Sinngedicht.
Verlag von Wilhelm Hertz
(Beſſerſche Buchhandlung)
1882.
Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
Weimar. – Hof-Buchdruckerei.
Inhalts-Verzeichniss.
Seite
Erſtes Capitel.
- Ein Naturforſcher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, das¬
ſelbe zu prüfen 3
Zweites Capitel.
- Worin es zur einen Hälfte gelingt 10
Drittes Capitel.
- Worin es zur andern Hälfte gelingt 15
Viertes Capitel.
- Worin ein Rückſchritt vermieden wird 20
Fünftes Capitel.
- Herr Meinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unternehmung zu
ahnen 28
Sechstes Capitel.
- Worin eine Frage geſtellt wird 34
Siebentes Capitel.
- Von einer thörichten Jungfrau 44
Achtes Capitel.
- Regine 62
Neuntes Capitel.
- Die arme Baronin 155
Seite
Zehntes Capitel.
- Die Geiſterſeher 216
Elftes Capitel.
- Don Correa 266
Zwölftes Capitel.
- Die Berlocken 344
Dreizehntes Capitel.
- In welchem das Sinngedicht ſich bewährt 368
[[1]]
Das Sinngedicht.
Keller, Sinngedicht. 1[[2]][[3]]
Erstes Capitel.
Ein Naturforſcher entdeckt ein Verfahren und reitet
über Land, dasſelbe zu prüfen.
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Natur¬
wiſſenſchaften eben wieder auf einem höchſten Gipfel
ſtanden, obgleich das Geſetz der natürlichen Zuchtwahl
noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages
ſeine Fenſterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter
den Bergen hervorkam, in ſein Arbeitsgemach, und mit
dem Frühgolde wehte eine friſche Sommermorgenluft da¬
her und bewegte kräftig die ſchweren Vorhänge und die
ſchattigen Haare des Mannes.
Der junge Tagesſchein erleuchtete die Studierſtube
eines Doctor Fauſten, aber durchaus ins Moderne, Be¬
queme und Zierliche überſetzt. Statt der maleriſchen Eſſe,
der ungeheuerlichen Kolben und Keſſel, gab es da nur
feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellan¬
ſchalen und Fläſchchen mit geſchliffenem Verſchluſſe, ange¬
füllt mit Trockenem und Flüſſigem aller Art, mit Säuren,
Salzen und Kriſtallen. Die Tiſche waren bedeckt mit
1*[4] geognoſtiſchen Karten, Mineralien und hölzernen Feld¬
ſpathmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen
Sprachen belaſteten Stühle und Divans, und auf den
Spiegeltiſchchen glänzten phyſikaliſche Inſtrumente in
blankem Meſſing. Kein ausgeſtopftes Monſtrum hing an
räucherigem Gewölbe, ſondern beſcheiden hockte ein lebendi¬
ger Froſch in einem Glaſe und harrte ſeines Stündleins,
und ſelbſt das übliche Menſchengerippe in der dunkeln
Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menſchen- und Thier¬
ſchädeln ſo weiß und appetitlich ausſah, daß ſie eher den
Nippſachen eines Stutzers glichen, als dem unheimlichen
Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt beſtaubter
Herbarien ſah man einige feine Bogen mit Zeichnungen
von Pflanzengeweben, ſtatt ſchweinslederner Folianten
engliſche Prachtwerke in gepreßter Leinwand.
Wo man ein Buch oder Heft aufſchlug, erblickte man
nur den lateiniſchen Gelehrtendruck, Zahlenſäulen und
Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von menſch¬
lichen oder moraliſchen Dingen, oder, wie man vor hundert
Jahren geſagt haben würde, von Sachen des Herzens und
des ſchönen Geſchmackes.
So wollte alſo Reinhart ſich wieder an eine ſtille,
ſubtile Arbeit begeben, die er ſchon ſeit Wochen betrieb.
In der Mitte des Zimmers ſtand ein ſinnreicher Apparat,
allwo ein Sonnenſtrahl eingefangen und durch einen
Kriſtallkörper geleitet wurde, um ſein Verhalten in dem¬
ſelben zu zeigen und womöglich das innerſte Geheimniß
[5] ſolcher durchſichtigen Bauwerke zu beleuchten. Schon viele
Tage ſtand Reinhart vor der Maſchine, guckte durch eine
Röhre, den Rechenſtift in der Hand, und ſchrieb Zahlen
auf Zahlen.
Als die Sonne einige Spannen hoch geſtiegen, ver¬
ſchloß er wieder die Fenſter vor der ſchönen Welt mit
Allem, was draußen lebte und webte, und ließ nur einen
einzigen Lichtſtrahl in den verdunkelten Raum, durch ein
kleines Löchlein, das er in den Laden gebohrt hatte.
Als dieſer Strahl ſorgfältig auf die Tortur geſpannt war,
wollte Reinhart ungeſäumt ſein Tagewerk beginnen, nahm
Papier und Bleiſtift zur Hand und guckte hinein, um da
fortzufahren, wo er geſtern ſtehen geblieben.
Da fühlte er einen leiſe ſtechenden Schmerz im Auge;
er rieb es mit der Fingerſpitze und ſchaute mit dem andern
durch das Rohr, und auch dieſes ſchmerzte; denn er hatte
allbereits angefangen, durch das anhaltende Treiben ſich
die Augen zu verderben, namentlich aber durch den
unaufhörlichen Wechſel zwiſchen dem erleuchteten Kriſtall
und der Dunkelheit, wenn er in dieſer ſeine Zahlen
ſchrieb.
Das merkte er jetzt und fuhr bedenklich zurück; wenn
die Augen krank wurden, ſo war es aus mit allen ſinn¬
lichen Forſchungen, und Reinhart ſah ſich dann auf be¬
ſchauliches Nachdenken über das zurückgeführt, was er bis¬
lang geſehen. Er ſetzte ſich betroffen in einen weichen
[6] Lehnſtuhl, und da es nun gar ſo dunkel, ſtill und einſam
war, beſchlichen ihn ſeltſame Gedanken.
Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil
ſeiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerkſamkeit
unter den Menſchen genug geſehen hatte, um von der
Geſetzmäßigkeit und dem Zuſammenhange der moraliſchen
Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein
Wort fällt, welches nicht Urſache und Wirkung zugleich
wäre, wenn auch ſo gering wie das Säuſeln des Gras¬
halmes auf einer Wieſe, war die Erkundung des Stoff¬
lichen und Sinnlichen ihm ſein All' und Eines ge¬
worden.
Nun hatte er ſeit Jahren das Menſchenleben faſt ver¬
geſſen, und daß er einſt auch gelacht und gezürnt, thöricht
und klug, froh und traurig geweſen. Jetzt lachte er nur,
wenn unter ſeinen chemiſchen Stoffen allerlei Komödien
und unerwartete Entwickelungen ſpielten; jetzt wurde er
nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte,
falſch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er
ſich nur klug und froh, wenn er bei ſeiner Arbeit das
große Schauſpiel mit genoß, welches den unendlichen
Reichthum der Erſcheinungen unaufhaltſam auf eine ein¬
fachſte Einheit zurückzuführen ſcheint, wo es heißt, im An¬
fang war die Kraft, oder ſo was.
Die moraliſchen Dinge, pflegte er zu ſagen, flattern
ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und herunter¬
gekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden,
[7] an dem ſie flattern, iſt gut angebunden und ſie werden
uns nicht entwiſchen, wenn ſie auch immerfort die größte
Luſt bezeigen, ſich unſichtbar zu machen.
Jetzt aber war es ihm, wie geſagt, unbehaglich zu
Muth geworden; in der Beſorgniß um ſeine Augen ſtellte
er ſich alle die guten Dinge vor, welche man mittelſt der¬
ſelben ſehen könne, und unvermerkt miſchte ſich darunter
die menſchliche Geſtalt, und zwar nicht in ihren zerleg¬
baren Beſtandtheilen, ſondern als Ganzes, wie ſie ſchön
und lieblich anzuſehen iſt und wohllautende Worte hören
läßt. Es war ihm, als ob er ſogleich viel gute Worte
hören und darauf antworten möchte, und es gelüſtete ihn
plötzlich, auf das durchſichtige Meer des Lebens hinaus¬
zufahren, das Schifflein im reizenden Verſuche der Frei¬
heit da oder dorthin zu ſteuern, wo liebliche Dinge lockten.
Aber es fiel ihm nicht der geringſte Anhalt, nicht das
kleinſte Verhältniß ein zur Uebung menſchlicher Sitte; er
hatte ſich vereinſamt und feſtgerannt, es blieb ſtill und
dunkel um ihn her, es ward ihm ſchwül und unleidlich
und er ſprang auf und warf die Fenſterläden wieder weit
auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine
Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahr¬
loſte Menge von Büchern ſtehen hatte, die von den halb¬
vergeſſenen menſchlichen Dingen handelten. Er zog einen
Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig
aus und ſagte: Komm, tapferer Leſſing! es führt dich
zwar jede Wäſcherin im Munde, aber ohne eine Ahnung
[8] von deinem eigentlichen Weſen zu haben, das nichts Anderes
iſt, als die ewige Jugend und Geſchicklichkeit zu allen
Dingen, der unbedingte gute Wille ohne Falſch und im
Feuer vergoldet!
Es war ein Band der Lachmann'ſchen Leſſingaus¬
gabe und zwar der, in welchem die Sinngedichte des
Friedrich von Logau ſtehen, und wie Reinhart ihn auf¬
ſchlug, fiel ihm dieſer Spruch in die Augen:
Sogleich warf er das Buch weg und rief: Dank dir,
Vortrefflicher, der mir durch den Mund des noch älteren
Todten einen ſo ſchönen Rath gibt! O, ich wußte wohl,
daß man dich nur anzufragen braucht, um gleich etwas
Geſcheidtes zu hören!
Und das Buch wieder aufnehmend, die Stelle noch¬
mals laut leſend, rief Reinhart: Welch' ein köſtliches
Experiment! Wie einfach, wie tief, klar und richtig, ſo
hübſch abgewogen und gemeſſen! Gerade ſo muß es ſein:
erröthend lachen! Küß eine weiße Galathee, ſie wird er¬
röthend lachen!
Das wiederholte er beſtändig vor ſich her, während
er Reiſekleider hervorſuchte und ſeinen alten Diener her¬
beirief, daß er ihm ſchleunig helfe, den Mantelſack zu
packen und das erſte beſte Miethpferd beſtelle auf mehrere
Tage. Er anbefahl dem Alten die Obhut ſeiner Wohnung
[9] und ritt eine Stunde ſpäter zum Thore hinaus, ent¬
ſchloſſen, nicht zurückzukehren, bis ihm der lockende Ver¬
ſuch gelungen.
Er hatte die artige Vorſchrift auf einen Papier¬
ſtreifen geſchrieben, wie ein Recept, und in die Brieftaſche
gelegt.
Zweites Capitel.
Worin es zur einen Hälfte gelingt.
Als Reinhart eine Weile in den thauigen Morgen
hineingezogen, wo hier und da Senſen blinkten und friſche
Heuerinnen die Mahden auf den Wieſen ausbreiteten, kam
er an eine lange und breite, ſehr ſchöne Brücke, welche
der Frühe wegen noch ſtill und unbegangen war, und wie
ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange ſtand
ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden
Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer
Brunnen, an welchem die Zöllnerſtochter eben das Geſicht
gewaſchen hatte und ſich die Haare kämmte. Als ſie zu
dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, ſah
er, daß es ein ſchönes blaſſes Mädchen war, ſchlank von
Wuchs, mit einem feinen, luſtigen Geſicht und kecken
Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern
und den Rücken, und war wie das Geſicht und die Hände
feucht von dem friſchen Quellwaſſer.
„Wahrhaftig mein Kind!“ ſagte Reinhart. „Ihr ſeid
die ſchönſte Zöllnerin, die ich je geſehen, und ich gebe
[11] Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert
habt!“
Sie erwiderte: „Ihr ſeid bei Zeiten aufgeſtanden,
Herr, und ſchon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir
noch einige Mal ſagen wollt, daß ich ſchön ſei, ſo will
ich gern mit Euch plaudern, ſo lang es Euch gefällt, und
Euch jedesmal antworten, daß Ihr der verſtändigſte Reiter
ſeid, den ich je geſehen habe!
„Ich ſage es noch ein Mal; der dieſe ſchöne neue
Brücke gebaut und das kunſtreiche Häuschen dazu erfunden,
muß ſich erfreuen, wenn er ſolche Zöllnerin davor ſieht!“
„Das thut er nicht, er haßt mich!“
„Warum haßt er Euch?“
„Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit ſeinen
zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etwas warten
laſſe, eh' ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe;
beſonders wenn es regnet und kalt iſt, ärgert ihn das
in ſeiner offenen Kaleſche.“
„Und warum zieht Ihr den Schlagbaum ſo lang
nicht auf?“
„Weil ich ihn nicht leiden kann!“
„Ei, und warum kann man ihn nicht leiden?“
„Weil er in mich verliebt iſt und mich doch nicht an¬
ſieht, obgleich wir miteinander aufgewachſen ſind. Ehe
die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an
dieſer Stelle; der Baumeiſter war eines Fiſchers Sohn
da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit,
[12] wenn Leute überſetzten. Jetzt iſt er ein großer Baumeiſter
geworden und will mich nicht mehr kennen; er ſchämt ſich
aber vor mir, die ich hübſch bin, weil er immer eine
buckelige, einäugige Frau im Wagen neben ſich hat.“
„Warum hat er, der ſo ſchöne Werke erfindet, eine
ſo häßliche Frau?“
„Weil ſie die Tochter eines Rathsmannes iſt, der ihm
den Brückenbau verſchaffen konnte, durch den er groß und
berühmt geworden. Jener ſagte, er müſſe ſeine Tochter
heirathen, ſonſt ſolle er die Brücke nicht bauen.“
„Und da hat er es gethan?“
„Ja, ohne ſich zu beſinnen; ſeitdem muß ich lachen,
wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine ſehr
traurige Figur neben ſeiner Buckligen, während er nichts
als ſchlanke Pfeiler und hohe Kirchthürme im Kopfe hat.“
„Woher weißt Du aber, daß er in Dich verliebt iſt?“
„Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er
einen Umweg machen muß, und dann mich doch nicht
anſieht!“
„Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm,
oder ſeid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt?“
„Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der
eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann Andere
gern ſieht, die er doch nicht anzuſchauen wagt, iſt ein
Wicht, bei dem nicht viel zu holen iſt, meint Ihr nicht?“
„Sicherlich! Und um ſo mehr, als dieſer alſo recht
gut weiß, was ſchön iſt; denn je länger ich Euch und
[13] dieſe Brücke betrachte, deſto lauter muß ich geſtehen, daß
es zwei ſchöne Dinge ſind! Und doch nahm er die Hä߬
liche nur, um die Brücke bauen zu dürfen!“
„Aber er hätte auch die Brücke fahren laſſen und
mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas
ſchönes gehabt, wie Ihr ſagt!“
„Das iſt gewiß! Nun, er hat den Nutzen für ſich
erwählt, und Ihr habt Euere Schönheit behalten! Hier
ſeid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können
Euch da ſehen und ſich an dem Anblick erfreuen!“
„Das iſt mir auch lieb und mein größtes Vergnügen!
Hundert Jahre möchte ich ſo vor dieſem Häuslein ſtehen
und immer jung und hübſch ſein! Die Schiffer grüßen
mich, wenn ſie unter der Brücke durchfahren, und wer
darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl' ich,
auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich
nichts. Nur der Herr Baumeiſter iſt der Einzige, der
mich nie anſieht, und es doch am liebſten thäte! Aber
nun gebt mir endlich den Zoll und zieht Euere Straße,
Ihr wißt nun genug von mir für die ſchönen Worte,
die Ihr mir gegeben!“
„Ich gebe Dir den Zoll nicht, feines Kind, bis Du
mir einen Kuß gegeben!“
„Auf die Art müßte ich meinen Zoll wieder verzollen
und meine eigene Schönheit verſteuern!“
„Das müßt Ihr auch, wer ſagt etwas Anderes?
Würde bringt Bürde!“
„Zieht mit Gott, es wird nichts daraus!“
„Aber Ihr müßt es gern thun, Allerſchönſte! So
ein bischen von Herzen!“
„Gebt den Zoll und geht!“
„Sonſt thu' ich es ſelbſt nicht; denn ich küſſe nicht
eine Jede! Wenn Du's recht artig vollbringſt, ſo will
ich das Lob Deiner Schönheit verkünden und von Dir
erzählen, wo ich hinkomme; und ich komme weit herum!“
„Das iſt nicht nöthig; alle guten Werke loben ſich
ſelbſt!“
„So werde ich dennoch reden, auch wenn Ihr mich
nicht küßt, beſte Schöne! Denn Ihr ſeid zu ſchön, als
daß man davon ſchweigen könnte! Hier iſt der Zoll!“
Er legte das Geld in ihre Hand; da hob ſie den Fuß
in ſeinen Steigbügel, er gab ihr die Hand und ſie ſchwang
ſich zu ihm hinauf, ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals
und küßte ihn lachend. Aber ſie erröthete nicht, obgleich
auf ihrem weißen Geſicht der bequemſte und anmuthigſte
Platz dazu vorhanden war. Sie lachte noch, als er ſchon
über die Brücke geritten war und noch einmal zurückſchaute.
Für's Erſte, ſagte er zu ſich ſelbſt, iſt der Verſuch
nicht gelungen; die nothwendigen Elemente waren nicht
beiſammen. Aber ſchon das Problem iſt ſchön und lieblich,
wie lohnend müßte erſt das Gelingen ſein!
Drittes Capitel
Worin es zur andern Hälfte gelingt.
Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es
Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬
legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der
Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben,
als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte,
fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter
Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg
nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬
ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach
Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach
Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das
gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien
eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den
Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun
wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur
Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines
Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem
ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der
[16] beſcheidene Blick fortwährend ihr folgte. Sie begrüßte
den Gaſt, ohne die Augen aufzuſchlagen, und verſchwand
dann gleich wieder in die Küche.
Nun unterhielten ihn Vater und Mutter ausſchließlich
von den Schickſalen ihres Hauſes und verriethen eine
wunderſame Ordnungsliebe in dieſem Punkte; denn ſie
hatten alle ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommniſſe
auf das Genaueſte eingereiht und abgetheilt, die an¬
genehmen von den betrübenden abgeſondert und jedes
Einzelne in ſein rechtes Licht geſetzt und in reinliche
Beziehung zum Andern gebracht. Der Hausherr gab
dann dem Ganzen die höhere Weihe und Beleuchtung,
wobei er merken ließ, daß ihm die berufliche Meiſterſchaft
im Gottvertrauen gar wohl zu Statten käme bei der
Lenkung einer ſo wunderbarlichen Lebensfahrt. Die Frau
unterſtützte ihn eifrigſt und ſchloß Klagen wie Lob¬
preiſungen mit dem Ruhme ihres Mannes und mit dem
gebührenden Danke gegen den lieben Gott, der in dieſer
kleinen, friedlich bewegten Familie ein beſonderes, fein
ausgearbeitetes Kunſtwerk ſeiner Weltregierung zu erhalten
ſchien, durchſichtig und klar wie Glas in allen ſeinen
Theilen, worin nicht ein dunkles Gefühlchen im Ver¬
borgenen ſtürmen konnte.
Dem entſprachen auch die vielen Glasglocken, welche
mannichfache Familiendenkmale vor Staub ſchützten, ſowie
die zahlreichen Rähmchen an der Wand mit Silhouetten,
Glückwünſchen, Liederſprüchen, Epitaphien, Blumenkränzen
[17] und Landſchaften von Haar, Alles ſymmetriſch aufgehängt
und mit reinlichem Glaſe bedeckt. In Glasſchränken
glänzten Porzellantaſſen mit Namenszügen, geſchliffene
Gläſer mit Inſchriften, Wachsblumen und Kirchenbücher
mit vergoldeten Schlöſſern.
So ſah auch die Pfarrerstochter aus, wie wenn ſie
eben aus einem mit Spezereien durchdufteten Glasſchranke
käme, als ſie, ſorgfältig geputzt, wieder eintrat. Sie
trug ein himmelblau ſeidenes Kleidchen, das knapp genug
einen rundlichen Buſen umſpannte, auf welchen die liebe,
ernſthafte Naſe immerfort hinab zeigte. Auch hatte ſie
zwei goldene Löcklein entfeſſelt und eine ſchneeweiße Küchen¬
ſchürze umgebunden; und ſie ſetzte einen Pudding ſo ſorg¬
fältig auf den Tiſch, wie wenn ſie die Weltkugel hielte.
Dabei duftete ſie angenehm nach dem würzigen Kuchen,
den ſie eben gebacken hatte.
Ihre Eltern behandelten ſie aber ſo feierlich und
gemeſſen, daß ſie ohne ſichtbaren Grund oftmals erröthete
und bald wieder wegging. Sie machte ſich auf dem Hofe
zu ſchaffen, wo Reinharts Pferd angebunden war, und in
eifriger Fürſorge fütterte ſie das Thier. Sie rückte ihm
ein Gartentiſchchen unter die Naſe und ſetzte ihm in ihrem
Strickkörbchen einige Brocken Hausbrot, halbe Semmeln
und Zwiebäcke vor, nebſt einer guten Handvoll Salat¬
blätter; auch ſtellte ſie ein grünes Gießkännchen mit
Waſſer daneben, ſtreichelte das Pferd mit zager Hand
und trieb tauſend fromme Dinge. Dann ging ſie in ihr
Keller, Sinngedicht. 2[18] Zimmerchen, um ſchnell die unverhofften Ereigniſſe in ihr
Tagebuch einzutragen; auch ſchrieb ſie raſch einen Brief.
Inzwiſchen ging auch Reinhart hinunter, um das
Pferd vorläufig bereit zu machen. Dieſes hatte ſich das
Gießkännchen an die Naſe geklemmt und am Gießkännchen
hing das Strickkörbchen, und beide Dinge ſuchte das ver¬
legene Thier unmuthvoll abzuſchlenkern, ohne daß es ihm
gelingen wollte. Reinhart lachte ſo laut, daß die Tochter
es augenblicklich hörte und durch das Fenſter ſah. Als
ſie das Abenteuer entdeckte, kam ſie eilig herunter, nahm
ſich ein Herz und bat Reinhart beinahe zitternd, daß er
ihren Eltern und Niemand etwas davon ſagen möchte, da
es ihr für lange Zeit zum Aufſehen und zur Lächerlichkeit
gereichen würde. Er beruhigte ſie höflich und ſo gut er
konnte, und ſie eilte mit Körbchen und Kanne wie ein
Reh davon, ſie zu verbergen. Doch zeigte ſie ſich bald
wieder hinter einem Fliederbuſche und ſchien ein bedeuten¬
des Anliegen auf dem Herzen zu haben. Reinhart ſchlüpfte
hinter den Buſch; ſie zog einen ſorgfältig verſiegelten,
mit prachtvoller Adreſſe verſehenen Brief aus der Taſche,
den ſie ihm mit der geflüſterten Bitte überreichte, das
Schreiben, welches einen Gruß und wichtigen Auftrag
enthielte, doch ja unfehlbar an eine Freundin zu beſtellen,
die unweit von ſeinem Reiſepfade wohne.
Ebenſo flüſternd und bedeutſam theilte ihr Reinhart
mit, daß er ſie in Folge eines heiligen Gelübdes ohne
Widerrede küſſen müſſe. Sie wollte ſogleich entfliehen;
[19] allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich
widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne
unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im
Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬
armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn
mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth
begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und
andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart
dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines
Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte.
Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder
und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz
davon.
Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr
heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem
ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt
war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige
Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart,
damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe
bleibe!“
Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den
Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.
Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom
Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das
Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!
Viertes Capitel.
Worin ein Rückſchritt vermieden wird.
Da das Pferd noch hungrig ſein mußte, ſtieg er unweit
des Dorfes nochmals ab, vor einem einſamen Wirthshauſe,
welches am Saume eines großen Waldes lag und ein
goldenes Waldhorn im Schilde führte. Aus dem Walde
erhob ſich ein ſchöner, grün belaubter Berg, hinein aber
führte die breite Straße in weitem Bogen.
Unter der ſchattigen Vorhalle des Wirthshauſes ſaß
ein ſtattliches Frauenzimmer und nähte. Sie war nicht
minder hübſch, als die Pfarrerstochter und die Zöllnerin,
aber ungleich handfeſter. Sie trug einen ſchwarzen, fein
gefalteten Rock mit rothen Säumen und blendend weiße
Hemdärmel, deren geſtickte weitläufige Ränder offen auf
die Handknöchel fielen. In den Flechten des Haares
glänzte ein ſilberner Zierrat, deſſen Form zwiſchen einem
Löffel und einem Pfeile ſchwankte.
Sie grüßte lächelnd den Reiſenden und fragte, was
ihm gefällig wäre.
[21]
„Etwas Hafer für das Pferd,“ ſagte er, „und da es
ſich hier kühl und lieblich zu leben ſcheint, auch ein Glas
Wein für mich, wenn Ihr ſo gut ſein wollt!“
„Ihr habt Recht,“ ſagte ſie, „es iſt hier gut ſein,
ſtill und angenehm und eine ſchöne Luft! So laßts Euch
gefallen und nehmt Platz!“
Als ſie den Wein zu holen ging und mit der klaren
Flaſche wieder kam, bewunderte Reinhart ihre ſchöne
Geſtalt und den ſicheren Gang, und als ſie rüſtig ein
Maß Hafer ſiebte und dem Pferde aufſchüttete, ohne an
Reiz zu verlieren, ſagte er ſich: Wie voll iſt doch die
Welt von ſchönen Geſchöpfen und ſieht keines dem andern
ganz gleich! — Die Schöne ſetzte ſich hierauf an den
Tiſch und nahm ihre Arbeit wieder zur Hand. „Wie
ich ſehe,“ ſagte Reinhart, „ſeid Ihr allein zu Haus?“
„Ganz allein,“ erwiderte ſie voll Freundlichkeit, blanke
Zahnreihen zeigend, „unſere Leute ſind Alle auf den
Wieſen, um Heu zu machen.“
„Gibt es viel und gutes Heu dies Jahr?“
„So ziemlich; wenn das Frühjahr nicht ſo trocken
geweſen wäre, ſo gäbe es noch mehr; man muß es eben
nehmen, wie's kommt, Alles kann nicht gerathen!“
„So iſt es! Der ſchöne Frühling war dagegen für
andere Dinge gut, zum Beiſpiel für die Obſtbäume, die
konnten vortrefflich verblühen.“
„Das haben ſie auch redlich gethan!“
„So wird es alſo viel Obſt geben im Herbſt?“
[22]„Wir hoffen es, wenn das Wetter nicht ganz ſchlecht
wird.“
„Und was das Heu betrifft, was gilt es denn gegen¬
wärtig?“
„Jetzt, eh' das neue Heu gemacht iſt, ſteht es noch
hoch im Preiſe, denn das letzte Jahr war es unergiebig;
ich glaube, es hat vor acht Tagen noch über einen Thaler
gekoſtet. Es muß aber jetzt abſchlagen.“
„Verkauft Ihr auch von Euerem Heu, oder braucht
Ihr es ſelbſt, oder müßt Ihr noch kaufen, da Ihr ein
Gaſthaus führt?“
„In der Wirthſchaft wird kein Heu, ſondern faſt nur
Hafer verfüttert; für unſer Vieh aber brauchen wir das
Heu, und da iſt es verſchieden, das eine Jahr kommen
wir gerade aus, das andere müſſen wir dazu kaufen, das
dritte reicht es ſo gut, daß wir etwas auf den Markt
bringen können; dies hängt von vielen Umſtänden ab,
beſonders auch, wie die anderen Sachen und Kräuter
gerathen.“
„Das läßt ſich denken! Das läßt ſich denken! Und
alſo über einen Thaler hat der Zentner Heu noch vor
acht Tagen gekoſtet?“
„Quälen Sie ſich nun nicht länger, mein Herr!“
ſagte die Schöne lächelnd, „und ſagen Sie mir die
drolligen Dinge, die Ihnen auf der Zungenſpitze ſitzen,
ohne Umſchweif! Ich kann einen Scherz ertragen und
weiß mich zu wehren!“
„Wie meinen Sie das?“
„Ei, ich ſeh' es Ihren Augen die ganze Zeit an, daß
Sie lieber von Anderm ſprechen, als von Heu, und mir
ein wenig den Hof machen möchten, bis Ihr Pferd
gefreſſen hat! Da ich einmal die einſame Wirthstochter
hier vorſtelle, ſo wollen wir die wundervollen Dinge nicht
verſchweigen, welche man ſich unter ſolchen Umſtänden
ſagt, und der Welt den Lauf laſſen! Fangen Sie an,
Herr! und ſeien Sie witzig und vorlaut, und ich werde
mich zieren und ſpröde thun!“
„Gleich werd' ich anfangen, Sie haben mich nur
überraſcht!“
„Nun, laſſen Sie hören!“
„Nun alſo — beim Himmel, ich bin ganz verblüfft
und weiß Nichts zu ſagen!“
„Das iſt nicht viel: Sollen wir etwa gar die ver¬
kehrte Welt ſpielen und ſoll ich Ihnen den Hof machen
und Ihnen angenehme Dinge ſagen, während Sie ſich
zieren? Gut denn! Sie ſind in der That der hübſcheſte
Mann, welcher ſeit langem dieſe Straße geritten, gefahren
oder gegangen iſt!“
„Glauben Sie etwa, ich höre das ungern aus Ihrem
Munde?“
„Das befürchte ich nicht im Geringſten! Zwar, wie
ich Sie vorhin kommen ſah, dacht' ich: Gelobt ſei Gott,
da nahet ſich endlich Einer, der nach was Rechtem aus¬
ſieht, ohne daran zu denken! Der reitet feſt in die Welt
[24] hinein und trägt gewiß keinen Spiegel in der Taſche,
wie ſonſt die Herren aus der Stadt, denen man kaum
den Rücken drehen darf, ſo holen ſie den Spiegel hervor
und beſchauen ſich ſchnell in einer Ecke! Wie Sie aber
das Heugeſpräch führten und dabei Augen machten wie
die Katze, die um den heißen Brei herum geht, dacht' ich:
es iſt doch ein Schulmeiſter von Art!“
„Sie fallen ja aus der Rolle und ſagen mir Un¬
höflichkeiten!“
„Es wird gleich wieder beſſer kommen! Sie haben
eine ſo tüchtige Manier, daß man froh iſt, Sie zu
nehmen, wie Sie ſind, da wir armen Menſchen uns ja
doch unſer Leben lang mit dem Schein begnügen müſſen,
und nicht nach dem Kern fragen dürfen. So betrachte
ich Sie auch als einen ſchönen Schein, der vorüber geht
und ſein Schöppchen trinkt, und ich benutze ſogar recht
gern dieſen Scherz, um Ihnen in allem Ernſte zu ſagen,
daß Sie mir recht wohl gefallen! Denn ſo ſteht es in
meinem Belieben!“
„Daß ich Ihnen gefalle?“
„Nein, daß ich es ſagen mag!“
„Sie ſind ja der Teufel im Mieder! Ein ſtarker Geiſt
mit langen Haaren?“
„Sie glaubten wohl nicht, daß wir hier auch geſchliffene
Zungen haben?“
„Ei, als Sie vorhin den Hafer ſiebten, ſah ich, daß
Sie eine handfeſte und zugleich anmuthige Dame ſind!
[25] Ihre Ausdrucksweiſe dagegen kann ich nicht mit den länd¬
lichen Kleidern zuſammen reimen, die Ihnen übrigens vor¬
trefflich ſtehen!“
„Nun, ich habe vielleicht nicht immer in dieſen Kleidern
geſteckt — vielleicht auch doch! Jeder hat ſeine Geſchichte
und die meinige werde ich Ihnen bei dieſer Gelegenheit
nicht auf die Naſe binden! Vielmehr beliebt es mir,
Ihnen zu ſagen, daß Sie mir wohl gefallen, ohne daß
Sie wiſſen, wer ich bin, wie ich dazu komme, dies zu
ſagen, und ohne daß Sie einen Nutzen davon haben. So
ſetzen Sie Ihren Weg fort als ein Schein für mich, wie
ich als ein Schein für Sie hier zurückbleibe!“
Dieſe Grobheiten und ſeltſamen Schmeicheleien ſagte
die Dame nicht auf eine unangenehme Weiſe, ſondern mit
großem Liebreiz und einem fortwährenden Lächeln des
rothen Mundes, und Reinhart enthielt ſich nicht, endlich
zu ſagen: „Ich wollte, Sie blieben nun ganz bei der
Stange und es beliebte Ihnen, Ihr ſchmeichelhaftes Wohl¬
gefallen auch mit einem Kuſſe zu beſtätigen!“
„Wer weiß!“ ſagte ſie, „in Betracht, daß ich in voll¬
kommenem Belieben Sie küſſen würde und nicht Sie mich,
könnte es mir vielleicht einfallen, damit Sie zum Dank
für die angenehme Unterhaltung mit dem Schimpf davon
reiten, geküßt worden zu ſein, wie ein kleines Mädchen!“
„Thun Sie mir dieſen Schimpf an!“
„Wollen Sie ſtill halten?“
„Das werden Sie ſehen!“
[26]Sie machte eine Bewegung, wie wenn ſie ſich ihm
nähern wollte; in dieſem Augenblicke wallte aber ein
kalter Schatten über ſein Geſicht, die Augen funkelten
unſicher zwiſchen Luſt und Zorn, um den Mund zuckte
ein halb ſpöttiſches Lächeln, ſo daß ſie mit faſt unmerk¬
licher Betroffenheit die angehobene Bewegung nach dem
Pferde hin ablenkte, um daſſelbe zu tränken. Reinhart
eilte ihr nach und rief, er könne nun nicht mehr zugeben,
daß ſie ſein Pferd bediene! Sie ließ ſich aber nicht ab¬
halten und ſagte, ſie würde es nicht thun, wenn ſie nicht
wollte, und er ſolle ſich nicht darum kümmern.
Sie war aber in einiger Verlegenheit; denn die
Sachen ſtanden nun ſo, daß ſie doch warten mußte, bis
Reinhart ihr wieder Anlaß bot, ihn zu küſſen, daß ſie
aber beleidigt war, wenn es nicht geſchah. Er empfand
auch die größte Luſt dazu; wie er ſie aber ſo wohlgefällig
anſah, befürchtete er, ſie möchte wol lachen, allein nicht
roth werden, und da er dieſe Erfahrung ſchon hinter ſich
hatte, ſo wollte er als gewiſſenhafter Forſcher ſie nicht
wiederholen, ſondern nach ſeinem Ziele vorwärts ſtreben.
Dieſes ſchien ihm jetzt ſchon ſo wünſchenswerth, daß er
bereits eine Art Verpflichtung fühlte, keine unnützen Ver¬
ſuche mehr zu unternehmen und ſich des lieblichen Erfolges
im Voraus würdig zu machen.
Er ſtellte ſich daher, um auf gute Manier weg¬
zukommen, als ob er den höchſten Reſpekt fühlte und von
der Furcht beſeelt wäre, mit zu weitgehendem Scherze ihr
[27] zu mißfallen. In dieſer Haltung bezahlte er auch ſeine
Zeche, verbeugte ſich höflich gegen ſie und ſie that das
Gleiche, ohne daß etwas weiteres vorfiel. Sie nahm
alles wohl auf und entließ den Reiter in guter Faſſung.
Auf dieſem Waldhörnchen wollen wir nicht blaſen!
ſagte er zu ſich ſelbſt, als ihm beim Wegreiten das Schild
des Hauſes in die Augen fiel: Vielleicht führt uns der
Auftrag der Pfarrerstochter auf eine gute Spur, wie das
Gute ſtets zum Beſſern führt! Ich will den ſchalkhaften
Seitenpfad aufſuchen, der irgend hier herum zu jenem
Schloß oder Landſitz führen ſoll, wo die unbekannte
Freundin hauſt!
Fünftes Capitel.
Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬
nehmung zu ahnen.
Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich
ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬
lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬
neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer
Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth
immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬
ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang
ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft
genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.
Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er
unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als
eine weiße Galathee ſein!
Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal
in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite
des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer
noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter,
hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle
[29] Buchengänge führend. Allein immer deutlicher zeigten
ſich die Anlagen und verriethen eine feine kundige Hand;
da er aber durchaus nicht wußte, wo er war und
nirgends einen Ueberblick gewinnen konnte, mußte er nun
auch befürchten, als ein Eindringling und Parkverwüſter
zum Vorſchein zu kommen. Das Pferd zerriß unbarm¬
herzig mit ſeinen Hufen den fein geharkten Boden, zertrat
Gras und wohlgepflegte Waldblumen und zerſtörte die
Raſenſtufen, die über kleine Hügel führten. Indem er
ſich ſehnte, der traumhaften Verwirrung zu entrinnen,
fürchtete er zugleich das Ende und verwünſchte die Stunde,
die ihn in ſolche Noth gebracht.
Plötzlich lichteten ſich die Bäume und Laubwände, ein
ſchmaler Pfad führte unmittelbar in einen offenen Blumen¬
garten, welcher von dem jenſeitigen Hofraume nur durch
ein dünnes vergoldetes Drahtgitter abgeſchloſſen war.
Gern hätte er ſich über Garten und Zaun mit einem
Satze hinweggeholfen; da dies aber nicht möglich war,
ſo ritt er mit dem Muthe der Verzweiflung und trotzig,
ohne abzuſteigen, zwiſchen den Zierbeeten durch, die
Schneckenlinien verfolgend, deren weißen Sand der Gaul
luſtig ſtäuben ließ.
Endlich war er hinter dem leichten Gitterchen angelangt,
das den Garten verſchloß, und das Pferd anhaltend über¬
ſah er ſich zuerſt den Platz, gleichgültig, ob er in dieſer
barbariſchen Lage entdeckt wurde oder nicht; denn ſich zu
verbergen ſchien unmöglich.
[30]
Er befand ſich auf einer großen Terraſſe am Abhange
des Berges, auf welcher ein ſchönes Haus ſtand; vor
demſelben lag ein geräumiger gevierter Platz, durch
ſteinerne Baluſtraden gegen den jähen Abhang geſchützt.
Der Platz war mit einigen gewaltigen Platanen beſetzt,
deren edle Aeſte ſich ſchattend über ihn ausbreiteten.
Unter den Platanen und über das Steingeländer hinweg
ſah man auf einen in Windungen ſich weithin ziehenden
breiten Fluß und in ein Abendland hinaus, das im Glanze
der ſinkenden Sonne ſchwamm. An den zwei übrigen
Seiten war der Platz von Blumengründen begränzt, auf
deren einem der verlegene Reinhart hielt. Er ſah nun
zu ſeinem Verdruſſe, daß vorn an der Baluſtrade zwei
ſtattliche Auffahrten auf den Hof mündeten.
Unter den Platanen aber erblickte er einen Brunnen
von weißem Marmor, der ſich einem viereckigen Monu¬
mente gleich mitten auf dem Platze erhob und ſein Waſſer
auf jeder der vier Seiten in eine flache, ebenfalls gevierte,
von Delphinen getragene Schale ergoß. Theils auf dem
Rande einer dieſer Schalen, theils auf dem klaren Waſſer,
das kaum handtief den Marmor deckte, lag und ſchwamm
ein Haufen Roſen, die zu reinigen und zu ordnen eine
weibliche Geſtalt ruhig beſchäftigt war, ein ſchlankes
Frauenzimmer in weißem Sommerkleide, das Geſicht von
einem breiten Strohhute überſchattet.
Die untergehende Sonne beſtreifte noch eben dieſe
Höhe ſammt der Fontaine und der ruhigen Geſtalt, über
[31] welche die Platanen mit ihren ſaftgrünen Laubmaſſen
ihr durchſichtiges und doch kräftiges Helldunkel hernieder
ſenkten.
Je ungewohnter der Anblick dieſes Bildes war, das
mit ſeiner Zuſammenſtellung des Marmorbrunnens und
der weißen Frauengeſtalt eher der idealen Erfindung eines
müßigen Schöngeiſtes, als wirklichem Leben glich, um ſo
ängſtlicher wurde es dem gefangenen Reinhart zu Muth,
der wie eine Bildſäule ſtaunend zu Pferde ſaß, bis dieſes,
ein gutes Unterkommen witternd, urplötzlich aufwieherte.
Stutzend forſchte die ſchlanke Dame nach allen Seiten und
entdeckte endlich den verlegenen Reitersmann hinter dem
goldenen Gewebe des leichten Gitterthörchens. Er bewegte
ſich nicht, und nachdem ſie eine Weile verwunderungsvoll
hingeſehen, eilte ſie zur Stelle, wie um zu erfahren, ob
ſie wache oder träume. Als ſie ſah, daß ſich alles in
beſter Wirklichkeit verhielt, öffnete ſie mit unmuthiger
Bewegung das Gitter und ſah ihn mit fragendem Blick
an, der ihn einlud: ob es ihm vielleicht nunmehr belieben
werde, mit den vier Hufen ſeines Pferdes aus dem mi߬
handelten Garten herauszuſpazieren? Zugleich aber zog
ſie ſich eilig an ihren Brunnen zurück, eine Handvoll
Roſen erfaſſend und der Dinge gewärtig, die da kommen
ſollten.
Endlich ſtieg Reinhart ab, und ſeinen Miethgaul
demüthig hinter ſich herführend, überreichte er der reiz¬
vollen Erſcheinung, ſie fortwährend anſchauend, ohne
[32] zu reden mit einer Verbeugung den Brief der Pfarrers¬
tochter.
Oder vielmehr war es nicht der Brief, ſondern der
Zettel, auf welchen er das Sinngedicht geſchrieben:
Den Brief hielt er ſammt der Brieftaſche in der Hand
und entdeckte ſein Verſehen erſt, als die Dame das Papier
ſchon ergriffen und geleſen hatte.
Sie hielt es zwiſchen beiden Händen und ſah den
ganz verwirrten und erröthenden Herrn Reinhart mit
großen Augen an, während es zweifelhaft, ob bös oder
gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte. Stumm gab ſie den
Papierſtreifen hin und nahm den Brief, den der um
Nachſicht Bittende oder Stammelnde dafür überreichte.
Als ſie das große Siegel erblickte, verbreitete ſich eine
Heiterkeit über das Geſicht, welches jetzt in der Nähe wie
ein ſchönes Heimatland aller guten Dinge erſchien. Ein
kluger Blick ihrer dunklen Augen blitzte auf, und als ſie
raſch geleſen, lachte ſie und ſagte mit ſchalkhaft bewegter
Stimme:
„Ich muß geſtehen, mein Herr, das iſt mir das
ſeltſamſte Ereigniß! Ein Unbekannter fällt, Mann und
Pferd, vom Himmel und fängt ſich wie eine Droſſel an
den ſchwachen Gitterchen meines Gartens, Beete und
Wege zerwühlend! Er überbringt mir ein Schreiben,
das mit dem Amtsſiegel eines ehrwürdigen Geiſtlichen,
[33] mit Bibel, Kelch und Kreuz geſiegelt iſt und in welchem
mich meine Freundin im Thale, die Pfarrerstochter, in
den flehendſten Ausdrücken beſchwört, ja nicht zu ver¬
geſſen, ihr von dem diesjährigen Rettigſamen zu ſenden!
Wenn Sie in einiger Verfaſſung ſind, ſich zu vertheidigen
und Ihre wunderbare Herkunft zu erklären, ſo ſollen Sie
in dieſer hochgelegenen Behauſung willkommen ſein, und
ich, die ich zur Zeit das Wort führe, da mein gichtkranker
Oheim das Zimmer hütet, will ernſt und weiſe mit Ihnen
zu Rath gehen über die fernere Entwicklung Ihres merk¬
würdigen Lebenspfades!“
Nicht nur vom Abglanz der Abendſonne, ſondern auch
von einem hellen inneren Lichte war die ziervolle Dame
dermaßen erleuchtet, daß der Schein dem überraſchten
Reinhart ſeine Sicherheit wiedergab. Aber indem er ſich
ſagte, daß er hier oder nirgends das Sprüchlein des alten
Logau erproben möchte und erſt jetzt die tiefere Bedeutung
deſſelben völlig empfand, merkte er auch, mit welch' weit¬
läufigen Vorarbeiten und Schwierigkeiten der Verſuch
verbunden ſein dürfte.
Sechstes Capitel.
Worin eine Frage geſtellt wird.
Er verbeugte ſich abermals mit aller Ehrerbietung
und ſagte:
„Ich bin über mein Geſchick nicht weniger erſtaunt,
als Sie, mein Fräulein! nur daß ich in ungalanter Weiſe
im Vortheil und auf das Angenehmſte betroffen bin,
während ich auf Ihrem Gebiete bis jetzt nichts als
Schaden und Unheil angerichtet habe. Seit heute früh
im Freien, um einer naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung
nachzugehen, habe ich den Tag damit zugebracht, einen
Brief von einer Dame zur andern zu tragen, worin, wie
Sie ſagen, um Rettigſamen gebeten wird; ich habe mich
an dieſem Berge verirrt, Gärten verwüſtet und mich zu¬
letzt da gefangen geſehen, wo ich ſchon freiwillig habe
hingehen wollen! Welcher Meiſter hat dieſe ſchönen und
witzigen Anlagen gebaut?“
„Ich ſelbſt habe ſie erfunden und angegeben, es ſind
eben Mädchenlaunen!“ ſagte die Dame.
[35]
„Alle Achtung vor Ihrem Geſchmack! Da Sie aber ſo
kunſtreiche Netze ausbreiten, ſo haben Sie es ſich ſelbſt
zuzuſchreiben, wenn Sie einmal einen groben Vogel
fangen, auf den Sie nicht gerechnet haben!“
„Ei man muß nehmen, was kommt! Zu dem freue
ich mich zu ſehen, daß meine Anlagen zu was gut ſind;
denn hätten Sie ſich nicht darin gefangen, ſo wären Sie
viel früher angekommen und wahrſcheinlich längſt wieder
weggeritten; ſo aber, da es ſpät und weit bis zur nächſten
Gaſtherberge iſt, habe ich das Vergnügen Ihnen eine
Unterkunft anzubieten. Denn Sie ſind mir angelegentlich
empfohlen von meiner Freundin und ſie ſchreibt, Sie
ſeien ein ſehr beachtenswerther und vernünftiger Reiſender,
welcher mit ihren Eltern die erbaulichſten Geſpräche führe!“
„Das wundert mich! Ich habe kaum zwei oder drei
Mal das Wort ergriffen und einige Minuten lang geführt!“
„So muß das Wenige, das Sie ſagten, um ſo herr¬
licher geweſen ſein, und ich hoffe dergleichen auch mit
Beſcheidenheit zu genießen!“
„O mein Fräulein, es waren im Gegentheil zuletzt
ſolche Dummheiten, die ich beſonders der jungen Dame
ſagte, daß ſie den gütigen Empfehlungsbrief ſchwerlich
mehr geſchrieben hätte, wenn es nicht ſchon geſchehen
wäre!“
„So ſcheint es denn bei Ihnen in keiner Weiſe mit
rechten Dingen zuzugehen! Wenn ich meinen Zweck
erreichen will, Sie hier zu behalten, muß ich am Ende,
3*[36] da alles verkehrt bei Ihnen eintrifft, Sie vom Hofe
jagen, damit Sie uns um ſo ſicherer von der andern
Seite wieder zurückkommen!“
„Nein, ſchönſtes Fräulein, ich möchte jetzo mit Ihrer
Hülfe verſuchen, der Dinge wieder Meiſter zu werden!
Weiſen Sie mir meinen Aufenthalt an, und ich werde
ohne Abweichung ſtracks hinzukommen trachten und mich
ſo feſt halten wie eine Klette!“
„Das will ich thun! Aber dann halten Sie ſich ja
tapfer und laſſen ſich weder rechts noch links verſchlagen,
und wenn Sie ſich nicht recht ſicher trauen, ſo bleiben
Sie lieber auf einem Stuhle ſitzen, bis ich Sie rufen
laſſe! Auf keinen Fall entfernen Sie ſich vom Hauſe,
und wenn Ihnen dennoch etwas Ungeheuerliches oder Ver¬
kehrtes aufſtoßen ſollte, ſo rufen Sie mich gleich zu Hülfe!
Läuft es aber glücklich ab und halten Sie ſich gut über
Waſſer, ſo ſehen wir uns bald wieder.“
Mit dieſen Worten grüßte ſie den Gaſt und eilte mit
ihrem Roſenkorbe in das Haus, um Leute zu ſenden. Es
erſchien bald darauf ein alter Diener mit weißen Haaren,
der, als er das Pferd geſehen, einen Stallknecht aus dem
weiter rückwärtsgelegenen Wirthſchaftshofe herbeiholte.
Dann kamen zwei Mädchen in der maleriſchen Landes¬
tracht, die er ſchon im Waldhorn geſehen, und führten
ihn in das Haus. Als Reinhart in dem ihm angewieſenen
Zimmer einige Zeit verweilt und ſein Aeußeres in Ord¬
nung gebracht hatte, erſchien das eine der Mädchen wieder
[37] mit einer breiten Schale voll Roſen, im Auftrage der
Herrſchaft die Herberge etwas freundlicher zu machen,
und das andere folgte auf dem Fuße mit einer ſchönen
Kryſtallflaſche, die mit einem dunkeln ſüdlichen Wein halb
gefüllt war, einem Glaſe und einigen Zwiebäcken, alles
auf einem Brette von altmodig geformtem Zinn tragend.
Ueberraſcht von dem Anblick der Gruppe, ſowie auch
etwas übermüthig von den fortgeſetzt anmuthigen Begeg¬
niſſen dieſes Tages, verhinderte er die Mädchen, ihre
Gaben auf den Tiſch zu ſetzen, und führte ſie mit wich¬
tiger Miene vor einen großen Spiegel, der den Fenſter¬
pfeiler vom Boden bis zur Decke bekleidete. Dort ſtellte
er ſie, den Rücken gegen das Glas gewendet, auf, und
die Jungfrauen ließen ihn einige Augenblicke gewähren,
da ſie nicht wußten, worum es ſich handelte. Mit Wohl¬
gefallen betrachtete er das Bild; denn er ſah nun vier
Figuren, ſtatt zweier, indem der Spiegel den Nacken und
die Rückſeite der ſchmucken Trägerinnen wiedergab. Um
ſie feſtzuhalten, fragte er ſie nach dem Taufnamen ihrer
Gebieterin, obſchon der denſelben bereits kannte, und
beide ſagten: „Sie heißt Lucia!“ Zugleich aber ver¬
ſpürten die Mägde den Muthwillen, ſtellten die Sachen
auf den Tiſch und liefen erröthend aus dem Zimmer;
draußen ließen ſie ein kurzes ſchnippiſches Gelächter
erſchallen, das gar luſtig durch die gewölbten Gänge
erklang. Bald aber guckten ihre zwei Geſichter wieder
zu einer andern Thüre des Zimmers herein, und die Eine
[38] verkündigte mit ſo ziemlichen Worten, als ob ſie nicht
eben laut gelacht hätte: noch ſollen ſie dem Herren ſagen,
daß er unbedenklich in den nächſten Zimmern herum
ſpazieren möge, falls ihm die Zeit zu lang werden ſollte;
es ſeien Bücher und dergleichen dort zu finden. Dann
verſchwanden ſie, indem ſie einen Thürflügel halb geöffnet
ließen.
Reinhart that ihn ganz auf und trat in das anſtoßende
Gemach, das jedoch außer einer gewöhnlichen Zimmer¬
ausſtattung nichts enthielt; er öffnete daher die nächſte,
blos angelehnte Thüre und entdeckte einen geräumigen
Saal, welcher eine Art Arbeitsmuſeum der Dame Lucia
zu bilden ſchien. Ein Bücherſchrank mit Glasthüren zeigte
eine ſtattliche Bibliothek, die indeſſen durch ihr Ausſehen
bewies, daß ſie ſchon älteren Herkommens war. An
anderen Stellen des Saales hing eine Anzahl Bilder
oder war zur bequemen Betrachtung auf den Boden
geſtellt. Es ſchienen meiſtens gut gedachte und gemalte
Landſchaften oder dann einzelne ſchöne Portraitköpfe,
beides aber nicht von und nach bekannten Meiſtern,
ſondern von ſolchen, deren Geſtirn nicht in die Weite zu
leuchten pflegt oder wieder vergeſſen wird. Oefter ſieht
man in alten Häuſern derlei Anſchaffungen vergangener
Geſchlechter; kunſtliebende Familienhäupter unterſtützten
landsmänniſche Talente, oder brachten von ihren Reiſen
dies oder jenes löbliche, durchaus tüchtige Gemälde nach
Hauſe, von deſſen Urheber nie wieder etwas vernommen
[39] wurde. Denn wie Viele ſterben jung, wie Manche bleiben
bei allem Fleiß und aller Begabung ihr Leben lang un¬
geſucht und ungenannt. Um ſo achtenswerther erſchien
die Bildung des Fräuleins, da ſie ohne maßgebende
Namen dieſe unbekannten Werke zu ſchätzen wußte und
ſo eifrig um ſich ſammelte. Die weiß, wie es ſcheint,
ſich an die Sache zu halten, dachte er, als er bemerkte,
daß alle die älteren oder neueren Schildereien entweder
durch den Gegenſtand oder durch das Machwerk einem
edleren Geiſte zu gefallen geeignet waren. Einige große
Stiche nach Niclaus Pouſſin und Claude Lorrain hingen
in ſchlichten hölzernen Rahmen über einem Schreibtiſch;
auf dieſem lag eine Schicht trefflicher Radierungen von
guten Niederländern friedlich neben einem Zuſammenſtoße
von Büchern, welche flüchtig zu beſehen Reinhart keinen
Anſtand nahm. Nicht eines that ein Haſchen nach un¬
nöthigen, nur Staat machenden Kenntniſſen kund; aber
auch nicht ein gewöhnliches ſogenanntes Frauenbuch war
darunter, dagegen manche gute Schrift aus verſchiedener
Zeit, die nicht gerade an der großen Leſerſtraße lag,
neben edeln Meiſterwerken auch ehrliche Dummheiten und
Sachlichkeiten, an denen dies Frauenweſen irgend welchen
Antheil nahm als Zeichen einer freien und großmüthigen
Seele.
Was ihm jedoch am meiſten auffiel, war eine beſondere
kleine Bücherſammlung, die auf einem Regale über dem
Tiſche nah zur Hand und von der Beſitzerin ſelbſt
[40] geſammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande
ſtand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des
Erwerbes geſchrieben. Dieſe Bände enthielten durchweg
die eigenen Lebensbeſchreibungen oder Briefſammlungen
vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die
Bücherreihe nur ging, ſo weit das Geſtelle nach der Länge
des Tiſches reichte, umfaßte ſie doch viele Jahrhunderte,
überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe
gegangenen Lebensmeiſter oder Leidensſchüler enthaltend.
Von den Blättern des heiligen Auguſtinus bis zu
Rouſſeau und Goethe fehlte keine der weſentlichen Be¬
kenntnißfibeln, und neben dem wilden und prahleriſchen
Benvenuto Cellini duckte ſich das fromme Jugendbüchlein
Jung Stillings. Arm in Arm rauſchten und kniſterten
die Frau von Sevigné und der jüngere Plinius einher,
hinterdrein wanderten die armen Schweizerburſchen Thomas
Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann im Toggen¬
burg, der eiſerne Götz ſchritt klirrend vorüber, mit ſtillem
Geiſterſchritt kam Dante, ſein Buch vom neuen Leben in
der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutheriſchen
Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä
rauchte und ſchwelte der dreißigjährige Krieg. Ihn bil¬
deten Noth und Leiden, hohe Gelahrtheit, Gottvertrauen
und der Fleiß der Widerſächer ſo trefflich durch und aus,
daß er zuletzt, auf der Höhe kirchlicher Aemter ſtehend,
ein nur in Latein würdig zu beſchreibendes Daſein gewann.
In ſeinem Hauſe verkehrten Herzoge, Prinzeſſinnen und
[41] Grafen; er mehrte und verzierte das gedeihlichſte Haus¬
weſen trotz der Bosheit, mit welcher eine neidiſche Ver¬
waltung ſtets ſeine Beſoldungen verkürzen wollte. Endlich
kaufte er ſogar zwei koſtbare Uhren, „die der Künſtler
Habrecht gemacht hatte“, und einen herrlichen ſilbernen
Pokal, welchen vordem der Kaiſer Maximilian der Zweite
ſeinem Großvater zum Gnadenzeichen geſchenkt und die
Ungunſt der Zeiten der Familie geraubt. Aber dem hoch¬
würdigen Prälaten erlaubt das Wohlergehen, das Ehren¬
denkmal wieder an ſich zu bringen und aufzurichten. Als
er zu ſterben kam, empfahl er ſeine Seele inmitten von
ſieben hochgelehrten, glaubensſtarken Geiſtlichen in die
Hände Gottes. Unlang vorher hatte er freilich den
letzten Abſchnitt ſeiner Selbſtbiographie mit den Worten
geſchloſſen: „Was ich übrigens durch die tückiſchen Füchſe,
meine treuloſen Gefährten, die Schlangenbrut, litt, wird
das Tagebuch des nächſten Jahres, ſo Gott will, erzählen.“
Gott ſchien es nicht gewollt zu haben.
Dieſe ergötzliche Wendung mußte der Beſitzerin des
Buches gefallen; denn ſie hatte neben die Stelle ein zier¬
liches Vergißmeinnicht an den Rand gemalt. Aus allen
Bänden ragten zahlreiche Papierſtreifchen und bewieſen,
daß jene fleißig geleſen wurden.
Auf einem andern Tiſche lagen in der That die Pläne
zu den Anlagen, in welchen Reinhart ſich verirrt hatte,
und andere neu angefangene.
Dieſe Pläne waren nicht etwa auf kleine ängſtliche
[42] Blätter ſondern mit feſter Hand auf große Bogen von
dickem Packpapier gezeichnet, und Reinhart wurde von
allem, was er ſah, zu einer unfreiwilligen Achtung und
Verwunderung gebracht. Noch mehr verwunderte er ſich,
als er in einer Fenſterecke noch einen kleineren Tiſch
gewahrte, wiederum mit Büchern und Schriften bedeckt,
nämlich mit Sprachlehren und Wörterbüchern und ge¬
ſchriebenen Heften, die mühſelig mit Vocabeln und Ueber¬
ſetzungsverſuchen angefüllt waren. Sie ſchien nicht nur
Altdeutſch und Altfranzöſiſch, ſondern auch Holländiſch,
Portugieſiſch und Spaniſch zu betreiben, Dinge, die
Reinhart nur zum kleineren Theile verſtand und auch da
mangelhaft; und die Sache berührte ihn um ſo ſeltſamer,
als es ſich in dieſer vornehmen Einſamkeit ſchwerlich um
den Gewerbefleiß eines ſogenannten Blauſtrumpfes handelte.
Wie er ſo mitten in dem Saale ſtand, beinah eifer¬
ſüchtig auf all' die ungewöhnlichen und im Grunde doch
anſpruchsloſen Studien, ungewiß, wie er ſich dazu ver¬
halten ſolle, trat Lucie herein und entſchuldigte ſich, daß
ſie ihn ſo lange allein gelaſſen. Sie habe ſeine Gegen¬
wart dem kranken Oheim gemeldet, der bedauere, ihn jetzt
nicht ſehen zu können, jedoch die Verſäumniß noch gut
zu machen hoffe. Als Reinhart die ſchön gereifte und
friſche Erſcheinung wieder erblickte, trat ihm unwillkürlich
die Frage, die ſein Inneres neugierig bewegte, auf die
Lippen, und er rief bedachtlos, indem er ſich im Saale
umſah: „Warum treiben Sie alle dieſe Dinge?“
Die Frage ſchien keineswegs ganz grundlos zu ſein,
obgleich ſie ihm keine Antwort eintrug. Vielmehr ſah
ihn das ſchöne Fräulein groß an und erröthete ſichtlich,
worauf ſie ihn mit etwas ſtrengerer Höflichkeit einlud, ſie
zu begleiten. Reinhart that es nicht ohne Verlegenheit
und ebenfalls mit einiger Röthe im Geſicht.
Siebentes Capitel.
Von einer thörichten Jungfrau.
Denn er fühlte jetzt, als er ſie am Arme dahin führte,
daß ſeine Frage eigentlich nichts anderes ſagen wollte, als:
Schönſte, weißt du nichts beſſeres zu thun? oder noch
deutlicher: Was haſt du erlebt? darum ſchritt das ſich
gegenſeitig unbekannte Paar in gleichmäßiger Verblüffung
nach dem Speiſezimmer, und Jedes wünſchte meilenweit
vom Andern entfernt zu ſein, wohl fühlend, daß ſie ſich
unvorſichtig in eine kritiſche Lage hinein geſcherzt hatten.
Doch verlor ſich die Verlegenheit, als ſie in das
bereits erleuchtete Zimmer traten, wo die zwei Mägde
mit dem Auftragen des Abendeſſens beſchäftigt waren.
Man ſetzte ſich zu Tiſch und die Mägde, nachdem ſie
ihren Dienſt vorläufig gethan, nahmen desgleichen Platz,
verſahen ſich ohne Weiteres mit Speiſe und aßen mit
Fleiß und gutem Anſtand.
„Sie ſehen,“ ſagte Lucia zu ihrem Gaſt, „wir leben
hier ganz patriarchaliſch, und hoffentlich werden Sie ſich
[45] durch die Gegenwart meiner braven Mädchen nicht beleidigt
fühlen!“
„Im Gegentheil,“ erwiderte Reinhart, „ſie trägt dazu
bei, meine Kur zu befördern !“
„Welche Kur?“ fragte Lucie, und er antwortete:
„Die Augenkur! Ich habe mir nämlich durch meine
Arbeit die Augen geſchwächt und nun in einem alten
ehrlichen Volksarzneibuche geleſen: kranke Augen ſind zu
ſtärken und geſunden durch fleißiges Anſchauen ſchöner
Weibsbilder, auch durch öfteres Ausſchütten und Betrachten
eines Beutels voll neuer Goldſtücke! Das letztere Mittel
dürfte kaum ſtark auf mich einwirken; das erſtere hingegen
ſcheint mir allen Ernſtes etwas für ſich zu haben; denn
ſchon ſchmerzt mich das Sehen faſt gar nicht mehr, wäh¬
rend ich noch heute früh es übel empfand!“
Dieſe Worte äußerte Reinhard durchaus ernſthaft und
eben ſo ehrlich, als jenes Heilmittel in dem alten Arznei¬
buche gemeint war. Indem er daher an nichts weniger
als an eine Schmeichelei dachte, war es umſomehr eine
ſolche und zwar eine ſo wirkſame, daß die Frauensleute
des Spottes vergaßen. Fräulein Lucie wurde auf‘s Neue
verlegen und wußte nicht, was ſie aus dem wunderlichen
Gaſte machen ſollte, und die Mägdlein beäugelten ihn
heimlich als eine kurzweilige und zuträgliche Abwechslung
in dieſem kloſterartigen Hauſe. In der That war es
ihm ſo wenig um grobe Schmeicheleien zu thun, daß er
das Geſagte ſchon bereute und, um es zu mildern und
[46] davon abzulenken, hinzufügte, er habe auch einen glück¬
lichen Tag gehabt und mancherlei Schönes geſehen. So
erzählte er auch von der hübſchen Wirthstochter in Wald¬
horn und fragte, welches Bewandtniß es mit dieſer eigen¬
thümlichen Perſon habe?
Zugleich jedoch berichtete er mit der unklugen Aufrichtig¬
keit, welche ihn ſeit ſeiner Ankunft plagte, den vollſtändigen
Hergang und die Beſchaffenheit ſeines Ausfluges, die
Entdeckung des weiſen Sinngedichtes, die Begegnung mit
der Zöllnerin und diejenige mit der Pfarrerstochter, ſowie
endlich mit der Waldhornstochter. Denn ſo lange er unter
den Augen ſeiner jetzigen Gaſtherrin ſaß oder ſtand, trieb
es ihn wie ein Zauber zur Offenherzigkeit, und wenn er
die ärgſten Teufeleien begangen, ſo würde ihm das Ge¬
ſtändniß derſelben über die Lippen geſprungen ſein.
Allein obgleich dieſe Wirkung Lucien nur zum Ruhme
gereichte, ſchien ſie ſich dennoch nicht geſchmeichelt zu fühlen.
Sich des Zettels erinnernd, den ihr Reinhart erſt ſtatt
des Briefes in die Hand gegeben hatte, röthete ſich ihr
Geſicht in anmuthigem Zorn, und plötzlich ſtand ſie auf
und ſagte mit verdächtigem Lächeln:
„So gedenken Sie wol Ihre eleganten Abenteuer in
dieſem Hauſe fortzuſetzen, und ſind nur in dieſer ſchmeichel¬
haften Abſicht gekommen?“
Worauf ſie anfing, ziemlich raſch im Gemach auf und
nieder zu gehen, während die zwei Mädchen, als erboſ'te
Schleppträgerinnen ihres Zornes, ebenfalls aufſprangen
[47] und ihr folgten, höhniſche Blicke nach dem unglücklich
Aufrichtigen ſchleudernd. Reinhart ſäumte nicht, ſich
gleichermaßen auf die Beine zu ſtellen, und nachdem er
mit Beſtürzung eine kleine Weile dem Spaziergange zu¬
geſehen, ſagte er:
„Mein Fräulein, wenn Sie es befehlen, ſo werde ich
ohne Verzug das Haus verlaſſen und mit höflichſtem
Danke auch für kurzen aber denkwürdigen Aufenthalt
augenblicklich meinen Weg fortſetzen!“
Ohne ſtill zu ſtehen erwiderte die Schöne:
„Es iſt zwar Nacht und kein Unterkommen für Sie
in der Nähe; aber dennoch geht es unter den bewußten
Umſtänden nicht an, daß Sie hier bleiben, in allem Frieden
ſei es geſagt! Auch kann die nächtliche Fahrt Ihrem unter¬
nehmendem Geiſte nur willkommen ſein, und überdies
werde ich Ihnen einen Wegleiter ſammt Laterne mit¬
geben.“
Demnach blieb ihm nichts anderes übrig, als ſich zu
entfernen; beſcheiden ging er der Dame entgegen, und im
Begriff, ſich ehrerbietig zu verbeugen, beſann er ſich aber
eines Beſſeren, richtete ſich auf und ſagte höflich:
„Ich überlege ſoeben, daß ich für Sie und für mich
am beſten thue, wenn ich mich doch nicht ſo ſchimpflich
hier fortjagen laſſe! Denn während ich durch mein Bleiben
meine eigene Würde bewahre, gebe ich Ihnen Gelegenheit,
auf die herrlichſte Weiſe Ihre weibliche Glorie zu behaupten.
Denn auch vorausgeſetzt, daß ich irgend einen ungehörigen,
[48] wenn auch harmloſen Scherz im Schilde geführt hätte,
ſo würde ich gewiß am empfindlichſten geſtraft, wenn ich
bei aller Freundſchaft ſo reſpektvoll werde abziehen müſſen,
wie ein junger Chorſchüler, und ohne im entfernteſten
jenen frechen Verſuch gewagt zu haben! Aber fern ſeien
von mir alle unbotmäßigen Gedanken! Doch von Ihnen,
meine gnädige Wirthin! eben ſo fern der bedenkliche
Schein, ſich mit offener Gewalt und Wegweiſung gegen
einen ungefährlichen Abenteurer ſchützen zu wollen!
Er bot ihr hiermit den Arm und führte ſie wieder
an ihren Platz, was ſie ruhig und ſchweigend geſchehen
ließ. Sie ſetzten ſich abermals gegenüber; dann reichte
ſie ihm die Hand über den Tiſch und ſagte:
„Sie haben Recht, machen wir Frieden! Und zum
Zeichen der Verſöhnung will ich Ihnen erzählen, was es
mit der Waldhornjungfrau für eine Bewandtniß hat. Vor¬
her aber liefern Sie mir als Beweis Ihrer redlichen
Geſinnung jenen ruchloſen Reimzettel aus, den Sie bei
ſich führen! Und Ihr Mädchen nehmt Euere Rädchen und
ſpinnt Eueren Abendſegen!“
Die Mädchen holten zwei leichte Spinnräder und
ſetzten ſich herzu; Reinhart ſuchte das Sinngedicht hervor
und gab es Lucien; dieſe zeigte den Zettel den Mädchen
und ſagte:
„Da ſeht, welche Thorheiten ein ernſthafter Gelehrter
in der Taſche trägt!“ worauf ſie das arme Papierchen
unter dem Gekicher der Mädchen an eine der Kerzen hielt,
[49] verbrannte und die Aſche in die Luft blies. Dann begann
ſie, während das ſanfte Schnurren der Spinnräder für
Reinharten eine ebenſo neue wie trauliche Begleitung
bildete, ihre Mittheilungen.
„Was nun die hübſche Wirthin vor dem Walde betrifft,“
ſagte ſie, „ſo iſt ſie allerdings eine eigenthümliche Er¬
ſcheinung. Schon als Kind zeichnete ſie ſich ſowol durch
Schönheit und friſches Weſen, als auch durch eine ganz
eigene Geſcheidtheit und Witzigkeit oder Zungenfertigkeit
aus, oder wie man es nennen will, und je mehr ſie heran¬
wuchs, deſto glänzender ſchienen dieſe äußern und innern
Eigenſchaften ſich auszubilden. Mit der äußern Schönheit
ſchien es nicht nur, ſondern war es auch wirklich der
Fall; denn ſo hübſch ſie auch jetzt noch ausſieht, ſo iſt
ſie für die, ſo ſie früher geſehen, doch beinahe nur noch
ein Abglanz im Vergleich zu dem, was ſie vor einigen
Jahren geweſen. Die innere Schöne oder vermeintliche
Weisheit des Mädchens dagegen erwies ſich als ein arger
Schein; ſie hat zwar jetzt noch ein ſo ſchlagfertiges Rede¬
werk, als es ſich nur wünſchen läßt, allein es ſteckt eitel
Thorheit und Finſterniß dahinter. Nicht nur wurde
ſie von den Eltern, welches roh gleichgültige Wirths- und
Landleute ſind, niemals dazu angehalten, etwas zu lernen
und in ihre Seele hineinzuthun, ſondern ſie empfand auch
ſelber nicht den kleinſten Antrieb und blieb zu rechten
Dingen ſo dumm, daß ſie kaum mühſelig ſchreiben
lernte, und man ſagt, daß ihr ſogar das Leſen ziemlich
Keller, Sinngedicht. 4[50] ſchwer falle. Aber auch in Hinſicht des natürlichen Ver¬
ſtandes, an irgend einem Verſtehen des Erheblichen und
Beſſeren im menſchlichen Leben fehlte es ihr ſo ſehr, daß
ſie als ein vollſtändiges Schaf in der dunkelſten Gemüths¬
lage verharrte, indeſſen ſie doch durch ihre Zungen¬
künſte in lächerlichen Dingen und durch eine große
Gewandtheit in Kindereien ſtets den Ruf eines durchtrieben
klugen Weſens behielt. Doch nur in zahlreicher Umgebung,
wo die Leute kamen und gingen und es auf kein Stich¬
halten auslief, bewährte ſich ihre Weisheit; ſobald ſie mit
einer halbwegs verſtändigen Perſon allein war, ſo dauerte
die Herrlichkeit keine Stunde und ſie gerieth auf's Trockene.
Da erklärte ſie dann die Leute für langweilige Einfalts¬
pinſel, mit denen nichts anzufangen ſei. Befand ſie ſich
aber mit Menſchen ihres eigenen Schlages allein, ſo ent¬
ſtand aus lauter Dummheit zwiſchen ihnen die troſtloſeſte
Stichelei und Zänkerei.
Dennoch hielt ſie ſich für einen Ausbund, ſtrebte von
jeher nach großen Dingen, worunter ſie natürlich vor
allem das Einfangen eines recht glänzenden jungen Herrn
verſtand. Da ſie aber, wie geſagt, nur im großen Haufen
ihre Stärke fand, ſo wollte es ihr nicht gelingen, ein
einzelnes Verhältniß abzuſondern und ordentlich auf ein
Spülchen zu wickeln.
Als meine Großeltern noch lebten, gab es zuweilen viel
junge Leute hier, die ſich nicht übel beluſtigten und die
Gegend unſicher machten. Vorzüglich gefielen ſich die
[51] Herren darin, in Verbindung mit den Bewohnern und
Gäſten umliegender Häuſer, das Waldhorn zum Sammel¬
platz auf Jagd- und Streifzügen zu wählen, dort Tage
und Nächte lang zu liegen und der ſchönen Wirthstochter
den Hof zu machen. Die wußte ſich denn auch unter
ihnen zu bewegen, daß es eine Art hatte und die Eltern
vor Bewunderung außer ſich geriethen.
Da war nun auch ein junger Städter oft bei uns, ein
hübſches aber durchaus unnützes Bürſchchen, das von ein
wenig Schule und Schliff abgeſehen beinah ſo thöricht
war, wie die Dame im Waldhorn. Reich, übermüthig
und ein ganz verzogenes Mutterſöhnchen, gab er, ſo leer
ſein Kopf an guten Dingen war, um ſo vorlauter in
allen Narrheiten den Ton an und war hauptſächlich im
Waldhorn der erſte und der letzte. Dies zu ſein, war
ihm auch Ehrenſache, und wenn er einen Streich nicht
angegeben hatte oder in den Zuſammenkünften nicht die
Hauptrolle ſpielte, ſo fragte er nichts darnach und that,
als ſähe er nichts, ſtatt mit zu lachen. Am meiſten machte
er ſich mit der Salome zu ſchaffen, belagerte ſie unauf¬
hörlich, behauptete, ſie ſei in ihn verliebt und er wolle
ſich beſinnen, ob er um ſie anhalten wolle, was ſelbſt¬
verſtändlich alles nur Scherz ſein ſollte. Sie widerſprach
ihm eben ſo unaufhörlich mit ſpitzigen Spottreden, die
mehr grob als launig ausfielen, verſicherte, ſie könne ihn
nicht ausſtehen, und war inzwiſchen begierig, wie ſie ihn
an ſich feſtbinden werde, woran ſie nicht zweifelte; denn
4*[52] ſie wünſchte keinen herrlicheren Mann zu bekommen. Allein
es wollte ſich lange nicht fügen, daß die geringſte ernſt¬
hafte Beziehung ſich bildete; der Meiſter Drogo (wie ihn
ſeine Eltern närriſcher Weiſe hatten taufen laſſen) trieb
immer nur Komödie, und ſie desgleichen, da ſie nichts
anderes anzufangen wußte, bis ſeine eigene Narrheit ihr
plötzlich zu einem verzweifelten Einfall verhalf.
Im Garten hinter dem Hauſe gab es eine dichte Laube,
die außerdem noch von Gebüſchen umgeben war. Dorthin
verlockte Drogo eines Abends, als ſchon die Sterne am
Himmel glänzten, die muthwillige Geſellſchaft, indem er
ſich ſtellte, als ob er vorſichtig der Salome nachſchliche
und eine geheime Zuſammenkunft mit ihr in's Werk ſetzte.
Er glaubte, ſie ſei ſchmollend ſchlafen gegangen, da ſie
ſich den ganzen Abend derb geneckt hatten, und wußte es
nun ſo gut zu machen, daß die Leute wirklich getäuſcht
wurden und meinten, er wolle ſich unbemerkt nach der
Laube hinſtehlen. Sie winkten einander liſtig und ſchlichen
ihm eben ſo pfiffig nach, als er voranhuſchte, und als er
in die dunkle Laube ſchlüpfte, umringten ſie ſachte das
grüne Gezelt, um das Liebespaar zu belauſchen und zu
überfallen; denn es Pflegte eben nicht ſehr zartſinnig zu¬
zugehen.
Als Junker Drogo nun drinn ſaß und merkte, daß
die Lauſcher ſich nach Wunſch aufgeſtellt hatten, begann
er, dieſelben zu äffen und neidiſch zu machen, indem er
ein trauliches Geflüſter nachahmte, wie wenn zwei Liebende
[53] heimlich zuſammen wären; er nannte wiederholt ihren
Namen mit ſeiner eigenen halblauten Stimme, und dann
den ſeinigen mit verſtelltem Liſpeln; die ſüßeſten Wörtchen
ertönten, Seufzer, und endlich fiel ein deutlicher Kuß,
welchem bald ein zweiter folgte, dann mehrere, die ſich
zuletzt in einen förmlichen Küſſeregen verloren, von zärt¬
lichen Worten unterbrochen, ſo daß die Lauſcher ſich
anſtießen, vor Kichern erſticken wollten und dann wieder
aufmerkſam horchten, wie die Sperber.
Nun ſaß der gute Herr Drogo mit ſeinen Poſſen
keineswegs allein in der Laube; vielmehr ſaß niemand
anders, als die Salome, auch darin, in eine Ecke gedrückt.
Sie war nämlich nicht zu Bett, ſondern hieher gegangen,
um ſich ein wenig zu grämen, da die dämliche Unbeſtimmt¬
heit ihres Schickſals ſie doch zu quälen begann, und ſie
weinte ſogar ganz gelinde, eben als der Poſſenreißer an¬
kam. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, und ſaß
bewegungslos im Winkel, um ſich nicht zu verrathen.
Als jedoch die Komödie anfing, errieth ſie bald ihren
Widerſacher und hörte auch gar wohl die Uebrigen heran¬
ſchleichen; kurz, da es ſich um eine Nichtsnutzigkeit han¬
delte, vermerkte ſie endlich den Sinn des ganzen Auftrittes,
während ſie etwas Ernſthaftes nicht errathen hätte, und
ſie verfiel ſtracks auf den Gedanken, den Spötter in ſeinem
eigenen Garne zu fangen, jetzt oder nie!
Als er am eifrigſten dabei war, mit vieler Kunſt in
die Luft zu küſſen, als ob er die rothen Lippen der
[54] Salome küßte, fühlte er ſich unverſehens von zwei Armen
umfangen, und ſeine Küſſe begegneten denjenigen eines
leibhaftigen Mundes. Erſchreckt hielt er inne und wollte
aufſpringen; allein Salome ließ ihn nicht, ſondern erſtickte
ihn faſt mit Küſſen und rief laut: Sieh, Liebſter, ſo viel
Küſſe ich dir jetzt gebe, ſo viel Blitze ſollen dich treffen,
wenn du mir nicht treu bleibſt!
Zugleich brach jetzt das lauſchende Volk los, bereit
gehaltene Lichter wurden raſch angezündet und damit in
die Laube geleuchtet, und unter rauſchendem Gelächter
und lauten Glückwünſchen wurde das Paar entdeckt und
umringt. Aber auch die Eltern des Mädchens kamen
herbei, ein aus dem mehrjährigen Militärdienſt heim¬
gekehrter Bruder, der nicht heiter ausſah, Ackerknechte und
ländliche Gäſte, die noch in der Wirthsſtube geſeſſen.
Dieſe alle machten jetzt unheimliche Geſichter; das Pärchen
wurde an der Spitze der ganzen Schaar in das Haus
begleitet, wo die Eltern Erklärung verlangten. Salome
weinte wieder und ihr war ſehr bang; Drogo wollte ſich
ſachte aus der Verlegenheit ziehen und ſich abſeits drücken,
ſeine Freunde ſelbſt jedoch verlegten ihm den Weg und
mochten ihm aus Neid und Schadenfreude ſein Schickſal
gönnen; ſie beredeten ihn ebenſo ernſthaft, wie die Ver¬
wandten des Mädchens, ſich zu erklären, während dieſes,
wie gebändigt, hold und traurig da ſaß und der junge
Menſch noch das friſche Gefühl ihrer Liebkoſungen em¬
[55] pfand. So verlobte er ſich denn feierlich mit ihr und
verſprach ihr vor allen Zeugen die Ehe.
Es fiel ihm nun nicht ſchwer, die Zuſtimmung der
Seinigen zu erlangen, die von jeher thun mußten, was
ihm beliebte, und ſo wurde dieſe Mißheirath, die eigent¬
lich nur äußerlich eine ſolche war, allſeitig beſchloſſen.
Aber, o Himmel! es wäre zehnmal beſſer geweſen, wenn
es innerlich eine ſolche und die beiden Brautleute ſich
nicht vollkommen gleich an Narrheit geweſen wären! Die
Braut wurde jetzt modiſch gekleidet und ein halbes Jahr
vor der Hochzeit in die Stadt gebracht, wo ſie die ſo¬
genannte feinere Sitte und die Führung eines Hausweſens
von gutem Ton erlernen ſollte. Damit war ſie aber auf
ein Meer gefahren, auf welchem ſie das Steuer ihres
Schiffleins aus der Hand verlor. Eine ihren künftigen
Schwiegereltern befreundete Familie nahm ſie aus Ge¬
fälligkeit bei ſich auf. Dieſe Leute lebten in großer Ruhe
und voll Anſtand und machten nicht viel Worte; ſchnelle,
unbedachte Reden und Antworten waren da nicht beliebt,
ſondern es mußte alles, was geſagt wurde, gediegen und
wohlbegründet erſcheinen; im Stillen aber wurden nicht
liebevolle Urtheile ziemlich ſchnell flüſſig. Salome wollte
es im Anfang recht gut machen; da ſie aber einen durch¬
aus unbeweglichen Verſtand beſaß, ſo gerieth die Sache
nicht gut. Ihre Gebarungen und Manieren, welche ſich
in der freien Luft und im Wirthshauſe hübſch genug
ausgenommen, waren in den Stadthäuſern viel zu breit
[56] und zu hart, und ihre Witze wurden urplötzlich ſtumpf
und ungeſchickt. Sie patſchte herum, wollte nach ihrer
Gewohnheit immer ſprechen und wußte es doch nicht an¬
zubringen; bald war ſie demüthig und höflich, bald warf
ſie ſich auf und wollte ſich nichts vergeben, genug, ſie
arbeitete ſich ſo tief als möglich in das Ungeſchick hinein
und wurde von den feinen Leuten, die ſie von vornherein
ſcheel angeſehen hatten, unter der Hand nur das Kameel
genannt, welcher Titel ſich behende verbreitete und beſonders
in den Häuſern beliebt wurde, wo man für die Töchter
auf ihren Verlobten gerechnet hatte. Denn obgleich der
auch kein Kirchenlicht vorſtellte, ſo war er im bewußten
Punkte doch ein unentbehrlicher Gegenſtand, den man nur
mit Verdruß durch die Bauerntochter aus der Berechnung
gezogen ſah. Die weibliche Geſellſchaft verſäumte nicht,
die Mißachtung ſichtbar zu machen, in welche die Arme
gerieth, und ſorgte dafür, daß der Ehrentitel dem Bräutigam
zeitig zu Gehör kam, während ſie gegen dieſen ſelbſt ein
zartgefühltes, ſchonendes Bedauern heuchelte, wie wenn er
als das edelſte Kleinod der Welt auf ſchreckliche Weiſe
einer Unwürdigen zum Opfer gefallen wäre. Selbſt die
Herren, welche der Salome auf dem Lande ſchön gethan
und nicht verſchmäht hatten, ihr Tage lang den Hof zu
machen, wollten ſich jetzt nicht bloß ſtellen und ließen ſie
ſchmählich im Stich.
So kam es dazu, daß der Bräutigam, wenn die Braut
nicht gegenwärtig war, ſich für einen armen unglücklichen
[57] Tropf hielt, der ſein Lebensglück leichtſinnig vernichtet
habe, und er bedauerte ſich ſelbſt; ſo bald ſie ſich aber
ſehen ließ, ſchlug ihre Schönheit ſolche Gedanken aus dem
Felde, da er mit ſeinem leeren Kopfe nur dem Augenblick
lebte. Salome aber, die ſich überall verkauft und ver¬
rathen ſah und nichts Gutes ahnte, ſuchte ſich um ſo
ängſtlicher an die Hauptſache, nämlich an den Bräutigam
zu halten und ihn mit vermehrten Liebkoſungen zu feſſeln;
denn ſie hatte keine andere Münze mehr auszugeben, und
ſobald ſie aufhörten, ſich zu ſchnäbeln, ſtand die Unter¬
haltung ſtill zwiſchen dieſen Leutchen, die ſonſt ſo rüſtig
an der Spitze geſtanden hatten.
Salome verſpürte keine Ahnung, daß die Beſchaffen¬
heit ihres Geiſtes, ihrer Klugheit in Frage geſtellt war;
ſie ſchrieb den obwaltenden Unſtern einzig ihrer ländlichen
Herkunft und dem übeln Willen der Städter zu. Sie
hüllte ſich daher in ihr Bewußtſein, dachte, wenn ſie nur
erſt Frau wäre, ſo wollte ſie ihre Trümpfe ſchon wieder
ausſpielen, und hielt ſich inzwiſchen an den Liebſten, um
ſeiner Neigung ſicher zu bleiben.
