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Die
Elemente der Staatskunſt.

Oeffentliche Vorleſungen,
vor
Sr. Durchlaucht dem Prinzen Bernhard
von Sachſen-Weimar
und

einer Verſammlung von Staatsmaͤnnern und Diplomaten,
im Winter von 1808 auf 1809, zu Dresden, gehalten


Zweiter Theil.

Mit einer Kupfertafel.

Berlin,: bei J. D. Sander.
1809.
[]

Die
Elemente der Staatskunſt.


Drittes Buch.
Vom Geiſte der Geſetzgebungen im Alterthume
und im Mittelalter.


Müllers Elemente. II. [1]
[[2]][[3]]

Elfte Vorleſung.


Geiſt der Moſaiſchen Geſetzgebung.


Ganz offenbar iſt aus meiner Darſtellung von
dem Geiſte der Geſetze hervorgegangen, daß es,
wenn einmal bloß das gegenwaͤrtige, weltliche In-
tereſſe der zufaͤllig auf der Erde oder im Staate
neben einander lebenden Menſchen gelten ſoll,
kein wahres Recht, weder auf der Erde, noch im
Staate, giebt. Man glaubt, alles gewonnen
zu haben, wenn man einen Codex beſtimmter
und unbedingter Geſetze bei einander hat; wenn
man dieſen Geſetzen, den Reſultaten tauſendjaͤh-
riger Erfahrung, treue, gewiſſenhafte, unbeſtech-
liche Verwalter und vermeintliche Ausſpender
des Rechtes beigeſellt; man glaubt gegen das
Ganze des Staates ſeine Pflicht hinlaͤnglich er-
fuͤllt und ſeinen Tribut reichlich bezahlt zu ha-
ben, wenn man ſich dieſen Geſetzen und der buͤr-
gerlichen Form, die mit ihnen verknuͤpft iſt, Einer-
[4] ſeits ſklaviſch unterwirft; andrerſeits aber glaubt
man, dafuͤr das Recht zuruͤck zu erhalten, in
allen Stuͤcken, uͤber die das Geſetz nichts ver-
ordnen moͤchte, willkuͤhrlich und ohne weitere
Ruͤckſicht auf das Gemeinweſen zu ſchalten und
zu walten.


Wie ſelten iſt auch nur die Anſicht, ſich die
Geſetze als ein Vermaͤchtniß der vergangenen
Jahrhunderte, oder als die Eſſenz der National-
Geſchichte, zu denken! Meiſten Theils ſieht man
darin nichts andres, als kluge Erfindungen des
einzelnen Menſchen, der oͤffentlichen Ordnung
und Sicherheit halber unentbehrlich; eine Berech-
nung aller Faͤlle, die im menſchlichen Leben vor-
kommen koͤnnen, deren Reſultat oder Facit aus-
geſprochen wird, damit jedermann wiſſe, woran
er ſich zu halten habe, und damit vor allen Din-
gen das ſogenannte Mein und Dein ungefaͤhr-
det bleibe. Jedermann wuͤrde uͤber ein Geſetz
lachen, welches von ihm verlangte, mit Leib und
Seele ein guter Patriot zu ſeyn, oder daran
zu glauben, daß der Staat eine unſterbliche Fa-
milie, und er, der Buͤrger, nur einzelner, vor-
uͤbergehender Nießbraucher ſeines ſogenannten
Mein und Dein ſey. —


Kurz, bloß weil der Menſch uͤberzeugt iſt,
daß die Geſetze keinen andern Zweck haben, als
[5] ſeinen individuellen, ſaͤchlichen Vortheil, ſo un-
terwirft er ſich ihnen blindlings, umgeht und
betriegt ſie aber, wo er kann. Sein Gewiſſen,
falls er dergleichen unſichtbares Geſetz in ſeiner
Bruſt anerkennt, hat mit den Geſetzen nichts
zu ſchaffen; die Geſetzgebung iſt nichts anderes
als, im guͤnſtigſten Fall, eine gute Polizei-An-
ſtalt: Freiheit des Buͤrgers heißt der Theil ſei-
nes Lebens und Eigenthums, der von der Auf-
ſicht dieſer Polizei eximirt iſt; je groͤßer dieſer
eximirte Theil, um ſo beſſer iſt das Ding, wel-
ches ſie „Staat” nennen. —


Aber es bricht ein Krieg aus: nun ſoll dieſe
Polizei-Anſtalt ploͤtzlich ein wahrer Staat wer-
den. — Wie ſoll nun im Sturme der Zeit Das
aushalten und dauern, was, der allgemeinen
Anſicht nach, bloß fuͤr den Vortheil des Augen-
blickes aufgerichtet war? — Wenn nun, bei ſol-
chem unvermeidlichen Wechſel der Jahreszeiten,
das leichte, wandelbare Geruͤſt, das ſie anſtatt
eines dauerhaften Wohnhauſes aufgefuͤhrt haben,
nicht Stand haͤlt, dann ſchreien und klagen ſie
uͤber einbrechende Barbarei; die Welt ſcheint ih-
nen unterzugehen, weil die Zeit das unwuͤrdige
Sicherheitsweſen, und die ganze Kleinkraͤmerei
mit dem Geſetz, und die ganze Spielerei und
Poſſenreißerei der ſogenannten Cultur und des
[6] ſogenannten Privatlebens, mit ſich in ihrem gro-
ßen Laufe dahin nimmt. Nun ergreift die klei-
nen Halbmenſchen eine theatraliſche Melancholie;
ſie kommen ſich in ihren Leiden gewiß vornehm
vor; ſie buhlen mit Rach- und Mordgedanken;
ſie verſchwoͤren ſich, ſie waͤhnen, den Feind und
Zerſtoͤrer des Staates zu haſſen, und ſie bruͤ-
ſten ſich mit dieſem Wahn. —


Wenn ihr gruͤndlich haſſen wollt, ſo zeigt
mir zuvoͤrderſt gruͤndliche Liebe, nicht zu dem al-
ten Friedenselende, nicht zu weltlichem Habe
und Gut, nicht zu einzelnen Privatlieblingen,
(denn dazu reicht der Inſtinct hin) — ſondern
zu einem lebendigen, geſellſchaftlichen Ganzen!
Zeigt mir eine Liebe, die nicht zu ſagen weiß,
ob ſie das Irdiſche oder das Unſichtbare am
Staate mehr liebt; die nicht zu ſagen weiß, ob
ſie den Staat mehr um der Erinnerungen, oder
mehr um der gegenwaͤrtigen Freiheit, oder mehr
um der Hoffnungen auf die Zukunft willen liebt.
Das iſt eine ſiegreiche Liebe! Neben ihr ſteht ein
Haß, deſſen Pfeil ſicher trifft. —


Den Staat nun als Gegenſtand einer unend-
lichen Liebe darzuſtellen, hatte ich mir vorgeſetzt;
ich wollte zeigen, daß alle die hoffnungslos und
ohnmaͤchtig zerſtreueten Gedanken des Lebens, al-
les Intereſſe und alles Gewiſſen zuruͤckgeleitet
[7] werden muͤſſen in den lebendigen Strom des ge-
meinſamen Lebens, daß alles einzelne Recht und
alles einzelne Gluͤck ſich anſchließen muͤſſe an das
gemeinſchaftliche Recht und Gluͤck, und von dort-
her empfangen Bedeutung, Dauer und den ernſt-
haften Sinn, ohne den ihr weder etwas ſeid,
noch beſitzen koͤnnt. — Wer ſich mit ſeinem Her-
zen zu dieſer gemuͤthlichen, bewegten, lebendigen
Betrachtung des Staates nicht hinauf ſchwin-
gen kann; wer in den Geſetzen nach aller meiner
Rede nichts anderes ſieht, als die Anordnungen
einer gemeinen, weltlichen, haushaͤlteriſchen Klug-
heit: der glaube nur nicht, daß er je irgend ein
Blatt in der Geſchichte verſtehen, und noch we-
niger, daß ihm der eigentliche Sinn der Geſetz-
gebungen des Alterthums, die wir jetzt betrach-
ten wollen, je aufgehn werde. —


Wir reden jetzt von Zeiten, wo die Reli-
gion
, oder die Idee der Menſchheit, noch
Eins war — nicht etwa kuͤnſtlich verbunden,
ſondern von Natur Eins — mit dem Staate,
oder der Idee der buͤrgerlichen Geſellſchaft. Die
Iſraeliten nannten die Obrigkeiten der Aegypter:
Goͤtter. Da wir nun glauben und beweiſen,
daß jene natuͤrliche Vereinigung des Geiſtigen und
des Phyſiſchen, oder des menſchlichen mit dem
buͤrgerlichen Leben das einzige Problem aller
[8] Staatskunſt ſey; daß alle gegenwaͤrtig in der Irre
umherlaufende Philanthropie, Humanitaͤt und
geiſtige Cultur wieder eingefangen und gezaͤhmt
und dem Staat unterworfen werden muͤſſe: ſo
behaupten wir damit, daß das Weſentliche am
Staate, jene uralte natuͤrliche Vereinigung des
Staates und der Religion, durch eine erha-
bene Kunſt wieder herzuſtellen ſey, und daß dieſe
Kunſt nothwendig zur Ausuͤbung kommen muͤſſe,
wenn nicht alle gegenwaͤrtigen Halbſtaaten unter-
gehen ſollen.


Man muthe mir keine andre Anſicht bei die-
ſen Vorleſungen zu! Das Syſtem unſrer Ge-
ſetze, die ich, wie ſchon geſagt, fuͤr nichts mehr
als Polizei-Verordnungen halte, zu lehren, oder
die Theorie unſrer ſogenannten National-Oekono-
mie, die in meinen Augen nichts andres als eine
nichtswuͤrdige Plusmacherei iſt, her zu demon-
ſtriren — dazu halte ich Sie und mich fuͤr zu gut.
Wer hiernach Verlangen fuͤhlt, fuͤr Den giebt es
in Deutſchland große und kleine Schulen genug.
— Aber, was iſt die ewige Natur der Geſetze?
frage ich; was ihre urſpruͤngliche Geſtalt, und
welches der Geiſt, womit ſie unſer Daſeyn ga-
rantiren? Was nicht Geiſt und Liebe iſt, das iſt
Macht und Zwang. Wie durch die Gewalt der
Maſſe, und die Vertheilung der Maſſe, die Welt
[9] regiert werde und bezwungen werde? Circum-
spice!
Dazu bedarf es weiter der Wiſſenſchaft,
die es nicht mit den Maſſen, wohl aber, und
ohne Ende, mit dem Leben zu thun hat, wel-
ches alle Maſſe bezwingt und ſich unterwirft. —
Sie wollen die ewige Staatskunſt, und nicht
die Lehre von der polizeilichen und militaͤriſchen
Disciplin? Wohlan!


Moſes gruͤndete ein Volk von Prieſtern,
und erklaͤrte zum oberſten Geſetzgeber und Koͤnig
deſſelben den einzigen Gott, Jehova, und als
erſtes Reichsgrundgeſetz, wie ich oben gezeigt
habe, den Glauben an dieſen einzigen, unſicht-
baren Koͤnig. Die Mode-Liebhaberei unſrer Zeit
fuͤr das Griechiſche und Roͤmiſche Alterthum hat
dieſen großen Geſetzgeber aus dem Andenken der
Gebildeten verdraͤngt, und die geiſtloſe Politik
hat die Verfaſſung, deren Urheber er war, als
leere und unbedeutende Antiquitaͤt unter dem
Schimpfnahmen der Theokratie bei Seite
geſetzt. — Laſſen Sie uns dieſem Unverſtande
einigen Verſtand gegenuͤber ſtellen. —


Eine hervorſtechende Eigenthuͤmlichkeit der Mo-
ſaiſchen Staatsverfaſſung iſt es zuvoͤrderſt, daß
uͤber die Form der Suveraͤnetaͤt nichts Unbe-
dingtes beſtimmt worden war. Wir ſehen durch
die lange Reihe von Jahrhunderten, welche die
[10] Geſchichte des Juͤdiſchen Volkes ausfuͤllt, alle
ſtaatsrechtlichen Formen, die demokratiſche, die
ariſtokratiſche, die monarchiſche, mit einander ab-
wechſeln und nicht eine einzige dem Moſaiſchen
Grundgeſetze widerſprechen. Dieſen Umſtand al-
lein wuͤrden wir fuͤr eine merkwuͤrdige Probe le-
bendiger Geſetzgebung halten. —


Viele Generationen des Juͤdiſchen Volkes,
zuſammengehalten durch das National-Anden-
ken an die frommen Erzvaͤter und ihr patriar-
chaliſches Leben und ihre Leiden, welche den Iſrae-
liten ungefaͤhr eben das ſind, was den Griechi-
ſchen Staͤmmen die Helden von Troja mit ih-
ren Schickſalen waren, hatten bei den Aegyp-
tern in Knechtſchaft gelebt. Unerſchuͤtterlich war
bei ihnen der Glaube an die Ruͤckkehr in das
Land und zu den Graͤbern der Erzvaͤter; aber
jede folgende Generation verdarb in der Skla-
verei mehr und mehr. Die Fleiſchtoͤpfe Aegyp-
tens noch mehr, als die Abhaͤngigkeit, ſchwaͤch-
ten ihren Glauben und ihre Sehnſucht: die Hoff-
nung der Ruͤckkehr und der Freiheit war faſt er-
ſtorben, als der Gedanke der uralten Beſtim-
mung dieſes Volkes in einer heldenmuͤthigen
Seele wieder lebendig wurde. Denken Sie Sich
die Aufgabe, welche Moſes zu loͤſen hatte, in
ihrem ganzen Umfange! Sie hat in den jetzigen
[11] Zeiten eine dreifache Wichtigkeit. Die Entfuͤh-
rung, die Befreiung des Volkes, und die Rei-
nigung des kuͤnftigen Wohnſitzes von den unge-
rechten Beſitzern war der kleinſte Theil. Aber
was ſollten die Befreiten mit ihrer Freiheit an-
fangen, ſie, die von irdiſchem Beſitz und von
hundert kleinen Goͤtzen ihres Herzens abhaͤngiger
waren, als vom Pharao! Sie wurden im ge-
lobten Lande unmittelbar wieder Sklaven. Der
kriegeriſche Geiſt, der die Freiheit begleitet und
ſie erſt zu einem wahren Lebensgute macht, war
ausgeſtorben. Wie konnte man ihn nun wek-
ken? wie ein Volk von Sklaven fuͤr die Freiheit
erziehen? —


Moſes loͤſ’te die ungeheure Aufgabe. Was
ſind alle Helden der Freiheit, denen wir in der
alten und in der neueren Geſchichte begegnen,
die etwa durch eine großmuͤthige Handlung, oder
durch die Aufopferung ihres Lebens, der vater-
laͤndiſchen Freiheit dienten, — was ſind Leoni-
das mit ſeinen Spartanern, und alle Brutuſſe
der Welt fuͤr Pygmaͤen gegen dieſen rieſenhaften
Helden der Freiheit, jener energiſchen Freiheit,
deren Weſen ich Ihnen neulich beſchrieb! Er treibt
ſein Volk in die Wuͤſte, durch welche ein kurzer
Weg in das verheißene Land der Vaͤter fuͤhrte;
aber in dem Maße, wie die Sklaverei der See-
[12] len, die befreiet werden ſollen, an’s Licht tritt,
fuͤhrt er ſie vom Wege ab, weiter und weiter
in die Wuͤſte hinein, Leiden und Schmerzen al-
ler Art entgegen, bis auf der muͤhſeligen, in
ſich ſelbſt ſchauerlich verſchlungenen Bahn die Ge-
muͤther von allen ſklaviſchen Friedensgedanken
und von allen Traͤumen eines gemaͤchlichen Le-
bens allmaͤhlich entwoͤhnt werden, bis ſie im
Feuer und in der Noth die himmliſchen Maͤchte
kennen lernen und deutlich ihre Stimme verneh-
men. Ja, da die alten ſklaviſchen Angewoͤh-
nungen der Seele nicht durchaus bezwungen wer-
den koͤnnen, ſo treibt er ſeine erhabene Hand-
lung noch hoͤher. Vierzig Jahre dauert die Pruͤfung,
bis die ganze leibhaftig befreiete Generation hin-
geſtorben und keiner mehr uͤbrig iſt, der ſelbſt die
Sklaverei empfunden haͤtte. — Vierzig Jahre
hindurch zeigt er unerſchuͤtterlich auf den Arm
Deſſen hin, der ſie in den unſaͤglichſten Schmer-
zen aufrecht erhaͤlt: der iſt euer Koͤnig! von
ihm erwartet Vaterland und Freiheit! —


Nachdem er auf ſolche Art ein Volk von
nahe an drittehalb Millionen Koͤpfen in Eins
geſchmiedet, nachdem er es geſtaͤhlt und bewaff-
net, um ein Jahrtauſend hindurch zu dauern —
da, im Angeſichte des verheißenen Landes, wel-
ches er ſelbſt nicht betrat, ſicher ſeines Erfol-
[13] ges, ſo ſicher, als haͤtte er ſelbſt das ganze nach-
folgende Jahrtauſend an der Spitze ſeines Vol-
kes durchlebt, legt er ſich hin, und ſtirbt. — Es
iſt hinlaͤnglich des großen Werkes zu erwaͤhnen;
ein aͤhnliches erzaͤhlt die Geſchichte weiter nicht.
Und wie, im ganzen kriegeriſchen, kuͤnſtleriſchen
Laufe ſeines Lebens, gab er alles an die Idee
hin, fuͤr die er lebte! Denken Sie Sich unter
dem einzigen Gott, den er ſein Volk empfinden
laſſen wollte, die Idee der Freiheit. Ueber
Nahmen wollen wir nicht ſtreiten.


Allerdings, um einen Commerz-Staat, eine
Friedens-Aſſecuranz zu gruͤnden, bedurfte es die-
ſer ſchmerzenvollen Erziehung nicht. — Das alte
Vaterland der Iſraeliten, welches ſie wieder zu
bewohnen gingen, war fuͤr den Handel und alle
Art der Induſtrie vortheilhafter gelegen, als
irgend ein andres der Welt; das durch den Han-
del entnervte Volk der Idumaͤer oder Edomiter
zu bezwingen, und ſich dadurch in den Beſitz
der vortrefflichſten Haͤfen am Arabiſchen Meer-
buſen zu ſetzen, waͤre ganz leicht geweſen. Da
auf der andern Seite das mittellaͤndiſche Meer
die Kuͤſten des gelobten Landes beſpuͤhlte, ſo
war mit einer leichten Politik die große Handels-
ſtraße der Welt von Indien in die Haͤfen des
mittellaͤndiſchen Meeres durch das Land Canaan
[14] geleitet. — Ueberdies zeigten die bluͤhenden Han-
delsplaͤtze der Cananiter, oder Phoͤnicier, wel-
cher große Gewinn ſich aus jener vortheilhaften
Lage in mercantiliſcher Hinſicht ziehen ließ. In-
deß war dieſer Zweck fuͤr eine Seele wie Moſes
viel zu klein. Fuͤr Ideen, d. h. fuͤr die Ewig-
keit, wollte er ſein Volk erziehen, nicht fuͤr
Begriffe, fuͤr ein Heer kleiner vergaͤnglicher
Goͤtzen, fuͤr Reichthum, Wohlleben und Beſitz,
die in dem Sturme der Zeiten ſich nicht bewaͤh-
ren koͤnnen, weil der Geiſt der Freiheit, oder der
Geiſt Gottes, nicht in ihnen iſt. Fuͤr Krieg und
Frieden zugleich war ſein Volk beſtimmt. —


So waren die Geſetze Moſis nicht etwa Ge-
ſetze des Entbehrens oder einer ſtoiſchen Enthalt-
ſamkeit; er erlaubte vielmehr allen Beſitz und
allen Genuß, er gab die ſtrengſten Befehle zur
Aufrechthaltung alles Eigenthums: aber den wah-
ren Geiſt dieſes Beſitzes wollte er behauptet wiſ-
ſen; alle einzelnen Guͤter des Lebens ſollten ge-
noſſen, aber nicht an und fuͤr ſich verehrt, als
Zweck des Lebens betrachtet, nicht zu Goͤtzen ge-
macht werden. „Ich, der Herr dein Gott, der-
ſelbe Jehova, der dich durch die Wuͤſte in die
Freiheit gefuͤhrt hat, bin ein einziger Gott, und
dulde keine andre Goͤtzen neben mir.” — Wir,
die wir entfernt durch Zeit und Raum von dem
[15] großen Helden ſtehen, der dieſe Worte an die
Spitze ſeiner Geſetzgebung ſtellte, wir, deren
Leben in tauſend kleine Begriffe oder Goͤtzen-
dienſte zerſplittert iſt, ringen nach Nahmen, um
die Hoheit dieſer Idee zu bezeichnen. Die Ein-
heit, der lebendige National-Zuſammenhang, iſt
euer hoͤchſtes Gut: um deſſentwillen muͤſſen alle
andren Guͤter da ſeyn und darauf ſich beziehen;
und dieſer große Vaterlandsgedanke vertraͤgt ſich
mit allen andern Guͤtern, und erhebt ſie alle:
aber es iſt ein eiferſuͤchtiger Gedanke, der keinen
Nebengoͤtzendienſt irgend eines einzelnen, noch ſo
koſtbaren, irdiſchen Gutes duldet. — So etwa
lautet das goͤttliche Geſetz in die Sprache uͤber-
ſetzt, welche geſittete Leute heut zu Tage unter
ſich dulden.


Deshalb iſt ein andrer Grundpfeiler der Mo-
ſaiſchen Geſetzgebung der Glaube: Jehova iſt
der Eigenthuͤmer des Landes unſrer Vaͤter; wir
Iſraeliten ſind nichts als die Verwalter, die
Meier unſrer Aecker, die zeitigen Nießbraucher
ſeines Lieblingswohnſitzes, des reichen, ſchoͤnen
Landes, in welches er uns gefuͤhrt hat. Nie-
mand, heißt es im Moſaiſchen Geſetz, kann ſei-
nen Acker auf ewige Zeiten verkaufen, weil er
nicht Eigenthuͤmer iſt. So, mit dem Gedanken
Gottes, oder der Freiheit, oder des Lebens, wie
[16] Sie wollen, befruchtete Moſes ſeine erhabne
Inſtitution. Dem zu Folge haben alle ſeine Ge-
ſetze einen durchaus perſoͤnlichen Charakter, und
ſtehen der einſeitigen, ſaͤchlichen Geſtalt der ſpaͤte-
ren Roͤmiſchen Geſetzgebung ganz entgegen. Das
Eigenthum iſt ihm etwas Perſoͤnliches, in jedem
Beſitzſtuͤcke ſieht er ein Fideicommiß, d. h. die
wohlthaͤtige Hand Jehova’s, die es ihm auf
Treue und Glauben anvertrauet hat, und die
ehrwuͤrdige Hand der Patriarchen und Stamm-
eltern, welche Treue und Glauben gehalten, und
den Beſitz unentweihet hinterlaſſen haben. —
Aus der Knechtſchaft uͤberwundener Feinde hat
er kein Arges: denn der Sieg, und folglich auch
die Gefangenen, kommt von Jehova; als ab-
ſolutes Eigenthum kann er ſie nie betrachten.


Unſer Jahrhundert hat Grund, vor der
Sklaverei der Negern zuruͤckzuſchrecken, weil
eine wuͤrdevolle Dienſtbarkeit bei uns nicht mehr
Statt finden kann; aber daraus, daß es unmenſch-
lich iſt, einen Menſchen wie eine gemeine Sache
zu behandeln, folgt noch nicht, daß es uͤberhaupt
menſchlich ſey, irgend einen Beſitz als bloße
Sache zu behandeln, und daß es keinem Volke,
wie edel ſeine Geſetzgebung auch ſey, anſtehe,
Leibeigenſchaft uͤber Andre auszuuͤben. Wer das
ſaͤchliche Eigenthum perſoͤnlich zu behandeln weiß,
dem
[17] dem kann man ohne Beſorgniß geſtatten, nun
auch Perſonen als ſaͤchliches Eigenthum zu be-
trachten. So nun hat die Moſaiſche Geſetzge-
bung allerdings einen nicht zu berechnenden Ein-
fluß auf die Bildung der Adelsverfaſſungen im
Mittelalter gehabt. — Dieſelbe Perſoͤnlichkeit
des Beſitzes, dieſelbe Idee einer wuͤrdevollen
Unterwerfung und Dienſtbarkeit. —


Genau erwogen, ſind es das Moſaiſche und
das Roͤmiſche Recht, deren gegen einander ſtrei-
tender Geiſt durch die ganz neuere Geſchichte
wahrgenommen wird. Wir werden weiterhin
noch naͤher erweiſen, daß der Entſtehung des
tiers-état und der Ausbildung des Handels in
Europa nichts ſo ſehr zu Huͤlfe gekommen iſt,
als das Roͤmiſche Recht, waͤhrend Geiſtlichkeit
und Adel, oder Kirchenrecht und der ſo genannte
Feudalismus, nur das uralte Moſaiſche Recht
in fortſchreitender Entwickelung darſtellen. —
Moſes, ſehr wohl bekannt mit den Vortheilen
des Handels und mit den eigenthuͤmlichen Vor-
theilen, die derſelbe fuͤr ein Land haben mußte,
welches an der Schwelle aller drei Welttheile
lag, verbot ihn ſeinem Volke. Er wollte, daß
der von ihm errichtete Staat durchaus auf den
Ackerbau gegruͤndet ſey. Das Land nehmlich,
welches er uſurpatoriſchen Beſitzern wieder zu
Müllers Elemente. II. [2]
[18] entreißen unternahm, vereinigte alle Anlagen der
Welt in ſich, indem es fuͤr den Korn- Wein-
und Oel-Bau und die Viehzucht wo moͤglich
noch reicher begabt war, als fuͤr den Handel.
Das Land Kanaan erſtreckt ſich gegen Oſten bis
an den Euphrat, und wird von dem Fluſſe Jor-
dan, der parallel mit der Kuͤſte des mittellaͤndi-
ſchen Meeres laͤuft, in zwei Theile getheilt. Die
weſtliche Haͤlfte zwiſchen dem Jordan und dem
mittellaͤndiſchen Meere, das gelobte Land im
engeren Sinne des Wortes, hatte fuͤr das Ge-
deihen des Weins, des Oelbaums und des Ge-
treides, alſo fuͤr den Ackerbau uͤberhaupt, alles
empfangen, was nur wuͤnſchenswuͤrdig war,
das mildeſte Klima, die ſchoͤnſte Abwechſelung des
Bodens, vortreffliche Bewaͤſſerung, und rings
umher begierige Kaͤufer fuͤr allen Ueberfluß der
Producte. Die oͤſtliche Haͤlfte, zwiſchen dem
Jordan und dem Euphrat, eine weite Wuͤſte,
aber an vielen Stellen, wo vielleicht ein fließen-
des Waſſer die Vegetation beguͤnſtigte, die reich-
ſten Weideplaͤtze daruͤber heigeſtreuet, ſo daß die-
ſer Theil an Anlagen fuͤr die Viehzucht eben ſo
reich ſeyn mochte, wie der andre fuͤr den Acker-
bau. Da nun im Orient das Ackerland einer
eigenen Duͤngung und Nachhuͤlfe von Seiten des
Menſchen ſehr wenig bedarf, ſo konnte in dem
[19] Theile des Landes dieſſeits des Jordans das
Volk Iſrael ſo nahe als moͤglich zuſammenruͤcken,
waͤhrend jenſeits des Jordans das meiſte Laſt-
und Schlachtvieh fuͤr den Bedarf des Ackerlan-
des erzogen wurde, und auf ſolche Art der Jor-
dan auch einen oͤkonomiſchen Abſchnitt in der
Verfaſſung der Juden bildete. —


Moſes nun wollte den erhabenen Gewinn
ſeines heldenmuͤthigen Lebens, die dem Gemuͤthe
ſeines Volkes unter vierzigjaͤhrigen Schmerzen
tief eingepraͤgte Allgegenwart einer einzigen, gro-
ßen huͤlfreichen Macht, und, dem zu Folge, das
enge und durch und durch nationale Band ſei-
nes Volkes vor allen Dingen erhalten. Rings
umher lebten Voͤlker, welche, durch die allzugroße
und einſeitige Gunſt des Himmels in dieſen Erd-
ſtrichen verwoͤhnt, der leichteren Lebensluſt an-
hingen, wie ſie die gluͤckliche Stunde und unter
allen Beſchaͤftigungen vornehmlich der Handel
gewaͤhrt.


Der Handel in einem ſo ſchoͤnen Klima be-
darf einer kleinen Stelle der Erde, wo er ſeine
leichte Wurzel ſchlaͤgt und von wo aus er nun
ſeine Betriebſamkeit uͤber Erde und Meer hin-
ſchweifen laͤßt, aber hier und da an einzelnen
Stellen jenſeits des Meeres wieder Wurzeln
faßt; und ſo iſt er uͤberall, und doch eigentlich
[20] nirgends, zu Hauſe. Er dient den Sitten und
alſo auch leicht den Begriffen und Goͤtzen aller
Voͤlker. Den unmittelbaren Beiſtand des Him-
mels, der Sonne, der Jahreszeiten bedarf er
weniger; ſo glaubt er auch leicht, ſeiner Klug-
heit und Gewandtheit alles zu verdanken, was
er beſitzt. Waͤhrend alſo Manufacturen und
der Handel unabhaͤngiger von dem Laufe der
Natur ſind, wird der Ackerbauer mit ſeiner gan-
zen Beſchaͤftigung unaufhoͤrlich in die Wechſel
der Jahreszeiten verflochten, gewinnt den Bo-
den lieb und immer lieber, auf dem er ſteht,
und behaͤlt in dem einfacheren, ſtrengeren, von
unſichtbaren Maͤchten abhaͤngigen Leben auch den
Gedanken eines einzigen hoͤchſten Gutes, eines
einzigen Gottes, wenn er ihn einmal gefaßt hat,
gegenwaͤrtiger.


Deshalb gruͤndete Moſes ſeinen Staat auf
den Ackerbau. Die Kindheit ſeines Volkes haͤtte,
von dem erſten Gedanken, den ſie gefaßt hatte,
leicht durch Ausſicht auf unendlichen Beſitz fort-
gelockt, zerſtreuet und verfuͤhrt werden koͤnnen.
Sollte in Zukunft, wenn der Geiſt der Nation
ſich erſt mit dem Boden verwachſen hatte, eini-
ger Handel nothwendig werden, ſo blieb die
Lage des Landes immer ſo vortheilhaft, wie ſie
war; dieſer Erwerbszweig entging dem Volke
[21] nicht, indeß das urſpruͤngliche, religioͤſe, unter
ungeheuren Kaͤmpfen gewebte und erworbene
National-Band, wenn es einmal zerriſſen ge-
weſen, ſchwerlich, auch durch einen zweiten Moſes,
je wieder geknuͤpft worden ſeyn wuͤrde. Der Kauf-
mannsſtand wirkt, da er leicht die Oberhand ge-
winnt, aller Nationalitaͤt entgegen, und die gro-
ßen Ausſichten, die er weniger vielen auf einan-
der folgenden Generationen, als ſogleich dem er-
ſten Unternehmer eroͤffnet, ziehen den Blick ab
von den Vorfahren und Nachkommen: im Han-
del erwirbt jedes einzelne Individuum fuͤr ſich;
und Moſes wollte, daß, ſo wie die National-
Exiſtenz oder die Freiheit von Allen gemeinſchaft-
lich erworben war, auch alle Lebensguͤter viel-
mehr von der Nation in langer Folge der Jahre,
als von dem Einzelnen im Augenblick, erworben
werden ſollten.


So hatte Moſes auch mehr die Familien als
die einzelnen Individuen im Auge; in keiner Adels-
verfaſſung des neueren Europa nehmen wir eine
groͤßere Strenge in Fuͤhrung der Geſchlechtsregi-
ſter wahr. Dieſe Geſchlechtsregiſter umfaßten nicht
etwa bloß einzelne Familien, ſondern das ganze
Volk. Eine große Anzahl eigends dazu verordneter
Beamten, die Schoterim oder die Schreiber, an
aͤußerer Bedeutung im Moſaiſchen Staate vielleicht
[22] nicht weniger wichtig als die Richter, fuͤhrten dieſe
Stammtafeln; und ſo ward die urſpruͤngliche, al-
len Urvoͤlkern der Erde gemeinſchaftliche, Heilig-
haltung der Familien-Vorfahren von Moſes
durch wirkliche Geſetze bekraͤftigt und feſtgehal-
ten, waͤhrend ſie in Griechenland und Rom mehr
und mehr zuruͤcktrat hinter die Bewunderung
der Thaten und Verdienſte des Einzelnen, und
hinter die weltliche Anhaͤnglichkeit an der ſo viel-
faͤltig bluͤhenden Gegenwart. Aller Ruhm der
einzelnen Iſraeliten, ein noch hoͤherer ſelbſt als
der, welcher durch Thaten gewonnen wird, lag
in den Stammtafeln. Seinen Nahmen dort zu
erhalten, welches nur durch Fortpflanzung des
Geſchlechtes geſchehen konnte, indem die Kinder-
loſen aus den Geſchlechtsregiſtern weggeſtrichen
wurden, war der hoͤchſte Zweck des Lebens,
viele Nachkommen der groͤßte Segen, Unfrucht-
barkeit der hoͤchſte Fluch, der in dieſem Volke
vernommen wurde.


Vor allen andern Eigenheiten nun ragt aus
den Moſaiſchen Geſetzen allenthalben der Ge-
danke hervor: Iſrael ſey das auserwaͤhlte Volk
Gottes. Waͤhrend den uͤbrigen Voͤlkern des Al-
terthums eine gluͤckliche Jugend zu Theil wurde,
hatte dieſes Volk gerade ſeine ganze Jugend hin-
durch die haͤrteſten Pruͤfungen beſtanden; aber
[23] als Moſes den einfoͤrmigen Druck Aegyptiſcher
Tyrannei, und das dumpfe Leiden jener Zeit
endigte, und, um die verheißungsvollen Worte
der alten Erzvaͤter zu erfuͤllen, ſein Volk hin-
aus fuͤhrte in die Wuͤſte, in einen lebendigen
Kampf und zu klaren Leiden; als ſich in einer
langen militaͤriſchen Erziehung nun ein eigentlich
unuͤberwindlicher Lebensgenuß in dem Volke zu
zeigen anfing: da war es leicht, ihm den Ge-
danken einzupraͤgen, daß, wie der einzige Gott
unter thaͤtigen Schmerzen vornehmlich ſichtbar
werde, ſo auch gerade in den unendlichen Pruͤ-
fungen und Leiden des Volkes die Auszeichnung
deſſelben beſtehe; daß es durch Schmerzen gea-
delt worden ſey. —


Dies war der Moſaiſche Gedanke; keine Spur
davon, als ob Moſes ſich die Voͤlker der Erde
als caſtenweiſe eingetheilt gedacht, und ſein Volk
unbedingt fuͤr die erſte und vornehmſte Caſte ge-
halten haͤtte, findet ſich im alten Teſtamente.
In Kriegen und unter Muͤhſeligkeiten iſt uns
die Idee der Freiheit vor allen Voͤlkern der Erde
klar geworden; waͤhrend die andern Voͤlker ſich
an die bunte Gegenwart halten und unter vie-
len einzelnen Bildern und Begriffen des Lebens
zerſtreuen, iſt uns die Offenbarung geworden
von einem lebendigen Gott, oder einem lebendi-
[24] gen Staat, und einer lebendigen Freiheit: das
iſt der wahre Moſaiſche Sinn bei allen Inſtitu-
ten, die er errichtet, um ſein Volk vor der Ver-
miſchung, vor dem Verkehr und Handel mit
fremden Voͤlkern zu bewahren. Dieſer Stolz auf
erhabene Leiden, iſt das erſte, glaͤnzendſte und
zugleich mildeſte Gefuͤhl des Lebens; auch die
ſicherſte Grundlage des wahren Adels. —


Die Moſaiſche Stiftung hielt durch ein halbes
Jahrtauſend dieſe Idee feſt; aber der uͤberhand
nehmende weltliche Verkehr mit den Nachbarn,
der Einfluß der großen Welt-Monarchieen, des
Cyrus, des Alexander und zuletzt der Roͤmer, zer-
ſtoͤrten auch den lebendigen Charakter dieſer Idee.
In ſich ſelbſt murrend gegen die Ungerechtigkeit
des unſichtbaren Koͤnigs, der andern weniger
auserwaͤhlten Voͤlkern Gluͤck und Ruhm, ihnen
aber immer neue Leiden und neue Knechtſchaft
bereite, waren ſie nicht mehr maͤchtig, nicht
mehr kriegeriſch, nicht mehr Moſaiſch genug,
um ihres hohen Vorzuges eingedenk zu bleiben.
An dem Buchſtaben, der Auserwaͤhltheit und der
Moſaiſchen Geſetze, und an dem Begriff eines
einzigen Jehova, der nun zum National-Goͤt-
zen geworden war, klebten ſie allmaͤhlig immer
feſter; und ſo ward aus dem uralten gerechten
und edlen Stolz nunmehr ein widerwaͤrtiger, un-
ertraͤglicher Hochmuth.


