und dieß Recht nennen wir das internationale Ver-
waltungsrecht.
Dieß internationale Verwaltungsrecht enthält nun alle Momente
der Lehre von der Verwaltung. Es hat zunächſt ſeine Vollziehung und
ſeine eigentliche Verwaltung, wie bei jedem einzelnen Staate. Seine
Vollziehung hat wieder ihren Organismus und ihr Zwangsrecht. Der
Organismus der internationalen Verwaltung iſt ein ſelbſtändiger neben
dem Organismus des Geſammtlebens der Staaten für ſich, welcher eben
nur die Gemeinſchaft noch ohne beſtimmten Inhalt ausdrückt. Dieſe
[96] letztere iſt nämlich vertreten durch das Syſtem der Geſandtſchaften;
die Lebensgemeinſchaft der Verwaltungszwecke dagegen iſt ausgedrückt
und hat ihren Organismus in dem Conſulatweſen. Das Zwangs-
recht der Staatengemeinſchaft aber iſt gleichfalls kein einfaches. Es
enthält erſtlich das Syſtem der Repreſſalien, zweitens den Krieg.
Seit der Entſtehung der internationalen Verwaltung gibt es, wir
möchten ſagen poſitive Kriege, deren Inhalt nicht mehr das rohe,
quantitative Machtverhältniß iſt, wie früher, ſondern vielmehr die Voll-
ziehung der Bedürfniſſe und Forderungen des internationalen Verwal-
tungsrechts. Es iſt eine neue Zeit auch in dieſer Welt der Staaten
durch das Weſen der Verwaltung eingetreten. Denn auch der Begriff
und Inhalt des Friedens iſt ein anderer wie früher. Es iſt nicht mehr
ein rein negativer Zuſtand des Aufhörens der Feindſeligkeiten, ſondern
ein poſitives Zuſammenwirken für gewiſſe Zwecke. Und einen ſolchen
Frieden kennt Europa erſt ſeit unſerm Jahrhundert. Mit ihm beginnt
eine neue Aera des Weltlebens, die beſtimmt iſt, noch ungeahnte
Wunder für die Menſchheit zu wecken. Wohl denen, die dieſe kommende
Epoche ſehen und genießen werden!
Das Objekt dieſer Verwaltung iſt nun das einer jeden Verwaltung.
Es gibt eine internationale Verwaltung der Staatswirthſchaft,
eine internationale Verwaltung der Rechtspflege, und eine inter-
nationale Verwaltung des Innern. Es liegt in der Natur der Sache,
daß die beiden erſten Gebiete faſt nur negativ ſind, und das Recht der
gegenſeitigen Berührungen der Staaten vermöge ihrer einzelnen Ange-
hörigen enthalten, wie Zollcartelle, Auslieferungsverträge u. ſ. w.
Erſt in der innern Verwaltung empfängt das Völkerleben einen poſi-
tiven Inhalt, und zwar zunächſt durch die Erzielung der Gleichartigkeit
der Maßregeln, welche die Geſammtintereſſen ihrer Angehörigen betreffen,
und welche für dieſelben einen hohen Werth hat. Erſt allmählig und
bis jetzt nur in ſehr einzelnen Punkten ſieht man eine Gemeinſamkeit
dieſer Maßregeln entſtehen. Die Geſchichte hat einen weiten Weg
durchzumachen, bis ſie dieſe Gemeinſamkeit zur poſitiven und allgemeinen
Baſis des Völkerrechts erhebt; aber die Zeit wird kommen, in welcher
dieß geſchieht, und wenn die Menſchheit glücklich ſein kann, ſo wird
ſie dann beginnen es zu werden. —
Dieß internationale Geſammtleben hat nun zwei Grundformen,
an welche ſich ſchon jetzt die dritte Grundform, wenn auch nur noch
gleichſam leiſe und vorſichtig, kaum in ihren erſten Umriſſen erſcheinend,
anſchließt. Die erſte Grundform iſt der Vertrag mit ſeiner Baſis der
Selbſtändigkeit der einzelnen Contrahenten, ſeiner beſchränkten und
ſcharf beſtimmten Auslegung in Beziehung auf ſeine Objekte, und
[97] endlich ſeiner zeitlichen Begränzung. Der Vertrag iſt die noch rohe, ein-
fache, unorganiſche Form des internationalen Geſammtlebens, die, ſtets
zufällig und wechſelnd, auch nur zufällig und wechſelnd, oft ſogar
geradezu zerbrochen, die Geſammtentwicklung nur durch die Furcht des
Einen vor dem Andern ſchützt. Die zweite Grundform dagegen iſt der
Staatenbund. Der Staatenbund iſt, um uns ſo auszudrücken, ſchon
mehrfach von der Geſchichte verſucht worden. Schon Griechenland war
ein Staatenbund; das Karolingiſche Reich, die Idee des germaniſch-
römiſchen Kaiſerthums, iſt im Grunde auch nichts anderes. In neuerer
Zeit ſehen wir ihn wieder entſtehen in Deutſchland, in der Schweiz,
in Nordamerika; die großartigſte, wenn auch in der äußeren Form
weſentlich abweichende Erſcheinung deſſelben iſt das britiſche Weltreich,
das ſeine ſogenannten Colonien im Grunde wie ſelbſtändige Staaten
behandelt. Die Theorie hat das Weſen und die höhere ſittliche Idee
des Staatenbundes wenig verſtanden, und ſich daher auch nicht über
eine formale Auffaſſung und Definition deſſelben einigen können. Sie
hat, wie es in der Natur der Geſchichte liegt, in dem Staatenbund
einen ſtaatsrechtlichen Körper, und in dem Bundesrecht nur die
Aufgabe geſehen, die Gränze der Selbſtändigkeit der einzelnen Staaten
gegenüber der Einheit derſelben, alſo das Macht- und Rechtverhältniß
der Bundesglieder zu einander zu beſtimmen. Das muß ewig unfrucht-
bar bleiben, ſo wie es ſich nicht mehr um die juriſtiſche Interpretation der
Verträge handelt, welche den Staatenbund conſtituiren, ſondern um
das höhere Weſen der Sache. In der That nämlich iſt dieß poſitive
Recht der Bundesverträge ja doch nur ein rechtlicher Ausdruck einer
tiefer gehenden Gewalt, und geſtaltet ſich und wechſelt mit der Macht,
welche dieſe Einheit ſelber erzeugt hat. Das Verſtändniß des Bundes-
rechts aller Zeiten iſt daher das Verſtändniß des Inhalts, und nicht
der Form des Bundes. Der Inhalt des Bundes aber iſt der einer
jeden Gemeinſchaft, die Förderung des Geſammtrechts durch die Einheit
der ſelbſtändigen Perſönlichkeiten. Dieſe aber wird, ſo wie wir nicht
mehr abſtrakte Formeln, ſondern concrete Verſtellungen haben und
wollen, zu nichts anderem, als zur innern Verwaltung. Und ſo ergibt
ſich, daß das wahre Weſen eines jeden Staatenbundes oder Bundes-
ſtaates eben nichts iſt, als die zur Selbſtändigkeit erhobene, und durch
ſich ſelbſt und nicht mehr bloß durch vertragsmäßig geſetzte Rechte
wirkende Organiſation der Einheit für die internationale Verwaltung.
Ein Staatenbund iſt daher von dem Bundesſtaat niemals durch
formale Beſtimmungen zu unterſcheiden, ſondern nur durch den Zweck.
Ein Staatenbund iſt eine Einheit, welche zu ihrem Zwecke hat, die
ſtaatliche Selbſtändigkeit jedes Gliedes durch die Kraft der Gemeinſchaft
Stein, die Verwaltungslehre. II. 7
[98]zu ſchützen; ein Bundesſtaat will und muß durch ſein Organ die
gemeinſchaftlichen Angelegenheiten verwalten. Ein Staatenbund iſt
ein Rechtskörper, ein Bundesſtaat iſt ein Verwaltungskörper.
Das Staatenbundsrecht iſt daher weſentlich nur militäriſche Organiſation
und die Ordnung des vertragsmäßigen Maßes der Leiſtungen der Ein-
zelnen für die Einheit der Kraft; das Bundesſtaatsrecht dagegen, indem
es dieß Staatenbundsrecht allerdings als ein Moment in ſich enthält,
erhebt ſich zu einem objektiv gültigen gemeinſamen Verwaltungs-
recht. Sein Inhalt iſt Verwaltung, und ſein Fortſchritt und ſeine
Zukunft beſteht darin, daß dieſe internationale Form der Verwaltung
ſich immer weiter und höher ausbilde.
Wenn dereinſt unſere Lehre vom Völkerrecht ſich dahin ausbilden
wird, nicht bloß die rechtlichen Zuſtände der Staaten untereinander, in
dem harten Gegenſatze ihrer Selbſtändigkeit zu begreifen und darzulegen,
ſondern in den juriſtiſchen Formen des Geſammtlebens das Werden der
Einheit zu erkennen und zu fühlen, wenn ſie namentlich die Geſchichte
des internationalen Verwaltungsrechts und ſeiner organiſchen, zur Ein-
heit des Menſchengeſchlechts drängenden Gewalt in den Handelsverträgen
ſuchen und finden wird, wird ſie das werden, was ſie zu werden be-
ſtimmt iſt, das höchſte Gebiet der Staatswiſſenſchaft.
An dieß ſtaatliche Leben ſchließt ſich nun in ganz unbeſtimmten,
aber viel verſprechenden Anfängen ein, ſich über die Völker ausbreiten-
des Vereinsleben. Wir verſtehen es noch nicht ganz. Es will
eigends ſtudirt ſein, wie es ſich theils an die Wiſſenſchaft anſchließt,
theils an praktiſche Aufgaben. Es iſt noch ganz in dem Stadium, nur
noch gemeinſame Intereſſen zu erzeugen. Die Zeit wird kommen,
wo es ſich zu einem ſelbſtändigen einheitlichen Faktor ausbildet, der in
gewaltiger Weiſe einzugreifen beſtimmt iſt. — Unſere Nachkommen haben
noch viel zu lernen und zu arbeiten, um den Forderungen der höchſten
wiſſenſchaftlichen Erkenntniß zu genügen.
[[99]]
Die wirkliche Innere Verwaltung
und das
Verwaltungsrecht.
Erſtes Hauptgebiet.
Die Verwaltung und das perſönliche Leben.
Erſter Theil.
Die Verwaltung und das Bevölkerungsweſen.
Die wirkliche Verwaltung.
Erſtes Hauptgebiet.
Die Verwaltung und das perſönliche Leben.
[[100]][[101]]
Das erſte Element alles Lebens der menſchlichen Gemeinſchaft iſt
ohne Zweifel die Perſon, dieſe Wirklichkeit des Begriffs der Perſön-
lichkeit. Sie iſt ein kleiner Organismus, eine kleine Welt für ſich. Sie
iſt einerſeits ein phyſiſches, andererſeits ein geiſtiges Daſein. Sie iſt
zwar die innigſte Verſchmelzung beider; aber beide ſind in ihr dennoch
nicht daſſelbe. Der Körper und der Geiſt leben in ihr nach eigenen
Geſetzen, entwickeln und bilden ſich, und beherrſchen ſich gegenſeitig. Es
gibt keine äußerliche Gränze zwiſchen beiden, aber es iſt faſt noch
weniger möglich, ſie zu verwechſeln oder ganz zu verſchmelzen. So wie
man die Menſchen genauer betrachtet, ſcheiden ſie ſich als die beiden
ſelbſtändigen Seiten oder Faktoren ſeines Daſeins, von denen jeder ſein
eigenes Leben hat.
Daher hat auch jeder derſelben ſeine eigene Wiſſenſchaft, ſofern
man ſie eben für ſich betrachtet. Die Wiſſenſchaft vom menſchlichen
und körperlichen Daſein nennen wir die Phyſiologie, die von dem
geiſtigen Daſein die Pſychologie.
Es iſt daher kein Zweifel, daß auch das Verhalten beider Elemente
ein verſchiedenes iſt in Bezug auf die menſchliche Gemeinſchaft und die
Berührung mit derſelben. Allerdings kann jeder Einzelne ſich durch
eigene Kraft aus dieſer Gemeinſchaft die Elemente ſeiner eigenen Ent-
wicklung theils bilden, theils finden und gewinnen. Allein die Ge-
meinſchaft iſt in vielen und wichtigen Beziehungen mächtiger als er
ſelber. Außer ihm ſtehend, beherrſcht ſie ihn. Wenn ſie ſich nicht
ſelbſt in denjenigen Punkten, wo ſie zur Bedingung des individuellen
Fortſchrittes wird, ſo geſtaltet, daß der Einzelne ihr und ihrem Einfluß
unterliegt — er ſeinerſeits kann ſich allein nicht helfen, und zwar
[102] weder im phyſiſchen noch im pſychiſchen Leben. Er wird körperlich wie
geiſtig fortgeriſſen, gleichſam überdeckt von der quantitativen Macht der
Geſammtheit; ſeine Einzelkraft wird verſchwindend klein, wenn ſie der
letzteren gegenüber ſteht, und alles, was eben durch die Gemeinſchaft
ihn phyſiſch oder geiſtig fördern könnte, verkehrt ſich in ſein Gegentheil
und wirkt vernichtend.
Soll daher die allererſte Geſtalt des perſönlichen Lebens das phy-
ſiſche und das pſychiſche Daſein des Menſchen, das ſeinerſeits ohne
dieſe Gemeinſchaft gar nicht gedacht werden kann, innerhalb derſelben zur
ſelbſtändigen individuellen Entwicklung gelangen, ſo muß die Gemein-
ſchaft als ſolche in ihrem Verhältniß zum Individuum und ſeinem
Leben eine Ordnung empfangen, welche die Bedingungen der indivi-
duellen Entwicklung durch dieſe Berührung mit dem Individuum in ſo
weit enthält, als die individuelle Kraft ſich dieſe Bedingungen nicht
verſchaffen kann durch eigene Thätigkeit. Der Organismus, welcher
dieſe Ordnungen erzeugt, iſt der Staat. Die Thätigkeit, durch welche
er ſie erzeugt, iſt die Verwaltung. Und die Geſammtheit der verwal-
tenden Thätigkeiten des Staates daher, welche diejenigen Ordnungen
des phyſiſchen und pſychiſchen Lebens der menſchlichen Gemeinſchaft her-
ſtellt, die als Bedingungen der individuellen Entwicklung erſcheinen und
durch eigene Kraft des Individuums nicht erreicht werden können, bilden
die Verwaltung des perſönlichen Lebens.
Es iſt ganz naturgemäß, daß dieſer Begriff zunächſt ein ſehr unbe-
ſtimmter iſt, und daß er an ſich nur als eine Forderung erſcheint.
Denn theils iſt im Individuum ſelbſt, theils im Leben der Gemeinſchaft
die Bewegung und Entwicklung eine große; theils wechſeln auch die
Auffaſſungen über das Nothwendige und Nützliche. Das was wir die
Verwaltung des perſönlichen Lebens nennen, iſt daher zu verſchiedenen
Zeiten und bei verſchiedenen Völkern ſelbſt ſehr verſchieden. Allein, in
dem ſelbſtbedingten Weſen der Perſönlichkeit gegründet, behält es den-
noch ſtets ſeine organiſchen Grundlagen, die ſich gleich bleiben, und
die Entwicklung jener Verwaltung beruht daher nicht darauf, daß ſie
zu verſchiedenen Zeiten abſolut verſchieden ſei, ſondern darauf, daß ihre
abſoluten Momente zu verſchiedenen Zeiten in verſchiedener Form und
in verſchiedenem Maße ihrer Ausbildung vorhanden ſind. Form und
Maß aber ſind wieder nicht zufällig verſchieden, ſondern ſind der Aus-
druck zweier anderen Faktoren, welche ſchon hier die Geſtaltung der
verwaltenden Thätigkeit beherrſchen. Die Form und der Inhalt der
letzteren wird vorwiegend von der geſellſchaftlichen Ordnung, das
Maß von der Dichtigkeit der Bevölkerung abhangen. Bei ver-
ſchiedener geſellſchaftlicher Ordnung und bei verſchiedener Dichtigkeit der
[103] Bevölkerung iſt ſchon in dieſem großen Gebiete der Verwaltung eine
gleiche Verwaltung bei voller Gleichartigkeit derſelben undenkbar. Und
dieß wird das Einzelne ſpäter zeigen.
Das Zuſammenfaſſen der Verwaltung des phyſiſchen und geiſtigen Lebens
in ein Ganzes findet, wenn es ein rein organiſches und kein praktiſches iſt,
auch nur in der Wiſſenſchaft ſeine Stelle. Aber die Wiſſenſchaft, die ſich Jahr-
hunderte lang nicht einmal darüber einig war, ob und wie viel ſie von beiden
Gebieten überhaupt aufnehmen wollte, hat jene ſyſtematiſche Einheit natürlich
nicht aufgeſtellt. Nur läßt es ſich allerdings nicht verkennen, daß namentlich
ſeit Mohl ein ziemlich deutliches Bewußtſein des Zuſammengehörens beider
Theile vorhanden iſt, das freilich nur als eine äußerliche Nebenordnung erſcheint.
(Mohl, Polizeiweſen. Buch I. und Buch II.) Wir werden die Anerkennung
des organiſchen Verſtändniſſes überhaupt erſt dann gewinnen, wenn wir eine
Wiſſenſchaft der Verwaltung haben werden.
Erſter Theil.
Das phyſiſche Leben und die Verwaltung.
Die vier Gebiete derſelben.
Der Menſch als phyſiſche Perſon lebt und ſtirbt; er wechſelt ſeinen
Aufenthalt; er iſt thätig in hundert Richtungen; er iſt krank und ge-
ſund; er iſt geiſtig unfähig; er iſt abweſend; er iſt jung oder alt,
verehelicht oder nicht — das ſind lauter Lebensverhältniſſe, welche in
dem Weſen der Perſon liegen. Jedes dieſer Verhältniſſe hat ſeine eigene
wiſſenſchaftliche Betrachtung, ſeine eigenen Geſetze, nach denen dieſe
Zuſtände entſtehen und vergehen; wie immer ſie ſein mögen, ſie ſind
kein Gegenſtand der Verwaltung.
Allein jeder Menſch ſteht gerade vermöge dieſer Verhältniſſe und
in ihnen in irgend einer Verbindung mit andern. Jedes derſelben,
indem es für das Individuum von irgend einem Einfluß iſt, iſt es
daher auch für die mit ihm in Verbindung ſtehenden anderen, und
damit für die Gemeinſchaft ſelbſt. Dieſer ſogenannte Einfluß zeigt ſich
bei näherer Betrachtung als eine irgendwie geartete Bedingung für
die Thätigkeit, den Beſitz, die Stellung der andern. Es iſt nicht
gleichgültig für alle, ob der Einzelne lebt oder nicht, ob und wann er
geboren, wo er geboren, was er thut, ob er krank oder geſund, geiſtig
ſelbſtändig iſt oder nicht. Oft hängt das ganze Daſein und Glück,
immer irgend eine Sache für dritte davon ab. Und dennoch können
[104] dieſe andern weder als Einzelne darauf Einfluß nehmen, noch auch
nur immer wiſſen, wie jene Zuſtände des Individuums in ſeinem per-
ſönlichen Leben ſich verhalten.
Steht nun das feſt, ſo iſt es klar, daß hier das erſte Gebiet der
Thätigkeit des Staats, das erſte Gebiet der Verwaltung beginnt. Sie
hat nicht in das freie perſönliche Leben des Einzelnen in phyſiſcher Be-
ziehung einzugreifen; wohl aber muß ſie eine Ordnung der Dinge her-
ſtellen, vermöge deren dasjenige in jenem phyſiſchen Leben der Individuen,
was als Bedingung der materiellen Lebensverhältniſſe
und ihrer Entwicklung für andere und damit für die ganze Ge-
meinſchaft erſcheint, nicht mehr von der individuellen Willkür des
Einzelnen oder von dem Zufalle abhängig iſt, ſondern durch die Ver-
waltung in der Weiſe geordnet wird, daß das Einzelleben auch hier die
ihm individuell unerreichbaren Vorausſetzungen ſeiner Entwicklung findet.
Und die Geſammtheit dieſer Thätigkeiten bildet die Verwaltung der
perſönlichen, oder genauer des phyſiſchen Lebens.
Es iſt nun zwar natürlich, daß dieſe Verwaltung ſich nach den
Grundformen des perſönlichen Daſeins richtet, und aus ihnen ſein
Syſtem erhält. Allein nicht das ganze Leben iſt Gegenſtand der Ver-
waltung. Die letztere tritt immer nur da auf, wo jene Lebensverhält-
niſſe als Bedingungen der Entwicklung der übrigen erſcheinen. Und
wir heben dieß hier beſonders hervor, damit wir es nicht ſpäter bei
jedem Punkte zu wiederholen brauchen. Das Syſtem oder die Ordnung
der Verwaltungsaufgaben iſt niemals das Einzelleben für ſich, ſondern
vielmehr die organiſche Eintheilung derjenigen phyſiſchen Be-
ziehungen, in welche der Einzelne zur Gemeinſchaft und ihren Lebens-
bedingungen ſteht. Betrachtet man nun das Einzelleben von dieſem
Standpunkt, ſo hat es in ſeiner rein perſönlichen Form vier Gebiete,
welche als die Gebiete dieſes Theiles der Verwaltung erſcheinen. Dieſe
vier Gebiete ſind ſo alt wie die Verwaltung ſelbſt. Sie haben daher
bekannte und hergebrachte Namen, und es wird, glauben wir, nicht
die geringſte Schwierigkeit haben, ſich über das Syſtem ſelbſt zu ver-
ſtändigen, ehe wir zum Einzelnen übergehen.
Das erſte Gebiet iſt die phyſiſche Perſon in ihren leiblichen,
natürlichen und allen Individuen gemeinſchaftlichen und gleichartigen
Beziehungen zu andern, deren Verwaltung wir das Bevölkerungs-
weſen nennen.
Das zweite Gebiet ſind die Zuſtände dieſer Perſonen, inſofern
dieſelben die rechtliche Selbſtändigkeit und perſönliche Unverletzlichkeit der
übrigen mit Gefahren bedrohen, und die als Gegenſtand der Verwaltung
die Sicherheitspolizei erzeugt.
[105]
Das dritte Gebiet iſt die Geſundheit des Einzelnen, und zwar
theils als Moment des Geſammtlebens, theils als Gegenſtand der Hülfe
von andern oder der Heilung. Aus ihr geht die Verwaltung des Ge-
ſundheitsweſens hervor.
Das vierte Gebiet endlich iſt der Mangel des geiſtigen Elements
in der Perſönlichkeit, welche Vertretung und Hülfe von Seiten der
Verwaltung fordert, und damit das Pflegſchaftsweſen erzeugt.
Damit iſt das große Gebiet der Verwaltung des perſönlichen
Lebens erſchöpft. Es iſt jetzt die Aufgabe, die organiſche Geſtalt jedes
einzelnen Theiles zu unterſuchen.
Dem früher aufgeſtellten Begriffe des Verwaltungsrechts gemäß
ſagen wir nun, daß die Geſammtheit der durch den Staatswillen ge-
ſetzten Vorſchriften für alle dieſe Gebiete das Verwaltungsrecht des
perſönlichen Lebens bildet. Das geltende Verwaltungsrecht erſcheint
bei ſo äußerſt verſchiedenen Verhältniſſen ſchon hier einer gemeinſamen
Codifikation, und eben ſo ſehr einer inneren und äußerlichen Gleichheit
unfähig. Dennoch iſt die Bildung und Entwicklung auch dieſes Gebietes
des Verwaltungsrechts von einem gemeinſamen Elemente zu allen Zeiten
beherrſcht, eben ſo wohl wie das der geiſtigen Welt. Da nämlich die
perſönlichen Berührungen unter den Menſchen naturgemäß mit der
Zahl derſelben ſteigen, ſo wird das Verhalten jeder Perſon den übrigen
in dem Grade wichtiger, je mehr dieſe Zahl zunimmt. Es ergibt ſich
daher der allgemeine Grundſatz, daß die Ausbildung des Verwaltungs-
rechts des perſönlichen Lebens von der Dichtigkeit der Bevölkerung
abhängt, indem dieſelbe mit ihr zunimmt und abnimmt. In ſtark
bevölkerten Staaten iſt eine genaue Ausbildung jenes Rechts ein unab-
weisbares Bedürfniß; in ſchwach bevölkerten Staaten dagegen wird
man es ſtets wenig entwickelt finden. Demgemäß erklärt ſich auch eine
zweite bekannte Erſcheinung. Wie nämlich die Dichtigkeit der Bevölke-
rung in einem Lande ſelbſt verſchieden vertheilt iſt, ſo iſt auch die
Ausbildung jenes Rechts verſchieden vertheilt. Es iſt daſſelbe, und
mit ihr die wirkliche Verwaltung, auch örtlich, und zwar je nach der
Dichtigkeit der Bevölkerung mehr oder weniger entwickelt. Und da nun
die beiden Grundformen dieſer Dichtigkeit durch Stadt und Land ge-
geben ſind, ſo gilt auch als Regel, daß die Geſammtheit aller Beſtim-
mungen dieſes perſönliche Verwaltungsrecht ſtets viel ſtärker und ſchärfer
in den Städten als auf dem Lande ausgebildet iſt. Daran
ſchließt ſich weiter die Folge, daß die amtliche Verwaltung zwar allge-
mein gilt, daß aber in den Städten ſtets vorzugsweiſe die Selbſtver-
waltung jener Aufgaben ausgebildet iſt, ſo daß gewiſſe Theile faſt
nur den Städten angehören (Meldungsweſen u. a.), während andere
[106] allgemein bleiben (Zählungen ꝛc.). Das poſitive Bild der Vertheilung
dieſer Verwaltungsthätigkeit iſt daher in dieſer innigen, bedingten Ver-
bindung mit dem wirklichen Leben vom höchſten Intereſſe, und muß
als eine hochwichtige Aufgabe der höheren Statiſtik anerkannt werden.
Was nun die einzelnen Theile dieſes Verwaltungsrechts betrifft,
ſo beruht ihre ſpezielle Entwicklung wieder oft auf äußeren Anläſſen,
oft hängen ſie innig mit andern Gebieten der Verwaltung zuſammen,
und jeder derſelben hat daher nicht bloß ſeine Geſtalt, ſondern auch
ſeine Geſchichte. Das Folgende wird verſuchen, einen Abriß derſelben
zu geben.
Wir dürfen auch hier wieder die Bemerkung wiederholen, daß die
oben aufgeführten vier Gebiete an ſich ſchon ſeit dem Entſtehen der
alten Polizeiwiſſenſchaft als Theile derſelben vorhanden und anerkannt
ſind, wie das Folgende es zeigen wird, wenn auch namentlich das
Pflegſchaftsweſen ſeit Fiſcher (Band I.) von der Polizeilehre ausge-
ſchloſſen wird. Das was fehlt, iſt hier zunächſt die Auffaſſung der-
ſelben als einer organiſchen Einheit, und dieſe hoffen wir feſtgeſtellt
zu haben.
I.
Das Bevölkerungsweſen und die Verwaltung.
Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsordnung.
Die Bevölkerung eines Staates erſcheint ſtets als eine der wich-
tigſten, ja als die wichtigſte Thatſache für das innere Leben des Staats.
Sie iſt der Ausdruck ſeiner Macht, die ſich in der Zahl ſeiner Ange-
hörigen vertreten findet. Sie iſt die Grundlage ſeiner Wirthſchaft. Sie
iſt endlich das Ergebniß aller derjenigen Faktoren, welche auf das Wohl-
ſein und die Kraft der Einzelnen Einfluß haben. Sie iſt daher ſchon
als rein quantitatives Element die Grundlage deſſen, was der Staat
thun kann, und durch ihre Größe ſelbſt das Zeichen von dem, was er
gethan hat.
So wie man das erkennt, ſo ſind Wunſch und Streben ſehr natür-
lich, vermöge der großen dem Staate zu Gebote ſtehenden Mittel nun
auch für dieſes wichtigſte Element des Staatslebens wirklich etwas zu
thun, und ſo weit möglich mit Geſetzen und Maßregeln dieſer Bevöl-
kerung diejenige Geſtalt und Bewegung zu geben, welche ihrerſeits als
Grundbedingung für die Entwicklung des Einzelnen und damit des
Ganzen anerkannt wird. Eine ſolche Thätigkeit iſt Verwaltung; und
ſo entſteht das, was wir die Verwaltung der Bevölkerung, und
[107] in Beziehung auf die Geltung der ſtaatlichen Beſtimmungen das Ver-
waltungsrecht der Bevölkerung nennen.
Offenbar nun entſtehen an den beiden Hauptelementen des Bevöl-
kerungsweſens ſofort zwei Hauptaufgaben dieſer Verwaltung und damit
zwei Hauptgebiete ihres Rechts. Die erſte Aufgabe hat die Bevölkerung
als Subſtrat der Staatsmacht, alſo in ihrem quantitativen Verhältniß,
zum Gegenſtand, und enthält die Frage, ob und wie die Verwaltung
auf die Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung einwirken
könne und ſolle. Den Inbegriff der hierauf bezüglichen Grundſätze
bildet die Bevölkerungspolitik, und die öffentlichen Beſtimmungen,
die ſich daran ſchließen, das Recht der Bevölkerungspolitik. — Die zweite
Aufgabe hat ſtatt der Kräfte, welche die Vermehrung und Verminderung
der Bevölkerung erzeugen, vielmehr die vorhandene Bevölkerung als
ſolche, und damit die gegebenen gegenſeitigen Beziehungen der Einzelnen
zur Gemeinſchaft zum Objekt, und für ſie entſteht daher die Aufgabe,
dieſer Bevölkerung ihre Ordnung zu geben, und für dieſe Ordnung
ein Syſtem von Rechtsbeſtimmungen aufzuſtellen. Das ſind die beiden,
aller Verwaltung der Bevölkerung zum Grunde liegenden Hauptgebiete.
Auch hier nun macht ſchon die tiefe Verſchiedenheit des Princips
eine gemeinſame Codification für beide Theile faſt ſchon äußerlich un-
möglich. Außerdem ſind die Anſichten über die Löſung jener Aufgaben
zu verſchiedenen Zeiten höchſt verſchieden, und eben ſo die äußern Ele-
mente, welche auf jeden Theil der auf ſie bezüglichen rechtlichen Beſtim-
mungen einwirken. Das beſtehende Recht bietet uns daher ein höchſt
buntes, ſehr ungleichmäßig entwickeltes Bild dar, und die Theorie hat
es ihrerſeits nicht verſtanden, Einheit und Ueberſicht hinein zu bringen.
Man muß daher ſchon hier mit dem Satze beginnen, den wir faſt auf
jedem Punkte der ganzen Lehre zu wiederholen in der Lage ſein werden,
daß alle Theile vorhanden ſind, während das Ganze fehlt.
Aber es fehlt noch ein zweites, das nicht minder wichtig iſt. Das iſt
die Geſchichte, und mit der Geſchichte das hiſtoriſche Bewußtſein des
Ganzen wie des Einzelnen. Es iſt die Aufgabe des Folgenden, der
künftigen Wiſſenſchaft in beiden Beziehungen vorzuarbeiten.
Es möge uns hier verſtattet ſein, einige Bemerkungen über die Stellung
und Behandlung, welche das Bevölkerungsweſen in der Staatswiſſenſchaft ein-
nimmt, anzufügen. Dieſelben ſind für den Gang der letztern und namentlich
für den Mangel eines klaren Verſtändniſſes der Verwaltung und ihrer Auf-
gabe zu bezeichnend, als daß wir beide nicht mit wenig Worten hier charakteri-
ſiren ſollten. Vom größten Intereſſe iſt es dabei, zugleich das Verhältniß zu
verfolgen, in welchem die beiden Seiten der Bevölkerungslehre, die Politik und
die Ordnung der Bevölkerung, zu einander ſtehen.
[108]
Das Bewußtſein, daß die Zahl der Bevölkerung für den Staat hochwichtig,
und daß die Ordnung derſelben für ihn abſolut nothwendig ſei, iſt ſo alt
wie die Verwaltung ſelbſt. So wie daher die Staatswiſſenſchaft zur ſelbſtän-
digen Wiſſenſchaft ward, mußte ſie die Bevölkerungslehre allerdings aufnehmen.
Allein die Art und Weiſe, wie ſie es thut, iſt höchſt charakteriſtiſch.
Die Staatswiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts trägt den Charakter des
geſammten Staatslebens an ſich; ſie iſt die Lehre von den Bedingungen der
Staats macht. Die Staatswiſſenſchaft unſeres Jahrhunderts, dem Charakter
unſerer Gegenwart folgend, wird zur Lehre von der Staatsfreiheit in der
Verfaſſung. Das nun hat neben dem geſammten Gange der Staatslehre
auch die des Bevölkerungsweſens bedingt. In beiden Epochen nämlich finden
wir, daß die Politik und die Ordnung der Bevölkerung als gar nicht zuſam-
mengehörig, als gegen einander gleichgültig betrachtet werden, und daß aus
demſelben Grunde die Staatslehre urſprünglich nur die Bevölkerungspolitik als ihr
angehörig aufnimmt, während ſie das Recht der Ordnung der Bevölkerung
theils ganz wegläßt, theils als einen untergeordneten Theil der „Polizei“ be-
handelt. Wir werden die hiſtoriſche Entwicklung jedes dieſer beiden Gebiete
unten bezeichnen. Im Allgemeinen aber muß man wohl Montesquieu als
denjenigen betrachten, der das Bevölkerungsweſen zuerſt als einen integriren-
den Theil der Staatswiſſenſchaften feſtgeſtellt hat (L. XXIII.), obwohl bei
ihm nur von der Politik der Bevölkerung die Rede iſt. Während die franzö-
ſiſche Wiſſenſchaft durch ihn der Sache ſelbſt ihr Recht gab, hat die deutſche
Wiſſenſchaft ihr zuerſt ihre ſyſtematiſche Stellung gegeben. Schon Juſti hat
ein, wenn auch mehr gefühltes als entwickeltes Syſtem. In ſeiner „Grundveſte
der Macht und Glückſeligkeit der Staaten“ ſpricht er in Bd. I. im Buch I. von
der „Cultur und Oberfläche eines Landes“ (natürliches Element), im Buch II.
folgt dann die „Vermehrung der Einwohner.“ Unklarer iſt Sonnenfels, der
die Bevölkerungslehre zur „Einleitung“ in die Polizei macht. Dennoch wäre
damit derſelben ihre Stellung dauernd geſichert, und wohl auch die organiſche
Verbindung des Ordnungsrechts der Bevölkerung mit der Bevölkerungspolitik
feſt begründet geweſen, wenn nicht zwei gewaltige wiſſenſchaftliche Erſcheinungen
das ganze Gebiet aus der naturgemäßen Entwicklungsbahn hinausgeworfen
hätten; denn noch J. Fiſcher in ſeinem „Lehrbegriff ſämmtlicher Cameral- und
Polizeirechte“ (1785) ſtellt in dem Buch II. („Perſönliches Polizeirecht“) im
Grunde das, was wir als die Ordnung der Bevölkerung bezeichnen, an die
Spitze — eine ſehr beachtenswerthe Erſcheinung, da dieſe Arbeit der erſte Ver-
ſuch eines ſyſtematiſchen Rechts der Geſellſchaftsordnung iſt, deren Be-
deutung man nicht verſtanden hat — während die Bevölkerungspolitik bei ihm
nur einen gar kleinen Raum einnimmt (V. Hauptſt. V. Abſchn.). Jene beiden
Erſcheinungen aber waren die Werke von Süßmilch und Malthus (ſ. unten).
Durch ſie trat die Frage nach den Geſetzen, die für die Bevölkerungspolitik
gelten, ſo machtvoll in den Vordergrund, daß ſich die ganze Theorie nach dieſer
Seite hin wandte, und jenes „Perſönliche Polizeirecht“ darüber vergaß. Es
ſchien für die Staatswiſſenſchaft nur noch nothwendig, ſich über die Principien
klar zu ſein, die für das Verhältniß der Verwaltung zur Zu- und Abnahme
[109] der Bevölkerung gelten, und da man bald erkannte, daß hier wenig durch den
Staat geſchehen könne, ſo blieb nichts anderes übrig, als einfach an die Stelle
der Lehre vom ganzen Bevölkerungsweſen die Theorie über das Wachsthum der
Bevölkerung zu ſetzen. Selbſt ſchon der ſonſt ſo geiſtvolle Berg erwehrt ſich
deſſen kaum mehr, und die ganze Verwaltung der Bevölkerung erſcheint bei
ihm in den oben angedeuteten zwei Gruppen; die Bevölkerungspolitik und ihr
Recht — was ſich daraus retten ließ — in Thl. II. 3. Bd. 2. Hauptſt.: und
die Ordnung der Bevölkerung unter der Sicherheitspolizei. Von da an herrſcht
dieſer Standpunkt, aber die Theorie iſt ſich ihrer Sache doch nicht recht ſicher.
Die Bevölkerungspolizei, für die man den großen Standpunkt Juſti’s verloren
hat als Aufſtellung eines ſelbſtändigen Gebietes, muß jetzt einem andern Theile
einverleibt werden, wie die Bevölkerungsordnung der Sicherheitspolizei. Dieſer
Theil iſt nun ſchon in der ganzen Auffaſſung der Bevölkerungspolitik indicirt.
Die Zu- und Abnahme der Bevölkerung verliert allerdings in etwas ihren Cha-
rakter einer bloßen Machtfrage, wird aber dafür eine der volkswirthſchaft-
lichen Bedingungen der „Wohlfahrt;“ und ſo fällt ſie jetzt mit der ganzen
Theorie der Populationiſtik in die Nationalökonomie. Zuerſt ſpricht dieß theo-
retiſch Soden aus, der überhaupt „die Staatspolizei nach den Grundſätzen
der Nationalökonomie“ ausſchließend behandelt (Nat.-Oek. Bd. 7), und hier die
„Bevölkerungspolizei“ im 21. Buch, §. 96 ff. aufführt, nur von Bevölkerungs-
politik redend. Von da an wird es Gewohnheit, namentlich unter dem Ein-
druck Say’s, der die Bevölkerungslehre geradezu als Theil der Économie
politique hinſtellt (Cours d’Econ. Pol. Pars VII.), die Theorien über Bevöl-
kerung als integrirende Beſtandtheile der Nationalökonomie zu behandeln, um
ſo mehr, da die Deutſchen den Franzoſen und Engländern folgten, die nicht
im Stande waren, die von Juſti und Sonnenfels gewonnene Scheidung von
Volkswirthſchafts-, Finanz- und Verwaltungslehre feſtzuhalten. Daß daneben
die Bevölkerungslehre ihren eigenen Weg ging, verſteht ſich von ſelbſt. Doch
bleibt die Vorſtellung, daß das Bevölkerungsweſen ſelbſtändig ſein müſſe; auch
Pölitz hat ſie noch, wenn auch als Politik, ſelbſtändig als Theil der Polizei-
wiſſenſchaft aufgeſtellt (Bd. II. Polizei-Wiſſenſchaft Nr. 33). Bedeutſamer war
es, daß Rau ſie dann in die „Volkswirthſchaftspflege“ hinübernahm (Bd. I.),
was aber freilich nicht durchgriff, da er nach Smiths Vorgange in der Bevöl-
kerung nur die „Zahl der Arbeiter“ ſah. Warum hat Max Wirth in ſeinem
2. Bande der National-Oekonomie die Sache mit ſo einfacher Beſchränkung auf
die Smithſche Regel abgethan, ohne über Rau hinaus zu gehen? (2. Buch I.)
Mit dem Auftreten der Mohl’ſchen Richtung ſchien nun die beſſere Zeit kom-
men zu müſſen. Jacobs faßt noch in ſeinen „Grundſätzen der Polizeigeſetz-
gebung“ (1809) die ganze Bevölkerungspolitik rein als vorzugsweiſe in den
Händen der Regierung liegende Angelegenheit derſelben auf (§. 72); Mohl da-
gegen hat das unbeſtreitbare Verdienſt, die wiſſenſchaftlich gefundenen Geſetze
der Bewegung der Bevölkerung auch als Grundlage der polizeilichen Thätigkeit
hinzuſtellen. Allein da er ſich ſelbſt über das Verhältniß von Polizei und Ver-
waltung durchaus unklar blieb, ſo geſchah es ihm, daß er die Bevölkerungs-
polizei in die Polizeiwiſſenſchaft (1. Buch, 1. Cap.) nach Juſti’s Vorgange
[110] allerdings aufnahm, die Ordnung der Bevölkerung dagegen theils in die Sicher-
heitspolizei (Paßweſen ꝛc.), theils in die Verwaltung (Heimathsrecht) verwies,
wodurch dann der alte Standpunkt nicht gebeſſert ward. Doch kann man ſo
ziemlich als anerkannt die Scheidung der Bevölkerungslehre von der National-
ökonomie anſehen; ſelbſt Roſcher, der wieder alles confundirt, greift gegenüber
dieſer Thatſache zu dem verzweifelten Zeugniß ſeines Mangels an organiſcher
Auffaſſung, indem er die Bevölkerungslehre als „Anhang“ ſeines erſten Theiles
behandelt. Mein Verſuch, die Populationiſtik in das Syſtem der Staats-
wiſſenſchaft aufzunehmen, iſt noch ohne Erfolg geblieben. Durch dieſen Gang
der theoretiſchen Entwicklung hat ſich nun das, für das geſammte Gebiet des
Bevölkerungsweſens maßgebende Reſultat ergeben, daß die Theorie nicht bloß
die eigentliche Bevölkerungspolitik, ſondern auch das Recht der Bevölkerungs-
ordnung entweder ganz vergeſſen hat, wie Gerſtner, der gradezu das Be-
völkerungsweſen in der Verwaltung als „Bevölkerungslehre“ aufführt, oder wie
Rau und Mohl es nur halb oder an verkehrten Stellen beachtet, oder ganz
ad libitum damit verfährt, wie Roſcher. Dieß Recht der Ordnung der Be-
völkerung, das auch mir damals nicht klar war, iſt dadurch faſt ganz in die
Darſtellungen der Verwaltungsgeſetzkunde gefallen. Das iſt gegenwärtig der
Zuſtand, und wohl auch die Charakteriſtik des folgenden Verſuches in Bezug
auf ſeine Geſammtauffaſſung. Daß wir ſehr viel vom Bevölkerungsweſen
wiſſen, aber ſehr wenig Bevölkerungswiſſenſchaft haben, ſcheint jedenfalls klar.
A. Die Bevölkerungspolitik.
derſelben.
Unter der Bevölkerungspolitik verſtehen wir demnach die Verwal-
tung, inſofern ſie ihre Thätigkeit auf die Bevölkerung als Ganzes
und auf diejenigen Geſetze und Verhältniſſe richtet, welche auf die Zu-
nahme und Abnahme der Bevölkerung als ſolcher einen unmittelbaren
Einfluß haben.
Das Princip der Bevölkerungspolitik iſt nun zwar ein ſcheinbar
ſehr einfaches. Dennoch entwickelt es ſich an den gegebenen Verhält-
niſſen nicht bloß zu einem eigenen Syſteme, ſondern dieſe Entwicklung
hat auch ihre eigene Geſchichte, und es iſt nothwendig, die Grundlage
dieſer Geſchichte vor Augen zu haben, um den Gang und Charakter
der einzelnen Maßregeln der Bevölkerungspolitik, ſowie das, was ihren
gegenwärtigen Inhalt bildet, richtig zu beurtheilen.
Daß die Bevölkerung zunächſt rein durch ihre Quantität, durch die
Größe oder Zahl, die Grundlage aller Macht und Entwicklung des
Staates bildet, und daß dieß an ſich leicht verſtändlich iſt, bedarf keiner
weitern Begründung. Allein inſofern wir von dem Staate und ſeiner
Verwaltung reden, erſcheint dieſer Satz in einem etwas andern Licht.
[111] Der Staat als Perſönlichkeit kommt zu dieſem Satze immer erſt unter
zwei Vorausſetzungen. Erſtlich muß es einen ſelbſtändigen, von der
Verſchmelzung mit der Geſellſchaftsordnung gelösten Staat und mit
ihm eine ſelbſtändige Verwaltung geben, und zweitens muß dieſe Ver-
waltung durch den Mangel der Bevölkerung den Werth der Quantität
derſelben fühlen. Die Bevölkerungspolitik unterſcheidet ſich daher we-
ſentlich von den übrigen Gebieten der Verwaltung. Sie exiſtirt weder
urſprünglich, noch iſt ſie immer vorhanden. Sie beruht nicht auf dem
Weſen und Belegniß der Perſönlichkeit, ſondern hat ihre eigene Geſchichte.
Es ergibt ſich nämlich zuerſt, daß es in denjenigen Staatsformen,
welche noch unter der Herrſchaft der Geſchlechterordnung und der ſtän-
diſchen Ordnung ſtehen, gar keine Bevölkerungspolitik gibt und geben
kann — was natürlich die Bevölkerungslehre ſo wenig ausſchließt, als
die Entwicklung eines vollſtändigen Rechtsſyſtems für die Bewegung der
Bevölkerung im Einzelnen, noch auch die theoretiſche Beſchäftigung der
Staatskunſt mit der Bevölkerungsfrage. Die Bevölkerungspolitik hat
die ſelbſtändig gewordene Staatsidee zur Vorausſetzung; und da dieſe
Selbſtändigkeit erſt im Königthum verwirklicht wird, ſo ergibt ſich, daß
die eigentliche Bevölkerungspolitik erſt unter dem Königthum mög-
lich iſt.
Zweitens aber folgt aus dem Weſen derſelben, daß ſie auch unter
dem Königthum nicht ſofort mit der ſelbſtändigen Gewalt deſſelben ent-
ſteht, ſondern erſt dann, wenn die Zahl der Bevölkerung als Bedingung
für die Zwecke des Königthums erſcheint. Der nächſte Zweck, in
welchem das Königthum das Vorhandenſein der Zahl als Bedingung
für ſeine Macht erkennt, iſt ohne Zweifel die militäriſche Macht; an ſie
ſchließt ſich die Steuerkraft, um jene zu erhalten. Die Bevölkerungs-
politik entſteht daher auch unter dem ſelbſtändigen Königthum erſt da,
wo es in dem Mangel an Bevölkerung den Grund des Mangels mili-
täriſcher Kraft und an Einnahmen für dieſelbe erkennt. Und aus dem-
ſelben Grunde iſt naturgemäß der Inhalt aller Bevölkerungspolitik im
Anfange derſelben ſtets das Streben nach Vermehrung der Bevöl-
kerung durch die Maßregeln der Verwaltung.
Aus dieſer natürlichen Geſtalt der erſten Bevölkerungspolitik ergibt
ſich auch der Inhalt derſelben. Die Verwaltung arbeitet in dem Be-
wußtſeyn, es nur mit dem Ganzen zu thun zu haben. Sie überläßt
den Einzelnen ſich ſelber. Sie verſucht daher ihren Zweck, die Ver-
mehrung der Bevölkerung, durch Mittel zu verwirklichen, welche ſich
eben nur auf die Zahl derſelben beziehen. Dieſe ſind nun: Beförde-
rung der Kindererzeugung, der Ehen, der Einwanderung und
Verhinderung der Auswanderung. Die Geſammtheit der für die
[112] Vermehrung der Bevölkerung in dieſen vier Punkten geſetzten Maßregeln
bilden das erſte Syſtem der Bevölkerungspolitik der Staatsverwaltung.
Man kann im Allgemeinen ſagen, daß dieß Syſtem in der Mitte des
17. Jahrhunderts beginnt, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts aus-
ſchließlich herrſcht, und von da an ſich noch in einzelnen bedeutenden
Maßregeln erhielt.
Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts tritt dieſem Streben nun
die Induſtrie mit der Thatſache der örtlichen Uebervölkerung durch An-
häufung von Arbeitern auf einzelnen Punkten entgegen, und theils dieſe
Thatſache, theils auch das Entſtehen der Verſicherungsgeſellſchaften,
welche das Leben der Bevölkerung als Ganzes betrachten und zu be-
trachten gezwungen ſind, erzeugte diejenige Wiſſenſchaft, welche wir die
Bevölkerungslehre nennen. Sie iſt bei allen Mängeln, die ſie
hatte und hat, dennoch von entſcheidendem Einfluſſe auf die Bevöl-
kerungspolitik Europas im Ganzen, und der einzelnen Staaten im Be-
ſondern geweſen, weſentlich deßhalb, weil ihre Reſultate ſich in höchſt
einfachen, gemeinverſtändlichen Sätzen zuſammenfaſſen ließen und daher
ein großes und gemeinſames, für die Bevölkerungspolitik im Ganzen
entſcheidendes Reſultat hervorriefen. Man beurtheilt dieſen Einfluß am
beſten, indem man jene Sätze an die Namen ihrer Hauptvertreter knüpft.
Während Montesquieu die Zunahme der Bevölkerung von dem Zuſtande
der Verfaſſung und Verwaltung abhängig macht, und Süßmilch bei
aller Energie, mit der er die Vermehrung der Bevölkerung für eine
Hauptaufgabe des Staats erklärt, doch zuerſt die objektiv gültigen Ge-
ſetze der Bewegung der Bevölkerung auf beſtimmte Zahlen und Ta-
bellen reducirt, ſtellt Adam Smith den Grundſatz auf, daß nur da,
wo ein Lohn iſt, der Arbeiter geboren werde, um den Lohn zu verdienen,
und auch Malthus endlich wird, ganz abgeſehen von ſeiner Theorie
ſelbſt, dennoch das Princip anerkennen, daß jene Geſetze der Bewegung
der Zu- und Abnahme der Bevölkerung nicht bloß durch die Aufſtellung
der mehr oder weniger durchgreifenden Maßregeln der Verwaltung be-
herrſcht werden können, ſondern als abſolute Geſetze in dem Weſen des
perſönlichen und natürlichen Lebens und ihrem Gegenſatze ſelbſt liegen.
Zwar nimmt Juſti gleichzeitig die ganze Bevölkerungslehre ſyſtematiſch
in die Staatswiſſenſchaft auf und gibt ihr in der Polizeiwiſſenſchaft
ihre Stelle. Allein das Auftreten der ſelbſtändigen Bevölkerungslehre,
verbunden mit der Thatſache, daß die wirklichen Maßregeln der Ver-
waltung doch zuletzt ziemlich ohne allen allgemeinen Einfluß ſeyen, er-
zeugte doch zuletzt die Grundanſicht, daß jede Verwaltung unfähig ſey,
einen unmittelbaren Einfluß auf die Bevölkerung zu nehmen, ſondern
daß jede Sorge für die Bevölkerung in ihrer quantitativen Bewegung
[113] nur in der Sorge für die geiſtigen, volkswirthſchaftlichen und ſtaatlichen
Bedingungen liege, unter denen ſich die Bevölkerung vermehre oder
vermindere. Das Beſtreben, Vermehrung und Verminderung der Be-
völkerung durch die Verwaltung erzielen zu wollen, verſchwindet daher
mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber nachdem nach Juſti’s
Vorgange das Bevölkerungsweſen einmal in die Polizeiwiſſenſchaften
aufgenommen iſt, erhält es ſich auch darin, und um einen Inhalt zu
haben, erfüllt es ſich ſtatt mit der alten Theorie der Volksvermehrung,
die verſchwunden iſt, jetzt mit den Grundſätzen der Bevölkerungslehre
ſelbſt, in ähnlicher Weiſe, wie man bei den ſog. Cameralwiſſenſchaf-
ten die Nationalökonomie in die Verwaltungslehre aufnahm. So ſehen
wir mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts in der Polizeiwiſſenſchaft ſtatt
einer Lehre von der Verwaltung der Bevölkerung vielmehr die Bevöl-
kerungslehre ſelbſt erſcheinen, ein ſyſtematiſcher Widerſpruch, der zur
Folge hatte, daß ſie von andern auch in die Nationalökonomie aufge-
nommen, von noch andern ganz weggelaſſen ward, während ſie ſelbſt,
unbekümmert um ihre ſyſtematiſche Stellung, daneben ihren eigenen
Weg ging, und ſich zum Theil auch wieder — zum drittenmale —
in der Statiſtik Raum ſchaffte. Das wunderliche Verhältniß, das ſich
daraus ergab, und das noch gegenwärtig dauert, nach welchem nämlich
vermöge der Bevölkerungslehre nachgewieſen wird, daß die Verwaltung
für Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung eben nichts un-
mittelbar leiſten könne, während unmittelbar darauf geſagt wird, was
ſie alles trotzdem leiſten ſolle, beſteht zum Theil noch fort. Der größte
Uebelſtand dabei aber war, daß man vermöge jenes Verhältniſſes über-
ſah, wie die oben erwähnten Theile der poſitiven Bevölkerungspolitik,
Kindererzeugung, Ehen, Einwanderung und Auswanderung, durch das
richtige Verſtändniß der Bevölkerungslehre in der Praxis ihren Charakter
änderten. Sie blieben nach wie vor Gegenſtände der Verwaltung der
Bevölkerung und werden es beſtändig bleiben. Allein man faßte ſie in
der wirklichen Verwaltung nicht mehr auf als Mittel zur Vermehrung
oder Verminderung der Bevölkerung, ſondern die Verwaltung ſuchte
jetzt ihnen eine Ordnung zu geben, in welcher die Einzelintereſſen mit
den Geſammtintereſſen in Harmonie gebracht werden können, oder, um
unſere Auffaſſung beizubehalten, man machte aus ihnen ſtatt einer Be-
völkerungspolitik ein Bevölkerungsrecht. Das iſt das gegenwärtige
praktiſche Verhältniß. Und die folgende kurze Darſtellung wird zeigen,
daß dies rechtliche Moment jetzt das entſcheidende iſt.
Faſſen wir nun dies zuſammen, ſo müſſen wir ſagen, daß es in
unſerer Zeit in dem alten und eigentlichen Sinne, nach welchem Ver-
mehrung und Verminderung der Bevölkerung Aufgabe der Verwaltung
Stein, die Verwaltungslehre. II. 8
[114] iſt, gar keine Bevölkerungspolitik mehr gibt, und daß an ihre
Stelle die Bevölkerungslehre getreten iſt, welche die Bevölkerung
als die allgemeinſte perſönliche Thatſache des Staatslebens in ihrer
Bedeutung und ihren Geſetzen für ſich zu behandeln hat. An die
Stelle der alten Bevölkerungspolitik iſt der Grundſatz getreten, daß der
Einfluß des Staats auf Abnahme und Zunahme der Bevölkerung künftig
nur in dem Einfluß auf die Bedingungen dieſer Ab- und Zunahme,
der Geſammtheit aller Lebensverhältniſſe, liege, und daß die Zahl wie
die Dichtigkeit der Bevölkerung ſich von ſelbſt nach eben dieſen Be-
dingungen ordne. Alle unmittelbare Thätigkeit der Verwaltung gegen-
über der Bevölkerung erſcheint daher jetzt nur noch als Bevölkerungs-
recht; und wenn wir daher noch eine Scheidung zwiſchen den Maß-
regeln der Bevölkerungspolitik und des eigentlichen Bevölkerungsrechts
aufrecht halten, ſo geſchieht es in dem Sinne, daß die vier Objecte der
Bevölkerungspolitik durch ihre eigene Natur mit der Vermehrung
und Verminderung der Bevölkerung in Verbindung ſtehen, während die
übrigen Gegenſtände des Bevölkerungsrechts mit dieſer Bewegung nichts
zu thun haben. Außerdem aber gehören gerade jene Gebiete der Be-
völkerungspolitik zu den Theilen des Verwaltungsrechts, die an ſich,
durch ihre Geſchichte und ihre gegenwärtige Stellung, ein nicht geringes
eigenes Intereſſe darbieten.
Für die Beurtheilung der Literatur und Geſetzgebung der Gegenwart iſt
es vom größten Werthe, die Maſſe deſſen, was in Beziehung auf die Bevöl-
kerungspolitik gearbeitet wird, auf möglichſt klare Kategorien zurückzuführen,
welche das ganze Gebiet umfaſſen, und auf welche man alle Arbeiten zurück-
führen muß. Dieſe Kategorien ſind: die ziffermäßige Statiſtik der Bevöl-
kerung für ſich, dann die Geſetze der Bewegung der Bevölkerung oder des
Wechſels ihrer Zahl, und endlich die Frage nach der Aufgabe der Verwaltung
gegenüber dieſen Thatſachen. Denn es leuchtet wohl ein, daß mit dieſen Punkten
ſo ziemlich alle Seiten der Frage wirklich erſchöpft ſind.
Man kann nun, wie wir glauben, die ganze Auffaſſung des Bevölkerungs-
weſens in drei große Grundformen ſcheiden, die natürlich im engſten Zuſammen-
hange mit einander ſtehen, aber dennoch ihre weſentlich verſchiedenen Standpunkte
klar genug zeigen.
Die erſte iſt die rein volkswirthſchaftliche der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts, die namentlich von den Engländern vertreten iſt. Die zweite
iſt die ſociale, die mit Montesquieu beginnt, aber ſchon durch Süßmilch in
die politiſche Arithmetik hinüber geführt wird. Die dritte iſt die eigentlich po-
pulationiſtiſche, welcher das Verſtändniß deſſen zum Grunde liegt, was wir
am beſten mit einem Worte die Phyſiologie der Bevölkerung nennen.
Die erſte Epoche oder Geſtalt iſt von den Engländern vertreten, deren
Arbeiten von hoher Bedeutung ſind. Sie beruhen auf der Ueberzeugung, daß
[115] die Zahl der Bevölkerung die Grundlage der Produktivität eines Volkes ſei und
daß man daher mit Berechnung der Bevölkerung zugleich die Baſis des Volks-
reichthums habe. Aus dieſer Auffaſſung gingen die Arbeiten von Petty,
Graunt, ſeinem großen Nachfolger King, den man als den Vater der
politiſchen Arithmetik bezeichnen kann, und ſeinen Interpretator Davenant
hervor, deſſen Werk: An essay upon the probable methods of making a
people gainers in the bargains of trade Lond. 1699 alle bisherigen Berech-
nungen zuſammenfaßte, und ſchon damals zu dem Schluß kam: „das Volk oder
die Unterthanen eines Landes ſind die erſte Materie der Macht und auch des
Reichthums deſſelben“ — die erſte Bedingung zur Erreichung einer großen
Bevölkerung aber ſeine „liberty and property.“Süßmilch hat ihn ſehr ſtark
benützt, und gewiß hat auch Montesquien unter ſeinem mächtigen Einfluß ge-
ſtanden. (Süßmilch I. §. 277. II. 552—560.) Wir müſſen der Ueberzeugung
ſein, daß die Darſtellung dieſer erſten populationiſtiſchen Frage eine reiche Quelle
auch für die Geſchichte der Statiſtik bieten würde, um ſo mehr, als ihr Einfluß
bis auf Malthus ein vorherrſchender geweſen iſt, wenn auch Montesquieu und
die Deutſchen einen andern Geſichtspunkt herbeibringen.
Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt nämlich allerdings eine
neue Richtung. Man muß Montesquieu ohne allen Zweifel als denjenigen
betrachten, der das Bevölkerungsweſen zuerſt vom höheren ſtaatswiſſenſchaftlichen
Standpunkt aufgefaßt hat; und auch jetzt noch wird niemand ſeine Arbeit ohne
Nutzen leſen. Er widmet ihm das XXIII. Buch. Es iſt bemerkenswerth, daß
nicht bloß das vorige, ſondern auch das gegenwärtige Jahrhundert auf ihn ſo
wenig Rückſicht genommen hat. Vielleicht daß die Einſeitigkeit der Nachfolger
das am beſten erklärt. Montesquieu braucht nämlich noch nicht den Ausdruck
Population, ſondern faßt das Bevölkerungsweſen ſogleich von dem letzten der
obenerwähnten drei Geſichtspunkte, dem rein adminiſtrativen, auf. (Des lois
dans le rapport qu’elles ont avec le nombre des habitants.) Es iſt die
erſte adminiſtrative Bevölkerungspolitik, die wir beſitzen, und die ſich namentlich
auf die alte Ehegeſetzgebung bezieht (vorzugsweiſe Ch. 21, römiſche Ehegeſetz-
gebung). Sein Ergebniß iſt principiell, daß „die Bevölkerung von dem Zuſtand
der Geſetzgebung abhängt“ — wobei er aber in der That doch nur an diejenige
Geſetzgebung denkt, welche ſich auf die Vertheilung des Grundbeſitzes bezieht.
(Ch. XV. Lorsqu’il y a une loi agraire, et que les terres sont également
partagées, le pays peut être tres peuplé quoiqu’il y ait peu d’arts.) Er
erkennt mit ſeinem Jahrhundert, deſſen Charakter er allerdings in der Depopu-
lation ſucht, die Größe der Bevölkerung als einen hochwichtigen Faktor des
Wohlſeins an, und gelangt Ch. 28 zu dem Satz: die Regierungen mußten,
um die Bevölkerungen zu heben, „distribuer les terres à toutes ces familles
qui n’ont rien leur procurer les moyens de les défricher et de les cultiver.“
Das war in der That ein bedeutſames Urtheil nicht ſo ſehr über die Geſetz-
gebung an ſich, als vielmehr über das Verhältniß der ſtändiſchen Geſellſchafts-
ordnung und namentlich der Patrimonialherrſchaft zur Bevölkerung; ohne es zu
wiſſen, begründete Montesquieu hier den wichtigen Satz, daß die Unbeweg-
lichkeit der Vertheilung des Grundbeſitzes die Unbeweglichkeit
[116] der Bevölkerung erzeugt, und daß daher die Entwicklung der Bevölke-
rung weſentlich von der geſellſchaftlichen Ordnung abhängt — nicht durch ihr
ſociales Princip an ſich, ſondern durch die aus demſelben folgende Verthei-
lung des Beſitzes. Es iſt höchſt bezeichnend für die folgende Literatur und für
die unſeres Jahrhunderts, daß nicht einmal Roſcher und ſelbſt nicht Mohl
in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaft (Bd. III. XVI: Geſchichte
und Literatur der Bevölkerungslehre) auf dieſen ſo bedeutſamen Standpunkt
Montesquieu’s irgend welche Rückſicht nehmen; ja ſie führen ihn gar nicht ein-
mal an. Dennoch hat er im vorigen Jahrhundert weſentlich auf die Auffaſ-
ſungen eingewirkt. Freilich hat er keine Ziffern angegeben, und iſt daher direkt
mit ſeinen Nachfolgern nicht zu vergleichen. Denn mit Süßmilch in ſeiner
„Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menſchlichen Geſchlechts“ (erſte
Ausgabe 1761) beginnt eine weſentlich neue Richtung, obgleich er Montesquieu
noch vollſtändig zu würdigen weiß. Süßmilch iſt nämlich der erſte, der auf
Grundlage ziffermäßiger Angaben dasjenige aufzuſtellen ſucht, was wir die
natürlichen Geſetze der Bewegung der Bevölkerung nennen. Er begründet da-
mit die ſtatiſtiſche Richtung der Bevölkerungslehre, die alsbald zu einer
gewaltigen, ſelbſt die Malthus’ſche Bewegung überdauernden Geltung und Aus-
dehnung gelangt. Seine Bedeutung in dieſer Beziehung iſt weder von Mohl
noch von andern gehörig gewürdigt, und es iſt ein ächt deutſches Schickſal, daß
Malthus, ohne den alle Deutſchen vom Bevölkerungsweſen gar nicht reden zu
können glauben, ſeinerſeits faſt keine Seite ſchreibt, ohne auf Süßmilch zu-
rückzugreifen. Süßmilch hat mit ſeinen Gedanken die ganze Hälfte des vorigen
Jahrhunderts beherrſcht, und Mohl hat das in ſeiner Geſchichte der Literatur
wieder ganz überſehen, denn erſt in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts
beginnt die neue, rein ſtatiſtiſche Richtung der Bevölkerungslehre, welche,
mit Bikes, Caſpar, Bernoulli und Moſer ſich auf die rein mathematiſche
Berechnung des Durchſchnitts beſchränkt, und jeden weitern Geſichts-
kreis, den nationalökonomiſchen und am meiſten den adminiſtrativen, zur Seite
ſchieben. Durch ſie iſt die Bevölkerungslehre großentheils in die Mathematik
gefallen, nicht durchaus zu ihrem Vortheil, und umſonſt hat Quetelet, der-
jenige unter den Statiſtikern, der den höhern Auffaſſungen ihr Recht faſt allein
zukommen läßt, an einem weiteren Geſichtskreis feſtgehalten, indem er den Men-
ſchen nicht als eine ziffermäßige, ſondern als eine lebendige Thatſache erfaßte
und maß. Es war ein Uebelſtand, daß er ſein „Système social“ (1857)
ſchrieb, ohne ſich über das, was er als „social“ bezeichnet, recht klar zu ſein.
Jedenfalls iſt die ſtatiſtiſche Bewegung mit ihrem ſtreng ziffermäßigen, auf Ta-
bellen ſich reducirenden, großen aber einſeitigen Werth durch Süßmilch be-
gründet; aber ſie iſt nicht von ihm in dieſer Beſchränkung aufgefaßt. Er begriff
das Bevölkerungsweſen noch zugleich als einen Gegenſtand der Verwaltung,
und während er in Cap. X. „Von der Bevölkerung eines Staats als nothwen-
diger Pflicht eines Regenten“ ſpricht, indem „jeder Unterthan einen gewiſſen
Werth hat, und der Staat durch ihn gewinnt oder verliert“ (§. 209), geht er
ſo weit, in §. 215 „Vier Hauptregeln“ anzunehmen, durch welche die Verwal-
tung die Bevölkerung befördern kann: 1) Beförderung der Ehen; 2) der ehelichen
[117] Fruchtbarkeit; 3) der Erhaltung der Menſchen; 4) Herſtellung einer klugen
Regierungsform. Im zweiten Theil Cap. XV. nimmt er dann den Ge-
danken Montesquieu’s auf, daß die Bevölkerung mit der geſellſchaftlichen Ver-
theilung des Beſitzes innig zuſammenhänge. (Von den Ackergeſetzen der alten
Römer und der klugen Vertheilung des Landes, als dem Grunde ihrer Macht
und ihres Anſehens.) In Cap. XVI. („Vortheile der Fabriken in Anſehung
der Bevölkerung“) entwickelt er dagegen mit vollkommen richtigem Verſtändniß
den Satz, der durch Adam Smith in die europäiſche Literatur überging, und
deſſen erſte Begründung durch einen Deutſchen wieder die Deutſchen vergeſſen
haben, daß nämlich die Zunahme der Bevölkerung auf dem Arbeitslohne
beruhe. Das nun, was hier in einzelnen, wenig zuſammenhängenden Capiteln
dargeſtellt wird, wird faſt gleichzeitig von einem nicht minder bedeutenden deut-
ſchen Manne, J. H. G. Juſti (1. Aufl. 1760) ſyſtematiſch verarbeitet. Man
muß Juſti unbedingt als den erſten Theoretiker über die Verwaltung der Be-
völkerung anerkennen. Während Montesquieu die Bewegung derſelben auf die
Verfaſſung zurückführt, ſtellt Juſti dagegen das erſte und gut überlegte Syſtem
der adminiſtrativen Thätigkeit für die Bevölkerung auf (I. Band, 2. Buch);
nach ihm beſteht die Grundlage dieſer Thätigkeit theils in einer guten Regierung
(„Grundreguln der Bevölkerung“), theils in der Beförderung des Eheſtandes;
theils beruht ſie auf polizeilichen Geſetzen (namentlich wieder Eheſtandsgeſetzen),
theils auf Veranlaſſung zur Einwanderung. Er weiß dabei ſehr wohl, was
für die Zählung nothwendig iſt (ſ. unten), und es läßt ſich kaum leugnen, daß
er im Allgemeinen nicht unter der heutigen Behandlung der Frage ſteht. So
war mit dieſen drei Männern die Grundlage der Bevölkerungslehre gelegt, und
namentlich die Verbindung derſelben auch mit der Nationalökonomie geſichert.
Das Geſammtreſultat dieſer Auffaſſungen iſt der Satz, daß „ein Staat nie zu
viel Einwohner haben könne“ (Juſti) und daß „die Glückſeligkeit der Menge
des Volks proportionirt ſei“ (Süßmilch). Dieſen Satz, den wir (ſ. oben) ſchon
vor Montesquieu von den Engländern vom rein volkswirthſchaftlichen Stand-
punkt ſo energiſch ausgeſprochen finden, hat man nun (nach Mohl 1. 1. 470)
rein als einen populationiſtiſchen, ja als einen für die Wiſſenſchaft „demüthi-
genden“ erklärt. Es gibt keine einſeitigere Auffaſſung. Jene Ueberzeugung
ging den Deutſchen vielmehr aus der klaren Erkenntniß hervor, die ſchon Mon-
tesquieu ausſpricht, daß die ſtrenge ſtändiſche Ordnung theils durch die große
Ungleichheit der Vertheilung des Grundbeſitzes, theils durch die, mit der Grund-
herrlichkeit verbundene ſchlechte „Regierung“ die Bevölkerung zurückhalte; daß
der Mangel an Bevölkerung ein ſocialer Zuſtand ſei, daß die Vermehrung
der Bevölkerung nur als Vermehrung des Bürgerthums gedacht werden
könne, und daß daher dieſe Vermehrung ein Segen für die Staaten ſei.
Daher vor allen Dingen jenes Drängen nach Bevölkerung, als der Ausdruck
des Wunſches nach der materiellen Baſis der neuen ſocialen und freien Ordnung,
die man mit richtigem Verſtändniß in der Zahl der Menſchen fand; und darum
konnte die Annahme jener Grundſätze keinem Zweifel unterliegen. In dieſe
Bewegung tritt nun der Anfang der dritten großen Epoche, eine zweite Auf-
faſſung hinein, die wir die populationiſtiſche nennen, obwohl ſie in ihrem
[118] tiefern Weſen wieder eine ſociale iſt. Das war der Gedanke Malthus, das
erſte, und gleich in ſeiner erſten Form in großartiger Entwicklung erſcheinende
Auftreten der Uebervölkerung. Die Theorie Malthus iſt zu bekannt, als
daß wir ſie hier zu wiederholen brauchten. Malthus ſteht allerdings keines-
wegs allein da. Schon vor ihm war die Beſorgniß vor der Uebervölkerung in
England vorhanden: Roſcher, Geſchichte der engliſchen Volkswirthſchaftslehre,
St. 24 und öfter, und auch Quesnay, Max. gen. 26, hält bereits den
Werth einer geringern, aber wohlhabenden Bevölkerung höher, als den einer
Vermehrung derſelben. Allein das ihm wahrhaft Eigenthümliche und im Grunde
Furchtbare hat man wenig hervorgehoben. Es war der Satz, daß nicht etwa,
wie man gewöhnlich etwas oberflächlich ſagt, die Menſchheit im Ganzen, ſon-
dern daß innerhalb der Menſchheit die nichtbeſitzende Claſſe zur Ver-
nichtung durch Hunger von den ewigen und unwandelbaren Geſetzen der
Bevölkerungsproduktion verurtheilt ſei. Es war das in der That die Form,
in der die Gegenſätze zwiſchen den Claſſen und der neuen ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft in der Bevölkerungslehre zur Erſcheinung, und mit der letzteren
auch plötzlich zur Geltung gelangten. Und nur aus der tiefen, innern Ueber-
zeugung von der Wahrheit dieſer Herrſchaft des ſocialen Geſetzes über die Be-
völkerung und ihre Zunahme und Abnahme ergibt ſich denn auch die Stellung,
welche Malthus zu der alten Bevölkerungspolitik einnimmt. Er verneint ſie
geradezu; „das Beſte iſt, uns gar nicht damit zu mühen, dem Men-
ſchen in dieſer Beziehung eine Richtung geben zu wollen, ſondern den Menſchen
frei nach eigener Wahl handeln zu laſſen. Indem wir ihn ſelbſt dafür
verantwortlich machen vor Gott, thun wir alles, was ich fordern kann.“
(Essay on popul. VI. chap. 5.) Das war die an ſich vollkommen conſequente
Antwort der freien Populationiſtik auf die Forderung nach Freiheit und Gleich-
heit, auf die Forderung nach Anerkennung der Induſtrie und der Entfaltung
der gewerblichen Produktion; es war das mathematiſch nachgewieſene Ende der
Bewegung, die in der freien Selbſtbeſtimmung die Zukunft der Menſchheit
fand. Allerdings ſagte Malthus nicht, daß der Hungertod der nichtbeſitzenden
Claſſe die Folge ſei, und allerdings wiederholten ſeine Anhänger, daß er im
Gegentheil nachgewieſen habe, daß trotz ſeines Geſetzes jenes mathematiſch
nothwendige Sterben des Ueberſchuſſes ja noch gar nicht eingetreten ſei. Allein
mit Recht antwortete man ihm, daß nach Malthus eigener Anſicht die Ur-
ſache, weßhalb ſich das alles nicht verwirkliche, nicht etwa in ſeinem Bevölke-
rungsgeſetz, ſondern in ſeinen „Hinderniſſen“ liege, die eben ſo ſchlimm ſeien
als der Hungertod, deſſen Nothwendigkeit er bewieſen habe. Und ſo ſteht die
Theorie von Malthus an der Schwelle der Epoche, welche wir die der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft nennen, als Vertreter der populationiſtiſchen
Conſequenzen der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit und Freiheit, und
des zweiten, für die eigentliche Verwaltung dieſes Gebietes geltenden Grund-
ſatzes, daß der Staat ſich in dieſe Bewegung ſo wenig als möglich miſchen
ſolle. In dieſen beiden Punkten liegt die wahre Bedeutung dieſer Theorie,
und der ungemeine Einfluß, den ſie auf den Gang der Ideen dieſes ganzen,
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft angehörigen Jahrhunderts gehabt hat. Und
[119] darin, und nicht in den einzelnen Sätzen dieſes Theorems, liegt auch die Po-
tenz, welche die wiſſenſchaftlichen und literariſchen Erfolge deſſelben entſchied.
Zuerſt war es natürlich, daß es in dem Maße mehr Aufſehen und Bedenken
erregen mußte, als die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt mit ihren Claſſen-
gegenſätzen in dem Unterſchied von Beſitz und Nichtbeſitz mehr ausgebildet war;
und daher iſt England die Heimath des eigentlichen Kampfes für und gegen
dieſe Theorie, während ſie in Deutſchland und Frankreich zunächſt nur literariſche
Bedeutung gewann, da hier Induſtrie und Arbeit noch weit davon entfernt
waren, ſolche Gefahren zu zeigen. Dennoch mußte ſie zweitens, da ſie denn
doch immer der populationiſtiſche Ausdruck der induſtriellen Bewegung der Be-
völkerung war und blieb, faſt ſofort die ganze alte, oben dargeſtellte, auf den
ſtändiſch-populationiſtiſchen Verhältniſſen beruhende und der Polizeigewalt unter-
worfene Auffaſſung des Bevölkerungsweſens vernichten. Denn während man
in den mathematiſchen Formeln Süßmilchs, wie den abſtrakten Regeln Juſti’s,
es eigentlich nur mit den mathematiſchen und adminiſtrativen Formen des Be-
völkerungsweſens zu thun hatte, tritt uns in Malthus die ganze Gewalt des
herrſchenden Elements der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung, der Beſitz,
und der ganze Ernſt ihres tiefern Inhalts, der Gegenſatz der beſitzenden und
nichtbeſitzenden Claſſe, in der vollen, mathematiſch und ſtatiſtiſch unabweisbaren
Härte eines Geſetzes der Bevölkerung entgegen. Hier ſind es nicht mehr Con-
ſequenzen, ſondern es iſt die lebendige Ordnung ſelbſt, um die es ſich handelt,
und umſonſt war es daher, einfach fortzureden von einer „Glückſeligkeit“, die
ſo ernſte Folgen nach ſich ziehen konnte. Und man konnte das um ſo weniger,
als Malthus nicht, wie Süßmilch und Juſti, bei allgemeinen Sätzen ſtehen
blieb, ſondern mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kenntniß das
Bevölkerungsweſen nach den einzelnen Staaten individualiſirte. Auch das
iſt von den Darſtellern der Malthus’ſchen Lehre immer überſehen; und dennoch
war es gerade das, was dieſe Lehre, wir möchten ſagen in den einzelnen
Staaten heimiſch machte und ihr den theoretiſirenden Charakter wieder nahm,
den die andern Arbeiten ihr gegeben. Natürlich konnten einer ſolchen, für jedes
einzelne Land durchgeführten und doch auf dem Lebensprincip der für alle Län-
der geltenden Geſellſchaftsordnung beruhenden Bevölkerungstheorie die alten
formal gewordenen Kathederregeln nicht Stand halten. Und jetzt tritt der Zu-
ſtand ein, den wir im Text bezeichnet haben. Man vermochte die alten Sätze
Juſti’s nicht wegzuwerfen, und vermochte ſich der neuen von Malthus nicht zu
erwehren. Den wahren Kern der Sache, die Erſcheinung ſocialer Geſetze in
den ziffermäßigen „Geſetzen“ oder Durchſchnitten der Bevölkerungsbewegung
erkannte man aber nicht. Die Folge war, daß, nachdem das Element der
Bevölkerung jetzt definitiv in die Vertheilung der wirthſchaftlichen Güter gelegt
ſchien, die Nationalökonomie künftig die Bevölkerungslehre einſeitig in ſich auf-
nahm, und dazu that denn Say in ſeinem Handbuch den erſten Schritt. Die
Franzoſen ſind ſeit Say in dieſer Bahn geblieben, und ihnen ſind die von der
franzöſiſch-engliſchen Schule abhängigen Deutſchen, namentlich Rau und Roſcher,
gefolgt. Freilich hatten ſie ſo wenig wie Mohl das Verſtändniß der geſellſchaft-
lichen Grundlage der Sache. Allein dennoch war ſeit Juſti die Verwaltung
[120] ein ſelbſtändiger Theil der Staatswiſſenſchaft geblieben, und es kam nur darauf
an, welche Stellung die ganze Lehre in dieſer „Polizeiwiſſenſchaft“ finden werde.
Die ältern, wie Sonnenfels, Fiſcher, Berg, halten ſich noch ſtrenge auf
dem vormalthuſiſchen Standpunkt, und behandeln daher vorzugsweiſe die ein-
zelnen adminiſtrativen Maßregeln für die Vermehrung der Bevölkerung. Son-
nenfels bleibt auch in den ſpätern Auflagen (I. §. 27 ff.) bei dem einfachen
Satze, „daß die Regierung die Bevölkerung auf das Höchſte zu treiben bemüht
ſein ſoll,“ was den Verhältniſſen Oeſterreichs vollkommen entſprach, geht aber
auf keine einzelnen Maßregeln ein, mit Ausnahme der Zählungen. Fiſcher
kommt in ſeiner Cameralwiſſenſchaft (Bd. I.) gar nicht zur Bevölkerungspolitik,
und beſchränkt ſich ſtrenge auf das Ordnungsrecht der Bevölkerung. Berg,
Handbuch II. Theil, „Recht der Bevölkerungspolizei,“ ſieht zwar ſehr wohl,
daß „ein wohlbevölkerter Staat nicht immer vor andern reich, glücklich und
mächtig iſt,“ denn „die Volksmenge thut’s freilich nicht;“ aber „die Bemühungen
der Bevölkerungspolizei können doch dem Staate nie ſchädlich werden“ und
„Uebervölkerung wird nie zu befürchten ſein;“ denn „iſt die Bevölkerung nur
nützlich beſchäftigt, ſo kann man nie ſagen, daß der Staat zu viel bevölkert
ſei.“ Man ſieht hier deutlich den, durch die Polizeiherrſchaft vermittelten Ueber-
gang von der ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Berg namentlich
iſt der Ausdruck der Anſichten, die ſich damals bei Betrachtung der dünnen
Bevölkerung des flachen Landes in Folge der Grundherrlichkeitsverhältniſſe und
der darauf beruhenden Vernachläſſigung des Ackerbaues ziemlich feſtgeſtellt hatten.
Dieſe Anſichten hatte ſchon Hohenthal (de Politia §. 19) ausgeſprochen, und
namentlich Arthur Young in ſeiner „Politiſchen Arithmetik“ S. 74 mit ſpe-
cieller Beziehung auf den Landbau in Frankreich nachgewieſen. Berg bleibt
aber bei dieſen allgemeinen Sätzen ſtehen und geht dann gleich zum Begriff
der Bevölkerungspolitik (bei ihm wie noch jetzt Bevölkerungspolizei) über, deren
Aufgabe er jedoch ſchon nicht mehr in der eigentlichen Beförderung der Zahl
der Bevölkerung, ſondern vielmehr nur in der „Hinwegräumung der Hinderniſſe
der Vermehrung und der Urſachen, welche die Verminderung der Volksmenge
bewirken,“ erkennt (1799, S. 19. 20). Er kennt den Malthus noch nicht. Es
iſt nun ganz erklärlich, daß der letztere nach der zum Theil furchtbaren Ent-
völkerung, die durch die Napoleoniſchen Kriege erzeugt ward, in Deutſchland
anfangs ſo gut als gar keine Beachtung fand. Soden iſt in ſeiner „Bevölke-
rungspolizei“ (Nationalökonomie VII. §. 26) vollſtändig unbedeutend; Jacobs,
deſſen Bücher alle gedruckte Collegienhefte ſind, hat gleichfalls in ſeiner „Poli-
zeigeſetzgebung“ (1809) von dem Bevölkerungsweſen nur das Zählungs-
weſen aufgenommen und die Bevölkerungspolitik lieber ganz weggelaſſen. Pölitz
dagegen (Staatswiſſenſchaft, 1827, Bd. II. Volkswirthſchaftslehre §. 29) erkennt
ſchon die Möglichkeit, daß „der verarmte Theil der Bevölkerung eine Laſt der
Geſellſchaft wird,“ er will alle „künſtlichen Mittel zur Vermehrung der
Bevölkerung“ beſeitigen, fürchtet aber „keine Uebervölkerung;“ er betrachtet
dann in der „Staatswirthſchaftslehre“ §. 7 ff. die einzelnen Maßregeln der Re-
gierung, und wiederholt das Ganze in der „Polizeiwiſſenſchaft“ §. 33. Man
ſieht, daß er die weitere Bedeutung der Frage noch nicht geahnt hat. In der
[121] That tritt, trotz der einſeitigen und zum Theil unanſtändigen Vorſchläge Wein-
holds (Von der Uebervölkerung in Mitteleuropa und deren Folgen, 1827.
Mohl, 1. 1. 490), die eigentliche Frage der Malthus’ſchen Theorie erſt mit der
Julirevolution und dem in ihr gegebenen Siege der induſtriellen Capitalien
über die alten grundherrlichen Ideen in den Vordergrund, und hier muß man
einen Fehler gut machen, den Mohl begangen hat. Die ſyſtematiſche Aufnahme
des Malthus’ſchen Princips in die neue Staatswiſſenſchaft geht von Rau aus
(Volkswirthſchaftslehre §. 111 ff.); obwohl er ſich ſtrenge an die franzöſiſch-
engliſche Bearbeitung hält, und vor allem die Freiheit von polizeilicher Bevor-
mundung urgirt. Er traf mit dem letzten Satze die Tendenzen ſeiner Zeit;
aber die Anſichten Malthus’ vermochte er nicht zu widerlegen, und iſt, indem
er ſie ſyſtematiſch in die Nationalökonomie einführt, zugleich der erſte, der ſie
und ihre mathematiſche Härte umgeht, eine Richtung, in der ihm Roſcher
(a. a. O.) folgt. Rau faßt dann in der Volkswirthſchaftslehre die Bevölkerung
wieder nur als „Zahl der Arbeiter“ auf. (§. 11 ff.) Das ſociale Element ent-
geht ihm ganz. Mohl endlich in ſeiner „Polizeiwiſſenſchaft“ (Bd. I.) berufen
die Sache gründlich zu erforſchen, ſtellt allerdings das erſte Syſtem der Ver-
waltung auf, indem er das „Zählungsweſen“ als vorbereitende Maßregel von
den Maßregeln zur Vermehrung der Bevölkerung und den Maßregeln gegen
Uebervölkerung ſcheidet. Die ſociale Bedeutung der Sache geht ihm jedoch
in der kritiſchen Beleuchtung der einzelnen Regierungsmaßregeln unter, und die
„Maſſenarmuth“ iſt ihm nur ein Theil des Armenweſens. Zu einem Abſchluß
iſt dieſe Theorie nicht gediehen. Daß Mohl in ſeiner Geſchichte auf das von
mir aufgeſtellte Geſetz der Bewegung der Bevölkerung (Syſtem der Staats-
wiſſenſchaft I. S. 112 ff., dem allerdings noch die geſellſchaftliche Seite mangelt und
das daher eine ſehr formale Geſtalt hat), wornach die Gefahr der Uebervölkerung
dadurch organiſch beſeitigt wird, daß die Zunahme der Bevölkerung durch
die arbeitsloſe Einnahme aufhört, und nicht durch die Arbeit an ſich,
ſondern durch die Wechſelwirkung von geſunder und ausreichender Arbeit geregelt
wird, ſo daß ſich die drei mathematiſchen Grundverhältniſſe der Bewegung aller
Bevölkerung, Zunahme, Abnahme und Stillſtand, im Allgemeinen und ſelbſt
örtlich durch die Faktoren: Geſundheit und Quantität der Arbeit und Geſund-
heit des Klimas beſtimmen — keine Rückſicht genommen hat, obwohl es allein
die Bewegung beherrſcht und erklärt, verſteht ſich. Dauernd aber iſt aus
dieſer ganzen, von Malthus hervorgerufenen Bewegung im Gebiete der Ver-
waltung der Bevölkerung eigentlich nur Ein Satz geblieben, den man gegenüber
der Härte der ziffermäßigen Tabellendurchſchnitte und anderſeits in Harmonie
mit der ganzen, von den Eingriffen der „Polizei“ ſich mehr und mehr befreien-
den Richtung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gerne und allgemein annahm:
daß der Staat am beſten thue, wenn er ſich gar nicht um die Bevölkerung
kümmere. Malthus hatte dieſe Beſeitigung der Verwaltung noch auf das Ge-
wiſſen der Einzelnen zurückgeführt; die Neuern dagegen begründen ſie einfach
auf die Geſetze der Bewegung der Bevölkerung, und haben ſich damit, aufrichtig
geſtanden, die Sache bequem gemacht. Denn dieſe Geſetze der Bewegung ſind
eben keine Geſetze, ſondern Durchſchnitte aus ſtatiſtiſchen Beobachtungen,
[122] und mithin nur Wirkungen der Urſachen, aus denen jene ſtatiſtiſchen Thatſachen
entſtehen; und die Frage bleibt, ob dann der Staat als Verwaltung mit
dieſen Urſachen nichts zu thun haben ſolle. So weit nun dieſe Frage auf-
tritt, ſo weit wird ſie im Allgemeinen nur dahin beantwortet, wie es die frühere
Zeit gethan (ſ. oben); die Verwaltung ſoll nicht unmittelbar eingreifen. Allein
in der Ungewißheit, ob man dann die Verwaltung ganz ausſchließen ſolle,
bleibt man nach Mohls Vorgange dabei, die einzelnen der Bevölkerungspolitik
angehörigen Maßregeln zu unterſuchen, und mit Recht; nur ſchiebt man den
Schwerpunkt der Sache mehr und mehr aus der Nationalökonomie und der
ſocialen und adminiſtrativen Frage hinaus in die Statiſtik. Die Ergebniſſe
der letztern ſind es, welche für den Kern der Sache ſeit 20 Jahren als weſent-
lich maßgebend erſchienen. Die geſchmackvollſte Arbeit, welche dieſen, alle
Standpunkte in ſich aufnehmenden und jeden einzelnen ſcharf beleuchtenden, aber
zu keinem einheitlichen und organiſchen Princip für die Verwaltung gelan-
genden Standpunkt unſerer Zeit wohl am beſten und mit großer Umſicht dar-
legt, iſt ohne Zweifel J. Gerſtner, die Bevölkerungslehre (Grundlehre
der Staatsverwaltung II. Bd. 1. Abth. 1864). Das Reſultat iſt, daß die Ver-
waltung im Ganzen den Gang der Dinge nicht ändern könne, und ebenſo
es auch mit Maßregeln für das Ganze nicht verſuchen ſolle; daß dagegen ein-
zelne Maßregeln ihren beſondern Werth behalten. Wir ſtimmen dem natürlich
bei. Aber der weitere Geſichtspunkt, daß die Bewegung der Bevölkerung von
den geſellſchaftlichen Ordnungen abhängt, daß die Bevölkerung der Ge-
ſchlechtsordnung ſtabil iſt, daß die ſtändiſche Ordnung in dem Grade mehr die
Verminderung der Bevölkerung erzeugt, in welchem ſie ſich ſtrengere Unter-
ſchiede bildet, und daß die ſtaatsbürgerliche Ordnung die Vermehrung der
niedern Claſſe und die Verminderung der höhern bedingt — alles auf
die obigen Faktoren von Arbeit in Maß und Art zurückgeführt — wird erſt
künftig die Bevölkerungslehre zu einer organiſchen Wiſſenſchaft machen, und
ſie von der Dienſtbarkeit befreien, in der ſie jetzt zur ziffermäßigen Statiſtik ſteht.
Quetelet hat das in ſeinem Système social geahnt; möge es uns verſtattet
ſein, dieſe Anſchauung hier zu beſtimmter wiſſenſchaftlicher Formel zu geſtalten.
Bevölkerungspolitik.
Es wird ſich aus der obigen Darſtellung ergeben haben, daß der
Standpunkt, den die gegenwärtige Verwaltung in Beziehung auf die
Bevölkerungspolitik einnimmt, ein weſentlich anderer als der des vori-
gen Jahrhunderts iſt. Die Verwaltung will keine unmittelbare
Einwirkung auf die Bewegung der Bevölkerung; ſie ſoll nur noch die
allgemeinen perſönlichen und volkswirthſchaftlichen Bedingungen, unter
denen ſich das richtige Maß der Bevölkerung von ſelbſt herſtellt, ſichern.
Die Frage nach der Ueber- und Untervölkerung (wie ſie neulich Gerſtner
genannt hat) iſt keine Frage für die Verwaltung, ſondern eine ſtatiſtiſch-
[123] theoretiſche Vorausſetzung ihrer Thätigkeit, und dieſe Thätigkeit ſelbſt
ſcheint nun in Folge des obigen Standpunktes zu verſchwinden. Es
muß daher jetzt die Frage entſtehen, ob denn die Verwaltung über-
haupt noch beſtimmte adminiſtrative Aufgaben der Bevöl-
kerungspolitik haben kann?
Dieſe — bisher eigentlich nicht geſtellte — Frage muß nun in
folgender Weiſe beantwortet werden.
Es iſt zuerſt richtig, daß ſich das wahre Maß und die wahre
Vertheilung der Bevölkerung durch die großen organiſchen Geſetze der
Bewegung der Bevölkerung von ſelbſt regelt, und daß es vergeblich und
falſch iſt, auf den Gang dieſer Geſetze einwirken zu wollen.
Die Aufgabe der Verwaltung beginnt dagegen erſt bei den For-
men, in denen ſich dieſe Bewegung äußert. Dieſe Formen ſind: die
Ehen, die Kindererzeugung, die Einwanderung und die Auswanderung.
Die Verwaltung vermag es nun nicht, dieſe Erſcheinungen in der
Weiſe zu beherrſchen, daß durch ſie die Bewegung der Bevölkerung
beſtimmt und beherrſcht werde. Allein ſie vermag es, dieſe Erſcheinun-
gen ſo zu ordnen, daß in ihnen das Einzelintereſſe mit dem Geſammt-
intereſſe in Harmonie ſteht. Die Verwaltung, indem ſie ſich darauf
beſchränkt, muß im Uebrigen von dem Princip ausgehen, daß die Zu-
nahme und richtige Vertheilung der Bevölkerung keine auf dieſelbe ſpe-
ziell berechneten Maßregeln zulaſſe, ſondern einzig und allein durch
das Vorhandenſeyn der allgemeinen Bedingungen der volkswirthſchaft-
lichen Entwicklung erzeugt werde. Es gibt keine andere allgemeine
Bevölkerungspolitik, als die, welche in der rationellen Verwal-
tung überhaupt gegeben iſt.
Dagegen fordert jede jener einzelnen Erſcheinungen ihr eigenes
Recht, wie ſie ihre eigene Geſchichte hat. Es kann daher auch keine
einheitliche Geſetzgebung über die Bevölkerungspolitik geben, und
ſelbſt die Wiſſenſchaft derſelben, ſofern ſie nicht wieder Bevölkerungs-
lehre iſt, hat nur die allen einzelnen Maßregeln gemeinſchaftliche Auf-
löſung derſelben in jenes obige allgemeine Princip zum Inhalt.
Der geſchichtliche Entwicklungsgang der adminiſtrativen
Auffaſſung der Bevölkerungspolitik als Ganzes beruht nun
ohne Zweifel auf dem allgemein durchgreifenden Satz, daß die Zahl der
Bevölkerung erſt dann Gegenſtand der öffentlichen Thätigkeit wird, wenn
die Staatsgewalt ſich des Intereſſes bewußt wird, das ſie an dieſem
Zahlenverhältniß hat. Das aber tritt nur in zwei Fällen ein. Erſtlich
da, wo es ſich um die militäriſche Macht des Staats handelt, zweitens
da, wo die Bevölkerung als Baſis der volkswirthſchaftlichen Kraft
des Staats angeſehen wird. Das erſte fordert wieder eine militäriſche
[124] Organiſation, welche einen regelmäßigen Bedarf von Mannſchaft
für das Heer ſetzt. Das zweite will dagegen, daß die Steuereinnahme
eine regelmäßige werde. Im erſten Fall fordert man die Vermehrung
wegen der Macht, im zweiten wegen des Reichthums. Man muß nun
ſagen, daß die Bevölkerungspolitik, die wir unter den römiſchen Kaiſern
entſtehen und ſeit dem 17. Jahrhundert mit Ludwig XIV wieder auftreten
ſehen, eine militäriſche iſt; daß ſie aber mit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts eine volkswirthſchaftliche wird. Bis zum 19. Jahrhundert aber
bleibt in allen einzelnen Maßregeln noch immer der Gedanke maß-
gebend, daß die Verwaltung denn doch durch ihre Maßregeln wirklich
auf die Bewegung der Bevölkerung einen weſentlichen Einfluß nehmen
könne und ſolle. Erſt mit dem 19. Jahrhundert verſchwindet dieſe Hoff-
nung. Es ergibt ſich daraus, daß, wie es die Natur der Sache for-
dert, die Bevölkerungspolitik ſtets dieſelben Gebiete beibehält
(Ehen, Kinder, Einwanderung, Auswanderung), daß ſie aber ihre
Maßregeln in Princip und Form in Beziehung auf dieſelben weſentlich
ändert. Bis zum 19. Jahrhundert will man jene Erſcheinungen direkt
erzeugen oder hindern; mit dem 19. Jahrhundert will man ſie nur noch
ordnen. Es hat daher die Bevölkerungspolitik in beiden Hauptſtadien
ihrer Entwicklung denſelben formalen Inhalt, aber einen weſentlich
andern Geiſt. Und eine richtige Darſtellung derſelben muß daher die-
ſen Unterſchied unbedingt feſthalten und klar machen. Das iſt es eigent-
lich, was wir für unſere Aufgabe halten. Der große Fehler, den
Mohl begeht und dem Gerſtner ſich gleichfalls nicht entzogen hat,
beſteht darin, dieſen Unterſchied nicht erkannt und feſtgehalten zu haben.
Dadurch iſt ihre Darſtellung bei aller Richtigkeit der einzelnen Angaben
das, was man unpraktiſch nennt; denn nur die Geſchichte iſt wahrhaft
praktiſch. Namentlich Gerſtner verwechſelt die obigen Formen der
Bewegung und die volkswirthſchaftlichen Geſetze derſelben nur zu oft
mit dem, was die Verwaltung ihrerſeits in Beziehung auf jene Er-
ſcheinungen thut oder zu thun hat, und daher iſt auch bei ihm die
Darſtellung des öffentlichen Rechts keine vollſtändige. Wir werden im
Einzelnen darauf zurückkommen.
(Die beiden Gebiete deſſelben, das Recht der Eheconſenſe und das Recht der
Ehebeförderung. — Das hiſtoriſche Princip der Entwicklung dieſes Rechts.)
Die Ehe iſt die natürliche Quelle aller Bevölkerung. Alle Wünſche
und Maßregeln, welche die Zu- und Abnahme der Bevölkerung betreffen,
[125] müſſen ſich daher vor allen Dingen auf die Ehe beziehen. Sie
muß zunächſt und vor allem als das eigentliche Gebiet der Bevölkerungs-
politik und alle andern als ihr untergeordnet angeſehen werden. Das
nun iſt in der hiſtoriſchen Entwicklung der letztern auch wirklich der
Fall. Nur iſt dieß Verhältniß vermöge des allgemeinern Weſens der
Ehe nicht ſo einfach; dieſelbe enthält vielmehr eine Reihe von andern
Beziehungen zugleich, und alle dieſe Beziehungen haben allerdings einen
gewiſſen, mehr oder weniger direkten Einfluß auf die populationiſtiſche
Bedeutung der Ehe. Es hat daher für die Theorie von jeher große
Schwierigkeit gehabt, die Ehe und das Eherecht einmal aus dem reinen
Standpunkt der Bevölkerungspolitik zu betrachten, obwohl die Geſetz-
gebung dieß recht wohl verſtanden hat. Wir finden vielmehr in der
Theorie eine faſt durchgreifende Vermengung der verſchiedenſten Dinge,
ſelbſt wo es ſich um die ſpecielle Beziehung der Ehe zur Bevölkerung
handelt, und daher auch keine klare Ueberſicht über das, was wir das
Syſtem des öffentlichen Eherechts nennen. Trotz der Abneigung unſerer
Zeit, bei entſchiedener Forderung nach definitiven Reſultaten in allen
andern Wiſſenſchaften feſte Begriffsbeſtimmungen gerade in der Staats-
lehre annehmen zu wollen, müſſen wir dennoch darauf beſtehen, daß
man auch hier dieſelben anerkenne. Denn ohne ſie gibt es nun einmal
keine Wiſſenſchaft.
Die Ehe iſt zuerſt ein phyſiologiſches, dann ein ethiſches und end-
lich ein privatrechtliches Verhältniß. Das erſte enthält die organiſche
Einheit der Einzelnen durch das natürliche Element des Geſchlechts,
das zweite dieſelbe durch das geiſtige Element des pſychiſchen Lebens,
das dritte dieſe Einheit durch die Gemeinſchaft des rechtlichen Willens
beider, als Perſönlichkeit ſelbſtändiger Ehegatten. Derjenige Theil dieſer
Gemeinſchaft, der das wirthſchaftliche Leben umfaßt, bildet den volks-
wirthſchaftlichen Begriff der Hauswirthſchaft. Alle dieſe Verhältniſſe,
dem Begriffe der Ehe inwohnend, ſind allerdings von höchſter und un-
bezweifelter Wichtigkeit, aber ſie gehören der Bevölkerungslehre nicht
an; viel weniger der Bevölkerungspolitik. Es hat das ſehr beſtimmte
Gebiet der letztern in hohem Grade verwirrt, daß die Theorie ſich ver-
pflichtet geglaubt hat, jedesmal über jene großen Fragen zu reden, ſo-
wie es ſich um die Ehe als Theil der Bevölkerungslehre gehandelt hat.
Man muß, will man mit der letztern zu einem faßbaren Reſultat ge-
langen, ſich darüber einig werden, daß man innerhalb der Bevölkerungs-
politik die Ehe eben nur von dem Standpunkte aus behandeln ſoll, von
dem ſie der Frage nach den Maßregeln angehört, welche die
Verwaltung vermöge ihrer Beſtimmungen über die Ehe für die
Zunahme oder Abnahme der Bevölkerung ergreift. Die Ehe
[126] als Gegenſtand der Bevölkerungspolitik gehört nur mit dieſen Be-
ſtimmungen der letztern an; und die Geſammtheit der hierauf bezüglichen
Beſtimmungen nennen wir das öffentliche Eherecht.
Steht dieſe Beſchränkung feſt, ſo ergeben ſich zunächſt zwei we-
ſentlich verſchiedene Gebiete dieſes öffentlichen Eherechts (oder des gel-
tenden Eherechts im Verhältniß zur Bevölkerungspolitik) und nicht eines,
wie man bisher angenommen hat. Es frägt ſich nämlich offenbar zu-
erſt, ob die in der Ehe enthaltene Gründung einer Familie als Grund-
lage aller Bewegung der Bevölkerung der ganz freien Selbſtbeſtimmung
der Gatten überlaſſen oder einer Zuſtimmung der Gemeinſchaft unter-
worfen werden ſoll; — es frägt ſich aber zweitens, ob die Gemein-
ſchaft direkte Maßregeln zur Beförderung der Ehen ergreifen ſoll,
um durch die Ehen die Bevölkerung zu vermehren. Es iſt durch-
aus falſch, nur das letztere als Gegenſtand dieſes Theiles der Be-
völkerungspolitik aufzuſtellen. Im Gegentheil iſt der erſte Theil nicht
bloß derjenige, der am erſten entſteht und ſeiner Natur nach ewig
dauern wird, ſondern derſelbe iſt auch praktiſch unendlich viel wich-
tiger als der zweite. Das wirklich geltende öffentliche Eherecht enthält
daher auch zu allen Zeiten die Geſammtheit von Beſtimmungen,
welche in einem gegebenen Zeitpunkte für beide Gebiete des öffent-
lichen Eherechts gelten. Dieſe beiden Gebiete nennen wir nun das
öffentliche Recht der Eheconſenſe und das öffentliche Recht der
Ehebeförderung. Und beide müſſen daher als ein Ganzes betrachtet
werden.
Ohne Zweifel iſt nun dieß Ganze zugleich ein inneres, das heißt,
es iſt ſeinem Weſen nach ein Syſtem. Es iſt daher das dieſes Syſtem
in den verſchiedenen Zeiten beherrſchende Princip feſtzuſtellen, da ſowohl
das Verſtändniß des letztern als des erſtern bisher mangelt.
Die öffentlich rechtlichen Beſtimmungen über beide Gebiete des öffent-
lichen Eherechts nämlich gehen naturgemäß von der Gemeinſchaft ſelbſt
aus. Sie werden daher auch natürlich von der Geſtalt, der Ordnung,
dem Lebensprincip eben dieſer Gemeinſchaft beſtimmt und beherrſcht ſein.
Sie werden daher einen immanenten Theil des Rechts derſelben bilden. Dieß
Recht der Gemeinſchaft aber iſt ſeinerſeits wieder nothwendig der Aus-
druck der Geſellſchaftsordnung, welche ſich ihre Gemeinſchaft oder
ihren Staat bildet. Und wie wir daher im Allgemeinen ſagen, daß
jede Geſellſchaftsordnung eine nur durch ihr eigenes Weſen verſtändliche
Verwaltung ſich erzeugt, ſo hat auch jede Geſellſchaftsordnung das ihr
eignende, auf ihr beruhende Eherecht überhaupt und ſpeciell das
ihr entſprechende öffentliche Eherecht gebildet. Jedes poſitive öffent-
liche Eherecht, oder ſpeciell jedes Eheconſens- und jedes Ehebeförderungs-
[127] und Verbotsrecht muß daher auf die geſellſchaftliche Grundlage zurück-
geführt und durch ſie erklärt werden; denn der Staat iſt weſentlich der
perſönliche Vertreter der geſellſchaftlichen Organiſation. Man wird bei
genauerer Betrachtung ſogar finden, daß jede Geſellſchaftsordnung
nicht bloß ihre eigenthümliche rechtliche, ſondern auch ihre eigen-
thümlich ethiſche Auffaſſung der Ehe hat, die, durch das Unwandel-
bare im Weſen der Perſönlichkeit an ſich unwandelbar gegeben, den-
noch ſtets den Ausdruck des Geiſtes der Geſellſchaftsordnung in einem
hochwichtigen Punkte bildet. Und ſomit wird es denn auch wohl nicht
bezweifelt werden, daß endlich auch die Geſchichte des Eherechts im
Allgemeinen und die Geſchichte des öffentlichen Eherechts im Be-
ſondern nur auf der hiſtoriſchen Entwicklung der Geſellſchaftsordnung
beruhen kann.
Dies nun iſt unſer Standpunkt. Wir müſſen die bisherige Be-
handlung des Gegenſtandes deßhalb für eine einſeitige halten. Das
Folgende ſoll den Verſuch machen, die organiſche Auffaſſung an die
Stelle der kritiſch-adminiſtrativen zu ſetzen, wie ſie gegenwärtig noch
vorliegt.
Wir haben den obigen Standpunkt hervorgehoben, weil für die bisherige
Behandlung des öffentlichen Eherechts zwei Dinge charakteriſtiſch ſind; zuerſt
der Mangel einer hiſtoriſchen Auffaſſung, und dann die höchſt einſeitige Behand-
lung des Rechts der Eheconſenſe. Das was die hiſtoriſche Behandlung vertritt,
beſteht in dem einfachen Anführen hiſtoriſcher Beiſpiele, namentlich aus dem
römiſchen Recht, mit dem Montesquieu voranging, das aber ſchon bei Süß-
milch wieder in den Hintergrund tritt, bei Juſti ganz verſchwunden iſt. Die
ſpätere, gegenwärtig namentlich bei Roſcher vorhandene Form bloßer Samm-
lungsnotizen hat natürlich wenig wiſſenſchaftlichen Werth. — Den Grund daher,
daß man das ganze ſo wichtige Gebiet der Eheconſenſe, das ja doch unzweifel-
haft hieher und weder in das Privatrecht noch in die Polizei gehört, ſo einſeitig
behandelt hat, weiß ich nur darin zu ſuchen, daß man überhaupt unter Be-
völkerungspolitik vermöge des ganzen Ganges ihrer theoretiſchen Entwicklung
eben nur die polizeilichen Maßregeln zur Vermehrung der Bevölkerung geſehen,
und daß die auf den Durchſchnittsrechnungen beruhende neuere Bevölkerungslehre
überhaupt keinen Anlaß gefunden hat, ſich mit dieſer, dem poſitiven Recht an-
gehörigen Seite der Frage zu beſchäftigen. Man kann daher ſagen, daß ſchon
ſeit Juſti die ganze Lehre von den Eheconſenſen nur als Darſtellung der Hei-
rathsverbote auftritt, und daher mit den letztern verſchwinden würde, ob-
wohl das Recht der Eheconſenſe beſtehen bleibt. Es kommt mithin darauf an,
dem letztern ſeine dauernde Stellung zu ſichern. Dieß kann aber nur auf
Grundlage hiſtoriſcher Auffaſſung geſchehen.