Da ſaßen ſie nun eines ſchönen Nachmittags auch auf
einem ſeidenen Sopha oder Divan, Salome in einem
kirſchrothen Seidenkleide, das ſie ſelbſt gekauft, mit dicken
goldenen Armſpangen, die ihr Drogo geſchenkt, und in
echten Spitzen, die von ihrer Schwiegermutter herrührten,
Drogo aber im neueſten Aufputz eines Modeherren. Der¬
geſtalt hielten ſie ſich umfangen und gaben ſo dem Anſehen
[58] nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön
und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute,
denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten
Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie
zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich
im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem
Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder,
gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte
ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die
Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬
ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie
ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden
da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem
troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer
oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten
Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬
ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬
ſtehen.
Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie,
daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie
ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint
außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem
unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬
dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt
bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde
auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel!
Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“
Salome wollte ihn küſſen; allein er hielt ſie ab und
ſagte: „Laß doch, und ſage lieber etwas Feines!“
Da wurde die Abgewieſene von Röthe übergoſſen; ſie
ſprach aber ſchnell: „Wie man in den Wald ruft, ſo tönt
es heraus! Sag' mir etwas Feines vor, ſo werde ich
antworten!“
„Ach, die Kameele ſprechen nicht!“ erwiderte Drogo
unbeſonnen mit einem Seufzer. Da wurde ſie bleich,
lehnte ſich zurück und ſagte: „Wer iſt ein Kameel,
mein Schatz?“
„O Liebchen,“ ſagte er, „die ganze Stadt nennt
Dich ſo!“
„Und Du hältſt mich alſo auch für eines?“ fragte
ſie, und er antwortete, indem er ſie wieder an ſich ziehen
wollte: „Sicherlich, und zwar für das reizendſte, das ich
je geſehen!“
Da fühlte ſich Salome von dem ſchärfſten Pfeil
getroffen, den es für ſie geben konnte: denn ſie hielt
ihre vermeintliche Klugheit für ihre eigentliche Ehre, für
ihr Palladium und ihre Hauptſache. Aber das war gut
für ſie, weil ſie dadurch eine Wehr und einen Halt
gewann, ſich vom Verderben rettete und ihre Schwäche
gut machte.
Ohne ein ferneres Wort zu ſagen, riß ſie ſich los,
löſte die Spangen von den Knöcheln, die Spitzen vom
Halſe, warf ſie dem herzloſen Bräutigam vor die Füße
[60] und augenblicklich lief ſie aus dem Hauſe, ſpuckte wie ein
Bauer auf die Schwelle deſſelben und lief, wie ſie war,
ohne Hut und Handſchuhe, aus der Stadt. Vor dem
Thor erſt brach ſie in Thränen aus, und in einemfort
weinend und ſchluchzend wanderte und eilte ſie, mit dem
ſeidenen Prachtkleide die Augen trocknend (denn ſogar ein
Taſchentuch hatte ſie nicht an ſich genommen) durch Feld
und Forſt, bis ſie tief in der Nacht im elterlichen Hauſe
anlangte, mehr einer entſprungenen Zigeunerin ähnlich,
als einer Braut. Sie gab den beſtürzten Verwandten
keine Antwort, ſondern verſchloß ſich in ihre Kammer.
Darin blieb ſie mehrere Tage und erſchien, als ſie wieder
hervortrat, in der alten Landtracht. Wo ſie jenes rothe
Seidenkleid hingebracht, hat man nie erfahren. Einige
ſagen, ſie habe es verbrannt, Andere, es ſei vergraben
worden, wieder Andere, ſie habe es einem Juden ver¬
kauft.
Als ſie eine Zeitlang zu Haus geblieben, ſchickte ihr
die Stadtfamilie, bei der ſie gewohnt, ihre Sachen zu
ohne jegliche Nachricht oder Anfrage, und noch fernere
Zeit verging, ohne daß der Bräutigam oder ſonſt Jemand
nach ihr fragte. Die Ihrigen wollten einen Rechtshandel
mit dem Junker Drogo anheben; doch ſie verwehrte es
zornig, und ſo iſt die Brautſchaft der ſchönen Salome in
Nichts verlaufen und die Jungfrau noch vorhanden, wie
Sie dieſelbe geſehen haben, theilweiſe etwas klüger und
beſſer geworden, als früher, theilweiſe noch thörichter.
[61] Ihre Lieblingslaune iſt, die Männer zu verachten und
mit ſolchen zu ſpielen, wie ſie wähnt, während ſie ihre
Geſellſchaft doch allem Andern vorzieht. Aber ich glaube
nicht, daß ſie nochmals zu einer Verlobung zu bringen
wäre.“
Achtes Capitel.
Regine.
Als Lucia ſchwieg, wußte Reinhart nicht ſogleich
Etwas zu ſagen, da eine gewiſſe Nachdenklichkeit ihn zu¬
nächſt befangen und verlegen machte. Des Fräuleins
ausführliche und etwas ſcharfe Beredtſamkeit über die
Schwächen einer Nachbarin und Genoſſin ihres Ge¬
ſchlechtes hatte ihn anfänglich befremdet und ein faſt
unweiblich kritiſches Weſen befürchten laſſen. Indem er
ſich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher
geſehen, glaubte er in dieſer Art mehr die Gewohnheit zu
erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die
Schickſale zu verſtehen und Jegliches bei ſeinem Namen
zu nennen. Bedachte er dazu die Einſamkeit der Er¬
zählerin, ſo wollte ihn von Neuem die neugierige und
warme Theilnahme ergreifen, die ihn ſchon zu einer un¬
zeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von
dem thörichten Küſſen und Koſen in ſo überlegen heiterer
Weiſe und mit einem Anfluge verächtlichen Spottes erzählte,
war er geneigt, das als eine ſtrafende Anſpielung auf
[63] die Thorheit zu empfinden, mit der er ſelbſt heute aus¬
gezogen war. Solchen Angriff von ſich abzuwehren, ſchritt
er zum Widerſpruche und ſogar zu einer Art Schutzrede
für die verunglückte Salome, indem er begann:
„Die ſtolze Reſignation, zu welcher ſie ſo unerwartet
gelangte, ſcheint mir faſt zu beweiſen, daß auch Vorzüge,
die nur in der Einbildung vorhanden ſind, wenn ſie
beleidigt oder in Frage geſtellt werden, die gleiche Wir¬
kung zu thun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugen¬
den, ſo daß z. B. die Thorheit, wenn ihre eingebildete
Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber
zuletzt wahrhaft weiſe und zurückhaltend werden kann.
Uebrigens iſt es doch ſchade, daß die arme Schöne nicht
einen Mann hat!“
„Sie iſt nun zwiſchen Stuhl und Bank gefallen,“
erwiderte Lucia; „denn mit den Herren war es nichts
und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch
hätte ſie einen Mann ihres Standes ſogar noch beglücken
können, der bei gleichen Geiſteskräften und täglicher harter
Arbeit ihrer Unklugheit nicht ſo inne geworden wäre und
vielleicht ein köſtliches Kleinod in ihr gefunden hätte.“
„Gewiß,“ ſagte Reinhart, „mußte es irgend einen
Mann für ſie geben, dem ſie ſelbſt mit ihren Fehlern
werth war; doch ſcheint mir die Gleichheit des Standes
und des Geiſtes nicht gerade das Unentbehrlichſte zu ſein.
Eher glaube ich, daß ein derartiges Weſen ſich noch am
vortheilhafteſten in der Nähe eines ihm wirklich über¬
[64] legenen und verſtändigen Mannes befinden würde, ja
ſogar, daß ein ſolcher bei gehöriger Muße ſeine Freude
daran finden könnte, mit Geduld und Geſchicklichkeit das
Reis einer ſo ſchönen Rebe an den Stab zu binden und
gerade zu ziehen.“
„Edler Gärtner!“ ließ ſich hier Lucia vernehmen;
„aber die Schönheit geben Sie alſo nicht ſo leicht Preis,
wie den Verſtand?“
„Die Schönheit?“ ſagte er; „das iſt nicht das rich¬
tige Wort, das hier zu brauchen iſt. Was ich als die
erſte und letzte Hauptſache in den bewußten Angelegen¬
heiten betrachte, iſt ein gründliches perſönliches Wohl¬
gefallen, nämlich daß das Geſicht des Einen dem Andern
ausnehmend gut gefalle. Findet dies Phänomen ſtatt, ſo
kann man Berge verſetzen und jedes Verhältniß wird da¬
durch möglich gemacht.“
„Dieſe Entdeckung,“ verſetzte Lucia, „ſcheint nicht übel,
aber nicht ganz neu zu ſein und ungefähr zu beſagen,
daß ein wenig Verliebtheit beim Abſchluß eines Ehe¬
bündniſſes nicht gerade etwas ſchade!“
Durch dieſen Spott wurde Reinhart von Neuem zur
Unbotmäßigkeit aufgeſtachelt, ſo daß er fortfuhr: „Ihre
Muthmaßung iſt ſogar richtiger, als Sie im Augenblick
zu ahnen belieben; dennoch erreicht ſie nicht ganz die
Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft
das einſeitige Wirken der Einbildungskraft, irgend eine
Täuſchung, ja es ſind ſchon Leute verliebt geweſen, ohne
[65] den Gegenſtand der Neigung geſehen zu haben. Was ich
hingegen meine, muß gerade geſehen und kann nicht durch
die Einbildungskraft verſchönert werden, ſondern muß
dieſelbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es
ſchon Jahre lang täglich und ſtündlich geſehen haben, ſo
ſoll es bei jedem Anblick wieder neu erſcheinen, kurz, das
Geſicht iſt das Aushängeſchild des körperlichen wie des
geiſtigen Menſchen; es kann auf die Länge doch nicht
trügen, wird ſchließlich immer wieder gefallen und, wenn
auch mit Sturm und Noth, ein Paar zuſammen halten.“
„Ich kann mir nicht helfen,“ ſagte Lucie abermals,
„aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demſelben
Fleck herumdrehen!“
„So wollen wir aus dem Kreiſe hinausſpringen und
der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es
denn nicht jederzeit geſcheidte, hübſche und dabei anſpruchs¬
volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem
Manne verbunden waren, der von dieſen Vorzügen nur
das Gegentheil aufweiſen konnte, und haben nicht ſolche
Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit ſolchen Männern
gelebt und ſich vor der Welt ſogar einen Ruhm daraus
gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein
den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte
und ihre Anhänglichkeit nährte, ſo war dieſe doch eine
Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann
ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer ſtehen ſollen, als
die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein kluger
Keller, Sinngedicht. 5[66] und wahrhaft gebildeter Mann kann erſt recht ein Weib
heirathen und ihr gut ſein, ohne zu ſehen, wo ſie her¬
kommt und was ſie iſt; das Gebiet ſeiner Wahl umfaßt
alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und
Einrichtungen, nur über Eines kann er nicht hinaus¬
kommen, ohne zu fehlen: das Geſicht muß ihm gefallen
und hernach abermals gefallen. Dann aber iſt er der
Sache Meiſter und er kann aus ihr machen, was er will!“
„Dem Anſcheine nach haben Sie immer noch nichts
Außerordentliches geſagt,“ verſetzte Lucia; „doch fange ich
an zu merken, daß es ſich um gewiſſe kennerhafte Sachlich¬
keiten handelt; das gefallende Geſicht wird zum Merkmal
des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die
Veredlungsfähigkeit der Waare prüft, oder iſt's nicht ſo?“
„Ein Gran dieſer böswilligen Auslegung könnte mit
der Wahrheit in gehöriger Entfernung zuſammentreffen;
und was kann es dem einen und dem andern Theile
ſchaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um ſo
längere Dauer verſpricht?“
„Die Dauer des glatten Geſichtes, das der Herr
Kenner ſich ſo vorſichtig gewählt hat?“
„Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grauſame
Gebieterin und Gaſtherrin! Von Vorſicht iſt ja von
vornherein keine Rede in dieſen Dingen.“
„Ich glaub' es in der That auch nicht, zumal wenn
Sie, wie zu erwarten ſteht, ſich eine Magd aus der Küche
holen werden.“
„Was mir beſchieden iſt, weiß ich nicht; ich geharre
demüthig meines Schickſals. Doch habe ich den Fall
erlebt, daß ein angeſehener und ſehr gebildeter junger
Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und
ſo lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis ſie richtig zur
ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erſt das Unheil
eintraf.“
„Der würde ja gerade gegen Ihre orientaliſchen An¬
ſchauungen zeugen!“
„Es ſcheint allerdings ſo, iſt aber doch nicht der Fall,
abgeſehen von dem abſcheulichen Titel, mit dem Sie meine
harmloſe Philoſophie bezeichnen!“
„Und iſt Ihre Geſchichte ein Geheimniß, oder darf
man dieſelbe vernehmen?“
„So gut ich es vermag, will ich ſie gern aus der
Erinnerung zuſammenleſen mit allen Umſtänden, die mir
noch gegenwärtig ſind, wobei ich Sie bitten muß, das
Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten ſelbſt inne¬
wohnt, wenn ſie wiedererzählt werden, mit gläubiger
Nachſicht zu beurtheilen!“
Da die zwei ſpinnenden Mädchen die Räder anhielten
und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬
teten, ſagte Lucia zu ihnen: „Fahrt nur fort zu ſpinnen,
Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬
lockt und unterſtützt, den Faden ſeiner Erzählung um ſo
weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die ſich
5*[68] ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu
meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis
in die Küchen ſpannen!“
Reinhart begann ſomit, da die Rädchen wieder ſurrten,
Folgendes zu erzählen:
„In Boſton lebt eine Familie deutſcher Abkunft, deren
Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nord¬
amerika ausgewandert ſind. Die Nachkommen bilden ein
altangeſehenes Haus, wie wenige in der ewigen Fluth der
Bewegung ſich erhalten; und ſelbſt das Haus im wirk¬
lichen Sinne, Wohnung und Geräthe, ſollen bereits einen
Anſtrich alt vornehmen Herkommens ausweiſen, inſofern
während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt
erwachſen kann. Die deutſche Sprache erloſch niemals
unter den Hausgenoſſen; insbeſondere einer der letzten
Söhne, Erwin Altenauer, hing ſo warm an allen geiſtigen
Ueberlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er
dem Verlangen nicht widerſtand, das Urland ſelbſt wieder
kennen zu lernen, und zwar um die Zeit, da er ſich ſchon
dem dreißigſten Lebensjahre näherte.
Er entſchloß ſich alſo, nach der alten Welt und
Deutſchland auf längere Zeit herüber zu kommen; weil
er aber, bei einigem Selbſtbewußtſein, ſich in beſtimmter
Geſtalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen
wünſchte, bewarb er ſich in Waſhington um die erſte
Sekretärſtelle bei einer Geſandtſchaft, deren Sitz in einer
[69] der größeren Hauptſtädte war. Mit nicht geringer Er¬
wartung ſegelte er anher, vorzüglich auch auf das ſchönere
Geſchlecht in den deutſchen Bundesſtaaten begierig; denn
wenn wir germaniſchen Männer uns mit Eifer den Ruf
ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, ſo verſahen wir
wiederum unſere Frauen mit dem Ruhm einer merk¬
würdigen Gemüthstiefe und reicher Herzensbildung, was
in der Ferne gar lieblich und Sehnſucht erweckend funkelt
gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem
Glanze dieſes Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies
von ſeinen Verwandten ſcherzweiſe ermahnt worden, eine
recht ſinnige und muſtergültige deutſche Frauengeſtalt über
den Ocean zurückzubringen.
Er fühlte ſich auch bald ſo heimiſch, wie wenn ſein
Vater ſchon ein Jenenſer Student geweſen wäre; doch
begab ſich das nur in der Männerwelt, und ſobald die
Geſellſchaft ſich aus beiden Geſchlechtern miſchte, haperte
das Ding, Sei es nun, daß, wie in ſonſt geſegneten
Weinbergen es gewiſſe Schattenſtellen giebt, wo die
Trauben nicht ganz ſo ſüß werden wie an der Sonnen¬
ſeite, er in eine etwas ungünſtige Gegend gerathen war,
oder ſei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die
rechte Traubenkenntniß mitgebracht, genug, es ſchienen
ihm zuſammengeſetzte Gebräuche zu walten, die zu ent¬
wirren er ſich nicht ermuntert fand. Erwin ſowol wie
die übrigen Geſandtſchaftsmitglieder waren von einfachen
Sitten, klar und beſtimmt in ihren Worten und ohne
[70] Umſchweife. Sie ſtellten noch die ältere echte Art
amerikaniſchen Weſens dar und gingen den geraden Weg,
ohne um die hundert kleinen Hinterhalte und Abſichtlich¬
keiten ſich zu kümmern oder ſie auch nur zu bemerken;
ſie ließen es bei Ja und Nein bewenden und ſagten nicht
gern eine Sache zweimal.
Nun erſtaunte Erwin, von dieſer oder jener Schönen
dann ſich plötzlich den Rücken zugewendet zu ſehen, wenn
er auf eine Frage oder Behauptung nach ſeinem beſten
Wiſſen ein einfaches Ja oder Nein erwidert hatte; noch
weniger konnte er ſich erklären, warum eine Andere das
ſelbſt begonnene Geſpräch nach zwei Minuten abbrach, in
dem Augenblicke, wo er demſelben durch eine ehrliche
Einwendung feſteren Halt gab; unbegreiflich erſchien ihm
eine Dritte, die wiederholt ſeine Vorſtellung verlangt,
ihn dann nach dem Klima ſeiner Heimat befragt und
ohne die Antwort abzuwarten, mit Andern ein neues
Geſpräch eröffnete. Dieſe Schneidigkeit war allerdings
mehr nur der Mantel für innere Unfreiheit, wie die
Zurückhaltung überhaupt, mit welcher er mit ſeinen Ge¬
fährten behandelt wurde, wo er hinkam, während ſie
gelegentlich entdeckten, daß in ihrer Abweſenheit das
breiteſte Studium ihrer Perſonen ſtattfand. Wenn in
dieſen Gärten auch hie und da eine Pflanze blühte, die
unbefangener und freundlicher dreinſchaute, ſo war auch
dieſe überwacht und ſie hütete ſich ängſtlich, nicht durch
die Hecke zu wachſen.
[71]
Erwin gab es daher auf, ein Meer von Putz zu
befahren, in welchem ſo wenig perſönliche Geſtaltung
auftauchen wollte, und um ſich von den beſtandenen
Fährlichkeiten zu erholen, machte er längere Ausflüge. Er
hielt ſich bald in einer der ſchön gelegenen Univerſitäts¬
ſtädte auf, um zugleich die berühmteſten Gelehrten kennen
zu lernen und einige gute Studien mitzunehmen; bald
machte er ſich mit den Orten bekannt, wo vorzüglich die
Kunſt ihre Pflege fand, und ſchulte Sinn und Gemüth
an dem feſtlichen Weſen der Künſtler. Auf allen dieſen
Fahrten ſah er ſich in eine veredelte bürgerliche Welt
verſetzt, welche, die beſſeren Güter des Lebens wahrend,
ſich dieſes Lebens mit ungeheucheltem Ernſt erfreute. Hier
wurden die Kenntniſſe und Fähigkeiten mit Fleiß und
Ehren geübt, ſchwärmten und glühten die Frauen wirklich
für das, was ſie für ſchön und gut hielten, pflegte jedes
Mädchen ſeine Lieblingsneigung und baute dem Ideal
ſein eigenes Kapellchen; und weit entfernt, ein aufrichtiges
Geſpräch darüber zu haſſen, wurden ſie nicht müde vom
Guten und Rechten zu hören. Dazu brachte der Wechſel
der Jahreszeiten mannigfache Feſtfreuden, die bei aller
Einfachheit von altpoetiſchem Zauber belebt waren. Die
ſchönen Flußthäler, Berghöhen, Waldlandſchaften wurden
als traute Heimat mit dankbarer Zufriedenheit genoſſen,
wobei ſich die Frauen Tage lang in freier Luft und
guter Laune bewegten; der Waldduft ſchien ihnen von
den Urmüttern her noch wohl zu behagen, und ſelbſt die
[72] Beſcheidenſte ſcheute ſich nicht, einen grünen Kranz zu
winden und ſich auf's Haupt zu ſetzen.
Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich beſſer.
Das nähert ſich, dachte er, ſchon eher den Meinungen,
die ich herübergebracht habe; es iſt nicht möglich, daß
dieſe frohherzigen, ſinnigen Weſen inwendig ſchnöd und
philiſterhaft beſchaffen ſeien! Auch gerieth er zweimal
dicht an den Rand eines Verhältniſſes, wie man gemein
zu ſagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte ſich auch hier
eine Art von Kehrſeite. Es herrſchte nämlich durch einen
eigenen Unſtern, wo er hinkam, eine ſolche Oeffentlichkeit
und gemeinſchaftliche Beaufſichtigung in dieſen Dingen,
daß es unmöglich war, auch nur die erſten Regungen
und Blicke ohne allgemeines Mitwiſſen auszutauſchen,
geſchweige denn zu einem Bekenntniſſe zu gelangen, wel¬
ches zuerſt das ſüße Geheimniß eines Pärchens geweſen
wäre. Man ſchien nur in großen Geſellſchaften zu lieben
und zu freien und durch die Menge der Zuſchauer dazu
aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehr¬
mals mit dem gleichen Mädchen geſprochen, wurde das
Verhältniß feſtgeſtellt und zur öffentlichen Verlebung
gewaltſam in Beſchlag genommen. Dieſe Art war aber
für Erwin wie ein Gift. Was nach ſeinem Gefühle das
geheime Uebereinkommen zweier Herzen ſein mußte, das
ſollte gleich im Beginn der allgemeinen Theilnahme zur
Verfügung geſtellt und das Hausrecht des Herzens, der
früheſte Goldblick des Liebesfrühlings dahin gegeben ſein.
[73] So wurde er ſchon vor dem erſten Capitel ſeiner Romane
zurückgeſchreckt und trug nichts davon, als den Verdruß
einiger Klatſchereien. Das beweiſt freilich, daß er eine
ordentliche Leidenſchaft nicht erfahren hatte; ſonſt hätte
er ſich durch ſolche Schwächen, die dem braven Bürger¬
thum hie und da ankleben, nicht vertreiben laſſen. Nichts
deſto minder empfand er Verdruß und ſetzte ſich, Alles
aus dem Sinn ſchlagend, im ausſchließlichen Umgange
mit Männern feſt, die ſich auf einander angewieſen ſahen.
Um dieſe Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her ſein,
ſah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimat¬
ſtadt, wenn man den Sitz einer Hochſchule ſo nennen
darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden iſt,
ſich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbanquiers
geheirathet hat. Ich ſelbſt war kaum zwanzig Jahre
alt, obgleich ſchon ſeit zwei Jahren Student, ſo daß ich
die Geſellſchaft des Deutſch-Amerikaners im Hauſe meiner
Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein
nicht kleiner feſter Mann mit einem blonden Kopf und
trug nur neue Hüte, aber ſtets ſo, als ob es alte Hüte
wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in
unſerer Stadt zubringen, um namentlich eine gewiſſe
Partie älterer Geſchichte anzuhören, die ein berühmter
Hiſtoriker vortrug, und unter deſſen Aufſicht die Urkunden
zu ſtudieren.
In einem ſtattlichen Hauſe, das indeſſen nur zwei
Familien bewohnten, hatte er bei der einen derſelben
[74] einige Zimmer gemiethet, in denen er nicht ermangelte,
von Zeit zu Zeit ſeine Bekannten in der Weiſe der
Junggeſellen zu bewirthen; ſonſt aber verbrachte er die
Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren
jungen Leuten verſchiedener Nationalität, wie ſie mit
Bürgersſöhnen aus gutem Hauſe vermiſcht in ſolchen
Orten ſich zuſammen zu thun pflegen und von der Mützen
tragenden Jugend leicht zu unterſcheiden ſind, wiewol ſie
nicht verſchmähen, bei derſelben zuweilen vorzuſprechen.
In jenem Hauſe, das noch mit weitläufigen Treppen
und Gängen verſehen war, fiel ihm ſeit einiger Zeit bei
Ausgang und Rückkehr eine Dienſtmagd auf von ſo
herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich
ſaubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter
Fabelzeit zu ſein ſchien. Ob ſie das Waſſergefäß auf
dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor ſich her
trug, immer waren Glieder und Bewegung von der
gleichen geſchmeidigen Kraft und gelaſſenen Schönheit;
alles aber war beherrſcht und harmoniſch zuſammengehalten
durch ein Geſicht, deſſen ruhige Regelmäßigkeit von einem
Zug leiſer unbewußter Schwermuth veredelt wurde, einem
Zug ſo leicht und rein, wie der Schatten eines durch¬
ſichtigen Kriſtalles. Erwin begegnete der ſchönen Perſon
nicht oft; jedesmal aber, wenn ſie mit beſcheiden geſenktem
Blick ſtill vorüber ging, blieb die Erſcheinung ihm ſtunden¬
lang im Sinne haften, ohne daß er jedoch beſonders
darauf achtete. Eines Tages indeſſen, als ſie auf den
[75] Stufen der unteren Treppe kniete und ſcheuerte und er
eben herunter ſtieg, richtete ſie ſich auf und lehnte ſich an
das Geländer, um ihn vorbei zu laſſen; er konnte ſich
nicht verſagen, guten Tag zu wünſchen und eine kleine
flüchtige Entſchuldigung vorzubringen, ohne ſich aufzu¬
halten. Aber in dieſem Augenblicke ſchlug ſie ihr Auge
ſo groß und ſchön auf und ein ſo mildes halbes Lächeln
ſchwebte wie verwundert um die ernſten Lippen, daß das
Bild der armen Magd nicht mehr aus ſeinen Sinnen ver¬
ſchwand, ſo zwar, wie wenn Einer etwas Gutes weiß, zu
dem ſeine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, ſobald
ſie nicht zerſtreut oder beſchäftigt ſind. Sonſt begab oder
änderte ſich weiter nichts, als daß er ſie gelegentlich nach
ihrem Namen frug, der auf Regine lautete.
Eines ſchönen Sonntags, den er im Freien zugebracht,
kehrte er ſpät in der Nacht nach ſeiner Wohnung heim,
mit langſamen Schritten und wohlgemuth die Sommerluft
genießend. Da und dort ſchwärmten ſingende Studenten
durch die Gaſſen, in welche der helle Vollmond ſchien;
vor dem Hauſe aber, das er endlich erreichte, befand ſich
ein ganzer Trupp dieſes muthwilligen Volkes und umringte
eine einſame Frauensperſon, die ſich an die Hausthüre
drückte. Ich kann den Auftritt beſchreiben, denn ich ſtand
ſelber dabei. Es war Regine, die auf der runden Frei¬
treppe, drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an
die Thüre gelehnt, daſtand und lautlos auf die ſehr an¬
geheiterte Schaar herabſchaute. Sie hatte von ihrer Herr¬
[76] ſchaft die Erlaubniß erhalten, die Eltern in dem mehrere
Stunden entfernten Heimatdorfe zu beſuchen, bei der
Rückkehr aber die Fahrgelegenheit verfehlt und den Weg in
die Nacht hinein zu Fuß zurücklegen müſſen. Allein auch die
Herrſchaft war auf eine Landpartie gegangen und noch
nicht zurück, und da Regine keinen Hausſchlüſſel bei ſich
führte und überhaupt Niemand im Gebäude auf die Glocke
zu hören ſchien, die ſie ſchon mehrmals gezogen, ſo fand
ſie ſich ausgeſchloſſen und mußte die Ankunft anderer
Hausbewohner abwarten. So fiel ſie ihrer Geſtalt wegen
den jungen Taugenichtſen auf, die nicht ſäumten, ſie zu
umringen und mit mehr oder weniger feinen Artigkeiten
zu belagern. Der eine nannte ſie Liebchen, der andere
Schätzchen, dieſer Gretchen, jener Mariechen; dann brachten
ſie ihr ein halblautes Ständchen, und was ſolcher Kin¬
dereien mehr waren; ſowie aber Einer die Stufen hinan
ſprang, um eine Liebkoſung zu wagen, lehnte ſie den
Angriff mit einer ruhigen Bewegung des freien Armes
ab; denn mit der anderen Hand hielt ſie den von ihr
ſelbſt blankgefegten Thürknopf gefaßt. Wenn nun Einer
nach dem Andern die Stufen rückwärts hinab ſtolperte,
ſo lachte der Haufen mit großem Geräuſch, ohne daß die
Bedrängte darüber ein Vergnügen empfand; vielmehr ſtieg
ſie jetzt ſelbſt hinunter und ſuchte zu entkommen. Aber
die Studenten riefen: Die Löwin will hinaus! Laßt ſie
nicht durchbrechen! und ſchloſſen den Weg nur um ſo
dichter.
[77]
In dieſem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel
ſchon ein Weilchen ganz erſtaunt zugeſehen, durch die
Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte
ſie in das Haus, das er mit einer Drehung ſeines
Schlüſſels raſch öffnete und eben ſo raſch wieder verſchloß.
Das war ſo ſchnell geſchehen, daß die Nachtſchwärmer
ganz verblüfft daſtanden und nichts beſſeres thun konnten,
als ihres Weges zu ziehen.
Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter be¬
reit ſtanden, zündete Erwin ſein Licht an und theilte das
Flämmchen mit der aufathmenden Magd, welche froh war,
ſich geborgen zu wiſſen und die Herrſchaft gebührlicher
Weiſe in der Küche erwarten zu können. Und wie es
der Welt Lauf iſt, wurde ſie von der Sprödigkeit ver¬
laſſen, die ſie ſoeben noch vor der Thüre aufrecht gehalten,
und ſie litt es, als Erwin ihr mehr ſchüchtern als unter¬
nehmend Hand und Wange ſtreichelte und dies nur einen
Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid faſt ſo
dürftig war, wie der Werktagsanzug, vom billigſten Zeuge
und der ärmlichſten Machenſchaft, ſo verboten doch Form
und Ausdruck des Geſichtes die unzarte Berührung Jedem,
der nicht eben zu den angetrunkenen Geſellen gehörte,
und dennoch ſchien dies Geſicht die Demuth ſelber zu
ſein.
Von dieſem Abend an nahm die ſtille Erſcheinung
Erwin's Gedanken ſchon häufiger in Anſpruch, und ſtatt
ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog ſie dieſelben
[78] an ſich, auch wenn ſie anderwärts verpflichtet waren.
Das verſpürte er in wenigen Tagen, als er am Fuße
der Treppe einen baumlangen Reitercorporal bei ihr ſtehen
ſah, der auf den ſchweren Pallaſch geſtützt mit Reginen
ſprach, während ſie nachdenklich an einem Poſtamente des
Geländers lehnte. Erwin merkte im Vorübergehen, daß
ein leichtes Roth über ihr Geſicht ging, und ſchloß daraus
auf eine Liebſchaft. Das aber ſtörte ihm ſo alle Ruhe,
daß er nach einer halben Stunde das Haus wieder ver¬
ließ, obgleich niemand mehr im Flur ſtand, und dermaßen
in ſteter Bewegung den Tag zubrachte. Vergeblich ſagte
er ſich, es ſei ja der prächtigen Perſon nur von Herzen
zu gönnen, wenn ſie einen ſo ſtattlichen Liebſten beſitze,
der auch ein ernſter Mann zu ſein ſchien, wie er in der
Schnelligkeit geſehen. Der Umſtand, daß es in der Stadt
keine Garniſon gab und der Reitersmann alſo von aus¬
wärts gekommen ſein mußte, ließ das Beſtehen eines
ernſtlichen Liebesverhältniſſes noch gewiſſer erſcheinen.
Aber nur um ſo trauriger ward ihm zu Muth. Umſonſt
fragte er ſich, ob er denn etwas Beſſeres wiſſe für das
Mädchen, ob er ſie ſelbſt heimführen würde? Er wußte
keine Antwort darauf. Dafür wurde die ſchöne Geſtalt
durch das Licht einer Liebesneigung, die er ſich recht
innig und tief, ſo recht im Tone deutſcher Volkslieder
vorſtellte, von einem romantiſchen Schimmer übergoſſen,
der die erwachende Trauer des Ausgeſchloſſenſeins noch
dunkler machte. Denn an einem offenen Paradiesgärtlein
[79] geht der Menſch gleichgültig vorbei und wird erſt traurig,
wenn es verſchloſſen iſt.
Früher als gewöhnlich verließ er am Abend ſeine
Geſellſchaft und ſuchte ſeine Wohnung auf. Da holte
er vor der Thüre, die zu ſeinen Zimmern führte, unver¬
ſehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in
den Dachräumen hinaufſtieg. Sie hielt neben dem Lichte
einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der
war ihr ſoeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬
ſchmutzt und auch etwas zerknittert worden, und ſie beſah
ſich den Schaden, fügte aber ſogleich noch einen Oelfleck
hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der
Herrſchaft gegönnt war.
„Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬
gine?“ fragte Erwin, indem er die Thüre aufſchloß.
„Ach Gott,“ ſagte ſie, „ich ſoll einen Brief ſchreiben
und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt
iſt es ſchon verdorben, eh' ich nur oben bin!“
„Kommen Sie mit mir herein, ich geb' Ihnen ein
anderes!“ verſetzte er, und ſie ging mit gutem Vertrauen
mit ihm, blieb aber beſcheiden an der Zimmerthür ſtehen,
während er ein Büchlein des ſchönſten Papieres zurecht
machte. „Haben Sie denn auch Tinte und Federn?“
„Etwas Tinte habe ich in einem Fläſchchen, freilich
halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder iſt auch
noch da!“ erwiderte ſie.
„So nehmen Sie hier von dieſen Federn mit und
[80] holen Sie ſich Tinte oder nehmen Sie gleich die Flaſche,
die Sie ja wieder bringen können. Haben Sie auch
einen Tiſch zum Schreiben?“
„Leider nein, nur meine Kleiderkommode!“
„Ei, ſo ſchreiben Sie hier an dieſem Tiſch! Ich werde
Sie nicht ſtören und ſie haben ſich keineswegs zu ſcheuen!
Oder mögen Sie am Pult ſchreiben, ſo ſind ſie grade
noch groß genug dazu.“
Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht
verbreitete und wendete ſich dann wieder zu der ſchweigen¬
den Perſon, deren Geſicht, wie am Tage ſchon einmal,
die leichte Röthe überflog, mit den Worten: „Sagen Sie,
Regine, der ſchöne Dragoner, der heute bei Ihnen war,
iſt natürlich Ihr Schatz? Da iſt Ihnen wahrhaftig Glück
zu wünſchen!“ Welche Worte er mit veränderter, etwas
unſicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzens¬
angelegenheiten vor einer großen Weltdame ſtände.
Das Roth in ihrem Geſichte wurde tiefer und ſpiegelte
ſich in dem ſeinigen, das trotz ſeiner acht oder neunund¬
zwanzig Jahre ebenfalls röthlich anlief. Zugleich aber
blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der
harmloſeſten Art zu ihm hinüber, als ſie antwortete:
„Das war ein Bruder von mir!“ Ob ſie im Uebrigen
einen Schatz beſitze oder nicht, vergaß ſie zu ſagen. Auch
verlangte Erwin diesmal nichts Weiteres zu erfahren,
ſondern ſchien mit dem Bruder ſo vollkommen zufrieden,
daß ſeine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und
[81] auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe ſie ſich
deſſen verſah, ſtand ſie an dem Stehpulte und ſchrieb
ihren Brief. Sie ſchrieb, ohne ſich zu beſinnen, in ſchönen
geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt,
ohne das Geſchriebene nochmals anzuſehen. Erwin's
Vergnügen, ihr von einem Sopha aus gemächlich zuzu¬
ſchauen, war daher ſchon vorbei. Er gab ihr einen Um¬
ſchlag und ſie ſchrieb, wie er nun in der Nähe ſah, mit
regelmäßigen ſauberen Zügen die Adreſſe an ihre Mutter.
„Wollen Sie gleich ſiegeln?“ fragte er, was ſie dank¬
bar bejahte. Er bot ihr eine Achatſchale hin, worin ein
Siegelring und mehrere Petſchafte lagen mit fein ge¬
ſchnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen,
und lud ſie ein, ſich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren,
als ſich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er ſich
mit Wehmuth des zartſinnigen Zuges, wie das unwiſſende
junge Weib ſich ſcheute, eines von den koſtbaren fremden
Siegeln zu gebrauchen, und wünſchte mit dem zinnernen
Jackenknopfe zu petſchieren, den ſie zu dieſem Zwecke auf¬
bewahre. Es ſei ein kleiner Stern darauf abgebildet.
„Damit kann ich auch dienen!“ rief er und zog ſeinen
goldenen Bleiſtifthalter aus der Taſche; das obere Ende
deſſelben war wirklich mit einem runden Plättchen ver¬
ſehen, das einen Stern zeigte und zum verſiegeln eines
Briefes tauglich war. Das ließ ſich Regine gefallen.
Erwin erwärmte das hochrothe Wachs und brachte es auf
den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das
Keller, Sinngedicht. 6[82] ſchwierige Werk vollbracht war, athmete ſie bedächtig auf
und ſah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.
Den Brief in der Hand haltend, konnte ſie jetzt füglich
gehen; doch wußte der junge Mann ſie mit einer Frage
aufzuhalten, an die ſich eine andere und eine dritte reihte,
und ſo ſtand Regine an derſelben Stelle, bis eine gute
Stunde verfloſſen war, und plauderte mit ihm, der an
ſeinem Arbeitstiſche lehnte. Er frug nach ihrer Heimat
und nach den Ihrigen und ſie beantwortete die Fragen
ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht
noch Niemand, ſeit ſie unter Fremden ihr Brot verdiente,
ſich ſo theilnehmend nach dieſen Dingen erkundigt hatte.
Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Theil
des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur
die acht Kinder, Söhne und Töchter, ſondern auch die
Eltern waren wohlgeſtaltet große Leute, ein Geſchlecht,
deſſen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten
Volksthumes hervorgegangen. Nicht ſo verhielt es ſich
mit dem Seelenweſen, der Beweglichkeit, der moraliſchen
Widerſtandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchſigen
Familie. In Handel und Wandel wußten ſie ſich nicht zeitig
und aufmerkſam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vor¬
zubereiten und zu ſichern, und ſtatt der Noth gelaſſen aus
dem Wege zu gehen, ließen ſie dieſelbe nahe kommen und
ſtarrten ihr rathlos in's Geſicht. Der Vater war durch
einen fallenden Waldbaum verſtümmelt, die lange Mutter
voll bitterer Worte und nutzloſer Anſchläge; zwei Söhne
[83] ſtanden im Militärdienſte, der dritte half zu Hauſe, und
die fünf Töchter lebten meiſtens zerſtreut als Dienſtmägde
und mit verſchiedenen Schickſalen, die nicht alle erfreulich
oder kummerlos waren für ſie und die Angehörigen.
Ungefähr ſo geſtaltet ſich das Bild, das Erwin den
Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender
Größe, welche ihre Sterne verlaſſen haben, eines Ge¬
ſchlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht ſeine
Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte,
zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es
über den Leiden des Kampfes das Geſchick verloren. Oder
war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬
geſchlechte, das ſich in die Lebensart des Jahrhunderts
nicht finden kann? Aus den unzuſammenhängenden Mit¬
theilungen ſchloß er aber auch, daß Regine, obgleich das
jüngſte der Kinder, gewiſſermaßen das beſte, nämlich der
ſtille, anſpruchsloſe Halt der Familie war, an welchen
ſich Alle wendeten, und das deshalb ſo ärmlich gekleidet
ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während
die andern Schweſtern nicht ermangelten ſich aufzuputzen,
ſo gut ſie es vermochten.
Auch heute war ſie wieder in Anſpruch genommen
worden. Erſt neulich hatte ſie faſt ihren ganzen Viertel¬
jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in
übeln Umſtänden heim gekommen. Jetzt wurde der Vater
von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬
plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner ſchreiben
6*[84] laſſen, daß er entweder ſelbſt etwas Geld zu entlehnen
trachten, oder aber zur Regine gehen ſolle, daß dieſe
helfe. Natürlich konnte der Soldat Nichts thun, denn
der hatte genug zu ſchaffen, mit kümmerlichen Entlehnungen
ſeinen Sold zu ergänzen. Darum war er zur Schweſter
herübergekommen, und dieſe empfand zur übrigen Sorge
den Verdruß über die fruchtloſen Reiſekoſten des Bruders,
ſo klein ſie waren, weil ſie im Augenblicke auch nicht
helfen konnte. Sie hatte darum der Mutter geſchrieben,
man müſſe unter allen Umſtänden einige Wochen Friſt
zu erlangen ſuchen; vorher dürfe ſie ihre Herrſchaft nicht
ſchon wieder um Geld angehen. Auch hatte ſie bei dieſen
Ausſichten bereits ſeit dem heutigen Vormittage auf den
kühnen Plan verzichtet, ſich im Herbſt einmal ein wollenes
Kleid machen zu laſſen, wie andere ordentliche Mädchen
es im Winter trugen.
Als Erwin ſie zum erſten Mal ſo viel hintereinander
ſprechen hörte, wurde er von der weichen Beweglichkeit
ihrer Stimme angenehm erregt, da die traulichen Worte,
je mehr ſie in Fluß geriethen, immer mehr einen der
ſchönen Geſtalt entſprechenden Wohlklang annahmen, den
vielleicht noch Niemand im Hauſe kannte. Aber noch
wärmer erregte ihn der Gedanke, daß der Noth des guten
Weſens ſo leicht zu ſteuern ſei; um ſie jedoch nicht all¬
fällig ſofort zu verſcheuchen oder argwöhniſch zu machen,
unterließ er für einmal jedes Anerbieten einer Hülfe und
begnügte ſich mit ein paar leichthin tröſtenden Worten:
[85] das ſei ja Alles nicht ſo betrüblich, wie es ausſehe, und
werde ſich ſchon ein Ausweg finden, ſie ſolle nur ſo gut
und brav bleiben u. ſ. w. Ihr düſter gewordenes An¬
geſicht hellte ſich auch zuſehends auf, ſo freundlich wirkte
der ungewohnte Zuſpruch auf ihr einſames Gemüth, und
gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er ſofort die Börſe
gezogen und ſie gefragt hätte, wie viel ſie bedürfe.
Es lief indeſſen doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten
ab; denn als ſie, über die ſo ſchnell verfloſſene Stunde
erſchreckend, ſich entfernen wollte und die Zimmerthüre
öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräuſch von
Weiberſtimmen. Es waren die übrigen Dienſtboten des
Hauſes, die ihre Schlafſtellen aufſuchten, und es ſchien
allerdings nicht gerathen, daß Regine in dieſem Augen¬
blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬
genoſſen trat. Sie drückte ängſtlich die Thüre wieder zu
und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht
erblaſſend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬
abende ſchwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬
los auf das Verhallen der Mädchenſtimmen lauſchen. In
dieſem Augenblicke ſahen ſie ſich an und wußten, daß ſie
allein zuſammen ſeien und ein Geheimniß hatten, wenn
auch ein unſchuldiges. Als man nichts mehr hörte,
öffnete Erwin ſachte die äußere Thüre und entließ die
ſchöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden
klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte ſie
ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,
[86] das ihr wol ſelbſt nicht bewußt war; doch flackerte das
Flämmchen ihrer beſcheidenen Lampe hell und tapfer in
der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil
die Vorgängerinnen wahrſcheinlich die Bodenthüre offen
gelaſſen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang,
das Mädchen mit ſeinem Lämpchen abermals in ſein
Zimmer zu locken, und bald ſtellte ſich die Gewohnheit
ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ganzes
Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufſtieg der
anderen Mägde, bald nach demſelben; wahrſcheinlich war
das bewahrte Geheimniß, die Heimlichkeit der vorzüglichſte
Anreiz, welcher der guten Freundſchaft und dem Wohl¬
gefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebſchaft
gab. Regine war aber ſo ganz von Vertrauen zu dem
ſtets beſonnenen und an ſich haltenden Manne erfüllt,
daß ſie alle Bedenken aus den Augen ſetzte und ſich rück¬
haltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines
beſſeren Daſeins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu
ſagen, Weib genug, um von ihrer günſtigen Erſcheinung
zu wiſſen; aber mit um ſo größerer Dankbarkeit empfand
ſie zum erſten Mal die Ehre, die ein geſitteter Mann
ihrer Schönheit anthat, ohne daß ſie wie eine geſcheuchte
Katze ſich zu wehren brauchte. Erwin aber that ihr die
Ehre an, weil er bereits den Gedanken groß zog, ſich hier
aus Dunkelheit und Noth die Gefährtin zu holen.
Alſo lebten ſie in rein menſchlicher Lebensluft ſo
[87] beglückt, wie zwei ebenbürtige Weſen in ſtiller Heimlich¬
keit es nur ſein konnten; Regine nur die Gegenwart
genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich
von frohen Ahnungen deſſen bewegt, was noch kommen
mochte. Als er ſie eines Abends bei guter Gelegenheit
überredete, nur der Eltern wegen der erſehnten Hülfe zu
gedenken, und ſie zwang, zu ſchreiben und ſogleich die
nöthige Baarſchaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein
erſchien, da fügte ſie ſich mit geheimer Zärtlichkeit des
Herzens nicht aus Eigennutz, ſondern weil es von ihm
und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den
Brief, den ſie ſchrieb, und ſah, daß die Sätze allerdings
kurz und mager waren, wie eben das Volk ſchreibt; allein
er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Recht¬
ſchreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn
und Gebrauch der Sprache.
„Sie ſchreiben ja wie ein Actuarius!“ ſagte er, indem
ein Strahl von Freude ſeine Augen erhellte.
„O wir hatten einen guten Schulmeiſter!“ erwiderte
ſie froh über ſein Lob; „aber das iſt nichts, ich habe
eine Schweſter, die ſchreibt im Umſeh'n ganze Briefe voll
Thorheiten ohne alle Fehler; wenn ſie nur ſonſt recht
thäte!“ ſchloß ſie mit einem Seufzer. Wie ſich ſpäter
erwies, reiſte nämlich die Schweſter auf Liebſchaften herum
und ſtellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch
war ſie ſchon einmal mit einem kleinen Kinde heim¬
gekommen.
[88]
Zum Schreiben hatte Regine jetzt geſeſſen, was ſie in
Erwin's Zimmer noch nie gethan. Sie nahm eine
amerikaniſche Zeitung in die Hand, die auf dem Tiſche
lag, und verſuchte zu leſen.
„Das iſt engliſch!“ ſagte Erwin, „wollen Sie's lernen?
Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und
einen reichen Mann heirathen!“
Sie erröthete ſtark. „Lernen möcht' ich es ſchon,“
ſagte ſie, „vielleicht fahr' ich doch einmal hinüber, wenn
es hier zu arg wird.“
Erwin ſprach ihr einige Worte vor; ſie lachte, bemühte
ſich aber, in den Geiſt der wunderbaren Laute einzudringen,
und es gelang ihr noch am gleichen Abend, eine Reihe von
Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet engliſch
auszuſprechen. Ernſtlich ſchlug er ihr nun vor, jeden
Abend eine förmliche Unterrichtsſtunde bei ihm durch¬
zumachen. Sie that es mit ebenſo viel Eifer als Geſchick;
kaum waren zwei Wochen verfloſſen, ſo ſah Erwin, daß
dieſes höchſt merkwürdige Weſen, das ſich ſelbſt nicht
kannte, Alles zu lernen im Stande war, ohne einen Augen¬
blick die demüthige Ruhe zu verlieren. Er ſchlug plötzlich
das Buch zu, über welchem ſie zuſammen ſaßen, ergriff
ihre Hand und ſagte:
„Liebe Regine, ich will nicht länger warten und ſäumen!
Wollen Sie meine Frau ſein und mit mir gehen?“
Sie zuckte zuſammen, erbleichte und ſtarrte ihn an,
wie eine Todte.
[89]
„Nun iſt es aus,“ ſagte ſie endlich, indem ſie den
Kopf auf die Hände ſtützte; „und ich war ſo vergnügt!“
„Wie ſo? was will das ſagen, liebes Kind? Bin ich
Dir zuwider, oder iſt ſonſt etwas im Wege, das Dich
bedrängt und hindert?“ rief Erwin und legte unwillkürlich
den Arm um ſie, wie um ſie zu ſchützen und aufrecht zu
halten. Aber ſie legte ſeinen Arm leidvoll und entſchieden
weg und fing an zu weinen.
Sei es nun, daß ſie in ihrer geringen und aus trüben
Quellen geſchöpften Weltkenntniß den Augenblick gekommen
wähnte, wo ein geliebter Mann ſich mit einem Heiraths¬
verſprechen verſündigte, das ja niemals ernſt gemeint ſein
konnte; ſei es, daß ſie es für ihre Pflicht hielt, einem
ernſten Antrag zu widerſtehen, indem ſie ſich als Gattin
eines vornehmen Herrn unmöglich dachte; oder ſei es
endlich, daß ſie ſchon um ihrer Familienverhältniſſe willen,
die ſchlimmer waren, als ſie bisher geoffenbart, ſich ſcheute,
den fremden Mann, der ſo glücklich lebte, an ſich zu binden:
ſie wußte ſich nicht zu helfen und ſchüttelte nur den Kopf.
„Ich glaubte, Du ſeieſt mir ein wenig gut!“ ſagte
Erwin kleinlaut und betroffen.
„Es war nicht recht von mir,“ rief ſie ſchluchzend,
„es auch einmal ein bischen gut haben und etwa ein
Stündchen ungeſtraft bei Einem ſitzen zu wollen, den ich
ſo gern habe! Mehr wollte ich ja nicht! Nun iſt es
vorbei und ich muß gehen!“
Sie ſtand gewaltſam auf, zündete das Lämpchen an
[90] und ohne ſich halten zu laſſen, eilte ſie hinaus und ſo
ſtürmiſch die Treppe hinauf, daß das Flämmchen ver¬
löſchte und ſie im Dunkeln verſchwand. Am andern Tage,
als er ihr zu begegnen ſuchte, war ſie auch aus dem
Hauſe verſchwunden. Da er vorſichtig nachforſchte, hörte
er, ſie ſei plötzlich aufgebrochen und in ihre Heimat
gegangen, und als ſie nach mehreren Tagen noch nicht
zurückgekehrt war, nahm er einen Wagen und fuhr hinaus,
ſie aufzufinden. Er traf ſie auch in der ärmlichen Be¬
hauſung der Ihrigen und zwar in großer Trauer ſitzend.
Gleich einem Türken beſtaunten ihn die großen Leute,
Weiber und Männer; aber er erklärte ſich ſogleich und
verlangte die Tochter Regina zur Frau. Und um zu
beweiſen, wie er es meine, begehrte er den Stand ihrer
häuslichen Angelegenheiten zu erfahren und verſprach,
ohne Verzug zu helfen. Nachdem die Leute ſich erſt
etwas geſammelt und ſeine Meinung verſtanden hatten,
beeiferten ſie ſich, alles offen darzulegen, wobei aber der
Alte die Weiber, mit Ausnahme Reginens, hinausſchieben
mußte, da ſie Alles vermengten und verdrehten. Auch der
Sohn benahm ſich neben dem einbeinigen Alten vernünftig
und ſchien doch nicht ohne Hoffnung. Es zeigte ſich, daß
das kleine Gütchen verſchuldet war; allein die Auslöſung
erforderte eine Summe, die für Erwin's Mittel nicht in
Betracht kam; es waren eben kümmerlich kleine Verhält¬
niſſe. Ließ er obenein noch eine ähnliche oder geringere
Summe da, ſo gerieth das reckenhafte Völklein in einen
[91] ungewohnten kleinen Wohlſtand, und die fernere Vorſorge
war ja nicht benommen. Ueberdies verſprach Erwin,
ſeinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im
Dienſte ſtehenden Söhne, deren Entlaſſung nahe bevor¬
ſtand, ein gutes Unterkommen fänden, wo ſie ſich empor¬
bringen könnten, bis er beſſer für ſie zu ſorgen vermochte,
und was die Töchter betraf, ſo miſchte er ſich nicht in
deren Geſchäfte, ſondern empfahl dieſelben in ſeinem
Innern der lieben Vorſehung. Kurz, es begab ſich Alles
auf das Zweckdienlichſte nach menſchlicher Berechnung.
Regine ſah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als
Erwin ſie in die Kutſche hob, mit welcher er ſie unter
dem Segen der Eltern entführte. Erſt als ſie drin ſaß
und die Pferde auf der Landſtraße trabten, fiel ſie ihm
um den Hals und that ſich nach den ausgeſtandenen
Leiden gütlich an ſeiner Freude, ſie nun doch zu beſitzen.
Er fuhr aber nicht in unſere Stadt zurück, ſondern
nach der nächſten Bahnſtation und beſtieg dort mit Reginen
den Bahnzug. In einer der deutſchen Städte, darin er
ſchon gelebt, kannte er eine würdige und verſtändige
Gelehrtenwittwe, welche genöthigt war, fremden Leuten
Wohnung und Koſt zu geben. Er hatte ſelbſt dort
gewohnt. Dieſer wackeren Frau vertraute er ſich an,
ließ Reginen für ein halbes Jahr bei ihr, damit ſie gute
Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen
Hände weiß werden konnten. Dann trennte er ſich, wenn
auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine,
[92] reiſte in unſere Univerſitätsſtadt zurück, um den dortigen
Aufenthalt zu beendigen, und ſo weiter, bis nach Verfluß
von weniger als ſieben Monaten die brave ſchöne Regine
als ſeine Gattin abermals neben ihm in einem Reiſe¬
wagen ſaß.
Als Reinhart glücklich die Magd auf die Hochzeitreiſe
geſchickt, hielt er einen Augenblick inne und bemerkte erſt
jetzt, daß das Schnurren der Spinnräder nicht mehr zu
hören war; denn die beiden Mädchen hatten über dem
erfreulichen Schickſal der Regine das Spinnen vergeſſen,
und die Augen geſpannt auf den Erzähler gerichtet, hielten
ſie Daum und Zeigefinger in der Luft, ohne daß der
Faden lief. Die Eine mochte ſich das ſchöne Reiſekleid
der glückhaften Perſon vorſtellen, die Andere in Gedanken
die goldene Damenuhr betrachten, die ihr ohne Zweifel
an langer Kette hing. Hinwiederum bedachte Jene die
Herrlichkeit des Augenblickes, wo ſie im Fall wäre, ſelbſt¬
eigene Dienſtboten anzuſtellen und aus einer großen Zahl
ſich meldender Mädchen, auf dem Sopha ſitzend, einige
auszuwählen. Die Andere aber nahm ſich vor, an Re¬
ginens Stelle jedenfalls ſofort wenigſtens ſechs Paar neue
Stiefelchen von Zeug und von feinſtem Leder machen zu
laſſen, und mit ſüßem Schauer ſah ſie ſchon den jungen,
ledigen Schuhmachermeiſter vor ſich, den ſie hatte in's
Haus kommen laſſen, die Stiefelchen anzumeſſen, jedes
Paar beſonders, und ſie hielt ihm huldvoll den Fuß hin,
bereit, ihm auch die Hand zu ſchenken, um welche der
[93] Blöde endlich anhalten würde. Aber wie iſt denn das?
Sie wäre ja ſchon verheirathet und könnte den Schuh¬
macher nicht mehr nehmen? Aber ſie iſt ja nicht die Regina,
welche den Amerikaner hat, ſondern das ledige Bärbchen!
Aber nun iſt ſie ja nicht reich und kann die Stiefeletten
nicht beſtellen — kurz, ſie verwickelte ſich ganz in dem
Garn ihrer Spekulationen, während Aennchen, das andere
Mädchen, bereits drei Köchinnen angeſtellt und zwei wieder
weggejagt hatte.
Da ſagte Lucie: „Wenn Ihr müde ſeid, Ihr Mäd¬
chen, ſo ſtellt die Räder weg und geht ſchlafen! Die
merkwürdige Regine iſt jetzt verſorgt und braucht wahr¬
ſcheinlich nicht mehr früh aufzuſtehen, wie Ihr es morgen
thun müßt.“
Die hübſchen Dienerinnen erhoben ſich ohne Zögern,
als ſie dergeſtalt aus ihrer kurzen Träumerei geweckt
worden, und trugen gehorſam die Spinnrädchen aus dem
Zimmer.
Zu Reinhart gewendet, fuhr Lucie fort: Ich wollte
es nicht darauf ankommen laſſen, daß die guten Kinder
die Kehrſeite oder den Ausgang Ihrer Geſchichte mit
anhören; denn ſo viel ich vermuthen kann, wird es nun
über die Bildung hergehen, welche an dem in Ausſicht
ſtehenden Unheil Schuld ſein ſoll, und da wünſchte ich
denn doch nicht, daß die Mädchen gegen den gebildeten
Frauenſtand aufſätzig würden!“
„Ich überlege ſoeben,“ erwiderte Reinhart lächelnd,
[94] „daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen
Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die
Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander
ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte
Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am
beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe
verſchone!“
„Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu
vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes
für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es
iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches
unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬
geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren
ſie ſo oft ausgelacht werden.“
„Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬
bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich
perſönlich wenig berührt hat.“
„Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬
heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen
können!“ ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:
„Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim
betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte;
ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen
Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und
Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei
uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen
Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter
[95] lebte ich in der Hauptſtadt, in welcher jene amerikaniſche
Geſandtſchaft reſidirte. Ich benutzte die dortigen Anſtalten
zur Fortſetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten
Studien, dünkte mich übrigens ſchon über das Studenten¬
thum hinaus zu ſein, und ging nur mit Leuten um, die
alle einige Jahre älter waren, als ich.
„Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als
ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu
beſuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung,
die von gutem Geſchmacke förmlich glänzte und zwar in
tiefer, ſtiller Ruhe. Zu meiner Ueberraſchung wurde ich
der Gemahlin vorgeſtellt, einer vornehm gekleideten, aller¬
ſchönſten Dame von herrlicher Geſtalt. Das reiche Haar
war modiſch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohl¬
geformte Hand ganz weiß und mit alterthümlichen bunten
Ringen geſchmückt, den Geſchenken aus den Familien¬
ſchätzen des Hauſes in Boſton. Ich hatte die Regine
nur jenes einzige Mal in der Nacht geſehen, wo ich dabei
ſtand, als ſie von den Studenten bedrängt wurde; ihre
Geſichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch
auch ſonſt hätte ich jetzt nicht vermuthen können, daß die
arme Magd vor mir ſtand, weil die kleine Begebenheit
mir vollkommen aus dem Gedächtniß verſchwunden war.
Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der
ſich erſt mit der eleganten Bekleidung eingeſtellt, war
ſchon im Verſchwinden begriffen und ſchien eher ein Zeichen
fremdartigen Weſens als etwas Anderes zu ſein. Sie
[96] ſprach ziemlich geläufig Engliſch und auch etwas Fran¬
zöſiſch, wie ſich im Verlaufe zeigte, letzteres ſogar beſſer,
als die meiſten Damen bei den amerikaniſchen Legationen.
Als ſie hörte, woher ich ſei, ſah ſie ihren Mann flüchtig
an, wie wenn ſie ihn über ihr Verhalten befragen wollte;
er rührte ſich aber nicht und ſo ließ ſie ſich auch weiter
Nichts merken. Dennoch ſchämte er ſich nicht etwa ihres
früheren Standes, ſondern wollte denſelben nur ſo lange
geheim halten, bis ſie die völlige Freiheit und Sicherheit
der Haltung und damit eine Schutzwehr gegen Demü¬
thigungen erworben habe.
Da er indeſſen das Bedürfniß offener Mittheilung
an irgend Einen nicht ganz unterdrücken konnte, ſchon um
dem Geheimniſſe jeden verdächtigen Charakter zu nehmen,
wählte er mich bald zum Mitwiſſer, und ich war nicht
wenig verwundert, in der eigenthümlichen Staatsdame die
arme Magd wiederzufinden, die jetzt allmälig in meinem
Gedächtniſſe lebendig ward, wie ſie wortlos die Bedränger
von ſich abwehrte. Auch der Frau geſchah damit ein Ge¬
fallen; denn ſie hatte wenigſtens außer ihrem Manne
noch einen Menſchen, mit welchem ſie ohne Rückhalt von
ſich ſprechen konnte.
Ich erfuhr nun auch, in wie ſeltſamer Art Erwin die
Ausbildung der Frau bis anhin durchgeführt hatte. Vor
Allem war er mit ihr nach London gegangen, da es ihm
zuerſt um die engliſche Sprache zu thun geweſen; und
damit ſie vor jeder häuslichen Arbeit bewahrt blieb, wohnte
[97] er, wie ſpäter in Paris, nur in Gaſthäuſern, und auch
dort mußte er fortwährend aufpaſſen und dazwiſchen treten,
daß ſie nicht die Zimmer ſelbſt aufräumte und die Betten
machte, oder gar zu den Dienſtboten und Angeſtellten in
die Küche ging, um ihnen zu helfen. Ebenſo koſtete es
ihn einige Mühe, ſie an größere Zurückhaltung gegenüber
den Dienenden und Geringen zu gewöhnen, ſo zwar, daß
ſie, ohne der menſchlichen Freiheit Abbruch zu thun, die
zu große Vertraulichkeit vermeiden lernte, um einſt leichter
befehlen zu können. Dieſer Punkt ſoll für beide Perſonen
nicht ohne etwelche Bekümmerniß erledigt worden ſein;
denn während Regine ſich immer wieder vergaß und ſchwer
begriff, warum ſie nicht mit ihres Gleichen über Alles
plaudern ſollte, was dieſe freute oder betrübte, dachte
Erwin fortwährend nur an den gemeſſenen Ton, der in
ſeinem elterlichen Hauſe herrſchte, und an die Rangſtufe,
welche Regine dort einzunehmen berufen war. Die Heim¬
führung, die noch bevorſtand, beherrſchte alle ſeine Ge¬
danken; in Reginen hoffte er ein Bild verklärten deutſchen
Volksthumes über das Meer zu bringen, das ſich ſehen
laſſen dürfe und durch ein außergewöhnliches Schickſal
nur noch idealer geworden ſei. Wollte er aber dieſen Er¬
folg nicht nur einem Glücksfunde, ſondern auch ſeiner
liebevoll bildenden Hand verdanken, ſo war ihm nur um
ſo mehr daran gelegen, daß auch in Nebendingen das
Werk ſo vollkommen als möglich ſei und ſein Triumph
durch keine kleinſte Unzukömmlichkeit geſtört werde. Man
Keller, Sinngedicht. 7[98] kann eben ſagen, daß er bei aller Humanität und Frei¬
ſinnigkeit, die ihn beſeelte, hierin um ſo geiziger, ja ängſt¬
licher war, als er ſich in allen weſentlichen und wichtigen
Dingen ganz ſicher fühlte.
Ein zweifelloſer Erfolg ſeiner Erziehungskunſt blühte
ihm faſt unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während
des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutſcher
Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von
Concerten ſich mit großem Aufſehen hören zu laſſen.
Erwin, der keine Gelegenheit verſäumte, ſeiner Frau alle
bildenden Genüſſe zugänglich zu machen, führte Reginen
ebenfalls in die weite Halle, wo tauſende von Menſchen
als Zuhörer verſammelt waren. Sie wagte ſich kaum zu
rühren, mitten in dem Heere von reichen und geſchmückten
Leuten ſitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von
den Geſängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger
ſo deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn ſie nur ein
Mann wären, die Weiſe eines altdeutſchen Volksliedes an,
daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich
erkannte, denn ſie hatte das Lied als halbwüchſiges
Mädchen einſt ſelber geſungen und es erſt in der Dienſt¬
barkeit und Mühſal des Lebens vergeſſen. Unverwandt
lauſchend blickte ſie nach dem Häuflein der ſchwarz¬
gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus
dem ſchweigenden und ſchimmernden Menſchenmeere ragte,
und was ſie hörte, war und blieb das Lied aus ihren
Jugendtagen, die ſo ſchwermüthig waren, wie das Lied.
[99] Der brauſende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte
ſie aus der traumartigen Verſenkung, und erſt jetzt ſchaute
ſie erſtaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob ſie fragen
wollte, was das geweſen ſei. Der wies auf den Text in
dem Hefte hin, das ſie in der Hand hielt, ohne es bis
jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da ſtand das Lied
zu leſen, Wort für Wort.
Beim Nachhauſefahren fing ſie es im Dunkel des
Wagens an zu ſingen, und als Erwin über die anmuthige
Regung erfreut ihre Hand faßte, frug ſie, was das nur
ſei, daß ein ſchlichtes Liedchen armer Landleute ſo fern
von der Heimat geſungen werde und einer vornehmen
Menſchheit ſo gut gefalle? Noch mehr vergnügt über
dieſe Frage erwiderte er, Grund und Urſache der Er¬
ſcheinung ſeien die gleichen, warum auch ſie, das Kind
des Volkes, ihm ſo wohl gefalle und ſo ſehr von ihm
geliebt werde. Dann ſagte er ihr vor der Hand das
Nöthigſte über die Sache; ſchon am nächſten Tage aber
ſuchte er einen deutſchen Buchhändler auf, der, wie er
gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und
bei dieſem fand er die bekannte Sammlung, welche des
Knaben Wunderhorn heißt. Er lehrte ſie das kleine Lied
in den ſtattlichen Bänden aufzufinden, und ſie erblickte
und las es mit einem gewiſſen Stolze zwiſchen den hun¬
derten von ähnlichen und noch ſchöneren Liedern. Aber
auch dieſe las ſie und legte das Buch nicht aus der Hand,
bis ſie es durchgeleſen hatte, manches Lied zwei- und
7*[100] dreimal. So ereignete ſich das Seltene, daß ein un¬
geſchultes Volkskind ein ſtarkes Buch Gedichte mit Auf¬
merkſamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo
Gebildete dergleichen faſt nie mehr über ſich bringen.
Da ſie liebte, ſo fühlte ſie erſt jetzt noch das ſchöne
Glühen der Leidenſchaft mit, wie es in jenen Liedern
zum Ausdrucke kommt, und ſie empfand dies Glühen um
ſo glückſeliger, als ſie ſelbſt ja in ſicheren Liebesarmen
ruhte.
Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und
holte die Goethe'ſchen Jugendlieder herbei. Zuerſt zeigte
er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone ab¬
gelauſcht und nachgeſungen; dann las er mit ihr eins
um's andere der aus dein eigenen Blute entſtandenen,
indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffen¬
den Geſchichten dazu erzählte. Wie über eine leichte
Regenbogenbrücke ging ſie vom Wunderhorn in dieſes
lichte Gehölz maigrüner Ahornſtämmchen hinüber, oder
einfacher geſagt, es dauerte nicht lange, ſo regierte ſie
das Büchlein ſelbſtändig, und es lag auf ihrem Tiſch,
wie wenn ſie die erinnerungsreiche und wähleriſche Ma¬
trone einer vergangenen Zeit geweſen wäre, und doch
lebte ſie Alles, was darin ſtand, mit Jugendblut durch,
und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen
Geiſtes ihr von Augen und Mund.
Es kann natürlich nicht jeder Pfad und jedes Brück¬
lein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem
[101] holden Weibe das Bewußtſein zuführte, nicht als ein
Schulmeiſter, ſondern mehr als ein aufmerkſamer und
dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In
Paris, wohin er ſie nachher führte, galt es vorzugsweiſe,
durch das Auge zu lernen, und da er ſelbſt Vieles zum
erſten Male ſah, ſo lernte er mit ihr gemeinſam und
erklärte ihr gemächlich, was er ſoeben erfahren. Sie
nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und
ſammelte ſie ſo geizig auf, wie ein junges Mädchen die
Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die
ein ſolches etwa in der Schule gelernt hat, wie das
Verſtändniß der Landkarte und dergleichen, wurden ganz
nebenbei, ohne allen Zeitverluſt, betrieben. Nur wollte
einſtweilen kein rechter Zuſammenhang in die Sachen
kommen; auch beſchäftigte es zuweilen Erwin's Gedanken,
daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus ſeinem Munde
hören, nie aber ſolches für ſich allein leſen wollte. Sie
brachte es nicht über ſich, nur einige Seiten Geſchichtliches
oder Beſchauliches hintereinander in ſich aufzunehmen,
und legte jedes Buch dieſer Art bald weg. Doch hoffte
er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt ſo
herrlich gegangen, die Hauptſache eben in Deutſchland zu
erreichen, und er ſtellte ſich, in ſeinem Glücke immer
begieriger auf einen glänzenden Abſchluß ſeines Bildungs¬
werkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als
er früher je gewagt haben würde. In dieſem Zuſtande
war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und
[102] als ich dann das unſchuldige Geheimniß desſelben erfuhr,
nahm ich den wärmſten Antheil an ſeinem Schickſal und
Wohlergehen. Die Frau war bei all' dem Außergewöhn¬
lichen ihres Lebensganges und trotz der Glücksumſtände,
in die ſie gerathen, die Beſcheidenheit ſelbſt, einfach, liebens¬
werth und dabei ſo ehrlich, wie ein junger Hund.
Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nach¬
richt aus Boſton ein, in Folge welcher Erwin ohne einen
Tag zu verziehen nach Amerika abreiſen mußte, um bei
der Ordnung gewiſſer Verhältniſſe hilfreich zu ſein, von
denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er ent¬
ſchloß ſich augenblicklich zur Reiſe, entſchied aber nach
einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate
ſeiner Abweſenheit hier zurückbleiben ſollte. Die Herbſt¬
ſtürme hatten eben begonnen und ſchon waren Nachrichten
von auf der See ſtattgehabten Unglücksfällen und ver¬
mißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte
er das Leben und die Geſundheit ſeiner Frau den Ge¬
fahren der Meerfahrt ausſetzen; umſonſt fiel ſie ihm faſt
zu Füßen und flehte wie ein Kind, ſie mitzunehmen,
damit ſie bei ihm ſei: ſobald er nur einen Blick auf ihre
Geſtalt und ihr Geſicht warf, graute es ihm, dieſes ſchöne
Geſchöpf ſich auf einem untergehenden Schiffe zu denken,
und ſo bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war,
ſo zog er ſie doch der offenbaren Gefährdung des theuerſten
Weſens vor.
„Siehſt Du, mein Kind,“ ſagte er, indem er ihre
[103] Wange ſanft ſtreichelte, „es gehört auch zum Leben, ſich
einer ſchweren Nothwendigkeit unterziehen zu lernen und
von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch
mehr widerfahren und ſo wollen wir guten Muthes den
Anfang machen!“
Im Geheimen freilich beſtärkte ihn noch der Gedanke,
um jeden Preis die letzte Hand an ſein Bildungswerk
legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus
mitbringe; die menſchliche Eitelkeit vermengt ſich ja mit
den edelſten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckig¬
keit, die uns ſonſt fehlen würde.
Erwin verreiſte alſo ohne Verzug, um den nächſten
Dampfer nicht zu verſäumen, und er reiſte um ſo ge¬
faßter, als er Urſache zu haben glaubte, ſeine Frau in
gutem Umgange zurückzulaſſen, ſo wie auch das Haus mit
erfahrenen und ordentlichen Dienſtboten verſehen war.
Er langte wolbehalten in der Heimat an; allein die
Geſchäfte wickelten ſich nicht ſo raſch ab, wie er gehofft,
und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach
Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß
Regine allerdings einer hinreichenden Geſellſchaft. Da
waren voraus drei Damen, deren Umgang ihrem Manne
zweckmäßig für ſie geſchienen hatte, da ſie im Rufe einer
großen und ſchönen Bildung ſtanden; denn überall, wo
es etwas zu ſehen und zu hören gab, waren ſie in der
vorderſten Reihe zu finden, und ſie verehrten, beſchützten
Alles und Jedes, das von ſich reden machte. Erſt ſpäter
[104] erfuhr ich freilich, daß man ſie in manchen Kreiſen ſchon
um dieſe Zeit die drei Parzen nannte, weil ſie jeder
Sache, deren ſie ſich annahmen, ſchließlich den Lebens¬
faden abſchnitten. Sie waren immer in Geräuſch, Be¬
wegung und Unruhe; denn ſie beſaßen alle drei ſelbſt¬
zufriedene und gleichgültige Männer, die ſich nicht um
die Frauen kümmerten. Obgleich dieſe nicht eben ſehr
jung waren, umarmten ſie ſich doch mit ſtürmiſcher
Leidenſchaft, wenn ſie ſich trafen, küßten ſich lautſchallend
und nannten ſich Kind und ſüßer Engel; auch hatten ſie
einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die
Sammetgazelle, die andere das Rothkäppchen, die dritte
das Bienchen; die erſte, weil ſie das Sammetauge des
genannten Thieres habe, die zweite, weil ſie einſt in
einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgeſtellt, die
letzte, weil ſie in Gärten oder Gewächshäuſern keine
Blume ſehen konnte, ohne ſie zu betaſten und zu erbetteln.
Trotz dieſer harmloſen Schwärmerei gab es böſe Leute,
welche behaupteten, die Parzen führten unter ſich eine
Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen
Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, beſonders
ſeit ſie als Wahrzeichen ihres Genieweſens eine junge
Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die ſchon
in allen Schulen geweſen. Eigentlich war es ein junger
Maler, denn ſie ſchneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn
man ſie Malerin nannte. Die ſchöne wohlklingende End¬
ſilbe, mit welcher unſere deutſche Sprache in jedem
[105] Stande, Berufe und Lebensgebiete die Frau bezeichnet
und damit dem Begriffe noch einen eigenen poetiſchen
Hauch und Schimmer verleihen kann, war ihr zuwider
wie Gift und ſie hätte die verhaßten zwei Buchſtaben am
liebſten ganz ausgereutet. War man dagegen gezwungen,
den männlichen Artikel der und ein mit ihrem Berufs¬
namen zu verbinden, ſo tönte ihr das wie Muſik in die
Ohren. Sie trug ſtets ein ſchäbiges Filzhütchen auf dem
Kopfe und ließ das Kleid ſo einrichten, daß ſie ihre
Hände zu beiden Seiten in die Taſchen ſtecken konnte, wie
ein Gaſſenjunge. Dieſe Art Verirrung mahnt mich
immer an die mittelalterliche Sage vom Kaiſer Nero.
Die wirklich verübten Tollheiten deſſelben fand ſie nicht
abſcheulich und verrückt genug, und um das denkbar
Schmählichſte hinzuzufügen, erſann ſie die Geſchichte von
ſeinem Gelüſte nach der Geſchlechtsänderung. Er habe
wollen guter Hoffnung werden und ein Kind gebären und
zweiundſiebenzig Aerzten bei Todesſtrafe befohlen, ihm
dazu zu verhelfen. Die hätten keinen andern Ausweg
gewußt, als dem Scheuſal einen Zaubertrank zu brauen.
Weil aber der Teufel nichts Wirkliches, ſondern nur
Blendwerke ſchaffen könne, ſo ſei Nero allerdings ſchwanger
geworden, zu ſeiner großen Zufriedenheit, und habe aber
dann eine dicke Kröte aus dem Munde zu Tage gefördert.
Auch für das Thierlein ſei er dankbar geweſen und habe
ſich voll Eitelkeit Domina und Mutter nennen laſſen.
Dann habe er ein großes Freudenlager errichtet, um das
[106] Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in
grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet,
ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen
Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige
hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern,
Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem
Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬
gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine
Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache
befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert
und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und
nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage
den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte
an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des
andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches;
möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen!
Die Malerin beſaß mehr Männer- als Frauenkleider;
wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog
ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte
ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle,
bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer
allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen
in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem
geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer
unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬
gierde zu befriedigen.
[107]
Als einſt ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale
eine Reihe geiſtvoller Vorträge hielt, hatte Erwin ſeine
Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Ver¬
ſtändniß doch einige Broſamen abfallen und die Pforten
der Bildung immerhin ſich etwas weiter aufthun würden,
wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal
tretend fanden ſie unter dem beſcheideneren allgemeinen
Publikum keinen Platz mehr und ſahen ſich genöthigt,
immer weiter nach dem Vordergrunde in der Gegend der
Kanzel zu dringen, wo diejenigen ſaßen, die überall die
gleichen ſind und zuvorderſt zu ſitzen pflegen. Da glänzten
und ſchimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig
die drei Renommiſtinnen, die jedoch liebenswürdig und
gefällig der ſchönen Fremden ſogleich einen Platz zwiſchen
ſich ermöglichten, ſo daß Erwin froh war, die Regine
untergebracht zu ſehen, und ſich in eine Fenſterniſche
zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen ſchon
die ebenſo eigenartige, als geheimnißvolle Frau in's Auge
gefaßt; ſie benutzten jetzt die Gelegenheit, auf's Freund¬
lichſte und Bethulichſte mit ihr Bekanntſchaft, ja Freund¬
ſchaft zu ſchließen, denn zu ihren Renommiſtereien gehörte
unter anderen auch, für ſchöne oder ſonſt intereſſante
Frauen ganz beſonders zu ſchwärmen und ſolche Creaturen
mit neidloſer Huldigung geräuſchvoll vor aller Welt zu
umgeben. Erwin ſah von ſeinem Standorte aus mit
Befriedigung, wie ſeine Frau ſo gut aufgehoben war,
und als er ſie nach dem Schluſſe des Vortrages wieder
[108] in Empfang nahm, erwiderte er die Einladungen der
Damen zu baldigem Beſuche mit dankbarer Zuſage. Als
nicht lange hernach ſeine Abreiſe nothwendig wurde, hielt
er es, wie ſchon geſagt, für einen glücklichen Umſtand,
daß Regine einen ſo bildend anregenden Verkehr gefunden
habe, und er anempfahl ihr, denſelben fleißig zu ſuchen;
mit argloſem Vertrauen gehorchte ſie, obſchon die wort¬
reichen, lauten und unruhigen Auftritte und Lebensarten
ihr wenigſtens im Anfang nichts weniger als wol zu
behagen ſchienen.
Indeſſen verlor ich ſie aus den Augen, wenigſtens
für den perſönlichen Umgang. Ich war meinem Ver¬
ſprechen gemäß nach Erwin's Abreiſe noch zwei oder drei
Mal hingegangen, um zu ſehen, ob ich etwas nützen
könne. Schon das erſte Mal waren zwei von den
Renommiſtinnen dort anweſend; ich hörte zu, wie ſie die
Regine bereden wollten, auf dem im Wurfe liegenden
Wohlthätigkeitsbazar eine Verkaufsſtelle zu übernehmen,
und wie ſie das Koſtüm beriethen. Es gelang ihnen
jedoch diesmal noch nicht, ihre Beſcheidenheit zu hinter¬
gehen. Später traf ich ſie nicht mehr zu Hauſe. Die
ältere Dienerin klagte, daß die Damen ſie immer häufiger
hinwegholten, und doch müſſe man gewiſſermaßen jede
Zerſtreuung willkommen heißen, denn wenn die Frau
allein ſei, ſo ſehne ſie ſich unaufhörlich nach ihrem Manne
und weine, wie wenn ſie ihn verloren hätte.
Eines Tages gerieth ich zufällig in die ſogenannte
[109] permanente Gemäldeausſtellung. Was ſah ich gleich beim
Eintritt? Reginen's Bildniß als phantaſtiſch angeordneten
Studienkopf, über Lebensgröße, mit theatraliſch auf¬
gebundenem Haar und einer dicken Perlenſchnur darin,
mit bloßem Nacken und gehüllt in einen Theatermantel
von Hermelin und rothem Sammet, d. h. jener von
Katzenpelz und dieſer von Möbelplüſch, das Alles mit
einer ſcheinbaren Frechheit gemalt, wie ſie von gewiſſen
Kunſtjüngern mit unendlichem mühevollem Salben und
Schmieren und ängſtlicher Hand zuweilen erworben oder
wenigſtens geheuchelt wird.
Natürlich war der „Studienkopf“ das Werk der Malerin
und Regine von den Parzen beſchwatzt worden, derſelben
in ihrem Atelier aus Gefälligkeit zu ſitzen. Ob ſie
wußten, daß die Künſtlerin das Bild ausſtellen und
verkaufen wollte, kann ich nicht ſagen; Regine wußte
es jedenfalls nicht, wie mich ihre Haushälterin ver¬
ſicherte, als ich hinging, um jene zu ſprechen, aber nur
dieſe antraf. Denn ich hatte bemerkt, daß das Bild
bereits von einem Händler angekauft war, der Gemälde¬
transporte nach Amerika lieferte. — Die Geſchichte gefiel
mir keineswegs und ich ſchwankte, ob ich dem Erwin
Altenauer ſchreiben ſolle oder nicht. Allein die drei
Renommiſtinnen galten trotz ihrer wunderlichen Auf¬
führung für ehrbare Frauen und waren es wol auch,
und ſie machten nicht unanſehnliche Häuſer. Der Mann
der Gazelle war ein großer Sprithändler, derjenige des
[110] Rothkäppchens ein Juſtizrath, der vierzehn Schreiber
beſchäftigte, und der Mann des Bienchens der oberſte
Regent über die vierzig Töchterſchulen der Provinz, der
zudem eine polyglotte Rieſenchreſtomathie herausgab, alles
bedeutende Gewährleiſtungen für die Ehrbarkeit, während
ich ſelber ein unerfahrener und unbedeutender Menſch war.
Ich ſah die gute Regine nun nicht mehr, als etwa
in einer Theaterloge inmitten ihrer Beſchützerinnen, welche
vor Vergnügen glänzten, wenn ſie durch die ſchöne Er¬
ſcheinung die Augen des ganzen Hauſes auf ſich lenken
konnten. Auch empfingen ſie genügſamen Herrenbeſuch.
Regine ſchien mir das eine Mal traurig und gedrückt zu
ſein; das andere Mal ſchien ſie aber aufzuthauen und
eine wachſende Sicherheit und Munterkeit des Benehmens
zu zeigen. Vielleicht, dachte ich, iſt das gerade, was
Erwin wünſcht, und die drei Gänſe haben am Ende nichts
Böſes zu bedeuten.
Ein einziges Mal vor Erwin's Rückkunft ſprach ich
ſeine Frau noch näher in vertraulicher Weiſe und ſah ſie
ſogar während eines ganzen Tages. Der Monat Juni
war gekommen und das prächtigſte Sommerwetter im
Lande. Da bat ſie mich eines Tages in einem zierlichen
Briefchen, bei ihr vorzuſprechen, und als ich kam, theilte
ſie mit, es ſei von ihren Freundinnen und deren Freun¬
den eine große Landpartie verabredet, die zu Wagen
gemacht werden ſollte. Nun wolle ihr die Sache doch
nicht recht gefallen, und ſie wünſche wenigſtens einen
[111] guten Freund und Bekannten ihres Mannes und ihres
eigenen Hauſes dabei zu wiſſen, weil ihr ja manche
von den Theilnehmern weder vertraut genug noch ſonſt
angenehm ſeien. Sie glaube im Sinne Altenauer's zu
handeln, wenn ſie ſo verfahre; denn ſie wiſſe, daß er
etwas auf mich halte u. ſ. w. Sie habe daher kurzweg
angekündigt, ſie werde mich als ihren beſonderen Begleiter
mitbringen, und ſie bitte mich nun, wenn ich ihr den
Gefallen erweiſen wolle, einen Wagen zu beſtellen und
ſie zur beſtimmten Stunde abzuholen und auf den Sammel¬
platz zu bringen. Man habe allerdings ihren Wunſch
theilweiſe dadurch gekreuzt, daß ich ſofort zum Cavalier
der jungen Malerin beſtimmt worden ſei, wozu ich mich
vortrefflich eigne; doch hoffe ſie, die Regine, daß ich mich
wol zuweilen werde losmachen und ein Bischen mit ihr
plaudern können.
Ich ſagte mit Freuden zu und nahm mir vor, den
weiblichen Schmierteufel von Maler je eher je lieber hin
zu ſetzen und mich an die Frau Altenauer zu halten.
Als ich dieſe dann holte, fand ich es ehrenvoll, an
ihrer Seite zu fahren; ſie war in hellfarbigen duftigen
Sommerſtoff gekleidet und in jeder Beziehung einfach
aber tadellos ausgerüſtet. Sie räkelte nicht in der
Wagenecke herum, ſondern ſaß mit ihrem Sonnenſchirme
in anmuthiger Haltung aufrecht, während die Malerin,
die ſpäter uns beigeſellt wurde, ſich ſofort zurückwarf
und die Beine übereinander ſchlug. Auch die übrigen
[112] Damen erſchienen, als wir den Sammelplatz erreichten,
in heiterer Sommertracht, weiß oder farbig, und auch die
Herren hatten ſich mit Hülfe der Mode ſo ſchäferlich als
möglich gemacht. Nur die Malerin war wie eine Krähe;
ſie ſteckte in einem troſtlos dunklen, nüchternen und
ſchlampigen Kleide, mit der beleidigenden Abſicht, ja
keinen Anſpruch auf weibliche Anmuth und Frühlingsfreude
machen zu wollen. Statt des Filzes trug ſie freilich ein
Strohhütchen auf dem Kopfe, aber ein ſchwarz gefärbtes,
das von den feinen weißen Florentinerhüten der anderen
Frauenzimmer ſchuſtermäßig abſtach. Von einer freien
Locke oder Haarwelle war nichts zu ſehen; gleich einem
Kranze von Schnittlauch trug ſie das geſtutzte Haar um
Ohren und Genick. Was werden das für traurige Zeiten
ſein, wenn es ſo kommt, daß mit den lichten Kleidern
und den fliegenden Locken der jungen Mädchen und Frauen
die Frühlingsluſt aus der Welt flieht!