[25]

Wie die letzten Sproͤßlinge einer ehemals
bluͤhenden adeligen Familie, die mit dem ihnen
tief eingepraͤgten Glauben an Wuͤrde und Aus-
erwaͤhltheit (in einer Zeit, in welcher nichts
ſo ſehr gilt, als Reichthum, Beſitz und die
Macht des Augenblickes) nun auch nichts wei-
ter anzufangen wiſſen: ſie pochen auf einen per-
ſoͤnlichen Vorzug, wie auf einen weltlichen Be-
ſitz, mit dem er nichts gemein hat; der Wider-
ſpruch des heiligen Weſens, das behauptet
werden ſoll, mit dem weltlichen Sinn, in wel-
chem es behauptet wird, macht ſie unertraͤg-
lich.


So das adelige Geſchlecht der alten Welt, die
Iſraeliten, als der Geiſt der Erzvaͤter von ihnen
gewichen war: ſie koͤnnen ſich den Vorzug, den
alten verheißenen, und durch Moſes erfuͤllten,
nicht mehr perſoͤnlich denken; ſie begreifen ihren
National-Adel buͤrgerlich, Roͤmiſch; ſie erwarten
immer ſehnſuchtsvoller einen weltlichen Retter,
einen Koͤnig, der ihnen Befreiung und die Welt-
herrſchaft mitbringen ſoll, die ſie nun fuͤr eine
nothwendige Mitgift der verheißenen Auserwaͤhlt-
heit halten. Einzelne große Gemuͤther, die Pro-
pheten, rufen den alten Moſaiſchen Geiſt zuruͤck,
zeigen, wie der alte Adel der Schmerzen, der
Stolz der Leiden, und demnach die Idee des Na-
[26] tional-Lebens nothwendig zu erneuern ſey, ver-
kuͤndigen einen Retter, zeigen wie er geſtaltet ſeyn
muͤſſe, arm und leidend, ihrem weltlichen Hoch-
muth gegenuͤber. Der Ort, der Stamm, die
Zeit wird bezeichnet, wo er kommen werde; die
ganze Sehnſucht der Nation richtet ſich auf dieſe
Stelle Jahrhunderte hindurch hin. Wer ſo er-
wartet wird, muß kommen. —


Sie Alle gedenken aus Ihrer Jugendzeit der
heiligen Worte in den Buͤchern des Neuen Teſta-
ments: „und er that das, damit erfuͤllet wuͤrde,
was geſchrieben ſteht.” Dieſe Hingebung an die
Verheißung der fruͤheren Generationen, an den
National-Geiſt der unſterblichen Nation, mußte
der in Begriffe verſunkenen Nation mißfallen.
Als nun der Retter kam, kreuzigten ſie ihn.
Und ſo ging nicht bloß ihre National-Exiſtenz
verloren; ſie wurden in alle Welt ausgetrieben:
der Begriff ihrer National-Exiſtenz ward in
ihre Stirn gebrandmarkt, weil ſie die Idee der-
ſelben aus den reinſten Haͤnden nicht hatten em-
pfangen wollen; der uralte entwichene Adel ward
nunmehr zu einem Fluch, wie aller entwei-
hete Adel nothwendig zur aͤußerſten
Verworfenheit wird
.


[27]

Zwoͤlfte Vorleſung.


Geiſt der Griechiſchen Geſetzgebungen.


Alle Geſetzgebungen des Alterthums ſind im
Anfange aus Zuſtaͤnden der Voͤlker entſprungen,
in denen Religion, Sitte und Recht noch Eins
und unzertrennlich waren; eben ſo die Griechi-
ſche. Wir Zergliederer ſondern den irdiſchen
Theil von dem unſterblichen Theile jener drei
goͤttlichen Ideen unter den Nahmen Religions-
geſetze, Sittengeſetze und Rechtsgeſetze aus, und
uͤbertragen ihn dem Staate; waͤhrend der unſterb-
liche Theil, der Geiſt der Religion, der Sitte
und des Rechtes, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, und nie
als ein oͤffentliches Gut betrachtet wird. So iſt
denn alles Regieren bei uns blindes Wuͤrfelſpiel,
das Miſchen und Kneten einer Maſſe, die eigent-
lich von der Natur nach chemiſchen Grundge-
ſetzen regiert wird, welche wir nicht kennen, oder
deren Beiſtand wir mit unedler Eitelkeit ver-
[28] ſchmaͤhen. Wir geben Geſetze, ohne Ruͤckſicht
auf ein großes, allen Naturen gemeinſchaftliches
Geſetz des Anziehens und Abſtoßens, welches
am zweckmaͤßigſten Liebe genannt wird, und wel-
ches das Weſen der Religion ausmacht. —


Die Mehrheit unſrer Regierungen verſchmaͤ-
het nicht gerade die Religion an ſich, ſie laͤßt ſie
vielleicht gar fuͤr eine nicht zu verachtende Ge-
huͤlfin bei der Regierung gelten; aber immer —
wie von den Frauen und Koͤniginnen, auch wohl
von den Schriftſtellern geſagt wird — unter
der Bedingung, daß ſie ſich in die eigentliche
Politik nie miſche. Solche, neben dem Staate
her laufende, Religion mag dazu dienen, hier und
dort ein Capital-Verbrechen zu verhuͤten, ſie
mag polizeilich mitwirken, daß manches boͤſe
Geluͤſt der Buͤrger im Zaum gehalten wird: in-
deß hat ſie nichts gemein mit der Religion, in
deren Nahmen echte Geſetzgeber ihr ganzes Werk
verrichteten. Es iſt voͤllig in der Ordnung, daß
ein uͤberkluges Geſchlecht, welches nichts Klare-
res kennt, als ſeine Aufklaͤrung, nichts Witzige-
res als ſeinen eigenen Witz, nichts Erhabneres
als die marktſchreieriſche Groͤße ſeiner Helden —
nun auch alle Erleuchtung, alle Groͤße, allen
Witz der Vorzeit nach dem eigenen Maßſtabe
beurtheilt. „Moſes,” heißt es da, „giebt vor,
[29] er habe ſeine Geſetze von Gott erhalten und
thue alles in deſſen Nahmen: dieſe prieſterlichen
Handgriffe hat er in Aegypten gelernt, und ſie
waren bei den blinden, furchtſamen Juden auch
gut angebracht; Er ſelbſt war viel zu klug, um
daran zu glauben.” —


Ich wiederhole noch einmal: wer dieſes Un-
verſtandes theilhaftig iſt, der wird vom Alter-
thume, von der Staatswiſſenſchaft, vom Weſen
der Geſetze und von aller wahren, menſchlichen
Groͤße nichts begreifen. — Auch die Griechen,
ihre Kunſt und ihre Geſetze, ſind Dem ewig ver-
ſchloſſen, der nicht wenigſtens ahndet, daß die
Religion ganz in Ernſt alle buͤrgerlichen und
haͤuslichen Einrichtungen, ja alle Spiele des Le-
bens, durchdringen kann; verſchloſſen ſind ſie
Dem, der nicht ahndet, daß die Religion alle
Begriffe und Beſitzthuͤmer zu Ideen erhebt, und
ihnen Dauer giebt, wie auch, daß es, in unſren
gegenwaͤrtigen verzweifelten Umſtaͤnden, nirgends
eine Huͤlfe geben wird, außer in den Ideen,
oder in der Religion. Treibt nur immer,
Ihr Staatsverbeſſerer, Euer abgeſondertes, hoff-
nungsloſes Geſchaͤft ſo fort; ſtuͤtzt Euch bald
auf den Begriff abſoluter Freiheit, bald auf den
Begriff abſoluter Unterwerfung: Ihr werdet
nichts bauen, als was Ihr morgen wieder einrei-
[30] ßen muͤßt. Novalis vergleicht dieſe unnuͤtzen
Geſchaͤftigen mit dem Siſyphus, deſſen Stein,
kaum hinaufgewaͤlzt, von der andern Seite des
Berges wieder hinabſtuͤrzte. „Euer Stein wird
nie oben bleiben, wenn nicht eine Macht vom
Himmel her ihn feſt haͤlt.” —


Ich habe dieſer allgemeinen goͤttlichen Kraft,
welche den irdiſchen Dingen Dauer und Werth
verleihet, bisher lieber keinen beſtimmten Nahmen
geben wollen, ſondern ihre Kraft im Einzelnen
beſchrieben, indem ich zeigte, wie alle Dinge,
Beſitzthuͤmer, Begriffe zu Ideen erhoben werden.
Sie kennen alſo das Weſen ſchon, deſſen Nah-
men nun, da wir vom Alterthume reden, nicht
mehr verſchwiegen werden kann, nehmlich die
Religion
. —


Wenn man von Betrachtung der Moſaiſchen
Geſetzgebungen zu den Griechiſchen uͤbergeht, ſo
vermißt man zuvoͤrderſt einen allgemeinen Ge-
ſetzgeber, der, wie Moſes im Anfange der ge-
meinſchaftlichen, freien, politiſchen Exiſtenz der
zwoͤlf Staͤmme von Iſrael ſteht, ſo nun die po-
litiſche Einheit und Form aller der viel geſtalte-
ten Griechiſchen Staaten beſtimmte. Die Ju-
gendzeit oder die Erziehung beider Voͤlker war
durchaus verſchieden. Das mittellaͤndiſche Meer
zerreißt an vielen Stellen die Kuͤſten von Grie-
[31] chenland, ſo daß ſich abgeſonderte Lagerſtaͤtten
fuͤr kleinere Voͤlkerſchaften in großer Anzahl bil-
den, jede mit andrer Anlage, faſt mit eigenthuͤm-
lichem Klima. An allen dieſen Stellen entwickeln
ſich in freier Mannichfaltigkeit die Staͤmme der
Griechen; und ſo wie die Geſchichte uns die
Staͤmme Iſraels zuerſt leidend zeigt, ſo er-
blicken wir die Griechen in nationaler Geſtalt
zuerſt angreifend, auf dem Seezuge nach Kol-
chis, der beruͤhmten Fahrt der Argenauten, und
in der Unternehmung auf Troja. Die Freiheit,
welche die Staͤmme der Iſraeliten erſt wieder
gewinnen mußten, hatten die Griechen nie ver-
loren, und ſo konnte ein Erzieher, ein Geſetz-
geber der Freiheit, wie Moſes, ſehr wohl ent-
behrt werden. Erſt als die urſpruͤnglichen ein-
fachen Verfaſſungen, welche die Natur und der
freie Trieb der Menſchen geſtiftet hatte, vor
dem Geiſte neuer und reicherer Zeiten nicht auf-
recht erhalten werden konnten, da zeigen ſich die
partiellen Geſetzgebungen des Drako, des So-
lon, des Lykurgus, deren Natur ſich indeß darin
beſonders von der Moſaiſchen Geſetzgebung un-
terſcheidet, daß ſie vielmehr auf die politiſche
Form
der Voͤlker, (d. h. auf das Staatsrecht,
auf die Staatsverfaſſung derſelben), als auf die
rechtlichen Verhaͤltniſſe
unter den einzel-
[32] nen Buͤrgern gerichtet ſind. Die Moſaiſchen
Geſetze ſind groͤßten Theils privatrechtlich: ſie be-
ſtimmen mit gleicher Gerechtigkeit die Natur der
Familie und des lebendigen Eigenthums, ſie ſind
privatrechtlich in einem andern und hoͤheren Sinne
des Wortes, als welchen unſre heutigen Rechts-
lehrer im Auge haben: denn ſie haben es nicht,
wie dieſe, mit todten Sachen, ſondern, wie ich
neulich zeigte, mit lebendigem Eigenthum und
wahren Perſonen zu thun.


Die Griechiſchen Geſetze ſind minder gerecht,
als Moſes, gegen beide Qualitaͤten des Buͤr-
gers, gegen die oͤffentliche und gegen die indivi-
duelle, gegen ſeine Eigenſchaft als Staatsbuͤr-
ger und als Hausvater; auch koͤnnen ſie nicht
ſo gerecht ſeyn, da ihnen die Idee eines unſicht-
baren Stifters und Koͤniges, wie des Jehova,
mangelt, da die Staatsform nicht eine ihnen
allen gemeinſchaftliche, im voraus gegebene iſt,
ſondern die Geſetze ſchon hinreichend zu thun
haben, um den kuͤnſtlichen Verband menſchlicher
Weisheit, den der Uebermuth der Freiheit ſo
leicht wieder vernichtete, im Stande zu erhalten.
Die Religion war in Griechenland voͤlkerrechtli-
ches Band des Bundes der Pan-Hellenen; die
Verfaſſung der einzelnen Staͤmme wuchs in freier
Ueppigkeit fort, bedurfte vielfaͤltigen Umformens,
und
[33] und je mehr die alte politiſche Unſchuld ver-
ſchwand, um ſo nothwendiger wurden Geſetzge-
ber, die aus Vernunft und Erfahrung neue For-
men vielmehr erfanden, als ſie nach Art des
Moſes prophetiſch und gottbegeiſtert verkuͤndig-
ten. —


Die Lehre von der Familie und vom Eigen-
thume, die nach Moſaiſchem Geſetz ein halbes
Jahrtauſend beſtehen konnte, weil der Moſaiſche
Staat auf etwas Anderem ruhte, als auf einem
kuͤnſtlichen Mechanismus der Staatsgewalt, er-
lebte dagegen in den Griechiſchen Staaten tau-
ſendfaͤltige Veraͤnderungen, je nachdem ſie ſich
hier und dort nach den Veraͤnderungen in den
Staatsformen bequemen mußte. Der Geſetzge-
ber richtete ſie ganz nach Maßgabe des ſtaats-
rechtlichen Gebaͤudes ein, welches er auf vielfaͤl-
tigen Reiſen, und in dem Umgange mit den er-
fahrenſten Weiſen und Staatsmaͤnnern, als das
bequemſte und zweckmaͤßigſte erkannt hatte. —


Die Aufgabe der Geſetzgebung iſt: die hoͤchſte
Freiheit des Einzelnen bei der hoͤchſten Macht
des Ganzen. Der Geſetzgeber, welcher eins von
den beiden Gliedern dieſes Gegenſatzes, das
Privat[gl]ück oder das Gemeinwohl, hervorhebt
und das andre daruͤber verſaͤumt, wie ihn auch
die Umſtaͤnde dazu noͤthigen moͤgen, wird nie et-
Müllers Elemente. II. [3]
[34] was Dauerndes hervorbringen koͤnnen. — Der
Griechiſche Geſetzgeber war dazu genoͤthigt, das
oͤffentliche Leben vorzuziehen, dieſem das haͤus-
liche nachzuſetzen, ja aufzuopfern, weil das reli-
gioͤſe Leben der Griechen ſich in den Dienſt vie-
ler Goͤtter ſpaltete, von denen jeder einzelne
einem einzelnen Volke wieder heiliger war, als
dem andern, wie Pallas und Poſeidon dem Athe-
niſchen Volke, und deſſen Totalitaͤt alle Olym-
piſchen, Nemaͤiſchen und Iſthmiſchen Spiele,
ſelbſt das Delphiſche Orakel nicht aufrecht erhal-
ten konnten.


Der Menſch ſtrebt nach Einheit. Entſteht
eine Spaltung in den religioͤſen Anſichten, von
denen er am ſicherſten Einheit des Herzens, der
Wuͤnſche und des Strebens erlangt, ſo greifen
die Voͤlker unmittelbar nach einem andern hoͤch-
ſten Gute. Der irdiſche Staat, ſeine Verfaſ-
ſung, die Form der Suveraͤnetaͤt treten nun an
die Stelle, welche ehemals die Gottheit ein-
nahm: es entſteht ein Gottesdienſt des Vater-
landes, die buͤrgerlichen Opfer gehen vor den
religioͤſen, Herrendienſt vor Gottesdienſt; und
das ganze haͤusliche Leben muß daran geſetzt
werden, um das hoͤchſte Gut Aller, die Staats-
form, wie es gehen will, im Stande zu erhal-
ten. Darum ſtellte Moſes ſeinen Koͤnig, ſeine
[35] ſuveraͤne Idee, unerreichbar, unbeſchraͤnkt und
ewig, uͤber den zwoͤlf Staͤmmen auf; ihre unbe-
dingte, einige Anerkennung ward das erſte aller
Geſetze: er brauchte alſo nie jenes ungebuͤhrliche
Gewicht auf die ſtaatsrechtlichen Formen zu le-
gen, welches die Griechen, in Ermangelung der
einigen Idee, nicht entbehren konnten. Die ein-
zelnen Staͤmme der Iſraeliten hatten oft die
verſchiedenartigſten Staatsformen, wie ſie ſich
in Griechenland nur vorfinden moͤgen; ohne ir-
gend eine Zertruͤmmerung ging man von Einer
Form in die ganz entgegengeſetzte uͤber; der Ver-
band des Ganzen blieb immer unangefochten,
erhaben uͤber die Zwietracht der Vergaͤnglichen,
waͤhrend in Griechenland, wie ideenreich und le-
bendig auch der Jugendglaube dieſes Volkes ge-
weſen ſeyn mag, dennoch, weil das Princip des
einzigen Gottes fehlte, je mehr die einzelnen Ideen
ausſtarben und zu Begriffen erſtarreten, nun nach
kuͤnſtlichen, vergaͤnglichen Baͤndern gegriffen wer-
den mußte, da das natuͤrliche und ewige unhalt-
bar war.


Man betrachte das, was wir von den Ge-
ſetzen des Drako, des Solon, des Lykurg und
des Zaleukus wiſſen; man leſe die Buͤcher des
Ariſtoteles von der Republik: uͤberall ragen Cri-
minal-Geſetzgebung und Staatsrecht hervor;
[36] uͤberall das Streben, den Buͤrger zu jedem moͤg-
lichen Opfer an die Staatsform zu erziehen.


Im Taumel der Griechiſchen National-Feſte
erneuerte ſich noch oft die alte Einigkeit der Grie-
chiſchen Goͤtterfamilie: die Poeſie und die Kunſt
belebten die Ideen wieder; aber der ſchoͤne Rauſch
ward vergeſſen, wenn die Staͤmme wieder in
ihre abgeſonderten Wohnſitze zuruͤckkehrten. Das
Verhaͤltniß der Griechiſchen Goͤtter war allezeit
ein lebendiges Bild von dem Verhaͤltniſſe der
Griechiſchen Staͤmme: viel Schoͤnheit, viel Le-
benskraft, viel Macht, viel Hoheit der Geſin-
nung, aber keine unerſchuͤtterliche Einheit, aber
viel unaufloͤsliche Knoten. Ueber allen Goͤttern,
wie uͤber allen Staͤmmen der Griechen, waltet
ein dunkles Schickſal, waͤhrend der einfache klare
Gedanke des Jehova uͤber die Staͤmme Iſraels
herrſcht. Jene ſind ſeit Alexander, d. h. nun
ſeit zweitauſend Jahren, nicht mehr; dieſe,
wiewohl ſie das neue hoͤhere Leben, welches ih-
nen angeboten wurde, verſchmaͤhet haben, halten
heute noch, im aͤußerſten Elende, aber dafuͤr
auch nun ſchon im vierten Jahrtauſend, den Ge-
danken der politiſchen Dauer feſt. — Das iſt die
Frucht der Moſaiſchen Erziehung, und ſo tief
graͤbt ſich, was unter erhabenen Leiden gewonnen
iſt, dem Gemuͤthe der Menſchheit ein! Daß ſich
[37] in der Moſaiſchen Geſetzgebung ſo wenig poſitives
Staatsrecht vorfindet, war der Grund, warum
ſich das Weſen der politiſchen Einheit der Juden
mit allen ſpaͤteren chriſtlichen und Muhamedani-
ſchen Verfaſſungen vertragen konnte: das Weſen
dieſer Einheit, freilich hart und verſteinert, be-
ſteht, nachdem die Juden ſeit anderthalb Jahr-
tauſenden in alle Laͤnder der Erde zerſtreuet ſind.
Die Griechiſche politiſche Einheit war an ſtaats-
rechtliche Formen gebunden, die ſchon vor Alex-
ander, da nichts Ueberwiegendes, Gemeinſchaft-
liches, Einiges ſie unter einander ausglich, auf
Tod und Leben zerfielen. Ein religioͤſes Band
war da, aber kein einfaches. Vorausgeſetzt, die
Griechen waͤren in alle Welt zerſtreuet worden,
ſo wuͤrden ſie laͤngſt mit den uͤbrigen Voͤlkern
bis zur Unkenntlichkeit vermiſcht ſeyn *).


Niemand wird den gegenwaͤrtigen politiſchen
Zuſtand der Juden beneiden; aber ich habe es
[38] fuͤr meine Pflicht gehalten, die ernſthafte Sache
aus dem Standpunkte dieſer Nation zu betrach-
ten. Vieles, was uns in unſerm Elende am
meiſten mangelt, koͤnnen wir bei ihnen lernen:
das Geheimniß der politiſchen Dauer, und den
unerſchuͤtterlichen Glauben. —


Aber was hat den Iſraeliten gefehlt, welche
politiſchen Maͤngel haben ihre irdiſche Zerſtreu-
ung veranlaßt, wenn die geiſtige Vereinigung
auch noch fortdauert? — Ihnen hat gefehlt,
was die Griechen hatten, ſo wie dieſe den Vor-
zug entbehrten, der den Juden zu Theil gewor-
den war. Den Griechen fehlte eine einzige ſuve-
raͤne Idee, die, wie ich nun hinlaͤnglich gezeigt
habe, nur religioͤſer Natur ſeyn kann; daher
fehlte ihnen die Gewaͤhr politiſcher Feſtigkeit:
den Iſraeliten fehlte jenes Reich der Ideen, jene
Verklaͤrung des Lebens, jene Tauſendfaͤltigkeit
der ſinnlichen Formen, welche die goͤttliche Idee
zu durchdringen nicht verſchmaͤhet; daher fehlte
es ihnen an der politiſchen Beweglichkeit.
Das Eine Element des politiſchen Lebens, die
monarchiſche Idee, war den Juden zu Theil
geworden; das andre eben ſo weſentliche, die
republikaniſchen Ideen, den Griechen: darum
ergaͤnzen ſie einander. Aus dieſem innerlichen
Grunde, den nur der Unverſtand myſtiſch finden
[39] kann, wendete ſich die chriſtliche Religion zuerſt,
und am liebſten, an die Griechen. Den Be-
griff: auserwaͤhltes Volk Gottes, worin
die Stoͤrrigkeit der Juden ihren Grund hat, kam
Chriſtus zu zerſtoͤren; den erhabenen Geiſt der
Moſaiſchen Geſetzgebung wollte er, nun, da
die ungeheuren Schranken, die Moſes um ſein
Volk her gezogen hatte, nicht weiter noͤthig
waren, univerſaliſiren und ergaͤnzen. —


Schranken dieſer Art kannte das Griechiſche
Volk nicht: eine ſittliche Grenze pflegte es wohl
um das alte Gebiet Griechiſcher Wirkſamkeit
her zu ziehen, und, was außerhalb dieſer Grenze
lag, geringer zu achten, als das Griechiſche,
woher der Nahme Barbar allmaͤhlich die ſchmaͤ-
hende Bedeutung erhielt; eine politiſche Grenze
aber gab es fuͤr die Griechen nie: frei breiteten
ſich die beiden Fluͤgel ihres Reiches nach Oſten
und nach Weſten aus. Waͤhrend Iſrael, im ein-
ſeitigen Umgange mit ſich ſelbſt, die alte von dem
großen Heerfuͤhrer eingedruͤckte Form eigenſinnig
behauptete und in Kriegen erhaͤrtete; ſchwaͤrmte
der Geiſt der Griechen an allen Kuͤſten des mit-
tellaͤndiſchen, Adriatiſchen und Aegaͤiſchen Mee-
res umher, und ſo erwarben ſie im Handel, wie
im Kriege, durch wiſſenſchaftlichen Umgang und
durch Reiſen jene reiche bewegliche Anſicht des
[40] Lebens und die zierliche Geſchliffenheit der Sitten
bei urſpruͤnglicher Tiefe des Sinnes, die vor-
nehmlich in den ſpaͤteren Werken ihrer Meiſter
bezaubert.


Ich habe oben gezeigt, mit welchen univer-
ſellen Anlagen die Natur ſchon den eigentlichen
Boden Griechenlands ausgeruͤſtet hatte. Als
ſich aber Griechiſcher Geiſt eine neue groͤßere
Sphaͤre bildete; als auf den geſegneten Kuͤſten
von Klein-Aſien, auf den Inſeln des Archipels,
in Unter-Italien und S [...]cilien Griechiſche Colo-
nieen herangewachſen waren: da zeigte ſich ein
nationaler Verkehr, ein Austauſch der bunteſten,
uͤppigſten Lebensformen, wie man ihn in der
Geſchichte anderwaͤrts vergebens ſuchen wird.
— Indeß ſtand Iſrael ſeit einem Jahrtauſend
in ſeinen alten Grenzen unverruͤckt, von man-
chem Eroberer erſchuͤttert, ja unterworfen, oft
auch innerlich entzweiet, aber immerfort, wie
mit einem einzigen National-Gemuͤth, an ſeine
Beſtimmung und an ſeine Auserwaͤhltheit glau-
bend. Den Eindruck der alten Kraft hat es nie
verloren: Heldentugend in aller Geſtalt zeigt
die juͤdiſche Geſchichte bis auf die Zerſtoͤrung
Jeruſalems herab; ja, eine negative Kraft, die
Kraft der Ausdauer und des Duldens, iſt dem
Volke noch heut zu Tage nicht abzuſprechen.
[41] Aber die Grazie fehlte, die politiſche Grazie,
moͤchte ich ſagen: auch die Geſetze beduͤrfen die-
ſes milderen, ſuͤßeren Geiſtes, wenn ſie nicht
erſtarren, oder mit folgenden Zeitaltern in eine
unverſoͤhnliche Oppoſition treten ſollen; und er
iſt es, der die Griechen ſo unwiderſtehlich mach-
te, die allen buͤrgerlichen Einrichtungen und allem
politiſchen Verkehr den zarteſten Kunſtgeiſt mit-
theilten, die, wenn ſie auch allzu gluͤckliche, all-
zu verwoͤhnte Kinder waren, um den Zuſam-
menhang der einzelnen Ideen zu ergreifen, d. h.
die einzige ſuveraͤne Idee feſtzuhalten, dennoch
alles Einzelne mit dem ſicherſten Gefuͤhle belebten
und idealiſirten. Kurz, ihnen fehlte, was Iſrael
beſaß; aber dafuͤr mangelte dieſem, was die Grie-
chen auszeichnet, der veredelnde, bewegliche Sinn,
das καλον κᾀγαϑον. —


Dieſe wichtige Parallele will mit allem Ernſt
und mit der groͤßten Schaͤrfe aufgefaßt ſeyn:
etwas Aehnliches haben Sie in der neueren Welt,
wenn Sie Sich die fruͤher beſchriebenen Euro-
paͤiſchen Fuͤnfreiche in ihren bluͤhendſten Perio-
den, mit aller der auch ihnen eigenthuͤmlichen
Grazie und reichen unbegraͤnzten Bewegung den-
ken, und dem bewegten Bilde gegenuͤber etwa
das große, nach außen vermauerte, beziehungs-
loſe, ackerbauende China ſtellen wollen. — Sollte
[42] auch die Parallele zwiſchen China und dem Rei-
che Iſrael weniger paſſen, ſo erweckt dagegen die
Vergleichung des Griechiſchen Bundes mit dem
großen voͤlkerrechtlichen Bunde der Fuͤnfreiche
eine Reihe fruchtbarer Gedanken. Auch den Euro-
paͤiſchen Fuͤnfreichen fehlt gegenwaͤrtig, wie den
Griechiſchen Staaten, die große Gewaͤhrleiſtung
einer ſuveraͤnen Idee: das einzige Palladium,
die einzige gedenkbare Garantie jedes Voͤlker-
Bundes, jeder Vereinigung mehrerer Staͤmme
in ein einziges Weltvolk.


Es gehoͤrt wenige Kunſt dazu, zu zeigen, daß
die innere Spaltung der Fuͤnfreiche erſt durch die
Reformation lebensgefaͤhrlich geworden iſt: den
einzigen Gott, in ſo fern wir uns eines ſolchen
Gedankens nicht uͤberhaupt ſchaͤmen, oder ihn
entbehren zu koͤnnen meinen, glauben wir noch
heut zu Tage; aber es iſt ein Begriff, und
keine Idee, keine ſuveraͤne Idee, ſondern ein,
vielen andern Nichtswuͤrdigkeiten tief ſubordinir-
ter, Begriff. Wie moͤchte alſo uͤberhaupt noch
im Leben der Fuͤnfreiche einige Gemeinſchaftlich-
keit Statt finden, als etwa die des Amuͤſements
und der gemeinen Leiden des Tages! wie moͤchte
das unendliche Geraͤth, das tauſendfaͤltige Bei-
weſen unſeres Lebens, der zerſplitterte und zer-
ſplitternde Beſitz zuſammengehalten und nach
[43] dem Herzen des Menſchen hin, dem Mittel-
punkte aller Kraft, concentrirt werden! Solchen
großen Hinterhalt, ſolche Baſis und lebendige
Garantie, wie eine herrſchende Idee dem gan-
zen politiſchen Daſeyn eines Volkes oder eines
Voͤlkerbundes giebt, und der allen geringeren
Rechts-Inſtituten zu ihrem Zuſammenhang un-
entbehrlich iſt, entbehren wir; und deshalb laͤßt
ſich viel bei Moſes lernen.


Man verlange doch von jedem hiſtoriſchen
Quell nicht mehr, als er gewaͤhren kann! man
wolle doch bei den Griechen nicht die unmittel-
baren Lehren der hoͤchſten Geſetzgebung ſchoͤpfen;
man begnuͤge ſich die politiſche Grazie dieſer Na-
tion zu betrachten, wie ihre Geſchichtſchreiber,
wie Thucydides; ihre Redner, wie Demoſthenes,
Lyſias und Iſokrates; und ihre Komoͤden, wie
Ariſtophanes, ſie darſtellen; man unterſuche, wie
der veredelnde Geiſt ihres buͤrgerlichen Weſens
ſich allen Inſtituten der Griechen mittheilt —:
aber man ſchlage die Werke ihrer eigentlichen
Geſetzgeber, des Solon und Lykurg, und ihrer
Staatsgelehrten, wie des Ariſtoteles, nicht zu
hoch an! Dieſe Geſetzgebungen und dieſe Staats-
Theorieen ſind nichts weiter als kluge und kalte
Berechnungen uͤber ſtaatsrechtliche Formen, uͤber
kuͤnſtliche Vertheilung der Staatsgewalt, uͤber die
[44] Ableitung und die Beſaͤnftigung der Macht, ſo-
wohl des Einzelnen als des Volkes; der geſetz-
gebende Verſtand, die Intelligenz, — um einen
unleidlichen Mode-Ausdruck unſrer Zeit zu brau-
chen — verſucht, die alte heroiſche Tugend der
Griechen, die dem Geiſte der Freiheit zu einem
ſo kraͤftigen Gegengewichte diente, zuruͤckzuban-
nen, herbeizurechnen und ſie dem Leben verzaͤrtel-
ter Geſchlechter mitzutheilen. Aus dieſer alten he-
roiſchen und lebendigen Tugend iſt allgemach eine
Art von ſtoiſcher Philoſophie geworden, mit der ſich
das politiſche Leben wohl auf eine Weile verſet-
zen, aber nie eigentlich auf Jahrhunderte be-
ſaͤnftigen laͤßt. Demnach ſind dieſe beruͤhmten
Geſetzgebungen der Griechen nichts weiter, als
Buͤndel klug ausgemittelter Reflexionen, geſchoͤpft
auf Reiſen, aus der Beobachtung aller einzel-
nen Griechiſchen Staaten, aus dem Umgange
der Regierenden und Weiſen, aus vielfaͤltiger
Erwaͤgung der philoſophiſchen und moraliſchen
Syſteme, ſehr wichtig fuͤr die Geſchichte, doch
als Geſetzgebungen neben der Moſaiſchen durch-
aus nicht werth, in Betracht zu kommen. —


Dieſe muß in der Geſchichte der Rechts-Idee
allezeit die erſte Stelle einnehmen. Die Idee
des politiſchen Ganzen muß aus ihr geſchoͤpft
werden, wenn man auch nachher von der Schoͤn-
[45] heit und dem Leben der einzelnen Glieder des
buͤrgerlichen Weſens ſich beſſer auf dem reicher
begabten Boden Griechenlands erfuͤllt. Wenn
jedes von beiden Voͤlkern hatte, was dem an-
dern fehlte, ſo kann ja das Studium auf die
natuͤrlichſte Weiſe eins durch das andre ergaͤnzen,
die Moſaiſche Feſtigkeit durch die Griechiſche
Grazie und Beweglichkeit. Der wahre Staat
muß beides zugleich ſeyn: ehrwuͤrdig, wie die
Verfaſſung des Volkes Iſrael, und liebens-
wuͤrdig
, wie das Gemeinweſen der Pan-Hel-
lenen. Den Geiſt von Aſien und den von Europa,
eine adelige Verfaſſung und eine buͤrgerliche Ver-
faſſung der Dinge, hat die Natur, als politi-
ſche Schule der Nachwelt, bei dem Anbeginn
der Geſchichte aufſtellen wollen, in reinen un-
verkennbaren Ausdruͤcken, damit die Weit wiſſe,
welche Groͤße und welche Schoͤnheit ſie zu ver-
einigen habe.


[46]

Dreizehnte Vorleſung.


Geiſt der Roͤmiſchen Geſetzgebung.


Alle urſpruͤnglichen Verfaſſungen der alten Welt,
wenn wir etwa die in dem hinteren Aſien aus-
nehmen, wurden verſchlungen von Rom; und
den Welteroberern dienet die Argliſt zum Muſter,
womit Rom die unterdruͤckten Voͤlker den Wahn
eines politiſchen Daſeyns und eines nationalen
Gottesdienſtes forttraͤumen ließ. — Wenn das
kriegeriſche Element des buͤrgerlichen Lebens ſich
abloͤſ’t von dem friedlichen; wenn die Voͤlker,
von dem Reitze der Kuͤnſte, und von der behag-
lichen Fuͤlle, welche Handel und Induſtrie ge-
waͤhren, verfuͤhrt, ſich einer gewiſſen wolluͤſtigen
Selbſtbeſchauung oder Abgoͤtterei mit dem Frie-
den hingeben; wenn eine einſeitige Verſtandes-
bildung um ſich greift, und die koͤrperliche Kraft
gering geachtet wird neben den Vorzuͤgen des
Geiſtes; wenn das Leſen, Schreiben, Lehren
[47] und Raͤſonniren das Leben der Beſſeren allmaͤh-
lich auszufuͤllen anfaͤngt; wenn der Werth der
Menſchen mehr nach Werken der Hand und des
Geiſtes, als nach lebendiger That und Hand-
lung abgeſchaͤtzt wird: — dann ruͤſtet ſich ſchon
ein Staͤrkerer. — — —


Die Erde hat Eiſen genug in ihrem Schooß,
ſie hat Gebirge genug, um die alte Rieſenkraft
des Menſchen zu erhalten und zu bewaſſnen;
und dieſelbe einſeitige Cultur der Aufklaͤrung
und Humanitaͤt, die ſchon das Feldgeſchrei der
letzten Alexandriniſchen Griechen geweſen, und
die mit Hohn auf die Macht des Arms herab-
ſieht, ruft und reitzt die phyſiſche Kraft her-
bei. —


Friedensgeiſt und Waffen, deren inniger Bund,
deren Vermaͤhlung unter der Obhut einer und
derſelben goͤttlichen Idee, wie ich gezeigt habe,
das Weſen des Staates ausmacht, wenn ſie
einmal getrennt ſind, friedliche und kriegeriſche
Staaten neben und außer einander, gerathen
in Kampf auf Tod und Leben. Der energiſche
Krieg, außer der Verbindung mit dem lebendigen
Frieden, alſo abgeſondert fuͤr ſich, verwildert;
der Friede, ohne die Begleitung und Allgegenwart
der Waffen, erſchlafft. Beide Elemente, die ſich,
verbunden, zu einer herrlichen Lebenserſcheinung
[48] geſteigert und beſaͤnftigt haben wuͤrden, verzeh-
ren und vergiften einander nun gegenſeitig.


So haben Roͤmer und Griechen ſich allmaͤhlich
gegenſeitig uͤberwunden und aufgerieben; Jenen
waren die Kuͤnſte und die Philoſophie ſo ver-
derblich, wie Dieſen die Waffen, bis endlich Beide
in gemeinſchaftlicher Schwelgerei und Noth zu-
ſammenſtarben und eine Beute des freien und
jugendlichen Nordens wurden.


Griechenland indeß, auch in der Entartung
noch vollſtaͤndiger und reicher als Rom, hat die-
ſes, in der Geſtalt des Oſt-Roͤmiſchen Reiches,
obwohl kraͤnkelnd, doch noch um ein volles Jahr-
tauſend uͤberlebt. — Ohne die Griechiſche Cul-
tur gab es kein weltbezwingendes Rom: in dem
Maße, wie die alte Marathoniſche und Ther-
mopyliſche Heldengroͤße von den Griechen wich,
und wie der Selbſtbeſchauung, einer vielfach
reflectirenden Philoſophie, einer Abgoͤtterei mit
der Kunſt und der neulich erwaͤhnten nationalen
Grazie allein Platz gegeben wurde, ſtiegen die
Roͤmer. Alle Geſetzgeber, die das ſpaͤtere, weiche,
philoſophiſche Griechenland hervorgebracht hat,
und alle wahren Weiſen, richten ihren Blick auf
Erziehung, die jenem grazioͤſen Geſchlechte den
Heldengeiſt zuruͤckbringen ſollen; eben ſo ſehen
die Propheten der Juden, welche ich Jenen ver-
gleichen
[49] gleichen moͤchte, beſonders auf einen Geiſt ſanf-
ter Menſchlichkeit, womit ſie den ſproͤden, feind-
ſeligen, hochmuͤthigen Geiſt der Iſraeliten daͤm-
pfen wollen. Weder hier die Geſetzgeber, noch
dort die Propheten dringen durch: aͤußerlich wur-
den beide Rom unterthan, wenn ſie es auch
beide uͤberlebten.


