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Die Horen.
Erſter Jahrgang. Zwoͤlftes Stuͤck.

I
Die ſentimentaliſchen Dichter.



Der Dichter, hieß es in dem vorhergehenden Verſuch
uͤber das Naive *iſt entweder Natur, oder er wird ſie
ſuchen. Jenes macht den naiven, dieſes den ſentimen-
taliſchen Dichter. Mit der Erklaͤrung dieſes Satzes wird
der gegenwaͤrtige Verſuch ſich beſchaͤftigen.


Der dichteriſche Geiſt iſt unſterblich und unverlierbar
in der Menſchheit; er kann nicht anders als zugleich mit
derſelben und mit der Anlage zu ihr ſich verlieren. Denn
entfernt ſich gleich der Menſch durch die Freyheit ſeiner
Phantaſie und ſeines Verſtandes von der Einfalt, Wahr-
heit und Nothwendigkeit der Natur, ſo ſteht ihm doch
nicht nur der Pfad zu derſelben immer offen, ſondern
ein maͤchtiger und unvertilgbarer Trieb, der moraliſche,
treibt ihn auch unaufhoͤrlich zu ihr zuruͤck, und eben mit
dieſem Triebe ſteht das Dichtungsvermoͤgen in der engſten
Verwandtſchaft. Dieſes verliert ſich alſo nicht auch zu-
gleich mit der natuͤrlichen Einfalt, ſondern wirkt nur nach
einer andern Richtung.


Die Horen. 1795. 12tes St. 1
[2]

Auch jetzt iſt die Natur noch die einzige Flamme, an
der ſich der Dichtergeiſt naͤhret, aus ihr allein ſchoͤpft
er ſeine ganze Macht, zu ihr allein ſpricht er auch in dem
kuͤnſtlichen, in der Kultur begriffenen Menſchen. Jede
andere Art zu wirken, iſt dem poetiſchen Geiſte fremd;
daher, beilaͤufig zu ſagen, alle ſogenannten Werke des
Witzes ganz mit Unrecht poetiſch heißen, ob wir ſie gleich
lange Zeit, durch das Anſehen der franzoͤſiſchen Littera-
tur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, ſage
ich, iſt es auch noch jetzt, in dem kuͤnſtlichen Zuſtande der
Kultur, wodurch der Dichtergeiſt maͤchtig iſt, nur ſteht
er jetzt in einem ganz andern Verhaͤltniß zu derſelben.


So lange der Menſch noch reine, es verſteht ſich, nicht
rohe Natur iſt, wirkt er als ungetheilte ſinnliche Einheit,
und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft,
empfangendes und ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen, haben ſich in
ihrem Geſchaͤfte noch nicht getrennt, vielweniger ſtehen
ſie im Widerſpruch miteinander. Seine Empfindungen
ſind nicht das formloſe Spiel des Zufalls, ſeine Gedan-
ken nicht das gehaltloſe Spiel der Vorſtellungskraft; aus
dem Geſetz der Nothwendigkeit gehen jene, aus der
Wirklichkeit gehen dieſe hervor. Iſt der Menſch in
den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunſt ihre
Hand an ihn gelegt, ſo iſt jene ſinnliche Harmonie in
ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moraliſche
Einheit, d. h. als nach Einheit ſtrebend, ſich aͤußern.
Die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem Empfinden und
Denken, die in dem erſten Zuſtande wirklich ſtatt fand,
exiſtiert jetzt bloß idealiſch; ſie iſt nicht mehr in ihm,
ſondern außer ihm; als ein Gedanke, der erſt realiſiert
werden ſoll, nicht mehr als Thatſache ſeines Lebens.
[3] Wendet man nun den Begriff der Poeſie, der kein an-
drer iſt, als der Menſchheit ihren moͤglichſt
vollſtaͤndigen Ausdruck zu geben,
auf jene bey-
den Zuſtaͤnde an, ſo ergiebt ſich, daß dort in dem Zuſtan-
de natuͤrlicher Einfalt, wo der Menſch noch, mit allen
ſeinen Kraͤften zugleich, als harmoniſche Einheit wirkt,
wo mithin das Ganze ſeiner Natur ſich in der Wirklich-
keit vollſtaͤndig ausdruͤkt, die moͤglichſt vollſtaͤndige Nach-
ahmung des Wirklichen
— daß hingegen hier in
dem Zuſtande der Kultur, wo jenes harmoniſche Zuſam-
menwirken ſeiner ganzen Natur bloß eine Idee iſt, die
Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins
hinauslaͤuft, die Darſtellung des Ideals den
Dichter machen muß.
Und dieß ſind auch die zwey
einzig moͤglichen Arten, wie ſich uͤberhaupt der poetiſche
Genius aͤuſſern kann. Sie ſind, wie man ſieht, aͤuſſerſt
von einander verſchieden, aber es giebt einen hoͤhern Be-
griff, der ſie beyde unter ſich faßt, und es darf gar
nicht befremden, wenn dieſer Begriff mit der Idee der
Menſchheit in eins zuſammentrifft.


Es iſt hier der Ort nicht, dieſen Gedanken, den nur
eine eigene Ausfuͤhrung in ſein volles Licht ſetzen kann,
weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiſte
nach, und nicht bloß nach zufaͤlligen Formen eine Ver-
gleichung zwiſchen alten und modernen Dichtern * an-
[4] zuſtellen verſteht, wird ſich leicht von der Wahrheit deſ-
ſelben uͤberzeugen koͤnnen. Jene ruͤhren uns durch Na-
tur, durch ſinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegen-
wart; dieſe ruͤhren uns durch Ideen.


Dieſer Weg, den die neueren Dichter gehen, iſt uͤbri-
gens derſelbe, den der Menſch uͤberhaupt ſowohl im Ein-
zelnen als im Ganzen einſchlagen muß. Die Natur macht
ihn mit ſich Eins, die Kunſt trennt und entzweyet ihn,
durch das Ideal kehrt er zur Einheit zuruͤck. Weil aber
das Ideal ein unendliches iſt, das er niemals erreicht,
ſo kann der kultivierte Menſch in ſeiner Art niemals
vollkommen werden, wie doch der natuͤrliche Menſch es
in der ſeinigen zu werden vermag. Er muͤßte alſo dem
letztern an Vollkommenheit unendlich nachſtehen, wenn
bloß auf das Verhaͤltniß, in welchem beide zu ihrer Art
und zu ihrem Maximum ſtehen, geachtet wird. Ver-
gleicht man hingegen die Arten ſelbſt mit einander, ſo
zeigt ſich, daß das Ziel, zu welchem der Menſch durch
Kultur ſtrebt, demjenigen, welches er durch Natur er-
reicht,
unendlich vorzuziehen iſt. Der eine erhaͤlt alſo
ſeinen Werth durch abſolute Erreichung einer endlichen,
der andre erlangt ihn durch Annaͤherung zu einer un-
*
[5] endlichen Groͤße. Weil aber nur die letztere Grade
und einen Fortſchritt hat, ſo iſt der relative Werth
des Menſchen, der in der Kultur begriffen iſt, im Gan-
zen genommen, niemals beſtimmbar, obgleich derſelbe
im einzelnen betrachtet ſich in einem nothwendigen Nach-
theil gegen denjenigen befindet, in welchem die Natur in
ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt. Inſofern aber das
letzte Ziel der Menſchheit nicht anders als durch jene
Fortſchreitung zu erreichen iſt, und der letztere nicht an-
ders fortſchreiten kann, als indem er ſich kultiviert und
folglich in den erſtern uͤbergeht, ſo iſt keine Frage, wel-
chem von beyden in Ruͤckſicht auf jenes letzte Ziel der
Vorzug gebuͤhre.


Daſſelbe, was hier von den zwey verſchiedenen For-
men der Menſchheit geſagt wird, laͤßt ſich auch auf jene
beyden, ihnen entſprechenden, Dichterformen anwenden.


Man haͤtte deßwegen alte und moderne — naive und
ſentimentaliſche — Dichter entweder gar nicht, oder nur
unter einem gemeinſchaftlichen hoͤhern Begriff (einen ſol-
chen giebt es wirklich) miteinander vergleichen ſollen.
Denn freylich, wenn man den Gattungsbegriff der Poeſie
zuvor einſeitig aus den alten Poeten abſtrahiert hat, ſo
iſt nichts leichter, aber auch nichts trivialer, als die mo-
dernen gegen ſie herabzuſetzen. Wenn man nur das Poeſie
nennt, was zu allen Zeiten auf die einfaͤltige Natur gleich-
foͤrmig wirkte, ſo kann es nicht anders ſeyn, als daß man
den neuern Poeten gerade in ihrer eigenſten und erhaben-
ſten Schoͤnheit den Nahmen der Dichter wird ſtreitig
machen muͤſſen, weil ſie gerade hier nur zu dem Zoͤgling
der Kunſt ſprechen, und der einfaͤltigen Natur nichts zu
[6] ſagen haben. * Weſſen Gemuͤth nicht ſchon zubereitet
iſt, uͤber die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen,
fuͤr den wird der reichſte Gehalt leerer Schein und der
hoͤchſte Dichterſchwung Ueberſpannung ſeyn. Keinem
Vernuͤnftigen kann es einfallen, in demjenigen, worinn
Homer groß iſt, irgend einen Neuern ihm an die Seite
ſtellen zu wollen, und es klingt laͤcherlich genug, wenn
man einen Milton oder Klopſtock mit dem Nahmen eines
neuern Homer beehrt ſieht. Eben ſo wenig aber wird
irgend ein alter Dichter und am wenigſten Homer in dem-
jenigen, was den modernen Dichter charakteriſtiſch aus-
zeichnet, die Vergleichung mit demſelben aushalten koͤn-
nen. Jener, moͤchte ich es ausdruͤcken, iſt maͤchtig durch
[7] die Kunſt der Begrenzung, dieſer iſt es durch die Kunſt
des Unendlichen.


Und eben daraus, daß die Staͤrke des alten Kuͤnſtlers
(denn was hier von dem Dichter geſagt worden, kann
unter den Einſchraͤnkungen, die ſich von ſelbſt ergeben,
auch auf den ſchoͤnen Kuͤnſtler uͤberhaupt ausgedehnt wer-
den) in der Begrenzung beſtehet, erklaͤrt ſich der hohe
Vorzug, den die bildende Kunſt des Alterthums uͤber die
der neueren Zeiten behauptet, und uͤberhaupt das ungleiche
Verhaͤltniß des Werths, in welchem moderne Dichtkunſt
und moderne bildende Kunſt zu beyden Kunſtgattungen
im Alterthum ſtehen. Ein Werk fuͤr das Auge findet nur
in der Begrenzung ſeine Vollkommenheit; ein Werk fuͤr
die Einbildungskraft kann ſie auch durch das Unbegrenzte
erreichen. In plaſtiſchen Werken hilft daher dem Neuern
ſeine Ueberlegenheit in Ideen wenig; hier iſt er genoͤthigt,
das Bild ſeiner Einbildungskraft auf das genaueſte im
Raum zu beſtimmen
, und ſich folglich mit dem alten
Kuͤnſtler gerade in derjenigen Eigenſchaft zu meſſen, worinn
dieſer ſeinen unabſtreitbaren Vorzug hat. In poetiſchen
Werken iſt es anders, und ſiegen gleich die alten Dichter
auch hier in der Einfalt der Formen und in dem was
ſinnlich darſtellbar und koͤrperlich iſt, ſo kann der neuere
ſie wieder im Reichthum des Stoffes, in dem was un-
darſtellbar und unausſprechlich iſt, kurz, in dem was man
in Kunſtwerken Geiſt nennt, hinter ſich laſſen. *


[8]

Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur
und Empfindung folgt, und ſich bloß auf Nachahmung
*
[9] der Wirklichkeit beſchraͤnkt, ſo kann er zu ſeinem Ge-
genſtand auch nur ein einziges Verhaͤltniß haben, und
es giebt, in dieſer Ruͤckſicht, fuͤr ihn keine Wahl der
Behandlung. Der verſchiedene Eindruck naiver Dichtun-
gen beruht, (vorausgeſetzt, daß man alles hinweg denkt,
was daran dem Inhalt gehoͤrt und jenen Eindruck nur
als das reine Werk der poetiſchen Behandlung betrachtet)
beruht ſage ich bloß auf dem verſchiedenen Grad einer
und derſelben Empſindungsweiſe; ſelbſt die Verſchiedenheit
in den aͤuſern Formen kann in der Qualitaͤt jenes aeſtheti-
ſchen Eindrucks keine Veraͤnderung machen. Die Form
ſey lyriſch oder epiſch, dramatiſch oder beſchreibend; wir
koͤnnen wohl ſchwaͤcher und ſtaͤrker, aber (ſobald von
dem Stoff abſtrahiert wird) nie verſchiedenartig geruͤhrt
werden. Unſer Gefuͤhl iſt durchgaͤngig daſſelbe, ganz aus
Einem Element, ſo daß wir nichts darinn zu unterſcheiden
vermoͤgen. Selbſt der Unterſchied der Sprachen und Zeit-
alter aͤndert hier nichts, denn eben dieſe reine Einheit
ihres Urſprungs und ihres Effekts iſt ein Charakter der
naiven Dichtung.


*


[10]

Ganz anders verhaͤlt es ſich mit dem ſentimentaliſchen
Dichter. Dieſer reflektiert uͤber den Eindruck, den
die Gegenſtaͤnde auf ihn machen und nur auf jene Reflexion
iſt die Ruͤhrung gegruͤndet, in die er ſelbſt verſetzt wird,
und uns verſetzt. Der Gegenſtand wird hier auf eine
Idee bezogen und nur auf dieſer Beziehung beruht ſeine
dichteriſche Kraft. Der ſentimentaliſche Dichter hat es
daher immer mit zwey ſtreitenden Vorſtellungen und Em-
pfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit
ſeiner Idee als dem Unendlichen zu thun, und das ge-
miſchte Gefuͤhl, das er erregt, wird immer von dieſer
doppelten Quelle zeugen. * Da alſo hier eine Mehrheit
der Principien ſtatt findet, ſo kommt es darauf an, welches
von beyden in der Empfindung des Dichters und in ſeiner
Darſtellung uͤberwiegen wird, und es iſt folglich eine
Verſchiedenheit in der Behandlung moͤglich. Denn nun
[11] entſteht die Frage, ob er mehr bey der Wirklichkeit, ob
er mehr bey dem Ideale verweilen — ob er jene als einen
Gegenſtand der Abneigung, ob er dieſes als einen Gegen-
ſtang der Zuneigung ausfuͤhren will. Seine Darſtellung
wird alſo entweder ſatyriſch oder ſie wird (in einer
weitern Bedeutung dieſes Worts, die ſich nachher erklaͤ-
ren wird) clegiſch ſeyn; an eine von dieſen beyden
Empfindungsarten wird jeder ſentimentaliſche Dichter ſich
halten.