[128]
(Daſſelbe muß als ein, in der Geſellſchaftsordnung begründetes Syſtem
betrachtet werden. Daher ſind die vier Hauptformen deſſelben zu unterſcheiden:
das öffentliche Recht der Geſchlechtsordnung, der ſtändiſchen Ordnung, der
polizeilichen Epoche, und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft.)
Scheidet man nun die Eheconſenſe von den populationiſtiſchen Be-
förderungsmitteln der Ehe, ſo beruhen die erſteren darauf, daß das
Eingehen der Ehe ihrem Inhalte und ihren Folgen nach an ſich ein
öffentlicher Akt iſt. Sie iſt es theils durch das Austreten aus der
Familie und das Gründen einer neuen; ſie bildet neue, über die Ehe-
gatten hinausgehende Rechtsverhältniſſe; ſie erzeugt Verpflichtungen der
Gemeinſchaft, und mit dieſen das natürliche Recht der letzteren, einen
Einfluß auf das Eingehen der Ehe zu üben, und wird damit ſelbſt ein
Theil des öffentlichen Rechts. Dieß Recht aber iſt innig mit den Ele-
menten der öffentlichen Ordnung ſelbſt verſchmolzen, die wir in Familie,
Beruf, Beſitz und perſönlicher Freiheit finden. Jede Berechtigung der
Gemeinſchaft, die Eingehung der Ehe beſtimmen zu wollen, muß den
Rechtstitel für dieſe Beſchränkung der perſönlichen Freiheit in dem
Weſen der Gemeinſchaft ſelbſt finden. Mit dieſem ändert ſich daher
ſowohl dieſer Rechtstitel als der Inhalt jener Beſtimmungen, und ſo
entſteht das Syſtem der öffentlich-rechtlichen Eheconſenſe,
das wir kurz charakteriſiren werden.
Dieß nun hat zunächſt drei große Grundformen. Es gibt ein
Recht der Eheconſenſe der Geſchlechterordnung, der ſtändiſchen Ordnung
und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung. Allein es iſt auch hier
feſtzuſtellen, daß dieſe drei Formen dieſes Rechts ſo wenig ſcharf von
einander geſchieden ſind, wie die ſocialen Grundformen, auf denen ſie
ruhen. Es iſt auch hier vielmehr der Satz durchgreifend, daß, wie erſt
alle drei Grundformen zugleich den vollen Organismus der Geſellſchaft
bilden, ſo auch das Recht der Eheconſenſe jeder folgenden Form das
der vorhergehenden ſo weit in ſich aufnimmt, als es nicht mit ihrem
Princip in Widerſpruch ſteht. Das gegenwärtig geltende Syſtem iſt
daher kein einfaches, ſondern beſteht aus der Verſchmelzung der früheren
Rechte zu einem, durch das Princip der ſtaatsbürgerlichen Freiheit
modificirten Ganzen, und der Gang der Geſchichte dieſes Rechts iſt
daher eben dieſe organiſche Verſchmelzung aller drei Grundformen durch
die Macht der Principien, welche die Gegenwart beherrſchen. Wir
werden daher jeden Theil für ſich bis zu derjenigen Geſtalt bezeichnen,
welche er durch ſeine Aufnahme in unſere Geſellſchaftsordnung empfan-
gen hat.
[129]
(Das väterliche Conſensrecht und der neue Charakter deſſelben. — Das
Hageſtolzenrecht.)
Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung beruht darauf,
daß nicht der Einzelne, ſondern die Familie als öffentlich rechtliche
Perſönlichkeit gilt. Das erzeugt zwei Folgen, welche zum Theil in der
Sitte, zum Theil aber auch in förmlichen Geſetzen zur Erſcheinung
kommen. Die erſte iſt die, daß die Bewilligung des Familienhauptes
die unbedingte Vorausſetzung der Eingehung der Ehe iſt. Eine Ehe
ohne dieſelbe iſt vollkommen unmöglich. Die zweite Folge aber iſt
die, daß der Einzelne, ſo wie er ſelbſtändig iſt, die Pflicht hat, eine
Ehe einzugehen. Der juriſtiſche Ausdruck der individuellen Selbſtändig-
keit iſt darnach das sui juris esse; der ſociale Ausdruck dagegen iſt,
daß jeder homo sui juris als pater familias betrachtet wird. Die
Eheloſigkeit iſt daher nicht im Widerſpruch mit dem Wunſche, die Be-
völkerung wachſen zu ſehen, ſondern vielmehr im Widerſpruch mit dem
innerſten Princip der Geſchlechterordnung, die eben eine einzeln ſtehende
Perſönlichkeit überhaupt nicht anerkannte, ſondern nur die Familie.
Aus der Geſchlechterordnung geht daher jenes eigenthümliche Rechtsver-
hältniß hervor, das wir das „Hageſtolzenrecht“ nennen. Daſſelbe hängt
nicht mit der Bevölkerungsfrage, ſondern mit dem Principe der Ge-
ſchlechterordnung zuſammen; das Kinderrecht (ſiehe unten) tritt erſt
ſpäter aus ihm eignenden Gründen hinzu. Die Nichtverheirathung des
Mannbaren iſt ein Bruch der geſammten geſellſchaftlichen Ordnung,
und der Staat hält ſich daher für vollkommen berechtigt, die Verehe-
lichung geſetzlich zu erzwingen, oder doch dieſelbe mit großen Nachtheilen
zu belegen. So war es ſchon in Sparta und Athen, und denſelben
Standpunkt finden wir bei den Römern durchgeführt, die freilich ihrer-
ſeits das ganze Eheweſen wie alles andere weſentlich vom juriſtiſchen
Geſichtspunkt aus in der Theorie behandeln. Die germaniſche Welt,
die die Geſchlechterordnung nie ganz bei ſich aufgegeben, aber auch ſeit
der Völkerwanderung nie ganz hat feſthalten können, hat nun die obi-
gen Grundſätze allmählig umgeſtaltet. Das Recht zum Eheconſens von
Seiten des Familienhauptes iſt allerdings grundſätzlich beibehalten,
allein durch die Lehren der Kirche modificirt; es kann eine Ehe geben
ohne Conſens, und der Conſens hört auf, mit der Mündigkeit Bedin-
gung der Ehe zu ſein. Das Rechtsverhältniß der Hageſtolzen lebt im Ver-
ſtändniß der Germanen fort, allein durch ſeinen Widerſpruch mit dem
Princip der freien Perſönlichkeit geht es, wenn auch nur allmählig,
unter, um ſo mehr, als die adminiſtrative Ehebewilligung (ſiehe unten)
Stein, die Verwaltungslehre. II. 9
[130] mit dem Auftreten der polizeilichen Verwaltung ſich mehr und mehr
Raum verſchafft. Die Rechtsbeſtimmungen über den Eheconſens der
Familie haben daher ihren ſocialen Charakter verloren, und ſind ganz
in das Privatrecht übergegangen. Aber auch hier hat der Gedanke der
freien Selbſtändigkeit durchgegriffen, und der elterliche Eheconſens iſt
nicht mehr die rechtlich-abſolute Bedingung, ſondern hat vielmehr den
Charakter eines vormundſchaftlichen Aktes, weßhalb denn auch
zum großen Theil die Vorſchriften der vormundſchaftlichen Verwaltung
auf dieſelbe angewendet werden. Von dem ganzen öffentlichen Eherecht
der Geſchlechterordnung iſt daher in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
eigentlich nur der Satz übrig geblieben, daß der Vater in Bezie-
hung auf den Eheconſens der natürliche Vormund ſeines
Kindes iſt. Und das iſt wohl der erſte Grund, weßhalb die Lehre
vom Eheconſens ganz aus den Staatswiſſenſchaften überhaupt, und
ſpeziell aus der Bevölkerungslehre verſchwunden iſt, obwohl ſie ihre
Stelle mit Recht darin fordern darf. — Die Grundſätze, welche in
Sparta galten, beruhen auf dem von Plutarch (Lykurg 25) ſo gut ausge-
ſprochenen Satze: „τους πολίτας μη βουλεσϑαι, μηϑ̕ ἐπιστασϑαι
κατ̕ ἰδιαν ζην.“ (S. Herrmann, Griechiſches Alterthum, I. 27
und Montesquieu, V. 2.) Das athenienſiſche Eherecht bei Herr-
mannib. §. 119. Die ασχισιεία iſt der griechiſche geſellſchaft-
liche Begriff der Familie (ſ. namentlich Note 12.) — Ariſtoteles hat
in ſeiner Weiſe die ganze Frage vom rein politiſchen Standpunkt,
ſpeziell in ihrer Beziehung zur Verfaſſung aufgefaßt, und vielleicht iſt
der bezeichnete Abſchnitt (Pol. II. Capitel 6) der bedeutendſte ſeines
ganzen Werkes. Wie viel Jahrhunderte haben wir gebraucht, um auch
nur ſo viel von der Bedeutung des Erbrechts und der Vertheilung
des Beſitzes, namentlich in den Händen der Frauen, zu erkennen,
als dieſer Mann ſchon damals zu ſagen verſtand! Und wie tief muß
die Umgeſtaltung unſerer Staatswiſſenſchaft noch gehen, ehe wir ihn
nur erſt wieder vollſtändig erreichen! Noch immer ſind wir in unſerer
Wiſſenſchaft nicht viel weiter, als bis zu der ſchon von Montesquieu
ausgeſprochenen, von der deutſchen Wiſſenſchaft im vorigen Jahrhundert
aufgenommenen Erkenntniß, daß das Uebermaß des Grundbeſitzes in
Einer Hand auch für die Bevölkerung ſchädlich ſei, was ſchon Moſer
(Landeshoheit in Polizeiſachen, S. 30 und 31) ſo kräftig ausſpricht, und
was dann von andern wie Winkler (Verkleinerung der Bauerngüter
Seite 56), Berg (Staatswiſſenſchaftliche Verſuche, II. 22, und deſſen
Polizeirecht, Buch III. 2. 2) wiederholt wird, ohne zu einem ſyſtema-
tiſchen Verſtändniß zu kommen. Hat doch auch das, was in meiner
Geſchichte der ſocialen Bewegung (Bd. I. Einleitung) über die
[131] organiſche Bedeutung des Beſitzes geſagt und nachgewieſen wird, für
die Staatswiſſenſchaft bisher keine weiteren Forſchungen hervorgerufen!
Das Geſchlechterrecht der germaniſchen Eheconſenſe unterſcheidet ſich
indeß weſentlich von der alten Welt dadurch, daß der Sohn freier iſt,
während die Tochter völlig in der patria potestas ſteht, und „wegge-
geben“ wird. Eine juriſtiſche Formulirung empfängt dagegen das ger-
maniſche Recht erſt mit dem Lehnsrechte, und dem Kampfe, den das
ſpätere öffentliche Eherecht gegen daſſelbe erhebt, und der dem letzteren
ſeine ſo merkwürdige Doppelgeſtalt gegeben hat. Nur im Hageſtolzen-
recht erhält ſich noch das alte Geſchlechterrecht. Der Grundgedanke der
letzteren, daß nicht der Einzelne, ſondern erſt die Familie die ſtaatliche
Perſönlichkeit iſt, erſcheint in vielen aber dennoch vereinzelten Erſchei-
nungen, wie in dem Princip vieler Stadtrechte, daß die Verheirathung
zu den öffentlichen Aemtern, zum Meiſterrechte und andern Ehrenſtellen
Bedingung ſein ſolle. Freilich verlor ſich dadurch das Bewußtſein, daß
es ſich hier um eine ſociale Frage handle, und dieſe wie ſo manche
andere Sache ſind vollſtändig in die eigentliche Jurisprudenz, wo ſie
durch Wernher (Dissert. de jure Hagestolziatus, 1724) und beſonders
durch Ludewig zu einem eigenen juriſtiſchen Gebiet wird (De Hage-
stolziatu, 1727), ſpäter Freytag (Hagestolziatus ex antiquitate
illustratus, 1786), während ſie faſt gleichzeitig in dem Rechtsſyſteme
ihren Platz findet. (Selchow, Elem. pr. Germ., S. 290; Runde,
deutſches Privatrecht, 559.) Das Hageſtolzenrecht verſchwindet mit dem
Anfange des vorigen Jahrhunderts, theils durch ausdrückliche Geſetze
wie in Brandenburg 1731, Braunſchweig-Wolfenbüttel 1727, aufge-
hoben (Berg, Polizeirecht, Bd. III. 2. 2, S. 25), theils iſt es
„heutzutage größtentheils abgekommen und wird meiſt noch unter den
Bauern (den Reſten der Geſchlechterordnung!) und Leibeignen (über-
gegangen auf die Grundherrſchaft) in einigen Orten angetroffen.“
(Fiſcher, Cameral- und Polizeirecht, I. §. 569.) Doch will Süßmilch
noch die Hageſtolzen nicht dulden (Cap. II. §. 233), und noch Luden
in ſeinem Handbuch der Staatsweisheit oder Politik (I. 404) ſie be-
ſtrafen. Gerſtner (S. 214) hält es noch für gut, dieſe Vorſtellungen
zu bekämpfen. — Hugo Grotius trägt dann die Frage nach dem
Recht des väterlichen Conſenſes ins Naturrecht hinüber, und ſeine
Anſicht darf als diejenige angeſehen werden, durch welche ſich das neue
ſtaatsbürgerliche Princip des vormundſchaftlichen Conſensrechts des
Vaters von dem alten ſtrengen des Geſchlechterrechts ſcheidet. „Quod
autem a Romanis aliisque constitutum est, ut quaedam nuptiae quia
consensus patris defuit, irritae sint, non ex natura est, sed ex juris
conditorum voluntate,“ (de Jure Belli et Pacis, II. V. 10). Dann:
[132]conjugia contrahere cum populo negari non potest, nisi delictum
praecesserit (II. ii. 21). Dabei erkennt er das kirchliche Eherecht voll-
kommen an. Von da an verſchwindet der alte Standpunkt, ohne daß
man ihn eigentlich recht verſtanden hätte. Die Frage dagegen nach der Ehe
zwiſchen Freien und Unfreien bleibt; ſie gehört aber eigentlich nicht ins
Geſchlechterrecht, ſondern in das ſtändiſche Eherecht, bei welchem wir
darauf zurückkommen.
(Die drei Formen und Stadien derſelben bis zur neueren Zeit: das Ehe-
recht der ſtändiſchen Unterſchiede, des ſtändiſchen Beſitzes (Lehnrecht), und des
ſtändiſchen Berufes.)
Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung iſt nicht wie das
der Geſchlechterordnung ein an ſich einfaches. Es erſcheint vielmehr als
ein zum Theil ſehr ausgebildetes Syſtem von Rechtsſätzen, und dieß
Syſtem beruht auf den drei Elementen, welche den Inhalt der ſtändi-
ſchen beſtimmen, dem Elemente der Freiheit, dem Elemente des
ſtändiſchen Beſitzes, und dem des eigentlichen Berufes. Jedes dieſer
Elemente hat ſein Eherecht erzeugt, und hat daher auch ſeine eigene
Geſchichte; von dieſer Geſchichte aber iſt nur ein dem Umfange nach
ſehr geringer Theil in die ſtaatsbürgerliche Ordnung übergegangen.
Das reine ſtändiſche Eherecht.
Die Frage nach dem Rechte der Ehe zwiſchen Freien und Unfreien
gehört erſt dem germaniſchen Recht. Der römiſche Begriff der Sklaverei
ſchloß natürlich die Ehe zwiſchen dem Ingenuus und servus aus, und
ſowohl die Pandekten als Conſtantin (l. 3. 7. Cod. de incest. et inut.
nuptiis 5. 5) und ihnen gemäß ſelbſt Juſtinian (l. 28. Cod. de nupt.
5. 4) ſagen einfach „cum ancillis non potest esse nuptium.“ Allein
das germaniſche Recht kennt zwar Unfreie, aber keine Sklaven, und
die Ehe iſt gleich anfangs eine chriſtliche Inſtitution. Damit entſtand
die Frage, ob hier eine Ehe ſtattfinden könne. Obgleich nun die alten
ſtrengen Geſchlechter lange aufgelöst waren, blieb der Geſchlechterſtolz
lebendig. „Claritas generis,“ ſagt die Lex Wisig. V. 7. 17, bei der
generosa nobilitas „sordescit commixtione abjectae conditionis,“ darum
ſollen ſolche Heirathen „verboten“ ſein; man ſieht deutlich den Einfluß
der römiſchen Beſtimmungen des Cod. Theod. („clara nobilitas
indigni consortii foeditate inlescit“ T. p. m. 596. ed. Lugd. 1593).
[133] Dieß Verbot läßt aber im Grunde das Verhältniß nach einer ſolchen
Ehe unentſchieden. Daher treten andere Geſetze viel beſtimmter auf.
Der Zorn der Geſchlechter fordert bei den Longobarden den Tod bei
der Frau (L. Longobard. II. 9. 2. et illam, quae servo fuerit consor-
tiens, habeant parentes potestatem occidendi — und thun ſie es
nicht, ſo ſoll der Gastaldus Regis ſie zu den ancillis geben). Die
Ripuarier laſſen die Ehe beſtehen, aber der Mann wird leibeigen mit
ſeinem Weibe (L. IX. T. 58). Die Lex Salica XXVII. 6. iſt mit
einer Buße von 111 solidis gegen den Herrn der ancilla zufrieden.
Die Sachſen, bei denen das Geſchlechterprincip ſich am durchgeführteſten
ausgeprägt zeigt, ſagen: Nobilis nobilem ducat uxorum, liber liberam,
libertus conjugator libertae, servus ancillae — wer aber ein Weib
aus der höheren Ordnung nimmt, „cum vitae suae damno com-
ponat.“ Das war der Standpunkt, den noch Meginhardt (de mir. S.
Alex. CI. op. Langebeck Script. R. Dan. II. 39, vergl. dazu Adam.
Bremensis Hist. Eccl., Cap. V. p. 7. 8.) als geltendes Recht jener
Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts im Norden Deutſchlands aufführt,
während im Süden ſchon mildere Anſicht waltet. Schon die Capitu-
larien ſprechen die Gültigkeit des Satzes aus: „Quod Deus junxit
homo non separet“ gegenüber den Scheidungen, welche die Herren
über die Ehe ihrer servi vornahmen, und erkannten die Gültigkeit der
Ehe (etiamsi diversos dominos habeant, Cap. add. III. Bal. p. 806).
Vergl. Laboulaye, Condition des femmes, p. 327—330 und unten.
Dieſe letztere zeigt ſich nun vorzüglich in den ſtandesmäßigen Ehen
in ihrem Recht, die ſich eben nur auf die ſtändiſchen Unterſchiede der
Freiheit der Perſönlichkeit beziehen; Grundſatz iſt hier bekanntlich,
daß die Kinder der „ärgeren Hand“ folgen und zwar hat das den
doppelten Sinn eines ſocialen Rechts für den perſönlichen Stand und
eines wirthſchaftlichen für das Erbrecht. Die Kinder können nicht das
väterliche Erbe erwerben, namentlich da nicht, wo die Mutter unehelicher
Geburt war (Vitriar. Illustr. L. III. T. XX. §. 74). Alle dieſe Vorſtel-
lungen treten nun alsbald in ſchroffen Gegenſatz zu dem Princip des
Sacraments der Ehe einerſeits, der Freiheit der Ehe andererſeits (Hugo
Grotius, ſ. oben). Beide forderten mit gleichem Nachdruck die Auf-
hebung der Rechtsungültigkeit der Ehe zwiſchen verſchiedenen Standes-
gliedern. Der Streit über dieſe Frage iſt ein ſehr lebhafter und wird
mit allen Waffen der Gelehrſamkeit geführt, bis ſich der Begriff der
„Mißheirathen“ feſtſtellt und von dem der „verbotenen Heirathen“
ſcheidet. Pfeffinger hat ziemlich die ganze Literatur über dieſe Frage
bis zum 18. Jahrhundert aufgeführt. (Vitr. Illustr. III. T. XX. §. 74)
Mit dieſem Unterſchiede tritt dann der Rechtsſatz ein, daß durch den
[134] Standesunterſchied keine Heirath überhaupt ungültig, ſondern nur
das Erbrecht der Kinder beſchränkt werde, was dann gleichfalls
allmählig von dem Vermögen überhaupt nur noch auf das Lehngut
übergeht, und dadurch die Mißheirath zu einem Begriffe des lehnrecht-
lichen Eherechts macht. Wie hartnäckig aber ſich die ſtrenge deutſche
Geſchlechterauffaſſung gegen dieſen Satz, der in der That das Connu-
bium für die ſtändiſchen Unterſchiede herſtellt, geſträubt hat, ſieht man
nirgends deutlicher als aus Vitriarius und ſeinem Illuſtrator, dem
gewaltigen Gelehrten Pfeffinger. Der letztere, nachdem er alle
Citate für und gegen die Freiheit der Ehe aufgeführt, und in der
andern Stelle eine förmliche Politik des ſtändiſchen Eherechts gegeben,
kommt zu dem Schluſſe: „Nobilis cum Ignobili legitimum esse
matrimonium arbitror (doch nur arbitror! 1731) natusque inde liberos
iisdem gaudere praerogativis quibus alias libri ex aequali thoro“
wohlverſtanden, wenn nicht beſtimmte Geſetze (consuetudo, vel lex
provincialis) entgegen ſtehen. Es dauerte alſo lange, ehe die heutige
Idee der Gleichheit dem Princip der Freiheit in der Ehe folgte, bis
endlich die erſtere mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, vorzüglich aber
mit dem Unterſchiede des Lehnsbeſitzes vom bürgerlichen Beſitz verſchwand
und die rechtlichen Folgen der Ungleichheit bei völliger Freiheit in der
Ehe nur noch in den fürſtlichen Häuſern (morganatiſche Ehe, Recht
der Zuſtimmung des regierenden Hauptes) ſich erhalten, und zu einem
Theile des Staatsrechts werden. Wie ſehr bedauern wir, daß Labou-
laye in ſeiner gekrönten Preisſchrift (Rech. sur la Condition civile et
politique des femmes 1842) nicht auch das ſtändiſche Connubium und
deſſen Geſchichte in das Frauenrecht einbezogen und ſich einfach an die
Folgen der ungleichen Ehe für die Erbtheilung gehalten hat. Er hätte
mit ſeinem großen Blick gewiß Bedeutendes geleiſtet. Wie richtig beur-
theilt er den Geiſt des deutſchen Volkes und Rechts in dem vorigen
Jahrhundert: „En Allemagne la fusion des différentes classes de la
nation ne s’est jamais complètement faite; la feodalité, affaiblie par
le droit romain, s’est conservée neanmoins dans les privilèges et
les coutumes de la noblesse; la bourgeoisie s’est cantonnée dans
une législation speciale, en partie de droit romain et de droit con-
tumier; les paysans ont conservé des coutumes qui ne sont celles
ni des nobles ni des bourgeois“ und erſt Napoleon hat dieſen Zuſtand
gebrochen (S. 308. 309). Nur daß es in Frankreich bis zum 19.
Jahrhundert genau eben ſo ausſah, trotz ſeiner Bemerkung S. 309.
— Jedenfalls werden die obigen Andeutungen genügen, um darzuthun,
daß die ſociale Geſchichte des Connubiums im germaniſchen Europa
noch zu ſchreiben iſt. Auch das Folgende hat nur den Werth auf die
[135] hervorragenden Punkte hinzuweiſen. Aus der innern Behandlung iſt
mit der ſtaatsbürgerlichen Periode die ganze Frage und leider mit ihr
das hiſtoriſche Bewußtſein ziemlich gründlich verſchwunden. Wir be-
gegnen ihr nur noch im reinen bürgerlichen Rechte.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſer Theil des öffentlichen Ehe-
rechts nicht anders von den beiden folgenden geſchieden werden kann,
als indem man ihn zurückführt auf das dem Lehnsweſen zum Grunde
liegende eigenthümliche Moment; und das iſt eben der Beſitz des
Lehnsgutes. Ein Eheconſens des Lehnsweſens als ſolcher iſt daher
nur inſofern denkbar, als der Beſitz des Vaſallen die Eingehung einer
Ehe von ſeiner Seite von dem Willen des Lehnsherrn dadurch abhängig
macht, daß die Ehe ſelbſt als Bedingung der Erfüllung derjenigen Ver-
pflichtungen erſcheint, die der Vaſall mit dem Gute ſelbſt übernommen
hat. Und hier muß man in dem allgemeinen Ausdruck Lehnsherr zwei
weſentlich verſchiedene Verhältniſſe unterſcheiden.
Das erſte iſt das des [Lehnsherr] zum eigentlichen Vaſallen, der
ſelbſt ein freier Mann iſt. Ueber die Ehe dieſes freien Mannes hat
der Lehnsherr nichts zu entſcheiden; wenn aber dieſelbe keine ſtandes-
gemäße war, ſo war die Verleihung des Lehns an die Kinder damit
urſprünglich nicht thunlich; erſt die ſpätere Zeit machte die Erhaltung
des Lehns möglich. Eine direkte Bewilligung der Ehe von Seiten des
Lehnsherrn fand nicht ſtatt. Wenn aber das Lehn auf die Tochter
fällt, ſo hat der Lehnsherr das Recht des väterlichen Vormundes, die
Tochter nach ſeinem Willen zur Ehe zu zwingen, wenn ſie nicht ihr
Lehn verlieren will. Die Härte dieſes namentlich in England ſcharf
ausgeprägten Grundſatzes verliert ſich erſt in der ſpätern Zeit, in Eng-
land durch das berühmte Geſetz (Stat. 24, C. II. 12), das von Macaulay
(History of England, C. II.) ſo gut charakteriſirt wird. Dahin gehört
auch die Frage bei Vitriarius: Si primogenitus sit natus ex Ple-
beja, Secundogenitus ex Illustri, quis Appanagiatus fieri debeat?
Non conveniunt. III. XX. 74. — Das zweite Verhältniß iſt das des
Unfreien, der auf unfreiem Boden ſitzt. Grundſatz war hier, wie der
Grand Coustumier (Paris 1539) ſagt (fol. 75): „telles personnes
serves ne se peuvent marier avec une personne d’autre condition
et en autre justice (d. h. deren Beſitz einer andern Grundherrlichkeit
angehört) sans le congé de leur seigneur.“ Der Grund dieſer Be-
ſtimmung war hier nicht die Unfreiheit, ſondern eben das Recht auf
den Beſitz der „serfs“, das durch die Eingehung der Ehe beeinflußt
[136] werde; ſie erſcheint daher als eine ganz conſequente. Offenbar ſind die
Beſtimmungen der alten deutſchen Rechte, nach denen die Fürſten und
Könige ſich anmaßten, die Töchter ihrer Bürger willkürlich zu verhei-
rathen (als Lehnsherren), nur Conſequenzen des Rechts der Herren über
die Frauen. Die jungen Städte ſchützten ſich oft dagegen durch eigene
Privilegien, wie das Privilegium von Wetzlar von Kaiſer Richard:
„quo inter alia pollicetur, se civium de Wetzlaria filias, neptes aut
consanguineas aliis in uxores tradendas sine libera eorum voluntate
non adacturum“ (GudenSyllog. I. 473). Ueber die ſpätere Form
dieſes Rechts vergl. Moſer Landeshoheit und Claſſe der Unterthanen,
S. 119. Jenes Eheconſensrecht hieß in Frankreich „formariage“.
Vergl. über daſſelbe Laboulaye, Condition des femmes, p. 325 sq.
— Wir glauben jedoch auf dieß ganze Verhältniß hier nicht weiter ein-
gehen zu ſollen, da dieſer Theil des Rechts der Eheconſenſe vollſtän-
dig mit der Grundherrlichkeit verſchwunden iſt und nur noch der Ge-
ſchichte angehört. Um ſo wichtiger iſt der folgende, der bis in unſere
Zeit allerdings auf das Tiefſte hineingreift.
Das germaniſche Leben hat den Beruf nicht bloß ethiſch, ſondern
auch praktiſch am tiefſten von allen Völkern aufgefaßt. Während die
Idee und das Recht deſſelben im Orient zur völligen Unfreiheit der
Kaſte erſtarrt, und die alte Welt, auch hier im Gegenſatze zu derſelben,
zu gar keiner Anerkennung deſſelben gelangt, hat die Geſchichte des Be-
rufs in der germaniſchen Welt im Allgemeinen die Aufgabe unternom-
men und zum größten Theil gelöst, den Beruf einerſeits zu einer ge-
ſellſchaftlichen, mit eigenem Willen und eigenem Recht verſehenen Orga-
niſation zu erheben, und anderſeits der individuellen Selbſtbeſtimmung
in demſelben ihre möglichſte Freiheit zu erhalten. Von jeher iſt nun,
wie es in der Natur der Sache liegt, die erſte Bedingung dieſer Frei-
heit die freie Ehe geweſen. So wie ſich daher der Beruf in der ger-
maniſchen Welt zu organiſiren begann, trat die Frage nach dem Ver-
hältniß des Eherechts zu demſelben naturgemäß in den Vordergrund
und hat hier zwei Grundformen erzeugt, die, während der ſtändiſchen
Zeit begründet, bis auf unſere Gegenwart dauern, jedoch in der Weiſe,
daß die erſte Form als das rein ſtändiſche Eherecht des Berufes an-
geſehen werden muß, während die zweite den Uebergang zur ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft bildet und daher im Grunde das Eherecht
des Berufes in der letztern bildet. Wir meinen das Cölibat und
den militäriſchen und amtlichen Eheconſens.
[137]
1) Was zuerſt das Cölibat betrifft, ſo muß man bei demſelben
feſthalten, daß es der Ausfluß einer ganz beſtimmten Auffaſſung des
Berufes der Geiſtlichkeit iſt, welche zum Weſen der katholiſchen Kirche,
wie ſie ſich hiſtoriſch geſtaltet hat, gehört. So wenig das Cölibat ein-
geführt iſt, um die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, ſo wenig
wird daſſelbe darum aufgehoben werden, weil ſeine Aufhebung dieſe
Zunahme befördern würde. Hier iſt das populationiſtiſche Element
allerdings vorhanden, aber es bleibt ein ganz untergeordnetes; ganz
andere, viel tiefere Motive greifen hier ein, und Montesquieu hat
die Sache in L. XXIV und XXV auf ein ganz anderes Feld hinübergeführt.
Die populationiſtiſche Seite des Cölibats ward jedoch im vorigen Jahrhun-
dert vielfach ſpeciell hervorgehoben, wie bei JuſtiII. 7. §. 246, der das
Cölibat bekämpft, weil „die Regierung, um den Eheſtand zu befördern —
keine Grundſätze, Meinungen und Neigungen im Staate Wurzel ſchlagen
laſſen darf, welche den Eheſtand in Verachtung bringen.“ Der Satz deſſelben,
den er daran anſchließt: „Jetzt, da derſelbe ein Religionspunkt geworden iſt,
ſo iſt es unmöglich, daß ein katholiſcher Regent denſelben ohne Religions-
änderung ausrotten kann,“ hat nun ſofort die ganze Frage eigentlich
aus der Bevölkerungslehre hinausgeſchoben; ſo ſehr, daß weder Süß-
milch noch Malthus vom Cölibat reden, und die Folgenden es ganz bei
Seite liegen laſſen. Das Streben, wenigſtens die möglichſte Vermin-
derung dieſer berufsmäßigen Eheloſigkeit zu erzwingen, bleibt allerdings
und wiederholt ſich ſeit Juſti bis auf die Gegenwart; mit Recht haben
Rau (Polit. Oekonomie II. Abth. I.) und Mohl (Polizeiwiſſenſchaft I.
S. 108 u. a. a. O.) und zuletzt Gerſtner (Bevölkerungslehre S. 186)
die Frage ſelbſt für die katholiſchen Länder mit der Vertheilung der
Seelſorge in Verbindung gebracht. Daß bei dem Cölibat die Grund-
lage der Auffaſſung je nach der Confeſſion eine weſentlich verſchiedene
iſt und daher auch eine weſentlich verſchiedene Behandlung erzeugt, iſt
natürlich. Die Arbeiten, die über dieſe Frage veröffentlicht ſind, wie
namentlich Theiner (Die Einführung der erzwungenen Eheloſigkeit bei
den chriſtlichen Geiſtlichen und ihre Folgen 2 Bde. 1828) und Carové
(Ueber Cölibatgeſetze, 2 Bde. 1835) zeichnen ſich durch eine große Gelehr-
ſamkeit aus; namentlich hat Carové das Verdienſt, im zweiten Bande
eine „vollſtändige Sammlung der Cölibatgeſetze für die katholiſchen Welt-
geiſtlichen“ und die neuern Geſetzgebungen und Bewegungen auf dieſem Ge-
biete mit aufgeführt zu haben (Bd. II. S. 611—736). Trotz alledem
bleibt der Kern der Sache weder in der bloßen Sittlichkeitsfrage noch
in der populationiſtiſchen Seite der Sache, ſondern liegt offenbar in den
Geſichtspunkten, welche der Cardinal-Staatsſecretär Pallavicini dem
Papſt PiusVI. in den über die Aufhebung des Cölibats in den 80er
[138] Jahren des vorigen Jahrhunderts gehaltenen Cardinalcongregationen vor-
legte (Theiner, Einführung ꝛc. II. Abth. 2. S. 1030—31). Wir be-
merken hier nur, daß die Bedenken gegen die Ehe der Geiſtlichkeit ſich
immer auf zwei Hauptpunkte bezogen haben. Zuerſt hat man das Cö-
libat als eine Gefährdung der Sitte angegriffen, wobei nicht zu über-
ſehen iſt, daß dieß auch geändert werden kann, und zwar theils durch
die allgemeine Veredlung der Sitten, theils durch die Geſetzgebung.
Ueber den letztern Punkt hat eigentlich Montesquieu in ſeiner ſchla-
genden Weiſe das Beſte geſagt, was ſich hier ſagen läßt. „Le célibat,“
ſagt er (L. XXIV. c. 7.), „fut un conseil du christianisme; lors-
qu’on en fit une loi pour un certain ordre de gens, il en fallut cha-
que jour renouveller — le legislateur se fatigua, et il fatigua la
société.“ (Vergl. dazu M. Dupin, Bibliothèque des auteurs eccle-
siastiques du sixième siècle.) Die Beurtheilungen des Cölibats in
ſeinen Folgen, wie namentlich die von Theiner, leiden in dieſem Punkte
weſentlich daran, daß ſie als etwas exceptionelles und vorzugsweiſe der
Geiſtlichkeit zur Laſt fallendes hinſtellen, was doch in der Barbarei der
ganzen Zeit lag, ſo viel Wahres und Ernſtes auch in einem Gebrechen
liegen mag, das ſich ſelbſt in dieſem Stande Jahrhunderte erhielt. —
Zweitens aber hat man, namentlich in neuerer Zeit (Carové I. Seite
115 ff.), das Cölibat als ein Inſtitut angegriffen, welches das ſtärkſte
Hinderniß zur Einigkeit zwiſchen Katholiken und Prote-
ſtanten bildet; und daran iſt, ſo lange ein Cölibat beſteht, nichts
zu ändern. — Uebrigens liegt uns die Frage von dieſer Seite zu
fern, um weiter auf ſie einzugehen.
2) Ein ganz anderes Gebiet betreten wir nun in dem militäri-
ſchen und amtlichen Eherecht. Das Princip dieſes Eherechts hat
zu ſeiner allgemeinen Baſis allerdings auch den Beruf, allein bei ihm
wird die Ehe nicht wie bei der katholiſchen Geiſtlichkeit als im Wider-
ſpruch mit dem Berufe, ſondern an ſich als in voller Zuläſſigkeit unter
demſelben angenommen. Allein der Waffen- und der amtliche Beruf
fordern wie jeder dauernde Lebensberuf im eigentlichen Sinne eine Ein-
nahme, und dieſe Einnahme wird daher zur Bedingung der Berufs-
erfüllung. Hier iſt es nun, wo die Frage entſteht, ob die Ehe, welche
vermöge der aus ihr hervorgehenden Familie eine nicht mehr bloß dem
Einzelnen, ſondern der ganzen Familie entſprechende Einnahme fordert,
bei dieſem Berufe noch zuläſſig iſt; und hier hat ſich daher der Satz
gebildet, daß die an ſich freie Ehe nur dann innerhalb des Berufes
zuläſſig erſcheint, wenn die berufsmäßige Einnahme für die Familie
ausreicht. Dieſer Satz hat ſeine Anwendung gefunden auf den Wehr-
ſtand, indem bei den Berufskriegern, das iſt bei dem ganzen Körper
[139] der leitenden Perſonen im Heere vom Unterofficier an die Zulaſſung
zur Ehe nur bei einer gewiſſen Höhe des Soldes ſtattfindet, und ſonſt
nicht geſtattet wird, wenn der Betreffende kein eigenes, vom Berufe
unabhängiges Einkommen hat. Die Wiſſenſchaft hat ſich mit dieſer
Frage bisher wenig beſchäftigt; doch bemerkt Juſti a. a. O. II. Bd.
7. Hauptſt. 1. Abſchn.: „Die Meinung, daß man die Soldaten von
der Heirath abzuhalten ſuchet, iſt einer weiſen Regierung keineswegs
anſtändig“ — er will ſogar einen Reichsthaler Prämie für den ver-
heiratheten Soldaten! Natürlich iſt mit der allgemeinen Wehrpflicht
für die Gemeinen hier ein ganz anderer Geſichtspunkt maßgebend. Je-
doch bleibt uns nichts übrig, als jeden unſerer Leſer zu bitten, die dar-
auf bezüglichen Vorſchriften ſeines eigenen Staates zu ſammeln, da uns
keine Quellen zu Gebote ſtehen. Es wäre immerhin von Wichtigkeit,
dieß Eherecht zu conſtatiren, weil es dasjenige iſt, das mit dem fol-
genden allein aus der ſtändiſchen Epoche in die jetzige übergegangen
iſt. Die bisher für Oeſterreich geltenden Grundſätze ſind vollſtändig
bei Stubenrauch (Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 341). Sie beruhen
auf dem Heirathsnormale vom 10. Juni 1812, das den Mittel-
weg einſchlägt, nur einen Theil (den ſechsten beim Officiercorps) des
Heeres zur Verheirathung unter ſchriftlicher Genehmigung der obern
Stellen zuzulaſſen. — Das frühere Recht iſt gut zuſammengeſtellt bei
Kopetz, öſterreich. Polizei-Geſetzkunde I. §. 120.
Das neueſte Heeres-Ergänzungsgeſetz vom 29. September 1858 hat
die Ehebewilligungen für das Militärweſen genau regulirt (§. 8.), und die
Bedingungen der ausnahmsweiſen Geſtattung der Ehe aufgeſtellt. Bis
1860 hatten die Landesſtellen das Recht, auf Grundlage des obigen
Paragraphen ausnahmsweiſe die Ehebewilligungen zu ertheilen; daſſelbe
iſt durch Verordnung vom 2. October 1860 den Kreisbehörden, Comi-
taten und Delegationen übertragen.
Was nun zweitens die Anwendung auf den Beamtenſtand be-
trifft, ſo ſind die Grundlagen des für ihn geltenden öffentlichen, aus
der ſtändiſchen Epoche in die gegenwärtige hinübergenommenen öffent-
lichen Eherechts folgende. Das ganze amtliche Eherecht iſt in Eng-
land und Frankreich aufgehoben und beſteht nur noch in den deut-
ſchen Staaten. Hier iſt es in der That als ein Einfluß der höhern
Auffaſſung des Beamtenthums als eines ſittlichen Lebensberufes anzu-
ſehen, die wir in der vollziehenden Gewalt (S. 342) als eine
ſpecifiſch deutſche charakteriſirt haben. Demgemäß fordern, wie wir
glauben, die meiſten, wenn nicht alle deutſchen Staaten den Ehecon-
ſens der obern Behörde, um die Gewißheit eines den Beruf nicht
ſtörenden Auskommens zu haben, wenigſtens für die niedern Amts-
[140] claſſen. — Das Recht Oeſterreichs hat ſich namentlich ſeit 1815 con-
ſolidirt und ſteht noch auf dem damaligen Standpunkt. Nach der aller-
höchſten Entſchließung vom 12. Januar 1815 iſt nämlich die Ehe
der Beamten frei; jedoch iſt der frühere Grundſatz von 1802 für
Finanzbeamte feſtgehalten, daß ſie die Verehelichung melden; für
Militärbeamte (Verordnung vom 25. Nov. 1826), daß ſie die Ein-
willigung erhalten müſſen, während nach Verordnung vom 31. Mai
1858 Unterlehrer an Volksſchulen die Genehmigung der Schulbehör-
den haben oder abgehen müſſen (Stubenrauch §. 340). — In Preußen
gilt urſprünglich der Grundſatz, daß umgekehrt jede Ehe der Beamteten
genehmigt werden müſſe (Anhang zum allgem. Landrecht II. 1.
§. 70), was erſt die k. Verordnung vom 9. Juli 1839 dahin begränzte,
daß die Genehmigung nur bei ſolchen Beamten gefordert wird, die bei
der Wittwenkaſſe receptionsfähig ſind (Rönne II. §. 295). In Bayern
müſſen noch immer alle im unmittelbaren Staatsdienſt Angeſtellten
nach der Verordnung vom 2. Februar 1845 eine dienſtliche Ehebewil-
ligung erhalten (Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29). In Württemberg
fordert die Dienſtpragmatik §. 9 die Anzeige der Verehelichung,
gibt aber auch der obern Behörde das Recht, die letztere zu verbieten,
wenn „die Ehre des Staatsdienſtes oder die ökonomiſche Lage des Dieners
die Ehe unzuläſſig erſcheinen ließe (Mohl, württemb. Verwaltungsrecht
§. 162). Von den übrigen Staaten fehlen die Quellen. Selbſt
Funke hat in ſeinen weitläuftigen Polizeigeſetzen des König-
reichs Sachſen (5 Bde. 1846) nichts darüber. — Das freieſte Recht
iſt darnach das von Oeſterreich; in allen andern Staaten iſt der Beamte
ſehr abhängig von ſeinen Vorgeſetzten. Warum nicht einfach die Alter-
native aufſtellen: entweder iſt der Gehalt für eine Familie zu gering,
und dann iſt er ſelbſt falſch, da das Amt kein Cölibat ſein ſoll und
kann — oder er iſt es nicht, wozu dann noch Ehebewilligung? Und
wenn es richtig iſt, daß die Wittwe des Beamten ſtandesmäßig leben
muß, warum an die Stelle der an ſich verkehrten Ehebewilligung nicht
einfach die Verpflichtung zum Eintritt in eine Wittwenpenſionskaſſe
ſetzen? Hier iſt offenbar in den meiſten deutſchen Staaten die ſtändiſche
Epoche nicht überwunden, obgleich anderſeits der Grundſatz, aus dem
die berufsmäßige Ehebewilligung hervorgegangen iſt, als ein an ſich
edler und berechtigter angeſehen werden muß.
wärtige Geſtalt.
Wenn das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche in Deutſch-
land, eben ſo wie es in England und Frankreich der Fall iſt, mit dem
[141] Auftreten der verfaſſungsmäßigen Verwaltung und der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft verſchwunden, und das freie Eherecht an ſeine Stelle getre-
ten wäre, ſo würden wir hier ſehr kurz ſein können. Allein das iſt
nicht der Fall. Vielleicht gibt es gar kein Theil des öffentlichen Rechts,
das ſpeciell in Deutſchland durch die Vereinigung von Freiheit und Un-
freiheit ein ſo eigenthümliches Bild darbietet, und deſſen poſitives Recht
mit ſeinem neuen Weſen in ſo tiefem Widerſpruche ſteht, als eben das
deutſche öffentliche Eherecht. Dazu kommt, daß dieß poſitive Recht gleich-
ſam hoffnungslos von der Theorie ſeit fünfzig Jahren verlaſſen iſt und
daß bei großartiger ſittlicher und philoſophiſcher Auffaſſung die alte
Unfreiheit des deutſchen Eherechts ſich zuletzt ſo zu ſagen aus dem öffent-
lichen Leben in das Geheimniß des örtlichen Gemeinderechts geflüchtet
und ſich hier hinter das ziemlich gemeine Intereſſe der Furcht vor
der Armenunterſtützung ſo feſt verſchanzt hat, daß, während England
und Frankreich nicht mehr daran denken, eine Ehepolizei auszuüben,
Deutſchland trotz ſeiner immerhin bedeutenden verfaſſungsmäßigen Ent-
wicklung namentlich die Mitglieder ſeiner niedern Claſſe einem
Eherecht unterworfen hat, das faſt allein noch die Begriffe und Zuſtände
des vorigen Jahrhunderts in unſerer Zeit, wahrlich nicht zum Frommen
des geſammten geſellſchaftlichen Zuſtandes, aufrecht erhält. Selbſt die
Wiſſenſchaft, die überhaupt in ihrer Bekanntſchaft mit den örtlichen
deutſchen Zuſtänden ſehr ſchwach iſt, ſcheint zu ſchweigen. Um ſo noth-
wendiger iſt es, dieſer Frage alle Aufmerkſamkeit zuzuwenden.
Wir müſſen auch hier hiſtoriſch vorgehen.
Um den Zuſtand des gegenwärtigen Eherechts in Deutſchland recht
zu verſtehen, muß man zunächſt die große Thatſache feſthalten, daß die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft Deutſchlands mit dem 16. Jahrhundert in
ihren beiden Erſcheinungen faſt gleichzeitig und faſt mit gleicher Kraft
auftritt. Die erſte dieſer Erſcheinungen iſt die ſtädtiſche Gemeinde, das
Stadtbürgerthum, das ſich zum Staatsbürgerthum entwickeln ſoll; die
zweite iſt die amtliche Verwaltung, welche von dem belebenden und er-
hebenden Elemente der jungen Staatswiſſenſchaft durchdrungen iſt.
Beide greifen auf allen Punkten in die Bildung des öffentlichen Rechts
ein; namentlich auch im öffentlichen Eherecht. Scheinbar nun ſollten
beide, wenn auch auf verſchiedenen Wegen, das Gleiche, dieſelben
Principien dieſes Rechts vertreten und erzeugen. Dennoch iſt das nicht
der Fall. Im Gegentheil ſehen wir zwar einerſeits die amtliche Ver-
waltung das Ihrige thun, und nach langem Kampfe der Ehe ihre na-
türliche Freiheit geſtatten; dagegen aber hält das Stadtbürgerthum an
einer höchſt beſchränkten Auffaſſung feſt, deren Grundlage wir darlegen
werden, und ſo entſtehen zwei Grundformen des öffentlichen Eherechts,
[142] die ſich bis in unſere Gegenwart in Deutſchland erhalten haben. Wir
wollen verſuchen, ehe wir auf das poſitive Recht eingehen, den Charakter
derſelben zu bezeichnen.
Was zunächſt das amtliche oder lieber ſtaatliche Eherecht betrifft,
ſo ſehen wir in ihm den ganzen Geiſt der Verwaltung im Kleinen ab-
geſpiegelt. Das Amt will die Wohlfahrt des Ganzen wie des Einzel-
nen. Die Ehe iſt eine der großen Bedingungen derſelben. Die Ver-
waltung ſteht daher keinen Augenblick an, in das Recht der Ehe einzu-
greifen, nicht aber ohne ſich von ihrem Princip und von ihrer Aufgabe
in ihrer Weiſe Rechenſchaft abzulegen.
Der ganze Charakter dieſer Epoche begründet nämlich zuerſt die
allgemeine Forderung der Verwaltung, daß das Recht auf die Ehe von
den Folgen derſelben für die Volkswohlfahrt bedingt ſein
müſſe. Sie erkennt, daß die Ehe für die letztere ein höchſt mächtiger
Faktor iſt, und beginnt daher über jene Folgen nachzudenken. Mit
dieſem Nachdenken entſteht dann das, was wir als theoretiſche Bevöl-
kerungslehre oben bezeichnet haben; die Anwendung derſelben aber auf
das Eherecht ergibt ſofort einen naheliegenden Gegenſatz, der ſich als-
bald in einer eigenthümlichen, nur durch jenen hiſtoriſchen Gang der
Dinge erklärbaren Doppelrichtung des Verwaltungsrechts ausdrückt.
Einerſeits nämlich iſt die Ehe die Grundlage der Bevölkerung, und
dieſe die Grundlage der Macht; und es folgt daher, daß die Ehe durch
die Verwaltung ſo viel als möglich befördert werden muß. Ander-
ſeits iſt die Ehe zugleich der Quell unendlich vielen Unheils, namentlich
aber der Verarmung, ja auch der Ungeſundheit, und muß daher unter
Umſtänden verhindert werden. Wie die Ehe daher ſelbſt zwei Arten
von Folgen für das gemeine Wohl hat, ſo fordert ſie auch zwei Claſſen
von Maßregeln; ſie fordert eine Beförderung der Ehe zum Zwecke der
Beförderung der Bevölkerung, und eine Verhinderung derſelben zum
Zwecke des Schutzes der öffentlichen Wohlfahrt. Anſtatt nun hier die
höhere Natur der Sache durch ſich ſelbſt wirken zu laſſen, glaubt die
Verwaltung, daß es ihre Aufgabe ſei, zu entſcheiden, ob eine Ehe in
die erſte oder die zweite Claſſe gehöre; und um dieſe Aufgabe zu löſen,
erzeugt ſie ſich ein förmliches Syſtem von Grundſätzen und Vorſchriften
über das Einſchreiten der Verwaltung im Eheweſen, und dieſes Syſtem
iſt es, das wir das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche nennen.
Daſſelbe hat daher, dem obigen gemäß, zwei Theile. Der erſte
enthält die adminiſtrativen Beförderungen der Ehen, der zweite die
adminiſtrativen Eheverbote. So wunderlich die Beſtimmungen, die
aus dieſen Standpunkten hervorgehen, auch im Einzelnen erſcheinen
mögen, ſo natürlich erklären ſie ſich dennoch aus dem obigen Princip.
[143] Und am Ende iſt das Schickſal dieſer amtlichen Auffaſſung auch ein
leicht verſtändliches. Während im vorigen Jahrhundert jene beiden Auf-
gaben für die Verwaltung noch als ganz natürliche feſtſtehen, verſchwin-
den ſie mit dem gegenwärtigen. Die großen Entwicklungen der Wiſ-
ſenſchaft, namentlich der Bevölkerungslehre, zeigen mehr und mehr, daß
ein Eingreifen von Seiten des Staats hier nicht zum gedeihlichen Er-
folge führt. Die amtliche Verwaltung als ſolche beginnt daher, wenn
auch nur langſam, ihr früheres Auftreten erſt zu mildern, dann ganz
aufzugeben. In England und Frankreich verſchwindet das polizeiliche
öffentliche Eherecht vollſtändig, und nur die elementaren Verhältniſſe
deſſelben, wie wir ſie unten darlegen werden, erhalten ſich. Aber in
Deutſchland iſt das anders, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
ſich hier das alte Stadtbürgerthum mit ſeiner örtlich beſchränkten Auf-
faſſung und ſeinen Sonderintereſſen erhält. Hier gibt es daher — ein-
zig in der Welt! — noch ein öffentliches Eherecht der Gemeinde.
Und dieß nun bildet die zweite der oben erwähnten Formen des öffent-
lichen Eherechts. In höchſt merkwürdiger Weiſe hat dieſe zweite Form
ſelbſt auf die Theorie eingewirkt. Sie läßt das Eherecht in der reinen
Staatswiſſenſchaft fallen, und hält es dagegen im poſitiven Recht feſt,
ohne ihm doch ſeine angemeſſene Stellung zu geben. Der tiefe Wider-
ſpruch, der in dieſen Zuſtänden liegt, wird meiſtens mit Stillſchweigen
übergangen; nur in einzelnen Fällen bricht ſich die freiere Auffaſſung
Bahn; aber der der deutſchen Rechtsbildung überhaupt eigenthümliche
Particularismus hält in Verbindung mit ſehr greifbaren Ortsintereſſen
noch immer an dem alten Recht feſt, und ſo entſteht der Zuſtand, den
wir unten näher bezeichnen werden.
Wir werden nun das öffentliche Eherecht dieſer Epoche in ſeiner
Entwicklung bis zur Gegenwart in das Recht der Beförderung der
Ehe, und das Recht der Verhinderung derſelben theilen.
Kinderprämie.
Wir haben ſchon im Eingange hervorgehoben, daß die Zeit, welche
eine unmittelbare Beförderung der Ehen ihrer Natur nach am meiſten
hervorruft, ſtets eine ſolche iſt, in der es ſich um die militäriſche
Macht des Staats handelt; aus naheliegenden Gründen. Es iſt dabei
ziemlich gleichgültig, ob es ſich dabei um Deſpotie, Republiken oder
königliche Staaten handelt; aber eben deßhalb iſt es auch nicht ſo ſehr
die Ehe ſelbſt, um derentwillen man jene Maßregeln ergreift, ſondern
es iſt vielmehr die Erzeugung von Kindern, im Stande, die Waffen
[144] künftig zu tragen, die man durch die Ehe fördern will. Daher ſtehen
Beförderung der Kindererzeugung und die der Ehe ſelbſt ſtets mit einander
auf gleicher Linie und es iſt hiſtoriſch und ſyſtematiſch falſch, ſie zu
ſcheiden. Andererſeits iſt es aber auch klar, daß, ſo wie der Gedanke
einer Uebervölkerung am Horizonte der Staatswiſſenſchaft erſcheint, alle
dieſe Beförderungsmittel gleichſam von ſelbſt verſchwinden und nur noch,
wie es gegenwärtig der Fall iſt, ein Scheinleben in der Theorie fort-
ſetzen. Auf dieſen Grundlagen beruht der Gang der polizeilichen Ehe-
beförderung, und das Ganze, von dem wir hier reden, iſt daher nur
noch als eine hiſtoriſche Erſcheinung, ohne andere Bedeutung für die
Gegenwart, zu betrachten.
Durch die Kenntniß des römiſchen Rechts und der Claſſiker hatte
ſich die Erinnerung an die römiſche Geſetzgebung zur Beförderung der
Ehen, die Juliae regationes, wie Plautus ſie nennt, lebhaft erhalten.
Mit der Entſtehung der großen Militärſtaaten war es daher natürlich,
daß dieſelben daran dachten, einen gleichen Zweck mit gleichen Mitteln
zu verfolgen. Hier wie auf allen andern entſprechenden Gebieten
machte Frankreich unter Ludwig XIV. den Anfang, und Colbert ver-
anlaßte das ſeiner Zeit ſo berühmte Edict sur les mariages von 1666,
worin zwar die Ehen nicht wie bei der Lex Julia et Papia Poppaea
geradezu befohlen wurden — ein Befehl, der zu ſeiner Grundlage doch
immer nur daſſelbe alte Princip der Geſchlechterordnung haben konnte,
aus dem die Beſtrafung der Hageſtolzen hervorging (ſ. oben) — ſondern
das vielmehr die Ehe weſentlich als Kinderzeugungsanſtalten betrachtete,
indem es theils für die frühe Ehe Steuerfreiheit, theils für die Zahl
von Kindern Penſionen ausſetzte. Schon Montesquieu (L. XXIII. 27)
hatte nicht viel Vertrauen zu dieſem Geſetz, indem er in ſeiner
geiſtreichen Weiſe fragt: was ein Geſetz helfen ſolle, das auf die Er-
wirkung von „prodiges“ berechnet ſei? obwohl Voltaire (Siècle de
Louis XIV. Ch. 29) ſich von der Aufrechthaltung des Geſetzes viel
verſprochen hatte. (Vergl. RoſcherI. §. 225.) Wir haben bereits
früher bemerkt, daß ſchon Montesquieu die Entvölkerung mehr
durch vernünftige Vertheilung des Beſitzes und gute Geſetze als durch
ſpecielle Maßregeln bekämpfen wollte (L. XXII. Ch. 28. 30). Die Idee
und die Bedürfniſſe der Zeit Ludwigs XIV. gingen indeß damals auf
das übrige Europa über und in einem großen Theile deſſelben ent-
ſtanden Verſuche, die Vermehrung der Ehen direkt und indirekt zu
befördern, und ſelbſt Kinderprämien aufzuſtellen. Beſonders bezeichnend
iſt der Gang, den dieſe Beſtrebungen in Oeſterreich ſeit Maria Thereſia
nahmen. Die Geſetzgebung dieſer Zeit ſuchte namentlich die Ehe von
den Einflüſſen der Grundherren frei zu machen, und ſie dadurch zu
[145] fördern. Die wichtigſte Verordnung, mit der dieſe Bewegung beginnt,
iſt die vom 13. Februar 1753. — „Die Obrigkeiten ſollen ihren
Unterthanen die Erlaubniß zur Verehelichung willig ertheilen — viel-
mehr den Ehen alle Beförderung zuwenden;“ es wird ihnen ausdrücklich
vorgeſchrieben, „die zum Unterhalt der Verehelichten beſtimmten und
von ihnen gekauften Grundſtücke nicht an ſich zu ziehen.“ In demſelben
Sinne werden die Heirathsabgaben an die Obrigkeiten (Grundherren)
herabgeſetzt, und der Aufwand bei Heirathen verboten (Verordnung vom
16. Januar 1756 u. a.), ſowie vorgeſchrieben, daß auch die verhei-
ratheten Geſellen zur „vollen Arbeit“ angenommen werden ſollen (Ver-
ordnung vom 1. September 1770). In Brandenburg (vergl. C. C.
March, V. 3) wird Beſchränkung des Trauerjahres unter Friedrich II. ver-
ordnet (Preuß, Geſchichte Friedrichs II. S. 337), wie Roſcher a. a. O.
referirt. Zugleich aber nahm die neu entſtehende Bevölkerungslehre die
Sache in die Hand, und zwar anfangs unbedingt für das direkte
Eingreifen der Verwaltung, wie Süßmilch (Capitel X. §. 215), der
das hier aufgeſtellte Syſtem in den folgenden Capiteln des Weiteren
ausführt, und in Capitel XI. und XII. namentlich auch die allgemeinen
Geſichtspunkte, gute Sitten, Verhinderung des Luxus, Herſtellung von
Hebammenſchulen u. ſ. w. als Beförderungsmittel der „allgemeinen
Fruchtbarkeit“ aufführt, ohne jedoch von direkter Unterſtützung zu reden.
Juſti, der auf gleichem Standpunkte ſteht, hat doch ſchon ernſtliche
Bedenken bei jener allgemeinen Fruchtbarkeit; er hat geſunden Sinn
genug, zu begreifen, daß ſchon „ſechs bis ſieben lebendige Kinder läſtig
genug ſind für den Vater, und daß die Fälle gar nicht ſo häufig ſind,
wo ſich der Staat dadurch unerträgliche Laſten aufbürdet“ (II. Buch,
7. Hauptſtück, 2. Abſchnitt, §. 252). Dagegen räth er ſehr zur Her-
ſtellung von Brautkaſſen, denen er ein weitläuftiges Capitel widmet
(ib. Abſchnitt 3). Berg (Polizeirecht, Bd. III. 2. 2. S. 32) ſagt
ſchon von den letzteren, daß die meiſten auf eine für die Theilhaber
höchſt traurige und nachtheilige Weiſe wieder eingegangen ſind. Statt
derſelben hatte ſchon Hohenthal (de Politia, p. 23) Wittwen- und
Waiſenverſorgungen angerathen, dem Berg (ib. p. 34) zuſtimmt. Im
Uebrigen iſt er ſelbſt ſchon ſehr unſicher über den Werth und Erfolg
direkter Beförderungsmittel der Ehe, und will höchſtens durch Sorge
für Schwangere die Kindererzeugung ſchützen (ib. p. 24 sq.). Kopetz
hat die öſterreichiſchen Verſuche für Brautkaſſen aufgezeichnet (I. §. 119 ff.).
Bei Jacob und den Folgenden verſchwindet das ganze Capitel, nachdem
namentlich durch Malthus die ganze Bevölkerungstheorie auf die an
ſich wirkſamen Geſetze der Bevölkerung zurückgeführt war. Man muß
ſich daher faſt wundern, daß Mohl die Frage in ſeiner Polizei-
Stein, die Verwaltungslehre. II. 10
[146] wiſſenſchaft (I. Seite 112) wieder aufnimmt, dem ſelbſt Gerſtner folgt
(Bevölkerungslehre, S. 180). Wir müſſen das Ganze als einen über-
wundenen Standpunkt anſehen. — Anders iſt es mit dem Folgenden.
wärtigen Jahrhunderts in Deutſchland.
Gleichzeitig mit dem Verwaltungsſyſtem der Ehebeförderung entſteht
nun, und zwar ſo weit wir ſehen namentlich in Deutſchland, ein Syſtem
der Ehebeſchränkungen, das in hohem Grade, wie ſchon oben
angedeutet, für die ganze öffentliche Entwicklung bezeichnend iſt.
Das, was Geſchichte und Wiſſenſchaft hier zu erklären haben, liegt
in der Frage, wie das an ſich Freie, die Ehe, von der öffentlichen
Gewalt auch ohne Rückſicht auf die Geſchlechterordnung und die ſtän-
diſchen Ordnungen und Verhältniſſe, rein aus dem Geſichtspunkte der
ſtaatsbürgerlichen Verwaltung, einer Reihe von Beſchränkungen hat
unterworfen werden können, die zum großen Theil in Deutſchland noch
gegenwärtig fortbeſtehen. Um dieſe Frage nicht bloß materiell, ſondern
ihrem innern Entwicklungsgange nach beantworten zu können, muß
man allerdings feſthalten, daß die Conſequenzen der Ehe nicht bloß
die Eheleute, ſondern bis zu einem gewiſſen Grade die Geſammtheit
betreffen. Dieſe Geſammtheit aber iſt einerſeits der ganze Staat,
und andererſeits iſt ſie die einzelne Gemeinde, der die Eheleute
und mit ihr die Kinder angehören. Es iſt daher natürlich, daß ſich
daraus ein doppeltes Recht jener Ehebeſchränkung gebildet hat; die
eine Seite deſſelben iſt das adminiſtrative Ehebeſchränkungsrecht im
Sinne der ſtaatlichen Verwaltung, die zweite Seite iſt dagegen das
Ehebeſchränkungsrecht der Selbſtverwaltung, oder das Eherecht der
Gemeindeordnungen. Beide ſind ſehr verſchieden, und haben auch
ein ſehr verſchiedenes Schickſal gehabt.
Die amtliche Verwaltung, auf ihrem höheren, eben bezeichneten
Standpunkt ſtehend, nach welchem ſie das Recht der Ehe zunächſt und
vor allem von den Folgen derſelben für die Volkswohlfahrt abhängig
machte, konnte für ihr Eingreifen in die Schließung der Ehe nur zwei
Gründe annehmen, der eine war der wirthſchaftliche, der zweite
war der ſanitäre. Die Ueberzeugung, daß die Ehe an und für ſich
zugleich ein für das Individuum entſcheidendes wirthſchaftliches Ver-
hältniß begründet, und nur zu oft die wahre Urſache der Verarmung
[147] bildet, ließ den Gedanken entſtehen, ſo weit thunlich diejenigen Verehe-
lichungen zu hindern, bei denen die Verarmung als faſt unbedingte
Folge erſcheinen müßte. Manche Staaten ſtellten ſich daher die Auf-
gabe, dergleichen Ehen amtlich zu verhindern; wie z. B. Württemberg
ſchon im 17. Jahrhundert (1663) die niederen Klaſſen durch ſeine Be-
amteten von „unzeitigen Heirathen“ abmahnen läßt (Roſcher I. 402).
In Oeſterreich wurden die Ehen unter ganz armen Leuten direkt ver-
boten. (Verordnung vom 3. März 1766.) Allein dieſe ganze Seite des
amtlichen Eingreifens kam einfach deßhalb nicht zur rechten Entwicklung,
weil, wie wir gleich ſehen werden, die Gemeinden ohnehin ſchon,
namentlich in den Städten, die Ehe aus naheliegenden Gründen bereits
nur zu viel erſchwerten. Der richtige Takt, der, wie man geſtehen
muß, die amtliche innere Verwaltung in Deutſchland von jeher ausge-
zeichnet hat, ließ dieſelbe bald erkennen, daß es unter ſolchen Verhält-
niſſen nicht ſo ſehr darauf ankomme, die Ehen zu beſchränken, als
vielmehr darauf, dieſe Beſchränkungen, die ſich durch die engherzigen
Intereſſen der Gemeinden faſt von ſelbſt ergaben, nicht zu weit greifen,
und aus einem Schutze der Volkswohlfahrt zu einem Hinderniß derſelben
werden zu laſſen. Anſtatt daher die rein adminiſtrativen Ehehinderniſſe
weiter zu treiben, hat ſich aus dem Zuſammenwirken dieſes Geſichts-
punktes mit dem Folgenden vielmehr der Grundſatz, der noch gegen-
wärtig gilt, ergeben, daß die amtliche Verwaltung ſich die oberſte
Entſcheidung über die Ehebewilligung und Verweigerung der Ge-
meinden im Beſchwerdewege vorbehielt; und ſo wiederholt ſich auch hier
die alte Erſcheinung, daß dieſe amtliche Verwaltung gerade durch die
Unterordnung der Selbſtverwaltung die freiere Entwicklung vielmehr
gefördert, als gehemmt hat. Dieß nun wird ſogleich näher begründet
werden.
Etwas anders geſtaltet ſich dagegen die zweite Seite des amtlichen
Verhältniſſes zur Ehe, die vom Sanitätsſtandpunkte ausgeht. Die
amtliche Ehepolizei, wie man ſie wohl nennen kann, hat hier zwei Ge-
ſichtspunkte ins Auge gefaßt, das Alter und die Geſundheit.
Was zunächſt das Alter betrifft, ſo hat die Verwaltung durch die
Geſetzgebung ſich zum Organ des natürlichen Verhältniſſes gemacht,
indem ſie die Altersgränze der Ehe in allen Staaten feſtſtellte, wobei
die wirthſchaftlichen Geſichtspunkte eben ſo wohl als die ſanitären ein-
greifen und mit der Mündigkeit zuſammenhangen. Dieß nun fällt
weſentlich ins bürgerliche Recht. Der ſpecifiſche Gedanke der Bevölke-
rungspolitik hat ſich dagegen ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert der
Frage zugewendet, ob die Ehe zwiſchen kranken Perſonen nicht ver-
boten werden ſolle, und zwar damit die „Erbkrankheiten“ nicht auf die
[148] Kinder übertragen werden. Es iſt der Beachtung werth, daß hier die
Theorie an dem Wahne eines polizeilichen Verbotſyſtems feſtgehalten
hat, während die Geſetzgebung geſunde Einſicht genug hatte, um das
an ſich Verkehrte und praktiſch Nutzloſe ſolcher Verbote zu erkennen und
ſie daher nicht einführte. Schon Jacob (Grundſätze der Polizeigeſetz-
gebung 1809) erklärt, „es ſcheint ein ſolches Verbot theils der Gerech-
tigkeit zuwider, theils in der Ausführung ſo ſchwer zu ſein, daß es
lieber nicht gegeben werden müßte.“ (§. 110.) Berg hat den richtigen
Takt, gar nicht davon zu reden. Die Geſetze unſeres Jahrhunderts
ſchweigen. Wenn die Schriftſteller über die Medicinalpolizei wie Frank
u. a. dergleichen Verbote anrathen, ſo hätten ſich Männer wie Mohl
(Polizeiwiſſenſchaft, §. 24) und ſelbſt Gerſtner (S. 188) nicht ver-
leiten laſſen ſollen, weiter davon zu reden. Abgeſehen von der prakti-
ſchen Unausführbarkeit der Sache iſt es ein ſo tiefer ſittlicher Widerſpruch,
dem der durch Krankheit unglücklich genug iſt, die Milderung ſeines
Leidens durch die Ehe zu verbieten, und der Gattin es polizeilich un-
möglich zu machen, den höchſten Beweis der perſönlichen Aufopferung
und Liebe zu geben, daß wir uns billig wundern, dieſes Gebiet über-
haupt noch nicht etwa in der Bevölkerungslehre — wohin es mit Recht
gehört — wohl aber in der Verwaltungslehre erhalten zu ſehen. —
In dieſen Sätzen nun ſind die letzten der polizeilichen Epoche ange-
hörigen Reſte des älteren Eherechts enthalten. Der Geiſt derſelben in
neuerer Zeit iſt ein weſentlich anderer, und es wird jetzt möglich ſein,
das Syſtem des öffentlichen Eherechts der neuen Geſellſchaftsordnung
zu beſtimmen.
Dagegen läßt ſich ein anderes nicht läugnen. Jene Idee der
medicinal-polizeilichen Verbote der Ehe war doch im Grunde nur ein,
wenn auch ſchiefer Ausdruck der entſtehenden Geſundheitsverwaltung.
Sie erzeugte daher neben jenen unmöglichen Anſichten zugleich höchſt
poſitive und werthvolle Reſultate, die ſich namentlich in der Sorge
einerſeits für Schwangere und zweitens für ein gutes Hebammen-
weſen zeigten. Dieſe Richtung in der Medicinalpolizei, die wir unten
wieder aufzunehmen haben, hat ſich vorzugsweiſe durch die Anerkennung
Bahn gebrochen, die ſie bei der Bevölkerungspolitik dieſer Epoche fand.
Alle Bevölkerungslehrer, von Juſti und Süßmilch an bis auf Mohl
herab — Gerſtner hat ſich ausgeſchloſſen — nehmen die Anſtalten für
Schwangere und Hebammenanſtalten als einen integrirenden Theil der
„Maßregeln für die Bevölkerung“ auf, und haben damit auf dieſem
Gebiet dauernde Reſultate erzielt, um derentwillen man ihnen wahrlich
leicht jene polizeiliche Ueberſchwänglichkeit, die ohnehin kein praktiſches
Reſultat hatte, verzeihen wird!
[149]
Dieß nun iſt das Verhältniß, in welchem die eigentlich amtliche
Verwaltung als Ehepolizei ſich zur Ehe geſtellt, und ein polizeiliches
Eherecht im vorigen Jahrhundert geſchaffen hat, das mit unſerem Jahr-
hundert der beſſeren Einſicht gewichen iſt. Man kann daher unbedenk-
lich ſagen, daß ſeit dem Beginne unſeres Jahrhunderts das ganze
Gebiet der amtlichen Ehepolizei verſchwunden iſt. Die Ehe
iſt dem Amte gegenüber frei, wenn ſie auch der Familie und dem
Berufe gegenüber noch den in der Natur beider liegenden Beſchränkun-
gen unterworfen bleibt. Und wenn es daher noch ein Recht der Ehe-
beſchränkung gibt, ſo iſt daſſelbe wie geſagt nur aus der engherzigen
Auffaſſung der Gemeinde entſtanden, die wir nunmehr leicht erklären
können.
Allerdings ſind die Städte in Deutſchland wie in der übrigen
Welt die großen Träger der perſönlichen Freiheit, der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft. Allein für die Geſtalt, welche die Selbſtverwaltung im
Allgemeinen in ihnen annahm und die ſpeciell für das Eherecht entſchei-
dend war, wurden zwei Verhältniſſe maßgebend, die wir hier ſchon
hervorheben, weil ſie auch für andere Gebiete der Verwaltung entſchei-
dend geworden ſind. Zuerſt werden ſie durch den Kampf mit den
andern Ständen ſelbſt zu einem Stande, und die ſtädtiſche ihrem Weſen
nach freie Arbeit wird dadurch ſelbſt zu einer unfreien, ſtändiſch be-
ſchränkten Berechtigung. Nicht der Menſch, ſondern nur der „Bürger“
hat das Recht zum gewerblichen Verdienſt. Zweitens aber ſind dieſe
Städte ſelbſtändige Verwaltungskörper, welche alle Aufgaben der Ver-
waltung, alſo auch die Verwaltung des Armenweſens für ihre Gemeinde-
mitglieder beſorgen, und die mithin eben vermöge ihrer Selbſtändigkeit
auf die eigenen Mittel angewieſen waren. Es folgte daraus, daß die
Angehörigkeit an die Stadt als ſolche dem Einzelnen ſehr weſentliche
Rechte gab, und der Stadt ſehr weſentliche Verbindlichkeiten auferlegte.
Damit erſchien es denn freilich ganz natürlich, daß die Stadt auf den
Akt, der dieſe Rechte und Verbindlichkeiten erzeugte, einen Einfluß haben
mußte. Unter den Akten aber, durch welche dieß geſchah, ſtand nun
das Eingehen der Ehe offenbar in erſter Reihe. Und wie es daher
ganz natürlich erſchien, daß die Stadt ſich über die direkte Aufnahme
von einem Angehörigen das Zuſtimmungsrecht vorbehielt, ſo ſchien es
nicht weniger natürlich, daß die Stadtgemeinde das Recht in Anſpruch
nahm, auf die Eingehung der Ehe ihrer Angehörigen einen Einfluß zu
nehmen. Das lag ſo ſehr in der Natur der Sache, daß, als dieß
ſtädtiſche Ehebewilligungsrecht, wie wir es nennen wollen im
[150] Gegenſatze zur amtlichen Ehepolizei, entſtand, von gar keiner Seite,
weder von den Organen der Verwaltung, noch von der Theorie aus,
dagegen ein Einſpruch erhoben wurde. Dieß ſtädtiſche Eherecht iſt
deßhalb faſt ſo alt, wie die Rechtsbildung der Städte, und es iſt ein
großer Mangel, daß die Wiſſenſchaft ihm und ſeiner Geſchichte ſo wenig
Aufmerkſamkeit zugewendet hat. Um nicht hier zu weit zu gehen,
wollen wir uns darauf beſchränken, die drei großen Grundformen dieſes
Eherechts, die zugleich die drei großen Epochen in der öffentlichen recht-
lichen Stellung der Städte überhaupt bedeuten, hier anzudeuten.
Die erſte Form und Epoche dieſes ſtädtiſchen Eherechts beruhte auf
dem Streben der Städte, an Volkszahl und damit an Kraft zuzu-
nehmen. Die Folge war der ernſtlichſt vertheidigte Grundſatz, daß die
ſtädtiſche Angehörigkeit durch die Ehe mit einem Bürger gewonnen, und
damit die Löſung von der grundherrlichen Abhängigkeit erzielt werde.
In dieſer Zeit wird die Stadt die Heimath der freien Ehe, wie ſie
die Trägerin der urſprünglichen Freizügigkeit geworden iſt. Warum hat
Maſcher (Das deutſche Gewerbeweſen von der früheſten Zeit bis auf
die Gegenwart 1866) dieſe Verhältniſſe nicht ernſtlicher und auf die
Quellen ſelbſt zurückgehend an dem Punkte unterſucht, wo er auf dieſe
Frage zu ſprechen kommt? Er hätte hier vielleicht nicht bloß einen
Gedanken, ſondern auch eine Thatſache zu den vielen hinzugefügt, die
er in ſeinem ſonſt fleißigen Werke geſammelt hat? (Abſchnitt III. Cap.
1 und 2.) — Natürlich aber kommt in dieſer Epoche das eigentliche
Eherecht nicht zu eigener Form; das beginnt erſt in der folgenden
Epoche.
Dieſe zweite Epoche macht die Arbeit zünftig, und ſtellt unter den
Bedingungen des ſelbſtändigen Betriebes das Angehören an die Stadt
in die erſte Reihe. Die Entſcheidung über das letztere wird daher
indirekt zu einer Entſcheidung über die Theilnahme an dem zünftigen
Gewerbebetrieb. Die Ausartung des Zunftrechts zu einem ausſchließ-
lichen Privilegium erzeugte daher die damals natürliche Folgerung, daß
die Ehe, die jene Angehörigkeit erzeugte, nicht ohne Zuſtimmung der
berechtigten Gewerbsmeiſter geſchloſſen werden dürfe. Anfangs mag
dabei ein kräftiges ethiſches Element zum Grunde gelegen haben; bald
aber ward daſſelbe vom kläglichſten Sonderintereſſe des Zunftprivilegiums
ausgebeutet. Der Sieg der Zünfte über die Geſchlechter, der die erſteren
zu Herren der Stadtverwaltung machte, gab ihnen das Mittel in die
Hand, die darauf bezüglichen Rechtsſätze in das geltende Verwaltungs-
recht der Städte hineinzubringen, wo ſie zwar nicht immer eine be-
ſtimmte Formulirung fanden, aber doch in unbeſtrittener Geltung
beſtanden. Wir beſitzen leider keine ſpecielle Nachweiſung über die
[151] Entwicklung dieſer Seite des öffentlichen Gewerberechts, und wenn die
gelehrten Franzoſen wie Guizot, deſſen Histoire de la Civilisation ſich
in die Geſchichte der Commune de Beauvais verläuft wie der Rhein
in den Sand Hollands — oder wie Amedee Thierry, deſſen Geſchicht-
ſchreibung zur Hälfte Poeſie iſt, das nicht gethan, ſo dürfen wir
Deutſchen nicht viel ſchelten, da auch unſere Autoren, wie Raumer und
in neueſter Zeit wieder Maſcher, von der inneren eigentlichen Ver-
waltung der Städte in Finanz- und inneren Fragen gar wenig zu ſagen
wiſſen. Es muß uns an dieſem Orte genügen, zu bemerken, daß ſich
mit dem 18. Jahrhundert die Kleinbürgerei und die Herrſchaft der
Sonderintereſſen auch im Gebiete des Eherechts in einer Weiſe aus-
bildeten, die uns das freiere Auftreten der amtlichen Verwaltung oder
der „Polizei“ als einen friſchen Luftzug geſunderer Entwicklung be-
grüßen läßt; gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ſehen wir dann
auch die Wiſſenſchaft gegen jene kläglichen Beſchränkungen zu Felde
ziehen, und wie der Zuſtand, dem wir dort begegnen, ein elender
iſt, ſo rückt der Zeitpunkt immer näher heran, in dem er ſich auflöst.
In der That galt der, auf dem ganzen Gewerbe ſchwer laſtende Grund-
ſatz in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ganz allgemein, daß „unan-
geſeſſene ledige Mannsperſonen zur „bürgerlichen Nahrung“ nicht zuge-
laſſen werden. (S. auch Fiſcher, Polizeirecht, Band I. §. 1051.) Um
nun dieſelben ferner abzuhalten, ſtellten die Zünfte und die von ihnen
beherrſchten Magiſtrate unter andern eine Reihe widerrechtlicher Ein-
ſchränkungen in Anſehung des Heirathens neben übermäßigen Geld-
erforderniſſen auf, und machten dadurch mit der Ehe zugleich das Ein-
treten in die Zunft unmöglich. Ein klägliches Beiſpiel aus der
Tiſchlergilde von Bremen erzählt Berg (Polizeirecht, Band III. 2.
Auflage, S. 29). Allerdings wird dieſe Richtung des in ſich zuſam-
menfallenden Zunftweſens energiſch von der amtlichen Verwaltung be-
kämpft, und das iſt einer von den Punkten, wo die neue Wiſſenſchaft
die Polizei im Namen der edleren Menſchenrechte auf das Lebhafteſte
unterſtützt, und in ſeiner klaren und trefflichen Weiſe drückt Berg das
aus: „Zwar muß die Polizei allerdings die rechtmäßigen Privilegien
und die gültigen und vernünftigen Gewohnheiten der Handwerksinnungen
ungekränkt laſſen; aber daraus folgt nicht, daß ſie in Anſehung unver-
nünftiger und gemeinſchädlicher Anſprüche und Gebräuche ſchlechterdings
gebundene Hände hat, und alles beim Alten zu laſſen verpflichtet iſt“
— ein Satz, den ſchon Moſer a. a. O. S. 30 gleichfalls anerkennt.
Allein freilich konnte da in einzelnen Punkten keine Abhülfe gefunden
werden. Es mußte eine ganz neue Geſtalt der Dinge kommen. Dieſe
nun kam; aber während ſie mit der Revolution in Frankreich das ganze
[152] Zunftweſen beſeitigte, ließ ſie es in Deutſchland beſtehen, und mit ihm
den Grundſatz, daß die Ehe auch jetzt noch keine freie ſein könne. Nur
gewinnt dieſer Grundſatz jetzt eine neue, ſeine dritte Geſtalt, und dieſe
beſteht in ihren Grundzügen noch gegenwärtig fort.
Mit dem Auftreten der verfaſſungsmäßigen Epoche erſcheint näm-
lich, wie wir in der vollziehenden Gewalt dargelegt, der Grundſatz, daß
die Gemeinde frei, daß ſie aber auch das verpflichtete Organ für alle
örtlichen Verwaltungsaufgaben ſein müſſe. Eine dieſer Aufgaben iſt
die Armenunterſtützung. Die Verpflichtung zur Armenunterſtützung em-
pfängt daher jetzt einen neuen Namen; ſie heißt das Heimathsrecht.
Jede Ortsgemeinde wird in dieſer Geſtalt des öffentlichen Rechts daher
ein Verwaltungskörper für das Hülfsweſen ſeiner Angehörigen. Hatte
nun ſchon früher der Erwerb des Rechts auf Gewerbebetrieb durch die
Ehe der Zuſtimmung der Gemeinden unterſtanden, ſo ſchien es jetzt,
wo die Armenunterſtützung zur geſetzlichen Pflicht der Ortsgemeinde
ward, nur natürlich und conſequent, daß vermöge derſelben auch bei
der Ehe, durch welche das Recht auf die letztere erſt gewonnen ward,
der Ortsgemeinde eine Zuſtimmung gewahrt werde. Zwar wagte man
nicht recht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, dieſe Zuſtimmung auf
die Zunftprivilegien und das Intereſſe des ausſchließlichen Gewerbe-
betriebes zurückzuführen, wohl aber ward dieß Sonderintereſſe ein treuer
Bundesgenoſſe des allgemeinen Gemeindeintereſſes, ſich ſo wenig als
möglich Unterſtützungspflichten durch Zulaſſung der Ehen Unbemittelter
aufzubürden. Und als es daher jetzt galt, neue Gemeindeordnungen zu
machen, reichten ſich beide Faktoren die Hand, und ſie zuſammen haben
das gegenwärtige öffentliche Eherecht Deutſchlands, das wir, einzig in
ſeiner Art, das Gemeindebewilligungsrecht der Ehe nennen
müſſen.
Es iſt uns nun zwar nicht möglich geweſen, alle Beſtimmungen,
die dahin gehören, und alle Quellen dafür aufzufinden. Allein das
Weſentliche glauben wir dennoch beibringen und den Beweis liefern zu
können, wie weit wir noch hinter den andern Nationen in dieſer zwar
ſpeciellen, aber doch ſo wichtigen Frage zurückſtehen.
Im Allgemeinen beruht nämlich das deutſche Gemeinderecht der
Ehebewilligung auf dem oft mit großer Naivetät ausgeſprochenen Ge-
danken, durch das Recht der Bewilligung der Ehe der Unbe-
mittelten ſich die Laſt der Unterſtützung der Kinder derſel-
ben fern zu halten. Es hat ein halbes Jahrhundert dazu gehört,
um zu der Einſicht zu kommen, daß die Gemeinden, vorausgeſetzt
daß der Zweck richtig wäre, dieſen Zweck eben durch die Mittel nicht
erreichen, da die unehelichen Kinder genau dieſelben Anſprüche haben
[153] wie die ehelichen. Und in der That hätte auch jener Standpunkt nicht
durchgegriffen, wenn nicht die Excluſivität der bis in die neueſte Zeit
beſtandenen Zünfte und Innungen faſt mehr noch die Niederlaſſung zum
Gewerbebetrieb, als die Verehelichung an ſich zu verhindern getrachtet
hätte. Eben deßhalb behaupten wir, daß dieſer Reſt des mittelalter-
lichen Rechts erſt dann ganz verſchwinden wird, wenn das Gewerbe
ganz frei ſein wird. Vor der Hand beſteht daſſelbe jedoch, und die
Hauptformen deſſelben ſind, ſo viel wir ſehen, folgende.
Was zuerſt Oeſterreich betrifft, ſo war die Ehe mit dem ge-
ſammten Stande der Bauern bis 1848 unfrei; jetzt dagegen iſt ſie
frei, und Oeſterreich ſteht daher jetzt auf demſelben Standpunkte wie
Preußen, wo die Eheverweigerung wegen mangelnden Auskommens
den Eltern und Vormündern zugewieſen iſt. Dabei hatten die Städte
neben den Landgemeinden meiſtens ihr beſonderes Recht; doch behielten
ſich ſtets die Beamten das Recht vor, eine endgültige Entſcheidung dar-
über auszuſprechen, die meiſt im Sinne der freieren Bewegung ausfiel.
Im Großen und Ganzen war nach Herzog (Syſtematiſche Geſetze über
den politiſchen Eheconſens 1829) und Stubenrauch (Verwaltungs-
geſetzkunde §. 339) der Gang der Geſetze folgender. Bis 1848 hatten
die Inhaber der Patrimonialgerichte als Gemeindepolizeibehörden das
Recht der Eheverbote, bis dieſes Recht durch die Aufhebung der Unter-
thänigkeitsverhältniſſe (Patent vom 7. Sept. 1848) aufgehoben ward.
Für diejenigen Reichstheile dagegen, welche in keinem ſolchen Abhängig-
keitsverhältniſſe ſtanden (Städte ꝛc.), beſtanden früher oft beſondere
Rechte der ſtädtiſchen Obrigkeiten, bis dieſelben durch Verordnung vom
12. Januar 1815 zunächſt für Wien geregelt und dann allgemein
ausgedehnt wurden. Darnach ſind die Claſſen genau bezeichnet, welche
keines Eheconſenſes von Seiten der Behörden bedürfen; die übrigen
müſſen einen zur Ernährung der Familie ausreichenden Unterhalt nach-
weiſen. Die Gültigkeit dieſer Grundſätze iſt durch Erlaß vom 21. Juni
erhalten worden. Specielle Vorſchriften über die Verheirathung von
Geſellen ſchon ſeit dem 22. December 1796. Ebenſo ſollen Vaga-
bunden und Bettler vom Heirathen abgehalten werden. (Kopetz,
öſterreich. polit. Geſetzkunde 1807. I. §. 124.) Doch wird ein Recurs
an die höhern politiſchen Behörden zugelaſſen. — Hier iſt, wie man
ſieht, noch der ehepolizeiliche Standpunkt ſpeciell für Erwerbloſe feſt-
gehalten, und zwar neben dem Standpunkt der Gemeindebewilligung.
Ein ganz ähnliches Verhältniß findet ſtatt im Königreich Sachſen.
Hier ſind alle Ehen vor dem 21. Jahre durch Mandat vom 20. Sept.
1826 verboten; ebenſo Taubſtummen, wenn ſie nicht ſchreiben können
(Mandat von 1820); doch kann von beiden dispenſirt werden (Funke,
[154]II. 991. 992). Nach dem Mandat vom 10. October 1826 ſollen ferner
Handwerksgeſellen zur Ehe nur dann zugelaſſen werden, wenn ſie von
der Obrigkeit ein „Zeugniß“ haben, daß ſie dem „gemeinen Weſen
nicht zur Laſt fallen werden,“ widrigenfalls man ſie „ausdrücklich da-
von abmahnen,“ eventuell „vom Orte (!) ganz wegweiſen ſoll.“ Dieſe
noch gegenwärtig geltenden Beſtimmungen ſcheinen genügt zu haben,
da das ſpätere Heimathsgeſetz vom 26. November 1834 und die Armen-
ordnung vom 22. October 1840 nichts weiter ſagen; doch iſt ganz ratio-
nell die Verehelichung der Almoſenpercipienten im §. 70 von der Bewil-
ligung abhängig gemacht (Funke, II. 552—555). — Für Württem-
berg hat Hartmann die alten Geſetze über das Eherecht geſammelt
(Ehegeſetze des Herzogthums Württemberg), nach welchen die Ehen mit
beſonderer Rückſicht auf die Verarmung und damit dem gemeinen Weſen
keine zu große Laſt auferlegt werde, nur auf Ermächtigung der Regie-
rung und des Ehegerichts geſchloſſen werden konnten. Zwar ward nun
dieſe Beſchränkung durch Gemeindeverordnung vom 1. October 1807 auf-
gehoben und im Entwurf des Bürgerrechtsgeſetzes von 1828 nicht
wieder eingeführt; allein die Localintereſſen bekämpften dieſen freien und
vernünftigen Standpunkt ſchon in den Verhandlungen von 1828 (ſiehe
Bitzer, Freizügigkeit S. 236) und brachten es dahin, daß die Regie-
rung 1833 ein Ehebeſchränkungsgeſetz als Entwurf in die Kammer ein-
brachte, und daß wirklich im revidirten Bürgerrechtsgeſetze vom 4. Dec.
1833 beſtimmt ward (Art. 42. 43), daß jeder „Bürger“ (!) ſich vor
ſeiner Verehelichung über einen genügenden Nahrungsſtand auszuweiſen
habe. Dieſer beſchränkte Standpunkt hat ſich unglaublicher Weiſe in
Württemberg bis auf unſere Gegenwart erhalten; das neue Eherechts-
geſetz vom 5. Mai 1852 hat die Bewilligung der Ehe im Princip bei-
behalten, auf Grundlage eines genügenden Nahrungsſtandes! So
iſt über dieſen conſtitutionellen freiſinnigen Staat die ganze Entwicklung
unſeres Jahrhunderts ſpurlos hinweggegangen! Doch vernehmen wir,
daß endlich die württembergiſchen Handelskammern um Aufhebung
dieſes mittelalterlichen Rechts eingeſchritten ſind (Jahresbericht der
württembergiſchen Handelskammern von 1864. Siehe auch Auſtria
Nr. 36). Mohl ſchweigt; mit Abſicht? — Bayern hatte die „Er-
laubniß“ zur Ehe feſtgehalten aus dem vorigen Jahrhundert; das Ge-
ſetz vom 12. Juni 1808, „die Beförderung der Heirathen auf dem
Lande betreffend,“ gab das Recht der Bewilligung ganz in die Hände
der „Obrigkeiten“ — wunderlicher Widerſpruch! — ein Grundſatz, der
dann in das Geſetz vom 17. November 1816 über das Armenweſen
überging. Die gegenwärtige Geſtalt dieſes Rechts hat die Verehelichung
rein vom Standpunkte des Heimathsrechts (ſ. unten) aufgefaßt, und
[155] ſie daher als identiſch mit der Anſäßigmachung betrachtet. Das geltende
Recht in dieſer Beziehung iſt ſehr engherzig (Geſetz über Anſäßig-
machung und Verehelichung vom 11. September 1825, revidirt durch
das Geſetz vom 1. Juli 1834). Kein Religionsdiener ſoll eine Trauung
vornehmen, es ſei ihm denn die obrigkeitliche Heirathsbewil-
ligung vorgelegt, unter dem Rechtsnachtheile der Haftung für
Schaden und Koſten, welche aus der Trauung für die Gemeinde
erwachſen! Das Unausführbare dieſes Geſetzes leuchtet auf den erſten
Blick eben ſo ſehr ein, als das Irrationelle deſſelben (Pözl, Verfaſ-
ſungsrecht §. 29). Doch iſt das Ganze nicht beſſer, als in dem viel
„freiſinnigeren“ Baden, wo gleichfalls die Aufnahme und Anſäßigkeit
vom Gemeinderath und Bürgerausſchuß verſagt werden kann (§. 10),
und die Verehelichung vom 25. Lebensjahre, einem Nahrungszweige
und gar daneben einem Beſitz von 100 bis 200 fl. abhängig gemacht
iſt (§. 1)! Das iſt das Geſetz vom 15. Februar 1851. (S. Fröh-
lich, die badiſchen Gemeindegeſetze 1861.) Ganz ähnlich iſt das Ehe-
bewilligungsrecht im Großherzogthum Heſſen (Gemeindeordnung vom
30. Juni 1821, Art. 42) beſtimmt und durch das neueſte Geſetz vom
19. Mai 1852, die Niederlaſſung betreffend, nicht geändert. Intereſ-
ſant iſt der Gang, den dieß Recht in Hannover gemacht hat. Ein
Reſcript vom 27. Juli 1827 (Eckhardt, Geſetze, Verordnungen und
Ausſchreibungen für das Königreich Hannover, 1840) beſagt nur, daß
keine Trauung vorgenommen werden darf, bis die kopulirenden Per-
ſonen die Erklärung der Commune, in der ſie ſich niederlaſſen wollen,
mitbringen, daß dieſelbe ſie aufnehmen wolle! Das wird durch
Ausſchreiben vom 21. September 1835 eingeſchärft; das Ausſchreiben
vom 5. October 1840 hat dann die näheren Bedingungen feſtgeſtellt,
unter denen jene Erlaubniß von den Obrigkeiten ertheilt werden darf
— darunter die, daß die Betreffenden bisher eine „ſparſame Lebens-
weiſe“ geführt und daß ſie — eine Wohnung gefunden haben! (Bitzer,
Freizügigkeit, S. 223—225.) — Wir müſſen, wie geſagt, uns auf dieſe
Beiſpiele beſchränken. Aber ſie genügen, um zu zeigen, daß das deutſche
öffentliche Eherecht noch großentheils auf dem Standpunkte des vorigen
Jahrhunderts ſteht, weit hinter dem Frankreichs und Englands, und
daß wir erſt dann die völlige Freiheit der Ehe, wie ſie unſere Gegen-
wart verlangt, haben werden, wenn wir einmal allgemeine und volle
Gewerbefreiheit wie in Oeſterreich und die neue Organiſirung des Hei-
mathsweſens auf Grundlage der großen Armengemeinden, die noch
allenthalben fehlt, beſitzen werden.
Es iſt deßhalb nicht überflüſſig, jetzt die elementaren Grundrechte
der Ehe dieſer hiſtoriſchen Entwicklung anzuſchließen.
[156]
Geſellſchaft.
(Grundlage deſſelben iſt der Unterſchied der Freiheit und der Beſchrän-
kungen der Ehe auch in dieſer Geſellſchaftsform. Die letzteren entſtehen aus
den Elementen der Geſchlechter, der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen
Ordnung.)
Die gewöhnliche Annahme iſt nun, nachdem die bisherigen Stand-
punkte des öffentlichen Eherechts überwunden ſind, daß die Ehe der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gegenſatz zur frühern Zeit eine freie
geworden ſei. Es kommt darauf an, das richtig zu verſtehen.
Die völlige Freiheit der Ehe würde dieſelbe, indem ſie ſie ganz der
ſubjektiven Selbſtbeſtimmung des Einzelnen überließe, überhaupt des
öffentlichen Rechts entkleiden. Offenbar iſt das weder der Fall, noch
kann es das jemals ſein. Die Ehe wird und muß ſtets das Moment
des öffentlichen Rechts behalten. Und wenn man daher von der Freiheit
der Ehe redet, ſo muß man ſich den Inhalt dieſer Freiheit nicht als
einen völligen Mangel an Beſtimmungen des öffentlichen Rechts, ſon-
dern als Syſtem des Eherechts denken, das zu ſeinem rechtsbildenden
Princip nur noch das Weſen der Ehe ſelbſt hat. Die Freiheit der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſteht auch hier nicht in der Willkür,
ſondern in der Befreiung des Rechtsinſtituts von Momenten, die
außerhalb deſſelben liegen. Neben und in dieſer Freiheit beſteht
das öffentliche Eherecht fort; und es wird darauf ankommen, in der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung die Freiheit der Ehe als die Be-
freiung derſelben von Rechtsbeſtimmungen, die außer derſelben liegen,
das öffentliche Eherecht dagegen als das Syſtem des durch das Weſen
der Ehe ſelbſt geſetzten öffentlichen Rechts hinzuſtellen. Und erſt in
dieſem Sinne ſprechen wir vom neuen Syſteme des öffentlichen Ehe-
rechts unſerer Zeit.
Die Grundlage dieſes bisher zwar praktiſch gültigen, aber nicht
wiſſenſchaftlich zuſammengefaßten Syſtems des gegenwärtigen Eherechts
iſt nun folgende.
Die Ehe iſt ihrem Weſen nach einerſeits ein Gut der höchſten,
freien und ſittlichen Selbſtbeſtimmung des Einzelnen. Inſofern ſie
als ſolche erſcheint, muß ſie dieſer Selbſtbeſtimmung überlaſſen, das iſt
eben frei ſein. Sie iſt aber andererſeits ein Verhältniß, welches
theils durch ſich ſelbſt, theils durch die aus ihr entſtehende Familie für
die Gemeinſchaft in ihren verſchiedenen Formen poſitive, und zwar
wirthſchaftliche Verpflichtungen erzeugt. Inſofern ſie dieß thut,
wird ſie von der Gemeinſchaft und ihrem Willen nothwendig abhängig.
[157] Und das Syſtem des öffentlichen Eherechts iſt daher die Beſtimmung
der rechtlichen Gränze, innerhalb deren dieſe Abhängigkeit der Ehe von
der Gemeinſchaft vermöge ihrer Verpflichtungen zur Geltung gelangt.
Die Freiheit der Ehe in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft enthält
den erſten Grundſatz, daß es in derſelben keine Verpflichtung zur
Eingehung mehr gibt; und zwar hat weder die Familie noch das
Geſchlecht das Recht, die Eingehung der Ehe von ihren Mitgliedern zu
fordern. Die natürliche Conſequenz iſt, daß die Eheloſigkeit eben ſo
frei iſt. Die Rechtsordnung der Geſchlechtsordnung iſt auf dieſen Punk-
ten durch die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft aufgehoben.
Der zweite Grundſatz iſt der, daß die Ehe weder durch den
Stand, noch durch den Beſitz bedingt erſcheint, ſondern als höchſte
Einheit des individuellen Lebens durch den freien Willen der Gatten
ein gemeinſames und für beide gleiches geſellſchaftliches Verhältniß be-
gründet. Die Idee der Freiheit hat ſogar das confeſſionelle Recht über-
wunden und die Ehe zwiſchen Mitgliedern verſchiedener Religionsbekennt-
niſſe wenigſtens in einem großen Theile Europas freigegeben. Das
große Mittel zur Erreichung dieſes Zweckes iſt die bürgerliche Ehe,
die zwar keine kirchliche, wohl aber eine rechtliche und ſittliche Ehe
gründet. Doch iſt bekannt, daß dieſer Theil der Freiheit der Ehe noch
keineswegs entſchieden iſt, obwohl an dem Siege derſelben nicht gezweifelt
werden kann. Auf dieſen Punkten iſt die ſtändiſche Rechtsordnung durch
die ſtaatsbürgerliche Ehe überwunden.
Der dritte Grundſatz iſt, daß die Ehe kein Mittel für die Zwecke
der Verwaltung, ſondern ein rein perſönliches Verhältniß ſein ſoll.
Das Eherecht hat daher, um es mit Einem Worte zu ſagen, ſeinen
populationiſtiſchen Inhalt verloren. Es gibt keine Ehe- und
Kinderprämien mehr für die Ehe als ſolche; es gibt auch keine geſund-
heitspolizeilichen Verbote mehr. Die Epoche des polizeilichen Eherechts
iſt nach dieſen Seiten hin durch die neue Geſellſchaft beendigt.
Das ſind die Grundſätze, welche die Freiheit der Ehe bilden.
Sie ſind insgeſammt nichts als die Anerkennung der freien Selbſt-
beſtimmung als Grundlage der Ehe. Neben ihnen ſtehen dagegen die
folgenden Grundſätze.
Das öffentliche Eherecht der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft enthält
die Geſammtheit derjenigen Grundſätze, welche die Eingehung der Ehe
[158] trotz der principiellen Freiheit derſelben beſchränken. Es kann daher
nie einen Zwang zur Ehe, wohl aber die Verhinderung derſelben ent-
halten. Und da nun die Ehe ſelbſt nach allen Seiten hin in das Leben
der Gemeinſchaft eingreift, ſo iſt auch dieß Eherecht kein einfaches, ſon-
dern ſchließt ſich naturgemäß an die Grundformen dieſer Gemeinſchaft,
die Geſellſchaftsordnungen, an.
Und hier iſt nun zugleich der erſte Punkt, auf welchem wir den
großen Grundſatz der Bildung der Geſellſchaftsordnungen praktiſch und
rechtlich zur Erſcheinung gelangen ſehen, daß nämlich keine Geſellſchafts-
ordnung für ſich beſteht, ſondern daß jede folgende die Elemente der
vorhergehenden in ſich aufnimmt, ſie verarbeitet und ſie ſo weit beſtehen
läßt, als ſie durch das Weſen der Perſönlichkeit gefordert werden,
während ſie von ihr nur diejenigen Ordnungen und Beſtimmungen be-
ſeitigt, die innerhalb der vorhergehenden Geſellſchaftsordnung durch
das Sonderintereſſe erzeugt ſind. Wir gelangen daher auch
hier zu dem entſcheidenden Princip der Geſellſchaftslehre, daß die höchſte
Geſtalt der Geſellſchaft nicht etwa in der einen oder andern Ordnung
für ſich, und nicht etwa in dem Vorhandenſein der einen oder andern
Claſſe, ſondern vielmehr in dem organiſchen Zuſammenbeſtehen aller
Ordnungen und Claſſen zugleich gegeben iſt. Dieſe theoretiſche
Wahrheit beſtätigt das praktiſche Leben auf jedem Punkte; im praktiſchen
Leben aber iſt gerade die Rechtsbildung der immer aufs neue entſchei-
dende Beweis dafür. So im Allgemeinen und ſo natürlich auch ſpeciell
im Eherecht.
Wir aber haben hier dieſen Grundſatz beſonders hervorgehoben,
weil wir ſeiner in unſern folgenden Darſtellungen beſtändig bedürfen,
und uns auf ihn berufen werden.
Das öffentliche Eherecht der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſteht
daher und wird ewig beſtehen aus den Beſchränkungen der Ehe, welche
das ewige Weſen der Geſchlechterordnung, der ſtändiſchen Ordnung und
der geſellſchaftlichen Ordnung der freien Perſönlichkeiten oder der ſtaats-
bürgerlichen Ordnung mit ſich bringen. Die Grundſätze, welche das
öffentliche Eherecht daher als dauernde aus den einzelnen Geſellſchafts-
ordnungen beibehält, und welche demgemäß den Inhalt des gegenwärtigen
freien öffentlichen Eherechts bilden und bilden werden, ſind folgende:
a) Aus dem reinen Weſen der Geſchlechterordnung und ihrer Grund-
lage, der Familie, entſteht das Princip der Zuſtimmung der Eltern
zur ehelichen Verbindung, und die Bedingung der Mündigkeit.
Die Beſtimmungen, welche die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft dafür for-
dert, bilden einen Theil des bürgerlichen Rechts und gehören der Dar-
ſtellung deſſelben an.
[159]
b) Der Stand der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft iſt der Beruf,
inſofern er von der Gemeinſchaft ſeine wirthſchaftliche Exiſtenz em-
pfängt. Die beiden dauernd gültigen Formen deſſelben ſind der Wehr-
ſtand und der Stand der Staatsdiener. Das Verhältniß des öffent-
lichen Eherechts zu beiden iſt äußerlich verſchieden; innerlich aber
daſſelbe. Unter dem Wehrſtand in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
kann nämlich nicht die Geſammtheit der wehrhaften und damit wehr-
pflichtigen Staatsbürger, ſondern nur die Geſammtheit derer verſtan-
den werden, welche die Waffen zu ihrem Lebensberuf gemacht haben;
unter dem Stande der Staatsdiener gleichfalls nicht jeder, der das Amt
verwaltet, ſondern nur die berufsmäßig gebildeten Staatsdiener. Für
beide muß nun die Ehe nicht bloß frei, ſondern ſie muß auch wirth-
ſchaftlich möglich ſein. Allein da ſie ſelbſt der höchſte Ausdruck der
wirthſchaftlichen Selbſtändigkeit iſt, ſo kann ſie auch nicht unbedingt
für jeden Theilnehmer an dieſem Berufe geſtattet werden; es muß viel-
mehr erſt eine beſtimmte Stufe des Berufes die wirthſchaftlichen Be-
dingungen der Ehe darbieten, oder es tritt das Recht zur Verehelichung
erſt bei dieſer Stufe der militäriſchen und amtlichen Laufbahn ein.
Daran ſchließen ſich zwei Formen. Erſtlich, daß die Eingehung der
Ehe unterhalb dieſer Stufe zwar frei iſt, daß ſie aber den Austritt
aus der ſtandesmäßigen Laufbahn zur Folge hat; zweitens, daß wenn
der Betreffende die wirthſchaftlichen Bedingungen der Ehe und Familie
außerhalb ſeines ſtandesmäßigen Einkommens hat, die Ehe auf jeder
Stufe frei ſein muß. Der Begriff und die Form einer eigentlichen
„Bewilligung“ der Ehe widerſtreitet dem Weſen derſelben. Die Dar-
ſtellung dieſes ſtandesmäßigen Eherechts gehört dem Militär- und Staats-
dienerrecht an; die Gültigkeit deſſelben wird ſtets von der berufsmäßigen
Auffaſſung des Standes bedingt ſein. Daher iſt in England gar kein
Staatsdiener-Eherecht vorhanden, während das Militär-Eherecht bei
den untern Graden durch den Mangel der allgemeinen Wehrpflicht viel
ſtrenger iſt als auf dem Continent. Leider mangeln uns die Quellen,
um dieſe Verhältniſſe genauer zu verfolgen. Wir können nur das Be-
dauern ausſprechen, daß die noch immer auf Grundlage des bürgerlichen
Rechts einſeitig aufgefaßte Behandlung des Eherechts von Seiten der
Jurisprudenz auch dieſen Theil des bürgerlichen Verwaltungsrechts nicht
in ſeinem Stoffe aufgenommen hat. Im Allgemeinen kann dasjenige
als im Weſentlichen auch jetzt gültig angeſehen werden, was wir oben
unter der polizeilichen Epoche angeführt haben.
c) Für die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft muß man nun zwei Ge-
ſichtspunkte wohl unterſcheiden, den der Bedingungen der Ehe, und
den der Ehebeſchränkung.
[160]
Was zuerſt die Bedingungen der Ehe betrifft, ſo beruhen die-
ſelben darauf, daß die Ehe als ein öffentlicher Akt betrachtet wird,
und daß daher die öffentliche Mittheilung derſelben als eine vom
Geſammtintereſſe geforderte Bedingung der Ehe erſcheint, die für ſo
nothwendig erachtet wird, daß in England und Frankreich die Ein-
gehung, ja das Recht der kirchlich geſchloſſenen Ehe von der Vornahme
derjenigen Akte abhängig gemacht wird, welche dieſe öffentliche Mitthei-
lung nach dem Geſetze enthalten ſollen. (S. unter Standesregiſter
Frankreich und England.)