Wenn aber Rom laͤnger als irgend eine andre
welterobernde Macht ſiegreich beſtanden hat, ſo
liegt der Hauptgrund hiervon darin, daß es eigent-
lich nie der Welt neue Formen, oder ſeine Sprache,
ſeine Geſetze, ſeine Goͤtter aufdringen wollte,
ſondern daß es zufrieden blieb mit ſeiner eig-
nen, concentrirten Verfaſſung, und ſich damit
begnuͤgte, alle Schaͤtze der Welt im Laufe der
Zeit mehr und mehr nach Rom zu leiten, und
die unterworfenen Laͤnder mit halb militaͤriſchen,
halb diplomatiſchen Ketten an Rom zu binden.
Ob beſtochen und gefangen durch Liſt, oder ob
ſie wirklich uͤberwunden waͤren, daruͤber blieben
die unterjochten Voͤlker meiſtens in Ungewißheit;
denn die aͤußeren Formen der Herrſchaft und des
Geſetzes, die Sitten, das Kunſt- und Philoſo-
phie-Spiel blieb, im Ganzen, wie es war; Rom
ging wohl gar bei den eignen Sklaven in die
Schule, und geſtand auch die geiſtige Ueberlegen-
heit derſelben, vor allem der Griechen, gern ein.
Müllers Elemente. II. [4]
[50] Ich rede nicht von den ſpaͤteren Jahrhunder-
ten, wo die Herrſchaft der ewigen Stadt durch
die Willkuͤhr gemuͤthloſer Despoten abgeloͤſ’t wur-
de, die gern auch dem Erdkreiſe die ſtarre Form
ihrer Seele eingedruͤckt haͤtten.


Es iſt der groͤßte Irrthum des Eroberers,
wenn er neben der militaͤriſchen Kunſt noch eini-
ges Schoͤpferhandwerk treiben will: — zuvoͤr-
derſt entzieht ihm die Natur, dieſe Bildnerin der
Verfaſſungen, Geſetze und Sitten, welche er
durch etwas Neues zu erſetzen unternimmt, ih-
ren Beiſtand; ſie erſchwert ihm tauſendfach ſeine
Beute, und dann hilft er ſelbſt die ſchlummernde
Anhaͤnglichkeit an die alte Verfaſſung und Sitte
wieder aufwecken; er ſelbſt foͤrdert den alten
National-Geiſt zuruͤck, und ſo kehrt ſich ſein
Schwert wider ihn ſelbſt. Rom nahm den Voͤlkern
ihre alten National-Heiligthuͤmer nicht, uͤberließ
es dem Gottesdienſte dieſer Voͤlker, von ſelbſt
zu erkalten, zu ermuͤden, oder ſich an einer ver-
zweifelten Philoſophie zu zerreiben; der Raub
dieſer Heiligthuͤmer wuͤrde ſie ja in den Augen
der Nationen nur auf’s neue verklaͤrt haben! —
Rom konnte dieſes allmaͤhliche Erkalten und Er-
matten der Voͤlker abwarten; denn es war nicht
an den Raum eines Menſchenlebens gebunden.
— Zweierlei Weltherrſchaft iſt im alten Rom
[51] wahrzunehmen: zuerſt herrſchte ein militaͤriſcher
esprit de corps, ohne alle weitere ſchoͤpferiſche
oder weltverbeſſernde Abſicht — unter dieſem wur-
de Rom groß; nachher herrſchen einzelne Des-
poten, mit dem zunehmenden Beſtreben, die Welt
nach Willkuͤhr umzuformen — unter dieſen wird
das Weltreich zertruͤmmert.


Bekanntlich entſtand Rom durch ein Zuſam-
menſtroͤmen der wunderbarſten Elemente; es
ſcheint, als habe ſich aus allen benachbarten Ita-
liaͤniſchen Urſtaaten das Unzufriedene, Genia-
liſche, auch wohl Verbrecheriſche, ausgeſchieden
und auf den ſieben Huͤgeln niedergelaſſen. Die-
ſen merkwuͤrdigen Gegenſatz bildet nehmlich die
Entſtehung Roms, der Entſtehung des Iſraeli-
tiſchen Staates gegenuͤber: Rom in ſeinem An-
fange iſt ein Aggregat fremdartiger, durch die
Noth zuſammengetriebener Perſonen; denn ob-
ſchon die erſten Roͤmer alle Italiſcher Abkunft
waren, ſo war dennoch an keine alte Familien-
Gemeinſchaft unter ihnen zu denken: Iſrael hin-
gegen iſt urſpruͤnglich eine einzige Familie, ver-
einigt durch den deutlichen Blutszuſammenhang
mit einem einzigen, allen Gliedern der Familie
gegenwaͤrtigen, Ahnherrn. Es darf alſo nicht
befremden, daß, ſo wie das aͤlteſte Iſraelitiſche
Geſetz unmittelbar einen perſoͤnlichen Charakter
[52] annahm, eben ſo das aͤlteſte Roͤmiſche Geſetz ſich
mehr auf den weltlichen, ſaͤchlichen Beſitz richten
mußte. Roms vorzuͤglichſter Zweck war Behaup-
tung und Erweiterung eines ſaͤchlichen Beſitzes,
Iſraels Hauptzweck die Reinerhaltung und Be-
feſtigung der alten Familienverbindung. Der
Sinn der Roͤmer richtet ſich nothwendig auf den
Ruhm kriegeriſcher Thaten; und wenn es auch
Iſrael keinesweges an kriegeriſchem Geiſte man-
gelte, ſo werden doch die Thaten nur mit Ruͤck-
ſicht auf den Hauptzweck, auf die Verewigung
der Familie Abrahams, gewuͤrdigt: aller Ruhm
der Iſraeliten liegt, wie ich ſchon einmal erinnert
habe, in den National-Stammbaͤumen, alſo in
der Fortpflanzung des Geſchlechtes.


Der Landbau neben dem Kriege war, wie der
Iſraeliten, ſo auch der Roͤmer urſpruͤngliche Be-
ſchaͤftigung, freilich bei den Roͤmern faſt ohne
alle Beziehung auf einen unſichtbaren Grund-
herrn, weshalb der Arten Eigenthum zu erwer-
ben bei ihnen ſo viele, als bei den Iſrae-
liten wenige waren. Daher iſt, wenn auch in
den ſtrengen Beſchaͤftigungen und in der feſten
Treue gegen das Geſetz unter beiden Voͤlkern
eine große Aehnlichkeit Statt findet, der Geiſt
beider dennoch durchaus entgegengeſetzt.


Das Band der Roͤmer war weltliches Eigen-
[53] thum, gemeinſchaftliches, irdiſches Umſichgreifen
der neben einander ruhenden, augenblicklichen
Kraft. Das Band der Iſraeliten war der Zu-
ſammenhang des Blutes, alſo ein unſichtbares,
das ſich leicht auf die Idee eines einzigen, alle
Geſchlechter der großen Familie beherrſchenden
und verbindenden, National-Gottes zuruͤckfuͤhren
ließ. Iſrael konnte leicht eines kuͤnſtlichen, gewalt-
vertheilenden Staatsrechtes entbehren; denn der
Suveraͤn lebte in dem Herzen alles Volkes,
und die Familien-Verfaſſung war an ſich ſelbſt
Staatsrechtes genug. Dagegen ward Rom bald
zu kuͤnſtlicher Vertheilung der Gewaltszweige ge-
noͤthigt, zumal, da die Art von National-Gott-
heit, welche ſich bald in Aller Herzen befeſtigte,
nehmlich der Gedanke: Roͤmiſche Freiheit,
in wie heldenmuͤthigen Geſinnungen er ſich auch
offenbarte, nicht, wie der Jehova der Juden,
die kuͤnſtlichen Machtanſtalten gleichguͤltig anſehen
durfte. Der Gott, welcher die Kinder Iſraels
durch die Wuͤſten gefuͤhrt hatte, war ein ſehr
ſichtbarer, deutlicher, unverkennbarer Gott; aber
der Gedanke „Roͤmiſche Freiheit” blieb immer
der Auslegung und der Willkuͤhr der Menſchen
unterworfen; er mußte in handgreiflichen Charak-
teren, in beſtimmten ſtaatsrechtlichen Corpora-
tionen, Beamten u. ſ. w., in Senaten, Comi-
[54] tien, Tribunen, noch deutlicher vor dem Volke
hingeſchrieben werden; nie konnte er die perſoͤn-
liche Beziehung auf die Roͤmer gewinnen, wie
der Gedanke „Jehova” auf die Juden; er blieb,
wie er auch die ſchoͤneren Gemuͤther begeiſtern
mochte, dem Volke eine Sache, ein wichtiger
Begriff.


Dieſes nun bleibt der Grundcharakter der Roͤ-
miſchen Geſetzgebung durch die ganze Folge der
Zeiten, auch ſelbſt da noch, als der Gedanke der
Freiheit durch die Imperatoren abgeloͤſ’t wurde,
und den edleren Naturen, ſolchen wie dem Taci-
tus, nichts uͤbrig blieb, als die Anbetung alter
Roͤmiſcher Heldenzeiten. Der ſaͤchliche Theil des
Civil-Rechtes ward bis zur hoͤchſten Vollendung
ausgebildet; Koͤpfe vom erſten Range wendeten
allen Scharfſinn und alle Erfahrungen ihres Le-
bens auf die Politur und Structur dieſes unvoll-
ſtaͤndigen und doch wunderbar conſequenten Sy-
ſtems; und ſo iſt es in hohem Grade lehrreich
fuͤr den zerlegenden Verſtand — lehrreich, ſcharf,
und unvollſtaͤndig, wie die Elemente d[e]s Euklides
— auf unſre Zeiten herabgekommen, hat unſaͤg-
liches Unheil angerichtet in der ſchon allzu ſehr
auf die Seite des Beſitzes und der Sachen hin-
hangenden Welt, hat eben mit ſeiner einſeitigen
Conſequenz alles Gemuͤth, alle Perſoͤnlichkeit,
[55] alle Religion aus unſern Staaten verdraͤngen
und die Bande des Blutes zerreißen helfen.


Dieſe nehmlich, oder die Familien-Verhaͤlt-
niſſe, ſind die einzigen dauernden und unverletzli-
chen: in ihnen beruhet die Fortdauer des menſch-
lichen Geſchlechtes; demnach wird auf’s natuͤr-
lichſte und nothwendigſte auch die Fortdauer der
Beduͤrfniſſe des Geſchlechtes, aller Sachen und
Beſitzthuͤmer, von ihnen abhaͤngig, oder nach ih-
rem Geſetz uͤberhaupt erſt moͤglich gemacht. Sie
bilden den Grundſtoff, ein ſchoͤnes reines unauf-
loͤsliches Gewebe, und die uͤbrigen bunten An-
gelegenheiten des Lebens gleichen einer Stickerei,
die erſt ſpaͤter hineingewirkt worden: dahingegen
erſcheinen bei uns die Bande der Natur und des
Gemuͤths wie Faͤden, die in den Beſitz, der jetzt
den Grundſtoff der Staaten bildet, hineingewirkt
ſind.


Ich will nicht laͤugnen, daß gegen die Ex-
ceſſe des Kirchen- und Lehnsrechtes, die in gewiſ-
ſen Perioden des Mittelalters die Perſon und
den unſichtbaren Theil der politiſchen Verbin-
dung allzu ſehr herausgehoben haben moͤgen,
das Roͤmiſche Recht, welches, von Amalfi und
Bologna aus, von neuem in Europa eindrang
und dem erwachenden Geiſte des Handels und
der Induſtrie zu Huͤlfe kam, zu einem heilſamen
[56] Gegengewichte gedient haben mag: ſo wuͤrde ich
noch heute, und gewiß nicht ohne Erfolg, einem
jungen, in unedler Schwaͤrmerei und Myſtik be-
fangenen Gemuͤth das Studium des Roͤmiſchen
Rechtes verſchreiben. Deſſen ungeachtet — da
ſich in unſern Staaten noch keine Spur von
Myſtik, vielmehr die ausſchließendſte, verderb-
lichſte Vorliebe fuͤr alles Weltliche, Saͤchliche
und dem Calcul zu Unterwerfende zeigt — muß
ſich die ganze, echt-republikaniſche Kraft, und
alles Streben des wahren Gelehrten, dem Roͤ-
miſchen Recht, ſeiner Schaͤrfe und ſeiner Con-
ſequenz zum Trotz, auf die Seite der geiſtigen
Anſchauung des Rechtes, und auf die Betrachtung
der Geſetzgebungen werfen, die dem Gemuͤthe
ſo nahe liegen, wie die Roͤmiſche dem Verſtande,
nehmlich auf die Betrachtung der Moſaiſchen
Geſetzgebung, des ſittlichen Lebens der Griechen,
des Lehnsrechtes, des Kirchenrechtes und der
Sitten der Chevalerie. In allen dieſen Geſetz-
gebungen liegen die Elemente des politiſchen Le-
bens zerſtreuet. Wem es um eine vollſtaͤndige
Anſchauung, um eine Idee des Staates und
des Rechtes zu thun iſt, der haͤlt ſich an alle;
einzeln ſind ſie nur dem Handwerke brauchbar. —


In den Griechiſchen Geſetzgebungen tritt das
Staatsrecht beſonders ausgebildet hervor; in
[57] der Moſaiſchen der perſoͤnliche Theil, in der Roͤ-
miſchen der ſaͤchliche Theil des Privatrechtes.
„Wie unſre Vorfahren die uͤbrigen Voͤlker an
Klugheit uͤbertroffen haben,” ſagt Cicero im er-
ſten Buche de Oratore, „das werdet Ihr am
beſten einſehen, wenn Ihr mit ihrem Lykurg,
Drako und Solon unſre Geſetze vergleichen wollt;
denn es iſt faſt unglaublich, wie ungeſchliffen und
beinahe laͤcherlich alles Civil-Recht neben dem un-
ſrigen erſcheint.” Dem gerechten Hochmuthe dieſer
Worte laͤßt ſich nichts entgegenſetzen, als die Er-
innerung an die ganz verſchiedenen Zuſtaͤnde des
oͤffentlichen Lebens, unter denen in Griechenland
und Rom das Recht ausgebildet worden war.
In Staaten wie dem Moſaiſchen und Roͤmiſchen,
die von Hauſe aus — gleichviel ob durch einen
weltlichen oder geiſtigen Gedanken abgeſchloſſen —
nun unverruͤckt beinahe ein Jahrtauſend hindurch
auf denſelben alten Grundpfeilern ruhen, deren
Kraft — gleichviel ob mehr nach außen gewen-
det, wie die Roͤmiſche, oder mehr nach innen,
wie die Iſraelitiſche — wohl mit Nachbarn, aber
doch nie mit eigentlichen Nebenbuhlern, ſo zu
kaͤmpfen hat, daß die Privat-Freiheit auf’s Spiel
geſetzt wuͤrde: — in ſolchen Staaten muͤſſen ſich
alle Privat-Verhaͤltniſſe der Perſonen und des
Eigenthums beſſer und gruͤndlicher ordnen, als
[58] in einem Staatenbunde, wie dem Griechiſchen,
wo das National-Leben, auf einer breiteren,
gluͤcklicheren Baſis ruhend, in die vielfaͤltigſten
Geſtalten und Beſchaͤftigungen gebrochen wird;
wo alle Reichthuͤmer (geiſtige und irdiſche) der
mittellaͤndiſchen Kuͤſten zuſammenſtroͤmen; wo
ſinnreicher Lebensgenuß und eine gewiſſe Natio-
nal-Großmuth aͤngſtliches Abſtecken des Beſitzes,
und Verſtandespraͤciſion in den Privatverhaͤlt-
niſſen nicht aufkommen laſſen; wo der Ernſt,
mit dem die ſchwierige Sache des Gemeinweſens
vielgeſtalteter, lebensluſtiger Voͤlker getrieben wer-
den will, einen ſchoͤnen Leichtſinn uͤber die Pri-
vatverhaͤltniſſe veranlaßt, ſo daß Platon den
Gedanken naͤhren kann, unter den drei Staͤnden
ſeiner idealiſchen Republik, den Magiſtraten, den
Kriegern und den Lohnarbeitern, nur dem letzte-
ren veraͤchtlichſten Stande noch uͤberhaupt eini-
ges Privatleben zuzugeſtehen.


Der Gedanke des abſoluten, ausſchließenden
privativen Eigenthums, ſo wie er in einem con-
ſequenten Civil-Rechte vorherrſchen muß — wie
er denn auch die eigentliche Baſis des Roͤmiſchen
Rechtes bildet — ſteht in ewigem Widerſtreit
mit der Idee des Rechtes. Ueberhaupt kann er
nur auf abſolut todte Sachen angewendet wer-
den; denn Perſonen ſind von ſelbſt ſchon unend-
[59] lich, unergreiflich: ſie laſſen ſich aus dem Zuſam-
menhange mit den uͤbrigen Perſonen nicht her-
ausſchneiden. Die vaͤterliche und ehemaͤnnliche
Gewalt, ſo wie ſie in unſern Geſetzbuͤchern nach
Roͤmiſchem Zuſchnitt verordnet wird, iſt eine bo-
denloſe Chimaͤre; wenn ſie ein unſichtbarer Geiſt
der Liebe oder des Zutrauens nicht ergaͤnzen oder
ſtuͤtzen will, ſo ſpielen die Geſetze, indem ſie
jener vermeintlichen Gewalt beiſtehen, eine un-
wuͤrdige und traurige Rolle. Will die Liebe er-
ſetzen, was dem durchaus unwirkſamen Geſetze
an Kraft gebricht; wohl! dieſe ſeltenen Faͤlle
innerer Familienharmonie giebt es, aber fuͤr ſie
iſt auch das Geſetz ganz uͤberfluͤßig; in den un-
zaͤhligen andern Faͤllen geſtoͤrter Uebereinſtim-
mung zwiſchen den Familien-Genoſſen iſt nur
von der Zeit und von gegenſeitiger Nachgiebig-
keit etwas zu erwarten; von freier Nachgiebig-
keit. Wie aber, wenn die Geſetze ſchon im Vor-
aus dieſe Gegenſeitigkeit und Freiheit ſtoͤren und
dem Einen Familiengliede Rechte, Zwangsrechte,
unbedingte, ausſchließende Rechte in die Haͤnde
geben, und dieſes ſich darauf ſtuͤtzen zu koͤnnen
glaubt, a[n]ſtatt auf Beweiſe der Liebe? Dann
helfen die Geſetze nicht nur nichts, ſondern wer-
den eine eigentliche Schule heimlicher Laſter. Und
dieſe Geſetze ſind es, welche das Weſentlichſte, die
[60] neue Generation, erzeugen und bilden helfen
ſollen! —


Dieſen verderblichen Einfluß des Roͤmiſchen
Rechtes und ſeines Grundſatzes von abſolut aus-
ſchließendem Beſitze, hat unſer Zeitalter vornehm-
lich erfahren, wo keine Sitte, keine Religion
die abgemeſſenen, haarſcharfen Graͤnzen, welche
vornehmlich das Roͤmiſche Recht um die einzel-
nen Gebiete des Lebens und Wirkens gezogen,
wieder verwaͤſcht, verfloͤßt, belebt. Den einſei-
tigen Sieg dieſes Rechtes uͤber alle anders ge-
ſtalteten, von der Religion befruchteten Rechts-
Syſteme noch wie einen Triumph der Humanitaͤt
zu feiern, war der Gipfel des Wahnſinns, deſ-
ſen furchtbare Ausbruͤche wir erlebt haben. Das
war der geruͤhmte Sieg unſrer erleuchteten Ge-
neration uͤber die Kirche und den Feudalismus! —


Das Geſetz der ſtrengſten Subordination,
welches in dem heroiſchen Zeitalter der Roͤmer
bei ihnen ſo tiefe Wurzel gefaßt hat, und wel-
ches einer abſolut militaͤriſchen Republik auch
unentbehrlich ſeyn mochte, verlor ſeine urſpruͤng-
liche Erhabenheit, als an die Stelle der Idee
der Freiheit nun die Roͤmiſchen Imperatoren
traten. Es wurde zu einem weltlichen Mecha-
nismus, deſſen traurige Spuren ſich uͤberall in
den Roͤmiſchen Geſetzbuͤchern wahrnehmen laſſen.
[61] Der Gehorſam, die Disciplin bei den aͤlteren Roͤ-
mern hatte einen edlen, ritterlichen Charakter,
indem er vielmehr der Idee der Freiheit und der
Republik, als den jeweiligen Befehlshabern der
letzteren — dieſen wenigſtens nur mittelbar, um der
Freiheit willen — gewidmet war. Damals waren
Gehorſam und gebietende Macht nur verſchie-
dene Formen von dem Dienſte der Republik, der
ewigen Stadt und ihres Ruhmes. Durch die
herrſchende, allen Gemuͤthern eingepraͤgte Idee
der Roͤmiſchen Freiheit erhielt das haͤrteſte Sub-
ordinations-Geſetz einen Charakter der Gegen-
ſeitigkeit; es war keine Unterwerfung an ſich,
ſondern eine Unterwerfung um der Freiheit wil-
len. — Die Geſetze uͤber die perſoͤnlichen Ver-
haͤltniſſe athmeten durchaus den Geiſt der unbe-
dingten Abhaͤngigkeit des phyſiſch-Schwaͤcheren
von dem Staͤrkeren. Mit der Errichtung einer
despotiſchen Macht in Rom verſchwand dieſes
unſichtbare Gefuͤhl der Gegenſeitigkeit und der
Freiheit, und es blieb nichts als der ſichtbare
Buchſtab der Disciplin und des unbedingten
Beſitzes zuruͤck.


Ich fordere jeden Kenner des Roͤmiſchen Rech-
tes auf, mir außer der Lehre von dem Contracte ir-
gend eine Spur wahrer Gegenſeitigkeit der Rechts-
verhaͤltniſſe darin zu zeigen. Und dennoch ſind
[62] dies die beiden Grundeigenſchaften jedes Geſet-
zes und jeder Geſetzgebung: 1) die innerlichſte
Gegenſeitigkeit, die Contracts-Natur aller
Verhaͤltniſſe des Lebens, der ſaͤchlichen, wie der
perſoͤnlichen, um des Rechtes willen; 2) die wei-
ſeſte Disciplin, Subordination, Rangord-
nung aller Verhaͤltniſſe des Lebens, um der Aus-
uͤbung des Rechtes willen. Es kann eine aͤußere,
rechtliche oder rechtsaͤhnliche Ordnung der Dinge
geben, eine Subordination der Verhaͤltniſſe ohne
Gegenſeitigkeit; und wer mit dem aͤußeren Schein
eines Staates bei der hoffnungsloſeſten, inneren
Anarchie der Gemuͤther zufrieden geſtellt iſt, dem
mag in dieſer Hinſicht die conſequente Schaͤrfe
des Roͤmiſchen Geſetzes leiſten, was er von al-
ler Geſetzgebung fordert. Ich fordre mehr: eine
Subordination nicht bloß der aͤußeren, ſondern
auch der inneren Verhaͤltniſſe, oder der Gefuͤhle;
und dieſe iſt nicht anders zu erreichen, als da-
durch, daß eine religioͤſe Idee in ſuveraͤner Allge-
genwart das ganze Gemeinweſen und alle Geſetze
durchdringt, daß eben dadurch alle Rechtsbegrif-
fe
in Rechtsideen, d. h. die todten, abſolut
disciplinariſchen Rechtsverhaͤltniſſe zu lebendigen
und demnach gegenſeitigen erhoben werden.


Eine politiſche Ordnung, die keinen andern,
hoͤheren Zweck hat, als eben wieder die Ord-
[63] nung, die dem zu Folge nichts anders ſeyn kann,
als ein maſchinenmaͤßig, in ſich ſelbſt umherlau-
fendes Uhrwerk, eine ſich ſelbſt mahlende Muͤhle
(wie Novalis ſagt), muß, wenn ſie lebendigen
Weſen aufgedrungen wird, nachdem auf eine
Zeitlang die aͤußere Natur des Menſchen ihr
unterworfen geweſen, und Sinn und Geiſt der
Buͤrger von dieſem ſogenannten Staate ausge-
ſchloſſen worden iſt, zuletzt unfehlbar vor der
organiſchen Kraft des lebendigen Stoffes, den
ſie zu regieren hat, weichen: ſie ſelbſt muß die
Revolutionen herbeifuͤhren, die ſie unfehlbar zer-
ſchmettern werden. —


Die buͤrgerliche Geſellſchaft iſt einmal, wie
wir in Betrachtung der Theorie von der Fami-
lie geſehen haben, doppelter Natur: ſie iſt Ver-
bindung neben einander ſtehender, gleichzeitiger,
und Verbindung nach einander kommender, in
der Zeit ſich folgender Weſen. Die Natur, wel-
che, in ſo fern ſie den Menſchen will, auch die
buͤrgerliche Geſellſchaft will, muß jeder von die-
ſen beiden Arten der Verbindung einen beſondern
Trieb, ein beſondere[s] unumgaͤngliches Geſetz zur
Gewaͤhrleiſtung untergelegt haben: es muß eine
doppelte Art der Atraction, ſowohl eine unter
den neben einander Stehenden, als eine
andre unter den auf einander Folgenden,
[64] geben. Die gleichzeitigen, die im Raume
getrennten und in demſelben Moment uͤber die
ganze Erde verſtreueten werden von der Natur
gewaltig verknuͤpft durch das Geſchlechtsverhaͤlt-
niß, durch die Geſchlechtsliebe; die in der
Zeit getrennten, auf derſelben Stelle der Welt
einander abloͤſenden — gleichraͤumigen habe
ich ſie genannt — werden verbunden durch eine
andre, ganz entgegengeſetzte Art der Liebe, durch
die Liebe, welche das Kleinere und Groͤßere, das
Schwaͤchere und Staͤrkere an einander knuͤpft,
und welche in der Familie ihr ewiges Muſter an
der kindlichen Liebe zu dem huͤlfloſen Alter
und zu der huͤlfloſen Kindheit hat. Wiewohl
ſich nun ſagen laͤßt, daß es, außer der Ge-
ſchlechtsliebe, unter den gleichzeitigen Menſchen
noch andre eben ſo natuͤrliche Bande der Nei-
gung, der Freundſchaft, des gegenſeitigen Be-
duͤrfniſſes gebe, eben ſo, außer der kindlichen
Liebe, unter den auf einander Folgenden noch
die Bande der Unterthanen und Dienenden mit
den Herren und Patriarchen, u. ſ. w.: ſo ſind
doch alle dieſe Verbindungen ſpaͤtere, abgeleitete,
dem Wechſel der Formen und der Willkuͤhr der
Menſchen mehr unterworfene, hingegen die Ban-
de der Geſchlechtsliebe und der kindlichen Liebe
allenthalben und zu allen Zeiten von gleicher un-
um-
[65] umgaͤnglicher Nothwendigkeit. Deshalb muͤſſen
alle uͤbrigen ſich nach ihrer Form richten und
ſich an ſie anſchließen.


Das Geſchlechtsverhaͤltniß iſt das Schema
jener erſten Eigenſchaft aller Rechtsverhaͤltniſſe,
nehmlich der Gegenſeitigkeit; das Verhaͤlt-
niß der verſchiedenen Lebensalter in der Familie
iſt das Schema jener andern Grundeigenſchaft
der Rechtsverhaͤltniſſe, der Subordination.
— Was alſo ſoll uns eine Geſetzgebung wie die
Roͤmiſche, die auf einem ganz fremdartigen Zu-
ſtande der Dinge erbauet iſt, auf einem Zuſtande
militaͤriſcher Freiheit, wo, neben dieſem Staats-
zwecke, die reine und natuͤrliche Form der Fa-
milie gering geachtet werden mußte, wo, vor
der in jedem Augenblicke nothwendigen Subordi-
nation und aͤußeren Ordnung, die zarte Gegen-
ſeitigkeit ſowohl des wahren perſoͤnlichen Ver-
haͤltniſſes, als des Beſitzes gering geachtet, wo
das aller wahren Staatsform unentbehrliche weib-
liche Element des politiſchen Lebens ganz uͤber-
ſehen werden mußte!


Was ſoll uns eine Geſetzgebung, deren be-
gleitende ſuveraͤne Idee, die Idee der Roͤmiſchen
Freiheit, ſchon beinahe ſeit zwei Jahrtauſenden
ausgeſtorben iſt, und die zwar auf unſern Ver-
ſtand, aber in keinem Stuͤcke auf unſre Neigung
Müllers Elemente. II. [5]
[66] und auf die Totalitaͤt unſres Privat-Lebens be-
zogen werden kann! — Als Gegengewicht gegen
die Exceſſe der feudaliſtiſchen und kanoniſchen
Geſetzgebungen in den letzten Jahrhunderten hat-
te ſie allerdings ihren Werth, aber nur in ſo
fern alle dieſe verſchiedenen ungleichartigen Theile,
welche in unſrer Rechtspflege zuſammentraten, von
einer Idee, wenigſtens von einer Art von Idee
des Rechtes oder der Religion verbunden wur-
den. Jetzt aber, nachdem der Geiſt jener an-
dern, unſern innern Beduͤrfniſſen mehr entſpre-
chenden, Geſetzgebungen ganz verſchmaͤhet, nach-
dem der Wahn eines abſoluten Privat-Lebens
und abſoluten Privat-Eigenthums und unbe-
dingten Beſitzes die Oberhand erhalten hat; nach-
dem alle weltherrſchende Ideen, alle Religion,
alle Sitten zerfallen: jetzt kann der Schein eines
unabhaͤngigen conſequenten Privat-Rechtes, den
wir aus der Roͤmiſchen Schule mitbringen, die
allgemeine Aufloͤſung nur befoͤrdern.


Ferner, im Studium des Rechtes hat das
Roͤmiſche Syſtem, wenn es hiſtoriſch und ohne
weitere beſondre Vorliebe neben den uͤbrigen
Syſtemen der Geſetzgebung vorgetragen wird,
einen hohen Werth: im Studium ſoll auch der
gruͤndliche Verſtandes-Calcul, wie er uͤberall
aus Roͤmiſchen Geſetzen hervorleuchtet, ſeine
[67] Rechte behaupten; aber der Wahn der Vollſtaͤn-
digkeit, der unbedingten Rechtlichkeit, dem ſich
der rechnende Verſtand ſo leicht hingiebt, ſoll
zerſtreuet werden. Das Studium ganz entge-
gengeſetzter, vorzuͤglich der mehr geiſtigen perſoͤn-
lichen Geſetze, und dann der wahren Theorie des
lebendigen, die ganze Welt, den ganzen Men-
ſchen, und beſonders ſein leicht verfuͤhreriſches
Herz umfaſſenden Rechtes — ſoll wieder auf-
leben, und die kalte Einſeitigkeit des Roͤmiſchen
Rechtes, die ſich mit keinem andern politiſchen
Zuſtande der Dinge, als einer eiſernen Welt-
herrſchaft, vertragen kann, ſoll mit gruͤndlichem
Abſcheu erkannt werden. —


Die Klugheit der Roͤmiſchen Rechtslehrer,
des Papinian, des Ulpian, des Paulus, und
den unendlichen Fleiß und den koloſſalen Verſtand
in den meiſten Edicten und Geſetzen der Roͤmi-
ſchen Kaiſer, in ihrer Art und an ihrem Orte zu
bewundern, bin ich ſehr bereit; — aber daß nur
Inſtitutionen, Pandekten, Codex und Novellen
nicht fuͤr mehr gelten ſollen, als fuͤr den Aus-
druck einer weltumfaſſenden Polizei! — Sobald
die Roͤmiſche Freiheit, d. h. ſobald die begleitende
Idee verſchwindet, entweicht der eigentliche Cha-
rakter des Rechtes, nehmlich das Leben. Mit
Ruͤckſicht auf den wahren Staat hat nun die
[68] Geſetzgebung keinen Sinn mehr; der ſubordini-
rende, rangirende, theilende, zerlegende Ver-
ſtand Einerſeits, und die Macht des Despoten
andrerſeits finden nun allein ihre Rechnung da-
bei. —


Faſt zu gleicher Zeit erſterben die drei großen
Ideen, welche den drei wichtigſten politiſchen
Gebaͤuden des Alterthums ſo lange Leben und
Dauer gaben.


1) Die religioͤſe Idee, welche Iſrael auf-
recht erhalten hatte, zerfaͤllt unter den Haͤnden
der Schriftgelehrten und Phariſaͤer, juͤdiſcher
Secten und Sophiſten aller Art: der Buchſtabe
des Moſaiſchen Geſetzes gilt mehr und mehr
allein; aus jeder neuen Pruͤfung des Schickſals
geht das Volk Iſrael halsſtarriger und weltlicher
geſinnt hervor. Jehova wird immer weniger be-
trachtet als der allenthalben, vornehmlich in den
Leiden, Allgegenwaͤrtige, der das Volk durch
die Wuͤſte gefuͤhrt: es werden irdiſche Zeichen
der Macht, weltliche Helden und Befreier, welt-
liche Oberherrſchaft, weltlicher Glanz als Ge-
waͤhrleiſtungen des alten Bundes verlangt; die
Idee des Moſaiſchen Geſetzes entweicht; Begriffe
bleiben zuruͤck, und ſo neigt ſich das politiſche
Leben und die Freiheit der Juden zum Unter-
gange hin.


[69]

2) Alle die freien goͤttlichen Ideen, welche
das Griechiſche Leben erhoben, welche ſo man-
ches Heldengeſchlecht, ſo viele großmuͤthige Tha-
ten, ſpaͤterhin ſo unvergaͤngliche Kunſtwerke,
und, wenn auch keinen treuen, unerſchuͤtterlichen
Staatenbund, ſo doch ein reiches politiſches Le-
ben erzeugt hatten, erſtarrten in den gelehrten
Schulen von Alexandrien. Was im Griechiſchen
Alterthume die Idee als ihr natuͤrliches Gefolge
mit ſich gebracht hatte, Grazie, Lebensfuͤlle und
Kraft, ſollte nun in ſpaͤteren Jahrhunderten
durch ein gelehrtes Handwerk erſetzt werden;
alles, was in dieſem ungluͤcklichen Beſtreben zur
Welt kam, war Begriff und todte Nachahmung.
Was Alexander von der Freiheit der Griechen
uͤbrig gelaſſen hatte, bezwang und toͤdtete ſeine
Pflanzſtadt Alexandrien. Endlich


3) durfte auch die Idee der militaͤriſchen
Kraft und Freiheit, die Rom groß gemacht
hatte, einſeitig in ihrer Schoͤnheit, nicht beſtehen.
Die Triumvirate, Caͤſar und Octavianus Augu-
ſtus, machten der Roͤmiſchen Freiheit ein Ende.


Alle dieſe Ideen waren an ein beſtimmtes
Local gebunden: Moſaiſche Religion an Palaͤſtina;
Griechiſche Sitte an das vom Meere zerriſſene
Land zwiſchen dem Joniſchen und Aegaͤiſchen
Meere; Roͤmiſche Freiheit an die Stadt der ſie-
[70] ben Huͤgel. In dieſen allzu beſtimmten Schran-
ken lagen zugleich nothwendige unuͤberſteigliche
Grenzen fuͤr die Ideen. Und ſo war um das
Leben der Alten ſelbſt eine Mauer gezogen. Alle
Staaten draͤngten mit mehr oder weniger Erfolg
nach der Unterwerfung, der Subordination
aller uͤbrigen. Ein Welt-Gottesdienſt war noch
nicht gefunden, aller Ideen-Dienſt war localer,
National-Gottesdienſt; alſo gab es nichts
anderes, als Unterwerfung der Welt unter die
mittelbare oder unmittelbare Herrſchaft einer
National-Idee; kein gegenſeitiges Verneigen,
kein gegenſeitiger Reſpect der National-Idee vor
der National-Idee, welches alles nur moͤglich
werden konnte durch eine Welt-Idee, durch
eine Welt-Religion. Die große Lehre von
der Gegenſeitigkeit aller Verhaͤltniſſe des Lebens
mußte verklaͤrt werden, und das am beſten, Rom
gegenuͤber, dem ſcheinbaren Triumph des bloßen
Subordinations- und Disciplin-Geſetzes uͤber die
Welt gegenuͤber. — In dem Volke, das nach
einander die Knechtſchaft der Aegypter, der Baby-
lonier, der Griechen und der Roͤmer gefuͤhlt hatte,
und das dennoch von ſeinem National-Gotte
nichts anderes erwarten wollte, als weltliche
Weltherrſchaft, trat die Welt-Idee, und —
damit ſie mit nichts Geringerem, Localerem, und
[71] Nationalerem verwechſelt werden moͤchte — in
ſcheinbar armer, huͤlfloſer und verlaſſener Geſtalt
an’s Licht. Qualen und Tod mußten erhaͤrten,
daß es auf die Verklaͤrung eines Gedanken an-
kam, unter deſſen Herrſchaft Leben und Tod,
Wolluſt und Schmerz, Friede und Kampf ver-
einigt werden konnten. Nun iſt die Idee des
Rechtes in ihrer vollen Klarheit, in ihrem ewi-
gen Leben und Wachsthum, ſo wie ich ſie darzu-
ſtellen geſucht habe, als das Gemeingut aller
Voͤlker der Erde begruͤndet, unuͤberwindlich und
vor jedem neuen Rom geſichert.