Satyriſche Dichtung.


Satyriſch iſt der Dichter, wenn er die Entfernung von
der Natur und den Widerſpruch der Wirklichkeit mit dem
Ideale (in der Wirkung auf das Gemuͤth kommt beydes
auf eins hinaus) zu ſeinem Gegenſtande macht. Dieß kann
er aber ſowohl ernſthaft und mit Affekt, als ſcherzhaft und
mit Heiterkeit ausfuͤhren; je nachdem er entweder im
Gebiethe des Willens oder im Gebiethe des Verſtandes
verweilt. Jenes geſchieht durch die ſtrafende, oder
pathetiſche, dieſes durch die ſcherzhafte Satyre.


Streng genommen vertraͤgt zwar der Zweck des Dich-
ters weder den Ton der Strafe noch den der Beluſtigung.
Jener iſt zu ernſt fuͤr das Spiel, was die Poeſie immer
ſeyn ſoll; dieſer iſt zu frivol fuͤr den Ernſt, der allem poe-
tiſchen Spiele zum Grund liegen ſoll. Moraliſche Wider-
ſpruͤche intereſſieren nothwendig unſer Herz, und rauben
alſo dem Gemuͤth ſeine Freyheit; und doch ſoll aus poeti-
ſchen Ruͤhrungen alles eigentliche Intereſſe, d. h. alle Be-
ziehung auf ein Beduͤrfniß verbannt ſeyn. Verſtandes-
[12] Widerſpruͤche hingegen laſſen das Herz gleichguͤltig, und
doch hat es der Dichter mit dem hoͤchſten Anliegen des
Herzens, mit der Natur und dem Ideal, zu thun. Es
iſt daher keine geringe Aufgabe fuͤr ihn, in der patheti-
ſchen Satyre nicht die poetiſche Form zu verletzen, wel-
che in der Freyheit des Spiels beſteht, in der ſcherzhaften
Satyre nicht den poetiſchen Gehalt zu verfehlen, welcher
immer das Unendliche ſeyn muß. Dieſe Aufgabe kann
nur auf eine einzige Art geloͤſet werden. Die ſtrafende
Satyre erlangt poetiſche Freyheit, indem ſie ins Erhabe-
ne uͤbergeht, die lachende Satyre erhaͤlt poetiſchen Ge-
halt, indem ſie ihren Gegenſtand mit Schoͤnheit behandelt.


In der Satyre wird die Wirklichkeit als Mangel, dem
Ideal als der hoͤchſten Realitaͤt gegenuͤber geſtellt. Es iſt
uͤbrigens gar nicht noͤthig, daß das letztere ausgeſprochen
werde, wenn der Dichter es nur im Gemuͤth zu erwecken
weiß; diß muß er aber ſchlechterdings, oder er wird gar
nicht poetiſch wirken. Die Wirklichkeit iſt alſo hier ein
nothwendiges Objekt der Abneigung, aber worauf hier
alles ankoͤmmt, dieſe Abneigung ſelbſt muß wieder noth-
wendig aus dem entgegenſtehenden Ideale entſpringen. Sie
koͤnnte nehmlich auch eine bloß ſinnliche Quelle haben
und lediglich in Beduͤrfniß gegruͤndet ſeyn, mit welchem
die Wirklichkeit ſtreitet; und haͤuffig genug glauben wir
einen moraliſchen Unwillen uͤber die Welt zu empfinden,
wenn uns bloß der Widerſtreit derſelben mit unſerer Nei-
gung erbittert. Dieſes materielle Intereſſe iſt es, was
der gemeine Satyriker ins Spiel bringt, und weil es ihm
auf dieſem Wege gar nicht fehl ſchlaͤgt, uns in Affekt zu
verſetzen, ſo glaubt er unſer Herz in ſeiner Gewalt zu ha-
ben und im pathetiſchen Meiſter zu ſeyn. Aber jedes Pa-
[13] thos aus dieſer Quelle iſt der Dichtkunſt unwuͤrdig, die
uns nur durch Ideen ruͤhren und nur durch die Vernunft
zu unſerm Herzen den Weg nehmen darf. Auch wird ſich
dieſes unreine und materielle Pathos jederzeit durch ein
Uebergewicht des Leidens und durch eine peinliche Befan-
genheit des Gemuͤths offenbaren, da im Gegentheil das
wahrhaft poetiſche Pathos an einem Uebergewicht der
Selbſtthaͤtigkeit und an einer, auch im Affekte noch beſte-
henden Gemuͤthsfreyheit zu erkennen iſt. Entſpringt nehm-
lich die Ruͤhrung aus dem, der Wirklichkeit gegenuͤber
ſtehenden Ideale, ſo verliert ſich in der Erhabenheit des
letztern jedes einengende Gefuͤhl und die Groͤße der Idee,
von der wir erfuͤllt ſind, erhebt uns uͤber alle Schranken
der Erfahrung. Bey der Darſtellung empoͤrender Wirk-
lichkeit kommt daher alles darauf an, daß das Nothwen-
dige der Grund ſey, auf welchem der Dichter oder der
Erzaͤhler das Wirkliche auftraͤgt, daß er unſer Gemuͤth
fuͤr Ideen zu ſtimmen wiſſe. Stehen wir nur hoch in
der Beurtheilung, ſo hat es nichts zu ſagen, wenn auch
der Gegenſtand tief und niedrig, unter uns zuruͤckbleibt.
Wenn uns der Geſchichtſchreiber Tacitus den tiefen
Verfall der Roͤmer des erſten Jahrhunderts ſchildert, ſo
iſt es ein hoher Geiſt, der auf das Niedrige herabblickt,
und unſere Stimmung iſt wahrhaft poetiſch, weil nur
die Hoͤhe, worauf er ſelbſt ſteht und zu der er uns zu er-
heben wußte, ſeinen Gegenſtand niedrig machte.


Die pathetiſche Satyre muß alſo jederzeit aus einem
Gemuͤthe flieſſen, welches von dem Ideale lebhaft durch-
drungen iſt. Nur ein herrſchender Trieb nach Ueberein-
ſtimmung kann und darf jenes tiefe Gefuͤhl moraliſcher
Widerſpruͤche und jenen gluͤhenden Unwillen gegen mora-
[14] liſche Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal,
Lucian, Dante, Swift, Young, Rouſſeau, Haller und
andern zur Begeiſterung wird. Die nehmlichen Dichter
wuͤrden und muͤßten mit demſelben Gluͤck auch in den ruͤh-
renden und zaͤrtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn
nicht zufaͤllige Urſachen ihrem Gemuͤth fruͤhe dieſe beſtimm-
te Richtung gegeben haͤtten; auch haben ſie es zum Theil
wirklich gethan. Alle die hier genannten lebten entweder
in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine ſchauder-
hafte Erfahrung moraliſcher Verderbniß vor Augen, oder
eigene Schickſale hatten Bitterkeit in ihre Seele geſtreut.
Auch der philoſophiſche Geiſt, da er mit unerbittlicher
Strenge den Schein von dem Weſen trennt, und in die
Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemuͤth zu dieſer
Haͤrte und Auſteritaͤt, mit welcher Rouſſeau, Haller und
andre die Wirklichkeit mahlen. Aber dieſe aͤuſern und zu-
faͤlligen Einfluͤſſe, welche immer einſchraͤnkend wirken,
duͤrfen hoͤchſtens nur die Richtung beſtimmen, niemals
den Innhalt der Begeiſterung hergeben. Dieſer muß in
allen derſelbe ſeyn, und, rein von jedem aͤuſern Beduͤrf-
niß, aus einem gluͤhenden Triebe fuͤr das Ideal hervor-
flieſſen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem ſaty-
riſchen wie uͤberhaupt zu dem ſentimentaliſchen Dichter iſt.


Wenn die pathetiſche Satyre nur erhabene Seelen
kleidet, ſo kann die ſpottende Satyre nur einem ſchoͤnen
Herzen gelingen. Denn jene iſt ſchon durch ihren ernſten
Gegenſtand vor der Frivolitaͤt geſichert; aber dieſe, die
nur einen moraliſch gleichguͤltigen Stoff behandeln darf,
wuͤrde unvermeidlich darein verfallen, und jede poetiſche
Wuͤrde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den
Innhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht
[15] ſein Objekt vertraͤte. Aber nur dem ſchoͤnen Herzen iſt
es verliehen, unabhaͤngig von dem Gegenſtand ſeines Wir-
kens, in jeder ſeiner Aeußerungen ein vollendetes Bild
von ſich ſelbſt abzupraͤgen. Der erhabene Charakter kann
ſich nur in einzelnen Siegen uͤber den Widerſtand der
Sinne, nur in gewiſſen Momenten des Schwunges und
einer augenblicklichen Anſtrengung kund thun; in der ſchoͤ-
nen Seele hingegen wirkt das Ideal als Natur, alſo gleich-
foͤrmig, und kann mithin auch in einem Zuſtand der Ru-
he ſich zeigen.


Es iſt mehrmals daruͤber geſtritten worden, welche
von beyden, die Tragoͤdie oder die Comoͤdie vor der an-
dern den Rang verdiene. Wird damit bloß gefragt, wel-
che von beyden das wichtigere Objekt behandle, ſo iſt kein
Zweifel, daß die erſtere den Vorzug behauptet; will man
aber wiſſen, welche von beyden das wichtigere Subjekt
erfodre, ſo muß der Ausſpruch eben ſo entſcheidend fuͤr die
letztere ausfallen. In der Tragoͤdie geſchieht ſchon durch
den Gegenſtand ſehr viel, in der Comoͤdie geſchieht durch
den Gegenſtand nichts und alles durch den Dichter. Da
nun bey Urtheilen des Geſchmacks der Stoff nie in Be-
trachtung kommt, ſo muß natuͤrlicher weiſe der aͤſthetiſche
Werth dieſer beyden Kunſtgattungen in umgekehrtem Ver-
haͤltniß zu ihrer materiellen Wichtigkeit ſtehen. Den tra-
giſchen Dichter traͤgt ſein Objekt, der komiſche hingegen
muß durch ſein Subjekt das ſeinige in der aͤſthetiſchen Hoͤ-
he erhalten. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu
ſoviel eben nicht gehoͤret; der andre muß ſich gleich blei-
ben, er muß alſo ſchon dort ſeyn und dort zu Hauſe
ſeyn, wohin der andre nicht ohne einen Anlauf gelangt.
Und gerade das iſt es, worinn ſich der ſchoͤne Charakter
[16] von dem erhabenen unterſcheidet. In dem erſten iſt jede
Groͤße ſchon enthalten, ſie fließt ungezwungen und muͤhe-
los aus ſeiner Natur, er iſt, dem Vermoͤgen nach, ein
Unendliches in jedem Punkte ſeiner Bahn; der andere kann
ſich zu jeder Groͤße anſpannen und erheben, er kann durch
die Kraft ſeines Willens aus jedem Zuſtande der Beſchraͤn-
kung ſich reiſſen. Dieſer iſt alſo nur ruckweiſe und nur
mit Anſtrengung frey, jener iſt es mit Leichtigkeit und
immer.


Dieſe Freyheit des Gemuͤths in uns hervorzubringen
und zu naͤhren, iſt die ſchoͤne Aufgabe der Comoͤdie, ſo
wie die Tragoͤdie beſtimmt iſt, die Gemuͤthsfreyheit, wenn
ſie durch einen Affekt gewaltſam aufgehoben worden, auf
aͤſthetiſchem Weg wieder herſtellen zu helfen. In der Tra-
goͤdie muß daher die Gemuͤthsfreyheit kuͤnſtlicherweiſe und
als Experiment kuͤnſtlich aufgehoben werden, weil ſie
in Herſtellung derſelben ihre poetiſche Kraft beweißt; in
der Comoͤdie hingegen muß verhuͤtet werden, daß es nie-
mals zu jener Aufhebung der Gemuͤthsfreyheit komme.
Daher behandelt der Tragoͤdiendichter ſeinen Gegenſtand
immer praktiſch, der Comoͤdiendichter den ſeinigen immer
theoretiſch; auch wenn jener (wie Leſſing in ſeinem Na-
than) die Grille haͤtte einen theoretiſchen, dieſer, einen
praktiſchen Stoff zu bearbeiten. Nicht das Gebieth aus
welchem der Gegenſtand genommen, ſondern das Forum
vor welches der Dichter ihn bringt, macht denſelben tra-
giſch oder komiſch. Der Tragiker muß ſich vor dem ruhi-
gen Raiſonnement in Acht nehmen und immer das Herz
intereſſieren, der Comiker muß ſich vor dem Pathos huͤten
und immer den Verſtand unterhalten. Jener zeigt alſo
durch beſtaͤndige Erregung, dieſer durch beſtaͤndige Ab-
[17] wehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt; und dieſe Kunſt iſt
natuͤrlich auf beyden Seiten um ſo groͤſſer, je mehr der
Gegenſtand des Einen abſtrakter Natur iſt, und der des
Andern ſich zum pathetiſchen neigt. * Wenn alſo die Tra-
goͤdie von einem nichtigern Punkt ausgeht, ſo muß man
auf der andern Seite geſtehen, daß die Comoͤdie einem
wichtigern Ziel entgegen geht, und ſie wuͤrde, wenn ſie es
erreichte, alle Tragoͤdie uͤberfluͤßig und unmoͤglich machen.
Ihr Ziel iſt einerley mit dem hoͤchſten, wornach der Menſch
zu ringen hat, frey von Leidenſchaft zu ſeyn, immer klar
immer ruhig um ſich und in ſich zu ſchauen, uͤberall mehr
Zufall als Schickſal zu finden, und mehr uͤber Ungereimt-
heit zu lachen als uͤber Boßheit zu zuͤrnen oder zu weinen.


Die Horen. 1795. 12tes St. 2
[18]

Wie in dem handelnden Leben ſo begegnet es auch oft
bey dichteriſchen Darſtellungen, den bloß leichten Sinn,
das angenehme Talent, die froͤhliche Gutmuͤthigkeit mit
Schoͤnheit der Seele zu verwechſeln, und da ſich der ge-
meine Geſchmack uͤberhaupt nie uͤber das Angenehme er-
hebt, ſo iſt es ſolchen niedlichen Geiſtern ein leichtes,
jenen Ruhm zu uſurpieren, der ſo ſchwer zu verdienen iſt.
Aber es giebt eine untruͤgliche Probe, vermittelſt deren
man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit
des Ideals, ſo wie die Tugend des Temperaments von
der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterſcheiden
kann, und dieſe iſt, wenn beyde ſich an einem ſchwuͤrigen
und großen Objekte verſuchen. In einem ſolchen Fall geht
das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, ſo wie die
Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft ſchoͤ-
ne Seele hingegen geht eben ſo gewiß in die erhabene uͤber.