Was dagegen die Ehebeſchränkungen, ſoweit ſie nicht auf Familien
und Beruf beruhen, anbelangt, ſo kann die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft
als ſolche nur Eine Ehebeſchränkung enthalten und durch ihr Princip
rechtfertigen. Es iſt die, welche aus der Verpflichtung folgt, daß die
Gemeinde die Familie erhalten muß, wenn das Familienhaupt
es nicht vermag. Es iſt nun klar, daß es äußerlich nur Ein entſchei-
dendes Merkmal gibt, um dieß Unvermögen der Ehegatten zu conſta-
tiren. Das iſt die Thatſache der wirklichen Armenunterſtützung.
Es läßt ſich daher nicht läugnen, daß die Verweigerung drr Ehe da
berechtigt iſt, wo die Ehegatten wirkliche Unterſtützung empfangen;
und dieß Recht dürfte auch wohl ein allgemein anerkanntes ſein, obwohl
es, ſoweit wir ſehen, nur ſelten ausdrücklich feſtgeſtellt iſt. Wo dagegen
eine ſolche Armenunterſtützung nicht vorhanden iſt, da kann auch
die Ehe nicht wegen der bloßen Wahrſcheinlichkeit oder Möglichkeit der
Verarmung nicht unterſagt werden. Und hier iſt der Punkt, wo die
polizeiliche Epoche von der ſtaatsbürgerlichen wenigſtens in Mitteleuropa
nicht ganz bewältigt erſcheint; denn mit der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft iſt zugleich das Bewußtſein des Claſſengegenſatzes wach ge-
worden, und hat die Furcht vor der Uebervölkerung erzeugt. Dieſe
aber iſt nichts als die Vorſtellung von der unorganiſchen Zunahme
der nichtbeſitzenden Claſſe gegenüber der beſitzenden; und
die Verwaltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft glaubte ſich verpflichtet,
dieſer, ihrer Geſellſchaftsordnung eigenthümlichen Gefahr durch Verwal-
tungsmaßregeln zu begegnen. Auf dieſe Weiſe ward es, allerdings
unter unverkennbarer Mitwirkung großer gewerblicher Sonderintereſſen,
möglich, eine Reihe von rein wirthſchaftlichen Eheverboten gegen
Geſellen ꝛc. aufrecht zu halten (ſ. oben), deren Nutzloſigkeit in Beziehung
auf die Erzeugung von unverſorgten Kindern die Statiſtik genugſam
nachgewieſen hat, während die Vorſtellungen der früheren Epoche in
manchen Staaten die beſtehenden Vorſchriften der früheren Epoche noch
aufrecht halten. Es iſt mit Beſtimmtheit anzunehmen, daß dieſe Reſte
der früheren Zeit bald verſchwinden werden. Das Mittel dafür iſt
[161] offenbar die Einführung der bürgerlichen Ehe, die dazu beſtimmt iſt,
nicht bloß die confeſſionellen, ſondern auch die wirthſchaftlichen Ehever-
bote der früheren Epoche zu beſeitigen. Wir erkennen dabei vollſtändig
die edle Abſicht an, wenn Männer wie Knies auch jetzt noch allerlei
Vorſchläge aufſtellen, welche das Eingehen leichtſinniger Ehen, die zur
Verarmung führen, von Guthaben in der Sparcaſſe, Betheiligung an
Unterſtützungsvereinen u. dergl. abhängig machen wollen. (Knies, über
Armenpflege und Heimathsrecht, Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft, 1853,
Seite 323.) Allein wie man ſich über die Erfolgloſigkeit dieſer Dinge
täuſchen, oder auch nur wie Bitzer, doch noch ein wenig zweifelhaft
bleiben kann (Freizügigkeit, Seite 85—88), das verſtehen wir in der
That nicht, ſchon dem ganz unwiderleglichen Argumente der wilden
Ehe und dem der unehelichen Kinder gegenüber, die kaum eine weitere
Discuſſion zulaſſen. Eine andere Frage freilich iſt die, ob die Er-
leichterung der Eheſcheidung nicht das einzig wahre und natürliche
Mittel iſt, der Ehe ihre wahre Freiheit — die Freiheit der Selbſtbe-
ſtimmung — zurückzugeben. Wir halten feſt an der Ueberzeugung, daß
die Zukunft des Eherechts nicht in den Bedingungen der Eingehung,
ſondern in denen der Auflöſung der Ehe liegt.
Dieß iſt das, was wir als das Syſtem der Freiheit und der Ord-
nung des öffentlichen Eherechts der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zu
bezeichnen haben. Wir dürfen wiederholen, daß daſſelbe in ſeiner Be-
deutung und ſeinem Werth nur in ſeinem hiſtoriſchen Verhältniß richtig
verſtanden werden kann.
Man kann wohl ſagen, daß das öffentliche Eherecht unſerer Zeit in dem
obigen Sinne noch gar keine Literatur hat. Das was Mohl und Gerſtner
ſagen, enthält ein principienloſes Wohlmeinen, in dem beide Epochen vermiſcht
ſind. Die Verwaltungsgeſetzkunden ſind gezwungen, von früher her das formell
Beſtehende anzuführen, und die Frage unerörtert zu laſſen, wie viel davon noch
gegenwärtig beachtet wird. Man ſieht aber ſchon aus dem Obigen, wie ſehr
es zu ſchiefen Vorſtellungen Anlaß gibt, wenn z. B. Roſcher ſagt, daß man
in Preußen, Frankreich und England auf jede obrigkeitliche Erſchwerung der
Ehe verzichtet hat (§. 258). Es iſt klar, daß er dabei nur an den Bürgerſtand
im Beſondern und nicht an die Bevölkerung als Ganzes gedacht hat. Die eng-
liſche Geſetzgebung hat ſogar ganz ausdrücklich „jede Ehe für nichtig und un-
gültig erklärt,“ welche ohne einen „Erlaubnißſchein“ des Regiſtrars geſchloſſen
wird (6. 7. Will. IV. 85. ſ. unten). Eben ſo iſt ſein Urtheil über die ſtandes-
mäßigen Ehebeſchränkungen (ib. N. 6) einſeitig. Uebrigens hat die Theorie
gerade auf dieſem Gebiete viel gewirkt, und es iſt weſentlich, den Gang derſel-
ben vor Augen zu haben. Bekanntlich nämlich trat dem populationiſtiſchen
Wunſche der polizeilichen Epoche nach möglichſter Vermehrung der Ehe, den am
meiſten Süßmilch zum Ausdruck brachte, zuerſt der Inſtinkt der Verwaltungen
Stein, die Verwaltungslehre. II. 11
[162] gegen leichtſinnige Ehen, und dann das von Malthus zur mathematiſchen
Formel erhobene Gefühl der Gefährdung der Geſellſchaft durch die Kinder
des Proletariats entgegen, und es war, als ſich zuerſt lokale Uebervölkerungen
zeigten, Gefahr vorhanden, daß die Regierungen aus ſocialen Gründen das
Syſtem der Eheverbote auch in der ſtaatsbürgerlichen Epoche nicht bloß beibe-
halten, ſondern auch noch ſtrenger ausbilden würden. In der That wurden
theils in den zwanziger und dreißiger Jahren die geſetzlichen Vorſchriften wieder-
holt und verſtärkt, welche einen gewiſſen Vermögensnachweis als Vorausſetzung
forderten, wie in Württemberg (1833), Bayern (1828 und 1834), Kurheſſen
(1834), theils empfingen oder behielten die Gemeinden die Befugniß, die
Ehen zu verbieten, wobei das Recht, ſie wegen „Beſcholtenheit“ zu unterſagen,
nur als eine Form erſchien. Die Freiheit der Ehe war daher von dieſer Seite
ernſtlich bedroht, und hier war es, wo die Wiſſenſchaft ſie zum Theil erhalten,
zum Theil wieder erobert hat. Sie bewies nämlich, daß die Gefahr des indu-
ſtriellen Proletariats nicht in der Ehe, ſondern in den Kindern liege, und daß
das Verbot der Ehe gegen die Zunahme der unehelichen Geburten nicht nur
nicht ſchütze, ſondern ſie vielmehr fördere. Schon Malthus wollte ſogar die
Ehe der Armen frei geben, nur ſollte ihnen dann die Unterſtützung entzogen
werden. (Princ. of Pop. IV. 8. V. 2.) Als ob das letztere möglich wäre!
Die Weinhold’ſchen Ideen haben nur noch den Werth der Curioſität. Da-
gegen trat die Statiſtik mit dem entſcheidenden Beweiſe auf, daß im Grunde
die Zahl der Kinder von dem Recht auf Eingehung der Ehe unabhängig iſt,
ſo daß man für die Beſchränkung der freien Ehe auch nicht einmal dieſen
Erſatz habe. Bei allem Streit hin und wider ſtellte ſich denn doch zuletzt die
entſcheidende Wahrheit in den Vordergrund, daß ſich das Maß der Bevölkerung
am beſten von ſelbſt regle, und daß jedes Eingreifen von Seite der Verwal-
tung dieſe naturgemäße Regelung nur ſtören könne. Sehr verſtändig iſt das,
was RauII. 15, und nach ihm RoſcherI. §. 258 darüber ſagen. Von der
Malthuſiſchen Formel iſt als allgemein anerkannt nur der Satz übrig geblieben,
daß es die Dichtigkeit der Bevölkerung ſelbſt iſt, welche ihre Zunahme
hindert. Und mit dieſer Ueberzeugung wird dann auch das letzte Motiv eines
polizeilichen Eheverbots, die Furcht vor der Uebervölkerung, definitiv aus der
Verwaltungslehre verſchwinden.
Kinderpflege.
Das was wir als Kinderpflege bezeichnen, iſt die Sorge der Ver-
waltung für das Leben der geborenen Kinder. Dieſe Aufgabe tritt erſt
mit der polizeilichen Epoche ein. Das Kind gehört der Familie, auch
in der ſtändiſchen Ordnung. Erſt als das Intereſſe an der Zahl der
Bevölkerung zum Staatsintereſſe wird, erzeugt es die öffentlichen Vor-
ſchriften, welche die Erhaltung der Kinder bezwecken. Dieſe Vorſchriften
[163] erſcheinen daher mit dem vorigen Jahrhundert als integrirender Theil
der Populationiſtik, und begleiten faſt allenthalben die Theorien über
das öffentliche Recht der Ehe. Allein ſchon damals zeigt es ſich, daß
ſie, wenn ſie auch mit ihrem letzten Zweck der Populationiſtik zufallen,
doch mit ihrem ganzen Inhalt zwei andern Gebieten angehören; einer-
ſeits dem Geſundheitsweſen: dahin gehören die Vorſchriften für
Schwangere, für die Ernährung der Kinder, für Hebammenweſen u. a.
— und dem Hülfsweſen, dem namentlich das Waiſen- und Findel-
weſen angehört. Die Beſtimmungen, welche die Bevölkerungspolitik in
dieſe Gebiete gebracht hat, ſind ohne Zweifel den übrigen untergeordnet;
und wir werden ſie deßhalb an ihrer Stelle behandeln, an der ſich die
populationiſtiſchen Tendenzen den höheren Geſichtspunkten der Verwal-
tung von ſelbſt einfügen.
Schon Mohl hat die Kinderpflege mit richtigem Takt aus dem Bevölke-
rungsweſen weggelaſſen. Warum hat Gerſtner ſie wieder hineingebracht, zu
wenig um ſie zu erſchöpfen, zu viel um durch ſie nicht zu ſtören? — Es genügt,
daß man des Zuſammenhangs dieſer Vorſchriften mit der Bevölkerungspolitik
ſich bewußt ſei.
Einwanderung, Auswanderung und Coloniſation.
(Die Zurückführung derſelben auf die Geſellſchaftsformen und die Elemente
der geſellſchaftlichen Freiheit iſt die Grundlage ihres Verſtändniſſes im Allge-
meinen, und ihres öffentlichen Rechts im Beſondern. Folgerungen, die ſich
daraus ergeben.)
Seit es eine Populationiſtik gibt, bilden Einwanderung und Aus-
wanderung einen Haupttheil derſelben. Wenn irgendwo, ſo ſcheint hier
das Gebiet, in welchem die Verwaltung unmittelbar eingreifen, und
durch ihre Maßregeln entweder die Bevölkerung vermehren oder ver-
mindern kann. Und während daher einerſeits die Theorie reichhaltig
an Anſichten iſt, iſt die Geſetzgebung nicht minder reich an Vorſchriften
und Maßregeln, welche ſich auf jene Verhältniſſe beziehen. Zugleich
aber ſcheint gar kein Theil der Verwaltung leichter zu verſtehen als
dieſer, denn einfache Gebote und Verbote ſcheinen hier zu genügen, und
der Erfolg ſcheint ſo bedeutend, daß es ſich der Mühe lohnt, dieſe
Verwaltung genauer zu ſtudiren.
Betrachtet man jedoch die Sache etwas näher, ſo ſieht man bald,
daß ſie in einem andern Lichte erſcheint. Wie Einwanderung und
Auswanderung für ſich, ſo haben auch Beſtimmungen des öffentlichen
Rechts von jeher über dieſelben beſtanden; aber ſie haben in hohem
[164] Grade gewechſelt. Und andererſeits ſind jene Beſtimmungen aller-
dings ſehr zahlreich, aber dennoch iſt es nicht zu verkennen, daß ſie für
jede Epoche eine gewiſſe Einheit bilden, auf einem gewiſſen einheitlichen
Princip beruhen, das die ganze Verwaltung dieſes Gebietes beherrſcht.
Das nun gilt auch für unſere Gegenwart, obwohl ſie in Beziehung
auf jenes Recht ſo weſentlich verſchieden von der Vergangenheit daſteht.
Und indem wir daher von der wiſſenſchaftlichen Behandlung dieſes Ge-
bietes reden, müſſen wir allerdings ſtreben, jenen gemeinſam geltenden
feſten Boden für das Ganze zu gewinnen. Möge man es daher ver-
zeihen, wenn wir auch hier verſuchen, nach feſten Kategorien der Wiſſen-
ſchaft zu ſtreben, um den dauernden Boden zu gewinnen, von dem
aus die weiteren Forſchungen gehen können.
Es läßt ſich ſchwer verkennen, daß die gegenwärtige Theorie über
die obigen Fragen eine ziemlich haltloſe, ja unbehülfliche iſt. Während
im vorigen Jahrhundert die Lehren der Wiſſenſchaft ziemlich einig waren,
und der Sache einen nicht geringen Nachdruck gaben, wiſſen die gegen-
wärtigen nicht recht, ob die Frage nach Einwanderung und Auswan-
derung noch Gegenſtand der eigentlichen Verwaltungslehre ſein, oder
mehr im hiſtoriſchen, oder publiciſtiſchen Sinne behandelt werden ſoll,
während die Geſetzgebung hier wie faſt immer ihren ruhigen Weg fort-
geht, durch jene Macht getragen, die wir ſogleich näher bezeichnen
werden. Es kann daher allerdings, wenn man die Bevölkerungslehre
unſerer Gegenwart anſieht, faſt zweifelhaft erſcheinen, ob denn dieſer
ganze Theil künftig noch der Bevölkerungspolitik ſubſtantiell angehören,
und welche Stellung er in ihr annehmen ſoll. Und dennoch iſt man
ſich einig, daß Einwanderung und Auswanderung zu den mächtigſten
Faktoren des Weltlebens ſchon jetzt gehören, und vielleicht künftig noch
mehr gehören werden, ohne doch zu einem Reſultate darüber zu ge-
langen, in welches Verhältniß dann die Verwaltung ihnen gegenüber
zu treten habe. Dieß nun zu beſtimmen, die Einwanderung, Aus-
wanderung und Coloniſation als ein beſtimmtes, eigen geartetes, auf
eigenen Grundlagen beruhendes Gebiet der Verwaltung
hinzuſtellen, iſt die eigentliche Aufgabe des Folgenden. Und hier
werden wir aufs Neue gezwungen werden, unſern oft bezeichneten
Standpunkt zu vertreten.
Allerdings nämlich erſcheinen ſowohl Auswanderung als Einwan-
derung zunächſt als Akte der vollkommenen freien Selbſtbeſtimmung,
und die Gründe derſelben ſcheinen weſentlich im rein individuellen Leben
zu liegen. Allein jede Ein- und Auswanderung bricht zugleich faſt alle
perſönlichen Beziehungen des Betreffenden mit ſeinem früheren Vater-
lande ab, und knüpft neue für ihn an; ſie iſt in der That ein ganz
[165] neues Leben für ihn; ſie hat eine Reihe ernſter Vorausſetzungen und
ernſter Folgen für ihn ſelbſt und das was ihm am liebſten auf der
Welt iſt. Es wird daher keine Auswanderung ſtattfinden, wenn nicht
in der Geſammtheit des Lebens, dem der Auswandernde angehört, eine
tiefe und allgemeine Gewalt liegt, welche ihn zwingt, für das Gewiſſe,
was er hat, nach einem Ungewiſſen zu ſtreben. Und es iſt klar, daß,
je allgemeiner das Auswandern und Einwandern iſt, um ſo allgemeiner
auch die Wirkung jener Gründe und Zuſtände ſein muß. Andererſeits
iſt das Einwandern ein Akt, der ein ganz fremdes Element in die bis-
herige Gemeinſchaft aufnimmt, Verpflichtungen aller Art für die letztere
erzeugt, und ſelbſt Gefahren mit ſich bringt. Die Aufnahme ſelbſt hat
daher eben ſo wohl in der beſtehenden Ordnung der Gemeinſchaft, in
die der Einwanderer eintritt, ihre allgemeinen Vorausſetzungen, als in
derjenigen, die er als Auswanderer verläßt. Und es bedarf kaum eines
Nachweiſes, daß die Verwaltung ihrerſeits dieſe allgemeinen Voraus-
ſetzungen der Auswanderungen und Einwanderungen nicht nur nicht
ändern kann, ſondern daß ſie ſich vielmehr ihnen anſchließen muß. Es
folgt daraus, daß das öffentliche Recht für Einwanderung und Aus-
wanderung ſtets in ſeinen allgemeinen Grundſätzen wie in ſeinen ein-
zelnen Beſtimmungen den Ausdruck eben jener allgemeinen Zuſtände,
eine ſpecielle Manifeſtation des allgemeinen Charakters
einer beſtimmten Zeit bilden wird, der Auswanderung und Ein-
wanderung erzeugt. Und dieß iſt die erſte allgemeine Grundlage für
ein wiſſenſchaftliches Verſtändniß des öffentlichen Rechts, das für beide
correſpondirenden Erſcheinungen gilt.
Die zweite Grundlage deſſelben iſt nun der Satz, daß jene allge-
meinen Zuſtände in der That nichts anderes ſind und ſein können,
als die geſellſchaftlichen Zuſtände, deren Beſtand und Forde-
rungen durch die Verwaltung zum öffentlich rechtlichen Ausdruck gebracht
werden. Es iſt daher kein Zweifel, daß jede der drei ſocialen Grund-
formen, die Geſchlechter-, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaftsordnung, nicht allein ihre eigene Einwanderung und Auswanderung,
ſondern auch ihr eigenes Ein- und Auswanderungsrecht haben, und daß
die Geſammtheit der in jeder Zeit geltenden Beſtimmungen als ein Aus-
druck der in ihr herrſchenden Geſellſchaftsordnung angeſehen werden muß.
In der That iſt es nur ſo möglich, zu einer wirklichen Geſchichte
des Ein- und Auswanderungsweſens und ſpeciell der Coloniſation zu
gelangen, und den gewaltigen Proceß, den dieſe Bewegungen enthalten,
als ein auf ſeine tieferen Grundlagen zurückgeführtes Stück Weltleben
zu erkennen. Auch hier — wir müſſen es wiederholen, obwohl wir
recht gut wiſſen, daß wir noch mindeſtens zwei Generationen gebrauchen
[166] werden, um die Sache recht zu verſtehen — wird erſt das Verſtändniß
der Geſellſchaft uns die Ein- und Auswanderung verſtehen lehren. Und
dieß Verſtändniß wird ſich für jeden einzelnen Ein- und Auswande-
rungsproceß wieder auf den, mit dem obigen im engſten Zuſammenhange
ſtehenden, folgenden Satz begründen.
Eine Bewegung der Ein- und Auswanderung kann nämlich immer
nur zwiſchen ſolchen Ländern ſtattfinden, in denen die geſellſchaftlichen
Verhältniſſe ſelbſt, ſei es aus geiſtigen, ſei es aus wirthſchaftlichen
Gründen, weſentlich verſchieden ſind. Denn es wird niemand
die Heimath verlaſſen, der nicht hofft, anderswo etwas beſſeres wieder-
zufinden. Wo daher nicht die rein phyſiſche Gewalt wirkt, wird die
Auswanderung ſtets von der niedern Claſſe der beſtehenden
Geſellſchaftsordnung oder von den in ihrer geſellſchaftlichen
Stellung Gefährdeten ausgehen, und die Einwanderung wird ſich
ſtets dahin richten, wo dieſe niederen oder gefährdeten Elemente der
Geſellſchaft auf eine höhere Stellung in der Geſellſchafts-
ordnung rechnen zu dürfen glauben. Während daher der Ur-
ſprung aller zur Ein- und Auswanderung gehörigen Bewegung ſtets in
dem beſtehenden und mächtig gewordenen Gegenſatze in der Geſell-
ſchaft zu ſuchen iſt, wird die Richtung, welche dieſe Bewegung nimmt,
ſtets von dem obigen Geſetze beherrſcht ſein. Und ſo erſcheint dann
jener ſo unendlich wichtige Proceß im Weltleben, den wir als Einwan-
derung und Auswanderung bezeichnen, in der That nicht mehr als
eine rein individueller und durch Urſache und Erfolg bloß abſtrakt wich-
tiger und intereſſanter, ſondern er iſt eine mächtige Erſcheinung der ge-
ſellſchaftlichen Welt, und einer der größten Beweiſe für das Weſen und
die weltbeherrſchende Kraft der Elemente, welche wir als Inhalt der
Wiſſenſchaft der Geſellſchaft bezeichnen.
Es wird nun ſchon hieraus klar ſein, daß das, was in Ein- und
Auswanderung der Verwaltungslehre und in derſelben wieder der Be-
völkerungspolitik gehört, im Grunde nur ein einzelnes, wenn auch nicht
unwichtiges Moment an einem ſich durch eigene Kraft vollziehenden
Proceſſe iſt, und daß ſich daher die Unbehülflichkeit einer Theorie, welche
die Action der Staatsgewalt dabei in den Vordergrund ſtellt, faſt von
ſelbſt erklärt. Wir müſſen hier im Gegentheil noch einen weſentlichen
Schritt weiter gehen, obwohl das Folgende nur einen Theil dieſes Ge-
bietes annähernd beſtimmen und erfüllen kann. Wir müſſen ſetzen,
daß die Betrachtung und Darſtellung des öffentlichen Rechts dieſer Er-
ſcheinungen, wenn ſie ihren Zweck erfüllen und das letztere wirklich zum
Verſtändniß bringen ſollen, nur von dem folgenden Geſichtspunkt direkt
oder indirekt ausgehen kann.
[167]
Wenn nämlich jener innige, organiſche Zuſammenhang zwiſchen
dem Proceß der Ein- und Auswanderung und den drei Geſellſchafts-
ordnungen feſtſteht, ſo folgt, daß es gar kein allgemein gültiges Recht
und kein allgemein gültiges Verwaltungsprincip für Ein- und Aus-
wanderung geben kann und wird, ſondern daß dieß geltende Recht und
Princip in jedem Lande ſtets nur ein Ausdruck und organiſcher Theil
des in []ihm geltenden geſellſchaftlichen Rechts ſein kann. Es hat
daher, wie wir das ſogleich näher andeuten werden, nicht bloß jede
Geſellſchaftsordnung den ihr eigenthümlichen Proceß der Ein-
und Auswanderung, ſondern auch ihr eigenthümliches Rechtsſyſtem
derſelben; der Unterſchied des Rechts, den wir hiſtoriſch vorfinden, iſt
nur als ein Unterſchied der geſellſchaftlichen Zuſtände zu begreifen; und
dieß wird vielleicht ſchon hier einleuchtend, indem wir ſagen, daß das
öffentliche Recht der Ein- und Auswanderung unſerer Gegenwart im
Gegenſatze zu dem der Vergangenheit als ein Rechtsſyſtem der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung erkannt werden muß.
An dieſen Satz ſchließt ſich nun ein letzter, der in ſeiner Einfach-
heit vieles erklärt, das heißt, als einen organiſchen Proceß erſcheinen
läßt, was uns zunächſt nur als bloße Thatſache entgegentritt. Wir
ſtellen dieſen Satz einfach hin und hoffen, daß unſere Leſer ihn ſelbſt
tiefer begründen werden. Es folgt nämlich aus dem früheren, daß die
geſellſchaftliche Ordnung und das ihr entſprechende geſellſchaftliche Recht
in dem Lande, von welchem die Auswanderung ausgeht, ſtets un-
freier ſein wird, als in dem Lande, wohin ſich dieſelbe als Ein-
wanderung wendet. Und dieſer Satz iſt ſo gewiß, daß die Ge-
ſchichte uns faſt auf jedem Schritte ſein Correlat thatſächlich beweist,
ein Correlat, welches wiederum die organiſche Baſis der eigentlichen Ver-
waltungsthätigkeit ſein muß. Der Grund der Auswanderung und die
Richtung der Einwanderung werden niemals vorwiegend von wirth-
ſchaftlichen Intereſſen, ſondern ſtets von dem Zuſtande ſocialer Ele-
mente und Auffaſſungen bedingt; ſo ſehr, daß die glänzendſten wirth-
ſchaftlichen Ausſichten niemals eine Auswanderung hindern oder eine
Einwanderung erzeugen, wenn nicht die geſellſchaftliche Ordnung mit
ihrer größern ſocialen Freiheit das eine oder das andere zu be-
wirken vermag. Jede größere Bewegung der Völker enthält den ſchla-
gendſten Beweis für dieſen Satz, und in ihm liegt daher auch der
wahre Kern deſſen, was wir als die Bevölkerungspolitik zu bezeichnen
haben, und was ſchon der richtige Inſtinkt die Populationiſten des
vorigen Jahrhunderts lehrte, indem ſie „eine gute Regierung“ als Haupt-
motiv für die Einwanderung aufſtellen. Kein Staat kann eine fremde
Bevölkerung herbeiziehen durch bloßes Anbieten von wirthſchaftlichen
[168] Vortheilen für Einwanderer, oder die Auswanderung vernichten durch
Drohung von Nachtheilen. Es gibt nur Einen Weg, für beides zu
ſorgen. Das iſt die Entwicklung der geſellſchaftlichen Freiheit im wei-
teſten Sinne des Wortes, und eines auf dieſelbe gebauten Syſtems des
öffentlichen Rechts. Und wir dürfen glauben, daß unſere Zeit dieſe
große Wahrheit richtig erkannt hat!
Dieß nun ſind die allgemeinen Grundſätze über Weſen und Ge-
ſchichte der Ein- und Auswanderung. Und indem wir jetzt zum gelten-
den Recht beider übergehen, müſſen wir allerdings beide trennen und
jedes derſelben für ſich behandeln, indem wir ſie auf die obigen Grund-
ſätze zurückführen.
Unter den Schriftſtellern, welche Ein- und Auswanderung von einem
höhern Standpunkt behandelt haben, kann man wohl nur Montesquieu und
Roſcher nennen. Der erſtere hat in ſeiner geiſtreichen Weiſe zuerſt angedeutet,
daß beide durch höhere Motive bewirkt werden und Bedeutenderes hervorbringen,
als bloße Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung, ohne jedoch tiefer
auf die Sache einzugehen (L. XVIII. Ch. 3). Roſchers Arbeit, „Colonien,
Colonialpolitik und Auswanderung,“ 2. Aufl. 1856, iſt eins der bedeutendſten
Werke dieſes Verfaſſers, im höchſten Grade lehrreich, und wenn wir auch einen
weſentlich andern Standpunkt im Ganzen einnehmen, ſo werden wir ſtets die
Erſten ſein, die ſtaatsmänniſche Tiefe der einzelnen Beobachtungen und die
große Gründlichkeit der Behandlung anzuerkennen. Bei dem Reichthum an Ge-
danken und Stoff fehlt nur die organiſche Auffaſſung, um die Schrift zu einem
Meiſterwerk zu machen.
(Verlaſſen des bisherigen Standpunkts in Betreff dieſes Gebietes der Be-
völkerungspolitik. Begriff der Einwanderung gegenüber dem Begriff der Frem-
den und dem der Niederlaſſung. Die Geſchichte des Einwanderungsrechts
erſcheint dadurch nothwendig mit den Grundformen der Selbſtverwaltung, alſo
mit denen der Geſellſchaft verbunden. Darſtellung des Einwanderungsrechts
der Geſchlechterordnung, der ſtändiſchen Ordnung, der polizeilichen Epoche, und
des freien Einwanderungsrechts der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft.)
Indem wir uns nunmehr den einzelnen Theilen dieſes Gebietes
zuwenden, müſſen wir zu unſerm Bedauern mit der Behauptung be-
ginnen, daß die ganze Auffaſſung und Stellung, welche das Einwan-
derungsweſen in der Staatswiſſenſchaft unſerer Zeit, namentlich bei
Mohl und neuerlich bei Gerſtner und Roſcher als ein Mittel der
Bevölkerungspolitik gefunden hat, eine durchaus falſche iſt. Wir
müſſen vielmehr entſchieden behaupten, daß es in unſerer Zeit gar kein
Einwanderungsweſen als Gegenſtand der Staatsverwaltung und gar
[169] keine allgemeinen Regeln derſelben mehr gibt, und daß die Behandlung
dieſer Frage in der ſogen. Polizeiwiſſenſchaft nicht bloß an ſich verkehrt
iſt, ſondern auch zu ganz falſchen Vorſtellungen Anlaß gibt. Es iſt
nicht ſchwer, dieß nachzuweiſen, wenn man ſich nur von den Traditio-
nen des vorigen Jahrhunderts losmachen kann. Um aber den Stand-
punkt und das Recht unſerer Zeit ganz klar zu machen, müſſen wir
zuerſt den Begriff der „Einwanderung“ feſtſtellen und ihn zu dem
Ende von dem der „Fremden“ und dem der „Niederlaſſung“ tren-
nen; und dann müſſen wir ihn auf ſeine wahrhaft hiſtoriſche Baſis
und die Elemente ſeiner organiſchen Entwicklung zurückführen. Es iſt
nicht wohl möglich, ſich über das wahre Weſen der Einwanderung un-
klar zu bleiben, wenn man das thut.
Es iſt kein Zweifel, daß wir unter Einwanderung weder bloß einen
zeitlichen Aufenthalt einer an einem Orte fremden Perſon, noch auch
den bloßen Wechſel des Aufenthalts, der juriſtiſch als Domicil erſcheint,
verſtehen können. Die Einwanderung hat vielmehr zu ihrer erſten Vor-
ausſetzung, der perſönlichen, daß ſie von einem Fremden geſchehe.
Ein Fremder aber iſt im weiteſten Sinne des Wortes ein ſolcher, der
dem örtlichen Recht nicht unterworfen iſt. Sie hat zu ihrer zweiten
Vorausſetzung, daß der Aufenthalt durch den Lebenszweck des An-
kommenden bedingt werde; das iſt ihre wirthſchaftliche Seite. Sie macht
aber, wo ſie vollzogen iſt, den letztern zu einem Gliede der Geſammt-
heit, in welche er einwandert, das iſt zu einem Angehörigen des Staats
und zu einem Mitgliede ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung. Wäh-
rend daher der Fremde nur örtlich und zeitlich in den Verband von
Staat und Geſellſchaft tritt, der ſich Niederlaſſende nur wirthſchaft-
lich ein Theil derſelben wird, wird es der Einwandernde mit ſeinem
ganzen ſtaatlichen und ſocialen Leben. Darin beſteht das Weſen der
Einwanderung. Und eben dadurch iſt es klar, daß dieſelbe nicht ein-
ſeitig von ihm abhängig ſein kann, ſondern naturgemäß von Staat
und Geſellſchaft abhängig iſt. Wir reden daher von Fremden und
Fremdenrecht, von Niederlaſſungen und Niederlaſſungs-
recht, und von Einwanderung und Einwanderungsrecht, und
es iſt wohl einleuchtend, daß nicht bloß dieſe Rechte an ſich ſehr ver-
ſchieden ſind, ſondern auch in der Verwaltung eine weſentlich verſchie-
dene Stellung einnehmen.
Da nun die Einwanderung, wie geſagt, weſentlich von dem neuen
Staat und ſeiner Geſellſchaft abhängt, ſo iſt es wohl klar, daß es
[170] zunächſt ganz falſch iſt, von der Einwanderung nur einſeitig in Beziehung
auf die Thätigkeit und die Abſichten der amtlichen Verwaltung zu reden.
Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederlaſſungsweſen
von der Stellung abhängen, welche die Selbſtverwaltungskörper gegen-
über dem Staate einnehmen. Die Geſchichte ihres Rechts iſt ein inte-
grirender Theil der innern, organiſchen Entwicklung des Staats, und
das gegenwärtige Recht kann ſelbſt nur als ein Moment und Theil
dieſer Geſchichte erkannt werden.
Wir wollen daher verſuchen, auf dieſem hiſtoriſchen Boden das
Einwanderungsweſen bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach
die wahre Natur deſſelben zu beſtimmen.
Die Einwanderung und die Geſchlechterordnung.
In der Geſchlechterordnung beſteht der Staat aus der Einheit der
Familien und Geſchlechter; dieſe ſind die ſtaatsbürgerlichen Perſönlich-
keiten; außerhalb derſelben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein
Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den
Staat geben, ſondern dieſelbe kann nur erſcheinen als die Aufnahme
des Fremden in eines der Geſchlechter des Landes. Mit dieſer
Aufnahme iſt die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge-
ſchlechte angehört, iſt und bleibt fremd; er hat nicht nur kein Recht,
ſondern er kann auch kein Gut erwerben. Es gibt daher auch keine
Niederlaſſung in der Geſchlechterordnung, die von der Einwanderung
getrennt wäre und ihr ſelbſtändig voraufginge. Es iſt dabei gleichgül-
tig, ob ein ganzes Geſchlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird,
oder ob ein ganzer aus Geſchlechtern beſtehender Stamm den alten Ge-
ſchlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in
Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge-
ſchlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer-
den, wie es in Dithmarſchen und wie es auch gewiß in Rom bei den
patriciſchen Familien der Nachbarſtädte geſchah, oder ob Halbfreie ſich
den Geſchlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die clientes oder
gentes zum Theil entſtanden, und wie es in manchen alten Städten
Deutſchlands der Fall geweſen ſein mag. Gewiß iſt nur, daß die älte-
ſten Einwanderungen ſtets und bei allen Völkern Geſchlechtereinwande-
rungen ſind, bei denen die Niederlaſſung und die Aufnahme in den
Staatsverband durch die Aufnahme in das Geſchlecht ſtattfand. Es iſt
nicht ohne Intereſſe, auch das Fremdenrecht dieſer Epoche auf den-
ſelben Geſichtspunkt zurückzuführen; denn das älteſte Fremdenrecht iſt
[171] ein Gaſtrecht nicht des Staats oder der Gemeinde, ſondern der Ge-
ſchlechter: erſt in der folgenden Epoche entſteht ein in der Form des Ge-
meindegaſtrechts erſcheinendes ſtaatliches Fremdenrecht.
Die Niederlaſſungen, die durch Eroberung geſchehen, wird
niemand zur Lehre von den Einwanderungen rechnen. Und zwar ein-
fach darum nicht, weil ſie keine Aufnahme in einen beſtehenden Staats-
verband enthalten, ſondern ſelbſt erſt ſtaatsbildend wirken. Sie gehören
einer ganz andern Reihe von Erſcheinungen an. Heeren hat das in
ſeiner Eintheilung der Colonien in Ackerbau-, Pflanzungs-, Bergbau-
und Handelscolonien (Geſchichte des europäiſchen Staatenſyſtems I.
Art. 2) ſehr richtig erkannt. Warum hat denn Roſcher in ſeinen Co-
lonien, indem er Heerens Eintheilung billigt, und Robertſons Ein-
theilung in Auswanderungs- und Militärcolonien verwirft (History of
America II. 364), doch wieder die „Eroberungscolonien“ im Wider-
ſpruch mit ſeiner eigenen Auffaſſung aufgenommen? Alles, was er
darüber ſagt (pag. 4 sq.) iſt ſehr wahr und werthvoll; nur iſt das,
wovon er redet, keine Colonie mehr. — Daß bei den Eroberungen von
einem Einwanderungsrecht nicht die Rede ſein kann, verſteht ſich
von ſelbſt.
Die Einwanderungsformen der ſtändiſchen Ordnung. Der Beſitz, der Beruf
und der Stand als Grundlage. Das erſte Auftreten der ſtaatlichen Einwanderung.
Die erſten inneren Colonien.
Weſentlich anders geſtaltet ſich die Einwanderung und ihr Recht
in der ſtändiſchen Geſellſchaft. Schon hier wird das Leben viel reicher.
In der That gibt es in dieſer Geſellſchaftsordnung kein einfaches
Einwanderungsrecht mehr, ſondern man muß ſagen, daß jedes Element
derſelben ſein Einwanderungsrecht hat. Man wird die beſte Ueberſicht
gewinnen, indem man das Einwanderungsrecht auf die drei Grund-
formen der körperſchaftlichen Bildung dieſer Geſellſchaftsordnung reducirt.
Darnach ergibt ſich in ſeinen Grundzügen das folgende Syſtem des
Einwanderungsrechts dieſer Epoche.
a) Die Ritterſchaft, als die Gemeinſchaft der Grundherren, bei
denen das ſtaatliche Recht mit dem Grundbeſitz verbunden war, kann
demgemäß eine Einwanderung nur vermöge des Erwerbes eines land-
täflichen, das iſt in den Selbſtverwaltungskörper der Grundherren
gehörigen Grundbeſitzes anerkennen; faſt immer aber fordern ſie
neben dem Erwerb einer Grundherrlichkeit auch noch die ſpecielle Auf-
nahme oder „Reception“ der neuen Familie in den ritterſchaftlichen
[172] Körper, Landtag, Landtafel, was dann wieder als Reſt des Einwan-
derungsrechts der Geſchlechterordnung betrachtet werden muß, die ja be-
kanntlich in allen Beziehungen mit der Grundherrlichkeit verſchmilzt.
b) Die Geiſtlichkeit, als Vertreterin des an ſich freien geiſtigen
Elements der ſtändiſchen Ordnung des Berufes, iſt principiell gleich-
gültig gegen den Beſitz des Einzelnen. Bei ihr fällt zuerſt die Hei-
math mit der örtlichen Ausübung des Berufes zuſammen,
und mit dieſem Satze hat ſie dem heutigen freien Heimathsweſen vor-
gearbeitet. Sie kennt daher als ſolche den örtlichen Begriff der Hei-
math nicht, und an die Stelle der Niederlaſſung des Einzelnen tritt
die Pflicht, ſeinen Beruf auszuüben, wohin er geſendet wird. Er iſt
überhaupt als Einzelner rechtlich nur Mitglied der geiſtlichen Körper-
ſchaft, und bei dieſer kann man weder von Niederlaſſung noch von Ein-
wanderung reden, ſondern die Körperſchaft ſelbſt, die Kirche, das Klo-
ſter, wird errichtet und bildet damit einen Körper für ſich, der nach
eigenen Geſetzen lebt. Hätte Roſcher ſeinen Begriff der Colonie nicht
nach der traditionellen Auffaſſung zu ſehr beſchränkt, ſo würde er ge-
ſehen haben, daß nicht eben bloß die Eroberungscolonien, ſondern viel-
mehr die Berufscolonien „die bürgerliche Geſellſchaft in Kaſten zu
zerſplittern pflegen“ (Seite 7. 8). Andererſeits iſt die wirthſchaftliche
Geſchichte dieſer geiſtlichen Berufscolonie, namentlich der Klöſter, noch
zu ſchreiben. Denn es iſt kein Zweifel, daß gerade die Klöſter in den
meiſten Fällen die Mittelpunkte und Lehrſchulen der geordneten Land-
wirthſchaft geweſen ſind, und daß ſie für die Entwicklung der letztern
namentlich an den Gränzen Deutſchlands daſſelbe geleiſtet haben, was
die römiſchen Militärcolonien für die römiſche Waffenherrſchaft, einſeitig
wie dieſe, aber auch mächtig und vielfach höchſt förderlich wirkend. —
In jedem Falle iſt es jene Stellung der Geiſtlichkeit, welche dann auch
auf die Univerſitäten und die berufsmäßige Einwanderung zuerſt der
Gelehrten und dann der berufsmäßigen Stände, Advokaten und Aerzte
überging, und dieſen die freie Bewegung möglich gemacht haben. Klar
iſt es aber, daß auf dieſe Weiſe die Einwanderung und ihr Recht für
den Beruf der ſtändiſchen Epoche als ein ſelbſtändiges Ganze erſcheint,
deſſen Princip es war und noch gegenwärtig gilt (Niederlaſſung
fremder Aerzte, Noſtrification von Doctoren), daß die rechtliche Be-
dingung der Einwanderung und Niederlaſſung weder Geſchlecht
noch Beſitz, ſondern die Anerkennung der berufsmäßigen Bil-
dung (weſentlich durch eine Niederlaſſungsprüfung) geworden iſt.
c) Wieder anders iſt das Einwanderungsrecht in dem dritten
Stande. Die Natur der Städte bringt es mit ſich, daß hier die Ein-
wanderung nur von Einzelnen möglich iſt, und daß ſie andererſeits
[173] durch die Theilnahme an der ſtändiſchen Funktion der Städte, dem
Gewerbe geſchehen kann. Der Charakter des Einwanderungsrechts
der Städte beſteht daher in der Abhängigkeit derſelben von der ſtän-
diſchen Ordnung der Gewerbe oder dem Zunftweſen; Niederlaſſung
wird identiſch mit Aufnahme in die Zunft. Daneben aber
behält das Princip der Grundherrlichkeit ſeinen Platz, und die zweite
Grundform der Niederlaſſung iſt der Erwerb eines ſtädtiſchen Grund-
ſtückes. Durch dieſe Momente zuſammengenommen verliert ſich die
Unterſcheidung zwiſchen Niederlaſſung und Einwanderung; jede Nieder-
laſſung muß ſofort, wenn ſie geſtattet iſt, eine Einwanderung werden,
und das Einwanderungsrecht des ſtädtiſchen Standes nimmt ganz den
Charakter und ſelbſt den Namen des Heimathsrechts an. Das iſt
der Grund, weßhalb das erſtere auch theoretiſch zu keiner beſondern
Anerkennung gelangt und weßhalb auch ſpäter die Lehre vom Heimaths-
weſen niemals ihre rechte Stellung zur Bevölkerungspolitik hat gewin-
nen können.
Das ſind nun die Grundformen des Einwanderungsrechts in der
ſtändiſchen Epoche. Allein ſchon damals tritt eine vierte hinzu, die
von hoher Bedeutung iſt. Das iſt der Beginn der ſtaatlichen Ein-
wanderung.
d) Allerdings nämlich iſt der im Königthum vertretene Staat noch ſehr
unorganiſch und unmächtig. Allein dennoch fühlt er ſchon damals, daß
ſeine Zukunft im Staatsbürgerthum und dieß wieder in dem gewerb-
lichen Beſitz liege. Daher entſtehen ſchon in dieſer Epoche die erſten
unmittelbar ſtaatlichen Maßregeln für die Einwanderung, die wir
kurz die innere Coloniſation nennen. Das Königthum verſucht,
theils ganze Städte, theils innerhalb und neben den Städten gewerb-
liche Körperſchaften durch Herbeiziehung von Familien zu bilden. Die
Principien des ſtändiſchen öffentlichen Rechts geben dieſen Verſuchen
ihre erſte, von der folgenden Epoche weſentlich verſchiedene Geſtalt.
Das Königthum kann die ſtädtiſchen und zünftigen Körperſchaften nicht
zwingen, die Einwanderung in ſich aufzunehmen und mit ſich ihr in
Eins zu verſchmelzen. Will es daher eine ſolche Einwanderung haben,
ſo muß es ſie den ſtändiſchen Principien analog bilden. Es muß ſie
ſelbſt zu einem rechtlich anerkannten ſtädtiſchen, beziehungsweiſe gewerblichen
Selbſtverwaltungskörper machen, der neben den ſtändiſchen
Körpern auf königlichem Recht ſteht. Das Mittel dafür iſt das Pri-
vilegium. So entſtehen die auf dem Privilegium beruhenden Ein-
wanderungen, die ſich ſeit dem 13. Jahrhundert vorzugsweiſe, wie es
die Entwicklung der Staatenbildung mit ſich brachte, an den Gränzen
der Civiliſation bildeten, und denen die Könige oft neben dem Privilegium
[174] auch noch aus ihren Domänen Grundbeſitz anwieſen. Dieſe erſte
Form der ſtaatlichen Einwanderung ſchließt natürlich die Einzeleinwan-
derung aus; ſie geſchieht ſtets in ganzen Körperſchaften, und es bedarf
keiner Erklärung, weßhalb dieſelben auch nach der Einwanderung noch
örtliche Einheiten bilden. Dadurch wird der altrömiſche Begriff der
„Colonia“ auf ſie anwendbar; und ſo entſteht das, was wir als die
erſte Form der „innern Coloniſation“ bezeichnen. Der Begriff der in-
nern Coloniſation iſt daher im weitern Sinne die Niederlaſſung von
Einwanderern als ſelbſtändiger Selbſtverwaltungskörper, und
zwar theils als Corporationen, wie bei der Privilegirung fremder
Handelsniederlaſſungen, theils als wirklicher Gemeinden. Die Grund-
gedanken dieſer Epoche übertragen ſich nun auf die folgende und wirken
weſentlich mit in der Bildung des neuen Einwanderungsrechts. Die
Elemente deſſelben ſind folgende.
Die polizeiliche Zeit. Das populationiſtiſche Einwanderungsweſen.
Dasjenige, was wir als das polizeiliche Einwanderungsweſen be-
zeichnen, iſt die erſte und natürlichſte Conſequenz der populationiſtiſchen
Auffaſſung des geſammten Bevölkerungsweſens, die bekanntlich mit der
Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt und im 18. ihren Höhepunkt
erreicht. Der Wunſch, durch die Zahl der Einwohner die praktiſche
militäriſche Macht und die theoretiſche „Glückſeligkeit“ der Staaten zu
vermehren, mußte ſofort zu dem Streben führen, die Einwanderung
zu befördern, und dieß Streben zeigt ſich nun in der That in den
meiſten Staaten Europas. Allein dieß Streben trifft zunächſt auf das
beſtehende Recht und die feſte Ordnung theils der Städte, theils der
Grundherren, deren Intereſſe die Feſthaltung des alten Heimathsweſens
fordert; und zugleich erſcheint gleichzeitig mit ihm, und aus derſelben
Quelle entſpringend, die immer entſchiedenere Tendenz, die Heimath-
loſigkeit, die Erwerbloſigkeit und die in ihr liegenden Gefahren zu ver-
hindern. Es iſt in hohem Grade belehrend, zu ſehen, wie dieſe ver-
ſchiedenen und zum Theil ja entgegengeſetzten Faktoren nun auf die
Stellung und Thätigkeit wirken, welche die Verwaltungen gegenüber
dem Einwanderungsweſen einnehmen. Wie jene Faktoren ſelbſt einan-
der entgegenſtehen, ſo erſcheinen auch in Geſetzgebung und Verwaltung
zwei entgegengeſetzte Syſteme; das eine, welches die Einwanderung
in jeder möglichen Weiſe befördern will, das zweite, welches die
örtliche Bewegung der Bevölkerung überhaupt, und alſo auch die
Einwanderung, auf die ſtrengſte Beſchränkung durch polizeiliche
[175] Ueberwachung zurückzuführen trachtet. Die innere Gränze zwiſchen bei-
den Principien und ihren entſprechenden Rechtsſyſtemen war offenbar die
Fähigkeit zum eigenen Erwerb; jeder Erwerbsfähige ſollte einwandern;
jeder Erwerbsloſe ſollte von der Einwanderung abgehalten werden.
Dieſe Gränze bedurfte aber eines äußeren Kriteriums, und dieß Krite-
rium fand man namentlich in Deutſchland darin, ob der Einwandernde
ein Ausländer oder ein Inländer war. Im Allgemeinen hat die
Verwaltung der großen deutſchen Staaten den Grundſatz zur Durch-
führung gebracht, daß die Einwanderung von Ausländern mit
allen Mitteln zu befördern ſei, während ſie der innern Bewegung
der Einwanderung, der Wanderung von Provinz zu Provinz und von
Stadt zu Stadt, die größten Hemmniſſe entgegenſetzte. Dieſer Wider-
ſpruch hatte ſeinen guten hiſtoriſchen Grund. Bei der Strenge des
meiſtens auf Zunftintereſſen oder auf der Gutshörigkeit beruhenden
Heimathsrechts war es von vornherein wahrſcheinlich, daß ein wandern-
der Inländer beſitz- und erwerblos ſein werde, während namentlich die
religiöſen Verfolgungen in Frankreich und ſpäter die Entwicklung der
Technik es als faſt gewiß erſcheinen ließen, daß der einwandernde Aus-
länder entweder ein ehrenhaſter Mann oder ein tüchtiger und werth-
voller Arbeiter ſei. So entſtanden mit dieſen beiden Anſichten auch
zwei geſetzliche Verwaltungsſyſteme. Das erſte, negative, ſchrieb ſich
noch zum Theil aus dem Heimathsweſen der ſtändiſchen Epoche her
(ſiehe unten) und erzeugte einerſeits eine ſtrenge und ſyſtematiſche Ver-
folgung der heimathloſen Herumzieher, auf dem richtigen Inſtinkt be-
ruhend, daß man auch keine Einwanderung ohne die Wahrſcheinlichkeit
der Niederlaſſung zulaſſen wolle. Das zweite dagegen theilt ſich in zwei
große, jedoch auf derſelben Grundlage beruhende Zweige. Das erſte,
was die Regierungen verſuchten, war die Hervorrufung von eigenen
Anſiedlungen oder die regelmäßige Herſtellung der oben bezeichneten
innern Coloniſation, namentlich auf den wenig bevölkerten Staats-
domänen als „Coloniſtendörfer.“ Das zweite dagegen enthielt eine
ganze Reihe von Vorſchriften über die indirekte Unterſtützung der ein-
wandernden Fremden, Vorſchriften, durch welche ſich namentlich Preußen
und Oeſterreich auszeichneten. Es iſt nicht zu verkennen, daß die Be-
völkerungstheorie mit ihrem Anpreiſen der Zunahme der Bevölkerung
einen nicht geringen Antheil an dieſen Beſtrebungen hatte. —
Der Satz Süßmilch’s namentlich, den wir bereits citirt, daß jeder
Arbeiter einen Werth habe, erzeugte als Conſequenz den Verſuch der
Verwaltung, die Anſiedlungen auch von Einzelnen mit direkten Capitals-
anlagen zu unterſtützen, wobei jedoch ſtets feſtgehalten werden muß,
daß dieſe Sorge für die Einwanderung eben ſo ſehr eine Förderung der
[176] gewerblichen Entwicklung als der Zunahme der Bevölkerung ſein ſollte.
Die Theorie war ſich über den Unterſchied nicht recht klar und hoffte
überhaupt noch viel zu viel von der Polizei, die ſie zugleich für viel zu
viel verantwortlich machte. Dabei muß man, um die Lage der Dinge
im Ganzen zu beurtheilen, nicht vergeſſen, daß England und Frankreich
überhaupt nur die Auswanderung und die äußere Coloniſation im
Auge hatten, und ſich um die Einwanderung entweder gar nicht küm-
merten, wie England, oder ſie durch polizeiliche Maßregeln ſehr er-
ſchwerten, wie Frankreich, während faſt nur Preußen und Oeſterreich
es zu einem Syſtem von Beſtimmungen über Einwanderungen brachten,
und Dänemark und Rußland nur einzelne Akte der innern Coloniſation
vornahmen. Princip und Recht der Einwanderung waren
daher in der polizeilichen Epoche wieder in jedem Staate
verſchieden, und man muß ſich wohl hüten, das als für Europa
geltend anzunehmen, was man aus der Theorie jener Zeit entwickelt.
Von einem europäiſchen Standpunkt kann erſt in der folgenden Epoche
die Rede ſein.
Die Einwanderung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Das Auftreten der
Principien der freien Niederlaſſung und der Freizügigkeit. Das Einwanderungs-
recht identiſch mit dem Heimathsweſen.
Aus der großen Verwirrung, welche durch die gleichzeitige Geltung
ſo verſchiedener Geſichtspunkte und Geſetze, Anſichten und Maßregeln
in Beziehung auf die Einwanderung erzeugt wird, geht nun mit unſerm
Jahrhundert ein an ſich ſehr einfaches Syſtem hervor, das nur in ſei-
nen ſpeciellen Anwendungen allerdings ein vielgeſtaltiges wird, aber
dennoch in ſeiner Weſenheit als ein für ganz Europa gültiges betrachtet
werden darf. Es iſt kein Zweifel, daß die gewaltige Ausgleichung der
Verſchiedenheiten der Staatenbildung und die Vernichtung der früheren
Schranken des internationalen Verkehrs durch die napoleoniſchen Kriege
mächtig dazu beigetragen haben; andererſeits hat das große Princip der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die Selbſtändigkeit des Einzelnen, nicht
wenig dazu mitgewirkt, alles Künſtliche der früheren Epoche zu beſeiti-
gen; und wir glauben jetzt das Einwanderungsrecht der Gegenwart auf
ſeine einfachſten Grundzüge zurückführen zu können. Das aber ſind
offenbar folgende:
1) Zuerſt ſteht es feſt, daß die Einwanderung an ſich weder gut
noch ſchlecht iſt, ſondern daß ſie das Eine oder Andere nur wird, je
nachdem der Einwanderer die Bedingungen ſeiner wirthſchaft-
lichen Exiſtenz beſitzt. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft hat daher
[177]alle Beſchränkungen der Einwanderung aus dem ſtändiſchen Geſichts-
punkte beſeitigt, und erkennt ſelbſt in Noſtrificationen ꝛc. nur die An-
erkennung der theoretiſchen Fähigkeit, durch ſeinen Beruf ſeine Exiſtenz
zu gründen.
2) Es folgt daraus, daß die Einwanderung nur dann noch als
ein Vortheil anzuerkennen iſt, wenn der Einwandernde dieſe Bedingungen
bei der Einwanderung ſelbſt mitbringt. Mit dieſer Erkenntniß iſt
dann die Geſammtheit aller derjenigen politiſchen Maßregeln weggefal-
len, welche die Einwanderung entweder indirekt durch allerlei mate-
rielle Unterſtützungen und Verleihung von Rechten, oder direkt durch
Hingabe eines Anlage- und Betriebscapitals zur Gründung eines Unter-
nehmens befördern wollen. Erfahrung und Theorie haben gemeinſchaft-
lich bewirkt, daß die Verwaltungen ſich die Enthaltung jeder Unter-
ſtützung der Einwanderung zum Grundſatz machen. Nur ganz einzelne
Fälle können in ganz beſondern Verhältniſſen davon eine Ausnahme
begründen, und haben es gethan, wie in Oeſterreich und zum Theil in
Rußland.
3) In Beziehung auf die unter dieſer Vorausſetzung entſcheidende
Frage, ob der Fremde, der durch die Niederlaſſung zum Einwanderer
wird, nun auch wirklich jene Bedingungen der wirthſchaft-
lichen Selbſtändigkeit mitbringt oder nicht, ſteht das innere
öffentliche Recht auf folgendem Standpunkt, den wir als den Stand-
punkt des freien Einwanderungsweſens bezeichnen können.
a) Die (amtliche) Staatsgewalt kümmert ſich um die wirthſchaft-
liche Exiſtenz des Einzelnen nicht, ſondern läßt es ſeine eigene Sache
ſein, ſich dieſelbe innerhalb ihrer Gränzen zu gewinnen. Sie gibt ihm
keine Mittel zur Verwerthung ſeiner Erwerbsfähigkeit; wohl aber gibt
ſie ihm die allgemeinen Bedingungen, dieſe Verwerthung ſelbſt zu
ſuchen. Dieſe Bedingungen ſind erſtlich das freie Erwerbsrecht in der
Gewerbefreiheit, zweitens das freie Verkehrsrecht in der Paßfreiheit.
Beide zuſammen bilden dasjenige, was wir kurz das freie Nieder-
laſſungsrecht oder das Recht der Freizügigkeit nennen (ſ. unten).
b) Auf Grundlage dieſes Rechts iſt zwar die Niederlaſſung unter
gewiſſen Bedingungen frei, allein dieſe Niederlaſſung iſt noch keine
Einwanderung, und dieſer Unterſchied muß gerade in dieſer Epoche
als ein weſentlicher hervorgehoben werden; denn hier iſt es, wo das
eigentliche Weſen der Einwanderung wieder hervortritt. Aus jener
freien, nur von dem Einzelnen abhängigen Niederlaſſung wird erſt die
Einwanderung durch den Eintritt in den Selbſtverwaltungs-
körper der Gemeinde, deſſen Inhalt und Bedingungen im Hei-
mathsweſen gegeben ſind. Man muß daher feſthalten, daß jede
Stein, die Verwaltungslehre. II 12
[178]Einwanderung erſt durch den Erwerb des Heimathsrechts
in einer Gemeinde vollendet iſt. Dieſer Erwerb aber enthält eben die
Entſcheidung der Gemeinde darüber, ob der Niedergelaſſene die Be-
dingungen der volkswirthſchaftlichen Exiſtenz wirklich beſitzt, und dieſe
erſt macht aus der Niederlaſſung das Heimathsrecht. Und auf dieſe
Weiſe erſcheint in unſerer Epoche das Recht der Einwanderung
als identiſch mit dem Erwerbe des Heimathsrechts in der
Gemeinde. Der populationiſtiſche Charakter der früheren Zeit iſt da-
mit gänzlich verſchwunden; es gibt überhaupt kein beſonderes Einwan-
derungsweſen mehr; die Einwanderung bildet nicht mehr Gegenſtand
der Verwaltung; die Lehre von der Einwanderung führt in der Theorie
der Verwaltung nur noch ein Scheinleben fort, da die Einwanderung
keine Aufgabe der Verwaltung für den ganzen Staat mehr bildet; nur
die Selbſtverwaltung der Gemeinde hat über jeden einzelnen Fall zu
entſcheiden, und eben darum gibt es auch keine allgemeine Regel mehr,
ob ſie gut oder ſchlecht iſt.
Die Grundſätze aber, nach welchen dieſe Gemeindeangehörigkeit
erworben wird, werden wir in all ihrer gegenwärtigen Verwirrung in
Deutſchland unten darlegen.
Das nun iſt das Reſultat, bei welchem die Verwaltungslehre in
Bezug auf die Einwanderung anlangt. Es liegt daſſelbe offenbar im
natürlichen Gange der Dinge und iſt im Grunde doch nichts anderes,
als das self supporting-principle Wakefield’s (ſiehe unten) in ſeiner
Anwendung auch auf den Begriff und das Recht der Niederlaſſung des
Einzelnen, an die Wakefield ſelbſt nicht dachte, und die auch Roſcher
vollkommen überſehen hat. Faßt man dieß zuſammen, ſo wird man
nunmehr auch die ſchon früher gerügte Unbehülflichkeit der Theorie ſich
leicht erklären, die noch immer von der Einwanderung als einer Ver-
waltungsmaßregel reden und ſie beurtheilen will, obgleich es in unſerer
Zeit weder eine ſolche gibt noch geben kann. Im Gegentheil ſind alle
Fragen nach dem Recht und den volkswirthſchaftlichen Bedingungen
und Folgen der Einwanderungen damit definitiv ins Heimathsweſen
gewieſen, auf das wir unten zurückkommen.
Die Literatur hat gerade für die Einwanderung und ihr Recht viel weniger
Inhalt und Bedeutung, als man glauben ſollte, und eben ſo iſt mit der neuen
Ordnung der Dinge auch die Geſetzgebung als eine ſelbſtändige nicht vorhanden.
Der Grund davon beſteht weſentlich darin, daß man die Einwanderung nament-
lich in neuerer Zeit von der Auswanderung nicht klar genug ſcheidet, und noch
weniger — was in der That zu verwundern iſt — dieſelbe in ihr gehöriges
Verhältniß zu dem Recht der Freizügigkeit und dem Heimathsweſen zu bringen
verſtanden hat. Statt deſſen hat ſich die Publiciſtik weſentlich um den Begriff
[179] und die Bedeutung der Colonien gedreht, ohne jedoch die innere Coloniſation
von der äußern zu ſcheiden, woher es denn wieder kommt, daß während einige
wie Roſcher und ihm folgend — wenn auch nur mit einigen kurzen Bemer-
kungen — Gerſtner (l. l. p. 195. 196) die Colonialfrage in die Bevölkerungs-
lehre aufnahmen, andere wie Rau und Mohl ſie wieder ganz weglaſſen. Die
Nationalökonomie ſowohl der Engländer als der Franzoſen iſt bei der allge-
meinen Bevölkerungslehre ſtehen geblieben, eben ſo die der Deutſchen, und ſo
reducirt ſich die Geſchichte der Anſichten und ſelbſt die der Geſetze auf einige
allgemeine Punkte. Schon die Gründer der theoretiſchen Bevölkerungspolitik in
Deutſchland, Juſti und Süßmilch, kommen nicht über allgemeine Sätze hinaus,
die jedoch alle darauf hinaus laufen, die Einwanderung für höchſt wünſchens-
werth zu halten. Juſti widmet ihr ein ganzes Hauptſtück, II. Buch, VIII. Haupt-
ſtück, „Von Vergrößerung der Bevölkerung durch die Fremden.“ Man ſoll ihnen
namentlich Gewiſſensfreiheit geben (§. 281) und vor allem „Handwerker und
Landleuthe“ durch „Freiheiten,“ „Bauſtellen, Aeckern, ja mit Bauhülfsgeldern“
unterſtützen. Süßmilch Cap. XIV. bleibt in ſehr allgemeinen Phraſen. In-
deſſen war bei den Verwaltungen die Ueberzeugung von dem Werthe der Ein-
wanderungen zum Durchbruche gelangt. In Oeſterreich wie in Preußen
ſuchte man ſie auf doppelte Weiſe zu befördern, und zwar theils durch allge-
meine Vorſchriften, welche dieſelbe erleichtern ſollten, theils durch eine eigene
innere Coloniſation. Schon Maria Thereſia erleichterte die Einwanderung
dadurch, daß ſie den Einwandernden die Wiederauswanderung ohne Abfahrtsgeld
geſtattete (Patent von 1753 und 1785), namentlich aber guten ausländiſchen
Künſtlern und Profeſſioniſten zu ihrem Unterkommen zu verhelfen, und ihnen
die zur Erlangung des Meiſterrechts nöthige Dispenſation ohne Taxen zu er-
theilen, verſchrieb (Patent vom 13. December 1760; erneuert 15. Februar 1784).
Von allgemeiner Wichtigkeit war allerdings das berühmte Toleranzpatent
vom 13. October 1781, welches ſpeciell den Einwanderern, die nicht katholiſch
waren, das Recht zum Häuſer- und Güterkaufe, zum Bürger- und Meiſterrecht,
ja zu akademiſchen Würden und Civilbedienſtungen einräumte. (Kopetz, Oeſter-
reichiſche politiſche Geſetzkunde I. §. 108.) Zugleich wurden direkte Geldunter-
ſtützungen für Einwanderer bewilligt, jedoch mit der weiſen Vorſchrift, daß
dieſelben nicht den Anſiedlern in die Hände gegeben, ſondern ſtatt deſſen ihnen
Wohnungen gebaut und Unterhalt verabreicht werden ſolle (Patent vom 9. Dec.
1782). Die Obrigkeiten ſollten zugleich „aufmerkſam ſein, ob die Anſiedler
arbeitſam und im Stande wären, ſich durch ihre Profeſſion zu ernähren,
ehe noch die ganze Aushülfe gegeben war“ (Patent vom 12. Juni 1782 und
Patent vom 14. October 1784 und 9. Januar 1786). LeopoldII. dagegen
kommt von dieſer Auffaſſung ſchon zurück. Er hob die Geldunterſtützungen auf
(Patent vom 11. Januar 1787), ſchreibt jedoch jede ſonſtige Hülfe „ſo weit damit
keine Geldauslagen von Seiten des Staats verbunden ſind“ vor, was auch
ſpäter in Kraft bleibt (Cabinetsſchreiben vom 24. Januar 1800 und 30. Dec.
1806). Die beſondern Rechtsverhältniſſe der Kronländer erzeugten dann eigene
Beſtimmungen über die örtliche Einwanderung in dieſelben (bei Kopetz §. 109 bis
113). — Neben dieſen allgemeinen Verwaltungsmaßregeln ging nun eine eigene
[180] innere Coloniſation her, die ſich weſentlich auf Ungarn bezog, und deren Be-
ſtrebungen bis zum heutigen Tage reichen. Wir verdanken die beſte Darſtellung
alles deſſen, was dort ſeit dem vorigen Jahrhundert geſchehen iſt, dem vortreff-
lichen Werke von Czörnig, Ethnographie der öſterreichiſchen Monarchie. Wien
1855. 3 Bde. 4°., wo in Bd. II. (Hiſtoriſche Skizze der Völkerſtämme und Co-
lonien in Ungarn und deſſen ehemaligen Nebenländern) alle einzelnen Colonien,
ihre Anlage, ihr Beſtand und ihre Entwicklung auf amtlichen Quellen zuſam-
mengeſtellt iſt. Der neueſte Verſuch, die innere Coloniſation Ungarns zu er-
zielen, iſt unausgeführt geblieben. (Geſetz von 1857.) Vergl. über die Verhältniſſe
der dortigen Coloniſation namentlich G. Höfken, Die Coloniſation Ungarns,
1858. Im Allgemeinen haben dieſe Colonien um ſo mehr geleiſtet, je weniger
ſie dem Staate gekoſtet haben, und umgekehrt. Einen ähnlichen, nur noch mehr
detaillirten Gang der Dinge finden wir in Preußen. Von der preußiſchen
Geſetzgebung ſagt Berg, T. Polizeirecht, II. Bd. S. 38, indem er der Be-
förderung der Einwanderung das Wort redet: „In den preußiſchen Staaten
wird ohne Zweifel das vollſtändigſte und zuſammenhängendſte Syſtem zur Be-
förderung und Erleichterung nützlicher Einwanderung befolgt“ Das iſt nicht
bloß im Allgemeinen wahr, ſondern hier erſcheint im vorigen Jahrhundert ein
förmliches Syſtem von Geſetzgebungen über Einwanderung. Man muß hier
für das vorige Jahrhundert ſcheiden zwiſchen dem eigentlichen Colonierecht
für förmliche örtliche Coloniſation, und dem allgemeinen Einwanderungs-
recht. Das eigentliche Colonierecht iſt auf die Coloniſation in Gemeindeform
baſirt. Es beginnt mit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685. Schon
21 Tage nach dieſer Aufhebung, am 29. October 1685, lud der Kurfürſt Fried-
rich Wilhelm durch ein öffentliches Patent die Reformirten, die von Frankreich
vertrieben worden, in ſeine Staaten, und gab ihnen, ungefähr 14000 an der
Zahl, an verſchiedenen Orten eine beſondere Gemeindeverfaſſung; ebenſo gab er
den pfälziſchen Auswanderern 1688 beſondere Privilegien; in den Jahren 1721,
1726 und zuletzt wieder 1736 wurden ähnliche Rechte den religiöſen Auswan-
derern aus Salzburg und Böhmen gegeben. Die allgemeine Grundlage dieſer
ſpeciellen Privilegien iſt ſtets neben freier Religionsübung und direkter Unter-
ſtützung das Zugeſtändniß, als Selbſtverwaltungskörper ſich in bürgerlichen
Rechtsſtreitigkeiten nach eigenem Recht zu richten (Patent vom 29. Februar 1720,
betreffend „die bereits etablirten und noch ankommenden Refugiés und andre
die mit ihnen ein Corps zu formiren verlangen. C. C. March. VI.
Abth. 2, S. 225), wie denn den Franzoſen bewilligt ward, nach ihrer Proceß-
ordnung zu verfahren, ſo wie nach ihren discipline des Églises de France
(Reſcript vom 14. April 1699 und vom 29. Februar 1720). Fiſcher hat das
frühere „Preußiſche Colonierecht“ als eigenen Abſchnitt ausführlich behandelt
Bd. I. §. 527—547. — Neben dieſem eigentlichen Colonierecht beſtand nun das
Einwanderungsrecht für Einzelne, das auch in Preußen ſehr freiſinnig war.
Fiſcher hat in ſeinem Cameral- und Polizeirecht (§. 571) alle einzelnen
darauf bezüglichen geſetzlichen Anordnungen, die wirklich von großer Fürſorge
zeugen, zuſammengeſtellt. Dieſe Anordnungen beginnen mit dem Edikt vom
27. Juli 1740 und ziehen ſich durch die ganze Regierungszeit Friedrichs II.
[181] hindurch. Sie enthalten weſentlich Befreiung von gewiſſen örtlichen Laſten,
theils auch Freijahre für Neubauten (§. 577. 583), theils enthalten ſie Ver-
gütung der Transportkoſten (§. 576), nach dem Reſcript vom 26. October 1770
ſogar bei Anbau wüſter Plätze ein Geſchenk von 150 Thlr. nebſt 23 Proc. Ver-
gütung der Baukoſten und zehnjährige bis fünfzehnjährige Freiheit (§. 580).
In einigen Provinzen ſind noch beſondere Vorrechte verliehen (§. 583). Aehn-
liche Vergünſtigungen wie in Preußen fanden in Braunſchweig ſtatt nach Pa-
tent vom 12. Juli 1718; beachtenswerth iſt hier die Beſtimmung, daß „alle,
welche über 2000 Rthlr. ins Land bringen und keine bürgerliche Nahrung
treiben, nicht ſchuldig ſind die Bürgerſchaft zu gewinnen, unter keiner
Stadtobrigkeit ſtehen.“ Berg, T. Polizeirecht a. a. O. S. 39. 41. Wir
würden wohl ähnliche Beſtimmungen aus andern Ländern haben, wenn uns
die Quellen zu Gebote ſtünden. Allein bereits damals war ein gewiſſer Zweifel
an dem praktiſchen Werthe dieſer Maßregeln lebendig. Selbſt Süßmilch ſagt
ſchon ganz offen a. a. O. §. 275: „Ein eingeborner Unterthan iſt in den meiſten
Fällen beſſer als zwei Coloniſten“ (S. 553). Eben ſo erklärt ſich Berg a. a. O.
zweifelhaft; und mit unſerm Jahrhundert geht die Frage in ein anderes Gebiet
hinüber. Während Möſer in ſeinen Patriotiſchen Phantaſien Bd. 2 ſich
direkt gegen die Einwanderung von ſeinem oft localen patriotiſchen Standpunkt
ausſpricht, erkennt Jacobs, Polizeigeſetzgebung §. 100 ff. (1809), anſtatt
einer direkten Unterſtützung die Aufgabe der Regierung in der „Freiheit der
Einwanderung“ (S. 168), ohne zu ſagen, was er darunter verſteht, während
er in den Colonien weſentlich „Ausnahmsfälle“ und „Muſter der vollkommenen
Gewerbe“ ſieht, die man übrigens nach ihm ſchon von Inländern anlegen
laſſen ſoll (S. 112). Das populationiſtiſche Element verſchwindet hier, während
bei Soden, dem denkendſten Nationalökonomen jener Zeit (1807), ſchon das
allgemeine Princip der Heeren’ſchen Ideen, die ethiſche Entwicklung, die
Geſittung und ihre Förderung zum Ziel der Einwanderung wird. Er will ſie,
„damit die Racen der Menſchen bisweilen gekreuzt, neues Blut, neuer Lebens-
ſtoff, neue Anſichten, neue Sitten und Meinungen verpflanzt, dadurch die Ein-
ſeitigkeit des Nationalegoismus vernichtet, und allgemeine Humanität
und Weltbürgerſinn verbreitet werde.“ Dieſe Auffaſſung drängte die Frage aus
der ſtrengen Polizeiwiſſenſchaft, während zugleich von anderer Seite die Furcht
vor Uebervölkerung Zweifel an dem Werthe der Volksvermehrung überhaupt,
und natürlich ſpeciell der Einwanderung erregte, und endlich die, mit den neuen
Gemeindeordnungen entſtehende Geſetzgebung über das Heimathsrecht das prak-
tiſche Ende der Einwanderung, die Aufnahme in die Gemeinde, der Staats-
verwaltung entzog und den Selbſtverwaltungskörpern übergab. Die Einwande-
rung und innere Coloniſation verſchwindet damit, und erſcheint von da an nur
noch in der Frage nach dem Indigenat und ſeinem Rechte (ſ. unten). An
ihre Stelle tritt, wenn auch oft unter dem an ſich ganz falſchen Namen einer
„Freiheit der Einwanderung“ in den neuen Gemeinderechten die „Freiheit
der Niederlaſſung,“ und dieſe wurde durch die Bundesgeſetzgebung (Bundes-
akte Art. 18) als allgemeines deutſches Rechtsprincip der Freizügigkeit an-
erkannt, wobei es freilich den einzelnen Staaten überlaſſen blieb, den Inhalt
[182] und die Gränze dieſes Rechts näher zu beſtimmen. Es war aber ſofort klar,
daß einmal auf dieſem Boden angelangt, das Einwanderungsrecht jetzt nur
noch in den Beſtimmungen über den Erwerb des Heimathrechts ſeinen prakti-
ſchen Inhalt finden werde. Die Theorie jedoch behielt die Frage bei, wenn
auch nur, um die alten Sätze mehr oder weniger modificirt zu wiederholen
(Rau, Bd. II. I.MohlI. S. 113 f., und ſo auch Gerſtner a. a. O. 196).
Roſchers ſchönes Werk über Colonien hat leider die Einwanderung nicht von
der Auswanderung geſchieden, und iſt offenbar nur auf Auswanderung und
äußere Coloniſation berechnet, ſo daß er für unſere Frage um ſo weniger zu
benützen iſt, als auch er den Zuſammenhang der Einwanderungsfrage mit dem
Heimaths [...]cht gar nicht geſehen hat. Döhl (Armenpflege des preußiſchen
Staats, 1860) hat einige Beziehungen der Einwanderung zur Armenpflege
angedeutet, obwohl ſeine Einleitung ſehr unbedeutend iſt (S. 24). — Bitzer,
Freizügigkeit. (Siehe unten Admin. Ordnung der Bevölkerung.)
(Nachweiſung, daß jede Geſellſchaftsordnung eine ihr eigenthümliche Form
der Auswanderung beſitzt, und daß demgemäß auch das Auswanderungsrecht
ein ganz verſchiedenes wird, das man nur nach den ſocialen Verhältniſſen richtig
beurtheilen kann. Specielle Darſtellung der äußeren Coloniſation, ihrer Ent-
ſtehung und ihres Verhältniſſes zur Verwaltung, und endlich der Grundſätze
und Beſtimmungen, welche das heutige Auswanderungsweſen bilden. Stand-
punkt dieſes Rechts in England, Frankreich und Deutſchland.)
Während nun aus den von uns dargelegten Gründen das Ein-
wanderungsrecht unſerer Zeit ſich ganz in das Indigenats- und Hei-
mathsweſen aufgelöst hat und damit aus der Verwaltungslehre ver-
ſchwunden iſt, iſt mit dem Auswanderungsweſen gerade das Gegentheil
der Fall. Und wieder ſind wir in der Lage, die Theorie über das
Auswanderungsweſen als eine weder den bei ihm in Frage kommenden
Principien, noch auch nur dem geltenden Recht entſprechende anzuer-
kennen. Die Staatswiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts hatte denn
doch bei all ihrer Einſeitigkeit einen Standpunkt; die der gegenwärtigen
Zeit iſt hier faſt ganz werthlos.
Dennoch iſt die Auswanderung, und nicht etwa bloß jetzt, einer
der wichtigſten Lebensproceſſe der Weltgeſchichte und eine der wichtigſten
Erſcheinungen im Leben der einzelnen Staaten. Es iſt weder wahr-
ſcheinlich, daß ſie nur zufällig entſtanden ſei, noch auch möglich, daß
ſich das für ſie geltende Recht, ſo tief verſchieden in den verſchiedenen
Zeiten, etwa bloß nach dem Ermeſſen einzelner Gewalthaber gerichtet
habe. Man muß im Gegentheil dieſelbe ſelbſt und ihr Recht von einem
höheren Standpunkte betrachten.
[183]
Es iſt kein Zweifel, daß das Verlaſſen der Heimath für den Ein-
zelnen ſtets eine ſehr ernſte Sache iſt. Die Folgen, die daſſelbe für
ihn nach ſich zieht, ſind ſo groß und greifen ſo tief in das ganze Leben
hinein, daß jedenfalls die Urſachen, welche ſolche Wirkungen hervorrufen,
die tiefſten Grundlagen des ganzen Lebens mit umfaſſen müſſen. Es
iſt daher wohl die erſte Vorausſetzung alles richtigen Verſtändniſſes der
Auswanderung, in der Auswanderung auch der Einzelnen ſtets die
Erſcheinung einer allgemein wirkenden Kraft zu ſehen. Und erſt indem
man das thut, iſt es auch möglich, den richtigen Standpunkt für das-
jenige zu finden, was die Verwaltung einerſeits in den verſchiedenen
Zeiten gethan hat, andererſeits was ihr zu thun obliegt. Auch hier
daher kommen wir zu dem allgemeinen Satze, daß alle Auswanderung
aller Zeiten allerdings etwas gemeinſam hat, daß aber dennoch jede
geſellſchaftliche Ordnung ihr eigentliches Auswanderungsweſen beſitzt,
und daher auch ihren eigenthümlichen Standpunkt für die Verwaltung
und das öffentliche Recht der Auswanderung erzeugt hat. Das muß
auch hier der Grund unſerer Darſtellung bleiben.
Wir werden daher zuerſt dasjenige bezeichnen, was aller Aus-
wanderung gemein iſt. Und zu dieſem Ende muß es uns verſtattet
ſein, denjenigen Theil der Geſellſchaftslehre hier hervorzuheben, den wir
in unſerem Syſtem der Staatswiſſenſchaft als erſten Theil der Geſell-
ſchaftslehre genauer behandelt haben. Wir dürfen ſagen, daß die
deutſche Theorie die Reſultate dieſer Unterſuchung allſeitig angenommen,
die Unterſuchung ſelbſt aber hat auf ſich beruhen laſſen. Freilich iſt
das eine ernſte und ſchwere Sache. Jedenfalls aber ſtehen wir hier
vor dem erſten Gebiete der Verwaltungslehre, in welchem wir jene
Ergebniſſe nicht mehr entbehren können, ſondern ſie der poſitiven Rechts-
bildung zum Grunde legen müſſen. Wir brauchen aber dieſelben in
allen folgenden Theilen der Verwaltungslehre an zu vielen Punkten,
als daß wir uns nicht erlauben ſollten, den Kern des Inhalts jenes
erſten Bandes der Geſellſchaftslehre hier darzulegen.
(Natur und Bedeutung der Claſſenunterſchiede in der Geſellſchaftslehre.
Alle Auswanderung hat zu ihrer letzten Grundlage die Stellung und den Gegenſatz
der nichtbeſitzenden Claſſe gegen die höhere herrſchende und beſitzende.)
Die allgemeinſte Bedingung der individuellen perſönlichen Entwick-
lung iſt nämlich ohne Zweifel der Beſitz, und zwar allerdings zuerſt
nach ſeiner Art, je nachdem er Grundbeſitz, gewerblicher Beſitz u. ſ. w.
iſt, weſentlich aber und durchgreifend nach ſeinem Maße. Bei gleich-
[184] gearteten Menſchen wird der Regel nach der mehr Beſitzende in allem,
wodurch das Individuum für das Ganze Werth, Einfluß und Macht
hat, höher ſtehen, als der weniger Beſitzende. Das iſt kein Zweifel.
Es iſt ferner kein Zweifel, daß dieſe Größe des Beſitzes nicht etwa eine
bloße Thatſache iſt, ſondern daß ſie auch zu einem höchſt mächtig wir-
kenden Faktor für das Leben der Menſchen wird. Dieſelben Menſchen
werden, je nachdem ſie viel oder wenig beſitzen, anderes thun, anderes
lernen, anderes erſtreben, anderes lieben und haſſen. Auch das leidet
keinen Zweifel. Und da es nun im Weſen der Menſchen liegt, daß
die Gleichartigkeit der Intereſſen die Gemeinſchaft des Wollens und
Strebens erzeugt, erſt die innere und dann auch die äußere, ſo entſtehen
auf Grundlage der verſchiedenen Vertheilung des Beſitzes unter den
Menſchen Gruppen des Geſammtlebens, welche wir mit dem Ausdruck
der geſellſchaftlichen Claſſen bezeichnen. Wir erkennen nun nach
den Kategorien der Größe des Beſitzes drei ſolcher Claſſen, die höhere,
die mittlere und die niedere Claſſe. Wie geſagt aber, ſind dieſe
Claſſen nicht etwa bloß Thatſachen und Zuſtände, ſondern eine jede
hat ihr eigenthümliches inneres Leben, deſſen Elemente und Bewegungen
wir eben an dem bezeichneten Orte auseinandergeſetzt haben. Wir haben
die Wirkung dieſer Claſſenunterſchiede für die Verfaſſung und die ſich
daran anſchließenden Kämpfe eben dort organiſch entwickelt; wir ſtehen
jetzt vor der Aufgabe, den Einfluß derſelben auf die Verwaltung des
Staats nachzuweiſen, die ohne ſie gar nicht zu begreifen iſt. Das wird
ſich im Folgenden faſt in jedem Theile der Verwaltungslehre zeigen;
hier zunächſt erſcheint dieſer geſellſchaftliche Grundſatz des Claſſenunter-
ſchiedes nur erſt in der Auswanderungslehre.
Um nun aber die rechte Bedeutung deſſelben zu würdigen, muß
man hier zuerſt die Verbindung des Claſſenunterſchiedes mit den
Ordnungen der Geſellſchaft wieder hervorheben.
Wir haben die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die ſtaats-
bürgerliche Ordnung als die drei Grundformen der Geſellſchaftsord-
nungen ſtets unterſchieden. Offenbar aber iſt allen dieſen drei Ord-
nungen bei aller tiefer geiſtigen Verſchiedenheit das Element des Beſitzes
gemein. Mithin erſcheint in jeder Ordnung mit dem Beſitze auch die
Verſchiedenheit deſſelben; und dieſe wird natürlich innerhalb jeder Ord-
nung ihrer Natur nach ſtets gleichartig wirken. Das heißt, es werden
ſich nothwendig in jeder Geſellſchaftsordnung die drei Claſſen-
unterſchiede wieder erzeugen. Die Geſchlechterordnung ſowohl
als die ſtändiſche, und ebenſo die ſtaatsbürgerliche werden eine höhere,
eine mittlere und eine niedere Claſſe haben. Und da nun, wie
geſagt, dieſe Claſſenunterſchiede ihr eigenes Leben und ihre Gegenſätze
[185] entwickeln, ſo iſt es ganz natürlich und ja doch auch hiſtoriſch unbe-
zweifelt, daß in jeder Geſellſchaftsordnung der Kampf der Niederen mit
den Höheren zur Erſcheinung gelangt. Ja, das iſt nicht bloß ſo im
Allgemeinen wahr, ſondern der wahre Inhalt der innern Geſchichte aller
Zeiten und Völker beſteht immer ſeiner einen Seite nach in dem wun-
derbar großen und reichen Bilde, das ſich uns entfaltet, wenn wir den
doppelten Kampf, einerſeits den Kampf der einen Geſellſchaftsordnung
mit der andern, der Geſchlechterwelt mit der ſtändiſchen, der ſtändiſchen
mit der ſtaatsbürgerlichen, und der letzteren wieder mit den erſteren
betrachten, andererſeits aber den Kampf der drei Claſſen innerhalb
jeder dieſer Ordnungen unter einander und mit den Claſſen der andern
Ordnung. Das iſt es, was dem Menſchenleben ſeinen unerſchöpflichen
Reichthum gibt, neben dem der Reichthum der Natur faſt als Armuth
erſcheint, namentlich wenn man ſich nun noch die Individualität des
Einzelnen und die mächtige Erſcheinung der werdenden Staatsperſön-
lichkeit hinzudenkt, die ihrerſeits wieder wirkend eingreifen. Und immer
und immer kommen wir darauf zurück, daß das Menſchenleben und die
Geſchichte nur auf dieſem Wege verſtanden werden kann. Unendlich iſt
die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die ſich daraus ergeben, und das
menſchliche Auge vermag ſie weder je zu erſchöpfen, noch auch nur zu
verfolgen; aber die Aufgabe unſeres Erkennens liegt hier, und nirgends
anders. Und wenn wir an der Stelle ernſter organiſcher Forſchungen
in dieſer Richtung ein mehr oder weniger geiſtreiches Auffaſſen ſubjek-
tiver Eindrücke, ein ſich Genügen in der Theorie, die ſich auf eigner
Fauſt die Welt zurecht macht, ſehen, ſo läugnen wir ja nicht die Be-
haglichkeit, die daraus für die Schreibenden und Leſenden entſteht; aber
wir läugnen die Wiſſenſchaft. Wie — in der ganzen Welt ſo weit
das menſchliche Auge reicht, herrſcht die feſte Ordnung gegebener,
unwandelbarer Kategorien, und im Leben der Menſchheit ſollte ſie nicht
herrſchen? —
Daher iſt nutzlos, darüber im Allgemeinen zu reden. Vielleicht
daß die ganz praktiſche, concrete Anwendung dieſer elementaren Grund-
begriffe uns weiter bringt, als die tiefſte Philoſophie. Kehren wir
unmittelbar zum Auswanderungsweſen zurück.
Da nämlich jede Geſellſchaftsordnung ihre Auswanderung hat, ſo
wird das Auswandern als ſolches ja wohl auf demjenigen Verhältniß
beruhen, das allen Geſellſchaftsordnungen gemeinſam iſt. Und das iſt
der Beſitz mit ſeinem Claſſenunterſchied. Und in der That kann es
auch hiſtoriſch gar kein Zweifel ſein, daß im Allgemeinen alle Aus-
wanderungen von der, von der höheren Claſſe bedrängten
niedern nichtbeſitzenden Claſſe ausgehen und ſich eben deßhalb
[186] ſtets dahin wenden, wo die ſociale Stellung der Auswandernden eine
beſſere iſt als in ihrer Heimath. Das iſt das allgemeinſte Geſetz
aller Auswanderung, das uns nur nicht bloß die Natur derſelben,
ſondern auch Geſtalt und Ziel der Auswanderung in den verſchiedenen
geſellſchaftlichen Epochen erklären, und das Recht des Auswanderungs-
weſens von Seiten der Verwaltung begründen muß.
(Die Grundlage deſſelben in der Vertheilung des Grundbeſitzes. Die
ſogenannten Militär- und Handelscolonien.)
Es muß uns fern bleiben, die Geſchichte des Auswanderungsweſens
im Einzelnen zu verfolgen. Aber es iſt von Wichtigkeit, die leitenden
Geſichtspunkte feſtzuſtellen, da namentlich in neueſter Zeit wieder alles
Beſondere durch einander geworfen iſt, und dennoch die Gegenwart nur
auf Grundlage ihres eigenthümlichen Unterſchiedes von der früheren
Zeit recht verſtanden wird.
In der Geſchlechterordnung verſtehen wir unter Auswanderung
nicht etwa die Wanderung der Völker, in der ein ganzer Stamm ſich
eine neue Heimath ſucht, gewöhnlich aus einem uns unbekannten
Grunde. Die Auswanderung muß vielmehr auch hier als das ange-
nommen werden, was ſie iſt, als das Verlaſſen der Heimath von einem
Theile der Bevölkerung. Es würde nun vom höchſten Intereſſe für
die Geſchichte der urſprünglichen Völkerbewegungen ſein, zu unterſuchen,
in wie weit die beiden folgenden Sätze den hiſtoriſchen Grund deſſelben
abgeben. Die Geſchlechterordnung hat nämlich zwei Hauptſtadien ihrer
inneren Entwicklung. Die erſte beruht noch auf der Gemeinſchaft
der Grundbeſitzungen, die zweite aber ſchon auf dem Privat-
eigenthum und mithin der verſchiedenen Vertheilung drrſelben.
In der erſten Epoche kann eine eigentliche Auswanderung im obigen
Sinne nicht ſtattfinden, weil die Gemeinſchaft das Entſtehen des Unter-
ſchiedes der nichtbeſitzenden und doch freien Claſſe ausſchließt. Die
Bewegung nach Außen, welche auch hier aus einer Reihe von nahe-
liegenden Gründen ſtattfindet, erſcheint daher ſtets als eine individuelle
und gewinnt nur bei kriegeriſchen Völkern, wie bei den Germanen,
eine feſte Ordnung und Geſtalt in dem Gefolgsweſen, das ſo alt
iſt wie die Geſchichte, und deſſen Grundlage zuletzt doch immer der
jüngere Sohn der herrſchenden Familie und die ſchwer erträgliche Unter-
ordnung unter den älteren iſt. In der zweiten Epoche dagegen hat ſich
die Gemeinſchaft der Gemeindemarkung ſchon aufgelöst. Die freie Fa-
milie ſitzt auf eigener Hufe. Die Folge iſt, daß der jüngere Sohn
[187] zwar an Abſtammung und Recht dem älteren gleich, an Beſitz und
Einfluß aber ihm untergeordnet iſt, denn die Hufe geht unter allen
Geſchlechterordnungen ungetheilt auf den älteren Sohn über. Jetzt tritt
daher die Zeit ein, wo der Unterſchied der beſitzenden und nicht be-
ſitzenden Claſſe auch in dieſer Geſellſchaftsordnung ſich zur Geltung
bringt. Die jüngeren nichtbeſitzenden Söhne ſuchen einen neuen Beſitz;
und ſo entſteht die erſte eigentliche Auswanderung. Sie zeigt in
ihrer Form ihren Urſprung. Die Auswandernden nehmen zuerſt die
Idee der Geſchlechterordnung und daher auch des Zuſammenhangs mit
der früheren Heimath mit ſich. Sie bilden in der Fremde wieder Ge-
ſchlechterordnungen; und dieſe Niederlaſſungen ſind die erſten Colonien.
Die Bedeutung der „Colonie“ iſt eine ganz ſpecifiſche; unter ihr ver-
ſtehen wir immer eine Auswanderung, welche innerhalb der aufrecht
erhaltenen Verbindung mit dem Mutterlande die geſellſchaftliche und
ſtaatliche Ordnung deſſelben reproducirt; aber ſtets in freierer Form.
Dieſe Bedeutung der Colonie hat ſich bis auf unſere Zeit erhalten, und mit
Recht fühlt daher auch Roſcher in ſeinem oben angeführten Werke, daß
man zwiſchen der Auswanderung und Coloniſation einen weſentlichen Unter-
ſchied machen müſſe, ohne zu erkennen, worauf derſelbe eigentlich beruht.
Die Colonien der alten Welt nun theilen ſich gleich anfangs in zwei Grund-
formen, welche in der griechiſchen und römiſchen Welt zur Erſcheinung ge-
langen. Die erſte Grundform iſt die Handelscolonie, die zur Zeit
der Phönizier, Karthager, Athenienſer, wie in der unmittelbaren Gegen-
wart von Hamburg und Bremen aus ſtets von den jüngeren Söhnen
namentlich der Mittelclaſſe bevölkert werden, denen in der Heimath der
Raum zu eng iſt. Die zweite Grundform iſt die der Militärcolo-
nien, welche den ihnen in der Heimath fehlenden Beſitz nicht durch
Handel und Gewerbe, ſondern durch Eroberung von Grund und Boden
gewinnen wollen. Auch bei den Mititärcolonien iſt der Grund der
Auswanderung ſtets der Mangel an Beſitz der mittleren und niederen
Claſſe, und nur das Mißverſtändniß, das die Dinge nach der Form
und nicht nach dem Inhalt behandelt, hat den innern Zuſammenhang
überſehen, und in Militär- oder Eroberungscolonien und Handelscolo-
nien etwas weſentlich Verſchiedenes ſehen, überhaupt die Colonie
nach ihrer äußeren Form und nicht nach ihrem Grunde eintheilen wollen
(Roſcher, Colonien, S. 1 ff.). Das Weſen und die Bedeutung der
römiſchen Colonien und ihren agrariſchen Zuſammenhang mit den
ſocialen Zuſtänden und den organiſchen Geſetzen hat am beſten Napo-
leonIII. in ſeinem Leben Cäſars dargeſtellt. Roſchers Anſicht
(„um mehr Kriegsmannſchaft heranwachſen zu laſſen,“ S. 11) iſt für
jedes höhere Verſtändniß faſt unbegreiflich. Dieſe Form der Colonien
[188] für die Auswanderung der Geſchlechterordnung hat nun da, wo be-
reits der Gegenſatz der Geſchlechterordnung zu einem beſtimmt aus-
geſprochenen, und in äußeren Verfaſſungskämpfen erſcheinenden geworden
iſt, auch eine förmliche Thätigkeit der Geſetzgebung und Verwaltung
zur Vorausſetzung, oder die Coloniſation wird hier zur Verwaltungs-
maßregel, und bildet einen wichtigen Theil der ſocialen Geſchichte
der inneren Verwaltung. Das iſt naturgemäß da der Fall, wo die
Grundform des Beſitzes der beſchränkte Grundbeſitz iſt, wie in Rom;
und daher die Bedeutung und die wohl überlegte Organiſation der
römiſchen Coloniſation. Wo dagegen dieß nicht der Fall iſt, wie in den
alten ſkandinaviſchen Ländern, da erſcheint die Auswanderung nur als
Einzeleroberung. Die Ausgewanderten bilden kein Ganzes, ſondern
zerſtreuen ſich, und während die Geſchlechtercolonien, ſei es, daß ſie
griechiſche Handels- oder römiſche Militärcolonien ſind, das Geſammt-
ſchickſal des Stammreiches theilen, haben die Eroberungsniederlaſſungen,
wir möchten ſagen, ein individuelles Schickſal. Es wäre wohl nicht
ſchwer, das weiter zu verfolgen. Allein es muß uns genügen, den
Charakter dieſer Epoche der Auswanderung hier bezeichnet zu haben, da
dann doch manche Ausdrücke und ſelbſt Grundſätze von ihr in die fol-
genden übergehen.
(Daſſelbe muß in die berufsmäßige und vorzüglich in die kirchliche und
in die grundherrliche Auswanderung geſchieden werden.)
Einen ganz andern Charakter hat die Auswanderung mit dem
Auftreten der ſtändiſchen Epoche. Wir wollen hier, um jede Weit-
läufigkeit zu vermeiden, das Auswanderungsweſen ſogleich auf die
beiden großen Faktoren der ſtändiſchen Epoche, das geiſtige Element
des Berufes, und das materielle des Beſitzes zurückführen, indem
wir die erſte das berufsmäßige, die zweite das grundherrliche
Auswanderungsrecht nennen. Beide Rechtsordnungen ſind tief verſchie-
den, wie ihre Urſachen, und doch bilden ſie erſt beide zuſammen das
Auswanderungsrecht dieſer Epoche.
Es iſt wohl ziemlich leicht zu erklären, weßhalb dieſe Art der Aus-
wanderung keine ſelbſtändige Behandlung erfahren hat. Daß ſie jedoch
hiſtoriſch wichtig genug iſt, werden wenige bezweifeln. Nur hat man
ſie eben um ihres ethiſchen Elementes willen ſelten vom populationiſtiſchen
Standpunkt betrachtet. Dennoch hat der letztere ſeine große Bedeutung.
[189]
Wir müſſen indeß zum Verſtändniß deſſelben eine, der Geſell-
ſchaftslehre angehörige Bemerkung voraufſenden. In keiner Geſellſchafts-
ordnung hat nämlich der Claſſenunterſchied als Unterſchied der Beſitzenden
und Nichtbeſitzenden überhaupt ſo wenig Gewalt als in der berufs-
mäßigen Ordnung der Geſellſchaft. Und zwar darum nicht, weil hier
das geiſtige Element des Berufes das Ordnende und die Herrſchaft
Vertheilende iſt, und dieß das wirthſchaftliche Element des Beſitzes theils
geradezu unterdrückt, indem es den Beſitz und das Einkommen durch
die berufsmäßige Thätigkeit regelt, andererſeits weil das Bewußtſein
der Erfüllung ſeines Berufes den Menſchen faſt allein unter allen
irdiſchen Dingen über das Gefühl der Unterordnung, das im Mangel
an Beſitz und Einkommen liegt, erhebt. Darin liegt der große Segen
desjenigen, was wir als das ſtändiſche Element im edleren Sinne des
Wortes anerkennen, und wir möchten gleich hier hinzufügen, daß der
wahre und durchgreifende Unterſchied zwiſchen dem europäiſchen und
amerikaniſchen Leben darin im Weſentlichen zu beſtehen ſcheint, daß die
europäiſche Welt noch die geiſtige Fähigkeit ſich erhalten hat, in der
Erfüllung des Berufes die Erfüllung der Beſtimmung der Perſönlichkeit
zu ſuchen, die in der nordamerikaniſchen ohne Erwerb und Beſitz gar
nicht gewonnen werden kann. Und dieß beſſere ſtändiſche Element hat
ſich in Europa bis auf unſere Zeit erhalten, und Gott gebe, daß es
ſich ewig erhalten möge, um jener kläglichen Reducirung des menſch-
lichen Werthes auf Capital und Zinſen entgegen zu treten, die die
Signatur der geſellſchaftlichen Zuſtände Amerikas bildet! — Jedenfalls
erklärt uns dieſe große organiſche Thatſache, weßhalb wir in der ſtän-
diſchen Geſellſchaft einer ganz andern Geſtalt der Auswanderung be-
gegnen, als in der Geſchlechterordnung. Auch hier ſehen wir die beiden
Grundformen derſelben, die Einzelauswanderung und die Maſſenaus-
wanderung, die ſelbſt zur Coloniſation wird. Allein beide haben einen
andern Charakter. Die Einzelauswanderung geſchieht hier meiſtens
auf Grundlage des Lebensberufes, und iſt ein Verſuch, in einem
andern Lande vermöge des Berufes ſich eine Stellung zu gewinnen.
Sie hängt daher gar nicht mehr mit Uebervölkerung und Nichtbeſitz
ganzer Claſſen zuſammen, und ſucht daher auch nicht gerade Länder
mit dünner, ſondern oft geradezu mit dichter Bevölkerung; denn es iſt
der Werth, den die Ausübung des Berufes hat, der hier entſcheidet.
So ſehen wir Geiſtliche, Krieger, Aerzte, Gelehrte auswandern, um
durch ihren Beruf ſich eine neue Heimath zu gründen; und ſo tritt
auch hier zum erſtenmale die Erſcheinung auf, die wir die Berufung
nennen — die Aufforderung zur Auswanderung von Seiten fremder
Staaten, die noch gegenwärtig bekanntlich exiſtirt. Andererſeits hat
[190] dieſe Auswanderung einen großen Einfluß auf das Einwanderungsrecht;
denn es gibt gar keinen Bevölkerungszuſtand, in dem nicht jeder Staat
gerne berufstüchtige Leute zu ſich heran zöge; den berufsmäßigen Aus-
wanderern haben daher alle Staaten faſt ausnahmslos gerne die
Gränzen geöffnet, und die in der Darſtellung des Einwanderungsrechts
bezeichneten Unterſtützungen der Einwanderer beziehen ſich eben auf dieſe
Form der Auswanderung. — Die Maſſenauswanderungen da-
gegen entſtehen in dieſer Epoche ſtets weſentlich aus geiſtigen, meiſt
religiöſen Gründen. Sie ſind urſprünglich, in ihrer großartigſten
Form, Verſuche, Eroberungen für die Religion zu machen, wie die
Kreuzzüge, die Züge der Araber, der Türken, und andere. Dahin ge-
hören im Grunde auch die Maſſenauswanderungen der Spanier und
Portugieſen nach Amerika, während die der Holländer dem Colonial-
weſen und die der Engländer dem folgenden gehören. Dann aber
erſcheinen ſie als letzter, verzweiflungsvoller Schritt, ſich der religiöſen
Unfreiheit zu entziehen: die kirchlichen Auswanderungen. Das Cha-
rakteriſtiſche dieſer Auswanderungen iſt es ſtets, daß ſie mit dem
Claſſen- und Beſitzunterſchied gar nichts gemein haben, ſondern vielmehr
mit dem Aufgeben des eignen Beſitzes in der Heimath verbunden
ſind. Solche Auswanderungen verbreiten ſich, je nachdem die unter-
drückte Confeſſion in einem ganzen Lande verbreitet iſt, über das ganze
Land, wie im 17. Jahrhundert über England, deren Geſchichte uns die
Hiſtoriker der Union ſo trefflich ſchildern, oder ſie finden nur aus be-
gränzten Gebieten ſtatt, wie die der Salzburger Proteſtanten. Sie
wirken ſtets in großartiger Weiſe; denn ſie bringen den tiefen ſittlichen
Ernſt, der ſie veranlaßte, lieber ihr Vermögen als ihren Glauben zu
verlaſſen, mit in ihre neue Heimath, und befruchten dieſelbe ſtets geiſtig
und wirthſchaftlich in hohem Grade. Aber das Verhältniß derſelben
zur Verwaltung iſt ein eigenthümliches. Es zeigt daſſelbe ſtets zwei
ſehr verſchiedene und doch ziemlich leicht verſtändliche Seiten. Da näm-
lich ſolche Auswanderer ihr Vermögen meiſtens zurücklaſſen und die
Concurrenz erleichtern, ſo werden ſie von den Körpern der Selbſtver-
waltung ſtets gerne und anſtandslos entlaſſen. Erſt da, wo die
Staatsgewalt zur Erkenntniß gelangt, daß der Staat als Ganzes viel
mehr durch ſie verliert, als die in den einzelnen Gemeinden Zurück-
bleibenden durch ſie gewinnen, pflegt das Auswanderungsverbot, dieſe
erſte populationiſtiſche Maßregel, auf ſie Anwendung zu finden, und das
kirchliche Auswanderungsrecht verſchmilzt mit dem polizeilichen, zu dem
wir ſofort übergehen.
Anders geſtaltet ſich die zweite Seite des Auswanderungsweſens
der ſtändiſchen Epoche.
[191]
(Das grundherrliche Nachſchoßrecht, jus oder census (gabella) emigra-
tionis, oder Detractrecht und ſeine Geſchichte.)
Während Ordnung und Recht der auf geiſtigen Faktoren beruhen-
den Auswanderung wenig oder gar nicht mit dem eigentlichen Staats-
recht in Verbindung ſteht und ſeiner Natur nach als ein freies Recht
erkannt wird, erſcheint eine ganz andere Geſtalt des Auswanderungsrechts
da, wo es ſich rein um den mit der Auswanderung verbundenen Beſitz
handelt. Und hier treten wir zuerſt in dasjenige Gebiet der Rechts-
geſchichte, das mit unſerer Gegenwart zuſammenhängt.
Das große Princip des Lehnsweſens, nach welchem der Beſitz ſich
mit dem ſtaatlichen Hoheitsrecht identificirt, hat, wie alle andern Ge-
biete, ſo auch das des Auswanderungsrechts in einer Weiſe beſtimmt, die
jedem Juriſten bekannt iſt, und bei der uns nur Eins darzulegen übrig
bleibt, die Verſchmelzung dieſes eigentlich grundherrlichen Rechtes mit
dem ſpäteren, dem polizeilichen Auswanderungsrecht. Freilich dürfte
unſere Auffaſſung auch des erſteren nicht die gewöhnliche ſein. Der
uralte Grundſatz der Geſchlechterordnung, daß der Grundbeſitz der Ge-
meinde (des Dorfes) eine an ſich rechtlich untrennbare Einheit ſei,
geht mit der Eroberung durch die Völkerwanderung auf die neuen
Staatenbildungen über, und erſcheint hier zuerſt in dem Grundſatz,
daß der Lehnsherr das Obereigenthum über die Beſitzungen ſeiner Va-
ſallen habe. Die natürliche erſte Folge dieſes Princips war, daß der
Vaſall nicht über ſeine Hinterlaſſenſchaft teſtiren könne. Die zweite Folge
war, daß das erbloſe Gut dem Grundherrn zufiel. Die dritte war,
daß das Vermögen der Familien dem Herrn des Grundes und Bo-
dens zufiel, auf dem ſie lebten, eine Conſequenz, die Kaiſer Friedrich II.
umſonſt aufhob (Authent. ad l. IV. C. Comm. de Succ.) und von
dem noch Fiſcher in ſeinem Polizeirecht (§. 610) ſagt: „Dieſes
Geſetz iſt theils bloß der in Italien ſtudirenden Jugend gegeben (Frie-
drich II. ſpricht allerdings nur von „Hospitibus“), theils niemals voll-
kommen beobachtet worden.“ Dieſe verſchiedenen Conſequenzen nennen
wir das Heimfallsrecht. Von den Grundherren aus ward dieß
Recht dann auch auf die ſtädtiſchen Gemeinden übertragen, und bil-
dete ſo ein allgemeines germaniſches Rechtsprincip. Die freiere Bewegung
unter den Völkern milderte dann dieſen Grundſatz theils auch unter dem
Einfluß des römiſchen Rechts dahin, daß zwar das Recht des Fremden
an der Erbſchaft zugeſtanden, daß aber die Ausfolgung der Erbſchaft
nur gegen eine Entſchädigung an den Gutsherrn, beziehungsweiſe die
[192] Gemeinde geſtattet ward; dieſe Entſchädigung war das jus detractionis,
gabella detractionis, gabella traditoria, Abzug, Abſchoß, Erbſteuer,
Weddeſchatz, die von der Reichsproceßordnung 1594, §. 82 zuerſt als
ein gemeingültiges deutſches Recht auch formell anerkannt wurden. —
An die obigen Conſequenzen ſchloß ſich nun eine letzte. Derſelbe Grund-
ſatz, der für das Gut des Todten galt, mußte natürlich auch für das
des Lebenden gelten. Zwar durfte der Unfreie natürlich überhaupt
nicht auswandern, da er ja an die Scholle gebunden war, und der
Lehnsherr (in deſſen aveu er ſtand) das Recht auch auf ſeine Perſon
hatte. Allein der Freie durfte wandern. Nach der Geſchlechterordnung
war er durch nichts darin gehindert; nur war es bei der Gemeinſchaft
des Rechts der Bauern an der Gemarkung ſelbſtverſtändlich, daß er
ſein „Gut“ zurückließ. Dieſer vollſtändige Verluſt des Gutes trat
nun in der ſpäteren Lehensepoche in entſchiedenen Widerſpruch mit dem
Bedürfniß nach freierem Verkehr, und es lag daher nahe, auf den
Auswandernden und ſein Gut denſelben Grundſatz anzuwenden, wie
auf den fremden Erbberechtigten; denn in der That ward ja der Aus-
wanderer jetzt ein Fremder. Man geſtattete daher auch die Auswan-
derung gegen eine Entſchädigung an den Grundherrn oder die Ge-
meinde, und ſo entſtand die zweite Form des detractus oder gabella:
der census oder die gabella emigrationis, die Nachſteuer, der
Nachſchoß. Man faßte nun die Abzüge wegen Erbſchaft und die
wegen Auswanderung vielfach als ein und daſſelbe Recht, als jus
detractus oder Detractrecht zuſammen, wobei nur die Abzugs-
quote verſchieden war, und bei der durchgreifenden Gemeinſamkeit der
Grundlage war das im Grunde ganz richtig, weßhalb auch die viel-
fachen juriſtiſchen Abhandlungen — die, ſo viel wir ſehen, mit Affel-
manns Diſſertation de jure seu gabella detractionis, Rost. 1622
beginnen — ſie ſtets gemeinſam behandeln. Wenn Fiſcher es Selchow
ſo gar ſehr zum Vorwurf macht, daß auch er ſie in ſeinem Element.