Ich wurde von der Geſellſchaft nicht unartig aufge¬
nommen; da aber durch den von mir mitgebrachten Wagen
überſchüſſiger Raum gewonnen war, ſetzte man uns, wie
bemerkt, die Malerin herein mit der Anzeige, daß das
meine Schutzbefohlene ſei. Als man abfuhr und die
Kutſchen im Freien rollten, zog der Künſtler ungeſäumt
ein Stück Brot und ein paar Aepfel aus der Taſche und
biß hinein; denn er hatte noch nicht gefrühſtückt, wie er
ſagte, und er genoß immer nur rohes Obſt und Brot
des Morgens, weil es das Billigſte war. Das that er
[113] nicht aus Armuth, ſondern aus Geiz; denn er verſtand
es ſehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und ſtudirte
auch nichts mehr, ſeit das Geld einging. Beim Erwerbe
aber wußte ſie, um ihrem Geſchlecht jetzt wieder die Ehre
zu geben, ſich ſehr unſchüchtern überall vorzudrängen, und
hier nahm ſie urplötzlich die Rückſichten auf das Geſchlecht
von Jedermann in Anſpruch. Der rohe Aepfelſchmaus,
wobei ſie Kerne und Hülſenſtücke über die Wagenwand
hinausſpuckte, ärgerte mich dergeſtalt, daß ich beſchloß, ſie
jetzt ſchon zu verſcheuchen. Ich begann ein Geſpräch über
die Künſtlerinnen im Allgemeinen und einige merkwürdige
Erſcheinungen im Beſonderen, und ich lobte vorzüglich
diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den ſchönen Künſten
zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauen¬
geſtalt mit heiterem oder tragiſchem Schickſale genoſſen.
Zuletzt ſchilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bild¬
niß der Angelika Kaufmann, von ihr ſelbſt gemalt, auf
mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen
reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben,
der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervoll¬
ſtändigte die Geſtalt, indem ich ſie begeiſtert an die
Glasharmonika ſetzte, das Auge emporgehoben, und rings
um ſie her die edelſte römiſche Geſellſchaft gruppirte,
welche den ergreifenden Tönen lauſchte.
„Das ſind tempi passati,“ unterbrach mich die Ma¬
lerin, „jetzt haben wir Künſtler Anderes zu thun, als Glas¬
glocken zu reiben und mit Epheukränzchen zu kokettiren!“
„Das ſeh'n wir wohl!“ ſagte ich mit einem Seufzer,
„aber es war doch eine ſchönere Zeit!“
Sobald nun die Wagen den erſten Halt machten, ſtieg,
um ein ſtattliches Masculinum zu gebrauchen, der Unhold
aus und miſchte ſich unter die Geſellſchaft, ohne mich
weiter anzuſehen. Damit war es freilich noch nicht gethan.
Eben als Frau Regine ſich freute, von der Malerin erlöſt
zu ſein, gegen die ſie einen unerklärlichen Widerwillen
empfinde, kamen die Parzen herbei und ſtellten den für
heute ihr beſtimmten Cavalier vor, einen jungen Herren
von der braſilianiſchen Geſandtſchaft mit einem langen,
aus vielen Wörtchen beſtehenden Grafentitel, er ſelbſt
lang und ſchlank, wie ein alter Ritterſpeer, pechſchwarz
und blaß, mit der ſchönſten graden Naſe und glühenden
Augen. Er war die neueſte Schwärmerei der drei Parzen,
und weil er gewünſcht hatte, mit der ſchönen Regine
bekannt zu werden, brachten ſie ihn unverzüglich mit ihr
zuſammen, womit ſie zu erreichen hofften, daß beide inter¬
eſſante Erſcheinungen zugleich in ihrer Umgebung geſehen
würden.
Als Wirth des Wagens mußte ich dem Herrn natür¬
lich den guten Sitz neben meiner Dame einräumen, die
eigentlich nun ſeine Dame wurde. Er benahm ſich übrigens
durchaus artig und ernſt, ja nur zu ernſthaft nach meiner
Meinung, da dies auf weitgehende verwegene Abſichten
deuten konnte. Regine war ſtill, ſo viel an ihr lag; ſie
beantwortete aber ſeine Anreden mit freiem Anſtande,
[115] und da der Braſilianer nicht deutſch und nicht viel mehr
engliſch oder franzöſiſch verſtand, als ſie, ſo blieb die
Unterhaltung von ſelbſt in beſcheidenen Schranken. Das
Ziel der Fahrt war der neben einem fürſtlichen Luſtſchloſſe
liegende Meierhof, wo eine gute Wirthſchaft für Stadt¬
leute betrieben wurde und die unbenutzten Räume, die
Raſengründe, Gehölze und Alleen der anſtoßenden Gärten
zur Verfügung ſtanden. Nachdem das gemeinſchaftliche
Frühſtück eingenommen, zerſtreute ſich die Geſellſchaft für
den übrigen Theil des Vormittages zum freien Aus¬
ſchwärmen und verlor ſich nach allen Seiten in den reizen¬
den Gärten. Allein Regine ließ mich keineswegs von
ihrer Seite; immer wußte ſie mich für irgend etwas in
Anſpruch zu nehmen und herbeizurufen, und da zuletzt
die Abſicht offenbar wurde, daß nicht der Südländer,
ſondern ich als ihr dienſtbarer Geiſt gelten und genannt
werden ſollte, ſo zog ſich der Graf mit der beſten Art
von der Welt ein wenig zurück, ohne Aufſehen zu erregen;
er ſchloß ſich anderen Gruppen an, deren Wege die unſrigen
kreuzten, kam zuweilen wieder, um einige artige Worte
zu wechſeln und ſich abermals zu entfernen, als ob er es
eilig hätte, auch anderswo gewärtig zu ſein. Es gab
auch zu thun für ihn; ſo mußte er einen ſcheltenden
Gärtner beſchwichtigen, als Bienchen aus einem Treib¬
hauſe ſchon ein paar prächtige Blumen ohne Weiteres
hervorgeholt hatte, obgleich die freie Luft von Blüthen¬
duft geſchwängert war und der Boden von Farben glänzte.
8*[116]
Mich aber ergriff jetzt Regine unverſehens beim Arme
und zog mich raſchen Schrittes bei Seite, bis wir auf
einſamere Schattenwege gelangten. Jetzt öffnete ſie auf
einmal ihr Herz: ſie habe ſich auf dieſen Tag gefreut,
um ſich von Erwin ſatt ſprechen zu können. Die andern
Frauen ſprächen nie von ihren Männern und auch von
dem ihrigen, nämlich Erwin, thäten ſie es nur, um alles
Mögliche auszufragen und ihre Neugierde nach Dingen,
zu befriedigen, die ſie nichts angingen. Da ſchweige ſie
lieber auch. Mit mir aber, der ich ein guter Freund
und ja ein Landsmann ſei, wolle ſie nun reden, was ſie
freue. Sie fing alſo an zu plaudern, wie ſie auf ſeine
baldige Ankunft hoffe, wie gut und lieb er ſei, auch in
den Briefen, die er ſchreibe; was er für Eigenthümlich¬
keiten habe, von denen ſie nicht wiſſe, ob ſie andere
gebildete oder reiche Herren auch beſitzen, die ſie aber
nicht um die Welt hingeben möchte; ob ich viel von ihm
wiſſe aus der Zeit, ehe ſie ihn gekannt? Ob ich nicht
glaube, daß er glücklicher geweſen ſei, als jetzt, und tauſend
ſolcher Dinge mehr. Sie redete ſich ſo in die Aufregung
hinein, daß ſie ſchneller zu gehen und zu eilen begann,
wie wenn ſie ihn gleich jetzt zu finden gedächte, und ſo
gelangten wir unerwartet auf einen freien ſonnigen Platz,
der einen kleinen Teich umgab. In der Mitte des letzteren
erhob ſich eine flache goldene Schale, aus welcher das
Waſſer über ein großes Bouquet friſcher Blumen ſo ſanft
und gleichmäßig herabfiel, und ſo ohne jedes Geräuſch,
[117] daß es vollkommen ausſah, als ob die ſchönen Blumen
unter einer leiſe fließenden Glasglocke ſtänden, die von
der Sonne durchſpielt war. Regine hatte dieſe Waſſer¬
kunſt noch niemals geſehen. „Wie ſchön!“ rief ſie, ſtill¬
ſtehend; „wie iſt es nur möglich, das hervorzubringen?“
Unwillkürlich ſetzte ſie ſich auf eine Bank, dem artigen
Wunder gegenüber, und ſchaute unverwandt hin. Ein
ſeliges Lächeln ſpielte eben ſo leis um den Mund, wie
das Waſſer um die Blumen, und ich ſah wohl, daß die
lebendige Kriſtallglocke, die ſo treu die Roſen ſchützte,
die Gedanken der Frau nur wieder auf den Mann zurück¬
gewendet hatte. Wie ich ſo neben ihr ſtand und ſie
meinerſeits voll Theilnahme betrachtete, ohne daß ſie deſſen
inne ward, fühlte ich mich innig bewegt. Ich hätte vor¬
mals nie geglaubt, daß es eine ſo reine Freude geben
könnte, wie diejenige iſt, in die Liebe einer holden Frau
zu einem Dritten hinein zu ſehen und ihr nur Gutes zu
wünſchen!
Aber unvermerkt nahm ich wahr, wie die ſtille Heiter¬
keit ſich wandelte, leiſe, leis! und einer immer dunkler
werdenden Schwermuth Raum zu geben ſchien. Die Lippen
blieben leicht geöffnet, wie ſie es im Lächeln geweſen,
aber mit bekümmertem Ausdruck. Das Haupt ſenkte ſich
ein weniges, wie von tiefem Nachdenken, und endlich fielen
ſchwere Thränen ihr aus den Augen.
Betroffen weckte ich ſie aus dieſem Zuſtande, indem
ich mir erlaubte, die Hand leicht auf ihre Schulter zu
[118] legen und zu fragen, was ihr ſo Trauriges durch den
Sinn fahre? Sie ſchrak zuſammen, ſuchte ſich zu faſſen,
und aus den paar Worten, die ſie ſtammelte, ahnte ich,
daß erſt das Heimweh nach dem Manne ſie ergriffen und
dann der Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Dauer ihres
Glückes ſie beſchlichen hatte. Ich beſtrebte mich, ſie durch
einige zuverſichtliche Scherzworte aus der verzwickten
Stimmung herauszubringen. Sie wurde auch wieder ruhig
und unbefangen, und als wir weiter gehend bald darauf
dem Braſilianer begegneten, der uns ſuchte, um uns zur
Mittagstafel zu holen, die unter Bäumen ſchon bereit
ſtehe, empfing ſie ihn mit Freundlichkeit. Von dem be¬
ſcheiden dienſtfertigen Weſen des hübſchen Ritters beſtochen
ſchien ſie ihre frühere Härte gutmachen zu wollen und
nahm ſeinen Arm an für den kurzen Weg, den wir
bis zum Orte des Speiſevergnügens noch zurückzulegen
hatten, und ſie duldete ſogar ſeine Geſellſchaft und Be¬
dienung bei Tiſche, was er in tadelloſeſter Weiſe benutzte.
Dagegen entzog ſie ſich den üblichen Lauf-, Spring- und
Lärmſpielen, welche ſpäter beliebt wurden, und nahm
mich unverhohlen abermals in Anſpruch, was mich bei
aller Theilnahme und guten Freundſchaft, die ich für ſie
empfand, doch nachgerade ein wenig zu demüthigen begann,
da ich mir beinahe wie ein unbedeutendes junges Vetter¬
lein vorkam, das ein ſtolzes Mädchen als Bedeckung mit
ſich führt. An dem großen Kaffeekränzchen, das dann
unter erneuter Luſtbarkeit abgehalten wurde, nahm ſie
[119] wiederum Theil und verſorgte jetzt den immer gleichen
Südländer ſelbſt mit Kaffee und Kuchen. Als es dann
zur Heimfahrt ging, mußte ich natürlich den Herrn wieder
in unſern Wagen bitten, zumal unter den übrigen Gruppen
verſchiedene Spannungen entſtanden waren. Insbeſondere
die Renommiſtinnen ſchmollten alle drei etwas mehr oder
weniger, aus welcher Urſache, blieb mir unbekannt; ich
hörte nur das halblaute Wort eines Fahrtgenoſſen, es
pflege ſo das gewöhnliche Ende aller Landpartieen zu
ſein, die jene anſtellten. Indeſſen glaubte ich mehr als
einmal während des Tages das Phänomen bemerkt zu
haben, daß eine gewiſſe innere Unruhe und Unzufrieden¬
heit durch alle Luſtigkeit ging, wie ein heimlicher Luft¬
hauch im welkenden Laube zittert und raſchelt, oder wie
es im Liede von einer Geſellſchaft von Männern und
Frauen heißt, die in einer Luſtgondel auf ſtillem Waſſer
fahren:
und die einzige Regine ſchien die ruhigſte Perſon von
allen zu ſein.
Doch machte ihr die ſinkende Sonne, die wir vom
Wagen aus ſo ſchön niedergehen ſahen, und die mälig
eintretende Dämmerung, welche die Kinder und die Volks¬
frauen gern geſprächig und munter macht, viel Vergnügen;
ſie plauderte ordentlich und in einer Stunde mehr, als
ſie ſeit dem Vormittage geſprochen hatte, und erſt als
[120] es vollends dunkel wurde und die Sterne nach einander
aufgingen, wurde ſie ſtiller und ſchwieg zuletzt ganz.
Der Graf flüſterte mir auf franzöſiſch zu, er glaube,
daß Madame ſchlafe. Sie ſagte aber ganz vergnügt:
„Ich ſchlafe nicht!“ Und als wir endlich an ihrem Hauſe
vorfuhren, nachdem die Geſellſchaft ziemlich ohne Abſchied
auseinander geraſſelt war, und ſie von ihrer kleinen
Dienerſchaft, die mit Lichtern im Thorwege ſtand, em¬
pfangen wurde, ſchüttelte ſie uns beiden ganz herzhaft
die Hände zum Abſchied, ſo gutes Vertrauen ſchien ſie
jetzt wieder zur Weltordnung gefaßt zu haben.
Der Braſilianer und ich waren nicht minder zufrieden
als vernünftige und ordentliche Leute, die einen guten
Eindruck davontrugen, und wir wurden einig, zuſammen
noch eine wohlberufene Weinſtube [zu] beſuchen und uns
bei einer ruhigen Cigarre etwas Gutes zu gönnen. Wir
ſtießen auf das Wohl der ſchönen Frau mit einigen loben¬
den Worten an, der Graf wie ein ruhiger und anſtändiger
Kenner, und ich machte ihm es großartig nach, worauf
wir nicht mehr davon ſprachen, ſondern uns der Betrach¬
tung des nächtlich angeheiterten Weltlaufes überließen.
Doch ſprach der des Trinkens nur mäßig gewöhnte Süd¬
länder dem Weine nicht eifrig zu; ich mußte das Beſte
thun, und ſo trennten wir uns nach ausgerauchter Cigarre
ſchon vor zehn Uhr. Der ſchwarzäugige Graf ſuchte ſeine
Wohnung auf; ich aber verfügte mich, zur Schande meiner
Jugendjahre ſei es geſtanden, ſchleunig noch in eine neun
[121] Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutſche Männer ſaßen,
die einſt Studenten geweſen und ſich langſam und vor¬
ſichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten.
Ich hielt es am andern Tage für ſchicklich, der Frau
Regine einen Beſuch abzuſtatten. Als ich an ihrer Thüre
die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haus¬
hälterin oder wie man die Perſon nennen will, die von
allem etwas vorſtellte und verſah. Zu meiner Verwun¬
derung betrachtete ſie mich mit einem unheimlich ernſten
Geſichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen
ſchien. Sie beſah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ
den Blick über dieſen hinaus noch weiter in die Höhe
gehen, als ob ſie in dem Luftraume über mir nach etwas
ſuchte. Sie ſchüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das
Wort, das ſie zu ſagen im Begriffe war, ab und wies
mich kurz in das Zimmer, wo die Frau ſich aufhielt.
Hier befiel mich ein neues Erſtaunen, ja ein völliger
Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zuſtande,
in welchem ich die Regine am vorigen Tage geſehen, ſaß
ſie jetzt in einer Art Zerſtörung am Fenſter und ver¬
mochte ſich kaum zu erheben, als ich eintrat; ſie ließ ſich
aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz
war todtenbleich, überwacht und erſchreckt, beinahe gefurcht;
die Augen blickten unſicher und ſcheu, auch fand ſie kaum
die Stimme, als ſie meinen Gruß erwiderte. Beſorgt
und faſt eben ſo tonlos fragte ich, ob ſie ſich nicht wohl
befinde? „Allerdings nicht zum Beſten“, antwortete ſie
[122] mit einem müden und erzwungenen Lächeln, das aus
einem rechten Elende hervorkam; aber ſie verſuchte kein
Wort der Erklärung hinzuzufügen, und nachdem ſie in
einem kurzen richtungsloſen Geſpräche ſich und mich furcht¬
ſam überwacht hatte, begab ich mich in der ſonderbarſten
Verfaſſung von der Welt wieder nach Hauſe. Denn ich
war ſo verdutzt und unbehaglich im Gemüthe, ohne mir
irgend eine Rechenſchaft darüber geben zu können, daß
ich vorzog, allein zu bleiben. Kaum ſaß ich aber eine
kleine Stunde bei meinen Büchern, ſo klopfte es an die
Thüre, die Altenauer'ſche Haushälterin kam herein, ſtellte
einen Korb mit Markteinkäufen neben die Thür und ſetzte
ſich, kurz um Erlaubniß bittend, auf einen Stuhl, der
unweit davon an der Wand ſtand.
„Sie ſind noch ein junger Mann,“ ſagte ſie, „aber
Sie kennen meine Herrſchaft von früher her, und ich
weiß, daß der Herr etwas auf Sie hält. Da kann ich
mir nicht anders helfen und muß mich Ihnen anvertrauen,
ob Sie einen Rath wiſſen in der ſchwierigen Sache, die
mich bedrückt!“
Immer mehr betroffen und verwirrt fragte ich, was
es denn ſei und was denn vorgehe?
Nachdem ſie ſich etwas verſchnauft und ſich zögernd
beſonnen, ſagte ſie: „Geſtern Nachts, als ich in meinem
Schlafzimmer, das außerhalb unſerer abgeſchloſſenen
Wohnung in einem Zwiſchengeſchoſſe liegt, noch wach
war und eine zerriſſene Schürze flickte, es mochte ſchon
[123] zehn Uhr vorüber ſein, hörte ich an der Flurthüre ſachte
klingeln, ſo daß die Glocke nur einen einzigen Ton von
ſich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der
inwendig ſteckende Schlüſſel umgedreht und die Thüre
geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder
Schrei ausgeſtoßen wurde. Da ging ich, immer horchend,
nach meiner Thüre und machte ſie auf, um zu ſehen,
was es denn ſo ſpät noch gebe. In dieſem Augenblicke
aber ſah ich einen Lichtſchein verſchwinden und die Flur¬
thüre ſich ſchließen, und der Schlüſſel wurde zweimal
gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich
doch einigermaßen beſorgt war. Ich hörte nur noch ein
kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der
inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬
nehmen konnte. Endlich dachte ich, es müſſe die Köchin
oder das jüngſte Mädchen geweſen ſein, das noch einen
Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging alſo wieder
in mein Zimmer und bald darauf ſchlafen. Vor Tages¬
anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen
Hundes, welchen die über uns wohnende Herrſchaft auf
ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre
gehen; ernſtlich beunruhigt, ſtellte ich mich ſchnell auf die
Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und ſah hinaus.
Ein großer Mann, höher als Sie ſind, Herr Reinhart,
ging nach der Treppe zu, mit ſchwerem Gange, obgleich
er ſo behutſam als möglich auftrat. Ich konnte aber
nichts Deutliches von ihm ſehen, es war eben nur wie
[124] ein rieſiger Schatten, da meine Frau, wie mir ſchien
auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm
herſchwankte und das Licht mit der Hand ſo bedeckte, daß
nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's
die Treppe hinunter, das Hausthor wurde geöffnet [und]
geſchloſſen, die Frau kam wieder heraufgeſtiegen, vor
ihrer Thüre hielt ſie einen Augenblick an und that einen
tiefen Seufzer; dann verſchwand ſie und alles ward wieder
ſtill. Dann ſchlug es zwei Uhr auf den Thürmen. Die
Frau war, ſo viel ich ſehen konnte, in ihrem Nachtgewande.
„Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne
in unſerem Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöſcht
und das Thor geſchloſſen; der Menſch oder was es war,
mußte alſo ſich vor dieſer Zeit in's Haus geſchlichen
haben oder dann einen Hausſchlüſſel beſitzen. Als ich
um die fünfte Morgenſtunde ſchellte, that mir die Frau
die Thüre auf, nach der während der Abweſenheit des
Herrn eingeführten Ordnung; denn wenn er da iſt, ſo
wird der Flurſchlüſſel nicht inwendig umgedreht, damit
ich des Morgens ſelbſt öffnen kann und nicht zu läuten
brauche. Die Frau zog ſich aber wie ein Geiſt ſogleich
wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der
Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung.
Einzig in dem Eßzimmer ſtand das Büffet geöffnet; eine
Caraffe, in der ſich ſeit Wochen ungefähr eine halbe
Flaſche ſicilianiſchen Weines faſt unverändert befunden
hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen
[125] verſchwunden und ein Teller mit Backwerk ſäuberlich ab¬
geräumt. Auf dem Tiſche ſah ich den vertrockneten Ring
von einem überfüllten Weinglaſe, auf dem Boden einige
Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen
Füßen verſchoben, von beſtäubten Schuhen befleckt.
Als die Frau ſpäter zum Vorſchein kam, war ſie ver¬
ändert, wie Sie ja wol ſelbſt geſehen haben. Nicht ein
Wort hat ſie verlauten laſſen, und ich habe bis jetzt noch
nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun ſoll; ich weiß,
es iſt ein fremder Mann über Nacht dageweſen und heim¬
lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken
und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬
wiſſerin und Hehlerin eines Verbrechens ſein! Und ich
kann das arme ſchöne Geſchöpf auch nicht ohne Weiteres
zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr
Reinhart, was zu thun ſei?
Ich war wie erſtarrt. Sorge und Entrüſtung für
Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit
dem Weibe, wenn es wirklich ſchuldig ſein ſollte, durch¬
ſtürmten mich, als ich mich einigermaßen beſann. Ich
dachte unwillkürlich an den Braſilianer und fragte die
ganz verſtörte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet
geweſen ſei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber
darauf, daß ſie nichts habe erkennen können; nur einen
breiten, tief in's Geſicht hängenden Schlapphut glaube ſie
geſehen zu haben.
Ich grübelte und ſchwieg einige Zeit, während die
[126] redliche Perſon verſchiedene Male merklich ſtöhnte, ſo nahe
ging ihr die Sache, und ich konnte daraus erſehen, wie
ſehr ſie an der Frau gehangen hatte, die jetzt ſo unglück¬
lich war. Dieſe Erkenntniß verſtärkte meine eigene
Theilnahme. Endlich ſagte ich: Wir müſſen uns, glaube
ich, in den Fall verſetzen, wo in einem Hauſe ge¬
bildeter Leute ein Geſpenſt geſehen worden iſt, oder gar
eine fortgeſetzte Spuk- und Geiſtergeſchichte rumort hat.
Die ſchreckhaften Dinge, Erſcheinungen, Poltertöne ſind
nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne
Perſonen Zeugen waren und ſie zugeben müſſen. Allein
obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des
Geheimniſſes für einmal möglich iſt, ſo bleibt doch nichts
Anderes übrig, als an dem Vernunftgebote feſtzuhalten
und ſich darauf zu verlaſſen, daß über kurz oder lang
die einfache Wahrheit an's Tageslicht treten und Jeder¬
mann zufrieden ſtellen wird. So müſſen auch wir den
unerklärlichen Vorgang auf ſich beruhen laſſen, überzeugt
oder wenigſtens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde
ſich ſo unwandelbar herausſtellen, wie ein Naturgeſetz.
Die gute Dienerin, die mehr an Geſpenſter als an
Naturgeſetze glauben mochte, ſchien durch meine Worte
nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte ſie mir auf
mein Andringen, gegen Jedermann ohne Ausnahme das
Geheimniß zu wahren und ſchweigend zu erwarten, wie
es mit der Frau weiter gehen wolle.
Ich ſelbſt war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir
[127] der lange Braſilianer wieder ein, wie ein Dolchſtich.
Sollte doch geſtern ein raſches Einverſtändniß ſtatt¬
gefunden haben, als Abſchluß längeren Widerſtandes und
fortgeſetzter Verführungskünſte? Und wenn der Ver¬
führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen iſt, muß
er denn wirklich geſiegt haben? Aber ſeit wann trinken
feine Herren, wenn ſie auf ſolche Abenteuer ausgehen, ſo
viel ſüßen Wein, und ſeit wann frißt ein vornehmer
Don Juan ſo viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn
er Hunger hat? Der erſt recht!
Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tiſch wollte
ich den ſchwarzen Grafen in einem Gartencafé aufſuchen,
in welchem jüngere Leute ſeiner Geſellſchaftsklaſſe ſich eine
Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigſtens zu
beobachten, was er für ein Geſicht machte. Allein ich
kam von der Idee zurück, ſie widerte mich an, und was
hatte ich mich darein zu miſchen? Dafür traf ich ihn
von ſelbſt auf einer Promenade mit andern Herren. Er
grüßte mich genau ſo ruhig, geſetzt und unbefangen, wie
er mich geſtern verlaſſen.
Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht
mehr zu ſehen. Das ſind Dinge, die du am Ende nicht
zu behandeln verſtehſt, noch zu verſtehen brauchſt! ſagte
ich mir. Einige Tage ſpäter ging ich in das Theater
und ſah Reginen in der Loge der drei Parzen ſitzen und
hinter ihr den Grafen. Die Parzen ſpiegelten ſich offen¬
bar in dem Bewußtſein, aller Augen auf ſich gerichtet zu
[128] ſehen. Der Graf ſaß ruhig und unterhielt ſich höflich
mit den Damen; Regine war blaß und ſchien unzweifel¬
haft mehr hergeſchleppt worden, als freiwillig gekommen
zu ſein. Es wurde Maria Stuart gegeben. Gegen den
Schluß des Trauerſpieles betrachtete ich die Loge von
meinem dunkeln Winkel aus durch das Glas, während die
Augen des ganzen Hauſes auf die Bühne gerichtet waren,
wo Leiceſter die Hinrichtung der Maria belauſchte, die
unter ſeinen Füßen vor ſich ging. Der Schauſpieler war
ein dummer Geck, der in ſeinem weißen Atlaskleide die
kümmerlichſten Faxen machte, weshalb ich auch meine Blicke
von ihm abgewendet hatte. Aber Regine, welche bis dahin,
wie ich gut geſehen, der Handlung nur mit mühſeliger
Theilnahme gefolgt war, blickte jetzt mit einer wahren
Seelenangſt hin, und als der Schauſpieler das Fallen des
Hauptes mit einem ungeſchickten Umpurzeln anzeigte, zuckte
ſie ſchrecklich zuſammen, ſo daß der Graf ſie einen Augen¬
blick lang aufrecht halten mußte.
Endlich kam die Nachricht, Erwin ſei auf der Rück¬
reiſe begriffen. Ich will, was noch zu erzählen iſt, ſo
folgen laſſen, wie es ſich theils für ihn entwickelt hat,
theils mir durch ihn ſpäter bekannt wurde. Die Geſchäfte
hatten ihn zuletzt nach Newyork geführt, wo er ſich dann
einſchiffte. Dort war er in die Verkaufsräume eines
Kunſthändlers getreten, der nebenbei ein Lager von
amerikaniſchen Gewerbserzeugniſſen eleganter Art hielt;
er wollte nur ſchnell nachſehen, ob ſich etwas für Reginen
[129] Geeignetes und Erfreuliches fände. Indem er das auf
einem Tiſche ausgebreitete glänzende Spielzeug muſterte,
wurde ſein Blick durch ein ſtarkfarbiges Bild ſeitwärts
gezogen, das an der Wand unter andern Sachen hing,
die alle mit der Bezeichnung „neue deutſche Schule“ ver¬
ſehen waren. Sobald er nun hinſah, kam es ihm vor,
als ob das ſeine Frau wäre. Die rechte Perſönlichkeit
und Seele fehlten zwar dem Bild, und der fremdartige
Aufputz machte die zweifelhafte Aehnlichkeit noch fraglicher;
es konnte ſich um einen allgemeinen Frauentypus, um ein
Spiel des Zufalls handeln. Allein Regine hatte ihm ja
geſchrieben, daß ſie einer talentvollen Künſtlerin zum
Studium geſeſſen ſei; hier ſtand der Name der Malerin
mit großen Buchſtaben auf dem Bilde geſchrieben, der
Vorname freilich in einer Abkürzung, die ebenſo wohl
einen männlichen wie einen weiblichen Vornamen bedeuten
konnte; hingegen war die Stadt und die Jahrzahl zu¬
treffend. Erwin fühlte ſich, trotz dem blitzartigen Eindruck
von Luſt, den ihm der unerwartete Anblick verurſacht
hatte, gleich darauf ganz widerwärtig berührt. Nicht
nur, daß das Bildniß ſeiner Gattin als Verkaufsgegenſtand
herumreiſte, auch die komödienhafte Tracht und die Auf¬
ſchrift „Studienkopf“, als ob es ſich um ein käufliches
Malermodell handelte, kurz, der ganze Vorgang verurſachte
ihm, je länger er darüber dachte, den größten Aerger.
Doch verſchluckte er den, ſo gut er konnte, und erhandelte
das Bild mit möglichſt gleichgültiger Miene, ohne ahnen
Keller, Sinngedicht. 9[130] zu laſſen, wie nah' ihm das Original ſtehe. Er ließ es
verpacken und ſandte es nach Boſton, eh' er zu Schiffe
ging, nicht ohne den Vorſatz, ein wenig nachzuſpüren,
wer eigentlich an der begangenen Taktloſigkeit die Schuld
trage. Denn dieſe maß er keineswegs der Regine bei,
obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht
unterdrücken konnte, ob dieſe höhere, dieſe Taktfrage der
Bildung (oder wie er die Worte ſich ſtellen mochte) ſich
bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch
vollſtändig löſen werde?
Nun, er kam alſo eines ſchönen Julimorgens an. Er
war die Nacht über gefahren, um ſchneller da zu ſein.
Als er den Thorweg betrat, ſah er durch eine offene
Thüre die Hausdienerſchaft auf dem Hofe um einen Milch¬
mann verſammelt und freute ſich, ſeine Frau unverſehens
überraſchen zu können. Die Wohnung ſtand offen und
ganz ſtill und er ging leiſe durch die Zimmer. Ver¬
wundert fand er im Geſellſchaftsſaal eine große Neuigkeit:
auf eigenem Poſtamente ſtand ein mehr als drei Fuß
hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstags¬
geſchenk der drei Parzen; jede von ihnen beſaß einen
gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris beſtellt wurde;
denn es war eine eigenthümliche Muckerei im Cultus dieſes
ernſten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüſternes
deckte ſich mit der Anbetung des Bildes, und manche
Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die heraus¬
fordernde Aufrichtung desſelben auf ihren Hausaltären.
[131]
Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Geſtalt,
die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬
harmonie des Saales ſtörte. Aber wie überraſcht ſtand
er eine Minute ſpäter unter der Thüre des Schlaf¬
zimmers, das er leiſe geöffnet, als er eine durchaus ver¬
wandte, jedoch von farbigem Leben pulſirende Erſcheinung
ſah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften
eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe
geſchlungen, die in breiten Maſſen und gebrochenen Falten
bis auf den Boden niederſtarrte, ſtand Regine vor dem
Toiletteſpiegel und band mit einem ſchwermüthigen Ge¬
ſichtsausdrucke das Haar auf, nachdem ſie ſich eben
gewaſchen zu haben ſchien. Welch' ein Anblick! hat er
ſpäter noch immer geſagt. Freilich weniger griechiſch, als
venezianiſch, um in ſolchen Gemeinplätzen zu reden.
Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die
einfache Seele dazu, auf ſolche Weiſe die Schönheit zu
ſpiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat
ſie das gelehrt? Woher hat ſie das große Stück unver¬
arbeiteten Seidendamaſt? Iſt ſie mittlerweile ſo weit
in der Ausbildung gekommen, daß ſie ſo üppige An¬
ſchaffungen macht, wie ein ſolcher Stoff iſt, nur um ihn
des Morgens um die Lenden zu ſchlagen während eines
kleinen Luftbades? Und hat ſie dieſe Künſte für ihn
gelernt und aufgeſpart?
Dieſe Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel
durch ſein Gehirn, nur halb kenntlich; ſie zerſtoben jedoch
9*[132] gänzlich, als er den Ausdruck ihres Geſichtes im Spiegel
ſah und ſie ungeſäumt beim Namen rief, um den Kummer
zu verſcheuchen, den er erblickte. Das war ſeine nächſte
treue Regung. Sie lag nun glückſelig in ſeinen Armen
und Alles ging in den erſten paar Stunden, bis ſie ſich
etwas ausgeplaudert, gut von Statten, auch das kleine
Verhör wegen des Aufzuges, in welchem er ſie getroffen.
Erröthend und mit verfinſterten Augen erzählte ſie, man
habe ihr nicht Ruhe gelaſſen, bis ſie der bewußten Malerin
für eine Studie hingeſtanden; das ſei eine wahre Pflicht¬
erfüllung, eine Gewiſſensſache und durchaus unverfänglich
und Alles bleibe unter ihnen, d. h. den Freundinnen, von
welchen eine der Malſtunde beigewohnt habe. Nun, da
man ein ſolches Weſen von ihrem Wuchſe gemacht und
ſie den Damaſt einmal gekauft und bezahlt, habe ſie
gedacht, das erſte Anrecht, ſie ſo zu ſehen, wenn es denn
doch etwas Schönes ſein ſolle, gehöre ihrem Mann, und
darum habe ſie ſich ſchon ſeit ein paar Tagen daran zu
gewöhnen geſucht, das Tuch ohne die Malerin in gehöriger
Weiſe umzuſchlagen und feſtzumachen. Es ſei auch nur
ein kleines Bildchen gemacht worden.
Aber wo es denn ſei? fragte der Mann, ſeinerſeits
erröthend. Ei, die Malerin habe es mitgenommen, es
ſei ja ein Frauenzimmer, erwiderte Regine betreten.
Ueberdies wolle es eine der drei Freundinnen als An¬
denken in Anſpruch nehmen. Erwin ſah die Unerfahren¬
heit und Unſchuld der guten Regine oder glaubte jetzt
[133] wenigſtens daran, nahm ſich aber doch vor, die ſeltſamen
Damen aufzuſuchen und ſich das Bild zu verſchaffen.
Den erſten Tag blieb er zu Hauſe; eh' es Abend wurde,
war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer
und Angſt verfallen, wenn ſie ſich auch immer wieder
zuſammenraffte oder über dem Beſitze des Mannes ihr
Gemüth ſich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß ſie
nicht mehr die Gleiche ſei, die ſie geweſen, daß irgend
ein Etwas ſich ereignet haben müſſe. Ohne die verhoffte
Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau ſchlief;
er wußte aber nicht, ob ſie zum erſten Male wieder
den Schlaf fand oder ſtets geſchlafen hatte.
Am zweiten Tage nach ſeiner Ankunft ging er auf
ſeine Geſandtſchaft, um einige Verrichtungen zu beſorgen,
die man ihm in Waſhington zur mündlichen Abwickelung
übertragen. Unter anderem gab es da obſchwebende ſee¬
rechtliche Intereſſen, wegen welcher mit den braſilianiſchen
Diplomaten Rückſprache zu nehmen war, eh' bei den
europäiſchen Staaten vorgegangen wurde; übrigens han¬
delte es ſich weder um ein entſcheidendes Stadium, noch
um eine ſehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug
ſeinem Geſandten dasjenige vor, was ſich auf unſern
Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh
und erſuchte ihn, nur ſelbſt zu den Braſilianern zu gehen
und in ſeinem Namen das Nöthige zu verhandeln. Erwin
ging hin, traf aber bloß einen Secretär. Der Geſandte
ſei in Karlsbad, hieß es; doch habe der Attaché Graf
[134] So und So die bezüglichen Acten an ſich genommen und
ſtudire ſie ſoeben; er ſei ohne Zweifel in der Lage, Auf¬
ſchluß zu ertheilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges
anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab
ſich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben
der unſ'rige war. Die beiden Männer hatten ſich noch
nie geſehen, weil der Braſilianer erſt während Erwin's
Abweſenheit an die Stelle gekommen war. Der Süd¬
amerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen,
ſagte, er habe das Vergnügen, deſſen Gemahlin zu kennen,
und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geſchäft¬
liche Unterredung vor ſich, welche etwa eine halbe Stunde
dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne
eiferſüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntſchaft
des Grafen mit ſeiner Frau nicht aufgefallen, trotz der
ſchwarzäugigen Romantik; er hatte ſeine Häuslichkeit
über der gemächlichen Verhandlung vergeſſen und ging
jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn
hinaus begleitete. Wieder, wie in New-York, leuchtete
plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht geſehen. Neben
der Zimmerthüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt,
ſtand ein Ziertiſchchen und auf demſelben, an die Wand
gelehnt, ein kleines Oelbild in breitem, krausgeſchnitztem
Goldrahmen. Es war die Figur von Erwin's Frau, wie
er ſie bei ſeiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen.
Die Malerin hatte doch die Rückſicht genommen, das
Geſicht unkenntlich zu machen, d. h. dasjenige eines andern
[135] Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seiden¬
ſtoff und die ganze Erſcheinung auf den erſten Blick.
Die dämoniſche Malerin hatte ihr zum Ueberfluß beide
Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin ſie mit dem
Haar beſchäftigt zuerſt geſehen.
Er trat mit einem Schritte vor das Tiſchchen und ließ
die Augen an dem Bild haften, indeſſen es vor denſelben
in einen Nebel zerfloß und ſich wieder herſtellte, ab¬
wechſelnd, man könnte ſagen, wie Aphrodite aus dem
Dunſt und Schaum des Meeres. Er wagte nicht weg¬
zublicken, noch den Grafen anzuſehen, und doch war es
ihm zu Muth wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück
jagten ſich die Vorſtellungen eben ſo ſchnell, als es bei
einem ſolchen geſchehen ſoll. Es war immer eine Möglich¬
keit, daß der Graf nicht wußte, was er beſaß; warum
alſo am unrechten Orte ſich ſelbſt und die Frau verrathen?
Nöthigen Falls konnte er ja wieder kommen und den
Feind ſeiner Ehre im Angeſicht des Bildes niederſtoßen.
Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht
vernichtet ſein? Denn ein böſer Zuſammenhang wird
immer deutlicher, woher ſonſt das elende Weſen im Hauſe?
Was iſt indeſſen mit einer ſolchen Vernichtung gewonnen,
und wer iſt der Richter? Ich, der ich ein junges, rath¬
loſes Geſchöpf faſt ein Jahr lang allein laſſe?
So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von
den ſcheinbar zahlloſen und doch ſo wenigen, die wir zu
leben haben. Plötzlich faßte er ſich gewaltſam zuſammen,
[136] ſah den Grafen flüchtig an und ſagte, ohne den Mund
zu verziehen: „Sie haben da ein hübſches Bildchen!“
„Ich habe es in einem hieſigen Atelier gekauft,“ ſagte
der Andere, „es ſoll nach dem Leben gemalt ſein!“
Sie ſchüttelten ſich mit der bei Diplomaten üblichen
Herzlichkeit die Hand und Erwin zog ſeines Weges. Er
ging aber nicht in ſeine Behauſung, auch nicht zu der
Malerin oder zu den Parzen, wie er früher Willens
geweſen, noch auch zu mir oder ſonſt zu Jemandem, ſon¬
dern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landſtraße
vor das Thor hinaus, genau bis zum erſten Stunden¬
zeiger, und von da wieder zurück. In dieſer Zeit wollte
er mit ſeinem Entſchluſſe im Reinen ſein und dann um
kein Jota davon abgehen; kein Fremder ſollte davon
wiſſen oder darein reden.
In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter
den Wolken des Himmels, im Angeſichte mühſeliger
Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Laſtthiere,
heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unſichtbar
neben ſich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung
ſo zu ſagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es
bedünkte ihn in der That beinahe, als ſeh' er ſie mühſam
an ſeiner Seite wandeln, nach Antwort auf ſeine Fragen
ſuchend, und ſeine Bitterkeit wurde von Mitleiden um¬
hüllt, aber nicht verſüßt.
Als er an das Stadtthor zurückkam, war ſein Be¬
ſchluß fertig, wenn auch nicht das Urtheil. Er wollte nicht
[137] den Stab, ſondern die ganze Geſchichte über'm Knie
brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit
die Aufklärung des Unheils überlaſſen. Auch gegen
Reginen wollte er ſchweigen, gewärtig, ob ſie Recht und
Kraft zur freien Rede aus ſich ſelber ſchöpfe, und je nach
Beſchaffenheit würde ſich dann das Weitere ergeben.
Unterdeſſen ſollte die ſtumme Trennung, die zwiſchen ſie
getreten, ihr nicht verborgen bleiben und ſie fühlen, daß
die Entſcheidung nur aufgeſchoben ſei.
Mit dieſem Vorſatze trat er wieder in ſein Haus,
wo er Reginen nicht fand. Ihr war erſt ſeit Erwin's
Ausgang das Bedenkliche und Unzuläſſige des Vorfalls
mit dem Bilde ſchwer in's Gewiſſen gefallen; Blick und
Wort Erwin's hatten ſie getroffen und die Dämmerung
ihres Bewußtſeins plötzlich erleuchtet. Von Angſt erfüllt
war ſie fortgeeilt, zunächſt zur Malerin, das Bild von
ihr zu fordern. Sie ſuchte Ausflüchte, verſprach es zu
ſchicken oder ſelbſt zu bringen, und gedrängt von der
Flehenden, ſagte ſie endlich, das Bild müſſe bei einer
der drei Damen ſein (der Parzen nämlich), jedenfalls ſei
es gut aufgehoben und in ſicheren Händen. Regine lief
zum ſogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum
Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wiſſen,
jede lächelte zuerſt verwundert und jede erhob dann einen
dummen Lärm und wollte durchaus die Aermſte auf der
Jagd nach ihrem Bildniß geräuſchvoll weiter begleiten.
Unverrichteter Sache, aber mit doppelter Laſt beladen
[138] kehrte ſie heim und traf ihren Mann in Geſchäften mit
einem Agenten, dem er, wie ſie trotz der Erſchöpfung
allmälig bemerkte, den Verkauf der ganzen hausräthlichen
Einrichtung, das Verpacken und Spediren der mitzu¬
nehmenden Gegenſtände und ähnliche Dinge auftrug. Als
der Agent fort war, ſagte Erwin zu Reginen, welche
bleich und ſtumm in einer Ecke ſaß: „Du kommſt gerade
recht und kannſt die Dienſtboten auszahlen und entlaſſen;
es ſchickt ſich das beſſer für die Frau! Wir reiſen nämlich
heut' Abend weg und ſind in zwei Tagen auf der See;
denn wir gehen zu meinen Eltern!“
Kein Wort mehr noch weniger ſagte er zu ihr und
ſie wagte nicht ein einziges zu ſprechen. Nur tief auf¬
athmen hörte er ſie, wie wenn ſie ſich durch die Ausſicht,
über das Meer zu kommen, erleichtert fühlte.
Am ſelben Tage noch wurden alſo Koffer gepackt,
Rechnungen bezahlt und alle die Dinge verrichtet, die
mit einer plötzlichen Abreiſe verbunden ſein mögen. Erwin
brachte dann noch eine halbe Stunde auf der Geſandtſchaft
zu, ſonſt nahm er von Niemandem Abſchied. Ich ver¬
nahm von alledem das erſte Wort durch die entlaſſene
Haushälterin, die mich wenige Tage ſpäter nochmals auf¬
ſuchte, um ihr Gewiſſen zu beſchwichtigen, indem ſie mir
geſtand, ſie habe im Tumulte des letzten Nachmittags
während eines ſtillen Augenblickes dem Erwin mit wenig
Worten leiſe geſagt, es ſei ein einziges Mal in der Nacht
ein fremder Mann da geweſen und von da an ſei die
[139] Verſtörung im Hauſe. Sie wiſſe nicht, wer und was es
geweſen ſei, glaube aber, es ihm nicht verſchweigen zu
dürfen, damit er in ſeiner Sorge nicht zu viel und nicht
zu wenig ſehe. Darauf habe Erwin ſie mit trüben Augen
angeſchaut und, obgleich ſie gemerkt, wie ihn die Mit¬
theilung erſchüttert, geſagt, er wiſſe die Sache wohl, es ſei
ein Geheimniß, das ſie nur verſchweigen ſolle, er habe
den Mann ſelbſt geſandt.
Unmittelbar nach der kurzen Unterredung habe er in
der gleichen milden und gelaſſenen Weiſe wie vorher das
Wenige mit Reginen geſprochen, was er zu ſprechen
hatte, und beim Verlaſſen des Hauſes der dicht verſchleierten
Frau den Arm gegeben. Nun wiſſe ſie, die Haushälterin,
doch nicht, ob ſie recht gethan und das Unglück ver¬
größert habe.
Ich fragte ſie, ob ſie von der Sache jemals den übrigen
Bedienſteten oder Hausgenoſſen oder ſonſt Jemand etwas
geſagt? Sie betheuerte das Gegentheil und verſprach
nochmals, es ferner ſo zu halten, und ich glaube, ſie
hat es auch gethan. Indeſſen beruhigte ich ſie wegen des
Geſchehenen. Wenn jener geheimnißvolle Beſuch übler
Art geweſen ſei, meinte ich, ſo ſei nicht viel zu verderben;
ſei er aber unſchuldiger Natur, ſo komme die dunkle
Geſchichte um ſo eher zur Abklärung.
Es fiel mir ſchwer, an das ganze Ereigniß ſo recht
zu glauben. Die plötzliche Abreiſe machte nicht ſo viel
Aufſehen, da die Ankunft Erwin's noch nicht einmal in
[140] weiteren Kreiſen bekannt geweſen, und die Parzen ſchienen
ſich ausnahmsweiſe ſtill zu halten. Ich ging nach einigen
Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo
Altenauer's gewohnt, und ſah an das Haus hinauf. Da
wurde ſo eben aus dem Portale ein niederes vierrädriges
Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo ſtand
und ein wenig ſchwankte, obgleich ſie mit Stricken feſt¬
gebunden war. Ein Arbeiter hielt ſie mit Gelächter auf¬
recht und rief: „hüh!“, während der andere den Wagen
zog. Ich ſchaute ihr lange nach wie ſie ſich fort bewegte,
und dachte: So geht es, wenn ſchöne Leute unter das
Geſindel kommen! Ich glaubte, die Regine ſelbſt dahin
ſchwanken zu ſehen.
Drei Jahre ſpäter, als Regine längſt todt war, traf
ich Erwin Altenauer als amerikaniſchen Geſchäftsträger
in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle ab¬
ſichtlich gewählt, um durch ſeine Anweſenheit das Andenken
der Todten zu ehren und zu ſchützen, und von ihm erfuhr
ich den Abſchluß der Geſchichte; denn er liebte es, mit
mir von dieſer Sache zu ſprechen, da ich die Anfänge kannte.
Schon die Seefahrt nach dem Weſten muß ein eigen¬
artiger Zuſtand von Unſeligkeit geweſen [ſein]. Die wochen¬
lange Beſchränkung auf den engen Raum bei getrennten
Seelen, die doch im Innerſten verbunden waren, das
wortkarge, einſilbige Dahinleben, ohne Abſicht des Weh¬
thuns, die hundert gegenſeitigen Hülfsleiſtungen mit nieder¬
geſchlagenen Augen, das Herumirren dieſer vier Augen
[141] auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden
Horizonte des Oceans, in den Einſamkeiten des Himmels,
um vielleicht einen gemeinſamen Ruhepunkt zu ſuchen,
den ſie in der Nähe nicht finden durften, Alles mußte
dazu beitragen, daß die Reiſe dem Dahinfahren zweier
verlorenen Schatten auf Waſſern der Unterwelt ähnlich
war, wie es die Traumbilder alter Dichter ſchildern.
Schon das gedrängte Zuſammenſein mit einer Menge
fremder Menſchen verhinderte natürlich den Austrag des
ſchmerzlichen Prozeſſes; aber auch ohne das that Regine
keinen Wank; ſie ſchien ſich vor dem Fallen einer
drohenden Maſſe und jedes Wörtlein zu fürchten, welches
dieſelbe in Bewegung bringen konnte. Ebenſo ängſtlich
wie ſie ihre Zunge hütete, überwachte ſie auch jedes
Lächeln, das ſich aus alter Gewohnheit etwa auf die
Lippen verirren wollte, wenn ſie unverhofft einmal Erwin's
Auge begegnete. Er ſah, wie es um den Mund zuckte,
bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war
überzeugt, daß ſie damit jeden Verdacht auch der kleinſten
Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht
ſowol wollte als mußte. Welch' ein wunderbarer Wider¬
ſpruch, dieſe Kenntniß ihrer Natur, dieſes Vertrauen, und
das dunkle Verhängniß.
Erwin aber ſcheute ſich ebenſo ängſtlich vor dem
Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte
er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wieder¬
herſtellen, und das wußte er.
[142]
Und nun erſt der Einzug in das Vaterhaus zu
Boſton! Statt der ſiegreichen Freude der Anerkennung,
des Beifalls, ein geheimnißvolles, gedrücktes Anſichhalten,
ein ſchweigſames, vorſichtiges Weſen und zuletzt eine
allgemeine Stille im Hauſe als Folge des halbwahren
Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfniſſe, einer
krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter
anvertraute Erwin einen Theil der Wahrheit, ſo weit
dieſe nicht zu grauſam, zu hart für Reginen und ganz
unerträglich auch für die Mutter geweſen wäre. In¬
dem ihr der erſte Anblick Reginen's ein hohes Wohlgefallen
und ihre ganze Haltung eine ſchmerzliche Theilnahme, aber
freilich auch die tiefſte Sorge verurſacht hatten, war ſie mit
einem behutſam ſchonenden Vorgehen einverſtanden, und
ſie ſuchte das Beiſpiel zu geben, die halb Geächtete mit
einer gewiſſen ernſten Sanftmuth zu behandeln, wie es
etwa verwirrten kranken Perſonen gegenüber geſchieht.
Alle Familienglieder, Angeſtellten und Dienſtboten des
Hauſes hielten den gleichen Ton inne, ohne ſichtbare
Verſtändigung; Regina hingegen ſah ſich mitten in
der Schar der neuen Verwandten und Hausgenoſſen
vereinſamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der ent¬
legenen Wohnung eines Seitenflügels lebte ſie bald
wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich
Anfangs auf einige Wochen verreiſt war, um das getrennte
Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging
und ſtand, fühlte er die Laſt des Elendes, in das er mit
[143] Reginen gerathen, die Sehnſucht nach ihrer Gegenwart
und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abſcheu
vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und
fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verluſt
erſchien, um ſo unerſetzlicher und einziger dünkte ihm die
Unſelige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet
hatte. Zuletzt überwog das Verlangen nach ihrem Anblicke
ſo ſtark, daß er am achtzehnten Tage ſeiner Reiſe um¬
kehrte, in der Abſicht, die Entſcheidung herbeizuführen
und die Frau auf die Gefahr hin, ſie ſofort auf immer
zu verlieren, wenigſtens dies eine Mal noch zu ſehen.
Während der Zeit hatte ſeine Mutter die einſame
Regina jeden Tag beſucht und ein Stündchen mit einer
Arbeit bei ihr geſeſſen, ihr auch etwas zu thun mitgebracht
und ein ruhiges Geſpräch in Güte mit ihr unterhalten,
wobei ſie freilich das Meiſte thun mußte. Jedoch vermied
ſie es gewiſſenhaft, mit Fragen und Verhören in die
junge Frau zu dringen, die in aller einſilbigen Trauer
Zeichen demüthiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine
edle Natur auch in zeitweiliger Geiſtesabweſenheit die
Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem
Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand
ſeine Mutter die Regina in eifrigem Schreiben begriffen.
Dies erregte ihre Aufmerkſamkeit und wollte ihr gar
wohl gefallen; es lagen ſchon mehrere beſchriebene Blätter
da, welche Regina ruhig zuſammenſchob, ohne ſie ängſtlich
zu verbergen. Den Umſtand, daß ſie überhaupt nie etwas
[144] zu verheimlichen ſuchte und ihr Zimmer ſtets ebenſo
reinlich geordnet als unverſchloſſen und für Jedermann
zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt ſchon wahr¬
genommen.
Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem
ſauſenden Nachtzuge und betrat Morgens um ſechs Uhr
ſein Haus. Schnell eilte er nach ſeinem eigenen Schlaf¬
zimmer, um ſich zu reinigen und die Kleider zu wechſeln.
Kaum hörte jedoch die Mutter von ſeiner Ankunft, ſo
ſuchte ſie ihn auf und erzählte ihm von Reginen, Nach¬
dem ſie, theilte ſie ihm in ſichtbarer Ergriffenheit mit,
die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen ſolchen
Eindruck erhalten, daß jene eine entſetzliche Heuchlerin und
Schauſpielerin ſein müßte, wenn es erlogen wäre, habe
ſie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor
Anbruch des Tages eine ſeltſam rührende Entdeckung
gemacht. Von Schlafloſigkeit geplagt ſei ſie aufgeſtanden
und habe ſich in der Finſterniß nach dem kleinen Saale
hin getappt, welcher dem von Reginen bewohnten Seiten¬
flügel gegenüber liege. Dort ſei auf einem Tiſchchen ein
kleines Fläſchchen mit erfriſchender Eſſenz unter Nippſachen
ſtehen geblieben, das ſie ſeit lange nicht mehr gebraucht.
Wie ſie daſſelbe nun geſucht, habe ſie über den Hof weg
einen ſchwachen Lichtſchimmer bemerkt, während ſonſt noch
Alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als ſie genauer
hingeſchaut, habe ſie gleich erkannt, daß der Schimmer
aus Reginen's Fenſter komme, und ſodann habe ſie dieſe
[145] ſelbſt geſehen vor einem Stuhle knieen, mit gefalteten
Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen,
offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben
ſtehenden Nachtlämpchen. Das Geſicht der Frau habe ſie
nicht ſehen können, ſie habe es tief vorn über gebeugt,
und ſo ſei ſie unbeweglich verharrt, eine Viertelſtunde,
die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die
Mutter der Erſcheinung zugeſchaut; ein paar Mal habe
Regina das Blatt umgewendet und es dann wieder rück¬
wärts umgeſchlagen, auch das Umwenden etwa vergeſſen
und längere Zeit in's Leere hinaus gebetet oder ſonſt
Schweres gedacht; immerhin ſcheine ſie nur ein und
daſſelbe Gebet oder was es ſein möge, geleſen zu haben.
Jedes Mal, wenn ſie ſich ein wenig bewegt habe, ſei das
ſchauerlich rührend anzuſehen geweſen in der nächtlichen
Stille und bei der Verlaſſenheit der armen Perſon.
Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröſtelt,
habe ſie ſich nicht getraut, länger zu ſtehen, und gedacht,
Jene ſei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und
ſei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf
noch zu finden. „O mein Sohn“, rief die Mutter mit
überquellenden Augen, „es wäre doch ein großes Glück,
wenn dieſes Geſchöpf gerettet werden könnte! Ich habe
noch nichts Schöneres geſehen auf dieſer Welt! Wozu
ſind wir denn Chriſten, wenn wir das Wort des Herrn
das erſte Mal verachten wollen, wo es ſich gegen uns
ſelbſt wendet?“
Erſchüttert mit ſich ſelber ringend rief Erwin, der
mehr wußte als die Mutter: „O Mutter. Chriſtus der
Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beſchützt und
vor der Strafe; aber er hat nicht geſagt, daß er mit ihr
leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre!“
Doch ſchon im Widerſpruch mit ſeinen Worten ließ
er die Mutter ſtehen und ging wie er war, in den Reiſe¬
kleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges
geſchwärzt, nach Reginen's Zimmer und klopfte ſanft an
der Thüre. Kein Laut ließ ſich hören; er öffnete alſo
die unverriegelte Thüre und trat hinein. Das Zimmer
war leer; mit klopfendem Herzen ſah er ſich um. Auf
der Kommode lag ihr altes Geſangbuch, das er wohl
kannte mit ſeinen Liedern und einer kleinen Anzahl
Kirchen- und Hausgebeten. Es war geſchloſſen und
ordentlich an ſeinen Platz gelegt.
Ihr Bett ſtand in einem Alkoven, deſſen ſchwere Vor¬
hänge nur zum kleineren Theile vorgezogen waren. Er
trat näher und ſah, daß das Bett leer war; nur eines
der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aus¬
ſteuer, die er ſeiner Frau ſelbſt angeſchafft, lag auf dem
Bette; es ſchien getragen, lag aber zuſammen gefaltet auf
der Decke. Erſchrocken und noch mehr verlegen kehrte er
ſich um, ſchaute ſich um, ob ſie nicht vielleicht dennoch im
Zimmer hinter ihm ſtünde, allein es war leer wie zuvor.
Indem er ſich nun abermals kehrte und dabei einem der
Vorhänge näherte, ſtieß er an etwas Feſtes hinter dem¬
[147] ſelben, wie wenn eine Perſon dort ſich verborgen hielte.
Raſch wollte er den dicken Wollenſtoff zurückſchlagen, was
aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange
waren gehemmt. Er trat alſo, den Vorhang ſanft lüftend,
ſo gut es ging, hinter denſelben und ſah Reginen's Leiche
hängen. Sie hatte ſich eine der ſtarken ſeidenen Zieh¬
ſchnüre, die mit Quaſten endigten, um den Hals ge¬
ſchlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen
Körper hängen ſah, zog er ſein Taſchenmeſſer hervor, das
er auf Reiſen trug, ſtieg auf den Bettrand und ſchnitt
die Schnur durch; im anderen Augenblicke ſaß er auf dem
Bette und hielt die ſchöne und im Tode ſchwere Geſtalt
auf den Knieen, verbeſſerte aber ſofort die Lage der Frau
und legte ſie ſorgfältig auf das Bett. Aber ſie war kalt
und leblos; er aber wurde jetzt rath- und beſinnungslos
und er ſtarrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich
aber erwachte er wieder zum Bewußtſein durch die un¬
gewohnte Tracht der Todten, die ſein ſtarrendes Auge
reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen,
welches ſie einſt als arme Magd getragen, einen Rock von
elendem braunen, mit irgend einem unſcheinbaren Muſter
bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß ſie ein Köffer¬
chen mit einigen ihrer alten Kleidungsſtücke jederzeit mit
ſich geführt, und er hatte dieſen Zug wohl leiden mögen,
der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich beſann
er ſich wieder auf einen Rettungsverſuch; er öffnete das
ärmliche Kleid, das nach damaliger Art ſolcher Mägderöcke
10*[148] auf der Bruſt zugeheftet war. Unter dem Kleide zeigte
ſich eines der groben Hemden ihrer Mädchenzeit, und
zwiſchen dem Hemde und der Bruſt lag ein ziemlich dicker
Brief mit der an Erwin gerichteten Ueberſchrift. Haſtig
küßte er den Brief, warf ihn aber auf das Bett und fing
an, Reginen's Bruſt mit der Hand zu reiben, ſprang
empor, hob die Leiche wie eine leichte Puppe in die Höhe,
drückte ſie an ſeine Bruſt und hielt ihr ſtöhnend das
Haupt aufrecht, legte ſie gleich wieder hin und lief hinaus
um Hülfe zu ſuchen. Alles eilte herbei und ein Arzt war
bald zur Stelle; doch die arme Regina blieb leblos und
der Doctor ſtellte den Todesfall feſt, welcher die ſchwer¬
müthige junge Deutſche nach kurzem Eheglück getroffen
habe. Erwin blieb endlich allein bei der Leiche zurück
und las den Brief.
Die Stätte, an welcher man den Brief finden werde,
ſolle beweiſen, wie ſie ihn bis in den Tod liebe. Mit
dieſen Worten begann die Schrift. Einige weitere Sätze
ähnlicher Natur verſchwieg Erwin, wie er ſich ausdrückte,
als heiliges Geheimniß der Gattenliebe. Woher ſie ſolche
Töne genommen, ſei eben das Räthſel der ewigen Natur
ſelbſt, wo jegliches Ding unerſchöpflich zahlreich geboren
werde und in Wahrheit doch nur ein einziges Mal da ſei.
Dann folgte die Eröffnung deſſen, was ſie bedrückt
und ihr Leben verdorben, ohne daß ſie geahnt habe, in
welchem Umfange. Es war freilich traurig und einfach
genug, das Geheimniß jenes nächtlichen Beſuches, von
[149] dem ſie nicht einmal wußte, daß er geſehen worden. Der
Zuſtand ihrer Verwandten hatte ſich mit der Zeit hie und
da doch wieder etwas verſchlimmert und wiederholtes Ein¬
greifen und Aushelfen nöthig gemacht. Jedesmal ver¬
urſachte das der armen Regina, die jetzt ihrem Mann
mehr anhing als den Eltern und Geſchwiſtern, Kummer
und Sorge. Beſonders der eine der Brüder, der Soldat
geweſen, konnte ſich mit dem Leben nicht zurecht finden.
Unzufrieden und düſtern Gemüthes wechſelte er immerfort
die Stelle und den Aufenthalt, da er ſich ungerecht be¬
handelt glaubte und es zuletzt auch wurde, weil es nicht
lange dauert, bis die Menſchen, die ſich ſelbſt mißhandeln,
auch von den andern mißhandelt werden, ſo zu ſagen aus
Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zug¬
führerſtelle, die man ihm bei einer Eiſenbahn verſchafft
hatte, allmälig bis zum Gehülfen oder vielmehr Knecht
eines Pferdehändlers herunter gekommen, der ihn als
ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch
ſchlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den
Wald reitend waren ſie in ſchweren Streit gerathen; der
Meiſter hieb dem Knechte mit der Peitſche über das Ge¬
ſicht, und der Knecht ſchlug ihn hinwieder ohne Zögern
todt und floh auf einem der Pferde aus dem Walde.
Einige Meilen von der Mordſtätte entfernt verkaufte er
das Thier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne
den Ausweg finden zu können. Der erſchlagene Ro߬
händler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten
[150] Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines
Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem
Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder
verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und
ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun,
und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei
Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬
hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall
von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬
hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬
kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber
im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder
hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten
Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und
war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen
Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬
ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬
ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe
dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken
beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders
ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein
gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬
haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der
Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen
Bruder.
Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern,
als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten
[151] als für ſie da war, zufällig die ſchreckliche Nachricht las,
der Raubmörder ſei endlich gefangen worden. Niemand
in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und ſo
achtete Niemand darauf. Was mich betraf, ſo las ich
überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb ſomit auch
in der Unwiſſenheit. Der Gefangene verrieth mit keiner
Silbe den Beſuch bei der Schweſter, obgleich er ſich damit
über die bei ihm gefundene Baarſchaft hatte ausweiſen
können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug
von Edelmuth. So lebte ſie Wochen lang in der troſt¬
loſen Seelenſtimmung dahin, bis ſie plötzlich die Nachricht
und Beſchreibung von der Hinrichtung las und alle Geiſter
der Verzweiflung auf ſie einſtürmten. Wie ſollte Erwin
fernerhin mit der Schweſter eines hingerichteten Raub¬
mörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm hielt
ſie ſich an dem einzigen Gedanken, deſſen ſie fähig war:
Nur ſchweigen, ſchweigen!
Nach dieſem ward ihr Selbſtvertrauen zum Ueberfluß
noch erſchüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie
wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes,
des Braſilianers war, und doch bekannte ſie es jetzt als
eine Sünde, daß ſie ſich habe verleiten laſſen. Sie habe
daraus den Schluß ziehen müſſen, daß ſie nicht die Sicher¬
heit und Kenntniß des Lebens beſitze, die zur Erhaltung
von Ehre und Vertrauen erforderlich ſei. Allerdings
hatte die Aermſte ja annehmen müſſen, die Malergeſchichte
allein habe hingereicht, Erwin's Vertrauen zu unter¬
[152] graben; hätte ſie ahnen können, daß der Beſuch des
Bruders geſehen und wie er ausgelegt worden, ſo würde
ſie keine Rückſicht abgehalten haben, ſich vom Verdacht zu
reinigen, und dann wäre Alles anders gekommen. Allein
das Schickſal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit
einem andern Geheimniß, daſſelbe aus Vorſorge und
Schonung verbergend, an ſich vorbei gingen und den ein¬
zigen Rettungsweg ſo verfehlten. Um auf den Brief
zurückzukommen, ſo ſchloß Regina mit der Bitte, ſie in
dem Gewande zu begraben, in welchem ſie einſt als arme
Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid,
in welchem er ſie in der ſchönen Zeit am liebſten geſehen,
zuſammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt
legen, ſo werde ſie dankbar darauf ruhen.
Nach ihrem Begräbniſſe war das erſte, was er unter¬
nahm, die neue Verſorgung der armen Angehörigen. Bei
dieſer Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder
den erſchlagenen Meiſter wirklich nicht ausgeplündert, in¬
dem der wahre Thäter, wegen anderer Verbrechen in
Unterſuchung gerathen, auch dieſes freiwillig geſtanden
hatte. Erwin Altenauer hat ſich bis jetzt nicht wieder
verheirathet.
Als Reinhart ſchwieg, blieb es ein Weilchen ſtill; dann
ſagte Lucia nachdenklich: „Ich könnte nun einwenden,
daß Ihre Geſchichte mehr eine Frage des Schickſals als
der Bildung ſei; doch will ich zugeben, daß eine ſchlimme
Abart der letzteren durch die Parzen, wie Sie die Träge¬
[153] rinnen derſelben nennen, von Einfluß auf das Schickſal
der armen Regine geweſen iſt. Aber auch ſo bleibt ſicher,
daß es dem guten Herrn Altenauer eben unmöglich war,
ſeiner Frauenausbildung den rechten Rückgrat zu geben.
Wäre ſeine Liebe nicht von der Eitelkeit der Welt um¬
ſponnen geweſen, ſo hätte er lieber die Braut gleich
anfangs nach Amerika zu ſeiner Mutter gebracht und
dieſer das Werk überlaſſen; dann wäre es wol anders
geworden! Jetzt iſt es aber Zeit, unſere merkwürdige
Sitzung aufzuheben; ich bitte zu entſchuldigen, wenn ich
mich zurückziehe, obgleich ich beinahe fürchte, im Traum
die ſchöne Perſon wie eine mythiſche Heroenfrau an der
ſeidenen Schnur hängen zu ſehen; denn trotz ihrer Wehr¬
loſigkeit ſteckt etwas Heroiſches in der Geſtalt. Der Wahl¬
herr hat diesmal wirklich auf Race zu halten gewußt!“
Sie bot dem Gaſte gute Nacht und ſandte gleich
darauf den bejahrten Diener her, den Reinhart bei ſeiner
Ankunft geſehen. Der freundliche Mann führte ihn nach
ſeinem Schlafgemache, indem er ihm erzählte, der alte
gichtbrüchige Herr beabſichtige, am Morgen mit dem Herrn
Reinhart zu frühſtücken, da nach gewiſſen Anzeichen der
dermalige Anfall zu weichen beginne.
Mit wunderlich aufgeregtem Gefühle legte ſich Reinhart
in dem fremden Hauſe zu Bett, unter Einem Dache mit
dem ziervollſten Frauenweſen der Welt. Wie es Leute
gibt, deren Körperliches, wenn man es zufällig berührt
oder anſtößt, ſich durch die Kleidung hindurch feſt und
[154] ſympathiſch anfühlt, ſo gibt es wieder andere, deren Geiſt
Einem durch die Umhüllung der Stimme im erſten Hören
ſchon vertraut wird und uns brüderlich anſpricht, und wo
gar beides zuſammentrifft, iſt eine gute Freundſchaft nicht
mehr weit außer Weg. Dazu kam, daß Reinhart heute
mehr von menſchlichen Dingen, wie die Liebeshändel ſind,
geſprochen hatte, als ſonſt in Jahren.
Neuntes Capitel.
Die arme Baronin.
Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der
neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte
ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen
außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte.
Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er
das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen
Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen
Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬
lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle
ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als
das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im
vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte.
In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar
dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen
des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke
gedeckt war.
„Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte,
obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den
[156] vermuthlichen Oheim vom Diener geſtützt und mit einer
Krücke verſehen, hinter dem Hauſe hervorkommen. Der
Ruf Lux galt natürlich der Nichte, deren Namen Lucia
er ſich dergeſtalt zugeſtutzt hatte. Es ſchien ein ehemaliger
Kriegsoberſt zu ſein, da er einen langen grauen Schnurr¬
bart trug, ſowie einen Rock von halbmilitäriſchem Zu¬
ſchnitt und ein verſchliſſenes Bändchen im Knopfloch. Nun
erſchien auch das Fräulein auf dem morgenfriſchen Schau¬
platze, und ſo ſäumte Reinhart nicht länger, ſich fertig
zu machen und auch hinunter zu gehen, wo er den Herrn
und die Dame am Tiſche ſitzend antraf, dicht neben dem
Brunnen mit ſeinem klingenden kryſtallklaren Waſſer.
Reinhart verhinderte raſch, daß der alte Herr ſich erhob,
als er ihm von Lucien vorgeſtellt wurde.
Der Oheim fixirte ihn aufmerkſam mit der Freiheit
alter Soldaten oder Sonderlinge, indem er nach und nach,
ohne ſich zu eilen, vorbrachte, ſein Name ſei ihm wohl¬
bekannt, es komme nur darauf an, ob er etwa der Sohn
des Profeſſors gleichen Namens in X ſei; denn wenn er
ſich recht beſinne, ſo ſei ein Freund aus jungen Jahren
dort hängen geblieben und ein berühmter Pandektenpauker
geworden?
Reinhart beſtätigte lachend ſeine Vermuthung, und
Lucie erklärte das Ereigniß für ein ſehr artiges, welches
ſie theilweiſe herbeigeführt zu haben ſich etwas einbilde.
Der Oheim jedoch fuhr fort, das Geſicht des jungen Gaſtes
zu ſtudiren und immer tiefer in ſeiner Erinnerung nach¬
[157] zugraben, indeſſen ſein eigenes Geſicht einen ſäuerlich ſüßen
Ausdruck annahm, dann in ein halb ſpöttiſches Lächeln,
dann in einen weichen Ernſt überging und zuletzt von einem
vollen biederen Lachen erhellt wurde. Er faßte kräftig
die Hand des jungen Reinhart, ſchüttelte ſie und fragte:
„Haben denn Ihre Eltern nie von mir geſprochen?“
Reinhart dachte nach und ſchüttelte den Kopf, ſagte
aber nach einem weiteren Beſinnen: „Es müßte denn
ſein, was auch wahrſcheinlich iſt, daß Sie erſt auch ein
Leutenant geweſen ſind, ehe Sie Herr Oberſt wurden.
Dunkel entſinne ich mich aus meinen Kinderjahren, daß
die Eltern, bald der Vater, bald die Mutter, meiſtens
dieſe, von einem Leutenant ſprachen, und zwar hieß es
ſcherzend: das hätte der Leutenant nicht gethan, oder was
würde der Leutenant zu dem Falle ſagen u. ſ. w. Dann
verlor ſich die Gewohnheit, wenn es eine war, und ich
habe die Sache vergeſſen.“
„Sehen Sie, es iſt richtig!“ rief der Oberſt, „der
Leutenant bin ich! In Ihrem angenehmen Angeſicht habe
ich die Spuren von beiden verehrten Eltern heraus¬
gefunden, vom Herrn ſowol wie von der Dame, und es
geht mir faſt ein Licht auf, wie wenn meine junge Lux
hier an meinem engen Altershorizont aufgeht als meine
tägliche Morgenſonne! Sein Sie uns willkommen und
bleiben Sie jedenfalls einige Tage, oder beſſer, machen
Sie Ihre Reiſe fertig und kommen Sie bald wieder für
länger! Spielen Sie Schach?“
„Leider nein, ich ſpiele überhaupt gar nichts!“
„Ei, das iſt ſchade, warum denn nicht?“ rief der Alte.
„Ich bin zu dumm dazu!“ erwiderte Reinhart, der in
der That weder die Aufmerkſamkeit noch die Vorausſicht
aufbrachte, welche zum ernſthaften Spielen erforderlich
ſind. Lucia ſah ihn unwillkürlich mit einem dankbaren
Blicke an, da ſie einen Genoſſen in dieſer Art von Dumm¬
heit in ihm fand.
„Nun,“ ſagte der alte Herr, „ſo lang man jung iſt,
ſpürt man eben keine lange Weile und braucht kein Spiel.
Die hat's auch ſo, die hier ſitzende Jugendfigur! Später
wird ſie's wol noch lernen; denn ich hoffe, es gibt eine
ſchöne alte Jungfer aus ihr, die ewig bei mir bleibt und
auf meinem Grabe fromme Roſen züchtet und oculirt.“
„Das kann geſchehen,“ ſagte die Nichte, „wenn über
das Heirathen ſolche Anſchauungen aufkommen, wie ich
ſie aus dem Munde des Herrn Ludwig Reinhart habe
hören müſſen! Denke Dir, Onkel, wir haben geſtern bis
Mitternacht uns verunglückte Heirathsgeſchichten erzählt!
Die gebildeten Männer verbinden ſich jetzt nur mit Dienſt¬
mädchen, Bäuerinnen und dergleichen; wir gebildeten
Mädchen aber müſſen zur Wiedervergeltung unſere Haus¬
knechte und Kutſcher nehmen, und da beſinnt man ſich
doch ein bischen! Sagen Sie, Herr Reinhart, haben Sie
nicht noch eine Treppenheirath zu erzählen?“
„Freilich hab' ich,“ antwortete er, „eine ganz präch¬
tige, eine Heirath aus reinem Mitleiden!“
„O Himmel!“ rief Lucie, „wie glücklich! Magſt Du
ſie auch hören, lieber Onkel?“
„Da ihr Faulpelze nichts ſpielen und nur ſchwatzen
wollt, ſo iſt es das Beſte, was wir thun können, wenn
wir uns einige blaue Wunder vormachen!“
Der Tiſch wurde abgeräumt, Lucie ließ ſich einen
Arbeitskorb bringen und Reinhart ſuchte den Eingang
ſeiner Geſchichte zuſammen. „Denn,“ ſagte er, „die Per¬
ſonen, die es angeht, ſtehen in der Blüthe ihres Glückes,
und um ſie in keiner Weiſe darin zu ſtören, iſt es nöthig,
ſie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen.
Es dürfte daher am zweckmäßigſten ſein, die Sache gleich
in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novelliſt ſein
Stücklein in Scene ſetzt. Ich würde damit zugleich in
meiner Erzählungskunſt, die mir wie ein Dachziegel auf
den Kopf gefallen, einen Fortſchritt anſtreben können,
man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde
alſo etwa ſo lauten:
Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe
zum erſten Stockwerk eines Hauſes empor, in welchem
eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er ſo in
Gedanken die Stufen überſprang, ſtieß er beinah' eine
weibliche Perſon über den Haufen, die mitten auf der
Treppe lag und Meſſer blank ſcheuerte. Es war ihm,
als ob mit einem der Meſſer nach ſeiner Ferſe geſtochen
würde; er ſah zurück und erblickte unter ſich das zornrothe
Geſicht eines, ſo viel er wegen des umgeſchlagenen Kopf¬
[160] tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers,
welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe
blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬
angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde.
Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand,
daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder
geſtoßen war.
„Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen!“ rief er
aus; „täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und
täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen
irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber
muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im
Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich
ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren
ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden
Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es
keine Achillesferſe war!“
Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt
die Baronin! und der Hausvater ſagte: „Lieber Brandolf!
diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich
verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte
Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu
hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen,
die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und
Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬
liche weder grüßt noch auch nur anſieht!“
Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich
[161] Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor
einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenſeitige
kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte allſobald
ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich
aber einen Zettel vor das Fenſter gehängt, welcher eine
möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon
waren einige Fremde dageweſen, aber keiner hatte es
länger als ein paar Tage ausgehalten, und ſie waren
mittelſt Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen.
Wer in die aufgeſtellte Falle dieſer Miethe ging, der
durfte in ſeiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬
haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, ſondern er
mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu ſchonen;
er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln
unter das Fenſter liegen, um die freiherrliche Wohnung
nicht zu entſtellen, und überdies befand er ſich wie ein
hülfloſer Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von
Bedienung hielt, ſondern Alles ſelbſt beſorgte und daher
jede Dienſtleiſtung rundweg verweigerte, welche nicht in
der engſten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie ſtellte alle
Morgen eine Flaſche friſchen Waſſers hin und füllte am
Abend das Waſchgeſchirr; ſonſt aber reichte ſie nie ein
Glas Waſſer, und wenn der Miethsmann am Ver¬
ſchmachten geweſen wäre. Das Alles begleitete ſie mit
unfreundlichen, oder vielmehr meiſtens mit gar keinen
Worten. Niemand kannte ihre Verhältniſſe und woher
ſie kam; mit Niemandem ging ſie um, und wenn ihre
Keller, Sinngedicht. 11[162] häuslichen Beſchäftigungen ſie an den Brunnen, in den
Hof, unter die Mägde und Dienſtleute führten, ſo fuhr
ſie wie ein böſer Geiſt ſchweigend unter ihnen herum.
Kurz, man war übereingekommen, daß ſie ein aus¬
gemachter Teufel und Unhold ſei, welcher ſein menſchen¬
feindliches und räuberiſches Weſen auf eigene Fauſt be¬
treibe und hauptſächlich den Plan gefaßt habe, durch ſein
Benehmen einen häufigen Wechſel der Miether zu veran¬
laſſen, um ſolchergeſtalt viele kleine, aber dennoch über¬
triebene Rechnungen ausſtellen und überſchüſſige Mieth¬
gelder einziehen zu können, wenn die Verunglückten vor
der Zeit wegzogen. Und dieſer Plan, wenn er wirklich
beſtand, war allerdings nicht übel, da das Haus in einer
lebhaften und ſchönen Straße lag, welche immer auf's
neue anſtändige und wohlhabende Fremde herbeilockte,
die dann froh waren, ſich bald loszukaufen und Andern
Platz zu machen.
Als dieſe Schilderung, verwebt mit noch vielen
abſonderlichen Zügen, beendigt war, fühlte Brandolf eher
ein geheimes Mitleid mit der böſen Baronin, als Zorn
und Verachtung, und als die Freunde ihn ſcherzweiſe
fragten, ob er nicht ihr Hausgenoſſe werden und bei der
wunderlichen Nachbarin einziehen wolle, erwiderte er ernſt¬
haft: „Warum nicht? Es käme nur darauf an, die Dame
in ihrem eigenſten Weſen an der Kehle zu packen und
ihr den Kopf zurechtzuſetzen!“
Da er aber ſah, daß die Frau des Hauſes nicht geneigt
[163] war, des Weitern auf dieſen Scherz oder Gedanken einzu¬
gehen, ſo ſchwieg er, kam aber für ſich darauf zurück, als
er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige
eben wieder vor dem Hauſe hing.
Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man böſen
und ungerechten oder tollen Menſchen gegenüber in
Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So
gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand
er doch ſtets eine rechte Sehnſucht, ſich mit ſchlimmen
Käuzen herumzuzanken und ſie ihrer Tollheit zu über¬
führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er
noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die
Thäter, weil durch das ewige Nachgeben dieſe Unglücklichen
nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene
Gewalt ließ er unbekämpft, weil ſie ſich ſelbſt brandmarke
und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger
Jämmerlichkeit und Selbſtzerſtörung dazuſtehen. Er beſaß
ein tiefes Gefühl für menſchliche Zuſtände und vertraute
ſo ſehr auf das Menſchliche in jedem Menſchen, daß er
ſich vermaß, auch im Verſtockteſten dieſen Urquell zu wecken
oder wenigſtens dem Sünder das Bewußtſein beizu¬
bringen, daß er durchſchaut und von der Uebermacht des
Spottes umgarnt ſei. Allein ſei es, daß die Argen ſeine
ſieghafte Sicherheit von Weitem ausſpürten, ſei es das
irdiſche Schickſal, welches uns das, was man wünſcht,
ſelten erreichen läßt, Brandolf bekam faſt nie ſo recht
wohlbegründete Händel, und wo eine ausgeſuchte üble
11*[164] Exiſtenz blühte, kam er immer zu ſpät, die Blume zu
brechen.
Daher ging er an der Pforte der Baronin wie
an einem verſchloſſenen Paradieſe vorbei, in welches
einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu ſtreiten
er ſich herzlich ſehnte.
Als im September die Freundesfamilie ſammt Kindern
und Dienſtboten, mit Kiſten und Koffern im Wagen
untergebracht war, um die Reiſe nach Italien anzutreten,
wo ein Winter verlebt werden ſollte, als die ſchwerfällige
Maſchine endlich unter den Seufzern der Haus- oder
hier der Reiſefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den
Schlag zugemacht, im Hauſe eigentlich nichts mehr zu
thun, und er hätte füglich nach ſeiner eigenen Wohnung
gehen können. Er ſtieg aber wieder die Treppe hinauf,
klingelte bei der Baronin und wünſchte ihre Zimmer zu
beſehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der ſie auf
der Treppe geſtoßen, und als den täglichen Beſucher der
Nachbarherrſchaft. Mißtrauiſch und mit großen Augen
ſah ſie ihn an, ohne ein Wort zu ſprechen, und hielt die
Thüre ſo, als ob ſie ihm dieſelbe vor der Naſe zuſchlagen
wollte; doch konnte ſie das nicht wagen und ließ ihn mit
knappen Worten eintreten.
Mit ſaurer Höflichkeit führte ſie ihn zu den Zimmern;
ſie waren höchſt anſtändig und ſolid eingerichtet, und
Brandolf erklärte nach flüchtiger Beſichtigung, die er
mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe
[165] und gleich am nächſten Tage einziehen werde. Ohne die
mindeſte Freudenbezeugung verbeugte ſich die Baronin
ein bischen, von der er übrigens nicht viel ſah, weil
ſie wieder das verhüllende Tuch um Kopf und Hals
geſchlagen hatte, einer Kapuze ähnlich, und eine Art
grauen Ueberwurfes trug, der ſowol einen Mantel wie
einen Hausrock vorſtellen konnte. Er eilte, die Veränderung
ſeinen bisherigen Wirthsleuten anzuzeigen. Die waren
ſehr betrübt darüber, da ſie noch nie einen ſo guten und
liebenswürdigen Miether bei ſich geſehen hatten, und da
ſie ſelbſt ordentliche und wohlgeſinnte Leute waren, ſo
nahm ſich Brandolf's Entſchluß doppelt unbegreiflich aus.
Sie konnten ſich denſelben auch nur dadurch erklären, daß
der Herr als ein reicher und unverheiratheter ſtudierter
Menſch ſeine Launen und keine Sorgen habe, und alſo
ſich nach Belieben den Hafer könne ſtechen laſſen.
Erſt als Brandolf ſeine Habſeligkeiten in das neue
Loſament gebracht hatte und ſich dort einhauſ'te, ſah er
ſich genöthigt, genauer auf die für ſolche Miethzimmer
ungewöhnliche Ausſtattung zu achten. Es waren über¬
haupt nur drei nach der Straße gelegene Stuben; dieſe
ſchienen aber mit dem Hausrathe einer ganzen Familie
angefüllt zu ſein und alles von theuren Stoffen und
Holzarten gearbeitet. Der Boden war mit bunten
Teppichen überall belegt, an manchen Stellen doppelt;
in jedem Zimmer ſtanden Secretäre, feine Schränke,
Luxusmöbel, Spieltiſche und Spiegelgebäude, Sopha's
[166] und weiche Polſterſtühle im Ueberfluß; prächtige Vor¬
hänge bekleideten die Fenſter, und ſogar an den Wänden
drängte ſich eine Bilderwaare von Gemälden, Kupfer¬
ſtichen und allem Möglichen zuſammen, wie wenn der
Wandſchmuck eines weitläufigen Hauſes da zur Auction
aufgeſtapelt worden wäre. Erſchien der Raum der ſonſt
ziemlich großen Zimmer hiedurch beengt, ſo wurde der
Umſtand noch bedenklicher durch einige Eckgeſtelle, auf
deren ſchwank aufgethürmten Stockwerken eine Menge be¬
malten oder vergoldeten Porzellanes und unendlich dünner
Glasſachen ſtand und zitterte wie Eſpenlaub, wenn ein
feſter Tritt über die Teppiche ging. An allen dieſen
Zerbrechlichkeiten war das gleiche Wappen gemalt oder
eingeſchliffen, welches auch auf der Karte an der Eingangs¬
thüre prangte über dem Namen der Baronin Hedwig
von Lohauſen. Als er ſpäter ſchlafen ging, bemerkte
Brandolf, daß die Freiherrenkrone nicht minder auf die
Leinwand des prachtvollen Bettes geſtickt war, welches
das Eine der beiden Hauptſtücke einer ehemaligen Braut¬
ausſteuer zu ſein ſchien. Alles aber, trotz der durch die
drei Zimmer herrſchenden Fülle, war in tadelloſem Stande
gehalten und nirgends ein Stäubchen zu erblicken, und
Brandolf wunderte ſich nur, ob der Miether für ſein
theures Geld eigentlich zum Hüter der Herrlichkeit beſtellt
ſei und ihm eheſtens ein Reinigungswerkzeug mit Staub¬
lappen und Flederwiſch anvertraut werde? Denn wenn
jemand anders die Arbeit beſorgte, ſo mußte ja faſt den
[167] ganzen Tag dieſer Jemand ſich in den Zimmern aufhalten.