[72]

Vierzehnte Vorleſung.


Von dem Weſen des Feudalismus.


Es wuͤrde ſchwer ſeyn, von dem Worte Feu-
dalismus
, wie daſſelbe in dem Munde des
großen Haufens von Europa in den letzten zwan-
zig Jahren curſirt hat, eine genuͤgende und voll-
ſtaͤndige Erklaͤrung zu geben; die eigentlichen
Lehns-Verhaͤltniſſe und Geſetze ſind nur der klein-
ſte Theil von den politiſchen Einrichtungen des
Mittelalters, welche mit jenem ſo allgemein ver-
haßten und doch ſo unbeſtimmten Nahmen be-
zeichnet werden. Der Geburtsadel zuvoͤrderſt,
welcher mit der Lehnsverfaſſung freilich in man-
nichfaltigen Beziehungen ſteht, aber auch ſehr
wohl ganz unabhaͤngig von ihr gedacht werden
und exiſtiren kann, alle Erbunterthaͤnigkeitsver-
haͤltniſſe, alles unvollſtaͤndige und gemiſchte Eigen-
thum, alle Corporationen im Staate, wie in
den Staͤdten, Zuͤnfte, Innungen, ferner alle
[73] Privilegien, Familienrechte, ſelbſt Fideicommiſſe,
und ſolche Inſtitutionen der Privaten, welche
den Beſitz oder die ſogenannten natuͤrlichen Rech-
te des voruͤbergehenden Nießbrauchers beſchraͤn-
ken — werden mit unzaͤhligen andern legislati-
ven Erbſtuͤcken des Mittelalters zuſammengegrif-
fen, und, als eben ſo viele mittel- oder unmittel-
bare Folgen des Lehnsrechtes, gemeinſchaftlich als
Feudalismus, d. h. als eine Maſſe politiſcher
Graͤuel, verdammt. —


Es moͤchte ſich nicht der Muͤhe verlohnen, in
dem großen Getriebe der Europaͤiſchen Geſetzge-
bungen die unzaͤhligen ſogenannten feudaliſtiſchen
Spuren aufzuſuchen. Viel natuͤrlicher iſt es, den
ſonderbaren Inſtinct des großen Haufens von
Europa, der das feudaliſtiſche Element in allen
unſern Geſetzen herausgewittert hat, zu erwaͤ-
gen, und das ſonderbare und doch ſo allgemeine
Aergerniß daran zu erklaͤren. —


Ich finde es ſehr natuͤrlich, daß eine Gene-
ration ſich regt, ſich ſchuͤttelt und von Freiheit
ſpricht, wenn Geſetze, anſtatt lebendig und nach-
giebig gegen das Leben in die Gegenwart einzu-
greifen, in die Verſteinerung uͤbergehen, wenn
ſie als Maſſen druͤcken, wenn der Bau der Vor-
zeit, anſtatt eines Wohnhauſes, zu einem Ge-
faͤngniſſe dient. Daß die gegenwaͤrtige Genera-
[74] tion ſolchen Druck nicht leidet, ſondern der Maſ-
ſe die Maſſe entgegenſetzt: daruͤber laͤßt ſich ſo
wenig klagen, als daß irgend eine andre phyſi-
ſche Gewalt des Waſſers oder Feuers ſich Luft
macht, wenn eine elementariſche Kraft ihren
Strom verdaͤmmen oder verſtopfen wollte. — Die
einzelnen Maſſen, welche in der Franzoͤſiſchen
Revolution gegen einander reagirten, waren bei-
de gleich-verderbt und gleich-leblos: alle waren
darin gleich, daß ſie das Leben in todten Beſitz-
thuͤmern ſuchten. Die, welche den Feudalismus
oder die Ungleichheit vertheidigten, ſtuͤtzten ſich
auf ein Recht, welches unter ihren Haͤnden zu
einem todten Rechte wurde; Die, welche den Feu-
dalismus angriffen und die Gleichheit begehrten,
verlangten todtes Recht und lebloſes Beſitzthum
— nichts weiter. Daher iſt es durchaus falſch,
wenn man annimmt, in der Franzoͤſiſchen Revo-
lution haͤtten zwei politiſche Syſteme gegen ein-
ander geſtritten; es waren nur zwei verſchiedene
Beſitzſtaͤnde, ein durch die Vorzeit wirklich
etablirter, und ein andrer, den die gegenwaͤrtige
Generation imaginirte. Die Parthei des Alten
wurde nur deductionsweiſe und der gerichtlichen
Defenſion wegen dazu genoͤthigt, Ideen von
Recht, Politik und Religion zu ihrem Beiſtande zu
Huͤlfe zu rufen. Eben ſo waren, wie die nachheri-
[75] gen Erfolge hinreichend gezeigt haben, die Ideen
der Freiheit, des Menſchenrechtes und der Volks-
Suveraͤnetaͤt bei der Beſſeren von der Parthei
des Neuen nichts als geiſtige Getraͤnke, worin
ſie ſich zu ihrem Angriff Muth tranken; bei den
Schlechteren, Kaͤlteren, ein Theater-Coſtuͤme,
das ſie zu ſeiner Zeit abzulegen und zu vertau-
ſchen wußten. Wir Deutſchen nehmen ſo et-
was herzlicher und ehrlicher, und legen unſre
ſpießbuͤrgerliche Ernſthaftigkeit, Moralitaͤt und
bonam fidem den Weltbegebenheiten unter, wo
ſie durchaus nicht hin gehoͤren. —


Im Grunde des Herzens kam die ganze Ge-
neration darin uͤberein, daß ſie von dem geſamm-
ten idealiſchen Weſen, welches im Mittelalter
durch Tradition, Sitte, Gewohnheit, Geſetz und
Religion in die Staaten gekommen waͤre, nichts
mehr wiſſen wolle. Die ſogenannte Parthei des
Alten wuͤrde nichts dagegen einzuwenden gehabt
haben, wenn man allen fideicommiſſariſchen oder
feudaliſtiſchen Beſitz in ordinaͤres unbedingtes
Privat-Eigenthum verwandelt haͤtte — voraus-
geſetzt, daß der effective Beſitzſtand geblieben
waͤre, wie er war; ferner, wie viele Parthei-
gaͤnger des Neuen geweſen ſeyn moͤgen, denen
man die geſammten Freiheits- und Naturrechts-
Ideen nicht fuͤr ein gehoͤriges Beſitzſtuͤck haͤtte
[76] abhandeln koͤnnen, uͤberlaſſe ich jedem Kenner
der Franzoͤſiſchen Revolution zu beurtheilen: die
Handvoll eigentlicher Philanthropen haͤtte nicht
hingereicht, die Baſtille zu ſtuͤrmen.


Demnach wird mit dem Nahmen Feudalis-
mus etwas gebrandmarkt, oder beehrt — wie
ich mich ausdruͤcken ſoll, weiß ich nicht —, was
der ganzen Generation, den Repraͤſentanten des
Alten, wie des Neuen, innerlich zuwider iſt. —
Ich kenne Individuen hoͤherer Ordnung, die
außer dem, was ſie beſitzen, noch etwas ganz
Unveraͤußerliches und Unzerſtoͤrbares empfinden;
aber ſie leben nicht in ihrem Jahrhundert, ſie
ſtehen fremd und einſam unter den Andern.


Ueberein kommt die ungeheure Majoritaͤt
der Europaͤiſchen Individuen noch jetzt, und ſchon
ſeit dreißig Jahren, 1) in der unbedingten Ver-
goͤtterung des eben ſo unbedingten, abſoluten
und ausſchließenden Privat-Eigenthums, des
Roͤmiſchen Eigenthums; 2) in dem unbedingten
Streben nach der Vermehrung des reinen Ein-
kommens, des produit net: denn alles, was von
den Fortſchritten des Jahrhunderts geſagt und
gelehrt worden, iſt eine elegante Bekleidung, ein
Euphemismus fuͤr jenen gemeinen oͤkonomiſchen
Begriff; 3) endlich in dem Abſcheu gegen alles,
was einer Corporation oder einer moraliſchen
[77] Perſon aͤhnlich iſt, außer etwa in mercantili-
ſchen Anſtalten, Aſſecuranzen, wo eine gewiſſe
buͤrgerliche Arithmetik, die man in den Rechen-
buͤchern unter der Aufſchrift Societaͤts-Rechnung
findet, hinreicht, in jedem Augenblick die in ein-
ander corporirten Partheien aus einander zu ſet-
zen. —


Das ſtrenge Privat-Eigenthum zerſtoͤrt das
Gefuͤhl der Gemeinſchaft. Jeder Einzelne will
lieber mit einer arithmetiſchen Portion abgefun-
den werden und Andre abfinden, als der geiſtige
Theilnehmer eines ewigen Beſitzſtuͤckes ſeyn. Dies
Geſchlecht mag ſich gern in allen Stuͤcken, wo
moͤglich, aus einander ſetzen und ſich gegenſeitig
abfinden; es iſt das hoͤchſte Ziel ſeiner oͤkonomi-
ſchen Politik, ſich auf dieſelbe Weiſe, Jahr aus,
Jahr ein, mit dem Suveraͤn-Privatmann durch
eine, ſo viel wie moͤglich arithmetiſch-gleichver-
theilte, Zahlung abzufinden. Wie Wenige haͤtten
etwas dagegen einzuwenden, wenn die große po-
litiſche Gemeinheit ſelbſt, das Staatsvermoͤgen
und Capital, wirklich Ein- fuͤr allemal in gleichen
Portionen ausgetheilt, und ſo der Staat ſelbſt
aus einander geſetzt werden koͤnnte! Alle die geſetz-
lichen Hinderniſſe nun, welche ſich jenem ſtren-
gen Fixiren des Privat-Eigenthums, jenem Stre-
ben das reine Einkommen zum alleinigen Lebens-
[78] und Staatszweck zu erheben, und endlich jenem
großen arithmetiſchen Auseinanderſetzungs- und
Iſolirungs-Syſteme des buͤrgerlichen Intereſſe
entgegenſetzen moͤgen — werden von den Unwiſ-
ſenden mit dem gemeinſchaftlichen Nahmen Feu-
dalismus
bezeichnet: —


Es iſt jetzt noch nicht darauf abgeſehen, was
weiter unten geſchehen wird, allen ſtaatswirth-
ſchaftlichen Theorieen ſammt und ſonders, wegen
ihrer Einſeitigkeit, den Krieg zu erklaͤren. Indeß
Aufhebung aller perſoͤnlichen Dienſtverhaͤltniſſe,
Verwandlung derſelben in Geldabgaben, Dismem-
brationen u. ſ. w. —: das ſind die populaͤren
Maßregeln des Jahrhunderts; ſie ſind auch nicht
unrathſam, wenn niemand mehr zu dienen, noch
zu herrſchen verſteht.


„Die Geſetze der Barbaren,“ ſagt Montes-
quieu, „waren durchaus perſoͤnliche.“ — Die
Verhaͤltniſſe unter den Perſonen waren das Erſte
und Wichtigſte in den Augen des friſchen jugend-
lichen Geſchlechtes, unter deſſen Bothmaͤßigkeit
das zu todtem Beſitz erſtarrte Weltreich der Roͤ-
mer fiel: den geſammten Beſitz des Grundeigen-
thumes ſahen die Voͤlkerſtaͤmme vielmehr fuͤr ein
Lehn, als fuͤr ein wirkliches, abſolutes Eigen-
thum
an. Eine ſehr nahe Verwandtſchaft zwi-
ſchen den Geſetzen der Iſraeliten und der Voͤlker-
[79] ſtaͤmme, welche von Oſten her uͤber das Roͤmi-
ſche Reich fielen, laͤßt ſich nicht verkennen. Es
iſt hier nicht der Ort, zu unterſuchen, in wie fern
unter den Aſiatiſchen Geſetzgebungen ein wirklich
genealogiſcher Zuſammenhang Statt finden moͤch-
te; genug, dieſe Einrichtung iſt die natuͤrlichſte
und urſpruͤnglichſte, beſonders ſeitdem ein gemein-
ſchaftlicher Glaube unter den ſogenannten Bar-
baren des Mittelalters die Idee eines unſichtba-
ren oberſten Lehnsherrn feſtgeſtellt hatte, und
demnach der ſichtbare Suͤzeraͤn, als der Stell-
vertreter jenes unſichtbaren, anerkannt war. —
Wie weit man davon entfernt war, dem oberſten
Lehnsherrn ein unbedingtes Eigenthum uͤber die
Landſchaften, welche er verlieh, zuzugeſtehen, iſt
jedem Kenner des Mittelalters wohl bekannt. —


Man ſollte doch nie uͤberſehen, daß der
Grundgedanke des geſammten Lehns-Syſtems
eigentlich der iſt: Es giebt nur Nießbrauch,
aber keinen unbedingten Beſitz. Und da man
dem zu Folge dem Grundeigenthum etwas Per-
ſoͤnliches, Unveraͤußerliches, Heiliges zugeſtand,
ſo war der Tauſch: Beſitz gegen Dienſte,
keinesweges unnatuͤrlich, wie ihn gegenwaͤrtig
die duͤrre Weisheit und die haushaͤlteriſche Hu-
manitaͤt unſres Jahrhunderts findet, nachdem
ſie zu der tiefen Einſicht gekommen iſt, daß die
[80] Sachen todt ſind, die Perſonen aber leben. Der
Boden, welchen dieſe jungen Voͤlkerſtaͤmme ge-
wannen, wurde in Lehne getheilt, die der oberſte
Lehnsherr oder Heerfuͤhrer — unter der Bedin-
gung fortwaͤhrender Krieges-Vereinigung und
beim erſten Aufruf zu leiſtender perſoͤnlichen Dien-
ſte — ſeinem Comitate bewilligte, zuerſt auf Le-
benszeit
, nachher weder durch bloße Uſurpa-
tionen, noch durch bloßes ausdruͤckliches Geſetz,
ſondern durch allmaͤhlich befeſtigte Gewohnheit,
erblich bis zu gaͤnzlichem Ausſterben des Manns-
ſtammes. — Weſentlich war die unaufhoͤrliche
Anerkennung dieſes Lehns-Nexus durch ein Zei-
chen, durch eine Huldigung, durch ein homa-
gium
welches in fruͤheren Zeiten vielmehr ein
religioͤſes, als ein juriſtiſches Band war. —


Erinnern Sie Sich der Roͤmiſchen Geſetzgebung
und des darin vorwaltenden Subordinations-Ge-
ſetzes; wie nach dem Untergange aller Ideen die
Autoritaͤt allein befeſtigt, organiſirt und alles
freie Leben durch ein unergruͤndlich conſequentes
polizeiliches Arrangement, welches wir Roͤmiſches
Privat-Recht nennen, aus dem Staate heraus-
calculirt wurde. Die Baſis dieſer Roͤmiſchen
Geſetzgebung war das ſtrenge abſolute Pri-
vat-Eigenthum
. — Vergleichen Sie damit
die Lehnsverfaſſung, worin ein Geſetz der innig-
ſten
[81] ſten Gegenſeitigkeit vorwaltet: Gegenſeitigkeit 1)
zwiſchen dem Herrſchenden und Dienenden, zwi-
ſchen dem Lehnsherrn und dem Vaſallen; 2) zwi-
ſchen dem Eigenthum und dem Eigenthuͤmer.
Alles, was in Rom blind und einſeitig einander
unterworfen war, ſteht im Lehnsrechte noch in
einer wechſelſeitigen, ſchoͤnen Verſchraͤnkung da:
waͤhrend Rom zu einer todten Eigenthums-Aſſe-
curanz zuſammen getrocknet iſt, bilden die Lehns-
verfaſſungen kraͤftige perſoͤnliche Vereinigungen,
d. h. die Keime wahrer Staaten. Nach Roͤmi-
ſchen Begriffen ſtand der Suveraͤn als oberſte
Zwangsgewalt uͤber dem Staate; keine Reaction
der Unterworfenen gegen den Beherrſcher iſt moͤg-
lich, deshalb auch keine Freiheit, nirgends und
an keiner Stelle. Nach echt-feudaliſtiſchen Vor-
ſtellungen ſteht der Herrſchende in der Mitte ſei-
ner Pairs: er iſt der weltliche Repraͤſentant des
lebendigen Geſetzes oder Gottes — wie Sie es
nennen wollen —, der Diſtributor der Gnade,
die aus einer hoͤheren Hand in ſeine Haͤnde ge-
legt iſt. Der Lehnsgehorſam, die innigſte per-
ſoͤnliche Ergebenheit in allem, was das Gemein-
weſen betrifft, beſonders in der kriegeriſchen Ver-
theidigung und Erweiterung deſſelben, iſt das,
was er fuͤr den unaufhoͤrlichen Nießbrauch ſeiner
Gnaden und Lehne von ſeinen Vaſallen zuruͤck
Müllers Elemente. II. [6]
[82] empfaͤngt. Kurz, der Suveraͤn iſt in der Einen
Beziehung Oberlehnsherr, und in der andern
wieder der Pair ſeiner Vaſallen: die Suveraͤne-
taͤt iſt dahin zuruͤckgegeben, wohin ſie gehoͤrt,
nehmlich an die Idee, an eine religioͤſe Idee;
keine Sache, kein Begriff, wie der ſeelenloſe,
bloß phyſiſche Zwang, ſondern ein lebendiges
Geſetz, gegenſeitige Unterwerfung, ordnet und
bindet den Staat.


Ich habe im Verlaufe dieſer Vorleſungen
hinreichend erwieſen, daß der Staat nichts an-
deres ſeyn kann, als die Garantie der vollſtaͤn-
digen Freiheit durch die vollſtaͤndige Freiheit,
der Perſoͤnlichkeit durch die Perſoͤnlichkeit, des
Lebens durch das Leben; ferner, daß eine aͤußere
Macht, wie die praͤſumirte Zwangsgewalt unſrer
Staaten, 1) nur bindet, anſtatt zu verbin-
den
, 2) nur bindet, in ſo fern ſie nicht ſelbſt
wieder durch eine hoͤhere Zwangsgewalt bezwun-
gen wird. Wie nun alſo auch das Lehnsrecht,
wegen der anſcheinenden Luͤcken und Incongru-
enzen, die es in die Berechnung der Staats-
kraͤfte bringt, bei unſerm ſtaatswirthſchaftlichen
Zeitalter verſchrieen ſeyn mag, ſo iſt dennoch fuͤr
die Ausbildung der Idee des Geſetzes nicht leicht
ein wichtigerer Schritt gethan worden, als in-
dem ſich dem Roͤmiſchen ſaͤchlichen Subordina-
[83] tions-Rechte das perſoͤnliche und auf dem
Grundſatz der Gegenſeitigkeit beruhende Lehns-
recht gegenuͤber geſtellt hat. —


Die Ordnung und die polizeiliche Sicherheit
unſrer Staaten, und das wohlverwahrte, nach
gewiſſen unwandelbaren Regeln vertheilte Eigen-
thum ſind große und wichtige Verbeſſerungen
unſeres Zuſtandes. Ich raͤume ſehr gern ein,
daß die außerordentlichen Progreſſen der Induſtrie,
der Flor des Handels, und uͤberhaupt die Ver-
mehrung, auch die Mannichfaltigkeit des reinen
Einkommens großen Theils der gruͤndlichen Aus-
bildung des ſaͤchlichen Theils von unſerem Pri-
vatrechte zuzuſchreiben ſind. Sollten wir aber
den Gewinn unſeres Deſeyns an Bequemlichkeit,
Behaglichkeit und kaufmaͤnniſcher Zuverlaͤſſigkeit
nicht etwas zu theuer erkauft haben? — Mon-
tesquieu und Adam Smith hatten nicht erlebt,
was wir erlebt haben. Iſt nicht, allen unſern
haarſcharfen Geſetzen uͤber das Privat-Eigen-
thum zum Trotz, unſer Eigenthum jetzt unſich-
rer, als jemals? iſt nicht, trotz allen unſren
Credit-Geſetzen und aller ſtaatswirthſchaftlichen
Praͤciſion, der Handel im gegenwaͤrtigen Augen-
blick ein unſichres Lotterieſpiel, wie er es in den
Zeiten der Hanſe, unter fortdauerndem Einfluſſe
des Lehnsrechtes, nie geweſen iſt? Man mache
[84] mir nicht den Einwurf, es waͤren augenblickliche,
unerhoͤrte und zufaͤllige Calamitaͤten, welche die
gegenwaͤrtige Verwirrung und Unſicherheit in
das Eigenthum und in den Handel gebracht haͤt-
ten! Es ſind ewige, unumgaͤngliche, auch ſicht-
bare Geſetze, nach denen alle einſeitige Sicher-
heit des aͤußeren Beſitzes innerliche Unſicherheit
des Gemuͤths, nach denen die geordnetſte Abhaͤn-
gigkeit des Menſchen von Sachen und vom Be-
ſitz auch ſeine perſoͤnliche Abhaͤngigkeit nothwen-
dig nach ſich ziehen muß. Alle die ſchoͤnen und
conſequenten Verordnungen uͤber das Privat-
Eigenthum dauern fort; aber wo iſt die oberſte
ſuveraͤne Garantie geblieben, welche die condi-
tio sine qua non
alles Beſitzſtandes iſt? wo das
Gefuͤhl gemeinſchaftlicher Unabhaͤngigkeit, wel-
ches allem Eigenthum erſt Reitz und Leben giebt?
wo die unendliche Ausſicht auf die Zukunft und
auf Erweiterung, die mehr werth iſt, als das
dermalige Innehaben, Feſthalten und Einſchlie-
ßen? —


Darum durfte ich, als ich uͤber den Staat
oͤffentlich zu reden unternahm, es nicht dabei be-
wenden laſſen, zu zeigen, wie Dieſes und Jenes
nach gewiſſen natuͤrlichen Geſetzen des Neben-
einander-Lebens
der Menſchen Rechtens ſey,
und Derjenige ein Verraͤther und Frevler, wel-
[85] cher ſich ſolchen Rechtsbegriffen nicht unterwerfe,
oder gar ihnen trotze: — ich durfte mich nicht
begnuͤgen, Ihnen ein bloßes idealiſches Recht
vorzuhalten, wozu erſt ein aͤußerer Arm des
Zwanges, eine weltliche Ausuͤbung, hinzukommen
muͤſſe, damit es auch wirkliches Recht ſey, ſon-
dern mein Problem war, Ihnen ein Geſetz, oder
eine Form des Rechtes zu zeigen, die ſich durch
ſich ſelbſt verbuͤrge und garantire. Ich habe es
gezeigt. Wenn ſich nur der ganze Menſch dem
Staate, wenn er nicht etwa bloß ſeinen weltli-
chen Beſitz demſelben uͤbergeben will; ferner, wenn
er nicht etwa bloß augenblickliches phyſiſches und
geiſtiges Wohl, ſondern das Leben und Wohl-
ſeyn der ganzen unſterblichen Familie, deren ver-
gaͤngliches Glied er iſt, beabſichtigt; wenn er das
Gefuͤhl ſeiner Unabhaͤngigkeit und des unendlichen
Zuſammenhanges mit den vergangenen, gegenwaͤr-
tigen und zukuͤnftigen Gliedern dieſer Staats-
familie allen andern, halben und weichlichen Ge-
fuͤhlen des Augenblickes vorzieht —: dann ga-
rantirt er ſelbſt das Geſetz, von dem er die Ga-
rantie aller ſeiner Verhaͤltniſſe und Beſitzthuͤmer
erwartet. Dieſe Hingebung, welche ſich uͤber die
Schranken des engen menſchlichen Lebens, das mit
allen ſeinen augenblicklichen Reitzen oft daran ge-
ſetzt ſeyn will an das Leben der Staatsverbin-
[86] dung, weit hinaus erſtreckt, iſt die Bedingung
alles Rechtes: ſie hilft das Recht mehr und mchr
herbeifuͤhren, und deshalb genießt ſie auch eigent-
lich ſeine Segnungen mehr und mehr.


Nach den Anſichten unſrer Zeit halten ſich
mehrere einzelne Menſchen, und bezahlen, ihre
Beamten und ihre Regierung und ihre Armem,
wie man ſich, des Schutzes halber, auf ſeinem
Grundſtuͤcke einen Waͤchter haͤlt; eine gewiſſe
Summe aufgehaͤufter, phyſiſcher Kraͤfte, glaubt
man, ſey zu dieſem Schutze hinreichend. Wie kann
man von dieſen Kraͤften eine groͤßere Wirkung er-
warten, als die, welche ſie als Maſſe oder als
Verſtandes-Maſchine zu leiſten im Stande ſind!
Und dennoch, wenn ſolche Maſſe der groͤßeren
Maſſe, und ſolche Verſtandes-Maſchine der beſſe-
ren Verſtandes-Maſchine weicht, und der ganze
vermeintliche Staat aus einander faͤllt, ſo iſt un-
ter allen den einzelnen ſogenannten Buͤrgern nie-
mand ſo ſchlecht, ſo ſchwach oder ſo unverſtaͤn-
dig, daß er nicht alle Schuld von ſich abzuwaͤl-
zen und auf den großen Waͤchter zu ſchieben
wuͤßte. — Wir ſehen das Recht an, wie eine
Sache, die Ein- fuͤr allemal ſchon da ſey, die,
wie alle Maſchinen, fortdauernder Verbeſſerung
und Reparatur, demnach auch gewiſſer Unter-
haltungskoſten, beduͤrfe, die aber von ſelbſt, und
[87] ohne weitere Zuthat des Herzens oder des Ge-
muͤthes, ſchon fortlaufe, wenn man nur fuͤr die
gehörige bewegende Kraft ſorge, deren, wie des
Feuers, des Waſſers, der Gewichte jede andre
Moſchine, ſo auch der Staat zu ſeiner Reali-
ſation beduͤrfe. Die Urſache iſt, daß man ſich
unter den Raͤdern der Maſchine immer nur die
Sachen denkt, die man dem Staat uͤbergeben
und von dem Staat aſſecuriren laſſen will, Be-
ſitzthuͤmer, Geld; daß nur Wenige ſich ſelbſt
und ihr ganzes Daſeyn hergeben wollen, damit
es thaͤtig, unaufhoͤrlich und mit wahrer Aufopfe-
rung eingreife. —


Langweilig und pedantiſch findet man, gegen
die bunten, ſchlaffen Converſationen des vielwiſ-
ſenden, kunſtliebenden Continents, die Privat-Un-
terhaltungen der Britten, die unermuͤdet immer
wieder auf die Sache des Vaterlandes zuruͤckka-
men. Das iſt die geſetzerzeugende Hingebung an
das Ganze und an das ewige Intereſſe des Staa-
tes, welche dieſe gluͤckliche Inſel durch die furcht-
barſten Kriſen dieſes Jahrhunderts gluͤcklich hin-
durch gefuͤhrt hat, deren kleinſte ſchon hinreichen
wuͤrde, einen Continental-Staat uͤber den Hau-
fen zu werfen. Das erhebt England zum erſten
aller chriſtlichen Staaten; denn die Gegen-
ſeitigkeit, die ewige Wechſelwirkung zwiſchen der
[88] Freiheit und dem wahren Geſetze, die Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze auf Leben
und Tod, iſt durch das Chriſtenthum, und durch
keine andre Fuͤgung der Umſtaͤnde, in die Welt
gekommen. —


Die Lehnsverfaſſung, in die ſich dieſer, in den
alten Verfaſſungen nirgends, wenigſtens an kei-
ner Stelle ſo vollſtaͤndig, ausgedruͤckte Geiſt der
Gegenſeitigkeit, zuerſt roh, aber klar, dem Roͤ-
miſchen Rechte gegenuͤber, aͤußerte, ward bekannt-
lich um das Jahr 1066 durch Wilhelm von der
Normandie, den Eroberer von England, auf
dieſe Inſel uͤbertragen; und ſie bildet eigentlich
die Grundlage der vielgeruͤhmten Brittiſchen Ver-
faſſung. Erſt nachdem durch den Lauf von bei-
nahe zwei Jahrhunderten der Geiſt dieſer Lehms-
verfaſſung, — d. h. die darin waltende Re-
gel der Gegenſeitigkeit, der Perſoͤnlichkeit, der
Hingebung, des Gehorſams und des Krieges —
auf eine unzerſtoͤrbare Weiſe Wurzel gefaßt hat-
te: erſt da wurde es dem ſaͤchlichen Intereſſe
oder dem ſtrengen Privat-Eigenthume geſtattet,
in die Geſetzgebung einzugreifen. Es war um
das Jahr 1264, als die erſten Deputirten der
Staͤdte oder der Buͤrgerſchaft in die Parliamente
zugelaſſen wurden.


Unter vielfaͤltigen Actionen und Reactionen
[89] von beiden Seiten fuͤgten ſich und verſchraͤnkten
ſic[h] beide ganz entgegengeſetzte Intereſſes ſo in
einander, daß ſich im gegenwaͤrtigen Augenblicke
ſchwer ausmachen laͤßt, ob wegen der Dauer
und des innigen perſoͤnlichen Zuſammenhanges
des Ganzen der Geiſt des Lehnsrechtes,
oder ob wegen der Beweglichkeit des Handels
und der Induſtrie der Geiſt des ſtrengen
Sachen-
und Eigenthumsrechtes in der
Brittiſchen Verfaſſung die Oberhand habe. Auf
den erſten Blick ſollte es ſcheinen, als muͤſſe die
Lage Englands in den letzten zwanzig Jahren
die Verhaͤltniſſe geaͤndert haben: der Welthandel
und eine ungeheure Erweiterung der Induſtrie
iſt England aufgedrungen worden; und dennoch
hat der Geiſt des ſtrengen Eigenthumsrechtes
uͤber den Geiſt des Lehnsrechtes nicht Herr wer-
den koͤnnen: ſie halten einander das Gleichge-
wicht; denn die Geſetze uͤber das ſtrenge Privat-
Eigenthum ſind 1) durchaus local, auf Brittiſchem
Boden entſtanden, und 2) ſeit einem halben
Jahrtauſend bereits mit den fruͤheren Lehnsge-
ſetzen ſo innig verwachſen, daß von den Aeußer-
lichkeiten der Lehnsverhaͤltniſſe wenige Spuren
mehr uͤbrig ſind, dafuͤr aber der Geiſt derſelben
die ganze Geſetzgebung getraͤnkt und durchdrun-
gen hat.


[90]

Gegen nichts hat ſich der Brittiſche Geiſt ſo
geſtraͤubt, wie gegen die Einfuͤhrung irgend eires
fremden, beſonders des Roͤmiſchen, Privatrechtes.
Jedermann erinnert ſich aus dem Beiſpiele des
Oberrichters Lord Mansfield, daß dieſem großen,
unbeſcholtenen Manne ſeine Vorliebe fuͤr Cita-
tionen des Roͤmiſchen Rechtes nie verziehen wor-
den iſt. —


In einem organiſchen Staate werden noth-
wendig beide Geſchlechter von Geſetzen neben ein-
ander Statt finden und vereinigt, ich moͤchte
ſagen vermaͤhlt, werden muͤſſen: Ackerbau,
Grundeigenthum und Krieg werden unaufhoͤrlich
den Lehnsverhaͤltniſſen das Wort reden; Indu-
ſtrie, Handel, das bewegliche Vermoͤgen und der
Friede den ſtrengen Eigenthumsverhaͤltniſſen.


Einerſeits freilich wird der Handel und die
Induſtrie durch jeden moͤglichen Lehns-Nexus,
durch die wahre Adelsverfaſſung, durch Majo-
rate, Fideicommiſſe und Unveraͤußerlichkeitsge-
ſetze ſcheinbar gehemmt; die Nation ſcheint durch
ſolche Beſchraͤnkungen an ihrem reinen Einkom-
men viel zu verlieren. Da nun aber in der feu-
daliſtiſchen Verfaſſung der wahre, und in unſern
Continental-Staaten, leider! viel zu ſehr uͤberſe-
hene, Gedanke zum Grunde liegt, daß der Staat
ohne Krieg, d. h. ohne ein beſtaͤndiges Reagiren
[91] auf andre Staaten, nicht zu gedenken ſey: ſo
wird aller der ſcheinbare Nachtheil der Lehnsver-
faſſung wieder aufgehoben durch den kriegeriſchen
Ton oder Zuſatz, den ſie allen Friedens-Inſtitu-
tionen giebt. — Die Geſetze und der Reichthum
erhalten durch den feudaliſtiſchen Geiſt jene innere
Garantie, von der oben die Rede war, ohne die
Geſetze ſowohl als Reichthum nichts werth ſind,
und die, wenn ſie gleich nicht in beſtimmten Zah-
len oder Procenten ausgedruͤckt werden kann,
dennoch bei einer wahren Veranſchlagung des
reinen Einkommens nicht uͤberſehen werden darf.


Andrerſeits wird das Lehnsrecht und der
Krieg durch das ſtrengere Privat-Eigenthum und
die unvermeidliche Ruͤckſicht darauf, wieder in ſei-
nen Operationen ſcheinbar gehemmt, aber den-
noch, wie durch jede wahre und nicht widerſpre-
chende Gegenkraft, befluͤgelt. Das ſtrenge Pri-
vat-Eigenthum und das davon abhangende Geld-
Intereſſe giebt dem Kriege erſt ſeine wahre Leich-
tigkeit und Beweglichkeit. Es iſt ewig wahr:
mur das Verſchwinden des Lehnsgeiſtes aus der
Brittiſchen Verfaſſung kann dieſer Nation ihren
Untergang herbeifuͤhren; und in dieſer Hinſicht
muß man freilich geſtehen, daß das Oberhaus,
welches die Lehnsverhaͤltniſſe und das Grundei-
genthum repraͤſentirt, wie das Unterhaus das
[92] ſtrenge Privat-Eigenthum und das Geld-In-
tereſſe, in den letzteren Zeiten eine viel zu fried-
liche Geſtalt angenommen haben. William Pitt
war waͤhrend ſeines glorreichen Miniſteriums be-
kanntlich genoͤthigt, gegen hundert neue Peers
zu ereiren. Ein betraͤchtlicher Theil des Geld-
Intereſſe iſt demnach in das Lehns-Intereſſe hin-
uͤber getragen, und das ganze Verhaͤltniß beider
Haͤuſer weſentlich veraͤndert worden. Indeß, ſo
lange unter dem Volke im Allgemeinen der Geiſt
des feudaliſtiſchen Gehorſams und der Geiſt
der feudaliſtiſchen Freiheit die Oberhand be-
haͤlt, iſt dennoch keine weſentliche Veraͤnderung
zu befuͤrchten. —


Man hat in neueren Zeiten in Deutſchland,
und vorzuͤglich auf Veranlaſſung der Franzoͤſiſchen
Revolution, die Europaͤiſche Staatengeſchichte
ſo dargeſtellt, als ſey die Ausbildung des ſo ge-
nannten dritten Standes ihr Haupt-Object.
Spittler, damals in Goͤttingen, war es, welcher
der Staatengeſchichte vornehmlich dieſe Richtung
gab. Es bedarf, nach allem bisher Geſagten, kei-
ner weiteren Auseinanderſetzung, daß Ausbildung
des tiers-état im Weſen nichts anderes heißt,
als Ausbildung des ſtrengen Privat-Eigenthums-
rechtes, dem Lehns- und dem Kirchenrechte, oder
dem unvollſtaͤndigen Familien- und dem corpora-
[93] tiven Eigenthums-Rechte gegenüber. Der Han-
del war es, welcher Geſetz [...][ü]ber das ſtrenge
Privat-Eigenthum, alſo gewiſſe, von den feu-
daliſtiſchen und kanoniſchen Rechten weſentlich
verſchiedene, Rechte der Buͤrger oder der Per-
ſonen auf Sachen, oder der Perſonen auf Per-
ſonen, mit Ruͤckſicht auf Sachen, nothwendig
machte. In England hat ſich dieſe unvermeid-
liche Ausbildung des dritten Standes auf ganz
nationale Weiſe und, wie ſchon gezeigt worden
iſt, ohne alle Beihuͤlfe eines auslaͤndiſchen, aͤlte-
ren Privat-Rechtes von ſelbſt gemacht; auf dem
Continent von Europa hat das Roͤmiſche Recht
im Laufe der Zeiten den dritten Stand nicht
bloß ausbilden helfen, ſondern ihn feindſelig den
beiden andern Staͤnden und dem Feudalismus
gegenuͤber geſtellt.


Zwiſchen dem Roͤmiſchen Recht und ſeiner
Praͤtenſion auf eine gewiſſe Verſtandes-Univer-
ſalitaͤt, und dem Lehns- und Kirchenrecht iſt ein
ewiger, nie zu loͤſender, Widerſpruch. Alle Theile
des Roͤmiſchen Rechtes ſtreben unverkennbar auf
Auseinanderſetzung aller Beſitzthuͤmer, auf Dis-
membration Deſſen, was, nach modernen, chriſt-
lichen Anſichten, das eigentliche Weſen des Ge-
mein-Intereſſe ausmacht. Das Lehnsrecht ver-
langt fuͤr den Nießbrauch des Bodens eigentli-
[94] ches Hingeben [...] Opfern der Perſoͤnlichkeit an
die gemeinſchaf [...] Sache; und das iſt der eigent-
liche Sinn feudaliſtiſcher Dienſte. Das Roͤmi-
ſche Recht hingegen kennt, heidniſcher Weiſe, nur
ein Hingeben und Opfern von Sachen an eine
wirkliche Zwangsgewalt, d. h. buͤrgerlichen Tri-
but
.