So lange Lucian bloß die Ungereimtheit zuͤchtigt,
wie in den Wuͤnſchen, in den Lapithen, in dem Jupiter,
Tragoͤdus u. a. bleibt er Spoͤtter, und ergoͤtzt uns mit
ſeinem froͤhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer
Mann aus ihm in vielen Stellen ſeines Nigrinus, ſeines
Timons, ſeines Alexander, wo ſeine Satyre auch die mo-
raliſche Verderbniß trift. „Ungluͤckſeliger”, ſo beginnt
er in ſeinem Nigrinus das empoͤrende Gemaͤhlde des da-
maligen Roms, „warum verlieſſeſt du das Licht der Son-
ne, Griechenland, und jenes gluͤkliche Leben der Frey-
heit, und kammſt hieher in dieß Getuͤmmel von prachtvol-
ler Dienſtbarkeit, von Aufwartungen und Gaſtmaͤlern,
von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmiſchern, Erb-
ſchleichern und falſchen Freunden? u. ſ. w.” Bey ſolchen
und aͤhnlichen Anlaͤſſen muß ſich der hohe Ernſt des Ge-
[19] fuͤhls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetiſch ſeyn
ſoll, zum Grunde liegen muß. Selbſt durch den boßhaf-
ten Scherz, womit ſowohl Lucian als Ariſtophanes den
Sokrates mißhandeln, blickt eine ernſte Vernunft hervor,
welche die Wahrheit an dem Sophiſten raͤcht, und fuͤr
ein Ideal ſtreitet, das ſie nur nicht immer ausſpricht.
Auch hat der erſte von beyden in ſeinem Diogenes und
Daͤmonax dieſen Charakter gegen alle Zweifel gerechtfer-
tigt; unter den Neuern welchen großen und ſchoͤnen Cha-
rakter druͤckt nicht Cervantes bey jedem wuͤrdigen An-
laß in ſeinem Don Quixote aus, welch ein herrliches
Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der
einen Tom Jones und eine Sophia erſchuf, wie
kann der Lacher Yorik ſobald er will unſer Gemuͤth ſo
groß und ſo maͤchtig bewegen. Auch in unſerm Wieland
erkenne ich dieſen Ernſt der Empfindung; ſelbſt die muth-
willigen Spiele ſeiner Laune beſeelt und adelt die Gra-
zie des Herzens; ſelbſt in den Rhythmus ſeines Geſanges
druͤckt ſie ihr Gepraͤg, und nimmer fehlt ihm die
Schwungkraft, uns, ſobald es gilt, zu dem Hoͤchſten em-
por zu tragen.


Von der Voltairiſchen Satyre laͤßt ſich kein ſolches
Urtheil faͤllen. Zwar iſt es auch bey dieſem Schriftſteller
einzig nur die Wahrheit und Simplicitaͤt der Natur, wo-
durch er uns zuweilen poetiſch ruͤhrt; es ſey nun, daß
er ſie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie
mehrmal in ſeinem Ingenu, oder daß er ſie, wie in ſei-
nem Candide u. a. ſuche und raͤche. Wo keines von
beyden der Fall iſt, da kann er uns zwar als witziger
Kopf beluſtigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen.
Aber ſeinem Spott liegt uͤberall zu wenig Ernſt zum
[20] Grunde, und dieſes macht ſeinen Dichterberuf mit Recht
verdaͤchtig. Wir begegnen immer nur ſeinem Verſtande,
nicht ſeinem Gefuͤhl. Es zeigt ſich kein Ideal unter je-
ner luftigen Huͤlle, und kaum etwas abſolut Feſtes in je-
ner ewigen Bewegung. Seine wunderbare Mannichfal-
tigkeit in aͤuſern Formen, weit entfernt fuͤr die innere
Fuͤlle ſeines Geiſtes etwas zu beweiſen, legt vielmehr ein
bedenkliches Zeugniß dagegen ab, denn ungeachtet aller
jener Formen hat er auch nicht Eine gefunden, worinn
er ein Herz haͤtte abdruͤcken koͤnnen. Beynahe muß man
alſo fuͤrchten, es war in dieſem reichen Genius nur die
Armuth des Herzens, die ſeinen Beruf zur Satyre be-
ſtimmte. Waͤre es anders, ſo haͤtte er doch irgend auf
ſeinem weiten Weg aus dieſem engen Geleiſe treten muͤſ-
ſen. Aber bey allem noch ſo groſen Wechſel des Stoffes
und der aͤuſern Form ſehen wir dieſe innere Form in
ewigem, duͤrftigem Einerley wiederkehren, und trotz ſei-
ner voluminoͤſen Laufbahn hat er doch den Kreis der
Menſchheit in ſich ſelbſt nicht erfuͤllt, den man in den
obenerwaͤhnten Satyrikern mit Freuden durchlaufen findet.


Elegiſche Dichtung.


Setzt der Dichter die Natur der Kunſt und das Ideal
der Wirklichkeit ſo entgegen, daß die Darſtellung des erſten
uͤberwiegt, und das Wohlgefallen an demſelben herrſchende
Empfindung wird, ſo nenne ich ihn elegiſch. Auch dieſe
Gattung hat wie die Satyre zwey Klaſſen unter ſich.
Entweder iſt die Natur und das Ideal ein Gegenſtand
der Trauer, wenn jene als verloren, dieſes als unerreicht
dargeſtellt wird. Oder beyde ſind ein Gegenſtand der
[21] Freude, indem ſie als wirklich vorgeſtellt werden. Das
erſte giebt die Elegie in engerer, das andre die Idylle
in weiteſter Bedeutung. *


[22]

Wie der Unwille bey der pathetiſchen und wie der Spott
bey der ſcherzhaften Satyre, ſo darf bey der Elegie die
Trauer nur aus einer, durch das Ideal erweckten Begei-
ſterung fließen. Dadurch allein erhaͤlt die Elegie poeti-
ſchen Gehalt, und jede andere Quelle derſelben iſt voͤllig
*
[23] unter der Wuͤrde der Dichtkunſt. Der elegiſche Dichter
fucht die Natur, aber in ihrer Schoͤnheit, nicht bloß
in ihrer Annehmlichkeit, in ihrer Uebereinſtimmung mit
Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit gegen das Be-
duͤrfniß. Die Trauer uͤber verlorne Freuden, uͤber das
der Welt verſchwundene goldene Alter, uͤber das entflohene
Gluͤck der Jugend, der Liebe u. ſ. w. kann nur alsdann der
Stoff zu einer elegiſchen Dichtung werden, wenn jene
Zuſtaͤnde ſinnlichen Friedens zugleich als Gegenſtaͤnde mo-
raliſcher Harmonie ſich vorſtellen laſſen. Ich kann deß-
wegen die Klaggeſaͤnge des Ovid, die er aus ſeinem
Verbannungsort am Euxin anſtimmt, wie ruͤhrend ſie
auch ſind, und wie viel Dichteriſches auch einzelne Stel-
len haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetiſches Werk
betrachten. Es iſt viel zu wenig Energie, viel zu wenig
Geiſt und Adel in ſeinem Schmerz. Das Beduͤrfniß,
nicht die Begeiſterung ſtieß jene Klagen aus; es athmet
darinn, wenn gleich keine gemeine Seele, doch die ge-
meine Stimmung eines edleren Geiſtes, den ſein Schick-
ſal zu Boden druͤckte. Zwar wenn wir uns erinnern, daß
es Rom, und das Rom des Auguſtus iſt, um das er
trauert, ſo verzeyhen wir dem Sohn der Freude ſeinen
Schmerz; aber ſelbſt das herrliche Rom mit allen ſeinen
Gluͤckſeligkeiten iſt, wenn nicht die Einbildungkraft es erſt
veredelt, bloß eine endliche Groͤße, mithin ein unwuͤrdiges
Objekt fuͤr die Dichtkunſt, die erhaben uͤber alles, was
die Wirklichkeit aufſtellt, nur das Recht hat, um das Un-
endliche zu trauern.


Der Inhalt der dichteriſchen Klage kann alſo niemals
ein aͤußrer, jederzeit nur ein innerer idealiſcher Gegen-
ſtand ſeyn; ſelbſt wenn ſie einen Verluſt in der Wirklichkeit
[24] betrauert, muß ſie ihn erſt zu einem idealiſchen umſchaf-
fen. In dieſer Reduktion des Beſchraͤnkten auf ein Un-
endliches beſteht eigentlich die poetiſche Behandlung. Der
aͤuſſere Stoff iſt daher an ſich ſelbſt immer gleichguͤltig,
weil ihn die Dichtkunſt niemals ſo brauchen kann, wie ſie
ihn findet, ſondern nur durch das, was ſie ſelbſt daraus macht,
ihm die poetiſche Wuͤrde giebt. Der elegiſche Dichter
ſucht die Natur aber als eine Idee und in einer Vollkom-
menheit, in der ſie nie exiſtirt hat, wenn er ſie gleich als
etwas da geweſenes und nun verlorenes beweint. Wenn
uns Oſſian von den Tagen erzaͤhlt, die nicht mehr ſind,
und von den Helden, die verſchwunden ſind, ſo hat ſeine
Dichtungskraft jene Bilder der Erinnerung laͤngſt in Idea-
le, jene Helden in Goͤtter umgeſtaltet. Die Erfahrungen
eines beſtimmten Verluſtes haben ſich zur Idee der allge-
meinen Vergaͤnglichkeit erweitert, und der geruͤhrte Barde,
den das Bild des allgegenwaͤrtigen Ruins verfolgt,
ſchwingt ſich zum Himmel auf, um dort in dem Sonnen-
lauf ein Sinnbild des Unvergaͤnglichen zu finden. *


Ich wende mich ſogleich zu den neuern Poeten in der
elegiſchen Gattung. Rouſſeau, als Dichter, wie als
Philoſoph, hat keine andere Tendenz als die Natur ent-
weder zu ſuchen, oder an der Kunſt zu raͤchen. Je nach-
dem ſich ſein Gefuͤhl entweder bey der einen oder der an-
dern verweilt, finden wir ihn bald elegiſch geruͤhrt, bald
zu Juvenaliſcher Satyre begeiſtert, bald, wie in ſeiner
Julie, in das Feld der Idylle entzuͤckt. Seine Dichtun-
gen haben unwiderſprechlich poetiſchen Gehalt, da ſie ein
Ideal behandeln, nur weiß er denſelben nicht auf poetiſche
[25] Weiſe zu gebrauchen. Sein ernſter Charakter laͤßt ihn
zwar nie zur Frivolitaͤt herabſinken, aber erlaubt ihm
auch nicht, ſich bis zum poetiſchen Spiel zu erheben.
Bald durch Leidenſchaft, bald durch Abſtraktion ange-
ſpannt, bringt er es ſelten oder nie zu der aͤſthetiſchen
Freyheit, welche der Dichter ſeinem Stoff gegenuͤber
behaupten, ſeinem Leſer mittheilen muß. Entweder es
iſt ſeine kranke Empfindlichkeit, die uͤber ihn herrſchet,
und ſeine Gefuͤhle bis zum Peinlichen treibt; oder es
iſt ſeine Denkkraft, die ſeiner Imagination Feſſeln anlegt
und durch die Strenge des Begriffs die Anmuth des Ge-
maͤhldes vernichtet. Beyde Eigenſchaften, deren innige
Wechſelwirkung und Vereinigung den Poeten eigentlich
ausmacht, finden ſich bey dieſem Schriftſteller in unge-
woͤhnlich hohem Grad, und nichts fehlt, als daß ſie ſich
auch wirklich miteinander vereinigt aͤuſſerten, daß ſeine
Selbſtthaͤtigkeit ſich mehr in ſein Empfinden, daß ſeine
Empfaͤnglichkeit ſich mehr in ſein Denken miſchte. Daher
iſt auch in dem Ideale, das er von der Menſchheit auf-
ſtellt, auf die Schranken derſelben zu viel, auf ihr Ver-
moͤgen zu wenig Ruͤckſicht genommen, und uͤberall mehr
ein Beduͤrfniß nach phyſiſcher Ruhe als nach moraliſcher
Uebereinſtimmung darinn ſichtbar. Seine leiden-
ſchaftliche Empfindlichkeit iſt Schuld, daß er die Menſch-
heit, um nur des Streits in derſelben recht bald los zu
werden, lieber zu der geiſtloſen Einfoͤrmigkeit des erſten
Standes zuruͤckgefuͤhrt, als jenen Streit in der geiſtrei-
chen Harmonie einer voͤllig durchgefuͤhrten Bildung geen-
digt ſehen, daß er die Kunſt lieber gar nicht anfangen laſſen,
als ihre Vollendung erwarten will, kurz, daß er das Ziel
lieber niedriger ſteckt, und das Ideal lieber herabſetzt, um
es nur deſto ſchneller, um es nur deſto ſicherer zu erreichen.


[26]

Unter Deutſchlands Dichtern in dieſer Gattung will
ich hier nur Hallers, Kleiſts und Klopſtocks er-
waͤhnen. Der Charakter ihrer Dichtung iſt ſentimenta-
liſch; durch Ideen ruͤhren ſie uns, nicht durch ſinnliche
Wahrheit, nicht ſowohl weil ſie ſelbſt Natur ſind, als
weil ſie uns fuͤr Natur zu begeiſtern wiſſen. Was in-
deſſen von dem Charakter ſowohl dieſer als aller ſentimen-
taliſchen Dichter im Ganzen wahr iſt, ſchließt natuͤr-
licherweiſe darum keineswegs das Vermoͤgen aus, im
Einzelnen
uns durch naive Schoͤnheit zu ruͤhren: ohne
das wuͤrden ſie uͤberall keine Dichter ſeyn. Nur ihr ei-
gentlicher und herrſchender Charakter iſt es nicht, mit
ruhigem, einfaͤltigem und leichtem Sinn zu empfangen
und das Empfangene eben ſo wieder darzuſtellen. Un-
willkuͤhrlich draͤngt ſich die Phantaſie der Anſchauung,
die Denkkraft der Empfindung zuvor und man verſchließt
Auge und Ohr, um betrachtend in ſich ſelbſt zu verſinken.
Das Gemuͤth kann keinen Eindruck erleiden, ohne ſogleich
ſeinem eigenen Spiel zuzuſehen, und was es in ſich hat,
durch Reflexion ſich gegenuͤber und aus ſich herauszuſtel-
len. Wir erhalten auf dieſe Art nie den Gegenſtand, nur
was der reflektierende Verſtand des Dichters aus dem Ge-
genſtand machte, und ſelbſt dann, wenn der Dichter ſelbſt
dieſer Gegenſtand iſt, wenn er uns ſeine Empfindungen
darſtellen will, erfahren wir nicht ſeinen Zuſtand unmit-
telbar und aus der erſten Hand, ſondern wie ſich derſelbe
in ſeinem Gemuͤth reflektiert, was er als Zuſchauer ſeiner
ſelbſt daruͤber gedacht hat. Wenn Haller den Tod ſeiner
Gattin betrauert (man kennt das ſchoͤne Lied) und folgen-
dermaaßen anfaͤngt:


[27]
Soll ich von deinem Tode ſingen

O Mariane welch ein Lied!