Es iſt aber ſchon jetzt zu ſagen, daß keines von beiden
der Fall war; alles wurde in Abweſenheit des Mieth¬
mannes gethan wie von einem unſichtbaren Geiſte, und
ſelbſt die Glas- und Porzellanſachen ſtanden immer ſo
unverrückt an ihrer Stelle, wie wenn ſie keine Menſchen¬
hand berührt hätte, und doch war weder ein Stäubchen
noch ein trüber Hauch daran zu erſpähen.
Nunmehr begann Brandolf aufmerkſam die böſen
Thaten und Gewohnheiten der Wirthin zu erwarten, um
den Krieg der Menſchlichkeit dagegen zu eröffnen. Allein
ſein altes Mißgeſchick ſchien auch hier wieder zu walten;
der Feind hielt ſich zurück und witterte offenbar die
Stärke des neuen Gegners. Leider vermochte ihn Brandolf
nicht mit dem Tabaksrauche aus der Höhle hervorzulocken;
denn er rauchte nicht, und als er zum beſondern Zwecke
ein kleines Tabakspfeifchen, wie es die Maurer bei der
Arbeit gebrauchen, nebſt etwas ſchlechtem Tabak nach
Hauſe brachte und anzündete, um die Baronin zu reizen,
da mußte er es nach den erſten drei Zügen aus dem
Fenſter werfen, ſo übel bekam ihm der Spaß. Teppiche
und Polſter zu beſchmutzen ging auch nicht an, da er das
nicht gewöhnt war; ſo blieb ihm vor der Hand nichts
übrig, als die Fenſter aufzuſperren und einen Durchzug
zu veranſtalten. Dazu zog er eine Flanelljacke an, ſetzte
eine ſchwarzſeidene Zipfelmütze auf und legte ſich ſo breit
unter das Fenſter als möglich. Es dauerte richtig nicht
[168] lange, ſo trat die Freiin von Lohauſen unter die offene
Thüre, rief ihren Miethsmann wegen des Straßengeräuſches
mit etwas erhöhter Stimme an, und als er ſich umſchaute,
deutete ſie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer
herumſchwirrte. Es ſei in der Nachbarſchaft ein Pferde¬
ſtall, bemerkte ſie kurz. Sogleich nahm er ſelbſt die
Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer
und ſchloß die Fenſter. Dann ſetzte er die Mütze wieder
auf, zog ſie aber gleich abermals herunter, da die Dame
noch im Zimmer ſtand und ihn, wie es ſchien, ſtatt mit
Entrüſtung, eher mit einem ſchwachen Wohlgefallen in
ſeinem Aufzuge betrachtete. Ja ſo viel von ihrem ernſten
und abgehärmten Geſichte zu ſehen war, wollte beinah
ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demſelben auf¬
zucken, der aber bald wieder verſchwand, ſowie auch die
Frau ſich zurückzog.
Zunächſt wußte Brandolf nichts weiter anzufangen;
er hüllte ſich in ſeinen ſchönen Schlafrock, that Jacke und
Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf
einem der Divans. Dort gewahrte er ein Klingelband
von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht
daran. Wie ein Wettermännchen erſchien die Baronin
auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit
mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünſchte
ſeinem Schneider, der viele Straßen weit wohnte, eine
Botſchaft zu ſenden. Die Baronin erröthete; ſie mußte
ſelbſt gehen, denn ſie hatte ſonſt niemanden. Ob es ſo
[169] dringlich ſei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte ſie
nach einem minutenlangen Beſinnen. Allerdings ſei es
dringlich, meinte Brandolf, es müſſe ein Knopf an den
Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle.
Sie ſah ihn halb an und war im Begriff, die Thüre
zuzuſchlagen, drehte ſich aber doch nochmals und fragte,
ob ſie den Knopf nicht anſetzen könne? Ohne Zweifel,
wenn Sie wollten die Güte haben, ſagte Brandolf, er
hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen
nicht zumuthen!
Aber eine halbe Stunde weit zu laufen? erwiderte ſie
und ging ein kleines altes Nähkörbchen zu holen, in
welchem ein Nadelkiſſen und einige Knäulchen Zwirn
lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme
Wirthin nähte mit ſpitzen Fingerchen den Knopf feſt.
Da ſie mit der Arbeit ein wenig in's hellere Licht ſtehen
mußte, ſah Brandolf zum erſten Male etwas deutlicher
einen Theil ihres Geſichtes, ein rundlich feines Kinn,
einen kleinen aber ſtreng geformten Mund, darüber eine
etwas ſpitze Naſe; die tief auf die Arbeit geſenkten Augen
verloren ſich ſchon im Schatten des Kopftuches. Was
aber ſichtbar blieb, war von einer faſt durchſichtigen
weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem
altdeutſchen Bilde, zu welchem eine etwas geſalzene und
zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente.
Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieſer Wahrnehmung;
denn ſie war im Umſehen fertig und wieder verſchwunden.
[170]
Für den erſten Tag war Brandolf nun zu Ende,
und ſo vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß ſich
etwas ereignete, das ihm zum Einſchreiten Urſache gegeben
hätte. Er mußte ſich alſo aufs Abwarten, Beobachten
und Errathen des Geheimniſſes beſchränken; denn ein
ſolches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hin¬
ſichtlich ihrer Bösartigkeit verläſtert wurde. Da fiel ihm
nun zunächſt auf, daß der Theil der Wohnung, wo ſie
hauſ'te, immer unzugänglich und verſchloſſen blieb; es
war auch nichts weiter als eine Küche, ein einfenſtriges
ſchmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort
mußte ſie Tag und Nacht mutterſeelen allein verweilen,
da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menſchen
zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf
einen Blick in die Küche werfen, welche mit ſauberem
Geräthe ausgeſtattet ſchien; aber kein Zeichen bekundete,
daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen
Ton des Schmorens oder ein Praſſeln des Holzes, oder
ein Hacken von Fleiſch und Gemüſe, oder den Geſang
von gebratenen Würſten, oder auch nur von armen Rittern,
die in der heißen Butter lagen. Von was nährte ſich
denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mieths¬
mann ein Licht aufzugehen: Wahrſcheinlich von gar nichts!
Sie wird Hunger leiden — was brauch' ich ſo lange nach
der Quelle ihres Verdruſſes zu forſchen! Ein Stück Elend,
eine arme Baronin, die allein in der Welt ſteht, wer
weiß durch welches Schickſal!
[171]
Er genoß im Hauſe nichts, als jeden Morgen einen
Milchkaffe mit ein paar friſchen Semmeln, von denen
er jedoch meiſtens die eine liegen ließ. Da glaubte er
denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von
Lohauſen, als ſie das Geſchirr wegholte, mit einer
unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob
eine Semmel übrig ſei, und mit einer unbezähmbaren
Haſt davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet
wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte ſich an ein
Fenſter ſtellen, um ſeiner Gedanken Herr zu werden. Was
iſt der Menſch, ſagte er ſich, was ſind Mann und Frau!
Mit glühenden Augen müſſen ſie nach Nahrung lechzen,
gleich den Thieren der Wildniß!
Er hatte dieſen Blick noch nie geſehen. Aber was für
ein ſchönes glänzendes Auge war es bei alledem geweſen!
Mit einer gewiſſen Grauſamkeit ſetzte er nun ſeine
Beobachtung fort; er ſteckte das eine Mal die übrig
bleibende Semmel in die Taſche und nahm ſie mit fort;
das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und
das dritte Mal alle beide, und ſtets glaubte er an dem
Auf- und Niederſchlagen der Augen, an dem raſcheren
oder langſameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬
nehmen und überzeugte ſich endlich, daß die arme Frau
kaum viel Anderes genoß, als was von ſeinem Frühſtücke
übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder
ganze Semmel.
Nun nahm die Angelegenheit eine andere Geſtalt an;
[172] er mußte jetzt trachten, die wilde Katze, wie er ſie wegen
ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein
biſchen zu füttern, nur vorſichtig und allmälig. Er gab
vor, zu einem ſpäteren Frühſtück, das er ſonſt außerhalb
einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und beſtellte
ſich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken,
Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann
den größeren Theil unberührt, in der Hoffnung, die arme
Kirchenmaus werde davon naſchen. Das mochte auch
während einiger Tage geſchehen; dann aber ſchien ſie
den Handel zu wittern, wurde mißtrauiſch und bemerkte
eines Morgens, er möchte entweder weniger beſtellen oder
über die Reſte in irgend einer Weiſe verfügen, und zuletzt
nahm ſie auch die Semmel nicht mehr, die übrig blieb.
Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen.
Eines Tages, als er von einem Ausgang nach Hauſe
kam, traf er ſie auf dem Hausflur bei einer Gemüſefrau,
welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenſtock
zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit
noch ganz voll von hochrothen Nelken blühte. Die
Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte ſchnell
ein wenig das Geſicht in die Blumen, offenbar von einem
Heimweh nach dergleichen ergriffen; ſie fragte zögernd
um den Preis, ſchüttelte den Kopf, gab den Stock zurück
und ſchlurfte eilig davon. Brandolf erſtand ſogleich das
Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdringen
zu können; ſie war aber ſchon in ihrem Malepartus
[173] verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine
Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das
er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des
Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.
Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu
gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine
Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend
ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke
ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde
zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel
im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach
dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die
ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht
ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der
auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer
Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer
Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.
Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos
verlorene Perlen.
Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;
je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz;
er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen,
wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen
[174] wäre oder irgend ein anderes Kleinod. Er hatte ſein
Leben lang etwas Närriſches an ſich und ſoll es jetzt
noch haben, inſofern man das närriſch nennen kann, was
Einem nicht jeder nachthut.
Plötzlich erſchütterte ſich die Schläferin wie von einem
unwilligen oder ängſtlichen Traume und erwachte. Ver¬
wirrt ſah ſie um ſich, und als ſie den Mann mit dem
theilnehmenden Ausdruck im Geſichte wahrnahm, raffte
ſie ſich auf und bat mit milderen Worten, als ſie bisher
hatte hören laſſen, um Entſchuldigung. Sie that ſogar
ein Uebriges und fügte zur Erklärung bei, Nelken ſeien
ihre Lieblingsblumen und ſie habe dem Gelüſte nicht
widerſtehen können, ein wenig bei dem ſchönen Stock
auszuruhen, wobei ſie leider eingeſchlafen. Einſt habe ſie
über hundert ſolcher Stöcke gepflegt, einer ſchöner als der
andere und von allen Farben.
Darf ich Ihnen dieſen anbieten, Frau Baronin? ſagte
Brandolf, der ſich ſogleich erhoben hatte, ich habe ihn
unten gekauft, als ich ſah, daß Sie die Pflanze in die
Hand genommen und mit Gefallen betrachteten.
Das milde Wetter war aber ſchon vorüber. Mit
Roth übergoſſen ſchüttelte ſie den Kopf. Bei mir iſt zu
wenig Licht dafür, ſagte ſie, hier ſteht er beſſer! Als ob
es ſie gereute, ſchon ſo viel geſprochen zu haben, grüßte
ſie knapp, ging hinaus und ließ ſich die folgenden Tage
kaum blicken.
[175]
Endlich brachte ſie die erſte Monatsrechnung, auf
einen Streifen grauen Papiers geſchrieben. Er las ſie
abſichtlich nicht durch; mit dem innerlichen Wunſche, ſie
möchte recht hoch ſein, bezahlte er den Betrag, der jedoch
die Ausgabe keineswegs überſchritt, auf die er zu rechnen
gewohnt war. Während er das Geld hinzählte, ſtand die
ſonderbare Wirthin, wie ihm ſchien, eher in furchtſamer
als in trotziger Haltung lautlos da, wie wenn ſie der
gewohnten Aufkündigung entgegenſähe. Aber entſchloſſen,
durchaus ein Licht in das Dunkel dieſes Geheimniſſes zu
bringen, ließ er ſie hinausgehen, ohne die geringſte Luſt
zum Ausziehen zu verrathen. Neugierig, wie es ſich mit
ihren Rechnungskünſten verhalte, ſtudierte er gleich nachher
den Zettel und fand ihn nicht um einen Pfennig überſetzt;
dagegen war jedesmal, wo er beim Frühſtück nur ein
Brötchen gegeſſen, das zweite übrig gebliebene nicht auf¬
geſchrieben. Nun wurde er gar nicht mehr klug aus der
ganzen Geſchichte, zumal als er beim Weggehen gegen
Abend zum erſten Male von der Gegend der Küche her
ein ſchüchternes Knallen wie von einem brennenden Holz¬
ſcheitlein hörte und den Geruch von einer guten gebrannten
Mehlſuppe empfand, die mitzueſſen ihn ſeltſam gelüſtete.
Nun war er überzeugt, daß die Baronin erſt jetzt ſich
etwas Warmes zu kochen erlaubte. Am Ende, dachte er,
thut ſie das alle Monat einmal, wenn die Rechnung bezahlt
wird, wie die Arbeiter am ſogenannten Zahltag in's
Wirthshaus zu gehen pflegen!
[176]
Und in der That war von der üppigen Kocherei ſchon
am nächſten Tage nichts mehr zu verſpüren.
Um die Mitte des Monats October kam es zu einer
faſt ebenſo langen Unterredung, wie die von dem Nelken¬
ſtock war. Die Baronin machte Brandolf aufmerkſam,
daß jeden Tag der Winter eintreten und die Feuerung
in den Oefen nöthig werden könne, und ſie fragte, ob er
Holz wolle anfahren laſſen und wie viel? Und es kam
ihm vor, als ob ſie mit einiger Spannung auf die Ant¬
wort warte, aus welcher ſie erſehen konnte, ob er bis
zum Frühjahr zu bleiben gedenke. Er nannte ein ſo
großes Quantum, daß man alle Oefen der ganzen
Wohnung damit heizen und auch auf dem Herde ein
luſtiges Feuer bis in den Mai hinaus unterhalten konnte.
Zugleich übergab er ihr eine Banknote mit der Bitte,
alles Nöthige zu beſorgen, den Einkauf und das Klein¬
machen des Holzes; ſie nahm die Note und verrichtete
das Geſchäft mit aller Sorgfalt und Sachkunde. Es
dauerte auch kaum acht Tage, ſo fing es an zu ſchneien,
und jetzt mußte die einſame Wirthin ſich öfter ſehen
laſſen, da ſie die drei Oefen ihres Miethsherrn ſelbſt
einfeuerte und mit Holzherbeitragen und allem Andern
genug zu thun hatte. Sie bekam dabei rußige Hände
und ein rauchiges Antlitz und ſah bald völlig einem
Aſchenbrödel gleich.
Wenn Brandolf aber gehofft, ſie werde nicht ſo dumm
ſein und auch ihr eigenes Wohngelaß etwas erwärmen,
[177] ſo hatte er ſich darin getäuſcht, denn ſo wenig als im
Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinſte
Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwiſchen die
Kälte ſtärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin
ihre Geſchäfte beendigt hatte, ſo mußte ſie ſich einſam
im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wiſſen,
was ſie dort that. Auch wurde ſie erſichtlich immer
blaſſer, ſpitziger und matter, und es ſchien ihm, als ob
ſie die Holzkörbe jeden Tag mühſamer herbeiſchleppe, ſo
daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter
Mann war, in's Herz ſchnitt. Allein jeden Verſuch, ſie
zum Sprechen zu bringen und eine Hülfe einzuleiten,
lehnte ſie beharrlich ab, wie wenn ſie ſich ſo recht vorſätz¬
lich aufreiben wollte. Er aber war ebenſo hartnäckig und
wartete auf den Augenblick, der ſchließlich nicht aus¬
bleiben konnte.
Indeſſen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinſicht
auf ſeine Verhältniſſe. Sein verwittweter Vater war
ein großer Gutsbeſitzer und ſehr reicher Mann, welcher
wünſchte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die
Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite
war der Sohn ein entſchiedenes juriſtiſches Talent und
ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben
dringend zum Staatsdienſte aufgefordert und ermuntert
wurde. Er war auch nach der Hauptſtadt gekommen, um
ſich die Dinge näher anzuſehen und ſich für einſtweilen
zu entſchließen, wenn auch nicht für immer.
Keller, Sinngedicht. 12[178]
Täglich einige Stunden auf dem Miniſterium als
Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger
reicher Mutterſohn, ließ er ſich mit aller Gemächlichkeit
Raum, zum Entſchluſſe zu kommen. Doch wurde ſo eben
von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer
beſtimmten Function auserſehen hatte, die ſeinen Aufent¬
halt in einem entlegenen Landeskreiſe erforderte. Er
aber wollte den Abſchluß ſeines Abenteuers in der Mieths¬
wohnung durchaus nicht fahren laſſen, der Vater drang
ebenfalls auf Erfüllung ſeines Wunſches, und ſo lag er
eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und ſann
über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich
gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich ſeine
juriſtiſchen Kenntniſſe und amtlichen Beziehungen benutzen
könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die
Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünſch¬
baren Aufſchlüſſe zu ſammeln und je nach Befund und
Umſtänden der verlaſſenen Frau eine beſſere Lage zu
verſchaffen, oder aber ſie aus dem Sinne zu ſchlagen und
ſein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.
Mit dieſem Vorſatz kleidete er ſich an und eilte, ſeinen
Morgenkaffe zu nehmen, um ſich ungeſäumt auf den
Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde
war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu
erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen
Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf
und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu ſehen
[179] und zu hören. Er zog die bewußte ſchöne Klingelſchnur,
aber es blieb todtenſtill in der Wohnung. Beſorgt ſchritt
er den Gang entlang bis er an die Küchenthüre gelangte,
und klopfte dort erſt ſanft, dann ſtärker, ohne daß ein
Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Thüre, durchſchritt
die ſtille Küche bis zu einer andern Thüre, welche in die
Wohnſtube der Baronin führen mußte. Dort pochte er
wiederum behutſam und lauſchte und horchte, hörte aber
nichts als ein ununterbrochenes heftiges Athmen und
zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch dieſe Thüre
und trat in das tiefe und düſtere Zimmer, deſſen kahle
Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren;
das nach dem Hofe hinausgehende Fenſter bedeckte ein
einfacher weißer Vorhang ſammt der dicken Stickerei
von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus
einem Strohſacke, einem groben Leintuche und einer
jämmerlich dünnen Decke beſtand, lag die Baronin. Eine
ſchmale, feine Geſtalt zeichnete ſich durch die Decke hin¬
durch; der blaſſe Kopf lag auf einem ärmlichen Kiſſen
und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen
um das Geſicht herum, das mit offenen Augen an die
geweißte feuchte Decke ſtarrte. Sie war mit einem dünnen
Flanelljäckchen angethan; die Arme und Hände, die auf der
Wolldecke lagen, ſchlotterten demnach von Kälte und Fieber
zugleich und ebenſo zitterte der übrige Körper ſichtbar
unter der Decke. Erſchrocken trat Brandolf an das Bett
und rief die Kranke an; ſie drehte wohl die Augen nach
12*[180] ihm, ſchien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat ſie mit
ſchwacher Stimme haſtig um Waſſer. Stracks lief er in
die Küche zurück, fand dort Waſſer und füllte ein Glas
damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasſelbe
an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt ſie
ſeine Hand und das Glas feſt und trank es begierig
aus. Dann legte ſie den Kopf zurück, ſah den fremden
Mann einen Augenblick an und ſchloß hierauf die Augen.
„Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen?“ ſagte
Brandolf und ſuchte an ihrem dünnen und weißen Hand¬
gelenk den Puls zu finden, der ſich mit ſeinem heftigen
Jagen bald genug bemerklich machte. Als ſie nicht ant¬
wortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Haus¬
meiſterin hinunter, die im Erdgeſchoß hauſte, und forderte
ſie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hülfe zu leiſten,
während er einen Arzt herbeihole. Er ſelbſt machte ſich
unverzüglich auf den Weg, dies zu thun; er war dem
bewährten Vorſteher eines Krankenhauſes befreundet und
ſuchte ihn an der Stätte ſeiner vormittäglichen Thätigkeit
auf. Der Arzt beendete ſo raſch als möglich die noch
zu verrichtenden Geſchäfte und fuhr dann unverweilt mit
dem Freunde, den er in ſeinen Wagen nahm, nach deſſen
Wohnung. „Du haſt da eine wunderliche Wirthin ge¬
wählt“, ſagte er ſcherzend; „am Ende, wenn ſie ſtirbt,
bekommſt Du noch Pflegekoſten, Begräbniß und Grabſtein
auf die Rechnung geſetzt und kannſt alsdann ausziehen!“
„Nein, nein!“ rief Brandolf, „ſie darf nicht ſterben!
[181] Ich hab' es einmal auf dies myſteriöſe Bündel Unglück
abgeſehen, und es iſt mir faſt zu Muthe wie einem
ſchwachen Weibe, dem das Kind erkrankt iſt!“
Er erzählte dem Arzte, ſo lange der Weg es noch
erlaubte, einiges von der Lebensart der Baronin. Jener
ſchüttelte immer verwunderter den Kopf. „Lohauſen!“
ſagte er, „wenn ich nur wüßte, wo ich den Namen ſchon
gehört habe! Gleichviel, wir wollen ſehen, was zu thun iſt!“
„Das iſt ja ein vertracktes Loch!“ rief er dann, als
er das feuchte, kalte und finſtere Zimmer betrat, in dem
die Kranke lag. Sie war jetzt bewußtlos und hatte ſich
nach Ausſage der Hausmeiſterin nicht geregt, ſeit Brandolf
fortgegangen. Nach kurzer Betrachtung erklärte der Arzt
den Zuſtand für den lebensgefährlichen Ausbruch einer
tiefen Erkrankung. „Vor Allem muß ſie hier weg,“ ſagte
er, „und in ein rechtes Bett in guter Luft! In meinen
Krankenſälen wird ſich leicht ein Platz finden, wenn wir
ſie hinbringen; die Einzelzimmer ſind freilich im Augen¬
blicke alle in Anſpruch genommen.“
„Wir können die menſchenſcheue Frau nicht dem
Momente ausſetzen, wo ſie am unbekannten Orte und
unter einer Menge fremder Geſichter zu ſich kommt“,
verſetzte Brandolf, der das Kleinod ſeiner Theilnahme
nicht aus dem Hauſe laſſen wollte. „Und überdies“,
ſagte er, „haben wir es hier ſichtlich mit verborgener
und arg verſchämter Armuth zu thun, deren Gemüths¬
bewegungen auch berückſichtigt ſein wollen. Ich kann
[182] mein äußerſtes Zimmer ganz gut entbehren; dort bringt
man ſie hin, ſetzt eine zuverläſſige Wärterin hinein und
ſchließt das Zimmer nach meiner Seite her ab, ſo ſind
beide Parteien ungeſtört. Hätten wir nur erſt das Bett!“
„Ich habe hier neben in die Kammer hineingeguckt“,
berichtete jetzt die Hausmeiſterin, „und geſehen, daß die
Stücke eines vollſtändigen ſchönen Bettes dort bei ein¬
ander liegen. Der Himmel mag wiſſen, warum die
wunderliche Dame auf dieſem Armeſünderſchragen ſchläft,
während ſie ein ſo gutes Lager vorräthig hat!“
„Das will ich Euch ſagen, Frau Hausmeiſterin!“
ſprach Brandolf, „ſie thut es, weil ſie das gute Bett
ſpart, um nöthigen Falls zwei Miether einlogiren zu
können. So viel habe ich geſehen, daß ſie wahrſcheinlich
ihr Leben lang gewöhnt war, mit dem Entbehren immer
an ſich ſelbſt anzufangen, vielleicht nicht aus Güte, ſon¬
dern weil ſie es für nothwendig hielt. Denn die kleine,
ſchmale Weibsanſtalt unter dieſer Decke iſt ein wahrer
Teufel von Unerbittlichkeit gegen ſich und andere.“
Der Arzt aber warf nur ein: „So will ich eine gute
Wärterin, die ich kenne, gleich ſelbſt aufſuchen und her¬
ſenden.“ Worauf er ſich in ſeiner Kutſche wieder ent¬
fernte, nachdem er noch angedeutet, er werde Verhaltungs¬
befehle und Anordnungen der Wärterin mitgeben. Auch
die Hausmeiſterin mußte ſich in eigenen Geſchäften zurück¬
ziehen und Brandolf ſaß allein am Leidensbette der
Fieberkranken, bis die Wärterin mit ihrem Korbe und
[183] ihren Siebenſachen anlangte, von der Hausmeiſterin
begleitet. Zuerſt wurde nun das beſſere Zimmer ein¬
gerichtet und das gute Bett darin aufgeſchlagen und
ſodann die Ueberſiedlung der Baronin bewerkſtelligt. Als
die beiden Frauen ſich nicht recht anzuſchicken wußten,
nahm Brandolf das kranke Aſchenbrödel, in ſeine Decke
gewickelt, kurzweg auf den Arm und trug es ſo ſorglich,
wie wenn es das zerbrechliche Glück von Edenhall geweſen
wäre, hinüber und ließ hierauf die Weiber das Ihrige
thun. Beide verſorgte er mit dem nöthigen Geld, um alles
Erforderliche vorzuſehen und zu beſchaffen, und empfahl
ihnen, die treulichſte Pflege zu üben. Für ſich ſelber
beſtellte er noch eine beſondere Aufwärterin, welche des
Morgens herkam und den Tag über da blieb, ſo daß es
in der ſonſt ſo ſtillen Küche auf einmal lebendig wurde.
Etwas länger als zwei Wochen blieb die Kranke bewußt¬
los, und der Arzt verſicherte mehrmals, daß in dem zarten
Körper eine gute Natur ſtecken müſſe, wenn er ſich erholen
ſolle. Es geſchah dennoch; die Fieberſtürme hörten auf
und eines Tages ſchaute ſie ſtill und ruhig um ſich. Sie
ſah das ſchöne Zimmer mit ihrem eigenen Geräthe, die
freundliche Wärterin und den behäbigen Doctor, der mit
tröſtlichen Mienen und Worten an ihr Lager trat; aber
ſie frug nicht nach den Umſtänden, ſondern überließ ſich
der ſchweigenden Ruhe, wie wenn ſie fürchtete, derſelben
entriſſen zu werden. Erſt am zweiten oder dritten Tage
fing ſie an zu fragen, was mit ihr geſchehen ſei und wer
[184] für ſie geſorgt habe. Als ſie vernahm, daß es der Herr
Miethsmann ſei, ſchwieg ſie wieder und lag lang in ſtillem
Nachſinnen; aber der Trotz ſchien gebrochen, die Nachricht
ſie eher ein wenig zu beleben als zu beunruhigen.
Als Brandolf von der beſſern Wendung hörte, wurde
er ſehr zufrieden und empfand etwas wie das Vergnügen
eines Kindes, wenn ein lieber Gaſt im Hauſe ſitzt und
nun allerlei angenehme und merkwürdige Dinge in Ausſicht
ſtehen. „Wie wenig braucht es doch,“ dachte er im Stillen,
„um ſich ſelber einen Hauptſpaß zu bereiten, und was
für ſchöne Gelegenheiten liegen immer am Wegrande bereit,
wenn man ſie nur zu ſehen wüßte!“
Inzwiſchen hatte ſich die Kunde von der erkrankten
und von ihm verpflegten adeligen Wirthsfrau weiter ver¬
breitet, und er bekam in den Kreiſen, die er beſuchte,
davon zu hören, was ihn keineswegs beläſtigte. Er machte
ſich nur darüber luſtig, daß er in das Haus gezogen ſei,
einen ungerechten Drachen zu bändigen, und ſtatt deſſen
nun den Kranken- und Armenpfleger ſpielen müſſe. Durch
das Gerede entwickelten ſich dagegen ein paar dürftige
Angaben über das Vorleben des Pfleglings. Als die
Tochter eines im Nachbarſtaate ſeßhaft geweſenen und
verſtorbenen Freiherrn von Lohauſen ſei ſie mit einem
Rittmeiſter von Schwendtner verheirathet worden, habe ſich
aber nach einer dreijährigen unglücklichen Ehe von ihm
ſcheiden laſſen, und der ꝛc. Schwendtner ſei dann in übeln
Umſtänden verſchollen. Brandolf empfand ſogleich eine
[185] ſonderbare Eiferſucht gegen den Unbekannten und eine
zornige Strafluſt, nicht bedenkend, daß er den Mann am
Ende auch noch Pflegen müßte, wenn er denſelben in die
Hände bekäme.
Nach ungefähr weiteren acht Tagen befand ſich die
Baronin entſchieden auf dem Wege der Geneſung, wenn
keine ſchlimmen Einflüſſe dazu kamen. Brandolf war ſehr
begierig, das gerettete Weſen anzuſehen, und ließ durch
die Wärterin ordentlich anfragen, ob die Frau Baronin
ſeinen Beſuch empfangen würde. Denn er wollte auch im
Punkte der Höflichkeit zur Befeſtigung ihrer Geſundheit
beitragen und gut machen, was ſie als dienende Wirthin
in ihrer Vermummung erlitten haben mochte. Kurzum,
es ſollte alles wohlſinnig und freundlich hergehen, ſo lange
er die Hand im Spiele hatte.
Als er den Bericht erhielt, daß ſie ſeinen Beſuch erwarten
wolle, zog er einen Ausgeherock und Handſchuh' an und
begab ſich in das Krankenzimmer hinüber.
Er erſtaunte nicht wenig, ſie in ihrem hübſch zugerüſteten
Bette liegen zu ſehen, und hätte ſie beinahe nicht wieder
erkannt, angethan wie ſie war mit reinlich weißem Gewande
und mit dem vergeiſtert weißen Geſichte, das von dem
leicht aber ſchicklich geordneten Haar umrahmt wurde. Sie
richtete mit großem Ernſte die Augen auf ihn, als er auf
einem Stuhle Platz nahm, den die Wärterin neben das
Bett geſtellt hatte. Ihr Blick haftete zerſtreut und aufmerk¬
ſam zugleich an ſeinem Geſichte und ſchien daſſelbe neugierig
[186] zu prüfen, während er nach ihrem Befinden frug und
ſeine Zufriedenheit über ihre Wiedergeneſung ausdrückte.
„Ihr Freund, der gute Herr Doctor,“ ſagte ſie leis,
„meint, ich werde geſund werden.“
„Er iſt davon überzeugt und ich auch, denn er verſteht
es!“ erwiderte Brandolf und ſie fuhr fort:
„Sie haben es nicht gut getroffen mit Ihrer Wohnung!
Statt beſorgt und bedient zu werden, wie es ſich gehört,
mußten Sie die Wirthin verſorgen und bedienen laſſen,
die Sie nichts angeht!“
„Ich hätte es ja nicht beſſer treffen können“, antwortete
er mit offenherzigem Vergnügen; „thun Sie uns nur den
Gefallen und laſſen ſich ferner recht geduldig pflegen und
nichts anfechten! Nicht wahr, Sie verſprechen es?“
Er hielt ihr unbefangen und zutraulich die Hand hin
und ſie legte ihre faſt weſenloſe blaſſe Hand hinein, die
nur durch die Schwäche ein kleines Gewicht erhielt. Zu¬
gleich bildete ſich auf dem ernſten Munde ein ungewohntes
unendlich rührendes Lächeln, wie bei einem Kinde, das
dieſe Kunſt zum erſten Male lernt; daſſelbe machte aber
Miene, in ein weinerliches Zucken übergehen zu wollen.
Brandolf verſchlang das flüchtige kleine Schauſpiel mit
durſtigen Augen; da er ſich jedoch erinnerte, daß er die
Kranke nicht lang hinhalten und aufregen durfte, ſo drückte
er ſanft ihre Hand und empfahl ſich.
Er eilte aber auch um ſeiner ſelbſt, willen davon, weil
es ihn an die freie Luft drängte, ein Freudenliedchen zu
[187] pfeifen, das er ſchon begann, während er Mantel und
Hut an ſich nahm, um zum Mittagsmahl zu gehen.
Fröhlich begrüßte er die tägliche Tiſchgeſellſchaft und ver¬
führte die Herren ſogleich zu einem außergewöhnlichen
Gütlichthun, indem er eine Flaſche duftenden Rheinweins
beſtellte. Einer nach dem Andern folgte dem Beiſpiel;
es entſtand eine bedeutende Heiterkeit, ohne daß Jemand
wußte, was eigentlich die Urſache ſei. Schließlich wurde
Brandolf als der Urheber in's Gebet genommen.
„Ei,“ ſagte er, „meine Katze hat Junge, und als ich
heut' eines der Thierchen in die Hand nahm, gingen ihm
in demſelben Augenblicke die Aeuglein auf und ich ſah
mit ihm die Welt zum erſten Mal.“
Die Herren ſchüttelten lachend die Köpfe ob dem Unſinn;
Brandolf hingegen wurde am gleichen Nachmittage noch
ſehr ſcharfſinnig; denn als er thatluſtig auf ſein Büreau
ging, wo er die Acten eines in der Provinz hauſenden
höheren Juſtizbeamten zu prüfen hatte, arbeitete er mit
ſo vergnüglich hellem Geiſte, daß eine ausgezeichnete Kritik
zu Stande kam, in Folge welcher jener ungerechte Mann
aus der Ferne erheblich beunruhigt, gemaßregelt und endlich
ſogar entſetzt wurde, alles wegen des jungen Kätzleins,
deſſen Welterblickung Brandolf gefeiert haben wollte.
Am nächſten Tage wiederholte er ſeinen Beſuch und
brachte der Baronin einige zartgefärbte junge Roſen, die
er im Gewächshauſe eines Gärtners zuſammengeſucht.
Sie hielt dieſelben in der Hand, die auf der Decke ruhte.
[188] Dergleichen Artigkeit hatte ſie noch nie erlebt und vielleicht
auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erſte
Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach
Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herz¬
ſchläge verbreitete ſich ein ſchwacher röthlicher Schimmer,
gleich demjenigen auf den Roſen, über die blaſſen Wangen.
Gleichzeitig verband ſich mit dem Schimmer ein ſchon
lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum erſten
Male in dieſer Art und auf dieſem Munde. Es erinnerte
faſt an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt:
Wie willſt du weiße Lilien zu rothen Roſen machen?
Küß eine weiße Galathee, ſie wird erröthend lachen. Von
einem Kuſſe war freilich da nicht die Rede.
Brandolf ſorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches
für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte,
und die Geneſende ließ es ſich gefallen, da es ja doch ein
Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche
verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgeſtanden
ſei und Brandolf ſie im Lehnſtuhle finden werde. So
war es auch. Sie trug ein beſcheidenes altes Taftkleid
und ein ſchwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin
ſah man, daß ſie dem Beſuch Ehre zu erweiſen wünſchte.
Sie blickte mit ſanftem Ernſte zu ihm auf, als er Glück
wünſchend eintrat und auf ihren Wink ſich ſetzte.
„Wie ich damals mit einem Meſſer nach Ihrer Sohle
ſtach,“ ſagte ſie, „dachte ich nicht, daß ich einſt ſo Ihnen
gegenüber ſitzen werde!“
„Es war ein ſehr lieber Stich; denn er iſt die Urſache
unſerer guten Freundſchaft und ohne ihn würde ich kaum
je Ihr Zimmerherr geworden ſein,“ antwortete Brandolf,
„weil ich kam, um Sie dafür zu ſtrafen.“
„Sie haben freilich Kohlen auf mein Haupt geſammelt,“
ſagte ſie traurig, „indem Sie wahrſcheinlich mein Leben
gerettet haben. Aber Sie griffen zugleich in dies gerettete
Leben ein, weil ich es nun ändern muß. Ich erfahre,
daß ich nicht auf die bisherige ſelbſtändige Weiſe beſtehen
kann, und will verſuchen, irgendwo als Wirthſchafterin
oder ſo was unterzukommen. Ich habe mir von der
Wärterin und der Hausfrau ſo weit möglich die Ausgaben
zuſammentragen laſſen, und um die Rechnung zu bereinigen
und die nöthigen Mittel für die nächſte Zukunft zu gewinnen,
gedenke ich nun, meinen Hausrath, das letzte was ich beſitze,
zu veräußern, ſobald ich vollſtändig hergeſtellt bin. Ich
muß Ihnen alſo die Wohnung kündigen und bitte Sie,
mir das nicht ungut aufzunehmen. Sie thun es aber
nicht, denn Sie ſind der erſte gute Mann, der mir vor¬
gekommen iſt, und es thut mir leid, Sie ſo bald verlieren
zu müſſen!“
„Dieſer Verluſt wird Ihnen nicht ſo leicht gelingen!“
rief Brandolf fröhlich und ergriff ihre Hand, die er feſt
hielt. „Denn Ihr Vorſatz trifft auf das Beſte mit dem
Plane zuſammen, den ich für Sie entworfen habe! Glauben,
Sie denn, wir werden Sie ohne Weiteres wieder ſo allein
in die Einöde hinauslaufen laſſen?“
„Ach Gott,“ ſagte ſie und fing an zu weinen, „ich
bin ſo gute Worte nicht gewohnt, ſie brechen mir das
Herz!“
„Nein, ſie werden es Ihnen geſund machen!“ fuhr er
fort, „hören Sie mich freundlich an! Mein Vater lebt
als verwittweter alter Herr auf ſeinen Gütern, während
ich mich noch einige Zeit fern halten muß. Unſere alte
Wirthſchaftsdame iſt vor einem halben Jahre geſtorben
und der Vater ſehnt ſich nach einer weiblichen Aufſicht.
So laſſen Sie ſich denn zu ihm bringen, ſobald Sie zu
Kräften gekommen ſind, und machen Sie ſich nützlich, ſo
lange es Ihnen gefällt und bis ſich etwas Wünſchens¬
wertheres zeigt! Daß Sie uns nützlich ſein werden, bin
ich überzeugt; denn ich halte die ſtarre Entbehrungskunſt,
die Sie hier geübt haben, nur für die erkrankte Form
eines ſonſt kerngeſund geweſenen haushälteriſchen Sinnes,
und ich weiß, daß Sie Ihren Untergebenen gerne gönnen
werden, was ihnen gehört, wenn die Sachen vorhanden
ſind. Hab' ich nicht Recht?“
Ihre Hand zitterte ſanft in der ſeinigen, als ſie leiſe
ſagte: „Es thut freilich wohl, ſich ſo beſchreiben zu hören,
und ich brauche Gottlob nicht nein zu ſagen!“
Sie blickte ihn dabei mit Augen ſo voll herzlicher
Dankbarkeit an, daß ihm über dieſem neuen lieblichen
Phänomen die Bruſt weit wurde.
„Alſo iſt es abgemacht, daß Sie kommen?“ fragte er
haſtig, und ſie ſagte: „Ich finde jetzt nicht mehr die Kraft,
[191] es abzulehnen, aber Sie müſſen doch vorher vernehmen,
wer ich bin und woher ich komme!“
„Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht!“ rief er
mit eifriger Fürſorge und ſtand entſchloſſen auf, ſo ungern
er ihre Hand fahren ließ, als er bemerkte, daß ſie ange¬
griffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde.
Deſto beſſer ſah ſie verhältnißmäßig am andern Tage
aus. Sie erhob ſich von ihrem Seſſel und ging ihm mit
kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nöthigte
er ſie ſofort zum Sitzen.
„Ich habe ſehr gut geſchlafen die ganze Nacht,“ ſagte
ſie, „und zwar ſo merkwürdig, daß ich faſt während des
Schlafes ſelbſt die Wohlthat fühlte, wie wenn ich es
wüßte.“
„Das iſt recht!“ ſagte er mit dem Behagen eines
Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen ſich
neuerdings erholen und im friſchen Grün überall die
Blüthen erwachen ſieht. Denn er gewahrte mit Ver¬
wunderung, welch' anmuthigen Ausdruckes dieſes Geſicht
im Zuſtande der Zufriedenheit und Sorgloſigkeit fähig
war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe
ſtand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten:
„Schauen Sie einmal her!“
„Was iſt's?“ ſagte ſie leicht erſchrocken, indem ſie in
den Spiegel ſah, aber nichts entdecken konnte.
„Ich meinte nur, wie ſchön Sie ausſehen!“
[192]„Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum
dem Grab entronnen wol am wenigſten!“
„Nein, keine Schönheit, ſondern etwas Beſſeres!“
Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt ſchon
etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber
nicht zu fragen, was er damit ſagen wollte, und nahm
ihm ſchweigend den Spiegel aus der Hand; und doch
ſchlug ſie mit einer innern Neugierde die Augen nieder,
was das wol ſein möchte, was beſſer als eine Schönheit
ſei und doch im Spiegel geſehen werden könne. Brandolf
bemerkte das nachdenkliche Weſen unter den Augdeckeln;
er ſah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr geſagt
worden, und da es ihr nicht weh zu thun ſchien, ſo ließ
er ſie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis ſie von
ſelbſt die Augen aufſchlug. Es ging ein ſogenannter
Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit
daraus werden zu laſſen, ergriff die Baronin das Wort
und ſagte: „Es iſt mir jetzt ſo ruhig zu Muthe, daß ich
glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz
erzählen zu können; es iſt nicht viel.
„Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬
ſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauen¬
gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten
hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. Jede Frau,
die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten,
und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich
habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen
[193] der Großvater bequemlich aufbrauchte, bis der Sohn
erwachſen und heirathsfähig war. Dieſem verſchaffte ſie
dann im Drange der Selbſterhaltung eine reiche Erbin
aus ihrer Freundſchaft, von welcher man wußte, daß ihr
im Verlaufe der Zeit noch mehr als ein Vermögen zu¬
fallen würde, ſo daß es nach menſchlicher Vorausſicht
endlich etwas hätte klecken ſollen. Dieſe ſtarb aber noch
in jungen Jahren, nachdem ſie zwei Knaben zur Welt
geboren hatte, und weil nun möglicher Weiſe zwei Nichts¬
thuer mehr dem Hauſe heranwuchſen, ruhte jene nicht bis
ſie dem Sohne, meinem Vater, eine zweite Erbin herbei¬
locken konnte, von der ich ſodann das Daſein empfing.
Allein ich erlebte noch, wie die Großmutter, ehe ſie ſtarb,
ihre Sorge verfluchte, mit der ſie die zwei jungen Weiber
in's Unglück gebracht.
„Der Vater verſchwendete das Geld auf immer¬
währenden Reiſen, da es ihm nie wohl zu Hauſe war.
Mit den zunehmenden Jahren fing eine andere Thorheit
an, ihn zu beſitzen, indem er ſich an falſche Frauen hing,
denen er Geld und Geldeswerth zuwendete, was er auf¬
bringen konnte. Sogar Korn und Wein, Holz und Torf
ließ er vom Hofe weg und jenen zuführen, die Alles
nahmen, was ſie erwiſchen konnten. Die heranwachſenden
Söhne verachteten ihn darum, thaten es ihm aber nach
und beſtahlen das Haus, wo ſie konnten, um ſich Taſchen¬
geld zu machen. Niemand vermochte ſie zu zwingen,
etwas zu lernen, und als ſie das Alter erreichten, wußten
Keller, Sinngedicht. 13[194] ſie ſogar dem Militärdienſte aus dem Wege zu gehen,
obgleich ſie groß und geſund waren. Der Vater haßte
ſie und lauerte auf die Erbſchaften, die ihrer von mütter¬
licher Seite her noch warteten, um als natürlicher Vor¬
mund das Vermögen ſeiner Söhne wenigſtens noch während
ein paar Jahren in die Hände zu bekommen. Allein ſie
wurden richtig volljährig, ehe die Glücksfälle raſch einer
nach dem andern eintraten; und nun rafften ſie ihren
Reichthum zuſammen und reiſten mit einander in die Welt
hinaus, um zu treiben, was ihnen wohlgefiel, und nicht
einen Pfennig ließen ſie zurück. Sie hingen an einander
wie die Kletten; während man ſonſt von einer Affenliebe
ſpricht, hielten die zwei Brüder mit einer Art von
Halunkenliebe zuſammen und thun es wahrſcheinlich jetzt
noch, wenn ſie noch leben; denn man weiß nicht, wo
ſie ſind.
„Der Vater wurde kränklich und ſtarb, und nun war
die Mutter mit mir allein auf dem verarmten Stamm¬
ſitze zu Lohauſen, den ſie nie geſehen zu haben wünſchte.
Schon ſeit Jahren hatte ſie zu retten geſucht, was zu
retten war, und jetzt kämpfte ſie wie ein Soldat gegen
den Untergang. Von ihr lernte ich faſt von nichts zu
leben und das Nichts noch zu ſparen. Mit wenigen
Leuten hielten wir uns auf dem Hofe, obgleich er ſchon
verſchuldet war. Früh und ſpät ſchaute die Mutter zur
Sache; ihr Vermögen war verloren, aber noch hatte auch
ſie zu erben und in dieſer Hoffnung nur hielt ſie ſich
[195] aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als ſie einen na߬
kalten Herbſttag hindurch auf dem Felde verweilte, um
das Einbringen von Früchten ſelbſt zu überwachen, trug
ſie eine Krankheit davon, die ſie in wenigen Tagen
dahinraffte.
„Nun befand ich mich allein, aber nicht lang. Die
letzte Erbſchaft, die in das unſelige Haus kam, fiel mir
zu; ſie betrug volle zweihunderttauſend Thaler. Mit ihr
waren plötzlich auch die Brüder wieder da, ſcheinbar in
ordentlichen Umſtänden, obgleich von wilden Gewohnheiten.
Sie brachten einen Rittmeiſter Schwendtner mit ſich, einen
hübſchen und geſetzten Mann, der einen wohlthätigen Ein¬
fluß auf ſie zu üben und ſie förmlich im Zaume zu halten
ſchien, wenn ſie allzuſehr über die Stränge ſchlugen. Er
war mit Rath und That bei der Hand und voll be¬
ſcheidener Aufmerkſamkeit, ohne das Hausrecht zu ver¬
letzen. Die Dienſtboten ſchienen froh, einen kundigen
Mann ſprechen zu hören, denn ſie waren freilich nicht
mehr von der vorzüglichſten Art und verſtanden ſelbſt
nicht viel. Trotzdem blieb ein Reſt von Unheimlichkeit,
der mir an Allem nicht recht zuſagte, und ich befand mich
in ängſtlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen
dieſer Angſt und inneren Verlaſſenheit fiel ich der Be¬
werbung des Rittmeiſters, die er nun anhob, zum Opfer;
ich heirathete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein
zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine
Leidenszeit an.
13*[196]
„Denn Alles war eine abgekartete Komödie geweſen.
Mein Vermögen wurde mir aus den Händen geſpielt, ich
wußte nicht wie, und angeblich in einer hauptſtädtiſchen
Bank ſicher angelegt. Die Brüder verſchwanden wieder,
nachdem ſie den Lohn ihres Seelenverkaufs mochten
empfangen und ſich vorbehalten haben, an dem Raube
ferner Theil zu nehmen. Drei Jahre brachte ich nun
unter Mißhandlungen und Demüthigungen zu. Die
Brüder habe ich nicht mehr geſehen. Mein Mann war
häufig oder eigentlich meiſtens abweſend, bis er eines
Tages mit einer ganzen Geſellſchaft halb betrunkener
Männer zu Pferde und zu Wagen auf dem Hofe ankam
und mir befahl, eine gute Bewirthung zuzurüſten. Ich
that was ich vermochte, während die Männer auf das
Piſtolenſchießen geriethen. Ich hatte ein krankes Kind
in der Wiege liegen, welches ich einen Augenblick zu ſehen
ging; es war nach langem Wimmern ein wenig ein¬
geſchlafen. Da kam Schwendtner mit der Piſtole in der
Hand und verlangte, ich ſollte „ſeinen Jungen“ der Ge¬
ſellſchaft vorweiſen. Ich machte ihn auf den Schlaf des
armen Kindes aufmerkſam. Er aber rief: Ich will dir
zeigen, wie man ein Soldatenkind munter macht! und
ſchoß die Piſtole über dem Geſichtchen los, daß die Kugel
dicht daneben in die Wand fuhr. Es ſchreckte erbärmlich
auf und verfiel in tödtliche Krämpfe; es war auch in drei
Tagen dahin. An jenem Tage aber zwang mich der Un¬
hold, beim Eſſen mit zu Tiſch zu ſitzen. Um Ruhe zu
[197] bekommen, that ich es für einige Minuten, und da in¬
ſultirte er mich vor dem ganzen Troß mit ehrloſen
Worten, die nur ein Verworfener ſeiner Frau gegenüber
in den Mund nimmt. Ich ſtand auf und ſchwankte zu
meinem in Zuckungen liegenden Kinde.
„Inzwiſchen fuhr die Geſellſchaft wieder davon, wie
ſie gekommen war. Nachher ſtarb wie geſagt das Kind;
ich begrub es in der Stille, ohne den Mann zu benach¬
richtigen, und verließ nachher das Lumpenſchloß, deſſen
Namen mir leider geblieben iſt. Durch den Verkauf
meiner mütterlichen Schmuckſachen gewann ich die Mittel,
einen Advocaten zu nehmen, der mich von dem Manne
befreite und die Auseinanderſetzung beſorgte, die damit
endete, daß ich nicht einen Thaler mehr von dem Meinigen
zu ſehen bekam. Alles war verſchwunden, obſchon ſchwer¬
lich aufgebraucht in ſo wenig Jahren. Schwendtner wurde
nicht lange nachher wegen einer andern Niederträchtigkeit
aus dem Officierſtande geſtoßen und ſoll ſich eine Zeit
lang mit meinen Brüdern als Spieler herumgetrieben
haben. Zuletzt ſollen alle drei mit einander in's Ge¬
fängniß gekommen ſein. Das Gut Lohauſen wurde ver¬
kauft und ich behielt nichts als die hausräthliche Ein¬
richtung, mit der ich, wie Sie ſehen, mich als Zimmer¬
vermietherin durchzubringen geſucht habe, freilich mit
wenig Glück. Seit zwei Jahren ziehe ich in dieſer Stadt,
wo mich Niemand leiden mag, von einem Haus in das
andere, immer von der Angſt gehetzt, die Miethe nicht
[198] zuſammen bringen zu können. So iſt am hellen Tage
das Kunſtſtück fertig gebracht worden, daß eine ſchwache
Frau faſt verhungern mußte, während drei baumſtarke
Männer unbekannt wo ihr rechtmäßiges Erbe vergeudeten.
Denn gewiß haben ſie Theile davon in Sicherheit gebracht,
wie ja die Diebe auch ihren Raub zu verbergen wiſſen
und gemächlich hervorholen, wenn ſie aus dem Zuchthaus
kommen.“
Nicht nur weil ſie mit ihrer Erzählung zu Ende war,
ſondern auch weil Brandolf Zeichen der Unruhe von ſich
gab und glühende Augen machte, hielt ſie inne. Ehe ſie
jedoch ſeine Aufregung recht wahrnehmen konnte, hatte er
den in ihm aufgeſtiegenen Grimm ſchon bezwungen und
verſchluckte gewaltſam die Wuth, die ihn gegen das Ge¬
ſindel erfüllte, damit die geneſende Frau nicht in Mit¬
leidenſchaft gerathe, nachdem ſie die Unglücksgeſchichte ſo
gelaſſen erzählt wie einen quälenden Traum, von dem
man erwacht iſt.
„Das iſt nun vorbei und wird nicht wieder kommen!“
ſagte Brandolf ruhig und ergriff ihre Hand, die er ſänft¬
lich ſtreichelte; denn er fing ein wenig an, ſie wie eine
wohlerworbene Sache zu behandeln oder ein anvertrautes
Gut, für das man verantwortlich iſt, das man aber dafür
nicht aus der Hand läßt. So zog ſich das neue Leben
ſtill und ruhig dahin, bis im ſonnigen März der Arzt
die Baronin für geneſen und fähig erklärte, ohne Gefahr
eine Reiſe anzutreten.
[199]
Jetzt wurde der ganze Hausrath, vor Allem das Por¬
zellan und Glas mit den unzähligen Wappen, verkauft;
nur was zum Andenken an ihre Mutter dienen konnte,
behielt ſie, alles Andere wollte ſie wo möglich aus ihrem
Gedächtniſſe vertilgen.
Auch ließ ſie ihren beſcheidenen Kleidervorrath nach
neuerem Zuſchnitt umändern, ſuchte auf Brandolf's Bitte,
da es daran fehle, eine ordentliche Stubenjungfer aus,
und reiſte endlich, mit ſeinen Grüßen wohl verſehen, von
der Jungfer begleitet in die Provinz, wo der Vater
Brandolf's hauſte und zu ihrem Empfange alles vor¬
bereitet war.
Brandolf dagegen begab ſich in eine andere Landes¬
gegend, wo er die Aufgabe übernommen hatte, während
einiger Monate ein nicht unwichtiges Amt proviſoriſch zu
verwalten und gewiſſe in Verwirrung gerathene Verhält¬
niſſe in Ordnung zu bringen. Man gedachte hierdurch
ſeine Kräfte zu prüfen und ihn zu Weiterem vorzubereiten;
er aber behielt ſich vor, nach vollbrachter Sache in ſeine
Freiheit zurückzukehren.
Es dauerte nicht viele Wochen, ſo kamen Briefe des
alten Herrn, Brandolf's Vater, die vom Lobe der Frau
Hedwig von Lohauſen und von dem neuen Stande der
Dinge voll waren. Es ſei, wie wenn ſie eine Schaar
Wichtelmännchen im Dienſte hätte, ſo glatt und gut¬
geordnet gehe ſeit ihrer Ankunft alles von Statten; ein
wahrer Segen liege in ihren Händen und rührend ſei
[200] ihre ſichtbare ſtille Freude über die Fülle und Sicherheit,
in welcher ſie ſich bewegen könne und zweckmäßig zu
walten berufen ſei. Von früh bis ſpät freue ſie ſich der
Bewegung, aber ohne alles Geräuſch, und lieblich ſei es,
wenn ſie ſich hinwieder eine Stunde der Ruhe überlaſſe,
faſt mehr wie um nicht bemerklich zu ſein und Andern
auch Erholung zu gönnen, als wie um ſelbſt zu ruhen.
Auch die Stubenjungfer habe die beſten Manieren und
die Küche ſei vortrefflich geworden, kurz, der Herr Vater
befinde ſich wie im Himmel und fühle ſich verjüngt. Faſt
beginge er die Thorheit, noch zu heirathen, um die treff¬
liche Perſon nicht mehr zu verlieren.
Endlich kam ein Brief, in welchem der Vater ſchrieb,
er habe ſich den Gedanken einer Heirath wirklich überlegt
und gefunden, daß der Sohn ſie in's Werk ſetzen müſſe.
Denn ſo liebevoll die Frau von Lohauſen für ihn ſorge,
hänge ihr Herz jedenfalls am Sohne, er müſſe es ihr
angethan haben, das bemerke er wol. Niemals ſpreche
ſie von ihm; aber ſo oft ſein Name genannt werde, er¬
röthe ſie ein wenig, gleich einem jungen Mädchen, dem
ſie auch in ihrer ſchlanken und feinen Tournüre ähnlich
ſei. Darum wünſche der Vater, daß Brandolf ſich ent¬
ſchließen könnte, den Sprung zu wagen; er hoffe auf keine
beſſere Schwiegertochter für ſeine Verhältniſſe.
Brandolf antwortete, er ſei es zufrieden. Die Hedwig
ſei ihm als Schützling lieb, wie wenn ſie ſein Kind wäre;
allein er könne ſie auch als ſein Frauchen lieb haben
[201] und werde ſie alsdann mit einem ſeidenen Faden am
feinen Knöchel anbinden, damit ſie ihm nie mehr abhanden
komme. Doch müſſe der Papa für ihn fragen und den
Korb einheimſen, den es allenfalls abſetze.
Darauf ſchrieb der Alte zurück, er habe es ſofort
gethan und augenblicklich ein Ja erhalten. Es ſei auf
dem Wege zu dem großen Gemüſegarten geſchehen, den
ſie in ſo herrlichen Stand gebracht habe. Sie ſei ſo
ehrlich und offen, daß ſie ſich nicht eine Secunde lang
zu zieren vermocht, ſondern ihm gleich beide Hände zitternd
entgegen geſtreckt habe, von einem ganz merkwürdig hin¬
gebenden und ſeelenvollen Ausdruck des ſchmalen Geſichtes
begleitet. Ja, ja, die kleine Hexe ſei nicht nur nützlich,
ſondern auch angenehm u. ſ. w.
Hierauf begann Brandolf allerhand kleine Briefchen
und große Geſchenke an die Erwählte zu ſenden. Sie
antwortete eben ſo kurz; aber die Buchſtaben flimmerten
von den Empfindungen, die darin lebten. Der Tag der
Verlobung wurde in den Monat Mai verlegt und die
Verwandten und Freunde geladen. Als Hauswirthin
hatte Hedwig die Pflicht und Freude, alle Vorbereitungen
zu treffen, und ſie ſelbſt war die Braut. Bei Brandolf's
Ankunft war ſie ihm allein entgegen geeilt; ſo hatten ſie
es verabredet. Er ſtieg aus dem Wagen und wandelte
mit ihr durch einen einſamen blumigen Wieſenpfad, auf
deſſen Mitte er ſie feſt an ſich drückte und ſie an ſeinem
Halſe hing, von den niederhängenden Aeſten der weiß
[202] blühenden Apfelbäume geſchützt. Hier iſt nun weiter
nichts zu ſagen, als daß eine jener langen Rechnungen
über Luſt und Unluſt, die unſere modernen Shylok's
eifrig aufſetzen und dem Himmel ſo mürriſch entgegen¬
halten, wieder einmal wenigſtens ausgeglichen wurde.
Da Brandolf bis gegen den Herbſt hin mit ſeiner
amtlichen Verrichtung beſchäftigt und nicht geſonnen war,
auch nach der Hochzeit noch im Dienſte zu bleiben, wurde
die Zeit der Weinleſe zu dem Feſte beſtimmt, um zugleich
eine natürliche Luſtbarkeit mit demſelben zu verbinden
und es zu einer gewiſſermaßen ſymboliſchen Feier für
die wirthliche Braut zu geſtalten, die ſo Vieles erduldet
und entbehrt hatte. Es ſollte auch von einer Hochzeit¬
reiſe nicht die Rede ſein, ſondern das eheliche Leben gleich
im Anfange in das Arbeitsgeräuſch und den bacchiſchen
Tumult des Herbſtes untertauchen.
Zur Zeit der Kornernte reiſ'te Brandolf nochmals
auf ein paar Tage nach Hauſe; nachdem er die Braut
im bittern Winter kennen gelernt, im Lenz ſich mit ihr
verlobt, wollte er ſie im Glanze des Sommers ſehen, ehe
der Herbſt die Erfüllung brachte. Sie war jetzt voll¬
kommen erſtarkt und beweglich, aber immer beſonnen und
ſtill waltend, und die helle Liebesfreude, die in ihr blühte,
von der gleichen unſichtbaren Hand gebändigt und geordnet,
wie die Wucht der goldenen Aehren, die jetzt in tauſend
Garben auf den Feldern gebunden lagen. Zwiſchen zwei
ausgedehnten gelben Ackerflächen zog ſich ein ſchmaler
[203] Forſt alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht
der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach;
ein klarer Bach floß überdies in dieſem Schatten. Hier
hatte Hedwig ihren Aufenthalt; ſie ordnete die Ernährung
der vielen Arbeitsleute, und Jedermann wollte hier ſpeiſen;
auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich
die Gegenwart der Frau von Jedermann angenehm
empfunden wurde, war es doch, wie wenn ſie nicht da
wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb ſie allein im
durchſichtigen Forſte zurück, zwiſchen deſſen Stämmen man
überall das Feld überſehen konnte. Sie nahm ſich die
Zeit, raſch die Erntekränze zu beſorgen, und Brandolf
leiſtete ihr Geſellſchaft. Im einfachſten Sommerkleide,
nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die
Uhr trug, ſchien ſie eine Tochter der freien Luft zu ſein
und ſich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen,
ohne ein Wiſſen um Vergangenheit oder Zukunft.
„Biſt Du auch ſchon ſo geweſen, wie jetzt in dieſem
Augenblicke?“ ſagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem
Thun und Laſſen gemächlich zuſchaute.
„Nein,“ antwortete ſie, „ich habe die Erinnerung
nicht! Es iſt mir Alles neu und darum ſo froh und kurz¬
weilig. Ich ſcheine mir überhaupt früher nicht gelebt
zu haben.“
Auf der Rückreiſe nach dem Orte ſeiner jetzigen
Thätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und ſah ſich
deshalb mehr als ſonſt veranlaßt, bei den am Wege
[204] ſtehenden Herbergen abzuſteigen. So gerieth er auch,
ſchon viele Meilen unterwegs, in eine Poſthalterei, deren
große Gaſtſtube von Reiſenden aller Art angefüllt war.
Darunter befanden ſich drei lange verwilderte Kerle mit
ſtruppigen Bärten und elenden Kleidern, welche verdorbene
Muſikinſtrumente bei ſich trugen. Brandolf bemerkte, wie
die drei Menſchen nach Verhältniß der fortwährend neu¬
ankommenden Gäſte mit ihren Branntweingläschen von
Tiſch zu Tiſch weggedrängt und zuletzt ganz aus der
Stube gewieſen wurden. Murrend aber ohne Widerſtand
gingen ſie auf den Hof hinaus, ſtellten ſich dort unter
das Vordach eines Holzſchuppens und nahmen, wahr¬
ſcheinlich um ſich zu rächen, ihre Inſtrumente zur Hand.
Aber ſie begannen eine ſo gräßliche Muſik hören zu
laſſen, daß in der Stube das Publikum zu fluchen anhub
und verlangte, die Kerle ſollten ſchweigen. Ein gut¬
müthiger Krämer ſammelte einige Groſchen und rothe
Pfennige für die Unglücklichen und brachte ihnen die
kleine Ernte, worauf ſie den Lärm einſtellten und in
einem Winkel zuſammen hockten, um das Nachlaſſen des
Unwetters abzuwarten. Brandolf fragte einen Aufwärter,
was das für traurige Muſikanten ſeien. Ja, erwiderte
der Burſche, das ſeien unheimliche und wenig beliebte
Geſellen. Die zwei etwas kürzeren nenne man die
Lohäuſer, und der ganz lange heiße nur der ſchlechte
Schwendtner. Man munkle, es ſeien drei Junker, die einſt
reich geweſen und dann in's Zuchthaus gekommen ſeien.
[205]
Hedwig war in der That im Irrthum, als ſie glaubte,
das ihr abgeſtohlene Vermögen ſei zum Theil noch vor¬
handen und die Räuber erfreuten ſich ſeiner. Sie hatten
es freilich ſo im Sinne gehabt und waren, um das Geld
wuchern zu laſſen, unter die Börſianer gegangen; allein
die drei Spitzbuben waren an die Unrechten gerathen und
in weniger als ſechs Wochen bis auf die Haut ausgezogen.
Wüthend hierüber wollten ſie ſich durch einen großartigen
Wechſelbetrug rächen und heraushelfen und ſich alsdann
aus dem Staube machen. Es mißlang und ſie wurden
ein Jahr lang eingeſperrt und mußten geſtreifte Kleider
anziehen. Als ſie herauskamen, ſtanden ſie auf der
Straße; ſogar ihre guten Kleider ſammt den ſeidenen
Schlafröcken hatte das Amt verkauft, und ſie mußten mit
den beſcheidenen Hüllen vorlieb nehmen, welche die öffentliche
Wohlthätigkeit ihnen verabreichte. So konnten ſie ſich
nicht einmal mehr zu der Ehrenſtufe von Profeſſions¬
ſpielern erheben, die ſie früher bekleidet, und ſanken,
weil ſie ſich immerfort ſchlecht aufführten, ſchnell auf die
Landſtraße hinunter. Dort konnten ſie erſt recht nicht
von einander laſſen; wenn ſie ſich je auseinander ver¬
fügten, um beſſer fortzukommen, ſo waren ſie in zwei
Wochen ſicher wieder beiſammen; nur ein gelegentlicher
Polizeiarreſt vermochte ſie im Uebrigen zu trennen. Der
lange Rittmeiſter Schwendtner hatte in ſeinen jüngeren
Jahren etwas geigen gelernt und wußte mit Noth noch
eine Saite aufzuziehen und darauf zu kratzen. Die
[206] beiden Lohäuſer hatten als Knaben einſt Poſthorn und
Klarinette lernen ſollen, die Arbeit aber frühzeitig eingeſtellt.
Solch' ideale Jugendbeſtrebungen kamen ihnen jetzt
im Unglück zuſtatten und liehen ihnen den Vorwand,
einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach
Brot und Abenteuern zu durchſtreifen.
Brandolf ſeinerſeits, der an einem Fenſter des Poſt¬
hauſes ſaß und durch das an demſelben herabrieſelnde
Regenwaſſer nach den drei grauen Brüdern hinausſchaute,
konnte nicht im Zweifel ſein, wen er da vor ſich ſehe.
Schrecken und Sorge um ſeine Braut waren die erſte
Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnte nicht,
daß ihr böſes Schickſal ſo nahe um ſie her ſchweifte.
Dann ſtieg der Zorn mächtig in ihm auf und er ver¬
ſpürte Luſt, die Peitſche ſeines Kutſchers zu nehmen,
hinauszugehen und auf die drei Menſchen einzuhauen.
Je länger er aber hinſah, deſto milder wurde die gewalt¬
ſame Stimmung und verwandelte ſich zuletzt in eine
launige Genugthuung, als er ſich doch überzeugen mußte,
wie übel es den Kumpanen erging. Er ſah, wie der
ſchlechte Schwendtner einmal um's andere die gerötheten
Augen wiſchte und ſich an ſeinem durchlöcherten Schuh¬
werk zu ſchaffen machte, in welches er ein Stückchen
Birkenrinde ſchob, das er vor dem Schuppen fand, wäh¬
rend die Lohäuſer aus dem Schnappſack einige Brotrinden
hervorſuchten und daran kauten, dann aber einen weg¬
geworfenen Cigarrenſtummel aus dem Straßenkoth holten,
[207] reinigten und abwechſelnd rauchten; denn die Halunken¬
liebe zwiſchen ihnen ſchien geblieben zu ſein.
Nach ungefähr einer halben Stunde, während es in
Strömen fortregnete, war in Brandolfs Gedanken ein
mehr luſtiger als gewaltthätiger Rache- und zugleich
Befreiungsplan fertig, der ſich um den Beſchluß drehte,
das Kleeblatt auf ſeine Weiſe zur Hochzeit zu laden. Und
unverweilt machte er ſich an die Vollziehung.
Er führte einen anſchlägigen und getreuen Knecht vom
väterlichen Gute mit ſich, der Jochel hieß und mit ihm
aufgewachſen war, auch in früheren Jahren manchen
närriſchen Streich mit ihm beſtanden hatte. Dieſen Jochel
zog er jetzt in's Vertrauen und unterrichtete ihn, wie er
die drei Muſikanten ſich merken und ihre Spur verfolgen
müſſe, damit er zur rechten Zeit ſich in geeigneter Ver¬
kleidung an ſie machen und ſie in die Nähe des Gutes
locken konnte, mit der Ausſicht auf ordentlichen Gewinn
und ſchönes Leben. Denn es handelte ſich darum, ſie am
Tage der Hochzeit und des Winzerfeſtes zur Hand zu
haben, ohne daß ſie wußten, was vorging.
Es gelang auch der Schlauheit des guten Jochel ſo
vortrefflich, daß er ſie bis zum rechten Zeitpunkt richtig
auf den Platz brachte, das heißt in ungefährliche Nähe,
wo ihnen der Mund wäſſerte, den Jochel vor der Hand
mit einem und andern Kruge Moſt erquickte und dieſen
wieder mit einem Gläschen Branntwein abwechſeln ließ.
Sie übten dabei wohlmeinend ihre grauſigen Harmonien,
[208] da ſie allen Ernſtes glaubten eine Hauptrolle ſpielen zu
müſſen bei irgend einem dummen Teufel von Gutsbeſitzer,
und die Geiſtertöne drangen ſchon unheimlich über den
Wald her, hinter welchem ſie verborgen ſaßen. Inzwiſchen
hatte die Weinleſe ſeit einigen Tagen begonnen und nahte
dem Schluſſe. Außer den eigenen zahlreichen Werkleuten
waren viele fröhliche Bauernjungen und Mädchen zuge¬
zogen, die Herrſchaftshäuſer von Köchen und Köchinnen,
Aufwärtern und andern Dienern aus der Stadt beſetzt
und ein Theil der Hochzeitgäſte auch ſchon eingerückt,
während eine gute Ballmuſik noch erwartet wurde.
So kam nun der große Feſttag heran, von der goldig
mildeſten Octoberſonne geleitet, welche einen Duftſchleier
nach dem andern von der Erde hob und zerfließen ließ,
bis alles Gelände mit Bäumen und Hügeln in warmem
Farbenſchmucke erglänzte und die Ferne ringsherum in
geheimnißvollem Blau eine glückverheißende Zukunft dar¬
ſtellte. Im Hauptgebäude war Vormittags die Trauung,
bei welcher ſchon die feine Muſik aus den offenen Fenſtern
tönte. Dann folgte das Feſtmahl der Hochzeitgäſte,
indeß die Winzer und die eingeladenen Landleute im
Freien tafelten und nach einer tapfern Landmuſik bereits
tanzten. Gegen Abend jedoch, als die Sonne immer
lieblicher ihre Bahn abwärts ging, fand nun der große
Aufzug der Winzer ſtatt, an welchem die drei Kujone
mitzuwirken berufen waren. Der Zug beſtand freilich
in nicht viel anderem, als daß die Winzer und Kelterer
[209] in allen möglichen Vermummungen, mit ihren Geräth¬
ſchaften klopfend, unter dem Voraustritte ihrer Muſik
an den Herrſchaften vorüber zogen, die am Eingange des
Parkes auf einem erhöhten Brettergerüſte ſtanden, in
deſſen Mitte ein aus Epheugeflechten errichtetes Tempelchen
Braut und Bräutigam beſonders einfaßte.
Doch entwickelte ſich der Zug maleriſch genug unter
den hohen Bäumen hervor, und Brandolf hatte dafür
geſorgt, daß durch allerhand buntes Zeug, ein Dutzend
Thyrſusſtäbe, Schellentrommeln, Satyrmasken und vor¬
züglich durch eine Anzahl artiger Kindertrachten, welche
die Zeit der Traubenblüthe vorſtellten, Abwechſelung
und Farbe in die Sache kam. Das Ganze drückte das
Vergnügen eines guten Weinjahres aus; der Schluß
hingegen war der Verachtung vorbehalten, die einem
ſchlechten Weinjahre unter allen Umſtänden gebührt. Die
drei Teufel eines ſolchen: der Teufel der Säure, derjenige
der Blödigkeit und der Teufel der Unhaltbarkeit wurden
rückwärts an den Schwänzen herbei und vorübergezogen
und mußten durch ihre Muſik das Gift und das Elend
eines ſchändlichen Weines ausdrücken.
Das waren eben unſere drei Herabgekommenen. Man
hatte denſelben, um ihnen jeden Argwohn zu benehmen,
den Charakter ihrer Rolle offen mitgetheilt. Sie wußten
auch, daß eine Hochzeit da war; allein Jochel hatte ihnen
ſo unbefangen einen falſchen Namen der Braut genannt,
auf den ſie überdies kaum achteten, daß ſie ihre wahre
Keller, Sinngedicht. 14[210] Lage bis zum letzten Augenblicke nicht ahnten. Dennoch
wollte ihr gutes Herkommen und adeliges Blut ſich empören,
als ſie eingekleidet und ſozuſagen angeſchirrt wurden. Man
hüllte ſie nämlich in grau und ſchwarz gefleckte Ziegenfelle,
ſchwärzte ihnen die Geſichter und ſetzte ihnen Ziegenhörner
auf den Kopf. An ihren Hinterſeiten waren Kuhſchwänze
ſehr ſtark befeſtigt, alle drei Schwänze zuſammengebunden
und an ein langes Heuſeil geknüpft; an dieſes Seil aber
ſtellten ſich links und rechts an die zwanzig kräftige
Jünglinge in Küfertracht mit dichten Weinlaubkränzen
auf den Stirnen, und zogen das Seil an, um die drei
Teufel im Triumphe rücklings über den Schauplatz zu
ſchleppen. Wie geſagt, wollten dieſe ſich zuerſt ſtörriſch
zeigen; allein die fünf Thaler Lohn, die jedem verſprochen
waren, überwanden den Widerſtand.
So kamen ſie denn auch heran; immer rückwärts
hopſend und ſtapfend, durften ſie keinen Augenblick ſtille
ſtehen; hinter ihrem Rücken hörten ſie die vordere Muſik,
das Singen, Jauchzen und Trommeln der Winzer und
Bacchanten, ohne zu wiſſen, wohin ſie kamen; ſie hörten
das Schreien und Lachen des Volkes am Wege und ſahen
endlich die Reihen der geſchmückten Hochzeitgäſte, welche
in die Hände klatſchten und Beifall riefen. Mit Schwei߬
tropfen auf der rußigen Stirn kratzte der Herr Rittmeiſter
von Schwendtner erbärmlich an ſeiner Geige und blieſen
die Lohäuſer in ihre geſprungenen Röhren, bis ſie un¬
verſehens vor dem Epheutempelchen anlangten, in dem
[211] die Braut ſtand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und
im Glanze der Abendſonne, die auf ihrem Diamanten¬
ſchmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß das¬
ſelbe ein wenig nachlaſſen, damit die Gehörnten ſtehen
bleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die
ehemalige Frau und die Schweſter; aber ſie glaubten zu
träumen. Sie ließen die Inſtrumente ſinken und ſtarrten
gleich irrſinnigen Menſchen hinauf, wo ſie ſtand und ihnen
lächelnd zunickte; denn ſie wußte nicht, wen ſie vor ſich
ſah, und glaubte, auch dieſe Geſtalten ſeien beſtrebt, ihren
Ehrentag mit den ungeberdigen armen Späßen zu feiern.
Brandolf aber klatſchte feſt in die Hände und rief:
„Gut, gut ſo, ihr Leute!“
Wie träumend griffen ſie an ihre Hörner, dann hinten
an die Schwänze, wo ſie ſich gebunden fühlten; dann
blickten ſie wieder an das Zauberbild der verrathenen
Schweſter, der Gattin hinauf; das böſe Gewiſſen ließ ſie
aber den Mund nicht öffnen, und eh' ſie ſich beſinnen
konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß ſie
die rückſpringende Proceſſion fortſetzen mußten. Der Zug
ging um das Haus herum, auf deſſen hinterem Balkone
die Stadtmuſik ſtand und ihn begrüßte. Dann mündete
er in den Park und erſchien zum zweiten Male vor der
Herrſchaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei
Unholde einen Augenblick vor der Braut ſtill ſtehen und
wieder mußten ſie weiter ſtolpern und immer lauter und
betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein
14*[212] Brandolf winkte, und zum dritten Male wiederholte ſich
die Scene. Die armen Teufel merkten, daß ſie abermals
vorgeführt wurden, und ſuchten ſeitwärts mit Gewalt
auszubrechen. Denn trotz ihrer Verkommenheit empfanden
ſie den Verrath und Hohn, dem ſie verfallen waren, mit
dem Stolze der früheren Tage. Doch die unbarmherzige
Kraft des Seiles hielt ſie feſt, und ſie ſtanden abermals
vor der Braut und ſie ſtierten abermals zu ihr hinauf.
Sie knirſchten und ſtöhnten und ballten die Fäuſte. Da
warf Brandolf drei Louisd'ors, jeden in ein Papierchen
gewickelt, hinunter, und blitzſchnell haſchten ſie darnach
wie drei Affen, denen man Nüſſe zuwirft. Es ſchien ihnen
jetzt doch wahrſcheinlich zu ſein, daß man ſie nicht kenne.
Indeſſen winkte Brandolf wieder, Jochel zog das Seil
an und der Spuk verſchwand endlich. Sie wurden aber
nicht losgelaſſen und auch nicht zu dem Volke gebracht,
das ſich wieder zu Schmaus und Tanz begab, ſondern
Jochel führte ſie und die zwanzig Küfer nach einer entfernt
gelegenen Schenke, um die Teufelsgruppe dort extra zu
bewirthen. Nur mußten die drei Gehörnten jetzt vorwärts
gehen und muſiciren, indeſſen die Küfer hinter ihnen das
Seil hielten. Darüber wurde es dunkel, und als die
wunderliche Geſellſchaft bei der Schenke anlangte, ſah man
in der Gegend des Winzerfeſtes drüben ein herrliches
Feuerwerk gen Himmel ſteigen. Die Teufel wurden jetzt
endlich mit ihren Schwänzen losgebunden, blieben aber
fortwährend von den kräftigen Burſchen umringt und
[213] Jochel ging nicht von ihrer Seite, ſo daß ſie nicht die
geringſte Gelegenheit fanden, ein einziges Wort unter ſich
zu reden. Indeſſen erlabten ſie ſich, ihre innere Zerſtörung
vergeſſend, an dem reichlichen Eſſen und Trinken, das
aufgeſetzt wurde, bis Jemand das Fenſter öffnete und
nach dem Herrſchaftshauſe hinwies, deſſen Fenſter alle
von Licht ſtrahlten, während eine prächtige Ballmuſik
durch die ſtille Nachtluft deutlich, aber fein gedämpft,
herübertönte.
Ob dem Hauſe ſtanden die ſchönſten Sterne, was
freilich die Teufel nicht rühren mochte; denn wenn ſie
für dergleichen Gefühl gehabt hätten, ſo wären ſie jetzt
nicht hier geweſen. Nur der weiche, vornehme Klang der
Violinen verletzte ihnen das Herz, weil er ſie an beſſere
Zeiten erinnerte und ſie ſich die Schweſter und Gattin
vorſtellen mußten, wie ſie in dieſem Augenblicke im Reigen
dahinſchwebte.
Um die Noth ihres Inneren zu erſäufen, überließen
ſie ſich um ſo gieriger dem Getränke, das ihnen Jochel
rückhaltlos einſchenkte. Als er ſie für betrunken genug
hielt, fing er an, ſie zu necken und zum Zorn zu reizen;
Andere folgten und zerrten ſie an den Schwänzen, worauf
ſie unverweilt um ſich ſchlugen und eine ſchöne Prügelei
anhuben.
In dieſem Augenblicke erſchienen zwei Gendarmen,
die im Hauſe darauf gewartet hatten, und eh' eine Viertel¬
ſtunde verfloſſen war, ſaßen die drei Landſtreicher feſtgemacht
[214] auf einem Leiterwagen, und zwei Stunden ſpäter in der
Nacht im Gefängnißthurme der Kreishauptſtadt. Es erging
ihnen jedoch nicht ſo übel. Vielmehr wurden ſie am
Morgen vorgerufen und befragt, ob ſie mit Kleidern,
Wäſche, Reiſegeld und Schriften hinreichend verſehen, unter
Ueberwachung der Polizei nach der neuen Welt auswandern
wollten, und drei Tage nachher reiſten ſie ſchon in Begleit
eines Polizeiagenten, der Geld und Päſſe auf ſich trug,
nach dem Seehafen. Der Agent verließ ſie erſt in dem
Augenblicke, als das Schiff die Anker lichtete.
Hedwig erfuhr den ganzen Hergang erſt, als ſie eines
Tages, ein ſchönes jähriges Knäblein auf dem Schoße
haltend, die Sorge ausſprach, daß das Kind einſt ſeinen
böſen Oheimen in die Hände laufen oder gar die Bekannt¬
ſchaft des häßlichen Schwendtner machen könnte. Jetzt
erſt erzählte ihr der Mann den harten Spaß, den er ſich
damals mit den Herren erlaubt. Entſetzt ſchaute ſie
auf, das Kind wie zum Schutze gegen unbekannte Ge¬
fahren an ſich druckend; allein er beruhigte und tröſtete
ſie ſogleich mit der Nachricht, daß laut Briefen, die er
zu verſchaffen gewußt, die drei Geſellen nach ihrer An¬
kunft in Amerika, wie umgewandelt, ſich ſofort getrennt
hätten. Ja, der Einfall habe die merkwürdigſte Wirkung
auf ſie gethan; jeder von den Dreien ſei in dem ameri¬
kaniſchen Wirbel aufrecht ſchwimmend dahin getrieben
und an einem beſcheidenen ſichern Ufer gelandet, wo er
ſich halte. Einer ſei ein ſtiller Bierzapfer in der Nähe
[215] von Newyork, der andere Schulhalter in Texas und der
dritte Prediger bei einer kleinen Religionsunternehmung,
und Allen gehe es gut.
Brandolf's Vater wurde achtundachtzig Jahre alt und
verſicherte, dies verdanke er nur der Lebensfreude, welche
von der ſtillen Geſundheit der Frau Tochter ausſtröme.
So verſchieden iſt es mit der Dankbarkeit des Bodens
beſchaffen, in welchen eine Seele verpflanzt wird.
Zehntes Capitel.
Die Geiſterſeher.
„Ihr Herr Brandolf iſt ja ein Ausbund von einem
edlen und wohlmögenden Frauenwähler!“ ſagte Lucie, als
Reinhart die verarmte Baronin in ſeiner Erzählung zu
Glück und Ehren gebracht hatte; „aber ſind Sie auch
ſicher, daß dieſer Erkieſer ſeines Weibes nicht ein wenig
das Spiel des Zufalls war, oder am Ende ſelbſt eher
gewählt wurde, während er zu wählen glaubte?“
„Wie ſo?“ fragte Reinhart.
„Ich meine nur!“ erwiderte Lucie; „haben Sie auch
alle Umſtände ordentlich aufgefaßt und wiedergegeben, und
nichts überſehen, was auf eine beſcheidene Einwirkung, ein
kleines Verfahren der guten Frau von Lohauſen hindeuten
ließe?“
„Kennen Sie die Leute, oder haben Sie ſonſt ſchon
von der Geſchichte gehört?“
„Ich? Nicht im Mindeſten! Ich höre heute zum
erſten Male davon reden.“
„Nun, wenn Sie alſo keine andere Quelle kennen, ſo
[217] müſſen Sie ſich ſchon an meine Redaction halten, die ich
nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen beſorgt habe. Ich
betheuere, daß auch nicht die leiſeſte Spur von Koketterie
und Schlauheit ſoll zwiſchen den Zeilen zu leſen ſein, und
ich bitte Sie, hochzuverehrendes Fräulein, nichts hinein¬
legen zu wollen, was hineinzulegen ich nicht die Abſicht
hatte!“
„Und ich bitte den hochzuverehrenden Herrn tauſend¬
mal um Verzeihung, wenn meine Vermuthung beleidigend
war, daß der armen Frau Hedwig noch ein Reſt von
eigenem Willen hätte vergönnt ſein können im Punkte
des Heirathens!“
„Ei, mein ungnädiges Fräulein, warum denn ſo
gereizt? Ich wehre mich ja lediglich für eine Frauen¬
geſtalt, die durch ihre Hülfloſigkeit nur gewinnt und dem
Geſchlechte zur Zierde gereicht!“
„Ei natürlich, ja! So verſteh' ich es ja auch!“ ſagte
Lucie mit fröhlichem Lachen, welches ihre Locken anmuthig
bewegte; „ein ſanftes Wollſchäfchen mehr auf dem Markte!
Diesmal handelt es ſich noch um die Nutzbarkeit einer
guten Wirthſchafterin, und wir müſſen geſtehen, Sie haben
das Thema faſt wie ein Kinder- und Hausmärchen heraus¬
geſtrichen!“
„Aber, liebe Lux.“ rief jetzt der Oberſt, „ſei doch
nicht ſo zänkiſch! Du haſt ja, Gott ſei Dank, nicht
nöthig, Dich über dieſe Dinge zu ereifern, wenn Du doch
unverheirathet bleiben und mein Alter verſchönern willſt!
[218] In dieſer Hoffnung will ich Dir übrigens jetzt etwas
Hülfe bringen! Mit unſerer Wahlfreiheit und Herrlich¬
keit, beſter Freund, iſt es nämlich nicht gar ſo weit her,
und wir dürfen nicht zu ſehr darauf pochen! Wenigſtens
hab' ich die Ehre, Ihnen in mir einen alten Junggeſellen
vorzuſtellen, der vor langen Jahren einſt zum Gegenſtande
der Wahlüberlegung eines Frauenzimmers geworden, als
er nur die Hand glaubte ausrecken zu dürfen, und dabei
ſo ſchmälich unterlegen iſt, daß ihm das Heirathen für
immer verging. Wenn Ihr es hören wollt, ſo will ich
Euch das Abenteuer, ſo gut ich kann, erzählen; es lächert
mich jetzt und zugleich gelüſtet mich, es vor meinem
Ende zum erſten Male Jemandem zu erzählen oder
ſchwatzend zu redigiren, wie unſer Freund Reinhart ſich
ausdrückt.“
Die jungen Leute bezeugten natürlich ihre Neugierde,
die ſie beide auch empfanden, und ſie baten den Oheim,
mit ſeinen Mittheilungen nicht zurückzuhalten.