Juris German. §. 223 zuſammenfaßt, ſo beruht das darauf, daß die
Auffaſſung des Detractrechts zur Zeit des Erſteren ſchon eine ganz andere
war, wie wir gleich zeigen werden. Dieß Detractsrecht nun, urſprüng-
lich aus der Idee der Gemeinſchaft des Gemeindebeſitzes entſtanden,
erſchien mit dem 14. Jahrhundert ſchon als ein integrirendes Element
der Grundherrlichkeit, und hier wie auf faſt allen Punkten ward es
daher mit dem Recht auf die Gerichtsbarkeit verſchmolzen und mit
ihr als gegeben und identiſch angenommen. Daher ſagt Fiſcher mit
gutem Grunde, „daß jedem Gutsherrn, er mochte landſäſſig ſein
oder nicht, der die Erbgerichtsbarkeit beſaß; und jeder Stadt mit
Ober- und Untergericht das Abzugsrecht zukam“ (§. 622). Ueber das
[193] vorgebliche Erforderniß der Landſäſſigkeit ſiehe beſonders Riccius vom
landſäßigen Adel Cap. 19. §. 48 und MeviusComment. ad Jus
Lubecence II. T. 1. §. 5). Selbſt die Univerſitäten als ſelbſtändige
Körperſchaften hatten das jus detractus. Die Sache war dadurch für
alle Gutsherren von großer privatrechtlicher Wichtigkeit, da in Deutſch-
land wie in Fankreich das ganze Land in lauter Grundherrlichkeiten
aufgelöst war. Man wird daher leicht begreifen, daß ſie zu einer
außerordentlichen Entwicklung der juriſtiſchen Literatur Grund gab, die
eben weil ſie nur vom beſtehenden Privatrecht handelte, ſich um jeden
allgemeinern Geſichtspunkt gar nicht kümmerte, und rein als juriſtiſche
Literatur erſcheint. Dieſe ſtreng juriſtiſche Behandlung der Sache
hat ſich in der deutſchen Rechtsgeſchichte erhalten, ſelbſt Eichhorn
hat ſie nur juriſtiſch aufgefaßt (§. 373), und trotz der Bemühungen
Fiſchers und Bergs, die die adminiſtrative Bedeutung der Sache
recht gut verſtanden, hat die neuere Wiſſenſchaft, wie bei Mitter-
maier, Gerber u. a., nichts als ein intereſſantes Rechtsinſtitut darin
zu erkennen vermocht. Jedenfalls aber kann es nunmehr wohl nicht
zweifelhaft ſein, daß dieß Abzugsrecht dem Auswanderungsrecht der
ſtändiſchen Epoche angehört; und um uns den Inhalt der folgenden
Epoche klar zu machen, können wir daſſelbe nunmehr in ſeinen zwei
Punkten zuſammenfaſſen.
Das grundherrliche Auswanderungsrecht war ein doppeltes; ein
perſönliches und ein wirthſchaftliches. Das perſönliche Aus-
wanderungsrecht beſtand in dem Verbote der Auswanderung für den
Hörigen und Leibeigenen; die Auswanderung des glebae adscriptus
war ein Vergehen gegen das Recht des Herrn und konnte von ihm
beſtraft werden. Nur der Freie konnte perſönlich auswandern, und
dieſe perſönliche Auswanderung war eine unbeſchränkte. Dagegen
beſtand das wirthſchaftliche Auswanderungsrecht urſprünglich in
dem vollen Heimfallsrecht des Vermögens an die Gemeinde oder den
Grundherrn, bis an die Stelle deſſelben das Abzugsrecht als ein
Privatrecht der Grundherrlichkeit tritt und als ſolches von der geſammten
Geſetzgebung und Jurisprudenz anerkannt wird.
An dieſer ganzen Rechtsbildung hat nun die Verwaltung des
Staats noch gar keinen Antheil. Sie hat auch noch kein Princip
über die Auswanderung. Erſt mit dieſem entſteht das Streben, an die
Stelle dieſes grundherrlichen Auswanderungsrechts ein ſtaatliches, im
engeren Sinne des Wortes adminiſtratives zu ſetzen; und das nun
geſchieht in der jetzt folgenden Epoche, deren Inhalt und Entwicklung
wir nunmehr angeben wollen.
Stein, die Verwaltungslehre. II. 13
[194]
(Weſen des populationiſtiſchen Auswanderungsrechts. Das Detractsrecht wird
zum Regal und verſchwindet. Grundlage und Entſtehung der Auswanderungs-
verbote. Inhalt und Geſtaltung derſelben. Die äußere Coloniſation.)
Das Auswanderungsweſen der polizeilichen Epoche hat eben ſo
wenig wie das Einwanderungsweſen einen äußerlich beſtimmten Anfang;
wohl aber hat es ein innerlich beſtimmtes Princip; und dieß ergibt ſich
aus den früheren Darſtellungen faſt von ſelbſt und erzeugt bei der Aus-
wanderung wie bei der Einwanderung ein doppeltes, ſcheinbar ſich wider-
ſprechendes Syſtem, das der Verhinderung und das der Förderung
der Auswanderung.
So wie nämlich mit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts die
Regierungen zu der Vorſtellung gelangen, die durch die Theorie der
jungen Staatswiſſenſchaft und durch die Thatſache der ſtehenden Heere
auf das Lebhafteſte unterſtützt wird, daß die Glückſeligkeit und Macht
der Staaten in geradem Verhältniß zu der Dichtigkeit der Bevölkerung
ſtehe, ſo tritt der Wunſch auf, die Auswanderung zu verhindern.
Dieſe Verhinderung der Auswanderung ſchlägt nur da in ihr Gegentheil
um, wo man eine Machtvermehrung durch Anlage von überſeeiſchen
Colonien hofft; und hier erſcheint daher die Beförderung der Aus-
wanderung in dem Verſuche, äußere Colonien anzulegen. Beide Beſtre-
bungen haben daher eine gemeinſame Tendenz; wir bezeichnen die aus
der letztern hervorgehenden Beſtimmungen am beſten als das popula-
tioniſtiſche Auswanderungsrecht. Daſſelbe hat ſeine eigene
hiſtoriſche Entwicklung.
1) Die populationiſtiſchen Auswanderungsverbote beginnen
bereits mit der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts; aber ſie ſcheiden
ſich in zwei auch der Zeit nach verſchiedene Gruppen.
„Es war,“ ſagt Berg (Polizeirecht III. Bd. S. 56), „nach dem
ſiebenjährigen Kriege, als die Begierde, nach Preußen, Polen, Ruß-
land, Ungarn und Amerika auszuwandern, einen großen Theil der
teutſchen Einwohner gleich einer Seuche ergriff, Wohlhabende und Arme
mit gleicher Gewalt fortriß und die Bemühungen zahlreicher Emiſſarien
mit dem glücklichſten Erfolge lohnte. Unter dieſen Umſtänden forderte
der Kaiſer die Reichsſtände durch ein allgemeines Edikt auf, Niemanden
außer Reiches Gränzen die Auswanderung zu verſtatten — die Emiſ-
ſarien auszukundſchaften, anzuhalten und mit ſchwerer Strafe zu bele-
gen.“ Das ſcheint der Anfang der förmlichen geſetzlichen Auswanderungs-
verbote; genauer hat Moſer (Reichsſtaatshandbuch II. S. 121 und
[195] Kreisverfaſſung S. 758) dieſe Entwicklung angegeben. Der allgemeine
Gang aber dürfte im Weſentlichen der folgende geweſen ſein.
Als zuerſt der Wunſch entſteht, die Auswanderung zu hindern,
muß ſich die noch junge Verwaltung der Staaten damit begnügen, ihre
Maßregeln einfach an das Auswanderungsrecht der ſtändiſchen Epoche
anzuſchließen. Und hier entſteht einer von jenen Uebergängen,
welche die geſammte Bewegung im öffentlichen Recht des vorigen Jahr-
hunderts und die Umgeſtaltung ſeiner Grundlagen mehr wie vieles
andere kennzeichnen. Es iſt die Umwandlung des Rechtstitels des
beſtehenden Rechts, der wir auch im Auswanderungsrecht begegnen.
Die Regierungen ließen die Abzugs- und Nachſchoßſteuer beſtehen, aber
ſie erklärten ſie für ein Recht des Staatsoberhaupts, indem ſie
zum Theil aus dem Corpus Juris (l. un Cod. non licere habit., l. fin.
Cod. d. Ed. Div. Hadr., l. 21 Dig. de probat.) zum Theil aus den
germaniſchen Begriffen des jus eminens folgerten, daß eigentlich nur
der König berechtigt ſei, die gabella zu erheben; man ſagte geradezu,
das Recht auf die gabella ſei ein Regal. Daher entſteht jetzt die
Frage, ob die Abzugsrechte durch Geſetze der Landesherren eingeführt
werden können, worüber Heineccius (Repertor. Jur. Germ. Priv.
p. 16 Gr. §. 7); Menke (Systema Jur. Civ. I. T. 1. §. 11. 12);
Cramer (Wetzlarer Nebenſtunden VI. S. 1 ff.) viel geſtritten und zum
Theil, wie Heineccius, die Anwendung der römiſchen Beſtimmungen,
nicht zu Gunſten der freien Entwicklung, heftig bekämpft haben. Das
Ende war die Anerkennung der Regalität, und zwar theils theoretiſch,
wie von Joh. Gottfr. Fauſt („Beweis, daß das Recht der Nachſteuer
ein Regal ſei, 1756); Fiſcher (Polizeirecht §. 625: „Heut zu Tage iſt
der landesherrliche Detract aus dem Staatsobereigenthum abgeleitet
und iſt ganz unſtreitig ein Regal“) — theils praktiſch, indem einerſeits
die Landſtände es ſelbſt als ſolches anerkannten, und ſich daſſelbe daher
oft ausdrücklich beſtätigen ließen (Lüneburger Stat. p. IX. t. 10;
Hohenzollern’ſche Landesordnung Titel XXIV.;Zell, Stat. Tit. 17;
Anhaltiſche Landesordnung Tit. XIV.; der in Preußen von Seiten
der Regierung „ſowohl dem Adel als den Städten nachgelaſſene Beſitz
und Ausübung des Abzugsrechts und der Nachſteuer gegen die übrigen
königlichen Unterthanen“ ſpeciell aufgeführt bei Fiſcher, Polizeirecht
§. 624); anderſeits der Satz Raum gewann, daß wo eine Grundherr-
lichkeit das Recht auf den Detract behauptet, ſie daſſelbe auch beweiſen
müſſe (Ertel, De jurisd. inferiora et bassa P. 1. c. 19. obs. 1;
Pesler, de bon. Nobil. J. Detractus non obnoxiis. §. 5). Man
ging weiter, und das neue Recht der jungen adminiſtrativen Gewalt
fand ſeine tiefere Begründung bereits in dem Satz, daß der Staat, in
[196] deſſen Schutz das Vermögen erworben und erhalten worden ſei, auch
durch Entziehung deſſelben nicht geſchwächt und daher ein Theil zur
Beſtreitung des Staatsaufwandes zurückbehalten werden dürfe, wie
ſchon Mevius in ſeinen Decisiones. (II. dec. 163. VII. dec. 18) und
Ludolf in ſeinen Observations (II. obs. 189) bei der Unterſuchung
des Detractsrechts es ausſprechen, während Heumann ſpäter in ſeinem
„Geiſt der Geſetze der Teutſchen“ (C. II. 8 und C. 25. 11) es publi-
ciſtiſch beweist. Die preußiſche Verwaltung, unter allen deutſchen ſtets
diejenige, welche dem Einfluß geiſtiger Bewegung am meiſten zugänglich
war, ſtand daher keinen Augenblick an, das ganze Detractsrecht
polizeilich zu organiſiren (Preußiſche Inſtruction vom 30. Juli 1774
und Reſcript vom 4. December 1767) und der Grundſatz ward ohne
weiteres angenommen, daß erſtlich das Heimfallsrecht nur noch retor-
ſionsweiſe ausgeübt werden ſolle, und daß zweitens dem Erblaſſer
vergönnt iſt, bei Lebzeiten über ſein ganzes Vermögen zu disponiren
(Reſcript vom 29. Auguſt 1739 und 16. März 1743), was mit der
freiſinnigen Auffaſſung des Einwanderungsrechts eng zuſammenhängt
(Fiſcher, §. 611. 612). Daraus ergab ſich die Folgerung, daß über
Detractsfälle „nur die Landesregierungen unter Einberichtung an das
auswärtige Departement erkennen durften“ (Fiſcher, §. 627). Dieß
Princip war nun zwar ſehr einfach; allein es entſtanden nun eine Maſſe
von Rechtsfragen; zunächſt die über das Detractsrecht bei dem freien
Adel, dann die Streitigkeiten zwiſchen den verſchiedenen Landestheilen,
und dieſe zwangen allerdings wieder, auf die rein juriſtiſche Seite der
Sache zurückzugehen, und damit die ſtaatswiſſenſchaftliche fallen zu laſ-
ſen. Zur Zeit des allgemeinen Landrechts war das Heimfallsrecht, als
die urſprüngliche und ſtrenge Form, vollkommen verſchwunden. Das
Abzugs- oder Detractsrecht wird dagegen vom allgemeinen Landrecht
(II. 17. Abſchn. 2) als ein Ausfluß der Gerichtsbarkeit und „niederes
Regal“ anerkannt (Abſchoßgeld, gabella hereditaria, §. 161—173; Ab-
fahrtsgeld, gabella emigrationis, §. 141—160; die Verleihung dieſer
Rechte an Privatperſonen, §. 174—183). Das inländiſche Abfahrts-
oder Abzugsrecht ward in Folge der freiern Auffaſſung durch Verord-
nung vom 27. November 1777 aufgehoben, aber durch Edikt vom
15. Nov. 1787 wieder eingeführt; die definitive Aufhebung geſchieht erſt
durch Geſetz vom 21. Juni 1816. (Rönne, preußiſches Staatsrecht,
§. 91). Ueber die Auffaſſung, welche den Beſtimmungen des allgemei-
nen Landrechts zum Grunde liegt, Simon, preußiſches Staatsrecht II.
573 und Rönne a. a. O. Note 4. — In Württemberg iſt das Abzugs-
recht vollſtändig durch das Geſetz vom 19. November 1833 aufgehoben.
(Mohl, württemberg. Verfaſſungsrecht, §. 75). Den Abſchluß dieſer
[197] damit durchaus ins Caſuiſtiſche fallenden Streitigkeiten brachte dann
bekanntlich erſt ſpät die deutſche Bundesakte (Art. 18), deren „Frei-
zügigkeit“ im Grunde die bundesgeſetzliche Aufhebung des Detractrechts
bedeutet. Doch hatten ſchon im vorigen Jahrhundert viele deutſchen
Staaten ſich durch Gegenſeitigkeitsverträge ein freies Abzugsrecht geſchaf-
fen, und hielten an demſelben, wie wir gleich zeigen werden, nur noch
als Retorſionen feſt. Daraus ergab ſich dann, daß die allmählig all-
gemein anerkannte Nothwendigkeit der Aufhebung des Abzugsrechts durch
eine Reihe von Verträgen zwiſchen den einzelnen Staaten als inter-
nationales Recht aufgeſtellt ward, und zwar natürlich ſo, daß jeder
Staat mit jedem einzelnen Staat einen darauf bezüglichen Vertrag zu
ſchließen hat. Die deutſche Bundesakte (Art. 18) ſtellt die Aufhebung
des Abzugs nur für die Auswanderungen unter den Bundesſtaaten feſt;
die letzteren haben dann mit den übrigen europäiſchen Staaten einzelne
Abzugsverträge geſchloſſen. Die württembergiſchen ſind bei Mohl
(§. 75) aufgeführt. In Oeſterreich ſpeciell kam das Detractsrecht in
ſeiner Regalität überhaupt nicht zur Ausbildung, weil es durch die
polizeilichen Auswanderungsverbote überflügelt ward. Aehnlich in vielen
andern deutſchen Staaten. Ueberdieß trat auch die Erbſchaftsſteuer
mit gleichem finanziellem Effekt an ihre Stelle, und ſo wird es nicht
wundern, daß die ganze Abzugsfrage mit dem Ende dieſer Epoche zu
verſchwinden beginnt. Populationiſten, und ſelbſt Berg, ſprechen gar
nicht mehr von ihr, trotz ihrer Wichtigkeit. An ihre Stelle tritt viel-
mehr mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts das eigentliche Aus-
wanderungsverbot als rein polizeiliche, populationiſtiſche Maßregel.
2) Während ſich nämlich das Detractrecht an die wirthſchaftliche Seite
des alten ſtändiſchen Auswanderungsrechts anſchließt, ſchließt ſich das
Auswanderungsverbot vielmehr an die perſönliche an. Mit dem Wunſche
nach Vermehrung der Bevölkerung tritt die einfache Conſequenz ein, den
Einwohnern der Staaten die Auswanderung geradezu zu verbieten, als
Folge der Verpflichtung des Staates, für die Glückſeligkeit ſeiner Einwohner
zu ſorgen. Dieſe direkten Verbote ſind wahrſcheinlich von Frankreich nach
Deutſchland gelangt. Und ſo ſehen wir nun zwiſchen Praxis und Theorie
einerſeits und innerhalb der Theorie ſelbſt anderſeits jenen tiefen Gegenſatz
entſtehen, der zur folgenden Epoche der freien Auswanderung hinüberführt.
Von Oeſterreich ſagt Kopetz (Polizei-Geſetzkunde I. §. 87) daß
bereits in früheren Zeiten ſowohl allgemeine als beſondere Aus-
wanderungsverbote erlaſſen worden ſeien. Letztere beziehen ſich
ſpeciell auf die Arbeiter in beſtimmten Induſtrien, namentlich auf die
böhmiſchen „Glasmacher“ (ſeit 1752), Senſenſchmiede (Verordnung vom
8. Februar 1781); das erſte allgemeine Auswanderungspatent vom
[198] 10. Auguſt 1784 ſchrieb überhaupt vor, daß die Obrigkeit „geſchickten
Künſtlern und Handwerkern, welche bei den Provinzialfabriken beſonders
nothwendig ſind,“ nicht leicht Päſſe ins Ausland geben ſolle. Joſeph II.
faßte dann alle beſondern Vorſchriften in das citirte Auswanderungs-
patent vom 10. Auguſt 1784 zuſammen, welches zugleich die Geſetz-
gebung über „fremde Werbungen, Entführungen und gewaltſame Weg-
nehmungen der Unterthanen“ enthält. Hier werden die Begriffe der
wirklichen und beabſichtigten Auswanderung förmlich codificirt und das
Princip ganz allgemein aufgeſtellt, daß die Auswanderung nur auf Bewil-
ligung geſchehen darf, wobei aber den Behörden noch ausdrücklich
aufgetragen wird, auch den „Vorwand und die Gelegenheit“ zur Aus-
wanderung abzuſchneiden, weßhalb gegen diejenigen, die den Argwohn
der Auswanderung erwecken, eigene Maßregeln vorgeſchrieben werden.
Die unbewilligte Auswanderung aber wird jetzt ein Verbrechen, das
mit Confiscation des erreichbaren Vermögens, eventuell mit drei Jahren
öffentlicher Arbeit zu beſtrafen iſt; ſelbſt die Mitſchuldigen werden hart
beſtraft. Liſtige Entführungen ſind Verleitungen von Hand-
werkern ꝛc, „um ſich in fremden Staaten anzuſetzen“, wobei die Anzeige
mit 100 und die Einbringung ſolcher „Verführer“ mit 200 fl. belohnt
wird; die Verleitung ſelbſt wird mit 1—6 Monaten Arreſt beſtraft.
Obwohl nun ähnliche Grundſätze auch anderswo gegolten haben, wie
in Dänemark (Juſti, §. 304); Rußland (Juſti und Roſcher); Kur-
braunſchweig 1784 (Berg, Polizeirecht Bd. III. 2. Abſchn. Hauptſt. 2);
Pfalz 1785; Heſſen-Darmſtadt 1787 (Berg a. a. O. S. 52);
namentlich das unbedingte Auswanderungsverbot von Bayern (Patent
vom 28. Februar 1784; Pötzl, bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 31);
Königreich Sachſen (Mandat vom 21. Auguſt 1764 und folgende;
Funke, Polizeigeſetze Abſchn. VIII. Cap. 4), iſt doch wohl kein Verbot
ſo ſyſtematiſch entwickelt als dieſes, und hat daſſelbe vielleicht eben deß-
halb ſeinen Einfluß bis auf unſere Zeit erſtreckt. Das neue Auswan-
derungspatent vom 24. März 1832 für Oeſterreich ſteht übrigens, ob-
gleich es in vielen einzelnen Beziehungen freier iſt, doch noch auf dem-
ſelben Standpunkt; die „unbefugte Abweſenheit“ ohne Paß wird noch
immer mit Strafen (5—50 fl.) belegt, und die Behörde hat das Recht,
„Einberufungsedikte“ ergehen zu laſſen, die dreimal zu veröffentlichen
ſind, und bei welchen die Staatsbürgerſchaft verloren geht, wenn der
Betreffende nicht zurückkehrt. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe Beſtim-
mungen gerade wie das damalige Recht der Volkszählung noch ganz auf
dem Standpunkt der Sicherung der Militärpflicht ſtehen. Eben ſo
ſtrenge war in Preußen die Auswanderung im Anfange dieſes Jahr-
hunderts verboten (Roſcher, Nationalökonomie a. a. O.), und dieſer
[199] allgemeine Grundſatz wird noch von Fiſcher (Polizeirecht I. §. 587) als
geltend erkannt (1785). Erſt das allgemeine Landrecht Th. II. 17.
127—141 hat den Grundſatz der Freiheit der Auswanderung auf-
geſtellt; und obgleich dieß Princip durch Edikt vom 2. Juli 1812 auf-
gehoben wurde, iſt es durch Geſetz vom 15. September 1818 in ſeinem
vollen Umfang wieder eingeführt. Die Quellen für die Geſetzgebung
der übrigen deutſchen Staaten im 18. Jahrhundert gehen uns ab; gewiß
werden manche unſerer Leſer hier intereſſante Beiträge nachtragen können.
Mit dieſen Geſetzen nun trat, namentlich gegen das Ende des Jahr-
hunderts, die Theorie in lebhaften Gegenſatz, und ſie hat nicht wenig
dazu beigetragen, die Freiheit auch auf dieſem Gebiete vorzubereiten.
Der erſte, der eine vollſtändige Theorie der Auswanderung auf-
ſtellt, iſt Juſti (II. Bd. IX. Hauptſt. 2. Abſchn.) „Von denen Maßregeln
wider die Auswanderung und Ausführung der Unterthanen.“ Trotz
ſeiner Anſicht, daß jeder Staat die Auswanderung verhindern ſolle,
ſteht dieſer bedeutende Mann doch auf einem viel freieren Standpunkt
als die Geſetzgebung ſeiner Zeit. Er erkennt drei Urſachen der Aus-
wanderung: üble Beſchaffenheit der Regierung, Mangel an Gewiſſens-
freiheit, und erſt in dritter Reihe Mangel an Nahrung im Lande.
Nun kann man „dem Staate nicht gänzlich das Recht abſprechen, die
Auswanderung zu verbieten“ — aber es iſt „nicht rathſam, ſich dieſes
Mittels zu bedienen.“ „So lange ein Staat,“ ſagt er (§. 309), „die
Urſache von der Auswanderung ſeiner Unterthanen nicht hebet, ſo wird
er ſich vergeblich bemühen, ſie davon abzuhalten.“ In gleicher Weiſe
ſpricht er ſich über das Abzugsgeld aus: „Eben ſo wenig iſt es rath-
ſam, die Unterthanen durch ein hohes Abzugsgeld von der Auswan-
derung abzuhalten“ (§. 305). In ähnlicher freier Weiſe faßt auch
Süßmilch die Frage auf, wenn auch unbeſtimmter (1. Bd. Cap. 14),
wie denn Süßmilch überhaupt bei viel größern Kenntniſſen viel weniger
Charakter als Juſti beſitzt (Verfaſſ. §. 276). Auf einen viel höheren
Standpunkt ſteht der treffliche Berg, ein Mann, deſſen Leiſtungen ſo
wenig wie ſeine Geſinnungen gehörig gewürdigt ſind. Allerdings meint
er, daß „kein Staat ſchuldig ſei, Perſonen, welche die Einwohner zum
Auswandern verleiten, zu dulden,“ allein „durch Strafverbote und
andere Zwangsmittel dürfe das Auswandern nicht verhindert werden.“
Er ſtellt vielmehr ausdrücklich den Grundſatz auf: „der freie deutſche
Unterthan iſt nicht an die Erde gebunden, die er bewohnt,
und keine Polizeigewalt iſt berechtigt, ihn wider ſeinen
Willen zurückzuhalten“ (S. 51). Wir führen dieſen Ausſpruch
mit Stolz an, denn er beweist uns, daß die deutſche Wiſſenſchaft auch
in dieſer Beziehung ſchon damals mindeſtens eben ſo hoch ſtand als die
[200] franzöſiſche Auffaſſung, die ſich namentlich bei der Berathung über das
Emigrantengeſetz zwar in ihrer Energie, aber auch in ihrer Einſeitigkeit
zeigte (Thiers, Histoire de le Révolution I. p. 186 sq.). Die deutſche
Rechtswiſſenſchaft übrigens hatte dieſem Satze bereits vorgearbeitet;
Berg ſagt: „Dieß Recht iſt durch das allgemeine deutſche Herkommen
anerkannt und durch reichsgerichtliche Erkenntniß außer Zweifel geſetzt.“
Nach Faber (Staatskanzlei Thl. 49, S. 463) erklärte der deutſche
Reichshofrath, „es laufe wider die teutſche Freiheit, den Unterthanen
das jus emigrandi zu entziehen;“ die früheren Anſichten, die gegenüber
den damaligen polizeilichen Verboten dieß Recht vom juriſtiſchen Stand-
punkt vertraten, hat Wieſand (de limitibus, quibus facultas domi-
cilii circumscribitur 1791) geſammelt. (Vgl. Berg a. a. O. S. 52.)
In Württemberg beſtand das im Tübinger Vertrag feſtgeſetzte Recht
der freien Auswanderung bis zur Regierung König Friedrichs, wo es
erſt durch die Verordnung vom 21. Juni 1811 aufgehoben wurde
(Mohl, württemb. Verfaſſungsrecht S. 388). Es iſt daher gewiß und
darf nicht vergeſſen werden, daß Deutſchlands Wiſſenſchaft damals in
der freien Auffaſſung des Auswanderungsrechts viel höher ſtand, als
England, wo nach Roſcher noch im im Jahre 1744 J. Tucker in
ſeinen Four tracts (p. 226) das geſetzliche Verbot der Auswanderung von
Arbeitern billigte. Im Gegentheil leidet es keinen Zweifel, daß es die
deutſche Rechts- und Staatswiſſenſchaft iſt, welche die populationiſtiſchen
Auswanderungsverbote gebrochen und das Princip der freien Aus-
wanderung zum Siege geführt hat, das die Grundlage des heutigen
Auswanderungsrechts bildet, und zu dem wir jetzt übergehen können.
Was nun, um auch dieſe Seite nicht zu übergehen, die äußere
Coloniſation als Anlegung von überſeeiſchen Colonien unter Mitwirkung
der Regierung betrifft, ſo glauben wir an dieſem Orte dieſelbe mit
Einer Bemerkung erledigen zu können. Obwohl ſie natürlich theils in
der Form der Auswanderung, theils in der der Einwanderung (Herbei-
ziehen fremder Coloniſten) geſchieht, ſo hat ſie von Anfang an mit dem
Bevölkerungsweſen gar nichts zu thun, ſondern iſt lediglich aufgefaßt
als eine Maßregel zur Förderung der Volkswirthſchaft, ſpeciell des aus-
wärtigen Handels und der Schiffahrt, wenn auch Rau dieſe Seite
gänzlich überſieht, und Roſcher ſie nicht genügend hervorhebt. Sie
bildet in dieſem Sinne ein eigenes Gebiet, das auf eigenthümlichen
Gründen beruht, und daher auch mit Recht den eignen Namen der
Colonialpolitik führt. Die verſchiedene Geſtalt, die bewegenden
Gründe und die Geſchichte derſelben hat Roſcher in ſeinem Werke
ziemlich genau dargeſtellt. Wir werden nur auf Einem Punkte auf
dieſelbe zurückkommen.
[201]
die freie Auswanderung.
(Begriff und geſellſchaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was
das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entſtehung und Entwicklung der Sorge
für die Auswanderung.)
Mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung ſiegt nun auf allen
Punkten das Princip der freien Selbſtbeſtimmung des Einzelnen über
die Schranken, welche die geſellſchaftliche Ordnung derſelben geſetzt hat.
Wie der Beruf, die Religion, das Gewerbe, ſo wird jetzt auch das
Angehören an den eignen Staatsverband grundſätzlich frei. Der Staat
iſt jetzt nicht mehr der Herr und Vormund ſeiner Angehörigen, ſondern
er iſt ihre Einheit; das Verlaſſen der Einheit wird damit Sache des
Einzelnen; und dieſer Grundſatz iſt der des freien Auswanderungs-
rechts.
Allein dieſe Freiheit iſt als bloße Aufhebung der bisherigen recht-
lichen Beſchränkungen nur ein negativer Begriff. Die wirkliche Aus-
wanderung hat jetzt wie immer ihre poſitiven Grundlagen, und dieſe
liegen hier wie immer in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen. Sie be-
rührt aber außerdem als ein völliges Aufheben der Geſammtbeziehungen
des perſönlichen und wirthſchaftlichen Lebens die Gemeinſchaft, die der
Auswanderer verläßt, und wird dadurch zu einem öffentlichen Akte.
Der Staat kann und ſoll ſie daher nicht hindern; aber er muß auch
bei der vollen Freiheit der Auswanderung die rechtlichen Bedingungen
feſtſetzen, durch welche ſie in der Weiſe geordnet wird, daß ſie nicht zu
einer Verletzung der öffentlichen Intereſſen wird. Und ſo entſteht das,
was wir das Auswanderungsrecht nennen. Endlich aber greift
ſie ſelbſt ſo tief in dieſe Geſammtintereſſen hinein, daß ſie als ſolche
ein Gegenſtand der Verwaltung wird; und damit entwickelt ſich aus der
rein negativen Freiheit der Auswanderung ein eigenthümliches Syſtem
der Sorge für dieſelbe, das ſich zu einer großen und wichtigen Geſetz-
gebung entfaltet hat. Man kann daher gewiß mit Recht ſagen, daß
die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung ſchon jetzt ihr eignes und
eigenthümliches Syſtem des Auswanderungsweſens erzeugt hat, das wir
jetzt kurz darzuſtellen haben.
Nur iſt daſſelbe eben ſo wenig wie die früheren Syſteme plötzlich
entſtanden, noch auch iſt es als ein vollſtändig abgeſchloſſenes zu betrach-
ten. Es hat im Gegentheil keinen unweſentlichen Werth, den Gang der
Theorie wie den der Geſetzgebung in dieſer Beziehung genauer zu
beobachten.
Es iſt wohl kein Zweifel, daß die theoretiſche Auffaſſung des Aus-
[202] wanderungsweſens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei
ganz verſchiedene Geſichtspunkte darbietet.
I. Der erſte Standpunkt der Theorie iſt der, den wir bereits in
der vorigen Epoche ſiegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche
gelangen ſehen. Es iſt die Vertretung der, allerdings nur negativen,
rechtlichen Freiheit der Auswanderung. Die Grundſätze, welche ſchon
Berg und andere aufſtellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die
Theorie iſt ſich einig, daß geſetzliche Verbote unzuläſſig ſeien. Was
Bentham, Des récompenses et des peines bei Roſcher (§. 256)
ſagt, hat, wie wir geſehen, ein Menſchenalter zuvor ſchon Juſti viel
beſſer ausgeſprochen, ſelbſt Jacobs (Polizeigeſetzgebung, §. 96) ſpricht
ſich genau in derſelben Weiſe aus; und Hallers Zugeſtändniß für die
Auswanderungsfreiheit (Reſtauration der Staatswiſſenſchaft I. 429 und
508) iſt ein Beweis, daß die freiere Anſchauung unwiderſtehlich ge-
worden iſt. Dagegen verliert die neue Staatswiſſenſchaft den recht-
lichen Geſichtspunkt ganz aus den Augen und ſpricht nur vom popu-
lationiſtiſchen. Berg iſt wieder der letzte, der denſelben feſtzuhalten
verſteht, und darin iſt er im Grunde der Ausdruck des Geiſtes, der ſich
in den neuern Geſetzen Bahn bricht. „Es iſt billig, daß keinem Unter-
thanen verſtattet werde, ohne Vorwiſſen des Staats auszuwandern
— doch darf ihnen ohne rechtliche Urſachen die Entlaſſung nicht verſagt
werden,“ was namentlich Seidenſticker aus den beſtehenden Rechten
als gemeingültigen Grundſatz bewies (De jure emigrandi ex moribus
Germanorum jure communi et legibus imperii constituto, 1788). Es
kam demnach nur noch darauf an, die Vorſchriften des öffentlichen
Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juriſtiſch ordnen ſollten.
Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt dieſe
Frage gänzlich der Geſetzgebung, während ſie ſich in ziemlich allge-
meinen Bemerkungen der populationiſtiſchen Seite der Frage zuwendet.
Dieſe Richtung ward ihr wiederum namentlich durch Malthus und
durch das Gefühl der neuen Geſtalt der geſellſchaftlichen Gegenſätze
gegeben, wie ſie ſich in unſerm Jahrhundert entwickeln. Wir haben
ſie bereits bezeichnet. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erzeugt die
Ordnung, welche die Vertheilung des Beſitzes gibt. Sie hat daher
keine andere Ordnung, als die der drei Claſſen, und das iſt äußerlich
ihr weſentlicher Unterſchied von den früheren Geſellſchaftsordnungen.
Andererſeits beruht ſie auf dem, für alle Claſſen gleich gültigen Grund-
ſatz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche
Stellung in der geſellſchaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegenſatz,
der in dieſen Elementen liegt, erſcheint nun äußerlich als die Gefahr
der Uebervölkerung, und wir haben deßhalb ſchon oben geſagt, daß
[203] es gar keine Uebervölkerung der mittleren und höheren Claſſe, ſondern
nur eine ſolche der niederen gibt. Die neue Polizeiwiſſenſchaft ſah daher
in der Auswanderung nicht mehr ein rechtliches Verhältniß, und ſelbſt
die populationiſtiſche Frage nach der Verhinderung der Auswanderung
war ihr mit der rechtlichen verſchwunden. Sie behandelt, ohne ſich ihrer
Einſeitigkeit bewußt zu ſein, das Auswanderungsweſen nur noch als
ein Mittel gegen die Uebervölkerung, alſo als einen Theil der
geſellſchaftlichen Verwaltung; und zwar natürlich auch nur in ſo weit,
als dieſe Auswanderung von der Verwaltung ſelbſt hervorgerufen wird.
Da das natürlich nur ganz ausnahmsweiſe der Fall ſein kann und
die Erörterung über die volkswirthſchaftlichen Gründe und Folgen der
freien Auswanderungen in die Volkswirthſchaft gehört, ſo läßt es ſich
leicht erklären, weßhalb das, was z. B. Rau (Volkswirthſchaftspflege,
§. 17) Mohl (Polizeiwiſſenſchaft, §. 21) und ſelbſt Gerſtner, der
übrigens den großen Vorzug vor ſeinen Vorgängern hat, zwiſchen der
Einzel- und Maſſenauswanderung zu unterſcheiden (S. 217 ff.), ganz
unbedeutend iſt und uns durchaus kein Bild des Auswanderungsweſens
gibt, da jede Beziehung zum Auswanderungsrecht fehlt. Und doch be-
ſteht ein ſolches, und iſt von großer Wichtigkeit, und die Verwaltungs-
lehre wird ſich künftig dieſes Gebietes nicht entſchlagen dürfen. Selbſt
Roſcher kommt nicht weiter als bis zu der Phraſe: „daß man
der Auswanderung keine Vogelfreiheit laſſe, verbietet ſchon die einfachſte
Menſchenliebe“ (Colonien, Seite 362). Die wahre Frage aber iſt
in geſellſchaftlicher Beziehung die, welche ſocialen Gründe die heutige
Auswanderung aus Europa bewirken und welche ſocialen Folgen ſie
hat — und während das Erſte auf der flachen Hand liegt, iſt das
Letzte wohl weſentlich damit erſchöpft, daß die Auswanderung der Land-
wirthe die Bildung großer Grundbeſitze fördert, während die der
Arbeiter das geſellſchaftliche Bewußtſein der zurückbleibenden hebt.
Die gegenwärtigen Kämpfe um Lohnerhöhung, deren Charakteriſirung
wir in der Auſtria, Jahrg. 1865, verſucht haben, waren ohne Auswande-
rung gar nicht denkbar, und werden weſentlich durch die Entwicklung
derſelben unterſtützt. Man ſoll das nicht überſehen! — Nachdem aber
nun dieß Princip der Freiheit der Auswanderungen einmal feſtgeſtellt
war, mußte jetzt die Geſetzgebung das öffentliche Recht derſelben inner-
halb dieſer Freiheit beſtimmen; und hier griff nun der oben bereits
angeführte Grundſatz durch, daß zwar die Auswanderung an ſich frei
ſei, daß ſie aber unter Vorwiſſen des Staats geſchehen müſſe, und
die Wehrpflicht fügte den Satz hinzu, daß ſie erſt nach Erfüllung
dieſer Pflicht geſtattet ſein könne. Dieſes Princip der rechtlichen Frei-
heit der Auswanderung bewirkte nun, daß die Beſtimmungen über das
[204] Auswanderungsrecht mit den Beſtimmungen über den Erwerb und
Verluſt der Staatsbürgerſchaft zuſammengefaßt, und ein Theil
dieſes öffentlichen Rechts wurden, was die Ausſchließung des Aus-
wanderungsrechts aus der Verwaltungs- (oder Polizei-) Wiſſenſchaft
und ſelbſt der Verwaltungsgeſetzkunde definitiv entſchied. Dennoch iſt
daſſelbe nicht unwichtig. In Preußen hatte das allgemeine Landrecht
(§. 130 a. a. O.) bereits erklärt, daß es zur Auswanderung keiner
Erlaubniß, ſondern nur eines Vorwiſſens des Staats bedürfe, was
nach kurzer Unterbrechung ſeit 1812 mit dem Geſetz vom 15. Sep-
tember 1818 wieder allgemein gültig ward. Allein dabei blieb zuerſt
das Abzugsrecht noch bis zur Verordnung vom 21. Juni 1816 auch
für inländiſche Heimathsänderung beſtehen, während die Bundesakte
(Art. 18) es bereits zwiſchen allen deutſchen Bundesſtaaten aufgehoben
hatte, und erſt die königliche Ordonnanz vom 11. April 1822 hat dieß
Recht mit ausländiſchen Staaten auf das Princip des Retorſions-
rechts zurückgeführt, indem mit den meiſten Staaten die Aufhebung
des Abzugsrechts vertragsmäßig vereinbart iſt. — Zweitens aber hält
man entſchieden daran feſt, daß zwar die Behörden kein Recht haben,
die Entlaſſung aus dem Staatsverbande zu verweigern, daß aber die
Auswanderung ohne eine ſolche Entlaſſung ſtrafbar ſei; und dieſer
Grundſatz fand ſeine geſetzliche Formulirung im Geſetze vom 31. December
1842. Es war klar, daß man hier noch immer zwiſchen Freiheit und
Polizei ſchwankte; namentlich wurde die Entlaſſung ausdrücklich wegen
nicht erfüllter Wehrpflicht verweigert (§. 17—19; der auswandernde
Wehrpflichtige ſoll als Deſerteur ſein ganzes Vermögen verlieren!) Erſt
die Verordnung vom 4. Januar 1849 minderte die Strafe auf 50 bis
1000 Thaler, was dann neben der von der Verfaſſungsurkunde von
1850 (Art. 11) aufgeſtellten vollen Freiheit der Auswanderung noch
nach dem Geſetze vom 11. März 1850 als geltendes Recht beſtehen
geblieben iſt. (Rönne Staatsrecht, §. 91.) In Oeſterreich folgte
dem Auswanderungspatente von Joſeph II. das neue noch gegenwärtig
geltende vom 24. März 1832, welches im Weſentlichen die damals auch
in Preußen geltenden Normen enthält, die „befugte“ von der „unbe-
fugten“ Auswanderung ſcheidet, die Gewährung der Auswanderung als
Regel feſtſtellt, wenn der Betreffende der Militärpflicht genügt hat und
daß „keine Standes- und Amtsverpflichtungen entgegenſtehen.“ Die
unbefugte Auswanderung wird mit Sequeſtration des Vermögens —
nicht mit Confiscation wie in Preußen — bis zum Tode des Ausge-
wanderten beſtraft, dann aber mit der rechtlichen Unfähigkeit Eigen-
thum zu erwerben. Das Verfahren bei der Einberufung iſt genau
vorgeſchrieben. (Fr. Swieceny, das Heimathsrecht in den k. k. öſter-
[205] reichiſchen Kronländern, 2. Aufl. 1861, wo zugleich die Novellen zum
Auswanderungspatent, Seite 79 ff., ſo wie die Verträge zwiſchen
Oeſterreich und den Nachbarſtaaten genau mitgetheilt ſind, Seite 186 ff.)
— Auf demſelben Standpunkt ſteht Bayern, deſſen Beſtimmungen
auch in Bezug auf die Sequeſtration des unbefugten Auswandernden
genau mit denen des öſterreichiſchen Patents übereinſtimmen; höchſt
zweckmäßig iſt die Beſtimmung, daß die Polizeibehörde eine öffentliche
Ausſchreibung der Auswanderung am Wohnorte des Auswandernden
erlaſſen ſoll (Miniſterial-Erlaß vom 13. Auguſt 1846); es wäre zu
wünſchen, daß dieß ein ganz allgemeines Princip würde. Auch die
Gabella iſt gerade wie in Preußen und Oeſterreich auf die Retorſion
beſchränkt. (Pötzl, Verfaſſungsrecht, §. 31.) — In Sachſen iſt die
Auswanderung allerdings ſchon durch die Verfaſſung von 1831 frei;
jedoch auch mit Beſchränkung auf die Wehrpflicht; das Mandat vom
6. Februar 1830 enthält genauere Darſtellung der Auswanderungspäſſe;
doch ſind Auswanderungsconſenſe nicht erforderlich. (Funke, Sächſiſche
Polizeigeſetze, Abſchnitt VIII. Cap. IV.) Eine Strafandrohung finde
ich bei unbefugter Auswanderung nicht. — Auch Württemberg hat
das freie Auswanderungsrecht, das 1811 aufgehoben war, ſchon durch
den Verfaſſungsentwurf von 1817 und dann durch das ausführliche
Geſetz vom 15. Auguſt 1817 zurückgegeben; das Geſetz vom 19. No-
vember 1833 beſchränkte daſſelbe auch hier ſpeciell nur in Beziehung
auf die Militärpflicht; doch iſt zu bemerken, was wir ſonſt nicht finden,
daß Schuldner während des Gantverfahrens nur mit Zuſtimmung
der Gläubiger (aller?) auswandern dürfen; ebenſo nur derjenige, der
keine Verpflichtung übernommen hat, die nur durch perſönliche Anweſen-
heit erfüllt werden kann. (Mohl, Verfaſſungsrecht, §. 75.)
Faßt man die obige, wenn auch unvollſtändige Darſtellung des
Auswanderungsrechts zuſammen, ſo ergibt ſich als allgemeines Reſultat,
daß die deutſchen Geſetze ziemlich gleichartig die Auswanderung principiell
frei laſſen, und nur die Verpflichtung zur Anzeige aufſtellen, weſentlich
damit der Wehrpflicht genügt werde; das letztere wird außerdem durch die
Cartell-Convention der deutſchen Bundesſtaaten wegen wechſelſeitiger
Auslieferung der Deſerteure vom 12. Mai 1851 vervollſtändigt; der
Grundſatz, den z. B. Bayern in der Convention mit Oeſterreich (Swieceny
a. a. O., Seite 187) und Sachſen für alle deutſchen Bundesſtaaten
(Funke a. a. O.) aufgeſtellt haben, daß die Aufnahme in den andern
Staatsverband nachgewieſen ſein muß, ehe die Entlaſſung erfolgt, iſt
eigentlich ein Widerſpruch. Das, was Deutſchland fehlt, iſt die Erweite-
rung des Art. 18 der Bundesakte zu einem gemeinſamen und auf der
Höhe unſerer Zeit ſtehenden Bundesrecht der Auswanderung.
[206]
Auf dieſe Weiſe hat ſich nun das gebildet, was wir den erſten
Theil des freien Auswanderungsrechts nennen möchten, die öffentlichen
Verpflichtungen des Auswandernden gegen die frühere Heimath,
und die Grundſätze, nach denen die Verwaltung für die Erfüllung der-
ſelben zu ſorgen hat. An dieſen ſchließt ſich ein zweiter Theil an.
II. Wir können in dieſem zweiten Theile den Stoff deſſelben in
die Auswanderungspolizei und die Auswanderungspolitik
ſcheiden.
a) Die Auswanderungspolizei umfaßt die Maßregeln der
Organe der vollziehenden Gewalt, Amt, Gemeinden und Vereine, zum
Schutz und zur Sorge für die Perſon und das Vermögen des Aus-
wandernden. Das Entſtehen und der Inhalt derſelben hängt aufs
Engſte mit dem geſammten theils ſocialen, theils wirthſchaftlichen Ent-
wicklungsgange der europäiſchen Staaten zuſammen, und iſt in ſeiner
Beſonderheit wieder nicht ohne eigenthümliches Intereſſe.
Je feſter ſich nämlich die Ordnung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
in Europa hinſtellt, um ſo regelmäßiger wird auch die, auf dem Claſſen-
gegenſatz derſelben beruhende Auswanderung, um ſo allgemeiner die
Verbindung zwiſchen der alten und neuen Welt, und dadurch iſt es
möglich geworden, die Bewegung der Auswanderung zum Gegenſtand
eigner Transportunternehmungen zu machen. Daß das Wohl
und Wehe vieler Tauſenden von dieſen Unternehmungen abhängt, iſt
klar. In England, deſſen Auswanderer zum großen Theil wieder Ein-
wanderer in ſeine eignen Colonien ſind, entſtand daher zuerſt der Ge-
danke, den Auswanderertransport als ſolchen zum Gegenſtand eigner
Verwaltungsgeſetze zu machen. Dieſe Geſetze waren urſprünglich nur
Schifffahrtsgeſetze, und betrafen nichts als die Einrichtung der Paſſa-
gierſchiffe. Hier iſt es Nordamerika, welches ſchon im Jahre 1819 den
Anfang mit Paſſagiervorſchriften macht. Die europäiſche Geſetzgebung
beginnt mit der Passengers Act 9 G. IV. Cap. 21, 1825, die
Vorſchriften für die Auswandererſchiffe enthaltend, und ſind gut dar-
geſtellt bei Mac Culloch, Dictionary (v. Passenger, Colonisation); —
Roſcher hat den Inhalt der Passenger Act angegeben, der von ſpäteren
bills erweitert und verbeſſert iſt. Im Jahre 1843 folgte Belgien mit
einer ähnlichen Geſetzgebung; von den deutſchen Staaten hat ſich Bre-
men ſchon ſeit 1832 mit Verordnungen über die Auswanderung be-
ſchäftigt, und namentlich in dem neueſten Geſetz vom 14. Juli 1854
ſehr verſtändige Vorſchriften erlaſſen, deren Befolgung von einer eignen
Behörde überwacht wird. Hamburg hat dann folgen müſſen; die
neueſte revidirte Verordnung iſt vom 20. Februar 1855. Es iſt wahr,
daß dieſe Geſetzgebungen weſentlich durch das Intereſſe der localen
[207] Schifffahrt bedingt waren; aber das iſt nicht Schuld dieſer beiden
Städte, ſondern es wäre auch hier Pflicht des deutſchen Bundes
geweſen, das was England, Frankreich, Belgien, Nordamerika gethan,
für ganz Deutſchland zu thun! Bei der Unthätigkeit des Bundestages
blieb nichts übrig, als daß die einzelnen Staaten durch ſtrenge Aufſicht
auf die Auswanderungsagenten die Ausbeutung ihrer Angehörigen
zu hindern ſuchten. Es iſt dabei nicht zu überſehen, daß Bremen und
Hamburg zwar ſehr gut für die Auswanderungsſchiffe ſorgen, aber das
ganze Agenturweſen durchaus unbeachtet laſſen, wie es die Natur
ihrer Aufgabe und die pecuniären Intereſſen ihrer Transportunter-
nehmer mit ſich bringen. Indem wir das gerne anerkennen, liefert
eben dieß Vernachläſſigen des Agenturweſens durch dieſe Exportplätze
einen neuen Beweis, daß hier nur durch eine deutſche Geſetzgebung
geholfen werden kann. Frankreich hat endlich durch das Dekret vom
15. Januar 1855 ſich auch der Unternehmung für Auswanderung be-
mächtigt. Dieß Dekret zeichnet ſich dadurch aus, daß nicht bloß die
Ordnung der Auswandererſchiffe, die Bedingung der Conceſſion für
Auswanderertransporte u. ſ. w. in ähnlicher Weiſe wie in England
und den Hanſeſtädten geordnet iſt, ſondern daß auch Nachweiſungs-
bureaus für das Auswanderungs-, Verſchiffungs- und Paſſagier-
recht der Auswanderer allenthalben organiſirt ſind. Eigenthümlich iſt
die Beſtimmung, daß auch fremde Auswanderer, die über franzöſiſche
Häfen gehen, entweder einen Verſchiffungsvertrag, oder eine gewiſſe
Summe Geldes nachweiſen müſſen. — Das Beſte, was wir über die
ganze Frage geleſen haben, iſt ohne Zweifel ein ſehr eingehender, theils
das Auswanderungs-Agenturweſen, theils die Auswanderungs-Trans-
portsunternehmungen betreffender Aufſatz von Geßler in der Zeitſchrift
für Staatswiſſenſchaft (Band 18, Seite 375), der uns die legislative
und adminiſtrative Frage ziemlich zu erſchöpfen ſcheint. Leider hat er
auf die bereits beſtehenden poſitiven Geſetze und Verordnungen viel zu
wenig Rückſicht genommen; es iſt eine Arbeit de lege ferenda; als ſolche
aber ſehr werthvoll.
b) Dasjenige endlich, was wir die Auswanderungspolitik
nennen, geht davon aus, daß die Auswanderung für die Bewohner
der früheren Heimath, des Vaterlandes der Auswanderer, theils in
volkswirthſchaftlicher, theils in geſellſchaftlicher Beziehung eine hochwich-
tige Thatſache iſt; und damit entſteht die Frage, wie ſich die Verwal-
tungen zu der Auswanderung verhalten, ob ſie dieſelben vom Geſichts-
punkt der einheimiſchen Intereſſen fördern, verhindern oder ordnen
ſollen. Die dafür geltenden Grundſätze bilden das, was wir die Aus-
wanderungspolitik nennen müſſen.
[208]
Dieſe Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächſt davon
beſtimmt, ob der Mutterſtaat überſeeiſche Colonien hat oder nicht. Es
iſt klar, daß im erſten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die
Colonialpolitik iſt, während ſie im zweiten Falle als ein Stück
der reinen ſocialen Verwaltung erſcheint. Für die deutſche Wiſſenſchaft
iſt die erſte Frage noch immer Gegenſtand eines zwar humanitären,
aber keines praktiſchen Verwaltungsintereſſes, und wir können daher
ſehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier
England und Frankreich wieder ſehr verſchieden ſind. England hat für
ſeine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich iſt, eine eigene
ſelbſtändige und tief einſchneidende Literatur erzeugt. Die große innere
Bewegung in den engliſchen Colonien hat ſich nach langer Unklarheit
zuſammengefaßt in dem Gegenſatz zwiſchen dem Princip der Staats-
unterſtützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieſelbe in den
neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Conſumenten zu gewin-
nen, und dem Princip der Selbſtentwicklung der Colonien, das
zuerſt von Wakefield ſeit 1829 als das selfsupporting principle
theoretiſch ausgearbeitet und zu einem eigenen Syſtem erhoben ward.
Der Kern dieſes Syſtems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie
ohne Staatsunterſtützung die Hauptbedingungen der Coloniſirung,
namentlich die Herſtellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs-
organe, der öffentlichen Anſtalten, der Communicationsmittel ſelbſt
übernehme, da die erſtere denn doch zuerſt und vor allem in ihrem
eigenen Intereſſe liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in
der unentgeltlichen Ueberlaſſung von Grund und Boden an Einwan-
derer, und eventuell in der Selbſtbeſteuerung der alten Coloniſten.
Roſcher hat dieß Syſtem, das natürlich nur für England Intereſſe
hat, ſehr gut dargeſtellt. Frankreich dagegen hat die innere Verwal-
tung ſeiner Colonien von Paris aus mit möglichſter Genauigkeit auch
in neueſter Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und
27. März 1852 den Grundſatz durchführt, daß jeder angehende Coloniſt,
der ſich nicht ſelbſt einen Grund erwerben kann, einen Arbeitsver-
trag mit einem Grundbeſitzer in der Colonie aufweiſen muß, deſſen
Minimalſätze geſetzlich vorgeſchrieben ſind. Es iſt ein altes Uebel der
franzöſiſchen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenſeits
des Meeres von geſetzlichen Vorſchriften, ſtatt vom wohlverſtandenen
Intereſſe der Einwohner zu erwarten. — In Deutſchland endlich hat
die ganze Frage praktiſch — neben vielen Theorien über das, was
uns eigentlich nichts angeht, die engliſche und franzöſiſche Politik —
nur Eine, freilich eben ſo unbeſtimmte als wichtige Geſtalt gewonnen.
Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es ſich
[209] darum, ob die Auswanderung als Mittel gegen die Armuth, alſo
als ein Theil der Armenpflege zweckmäßig ſei, woran ſich allerdings
dann die weiteren Fragen nach demjenigen knüpfen, was denn das
Mutterland für die auf dieſe Weiſe weggeſchafften Armen in ihrer neuen
Heimath thun könne; etwa Verſorgung derſelben mit Lehrern, Geiſt-
lichen u. ſ. w. Namentlich Mohl iſt darin ſehr weit gegangen (Zeit-
ſchrift für die geſammte Staatswiſſenſchaft, 1847, S. 320 ff.). Es kann
der deutſchen Wiſſenſchaft nur zur Ehre gereichen, für die deutſche Aus-
wanderung mit ſo viel Umſicht und Theilnahme das Wort ergriffen zu
haben, und wir ſehen darin eine Reihe von ſchätzenswerthen Vorar-
beiten für die Zeit, wo dieſe Dinge praktiſch werden können. Wir
können dabei nicht umhin, namentlich die Arbeiten Andrees als höchſt
verdienſtvoll hervorzuheben. Die Vorſchläge von Vogt (Armenweſen I.
Thl. 2. S. 233 f.) ſind unverkennbar von einem eben ſo menſchen-
freundlichen als wohlwollenden Geiſte eingegeben. Sehr gut ſind die
verſchiedenen Fragen behandelt und reſumirt von Brater in dem Ar-
tikel Auswanderung (Deutſches Staats-Wörterbuch). Allein wir können
nicht umhin, zwei leitende Gedanken für dieſes ganze Gebiet der Aus-
wanderungspolitik feſtzuhalten. Die adminiſtrativ angeordnete oder
auch nur veranlaßte Auswanderung der Armen iſt ein höchſt bedenk-
liches, und immer höchſt koſtſpieliges Mittel, und kann unter allen
Umſtänden niemals anders als örtlich richtig beurtheilt und angewendet
werden; eine Staatsauswanderung der Armen iſt geradezu unthunlich,
und es iſt umſonſt, ſich eine ſolche als praktiſch ausführbar denken zu
wollen; die Idee, dieſelbe durch „Abzugsgelder“ von den Bemittelten
ſubventioniren zu wollen, iſt ein Widerſpruch mit der freien perſönlichen
Bewegung, und würde ſelbſt, wenn man ſie durchführte, nur ein Mi-
nimum der Koſten ergeben. Die allgemeine Auswanderungspolitik aber
für Deutſchland, mag ſie ſonſt Namen, Geſtalt und Aufgabe haben,
welche ſie wolle, kann und wird erſt eine praktiſche Frage ſein, wenn
einmal eine deutſche Verwaltung ſich an eine deutſche Verfaſſung an-
ſchließen wird.
B. Die Bevölkerungsordnung und die Verwaltung.
(Was man unter der Geſtalt und der Ordnung der Bevölkerung zu
verſtehen hat. Beide erſcheinen als Gegenſtände der Verwaltung und enthalten
die vier folgenden Theile der Bevölkerungsverwaltung.)
Während es die Aufgabe der Bevölkerungspolitik war, das Ver-
hältniß der Verwaltung zu den Kräften und Erſcheinungen zu entwickeln,
durch welche die Bevölkerungen zunehmen und abnehmen, begegnen wir
Stein, die Verwaltungslehre. II. 14
[210] in dem zweiten Theile der Verwaltung der Bevölkerung einem ganz
andern Verhältniß.
In der Bevölkerungspolitik erſcheint die Bevölkerung noch als eine,
bloß in ihren quantitativen Verhältniſſen wechſelnde Maſſe. Sie iſt
offenbar mehr. Es leben in ihr große, dieſe ganze Maſſe durchdrin-
gende Verſchiedenheiten. Dieſe Verſchiedenheiten ſind theils perſönlicher,
theils wirthſchaftlicher, theils geſellſchaftlicher Natur. Die Geſammtheit
der Wirkungen, welche dieſe Unterſchiede im Ganzen wie für den Ein-
zelnen hervorbringen, nennen wir das Leben der Bevölkerung. In-
ſofern wir ſie aber in einem beſtimmten einzelnen Augenblicke auffaſſen,
und die Bevölkerung mit all ihren Unterſchieden für einen Moment
als ein gegebenes, ſtillſtehendes Ganze betrachten, können wir von der
Geſtalt der Bevölkerung reden, da der Ausdruck „Zuſtand“ nicht ganz
eine ſolche Vorſtellung wiedergibt. Indem wir nun erkennen, daß dieſe
Geſtalt der Bevölkerung nicht etwa eine zufällige iſt, ſondern auf be-
ſtimmten, feſten Grundlagen ruht, reden wir von einer Ordnung
der Bevölkerung.
Das Verhältniß der Verwaltung zu dieſer Geſtalt und Ordnung
der Bevölkerung muß nun als ein doppeltes aufgefaßt werden.
Zuerſt iſt ohne Zweifel dieſe Ordnung der Bevölkerung in der
That die Ordnung des perſönlichen Staatskörpers ſelbſt. Der Staat,
um ſeine eigenen Lebensverhältniſſe mit ſeinem eigenen Willen und
ſeiner eigenen That, ſeinen Geſetzen und ſeiner Verwaltung, beherrſchen
zu können, muß jene Ordnung kennen. Dieſe Kenntniß iſt kein Akt
der Verwaltung, ſondern eine Bedingung derſelben. Und wir haben
ſchon im Eingange diejenige Thätigkeit des Staats bezeichnet, welche
der Verwaltung dieſe Bedingung ſchafft. Das iſt die Statiſtik, die
wir als die Anwendung der Wiſſenſchaft der Thatſachen auf das Staats-
leben beſtimmt haben.
Allein zweitens iſt dieſe Ordnung der Bevölkerung, indem ſie
Grundlage aller großen Thätigkeiten der Verwaltung iſt, zugleich von
nicht geringerer Wichtigkeit für das Leben des Individuums. Das
Individuum bildet nicht bloß den Grundſtoff der Gemeinſchaft; es iſt
vielmehr auf allen Punkten von derſelben beherrſcht und beſtimmt;
und es iſt klar, daß dieß auch in Beziehung auf jene Ordnung der
Bevölkerung der Fall iſt. Denn die Stellung, welche das Individuum
in der Welt einnimmt, iſt eben eine Stellung innerhalb jener Ordnung;
der Wechſel, die Bewegung, der Platz, den andere in derſelben ein-
nehmen, wird zu einer der Vorausſetzungen ſeines perſönlichen Lebens.
Jene Ordnung wird dadurch aus einer bloß ſtatiſtiſchen Thatſache zu
einem Faktor der perſönlichen Entwicklung, und es iſt daher natürlich,
[211] daß das Verhältniß, das der Einzelne eben zu und in dieſer Ordnung
einnimmt, als ein durch die Verwaltung anerkanntes und be-
ſtimmtes gelte. Diejenigen Beſtimmungen der Verwaltung nun,
welche die perſönlichen Lebensverhältniſſe in einer für alle gültigen
Weiſe in ſo weit feſtſtellen, als dieſe Feſtſtellung als eine der äußeren
Bedingungen des Geſammtlebens erſcheint, bilden ſomit das öffentliche
Recht der (äußeren und formellen) Ordnung der Bevölkerung.
Ein ſolches öffentliches Recht der Bevölkerungsordnung kann daher
nur für diejenigen Lebensverhältniſſe eintreten, welche, obwohl ſie zu-
nächſt den Einzelnen angehen, dennoch als eine Bedingung für die
Ordnung des Verkehrs der Einzelnen unter einander feſtſtehen müſſen.
Faßt man nun dieſe Geſichtspunkte unter der Verwaltung und
ihrer Aufgabe zuſammen, ſo erſcheint die letztere in vier ſelbſtändigen
Theilen.
Das erſte iſt die Darſtellung des Geſammtbildes der Geſtalt der
Bevölkerung, welches alle Elemente des Volkslebens in Quantität,
Qualität und Vertheilung darlegt, und deſſen Erzielung ewig die erſte
und auch die letzte Aufgabe der Statiſtik ſein wird. Den Akt, durch
welchen ſich die Verwaltung zunächſt für ſich, in zweiter Reihe aber
auch für die Lebensauffaſſung und Beſtimmung jedes Einzelnen ein
ſolches Bild gewinnt, nennen wir die Volkszählung. Die Volks-
zählung bildet den Uebergang zur eigentlichen Verwaltung der Bevöl-
kerungsordnung; wir nehmen ſie mit auf, um das Bild dieſer Ver-
waltung vollſtändig zu machen, obwohl ſie ſtreng genommen der Statiſtik
gehört.
Das zweite Verhältniß iſt die Bewegung der Bevölkerung, in-
ſofern ſie nicht mehr als Geſammtziffer erſcheint, ſondern das indi-
viduelle Leben betrifft. Dieß nun geſchieht in den drei Formen, der
Ehe, der Geburt und des Todes der Einzelnen. Die Aufgabe der
Verwaltung iſt hier, dieſe einzelnen Thatſachen zu conſtatiren, da ſie
als einzelne vielfache und wichtige Rechte und Verpflichtungen der
Einzelnen unter einander bedingen. Die daraus entſpringende Verwal-
tungsmaßregel, welche dieſe Aufgabe zu erfüllen beſtimmt iſt, nennen
wir mit einem Worte die Standesregiſter. Sie bilden mit ihrer
Einrichtung und ihrem Recht einen ſehr wichtigen und mannichfachem
Wechſel unterworfenen Theil der Verwaltung der Bevölkerung.
Das dritte Verhältniß iſt der Proceß, den wir als die örtliche
Bewegung, oder wie die Bevölkerungslehre zu ſagen pflegt, als den
Wechſel der Bevölkerung bezeichnen. Dieſe örtliche Bewegung der Be-
völkerung als Ganzes betrachtet bildet einen hochwichtigen Theil der
Statiſtik, denn das Maß und die Ordnung dieſer großen Thatſache
[212] wird zur Grundlage der Erkenntniß der großen Faktoren, welche jene
örtliche Bewegung, den Wechſel des Aufenthalts oder die Reiſen, her-
vorbringen. Allein auch die örtliche Bewegung des Individuums inner-
halb dieſer Geſammtbewegung berührt faſt immer mehr oder weniger
neue an ſich unbeſtimmbare Intereſſen und Rechte, und die Conſtatirung
dieſer individuellen Bewegung wird dadurch zu einer weitern Aufgabe
der Verwaltung, deren Erfüllung wir in den Formen des Paßweſens
und des Meldungsweſens als dritten Theil des öffentlichen Rechts
der Bevölkerungsordnung aufzuſtellen haben.
Das vierte Verhältniß iſt endlich das Angehören an einen Selbſt-
verwaltungskörper, mit allen Vorausſetzungen und Folgen, die derſelbe
hat, oder das Heimathsweſen. Die Aufgabe des öffentlichen Rechts
der Verwaltung iſt es hier, das Verhalten der individuellen örtlichen
Bewegung, der Reiſe, des Aufenthalts u. ſ. w. zu dem Erwerbe und
Verluſte dieſer Angehörigkeit zu beſtimmen; das Heimathsweſen, indem
es formell dem Gemeindeweſen angehört, enthält demnach denjenigen
Theil des Verwaltungsrechts im Gemeinderecht, den wir als das Be-
völkerungsrecht des Gemeindeweſens bezeichnen können.
Es iſt auf den erſten Blick klar, daß in dieſen vier Grundformen
der Verwaltung der Bevölkerung eine Steigerung der Function der
Verwaltung enthalten iſt. Die Zählung hat noch immer zu ihrem
Ergebniß zunächſt ein geiſtiges Bild, eine bloße Anſchauung, in der
ſich die Maſſe der Bevölkerung zu einer feſten, aber freilich an Be-
ziehungen unendlich reichen Geſtalt entfaltet. Die Standesregiſter,
indem ſie einerſeits der Zählung dienen, haben ſchon das phyſiſche
Leben des Individuums in ſeinen Grundverhältniſſen zu ſeiner nächſten
Umgebung als rechtliche Thatſache zu conſtatiren. Das Paß- und
Meldungsweſen dagegen geht noch weiter, indem es die Fähigkeit
beſitzt und auch zum Theil ausübt, die Vorſchriften über die Conſtati-
rung des zeitlichen Aufenthalts zu einem adminiſtrativen Mittel in
der örtlichen Bewegung der Bevölkerung zu machen. Das Heimaths-
weſen endlich bildet an und für ſich aus der Thatſache des Aufent-
halts ein öffentliches, für jedes Individuum und damit für das Ganze
hochwichtiges Recht des Individuums, und damit ein dauerndes orga-
niſches Verhältniß für das Geſammtleben. Es iſt daher kein Zweifel,
daß man die Geſammtheit dieſer Beſtimmungen als einen natürlichen,
immanenten Theil des Bevölkerungsweſens betrachten muß; es iſt gewiß,
daß dieſelben wenigſtens zum Theil ſogar älter und weit umfaſſender
ſind, als die einzelnen Zweige der Bevölkerungspolitik. Und wir müſſen
ſie daher als organiſchen Theil der Bevölkerungsverwaltung an die
letztere anſchließen.
[213]
Der erſte Blick auf die bisherige Staats- und Polizeiwiſſenſchaft zeigt, daß
es ganz unmöglich iſt zu ſagen, wie dieſelbe bisher dieß weite Gebiet aufgefaßt
hat, da ſie es als Ganzes eben gar nicht kennt. Der Gedanke, daß die Ord-
nung der Bevölkerung als ſolche Gegenſtand der Verwaltung ſei, liegt allen
fern. Dennoch iſt das vorige Jahrhundert darin weiter als das gegenwärtige,
indem die Alten, wie Juſti, Süßmilch u. a., mit richtigem Verſtändniß wenig-
ſtens Zählung, Standesregiſter und Paßweſen in das Bevölkerungsweſen auf-
genommen haben, während die Neueren, und ſelbſt die Lehrer der ſogenannten
Polizeiwiſſenſchaft, über der Bevölkerungspolitik es durchaus vergeſſen, daß die
Verwaltung in Beziehung auf die Bevölkerung auch noch andere ſehr wichtige
Functionen habe. Es bleibt uns daher nichts übrig für die Geſchichte des Sy-
ſtems, als die Stellung anzugeben, welche die einzelnen Theile bei den Haupt-
vertretern der Staatswiſſenſchaft gefunden haben.
Das Zählungsweſen.
Allgemeinen.
Die Verwaltungslehre hat von der Bevölkerungslehre die entſchei-
dende Wichtigkeit der Zahl der Bevölkerung, die theils das Ergebniß
der Geſammtentwicklung, theils die quantitative Kraft des Geſammt-
lebens bedeutet, und die Geſetze, nach welchen ſie ſich bewegt, als
anerkannte Wahrheit anzunehmen. Sie hat zwar in der Bevölkerungs-
politik den Standpunkt verlaſſen, als könne der Staat mit ſeiner Ver-
waltung auf dieſe Zahl einen unmittelbaren Einfluß gewinnen. Allein
dieſe Zahl als Thatſache iſt von hoher Bedeutung für die geſammte
Thätigkeit der Verwaltung. Daß und in welchen Hauptbeziehungen
dieß der Fall iſt, wird vom Verwaltungsrecht der Bevölkerung gleich-
falls als anerkannt vorausgeſetzt. Die Verwaltung hat daher, dieſem
ihrem eigentlichen Objekt gegenüber, nur eine, aber eine nothwendige
Aufgabe. Sie muß die quantitativen Verhältniſſe des erſten und letzten
Subſtrats all ihrer Wirkſamkeit, der Bevölkerung, kennen. Dieſe
Kenntniß gewinnt ſie durch ihre darauf gerichtete Thätigkeit; und dieſe
Thätigkeit iſt die Zählung. Dieſe Zählung der Bevölkerung iſt dem-
nach die Feſtſtellung nicht bloß der Zahl, ſondern aller quantitativen
Verhältniſſe der Bevölkerung durch die Organe der vollziehenden Gewalt
und nach den dafür von der letzteren beſtimmten Vorſchriften. Und
die Geſammtheit dieſer Vorſchriften nennen wir das Zählungs-
weſen.
[214]
Das Zählungsweſen erſcheint daher in einem zweifachen Verhält-
niß, das man wohl ſcheiden muß, um die Stellung deſſelben in der
Staatswiſſenſchaft richtig zu würdigen. Es iſt zuerſt ein rein wiſſen-
ſchaftliches Bedürfniß und erſcheint daher auch geſchichtlich als ein
rein wiſſenſchaftlicher Akt, der die große Thatſache, welche wir die Be-
völkerung nennen, feſtſtellen und in ihren inneren Beziehungen und
Ordnungen meſſen ſoll, um das Leben der Menſchheit kennen zu lernen.
Es iſt aber zweitens ein Bedürfniß für die Verwaltung; es wird
daher aus den Händen der Wiſſenſchaft von der Verwaltung übernom-
men, durch die Organe der Verwaltung oder doch unter Mitwirkung
derſelben vollzogen, und erſcheint in dieſem Sinne als der erſte Theil
der Verwaltung der Bevölkerungsordnung. Es wird wohl unmöglich
bleiben, das Verhältniß der Volkszählung zur Verwaltung jemals beſſer
zu bezeichnen, als es Juſti gethan, der überhaupt das erſte organiſche
Verſtändniß des Zählungsweſens an den Tag legt. „Die Selbſt-
erkenntniß,“ ſagt er, „iſt die erſte Pflicht eines verſtändigen Weſens
überhaupt. Noch mehr aber ſoll eine weiſe Regierung diejenigen kennen,
welche von ihr regiert werden ſollen. Jemanden regieren zu wollen,
ohne ihn genugſam zu kennen, das iſt eines von den allerwiderſinnig-
ſten und ungereimteſten Verfahren. Man ſieht demnach leicht, daß die
Berechnung des Volkes im Lande eine nothwendige und unentbehrliche
Anſtalt iſt, und diejenigen Regierungen, ſo ſolches unterlaſſen, geben
dadurch von ihrer ſchlechten Beſchaffenheit ein unläugbares Zeugniß.“
(Buch II. Hptſt. VI. §. 216.) Die Erkenntniß dieſer Wahrheit iſt in
der That allgemein worden; allein die Ausführung derſelben hat wieder
ihre Geſchichte, und ihr liegen die beiden Arten von Fragen zum Grunde,
welche die Volkszählung zu beantworten hat. Einerſeits enthalten ſie
die Feſtſtellung aller derjenigen Thatſachen, welche für die Wiſſenſchaft
des menſchlichen Lebens überhaupt durch den Akt der Zählung feſtge-
ſtellt werden können — Thatſachen, für die es im Grunde gar keine
Gränze gibt; anderſeits haben ſie ſich auf dasjenige Gebiet der perſön-
lichen Lebensverhältniſſe zu beſchränken, deren Kenntniß die Voraus-
ſetzung einer tüchtigen Verwaltungsthätigkeit ſind. Einrichtung, Umfang
und Verfahren bei der Zählung wird daher nicht unweſentlich verſchieden
ſein, je nachdem der erſte oder der zweite Geſichtspunkt vorherrſcht. Und
in dieſem Sinne kann man wohl von einem Unterſchiede zwiſchen der
wiſſenſchaftlichen Zählung, die wir die populationiſtiſche nennen
möchten, und der adminiſtrativen Volkszählung unterſcheiden.
Erſt auf Grundlage dieſer Unterſcheidung wird die Darſtellung des
Zählungsweſens eine feſte Geſtalt gewinnen, indem wir den Begriff
des Rechts der Zählung der Geſchichte derſelben zum Grunde legen.
[215]
allgemeinen Princips für dieſes Recht.
Der Begriff des Rechts des Volkszählungsweſens als eines Theiles
des Verwaltungsrechts entſteht auch hier durch den Gegenſatz der indi-
viduellen Selbſtändigkeit zur Thätigkeit der Verwaltung. Der Akt der
Volkszählung greift nämlich ſtets in die Sphäre des Einzellebens und
damit in die Sphäre der freien Individualität hinein, und jede von
der Verwaltung ausgehende Volkszählung enthält die öffentliche Pflicht
des Einzelnen, über die von der Verwaltung ihm über ſeine Privat-
verhältniſſe geſtellten Fragen gewiſſenhafte Auskunft zu geben. Für die
wiſſenſchaftliche Zählung kann es ſolcher Auskünfte nie zu viel, ja nie
genug geben; allein das Bedürfniß der Wiſſenſchaft kann kein öffentliches
Recht der ſtaatlichen Nachfrage erzwingen. Die Gränze zwiſchen der popu-
lationiſtiſchen und adminiſtrativen Zählung bezeichnet daher auch die
Gränze der Verpflichtung der Verwaltung, Lebensverhältniſſe in den
Akt der öffentlichen Volkszählung aufzunehmen, und der Pflicht des
Einzelnen, die darüber geſtellten Fragen zu beantworten; oder, kurz
geſagt, das öffentliche Recht der Volkszählung. Der hiſtoriſche
Gang der letztern hat es mit ſich gebracht, daß man dieſen Begriff faſt
ganz vernachläſſigt hat. Es iſt daher nicht unwichtig, das leitende
Rechtsprincip für die Volkszählung hier feſtzuſtellen. Daſſelbe aber iſt
nichts anderes, als eine einfache Anwendung des Princips der Verwal-
tung überhaupt auf die Volkszählung. Der Staat hat nur das Recht,
über diejenigen Lebensverhältniſſe des Einzelnen Angaben zu fordern,
deren allgemeine Kenntniß als eine Bedingung für die Ent-
wicklung des Geſammtlebens angeſehen werden müſſen. Und um zu
conſtatiren, ob dieß für die einzelnen Fragen, welche in der Volks-
zählung aufgeſtellt werden, wirklich der Fall iſt, müßte grundſätzlich die
Aufſtellung jeder einzelnen Frage durch eine beſtimmte Beziehung auf
eine beſtimmte adminiſtrative Aufgabe motivirt werden, welche jene
Kenntniß im Geſammtintereſſe vorausſetzt. Nur bei ſolchen Fragen
läßt ſich das Recht des Staats und die Pflicht des Einzelnen auf Frage
und Antwort begründen. Damit würde die Aufnahme der rein wiſſen-
ſchaftlichen Geſichtspunkte nicht ausgeſchloſſen; nur iſt es conſequent,
daß es bei dieſem im freien Ermeſſen des Einzelnen liegen muß, ob
und wie weit er ſie beantworten will. Wir geſtehen, daß dieſe Unter-
ſcheidung bisher wenig praktiſch geweſen iſt, da die Aufgaben der
Wiſſenſchaft und der Verwaltung noch ziemlich identiſch geweſen ſind;
allein mit der Entwicklung der letztern wird die Unterſcheidung eintreten,
und ſchon hat Mohl in ſeiner reichen Geſchichte und Literatur der
[216] Bevölkerungslehre (Literatur der Staatswiſſenſchaft III. S. 428. 429) bei
Gelegenheit der ſächſiſchen Volkszählungsvorſchriften mit großem Nach-
druck auf das Uebergreifen der amtlichen Fragſtellung „über die Grän-
zen der erlaubten Erkundigung“ aufmerkſam gemacht und die praktiſchen
Bedenken eines ſolchen Verfahrens hervorgehoben. Indem wir dem-
jenigen, was Mohl an dieſer Stelle ſagt, vollkommen beiſtimmen,
glauben wir in den obigen Sätzen in dem Rechtsprincip der Volks-
zählung die grundſätzliche Gränzbeſtimmung aufgeſtellt zu haben. Wir
bemerken nur, daß, ſo viel wir ſehen, Mohl der Einzige iſt, der bis-
her auf dieſen nicht ſo gar unwichtigen Punkt hingewieſen hat.
Erſt dieſe Scheidung des öffentlichen Rechts der Zählungen von
ihrem weitergehenden Zwecke ergibt nun die Idee der Geſchichte der
letzteren. Das Weſen dieſer Geſchichte, der Kern des Wechſels in den
betreffenden Vorſchriften, beſteht nämlich in dem Einfluß, den der Ent-
wicklungsgang der Bevölkerungslehre auf den Entwicklungsgang der
adminiſtrativen Zählung gehabt hat. Es iſt kein Zweifel, daß die
letztere von der erſtern vollſtändig beherrſcht iſt, und daß anderſeits dieß
nur als eine höchſt fördernde Thatſache für beide anerkannt werden
muß. Nur hat dieſe Thatſache wieder bewirkt, daß wir eigentlich noch
keine Geſchichte der Zählungen haben, ſondern daß dieſelbe nur noch
als ein untergeordnetes Moment in der Geſchichte der Theorie der Be-
völkerungslehre erſcheint. Es iſt daher charakteriſtiſch, daß die National-
ökonomie ſich zwar der Bevölkerungslehre bemächtigt hat, aber die
Zählungslehre ganz beiſeite liegen läßt, wobei ihr die allgemeinen Syſteme
der Staatswiſſenſchaft vielfach mit gleicher Vernachläſſigung vorauf-
gehen. In denſelben Widerſpruch fällt Rau mit ſeiner Volkswirth-
ſchaftspflege, während es Mohls Verdienſt iſt, der Zählung in der
ſogenannten Polizeiwiſſenſchaft die Stelle wiedergegeben zu haben, die
ihr ſiebenzig Jahre früher Juſti in ſo klarer und trefflicher Weiſe an-
wies. Mohls Geſchichte der Bevölkerungslehre iſt noch immer das
beſte, was wir darüber haben, und dieſe ſchöne Arbeit macht es uns
zum Theil möglich, uns hier auf die allgemeinen Geſichtspunkte zu
beſchränken, deren Verfolgung uns dereinſt neben der Geſchichte der
Bevölkerungslehre auch die ſpecielle Geſchichte der Zählungen geben
wird. Jedenfalls werden ſie ausreichen, um den gegenwärtigen Stand-
punkt des öffentlichen Rechts der Zählungen als Verwaltungsmaßregel
zu charakteriſiren.
Zu dem Ende muß man wieder eine weſentliche Unterſcheidung
[217] machen und feſthalten. Die Geſchichte des Volkszählungsweſens ſoll
nicht eine Geſchichte der Ergebniſſe deſſelben oder der Volkszählung ſein,
ſondern eine Geſchichte der Auffaſſung und der Durchführung der Volks-
zählungen, inſofern ſie von den Bedürfniſſen und von der Erkenntniß
der Verwaltungen ausgegangen und öffentlich rechtlich beſtimmt
worden iſt. Dieß nun ergibt ſich weſentlich in Beziehung auf zwei
Punkte; zuerſt in Beziehung auf das, was in die Volkszählung auf-
genommen wird, oder der Momente (Rubriken) der Zählung, und
zweitens auf das Verfahren bei derſelben. Das erſte zeigt uns näm-
lich, was die Verwaltung in den gegebenen Zeiten als weſentlichen
Inhalt des Lebens zu beachten verſtand, das zweite, wie weit die Ver-
waltung dieß durch ihre Maßregeln zu gewinnen trachtete. Und hier
müſſen wir geſtehen, daß uns leider für die ältern Zeiten die Quellen ganz,
für die neuern zum Theil mangeln. Wir wollen jedoch verſuchen, ſo weit
thunlich, ein Geſammtbild dieſer adminiſtrativen Thätigkeit aufzuſtellen.
(Wahrer Begriff der Schätzungen. Sie bilden die Vorläufer der Zählungen.
Süßmilchs hohe Bedeutung für die ganze Bevölkerungslehre.)
Daß ſchon die alte Welt Volkszählungen kannte, iſt bekannt. Ganz
unbekannt aber iſt das Verfahren dabei, namentlich die adminiſtrativen
Controlseinrichtungen. Objekt der Zählung ſcheint nichts als die gegebene
Zahl der Perſonen geweſen zu ſein. Das Ganze hat trotz Huſchke’s
Forſchung wenig Werth. Eben ſo wenig wiſſen wir von den Zählungen
des 17. Jahrhunderts. Es wird ſchon damals bei Betrachtung dieſer
Verſuche klar, daß in der That die Vorausſetzung jeder werthvollen
Zählung nur in dem Zuſammenwirken der wiſſenſchaftlichen Bevöl-
kerungslehre und einer centralen Verwaltung liegen kann. Und
beide, und mit ihnen die wahre Geſchichte der Zählungen, beginnen
erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert; denn wenn Bodinus, De re-
publica VI. 1. und Vauban, Disme royale p. 215 sq. (Edit. des
Éc.) die Wichtigkeit und Nothwendigkeit der Zählungen ausſprechen, ſo
iſt das denn doch noch kein Anfang wirklicher Zählungen. Die geſchicht-
liche Entwicklung der letztern muß vielmehr in zwei große Perioden und
Grundformen eingetheilt werden, die ſchon Juſti in ſo klarer Weiſe
bezeichnet hat, daß wir kaum etwas hinzufügen können, nämlich die
Schätzungen und die Zählungen (Juſti, Buch II. Hauptſt. VI.
§. 216. 217). Der Unterſchied und die hiſtoriſche Stellung beider For-
men iſt auch Mohl nicht entgangen, obwohl er namentlich die Geſchichte
der Schätzungen und das reiche Material derſelben, das doch Süß-
milch bietet, nicht kennt. Wir müſſen uns hier mit kurzer Charakteriſtik
[218] begnügen, indem wir die Periode der Schätzungen der Volkszahl und
die Periode der eigentlichen Zählungen unterſcheiden.
Wir können als die wiſſenſchaftlichen Schätzungen, die allein
Werth haben, nicht die vagen Anſichten Montesquieus (L. XXIII.),
Cumberlands oder Wallaces (Mohl, S. 423 ff.) anerkennen;
ſelbſt der Verſuch Humes (Mohlib.) iſt noch keine eigentliche
Schätzung. Wir können unter Schätzung nur diejenige Zahlenbeſtim-
mung verſtehen, die auf Grundlage einer theilweiſe feſtgeſtellten nume-
riſchen Volkszahl die Geſammtbevölkerung ohne eigentliche Zählung zu
beſtimmen ſucht. Dieſe Schätzungen mußten ſich daher an die zwei ein-
zigen Formen anſchließen, in denen ſich im vorigen Jahrhundert ziffer-
mäßig conſtatirte Zahlenangaben vorfanden. Das waren die Tabellen
der Verſicherungsgeſchäfte, und die Standesregiſter für Gebur-
ten und Sterbfälle. Der Weg, auf dem man von dieſen Grund-
lagen zur eigentlichen Schätzung der Bevölkerung gelangte, lag nahe.
Man fand durch jene Daten zuerſt den Satz, daß man die Zahl der
Lebenden für ein ganzes Land finden könne, wenn man die Zahl der
durch die Standesregiſter feſtgeſtellten Geburten mit der Zahl der auf
eine Geburt entfallenden lebenden Perſonen multiplicire. Das, worauf
es dabei ankam, war ein doppeltes. Erſtlich mußte man für gewiſſe
Orte neben den Standesregiſtern auch die Zahl der Lebenden haben,
und zweitens mußte man im Stande ſein, dieſelben Verhältniſſe von
dem einzelnen Ort aus, für den ſie gefunden waren, auf ein ganzes
Reich anzuwenden. In der That iſt dieß auch wirklich der Gang der
hiſtoriſchen Entwicklung geweſen, und man muß ſagen, daß die Feſt-
ſtellung des Verhältniſſes der Gebornen, Getrauten und Geſtor-
benen, und die Formulirung dieſes Verhältniſſes zu allgemein gül-
tigen Verhältnißzahlen der Anfang aller wiſſenſchaft-
lichen Bevölkerungslehre und ſpeciell aller Zählungen geworden
iſt. Und hier müſſen wir einen deutſchen Mann an die ihm gebüh-
rende Stelle ſetzen. Der Erſte, der dieß ernſtlich und wiſſenſchaftlich
verſucht und in großem Maßſtabe durchgeführt hat, iſt Süßmilch,
und in dieſem Sinne nennen wir Süßmilch den wahren Begründer der
Bevölkerungswiſſenſchaft. Neben ihm erſcheinen die Halley’ſchen und
Kerſeboom’ſchen Verſuche, die ſich zum Theil auf Tontine ſtützen,
ſo wie die von Short(Observations on city, towns and country bills
of mortality),Corbin Morris(Observations on London),Eutro-
pius Philadelphus (Balance von Dänemark), und unter den Deut-
ſchen Hanow (Seltenheiten der Natur und Oekonomie), Kundmann
(Museum rariorum naturae et artis) nur als Vorläufer, deren Mit-
theilungen er ſelber trefflich zu benützen verſtanden.
[219]
Auf Grundlage ſolcher einzelnen tabellariſchen Standesregiſter
wagt nun Süßmilch zuerſt, eine wiſſenſchaftliche Schätzung der Be-
völkerung für die ganze Welt, ſpeciell für die einzelnen Länder von
Europa vorzuſchlagen (Göttliche Ordnung Cap. XX), und es darf uns
billig wundern, daß ſelbſt Mohl die große Leiſtung des Deutſchen neben
der fremden, aber denn doch nicht größern von Malthus ſo ſelten gehörig
erkannt hat. Wir wenigſtens kennen gar kein europäiſches Werk, das
ſich in dieſer Beziehung Süßmilch an die Seite ſtellen könnte, und
Malthus wenigſtens ſcheint ihn höher zu achten, als ſeine eigenen Lands-
leute. Doch müſſen wir hier bei Gerſtner eine rühmliche Ausnahme
machen. Wie Gerſtner überhaupt wohl die geſchmackvollſte und beſte
Darſtellung der Bevölkerungsphyſiologie gegeben und ſie mit richtigem
Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, ſo iſt er auch
eigentlich der erſte, der die Tiefe der Süßmilch’ſchen Auffaſſung, von
dem die meiſten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht
hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über-
ſehen. Denn freilich konnte man zu einer Zählung oder auch nur
zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht
gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten,
von welcher Wichtigkeit die Feſtſtellung der Volkszahl ſein müſſe. Be-
zeichnend iſt in dieſer Hinſicht, was Necker über die ſog. Volkszählung
vom Jahre 1784 in Frankreich ſagt (Administr. des Finances I. 202):
„Es war nicht leicht, in einem ſo großen Lande allgemeine Zählungen
zu veranſtalten. Nachdem man an mehreren Orten partielle Zäh-
lungen angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken ſagt er
nicht — wahrſcheinlich einfache Kopfzählungen), hat man dieſe Ergeb-
niſſe mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver-
glichen (man ſieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des
Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter
Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen
Maßſtab ermittelt, auf den man ſich verlaſſen kann.“ (Man multi-
plicirte die Zahl der aus den Standesregiſtern entnommenen Geburten
mit 25,75. Soetbeer Anhang zur Ueberſetzung von Mill, Politiſche
Oekonomie II. S. 530.) Warum Mohl weder die oben citirten engliſchen
und franzöſiſchen noch die deutſchen Arbeiten in ſeinen ſehr kurzen Mit-
theilungen über die Schätzungen berückſichtigt, und namentlich die ſyſte-
matiſche Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutendſte, weg-
gelaſſen hat, iſt nicht zu erklären. Aber jedenfalls ſtimmen wir mit
ihm überein, daß alle dieſe Verſuche keinen entſprechenden Werth haben
konnten. Es war, möchten wir ſagen, der Beweis geliefert, daß die
gründlichſte Wiſſenſchaft nicht ausreiche, die Function der adminiſtrativen
[220] Volkszählung zu erſetzen. Die Schätzungen hören daher mit dem Ende
des vorigen Jahrhunderts auf; die Wiſſenſchaft, an dem Werthe der-
ſelben verzweifelnd, wirft ſich mit aller Macht auf die Fragen der
Bevölkerungspolitik, und es iſt entſchieden, daß die Volkszählungen nur
noch, wenn auch unter Mitwirkung der Wiſſenſchaft, durch die Verwal-
tung als adminiſtrative gemacht werden können.
als der erſte Theoretiker der Volkszählung.
So entſteht die zweite Epoche, die Epoche der eigentlichen Volks-
zählungen, deren genauere Geſchichte noch zu ſchreiben iſt. Unſere Auf-
gabe geht nicht weiter als bis zur Bezeichnung des allgemeinen Ganges,
den dieſe Zeit bis zur Gegenwart zeigt, und zwar zunächſt in den drei
großen Culturvölkern.
Der theoretiſche Gedanke einer eigentlichen Volkszählung durch die
Verwaltung iſt weder im Princip noch in der Form neu. Im Gegen-
theil dürfen wir auch hier wieder auf einen Deutſchen hinweiſen, der
unſeres Wiſſens das erſte Syſtem der eigentlichen Volkszählung auf-
geſtellt hat, und deſſen man in ſeiner damaligen Iſolirung ganz ver-
geſſen hat. Das iſt Juſti, der bedeutendſte Verwaltungslehrer des
vorigen Jahrhunderts. Juſti weiß ſchon recht gut, daß die Schätzungen
nicht genügen (§. 235. 237). Er will ſtatt derſelben eine förmliche
adminiſtrative Volkszählung; er ſteht ſogar ſchon damals faſt ganz auf
dem gegenwärtigen Standpunkte. Nach ihm ſoll „die Regierung alle
drei Jahre wenigſtens (!) eine gemeinſame Zählung des geſammten
Volkes im Lande veranſtalten“ — ſie „muß öfters wiſſen, wie viel von
dieſem oder jenem Stande, Lebensart und Handthierung im
Lande befindlich ſind, wenn ſie anders in ihren Entſchließungen
und Maßregeln gründlich und weislich verfahren will“; die Zäh-
lung ſelbſt „geſchieht am beſten in Städten durch die Polizeibedienten
und auf dem Lande durch Unterobrigkeiten“; denn „wenn die Regierung
einmal die Zählung des Volkes unternehmen läßt, ſo muß ſie die
Sache ſo einrichten, daß ſie alle Kenntniß daraus erlangen kann, die
ſie zu den verſchiedenen Maßregeln und Anſtalten zur Wohlfahrt des
Staats nöthig hat. Unſeres Wiſſens iſt ſeit 1761 etwas Beſſeres über
die Zählung der Regierung nicht geſagt; es iſt der einfachſte und klarſte
Ausdruck des wicktigen Princips der adminiſtrativen Zählung, den man
finden kann. Demgemäß fügt Juſti zugleich vier ausführliche Tabellen-
entwürfe bei, und es iſt der Mühe werth, dieſelben mit den gegen-
wärtig geltenden zu vergleichen. Die vierte Tabelle namentlich iſt nicht
[221] ohne Intereſſe. Sie enthält die vier Kategorien: Alter, Geſchlecht,
Verheirathung, Handthierung — (die „Gelehrten“ werden unter die
„unetablirten Hausväter“ gerechnet!) er will zugleich, um „den Zuſtand,
den Wachsthum oder Verfall der Manufakturen und Fabriken zu erfor-
ſchen,“ daß die „Commiſſarien in ihrer Liſte noch verſchiedene Rubriken
haben, die ſich darauf beziehen“ (II. Buch, 1. Hauptſt. 2. Abſchn. „Von
der wirklichen Zählung des Volkes im Lande“). Es iſt wohl unbegreif-
lich, daß ſelbſt Mohl in ſeiner Literaturgeſchichte dieſe bedeutendſte
Erſcheinung des ganzen vorigen Jahrhunderts auf dieſem Gebiete nicht
erkannt hat, wenn man hinzufügt, daß dieſe Gedanken Juſtis nament-
lich in Oeſterreich ſchon im vorigen Jahrhundert durch die Patente
und Inſtructionen für die Volksbeſchreibung vom Jahre 1777
praktiſch ausgeführt und in dem neueſten Conſcriptions- und Rekru-
tirungsſyſtem vom 25. October 1804 noch weiter entwickelt wurden.
Kopetz (Oeſterreich. politiſche Geſetzkunde) hat dieſe Vorſchriften genau
angegeben und die Formularien der Volkszählungstabellen, zu
denen eine ausführliche Familientabelle hinzugefügt iſt, und die im
Grunde nicht ſo gar viel zu wünſchen übrig laſſen, mitgetheilt (Bd. I.
§. 39—73, vergl. S. 37 mit den Tabellen, die uns zeigen, daß man,
wenn auch in der Ausführung, ſo doch nicht im Princip ſo weit hinter
der Gegenwart zurück war. Und zugleich müſſen wir ein anderes
bemerken. Neben dieſer rein wiſſenſchaftlichen Theorie beſtanden ſchon
damals viele örtliche Zählungen, die oft mit großer Genauigkeit geführt
und zuweilen ganz regelmäßig publicirt wurden. Die Tabellen Süß-
milchs im Anhang zu Bd. I., nicht weniger als 36, beweiſen das; Süß-
milch ſelbſt ſagt z. B. von Wien (S. 27): „Da die in Wien jährlich
im Druck erſcheinenden Liſten mit vieler Accurateſſe gemacht wer-
den ꝛc.“ Vergl. dazu die intereſſanten Angaben Juſtis über Wien
(§. 223), wo man die Bevölkerung Wiens auf 165,000, 300,000 und
700,000 geſchätzt findet mit 40,000 Dienſtmägden aus Bayern! Wir
wundern uns billig, daß auf dieſe bedeutenden Vorgänge die Popula-
tioniſtik und ſelbſt die Statiſtik unſeres Jahrhunderts gar keine Rück-
ſicht nimmt. Jedenfalls zeigen ſie, daß, als das 19. Jahrhundert kam,
es weder an Grundſätzen, noch an Vorſchlägen, noch an großartigen
Verſuchen fehlte. Und es bleibt uns nur übrig, den Grund anzuführen.
Offenbar nämlich fehlten damals bei der großen Selbſtändigkeit der
Gutsherren einerſeits und der ſtädtiſchen Gemeinden anderſeits den
Regierungen noch die Organe, um eine allgemeine Zählung anzuordnen;
die „Commiſſarien,“ von denen Juſti redet, ſind eben nicht vorhanden.
Dagegen haben ſchon damals die Städte zum Theil ſehr genaue Standes-
regiſter und zum Theil Zählungen durchgeführt, wie wir namentlich
[222] aus Süßmilch erſehen. Hier brauchten daher die Regierungen nur an-
zuſchließen; und das geſchah auch. Allein dazu gehörte jene tiefe Um-
geſtaltung des öffentlichen Lebens und Rechts, welche die alte örtliche
Verwaltung vernichtete, und dieſelbe nicht bloß principiell, ſondern auch
durch ihre eigenen Beamteten ſelbſt übernahm. Die Zeit, in der das
geſchieht, iſt unſer Jahrhundert; und erſt mit unſerm Jahrhundert kann
daher von einer rechten Geſchichte des Zählungsweſens die Rede ſein.
Wir dürfen nochmals bemerken, daß wir dieſe Geſchichte einer ein-
gehenden Arbeit überlaſſen müſſen, da die Einzelheiten zu groß ſind,
um ſie hier ganz durchzuführen. Allein wir glauben dennoch, daß die
Darſtellung des allgemeinen Ganges derſelben und der individuellen
Geſtalt, welche ſie in den einzelnen Staaten angenommen, nicht ohne
Werth ſein wird, da hier noch ſo ziemlich alles zu thun iſt.
dieſes Jahrhunderts.
Die amtlichen Zählungen in Deutſchland ſcheinen in den erſten
Jahrzehnten wohl ſehr unvollkommen geweſen zu ſein; den Anfang der-
ſelben machte die Zählung, auf welcher die Bundesmatrikel beruhte.
Ich finde nirgends das Verfahren bei dieſer Zählung angegeben; eben
ſo wenig vermag ich über die preußiſchen Zählungen dieſer Zeit etwas
zu finden. Erſt mit den dreißiger Jahren beginnt eine ganz neue Geſtalt
des Zählungsweſens. Zwei Dinge haben dieſelbe hervorgerufen, welche
von der künftigen Geſchichtſchreibung ihre genauere Würdigung erwarten
dürfen. Das erſte war die Entſtehung des Zollvereins. Die nächſte
Aufgabe der Zählungen des Zollvereins war allerdings die einfache
Conſtatirung der Kopfzahl, um ſie der Vertheilung der Zollerträgniſſe
zum Grunde zu legen, und aus der der eigentliche Begriff der „Zoll-
abrechnungsbevölkerung“ hervorging. Allein die Souveränetät der ein-
zelnen Bundesſtaaten ſchloß die einheitliche Vornahme von Zählungen,
ſo wie die einheitliche Geſetzgebung über dieſelben aus; jeder Staat
verfuhr dabei auf ſeine Weiſe, und ſo entſtand mit bloßer Ausnahme
der Feſtſtellung der Kopfzahl, die ziemlich gleichmäßig gewonnen ward
(freilich auch dieſe nicht ganz, da man über die Begriffe der „Gäſte,“
„Reiſenden“, „ortsanweſenden“ und „ortsangehörigen“ Bevölkerung weder
ganz einig war, noch auch es bis jetzt geworden iſt (Nachtrag zur Zu-
ſammenſtellung der in Bezug auf die Volkszählungen der verſchie-
denen deutſchen Staaten getroffenen Anordnungen. Großherzogl. heſſiſche
Landesſtatiſtik 1865, Seite 1 — 3) — ein ziemlich buntes Bild der
[223] Zählungen. Der praktiſche Werth, den die Gleichartigkeit des Zählungs-
weſens für alle deutſchen Staaten haben mußte, rief daher das Beſtreben
hervor, dieſelbe zu erzwingen; und hier war es wieder, wo ſich die
Verwaltung an die Wiſſenſchaft wenden mußte, um jenen Zweck zu
erlangen. Die letztere nun hatte gerade in dieſer Zeit mächtige Fort-
ſchritte gemacht. Die ganze Bevölkerungslehre, die von der populatio-
niſtiſchen Theorie des vorigen Jahrhunderts in die antipopulationiſtiſche
der Malthus’ſchen Geſichtspunkte gefallen war, empfing durch die geniale
Auffaſſung Quetelets einen ganz neuen Geiſt. Während Süßmilch
der Gründer der Phyſiologie der Bevölkerungsbewegung war, ward
Quetelet der Gründer der geſammten Bevölkerungsphyſiologie, die
auf die phyſiologiſche Statiſtik des Einzellebens baſirt iſt. Die That-
ſachen, die er fand, und der Geiſt, in dem er ſie darſtellte, wurden
namentlich durch Bernoulli populariſirt, der Quetelet gegenüber die-
ſelbe Funktion übernahm, die Say für Adam Smith geleiſtet. Ber-
noulli’s Populationiſtik (1842) bezeichnet den Eintritt des Gedankens,
die Zählungen der Verwaltung, die ſich nun einmal an die Theorie
gewendet hatten, dieſer Theorie und ihren Forderungen nunmehr auch
gänzlich zu unterwerfen und aus den adminiſtrativen volksphyſio-
logiſche Zählungen zu machen. Dieſer Gedanke ward hauptſächlich
durch drei Männer vertreten, deren hiſtoriſche Bedeutung im Zählungs-
weſen dadurch um ſo größer iſt, daß ſie eben im Geiſte jener Richtung
das frühere Verhältniß ſo weit thunlich umkehrten, und ſtatt daß die
adminiſtrativen Aufgaben bis dahin die Hauptſache geweſen, jetzt die
phyſiologiſchen an die Spitze ſtellten, und die erſteren gleichſam bei
Gelegenheit die letzteren erfüllen ließen. Dieſe Männer ſind Czörnig
in Oeſterreich, Legoyt in Frankreich, Engels in Dresden und Berlin.
Sie waren die erſten Vertreter der Idee eines internationalen Congreſſes
und dürfen als die Begründer des neuen Zählungsweſens in Europa
angeſehen werden. Es liegt außerhalb unſerer Aufgabe, Geſchichte und
Bedeutung dieſer Congreſſe hier darzulegen; allein ihr Einfluß auf die
Volkszählungen iſt von höchſter Bedeutung geworden. Jeder von den
drei Männern hat eine ihm eigene Zählungsgeſetzgebung erzeugt, die
uns ein organiſches, wohl überlegtes Bild der Zählungen geben, wie
ſie eben aus jener Verbindung von Theorie und Verwaltung hervor-
gegangen ſind. Als Vorgänger dieſer Richtung darf man wohl die Vor-
ſchriften in Württemberg, geſammelt von Rominger (Syſtematiſche
Zuſammenſtellung ſämmtlicher Vorſchriften über die verſchiedenen Bevöl-
kerungsaufnahmen in Württemberg, 1842), namentlich aber die ſpeciell
unter Quetelet ſelbſt vorgenommenen belgiſchen Zählungen (Récension
générale de la population im Bulletin de la Comm. générale de
[224] la stat. Bruxelles. 1847,Mohl Seite 427) und die Instruction rel.
au recensement von Bern 1850 anſehen.
Gehen wir nun zu der Geſtalt des Zählungsweſens in den ein-
zelnen Staaten über, ſo dürften die folgenden leitenden Geſichtspunkte
den gegenwärtigen, keineswegs abgeſchloſſenen Zuſtand am beſten
bezeichnen.
Die deutſchen Volkszählungen zeigen uns auf dem Gebiete des
Zählungsweſens auch nach 1830 noch denſelben Charakter, den das
ganze deutſche öffentliche Recht hat — innere Gleichartigkeit des Strebens
im Ganzen, neben formeller und oft ſehr hartnäckiger Verſchiedenheit
innerhalb der einzelnen Souveränetäten, und mächtiger, aber etwas
theoretiſcher Arbeit der deutſchen Wiſſenſchaft, die Einheit durch die
Gewalt des Geiſtes wieder herzuſtellen, die durch die äußern Verhält-
niſſe verloren gegangen iſt.
Selbſt abgeſehen nämlich von der Wiſſenſchaft, mußte ſich ſogar
die Praxis geſtehen, daß die deutſchen Volkszählungen, der Einheit
in der Form ermangelnd, natürlich auch der Einheit in ihren Reſul-
taten ermangeln mußten. Die ſtatiſtiſchen Congreſſe, die mit ihren ein-
heitlichen Reſultaten aus den übrigen Theilen der Welt den deutſchen
Repräſentanten entgegentraten, mußten das Gefühl dieſer innern Un-
gleichartigkeit der Zählungen auf das Lebhafteſte erneuern, und in neueſter
Zeit haben deßhalb verſchiedene Verſuche ſtattgefunden, um ſie zu beſei-
tigen (Zuſammenſtellung der in Bezug auf die Volkszählungen in ver-
ſchiedenen deutſchen Staaten getroffenen Anordnungen vom 8. Juli 1864).