Die perſoͤnliche Hingebung des Einzelnen an
das Ganze ward erſt moͤglich, nachdem durch
das innerlich lebendige chriſtliche Geſetz das Ver-
haͤltniß des Menſchen zur Menſchheit rein in
ſeiner wahren unendlichen Gegenſeitigkeit aufge-
ſtellt und mit dem ſchoͤnſten Tode, d. h. mit eig-
ner vollſtaͤndigſter Hingebung, beſiegelt; nachdem
die abſoluten Schranken, die unuͤberſteiglichen
Mauern zwiſchen den Nationen umgeſtuͤrzt und
die Hinfaͤlligkeit und Zweckloſigkeit aller bloß
irdiſchen Groͤße und Autoritaͤt, aller menſchlichen
Satzung gezeigt worden war; nachdem nun wor
allen Voͤlkern ein lebendiger, ſuveraͤner Gedamke
aufgeſtellt worden, vor dem, aber vor keinem
geringeren Geſetz, Alle gleich galten.


Es bedarf keines weiteren Beweiſes, daß
Voͤlkern, welche von dieſer einfachen und doch
ſo erhabenen Lehre durchdrungen waren, ihr gam-
zes Verhaͤltniß zu einander und zu allen Beſitz-
thuͤmern des Lebens in einem neuen Lichte erſchei-
[95] nen mußte. Aller Beſitz mußte viel von der un-
bedingten Wichtigkeit verlieren, welche die letzten
Roͤmer ihm, der weltlichen Autoritaͤt halber,
beigelegt hatten: den Weſtgothen, Franken,
Longobarden und Normaͤnnern mußte die per-
ſoͤnliche Vereinigung vor Gott, oder einem le-
bendigen Geſetze, viel wichtiger erſcheinen, als
der Roͤmiſche, perſoͤnliche Verkehr um des Be-
ſitzes, um des ſtrengen Privat-Eigenthums wil-
len. Der nothwendige Nießbrauch von Grund
und Boden, den ſie der unnachlaſſenden Gnade
eines unſichtbaren Suͤzeraͤns, lebendigen Geſetzes
oder Gottes verdankten, konnte durch nichts an-
deres erwiedert werden, als durch permanenten
Kriegesdienſt, durch beſtaͤndig wachſame Bereit-
ſchaft, die ganze Perſoͤnlichkeit fuͤr die Sache
des unſichtbaren Suͤzeraͤns hinzugeben. — Das
iſt die wahre Lage der Sachen.


Welche fruchtloſe Muͤhe hat ſich die Hiſtorie
gegeben, die Qualitaͤt des weltlichen ſichtbaren
Suͤzeraͤns, mit der unvollkommenen weltlichen
Macht und Suveraͤnetaͤt deſſelben zu vereinigen!
Ihr blieb nichts anderes uͤbrig, da ſie eigentlich
die vollkommene weltliche Suveraͤnetaͤt als ein-
ziges Band der Staaten und alleinige Garantie
des Rechtes anerkannte, als das unbegriffne
Lehnsrecht in Pauſch und Bogen zu verdammen
[96] und demnach die Ausbildung der weltlichen, Roͤ-
miſchen Suveraͤnetaͤt und Autoritaͤt, und des
damit enge verbundene tiers-état oder ſtrengen
Roͤmiſchen Privat-Eigenthums, d. h. die unbe-
dingte Ruͤckkehr in das Roͤmiſche Geleiſe, fuͤr
das alleinige Problem aller modernen Europaͤ-
ſchen Staaten zu halten!


So ergriff denn der Roͤmiſche Mechanismus,
oder der Roͤmiſche Tod, alle Staatswiſſenſchaften,
und gegen das Ende des achtzehnten Jahrhun-
derts alle Geſetzgebung. Roͤmiſche Grundſaͤtze
ſollten das Unheil wieder gut machen, das Roͤ-
miſche Begriffe, Roͤmiſche Geſetze, Roͤmiſche
Weltanſichten und Roͤmiſches Privat-Eigenthum
geſtiftet hatten. Die erhabenen Ideen „perſoͤnli-
cher Dienſt, Suͤzeraͤnetaͤt und Lehn“ mußten uͤber-
all den Begriffen „Geldabgabe, weltliche Suve-
raͤnetaͤt oder Zwangsgewalt, und ſtrenger Beſitz“
wieder weichen; was nicht dem Calcul und der
Wagſchale unterworfen werden konnte, mußte
aus der Staatsverbindung heraus. Mit der
Religion mußte nothwendig alles Verſtaͤndniß
und alles Gefuͤhl dieſer Lehnsgeſetze verſchwinden;
das Lehn, das Verliehene, wurde entbloͤßt von
dem Geiſte der Freiheit, der Gegenſeitigkeit und
des wuͤrdigen Gehorſams, der Anfangs davon
unzertrennlich war: es war in den Haͤnden der
roma-
[97] romaniſirten Nießbraucher nichts mehr als ein
Inſtrument weltlicher Autoritaͤt, und ſo hemm-
ten die alten Majorats- und fideicommiſſari-
ſchen Geſetze und der Lehns-Nexus das unbe-
dingte Streben dieſer Nießbraucher.


Auf ſolche Art erhielt die Roͤmiſch-Franzoͤ-
ſiſche Revolution, die lange vor ihrem wirklichen
Ausbruche die Europaͤiſchen Continental-Staa-
ten ſchon innerlich zernagte, ihre gefaͤhrlichſten
Partheigaͤnger: der Europaͤiſche Adel ſelbſt ſchlug
ſich groͤßten Theils auf ihre Seite; und ſo
konnte ſie dem allgemeinen Ruin des buͤrgerlichen
Lebens nichts mehr entgegenſetzen.


Roͤmiſches ſtrenges Privat-Eigenthum und
Europaͤiſches durch Lehnsrecht, perſoͤnliches und
lebendiges, goͤttliches Geſetz gemaͤßigtes und ba-
lancirtes Privat-Eigenthum, Roͤmiſches Buͤr-
gerweſen und Europaͤiſcher tiers-état ſind zwei
durchaus verſchiedene, einander abſtoßende und
ausſchließende Weſen. Roͤmiſcher tiers-état iſt
der, von dem der Abbé Sieyes in ſeiner Schrift:
Qu’est ce que c’est le tiers-état? ſpricht, und
von dem er ſagt, daß er alles ſey, und deſſen Geiſt
auf dem Continent von Europa nur zu ſehr um
ſich gegriffen hat: das iſt der tiers-état, der,
anſtatt aller Staatsvereinigung und anſtatt alles
Rechtes, nichts weiter verlangt, als eine große,
Müllers Elemente. II. [7]
[98] conſequente und ſcharfſinnig angeordnete Polizei,
und eine weltliche ſuveraͤne Zwangsgewalt. Wo
er ausſchließend und privativ, wie im Privat-
Eigenthum, ſo in allen Stuͤcken, um ſich greift —
da entweichen aus dem Staatsverein Leben, Recht,
Gleichgewicht und Freiheit; der Suveraͤn wird
zu einer legislativen und adminiſtrativen Ma-
ſchine, zu einem oberſten Polizei-Chef. Er iſt
es, der uͤberall ſeinen unverſoͤhnlichen Gegner,
den ſogenannten Feudalismus, aufſpuͤrt, verfolgt,
und ihn auch vernichten wuͤrde, wenn die chriſt-
liche Geſetzgebung, die das Lehnsrecht erzeugen
und ausbilden half, nicht uͤber allen Angriff er-
haben bliebe, ſollte auch eine ganze Generation
zu ihrem eignen Verderben ihren hohen Geiſt
verkennen. — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — —


Der wahre tiers-état iſt und will nichts an-
deres ſeyn, als der dritte Stand, im Gleichge-
wicht neben den beiden andern Staͤnden; das
individuelle Europaͤiſche Privat-Eigenthum wird
garantirt und balancirt, und iſt verflochten und
verwachſen in das Familien- und Lehns-Eigen-
thum. England iſt ein erhebendes Beiſpiel, wie
der feudaliſtiſche Geiſt, weit entfernt der ewigen
Erweiterung des Reichthums zu ſchaden, ihn
vielmehr beleben, befruchten und ſichern hilft.


[99]

Vergleichen Sie den vermeintlich allmaͤchti-
gen, Roͤmiſchen, aber verarmten tiers-état des
Continents von Europa, mit dem weiſe balan-
cirten und beſchraͤnkten, aber bluͤhenden tiers-état
von England. Ein recht großes Handelshaus
wird ſein Capital ebenfalls nicht anders, denn
als ein Lehn betrachten. —


So iſt, frei von allen Entſtellungen blinder
Partheiwuth, der wahre Geiſt des Lehnsrechtes.
Wenn man es im Ganzen und Großen und in
ſeiner Einwirkung auf die Weltgeſchichte betrach-
tet, ſo wird man darin vor allen andern Geſetz-
gebungen ein ſchoͤnes Gleichgewicht der Herr-
ſchaft und des Gehorſams, eine unvergleichliche
und unaufhoͤrliche Wechſelwirkung zwiſchen der
Freiheit und der Autoritaͤt finden, die aus kei-
ner andern Quelle herzuleiten iſt, als aus dem
natuͤrlichen Einfluß chriſtlicher Ideen auf die Ge-
muͤther jugendlicher, freiheitsliebender Voͤlker.


[100]

Funfzehnte Vorleſung.


Von dem Verhaͤltniſſe der kirchlichen Geſetzgebung zu der
weltlichen.


Wenige Charaktere der neueren Geſchichte koͤn-
nen dem, als Staatsmann, Feldherrn und Biſchof
gleich großen, Cardinal-Erzbiſchof von Toledo,
Ximenez, an die Seite geſetzt werden. Seine
folgenreichen Unternehmungen in Spanien und
Afrika ſind bekannt; da wir indeß heute von
dem geſetzlichen Verhaͤltniſſe der Geiſtlichkeit zum
Staate und zum Eigenthume zu reden haben,
ſo beduͤrfen wir ſeines Beiſpiels. Unter der
Dispoſition uͤber unermeßliche Revenuͤen, die
ſeine geiſtlichen Aemter ihm abwarfen, lebte er
wie der aͤrmſte Moͤnch ſeines Landes, begnuͤgte
ſich mit einfachen Speiſen, mit ſeinem haͤrenen
Gewande, und wies alle Bequemlichkeiten des
Lebens mit unerſchuͤtterlicher Enthaltſamkeit bis
an ſeinen Tod von ſich. Keine Abſicht, den
großen Haufen durch dieſe Erhabenheit uͤber die
[101] Reitzungen des Irdiſchen zu blenden, keine welt-
liche Politik, die unſer auf den Dienſt gemeiner
Zwecke gerichtetes und angewieſenes Zeitalter
großarti[g]en Handlungsweiſen unterzulegen pflegt,
lag bei dieſem Betragen zum Grunde; in dieſem
Falle ſpricht die Geſchichte zu laut, und ſind
die Lebenszwecke des Cardinals zu unverkenn-
bar. —


Ungeheure Mißbraͤuche hatten ſich in dem
Dienſt der Kirche eingeſchlichen; dies darf man
wohl, ohne ihrer Hoheit etwas zu vergeben, ein-
geſtehen, da das Tridentiniſche Concilium ſelbſt
ſie eingeſtanden hat. Zwiſchen dem weltlichen
Betragen der Geiſtlichkeit, und ihrer geiſtigen
Beſtimmung war ein ſchreiendes Mißverhaͤltniß.
Der katholiſche Glaube ſtand unangefochten, wie
er noch jetzt ſteht; aber die Idee von der Herr-
ſchaft, welche die Stellvertreter dieſes Glaubens
hatten, und von ihrem geiſtigen Einfluſſe auf
das buͤrgerliche Leben, war allmaͤhlich zum Be-
griff herab geſunken; das Regiment der Kirche
war verderbt.


Gegen das Ende ſolcher großen Inſtitute hin
pflegt die alte Idee derſelben vor dem Verloͤſchen
noch einmal in einzelnen Charakteren wieder aufzu-
flammen: ſo der Geiſt der Roͤmiſchen Freiheit
in Tacitus, ſo der Geiſt des kirchlichen Regi-
[102] ments in Europa in dem Cardinal Ximenez.
Die kirchliche Herrſchaft ſtand allenthalben, welt-
lich geſinnt, nach Beſitz und weltlicher Macht
ſtrebend, neben dem Glauben, neben der Idee,
anſtatt eins mit ihr zu ſeyn, wie es im Cardi-
nal Ximenez der Fall war.


Bei freier Dispoſition uͤber alle weltliche Mit-
tel des Lebensgenuſſes, um der Idee willen, die
Entbehrung zu waͤhlen, wie Ximenez, das iſt,
— ich appellire an jedes Gefuͤhl — die erhaben-
ſte Geſtalt, in der die Geiſtlichkeit ſich denken
laͤßt. Ein wirkliches geſetzliches Entbehren, eine
nothwendige Armuth, kann von der religioͤſen
Stimmung des Geſetzgebers ein Zeugniß able-
gen; aber der unmittelbare Eindruk freier Erha-
benheit uͤber die Reitzungen des Augenblicks, und
freier Ergebung an das Ewige oder die Idee,
wird nicht in dem Maße erfolgen, als wenn
der Geiſtlichkeit weltliche Guͤter verſtattet wer-
den und eine geiſtige Sitte eine ſtrenge und un-
beſtechliche Lebensform von ſelbſt herbei fuͤhrt. —


Alle Buͤrger eines Staates ſollen, wie ich
gezeigt habe, Repraͤſentanten der Idee des Gan-
zen oder des unſterblichen Gemeinweſens ſeyn;
aber ſo wenig dieſer echt-buͤrgerliche Geiſt da-
durch geweckt werden moͤchte, daß Armuth und
Entbehrung geſetzlich verordnet wuͤrden: eben ſo
[103] wenig wird ein wahrer geiſtlicher Stand, als ganz
beſondrer Repraͤſentant der Idee der Menſch-
heit oder des Chriſtenthums, dadurch gebildet
werden daß man den Individuen deſſelben allen
weltlichen Verkehr unbedingt unterſagt, und ſie
zu abſoluter Armuth und weltlicher Ohnmacht
verdammt.


Demnach iſt gegen die reiche Dotirung der
Geiſtlichkeit, und auch gegen ihren beſtaͤndigen
Machteinfluß, aus wahren Geſichtspunkten nichts
einzuwenden. Sie muͤſſen beſitzen, damit ſie
freie Entbehrung und Hingebung an die Idee
zeigen koͤnnen: Eigenthum und Macht beduͤrfen
ſie, damit ſie das nationale und individuelle Le-
ben mit ſeinen Beduͤrfniſſen und Sorgen, wel-
ches ſie mit der ewigen Idee zu verſoͤhnen und
in Harmonie zu bringen haben, kennen; denn
ſie ſollen nicht an einen abgezogenen Begriff von
Gott, vom Recht oder von der Tugend angeket-
tet werden, ſondern ſie ſollen das wirkliche Le-
ben mit dem goͤttlichen Gedanken in Einklang
bringen, das heißt, mit beſondrer Beziehung auf
den Frieden der Fuͤnf-Reiche, oder das Euro-
paͤiſche Voͤlkerrecht: ſie ſollen das Band ſeyn
zwiſchen der beſondren Form jeder Europaͤiſchen
Nation und der allgemeinen Form der Chriſten-
heit, oder dem lebendigen Gleichgewicht. —


[104]

Wer durch Studium und natuͤrliche Anlage
den wahren hiſtoriſchen Blick fuͤr ſolche Unter-
ſuchungen erlangt hat, wird dieſe Anſicht von
der wahren Natur chriſtlicher Geiſtlichkeit gerecht-
fertigt finden. Dieſen Charakter der Vermitte-
lung zwiſchen den nationalen und allgemeinen,
zwiſchen den vergaͤnglichen politiſchen und den
ewigen religioͤſen Formen des buͤrgerlichen Le-
bens hat die Geiſtlichkeit, unter allen Mißbraͤu-
chen, bis in das funfzehnte Jahrhundert behaup-
ret; darum war die oberſte weltliche Autoritaͤt,
nach den Anſichten aller Zeiten, das Concilium,
eine aus den Geiſtlichen aller Nationen zuſam-
mengeſetzte oder doch von ihnen bevollmaͤchtigte
Verſammlung. —


So nun ſteht die Geiſtlichkeit als erſter Stand
uͤber den beiden andern Staͤnden, oder ſie iſt
das vermittelnde Glied zwiſchen ihnen beiden.
Ich habe neulich gezeigt, daß aus einer beſtaͤn-
digen Wechſelwirkung zwiſchen dem Adel und der
Buͤrgerſchaft, oder zwiſchen dem Lehnsrecht und
dem (nicht Roͤmiſchen, ſondern Europaͤiſchen)
ſtrengeren Eigenthumsrecht eine wahre lebendige
und nationale Geſetzgebung, wie die Brittiſche,
hervorgeht. Die Geiſtlichkeit, welche das chriſt-
liche oder allgemeine menſchliche Element aller
Verfaſſungen repraͤſentiren ſollte, wuͤrde nun in
[105] einer wahren Ordnung der Dinge die nationale
und ſtaatsrechtliche Form der einzelnen Europaͤi-
ſchen Geſetzgebungen mit der allgemeinen oder
voͤlkerrechtlichen der ganzen Chriſtenheit in Ver-
bindung und Einklang zu bringen haben; ſie
wuͤrde, wenn der Adel das kriegeriſche, und
die Buͤrgerſchaft das friedliche Element der
Verfaſſungen darſtellte, das hoͤhere, zwiſchen die-
ſen beiden Elementen und zwiſchen den Staaten
vermittelnde, echt-diplomatiſche apoſtoliſche
Element bilden, und ſo die eigentliche Gewaͤhr-
leiſterin des Voͤlkerrechtes oder des lebendigen
Gleichgewichtes ſeyn. Dem zu Folge muͤßte ihr,
um ihrer wirklichen Exiſtenz willen, auch welt-
liche Macht und weltliches Vermoͤgen beigelegt
werden; es wuͤrden alſo im Staate drei weſent-
lich verſchiedene Eigenthums-Zuſtaͤnde Statt fin-
den: Privat-Eigenthum als Baſis der buͤrger-
lichen Geſetze; Familien-Eigenthum als Baſis
der adeligen oder Lehns-Geſetze; und corpora-
tives Eigenthum, als Baſis der kanoniſchen Ge-
ſetze; und, in ſo fern auf eine wirkliche Herr-
ſchaft der Idee des Gemeinweſens zu rechnen
waͤre, wuͤrde dieſes corporative Eigenthum das
zweckmaͤßigſte Mittelglied auch in oͤkonomiſcher
Hinſicht bilden, um die verderblichen Reibungen
zwiſchen den beiden andern Staͤnden zu verhuͤ-
[106] ten und um gefaͤhrliche Ungleichheiten auszu-
gleichen. Die Geiſtlichkeit haͤtte die große Be-
ſtimmung, 1) die Staaten unter einander zu
verknuͤpfen; 2) in den einzelnen Staaten das un-
ſcheinbarſte und aͤrmſte Leben unaufhoͤrlich wie-
der an die Geſellſchaft und ihren hoͤchſten Gip-
fel anzureihen, alle ausſchweifende Groͤße durch
die Macht der Idee wieder in die gerechte Bahn
zuruͤckzufuͤhren und endlich den Geiſt einer ge-
wiſſen ſittlichen Gleichheit und chriſtlichen Gegen-
ſeitigkeit in allen buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen auf-
recht zu erhalten. —


So viel iſt gewiß: ſoll die Geiſtlichkeit als
wahrer erſter Stand dem Staate dienen; ſoll ſie
nicht bloß eine unſichtbare Polizei (wie nach
neueren ſogenannten katholiſchen Anſichten), oder
ein undisciplinirtes Heer oͤkonomiſcher, medici-
niſcher, juriſtiſcher und moraliſcher Noth- und
Huͤlfs-Freunde (wie nach neueren ſogenannten
proteſtantiſchen Anſichten), vorſtellen: ſo muß ſie
reich dotirt, uͤber alle kleinen, nichtswuͤrdigen
Sorgen des Lebens erhoben, zu freier Entbeh-
rung und freier Mittheilung irdiſcher Guͤter in
Stand geſetzt und auch mit hinreichender Macht
verſehen ſeyn, um in die wankende Schale ir-
gend eines unterdruͤckten, aber nothwendigen Ele-
mentes des Staates ein wirkliches Gewicht hin-
[107] einwerfen, um ſowohl dem Volke als dem Su-
veraͤn, um ſowohl dem Adel als der Buͤrger-
ſchaft — wie wir das alles im Mittelalter, un-
ter den abſcheulichſten Mißbraͤuchen der geiſtli-
chen Macht, mit wirklicher Gerechtigkeit haben
ausuͤben ſehen — beiſpringen zu koͤnnen.


Einen ſolchen vermittelnden, apoſtoliſchen
Stand kann es im Staate und zum großen
Heile des Staates geben: ihn zu entbehren,
iſt ein unendlicher Verluſt, wie wir es alle an den
ſchroffen und ſchneidenden Entgegenſetzungen und
der inneren Ungelenkigkeit unſrer Staaten ſehen.
Die Freimaurerei und vielerlei geheime Verbin-
dungen haben den Zweck gehabt, ihn zu erſetzen,
welches aber nirgends erreicht worden iſt; indeß
muß man von der andern Seite geſtehen, daß,
wie ſeine Beſtimmung zaͤrtlich und geiſtig, ſo
ſeine, wie aller wahrhaft ſchoͤnen buͤrgerlichen
Einrichtungen, wirkliche Exiſtenz den empoͤ-
rendſten Mißbraͤuchen ausgeſetzt iſt. — Die ge-
meine Politik wuͤrde dieſe Alternative fuͤr ſich
betrachten und die mit dem Daſeyn ſowohl, als
mit der Abweſenheit eines geiſtlichen Standes
verknuͤpften Unbequemlichkeiten herzaͤhlen, und
entweder ſelbſt ihr arithmetiſches Reſultat dar-
aus ziehen, oder es einem kuͤnftigen, genauer cal-
culirenden Zeitalter uͤberlaſſen, die Rechnung ab-
[108] zuſchließen. — Aber, aus unſerem Standpunkte
angeſehen, iſt es gar nicht eine Frage der ge-
meinen Politik; vielmehr iſt das Beſtehen oder
die wahre geiſtige Wiederherſtellung dieſes Stan-
des die Bedingung fuͤr die Exiſtenz Europaͤiſcher
Staaten. Die Weſentlichkeiten derſelben hat
man nie eingeſehen; ſonſt wuͤrde man nicht in
den tollen Wahn verfallen ſeyn, als koͤnne
man der Bedingung aller Europaͤiſchen Staats-
verfaſſung, nehmlich der Standesunterſchiede,
entbehren, und dennoch das Beiweſen dieſer Ver-
faſſungen, und die ihnen nachher untergelegten
Nebenzwecke, als da ſind gemeine perſoͤnliche
Sicherheit, und Fortſchritte in der Induſtrie
und den Kuͤnſten, erhalten. Dieſe, die Folgen
von jenem gluͤcklichen Balanciren der Staͤnde,
werden jetzt zu den Hauptzwecken des Staates
gemacht; alſo iſt es klar, daß, in ſo fern ſolche
Staatsanſichten wirklich um ſich gegriffen haben,
die Europaͤiſchen Staaten ſchon aus ihren An-
geln gehoben, daß ihnen durch eine verderbte
und unverſtaͤndige Wiſſenſchaft Verfaſſungen, Le-
benszwecke und Einrichtungen aufgedrungen ſind,
die ihrer Erziehung, Natur und urſpruͤnglichen
Form durchaus widerſprechen, alſo nur dazu
dienen koͤnnen, ſie zu zerſtoͤren.


Als die kirchliche Reformation ausbrach, war
[109] in den Augen der einzelnen Geiſtlichen die Idee
der allgemeinen Kirche und ihres geiſtigen Regi-
ments zu einem kalten Begriff herab geſunken.
Der Buchſtabe, der mit dem Geiſte in inniger
Verbindung und Wechſelwirkung leben ſoll, hatte
dieſen unterdruͤckt; um ſie in ſichtbarer Geſtalt,
in ungeheuren Steinmaſſen an’s Licht treten zu
laſſen, wurde das unſichtbare Band, wenn es
auch keinesweges die alte Kraft verloren hatte,
dennoch auf’s Spiel geſetzt. Nicht ohne Bedeu-
tung wurde gerade der Bau von St. Peter die
unmittelbare Veranlaſſung zu der Spaltung der
Kirche. — Die Wiederbelebung der zu allem Heil
Europaͤiſcher Staaten unentbehrlichen Idee von
der geiſtigen Verbindung der Chriſtenheit, war
das Problem, welches dem ſechzehnten Jahrhun-
dert dargeboten wurde. Anſtatt aber die Idee der
Kirche und ihres Regiments, wie ſie ſich in dem
Laufe des ganzen vorangegangenen Jahrtauſends
in der Bewegung ausdruͤckte, aufzufaſſen, ſchritt
man zu dem gewoͤhnlichen Extreme: man ver-
wechſelte das Gemißbrauchte mit dem Mißbrauch,
das Entweihete mit der Entweihung; man ver-
warf die weltliche Macht und den weltlichen
Einfluß der Geiſtlichkeit und ihr politiſches Da-
ſeyn als Stand ganz und gar; man zog den
geiſtlichen Beruf von dem geiſtlichen Stande durch
[110] eine Art von Deſtillation ab; man trat aus aller
wirklichen Gemeinſchaft mit der Kirche als Corpo-
ration heraus; man unternahm es, ſich unmittel-
bar an die irdiſche Perſoͤnlichkeit Chriſti zu wen-
den, privatim und ohne Vermittelung der dazwi-
ſchen liegenden, erklaͤrenden Jahrtauſende; man
verlaͤugnete alle geiſtige Gemeinſchaft mit den
Vorfahren; kurz — und darin liegt der von al-
len klugen Lobrednern der Reformation uͤberſehe-
ne Irrthum — man nahm der Religion ih-
ren oͤffentlichen Charakter, ihre ſtaats-
und voͤlker-rechtliche Bedeutung, und
machte ſie zu einer ausſchließend haͤus-
lichen Privatangelegenheit
. Das Verfah-
ren war in genauem Zuſammenhange mit der
anderweitigen Wendung, die der Geiſt der Zei-
ten genommen und die in den folgenden Jahr-
hunderten in allen Verhaͤltniſſen des Lebens im-
mer ſichtbarer geworden. Das wieder erwachte
alte Rom, der Handel, und die Entdeckung der
Indien befoͤrderten das Iſoliren der Privat-Inte-
reſſes und des Privat-Eigenthums, wie die Er-
findung der Buchdruckerkunſt die privative Be-
lehrung des Geiſtes, und die abgeſonderte, indi-
viduelle, unnationale Ausbildung des Herzens.
Die Religion trat aus dem Staate heraus, und
wurde nachher von den Regierungen freilich an-
[111] gerathen, empfohlen, beſchuͤtzt, tolerirt, aber —
wie aus allen dieſen verſchiedenen Ausdruͤcken
hervorleuchtet — als ein die Ordnung befoͤrdern-
des, den Geſetzen nachhelfendes Erziehungsmit-
tel, nur unmaßgeblich unter vielen andern Cul-
tur-Anſtalten herbeigebracht, damit alles dem oͤf-
fentlichen Wohle Erſprießliche vorraͤthig ſey.


Dennoch exiſtirt auch in denen Laͤndern, deren
geiſtiger Verband durch die Ungebundenheit und
den privativen Charakter des abſoluten Prote-
ſtantismus am meiſten aufgeloͤſ’t iſt, eine Art
von unzerſtoͤrbarer Sage, daß oͤffentliche reli-
gioͤſe Inſtitute unentbehrlich ſeyen. Die Gebil-
deten ſchmeicheln ihrem Verſtande, indem ſie
dieſe Unentbehrlichkeit mit der Bildungsloſigkeit
der niedern Staͤnde motiviren und, recht heidni-
ſcher Weiſe, die Furcht vor unſichtbaren Maͤch-
ten zu einem politiſchen Hebel gebrauchen wollen.
Deſſen ungeachtet erklaͤren dieſe Gruͤnde den
dumpfen, inſtinctartigen Reſpect vor der Religion
nicht: die Kirchen eines proteſtantiſchen Landes
muͤßten einmal alle zerſtoͤrt oder geſchloſſen und
der Sonntag aufgehoben werden, ſo wuͤrden die
Gebildeten fuͤhlen, daß eine große, ihnen ſelbſt
jetzt unbewußte Hoffnung aus ihrer Seele ver-
ſchwaͤnde; ſie wuͤrden fuͤhlen, daß dieſer wirkliche
Gottesdienſt, außer ſeiner politiſchen Wirkung
[112] auf den großen Haufen, ohne daß ſie daran
Theil nehmen, und bloß durch ſeine Fortdauer,
gewiſſermaßen als reines Symbol, eine Art von
Sicherheitsgefuͤhl in ihnen begruͤndet, einer Art
von dunkler Ahndung in ihnen zur Grundlage
dient, die nichts anderes zu erſetzen im Stande
iſt. —


Alles Schoͤne, Dauerhafte und Große in
unſern buͤrgerlichen Verfaſſungen verdanken wir,
wie ich ſchon gezeigt habe, der chriſtlichen Reli-
gion. Sie hat uns ein Geſetz gebracht, wel-
ches, erhaben uͤber den Wandel der Zeiten und
den Wechſel des Gluͤckes, fortdauert, in ſo fern
die Menſchheit ſteht. Von dem traurigen Wahn
nothwendigen Steigens und Fallens, kurzer Bluͤ-
the und unvermeidlichen Unterganges der Staa-
ten und Reiche hat ſie uns geheilt durch ein le-
bendiges und ewig belebendes Geſetz — durch
das Geſetz von der ſchoͤnen Gegenſeitigkeit des
Lebens, und durch die Art wie das phyſiſch-
Schwaͤchere, Aermere und Demuͤthigere, was
der jugendliche Uebermuth der alten Voͤlker uͤber-
ſehen hatte, in ihr verklaͤrt worden. Sie hat uns
gelehrt, was Freiheit ſey, und daß ſie nur durch
die Nebenfreiheit der Andern, nur in Wechſel-
freiheit beſtehen und erſcheinen koͤnne.


Dieſes hoͤchſte Lebensziel, wonach die Alten
gerun-
[113] gerungen und das ſie nur erreichen zu koͤnnen
glaubten, indem ſie den Tummelplatz ihrer Frei-
heit auf einer Grundlage von Sklaverei und
unbedingter Unterwerfung der bei weitem groͤße-
ren Haͤlfte des menſchlichen Geſchlechtes errichte-
ten, hat die chriſtliche Religion als eins und
daſſelbe mit dem Geſetze dargeſtellt. Dafuͤr haben
wir ſie, nachdem ihre Segnungen die geheimſten
Stellen unſeres Lebens durchdrungen, von dem
unmittelbaren Antheil an dem Regiment der Voͤl-
ker ausgeſchloſſen, und zuletzt noch den Standes-
unterſchied, den ſie begruͤndet, damit jedes von
den drei großen Elementen des Staates wirkſam,
maͤchtig und ſichtbar repraͤſentirt ſey, aufgehoben,
alle die von ihr befruchteten Geſetzgebungen der
drei Staͤnde, das kanoniſche Recht, das Lehns-
recht und das chriſtliche Buͤrger- oder Staͤdte-
Recht verdraͤngen helfen durch ein herbeigerufe-
nes, auf unſern inneren Zuſtand durchaus un-
paſſendes und nur unſerm augenblicklichen welt-
lichen Geluͤſte und Sicherheits-Calcul ſchmei-
chelndes, fremdes, Roͤmiſches Recht.


Will ſich denn kein Geſetzgeber zu dem Geiſte
der Jahrhunderte erheben? Soll denn uͤber die
großen Lehren der Vergangenheit immerfort ein
Haufe elender Geſchichtſchreiber entſcheiden? Auf
die lebendige Hiſtorie, die aus allen uns umge-
Müllers Elemente. II. [8]
[114] benden Monumenten der Geſetze, der Kuͤnſte,
der Religion ſo vernehmlich redet, achten wir
nicht; es fehlen uns die Sinne dafuͤr: wie moͤch-
ten auch die Abweſenden, das Beſſere aber Ver-
ſchwundene, zu Worte kommen, wenn wir unſern
jaͤhrlichen reinen Ertrag berechnen, oder uns mit
der Noth des Augenblickes ohnmaͤchtig herum-
ſchlagen! Nationalfeſte, oͤffentliche Beruͤhrungs-
punkte fuͤr das Herz, in denen wohl zu andern
Zeiten ein lebendiges Verſtaͤndniß der Vorwelt
angeregt worden iſt, giebt es nicht: denn wir
ſind ja Privatmaͤnner. Die Geſchichte leſen wir,
um uns uͤber die Vorzeit zu ſcandaliſiren, hoͤch-
ſtens, um zu lernen, was wir abſchaffen und
was wir nachaͤffen ſollen, nicht aber, wie es
ſich gehoͤrte, um uns ideenweiſe durch ihren
großen, heiligen Zuſammenhang, der uns durch
die Religion kenntlich geworden, zu begeiſtern.
Alle Facta in unſern Geſchichtsbuͤchern ſind cor-
rumpirt; wie ſollten ſie es auch nicht ſeyn, da
derſelbe kaufmaͤnniſche Verſtand, welcher unſere
Staaten, unſre Wiſſenſchaften, und alles was
uns umgiebt, verderbt, auch wieder die Archive
der Hiſtorie unter Haͤnden hat und ihre Quellen
truͤbt und faͤrbt, wie es das Beduͤrfniß der Stunde
verlangt! —


Die Reformation hat unendlichen Gewinn
[115] fuͤr die Menſchheit herbeigebracht. Die Geſchichte,
vor allen Dingen die heilige Geſchichte, die in
den Zeiten vor der Reformation durch natuͤrliche
Senkung ihres alten Baues vielleicht allzu unbe-
weglich geworden war, iſt aufgelockert und ge-
luͤftet worden, unzaͤhliges Große, aus neuen
Standpunkten angeſehn, vor allen Dingen aber
das Herrlichſte, nehmlich die Kirche ſelbſt, die,
wie ſo manches Alte und Angeborne und Ange-
woͤhnte nicht mehr gehoͤrig empfunden wurde,
von außen betrachtet und drei volle Jahrhunderte
entbehrt worden, da wo ſie hingehoͤrt, nehmlich
im Herzen und beim Lebensquell der Staaten.
— Entbehrt meine ich von Denen, die, wie
Leibnitz, auf die Zukunft zu wirken, ſie zu erhe-
ben und ihr ihre Bahn vorzuzeichnen beſtimmt
ſind, nicht von Denen entbehrt, die bloß einen
leeren Raum in ihrer Zeit ausfuͤllen ſollen. Das
ſind die wahren univerſalhiſtoriſchen Fruͤchte der
Reformation! —


Den Urhebern derſelben bleibt aber der ewi-
ge Vorwurf, daß ſie ſo vieles abgeſchafft und
aufgehoben haben, was einer Wiederbelebung
bedurfte, daß ſie unzaͤhlige ſchoͤne Bande des
Glaubens, bloß aus dem Grunde, weil ſie Miß-
braͤuchen unterworfen waͤren, gaͤnzlich zerſchnit-
ten haben. Die chriſtliche Kirche, ihre alten
[116] Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber
auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr-
lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin-
dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des
Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan-
der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In
dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon-
dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann-
te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich
verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der
Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re-
gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte.


Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand
von Europa im vierzehnten und funfzehnten
Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben
ſich die drei großen Elemente des modernen Rech-
tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor-
porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches
auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli-
che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi-
ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon-
dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt:
wir finden beſonders in Deutſchland und Ita-
lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten
in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank-
reich, und beſonders in England, treten dieſe
drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-
[117] land weben ſie ſich ſchon fruͤh in ein politiſches
Ganze, in einen einfachen conſolidirten Staat
zuſammen, waͤhrend Deutſchland und Italien
noch durch alle nachfolgende Jahrhunderte viel-
mehr Staatenbuͤnde, als eigentliche Staaten,
darſtellen. Den inneren Verband dieſer beiden
Reiche adminiſtrirte die geiſtliche Macht, unter
deren Schutze wir zumal die Italiaͤniſchen Han-
dels-Republiken ſich haben erheben ſehen. Die-
jenigen beſonders Norddeutſchen Staaten, wel-
che aus andern politiſchen Gruͤnden dem Ver-
bande oder der Foͤderativ-Verfaſſung abgeneigt
waren, mußten nothwendig den Principien der
Reformation, die dem voͤlkerrechtlichen und ſtaats-
rechtlichen Einfluſſe der Geiſtlichkeit entgegen
arbeiteten, gewogen ſeyn. — So verſchaffte der
Grundſatz, daß die Religion nichts anderes als
eine haͤusliche und Privat-Angelegenheit ſey,
wenn er auch noch nicht ſo dreiſt und unumwun-
den, wie in ſpaͤteren Zeiten, ausgeſprochen wurde,
der Reformation ihre politiſche Popularitaͤt.