Er warf noch einen aufmerkſam forſchenden Blick auf
Reinhart's Geſicht, blickte hierauf nachdenklich zu Boden
und ließ ſeinen weichen ſilbernen Schnurrbart durch die
Finger laufen, als er ſeine Rede begann.
Es iſt bald geſchehen, daß man alt wird (ſagte er),
ſo raſch, daß man beim Rückblicke auf den durchlaufenen
Weg ſich nur auf Einzelnes etwa beſinnen und ſich nament¬
[219] lich nicht mit reumüthigen Betrachtungen über die be¬
gangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn die¬
ſelben ſcheinen in der perſpectiviſchen Verkürzung ſo dicht
hinter einander zu ſtehen, wie jene Meilenſteine, welche
der Reiter für die Leichenſteine eines Kirchhofes anſah,
als er auf ſeinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte.
Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder
Unterlaſſungen ſcheinbar ganz unbedeutender und harm¬
loſer Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal ſchwerer im
Gedächtniß haften bleiben, als die gröberen Vergehungen
und Verſäumniſſe, und während wir dieſe in unſerem
Sinne längſt genugſam bedauert und gebüßt haben, über¬
kommt uns immer wieder Reu' und Aerger, ſobald jene
in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Beſuch
bei einem Kranken, und er ſtirbt, ohne ein letztes Wort
geſagt zu haben, deſſen man bedurfte. Einem guten
Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienſte
geleiſtet; aber wir laſſen ihn mit einer kleinen Freund¬
lichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Ent¬
fremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und
nun erſt überlaſſen wir den Mann auf ſchnöde Weiſe
ſeinem Unſtern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie
wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu ſitzen,
laufen wir eines Morgens früh vom Hauſe weg, bleiben
den ganzen Tag fort und verfehlen einen entſcheidenden
Beſuch, der ſich nie wiederholen wird. Wir lieben die
Wahrheit und verhehlen ſie aus blödem Hochmuth, oder
[220] auch aus einer Anwandlung von Muthloſigkeit das einzige
Mal, wo es nothwendig für uns war, ſie zu ſagen. Gegen
Luſt und Willen geht Einer mit Menſchen von ſchlechtem
Rufe öffentlich ſpazieren und wird von einer ihm theueren
Perſon geſehen, die ſich von ihm abwendet, und was der¬
gleichen Unſtern mehr iſt.
Wir haben ſchon von der weſtdeutſchen Univerſitäts¬
ſtadt geſprochen, wo Sie geboren ſind, Herr Reinhart.
Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit,
als der erſte Napoleon noch regierte und die Frauensleute
unter den Armen gegürtet waren. Ich ſollte Jura ſtudieren,
fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer
unter den Rauf- und Zechbrüdern vorſtellte und ſonſt allerlei
Verworrenes zu treiben hatte. Von der politiſchen Noth
des Vaterlandes mit leidend, ſuchte ich Erleichterung in
aufgeſpannten Kraftgeſinnungen und verzweifelt heroiſchem
Daſein, welches bald in ein halbkatholiſches Romanzen¬
thum, bald in eine grübelnde Geiſteskälte hinüberſchillerte.
Ich war bald mehr ein aufgeklärter Myſtiker, bald mehr
ein gläubiger Freigeiſt, alles natürlich ohne die entſprechen¬
den Kenntniſſe zu pflegen, die mit ſolchen Richtungen
damals verbunden wurden. Nichts verſtand ich ganz, als
die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken,
letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen
empfindſam zu werden und die moraliſchen Leiden der
Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein
Freund vonnöthen, der ohne Ueberhebung ſein Herz dem
[221] Vertrauen öffnete und ohne Spott den gewünſchten ver¬
nünftigen und kühlen Zuſpruch ertheilte.
Einen ſolchen fand ich in einem Studenten, dem wir
den altdeutſchen Spitznamen Mannelin gegeben, wobei
wir ihn einſtweilen noch laſſen wollen. Ich hatte in
einem Collegium den Platz neben ihm erhalten, und er
war mir vielleicht dadurch anziehend geworden, daß er faſt
in Allem das Gegentheil von mir zu ſein ſchien. Immer
ruhig, meiſtens fleißig, war er doch kein Spielverderber,
und obſchon er weder focht noch ritt, noch viel trank,
nahm er an den allgemeinen Verſammlungen und Haupt¬
ſachen Theil und ſah mit einer faſt gelahrten und feinen
Haltung ſchon als Jüngling in die Welt und war gern
geſehen.
Engere Bekanntſchaft machte ich mit dieſem Mannelin
in dem Bankhauſe, bei welchem ich empfohlen war und
auch er ſeine Wechſel vorzuweiſen hatte. Der Bankier
pflegte auf jeden Sonntag einige Studenten zu ſeinen
Tiſchgeſellſchaften einzuladen, und ſo trafen wir einſtmals
dort als Tiſchnachbarn zuſammen und unterhielten uns
ſo gut, daß wir nachher einen langen Spaziergang zu¬
ſammen machten und uns auch in der Folge öfter ſahen.
Ich fühlte bald das Bedürfniß, meine Luſtbarkeiten und
Waffenthaten häufiger zu unterbrechen und den ruhigen
Genoſſen aufzuſuchen, dem immer eine Stunde oder mehrere
zur Verfügung ſtanden, weil er immer vorher ſchon Etwas
gethan hatte und auch nachher wieder gleichmüthig arbeiten
[222] konnte, wenn es nothwendig war, es mochte Tag oder
Nacht ſein.
Mit großer Duldſamkeit ertrug er meine Vorliebe für
das Unerklärliche und Ueberſinnliche, das ich fortwährend
in allen Dingen herbeizog und anrief, und vertheidigte
ohne allen Eifer ſeinen Standpunkt der Vernunft, wie
Einer der es beſſer weiß, aber es nicht gerade fühlen
laſſen will. Er war ſchon von ſeinem Vater her ein
geübter Kantianer und ließ, was darüber hinausging, ſich
nicht anfechten. Närriſcher Weiſe freute ich mich eigentlich
deſſen und war ſeiner Geſinnung und ſeines Wiſſens froh,
während ich ihn mit phantaſtiſchen Reden bekämpfte. Es
war mit mir, wie wenn Jemand durch einen verrufenen
Wald geht und auf ſeine Furchtloſigkeit pocht, im Stillen
aber ſich auf das gute Schießgewehr verläßt, das ein
Begleiter mit ſich führt. Zuweilen wollte es mir aller¬
dings vorkommen, als ob ich dem Mannelin ein Bischen
zum ſtillen und am Ende gar ſpaßhaften Studium diente,
wie es auf Hochſchulen ja immer ſolche Leimſieder gibt,
die für das Geld, das ſie ihre Eltern koſten, vor Allem
etwas glauben lernen zu ſollen und ſich allen Ernſtes
einbilden, ſich für ſo und ſo viele Zehngroſchenſtücke ſelbſt
Lectionen in der Menſchenkenntniß geben zu können. Die
Zehngroſchenſtücke verwenden ſie nämlich an einige Flaſchen
Bier oder Wein, die ſie dabei wagen müſſen, und ſie
bringen ſie den Vätern unter der Rubrik: „Allgemeines
zur Weltbildung“ extra in Rechnung. Aber ein ſolcher
[223] Leimſieder war Mannelin doch nicht. Er liebte wirklich
in mir das Widerſpiel und den harmloſen Kerl, der ich
im Grunde war, und wenn eine kleine Spitzbüberei dabei
mitwirkte, ſo war es die Kunſt, mit der er ſich an meinen
vielen Erholungen, wenn ich ſie erzählte, förmlich ſelber
erholte, ohne ſie zu theilen.
Als unſere gute Freundſchaft in dem Bankierhauſe
bemerkt wurde, lud man uns immer zuſammen ein, wie
wir auch bald zu einer Art von Hausfreunden gediehen,
deren erwartetes oder unerwartetes Erſcheinen ſtets gern
geſehen wurde. Wegen der Verſchiedenheit unſeres Weſens
ging für die Andern auch immer etwas Kurzweiliges um
uns vor, woran vorzüglich die einzige Tochter Hildeburg
ihr Vergnügen zu finden ſchien. Ohne in der Denkweiſe
dem Einen oder Andern entſchieden beizuſtimmen, brachte
ſie uns immer in's Gefecht, und wenn nicht ein beſonders
angeſehener Gaſt vorhanden war, der auf die Geſellſchaft
der Tochter des Hauſes Anſpruch erhob, ſo nahm ſie bei
Tiſch unfehlbar zwiſchen uns Beiden oder ganz in der
Nähe Platz. Als das endlich zu ſcherzenden Bemerkungen
Anlaß gab, erklärte ſie uns offen als ihre lieben und
getreuen Diener, ernannte mich zu ihrem Marſchall und
den Mannelin zu ihrem Kanzler und was dergleichen
Späße mehr waren. Eine vielbegehrte reiche Erbin und
in allen Dingen verſtändige und, wie der Student ſagt,
patente Perſon, ein fixer Kerl, wie ſie war, ſetzte ſie ſich
durch ſolche Freiheiten keinerlei Mißdeutungen aus.
[224]
Das hinderte indeſſen nicht, daß wir Beide uns in ſie
verliebten und es einander leicht anmerkten. Doch blieben
wir dabei nicht nur friedlicher Geſinnung, ſondern die
gemeinſame Verehrung diente ſogar dazu, unſere Freund¬
ſchaft zu befeſtigen und den Verkehr angenehm zu beleben,
weil ja ohnehin von ernſthaften Folgen für uns noch
Jahrelang nicht die Rede ſein konnte, auch Hildeburg uns
ſo vollkommen unparteiiſch behandelte, daß Keiner vor dem
Andern aufgemuntert oder gereizt wurde. Wie Mannelin
im Innerſten dachte, wußte ich freilich nicht; ich dagegen
kann nicht leugnen, daß ich mich heimlich für prädeſtinirt
hielt, weil die Schöne eben ſo ſtark brünett war, wie ich
ſelber, Mannelin hingegen der blonden Menſchenart ange¬
hörte. In der That waren ihre wagerechten Augenbrauen
ſo ſammetdunkel, wie der heraldiſche ſchwarze Zobel auf den
alten Wappenſchilden, und über der Stirne hing die krauſe
Nacht eines Tituskopfes — na, ich will keine Beſchreibung
zum Beſten geben, nur anmerken will ich noch, daß an feſt¬
lichen Tagen ein paar kleine Brillantſterne aus der nächt¬
lichen Wildniß funkelten wie Leuchtwürmchen. Und dennoch
fiel der Blick, der von dem Schimmer angezogen wurde,
ſogleich hinunter in den warmen Glanz der dunkeln Augen,
die meiſtens gütig ihn empfingen. Aber trau, ſchau wem!
Doch ein heißeres Feuer entflammte ſich, in welchem
die Stadt Moskau aufging und das dem Napoleon die
Stiefelſohlen verbrannte. Es dauerte nicht lange, ſo hieß
es bei der ſtudierenden Jugend überall: heimgereiſt! Mir
[225] ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬
regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬
gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide
rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber
nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller
Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte
nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit
und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als
man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank,
die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen
von uns ſie am unliebſten verliere?
„Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie;
„erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem
Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig
geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch
iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die
Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der
Himmel helfen!“
Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬
ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit,
ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬
tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte.
Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang
ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin
dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte
ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche
ſchieben konnte.
Keller, Sinngedicht. 15[226]
Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang
durch den Garten gemacht, ſoweit die Wege in der frühen
Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in
den erſten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht
wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den
übrigen Gäſten entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen.
Wir fühlten uns jetzt ernſter und zugleich leidenſchaftlicher
geſtimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unſerer
Neigung zu dem ſchönen Weſen deutlicher bewußt wurden;
nur die Ungewißheit der Zukunft und die vorausſichtliche
Dauer und Gefährlichkeit des bevorſtehenden oder vielmehr
ſchon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß ſich die
zwiſchen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige
Freundſchaft trübte.
Hildeburg merkte wol an unſerem ſtillen Weſen und
an der Natur unſerer Athemzüge, was uns bewegte, und
ſie ſelbſt wurde fühlbar erregter. Als wir unverſehens
vor einem Pavillon anlangten, ſtieß ſie die Thüre auf,
ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬
ſchloſſenen Fenſterläden, indem ſie uns raſch mit einem
Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal
und ſie wandte ſich uns zu.
„Ich bin in allem Ernſte in einer ſo traurigen Lage,
wie noch nie ein Mädchen geweſen iſt; denn ich habe
Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander löſen.
Du, Marſchall, haſt mein halbes Herz verſchlungen; das
iſt thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,
[227] haſt die andere Hälfte aufbewahrt, das iſt auch thöricht,
aber es iſt treu und beglückt mich. Ich werde nie die
Frau eines Mannes werden, es wäre denn Einer von
Euch Beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn
Beide fallen oder Beide zurückkehren, werde ich ledig
bleiben, als das Opfer eines heilloſen unnatürlichen
Naturſpieles oder unvernünftigen Ereigniſſes, das in
meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich
vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit
Schmach bedecken will! Da ich mir aber Keinen von Euch
todt denken kann und will, ſo lebt wohl auf ewig, liebſte
Brüder!“
Nach dieſen Worten fiel ſie Jedem von uns um den
Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerſt mich
und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und
endlich mich noch einmal. Wir ſtanden wie vom Himmel
gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns
war die Situation ganz verflucht und ich habe weder im
Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage
wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja ſoeben erfahren
hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leiden¬
ſchaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küſſen
kann, ſo werden dieſe, wenn ſie das Weib lieben, niemals
dazu kommen, daſſelbe nun gemeinſam anzufaſſen und
wieder zu küſſen. Wir brauchten uns auch nicht darüber
zu beſinnen, weil ſie, ehe das möglich war, uns enteilte
und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend
15*[228] ausrief: „Ihr verpfändet mir Euere Ehre, daß Ihr
ſchweigt!“
Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen;
wir verabſchiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle Andern
unſere Hände ſchüttelte und die Thränen der Rührung
nicht verhehlte.
Da gingen wir nun mit unſerem getheilten Glück
und Mißglück von hinnen und ſprachen, nachdem wir
ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde
lang kein Wort miteinander, obgleich wir zuſammen blieben.
Wir konnten uns nicht ſehr gehoben fühlen; denn ein
Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein
guter Ritter und Kreuzfahrer ſein; zwei gute Geſellen
aber, die der Gegenſtand der Doppelneigung eines jungen
Mädchens ſind, müſſen ſich doch etwas zu zwiefältig,
zu halbſchürig vorkommen, und es iſt nicht Jedermanns
Sache, ein ſiameſiſcher Zwilling zu ſein. Dennoch hatte
uns das ſeltſame Geſtändniß Hildeburg's und ihre leiden¬
ſchaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangen
genommen, und wir liebten das ſchöne ſchlanke Naturſpiel
unvermindert fort, zumal daſſelbe ja noch tragiſcher als
wir geſtellt war, wenn es ſich ſo mit ihm verhielt, wie
es ſagte.
Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik
über die gegenſeitige Verlegenheit hinweg. Als wir den
Verſammlungsort aufſuchten, wo an die hundert junge
Männer, die am nächſten Tage nach allen Seiten unter
[229] die Fahnen eilen mußten, den Abend noch zubringen
wollten, da erhob ſich unſer Geiſt zu der Höhe der auf¬
wogenden und rauſchenden Vaterlands- und Kampfesfreude.
Wir ſaßen dicht neben einander in der gedrängten Schar;
und als gegen Mitternacht die Gläſer unter dem donnern¬
den Rufe: Tod oder Freiheit! in die Höhe fuhren, da
hielt Mannelin mir ſein Glas entgegen und ſagte: „Sollte
es ſo kommen, daß Einer von uns fällt und der Andere
das Weib gewinnt, ſo ſoll er leben! Auf ſein Glück!“
Nicht minder pathetiſch ſtieß ich an, daß beide Gläſer
klirrten, indem ich rief: „Und Friede dem Todten!“
So trennten wir uns als wackere Freunde, und nach
wenigen Stunden fuhren wir auf getrennten Wegen dahin,
ohne daß wir für die Zukunft irgend eine Abrede oder
Beſtimmung getroffen hatten. Wie das Kriegsglück wollten
wir auch das Schickſal unſerer ungewöhnlichen Liebes¬
geſchichte ſich ſelbſt überlaſſen.
Mannelin hatte hellere Sterne, als ich; während ich
noch immer unter Oeſterreichs zögernden Standarten harren
mußte, ſtürmte der blonde Duckmäuſer mit ſeiner Muskete
ſchon von Schlacht zu Schlacht, und erſt auf Leipzigs
Feldern kam ich zum Tanze und athmeten wir den gleichen
Pulverdampf, aber ohne uns zu ſehen oder von einander
zu wiſſen.
Ich kann dem Verlaufe des gewaltigen Feldzuges jetzt
nicht weiter folgen. Auch in Paris traf ich den Freund
nicht, obgleich wir faſt gleichzeitig dort einmarſchirt waren.
[230] Schon zum Leutenant vorgerückt, war er ſo zu ſagen faſt
auf dem Pflaſter jener Stadt noch ſchwer verwundet
worden und lag, als ich ſeine Spuren ſuchte, unerreichbar
in einem entlegenen Lazareth. Es hieß ſogar, er werde
bereits geſtorben ſein, als ich meine Nachforſchungen fort¬
ſetzte; da widerſtrebte es mir, mich von ſeinem Tode zu
überzeugen, um an geweihter Stätte des Kampfes und
Sieges nicht die nackte Selbſtſucht in mir aufkommen zu
laſſen. Denn ſeit Streit und Mühſal aufgehört hatten
und die Friedenspalmen winkten, waren auch die Gedanken
an das verhexte Liebesweſen wieder ſtärker wach geworden,
und ich blieb abſichtlich im Dunkeln über Mannelin's
Tod, damit ich nicht gleich wie ein Wechſelgläubiger vor
das ſchöne Mädchen zu treten, verſucht würde, an deſſen
Verheißung, den Ueberlebenden zu heirathen, ich feſt
glaubte.
Im Monat Mai des Jahres 1814, zur Zeit wo das
lange Rheinthal blühte wie ein einziger Fliederbuſch, zog
unſer Regiment über den Strom oſtwärts; es bekam aber
den Befehl, in der Rheingegend Halt zu machen, um die
ferneren Umſtände abzuwarten, wie wir denn auch bald
nachher nach der Lombardei geſandt wurden. Die
Schwadron, in der ich ritt, kam aber nirgends anders
hin zu ſtehen, als in unſere gute Univerſitätsſtadt. Mit
welchen Gedanken ſah ich die Pferde in den Marſtall
und die Reitbahn ſtellen, in denen ſich der Student ſo
oft getummelt hatte! Und als ich mein Quartier im
[231] Gaſthofe bezog, in welchem ich vor fünf Vierteljahren ſo
manche Flaſche ausgeſtochen, waren Wirth und Diener¬
ſchaft ſehr verwundert über den ernſthaften Kriegsmann.
Allein auch ich verwunderte mich, da ich auf Befragen
vernahm, die Bankiersfamilie befinde ſich zur Zeit nicht
in der Stadt, ſondern auf einem Landſitze, der ungefähr
eine Meile entfernt ſei. Ein franzöſiſcher Emigrant, der
vor zwanzig Jahren das Grundſtück an ſich gebracht, hatte
es nämlich augenblicklich zum Verkaufe ausgeboten, als
die Ordnung der Dinge in Frankreich umgeſtürzt war;
und der Bankier hatte nicht geſäumt, das Gut auf die
leichte und billige Weiſe zu erwerben, die in ſolchen Zeit-
und Kriegsläufen denen möglich iſt, welche baares Geld
haben.
Ich konnte daher am Tage der Ankunft nicht mehr
vorſprechen, ritt aber um ſo zeitiger am andern Morgen
hinaus, von meinem Reitknechte begleitet. Es regnete ein
wenig an dem Tage, weshalb ich den Kragen des weißen
Reitermantels aufgeſtellt und die Schirmmütze etwas tief
in die Augen gezogen hatte, als ich durch eine lange Allee
auf das alte ſchloßartige Gebäude zuritt, das wenig gut
unterhalten ſchien. Man mochte glauben, daß eine gewöhn¬
liche Officiers-Einquartierung angekommen ſei, da auch in
der Umgebung ſchon öſterreichiſche Reiterei erſchienen war.
Es trat daher nur ein Diener aus der Thüre, mich zu
empfangen und nach meinen Wünſchen zu fragen Statt
ihm zu antworten, ſprang ich vom Pferde, überließ die
[232] Zügel meinem Burſchen und betrat ſogleich das einſt
ſtattlich gebaute, jetzt etwas verfallene Veſtibül des Hauſes.
Erſt als ich ihm den Mantel übergab, erkannte mich der
Diener trotz des veränderten Ausſehens, das der Krieg
mir verliehen, und führte mich freundlich überraſcht in
einen Saal, wo der Herr und die Frau des Hauſes die
Zeitungen laſen. Auch ſie erkannten mich nicht ſofort,
erhoben ſich aber mit lebhafter Freude, als es geſchah,
und hießen mich willkommen. „Was wird Hildeburg
ſagen,“ riefen ſie, „wenn der Marſchall wieder da iſt!
Und wo bleibt denn der Kanzler? Wiſſen ſie nichts von
ihm? Wie oft haben wir von beiden Herren geſprochen!“
Eh' ich antworten konnte, trat Hildeburg in den Saal,
die allein mich von einem Fenſter aus erkannt hatte, ſo¬
bald ich nur von der Landſtraße in die Allee ein¬
gebogen war.
Ich vergeſſe niemals die Erſcheinung, wie ſie mir
entgegen trat. Wie ein weißes Tuch ſo bleich war das
Geſicht, das Auge träumeriſch erſchreckt und auf dem
Munde doch ein Lächeln des Wiederſehens, das aus dem
Herzen kam, blaſſe Trauer und erröthende Freude mehrere
Secunden lang ſich jagend: es war kein Zweifel, ſie hielt
den armen Mannelin für todt und mich für gekommen,
mein Recht geltend zu machen!
Zum Glücke waren die Eltern an allerlei wunderliche
Stimmungen gewöhnt, ſonſt hätten ſie jetzt ihren wahren
Zuſtand ahnen müſſen, beſonders als ich nicht länger ver¬
[233] meiden konnte, von Mannelin zu erzählen was ich wußte,
was freilich wenig und doch bedenklich genug war. Der
Papa meinte, es ſei doch zu hoffen, daß er ſich noch unter
den Lebenden befinde, anſonſt gewiß der eine oder andere
der jüngeren Freiwilligen, die in den letzten Wochen
bereits in ihre Hörſäle zurückgekehrt ſeien, eine beſtimmte
Todeskunde gebracht hätte, Auch in den Verluſtliſten,
die er ziemlich aufmerkſam durchlaufen, ſei ihm der Name
ſo wenig vorgekommen, als der meinige.
Allein als Hildeburg eine Viertelſtunde ſpäter mit
mir zu Zweit durch eine Zimmerflucht wandelte, um mir
das Haus zu zeigen, das erſt neu hergeſtellt und ein¬
gerichtet werden müſſe, hielt ſie Plötzlich an und ſagte mit
leiſe hallenden Klagetönen: „Es iſt nur zu wahr! Mein
kluger, lieber Kanzler Mannelin liegt in Frankreich unter
dem grünen Raſen; ſie haben ihm die Bruſt durchſchoſſen
und ſeine treuen blauen Augen ausgelöſcht! Und Du,
Marſchall, biſt gekommen, es mir zu ſagen!“
Und gleichzeitig ſah ſie mich mit tief aufflammenden
Augen an, die ebenſo wol aus Haß wie aus Liebe ſo
erglüht ſein konnten. Denn auf den blaß gewordenen
Lippen lag jetzt nichts als bittere Trauer. Das Du, mit
dem ſie mich anredete, wagte ich nicht zu erwidern, ſo
herriſch hatte es geklungen, beinahe wie der Herr mit
dem Diener oder der Officier mit dem Soldaten ſprach.
„Nein, Fräulein Hildeburg!“ ſagte ich, einen Schritt
zurücktretend, doch mit ſcheuer Ehrerbietung, denn ſie ſah
[234] gar zu merkwürdig aus, faſt wie wenn ſie beſeſſen wäre:
„Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch!“
„Den Teufel hoffſt Du!“ rief ſie mit funkelnden
Augen und lachte jählings laut auf, indeſſen mich das
Gewiſſen Lügen ſtrafte. Denn in dieſem Augenblicke
ſchien es mir, daß ich nicht genug gethan hatte, um über
das Schickſal Mannelin's in's Klare zu kommen, und zu¬
gleich fühlte ich mich von brennender Eiferſucht gegen den
Abweſenden gepeinigt, der ſo leidenſchaftlich betrauert
wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte
jetzt noch nur ihn. In dieſer Beklemmung that ich einen
unfreiwilligen ſchweren Seufzer, worauf Hildeburg mich
bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme ſagte:
„Kommen Sie und ſprechen wir vor der Hand nicht mehr
davon!“
Ruhig ging ſie neben mir in den Saal zurück, wo
eine Erfriſchung aufgetragen war, und als ich gegen Abend
mich nach der Stadt begab, reichte ſie mir treuherzig die
Hand und ſagte: „Sie hoffe mich noch öfter zu ſehen,
ſo lange das Regiment in der Gegend bleibe.“ Da die
Witterung meiſtens gut war, ſo fand ſich faſt täglich
Urſache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen,
und wenn ich ausblieb, ſagte Hildeburg am nächſten Tage
ſogleich: „Warum ſind Sie geſtern nicht gekommen?“
Sie ſchien ſich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine
Mal verlor ſie unverſehens einen trauten Blick an mich,
das andere Mal ſtreifte ſie mich leicht mit einer Be¬
[235] rührung, kurz ſie beglückte mich mit jenen kleinen Zeichen,
mit welchen Liebende anfangen, ſich an den Gedanken
eines dereinſtigen Beiſammenſeins zu gewöhnen. Dann
aber blieb ſie wieder Tage lang in ſich gekehrt und lebte
ſichtlich mit düſteren Sinnen in der Ferne. Mein eigener
Zuſtand ſchwankte daher fortwährend zwiſchen Hell und
Dunkel hin und her, ſo daß ich ungeduldig das Ende
herbeiwünſchte. Allerdings ſtand es auch einem jungen
Dragoner, der ſeit Jahr und Tag den Säbel in der Fauſt
führte und über manche Blutlache hinweggeſetzt hatte, nicht
ſonderlich gut an, um ein Frauenzimmer herum zu ſchmach¬
ten, das doch nicht dicker war, als ein Spinnrocken, wenn
auch noch ſo hübſch gedreht.
Als ich eines ſchönen Nachmittags auf den Landſitz
hinausritt und eben in der langen Ulmenallee in un¬
williger Gemüthsbewegung das Pferd in eine unruhige
und heftige Gangart verſetzt hatte, ohne deſſen bewußt zu
ſein, eilte mir aus dem Hauſe ein fröhliches Menſchen¬
paar entgegen: Hildeburg, welche einen preußiſchen In¬
fanterieofficier, oder mein Freund Mannelin, der das
Fräulein Hildeburg an der Hand führte; ich konnte in
der Ueberraſchung nicht erkennen, welches von beiden der
Fall war. Meine erſte Empfindung war die Freude über
das unverhoffte Wiederſehen, die zweite ein Gefühl der
Zufriedenheit über die Herſtellung des früheren Zuſtandes
zwiſchen den drei Perſonen, womit wenigſtens für den
Augenblick der quälende Zweifel beſeitigt wurde. Auch
[236] Hildeburg gab ähnlichen Gefühlen Ausdruck, indem ſie
ausrief: „Nun iſt Alles gut, nun ſind wir Alle wieder
beiſammen!“
Mannelin vollends war unverkennbar glücklich und
zufrieden, die Dinge ſo zu finden, da er ſchon gefürchtet
haben mochte, zu ſpät zu kommen; denn er wußte, daß
er irriger Weiſe für todt ausgegeben worden. Er war
aber nicht ſo unrettbar verletzt geweſen und jetzt leidlich
geheilt; doch hatte er einen mindeſtens halbjährigen
Urlaub antreten müſſen, um ſich ganz zu erholen. Schon
wieder mit Büchern verſehen war er auf dem Wege nach
einem Badeort mit heißen Quellen begriffen und hielt
kurze Einkehr in der Univerſitätsſtadt. Erſt auf dem
Landgute des Bankherren hatte er heute vernommen, daß
ich ebenfalls im Lande ſei. Mannelin hatte durch den
Kriegsdienſt ſich ſehr vortheilhaft verändert, was das
Aeußere betrifft. Ohne gerade martialiſch drein zu ſchauen,
hatte er doch an feſter Haltung gewonnen. Sein leichter
blonder Bart auf Wangen und Oberlippe erhielt durch
den Ernſt der Ereigniſſe und Abenteuer, der in den
Augen und auf dem Munde ſich gelagert hatte, eine
größere Bedeutung, als ihm ſonſt zugekommen wäre, und
das militäriſche Wiſſen und Erfahren, um welches er
reicher geworden, vereinigte ſich vortrefflich mit ſeinem
wiſſenſchaftlichen Geiſte. Aber ungeachtet er die be¬
deutendſten Kriegsthaten mitgemacht und zahlreichere Ge¬
fechte und Gefahren beſtanden, als ich, hörte man ihn
[237] niemals davon ſprechen, und wäre er nicht unfreiwillig
in die zeitgemäßen Geſpräche mit verflochten worden, ſo
würde man vermuthet haben, er ſei die ganze Zeit über
nie aus ſeiner Studierſtube herausgegangen.
Das verlieh dem liebenswürdigen Duckmäuſer einen
neuen Glanz, der indeſſen auch mir zugute kam; denn als
ich einſt nach eifrigem Sprechen vom Hauen und Stechen
in der darauffolgenden Stille plötzlich wahrnahm, wie
renommiſtiſch ich mich neben ihm ausnehmen mußte, ſuchte
ich mich beſchämt zu beſſern und wurde auch hie und da
beſcheidener. Leider mußte ich nachher, da ich Soldat
von Prefeſſion blieb, mich doch wieder an das Schreien
und Rufen gewöhnen.
So verlebten wir noch eine Reihe von angenehmen
heiteren Tagen, bis nicht unerwartet und doch unverhofft
der Abmarſchbefehl für mein Regiment anlangte, und
zwar hatte der Aufbruch in ſechs Tagen ſtattzufinden.
Von Stund' an war Hildeburg in ihrem Benehmen ver¬
ändert. Bald unruhig und zerſtreut, bald in ſich gekehrt
und über etwas brütend, das ſie beſchäftigte und drückte,
wechſelten ihre Launen unaufhörlich, und als ob ſie es
ſelbſt nur zu wohl wüßte, entzog ſie ſich meiſt der Geſell¬
ſchaft, die zuweilen ziemlich zahlreich wurde, je mehr die
Umgebung des erſt ſpäter wohnlich zu machenden Hauſes
zum Aufenthalt im Freien einlud. Indem ich, von dem
veränderten Betragen des Mädchens abermals betroffen,
über dasſelbe nachdachte, fühlte ich mich geneigt, die Er¬
[238] ſcheinung zu meinen Gunſten auszulegen und zu glauben,
nun komme die Reihe, als Abweſender oder gar Ver¬
lorener zu glänzen und betrauert zu werden, an meine
werthe Perſon. Ich überlegte, wie ich mich dazu zu ſtellen
habe: Ob ich edel geſinnt die Dinge nach Abrede gehen
laſſen und dem Rivalen vertrauensvoll das Feld räumen,
oder ob ich den Vortheil benutzen und mit dem Gewicht
der neuen Sachlage dem Zünglein der Waage einen
leichten, aber plötzlichen Stoß geben ſolle?
Hildeburg ſelbſt ſchien mir entgegen zu kommen; ſie
veranlaßte ihre Eltern, mir zu Ehren ein Abſchiedseſſen
zu geben, und mich forderte ſie bei der Einladung auf,
es ſo einzurichten, daß ich auch den Abend bleiben könne.
Ein Bett für mich ſolle trotz der mangelhaften Einrichtung
bereit ſein, meinte ſie, und vor Geſpenſtern würde ich
mich wol kaum genieren. Denn es gehe die Rede, daß
in dem älteren Flügel des Hauſes etwas nicht richtig ſei.
In der That hatten die Dienſtboten von einem alten
Gärtner dergleichen Reden gehört und mit eigenen Beob¬
achtungen, die ſie zu machen glaubten, ergänzt. Während
der Mahlzeit, welche reich und belebt genug war, gerieth
die Unterhaltung ebenfalls auf dieſen Gegenſtand. Die
alte Mama beklagte ſich über ſo beunruhigende Herum¬
bietungen, die doch keinen vernünftigen Grund haben
könnten; der alte Herr verwies darauf, daß mit Luft
und Licht und friſcher Tünche der neuen Arbeiten
das Unweſen ſich wol verziehen werde. Mich aber ſtach
[239] der Vorwitz, mich wieder einmal der ſogenannten Nacht¬
ſeiten und der jenſeitigen Geheimniſſe u. ſ. w. anzunehmen,
und ich kehrte den ernſten Kriegsmann heraus, der auf
nächtlichen Schlachtfeldern und zwiſchen Tod und Leben
verlernt habe, über dergleichen zu ſpotten.
Mannelin, der bisher das Geſpräch nicht theilnahms¬
werth gefunden, ſah mich ganz verwundert an und fragte
mich treuherzig lachend: „Ob ich noch unter die Geiſter¬
ſeher gehen wolle?“ Hierdurch gereizt, bejahte ich die
Frage kühnlich, ſofern ich nur das Glück wirklich haben
ſollte, ein Stück der andern Welt jetzt ſchon kennen zu
lernen; zugleich aber ſtellte ich ein wenig großthueriſch
in Ausſicht, den Dingen in's Geſicht ſehen und ſie zur
Rede ſtellen zu wollen, wenn ſie anders heran kämen.
Um was ſich's eigentlich handle im vorliegenden Falle?
ſchloß ich meine Prahlerei.
„Es ſoll ein Poltergeiſt ſein, den man die alte Kratt
nennt!“ ſagte Hildeburg halb eingeſchüchtert durch meine
Reden, wie wenn ſie befürchtete, es möchte am Ende etwas
Wahres aus der Sache werden. Vor achtzig Jahren habe
nachweisbar eine freiherrliche Familie Kratt das Gut be¬
ſeſſen; Weiteres habe man noch nicht heraus gebracht,
als daß es nur ſelten und nur in gewiſſen Nächten ſpuke.
Da die Mutter Hildeburg's ein ängſtliches und noch
mehr verdrießliches Geſicht zu machen begann über die
Verunzierung des neuen Beſitzes und mein Freund
Mannelin ſich gleichgültig von dem Geſpräch wieder ab¬
[240] gewandt hatte, wurde dasſelbe fallen gelaſſen und man
kam nicht mehr darauf zurück. Ich hatte zwei Kameraden
mitgebracht, luſtige Donauleute, die ſich das gute Leben
im Privatkreiſe wohl gefallen ließen nach langen Ent¬
behrungen, und es ging den Reſt des Tages über ſehr
munter zu. Als ſie am Abend, da auch die andern Gäſte
zurückkehrten, den leichten Wagen vorfahren ließen, in
welchem wir gemeinſchaftlich angekommen, ſchwankte ich
einen Augenblick, ob ich nicht mit ihnen fahren ſollte, da
es wegen des bevorſtehenden Abmarſches allerlei zu thun
gab und ich mich doch in nichts verfehlen wollte. Ich
brauchte nur Helm und Säbel zu holen und raſch Adieu
zu ſagen, d. h. bis zum folgenden Tage. Da ſtand aber
ſchon die Hildeburg bei uns auf der Freitreppe und ſagte
gleichmüthig: „Ich dachte, Sie würden morgen noch mit
uns im Garten frühſtücken; doch laſſen Sie ſich nicht
abhalten, wenn es nicht angeht. Jedenfalls ſteht Ihr
Zimmer bereit.“
Natürlich blieb ich nun da; die zwei Oeſterreicher
küßten der Dame die Hand, ſchwangen ſich in den Wagen
und fuhren wie die Kugel aus dem Rohre davon, während
ich mit Hildeburg dem leuchtenden Diener in's Haus
zurückfolgte, mit einem geheimen Herzklopfen wegen der
ſüßen Entſcheidung, die ich halbwegs erwartete. Hildeburg
zog ſich jedoch bald in die Unſichtbarkeit zurück, und der
Tag endigte für mich damit, daß ich in der Geſellſchaft
Mannelin's und von Hildeburg's Vater noch mehrere Gläſer
[241] ſtarken Punſches trank, den die Frauen uns hatten anrichten
laſſen. Dann plauderte ich noch eine Viertelſtunde mit
Mannelin auf ſeinem Zimmer und folgte endlich etwas
ſchlaftrunken dem Diener, der mich in die Stube brachte,
wo mein Nachtlager ſtand. Ich hatte faſt Alles vergeſſen,
was mich vor Stunden noch erregte, und ſah das Gemach
nur flüchtig an, in dem ich mich befand. Es ſchien ein ſehr
großes aber niedriges Zimmer, deſſen Wände und Decke
mit hölzernem Tafel- und Leiſtenwerke bekleidet waren.
An den Wänden ſtand hie und da ein alter Polſterſeſſel
und in einer Ecke ein alterthümliches Himmelbett, das
von allen vier Seiten dunkle Umhänge umgaben. In
der Nähe des Bettes befand ſich ein Tiſch mit Waſſer
u. dgl., auf welchen der Diener ſeine zwei Leuchter ſtellte,
eh' er ſich zurückzog: weiter war nichts zu erblicken, als
in einer entfernten Ecke, dem Bette ſchräg gegenüber, eine
alte Schreibcommode mit einem Aufſatz. Dicht dabei befand
ſich eines der Fenſter, durch welche ein ſchwaches Mondlicht
in den Raum fiel, und ich ſah noch, wie die verdunkelte
Politur des alten Hausrathes das Licht matt reflectirte.
Als ich die Uhr auf den Tiſch legte, ſah ich, daß es halb
zwölf Uhr war. Das erinnerte mich nochmals an die
Spukgeſchichte; da es mir aber jetzt mehr um den Schlaf,
als um ein Abenteuer zu thun war, verließ ich mich
unbedenklich wieder auf Mannelin's guten Verſtand, löſchte
die Lichter und legte mich, immerhin die Unterkleider
anbehaltend, in das Bett, das übrigens vortrefflich war.
Keller, Sinngedicht. 16[242] In drei Minuten ſchlief ich feſt; ich glaube, ich dachte
nicht einmal mehr an die geliebte Hildeburg, kann es aber
nicht beſtimmt ſagen. Mein Leichtſinn nahm diesmal
ein übles Ende.
Ich mochte kaum eine halbe Stunde geſchlafen haben,
ſo wurde ich durch einen ſchrecklichen Knall oder Fall
geweckt, der mitten im Zimmer erfolgt ſein mußte. Ich
ſperrte die Augen auf, und halb ſchwindlig von den auf¬
geſtörten Geiſtern des genoſſenen Getränkes, von Schlaf¬
trunkenheit und Ueberraſchung, ſuchte ich mich zu beſinnen,
was ich denn gehört habe? Es dünkte mich, es könnte
ein ſchwerer Gegenſtand in oder außer dem Zimmer um¬
geſtürzt, ebenſo gut aber in dem baufälligen Hauſe oben
oder unten etwas gebrochen ſein. Zuletzt aber behielt ich
wieder den Eindruck, daß der Ton in nächſter Nähe ent¬
ſtanden ſein müſſe. Ich ſah und horchte hin, aber Nichts
war zu ſehen oder zu hören, als der unheimliche Mond¬
glanz auf der dunkeln Schreibcommode. Auf einmal fegt'
und kratzt' etwas hinter der Wand, dicht an meinem Bette.
Ich warf mich herum und ſtarrte; das war nun außer
dem Spaß! Und wie ich ſtarre, fährt mir ein eiskalter
Luftzug über das Geſicht, die Bettvorhänge flattern einen
Augenblick lang hin und her und plötzlich wird mir die
Decke vom Leibe geriſſen.
„Donnerwetter!“ rufe ich beklemmt und ſetze mich
endlich aufrecht, jetzt ganz munter geworden. Es ſpukte
wahrlich. Ich brachte die Beine aus dem Bett und ſaß
[243] nun quer auf demſelben; mehr vermochte ich nicht zu thun,
weil das Unbekannte trotz der poſſenhaften Form, in der
es ſich ankündigte, lähmend auf meine Glieder wirkte.
Eben dies Poſſenhafte war ja ſelbſt ſchreckhaft mit ſeinem
Höllenhumor. Plötzlich wehen die Gardinen wieder, der
eiſige Hauch fährt mir über die linke Seite des Geſichtes
und über den Nacken. Und indem ich mich ſchüttle, höre
ich dicht hinter mir, wie durch die Wand hindurch, Schritte
ſchlurfen, eine dünne zitternde Weiberſtimme ſtöhnt etwas
Unverſtändliches, und indem ich mit neuem Schrecken hin¬
höre, ſteht ſchon einen Schritt links von mir eine gebeugte
graue Weibergeſtalt mit einer verſchollenen Schleiermantille
um den Kopf. Sie muß hinter meinen Bettvorhängen
und aus der Wand hervorgekommen ſein. Nur einen
Augenblick ſteht ſie ſtill, um Athem zu ſchöpfen; denn ſie
keucht wie eine engbrüſtige Alte, die treppauf und nieder
und durch lange Corridore gegangen iſt. Dann ſchlurft
ſie mit klatſchenden Pantoffeln weiter, ſchräg über den
Zimmerboden, auf die Schreibcommode zu, vor der ſie
anhält. Mit einer leichenblaſſen Hand taſtet ſie an dem
alten Möbel herum, wie wenn ſie das Schlüſſelloch ſuchte;
ich ſehe die geſpreizten mageren Finger herumfahren.
Richtig zieht ſie einen Bund kleiner Schlüſſel hervor, ſucht
einen derſelben aus, ſteckt ihn in das Schlüſſelloch und
ſchließt die Schreibklappe auf. Unmittelbar darauf zieht
ſie mit ſicherem Griff eines von den vielen Schieblädchen
des Innern ganz heraus, guckt in die leere Oeffnung und
16*[244] fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein
Schlüſſelchen umdrehen und ſehe die Geſtalt ein zweites
verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem ſie haſtig ein
Packet nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier
entfaltet, in welchem ein drittes enthalten iſt, das ſie
wiederum auseinanderſchlägt. Dies Alles ſah ich im
Zwielicht des Mondes, der durch das Fenſter ſcheint.
Und weiter ſah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes
Lädchen zieht, ein Etwas aus demſelben nimmt, das ein
Radirmeſſer ſein muß; denn ſie bückt ſich tiefer auf das
aufgeſchlagene Papier, das jetzt einen ſtattlichen Foliobogen
darſtellt, und lieſt darin, lieſt, nachdem das Geſpenſt
eine Brille aufgeſetzt hat, einen veritablen Naſenklemmer!
Jetzt ſetzt ſie den Finger auf eine Stelle und fängt an,
etwas auszuradiren. Obgleich ſie mir den Rücken zukehrt,
erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit
mit ſtärkeren Athemzügen, die in der Kehle wie boshafte
Geiſter einander zu drängen und zu kratzen ſcheinen: ſie
bläſt das Abgeſchabte weg, huſtet wie ein alter ſchwind¬
ſüchtiger Notarius publicus, bläſt wieder, fährt mit dem
Finger über die radirte Stelle und ſchabt abermals. End¬
lich ſcheint die Arbeit gelungen zu ſein; ein niederträchtiges,
kurzes, heiſeres Gelächter mit hi, hi, hi dringt mir durch
Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke
ich doch: Hier iſt einſtmals ein Vertrag gefälſcht, ein
Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück geſtohlen worden!
Plötzlich wird das Meſſerchen wieder hingelegt, wo es
[245] genommen worden, mit der ſcheinbaren hiſtoriſchen Natür¬
lichkeit ſolcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde
zuſammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬
fach nach dem andern zugeſtoßen, die Klappe zugeſchlagen
und verſchloſſen. Plötzlich dreht ſich die Geſtalt um und
ſchleppt ſich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos
ſitze, bis ſie beinahe dicht vor mir ſtill ſteht und mich
anſchaut. Nie vergeſſe ich das infame Hexengeſicht, ob¬
ſchon es nur ſeitwärts vom Monde geſtreift wurde und
der größte Theil im Schatten lag. Naſe, Kinn, der Mund,
alles grinſte wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt
mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle
Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in
Kartätſchenfeuer geritten, das mir wie Zephirſäuſeln vor¬
kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm.
Was hatte ich mit dieſem verfluchten Weſen zu ſchaffen,
dem ich nie ein Leides gethan? Was ſollte das für eine
Vernunft in der Welt ſein, wo ein beherzter ehrlicher
Kerl macht- und wehrlos dem weſenloſen Scheuſal gegen¬
über da ſaß und bei der geringſten Bewegung vielleicht
durch die Schrecken der Ewigkeit um Geſundheit und Leben
kam? Dergleichen verworrenes Zeug ſchwirrte mir durch
den Kopf, als das Geſpenſt mich anſchaute; ich fühlte,
wie das Haar mir zu Berge ſtand, der Athem verſagte
mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur
noch rufen: „Die alte Kratt!“ als mir für einen Moment
die Sehkraft und Beſinnung ſchwand. Eine Minute ſpäter
[246] war die Erſcheinung verſchwunden. Selbſtverſtändlich ſchlug
jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erſte Stunde
nach Mitternacht an einer entfernten Thurmuhr. Als das
bekannte wohlthätige Eins gehörig verhallt war, wagte
ich endlich, mich zu rühren und ſuchte Licht zu machen.
Die Leuchter ſtanden da, aber ich fand kein Feuerzeug;
ſo blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen,
und ich ſpürte bei dieſer Gelegenheit die Bettdecke, die
auf dem Boden lag. Ich nahm ſie an mich und ſobald
ich mich wieder horizontal ausgeſtreckt und nichts Ver¬
dächtiges mehr geſchah, ſchlief ich ein und erwachte, als
es ſchon lange Tag war. Erſt jetzt ſtellte ich einige
Unterſuchungen an. Die Thüre, die ſichtbar einzig in's
Zimmer führte, war noch von innen verſchloſſen, und der
beſondere altmodiſche Riegel, der über dem Schloſſe an¬
gebracht, überdies vorgeſchoben. Die Schreibcommode war
am Tage ein ganz gemüthliches Möbel. Auf dem Pult¬
deckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Land¬
ſchaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Inſel mit
einem Schloß, und auf dem Waſſer ſaßen zwei Herren
mit langen Perrücken und kleinen Dreieckhütchen in einem
Nachen und ſchoſſen auf Enten. Im Vordergrunde ſtanden
ein paar ruinirte Tempelſäulen, unter welchen ein dritter
Herr mit hohem Rohrſtocke tiefſinnig promenirte; alles
ſo idylliſch und unverfänglich als möglich. Was mich
aber am meiſten wunderte, war ein Schlüſſel, der ruhig
im Schloſſe ſtak, während ich doch deutlich den Schlüſſel¬
[247] bund klirren und den Schlüſſel des Geſpenſtes umdrehen
und ausziehen gehört hatte. Ich machte die Klappe auf
und ſah die Schublädchen, zog eines nach dem anderen
auf, aber alle waren leer, kein Radirmeſſer und nichts.
Auch das geheime Fach fand ſich mit ſeinem Schlüſſelchen,
es war auch leer, und ich hatte doch das Packet und die
Papiere geſehen.
Es blieb alſo nur noch die Umgebung des Bettes zu
unterſuchen. Daſſelbe ſtand mit dem Kopfende eine gute
Spanne von der Wand entfernt, ſo daß zwiſchen der
Gardine und der Wand allerdings Jemand, der nicht zu
dick war, ſich mit Noth dort durchwinden konnte. Als
ich jedoch die ſchwere Bettſtelle mit Mühe etwas weg¬
gerückt hatte, fand ich ringsum nichts als das gleiche
Holzgetäfel, wie es überall die Wände und auch die Decke
bekleidete. Von einer Urſache des Knalles konnte ich
auch nirgends eine Spur entdecken.
Deſto ernſter erneuerte ſich der Eindruck des Geſehenen;
die ſchnurrige und widerwärtige Seite des Spukes trat
zurück vor der Ahnung der endloſen Unruhe einer Seelen¬
ſubſtanz, für die ſich, wenn dies Landhaus einſt lange
vom Erdboden verſchwunden ſein wird, daſſelbe ſtets
wieder aufbaut mit dem alten Zimmer und der Commode,
in welcher die verbrecheriſchen Papiere liegen, ſowie auch
der Schlüſſelbund und das Radirmeſſer immer vorhanden,
obſchon ſie vom Roſte längſt aufgelöſt ſind. Ich grübelte
über dieſe furchtbare Exiſtenz und Fortdauer in der
[248] bloßen Vorſtellung, deren reale Natur jedem Einzelnen
dereinſt noch ſchrecklich klar werden könnte, und da der
Tod in den Kriegszeiten mir als einem Soldaten ſo zu
ſagen zur Seite ſtand, dachte ich über mich ſelbſt nach,
über meinen Leichtſinn und dies oder jenes, was ich
verfehlt haben mochte. Erſt jetzt, da ich keine Wahl
mehr hatte, beſchwerte mich die überſinnliche Jenſeitigkeit
mit ihren dunklen Schatten, und ich empfand ein Heim¬
weh wie nach einem Beichtvater, während ich den Säbel
umſchnallte und die Geſellſchaft aufſuchte, welche eben in
einer Laube beim Frühſtücke ſaß.
Man ſprach eben von dem nächtlichen Knall, der
demnach im ganzen Hauſe gehört worden war, und da
ich mit düſterem Geſicht hinzutrat und mich erſt ſchweigend
verhielt, wurde die Stimmung noch betroffener und ver¬
legener. Befragt, ob ich es auch gehört, bejahte ich ohne
Weiteres hinzuzufügen, da ich die Familie nicht erſchrecken
mochte und es der Zeit und dem Geſpenſte ſelbſt überließ,
die Herrſchaft mit den Merkwürdigkeiten dieſes Hauſes
bekannt zu machen. Erſt als ich mit Hildeburg und
Mannelin vor meinem Weggehen noch etwas auf und
nieder ging und die Erſtere zu mir ſagte: „Was iſt
Ihnen denn, daß Sie ſo ernſt und ſchweigſam ſind?“
antwortete ich unwillkürlich: „Was wird es ſein? die
alte Kratt hab' ich geſehen!“
„Und haben Sie mit ihr geſprochen?“
Sie ſagte das mit unbefangenem Lachen, wie man
[249] thut, wenn man etwas für einen Scherz hält. Doch ſah
ſie mich dabei aufmerkſam an. Ich antwortete nicht
darauf, zumal Mannelin mich ebenfalls erſtaunt anblickte
und ich nicht aufgelegt war, eine Disputation mit ihm
zu beſtehen. Da der Kutſcher bereit war, mich nach der
Stadt zu fahren, nahm ich mit dem Verſprechen Abſchied,
am nächſten Tage noch ein letztes Mal zu kommen, und
fuhr nicht mit leichtem Herzen weg. Der Geiſterbeſuch,
die Trennung von dem anziehenden und trefflichen Mädchen,
die Ungewißheit der Zukunft und auch der Umſtand, daß
Mannelin allein bei Hildeburg zurückblieb, alles trug
dazu bei, meine Gedanken trüb und ſchwer zu machen.
Ich will nur gleich den chronologiſchen Verlauf zu
Ende erzählen. Nach meiner Abfahrt ſetzten Hildeburg
und Mannelin die Gartenpromenade fort, und erſt jetzt
drückte der Freund ſeine mit einigem Unwillen vermiſchte
Beſorgniß über den Stand meiner geiſtigen und körper¬
lichen Geſundheit aus, da ich nicht nur von Gewiſſens¬
furcht, ſondern ſogar von förmlichen Hallucinationen ge¬
plagt ſcheine. Es wäre ſchade für mich, wenn ich in dem
krankhaften Weſen weiter dahin lebte und Fortſchritte
machte, und er frage ſich, ob er mich nicht zur Einholung
eines Urlaubes veranlaſſen und an den bewußten Bade¬
ort mit ſich nehmen ſolle. Offenbar hätten die Kriegs¬
erlebniſſe meinem beweglichen Weſen nicht gut gethan u. ſ. w.
Hildeburg erwiderte nachdenklich, ob er denn ſo ſicher
wiſſe, daß nur Täuſchung ſei, was ich geſehen zu haben
[250] vorgebe? Ihres Theiles befürchte ſie, allerdings gegen
alle Vernunft, daß doch dies oder jenes möglich ſein
könnte, und für dieſen Fall wäre es ihr mehr um die
Eltern zu thun, ſowie um die übrigen Verwandten und
Freunde, denen der Aufenthalt in dem verrufenen Ge¬
bäude kein Vergnügen mehr machen würde. Die Vor¬
nahme der baulichen Wiederherſtellungen ſchiene unter
ſolchen Umſtänden geradezu nicht mehr rathſam, und der¬
gleichen mehr.
Jetzt ſchaute Mannelin die Sprecherin mit ebenſo
beſorgtem als liebevollem Blicke an. Ihn bekümmerte,
daß ſie ſolchem Unſinn zugänglich ſchien. Sie las die
Sorgen in ſeinen Augen und blickte wahrſcheinlich hierfür
wieder dankbar zurück; doch verharrte ſie in ihrem Zweifel
und ſagte nach fernerem Nachdenken:
„Ich muß doch wenigſtens wiſſen, ob Andere in dem
alten Gemache eine ähnliche Erfahrung machen, oder ob
es wirklich nur der Rittmeiſter iſt, der etwas ſieht. Ich
werde den Johann beauftragen, dort eine Nacht zuzu¬
bringen.“
„Der alte Johann“, ſagte Mannelin, „wird natürlich
ſo viele Geiſter ſehen, als man wünſcht oder fürchtet!
Wenn Sie einen zuverläſſigen Bericht wollen, ſo laſſen
Sie die Stube für mich zurecht machen! Ich will mich in
Gottes Namen der curioſen Aufgabe unterziehen, wenn
durchaus etwas geſchehen ſoll!“
„Sie?“ rief Hildeburg, „nein, Sie dürfen es nicht
[251] thun! Sie ſind mir zu gut dazu! Wenn dennoch etwas
an der Sache wäre, ſo könnte der Eindruck auf Sie
gerade noch ein viel ſtärkerer ſein, als bei unſerem
Freunde, und Ihnen ernſtlich ſchaden!“
Mannelin blieb aber bei ſeinem Vorſatze, und ſo ließ
er ſich, als gegen elf Uhr man allerſeits ſchlafen ging,
in das Gemach leuchten, in welchem ich die letzte Nacht
zugebracht hatte.
„Wollen Sie nicht wenigſtens Ihren Degen und die
Piſtolen mitnehmen?“ ſagte der Diener, der aus dem
früheren Zimmer die nöthigen Sachen trug und von dem
Vorhaben unterrichtet war.
„Nein!“ antwortete Mannelin; „gegen Geiſter würden
die Waffen nichts helfen, und wenn allenfalls lebendige
Leute einen Unfug treiben, ſo muß man nicht gleich Blut
vergießen!“
Genug, mein Mannelin befand ſich endlich, gleich mir,
allein in dem unheimlichen Zimmer. Er ging mit dem
Leuchter darin herum, verriegelte die Thüre und legte
ſich halbangekleidet zu Bett, nachdem er den Tiſch an
daſſelbe gerückt. Dann las er eine Stunde oder länger,
bis es am Thurme Mitternacht ſchlug. Dann klappte er
das Buch zu und horchte noch eine Weile mit offenen
Augen. Als aber alles ſtill blieb, wurde ihm das Ding
langweilig; er löſchte das Licht, legte ſich auf die Seite
und ſchlief ein. Kaum hatte er einige Minuten geſchlafen,
ſo erfolgte zwar kein Knall, wie geſtern, allein es klopfte
[252] dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen ſagte
vernehmlich: „Ja, ja!“ der kalte Luftzug ſtrich über ſein
Geſicht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg.
Und indem Mannelin ſich beſann, aber ganz ruhig liegen
blieb, wie wenn er nichts merkte, ſah er ſchon die alte
Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fenſterecke
zuſchlurfen, wo die Commode ſtand und der Mond ſchien,
wie geſtern. Er war jetzt doch ziemlich überraſcht, und
das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und
Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der
Jäger, von einem Thiere überraſcht, ſein Gewehrſchloß
ſchnell in Ordnung bringt, ſtellte Mannelin geſchwind
ſeine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬
leute wären, und ſich ſelbſt an ihre Spitze. Ohne ſich
zu rühren, folgte er der Erſcheinung aufmerkſam mit den
Augen und ſah, wie ſie an der Commode taſtete und die
Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es geſehen. Als
ſie nun auf dem Papiere radirte, war er ſchon leiſe auf¬
geſtanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeſchlichen
und ſtand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige
Weibchen kratzte, ſchaute, keuchte und huſtete und blies
den Staub weg, kurz war ſo geſchäftig wie der Teufel,
und Mannelin guckte dem Geſpenſte ſtill über die Schulter,
bis es fertig war und ſein ſchändliches heiſeres Gelächter
aufſchlug. Da ſagte er plötzlich:
„Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?“
Wie eine Schlange ſchnellte das Geſpenſt empor und
[253] ſtand wohl um einen Kopf höher als vorher ihm gegen¬
über. Mit dem ſchrecklichen Geſichte ſtarrte ſie ihm ent¬
gegen; aber ſchon hatte er die Hand auf ihre Schultern
gelegt; dann packte er ſie unverſehens um die Hüfte, um
ſie in die Gewalt zu bekommen und die graue Mantille
wegzuziehen. Er fühlte einen allerdings ſchlangenförmigen,
aber ſehr lebenswarmen Körper, und da ſie ſich jetzt in
ſeinen Armen hin und her wand und mit dem Leichen¬
geſicht nahe kam, faßte er unerſchrocken die im Monde
glänzende ſchreckliche Naſe und behielt eine abfallende
Wachsmaske in der Hand, während Hildeburg's feines
Geſicht zu ihm emporlächelte. Leider küßte er es ſogleich
zu verſchiedenen Malen und an verſchiedenen Stellen,
beſchränkte ſich aber doch endlich auf den Mund, nachdem
derſelbe ein unhöfliches: „Du lieber Kerl!“ ausgeſtoßen
hatte. Schließlich ließen ſie ſich auf einen Stuhl nieder,
das heißt, Mannelin ſaß darauf und Hildeburg auf
ſeinen Knieen. Ich will nicht unterſuchen, ob es nicht
anſtändiger geweſen wäre, wenn ſie einen zweiten Stuhl
herbeigeholt hätten; die Außerordentlichkeit des Abenteuers
und die einſame Nachtſtille mögen zur Entſchuldigung
dienen; ich will nur die Thatſache meines Suppliciums
erhärten: Alles das wäre mein geweſen, wenn ich in der
vorigen Nacht den einfachen Verſtand des verfluchten
Duckmäuſers beſeſſen hätte!
Denn in ſeinem Arme ruhend erklärte ſie ihm nun
den Handel. Sie habe, ſeit wir Beide wieder in ihrer
[254] Nähe geweſen, ihre Lage nicht länger ertragen und doch
auch nicht zur früheren Entſagung ſo ohne Weiteres
zurückkehren mögen, und da ſie die unglückliche Doppel¬
liebe längſt als eine unwürdige Krankheit erkannt,
beſchloſſen, ſich durch gewaltſame Wahl zu heilen. Die
Idee der Ausführung ſei ihr plötzlich durch das Gerede
von der Spukgeſchichte gekommen. Demjenigen von uns
Beiden, welcher dem Geſpenſte gegenüber den größeren
Muth erweiſe, wolle ſie ſich ergeben und den andern frei¬
laſſen; denn daß ſie uns Beide gefangen halte, habe ſie
wohl gewußt. Nun habe ſich die Verwirrung ſo klar
ausgeſchieden, wie wir Alle nur wünſchen könnten. Ich,
der Rittmeiſter, ſo brav ich ſei, habe der göttlichen Ver¬
nunft manquirt im rechten Augenblick; Mannelin ſei ihr
treu geblieben ohne Wanken, und ſie trage ihm daher
Herz und Hand an u. ſ. w. u. ſ. w. muß ich abermals
ſagen, um das Unerträgliche nach ſo viel Jahren noch
abzukürzen. Sie wurden in der Nacht noch Handels
einig, daß ſie heimlich verlobt ſein wollten, bis der Augen¬
blick gekommen ſei, wo Mannelin bei ihren Eltern um
ſie werben könne.
Dieſe artigen Vorgänge wurden mir in einer Geheim¬
ſitzung, die zu Dritt ſtattfand, am andern Tage feierlich
eröffnet, als ich zum letzten Male hinausritt. Ich hatte
ahnungsvoll das raſchere Pferd gewählt, da ich jetzt um
ſo unaufhaltſamer wieder davon galopiren konnte. Vorher
mußte ich jedoch mit dem Pärchen den Weg begehen, den
[255] Hildeburg als Geſpenſt gemacht hatte. Ich will nicht
weitläufig beſchreiben, wie ſchlau ſie alles angeſtellt; wie
ſie den Knall einfach dadurch hervorgebracht, daß ſie auf
dem Boden über dem alten Zimmer einen wackeligen
leeren Schrank mittelſt einer Hebelſtange umgeſtürzt, ihn
freilich nachher nicht mehr aufrichten konnte, weshalb
auch in der zweiten Nacht die Detonation unterblieb; wie
aus einem verborgenen Vorraume das Heizloch eines
ehemaligen Ofens in das Zimmer ging und von einem
verſchiebbaren Felde des Holzgetäfels verdeckt war, das
Geſpenſt aber eben dort durchkriechen und hinter den
Bettvorhängen hervorſchlüpfen konnte; wie ſie die Bettdecke
mittelſt eines Schnurgeſchlinges wegziehen konnte, das
in den Falten der Gardinen verſteckt hing; wie ſie den
kalten Durchzug verurſachte, indem ſie im beſagten Vor¬
raume ein nach Norden gehendes Fenſter ſperrweit öffnete,
im Zimmer aber ſchon vorher den oberen Flügel eines
nach Oſten gehenden Fenſters aufgethan hatte, ſo daß im
Augenblicke, wo ſie das alte Ofenloch frei machte, die
Luft durchſtrich; wie ſie den Charakter der Geſpenſter¬
rolle mit merkwürdiger Phantaſie ausſtudiert, und zwar
in der größten Schnelligkeit: das erklärte ſie uns jetzt
Schritt für Schritt, damit ja kein Zweifel übrig blieb,
und beſonders mich ermahnte ſie auf dem Paſſionswege
wiederholt, gewiſſermaßen bei jeder Station, doch nicht
mehr ſo leichtgläubig zu ſein. Dabei hing ſie ſich zu¬
weilen traulich an meinen Arm, ſo daß mir nichts übrig
[256] blieb, als das Geſicht eines Ideals von Eſel dazu zu
ſchneiden und fromme Miene zum böſen Spiel zu machen.
Zum Ueberfluſſe mußte auch noch das Traurigſte,
was es gibt, der Zufall, ſein Siegel darauf drücken. Um
ganz unparteiiſch zu verfahren, hatte das gute Mädchen
vorher im Stillen das Loos gezogen, welchen von den
zwei Liebhabern ſie zuerſt der Prüfung unterwerfen ſolle;
denn, ſagte ſie, mancher zufällige Umſtand konnte auf
das Ergebniß von Einfluß ſein, die Verſchiedenheit des
Wetters, der Mondhelle, des körperlichen Befindens und
der Gemüthsſtimmung konnte eine veränderte Urtheilskraft
bedingen, wie ich denn auch geſchehenermaßen am Tage
vor meiner Prüfungsnacht mehr Getränke zu mir ge¬
nommen, als der Andere zu ſeiner Stunde wegen Mangel
an Geſellſchaft habe thun können, da ich ja fortgeweſen
ſei! Alſo genau wie beim Pferderennen, wo bis auf's
Kleinſte Alles verglichen und abgewogen wird!
Daß durch den Sieg meines Nebenbuhlers trotz des
techniſch untadelhaften Verfahrens ihren geheimſten Wün¬
ſchen beſſer entſprochen worden ſei, als wenn ich geſiegt
hätte, daran durfte ich ſchon damals nicht zweifeln. Denn
ſie ſchien von Stund an von jeder Laſt befreit und un¬
getheilten leichten Herzens zu leben, welches hat, was es
wünſcht.
„Das iſt die Geſchichte von Hildeburg's Männerwahl,
bei der ich unterlegen bin“, ſchloß der Oberſt, und raſch
gegen Reinhart gewendet ſagte er:
„Wiſſen Sie, wie ſie eigentlich hieß? Denn Hildeburg
wurde ſie nur von Mannelin und mir genannt, wenn
wir am dritten Orte von ihr ſprachen. Sonſt aber hieß
ſie Elſe Morland, ſpäter Frau Profeſſorin Reinhart und
wird demnach Ihre Frau Mutter ſein! Lebt ſie noch?
Und wie geht's ihr?“
Für erwachſene junge Leute iſt es immer eine gewiſſe
Verlegenheit, von den Liebesgeſchichten zu hören, welche
der Heirath der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger
ſtehen ihnen ſo hoch, daß ſie nur ungern dieſelben in der
Vorzeit auf den gleichen menſchlichen Wegen wandeln
ſehen, auf denen ſie ſelbſt begriffen ſind. Auch Reinhart
ſaß jetzt in nicht angenehmer Ueberraſchung und war ganz
roth, da die Laune, in welcher er ſich ſeit zwei Tagen
bewegte, ſich gegen ihn ſelbſt zu kehren ſchien. Ein par
Mal während der Erzählung des alten Herrn hatte es
ihm vorkommen wollen, als ob es ſich um Bekanntes oder
Geahntes handle; doch war das vorübergegangen, wie
man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am
nächſten angeht. Zu der ſeltſamen Entdeckung trat ein
noch ſeltſamerer Eifer der Selbſtſucht, als er bedachte,
wie nahe die Gefahr geſtanden habe, daß ein anderer als
ſein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre als¬
dann aus ihm, dem Sohne geworden? Und was war er
jetzt anderes als der Sohn der willkürlichſten Manneswahl
einer übermüthigen Jungfrau? Nun, Gott ſei Dank, war
es wenigſtens ſeine Mutter und ſein Vater! Es hätte
Keller, Sinngedicht. 17[258] können ſchlimmer ausfallen! Wie denn ſchlimmer, du
Dummkopf? Gar nicht wäre es dann ausgefallen!
Dergleichen Gedanken fuhren ihm in raſcher Folge
durch den Sinn, bis er die Augen aufſchlug und ſah,
wie Lucie behaglich in ihrem Gartenſtuhle lehnte, die
Arme übereinander gelegt und die Augen in voller Heiter¬
keit auf ihn gerichtet hielt. Das ganze Geſicht war ſo
heiter, wie der Himmel, wenn er vollkommen wolken¬
los iſt.
„Tröſten Sie ich mit dem Evangelium,“ ſagte ſie,
„wo es heißt: Ihr habt mich nicht erwählet, ſondern ich
habe euch erwählet!“
„Schönſten Dank für den Rath!“ erwiderte Reinhart,
durch den Sonnenſchein in ihren Augen zum Lachen ver¬
führt; „ich begreife und würdige durchaus die Genug¬
thuung, die Ihnen die Erzählung des Herrn Oberſt ver¬
ſchafft ! Daß ich in meinem eigenen Papa geſchlagen würde,
hätte ich allerdings nicht geglaubt!“
„Wie undankbar! Seien Sie doch ſtolz auf Ihren
Herrn Vater, der meinen ſo vortrefflichen Onkel hier
beſiegt hat! Wie vortrefflich muß er ſelbſt ſein! Ich bin
wahrlich ein bischen verliebt in ihn nur vom Hörenſagen!
Iſt er noch ſo hübſch blond?“
„Er iſt ſchon lange grau, aber es ſteht ihm gut.“
„Und die Mutter?" warf jetzt der Oberſt dazwiſchen,
„iſt ſie auch grau, oder noch ſchwarz und ſchlank wie
dazumal?“
„Dunkelhäuptig iſt ſie noch und ſchlank auch, aber
nur dem Geiſte nach; ich glaube nicht, daß ſie jetzt noch
durch das Ofenloch und zwiſchen Bett und Wand hervor¬
ſchlüpfen könnte.“
„Ich möchte ſie doch nochmals ſehen und den Mannelin
auch“, ſagte der Oheim Lucien's mit weicher Stimme.
„Ich fühle mich ganz verſöhnlich und verzuckert im Gemüth!“
„Und mich empfehlen Sie wol gütigſt der Mama,
wenn Sie ihr ſchreiben?“ ſagte das Fräulein mit einem
anmuthigen Knicks; „oder werden Sie nichts von Ihrer
kleinen Reiſe und den hieſigen Ereigniſſen ſagen?“
„Ich werde es gewiß nicht unterlaſſen, ſchon weil
ich trachten muß, den Herrn Oberſt und vielleicht auch
die Nichte mit gutem Glück einmal hinzulocken, wo die
Eltern wohnen.“
„Das thun Sie ja! Sie werden auch ſicher gelegentlich
hören, daß wir unverſehens dort geweſen ſind, nicht wahr,
lieber Onkel?“
„Sobald ich wieder feſt auf den Füßen bin,“ rief
dieſer, „werden wir die lang geplante Reiſe machen und
alsdann die alten Freunde im Vorbeigehen aufſuchen.“
„Jetzt fällt mir erſt ein,“ ſagte Reinhart, „daß unſer
ſeit mehr als dreißig Jahren neuerbautes Landhaus an
der Stelle des alten Gebäudes ſtehen wird, das die Gro߬
eltern Morland gekauft hatten! Da können Sie auch
darin rumoren, wenn Sie kommen, Fräulein Lucie!“
„Sobald ich in zwei Männer zugleich verliebt bin,
17*[260] werde ich mir damit helfen!“ erwiderte ſie ausweichend,
und Reinhart bereute ſein unbedachtes Wort; wenn eine
feine Seele auf nachtwandleriſchem Pfade einer neuen
Beſtimmung zuſchreitet und aus ſich ſelbſt freundlich iſt,
ſo darf man ſie nicht mit zutäppiſchen Anmuthungen auf¬
ſchrecken.
Der heitere Glanz ihres Geſichtes war zum Theil
erloſchen, als die kleine Geſellſchaft ſich jetzt erhob.
Reinhart ſprach von ſeiner Abreiſe, ſowol aus Schicklich¬
keit als in einer Anwandlung von Kleinmuth, und erbat
ſich Urlaub, um die nöthigen Anſtalten zu treffen. Der
alte Herr widerſetzte ſich.
„Sie müſſen wenigſtens noch einen Tag bleiben!“ rief
er; „an den par Stunden, die ich mit Ihnen zugebracht,
habe ich vorläufig nicht genug, und über das Zukünftige
ſprechen wir noch weiter. Das unverhoffte Vergnügen,
an meine jungen Tage wieder anzuknüpfen, laſſe ich mir
nicht ſo leicht vereiteln!“
„So Plötzlich wird Herr Reinhart nicht gehen können“,
ſagte jetzt Lucie; „denn ſein Pferd iſt in der Frühe mit
unſeren Pferden auf die Weide hinauf gelaufen und ſoll
dort drollige Sprünge machen. Es kann alſo heute
Niemand weder fahren noch reiten bei uns, es müßte
denn ſtrenger Befehl ergehen, die Thiere heimzuholen.“
„Nichts da!“ verſetzte der Oberſt; „dem armen Leih¬
pferd iſt es auch zu gönnen, wenn es einen guten Tag
hat. Jetzt will ich mich für eine Stunde zurückziehen
[261] und ſehen, ob meine Zeitungen angekommen ſind. Soll
ich Ihnen auch welche ſchicken, Sohn Hildeburg's?“
„Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen
ſchwerlich gut ſein“, ſagte Lucie; „wenn Sie leſen wollen,
ſo holen ſie ſich lieber irgend ein altes Buch mit großem
Druck, Sie wiſſen ja wo, und bleiben Sie dort im
kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume!
Ich muß jetzt leider ein bischen nach der Wirthſchaft
ſehen!“
Luciens Sorge für ſeine Augen, deren Zuſtand er
beinahe ſelbſt vergeſſen hatte, that ihm ſo wohl, daß er
ſich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher- und
Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Perſonen ſich ge¬
trennt. Er griff das erſte beſte Buch, ohne es anzuſehen,
von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer
ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er ſich in den
Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war.
Dort bemächtigte ſich ſeiner immer mehr ein gedrücktes
Weſen, das ſich zuletzt in dem Seufzer Luft machte:
Wär' ich doch in meinen vier Wänden geblieben! Nicht
nur die vernommene Kunde von den ganz ungewöhnlichen
Jugendthaten ſeiner Mutter, die Anweſenheit eines Lieb¬
habers und Rivalen ſeines Vaters, ſondern auch der
ungebührlich wachſende Eindruck, den Lucie [auf] ihn machte,
verwirrten und verdüſterten ihm das Gemüth. Das
waren ja Teufelsgeſchichten! Der Verluſt ſeiner goldenen
Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte
[262] ihm faſt das Herz abdrücken. Man ſieht ja, dachte er,
welchen Werth ſie darauf legen, obenauf zu ſein! Da
lob' ich mir die ruhige Wahl eines ſtillen, ſanften, ab¬
hängigen Weibchens, das uns nicht des Verſtandes beraubt!
Aber freilich, das ſind meiſtens ſolche, die roth werden,
wenn ſie küſſen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht
es immer ein wenig Geiſt; das Thier lacht nicht!
Auf dieſe Art brachte er die Zeit zu, und als er in
das Haus zurückkehrte, traf er zum Ueberfluſſe die Pfarr¬
familie, welche auf Beſuch gekommen war, um das
Ereigniß gerade ſeiner Erſcheinung weiter zu betrachten
und nach der Wirkung zu forſchen, welche dieſelbe unter
den großen Platanen am Berge zurückgelaſſen habe. Das
Pfarrerſtöchterchen erröthete über und über, da er dem
Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und
Lucie, welcher er die Geſchichte erzählt hatte, blickte ihn
mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen ſo
gutartig und ſchön war, wie in andern Augen das
wärmſte Wohlwollen. Ueber dieſem Beſuche verging der
Tag in anhaltendem Geräuſch und Geſpräch; die Pfarr¬
leute duldeten nicht, daß man ſie eine Minute ohne Rede
und Antwort ließ, oder ſich einer Zerſtreuung hingab.
Da der Oberſt ſich auf Grund ſeiner ſchlechten Geſund¬
heit zeitig unſichtbar machte und Lucie das Töchterlein
mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu
zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern
Stand zu halten, und als gegen Abend die Familie mit
[263] ihrer Kutſche abgefahren war, ſchien eine Mühle abge¬
ſtellt zu ſein.
„Ich bewundere Ihre Geduld,“ ſagte Lucie, als ſie
nun allein waren, „mit der Sie den guten Leuten zuge¬
hört und Beſcheid gegeben haben.“
„Hab' ich denn wirklich ſo geduldig ausgeſehen?“
fragte Reinhart verwundert; er hatte nicht das beſte
Gewiſſen, weil er die guten Menſchen innerlich dahin
gewünſcht, wo der Pfeffer wächſt.
„Vortrefflich haben Sie ausgeſehen! Glauben Sie
nur, man iſt immer etwas beſſer, als man es Wort
haben will! Zur Belohnung ſollen Sie eine gute Taſſe
Thee bekommen und meine Mädchen wieder ſpinnen ſehen!
Wein gebe ich Ihnen nicht mehr; denn Sie haben bei
Tiſche ſchon etwas mehr in den heimlichen Zorn hinein
getrunken, als für Ihre Augen gut war.“
„Nun ſoll ich doch wieder zornig geweſen ſein?“
„Ja freilich! Um ſo rühmlicher iſt die nachherige
Selbſtbeherrſchung und Geduld!“
Als es dunkel und der Thee getrunken war, nahmen
die Mädchen wirklich ihre Rädchen und ſpannen noch
eine Stunde. Das Schnurren, ſowie das zwangloſe und
friedliche Geſpräch, das man zuweilen wie zum Spaße
beinahe ausgehen ließ, um es doch gemächlich wieder
anzubinden, beruhigten vollends die aufgeregten Geiſter
in Reinharts Bruſt, ſo daß er zuletzt ſich häuslich mit
der Lampe beſchäftigte, die nicht hell brennen wollte,
[264] und dabei plauderte, indeſſen Lucie ihm vergnüglich
zuſchaute.
In guter Laune zog er ab, als Alles zu Bett ging,
und nahm vermuthlich aus Verſehen das Buch mit, das
er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht
aufgeſchlagen hatte. Erſt auf ſeinem Gaſtzimmer that
er es und ſah, daß es eine Geſchichte von Seefahrten
und Eroberungen des ſiebzehnten Jahrhunderts war. Das
Buch mußte ſeiner Zeit fleißig geleſen worden ſein, da es
zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter
klebten von der Farbe des bunten Schnittes zuſammen,
und als Reinhart zwei ſolche von einander löſte, lag ein
Blättchen altes Papier dazwiſchen mit vergilbter Schrift
bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 ſchrieb
eine Dame in franzöſiſcher Sprache an eine andere:
„Liebſte Freundin! Leſen Sie die artige kleine Geſchichte,
die ich hier angeſtrichen habe! Guten Tag! Ihre getreue
Freundin J. Morgens 9 Uhr.“ Dies Briefchen mußte
der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht
geſehen haben, denn es war mit eingebunden und ſeither
von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war
in der That eine halbe Seite des Buchtextes mit Rothſtein
angeſtrichen, der ſich auch auf dem gegenüberſtehenden
Blatte abgedruckt hatte, ſo daß Reinhart nicht wußte,
welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch
wunderte ihn, was an jenem Junimorgen vor hundert
und zwanzig oder mehr Jahren die verſchollene Dame ſo
[265] piquirte, daß ſie das Buch der Freundin ſchickte. Er las
daher auf beiden Seiten und fand eine allerdings ſeltſame
Heirathsanekdote, die ohne Zweifel das war, was die zwei
Damen beſchäftigt hatte. Das Hiſtörchen gefiel auch
Reinharten, und weil er doch keinen Schlaf verſpürte,
ſpann und malte er den größten Theil der Nacht hindurch
das Geſchichtchen aus und nahm ſich vor, es vorzutragen,
ſofern nochmals eine Erzählerei ſtattfinden ſollte. Es
ſchien ihm nämlich prächtig zur Abwehr gegen die Ueber¬
hebung des ebenbürtigen Frauengeſchlechts zu taugen.
Elftes Capitel.
Don Correa.
Wie wenn ſie Reinhart's Vorſatz und Vorbereitung
gekannt hätte, ſagte Lucie am Morgen, als die drei
Perſonen wieder unter den Platanen am Brunnen ſaßen:
„Heute werden wir leider die Zeit ohne Geſchichts¬
erzählungen verbringen müſſen, wenn der Onkel nicht
dennoch eine zweite Hildeburg erfahren hat oder Herr
Ludwig Reinhart noch eine dritte Treppenheirath kennt.“
„Behüt' uns Gott“, lachte und murrte der Onkel
durcheinander, „vor einer zweiten Schmach jener Art.
Ich hatte ein für allemal genug!“
„Und was mich betrifft,“ nahm Reinhart das Wort,
„ſo kenne ich einen dritten Fall von der Treppe her¬
rührender Vermählung freilich nicht, dafür aber einen
Fall, wo ein vornehmer und ſehr namhafter Mann ſeine
namenloſe Gattin buchſtäblich vom Boden aufgeleſen hat
und glücklich mit ihr geworden iſt!“
„Wie herrlich!“ rief Lucie fröhlich lachend, weniger
aus Muthwillen als vor Vergnügen und Neugierde, zu
[267] erfahren, was jener abermals vorzubringen wiſſe. „Am
Ende“, fügte ſie hinzu, „gerathen Sie noch zu der Ge¬
ſchichte des heiligen Franz von Aſſiſi, der die Armuth
ſelbſt geheirathet hat! Oder Sie ſind ſogar eine Art
Reiſeprediger für Verheirathung armer Mädchen? Fangen
Sie an!“
„Ohne Verzug!“ ſagte Reinhart, indem er ſich räuſperte
und begann:
Wir ſprechen von dem portugieſiſchen Seehelden und
Staatsmanne Don Salvador Correa de Sa Benavides,
der ſchon in jungen Jahren ſo thatenreich geweſen, daß
er bereits damals den Haß der Neider erfuhr, während
die Jugend ſonſt von dieſem Uebel verſchont zu bleiben
pflegt. Denn ältere Männer müſſen ſchon ſehr traurige
Geſellen werden, bis ſie Jünglinge oder Frauen wegen
eines Erfolges beneiden. Den Jünglingen ſelbſt aber
iſt das Laſter meiſtens noch unbekannt, oder es nimmt
in ihnen wenigſtens die edlere Geſtalt eines fruchtbaren
Wetteifers an.
Zu einer ſolchen Zeit neidiſcher Verfolgung legte
Don Correa den vom Jugendgrün bekleideten Commando¬
ſtab nieder und ſtieß den Degen in die Scheide, und um
die Muße nicht ganz ungenutzt vorübergehen zu laſſen,
gedachte er zum erſten Male der Freuden der Liebe und
hielt dafür, da es doch einmal ſein müſſe, es wäre jetzt
[268] am Beſten, auf die Lebensgefährtin auszugehen, ehe die
Tage der Arbeit und des Kampfes zurückkehrten. Nachher
ſei dieſe Sache abgethan.
Nun bewog ihn aber ſein Selbſtgefühl, vielleicht der
erlittenen Beleidigung wegen und auch in der Meinung,
eine um ſo treuere und ergebenere Gattin zu erhalten,
dieſelbe als ein gänzlich unbekannter und ärmlicher Menſch
zu ſuchen und zu erwerben, ſo daß er ſie mit Ver¬
heimlichung von Namen, Rang und Vermögen ſozuſagen
nur ſeiner nackten Perſon verdanken würde. Er ſchiffte
ſich alſo zu Rio de Janeiro, wo er Gouverneur geweſen,
in aller Stille, nur von einem Diener begleitet, ein und
begab ſich nach Liſſabon. Dort wohnte er unbemerkt
in einem entlegenen Gemache ſeines Palaſtes und ging
nur verkleidet aus, in die Theater, die Kirchen und auf
die öffentlichen Spaziergänge, wo es ſchöne Damen aus
der Hauptſtadt und aus den Provinzen zu ſehen gab.
Lange wollte ſich nichts zeigen, was ihm beſonders in die
Augen geſtochen hätte, bis er eines Abends bei irgend
einem der öffentlichen Schauſpiele eine junge Frau ſah,
deren Schönheit und Benehmen ihm auffielen. Sie war
weder groß noch klein zu nennen und vom Kopfe bis zu
den Füßen ſchwarz gekleidet, den ſteifen weißen Ring¬
kragen ausgenommen, der nicht nur dem ſtrengen, wohl¬
geformten Geſichte mit ſeinem blühweißen Kinn, ſondern
auch den dicken ſchwarzen Lockenbündeln zu beiden Seiten
als Präſentierteller diente. Von der Bruſt glühte ein par
[269] Mal, wenn die Dame ſich regte, das dunkelrothe Licht
eines Rubins auf; die Bruſt ſelbſt zeugte von einem
normalen und geſunden Körperbau, desgleichen die in den
Händen und Füßen erſichtliche Ebenmäßigkeit.
Dieſe Dame ſaß auf einem Lehnſeſſel in der vorderſten
Reihe; rechts und links von ihr hockten auf dreibeinigen
Stühlchen ein Stallmeiſter und ein Geiſtlicher, hinter
dem Seſſel ſtand ein Page, und ganz zuletzt hockte noch
eine Kammerfrau auf einem Schemel. Alle dieſe Perſonen
verhielten ſich ſo ſtill und ſteif wie Steinbilder und
wagten kein Wort, weder unter ſich noch mit der Herrin
zu ſprechen, wenn dieſe nicht einen leiſen Wink gab.
Merkwürdig ſchien beſonders der Stallmeiſter, welcher,
den hohen Spitzhut auf den Knieen haltend, mit furcht¬
barem Ernſte daſaß. So fadenſcheinig ſein ergrauter
und umfangreicher Schädel war, reichten doch die lang¬
gezogenen Silberfäden hin, nicht nur auf der Mitte der
Stirne eine feſt in ſich zuſammengerollte Seeſchnecke zu
bilden, die von keinem Sturme aufgelöſt wurde, ſondern
auch noch beide bartloſe Wangen mit zwei ſauber ge¬
kämmten Backenbärtchen zu bekleiden, welche allnächtlich
ſorgſam gewickelt und hinter die Ohren gelegt wurden.