Indeß muß die großherzogl. heſſiſche Centralſtelle in ihrem Nachtrag
vom Ende März vorigen Jahres ſagen, daß zwar die Beſchlüſſe der
internationalen ſtatiſtiſchen Congreſſe erfreuliche Fortſchritte hervorgerufen
haben, daß aber „dennoch zwiſchen den Zählungsvorſchriften der einzel-
nen deutſchen Staaten noch immer ſo erhebliche Verſchiedenheiten beſtehen,
daß hierdurch die Vergleichbarkeit der Zählungsreſultate weſentlich beein-
trächtigt wird,“ was der Bericht denn — freilich hauptſächlich in Be-
ziehung auf die perſönlichen Elemente der Zählung und auf die For-
mulirung der Vorſchriften — im Einzelnen nachweist. Bei aller Hoch-
achtung vor der Wiſſenſchaft kann jedoch nicht verhehlt werden, daß die
theoretiſch individuellen Anſchauungen von der Bevölkerungslehre hier
vielfach auf die Differenz in dem Zählungsweſen eingewirkt haben. Am
weiteſten und vom pupulationiſtiſchen Standpunkt am gründlichſten ward
unter Engels Leitung die Zählung in Sachſen entwickelt. Engels
hat ſeinen Standpunkt genauer in dem Artikel: „Ueber die Bedeutung
[225] der Bevölkerungsſtatiſtik“ (Zeitſchrift des ſtatiſtiſchen Bureaus für
das Königreich Sachſen, 1855. Nr. 9.) dargelegt; das von ihm weſentlich
begründete Zählungsweſen (1855) hat eben deßhalb dem Vorwurf einer
gewiſſen Einſeitigkeit nicht entgehen können (vergl. Mohl, S. 429).
Es darf dabei allerdings nicht vergeſſen werden, daß ſich die deutſche
Staatswiſſenſchaft auch jetzt noch nicht einig iſt, ob oder in welchem
Umfang ſie das Zählungsweſen behandeln ſoll. Mohl hat es im
württembergiſchen Verwaltungsrecht ganz weggelaſſen, dagegen in ſeiner
Polizeiwiſſenſchaft ſehr oberflächlich aufgenommen, und dann in der
Literatur der Staatswiſſenſchaften behandelt, während es in der
Encyklopädie wieder weggelaſſen iſt. Rönne ſpricht gar nicht davon,
Pötzl und Funke gleichfalls nicht; Stubenrauch dagegen hat es
aufgenommen, und eben ſo Gerſtner. Und doch iſt die Theorie hier
von der höchſten Wichtigkeit.
Dieſen Zuſtänden Deutſchlands gegenüber erſcheinen nun Oeſter-
reich, England und Frankreich in einem ganz andern Lichte.
von 1856.
Die Zählungen in Oeſterreich ſchloſſen ſich ſchon im vorigen
Jahrhundert an das Heerweſen, und erſcheinen anfangs nur als Con-
ſcriptionszählungen, die dann natürlich nach Werbebezirken aufgenommen
und nur auf die Conſtatirung der wehrpflichtigen Mannſchaft beſchränkt
waren. Dieſen Charakter behielt das öſterreichiſche Zählungsweſen bis
in die neueſte Zeit. Den Beginn deſſelben bildet das Hofdekret vom
19. Januar und 16. Februar 1754; erſt das Patent vom 18. Sep-
tember 1777 und die ihm beigefügte Inſtruktion ſtellen beſtimmtere Vor-
ſchriften auf, bei denen gewiß die Ideen Juſtis von großem Einfluß
geweſen ſind; der Gedanke war eine vollſtändige amtliche Zählung
(„Seelenbeſchreibung“) nach den Juſti’ſchen Kategorien. Offenbar reichte
aber der amtliche Mechanismus dazu nicht aus, und man mußte ſich
auf die militäriſche Zählung beſchränken, die durch das Conſcrip-
tions- und Werbebezirks-Syſtem v. 27. April 1781 mit beſonderer
Rückſicht auf die Rekrutirungsverhältniſſe geordnet wurden und daher kaum
zu den eigentlichen Volkszählungsgeſetzen gerechnet werden dürfen, zumal
da die Rekrutirungsverpflichtung in den verſchiedenen Kronländern ver-
ſchieden war, und daher der Unterſchied zwiſchen den ſogen. altcon-
ſcribirten und den übrigen Provinzen auf dieſe Zählung weſentlich
Einfluß übte (Dekret vom 7. Mai 1787; Patent vom 25. October 1804;
Dekret vom 31. Mai 1818). Geſammelt ſind alle darauf bezüglichen Vor-
ſchriften von Schopf (Sammlung aller in Conſcriptions-, Rekrutirungs-
Stein, die Verwaltungslehre. II. 15
[226] und Militärentlaſſungs-Angelegenheiten erlaſſenen Vorſchriften, 1833;
Fortſetzung 1836; das Weſentliche bei KopetzI. §. 39 ff.; Stubenrauch,
Verwaltungs-Geſetzkunde I. §. 163) — ein wichtiges Material für eine
künftige Geſchichte der Zählungen im obigen Sinne.
Entſcheidend und den Forderungen der Wiſſenſchaft entſprechend
iſt dagegen das vorzugsweiſe unter Czörnigs Mitwirkung entſtandene
öſterreichiſche Volkszählungsgeſetz vom 23. März 1856, von
dem Stubenrauch (§. 164—167) eine ſehr gute Ueberſicht gegeben
hat. Die Grundlage dieſer Zählung iſt die Summe und Numerirung
der Wohngebäude; die Organe ſind die Behörden; das Verfahren wird
durch eine eigene, den Bewohnern zugeſtellte Belehrung eingeleitet; die
Momente der Zählung enthalten die Grundverhältniſſe des perſönlichen,
religiöſen, nationalen, wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Lebens;
auf die Ortsangehörigkeit iſt die gebührende Rückſicht genommen; ſpeciell
hinzugefügt iſt die Gemeinde-Viehſtandstabelle. Aus den Ortsüberſichten
werden dann die Gemeindeüberſichten, aus dieſen die Bezirksüberſichten,
aus dieſen die Kreisüberſichten, aus dieſen die Hauptüberſicht
gemacht. Die Volkszählungen auf dieſer Grundlage bieten gewiß
alles, was wir als Inhalt des Rechts der Volkszählung oben bezeich-
net haben.
Standesregiſter.
Das engliſche Zählungsweſen unterſcheidet ſich von dem continentalen,
wie es uns ſcheint, weſentlich auf Einem Punkte, auf den auch Mohl
nur wenig Rückſicht genommen hat. Dieſer beſteht darin, daß die Zäh-
lung durch die engſte Verbindung mit der Führung der Standesregiſter
eine fortlaufende und ſtets von demſelben Organe ausgeführte
iſt. Da wir auf dieſe Weiſe das Zählungsweſen von den Standes-
regiſtern in England nicht füglich trennen können, ſo verweiſen wir
ſpeciell auf die Darſtellung des letztern. Die regelmäßigen Publikationen
des ſtreng centraliſirten Standesregiſterweſens machten es möglich, daß
die Angaben für England, ſo weit ſie eben beſtehen, die genaueſten
und regelmäßigſten ſind, die wir kennen, da hier der große Orga-
nismus der ſtatiſtiſchen Stellen auf der Grundlage der drei Inſtanzen
Registrar, Superintendent Registrar und Registrar General beſtändig
und nach gleichartig geltenden Regeln wirkt, die als Baſis noch immer
die Geſetze über die Führung der Standesregiſter haben (Regulations
for Registrars and deputy Registrars und Regulations for the duties
of Superintendent Registrars. Januar 1838, ſiehe unten). Die Dar-
ſtellungen in den Reports geben dann die Ergebniſſe der Zählungen
[227] in gewiſſen Hauptkategorien; das Verfahren dabei in Report über die
Population tables von 1851. I. II. Dagegen hält ſich die engliſche
Geſetzgebung auch wieder ſtrenger an die perſönlichen Elemente der
Zählung als der Continent.
Man kann daher im Allgemeinen wohl mit Recht ſagen, daß ſich
das engliſche Volkszählungsweſen aus den Standesregiſtern entwickelt
und daher ſeinen Charakter empfangen hat; wir haben deßhalb unten
darauf zurückzukommen.
der innern Verwaltung.
Die Geſchichte des Zählungsweſens in Frankreich hat einen ganz
andern Charakter als in Deutſchland oder England.
In Frankreich nämlich ward die Zahl der Bevölkerung ſeit der
Revolution einer der Faktoren der inneren Verwaltung, und daher hat
hier die Zählung gleich anfangs ſtatt aller theoretiſchen Richtung eine
vorzugsweiſe praktiſche Bedeutung. Allerdings hatte nämlich das Geſetz
vom 22. Juli 1791 ſchon eine Zählung nach Köpfen, Alter, Geſchlecht
und professions (Juſti’s Handthierung) vorgeſchrieben; aber Legoyt
hat gewiß Recht, wenn er behauptet, dieß Geſetz ſei nie zur Ausführung
gelangt. Die frühern Zählungen, die ſeit 1784 ſtattgefunden haben,
ſind von JuglarDe la population en France dep. 1772 à nos
jours J. d. Écon. XXX. XXXI und XXXII und von Fayet De
l’accroissement de la population en Fr. 1845. J. d. Écon. XII. dar-
geſtellt. Der Werth dieſer Zählungen iſt bis zu unſerm Jahrhundert
gewiß nach dem oben angeführten Geſtändniß Neckers ſehr zweifelhaft,
und das Verfahren war für das Reich nur eine Schätzung. Dagegen
ſehen wir die eigentliche Zählung in Frankreich durch ihre enge Ver-
bindung als eine örtliche entſtehen, und wie in England aus den
Standesregiſtern, ſo hat ſich in Frankreich aus den Gemeindezählungen
die allgemeine Volkszählung entwickelt. Durch das Geſetz vom 19. vend.
IV. ward nämlich zuerſt die Aufſtellung eigener Polizeibeamteter von
der Zahl der Einwohner einer Gemeinde abhängig gemacht; damit
ward der Frankreich eigenthümliche Grundſatz eingeführt und allmählig
in allen Zweigen der örtlichen Verwaltung zur Geltung gebracht, daß
die Theilnahme an den Laſten der Verwaltung durch die Zahl der Ein-
wohner beſtimmt werden ſolle. Das Arr. vom 17. Germ. an XI.
beſtimmte nämlich im Allgemeinen, daß die Verwaltungskoſten der Ge-
meinden nach der Ziffer der Bevölkerung geregelt werden ſollen, nach-
dem ſchon vorher die circonscriptions judiciaires (die Competenzgebiete
der Friedensrichter) durch die loi 8. pluv. an IX und die religieuses
[228] (Kirchenſprengel der Evangeliſchen, nach Ordonnanz vom 25. Oct. 1844
auch die der Iſraeliten), durch die loi 18. Germin. an X, endlich die
Cautionsſumme öffentlicher Beamteten durch loi 18. vent. an X. nach
Maßgabe der Bevölkerung beſtimmt war. Dieſen Standpunkt hat die
ſpätere Geſetzgebung feſtgehalten, und namentlich ſeit 1830 für die Be-
ſtimmung des Steuerfußes bei der Thür- und Fenſterſteuer und der
contribution mobilière (21. Avr. 1832), dann der Gewerbeſteuer
(contr. de patentes 1844), endlich der Verzehrungsſteuer (1830) zur
Geltung gebracht; das Geſetz vom 5. Mai 1855 hat die Bevölkerung
endlich der Zahl, der Beſtallung und zum Theil der Beſoldung der
Gemeindebeamteten zum Grunde gelegt. Damit ward die Zählung zu
einer der großen Bedingungen der innern Verwaltung überhaupt, und
es iſt daher und bei dem vorwiegend polizeilichen Sinn der Franzoſen,
der zugleich dem mathematiſchen Element ſo große Rechnung trägt, leicht
erklärlich, daß die Zählungen hier raſch und früh gemacht worden.
Nach Legoyt war die erſte Zählung, die regelmäßig durchgeführt war,
vom Jahre 1800 (divisé per sexe et per état civil). Von dieſer Zeit
heißt dieſe eigentliche Zählung das dénombrement; neben ihm entſteht
dann die Zählung durch die Standesregiſter(état civil), die letz-
teren ſind natürlich viel ausführlicher (ſiehe unten). Was nun die
Geſchichte der eigentlichen Zählungen betrifft, ſo bemerkt darüber Legoyt,
daß erſt im Jahre 1841 der Unterſchied der beweglichen Bevölkerung
von der ortsangehörigen in die Zählungen aufgenommen ward, da die
Gemeinden ſich gegen die Einrechnung der erſten in die zweite oppo-
nirten, indem, wie oben bemerkt, der Steuerfuß nach der Einwohner-
zahl beſtimmt ward. Der Avis du Conseil d’État vom 23. Nov. 1841
entſchied die künftige Weglaſſung der mitgezählten nicht ortsangehörigen
Bevölkerung. Dem Einfluß der Wiſſenſchaft endlich, deren Hauptvertreter
hier Legoyt war und iſt, verdankt das Zählungsweſen, „das bis 1851
ſich auf die Angabe der Geſchlechter und der Verehelichung beſchränkt
zu haben ſcheint,“ Legoyt (in Block Dict. de l’Admin. v. Popu-
lation — wußte Legoyt das nicht genau?) den Fortſchritt zur Aufnahme
der bevölkerungsphyſiologiſchen Kategorien, die Legoyt zuerſt zur
Geltung gebracht, und in denen man die mächtige Hand Quetelets
ſogleich wieder erkennt, zuerſt des Alters und der Nationalität,
des Cultus und der profession — die alſo ſeit 1791 eine leere For-
derung geblieben; dann fordert ſie jetzt ſogar die Zahl der Wahnſinnigen,
Blinden, Taubſtummen und mit äußern Gebrechen behafteten. So iſt
man hier in der Form und den einfachſten materiellen Elementen der
Zählung viel früher fertig als in Deutſchland, dem Inhalte nach aber
iſt man bei aller formalen Einheit im Grunde nicht weiter.
[229]
Wir wiederholen nun, daß die genaue Darlegung dieſer ſo wich-
tigen Geſchichte einer eignen Arbeit bedarf, für die wir hier nur einige
leitende Geſichtspunkte aufſtellen konnten; wir ſchließen aber mit dem
Satze, daß die Zukunft des Zählungsweſens auf der Annahme und
rationellen Durchführung des Satzes beruht, deſſen Beiſpiel uns Frank-
reich gegeben, daß die Zählungen der örtlichen Bevölkerung
die Grundlage für die Berechnung der Leiſtungen derſelben
in der örtlichen amtlichen wie der Selbſtverwaltung ſein müſſen. Hat
man einmal dieſen Grundſatz angenommen, ſo wird die admini-
ſtrative Zählung vermöge des Intereſſes der Selſtverwal-
tung von ſelbſt zu einer phyſiologiſchen Volkszählung
werden!
Die Standesregiſter.
(Die Verwaltung und die Bewegung der Bevölkerung.)
(Die Standesregiſter ſind ihrem Weſen nach die öffentlich rechtliche Con-
ſtatirung der Thatſache von Geburt, Ehe und Tod, und ihre Geſchichte ſowie
ihr gegenwärtig geltendes Recht enthalten die Verwirklichung dieſes Gedankens.)
regiſter.
Das was die Bevölkerungslehre die Bewegung der Bevölkerung
nennt, die Zu- und Abnahme derſelben, beruht vor allem auf den drei
Thatſachen der Geburt, der Ehe und des Todes der Einzelnen. Es iſt
keinem Zweifel unterworfen, daß dieſe Thatſachen mehr ſind als einfache
Facta. Sie erſcheinen bei tieferer Betrachtung des menſchlichen Lebens
einerſeits als Ergebniſſe wirkender Kräfte, die theils im Gebiete des
perſönlichen, theils des wirthſchaftlichen, theils des geſellſchaftlichen
Lebens liegen, andererſeits erzeugen ſie eine Reihe der wichtigſten Folgen
für daſſelbe. Man kann ſie daher aus dem Geſichtspunkte aller der-
jenigen Fragen behandeln, mit denen ſie ſo innig zuſammenhangen.
Die Betrachtungen, die ſich daraus ergeben, die wichtigen Thatſachen,
die ſich dafür feſtſtellen laſſen und die man, wenn auch nicht mit Recht,
als Geſetze bezeichnet hat, bilden einen der bedeutendſten Theile der-
jenigen Wiſſenſchaft, welche wir als die Lebenslehre oder Phyſiologie
der Bevölkerung bezeichnet haben.
Allein ſo wichtig auch dieſe Thatſachen und Geſetze ſind, ſo muß
[230] doch die Verwaltungslehre feſthalten, daß ſie dieſelben zwar kennen und
gebrauchen, daß ſie aber ſich ſelbſt mit ihnen nicht beſchäftigen ſoll.
Auf Geburt und Tod hat die Verwaltung keinen Einfluß, auf die
Ehe ſoll ſie keinen haben. Jene drei Faktoren der inneren Bewegung
der Bevölkerung ſtehen daher an ſich außerhalb der Verwaltungslehre.
Sie gehören dem Gebiete des freien nach eignen Geſetzen ſich bewegen-
den individuellen Lebens.
Wenn daher Geburt, Ehe und Tod als reine Thatſachen mit der
Verwaltung in Beziehung treten ſollen, ſo muß dieß auf denjenigen
Momenten beruhen, durch welche ſie eben in Beziehung zu der übrigen
Bevölkerung treten; und die Thätigkeit der Verwaltung kann ſich deß-
halb auch eben nur auf dieſe Momente derſelben erſtrecken. Dieſe aber
liegen nahe.
Geburt, Ehe und Tod, indem ſie das Einzelleben begründen,
ändern oder enden, begründen, ändern und enden damit auch die ganze
Summe von rechtlichen Verhältniſſen, welche das rechtliche Leben der
Perſönlichkeit bilden. Dieſe an ſich rein phyſiologiſchen Thatſachen
werden damit, da ſie für jeden Einzelnen eintreten, zu juriſtiſchen
Thatſachen, auf deren juriſtiſcher Feſtſtellung die Geltendmachung
aller derjenigen Rechte beruht, die durch ſie modificirt werden. Dieſe
Feſtſtellung wird dadurch zu einer weſentlichen Bedingung für Ordnung
und Sicherung des Verkehrslebens, und zwar zu einer ſolchen, die nicht
bloß für jeden Einzelnen von hohem Werthe wird, ſondern die auch
der Einzelne durch eigne Kraft oft gar nicht, nie aber ohne unverhältniß-
mäßige Anſtrengung und Koſten feſtſtellen kann. Dieſe Kenntniß und
die gemeingültige Feſtſtellung derſelben wird dadurch zu einer Aufgabe
der Verwaltung; und die Vorſchriften und Anſtalten derſelben, deren
Zweck eine ſolche gemeingültige Feſtſtellung dieſer Thatſachen iſt, faſſen
wir zuſammen als die Ordnung der Standesregiſter (der Civil-
ſtandsregiſter oder des Matrikenweſens).
Die Standesregiſter oder Matriken erſcheinen daher als diejenige
Einrichtung der Verwaltung, vermöge deren die letztere die That-
ſachen der Geburt, der Ehe und des Todes der Einzelnen
durch ihre Organe feſtſtellt, um vermöge dieſer Feſtſtellung die
Grundlage für die aus derſelben folgenden Rechtsbeziehungen aller
übrigen Einzelnen zu gewinnen.
Die Beſtimmung dieſer Definition iſt nun darum von Wichtig-
keit, weil ſie es iſt, aus welcher die Grundſätze für die Ordnung
dieſer Standesregiſter und endlich auch die Elemente ihrer Geſchichte
folgen.
[231]
(Die Begriffe des Inhalts, der Führung und des Rechts der Standes-
regiſter als Grundlage und Aufgabe dieſer öffentlichen Ordnung.)
Die Grundſätze nämlich, welche für dieſe Ordnung der Standes-
regiſter zu gelten haben, erſcheinen in der That als die natürlichen
Bedingungen dafür, daß die Standesregiſter die oben bezeichnete Funk-
tion im öffentlichen Leben zu erfüllen vermögen. Und dieſe Grundſätze
müſſen daher als maßgebend für das geltende Recht und für die Beur-
theilung der Geſtalt deſſelben bei den verſchiedenen Völkern angeſehen
werden. Sie ſind an ſich einfach, und bilden das Syſtem des Standes-
regiſterweſens.
a) Zuerſt ergibt ſich, daß der Inhalt der Standesregiſter, um
jener Aufgabe derſelben zu entſprechen, die Bedingungen der juriſti-
ſchen Gewißheit der betreffenden Thatſache enthalten muß. Jedes
gute Standesregiſter muß daher ſo viel enthalten, daß damit die Ele-
mente des juriſtiſchen Beweiſes gegeben ſind. Dieſe nun ſind erſtens
die Conſtatirung der Identität der betreffenden Perſönlichkeit durch
Angabe ſeiner perſönlichen Verhältniſſe (Eltern, Ort, Zeit, reſp. Ge-
burt und Ehe); zweitens die Aufführung von Zeugen, die aller-
dings nach der Natur der einzelnen Thatſache verſchiedene Namen und
verſchiedenen Charakter haben (Hebammen, Ehezeugen u. ſ. w.); aber
doch im Grunde eben nur als juriſtiſche Beweismittel aufzufaſſen ſind.
Alles, was über dieß juriſtiſche Element hinausgeht, gehört nicht
mehr dem Standesregiſterweſen, ſondern fällt ſchon in die Statiſtik,
und damit unter dasjenige Princip des Rechts der Volkszählung, welches
wir oben bereits aufgeſtellt haben.
b) Es folgt zweitens, daß die Führung dieſer Standesregiſter
als eine Verwaltungsaufgabe zu betrachten iſt, indem ſie für alle
geſchieht und für alle ein Recht bildet. Daraus wieder folgen die drei
leitenden Grundſätze für dieſe Führung der Standesregiſter. Dieſelben
müſſen nämlich erſtlich allgemein, und für alle gleichartig ſein, ſo
daß der in ihnen enthaltene Beweis der drei Thatſachen für jedes
Individuum in allen Theilen eines Staates auch wirklich gegeben iſt.
Zweitens müſſen die Standesregiſter von einem eigens dazu be-
ſtimmten, alſo competenten Organe geführt werden, das die amtliche
Pflicht unter perſönlicher Verantwortlichkeit hat, in den Standesregiſtern
die als Inhalt derſelben geforderten Momente auch wirklich einzutragen.
Drittens folgt aus demſelben Grunde, daß dieſe Führung einer,
im Intereſſe des Geſammtlebens liegenden beſtändigen und regelmäßigen
[232]Controle unterworfen ſein muß. Um dieſen Anforderungen nun ge-
nügen zu können, war es bald nothwendig, für die Führung der
Regiſter ſelbſt, theils um ihre Gleichartigkeit zu erzielen, theils um die
Controle möglich zu machen, geſetzliche Formularien vorzuſchreiben;
und man kann ſagen, daß erſt mit dieſen Formularien das öffentliche
Recht der Standesregiſter ſeinen äußern Abſchluß erhält.
c) Es folgt endlich drittens, daß dieſe, mit dieſem Inhalt und
in dieſer Form geführten Standesregiſter nun auch vermöge derſelben
das Recht haben müſſen, als juriſtiſcher Beweis für jene drei
Thatſachen zu gelten, ein Satz, der wieder eine genaue Erwägung
über die beiden juriſtiſchen Fragen enthält, erſtlich unter welchen Be-
dingungen ein ſolches Standesregiſter angefochten werden kann,
zweitens in welchen Formen daſſelbe in ſeiner Beweiskraft da, wo es
mangelhaft iſt, erſetzt werden kann; denn es iſt natürlich ſelbſtver-
ſtändlich, daß es, wenn es auch in der Form richtig iſt, dennoch einen
Gegenbeweis zulaſſen muß.
Dieſem Recht der Standesregiſter entſprechen natürlich zwei Pflichten.
Die erſte Pflicht iſt die der Organe der Führung der Regiſter ſelbſt,
welche theils in der genauen Eintragung der betreffenden Thatſachen
und zwar jetzt wohl allenthalben nach beſtimmten geſetzlich vorgeſchrie-
benen Formeln beſteht, theils in der Verpflichtung, den Einzelnen
beweisgültige Abſchriften aus den Regiſtern zu geben. Die zweite
Pflicht iſt die der Einzelnen, jene Thatſachen der betreffenden Organe
auch wirklich anzugeben, und zwar namentlich alle diejenigen Momente
derſelben, welche das Regiſter conſtatiren muß. Die Erfüllung dieſer
Pflicht wird zum Theil mit eignen Strafen gegen die Unterlaſſung,
zum Theil mit Rechtsungültigkeit des betreffenden Aktes bei der Ehe
erreicht; hier ſind jedoch die Geſetze verſchieden.
Aus allen dieſen Punkten hat ſich nun dasjenige allmählig heraus-
gebildet, was wir das Syſtem der Standesregiſter nennen. Die
Natur jener drei Thatſachen bringt es nun zwar mit ſich, daß der
Inhalt und die Form derſelben für Geburt, Tod und Ehe verſchieden
ſein müſſen; allein die obigen Principien erſcheinen dennoch als die
allgemein gültigen, und bilden das geltende öffentliche Recht der Stan-
desregiſter. Man erkennt dabei leicht, daß daſſelbe keinesweges ein
einfaches iſt. Es darf uns daher nicht wundern, wenn wir auch bei
den Standesregiſtern von einer Geſchichte derſelben zu reden haben,
die wiederum als Grundlage eines vergleichenden Rechts derſelben
angeſehen werden muß. Beides iſt bei der praktiſchen Wichtigkeit der
Sache und bei der noch immer vorhandenen großen Verſchiedenheit und
zum Theil Unklarheit über die Sache nicht ohne Intereſſe.
[233]
Die Stellung, welche die Standesregiſter in der Theorie einnehmen, iſt
für die ganze Auffaſſung derſelben höchſt bezeichnend. Geſetzlich und thatſächlich
exiſtirten ſie ſchon Jahrhunderte lang, ehe die Theorie auf ſie Rückſicht nahm.
Dieß geſchah erſt mit dem Auftreten der populationiſtiſchen Richtung des vorigen
Jahrhunderts, und ſie wurden daher auch nur als Momente für dieſe popu-
lationiſtiſche Verwaltung der Bevölkerung betrachtet. Man kann unbedenklich
behaupten, daß dieß noch gegenwärtig der Fall iſt, und daß ſtatt der Wiſſen-
ſchaft nur die poſitive Geſetzgebung ſie in ihrer wahren Bedeutung, als admini-
ſtrative Einrichtung verſtanden hat. Auch die neueſte Bevölkerungslehre hat
ihren hohen juriſtiſchen und adminiſtrativen Werth im obigen Sinne nicht er-
kannt. Süßmilch zunächſt nimmt die Standesregiſter ganz einfach als Grund-
lage der Berechnung und Schätzung der Bevölkerung, die damals noch die
eigentliche Zählung erſetzen mußte (ſ. oben); eben ſo Juſti („Von den Todten-
regiſtern und ihrem Nutzen in Polizeianſtalten,“ II. Bd. 6. Hptſt. Abſchn. I.),
obwohl er ſie ſchon in Beziehung auf Polizeianſtalten bringt; ſo meint er, „es
iſt gewiß allemal ein untrügliches Merkzeichen von der Unwiſſenheit und Unge-
ſchicklichkeit der Hebammen, wenn viele Kinder todt zur Welt kommen oder
bald nach der Geburt ſterben“ (§. 231) — ein gewiß richtiger Geſichtspunkt, der
mit Unrecht für die Verwerthung der Liſten der Todtgebornen wieder verloren
gegangen iſt. Die ſpäteren Polizeirechtslehrer, Berg, Fiſcher, Jacobs u. ſ. w.
ſprechen gar nicht davon; eben ſo wenig natürlich die Nationalökonomen; die
Malthuſiſche Richtung war viel zu ſehr mit dem abſtrakten Princip beſchäftigt,
um die praktiſche Wirklichkeit zu ſehen. Statt deſſen iſt die Geſetzgebung ſehr
reichhaltig. An ſie ſchließt ſich namentlich in Frankreich eine ganze Literatur,
und ſelbſt in Deutſchland erſcheinen einige Arbeiten darüber (Rohr, Anleitung,
wie Kirchenbücher und Liſten zu politiſchen Berechnungen beſſer einzurichten ſind,
1789. Neue Beiträge zur Verbeſſerung der Kirchenbücher, 1794); aber alles
Theoretiſche bleibt in Deutſchland nur auf dem Volkszählungsſtandpunkt. Was
Mohl (Polizeiwiſſenſchaft I. §. 16) und Gerſtner (Bevölkerungslehre S. 73)
ſagen, iſt ohne alle Bedeutung. Daß Standesregiſter einen Werth auch außer-
halb der Statiſtik haben, oder gar daß ihr eigentlich adminiſtrativer Werth eben
nur da liegt, iſt beiden nicht eingefallen. Die wahre Geſchichte der Standes-
regiſter iſt wirklich nur aus der Verwaltung und nicht aus der Verwaltungslehre
hervorgegangen.
regiſter.
(Die Grundlagen dieſer Geſchichte werden am beſten ausgedrückt in den
Bezeichnungen der Kirchenbücher, der Geburts- und Todesregiſter
(oder Kirchenregiſter) und der eigentlichen Standesregiſter. Wie ſich dieſe
drei Grundformen unterſcheiden.)
Obwohl wir damit beginnen müſſen, daß wir bei dem Mangel
an Quellen und Vorarbeiten nicht im Stande ſind, eine eigentliche
[234] Geſchichte der Standesregiſter zu geben, ſo dürfte doch die Grundlage
ihrer allmähligen Ausbildung bis zu ihrem gegenwärtigen Standpunkte
weder unklar noch auch ohne Intereſſe ſein.
Man muß als dieſe Grundlage drei Momente betrachten, die noch
gegenwärtig gültig ſind, aber die durch ihre verſchiedene Bedeutung in
den verſchiedenen Zeiten gewiſſermaßen drei große Epochen hervorgerufen
haben. Dieſe drei Momente ſind das rein kirchliche, das adminiſtrative
und das ſtatiſtiſche Element, denen die Epoche der rein kirchlichen, der
adminiſtrativen und der ſtatiſtiſchen Standesregiſter entſprechen. Die
Formen, welche dieſe Momente einerſeits und die Epochen der Ent-
wicklung andererſeits erzeugt haben, bezeichnen wir wohl am beſten als
die der Kirchenbücher, welche die erſte Epoche bilden, die Geburts-
und Todtenregiſter, welche der zweiten gehören, und der eigentlichen
Standesregiſter, welche mit der dritten entſtehen. Dieſe Unter-
ſcheidungen gehören allerdings mehr dem Weſen als der äußern Form
an, ſind aber dennoch, wie wir glauben, leicht verſtändlich, und wohl
auch leicht nachzuweiſen.
1) Wir glauben nicht zu irren, wenn wir die Einführung der
erſten Form der Standesregiſter als der Kirchenbücher auf das Be-
dürfniß zurückführen, durch den Beweis der Vornahme des kirchlichen
Aktes der Taufe und der Trauung den Beweis der Angehörigkeit der
Einzelnen an eine beſtimmte Confeſſion hinzuſtellen, und daß daher
dieſe Kirchenbücher ſich als allgemeines Inſtitut an die Entſtehung
der Spaltungen in der katholiſchen Kirche anſchließen. Ob und in wie
weit jedoch nicht ſchon früher Gemeindekirchenbücher, namentlich
von Stadtpfarrern, geführt worden ſind, läßt ſich bis jetzt noch ſchwer
ſagen. Gewiß iſt nur, daß wir bereits im Beginn des 16. Jahrhun-
derts den erſten, zum Theil großartig angelegten Verſuchen in England
und Frankreich begegnen, das Kirchenbücherweſen auf einer gemeinſamen
Grundlage zu ordnen, bis das Tridentiner Concil endlich die Führung
der Kirchenbücher zu einer allgemeinen Pflicht aller Geiſtlichen machte.
Das Concil. Trident. sess. XXIV, c. 1. de reformat. matrimonii
ſagt: „Habeat parochus librum, in quo conjugum et testium nomina
et locum contracti matrimonii describat, quem diligenter apud se
custodiat.“ Dann heißt es sess. XXIV. c. 2. de reformat. matr.
„Parochus, antequam ad baptismum conferendum accedat, diligenter
ab iis, ad quos spectabit, sciscitetur, quem vel quos elegerint, ut
baptizatum de sacro fonte suscipiant et eum vel eos tantum ad
illum suscipiendum admittat et in libro eorum nomina describat.“
Damit war nun zwar ein großer Schritt geſchehen; allein es war doch
nur ein Anfang. Das Kirchenbuch iſt anfangs gleichſam nur eine
[235] Thatſache, ein Memorial des Geiſtlichen. Zwar erzeugt die Natur der
Dinge die rechtliche Beweiskraft der Angaben der Kirchenbücher, aber
über die Ordnung und den Inhalt derſelben gibt es noch keine Vor-
ſchriften, namentlich nicht über die Controle derſelben. Dieß alles tritt
erſt da ein, wo die Verwaltung ſich der Sache bemächtigt und aus dem
rein kirchlichen Akt einen adminiſtrativen macht.
2) Man kann gewiß behaupten, daß dieß in durchgreifender Weiſe
zuerſt in den Städten geſchehen iſt, wo einerſeits das Angehören an
die Gemeinde, und andererſeits das Erbrecht bei dem beweglichen
Capital den Beweis von Geburt, Ehe und Tod nothwendig machten.
Wir ſehen daher in den ſtädtiſchen Kirchenbüchern den Anfang der Ge-
burts- und Todtenregiſter. Allein eben ſo gewiß ſcheint zu ſein, daß
trotzdem keine Vorſchriften über Inhalt und Ordnung dieſer Kirchen-
bücher vorhanden waren. Sie ſind daher auch jetzt noch ganz localer
Natur, und zwar beſchränken ſie ſich ſogar noch auf die großen ſtaatlich
anerkannten chriſtlichen Confeſſionen. Alle Nichtchriſten haben keine
Kirche, und darum keine Kirchenbücher. Es iſt mir nicht klar, wie
ſich zu dieſem Princip die aus dem 17. und 18. Jahrhundert ſtam-
menden Geburts- und Todtenregiſter verhalten; allein mit Recht wird
man auch jetzt noch von keinem Standesregiſter reden.
Die eigentlichen Geburts- und Todtenregiſter treten daher
erſt da ein, wo die populationiſtiſche Anſchauung der Bevölkerung und
des entſcheidenden Werthes der Zahl derſelben durchgreift. Das geſchieht
mit dem Beginne des 18. Jahrhunderts. Es ſcheint, daß namentlich
die oben charakteriſirten Schätzungen der Bevölkerung den Anſtoß ge-
geben haben, dem Inſtitute der alten Kirchenbücher ſeine neue Geſtalt
zu geben. Die Bevölkerungslehre zeigte nämlich, daß bei dem Mangel
an eigentlichen Zählungen die Grundlage der Schätzungen in den
Kirchenbüchern liege; und daneben ſteigerte ſich bei wachſender Beweg-
lichkeit der Bevölkerung auch der Werth genauer Nachweiſe über das
Individuum. Von nicht geringem Einfluß iſt dabei ohne Zweifel das
Armenweſen und das Schulweſen geworden, welche beide natürlich
immer am letzten Orte auf Geburt und Ehe, alſo auf die Kirchenbücher
und Tauf- und Trauſcheine zurückkommen mußten. Die Verwaltungen
begannen daher jetzt die Nothwendigkeit eines ſolchen Inſtituts in allge-
meiner und gleichartiger Form zu erkennen, und ſo beginnen mit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts die eigentlichen Geſetzgebungen
über die Standesregiſter. Sie bilden das, was wir die adminiſtra-
tive Epoche der letzteren genannt haben. Ihr charakteriſtiſches Element
iſt nunmehr leicht zu bezeichnen. Zuerſt beſteht daſſelbe in der Ver-
pflichtung zur Führung von ſolchen Regiſtern für alle Confeſſionen;
[236] aber dabei ſchließen ſie ſich noch an die Kirche an, und halten daher
den Grundſatz feſt, daß dieſe Regiſter von den Geiſtlichen geführt
werden. Allein das adminiſtrative Moment erſcheint dann in zwei
Punkten als durchgreifend. Erſtlich wird von der weltlichen Geſetz-
gebung genau der Inhalt der Regiſter vorgeſchrieben, und zweitens
wird die Führung ſelbſt unter die Oberaufſicht der Verwaltungs-
beamteten geſtellt. So iſt ſchon jetzt die Grundlage der Standesregiſter
gegeben und das iſt eben die Form, die wir als die (polizeilich vorge-
ſchriebenen) Geburts- und Todtenregiſter bezeichnet haben. Allein ſie
bilden noch einen Uebergang; denn in ihnen ſind eigentlich die Kirchen-
bücher und Standesregiſter vermiſcht; jene Regiſter ſind beides zu-
gleich, und zwar darum, weil die Grundlage der Führung dieſer
Regiſter noch immer der kirchliche Akt der Taufe und Trauung iſt.
Bereits aber paßt der Name „Kirchenbücher“ nicht recht mehr; denn
dieſe Regiſter werden ja auch von Religionskörpern geführt, die nicht
als „Kirche“ gelten, wie von Juden u. ſ. w. Man nimmt daher ſchon
andere Namen an, wie „Matriken“ (Oeſterreich), Todten- und Geburts-
liſten oder -Regiſter u. ſ. w., bis endlich die Scheidung zwiſchen den
alten Kirchenbüchern und den neuen Regiſtern ſich weſentlich in unſerm
Jahrhundert vollzieht, und zwar zunächſt in England und in Frank-
reich, und damit die adminiſtrative Epoche erfüllt.
Dieſe Scheidung nun beruht darauf, daß die Führung der Re-
giſter zu einer amtlichen Aufgabe gemacht, den Geiſtlichen entzogen
und als ein rein adminiſtrativer Akt hingeſtellt wird. Das hing in
England mit dem Armenweſen zuſammen, in Frankreich mit dem neuen
Eherecht, das ſich von der Confeſſion ganz frei macht, das kirchliche
Element dem ſubjektiven Ermeſſen überläßt, und die Ehe als bürger-
lichen Vertrag auffaßt. Dabei wird die Regiſtrirung zu einem rein
amtlichen Akt, und das Regiſter zu einer öffentlichen Urkunde, welche
vollkommen Glaubwürdigkeit beſitzt und Beweis liefert, daher auch vor
Zeugen aufgenommen wird und den kirchlichen Charakter ganz ver-
liert. Jene drei Thatſachen erſcheinen daher jetzt auch nur als bür-
gerliche, ſie haben nur Bezug auf bürgerliches Recht, und heißen
daher jetzt in dieſer Scheidung Civilſtands- oder Standesregiſter.
Daneben können die eigentlichen Kirchenbücher fortbeſtehen, und be-
ſtehen fort, wie in England; in andern Ländern bleiben die Kirchen-
bücher als ausſchließliche Form der Standesregiſter, wie in Oeſterreich;
allein allenthalben gilt der adminiſtrative Charakter, wenn er auch,
wie in mehreren kleinen deutſchen Staaten, nur noch wenig ausgebildet
iſt. — Damit iſt Inhalt und Princip der zweiten Epoche, die in der
Scheidung von Kirchenbüchern und Standesregiſtern culminiren, gegeben.
[237]
3) Das dritte große Element, das populationiſtiſche, unterſcheidet ſich
nun von den beiden andern dadurch, daß während das kirchliche Ge-
burt, Ehe und Tod als confeſſionelle Thatſachen, das admini-
ſtrative dieſelben als juriſtiſche auffaſſen und demgemäß ordnen, das
populationiſtiſche in ihnen vorwiegend ſtatiſtiſche Thatſachen ſucht.
Dieſe Auffaſſung, indem ſie das Recht der Civilſtandsregiſter ganz un-
berührt läßt, ſtrebt in Inhalt und Führung derſelben weſentlich
zwei Punkte zur Geltung zu bringen. Der erſte iſt die Aufnahme von
denjenigen Angaben in die Regiſter, welche ſich auf die Bewegung der
Bevölkerung beziehen, namentlich die ſtreng durchgeführte Angabe der
Todtgebornen, und die Angabe der Todesurſache. Der zweite dagegen,
die Führung der Regiſter betreffend, organiſirt aus ihnen die Zählung
der Bewegung (Zu- und Abnahme) der Bevölkerung, indem ſie neben
die eigentliche Zählung eine regelmäßige Aufſtellung der Geburten, Ehen
und Todesfälle anordnet, die natürlich, da es ſich nicht um die Indi-
viduen handelt, nur die ziffermäßige Bewegung der Bevölkerung ent-
halten und verfolgen. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ſich dabei ein
eben ſo weites Gebiet eröffnet, wie bei den populationiſtiſchen Zäh-
lungen, und daß das Rechtsprincip der Zählung auch hier gelten muß.
Es iſt keine Frage, daß in dieſen Regiſtern eine reiche Quelle für die
höhere Statiſtik des Völkerlebens liegt; allein dem ſtrengen Gebiete der
Verwaltung und ihres Rechts können auch hier nur diejenigen Punkte
angehören, deren Aufnahme in die Civilſtandsregiſter durch ein von
der Geſetzgebung anerkanntes Intereſſe motivirt erſcheint.
Dieß nun ſind die allgemeinen Elemente der Geſchichte der Standes-
regiſter. Dieſelbe aber hat in jedem Lande wieder ihren eigenen Ver-
lauf und ihre eigenthümliche Geſtalt; und es iſt von Werth und von
Intereſſe, dieſelben, wenn auch nur kurz, zu charakteriſiren.
Staaten.
Charakter derſelben.
Vergleicht man nun auf dieſer allgemeinen Grundlage das geltende
Recht und die Ordnung der Standesregiſter in den einzelnen Staaten,
ſo dürfte ſich im Weſentlichen folgendes Reſultat ergeben.
Die erſte, vollſtändige und ſehr gute Einrichtung derſelben iſt im
vorigen Jahrhundert von Oeſterreich ausgegangen, deſſen damalige
Geſetzgebung aber, weil ſie eine treffliche war, noch im Weſentlichen
gegenwärtig gilt; allein dafür ſtehen dieſe Regiſter noch auf dem Stand-
punkt der Geburts-, Todes- und Eheregiſter, freilich von den Standes-
[238] regiſtern faſt nur dadurch unterſchieden, daß ſie von den Geiſtlichen und
nicht von weltlichen Organen geführt werden. Preußen hat auf dieſem
Punkte, wie in ſo vielen Gebieten des öffentlichen Rechts, zwei Syſteme;
das eine iſt das Oeſterreichs und der meiſten deutſchen Staaten, wor-
nach dieſe Regiſter Kirchenregiſter ſind, das zweite iſt das förmliche
Standesregiſter. Jenes gilt im Oſten, dieſes aus nahe liegenden Grün-
den am Rhein. Frankreich hat mit ſeiner revolutionären Geſetzgebung
den Sprung aus dem alten Kirchenbücherſyſtem unvermittelt in die
reinen Standesregiſter gemacht, und England endlich iſt ihm, freilich
nach manchen unklaren Verſuchen, darin gefolgt. Für die poſitiven
Geſetze der übrigen Staaten fehlen mir noch die Quellen. Auch hier
wird es die Aufgabe der Zukunft ſein, ein Bild Europa’s ſtatt eines
Theiles deſſelben zu geben.
Oeſterreich. Die erſten Verſuche, die Kirchenregiſter über Geburt,
Ehe und Tod zu organiſiren, rühren von Maria Thereſia her (Dekret
vom 10. Mai 1774); allein das eigentliche organiſche Geſetz für dieſel-
ben, das noch gegenwärtig gilt, iſt das Patent vom 20. Februar
1784 von Joſeph II. Die Grundgedanken dieſes Geſetzes ſind ſehr klar.
Die Regiſter (die hier amtlich Matriken heißen) ſollen von den Geiſt-
lichen geführt werden, und zwar ſowohl bei den Katholiken als bei
den Akatholiken. Für dieſe Regiſter ſind geſetzliche Rubriken vorge-
ſchrieben, und die Art und Weiſe der Eintragung genau beſtimmt.
Die Führung der Regiſter ſteht aber, obwohl ſie den Geiſtlichen obliegt,
unter doppelter Oberaufſicht; einerſeits unter der der geiſtlichen Behörden,
andrerſeits ſollen auch die weltlichen Behörden ſich von Zeit zu Zeit
von der richtigen Führung überzeugen. Namentlich haben die Bezirks-
behörden den Geiſtlichen aller Confeſſionen die (foliirten und beſiegelten)
vorſchriftsmäßig rubricirten Kirchenbücher einzuhändigen; die Eintragung
dagegen iſt Sache der Geiſtlichen. Geburt, Tod und Ehe haben ihre
beſondern Rubriken. Die Aufſtellung von Copien iſt ſpeciell durch
Dekret vom 27. Juni 1835 angeordnet. Die Matrikenführer müſſen
jährlich eine Jahrestabelle zuſammenſtellen, für welche 1828 eigene
Formularien vorgeſchrieben worden, die mit einem Berichte be-
gleitet ſein ſollen; auf Grundlage dieſer Einſendungen werden dann
jährliche Summarien verfaßt. (Das Geſetz ſelbſt bei Kropatſchek,
Geſetzſammlung VI. 358. Der Inhalt deſſelben nebſt den dazu ge-
hörigen ſpätern Verordnungen bei Kopetz, Polizeigeſetze von Oeſterreich,
Hauptſt. II. §. 74—86. Ausführlicher und beſſer bei Stubenrauch,
Verwaltungs-Geſetzkunde §. 167—176, nebſt allen neueren Verordnun-
gen und der darauf bezüglichen Literatur.)
Preußen. Das Syſtem des preußiſchen Rechts in Beziehung
[239] auf die Standesregiſter beſitzt keineswegs jene Einfachheit und Klarheit,
wie das öſterreichiſche. Wir haben ſchon darauf hingewieſen, daß
Preußen in dieſer Beziehung in das Gebiet des deutſchen (Oſten) und
franzöſiſchen Rechts (Weſten) geſchieden werden muß. Aber auch im
deutſchen Rechtsgebiete iſt die Sache nicht einfach. Der Grundzug des
preußiſchen Rechts beſteht hier darin, daß die Führung der Regiſter
allerdings wie in Oeſterreich den Geiſtlichen überwieſen iſt (Formularien
für die Gleichmäßigkeit ſind mir aus dem vorigen Jahrhundert trotz
des Vorganges von Kaiſer Joſeph II. nicht bekannt) und dieſen Grund-
ſatz hat das Allgemeine Landrecht II. S. 11. §. 27 indirekt ſanctionirt.
Allein die Religions- und Gewiſſensfreiheit ward doch nur ſo verſtanden,
daß das Recht öffentlicher Documente nur für die Geiſtlichen der-
jenigen Confeſſionen gelten ſolle, welche vom Staate anerkannt ſind
(Religions-Edikt vom 9. Juli 1788 und Allgemeines Landrecht II. S. 11,
wornach der Staat ſich die „Prüfung und Verwerfung ſolcher Grund-
ſätze vorbehält,“ §. 15). Es trat nun, da die Regiſter denn doch von
höchſter bürgerlicher Wichtigkeit ſind, die Frage ein, unter welchen Be-
dingungen die Angaben der Kirchenbücher ſolcher nichtanerkannter
Religionsgeſellſchaften die juriſtiſche Gültigkeit der anerkannten Kirchen-
bücher haben konnten. Natürlich entſchieden jetzt darüber die Gerichte,
wie über jede andere im Proceß behauptete Thatſache; und damit war
dann für dieſe Geſellſchaften der eigentliche Nutzen der Kirchenbücher
verloren. Um dieſem Uebelſtande abzuhelfen, hätte man einfach ein
allgemein gültiges Geſetz über Standesregiſter wie in Oeſterreich
oder wie in Frankreich erlaſſen ſollen. Das wäre der rationelle Weg
geweſen. Allein dem trat das Streben entgegen, die franzöſiſche Civil-
ehe zu verhindern, die man ſich in enger Verbindung mit dem franzö-
ſiſchen Rechte dachte (Rönne, preußiſches Staatsrecht §. 97). Man
gelangte daher zu der freien Auffaſſung nicht, ſondern ſchlug den gegen-
wärtig noch beſtehenden Mittelweg ein, indem das Patent vom
30. März 1847 beſtimmte, daß die Kirchenbücher der nicht anerkannten
Religionsgeſellſchaften das Recht der öffentlichen Glaubwürdigkeit über
Ehe, Geburt und Tod dadurch empfangen ſollten, daß ſie vom Ge-
richte beſtätigt werden. Natürlich hat dieſe halbe Maßregel die Frage
namentlich nach der Anerkennung der Ehe nur noch verwickelter gemacht,
da es im Grunde ein unlösbarer Widerſpruch iſt, die Ehe innerhalb
einer Religionsgeſellſchaft anzuerkennen, die Religionsgeſellſchaft ſelber
aber nicht. Aus derſelben Unfertigkeit der Auffaſſung geht die Vor-
ſchrift hervor, daß die Regiſter der Juden an ſich keine öffentliche
Glaubwürdigkeit haben, ſondern daß für dieſelben wieder die Gerichte
eigene Regiſter führen ſollen (Verordnung vom 23. Juli 1847).
[240] Rönne hat nicht wohl gethan, die Verhältniſſe der Civilſtandsregiſter
nicht ſelbſtändig zu behandeln (vergl. StaatsrechtI. §. 97. II. 318).
Aus dieſer Unentſchiedenheit wird ohne Zweifel der Sieg des Syſtems
der franzöſiſchen Civilſtandsregiſter hervorgehen, das am Rhein bereits
gilt, auf dem rheiniſchen Civilgeſetzbuche §. 34—101 beruht,
und durch die Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom
23. Juli 1845, und die Städteordnung für die Rheinprovinz
vom 15. Mai 1856 beſtätigt iſt. Es iſt in allem Weſentlichen bekannt-
lich das Recht Frankreichs, deſſen Hauptpunkte im Folgenden ent-
halten ſind.
Frankreich. Es iſt bekannt, daß Frankreich die eigentliche Hei-
math der Standesregiſter, des ſogen. État civil iſt. Es darf hier aber
wohl nochmals darauf hingewieſen werden, worin eigentlich das Weſen
der Standesregiſter namentlich gegenüber den kirchlichen Regiſtern be-
ſteht, da in der Form und dem Zwecke ſo ſehr viel Aehnliches obwaltet.
Die Standesregiſter nämlich erſcheinen nicht mehr als ein kirchliches
oder rein juriſtiſches, ſondern als ein ſtaatliches Inſtitut; und zu
dem Zwecke werden ſie nicht bloß von ſtaatlichen Behörden geführt,
ſondern es iſt die öffentliche Pflicht des Einzelnen, die genauen Ein-
tragungen in dieſelben zu veranlaſſen, weßhalb auch erſt bei den
Standesregiſtern eine Strafe für die Unterlaſſung der Eintragung
aufgeſtellt wird. Daß die Erklärung der Ehe vor dem Führer des
Standesregiſters dieſelbe gültig macht und die Civilehe erzeugt, liegt
nicht in der Natur der Standesregiſter, und macht daher auch keines-
wegs ihr Weſen aus, wie manche meinen, ſondern iſt nur die Anwen-
dung des Princips der Standesregiſter als öffentlicher Documente auf
das Princip der franzöſiſchen Ehe, nach welchen dieſelbe eben nur ein
Vertrag, wie der Societätsvertrag iſt. Eben deßhalb aber läßt dieß
Princip der Standesregiſter auch die Führung der (confeſſionsmäßigen)
Kirchenbücher vollkommen frei neben ſich zu; nur haben die letztern
dann keine Fides publica für bürgerliche Rechtsverhältniſſe, wohl aber
für kirchliche. Auf dieſen Grundlagen beruht das Syſtem des État
civil, und wie es in England durchgegriffen, wird es auch in den
übrigen Staaten durchgreifen. Uebrigens iſt daſſelbe nicht ſo ſehr durch
legislative Reflexion, als vielmehr durch den natürlichen Gang der
Dinge entſtanden und hat erſt ſpäter ſeine feſte Form erhalten. Frank-
reich hatte, wie das ganze übrige Europa, bereits ſeit Jahrhunderten
ſeine Kirchenbücher, deren erſte Ordnung bereits durch die Ordonnances
von 1539 (Villers Coterets) und ſpäter mehrfach verſucht ward. Als
aber mit der Revolution die ganze kirchliche Ordnung zuſammenbrach,
war an eine kirchliche Führung jener Regiſter nicht zu denken, und
[241] man war gezwungen, dieſe Führung den Gemeindevorſtänden, en
maires, zu übergeben. Das geſchah bereits durch Geſetz vom 20. Sept.
1791, und dieß Geſetz ward dann durch das zweite vom 28 pluviose
an. VIII erneuert und erweitert, welches Geſetz als die Grundlage für
die eigentlichen Standesregiſter angeſehen werden muß, und deſſen Prin-
cipien noch heute gelten. Das ganze Standesregiſterweſen iſt daher in
Beziehung auf die Führung der Regiſter, ſpeziell in Beziehung auf
die Function des Maire zu einem Theil der Organisation Communale
und mit derſelben zu einem Stück rein amtlicher Verwaltung geworden.
Dieſe Auffaſſung iſt nun bekanntlich vollſtändig in den Code Civil
übergegangen, in welchem die Standesregiſter und ihre Führung durch
die mit derſelben verbundenen privatrechtlichen Folgen ein organiſcher
Theil des bürgerlichen Rechts geworden ſind. Der Maire iſt als Be-
amteter des Staats der officier de l’État civil (Vollziehende Ge-
walt S. 486) und der Code Civil enthält bekanntlich in L. I. P. II.
(Des actes de l’État civil) alle dahin gehörigen Vorſchriften. Aber
eben dadurch iſt auch das Recht dieſer Führung in ſeinem Principe
geändert. Die Eintragung in die Standesregiſter iſt nämlich nicht mehr
bloß ein Akt der fides publica, ſondern wird bei Ehe, Adoption und
den Verhältniſſen der unehelichen Geburten zu einem Akte der civilrecht-
lichen Entſcheidung (z. B. bei Adoption, Code Civil a. 353—357).
Daher kann bei Geburten die Eintragung nach drei Tagen nur auf Grund-
lage eines gerichtlichen Urtheils erfolgen. Die Erklärung der Geburt
muß innerhalb des geſetzlichen Termins bei Strafe von 6 Tagen bis
6 Monaten oder 16 bis 300 Fr. Buße erfolgen (Code Pén. 346).
Das Kind ſoll ſogar bei der Regiſtrirung gezeigt werden — eine ge-
wiß überflüſſige Formalität. Alle dieſe verſchiedenen Vorſchriften hat
nun bekanntlich der Code Civil a. 42 ff. zuſammen gefaßt und zu
einem Theil des bürgerlichen Rechts gemacht, und im Art. 45 ausdrück-
lich beſtimmt, daß jeder das Recht habe, ſich Auszüge aus dem Regiſter
geben zu laſſen, die dann fides publica haben. Das Verhältniß dieſer
Regiſter zur Statiſtik iſt hauptſächlich — allerdings wieder auf Grund-
lage des Geſetzes vom 20. Sept. 1792 — durch das Decret vom
20. Juli 1807 geordnet. Jährlich werden die Tabellen, gerade wie
in Oeſterreich ſeit 1784, zuſammen geſtellt und daraus zehnjährige Ta-
bellen (die tables decénnales) gemacht und in drei Exemplaren ge-
ſchrieben. Das Verfahren bei der Abfaſſung der Jahrestabellen iſt
durch mehrere Verordnungen, zuletzt durch die vom 24. Sept. 1833
und vom 18. Oct. 1855 geordnet (Legoyt in Block, Dict. v. Po-
pulation). Für den Fall des Verluſtes und der Wiederherſtellung der
Regiſter beſtimmt die Verordnung vom 9. Januar 1815 das nähere
Stein, die Verwaltungslehre. II. 16
[242] Verfahren. An dieſe Beſtimmungen hat ſich eine ziemlich reichhaltige
Literatur angeſchloſſen, die aber freilich ſich um die populationiſtiſchen
und ſtatiſtiſchen Intereſſen nicht kümmert, ſondern vorzugsweiſe in An-
leitungen für die Gemeindebeamteten für die ſo wichtige, und wie ſich
aus dem Obigen ergibt, keineswegs einfache Führung der Standes-
regiſter beſteht (Legoyt bei Block, v. État civil). Man ſieht es ſelbſt
dieſer Literatur an, daß der État civil in Frankreich nichts anderes mehr
iſt, als eine reine Verwaltungsmaßregel, und ſein Recht ein un-
zweifelhaftes bürgerliches Verwaltungsrecht. — Zum Schluß
mag bemerkt werden, daß neuerdings das ganze franzöſiſche Syſtem
der Standesregiſter auch in Italien eingeführt iſt durch Geſetz vom
20. März 1865. Der Sindaco vertritt hier die Stelle des Maire,
die Formen ſind gleich, und es iſt dieſe Einführung als ein bedeutender
Schritt für das italieniſche Eherecht anzuſehen. (Vergl. Auſtria für
1865, Nr. 34.)
England. Während in England das Princip der Standesregiſter
nach manchen Kämpfen und Verſuchen zum Durchbruche gelangt iſt,
iſt dennoch ſowohl der hiſtoriſche Gang der Entwicklung, als auch die
äußere Ordnung derſelben von Frankreich wieder ſehr verſchieden. Man
kann beide wohl ziemlich einfach charakteriſiren. Das Bedürfniß hat
in England ſehr bald die Nothwendigkeit öffentlicher Conſtatirung von
Geburt, Ehe und Tod gezeigt, und daher auch bald Vorſchriften dar-
über hervorgerufen. Allein da die kirchliche Freiheit keinen Eingriff in
die kirchliche Selbſtverwaltung, und die communale Freiheit keinen Ein-
griff in die örtliche Selbſtverwaltung duldete, ſo blieb der Regierung,
wenn ſie ſolche Regiſter haben wollte, nichts anders übrig, als einen
eigenen amtlichen Organismus zum Zwecke der Führung dieſer
Regiſter aufzuſtellen, und das iſt denn, freilich ſpät und unter großen
Koſten, aber allerdings übrigens in trefflicher Weiſe geſchehen. Bei
dem Mangel aller fachmänniſchen rechtshiſtoriſchen Bildung in England
würden wir über die frühern Zuſtände wahrſcheinlich gar nichts wiſſen,
wenn nicht in Veranlaſſung der Unterſuchungen, die dem Geſetz von
1836 vorausgingen, das Committee uns einige Ausſagen aufbewahrt
hätte, deren hiſtoriſchen Werth wir auf ſich beruhen laſſen müſſen.
(Report from the select Comm. on Parochian registration, with
the minuts of evidences and appendix. Ordered by the House of
Commons to be printed 15 Aug. 1833; und Hansard, Vol.
XVI.) Dann hat uns Daniels die Civilſtandsgeſetzgebung für Eng-
land und Wales, 1851 in einem kurzen und guten Auszug gegeben.
Seine Einleitung (S. 1—22) macht es uns kaum möglich, auf
unſerm engen Raum mehr zu thun, als ihm einfach zu folgen, ſo weit
[243] er reicht. In England reichen die reinen Kirchenbücher in dem oben
aufgeſtellten Sinn wohl bis zum Jahr 1812; doch beginnen die öffent-
lichen Vorſchriften über dieſelben ſchon ſeit 1538, bei denen bereits
Strafvorſchriften erſcheinen. Die Verordnung des Erzbiſchofs von Can-
terbury 1597 (39 Elisab.) zeigt uns, daß die Kirche trotz mehrfacher
Bemühungen der Regierung ſich eiferſüchtig gegen jedes Eingreifen der
letztern ſträubte, und lieber ſelbſt die Verbeſſerungen befahl und durch-
führte. Das Geſetz von 1653, welches bereits die Herſtellung förmlicher
Standesregiſter ohne Rückſicht auf die Confeſſion und Führung derſelben
durch die Justices of peace enthielt, fiel mit der Reſtauration. Unter
Wilhelm III. begann man die Kirchenbücher als Mittel zur Beſteurung
zu benützen, was ihren Werth gerade nicht erhöhte; die engliſchen Kir-
chenbücher blieben daher ziemlich ohne alle Organiſation, bis das Geſetz
52 Georg III. c. 146 von 1812, das oben erwähnte Sir Moses Sta-
tute, den großen Verſuch machte, das für England zu thun, was
Joſeph II. 1784 für Oeſterreich geleiſtet, nämlich eine durchgreifende
geſetzliche, allgemein gültige Regelung der Führung der Kirchen-
bücher. Allein die Selbſtändigkeit einerſeits der Gemeinden, andrer-
ſeits der kirchlichen Körperſchaften machte nicht bloß die Durchführung
dieſer Vorſchriften unmöglich, ſondern, was nach den gegenwärtigen
Verhältniſſen beinahe unglaublich ſcheint, die Regierung wußte bis
zum Jahr 1833 nicht einmal, wie die Kirchenbücher geführt
würden, und die Gerichtshöfe nahmen auch nur die Angaben über
die Taufen, nicht aber die über Geburten aus denſelben als gültig
an. Es war der ächt engliſche Standpunkt hier zur Geltung gelangt,
daß das, was das Intereſſe des Einzelnen betrifft, auch rein Sache
des Einzelnen ſei, und jeder Einzelne daher Geburt, Ehe und Tod
ſelbſt beweiſen möge, wenn es ihm darauf ankäme. „Die Geſammtheit
der Ermittlungen des Parlamentsausſchuſſes,“ ſagt Daniels mit Recht,
„insbeſondere das Urtheil der zu Rathe gezogenen Sachwalter, ſtellt
den Zuſtand der Beurkundung der Perſonenſtandsereigniſſe als höchſt
ungenügend dar, ſelbſt für die der biſchöflichen Kirche angehörigen Glau-
bensgenoſſen“ (1833!). Der Ausſchuß ſtellte daher den Antrag: „daß
eine Nationalanſtalt zur Beurkundung der Geburten, Heirathen
und Sterbfälle unabhängig von kirchlichen Einrichtungen und der
Verſchiedenheit der Glaubensbekenntniſſe zu gründen, und daß die neue
Einrichtung einer beſondern, in der Hauptſtadt einzuſetzenden Be-
hörde unterzuordnen ſei.“ Dieß Princip ward angenommen, und
muß als die Baſis des Standesregiſterweſens in England angeſehen
werden. Es unterſcheidet ſich weſentlich von dem deutſchen in der
Trennung von den Kirchenbüchern, die neben jenen Standesregiſtern
[244] je nach den Beſtimmungen der einzelnen Körperſchaften auch jetzt noch
fortgeführt werden. Es unterſcheidet ſich weſentlich von dem fran-
zöſiſchen in der Aufſtellung eines eigenen Organes für die Standes-
regiſter, und in der vollſtändigen Ausſchließung jeder adminiſtrativen
Jurisdiction der Maires. Und jetzt kam es nur noch darauf an, eben
jenes Organ zu finden. Das nun bot ſich in dem neuen Statut über
Armenpflege (4. 5. Will. IV. 76. 1834) dar. Die Eintheilung Eng-
lands nämlich in die Unions, welche dieß Statut möglich macht, und
für welches dann der board of guardians eingeſetzt wird, gab den
Anlaß, entweder dem Schriftführer (clerc) dieſes board oder einer andern
geeigneten Perſon von dem board die Führung der neuen Standesregiſter
zu übertragen. Dieſe Führer ſind die Registrars, welche wieder unter
einem Superintendent Registrar ſtehen, und deren Mittelpunkt der
Registrar General in London iſt. Die Führung der Standesregiſter
iſt dabei genau vorgeſchrieben. Zunächſt dachte man dabei allerdings
nur an Geburts- und Todesregiſter. Das Eherecht Englands ſtand
noch neben denſelben, und Pitts Vorſchlag, die bürgerliche Ehe als
Auskunftsmittel für die Ehe zwiſchen verſchiedenen Confeſſionen einzu-
führen, blieb ohne Erfolg; die Nothwendigkeit aber, über die Ehen
und ihre Gültigkeit eben ſo wohl als über Geburt und Tod öffentliche
Documente zu beſitzen, zwang daher die Regierung dazu, neben den
Geburts- und Todesregiſtern eigene Heirathsregiſter anzulegen, und
die Führung dieſer Heirathsregiſter gleichfalls dem Registrar zu über-
geben. Die Stellung des Registrars nun in Beziehung auf die Hei-
rathen läßt ſich im Weſentlichen in einem Satze ausdrücken. Jede
Confeſſion ſchließt ihre Ehe wie ſie will; aber jede Ehe muß (vom
1. März 1837 an) dem Registrargemeldet und von dieſem ein
Meldeſchein ausgewirkt werden, bevor die Ehe rechtsgültig iſt. Dieſer
„Erlaubnißſchein“ iſt ein ganz formeller Eheconſens (ſ. oben unter
Ehe) — „ſo bewillige Ich hiedurch Ihnen, auf Grund der nach dem
Statut mir zuſtehenden Befugniß, die Ermächtigung, die Vollziehung
dieſer Heirath vorzunehmen“ ꝛc. (Formular C. zu 6. 7. Will. IV.
c. 85) — ein Recht des Beamteten, das dadurch geſchützt iſt, daß jede
Ehe, die ohne Meldung, ohne Schein und ohne Erlaubniß des
Regierungsbeamten vorgenommen wird, „nichtig und wirkungslos ſein
ſoll“ (6. 7. Will. IV. c. 85. a. 42). Eine ſolche polizeiliche Bevor-
mundung des Volkes durch die Beamten iſt nur dadurch erklärlich, daß
der Beamtete wieder dem bürgerlichen Klagerecht verfällt, wenn er
gegen das Recht die Erlaubniß verweigert (Lehre von der vollziehen-
den Gewalt, Verordnungsrecht in England S. 129 ff.). Dieſe Be-
ſtimmungen nun wurden in 6. 7. Will. IV. c. 86 über Geburts- und
[245] Todtenregiſter (Act for registring births and deaths in England) und
6. 7. Will. IV. c. 85 (Act for registring mariages) über Heiraths-
regiſter und Erlaubniſſe genauer ausgeführt (beide vom 17. Auguſt 1836
ſanctionirt). Warum ſcheidet Mohl (Literatur der Staatswiſſenſchaft III.
S. 428) dieſe Geſetze nicht? Durch 1. Vict. 22 (ſanctionirt den
30. Januar 1837) mit genaueren organiſatoriſchen Anordnungen und
1838 mit Inſtructionen für die Führer und ihre Stellvertreter, den
Registrar (clerc der union) und deputy Registrar (den an ſeiner Stelle
eventuell ernannten Führer, ſ. oben), ſo wie für die Superintendent
Registrars (etwa Kreisbuchführer) verſehen, und bilden auf dieſe Weiſe
die Grundlage der engliſchen Geſetzgebung über Standesregiſter in Eng-
land. Die Statute ſelbſt ſind überſetzt bei Daniels. Die neueſte
Beſtimmung iſt 27. 28. Vict. 97, die als Ergänzung des bisherigen
Rechts anzuſehen iſt. Darnach ſollen alle Begräbniſſe regiſtrirt wer-
den, bei 5 L. Strafe, und dieſe aufgenommenen Begräbnißregiſter ſollen
vollſtändige Beweiskraft (evidence) haben. Urſprünglich nun gelten
dieſelben bloß für England und Wales, und ſind ganz correct auch
von Daniels nur dafür aufgeführt. Erſt in neueſter Zeit iſt das ganze
Syſtem dieſer Civilſtandsbücher auch für Schottland und Irland
zur Geltung gebracht, und ſomit dieſe Geſetzgebung wohl als eine ab-
geſchloſſene anzuſehen. Das Geſetz, welches dieſe Beſtimmungen auf
Schottland ausdehnt, iſt von 1854 (Act for provinding a better re-
gistration of births, deaths and mariages in Scotland).
Paß- und Fremdenweſen.
Die Verwaltung und der Wechſel der Bevölkerung.
(Allgemeiner Charakter deſſelben.)
Indem wir dem Paß- und Fremdenweſen hier ſeine Stelle in dem
Bevölkerungsweſen anweiſen, ſind wir gezwungen, den Grund dafür
in einer allgemeinen Auffaſſung zu ſuchen, und dieſe hier zu charak-
teriſiren.
In der That kann es fraglich ſein, nicht allein ob dieſe Dinge
nicht vielmehr bloß in die Sicherheitspolizei gehören, ſondern ob ſie
überhaupt als dauernde, organiſche Theile und Aufgaben der Ver-
waltung anzuſehen ſind, und ob es demnach mit der künftigen Entwicklung
nicht eine Zeit geben werde, wo beide, als den untergeordneten Stadien
gehörig, gänzlich aus der Verwaltungslehre zu verſchwinden haben.
[246]
Dieſe Frage iſt nicht bloß für die Theorie, ſondern auch für die
Praxis von Wichtigkeit. Denn gehen Paß- und Fremdenweſen nicht
aus der höheren und dauernden Natur der Verwaltung hervor, ſo muß
die Wiſſenſchaft darnach ſtreben, ſie auf alle Weiſe zu bekämpfen. Sind
ſie aber in irgend einer Form durch dieſe Natur der Verwaltung be-
gründet, ſo kann es uns wiederum nicht genügen, bloß das beſtehende
Recht anzugeben, ſondern wir müſſen alsdann nach den Elementen
ſuchen, welche durch die Verbindung der individuellen Freiheit mit der
Vertretung des Geſammtintereſſes dieſem Theile der Verwaltung ſeine
definitive organiſche Geſtalt zu geben beſtimmt ſind.
Die außerordentliche Verſchiedenheit — denn es gibt vielleicht
keinen Theil der ganzen Verwaltung, in welchem principiell und
formell ein ſo großer Unterſchied zwiſchen den Staaten Europas beſtände,
als im Paß- und Fremdenweſen — die hier herrſcht, zeigt, daß weder
Theorie noch Praxis über jene Fragen zu einem Abſchluß gelangt ſind.
Und doch iſt bekanntlich der Gegenſtand ſelbſt keinesweges ohne Wichtig-
keit. Sein Einfluß iſt groß, nicht bloß auf gewiſſe materielle Intereſſen,
ſondern eben ſo ſehr auf die phyſiſchen Faktoren des Staatslebens, auf
die Vorſtellungen, welche ſich im Volke von den Anſichten der Regie-
rungen ſelbſt über das Maß der individuellen Freiheit bilden. Und
wie wir ſehen werden, mit Recht. Denn Paß- und Fremdenweſen ſind
wirklich nicht unbedeutſame Maßſtäbe für den allgemeinen Standpunkt
der Regierungen in dieſer Beziehung, und daher wohl einer Beachtung
werth, die ſie aus einer Reihe von Gründen bisher nicht gefunden
haben.
Wir wollen daher den Verſuch machen, das organiſche Verhältniß
derſelben darzulegen, ehe wir zum poſitiven Recht übergehen.
Bei dem Paß- und Fremdenweſen begegnen wir dem, in der Verwaltungs-
lehre nicht ganz ſeltenen Verhältniß in hohem Grade, daß bei einer ſehr reich-
haltigen Geſetzgebung ſo gut als gar keine Literatur und wiſſenſchaftliche Be-
handlung exiſtirt. Der allgemeine Grund dieſer Erſcheinung liegt wohl darin,
daß man in den geſetzlichen Beſtimmungen nur Vorſchriften der vollziehenden
Sicherheitspolizei ſah, für die ſich eben kein wiſſenſchaftliches Syſtem aufſtellen
laſſe, während man anderſeits die Frage überhaupt nicht ſtellte, ob Paß- und
Fremdenweſen an ſich überhaupt einer wiſſenſchaftlichen Behandlung fähig ſeien.
Daraus erklärt es ſich wohl zunächſt, daß die Werke über Polizeiwiſſenſchaft des
vorigen Jahrhunderts, wie Juſti und Sonnenfels, und eben ſo wenig die ſpä-
tern, wie Jacobs, von demſelben überhaupt nicht reden. Aber ſelbſt die Dar-
ſtellungen des poſitiven Polizeirechts ſind ſich, wie es ſcheint, nicht einig, ob
ſie es aufnehmen ſollen; während Berg es behandelt, hat Fiſcher es wieder
trotz ſeiner ſonſt minutiöſen Vollſtändigkeit weggelaſſen. Auch die neuere Zeit
iſt nicht beſſer daran. Als die alte Polizeiwiſſenſchaft namentlich durch Adam
[247] Smith in die Nationalökonomie hineingezogen ward, fiel es derſelben gar nicht
ein, mit der Bevölkerungslehre das Paßweſen zu verbinden; ſelbſt Rau läßt es
ganz bei Seite liegen. Aber auch die Populationiſtik und Statiſtik nahmen es
nicht auf, obwohl ſie den Wechſel der Bevölkerung als wichtige ſtatiſtiſche That-
ſachen anerkannten, und ſich mit Geburts- und Sterbeliſten eifrig beſchäftigten.
Vielleicht wäre es ganz aus der Wiſſenſchaft verſchwunden, wenn es nicht auf
Grundlage von territorialen und zum Theil bundesrechtlichen Vorſchriften noch
eine Heimath im Staatsrecht gefunden hätte, wie bei Klüber und Zachariä,
während die theoretiſche Staatsrechtslehre, wie bei Pölitz, Aretin, Rotteck,
ſich bis zu dieſen rein „polizeilichen“ Maßregeln nicht herabließen, und andere
wie Zöpfl es, wie es ſcheint, einfach vergeſſen haben. Auch im territorialen
Staatsrecht iſt die größte Verſchiedenheit. In den größeren Staaten, wie
Oeſterreich und Preußen, haben die Lehrer des poſitiven Rechts es allerdings
behandelt, wie Kopetz, Stubenrauch, Rönne; in andern wieder nicht, wie
Milhauſer, Weiß; dagegen ſind Pötzl für Bayern, Mohl für Württemberg,
Funke für Sachſen wieder ſehr ausführlich; die meiſten Staaten haben gar
keine Darſtellung gefunden. Daran ſchließen ſich rein praktiſche Darſtellungen
für die ausübende Paßpolizei, wie in Oeſterreich von Mayerhofer, in Preußen
die neueſte Darſtellung von Rauer, citirt bei Rönne, in Sachſen Richters
ſyſtematiſche Darſtellung von 1843; Arbeiten, die natürlich nur einen unmittel-
baren praktiſchen Werth haben. Früher gab es auch ganz allgemeine Samm-
lungen der Paßgeſetze (Kamptz, Literatur des Völkerrechts, und deſſen Samm-
lung der Paßgeſetze der europäiſchen Staaten, 1817). Der Einzige, der das
Paßweſen in neuerer Zeit behandelt hat, iſt Mohl in ſeiner Präventivjuſtiz
(§. 11). Mohl hat dabei nach dem Vorgange der ganzen bisherigen Literatur
im Paßweſen nichts als ein rein ſicherheitspolizeiliches Inſtitut geſehen, und
ſeine Darſtellung iſt daher nichts als eine theoretiſche Paßpolizei; doch hat er
die Fremdenbücher wenigſtens mit aufgenommen. Gerſtner iſt in ſeiner Be-
völkerungslehre über die Bevölkerungspolitik auch hier nicht hinausgekommen.
(Begriff des öffentlichen Reiſerechts. Doppelter Inhalt. Es enthält zuerſt
das Recht auf eventuelles Verbot der örtlichen Bewegung, zweitens die Her-
ſtellung der öffentlich rechtlichen Bedingungen der Conſtatirung von Staats-
angehörigkeit und Individualität. — Das Syſtem der Mittel für dieſe
Verwaltungsaufgabe.)
Offenbar iſt der Wechſel des Aufenthalts zunächſt ein Akt der
freien individuellen Selbſtbeſtimmung, und betrifft nur das Intereſſe
des Einzelnen. Es iſt daher zunächſt nicht bloß an ſich frei, ſondern
ſteht auch in ſo weit in keiner Beziehung zur Thätigkeit der Ver-
waltung.
Allein dieſer Wechſel enthält zugleich andere Beziehungen. Er iſt
zunächſt das Verlaſſen der örtlichen Beziehungen des Individuums, die
[248] ſich mit vielfachen Intereſſen verknüpfen: er macht vor allem den Zweifel
an der Identität ſeiner Perſönlichkeit möglich; für dritte aber iſt die
Kenntniß des Aufenthalts an ſich in vielen Fällen die erſte Bedingung
für die Geltendmachung vielfacher Rechte, für die Sorge der wichtigſten
Intereſſen. Andererſeits enthält jener Wechſel die durch den Einzelnen
vermittelte Berührung des Lebens verſchiedener Orte, Länder, Reiche,
geiſtig ſowohl als wirthſchaftlich. In dieſer Berührung entſteht nun
ein doppeltes Verhältniß. Einerſeits bleibt der Einheimiſche mit
ſeinem ganzen Leben und Recht auch in der Fremde ein Theil und
Glied ſeines eignen Staates, und hat daher nicht bloß das Recht zu
fordern, daß ſein Staat ihn ſchütze und vertrete, ſondern der eigne
Staat muß das ſeinem Weſen nach thun; denn auch in der Fremde
iſt die Wohlfahrt des einzelnen Staatsangehörigen ein Theil und eine
Bedingung der Wohlfahrt des Ganzen. Andererſeits behält wieder der
Auswärtige, der mit dem eigenen Lande und ſeinen Angehörigen in
Berührung tritt, in und für dieſe Berührungen wenigſtens zum Theil
das Recht ſeiner Heimath; er bildet nicht bloß mit ſeiner phyſiſchen
Perſon, ſondern auch mit ſeiner ganzen Rechtsſphäre ein, dem eignen
Lande nicht angehöriges, alſo dem eignen Rechtsleben nicht ganz unter-
worfenes Daſein: er iſt ein fremdes Element. Es iſt möglich, daß
er indifferent, es iſt möglich, daß er nützlich und fördernd, es iſt aber
auch möglich, daß er gefährlich iſt, ja daß Verbrechen an ihm haften.
Die Gefahren, die er bringt, können wiederum den Einzelnen bedrohen,
ſie können aber auch das Ganze treffen. Der Fremde kann der mate-
riellen Exiſtenz des Staates, er kann auch dem geiſtigen Leben deſſelben
unmittelbar feindlich ſein. Der Auswärtige, in ſo fern er in dieſer
Weiſe ſeinem eignen Staate auch in dem andern noch angehört, heißt
nun der „Fremde.“ Die ganze örtliche Bewegung erſcheint daher
ſtets in drei Grundformen: ſie iſt entweder die Reiſe des Fremden im
Inlande, oder die Reiſe des Inländers nach dem Auslande, oder die
Reiſe des Inländers im Inlande. Alle dieſe Formen haben nun die
obigen Beziehungen im Weſentlichen gemeinſam; und es ergibt ſich
daher zunächſt und im Allgemeinen, daß der örtliche Wechſel des Auf-
enthalts überhaupt der Verwaltung nicht gleichgültig ſein kann. Sie
hat nach der Natur der obigen Verhältniſſe nicht erſt zu warten, bis
eine beſtimmte That des Einzelnen ſie in irgend einer Weiſe zum Ein-
ſchreiten durch Polizei oder Gericht veranlaßt; es iſt vielmehr klar, daß
es die Thatſache des Aufenthaltes des Einzelnen an einem fremden
Ort an ſich iſt, welche von der Verwaltung fordert, daß ſie ſich in
irgend ein Verhältniß zu derſelben ſetze. Und die Frage iſt daher
im Grunde gar nicht mehr die, ob die Verwaltung für den Wechſel
[249] der Bevölkerung eine gewiſſe Thätigkeit entwickeln ſolle; dieß muß als
entſchieden angeſehen werden, und iſt auch niemals in der Geſchichte
anders geweſen. Die Frage iſt vielmehr die, was der Inhalt dieſer
Thätigkeit für den Wechſel der Bevölkerung zu bilden habe.
Für die richtige Beantwortung dieſer, keineswegs bloß formellen
oder unwichtigen Frage iſt es nun die erſte Vorausſetzung, daß man
für dieſe Thätigkeit das Recht derſelben wohl unterſcheide von den
Mitteln, durch welche die Verwaltung jenes Recht zur Ausführung
bringt. Der Mangel dieſer Unterſcheidung dürfte der Hauptgrund für
die Unſicherheit der bisherigen wiſſenſchaftlichen Behandlung dieſes
Gegenſtandes geworden ſein. Jedenfalls iſt ſie die erſte Bedingung für
die richtige Anwendung der betreffenden Mittel.
Der Begriff dieſes Rechts nämlich, das wir am beſten kurz das
Reiſerecht nennen können, entſteht nämlich dadurch, daß jede Thätigkeit
der Verwaltung in irgend einer Art die vollkommen freie Bewegung
des Einzelnen theils direct hemmt, theils doch beſtimmt. Es enthält
daher ſeiner Definition nach die Geſammtheit von Vorſchriften und
Anſtalten der Verwaltung, welche bei der an ſich vollkommen freien
Bewegung des Einzelnen das Geſammtintereſſe zu vertreten haben.
Aus dieſem Begriffe entwickelt ſich nun das Syſtem dieſes Rechts
wieder durch die Verſchiedenheit der Verhältniſſe, auf welche es ange-
wendet wird.
Das leitende Princip dieſes Rechtsſyſtems iſt allerdings einfach.
Die örtliche Bewegung iſt an ſich frei. Allein ſie kann erſtlich unter
gewiſſen Verhältniſſen als eine Gefährdung der Geſammtheit erſcheinen,
und ſie erzeugt zweitens Verhältniſſe, in denen der Einzelne nur
durch eine Hülfe von Seiten der Verwaltung ſeine eignen Intereſſen
gehörig vertreten kann. Auf dieſer Unterſcheidung beruht das Syſtem
dieſes Rechts.
Zuerſt nämlich hat ohne Zweifel die Gemeinſchaft da, wo die
Reiſe oder örtliche Bewegung unmittelbare Gefahren für ſie ſelber
bringt, das Recht, einerſeits die Reiſe und örtliche Bewegung direct
zu verbieten, andererſeits diejenigen Bedingungen vorzuſchreiben,
unter denen ſie dieſelbe geſtattet. Dieß nun findet wieder eine zweifache
Anwendung.
Die erſte Anwendung betrifft den Auswärtigen. Es iſt kein
Zweifel, daß der einzelne Staat dem Angehörigen des andern den
Eintritt verbieten kann, und unter Umſtänden verbieten ſoll. Eben ſo
wenig iſt es zweifelhaft, daß er das Recht hat, demſelben die bei dem
Eintritt zu beachtenden Formen vorzuſchreiben. Wir können die Ge-
ſammtheit der hieraus folgenden Vorſchriften am kürzeſten das rein
[250] perſönliche oder eigentliche internationale Fremdenrecht nennen;
daß beiläufig bemerkt das Paßrecht nur eine beſtimmte Form dieſes
Rechts iſt, liegt wohl auf der Hand. Welche nationalen, hiſtoriſchen
und andern Verhältniſſe dieß eigentliche Fremdenrecht aus einer urſprüng-
lich ſehr ſtrengen Form zu einer freieren Geſtaltung gebracht, gehört
der Geſchichte. Durch die Entwicklung der Gemeinſchaft der Geſittung
und des Lebens unter den Völkern wird für unſere Zeit bekanntlich
allmählig der Grundſatz zur Geltung gebracht, daß das Reiſen des
Fremden ins eigene Land keiner andern Beſchränkung unter-
worfen ſein ſolle, als die des Inländers in ſeinem eignen Lande.
Allerdings iſt dieß natürliche Ziel noch nicht ganz erreicht; niemals aber
wird das obige Princip das Recht des Staates auf gänzliche Aus-
ſchließung der Fremden unter gewiſſen Zuſtänden (Krieg u. ſ. w.) auf-
heben. Die Grundſätze für dieß eigentliche Fremdenrecht, und zum
Theil auch die hiſtoriſche Entwicklung, durch welche es ausgeübt wird
(ſ. unten), fallen daher mehr und mehr mit dem Folgenden zuſammen.
Die zweite Anwendung betrifft nun den Inländer im eignen Lande,
und gilt eben deßhalb auch gleichmäßig für den Fremden. Das an ſich
freie Reiſerecht kann für den Einzelnen da beſchränkt werden, wo mit
der Reiſe eine öffentliche Gefahr verknüpft iſt; und zwar kann
dieſe Beſchränkung entweder in directem Verbote, oder in der Vorſchrift
gewiſſer Bedingungen, der Erlaubniß zur Reiſe u. a. beſtehen. Zu
ſolchen Maßregeln kann aber die Verwaltung nur da berechtigt ſein,
wo erſtens die Gefahr nicht bloß in der Meinung von der Gefähr-
lichkeit beſteht, ſondern auf wirklichen Thatſachen beruht; zweitens
muß die Gefahr nicht bloß die einzelne Perſon des Reiſenden, ſondern
eine an ſich unbeſtimmbare Zahl von Perſonen treffen; denn die indi-
viduelle Gefahr iſt Sache des Einzelnen und geht die Verwaltung nichts
an. Die beiden Gebiete, in denen ſolche Gefahren liegen, ſind offenbar
die der Geſundheit und der Sicherheit. Die Gefahren der Ge-
ſundheit (ausgebrochene Seuche u. ſ. w.) werden dabei ſtets als ört-
liche Beſchränkungen der Reiſefreiheit erſcheinen; die Gefahren der
Sicherheit (Abhaltung von Vagabunden, Reiſeverweigerung für Ver-
dächtige u. ſ. w.) werden ſtets als perſönliche auftreten; doch können
auch örtliche Fälle eintreten (öffentliche Unruhen u. ſ. w.) Es iſt kein
Zweifel, daß es das Recht der vollziehenden Gewalt iſt, durch Verord-
nungen ſolche Beſchränkungen eintreten zu laſſen. Ein Geſetz erſcheint
hier nur dann nothwendig, wenn die Beſchränkung eine dauernde
und für alle Staatsbürger geltende iſt, weil erſt hier das Princip
der freien individuellen Bewegung vom Willen des Staats aufge-
hoben wird.
[251]
Dieſe Grundſätze ſind wohl kaum jemals ernſtlich bezweifelt. Allein
es iſt klar, daß hier zugleich das erſte Element der Geſchichte der be-
treffenden Maßregeln gegeben iſt, auf das wir ſogleich zurückkommen.
Es beruht daſſelbe offenbar in den, zu verſchiedenen Zeiten ſo höchſt
verſchiedenen Vorſtellungen von dem, was man unter öffentlicher
Sicherheit verſtanden hat. Wir werden ihm beim Paßweſen ſogleich
wieder begegnen.
Der zweite Theil dieſes Rechtsſyſtems für die örtliche Bewegung
beruht nun darauf, daß bei vollſter Freiheit derſelben zwei Thatſachen
für alle Einzelnen immer und vorzüglich auf der Reiſe von höchſter
Wichtigkeit ſind. Die erſte iſt die Conſtatirung der Individualität und
der Staatsangehörigkeit, welche als Bedingung des Schutzes des Staats-
angehörigen im fremden Staate angeſehen werden muß. Die zweite
iſt die Conſtatirung des jeweiligen Aufenthalts, die für den Einzelnen
eben ſowohl als für die Rechtsordnung des Ganzen von anerkannter
Wichtigkeit werden kann.
Allerdings nun iſt es zunächſt Sache des Einzelnen, ſich die Mittel
für die Conſtatirung dieſer Verhältniſſe ſelbſt zu verſchaffen, da ſie
eben zunächſt nur für ihn Wichtigkeit haben. Allein dieſe allgemeine
Wichtigkeit, verbunden mit der großen Schwierigkeit für den Einzelnen,
machen es zu einer Aufgabe des Staats, ihm die Bedingungen
einer ſolchen Conſtatirung durch die Verwaltung darzubieten. Und
das kann er nur durch Herſtellung eigner dafür beſtimmter Anſtalten
erreichen. Dieſe Anſtalten ſind, wie wir ſchon hier bemerken dürfen,
die Paßanſtalt, die Legitimationen, die Meldungseinrichtungen. So
wie dieſe entſtehen, entſteht nun zugleich die Frage, welche über das
Recht derſelben entſcheidet. Soll nämlich der Einzelne im allgemeinen
Intereſſe die Pflicht, oder ſoll er bloß im Einzelintereſſe das Recht
haben, ſie zu benutzen? Dem Weſen der Sache nach kann es kein
Zweifel ſein, daß es eine Pflicht zur Benutzung dieſer Anſtalten nicht
geben kann. Die Aufſtellung einer ſolchen Pflicht beruht daher, obwohl
ſie Jahrhunderte hindurch beſtanden, nur auf der Vorſtellung von den
Pflichten der Verwaltung für die öffentliche Sicherheit; und daraus iſt
dieſer Theil der Rechtsgeſchichte entſtanden.
Dieß nun ſind die Punkte, welche das Syſtem des öffentlichen
Reiſerechts bilden.
Sehen wir zunächſt von dem poſitiven öffentlichen Rechte ab, ſo
liegt das, was über die Ordnung der Mittel für dieſe Aufgabe zu be-
ſtimmen iſt, in der naturgemäßen Aufgabe derſelben. Die Definirung
derſelben aber iſt darum von Wichtigkeit, weil der vorſchriftsmäßige
Inhalt dieſer Dinge durch den eigentlichen Zweck derſelben bedingt
[252] wird. Es iſt wichtig, dieß feſtzuhalten, da erſtlich principiell die Ver-
waltung kein Recht hat, mehr von dem Einzelnen zu fordern, als durch
jenen naturgemäßen adminiſtrativen Zweck nothwendig erſcheint; zwei-
tens aber praktiſch die noch immer beſtehenden Formen, aus einer
früheren Zeit mit anderen Vorſtellungen herſtammend, den Zwecken
dieſer Vergangenheit angepaßt ſind, und gewiß zum Theil einer gründ-
lichen Umgeſtaltung entgegen gehen.
Die Aufgabe des Paſſes iſt nicht die Reiſeerlaubniß, ſondern
die Conſtatirung der Staatsangehörigkeit, und der Inhalt des
Paſſes müßte ſich daher eben nur auf dieſe Conſtatirung beziehen.
Es möge uns daher ſchon hier geſtattet ſein, die allgemeine
Natur der Formen, in welchen die Verwaltung jene Aufgaben erfüllt,
kurz zu bezeichnen, indem wir die folgende Darſtellung durch dieſe feſte
Grundlage klarer zu machen glauben.
Die Formen ſind die Päſſe, die Legitimationsurkunden,
die Fremdenbücher, die Wanderbücher und Gewerbspäſſe,
und die Meldungen. Die Aufgabe der Legitimationsurkunde
iſt die Conſtatirung der Individualität, und ſollte daher wo möglich
weſentlich die Elemente des Beweiſes dieſer Individualität (Unter-
ſchrift, etwa Siegel) enthalten, da ſie ſonſt gar wenig nützt.
Die Aufgabe des Fremdenbuches iſt die Conſtatirung des Reiſe-
aufenthalts. Die Fremdenbücher können kaum beſſer eingerichtet ſein
als in den meiſten deutſchen Staaten.
Die Wanderbücher und Gewerbspäſſe ſind die Conſtatirung des
gewerblichen Reiſeaufenthalts, und zugleich wie die Meldungen des
Heimathsrechts, und als ſolche vollkommen zweckmäßig.
Die Meldungen ſind die Conſtatirung einerſeits des Heimaths-
rechts, andrerſeits des gewerblichen Aufenthalts. Der Werth derſelben
iſt den allergrößten Zweifeln unterworfen.
Es iſt nun klar, daß jedes dieſer Inſtitute ſein eigenes Recht, und
meiſtens auch ſeine eigene Geſchichte hat. Dieſes Recht und dieſe Ge-
ſchichte ſind, wenn ſie auch nur einen kleinen Theil der öffentlichen
Rechtsgeſchichte bilden, nicht ganz ohne Intereſſe. Wir wollen es jedoch
verſuchen, dies ganze Gebiet des öffentlichen Rechts in ſeiner hiſtoriſchen
Entwicklung bis zum gegenwärtigen Standpunkt kurz zu charakteriſiren.
Es möge hier nur eine Bemerkung ſtattfinden über das Verhältniß dieſer
Gegenſtände zum Völkerrecht. Das Völkerrecht hat erſt in unſerem Jahrhundert
den entſcheidenden Schritt zur Aufſtellung des ſogen. internationalen Privatrechts
— eigentlich Verkehrsrecht — gethan, ein Gebiet, welches mehr und mehr zur
Theorie und Praxis der internationalen Volkswirthſchaftspflege zu
werden beſtimmt iſt, und dem die Zukunft des Völkerrechts angehört. Aller-
[253] dings ſtehen die neueſten Werke, wie Pütter und ſelbſt Vesque von Puttlingen,
aus guten Gründen noch auf dem Boden des reinen bürgerlichen Rechts; aber
das wird namentlich durch die neuen Anſchanungen über das Conſularweſen
und ſeine Funktion, dieſen großen Organismus der internationalen Verwaltung,
bald anders werden. Das Paßweſen aber iſt dabei, wir möchten faſt ſagen
wunderlicher Weiſe, ganz ausgefallen, da man es vom völkerrechtlichen Stand-
punkt als eine reine Verwaltungsmaßregel anſah, deren internationales Recht
auf dem einfachen Princip beruhe, daß jeder Staat das Recht habe, den Ein-
zelnen, der ihm nicht angehört, auszuſchließen, ein Satz, der kaum all der
Autoritäten bedurft hätte, die ihn ausdrücklich anerkannt haben, wie Vattel
(II. 7. 94), Martens (S. 155), Klüber (I. 215), Heffter (S. 111),
Pütter (Fremdenrecht S. 26), Mohl (Präventivjuſtiz S. 106). Merkwürdig
ſchon, daß das Völkerrecht dabei die Form und die Folgen dieſes Satzes nicht
weiter unterſucht; weit merkwürdiger, und nur durch die deutſchen Zuſtände
erklärlich iſt es dagegen, daß das Paßweſen für die deutſchen Bundesſtaaten
wieder als ein Bundesrecht aufgefaßt wird, obgleich es doch ein rein inter-
nationales Recht und als ſolches durch eigene Verträge geordnet iſt. Vielleicht
daß die, durch die territorialen Staatsrechte bereits anerkannte Stellung dieſes
Gebiets als Theil des innern Verwaltungsrechts dieſe Unbeſtimmtheit zur end-
gültigen Entſcheidung bringt!
Verkehrs.
(Die urſprünglichen Geleitsbriefe. — Das rein polizeiliche Paßweſen. Die
allmählige Scheidung in Princip und Praxis für die Päſſe der Reiſen nach
und von dem Auslande, und für das innere Fremdenrecht.)
Das Paßweſen, ſo weit bei unſern jetzt noch ſehr beſchränkten Quellen
die Entwicklung deſſelben zu überſehen iſt, zeigt auf dem Continent faſt
allgemein die Erſcheinung, daß das wirkliche Leben eine weitläufige
Geſetzgebung faſt unwiderſtehlich bei Seite geſchoben hat, die in Princip
und Einzelheiten aus dem vorigen Jahrhundert ſtammt, und erſt in
allerneueſter Zeit durch die überwältigende Macht der Volksbewegung
faſt gewaltſam erſt auf ihren rechten und dauernden Boden zurückge-
drängt wurde. Um dieß darzulegen, bedarf es eines umfaſſenden Ma-
terials; aber es kann beim Ueberblick über daſſelbe gar keinem Zweifel
unterliegen, daß das Princip der beſtehenden Geſetzgebung ſich überlebt
hat. Wir glauben die Sache am beſten zu bezeichnen, indem wir das
urſprüngliche Syſtem das der Geleitsbriefe (litera commeatus), das
gegenwärtig geltende das polizeiliche, das künftige und naturgemäße
das freie perſönliche Verkehrsrecht nennen. Formell gilt noch das
erſte; materiell iſt das zweite bereits in Wirkſamkeit, und es kann
nicht lange dauern, bis es auch zur formellen Entwicklung gelangt.
[254]
Das öffentliche Recht der Reiſe oder des perſönlichen Verkehrs
beginnt mit den Geleitsbriefen. Die Geleitsbriefe ſind dem Inhalte
nach allerdings unſre gegenwärtigen Päſſe; aber der Form und dem
Recht nach ſind ſie weſentlich von ihnen verſchieden. Sie ſind nämlich
ſowohl für die Regierungen als für die Einzelnen ganz facultativ.
Niemand hat die Pflicht ſie zu nehmen, und ſelbſt ihre Beachtung iſt
zuletzt nur eine internationale Courtoiſie; ſie ſind kein Inſtitut, ſon-
dern Vorſichtsmaßregeln von Seiten der Einzelnen, und Gefälligkeiten
von Seiten der Regierungen.
Der hiſtoriſche Anfang ihrer Einführung in Deutſchland beruht
darauf, daß nach altem Reichsrecht unzweifelhaft „ein jeder Reichsſtand
des andern Unterthanen, geiſtlich und weltlich, durch ſein Fürſtenthum,
Landſchaften, Grafſchaften, Herrſchaften, Obrigkeit und Geleit frey,
ſicher und ungehindert wandern, ziehen und werben laſſen ſoll“ (Land-
frieden von 1548 §. 1). Allein zugleich behielt ſich jeder Reichsſtand
das Recht vor, „dem fremden Unterthanen den Eintritt in ſein Land
und die Durchreiſe nach Umſtänden zu verwehren“ — ein Recht, das
eins von den vielen Auswüchſen der örtlichen Souveränetät war, an
denen Deutſchland zu Grunde ging. (Moſer, Nachbarliches Staats-
recht S. 676). Das Rechts- oder vielmehr das Gerichtsverhältniß der
Fremden während ihres Aufenthalts bezeichnete bekanntlich die Aus-
drücke „Gaſtrecht“ und „Gaſtgerichte.“ Grimm hat ſie in ſeinen
Rechtsalterthümern kurz und ſcharf charakteriſirt (S. 396—402) Oſen-
brüggen mit ſeiner Gründlichkeit und ſeinem umfaſſenden Blick („die
Gaſtgerichte der Deutſchen im Mittelalter“) genauer unterſucht. Doch
war das alles noch weſentlich örtliches Recht. Der Hauptgrund, dieſen
Keim zu einem allgemeinen Reichsrecht auszubilden, lag dann in den
Religionskriegen und den dadurch hervorgebrachten Auswanderungen.
Wenn der Auswanderer Vermögen zurückgelaſſen, oder in mehreren Staaten
Vermögen beſaß, ſo war er von der Willkür der Territorialherrſchaft
in dieſer Beziehung abhängig. Dem beugten nun wohl ſchon damals
die einzelnen Staaten durch Geleitsbriefe (litera commeatus) vor; aber
erſt der Weſtphäliſche Frieden erhob den Grundſatz zum Reichs-
recht, daß das Princip des Landfriedens von 1538 im Allgemeinen —
„ut omnibus et singulis — eundi, negotiandi, redeundique potestas
data sit“ (a. IX. §. 2) — und ſpeziell in Beziehung auf die der Reli-
gion halber zur Auswanderung Genöthigte — gelten ſolle: „ad res
suas inspiciendas — libere et sine literis commeatus cedire“ (a.
V. §. 36). Allein dieſe Grundſätze kamen doch nur praktiſch ſo weit
zur Geltung, als die einzelnen Staaten es für gut hielten; der geringe
Verkehr machte die Sache ſelbſt wenig praktiſch (Berg Handbuch des
[255] Polizeirechts IV. 13 u. IV. 31). Jedenfalls beſtand weder eine Pflicht
einen Geleitsbrief zu nehmen, noch eine Pflicht ihn gelten zu laſſen.
Von dem Paßweſen der folgenden Zeit iſt daher jetzt noch keine Rede.
Dieſes eigentliche Paßweſen, das polizeiliche, entſteht nur mit dem
Grundſatz, daß jeder, der ſeinen regelmäßigen Aufenthaltsort verläßt,
mit einem ſolchen obrigkeitlichen Geleitsbriefe verſehen ſein, und daß
daher auch jede Obrigkeit verpflichtet ſein muß ihn auszuſtellen. Um
ſeinen Zweck zu erfüllen, muß ein ſolcher Paß daher zwei Dinge ent-
halten. Er muß erſtlich die Identität der Perſon durch ein Signale-
ment conſtatiren, und zweitens die Reiſeroute angeben. Sowie
dies feſtſteht, folgt von ſelbſt, daß das Nichtbeſitzen eines Paſſes an
und für ſich verdächtig wird, und daß mit dieſem neuen Paßweſen das
Mittel einer ſtrengen und ſcheinbar höchſt zuverläſſigen Aufſicht auf die
Bewegung der Perſonen gegeben iſt. Jedoch entſteht dies Paßſyſtem
erſt langſam. Erſt in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ſcheint ſich
daſſelbe entwickelt zu haben, und zwar einerſeits auf Grund des Aus-
wanderungsrechts, andrerſeits als eine immer nothwendiger werdende
Sicherheitsmaßregel. Die Geſetzgebungen über Auswanderungen
(ſ. oben) zwangen nämlich jeden Reiſenden auch im Inlande ſich durch
eine obrigkeitliche Erklärung über ſeine Reiſe auszuweiſen, wenn er ſich
vor den Unbequemlichkeiten einer Unterſuchung wegen unbefugter Aus-
wanderung ſchützen wollte. Dieſen innigen Zuſammenhang mit dem
Auswanderungsrecht zeigt namentlich die öſterreichiſche Geſetzgebung
des vorigen Jahrhunderts. Jede Reiſe erſcheint nämlich zuerſt als Mög-
lichkeit ſich der Militärpflicht zu entziehen, und ebenſo wird hier ſchon
im Werbebezirksſyſteme von 1781 §. 4 als Grundſatz ausge-
ſprochen, daß jede Reiſe in die ſogenannten unconſcribirten Länder
„vom Kreisamt einverſtändlich mit dem Werbbezirk“ erlaubt werden
muß. Derſelbe Grundſatz wird im Auswanderungspatent von
1784 dahin erweitert, daß, mit Ausnahme des Adels und der
Handelsleute, jeder zur Reiſe von einem Bezirk zum andern
die Erlaubniß nöthig hat. ib. §. 8—10 (S. Kopetz Oeſter. poliz.
Geſetze I. §. 91. 93.) Es mangeln mir die Quellen, um zu ſagen, wie
dieß in andern Ländern war. Gewiß iſt nur, daß der zweite Grund
der Entſtehung des Paßweſens, die Vagabundenpolizei, wahrſcheinlich
viel allgemeiner im übrigen Deutſchland gewirkt hat. An dieſe erſt hat
ſich das eigentliche Paßweſen angeſchloſſen. Die Polizei der kleinen
Staaten fand nämlich kein anderes Mittel, dem Eintritt fremder Vaga-
bunden entgegenzutreten, als die Verpflichtung eines jeden Reiſenden,
einen Paß zu führen. Wie bedeutſam das Vagabundenweſen ſchon im
Anfange des vorigen Jahrhunderts war, ſelbſt in den beſtverwalteten
[256] Staaten, beweist unter anderm das Chur-Trier’ſche Plakat wegen
Verfolgung von Räuberbanden vom 3. September 1736 (Berg,
Deutſche Polizeigeſetze I. S. 20). Eine ganze Reihe von Verordnungen
daſelbſt zeigt uns das Verfahren dabei; es läuft ſtets darauf hinaus,
den im Verdacht des Vagabundirens ſtehenden zu einem Nachweis ſeiner
Heimath zu zwingen, um ihn dahin zurückzuſchicken. Daraus ſcheint
ſchon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts der allgemeine Satz her-
vorgegangen zu ſein, daß jede Obrigkeit das Recht habe, Bettler und
Arme mit „obrigkeitlichen Päſſen“ oder „Atteſtaten“ auszurüſten, die
dann die Inhaber wenigſtens zum Theil vor dem Verfahren gegen Vaga-
bunden ſchützte, namentlich als ſich das Inſtitut der Gendarmerie
unter verſchiedenen Namen in Deutſchland ausbildete (Inſtitut der
badenſchen Hatſchiere von 1768 — Polizeidragoner in Olden-
burg 1791; Berg, Deutſche Polizeigeſetzgeb. I. 2. Hauptſt.). Eine auch
literargeſchichtliche nicht unintereſſante Anſpielung auf „Karl Moor“
nebſt Daten über das Räuberweſen bei Berg (Handb. IV. S. 610 f.).
Als nun mit Ende des Jahrhunderts durch die Bewegungen, welche die
franzöſiſchen Kriege hervorbrachten, das Herumziehen allgemein und die
Kraft der localen Herrſchaften zu gering ward, verſuchte man zuerſt,
für das Paßweſen als Legitimationsform für jeden Reiſenden gemein-
ſchaftliche und gleichartige Vorſchriften zu geben und allgemein gültige
Formeln feſtzuſetzen, wie in dem Schwäbiſchen Kreisſchluß gegen
herrenloſes Geſindel vom 18. Januar 1802, das ein neues Formular
der Päſſe im ſchwäbiſchen Kreiſe aufſtellte. Berg, Deutſches Polizei-
geſetz S. 32 ff., ähnlich in andern Gebieten. Vergl. namentlich was
Häberlin in ſeinem Staatsarchiv Heft 21 S. 39 f. über den im
Jahr 1801 zu Wetzlar verſammelten Polizei-Convent mittheilt —
„auf kurze Zeit half dies vielleicht, dauernde Wirkungen hat man davon
größtentheils vergebens erwartet“ (Berg, Handbuch Theil IV. S. 614).
So bildete ſich die noch gegenwärtig geltende Form und das noch
gegenwärtig geltende Recht der Päſſe im Anfang unſres Jahrhunderts
ziemlich vollſtändig aus; das Formular für den Schwäbiſchen Kreis von
1802 (Berg, S. 37) iſt faſt wörtlich das heutige, ſelbſt die „Unter-
ſchrift des Reiſenden“ iſt dabei, und der §. 9 ſpricht hier den Grundſatz
aus, der auch jetzt noch formell gilt: „Alle Paſſanten ſollen bei den
Hauptorten ihrer Route ihren Paß vorlegen, und ihre wirkliche Paſſage
auf demſelben vormerken laſſen; diejenigen, welchen dieſe Erforderniſſe
mangeln und ſich außerdem nicht gehörig zu legitimiren vermögen, ſind
anzuhalten, genau zu examiniren und nach Befund der Umſtände als
Vaganten zu behandeln.“ (Berg, a. a. O. S. 37.) Natürlich war damit
der Anlaß gegeben durch die Ertheilung der Päſſe wie durch die Vidirung
[257] derſelben einerſeits den Ortsobrigkeiten eine große Gewalt und zum
Theil auch eine recht angenehme Einnahme zu verſchaffen, andererſeits
ſcheinbar eine genaue Controle für die, damals nur zu oft vor-
kommenden politiſchen Zwecke der Reiſe zu gewinnen, eventuell durch
Verweigerung der Päſſe auch die unliebſamen Berührungen der Völker-
ſchaften zu vermeiden. Aus einem Mittel der niederen Sicherheits-
polizei gegen Vagabunden wurden daher, und wohl ſchon mit dem An-
fang dieſes Jahrhunderts, die Päſſe zu einem Mittel der höheren,
politiſchen Polizei, ein Charakter, den dieſelben nur zu lange behalten
haben. Hier iſt der Zeitpunkt, wo ſich das eigentliche Paßweſen von
demjenigen ſcheidet, was wir als Fremdenweſen bezeichnen. Aus einer
Legitimationsurkunde überhaupt wird der Paß auf dieſer Grundlage
eine Erlaubniß für den Auswärtigen, das Staatsgebiet des
andern Staates zu betreten, oder das eigene zum Zweck einer Reiſe ins
Ausland zu verlaſſen.