Wenn Seufzer mit den Worten ringen

Und ein Begriff den andern flieht ꝛc.

ſo finden wir dieſe Beſchreibung genau wahr, aber wir
fuͤhlen auch, daß uns der Dichter nicht eigentlich ſeine
Empfindungen, ſondern ſeine Gedanken daruͤber mittheilt.
Er ruͤhrt uns deßwegen auch weit ſchwaͤcher, weil er
ſelbſt ſchon ſehr viel erkaͤltet ſeyn mußte, um ein Zu-
ſchauer ſeiner Ruͤhrung zu ſeyn.


Schon der groͤßtentheils uͤberſinnliche Stoff der Hal-
leriſchen und zum Theil auch der Klopſtockiſchen Dichtun-
gen ſchließt ſie von der naiven Gattung aus; ſobald daher
jener Stoff uͤberhaupt nur poetiſch bearbeitet werden
ſollte, ſo mußte er, da er keine koͤrperliche Ratur anneh-
men und folglich kein Gegenſtand der ſinnlichen Anſchauung
werden konnte, ins Unendliche hinuͤbergefuͤhrt und zu ei-
nem Gegenſtand der geiſtigen Anſchauung erhoben wer-
den. Ueberhaupt laͤßt ſich nur in dieſem Sinne eine di-
daktiſche Poeſie ohne innern Widerſpruch denken; denn,
um es noch einmal zu wiederhohlen, nur dieſe zwey Fel-
der beſitzt die Dichtkunſt; entweder ſie muß ſich in der
Sinnenwelt oder ſie muß ſich in der Ideenwelt aufhal-
ten, da ſie im Reich der Begriffe oder in der Verſtandes-
welt ſchlechterdings nicht gedeihen kann. Noch, ich ge-
ſtehe es, kenne ich kein Gedicht in dieſer Gattung, weder
aus aͤlterer noch neuerer Litteratur, welches den Begriff,
den es bearbeitet, rein und vollſtaͤndig entweder bis zur
Individualitaͤt herab oder bis zur Idee hinaufgefuͤhrt
haͤtte. Der gewoͤhnliche Fall iſt, wenn es noch gluͤcklich
[28] geht, daß zwiſchen beyden abgewechſelt wird, waͤhrend daß
der abſtrakte Begriff herrſchet, und daß der Einbildungs-
kraft, welche auf dem poetiſchen Felde zu gebieten haben
ſoll, bloß verſtattet wird, den Verſtand zu bedienen. Das-
jenige didaktiſche Gedicht, worinn der Gedanke ſelbſt poe-
tiſch waͤre, und es auch bliebe, iſt noch zu erwarten.


Was hier im allgemeinen von allen Lehrgedichten ge-
ſagt wird, gilt auch von den Halleriſchen insbeſondere.
Der Gedanke ſelbſt iſt kein dichteriſcher Gedanke, aber
die Ausfuͤhrung wird es zuweilen, bald durch den Ge-
brauch der Bilder bald durch den Aufſchwung zu Ideen.
Nur in der letztern Qualitaͤt gehoͤren ſie hieher. Kraft
und Tiefe und ein pathetiſcher Ernſt charakteriſiren dieſen
Dichter. Von einem Ideal iſt ſeine Seele entzuͤndet,
und ſein gluͤhendes Gefuͤhl fuͤr Wahrheit ſucht in den
ſt[i]llen Alpenthaͤlern die aus der Welt verſchwundene Un-
ſchuld. Tiefruͤhrend iſt ſeine Klage, mit energiſcher, faſt
bittrer Satyre zeichnet er die Verirrungen des Verſtan-
des und Herzens und mit Liebe die ſchoͤne Einfalt der
Natur. Nur uͤberwiegt uͤberall zu ſehr der Begriff in
ſeinen Gemaͤhlden, ſo wie in ihm ſelbſt der Verſtand uͤber
die Empfindung den Meiſter ſpielt. Daher lehrt er
durchgaͤngig mehr als er darſtellt, und ſtellt durchgaͤn-
gig mit mehr kraͤftigen als lieblichen Zuͤgen dar. Er iſt
groß, kuͤhn, feurig, erhaben; zur Schoͤnheit aber hat er
ſich ſelten oder niemals erhoben.


An Ideengehalt und an Tiefe des Geiſtes ſteht Kleiſt
dieſem Dichter um vieles nach; an Anmuth moͤchte er
ihn uͤbertreffen, wenn wir ihm anders nicht, wie zuwei-
len geſchieht, einen Mangel auf der einen Seite fuͤr eine
[29] Staͤrke auf der andern anrechnen. Kleiſts gefuͤhlvolle
Seele ſchwelgt am liebſten im Anblick laͤndlicher Scenen
und Sitten. Er flieht gerne das leere Geraͤuſch der Ge-
ſellſchaft und findet im Schooß der lebloſen Natur die
Harmonie und den Frieden, den er in der moraliſchen
Welt vermißt. Wie ruͤhrend iſt ſeine Sehnſucht nach
Ruhe! * Wie wahr und gefuͤhlt, wenn er ſingt:


„O Welt du biſt des wahren Lebens Grab.

Oft reitzet mich ein heiſſer Trieb zur Tugend,

Fuͤr Wehmuth rollt ein Bach die Wang’ herab,

Das Beyſpiel ſiegt und du o Feur der Jugend.

Ihr trocknet bald die edeln Thraͤnen ein.

Ein wahrer Menſch muß fern von Menſchen ſeyn.“

Aber hat ihn ſein Dichtungstrieb aus dem einengenden
Kreis der Verhaͤltniſſe heraus in die geiſtreiche Einſam-
keit der Natur gefuͤhrt, ſo verfolgt ihn auch noch biß hieher
das aͤngſtliche Bild des Zeitalters und leider auch ſeine
Feſſeln. Was er fliehet, iſt in ihm, was er ſuchet, iſt
ewig auſſer ihm; nie kann er den uͤblen Einfluß ſeines
Jahrhunderts verwinden. Iſt ſein Herz gleich feurig,
ſeine Phantaſie gleich energiſch genug, die todten Gebilde
des Verſtandes durch die Darſtellung zu beſeelen, ſo ent-
ſeelt der kalte Gedanke eben ſo oft wieder die lebendige
Schoͤpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion ſtoͤrt
das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und
prangend wie der Fruͤhling, den er beſang, iſt ſeine Dich-
tung, ſeine Phantaſie iſt rege und thaͤtig, doch moͤchte
man ſie eher veraͤnderlich als reich, eher ſpielend als
[30] ſchaffend, eher unruhig fortſchreitend als ſammelnd und
bildend nennen. Schnell und uͤppig wechſeln Zuͤge auf
Zuͤge, aber ohne ſich zum Individuum zu concentrieren,
ohne ſich zum Leben zu fuͤllen und zur Geſtalt zu runden.
Solange er bloß lyriſch dichtet und bloß bey landſchaft-
lichen Gemaͤhlden verweilt, laͤßt uns theils die groͤßere
Freyheit der lyriſchen Form, theils die willkuͤhrlichere
Beſchaffenheit ſeines Stoffs dieſen Mangel uͤberſehen,
indem wir hier uͤberhaupt mehr die Gefuͤhle des Dich-
ters als den Gegenſtand ſelbſt dargeſtellt verlangen. Aber
der Fehler wird nur allzu merklich, wenn er ſich, wie
in ſeinem Ciſſides und Paches, und in ſeinem Se-
neka
, heraus nimmt, Menſchen und menſchliche Hand-
lung darzuſtellen; weil hier die Einbildungskraft ſich
zwiſchen feſten und nothwendigen Grenzen eingeſchloſſen
ſieht, und der poetiſche Effekt nur aus dem Gegenſtand
hervorgehen kann. Hier wird er duͤrftig, langweilig,
mager und bis zum Unertraglichen froſtig: ein warnen-
des Beyſpiel fuͤr alle, die ohne innern Beruf aus dem
Felde muſikaliſcher Poeſie in das Gebiet der bildenden
ſich verſteigen. Einem verwandten Genie, dem Thom-
ſon
, iſt die nehmliche Menſchlichkeit begegnet.


In der ſentimentaliſchen Gattung und beſonders in
dem elegiſchen Theil derſelben moͤchten wenige aus den
neuern und noch wenigere aus den aͤltern Dichtern mit
unſerm Klopſtock zu vergleichen ſeyn. Was nur im-
mer, außerhalb den Grenzen lebendiger Form und außer
dem Gebiete der Individualitaͤt, im Felde der Idealitaͤt
zu erreichen iſt, iſt von dieſem muſikaliſchen Dichter ge-
leiſtet. * Zwar wuͤrde man ihm großes Unrecht thun,
[31] wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendig-
keit, womit der naive Dichter ſeinen Gegenſtand ſchil-
dert, uͤberhaupt abſprechen wollte. Viele ſeiner Oden,
mehrere einzelne Zuͤge in ſeinen Dramen und in ſeinem
Meſſias ſtellen den Gegenſtand mit treffender Wahrheit
und in ſchoͤner Umgrenzung dar; da beſonders, wo der
Gegenſtand ſein eigenes Herz iſt, hat er nicht ſelten eine
große Natur, eine reitzende Naivetaͤt bewieſen. Nur
liegt hierinn ſeine Staͤrke nicht, nur moͤchte ſich dieſe
Eigenſchaft nicht durch das Ganze ſeines dichteriſchen
Kreiſes durchfuͤhren laſſen. So eine herrliche Schoͤpfung
die Meſſiade in muſikaliſch poetiſcher Ruͤckſicht, nach
der oben gegebenen Beſtimmung, iſt, ſo vieles laͤßt ſie
in plaſtiſch poetiſcher noch zu wuͤnſchen uͤbrig, wo
man beſtimmte und fuͤr die Anſchauung beſtimmte
Formen erwartet. Beſtimmt genug moͤchten vielleicht
*
[32] noch die Figuren in dieſem Gedichte ſeyn, aber nicht fuͤr
die Anſchauung; nur die Abſtraktion hat ſie erſchaffen,
nur die Abſtraktion kann ſie unterſcheiden. Sie ſind gute
Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine le-
bende Geſtalten. Der Einbildungskraft, an die doch
der Dichter ſich wenden, und die er durch die durch-
gaͤngige Beſtimmtheit ſeiner Formen beherrſchen ſoll, iſt
es viel zu ſehr frey geſtellt, auf was Art ſie ſich dieſe
Menſchen und Engel, dieſe Goͤtter und Satane, dieſen
Himmel und dieſe Hoͤlle verſinnlichen will. Es iſt ein
Umriß gegeben, innerhalb deſſen der Verſtand ſie noth-
wendig denken muß, aber keine feſte Grenze iſt geſetzt,
innerhalb deren die Phantaſie ſie nothwendig darſtellen
muͤßte. Was ich hier von den Charakteren ſage, gilt von
allem, was in dieſem Gedichte Leben und Handlung iſt
oder ſeyn ſoll; und nicht bloß in dieſer Epopee, auch in
den dramatiſchen Poeſien unſers Dichters. Fuͤr den Ver-
ſtand iſt alles treflich beſtimmt und begrenzet (ich will
hier nur an ſeinen Judas, ſeinen Pilatus, ſeinen Philo,
ſeinen Salomo, im Trauerſpiel dieſes Nahmens erinnern)
aber es iſt viel zu formlos fuͤr die Einbildungskraft und
hier, ich geſtehe es frey heraus, finde ich dieſen Dichter
ganz und gar nicht in ſeiner Sphaͤre.


Seine Sphaͤre iſt immer das Ideenreich, und ins Un-
endliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinuͤber zu
fuͤhren. Man moͤchte ſagen, er ziehe allem, was er be-
handelt, den Koͤrper aus, um es zu Geiſt zu machen,
ſo wie andre Dichter alles geiſtige mit einem Koͤrper be-
kleiden. Beynahe jeder Genuß, den ſeine Dichtungen
gewaͤhren, muß durch eine Uebung der Denkkraft errun-
gen werden; alle Gefuͤhle, die er, und zwar ſo innig und
[33] ſo maͤchtig in uns zu erregen weiß, ſtroͤmen aus uͤberſinn-
lichen Quellen hervor. Daher dieſer Ernſt, dieſe Kraft,
dieſer Schwung, dieſe Tiefe, die alles charakteriſieren,
was von ihm kommt; daher auch dieſe immerwaͤhrende
Spannung des Gemuͤths, in der wir bey Leſung deſſelben
erhalten werden. Kein Dichter (Young etwa ausge-
nommen, der darinn mehr fodert als Er, aber ohne es,
wie er thut, zu verguͤten) duͤrfte ſich weniger zum Lieb-
ling und zum Begleiter durchs Leben ſchicken, als gerade
Klopſtock, der uns immer nur aus dem Leben heraus-
fuͤhrt, immer nur den Geiſt unter die Waffen ruft, ohne
den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu
erquicken. Keuſch, uͤberirrdiſch, unkoͤrperlich, heilig
wie ſeine Religion iſt ſeine dichteriſche Muſe, und man
muß mit Bewunderung geſtehen, daß er, wiewohl zuwei-
len in dieſen Hoͤhen verirret, doch niemals davon herab-
geſunken iſt. Ich bekenne daher unverhohlen, daß mir
fuͤr den Kopf desjenigen etwas bange iſt, der wirklich
und ohne Affektation dieſen Dichter zu ſeinem Lieblings-
buche machen kann; zu einem Buche nehmlich, bey dem
man zu jeder Lage ſich ſtimmen, zu dem man aus jeder
Lage zuruͤckkehren kann; auch, daͤchte ich, haͤtte man in
Deutſchland Fruͤchte genug von ſeiner gefaͤhrlichen Herr-
ſchaft geſehen. Nur in gewiſſen exaltierten Stimmungen
des Gemuͤths kann er geſucht und empfunden werden;
deswegen iſt er auch der Abgott der Jugend, obgleich bey
weitem nicht ihre gluͤcklichſte Wahl. Die Jugend, die
immer uͤber das Leben hinausſtrebt, die alle Form fliehet,
und jede Grenze zu enge findet, ergeht ſich mit Liebe und
Luſt in den endloſen Raͤumen, die ihr von dieſem Dich-
ter aufgethan werden. Wenn dann der Juͤngling Mann
wird, und aus dem Reiche der Ideen in die Grenzen der
Die Horen. 1795. 12tes St. 3
[34] Erfahrung zuruͤckkehrt, ſo verliert ſich vieles, ſehr vieles
von jener enthuſiaſtiſchen Liebe, aber nichts von der Ach-
tung, die man einer ſo einzigen Erſcheinung, einem ſo
außerordentlichen Genius, einem ſo ſehr veredelten Ge-
fuͤhl, die der Deutſche beſonders einem ſo hohen Ver-
dienſte ſchuldig iſt.