Dafür war das aufwärts gehörnte Schnurrbärtchen von
echtem, ſteif gewichstem Bartwuchſe. Der Anblick konnte
für närriſch gelten; doch Don Correa wußte ſchon aus
Erfahrung, daß dergleichen komiſche Pedantismen an
untergebenen Beamten und Dienern meiſt auf Ordnungs¬
[270] ſinn und pünktliche Pflichterfüllung rathen laſſen: denn
um einen alten Kopf mit ſolcher Künſtlichkeit täglich auf¬
zuſtutzen, muß ein armer Teufel, der nicht ſelbſt bedient
wird, früh aufſtehen und ſich an geregeltes Leben ge¬
wöhnen, das allen ſeinen Verrichtungen zugut kommt.
Uebrigens ging die Sage, das knappe Wams des Stall¬
meiſters ſei aus einer alten Mohrſchleppe der Dame ge¬
ſchnitten.
Was den geiſtlichen Herrn betrifft, ſo bot derſelbe
durchaus nicht den Anblick eines verwöhnten oder herrſch¬
ſüchtigen Beichtvaters, ſondern ſah eher einem eingeſchüch¬
terten, kurz gehaltenen Hofmeiſterlein gleich, und er hielt,
während er mit halb niedergeſchlagenen Augen die Welt¬
lichkeiten des Schauſpiels wahrnahm, mit zagen Händen
ſeinen flach gerollten Hut auf dem Schoße, als ob es
eine Schüſſel voll Waſſer wäre.
Von dem kleinen Pagen guckte nur das weiße ſpitzige
Geſichtchen nebſt einem blutrothen Wamsärmel hinter der
Stuhllehne hervor, und von der Kammerfrau vollends
ſah man erſt, als ſie aufſtand, daß ſie ebenfalls einen
hochrothen Rock, irgend eine rothe Kopftracht und ein
Korallenhalsband trug. Die Dame ſchien ſich demnach
nur in ſchwarz und roth zu gefallen.
Während ſie ſo unbeweglich und halb gelangweilt dem
Spektakel beiwohnte und ſelten über etwas lächelte, ging
dann und wann irgend ein Cavalier einzeln oder mit
andern, die noch Platz ſuchten, an ihr vorbei und grüßte
[271] ſie höflich, wechſelte auch wol ein par Worte mit ihr,
den Hut in der Hand. Sie blickte aber keinem entgegen,
der ſich nahte, und keinem nach, wenn er weiter ging,
ſondern grüßte nur mit überaus feiner Kopfneigung und
holdſeliger Bewegung der Lippen, welche den Don Salvador
geheimnißvoll reizte, ſo ernſt, ja ſtarr auch der Mund
gleich nachher wieder verharrte.
Er fragte, in der Menge der geringen Bürger ver¬
borgen, einige Nachbarn nach dem Namen der vornehmen
Frau; es konnte aber Keiner Auskunft geben, weil ſie
wahrſcheinlich eine Fremde ſei. Da er aber mit jedem
Augenblicke von der ſchönen und eigenthümlichen Er¬
ſcheinung mehr eingenommen wurde und jedenfalls wiſſen
wollte, wen er vor ſich habe, ſo blieb ihm nichts anderes
übrig, als das Ende abzuwarten und zu ſehen, wohin die
Dame mit ihrem Gefolge ſich begeben würde. Er ſtellte
ſich daher zeitig an den Ausgang, durch welchen die
Herrenleute ſich entfernten, und wartete geduldig, bis die
Unbekannte in der gemächlichen Proceſſion erſchien, mit
welcher die Grandezza ſich fortbewegte, um die bereit¬
ſtehenden Kutſchwagen, Pferde, oder Maulthiere zu beſteigen.
Für die Fremde wurden drei prächtig geſchirrte Maul¬
thiere bereit gehalten. Das erſte beſtieg ſie ſelbſt mit
Hülfe des Stallmeiſters, das zweite dieſer mit dem Pagen
hinter ſich, das dritte der junge Prieſter, hinter welchem
die Kammerfrau Platz nahm, ſich feſt an ihm haltend,
ſodaß als das herumſtehende Volk ſich an dem Anblick
[272] beluſtigte, das Pfäffchen ſchämig erröthete. Ein Läufer
mit Windlicht ging voran, worauf die drei Thiere eines
dem andern folgten und in einiger Entfernung Don
Correa den Schluß machte. Der kleine Zug bewegte ſich
durch Gaſſen und über Plätze, bis er in den Vorhof der
Herberge zum „Schiff des Königs“ einbog, in welcher
faſt ausſchließlich reiche oder vornehme Reiſende wohnten.
Nachdem die Fremde mit ihren Leuten abgeſeſſen und
auf den Stiegen, die in die oberen Theile des Hauſes
führten, verſchwunden war, trat Don Correa in eine
Gaſtſtube zu ebener Erde, die von See- und Handelsleuten
aller Welttheile angefüllt war. Er ließ ſich in der Ecke
zunächſt dem Schenktiſche eine kleine Abendmahlzeit vor¬
ſetzen und begann mit der Aufſeherin, die an der Kaſſe
ſaß und Geld einnahm, ein zerſtreutes Geſpräch nach
Gunſt und Gelegenheit, die beide nicht ausblieben. Denn
der Ton hatte etwas in ſeinem Geſicht und in ſeinem
Weſen, das vielen Weibern ohne Zeitverſäumniß gefiel,
obwol er dieſes Vortheiles bis jetzt wenig inne geworden.
Er vernahm alſo, was er nur wünſchen konnte: daß
die fremde Dame eine junge Wittwe ſei und Donna
Feniza Mayor de Cercal genannt werde. Sie beſitze im
Südweſten von Portugal ein kleines Städtchen und großen
Reichthum und wohne meiſtens auf einem einſamen Felſen¬
ſchloß am Meere; dort lebe ſie ſo eingezogen, daß weiter
nichts von ihr geſagt werden könne, und wenn ſie nicht
alle Jahre einmal nach der Hauptſtadt käme, um ihre
[273] Geſchäfte zu beſorgen und ihren Leuten einige Zerſtreuung
zu gönnen, ſo wüßte man überhaupt nichts von ihr. In
Liſſabon mache ſie nur wenige Beſuche und auf ihre Be¬
ſitzungen habe ſie noch nie Jemanden eingeladen. Uebrigens
ſei ſie muſterhaft religiös und verſäume keinen Morgen
die heilige Meſſe; daher beruhe es jedenfalls auf boshafter
Verläumdung, wenn hie und da gemunkelt werde, man
halte ſie für eine Hexe und ihre Dienerſchaft für ein
Häuflein böſer Geiſter.
Als Don Correa hiemit genugſam unterrichtet war,
verließ er die Herberge, um andern Tages deſto früher
bei der Hand zu ſein. Er verwandelte ſich in einen
halbſchwarzen mauriſchen Matroſen und belagerte das
Schiff des Königs, bis die Herrſchaft aus der Thüre
trat und die Maulthiere beſtieg. Im gleichen Aufzuge
wie geſtern, ein Maulthier mit der Naſe am Schwanze
des andern, ritt die Dame nach der großen Kathedralkirche
und Correa folgte. Da er ſah, daß am Portale niemand
bei der Hand war, die Maulthiere zu halten, drängte er
ſich hinzu und anerbot, den Dienſt zu leiſten, der ihm
vom Stallmeiſter auch übertragen wurde. Der junge Kriegs¬
mann war ſeiner Zeit und Geburt gemäß ein guter Katholik;
es gefiel ihm daher ſehr gut, daß die Frau von Cercal
ihre Dienerſchaft ſo vollzählig mit in die Meſſe nahm und
an dem Segen der Religion theilnehmen ließ, und das
Gemunkel von einem Zauberweſen erhöhte unter dieſen
Umſtänden eher ſeine Theilnahme, als daß es ihn abſchreckte.
Keller, Sinngedicht. 18[274] Nach Beendigung des Gottesdienſtes konnte er die Dame
nun ganz in der Nähe ſehen und das um ſo ungeſtörter,
als ſie keinen Blick weder auf ihn noch auf irgend einen
der Umſtehenden warf. Sie erſchien ihm in dieſer Nähe
und am hellen Tageslichte noch ſchöner und vollkommener
als am vorigen Abend. Er fand in der Eile kaum die
Geiſtesgegenwart, das kleine Trinkgeld aus der Hand des
Pagen mit der Miene eines dankbaren armen Teufels in
Empfang zu nehmen. Alles ging wieder ſo ſtill und
feierlich zu, daß der geordnetſte Haushalt, die friedlich
anſtändigſte Lebensart in dem Banne dieſer Frau zu
walten ſchien. Zuletzt kam die Reihe des Aufſteigens an
die einer rothen Siegellackſtange gleichende Kammerfrau,
welche der mauriſche Schiffsgeſell dienſtfertig hinter den
Rücken des Geiſtlichen hob, und als ihn beim Abreiten
der Aufzug doch etwas grotesk anmuthete, ſchrieb er die
ſeltſame Sitte der ländlichen Abgeſchiedenheit zu, aus
welcher die Dame herkam.
So lange ſie noch in Liſſabon verweilte, ſtrich er in
immer neuen Verkleidungen um ſie herum, wenn ſie
öffentlich erſchien, was aber nicht mehr manchen Tag
dauerte. Und jedesmal, wo er ſie ſah, beſtärkte ſich ſein
Entſchluß, Dieſe und keine Andere zu ſeiner Gemahlin
zu machen. Daher nahm er, als ſie abgereiſt war, ſeine
eigene Geſtalt wieder an, jedoch mit dem Ausſehen eines
armen und geringen Edelmannes. Er ſuchte einen ab¬
getragenen braunen Mantel und einen eben ſo mißlichen
[275] Filzhut hervor, gürtete einen Degen um, deſſen Stahl¬
korb ganz verroſtet war und deſſen lange Klinge einen
Zoll unten aus der Lederſcheide hervorguckte, da letz¬
tere längſt den metallenen Stiefel verloren hatte. So
ausgeſtattet verließ er vor Tagesanbruch ſeinen Palaſt
und die Stadt Liſſabon und fuhr mit wenigen ſeiner
Leute in der bereit gehaltenen eigenen Barke längs der
Seeküſte ſüdwärts, bis er in die Gegend kam, wo die
Frau von Cercal hauſen ſollte.
Der Ort, deſſen Namen ſie führte, lag hinter dem
Küſtengebirge, das Schloß aber, in welchem ſie wohnte,
an dem ſteilen Abhange gegen das Meer hin. Don
Correa kreuzte ſo lange auf offener See, bis er ſich ver¬
gewiſſert hatte, daß die Donna Feniza wieder dort ſei,
und er ſegelte einige Mal ſo nahe vorüber, daß er mit
ſeinen ſcharfen Augen die Lage und Bauart erkennen
konnte. Dann fuhr er wieder hinaus und wartete einen
ſtarken Wind oder wo möglich ein Sturmwetter ab, und
als dieſes wirklich eintrat, ſchoß er auf dem wogenden
Meere mit vollen Segeln heran, zog ſie ein wie ein
ſtrandender Schiffer und lieh ſich zuletzt, nachdem die
Barke weidlich umhergeworfen worden, wie er war, mit
ſeinem Degen und dem zuſammengewickelten Mantel auf
den klippenreichen Strand ſchleudern, ſo daß er ſich mit
Mühe durch die Brandung ſchlug und feſten Fuß gewinnen
konnte. Seinen Leuten hatte er ſtrenge befohlen, ſich mit
der Barke wieder auf die offene See zu machen und nach
18*[276] Hauſe zu fahren, ſo bald ſie ſähen, daß er das Ufer
erreicht habe. Das thaten ſie denn auch und wußten mit
ebenſoviel Kühnheit als Geſchicklichkeit das dem Unter¬
gange nahe Fahrzeug, welches man vom Land aus ſchon
verloren glaubte, zu wenden und die hohe See zu gewinnen,
wo man es bald aus den Augen verlor.
Don Salvador Correa erklomm den ſchmalen Strand¬
weg und begann einen ſteilen Staffelpfad hinanzuſteigen,
der hinter Felſen und Gebüſch halb verſteckt in die Höhe
führte. Als er einige Dutzend Stufen zurückgelegt, kam
ihm ein Knabe entgegen, welcher der ihm ſchon bekannte
Page der Schloßfrau war. Man hatte oben des Fahr¬
zeuges Kampf mit dem Unwetter beobachtet, jedoch nicht
ſehen können, was zunächſt dem Lande vorging, weshalb
die Frau den Pagen heruntergeſandt, damit er Kund¬
ſchaft hole. Don Correa fragte den Knaben, wo und
auf weſſen Gebiet er ſich befinde, und gab ihm mit wenigen
Worten zu verſtehen, daß er geſtrandet und ohne Obdach
ſei, worauf der Kleine ihm verdeutete, er möchte warten,
bis er hinaufgelaufen ſei und mit den Befehlen der Herrin
zurückkomme. Zugleich zeigte er dem Fremden eine natür¬
liche Grotte, welche auf einem kleinen Abſatz in den Fels
hineinging und eine Ruhebank enthielt, auch mit einem
verſchließbaren Gatter verſehen war. Da die Sonne ſchon
wieder durch die zerriſſenen Wolken brach, indeſſen das
Meer noch rollte und rauſchte, ſo hing Don Correa ſeinen
triefenden Mantel über das Gatter, damit er trockne,
[277] und ſetzte ſich auf die Bank; denn er war von dem Aben¬
teuer ebenſo erſchöpft, wie wenn er unfreiwillig geſtrandet
wäre. Indem bemerkte er lächelnd die zahlreichen Motten¬
löcher, die in den dunkeln Mantel gefreſſen waren und
nun, da die Nachmittagsſonne dahinter ſtand, wie ein
Sternhimmel ſchimmerten. Drei ſolcher Löcher ſtanden
ſo ſchön in einer Reihe, daß ſie prächtig den Gürtel des
Orion vorſtellten, einige andere zeigten ziemlich genau
das Sternbild der Caſſiopeia, zweie ſtanden ſich wie die
Geſtirne der Waage gegenüber, und eine Menge einzelner
Löchlein ließen ſich je nach ihrer Stellung und Entfernung
von einander von einem Kundigen ſo oder anders be¬
nennen. Weil aber manche davon noch von Waſſertropfen
wie mit kleinen Glaskügelchen verſchloſſen waren, ſo
ſchimmerten ſie in den Sonnenſtrahlen bläulich oder röth¬
lich, und Don Correa, der ein Sternkenner und Aſtro¬
loge war, betrachtete die Erſcheinung ſogleich mit Auf¬
merkſamkeit als ein bedeutſames Spiel des Zufalls. Er
brachte unverweilt eine Conſtellation zuſammen, in welcher
ihm das Venusgeſtirn glückverheißend zu glänzen ſchien.
Er war in dieſen Anblick und die dazu gehörigen
Gedanken ſo vertieft, daß er leichte Schritte, die ſich
näherten, nicht hörte, und daher höchlich erſtaunte, als
der Mantel unverſehens von einer Hand zurückgeſchoben
und ſtatt des Planeten Venus die ganze Geſtalt der
Donna Feniza Mayor de Cercal ſichtbar wurde, hinter
welcher der Knabe ſtand.
[278]
Correa erhob ſich indeſſen mit ritterlicher Haltung
und bat um Verzeihung, daß er keinen Hut abnehmen
könne, weil das Meer ihm den ſeinigen geraubt habe.
Aber noch mehr wurde er überraſcht, als die in Liſſabon
ſo ſpröd und einſilbig geweſene Frau ihn jetzt mit großen
Augen und unverkennbarem Wohlgefallen anſchaute und
mit feſter wohltönender Stimme fragte, woher er komme
und woher er ſei.
Und von ihrer Schönheit von Neuem betroffen, war
er kaum im Stande, das zurechtgezimmerte Märchen von
ſeinem widrigen Schickſal als armer Edelmann, der ſein
Glück in weiter Welt zu ſuchen gezwungen und an dieſem
Ufer elendiglich geſtrandet und im Stiche gelaſſen worden
ſei, mit einigem Zuſammenhange vorzubringen. Um ſo
beſſern Eindruck ſchien er aber zu machen. Die Frau
ſetzte ſich ſtatt ſeiner auf die Bank, und als ſie im weite¬
ren Verlaufe des Geſpräches wahrnahm, daß der Fremde
nach ſeinem ganzen Weſen ein junger Mann von Stand,
Lebensart, Geiſt und Entſchloſſenheit ſein müſſe, lud ſie
ihn höflich ein, Platz neben ihr zu nehmen und ſich aus¬
zuruhen, und ſchloß damit, ihm die wünſchenswerthe Hülfe¬
leiſtung und Gaſtfreundſchaft auf ihrer Burg anzubieten.
Ein Hut werde ſich ohne Zweifel auch aufbringen laſſen,
fügte ſie bei, als ſie ſchon auf dem engen Steige voran
ging, während der ſchiffbrüchige Cavalier mit ſeinem
Mantel folgte und der Page als, der letzte die Staffeln
erkletterte.
[279]
Einige Tage ſpäter trug der glückliche Abenteurer
nicht nur einen neuen Hut, ſondern noch verſchiedene
andere ſchöne Kleidungsſtücke, welche die Donna ihm ge¬
ſchenkt; nur den alten Mantel mit dem Sternhimmel
hatte er noch umgeſchlagen, als er mit ihr den Staffel¬
weg hinunter ſtieg, um an dem einſamen Strande ſpa¬
zieren zu gehen. Die Sonne gab aber ſo warm, daß das
ſehr hübſche Paar bald einen Schatten ſuchte und jene
Grotte betrat. Hand in Hand ſaßen ſie auf der Stein¬
bank, und als die Sonne tiefergehend auch hier eindrang,
hingen ſie ſcherzend den Mantel vor den Eingang und
betrachteten die von den Motten geſchaffenen Sternbilder.
Noch nie haben Sterne der Armuth ein ſchöneres
Glück beſtrahlt! flüſterte Correa und legte den Arm um
die ſchlanke Frauengeſtalt. Sie deutete mit dem Finger
auf ein etwas größeres Loch, das vielmehr wie ein kleiner
Riß ausſah:
Hier glänzt ſogar eine Mondſichel unter den Stern¬
lein, gleich dem Hirten unter den Schäfchen, wie die
Dichter ſagen!
Das iſt nicht von den Motten, ſondern ein verjährter
Degenſtich! erwiderte Correa. Sie wollte wiſſen, woher
der Stich rühre, und er erzählte, wie er als junges
Studentchen einſt ſich ſeiner Haut habe wehren müſſen,
als er nächtlicher Weile einem unter dem Hauſe einer
Schönen plärrenden Ständchenſinger im Vorbeigehen ein
„Halt's Maul!“ zugerufen habe. Denn von Frauenliebe
[280] ſei ihm ſehr wenig bewußt und das katermäßige Miaulen
an allen Straßenecken höchſt widerwärtig geweſen. Nur
der Mantel, den er mit der linken Hand vorgehalten,
habe den Stoß des ergrimmten Lautenkratzers abſchwächen
können. Deſſen ungeachtet habe er noch ziemlich geblutet.
Ob er jetzo wirklich ernſthaft zu lieben verſtehe? fragte
Feniza Mayor und küßte ihn, eh' er zu antworten ver¬
mochte.
So ging es den einen wie den andern Tag, bis die
ſonſt ſo gemeſſene und ſtolze Dame von Cercal gänzlich
bethört und in Leidenſchaft verloren war, und Don Correa
fand weder Zeit noch Gedanken, über das Wunder ſich zu
verwundern, da er ſelbſt in hitziger Verliebtheit gefangen
ſaß; kurz es war nicht zu ergründen, welches von Beiden
das Andere in ſo kurzer Zeit verführt und verwandelt
habe. Da blieb es denn, weil nichts ſie hinderte, nicht
aus, daß ſie ſich zuſammen verlobten und die Hochzeit
vorbereiteten, die in aller Eile vor ſich gehen ſollte.
Donna Mayor fragte kaum, woher er ſtamme und
gab ſich mit dem Märchen zufrieden, das er ihr aufband,
in der Meinung, eines Tages als der vor ſie hinzutreten,
der er war. Um ſo unbefangener gab er ſich jetzt dem
Vergnügen hin, von ihrem Liebeseifer ſich kleiden, ſpeiſen
und tränken und liebkoſen zu ſehen, da er hieraus die
Ueberzeugung ſchöpfte, daß er ſo viel Gunſt nur ſich
allein verdanke.
Die Hochzeit wurde im Palaſte der kleinen Stadt
[281] Cercal gefeiert, die hinter dem Berge lag. Das zu Pferde
über den Berg ziehende Hochzeitsgeleite glänzte und
ſchimmerte weithin und verkündete, daß die ſchöne Feniza
Mayor ſich zum zweiten Male verehelichte; doch war
eigentlich Niemand fröhlich, als ſie und der Bräutigam.
Der merkte aber von Allem nichts und freute ſich nur
auf den Glanz, mit welchem er einſt ſeine Braut über¬
raſchen wollte, wenn die Zeit des Glückes und der Macht
zurückgekehrt ſein werde. Einzig in der alten Kirche fiel
nach geſchehener Trauung ihm ein ſeltſamer Anblick auf.
An dem Grabmale des erſten Mannes der Donna Feniza,
das an einem Mauerpfeiler errichtet war, lehnte die dürre
blaßgelbliche Kammerfrau in ihrem blutrothen Sonntags¬
kleide und warf einen düſter glimmenden Blick auf den
blühenden Don Correa. Sie ſtand bei den Leuten in
dem Verdachte, jenen häßlichen und ältlichen Gemahl, von
welchem der größte Theil des Reichthums herſtammte, im
Schlafe aus der Welt geſchafft, auch noch andere Dinge
verübt zu haben, die ihre ſchöne Herrin ihr geboten.
Doch vergaß Correa, der hievon nichts wußte, den un¬
heimlichen Blick bald wieder.
Etwa ein halbes Jahr lang lebte man nun wie auf
der Inſel der Kalypſo, bis der Thatendurſt des Salvador
Correa endlich mit doppelter Gewalt wieder erwachte und
ihn nicht länger ſo weichlich dahin leben und träumen
ließ. Er hatte ſchon geheime Winke erhalten, daß
die Regierung ſich ſeiner zu bedienen und trotz ſeinen
[282] Feinden ihn mit erhöhtem Anſehen zu bekleiden wünſche,
weshalb er es an der Zeit fand, nach Liſſabon zu reiſen
und die Verhältniſſe herzuſtellen. Aber noch ſollte die
Frau nicht wiſſen, um was es ſich handle, ſondern erſt
nach verrichteten Dingen mit ihm in ſeinen Palaſt ein¬
ziehen. Er theilte ihr daher lediglich mit, daß er eine
Reiſe in nothwendigen Geſchäften vorhabe, und da ſie
hierüber feuerroth im Geſichte wurde, achtete er nicht ſehr
darauf, ſtreichelte ihr die flammenden Wangen und begab
ſich in den Stall, um die Pferde auszuſuchen für ihn und
einen Reitknecht. Allein es kam der Stallmeiſter herbei,
fragend, was zu ſeinen Dienſten ſtände, und als Don
Correa die zwei Pferde bezeichnete, die man ihm ſatteln
ſolle, zog der Stallmeiſter ehrerbietig ſein ledernes Haus¬
käppchen, machte einen ſteifen aber tiefen Bückling und
ſagte höflich, die Pferde gehörten ſeiner gnädigen Donna
und er werde nicht verfehlen, ungeſäumt ihre Willens¬
meinung einzuholen. Hierauf richtete er ſich wieder in
die Höhe, worauf Correa dem Alten, den er aufmerkſam
betrachtet, eine Ohrfeige gab und ihn aus dem Stalle warf,
nicht ſowohl aus Rohheit, als aus angeborner Matri¬
monial-Politik, die in dieſem erſten Falle ihm ungeſucht
zu Gebote ſtand, ſo wenig er auch auf dem Gebiete ſchon
erfahren war. Sodann befahl er einem Knechte mit
harter Stimme und ſtrengem Blicke, die Pferde zu
ſatteln und ſich ſelber zur Abreiſe bereit zu machen,
worauf er wieder in den Saal hinauf ging, geſtiefelt
[283] und geſpornt und den alten Mantel um die Schultern
geſchlagen.
Im Augenblicke ſeines Eintretens ſtand die Donna
des Hauſes leichenblaß und ohne alle Faſſung, ſo unvor¬
bereitet war ſie, irgend etwas zu ſagen oder zu thun.
Bei ihr ſtanden der Stallmeiſter, der ſein zerſtörtes
Ammonshorn auf dem Schädel mit der Hand bedeckte,
und die Kammerfrau. Correa, der immer in der beſten
Meinung lebte und arglos guter Laune war, umarmte
die Frau zum Abſchied und theilte ihr beiläufig mit, er
habe den Stallmeiſter, der ihm als dem Herren nicht
gehorchen wolle, ſoeben aus dem Dienſte gejagt, und da
es in Einem hinginge, ſo entlaſſe er auch die rothröckige
Kammerdame, deren Geſicht ihm nicht gefalle. Beide
Perſonen wünſche er bei ſeiner Rückkunft nicht mehr zu
treffen und werde für anſtändige und ihm genehme Leute
ſorgen.
Niemand regte ſich oder erwiderte ein Wort. Auf
der ſteinernen Wendeltreppe, die er nun hinabſtieg, drückte
ſich der Page mit feindſeligem Blick in eine Ecke. Geh'
hinauf zur Frau, rief er ihm zu, und ſag' ihr, ich hätte
Dich auch fortgejagt! Sollte ich Dich noch ſehen, wenn
ich wiederkomme, ſo werf' ich Dich aus dem Fenſter!
Wie eine Spinne rannte der Page treppan.
Im Thorwege ſtanden die Pferde geſattelt und der
Reitknecht im Reiſekleid dabei. Er benahm ſich aber ſo
zögernd und verdrießlich, daß der Herr den Widerwillen
[284] gut bemerkte, mit welchem auch dieſer Dienſtbote ihm
gehorchte. In der That waren ſie kaum einhundert
Schritte auf dem Bergpaſſe davon geritten, ſo ertönte
eine ſchrille Pfeife aus dem Thurmfenſter; der Knecht
hielt erſt eine Weile ſtill, wandte dann ſein Pferd und
ſprengte verhängten Zügels in die Burg zurück.
Steh'n wir ſo? ſagte Don Correa bei ſich ſelbſt, als
er die Flucht des Burſchen bemerkte. Anſtatt denſelben
zu verfolgen, ſetzte er aber ſeinen Weg fort, da er ſich
lieber allein behelfen als ſolchen Dienern anvertrauen
wollte. Im Uebrigen beluſtigte ihn die Sache eher, als
ſie ihn ärgerte, und faſt bedünkte es ihn, es ſei kurz¬
weiliger, ein Weibchen zu beſitzen, wo ſich ein bischen
Pfeffer und Salz daran finde, ſtatt lauter Honig.
Die Angelegenheit in Liſſabon erledigte ſich nach
Wunſch. Er wurde zum Vice-Admiral ernannt und
Jedermann wollte, da er jetzt öffentlich auftrat, ſein
beſter Freund ſein. Doch rüſtete er ſich ſofort zur Ab¬
reiſe, da er von der Regierung den Auftrag hatte, mit
drei großen Kriegsſchiffen nach Braſilien zu gehen und
die dortigen Geſchäfte vor der Hand zu übernehmen.
Das Admiralſchiff ließ er zur Aufnahme einer
vornehmen Dame einrichten und aus ſeinem Familien¬
palaſte jede Bequemlichkeit und ſtattliches Geräthe hin¬
tragen. Auch koſtbare Geſchenke aller Art kaufte er ein,
welche er der Gemahlin bei ihrer Ankunft auf dem Schiffe
zu überreichen und ſo das von ihr Empfangene reichlich
[285] zu erwidern dachte. Denn er hatte beſchloſſen, mit dem
Geſchwader bis auf die Höhe ihres Küſtenſitzes zu fahren,
dort anzuhalten und ſie auf das Schiff abzuholen, wo
ſie dann erſt vernehmen ſollte, wer ihr Gemahl ſei.
Die Kunde von dem Auftreten Don Correa's ver¬
breitete ſich im Lande; aber ſo wenig das Publikum
etwas von ſeiner Verheirathung wußte, ſo wenig ahnte
die Frau von Cercal, daß von ihrem Manne die
Rede ſei, wenn ſogar in ihre entlegene Felſenwohnung
das Gerücht von dem Glanze des neuen Admirals
drang.
Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, in einer
mondloſen Nacht fuhren die drei mächtigen Schiffe heran
und ſtellten ſich in gehöriger Entfernung dem Schloſſe
gegenüber auf, deſſen Lage der Admiral nicht nur aus
den dunklen Formen des Gebirges, ſondern auch den hell
erleuchteten Saalfenſtern des Hauptthurmes erkannte. Um
die Ueberraſchung möglichſt vollſtändig zu machen, ließ
er nur die nothwendigſten Laternen auf den Decks brennen
und auch die gegen das Land hin verhüllen. Deſto heller
und prächtiger ſtrahlte das Innere des Admiralſchiffes
und beſonders die große Kajüte, welche einem fürſtlichen
Saale gleich ſah. Eine Tafel war mit Seidenſcharlach
und über dieſem mit weißem Leinendamaſt gedeckt; mit
ſchwerem Silbergeſchirr und vielarmigen Kandelabern
beladen, welche mit vergoldeten Gefäßen voll duftender
Blumen ferner Himmelsſtriche abwechſelten, ließ der Tiſch
[286] vermuthen, daß er für eine höchſte Ehrenerweiſung zu¬
gerüſtet ſei. Vor jedem Gedecke ſtand ein Stuhl mit
hoher wappengeſtickter Lehne, der eines vornehmen Gaſtes
harrte; längs den mit reichem Zierath bekleideten Wänden
unterhielt ſich eine zahlreiche Geſellſchaft in leiſem Ge¬
ſpräche, und zwiſchen den verſchiedenen Gruppen bewegten
ſich wohlgekleidete gewandte Diener, ſowie auch in einem
kleineren Gemach zwei Kammerfrauen der Herrin gewärtig
waren. Nicht nur die ſämmtlichen Offiziere der drei
Kriegsſchiffe, ſondern auch eine Anzahl höherer Staats¬
beamten mit ihren Weibern oder Töchtern, welche die
Reiſe mitmachten, bildeten die anſehnliche, auf die Löſung
des Räthſels begierige Verſammlung.
Um halb zehn Uhr begab ſich Don Correa in ein
Landungsboot und ließ ſich an's Ufer führen, nachdem
er angeordnet, daß genau um Mitternacht, wo er auf der
Rückfahrt begriffen ſei, alle Verdecke erleuchtet, die Raketen
ſteigen und die Kanonen der Breitſeiten gelöſt werden
ſollten. Er hatte ſich in den alten braunen Mantel ge¬
hüllt und einen einfachen Hut aufgeſetzt. Am Ufer aus¬
geſtiegen, befahl er der Bootsmannſchaft, ruhig ſeiner zu
harren, und ſchritt unverweilt den Staffelweg hinauf, den
er auch in der Dunkelheit zu finden wußte. Das Burg¬
thor war verſchloſſen; doch ſah er durch Gitterſpalten
einen Lichtſchein ſich bewegen und klopfte mit dem Degen¬
knopf zwei Mal an das Thor. Mit einer Laterne vor
ſich hinleuchtend, öffnete der abtrünnige Stallknecht den
[287] Thorflügel und ſtarrte dem einſamen Ankömmling in das
Geſicht, als ob er den Teufel ſähe.
„Geh vor mir her und leuchte!“ ſagte Don Correa
kurz, ohne den Burſchen zweimal anzublicken. Derſelbe
gehorchte freilich diesmal dem Befehl; aber er ſprang ſo
behende treppauf, daß Correa nicht auf dem Fuße folgen
konnte und im Dunkeln tappen mußte. Oben angelangt,
ſtieß der Knecht eine Thüre auf und rief mit athemloſer
Kehle in das erhellte Gemach hinein: „der Herr iſt da!“
„Wer iſt da?“ ſagte Donna Feniza, die in ihrem
Armſtuhle am Nachteſſen ſaß.
„Er, der die Ohrfeigen gibt und uns Andere weg¬
gejagt hat oder noch wegjagen wird!“
„O Du Eſel!“ rief die Frau in all' ihrem Reize
und ließ zugleich ein kurzes Gelächter läuten, als ſie jetzt
dicht hinter dem Burſchen den Admiral ſtehen ſah und
wie er ihn an der Schulter bei Seite ſchob.
Dieſer nun ſchaute mit einem völligen Schrecken auf
die Scene, wenn bei einem Manne ſeiner Art das Wort
angewendet und nicht eher mit dem Ausdruck äußerſtes
Erſtaunen zu erſetzen iſt. Am runden Tiſche, an welchem
er ſo manche ſchöne Stunde ihr gegenüber geſeſſen, waren
außer der Herrin noch zu ſehen der Stallmeiſter, die
Kammerfrau, der junge Beichtvater, und ihr zunächſt ein
Unbekannter, ein ſtämmiger Menſch von halb kriegeriſchem
Anſtrich, mit breiten Schultern und einer langen Schmarre
über Naſe und halbes Geſicht hinweg, ſo daß auch der
[288] Schnurrbart in zwei Theile getrennt und das äußerſte
Gebüſchlein jenſeits der rothen Furche ſtand. Dieſe Ent¬
ſtellung ſchien jedoch der ſchönen Hausfrau keineswegs zu
mißfallen; denn im erſten Moment, da er unter die
Thüre trat, hatte Correa mit allem Andern auch gleichſam
im Wetterleuchten bemerkt, wie ſie während des Gelächters
einen vollen Blick in das Geſicht ihres Nachbars ge¬
worfen hatte.
Dennoch waren in der Verwirrung ſeines Geiſtes die
erſten Gedanken nicht auf dieſe Sorgen gerichtet, ſondern
auf die glänzende Verſammlung an Bord ſeines Schiffes.
Wie ſollte er, ohne Zeit zu verlieren und ohne Gewalt
zu brauchen, das Haus räumen und die Frau gütlich
bewegen, ſich in Staat zu werfen oder wenigſtens etwas
aufzuputzen und ihn zu begleiten, ohne daß er jetzt ſchon
das Geheimniß verrieth? Denn trotz dem übeln Eindrucke,
den der Auftritt auf ihn machte, ſchwankte er noch nicht,
die wild gewordene Taube feſtzuhalten und wieder zu
zähmen, und dazu brauchte er ja vor Allem die herrliche
Ueberraſchung, die er mit ſo viel Mühe und Sorgfalt
ihr bereitet hatte.
Aus dieſen Gedanken, während welchen er nicht ein¬
mal zu bemerken fähig war, wie die Frau nicht Miene
machte, ſich auch nur ein wenig zu erheben und ihm
entgegen zu gehen, weckte ihn unverſehens ihre Stimme,
als ſie inmitten der allgemeinen Todesſtille ſagte:
„Ei wahrlich! Das iſt ja mein Gemahl! Und wie!
[289] Habt Ihr, edler Don, Kleider und Geld, was ich Euch
gegeben, auf Eueren Irrfahrten ſo bald durchgebracht,
daß Ihr in Euerem mottenzerfreſſenen Bettlermantel
wieder vor mir ſteht?“
Er überlegte einen Augenblick, was ſie eigentlich geſagt
habe, und fand, daß es jedenfalls nichts Schönes und
Liebevolles ſei. Einen Blick auf die kleine Tafelrunde
werfend, antwortete er, mehr um aus der Verlegenheit
zu kommen, mit trockenen, aber nicht ganz traulichen
Worten:
„Laß Dich lieber fragen, meine gute Hausfrau, wie
es kommt, daß ich hier die Leute noch vorfinde, die ich
weggeſchickt habe, bis auf den Spatz, der hinter Deinem
Seſſel ſteht? Hat dieſer nicht ausgerichtet, daß er ent¬
laſſen ſei? Und wer iſt der fremde Herr, den ich an
meinem Tiſche ſo breit da ſitzen ſehe, ohne mein Vor¬
wiſſen?“
Die Dienſtleute blickten alle halb ſpöttiſch, halb
ängſtlich auf die Gebieterin; der Fremde warf einen Blick
auf ſein Seitengewehr, das an breiter Koppel von gelbem
Leder mit großen Meſſingſchnallen in der Fenſterniſche hing.
Feniza aber ſagte mit ſchnippiſchen und ſchnöden
Worten:
„Dieſer Tiſch iſt, ſo viel mir bewußt, mein Tiſch,
und es ſitzt daran, wem ich es erlaube. Nehmt, ſtatt
zu zanken, lieber den Platz ein, der noch frei iſt, und
ſtärkt Euch, wenn Ihr Hunger habt! Aber benehmt Euch
Keller, Sinngedicht. 19[290] ſo, wie es Jedem ziemt, der ſeine Füße unter meinen
Tiſch ſtreckt!“
Das plötzliche Gelächter der Anweſenden war zunächſt
das Echo dieſer Rede. Selbſt der ſpitznäſige Page ließ
ein durchdringendes Gekicher hören, wie es zu tönen pflegt,
wenn unerwachſene Buben ſich in die Unterhaltung der
Erwachſenen miſchen und dieſelbe überſchreien.
Es gab aber gleich darauf einen größeren Lärm.
Don Salvador hatte ſich mit wechſelnder Farbe dem
Tiſche genähert, legte die Hand daran, und indem er
ſagte: „So? ſtrecke ich meine Füße unter den Tiſch?“
ſtürzte er denſelben um mit Allem, was darauf ſtand,
mit Schüſſeln, Krügen, Gläſern und Leuchtern, und dies
mit einer ſolchen Gewalt, daß zu gleicher Zeit Alle, die
daran geſeſſen, ſammt ihren Stühlen zu Boden geſchleudert
wurden, mit Ausnahme der Frau. Die hatte, von des
Mannes verändertem Geſicht und von ſeinem Herantreten
erſchreckt, ſich merkwürdig ſchnell von ihrem Stuhl er¬
hoben und in eine Ecke geflüchtet, von wo ſie furchtſam
und neugierig hervor ſchaute.
Indeſſen war der Erſte, der ſich aus der Verwüſtung
vom Boden aufgerichtet, der fremde Geſell, und Correa
ſah nun, als jener auf den Beinen ſtand und mit dem
gezogenen Schwerte auf ihn eindrang, daß er es mit
einem außergewöhnlich großen und ſtarken Manne zu
thun hatte. Er verlor aber keine Zeit; obgleich feiner
und ſchmächtiger gewachſen, als Jener, ergriff er den
[291] nächſten ſchweren Stuhl von Eichenholz, ſchwang ihn über
dem Recken und ſchlug nicht nur ſeine Waffe nieder,
ſondern auch die rechte Schulter ſo gründlich entzwei, daß
er augenblicklich gelähmt und überdies vor Schmerz halb
ohnmächtig und ganz wehrlos wurde. Als ein Menſch
von niederem Charakter floh er gleich aus dem Zim¬
mer, und ihm folgte die übrige Compagnie, ſo wie ſie
ſich allmählig aus den Scherben aufraffte. Sie wiſchten
wie chineſiſche Schatten hinaus; hinter ſeinem Rücken
machte die Kammerfrau noch ein Zeichen gegen die
Herrin, die es mit faſt unmerklichem Kopfnicken er¬
widerte. Nur der Page war noch im Zimmer und
ſteckte die Naſe hinter der Frau hervor. Correa that
einen Schritt, faßte den Knaben an den Locken und warf
ihn wie einen jungen Haſen den Uebrigen nach vor die
die Thüre, welche er hierauf verriegelte.
Dann ſtellte er ſich, auf die gezogene Degenklinge
geſtützt, vor die Frau, welche mit zitternden Knieen und
ausgeſtreckten Händen da ſtand, und ſagte, nachdem er ſie
eine Weile ernſtlich betrachtet:
„Was biſt Du für ein Weib?“
„Was biſt Du für ein Mann?“ fragte ſie entgegen
mit furchtſamer Stimme und immerfort zitternd.
„Ich? Salvador Correa, der Admiral und Gouverneur
von Rio bin ich! Wirſt Du mir nun gehorchen?“
Durch dieſe offenbar ungeheure Lüge bekam das Weib
in ihren Augen moraliſch wieder das Oberwaſſer. Denn
19*[292] da ſie nur an ſich ſelbſt, an ihren Reichthum und an die
Kirche, ſonſt aber an Nichts in der Welt glaubte, ſo
ſchien es ihr ganz undenkbar, daß der eigene Mann, den
ſie eine Zeit lang als ihre Puppe angeſehen, etwas
Rechtes ſein könnte.
Sie ſchlug eine unangenehme Lache auf, indem ſie
rief:
„Nun merk' ich, was Du für ein Windbeutel biſt!
Ein Schlucker wie Du, den ich ſchiffbrüchig am Strande
aufgeleſen, und der berühmte, der reiche Don Correa!“
„Da Du mich nur mir ſelbſt gegenüberſtellſt und der
Vergleich Deine bösliche Beſchimpfung aufwiegt, ſo kann
ich darüber hinweg gehen!“
Mit dieſen Worten, die er mit einer durch die äußerſte
Noth gebotenen Gelaſſenheit ausſprach, da die Zeit
unaufhaltſam verſtrich und er in ſeiner Verſtrickung aller
Sinne nur die Schande und das gefährdete Anſehen er¬
blickte, wenn er wie ein Thor unverrichteter Sache zu
ſeinen Schiffen zurückkehrte, — mit dieſen Worten ergriff
er das Weib am Arme und führte es an ein Fenſter,
welches auf das nächtliche Weltmeer hinausging.
„Dort liegen meine Schiffe vor Anker“, ſagte er;
„in einer halben Stunde werden wir Beide dort ſein, wo
viele Herren und Damen uns erwarten und Du als
meine Gemahlin begrüßt wirſt! Morgen früh kehren
wir nochmals hierher zurück, um einzupacken und eine
zwiſchenweilige Verwaltung zu beſtellen, denn Du wirſt
[293] mich nach Braſilien begleiten. Jetzt ſpute Dich, ein
ſchickliches Feſtgewand anzulegen, und wenn Du zögerſt,
werde ich Deinen unglücklichen Poſſen ein Ende machen
und Deine weiße Kehle mit dieſem Eiſen durchbohren!“
Er erhob die lange Degenklinge. Das Auge vom Meere
abwendend, wo ſie nur einen ſchwachen Lichtſchimmer
hatte entdecken können, warf ſie den Blick auf das glän¬
zende Eiſen. Plötzlich umſchlang ſie mit den Armen
ſeinen Hals und bedeckte ihm den Mund mit ſo feurigen
Küſſen, als ſie im jemals gegeben.
„Warum ſollte ich Dir nicht gehorchen, da ich er¬
fahren, wie Du an mir hängſt?“ flüſterte ſie in zärtlichen
Lauten; „Alles iſt vorüber und ich gehe mit Dir bis
an das Ende der Welt. Aber ich kann mich nicht allein
ankleiden und die Kammerfrau haſt Du mir vertrieben,
alſo wirſt Du mir ein wenig helfen müſſen!“
Sie ergriff ſüß lächelnd ſeine Hand und er folgte ohne
Widerſtand in ihre Kammer, in der Hoffnung, ſeine Ehre
mindeſtens vor der Welt noch zu retten. Doch behielt er
den gezogenen Degen in der Hand, da die Drohung ſo
ſchnell gewirkt.
Nun begann ſie aber die koſtbare Zeit zu verzetteln,
indem ſie erſt mit verſtellter Unentſchloſſenheit ein Staats¬
kleid ausſuchte und mit niedlichem Geplauder ſeinen Rath
verlangte, dann das Oberkleid, das ſie trug, von ihm
aufneſteln ließ, tauſend Kleinigkeiten herbeiholte, dazwiſchen
mit Koſen und Schmeicheln ſich zu ſchaffen machte, bis
[294] die eiſerne Wanduhr in der Kammer das Viertel auf
Mitternacht ſchlug.
„Wenn Du nicht gleich fertig wirſt,“ ſagte Correa,
„ſo trag' ich Dich mit Gewalt hinunter wie Du biſt.“
„Nur noch das große Halsband will ich holen“, rief
ſie, „und den Rubin, der zu dem ſchwarzen Kleide ſo gut
ſteht. Und meine weißen Kragen hat die Kammerfrau
heute unter den Händen gehabt. Im Augenblick bin ich
wieder da.“
Damit ſchlüpfte ſie aus einer Thüre, eh' Correa ſich
beſonnen hatte, ob er ſie gehen laſſen wolle. Die Thüre
verſchloß ſie von außen, ganz leiſe, und durcheilte mit
dem Licht in der Hand die übrigen Räume, bis ſie ein
Stockwerk tiefer ihre vertriebenen Genoſſen fand, die mit
lauernden Blicken in einem Häuflein ſtanden.
„Zündet an! Zündet an!“ kreiſchte ſie heiſer; „er iſt
ein Pirat und hat ein Schiff auf der See! Steckt un¬
verzüglich an, es wird Euch nicht reuen! Zündet an!
Freiheit und Leben ſind wol einen alten Thurm werth!“
Gleich einer Furie eilte ſie voraus und hielt das Licht
an einen Haufen Reiſig, der auf einer hölzernen Treppe
lag, während die Uebrigen ein Gebirge von Strohwellen
in Brand ſetzten, das die ſteinerne Haupttreppe verſtopfte.
Dann wurde in der Küche ein großer Stoß entzündlicher
Stoffe entflammt, deren Gluth bald die hölzerne Diele
ergreifen mußte; dann vertheilten ſich die Dämonen auf
den unterſten Flur, in den Stall, die Scheune, den Holz¬
[295] ſchuppen im Hofe, überall Feuer anlegend, und ſammelten
ſich ſchließlich vor dem Schloßthore, das ſie verrammelten,
deſſen Schlüſſel ſie mit ſich nahmen. Die Pferde waren
ſchon draußen und wurden beſtiegen, auch dem Manne
mit der gebrochenen Schulter auf eines geholfen; die
Kammerfrau hielt ein Käſtchen mit Geld, Pretioſen und
Papieren auf dem Schoße, und ſo zog die Geſellſchaft,
gegen zehn Perſonen ſtark, ohne einen Laut von ſich zu
geben vom Thore hinweg nach den Bergen zu und verlor
ſich in der Dunkelheit. In dieſem Augenblicke donnerten
die Kanonen von den Kriegsſchiffen, daß die Luft zitterte
und der Berg erdröhnte, und als die Uebelthäter ſich er¬
ſchrocken umſchauten, ſahen ſie auf dem Meere die Schiffe
taghell beleuchtet und eine ſprühende Raketengarbe gen
Himmel ſteigen, während eine ſchmetternde Trompeten¬
fanfare, mit Paukenſchall vermiſcht, herüber klang.
„Das iſt kein Pirat, das iſt ein großer Capitän oder
gar ein Admiral“, ſtöhnte Der mit der Schulter, der im
Fieber ſchlotterte.
„Fort, Fort! Es iſt der Teufel!“ ſchrie die Donna
Feniza, die jetzt auch wieder zu ſchlottern anfing, und die
Cavalcade der Mordbrenner floh ohne ſich weiter umzu¬
ſehen über das Gebirge.
Der Admiral ging aber nicht verloren. Nachdem meh¬
rere Minuten vorüber und die Frau nicht zurück war,
wollte er ſelbſt nachſehen, und als er alle Thüren von
außen verſchloſſen fand, merkte er den Verrath. Als er
[296] aber mit Gewalt eine aufgeſprengt und alle Zugänge mit
lohendem Feuer angefüllt ſah, welches zu durchſchreiten
ſchon nicht mehr möglich war, kehrte endlich die ruhige
und klare Beſonnenheit des thatkundigen Mannes wieder
bei ihm ein; ſtatt den Ausgang in der Tiefe zu ſuchen,
die vom Feuer verrammelt war, erſtieg er die oberſte
Höhe des Hauptthurmes, in dem er ſich befand. Dort
hing in einer Mauerlücke eine Glocke, deren Seil aus¬
wendig bis in den Hof hinunter ging und dort gezogen
zu werden pflegte. Don Correa hatte ſelbſt ein neues
Seil beſorgt, das nicht dick aber ſtark genug war für
eine kühne That, wenn nur der oberſte Punkt, die Ver¬
bindung mit dem Glöcklein ſelbſt, verſichert wurde. Er
ſtieg alſo mit allem Bedacht hinauf, ein Licht in der
Hand, das freilich von den aus der Tiefe nach der Höhe
wallenden Rauch- und Hitzewogen beinah ausgelöſcht
wurde. Auf der oberſten Thurmtreppe ſchnitt er ein Seil,
das ſtatt eines Geländers diente, entzwei und befeſtigte
das Glockenſeil damit derart, daß er die Fahrt wagen
durfte. Dazu diente ihm auch der alte geſtirnte Mantel,
in deſſen Falten er beide Hände wickelte, als er nun vom
hohen Thurme niederglitt. Auf dem Hofe angekommen,
mußte er ſchon zwiſchen den verſchiedenen Brandanſtalten
hindurch ſpringen, um ein Ausgangsloch zu erreichen, an
welches die Mordbrenner nicht gedacht hatten.
Im Boote angelangt und ſeinen Sitz einnehmend be¬
fahl er die ſofortige Abfahrt, und als er genugſam vom
[297] Strande entfernt war, ſah er das Schloß in rothen
Flammen ſtehen, indeſſen von den Schiffen her die Ge¬
ſchütze dröhnten und der Glanz der Lichter ſtrahlte. Eine
ſonderbarere Lage hatte er noch nie zwiſchen zwei Feuern
erlebt, und mit bitterm Lächeln genoß er die Ironie und
die Lehre dieſer Lage, die Lehre, daß man in Heiraths¬
ſachen auch im guten Sinne keine künſtlichen Anſtalten
treffen und Fabeleien aufführen ſoll, ſondern alles ſeinem
natürlichen Verlaufe zu überlaſſen beſſer thut.
Das Gefühl der Befreiung von einer unbekannten
ſchmachbringenden Zukunft und der unmittelbaren Lebens¬
gefahr erhellte dennoch etwas die dunkle Laune, ſodaß er
auf ſeinem Admiralſchiffe die glänzende Geſellſchaft zu
Tiſch ſitzen ließ und mit gefaßtem Sinne einige Worte
an ſie richtete. „Er habe geglaubt,“ ſagte er, „den Herr¬
ſchaften eine ehrliche Gemahlin und Reiſegefährtin vor¬
ſtellen zu können; allein der unerforſchliche Wille der
Vorſehung hätte es dahin gelenkt, daß eine Flamme des
Unheiles und des Unterganges angezündet und ein Gericht
nothwendig geworden ſei, welches das traurige Räthſel
den Freunden löſen werde.“
In der That ſetzte er nach beendigter Mahlzeit noch
vor Tagesanbruch ein Standgericht nieder, welches die
Verfolgung und Aburtheilung der Urheber des Schlo߬
brandes ausſprach. Der Umſtand, daß das Verbrechen
im Angeſichte eines Kriegsgeſchwaders verübt und deſſen
Führer beinahe das Opfer wurde, ſchien die Gerichts¬
[298] barkeit der Kriegsflagge hinreichend zu begründen. Un¬
mittelbar darauf ließ Correa zwanzig Reiter und vierzig
Fußſoldaten an's Land ſetzen und dieſelben auf zwei Wegen,
die er ihnen angab, nach Cercal marſchiren; denn er ver¬
muthete mit Recht, daß die Uebelthäter ſich dorthin ge¬
wendet. Sie lagen auch wirklich alle im tiefen Schlafe
in der Behauſung der Feniza Mayor, als die Soldaten
nach Sonnenaufgang anlangten, und wurden zu ihrem
Entſetzen aufgeweckt und gebunden nach der Brandſtätte
am Ufer zurückgeführt, auch eine Anzahl von Urkunds¬
perſonen aus dem Bergneſte mitgenommen. Ein erfah¬
rener Unterſuchungsrichter befand ſich ſchon bei der
Expedition, welcher an Ort und Stelle die erſte Erhebung
des Thatbeſtandes leitete und die Einzelverhöre vornahm.
Nachher wurden die Gefangenen auf das Admiralſchiff
gebracht, wo unter einem Zelte das Gericht und neben
demſelben der Admiral mit der Feldherrnbinde und dem
Orden des goldenen Vließes ſaß. Vor ihm ſtand nun
die Frau von Cercal inmitten ihres Anhanges, mit zer¬
rüttetem Ausſehen, und ſie ſtarrte bald nach ihm hin,
bald nach den Richtern, bald nach den umſtehenden Offi¬
cieren und Kriegern.
So treulich die ſeltſame Sippſchaft früher zuſammen
gehalten und ſo anhänglich die Dienſtleute der Herrin
bisher geſchienen, ſo gänzlich zertrümmert war jetzt das
alles. Eines ſagte gegen das Andere aus, Eines gegen
Alle und Alle gegen Eines. Es ergab ſich, daß die
[299] Kammerfrau den erſten Mann der Feniza auf deren
Wunſch hin im Schlafe erdroſſelt, nachdem ſie den Platz
an ſeiner Seite im Ehebette leiſe verlaſſen hatte. Dann
zog die Vollzieherin des Mordes, von welcher die Herrin
von Cercal abhängig geworden, ihren Bruder herbei, eben
den Mann mit der Schulter, der bald als Soldat, bald
als Bandit ſich herum trieb. An dieſen Menſchen hing
ſich die Frau, bis er kurz vor dem Auftreten des Don
Correa ihrer überdrüſſig geworden mit einem guten Stücke
Geld davon ging, um ſich in den Kriegsläuften, wie er
ſagte, einen Rang zu erfechten. Während Correa's Ab¬
weſenheit war er wieder erſchienen, und die Frau in ihrem
unergründlichen ſittlichen und geiſtigen Zuſtande hatte ihn
auf- und angenommen und nur darauf gedacht, den Correa
durch ihn zu vertreiben oder zu vernichten, wenn er wieder
käme. Von unverſöhnlichem Haß erfüllt, berieth ſie ge¬
rade am Tage vor ſeiner Ankunft mit ihrer Geſellſchaft,
was zu thun ſei, und ſie beſchloſſen, wenn er nicht anders
zu bezwingen wäre, ihn im Schloſſe abzuſperren und
dieſes zu verbrennen. Die nöthigen Vorkehrungen hatten
die Kammerfrau, der Stallmeiſter und ſeine Knechte bald
getroffen, als ſie aus der Stube gejagt waren; denn was
im Hauſe lebte, haßte den vermeintlichen Bettler und
Emporkömmling wie Gift, was eben auch eine unglückliche
Frucht der Erfindung war, die Correa in's Werk geſetzt,
um ſich glücklich zu verheirathen, und die ihm bald das
Leben gekoſtet hätte.
[300]
Mit alledem waren das Weſen und die Seele der
Feniza ſelbſt nicht weiter aufgeklärt, als die Thatſachen
gingen. Der Vergleich mit dem ſchönen weichen Fell
einer geſchmeidigen Tigerkatze, oder mit der blauen ſtillen
Oberfläche eines tiefen Gewäſſers, auf deſſen Grunde
häßliches Gewürme im Schlamme kriecht, u. dgl. hätte zu
nichts geführt. Ihr Charakter war darum nicht minder
auch ihr Schickſal. Wäre es ihr möglich geweſen, in der
letzten Stunde den Worten des Mannes zu glauben, mit
dem ſie ſich doch verbunden hatte, ſo wäre ſie ohne Zweifel
mit ihm gegangen und gerettet worden. Aber nur für
einmal; denn nachher würde ſie es nicht über ſich ge¬
bracht haben, die Selbſtſucht, Willkür, die Liebe zum Laſter
und die vollendeten Künſte der Heuchelei zu unterdrücken,
die ihre Lebensluſt waren.
Jetzt war ſie aber ärger zerbrochen, als die Schulter¬
knochen ihres Buhlgeſellen. Als Correa ſeine Ausſage
thun mußte, blickte er ſie nicht an; dennoch erſchien er
ihr auf ſeinem Stuhle wie ein Höllenrichter. Das weiße
feine Kinn, das einſt ſo vornehm auf dem Halskragen
geruht hatte, zitterte fahl und ſchlaff ohne Unterlaß,
während ihre ſcheuen Augen an ſeinem Munde hingen,
und die Perlenzähne klapperten beinahe vernehmlich. Alles
dies quälte den Admiral faſt ſo viel, wie ſie ſelbſt. Denn
war ſie ſchuldiger, weil das Geſchöpf den wahren Men¬
ſchen in ihm nicht geahnt hatte, als er, dem es mit der
Beſtie in ihr gerade ſo ergangen war?
[301]
Nachdem in Folge kurzer Berathung alle Angeklagten
zum Tode verurtheilt worden, ließ er das Gericht durch
ein paar geiſtliche Capitelsherren, die an Bord waren,
vervollſtändigen und ſeine Ehe mit der Verbrecherin
feierlich auflöſen. Die Gültigkeit dieſer letzten Verhand¬
lung kam nicht mehr in Frage, weil die Feniza Mayor
von Cercal gleich nachher mit ihren Genoſſen an's Land
zurückgebracht und an der geſchwärzten Mauer des aus¬
gebrannten Thurmes aufgehangen wurde, worauf der Ad¬
miral die Anker lichten ließ und die Fahrt nach Weſten
fortſetzte. Nach vollen zehn Jahren erſt nahm er auf
ebenſo ungewohnte aber glücklichere Weiſe die zweite
Frau.
Um dieſe Zeit nämlich ſegelte der Admiral Correa
von Braſilien aus mit einer bedeutenden Flotte nach der
Weſtküſte von Afrika, um die dortigen Beſitzungen den
Holländern wieder abzunehmen, welche ſich während des
portugieſiſchen Verfalls darin feſtgeſetzt hatten. Er er¬
ſchien unverſehens vor St. Paul von Loanda, belagerte
und erſtürmte dieſen und andere Plätze, und zwang überall
die Holländer zur Uebergabe und zum Rückzuge, ſo daß
er in zwei Monaten die Gebiete von Benguela, Loanda,
kurz, die ſüdliche Weſtküſte von Afrika der Herrſchaft
ſeiner Fahnen und ſeines Landes wieder unterwarf und
ſeinen Namen mit neuen Ehren erſchallen ließ. Dazu
brachte er an die zwanzig kleinere Negerkönige unter die
Gewalt ſeines Stabes, ſah ſich dann aber veranlaßt, Halt
[302] zu machen und zur größeren Sicherheit und Ausbreitung
der portugieſiſchen Herrſchaft den Weg des Unterhandelns
einzuſchlagen, eh' er die Waffen wieder ergriff.
Denn über die hinterliegenden Landſtriche dehnte ſich
in unbekannter Weite das Reich des ſogenannten Königs
von Angola, deſſen wahre Stärke nicht leicht zu berechnen
war, zumal er ſich in geheimnißvoller Ferne hielt und
mit einem Nimbus von Macht und Schrecken umgab, der
ſo gut auf einiger Wirklichkeit, als auch nur auf ſchlauer
Prahlerei oder Täuſchung beruhen konnte.
Correa ſetzte ſich daher in einer geeigneten Landſchaft
feſt und ließ den für furchtbar geltenden Negerfürſten
durch eine Geſandtſchaft gefangener Häuptlinge auffordern,
ſich bei ihm einzufinden, um ſeine Tributpflicht und die
portugieſiſche Oberherrſchaft über ganz Angola anzu¬
erkennen und für den Anfang zum Zeichen guten Willens
gleich ſo und ſo viel Goldſtaub und Elfenbein mitzu¬
bringen. Der König von Angola fühlte ſich durch dieſe
Botſchaft nicht angenehm berührt, ſuchte ſich aber mit
eigenthümlicher Staatsklugheit aus der Sache zu ziehen.
Er tödtete die armen Abgeſandten, ſobald ſie Correa's
Befehle verkündigt, damit ſie den Frevel nicht wiederholen
konnten. Dagegen ſandte er ſchleunig eine eigene Bot¬
ſchaft mit einigen großen Elephantenzähnen und einem
Säcklein Goldſand in das portugieſiſche Lager, und ließ
jene Gegenſtände als großmüthiges Geſchenk der Freund¬
ſchaft überreichen und die Abordnung ſeiner königlichen
[303] Schweſter anzeigen, welche mit der Vollmacht zu allem
Nöthigen ausgeſtattet ſein werde.
Der ſchreckliche Tyrann und Wüſtenlöwe befolgte die
Politik manches zahmen Spießbürgerleins in Europa,
welches immer die Frau hinſchickt, wo Muth und kluge
Beredſamkeit erwünſcht ſind; nur mußte er, da er etwa
hundert Frauen beſaß, die er ſelbſt nicht fürchtete, dafür
zur Schweſter greifen, die ein keckes Einzelſtück war und
im Gerüchte ſtand, daß ſie ſchon einmal im Begriffe ge¬
weſen ſei, den König, ihren Bruder, abzuſetzen und hin¬
richten zu laſſen.
Daß ſeine Abgeſandten umgebracht worden ſeien, wußte
Don Correa nicht; er betrachtete daher die von dem ango¬
leſiſchen Herrſcher getroffenen Maßregeln als Zeichen eines
halben Gehorſams und baldiger Unterwerfung; als er
aber nach einiger Zeit von den ausgeſandten Spähern
vernahm, daß Annachinga, die Fürſtin von Angola, ſich
mit einem Gefolge nähere, das eher einem Heerzuge gleiche,
ſo ſtellte er ſeine Truppen in einer Ordnung auf, die
zur Schlacht wie zur Ehrenparade diente. In der That
wimmelte es wie ein ſchwarzer Wolkenſchatten heran, der
immer mehr in's Breite wuchs und ein bald dumpfes,
bald gellendes Dröhnen von Menſchenſtimmen, Thiergeheul
und kriegeriſchen Inſtrumenten aus ſich heraus gebar.
Die Portugieſen fanden für gut, als Gegengruß ihre
zahlreichen ſchweren Geſchütze abzufeuern, deren Metall in
der afrikaniſchen Sonne funkelte, worauf das dunkle Heer¬
[304] weſen, von dem rollenden, in den Bergen widerhallenden
Donner erſchreckt, ſtill ſtand bis auf den letzten Mann
und ſich den Anordnungen der heranſprengenden Reiter
fügte. Dieſe verlangten, daß nur die Fürſtin mit ihrem
eigentlichen Gefolge näher komme, der große Haufen aber
ſich nicht weiter von der Stelle rühre. So entwickelte
ſich aus der Maſſe heraus ein kleinerer Zug, der immer
noch anſehnlich genug war in ſeinem barbariſchen Pompe
mit den damals noch vorhandenen Spuren einer jetzt
gänzlich verwilderten Völkerwelt.
Voraus wurde als Geſchenk des Königs eine Herde
wilder Thiere, Elephanten, Giraffen, Löwen, Tiger und der¬
gleichen an Ketten geführt, und zwar von Männern, die mit
ihrem hohen Wuchs und trotzigen Ausſehen die Kraft und
Ueberlegenheit des Volkes zeigen ſollten, mit welchem man es
zu thun habe. Dann ritt ein Dutzend perſönlicher Vaſallen
der Annachinga auf ziemlich bunt geſchirrten Ochſen
vorüber, jeder von einigen ſchild- und ſpeertragenden
Reiſigen oder Knappen begleitet, wahrſcheinlich ſeinen
Untervaſallen; denn auch dieſe gingen ſchlank wie Tannen
und elaſtiſch einher gleich Leuten, die auch noch irgend
Etwas unter ſich haben. Auf einem mit Ochſen be¬
ſpannten Wagen ſchwerfälligſter Form, der mit Decken
behangen war, erſchien endlich die Fürſtin, in koſtbare,
offenbar ſehr alte Stoffe gekleidet, Hals und Arme mit
einer Laſt von Ketten und Ringen geſchmückt. Sie ſaß
nach abendländiſcher Weiſe auf ihrem Sitze, eine kalte
[305] Unbeweglichkeit zur Schau tragend, von welcher manche
große Frau des Occidents hätte lernen können. Ihrem
Wagen folgten zwei andere Wagen mit Hofdamen und
Sklavinnen und dieſen zu Fuß eine Leibwache mit hun¬
dertjährigen guten Stahlwaffen, Halebarden und Flam¬
bergen, die unverkennbar einſt im Abendlande geſchmiedet
worden. Den Schluß bildeten ein Dutzend Fetiſchträger
nebſt Hof- und Feld-Regenmachern, deren beſchwöreriſche
und drohende Gebärden und Sprünge die portugieſiſchen
Soldaten beluſtigten. Beſonders gegen eine Anzahl Je¬
ſuiten, welche herbeigekommen waren, das Schauſpiel
mit anzuſehen, richteten die ſchwarzen Hexenmeiſter ihre
Verwünſchungen, da ſie dieſelben als ihre Hauptfeinde
und Brotneider anſahen; die Jeſuiten aber widmeten
ihnen die wiſſenſchaftliche Aufmerkſamkeit gebildeter
Männer und lernten den thörichten Heiden ruhig ab, was
zu lernen war.
Im Innern des Lagers wurde die Fürſtin erſt recht
mit Trommeln- und Trompetenlärm empfangen und ein¬
geladen, vom Wagen zu ſteigen. Sauber gekleidete, aber
keineswegs hohe Officiere führten ſie in eine leicht er¬
baute lange Zelthalle, die durch Tapeten in verſchiedene
Räume abgetheilt war. Im erſten Raume befand ſich
eine Verſammlung von Würdenträgern und oberen Offi¬
cieren, welche die nöthigen Erkennungen mit der Fürſtin
austauſchten und die einleitenden Geſpräche unterhielten,
bis ſie zu ihrer Verwunderung vernahm, daß der Höchſt¬
Keller, Sinngedicht. 20[306] ſtehende gar nicht hier, ſondern in einem innerſten Ver¬
ſchlage aufhältlich ſei und ſie nur allein, allenfalls in
Begleit ihrer Frauen und der Dolmetſcher empfange. Da
ſie einmal da war, drang ſie ſchweigend aber mit un¬
geduldiger Entrüſtung vorwärts und ſtand mit immer
größerem Erſtaunen vor dem Admiral, der ganz allein
auf einem erhöhten Thronſeſſel ſaß, nur einen ſtehenden
Pagen neben ſich. Er trug den ſchimmernden Galaküraß,
über demſelben den feinſten Spitzenkragen und dicke Or¬
densketten, und auf dem Kopfe den mit Federn aus¬
geſchlagenen Hut mit Goldſchnur und Diamantagraffe.
Das Gemach war an Wänden und Decke ganz mit ge¬
wirkten Seidentapeten bekleidet und der Boden mit Tep¬
pichen belegt; im Uebrigen war außer dem Thronſeſſel
keinerlei Art von Stuhl zu erblicken, ein rothes Kiſſen
ausgenommen, welches in einiger Entfernung vom Throne
auf der Erde lag.
Zwei Herren, die ſie herein begleitet hatten und ſich
jetzt aufrecht auf die Seite ſtellten, wieſen ſtumm auf das
Kiſſen, als Annachinga ſich umſah, wo ſie Platz nehmen
ſolle. Sie bemerkte nichts, als das Trüpplein ihrer
Frauen hinter ſich, und winkte eine derſelben herbei.
Dieſe kniete unverweilt hinter das Kiſſen, indem ſie die
Arme auf den Boden legte und ſo in der Stellung
einer ägyptiſchen Sphinx einen Ruheſitz bildete. Auf
dieſen Sitz ließ ſich die Fürſtin würdevoll nieder, die
Füße auf das vor ihr liegende Kiſſen ſtreckend, ſtolz
[307] und immer ſchweigend gewärtig, was weiter geſchehen
werde.
„Es iſt wohlgethan,“ ließ ſich der Admiral nun ver¬
nehmen, „daß der Mann, den man den König von Angola
nennt, meine Botſchafter gehört und den Willen meines
Landes und ſeines Gebieters geehrt hat, obgleich ich noch
lieber geſehen hätte, wenn er ſelbſt gekommen wäre!“
Nachdem die beiden Dolmetſcher, die mit herein ge¬
kommen, dieſe Rede zuerſt unter ſich, dann dem Ohr der
Fürſtin verſtändlich gemacht, erwiderte ſie:
„Du biſt nicht ganz auf dem richtigen Wege des Ver¬
ſtehens, denn Deine Abgeſandten wurden nicht angehört,
ſondern vertilgt, wie ſie den Mund aufthaten!“
Als dieſe Worte wiederum überſetzt waren und Don
Correa ihren Sinn erfuhr, ſchwieg er eine Weile und
ließ nur ſein blitzendes Auge auf der ſchwarzen Perſon
ruhen. Dann ließ er fragen, warum man die Boten ge¬
tödtet habe und was man für einen Erfolg von dieſer
That erwarte?
„Sie wurden getödtet,“ antwortete ſie, „weil ſie die
Unterthanen und Dienſtleute des Königs geweſen ſind
und Unwürdiges gegen ihn in den Mund genommen
haben. Durch ihr Blut wurde ſeine Würde verſöhnt,
Dir aber iſt kein Schaden dadurch geſchehen, da Du jetzt
anbringen magſt, was Du von uns wünſcheſt!“
„Ich habe nicht zu wünſchen, ſondern zu befehlen und
zur Rechenſchaft zu ziehen!“ ſagte der Admiral in ſtrengem
20*[308] Tone; „mäßige daher Deine Sprache, wenn ich Dich nicht
binden und wegführen laſſen ſoll!“
Allein ohne ſichtbaren Eindruck dieſer Worte, ohne
mit den Wimpern oder den Lippen zu zucken, erwiderte
Annachinga auf die Drohung:
„Du wirſt Dich auf die ſechzig oder ſiebenzig weißen
Leute beſinnen, die in unſeren Händen ſind! Mehr als
die Hälfte davon gehören Deinem Lande an!“
Hiemit ſchien die Sage beſtätigt, daß eine ziemliche
Zahl Europäer im Innern von Angola feſtgehalten werde,
wie denn auch ſeit Jahren manche holländiſche und portu¬
gieſiſche Kaufleute verſchwunden und erſt in letzter Zeit
noch einzelne Soldaten, die ſich verirrt, in Gefangenſchaft
gerathen waren. Obgleich die ſchwarze Dame muthmaßlich
übertrieb, ſo konnte immerhin genug an der Sache wahr
ſein, und Don Correa überdachte einen Augenblick das
Mißliche des Umſtandes und was er zu antworten habe.
Aber die Negerfürſtin, gleich einer vollendeten Diplomatin,
ließ ſeine Verlegenheit nicht dauern oder groß werden,
ſondern fuhr ſogleich fort, indem ſie plötzlich auf die
Hauptfrage überſprang.
„Wir wiſſen nicht,“ ſagte ſie, „welchen Nutzen Du
Dir davon verſprichſt, uns als Unterworfene zu behan¬
deln und uns die Knechtſchaft anzubieten, ehe Du nur
unſere Macht geprüft, einen Angriff gewagt, geſchweige
denn uns überwunden haſt. Und wenn Du uns wirklich
beſiegt hätteſt, ſo wären die Vortheile für Dich geringer,
[309] als Dir ein freundliches Verhältniß zu uns gewähren
kann. Schließeſt Du ein Freundſchaftsbündniß mit uns,
das ich Dir anzutragen bevollmächtigt bin, ſo gewinnſt
Du eine ſtarke Vormauer und einen mächtigen Beiſtand
gegen alle übrigen Feinde, die Dir bereit ſtehen, und ſtatt
unſere ungezählten Pfeile auf Dich gerichtet zu ſehen,
werden ſie gegen Deine Feinde ſchwirren und Dir den
Weg frei machen. Statt eines erzwungenen Tributes
endlich wird Deinem Lande ein gegenſeitig geordneter frei¬
williger Verkehr größeren Gewinn bringen, als eine für
uns ſchmähliche Beraubung je abwerfen könnte. Dieſes
bitte ich zu erwägen, ehe Du zu den Waffen greifſt; denn
ohne Kampf wird es für Dich nicht ablaufen, was Du
anſtrebſt!“
Hatte Don Correa ſchon an der Art ihres Aufzuges
erkannt, daß er es mit einer gewiſſen Macht zu thun
hatte, die vielleicht nicht ungeſtraft zu unterſchätzen war,
ſo mußte er ſich jetzt ſagen, daß dieſelbe auch wußte, was
ſie wollte, und mit Vernunftgründen zu unterhandeln
fähig ſchien. Er änderte alſo ſchnell entſchloſſen ſeinen
Plan und ſagte:
„Da man uns beſtimmte und deutliche Anträge macht,
welche von ehrlichem Entgegenkommen zeugen, ſo iſt ge¬
nügender Grund vorhanden, hierüber Rath walten zu
zu laſſen. Ich bin bereit, bis zum Austrag der Sache
freie Verhandlung auf gleichem Fuße zu gewähren, und
behalte mir den endgültigen Entſchluß nach Umſtänden
[310] vor. Du magſt jetzt wählen, ob Du inzwiſchen die Gaſt¬
freundſchaft in unſerer Mitte annehmen oder Dich bis zu
einer zweiten Unterredung in Dein eigenes Heerlager
zurückziehen willſt!“
Die Fürſtin erklärte, das letztere vorzuziehen, und
erhob ſich mit derſelben ſtolzen Würde von ihrem Sitze,
mit welcher ſie ſich darauf niedergelaſſen hatte. Zugleich
erhob ſich auch der Admiral, um ſie ſeinen Worten ent¬
ſprechend auf gleichem Fuße zu behandeln und ritterlich
hinaus zu geleiten. Als dergeſtalt die Anweſenden dem
Ausgange zuſchritten, bemerkte Don Correa, daß die
knieende Sklavin unbeweglich liegen blieb, und machte
lächelnd die Fürſtin aufmerkſam, daß ſie vergeſſe, ihren
lebendigen Feldſtuhl mitzunehmen.
„Ich ſetze mich nie zum zweiten Male auf denſelben
Stuhl“, antwortete ſie ohne zurückzublicken. „So mag
er dem Hauſe bleiben, in welchem ich mich ſeiner bedient
habe. Ich ſchenke Dir dieſe Perſon!“
So aufſchneideriſch dieſe Rede klang, ſo gab ſie ihm
doch auf's neue zu denken, und er begleitete die Fürſtin
nicht ohne kriegeriſche Höflichkeit bis an den Ausgang
des Lagers. Als er hierauf ſich wieder in das große
Zelt zurückzog, um zunächſt die Angelegenheit für ſich
allein zu überlegen, bemerkte Don Correa mit einiger
Ueberraſchung, daß in dem verlaſſenen Raume das junge
Weib noch immer ſtill und reglos auf ſeinen Knieen und
Ellbogen lag.
[311]
Er trat näher, ging um das ſchöne Bildwerk herum,
welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als
einem Lebeweſen, und betrachtete mit Erſtaunen und
auch mit Verlegenheit die Erſcheinung, mit der er nichts
anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬
zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen
ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin
mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die
hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in
Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit
gebildet. Das Haar erſchien trotz ſeiner Ebenholzſchwärze
nicht ſo wollig, wie bei den Negern, ſondern fiel in
weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem
es ein auf dieſem befeſtigtes, kronenartiges Körbchen von
Weidenzweigen durchflochten. Von dem Geſichte konnte
Don Correa nichts ſehen, weil es zur Erde gerichtet und
von dem niederhängenden Haar verſchleiert war.
Obgleich gegen Sklaven und farbige Menſchen gleich¬
gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte
er ſich endlich doch ein wenig und ſagte in mitleidigem
Tone: „Wie lange wirſt Du noch liegen? Steh' auf!“
Das arme Weib errieth den Sinn dieſes Befehles
und richtete ſich empor; doch waren die Glieder von der
unnatürlichen Lage beinahe erſtarrt und der Athem beengt;
ſie ſchwankte im Aufſtehen und wußte ſich nicht recht zu
helfen, ſo daß Don Correa ihr die Hand reichen und ſie
einen Augenblick halten mußte, um ſie vor dem Umfallen
[312] zu ſchützen. Da ſtand ſie nun vor ihm mit vor Scham
niedergeſchlagenen Augen, und eine Purpurröthe wallte
ſichtbar über die braunen Wangen. Uebrigens war die
Geſichtsbildung edel, wenn auch an den Schnitt alt¬
ägyptiſcher Frauengeſichter erinnernd oder ſonſt an ver¬
ſchollene Völkerſtämme alter Zeiten. Verwundert über
die vornehme Anmuth der ganzen Erſcheinung legte er
die Hand unter ihr kurzes Kinn und drückte es ſanft in
die Höhe, ſo daß ſie den Kopf zurückbiegen und ihn mit
den mandelförmigen großen Augen anſehen mußte. Da
ſah er ſowol in dieſen dunkeln Augen, als auf dem
kirſchrothen Munde die ſtumme Klage und Trauer der
leidenden Natur, die immer das Herz des Menſchen rührt,
während ihre triumphirenden Schrecken es nicht bezwingen
können. Der Mann, der ſeit zehn Jahren an den ſchönſten
und glänzendſten Frauen achtlos vorübergegangen und
für ihre Blicke unempfindlich geblieben, wurde jetzt
urplötzlich wie von einem Zauber oder einer Offenbarung
bewegt; er vermochte nicht eine Secunde der Verſuchung
zu widerſtehen, das ſtille, fremde Menſchenbild in den
Arm zu nehmen und leis auf beide Wangen zu küſſen.
Damit zeichnete er es ſänftlich als ſein Eigenthum und
ſchwur in ſeinem Innern, daſſelbe niemals zu verlaſſen;
denn trotz der ſchlechten Erfahrung, die er einſt gemacht,
glaubte er jetzt der Eingebung, daß dieſes weibliche Weſen
ihn nicht betrüben werde.
Zugleich beſchloß er auf derſelben Stelle, die heidniſche
[313] Sklavin in den Beſitz der menſchlichen und chriſtlichen
Freiheit und des Selbſtbewußtſeins zu ſetzen, eh' er weiter¬
ging, und rief zu dieſem Ende hin ſeinen Pagen herbei,
durch welchen er das Weib ſofort nach Loanda in das
Haus eines ſeiner Offiziere bringen ließ, deſſen Familie
dort wohnte. Ein zurückkehrender Proviantwagen unter
der Aufſicht eines ergrauten Soldaten kam der nicht eben
großen Reiſe zu Statten.
Als ſodann Don Correa die Unterhandlungen mit
der angoleſiſchen Königsſchweſter bis zu einem gewiſſen
Punkte weitergeführt und dieſe ſich mit ihrem Troß
hinwegbegeben hatte, eilte er ebenfalls nach Loanda
St. Paul. Er fand die Sklavin bei den Frauen des
Offiziers wohl aufgehoben und ſchon in chriſtlicher Tracht
einhergehend, das dunkle Haar nach Art der portugieſiſchen
Mägde beſcheiden geflochten und aufgebunden. Es wollte
ihm beim erſten Anblick faſt vorkommen, als hätte ſie
mit der einfachen Weidenkrone und dem weißen Wickel¬
gewande einen guten Theil ihres geheimnißvollen Reizes
verloren, und er bedauerte beinah' ſchon die Umwandlung;
doch ſah er bald, daß die unſchuldige und welturſprüngliche
Demuth ihres Antlitzes, verbunden mit dem natürlich
edlen Gang, der ihr eigen war, jedes Kleid beherrſchten,
das man ihr geben konnte. Während des Verkehrs mit
Annachinga hatte er dieſe einmal beiläufig, wie man ſich
etwa aus Höflichkeit über die Beſchaffenheit eines Ge¬
ſchenkes bei dem Geber erkundigt, befragt, welcher Race
[314] die Sklavin eigentlich angehöre und woher ſie dieſelbe
erhalten habe. Er ſprach überdies vorſichtiger Weiſe in
dem Tone, mit welchem ein Fant ſich nach der Nahrung
eines geſchenkten ſeltenen Vögelchens erkundigt, ob man
es mit Würmern oder mit Körnern füttere u. ſ. w.
Annachinga ſagte ihm, die Perſon ſtamme von Sonnen¬
aufgang her, wahrſcheinlich von einem ausgerotteten Volke,
und ſei mit ihrer Mutter auf dem Wege der Eroberung
und des Handels quer durch den Welttheil bis gegen
Weſten gerathen. Sie ſelbſt habe ſie als zehnjähriges
Kind erhalten und ſeither beſeſſen; jetzt möge ſie ſiebzehn
Jahre alt ſein; ſie verſtehe weiße und bunte Zeuge zu
weben, ſonſt aber ſei ſie noch zu roh und unwiſſend, da
ſie noch nie aus Frauenhand gekommen. Sie ſchicke ſich
am beſten für den Dienſt ſeiner Gemahlin oder Fürſtin,
der er ſie ſchenken möge; die Art ſei immerhin rar ge¬
worden. Wolle er ſie aber bei ſich behalten, ſo ſolle er
ſie nur mit der Peitſche dreſſiren, wenn ſie zu ungelehrig
ſei. Im Uebrigen habe man noch nichts an ſie gewendet
hinſichtlich der modegerechten Aufſtutzung; noch ſeien die
üblichen Zähne nicht ausgebrochen, die Wangen nicht
tätowirt und noch kein Ring durch die Naſe gezogen, zu
was allem das Alter jetzt da ſei.
Höflich, aber leichthin, der Geringfügigkeit des Gegen¬
ſtandes entſprechend, dankte Don Correa der Dame für
ihren ſportmäßigen Rath und nahm das Geſpräch über
die wichtigeren Staatsgeſchäfte wieder auf.
[315]
In Loanda fand er jetzt die Angaben der Annachinga
durch das, was man inzwiſchen der Sklavin hatte ab¬
fragen können, ſo ziemlich beſtätigt. Sie erinnerte ſich
dunkel, als kleines Kind ſteinerne Häuſer an einem
Waſſer geſehen und einen großen Lärm und Rauch erlebt
zu haben, dann an der Hand oder auf dem Arm der
Mutter durch unendliche Landſtrecken gekommen zu ſein,
bis die Königsſchweſter von Angola Mutter und Kind
gekauft. Deutlicher war ihr das ſpätere gegenwärtig,
wie die Mutter von der Fürſtin hart behandelt worden
und frühzeitig geſtorben ſei. Sonſt wußte ſie von nichts
weiter, als daß ſie Zambo hieß.
Das nächſte, was der Admiral nun that, war, daß
er ſie taufen ließ und hiefür ein kleines Feſt veranſtaltete,
ohne im übrigen ſein Vorhaben zu verrathen. Die Kirche
wurde mit Palmenzweigen und Blumen geſchmückt, unter
dem Vorwande, dieſen erſten Sieg über das noch zu
unterwerfende Königreich zu feiern, und der Altar
flimmerte von Lichtern. Ein Dutzend Jeſuiten ſangen und
muſizierten während des Hochamts gleich hundert Nachti¬
gallen, und der dreizehnte hielt die Predigt, in welcher
er die erbauliche Vorſtellung ausmalte, daß Zambo ein
letzter Nachkomme der weiſen Königin von Saba ſei und nun
erſt das Heil erworben habe, das dieſe merkwürdige Vor¬
fahrin im alten Teſtamente bei den Juden vergeblich geſucht.
Don Correa ſelbſt war der Taufpathe und die vor¬
nehmſte Frau in Loanda die Pathin, als die Handlung
[316] nun vollzogen und Zambo mit dem Namen Maria getauft
wurde. Sie ließ alles mit ſanfter Ergebung über ſich
ergehen ohne den Mund zu verziehen; erſt als die Taufe
vorüber war und ſie an den Altar geführt wurde, um
ſich noch beſonders der großen Namenspatronin vorzu¬
ſtellen und das Knie vor ihr zu beugen, richtete ſie das
Auge ſchüchtern auf das hölzerne Marienbild, welches
nach Vertreibung der ketzeriſchen Holländer in neuem
Glanze aufgerichtet war, die Krone friſch vergoldet, das
Geſicht ſo ſtark gefirnißt, daß es glänzte wie ein Spiegel
und die linke Wange wirklich das daran gedrückte Näschen
des Chriſtusbildes abſpiegelte. Weil die Wange aber
rundlich gewölbt war, ſo erſchien das Näslein darin ſo
groß, daß die Zambo-Maria vermeinte, es wohne ein
Mann in der durchſichtigen Frau, der ſeine Naſe heraus¬
ſtrecke, und da ſie überhaupt noch nie ein derartiges
Bildwerk geſehen, ſo hielt ſie es für einen lebendigen
Zauber und fing ſich gewaltig an zu fürchten. Zitternd
raffte ſie ſich auf und ſuchte zu entfliehen. Sie fand
aber wegen der vielen Umſtehenden keinen Ausweg und
flüchtete an die Seite des Don Correa, in welchem ſie
ihren Beſchützer ſah, und deutete mit der Hand nach dem
leuchtenden goldenen Weiblein, in welchem ein Geiſt ſtecke,
der größer ſei als es ſelbſt. Alles drängte ſich herzu,
um zu ſehen und zu hören, was ſich mit der neuen
Chriſtin begebe, und man ſuchte ſich gegenſeitig verſtändlich
zu machen, was ſie geſagt habe.