Die Dismembration der Kirche nahm ihren
Anfang, und endigte ſich dann in unſerm Jahr-
hunderte mit wirklicher Zerſtreuung ihres Ver-
moͤgens, mit der allgemeinen Saͤculariſation von
Deutſchland, und mit der Penſionirung der
Geiſtlichkeit. Ich verdenke es den proteſtanti-
[118] ſchen Geiſtlichen, welche noch heut zu Tage als
unbedingte Lobredner der Reformation auftreten,
nicht, daß ſie das alte, unſern neueren Verfaſ-
ſungen ewig unentbehrliche, politiſche Gewicht der
Geiſtlichkeit, aus Unwiſſenheit, uͤberſehen; aber
daß die Staatswiſſenſchaft dieſes Gewicht ganz
verſaͤumt, iſt unverantwortlich, und kann nur
ihrer calculatoriſchen Richtung und dem Roͤmi-
ſchen Tode, der in allen ihren Adern wuͤthet,
zugeſchrieben werden. — Daß das Regieren der
Staaten ein reines Verſtandesgeſchaͤft ſey; daß
die geiſtliche Macht in alle Ewigkeit ſich in keine
weltlichen Angelegenheiten miſchen duͤrfe; daß es
keinen Staat im Staate oder vielmehr — wie
es im Sinne der Weiſen unſers Jahrhunderts
heißt — keine moraliſche Perſon, keine Corpo-
ration, ſondern nur phyſiſche Perſonen, wirk-
liche leibhaftige Producenten und Vermehrer des
reinen Einkommens, oder ſolche Leute, die man
im gemeinen Leben nuͤtzliche Staatsbuͤrger nennt,
geben duͤrfe; daß demnach auch alles corporative
Vermoͤgen, alle Gemeinheit unſtatthaft ſey, (eben
ſo wie den Lehnsverfaſſungen erklaͤrt worden iſt,
daß, wegen der reinen Balance von jaͤhrlicher
Staatseinnahme und Staatsausgabe, kein Fami-
lieneigenthum mehr geduldet werden koͤnne) —:
dieſe wohlfeilen Maximen werden Sie bei allen
[119] mittelmaͤßigen Koͤpfen unſerer Zeit tief befeſtiget
finden. Warum? Weil, trotz den vielfaͤltig ge-
triebenen politiſchen Wiſſenſchaften, kein einziger
ahndet, worin denn wohl das eigentliche Weſen
der Staatsverbindung liege. Ganze Berge
von politiſchem Apparat von Sachen, Geſetzen,
Principien, Maximen, Axiomen, hiſtoriſchen Fac-
ten, Diſtinctionen, kuͤnſtliche Erwaͤgung und Be-
rechnung des Fuͤr und Wider, des Vortheils
und des Nachtheils von jeder politiſchen Inſtitu-
tion, tragen ſie zuſammen, waͤhrend ſich der ge-
meinſchaftliche Geiſt, das eigentliche Bindungs-
mittel, welches allem dem einzelnen Apparat erſt
einigen Werth giebt, mehr und mehr in’s Dun-
kel zuruͤckzieht.


Das corporative Eigenthum, oder das ge-
meinſchaftliche Eigenthum mehrerer neben einan-
der ſtehender Zeitgenoſſen, und das Familien-Ei-
genthum, oder das gemeinſchaftliche mehrerer
auf einander folgender Generationen oder Raum-
genoſſen, waͤre beides die herrlichſte Pruͤfung
einer wahren Staatsvereinigung; denn in ſo
fern die Aufhebung alles corporativen und alles
Familien-Eigenthums als wirklicher Grundſatz
aufgeſtellt iſt, beweiſ’t das, wie man es auch
mit reinem Einkommen, Adam Smith und
National-Oekonomie beſchoͤnigen moͤge, weiter
[120] nichts, als daß die einzelnen Menſchen nichts
mehr in Gemeinſchaft mit Andern beſitzen koͤnnen,
und daß ihnen demnach die erſte Qualitaͤt als
Staatsbuͤrgern abgeht. Denn der Staat, oder
das ganze buͤrgerliche Weſen, iſt, wie ich ſchon
oben gezeigt habe, corporatives und Familien-
Eigenthum zugleich; der wahre Buͤrger muß
ohne Ende eingedenk ſeyn, daß er nur voruͤber-
gehender Nießbraucher, d. h. Familien-Glied,
und Theilnehmer der großen Gemeinheit, d. h.
Corporations-Glied iſt, welche beide Qualifica-
tionen ihm noch einmal in der inneren Organi-
ſation der beiden erſten Staͤnde und ihres Eigen-
thums lebendig und im Gegenſatz vor die Augen
geſtellt werden. —


Ich glaube, jetzt deutlich genug gezeigt zu
haben, daß dieſelben Urſachen, welche das Ge-
biet des Lehnsrechtes in Europa mehr und mehr
beſchraͤnken, und gaͤnzlich aufzuloͤſen drohen,
auch das Kirchenrecht mit jedem Tage in engere
Grenzen zuruͤckdruͤcken. An und fuͤr ſich kommt
es mir gar nicht darauf an, dieſe oder jene
Form der kirchlichen Macht, weder die welt-
republikaniſche der Concilien, noch die monarchi-
ſche der Paͤpſte, weder eine presbyterianiſche, noch
episkopaliſche zu vertheidigen oder zu verdam-
men, ſondern nur, zu zeigen, wie ſich in dem
[121] ziemlich allgemeinen Widerwillen gegen alle Fa-
milien- und Corporations-Rechte die Richtung
aller Gemuͤther, oder vielmehr aller Koͤpfe, auf
die endliche, abſolute Aufloͤſung der Staatsver-
bindungen deutlich zeigt.


Das, was wir im gemeinen Leben Staats-
Theorie, Rechts- und Oekonomie-Lehre nennen,
iſt nicht der Abſicht ſeiner bornirten Urheber,
wohl aber ſeinem innerlichſten Weſen nach, wel-
ches ich nun uͤber allen Zweifel erhoben zu ha-
ben glaube, Lehre von der allmaͤhlichen,
radicalen Zerſetzung, Aufloͤſung und
Dismembration des Staates und alles
oͤffentlichen Lebens, vermittelſt dreier
ganz einfacher Begriffe
: 1) vermittelſt des
Begriffes vom Roͤmiſchen Privatrecht und Pri-
vateigenthum; 2) vermittelſt des Begriffes vom
Privatnutzen, vom reinen Einkommen, von der
abſoluten Theilung des reinen Einkommens, und
vom Privatiſiren aller Beſchaͤftigungen des Le-
bens, und der damit verbundenen Abgoͤtterei des
todten und abſoluten Friedens; endlich 3) ver-
mittelſt des durch die Reformation und ihre wei-
tere Ausbildung, beſonders in Deutſchland, ver-
breiteten Begriffes von einer Privat-Religion,
und demnach von einer Privatiſirung und Ent-
nationaliſirung aller Empfindungen des Lebens.


[122]

Aus dieſem Begriffe einer Privat-Religion
entſpringt jene geheime, fuͤrchterliche Revolution,
die unverruͤckten Schrittes uͤber unſern Haͤuptern
her wandelt und alle Verbindungen des Lebens
zernagt. Die Natur beguͤnſtigt dieſe abſcheuliche
Tendenz unſrer Koͤpfe und Herzen; ſie will einen
Privatbankerott, eine innerliche Verzweiflung der
Individuen herbeifuͤhren, weil der Bankerott der
Staaten uͤber die Gemuͤther nichts vermocht hat,
vielmehr von den armſeligen Kindern dieſes Au-
genblicks wie die Morgenroͤthe einer beſſeren Zeit
beklatſcht und bejubelt worden iſt. —


Die Natur will durch dieſe Zerſetzung der
Bande des menſchlichen Geſchlechtes die wenigen
ſinnvollen Zeugen, die ſie in dieſe finſtere und
zugleich mit Licht und Klarheit prahlende Zeit
hat kommen laſſen, uͤber das wahre Weſen des
Staates belehren, ihre Herzen fortificiren, ſie
will ihren geheimſten Willen in den Gemuͤthern
einzelner Menſchen unter dem Feuer der Zeit
tief einpraͤgen, damit die verzweifelnde Genera-
tion wieder durch das verſaͤumte Heilige gerettet
werde und in ihrer Noth wahre, menſchliche und
ewige Stuͤtzen finde. Die aͤußere Revolution,
die [Franzoͤſiſche] mit ihren Folgen, hat manchen
edlen Tadler gefunden; ſie hat die beſſeren Freunde
der Menſchheit durch ihre Ungerechtigkeit indi-
[123] gnirt und erbittert. Geſetzt aber auch, dieſe Beſ-
ſeren waͤren maͤchtig genug geweſen, jener aͤuße-
ren Revolution ein Ende zu machen: — es waͤre
unendlich viel gewonnen, und dennoch das bei
weitem Groͤßere noch zuruͤckgeblieben, die innere
Revolution nehmlich, die geheime, verderblichere,
die Roͤmiſche, die, welche die Repraͤſentanten der
herrlichen und in ihrem innern Weſen unuͤber-
windlichen Standesunterſchiede in den letzten
Jahrhunderten verderbt, welche die einzelnen
Geiſtlichen, und die einzelnen Adeligen in welt-
liche Begierden verſtrickt und mit unnationalem
Sinn erfuͤllt, und den Buͤrgerſtand aus den
ſchoͤnen, alten, ſelbſt erworbenen Schranken zu
ſeinem eigenen Verderben herausgelockt hat. —


Alle Staͤnde ſind in gleiche Entartung ver-
ſunken, alle haben den Begriff ihrer Exiſtenz,
anſtatt der Idee, das Privative anſtatt des Na-
tionalen, das Saͤchliche anſtatt des Perſoͤnlichen
vergoͤttert, und ſind zuletzt darin uͤbereingekom-
men, daß die Schuld ihres Ungluͤcks in den
durch das chriſtliche Geſetz erzeugten Inſtitutio-
nen liege; ſie haben in ihrer tiefen Verblendung
das Gemißbrauchte um des Mißbrauches, das
Entheiligte um der Entheiligung willen verfolgt.


Ich weiß ſehr wohl, daß die Standesunter-
ſchiede, welche im Mittelalter ſich neben einan-
[124] der, und oft auf ganz abgeſonderten Territo-
rien, in einem gewiſſen Verhaͤltniſſe jugendlicher
Freundſchaft entwickelten, nachher aber, da ihr
Geiſt entwich, ſich gegenſeitig zerſtoͤrt haben, in
einer viel reineren Geſtalt wieder aufleben und
in eine viel innigere Verbindung treten werden.
Sie muͤſſen es, wenn — nachdem die bittre
Schule dieſer Zeit uͤberſtanden ſeyn wird, und
alle die kleinen Privathoffnungen unſrer Zeitge-
noſſen von Tage zu Tage mehr verkuͤmmert und
endlich verloſchen ſeyn werden — die Welt
uͤberhaupt noch beſtehen ſoll. Aber dieſe gewiſſe
Ausſicht iſt kein Grund, jetzt zu ſchweigen; man
muß ſo viele Zeugen herbeirufen, als man kann,
fuͤr die Lehren der Zeit, weil jedes Herz die neue
große, nationale, buͤrgerliche und chriſtliche Aera
der Welt, die kommen wird, zu beſchleunigen
vermag. Einheit der Kirche und des Staates,
und, anſtatt aller andern unnuͤtzen, kleinlichen
Theilung der Macht, anſtatt aller gemeinen po-
litiſchen Ordnung, die große einfache Theilung
der Perſonen in Staͤnde, in Geiſtlichkeit, Adel,
und Buͤrgerſchaft, oder der Sachen in corpora-
tives Eigenthum, Familien-Eigenthum und Pri-
vat-Eigenthum: das iſt das ewige Schema aller
wahren Staatsverfaſſung, die Garantie der
Dauer und der Macht; in ihr liegt die echte
[125] Freiheit, das lebendige Geſetz und das wahre
Fortſchreiten der Voͤlker, das Gehen derſelben,
nicht ihr Stuͤrzen, nicht die bloßen Fortſchritte
ihrer lumières. England und Spanien, in ganz
verſchiedener Geſtalt, haben ſich durch viele ein-
zelne Mißbraͤuche und ungluͤckliche Erfahrungen
nicht abſchrecken laſſen, jene großen Grundpfei-
ler der Staaten unerſchuͤtterlich zu behaupten,
und keiner falſchen Aufklaͤrung auch nur augen-
blicklich Raum gegeben. Ich will Exceſſe, auch
in der Beharrlichkeit, nicht vertheidigen; indeß
iſt es eine intereſſante Frage, wie dieſe beiden
Staaten ſich wohl zu der von mir oben ange-
deuteten Zukunft verhalten werden.


[126]

Sechzehnte Vorleſung.


Von der Natur der bürgerlichen und ſtädtiſchen Geſetze
im Mittelalter.


Heute haben wir auf unſre Weiſe die Frage:
qu’est ce que c’est le tiers-état? zu beantwor-
ten — aus Deutſchen Geſichtspunkten, und —
gebe es Gott! — mit altdeutſchem Buͤrgergeiſte.
Ich habe ſchon bemerkt, daß in Deutſchland,
wie in Italien, die oft erwaͤhnten drei Elemente
des wahren politiſchen Lebens auf abgeſonderten
Territorien ausgebildet wurden. Wie alt auch
die Spuren des Reichsverbandes ſeyn moͤgen:
die Verfaſſung war innerlich foͤderativ; geiſtliche,
adelige und buͤrgerliche Staaten wurden erſt durch
die Natur, und ſpaͤterhin durch ausgeſprochenes
Geſetz, in einander verflochten. Die alte Han-
delsſtraße der Welt blieb nicht umſonſt bis zu
Ende des funfzehnten Jahrhunderts die ausſchlie-
ßende. Erſt nachdem Italien, die Schweiz,
[127] Deutſchland, die Niederlande und die Kuͤſten
der Oſtſee, bis nach Riga hinauf, gehoͤrig vom
Buͤrgers- und Handelsgeiſte getraͤnkt, und nun
alle Keime der großen kuͤnftigen Beſtimmung
dieſer Laͤnder gehoͤrig entwickelt waren: erſt da
oͤffneten ſich der atlantiſche Ocean und das In-
diſche Meer dem ſtrebenden Geiſte der Europaͤi-
ſchen Fuͤnf-Reiche; erſt nachdem der ſchwierige
Landhandel den Fleiß der Voͤlker geuͤbt, und
ihnen die Kunſt des wahren Handels-Calculs,
zugleich mit wahrem Buͤrgerſinne, gelehrt hatte,
fand das Schickſal fuͤr gut, nun leichtere Wege
zu zeigen und den ſinnlichen Begierden der Men-
ſchen unendliche Ausſichten zu eroͤffnen, wie der-
gleichen ihrem Geiſte ſchon laͤngſt durch die Reli-
gion angewieſen waren. — Das Schickſal fand
fuͤr gut, den Begierden der Europaͤer nun ganze
Welten vorzuhalten, ihnen leichte Mittel in die
Haͤnde zu geben, mit jenen reichen Erdgegenden
zu verkehren oder ſie zu unterwerfen, und auf
dieſe Weiſe die große Pruͤfung oder Gaͤhrung
herbeizufuͤhren, welche die Geſchichte der drei
letzten Jahrhunderte ausfuͤllt.


Es iſt klar: der Handel wird allezeit, weil
die augenblickliche Erhaltung des menſchlichen
Geſchlechtes in ſeinen Haͤnden liegt, und weil
er beſonders uͤber das bewegliche Eigenthum
[128] und uͤber die beweglichen, leicht zu verwandelnden
Schaͤtze, uͤber das Geld, disponirt, auch den
Augenblick fuͤr ſich haben; waͤhrend der Adel
und das, was an die Scholle oder an das Grund-
eigenthum gebunden iſt, oft wegen der Traͤgheit
und Unbehuͤlflichkeit ſeines Beſitzes den Augen-
blick verſaͤumen muß, wenn es ſchon die Dauer
und das Gefuͤhl der Sicherheit und Feſtigkeit
auf ſeiner Seite hat.


Der Grundeigenthuͤmer iſt mit ſeinem gan-
zen Gluͤcke von den Jahreszeiten abhaͤngig, und
der Natur unmittelbarer unterworfen, folglich
naͤher an das Beſtehen nationaler Vereinigungen
gebunden, aus deren Umkreiſe er ſeinen Beſitz
nicht heraus zu reißen vermag; alſo iſt er der
natuͤrliche Wortredner des Geſetzes. Der Eigen-
thuͤmer des Beweglichen und des Geldes kann
viel leichter in den Wahn verfallen, daß er al-
les Lebensgluͤck ſeinem Fleiße verdanke: ſo wird
er auch viel mehr nach Unabhaͤngigkeit ſtreben,
auf die unnationalen Reitzungen des Augenblicks
hoͤren, und des Vergangenen, wie der Zukunft,
um einer reichen Gegenwart willen, vergeſſen; er
iſt der natuͤrliche Wortfuͤhrer der Freiheit. Es
faͤllt in die Augen: beide Claſſen koͤnnen einan-
der nicht entbehren, und muͤſſen einander in’s
Unendliche fort unterſtuͤtzen, bald wechſelſeitig
hem-
[129] hemmen, bald wechſelſeitig ihren gemeinſchaftli-
chen Lauf beſchleunigen; kurz, abgeſondert von
einander ſind ſie nichts, vereinigt alles.


Dem zu Folge wuͤrde ich auf die Frage des
Abbé Sieyes: qu’est ce que c’est le tiers-état?
in ſeinem Sinne, als alleiniger und abſoluter
Stand, antworten: in ſo fern er alles in allem
ſeyn ſoll, iſt er nichts; fuͤr die Geſellſchaft und
in allen politiſchen Beziehungen nichts, nichts.
Wie alles bewegliche und vergaͤngliche Ei-
genthum nur dadurch Werth erhaͤlt, daß es auf
das unbewegliche und bleibende bezogen
und daran angeſchloſſen werden kann; wie es
ohne Bedeutung und Sinn im Weltall umher
flattert, ſobald man den vaterlaͤndiſchen Boden
darunter weg zieht: ſo der Geldeigenthuͤmer ohne
den Grundeigenthuͤmer. Das Grundeigenthum
in ſeiner Unbeweglichkeit iſt nur Symbol, aͤuße-
res Bild des unſichtbaren, viel feſteren Grund-
eigenthums, welches die Geſetze formiren, ſo
wie das bewegliche Eigenthum nur Bild jenes un-
ſichtbaren Geiſtes der Bewegung, welchen wir
Freiheit nennen. Was ſoll eins ohne das andre
uns Menſchen, die wir unaufhoͤrlich beides wol-
len, wenn wir vernuͤnftig ſind, und uns ſelbſt
kennen: ſowohl die Dauer als die Bewegung,
ſo wohl das Ewige als das Zeitliche! Wir brau-
Müllers Elemente. II. [9]
[130] chen zwei Ideen, um unſern Staat zu bilden:
nur aus Gegenſatz und Streit, welchen die Na-
tur angerichtet hat, koͤnnen wir Frieden erzeugen;
die beiden ſtreitenden Ideen muͤſſen perſoͤnlich,
verkoͤrpert, in lebendigen Stellvertretern in jedem
Staate auftreten, wir muͤſſen durch aͤußere Ent-
gegenſetzung der Glieder des Staates in allen
unſern Lebensverhaͤltniſſen daran erinnert werden,
daß ohne Streit der Kraͤfte, nicht bloß einzel-
ner induſtrieller Kraͤfte, ſondern aller Kraͤfte
der menſchlichen Natur, kein Friede zu denken
und zu bilden iſt. Es gehoͤrt ein fortdauernder
Streit dazu, wenn ein unaufhoͤrliches Friedens-
ſtiften, d. h. ein lebendiger Friede — nicht bloß
einzelnes Aufflammen, einzelne Acte des Frie-
dens — Statt finden ſoll. Damit nun der
Menſch nicht, durch den Schein einſeitiger Thaͤ-
tigkeit geblendet, allzu fruͤh ſich fuͤr buͤrgerlich-
thaͤtig halte, wo er vielleicht ein bloß eigennuͤt-
ziges Intereſſe verfolgt: muͤſſen die Geſetze vor
allen Dingen, der hier getreu beſchriebenen Na-
tur gemaͤß, alle Glieder des Staates in zwei
Partheien theilen, deren jede wieder eine der
beiden ſtreitenden Grundkraͤfte, naturgemaͤß und
mit allen ſymboliſchen Qualificationen, fuͤr die
Ewigkeit repraͤſentiren ſoll. Dieſes iſt das wahre
und unuͤberwindliche Fundament des Standes-
[131] unterſchiedes von Adel- und Buͤrgerſtand, von wel-
chem, dem erſten und nothwendigſten Geſetze, alle
unſre Staatsbuͤcher ſchweigen Ohne dieſes Fun-
dament iſt alles Staatsweſen und alles Staats-
organiſiren Spott und Spiel, und gleicht den
andern Nichtswuͤrdigkeiten, die zum Zeitvertreibe
und fuͤr das Beduͤrfniß des Tages erfunden ſind.


Wer mich verſteht, ſieht ein, daß es nicht
auf eine Vertheidigung des Adels ankommt, ſon-
dern ich, ſelbſt ein Buͤrger, will die Exiſtenz
meines Standes auf den ewigen Naturgeſetzen
begruͤnden: ich will beweiſen, daß er ein un-
entbehrliches Etwas im Staate iſt, was die
Schmeichler dieſes Standes nicht vermochten; ich
will beweiſen, daß er ein Stand iſt, und ſo
brauche ich den Adel, um meinen Stand zu
erkennen und zu vergleichen: ich will und kann
kein Buͤrger ſeyn, wenn alles Buͤrger ſeyn
ſoll. Dieſen Buͤrgerſtolz, mit dem ich mich in
meiner Zeit laͤcherlich genug ausnehme, finde ich
in einer Geſtalt, die mir anſteht, wieder in dem
Mittelalter, in den Reichsſtaͤdten meines Vater-
landes. Dieſes derbe, gemuͤthliche, fromme
Selbſtgefuͤhl, dieſe Sprache der Freiheit, welche
aus gruͤndlichem Verſtande, und um ihres eignen
buͤrgerlichen Intereſſe’s willen, Gott, Kaiſer, Adel
und Geſetz mit Ehrfurcht dient, ohne Falſch und
[132] ohne Scheu — dieſen Adel im Buͤrgerleben
moͤcht’ ich Ihnen lebendig vor die Augen halten
koͤnnen, um zu zeigen, was tiers-état iſt.


Dieſer chriſtliche, nicht Roͤmiſche, Buͤrger-
Charakter mußte frei und ſelbſtſtaͤndig, d. h. dem
Adel und der Geiſtlichkeit gegenuͤber, — denn
wo iſt Freiheit ohne Nebenfreiheit, und Selbſt-
ſtaͤndigkeit eines Standes ohne Gegenſelbſtſtaͤndig-
keit Andrer — ausgebildet ſeyn, ehe Columbus
und Vasco di Gama ihre Segel ausſpannen
durften. Hernach, durch die Entdeckungen des
Seeweges nach Oſtindien, und Amerika’s, verlor
ſich dieſer edlere buͤrgerliche Charakter, wie er
ſich als eigentlicher Stand zeigte: er ging unter
in dem allgemeinen Streben nach Gold, Handel
und Indien, welches alle Staͤnde ergriff und ſie
im Herzen gleich machte, welches Streben, von
unſerm erleuchteten Jahrhundert auspolirt, raf-
finirt und romaniſirt, nunmehr in die Aller-
weltsbuͤrgerlichkeit und in den Gottesdienſt der
Induſtrie und des reinen Einkommens uͤberge-
gangen iſt, die aller Nationalitaͤt bald ein Ende,
und uns Alle im Elende gleich gemacht haben
werden. Die unendlichen Ausſichten, welche das
Chriſtenthum dem Geiſte eroͤffnet, und welche den
kleinſten Beſitzthuͤmern und allen politiſchen Ver-
haͤltniſſen ein von den antiken Geſetzen durchaus
[133] abweichendes, ſchoͤneres Licht gegeben hatten —
vorzuͤglich die, um der goͤttlichen Brechung und
der zu aller wahren Gegenſeitigkeit nothwendi-
gen Entzweiung und Partheiung des buͤrgerli-
chen Lebens willen gebildeten Standesunterſchiede
— gingen verloren. Der Staat entbehrte nun
aller inneren Umriſſe; wie mochte er die aͤußeren
behaupten! Die Nationalitaͤt zerfloß, waͤhrend
man die Feſtigkeit durch eine ſtarre, Kriegesvoͤl-
kern abgeborgte, Geſetzgebung aufrecht zu erhal-
ten ſtrebte.


Mitten unter dieſem allgemeinen Schiffbruche
des buͤrgerlichen Lebens erhob ſich nun ein allge-
meines Rufen nach Freiheit, Staatsverfaſſung,
Recht, Gemeinwohl, Frieden, Geſetz — wor-
unter, und unter treuem Erforſchen jenes Gei-
ſtes, von dem einzig die Rettung kommen konnte,
des Geiſtes der Vorwelt, einzelnen Wenigen
die Quelle aller wahren Staatsweisheit, aber
auch fuͤr die Ewigkeit, ſichtbar geworden.


Das Mittelalter wurde aus der Verachtung,
worin es die kaufmaͤnniſche Richtung aller Ge-
ſchichtſchreiber gebracht hatte, wieder hervorge-
zogen, vielleicht von allzu begeiſterten Freunden,
vielleicht mit zu ausſchließender Vorliebe. Wie
moͤchte aber eine geaͤchtete Schoͤnheit, ohne Be-
geiſterung, ohne Vorliebe, in ihre Rechte wieder
[134] eingeſetzt werden! Einige Ausſchweifung in der
Ehrenrettung eines aus Unverſtand Verachteten,
iſt eine Aeußerung ſchoͤner Seelen; wer moͤchte
ſie nicht der ſogenannten Maͤßigung vorziehen,
hinter der ſich traͤge, unwiſſende und kalte Na-
turen verſtecken!


Indeß muͤſſen die Lobſpruͤche, welche dem
Mittelalter in dieſen Vorleſungen gegeben wor-
den ſind, nicht ſo verſtanden werden, als ſey der
geſellſchaftliche Zuſtand jener Zeiten das einzig
Wuͤnſchenswuͤrdige, oder als ſey die ganze Auf-
gabe der Staatskunſt die, ihn zuruͤckzufuͤhren.
Die Elemente alles politiſchen Lebens, iſt ge-
ſagt worden, ſind im Mittelalter zu finden. Die
Verbindung dieſer Elemente, wie ſie ganz
dem Gefuͤhle der Voͤlker und dem Antriebe des
Beduͤrfniſſes uͤberlaſſen blieb, war unvollkom-
men, weil ſie mehr foͤderativ, als organiſch voll-
zogen, und vom Verſtande, von der Wiſſen-
ſchaft, nicht unterſtuͤtzt wurde. Es fehlte an
Vergleichungspunkten, an geſchichtlicher Ueber-
ſicht des Univerſums, an ſicherer Erkenntniß des
unſchaͤtzbaren neuen chriſtlichen Zuſtandes. Die
alte Welt mußte wieder aufſtehen, ſich neben die
neue ſtellen, oder ſie verdraͤngen, damit im Ver-
gleich oder in der Entbehrung das Wahre und
ewig-Feſte erkannt wuͤrde. Das fromme Ge-
[135] fuͤhl des Mittelalters, welches die Inſtitute jener-
Zeit unterſtuͤtzte und ihnen den herrlichſten Sinn
gab, konnte ausſterben, oder ausarten, verdraͤngt
werden durch andre minder menſchliche Gefuͤhle
fuͤr Gold, fuͤr Roͤmiſche und Griechiſche Poli-
tur, fuͤr Aufklaͤrung des Verſtandes — der Ver-
ſtand und das Bewußtſeyn mußte erſt den Ge-
fuͤhlen Kraft und Haltung geben, und ſo die
organiſche Verbindung moͤglich machen. Das iſt
nun der wahre Sinn der drei letzten Jahrhun-
derte: nicht das Wiederaufleben der Wiſſenſchaf-
ten, nicht die Erweiterung des menſchlichen Ge-
ſichtskreiſes an ſich, ſind, wie man gewoͤhnlich
glaubt, der Gewinn dieſer Zeiten. An ſich tau-
gen weder Wiſſenſchaft, noch Univerſalitaͤt, noch
aller Flitterſtaat unſeres modernen Lebens etwas.
Aber daß durch alle dieſe Verirrungen endlich in
dem von eigener Aufklaͤrung gepeinigten, von
eignem Proteſtamtismus zernagten Innerſten die-
ſes Geſchlechtes, ein Verſtand gebildet werden
mag, der ſich mit den tuͤchtigen Gefuͤhlen des
Mittelalters verbinden kann, ohne ſie auszu-
ſchließen; der von dem Geiſte der Inſtitute im
Mittelalter erfuͤllt werden kann, ohne ſie hand-
werksmaͤßig nachzuahmen; der die unzaͤhligen
verlaſſenen, aber unzerſtoͤrbaren, Monumente des
Mittelalters in Geſetz, Sitte und Kunſt wieder
[136] beleben und fuͤr alle Folgezeit zu verbinden im
Stande iſt, anſtatt mit politiſcher Metaphyſik
oder mit den Waffen, ganz neue voͤllig unhalt-
bare Staaten zu conſtruiren —; kurz, daß eine
unzerſtoͤrbare Garantie fuͤr das Weſen der In-
ſtitute des Mittelalters moͤglich geworden, und
daß die Idee von der Gegenſeitigkeit aller Ver-
haͤltniſſe des Lebens, welche einzige Baſis alles
Rechtszuſtandes Chriſtus zeigte und das Mittel-
alter empfand, — daß dieſe Idee nun auch vom
Verſtande in ihrer einzigen Erhabenheit erkannt
werden konnte —: das iſt der hoͤchſte Gewinn
von den letzten drei Jahrhunderten der großen
Pruͤfung, welche die Natur uͤber uns verhaͤngte,
und aller der vielfaͤltigen immer vereitelten Hab-
und Wißſucht dieſer Zeit.


Sich und den Andern, oder den Naͤchſten,
wie ſich Chriſtus ausdruͤckte, zugleich lieben und
erwaͤgen: das iſt die Grund-Maxime des Lebens
und der Staats-Philoſophie; den eignen Stand
in dem andern, die Buͤrgerlichkeit in und neben
dem Adel lieben und erwaͤgen: das iſt die richtige
Anwendung, die wir davon gemacht haben. —


Die Deutſchen Politiker und Hiſtoriker ſind
noch heut zu Tage — einige wenige Ausnahmen
kennt Jedermann — der innerlichen Ueberzeu-
gung, daß Roͤmiſches Recht, reines Einkommen
[137] und der tiers-état alles in allem ſey. Viel,
muͤſſen wir geſtehen, iſt in dem Jahrtauſend,
das wir ſeit dem Abbé Sieyes erlebt haben,
fuͤr die Politik nicht gewonnen worden: wenn
jene Maͤnner nur wenigſtens, ſo deutlich als
wir, erkennen moͤchten, daß ſich ihr ganzes Trei-
ben wechſelsweiſe um jene drei Achſen dreht! —
Von dem muntern Buchholz in Berlin, der aus
ſeiner vor Kurzem verlaſſenen theologiſchen Car-
riere, zu ihrem und ſeinem Ruhm, die Ueber-
zeugung mitgebracht hat, daß Chriſtus, wie er
ſich im neuen Leviathan ſehr ſchicklich ausdruͤckt,
nichts mehr und nichts weniger als ein „patrio-
tiſcher Juͤngling“ geweſen ſey, befremdet uns
dieſe Unwiſſenheit uͤber das Mittelalter nicht;
aber daß ein Stern erſter Groͤße, einſt Raͤcher
der Paͤpſte, und dann Beſchreiber des Schwei-
zeriſchen tiers-état, und Kenner der einzelnen
Facta des Mittelalters, wir duͤrfen ohne Ueber-
treibung ſagen, wie im heutigen Europa keiner
weiter, daß Johann von Muͤller auf ſeinem
treuen Wandel durch die Jahrhunderte am Ende
auch nicht viel mehr Sicheres und Feſtes gewon-
nen hat, oder daß ſein ungeheurer hiſtoriſcher
Vorrath, der thesaurus ſeiner Wiſſenſchaft,
am Ende auch nichts mehr iſt als ein abſoluter,
[138] Allerwelts-tiers-état, von gleich beguͤnſtigten
hiſtoriſchen Notizen Roͤmiſch gefaͤrbt, ohne allen
hohen Adel, ohne alle feſte Erbfolge der Ideen,
welche uͤber die Huldigungen des Zeitgeiſtes und
ſeiner Repraͤſentanten erhebt —: das haben wir
erleben muͤſſen, um es zu glauben! —


Indeß, wie die chriſtliche Kirche zwiſchen den
Staͤdten und den Lehns- oder adeligen Verfaſ-
ſungen des Mittelalters vermittelt; wie ſie den
zarten Anfang der Handels-Republiken gegen
die Rohheit des aͤlteren Geſchwiſters, nehmlich
der adeligen Staaten, in Schutz genommen;
wie an vielen gluͤcklicheren Stellen des Mittel-
alters Papſt, Kaiſer und jene Handels-Repu-
bliken im ſchoͤnſten, lebendigſten Gleichgewichte
dageſtanden und der große Bund der drei ewigen
Staͤnde uͤber ganz Europa gereicht hat: dies
hat er in loͤblicher Begeiſterung dargeſtellt. Nach-
her iſt er durch andre Jahrhunderte gekommen,
die ſeine Perſoͤnlichkeit wegen der wieder erwach-
ten Roͤmer und Griechen mehr angeſprochen ha-
ben; und daruͤber iſt es, bei ſeiner bekannten Ela-
ſticitaͤt des Geiſtes, und bei ſeiner Begeiſtrungs-
faͤhigkeit, zu keiner Sammlung und wahren Be-
feſtigung der politiſchen Ideen gekommen. Koͤnnte
er vor aller Begeiſterung zum Geiſte gelangen,
[139] ſo wuͤrde der Inhalt dieſer Vorleſungen ſchwer-
lich mir uͤberlaſſen worden ſeyn *). —


Die ſtaͤdtiſchen Verfaſſungen des Mittelal-
ters, bis gegen die Mitte des ſechzehnten Jahr-
hunderts, zeigen an unzaͤhligen Stellen den Ein-
fluß des Lehns- und des Kirchenrechtes, ſo wie
ſie wieder ihrerſeits der Verfaſſung der Geiſt-
lichkeit und des Adels einen unverkennbar mil-
dernden Geiſt mittheilten. Das Intereſſe des
Gemeinweſens, nach chriſtlicher Art, behielt in
allen Wegen die Oberhand; und ſo konnte das
Eigenthum — welche ſtrenge Abgraͤnzung deſſel-
ben auch der Handel nothwendig machte — nie
den abſolut privativen Charakter annehmen. Es
gab vieles gemeinſchaftliche corporative Recht,
wie noch heut zu Tage die viel verſchmaͤheten und
voͤllig mißverſtandenen Zunft- und Innungsver-
faſſungen davon zeugen. Alles Gemeinſame, und
ſo auch vieler Gemeinbeſitz, war den Staͤdten
noch ſehr wichtig: Theils die Noth, Theils der
richtige und fromme Sinn, vermochte ſie, be-
ſtaͤndig ſich ſelbſt und die Stadt, das Privat-
Vermoͤgen und das Commun-Vermoͤgen, das
[140] Stadt-Intereſſe und das groͤßere Intereſſe der
Staͤdtebuͤnde, wie der Rheiniſche und der han-
ſeatiſche, zugleich im Auge zu haben; und ſo
konnte es wenigſtens nie zu der ſtrengen Abſchei-
dung des Privat- und des oͤffentlichen Intereſſe
kommen, die gegenwaͤrtig das A und das O un-
ſrer Staatskunſt ausmacht. Die einzelnen wich-
tigſten Gewerbe, unter die ſich das Gemeinbe-
duͤrfniß vertheilt hatte, waren geſchloſſen; die
Meiſter, Geſellen und Lehrlinge, die einem be-
ſtimmten Gewerke zugethan waren, bildeten eine
eigne moraliſche Perſon: ſo, bekanntlich, nicht et-
wa bloß Weber, Fleiſcher, Schuſter, ſondern auch
Dichter, Gelehrte und Kuͤnſtler aller Art. Von
hochmuͤthigen Unterſcheidungen der ſchoͤnen Kuͤn-
ſte und Handwerke, wie ſie dem Alexandriniſchen
und unſerm Dilettanten-Zeitalter eigen iſt, hiel-
ten ſie wenig; die Pfuſcherei in allen Stuͤcken
war ihnen das Verhaßteſte. In den gewoͤhnlich-
ſten Handwerken war ein lebendiger Geiſt, wie
er ſich noch heut zu Tage in den ehrwuͤrdigen
Zunft- und Innungsgebraͤuchen ankuͤndigt; jedes
einzelne Gewerk hielt ſich fuͤr wichtig und eh-
renvoll, um des großen und unentbehrlichen
Dienſtes willen, den es der Stadt leiſtete: wel-
che Gruͤndlichkeit, Selbſtgefaͤlligkeit und Ehrbar-
keit in den uns aus jener Zeit hinterbliebenen
[141] Arbeiten am deutlichſten zu erkennen ſind. Mehr
die Dauer, als die Bequemlichkeit und die
aͤußere Form der Waaren, machte die Probe
des Meiſters aus. — Kurz, das ganze Leben des
Buͤrgers, und ſo auch jedes einzelne Gewerk,
war unter allen abwechſelnden Beſchaͤftigungen,
und auf wie verſchiedene Stoffe es unmit-
telbar gewendet ſeyn mochte, dennoch haupt-
ſaͤchlich darauf gerichtet, den Verband des Ge-
meinweſens immer feſter zu drehen und zu hef-
ten. So war das Zunft- und Innungsweſen
ein ſchoͤnes und wirkſames Gegengewicht gegen
die ungluͤcklichen und unbuͤrgerlichen Angewohn-
heiten und Sinnesarten, welche die den Ge-
werken unentbehrliche Theilung der Arbeit in viele
einzelne Handgriffe nothwendig abſetzen muß.