Ich nannte dieſen Dichter vorzugsweiſe in der elegi-
ſchen Gattung groß, und kaum wird es noͤthig ſeyn, die-
ſes Urtheil noch beſonders zu rechtfertigen. Faͤhig zu je-
der Energie und Meiſter auf dem ganzen Felde ſentimen-
taliſcher Dichtung kann er uns bald durch das hoͤchſte
Pathos erſchuͤttern, bald in himmliſch ſuͤſſe Empfindun-
gen wiegen; aber zu einer hohen geiſtreichen Wehmuth
neigt ſich doch uͤberwiegend ſein Herz, und wie erhaben
auch ſeine Harfe, ſeine Lyra toͤnt, ſo werden die ſchmel-
zenden Toͤne ſeiner Laute doch immer wahrer und tiefer
und beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes rein
geſtimmte Gefuͤhl, ob es nicht alles Kuͤhne und Starke,
alle Fictionen, alle prachtvollen Beſchreibungen, alle
Muſter oratoriſcher Beredtſamkeit im Meſſias, alle ſchim-
mernden Gleichniſſe, worinn unſer Dichter ſo vorzuͤglich
gluͤcklich iſt, fuͤr die zarten Empfindungen hingeben wuͤrde,
welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Gedicht
Bardale, den fruͤhen Graͤbern, der Sommernacht, dem
Zuͤrcher See und mehrere andere aus dieſer Gattung
athmen. So iſt mir die Meſſiade als ein Schatz elegiſcher
Gefuͤhle und idealiſcher Schilderungen theuer, wie wenig
ſie mich auch als Darſtellung einer Handlung und als ein
epiſches Werk befriedigt.


Vielleicht ſollte ich, ehe ich dieſes Gebiet verlaſſe,
[35] auch noch an die Verdienſte eines Uz, Denis, Geßner
(in ſeinem Tod Abels) Jacobi, von Gerſtenberg,
eines Hoͤlty, von Goͤckingk, und mehrerer andern in
dieſer Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen
ruͤhren, und, in der oben feſtgeſetzten Bedeutung des
Worts, ſentimentaliſch gedichtet haben. Aber mein Zweck
iſt nicht, eine Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt zu ſchrei-
ben, ſondern das oben geſagte durch einige Beyſpiele
aus unſrer Litteratur klar zu machen. Die Verſchieden-
heit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und
moderne, naive und ſentimentaliſche Dichter zu dem nehm-
lichen Ziele gehen — daß, wenn uns jene durch Natur,
Individualitaͤt und lebendige Sinnlichkeit ruͤhren,
dieſe durch Ideen und hohe Geiſtigkeit eine eben ſo
große, wenn gleich keine ſo ausgebreitete, Macht uͤber
unſer Gemuͤth beweiſen.


An den bisherigen Beyſpielen hat man geſehen, wie
der ſentimentaliſche Dichtergeiſt einen natuͤrlichen Stoff
behandelt; man koͤnnte aber auch intereſſiert ſeyn zu wiſ-
ſen, wie der naive Dichtergeiſt mit einem ſentimentaliſchen
Stoff verfaͤhrt. Voͤllig neu und von einer ganz eigenen
Schwierigkeit ſcheint dieſe Aufgabe zu ſeyn, da in der
alten und naiven Welt ein ſolcher Stoff ſich nicht vor-
fand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen moͤchte.
Dennoch hat ſich das Genie auch dieſe Aufgabe gemacht,
und auf eine bewundernswuͤrdig gluͤckliche Weiſe aufge-
loͤßt. Ein Charakter, der mit gluͤhender Empfindung ein
Ideal umfaßt, und die Wirklichkeit fliehet, um nach ei-
nem weſenloſen Unendlichen zu ringen, der was er in ſich
ſelbſt unaufhoͤrlich zerſtoͤrt, unaufhoͤrlich auſſer ſich ſu-
chet, dem nur ſeine Traͤume das Reelle, ſeine Erfahrun-
[36] gen ewig nur Schranken ſind, der endlich in ſeinem eige-
nen Daſeyn nur eine Schranke ſieht, und auch dieſe, wie
billig iſt, noch einreißt, um zu der wahren Realitaͤt durch-
zudringen — dieſes gefaͤhrliche Extrem des ſentimentali-
ſchen Charakters iſt der Stoff eines Dichters geworden,
in welchem die Natur getreuer und reiner als in irgend
einem andern wirkt, und der ſich unter modernen Dich-
tern vielleicht am wenigſten von der ſinnlichen Wahrheit
der Dinge entfernt.


Es iſt intereſſant zu ſehen, mit welchem gluͤcklichen
Inſtinkt alles was dem ſentimentaliſchen Charakter Nah-
rung giebt, im Werther zuſammengedraͤngt iſt; ſchwaͤr-
meriſche ungluͤckliche Liebe, Empfindſamkeit fuͤr Natur,
Religionsgefuͤhle, philoſophiſcher Contemplationsgeiſt,
endlich, um nichts zu vergeſſen, die duͤſtre, geſtaltloſe,
ſchwermuͤthige Oſſianiſche Welt. Rechnet man dazu, wie
wenig empfehlend, ja wie feindlich die Wirklichkeit da-
gegen geſtellt iſt, und wie von auſſen her alles ſich ver-
einigt, den Gequaͤlten in ſeine Idealwelt zuruͤckzudraͤngen,
ſo ſieht man keine Moͤglichkeit, wie ein ſolcher Charakter
aus einem ſolchen Kreiſe ſich haͤtte retten koͤnnen. In
dem Taſſo des nehmlichen Dichters kehrt der nehmliche
Gegenſatz, wiewohl in ganz verſchiedenen Charakteren;
ſelbſt in ſeinem neueſten Roman ſtellt ſich, ſo wie in
jenem erſten, der poetiſierende Geiſt dem nuͤchternen Ge-
meinſinn, das Ideale dem Wirklichen, die ſubjektive Vor-
ſtellungsweiſe der objektiven — — aber mit welcher Ver-
ſchiedenheit! entgegen: ſogar im Fauſt treffen wir den
nehmlichen Gegenſatz, freylich wie auch der Stoff dieß
erfoderte, auf beyden Seiten ſehr vergroͤbert und mate-
rialiſiert wieder an; es verlohnte wohl der Muͤhe, eine
[37] pſychologiſche Entwicklung dieſes auf vier ſo verſchiedene
Arten ſpecificierten Charakters zu verſuchen.


Es iſt oben bemerkt worden, daß die bloß leichte und
joviale Gemuͤthsart, wenn ihr nicht eine innere Ideen-
fuͤlle zum Grund liegt, noch gar keinen Beruf zur ſcherz-
haften Satyre abgebe, ſo freygebig ſie auch im gewoͤhn-
lichen Urtheil dafuͤr genommen wird; eben ſo wenig Be-
ruf giebt die bloß zaͤrtliche Weichmuͤthigkeit und Schwer-
muth zur elegiſchen Dichtung. Beyden fehlt zu dem wahren
Dichtertalente das energiſche Princip, welches den Stoff
beleben muß, um das wahrhaft ſchoͤne zu erzeugen. Pro-
dukte dieſer zaͤrtlichen Gattung koͤnnen uns daher bloß
ſchmelzen und ohne das Herz zu erquicken und den Geiſt
zu beſchaͤftigen, bloß der Sinnlichkeit ſchmeicheln. Ein
fortgeſetzter Hang zu dieſer Empfindungsweiſe muß zuletzt
nothwendig den Charakter entnerven und in einen Zuſtand
der Paßivitaͤt verſenken, aus welchem gar keine Realitaͤt,
weder fuͤr das aͤußre noch innre Leben, hervorgehen kann.
Man hat daher ſehr Recht gethan, jenes Uebel der Em-
pfindeley
* und weinerliche Weſen, welches durch
Mißdeutung und Nachaͤffung einiger vortreflichen Werke,
vor etwa achtzehn Jahren, in Deutſchland uͤberhand zu
nehmen anfieng, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen;
obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel
beßere Gegenſtuͤck jener elegiſchen Karrikatur, gegen das
[38] ſpaßhafte Weſen, gegen die herzloſe Satyre, und die
geiſtloſe Laune * zu beweiſen geneigt iſt, deutlich ge-
nug an den Tag legt, daß nicht aus ganz reinen Gruͤn-
den dagegen geeifert worden iſt. Auf der Wage des
aͤchten Geſchmacks kann das eine ſo wenig als das andere
etwas gelten, weil beyden der aeſthetiſche Gehalt fehlt,
der nur in der innigen Verbindung des Geiſtes mit dem
Stoff und in der vereinigten Beziehung eines Produktes
auf das Gefuͤhlvermoͤgen und auf das Ideenvermoͤgen
enthalten iſt.


Ueber Siegwart und ſeine Kloſtergeſchichte hat man
geſpottet, und die Reiſen nach dem mittaͤglichen
Frankreich
werden bewundert; dennoch haben beyde
Produkte gleich großen Anſpruch auf einen gewiſſen Grad
von Schaͤtzung, und gleich geringen auf ein unbedingtes
Lob. Wahre, obgleich uͤberſpannte Empfindung macht den
[39] erſtern Roman, ein leichter Humor und ein aufgeweckter
feiner Verſtand macht den zweyten ſchaͤtzbar; aber ſo wie
es dem einen durchaus an der gehoͤrigen Nuͤchternheit des
Verſtandes fehlt, ſo fehlt es dem andern an aeſthetiſcher
Wuͤrde. Der erſte wird der Erfahrung gegenuͤber ein we-
nig laͤcherlich, der andere wird dem Ideale gegenuͤber
beynahe veraͤchtlich. Da nun das wahrhafte Schoͤne ei-
nerſeits mit der Natur und andrerſeits mit dem Ideale
uͤbereinſtimmend ſeyn muß, ſo kann der eine ſo wenig als
der andre auf den Nahmen eines ſchoͤnen Werks Anſpruch
machen. Indeſſen iſt es natuͤrlich und billig, und ich
weiß es aus eigner Erfahrung, daß der Thuͤmmeliſche
Roman mit großem Vergnuͤgen geleſen wird. Da er nur
ſolche Foderungen beleidigt, die aus dem Ideal entſprin-
gen, die folglich von dem groͤßten Theil der Leſer gar
nicht, und von den beßern gerade nicht in ſolchen Mo-
menten, wo man Romanen ließt, aufgeworfen werden,
die uͤbrigen Foderungen des Geiſtes und — des Koͤrpers
hingegen in nicht gemeinem Grade erfuͤllt, ſo muß er und
wird mit Recht ein Lieblingsbuch unſerer und aller der
Zeiten bleiben, wo man aeſthetiſche Werke bloß ſchreibt,
um zu gefallen, und bloß ließt, um ſich ein Vergnuͤgen
zu machen.


Aber hat die poetiſche Litteratur nicht ſogar klaſſiſche
Werke aufzuweiſen, welche die hohe Reinheit des Ideals
auf aͤhnliche Weiſe zu beleidigen, und ſich durch die Ma-
terialitaͤt ihres Inhalts von jener Geiſtigkeit, die hier
von jedem aeſthetiſchen Kunſtwerk verlangt wird, ſehr
weit zu entfernen ſcheinen? Was ſelbſt der Dichter, der
keuſche Juͤnger der Muſe, ſich erlauben darf, ſollte das
dem Romanſchreiber, der nur ſein Halbbruder iſt und die
[40] Erde noch ſo ſehr beruͤhrt, nicht geſtattet ſeyn? Ich darf
dieſer Frage hier um ſo weniger ausweichen, da ſowohl im
elegiſchen als im ſatyriſchen Fache Meiſterſtuͤcke vorhanden
ſind, welche eine ganz andre Natur, als diejenige iſt,
von der dieſer Aufſatz ſpricht, zu ſuchen, zu empfehlen,
und dieſelbe nicht ſowohl gegen die ſchlechten als gegen
die guten Sitten zu vertheidigen das Anſehen haben. Ent-
weder muͤßten alſo jene Dichterwerke zu verwerfen oder
der hier aufgeſtellte Begriff elegiſcher Dichtung viel zu
willkuͤhrlich angenommen ſeyn.


Was der Dichter ſich erlauben darf, hieß es, ſollte
dem proſaiſchen Erzaͤhler nicht nachgeſehen werden duͤrfen?
Die Antwort iſt in der Frage ſchon enthalten: was dem
Dichter verſtattet iſt, kann fuͤr den, der es nicht iſt,
nichts beweiſen. In dem Begriffe des Dichters ſelbſt und
nur in dieſem ligt der Grund jener Freyheit, die eine
bloß veraͤchtliche Licenz iſt, ſobald ſie nicht aus dem Hoͤch-
ſten und Edelſten, was ihn ausmacht, kann abgeleitet
werden.


Die Geſetze des Anſtandes ſind der unſchuldigen Na-
tur fremd; nur die Erfahrung der Verderbniß hat ihnen
den Urſprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung ein-
mal gemacht worden, und aus den Sitten die natuͤrliche
Unſchuld verſchwunden iſt, ſo ſind es heilige Geſetze, die ein
ſittliches Gefuͤhl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer
kuͤnſtlichen Welt mit demſelben Rechte, als die Geſetze der
Natur in der Unſchuldwelt regieren. Aber eben das macht
ja den Dichter aus, daß er alles in ſich aufhebt, was an
eine kuͤnſtliche Welt erinnert, daß er die Natur in ihrer
urſpruͤnglichen Einfalt wieder in ſich herzuſtellen weiß.
[41] Hat er aber dieſes gethan, ſo iſt er auch eben dadurch
von allen Geſetzen losgeſprochen, durch die ein verfuͤhrtes
Herz ſich gegen ſich ſelbſt ſicher ſtellt. Er iſt rein, er iſt
unſchuldig und was der unſchuldigen Natur erlaubt iſt,
iſt es auch ihm; biſt du, der du ihn lieſeſt oder hoͤrſt,
nicht mehr ſchuldlos, und kannſt du es nicht einmal mo-
mentweiſe durch ſeine reinigende Gegenwart werden, ſo
iſt es dein Ungluͤck und nicht das ſeine; du verlaͤſſeſt
ihn, er hat fuͤr dich nicht geſungen.


Es laͤßt ſich alſo, in Abſicht auf Freyheiten dieſer Art
folgendes feſtſetzen.