[317]
Auf einmal ertönte die laute Stimme eines der
Prieſter, der rief: „Wunder! Wunder! Ein großes Heil
iſt geſchehen! Der Herr iſt eingekehrt in ſeine irdiſche
Wohnung, in ſein liebliches Pavillon und Sommer¬
häuschen! Er will die erſte Heidin ſehen, die wir hier
getauft haben!“
Alles blickte ſtarren Auges auf das Altarbild, auf
welches die Zambo gedeutet hatte, und bald rief hier, bald
dort Einer aus der Menge: Ich ſeh' es auch! Ich ſeh'
es auch! ohne daß Jemand wußte, was eigentlich zu
ſehen ſei. Die Jeſuiten, ſchnell gefaßt, die günſtige
Gelegenheit zu packen, ſchlugen alle weiteren Erörterungen
mit einem mächtigen Tedeum nieder, das ſie anſtimmten
und in welches alles Volk einfiel. Dann ergriffen ſie
die Neugetaufte und führten ſie mit Kreuz und Fahne
in Proceſſion in der Kirche und um die Kirche herum,
unter geſchwungenen Räucherfäſſern und fortwährend ihr
Ora pro nobis ſingend. Immer mehr Volk lief herbei,
und in kurzer Zeit war ſie ihrem Herrn und Beſchützer
abhanden gekommen und unſichtbar geworden; denn man
ſchleppte ſie auch noch in den Straßen herum und in
verſchiedene Häuſer hinein, wo man ſich an ihrem Anblicke
erbauen wollte.
Endlich ging Don Correa, ſie zu ſuchen, und holte
ſie aus dem dickſten Haufen Leute heraus, wo ſie ſich
erſichtlich voll Furcht und Angſt befand, da ſie gar nicht
wußte, was Alles zu bedeuten habe, und zu glauben be¬
[318] gann, ſie ſolle jenem kleinen glänzenden Weiblein zum
Opfer gebracht d. h. getödtet werden; denn ſie hatte in
den ſchwarzen Königreichen geſehen, daß zum Opfern be¬
ſtimmte Menſchen ſo umher geführt wurden. Sie klammerte
ſich daher an Correa's Arm, ſobald er ſie erreichte und
ihre Hand nahm. Die Jeſuiten waren jedoch nicht
Willens, auf ihre Eroberung ſo leicht zu verzichten, indem
ſie behaupteten, Zambo-Maria müſſe dem Himmel geweiht
werden und in der Hut der Kirche bleiben. Er werde
das Nöthige ſchon beſorgen, rief der mächtige Befehls¬
haber; zunächſt ſei die Perſon noch ſein Eigenthum und
ſein Pathenkind, das jetzt einem kleinen Taufeſchmaus bei¬
wohnen und einige Geſchenke empfangen müſſe. Deſſen
ungeachtet murrte und ſträubte ſich die Menge, das
Wunder fahren zu laſſen, und es bedurfte des entſchloſſenen
Auftretens Correa's, das zitternde Weib frei zu machen.
Er ließ ſie von ſeinem Pagen begleitet voran gehen und
ſchritt mit einigen ſeiner Kriegsleute hinterdrein. So
begaben ſie ſich nach einem kleinen Landhauſe, das er in
Loanda bewohnte; die Frau Pathin war inzwiſchen mit
ihrer Begleitung ſchon dort angekommen, da ſie ſchon
früher aus dem Gewühle entflohen war, und die nicht
zahlreiche Geſellſchaft nahm an dem gedeckten Tiſche Platz,
nachdem der in Unordnung gerathene Anzug des Täuflings
von den anweſenden Frauen wiederhergeſtellt worden.
Zambo ſaß zwiſchen der Pathin und ihrer bisherigen
Pflegerin. Sie war mit einem weißen Schleier und einem
[319] mit rothen Roſen durchflochtenen Myrthenkranze geſchmückt,
wodurch das helldunkle Geſicht und der von goldenem
Kettchen umgebene Hals eine Wirkung von ungewöhnlichem
Reize machten.
Don Correa, der ihr gegenüber ſaß, mußte ſich etwas
zuſammennehmen, ſie nicht zu oft anzuſehen, nicht nur
der anweſenden Frauen, ſondern auch des Geiſtlichen wegen,
der ſie getauft hatte und ebenfalls zugegen war. Obgleich
die braune Marie ſchon einigermaßen an das abendländiſche
Tiſchgeräthe gewöhnt war, vermochte ſie doch nicht zu eſſen;
denn der Wechſel der Eindrücke, die ſie ſo raſch nach ein¬
ander empfangen, bedrückte ihr Herz. Sie glaubte ſich
wol der Gefahr entzogen und fühlte auch, obſchon ſie
nicht ein Wort der Tiſchgeſpräche verſtand, man rede
freundlich von ihr; doch ihre neue Lage, Umgebung
und Zukunft erſchienen ihr ſo gänzlich fremd und un¬
bekannt, daß die Regloſigkeit ihrer Seele eher zu- als
abnahm. Erſt als Don Correa eigenhändig einen Teller
mit ſüßen Früchten und portugieſiſchem Backwerke füllte
und ihr denſelben hinüberreichte, fing ſie gehorſam und
ehrfürchtig an zu naſchen und aß den Teller tröſtlich leer.
„Ei ſeht,“ ſagten die Frauen, „wie gut ſie dem gütigen
Herren zu gehorchen verſteht! Wahrhaftig, ſeine Gnaden
haben eine Eroberung gemacht!“
Als nun Alles über den unverſehens leer gewordenen
Teller lachte, ſchaute Maria verwundert um ſich und
lachte auch. Noch Niemand hatte ſie lachen ſehen und
[320] Alle waren erſtaunt über den Liebreiz, welcher ſich wie
aus dem Himmel geholt ſo unerwartet über die fremd¬
artigen Geſichtszüge verbreitete und eben ſo ſchnell wieder
verſchwand, als ſie beſchämt die Augen niederſchlug.
Unterdeſſen war die Dämmerung hereingebrochen und
die Geſellſchaft erging ſich nach aufgehobener Tafel noch
einige Zeit im Freien, um die wohlthuende Nachtluft zu
genießen, welche Meer und Land balſamiſch kühlend um¬
floß. Ueber den Geſprächen der zerſtreut auf und nieder
gehenden Leute blieb die Zambo oder Maria unbeachtet,
wie es ſo zu geſchehen pflegt, nachdem der Menſch ſein
beſcheidenes Theil Aufmerkſamkeit erregt hat. Sie ſtand
abſeits unter einer Gruppe hoher Palmenbäume, an einen
der Stämme geſchmiegt, und blickte unverwandt nach
Weſten, wo die Sichel des untergehenden Mondes über
dem Meere glänzte, und zwar ſo ſtark, daß die Palmen
ihren Schatten warfen. Die äußerſte Kante des großen
goldenen Geſtirnes ſchimmerte noch extra im fernen
Sonnenlicht gleich einem blitzenden ſchmalen Ringe, wäh¬
rend Zambo's ſcharfes Auge zugleich die nach dem Innern
des Ringes hin allmälig verſchwimmenden Gebilde wahr¬
nahm, die von dem Lichte ſchwächer getroffen, ihr aber
vertraut waren. Stets aber hing das Auge wieder an
dem blitzenden Ringe. Es war die letzte Ueberlieferung
eines wahrſcheinlich ſchon ſeit tauſend Jahren unterge¬
gangenen Cultus, welche in dem Mädchen von der alten
Heimath oder der todten Mutter her noch dämmerte;
[321] vielleicht wendete ſie ſich, ohne es zu wiſſen, noch einmal
der verſchollenen Selene zu, ehe ſie der goldenen Göttin
folgte, an deren Altar ſie heute geſtanden, kurz, ſie ſtreckte
wie um Schutz flehend die Hand nach dem Geſtirn aus.
Da faßte Jemand ſänftlich dieſe Hand; es war Don
Correa, der vorſichtig an ſie herangetreten und ihr die¬
ſelbe Hand auf den Mund legte, zum Zeichen, daß ſie
ſchweigen ſolle. Dann ſtreifte er einen ſchimmernden Ring
an ihren Finger und küßte ſie ſchnell auf den Mund,
worauf er ebenſo ungeſehen hinweg ſchritt, als er gekommen
war. Bald nachher ging die kleine Geſellſchaft auseinander
und Zambo kehrte mit ihrer Beſchützerin in deren Be¬
hauſung zurück.
Am nächſten Tage ſchon ließ der Admiral zwei ſeiner
Schiffe unter Segel gehen, die er nicht mehr brauchte,
und ſandte ſie mit Depeſchen, das eine nach Braſilien,
das andere nach Portugal. Auf demjenigen, das nach
Braſilien ging, hatte er in der Frühe bereits die Zambo
nebſt einer Dienerin untergebracht und dem Befehlshaber
auf die Seele gebunden. Die Schweſter ſeiner längſt
verſtorbenen Mutter lebte in Janeiro als Aebtiſſin
eines Conventes von Dominikanerinnen. Dieſer anver¬
traute er die Zambo mit einem Briefe, worin er die
vornehme Kloſterfrau bat, das getaufte Heidenkind in den
klöſterlichen Schutz aufzunehmen, mit chriſtlicher Sitte und
guter Lebensart bekannt zu machen und es aber für die
Rückkehr in die Welt bereit zu halten, alles unter Zu¬
Keller, Sinngedicht. 21[322] ſicherung ſchuldiger Dankbarkeit und gewünſchter Gegen¬
dienſte.
Die Abfahrt der Schiffe war freilich ſchon früher be¬
ſtimmt geweſen; die Einſchiffung der Zambo aber hatte
er ganz plötzlich und raſch betrieben, und als die Jeſuiten
ihre Speculationen auf die Wunderperſon an dieſem Tage
weiter ausarbeiten und vor allem nur die Viſionärin in
Sicherheit bringen wollten, fuhren die Schiffe längſt außer
Sicht, und der zukünftige Wallfahrtsort an der Weſtküſte
des Welttheils verwandelte ſich einſtweilen in ein Luft¬
ſchloß und iſt es auch geblieben.
Zambo-Maria ſelbſt wußte am wenigſten, was mit
ihr vorging. Als der Admiral ſeine letzten Anordnungen
auf dem Schiffe getroffen und daſſelbe verließ, hatte er
ſich zum Abſchiede nicht länger bei ihr aufgehalten, als
bei anderen Nebenperſonen, und kaum ihre ſchmale braune
Hand einen Augenblick in die ſeine genommen und ge¬
ſtreichelt, indem er ſeinem guten Taufpathchen, daß es
Jeder hören konnte, ein par gewöhnliche Worte der
Aufmunterung ſagte, dann aber ſich abwendete und nicht
mehr umſah. Das Naturkind ſchien aber die Hauptſache
ſchon ſoweit zu verſtehen, daß ſie die par leichten Lieb¬
koſungen, die ſie von ihm erfahren, ſowie das Geſchenk
des Ringes ſorgfältig bei ſich behielt, obſchon die Frauens¬
perſonen bereits das eine und andere Wort mit ihr aus¬
tauſchen konnten und ſie ſchon auf dem Schiffe ein weniges
portugieſiſch plaudern lernte.
[323]
In der Zeit waren auch die Unterhandlungen mit dem
Königreich von Angola zu Ende geführt und die Fürſtin,
wie geſagt, mit ihren Leuten abgezogen. Die Schlauheit
und Beredtſamkeit der ſchwarzen Diplomatin konnte nicht
hindern, daß ihr Bruder doch als Vaſall der Krone Por¬
tugals betrachtet und ſchließlich Don Correa zum Regenten
in Angola ernannt wurde. Er regierte das Königreich
mehrere Jahre.
Mit Ablauf des erſten Jahres aber fuhr er nach
Rio de Janeiro hinüber, um das Kleinod heimzuholen,
das er dort aufgehoben wußte, und Hochzeit zu halten.
Zur Belohnung für ſeine Thaten hatte der König unter
anderm ſeinem Wappen zwei Negerkönige mit goldenen
Kronen als Schildhalter beigegeben. Dieſe Figuren wid¬
mete er der zukünftigen Gattin als Zierat, indem er ſie
auf Geräthe, Schmuck und Tapezerei, die er in den euro¬
päiſchen Fabriken beſtellte, überall anbringen ließ. Noch
auf dem Schiffe, als es in den Hafen von Rio de Ja¬
neiro einlief, entwarf er in Gedanken ein Gemälde, das
er beſtellen wollte, auf welchem Zambo-Maria in der
Tracht einer Königin von Saba getauft wurde und die
zwei Mohrenkönige das Taufbecken hielten. Als er aber
das Kloſter der Dominikanerinnen betrat und im Sprech¬
zimmer ſtand, um ſeine Frau Tante, die Aebtiſſin, nach
dem jungen Weibe zu fragen, ſagte ihm die nach der
Begrüßung mit trockenen Worten, die braune Perſon ſei
vor kurzen Tagen fortgelaufen und verſchwunden.
21*[324]
Don Correa erblaßte und ſtand wie vom Blitze ge¬
troffen. Der erſte Gedanke ſodann war nicht etwa ein
Fluch auf die Entflohene, ſondern auf die eigene Thorheit.
„Warum haſt du die arme Creatur nicht bei dir be¬
halten“, ſagte er ſich, „und gleich geheirathet wie ſie war!
Jetzt wird ſie zu Grunde gehen!“
Er fragte die Nonne, ob man denn keine Vermuthung
hege, was ſie zur Flucht bewogen und wo ſie ſich hin¬
gewendet habe? Jene verneinte Alles und meinte, der
Admiral möge, wenn ſo viel an dem Weibe gelegen ſei,
ſie jetzt ſelbſt aufſuchen laſſen, wozu er mehr Macht und
Mittel beſitze, als ſie. Erſt jetzt ging er in ſein altes
Wohnhaus zu Rio, das er zur Hochzeit einzurichten ge¬
dacht hatte. Er fand ſchon manche Kiſte mit angekom¬
menen Sachen vor; aber ſtatt ſie zu öffnen, ſandte er
nach allen Seiten Leute aus, die Spur der Verſchwun¬
denen zu ſuchen, und machte ſich ſelber auf den Weg, voll
Erbarmen mit ihrer Rathloſigkeit. Auch war die anfäng¬
liche Liebeslaune, die ihn beim erſten Anblick nach ſo
langem Unterbruche befallen, zeither zu einer inneren
Neigung erwachſen, zu einem tieferen Bedürfniſſe, dieſer
Menſchenſeele außerhalb des Weltgeräuſches ſo recht für
ſich gut zu ſein, und er fragte ſich, als er fruchtlos nach
ihr ausſchaute, ob er ſich mit ſeinen äußerlichen und
luxuriöſen Anſtalten und Beſtellungen nicht gegen die
Einfachheit des unſchuldigen Weſens verſündigt und es
zur Strafe dafür nun verloren habe. Er erinnerte ſich,
[325] wenn der Ausdruck bei einem ſolchen Herren und Kriegs¬
manne überhaupt angebracht iſt, ſchmerzlich des pomp¬
haften Empfanges, den er dem böſen Weibe von Cercal
einſt bereitet, und welch' trauriges Ende jene glänzenden
Vorbereitungen genommen.
Von dem Verlangen getrieben, über das Weſen und
Leben der Zambo im Kloſter Näheres zu erfahren, eilte
er wieder hin und befragte die Stiftsvorſteherin eifrig
und ſogar mit einer gewiſſen Heftigkeit, die über den
Rang und Stand des Mannes, wie über die Tragweite
der Sache faſt hinauszugehen ſchien. Die alte Dame
mit ihrem goldenen Kreuz auf der Bruſt ſah ihn
aus wohlgenährten Augenlidern blinzelnd aufmerkſam an
und erzählte dann ſehr gelaſſen nur Gutes von der
Negerin, wie ſie die Maria nannte, trotzdem ſie offenbar
keine war. Sie habe die portugieſiſche Sprache ſchon
ziemlich brauchen gelernt, ſich ſtill und gehorſam verhalten
und gern mit den weiblichen Arbeiten beſchäftigt.
„Welche Arbeiten?“ fragte Ton Correa, der wußte,
daß die Damen in dieſem Stifte ſo wenig etwas thaten,
was man arbeiten nennen konnte, als diejenigen außer¬
halb desſelben. Er fürchtete daher, das Mädchen möchte
zu niedrigen Arbeiten, wo nicht zum Sklavendienſte ge¬
braucht worden und vielleicht deshalb entflohen ſein. Allein
die Aebtiſſin fuhr ausweichend fort, allerlei Vortheilhaftes
von dem verſchwundenen Kinde zu bekunden, und dem
Herrn wurde es nur immer bitterer und faſt traurig zu
[326] Muth, als er das Alles anhörte. Die Alte aber ſchloß
mit den Worten: „Item, man hätte nicht gedacht, daß ſie
ſo ſchnöde weglaufen würde!“
Mit verworrenen Gedanken ging er endlich wieder in
ſeine Wohnung, um ſich nur etwas zu ſammeln. Denn
er, der ſonſt in Entſchluß und That nie zu zögern pflegte,
ſah ſich dieſem Geheimniſſe gegenüber durchaus ohnmächtig
und unentſchloſſen. Die Dienſtverhältniſſe erlaubten ihm
nicht, lang in Rio de Janeiro zu verweilen; verließ er
aber die Stadt und das Land, ſo verlor er jede Hoffnung,
die Zambo doch noch zu finden, und der Mann, der Land
und Leute zu erobern gewohnt war, ſah ſich außer Stand,
das unſchuldigſte und beſcheidenſte Heirathsproject aus¬
zuführen.
Als er in ſolchen düſteren Betrachtungen das Haus
erreicht hatte und eben in ſeinem Cabinette Degen und
Handſchuhe auf den Tiſch warf, kam ſein Page Luis vor¬
ſichtig hereingeſchlüpft, ihm eine merkwürdige Nachricht
zu bringen. Es war ein vierzehnjähriger aufgeweckter
Knabe und ſeinem Herrn ſo ergeben und vertraut, daß
dieſer ihn für ſicherer und zuverläſſiger hielt, als alle
anderen Diener, und ihm auch ſonſt wegen ſeines an¬
muthigen Weſens herzlich wohl wollte. Luis hinter¬
brachte alſo nun, als er ſo von ungefähr in der Straße
geſchlendert ſei, habe ihn die Frau des Nachbars, eines
alten franzöſiſchen Schiffsherrn, die für eine heimliche
Proteſtantin gelte, herbeigewinkt und ihm hinter der
[327] Hausthür zugeflüſtert, er ſolle ſeinem Don ſagen, ſie könne
ihm den Ort nennen, wo Se. Excellenz finde, was ſie
ſuche; man möge nur, ſobald es dunkel ſei, einen Augen¬
blick in die Veranda hinter ihrem Hauſe kommen. Don
Correa verfehlte den Gang nicht und vernahm von der
muntern Alten, nachdem er ihr Verſchwiegenheit und
Schutz zugeſichert, daß ſeine Zambo vor unlanger Zeit
auf einem nach Marſeille gehenden Schiffe ihres Mannes
in ein Kloſter zu Cadix gebracht worden ſei. Ueberdies
wußte ſie, daß es ſich darum handle, das Mädchen zu
einer Art von Wunderthäterin und Heiligen zu machen,
daß es widerſtanden hatte, mit Blutrünſtigkeiten Stirn
und Hände verzieren zu laſſen und eine heilige Blut¬
ſchwitzerin zu werden; ja, der Alten war ſogar bekannt,
daß dem bräunlichen Frauenzimmer ein Verlobungsring
vom Finger geſtreift und weggenommen worden ſei. Einen
Theil dieſer Dinge hatte ſie auf ganz geheimem Wege
durch eine Flamänderin erfahren, die in dem Kloſter als
Bäckerin angeſtellt war und dir Alte bisweilen beſuchte.
Don Correa erkannte ſogleich die Wahrheit der An¬
gaben und dankte der Frau dafür, ſie bittend, auch ihrer¬
ſeits die Sache geheim zu halten. Ein ſtiller Grimm
erfüllte ihn trotz ſeiner katholiſchen Geſinnung gegen die
Jeſuiten, die offenbar von Afrika aus über ſeinen Kopf
hinweg die Hand im Spiele hatten, und nicht minder er¬
wachte ſein Zorn gegen die verlogene Prälatin, ſeine
Muhme. Dieſe vermuthete in der That nicht mit Unrecht,
[328] daß der Neffe wieder einmal einen wunderlichen Heiraths¬
ſtreich im Schilde führe, und hatte um ſo größere Urſache,
ihn daran hindern zu helfen, als ſie längſt mit einer
rühmlicheren Verbindung für ihn beſchäftigt war und nur
auf den Augenblick lauerte.
Der Admiral und Regent oder Vicekönig von Angola
legte ſich noch in der gleichen Nacht den Vorwand zurecht,
die Reiſe nach Europa auszudehnen und am Hofe zu
Liſſabon über den Stand und die Zukunft der afrikaniſchen
Angelegenheiten perſönlich zu berichten, und am nächſten
Tage ging er mit zwei Schiffen oſtwärts unter Segel,
ohne das Ziel der Fahrt bekannt zu machen. Mit großer
Ungeduld ſah er die Tage und Wochen vergehen, obgleich
er mit dem günſtigſten Wind und Wetter ſegelte, und als
er endlich in den Golf von Cadix abbiegen konnte, fand
er die Bai und den Hafen durch Wachtſchiffe verſchloſſen,
weil die Peſt in der Stadt hauſte.
Dieſer neue Unſtern ſteigerte ſeinen Unmuth und die
Beſorgniß für die arme Zambo auf's Höchſte, zum Glück
aber auch ſeine Beſonnenheit. Da er wegen der auf ihm
laſtenden Verantwortung ſowie bei der ſicheren Nutzloſig¬
keit überhaupt nicht daran denken konnte, ſeine Perſon
auf ſpaniſchem Boden auszuſetzen, beſchloß er, vorerſt die
Fahrt nach Liſſabon zu beendigen und nur den Knaben
Luis auf Kundſchaft zu ſchicken. Er vertraute demſelben,
der die Zambo kannte und von ihr gekannt war, ſein
Geheimniß ganz an, ließ ihn das Gewand eines zerlumpten
[329] Schifferjungen anziehen und verſah ihn reichlich mit Geld,
worauf er ihn ſüdlich von der Bucht bei der St. Peters¬
inſel in der Dunkelheit der Nacht an den Strand bringen
ließ. Mit aller Verwegenheit und Begeiſterung eines
romantiſchen Knaben und der Freiheit froh, verlor ſich
der kluge Burſche landeinwärts, indeſſen Don Correa
bald nachher auf das Cap St. Vincent losſteuerte, um
den Weg nach Liſſabon vollends zurückzulegen. Von dort
aus dachte er dann mit oder ohne Nachricht des Knaben
weiter vorzugehen.
Es dauerte keinen Tag, ſo trieb ſich Luis mit einer
Schachtel voll indianiſcher Schnurrpfeifereien in der Stadt
herum und bot überall ſeinen Kram zum Verkaufe an, wurde
aber allenthalben weiter geſchickt, hier mit dem Unwillen
Derer, welche Peſtkranke oder ſchon Todte hatten, dort
mit dem Gelächter und den Flüchen des geſund gebliebenen
Pöbels, der ſich zechend, tanzend und ſingend in Schenken
und auf öffentlichen Plätzen herum trieb. Luis ließ ſich
aber Nichts anfechten, ſondern durchwanderte die Stadt
die Kreuz und Quere, bis er auf ein Nonnenkloſter ſtieß,
welches dem Dominikaner-Orden angehörte. Es beſtand
aus einem Haufen alter Gebäude und hoher Mauern,
die da und dort mit ſarazeniſchen Fenſterlöchern durch¬
brochen waren. Natürlich war ihm der Eintritt ſo
verſchloſſen, wie jedem andern Mannsbilde; nur in
die Kirche konnte er eintreten und bemerkte dort, daß
der Gottesdienſt ungeregelt abgehalten wurde und das
[330] Innere des Kloſters ſo voll Unruhe war, wie die übrige
Stadt.
In der Herberge, die er aufgeſucht, kaufte er von der
Tochter eines plötzlich verſtorbenen Bauers einen kleinen
Eſel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬
rock und ein zerriſſenes Kopftuch; dann belud er den Eſel
mit einem Korbe voll friſcher Orangen, ſchwang ſich ſelbſt,
als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Eſels
und ritt gemächlich in der Richtung des Kloſters davon.
In dieſem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬
zudringen, deſſen Thüre ſich juſt geöffnet hatte, um einen
Arzt einzulaſſen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬
loſigkeit herrſchte, indem die Aebtiſſin ſoeben von der
Krankheit ergriffen worden, ſo trieb die angebliche Orangen¬
dirne ihren Eſel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige
Kloſterfrauen ängſtlich ſpazieren gingen. Da fing er an,
ſeine Früchte auszurufen und einen ſolchen Lärm zu
machen als ein kreiſchendes Landmädchen, daß bald mehrere
Nonnen herbei kamen und um den Eſel herum ſtanden.
Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der
ſchlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der ſchlechten
und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬
lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und
ſich die kleine Erfriſchung zu verſchaffen. Einige ſuchten
ſich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem
ſie dieſelben in der Hand wogen und an die Naſe brachten,
und inzwiſchen ließ Luis ſeine Augen verſtohlen herum¬
[331] gehen, ob er nirgends die Zambo erblicken könne. Und
das Glück wollte, daß es geſchah. In einiger Höhe ſchauten
hinter einem hölzernen Gitter zwei Frauengeſichter her¬
unter, wovon das eine, noch im weltlichen Haarſchmuck
und ohne Schleier, niemand Anderem als der dunkeln
Zambo angehörte.
Kaum hatte Luis ſie erkannt, ſo trieb er unvermerkt
den Eſel näher, bis das graue Thierchen unter dem Fenſter
ſtand; und nun fing Jener aus Leibeskräften an zu rufen:
„Kauft, hochwürdige Damen! Kauft friſche Orangen für
den Durſt! Sie ſind geſund, wie die Aerzte ſagen, und
preiswürdig! Für ein halbes Soundſoviel und ein viertel
Nichts dazu kann ich drei Stücke geben! Kauft, gnädige
Frauen, und erlabt Euch, ſo vergeßt Ihr die Gefahr!
Das Neueſte iſt, daß Niemand in den Hafen von Cadix
einfahren darf, der aus der Ferne herkommt. Nehmt die
Orangen geſchenkt, fromme Frau Mutter! Geſtern mußte
der Vicekönig von Angola, der berühmte und prächtige
Don Salvador Correa, der tapfere Erſtürmer ſo vieler
Feſtungen, unverrichteter Dinge aus unſerem Gewäſſer
abziehen. Ich ſah ſeine Schiffe; er ſei nach Liſſabon
gefahren, heißt es, und werde einige Zeit ſich dort auf¬
halten! Er ſoll ein gar ſchöner und ſtolzer Herr ſein,
ſagt man; aber ſolche Leute ſind oftmals die allerleut¬
ſeligſten mit denen, die ihnen gefallen! Kauft mir die
Orangen ab, ſo kann ich nach Hauſe!“
Alles das rief der kecke Burſche ſo vernehmlich als
[332] möglich, mit dem Geſichte ſo gewendet, daß die Zambo
ihn ſehen und hören mußte. Kaum hatte er auch den
Namen Don Correa in die Lüfte geſendet, ſo horchte ſie
auf und verwandte kein Auge mehr von ihm, bis ſie
plötzlich ſein Geſicht erkannte und ein Freudeſtrahl in ihren
Augen aufleuchtete.
In dieſem Momente trat aber eine lange Priorin
oder Chormeiſterin, oder dergleichen hervor, die ſagte:
„Was ſchreit und klatſcht denn die Dirne? Wie kommt
ſie in den Garten herein, und was weiß und hat ſie von
einem Vicekönig zu plaudern?“
Und ſie ſchritt noch näher heran und ſtreckte die dürre
Hand, an welcher ein Paternoſter hing, nach dem Rock¬
ärmel des verkleideten Pagen aus, der aber inzwiſchen
ſchnell zu bewerkſtelligen wußte, daß der Eſel hinten aus¬
ſchlug, der Korb auf den Boden fiel und die Orangen
umher rollten. Während ein Theil der Nonnen nach den
Orangen lief, der andere vor dem ausſchlagenden Eſel
floh, machte Luis mit aufgeſchürztem Rocke, daß er aus
den Kloſterräumen hinauskam, und rannte mit langen
Schritten durch lauter Nebengaſſen davon. In der Her¬
berge angekommen, wechſelte er unbemerkt die Kleider,
bezahlte den Wirth mit erlöſten Kupfermünzen und ver¬
ſtelltem Feilſchen, ging unverweilt aus der Stadt und
wanderte, bis er den nächſten Hafenort erreichte, wo er
eine Fahrgelegenheit nach Liſſabon fand.
So glücklich, wie wenn er den ſchönſten Vogel im
[333] Garn gefangen hätte, überbrachte er ſeinem Herrn die
Nachricht von der wiedergefundenen Zambo-Maria, und
ſein fröhliches Geſicht hellte die düſteren Züge desſelben
auf. Don Correa fühlte ſich von einem Theile ſeiner
Sorgen befreit. Es beſtand kein Zweifel, daß die Nonnen
ſein nicht zu beſtreitendes Eigenthum herausgeben mußten;
damit aber eine nochmalige geheime Wegſchleppung un¬
möglich wurde, war es nöthig, ſie mit einem Regierungs¬
befehl zu überraſchen, der ihnen keine Zeit zu weiteren
Umſchweifen ließ. Correa war der Mann, einen ſolchen
Befehl auszuwirken; allein dazu erforderte es einige Zeit,
und während derſelben konnte die Zambo zehn Mal der
Peſt zum Opfer fallen. Und hinwieder verhinderten
wahrſcheinlich doch die Schrecken der tödtlichen Seuche die
Nonnen und Pfaffen, dem verlaſſenen Mädchen den Kopf
zu ſcheeren und den Schleier aufzuzwingen und den
übrigen Hokuspokus aufzuführen, da ſie zunächſt für ſich
zu ſorgen hatten. Genug, die Sorgen kehrten über dieſen
Widerſprüchen der Sachlage mit aller Schwere zurück,
und Don Correa ſchlug ſich abermals vor die Stirne aus
Zorn über ſich ſelbſt, daß er die Maria nicht gleichzeitig
mit der Taufe zur Gemahlin erhoben und bei ſich behalten
habe. Dennoch verſäumte er nicht, für die Ausſtellung
eines unzweideutigen Befehles bei der ſpaniſchen Ober¬
behörde die nöthigen Schritte zu thun, worin er von
ſeiner Regierung im Stillen gehörig unterſtützt wurde.
Allein es verging eine Woche nach der andern, ehe das
[334] Decret da war, und damit verfloß auch die Zeit, welche
er bei allem Anſehen, deſſen er genoß, in Europa zu¬
bringen konnte.
Eines Abends ſpät ging er in ſeinem Gemache nach¬
denklich auf und ab und überlegte ſich, ob es ſeiner
würdig ſei, in dieſer Weiberfrage ſo viel Weſens zu
machen und ſo viel Aergerniß zu dulden, und ob das
Bedürfniß und Project, ſich ein ſo ſtilles weiches Ruhe¬
bett in der Häuslichkeit zu bereiten, überhaupt vor einem
höheren Urtheile zu rechtfertigen ſei. Der Page Luis
ſaß an dem Tiſche in der Mitte des Zimmers, über eine
große Seekarte gebückt und halb in Schlummer verſunken;
denn der Admiral gab ihm ſelber Unterricht in der
Schifffahrtskenntniß und prüfte ihn zuweilen, was er
auch dieſen Abend gethan hatte, bis er durch den Haupt¬
gegenſtand, der ihn beläſtigte, ſelbſt zerſtreut wurde und
den Knaben außer Acht ließ. Die Kerzen des ſilbernen
Kandelabers, der die Seekarte mit ihren unbeholfenen
Gebilden beleuchtete, waren zur Hälfte herabgebrannt,
und die Stutzuhr auf dem Kamine zeigte die zehnte und
eine halbe Stunde.
„Ich bin nun ſechsunddreißig Jahre alt“, ſagte er
bei ſich, „und dürfte die Fackel des Eros füglich aus¬
löſchen! Wer Krieg führen und befehlen ſoll, muß reinen
Tiſch im Herzen und kühles Blut haben. Das Haus iſt
freilich zu erhalten; allein vielleicht wäre es am beſten,
dem Willen der Frau Muhme zu folgen und eine gleich¬
[335] gültige Dame in's Haus zu ſetzen, die den Staat macht
und uns kalt läßt! Und wäre es am Ende für die arme
Zambo nicht auch beſſer, wenn ſie vor den Stürmen des
Lebens geſchützt und zu einem frommen Nönnchen gemacht
würde?“
Hier wurde die Stille der Nacht unterbrochen durch
ein ſchüchternes Zeichen der Hausglocke, die in der weiten
Flurhalle des Palaſtes hing. Ein einziger Anſchlag ließ
ſich vernehmen, welchem ein ſchwächlicher Nachklang folgte,
der im Entſtehen abbrach und erſtarb. Don Correa
achtete nicht darauf und ſetzte ſeine Promenade fort. Wie
er aber doch alles bemerkte, was vorging, ſo ward er
nach ein paar Minuten inne, daß das Hausthor nicht
geöffnet wurde, ſondern Alles ſtill blieb und der Thor¬
hüter mithin ſchlafen oder abweſend ſein mußte. Nach¬
dem er erſt jetzt ein kleines Weilchen ſtillgeſtanden und
gehorcht hatte, trat er zu dem ſchlafenden Knaben, weckte
ihn und ſagte: „Es hat Jemand auf der Straße geläutet;
geh' hinunter und laß den Pförtner nachſehen, was es ſei!“
Als der Knabe aufſprang und ſofort hinauslaufen
wollte, rief der Herr noch: „Nimm hier den Leuchter
mit und komm' gleich wieder, ſo will ich ſo lange im
Dunkeln ſtehen!“
Es ſchien ihm aber doch etwas lange zu dauern; er
hörte die ſchweren Thorflügel nach einiger Zeit auf und
zu machen, aber es währte noch Minuten, bis die Schritte
des Knaben näher kamen, und er öffnete faſt ungeduldig
[336] die Zimmerthüre, um das vermißte Licht bälder zu ſehen
und den zögernden Pagen zur Eile zu mahnen. In der
linken Hand den Leuchter hoch empor haltend, daß ſein
hübſches Geſicht hell beſtrahlt wurde, führte Luis mit der
Rechten die Zambo oder Maria herbei, welche von den
Füßen bis zum Haupte vom Straßenſtaube bedeckt und
vor Müdigkeit wankend ihm folgte.
„Da iſt ſie von ſelbſt gekommen!“ rief der Knabe
mit triumphierender Freude über das treffliche Abenteuer.
Zambo dagegen fiel aus Erſchöpfung und Aufregung vor
den Admiral hin und umfing mit den Armen ſeine Füße,
während aus den zu ihm aufblickenden Augen große
Thränen quollen. In froher Ueberraſchung hob er ſie,
nun zum zweiten Male, von der Erde auf und ſein
Schlafrock von dunklem Sammet wurde vom Staube
weiß gefärbt. Gleich dem Vater des verlorenen Sohnes
eilte er ſelbſt, die weibliche Dienerſchaft aufzujagen und
ihr den nächtlichen Ankömmling zu jeglicher Pflege zu
übergeben und anzuempfehlen.
Dann erſt ließ er ſich von dem Pagen mittheilen, wo
er die Zambo gefunden. Luis erzählte mit glückſeligem
Eifer, daß er, ohne den Thorwärter zu wecken, vorläufig
nur die Klappe des vergitterten Guckfenſters geöffnet und
hinausgeſchaut habe. Da ſei eine müde Frauengeſtalt
draußen geſtanden, die ſich kaum aufrecht gehalten, und
als er durch das Gitter das Licht auf ſie gerichtet, ſei
es die gute Zambo geweſen. Nun habe er ſelbſt die Riegel
[337] zurückgeſtoßen, die Pforte aufgethan und die Frau, die
zitternd da geſtanden, gleich bei der Hand genommen und
hereingezogen zu ſeinem Hauptvergnügen; denn ſie habe
ihn erkannt und ſei augenſcheinlich etwas munterer ge¬
worden. Geſprochen hätten ſie kein Wort, als er das
Thor wieder geſchloſſen und den Kandelaber vom Boden
aufgenommen, wohin er ihn geſtellt, und auch als er ſie
die Treppe hinangeleitet, habe er nur ein paar Mal
lachend nach ihr umgeſchaut, um ihr ſozuſagen im Namen
Sr. Gnaden freundlich zuzunicken. Don Correa zahlte
dem Knaben ſeine Ausgaben ohne Verzug mit einem
Lächeln gütiger Zufriedenheit zurück und ſtrich ihm das
dichte lange Haar aus der Stirne, die es im bewegten
Eifer des Burſchen bedeckt hatte. Er blieb noch ſo lange
mit ihm wach, bis er die Meldung empfing, die Fremde
ſei mit allen nöthigen Erquickungen verſehen zu Bette
gebracht worden und in Schlaf verſunken. Dann ging
er ſelbſt den Schlaf zu finden, während der Page ſich
noch in der Küche herumtrieb und den Weibern, die mit
gegen die Hüften geſtemmten Armen und offenen Mäulern
um ihn herum ſtanden, über das Ereigniß allerlei
Schnaken vormachte.
Am nächſten Morgen fühlte ſich Zambo ſo gut erholt
und geſund, daß ſie vor dem Hausherrn erſcheinen und
ihre merkwürdige Wanderfahrt erzählen konnte. Die Peſt,
welche damals übrigens außer in Cadix nur an einem
einzigen Hafenplatze aufgetreten, hatte durch ein par
Keller, Sinngedicht. 22[338] raſch erfolgte Erkrankungen und den Tod der Vorſteherin
das Kloſter ſo erſchreckt und verwirrt, daß während
einiger Tage weder Hausordnung noch Ordensregel
geachtet wurde, die Pforten auf- und zugingen und Jeder
that, was er wollte. Dieſer Zuſtand verlockte die
Afrikanerin deſto unwiderſtehlicher, die Freiheit zu ſuchen,
um in ihr die Hand ihres Herren und die rechtmäßige
geliebte Unfreiheit wieder zu finden. Sie hatte deutlich
verſtanden, was der verkleidete Luis gerufen, und es für
ein Zeichen genommen, daß ſie ihren Gebieter aufſuchen
ſolle. Daher verließ ſie in einer Abenddämmerung ein¬
fach das Kloſter durch eine offen ſtehende Seitenthüre
und wanderte die Nacht hindurch um die Meerbucht von
Cadix herum und auf der Straße nach Norden, bis ſie
zur Stadt Sevilla gelangte. Sie trug noch etwas Geld
bei ſich verborgen, das ihr jetzt zu Statten kam, bald
aber zu Ende ging, weil ſie von den Leuten überall
übervortheilt und betrogen wurde, als ſie ihre Unerfahren¬
heit und Unkenntniß bemerkten. Sobald ſie aber nichts
mehr beſaß, erhielt ſie das Wenige, um das ſie aus
Hunger bat, um Gotteswillen. Von Sevilla aus fing
ſie an, nach der Stadt Liſſabon zu fragen und ging
unabläſſig in der Himmelsrichtung, die man ihr jeweilig
zeigte, über Ebenen und Gebirge und die Ströme und
Flüſſe hinweg, viele Tage, Wochen lang; denn die öfteren
Irrgänge verdoppelten die Länge des Weges. Trotz aller
Mühſal waltete ein freundlicher Stern über ihrem Haupte,
[339] was Don Correa leicht begriff, als er die ſchuldloſe
Anmuth und ernſten Züge mit neuem Wohlgefallen be¬
trachtete. Sie erreichte endlich die Umgebung der
portugieſiſchen Hauptſtadt mit Sonnenuntergang; bis ſie
nicht mehr zweifeln konnte, daß ſie in Liſſabon ſei, war
aber die Nacht ſchon vorgerückt, und ſie fragte nach der
Wohnung des Admirals, zu deſſen Haushalt ſie gehöre,
wie ſie mit gutem Inſtinkte ausſagte. Eine Scharwache
übergab ſie der andern, ohne ſie zu beleidigen, obgleich
den Leuten das Abenteuer ungewöhnlich vorkam. So
wurde ſie von einem Stadtviertel in's andere mitgeführt
und zuletzt einem alten Nachtwächter überlaſſen, der ſie
vollends vor den Palaſt des Admirals brachte, nachdem
er aus ihren Worten auf die Wahrheit ihrer Ausſage
geſchloſſen hatte. Da ſolle ſie an der Glocke ziehen, rieth
er, indem er ihr den eiſernen Griff zeigte und ſie dann
ſtehen ließ.
Dieſe Erzählung trug ſie allerdings nicht fließend vor;
ſie mußte ihr vielmehr ſtückweiſe abgefragt werden; dennoch
war Don Correa erfreut, die Zambo zum erſten Male
in ſeiner eigenen Sprache zuſammenhängend reden zu
hören und überdies nicht nur in ihren Worten, ſondern
auch in den von der Sprache belebten Zügen des dunkeln
Antlitzes das Licht eines guten Verſtandes wahrzunehmen,
gleich dem Morgenſchimmer, der einen ſchönen Tag ver¬
ſpricht. Freilich waren dieſe Züge bewegter als ſonſt,
weil auch ſie die erlernte Sprache ihres Beſchützers zum
22*[340] erſten Male ihm gegenüber hören ließ und ſich lange
darauf gefreut hatte.
„Wo haſt Du den Ring gelaſſen, den ich Dir ge¬
geben?“ fragte er ſie, ihre Hand ergreifend, wie wenn
er ihn ſuchte.
„Verzeih', Herr, man hat mir den Ring genommen!“
ſagte ſie mit geſenktem Blicke.
Er trat zu einem ſchweren Schranke, aus welchem er
ein mit Silber eingelegtes glänzendes Stahlköfferchen
holte, das er öffnete. Die darin liegenden Schmuckſachen
und Kleinodien mit einem Rucke durcheinander rüttelnd,
bis er einen Frauenring fand, hielt er denſelben einen
Augenblick gegen das Licht, wie wenn er ſich ein letztes
Mal den Schritt überlegte, den zu thun ſich ihm nochmals
die Wahl bot. Als er vor zwölf Jahren ausgezogen war,
die erſte Frau zu freien, hatte er in der Eile vergeſſen,
den Trauring ſeiner Mutter mitzunehmen, wie er ſich
vorgenommen. Jene dunkeln Vorgänge mit ihrer elenden
Täuſchung traten einen Moment vor ſeine Seele; doch
dünkte ihm der Umſtand, daß der unentweihte Ring jetzt
im rechten Augenblicke noch zur Hand war, ein günſtiges
Zeichen, und er ſteckte ihn der Zambo an den Finger,
daran der frühere geſeſſen.
Das Trauungsfeſt, welches er ohne Zaudern herbei¬
führte, machte trotz der verhältnißmäßig großen Einfachheit
ein allgemeines Aufſehen, obſchon kein ſo ſchreiendes, wie
es heutzutage der Fall ſein würde. Selbſt der König
[341] und die Königin ſandten Vertreter mit ihren Glück¬
wünſchen, und die Verſammlung war eine glänzende,
wenn auch nicht ſehr zahlreiche. Die Braut durfte ſich
trotzdem ſehen laſſen. Zambo war in einen ſchweren
weißen Seidenſtoff gekleidet, der in ſchmale Streifen mit
Goldfäden abgenäht worden. Der breite ſtehende Spitzen¬
kragen, der ſilberdurchwirkte Schleier und die in das
Haar geflochtenen Perlenſchnüre, das auf dem freien
Theile des Buſens liegende Diamantkreuz hoben ihre
dunkle oder vielmehr hellbraune Farbe wie etwas Selbſt¬
verſtändliches, ja Einzigmögliches hervor, und ihre an¬
geborene ſchlanke und gerade Körperhaltung war ſo edel,
daß Don Correa, als ein gelehrter Geiſtlicher unter den
Gäſten ihm flüſternd anerbot, einen Stammbaum zu ver¬
faſſen und ihre Abkunft auf die Königin von Saba
zurückzuführen, ſtolz auf ihre Haltung hinwies und ſagte,
es ſei nicht nöthig.
Der fremdartige Reiz der ganzen Erſcheinung wurde
aber noch erhöht durch die über ſie ausgegoſſene natürliche
Demuth und den träumeriſchen Glanz ihrer Augen, welche
verriethen, daß ſie nicht recht wußte, was mit ihr vor¬
ging, da ſie von den Nonnen in keiner Weiſe auf welt¬
liche Dinge vorbereitet worden.
Das erfuhr Don Correa erſt auf ſeinem ſchönen
Admiralſchiffe, als er gleich nach der Hochzeit mit der
Gemahlin die Rückreiſe nach Afrika angetreten hatte.
Die Donna Maria Correa hielt ſich nach wie vor für
[342] ſeine Sklavin, die jede Aenderung des Schickſals zu
gewärtigen habe und zum Dienen beſtimmt ſei. Zuerſt
verdrießlich darüber, daß ſie in dieſer Beziehung das in
Klöſtern und unter Geiſtlichen zugebrachte Jahr gänzlich
verloren, machte er ſich ſelbſt zu ihrem Lehrer, ſo gut
er das mit ſeinem ſeemänniſchen Weſen vermochte. Bald
aber wurden die Stunden, die er über dem Unterricht im
einſamen Schiffsgemache mit der Gattin verlebte, zu
Stunden der ſchönſten Erbauung. Denn als er ihr
allmählich die Freiheit ihrer Seele begreiflich machte,
Ehre und Recht einer chriſtlichen Ehefrau beſchrieb und
ihr die Pflicht des perſönlichen Willens und Beſchließens
auseinanderſetzte, was Alles durch Liebe zuſammengehalten
und verklärt werden müſſe, da ſoll es gar ſchön anzuſehen
geweſen ſein, wie von Tag zu Tag das Verſtändniß heller
aufging und die junge Frau mit dem Lichte menſchlichen
Bewußtſeins erfüllte. Außerdem hörte ſie viele ihr bisher
unbekannte Worte, und indem ſie dieſelben wiederholte
und den Sinn ſich anzueignen ſuchte, bereicherte ſie zu¬
gleich im höchſten Sinne ihre neue Sprache.
Eines Tages, als das Geſchwader dem Ziele ſeiner
Fahrt näher kam, erging ſich Don Correa mit der Frau
auf dem oberſten Verdecke und führte ſie in den luftigen
Pavillon, der über dem Stern des Schiffes errichtet war.
Die Zeltdecken ſchützten hier vor den Sonnenſtrahlen und
den Blicken des Schiffsvolkes. Sie ſchauten ſtill auf den
unendlichen Ocean hinaus, deſſen gleichmäßig ſchimmernde
[343] Wellen in zahlloſen Legionen heranrauſchten und die
Schiffe ruhig weiter trugen.
„Hat das Meer auch eine Seele und iſt es auch frei?“
fragte die Frau.
„Nein,“ antwortete Don Correa, „es gehorcht nur
dem Schöpfer und den Winden, die ſein Athem ſind!
Nun aber ſage mir, Maria, wenn Du ehedem Deine
Freiheit gekannt hätteſt, würdeſt Du mir auch Deine
Hand gereicht haben?“
„Du frägſt zu ſpät“, erwiderte ſie mit nicht unfeinem
Lächeln; „ich bin jetzt Dein und kann nicht anders, wie
das Meer!“
Da ſie aber ſah, daß dieſe Antwort ihn nicht be¬
friedigte und nicht ſeiner Hoffnung entſprach, blickte ſie
ihm ernſt und hochaufgerichtet in die Augen und gab ihm
mit freier und ſicherer Bewegung die rechte Hand.
Zwölftes Capitel.
Die Berlocken.
„Das haben Sie gut gemacht!“ ſagte Lucie; „wir
Andern wollen uns merken, wie nützlich die Demuth iſt,
und wie erhöht wird, wer ſich erniedrigt hat! Aber auch
mir iſt während Ihrer Erzählung ein kleines Leſefrüchtchen
aus meinen Büchern eingefallen, das gleichfalls von einer
farbigen Perſon, einer Wilden handelt. Vielleicht haben
wir noch die Muße, das Geſchichtchen abzuwandeln, und
zwar im wörtlichen Sinne, indem wir ein wenig in's
Holz hinausgehen?“
„Es ſcheint mir, daß ich hier in eine Art von Duell
hineingerathen bin“, verſetzte der Oberſt; „Herr Reinhart
hat Dein ſchönes Geſchlecht der Erde und der Stellung
wieder näher gebracht, die er ihm anweiſt. Ohne Zweifel
willſt Du den Streich parieren und Dich aus eigener
Kraft vom Boden erheben, auf welchem die braune Weibs¬
perſon zweimal gelegen hat. Lege alſo los, liebe Lux,
und ſchau', daß Du nicht liegen bleibſt! Wenn ich aber
mit zuhören ſoll, ſo muß ich bitten, daß wir dieſen
[345] Aufenthalt nicht verlaſſen; denn wie Du weißt, kann ich
noch nicht weit marſchieren.“
„Verzeih', lieber Onkel,“ ſagte die Lux, „daß ich das
im Gefechtseifer vergeſſen habe! Es verſteht ſich von
ſelbſt, was Du wünſcheſt! Ich wollte nur der Ungeduld
unſers Gaſtes entgegen kommen, der mir etwas unruhig
zu werden ſcheint und vielleicht gerne den Ort verändert!“
„Achten Sie nicht darauf!“ antwortete Reinhart,
„warum ſoll ich nicht unruhig ſein, wenn ich ein Geſchütz
auf mich richten ſehe, deſſen Trefffähigkeit und Ladung
ich noch nicht kenne? Alſo fangen Sie gütigſt an und
ſeien Sie nicht zu grauſam!“
Lucie räuſperte ſich zum Scherz ein wenig und ſagte:
„Anfangen! Das hab' ich gar nicht bedacht, daß man
anfangen muß! Warum ſoll ich mich eigentlich abquälen,
um eine Sache zu blaſen, die mich nicht brennt? Nun,
ich ſpringe gleich hinein!“
Zur Zeit, da Marie Antoinette ſich nach Frankreich
verheirathete, gab es in der Touraine einen hübſchen
guten Jungen, der noch gar nicht flügge war und keinem
Menſchen etwas zu Leide gethan hatte. Er hieß Thibaut
von Vallormes und war Fahnenjunker in einer Compagnie
eines Fußregimentes, das ich nicht näher zu bezeichnen
wüßte, indem ich den Namen deſſelben nicht angezeigt
fand. Trotz ſeiner kriegeriſchen Stellung war er, wie
geſagt, noch halb kindiſch und hielt ſich, wenn er nicht
Dienſt hatte, immer bei alten Tanten, Baſen und andern
[346] würdigen Matronen auf, deren Putzſchachteln, Galanterie¬
ſchränke und bemalte Coffrets er durchſchnüffelte und von
denen er ſich Geſchichten erzählen ließ, während er ihre
Crêmetörtchen, Blancmangers und Zuckerbrödchen ſchmauſte.
Aber auch dieſem unſchuldigen Knaben ſchlug die Stunde
des Schickſals, wo ſich die Sachen änderten und er begann
ein gefährlicher Menſch und Mann zu werden.
Zum Pagendienſte bei den Ceremonien der königlichen
Vermählung wurden aus der Armee eine Anzahl gerade
ſolcher hübſchen Bürſchchen zuſammen geſucht und nach
Paris berufen, und auch der zierliche junge Thibaut ward
des Glückes theilhaft. Nach dem Schluſſe der Feſtlichkeiten
geſchah es dann, daß unter Anderem auch die ſämmtlichen
Pagen in einem Salon des Verſailler Schloſſes ver¬
ſammelt, geſpeiſt und beſchenkt wurden, eh' ſie zur Heim¬
reiſe auseinandergingen. Nachdem ein Kammerherr oder
ſo was Jedem ſein Packetchen überreicht, wurde ihnen
unerwartet kund gethan, daß die junge Dauphine die
Junker noch zu ſehen wünſche. Sie mußten alſo hin¬
marſchieren, wo ſie mit einigen Hofdamen ſaß; jeder
Einzelne wurde ihr vorgeſtellt und erhielt unter graziöſen
Dankesworten für ſeinen artigen Dienſt noch eigenhändig
ein Geſchenk, das ihr ein Hofherr darreichte. So bekam
Thibaut eine ſchöne goldene Uhr, aber ohne Kette oder
Band, mit den Worten, die Berlocken müſſe er ſich mit
der Zeit ſelbſt dazu erobern.
Ganz roth vor Vergnügen betrachtete Thibaut die
[347] Uhr, als er mit den andern Jungen in einem großen
Omnibus nach Paris zurückfuhr und ſie die erhaltenen
Geſchenke ſich gegenſeitig zeigten. Es war auf der Rück¬
ſeite in einem Kranze von Rocaille ein kleiner Seehafen
gravirt, in deſſen Hintergrunde die Sonne aufging und
ihre Strahlenlinien ſehr fein und gleichmäßig nach allen
Seiten ausbreitete. Das Innere der Schale aber zeigte
ſich gar mit einer bunten Malerei emailliert; ein winziges
Amphitritchen fuhr in ſeinem Wagen, von Waſſerpferden
gezogen, auf den grünen Wellen einher, von einem roſen¬
farbigen Schleier umwallt, und auf dem blauen Himmel
ſtand ein weißes Wölkchen. Im Vordergrunde gab es
noch Tritonen und Nereiden.
Als alle die Herrlichkeiten genugſam bewundert worden
und auch die freundlichen Worte der künftigen Königin
beſprochen und commentirt, brachte auch Thibaut vor,
was ſie ihm geſagt, und er ſetzte hinzu: „Wenn ich nur
wüßte, was ihre königliche Hoheit damit meinte, daß ich
die Berlocken ſelbſt erobern müſſe!“
„Ha!“ rief ein Standartenjunker von der Reiterei,
„das iſt doch klar, es bedeutet, daß Sie ſich die Berlocken
aus kleinen Andenken von Damen herſtellen ſollen, deren
Herzen Sie geraubt haben! Je mehr, je beſſer!“
„Ich möchte doch nicht behaupten, daß die Frau
Dauphine ſo Etwas gemeint hat,“ wandte ein anderer
Junge ſchüchtern ein, „ich glaube eher, ſie wollte ſagen,
Monſieur de Vallormes möge ſich die nöthigen Bijoux
[348] von der Mama, den Frau Tanten und allerhand Couſinen
erbitten oder ſchenken laſſen, weil ſich ihre königliche Hoheit
nicht damit abgeben kann, ſo viele kleine Gegenſtände aus¬
zuſuchen und zuſammen zu ſtellen!“
„Ei warum nicht gar,“ meinte der Cornett, „das
wären langweilige Berlocken! Es müſſen eroberte Trophäen
ſein! Jeder Gentilhomme trägt ſie!“
Thibaut entſchied ſich für die letztere Auslegung, und
als er in ſeine Stadt Tours zurückkam, ſah er ſich von
Stund' an nach den Gelegenheiten um, die ſchrecklichen
Raubzüge zu beginnen. Er vermied die Plauderſtübchen
der alten Tanten und guckte eifrig nach jungen Mädchen
aus, die etwas Glänzendes an ſich trugen, ſei es am
Halſe, an der Hand oder an den Ohren. Da er ſich
aber auf die Hauptſache, die Eroberung der Herzen, noch
nicht verſtand und nach einigen thörichten Poſſen gleich
nach jenen Dingen greifen wollte, ſo wurde ihm überall
auf die Finger geſchlagen und es wollte ſich Nichts für
ſeine Uhr ergeben.
Einſt reiſte er für die Oſterfeiertage nach Beaugency
an der Loire, wo er Verwandte beſaß, und da ſchien ſich
ein Anfang für ſeine Unternehmungen geſtalten zu wollen.
Es war nämlich ein ſehr ſchönes Frauenzimmer aus dem
benachbarten Orleans dort zum Beſuche, das freilich ſchon
etwa zweiundzwanzig Jahre zählte und daher den Kopf
eine Hand breit höher trug, als der kaum ſiebzehnjährige
Fähnrich, wie ſie auch ohnehin hochgewachſen war. Aber
[349] obſchon Thibaut ein wenig in ihre Augen hinauf blicken
mußte, war er doch nicht zu ſtolz, ſich in ſie zu verlieben,
zumal er an ihrem Halſe ein Herz von rothen Korallen
hängen ſah, das ihm außerordentlich in die Augen ſtach.
Es war ungefähr ſo groß wie ein holländiſcher Ducaten
und konnte geöffnet werden. Inwendig ſaß ein grünes
Spinnlein, ſehr kunſtreich aus einem kleinen Smaragd¬
ſteine gemacht, die Aeuglein von winzigen Brillanten,
und die länglichen Füße von feinem Golde. Die Spinne
zitterte und bewegte ſich aber unaufhörlich ſammt ihren
acht Beinchen, weil ſie mit künſtlichen Gelenken von der
heikelſten Arbeit verſehen und außerdem auf einer kleinen,
unſichtbaren Spiralfeder befeſtigt war. Dieſes Herz hatte
die ſchöne Guillemette von ihrem Bräutigam zum Geſchenk
erhalten; denn ſie war mit einem höheren Offiziere ver¬
lobt, der in den amerikaniſchen Beſitzungen Frankreichs
verwendet wurde und den Zeitpunkt der Vermählung bis
nach ſeiner Rückkehr verſchoben hatte. Als er ihr vor
der Abreiſe das Herz gab, ſagte er wie im Scherz, er
wolle ſehen, ob ſie ſo Sorge dazu trüge, daß das unruhige
Spinnlein noch unzerbrochen ſei, wenn er wieder käme;
nota bene aber ſetze er voraus, daß ſie das Kleinod nicht
etwa beiſeite lege, ſondern es beſtändig am Halſe trage.
Er ſprach vielleicht damit die Hoffnung aus, ſie werde
ſich während der Zeit ſeiner Abweſenheit recht ruhig und
gleichmüthig verhalten und ihr eigenes Herz ſammt dem
Korallenherzen ungefährdet bleiben.
[350]
Als nun der junge Thibaut ſich in ſie verliebte, be¬
ging Guillemette den Fehler, ſich ſein Hofmachen als
kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu laſſen, was ſie
ſchon ſeiner Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie
ließ ſich von ihm Fächer und Handſchuhe tragen, ſpielte
und lachte mit ihm, wie wenn ſie noch ein halbes Kind
wäre, und wenn er nicht von ſelbſt in ihre Nähe kam,
rief und lockte ſie ihn herbei. So oft er es möglich
machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo ſie längere
Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal.
Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und
ihre Kniee umſpannte, mußte er erfahren, daß ſie ihn
lachend abſchüttelte und er weiter von dem Ziele des
Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬
lichem Leichtſinn den Vorſatz, ihr wenigſtens das Korallen¬
herz zu ſtehlen, und führte ihn auch aus. Während einer
ſommerlichen Nachmittagsſtunde hatte ſich Guillemette in
ein kühles Gartenzimmer eingeſchloſſen, um zu ſchlafen,
leider aber nicht das offene Fenſter bedacht. Durch dieſes
Fenſter entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬
ſeſſel ſchlafende Fräulein und ſtieg leiſe wie eine Katze
hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an
ihrem Halſe und es gelang ihm, dasſelbe los zu machen
und in die Taſche zu ſtecken, auch wieder durch das Fenſter
zu entfliehen, ohne daß ſie erwachte oder er von einem
Menſchen geſehen wurde. Die grüne Spinne mochte in
ihrer dunkeln Kapſel noch ſo ſehr zittern und blinkern,
[351] ſo half es doch weder ihr noch der ſchlafenden Schönen;
ſie mußte mit dem Diebe gehen und nahm das Glück der
armen Guillemette mit ſich. Als ſie erwachte und einige
Zeit ſpäter den Verluſt entdeckte, ſuchte ſie das Herz
überall, und erſt als ſie es nirgends fand, erſchrak ſie
und ſann beklommen nach, wo es möchte geblieben ſein.
Sie fragte auch den Thibaut, ob er es nicht gefunden
habe, und als er das verneinte, glaubte ſie ihm anzuſehen,
daß er doch darum wiſſe. Sie bat ihn heftig, es ihr zu
ſagen; er läugnete und lachte zugleich und ſie betrachtete
ihn zweifelnd und gerieth über ſeinem Anblick in große
Angſt, da er immer mit den Augen zwinkerte. Zuletzt
fiel ſie ihm zu Füßen und flehte, er möchte ihr das Herz
wiedergeben oder ſagen, wo es ſei, und erſt jetzt hielt er
ſeinen Raub für eine rühmliche Beute, weil er merkte,
wie viel ihr daran gelegen und daß ſie dem Weinen nahe
war. Wie wenn er ſich in falſchen Schwüren üben
wollte, beſchwor er laut und heuchleriſch ſeine Unſchuld,
machte aber, daß er fortkam, und ließ ſich nie wieder vor
ihr blicken. Als der Verlobte nach einem Jahre aus den
Colonien zurückkehrte und, das Herz vermiſſend, nach
demſelben fragte, ſagte die Braut der Wahrheit gemäß,
daß ſie es entweder verloren habe oder es ihr geſtohlen
worden ſei, ſie wiſſe das nicht recht; allein ſie brachte
die Worte ſo verlegen, ſo erſchrocken hervor, daß der
Bräutigam einem etwelchen Verdachte nicht widerſtehen
konnte. Und als er dringend nach den Umſtänden fragte,
[352] unter welchen ſie ein ſolches Andenken habe verlieren
können, gab ſie eine unglückliche Antwort, in der die
Reue ſich hinter beleidigtem Stolze verbarg. Die Ver¬
lobung löſte ſich auf; der Bräutigam heirathete eine
andere Perſon, und die Guillemette blieb arm und verlaſſen
mitten in der Welt ſitzen.
Thibaut, der inzwiſchen Lieutenant geworden, trug
nun das Herz an ſeiner Uhrkette und ſah ſchon lange
nach einem neuen Gehängſel aus, das er jenem beigeſellen
konnte. So gewahrte er denn einſtmals die kleine Deniſe,
das Töchterlein des ſeligen Notars Jakob Martin, das
eben aus der Kloſterſchule gekommen und nun bei der
Mutter lebte. Er wunderte ſich, wie artig das Mädchen
ausgewachſen war und auf den rothen Stöckelſchuhen
daherging. Auf der Bruſt trug es ein beſcheidenes Herz
von Bergkryſtall, das, in Gold gefaßt, auch geöffnet
werden konnte; aber es war nichts darin und das Herz
ganz durchſichtig. Dennoch faßte er ſogleich den Plan,
dasſelbe zu erobern, als er ſo ſtehen blieb und dem
Mädchen nachſchaute, das mit blutrothem Geſichte davon
eilte. Er ſpazierte täglich an ihrem Hauſe vorüber, ſandte
ihr verliebte Gedichtchen zu, die er den Poeſieen des
Mr. Dorat, der Frau Marquiſe d'Antremont oder des
Herrn Marquis de Pezai und anderen Dichtern der
damaligen Zeit entlehnte, aber ohne Unterſchrift ließ.
Es gelang ihm dadurch, den Kopf der jungen Deniſe und
ihrer Mutter zugleich in Verwirrung zu ſetzen, ſo daß er
[353] den Zutritt im Hauſe erhielt und mit eitler Freude
empfangen wurde, wenn er mit einem Blumenſträußchen
oder einem billigen Fächer von gefärbtem Papier erſchien,
worauf ein paar Gräſer und eine Nelke gedruckt waren.
Ein ehrbarer Kaufmannsſohn, deſſen Vater mit dem ver¬
ſtorbenen Notar befreundet geweſen, zog ſich vor dem
Herrn von Vallormes zurück, an welchen die kleine Deniſe
zuerſt ihr natürliches und dann ihr kleines Kryſtallherz
verlor. Sobald er aber dieſes mit ihrer zärtlichen Ein¬
willigung abgelöſt und an ſeiner Uhr befeſtigt hatte,
verließ er ſie und kehrte nie mehr zurück. Ungeachtet ſie
ſehr wohlhabend war, koſtete es der Mutter manche ſauere
Mühe, den jungen Kaufmann mit der Zeit wieder herbei
zu ſchaffen, der dann aus dem erſt ſo blühenden Denischen
ein gedrücktes Hausfrauchen, ſo ein beſcheidenes auf¬
gewärmtes Sauerkräutchen machte.
Es dauerte jetzt einige Zeit, bis Thibaut wieder auf
eine Spur gerieth, die er jedoch abermals verlor, wie es
auch dem geſchickteſten Jäger geſchehen kann, und als er
eines Sonntag Nachmittags nichts anzufangen wußte,
nachdem er ſeine Berlocken genugſam beſehen hatte, fiel
es ihm ein, endlich einmal ſeine jüngſte Tante Angelika
zu beſuchen, die noch nicht ganz fünfzig Jahre alt ſein
mochte und eine empfindſame alte Jungfer war. Da ſie
gerade am offenen Schreibtiſche ſaß, machte ſich Thibaut
hinter die ihm bekannten Lädchen und Schatullen, um
darin zu ſchnüffeln, wie ehemals. Er ſtieß auf ein
Keller, Sinngedicht. 23[354] Schächtelchen, das er noch nie geſehen, und als er es
öffnete, lag auf einem Flöcklein Baumwolle ein Herz von
milchweißem Opal, das längſt vom Bande gelöſt, hier im
Stillen ſchlummerte. Am Tageslichte ſchillerte das Herz
in zartem Farbenſpiele wie ein Schein ferner Jugend¬
zeiten.
„Welch' ein ſchönes Bijou!“ rief Thibaut, „wollen
Sie mir das nicht ſchenken?“
„Was fällt Dir ein, lieber Neffe?“ fragte ſie ver¬
wundert, indem ſie ihm das Herz aus der Hand nahm
und es mit glänzenden Augen betrachtete; „was wollteſt
Du auch damit thun? Es einem anderen Frauenzimmer
ſchenken?“
„O nein!“ ſagte Thibaut, „ich würde es an meine
Uhr hängen und dabei ſtets meiner Tante Angelika
eingedenk ſein!“
„Ich kann es Dir dennoch nicht geben,“ erwiderte
die Dame mit weicher Stimme, „es iſt meine theuerſte
Erinnerung, denn der Geliebte und Verlobte meiner
Jugend hat es mir geſchenkt!“
Auf ſein neugieriges Verlangen erzählte ſie dem Neffen
mit vielen Worten die verjährte Liebesgeſchichte mit einem
herrlichen jungen Edelmann, der voll ſeltener Treue und
Hingebung unter ſchwierigen Umſtänden an ihr gehangen,
ſich ihretwillen geſchlagen und in der Blüthe der Jahre
in der glorreichen Schlacht von Fontenay als ein tapferer
Held gefallen ſei, vor mehr als dreißig Jahren. Die
[355] Beſchreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen
Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in ſeinem
Umgange genoſſenen Glückſeligkeit verklärte die Erzählende
mit einem ſolchen Abglanz der Erinnerung und Sehnſucht,
daß trotz der ſtark angegrauten Haare, die im Negligé
unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und
Schultern herunter floſſen, eine neue Jugend ihr Geſicht
zu beleben und roſig zu färben ſchien.
Ganz begeiſtert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn
er ſelbſt der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die
Hände auf ſein Herz legend: „Ich ſchwöre Ihnen, theuerſte
Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre
meine Jugend mit der Ihrigen zuſammengefallen! Ja
ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere
junge Seele lieben kann! O ſchenken Sie mir Ihr ſchönes
Herz, ich will es hegen und an mich ſchließen, daß es
nicht mehr einſam iſt!“
Er war in der That ſo närriſch verzückt, daß er
ſelbſt nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das
liebende Menſchenherz verlangte; die Tante Angelika aber
verwechſelte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen
Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr
knieenden Jüngling mit dem lange entſchwundenen Ge¬
liebten. Sie ſchlang in ſüßer Vergeſſenheit beide Arme
um den Hals des hübſchen Schlingels und drückte ihm
mehrere Küſſe auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬
blödete ſich nicht, der traumvergeſſenen würdigen Dame
23*[356] das gleiche zu thun, wie wenn ſie noch zwanzig Jahre
alt wäre. Voll Schrecken erwachte ſie aus ihrer ſüßen
Verirrung, die ſie nun doch nicht recht bereuen konnte;
ſie machte ſich haſtig aus ſeinen Armen frei, und während
ſie ihn mit feuchten Augen nochmals anſah, drückte ſie ihm
zitternd das Opalherz in die Hand und bat ihn, ſie doch
gleich zu verlaſſen. Dann lehnte ſie ſich mit gefalteten
Händen in ihren Seſſel zurück, um ſich von dem höchſt
ſeltſamen Erlebniſſe zu erholen.
Als Thibaut die neue Trophäe an der Uhr befeſtigt
hatte, dünkte ihm die Berlocke mit drei Herzen nunmehr
ſtattlich genug zu ſein, um ſie endlich auszuhängen; auch
kam es ihm gerade recht, daß er an eine Offiziersſtelle
in Paris verſetzt wurde; denn nur dieſe Stadt konnte
fortan der rechte Schauplatz ſeiner ferneren Thaten ſein.
Und es fehlte ihm nicht an Eroberungen und Protectionen,
die ihm bald eine eigene Compagnie verſchafften, deren
Capitän er wurde. Allein je vornehmer die Damen
waren, deren Eroberung er machte, und je koſtbarer die
Kleinödchen, die er an ſeine Uhrkette hing, deſto unklarer
wurde es ihm, ob er eigentlich es ſei, der die Schönen
ſitzen ließ, oder ob er von ihnen verlaſſen werde. Gleich¬
viel, ſein Uhrgehänge klirrte und blitzte, daß es eine Art
hatte, und er galt für den gefährlichſten Cavalier der
Armee, wenn er im Kreiſe der Herren Kameraden die
Geſchichte der einzelnen Merkwürdigkeiten erzählte und
die Juwelen und Perlen ſtreichelte, die ſich darunter
[357] fanden. Und er ging mit den Berlocken zu Bett und
ſtand mit denſelben auf.
Zuletzt wurde ihm ſein Ruhm faſt langweilig, be¬
ſonders da kein Plätzlein mehr für neue Siegeszeichen
auf ſeiner Weſte vorhanden war. Weil er aber ein für
alle Mal ein Glückskind heißen konnte, zeigte ſich in
dieſem Stadium die Ausſicht auf einen neuen Lebens-
und Siegeslauf, den als ein bewährter und geprüfter
Mann anzutreten es ihn gelüſtete.
Gerade damals hatte die franzöſiſche Begeiſterung für
den Freiheitskampf der Nordamerikaner ihren Höhepunkt
erreicht, und nachdem ſchon viele Franzoſen als Freiwillige
für die Gründung der großen Republik mitgefochten, war
es bekanntlich dem Marquis von Lafayette gelungen, die
Abſendung eines förmlichen Hülfsheeres zu bewirken. Der
Capitän Thibaut von Vallormes ging mit und befand
ſich bei den ſechſtauſend Mann, welche vom Grafen von
Rochambeau über den Ocean geführt wurden und im
Juli 1780 auf Rhode-Island landeten. Thibaut war
weder ein nachläſſiger noch ein untapferer Soldat, und
ſo gerieth er im Verlaufe des ſchwierigen Krieges und
auf den Hin- und Herzügen bald in die vorderſte Linie,
bald ſonſt auf ausgeſetzte Punkte. Der friſche Luftzug
der neuen Welt, der gewaltige Hauch der Freiheit, der
von ihm ausging, und die anhaltende Beſchäftigung des
Dienſtes unter allerlei Gefahren ließen den Offizier
allgemach ernſter erſcheinen; auch an ſeiner Einzelperſon,
[358] geringen Orts, machte ſich der Uebergang aus dem
ſpielenden Daſein in das, was nachher kam, ſichtbar.
Als die Heeresabtheilung, bei der er ſtand, an irgend
einen breiten Fluß vorrückte, auf deſſen anderem Ufer
ein größerer Indianerſtamm lagerte, entflammte er mit
den anderen Franzoſen in Enthuſiasmus, nun der wahren
Natur und freien Menſchlichkeit ſo unmittelbar gegenüber¬
zuſtehen; denn Jeder von Ihnen trug ſein Stück Jean
Jacques Rouſſeau im Leibe. Es handelte ſich darum,
mit den Indianern in Verkehr zu treten, ſie entweder
in Güte als Freunde zu gewinnen oder ſie wenigſtens
zu einem neutralen Verhalten zu veranlaſſen, und zu
dieſem Ende hin wurden die Oberbefehlshaber erwartet,
indeſſen auch am anderen Ufer, bei den Indianern, noch
eine Anzahl wichtiger Häuptlinge zu einer Conferenz ein¬
treffen ſollten.
Die franzöſiſchen Militärs aber mochten den Tag nicht
erwarten, ihre Neugierde und die Luſt an den idealen
Naturzuſtänden zu befriedigen; ſie lockten ſchon vorher
die wilden Rothhäute über das Waſſer und ſchifften auch
zu ihnen hinüber, und jeder ſuchte in ſeinem Gepäcke nach
Gegenſtänden, welche er verſchenken oder an Merkwürdig¬
keiten vertauſchen konnte. Thibaut war unter den Erſten,
die über den Strom ſetzten, und that es bald täglich nicht
nur ein, ſondern zwei Mal, und war in den Wigwams
zu Hauſe. Nämlich eines der indianiſchen Mädchen zog
ihn unwiderſtehlich hinüber, daß er ſeine ganze ſiegreiche
[359] Vergangenheit vergaß und einem Neuling gleich auf den
Spuren einer Wilden umher irrte.
Ich kann es nicht wagen, eine Beſchreibung von dem
wunderbaren Weſen zu machen, und muß es den Herren
überlaſſen, ſich nach eigenem Geſchmacksurtheil das Schönſte
vorzuſtellen, was man ſich damals unter einer eingeborenen
Tochter Columbias dachte, ſowol was Körperbau und
Hautfarbe, als Koſtüm und dergleichen betrifft. Ein
hoher Turban von Federn wird unerläßlich, ein buntes
Papagenakleidchen räthlich ſein; doch wie geſagt, ich will
mich nicht weiter einmiſchen und nur noch andeuten, daß
ſie in ihrer Sprache Quoneſchi, d. h. Libelle oder Waſſer¬
jungfer genannt wurde.
So viel iſt ſicher, daß ſie es meiſterlich verſtand, wie
eine Libelle ihm bald über den Weg zu ſchwirren, bald
ſich unſichtbar zu machen, jetzt einen verlangenden Blick
auf ihn zu werfen, dann ſpröd und kalt ihm auszuweichen;
allein Thibaut wurde nicht müde, ſich bethulich und ge¬
duldig zu zeigen und ſie wenigſtens mit ſchmachtenden
Augen zu verfolgen, wenn ſie durchaus nicht in die Nähe
zu bringen war. So gleichgültig er zuletzt gegen das
Frauengeſchlecht in Frankreich geweſen, ſo heftig verliebte
er ſich jetzt in das rothe Naturkind und ging geradezu
mit dem Gedanken um, dasſelbe zu ſeiner rechtmäßigen
Gemahlin zu erheben. Wie würde das philoſophiſche
Paris erſtaunen, dachte er ſich, ihn mit dieſem Inbegriff
[360] von Natur und Urſprünglichkeit am Arme zurückkehren und
in die Salons treten zu ſehen.
Durch ſeine Beharrlichkeit ſchien die zierliche Waſſer¬
jungfer wirklich allmälig zahm und halbwegs vertraulich
zu werden; die Herren Kameraden, die bisher darüber
gelächelt, daß ſeine Macht über die Frauenherzen ſich nicht
bis an den Hudſon und den Delaware erſtrecke, fingen
an, ihn zu bewundern und zu loben, daß er als echter
Franzoſe nicht das Feld räume; kurz, er hatte zwiſchen
Tag und Nacht ſchon mehr als ein kleines Stelldichein
abgehalten mit wunderlichem Zwiegeſpräche von Geberden
und abgebrochenen Worten, wobei Keines das Andere
verſtand noch auszudrücken wußte, was es wollte. Nur
Eines glaubte Thibaut zu bemerken, nämlich daß Quoneſchi
jedenfalls von einem zärtlichen Gedanken bewegt war, der
ſie fortwährend beſchäftigte und die dunklen Augen öfters
wie in banger oder zweifelhafter Erwartung auf ihn
richten ließ.
Nun waren die höheren Perſonen auf beiden Seiten
des Fluſſes verſammelt und die Unterhandlungen für
einſtweilen erledigt, die indianiſchen Häuptlinge im
franzöſiſchen Lager auch gut bewirthet worden, und es
blieb noch der officielle Beſuch der franzöſiſchen Herren
bei den Wilden übrig, welche ſich auch ein wenig zeigen
wollten. Am Vorabend kam noch ein ganzes Schiff voll
Weiber herüber gefahren, die vor dem Weitermarſch der
[361] Franzoſen noch allerlei Verkäufliches an den Mann zu
bringen wünſchten, wie Früchte, wilde Putzſachen, Muſcheln,
geſticktes Leder und dergl. So entſtand raſch noch eine
lebendige Marktſcene und die Franzoſen benutzten billiger
Weiſe den Anlaß, mit den Frauen zu ſponſieren, wie
es von je ihre Art geweſen iſt. Thibaut aber wußte
ſeine Quoneſchi oder Waſſerjungfer, die ein Körbchen voll
Erdbeeren zu verkaufen hatte, in ſein Hauptmannszelt zu
locken und nahm ſie dort ſchärfer in's Gebet als bisher;
denn es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er ſuchte
ihr mit feuriger Ungeduld deutlich zu machen, daß er ſie
mit nach Europa nehmen und mit ihren Eltern um ſie
handeln wolle, in ehrbarem Ernſte und zu ihrem Heil und
Glücke. Daß ſie ihn ganz verſtand, iſt zu bezweifeln;
dagegen iſt ſicher, daß ſie ſich deutlicher auszudrücken
wußte. Indem ſie mit der kleinen röthlichen Hand ſein
Kinn und beide Hände ſtreichelte, deutete ſie auf die
Berlocken an ſeiner Uhr, die ſie zu haben wünſchte, nach¬
dem ſie offenbar ſchon lange ihren Geiſt beſchäftigt hatten.
Dazu ſagte ſie immer auf Engliſch: Morgen! Morgen!
und drückte mit holdſelig naiven Geberden aus, daß etwas
Wunſcherfüllendes vorgehen würde, wo gewiß alle Welt
zufrieden geſtellt werde.
Unſer guter Thibaut erſchrak über die Deutlichkeit des
Verlangens nach den Berlocken und beſann ſich ein
Weilchen mit melancholiſchem Geſichte; er war ganz
überraſcht von der ungeheuerlichen Keckheit des Begehrens
[362] und konnte es nur begreifen, wenn er bedachte, daß das
unſchuldige Weſen weder die Bedeutung noch den Werth
deſſen kannte, was es forderte. Als aber das Mädchen
traurig das Haupt ſenkte und die Hand auf's Herz legte
und noch mit anderen Zeichen verrieth, daß ſie große
Hoffnungen auf die Erfüllung ihres Wunſches geſetzt
hatte, legte er dieſe Zeichen zu ſeinen Gunſten aus und
änderte ſeine Gedanken. Im Grunde, dachte er, iſt es
nur in der Ordnung, wenn ich dieſe Erinnerungen Der¬
jenigen zu Füßen lege, welcher ich mich für das Leben
verbinden will! Noch mehr, es iſt ja ein ſchönes Symbol,
wenn ich dieſe Siegesſpolien aus einer überlebten und
überfeinerten Welt ſozuſagen der noch jungen Natur in
Perſon aufopfere, die uns eine neue Welt gebären ſoll!
Und am Ende bringt das gute Kind mir den kleinen
Schatz, der ſo lange auf meiner Weſte gebaumelt hat,
getreulich wieder zu, und es wird ſich gar witzig aus¬
nehmen, wenn die Tochter des Urwaldes einſt die Kleinode,
bald dieſes, bald jenes, vor den Augen unſerer Damen
an ſich ſchimmern läßt!
Mit raſchem Entſchluſſe löſte er den Ring, der das
Gehängſel zuſammenhielt, von der Uhr und übergab es
ihr in ſeiner ganzen Pracht und Koſtbarkeit. Mit einer
kindlichen Freude, welche die zarte Rothhaut des Urwaldes
womöglich noch röther machte, empfing die Libelle, die
Waſſerjungfer, den Schatz und überhäufte den Geber mit
Zeichen der lieblichſten Dankbarkeit; dann lief ſie eilig
[363] davon, indem ſie nochmals mit leuchtenden Augen: Morgen!
Morgen! rief.
Thibaut hingegen empfand ein Gefühl, wie wenn Einer
ihm den ſchönen Zopf abgeſchnitten hätte, der ſo ſtattlich
den Rücken ſeines Scharlachrockes ſchmückte, und in der
Nacht hatte er einen ſchweren Traum. Es träumte ihm,
er habe das Korallenherz der ſchönen Guillemette auf¬
gemacht, die grüne Spinne ſei herausgelaufen und habe
ihn in die Naſe gebiſſen, die wie eine Rübe aufge¬
ſchwollen ſei.
Am Morgen wurde es ihm wieder beſſer zu Muthe,
als er den klar erglänzenden Tag gewahrte, der über der
großen Stromlandſchaft aufgegangen war, und heiteren
Herzens beſtieg er die überſetzende Kahnflotille, da er ja
endlich der wahren Liebe und Seligkeit entgegenfuhr.
Das rothe Volk war in einem weiten Ringe um ein
Feuer verſammelt, an welchem Hirſche und andere Jagd¬
beute gebraten und gute Fiſche gekocht wurden. Die
Frauen und Mädchen machten die Köche und brachten
ſonſt noch allerhand ihrer Leckereien herbei. Die Männer
ſaßen ernſt im Kreiſe herum, vorab die Häuptlinge, alle in
ihrem höchſten Schmuck und Staate. Für die franzöſiſchen
Herren aber war ein beſonderer Raum und Ehrenplatz
offen gelaſſen, den ſie vergnügt über das neue Schauſpiel
einnahmen; und nun begann ein Schmauſen, das den
Indianern freilich beſſer zu ſchmecken ſchien als den
Europäern, wenn es den letzteren auch von den Frauen
[364] ſelbſt zugetragen und dargereicht wurde. Nur Thibaut
erquickte ſich vollkommen; denn die ſchöne Quoneſchi hatte
ihn ſogleich herausgefunden und nur ihn bedient; ſie blieb
auch gern bei ihm, als er ſie feſthielt, und winkte ihren
Schweſtern ſchalkhaft zu, als ob ſie jetzt nicht mehr zu
ihnen käme. Traulich und keineswegs ohne Grazie ſaß
ſie zu ſeinen Füßen, und als er ſanft ihren rothen
Sammetrücken, wie die Herren vielleicht ſich ausdrücken
würden, mit läſſiger Hand ſtreichelte, dünkte er ſich der
Chriſtofor Columbus zu ſein, welchem ſich der entdeckte
Welttheil in Geſtalt eines zarten Weibes anſchmiegt.
Jetzt war die Mahlzeit beendigt, der Platz um das
Feuer wurde geräumt und der Kreis erweitert, worauf
ein Zug junger Krieger aufmarſchierte, um zu Ehren der
befreundeten Macht einen ſchönen Kriegstanz zum Beſten
zu geben. Ein lauter Schrei oder Ausruf der Alten und
Häuptlinge begrüßte die Schar, welche von dem längſten
und kräftigſten der Jünglinge, einem baumſtarken Bengel,
angeführt wurde.
Wenn ich vorhin beſcheiden auf eine Schilderung der
ſchönen Libelle verzichtet habe, behielt ich mir vor, dafür
das Aeußere dieſes jungen Kriegshelden um ſo aus¬
führlicher darzuſtellen, ſoweit meine ſchwachen Kräfte
reichen; denn hier tritt ja das Frauenauge mit ſeinem
Urtheile in ſein Amt. Denke man ſich alſo einen Complex
herrlich gewachſener rieſiger Glieder vom ſatteſten Kupfer¬
roth und vom Kopf bis zu den Füßen mit gelben und
[365] blauen Streifen gezeichnet, auf jeder Bruſt zwei coloſſale
Hände mit ausgeſpreizten Fingern abgebildet, ſo hat man
einen Vorſchmack deſſen, was noch kommt. Denn eine
maleriſche Welt für ſich war das Geſicht, die eine Hälfte
der Stirn, der Augendeckel, der Naſe und des Kinnbackens
bis zum Ohre mit Zinnober, die andere mit blauer
Farbe bemalt, und dazwiſchen eine Anzahl fein tätowirter
Linien dieſer und jener Farbe. Die ganzen Ohrmuſcheln
waren rings mit herabhängenden Perlquaſten beſetzt, die
pechſchwarzen langen Haarſträhnen mit einer Menge Schnüre
von kleinen Muſcheln, Beeren, Metallſcheibchen u. dergl.
durchflochten und darauf noch ein Helm von weißen
Schwanenfedern geſtülpt; ein Scalpiermeſſer ſammt einem
blonden Scalp ſteckte als Haarnadel in dem Wirrwarr,
nicht zu gedenken noch anderer Quincaillerie, die weniger
deutlich zu unterſcheiden war. Allein über all' dieſem
Kopfputze ſträubte ſich ein Kamm gewaltiger Geierfedern,
weiß und ſchwarz, in die Höhe und zog ſich längs des
Rückgrates hinunter gleich einem Drachenflügel, ganz aus
den längſten Schwungfedern beſtehend. Dazu nun der
reich geſtickte Wampumgürtel, die geſtickten Schuhe und
Mocaſſins, ſo wird man geſtehen müſſen, daß hier ein
Schatz von Schönheit und männlicher Kraft verſammelt
war. Allein erſt der glühende furchtbare Blick machte
noch das Tüpfelchen auf das I, und als der Tapfere,
den man „Donner-Bär“ nannte, den Tanz anhub, zu
ſtampfen begann und mit ſchrecklichem Geſange die roth
[366] bemalte Axt über dem Haupte ſchwang, indem er die
andere Fauſt gegen die ſchlanke Hüfte ſtützte, da fühlten
die europäiſchen Gäſte beinahe ihre gepuderten Haare
kniſtern, denen beſonders das Scalpiermeſſer nicht gefiel.