Die Theilung der Arbeit in unſern, ohne
Ruͤckſicht auf Zunftverfaſſung conſtruirten, Ma-
nufacturen wirkt auf eine ungeheure Vermeh-
rung der Production. Jedermann kennt das
Beiſpiel von Adam Smith: ein Arbeiter, der
das ganze Geſchaͤft allein verrichten ſoll, macht
in Einem Tage mit dem aͤußerſten Fleiße hoͤch-
ſtens zwanzig Stecknadeln; zehn Leute wel-
che die einzelnen Verrichtungen des Geſchaͤftes
unter einander getheilt haben, bringen taͤglich
gegen 48,000 zu Stande: die Production wird
[142] alſo durch die Theilung um das 2400-fache ver-
mehrt. Aber, wie auch der Staats-Rechenmei-
ſter von dieſen Zahlen entzuͤckt ſeyn moͤge — wo
bleibt der buͤrgerliche Sinn des Geſchaͤftes und
die Beziehung auf das Gemeinweſen, die durch
das Zunftweſen, wo Jeder meiſterlich auf das
Ganze gerichtet war, unaufhoͤrlich erhalten wurde!
Vergleichen Sie eine Werkſtatt nach der Zunft-
verfaſſung mit einer modernen Manufactur, und
Sie werden finden, daß die buͤrgerlichen Beſchaͤf-
tigungen ſich genau nach dem Staate umgeformt
haben: anſtatt der herzlichen Verbindung des
Meiſters mit dem zweiten Stande der arbeiten-
den Geſellen und dem tiers-état der handrei-
chenden und umhertragenden Lehrlinge in der al-
ten Werkſtatt, ſteht in der neuen Manufactur
kalt, calculatoriſch und auf das reine Einkom-
men gerichtet, ein Entrepreneur an der Spitze
— die Wiſſenſchaft denkt ſich in der Regel die
Fuͤrſten nicht anders denn als Staats-Entrepre-
neurs: der Manufactur-Entrepreneur ſteht, wie
der Imperator uͤber einen abſoluten tiers-état
maſchinenartiger Lohnarbeiter — und ſolch ein
todtes Weſen nennen ſie: Freiheit! — Ich
nicht. Ich habe eine beſſere Staatsanſicht dieſes
wichtigen Theiles von der ſtaͤdtiſchen Verfaſſung
hier einleiten wollen; das Weitere, und wie die
[143] Sachen in England beſchaffen ſind, unten im
Abſchnitte von der Staatswirthſchaft.


Ich brauche, wie Sie ſchon wiſſen, unauf-
hoͤrlich die Freiheit zur Erzeugung des Ge-
ſetzes, und zwar nicht eine todte, oder, wie man
ſich gewoͤhnlich ausdruͤckt, negative, d. h. keine
bloße Nichtſklaverei, oder Nichtabhaͤngig-
keit, ſondern eine poſitive, lebendige, deutlich
geſtellte, in ihrem Kreiſe wirklich herrſchende
Freiheit. Das einzelne Gewerk tritt, ſich auf
ſeine Unentbehrlichkeit ſtuͤtzend, in der Zunftver-
faſſung gewichtig und perſoͤnlich auf: es iſt die
Liebe zum Werk, welche die Zunftgenoſſen, es
iſt Liebe zu dem gemeinſchaftlichen Werk,
nehmlich der ganzen Staͤdteverfaſſung, welche
die einzelnen Zuͤnfte unter einander verband.


So wurden die Gewerke ſelbſt große Formen
der wahren poſitiven Freiheit, in denen ſich ein
dem Staate umentbehrliches Geſchaͤft perſoͤnlich
und deutlich zu erkennen gab, und welche die
Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit des Ge-
meinweſens lebendig vermittelten: Formen, welche
das Gemeinweſen jedem einzelnen Buͤrger in dem
beſonderen Stoffe ſeiner eigenthuͤmlichen Thaͤtig-
keit noch einmal geſellſchaftlich auspraͤgten und
demnach ein wahrhaft nationales Geſetz, oder die
Idee der Stadt, unaufhoͤrlich erzeugen halfen. —


[144]

Wenn Sie einen von den Apoſteln jener
neueren, negativen Gewerksfreiheit, welche nach
dem bloßen Geld- und Producten-Gewinnſt
ſtrebt, fragen: warum er Zuͤnfte und In-
nungen durchaus abgeſchafft wiſſen wolle; ſo
wird er ihnen folgende Rechenſchaft geben: ihr
Zweck ſey, die Concurrenz jedes Dritten mit
den Zunftgliedern, und die Concurrenz der Mei-
ſter unter einander zu hemmen. Da es nun ein-
mal keine hoͤhere Freiheit gebe, als die der
Concurrenz aller Statsmitglieder zu allen, dem
Staate noͤthigen, Arbeiten, ſo ſeyen die Zunft-
verfaſſungen ein ungerechter Eingriff in die Rech-
te Derer, welche arbeiten wollen, und Arbeit
verlangen. So legt unſer oͤkonomiſches Zeital-
ter den Inſtituten des Mittelalters erſt ſeine
nichtswuͤrdigen Lebenszwecke unter; es nimmt
ihnen die urſpruͤngliche ehrwuͤrdige und heilige
Bedeutung, und ficht dann hitzig gegen die ſelbſt
conſtruirte Gemeinheit. Sage ich zu viel, wenn
ich behaupte, das eigentliche Geheimniß alles
Staatsverbandes und aller Nationalitaͤt ſey den
Menſchen dieſer Zeit nicht bloß abhaͤnden ge-
kommen, ſondern es ſeyen von der Staatswiſ-
ſenſchaft und Staatskunſt wirkliche Formen zur
Zerſtoͤrung der Staaten methodiſch angeordnet
worden? —


Laſſen
[145]

Laſſen Sie uns nur unter allen Diſſonanzen
der Monumente des Mittelalters mit dem Stre-
ben unſrer Zeit das Eine feſt halten: daß in
allen den Inſtituten, welche unter dem unmittel-
baren Einfluſſe der chriſtlichen Religion in Euro-
pa entſtanden und ausgebildet worden ſind, das
Streben nach wirklicher, aͤußerer, perſoͤnlicher
Gruppirung und Entgegenſtellung der nothwen-
digen Staatspartheien, das Streben, jeden ge-
meinſchaftlichen und nothwendigen Zweck ſogleich
in aͤußeren, geſellſchaftlichen Formen, in Capiteln,
Orden, Zuͤnften, Innungen u. ſ. f., oder in
Staͤnden darzuſtellen, die Seele aller Anordnun-
gen iſt. Die Gegenſeitigkeit aller großen Staats-
intereſſes wurde ſinnlich an den Tag gelegt, und ſo
jeder einzelne Buͤrger in ſeinem taͤglichen Umgang
und Verkehr die großen Bedingungen des Ge-
meinweſens feſt zu halten genoͤthigt. Alles Ei-
genthum und alle Eigenheit des Einzelnen bekam
durch dieſe unaufhoͤrliche Beziehung und Wech-
ſelſeitigkeit mit dem Oeffentlichen erſt Werth;
und ſo mag die Allgegenwart des Krieges, die
Unſicherheit jener Zeiten, oder, wie wir es mit
hochmuͤthiger und unverſtaͤndiger Indignation
nennen, das Fauſtrecht, wohl am meiſten bei-
getragen haben, die allgemeine Gegenſeitigkeit zu
Müllers Elemente. II. [10]
[146] befoͤrdern und den inneren Verband der Staaten
zu befeſtigen.


Ich habe oben hinreichend bewieſen, daß die-
ſer permanente Hintergrund des Krieges allen
Staaten zu ihrer Entwickelung und Erhaltung
nothwendig iſt, daß neben dem Staate nothwen-
dig wieder andre Staaten ſtehen muͤſſen, damit
auch hier noch unendliche Gegenſeitigkeit und Par-
theiung moͤglich ſey. Jeder Staat wird zum gro-
ßen Europaͤiſchen Gemeinweſen ſich wieder ver-
halten, wie die einzelne Zunft zur Stadt. Jeder
Staat, nach Maßgabe ſeiner Localitaͤt und ſei-
ner Bewohner, praͤgt die große, allen gemein-
ſchaftliche, Idee des Rechtes auf ſeine Weiſe aus;
und damit auch Europa, die große Stadt, in
dem Geſchaͤft ihrer inneren Organiſation nie ra-
ſte, hat das Schickſal ſie allenthalben, beſon-
ders gegen Oſten hin, mit Barbaren und fern
drohenden Voͤlkerwanderungen umſtellt, ja in ih-
rem Innern, unter der Maske des Rechts, ein
viel furchtbareres Fauſtrecht ſich bilden laſſen,
als jenes durch Religion, Sitte, Treue und Che-
valerie gemilderte des Mittelalters. Unſer Frie-
denstraum, unſer Wahn von einem rechtlichen
Zuſtande iſt uns theuer zu ſtehen gekommen; wir
haben das lebendige Recht und den lebendigen
Frieden dafuͤr hingegeben: indeß geſchieht alles
[147] dazu, um uns werkthaͤtig zu beweiſen, was die
wahre Staatswiſſenſchaft voraus geſagt hat, daß
ſich jener abſolute Friede in abſoluten Krieg,
das abſolute Recht in abſolutes Unrecht, die ab-
ſolute Sicherheit in abſolute Unſicherheit verkeh-
ren muß, um ſo mehr, da dies alles von Hauſe
aus gleich-bedeutende Dinge waren. Aber es
geſchieht auch alles, um aus der abſoluten Ein-
ſeitigkeit wahre Gegenſeitigkeit aller Verhaͤltniſſe
des Lebens, und um aus den Truͤmmern unſrer
großen politiſchen Aſſecuranz-Anſtalten, mit den
aus der Vorzeit herbeigerufenen, hier beſchriebe-
nen Gefuͤhlen, wahre Staaten zu bauen, denen
es an aͤußeren und inneren, erhaltenden und be-
fruchtenden Kriegen nicht fehlen kann, um ſo
weniger als es die unnachlaͤßliche Bedingung
aller Geſetzgebung ſeyn wird, den Krieg, den
wahren, chriſtlichen Krieg, allenthalben in den
Frieden und in die Geſetze hinein zu weben, und
als wir vielleicht den aͤußeren Grund, der die
Nationalitaͤt der Staͤdte im Mittelalter verinni-
gen half, mit Bewußtſeyn und Freiheit ſelbſt
herbei fuͤhren werden.


Immer wird die Hauptſache die ſeyn, daß
jede wahre Spur des Mittelalters und jedes
Monument in Geſetzen, Sprache, Sitten und
Kunſt aus jener reichen, ahndungsvollen Zeit
[148] ferner erhalten werde, wie es bis jetzt in den
Staaten, die uͤberhaupt eine wahre politiſche
Betrachtung verdienen, erhalten worden iſt.


An dem dageweſenen Schoͤnen und Großen
— wie alle wahre Wiſſenſchaft und Erkenntniß
ja nur daran gereihet und davon abgeleitet iſt
— muß ſich auch alles zukuͤnftige Beſſere reihen.
Wie die wahre Wiſſenſchaft ſich beſtaͤndig durch
Vergangenheit, Hiſtorie und lebendige Erfahrung
zu verbuͤrgen ſtrebt, ſo kann der neue Staat
auch nur durch ſeine Allianz mit den alten ge-
ſellſchaftlichen Verbindungen garantirt werden.
Es hat ſeinen großen Gewinn gebracht, daß
alle Allianzen unter den Maͤchten von Europa
bis auf die neueſte Zeit, Theils ſo ungluͤcklich,
Theils ſo verderblich ausgefallen ſind. Die Staa-
ten wurden auf einen Augenblick aus der Gegen-
wart herausgedraͤngt; alle Stuͤtzungspunkte unter
den Zeitgenoſſen verſagten; ſie hatten noch nicht
die Allianz ergriffen, nach der die Natur ſie hin-
draͤngt: die Allianz mit den Vorfahren, die ein-
zige, welche ſie verbuͤrgen kann. —


Allein und durch ſich ſelbſt ſollen ſich die Na-
tionen retten; und das wird nur denen gelin-
gen, welche entweder — wenn ſie auch von den
Aufgeklaͤrten verlacht und verſpottet werden —
die Allianz mit den Vorfahren oder Raumgenoſ-
[149] ſen, hartnaͤckig beibehalten haben, oder ſie aufs
neue mit ganzer Seele und ohne oͤkonomiſche
Reſtriction ſchließen; dann wird es auch, wie wir
ſchon jetzt ſehen, an wahren und innigen Buͤnd-
niſſen unter den Zeitgenoſſen nicht fehlen. —


So kamen die Bundesgenoſſenſchaften des
tiers-état im Mittelalter zu Stande, die der
Schweizer, der Rheiniſchen und der hanſeatiſchen
Staͤdte, die noch jetzt aller Foͤderal-Verfaſſung
zum Muſter dienen, nicht ſo wohl in ihrer Form,
als in ihrem Geiſte. Aber ein wuͤrdiger Feind
ſtand ihnen gegenuͤber, den ſie oͤkonomiſch, recht-
lich und in jeder Beziehung reſpectiren mußten,
waͤhrend ſie ihn bekriegten, von dem ſie lernten,
indem ſie ſich gegen ihn vertheidigten, und mit
dem ſie in der Hauptſache, in dem Glauben, der
alle Herzen beſchuͤtzte, eins waren: mit einem
Stande, mit dem Adel. Von Adel und tiers-
état
im Mittelalter gilt, was Goͤthe von der
Feindſchaft zwiſchen Antonio und Taſſo ſagt: ſie
waͤren darum Feinde geweſen, weil die Natur
nicht Eins aus ihnen Beiden ſchuf.


Wir haben einen Feind uns gegenuͤber, von
dem wir gruͤndlich und methodiſch lernen ſollen,
was nicht Wahrheit, nicht Recht, nicht Friede,
nicht Krieg, nicht Staat iſt: — nehmlich das
uns Allen, wie ich gezeigt habe, mehr oder we-
[150] niger an’s Herz gewachſene, zu elementariſcher
Einſeitigkeit erſtarrte, Rom. Etwas Poſitives
ſollen wir nicht von ihm lernen; denn alle die
Lebens-Elemente, welche wir brauchen, welche wir
organiſiren und in Harmonie bringen ſollen, lie-
gen in der Geſchichte klar und deutlich genug da.
Unter Noth und Entbehrung ſollen wir ſelbſtthaͤ-
tig, und um ſo dauerhafter, die alten Stoffe des
ewigen Bundes der Menſchheit beleben und wie-
der herſtellen. Das iſt die Lehre der Zeit und
ihr Geſetz! —


Der muthige, regſame, ſchaffende Geiſt
des Buͤrgers — unter unaufhoͤrlichen Schran-
ken eines durch Geburtsrecht auf die Erhaltung
und die Dauer gerichteten zweiten Standes und
einer das ganze oͤffentliche Leben begeiſternden,
alle Begierden, Wuͤnſche und Thaͤtigkeiten an
das Unendliche anknuͤpfenden Geiſtlichkeit — kurz,
ſo wie ihn das Mittelalter, die buͤrgerlichen Tha-
ten der Medici und der Fugger, und die noch
heut zu Tage Allen zugaͤnglichen Werke eines
Holbein, Albrecht Duͤrer und Hans Sachs zei-
gen: das iſt der tiers-état. Er iſt es, der das
bunte, reiche aber leicht vergaͤngliche Leben an
der Oberflaͤche der Erde erzeugt und bewegt, wel-
ches der zweite Stand an das Naturgeſetz, an
den Boden der Erde und ſeine Dauer, und der
[151]erſte Stand an den Himmel knuͤpft. Das ſind
die drei großen Grundgeſtalten der Freiheit, die
ſich verſchraͤnken und verbuͤrgen koͤnnen, weil
ſie durchaus entgegengeſetzt ſind, und die ſich
verſchraͤnken und verbuͤrgen ſollen, weil jede
eine andre, ewige Eigenſchaft der Menſchheit
vertritt, und doch alle drei Das, was an unſrer
Natur der Rede werth iſt, erſchoͤpfend darſtellen.
Sie koͤnnen gemeinſchaftlich ein vollſtaͤndiges und
lebendiges Geſetz erzeugen, d. h. die Seele des
Suveraͤns noͤthigen, ſich unaufhoͤrlich zu verjuͤn-
gen, und doch dem Alterthum und der Ewigkeit
getreu zu bleiben. Sie geben dem Staate, was
kein Mechanismus der Welt geben kann: Faͤhig-
keit des Wachsthums, d. h. des Fortſchreitens
und des Verweilens, ſo daß er, wie die Geſtirne,
zugleich wandelt und ſteht.


Wenn Sie mich nicht mißverſtehen wollen,
ſo moͤchte ich Sie noch zuletzt am Schluſſe mei-
ner Darſtellung von der Staͤndeverfaſſung an
die beiden hiſtoriſchen Monumente des adeligen
und des buͤrgerlichen Lebens, die Deutſchland
vor allen andern Fuͤnf-Reichen aufzuweiſen hat,
erinnern: es ſind Monumente der Poeſie, der
uͤberhaupt das ſchoͤne Geſchaͤft, den Geiſt der
Zeiten treuer zu bewahren, als es ſelbſt die ge-
ſchriebenen Geſetze vermoͤgen, zu Theil gewor-
[152] den iſt. Ich vindicire der Staatswiſſenſchaft,
der Deutſchen nehmlich — denn mir iſt es wohl
erlaubt, am Ende dieſer wichtigen Darſtellungen
des chriſtlichen Alterthums, noch des beſonde-
ren, des vaterlaͤndiſchen, zu gedenken — die
adelige Poeſie der Minneſinger, und die buͤrger-
liche, ganz anders geſtaltete, der Meiſterſaͤnger,
die jener, wie die Staͤdte dem Adel, um einige
Jahrhunderte ſpaͤter nachfolgte. Die populaͤren
Staats-Theorieen moͤgen dieſe Vindicationen ver-
ſpotten; in der Idee des Staates, wie in dem
Herzen jener dichteriſchen Ritter und Buͤrger
des Mittelalters, vertragen ſich die Poeſie und
das politiſche Gemeinweſen ſehr wohl mit ein-
ander.


In den erwaͤhnten Monumenten der Poeſie
druͤckt ſich das Leben der Deutſchen Staͤnde, und
fuͤr ein kluges Auge auch ihre Verbindung, am
reinſten aus. Etwas ſcheint allen dieſen Dichtern
zu fehlen; ein gewiſſer wehmuͤthiger, klagender
Ton klingt durch alle Melodieen: es iſt vor ih-
rer Seele eine Fabel von einer beſſeren, aͤlteren,
treueren Zeit, deren Vergangenheit ſie bedauern,
halb vielleicht auch die Ahndung, daß alle Pracht,
alle Gemuͤthlichkeit, alle Herzlichkeit ihres Le-
bens nicht beſtehen kann, daß noch ein Feind
lebt und ſich, wenn auch nur im erſten Erwachen,
[153] regt, der das ganze glanz- und empfindungs-
reiche Daſeyn untergraben kann. Er iſt gekom-
men, dieſer Feind, und hat nun ſeit beinahe
drei Jahrhunderten den alten Bau zernagt, deſ-
ſen Entwurf in Deutſchland koloſſaler und voll-
ſtaͤndiger war, als ſonſt irgendwo.


Sehen Sie in dieſen Worten keine Perſoͤn-
lichkeit gegen Zeitgenoſſen, die zu klein ſind, um
in ſolcher ernſten Betrachtung erwogen und ge-
ſcholten zu werden. Ich meine den Gegenſtand
eines groͤßeren Haſſes, die abſolut irdiſchen Reitze
des Reichthums und des Privatlebens, die Glau-
bensloſigkeit, welche der Beſitz, der kalte Verſtand
und die todte Wiſſenſchaft herbei gefuͤhrt haben,
das weltliche Rom, und wieder Rom. Der
politiſche Entwurf von Deutſchland war gruͤnd-
licher, ſage ich, als der von allen andern Staa-
ten; alſo mußte auch der Kampf, die Noth
und die Pruͤfung laͤnger dauern, als anderswo.
Das iſt die bittre Mitgift des großen
Berufes, den der alte Nahme andeutet
und die Zukunft rechtfertigen wird: des
heiligen Roͤmiſchen Reiches
. —


Daß kein, aus der Gegenwart und von den
Geſchoͤpfen dieſer Stunde hergenommener Um-
ſtand dieſe erhabene Ausſicht beguͤnſtigen will?
— Eben dieſe gruͤndliche Hoffnungsloſigkeit des
[154] gegenwaͤrtigen Geſchlechtes bei den gruͤndlichſten
Naturanlagen zu geiſtlicher Herrſchaft, und
andrerſeits die uͤberwiegende Fuͤlle der Thaten in
unſrer Vorzeit, die uͤberfließend reiche Geſchichte,
die Welt von Helden und Buͤrgern frommer
und treuer Art, welche einſtens dieſer Boden
getragen hat und welche uns alle die Haͤnde
zum Buͤndniß reichen, die unzerſtoͤrbaren Spuren
alter Geſetze, Staͤnde und Sitten, welche ganz
Europa, als es Deutſchland zu ſeinem Tummel-
platze machte, nicht hat wegtreten koͤnnen —: dies
ſind die Gruͤnde meiner auf erhabene Zwecke ge-
richteten, muthigen Ausſicht.


[155]

Siebzehnte Vorleſung.


Schluß der Rechtslehre.


Sie wiſſen, daß ich das Wort „Rechtslehre
in einem umfaſſenderen Sinne gebrauche, als die
Schriftſteller meiner Zeit; daß ich erſtlich durch-
aus kein andres Recht ſtatuire, als ein ſolches,
welches lebendig iſt, d. h. welches ſich ſelbſt ga-
rantirt, nicht erſt an eine auswaͤrtige, mit
ihm in keiner Verbindung ſtehende Macht oder
Zwangsgewalt zu appelliren, oder von ihr abzu-
hangen braucht; kurz, welches alſo innerlich Eins
iſt mit dem Staate, oder mit der Nationalitaͤt,
oder, da unſer Blick durch die Religion auf die
ganze Menſchheit gerichtet iſt, mit der Rechts-
Idee, welche die Menſchheit verbindet, mit der
Religion. Vergebens werden Sie Sich bemuͤ-
hen, das Recht anders zu begruͤnden, oder zu
deduciren, als auf dieſe Weiſe, welche zugleich die
[156] einfachſte iſt, indem ich nur verlange, daß der
ganze Menſch den ganzen Staat — da es nun
doch einmal auf die Ganzheit des Menſchen in
der Moral und Philoſophie, und auf die Ganz-
heit des Staates in der Politik vorzuͤglich an-
kommt — im Auge haben ſoll. Ich ſpreche ja
nur gegen das abſolute und hoffnungsloſe Zer-
ſchneiden des Staates, weil Der, welcher mir
das geſammte im Staate geltende Recht erſt in
ein abſolut und ewig getrenntes Privatrecht,
und dann in ein abſolut getrenntes Staatsrecht
zerſplittert, die Ganzheit unmoͤglich macht, und
dieſelbe nachher nur vermittelſt eines ganz un-
haltbaren Widerſpruches vermittelſt eines wirkli-
chen Zuſammenklebens zweier Begriffe, die er
ſelbſt getoͤdtet hat, wieder herzuſtellen verſuchen
kann. — Ich bitte Sie ja nur, wenn vom Staate
die Rede iſt, ganze Menſchen zu bleiben, und
nicht den abgeſonderten, rechnenden Verſtand al-
lein jenem großen, einzig ſchoͤnen Intereſſe zu
ſchenken, welches auf ihr Herz und deſſen ewige
Einwirkung eben ſo gruͤndliche Anſpruͤche hat.
Ich ſchließe demnach heute mit einem Blick zu-
naͤchſt auf das Ganze, und dann auf Denjeni-
gen, der, Theils nach ſeinem Verhaͤltniſſe zu
ſeiner Zeit ihre Geſinnungen theilen, theils nach
ſeiner ausgezeichneten Individualitaͤt ſie mitbil-
[157] den, oft auch entſcheiden mußte, auf Friedrich
den Zweiten.


Man wuͤrde meine Darſtellung der Inſtitu-
tionen und der Geſetzgebungen im Mittelalter
ſehr mißverſtanden haben, wenn man noch wei-
ter bei ſich ſelbſt in Streit ſtaͤnde uͤber die Frage:
wie denn alle jene alten Formen mit unſern ge-
genwaͤrtigen Beduͤrfniſſen zu vereinbaren waͤren,
oder was denn, nach der wirklichen Abſchaffung
des Roͤmiſchen Rechtes, unmittelbar an ſeine
Stelle treten, oder was denn, nach der Wieder-
einfuͤhrung der ſtrengen Standesunterſchiede, den
ganz widerſtrebenden Zeitgeiſt mit ihnen verſoͤh-
nen ſolle. — Wer nicht vor allen Dingen ſeinen
Sinn zu vermenſchlichen ſtrebt; wer nicht ſeinen
mechaniſchen Anſichten vom Menſchen und von
der menſchlichen Geſellſchaft den Krieg erklaͤrt;
wer nicht einſieht, daß die Formen an ſich, das
Abſchaffen und Wiedereinfuͤhren an ſich, und die
bloßen klugen Anordnungen an ſich nichts hel-
fen, ohne das, was ich zu erwecken ſtrebte, nehm-
lich den Geiſt, die Idee der Geſellſchaft: der
hat kein Urtheil uͤber mein Unternehmen, der
hat etwas Anderes im Auge, etwas Geringeres,
Unedleres; er verweilt bei den Aeußerlichkeiten,
deren es in unſern Staaten ſchon zu viele giebt;
er hemmt und entkraͤftet den ſchon allzu unbe-
[158] huͤlflichen Staat durch ſeine mechaniſche Anord-
nung immer mehr, anſtatt ihn zu beleben und zu
befluͤgeln; er verfaͤhrt wie ein ſchlechter Arzt, der
die Geſundheit des Menſchen durch allerlei Pal-
liative handwerksmaͤßig zuſammenſetzen will, waͤh-
rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken
und zu beleben, und jedem nothwendigen Or-
gane Luft und Kraft zu geben iſt, damit das
Ganze ſich behaupten koͤnne.


Jede Krankheit des Staates, wie des Men-
ſchen, iſt Herrſchaft eines einzelnen, einſeitigen
Organs uͤber die andern, oder auf Koſten des
Ganzen, des Organismus. Wie waͤre es, wenn
es den Gliedern des menſchlichen Koͤrpers ein-
fallen wollte, jedes fuͤr ſich einen abgeſonderten,
ausſchließenden Theil der Lebenskraft zu verlan-
gen und zu behaupten? Koͤnnte der menſchliche
Koͤrper auch nur einen Augenblick beſtehen ohne
die Nationalitaͤt, kraft deren jede einzelne Muskel,
jede Ader, jeder Nerve ſein Privateigenthum un-
aufhoͤrlich wieder dem Ganzen unterwirft und
hingiebt? — Die alten Roͤmer haben den Ver-
gleich des Staates mit dem menſchlichen Koͤrper
verſtanden: ſollte er jetzt nicht mehr paſſen, nach-
dem wir ganz andre Beiſpiele von der Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale,
an die Menſchheit erlebt haben, als die Roͤmer
[159] je aufſtellen mochten? Dieſer Koͤrper, deſſen inni-
ge, gewaltige Verbindung wir in jedem wahren
Lebens-Moment am unmittelbarſten fuͤhlen, bleibt
das naͤchſte und ſchoͤnſte Muſter aller Vereini-
gungen und Koͤrperſchaften, zu denen uns unſre
ganze Lage unaufhoͤrlich hin draͤngt. —


Koͤnnt Ihr vom Staate keine hoͤhere Anſicht
erſchwingen, als daß er Sicherheitsanſtalt fuͤr
die Aufrechthaltung des Privat-Eigenthums ſey
— nun, ſo conſtruirt uns zuerſt eine Zwangs-
macht, die, erhaben uͤber allen Angriff der Zeiten
und ihren Wechſel und uͤber die Gebrechlichkeit
alles Irdiſchen, unerreichbar von außen und in-
nen, Eurer diſtinguirenden und abwaͤgenden Klug-
heit einigen Werth, einige Bedeutung gebe.
Stellt die Macht und das Recht abgeſondert
hin, und nehmt als Datum an, daß ſie beide
in Harmonie ſeyn werden, waͤhrend es gerade
die unendliche Theſis aller Staatswiſſenſchaft iſt,
die Macht und das Recht in Harmonie zu brin-
gen. Wenn die Macht dem Rechte widerſpricht,
ſo gebt Euch damit zufrieden, daß Ihr wißt und
mit Gruͤnden beweiſen koͤnnt, daß ſie Unrecht
thut. Aber zeigt mir nur die Macht! denn ohne
ſie ſeid Ihr mit Eurem ganzen vermeintlichen
Rechte das unnuͤtzeſte Glied der Geſellſchaft;
man kann alles Privat-Eigenthum rauben, und
[160] doch Eure Begriffe vom Privat-Eigenthum re-
ſpectiren. Alſo braucht ihr eine Macht, die Euch
unmittelbar zur Seite ſtehe und mit Eurem gu-
ten Willen in Einverſtaͤndniſſe ſey. — Das iſt
nicht unſre Sache, erwiedert Ihr; Ihr verweiſ’t
mich an die Militaͤr- und Polizei-Verſtaͤndigen. —
So loͤſ’t ſich, wenn erſt Ein Glied des großen
Koͤrpers iſolirt iſt, der ganze Verband auf: es
iſt Zufall, es iſt Gewohnheit, was den Schein
der Vereinigung heute noch erhaͤlt; fuͤr morgen
ſagt uns niemand gut, — wenn nicht angeborne
Ideen, aus edleren Zeiten herſtammend, in ih-
rer letzten entartetſten Geſtalt noch maͤchtiger
waͤren, als der ganze Rechtsbegriff in ſeiner Con-
ſequenz-Pralerei, der mir nicht gut dafuͤr ſagen
kann, ob nicht bloß mein Privat-Eigenthum
morgen noch dauern wird, ſondern auch nicht,
ob ich ſelbſt morgen noch ſeyn werde. —


Um das, was die Geſellſchaft heuͤte eigent-
lich noch bindet, kuͤmmert ſich die Wiſſen-
ſchaft nicht; aber was den alten Verband auf-
loͤſ’t, was die einzelnen Buͤrger in der eigen-
nuͤtzigen Richtung, welche ſie ohnedies ſchon von
der Zeit und den Umſtaͤnden bekommen haben,
beſtaͤrkt, das wird von der Theorie eifrig ge-
pflegt und genaͤhrt. — Nur die Religion, die
Mutter aller Ideen, kann den Staaten den Le-
bens-
[161] bensgeiſt wieder geben, der aus ihnen gewichen
iſt: dies iſt der Grundgedanke meiner ganzen
Betrachtung. So lange ein Glaube noch unbe-
ruͤhrt und unentweihet daſtand, und der edlere
Theil der Menſchen ſchon im voraus auf das
innigſte verbunden war: ſo lange hatte eine cal-
culirende Wiſſenſchaft noch Werth, die nun auch
die Aeußerlichkeiten, das gemeine Eigenthum,
das Verhaͤltniß der Staatsgewalten, in Ordnung
und regelmaͤßige Bewegung zu bringen ſtrebte.
Jetzt, da dieſer Glaube und alle Ehrfurcht vor
den Vorfahren und alle Scheu vor den Abweſen-
den verdraͤngt iſt von dem Credit, den ſich eine
trockene Verſtandes-Jurisdiction zu verſchaffen
gewußt hat —: jetzt muß ſich die Staatswiſſen-
ſchaft, ſchon um der Reaction willen, dieſem rech-
nenden Verſtande entgegenſetzen. Wenn aber
auch die Lage der Dinge zu keiner Reaction noͤthig-
te, ſo muß die Wiſſenſchaft dennoch zu allen
Zeiten das Ganze und Ewige im Auge behalten;
dieſe Vollſtaͤndigkeit der Anſicht macht ſie erſt zur
Wiſſenſchaft, und erhebt ſie uͤber die Menge,
welche von Ort und Stunde geformt und be-
ſtimmt wird. —


Ich habe hier noch einmal die Summe mei-
ner ganzen Wiſſenſchaft zuſammen gefaßt. Die
Wechſelbeziehung, worin alles dieſes mit dem
Müllers Elemente. II. [11]
[162] Koͤnige ſteht, den ich oben genannt, und deſſen Bild
den erſten Theil dieſer Vorleſungen beſchließen
ſoll, ſo wie mit den aͤlteren und neueren Schick-
ſalen ſeines Staates, muͤſſen Sie ſelbſt ermeſſen.


Sich ſelbſt und ſeinem eigenen Streben uͤber-
laſſen, war Friedrich der Zweite aufgewachſen:
niemand ſtand ihm zur Seite, der ſtark genug
geweſen waͤre, mehr als die Oberflaͤche ſeines
Geiſtes zu beruͤhren. Die rohe Rechtlichkeit und
Barbarei des vaͤterlichen Hauſes erzeugte in ihm,
der ſchon fruͤher Eindruͤcke einer feineren Franzoͤ-
ſiſchen Bildung bekommen hatte, eine gruͤndliche
Oppoſition; und ſo war er, als er den Thron
beſtieg, vielmehr das Gegentheil ſeines Vaters,
als irgend etwas anderes Beſtimmtes, Eigen-
thuͤmliches. Eine leichte Schwaͤrmerei fuͤr Poe-
ſie, fuͤr die Wiſſenſchaften, fuͤr Freiheit und
Toleranz, wie fuͤr alles, was der Zeitgeiſt durch
den Mund Franzoͤſiſcher Philoſophen verkuͤndi-
gen laſſen mochte, iſt alles, was ſich bei ſeiner
Thronbeſteigung zu erkennen giebt — freilich ge-
nug, um ihm eine Parthei in Europa zu bilden,
da er das fuͤr ſich hatte, daß er den uͤbrigen
Fuͤrſten durchaus unaͤhnlich war. Große Tha-
ten mochte er wohl ſchon fruͤher getraͤumt haben.
Der Saͤnger ſeiner eignen Thaten, Geſetzgeber und
zugleich der Philoſoph uͤber ſeine eigenen Geſetze,
[163] Auguſt und Horaz, Heinrich und Suͤlly, vorzuͤg-
lich Alexander und Ariſtoteles, zugleich zu ſeyn,
war wohl der hoͤchſte Lebensplan, den er in
ſeiner Muße zu Rheinsberg als Kronprinz ent-
worfen hatte. So, ohne tiefere Kenntniß des Le-
bens, ohne eine durchgreifende Geſtalt des Cha-
rakters — nur ein Schattenbild vom Ruhm, viel-
leicht wohl auch den jungen Macedonier vor der
Seele habend —, unternahm er den erſten Schle-
ſiſchen Krieg aus einer Ruhmbegierde, die, als
letztes Motiv ſeiner damaligen Unternehmungen,
und als den Hintergrund ſeiner Seele, Niemand
treffender angedeutet hat, als er ſelbſt in ſpaͤterer
Zeit. — In der Schule, worin er geweſen war,
hatte er nicht gelernt, ſich die Groͤße der Thaten
anders als in Zahlen zu denken — nicht, als
wenn er nicht reich an den ſchoͤnſten Anlagen
geweſen waͤre, ſondern weil nur von einer einzigen
Seite her unaufhoͤrlich auf ſeinen Geiſt gewirkt
worden war; weil ſeine Seele ſich nie von zwei
entgegengeſetzten, innerlich verſchiedenen, Natu-
ren zugleich angezogen gefuͤhlt; weil er die ganze
Welt, die ihm gefallen mochte, in Einer und der-
ſelben, an und fuͤr ſich ſchon ziemlich mageren
und lebloſen Form, der Franzoͤſiſchen nehmlich,
ausgedruͤckt erhalten; kurz, weil die Franzoͤ-
ſiſche Literatur zwiſchen Friedrich und dem Al-
[164] terthum einen Teppich aufgehaͤngt hatte, der
die Helden des Alterthums alle in Franzoͤſiſchem
Coſtuͤm zeigte, uͤbrigens aber das Alterthum ſelbſt
vor der empfaͤnglichen Seele Friedrichs verbarg.