Fuͤrs erſte: nur die Natur kann ſie rechtfertigen. Sie
duͤrfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer abſicht-
lichen Nachahmung ſeyn, denn dem Willen, der immer
nach moraliſchen Geſetzen gerichtet wird, koͤnnen wir ei-
ne Beguͤnſtigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie
muͤſſen alſo Naivetaͤt ſeyn. Um uns aber uͤberzeugen
zu koͤnnen, daß ſie dieſes wirklich ſind, muͤſſen wir ſie von
allem uͤbrigen, was gleichfalls in der Natur gegruͤndet iſt,
unterſtuͤtzt und begleitet ſehen, weil die Natur nur an der
ſtrengen Conſequenz, Einheit und Gleichfoͤrmigkeit ihrer
Wirkungen zu erkennen iſt. Nur einem Herzen, welches
alle Kuͤnſteley uͤberhaupt, und mithin auch da, wo ſie
nuͤtzt, verabſcheut, erlauben wir, ſich da, wo ſie druͤckt
und einſchraͤnkt, davon loszuſprechen; nur einem Herzen,
welches ſich allen Feßeln der Natur unterwirft, erlauben
wir, von den Freyheiten derſelben Gebrauch zu machen.
Alle uͤbrigen Empfindungen eines ſolchen Menſchen muͤſ-
fen folglich das Gepraͤge der Natuͤrlichkeit an ſich tragen;
er muß wahr, einfach, frey, offen, gefuͤhlvoll, gerade
[42] ſeyn; alle Verſtellung, alle Liſt, alle Willkuͤhr, alle klein-
liche Selbſtſucht muß aus ſeinem Charakter, alle Spu-
ren davon aus ſeinem Werke verbannt ſeyn.


Fuͤrs zweyte: nur die ſchoͤne Natur kann derglei-
chen Freyheiten rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin kein ein-
ſeitiger Ausbruch der Begierde ſeyn, denn alles, was aus
bloßer Beduͤrftigkeit entſpringt, iſt veraͤchtlich. Aus dem
Ganzen und aus der Fuͤlle menſchlicher Natur muͤſſen auch
dieſe ſinnlichen Energien hervorgehen. Sie muͤſſen Hu-
manitaͤt
ſeyn. Um aber beurtheilen zu koͤnnen, daß
das Ganze menſchlicher Natur, und nicht bloß ein ein-
ſeitiges und gemeines Beduͤrfniß der Sinnlichkeit ſie fo-
dert, muͤſſen wir das Ganze, von dem ſie einen einzelnen
Zug ausmachen, dargeſtellt ſehen. An ſich ſelbſt iſt die
ſinnliche Empfindungsweiſe etwas unſchuldiges und gleich-
guͤltiges. Sie mißfaͤllt uns nur darum an einem Men-
ſchen, weil ſie thieriſch iſt, und von einem Mangel wah-
rer vollkommener Menſchheit in ihm zeuget: ſie beleidigt
uns nur darum an einem Dichterwerk, weil ein ſolches
Werk Anſpruch macht, uns zu gefallen, mithin auch uns
eines ſolchen Mangels faͤhig haͤlt. Sehen wir aber in
dem Menſchen, der ſich dabey uͤberraſchen laͤßt, die Menſch-
heit in ihrem ganzen uͤbrigen Umfange wirken; finden
wir in dem Werke, worinn man ſich Freyheiten dieſer Art
genommen, alle Realitaͤten der Menſchheit ausgedruͤckt,
ſo iſt jener Grund unſers Mißfallens weggeraͤumt, und
wir koͤnnen uns mit unvergaͤllter Freude an dem naiven
Ausdruck wahrer und ſchoͤner Natur ergoͤtzen. Derſelbe
Dichter alſo, der ſich erlauben darf, uns zu Theilneh-
mern ſo niedrig menſchlicher Gefuͤhle zu machen, muß
uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß
[43] und ſchoͤn und erhaben menſchlich iſt, empor zu tragen
wiſſen.


Und ſo haͤtten wir denn den Maaßſtab gefunden, dem
wir jeden Dichter, der ſich etwas gegen den Anſtand her-
ausnimmt, und ſeine Freyheit in Darſtellung der Natur
biß zu dieſer Grenze treibt mit Sicherheit unterwerfen
koͤnnen. Sein Produkt iſt gemein, niedrig, ohne alle
Ausnahme verwerflich, ſobald es kalt und ſobald es leer
iſt, weil dieſes einen Urſprung aus Abſicht und aus einem
gemeinen Beduͤrfniß und einen heilloſen Anſchlag auf un-
ſre Begierden beweißt. Es iſt hingegen ſchoͤn, edel, und
ohne Ruͤckſicht auf alle Einwendungen einer froſtigen De-
cenz Beyfallswuͤrdig, ſobald es naiv iſt, und Geiſt mit
Herz verbindet. *


Wenn man mir ſagt, daß unter dem hier gegebenen
Maaßſtab die meiſten franzoͤſiſchen Erzaͤhlungen in dieſer
Gattung, und die gluͤcklichſten Nachahmungen derſelben
in Deutſchland nicht zum beſten beſtehen moͤchten — daß
dieſes zum Theil auch der Fall mit manchen Produkten
unſers anmuthigſten und geiſtreichſten Dichters ſeyn duͤrf-
[44] te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe
ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt
nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn-
de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem
feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt.
Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene
Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in
Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-
funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli-
chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge-
maͤhlde des roͤmiſchen und deutſchen Ovid, ſo
wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels
(der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) Laclos und
vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ-
hig halte, mich mit den Elegien des roͤmiſchen und
deutſchen Properz, ja ſelbſt mit manchem verſchrie-
nen Produkt des Diderot verſoͤhnen; denn jene ſind
nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch,
menſchlich und naiv. *


[45]

Idylle.


Es bleiben mir noch einige Worte uͤber dieſe dritte
Species ſentimentaliſcher Dichtung zu ſagen uͤbrig, we-
nige Worte nur, denn eine ausfuͤhrlichere Entwicklung
derſelben, deren ſie vorzuͤglich bedarf, bleibt einer andern
Zeit vorbehalten. *


*


[46]

Die poetiſche Darſtellung unſchuldiger und gluͤcklicher
Menſchheit iſt der allgemeine Begriff dieſer Dichtungsart.
*
[47] Weil dieſe Unſchuld und dieſes Gluͤck mit den kuͤnſtlichen
Verhaͤltniſſen der groͤßern Societaͤt und mit einem gewiſ-
ſen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unvertraͤglich
ſchienen, ſo haben die Dichter den Schauplatz der Idylle
aus dem Gedraͤnge des buͤrgerlichen Lebens heraus in den
einfachen Hirtenſtand verlegt, und derſelben ihre Stelle
vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Al-
ter der Menſchheit angewieſen. Man begreift aber wohl,
daß dieſe Beſtimmungen bloß zufaͤllig ſind, daß ſie nicht
als der Zweck der Idylle, bloß als das natuͤrlichſte Mit-
tel zu demſelben in Betrachtung kommen. Der Zweck ſelbſt
iſt uͤberall nur der, den Menſchen im Stand der Unſchuld,
d. h. in einem Zuſtand der Harmonie und des Friedens
mit ſich ſelbſt und von auſſen darzuſtellen.


Aber ein ſolcher Zuſtand findet nicht bloß vor dem
Anfange der Kultur ſtatt, ſondern er iſt es auch, den die
Kultur, wenn ſie uͤberal nur eine beſtimmte Tendenz ha-
ben ſoll, als ihr letztes Ziel beabſichtet. Die Idee dieſes
Zuſtandes allein und der Glaube an die moͤgliche Realitaͤt
derſelben kann den Menſchen mit allen den Uebeln verſoͤh-
nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen iſt,
und waͤre ſie bloß Schimaͤre, ſo wuͤrden die Klagen derer,
*
[48] welche die groͤßere Societaͤt und die Anbauung des Ver-
ſtandes bloß als ein Uebel verſchreyen und jenen verlaſſe-
nen Stand der Natur fuͤr den wahren Zweck des Menſchen
ausgeben, vollkommen gegruͤndet ſeyn. Dem Menſchen
der in der Kultur begriffen iſt, liegt alſo unendlich viel
daran, von der Ausfuͤhrbarkeit jener Idee in der Sin-
nenwelt, von der moͤglichen Realitaͤt jenes Zuſtandes eine
ſinnliche Bekraͤftigung zu erhalten, und da die wirkliche
Erfahrung, weit entfernt dieſen Glauben zu naͤhren, ihn
vielmehr beſtaͤndig widerlegt, ſo koͤmmt auch hier, wie
in ſo vielen andern Faͤllen das Dichtungsvermoͤgen der
Vernunft zu Huͤlfe, um jene Idee zur Anſchauung zu
bringen und in einem einzelnen Fall zu verwirklichen.


Zwar iſt auch jene Unſchuld des Hirtenſtandes eine
poetiſche Vorſtellung, und die Einbildungskraft mußte ſich
mithin auch dort ſchon ſchoͤpferiſch beweiſen; aber auſſer-
dem daß die Aufgabe dort ungleich einfacher und leichter
zu loͤſen war, ſo fanden ſich in der Erfahrung ſelbſt ſchon
die einzelnen Zuͤge vor, die ſie nur auszuwaͤhlen und in
ein Ganzes zu verbinden brauchte. Unter einem gluͤckli-
chen Himmel, in den einfachen Verhaͤltniſſen des erſten
Standes, bey einem beſchraͤnkten Wiſſen wird die Natur
leicht befriedigt, und der Menſch verwildert nicht eher,
als biß das Beduͤrfniß ihn aͤngſtiget. Alle Voͤlker, die ei-
ne Geſchichte haben, haben ein Paradies, einen Stand
der Unſchuld, ein goldnes Alter; ja jeder einzelne Menſch
hat ſein Paradies, ſein goldnes Alter, deſſen er ſich, je
nachdem er mehr oder weniger poetiſches in ſeiner Natur
hat, mit mehr oder weniger Begeiſterung erinnert. Die
Erfahrung ſelbſt bietet alſo Zuͤge genug zu dem Gemaͤhlde
dar, welches die Hirtenidylle behandelt. Deßwegen bleibt
[49] aber dieſe immer eine ſchoͤne, eine erhebende Fiction, und
die Dichtungskraft hat in Darſtellung derſelben wirklich
fuͤr das Ideal gearbeitet. Denn fuͤr den Menſchen, der
von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der
gefaͤhrlichen Fuͤhrung ſeiner Vernunft uͤberliefert worden
iſt, iſt es von unendlicher Wichtigkeit, die Geſetzgebung
der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuſchauen,
und ſich von den Verderbniſſen der Kunſt in dieſem treuen
Spiegel wieder reinigen zu koͤnnen. Aber ein Umſtand
findet ſich dabey, der den aͤſthetiſchen Werth ſolcher Dich-
tungen um ſehr viel vermindert. Vor den Anfang
der Kultur
gepflanzt ſchließen ſie mit den Nachtheilen
zugleich alle Vortheile derſelben aus, und befinden ſich ih-
rem Weſen nach, in einem nothwendigen Streit mit der-
ſelben. Sie fuͤhren uns alſo theoretiſch ruͤckwaͤrts,
indem ſie uns praktiſch vorwaͤrts fuͤhren und veredeln.
Sie ſtellen ungluͤcklicherweiſe das Ziel hinter uns, dem
ſie uns doch entgegen fuͤhren ſollten, und koͤnnen
uns daher bloß das traurige Gefuͤhl eines Verluſtes, nicht
das froͤhliche der Hofnung einfloͤßen. Weil ſie nur durch
Aufhebung aller Kunſt und nur durch Vereinfachung der
menſchlichen Natur ihren Zweck ausfuͤhren, ſo haben ſie,
bey dem hoͤchſten Gehalt fuͤr das Herz, allzuwenig fuͤr
den Geiſt, und ihr einfoͤrmiger Kreis iſt zu ſchnell geen-
digt. Wir koͤnnen ſie daher nur lieben und aufſuchen,
wenn wir der Ruhe beduͤrftig ſind, nicht wenn unſre
Kraͤfte nach Bewegung und Thaͤtigkeit ſtreben. Sie koͤn-
nen nur dem kranken Gemuͤthe Heilung, dem geſunden
keine Nahrung geben; ſie koͤnnen nicht beleben, nur
beſaͤnftigen. Dieſen in dem Weſen der Hirtenidylle ge-
gruͤndeten Mangel hat alle Kunſt der Poeten nicht gut ma-
chen koͤnnen. Zwar fehlt es auch dieſer Dichtart nicht an
Die Horen. 1795. 12tes St. 4
[50] enthuſiaſtiſchen Liebhabern, und es giebt Leſer genug, die
einen Amintas und einen Daphnis den groͤßten Mei-
ſterſtuͤcken der epiſchen und dramatiſchen Muſe vorziehen
koͤnnen; aber bey ſolchen Leſern iſt es nicht ſowohl der Ge-
ſchmack als das individuelle Beduͤrfniß, was uͤber Kunſt-
werke richtet, und ihr Urtheil kann folglich hier in keine
Betrachtung kommen. Der Leſer von Geiſt und Empfin-
dung verkennt zwar den Werth ſolcher Dichtungen nicht,
aber er fuͤhlt ſich ſeltner zu denſelben gezogen und fruͤher
davon geſaͤttigt. In dem rechten Moment des Beduͤrfniſ-
ſes wirken ſie dafuͤr deſto maͤchtiger; aber auf einen ſol-
chen Moment ſoll das wahre Schoͤne niemals zu warten
brauchen, ſondern ihn vielmehr erzeugen.


Was ich hier an der Schaͤferidylle tadle, gilt uͤbrigens
nur von der ſentimentaliſchen; denn der naiven kann es nie
an Gehalt fehlen, da er hier in der Form ſelbſt ſchon
enthalten iſt. Jede Poeſie nehmlich muß einen unendlichen
Gehalt haben, dadurch allein iſt ſie Poeſie; aber ſie kann
dieſe Foderung auf zwey verſchiedene Arten erfuͤllen. Sie
kann ein Unendliches ſeyn, der Form nach, wenn ſie ihren
Gegenſtand mit allen ſeinen Grenzen darſtellt, wenn
ſie ihn individualiſiert; ſie kann ein Unendliches ſeyn der
Materie nach, wenn ſie von ihrem Gegenſtand alle Gren-
zen entfernt
, wenn ſie ihn idealiſiert; alſo entweder
durch eine abſolute Darſtellung oder durch Darſtellung
eines Abſoluten. Den erſten Weg geht der naive, den
zweyten der ſentimentaliſche Dichter. Jener kann alſo
ſeinen Gehalt nicht verfehlen, ſo bald er ſich nur treu
an die Natur haͤlt, welche immer durchgaͤngig begrenzt,
d. h. der Form nach unendlich iſt. Dieſem hingegen ſteht
die Natur mit ihrer durchgaͤngigen Begrenzung im We-
[51] ge, da er einen abſoluten Gehalt in den Gegenſtand legen
ſoll. Der ſentimentaliſche Dichter verſteht ſich alſo nicht
gut auf ſeinen Vortheil, wenn er dem naiven Dichter
ſeine Gegenſtaͤnde abborgt, welche an ſich ſelbſt
voͤllig gleichguͤltig ſind, und nur durch die Behandlung
poetiſch werden. Er ſetzt ſich dadurch ganz unnoͤthiger
Weiſe einerley Grenzen mit jenem, ohne doch die Be-
grenzung vollkommen durchfuͤhren und in der abſoluten
Beſtimmtheit der Darſtellung mit demſelben wetteifern zu
koͤnnen; er ſollte ſich alſo vielmehr gerade in dem Gegen-
ſtand von dem naiven Dichter entfernen, weil er dieſem,
was derſelbe in der Form vor ihm voraus hat, nur durch
den Gegenſtand wieder abgewinnen kann.