Namentlich war es das Reiſen „in fremde Länder“ — d. h. in
Länder, wo andere Verfaſſungen beſtanden, das man durch das Paß-
weſen hindern zu können glaubte. Daſſelbe ward daher jetzt allmählig
mit großer Strenge auch für die höheren Claſſen eingeführt. Schon
Berg ſagt 1799 (Handbuch Th. II. S. 59): „Eine gewiſſe Aufmerk-
ſamkeit auf das Reiſen in fremde Länder iſt nun zwar in ſehr vielen
Hinſichten nützlich und zweckmäßig, allein willkührliche Einſchränkungen
deſſelben, Verſagen der nachgeſuchten Erlaubniß ohne hinreichende Gründe
oder läſtige Bedingungen kann mit Recht als Eingriff in die bürgerliche
Freiheit angeſehen werden.“ Eben ſo kämpft gleichzeitig Niemann in
ſeinen Blättern für Polizei und Cultur (1801, VII. 56.) gegen die neuer-
dings eingeriſſene furchtſame Verſchließung der Länder und die rückſichtsloſe
Strenge wegen der Päſſe. „Sonſt“ ſagt er (wann?) „konnte der Fremdling
in die meiſten Länder mit einem bloßen Geſundheitsſchein ſich
den freien Zutritt eröffnen. Aber das Mercantilſyſtem mit ſeinen Contre-
band- und Mauthgeſetzen, ſeinen Hauſir- und Höckerordnungen beläſtigte
bald den Reiſenden mit unzähligen Plackereien. Unfreundlicher noch als
von dieſem Krämergeiſte ward neuerlich in manchen Staaten Verkehr
und freie Reiſe durch das Nachforſchen nach dem Unerforſch-
lichen, nach Glauben und Meinung, geſtört. Der Paß iſt die Urkunde,
wodurch jeder Fremde gleich an der Grenze ſeine Verdachtloſigkeit, und
im Innern aller Orten ſeinen geſetzmäßigen Eingang beſcheinigen ſoll.
— Das alles iſt in der Ordnung — was darüber iſt, dürfte leicht von
üblen Folgen ſein — die bürgerliche Ordnung gewinnt in keinem Fall;
aber Freiheit, Dienſtpflicht und Geſetzmäßigkeit verlieren in beiden.“
In gleichem Sinne ſpricht ſich dann wieder Berg aus. (Handbuch IV.
Stein, die Verwaltungslehre. II. 17
[258]XXXI. §. 26 ff.) Beſſeres hat man wohl nie über das Paßweſen und
Unweſen geſagt, und man muß geſtehen, daß die Neuern, namentlich
Mohl, weder an Verſtändniß noch an Kraft der Meinung dieſem Schrift-
ſteller gleichkommen. Jedenfalls ſieht man deutlich, wie ſich das eigent-
liche Paßweſen hier von dem Fremdenweſen in ſeinem Princip ablöst,
und wie man gegen die unfreien Tendenzen, die ſich in dem erſteren
ausbilden, ankämpft. Aber die Unruhe der Zeiten ließ eine freiere Ge-
ſtaltung um ſo weniger zu, als auch in Frankreich das Paßweſen als
theils politiſche, theils militärpolizeiliche Maßregel ſich zu einer Schärfe
entwickelte, die ſelbſt damals nicht von den deutſchen Staaten überboten
ward, und gegenwärtig geradezu beiſpiellos iſt. Deutſchland blieb deß-
halb auch nach den Napoleoniſchen Kriegen auf ſeinem ſtrengpolizeilichen
Standpunkte, und das ganze Paßweſen nimmt umſomehr den Charakter
eines großen politiſchen Inſtituts an, das zur eigentlichen Aufgabe
hat, die Reiſen wegen ihrer politiſchen Bedeutung ſo ſtreng als mög-
lich zu controlliren, neben welchen dann das Fremdenweſen als innere,
der niedern Sicherheitspolizei angehörige Inſtitution ſeinen eigenen,
freilich auch durch und durch polizeilichen Inhalt in einer großen Menge
von Geſetzen entwickelt (ſ. unten). Der deutſche Bund kam auch
in dieſer Beziehung nicht weiter, als der Landfriede von 1548; ſeine
„Freizügigkeit“ war etwas ſo unbeſtimmtes, daß keine Maßregel eines
einzelnen Staates dadurch beeinträchtigt ward (Art. 18). Das Paß-
weſen ward daher von den einzelnen Staaten regulirt; und der
Bundesbeſchluß vom 5. Juli 1832 hat vielleicht am deutlichſten
den allgemeinen Standpunkt des damaligen Paßweſens ausgeſprochen.
„Bei Fremden, welche ſich wegen politiſcher Vergehen oder Ver-
brechen in einen deutſchen Bundesſtaat begeben haben, ſodann bei
Einheimiſchen und Fremden, die aus Orten oder Gegenden kommen, wo
ſich Verbindungen zum Umſturz des Bundes oder der deutſchen Regie-
rungen gebildet haben — ſind überall in den Bundeslanden die be-
ſtehenden Paßvorſchriften auf das Genaueſte zu beobachten und nöthigen-
falls zu ſchärfen.“ In der That geſtaltete ſich das Paßweſen jetzt bei
dieſer Grundlage zunächſt zu einem höchſt läſtigen Syſteme (Zachariä,
Deutſches Staats- und Bundesrecht II. §. 164), in welchem die großen
Staaten mit großen und die kleinen mit kleinen Maßregeln — die zu-
gleich für die örtlichen Behörden ſehr einträglich waren — die freie
Bewegung der Bevölkerung hemmten. Aber dennoch ließ es ſich nicht
verkennen, daß zum Theil gerade dadurch ſeit dem dritten Jahrzehnt unſeres
Jahrhunderts das Fremdenweſen und Recht ſich einfacher und freier
geſtaltete. Der innere Fortſchritt der Communicationsanſtalten machte
es allmählig unmöglich, die Reiſen im Inlande nach dem bisherigen
[259] Princip zu behandeln, nach welchem auch dieſe Reiſen der obrigkeitlichen
Erlaubniß bedurft hatten; hier mußte man langſam dem Bedürfniß der
Zeit nachgeben und das Paßweſen beſeitigen, während man gegen „Aus-
länder“ die ganze Strenge deſſelben aufrecht hielt. Dennoch wollte und
konnte man den Reiſenden im Inlande nicht ohne „Aufſicht“ laſſen.
Das Fremdenweſen ward daher nach und nach zu einem eigenen Sy-
ſtem ausgebildet, das als „Aufſicht über Fremde“ ſowohl den Ausländer
als Inländer umfaßte, und zum zweiten ergänzenden Theil des Paß-
weſens wurde. So entſtand das Syſtem des Reiſerechts, deſſen gegen-
wärtige Gültigkeit wir ſchon angegeben haben. Es hat in allen deutſchen
Staaten zwei Theile. Der erſte Theil iſt das Paßweſen, das ſich
auf die Reiſe außerhalb Landes bezieht, der zweite Theil das Frem-
denweſen, das die Reiſen im Inlande betrifft. Die Scheidung
dieſer beiden Inſtitutionen bildet den formellen Charakter des Reiſerechts
unſerer Zeit, und es wird jetzt leicht ſein, die Scheidung und beſondere
Behandlung beider richtig zu verſtehen. Es darf dabei nur nicht über-
ſehen werden, daß dieſe Scheidung ſich mehr an den Inhalt der Geſetze
als an die ſyſtematiſche Theorie angeſchloſſen hat, wie wir das bei
Mohl (Württemb. Staatsrecht), Pözl, Rönne u. A. ſehen, weßhalb
die letztere, die ſich überhaupt mit der hiſtoriſchen Geſchichte dieſes Inſti-
tuts viel zu wenig beſchäftigt hat, auch nicht recht zum Verſtändniß
des eigentlichen organiſchen Verhältniſſes beider gelangt iſt, ſondern
das Fremdenweſen einerſeits nur als „Ergänzung des Paßweſens“
andererſeits nur einſeitig in Beziehung auf die Fremden aufgefaßt
hat, womit dann die klare Ueberſicht verloren geht. (Mohl, Präven-
tivjuſtiz, S. 116 ff.) Wir wollen nun verſuchen, jeden dieſer Theile
mit ſeinem eigenthümlichen Princip und ſeinen geltenden Beſtimmungen
darzulegen; das Paßweſen als Maßregel für die, welche die Gränze
überſchreiten, und das Fremdenweſen als Maßregel für die
Geſammtheit der Fremden innerhalb der Landesgränzen.
(Formeller und rechtlicher Charakter und Inhalt des Paſſes. Die drei
Grundformen des Paßweſens in Europa: das freie Paßweſen Englands, das
ſtreng polizeiliche Frankreichs, und die Verbindung beider in Deutſchland durch
das Paßkartenſyſtem.)
Auf Grundlage der bisherigen Darſtellung können wir nun das,
mit unſerem Jahrhundert im Reiſerecht ſich vom Meldungs- und Legiti-
mationsweſen abſcheidende, ſelbſtändige Paßweſen beſtimmt bezeichnen.
Es iſt die Geſammtheit von Vorſchriften für die Reiſeurkunden, welche
[260] ein Staat bei der Ueberſchreitung ſeiner Gränze für Aus-
länder und Inländer fordert.
Der Inhalt dieſer Reiſeurkunde ſoll demnach erſtlich die Iden-
tität der Perſon, zweitens die Richtung der Reiſe beſtimmen. Für
die Form folgt daraus, daß dieſe Urkunde amtlich ausgefertigt, von
dem Inhaber unterſchrieben, und an den Hauptorten der Reiſe
vidirt ſein muß. Dieſe erſte Form ſtammt wie geſagt aus dem Anfange
dieſes Jahrhunderts.
Das Recht des Paſſes beruht zunächſt jetzt wie früher darauf,
daß nicht einmal die deutſchen Staaten untereinander (Zachariä,
Deutſches Staats- und Bundesrecht I. §. 86; Mohl, Württembergiſches
Staatsrecht II. 279; Rönne Preußiſches Staatsrecht II. §. 333) ge-
ſchweige denn die übrigen continentalen Staaten die Verpflichtung haben,
jeden Fremden bei ſich aufzunehmen. Der Paß iſt daher zunächſt und
vor allen Dingen rechtlich die Reiſeerlaubniß des fremden Staates
durch das Vidi ſeiner internationalen Organe. Aber ſelbſt da, wo eine
ſolche „Erlaubniß“ nicht erforderlich iſt, behält der Paß vermöge des
Viſums der betreffenden Geſandtſchaft den Charakter einer offiziellen
Legitimationsurkunde, die als Beweis für die Identität der
Perſon bis zum gelieferten Gegenbeweis gelten muß. Leider haben die
Völkerrechtslehrer überhaupt, und die Fremdenrechtslehrer insbeſondere
dieſe internationale Rechtsfrage bisher nicht unterſucht, obwohl ſie eine
dauernde iſt. Dennoch dürften die obigen Grundſätze keinen Zweifel
bieten. Iſt durch das Viſum die Erlaubniß ertheilt, ſo hat die Regie-
rung nicht mehr das Recht, den Eintritt als ſolchen zu verweigern.
Es folgt, daß der Eintritt ohne Paß für den Ausländer keine weitere
Folge hat, als die Fortſchaffung auf ſeine Koſten, während der Aus-
tritt ohne Paß von jedem Staate mit Strafe belegt werden kann —
aber nicht belegt werden ſollte. (S. oben Auswanderung.) Daſſelbe
gilt für die Ueberſchreitung der im Paß angegebenen Dauer, und der
Richtung der Reiſe. Die Wirkung des Paſſes geht nicht über den
Eintritt in das Land hinaus bei dem Ausländer, nach geſchehenem
Eintritt unterliegt jeder Ausländer den polizeilichen Vorſchriften für die
Fremden, oder für das Fremdenweſen (ſ. unten); bei den Reiſe-
päſſen dagegen für Inländer ins Ausland gibt der Paß das Recht auf
Schutz durch die internationalen Organe der Heimath im fremden Lande.
Dies ſind die Grundſätze des Paßweſens, welche wir als die allge-
mein gültigen bezeichnen können.
Es verſteht ſich nun von ſelbſt, daß auf Grundlage dieſer Princi-
pien jeder Staat ſein Paßweſen im Speziellen ordnen kann und geordnet
hat, wie es ihm angemeſſen erſcheint. Namentlich die großen Staaten
[261] haben daher eigene Geſetzgebungen über das Paßweſen. Und hier kann
man drei Gruppen unterſcheiden.
Die erſte Gruppe iſt die des freien Paßweſens. Dahin gehören
namentlich England und die Schweiz. Hier hat der Paß vollkommen
ſeinen Charakter als „Erlaubniß“ zum Eintritt und Austritt aus dem
Staate verloren. Es exiſtirt daher gar keine rechtliche Nothwendigkeit,
einen Paß zu beſitzen; wohl aber kann der Paß von großem Nutzen
für den Reiſenden als perſönliche Legitimationsurkunde ſein. Der Paß
hat daher hier ſeinen wahren, der heutigen Geſittung entſprechenden
Charakter gefunden, und es iſt mit Beſtimmtheit vorherzuſagen, daß mit
der Zeit das ganze Paßweſen der Welt dieſen Charakter annehmen
wird. Daher kommt es denn auch, daß dieſe Staaten gar keine Ge-
ſetzgebung über das Paßweſen haben; denn der Paß fällt hier ein-
fach unter das — bisher noch theoretiſch keineswegs gehörig behandelte
— internationale Urkundenrecht, und wenn daher auch mit
dieſen Staaten keine Paßverträge abgeſchloſſen werden können, ſo ſollten
dennoch die Päſſe künftig in die internationalen Proceßverträge for-
mell aufgenommen werden.
Die zweite Form des Paßweſens beſteht in Frankreich. Das
Paßweſen Frankreichs hält das alte polizeiliche Princip auch noch für
die Reiſen im Inlande aufrecht, und iſt daher die einzige jetzt noch be-
ſtehende Verſchmelzung von Paß- und Fremdenweſen, die ſich aus
dem vorigen Jahrhundert erhalten hat. Nur muß man ſich die Ent-
ſtehung des gegenwärtigen, ſo beiſpiellos ſtrengen franzöſiſchen Paßweſens
nicht wie in Deutſchland als Maßregel der niedern Polizei denken; es
iſt vielmehr als Theil der höheren, ja der revolutionären Sicherheits-
polizei zu betrachten, was mit der ohnehin bekannten neueren Ge-
ſchichte der franzöſiſchen Revolution zuſammenhängt. Die Verpflichtung
zur Führung von Päſſen wurde als temporäre Maßregel nach der Flucht
Ludwigs XVI. eingeführt, obgleich, wenigſtens nach Laferrière, die
ganze Inſtitution bis 1807 einen proviſoriſchen Charakter behielt. Das
Geſetz vom 14. September 1791 hob das ganze Paßweſen auf; das
Emigrationsweſen zwang die Conſtituante, es durch Dekret vom 28. März
1792 für den inneren Verkehr herzuſtellen; und die Decrete vom
6. Februar 1793 und 10. vend. an IV bildeten es nach kurzer Unter-
brechung (vom 9. September 1792) weiter aus. Das letzte Decret iſt
noch immer die Grundlage des gegenwärtigen Paßweſens. Das Geſetz
vom 17. November 1797 beſtimmte dann weiter ſpeziell den Inhalt
des Paſſes, namentlich auch die Fälle, in denen die Mairie den Paß
verweigern darf. Das Decret vom 18. September 1807 gab dem
ganzen Inſtitut ſeine noch gegenwärtige definitive Stellung in der
[262] Verwaltung und ſetzte die Vorſchriften über die Viſa derſelben im In-
lande feſt, deren Gültigkeit das Decret vom 11. Juli 1810 auf ein
Jahr beſchränkte. Dem Fremden kann auch nach ſeinem Eintritt mit
ordnungsmäßigem Paß der Aufenthalt verweigert werden. Geſetz vom
19. October 1797. Der Cod. Pen. Art. 155 nahm endlich die Beſtim-
mung auf, daß jeder Beamtete, der einen Paß ausſtellt, bei ſtrenger Strafe
die Identität der Perſon durch zwei Zeugen conſtatiren laſſen muß,
wenn ihm die Perſon nicht ſelbſt bekannt iſt. Das Wichtigſte aber iſt,
daß niemand ſeinen Canton verlaſſen darf ohne einen Paß,
bei kleinen Orten vom Maire, bei Orten über 40,000 Einwohner vom
Präfect (Geſetz vom 10. vend. an IV, Art. 1. 2. und wiederholt Geſetz
vom 5. Mai 1855!) wovon nur die diplômes des membres des sociétés
de secours mutuels approuvés eine Ausnahme bilden (Decret vom
26. März 1852). So iſt Frankreich die eigentliche Heimath des polizeilichen
Paß- und Fremdenweſens in ſeinem ganzen Umfange! Doch ſcheint in
neueſter Zeit die Praxis ſich vor der Unmöglichkeit zu beugen, dieſe
Grundſätze in ihrer vollen Ausführung zu erhalten, obgleich Laferrière
(Droit adm. I. S. 1. Cap. 2) das Paßweſen auch gegenwärtig in Frank-
reich noch als eine ganz natürliche Maßregel der police de sûreté, und
rein als „restriction“ auffaßt und motivirt.
Die deutſchen Staaten endlich ſind offenbar in einem durch-
greifenden Uebergang begriffen, deſſen raſche Beendigung wir nur wün-
ſchen können. Während nämlich einige Staaten gar kein obligates
Paßweſen, ſondern nur das freie Paßweſen Englands haben (Hamburg,
Lübeck, Bremen) und uns von den meiſten gar nichts bekannt iſt, haben
die größern Staaten eine eigene Entwicklung durchgemacht. Ohne Zweifel
iſt hier Preußen vorangegangen mit ſeinem Paß-Edict vom 22. Juni
1817. Dieß Paß-Edict war zunächſt eine Milderung der früheren Vor-
ſchriften des Paß-Reglements vom 20. März 1813, indem wie
es im Eingange des erſtern heißt „die veränderten Verhältniſſe es ge-
ſtatten, die in der Paßpolizei nothwendig gewordene Strenge der Auf-
ſicht auf die Reiſenden zu mildern.“ Das Paß-Reglement von 1813
hatte jedoch den Vorzug, das erſte allgemeine Paßrecht für Preußen
zu bilden; bis dahin beſtanden meiſt lokale, aus den frühern Jahr-
hunderten ſtammende, oder (am Rhein) franzöſiſche Vorſchriften. (Rönne
und Simon, Polizeiweſen der preußiſchen Monarchie. I. 291 ff.)
Das neue Paß-Edict von 1817 dagegen iſt mit allem Guten und
Schlimmen für den größten Theil von Deutſchland maßgebend geworden.
Die Grundlage deſſelben iſt nämlich die hier zuerſt aufgeſtellte und
ſtreng durchgeführte Scheidung des Paßweſens und des Frem-
denweſens. Das Paßweſen bezieht ſich nemlich ganz beſtimmt nur
[263] auf den Austritt und Eintritt über die Gränze des Reiches, wäh-
rend für alle, welche innerhalb der Gränzen leben, die völlige Frei-
heit der örtlichen Bewegung, jedoch unter einer gewiſſen polizeilichen
Aufſicht, feſtgeſtellt wird. Dieß Princip des neuen Paß-Edicts hat
Merker (die Nothwendigkeit des Paßweſens zur Erhaltung der öffent-
lichen Sicherheit, Erlangen 1818), dann ſofort theoretiſch zu Buch gebracht,
ohne von dem Unterſchied des Paß- und Fremdenweſens eine Ahnung
zu haben (ſ. unten). Das Princip für die Eingangspäſſe iſt, daß
niemand ohne einen ordnungsmäßigen Paß in den Staat eingelaſſen
werden ſoll; für die Ausgangspäſſe gleichfalls, daß der Ausgang
ſelbſt für Fremde ohne ſolchen Paß nicht geſtattet iſt. Doch ſoll bei
gehöriger Legitimation der letztere nicht verweigert werden. Die General-
Paßinſtruktion vom 12. Juli hat die Viſirung der Päſſe genauer
geordnet. Es iſt kein Zweifel, daß dieſes Paßrecht eben ſo gut wie
das von 1813 ſich bereits überlebt hat, und daß bei den gegenwärtigen
Verkehrsverhältniſſen faktiſch ſchon das freie Paßrecht in Preußen gilt.
Ueber die neueſten Verſuche ſeit 1862 eine freiere Geſetzgebung einzu-
führen, ſowie über die einzelnen Vorſchriften ſiehe Rönne am oben a. O.
und preußiſches StaatsrechtII. 333. — Ein ganz analoges Paß-
weſen hat in Bayern die Verordnung das Paßweſen betreffend
vom 17. Januar 1837 und die Inſtruktion vom 20. Januareod.
eingeführt; gleichfalls unter ausdrücklicher [Anerkennung] des freien Ver-
kehrs im Inlande. Darſtellung bei Pözl, Bayeriſches Verwaltungs-
recht, § 80. 81. Ebenſo in Württemberg, General-Verordnung
vom 11. September 1807. Mohl, Württembergiſches Verwaltungsrecht
§. 185.
Daſſelbe Syſtem, dem preußiſchen wie es ſcheint ſtreng nachgebildet,
gilt in Sachſen. Regulativ über die Verwaltung der Paßpolizei
im Königreich Sachſen vom 27. Januar 1818; Inländer „werden oft
in den Fall kommen“ einen Paß im Inlande zu brauchen, doch „be-
dürfen“ ſie deſſen nicht (?). Erſte Vereinbarung mit den Nachbarſtaaten
vom 20. November 1841. Funke, Polizeigeſetze des Königreichs Sachſen.
II. Bd. Abſchnitt III. S. 66 ff.
Oeſterreich endlich ordnete ſein Verkehrsrecht erſt durch die neue
Verordnung vom 9. Februar 1857; die Verordnung enthält die
definitive (ſchon lange praktiſch nicht mehr übliche) Abſchaffung der Päſſe
für das Inland, und die Forderung eines ordnungsmäßigen Paſſes für
die Ueberſchreitung der Gränze. Die früheren ſogenannten „Urlaubs-
bewilligungen“ ſind ſchon ſeit 1857 außer Kraft. Stubenrauch, Ver-
waltungsgeſetz I. 177. Die volle Freiheit des Paßweſens und Aufhebung
der Vidirung durch Verordnung vom 9. November 1865.
[264]
Von dieſen Zuſtänden nun hat das Paßkarten-Syſtem wieder
einen weſentlichen Fortſchritt gemacht. Bekanntlich iſt das Paßkarten-
ſyſtem aus früheren Vereinbarungen über Vereinfachung des Paßweſens
hervorgegangen, die namentlich von Preußen ausgingen, das durch ſeine
territorialen Gränzen im Intereſſe ſeines Länderverkehrs dazu gezwungen
ward. Ein allgemeiner Vertrag ward dann 1850 in Dresden geſchloſſen
(21. October), nebſt Protokoll, dem ſich ſeitdem alle deutſchen Staaten
bis 1859 angeſchloſſen haben. Nachträge zu dem Protokoll von 1850
ſind durch das Protokoll von Eiſenach, 7. Juli 1853, vereinbart.
Frühere Vereinbarungen ſpeziell für Oeſterreich, Bayern und Sachſen
ſeit 1850 bei Stubenrauch, Oeſterreichiſche Verwaltungsgeſetze. I.
§. 177. Es iſt, wie die alte Paßordnung des Schwäbiſchen Kreiſes,
ein internationaler Paßvertrag zwiſchen den deutſchen Bundesſtaaten,
deſſen eigentliche Aufgabe im Grunde nur die Beſeitigung des Viſums
iſt. Die Aufnahme des Grundſatzes, daß die Verſagung der Paß-
karte noch möglich bleibt, ſelbſt bei „politiſcher Unzuverläſſigkeit“
(Rönne, Staatsrecht §. 333. 3), dürfte kaum zu den Grundſätzen
gehören, die auf die Dauer ſich als richtig oder auch nur als aus-
führbar erweiſen. Die neueſte Paßconvention zwiſchen den meiſten
deutſchen Staaten vom 7. Februar 1865 beruht auf der auch von
Oeſterreich jetzt angenommenen Freiheit der Bewegung; die verſchiedenen
Einführungsverordnungen aus dem Jahre 1865 in der Auſtria, Jahrg.
1866, Nr. 2 ff. — Der polizeiliche Standpunkt iſt hier ganz überwunden.
(Definition des „Fremden.“ — Zurückführung des geſammten Fremden-
weſens auf die zwei Grundprincipien des Meldungsweſens und des Legi-
timationsweſens. Daß nur das letztere das richtige ſein kann.)
Man wird ſich über das hierher gehörige, mit ſeinen einzelnen
Beſtimmungen keineswegs unwichtige Gebiet wohl nur dann gut ver-
ſtändigen, wenn man den Begriff des „Fremden“ gemeingültig aner-
kennt. Wir werden am beſten unter dem „Fremden“ jede Perſon ver-
ſtehen, die an einem Orte befindlich iſt, an welchem ſie kein Hei-
mathsrecht beſitzt oder erwirbt. Jede andere Definition wird
nicht ausreichen, und die einzige Verwaltungslehre, die ſich eingehend
mit der Sache beſchäftigt hat, hat dieſe Definition auch anerkannt.
Pözl, Verfaſſungsrecht von Bayern, S. 41, und Verwaltungs-
recht §. 80. Die völkerrechtliche Verwechslung von Fremden und Aus-
wärtigen wie bei Pütter, Wächter u. A., ſelbſt bei Mohl, führt
nur zur Verwirrung.
[265]
Setzt man nun dieſen Begriff des Fremden, ſo enthält das Frem-
denweſen die Geſammtheit der Vorſchriften und Maßregeln, durch welche
die Verwaltung ſich in den Stand ſetzt, im Geſammtintereſſe
die Identität der Perſon und des Aufenthalts aller Frem-
den zu conſtatiren, und das daraus ſich ergebende Recht bildet das
Fremdenrecht im Sinne der innern Verwaltung.
Es iſt nun ſchon oben gezeigt, wie dieß Fremdenrecht im vorigen
Jahrhundert in unklarer Weiſe mit der ganzen Thätigkeit der Sicher-
heitspolizei zuſammenfiel und deßhalb als weſentlich negatives Element
der Verwaltungsaufgaben auftritt. Der „Fremde“ iſt damals ſchon
an und für ſich ein gleichſam unorganiſches Element. Er fordert
die „Aufſicht“ der einheimiſchen Intereſſen zunächſt der örtlichen als
Concurrent, dann der polizeilichen als Heimathloſer, zuletzt gar der
politiſchen als Träger fremder Ideen heraus. Dieſe Grundvorſtellung
iſt zum großen Theil in der formellen Verwaltung geblieben. Der
Fremde iſt für die meiſten Geſetzgebungen ein ſpezieller Gegenſtand der
„Aufſicht“ und zwar zunächſt ohne Rückſicht, ob er ein Auswärtiger
oder ein Einheimiſcher iſt. Es iſt natürlich, daß die Darſtellungen des
poſitiven Verwaltungsrechts ebenſo nur von der „Aufſicht“ oder der
„Controle“ der Fremden reden; ſelbſt Mohl (Präventivjuſtiz S. 116)
kommt über dieſen Standpunkt nicht hinaus. Wir können dieß den
polizeilichen Standpunkt des Fremdenweſens nennen. Er iſt es,
der die Verſchiebung des letzteren eben ſo wie die des Paßweſens aus
der Verwaltung der Bevölkerung in die der Sicherheitspolizei erzeugt
hat. Allein obwohl hiſtoriſch ganz gut motivirt, iſt er dennoch nach
dem höhern Weſen der Verwaltung falſch. Allerdings wird in vielen
einzelnen Fällen der Fremde Gegenſtand der Sicherheitspolizei ſein.
Aber es iſt nur hiſtoriſch erklärlich, daß der Fremde an und für ſich
als eine gefährliche oder doch bedenkliche Perſönlichkeit angeſehen werde.
Es gibt vielmehr gar keinen Grund, den Fremden einer andern
Aufſicht zu unterwerfen, als den Einheimiſchen. Anlaß und
Form der beſonderen Aufſicht müſſen bei beiden gleich ſein. Dagegen
liegt es aber allerdings im Geſammtintereſſe, Perſönlichkeit und Hei-
math des Fremden conſtatiren zu können. Hier kann daher nur
unter beſondern Verhältniſſen eine Pflicht des Fremden beſtehen,
während unter allen Verhältniſſen die Verwaltung es ihm möglich
machen muß, dieß in leichter Weiſe zu können. Und das, was wir
demgemäß das freie Fremdenrecht nennen, ſoll daher nur die Anſtalten
enthalten, die dieß bezwecken.
Auf dieſe Weiſe liegen dem Fremdenweſen zwei weſentlich verſchiedene
Standpunkte zum Grunde, der polizeiliche der „Fremdenaufſicht,“
[266] und der freie der öffentlichen Legitimation. Aus dieſen zwei Stand-
punkten gehen daher auch zwei weſentlich verſchiedene Syſteme hervor,
die durch ihr Princip ſehr einfach ſind, wenn ſie auch im Detail der
wirklichen Polizeiverwaltung große Verſchiedenheiten enthalten. Wir
nennen ſie am beſten das Meldungsweſen und das Legitimations-
weſen. Es iſt wohl von großem Intereſſe, beide Syſteme als Ganzes
zu betrachten. Faßt man ſie richtig auf, ſo dürfte es wenig Theile der
Verwaltung geben, in denen ſich in kleinen Räumen ſo klar die beiden
großen Principien der polizeilichen und der ſtaatsbürgerlichen Verwal-
tungsepoche darſtellen.
Beide Syſteme haben nämlich mit einander gemein, daß ſie die
Conſtatirung von Identität und Aufenthalt durch die Organe der Ver-
waltung wollen. Beide Syſteme haben daher auch faſt dieſelben
Formen. Allein ſie unterſcheiden ſich in einem weſentlichen Punkte.
Im Syſteme des Meldungsweſens geht die Verwaltung davon
aus, daß es ihre Pflicht ſei, jene Conſtatirung vorzunehmen, und daß
ſie daher alles auf Identität und Aufenthalt Bezügliche ſelbſt wiſſen
müſſe. Im Sinne dieſes Princips fordert ſie daher die betreffenden
Angaben und Mittheilungen von den Einzelnen, und zwingt die
letzteren durch Strafen, dieſe Mittheilungen ihr auch wirklich zu geben.
Beim Meldungsweſen ſtellt ſie ſich daher die ungeheure Aufgabe, jeden
Einzelnen auf jedem Punkte im ganzen Reiche, wo immer er ſich be-
finden mag, gleichſam zu verfolgen; es ſcheint ihr, daß wenn ſie nicht
mehr weiß, wohin der Einzelne gehört, was er thut und treibt, wo er
iſt, die Geſammtheit ſofort Gefahr läuft. Es ſchließt ſich daran die
natürliche Vorſtellung, als habe ſie auch das Recht, einen Aufenthalt
zu verweigern. Sie iſt der Vormund des ganzen Reiſeweſens inner-
halb eines Landes.
Im Syſteme des Legitimationsweſens dagegen ſteht die Ver-
waltung auf einem ganz andern Standpunkt. Hier geht ſie davon aus,
daß Reiſe und Aufenthalt des Einzelnen ſie an ſich gar nichts an-
gehe. Die Identität der Perſönlichkeit iſt eine Sache, welche zunächſt
nur im Intereſſe dieſer Perſönlichkeit ſelbſt liege; daher habe auch das
Individuum ſelbſt dafür zu ſorgen, daß es ſich die Mittel verſchaffe,
um die Individualität vorkommenden Falles conſtatiren zu können.
Daſſelbe gelte vom Aufenthalt. Jeder verſtändige Mann thue das
ohnehin; die Sache ſei für jeden ſo wichtig, und die Wichtigkeit ſo
allgemein verſtändlich, daß eine adminiſtrative Conſtatirung durch eine
eigends darauf gerichtete Thätigkeit der Polizei nicht nur eine ungemein
umſtändliche und koſtſpielige Funktion ſei, ſondern dem Einzelnen höchſt
läſtig falle, und außerdem eine ganz unmotivirte, ja in den meiſten
[267] Fällen ganz nutzloſe Bevormundung der perſönlichen freien Bewegung
enthalte. Außerdem ſei bei dem Meldungsprincip für all die Beläſtigungen
und Koſten, mit denen es verbunden iſt, nicht einmal irgend ein
wirklich gültiger Beweis für die Individualität und den Aufenthalt
gegeben, ja bei der beſten Einrichtung der Meldungen gar nicht
denkbar. Wolle man, was denn doch zuletzt nothwendig ſei, juriſtiſche
Gewißheit, ſo müſſe doch ein förmliches Beweisverfahren eintreten, für
welche die Meldungen keinen Werth haben können, ſelbſt wenn ſie
richtig ſind. Suche man aber in der Meldung ein polizeiliches Schutz-
mittel, ſo ſei es denn doch ſeit Jahrhunderten bekannt genug, daß ge-
rade die, die man vermöge der Meldung beobachten will, falſche Mel-
dungen machen, während man zuletzt bloß auf Grundlage einer noch
ſo richtigen Meldung nicht den ehrlichſten Armen in ſeine Heimath ab-
ſchieben könne, wenn er nicht ſein Heimathrecht anderweitig ausweist.
Sei aber ſelbſt in dieſem Falle ein ſolcher Ausweis anerkanntermaßen
nothwendig, wozu denn die läſtige und koſtſpielige Meldung, die nicht
einmal dieß Verfahren erſetze? Und ſage man, daß die Meldung wenigſtens
den Nutzen habe, den Einzelnen zu zwingen, daß er eine Legitimations-
form beſitze, ſo ſei das geradezu unrichtig, denn es gebe gar kein Mittel,
die Berechtigung zur Legitimation bei der Meldung erſt zu unterſuchen;
ſie werde daher praktiſch gerade umgekehrt zu einem Deckmantel für
falſche Angaben, während die Erkenntniß von den unbequemen Folgen,
die der Mangel einer Legitimation für jeden Einzelnen habe, an ſich
ausreiche, denſelben zur Herbeiſchaffung der erſteren zu beſtimmen. Das
Meldungsweſen müſſe daher als ein in jeder Beziehung falſches, nur
aus dem hiſtoriſchen Entwicklungsgang der Dinge erklärliches Syſtem
angeſehen, und auch geſetzlich an ſeine Stelle das Legitimationsweſen
geſetzt werden.
Das Legitimationsweſen nämlich, indem es die Legitimation ſelbſt
dem Einzelnen überläßt, will nur demſelben durch die Verwaltung die
Mittel darbieten, durch welche er die Legitimation erzielen kann,
und hält daran feſt, daß die Unbequemlichkeiten der fehlenden Legiti-
mation es ſind, welche den Einzelnen ſchon von ſelbſt veranlaſſen wer-
den, ſich jener Mittel der Verwaltung von freien Stücken zu bedienen,
gerade wie beim freien Paßweſen. Meldungsweſen und Legitimations-
weſen haben daher dieſelben Mittel für denſelben Zweck, aber
ein geradezu entgegengeſetztes Recht. Beim Meldungsweſen hat der
Einzelne die öffentliche durch Strafen geſchützte Pflicht, ſich jener
Mittel zu bedienen, beim Legitimationsweſen dagegen nur das Recht
dazu. Und es kann wohl kaum ein Zweifel ſein, daß die Epoche des
Meldungsweſens für das Fremdenweſen vorüber iſt, und das freie
[268] Legitimationsweſen an ihre Stelle treten wird. Freilich hat daſſelbe
Uebelſtände, aber dieſe ſind mehr ſcheinbar als wirklich. Wirklich da-
gegen ſind die großen Erleichterungen des Verkehrs und der indirekte
Werth, den es hat, daß jeder veranlaßt werde, ſich auch hier auf ſich
ſelber zu verlaſſen; nicht unweſentlich iſt daneben die Beſeitigung eines
großen, meiſt ganz nutzloſen Geldaufwandes. Und wir ſind daher
der Ueberzeugung, daß mit dem freien Paßweſen auch das freie Legiti-
mationsſyſtem als Grundlage des Fremdenweſens zur baldigen und
allgemeinen Geltung kommen würde.
Dabei nun bleiben, wie geſagt, die Mittel und Formen des Legi-
timationsſyſtems des Fremden dieſelben, wie beim Meldungsweſen,
und wir dürfen ſie daher jetzt einzeln vom beiderſeitigen Standpunkt
betrachten.
Es muß als ein großer Uebelſtand angeſehen werden, daß in den Geſetz-
gebungen, wie in Preußen und Bayern, die Paßgeſetzgebung auch das Fremden-
weſen mit enthält, was den freien Blick über das letztere offenbar ſtört. In
Oeſterreich iſt das zwar nicht der Fall, allein hier hat das Meldungsweſen gar
kein allgemeines Geſetz, ſondern einen faſt durchgreifend lokalen Charakter.
(Stubenrauch §. 176.) Es wäre aus einer Reihe von Gründen zu wünſchen,
daß die Theorie ſich der Sache eingehender und allgemeiner annähme, als dieß
z. B. bei Mohl geſchehen iſt.
und Legitimationsſyſtem.
Die einzelnen Maßregeln des Fremdenweſens zum Zwecke der Con-
ſtatirung der Individualität und des Aufenthalts, laſſen ſich in folgende
Punkte zuſammenfaſſen;
1) Die Aufenthaltskarte. Die Aufenthaltskarte iſt das Sur-
rogat des Paſſes, der in dem polizeilichen Paßweſen dem Ausländer
an der Gränze abgenommen und wofür ihm dieſe Karte gegeben wird.
Grund: damit er, nachdem er mit Erlaubniß ins Land gekommen, daſſelbe
nicht ohne Erlaubniß wieder verlaſſe. Das ganze Syſtem hat gar keinen
Sinn. Bleibt der Ausländer länger als ſein Paß lautet, ſo wird
er ohnehin nach dem polizeilichen Paßſyſtem abgeſchoben, mag nun die
Dauer des Aufenthalts auf dem Paß oder auf der Aufenthaltskarte
verzeichnet ſein; abgeſehen davon, daß die „Bewilligung“ des Aufenthalts
für einige Zeit eben ſo irrationell iſt als das Princip der Erlaubniß
überhaupt. Das Legitimationsſyſtem fordert einfach, daß der Ausländer
im eigenen Intereſſe ſeinen Paß zur Verfügung habe, wenn er einen
hat, oder eine ſonſtige Legitimation, um ſich vorkommenden Falls
Unbequemlichkeiten zu entziehen. In Preußen beſteht noch ganz das
[269] veraltete polizeiliche Princip (Rönne, II. §. 334), ebenſo in Bayern
(Pözl, Verwaltungsrecht §. 82). Sachſen hat nur Vidirung der
Päſſe binnen 24 Stunden (Regulativ vom 27. Januar 1818; Funke,
Polizeigeſetze des Königreichs Sachſen II. S. 74. 75). In Oeſterreich
hat man es rationeller Weiſe aufgehoben (Stubenrauch, §. 177).
Das Paßkartenſyſtem hat die Aufenthaltskarte für deutſche Staats-
angehörige ohnehin beſeitigt.
2) Die Legitimationskarten. Die Legitimationskarte trat zu-
erſt in Preußen an die Stelle des Paßrechts für die Reiſen im In-
lande, allerdings nur für Einheimiſche, während Auswärtige die Auf-
enthaltskarte löſen mußten. Preußiſches Edikt von 1817); Rönne,
II. 133). Sie iſt formell nothwendig und gilt nur auf zwei Jahre. Freier
iſt Bayern, wo der im Inland reiſende Inländer nur zur Löſung
einer Legitimationskarte berechtigt iſt (Verordnung von 1837,
Art. 1—4). Oeſterreich hat ſie wieder vorgeſchrieben (Verordnung
von 1857, §. 1), was im Widerſpruch mit der Beſeitigung der Aufent-
haltskarten iſt. Das ganze Inſtitut kann nur durch den Zwang
unzweckmäßig werden; an ſich iſt es der reinſte Ausdruck des freien
Legitimationsſyſtems.
3) Fremdenbücher in Gaſthäuſern. Das Meldungsſyſtem fordert
das Unausführbare in der Verpflichtung zur Ausfüllung der, den
Aufenthalt und die Reiſe enthaltenden Rubriken, und das Nutzloſe in
der polizeilichen Meldung uncontrollirbarer Angaben. Es iſt nach allen
Seiten falſch, das Meldungsprincip hier aufrecht zu halten. Dagegen
iſt es vollkommen richtig, den Wirth zur Haltung von Fremdenbüchern
zu verpflichten, damit der Reiſende, wenn er es in ſeinem Intereſſe
findet, ſeinen Aufenthalt conſtatiren kann. Preußiſche Paßordnung
von 1817, §. 17; ſ. ſchon Allgemeines Landesrecht II. 7. 61. 65. Bayern,
Inſtruktion von 1808 §. 23—27. Pözl, §. 82. Spezielle Inſtruktion
für Wien von 1850 §. 10 ff. Ueber die übrigen Vorſchriften ſiehe
StubenrauchII. §. 177. Ueber Sachſen finde ich nichts, nicht
einmal in Funke.
4) Geſindemeldungen. Der Grund der Meldungen des Ge-
ſindes iſt zunächſt wohl das Streben, die Heimath derſelben zu con-
ſtatiren um darnach im vorkommenden Falle verfahren zu können. Daran
ſchloß ſich der Wunſch, die Dienſtloſigkeit zu eruiren, um dienſtloſe Leute
zu beſeitigen. Beide Zwecke ſind vollkommen motivirt; nur werden ſie
nicht durch das erreicht, wodurch man ſie erreichen will, durch die poli-
zeiliche Meldung bei dem Eintritt und Austritt des Geſindes. Hat die
Polizeiverwaltung nicht die Mittel, die dienenden Perſonen erſtlich bei
dem Eintritt in die Gemeinde, und zweitens während der
[270] Dienſtloſigkeit zu überwachen und ihre Heimathsberechtigung zu conſtatiren,
ſo nützt die Meldung beim Dienſtantritt nichts, da dann die Heimath-
frage ohnehin unpraktiſch iſt, und beim Dienſtaustritt nicht, weil der
Betreffende ja doch nicht gleich ausgewieſen werden kann. Das wahre
Syſtem iſt daher hier auch nicht die Meldung, ſondern die Veranlaſſung
zur eigenen Legitimation, die durch regelmäßige Ausweiſung unlegiti-
mirter Dienſtboten von ſelbſt entſteht. Die Geſindebücher gehören
dagegen als eine Form der Zeugniſſe in das Gebiet der Arbeitsbücher
und damit in die Geſellſchaftslehre. Es iſt ohne allen Zweifel gut, ſie
einzuführen und zu erhalten; allein das rechte Mittel dazu iſt wieder
nicht der polizeiliche Zwang, ſondern die Verbindung des Rechts auf
den Aufenthalt mit dem Beſitze dieſer Bücher, das ſie allein ein-
führen wird, ſo weit ſie überhaupt eingeführt werden können. Die
Geſetze darüber ſind in den verſchiedenen Staaten ſehr verſchieden und
bilden einen Theil der Geſindeordnung, welche ſpäter zu behandeln ſind.
S. RönneII. 349. Pözl, Verwaltungsrecht §. 113. Stuben-
rauchII. §. 443. Funke (Königreich Sachſen) II. S. 179 — Mel-
dung bei Strafe trotz der jährlichen polizeilichen Geſindereviſion (Geſinde-
ordnung vom 10. Januar 1835 §. 78).
5) Wanderbücher. Die Wanderbücher ſind im Grunde nichts
als eine beſondere Form des polizeilichen Paßweſens. Sie beruhen
darauf, daß das gewerbliche Leben zum Theil die Wanderpflicht für
die Geſellen ausſprach, während im Princip des polizeilichen Paßweſens
das Recht der Erlaubniß zur Reiſe als Grundſatz galt. Andererſeits
forderte der Kampf gegen das Vagabundenthum die Möglichkeit, den
Geſellen, der zum Zweck ſeiner gewerblichen Ausbildung reist, von dem
zu unterſcheiden, der bloß heimathslos ſich umhertreibt. Das Wander-
buch iſt daher ein Paß für die Reiſe im Inlande, verbunden mit einem
Arbeitsbuch und Zeugniß über die Zwecke ſeiner Reiſe, ohne daß der
Geſelle dabei wie beim Paß ein Ziel anzugeben habe. Das Wanderbuch
iſt daher eine Legitimation für den gewerblichen Zweck der Reiſe, und
daher auch allenthalben von dem Paſſe ſowie von den Legitimations-
urkunden geſetzlich unterſchieden. In Preußen hat ſchon das Paß-
edikt von 1817 §. 2 das ordnungsmäßige Wanderbuch dem Paß gleich-
geſtellt; in Bayern iſt das Arbeitsbuch und Wanderbuch ver-
ſchmolzen (Pözl §. 156); eben ſo in Oeſterreich (Stubenrauch,
§. 447). Für Königreich Sachſen beſtehen Wanderbücher und Wander-
päſſe (Funke, Polizeigeſetze Bd. IV. I. C. 1. 2). Für Württem-
berg gilt die Verordnung vom 4. Juli 1809 ſpeziell für die Wander-
bücher (Mohl, Württembergiſches Verwaltungsrecht §. 185). Die
Vorſchriften des Deutſchen Bundes über das Wandern der Handwerks-
[271] geſellen (Bundesbeſchluß v. 13. Jan. 1835) haben ihrer Zeit einige Mo-
dificationen in das Recht der Wanderbücher gebracht, doch ſind dieſelben
ſeit 1848 wieder verſchwunden. (Vergl. Zöpfl, Staatsrecht II. §. 463,
und Rönne, Preußiſches Staatsrecht §. 333.) Die Wanderbücher ſind
an ſich zweckmäßig, indem ſie die Legitimation für das gewerbliche
Wandern ſind, und damit vor den polizeilichen Maßregeln gegen Vaga-
bunden ſchützen, wobei nur die Frage bleibt, wo die objektive Gränze
zwiſchen dem gewerblichen und ungewerblichen Wandern zu ſetzen iſt.
(S. ſpäter.) Es iſt auch hier kein Grund eines direkten Befehles
zur Führung von Wanderbüchern, wenn nur die Behandlung als Vaga-
bund ohne Wanderbuch feſtſteht. Das Kriterium des reinen Legiti-
mationsſyſtems beſtände hier darin, daß ein Wanderbuch für rechtlich
überflüſſig gehalten wird, wo ſonſtige Legitimation vorhanden iſt, wäh-
rend die Führung der erſtern wegen der Unbequemlichkeiten der letztern
anzurathen wäre. Freilich wird bei den Meiſten dieſes Standes ein
ſolcher Rath meiſtens die Wirkung und faſt immer die Form eines
Befehles haben müſſen, um ſeinen Zweck zu erreichen. Die Arbeits-
bücher als ſolche gehören dagegen der ſocialen Richtung des Gewerbe-
weſens an, und werden bei dieſem wieder erſcheinen.
6) Gewerbs- und Hauſirpäſſe. Beide ſind ihrem Weſen nach
Legitimationen für Gewerbe die im Herumziehen ausgeübt werden. Ob ſie
dem Meldungs- oder Legitimationsſyſtem angehören, hängt hier nicht von
dem Weſen der letzteren, ſondern vielmehr von der Anerkennung oder dem
Mangel der Gewerbefreiheit, beziehungweiſe der Ordnung der letzteren
ab. Wo keine Gewerbefreiheit exiſtirt, haben dieſe Päſſe einen doppelten
Charakter. Sie ſind erſtlich gewerbliche Conceſſionen, und zweitens
Erlaubnißſcheine zur Reiſe; der Mangel der Gewerbefreiheit macht ſie
daher ohne weiteres zu Theilen des Meldungsweſens. Bei der Gewerbe-
freiheit dagegen ſind ſie Legitimationen für das Vorhandenſein des be-
ſtimmten Gewerbebetriebes, und der Zweck ihrer Verleihung iſt nicht
die Erlaubniß zum Gewerbe und zum Herumziehen, ſondern die Legiti-
mation des gewerblichen Wanderns, welche die Betreffenden von
dem Vagabunden ſcheidet. Grundſätzlich ſollte man es dieſen Leuten über-
laſſen, ob ſie auf die Gefahr der polizeilichen Abführung hin es unter-
laſſen wollen, einen ſolchen Paß zu nehmen; praktiſcher iſt es wohl,
die Löſung einer ſolchen Legitimation direkt zu befehlen. Die meiſten
Staaten haben das Verhältniß durch ſpecielle Vorſchriften geordnet.
Oeſterreich: Hauſirpatent vom 4. Sept. 1852 (Stubenrauch,
II. §. 511). Preußen: (Regul. vom 28. April 1824 und 4. Jul. 1836
Rönne, II. §. 336). Bayern: Pözl §. 181. — Wir kommen natür-
lich beim Gewerbsweſen genauer auf dieß Verhältniß zurück.
[272]
Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung.
(Die Begriffe und das Recht von Competenz, Zuſtändigkeit, Gemeinde-
bürgerrecht und Heimathsweſen.)
Indem wir nunmehr den Begriff der adminiſtrativen Ord-
nung der Bevölkerung, und die Beſtimmungen, welche ſie regeln,
ſo wie die Rechte, die ſich aus ihr ergeben, darſtellen, betreten wir ein
Gebiet, welches wie wenig andere wenigſtens in der Theorie, zum
großen Theile aber auch in der Geſetzgebung, im höchſten Grade einer-
ſeits unfertig, andererſeits unklar iſt.
Die hierher gehörigen geſetzlichen Vorſchriften, Anſichten und Defi-
nitionen ſind nicht etwa bloß höchſt verſchieden, ſondern ſie liegen zu
gleicher Zeit in ſo verſchiedenen Gebieten des geltenden Rechts und der
Rechts- und Staatswiſſenſchaft zerſtreut, daß es vollſtändig unmöglich
iſt, ſich hier an eine gegebene Grundlage anzuſchließen.
Niemand, der mit dem Gange bekannt iſt, den der Einfluß der
Wiſſenſchaft auf das wirkliche praktiſche Leben nimmt, wird gern daran
denken, neue Kategorien und neue Normen aufzuſtellen, und jede der-
ſelben mit neuen ihnen eigenen Definitionen auszuſtatten. Nur die
vollſtändige Unmöglichkeit, auf Grundlage des Bisherigen ein wiſſen-
ſchaftliches Ganze herzuſtellen, kann dazu zwingen und berechtigen. Das
Folgende wird zeigen, daß jede eingehende Behandlung unſeres Gegen-
ſtandes unbedingt genöthigt iſt, der Staatswiſſenſchaft die Zumuthung
zu ſtellen, ſich hier an eine neue Auffaſſung zu gewöhnen.
In der That nämlich dürfen wir gerade hier darauf aufmerkſam
machen, daß es ſich nicht etwa bloß darum handelt, die deutſche Theorie
zu ordnen. Die Verwaltungslehre im höheren Sinne des Wortes hat
vielmehr die Aufgabe, ſolche Kategorien der Wiſſenſchaft aufzuſtellen,
welche die grundverſchiedenen Geſtaltungen der gleichen Rechtsverhältniſſe
und Begriffe in allen Staaten und zu allen Zeiten in ſich aufzu-
nehmen, und zum organiſchen Verſtändniß zu führen fähig ſind. Jeder
Verſuch, der nicht dieſem Ziel entgegenſtrebt, hat nur örtlichen Werth.
Soll das aber der Fall ſein, ſo muß die Wiſſenſchaft auf Grundlagen
zurückgehen, die unter allen Verhältniſſen dauernd ſind, und daher
auch aus dem, unter allen Verhältniſſen Geltenden, der ewigen Natur
der Ordnung der menſchlichen Gemeinſchaft, hervorgehen, und durch ſie
erſt das Beſondere und Einzelne erklären. Und das iſt hier unſere
Aufgabe, und nirgends mehr iſt ſie nothwendig.
[273]
Wir ſind daher gezwungen, zuerſt jene Fundamentalbegriffe feſt-
zuſtellen, daran das geltende Recht, das wir kennen, anzuſchließen, und
damit erſt die vergleichende Verarbeitung deſſen, was wir noch nicht
kennen, möglich zu machen. Hier haben wir keine Vorarbeit.
Begriff und Recht der adminiſtrativen Ordnung der Bevölkerung
ſind nur dann zu erklären, wenn man einen andern Begriff voraus-
ſetzt. Das iſt der Begriff und der Inhalt der adminiſtrativen
Organiſation des Staats.
Die adminiſtrative Organiſation des Staats faßt zunächſt die
vollziehende Gewalt als ſelbſtändigen, von den einzelnen Staatsange-
hörigen unabhängigen Körper auf. Sie ſteht damit der räumlichen
Ausdehnung des Landes und der unendlichen Verſchiedenheit und Ver-
theilung ſeiner Verhältniſſe gegenüber. Die Vollziehung muß daher ſich
zu einem, für alle dieſe Beſonderheiten beſtimmten, jeder derſelben an-
gemeſſenen Organismus geſtalten, in welchem jedes einzelne Organ ſeine
ihm eigene Stelle, ſeine Aufgabe, ſeine Gränze der Thätigkeit hat; es
iſt Sache der vollziehenden Gewalt, dieſe Aufgaben und Gränzen zu
beſtimmen, und dieſe Funktion derſelben haben wir als die Organi-
ſationsgewalt bezeichnet. Dieſe Organiſationsgewalt ſetzt daher jenen
Organismus des Staats voraus der deßhalb in Beziehung auf die concrete
Thätigkeit dieſer Organe der Verwaltungsorganismus des Staats
heißt. Dieſer Organismus iſt in Beziehung auf das Land die (politiſche)
Eintheilung des Staatsgebietes, in Beziehung auf die Organe des
Staats ſelbſt aber die adminiſtrative Organiſation der voll-
ziehenden Gewalt.
Es iſt nun klar, daß dieſe adminiſtrative Organiſation des Staats
eine organiſche, alſo abſolute Bedingung jeder wirklichen inneren Thätig-
keit des Staats iſt. Geſetze kann er ohne ſie geben; vollziehen aber
kann er ohne ſie nicht. Sie iſt daher die erſte Bedingung aller Verwaltung.
Dieſer erſten Thatſache für das Leben der Verwaltung ſteht nun
die zweite gegenüber, die bereits im Fremdenweſen berührt worden iſt.
Das iſt das Element der freien perſönlichen Bewegung der
Einzelnen. Dieſe freie perſönliche, örtliche Bewegung iſt ihrerſeits nicht
bloß in der Natur der Perſönlichkeit geſetzt, ſondern ſelbſt wieder Be-
dingung der Einzel- und der Geſammtentwicklung.
Nun aber ſind eben die Verhältniſſe des individuellen Lebens der
Gegenſtand der Verwaltung. Mit der örtlichen Bewegung wechſelt
daher beſtändig das Objekt der letzteren. Sie ſelbſt iſt eine feſtdauernde;
die Individuen aber, auf welche ſie ſich bezieht, werden andere. Und
Stein, die Verwaltungslehre. II. 18
[274] es entſteht daher die Frage, nach welchen Regeln ſich dasjenige Ver-
hältniß beſtimmt, vermöge deſſen der Einzelne mit ſeinen einzelnen
Lebensverhältniſſen der vollziehenden, verwaltenden Thätigkeit eines
beſtimmten Organs des Staats unterworfen ſein ſoll. Dieß Unter-
worfenſein nennen wir im Allgemeinen die Angehörigkeit. Es fragt ſich
alſo, nach welchen Grundſätzen und Regeln bei der freien örtlichen Be-
wegung des individuellen Lebens die Angehörigkeit des Einzel-
nen an das einzelne Verwaltungsorgan ſich regelt. Und die
dafür beſtehenden Beſtimmungen bilden die adminiſtrative Ord-
nung der Bevölkerung.
Es ſcheint nun wohl überflüſſig, dieſe adminiſtrative Ordnung der
Bevölkerung von den übrigen Formen der Bevölkerungsordnung weiter
zu unterſcheiden. Es gibt neben ihr noch eine populationiſtiſche, eine
geographiſche, eine nationale, eine wirthſchaftliche, eine ſociale, und
andere. Die adminiſtrative Ordnung iſt dieſen gegenüber diejenige, die
zum Zwecke der Verwaltung eingerichtet iſt, und die daher auch durch
die Verwaltung ſelbſt feſtgeſtellt wird. Sie muß daher auf jedem
Punkte auf den Staat und ſeine adminiſtrative Thätigkeit zurückgeführt
werden, da ſie von ihr ausgeht, und für ſie hingeſtellt iſt.
Daraus ferner ergibt ſich der Begriff und Inhalt des öffentlichen
Rechts dieſer adminiſtrativen Ordnung der Bevölkerung. Da ſie, und
mit ihr das individuelle Angehören des Einzelnen an die einzelne Thätig-
keit der Staatsorgane als Bedingung für dieſe Thätigkeit erſcheint, ſo
folgt, daß ſie nicht auf Willkür und Zufall beruhen kann. Es müſſen
vielmehr die Grundſätze, welche ſie regeln, objektiv feſtſtehen; ſie müſſen
ſowohl für die Organe der vollziehenden Gewalt, als für die Einzelnen
ein geltendes Recht bilden. Und in dieſem Sinne ſagen wir, daß die
Geſammtheit der Beſtimmungen, welche jene adminiſtrative Ordnung des
Staats in Beziehung auf die örtliche Bewegung der Bevölkerung bilden,
das Recht der adminiſtrativen Ordnung der letzteren enthalten.
So ſteht nun dieſer Begriff feſt; und jetzt wird es wohl nicht
ſchwer ſein, das Syſtem dieſer Ordnung und die Grundbegriffe, welche
ſeinen Inhalt bilden, gleichfalls feſtzuſtellen.
(Begründung und Entwicklung der Begriffe von Competenz und Zu-
ſtändigkeit, von Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht. — Die
Begriffe und das Recht des Staatsbürgerthums und des Indigenats,
und ihr Zuſammenhang mit dem Obigen. Schema.)
Indem nämlich nach dem oben aufgeſtellten Begriffe der Angehö-
rigkeit dieſelbe in dieſem weiten, noch ſehr unbeſtimmten Sinne die
[275] Beziehung aller Lebensverhältniſſe der Einzelnen zu der geſammten
Organiſation der vollziehenden Gewalt umfaßt, ſo iſt es wohl einleuch-
tend, daß das Syſtem dieſes Rechts der adminiſtrativen, eben für die
Function der Vollziehung ſelbſt erſt hingeſtellten Ordnung auf dem Or-
ganismus dieſer vollziehenden Gewalt beruhen muß. Und in der That
iſt dem ſo, und die betreffenden Begriffe erſcheinen erſt in dieſer Be-
ziehung leicht und klar verſtändlich.
Die vollziehende Gewalt theilt ſich nämlich, wie bekannt, unter
allen Verhältniſſen ihrem Weſen nach in drei Organismen: den amt-
lichen oder rein ſtaatlichen, den Organismus der Selbſtverwaltung und
den des Vereinsweſens. Das Angehören an den Verein nennen wir
die Mitgliedſchaft. Sie iſt ihrer Natur nach frei, und dem ſubjektiven
Willen unterworfen; daher gibt es für ſie im obigen Sinne kein objek-
tives Recht der Organiſation. Daſſelbe erſcheint vielmehr in zwei großen
Theilen, deren allgemeinſten Inhalt wie deren Definition und rechtliches
Grundprincip wir als organiſche, das iſt dauernde und ſtets vor-
handene, wenn auch oft durch die verſchiedenſten Verhältniſſe und Formen
verdeckte hinſtellen müſſen.
Der erſte Theil dieſes Rechts entſteht, indem wir den Einzelnen
mit ſeinen örtlich wechſelnden Lebensverhältniſſen gegenüber der Geſammt-
heit aller Organe der amtlichen Verwaltung denken. Es ergeben ſich
daraus zwei Grundverhältniſſe und zwei Rechtsbegriffe.
1) Die Competenz. Das erſte Verhältniß iſt die Beſtimmung
des Maßes und der Gränze für die vollziehende Gewalt, welche den
einzelnen amtlichen Organen übertragen iſt, und zwar theils in Be-
ziehung auf die örtliche, theils in Beziehung auf die ſachliche, theils
endlich in Beziehung auf die perſönliche Begränzung derſelben. Dieſe
Beſtimmung und die aus ihr hervorgehende Gränze bilden die Com-
petenz des Organes, und in ihrer objektiven, von der Organiſations-
gewalt bald als Geſetz, bald als Verordnung feſtgeſtellten Gültigkeit
das Competenzrecht deſſelben. Der geſammte Organismus eines
jeden Staates in ſeiner vollziehenden Gewalt erſcheint daher, wie das
ſchon im erſten Bande ausgeführt iſt, als ein, das ganze Gebiet des
ſtaatlichen Organismus umfaſſendes Syſtem von Competenzen,
welche das Recht der Vollziehung für jedes einzelne Organ feſtſtellen.
2) Die Zuſtändigkeit. Das zweite Verhältniß entſteht dadurch,
daß der Einzelne in Lebensverhältniſſen und Aufenthalt, und daher
auch in Beziehung auf die Competenzen wechſelt. Durch dieſen Wechſel
entſteht daher für den Einzelnen in Beziehung theils auf die Verwal-
tungsfunction, theils auf die Berechtigungen aus dem Einzelverkehr die
Frage, welcher Competenz der Einzelne in jedem einzelnen Falle
[276] angehöre; und dieſe Angehörigkeit des Einzelnen iſt das, was wir die
Zuſtändigkeit nennen.
Das Verhältniß zwiſchen Competenz und Zuſtändigkeit iſt daher
einfach. Sie ſind unbedingt verbunden und entſprechen einander,
ſo weit es ſich um Perſönlichkeiten handelt, ähnlich wie Subjekt und
Objekt. Dagegen iſt die Competenz weiter als die Zuſtändigkeit, weil
ſie auch rein ſachliche Aufgaben (z. B. Wege, Flüſſe, Anſtalten ꝛc.)
umfaßt, während die Zuſtändigkeit nur das Angehören des Individuums
an die Competenz bedeutet. Die Competenz iſt ſomit die Ordnung für
das Organ, die Zuſtändigkeit dieſelbe Ordnung in ihrer Beziehung
auf den Einzelnen; die Zuſtändigkeit iſt die Erfüllung der Competenz
durch die Einzelnen und ihre Lebensverhältniſſe. Die Zuſtändigkeit
macht dafür das Organ competent. Sie iſt die individuelle Seite der
Competenz. Die Unterſcheidung iſt ſo alt wie die Selbſtändigkeit der
Verwaltung, wenn auch nicht theoretiſch feſtgeſtellt. Sie iſt ausgedrückt
in den Worten competentia und domicilium, competence und domi-
cile. Sie iſt keineswegs unwichtig für die Anwendung des öffentlichen
Rechts der amtlichen Organiſation auf die einzelnen Fälle, wie wir
unten ſehen werden.
Dieſem erſten Theile gegenüber ſteht der zweite Theil dieſer
ganzen Ordnung, den wir zuerſt formell bezeichnen wollen, um dann
auf den Unterſchied im Weſen dieſes Rechts überzugehen, das wieder
der hiſtoriſchen Entwicklung zum Grunde liegt.
Dieſer zweite Theil entſteht, indem wir den Einzelnen gegenüber
dem Organismus der Selbſtverwaltung denken, und auf dieſen
Organismus die beiden Begriffe der Competenz und der Zuſtändigkeit
anwenden.
Das Angehören an jeden Organismus der Selbſtverwaltung ent-
hält nämlich zwei Momente für den Organismus ſelbſt und für den
Einzelnen.
1) Gemeindebürgerrecht. Zuerſt nämlich erzeugt das Ange-
hören des letzteren an den erſtern eine Theilnahme deſſelben an der
organiſch geordneten Selbſtbeſtimmung des betreffenden Selbſtver-
waltungskörpers, und damit ein beſtimmtes, durch die Organiſations-
gewalt in Geſetz oder Verordnung geregeltes Recht auf Theilnahme an
dieſer Selbſtbeſtimmung, und den Rechten und Verpflichtungen, welche
ein ſolches Recht enthält.
Da nun die Selbſtverwaltungskörper als Landſchaften, Gemeinden
und Körperſchaften auftreten, ſo gibt es auch dem Begriff nach für
jede dieſer drei Formen ein ihr entſprechendes Recht dieſer Angehörig-
keit. Wir finden die Form dieſer Angehörigkeit für die Landſchaft
[277] bekanntlich im alten, jetzt verſchwundenen Begriff und Recht des Land-
sassiatus plenus und minus plenus. Die hiſtoriſche Entwicklung, welche
der Schwerpunkt der Selbſtverwaltung jedoch allmählig und in bei
weitem überwiegendem Maße in die Gemeinde gelegt hat, hat auch
jenes Recht faſt ausſchließlich, wenn auch nicht ganz, auf diejenige
Form reducirt, in der es in der Gemeinde vorhanden iſt. Und hier
nennen wir daſſelbe das Gemeindebürgerrecht. Das Gemeinde-
bürgerrecht enthält daher die öffentlich rechtlichen Beſtimmungen, nach
welchen der Einzelne der Gemeinde als ein, in der Selbſtverwaltung
den Willen derſelben mitbeſtimmendes und an der Selbſtvoll-
ziehung in Gemeindeämtern u. ſ. w. theilnehmendes Glied angehört.
2) Das Heimathsweſen. Das zweite Moment iſt nun das-
jenige, nach welchem die Angehörigkeit an den Selbſtverwaltungskörper
den Einzelnen zu einem Gegenſtand der verwaltenden Thätigkeit
derſelben macht. Die Thätigkeit der Selbſtverwaltungskörper erſtreckt
ſich nämlich in einer Reihe der wichtigſten Beziehungen über jeden,
der innerhalb ihrer örtlichen Gränze ſich aufhält. So weit dieß der
Fall, und die adminiſtrative Thätigkeit der Selbſtverwaltungskörper
bloß durch die einfache Thatſache des Aufenthalts beſtimmt iſt, hat das
Recht der Selbſtverwaltungskörper ganz den amtlichen Charakter der
Competenz und Zuſtändigkeit. So wie aber dieſe Angehörigkeit nicht
mehr auf dem bloßen zufälligen Aufenthalt, ſondern auf der Angehörig-
keit des ganzen perſönlichen Lebens beruht, tritt ein anderer Begriff
ein, und das iſt der der Heimath. Der Begriff der Heimath umfaßt
daher das Angehören an den Selbſtverwaltungskörper vermöge der
ganzen Geſchichte des individuellen Lebens. Und auch hier haben hiſto-
riſche Gründe es hervorgerufen, daß rechtlich dieſer Begriff wieder nur
bei der Gemeinde Platz greift. Wir ſprechen daher adminiſtrativ nur
von der Gemeindeheimath und der Heimathsgemeinde. Das Recht dieſer
Heimath iſt nun im Allgemeinen zunächſt das Recht, die Geſammtheit
und Einheit der perſönlichen Lebensbeziehungen als Theil der Verwal-
tung einer Gemeinde anerkannt zu ſehen. Allein dieſem Rechte des
Einzelnen entſpricht die Pflicht der Gemeinde, alſo der Heimath, in
ihrer Verwaltung den ihr Angehörigen auch als integrirenden Theil
ihrer ſelbſt zu betrachten und zu behandeln. Dieſe Pflicht, als ſpeci-
fiſche Pflicht der einzelnen Gemeinde gegenüber dem Einzelnen als ihrem
Angehörigen und nicht als Staatsbürger, iſt nun durch den hiſto-
riſchen Entwicklungsgang darauf reducirt worden, daß die Angehörigkeit
in Bezug auf die Verwaltung nichts mehr enthält, als die Verpflich-
tung der Gemeinde zur Armenunterſtützung. Das Heimathsweſen,
urſprünglich das ganze Rechtsleben der Gemeindeangehörigen umfaſſend,
[278] und ſie der geſammten Verwaltung derſelben unterwerfend, beſteht
daher jetzt nur noch in der Geſammtheit der Beſtimmungen, welche ver-
möge der Angehörigkeit dem Einzelnen das Recht auf die
Armenunterſtützung der Heimathsgemeinde geben.
Um nun den Begriff und Inhalt der Angehörigkeit im weiteſten Sinne
zu einem vollſtändigen, das ganze Gebiet derſelben erſchöpfenden Bilde
zu machen, wird es wohl hier geſtattet ſein, noch zwei Verhältniſſe und
Rechtsbegriffe aufzuſtellen und zu definiren, ohne welche das Ganze
vielen unvollſtändig erſcheinen wird, und die auch hiſtoriſch und ſelbſt
geſetzlich vielfach mit dem Obigen in Berührung ſtehen, jedenfalls ſie
aber in den wichtigſten Beziehungen erklären. Das ſind die beiden Be-
griffe von Staatsbürgerthum und Indigenat, namentlich mit
der Beziehung des letzteren zum Gemeindebürgerrecht und Heimathsweſen.
1) Staatsbürgerthum. Das Staatsbürgerthum iſt nämlich
das Angehören einer Perſönlichkeit an den Staat, inſofern dieß An-
gehören der letztern in irgend einer geſetzlich oder hiſtoriſch feſtſtehenden
Form das Recht gibt, an der Bildung des Staatswillens als Ange-
höriger des Staats (alſo nicht vermöge amtlicher Stellung u. ſ. w.)
Theil zu nehmen. Der Begriff des Staatsbürgerthums iſt daher nur
dann recht klar, wenn eine Verfaſſung in geſetzlicher Form dieß Recht
des Einzelnen juriſtiſch formulirt hat, und daſſelbe daher als ein indi-
viduelles Rechtsverhältniß des Einzelnen gegenüber der Gemeinſchaft
und Einheit aller Andern auftritt. Es iſt daher jetzt wohl leicht er-
klärlich, weßhalb das Wort und der Begriff des Staatsbürgerthums
ſo neu iſt, und erſt in dieſem Jahrhundert entſteht, während die Sache
ſo alt iſt, wie die Thatſache der Verfaſſung. Da dieß Ganze eine
Frage der Verfaſſungslehre iſt, ſo können wir hier nicht darauf ein-
gehen. Nur die Bemerkung fügen wir hinzu, daß wo die Angehörigkeit
als ſolche ſchon ein Recht zur Theilnahme an der Verfaſſung gibt,
wie in Athen, Rom, der erſten franzöſiſchen Republik, auch kein Unter-
ſchied zwiſchen Staatsbürgerthum und Staatsangehörigkeit denkbar iſt,
ſo weit es ſich eben um mündige Männer handelt, während da wo
zwiſchen den letztern der Unterſchied von ſtimm- und wahlberechtigten
exiſtirt, auch das Staatsbürgerthum ſich ſtreng von der Staatsange-
hörigkeit oder Staatsunterthanſchaft ſcheidet, wie in den deutſchen
Verfaſſungen. Hält man dieſe ſo äußerſt einfachen Begriffe feſt, ſo
verſchwinden damit eine Menge von Unklarheiten im Gebrauch der Worte
und dem Sinn, den man mit ihnen zu verbinden pflegt.
2) Das Indigenat. Während demnach die beiden Begriffe von
(Staats-) Unterthanſchaft und Staatsbürgerthum das Verhältniß des In-
dividuums zum Staatswillen und ſeiner Bildung ausdrücken, und die
[279] Rechtspunkte beſtimmen, welche darüber entſcheiden, ſteht daneben das
zweite Grundverhältniß, nämlich das des Einzelnen zur vollziehenden
Gewalt und der concreten Form derſelben, der Verwaltung. Inſofern
nämlich der Einzelne als dieſer Vollziehung und Verwaltung angehörig
betrachtet wird, beſitzt er das Indigenat. Das Indigenat enthält
daher von Seiten der Einzelnen das Recht, zu fordern, daß die Voll-
ziehung und Verwaltung des eigenen Staats ihm alle diejenigen Lei-
ſtungen wirklich präſtire, welche durch das Angehören an den Staat
bedingt ſind; und anderſeits das Recht der Organe der Vollziehung,
von dem Einzelnen wieder zu fordern, daß er den Vorſchriften der voll-
ziehenden Gewalt den ſtaatsbürgerlichen Gehorſam leiſte. Es iſt dabei
ganz gleichgültig, worauf das Indigenat beruht, auf Grundbeſitz,
Anſtellung oder Geburt; es hat, weil es ein ganz beſtimmter und con-
creter Begriff iſt, immer denſelben Inhalt. Und hier daher iſt auch
der Ort, eine wir möchten ſagen wunderliche Unklarheit zu beſeitigen,
die auf dieſem Punkte vielfach vorkommt. Dieſe beſteht nämlich in dem
Verhältniß des Indigenats zur Gemeindeangehörigkeit.
Wenn nämlich das Indigenat das Angehören an die vollziehende
Gewalt im Allgemeinen bedeutet, dieſe vollziehende Gewalt aber, wie
wir gezeigt, ſich als amtliche und als Selbſtverwaltung zeigt, ſo iſt es
ganz ſelbſtverſtändlich, daß der concrete Inhalt des Indigenats, der
in der Anwendung des Indigenatsrechts auf die wirklichen Lebensver-
hältniſſe des Einzelnen ſich zeigt, einerſeits in dem Vorhandenſein der
jedesmal erforderlichen Competenz und Zuſtändigkeit, anderſeits in dem
des Gemeindebürger- und Heimathsrechts erſcheinen muß. Denn Amt
und Selbſtverwaltung ſind ja nicht etwas außerhalb der Vollziehung
Stehendes, ſondern ſie ſind ja eben der concrete Inhalt und Organis-
mus dieſer vollziehenden Gewalt ſelbſt. Es folgt daraus alſo in ein-
fachſter Weiſe, daß da wo dieß auch geſetzlich der Fall iſt, das Indigenat
unbedingt die in ihm liegende Angehörigkeit an die Staatsverwaltung
einerſeits als die Zuſtändigkeit, anderſeits wenigſtens als das Heimaths-
recht des Indigenen in irgend einer Gemeinde enthalten muß. Dieß
iſt nun für die Zuſtändigkeit ganz unbezweifelt, da ihre Baſis die all-
gemeine Staatsangehörigkeit iſt. Für das Heimathsrecht dagegen kann
die Sache ſehr bezweifelt werden, da es allerdings im Weſen des Staats
liegt, Gemeinden zu haben, aber nicht, ganz in ſeinen Gemeinden ent-
halten zu ſein. Es iſt daher ſehr wohl möglich, daß man ſich ein In-
digenat ohne Heimathsrecht, natürlich noch viel eher ohne Gemeinde-
bürgerrecht denke. Das letzte wird ſogar namentlich bei Beamteten ſehr
oft der Fall ſein, wenn ihnen das Geſetz nicht ein Gemeindebürgerrecht
ausdrücklich mit der Anſtellung verleiht. Wo nun ſolche Beamte durch
[280] Geburt Staatsangehörige ſind, da haben ſie natürlich ſtets vermöge
dieſer Geburt ihre natürliche Heimath (ſ. unten). Allein ſehr oft iſt
das nicht der Fall, und alsdann tritt das Verhältniß ein, nach wel-
chem das Indigenat ohne Heimathsrecht daſteht, während es
ſeine volle Zuſtändigkeit beſitzt. Weiter aber kann dieß auch nur dann
von praktiſcher Bedeutung werden, wo die Unterſtützung auf die
Heimathsgemeinde fällt. Hat entweder der Staat die Armenunter-
ſtützung überhaupt, oder hat er den Beamten einen Ruhegehalt aus-
geſetzt, ſo iſt allerdings ein Indigenat ohne Heimathsrecht vorhanden,
aber der Mangel des letzteren iſt durchaus unpraktiſch. Hier iſt daher
gar kein Grund, den Betreffenden die Verpflichtung zur Angehörigkeit
an eine Gemeinde als Heimathsgemeinde vorzuſchreiben; und eben deß-
halb mangelt eine ſolche Beſtimmung auch faſt in allen Staaten. Hat
aber der Staat für die berufenen Beamten keine Penſion, oder ruht
die Armenunterſtützung auf der Gemeinde, ſo iſt es allerdings vollkom-
men motivirt, vorzuſchreiben, daß jeder Staatsangehörige „auch einer
Gemeinde angehören ſolle,“ um vermöge des Heimathsrechts der even-
tuellen Armenunterſtützung ſicher zu ſein. Nur muß alsdann der
Staat auch genau vorſchreiben, wie das Heimathsrecht in ſolchem Falle
erworben wird, weil ſonſt eine gänzliche Lücke im beſtehenden Geſetze
eintritt, da hier wirklich ein Indigenat ohne Heimathsrecht eine recht-
lich vollkommen hülfloſe Perſönlichkeit herſtellen würde, ſowohl wenn
der Staat einen Beamteten beruft, als wenn er das Indigenat ſonſt
ertheilt, ohne eine Heimath anzuweiſen. — Wir haben dieß hier ange-
führt, um auf die völlige Unklarheit in den Verfaſſungen aufmerkſam
zu machen, die den doctrinären Satz: „Jeder Staatsbürger muß einer
Gemeinde angehören,“ aufgenommen haben, ohne über das Indigenat
etwas zu beſtimmen, wie Braunſchweig (Landesordnung 1832, §. 4),
Hannover (Geſetz vom 3. Sept. 1848, §. 12. Sachſen-Coburg.
Verfaſſungsurkunde 1852, §. 60). Praktiſch iſt es dagegen, wenn Würt-
temberg (Verfaſſungsurkunde 1819, §. 19) die Zuſicherung einer Auf-
nahme in die Gemeinde für die Ertheilung des Indigenats vorausſetzt;
dann kann es mit Recht in §. 62 den obigen Satz acceptiren. Altenburg
nimmt gleich die Staatsbeamten aus (Verfaſſungsurkunde 1831, §. 100);
wie es mit dem Indigenat ſteht, bleibt unerörtert. Warum hat Zöpfl
den nicht mehr entſprechenden Ausdruck „Landes-Indigenat“ beibehalten?
(II. §. 298.) — Wir glauben, daß das Obige, das eigentlich wie geſagt
der Verfaſſungslehre angehört, hier genügen wird, einerſeits um auf
die gerügten Mängel aufmerkſam zu machen, anderſeits aber, um nun-
mehr das Bild der Angehörigkeit zu vervollſtändigen. Und jetzt wird
es, wie es ſcheint, nicht unzweckmäßig ſein, nachdem Begriff, Recht und
[281] Syſtem wohl ziemlich feſtſtehen, den Inhalt des letztern in dem ihm
eigenthümlichen Schema darzuſtellen, da gerade ein ſolches mit dazu
beiträgt, die Verwirrung in einfache Grundformen aufzulöſen.
Das Schema der Begriffe der Angehörigkeit im Allgemeinen wird
ſich demnach in folgender Weiſe an das Schema des perſönlichen Staats-
begriffes anſchließen, indem wir Staat und Individuum einander gegen-
überſtellen.
Das iſt nun die Grundlage, an welche wir die folgende hiſtoriſche
Entwicklung des Rechts der adminiſtrativen Ordnung der Bevölkerung
anſchließen, indem wir uns auf die Verwaltung beſchränken, und die
drei Begriffe des Staatsbürgerrechts, der Unterthanſchaft und des
Indigenats der Verfaſſungslehre überweiſen.
Da der Begriff der Verwaltung der deutſchen Staatswiſſenſchaft fehlte, ſo
darf es uns wohl nicht wundern, daß auch der Begriff der adminiſtrativen
Ordnung der Bevölkerung und ſein eben ſo reicher als wichtiger Inhalt nicht
zur klaren Vorſtellung gediehen iſt. Mit richtigem Takt hat allerdings die
Theorie das Recht des Staatsbürgerthums und des Indigenats in das ſogen.
Staatsrecht (ſollte heißen Verfaſſungslehre) aufgenommen, ohne ſich dabei über
die ſpezifiſche Bedeutung des „Unterthans“ recht klar zu werden. Allein mit
dem Begriffe der Competenz und der Zuſtändigkeit wußte man zunächſt gar nichts
anzufangen. Man ließ ſie deßhalb einfach da, wo ſie hiſtoriſch ſich gebildet
hatten und ihre greifbarſte Anwendung und Ausbildung fanden, im Gebiet des
Proceſſes, und gelangte höchſtens zu der Frage nach dem Competenz ſtreit
und -Conflikt, die doch ſchon auf den allgemeineren Inhalt der Competenz,
weit über die Gränzen des gerichtlichen Verfahrens hinaus, hätten hinweiſen
müſſen. Daß nicht bloß eine Competenz für Gerichte, ſondern eben ſo ſehr
eine ſolche für Finanzbeamtete und für Verwaltungsorgane beſtehe, wußte
man recht wohl; allein man wußte nicht ſie unterzubringen, da man einerſeits
keine Vorſtellung vom Organismus der vollziehenden Gewalt hatte, und ander-
ſeits nicht ſah, daß das, was das bürgerliche Recht das Domicil nannte, ſein
Analogon in der „Zuſtändigkeit“ in Finanz- und Verwaltungsſachen habe, und
[282] nichts ſei als die allgemeine Zuſtändigkeit in ihrer ſpeziellen Anwendung auf
die Rechtsverwaltung. So mangelte von dieſer Seite die erſte Bedingung der
organiſchen Auffaſſung. Nicht weniger, nur in anderer Form, war das der
Fall mit der Angehörigkeit an die Selbſtverwaltung. Die hiſtoriſche Entwick-
lung des öffentlichen Rechts, welche den Schwerpunkt in die Entwicklung der
Gemeindefreiheit legte, ſah in dem Gemeindebürgerthum nur ein Stück Ver-
faſſung, und behandelte es daher auch nur bei der Gemeindeordnung je nach
dem Standpunkt, den jeder dabei einnahm. Eben deßwegen aber wußte man
mit dem Heimathsweſen gar nichts aufzuſtellen. Es vermochte nicht einmal
eine feſte Kategorie in der Theorie überhaupt zu werden, ſondern die darauf
bezüglichen Beſtimmungen wurden von Einigen überhaupt nicht in die Dar-
ſtellung des Gemeindeweſens aufgenommen, von andern nur beiläufig erwähnt,
während ſich neben der ſyſtematiſchen Staatslehre ausgezeichnete Werke ſpeziell
über das Heimathsweſen herausbildeten, wie die von Kries und Bitzer. Das
Folgende hat zur Aufgabe, hier nun ſo weit möglich einen definitiven Boden
zu gewinnen.
Bevölkerungsordnung und ihrer Grundverhältniſſe.
(Die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts muß von der Zuſtimmung der
Gemeinde, das Heimathsrecht von der Organiſationsgewalt abhängig ſein. Da-
her bildet ſich das geltende Recht weſentlich erſt als Syſtem mit dem Auftreten
der allgemein ſtaatlichen Verwaltung.)
So einfach ſich nun auch im Syſtem Begriff und Inhalt der
adminiſtrativen Bevölkerungsordnung und der in ihr enthaltenen ein-
zelnen Rechtsverhältniſſe hinſtellen, ſo iſt es doch wahr, daß es keines-
wegs leicht iſt, ſich darüber im Einzelnen ein klares Bild zu verſchaffen.
In der That hat die Geſchichte ſelbſt Jahrhunderte gebraucht, ehe ſie
zu einer feſten und durchſichtigen Ordnung in allen dieſen Punkten ge-
langt iſt; und als ſie ihre große Aufgabe auch hier vollendet, zeigte es
ſich, daß die Geſtalt jener Ordnung hier wie immer bei den verſchie-
denen Völkern eine weſentlich verſchiedene war, namentlich im Gebiete der
Ordnung der Selbſtverwaltung. Was für die deutſche Bildung gilt,
gilt wieder nicht für Frankreich, und die franzöſiſche wieder nicht für
England, von andern Ländern zu ſchweigen. So erklärt ſich ſchon
daraus, wie unſicher die Wiſſenſchaft gegenüber dem ſelbſt noch ſo un-
ſichern Proceß der poſitiven Rechtsbildung geblieben iſt
Und dennoch iſt es keine Frage, daß dieſe ganze ſo verſchieden-
artige Bewegung von einem und demſelben Princip beherrſcht wird,
deſſen Verſtändniß, an ſich ſehr einfach, zuletzt allein das einfache Ver-
ſtändniß des geltenden Rechts in ſeiner Beſonderheit gibt. Möge es
uns verſtattet ſein, dieß Princip darzulegen, und es aus der Natur
[283] der Elemente, welche die adminiſtrative Bevölkerungsordnung ſelbſt bil-
den, zu entwickeln.
Es iſt nämlich zuerſt keine Frage, daß die Verwaltung eine feſte
Ordnung der amtlichen Angehörigkeit in Competenz und Zuſtändigkeit
unbedingt nothwendig macht. Die Herſtellung dieſer Ordnung iſt
daher Aufgabe der vollziehenden Gewalt, und dieſe erzeugt dieſelbe
durch ihre Organiſationsgewalt, welche Competenz und Zuſtändigkeit,
wo kein Geſetz vorhanden iſt, durch Verordnungen beſtimmt. Die auf
dieſe Weiſe erzeugte amtliche Ordnung der Bevölkerung würde ebenſo,
wenn ſie allein beſtände, einfach auf den Inhalt der geltenden Rechts-
beſtimmungen zurückzuführen ſein, und das für die wirkliche Verwaltung
durch die einzelnen Organe allein geltende Princip wäre die durch die
Vollziehung der letzteren unbedingt vorgeſchriebene Pflicht, die einmal
anerkannte Gränze der Competenz und Zuſtändigkeit auch in Beziehung
auf jedes einzelne Individuum und ſeine Lebensverhältniſſe inne
zu halten.
Allein ein ganz anderes Princip macht ſich für die Selbſtverwal-
tungskörper geltend. Dieſe haben, da die Angehörigkeit an ſie ſie zu-
gleich zu Leiſtungen gegen den Einzelnen verpflichtet, den Grundſatz
feſtgehalten, daß ſie als Bedingung für die Aufnahme und mithin für
die Angehörigkeit ihre eigene verfaſſungsmäßige Zuſtimmung fordern,
während bei der amtlichen Angehörigkeit darum von Seiten des Amts
keine Rede ſein kann.
Das Recht der Angehörigkeit und mit ihm die ganze adminiſtrative
Ordnung erſcheint ſomit in zwei weſentlich verſchiedenen Grundformen.
Es ſind gleichſam zwei Syſteme dieſer Ordnung, die ſich über die Be-
völkerung ausbreiten, und bei denen ein Widerſpruch und ein Kampf
auf den erſten Blick unvermeidlich iſt.
In der That nämlich iſt bei aller Verſchiedenheit in Form und
Recht der Angehörigkeit an Amt und Gemeinde doch der letzte Zweck
beider derſelbe. Beide beſtimmen zwar die formelle Bedingung für
die Vollziehung der Verwaltungsaufgaben in Beziehung auf ein Indi-
viduum; dieſe Verwaltungsaufgaben ſelbſt aber ſind für alle gleich.
Das höhere Weſen des Staats verlangt mithin, daß ſie irgendwie unter
allen Umſtänden wirklich vollzogen werden. Wenn daher die Selbſt-
verwaltungskörper — ſagen wir lieber gleich zu unſerer Klarheit die
Gemeinden, vermöge ihres Rechts den Eintritt des Individuums in
die Gemeinde, alſo das Entſtehen der Angehörigkeit verweigern, ſo iſt
es klar, daß damit diejenigen Verwaltungsaufgaben, welche eben durch
die Gemeinden in Beziehung auf den Einzelnen vollzogen werden
ſollen, die Möglichkeit eben dieſer Vollziehung ſelbſt verlieren. Das
[284] aber heißt, daß vermöge jenes Rechts der Gemeinde eine im Weſen des
Staats liegende Aufgabe überhaupt nicht mehr vollzogen wird.
Das nun kann der Staat, als ihm widerſprechend, nicht dulden.
Er muß dafür ſorgen, daß die Verwaltungsaufgaben unter allen Um-
ſtänden vollzogen werden. Es bleiben ihm daher gegenüber jenem Recht
der Gemeinde nur zwei Wege. Entweder er muß eine ſolche Aufgabe
überhaupt zur Aufgabe der Staatsverwaltung machen, und ſie
mithin der Selbſtverwaltung entziehen, womit die Gemeindeangehörig-
keit als Bedingung zur Aufgabe überhaupt wegfällt, oder er muß die
Gemeinde in Beziehung auf dieſe Aufgabe vermöge ſeiner Organiſations-
gewalt verpflichten, die Angehörigkeit unter gewiſſen Bedingungen
anzuerkennen, und damit die Erhaltung jener fraglich gewordenen Auf-
gabe zu übernehmen. In dieſem Falle wird der Selbſtverwaltungs-
körper ſelbſt ein Organ des amtlichen Organismus, und functionirt
nur ſtatt des Amtes. In beiden Fällen hat die Gemeindeangehörig-
keit ihren wahren Charakter verloren. Sie iſt zur Gemeindezuſtändig-
keit geworden. Das ſcheint klar.
Unter dieſen Umſtänden muß es ſich nun allerdings fragen, ob
damit überhaupt noch eine Gemeindeangehörigkeit fortbeſtehen kann, da ja
am Ende alle Aufgaben der Gemeinde localiſirte Staatsaufgaben, und
ihre Vollziehung daher überhaupt nicht mehr von der Zuſtimmung der
Gemeinde abhangen kann. Und in der That iſt es eigentlich die Ant-
wort auf dieſe Frage, welche das Rechtsprincip der adminiſtrativen Be-
völkerungsordnung zur Entſcheidung bringt, indem ſie die Gränze
zwiſchen der amtlichen Verwaltung und der Selbſtverwaltung in Be-
ziehung auf die Angehörigkeit des Einzelnen beſtimmt und damit die
Grundlage für die letztere gibt. Ob nämlich eine Gemeinde die in
ihren Kreis fallenden Aufgaben vollziehen will, oder nicht, iſt überhaupt
nicht fraglich. Die Selbſtverwaltung beſteht ja nicht darin, daß der
Selbſtverwaltungskörper entſcheidet, ob er das Geſetz oder die Verwal-
tung vollziehen will. Sondern das Weſen derſelben erſcheint vielmehr
in dem Recht, die Organe ſich ſelbſt zu wählen, welche die örtliche
Vollziehung haben; dieſe haben dann als vollziehendes Organ der
Staatsverwaltung zu funktioniren. Das iſt wohl klar. Aber eben
aus dieſem Satze folgt dann nun auch das Princip für das Recht der
Gemeinden, über die Angehörigkeit durch die Zuſtimmung zur Aufnahme
zu entſcheiden. Inſofern nämlich die Angehörigkeit das Recht des
Einzelnen enthält, an der Vollziehung der Verwaltung als Gemeinde-
glied Theil zu nehmen, alſo für die Gemeindeverwaltung wählbar
und wahlfähig zu ſein u. ſ. w., inſofern muß dieſe Angehörigkeit auf
dem freien Beſchluß der Gemeinde beruhen. Inſofern es ſich dagegen
[285]darum handelt, die Angehörigkeit als perſönliche Bedingung für die
wirkliche Vollziehung der Verwaltungsaufgaben an dem Einzelnen an-
zuerkennen, iſt der Selbſtverwaltungskörper ein Organ der vollziehenden
Gewalt, und kann grundſätzlich die Angehörigkeit eben ſo wenig von
ſeiner Zuſtimmung abhängig machen, als jedes andere Amt.
Wenden wir nun dieſe an ſich ſehr einfachen Sätze auf den obigen
Inhalt des allgemeinen Begriffs der Gemeindeangehörigkeit, das Ge-
meindebürgerthum und das Heimathsrecht an, ſo ergibt ſich der folgende
Satz aus der Natur der Sache. Nach dem Weſen der Selbſtverwaltung
muß die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts von der Zu-
ſtimmung der Gemeinde, die Erwerbung des Heimathrechts
dagegen nicht von dieſer Zuſtimmung, ſondern von den allgemeinen
Vorſchriften der Organiſationsgewalt abhängig ſein; und
zwar darum, weil der Inhalt des Heimathsrechts das Recht auf Un-
terſtützung durch den Staat vermöge des Organs der Gemeinde iſt.
Daraus nun folgt nicht, daß dieſe Organiſationsgewalt die Pflicht
zur Unterſtützung unbedingt mit der Gemeindeheimath verbinde. Sie
hat es z. B. in Frankreich bekanntlich nicht gethan. Aber es folgt,
daß ſie es thun kann, in der Art wie in Deutſchland, oder in der
Art wie in England; und daß nur die Zuſtimmung der Gemeinde
dazu nicht nothwendig iſt, wie wir das unten im Einzelnen zeigen
werden.
Dieſer principielle, organiſche Satz iſt nun auch wirklich die
Grundlage der Geſchichte des Rechts der Gemeindeangehörigkeit ge-
worden; nur muß ein zweiter, nicht minder wichtiger Satz voraufgehen.
Iſt dem nämlich ſo wie wir geſagt, ſo folgt, daß das Einſchreiten
der ſtaatlichen Organiſationsgewalt an der Stelle der Zuſtimmung der
Gemeinde für die Beſtimmung der Angehörigkeit wieder davon abhängt,
daß die Staatsverwaltung die beſtimmte Frage und das beſtimmte
Recht, um welches es ſich handelt, auch als eine Aufgabe der Staats-
verwaltung anerkenne. Denn dieſe Anerkennung iſt ja eben die or-
ganiſche Bedingung für ihr Einſchreiten. Dieſe Anerkennung ſelbſt aber
bildet ihrerſeits einen Theil des ſelbſtbewußten Auftretens der
ſtaatlichen Verwaltung überhaupt, die Erſcheinung jenes großen
Proceſſes, welcher einen ſo wichtigen Theil des Lebens von Europa
bildet, und vermöge deſſen das perſönliche, höhere Staatsleben ſich in
Königthum und Amt als ein ſelbſtändiges perſönliches Daſein, als einen
ſelbſtthätigen Organismus aus der Geſellſchaftsordnung heraus ent-
wickelt. Dieſe Erhebung des Staats, dieſe Scheidung und Klärung der
ſtaatlichen Verwaltung von der örtlichen, dieſe Organiſirung ihrer Herr-
ſchaft über die letztere iſt die allgemeine Bewegung, in welcher das
[286] allmählige, aber ſichere Herausbilden der Gültigkeit des obigen organi-
ſchen Satzes über amtliche und Gemeindeangehörigkeit eine keineswegs
unwichtige Stelle einnimmt. In der That gibt es demnach keine Ge-
ſchichte der Gemeindeangehörigkeit für ſich. Sie iſt ein Theil des Ganzen,
und kann nur an der Seite der Entwicklung des Amtsrechts dargeſtellt
werden, und die Unſicherheit in der bisherigen theoretiſchen Auffaſſung
deſſelben beruht namentlich darauf, daß man ſie von der letzteren ge-
trennt gedacht hat. Hält man ſie aber in ihrem natürlichen Zuſammen-
hange feſt, ſo ergibt ſich folgender Satz als das allgemeine Princip
der hiſtoriſchen Entwicklung des Angehörigkeitsrechts innerhalb der Ver-
waltung überhaupt: „Die für Competenz und Zuſtändigkeit geltenden
Rechtsbeſtimmungen entwickeln ſich mit der beſtimmteren Geſtaltung des
eigentlichen Amtsweſens, die für Gemeindeangehörigkeit und Hei-
mathsweſen geltenden dagegen mit der Idee der Verwaltung und
ihrer Aufgaben.“ Und von dieſem Standpunkt aus glauben wir das
heutige Recht und ſein Verſtändniß nunmehr leicht klar machen zu können.
Nur müſſen wir hier wieder den Standpunkt der vergleichenden
Rechtswiſſenſchaft feſthalten.
Wenn es einerſeits wahr iſt, daß die Angehörigkeit der Selbſt-
verwaltung gar nicht recht verſtändlich werden kann, ohne auf die amt-
liche Angehörigkeit beſtändig zurückzugreifen, ſo iſt es andererſeits eben
ſo gewiß, daß vermöge des eben aufgeſtellten allgemeinen Princips die
Geſchichte und Geſtalt der Angehörigkeit überhaupt, oder der admini-
ſtrativen Ordnung der Bevölkerung und ihres Rechts wieder in jedem
Lande verſchieden iſt. Denn der Charakter der inneren Entwick-
lung der Hauptländer Europas iſt ja eben die individuelle Geſtalt des
Verhältniſſes zwiſchen der ſtaatlichen und der Selbſtverwaltung, auf die
wir in all dieſen Fragen ſtets zurückgeworfen werden. Es ſcheint daher,
nachdem der allgemeine Standpunkt feſtſteht, vor allem wichtig, ſofort
eben auf dieſe concrete Geſtalt zurückzugehen, und nach unſerem Plane
die Ordnung der Angehörigkeit in den drei großen Culturvölkern zu
charakteriſiren. Eine Reihe von naheliegenden Gründen wird uns dabei
allerdings für das deutſche Recht etwas weitläuftiger hier laſſen, und
in England und Frankreich wird vieles unaufgelöst bleiben. Aber wir
tröſten uns damit, daß wohl nur wenig erſte Verſuche in der Welt
ihr Ziel gleich genügend erreicht haben.
Indem wir uns die Charakteriſirung der ſpeziell auf das deutſche Recht
bezüglichen Literatur vorbehalten, können wir doch nicht umhin, hier eine Be-
merkung voraufzuſenden. Wir glauben dem Obigen gemäß ſchon hier ſagen
zu können, daß in der Beachtung und dem Verſtändniß des Heimathsweſens
Kriterium und Maßſtab für das Verſtändniß des Rechts der ganzen adminiſtrativen
[287] Ordnung der Bevölkerung gegeben iſt; denn erſt im Heimathsrecht treten
amtliche und Selbſtverwaltung einander beſtimmt gegenüber. Während man
nun aber das Indigenat unter dem Staatsrecht, die Competenz unter der Ge-
richtsordnung, das Gemeindebürgerrecht unter der Gemeindeordnung behandelt,
gibt es für das Heimathsweſen gar keine ſyſtematiſche Stelle, wenn man
nicht den Begriff der adminiſtrativen Bevölkerungsordnung aufnimmt. Eben
darum dürfen wir keine regelrechte Behandlung deſſelben in der deutſchen Lite-
ratur erwarten; in der That ſchweigen einige, wie Zachariä, Klüber,
Gönner u. ſ. w. ganz davon, andere wie Zöpfl nehmen es als Moment am
Indigenat auf, andere wie Mohl (Präventivjuſtiz S. 194) ſehen nichts als eine
Polizeianſtalt darin. Es lag nun in dem Weſen des Heimathsrechts, daß es,
ſo wie eine ernſthafte Publiciſtik des Armenweſens und zwar mit Verglei-
chung von England und Frankreich entſtand, nicht länger bei Seite geſchoben
werden konnte. In der That hat das Studium des Armenweſens daher auch
die eingehende Betrachtung des Heimathsweſens hervorgerufen, und hier können
wir nicht umhin, zwei Männer in erſter Reihe zu ſtellen, denen wir eine ent-
ſchiedene Erweiterung unſerer Kenntniſſe und unſeres Geſichtskreiſes verdanken.
Das ſind Kries (Die engliſche Armenpflege, 1863) und Bitzer (Das Recht
auf Armenunterſtützung und die Freizügigkeit, ein Beitrag zu der Frage des
allgemeinen deutſchen Heimathsrechts, 1863). Beide haben das letztere gründ-
lich unterſucht, die hiſtoriſchen Thatſachen mit aufgenommen, und zugleich für
die vergleichende Verwaltungslehre die Bahn gebrochen. Wir werden in Be-
ziehung auf das Armenweſen ſie als Hauptquellen feſtzuhalten haben. Allein
im Heimathsrecht ſind beide nicht zum Abſchluß gelangt, weil ſie eben nur in
ſeiner Beziehung zum Armenweſen unterſucht haben, und nicht in ſeiner allge-
meineren Bedeutung als organiſchen Theil der adminiſtrativen Bevölkerungsord-
nung. Das Correlat des Heimathsweſens, das Gemeindebürgerrecht, verſchwindet
ihnen daher, wie den gewöhnlichen ſtaatsrechtlichen Gebieten im Gemeindebürger-
recht das correſpondirende Heimathsrecht verſchwindet, wie Mohl in ſeinen
Darſtellungen des Gemeindeweſens (Literatur der Staatswiſſenſchaft II. und III.).
Indem wir daher dieſe unſere höchſt achtungswerthen Vorgänger beſtändig be-
nutzen, müſſen wir doch einen andern Standpunkt einnehmen. Wir müſſen feſt-
halten, daß das Heimathsrecht jedes einzelnen Staats in der That einen
Theil der Geſammtbildung des öffentlichen Rechts der Bevölke-
rungsordnung ausmacht, und daher auch nur im hiſtoriſchen Zuſammen-
hange mit der letzteren richtig dargeſtellt werden kann. Wir wollen dieß verſuchen.
(Die Selbſtverwaltungskörper als Grundlage der adminiſtrativen Ordnung
der Bevölkerung. Die Stellung der Gerichte und ihre Aufgabe. Begriff und
Inhalt des Verwaltungsbürgerrechts. Die Verſchiedenheit des Heimaths-
rechts in England, Schottland und Irland.)
Vielleicht in keinem Lande der Welt ſind die Grundſätze, welche
die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung beſtimmen, ſo früh und
[288] ſo klar, namentlich in Beziehung auf das Heimathsweſen entwickelt,
als in Großbritannien. Aber freilich muß man hier einen andern Maß-
ſtab anlegen als auf dem Continent. Man kann jedoch ſagen, daß
wenn die Principien der adminiſtrativen Bevölkerungsordnung in ihren
beiden großen Anordnungen, der amtlichen und der Selbſtverwaltung
klar ſind, damit auch das ganze engliſche Staatsweſen gegeben iſt.
Zugleich aber muß man hinzufügen, daß die Individualität der drei
großbritanniſchen Königreiche trotz der Gemeinſchaft des Staatslebens
ſich auch hier zeigt, und der Punkt, wo ſie auftritt, iſt das Hei-
mathweſen.
Wir müſſen, um das klar zu machen, uns wenigſtens zum Theil
an dasjenige anſchließen, was wir in der Lehre von der vollziehenden
Gewalt über England geſagt haben.
Das Princip und Recht der freien Perſönlichkeit, das ſich die
angelſächſiſche Race mitten unter allen Stürmen erhalten hat, hält zu-
gleich den Grundſatz feſt, daß dasjenige, was wir die Aufgabe der
Verwaltung nennen, nicht wie auf dem Continent, Sache der amtlichen
„Obrigkeit,“ ſondern Sache der Genoſſenſchaften der freien Männer ſei.
Der Amtsorganismus iſt in England niemals die verwaltende Gewalt
geworden. Die Stellung des Staats zum Volke und namentlich zur
Verwaltung in demſelben iſt daher eine ſpecifiſch andere; auf ihr beruht
auch die ganze adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung, und hat ſich
von ihr aus zu einem ſo einfachen Syſtem entwickelt, wie es vielleicht
gar kein anderes in Europa gibt. Die einzige Schwierigkeit ſeines
Verſtändniſſes beruht nur in der tiefen Verſchiedenheit von denen des
Continents.
In Großbritannien hat nämlich mit wenigen Ausnahmen der amt-
liche Staat mit der Finanzverwaltung und der Verwaltung des Innern
nichts zu thun, ſondern er gibt nur die Geſetze, und es iſt dann
Sache der Selbſtverwaltungskörper, dieſe Geſetze durch ihren eigenen
Organismus zu vollziehen. Die Vollziehung der Geſetze durch denſelben
wird endlich nicht geſichert durch eine Oberaufſicht, wie wir das Weſen
derſelben in der vollziehenden Gewalt beſtimmt haben, ſondern durch
das Recht jedes Einzelnen, die Selbſtverwaltungskörper vor dem Ge-
richte zu verklagen. Die Harmonie zwiſchen Geſetzgebung und Ver-
waltung wird daher, ohne Beſchwerderecht, nur durch das Klagrecht,
und ſomit durch die Function des Gerichts hergeſtellt.
Daraus nun ergibt ſich die Grundlage der Ordnung der Be-
völkerung.
Großbritannien hat nämlich demgemäß, im Gegenſatze zum Con-
tinent, mit Ausnahme weniger und meiſt ganz ſpezieller Fällen keine
[289] amtliche Competenz und Zuſtändigkeit in Finanz- und In-
nerer Verwaltung. Seine Competenz und Zuſtändigkeit beſchränkt
ſich auf die gerichtliche. Dieſe aber iſt wieder von der continentalen
dadurch verſchieden, daß ſie ſich nicht etwa bloß auf die Rechtsverhält-
niſſe bezieht, welche zwiſchen den Einzelnen vorkommen, ſondern ſie
umfaßt eben ſo ſehr die Selbſtverwaltungskörper in Beziehung auf
ihre Verwaltungsthätigkeit. Das Recht des auf dieſe Weiſe die Voll-
ziehung des Staatswillens ordnenden Organismus der Gerichte beruht
mithin darauf, daß der letztere nur das Geſetz zur Ausführung
bringt, wie das bürgerliche und Strafgericht auf dem Continent. Eine
Competenz und Zuſtändigkeit der Staatsdiener für Verordnungen
im Sinne des Continents gibt es nicht; nur der Richter darf im
Namen des Geſetzes Gehorſam fordern. Die adminiſtrative Ordnung
der Bevölkerung iſt daher in Beziehung auf die amtliche Verwaltung
mit wenigen Ausnahmen eine rein gerichtliche.
Dem nun entſpricht der zweite Grundſatz, daß, da die amtliche
Verwaltung die Verwaltungsaufgaben nicht vollzieht, ſondern die Selbſt-
verwaltungskörper dieſelbe unter gerichtlicher Haftung zu vollziehen haben,
die Ordnung der Bevölkerung in Beziehung auf die innere Verwaltung
in der Ordnung der Selbſtverwaltungskörper gegeben iſt.