Quoneſchi, die Waſſerjungfer aber, die zu den Füßen
Thibaut's lag, that erſt einen Seufzer und ließ dann
einen jauchzenden Jubelruf ertönen; ſie rüttelte den Offizier
am Arme und zeigte mit feurigen Augen auf den Kriegs¬
tänzer, indianiſche Worte redend wie mit Engelszungen,
die aber Thibaut nicht verſtand, bis ein hinter ihm
ſtehender Amerikaner ſagte: „das Weibsbild ſchreit immer,
das ſei ihr Verlobter, ihr Liebhaber, deſſen Frau ſie
noch heute ſein werde!“
Ganz ſtarr vor Erſtaunen blickte Thibaut nach dem
Tänzer hin, deſſen ſchreckliches Geſicht in allen Farben zu
blitzen ſchien, ſo daß er es nicht deutlich zu ſehen ver¬
mochte in ſeiner Verwirrung. Immer näher kam der
Donner-Bär mit ſeiner Bande; da riefen auf einmal
mehrere Offiziere unter ſchallendem Gelächter:
„Parbleu! der hat ja die Berlocken des Herrn von
Vallormes an der Naſe hängen!“
Entſetzt ſah Thibaut die Wahrheit dieſer Bemerkung;
ſie hingen dort, die Berlocken. Der Wilde tanzte jetzt
dicht vor ihm und unter ſeiner blau und roth bemalten
Naſe, deren Rücken durch einen ſcharf gebogenen weißen
Strich bezeichnet war, funkelte und blitzte es, bammelte
das Korallenherz der verlaſſenen Guillemette, das Kryſtall¬
[367] herz der kleinen Deniſe, das Opalherz der Tante Angelika,
hin und her, nach links und nach rechts, und bammelten
die anderen Sachen, die Kreuzchen, Medaillons und
Ringe blinkernd und blitzend durcheinander und peitſchten
beide Naſenflügel des Helden.
Jetzt tanzte dieſer ein Weilchen auf derſelben Stelle,
ſtill wie die Luft vor dem Gewitter, indem er nur mit
dem einen oder anderen Fuße ein wenig trampelte; plötz¬
lich aber ſtieß er ein wahres Bärengebrüll hervor, ergriff
die Quoneſchi am Arme, ſchwang ſie wie ein geſchoſſenes
Reh auf ſeine Schulter und raſ'te, gefolgt von ſeinen
Aexte ſchwingenden Genoſſen und dem Beifallsrufe der
rothen Völker, aus dem Ringe hinaus. Der Herr von
Vallormes bekam weder die Berlocken noch die Indianerin
je wieder zu ſehen.
Dreizehntes Capitel.
In welchem das Sinngedicht ſich bewährt.
Faſt glaub' ich, dort wartet ein Schreinermeiſter, den
ich beſtellt habe und ſprechen muß; ich empfehle mich ſo lange
den Herren!“ ſagte Lucia unmittelbar nach dem Schluſſe
der kleinen Erzählung und ging, ſich leicht und mit ver¬
haltenem Lächeln verneigend, davon. Reinhart blickte ihr
nach und ſah dann den alten Oberſt an.
„Was hat Ihre prächtige Nichte“, ſagte er, „nur für
einen Zorn auf meine armen Schützlinge, daß ſie ſo
ſatiriſche Pfeile auf mich abſchießt? Das geht ja faſt
über das Ziel hinaus!“
„Je nun,“ erwiderte der Oberſt lachend, „ſie wehrt
ſich eigentlich doch nur ihrer Haut, die übrigens ein
feines Fell iſt! Und merken Sie denn nicht, daß es
weniger ſchmeichelhaft für Sie wäre, wenn ſich die Lux
gleichgültig dafür zeigte, daß Sie für allerhand unwiſſende
und arme Kreaturen ſchwärmen, zu denen ſie einmal nicht
zu zählen das Glück oder Verdienſt hat?“
Ob Reinhart als Gelehrter ſchon ſo unpraktiſch oder
[369] als junger Mann noch ſo unkundig oder blind war,
genug, er hatte dieſe Seite der Sache noch gar nicht be¬
dacht und erröthete über den Worten des Alten ordent¬
lich von der inneren Wärme, die ſie ihm verurſachten.
„So geht es“, ſagte er mit unmerklicher Bewegung;
„wenn man immer in Bildern und Gleichniſſen ſpricht,
ſo verſteht man die Wirklichkeit zuletzt nicht mehr und
wird unhöflich. Indeſſen habe ich natürlich an das
Fräulein gar nicht gedacht, ſo wenig als eigentlich an
mich ſelbſt, ſo wie man auch niemals ſelber zu halten
gedenkt, was man predigt. Es iſt Zeit, daß ich abreite,
ſonſt verwickele ich mich noch in Widerſprüche und Thor¬
heiten mit meinem Geſchwätz, wie eine Schnepfe im Garn.“
„Gut, reiten Sie,“ antwortete der alte Herr, „aber
kehren Sie bald wieder! Kommen Sie zuweilen Sonn¬
tags und nehmen Sie ſtatt des alten Nilpferdes einen
jungen Kutſcher mit guten Trabern, ſo fahren Sie
raſcher vom Fleck und ſind weniger vom Wetter abhängig.
Ich mag der Lux zur Abwechſelung eine heitere junge
Geſellſchaft, wie die Ihrige, gönnen; ſie iſt frei, munter
und ſelbſtändig und macht keine Dummheiten. Ich ſelbſt
aber freue mich ordentlich ſentimental darauf, den Freunden
meiner Jugend durch Sie am Lebensabend noch einmal
nahe zu treten, und freue mich auch, der Dame Elſe
Moorland, Ihrer Mutter, meine Nichte unter Augen zu
ſtellen, damit ſie ſieht, wir ſeien hier auch nicht von
Stroh!“
Nachdem ſie noch ein Weilchen geplaudert, Reinhart
mit ungeduldigem Herzklopfen, eilte er ins Haus, den
Mantelſack zu packen, und nach dem Stalle, das Pferd
ſatteln zu laſſen, welches ſich auf der Weide rund gefreſſen
hatte. Er war ſo eilig, weil er glaubte, Zeit und Ge¬
ſchick damit zu beſchleunigen, mochten ſie bringen, was ſie
wollten.
„Sie werden doch noch mit uns eſſen, eh' Sie reiſen?“
ſagte Lucie betreten, als er wieder unter den Platanen
erſchien und ſie dort vorfand. „Es iſt nicht möglich“,
antwortete Reinhart; „wenn ich heute noch zu Haus an¬
kommen will, ſo muß ich vor Tiſch aufbrechen!“
„Ei, iſt denn Ihre Fahrt ſchon zu Ende? Sie haben
ja kaum begonnen! Sie werden doch die ſchädliche Arbeit
nicht ſchon wieder aufnehmen wollen?“
„Gewiß nicht, mein Fräulein, ich möchte jetzt mein
Augenlicht mehr ſchonen, als jemals, denn die bewußte
Kur hat ihm ſo gut gethan, daß es undankbar wäre, es
wieder zu gefährden!“
„Sie werden natürlich auf allen den bewußten
Stationen Halt machen, über welche ſie gereiſt ſind?“
„Dann würde ich nicht weit kommen! Ich denke viel¬
mehr den andern kürzern Weg von hier aus zu nehmen,
der über die Althäuſer Brücke führt.“
Lucie ſchien mit dieſem unbedeutenden Geſpräche zu¬
frieden zu ſein; ſie entließ den berittenen Naturforſcher
in freundlicher Weiſe, und er zog ſo ernſt ſeines Weges,
[371] wie ein Afrikareiſender, nachdem er vor einigen Tagen
ſo munter ausgefahren war. An dieſem Tage ging er
zwar wieder in heiterer Stimmung ſchlafen, nachdem er
noch einen geſelligen Kreis aufgeſucht und in deſſen Fröh¬
lichkeit ſein Wiſſen um Lucien als anonymen Theilnehmer
hatte mitlaufen laſſen. Am nächſten Morgen aber fühlte
er ſich vereinſamt und merkte, daß er angeſchoſſen war.
Und es kam ärger; unbekannte Nöthen fingen an, ſich
in ſeinem Herzen zu regen, daß er widerwillig die Natur
dieſes Muskels von Neuem unterſuchen, und als hierbei
nichts herauskam, ſich gewöhnen mußte, in angeſtrengter
Arbeit die Störungen zu vergeſſen, wenn er nicht einem
unwürdigen Zuſtande der Träumerei verfallen wollte.
Dennoch wiederholte er den Beſuch auf dem Landgute
zunächſt nicht, um durch das Getrenntſein den Ernſt der
Lage gründlicher zu erforſchen und klar zu ſtellen. Nur
ein par Briefe ſchrieb er ohne jede unbeſcheidene An¬
ſpielung und erhielt eben ſolche Antworten. Deſto froher
machte ihn ein unerwarteter Brief ſeiner Mutter Elſe
oder Hildeburg, welche ihm im Laufe des Sommers
ſchrieb, daß der Oberſt und ſeine ſchöne Nichte auf einer
Reiſe bei ihnen vorgeſprochen hätten, und wie das eine
erquickliche Geſchichte und ein fröhlicher Tag geweſen, wie
ferner für den Herbſt ein Gegenbeſuch verabredet ſei.
Die Lucie ſei eine ernſthafte und kluge Perſon mit dem
Gemüth eines Kindes, und der Papa Reinhart, der den
Leuten ſonſt ſo kurze Zettel zukommen laſſe, ſchreibe ihr
24*[372] bereits ſo lange Briefe, wie er ihr, der Mutter Elſe,
kaum in der erſten Zeit geſchrieben habe. Aber ſie möge
es ihr wohl gönnen und freue ſich ſchon darauf, die
Briefe ihres Mannes zu leſen, wenn ſie einmal dort ſei.
Im September kam ein Briefchen von Lucie; ſie
ſchrieb: „Ihre Eltern ſind beide hier bei uns; wollen
Sie nicht auch kommen? Es wäre doch nicht ſchön, wenn
wir die liebe Herrſchaft nicht mit der Anweſenheit des
Sohnes regaliren könnten und ſo gottesjämmerlich da¬
ſtänden, nachdem wir mit ſeiner Freundſchaft geprahlt
haben! Aber laſſen Sie das Nilpferd zu Hauſe und
bringen Sie einen Koffer mit! Der Onkel Marſchall will
mit Ihnen ſmoliren, was mir leider als einem Frauen¬
zimmer verſagt bleibt!“
Obgleich Reinhart, der ſo ausführliche Weiber- und
Liebesgeſchichten aus dem Stegreife erzählt hatte, die
letzteren Worte ſchon als vorläufige Andeutung eines Ab¬
ſchlages anzuſehen geneigt war, ſofern er etwa einen
ſolchen herausfordern würde, packte er doch einen Koffer
mit allen wünſchbaren und kleidſamen Sachen, die in
ſeinem Beſitze waren, und fuhr hin. Er fand Alles in
ſchönſter Laune unter, den Platanen vereinigt; die Elſe
Moorland trug ohne Schaden an ihrer Matronenwürde
ein ſchneeweißes Kleid gleich der Lucie, da eine warme
Sommerſonne ſchien, und ihr ſchwarzes Haar ohne Haube
entrollt. Der Oberſt hatte die Krücke im Hauſe gelaſſen
und trug Sporen an den Stiefeln. Der alte Reinhart
[373] ſah aus, wie wenn er ein dreiunddreißigjähriger Privat¬
docent wäre und erſt noch alles zu erreichen hätte, was
er ſchon geleiſtet und erreicht, und die Lucie war ſtill
und beſcheiden, wie ein ganz junges Mädchen, während
ſie doch fünf- oder ſechsundzwanzig zählte, kurz, Niemand
wollte alt ſein oder es werden, denn Alle hatten es in
ſich, und es war eine allgemeine Herrlichkeit und Zu¬
friedenheit; nur Lucie und Reinhart ſchienen abwechſelnd
etwas ſtiller oder nachdenklicher, je nachdem das eine oder
das andere bewölkten Himmel über ſich ſah. So ver¬
gingen einige Tage in großer Behaglichkeit.
Nun ſollte endlich auch ein Beſuch in dem bekannten
Pfarrhauſe abgeſtattet werden, deſſen Oberhaupt ein
Studienfreund des alten Reinhart geweſen, woher eben
die Bekanntſchaft auch mit dem Sohne.
„Gehen Sie auch gern hin?“ ſagte Lucie beſorgt zu
dem jungen Reinhart, weil ſie wünſchte, daß ihm jeder
Tag heiter und angenehm verlief, und wußte, daß ihn
die beſondere Art der Pfarrleute zuweilen ermüdete.
„Ich bin in der That nicht recht aufgelegt,“ verſetzte
er, „einen ganzen Tag dort zuzubringen.“
„Da bleibſt Du eben hier,“ rieth die Mutter, „es
handelt ſich ja ohnehin mehr um uns Alte; wenn der
Marſchall mitfährt, ſo wird der Wagen ſo ſchon beſetzt;
er will uns nämlich in ſeiner leichten Jagdſtellage, oder
wie man es nennt, hinführen, der Eiſenfreſſer. Sei
ruhig, Marſchall!“
Dies rief ſie, weil der Oberſt, hinter ihr ſtehend, ſie
an einer Bandſchleife zupfte, als er das Wort vernahm.
„Und was geſchieht denn mit Dir, Lux?“ ſagte er
hierauf.
„Mit mir? Ich muß eben das Haus hüten, wie alle
armen Haushälterinnen, und für den Abend ſorgen!“
„Gut, dann ſorge auch für ein rechtſchaffenes Ge¬
tränke! denn das Smoliren mit dem jungen Duckmäuſer
muß einmal ſtattfinden, daß die Duzerei durchgeführt iſt.
Du kannſt auch gleich mithalten!“
Beide junge Leute, errötheten wie Confirmanden, die
erſt etwas erleben ſollen. Kein Menſch hätte geglaubt,
daß ſie ſich vor einigen Monaten ſchon alles mögliche
Zeug erzählt hatten.
Als die Alten fort waren und jetzt auf einmal eine
Stille herrſchte, ſtanden die Jungen noch verlegen da
und ſchienen doch zu zögern, die inneſtehende Wage des
Augenblickes zu ſtören, bis Reinhart den Ausweg fand,
Lucien um ein Buch zu bitten, darin er leſen könne. Sie
lud ihn ein, ſelbſt nachzuſehen, was ihm diene. So gingen
ſie gemächlich in das Haus hinein, die Treppe hinauf
und betraten das beſcheidene Muſeum, in welchem das
Fräulein ſeine Jahre verbrachte. Durch die offenſtehenden
Fenſter wallte die Luft herein, indeß das milde Gold der
Septemberſonne, von der grünen Seide der Gardinen
halb aufgehalten, halb durchgelaſſen, den Raum mit einem
ſanften Dämmerſchein erfüllte.
[375]
„Was wollen Sie leſen?“ fragte Lucie.
„Darf ich eines von Ihren Lebensbüchern nehmen?“
erwiderte Reinhart; „ich habe bemerkt, daß hin und wieder
etwas an den Rand geſchrieben iſt, und nun empfinde ich
ein Gelüſte, dieſen Spuren nachzugehen und Ihre guten
Gedanken zu haſchen. Vielleicht, wenn es überhaupt er¬
laubt wird, entdecke ich das Geheimniß, welches Sie in
den Offenbarungen anzieht!“
„Das Geheimniß iſt ein ſehr einfaches,“ verſetzte Lucie,
„und doch iſt es allerdings eines. Ich ſuche die Sprache
der Menſchen zu verſtehen, wenn ſie von ſich ſelbſt reden;
aber es kommt mir zuweilen vor, wie wenn ich durch
einen Wald ginge und das Gezwitſcher der Vögel hörte,
ohne ihrer Sprache kundig zu ſein. Manchmal ſcheint
mir, daß Jeder etwas anderes ſagt, als er denkt, oder
wenigſtens nicht recht ſagen kann, was er denkt, und daß
dieſes ſein Schickſal ſei. Was der Eine mit lautem Ge¬
zwitſcher kundgibt, verſchweigt der Andere ſorgfältig, und
umgekehrt. Der bekennt alle ſieben Todſünden und ver¬
heimlicht, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat.
Jener zählt und beſchreibt mittelſt einer doppelten Selbſt¬
beſpiegelung alle Leberflecken und Muttermälchen ſeines
Rückens; allein daß ein falſches Zeugniß, das er einſt
aus Charakterſchwäche oder Parteilichkeit abgelegt, ſein
Gewiſſen drückt, verſchweigt er wie ein Grab. Wenn ich
ſie nun alle ſo mit einander vergleiche in ihrer Aufrichtig¬
keit, die ſie für kriſtallklar halten, ſo frage ich mich, gibt
[376] es überhaupt ein menſchliches Leben, an welchem nichts
zu verhehlen iſt, das heißt unter allen Umſtänden und zu
jeder Zeit? Gibt es einen ganz wahrhaftigen Menſchen
und kann es ihn geben?“
„Es ſind wol manche ganz wahrhaftig,“ ſagte Reinhart,
„nur ſagen ſie nicht alles auf ein Mal, ſondern mehr
ſtückweiſe, ſo nach und nach, und die Natur ſelbſt, ſogar
die heilige Schrift verfahren ja nicht anders!“
„Was mich tröſtet,“ fuhr Lucie fort, „iſt, daß mehr
Gutes als Schlimmes verſchwiegen wird. Beinah' Jeder
würde, wenn er nur Gelegenheit und Stimmung fände,
uns zuletzt doch noch mit dem Unangenehmſten bewirthen,
das er über ſich aufzubringen wüßte; Viele aber ſterben,
ohne daß ſie des Guten und Schönen, das ſie von ſich
erzählen könnten, je mit einer Silbe gedenken. Dieſe
führen auch trotzdem die lieblichſte Sprache; es iſt als
ob die Veilchen, Maßlieben und Himmelsſchlüſſelchen
zwiſchen ihren Zeilen hervorblühten, ganz gegen Wiſſen
und Willen der beſcheidenen Schreiber und Schreiberinnen.“
Reinhart hatte auf dem Stuhle Platz genommen, der
vor Luciens Tiſche ſtand, und ſie lehnte läſſig am Tiſche.
Inzwiſchen griff er von dem Brette der Lebensbe¬
ſchreibungen eines der Bücher heraus, und als er darin
blätterte, entfiel demſelben ein ſonderbares Bildchen oder
Einlegeblatt. Das Bildchen war mit ungezwirnter Seide
und feinſter Nadel auf ein Papier geſtickt, in der Art,
daß es ſich auf beiden Seiten vollkommen gleich dar¬
[377] ſtellte. Auf einem grünen Erdreiche ſtand ein Tannen¬
bäumchen und ein Stäudlein mit zwei rothen Roſen
dazwiſchen in der Reihe haftete am gleichen Grund und
Boden ein Herz, von welchem ein entzwei geſchnittenes
blaues Band flatterte, deſſen andere Hälfte an einem
zweiten Herzen hing; und dieſes, mit Flügeln verſehen,
hatte ſich offenbar von dem erſteren losgeriſſen und flog,
eine goldene Flamme ausſtrömend, in die Höhe, wahr¬
ſcheinlich zum Himmel hinan.
Reinhart beſah das Blättchen zuerſt achtlos, dann
aufmerkſamer, da er eben, als er es in das Buch zurück¬
legen wollte, den Inhalt erkannte.
„Was iſt das für eine kleine Herzensgeſchichte?“ fragte
er, „es ſcheint ja gar leidenſchaftlich herzugehen. Das
eine ſteckt wie eine rothe Rübe im Boden feſt, während
das andere feuerſpeiend und geflügelt ſich empor ſchwingt!“
Lucie nahm ihm die naive Schilderei aus der Hand,
beſchaute ſie ebenfalls und ſagte dann: „Alſo hier ſteckt
das närriſche Ding? Es wandert ſeit Jahren in dieſen
Büchern herum und kam mir lange nicht zu Geſicht.
Uebrigens iſt es eine Kloſterarbeit, die ich ſelber verfertigte.“
Als Reinhart die Sprecherin etwas verwundert anſah
ſetzte ſie erröthend hinzu: „Ich bin nämlich katholiſch!“
„Darüber brauchen Sie doch nicht zu erröthen!“ meinte
Reinhart, den eine ſolche Verſchiedenheit der Confeſſion
eher beluſtigte als betrübte. Sie verſtand ſeinen freien
Sinn, wurde aber jetzt ganz roth und ſagte mit unwill¬
[378] kürlichem Niederſchlagen der Augen: „Ich bin nicht katholiſch
geboren, ich bin es geworden!“
Hiermit lag die Sache freilich anders. Ein Religions¬
wechſel iſt in dies ſcheinbar ruhige Leben gefallen; was
mag damit alles zuſammenhangen! ſprach es ſogleich in
ſeinem Innern, und er blickte zu der unweit von ihm
ſtehenden Lucie mit der Ueberraſchung empor, mit welcher
man ſonſt in einen unvermutheten Abgrund hinabſchaut.
Sein Geſicht zeigte ſogar einen etwas bekümmerten Aus¬
druck; es malten ſich darin Mitleid und Sorge eines
Menſchen, dem keineswegs gleichgültig iſt, was ohne ſein
Wiſſen geſchah, als ob es ihn nichts anginge.
Die Augen plötzlich aufſchlagend, ſagte Lucie mit
wehmüthigem Lächeln: „Sehen Sie, da haben wir gleich
ſo eine Geſchichte, von der man nicht weiß, ob man ſie
bekennen oder verſchweigen ſoll! Es wiſſen nur wenige
Perſonen darum und ſelbſt mein Oheim ahnt nichts davon,
obgleich er auch katholiſch iſt.“
„Mir aber,“ erwiderte Reinhart, „haben Sie nun
ſchon zu viel verrathen, als daß Sie mir nicht an¬
vertrauen ſollten, um was es ſich handelt!“
„Es iſt im Grunde nichts als eine Kinderei, die Sie
erfahren dürfen“, verſetzte Lucie; „es iſt mir ſogar lieb,
wenn Sie es wiſſen, damit Sie eine gute Freundin, wie
ich bin, nicht gelegentlich unbewußt verletzen oder wenigſtens
kleinen Verdrießlichkeiten ausſetzen. Mein Vater war
Proteſtant, wie Jedermann in dieſer Gegend, die Mutter
[379] dagegen Katholikin; er beſaß aber ſo viel Gewalt über
ſie, daß ſie ohne weitere Umſtände den proteſtantiſchen
Gottesdienſt beſuchte und es ohne Widerſpruch geſchehen
ließ, daß ich in dieſem Glauben getauft und erzogen
wurde. Wir ſtellten ſo eine ungemiſchte proteſtantiſche
Familie vor, und Niemand wußte es anders. Nicht daß
der Vater ein beſonders eifriger und gläubiger Lutheraner
geweſen wäre; nur vertrat er den Grundſatz, daß aus
einem reformirten Hauſe man nicht mehr rückwärts
ſchauen ſolle, und das ſogenannte Katholiſchwerden war
ihm ärgerlich und verächtlich. Im Uebrigen benahm er
ſich duldſam und friedlich, und ſo verhinderte er auch
keineswegs meine ſelige Mama, mit ihrer beſten Jugend¬
freundin, einer ſtillen Kloſterfrau, den alten Verkehr fort¬
zuſetzen und dieſelbe alljährlich ein oder zwei Mal in
ihren geweihten Mauern heimzuſuchen. Bei Lebzeiten
der Eltern bewohnten wir ein Haus in jener Stadt am
Fluſſe, deren Thürme wir von hier aus ſehen können,
wenn das Wetter hell iſt. Die Gartenterraſſe ſtieß un¬
mittelbar an das Waſſer, zu welchem einige ſteinerne
Stufen hinunterführten, und am Fuße der Treppe lag ein
leichter Kahn an der Kette, der zu Spazierfahrten auf
dem leiſe ziehenden Gewäſſer benutzt wurde. Abwärts
vermochte faſt jeder Hausbewohner das Fahrzeug zu
regieren, und wenn wir eine längere Fahrt unternahmen,
kehrte man auf einem der kleinen Dampfboote zurück und
ließ den Nachen anhängen.
[380]
Ungefähr anderthalb Meilen unterhalb unſerer Stadt
ragte am gegenüber liegenden Ufer, wo die Menſchheit
katholiſch iſt, das beſagte Kloſter idylliſch aus dem Waſſer
in ländlicher Einfachheit und nur von ſeinen Obſtbäumen,
Wieſen und Feldern umgeben.
Da die Beſuche meiner Mutter meiſtens auf eines
der heitern Kirchenfeſte in ſchöner Jahreszeit verlegt
wurden, wie z. B. auf Fronleichnamstag, wo die Stifts¬
frauen ſich eine gewiſſe Fröhlichkeit, ein beſcheidenes
Wohlleben gönnten, ſo machte die Mama ſich die Freude
noch dadurch feierlicher, daß ſie ſich auf dem blau glänzenden
Fluſſe hinunter fahren ließ und meine Perſon im frühſten
Kindesalter mitnahm. Sie putzte mich dann zierlich und
hellfarbig heraus, damit ich den guten Nonnen in ihrer
dunklen Tracht und Abgeſchiedenheit den Sommertag hin¬
durch als eine Art lebendiger Puppe dienen konnte, mit
welcher ſie ſpielten, und die Mama empfand das ſchönſte
Vergnügen, mich von Hand zu Hand, von Schoß zu
Schoß gehen zu ſehen. Als ich jedoch etwas größer
wurde, hielt ich mich ſelbſt ſo ernſt und ſtill wie ein
Nönnchen und war ſtolz darauf, die beiden Freundinnen
nicht zu verlaſſen, wenn ſie unter traulichen Geſprächen
und Erinnerungen in der Zelle am Fenſter ſtanden oder
einen Gang durch die blühenden Gärten und Felder
machten. Bei der feſtlichen Tafel jedoch mußte ich neben
der Frau Priorin ſitzen, die mir ab und zu wohlwollend
die Hand ſtreichelte und mich niemals entließ, ohne mir
[381] ein buntes mit ſeidenen Maſchen geziertes Körbchen voll
Backwerk und irgend ein ſilbernes Kreuzchen oder Gottes¬
mütterchen zu ſchenken. Kamen wir dann nach Hauſe,
ſo verglich uns der ſelige Vater ſcherzend mit jenen
aztekiſchen Indianern, welche heutzutage noch zu gewiſſen
Zeiten auf den großen Strömen landeinwärts fahren ſollen,
um an geheimnißvollen Orten den alten Göttern zu opfern.
Leider war ich trotz dieſer Kloſterfreuden ſchon ein
rechtes kleines Heidenſtück und zwar durch den Unverſtand
der großen Menſchen. Es beſuchte ein hübſcher junger
Mann unſer Haus, der ſo oft er mich erblickte, mich auf
ſeine Kniee nahm, küßte und ſeine kleine Frau nannte.
Als ich das vierte oder fünfte Jahr hinter mir hatte,
ließ ich mir's freilich nicht mehr gefallen; ich ſträubte
mich, ſchlug um mich und entfloh. So oft er aber kam,
fing er mich wieder ein, und ſo ging das Spiel fort, bis
ich acht, bis ich zehn Jahre alt war. Ich blieb ſtets
gleich wild und ſpröde, und doch wurde ich allmälig
unzufrieden, ja unglücklich, wenn er etwa vergaß, mich
ſeine kleine Frau oder ſeine Braut zu nennen, die er zu
heirathen nicht verfehlen werde. Indeſſen ſah ich ihn
endlich nur noch ſelten, weil er längere Zeiträume hin¬
durch abweſend war; wenn er einmal wieder kam, geſchah
es in veränderter Geſtalt, jetzt als verwegener Student,
dann als Militär in glänzender Montur, oder als ge¬
reiſter Weltmenſch, was ihm in meinen kindiſchen Augen
einen geheimnißvollen Reiz verlieh.
[382]
Zuletzt aber verſchwand er auf mehrere Jahre und ich
vergaß ihn endlich. Jetzt war ich zwölf Jahre alt, und
die Mutter ſtarb uns weg. Eine achtloſe Erzieherin und
einige Stundenlehrer beſorgten meine Ausbildung, während
der Vater verſchiedenen Liebhabereien lebte und öfter
verreiſte. Um dieſe Zeit las ich den Wallenſtein von
Schiller und verliebte mich unverſehens in den Max
Piccolomini, deſſen Tod mir gewiß ſo nahe ging, wie
der guten Thekla. Des Nachts träumte ich von ihm
und am lichten Tage erfüllte er mir die Welt, ohne daß
ich ſeine Geſtalt, ſeine Geſichtszüge deutlich zu erkennen
vermochte. Auf einem Stück Haide unweit der Stadt
gab es eine kleine Erderhöhung, von ein par Hollunder¬
bäumen überſchattet. Ich nannte den Ort das Grab des
Piccolomini und bepflanzte ihn heimlich mit Sinngrün,
das ich in meiner Botaniſirbüchſe aus dem Walde holte.
Manches einſame Stündchen ſaß ich dort und ließ friedlich
Thekla's Geiſt an meiner nicht unbehaglichen Trauer
Theil nehmen. Einſt aber, als ich mir beſonders lebhaft
das Auſſehen des jugendlichen Kriegshelden und Lieb¬
habers vorzuſtellen ſuchte, ſah ich deutlich vor mir die
Züge Leodegar's, meines ſcherzhaften Kindergemahls oder
Verlobten. Sogleich ward ich dem zweihundertjährigen
Todten untreu und meine ſtille Trauer um ihn verwandelte
ſich in eine ebenſo ſtille Sehnſucht nach dem Lebenden,
und ich zweifelte nicht an ſeiner Wiederkehr; denn ich
merkte, daß er es eigentlich war, der in meinem geheimſten
[383] Herzen gelebt hatte. Ein tiefer Ernſt bemächtigte ſich meiner
in allem, was ich that, im Lernen und Arbeiten, da ich
alles auf ihn und ſein Wohlgefallen bezog, und ich kann
wohl ſagen, daß dies wunderlich ernſthafte Weſen mir in
meiner damaligen Exiſtenz Vater und Mutter, Lehrer und
Führer war, wenigſtens das alles einigermaßen erſetzte.
Und ich verſchwieg die geheime Triebfeder meiner
jungen Jugend unverbrüchlich; nie erwähnte ich derſelben
mit einem Worte und nannte den Namen ſo wenig, als
wäre er nicht in der Welt. Wurde aber einmal von
Leodegar geſprochen, ſo hörte ich aufmerkſam zu und wich
nicht vom Orte, ſo lang es dauerte. Eines Tages hörte
ich ihn als phantaſtiſch, gewaltſam, rechthaberiſch und ehr¬
geizig ſchildern in Verbindung mit dem Zugeſtändniſſe,
daß er von großen Gaben ſei. Weil ich aber den Sprach¬
gebrauch dieſer Worte zum Theil aus mangelnder Er¬
fahrung mißverſtand, zum Theil aus Widerſpruch und
Parteilichkeit umkehrte, ſo nahm ich phantaſtiſch für
phantaſievoll, gewaltſam für machtvoll; rechthaberiſch ver¬
wechſelte ich mit Recht liebend, und ehrgeizig galt mir ſo
viel wie von Ehre beſeelt, als ruhmwürdige Geſinnung.
Das Bild wurde daher immer ſchöner und idealer in
meinem Herzen; mit ängſtlichem Eifer ſtrebte ich beſſer
und Leodegar's nicht ganz unwerth zu werden, und wenn
ich Fehler beging, ſo ruhte ich nicht, bis ich glaubte, ſie
durch Reue und allerhand kleine gute Werke als geſühnt
betrachten zu dürfen.
[384]
So erreichte ich den Schluß des fünfzehnten Lebens¬
jahres, der mit Sommers Anfang eintrat, als der Vater
eben auf einer größeren Reiſe begriffen und für Monate
abweſend war. Unverhofft erſchien um dieſe Zeit Leodegar
in der Heimat, jedoch nur auf ein par Wochen, während
welcher er einige Mal in unſer Haus kam, worin ich
unter der Obhut einer Wirthſchafterin und meiner Gouver¬
nante einſam lebte. Jene gehörte zu einer kirchlichen
Sekte mit ſehr ausgeprägten Lehren und Gebräuchen,
und ſie verbrachte jede freie Minute mit dem Beſuche der
Conventikel oder dem Leſen der Traktate. Mein Papa
ließ ſie gewähren und munterte ſie ſogar auf, um zu
ſeinem Vergnügen gewiſſe religionspſychologiſche Studien
an ihr zu machen, und ſie merkte natürlich nicht, daß er
ihre Reden zergliederte und unter die Rubriken eines
Tabellenwerkes vertheilte. Die Erzieherin dagegen ver¬
wendete alle ihre Tage mit dem Vermehren und Ordnen
einer Käferſammlung. Sie ſtand mit Gelehrten und
Naturalienhändlern in Verbindung und ſandte fortwährend
Schachteln fort. Denn ſie verſtand, auf zahlreichen Aus¬
flügen den letzten Käfer aus ſeinem Hinterhalt zu ziehen,
und hatte eine ſeltene Art, die gerade in einem Gehölze
unſerer Gegend zu finden war, nahezu ausverkauft. Ich
kann mich des Namens dieſes ausgerotteten Käferſtammes
nicht mehr entſinnen. Am betrübteſten darüber war ein
inſektenkundiger Herr Oberlehrer, welcher der handels¬
luſtigen Dame den Ort nachgewieſen hatte und ſich daher
[385] der Mitſchuld an dem wiſſenſchaftlichen Raubverfahren,
wie er es nannte, anklagte. Uebrigens hieß ſie Fräulein
Hanſa. Sie bewunderte und liebte nämlich den Namen
Hans über alles, und um ſeiner theilhaftig zu werden,
hatte ſie ihn ohne Rückſicht auf Sinn oder Unſinn mit
einem a verziert und angenommen.
Unter ſolchen Umſtänden, ſolchen Vorgeſetzten that
ich was ich wollte, d. h. niemand ſah auf mich. Als ich
aber von Leodegar's Ankunft hörte, war es, wie wenn
ich zu dieſer Unabhängigkeit hinzu auf einen Ruck noch ein
par Jahre älter würde. Ich erwartete ihn mit zitterndem
Herzen und trat ihm dennoch mit der Haltung einer
zwanzigjährigen Perſon verſchämt und feierlich entgegen.
Alle Welt! rief er überraſcht aus, als er meiner an¬
ſichtig wurde; da darf ich ja nicht mehr von meiner
kleinen Frau reden, das gibt bald eine große!
Ich aber erblickte ihn jetzt faſt mit Entſetzen; denn
ſeine regelmäßigen aber ſtarken Züge, die ſchwarzen, in
die Stirne fallenden Locken, die großen Augen, die mit
kalten Flammen leuchteten, alles ſah ich ſpäter lange
noch einem gemalten Bilde gleich vor mir; damals aber
erſchreckte und blendete mich dies zu ſeinem vollen Aus¬
druck gelangte Weſen, und der Schrecken diente nur dazu,
meine Kinderei auf den Gipfel zu treiben. Ich nahm
mich jedoch zuſammen; nach einer kurzen Unterhaltung
lud ich meinen Seelenfreund auf einen beſtimmten Tag
gelaſſen zu Tiſch, als ob es nur ſo ſein müßte. Die
Keller, Sinngedicht. 25[386] Wirthſchafterin nicht weniger als die Gouvernante er¬
ſtaunten trotz ihrer gewohnten Zerſtreutheit über meine
Befehle und Anordnungen, und mein Gebaren verblüffte
ſie ſo ſehr, daß ſie gar keinen Widerſpruch erhoben noch
Schwierigkeiten machten, als ich dem Speiſezettel immer
neue Dinge hinzufügte, von denen ich wußte, daß er ſie
früher liebte.
Ich ſelber deckte ſchon in der Morgenfrühe den Tiſch
mit dem beſten Geräthe, das die Mutter nur bei ſeltenen
Gelegenheiten einſt gebraucht hatte; mit neuer Ver¬
wunderung gab Frau Liſe, die Wirthſchafterin, das Silber¬
zeug heraus. Als dann der Tiſch fertig war und in aller
Herrlichkeit glänzte, zog ich mein ſchönſtes Kleid an und
unterließ nicht, mich mit den kleinen Schätzen zu ſchmücken,
die man meiner Jugend anvertraut hatte. Auch Fräulein
Hanſa putzte ſich auf meine Bitte ſtattlich heraus; ſie
rauſchte in ſchwarzer Seide einher, einem Erträgniſſe ihrer
Käferhandlung, und hatte einen großen ägyptiſchen
Scarabäus vorgeſteckt, den ihr der Vater geſchenkt. Das
Alterthum war aus edlem Stein geſchnitten, in Gold ge¬
faßt und zu einer Bruſtnadel verwendet.
So weit war Alles gut und nach meinem Willen
vollbracht. Aber nun änderte ſich die Sache. Als wir
zu Dreien am Tiſche ſaßen und uns unter der Aufſicht
der Frau Liſe bedienen ließen, ſah ich mich plötzlich auf
mein wahres Alter und Zöglingsdaſein zurückgewieſen.
Ich wußte nichts zu ſagen und thronte in meiner Pracht
[387] ſteif und ſchweigend gleich einer hölzernen Puppe, während
die Gouvernante die Unterhaltung führte und Leodegar
genug zu thun hatte, ihr zu antworten. Als ſie auf
eine Bemerkung hin, die er wegen des Scarabäen an ſie
richtete, die Broſche losmachte und ihm zum Beſchauen
in die Hand gab, wollte mir das beinah' das Herz ab¬
drücken; voll Eiferſucht ergriff ich eine Flaſche, um nur
auch etwas zu thun, und goß dem Gaſte in der Ver¬
wirrung das Glas ſo voll, daß es überlief und der rothe
Wein das Tiſchtuch befleckte. Fräulein Hanſa ſchenkte mir
einen kleinen ſehr anſtändigen Verweis nicht; bündiger
machte es die Wirthſchafterin, die ihre geiſtliche Gelaſſen¬
heit vergeſſend mit einem weißen Tüchlein herbeikam, die
Verwüſtung bedeckte und einen verdrießlichen Blick nach
mir abſchoß. Das Waſſer trat mir in die Augen; ich
wußte nicht, wo ich hinblicken ſollte, ſah aber dann ver¬
ſtohlen nach Leodegar, der mir lachend und wohlwollend
zunickte und ſeinen alten Scherz erneuerte. Ei, gute
Lucie, ſagte er, wenn Du ſo ungeſchickt bleibſt, ſo können
wir uns noch nicht heirathen.
Die zwei älteren Perſonen mochten den Scherz, den
ſie von früher her kannten, nicht mehr für angemeſſen
halten; denn ſie lächelten etwas ſäuerlich dazu. Ich hingegen
wurde roth und fühlte mich nichtsdeſtoweniger beruhigt,
weil das unverhofft verlautende Wort meinen alten kind¬
lichen Glauben an den Ernſt und die Wahrhaftigkeit des¬
ſelben beſtätigte.
25*[388]
Nach beendigter Mahlzeit und als auch der Kaffe ge¬
nommen war, ſchlug unſer Gaſt vor, einen Spaziergang
in das Freie zu machen. Er werde am nächſten Morgen
wieder abreiſen, ſagte er, und wiſſe nicht, ob er ſo bald
wieder komme.
Mit ſchrecklicher Beklemmung hörte ich dieſe An¬
kündigung; kein größeres Unglück ſchien es mir in der
Welt zu geben, als die abermalige unerwartete Trennung.
Allein kaum eine halbe Stunde ſpäter fühlte ich mich
noch zehnmal unglücklicher. Wir gingen durch ein ver¬
nachläſſigtes Luſtwäldchen, deſſen ſchmale holperige Wege
ſich an einem Hügel im Stadtforſte verloren. Leodegar
hatte der Erzieherin den Arm gegeben, den ſie nun nicht
mehr fahren ließ, ſo daß ich genöthigt war, wie ein
Hündchen hinter dem Paare drein zu laufen. Sie
achteten nicht einmal darauf, und ich befand mich in
meiner fünfzehnjährigen Nichtsnutzigkeit ſo elend, daß ich
zu weinen anfing und mit dem Schnupftuch den Mund
verſtopfen mußte, um das Schluchzen und Stöhnen nicht
laut werden zu laſſen. Das paßte nicht gut zu meinem
modiſchen Anzuge, den ich demjenigen erwachſener Damen
ſo ähnlich als möglich gemacht hatte.
Plötzlich aber gab es eine Wendung der Dinge.
Fräulein Hanſa zog das Fläſchchen mit Spiritus, das
ſie ſtets bei ſich trug, aus der Taſche und that einen
Sprung unter die Bäume, wo ſie die langen Fühlhörner
eines Käfers aus einer bemooſten Rinde hervorſtehen
[389] ſah. Gleich darauf verſank der arme Waldbruder in das
Fegefeuer des Fläſchchens und zitterte ſchrecklich, bevor
er ſich zur Ruhe gab. Dieſen ſah ich zwar nicht, aber
ich kannte das Schauſpiel genugſam. Fräulein Hanſa
aber rief uns zu, wir ſollten einſtweilen nur weiter
gehen, ſie müſſe den Ort genauer unterſuchen und werde
uns ſchon einholen.
Jetzt ſah ſich Leodegar nach mir um und erblickte
mich in meinem verzweifelten Zuſtande, der mich wohl ſo
ſchlimm dünkte, wie die Lage des ſterbenden Kerb¬
thierchens. Ueberraſcht ergriff er meine Hand, legte ſie
in ſeinen Arm und führte mich weiter, wie er vorher
die Gouvernante geführt hatte, indem er ſagte: Was
gibt's denn da? Warum weint man? Eine Braut, eine
kleine Frau, die weint, wo ſoll das hinaus?
So kindermäßig das klang, ſo tröſtete mich doch der
alte Titel, der mir zukam wie der Platz an der Seite
des Mannes, deſſen Arm mich doch eher beängſtigte als
erfreute. Ich antwortete nichts, trocknete die Thränen
und brachte das Geſicht in Ordnung. Als wir ein
hundert Schritte gegangen, erreichten wir den Saum des
Gehölzes und betraten die anſtoßende Haide, wo wir
gleich das Grab des Piccolomini fanden. Das Immer¬
grün, das ich einſt gepflanzt, hatte ſeit drei Jahren den
kleinen Hügel dicht überſponnen; die Hollunderbüſche
waren höher und breiter geworden und mit Blüthen¬
büſcheln behangen, und irgend Jemand, dem das Plätzchen
[390] gefiel, hatte ein hölzernes Bänklein in ihrem Schatten
errichtet.
Hier wollen wir ausruhen und auf das Fräulein
warten! ſagte Leodegar; was iſt das für ein lauſchiger
Winkel, den ich noch nie geſehen?
Es iſt ein Grab, wie ich glaube, erwiderte ich in
ängſtlicher Zerſtreuung, brach jedoch meine Rede ab.
Mir war zu Muth, als ob ich wenigſtens dreißig Jahr'
alt wäre und auf weitentlegene Jugendträume zurück¬
blickte. Obgleich es nur der Schatten eines Dichterge¬
bildes war, der hier begraben lag, ſo empfand ich doch
eine Art Furcht vor der Nebenbuhlerſchaft der zwei
Männer; denn der Lebende ſchien mir wohl ſo ſchön und
gewaltig, wie ich mir einſt den Todten gedacht. Das
Laub der Hollunderbäume flüſterte mir unheimlich in die
Ohren. Auch hatte ich eines Tages meine Erzieherin in
einer Damengeſellſchaft äußern gehört, daß die Männer
es haſſen, wenn ihre Frauen von früheren Liebesgeſchichten
erzählen. Alles das war trotz meinem Hange zur Auf¬
richtigkeit Grund genug, auf Leodegar's Frage, wer denn
hier begraben ſein ſolle, ſtumm wie ein Fiſch zu bleiben.
Ich zitterte leiſe vor Beklemmung. Er bemerkte es,
nahm mich brüderlich in den Arm, ſtreichelte mir die
Backen und fragte, was mir denn ſei und warum ich ge¬
weint habe?
Da brach ich von Neuem in Thränen aus; ich ſehnte
mich nach Vertrauen, nach Freundſchaft und Liebe, nach
[391] einer beſſern Heimat als ich beſaß, und dieſe Sehnſucht
machte ſich jetzt, ohne daß ich daran etwas ändern konnte
mit den wunderlichen Worten Luft:
Vetter Leodegar! Wann wirſt Du mich denn heirathen?
Er ſchwieg erſt ein Weilchen, wie um ſich auf die
Antwort zu beſinnen. Dann hob er mein Kinn mit
einem Finger empor, daß er mein Geſicht ſehen konnte,
und das ſeinige hing mit zärtlichen Augen über mir,
indeſſen der Mund ſeltſam lächelte.
Endlich ſagte er: Du gutes Mädchen, wenn Du erſt
katholiſch biſt, wird die Hochzeit ſein!
Aber meine Mama iſt ja auch nicht proteſtantiſch
geworden, ſagte ich, und der Papa hat ſie doch geheirathet.
In dieſem Punkte ſind Dein Papa und ich zwei
Dinge! erwiderte er nachdenklich, indem er mich zärtlicher
an ſich zog und einen Kuß auf meine Stirne zu drücken
im Begriffe war. Da hörten wir die Schritte und die
Stimme der Erzieherin hinter den Bäumen, und Leodegar
ließ mich unwillkürlich frei. Dieſes Fahrenlaſſen kam
mir kleinem Ungeheuer zu ſtatten; denn eben ſträubte ich
mich gegen den Kuß. Dennoch gab es dem Abenteuer
in meinem Sinne die Weihe des Geheimniſſes; ich wußte
nun, daß die Leute nichts von dem Vorgange wiſſen
durften, und hielt denſelben um ſo eher für eine heimliche
Verlobung.
Der Spaziergang wurde nun auf breiteren Wegen
fortgeſetzt: erſt nach einigen Minuten lachte Leodegar
[392] halblaut vor ſich hin, aber nur einen Augenblick, als ob
ihm etwas ſehr Drolliges einfiele. Sonſt ereignete ſich
nichts Beſonderes mehr. Er begleitete uns noch bis vor
unſere Hausthüre und verabſchiedete ſich, da er in der
Morgenfrühe abreiſen wollte. Mir drückte er ernſt und
gütig die Hand und ermahnte mich, ferner ſo lieb und
gut zu ſein und fleißig zu lernen. Ich blickte ihm nach,
bis ſeine hohe Geſtalt in der Abenddämmerung verſchwand.
Dann trat ich in das Haus, während Fräulein Hanſa
ſchon oben ſaß und ihre Jagdbeute muſterte.
Frühzeitig ging ich zu Bette, um ungeſtört weinen
und über die ernſte Wendung meines jungen Lebens,
über die Worte Leodegar's nachdenken zu können. All¬
mälig aber ſchlief ich ein, erwachte jedoch kurz nach
Mitternacht. Da ſtand ich leiſe auf und kleidete mich voll¬
ſtändig reiſefertig an, worauf ich einen Handkorb mit
den nothwendigſten Sachen voll packte, endlich aber auch
einen Brief an meine Hausgenoſſinnen ſchrieb, worin ich
ihnen meldete, ich hätte ein Heimweh nach der Jugend¬
freundin meiner Mutter, der Nonne, empfunden und ſei
in das Kloſter hinuntergefahren, wo ich einige Zeit, bis
der Vater zurückkehre, verweilen werde. Punktum.
Hierauf nahm ich meine Nachtkerze und den Reiſe¬
oder vielmehr Marktkorb, ſchlich mit unhörbaren Schritten
in den Flur hinunter, öffnete die hintere Hausthüre, die
in den Garten führte, und ſtieg in den dort angebundenen
Nachen, den Korb auf deſſen Boden ſetzend. Nach alle¬
[393] dem endlich löſte ich die Kette, legte das Ruder ein, das
ich auch hinausgetragen, und lenkte das Fahrzeug auf
die Mitte des ſanft im Mondlichte fließenden Stromes
hinaus; denn der Mond ſtand hoch am Himmel, wie es
überhaupt die ſchönſte Juninacht war. Am Ufer ſchlug
hüben und drüben hier und da eine Nachtigall, und nie
iſt die unbeſonnene That eines Backfiſches unter ſolchen
Begleitumſtänden begangen worden. Ich brauchte aller¬
dings nur dann und wann einmal das Ruder zu rühren,
um das Schifflein in der Richte zu halten; allein die
Fahrt war immerhin bedenklich genug, da ich unter zwei
Brücken hindurch mußte und an einem ihrer Pfeiler
ſcheitern konnte, wenn ich die rechte Mitte verfehlte.
Ich fuhr aber frech und träumeriſch ohne allen Unfall
dahin und lenkte im erſten Morgenſcheine in die mir
bekannte Bucht ein, wo die Fiſcherkähne des Kloſter¬
müllers unter den hohen Weidenbäumen ſtanden.
Eben läutete das Mettenglöcklein des Kloſters; im
Chore ſangen die Nonnen ihre Frühgebete, während
draußen die Amſeln, die Finken und andere Vögel ihre
Tagelieder erſchallen ließen, daß die Luft zu leben ſchien.
Aber auch die Hunde rannten bellend herbei, da ich die
Landung mit Geräuſch bewerkſtelligte, an die Kähne ſtieß
und mit der Kette des meinigen über dieſelben hinweg¬
ſprang. Glücklicherweiſe kam einer der Kloſterknechte,
der ſich meiner noch erinnerte, und beſchwichtigte die
Hunde. Er machte den Kahn feſt und trug meinen Korb
[394] an die Kloſterpforte. Blaß von der Morgenkühle und
dem Nachtwachen zog ich die Glocke, mußte aber geraume
Zeit warten, bis die Pförtnerin kam und mich nach
einem kurzen Verhöre einließ. In der Vorhalle hieß ſie
mich auf eine Bank ſitzen; nicht weniger als der Knecht
über mein Erſcheinen verblüfft, holte ſie die Frau Schweſter
Klara herbei, die eben aus der Kirche kam. Die gute
Tante Klara, wie ich die mütterliche Freundin ſonſt ge¬
nannt hatte, war im Begriffe geweſen, nach der Hora
noch das übliche Morgenſchläfchen zu ſuchen, und kam
nun ganz erſchrocken, mich zu ſehen, zu fragen, was ſich
ereignet habe, warum und auf welche Weiſe ich gekommen
ſei u. ſ. w. Vor allem aber brachte ſie mich in ihre
Zelle und vernahm mit neuer Verwunderung, doch nicht
ohne Rührung, daß ich mich einſam fühle und einige
Tage bei ihr weilen möchte. Ueber meine verwegene
Stromfahrt bekreuzte ſie ſich. Du armes Kind, rief ſie,
wacht denn Niemand über dich?
Doch ſogleich holte ſie aus ihrem Wandſchränklein ein
Gläſchen duftigen Nonnenliqueurs und zwang mich, das
wärmende Tränklein mit einem würzigen Zuckerbrote zu
mir zu nehmen. Als dies geſchehen, ruhte ſie nicht, bis ich
auf ihrem Bette lag und einſchlief, während ſie ſich ſelbſt
mit ihrem Gebetbuche auf einen Schemel ſetzte und dem
Aufgang der Sonne entgegen ſah.
Als die Glocke zur Morgenſuppe geläutet wurde, kam
ſie mich zu wecken; denn ſie hatte inzwiſchen ſchon mit der
[395] Frau Priorin geſprochen und dieſe darauf befohlen, daß
man mich vorläufig in Stille und Ruhe da behalten ſolle,
bis die Angelegenheit ſich abgeklärt habe. Ich frühſtückte
alſo mit den Kloſterfrauen, von denen faſt alle noch die
alten waren. Gleich nachher wurde unſer Hausdiener
gemeldet, welcher nach der Entdeckung meiner Flucht und
nach erfolgtem Rathſchlag von dem Fräulein Hanſa und
der Frau Liſe mir nachgeſandt worden und auf einem
Flußdampfer herunter gefahren war. Der treue Mann,
der nämliche, der jetzt noch bei uns iſt, kannte die Schweſter
Klara und ihr Verhältniß zu meiner verſtorbenen Mutter;
als er mich daher in Begleit der Nonne am Sprachgitter
erſcheinen ſah und wahrnahm, daß ſich alles in Ordnung
befand und ich ſoweit wohl aufgehoben ſei, empfahl er
ſich bald und ruderte das Schifflein, das mich hergetragen,
rüſtig flußaufwärts, nachdem er den ihm gereichten Imbiß
eingenommen.
Dergeſtalt blieb ich im Kloſter ſammt dem Plane, den
ich im Kopfe barg. Gegen Abend aber erging ſich
Schweſter Klara mit mir im Felde, wie ſie vormals mit
der Mutter gethan, und entlockte mir mit ſanftem An¬
dringen die Urſache, die mich auf ſo unvermuthete Weiſe
anher geführt.
Ich eröffnete ohne Zögern meinen Wunſch, mit ihrer
Hülfe und dem Schutze dieſes Kloſters zur katholiſchen
Religion überzutreten.
Klara erſchrak zum zweiten Male über mich und
[396] ſchüttelte den Kopf. Allein an Hingebung und Gehorſam
gewöhnt, wagte ſie nicht, mein Anſinnen von ſich aus zu
beantworten; ſie begab ſich unverweilt zu der Frau
Priorin und theilte derſelben die wichtige Neuigkeit mit.
Die Priorin ſchüttelte ebenfalls den Kopf, worauf ſie in
die Probſtei hinüberging, um den über das Kloſter ge¬
ſetzten Probſt von der Sache zu unterrichten. Er
wandelte aber mit ſeinem Brevier auf ſeinem Lieblings¬
pfade am Flußufer, und um nichts zu verſäumen, watſchelte
die beſorgte Vorſteherin ihm nach, bis ſie ihn fand. Er
ſchüttelte ſeines Theils mit nichten das Haupt, zog viel¬
mehr den Fall in ernſtliche Erwägung und entſchied ſich
dahin, daß ich zur Prüfung und Beobachtung einige Tage
zu beherbergen ſei, indeß er den Rath ſeines Abtes einhole.
Was mich betraf, ſo verharrte ich auf meinem Vor¬
ſatze; höheren Orts wurde überlegt, wie ich die muthmaßlich
einzige Erbin des vorhandenen Vermögens, das Kind
einer Katholikin ſei, welche, durch den ketzeriſchen Ehemann
dem rechten Glauben entzogen, ohne die Tröſtungen der
Kirche verſtorben; wie mein Begehren offenbar eine
Fügung ſei, deren mögliche Früchte für Stift und Kirche
nicht leichthin verſcherzt werden dürften.
Nun war ich nach den Landesgeſetzen, wenn ich erſt
ein Jahr älter geworden, berechtigt, nach freier Wahl
den Uebertritt zu thun, auch gegen des Vaters Willen.
Es ward alſo die Frage geſtellt: ſollte man dies Jahr
verfließen laſſen und mich thunlichſt unter den Augen
[397] behalten, auf die Gefahr hin, daß ich von meinem Ent¬
ſchluſſe wieder abfiele, — oder ſollte man jetzt ſogleich
meinen Willen thun unter der Bedingung, daß ich den
Schritt bis zum Tage meiner confeſſionellen Mündigkeit
geheim halte? Und war auf mein Verſprechen zu bauen?
Das letztere Verfahren wurde dennoch für gut befunden.
Für den Fall des verfrühten Kundwerdens gedachte man
auf die Aufſichts- und Rathloſigkeit hinzuweiſen, in
welcher ich gelaſſen worden ſei, und die den ehemaligen
Glaubensgenoſſen der Mutter des Kindes den gewährten
Schutz zur einfachen Pflicht gemacht habe.
Solchermaßen wurde denn auch gehandelt. Der Herr
Probſt ſelber ertheilte mir während zwei Monaten den
geiſtlichen Unterricht; dann empfing ich in der Kloſterkirche
die Taufe. Zwei Conventualen aus dem fernen Mutter¬
ſtifte, dem der Probſt angehörte, und zwei Nonnen, von
denen Klara die eine, wohnten als Taufzeugen bei. Nachher
wurden die nöthigen Urkunden aufgeſetzt und unterſchrieben,
und der Probſt verwahrte ſie einſtweilen in ſeinem Archive.
Der Name Lucia wurde mir gelaſſen.
Ich vermag meine Seelenverfaſſung während des
Unterrichts und der Ceremonie kaum zu beſchreiben.
Jedenfalls hatte ich dabei ein böſes Gewiſſen und fühlte
deutlich, daß ich meinem Vater gegenüber nichts Gutes
that. Außerdem empfand ich eine eiſige Kälte im Herzen,
die mich auch drückte; nur der Gedanke, daß ich mich
jetzt unauflöslich mit Leodegar vereinigt habe und keine
[398] Schranke mehr meinem Glücke im Wege ſtehe, löſte die
Starrheit der Seele, daß mein Blut wieder etwas Leben
gewann. Die Leute nahmen das für religiöſe Ergriffen¬
heit; einzig Schweſter Klara, die einen tieferen Antheil
nahm, wurde weder klar noch ruhig über mein Weſen,
und als ich eines Nachmittags bei ihr in der Zelle ſaß,
begann ſie mit leiſen und vorſichtig geſtellten Worten von
neuem nach Natur und Art der wahren Grundurſache
zu forſchen, die mein Inneres bewegte. Der mütterlichen
Freundin verhehlte ich es nicht länger und ſie vernahm
im Verlauf eines Viertelſtündchens den unglückſeligen
kleinen Kindsroman.
Sie ſchaute mich mit großen Augen an, ſchlug ſie
dann tief erröthend auf ihre Arbeit nieder, und nach
einem Weilchen fiel eine ſchimmernde Thräne darauf.
Ich glaubte, die ſtille fromme Dame ſchäme ſich für mich,
da ich es nicht ſelbſt thue; ganz unglücklich kniete ich
vor ihren Füßen und weinte auf ihre Hände. Es war
mehr die Erinnerung an eigenes Leid, das ſie einſt in
dies Kloſter geführt, die ſie jetzt bewegte. Sanft richtete
ſie mich auf und ſagte:
Wir ſprechen nicht mehr darüber! Schweig und ver¬
giß, oder mögen dir Gott und ſeine Heiligen helfen!
Wir haben freilich nach Jahren wieder davon geredet;
denn ſie lebt noch. In jenen Tagen, da ich noch bei ihr
weilte, lehrte ſie mich zur Zerſtreuung dergleichen Bildchen
ſticken, wie Sie hier eines ſehen, und dieſes war von ihrer
[399] Erfindung. Es ſoll die himmliſche und die irdiſche Liebe
vorſtellen, freilich mit weniger Kunſt zuſtande gebracht,
als jenes berühmte Bild von Tizian. Ich verſtand die
ſtumme Mahnung und nähte die beiden Herzen mit der
rothen Seide auf das Papier; aber ich hielt es mit dem¬
jenigen, das zwiſchen dem Tännchen und dem Roſenſtrauch
auf dem grünen Raſen ſtehen blieb. Um die Widerſprüche
meines Zuſtandes voll zu machen, ſeufzte ich nicht einmal
ein Weniges, da Kinder wol weinen, aber noch nicht zu
ſeufzen verſtehen.
Und doch gab es ſofort Urſache genug zu Angſt und
Sorgen. Das regelmäßige Dampfboot legte beim Kloſter an;
ich guckte neben der Frau Klara neugierig aus dem Zellen¬
fenſter; aber ſtatt einer fremden Ordensfrau, oder eines
Herren Prälaten-Inſpektors, oder eines weltlichen Geſchäfts¬
mannes ſah ich meinen Vater an das Land ſteigen. Mit
ſeiner Erſcheinung fiel mir eine neue Laſt auf's Herz
und das böſe Gewiſſen verwandelte ſich in eine Sorge,
die ich noch nie gekannt. Er war früher, als man
gedacht, und unverſehens von der Reiſe zurückgekehrt, und
als er erfuhr, daß ich ſeit Monaten im Kloſter lebe,
über meine Eigenmächtigkeit wie über die fahrläſſige Art
der Gouvernante und der Wirthſchafterin von einem
tiefen Unwillen ergriffen worden. Beide entließ er augen¬
blicklich, und ſie mußten ſogleich aus dem Hauſe ſcheiden.
Gegen die guten Kloſterfrauen verlor er die frühere
Duldſamkeit, von der zornigen Furcht befangen, ſie möchten
[400] mich angelockt und in übler Abſicht im Kloſter behalten
haben. Jetzt ließ er mich hinausrufen, verlor kein Wort
und befahl mir meine Sachen zuſammenzupacken und ihn
nach Hauſe zu begleiten. Die Einladung, in der Probſtei
das Mittagsmahl einzunehmen, lehnte er kurz ab. Auf
dem Wege fragte er, ob man Verſuche gemacht habe, mich
zum Uebertritt zu überreden; der Wahrheit gemäß und
doch doppelſinnig verneinte ich das; denn nicht nur wegen
des gegebenen Verſprechens, ſondern auch wegen der ge¬
fährlichen, ſo ganz veränderten Stimmung des Vaters
wagte ich nicht, das Geſchehene zu bekennen.
Jetzt lernte ich auf einmal das Seufzen, da ich, wenn
auch nicht ein Verbrechen, doch einen unerlaubten, ernſten
und auffälligen Schritt zu verhehlen hatte. Als ich in
das väterliche Haus trat und die beiden durch meine
Schuld verſtoßenen Frauen nicht mehr ſah, ſeufzte ich
wiederum tief auf und ward der Bitterkeit des Lebens inne.
Ich fand jedoch nicht lange Zeit, nach den Verſchwundenen
zu fragen. Der Vater hatte in Thüringen eine Art Er¬
ziehungs- oder Vollendungsanſtalt für größere Mädchen
geſehen. Dieſelbe wurde in entſchieden proteſtantiſchem
Geiſte geleitet, wodurch einer beſondern Klaſſe der Ge¬
ſellſchaft gedient werden ſollte. Und da der Vater ſtets
zu religiöſen Experimenten geneigt war, die er an andern
Leuten anſtellte, wie die Naturforſcher an den Fröſchen,
ſo dachte er hiedurch am eheſten den Katholizismus aus¬
zutreiben, welchen ich im Kloſter eingeathmet haben mochte.
[401] Demgemäß brachte er mich unverweilt in das Inſtitut
und verſorgte mich dort feſt auf zwei Jahre.
Die ſtrenge lutheriſche Rechtgläubigkeit, die er voraus¬
geſetzt, war aber in Wirklichkeit nicht gar ſo weit her. Es
handelte ſich mehr um gewiſſe unzukömmliche Einwirkungen,
um taktloſe oder unſchickliche Uebungen und Thorheiten, die
ſich heutzutage manche ſchlecht kontrolirte halb- oder einſeitig
gebildete Lehrerſchaften beiderlei Geſchlechts erlauben, und
welche durch ernſthaft und gleichmäßig geſchulte Lehr¬
kräfte fernzuhalten man beſtrebt war. Das eigentliche
Ziel konnte ſogar ein recht weltliches genannt werden.
Man ſuchte, da man doch für eine beſſere als gewöhn¬
liche Bildung ſorgte, die Mädchen vor allerlei Unbe¬
ſcheidenheit, Abſprecherei, Verſchrobenheit und Unzierlich¬
keit zu bewahren, um ihnen nicht von vornherein Zukunft
und Schickſal zu verderben, ſondern ihnen ein unbefangenes
Herz für die reifere Erfahrung, einen unbeſchädigten Ver¬
ſtand für das in der Welt ſelbſt zu erwerbende Urtheil
freizuhalten. In dieſem Sinne konnte die herrſchende
Chriſtlichkeit lediglich einem durchſichtigen Glasgefäße ver¬
glichen werden, welches den Staub abhielt und das Licht
durchließ, ohne ſelbſt vor dem Zerbrechen geſchützt zu ſein.
Vollkommen iſt ja nichts in der Welt.
Uebrigens traf ich eine Anzahl ſehr wohl erzogener,
gutartiger Mädchen, alle heitern unſchuldigen Herzens,
unter welchen die Wahl der vertrauteren Freundinnen
ſchwer geweſen wäre, wenn nicht ganz gleichgültige äußere
Keller, Sinngedicht. 26[402] Eindrücke ſie hätten entſcheiden können. Es kam auch in
der That vor, daß einzelne Pärchen ſcherzweiſe gefragt
wurden, was ſie denn aneinander fänden, und es dann
lachend hieß, man wiſſe das eigentlich nicht und ſei be¬
reit zu tauſchen, wenn Jemand wolle. Für mich aber lag
noch ein freundliches Glück in dem Umſtande, daß faſt
alle Zöglinge edle und gebildete Mütter beſaßen, deren
wohlwollende Freundſchaft ich mitgenoß, wenn ich in den
Ferientagen die eine oder andere Tochter in ihre Heimat
begleitete, bald in eine Großſtadt, bald auf das Land.
Dergleichen Aufenthalte in der Mitte vollzählig blühender
Familien mit gutgeſtimmtem Tone ergänzten in wohlthuen¬
der Weiſe meine Lehrjahre, und Alles wäre gut und ſchön
geweſen ohne das Geheimniß meines Gewiſſens.
Denn mit jedem Tage, den ich älter wurde, erkannte
ich deutlicher, daß es ganz unmöglich wäre, mich zu ent¬
decken, wenn ich in dieſen ruhigen Kreiſen, wo nichts
verfrüht und nichts gewaltſam gedreht wurde, nicht als
ein abenteuerliches bedenkliches Weſen erſcheinen wollte.
Dieſes ewige Verſchweigen eines und deſſelben Geheim¬
niſſes, daß ich nämlich katholiſch und wie ich es geworden
ſei, unterſchied mich von der ganzen kleinen und großen
Welt, in der ich lebte.
Aber im gleichen Maße, in welchem die verſchwiegene
Laſt an Schwere wuchs, wurde ſie mir auch theurer. Ich
hörte nie etwas von Leodegar und wußte nicht, wo er
lebte. Weder der Vater noch die Schweſter Klara, mit
[403] welcher ich Briefe wechſelte, erwähnten ſeiner auch nur
ein einziges Mal. Allein ich glaubte feſt, daß er eines
Tages, wenn die Zeit da ſei, kommen und mich und mein
Geheimniß befreien werde. Je weiter ſeine körperliche
Gegenwart in meiner Erinnerung zurücktrat, deſto heller
glänzte er, einem Sterne gleich, mir in der Seele. Das
zweite Jahr ging ſeinem Ende entgegen; ich war ſtark
gewachſen, und mit meinem Geheimniß, in der Vertiefung
meiner Gedanken mochte ich zuweilen einer vollſtändig er¬
wachſenen ernſten Perſon ähnlich ſehen. Zuletzt ging ich nur
noch mit den älteſten Mädchen, die ſich dem Zwanzigſten
näherten, wagte aber nicht, mich in die Vertraulichkeiten
zu miſchen, welche unter dieſen Großen doch ſchon vor¬
kamen, ſondern ſehnte mich ſchweigſam nach der Heimkehr.
Denn immer feſter bildete ich mir ein, daß Leodegar nicht
lange nachher eintreffen werde. Dieſe Hoffnung war auch
eine bittere Nothwendigkeit für mich: was in aller Welt
ſollte ich mit meiner Religionsänderung anfangen ohne
Den, für welchen ſie allein unternommen worden?
Mein Vater war in Italien und ſchrieb mir, er werde
mich im Herbſt abholen; und da er gute Berichte über
mich erhalten, werde er mich zur Belohnung mit nach
dem klaſſiſchen Lande nehmen, wohin er für den Winter
und Frühling zurückzukehren gedenke. Dort würden mir
die letzten etwaigen Kloſtergedanken ſicherlich vergehen.
„Daß ich's nicht vergeſſe,“ endigte der Brief, „unſern
Vetter Leodegar habe ich ganz zufällig in Rom getroffen.
26*[404] Er iſt dort in den Orden der Redemtoriſten getreten und
läuft in einem ſchwarzen Habit herum mit einem närri¬
ſchen Hut und einem Roſenkranz. Es heißt, er wolle es
zum Cardinal bringen; ich glaub' es, denn er machte ein
ſehr durchtriebenes Geſicht, als ich ihn ſprach. Es war
gewiſſermaßen der alte Leodegar und doch etwas Neues
in ihm, wie wenn ſeine Augen ſagen würden: Kerl, dich
wollt' ich, wenn ich dich hätte und du mich nicht anbeten
würdeſt!“
Die Nachricht war nur zu begründet. Faſt am gleichen
Tage ſagte der Inſtitutsvorſteher, als er bei Tiſch die
Zeitung las, zu mir: Da ſteht, daß ein junger deutſcher
Liguorianer aus Ihrer Heimat ſich in Rom durch ſeine
Predigten berühmt mache. Er trägt ſogar den gleichen
Familiennamen mit Ihnen! Kennen Sie ihn, Fräulein
Lucie? Sie ſind aber doch nicht katholiſch!
Mit tonloſer Stimme erklärte ich, von alledem nichts
zu wiſſen, und ſchenkte mir möglichſt gleichgültig ein Glas
Waſſer ein.
Mein armer Vater holte mich nicht mehr ab. Er hatte
ſich in den heißen Sommermonaten durch unvorſichtiges
Reiſen ein Fieber geholt, von dem er nicht genas.
So kehrte ich vollſtändig verwaiſt in mein leeres
Haus zurück. Da ich für die Vermögensverwaltung noch
eines Vormundes bedürftig war, ſo bat ich meinen Oheim,
den Bruder meiner. Mutter, darum, der eben in den
Ruheſtand zu treten beabſichtigte und mir einen Beſuch
[405] ankündigte. Er übernahm den Liebesdienſt mit treuer
Sorgfalt. Seither leben wir zuſammen und haben vor
ſieben Jahren ſchon dies Gut gekauft und bezogen. Nach
dem Fräulein Hanſa und der Wirtſchafterin hatte ich
in allen Treuen geſucht, um ſo viel als möglich die ihnen
widerfahrene Unbill gut zu machen. Es gelang mir aber
nicht, meinen Wunſch zu erfüllen. Die Erzieherin hatte
einen Naturalienhändler geheirathet, mit welchem ſie nach
Südamerika gereiſt war. Sie beſorgte ſeine Buchhaltung
und ſpeciell den Einkauf der Käfer. Die Frau Liſe war
Küchenmeiſterin in einem großen Krankenhauſe geworden
und bedurfte meiner nicht mehr.
Von der verfrühten thörichten Leidenſchaft und ihrem
Gegenſtande erholte ich mich zwar bald, da es mir wie
Schuppen von den Augen fiel. Aber ich hatte durch
meine Streiche Jugend, Leben und Glück, oder was man
dafür hält, mir ſelbſt vor der Naſe abgeſperrt. Den
Uebertritt konnte ich nicht rückgängig machen, wenn ich
nicht als eine abenteuernde Doppel-Convertitin in das
Gerücht kommen wollte. Inzwiſchen lernte ich mich mit
der Idee tröſten, daß meine Geſchichte mich vor ſpäterem
Unheil, Unſtern und vor Teufeleien bewahrt habe, die
ich ohne dieſe Erfahrung noch hätte erleben oder anrichten
können. Es gibt ja auch Krankheiten, die man den
Kindern einimpft, damit ſie ſpäter davor bewahrt bleiben!
Nun aber halten Sie reinen Mund, nicht wahr? Und
miſchen Sie die Geſchichte nicht unter die Beiſpiele, die
[406] Sie etwa anderwärts vorzutragen in die artige Laune
gerathen, wie Sie hier gethan haben!“
„Seien Sie in dieſer Hinſicht ganz ruhig“, antwortete
Reinhart; „ich gönne mir ſelber kaum, was Sie mir ſo
gütig anvertrauten. Doch das Gleichniß mit dem Impfen
der Kinder kann ich Ihnen nicht gelten laſſen. Was Sie
erlebt haben, iſt wohl zu unterſcheiden von der ungehörigen
Liebeſucht verderbter Kinder und widerfährt nur wenigen
bevorzugten Weſen, deren edle angeborene Großmuth des
Herzens der Zeit ungeduldig, unſchuldig und unbewußt
vorauseilt. Der naive Kinderglauben an die leichtfertigen
Scherzworte des Herrn Cardinals, an welchem Sie ſo
treulich feſtgehalten haben, gehört zu dieſer Großmuth,
wie ein Taubenflügel zum andern, und mit ſolchen Flügeln
fliegen die Engel unter den Menſchen. Beſchämt ermeſſe
ich an dieſem Beiſpiele des Guten, wie theilnahmslos
mein Leben verlaufen iſt, wie inhaltslos, und auf
wie leichtſinnige Weiſe ich ſogar vor Ihr Angeſicht ge¬
rathen bin!“
„Sie werden endlich ja wahrhaft artig gegen Unſereines“,
ſagte Lucie; „ich danke Ihnen für das gnädige Urtheil,“
Sie athmete leicht auf und fuhr fort: „Sehen Sie,
nun bin ich erſt ganz von der verwünſchten Heimlichkeit
befreit. Wie ſchwierig iſt es, einen Beichtvater zu finden,
wie man ihn braucht! Aber wollten Sie nicht leſen?“
„Jetzt nicht mehr“, meinte Reinhart; „wer möchte noch
leſen! Lieber möcht' ich hinaus in's Freie, den Tag ent¬
[407] lang, und alle Sorgen von mir thun, das heißt, wollen
Sie mithalten?“
„Da haben Sie recht!“ lachte Lucie freundlich; „warum
ſollen wir uns nicht auch einen guten Tag machen? Wir
haben's ja in uns, nicht wahr?“
„Was denn?“
„Ich meine das bischen Kinderdummheit mit den Tauben¬
flügeln, trotzdem wir ſo große alte Leute ſind! Wiſſen
Sie was, wir gehen durch den Wald nach Althäuſern am
Fluſſe hinunter; dort finden wir ſogar ein leidliches
Mittageſſen in der Poſt, wo wir die Reiſenden und die
Fuhrleute betrachten können. Und eben fällt mir ein,
daß ich alsdann bei dem dortigen Schuhmacher nachſehen
kann, ob er meine Wald- und Feldſchuhe für den Herbſt
gemacht hat und ob ſie mir paſſen. Der Meiſter Schuh¬
macher iſt nämlich der Bräutigam unſeres Bärbchens ge¬
worden, den man ein wenig zu Ehren ziehen muß.“
Sie ſchlug eine der grünen Gardinen zurück und rief
hinaus: „Bärbchen, haſt Du etwas auszurichten? Wir
gehen ſpazieren und kommen zu Deinem Schuh- und
Hochzeitmacher!“
Das angerufene Mädchen kam gelaufen, fragte zuerſt,
ob es am nächſten Sonntag ausgehen dürfe, und bat
nach erhaltener Erlaubniß, dem Geliebten dies anzuzeigen
und ihm zu verdeuten, daß er zu Hauſe bleiben und ſie
erwarten ſolle. Sie werde ihm auch die neuen Winter¬
ſtrümpfe mitbringen.
[408]
„Nun haben wir eine Miſſion als Liebesboten“, rief
Lucie, „und dürfen uns ſehen laſſen!“
Sie machten ſich wohl gerüſtet auf den Weg und
beobachteten aufmerkſam alle Merkwürdigkeiten, die ihnen
aufſtießen, einen Hirſchkäfer, der am Fuße eines Baumes
ſaß und fleißig ſchrotete, ſo daß er ſchon ein beträchtliches
Häuflein Sägemehl ausgeworfen hatte; einen Eichbaum,
der eine ſchlanke Buche in ſeinen knorrigen Armen hielt;
das vermiſchte Laub ihrer Kronen flüſterte und zitterte
in einander, und eben ſo innig ſchmiegte ſich der glatte
Stamm der Buche an den rauheren Eichenſtamm. In
einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß,
kam eine große ſchöne Schlange geſchwommen und warf
ſich unfern den beiden Luſtwandlern auf's Trockene; ein
ſtarker Krebs hing an ihrem Halſe, vermuthlich um ſie
anzufreſſen. Reinhart griff die Schlange mit raſcher
Hand und hob ſie empor.
„Halten Sie mir das arme Thier,“ ſagte er zu Lucien,
„damit ich den Quäler abnehmen kann! Faſſen Sie nur
feſt mit beiden Händen, es iſt keine Giftſchlange!“
Lucie ſah ihn etwas furchtſam an; doch traute ſie
ſeinen Worten und hielt die Schlange tapfer feſt, die ſich
nicht heftig bewegte. Reinhart drückte den Krebs, bis er
ſeine Scheeren aufthat, und warf ihn in den Bach. Die
Schlange blutete ein wenig. Sie ſchaute das ſchöne
Fräulein ruhig an, und dieſes blickte mit ſichtlicher Er¬
regung dem Waldgeheimniß in die nahen Augen. Ihre
[409] Scheu völlig bezwingend legte Lucie das Thier langſam
auf die Erde und ließ es ſachte entſchlüpfen.
„Wie ſchön es gemuſtert iſt!“ rief ſie, ihm nachſehend,
bis es im Farrenkraute verſchwand; „und wie froh bin ich,
daß ich gelernt habe, die Creatur in Händen zu halten!
Und wie erbaulich iſt das kleine Rettungsabenteuer!“
„Ja,“ erwiderte Reinhart, „es erfreut uns, in dem
allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augen¬
blick zu ſchützen, ſoweit unſere Macht und Laune reicht,
während wir gierig miteſſen. Aber ſehen Sie, die Creatur
ſcheint diesmal dankbar zu ſein und uns das Geleit zu
geben!“
Er wies zur Seite des Weges, wo die Schlange wieder
zum Vorſchein kam und neben ihnen herkriechend das Paar
in der That eine Strecke weit begleitete, bald im Geſträuche
verborgen, bald ſichtbar. Zuletzt hielt ſie ſtill, richtete
ſich in die Höhe und drehte ſanft den kleinen platten Kopf
hin und her.
Lucie ſchaute wortlos aber mit wogendem Buſen hin,
und erſt, als die Erſcheinung aus den Augen war, rief
ſie: „Ach, von dieſer ſchönen Schlange wünſchte ich zu
träumen, wenn ich einmal traurige Tage hätte. Gewiß
würde mich der Traum beglücken!“
Sich alle Zeit gönnend, gelangten ſie um Mittag in
das Dorf, gingen in die Wirthſchaft zur Poſt und ließen
ſich Suppe und die übrigen einfachen Gerichte geben, die
dort üblich waren. Gleich beſcheidenen Reiſenden oder
[410] Hauſirern, die ſich vorſehen müſſen, fragten ſie bei jeder
Schüſſel vorher um den Preis, und trieben noch andere
Kurzweil von ähnlichem Gehalte. Dann erinnerten ſie
ſich des Schuhmachers und ſuchten ihn auf. Sie fanden
das kleine Haus etwas abſeits unter einem Nußbaume
und die Wand an der Sonnenſeite von einem Birnen¬
ſpaliere bedeckt, jedoch nur zum Theil; der andere Theil
war eine Weinrebe, ſodaß die ganze Wand mit reifen
Birnen und blau werdenden Trauben behangen war.
„Das iſt nicht übel,“ ſagten ſie, „das Bärbelchen hat
ſich ein ſehr behagliches Neſt ausgeſucht!“
Was ihnen aber noch mehr auffiel, war der Geſang
einer ſchönen Stimme, welche durch das offene Fenſter
ertönte im allerſeltſamſten Rhythmus. Da ſich auf der
entgegengeſetzten Seite ebenfalls ein Fenſter befand, war
das Innere der Stube ganz hell und durchſichtig, und ſie
ſtanden im Schatten des Baumes einige Zeit ſtill und
ſchauten hinein. Der junge Meiſter, der noch allein
arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrathes
von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem
jenſeitigen Fenſter hatte er die langen Fäden von Hanf¬
garn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten,
und ſchritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech,
die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und
wieder vorwärts Garn und Stube entlang, ſtrich das
Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie
in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und
[411] ſang dazu ſein Lied. Es war nichts Minderes, als
Goethes bekanntes Jugendliedchen „Mit einem gemalten
Bande“, welches zu jener Zeit noch in ältern auf Löſch¬
papier gedruckten Liederbüchlein für Handwerksburſche
ſtatt der jetzt üblichen Arbeitermarſeillaiſen u. dergl. zu
finden war und das er auf der Wanderſchaft gelernt
hatte. Er ſang es nach einer gefühlvollen altväteriſchen
Melodie mit volksmäßigen Verzierungen, die ſich aber
natürlich rhythmiſch ſeinem Vor- und Rückwärtsſchreiten
anſchmiegen mußten und von den Bewegungen der Arbeit
vielfach gehemmt oder übereilt wurden. Dazu ſang er in
einem verdorbenen Dialekte, was die Leiſtung noch drolliger
machte. Allein die unverwüſtliche Seele des Liedes und
die friſche Stimme, die Stille des Nachmittages und das
verliebte Gemüth des einſam arbeitenden Meiſters bewirkten
das Gegentheil eines lächerlichen Eindruckes.
Wenn er mit leichten Schritten begann:
bei dem luftigen Band aber durch einen Knoten im Garn
aufgehalten wurde und dasſelbe daher um eine ganze
Note verlängern und zuletzt doch wiederholen mußte, ſo
war die unbekümmerte und unbewußte Treuherzigkeit,
womit es geſchah, mehr rührend als komiſch. Die
Strophe:
[412]
gelang ohne Anſtoß, ebenſo die folgende:
Nur ſchien ihm das „genung“ nicht in der Ordnung
zu ſein, und er ſang daher verbeſſernd:
Reinhart und Lucie blickten ſich unwillkürlich an.
Der Sänger im kleinen Hauſe ſchien für ſie mitzuſingen,
trotz jenes abſcheulichen Idioms. Welch' ein Frieden und
welch' herzliche Zuverſicht oder Lebenshoffnung pulſirten
in dieſen Sangeswellen. Am jenſeitigen Fenſter ſtand
ein mit Grün behangener Vogelkäfig. Nun kam aber die
letzte Strophe: Fihle, ſang er,
Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, ſang er dieſe
Strophe mehrmals durch, immer heller und ſchöner, mit
dem Rücken gegen die Lauſcher draußen gewendet; im
Bewußtſein der nahen Glückserfüllung wiederholte er das
beſonders kraftvoll und ließ dann im höchſten Gefühle
die geſchleiften Noten ſteigen:
Da ein par Kanarienvögel mit ihrem ſchmetternden
Geſange immer lauter drein lärmten, war eine Art von
Tumult in der Stube, von welchem hingeriſſen, Lucie
und Reinhart ſich küßten. Lucie hatte die Augen voll
Waſſer und doch lachte ſie, indem ſie purpurroth wurde
von einem lange entbehrten und verſchmähten Gefühle,
und Reinhart ſah deutlich, wie die ſchöne Gluth ſich in
dem weißen Geſichte verbreitete.
Es war ihnen unmöglich, jetzt in das Häuschen hinein¬
zugehen; ungeſehen, wie ſie gekommen, begaben ſie ſich
hinweg, und erſt als ſie wieder die Waldwege betreten
hatten, ſtand Lucie ſtill und rief:
„Bei Gott, jetzt haben wir doch Ihr ſchlimmes Recept
von dem alten Logau ausgeführt! Denn daß es mich
gelächert hat, weiß ich, und roth werde ich hoffentlich
auch geworden ſein. Ich fühle jetzt noch ein heißes
Geſicht!“
„Freilich biſt Du roth geworden, theure Lux,“ ſagte
Reinhart, „wie eine Morgenröthe im Sommer! Aber auch
ich habe wahrhaftig nicht an das Epigramm gedacht, und
nun iſt es doch gelungen! Willſt Du mir Deine Hand
geben?“
So kam es, daß am Abend, als die Alten nach Hauſe
kehrten, Lucie ſchon vor ihrem Oheim auf Du und Du
mit Reinhart ſtand. Alle waren zufrieden mit der Ver¬
lobung, und Lucie mit dem Schuhmacher ſo ſehr, daß ſie
Bärbel am andern Tage ſelbſt hingehen ließ, ihm die
vergeſſene Botſchaft zu bringen.
Reinhart nannte ſpäter ſeine ſchöne Frau, wie der
Oheim, nur Lux, und, indem er das Wortſpiel fortſetzte,
die Zeit, da er ſie noch nicht gekannt hatte — ante
lucem, vor Tagesanbruch.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Das Sinngedicht. Das Sinngedicht. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvk.0