Um hievon die Anwendung auf die Schaͤferidylle der
ſentimentaliſchen Dichter zu machen, ſo erklaͤrt es ſich
nun, warum dieſe Dichtungen bey allem Aufwand von
Genie und Kunſt weder fuͤr das Herz noch fuͤr den Geiſt
voͤllig befriedigend ſind. Sie haben ein Ideal ausgefuͤhrt
und doch die enge duͤrftige Hirtenwelt beybehalten, da
ſie doch ſchlechterdings entweder fuͤr das Ideal eine andere
Welt, oder fuͤr die Hirtenwelt eine andre Darſtellung
haͤtten waͤhlen ſollen. Sie ſind gerade ſo weit ideal, daß
die Darſtellung dadurch an individueller Wahrheit ver-
liert, und ſind wieder gerade um ſo viel individuel, daß
der idealiſche Gehalt darunter leidet. Ein Geßneriſcher
Hirte z. B. kann uns nicht als Natur, nicht durch
Wahrheit der Nachahmung entzuͤcken, denn dazu iſt er
ein zu ideales Weſen; eben ſo wenig kann er uns als
ein Ideal durch das unendliche des Gedankens befriedi-
gen, denn dazu iſt er ein viel zu duͤrftiges Geſchoͤpf. Er
wird alſo zwar biß auf einen gewiſſen Punkt al-
[52] len Klaſſen von Leſern ohne Ausnahme gefallen, weil er
das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen ſtrebt,
und folglich den zwey entgegengeſetzten Foderungen, die an
ein Gedicht gemacht werden koͤnnen, in einem gewiſſen
Grade Genuͤge leiſtet; weil aber der Dichter, uͤber der
Bemuͤhung, beydes zu vereinigen, keinem von beyden ſein
volles Recht erweißt, weder ganz Natur noch ganz
Ideal iſt, ſo kann er eben deßwegen vor einem ſtrengen
Geſchmack nicht ganz beſtehen, der in aeſthetiſchen Din-
gen nichts halbes verzeyhen kann. Es iſt ſonderbar, daß
dieſe Halbheit ſich auch biß auf die Sprache des genannten
Dichters erſtreckt, die zwiſchen Poeſie und Proſa unent-
ſchieden ſchwankt, als fuͤrchtete der Dichter in gebundener
Rede ſich von der wirklichen Natur zu weit zu entfernen,
und in ungebundener den poetiſchen Schwung zu verlie-
ren. Eine hoͤhere Befriedigung gewaͤhrt Miltons herr-
liche Darſtellung des erſten Menſchenpaares und des Stan-
des der Unſchuld im Paradieſe; die ſchoͤnſte, mir bekannte
Idylle in der ſentimentaliſchen Gattung. Hier iſt die
Natur edel, geiſtreich, zugleich voll Flaͤche und voll
Tiefe, der hoͤchſte Gehalt der Menſchheit iſt in die an-
muthigſte Form eingekleidet.


Alſo auch hier in der Idylle wie in allen andern poe-
tiſchen Gattungen, muß man einmal fuͤr allemal zwiſchen
der Individualitaͤt und der Idealitaͤt eine Wahl treffen,
denn beyden Foderungen zugleich Genuͤge leiſten wollen,
iſt, ſolange man nicht am Ziel der Vollkommenheit ſtehet,
der ſicherſte Weg, beyde zugleich zu verfehlen. Fuͤhlt ſich
der Moderne griechiſchen Geiſtes genug, um bey aller
Widerſpenſtigkeit ſeines Stoffs mit den Griechen auf ih-
rem eigenen Felde, nehmlich im Felde naiver Dichtung,
[53] zu ringen, ſo thue er es ganz, und thue es ausſchließend,
und ſetze ſich uͤber jede Foderung des ſentimentaliſchen
Zeitgeſchmacks hinweg. Erreichen zwar duͤrfte er ſeine
Muſter ſchwerlich; zwiſchen dem Original und dem gluͤck-
lichſten Nachahmer wird immer eine merkliche Diſtanz
offen bleiben, aber er iſt auf dieſem Wege doch gewiß,
ein aͤcht poetiſches Werk zu erzeugen. * Treibt ihn hin-
gegen der ſentimentaliſche Dichtungstrieb zum Ideale,
ſo verfolge er auch dieſes ganz, in voͤlliger Reinheit,
und ſtehe nicht eher als bey dem Hoͤchſten ſtille, ohne hin-
ter ſich zu ſchauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nach-
kommen moͤchte. Er verſchmaͤhe den unwuͤrdigen Aus-
weg, den Gehalt des Ideals zu verſchlechtern, um es
der menſchlichen Beduͤrftigkeit anzupaſſen, und den Geiſt
auszuſchließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel
zu haben. Er fuͤhre uns nicht ruͤckwaͤrts in unſre Kind-
heit, um uns mit den koſtbarſten Erwerbungen des Ver-
ſtandes eine Ruhe erkaufen zu laſſen, die nicht laͤnger
[54] dauren kann als der Schlaf unſrer Geiſteskraͤfte; ſondern
fuͤhre uns vorwaͤrts zu unſrer Muͤndigkeit, um uns die
hoͤhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kaͤmpfer
belohnet, die den Ueberwinder begluͤckt. Er mache ſich
die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunſchuld
auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingun-
gen des ruͤſtigſten feurigſten Lebens, des ausgebreitetſten
Denkens, der raffinirteſten Kunſt, der hoͤchſten geſell-
ſchaftlichen Verfeinerung ausfuͤhrt, welche mit einem
Wort, den Menſchen, der nun einmal nicht mehr nach
Arkadien zuruͤckkan, bis nach Eliſium fuͤhrt.


Der Begriff dieſer Idylle iſt der Begriff eines voͤllig
aufgeloͤßten Kampfes ſowohl in dem einzelnen Menſchen,
als in der Geſellſchaft, einer freyen Vereinigung der Nei-
gungen mit dem Geſetze, einer zur hoͤchſten ſittlichen Wuͤrde
hinaufgelaͤuterten Natur, kurz, er iſt kein andrer als
das Ideal der Schoͤnheit auf das wirkliche Leben ange-
wendet. Ihr Charakter beſteht alſo darinn, daß aller
Gegenſatz der Wirklichkeit mit dem Ideale
,
der den Stoff zu der ſatyriſchen und elegiſchen Dichtung
hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben ſey, und mit
demſelben auch aller Streit der Empfindungen aufhoͤre.
Ruhe waͤre alſo der herrſchende Eindruck dieſer Dich-
tungsart, aber Ruhe der Vollendung, nicht der Traͤg-
heit; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht nicht aus
dem Stillſtand der Kraͤfte, die aus der Fuͤlle nicht aus
der Leerheit fließt, und von dem Gefuͤhl eines unendlichen
Vermoͤgens begleitet wird. Aber eben darum, weil al-
ler Widerſtand hinwegfaͤllt, ſo wird es hier ungleich ſchwuͤ-
riger, als in den zwey vorigen Dichtungsarten, die Be-
wegung
hervorzubringen, ohne welche doch uͤberall keine
[55] poetiſche Wirkung ſich denken laͤßt. Die hoͤchſte Einheit
muß ſeyn, aber ſie darf der Mannichfaltigkeit nichts neh-
men; das Gemuͤth muß befriedigt werden, aber ohne daß
das Streben darum aufhoͤre. Die Aufloͤſung dieſer Frage
iſt es eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leiſten hat.


(Der Beſchluß im naͤchſten Stuͤck.)