Auf dem Continent iſt nun die Grundform der letzteren, wie wir früher
gezeigt haben, die Ortsgemeinde. Es iſt daher leicht erklärlich, daß
man ſich die engliſche Selbſtverwaltung als ein Syſtem von Orts-
gemeinden gedacht hat, und daher geneigt iſt, auf die engliſche Selbſt-
verwaltung den Begriff der Gemeindeangehörigkeit und des Gemeinde-
bürgerrechts des Continents anzuwenden. Und darin liegt der Grund
faſt aller Unklarheit über die Verhältniſſe der engliſchen Selbſtverwaltung.
In der That muß man ſich daran gewöhnen, den Begriff, das
Recht und die Bedeutung der Ortsgemeinde in England als ganz
untergeordnet zu betrachten, und ſich daher vor der Anwendung des
Begriffs der continentalen Gemeindeangehörigkeit auf engliſche Verhält-
niſſe zu hüten. Wir haben ſchon im erſten Band gezeigt, daß man
an die Stelle des erſteren in England Begriff, Recht und Geſtalt der
Verwaltungsgemeinde zu ſetzen hat. Das Weſen der Orts-
gemeinde, auf dem ganzen Continent, hiſtoriſch begründet, beſteht
nämlich darin, daß ſie die Geſammtheit aller Aufgaben der Ver-
waltung innerhalb ihrer örtlichen Gränzen zu verwalten hat. Die
engliſche Verwaltungsgemeinde iſt dagegen die, für einen beſtimmten
Verwaltungszweck vereinigte, und innerhalb ihrer örtlichen Gränzen
für die Erfüllung dieſer geſetzlich vorgeſchriebenen Aufgaben haftende
Genoſſenſchaft. Das Weſen der engliſchen Verwaltungsgemeinde
Stein, die Verwaltungslehre. II. 19
[290] beſteht dann darin, daß, während die continentale Verwaltungsgemeinde
dieſe Haftung durch ihre Stellung unter der Oberaufſicht der amtlichen
Verwaltung erfüllt, bei der engliſchen dieſelbe als eine bürgerlich recht-
liche, durch das Gericht zu erzwingende anerkannt wird.
Das was wir als Gemeindeangehörigkeit auf dem Continent ſetzen,
iſt daher in England die Verpflichtung des Einzelnen, an der Erfüllung
jenes Verwaltungszweckes Theil zu nehmen und mit für dieſe Erfüllung
zu haften, während dem continentalen Heimathsweſen das eventuell
durch bürgerliche Klage geltend zu machende Recht des Einzelnen ent-
ſpricht, daß die Vollziehung jener Verwaltungsaufgaben auch auf ihn
Anwendung finde.
Daraus folgt, daß das, dem continentalen Gemeinde bürgerrecht
Entſprechende in England nicht bloß in der Gemeindeangehörigkeit ge-
geben ſein kann, da die Verwaltungsgemeinde als Verwaltungsorgan
mit ihren eigenen Mitteln die Aufgaben der Verwaltung zu erfüllen
hat. Sondern die Theilnahme an der vollziehenden Verwaltung durch
Wahl und Wahlfähigkeit iſt von ſelbſt durch die Theilnahme an
den Leiſtungen gegeben, durch welche die Verwaltungsgemeinde die
ihr obliegenden Aufgaben der Verwaltung ins Leben ruft. Dieſe Theil-
nahme ſind eben die Steuern. Die Selbſtverwaltung der engliſchen
Verwaltungsgemeinde iſt daher ohne die Selbſtbeſteuerung gar nicht zu
denken, wie wir das ſchon früher gezeigt haben. Die individuelle Theil-
nahme an dieſer Selbſtverwaltung aber hat damit auch ihre durchaus
einfache Bedingung erhalten. Mit dem Aufenthalt in der Verwaltungs-
gemeinde tritt die Verpflichtung zur Theilnahme an der Steuer ein.
Sowie dieſe Steuer wirklich bezahlt wird, iſt auch die Theilnahme an
der Verwaltung Selbſtfolge. Und ſo ergibt ſich das, dem continentalen
Gemeindebürgerrecht Entſprechende für England. Mit der Steuer für
eine beſtimmte Verwaltungsaufgabe an die beſtimmte Verwaltungs-
gemeinde wird der Einzelne ohne Weiteres Bürger dieſer Verwal-
tungsgemeinde. Wir glauben, daß wir dies Verhältniß, dem Ge-
meindebürgerrecht entſprechend, am beſten das Verwaltungsbürger-
recht nennen (paying scot and bearing lot).
Da nun auf dieſe Weiſe die ganze innere Verwaltung in den
Händen dieſer Verwaltungsgemeinden iſt, ſo hat der Satz, daß jeder
Engländer einer Gemeinde angehören ſolle, eigentlich gar keinen
Sinn. Denn das werde ſo viel heißen, als die nutzloſe Tautologie,
daß die innere Verwaltung vollzogen werden muß — deren Voraus-
ſetzung ja eben das Angehören an die betreffenden Verwaltungs-
gemeinden iſt. Es kann daher der engliſchen Geſetzgebung auch nie
einfallen, einen ſolchen Satz erſt geſetzlich auszuſprechen. — Und da
[291] ferner die verſchiedenen Aufgaben durch die Selbſtbeſteurung vollzogen
werden müſſen, ſo hat auch der Angehörige gar kein Recht darauf,
etwa nicht Bürger ſeiner Verwaltungsgemeinde werden zu wollen. So
wie er ſich in derſelben aufhält und zahlen kann, ſo muß er zahlen,
wie gegenüber dem Staat. Er wird daher in die Verwaltungsgemeinde
nicht etwa aufgenommen, wie auf dem Continent, ſondern er wird
einbezogen. Es iſt dann ſeine Sache, ſeine Wahlrechte auszuüben
oder nicht. — Endlich iſt es ſelbſtverſtändlich, daß jeder nicht etwa bloß
nur Bürger Einer Gemeinde ſein, und nur in Einer ſeine Stimme
abgeben kann, ſondern er iſt ohne weiteres Verwaltungsbürger in
allen Körpern, in denen er die Laſten derſelben mitträgt. Alle dieſe
Sätze, welche das Gebiet der Angehörigkeit in England beſtimmen, er-
geben ſich, denken wir, einfach aus dem Unterſchiede zwiſchen Orts-
und Verwaltungsgemeinde. —
Dies nun ſind die Grundlagen, von denen aus ſich auch der Be-
griff und die Geſtalt der engliſchen Armenheimath, wie wir glauben,
leicht erklärt. Es mag uns zu dem Ende erlaubt ſein, hier noch einen
Blick auf den allgemeinen Bildungsproceß der engliſchen Verwaltungs-
gemeinden zu werfen.
Das Syſtem und die Vertheilung jener Verwaltungsgemeinden
kann ſich nämlich offenbar auf zwei Wegen bilden, die freilich mit ein-
ander beſtändig auf das Engſte in Berührung treten. Es kann nämlich
eine beliebige Genoſſenſchaft ſich ſelbſt einen ſpeciellen Verwaltungszweck
innerhalb ihrer örtlichen Gränzen ſetzen — die örtliche Begränzung
iſt es, welche ſie vom Verein unterſcheidet — oder es kann das Geſetz
die Geſammtheit der Bewohner innerhalb örtlicher Gränzen zur Voll-
ziehung einer ſolchen Aufgabe verpflichten. Die Natur der Sache
bringt es dabei mit ſich, daß da, wo für Einen Zweck bereits eine
Gemeinſchaft oder eine Verwaltungsgemeinde beſteht, das Geſetz ſich
für andere Verwaltungszwecke wohl auch der Regel nach an dieſe ſchon
beſtehende Gemeinſchaft anſchließen wird. Und eben ſo natürlich iſt es,
daß auch die für den erſten Zweck, aus dem ſich die Gemeinſchaft ge-
bildet hat, auferlegten und vertheilten Steuern gleichfalls für die Selbſt-
beſteurung der folgenden Zwecke zum Grunde gelegt werden. So wird
es ſich allerdings von ſelbſt machen, daß die erſte Verwaltungsgemeinde
den Körper und die Gränzen für die folgenden abgeben
wird, ſo daß auf dieſe Weiſe ein Verhältniß entſteht, in welchem eine
und dieſelbe Verwaltungsgemeinde eine ganze Reihe von Verwaltungs-
zwecken zu erfüllen hat, und ſich damit der continentalen Orts-
gemeinde nähert. Das iſt nun in der That in England der Fall
geweſen. Die urſprüngliche Verwaltungsgemeinde war das Parish, das
[292] Kirchſpiel. Allmählig übernahm dieſelbe die übrigen localen Verwal-
tungsaufgaben, und ward ſomit allerdings die Grundform der Selbſt-
verwaltung. Allein die Selbſtändigkeit der Verwaltungsaufgaben, und
damit die urſprüngliche Idee der Verwaltungsgemeinde erhält ſich bis
zum gegenwärtigen Augenblicke in den Formen der Steuern, die
nicht wie auf dem Continent als Beſteurung der Gemeinde als ſolcher,
ſondern als eben ſo viel ſelbſtändige Steuerarten auftreten, als die
Gemeinde Zwecke hat. Daß ſich die meiſten in Steuerobject, Steuer-
einheit und Steuerfuß nach der Hauptſteuer conformiren, iſt zwar
natürlich und daher auch ganz von ſelbſt entſtanden, aber weder noth-
wendig noch allgemein.
Das iſt nun die allgemeine Grundlage für die Bildung des gelten-
den Heimathsrechts in England geworden.
Zu den großen Zwecken nämlich, welche im Weſen des Staats
liegen, und daher nach engliſchem Princip von dieſen Verwaltungsgemein-
den in irgendeiner Weiſe erfüllt werden mußten, gehört nun unzweifelhaft
die Armenunterſtützung. Sie unterſcheidet ſich von allen anderen
Leiſtungen der Verwaltung dadurch, daß ſie ſtets ein einzelnes Indi-
viduum zum Object hat, und daher auch in dieſem einzelnen Individuum
ganz beſtimmte rechtliche Vorausſetzungen fordert. Das Armenweſen
nun, deſſen Princip und Darſtellung der Verwaltung der Geſellſchaft
angehört, hat in der ganzen chriſtlich germaniſchen Welt ſich urſprüng-
lich an die Kirche angeſchloſſen. Der Einfluß der Kirche auf ſeine Ver-
waltung beſtand zunächſt und vor allem darin, das Princip einer
ſittlichen Pflicht eines kirchlichen Körpers zur gemeinſchaftlichen
Unterſtützung der dieſem Körper angehörigen Armen feſtzuſtellen. Jener
Körper war in England das Kirchſpiel, das parish — alſo gleich
anfangs nicht die Ortsgemeinde des Continents, ſondern die kirch-
liche Verwaltungsgemeinde, ein Unterſchied, der für das ganze
Armenweſen natürlich von höchſter Bedeutung werden mußte. Ehe ſich
daher noch der Staat in irgend einer Weiſe mit der ſocialen Verwal-
tung des Armenweſens abgab, war daſſelbe ſchon eine Aufgabe der
Selbſtverwaltung für das Kirchſpiel geworden, ohne daß dies ausdrück-
lich ausgeſprochen, oder von irgend jemand bezweifelt worden wäre.
Nur waren das Maß und die Ordnung in dieſer Unterſtützung, oder
die wirkliche Verwaltung der Armenpflege, natürlich in dieſer Epoche
noch ganz den Kirchenvorſtänden und der Verſammlung der Kirchen-
bürger (der vestry) überlaſſen.
Da trat nun, in Schottland im 16., in England im 17., in Ir-
land allerdings erſt im 19. Jahrhundert der Grundſatz geſetzlich ins
Leben, daß die Verwaltung der Armenpflege eine ſtaatliche Pflicht
[293] für das Kirchſpiel ſei. Das Kirchſpiel ward damit zu einer geſetzlich
geordneten Verwaltungsgemeinde ſpeciell für das Armen-
weſen. Es hatte die Pflicht, die Aufgaben der ſtaatlichen Verwaltung
als Selbſtverwaltungskörper zu übernehmen. Die Art wie dies geſchah,
die Folgen die es für das Armenweſen hatte, gehören der Armenver-
waltung an. Allein mit der Aufſtellung dieſer erſten, in der Geſchichte
vorkommenden reinen Verwaltungsgemeinde mit Verwaltungsbürger-
recht und geſetzlicher Selbſtbeſteurung, als welche wir das Armenkirch-
ſpiel der Armenakte von 1601 (39 Elis.) bezeichnen müſſen, trat nun
natürlich auch die zweite Frage auf, gegen welche Individuen
dieſe Verwaltungsgemeinden nun zur Armenpflege verpflichtet ſein
ſolle. Und hier zeigte es ſich nun bald, daß dieſe Verpflichtung einen
anderen Charakter habe, als die freie Uebernahme von Staatsauf-
gaben. Indem der Staat die Armenhülfe als ſtaatliche Aufgabe
erklärt, nimmt dasjenige Organ, welches dieſe Aufgabe vollzieht,
den Charakter eines amtlichen Organs an. Es kann als ſolches
nicht mehr frei beſchließen, ob und gegen wen es ſeine Funk-
tionen erfüllen will. Es wird ihm, wie es das organiſche Weſen des
Amts fordert, ſeine Competenz als Pflicht, vermöge der Organiſa-
tionsgewalt, vorgeſchrieben, und der Einzelne hat ein Recht darauf,
daß dies Organ, obgleich es ein Selbſtverwaltungskörper iſt, gleich wie
ein Amt jene Pflicht ihm gegenüber erfülle. Oder, es entſteht der Be-
griff und das Recht der Zuſtändigkeit für die geſetzlich vorgeſchriebene
Pflicht der Armenunterſtützung. Iſt das nun aber der Fall, ſo muß
natürlich auch das Geſetz die Bedingungen und Gränzen dieſer Zuſtän-
digkeit regeln, das iſt, dem Einzelnen ein perſönliches Recht auf die
Armenunterſtützung einer beſtimmten Armenverwaltungsgemeinde
(oder eines beſtimmten Kirchſpiels) geben. Und dies Recht nennen wir
das Heimathsrecht.
Auf dieſe Weiſe nun hat ſich der unbeſtimmte und allgemeine
Begriff der Angehörigkeit zuerſt in England durch die Armengeſetzgebung
in ſeine beiden großen Beſtandtheile oder Elemente aufgelöst, obgleich
wir hier keiner Orts-, ſondern nur einer Verwaltungsgemeinde begegnen.
Der erſte iſt der des Verwaltungs-(Gemeinde) bürgerthums, als
Recht und Pflicht zur Theilnahme an der Selbſtverwaltung und Steuern,
der zweite iſt der des Heimathsweſens, als Pflicht der Verwaltungs-
gemeinde und Recht des Einzelnen auf individuelle Vollziehung der
ſtaatlichen Armenverwaltung.
Natürlich war dieſe Unterſcheidung, und die Nothwendigkeit, für
dies Heimathsweſen ein eigenes Rechtsſyſtem aufzuſtellen, nicht gleich
anfangs klar. Man mußte erſt erfahren, daß das „Angehören“ eine
[294]ſehr große Menge von Zuſtänden umfaßt, von der bloßen Durch-
reiſe bis zum erblichen Beſitz eines Grundbeſitzes innerhalb der Ver-
waltungsgemeinde. Jeder dieſer Zuſtände begründete irgend ein Ver-
hältniß zur Verwaltungsthätigkeit; ſelbſt der augenblickliche und rein
zufällige Aufenthalt erzeugte ja das Recht auf ſicherheitspolizeilichen
Schutz, die Zuſtändigkeit vor Gericht bei geſchloſſenem Vertrage, und
anderes. Die Frage war daher bald die, welche perſönlichen Verhältniſſe
den Einzelnen die Zuſtändigkeit für die örtliche Armenverwaltung, oder
das Heimathsrecht geben ſollten. Dieſe Frage mußte die Organiſationsge-
walt entſcheiden, und daraus entſtand nun neben der Armenverwal-
tungsgeſetzgebung Englands die erſte Armenzuſtändigkeitsgeſetzgebung,
oder die erſte Geſtalt des geſetzlichen Heimathsrechts.
Dieſes Heimathsrecht hat nun ſeine Geſchichte, und der Charakter
dieſer Geſchichte des engliſchen Heimathsrechts, weſentlich von dem des
Continents unterſchieden, beſteht darin, daß er ſich eben naturgemäß
an die Geſchichte der Armenverwaltungsgemeinde anſchließt,
während das Heimathsrecht Frankreichs von der Geſchichte der amt-
lichen Competenz und Organiſation, das Heimathsrecht Deutſchlands
von der Geſchichte der Ortsgemeinde abhängt. Es iſt von entſchei-
dender Wichtigkeit dies feſtzuhalten. Das einzige, was uns in der
ſonſt muſterhaften Darſtellung von Kries mangelt, iſt eben dieſes
richtige Verſtändniß des Heimathsrechts in England, das ihm ganz
deutlich vorſchwebt, ohne daß er zur definitiven Formulirung gelangte
(S. 97). Bitzer hat es bei weitem nicht ſo gut verſtanden.
Sechzig Jahre nach der Akte von Eliſabeth erkannte man nämlich,
daß man, um die entſcheidenden techniſchen Ausdrücke jetzt zu gebrauchen,
der Armenverwaltungsgemeinde die Beſtimmung ihrer, ſie zur Unter-
ſtützung verpflichtenden Competenz zwar nicht ſelbſt überlaſſen, aber
auch die Armenzuſtändigkeit nicht bloß mit der einfachen Thatſache des
Aufenthalts verbinden könne. Das Parlament gab daher ein (orga-
niſatoriſches) Geſetz, das, obgleich die Elemente deſſelben ſo naturgemäß
ſind, daß ſie ſich in der ganzen Welt wiederfinden und daher auch vor
dieſem Geſetz anerkannt ſind, doch durch die Klarheit ſeiner Beſtimmungen,
namentlich aber durch ſeine Verbindung mit der Anerkennung der ſtaat-
lichen Armenverwaltung als Aufgabe der Selbſtverwaltung, als das
Grundgeſetz alles Heimathsrechts angeſehen werden muß. Das
war die Akte 14. Charl. II. C. 12 oder die ſogen. Law of Settle-
ment, oder Settlement-Act. Dies Geſetz hatte mit der Armen-
verwaltung gar nichts zu thun, ſondern nur mit der adminiſtrativen
Bevölkerungsordnung in ſpecieller Beziehung auf die Armenverwaltung.
Darnach war die Zuſtändigkeit für die Armenpflege in einem Kirchſpiel
[295]erworben 1) durch Geburt, 2) durch Grundbeſitz, 3) durch Aufenthalt,
Dienſt- oder Lehrlingsverhältniß in 40 Tagen. Da aber dieſer Erwerb
für den Einzelnen die Verpflichtung für das Ganze enthielt, ihm für
das ganze Leben die Armenunterſtützung zu geben, ſo war es gerecht,
die Belaſtung mit dieſer Verpflichtung nicht durch die bloße willkür-
liche und zufällige Thatſache des Aufenthalts, alſo durch die Willkür
des Einzelnen, erzeugen zu laſſen. Daraus entſtand der Satz, der für
Europa maßgebend ward, daß die Bedingung für den Erwerb dieſer
Zuſtändigkeit in dem Vorhandenſein der Erwerbsfähigkeit,
alſo in diejenige Bedingung geſetzt werden ſolle, welche eben den
Erwerb des Heimathsrechts als ſolchen werthlos für den
Erwerber machte. Die Settlement-Act beſtimmte demgemäß, daß
auf Antrag der Kirchſpielsbeamten zwei Friedensrichter ermächtigt ſein
ſollten, jede Perſon, die dem Kirchſpiel zur Laſt zu fallen drohte,
binnen jener 40 Tage in ihre bisherige geſetzliche Heimath zurückzuſchicken
(to remove, woher die Settlement-Act auch wohl Removal-Act heißt).
Um endlich den freien Verkehr nicht zu ſtören, ſollte die Erhaltung des
bisherigen Heimathsrechts durch einen Heimathſchein, den der Ar-
beiter mit ſich führte, auch über vierzig Tage hinaus gültig ſein.
Wir haben dieſen ganzen Gang der Entwicklung nicht bloß darum
weitläuftiger gegeben, weil er ſonſt gewöhnlich nicht klar aufgefaßt
worden iſt, ſondern auch weſentlich darum, weil er den Grundzug für
die Armenzuſtändigkeit jeder gezwungenen Armenpflege in Europa ge-
bildet hat, und ewig bilden wird. Man kann ſehr verſchiedener Anſicht
darüber ſein, ob es richtig oder falſch iſt, ſtaatliche Armenunterſtützung
einzuführen. Allein wenn man ſie will, gleichviel in welcher Form,
ſo wird das Princip des Heimathsrechts unbedingt im Weſentlichen das
der Settlement-Act ſein müſſen. Und dies Princip beſteht darin, die
Zuſtändigkeit des Beſitzloſen in Beziehung auf das Armenweſen ſo viel
als möglich auf die natürliche Heimath, das iſt die durch Geburt
erworbene, zurückzuwerfen, und den wirthſchaftlichen Aufent-
halt zwar in allen übrigen Functionen der Verwaltung, aber ſo wenig
als möglich im Gebiete der Armenverwaltung zur Zuſtändig-
keit werden zu laſſen. Die Willkür oder das Intereſſe des Be-
ſitzloſen ſoll vermöge der einfachen Thatſache des Aufenthalts keine
Armenzuſtändigkeit, das iſt kein Heimathsrecht geben.
Um dieß zu gewinnen, wird vielmehr gefordert, daß der Ankömmling
entweder ſeine wirthſchaftliche Selbſtändigkeit durch Erwerb eines Grund-
beſitzes ſelbſt beſtätige, oder daß die Gemeinde — gleichviel ob Orts-
oder Verwaltungsgemeinde — das Vorhandenſein derſelben freiwillig
anerkenne. Dieſe Principien können nur da beſeitigt werden, wo
[296] entweder gar keine Armenpflicht vorhanden iſt, oder der Staat als
Ganzes ſie übernimmt. Und denſelben Sätzen und Geſetzen werden
wir in Deutſchland wieder begegnen.
Das iſt das erſte Ergebniß dieſes Proceſſes. An daſſelbe aber ſchließt
ſich ſofort ein zweites. Jene Beſchränkung der Zuſtändigkeit erſcheint
nämlich alsbald als eine Beſchränkung der perſönlichen Freiheit in der
örtlichen Bewegung. Im Anfange nun wird dieſe letztere wenig em-
pfunden, denn die Arbeiter reiſen mit Heimathſchein, und den Beſitzen-
den nimmt jede Verwaltung gern auf. Allein das Hemmniß, das in
der Erreichung der erſtern liegt, wird in dem Grade für die richtige
Vertheilung der Arbeitskräfte drückender, als die letztere ungleicher wird.
So entſtand, nach mehrern ſcharfen Heimathbeſtimmungen, der wichtige
Verſuch, die Anwendung der Heimathſcheine zu erweitern (8. 9.
Will. III. c. 30. Kries §. 25), der aber nur unbefriedigende Erfolge
zeigte, die namentlich von Coode (Report to the Poor Law Board on
the Law of Settlement and Removal of the Poor 1831 S. 56 und 66)
ſtark hervorgehoben werden. Man ging daher 1795 einen Schritt weiter,
und beſtimmte, daß die Ausweiſung der nicht heimathberechtigten Ar-
beiter nicht auf die bloße Beſorgniß, ſondern erſt bei wirklichem
Eintreten der Hülfsbedürftigkeit berechtigt ſein ſolle (Knies S. 607)
wobei man den Widerſpruch beging zu ſetzen, daß ein Nichtbeſitzender
ſich zwar allenthalben aufhalten dürfe ſo lange er wolle, aber durch
den bloßen Aufenthalt überhaupt kein Heimathsrecht gewinne
(35 G. III. c. 101); die Acte (4. 5. Will. IV. 76) von 1834 fügte
dann hinzu, daß die einjährige auch vertragsmäßige Dienſtzeit kein
Heimathsrecht geben ſolle (Kries S. 105). Alle dieſe Geſetze hatten nun
gemeinſchaftlich den Erfolg den Kries (S. 109) ganz richtig bezeichnet,
daß der Nichtbeſitzende in die Unmöglichkeit kam, ſich überhaupt eine
andere Heimath zu erwerben, als diejenige, „die er ſich durch Geburt oder
Lehrzeit einmal erworben,“ alſo die natürliche Heimath. So erfüllte
ſich hier das Geſetz, von dem wir eben geſprochen. Die Arbeit war als
Grundlage des Volksreichthums von Wiſſenſchaft und Praxis anerkannt,
und doch geſetzlich von dem Erwerbe der Heimath ausgeſchloſſen.
Dieſer Zuſtand, obwohl die ſtrenge Conſequenz der Grundlagen,
die wir bezeichnet haben, dieſe grundſätzliche wirthſchaftliche Hei-
mathsloſigkeit der Nichtbeſitzenden und die ausſchließliche Geltung
der natürlichen Heimath für ſie, war denn doch ein zu tiefer Wider-
ſpruch, als daß er lange hätte ertragen werden können.
Um nun das gegenwärtige Heimathsrecht, das ſich daraus
bildete, richtig zu beurtheilen, muß man hier einen zweiten Proceß ins
Auge faſſen, der ſich allerdings zunächſt auf die Armenverwaltung
[297] bezog, aber zugleich für die Armenzuſtändigkeit entſcheidend ward. Das
war die Umgeſtaltung der alten Armenverwaltungsgemeinde der Parish, in
die neue, die Union, die zum Zweck der Herſtellung der Arbeitshäuſer
vor ſich ging. Allerdings gehört die Frage nach den Workhouses
nicht hierher; allein ihr indirekter Einfluß auf das Heimathsweſen be-
ſtand darin, daß die neue Verwaltungsgemeinde mit ihren größeren
Mitteln und ihren weiteren Gränzen an Kraft gewann, die Armenlaſten
zu übernehmen, und daher den Erwerb der Heimath auch ohne Beſitz
leichter zulaſſen konnte. Während bis dahin England dem Continent
vorausgegangen, konnte es jetzt im Heimathsrecht demſelben folgen.
Zuerſt brachte Robert Peel das Geſetz durch, daß „Arbeiter, die
fünf Jahre ununterbrochen an Einem Orte ohne Armenhülfe ſich auf-
gehalten, zwar nicht das Heimathsrecht gewinnen (nicht settled), wohl
aber nicht ausweisbar ſind.“ Dieſe Akte (9. 10. Vict. c. 66. 1846)
dieſe ſogen. Irremoveable Paupers-Act war eine halbe Maßregel,
denn verließ der Arbeiter dieſen Aufenthalt, ſo war ſeine Nichtaus-
weisbarkeit gebrochen, und ſeine Lage ganz die frühere. Daher nahm
das Parlament ſchon im folgenden Jahre die ſogen. Bodkins-Act
(10. 11. Vict. c. 110) an, nach welcher die nicht ausweisbaren, aber
doch auch nicht heimathberechtigten Armen nicht mehr von der Parish,
in der ſie ſich aufhalten, ſondern von der Union, der dieß Kirchſpiel
angehört, im Falle der Armuth unterſtützt werden ſollten. (Kries §. 26).
Auch das iſt offenbar nur eine unfertige Maßregel, und der Kampf
über das Heimathsrecht wird ſo lange in England fortbeſtehen, bis
das ganze Heimathsrecht auf die Union als wahre Armenverwaltungs-
gemeinde zurückgeführt ſein wird. Kries hat die verſchiedenen Be-
ſtrebungen und Gründe trefflich dargeſtellt. Es ſcheint kein Zweifel,
worin der Charakter der Bewegung dieſer Rechtsbildung in England
liegt, und das ſcheint Bitzer gefühlt zu haben. Wir wollen die Sache
hervorheben, obgleich ſie eigentlich erſt zur Armenverwaltung gehört.
Die ſtaatliche Verpflichtung zur Armenunterſtützung einmal angenom-
men, müſſen natürlich Competenz und Zuſtändigkeit ſich gegenſeitig
decken und erfüllen; und das iſt es, was in England fehlt. Competent
oder geſetzlich verpflichtet, ſind hier zwei Gemeinden, der Parish und
die Union; zuſtändig iſt dagegen der Arme im Grunde nur noch bei
der Parish,obgleich die Union 1834 hergeſtellt wurde, weil eben die
geſetzliche Competenz der Parish eine zu ſchwere Laſt aufbürdete. Hier
liegt der formale Fehler im Heimathsweſen Englands, und leicht ver-
ſtändlich ſcheint er wohl zu ſein. Einen andern Standpunkt nimmt
Schottland ein.
Wir dürfen auch in Beziehung auf Schottland auf die Darſtellung
[298] von Kries hinweiſen, der den Ruhm hat, zuerſt den weſentlichen
Unterſchied zwiſchen Schottland und England erkannt und hervorgehoben
zu haben, der auch dem ſonſt umſichtigen Bitzer gänzlich entgangen
iſt. Während in England die Armenunterſtützung unbedingte Staats-
pflicht iſt, iſt das Verhältniß in Schottland dadurch anders, daß —
was merkwürdigerweiſe Kries nicht geſehen hat, der Begriff der Ar-
muth ein anderer iſt als in England, und dadurch ſich das
Heimathweſen anders geſtaltet. In England iſt arm gleich nothleidend
ſein, in Schottland iſt arm gleich erwerbsunfähig ſein. Schottland
hat daher zwei Kategorien der Armuth, eigentliche Armuth und bloße
Erwerbsloſigkeit. Und nur für die eigentliche Armuth, die auf Er-
werbsunfähigkeit beruht, übernimmt die Verwaltung die Pflicht, eine
Unterſtützung zu geben. Daher denn iſt von jeher auch das Princip
für den Erwerb des Heimathsrechts ein ganz anderes als in England.
Da nämlich der Erwerbsfähige keinen geſetzlichen Anſpruch auf Armen-
unterſtützung hatte, ſo ward der Erwerb der Heimath hier viel leichter,
und ſchon die Armenakte von Jakob II. 1576 beſtimmt, daß neben der
Geburt ein ſiebenjähriger Aufenthalt das Heimathsrecht geben
ſolle. Die Entſcheidung aber darüber, ob eine Perſon wirklich erwerbs-
unfähig ſei oder nicht, ward auch hier Sache der Gerichte, bis ſich
der Grundſatz Geltung verſchaffte, daß jede Perſon bis zum 14. und
nach dem 70. Jahre als erwerbsunfähig und daher als unterſtützungs-
berechtigt anzuſehen ſei. Keine arbeitsfähige Perſon hat einen geſetz-
lichen Anſpruch auf Unterſtützung, und alſo keine Armenheimath,
und noch jetzt unterſcheidet das höchſte Gericht in Edinburgh, die Court
of session,ob eine Perſon arbeitsfähig ſei oder nicht. Alle übrigen
Punkte gehören der Armenverwaltung, und nicht dem Heimathsrecht.
Die neueſte Geſetzgebung vom 4. Auguſt 1845, 8. 9. Vict. 83. hat in
dieſer Beziehung nichts geändert. — Man ſieht hier den tiefen Unter-
ſchied von England ſogleich in dem Erwerb des Heimathsrechts durch
Aufenthalt, oder in der Anerkennung der wirthſchaftlichen Heimath
neben der natürlichen, als natürliche Conſequenz der Aufſtellung des
Unterſchiedes zwiſchen arm und nothleidend. Es iſt nicht richtig, wenn
Kries meint, daß die Armenpflege keine ſtaatliche Pflicht, ausgeübt durch
die Armengemeinde oder das Kirchſpiel, ſei. Für den Erwerbsunfähigen
iſt ſie es eben ſo gut als in England, und ſie wird hier wie dort durch
gerichtlichen Spruch dazu angehalten. Nur die Armenunterſtützung der
noch Erwerbsfähigen iſt es nicht, und darauf beruht der Charakter
des ſchottiſchen Armenweſens, den wir zum Theil in Deutſchland wieder
finden. (Kries, §. 35—40.)
Was endlich Irland betrifft, ſo beruht die neue Armenordnung
[299] einfach auf dem Heimathsrecht zur Union ſtatt zum Kirchſpiel, was
nicht bloß durch die Verhältniſſe Irlands an und für ſich motivirt war,
ſondern ſich auch als praktiſch richtig erwieſen hat. (Kries, §. 55 ff.)
Faßt man nun dieſe Sätze zuſammen, ſo ergibt ſich für die ad-
miniſtrative Ordnung der Bevölkerung in Großbritannien folgendes
Reſultat.
Die Competenzen und Zuſtändigkeiten beruhen für die Aufgaben
der Verwaltung der Finanzen und des Innern weſentlich auf der Ver-
waltungsgemeinde, für die Gerichte und ihre juriſtiſche ſowie ihre ver-
faſſungsmäßige Funktion auf den Grundſätzen der gerichtlichen Com-
petenz. Das Gemeindebürgerrecht iſt bedingt durch Theilnahme an den
Verwaltungsſteuern und erſcheint als Verwaltungsbürgerrecht, das durch
die bloße Theilnahme an den Steuern gegeben iſt. Das Heimathsrecht
dagegen iſt wie gezeigt ein anderes in England, in Schottland, und in
Irland.
(Das allgemeine Staatsbürger- und Wahlrecht nimmt das Verwaltungs-
und Gemeindebürgerrecht, die amtliche Competenz und Zuſtändigkeit das
Heimathsrecht in ſich auf, ſo daß mit ſehr unbedeutenden Ausnahmen die ganze
Angehörigkeit an die Selbſtverwaltung im Wahlrecht und Domicile untergeht.
Wir glauben für unſern Gegenſtand das frühere Recht der fran-
zöſiſchen adminiſtrativen Bevölkerungsordnung um ſo mehr weglaſſen
zu können, als gerade auf dieſem Punkt der Bruch, den die Revolution
hervorgerufen hat, am durchgreifendſten geweſen iſt. Während auf den
meiſten andern Gebieten das ancien régime denn doch vieles erklärt
und vieles aus ihm ſich erhalten hat, wird in dem Bevölkerungsrecht
geradezu alles durch das ſtaatsrechtliche Princip der neuen Staatsord-
nung bedingt, und indem wir für die früheren Zuſtände daher auf den
Charakter des deutſchen Bevölkerungsrechts zurückweiſen, wollen wir
verſuchen, die neue, ſeit der Revolution in Frankreich geltende Ord-
nung in ihren Grundzügen darzulegen.
Auch hier müſſen wir, wie bei England, das Weſen in dem In-
halt der amtlichen und Selbſtverwaltung, wie es ſich in Frankreich
organiſirt hat, aus unſerer Lehre von der vollziehenden Gewalt hin-
übernehmen, denn nur durch dieſe ſind die franzöſiſchen Zuſtände klar
zu machen, während andererſeits die Anwendung der Begriffe von Zu-
ſtändigkeit, Gemeindebürgerrecht und Heimathsweſen wieder viel dazu
beitragen, uns über das organiſche Weſen der franzöſiſchen Begriffe
aufzuklären.
Wir haben gezeigt, wie das große Princip der ſtaatsbürgerlichen
[300] Geſellſchaft, die völlige rechtliche Gleichheit aller Perſönlichkeit, praktiſch
ſich als die durchgreifend gleichartige Thätigkeit der Geſetzgebungs- und
der Vollziehungsorgane auf jedem Punkte des franzöſiſchen Lebens zeigte,
und wie dieß die Centraliſation der Verwaltung, und ihr entſprechend
die Vernichtung der Selbſtthätigkeit der Selbſtverwaltung zur Folge
hatte. Wir haben das in dem Satz zuſammengefaßt, daß Frankreich
im ſtrengen Sinne des Wortes gar keinen eigentlichen Selbſt-
verwaltungskörper, ſondern nur noch an deren Stelle Vertre-
tungskörper hat, welche ſich in zwei große Claſſen ſcheiden. Wir
möchten dieſe beiden Claſſen hier die der Staatsverwaltungs-
und der Selbſtverwaltungsconſeils nennen. Die erſteren ſind
Vertretungen in der Form der Räthe oder Conſeils bei den einzelnen
adminiſtrativen Inſtituten und Aufgaben, und daher in an ſich unbe-
ſtimmter Zahl vorhanden. Die andern ſind Vertretungen bei den ört-
lichen Verwaltungsorganen, und nehmen die Stelle unſrer eigentlichen
Selbſtverwaltungskörper, der Landſchaften und Gemeinden, als Conseils
départementaux (généraux etc.) und municipaux ein. Die Grundlage
des adminiſtrativen Bevölkerungsrechts in Frankreich iſt daher der Satz,
daß es hier gar keinen, dem engliſchen Verwaltungs- oder
dem deutſchen Gemeindebürgerthum entſprechenden Be-
griff gibt, ſondern daß jene ganze Ordnung vielmehr auf nur zwei
Grundbegriffen beruht, dem Staasbürgerrecht, welches bei dem
Mangel der eigentlichen Selbſtverwaltungskörper zugleich die Ordnung
für die Theilnahme an den Selbſtverwaltungsconſeils bildet, und dem
amtlichen Competenzrecht, welches, da auch das Haupt der Gemeinde,
der Maire, ein amtliches Organ iſt, zugleich die ganze Gemeindeange-
hörigkeit mit umfaßt. In der That iſt auf dieſe Weiſe der ganze Be-
griff der Angehörigkeit in weſentlich anderer Geſtalt geordnet als in
England und Deutſchland, und läßt ſich nunmehr wohl am beſten er-
klären, indem wir dafür die drei Kategorien des Wahlrechts, der
Competenz und Zuſtändigkeit, und des Armenunterſtützungs-
rechts aufſtellen und durchführen. Selbſtverſtändlich bezeichnet das
„Indigenat“ in Frankreich wie allenthalben als Angehörigkeit an die
vollziehende Gewalt die Geſammtheit der Competenz- und Armenunter-
ſtützungsordnung.
Bei dieſer Darſtellung iſt nun ſtets feſtzuhalten, daß von vorn
hinein das Gemeindebürgerrecht gar nicht als ein ſelbſtändiges Rechts-
verhältniß erſcheint, ſondern daß es nur ein Glied in dem ganzen in
ſich gleichartigen Syſteme des Staatsbürger- und Competenzrechts iſt,
weßhalb man denn auch gerade in Frankreich gezwungen wird, das
ganze Syſtem des Wahlrechts zu ſkizziren, um in dem Staatsbürgerrecht
[301] gleichſam das Stück zu ſuchen, das dem Verwaltungs- und
Gemeindebürgerrecht entſpricht.
1) Das Wahlrecht. Droit d’Élection. Das Wahlrecht enthält
denjenigen Theil des Staatsbürgerrechts, welcher die Bedingungen und
Formen der Theilnahme des Einzelnen an der Wahl der Vertre-
tungskörper beſtimmt. Das Wahlrecht Frankreichs iſt ſeinem neueſten
Princip nach verſchieden vom Wahlrecht Englands und Deutſchlands,
indem es die Wahlen zur Volksvertretung und zur Selbſtverwaltung
gleichmäßig bloß auf die Staatsbürgerſchaft zurückführt, alſo nicht
wie in Deutſchland die Selbſtverwaltungswahlen von der Aufnahme in
die Gemeinde abhängig macht, und ſie nicht wie in England beim Ver-
waltungsbürgerthum auf eine beſtimmte adminiſtrative Aufgabe be-
ſchränkt, und daher nicht die zwei Syſteme von Wahlen kennt,
welche durch das Weſen der Selbſtverwaltung bei den germaniſchen
Nationen geltend geworden ſind, das eine auf die Volksvertretung,
das andere auf die Gemeindekörper bezüglich. Das Wahlſyſtem Frank-
reichs iſt ein einheitliches, doch enthält es das Element der Ge-
meindeſelbſtändigkeit als eine Modification des Wahlrechts, und
dieſe Modification bildet das Analogon des Gemeindebürgerthums in
Frankreich.
Das Syſtem der Wahlen entſpricht daher dem Syſtem der
Vertretungen. Es gibt ein Wahlſyſtem für die Volksvertretung,
ein Wahlſyſtem für die Landſchaftsvertretung, und ein Wahlſyſtem für
die Gemeindevertretung (Gemeindebürgerthum). Dieſes ganze Syſtem
iſt, da hier keine ſelbſtbeſtimmte Aufnahme in eine Gemeinde und keine
Beſchränkung auf einzelne Aufgaben vorkommt, von einer Durchſichtig-
keit, die wir eine mechaniſche nennen dürfen Es beruht auf
den beiden Begriffen des Wahlrechts und der Wahlordnung. Das
Wahlrecht beſtimmt die perſönlichen Bedingungen, die Wahlordnung
die örtliche Ordnung für die wirkliche Wahl. Der ganze Entwicklungs-
gang des innern franzöſiſchen Verfaſſungsrechts iſt in der That kaum
etwas anderes, als der Kampf um dieſe Beſtimmungen. Da es aber
Sache der Verfaſſungslehre iſt, dieſen Kampf darzuſtellen, ſo be-
ſchränken wir uns darauf, das neueſte napoleoniſche Recht kurz zu
charakteriſiren.
Das Wahlrecht enthält hier wie immer das Wählerrecht (Recht
zur Wahl) und die Wählbarkeit. Jeder 21jährige Franzoſe, der
nicht ſein Wählerrecht verloren hat, iſt Wähler für alle Vertretun-
gen, alſo auch für das, was der Gemeindewahl entſpricht. Die Wähl-
barkeit iſt für die Conseils municipaux gleichfalls ganz allgemein,
und nur an das 25. Jahr gebunden; doch ſind gewiſſe Perſonen,
[302] namentlich die Beamteten, ausgeſchloſſen. — Die Wählbarkeit für die
Conseils généraux und d’arrondissement wird dagegen bedingt durch
die Zahlung von direkten Steuern. Die Wählbarkeit für die Volks-
vertretung (Corps législatif) iſt dagegen wieder allgemein. — Denſelben
Charakter der Gleichartigkeit hat die Wahlordnung; doch iſt hier der
Punkt, wo ſich der letzte Reſt des Gemeindebürgerthums erhalten hat.
Die Wählbarkeit für die Volksvertretung und für die Gemeinde-
vertretung ſind nämlich an keine Angehörigkeit gebunden; nament-
lich hat das Arrêt de Conseil vom 21. Juli 1853 beſtimmt, daß die
Wählbarkeit in den Conseil municipalweder den Aufenthalt in der
Commune, noch ſelbſt die Eintragung in die Wahlliſte zur Bedingung
haben ſoll. Nur für die Conseils généraux und d’arrondissement hat
die Wählbarkeit entweder das „Domicil“ oder doch die örtliche Pflicht
zur direkten Steuerzahlung zur Vorausſetzung. Die Ausübung des
Wählerrechts dagegen hat zur Vorausſetzung, daß der Wähler einen
ſechsmonatlichen Aufenthalt in der Commune nachweiſen kann, in
der er ſeine Wahl vollzieht, oder doch daß ſein bisheriger Aufenthalt
bis zum Schluß der Wahlliſten ſechs Monate ausmacht. (Decr.
Org. vom 2. Februar 1852. Art. 13.) Da nun alle Wahlen nach
den Gemeindeliſten vorgenommen werden, ſo erſcheint das Angehören
an eine beſtimmte Gemeinde allerdings als eine entfernte Art von
Gemeindebürgerthum, und man kann daher ſagen, daß das franzöſiſche
Recht zwar nicht den Satz kennt: jeder Staatsbürger muß einer Ge-
meinde angehören; macht aber den Satz: jeder Wähler muß in einer
Gemeinde ein Wahldomicil haben, um ſein Wählerrecht aus-
üben zu können.
Das Staats- und Verwaltungsbürgerrecht hat daher nur zwei
Momente der örtlichen Angehörigkeit: die Gemeindeangehörigkeit für
das allgemeine Wahldomicil, und die Departementsangehörigkeit für
die departementale Wählbarkeit. Eine andere Form der Ange-
hörigkeit gibt es nicht. Ein Gemeindebürgerthum exiſtirt daher nicht.
Es gibt nur ein Wahl- und Wählbarkeitsdomicil, und dieſes
Domicilrecht und die daſſelbe ordnenden Beſtimmungen bildet mithin
daher das, was wir die verfaſſungsmäßige Ordnung der Be-
völkerung in Frankreich nennen. Die franzöſiſche Theorie faßt alle
dieſe Punkte als das Domicil politique zuſammen. „Le domicile po-
litique est le rapport qui existe entre un citoyen français et le
lieu ou il exerce ses droits politiques.“Porlier bei Block v. Do-
micile. Daß die vorrevolutionäre Rechtswiſſenſchaft gerade wie die deutſche
den Begriff des Domicils nur auf die gerichtliche Zuſtändigkeit be-
zog, liegt nahe. Guyot, Repert. de Jurispr. 1784. v. Domicil.
[303]
2) Competenz und Zuſtändigkeit. Indem nun auf dieſe
Weiſe die ſelbſtändige Verwaltungsthätigkeit der Selbſtverwaltungs-
körper in Frankreich wegfällt und ſich bloß auf die berathende Funktion
reducirt, gibt es auch nur Einen die Geſammtheit aller Verhältniſſe
umfaſſenden und ordnenden Begriff für die Competenz. Frankreich kennt
keine Competenz der Gemeinden, ſondern nur eine amtliche, die das
geſammte Staatsleben durchdringt. Jede Berechtigung irgend eines
Organes der Vollziehungsgewalt fällt daher hier unter den Begriff der
Competenz, und daher iſt es auch Frankreich, deſſen Theorie zuerſt
erkannt hat, daß es ſo viel Arten der Competenz gibt, als Verwal-
tungsfunctionen vorhanden ſind. Das franzöſiſche Recht unterſcheidet
daher die compétence civile, criminelle, commercielle, admini-
strative u. ſ. w. Allein der Begriff der Compétence administrative
hat dennoch auch hier ſeinen juriſtiſchen Charakter beibehalten.
Man verſteht nämlich darunter nicht ſpeziell den amtlichen Wir-
kungskreis in Verwaltungsangelegenheiten, ſondern die Competenz in
den Verwaltungsproceſſen der voie contentieuse und
gracieuse (ſ. vollziehende Gewalt S. 121 ff.). Der Begriff der Zu-
ſtändigkeit erſcheint daher bei den Franzoſen auch in der Verwaltung
weſentlich als ein Domicil, ohne daß ſie es jedoch von dem domicile
politique zu unterſcheiden vermöchten. Die Gemeindecompetenz exiſtirt
daher weder in dem Sinne Englands für die Verwaltungsgemeinde,
noch im Sinne Deutſchlands für die Ortsgemeinde; an ihre Stelle tritt
in allen Beziehungen die Competenz des Maire als örtlichen Voll-
ziehungsbeamteten. Alle örtlichen Aufgaben der Verwaltung gehören
dem Maire und damit dem Amte, und das Syſtem der amtlichen Or-
ganiſation iſt daher hier identiſch mit dem Syſteme der admini-
ſtrativen Bevölkerungsordnung.
Nur auf Einem Punkte entſteht auch hier eine Abweichung, und
das iſt das Armenunterſtützungsrecht oder die Armenheimath.
3) Die Armenheimath Frankreichs. Die eigenthümliche Ge-
ſtalt, welche das Heimathsrecht in Frankreich angenommen, beruht ihrer-
ſeits auf der gleichfalls Frankreich eigenthümlichen Ordnung der Armen-
pflege, und es iſt unthunlich, das erſte als Schlußpunkt der admini-
ſtrativen Ordnung der Bevölkerung zu beſtimmen, wenn man nicht dieſe,
von England ſowohl als von Deutſchland ſich weſentlich unterſcheidende
Armenpflege kurz charakteriſirt.
Wir müſſen uns hier, um nicht der Darſtellung des Armenweſens
vorzugreifen, auf diejenige Ordnung beſchränken, welche ſeit der Revo-
lution hergeſtellt iſt und ihren Grundzügen nach gegenwärtig gilt.
Die Armenpflege vor der Revolution beruhte in Frankreich, im
[304] Gegenſatze zu England und Deutſchland, auf zwei Elementen. Einer-
ſeits war ſie die Aufgabe ſelbſtändiger Armencorporationen mit eigenem
Beſitz oder ſelbſtverwalteten Armenſtiftungen, andererſeits er-
ſchien ſie als eine rein chriſtliche und freie Pflicht des Einzelnen, die
durch freie Beiträge erfüllt ward. Dieſer Unterſchied war es, der der
Armenpflege ihre noch bis jetzt gültige Geſtalt gegeben hat. Jene
Armenſtiftungen waren nämlich faſt ausnahmslos nicht für Erwerbsloſe
oder für die wirthſchaftliche Armuth, ſondern für Erwerbsunfähige,
oder für die perſönliche Armuth, alſo für Kranke und Gebrechliche be-
ſtimmt, und zwar wie alle rein kirchlichen Armenanſtalten, ohne
Rückſicht auf die Angehörigkeit an eine beſtimmte Gemeinde. Sie hatte
daher vermöge dieſer ihrer kirchlichen Natur den rein ſtaatlichen, allge-
meinen Charakter. Der bloß Erwerbsloſe hatte ſomit zwar kein Recht
auf eine Armenunterſtützung vermöge eines Geſetzes wie England, und
das Heimathsrecht für ihn beſaß daher keinen Werth, allein der Kranke
wurde vermöge jener Natur der Armenſtiftungen aufgenommen, ohne
daß er dagegen die Verpflichtung gehabt hätte, für die Hülfe in jenen
Stiftungen, namentlich in den Krankenhäuſern, eine Gemeindeange-
hörigkeit oder ein Heimathsrecht nachzuweiſen. So viel man nun
auch von der tiefen Umgeſtaltung des Armenweſens durch die franzö-
ſiſche Revolution geredet hat (neulich noch Bitzer, der in ihr eine „ent-
ſchieden andere Richtung“ findet, S. 32), ſo iſt doch das Armenrecht
der letzteren nur eine ſyſtematiſchere Durchführung der obigen Verhält-
niſſe. Allerdings zog die Revolution die Güter dieſer Stiftungen theils
ein, theils ſtellte ſie dieſelben unter die Aufſicht der Ortsbehörden, und
erklärte deßhalb die Unterhaltung der Armen für eine „Nationalſchuld,“
allein in der That war das doch nur ein anderer Ausdruck für das
obige Verhältniß. Das Geſetz vom 24. vend. an II. führte ein allge-
meines Heimathsrecht ein, indem jeder Arme, alſo nicht bloß die
Kranken und Gebrechlichen (perſönlich Armen), durch einjährigen Wohnſitz
das Recht auf Unterſtützung gewinnen ſollte. Indeß beruhte dieß Geſetz
trotz aller ſchönen Reden der Convention am Ende auf der Confiscation
der Güter der Hôpitaux und Hospices. Das Geſetz vom 16. vend.
an V. (September 1796) gab den Armenſtiftungen ihr Vermögen zurück,
hob die Pflicht der Heimathsgemeinde zur Unterſtützung der wirthſchaft-
lichen Armen dagegen auf, und indem es dieſe Unterſtützung wieder zu
einer freien Pflicht machte, die auf rein ſittlichen Momenten und
nicht auf einer adminiſtrativen Verpflichtung beruhte, machte es das im
Jahre 1793 aufgeſtellte allgemeine Heimathsrecht ganz inhaltslos. Es
ſtellte vielmehr die geſammte Armenunterſtützung weſentlich auf den
Standpunkt, den ſie vor der Revolution inne hatte, und dieſes
[305] Princip iſt bis jetzt in Frankreich das alleingültige geblieben. Das
neueſte Geſetz vom 6. Auguſt 1851, hat im Grunde nur die ganze
bisherige Entwicklung organiſch zuſammengefaßt. Wir führen es hier
in ſo weit auf, als es eben für die adminiſtrative Ordnung der Be-
völkerung im Armenweſen maßgebend iſt.
Darnach gibt es in Frankreich kein eigentliches Heimaths-
recht, ſo wenig als eine Gemeindeangehörigkeit. Das Syſtem der
Armenunterſtützung hat vielmehr die alten zwei Haupttheile, die Armen-
anſtalten, die Hoſpitäler, Irrenanſtalten ꝛc. für Kranke, und die
Hospices (Armenpfleghäuſer) für Gebrechliche, neben der freien Armen-
pflege in den häuslichen Unterſtützungen (secours à domicile). Aller-
dings aber haben dieſe beiden Formen ihre Angehörigkeit, die wir
nunmehr leicht bezeichnen können.
a) In die Hoſpitäler wird jeder zeitlich Kranke gebracht, gleich-
viel ob er in der Gemeinde wohnhaft iſt oder nicht — „man ſoll nicht
ſagen können, daß man auf dem Boden Frankreichs bei dem Eintritt
in ein Hoſpital nicht nach den Wunden und Schmerzen eines Leidenden,
ſondern nach ſeinem Paſſe frage“ — was ſehr ſchön geſagt, aber weder
neu noch etwas beſonderes für Frankreich iſt, da es ſchon vor der Re-
volution beſtand und bekanntlich in Deutſchland allgemein iſt. Nur der
Grundſatz, daß das Hoſpital für die Verpflegung an keine Heimath
des Verpflegten einen Anſpruch habe, iſt zum Theil eigenthümlich, jeden-
falls von zweifelhafter Richtigkeit.
b) In die Armenpflegehäuſer, Hospices, werden die perſön-
lich Armen nach denjenigen Regeln aufgenommen, welche von der
Pfleghausverwaltung feſtgeſtellt werden. Nach Porlier bei Block
v. domicile gilt hier noch das Heimathsrecht eines einjährigen Auf-
enthalts nach dem Geſetz vom 25. vend. an II.Bitzer ſagt nichts
davon (S. 34, 35). Jedenfalls hat jede Gemeinde nach dem Geſetz
von 1851 das Recht, ihre perſönlich Armen in einem ſolchen Hospice
unterzubringen gegen ein von ihr zu zahlendes Pflegegeld. Dieſen Armen-
pfleghäuſern lag die Pflicht zur Unterbringung der Heimathberechtigten ob,
in ſo weit ſie alt oder gebrechlich ſind (nicht in ſo weit ſie bloß
[wirthſchaftlich] arm ſind); ſie ſind daher die Inſtitute, bei denen allein
der Reſt des Heimathsrechts und Heimathsweſens in Frankreich vor-
kommt; nach allem Vorliegenden aber iſt dies Heimathsrecht ein ſehr
unbeſtimmtes, von den Verwaltungen der Hospices abhängiges, und
praktiſch wie es ſcheint nicht ſehr wichtiges.
c) Dagegen exiſtirt keine direkte Armenſteuer, mithin keine geſetzliche
Verpflichtung, die bloß Erwerbloſen durch die Gemeinde zu ernähren,
und mithin kein allgemeines Heimathsrecht, ſondern die wirthſchaftlich
Stein, die Verwaltungslehre. II. 20
[306] Armen ſind auf die chriſtliche Armenliebe — das Wort charité iſt nicht
anders zu überſetzen — angewieſen. Die Organiſation dieſer an ſich
freien Bethätigung der Charité iſt zunächſt dadurch eine amtliche ge-
worden, daß das Armenweſen gewiſſe indirekte Einkommensquellen
hat (Betheiligung an dem Ertrage von Schauſpielen, Licitationen ꝛc.).
Dieſelbe beſteht in den bureaux de bienfaisance, ihre Unterſtützungen
heißen in neuerer Zeit secours à domicile (wohl nach Muſter des
engliſchen outdoor-reliefs) und dieſe ſind an gar keine Gemeindeange-
hörigkeit gebunden.
Faſſen wir nun dieß adminiſtrative Ordnungsrecht der Bevölkerung
in Frankreich kurz zuſammen, ſo werden wir mit Beziehung auf die
früher aufgeſtellten Begriffe ſagen können, daß mit einer einzigen nach-
weisbaren oder unſicheren Ausnahme bei den Hospices die ganze Ord-
nung in die der Elections und der Compétence nebſt dem Domicile
aufgegangen, oder daß das Gemeindebürgerrecht zu einem untergeordneten
Theil des öffentlichen Wahlrechts (wieder mit einer Ausnahme bei den
Departementalräthen) die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathsrecht
aber zu einem Theil der amtlichen Zuſtändigkeit für alle adminiſtrativen
Funktionen geworden iſt.
Wie ganz anders iſt dagegen das Bild, das uns Deutſchland dar-
bietet! —
(Allgemeiner Charakter. Bei ſtrenger Durchführung der Syſteme von
amtlicher Competenz und Zuſtändigkeit faſt gänzlicher Mangel an Verwaltungs-
gemeinden; Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Orts-
gemeinde.)
Hält man nun auf Grundlage der oben aufgeſtellten Begriffe einer-
ſeits die Geſetzgebung und anderſeits die Literatur der deutſchen Staaten
mit dem zuſammen, was in dieſer Beziehung von England und Frank-
reich gilt und geleiſtet iſt, ſo müſſen zwei Dinge auffallen. Zuerſt
ein viel größerer Reichthum an Geſetzen, theoretiſchen Arbeiten, und
namentlich auch an Ausdrücken, die theils gar nicht, theils ſehr ſchwer
in fremde Sprachen überſetzbar ſind. Dahin gehören Gemeinderecht,
Freizügigkeit, Niederlaſſung, Einbürgerung, Einwohner, Wohnſitz, Aufent-
halt, Heimath. Zweitens eine große Unklarheit nicht bloß über das,
was die Geſetzgebungen wollen, ſondern auch über das, was die Theorie
unter ihren verſchiedenen Ausdrücken verſteht, indem man ſich beſtrebt,
mit jedem jener Worte ein beſonderes Recht zu verbinden und mithin
ſo viele Rechtsverhältniſſe in das adminiſtrative Bevölkerungsrecht hin-
einzubringen, als es Ausdrücke gibt, ohne jedoch, was die Hauptſache
[307] wäre, ſich vorerſt Mühe zu geben, ſich über den Sinn der Worte einig
zu werden. Gegenüber dem an ſich ſo einfachen und klaren Syſtem
Englands und Frankreichs macht dieſe Verwirrung des geltenden Rechts
wie der Begriffe keineswegs einen wohlthuenden Eindruck. Und das
um ſo weniger, als dieſe Unklarheiten von einem beſtändigen Beſtreben,
von einer immer wiederholten Forderung nach Gleichmäßigkeit und Ein-
heit der Geſetzgebung begleitet ſind, ohne daß doch die Fordernden
bisher im Stande geweſen wären, ihre eigene Forderung ſelbſt endgültig
zu formuliren.
Die ſchwierige Aufgabe, mit dieſem weiten und verwickelten Ge-
biete ins Reine zu kommen, wird nun wohl zunächſt Eine, nicht bloß
hier für die deutſche Staatswiſſenſchaft gültige Vorausſetzung haben.
Es iſt kein Zweifel, daß alle Verſchiedenheiten auch hier zuletzt auf
einer gemeinſamen Grundlage beruhen. Bei der großen Weitläuftigkeit
des uns vorliegenden Materials und dem in den meiſten Fällen nur
örtlich praktiſchen Werth der einzelnen Sätze und Beſtimmungen wird
unſere Aufgabe ſich wohl darauf beſchränken müſſen, eben die ſo ge-
meinſame Grundlage, von der aus ſich am Ende allein die künftige
Entwicklung gewinnen läßt, zu beſtimmen. Die entſcheidende Bedin-
gung für den wirklichen Fortſchritt wird auch hier darin beſtehen, daß
man ſich endlich über gewiſſe einfache Thatſachen, Begriffe und Worte
einige.
Vielleicht wäre es aber dennoch möglich, durch Reducirung der
verſchiedenen Vorſtellungen und Worte auf einige ſehr einfache Sätze
eine ſolche Einigkeit zu erzielen.
Wir haben die adminiſtrative oder Verwaltungsordnung der
Bevölkerung als diejenige Eintheilung der letzteren bezeichnet, vermöge
deren jeder Einzelne einem beſtimmten Organ der vollziehenden Gewalt
für ſeine beſondere Aufgabe zugewieſen wird. Der Begriff und das
Weſen dieſer Organe, Amt und Selbſtverwaltung, ſtehen wohl an ſich
feſt. Eben ſo wenig dürften die entſprechenden Begriffe von Competenz
und Zuſtändigkeit, Gemeindebürgerthum und Heimathsrecht, an ſich noch
unklar ſein.
Wenn daher trotz dem nicht bloß eine große und tiefgehende Ver-
ſchiedenheit zwiſchen den einzelnen Ländern und zwiſchen den einzelnen
Epochen ſtattfindet, ſo wird dieß nie an jenem Begriffe ſelbſt, ſondern
vielmehr daran liegen, daß in der Bildung und dem Recht der Or-
gane, auf welche man ſie anwendet, eine Verſchiedenheit obwaltet.
Und deßhalb ſagen wir, daß die Eigenthümlichkeit der Verwaltungs-
ordnung der Bevölkerung jedes Landes eben in dem, ihm eigenthüm-
lichen Verhältniß ſeiner Organe, alſo in dem ihm eigenthümlichen
[308] Verhältniß zwiſchen Amt und Selbſtverwaltung, oder namentlich der
Gemeinde, geſucht werden muß.
In der That werden wir für Deutſchland nie zu einem richtigen
und einfachen Verſtändniß der Verwaltungsordnung der Bevölkerung,
und namentlich des Gemeindebürgerthums und des Heimathsrechts im
Beſondern gelangen, wenn wir nicht den ſo tiefgehenden Unterſchied
der deutſchen Gemeinde von der franzöſiſchen und engliſchen, und das
ſich daraus ergebende Verhältniß zum Amt, mit dem Amt aber zu Com-
petenz und Zuſtändigkeit feſtſtellen.
Während nämlich die engliſche Gemeinde eine Verwaltungsgemeinde,
die franzöſiſche ein Amtsbezirk iſt, iſt die deutſche Gemeinde eine Orts-
gemeinde, das iſt eine örtliche Selbſtverwaltung aller innern Ver-
waltungsaufgaben.
Es iſt daher die deutſche Ortsgemeinde ein örtliches Ganze, welches
wenigſtens ſeinem Weſen nach alle im Weſen des Amts liegenden Auf-
gaben durch die Gemeinde vollzieht. Und es ergibt ſich daraus, daß
in Deutſchland wenigſtens principiell die Gemeindeangehörigkeit eine
viel umfaſſendere Bedeutung hat, als dieß in England und Frank-
reich der Fall iſt und ſein kann. Denn die deutſche Gemeindeange-
hörigkeit iſt in dieſem Sinne nicht bloß ein Gemeindebürgerrecht und
ein Heimathsrecht, ſondern ſie enthält daneben zugleich die Competenz
der Gemeinde und die Zuſtändigkeit der Angehörigkeiten für alle amt-
lichen Aufgaben, welche durch die Gemeinde vollzogen werden.
Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, daß ſich daraus zunächſt zwei Con-
ſequenzen ergeben haben.
Zuerſt mußte jene viel größere Bedeutung der deutſchen Gemeinde-
angehörigkeit eine viel tiefer eingehende und weitläuftige Publiciſtik,
eine viel ſpeziellere juriſtiſche Literatur erzeugen, als dieß in England
und Frankreich der Fall ſein konnte. Und dieß iſt bekanntlich auch
nach allen Seiten hin eingetreten.
Dann aber mußte ſich aus jener amtlichen Stellung der deutſchen
Gemeinde, welche zugleich Obrigkeit und Selbſtverwaltung, und in
vielen Fällen ja ſogar ein kleiner Souverän war, ein beſtändiger Kampf
mit der ſich entwickelnden amtlichen Organiſation und Ver-
waltung hinaus bilden. In dieſem Kampfe nahm dann natürlich
die Gemeindeangehörigkeit einen ganz andern Charakter an, als in
England und Frankreich. Indem ſich nämlich die amtliche Thätigkeit
nicht wie in England zuletzt bloß auf die richterliche Function zurückzog,
und auch nicht umgekehrt wie in Frankreich die Selbſtthätigkeit der Ge-
meinde vernichtete und in ſich aufnahm, ward die Beſtimmung über
die Gemeindeangehörigkeit überhaupt die Gränzbeſtimmung für das
[309] öffentliche Recht der Gemeinden gegenüber dem Amt. Und
das erklärt wieder den Eifer, mit dem man dieſelbe unterſuchte, und
anderſeits den eigenthümlichen Charakter, den die betreffenden Unter-
ſuchungen in den verſchiedenen Epochen zeigen.
In der That nämlich wird dadurch die Gemeindeangehörigkeit im
weitern Sinne des Wortes etwas anderes, als was wir jetzt darunter
verſtehen. Sie wird aus einer bloßen Verwaltungsordnung der Bevöl-
kerung zu einem weſentlichen Theil und Elemente der ganzen Organi-
ſation der Verwaltung überhaupt. Sie erſcheint in jedem Gebiete
der letzteren, der Staatswirthſchaft und ſpeziell der Finanzen, der
Rechtspflege und dem Inneren. Ja ſie iſt ſogar urſprünglich die ein-
zige Heimath der Verwaltung überhaupt; denn der Staat hat
nur noch das Heerweſen und die Vertretung nach Außen. Erſt all-
mählig entwickelt ſich die ſtaatliche Verwaltung ſelbſtändig; das Gebiet
deſſen, was der Gemeinde angehört, ſcheidet ſich von dem, was das
Amt zu leiſten hat, und die Geſchichte der Gemeindeangehörigkeit wird
zur Geſchichte des innern Staatslebens ſelbſt. In dieſer Entwicklung
bildet nun das gegenwärtige Recht nur ein beſtimmtes Stadium; und
in dieſem Sinne müſſen wir den hiſtoriſchen Zuſammenhang des heu-
tigen Rechts auffaſſen.
in Deutſchland im Allgemeinen, beſonders in Beziehung auf Gemeinde
und Heimath.
ordnung. Reſte derſelben in unſerer Zeit.
Es iſt wohl klar, daß wenn wir in der Verwaltungsordnung der
Bevölkerung überhaupt den formellen Ausdruck und Abſchluß der ganzen
inneren Geſtaltung des Staates finden, dieſelbe ſtets auf das dieſe Ge-
ſtaltung in erſter Reihe bedingende, die geſellſchaftlichen Ordnungen und
ihre Uebergänge zurückgeführt werden muß. Und in der That wird
auch, indem man dieſe Grundlagen ſetzt, das Bild im Ganzen ein ſehr
klares, und das Einzelne findet faſt von ſelbſt ſeine Stätte. Endlich
wird das Recht unſerer Zeit und ſein Unterſchied von dem engliſchen
und franzöſiſchen Recht am letztern Orte nur durch eine ſolche Auffaſ-
ſung erklärlich.
Wir dürfen dabei ausdrücklich bemerken, daß wir dieſe Zurückfüh-
rung auf die Geſellſchaftsordnungen nicht darum auf Deutſchlands Recht
hier begränzt haben, weil ſie nur hier gilt, ſondern theils um nicht
zu weitläuftig zu werden, theils aber auch, weil bei allem Fortſchritte
[310] der neueſten Zeit es dennoch gerade Deutſchland iſt, das ſich von dem
Rechtsprincip der ſtändiſchen Epoche bei weitem am wenigſten hat frei
machen können. Wir ſind aus einer Reihe von Gründen hier weit
hinter England und Frankreich zurück, und müſſen, um das zu beſſern,
damit beginnen, dieß anzuerkennen. Die ganze Summe von Unklar-
heiten, an der die Theorie ihrerſeits krankt, zeigt ſich aber als eine
ganz natürliche Folge des an ſich widerſprechenden Verſuchs, Rechts-
anſchauungen verſchiedener Perioden auf einfache Begriffe und Termi-
nologien zurückzuführen. Das nun wird eben dadurch am deutlichſten,
wenn man nicht mehr wie bisher das Recht der Competenzen, das Ge-
meindebürgerrecht und das Heimathsrecht, als ganz ſelbſtändige und
für ſich zu betrachtende Rechtsgebiete hinſtellt, ſondern ſie in ihrem
organiſchen Zuſammenhange mit dem Staatsbegriff und der Geſell-
ſchaftsordnung hinſtellt. Und das iſt es, was wir hier im kürzeſten
Bilde verſuchen wollen.
In der Geſchlechterordnung zuerſt iſt der Staat nur noch in ſeiner
abſtrakten Form, als das Königthum und ſeine Würde, vorhanden.
Er hat noch als ſolcher nichts zu thun; nur zwei Dinge leiſtet er,
das iſt die Vertheidigung nach Außen, und die Rechtspflege. Alles was
ſonſt Verwaltung heißt, wird innerhalb des Geſchlechts und durch das
Geſchlecht vollzogen; ja urſprünglich ſind dieſe Geſchlechter auch die
Grundlagen für die Leiſtungen in Heer und Gericht. Es gibt keine
Verwaltungsordnung der Bevölkerung, keine Competenz und kein Ge-
meindebürgerrecht. Alles das wird erſetzt durch die Stammes- und
Geſchlechtsangehörigkeit, welche allein die Bevölkerung ordnen.
Sie ſind die Bedingungen für die Theilnahme an Verfaſſung und Ver-
waltung; ſie enthalten das Staatsbürgerrecht und das Indigenat, und zwar
ſo, daß die Stammesangehörigkeit das erſte, die Geſchlechtsangehörigkeit
das zweite gibt. Der rechtliche Inhalt des, dem Indigenat Entſprechenden
iſt aber das Recht, nach dem Rechte des Stammes gerichtet zu werden.
Dieſer einfache Satz wird der Ausgangspunkt der folgenden Ordnung.
Als die Völkerwanderung die Einheit der Stämme und Geſchlechter
zerbricht, entſteht die Frage, wie ſich außerhalb der Gränzen Deutſch-
lands nunmehr jene Angehörigkeit noch äußern ſolle, und wie man nach
Zerſtörung der örtlichen Gemeinſchaft der Geſchlechter und Stämme in
den neu errichteten Staaten eine Verwaltungsordnung der neuen Be-
völkerung ſich zu denken habe. Denn natürlich war das unmittelbare
Gefühl der Völker ſich darüber auch ohne alle Theorie vollkommen klar,
daß mitten in dem ungeheuren Durcheinander von Menſchen und Ver-
hältniſſen dennoch die Aufſtellung feſter Grundſätze für die Verwaltung
der Bevölkerungen unbedingt nothwendig ſei.
[311]
Der Proceß, der nun nach der Völkerwanderung die adminiſtrative
Ordnung der Bevölkerung an der Stelle der alten ſtrengen Geſchlechter-
ordnung bildet, — ein Proceß, deſſen Roms Geſchlechterordnung nicht
bedurfte, weil ſie eben auch örtlich ein geſchloſſenes Ganze blieb — lag
nun ſelbſt eben in der Natur deſſen, was man damals allein von der
Verwaltung forderte. Ihre Aufgabe war einzig und allein die Rechts-
pflege; das altgermaniſche Gericht erſetzte den Polizeidienſt, wie zum
Theil noch jetzt in England. Früher nun hatte das Volksgericht, aus
dem örtlichen Zuſammenleben des Volkes hervorgegangen, das Recht
gekannt, welches es zur Vollziehung bringen ſollte. Jetzt waren neue
Verhältniſſe hinzugekommen und alte zerſtört. Es mußten daher die
Stämme ihr Recht objektiv in Geſetzen zuſammenfaſſen, und man wird
uns verſtehen, wenn wir in dieſem Sinne ſagen, daß ſomit die alten
Leges Barbarorum die eigentliche und einzige Verwaltungsgeſetz-
gebung der Völkerwanderung geworden ſeien. In der That
haben ſie das mit den neueſten Codificationen gemein, daß ſie zugleich
das geſammte bürgerliche Verwaltungsrecht und Polizeirecht enthielten.
So wie ſie entſtanden waren, ſchloß ſich an ſie der Begriff der Zu-
ſtändigkeit. Dieſe Zuſtändigkeit, jenſeits des Rheins nicht mehr wie
dieſſeits deſſelben örtlich nachweisbar, mußte jetzt auf der Abſtam-
mung beruhen. Die Abſtammung war es ſomit, welche das Recht,
dem eigenen Volksrecht und Volksgericht zuſtändig zu ſein, begründete.
Sie ward die Grundlage der adminiſtrativen Ordnung der
Bevölkerung in einer Zeit, in der die Verwaltung nur in dem Recht-
ſprechen nach dem Volksrechte beruhte. Die Zuſtändigkeit des Einzelnen
empfängt jetzt ſchon einen ſpecifiſchen Namen; ſie heißt; „lege sua vi-
vere; vivere lege Saxonum, Francorum, etc.“ Der Einzelne nahm
dieſe ſeine perſönliche Zuſtändigkeit mit ſich: ſie gilt noch ganz für
ſeinen Beſitz zugleich. Sie erſchöpft daher alles, was damals von
der Verwaltung gefordert wurde. Sie hat zwar, da die Einzelnen nach
allen Richtungen ſich zerſtreuen, die Competenzen faktiſch unendlich durch-
einander geworfen, aber das Princip derſelben iſt noch immer klar und
einfach. Wer einem Stamme angehört, muß dem geſetzlichen Recht deſſelben
folgen; nur das Stammesgericht iſt competent, nur dem Stammesgericht
iſt er zuſtändig. Eine örtliche Competenz, im Gemeindebürgerrecht, ein
Heimathsrecht gibt es noch nicht, ſo wenig als in der älteſten Ge-
ſchlechterordnung. Sie ſind erſt durch ſpätere Momente entſtanden,
welche wir gleich andeuten werden.
Wohl aber tritt neben dies noch immer einfache Princip bereits
ein zweites auf. Das entſteht durch die gar keinem Geſchlecht Ange-
hörigen, die unterworfenen und nicht, wie bei den Burgundern und
[312] Weſtgothen, wenigſtens zum Theil in die germaniſchen Geſchlechter auf-
genommenen Römer, Bürger und Sklaven. Dieſe haben natürlich kein
Volksrecht, kein Volksgericht, alſo keine Angehörigkeit im germaniſchen
Sinne. Demnach gibt es gar keinen öffentlichen Zuſtand ohne die letztere;
alſo auch dieſe müſſen eine ſolche finden. Hier nun entſteht das, was
den Uebergang von der Geſchlechterordnung zur ſtändiſchen bildet,
und bereits den Keim der erſten amtlichen Ordnung enthält. Da jene
keinem Geſchlecht angehören, nicht einmal wie die gentiles Roms, ſo
müſſen ſie ihrem Herrn angehören, und zwar theils durch ihre Perſon,
theils durch ihren Grundbeſitz. So bildet ſich das große Princip für
die Unfreien mit ihrer Angehörigkeit, das Princip der örtlichen
Angehörigkeit, das Princip der Competenz und Zuſtändigkeit auf Grund-
lage der Herrſchaft. Und da dieſer Herr für dieſe ihm in Perſon und
Beſitz Angehörigen kein Volksrecht — alſo kein geltendes Verwaltungs-
recht — hat, ſo iſt ſein Wille das Recht für ſie. Sein Beſitz iſt
jetzt der Competenzbezirk; ſeine Hörigen ſind ihm zuſtändig. Es iſt die
zweite Geſtalt der Angehörigkeit, und dieſe Epoche die unfreie.
An dieſe Ordnung der Bevölkerung ſchließt ſich nun diejenige in
den Theilen des germaniſchen Europas an, in denen, wie namentlich
im Norden Deutſchlands, ſich die alte Geſchlechterordnung noch erhalten
oder doch ſchon örtlich feſtgeſetzt hat. Wir haben dieſe Geſtalt das alte
Dorf, die Gemeinſchaft der freien Bauern die alte Dorfſchaft ge-
nannt. Hier iſt noch keine Zerſtörung des Verbandes eingetreten, da-
her iſt noch kein Geſetz nothwendig; das Recht, das bürgerliche, das
peinliche, das polizeiliche, das adminiſtrative, lebt noch im Bewußtſein
der Gemeinſchaft; noch Jahrhunderte hindurch wird kein geſchriebenes
Weißthum nöthig; die Abſtammung gibt zwar die Zuſtändigkeit,
aber doch iſt die Competenz des Dorf- und Gaugerichts ſchon durch die
Gemeindemarkung beſchränkt. Was innerhalb derſelben liegt, fällt
unbedingt unter die Competenz des Tithings, Loddings, Godings,
oder wie die freien Gerichts- und Verwaltungsorgane der Dorfſchaften
ſonſt hießen, und wie ſie ſonſt im Einzelnen organiſirt ſein mögen.
Allein jenſeits dieſer Gemarkung hört die Competenz auf, die Ange-
hörigkeit verſchmilzt daher hier zuerſt mit dem Grundbeſitz,
und ſo entſteht der noch heutigen Tages geltende Grundſatz, daß, wer
einmal innerhalb der Gemarkung einen Grundbeſitz, der ja principiell
einen Theil des urſprünglichen Geſchlechtseigenthums bildet, erwirbt,
eben dadurch auch der Dorfſchaft angehörig iſt. Zugleich erſcheint
hier zuerſt die freie, noch bloß im unmittelbaren Bewußtſein liegende
Linie zwiſchen Gemeindebürgerthum und Heimathsweſen. Der Grund-
beſitzer hat das Gemeindebürgerthum; wer keinen Grundbeſitz hat
[313] und nur durch Abſtammung der Dorfſchaft angehört, hat in derſelben
nur ſeine Heimath. Dieſe Heimath begründet zwar noch gar kein
Recht, aber ſie wird als ſelbſtverſtändliche Thatſache des Angehörens
angenommen. Der Heimathsangehörige hat noch nichts von der Dorf-
ſchaft zu fordern, aber ſie kann ihn eben ſo wenig als ein anderes
Mitglied der Familie verſtoßen. So wird, wie der Grundbeſitz die
Baſis der erſten Geſtalt des Gemeindebürgerrechts iſt, die Geburt die
erſte Grundlage des Heimathsrechts. Und beide Grundſätze,
in natürlichſter Weiſe aus der Geſchlechterordnung hervorgehend, und
zuerſt in der Dorfſchaft zur natürlichen Geltung kommend, erhalten
ſich mit ihr und gehen mit ihr auf die folgende Zeit über, bis die
Gegenwart ſie in reinſter Form wieder aufnimmt.
Derſelbe Grund aber, der zwar die Zuſtändigkeit des Einzelnen
auch jenſeits der Gemeindemarkung erhält, aber die Competenz der
Gemeinde ſelbſt auf dieſe örtliche Grenze beſchränkte, rief bald eine
vierte Erſcheinung hervor. Das waren die Gilden, Brüderſchaften,
Genoſſenſchaften, deren Aufgabe es war, den der Gemeinde Zuſtändigen
auch außerhalb der Grenzen derſelben in ſeinem bürgerlichen und
öffentlichen Recht zu ſchützen. Sie ſind bekanntlich die erſte Form der
Vereine; allein ſie gehören hierher nur, um das Bild der Verwaltungs-
ordnung der Bevölkerung dieſer Zeit zu vervollſtändigen, denn ihre
Competenz und die ihnen entſprechende Zuſtändigkeit war keine aner-
kannte und dem Organismus des Ganzen als feſter Theil gehörende.
Sie wurden willkürlich gebildet; ihre Baſis war der Einzelwille; ihre
Kraft beſtand nicht in ihrem Recht, ſondern in ihrer Gewalt. Sie ſind
eben deßhalb nicht allgemein, ſondern kommen nur ſtellenweiſe vor, wo
Bedürfniß und individuelle Kraft ſie hervorrufen. Um aus ihnen ein
organiſches Bild der Ordnung zu machen, bedurfte es einer feſten wirth-
ſchaftlichen Baſis. Dieſe finden ſie erſt bei den Städten und Gewerben.
Sie werden dadurch zu einer der großen Grundlagen der Zünfte und
Innungen, und geben dieſen ihren Charakter. Wir werden ihnen in
dieſer Geſtalt wieder begegnen.
Faſſen wir nun dieſe Grundformen in der Geſchlechterordnung,
unter Weglaſſung der Gilde, zuſammen, ſo ergibt ſich folgendes Bild,
das dann der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung zum Grunde liegt:
Die Competenz und Zuſtändigkeit für die erobernden, großen
Theils örtlich zerſtreuten und unter die unfreien Einwohner vertheilten
Stammesmitglieder liegt in den L. L. Barbarorum. Die Competenz
und Zuſtändigkeit der Unfreien beruht auf dem Beſitz und der perſön-
lichen Einigkeit. Beide Erſcheinungen bilden die Grundform der Ver-
waltungsordnung der Bevölkerung in Frankreich, Italien, Spanien.
[314]
Die Competenz und Zuſtändigkeit der anſäßig gewordenen Ge-
ſchlechter in den Dorfſchaften beruht auf dem Beſitz eines Grundſtücks
und auf der Geburt; an beiden zeigt ſich der erſte Unterſchied vom
Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht.
Inhalt der Competenz und Zuſtändigkeit iſt die Rechtspflege.
Eine finanzielle und adminiſtrative Competenz gibt es noch ſo wenig,
als eine amtliche. Daher gibt es auch noch kein Heimathsweſen. Das
iſt im Allgemeinen die Ordnung der erſten fünf Jahrhunderte nach der
Völkerwanderung.
Epoche.
(Begriff und Inhalt der Standesangehörigkeit. Die feudale Angehörigkeit.
Die ſtädtiſche Angehörigkeit. Bürgerthum und Bürgerrecht. Schutzbürgerthum.
Hörigkeit.)
Das Weſen der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung beſteht darin, daß
dieſelbe jede große Lebensſtellung, und zwar die unfreie ſo gut als die
freie in allen ihren Formen, geiſtig begreift, und die Thatſache der
gegebenen individuellen Beſtimmung als einen ſittlichen Beruf auffaßt.
Dieſer abſtrakte Begriff des Berufes durchdringt nun die ganze menſch-
liche Gemeinſchaft, und gibt ihr eine neue Geſtalt. Indem ſie dem
geiſtigen Element des Berufes ſeinen Körper verleiht, entſteht die Cor-
poration als das ſpecifiſche Element der Ordnung in der ſtändiſchen
Geſellſchaft. Alle Grundformen des Lebens beginnen, ſich als Corpora-
tionen zu conſtituiren; das Angehören an eine ſolche wird eine Ehre;
es enthält eine Pflicht; mit der Pflicht das Recht der Organe dieſer
Körperſchaft, über die Erfüllung jener Pflicht zu wachen; das abſtrakte
Angehören an Beruf und Körperſchaft bildet ſich damit zu einer Ver-
waltung des Berufes aus, und die Thatſache jener berufsmäßigen An-
gehörigkeit wird dadurch zu einer ſelbſtändigen Ordnung der Bevölkerung,
die wir nunmehr als die berufsmäßige Bevölkerungsordnung
bezeichnen können.
Dieſe, aus dem ſtändiſchen Geſellſchaftsprincip hervorgehende berufs-
mäßige Bevölkerungsordnung zerſtört nun nicht die Geſchlechterordnung,
ſondern ſie läßt ſie vielmehr beſtehen, und breitet ſich in ihr aus, indem
ſie, wo ſie es vermag, ihr ihren Charakter verleiht. Die letztere wird
dadurch allerdings weſentlich anders; und indem ſich beide verſchmelzen,
entſteht das, was wir die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung und für unſre
Aufgabe die ſtändiſche Verwaltungsordnung der Bevölkerung
nennen. Sie erſtreckt ſich über ganz Europa, und zeigt ſich ſeit dem
[315] 12. Jahrhundert allenthalben mit ziemlich gleichem Charakter. Es iſt
durchaus nothwendig, ſie in ihren Grundzügen darzuſtellen; und zwar
deßhalb, weil ſie eben ſo ſehr wie die Geſchlechtsordnung dem heutigen
Gemeinde- und Heimathsrecht Deutſchlands zum Grunde liegt, und es
gerade dieſe innige Verbindung mit derſelben iſt, welche das letztere
von Englands und Frankreichs Rechtszuſtänden in Auffaſſung und den
einzelnen geltenden Beſtimmungen unterſcheidet.
Wir werden zu dem Ende die ſtändiſche Verwaltungsordnung zu-
nächſt in ihre zwei großen Gebiete ſcheiden, die corporative, und die
feudale. Die corporative Verwaltungsordnung iſt diejenige, welche
die geſammten Angehörigkeitsverhältniſſe nach dem Berufe in den Be-
rufskörperſchaften beſtimmt. Die feudale iſt dagegen diejenige, welche
der Angehörigkeit einerſeits die Abſtammung, andrerſeits den Beſitz zum
Grunde legt. An dieſe ſchließt ſich die dritte Geſtalt, welche die Ele-
mente der noch unklaren, theils von corporativen, theils von feudalen
Grundſätzen durchdrungenen und beherrſchten ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft enthält, die ſtädtiſche Ordnung mit ihrer Angehörigkeit und ihrem
öffentlichen Recht. Jede dieſer Ordnungen bildet nun ein großes, in
Princip und Recht, alſo auch in der Angehörigkeit weſentlich ſelbſtän-
diges Syſtem, das ſich von jedem der beiden andern möglichſt unab-
hängig zu ſtellen trachtet. Ein ſolches Syſtem, mit Princip, Recht,
Beſitz, wirthſchaftlichem und geiſtigem Leben und mithin auch mit eignem
Syſteme der Angehörigkeit verſehen, nennen wir einen Stand. Die
ſtändiſche Epoche hat daher die bekannten drei Stände, die Geiſtlichkeit,
die Ritterſchaft, die Städte, oder den Stand des geiſtigen Berufs, der
Waffen und der Arbeit. Jeder Stand hat ſein Syſtem der An-
gehörigkeit. Dieſe Syſteme greifen vielfach in einander; theils nehmen
Waffen und Arbeit Charakter und Form des Berufes an, theils ge-
winnt der geiſtliche Stand mit dem Grundbeſitz auch Antheil an der
Organiſation der übrigen Stände. Es entſteht daher ein äußerlich
ſehr verwirrtes Bild, deſſen oft ganz unauflösbaren Verhältniſſe es
allmählig nothwendig machen, für die geſammte Verwaltung eine ganz
neue, gegen das Bisherige grundſätzlich gleichgültige Ordnung der
Bevölkerung aufzuſtellen, die wir als die amtliche bezeichnen werden.
Allein da dieſe zwar in Frankreich, nicht aber in Deutſchland die ſtän-
diſche Bevölkerungsordnung vernichtet, ſo müſſen wir die letztere hier
darſtellen, wie ſie in der folgenden Epoche, ja auch in der Gegenwart
wieder erſcheint. Dieß iſt nun im Allgemeinen nicht ſchwer, da bei
aller äußern Verwirrung die Principien, auf denen dieſe Syſteme be-
ruhen, ziemlich einfach ſind.
Das erſte Princip iſt, daß in der ſtändiſchen Epoche jeder ſtändiſche
[316] Körper eine möglichſt große adminiſtrative Selbſtändigkeit zu ge-
winnen und zu erhalten trachtet und daher dem andern unbedingt
entgegen tritt. Die praktiſche, hochwichtige Conſequenz dieſes erſten
Princips, das für alle drei Stände in ihren Körperſchaften gilt und
noch jetzt im deutſchen Gemeindebürgerrecht — nicht im engliſchen und
franzöſiſchen — ſich erhalten hat, iſt der Grundſatz, daß die volle
Angehörigkeit an einen ſolchen Körper ſich von der unvollſtändigen,
äußerlichen ſcheidet. Die volle Angehörigkeit kann nur geſchehen durch
förmliche Aufnahme (Reception) in die Körperſchaft und gibt daher
auch das Recht des Miteigenthums am Vermögen. Die unvoll-
ſtändige dagegen tritt oft durch den bloßen Aufenthalt, oft erſt durch
die Niederlaſſung, oft erſt durch längere Dauer deſſelben ein.
Und ſo entſtehen hier die Grade, Stufen, oder Claſſen der Angehörig-
keit, denen wir ſogleich wieder begegnen werden. Das zweite Princip
iſt, daß auch jetzt noch bei dem Mangel der eigentlichen Verwaltung
die Angehörigkeit anfänglich nur als gerichtliche Competenz und Zu-
ſtändigkeit erſcheint, während jedes jener Syſteme eine andere Geſtalt
der innern Organiſation hat. Die Anerkennung eines ſolchen ſtän-
diſchen Körpers geſchieht daher durch Zuſprechung der Jurisdiction, welche
aber in der That nur die Anerkennung der Selbſtverwaltung
iſt, für welche die Jurisdiction nur die Form abgibt. Der Streit
zwiſchen den verſchiedenen Körpern tritt aus demſelben Grunde ſtets
als Streit in der Gerichtsbarkeit auf, und der Begriff Juris-
diction und Gerichtsbarkeit bedeutet daher in dieſer Zeit eben jene
Selbſtändigkeit der Verwaltung. Daraus folgt dann weiter, daß
in dieſer Epoche die Organiſation der Gerichtsverfaſſung die eigent-
lich adminiſtrative Organiſation iſt, und daß die Gerichte zu ver-
walten haben. Und da nun endlich dieſe gerichtliche Competenz und
Zuſtändigkeit als forum und domicilium in der römiſchen Jurisprudenz
zur rein bürgerlich rechtlichen Theorie ward, ſo ging auch theoretiſch
die ganze Lehre von Competenz, Zuſtändigkeit, Bürgerrecht und Hei-
mathsweſen in den proceſſualen Begriffen von forum und domicilium
unter, ſo daß namentlich die deutſche Wiſſenſchaft während dieſer ganzen
Epoche zu keinem Begriff von Bürgerrecht und Heimathsrecht gelangte.
Das hatte zur Folge, daß man ſeit jener Zeit das wiſſenſchaftliche Be-
wußtſein des organiſchen Zuſammenhangs von Competenz und
Gemeindeangehörigkeit verlor, das man auch in neueſter Zeit noch nicht
wieder gefunden hat, indem man das Heimathsrecht als etwas ganz
Geſchiedenes behandelt. — Von dieſer Grundlage aus müſſen nun die
drei Syſteme der ſtändiſchen Angehörigkeit betrachtet werden.
Das Syſtem der Angehörigkeit an den eigentlichen und reinen
[317] Berufsſtand, die Kirche, wird von ihr ſelbſt geordnet. Ihr zum Grunde
liegt der Begriff des Clericus; die Zuſtändigkeit des Clericus iſt eine
ausſchließlich kirchliche, während die Competenz der kirchlichen Gerichte
auch auf den Laicus in vielen Punkten übergreift. Es iſt Sache der
Geſchichte des Kirchenrechts dieſen Organismus von Competenzen und
Zuſtändigkeiten darzuſtellen.
Das Syſtem der feudalen Angehörigkeit dagegen beruht auf dem
Unterſchiede der Freien und Unfreien, und auf dem Unterſchied des
Beſitzes und ſeiner Angehörigkeit. Ohne hier auf die unendliche Viel-
geſtaltigkeit dieſer Angehörigkeiten einzugehen, die übrigens in ihrem
Princip eben ſo gleichartig als in ihren Bezeichnungen und Nüancen
verſchieden ſind, möge es hier genügen, die drei Grundformen aufzu-
ſtellen. Das ſind die Pairsgerichte, die Vaſallen- oder Lehens-
gerichte, und die Herrſchafts- oder Patrimonialgerichte. Das
Pairsgericht tritt ein, wo Beſitzer und Grundbeſitz zugleich frei ſind.
Das Lehnsgericht tritt ein, wo der Beſitzer frei, der Beſitz abhängig
(Lehn) iſt; das Patrimonialgericht dagegen da, wo Beſitzer und Beſitz
unfrei ſind (vilain, hörig). Das Syſtem der gerichtlichen Competenzen,
das für dieſe drei Grundformen des Gerichts gilt, iſt das Syſtem der
feudalen Angehörigkeit ſelbſt in allen ſeinen einzelnen Beziehungen.
Da es noch keine Verwaltung außer der Rechtspflege gibt, ſo gibt es
natürlich auch neben jenen Gerichten keine amtliche Competenz; eben
ſo wenig gibt es noch ein Heimathsrecht, oder gar ein Gemeindebürger-
thum; denn der Begriff der Landgemeinde iſt noch aus dem der
Herrſchaft nicht entſtanden. Nur wo ſich, wie in einzelnen Theilen
von Mittel- und Norddeutſchland, noch die alte Dorfſchaft erhalten,
kann man von den beiden letzteren reden. Das ſind die Ordnungen
der feudalen Verwaltung.
Das Syſtem der ſtädtiſchen Angehörigkeit iſt endlich als Vorläufer
des folgenden ein weit mehr zuſammengeſetztes. Es enthält nämlich in
eigenthümlicher Weiſe beide obigen Syſteme, die Angehörigkeit, die
auf dem feudalen Beſitze, und die, welche auf dem (gewerblichen)
Berufe beruht. Das erſte erzeugt die eigentliche Gemeinde ange-
hörigkeit, das zweite das Zunft- und Innungsrecht oder die gewerb-
liche Angehörigkeit. Die erſte ſchließt allerdings die zweite in ſich, aber
ſie erzeugt ſie bekanntlich urſprünglich nicht. Jede hat ihre Grund-
ſätze und ihre Gränzen.
Indem nun auf dieſe Weiſe in der Gemeinde ſich örtlich und ſach-
lich verſchiedene Syſteme der Angehörigkeit berühren, und dadurch eine
Reihe von ſehr praktiſchen Fragen erzeugen, entſteht hier zuerſt eine
förmliche Theorie der Angehörigkeit. Allerdings bezieht ſich dieſelbe
[318] auch hier noch zunächſt auf die gerichtliche Competenz des Forums,
aber ſie erſcheint dennoch ſchon als Vorbereitung der folgenden Epoche.
Es iſt daher nothwendig, ſie auch im Einzelnen ins Auge zu faſſen.
Die Gemeindeangehörigkeit als unterſchieden von der Gewerbs-
angehörigkeit enthält zwei Claſſen. Die erſte iſt das eigentliche Gemeinde-
bürgerthum, welche das Recht auf thätigen Antheil an der Selbſt-
verwaltung enthält. Das zweite iſt dagegen die bloße Gemeindezuſtän-
digkeit, welche als die Angehörigkeit an das Gemeindegericht erſcheint,
und das Recht der Angehörigen auf dem durch die Rechtspflege ver-
wirklichten Schutz durch die Gemeinde bedeutet. Diejenige Claſſe der
Gemeindeangehörigen, welche auf dieſe Weiſe bloß der Gemeinde zu-
ſtändig ſind, heißen die Schutzbürger (die Beiwohner, Pfahlbürger,
Beiſaßen), ein Begriff, den die feudale Landgemeinde natürlich nicht
kennen kann. Dieß Schutzbürgerthum, deſſen Weſen und Recht bereits
Eichhorn, Zöpfl, Zachariä, Gaupp u. a. dargeſtellt haben, entſteht da-
durch, daß die Angehörigen der feudalen Landgemeinde ſich dieſer An-
gehörigkeit entziehen und ſich innerhalb der örtlichen Competenz der
Stadtgemeinde, des Weichbildes, niederlaſſen. Das Recht, welches da-
durch der Schutzbürger erwirbt, iſt aber noch keineswegs ein Hei-
mathsrecht, ſondern nur das Recht der Zuſtändigkeit zum ſtädtiſchen
Gericht; von einer Verpflichtung zur Unterſtützung, welche die Voraus-
ſetzung und der Inhalt des Heimathsweſens iſt, iſt noch keine Rede.
Dagegen entſteht jetzt eben durch den Unterſchied der Vollbürger und
Pfahl- oder Schutzbürger die Frage, unter welchen Bedingungen erſtlich
das Schutzbürgerthum, zweitens vom Schutzbürgerthum aus das
Vollbürgerthum erworben ward. Die erſte Frage bezog ſich weſentlich
auf das Verhältniß des Gemeindekörpers zu dem feudalen Körper. Das
Schutzbürgerthum war für die unfreien Angehörigen der Landgemeinde
in ihrem Patrimonialgerichte ein ſicheres Mittel, perſönliche Freiheit
und daneben ein ſelbſtändiges Vermögen zu gewinnen; für die Stadt-
gemeinde der ſicherſte Weg, ſich billige und willige Arbeitskräfte für
die entſtehende Induſtrie zu finden. Die Gemeindeangehörigkeit des
Schutzbürgerthums war daher im beſtändigen Kampfe mit der der
Patrimonialgerichte. Oft nun war die Grenze zwiſchen beiden durch
Privilegien feſtgeſtellt; oft wurden ſie mit den Waffen in der Hand
beſtimmt; oft aber auch entſtand ein förmlicher Rechtsſtreit, und dieſer
führte zu jener Theorie der Gemeindeangehörigkeit, auf die wir oben
hindeuteten. Durch dieſe Theorie entwickelten ſich nun die erſten juriſtiſchen
Grundlagen des Rechts für Erwerb und Verluſt der Gemeinde-
angehörigkeit, die wir um ſo mehr aufnehmen müſſen, als ſie in
der That noch die gegenwärtige Angehörigkeit auch für das Heimaths-
[319] recht beſtimmen und enthalten. Die Städte legten dafür zuerſt die
beiden Grundſätze der freien Geſchlechterdorfſchaft zu Grunde, die wir
in der früheren Epoche dargeſtellt haben, und zwar meiſt in folgender
Form: Grundbeſitz gibt Vollbürgerrecht, Arbeit gibt Angehörig-
keit. Für jenes zweite Verhältniß aber, das weder auf Arbeit, noch
auf Grundbeſitz beruhte, nämlich den gewerblichen Wohnſitz, ſtellten
ſich alsbald folgende Grundſätze feſt: der gewerbliche Wohnſitz gibt
zwar das Schutzbürgerthum, aber erſt die formelle Aufnahme in die
Gemeinde gibt das Vollbürgerthum. Mit dem Wechſel des gewerb-
lichen Wohnſitzes wechſelt daher auch die Angehörigkeit, während das
Gemeindebürgerthum bleibt; oder ſie kann durch denſelben Akt, der ſie
erworben hat, auch wieder verloren werden. Dieſer Akt hieß
die Niederlaſſung, das iſt, das Aufſchlagen des Wohnſitzes zum
Erwerbe des dauernden Unterhalts. Da aber auf dieſe Weiſe dieſe
Niederlaſſung die in der Angehörigkeit liegende Zuſtändigkeit zum
ſtädtiſchen Gericht begründet, und daher wenigſtens die gerichtliche, und
in derſelben die polizeiliche Schutzpflicht für die Stadtgemeinde erzeugt,
und da zweitens jener Begriff der Dauer ein an ſich unbeſtimmter iſt,
ſo entſtanden jetzt zwei neue Fragen. Die erſte Frage war die, ob
dieſe Niederlaſſung jedem Fremden frei ſtehe, die zweite war die, wie
lange ſie gedauert haben müſſe, um die Angehörigkeit des Schutz-
bürgerthums zu erzeugen? Die natürlichſte mit den Intereſſen und der
Selbſtändigkeit der Gemeinde von ſelbſt gegebene Antwort mußte offen-
bar die ſeyn, daß zwar jedem Ankömmling die Niederlaſſung an ſich
frei ſtehe, daß aber zugleich die ſtädtiſche Gemeinde das Recht der
Ausweiſung habe, ſo gut als ſie das Recht der freien Aufnahme
in das Vollbürgerthum unbeſtritten beſaß; und daß ferner jede einzelne
Stadt die für den Erwerb und den Verluſt der Schutzbürgerſchaft bei
ihr erforderliche Zeitdauer ſelbſt zu beſtimmen habe. Eben ſo einfach
war es, daß ſich allmählig gewiſſe Bedingungen durch (adminiſtra-
tives) Gewohnheitsrecht hinausbildeten, welche als Vorausſetzungen
einerſeits die Aufnahme in das Vollbürgerthum, andrerſeits die Be-
laſſung als Schutzbürger galten. Aber zu geſetzlichen Normen
werden dieſe Bedingungen noch nicht, und konnten es nicht
werden, da die Städte ja noch ſelbſtändige Verwaltungskörper waren.
Jede Stadt hatte daher ihr eigenes Vollbürgerrecht, ihre eigene Tra-
dition in Beziehung auf die Zulaſſung der Schutzbürger durch die Nieder-
laſſung, ſowie auf die Ausweiſung derſelben. Ein Heimathsrecht ent-
ſteht daraus noch nicht. Es iſt ganz weſentlich feſtzuhalten, daß dies
letztere erſt mit der folgenden Epoche entſteht.
So bildet ſich für die Stadt ihr zuerſt dem feudalen Princip
[320] entnommenes Syſtem der Angehörigkeit. Ein zweites faſt wichtigeres
Rechtsverhältniß ergab ſich aber daraus, daß die Gewerbe, das gei-
ſtige Element des Berufes in ſich aufnehmend, und zugleich ſich einen
Geſammtbeſitz erwerbend, innerhalb der Städte ſich ſelbſt als Zunft
und Innung zu verwalten und eigene Körperſchaften zu bilden be-
ginnen. Die Angehörigkeit an eine gewerbliche Zunft wird dadurch zur
Bedingung für den Betrieb eines Gewerbes. Und jetzt entſteht inner-
halb des Rechts der ſtädtiſchen Angehörigkeit die weitere Frage, ob
das Schutz- oder Vollbürgerthum das Recht auf den ſtädtiſchen Ge-
werbebetrieb enthalte? Die erſte und natürlichſte Antwort darauf
war eine verneinende. Damit entſtand dann neben dem Schutz- und
Vollbürgerrecht endlich auch noch das Gewerbebürgerrecht, den
alten ein neues Element der adminiſtrativen Bevölkerungsordnung hinzu-
zufügen. In dieſe ſchon an ſich hinreichend verwickelte Ordnung der
Bevölkerung in Stadt und Land trat nun endlich ein letztes Verhält-
niß hinzu, das es allerdings auf die Dauer unmöglich machte, bei der-
ſelben ſtehen zu bleiben. Das war die Anſäßigkeit von Adlichen oder
Geiſtlichen innerhalb der Competenz-Gränzen eines dritten Verwaltungs-
körpers, namentlich einer Stadt. Da nämlich die Zuſtändigkeit des
Einzelnen als Ausfluß der geſammten ſocialen Ordnung erſchien, ſo
konnte ſie durch den örtlichen Aufenthalt nicht aufgehoben, alſo die Com-
petenz von dem örtlichen Gerichte durch den Aufenthalt nicht eigentlich
gewonnen werden. Der Standesgenoſſe war auch innerhalb der Be-
ſitzer des andern Standes nur ſeinem Gerichte, ſeinem Verwaltungs-
organe, zuſtändig; er behält ſein perſönliches Forum. Das war
einfach. Wie nun aber, wenn derſelbe dort einen Grundbeſitz gewonnen?
Offenbar lag es nahe, den Grundbeſitz als der Ortsgemeinde, die Be-
ſitzer dagegen perſönlich als ihrem Stande zuſtändig zu erkennen. Allein
das ſtimmte nicht immer mit den Intereſſen der letztern. Sie begannen
daher, vertragsmäßig oder durch Privilegien die eigenen Grund-
beſitzungen auch innerhalb der Städte von der ſtädtiſchen Zuſtändig-
keit zu befreien; und ſo entſtanden die ſtändiſchen Zuſtändigkeiten,
welche wir als die ſog. privilegirten Gerichtsſtände kennen. Damit
war der Grundſatz aufgeſtellt, daß es neben dem Voll-, Schutz-, und
Gewerbebürger noch eine vierte Claſſe von Einwohnern einer Stadt-
gemeinde geben könne, welche keiner von jenen angehören, und doch
in gewiſſer Weiſe Mitglieder der Gemeinde ſind. Dahin gehörten zu-
nächſt die Adlichen mit ihren Häuſern in den Städten, die ja wie in
Italien oft förmliche Burgen waren, die Geiſtlichen mit ihren Kirchen
und Klöſtern, dann bald auch das ganze Gebiet der Stiftungen,
wie Hoſpitäler, Univerſitäten, Schulen. Sie ſind nicht allenthalben
[321] vorhanden, und ihre Zuſtändigkeit iſt weder allgemein privilegirt, noch
allgemein dieſelbe. Aber ſie bilden ein wichtiges Element, und von
ihnen aus iſt der auch jetzt noch vielfach in Deutſchland — wieder
nicht in England noch auch in Frankreich — gültige Grundſatz ent-
ſtanden, daß die Berufsgenoſſen und namentlich die Beamteten keine
Gemeindebürger ſind. Nur das ſtehende Heer hat unbedingt keine
Gemeindezuſtändigkeit in irgend einem Lande der Welt.
Faßt man nun alle dieſe Verhältniſſe, Grundſätze, Rechte und
Zuſtände zuſammen, ſo gibt es bei aller Einfachheit des Princips ein
höchſt buntes und verwirrtes Bild. Es gibt kein anderes Mittel, das-
ſelbe in feſte Geſtalt zu bringen, als daß man es lokaliſirt. Denn in
jedem Land, in jeder Herrſchaft, in jeder Stadt iſt es etwas anders, hat
andre Namen, andre Modalitäten, andre Uebung, andre Vertheilung.
Daher haben die örtlichen Rechtsgeſchichten dieſer Zeit einen ſo hohen
Werth, und bilden gerade für dieſe Epoche die wahre Erhaltung der
inneren Geſchichte. Für die Lehre der adminiſtrativen Ordnung der Be-
völkerung muß man, um hier zur Klarheit zu kommen, an drei großen
leitenden Grundſätzen feſthalten: erſtlich gibt es noch keine amtliche
Competenz und Zuſtändigkeit, ſondern nur die Angehörigkeit an irgend
einen Selbſtverwaltungskörper; — zweitens iſt die Gerichtsbarkeit
die Form, in der dieſe Angehörigkeit Ausdruck und die rechtliche Grenze
als Competenz und Zuſtändigkeit findet; — und drittens exiſtirt noch
weder Begriff, Recht noch Inhalt des Heimathsweſens.
Wie ſich das nun zum heutigen Zuſtande entwickelt hat, wird die
folgende Epoche zeigen.
der Bevölkerung vom ſechzehnten bis zum neunzehnten
Jahrhundert.
(Die Bedeutung des Rechts des gerichtlichen Forums. Die Entſtehung
der Oberaufſicht als amtliche Competenz. Das Heimathsweſen als noch unbe-
ſtimmte Grundlage der Armenverwaltung.)
Es iſt wohl einleuchtend, daß wir die bisherigen Syſteme der An-
gehörigkeit nur im weiteren Sinne des Wortes als Verwaltungsordnung
der Bevölkerung bezeichnen können. Denn bis jetzt beſteht eben noch gar
keine ſtaatliche Verwaltung, noch iſt die Selbſtverwaltung die beinahe
ausſchließliche Form der Verwaltung überhaupt. Von einer admini-
ſtrativen Ordnung der Bevölkerung im engeren Sinne kann erſt mit der
Entſtehung der letzteren die Rede ſein. Dieſelbe entwickelt ſich aber
nicht etwa organiſch aus den bisher gegebenen Zuſtänden, ſondern ſie
Stein, die Verwaltungslehre. II. 21
[322] tritt ihnen, auf einer weſentlich anderen Grundlage beruhend, vielmehr
faſt direkt entgegen. Es iſt der organiſche und einheitliche Staat, der
Träger des Geſammtintereſſes, der ſich über die in den ſtändiſchen Ver-
waltungskörpern vertretenen Standes- und Ortsintereſſen erhebt, und
der, eine von den letztern unabhängige, ja ihnen theilweiſe direkt ent-
gegengeſetzte Aufgabe verfolgend, auch ein ihm eigenthümliches, jenem
Angehörigkeitsrecht ſich ziemlich rückſichtslos unterordnendes Syſtem der
Angehörigkeit erſchafft, deſſen Kern und Macht die Begriffe der amt-
lichen Competenz und Zuſtändigkeit ſind. Nur iſt das Schickſal
dieſes Kampfes allerdings ein ſehr verſchiedenes in den verſchiedenen
Ländern Europas, und hier iſt es, wo ſich der Charakter der deutſchen
Verwaltungsordnung der Bevölkerung klar heraus bildet. In England
wird die Verwaltungsgemeinde zum Amt, und das ſtaatliche Amt be-
ſchränkt ſich faſt auf den Friedensrichter. In Frankreich vernichtet das
Amt die Gemeinde und die Selbſtverwaltung erhält ſich nur noch in dem
Syſtem des Conſeils. In Deutſchland dagegen iſt die Bewegung bis zum
heutigen Tage nicht abgeſchloſſen, der Gegenſatz zwiſchen amtlicher und
Selbſtverwaltung dauert noch fort; es iſt verkehrt und darum ver-
geblich, die dahin gehörigen Zuſtände als fertige in fertigen Terminologien
und Rechtsformen hinſtellen zu wollen, und der eigentliche Grund aller
Unklarheit darüber beſteht eben darin, daß man das dennoch theoretiſch
will, was nach geltendem Recht nicht zuläſſig iſt. Denn es kann nicht
zweifelhaft ſein, daß auch jetzt noch das richtige Verhältniß zwiſchen
amtlicher und Selbſtverwaltung in Deutſchland nicht gefunden, und daß
daher auch die Geſtalt der Verwaltungsordnung der Bevölkerung nicht
eine definitive iſt. Der Grund davon liegt darin, daß die deutſche Ge-
meinde noch viel zu ſehr ihre rein hiſtoriſche Geſtalt als Orts-
gemeinde behalten hat. Die Entwicklung der Verwaltung hat dieſen
Standpunkt in Finanzverwaltung und Rechtspflege ſchon zum großen
Theil überwunden, in dem Innern hat er ſich dagegen noch vielfach
erhalten. Der Kampf gegen denſelben geht ſeinen Gang fort. Ein
weſentliches Kriterium deſſelben iſt aber eben die auf ihm beruhende
adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung.
Faſſen wir nun die Zeit vom 16. Jahrhundert bis zum 19. als
ein Ganzes zuſammen, ſo ſind es hauptſächlich drei Punkte, in denen
ſich die ſelbſtändige Entwicklung der amtlichen Verwaltungsordnung
gegenüber der ſtändiſchen zeigt, ohne doch die letztere darum aufzuheben.
Das iſt die Entwicklung der gerichtlichen Competenz, diejenige der po-
lizeilichen Competenz, und endlich die des geſetzlichen Heimathweſens.
Offenbar mußte der Zuſtand, wie wir ihn im Vorhergehenden be-
ſchrieben haben, bei dem ſich freier bewegenden Verkehre ein unerträglicher
[323] werden, da der Verkehr vor allem der möglichſten Klarheit und Ein-
fachheit des Rechts der Angehörigkeit bedarf, um mit ihr die Rechts-
ſicherheit für ſeine einzelnen Akte zu gewinnen. Selbſt da, wo ſich die
ſtändiſchen Rechte nicht ſogleich beſeitigen ließen, forderte daher das
junge volkswirthſchaftliche Leben die Anerkennung zweier großen Prin-
cipien, die Rechtsgleichheit aller Stände für die bindende Kraft der
Verträge und zur Verwirklichung derſelben allgemein gültige Grund-
ſätze für die gerichtliche Competenz. Und während es die eigentlich
große hiſtoriſche That des römiſchen Rechts iſt, jenes Princip der
Rechtsgleichheit für das Vertragsrecht durchgeführt zu haben, hat die
Lehre vom Civilproceß und die ſich an dieſelbe anſchließende Reichs-
und Territorialgeſetzgebung das nicht minder große Verdienſt, Competenz-
principien, die von den ſtändiſchen Unterſchieden unabhängig waren,
zuerſt mit langem und hartnäckigem Kampfe zur Geltung gebracht zu
haben. Das geſchah durch die Lehre vom Forum. Die juriſtiſche Theorie
vom Syſteme des Forums hat eine weit über den Proceß hinausgehende
Bedeutung. Sie iſt die erſte, auf dem Princip der bürgerlichen Gleich-
heit beruhende Ordnung der Bevölkerung zunächſt für die Rechtspflege;
ſie iſt das juriſtiſche Syſtem für die Competenz des amt-
lichen Gerichts im Gegenſatz zum ſtändiſchen. Man kann das wohl
kaum für Sachkundige klarer und beſſer bezeichnen, als indem man
ſagt, daß während die auf den Ungleichheiten der Perſonen und des
Beſitzes beruhenden ſtändiſchen Gerichtscompetenzen mit ihren hundert-
fachen Unterſchieden bisher die Regel waren, die Bildung des deutſchen
Gemeinen Civilproceſſes ſie als Ausnahmen, als „privilegirte“ Ge-
richtsſtände hinſtellte. Der Fortſchritt, der in dieſer Bezeichnung liegt,
iſt ein ſehr großer; der Kampf, der mit ihr gegen dieſe Privilegien er-
öffnet wird, ein vernichtender. Wenn die Staatswiſſenſchaft einmal
allgemein den Satz anerkannt haben wird, daß der ganze bürgerliche
und Strafproceß nichts iſt als eine große Verwaltungsmaßregel für
die Rechtsverwaltung, werden wir auch eine, mit der Entwicklung der
Geſellſchaftsordnung in organiſcher Verbindung ſtehende Geſchichte des
Proceſſes im Allgemeinen, des Beweisverfahrens und der Beweismittel
im Beſonderen, und endlich der Lehre vom Forum haben. Denn dieſe
Lehre iſt es, bei welcher die Zuſtändigkeit des Einzelnen zuerſt auf
die im Weſen des perſönlichen Lebens, und nicht auf die ſtändiſchen
Unterſchiede zurückgeführt iſt. Wir müſſen das andern Arbeitern über-
laſſen; doch iſt es verſtattet, hier auf den erſten Verſuch einer ſolchen
hiſtoriſchen Geſchichte des Proceſſes in meiner franzöſiſchen Rechtsgeſchichte
(Warnkönig und Stein, Bd. 3) hinzuweiſen. Ohne allen Zweifel aber
wird dieß hiſtoriſch die Grundlage für die ganze Syſtematik des amtlichen
[324] Competenzweſens. Es bedurfte nur noch der beſtimmten amtlichen
Aufgabe, um ſofort den ſtrengen Begriff der amtlichen Competenz
daran zu ſchließen. Und dieſe Aufgaben entwickeln ſich alsbald in den
beiden Gebieten der Staatswirthſchaft und des Innern. In jenem er-
ſcheinen ſie als Verwaltung der Regalien, in dieſem als Verwaltung
der Polizei. Die beiden Elemente aber, aus welchen die admini-
ſtrative Ordnung der Bevölkerung gerade innerhalb der letzteren vor
ſich geht, ſind diejenigen, mit denen ſie ſich der alten Gemeinde zuwendet,
die Oberaufſicht und die perſönliche Sicherheitspolizei.
Daß die „Polizei“ der Namen für die entſtehende amtliche Ver-
waltung des Innern iſt, iſt bereits oben dargelegt. Dieſe Polizei trifft
nun auf die alten Gemeinden, in Stadt, Herrſchaft und freien Bauern-
dorf. Dieſe Selbſtverwaltungskörper beſitzen noch allein das Recht der
vollziehenden Gewalt innerhalb ihrer örtlichen Competenz. Man kann
ſie ihnen nicht nehmen. Es bleibt daher, indem die ſtaatliche Gewalt
beginnt Verwaltungsgeſetze zu geben, nichts übrig, als ihre Ausführung
zwar dieſen Körpern anzuvertrauen, dafür aber Organe einzuſetzen,
welche die Uebereinſtimmung dieſer Ausführung mit den Abſichten der
Verwaltung ſicherten. Der Name für dieß Verhältniß war Oberauf-
ſicht, der Rechtstitel war der der oberaufſehenden Gewalt, die
nur auf dieſe Weiſe, in ſtrenger Begrenzung auf die vollziehende Thätig-
keit der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens, ihre richtige
Bedeutung gewinnt. Die Organe dieſer Funktion waren die eigentlichen
„Amtmänner“; wenn man einen Unterſchied zwiſchen Obrigkeit und Amt
aufſtellen will, ſo iſt derſelbe eben darin enthalten, daß das Amt ſtets
über den Selbſtverwaltungskörpern ſteht und ein Organ der Ober-
aufſicht iſt. Die örtliche Competenz des Amtmannes heißt dann das
„Amt,“ der „Kreis,“ der „Bezirk;“ daher auch die Namen: „Haupt-
leute,“ „Kreishauptmänner,“ „Bezirksvorſtände“ und andere. Jedes
Amt, jeder Kreis oder Bezirk iſt daher eine Einheit von Gemeinden;
an dieſe Einheiten beginnt ſich die ſogen. politiſche Eintheilung, und
mit ihr die politiſche Geographie anzuſchließen. Dieß iſt die erſte Form
der adminiſtrativ-amtlichen Ordnung der Bevölkerung. Sie umfaßt nun
zwar das ganze Land, aber ihr Verhältniß zu der Selbſtändigkeit der
Gemeinde iſt weder an ſich klar, noch bei der großen Verſchiedenheit
der letzteren gleichartig, und die nivellirende Tendenz des „Amtes“ iſt
keineswegs ſtark genug, jene Verſchiedenheit aufzuheben. Nur wird ſie
in den meiſten Ländern nicht auf rein hiſtoriſcher Baſis, ſondern aus
dem Geſichtspunkte der Zweckmäßigkeit für die Verwaltung eingeführt.
Sie umfaßt, indem ſie die Gemeinden umfaßt, die anſäſſigen Perſonen;
ſie iſt die amtliche Verwaltungsordnung der anſäſſigen Bevölkerung.
[325]
Neben ihr entſteht ſchon im 16. Jahrhundert die Polizei der herum-
wandernden, der nicht anſäſſigen Perſonen, die Polizei der Bettler und
und Vagabunden. Wir werden ſpäter die hiſtoriſche Entwicklung des
Begriffs der Vagabunden bezeichnen. Hier muß die bekannte Thatſache
genügen, daß die uralte Idee der Friedloſigkeit des Heimathloſen ſich
auf dieſe Zeit vererbt, und der Vagabund und Bettler als ein Friede-
brecher hart, ja mit dem Tode beſtraft wird. Die Gefahr, welche die-
ſelben bringen, kann nun zwar die einzelne Gemeinde dadurch be-
kämpfen, daß ſie die Herumſtreicher ausweist; allein jede Ausweiſung
wirft ſie am Ende doch nur von einer Gemeinde zur andern. Man
muß daher, namentlich ſeit dem dreißigjährigen Kriege, das Vagabunden-
thum durch ein eigenes Organ bekämpfen. So entſteht das Inſtitut
der Landreiter, Landdragoner, Hatſchiere, Gendarmen; mit ihnen der
Gedanke, die Sicherheitspolizei überhaupt zu einer ſelbſtändigen Funktion
zu erheben; mit dieſem Gedanken die Nothwendigkeit, eine eigene Ein-
theilung des Landes, die Herſtellung von Polizeidiſtrikten für ſie einzu-
führen. Natürlich haben dieſelben ihre eigene Competenz, und dieſe
Competenz als Theil der amtlichen Organiſation, würde hier kaum
eine beſondere Stelle finden, wenn ſie nicht auf einen andern Punkt
hinüber geführt hätte. Dieſer Punkt war das Heimathweſen und ſeine
geſetzliche Feſtſtellung.
Offenbar nämlich konnte jenes bloße polizeiliche Ergreifen und Be-
ſtrafen der Herumſtreicher und Bettler nicht genügen. Man mußte ihnen
einen dauernden Aufenthalt anweiſen, und endlich mußten ſie an dieſem
Aufenthalt auch verpflegt werden. So ſchloß ſich an die Entſtehung
und Ordnung der Sicherheits- und ſpeciell der Bettelpolizei die Frage,
aus welcher in Deutſchland wie in der ganzen Welt das Heimaths-
weſen entſtanden iſt, die Frage nach den Grundſätzen für die Ver-
pflichtung zur Armenunterſtützung.
Auch in Deutſchland wie in der übrigen Welt war die Armen-
unterſtützung ſo alt wie die geſellſchaftliche Ordnung überhaupt. Sie
hatte ſogar ihre eigenen Inſtitute, zum Theil ihre eigenen Organe. Es
gab Krankenhäuſer, Hoſpitäler, Almoſen und anderes lange ehe man
an das Heimathsweſen dachte. Allein dieſe Armenunterſtützung war
anfangs eine ſittliche, nur von der Kirche, und keine ſtaatliche, von
der Verwaltung vertretene Pflicht. Als nun aber der Staat als
Sicherheitspolizei das erwerbloſe Herumwandern verbietet, kann er die
Aufnahme des Angehörigen in ſeine Gemeinde nicht mehr von dem
guten Willen derſelben abhängig machen, und zweitens muß er die
Gemeinde verpflichten, den Aufgenommenen auch nothdürftig zu unter-
halten. Er muß daher eine Angehörigkeit ſetzen, die von ihm ausgeht,
[326] und eine Unterſtützungspflicht, die er beſtimmt. Und die Geſammtheit
der Grundſätze, nach denen dieß geordnet wird, bildet nunmehr, als
ſupplementarer Theil der Gemeindeangehörigkeit, das Heimathsweſen.
Das Heimathsweſen erſcheint daher als derjenige Theil der
adminiſtrativen Bevölkerungsordnung, welche die Zuſtän-
digkeit des Armen zu einem Unterſtützungskörper, oder
die Armenzuſtändigkeit beſtimmt. Und die Grundſätze, nach
denen dieß geſchah, lagen bereits gegeben vor.
Da nämlich noch immer die Gemeinde in ihren verſchiedenen For-
men die örtlich vollziehende Gewalt der Verwaltung, und als ſolche in
ihrer Selbſtändigkeit anerkannt war, ſo war es natürlich, daß dieſe
Armenzuſtändigkeit nicht wie in England auf eine Verwaltungsgemeinde,
und nicht wie in Frankreich auf den — in Deutſchland im Grunde
bloß oberaufſehenden — Staat, ſondern direkt auf die Gemeinde zurück-
geführt ward. Die Gemeinde ward der Unterſtützungskörper
für alle ihre Angehörigen. War ſie das, ſo konnte die Ange-
hörigkeit an die Gemeinde zum Zwecke eben dieſer Unterſtützung auch
nur als eine vom Staate beſtimmte, alſo auf einem von der Gemeinde
und ihrem Willen unabhängigen Grunde beruhende angeſehen wer-
den. Ein ſolcher Grund aber war zuerſt und unbedingt die Geburt,
in zweiter Reihe ein dauernder Aufenthalt. Die Aufſtellung der
Armenunterſtützungspflicht für die Gemeinde erzeugte daher, neben dem
ſelbſtverſtändlichen Satz, daß das Gemeindebürgerthum das Recht auf
Unterſtützung mit ſich bringe, die zwei Principien für die Armen-
zuſtändigkeit, die im Weſentlichen noch heute gelten, erſtlich daß die
Geburt, und zweitens daß ein längerer Aufenthalt dieſe Zuſtändigkeit
verleiht, ohne alle Rückſicht auf eine Aufnahme von Seiten der Ge-
meinde. An dieſe, ſchon im vorigen Jahrhundert vielfach ausgeſprochenen
Sätze ſchließen ſich die Beſtimmungen des heutigen meiſt in ſehr ein-
facher Weiſe an, und bilden ſo als das entſtehende Heimathsweſen dieſen
Theil des Rechts der Zuſtändigkeit.
So war nun die erſte Geſtalt der Verwaltungsordnung der Be-
völkerung in Deutſchland entſtanden. Sie war für ſich betrachtet, aller-
dings ſehr klar. Allein ſie behielt die ganze, im vorigen Abſchnitt dar-
geſtellte ſtändiſche Verwaltungsordnung bei, und zwar mit
allen ihren Principien und Rechten. Sie nimmt die letztere nicht in ſich
auf und verarbeitet ſie nicht, ſondern ſie legt ſich gleichſam über dieſelbe
hin, und läßt ſie auch da, wo ſie mit ihr in Gegenſatz tritt, als ein
erworbenes Recht auf eine Ausnahmsſtellung unverletzt be-
ſtehen, und zwar nicht bloß für die Gerichtsbarkeit, ſondern auch für
die übrigen amtlichen Competenzen in Finanzfragen wie Zoll, Mauth
[327] Steuer, und in den innern Fragen wie Wegeweſen, Schulweſen, Be-
ſitzvertheilung, Grundbuchsweſen und anderes. Dazu kommt, daß jeder
kleine deutſche Staat wieder ſeine eigene adminiſtrative Bevölkerungs-
ordnung hat, oft ſogar eine verſchiedene in den verſchiedenen Theilen.
Es iſt daher weder möglich noch auch von dauerndem hiſtoriſchem Werthe,
ein vollſtändiges Bild dieſer Zuſtände in Competenz, Angehörigkeiten
an Korporationen und Gemeinden, Polizei und Heimathsweſen feſtzu-
ſtellen. Den beſten Verſuch, dieß Bild wenigſtens für einen Staat ſo
vollſtändig als möglich auszumalen, hat für Oeſterreich Kopetz in
ſeiner Politiſchen Geſetzkunde, für Preußen Fiſcher in ſeinem Polizei-
recht gemacht. Es ſind dieß unſchätzbare Quellen für die ſpecielle Ge-
ſchichte des innern Lebens Deutſchlands, welche die deutſche Geſchicht-
ſchreibung nur noch wenig benutzt hat. Es iſt kein ſo ganz leichter
Vorwurf für ſie, daß nur Freitag, offenbar von Macaulay’s Be-
handlung angeregt, in ſeinen „Neuen Bildern“ uns dieſelben halb in
novelliſtiſcher Form verarbeitet vorführt. Ohne das Studium von
Männern wie Berg, Fiſcher, Kopetz, Juſti, Sonnenfels, ſollte es keine
Geſchichtſchreibung des vorigen Jahrhunderts geben.
ordnung der Bevölkerung in Deutſchland, namentlich das
Gemeindebürgerrecht und das Heimathsrecht.
Will man nun auf Grundlage der bisherigen Darſtellung ſich über
den gegenwärtigen Zuſtand jener Rechtsverhältniſſe in Deutſchland klar
werden, ſo muß man gewiſſe Geſichtspunkte unbedingt feſthalten.
Zuerſt hat die Bundesakte jeden Staat ſouverän gemacht, ohne
Rückſicht darauf, ob ſeine Größe ihn fähig macht, die großen organiſchen
Kategorien des Staatslebens bei ſich zu entwickeln. Es gibt daher
rechtlich ſo viele Bevölkerungsordnungen, als es Staaten gibt, und
das was man Vergleichung nennt, iſt zum Theil noch geradezu un-
möglich.
Zweitens iſt in der Bildung der Bevölkerungsordnung noch kein
allgemein gültiges und anerkanntes Princip zum Durchbruch gekom-
men, ſondern auch jetzt noch die Grundlage des vorigen Jahrhunderts
gültig. Noch immer erhalten ſich die Grundzüge der ſtändiſchen Ord-
nung, zum Theil ſogar gegenüber den rein amtlichen Competenzen, faſt
allenthalben aber im Gebiete der Angehörigkeiten an die Selbſtverwal-
tungskörper aller Art, und mit ihnen auch die aus der früheren Ent-
wicklung ſtammenden großen Verſchiedenheiten derſelben. Namentlich
[328] gilt dieß da, wo man es bei dem vielfachen wortreichen Reden und
Drängen nach „bürgerlicher Freiheit“ und „deutſcher Einheit“ am
wenigſten erwarten ſollte, beim Gemeindebürgerrecht. Hätte
man daher auch die Quellen aller beſtehenden Territorialgeſetzgebungen
— und der Verfaſſer kennt niemanden, der ſie je alle geſehen hätte
— ſo würde man doch nicht zu einem einheitlichen Bilde gelangen.
Es bleibt daher, um der Darſtellung des deutſchen Lebens auf
dieſem Gebiete dieſelbe Klarheit zu geben, die wir in England und
Frankreich finden, nichts übrig, als jene Verſchiedenheit ſo viel als
möglich auf die Grundbegriffe und Elemente zurückzuführen, die ſie ge-
mein haben, und zu zeigen, wo eigentlich der Mangel in den geſetzlichen
Anordnungen, der Grund der zum Theil unglaublichen Engherzigkeit
im Gemeindebürgerrecht, und mithin das Ziel liegt, dem die unläugbar
vorhandene Bewegung entgegenſtrebt. Es iſt ganz und gar unmöglich,
hier bei einer rein objectiven Darſtellung ſtehen zu bleiben, was am beſten
wohl Bitzers Arbeit gezeigt hat, der namentlich über Gemeindeangehörig-
keit und Heimathweſen Deutſchlands das reichhaltigſte Material geſammelt
hat, das wir bisher beſitzen, ohne doch zum Abſchluß zu gelangen.
Dabei nun iſt es keine Frage, daß der Schwerpunkt der ganzen
Auffaſſung im Begriffe und der Stellung der Gemeinde gegenüber
der amtlichen Organiſation liegt. Die letztere iſt ziemlich klar und
gleichartig, und die amtliche Bevölkerungsordnung mit den Competenzen
und Zuſtändigkeiten der finanziellen, richterlichen und adminiſtrativen
Behörden dürfen wir im Weſentlichen als bekannt ſetzen. Das, warum
es ſich handelt, iſt die in Gemeindeangehörigkeit und Heimathweſen
gegebene äußere Geſtalt und Ordnung der Selbſtverwaltungskörper,
über die man ſich geſetzlich eben ſo wenig einig geworden, als man es
bisher über den Begriff der Selbſtverwaltung ſelbſt war.
Das Folgende muß daher dasjenige erfüllen, was wir in der Lehre
von der vollziehenden Gewalt über die deutſche Geſtalt der Selbſtver-
waltung geſagt haben.
(Die hiſtoriſche ſtändiſche Ortsgemeinde wird die Grundlage
des ganzen Gemeindeweſens und damit der geſammten Selbſt-
verwaltung in Deutſchland. Folgen dieſer Thatſache für die
Verfaſſung und Verwaltung der letzteren im Allgemeinen, und
für das Heimathsweſen im Beſondern.)
Allerdings hatte ſich, wie oben erwähnt, die ganze ſtändiſche Ge-
ſtalt der Bevölkerungsordnung in Deutſchland nicht bloß im vorigen
[329] Jahrhundert, ſondern auch noch nach den franzöſiſchen Kriegen erhalten.
Es gab und gibt keine volle ſtaatsbürgerliche Gleichheit und Ein-
heit der Verwaltung wie in England und Frankreich. Allein der amt-
liche Organismus hatte die eigentliche Thätigkeit der ſtändiſchen Selbſt-
verwaltungskörper theils neutraliſirt, theils ſich gänzlich dienſtbar gemacht.
Ohne geradezu das Recht deſſelben zu vernichten, hatte er ihnen doch
die Ausübung genommen, und ſeine Organe an allen Punkten an die
Stelle der früheren geſetzt, ſo daß dieſen nur noch der Name, und
zum Theil auch dieſer nicht geblieben war. Dafür aber hatte er, nicht
weniger allmächtig und ſtrenge als in Frankreich, doch den naheliegen-
den Erſatz im Staatsbürgerthum durch Verleihung einer Verfaſſung
nicht geboten. Das Gefühl der bürgerlichen Unfreiheit war daher ſo
ſtark, daß es ſelbſt mächtiger war als das der geſellſchaftlichen Un-
gleichheit. Und das war es, was den folgenden Dingen ihren Cha-
rakter gab.
Der Kampf nämlich, der ſich ſchon ſeit 1813, in neuer Geſtalt
aber ſeit 1830 gegen dieſe ausſchließliche Herrſchaft des amtlichen Or-
ganismus erhob, erſcheint eben deßhalb zunächſt weſentlich als ein
negativer. Es handelt ſich in dieſen 30 Jahren nicht ſo ſehr um das,
was eigentlich durch die Verwaltung geſchehen ſoll, als um das, durch
wen es geſchehen ſoll. Man will nicht ſo ſehr gute Geſetze und Ad-
miniſtration, als das Recht, beide unter Mitwirkung der Vertretungen
zu beſtimmen. Daher gehen alle Beſtrebungen dieſer Zeit nicht ſo ſehr
dahin zu fragen, was die eigentlichen Aufgaben der Staatsgewalt,
als dahin, welches die richtigen Formen der Theilnahme des Volkes
an der Erfüllung dieſer Aufgaben ſeien. Und wie die Grundgeſetz-
gebung der Staaten daher in organiſchen Verfaſſungen culminiren, ſo
gipfelt die Staatswiſſenſchaft ſtatt in der Verwaltungslehre vielmehr in
der Verfaſſungstheorie. Das war allerdings der natürliche Gang der Dinge.
In dieſer Bewegung nun, bei ziemlich völliger Unklarheit über
Weſen und Aufgabe der Verwaltung und den Vorausſetzungen ihrer
Löſung, namentlich in Bezug auf die dazu erforderliche Verwaltungs-
ordnung der Bevölkerung, lag es nahe, ſich an die gegebenen Ge-
ſtaltungen der letzteren anzuſchließen, und dieſelben ohne eingehende
Beurtheilung ihres Verhältniſſes zur Verwaltung, nur erſt und vor
allen Dingen zu Trägern des Princips der Verfaſſung zu machen.
Natürlich griff man dabei zuerſt auf die Gemeinde zurück. Das Ge-
meindeleben war das, was man eigentlich noch recht überſehen konnte.
In der Gemeinde ließ ſich die Idee des Staatsbürgerthums, die Theil-
nahme des Einzelnen am öffentlichen Willen am leichteſten verwirklichen.
Sie erſchien nach ariſtoteliſcher Auffaſſung als der Grund des Staats.
[330] Eine freie Gemeindeverfaſſung war und blieb das nächſte Ziel der frei-
heitlichen Beſtrebungen. Dazu kam, daß die Neugeſtaltung des deutſchen
Reiches eine Unzahl von früher ſelbſtändigen Gemeinden in die neuen
Staaten eingereiht hatte, die deßhalb einer neuen Ordnung bedurften.
Die große Verfaſſungsbewegung begann daher mit den neuen Gemeinde-
verfaſſungen; bei einigen Staaten, namentlich den Elbſtaaten, kam es
auch dazu nicht, bei andern wie in Preußen, blieb man dabei ſtehen,
aber bei einigen, wie namentlich im Süden, wurden dieſe Gemeinde-
verfaſſungen integrirende Theile der Staatsverfaſſung. Aber ſeit 1808,
wo die erſte verfaſſungsmäßige Gemeindeordnung in Preußen erſchien,
glaubte man mit der Frage nach dem Gemeinderecht die weſentlichſte
Seite der Verfaſſung erfüllt oder doch vorbereitet zu haben.
Das war nun recht gut. Allein indem man das forderte, überſah
man gänzlich, daß man eigentlich gar keinen Begriff von der
Gemeinde habe, und daher auch unfähig war, ſelbſt bei voll-
kommenſter Freiheit der Geſetzgebung, ſich eine wirklich eigenthümliche
und genügende Verfaſſung der Gemeinden zu ſchaffen. Wir haben
in der vollziehenden Gewalt dargelegt, daß dieſer Begriff, der nicht ſo
gar einfach und nicht mit dem vieldeutigen und unklaren Wort „Ge-
meinde“ ſchon gegeben iſt, auch jetzt noch nicht exiſtirt. Anſtatt nun
zu fragen, was denn eigentlich eine Gemeinde als Selbſtverwaltungs-
körper ſei oder ſein ſolle, ergriff man den nächſtliegenden Weg, und
nahm die deutſche hiſtoriſche Ortsgemeinde für die wahre
Gemeinde, indem man alle im Weſen der Gemeinde liegenden
organiſchen Begriffe und Rechte ohne weiteres auf dieſe thatſächliche,
hiſtoriſch gewordene Ortsgemeinde übertrug. Man kann nicht
nachdrücklich genug dieſe große hiſtoriſche Thatſache hervorheben, denn
ſie iſt es, welche dem deutſchen Gemeindeweſen und allem was ſich an
ſie ſchließt, namentlich auch der Verwaltungsordnung der Bevölkerung,
ihre ganze gegenwärtige Geſtalt, all ihre Einſeitigkeiten und Verſchieden-
heiten, all ihr nur zu oft fühlbares Ungenügen gegeben hat. Denn
vermöge dieſer Uebertragung des Begriffs der Gemeinde und der freien
örtlichen Selbſtverwaltung auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde wollte man
das geſammte Gemeindeweſen der Staaten auf die gleichen Kategorien
der Verfaſſung und Verwaltung reduciren, obwohl man zugleich die
Ortsgemeinde als hiſtoriſch berechtigten, mit ſeinen Gränzen gegebenen
Körper annahm. Dieß war ein unlösbarer Widerſpruch, und dieſer
Widerſpruch zeigte bald ſeine Folgen; Folgen, die zu überſehen die
ganze Einſeitigkeit der deutſchen Publiciſtik nicht immer ausreichte.
Um nämlich die örtliche freie Selbſtverwaltung als Gemeinde her-
zuſtellen, bedarf es zweier unbedingter Vorausſetzungen. Zuerſt muß
[331] der Grundſatz der Gleichheit für das Gemeindebürgerthum durchführ-
bar ſein; zweitens muß die Gemeinde ſelbſt groß genug ſein, um
die ihr überwieſenen Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. Um beides zu
haben, muß man aber entweder die ſtaatsbürgerliche Gleichheit ſchon
beſitzen, und die Gemeindekörper nach ihrer Aufgabe, ſtatt die Auf-
gaben nach den Gemeindekörpern einrichten, wie beides in England der
Fall war, oder man muß jene Gleichheit durch eine Revolution her-
ſtellen, und die Gemeinden ganz nach dem Schema der amtlichen Or-
ganiſation vertheilen, wie in Frankreich. Keines von dieſen Dingen
war in Deutſchland der Fall. Indem man ſtatt deſſen einfach die
hiſtoriſch gebildete Ortsgemeinde den allgemeinen Gemeindeverfaſſungen
zum Grunde legte, ohne weder die ſtaatsbürgerliche Gleichheit herzu-
ſtellen, noch auch die Gemeinden anders zu vertheilen, entſtand jenes
unklare und unfertige Gemeindeweſen Deutſchlands, in dem wir uns
noch befinden, und das offenbar nur als Uebergang zu einer höheren
Ordnung der Dinge anerkannt werden kann.
Wir wollen verſuchen, die Elemente deſſelben hier kurz zu
charakteriſiren.
Die Idee einer freien Verfaſſung der Gemeinden, wie ſie die
verſchiedenen Gemeindeordnungen enthalten, konnte ſehr leicht ihr
Schema in Wahl und Wählbarkeit, Gemeindevertretung und Gemeinde-
haupt finden, ohne viel Werth auf verſchiedenen Cenſus und verſchiedene
Namen zu legen. Allein anders war es mit dem Gemeindebürger-
recht. Das Gemeindebürgerrecht iſt ohne geſellſchaftliche Gleichſtellung
undenkbar. Indem man nun die alte Ortsgemeinde annahm mit
ihrer ganzen hiſtoriſchen Geſtalt, zeigte es ſich zunächſt, daß nur die
Stadtgemeinden und mit ihnen einzelne Landgemeinden überhaupt den
Begriff des Bürgerrechts zuließen. Denn hiſtoriſch beſtand neben
Stadt und Dorf noch die Herrſchaft mit ihrer Gutsgerichtsbarkeit,
auf dem ſtändiſchen Beſitzrecht begründet. Die Einführung des Ge-
meindebürgerrechts in den Herrſchaften mit Patrimonialgerichtsbarkeit
war natürlich ein Unding. Es hätte den Herrn zu ſeinem eigenen
Unterthan gemacht. Hier war daher eine reine Gemeindeverfaſſung ſo
lange abſolut unmöglich, als die Patrimonialgerichtsbarkeit beſtand, und
die erſte Folge war, daß es eben gar keine, wie in Preußen, oder
keine allgemein gültige Landgemeindeordnung wie in Bayern und Württem-
berg, oder eine von der Stadtgemeindeordnung weſentlich verſchiedene
wie in Sachſen gab. — Aber auch nach Aufhebung der Patrimonial-
gerichtsbarkeit, wie in Oeſterreich, zeigte ſich auf dem Lande ein zweites
Verhältniß. Der Beſitz der früheren Herren war zum Theil ſo groß, daß
ſich in ihm allein die alte Ortsgemeinde fortſetzte. Es war denn doch ein
[332] Unding, eine Ortsgemeinde mit einem Dutzend Gemeindebürgern unter
gleichem Stimmrecht, aber unter abſolut ungleicher Belaſtung an-
zuerkennen. So lange man bei der Ortsgemeinde ſtehen blieb, war
hier nicht zu helfen. Der wahre Ausweg, die Bildung der Verwal-
tungsgemeinden aber, wird nur noch als Amtsbezirk gedacht (ſ. unten).
Man half ſich daher, indem man entweder beſondere Gemeinde-
ordnungen erließ, oder die allgemeinen eben gar nicht, oder nur nominell
zur Ausführung brachte. Schon dadurch ward die Zurückführung des
Princips der Bevölkerungsordnung auf die Selbſtverwaltung unthun-
lich, und es iſt der durchgehende Charakter des deutſchen Gemeinderechts,
daß es eigentlich nur für die Städte gilt, wie es hiſtoriſch im
Weſen der ſtändiſchen Ortsgemeinde begründet war. Die Landgemeinde-
ordnungen ſowohl wie ihr Mangel ſind dabei von der Lehre des öffent-
lichen Rechts unverarbeitet geblieben. Haben doch die Sammlungen
wie die von Weiske und Zachariä ſie ganz bei Seite liegen laſſen,
und das zwar zur ſelben Zeit, wo Grimm durch ſeine Weißthümer
und Bauernſprachen die alte Landgemeindeordnung neben die Stadt-
rechte geſtellt, und die franzöſiſche Rechtsgeſchichte die Coutumes, die
ja zum großen Theil Landgemeinderecht enthielten, verarbeitet hat! —
Aber auch die ſtändiſche Gemeindeverfaſſung, auf Grundlage der
hiſtoriſchen Ortsgemeinde, kam nicht zum rechten Gemeindebürgerthum.
Das Gemeindebürgerrecht unſeres Jahrhunderts iſt in der That nicht
viel mehr und beſſer als eine einfache Reduction des geltenden Rechts
der ſtändiſchen Ordnung.
Wir haben geſehen, wie die ſtändiſche Stadtgemeinde ſich ſtets als
ſelbſtändigen Verwaltungskörper anſah, und deßhalb zuerſt dem Ein-
zelnen nur gegen ausdrückliche Aufnahme das Bürgerrecht verlieh;
dennoch aber eine Menge von Perſonen enthielt, die obwohl unzweifel-
haft anſäſſig, doch an dem Bürgerrecht nicht Theil nahmen — zwei
Grundſätze, welche ſowohl in England als in Frankreich unmöglich
ſind. Die Aufſtellung der Ortsgemeinde als Grundlage der Gemeinde
überhaupt ließ nun in Deutſchland jene beiden Principien beſtehen,
und ſanctionirte ſie formell in den neuen Gemeindeordnungen, ohne
ſich über die wahre Bedeutung der Sache Rechenſchaft abzulegen. Da-
durch ſind nun die geradezu wunderlichſten Beſtimmungen in die neueſten
deutſchen Gemeindeordnungen hinein gekommen, für die es weder eine
rationelle Begründung noch einen juriſtiſchen Inhalt gibt, und die einzig
und allein ſich in obiger Weiſe hiſtoriſch erklären. Dieſe Beſtimmungen
ſind weſentlich folgende:
Erſtlich haben die Gemeinden das Recht, die Aufnahmen zu ver-
ſagen, wenn der Betreffende, der Bürger werden will, „keinen guten
[333] Leumund beſitzt,“ was um ſo mehr ein Unding iſt, als im ganzen
übrigen Rechtsleben ſogar mit der abgebüßten Strafe die Folgen des
Verbrechens verſchwinden. Und wer wird die Gränze des „Leumundes“
beſtimmen, wenn nicht das Intereſſe?
Zweitens haben ſie das Recht, ein Eintrittsgeld und meiſtens
ein Vermögen als Bedingung der Aufnahme zu fordern, eventuell die
Ehe zu bewilligen (ſ. oben), wobei es ſchwer zu ſagen iſt, welches von
beiden Rechten in größerem Widerſpruch mit den Principien des freien
Staatsbürgerthums ſteht.
Drittens aber ſollen ſie die Aufnahme in das Gemeindebürger-
thum nicht verweigern dürfen, wenn die geſetzlichen Bedingungen
vorhanden ſind. Welchen Sinn hat eine „Aufnahme,“ die ich vornehmen
muß? Und iſt es nothwendig, daß ſich der Anſäſſige aufnehmen
laſſe, wozu die Möglichkeit laſſen, daß er nicht darum bittet? Enthält
ſie neue Verpflichtungen, ſo wird er ſie ohnehin unterlaſſen. Hat
er aber die Verpflichtungen des Gemeindebürgers in Stimme und Laſten
ohnehin, warum von einer ſogenannten „Aufnahme“ erſt das Recht,
das natürlich aus der Theilnahme an den Laſten folgt, abhängig
machen? Das alles iſt, wie geſagt, nur hiſtoriſch begreiflich.
Endlich haben einige Länder den Grundſatz geſetzlich ausgeſprochen,
daß jeder Staatsbürger Mitglied irgend einer Gemeinde ſein muß,
was ſich von ſelbſt verſteht, wenn ſich einer darunter eine entweder
natürliche (Geburt) oder gewerbliche (Aufenthalt) Heimath denkt, was
aber gar keinen Sinn hat, wenn man daneben das Princip der
Aufnahme in das Bürgerrecht ſetzt, da dieſe ja eben von der Gemeinde
abhängt. — Dagegen bricht ſich dann der ſtändiſche Grundſatz in der
Frage Bahn, ob Geiſtliche, Staatsdiener und zum Theil ſogar Grund-
herren Stadtgemeindebürger ſein können, was einige verneinen, andere
bejahen.
Man ſieht auf den erſten Blick, daß hier durch das Feſthalten der
alten Ortsgemeinde innerhalb der unklaren Vorſtellung vom „freien“
Gemeindebürgerthum eine unendliche Verwirrung entſteht. Sie wird
nicht geringer, wenn man die Gemeindeverwaltung betrachtet.
Auch hier ſind die ſachlichen und formalen Verhältniſſe ſehr leicht
formulirt; Gemeindelaſten, Gemeinderechnungen, Gemeindediener u. ſ. w.
— alle dieſe Dinge gehen faſt von ſelbſt aus dem reinen Begriff der
örtlichen Selbſtverwaltung hervor. Allein ganz anders geſtaltet ſich
das, ſowie der Begriff der hiſtoriſchen Ortsgemeinde den Satz zur Gel-
tung bringt, daß jede Ortsgemeinde alle Staatsaufgaben örtlich zu
vollziehen habe. In der That nemlich iſt ohne dieſen Satz die Orts-
gemeinde nur ein, und noch dazu in den bei weitem meiſten Fällen
[334]ſehr untergeordneter Körper der Selbſtverwaltung. Mit demſelben
aber tritt ſofort der Widerſpruch auf, daß die meiſten Ortsgemeinden
gar nicht dazu im Stande ſind. Jene Beſchränkung des Gemeinde-
begriffes und der Gemeindeordnungen auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde
zeigt daher auch auf dieſem Punkte die Unfertigkeit des ganzen deutſchen
Gemeindeweſens.
Die erſte Folge derſelben war nämlich die Beibehaltung der hiſto-
riſchen Begriffe und Rechte von Schutzbürgern, Beiſaſſen u. ſ. w. im
neuen Gemeinderecht. Daß dieſelben einen ſehr guten Sinn hatten, als
die Landgemeinde als Herrſchaft unfrei, die Stadtgemeinde frei war, iſt
wohl klar. Sehr ſchwer dagegen iſt zu ſagen, was es in heutiger Zeit
bedeuten ſoll, wenn einige Gemeindeordnungen das Schutzbürgerthum
auf das Recht, von der Gemeinde Schutz zu verlangen, oder den
Satz, daß der Beiſaſſe unter dem „Schutz der Gemeinde“ ſtehe, be-
ziehen. Denn der Schutz und das Gericht, welche derſelbe von der
Gemeinde zu verlangen hat, beruhen eben gar nicht auf ſeinem Schutz-,
ſondern auf ſeinem Staatsbürgerthum. Er hat nicht mehr
und nicht weniger Schutz, als jeder Reiſende und Fremde in der Ge-
meinde. Die ganze Vorſtellung vom ſogenannten Schutzbürgerthum
bedeutet jetzt vielmehr etwas anderes. Es ſoll das Rechtsverhältniß
des Ankömmlings von dem Augenblick ſeiner erſten Niederlaſſung bis
zur „Aufnahme“ in das Gemeindebürgerthum, oder das Rechtsverhältniß
des Erwerbens des letzteren bezeichnen. Das hat nur dann einen
Sinn, ſo lange es erſtens noch eine ſolche Aufnahme gibt, und zweitens
in ſo fern eine gewiſſe Dauer des Aufenthalts nothwendig iſt, um das
Heimathsrecht zu gewinnen. Ein „Schutzbürger“ iſt daher ein Ein-
wohner, der noch kein Heimathsrecht an dem Orte ſeiner Niederlaſſung
gewonnen hat. In jeder andern Beziehung iſt er dem Heimath-
berechtigten gleich. In dieſem Sinne aber gehört wieder das ſogenannte
Schutzbürgerthum daher überhaupt nicht in das Gemeinderecht, ſondern
in das Heimathsrecht. Denkt man ſich aber unter dem Schutz-
bürgerthum die Gemeindeangehörigkeit ohne Theilnahme an Wähler-
recht und Wahlfähigkeit, ſo iſt jeder Angehörige ein Schutzbürger, auch
der Heimathberechtigte ſeit Generationen, ja der reiche Unmündige, und
ſelbſt der oberſte Beamte eines Kreiſes, unter dem die Verwaltung der
Gemeinde ſteht, iſt Schutzbürger dieſer von ihm verwalteten Gemeinde.
Man ſieht, daß nur die, ſogleich zu erwähnende Verſchmelzung von
Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht dieſem ſonſt nur hiſtoriſch er-
klärbaren Wort einen Sinn gibt. Es iſt kein Zweifel, daß das ganze
Verhältniß verſchwinden wird, ſowie ſich eine wahre Gemeindeverfaſſung
aus den gegenwärtigen Zuſtänden entwickelt.
[335]
Die zweite Folge war die Frage, ob mit der Gemeindeangehörig-
keit auch das Recht auf den Gewerbebetrieb, das Gewerbebürger-
thum, gewonnen ſein ſollte. Nur die Uebertragung der alten ſtändiſchen
Unfreiheit auf die neuen Gewerbeordnungen konnte dieß Recht überhaupt
in Frage ſtellen, und hier traten mitten in aller ſcheinbaren Verfaſſungs-
freiheit die ſchreiendſten Beſchränkungen der ſtaatsbürgerlichen Freiheit
durch das Ortsgemeinderecht hervor. Die Staaten, welche die Zünfte
aufgehoben, wie Preußen, das es zum Theil, und Oeſterreich, das es ganz
gethan, machten allerdings den Gewerbebetrieb vom Gemeinderecht un-
abhängig; andere Staaten dagegen wie Bayern, Württemberg, Baden,
ſetzten den Erwerb des Bürgerrechts als Bedingung des Gewerbe-
betriebsrechts. Hier gewann freilich der Akt der „Aufnahme“ einen
praktiſchen Sinn für das engherzige Intereſſe der Zunftgenoſſen! Und
ſo iſt auch dieſe tiefe Anomalie mit dem Princip des freien Staats-
bürgerthums nur hiſtoriſch erklärbar.
Das waren die beiden Folgen, die ſich innerhalb der Gemeinde
zeigten. Eine dritte, viel wichtigere Folge dieſer Beſchränkung der neuen
Idee der Gemeinde auf die alte Ortsgemeinde entſtand nun dadurch,
daß dadurch die Aufgaben principiell für alle Gemeinden gleich wer-
den, während thatſächlich die Mittel der einzelnen Gemeinden ihre
örtliche Vollziehung geradezu oft unmöglich machten. Das mußte aber
mit jedem Jahre fühlbarer werden, da mit jedem Jahre dieſe Aufgaben
wuchſen, und mit jedem Jahre mehr Mittel forderten. Die Conſequenz
davon zeigte ſich nun nach zwei Seiten.
Da nämlich die großen Verwaltungsaufgaben nicht ungelöst bleiben
konnten, ſo ergab es ſich gleichſam von ſelbſt, daß die amtliche Ver-
waltung ſolche Aufgaben übernahm, und die kleinen Gemeinden damit
ihre eigentliche Selbſtverwaltung wieder an den größeren, dem Umfange
der Verwaltungsaufgabe entſprechenden Amtsbezirk theils direkt,
theils indirekt verloren. Das iſt der einfache und natürliche Grund,
weßhalb die Selbſtverwaltung nur in den größern Städten feſten Fuß
gefaßt hat, während unter den Landgemeinden die Theilnahme der An-
gehörigen eine höchſt beſchränkte und örtliche iſt. Wer nur einigermaßen
die wirklichen Verhältniſſe des Lebens kennt, der wird unbedingt zu-
geſtehen, daß hier die Selbſtverwaltung, und faſt immer aus dem obigen
Grunde, ein ziemlich leeres Wort iſt.
Während aber die amtliche Verwaltung faſt auf allen andern
Punkten ſich an der Stelle der Selbſtverwaltung erhielt, wies ſie auf
Einem Gebiete alle poſitive Verpflichtung von ſich und der Ortsgemeinde
zu, das war die Armenunterſtützung. Schon das vorige Jahr-
hundert hatte den alten ethiſchen Satz, daß jede Gemeinde ihre Armen
[336] zu ernähren habe, zu einer ſtaatlichen Vorſchrift gemacht. Die unbe-
dingte Gültigkeit dieſes Grundſatzes hatte daher zur natürlichen Folge,
daß man für dieſe Armenangehörigkeit Grundſätze aufſtellte, welche
ſie von dem Willen der Gemeinde, alſo auch von der Gemeinde-
angehörigkeit unabhängig machte. Dadurch ward eine Zuſtändig-
keitsordnung nothwendig, welche neben derjenigen, auf welcher die
Gemeindeangehörigkeit beruhte, auftrat, und ſo entſtand durch das Zu-
ſammenwirken dieſer Momente das deutſche Heimathsrecht und
ſein charakteriſtiſcher Unterſchied von dem engliſchen und
franzöſiſchen.
Wir glauben, daß daſſelbe nunmehr in ſeinen allgemein gültigen
Grundzügen leicht zu bezeichnen ſein wird.
Der erſte Grundſatz deſſelben iſt, daß die Armenerhaltung nicht
als Sache des Staats, ſondern der Ortsgemeinde anerkannt iſt,
während Frankreich die letztere wenigſtens für perſönlich Arme als
Staatsangelegenheit betrachtet, und die wirthſchaftlich Armen vorzugs-
weiſe der Privatwohlthätigkeit zuweist, England dagegen dieſe als Staats-
laſt anerkannte Verpflichtung durch die Verwaltungsgemeinde des Kirch-
ſpiels und der union vollziehen läßt.
So lange nun die Armuth noch den Charakter eines nur den
Einzelnen treffenden Unglücks hat, iſt dieſe Pflicht der Ortsgemeinde,
ſei es Stadt oder Herrſchaft, eine unbedeutende. So wie aber mit
der Entwicklung der Induſtrie die wirthſchaftliche Armuth des Erwerb-
loſen ein allgemeiner Zuſtand wird, beginnt hier der Widerſpruch ſich
zu entwickeln, auf dem eben die Eigenthümlichkeit und Unfertigkeit des
deutſchen Heimathsrechts beruht. Die Ortsgemeinde des täglichen Er-
werbes wird eine andere, als die Ortsgemeinde der Heimath; die
Gemeinde, welche den Arbeiter während ſeiner Arbeitsfähigkeit be-
nützt, kann nicht wünſchen, ihn bei ſeiner Arbeitsunfähigkeit unter-
ſtützen zu müſſen, während die Gemeinde, der er angehört, in der er
aber nicht gelebt hat, eben ſo wenig dieſe Unterſtützung als eine für
ſie natürliche Laſt anſieht. Daher entſteht denn das unter dieſen Umſtänden
ganz natürliche Streben jeder Gemeinde, den Erwerb der Armenange-
hörigkeit ſo ſchwierig als möglich zu machen.
Indem nun aber die örtliche Pflicht der Armenunterſtützung trotz-
dem beſtehen bleibt neben der immer größern Bewegung der Arbeiter,
entſteht ein ſtreng ausgebildetes Syſtem des Rechts dieſer Armenange-
hörigkeit oder des Heimathsrechts, und der Punkt, auf welchem ſich
der Streit bewegt, iſt nunmehr leicht zu bezeichnen.
Zuerſt iſt es in keinem Recht bezweifelt, daß das Gemeinde-
bürgerrecht das Heimathsrecht enthält, und es mithin erzeugt. Wir
[337] nennen daſſelbe daher das bürgerliche Heimathsrecht. Ein ſolches
gibt es, wie ſchon oben erwähnt, weder in England, noch in Frankreich.
Zweitens muß jeder eine Heimath haben, weil jeder bei abſo-
luter perſönlicher Armuth unterſtützt werden muß. Dieſe Angehörig-
keit muß demnach mit der Perſon ſelbſt unmittelbar, alſo mit ihrer
Geburt und Familie gegeben ſein. Wir nennen ſie daher das na-
türliche Heimathsrecht. Es gilt ſowohl in England als in Frankreich.
Drittens aber, und hier entſteht die eigentliche Frage, muß
der dauernde Aufenthalt, das Domicile der Einzelnen, das ja die Ge-
meindeangehörigkeit für alle einzelnen Lebensverhältniſſe ergibt, zuletzt
auch die volle Angehörigkeit an die Gemeinde als Armenangehörig-
keit oder Heimathsrecht erzeugen. Ueber dies Princip als ſolches ſind
alle deutſchen Geſetze klar. Wir nennen dieſes Heimathsrecht als das
durch das gewerbliche Leben erworbene das gewerbliche Heimaths-
recht. Ein ſolches kennt Frankreich nicht, wohl aber England. Und
in Deutſchland, wie in England ſpitzt ſich daher die ganze Frage nach
dem Heimathsrecht in der Frage zu, unter welchen Umſtänden und
binnen welcher Zeit das gewerbliche Heimathsrecht in einer Ortsgemeinde
erworben, und in einer andern verloren wird.
Nun verſteht es ſich von ſelbſt, daß die erſte Bedingung jedes
Erwerbes der einer gewerblichen Heimath die Niederlaſſung, erſt die
zweite jene Dauer des Aufenthalts iſt. Der Wunſch der Ortsgemeinden
als Heimathsgemeinden, ſich der Armenpflicht ſo viel als möglich zu
entziehen, mußte daher zuerſt den Wunſch hervorrufen, die Nieder-
laſſung überhaupt von ihrer Zuſtimmung abhängig zu machen, und
zwar ſo, daß nicht bloß das Gemeindebürgerrecht im eigentlichen Sinn,
ſondern auch die Gemeindeangehörigkeit erſt durch eine ſolche formelle
Aufnahme in die Gemeinde erworben würde. Die Bedeutung einer
ſolchen Aufnahme ward dann nicht die, daß der Aufgenommene das
eigentliche Bürgerrecht, ſondern nur das Recht gewann, nicht aus-
gewieſen werden zu können. Es blieb ihm dann überlaſſen, zu
bleiben, oder vor dem Erwerb des Heimathsrechts fortzuziehen. Um
aber nicht die wandernde Arbeit dadurch von dem hiemit direkt aner-
kannten Recht der Ausweiſung abhängig zu machen, ließ man das
alte Syſtem der Heimathsſcheine, gerade wie in England, beſtehen;
dieſelben hatten jetzt nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, einen vor-
zugsweiſe polizeilichen, ſondern einen adminiſtrativen Charakter. Als
natürliche Folge davon ergab ſich aber, daß nunmehr die Ortsgemeinde
die Bedingungen der Aufnahme in die Angehörigkeit eben ſo vor-
ſchrieb, wie die der Aufnahme in das Bürgerrecht, was theils zur
Forderung eines Vermögensnachweiſes, theils zum Recht der gemeindlichen
Stein, die Verwaltungslehre. II. 22
[338] Eheconſenſe führte. So entſtand innerhalb des Gemeindeange-
hörigkeitsrechts das Recht der Niederlaſſung, oder die Formen
und Bedingungen, unter denen die Niederlaſſung als Gemeindeange-
hörigkeit noch ohne Heimathsrechtsrecht oder ohne Armenzuſtändig-
keit erworben wurde; ein Verhältniß, das wiederum weder England
noch Frankreich kennen. — Dieſem Niederlaſſungsrecht, der negativen
Seite der Gemeindeangehörigkeit tritt nun natürlich das Princip der
freien Bewegung entſchieden entgegen und fand ſeinen Ausdruck in der
Forderung, daß jeder an jedem Orte ſich niederlaſſen dürfe, oder in
dem Rechte der Freizügigkeit. Beide ſtanden in ſcharfem Wider-
ſpruch, und ſtehen noch darin. Das negative Niederlaſſungsrecht beruht
auf dem Gemeinderecht, das poſitive Freizügigkeitsrecht auf dem Staats-
bürgerrecht. Jenes hat ſeinen Grund im hiſtoriſchen Element der alten
Ortsgemeinde und im adminiſtrativen der Identität von Orts- und
Armengemeinde; dieſes im Weſen des ſtaatsbürgerlichen freien Gewerbes
und in dem Princip des freien Hilfsweſens. Beide Rechte können nun dieſe
oder jene Form haben, aber es iſt keinen Augenblick zweifelhaft, daß
ſie ſich principiell unter allen Formen gegenſeitig aufheben. Es
iſt abſolut unthunlich, ein Freizügigkeitsrecht mit irgend einem
Niederlaſſungsrecht zu verbinden. Hier gibt es daher gar kein
Auskunftsmittel, ſondern nur ein neues Princip; und es iſt ſchon hier
klar, daß, wenn die Freizügigkeit als nothwendig anerkannt wird, dies
als unbedingte Conſequenz die Modifikation der Verpflichtung der Orts-
gemeinde für die Verſorgung der heimathberechtigten Armen erzeugen muß.
Die zweite Frage nach dem Erwerb der gewerblichen Heimath war
dann die Dauer des Aufenthalts, welche dem Erwerbe vorausgehen
muß. Im Grunde kommt es dabei nicht viel darauf an, wie lang
man dieſe Dauer ſetzt, ſondern nur darauf, daß ſie für alle Gemeinden
gleich lang ſey, da ſonſt der ſich Niederlaſſende leicht ohne alle
gewerbliche Heimath ſein kann, und auf die rein zufällige natürliche
Heimath zurückgeworfen wird. Um dieſe Dauer gleichmäßig herzuſtellen,
muß ſie natürlich nicht mehr der Selbſtbeſtimmung der Gemeinden,
ſondern der Geſetzgebung überlaſſen werden. Das wird in denjenigen
Staaten nothwendig, wo auch die wirthſchaftliche Armuth als Ver-
waltungsaufgabe des Staats und nicht als Sache der Privatwohl-
thätigkeit erkannt wird. Daher haben England und die deutſchen
Staaten ſolche Geſetzgebungen, Frankreich aber nicht.
In Folge aller dieſer Punkte tritt das Heimathsweſen in Deutſch-
land in ein doppeltes wunderlich verwirrtes Verhältniß. Es iſt zugleich
ein Theil der Gemeindezuſtändigkeit, und zugleich auch nicht. Es
gehört demſelben, indem die Ortsgemeinde die Verwaltungs-
[339] gemeinde für das Armenweſen geworden und geblieben iſt,
und eben aus dieſem ſelbigen Grunde hat die Ortsgemeinde im Gegen-
ſatz zu dem Bedürfniß der freien Bewegung ſich auf das Entſchiedenſte
dagegen geſträubt, den Erwerb des Heimathsrechts durch gewerblichen
Aufenthalt zuzulaſſen, während ſie den Erwerb durch Geburt eben
ſo unbeſtritten zuläßt. Dazu kommt, daß die Bedingungen jener Zu-
laſſung örtlich und zeitlich verſchieden ſind, und daß diejenigen
Staaten, welche annähernd die Größe einer bedeutenden Ortsgemeinde
haben, dies Gemeindebürgerthum, die Gemeindeangehörigkeit und das
Heimathsweſen noch außerdem mit dem Indigenat identificiren
müſſen. Es ward dadurch eine unſäglich mühevolle Arbeit, die im
Grunde doch vielfach nur einen örtlichen, und ſtets nur einen vor-
übergehenden Werth hat, das in den deutſchen Bundesſtaaten wirklich
geltende Heimathsrecht aufzufinden. Selbſt Bitzer hat in ſeiner eigens
dafür beſtimmten Schrift das nicht zu leiſten vermocht. Es wäre dies
ſehr übel, wenn es nicht zugleich klar wäre, daß wir in dieſer Be-
ziehung einer principiellen Umgeſtaltung zu einer orga iſchen Geſtalt
eines Heimathsrechts, das vom Gemeinderecht unabhängig iſt, entgegen
gehen. Die Elemente deſſelben aber ſind ohne Zweifel folgende:
- 1) Die Armenunterſtützung muß Aufgabe einer eigenen, für ſie
beſtimmten, und eine Mehrheit von Ortsgemeinden umfaſſenden Armen-
gemeinde, als Verwaltungsgemeinde, mit eigener Armenverfaſſung
und Armenverwaltung werden. - 2) Jede Beſchränkung der Niederlaſſung und der Ehe muß auf-
gehoben werden. - 3) Die Dauer des Aufenthalts, welche die Armenzuſtändigkeit er-
wirbt, muß gleichmäßig ſein. - 4) Der Erwerb dieſer Zuſtändigkeit wird nur durch die nicht per-
ſönliche, ſondern wirthſchaftliche Armuth und die daraus folgende wirk-
liche Unterſtützung unterbrochen. - 5) Jede Armengemeinde hat die Pflicht, dieſe Unterſtützung eine
gewiſſe Zeit hindurch fortzuſetzen, aber nach Ablauf dieſer Zeit die
Ueberweiſung an die natürliche Heimath und die daraus folgende
natürliche Zuſtändigkeit durch Geburt und Ehe eintreten zu laſſen.
Es iſt, wie wir glauben, hieraus vor allen Dingen Eins klar. Es
iſt unmöglich, das Heimathsweſen oder die Armenzuſtändigkeit als letzten
Theil der adminiſtrativen Ordnung der Bevölkerung auf Grundlage der
Gemeindeangehörigkeit zu ordnen. Der Grund alles Streits ſowie aller
Unklarheit in der Theorie und der Verſchiedenheit der Geſetzgebungen
und ihrer Widerſprüche liegt eben in nichts anderem, als daß der weſent-
liche organiſche Unterſchied zwiſchen Ortsangehörigkeit
[340] und Armenzuſtändigkeit, Gemeindeweſen und Heimathsweſen, noch
nicht erkannt iſt. Im Gegentheil gehört die ganze Lehre von dem
erſtern der Lehre von der vollziehenden Gewalt, ſpeziell der Lehre von
der Selbſtverwaltung, die Lehre von dem letztern der Lehre von der
innern Verwaltung, ſpeciell vom Hülfsweſen. Es iſt nicht möglich, ſich
über das Heimathsweſen klar und einig zu werden, ehe man ſich
über das Armenweſen klar und einig iſt. Erſt aus dem
Princip für die Armenverwaltung wird das Princip, die
Klarheit und Gleichartigkeit für das Heimathweſen auch
in Deutſchland hervorgehen.
Wir dürfen uns daher hier begnügen, nur die Quellen des geltenden
Rechts für den gegenwärtigen, aus den obigen Gründen unmeßbar
verwirrten Zuſtand des Heimathsweſens in Deutſchland anzuführen,
da wir ihn in jeder Beziehung nur als einen Uebergangszuſtand aner-
kennen können.
Im Allgemeinen muß man bei jeder Beurtheilung von Literatur
und Geſetzgebung namentlich über Gemeindeangehörigkeit und Heimaths-
weſen feſthalten, daß die beſtändige Verſchmelzung beider Begriffe und
der mehr oder weniger klar ausgeſprochene Grundgedanke, daß das
Heimathsrecht nur ein Theil der Gemeindeangehörigkeit ſei und ſein,
und alſo auch als ſolches verſtanden und organiſirt werden
ſolle, eine eingehende Kritik von unſerm Standpunkte gar nicht als
thunlich erſcheinen läßt. Es iſt eben auf dieſem Wege zu keinem Re-
ſultat zu kommen; nicht einmal darüber wird man einig, ob nicht auch
das ganze Indigenationsrecht mit in das Heimathsrecht hinein gehöre.
So hat Weiske in ſeiner ſonſt trefflichen Einleitung zu ſeiner „Samm-
lung neuer deutſcher Gemeindegeſetze“ 1848 das Heimathsweſen gar
nicht berührt. Döhl in ſeiner „Armenpflege des preußiſchen Staats“
1860 läßt dafür wieder das Gemeinderecht weg; Bitzers oben ange-
führtes Werk wirft Buntes durcheinander; die höchſt geſchmackvoll ge-
arbeitete und in ihrem Gebiete wohldurchdachte kleine Schrift von
Varnbühler: „Ueber die Frage eines deutſchen Heimathsrechts“ 1864
hat ſich leider weſentlich auf jenes wunderliche Gebiet beſchränkt, welches
wir das internationale Heimathsrecht unter den einzelnen deutſchen
Staaten nennen müſſen, ohne auf das innere Heimathsrecht der ein-
zelnen Staaten einzugehen; Schäffle, Deutſche Vierteljahrs-Schrift
1853 bleibt ſehr unklar; Swieceny (ſ. u.) verſchmilzt es vielfach mit
dem Staatsbürgerthum; Stubenrauch läßt wieder das Gemeinde-
[341] weſen bei der Armenpflege weg; Rönne gelangt ſogar dazu, folgenden
Satz auszuſprechen: „Die Staatsgenoſſenſchaft, alſo das Staatsbürger-
recht im weiteſten Sinn, oder das Indigenat (Staatsangehörigkeit,
Heimathsrecht, Inkolat) bildet die Bedingung der Rechte einer
Perſon als Glied der Staatsverbindung.“ I. §. 86. Es wäre leicht,
mehr Beiſpiele anzuführen. Doch muß ehrend hervorgehoben werden,
daß Kries in ſeinem oben citirten Werk Gemeinderecht und Heimaths-
weſen ſchon richtig ſcheidet, und daß Pözl mit ſeiner gewöhnlichen
Klarheit, und Bluntſchli Staats-Wörterbuch Art. „Staatsbürger-
recht“ eine vortreffliche Ueberſicht über die geltenden Rechte für den
Erwerb des Indigenats aufgeſtellt hat. Die Verwirrung der Be-
griffe iſt vollſtändig. Von einer Auffaſſung der adminiſtrativen Ord-
nung der Bevölkerung als eines ſelbſtändigen Gebietes der Verwaltung,
von Verbindung der Competenz und Zuſtändigkeit damit iſt keine Spur
vorhanden. Speziell die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathweſen
ſind unverſtanden. Das wird erſt mit der neuen poſitiven Armen-
ordnung beſſer werden. — Unſere nächſte Aufgabe wird es ſein,
nur erſt einmal das beſtehende Recht, namentlich der Heimath, zu
charakteriſiren.
Oeſterreich. Unzweifelhaft das Beſte über das öſterreichiſche
Heimathsweſen enthält die Arbeit von Fr. Swieceny: Das Heimath-
recht in den kaiſ. königl. öſterreichiſchen Kronländern mit conſtituirten
Ortsgemeinden. Die Erwerbung und der Verluſt der öſterr. Staats-
bürgerſchaft. Zweite Auflage. 1861. Swieceny hat die hiſtoriſche
Entwicklung nur bis zu Anfang dieſes Jahrhunderts zurückgeführt.
Das frühere Recht der Angehörigkeit, das bereits unter Maria Thereſia
feſte Geſtalt gewinnt und den zehnjährigen Aufenthalt als Grundlage
des Erwerbs der Armenzuſtändigkeit, nicht des Gemeindebürgerrechts,
feſtſtellt, iſt ausführlich bei Kopetz in ſeiner Politiſchen Geſetzeskunde,
B. I., zuſammengeſtellt. Vielfache Beſtrebungen, ein vom Gemeinde-
recht verſchiedenes, ſelbſtändiges Heimathsrecht aufzuſtellen, haben weſent-
lich darum zu nichts führen können, weil glücklicher Weiſe die Armen-
pflicht noch keine ſtaatsbürgerliche geworden iſt. In Oeſterreich gelten
für die Armenunterſtützung weſentlich dieſelben Principien wie in Frank-
reich. Feſtzuhalten iſt nur, daß das alte Gemeinderecht wie das
Heimathsweſen bis 1848 in jedem Kronland, und oft in jedem Ort,
anders war. Das Dekret vom 30. Auguſt 1820 mit ſeinen Erläu-
terungen (Swieceny S. 17 — 19) beſtimmte die natürliche Heimath.
Der Erwerb der gewerblichen Heimath durch zehnjährigen (ununter-
brochenen) Aufenthalt iſt ſeit der Reſolution vom 16. Mai 1754 an-
erkannt auch für alle, „welche als unbehauſte Inwohner ihr Gewerbe
[342] und Profeſſion getrieben, und ſogeſtaltig bis zur erfolgten Mühſeligkeit
die gemeine Laſt mitzutragen geholfen haben.“ Kopetz und
Swieceny S. 9 — 12. Die Ueberſiedelungen wurden geregelt durch
Dekret vom 7. December 1821 und namentlich wegen der Conſcription
an die behördliche Bewilligung gebunden. Später ſind die betreffenden
Verordnungen meiſt für die einzelnen Kronländer erlaſſen. Vergl.
namentlich die Verordnung vom 15. December 1837 für Oeſterreich
unter der Ens und andere. (Swieceny S. 25 ff.) Die erſte einheit-
liche Geſetzgebung war durch das Gemeindegeſetz vom 17. Mai 1849
eingeführt. Das Weſentliche war dabei der Erwerb der Gemeinde-
angehörigkeit, die als „Gemeindeverband“ bezeichnet wird (klar iſt man
nicht über das Heimathsweſen) durch vier Jahre ſtatt der früheren
zehn; doch hebt der Heimathsſchein den Erwerb auf. Die Beſtim-
mung, daß der Niedergelaſſene ein Recht zur Aufnahme wieder
durch zehnjährigen Aufenthalt, den „unbeſcholtenen Ruf“ und ſogar
den Vermögensnachweis erwirbt, bezieht ſich nicht auf die Heimath
oder die Armenzuſtändigkeit, ſondern auf das Gemeindebürgerrecht;
es hat das Geſetz beide Verhältniſſe nicht klar unterſchieden; auch gilt
dies Recht nur bezüglich einiger Gemeinden (Swieceny §. 24). Auch
das neue Gemeindegeſetz vom 24. April 1859 (Manz’ſche Geſetzes-
ſammlung Heft IX.) bleibt in derſelben Unbeſtimmtheit, ohne Unter-
ſcheidung zwiſchen Gemeindebürgerrecht und Heimath, indem es den Be-
griff der „Zuſtändigkeit zu einer Ortsgemeinde“ feſthält und für
den Erwerb derſelben (§. 39) die alten vier Jahre, den guten Leumund
und den Vermögensnachweis vorausſetzt. Verweigert die Gemeinde
die [Aufnahme] — (doch wohl in das Bürgerrecht, denn die Armen-
zuſtändigkeit gewinnt der Einzelne wohl ohne ſein Anſuchen, da nichts
darüber beſtimmt iſt) ſo entſcheidet die politiſche Behörde. — Das
neueſte Geſetz vom 3. December 1863 ordnet dieſe Grundſätze für
das ganze Reich. Bitzer hat, wie es freilich bei den deutſchen Gelehrten
Regel iſt, von öſterreichiſchen Geſetzen und Literatur gar nichts gewußt.
Preußen und ſeine Armenpflege. Preußens Recht der
Armenpflege iſt ohne Zweifel das intereſſanteſte und reichſte von allen.
Denn der weſentliche Unterſchied zwiſchen Preußen und den übrigen
deutſchen Staaten beſteht darin, daß Preußen zuerſt die Verpflichtung
der Ortsgemeinde zur Armenunterſtützung definitiv ausge-
ſprochen, und dadurch das hervorgerufen hat, was dem richtigen Ver-
ſtändniß der Sache am meiſten entgegenſteht, namentlich die bis auf
den heutigen Tag dauernde Verwechslung oder Verſchmelzung von Orts-
gemeinde und Armengemeinde. Die Folge dieſes entſcheidenden
Fehlers war die, für die Armenzuſtändigkeit an die Orts-
[343] gemeinden eine eigene Geſetzgebung machen zu müſſen, ohne doch
eine eigene Verwaltung des Armenweſens herzuſtellen. Preußen hat
dadurch dem durchgreifenden Charakter der deutſchen Armenverwaltung
in jenem nicht glücklichen Sinne entſchieden, und es wird lange Zeit
brauchen, ehe wir darüber hinauskommen. Sein Recht iſt es, welches
eben den charakteriſtiſchen Unterſchied zwiſchen der engliſchen, franzöſiſchen
und deutſchen Armenpflege conſtituirt, und bei welchem alle deutſchen
Staaten dann bis auf die allerneueſte Zeit ſtehen geblieben ſind. Aller-
dings gehört die genauere Darſtellung dieſes Rechts der Lehre vom
Armenweſen; allein das Princip deſſelben iſt zugleich conſtitutiv für dieſen
ganzen Theil der adminiſtrativen Bevölkerung, und wir müſſen es um
ſo mehr hervorheben, als weder Döhl, noch ſelbſt Rönne und Bitzer
es erkannt haben. Der leitende Grundſatz der Armenverwaltung Preußens
iſt nämlich der, daß die Aufgabe der Verwaltung überhaupt in Be-
ziehung auf das Armenweſen nicht weiter gehe, als bis zur ad-
miniſtrativen Ueberweiſung der Armen an die zur Unter-
haltung derſelben verpflichtete Ortsgemeinde. Wie ſich die
Ortsgemeinde dieſer Pflicht entledigt, iſt dann lediglich ihre eigene Sache.
Die Staatsverwaltung kümmert ſich darum nicht. Die Armengeſetz-
gebung hat es nach dieſem preußiſchen Princip daher auch nur mit
der Aufſtellung derjenigen Grundſätze zu thun, vermöge deren die
Armenzuſtändigkeit für die Ortsgemeinden geregelt werden ſoll.
An der örtlichen Gränze der Gemeinde hört die Thätigkeit der Armen-
verwaltung auf. Es iſt keine Spur einer höheren ſocialen Auffaſſung,
kein ethiſcher Anklang in dieſen Geſetzen. Sie ſind das erſte Syſtem
der Manipulation mit der Armenzuſtändigkeit, dem ganzen inneren
Organismus des preußiſchen Staats entſprechend. Daher verſtehen
auch die preußiſchen Staatsrechtslehrer, wie Rönne und Döhl unter
dem Armenweſen im Grunde nichts, als die Ordnung der Armenzuſtän-
digkeit, und da ihnen gar nicht die Frage kommt, ob denn nicht Ver-
waltung der Ortsgemeinde und der Armengemeinde möglicher Weiſe
etwas Verſchiedenes ſein könnte, ſo ſprechen ſie gar nicht vom Armen-
weſen, ſondern nur von der Armenpflege, während ſie andrerſeits
die Armenzuſtändigkeit an die Ortsgemeinde wieder ganz von der
Gemeindeangehörigkeit und dem Gemeindeweſen ſondern. Preußens
Armenpflegerecht iſt ein Schematismus der zur Armenpflege Berechtigten
und Verpflichteten, und es wird lange dauern, bis dieſe Auffaſſung
ſelbſt, und mit ihr die Organiſation eine höhere und edlere werden
wird. Dieſen Charakter hat Preußens Heimaths- und Armenrecht ſchon
von Anfang an. Das Edikt von 1696, die Armen- und Bettlerord-
nung von 1701, die neue von 1708 enthalten die geſetzliche Verpflichtung
[344] zur Verpflegung der Armen (ohne Unterſchied) für die Ortsgemeinde.
Das Edikt vom 10. December 1720 führt die Geburtsheimath ein.
„Dieſe Armen- und Bettlerordnungen“ ſagt Bitzer S. 184 „hatten
überwiegend den Zweck, die Armen, namentlich die herumziehenden
Bettler, den bürgerlich kirchlichen Armenverbänden nach Grundſätzen
der ausgleichenden Gerechtigkeit zuzuweiſen.“ Und ſo iſt es
geblieben. Daß dabei eine große formale Klarheit gewonnen ward,
iſt allerdings anzuerkennen; namentlich daß man ſich bald darüber einig
ward, daß auch die „Gutsherrſchaften“ nichts anderes ſeien, als eine
beſtimmte Form der Gemeinden und daher mit ihnen gleiche Verpflich-
tungen haben. Die nächſte gleichfalls formale Folge war dann die,
daß die Gemeindeordnungen ſich mit dem Armenweſen und ſpeziell
mit dem Heimathsrecht gar nicht beſchäftigen, ſondern bei dem all-
gemeinen Begriff der „Mitglieder der Gemeinde“ ſtehen blieben, wobei
dann die verſchiedenen Syſteme der Gemeindeordnungen verſchiedene
Rechte haben. (Siehe Vollziehende Gewalt, Selbſtverwaltungskörper
S. 431 ff., RönneII. S. 428.) Bei einigen wird es jedoch ausdrück-
lich ausgeſprochen, daß „in wiefern die Gemeinden einer anziehenden
Perſon die Niederlaſſung zu geſtatten haben, nach den hierüber be-
ſtehenden beſondern Vorſchriften zu beurtheilen“ ſei. Weſtphäliſche
Land-Gemeinde-Ordnung §. 10. Weiske S. 14. Daraus entſtand
dann das auch für die ſonſt ſo klare Geſetzgebung Preußens ſo uner-
quickliche Verhältniß, daß das Gemeindebürgerrecht und das Armen-
zuſtändigkeitsrecht zwar klar, das Recht der Niederlaſſung zum
Zweck der Erwerbung der gewerblichen Heimath dagegen
im Grunde trotz des Geſetzes von 1842 eben ſo unſicher iſt, als
im ganzen übrigen Deutſchland (Rönne I. §. 90). — Die natürliche
Folge der gänzlichen Abweſenheit eines Princips für die Armenverwal-
tung und für das damit unabänderlich verbundene Verhältniß von
Ortsgemeinde und Armengemeinde. Das ſchematiſche Syſtem der pfleg-
pflichtigen Ortsgemeinden, die alſo noch immer die Armenheimath ſind,
hat ſich dabei ziemlich feſtgeſtellt, namentlich nachdem die durch das
Landarmen-Reglement von 1797 begründeten und durch das Armen-
pflege-Geſetz vom 31. December 1842 dann genauer ausgeführten
Landarmenverbände die Lücke in dem Syſtem der Armengemeinden
zwiſchen Dorf und Herrſchaft formell ausgefüllt hatten. Was es darnach
mit dem abſtrakt anerkannten, aber praktiſch wieder in jedem einzelnen
Fall theils beſchränkten, theils aufgehobenen Princip der Freizügig-
keit auf ſich hat, läßt ſich leicht ermeſſen. Wir ſind vollkommen außer
Stande, die Freizügigkeit mit der durch das Geſetz von 1842 erlaſſenen
Beſtimmung zu vereinigen, daß diejenigen, welche nicht hinreichende
[345] Kräfte beſitzen, ſich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens-
unterhalt zu verſchaffen“ der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4);
auch das Geſetz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht weſentlich geändert,
da daſſelbe den Erwerb eines Wohnſitzes zur Vorausſetzung hat,
und ein „Wohnſitz“ keine volkswirthſchaftliche Definition zuläßt. Uebri-
gens iſt das Geſammtreſultat für Erwerb und Verluſt der Armenzu-
ſtändigkeit nach dieſen Geſetzen das, daß dieſelbe bei einem erworbenen
Wohnſitz nach Einem, ohne ſolchen nach Drei Jahren gewonnen wird,
wenn nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die
amtliche Behörde entſcheidet. Bitzer S. 182—192. Döhl S. 39 — 124.
Die ſpeziell preußiſche Literatur bei RönneII. §. 339. Warum
Bitzer alles das nicht benützt hat, was Rönne hier angibt, iſt nicht
recht erſichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts-
literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es ſcheint faſt
ſo, denn ſein neueſtes Werk über die Armenarbeitshäuſer zeigt, daß
er mit richtigem Takt den alten Weg verlaſſen hat.
Bayern. Das bayeriſche Syſtem der Angehörigkeit ver-
dient wieder eine beſondere Aufmerkſamkeit, da es ſowohl von dem
öſterreichiſchen als dem preußiſchen in Princip und Form ſehr verſchieden
iſt, und als dasjenige angeſehen werden muß, welches die Deutſchland
eigenthümliche Vermiſchung der ſtändiſchen und der polizeilichen Ange-
hörigkeit in einem leider noch ſehr unvollſtändigen, und daher einheitlich
ſchwer oder gar nicht darſtellbaren Bilde enthält.
Die allgemeine Grundlage iſt auch hier die Gemeindeordnung,
das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfaſſung an-
geſehen werden kann, und das in der „Revidirten Verordnung, die
Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend“ von
1834 (bei Weiske S. 70 ff.) in allen weſentlichen Punkten zum Grunde
liegt. Pözl (Bayeriſches Verfaſſungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge-
meindeangehörigkeitsweſen in ſeiner eignen theoretiſchen Uebergangs-
geſtaltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten
Zuſtände hervorgerufen ward, eine Geſtaltung, die eben wenig oder
gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und ſelbſt
von der neuen freieren Geſtaltung in Oeſterreich und Preußen weſentlich
abweicht. Nach dieſem noch jetzt beſtehenden Recht ſcheiden ſich die Ge-
meindeangehörigen in wirkliche Gemeindeglieder oder Gemeinde-
bürger (mit ſtändigem Wohnſitz, Grundbeſitz oder beſteuertem Gewerbe)
in Schutzverwandte, die bloß anſäſſig ſind, und in eine dritte Claſſe,
welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder Mieth-
und Inleute haben. Es iſt auf den erſten Blick klar, wie dieſe
Unterſcheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung iſt, und
[346] gar keine feſte juriſtiſche Subſtanz darbietet, ſo weit es ſich nicht um
Vertheilung der Gemeindegründe, die aber ja vorübergehend iſt, um
das Gemeindebürgerrecht, das aber nur den Antheil an der Verfaſſung der
Gemeinde bildet, und das Heimathsweſen handelt. Auch hier herrſchte daher
das einfache deutſche Princip, die Ortsgemeinde oder Armenverwaltungs-
gemeinde zu erhalten, und daher mit der Anſäſſigmachung den Erwerb
des Heimathsrechts, alſo die Armenzuſtändigkeit zu verbinden. Nun
hatte die Verordnung vom 17. November 1816 das Armenweſen ge-
ordnet, und die Unterſtützung unbedingt der Ortsgemeinde überwieſen,
während die Aufnahme in die letztere ihr ſelbſt zwar für das Bürger-
recht, nicht aber für das Schutzrecht, alſo nicht für das Hei-
mathsrecht, belaſſen war. Die Folge war, daß die Gemeinden jetzt,
um durch das Schutzbürgerthum, deſſen Erwerb von ihnen nicht ab-
hängig war, ſich nicht eine unbeſtimmte Maſſe von Verpflichtungen auf-
zuladen, anfingen gegen die freie Niederlaſſung als ſolche zu kämpfen
und daß dadurch zugleich das Heimathsrecht in Frage kam. Die Re-
gierung ward dadurch gezwungen, neben der Gemeindeordnung und dem
Armenpflegerecht noch ein Geſetz über das Heimathsrecht (vom
11. September 1825) zu erlaſſen, deſſen Grundgedanke es war, die
Armenzuſtändigkeit mit der Angehörigkeit an die Gemeinde allerdings
zu identificiren. Das war an ſich recht gut, allein das Heimathsgeſetz
beſtimmte, daß das Heimathsrecht und alſo die mit ihm jetzt identiſche
Armenzuſtändigkeit durch die erlangte Anſäſſigkeit erworben werde,
und jetzt concentrirte ſich daher die Frage darin, wann eben dieſe An-
ſäſſigkeit erworben ſein ſolle. Dieſe Frage, immer die Kern-
frage im ganzen Heimathrecht, erzeugte demnach ein neues Geſetz über
die Anſäſſigmachung und Verehelichung, das mit der General-
ordnung von 1834 zugleich revidirt ward, und bei Weiske der letztern
hinzugefügt iſt. Nach dieſem letzteren Geſetz erſcheint nun das eigen-
thümliche Verhältniß, daß die Anſäſſigmachung in Bayern nicht bloß
dieſelben, ſondern noch größere Schwierigkeiten hat als der Er-
werb des Gemeindebürgerrechts, indem dieſelbe von den „Vorbedingun-
gen“ des „guten Leumunds“ und ſogar der Vollendung des „vorſchrift-
mäßigen Schulbeſuchs“ abhängen ſoll! (§. 1.) Man ſieht ganz deutlich
die Kleinlichkeit und Hartnäckigkeit des Kampfes der Gemeinden gegen
die Uebernahme der Armenzuſtändigkeit vermöge der Niederlaſſung, deren
Folge dann wieder im Aufhören der freien Bewegung der Bevölkerung
mit all ihnen nicht günſtigen Conſequenzen iſt. Und doch beruht dieß
ganze Syſtem auf dem Grundſatz, daß die Ortsgemeinde zugleich die
Verwaltungsgemeinde des Armenweſens (Armengemeinde) ſein ſoll, was
weder dem großen Unterſchiede in der Größe und dem Beſitz der
[347] Ortsgemeinde bei der Gleichartigkeit der Armenpflege, noch den immer
größeren Anſprüchen entſpricht, welche das Armenweſen machen muß.
Daher denn auch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Darſtellung zu
geben, wie es Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29 und 101, Verwal-
tungsrecht §. 87 und 92, und die noch reſultatloſere Auffaſſung
Bitzers S. 192 zeigen. Es iſt wohl überhaupt das der Uebelſtand
bei den Bearbeitungen des poſitiven Verwaltungsrechts, daß ſie ge-
wiſſermaßen das Recht verlieren, das was ſie vorfinden, als Ueber-
gangsſtadium darzuſtellen, und ſomit die einzige Bedingung der Klarheit,
die für ſolche Zuſtände gilt, die hiſtoriſche Kritik nicht für ſich ver-
wenden dürfen.
Württemberg. Allerdings iſt es nicht zu verkennen, daß der
Grundgedanke für Gemeindeangehörigkeit und Heimathsweſen in Württem-
berg freier iſt als in Bayern, und es iſt von großem Intereſſe, dieſe
Erſcheinung in Uebereinſtimmung mit unſerer Anſicht weſentlich auf die,
ſchon urſprünglich in Württemberg zu Tage tretende Tendenz baſirt zu
ſehen, jene verderbliche Identificirung von Ortsgemeinde und Armen-
gemeinde nicht in ihrem vollen Umfange zuzulaſſen. Dennoch hat auch
Württemberg ſich derſelben nicht erwehren können. Der Ausdruck jener
freieren Idee des Heimathweſens bildet hier der Gedanke, der mit dem
engliſchen verwandt iſt, die Armenpflicht mit dem Kirchſpiel ſtatt mit
der Ortsgemeinde zu verbinden. Die Sicherheitspolizei indeß, welche
das Vagabundiren beſchränken wollte, und keine durchgeführte Geſtal-
tung größerer Armengemeinden vorfand, ſah ſich mit Anfang unſeres
Jahrhunderts gezwungen, die Unterſtützung der Armen doch der Orts-
gemeinde zuzuweiſen (Verordnung vom 11. September 1807), was dann
in das Gemeindeedict von 1818, und ſpeziell in das Bürgerrechtsgeſetz
vom 15. April 1828 überging. Damit war auch in Württemberg für
die ächt deutſche Frage nach dem Unterſchied zwiſchen Bürger und An-
gehörigen, die hier „Gemeindebeiſitzer“ heißen, eröffnet. Die Verfaſſung
von 1819 beſtimmt §. 61, 63, daß „jeder Staatsbürger einer Gemeinde
als Bürger oder Beiſitzer angehören müſſe.“ Die Aufnahme in
das Staatsbürgerrecht wird dann in der allgemeinen deutſchen, halb
feudalen, halb freien Auffaſſung durch Beſitz, Gewerbe, formelle Auf-
nahme und ein Eintrittsgeld normirt; die zweite wichtige Frage blieb
nach dem Erwerb der Armenzuſtändigkeit, die auch in Württemberg den
eigentlichen Inhalt des Beiſitzerrechts bildet. Bitzer (S. 226—241)
hat die Berathungen und Geſetze, die daraus entſtanden, ſehr gut dar-
geſtellt — merkwürdiger Weiſe ohne Mohl zu benützen, wie er freilich
bei Bayern auch Pözl nicht anführt, und bei Sachſen Funke nicht
zu kennen ſcheint. Offenbar nun ſtehen das Verwaltungsedict vom
[348] 1. März 1822 und das Geſetz über das Gemeindebürger- und Beiſitz-
recht vom 4. December 1833 (bei Weiske S. 129—177) im Weſent-
lichen auf dem alten Standpunkt — möglichſte Abhängigkeit des Er-
werbes des Beiſitzrechts von der Zuſtimmung der Gemeinde zur Nieder-
laſſung, damit ſie nicht die Armenpflicht zu übernehmen nöthig habe —
ein Grundſatz, deſſen Widerſpruch mit der natürlichen Ordnung und
mit den §. 62. 63 der Verfaſſung dann wieder ausgeglichen wird, indem
die Behörde diejenigen, welche ſich ein ſolches Beſitzrecht nicht haben er-
werben können, der Geburtsgemeinde als natürliche Heimath einfach
zutheilt. Unbegreiflich, wie man nicht ſah, daß dabei im Grunde
niemand gewann, denn der durch Geburt zur Heimath Berechtigte
ward ja jeder Gemeinde eine zuletzt doch unvermeidliche Laſt gerade
durch den Grundſatz, vermöge deſſen dieſelbe Gemeinde den Erwerb der
Anſäſſigkeit erſchwerte! War es dann nicht klar, daß, wenn man bei
ſich den Erwerb der Armenzuſtändigkeit erleichterte, man in demſelben
Grade die Wahrſcheinlichkeit gewann, daß der Geburtsberechtigte ſein
Anrecht auf Armenunterſtützung durch Erwerb der Anſäſſigkeit bei einer
andern Gemeinde verlieren werde? Alle dieſe Dinge laſſen ſich wie
geſagt nur hiſtoriſch erklären. Allein daneben zeichnet ſich Württemberg
vortheilhaft dadurch wie wir glauben vor allen andern Staaten Deutſch-
lands aus, daß es allein die Idee der Armengemeinde als Verwal-
tungsgemeinde für das Armenweſen feſtgehalten und in neueſter
Zeit noch weiter entwickelt hat. Schon die alten „Kaſtenordnungen“
erkennen, wie Mohl (Verwaltungsrecht §. 204 ff.) es richtig auffaßt,
eine gewiſſe Connexität der Gemeindekaſſen zur Armenunterſtützung an.
Das was das Geſetz vom 17. September 1853 (Bitzer S. 230) darüber
beſtimmt, iſt im Grunde nur die Wiederholung und genauere Formu-
lirung des älteren Rechts. Darnach ſoll es für die Armenunterſtützung
„zuſammengeſetzte Gemeinden“ geben; das Verhältniß derſelben zu den
einzelnen Ortsgemeinden, aus denen ſie gebildet ſind, beruht bei der
Armenunterſtützung jedoch nur auf einer ſubſidiären Hülfsverpflich-
tung des Ganzen für den Theil, da zunächſt noch jede Ortsgemeinde
Armengemeinde iſt. Das iſt ſo offenbar eine halbe Maßregel, daß es
überflüſſig ſcheint, ſpeziell darauf aufmerkſam zu machen. Ohne uns
auf die Kritik im Einzelnen einzulaſſen, muß hier die Bemerkung
genügen, daß eben vermöge dieſer Unentſchiedenheit in der Hauptſache
die ganze Ordnung der Armenzuſtändigkeit und des Heimathsweſens
dieſelbe geblieben iſt, mit all ihren verkehrten Rechtsfolgen und
Streitigkeiten. Und wenn irgendwo, ſo wird hier der Satz klar, daß
jede wie immer geartete Armenverwaltung erſt dann als eine fertige
und genügende anerkannt werden kann, wenn ſie, indem ſie das
[349] Gemeindebürgerrecht unberührt läßt, das der vollziehenden Gewalt gehört,
das Heimathsweſen dagegen oder die adminiſtrative Armen-
zuſtändigkeit auf Grundlage der neuen Armenverwaltungs-
gemeinden ordnet.
Sachſen. Es dürfte im Grunde kein Zweifel ſein, daß unter
allen deutſchen Staaten das Königreich Sachſen derjenige iſt, der ſich
durch die umfaſſende Grundlage ſeiner Geſetzgebung über Armenweſen
und durch richtiges Verſtändniß der Heimathsfrage am meiſten aus-
zeichnet. Sein Gemeindebürgerrecht hat im Grunde keine beſondere
Eigenthümlichkeiten gegenüber den übrigen deutſchen, nur daß die Ge-
meindegeſetzgebung hier den Ortsgemeinden große Freiheit in der
Bildung der Localſtatute einräumt. Von Bedeutung dagegen iſt die
Landgemeindeordnung vom 7. November 1838 (Weiske S. 105 ff.)
In ihr ſehen wir den Gedanken ausgeſprochen, auf dem wohl überhaupt
die Zukunft des Gemeindeweſens in Deutſchland beruht, und den wir
eben ſo in Württemberg antreffen — §. 17. Auch können mehrere be-
nachbarte Orte, deren jeder bisher eine Gemeinde gebildet hat, zu einer
Geſammtgemeinde vereinigt werden, worüber nach §. 28 wieder
die in dieſen Dingen in Sachſen überhaupt ſehr mächtige Regierung
zuletzt entſcheidet. Dieſe Geſammtgemeinden ſind die natürlichen Grund-
lagen der Verwaltungsgemeinden, und der Gedanke, der hier in der
Gemeindeordnung zur Geltung kommt, hat denn auch faſt von jeher
ſchon das Heimaths- und Armenweſen durchdrungen. Nach Bitzer
S. 200 iſt allerdings ſchon ſeit dem 16. Jahrhundert der Satz feſt-
geſtellt, daß die Stadt als Ortsgemeinde zugleich Armengemeinde ſein
ſolle; doch wird auf dem Lande ſtatt der Ortsgemeinde vielmehr das
Kirchſpiel aufgeſtellt. (Schauberg, Entwurf einer Ortsarmen-
ordnung. 1861. Ausſchreiben vom 1. October 1855). Die beſtimmte
Ordnung empfängt jedoch das Armenweſen wohl zuerſt durch das
Mandat vom 3. April 1729, welches das Betteln verbietet, und
den Behörden den Befehl gibt, die Armen an ihrem Heimathsort
zur Verſorgung zu bringen, wobei als Heimath der Geburtsort, oder
der Ort des mit Steuerzahlung verbundenen längeren Aufent-
halts angeſehen wird. Es iſt dabei charakteriſtiſch, daß die Entſcheidung
im ſtreitigen Falle den Obrigkeiten zugewieſen wird, die freilich noch
nach der Landgemeindeordnung Gerichte ſind. Dieſer Gedanke iſt in
Sachſen geblieben; denn noch nach der Landgemeindeordnung §. 20,
Weiske S. 109 ſind „Geſuche um Aufnahme in eine Landgemeinde
bei der Obrigkeit anzubringen,“ welche entſcheidet. Man ſieht ganz
deutlich hier den Charakter der Verwaltungsgemeinde den der Orts-
gemeinde überragen. Dieſelbe Idee greift dann für Heimaths- und
[350] Armenweſen durch. Das Mandat vom 11. April 1772 (Bitzer
S. 202) erneuert die Vorſchriften von 1729, fordert aber zur Anſäſſig-
keit ſchon einen Aufenthalt von „drei letzten Jahren.“ Doch wird,
wir glauben hier zuerſt in Deutſchland das Zugeſtändniß gemacht,
daß die auf dieſe Weiſe gebildeten Armenverwaltungsgemeinden das
Recht haben ſollen, „durch ihre Ortsobrigkeiten beſondere bloß auf ihre
Stadt oder Gericht abzielende Armenordnungen zu errichten und der
Landesregierung zur Beſtätigung vorzulegen.“ (Cod. August. I. Fort-
ſetzung, 1. Abth. S. 545. §. XIV.) Dazu dürfen ſchon ſeit 1772 ge-
meinſchaftliche Armenkaſſen errichtet werden, indem „entweder
jeder Ort für ſich oder ſämmtliche zu einem Gerichte gehörige Orte zu-
ſammen die einheimiſchen Armen verſorgen“ (Bitzer S. 203.) Aller-
dings behielt dabei die Obrigkeit nach dem Geiſte der damaligen Zeit
immer die ausſchließlich entſcheidende Stimme, doch ſcheint die Verwal-
tung ſelbſt eine ſehr milde und verſtändige geweſen zu ſein. Auf dieſer
Baſis bildet ſich nun das gegenwärtige Recht nach zwei Richtungen, in
denen ſich Sachſens Verwaltung vor allen andern deutſchen auszeichnet.
Zuerſt zeigt ſich nämlich die in den obigen Grundſätzen bereits feſt-
geſtellte Scheidung der Armengemeinde von der Ortsgemeinde,
welche Sachſen charakteriſirt, in einer Auffaſſung des Heimathweſens,
welche ſchon im Anfange dieſes Jahrhunderts viel freiſinniger und dem
wirthſchaftlichen Bedürfniſſe entſprechender iſt, als in irgend einem
deutſchen Staate. Schon die Entſcheidungen auf die Vorſtellungen des
Landtages von 1811 ſtellen den Grundſatz auf, daß „jedem die freie
Wahl zu laſſen ſei, an welchem Orte im Lande er ſich nähren oder
niederlaſſen wolle.“ Dieſer Gedanke wird dann in dem gegenwärtig
geltenden Heimathsgeſetz vom 26. November 1834 weiter aus-
geführt und hier zum erſtenmale ſtatt der „Gemeindeangehörigkeit“ die
„Heimathsangehörigkeit“ jedem Staatsangehörigen zur Pflicht, was
eben ſo rationell als das erſtere irrationell erſcheinen muß. Zwar ward
dann die Ortsgemeinde „in der Regel“ als Heimaths- oder Armen-
gemeinde anerkannt, jedoch mit dem Rechte, ſich für die Armenverſorgung
einer andern anzuſchließen (§. 3). So iſt hier die Verwaltungsgemeinde
für das Armenweſen formell in die Geſetzgebung eingeführt, und das
Heimathsrecht eben einfach auf die Armenunterſtützung zurückgeführt.
Der Erwerb dieſes Heimathsrechts (oder der Armenzuſtändigkeit) iſt
gleichfalls in Sachſen eigenthümlich. Es wird erworben als natür-
liche Heimath durch Geburt, oder als gewerbliche Heimath durch
Wohnſitz und Bürgerrecht, oder durch obrigkeitliche Ertheilung
als adminiſtrative Heimath. Es ſcheint uns nach dem Ganzen, daß
die größere Freiheit der Bewegung eben weſentlich durch dieß alte
[351] obrigkeitliche Recht bedingt worden iſt, das unſeres Wiſſens in keinem
andern Staate exiſtirt. Jedenfalls iſt im neuen Geſetz feſtgehalten, daß dieſe
Ertheilung des Erwerbs des Heimathsrechts von Seiten der Obrigkeit
nur unter Zuſtimmung der Organe der Heimathsgemeinde geſchehen
darf (§. 8). Der §. 9 und folgende beſtimmten die Geſichtspunkte, welche
für den Zweifel über das Eintreten der natürlichen Heimath (Ge-
burt, Ehe u. ſ. w.) entſcheiden müſſen. Dieſe Beſtimmungen ſind aller-
dings ſehr genau ausgeführt, und iſt namentlich die Sammlung der
betreffenden Entſcheidungen bei Funke (Bd. II. S. 284 ff.) ein Be-
weis, daß die Beamteten das ihnen zuſtehende Recht mit großer Ge-
wiſſenhaftigkeit anwenden. Unbedingt wird das Heimathsrecht durch
fünfjährige Anſäſſigkeit (§. 8) erworben. Damit war für Sachſen
jene Angſt der Ortsgemeinde, als Armengemeinde die Unterſtützungs-
pflicht übernehmen zu müſſen, gebrochen, und ſo wird es erklärlich, daß
Sachſen neben der größten Freiheit in der örtlichen Bewegung zugleich
die beſte Armenverwaltung haben konnte, die wir in Deutſchland
kennen. Dieſelbe gewann ihre definitive Geſtalt durch das Geſetz vom
22. October 1840. Es iſt nicht unſere Sache, hier auf dieſelbe ein-
zugehen. Allein gerade durch dieſe Armenordnung ward es klar, daß
eine tüchtige Armenverwaltung ohne das Aufſtellen von Armengemeinden
nicht zu erreichen iſt, während die letztern, wie Sachſen zeigt, allein
im Stande ſind, die große Unterſcheidung zwiſchen der perſönlichen und
wirthſchaftlichen Armuth, der Armuth erwerbsunfähiger und er-
werbsfähiger Perſonen, auch in der Verwaltung durchzuführen,
ein Grundſatz, auf dem unſerer innigſten Ueberzeugung nach allein
ein zugleich rationelles und ausreichendes Syſtem der Armenpflege er-
richtet werden wird. Hätte Bitzer ſeiner ſchweren Arbeit über Bezirks-
armenhäuſer und Zwangsarmenhäuſer dieſe Unterſcheidung zum Grunde
gelegt, ſo würde er wohl noch Bedeutenderes geleiſtet haben. Was nun
endlich das Recht der Niederlaſſung in dieſer ſo gebildeten Armen-
gemeinde betrifft, ſo hat das Heimathsgeſetz dieſelben in §. 17 im Geiſte
des früheren Rechts dahin beſtimmt, daß „Niemandem die Niederlaſſung
in irgend einem Heimathsbezirk (Armenverwaltungsgemeinde) verſagt
werden darf, der einen Heimathſchein und einen Verhaltſchein (daß
innerhalb eines Jahres keine Ausweiſung gegen ihn ſtattgefunden) be-
ſitzt, wobei jedoch die polizeiliche Ausweiſung wegen bloßer Dienſt-
loſigkeit keinen Grund abgeben ſoll, die Niederlaſſung zu verweigern.
Vortrefflich ſind dabei die Vorſchriften über das Verhalten der Hoſpi-
täler, Arbeitshäuſer u. ſ. w. in der Armenordnung §. 59. Es muß
der Darſtellung des Armenweſens überlaſſen bleiben, hier genauer
einzugehen. — Warum Weiske nicht das Heimathsgeſetz und die
[352] Armenordnung in ſeiner ohnehin nicht umſichtig angelegten Sammlung
aufgenommen, iſt nicht abzuſehen.
Hannover. Während in Sachſen die freie örtliche Bewegung
der Bevölkerung durch die Erhebung der Armengemeinde über die Orts-
gemeinde ermöglicht worden iſt, zeigt Hannover in einem höchſt lehr-
reichen Beiſpiel, wie die beſten Intentionen der Regierung zu keinem
rechten Reſultat führen, ſo lange beide noch identiſch ſind. Es iſt kein
Zweifel, daß die Idee des Wohnorts oder Aufenthaltsgeſetzes
vom 6. Juli 1827 wie das Ausſchreiben der Landdroſtei Lüneburg
vom 6. October 1840 ausdrücklich ſagt, „auf Beförderung der Frei-
zügigkeit“ gerichtet war. Allein da die enge Ortsgemeinde zugleich
Armengemeinde blieb, ſo entſtanden beſtändige Streitigkeiten theils
unter den Gemeinden, theils zwiſchen Einzelnen und Gemeinden, für
welche dann der Grundſatz angenommen ward, daß das Recht des Auf-
enthalts nicht von der Gemeinde, ſondern von der polizeilichen Er-
laubniß abhänge; die Armenzuſtändigkeit wird dann erſt (wie in
Sachſen) mit fünf Jahren erworben. Hat die Gemeinde Bedenken, ſo
muß und kann ſie dafür ſorgen, daß der Betreffende vor Ablauf dieſer
Friſt ausgewieſen werde, ein Verhältniß, in welchem die Elemente
der Freiheit der Bewegung bei der Obrigkeit, die der Beſchränkung bei
den Gemeinden liegen. Uebrigens iſt das Verhältniß in den verſchiedenen
Theilen des Königreichs hier wie an andern Punkten wieder ſehr ver-
ſchieden, was nicht bloß die Ueberſicht für die Theorie, ſondern auch
die gute Verwaltung in der Praxis weſentlich erſchwert. Weiske hat
wunderlicher Weiſe als Quelle nichts anzuführen gewußt, als das
Landesverfaſſungsgeſetz vom 6. Auguſt 1840. Doch exiſtirt eine ziemlich
reiche Sammlung von Ekhardt, Geſetze, Verordnungen und Aus-
ſchreiben für das Königreich Hannover, 1840, in 7 Bänden. Bitzers
Darſtellung (S. 216—226) überſieht die noch geltenden Verſchiedenheiten.
Das Ganze iſt ein neuer Beweis von der bedeutſamen Thatſache, wie
wenig die deutſche Staatswiſſenſchaft von Deutſchland weiß!
Wir würden jetzt gerne dieſe Aufzählung weiter auf die einzelnen
Staaten ausdehnen. Allein theils ſcheinen uns die wichtigſten und
herrſchenden Modalitäten in dem Obigen erſchöpft, theils ſtehen uns
auch keine ausreichenden Quellen zu Gebote, da bekanntlich das innere
Verwaltungsrecht der kleinen deutſchen Bundesſtaaten ſelten oder gar
nicht bearbeitet iſt. Nach dem was uns vorliegt, dürften die Grund-
formen ſowohl der Gemeindeangehörigkeit als der Armenangehörigkeit
in dem eben Enthaltenen gegeben ſein. Es bleiben uns daher nur
zwei Wünſche übrig.
Der erſte wäre der, daß wenn für die ausreichende Kunde des
[353] geltenden Rechts wiſſenſchaftliche Sammlungen angelegt werden, wie ſie
von Weiske und zum Theil von Zachariä verſucht worden ſind, man
dabei die Gemeindeangehörigkeit mit dem Gemeindebürgerthum für
ſich, und die Geſammtheit aller das Heimathsrecht betreffenden Be-
ſtimmungen gleichfalls für ſich ins Auge faſſe. Nur dadurch, daß
man in der Wiſſenſchaft beide Geſichtspunkte trennt, wird man die
Aufgabe der Geſetzgebung richtig beurtheilen.
Der zweite und wichtigere wäre der, ſich darüber zu einigen,
daß alle Beſtrebungen, welche man in dem Rechte der freien Nieder-
laſſung, der Freizügigkeit, des gleichmäßig geordneten Heimathsrechts
oder anders zuſammenfaßt, als für ſich beſtehende zu keinem Re-
ſultate führen können und ziemlich leere Redensarten bleiben müſſen.
Das Heimathsrecht iſt und bleibt eine Angehörigkeit oder Zuſtändigkeit
an eine adminiſtrative Aufgabe, die Aufgabe der Armenpflege.
Es iſt daher grundſätzlich falſch, dieſe adminiſtrative Aufgabe nach einem
gegebenen örtlichen Ganzen ohne Rückſicht auf ſeine Gränzen und
Kräfte, alſo nach der Ortsgemeinde einzurichten, ſtatt für dieſe
Verwaltungsaufgabe einen ihr entſprechenden Verwaltungskörper,
die Armengemeinde zu ſchaffen. Will man aber das, ſo muß man
allerdings ſich erſt über die Aufgabe — die Armenverwaltung und
ihre Beſtimmung — einig ſein, ehe man zur Bildung von Armen-
gemeinden und zur Feſtſtellung ihrer Verfaſſung fortſchreitet. Bisher
hat das deutſche Armenweſen den umgekehrten Weg eingeſchlagen, und
ſtatt die Gemeinden nach dem Hülfsweſen, das Hülfsweſen nach den
(Orts)-Gemeinden eingerichtet. Die Grundlage eines einheitlichen und
guten Heimathsrechts in allen deutſchen Staaten kann künftig
nur ein gutes Syſtem der Armenverwaltung ſein. Dieß aber
wird wieder nur dann ſeinem Zweck entſprechen, wenn ihm die durch-
greifende Unterſcheidung der perſönlich und wirthſchaftlich Ar-
men, der Erwerbsunfähigen und Fähigen, zum Grund gelegt, und
ſomit die wiſſenſchaftliche Unterſcheidung zwiſchen Armenweſen und
Hülfsweſen zur Baſis der Verwaltung überhaupt, ſpeziell zur Baſis
der Leiſtungen der Gemeinden, und damit der Angehörigkeit gemacht,
und den Ortsgemeinden die Erwerbsunfähigen, den Armen-
gemeinden die Erwerbsfähigen, und den Stiftungen die
Kranken überwieſen werden.
SteinII.[][][][]
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Verwaltungslehre. Die Verwaltungslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvn.0