[...]
[][][]
Notes
*
Man ſehe das eilfte Stuͤck der Horen.
*
Es iſt vielleicht nicht uͤberfluͤſſig zu erinnern, daß, wenn
hier die neuen Dichter den alten entgegengeſetzt werden,
nicht ſowohl der Unterſchied der Zeit, als der Unterſchied
der Manier zu verſtehen iſt. Wir haben auch in neuern
ja ſogar in neueſten Zeiten naive Dichtungen in allen Klaſſen
*
wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten
lateiniſchen ja ſelbſt griechiſchen Dichtern fehlt es nicht an
ſentimentaliſchen. Nicht nur in demſelben Dichter, auch
in demſelben Werke trifft man haͤufig beyde Gattungen ver-
einigt an; wie zum Beyſpiel in Werthers Leiden,
und dergleichen Produkte werden immer den groͤßern Effekt
machen.
*
Moliere als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den
Ausſpruch ſeiner Magd ankommen laſſen, was in ſeinen Co-
moͤdien ſtehen bleiben und wegfallen ſollte; auch waͤre zu
wuͤnſchen geweſen, daß die Meiſter des franzoͤſiſchen Ko-
thurns mit ihren Trauerſpielen zuweilen dieſe Probe gemacht
haͤtten. Aber ich wollte nicht rathen, daß mit den Klop-
ſtockiſchen Oden, mit den ſchoͤnſten Stellen im Meſſias, im
verlorenen Paradies, in Nathan dem Weiſen, und vielen
andern Stuͤcken eine aͤhnliche Probe angeſtellt wuͤrde. Doch
was ſage ich? dieſe Probe iſt wirklich angeſtellt, und die
Molieriſche Magd raiſonniert ja langes und breites in
unſern kritiſchen Bibliotheken, philoſophiſchen und littera-
riſchen Annalen und Reiſebeſchreibungen uͤber Poeſie, Kunſt
und dergleichen, nur, wie billig, auf deutſchem Boden ein
wenig abgeſchmakter als auf franzoͤſiſchem, und wie es ſich
fuͤr die Geſindeſtube der deutſchen Litteratur geziemt.
*
Individualitaͤt mit einem Wort iſt der Charakter des Al-
ten, und Idealitaͤt die Staͤrke des Modernen. Es iſt alſo
natuͤrlich, daß in allem, was zur unmittelbaren ſinnlichen
Anſchauung gelangen und als Individuum wirken muß,
*
der erſte uͤber den zweyten den Sieg davon tragen wird.
Eben ſo natuͤrlich iſt es auf der andern Seite, daß da wo
es auf geiſtige Anſchauungen ankommt und die Sinnenwelt
uͤberſchritten werden ſoll und darf, der erſte nothwendig
durch die Schranken der Materie leiden, und eben weil er
ſich ſtreng an dieſe bindet, hinter dem andern, der ſich da-
von freyſpricht, wird zuruͤckbleiben muͤſſen.
Nun entſteht natuͤrlicherweiſe die Frage (die wichtigſte,
die uͤberhaupt in einer Philoſophie der Kunſt kann aufge-
worfen werden) ob und in wie fern in demſelben Kunſt-
werke Individualitaͤt mit Idealitaͤt zu vereinigen ſey — ob
ſich alſo (welches auf eins hinauslaͤuft) eine Coalition des
alten Dichtercharakters mit dem modernen gedenken laſſe,
welche, wenn ſie wirklich ſtatt faͤnde, als der hoͤchſte Gipfel
aller Kunſt zu betrachten ſeyn wuͤrde. Sachverſtaͤndige be-
haupten, daß dieſes, in Ruͤckſicht auf bildende Kunſt, von
den Antiken gewiſſermaaßen geleiſtet ſey, indem hier wirk-
lich das Individuum ideal ſey und das Ideal in einem
Individuum erſcheine. Soviel iſt indeſſen gewiß, daß
in der Poeſie dieſer Gipfel noch keineswegs erreicht iſt;
denn hier fehlt noch ſehr viel daran, daß das vollkommenſte
Werk, der Form nach, es auch dem Inhalte nach ſey, daß
es nicht bloß ein wahres und ſchoͤnes Ganze ſondern auch
das moͤglichſt reichſte Ganze ſey. Es ſey dieß aber nun
erreichbar und erreicht oder nicht, ſo iſt es wenigſtens die
Aufgabe auch in der Dichtkunſt, das ideale zu individua-
*
liſieren und das individuelle zu idealiſieren. Der moderne
Dichter muß ſich dieſe Aufgabe machen, wenn er ſich
uͤberall nur ein hoͤchſtes und leztes Ziel ſeines Strebens
gedenken ſoll. Denn, da er einerſeits durch das Ideen-
vermoͤgen uͤber die Wirklichkeit hinausgetrieben, andrerſeits
aber durch den Darſtellungstrieb beſtaͤndig wieder zu der-
ſelben zuruͤckgenoͤthiget wird, ſo geraͤth er in einen Zwie-
ſpalt mit ſich ſelbſt, der nicht anders als dadurch, daß er
eine Darſtellbarkeit des Ideals regulativ annimmt, beyzu-
legen iſt.
*
Wer bey ſich auf den Eindruck merkt, den naive Dichtun-
gen auf ihn machen, und den Antheil, der dem Inhalt
daran gebuͤhrt, davon abzuſondern im Stand iſt, der
wird dieſen Eindruck, auch ſelbſt bey ſehr pathetiſchen
Gegenſtaͤnden, immer froͤhlich, immer rein, immer ruhig
finden; bey ſentimentaliſchen wird er immer etwas ernſt
und anſpannend ſeyn. Das macht, weil wir uns bey
naiven Darſtellungen, ſie handeln auch wovon ſie wollen,
immer uͤber die Wahrheit, uͤber die lebendige Gegenwart
des Objects in unſerer Einbildungskraft erfreuen, und auch
weiter nichts als dieſe ſuchen, bey ſentimentaliſchen hinge-
gen die Vorſtellung der Einbildungskraft mit einer Ver-
nunftidee zu vereinigen haben, und alſo immer zwiſchen
zwey verſchiedenen Zuſtaͤnden in Schwanken gerathen.
*
Im Nathan dem Weiſen iſt dieſes nicht geſchehen, hier hat
die froſtige Natur des Stoffs das ganze Kunſtwerk erkaͤltet.
Aber Leſſing wußte ſelbſt, daß er kein Trauerſpiel ſchrieb,
und vergaß nur, menſchlicher weiſe, in ſeiner eigenen Ange-
legenheit die in der Dramaturgie aufgeſtellte Lehre, daß der
Dichter nicht befugt ſey, die tragiſche Form zu einem an-
dern als tragiſchen Zweck anzuwenden. Ohne ſehr weſentli-
che Veraͤnderungen wuͤrde es kaum moͤglich geweſen ſeyn,
dieſes dramatiſche Gedicht in eine gute Tragoͤdie umzuſchaf-
fen; aber mit bloß zufaͤlligen Veraͤnderungen moͤchte es eine
gute Comoͤdie abgegeben haben. Dem letztern Zweck nehm-
lich haͤtte das Pathetiſche dem erſtern das Raiſonnierende auf-
geopfert werden muͤſſen, und es iſt wohl keine Frage, auf
welchem von beyden die Schoͤnheit dieſes Gedichts am mei-
ſten beruht.
*
Daß ich die Benennungen Satyre, Elegie und Idylle in
einem weitern Sinne gebrauche, als gewoͤhnlich geſchieht,
werde ich bey Leſern, die tiefer in die Sache dringen,
kaum zu verantworten brauchen. Meine Abſicht dabey iſt
keineswegs die Grenzen zu verruͤcken, welche die bisherige
Obſervanz ſowohl der Satyre und Elegie als der Idylle
mit gutem Grunde geſteckt hat; ich ſehe bloß auf die in
dieſen Dichtungsarten herrſchende Empfindungsweiſe,
und es iſt ja bekannt genug, daß dieſe ſich keineswegs in
jene engen Grenzen einſchlieſſen laͤßt. Elegiſch ruͤhrt uns
nicht bloß die Elegie, welche ausſchließlich ſo genannt
wird; auch der dramatiſche und epiſche Dichter koͤnnen uns
auf elegiſche Weiſe bewegen. In der Meßiade, in Thom-
ſons Jahrszeiten, im verlorenen Paradieß, im befreyten
Jeruſalem finden wir mehrere Gemaͤhlde, die ſonſt nur der
Idylle, der Elegie, der Satyre eigen ſind. Eben ſo, mehr
oder weniger, faſt in jedem pathetiſchen Gedichte. Daß ich
aber die Idylle ſelbſt zur elegiſchen Gattung rechne, ſcheint
eher einer Rechtfertigung zu beduͤrfen. Man erinnere ſich
aber, daß hier nur von derjenigen Idylle die Rede iſt,
welche eine Species der ſentimentaliſchen Dichtung iſt, zu
deren Weſen es gehoͤrt, daß die Natur der Kunſt und
das Ideal der Wirklichkeit entgegen geſetzt werde.
Geſchieht dieſes auch nicht ausdruͤcklich von dem Dichter,
und ſtellt er das Gemaͤhlde der unverdorbenen Natur oder
des erfuͤllten Ideales rein und ſelbſtſtaͤndig vor unſere An-
*
gen, ſo iſt jener Gegenſatz doch in ſeinem Herzen, und
wird ſich, auch ohne ſeinen Willen, in jedem Pinſelſtrich
verrathen. Ja waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrde ſchon die
Sprache, deren er ſich bedienen muß, weil ſie den Geiſt
der Zeit an ſich traͤgt und den Einfluß der Kunſt erfahren,
uns die Wirklichkeit mit ihren Schranken, die Kultur mit
ihrer Kuͤnſteley in Erinnerung bringen; ja unſer eigenes
Herz wuͤrde jenem Bilde der reinen Natur die Erfahrung
der Verderbniß gegenuͤber ſtellen, und ſo die Empfindungs-
art, wenn auch der Dichter es nicht darauf angelegt haͤtte,
in uns elegiſch machen. Dieß letztere iſt ſo unvermeidlich,
daß ſelbſt der hoͤchſte Genuß, den die ſchoͤnſten Werke der
naiven Gattung aus alten und neuen Zeiten dem kultivier-
ten Menſchen gewaͤhren, nicht lange rein bleibt, ſondern
fruͤher oder ſpaͤter von einer elegiſchen Empfindung begleitet
ſeyn wird. Schließlich bemerke ich noch, daß die hier ver-
ſuchte Eintheilung, eben deßwegen weil ſie ſich bloß auf
den Unterſchied in der Empfindungsweiſe gruͤndet, in der
Eintheilung der Gedichte ſelbſt und der Ableitung der poe-
tiſchen Arten ganz und gar nichts beſtimmen ſoll; denn da
der Dichter, auch in demſelben Werke, keineswegs an
dieſelbe Empfindungsweiſe gebunden iſt, ſo kann jene Ein-
theilung nicht davon, ſondern muß von der Form der
Darſtellung hergenommen werden.
*
Man leſe z. B. das trefliche Gedicht Charton betitelt.
*
Man ſehe das Gedicht dieſes Nahmens in ſeinen Werken.
*
Ich ſage muſikaliſchen, um hier an die doppelte Ver-
*
wandtſchaft der Poeſie mit der Tonkunſt und mit der bil-
denden Kunſt zu erinnern. Je nachdem nehmlich die Poeſie
entweder einen beſtimmten Gegenſtand nachahmt, wie
die bildenden Kuͤnſte thun, oder je nachdem ſie, wie die Ton-
kunſt, bloß einen beſtimmten Zuſtand des Gemuͤths
hervorbringt, ohne dazu eines beſtimmten Gegenſtandes noͤ-
thig zu haben, kann ſie bildend (plaſtiſch) oder muſika-
liſch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht ſich
alſo nicht bloß auf dasjenige, was in der Poeſie, wirklich
und der Materie nach, Muſik iſt, ſondern uͤberhaupt auf
alle diejenigen Effekte derſelben, die ſie hervorzubringen ver-
mag, ohne die Einbildungskraft durch ein beſtimmtes Objekt
zu beſchraͤnken; und in dieſem Sinne nenne ich Klopſtock
vorzugsweiſe einen muſikaliſchen Dichter.
*
„Der Hang, wie Herr Adelung ſie definiert, zu ruͤbrenden
ſanften Empfindungen, ohne vernuͤnftige Abſicht
und uͤber das gehoͤrige Maaß“ — Herr Adelung iſt ſehr
gluͤcklich, daß er nur aus Abſicht und gar nur aus ver-
nuͤnftiger Abſicht empfindet.
*
Man ſoll zwar gewiſſen Leſern ihr duͤrftiges Vergnuͤgen
nicht verkuͤmmern, und was geht es zuletzt die Critik an,
wenn es Leute giebt, die ſich an dem ſchmutzigen Witz
des Herrn Blumauer erbauen und erluſtigen koͤnnen.
Aber die Kunſtrichter wenigſtens ſollten ſich enthalten,
mit einer gewiſſen Achtung von Produkten zu ſprechen,
deren Exiſtenz dem guten Geſchmack billig ein Geheim-
niß bleiben ſollte. Zwar iſt weder wahres Talent noch
Laune darinn zu verkennen, aber deſto mehr iſt zu beklagen,
daß beydes nicht mehr gereiniget iſt. Ich ſage nichts
von unſern deutſchen Comoͤdien; die Dichter mahlen die
Zeit, in der ſie leben.
*
Mit Herz [...] denn die bloß ſinnliche Glut des Gemaͤhldes und
die uͤppige Fuͤlle der Einbildungskraft machen es noch lange
nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bey aller ſinnlichen
Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine ſinn-
liche Karrikatur, ohne Wahrheit und ohne aͤſthetiſche Wuͤr-
de. Doch wird dieſe ſeltſame Produktion immer als ein
Beyſpiel des beynahe poetiſchen Schwungs, den die bloße
Begier
zu nehmen faͤhig war, merkwuͤrdig bleiben.
*
Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe-
ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich
erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt
haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten
von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich
ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen
erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie-
len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al-
len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ-
gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber
er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu
*
Nochmals muß ich erinnern, daß die Satyre, Elegie und
Idylle, ſo wie ſie hier als die drey einzig moͤglichen Arten
ſentimentaliſcher Poeſie aufgeſtellt werden, mit den drey be-
ſondern Gedichtarten, welche man unter dieſem Nahmen
kennt, nichts gemein haben, als die Empfindungswei-
*
ſeyn, daß dergleichen Schilderungen durch den Plan ſeiner
Dichtungen nothwendig gemacht werden. Der kalte Ver-
ſtand, der den Plan entwarf, foderte ſie ihm ab, und ſein
Gefuͤhl ſcheint mir ſo weit entfernt, ſie mit Vorliebe zu be-
guͤnſtigen, daß ich — in der Ausfuͤhrung ſelbſt immer noch
den kalten Verſtand zu erkennen glaube. Und gerade dieſe
Kaͤlte in der Darſtellung iſt ihnen in der Beurtheilung ſchaͤd-
lich, weil nur die naive Empfindung dergleichen Schilde-
rungen aͤſthetiſch ſowohl als moraliſch rechtfertigen kann.
Ob es aber dem Dichter erlaubt iſt, ſich bey Entwerfung
des Plans einer ſolchen Gefahr in der Ausfuͤhrung auszuſe-
tzen, und ob uͤberhaupt ein Plan poetiſch heißen kann, der,
ich will dieſes einmal zugeben, nicht kann ausgefuͤhrt wer-
den, ohne die keuſche Empfindung des Dichters ſowohl als
ſeines Leſers zu empoͤren, und ohne beyde bey Gegenſtaͤnden
verweilen zu machen, von denen ein veredeltes Gefuͤhl ſich
ſo gern entfernt — dieß iſt es, was ich bezweiſie und woruͤ-
ber ich gern ein verſtaͤndiges Urtheil hoͤren moͤchte.
*
ſe, welche ſowohl jenen als dieſen eigen iſt. Daß es aber,
auſſerhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur dieſe dreyfache
Empfindungsweiſe und Dichtungsweiſe geben koͤnne, folglich
das Feld ſentimentaliſcher Poeſie durch dieſe Eintheilung voll-
ſtaͤndig ausgemeſſen ſey, laͤßt ſich aus dem Begriff der letz-
tern leichtlich deducieren.
Die ſentimentaliſche Dichtung nehmlich unterſcheidet ſich
dadurch von der naiven, daß ſie den wirklichen Zuſtand, bey dem
die letztere ſtehen bleibt auf Ideen bezieht, und Ideen auf die
Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch
ſchon oben bemerkt worden iſt; mit zwey ſtreitenden Objek-
ten, mit dem Ideale nehmlich und mit der Erfahrung, zu-
gleich zu thun, zwiſchen welchen ſich weder mehr noch weni-
ger als gerade die drey folgenden Verhaͤltniſſe denken laſſen.
Entweder iſt es der Widerſpruch des wirklichen Zuſtandes
oder es iſt die Uebereinſtimmung deſſeiben mit dem
Ideal, welche vorzugsweiſe das Gemuͤth beſchaͤftigt; oder
dieſes iſt zwiſchen beyden getheilt. In dem erſten Falle wird
es durch die Kraft des innern Streits, durch die ener-
giſche Bewegung
, in dem andern wird es durch die
Harmonie des innern Lebens, durch die energiſche Ru-
he
befriedigt; in dem dritten wechſelt Streit mit Har-
monie, wechſelt Ruhe mit Bewegung. Dieſer dreyfache Em-
pfindungszuſtand giebt drey verſchiedenen Dichtungsarten die
Entſtehung, denen die gebrauchten Benennungen Satyre,
Idylle, Elegie
vollkommen entſprechend ſind, ſobald
man ſich nur an die Stimmung erinnert, in welche die, un-
ter dieſem Nahmen vorkommenden Gedichtarten das Gemuͤth
verſetzen, und von den Mitteln abſtrahiert, wodurch ſie die-
ſelbe bewirken.
Wer daher hier noch fragen koͤnnte, zu welcher von den
drey Gattungen ich die Epopee, den Roman, das Trauer-
ſpiel u. a. m. zaͤhle, der wuͤrde mich ganz und gar nicht ver-
ſtanden haben. Denn der Begriff dieſer letztern, als einzel-
ner Gedichtarten, wird entweder gar nicht oder doch
nicht allein durch die Empfindungsweiſe beſtimmt; vielmehr
weiß man, daß ſolche in mehr als einer Empfindungsweiſe,
folglich auch in mehrern der von mir aufgeſtellten Dichtungs-
arten koͤnnen ausgefuͤhrt werden.
Schließlich bemerke ich hier noch, daß, wenn man die
ſentimaliſche Poeſie, wie billig, fuͤr eine aͤchte Art (nicht
bloß fuͤr eine Abart) und fuͤr eine Erweiterung der wahren
Dichtkunſt zu halten geneigt iſt, in der Beſtimmung der poe-
tiſchen Arten ſo wie uͤberhaupt in der ganzen poetiſchen Ge-
ſetzgebung, welche noch immer einſeitig auf die Obſervanz
der alten und naiven Dichter gegruͤndet wird, auch auf ſie
*
einige Ruͤckſicht muß genommen werden. Der ſentimentali-
ſche Dichter geht in zu weſentlichen Stuͤcken von dem naiven
ab, als daß ihm die Formen, welche dieſer eingefuͤhrt, uͤber-
al ungezwungen anpaſſen koͤnnten. Freilich iſt es hier ſchwer,
die Ausnahmen, welche die Verſchiedenheit der Art erfodert,
von den Ausfluͤchten, welche das Unvermoͤgen ſich erlaubt,
immer richtig zu unterſcheiden, aber ſoviel lehrt doch die Er-
fahrung, daß unter den Haͤnden ſentimentaliſcher Dichter
(auch der vorzuͤglichſten) keine einzige Gedichtart ganz das
geblieben iſt, was ſie bey den Alten geweſen, und daß unter
den alten Nahmen oͤfters ſehr neue Gattungen ſind ausge-
fuͤhrt worden.
*
Mit einem ſolchen Werke hat Herr Voß noch kuͤrzlich in
ſeiner Luiſe unſre deutſche Litteratur nicht bloß bereichert,
ſondern auch wahrhaft erweitert. Dieſe Idylle, obgleich
nicht durchaus von ſentimentaliſchen Einfluͤſſen frey, gehoͤrt
ganz zum naiven Geſchlecht und ringt durch individuelle
Wahrheit und gediegene Natur den beſten griechiſchen Mu-
ſtern mit ſeltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr
zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus
ihrem Fache, ſondern muß mit griechiſchen Muſtern vergli-
chen werden, mit welchen ſie auch den ſo ſeltenen Vorzug
theilt, uns einen reinen, beſtimmten und immer gleichen
Genuß zu gewaͤhren.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Schiller, Friedrich. Über naive und sentimentalische Dichtung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmvh.0