So einſam ſtand dieſer Fuͤrſt! Vor ſeinem
Vater ſchauderte er zuruͤck; geliebt mit Kraft und
Entſagung und Reſignation hat er nie; Bewun-
derung, mehr der Groͤße und des Umfanges,
als des heroiſchen, menſchlichen Gehaltes, war
alles, was er in ſeinen hiſtoriſchen Studien ge-
wann. Roͤmiſche Imperatoren — Auguſtus, Ha-
drian, Marc-Aurel — druͤckten ſich ſeiner Vor-
ſtellung am tiefſten ein; die Form ihrer Herr-
ſchaft entſprach ſeinen Begriffen. — So, von
Gemuͤth und Neigung, war Der, dem die Regie-
rung des Theils von Deutſchland anvertrauet
wurde, welchen ſchon ohnedies ſeine ganze Lage zu
einer Entgegenſtellung, wie des eigenen und des
Oeſtreichiſchen, ſo freilich auch, nach der Statt
findenden Verbindung, des eigenen und des Deut-
ſchen Intereſſe fuͤhrte, und der in derſelben be-
denklichen Lage der Dinge auch noch benach-
barten, aͤhnlich-geſinnten Staaten zu einem Stuͤt-
zungspunkte diente.


Man denke ſich einen Charakter wie dieſen,
befangen von Roͤmiſch-Franzoͤſiſcher Eleganz,
Beredtſamkeit und Philoſophie, gegenuͤber den
[165] alten Gothiſchen Formen unſerer Reichsverfaſ-
ſung, ferner den derben, vaterlaͤndiſchen, mehr
auf den Stoff, als auf die Form gerichteten,
Sitten! Er konnte ſein Volk nicht begreifen,
wie es vor ſeinen Augen und um ihn her lebte,
geſchweige das Alterthum dieſes Volkes.


So war Friedrich im Anfange ſeiner Lauf-
bahn; indeß iſt er nicht der Erſte, der von ſeinem
Schickſal weit uͤber ſich ſelbſt weggetragen wurde.
Der unuͤberlegte, auf Schein gerichtete Thaten-
trieb ſeiner Jugend ward in langen, ungluͤckli-
chen und gluͤcklichen, Erfahrungen zu einem wah-
ren Helden-Charakter ausgebildet, ſtarr und ver-
ſchloſſen, aber nicht ohne liebenswuͤrdiges, menſch-
liches Beiweſen, womit indeß vielmehr ſein koͤ-
nigliches Privatleben, als ſeine Regenten-Lauf-
bahn, geſchmuͤckt wurde. Sein Volk war wenig
faͤhig, alles das Franzoͤſiſch-Roͤmiſche, Trajani-
ſche, Mark-Alureliſche Weſen zu faſſen, worin
der Koͤnig nun, da er ſelbſt eine Roͤmiſche
Thaten-Laufbahn zuruͤckgelegt hatte, beſtaͤrkt
war. Um ſo einſamer, um ſo erhabener uͤber ſein
Volk, glaubte Friedrich zu ſeyn. In eine gewiſſes
tiefes Mißverſtaͤndniß mit ſich ſelbſt aber, das
kenntlich genug in vielen Privataͤußerungen ſei-
nes ſpaͤteren Alters liegt, doch ſich nie in der
Feſtigkeit und Praͤciſion ſeiner Regierung er-
[166] blicken ließ, mußte er natuͤrlicher Weiſe gerathen:
Einerſeits durch den Roͤmiſchen Gedanken von
Autokratie und unbedingter Macht, den das
Schickſal in ſeiner Seele befeſtigt hatte; andrer-
ſeits durch die Ideen von Freiheit, von Aufklaͤ-
rung und Humanitaͤt, die uͤber ſein Herz große
Gewalt ausuͤbten, und die er auch keinesweges
mala fide als eine bloße Maske des Despotis-
mus gebrauchte. —


Was wir in dieſen Vorleſungen Nationa-
litaͤt
genannt haben, jene goͤttliche Harmonie,
Gegenſeitigkeit und Wechſelwirkung zwiſchen dem
Privat- und oͤffentlichen Intereſſe, konnte der ſel-
tene Mann, obwohl in ſeiner Art vollendet nach
Zeit- und fruͤherer Bildungsweiſe, nicht mehr ver-
ſtehen lernen. Mit der Einen Hand gab er den
Geiſtern Freiheit und Toleranz; fuͤr die andre
ſchien ihm nichts uͤbrig, als eben dieſelben Gei-
ſter in eine kalte, mechaniſche Form zuſammen
zu druͤcken.


So wie aber Friedrich’s Privat-Leben von
dem oͤffentlichen ſcharf getrennt blieb: ſo war
es unter ihm auch in ſeinem Staate, und nicht
ohne nachbleibende Folgen! Der Antheil des
Herzens und des Gemuͤthes wurde ſchwach, un-
fuͤhlbar in der National-Verbindung; und,
wie bei Friedrich ſelbſt, rettete ſich das Edelſte
[167] der Menſchheit in das Privatleben hinein.
Die Freiheit und das Geſetz, welche, wie ich
hinreichend gezeigt habe, ſich ohne Unterlaß ge-
genſeitig bilden ſollen, waren in Friedrichs Mo-
narchie getrennter, als irgendwo ſonſt, und eben
dadurch auch das Privatleben von dem oͤffentli-
chen. Die Maͤngel dieſer, in mancher untergeord-
neten Beziehung bis zur Vollkommenheit aus-
gebildeten, Verwaltung hingen zum Theil freilich
von der Zeit ab. Verſtaͤrkt wurden ſie aber be-
deutend durch die iſolirte Bildung, die dem Koͤ-
nige in ſeiner Jugendzeit abgedrungen und nur
uͤbrig war, und die ihn nicht mit ſeinem, gegen
die Einſeitigkeit dieſer Bildung weit zuruͤckſtehen-
den, Volke hatte vereinigen koͤnnen. Erſt die ſpaͤ-
tere Zeit hat daruͤber mehr aufgeklaͤrt, indeſſen ſie
niemals aufhoͤren kann, ſeinem ſtets auf das
Beſte ſeines Staates gerichteten ernſten Willen
und ſeinem wahrhaften Heldenthum in der eigenen
unermuͤdeten Regierungsarbeit Gerechtigkeit wi-
derfahren zu laſſen. Damit war aber dennoch
der Staat — den Anſichten des anfuͤhrenden
Helden, alſo auch des von ihm geleiteten Volkes,
nach — nichts weiter als eine nur ſo viel als moͤglich
zu vollendende Maſchine in der Hand der hoͤch-
ſten Gewalt; und es mußte von einem ſolchen
Geiſte der Verwaltung auch auf die Diener und
[168] Beamten, welche von dieſem uͤberall ſelbſt mit-
arbeitenden Monarchen ſo durchaus, und oft
im Kleinſten wie im Groͤßten, abhingen, Vieles
uͤbergehen. Ein gewiſſer mechaniſcher Gang der
Geſchaͤftsfuͤhrung mußte ihnen oft eine freie echt-
patriotiſche Verwaltung ihres Berufes erſchwe-
ren. Auch das uͤberwiegende Walten des Ancien-
nitaͤts-Geſetzes konnte keine andre Folge haben,
als daß die Beamten ſchon von den austrock-
nenden Geſchaͤften aufgezehrt waren, ehe ſie zu
den Stellen hinan kamen, worin es ihnen ver-
goͤnnt wurde, dem Willen des Monarchen eine
Art von freier Auslegung zu geben. Die Na-
tion war, nach Theilen, und Dieſes und Jenes
reſpectirend, durch Friedrichs Nahmen, durch ſeine
Thaten, ſeine Schriften, ſeine Lakonismen, und
vor allem durch die ſechs und vierzig-jaͤhrige Ge-
wohnheit, an ſein Zepter gefeſſelt; konnte aber,
eben um dieſer Verſchiedenheit und ganzer Gear-
tung der Motive willen, kein feſt und lebendig
verbundenes Ganze derſelben darſtellen. So
mild und wohlwollend ſich des Koͤnigs Herz,
nach ſeiner innerſten unverkennbaren Beſchaffen-
heit, der Nation gegenuͤber, oft bewegt finden
mußte, und oft wirklich ſo zeigte: ſo waren
doch, nach dem Charakter und der Anſicht ſeiner
Zeit, die groͤßte Summe beherrſchter Quadrat-
[169] Meilen, die arithmetiſche Vermehrung der Volks-
menge, der Einkuͤnfte, der Producte und vor-
zuͤglich — was Friedrich von allen Reſultaten der
Adminiſtration am beſten verſtand — des Geldes,
wie ſchon oben bemerkt worden iſt, die Haupt-
Objecte ſeiner Verwaltung.


Der hier beſchriebene Charakter war freilich zu
nichts weniger geeignet, als zum untergeordneten
Gliede einer Foͤderal-Verfaſſung, wie die des Deut-
ſchen Reiches. Undeutſch war Friedrich in ſeinen
Neigungen, wie im Privatleben uͤberhaupt; un-
empfaͤnglich fuͤr Deutſche Vorzeit, welche von de-
nen Geſchichtſchreibern, die er las, aus Unver-
ſtand am leichtſinnigſten und veraͤchtlichſten behan-
delt war; unfaͤhig, Glied eines Verhaͤltniſſes zu
ſeyn, welches auf irgend einer Art der Gegen-
ſeitigkeit beruhete, alſo unfaͤhig zu dem freien Ge-
horſam, den eine Deutſche Verfaſſung verlangte,
weil er iſolirt und einſam daſtand. Ueberdies war
er in einer ſchneidenden, fruͤh im Hauſe des Va-
ters angewoͤhnten, Oppoſition gegen alles, was
ſich auf Alter und Glauben ſtuͤtzte, in angewoͤhn-
ter Geringſchaͤtzung der Religion, welche die alte
Gewaͤhrleiſterin des Bundes von Deutſchland
geweſen war, und welche er nur, Einerſeits
durch den ſchwankenden Proteſtantismus ſeiner
Geiſtlichkeit, den ſein Scharfſinn leicht zu ver-
[170] nichten wußte, und andrerſeits durch die muth-
willigen, grazioͤſen Spielereien und Zweifeleien
ſeiner Franzoͤſiſchen Freunde kannte. — Wie
haͤtte dieſes alles ohne den entſchiedenſten Ein-
fluß auf den innerſten Geiſt ſeiner Regierung,
und auf die Bildung des Volkes und Staates
unter derſelben, ſo wie auf die ferneren, wenn
auch erſt allmaͤhlich und ſpaͤt ſich entwickelnden,
Schickſale dieſes Staates und Volkes, bleiben
koͤnnen!


Aber, noch ſchlimmer als das! Friedrich —
Theils durch die oben entwickelten, in ſeiner gan-
zen Bildung gegruͤndeten Widerſpruͤche ſeines
Weſens aus Einem Extreme in das andre getrie-
ben, Theils mit wirklicher Abſicht, an welcher
ſeine Erhabenheit und ſeine Schwaͤche gleichen
Antheil hatten — verſpottete in dem Einen Au-
genblicke die Reichsverfaſſung, die er im andern zu
reſpectiren ſchien, und ward ſo, durch dieſe und
andre dem Zeitgeiſte entſprechenden Eigenthuͤmlich-
keiten eine Hauptſtimme unter Denen, welche
die koloſſalen Grundlinien dieſer Verfaſſung ver-
kannten, und dadurch zum Umſturz des alten erha-
benen Bundes mit beigetragen haben. Friedrichs
Bildung, ſeine Neigungen, ſeine Lage und ſeine
Schickſale, ſeine Erhabenheit und ſeine Schwaͤ-
che, ſind lange die Grundlage Deſſen geweſen,
[171] was wir „Preuſſiſcher Staat” nannten; und
deshalb haben ſie naͤher betrachtet werden muͤſ-
ſen, um zu zeigen, wie Einerſeits die von ihm
dem ganzen Staate eingepraͤgte mechaniſche Be-
griffsform, und wie andrerſeits ein der Belebung
derſelben ganz abgewandter taͤuſchender Schein von
Cultur, Freiheit, Aufklaͤrung und Roͤmiſch-Fran-
zoͤſiſche Philoſophie den innern Widerſpruch her-
beigefuͤhrt haben, der vom Zeitgeiſte vielmehr
gepflegt und nachgeahmt, als geloͤſ’t worden iſt.


Deſſen ungeachtet giebt es einen alten Stamm
Brandenburgiſcher, Preuſſiſcher und Pommer-
ſcher Voͤlker, welche einen wahren nationalen
Charakter behauptet haben, noch immer den alten
Kern der Nation bilden, und an welche ſich die
wahren Wiederherſteller des Preuſſiſchen Nah-
mens jetzt um ſo ſicherer wenden koͤnnen, als ſie
faſt allein ihrem Koͤnige verblieben ſind.


So war Friedrich, der eine Zeitlang dem
ganzen Europa, und noch laͤnger ſeinem eigenen
Staate, alle Vorzeit mit ihren Helden verdeckte
und verdunkelte: ohne Zweifel unter allen Denen,
die ohne Ruͤckſicht auf die Reaction des Volkes,
des eigentlichen Regierungsſtoffs, und ohne Ruͤck-
ſicht auf irgend ein eigentlich nationales Band,
den Gemuͤthern, Voͤlkern und Zeitaltern das Ge-
praͤge ihrer Eigenthuͤmlichkeit aufzudruͤcken unter-
[172] nahmen, einer der Groͤßten und Gruͤndlichſten.
Denn auf welche andre und neue Reſſourcen
des Geiſtes haben ſich denn wohl Die geſtuͤtzt,
welche in ſeine Fußſtapfen in Europa getreten
ſind? — Und uͤber dies alles hatte Friedrich
noch die Anlage einer perſoͤnlichen, menſchlichen
Liebenswuͤrdigkeit, und vermochte, wenn auch
nur fuͤr die Eine folgende Generation, doch we-
nigſtens fuͤr dieſe, Ahnherr, ich moͤchte ſagen
Nationalgott, zu ſeyn. Indeß — wie ſchon er-
innert, und aus der Popularitaͤt ſeiner Regen-
ten-Laufbahn und aus den vielen Nachahmern
derſelben (wobei wir nur der ſonderbarſten Er-
ſcheinung, Joſephs des Zweiten, gedenken wol-
len) zu erkennen iſt — gehoͤrt Friedrich der
Zweite vielmehr Europa, als dem Preuſſiſchen
Staate insbeſondre, an. Er iſt die Erſcheinung
in der Weltgeſchichte, die nach den verſchwunde-
nen Inſtituten des Mittelalters, nach dem auf-
geloͤſ’ten religioͤſen Verbande der Europaͤiſchen
Voͤlker, nothwendig folgen mußte.


Wenn das Leben der Geſetze entwichen, wenn
keine Perſoͤnlichkeit mehr in den Staatsformen,
wie in den alten Standesunterſchieden, zu fin-
den iſt: — dann, da das Gemeinweſen nun ein-
mal nicht bloße todte Sache, oder Convolut tod-
ter Sachen und Begriffe, ſeyn kann, ſondern
[173] unaufhoͤrlich wenigſtens perſoͤnlicher und lebendi-
ger Anfriſchung bedarf: — dann melden ſich, wer-
den herbei gerufen, herbei gezwungen von dem duͤr-
ren Zeitalter, heerfuͤhrende Perſonen. So zwang
Rom, als der Geiſt und das Leben der Verfaſſung
entwichen war, ſeinen Caͤſar, und Griechenland
ſeinen Alexander herbei. Friedrich und die Nach-
folger ſeines Verfahrens, nicht ſeines Thrones,
empfingen ihre Rollen aus den Haͤnden der Zeit:
das Interregnum des Glaubens und der Natio-
nalitaͤt muß, da ſich der Menſch nun einmal,
den Sachen zu Gefallen, nicht aller Perſoͤnlich-
keit entaͤußern kann, erfuͤllt werden, wenigſtens
mit Gegenſtaͤnden der Bewunderung und Anbe-
tung, indeſſen die wahren Goͤtter laͤngſt ent-
flohen ſind.


Aber nicht bloß um ihrer Inſtitutionen, ihrer
Staatseinrichtungen, nicht bloß um ihres Ein-
fluſſes auf die Nachwelt oder um ihrer Verhaͤlt-
niſſe zu der Vorwelt willen, muͤſſen Charaktere
wie Friedrich ſtudiert werden, ſondern auch, wie
ich mich zu zeigen bemuͤhet habe, um das Zeit-
alter und ſeine Gebrechen zu erkennen. — —


Wenn uͤbrigens irgend etwas den richtigen Sinn
des jetztregierenden Koͤnigs von Preuſſen beweiſ’t,
ſo war es die innere Abneigung, die er vor der
unbedingten Adoration ſeines Großoheims, deſſen
[174] Genie er perſoͤnlich verehrt, bei vielen Gelegen-
heiten gezeigt hat. Die bekannte, und dem großen
Haufen der Kunſtfreunde und gebildeten Dilet-
tanten unſrer Zeit unverſtaͤndlich geweſene, Cabi-
netsordre an die Akademie der Kuͤnſte, worin der
Koͤnig ſeinen Wunſch aͤußerte, viel lieber Gegen-
ſtaͤnde aus der aͤlteren vaterlaͤndiſchen Geſchichte,
als aus der Griechiſchen und Roͤmiſchen Mytho-
logie behandelt zu ſehen, ferner ſein beſtaͤndiger
Drang, neben dem Ruhme Friedrichs des Zwei-
ten, auch den viel nationaleren des großen Kur-
fuͤrſten Friedrich Wilhelms, und aͤlterer Helden
des Brandenburgiſchen Hauſes, geltend zu ma-
chen —: alle dieſe Umſtaͤnde beweiſen, wie rich-
tig der Koͤnig fuͤhlte, daß Friedrich der Zweite,
mit ſeinen Thaten, ſeinem Ruhm und ſeiner
Groͤße, dennoch eine Art von Scheidewand bilde-
te zwiſchen den eigentlichen Ahnherren der Preuſ-
ſiſchen Monarchie und ihren Enkeln.


Es iſt nicht dem Charakter dieſer Vorleſungen
gemaͤß, aus irgend einer einzelnen Individualitaͤt
— denn, wie groß oder wie klein ſie ſeyn moͤge,
iſt ſie doch gegen die hier beabſichtigte Idee immer
noch viel zu klein — Geſetze uͤber den Staat,
uͤber ſeinen Bau und die ewige Nothwendigkeit
ſeines inneren Lebens herzuleiten, eben ſo wenig
aus dem Gerichte, das uͤber einen einzelnen hiſto-
[175] riſchen Charakter gehalten wird, die Idee des
uͤber Fuͤrſten und Voͤlker waltenden ewigen Rech-
tes zu folgern. Friedrich wurde hier beigebracht
als Repraͤſentant, als deutlichſter, vollſtaͤndig-
ſter und auch groͤßter Repraͤſentant, jener trauri-
gen Geſchiedenheit und Miſchung von Privat-
und oͤffentlichem Leben, aus der ſich der allge-
meine Egoismus, und die allgemeine Noth, alſo
auch die Aufloͤſung des Staatenſcheins, mit dem
ſich noch jetzt unſre ihm ganz widerſprechenden
Herzen ſchmeicheln, entwickeln muß. —


Das, was aus Friedrich nur kraͤftiger ſprach
und concentrirter agirte, weil ſein Genius ge-
waltiger war, als der Genius der meiſten vor-
angegangenen, aͤhnlich Geſinnten, iſt — nur zer-
ſtreuter, einzelner und verkleideter, aber um nichts
weniger ſichtbar — bereits in den beiden vor-
angegangenen Jahrhunderten zu finden. Sie
kennen es; ich habe hinlaͤnglich beſchrieben, wie es
ſich in den großen Weltbegebenheiten, in den
einzelnen rechtlichen und National-Verhaͤltniſſen,
und ſo auch in jedem einzelnen Individuum, aus-
druͤckt. Alſo werden Sie Sich durch die Erinne-
rung an die Weltumſtaͤnde, denen Friedrich unter-
worfen war, wie wir Alle es ſind, und durch
die Erinnerung an unzaͤhlige einzelne ſchoͤne Zuͤge,
in denen ſich ſeine unſterbliche Natur offenbarte,
[176] und deren ſie Alle in ihrem Gedaͤchtniß aufbewah-
ren, wieder beſaͤnftigen laſſen, und mir die Kri-
tik verzeihen, die den Repraͤſentanten trifft, aber
eigentlich den Committenten deſſelben in den letz-
ten drei Jahrhunderten gilt. —


Die Rechtlichkeit und die unverkennbare Ge-
muͤthsreinheit des gegenwaͤrtigen Koͤnigs von
Preuſſen, und die ungluͤcksvollen Ereigniſſe, die
wir Alle, ich glaube mit großem Antheil, erlebt
haben, koͤnnten wohl jene Deutſch-geſinnten Ge-
muͤther, die einen alten nicht ganz ungerechten
Groll, nicht ſowohl gegen Preuſſen als gegen
manche Unternehmungen und Inſtitute Friedrichs,
im Herzen trugen, endlich beſaͤnftigen. —


Mit dem Vaterlaͤndiſchen, und — halten Sie
es meiner Perſoͤnlichkeit zu gut — mit dem naͤch-
ſten, ſchließt ſich meine Rechtslehre. Wer jemals
erwogen hat, was Deutſchland iſt, wird dieſe
Betrachtung fuͤr keine Epiſode halten.


Vier-
[[177]]

Viertes Buch.
Von der Idee des Geldes und des
National-Reichthums
.


Müllers Elemente. II. [12]
[[178]][179]

Achtzehnte Vorleſung.


Vom individuellen (Gebrauchs-) Werthe, und vom geſelligen
(Tauſch-) Werthe der Dinge.


Der Grund von der Unbeſtimmtheit und Man-
gelhaftigkeit der meiſten Anſichten vom National-
Reichthum liegt hauptſaͤchlich darin, daß man
nicht gehoͤrig aufgefaßt hat, was unter dem
Worte Reichthum zu verſtehen ſey. Man
dachte ſich im gemeinen Leben unter Reichthum
eine verhaͤltnißmaͤßig große Menge von Privat-
eigenthum oder von Sachen. Dennoch fiel es
niemanden ein, Den, welcher z. B. eine betraͤcht-
liche Sammlung der mannichfaltigſten Conchylien,
Inſecten oder andrer Naturmerkwuͤrdigkeiten be-
ſaß, deswegen „einen reichen Mann” zu nennen.
— Man ſchaͤtzte vielmehr einen Andern, der
große Getreidevorraͤthe in ſeinen Speichern auf-
gehaͤuft, oder große Summen Geldes in ſeinen
Koffern geſammelt hatte, ungeachtet der Einfoͤr-
migkeit ſeines Vorraths und der großen Man-
[180] nichfaltigkeit in den Sammlungen jenes Natur-
forſchers, dennoch unbedingt fuͤr einen reicheren
Mann. —


Alſo die unmittelbare Brauchbarkeit
des Vorrathes fuͤr die buͤrgerliche Ge-
ſellſchaft
gab in unſern Augen dem Privat-
Eigenthum jenes Kornhaͤndlers oder Banquiers
einen Vorzug vor dem viel ſeltneren und mannich-
faltigeren Eigenthume des Naturforſchers. Der
einfoͤrmige Vorrath an Getreide und Gelde, war,
weil ihn viele, weil ihn alle Mitglieder der Ge-
ſellſchaft gebrauchen und begehren koͤnnen, in
unſern Augen mehr werth, als der mannich-
faltige Vorrath des Naturforſchers, deſſen Nutz-
barkeit nur Wenigen einleuchtet, und der fuͤr
ſehr Wenige ein Beduͤrfniß wird. — Wir nennen
alſo Den reich, welcher Das hat, was ſehr Viele
begehren; der dem zu Folge vielen Menſchen
wichtiger und nothwendiger iſt; der alſo durch
ſeinen Beſitz einen groͤßeren Einfluß auf die buͤr-
gerliche Geſellſchaft hat.


Jede Sache, wie jede Perſon, hat einen
doppelten Charakter; laſſen Sie uns den Einen
ihren Privat-Charakter, den andern ihren
duͤrgerlichen Charakter nennen. Eine Sache
kann, weil eine freundſchaftliche Erinnerung dar-
an haftet, einen ſehr großen Werth, ein pretium
[181] affectionis
, fuͤr mich haben, und dennoch kann
ſich nach meinem Tode, wenn mein geſammtes
Mobiliar nach ſeinem buͤrgerlichen oder Geld-
Werthe angeſchlagen wird, zeigen, daß ſie in
den Augen der buͤrgerlichen Geſellſchaft wenig
oder nichts bedeutet; d. h.: eine Sache kann
einen ſehr bedeutenden Privat-Charakter,
und doch einen ſehr geringen unſcheinbaren buͤr-
gerlichen Charakter
haben. In Deutſch-
land ſind vielleicht hundert Conchylien-Sammler,
und dagegen einige Millionen Getreideſammler;
mit andern Worten: eine ſeltne Conchylie wird
hoͤchſtens nur von hundert Mitgliedern der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, ein Scheffel ſeltenes Korn
wird von Millionen Buͤrgern begehrt werden;
das Korn alſo wird ein Grund der Vereinigung
fuͤr Viele, die Conchylie nur fuͤr Wenige. In-
deß, wie Wenige es auch ſeyn moͤgen, welche
die ſeltene Neigung fuͤr Muſcheln, Schnecken
und Inſecten halben, ſo laͤßt ſich dennoch von
dergleichen Sachen nicht behaupten, daß ſie gar
keinen buͤrgerlichen Charakter haͤtten: ſie werden
ein Grund des Verkehrs und der Correſpondenz
fuͤr eine einzelne Gruppe von Buͤrgern.


So hat alſo jede Sache die doppelte Eigen-
ſchaft, 1) daß ſie das Beduͤrfniß eines einzelnen
Menſchen werden, und daß ſie deſſen ungeachtet
[182] auch wieder 2) das Beduͤrfniß von Zweien ſeyn
kann. Sie hat Einerſeits einen individuellen
Werth
, durch das, was ſie im unmittelbaren
Gebrauch oder im directen Genuß iſt, andrer-
ſeits einen geſelligen Werth, durch das, was
ſie im mittelbaren Gebrauch iſt, oder im Tauſch
und im Handel. Jede Sache iſt zuerſt un-
mittelbar an ihren Eigenthuͤmer gebunden, und
dann iſt ſie auch wieder ein Band zwiſchen dem
Eigenthuͤmer und ſeinen Nebenmenſchen. Jede
Sache iſt, weil ſie gebraucht, verzehrt und ge-
noſſen werden kann, dem einzelnen Menſchen
unterworfen, ſie iſt Gegenſtand des Privat-
Eigenthums; aber die, auch gegen Sachen gerechte
Natur, hat ihr eine andre Eigenſchaft gegeben:
die nehmlich, daß ſie von Mehreren begehrt
werden kann, kraft deren ſie gewiſſermaßen frei
und perſoͤnlich zu nennen iſt; ſie iſt Gegenſtand
des National-Eigenthums, und nicht bloß des
Privat-Eigenthums. —


Die Diſtinction dieſer beiden Eigenſchaften,
ſo wichtig und folgenreich ſie fuͤr die Finanz-Lehre
auch ſeyn mag, klingt in unſerem Zeitalter hoͤchſt
ſpitzfindig; und dennoch wurde ſie von allen Ge-
ſetzgebungen, welche der Natur der menſchlichen
und geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe treu geblieben
ſind, anerkannt. Jene Hollaͤndiſchen Kaufleute,
[183] welche den ungebuͤhrlichen Vorrath von Gewuͤr-
zen verbrannten, oder ein reicher Kornwucherer,
der, in Zeiten großer Theurung, einige Wochen
vor der neuen Ernte einen Theil ſeines Vor-
raths zerſtoͤrt, weil er die Preiſe feſthalten,
auch nicht durch allzu bedeutende Zufuhr aus ſei-
nen Speichern Verdacht erwecken will — wird
von Jedem, der ſein Verfahren kennt, fuͤr einen
Verraͤther an der buͤrgerlichen Geſellſchaft gehal-
ten, ungeachtet ihm alle Privatgeſetze das unbe-
dingte Privateigenthum, alſo das Recht uͤber
Leben und Tod ſeiner Sachen, zuſprechen. Hier
zeigt es ſich deutlich, daß die Geſellſchaft bei den
wichtigſten Sachen die doppelte Eigenſchaft
eingeſteht, welche ich allen Sachen ohne Aus-
nahme zugeſchrieben habe; ſie betrachtet offenbar
jenes Gewuͤrz und dieſes Getreide unter einem
doppelten Geſichtspunkte: zuerſt als einen Ge-
genſtand des Privat-Eigenthums und als ſolchen
dem individuellen Eigenthuͤmer unterworfen; und
dann zweitens, als einen Gegenſtand des Na-
tional-Eigenthums, als ſolchen in einem freien
Verhaͤltniſſe zu der buͤrgerlichen Geſellſchaft uͤber-
haupt. Eben ſo war es, wie ich hinreichend
bewieſen habe, in der Lehnsgeſetzgebung und in
der Moſaiſchen der Fall mit dem wichtigſten
Eigenthume, mit dem Grundeigenthume uͤber-
[184] haupt. — Alſo, daß ich Sachen beſitze, die
nicht bloß fuͤr mich, ſondern zugleich fuͤr alle
Uebrigen oder fuͤr die Nation einen Werth ha-
ben; daß ich Sachen habe, deren doppelte Eigen-
ſchaft, deren Privat- und deren buͤrgerlicher Cha-
rakter, deren individueller Werth und deren ge-
ſelliger Werth allgemein anerkannt iſt; daß ich
Sachen habe, die mir unterworfen, aber auch
wieder in hohem Grade frei und der Geſellſchaft
unterworfen ſind: — das macht mich, nach dem
gewoͤhnlichen Urtheile der Welt, zum reichen
Mann; und dieſes gilt mehr vom Geld- und Ge-
treide-Beſitzer, als vom Conchylien-Beſitzer.


Der bloße Beſitz von Sachen alſo, in wie
großer Menge dieſelben auch vorhanden waͤren,
macht den Privatmann noch nicht zum reichen
Manne, ſondern es muß noch ein aͤußeres viel-
faͤltiges Begehren hinzukommen: die Sachen
muͤſſen einen, ihrem individuellen Gebrauchs-
werth oder ihrem Privat-Werthe, angemeſſenen
National-Werth, oder allgemeinen Tauſchwerth
haben, wenn von Reichthum die Rede ſeyn
ſoll. Kurz, wie man von Bauern, die an ein
beſtimmtes Grundeigenthum angeheftet (glebae
adscripti
) ſind, ſo, daß ſie von dem beſtimmten
Gute rechtlich nicht abgeſondert werden koͤnnen,
zu ſagen pflegt, daß ſie wie Sachen behandelt
[185] wuͤrden: — ſo kann man von Sachen, die an
keine beſtimmte Perſon fuͤr immer angeheftet,
durch ihre innere Nuͤtzlichkeit ein Gegenſtand
vielfaͤltigen Begehrens ſind, und, dieſem Begeh-
ren folgend, heute dieſem, morgen jenem Indi-
viduum in der Nation als Arbeiter dienen, ſa-
gen, daß ſie wie freie Perſonen behandelt
werden.


Das Geld z. B. iſt offenbar in dieſem freien
perſoͤnlichen Umgange mit dem Menſchen: es
laͤßt ſich unterjochen, einſperren und iſoliren,
wie man Menſchen unterdruͤcken und gefangen
halten kann. Wer es hat, glaubt es feſthalten
zu koͤnnen, er glaubt es ausſchließlich zu beſit-
zen; aber das Beduͤrfniß der naͤchſten Stunde
ſteht dem augenblicklich unterdruͤckten Gelde bei:
alle Beduͤrfniſſe verbinden ſich um das eingefan-
gene Geld wieder zu befreien und die gehemmte
Bewegung und Circulation des Geldes (welches
eben die deutlichen Kennzeichen der Perſoͤnlichkeit
des Geldes ſind) wieder herzuſtellen, und um den
ſogenannten Eigenthuͤmer zu uͤberfuͤhren, daß jener
ausſchließende Beſitz, womit ihm ſein Egoismus
und die Roͤmiſchen Geſetze geſchmeichelt haben,
doch nicht Statt findet, vielmehr, daß er nur einen
Theil davon beſitzt, daß die geſellſchaftliche Ge-
ſammtheit eben ſo viel Recht daran hat, und
[186] daß ihm vom Gelde, wie von allem moͤglichen
Beſitz, nur ein Nießbrauch, eine Art von vor-
uͤbergehendem Lehnseigenthum, zu Theil werden
kann. —


Wenn nun alſo erſt durch die Geſellſchaft,
durch ihre Luſt und ihr Begehren, das, was
der Einzelne beſitzt, wahren Werth bekommt;
wenn z. B. die National-Ernte der Privat-Ernte
auf einem einzelnen Gute, die an und fuͤr ſich
einen durchaus unbeſtimmten, nicht zu berech-
nenden Werth hat, erſt einen beſtimmten und zu
berechnenden Werth giebt; wenn z. B. vor etwa
funfzehn bis zwanzig Jahren ein betraͤchtliches
Magazin von Schnuͤrleibern, durch die ploͤtzliche
Ungunſt der Geſellſchaft gegen dergleichen Druck,
zu einem ſehr geringen Werthe herabſinken konn-
te; wenn ſelbſt Geld und Getreide und alle Be-
duͤrfniſſe der erſten Nothwendigkeit von jeder
Veraͤnderung in den geſellſchaftlichen Verhaͤltniſ-
ſen abhangen, und im Grunde von Moment zu
Moment den Preis und auch ihren wirklichen
Werth veraͤndern: — was iſt denn alſo der
ſichre und ſolide Reichthum eines Menſchen,
eines Staates, oder uͤberhaupt irgend eines In-
dividuums? —


Daß Vorraͤthe von Sachen, welche die bei-
den Eigenſchaften wahrer Sachen, den Privat-
[187] Charakter und den buͤrgerlichen Charakter, oder
individuellen und geſelligen Werth, in einem ho-
hen Grade vereinigen, ſo wie Getreide und Geld,
daß ſolche Vorraͤthe ein Zeichen des Reichthums
ſind, haben wir oben entwickelt; aber dieſe Vor-
raͤthe ſcheinen nur zu ſagen: „hier in unſrer
Gegend ungefaͤhr iſt der Reichthum zu finden;
wir deuten den Reichthum an, und koͤnnten ihn
auch immer mehr hervorbringen helfen: doch wir
ſelbſt ſind der Reichthum noch nicht; denn ſollte
es jemanden einfallen, uns bloß und ausſchließ-
lich feſtzuhalten, in der Meinung, wir ſeyen
der Reichthum, ſo moͤchte ein ſolcher Geitziger,
gerade auf ſo lange, als er die Tyrannei uͤber
uns ausuͤbte, wirklich arm zu nennen ſeyn.” —
Dieſes nun waͤre eine kluge Rede; denn, wenn
der Werth der Dinge gerade auf ihrem doppel-
ten Charakter, auf ihrem buͤrgerlichen und ihrem
Privat-Charakter, beruhet, ſo nimmt ihnen ja
der Geitzige ihren Werth, indem er ſich ihrer
abſolut bemeiſtern, alſo nur die Eine Seite ihres
Charakters, nehmlich ihren Privat-Charakter, re-
ſpectiren und gebrauchen will. —


Alſo die doppelte Eigenſchaft der Sachen ſoll
nicht bloß reſpectirt, erkannt und geſchaͤtzt, ſon-
dern ihr gemaͤß ſollen die Sachen auch gebraucht
werden: der Menſch ſoll, durch den zuerſt in
[188] die Augen fallenden Privat-Charakter der Sachen
verfuͤhrt, nicht ſelbſt zur Sache, zum abſoluten
Privatmann werden; er ſoll allezeit bedenken,
daß er, wie ich an der Sache gezeigt habe, eben
ſo wohl Eigenthum ſeiner ſelbſt, als Eigenthum
der buͤrgerlichen Geſellſchaft, iſt; daß er eben-
falls einen doppelten Werth hat, einen
individuellen und einen geſelligen
; daß
er ein gleichguͤltiges Beſitzſtuͤck des Staates ſeyn
kann, wie die ofterwaͤhnte Conchylie, wenn
er einen großen individuellen und egoiſti-
ſchen Werth hat, bei einem geringen geſelligen
und nationalen Werth; daß er aber auch ein
Schatz, ein Kennzeichen des Reichthums fuͤr den
Staat werden kann, wie Korn und Geld, wenn
er ſich einen gleich-großen individuellen und na-
tionalen Werth zu geben weiß, wenn in ſeinem
Herzen beſtaͤndig das eigene Intereſſe und das
Intereſſe des Ganzen in ebenmaͤßiger Wechſel-
wirkung ſtehen.


Wie wird ſich alſo in der Ausuͤbung aͤußern,
ob der Menſch bloß eine unbrauchbare Raritaͤt,
wie ſo viele Virtuoſen, Gelehrte und gebildete
Leute, oder ob er ein realer und lebendiger
Schatz, ein wirkliches Reichthums-Kennzeichen,
fuͤr die buͤrgerliche Geſellſchaft ſey? — Ob er die
doppelte Eigenſchaft aller Perſonen und Sachen,
[189] welche die buͤrgerliche Geſellſchaft ausmachen,
ob er den Privat- und den buͤrgerlichen Charak-
ter aller Dinge, jeden an ſeinem Orte, zu reſpec-
tiren verſteht: darin wird ſich zeigen, ob er die
beiden großen und ewigen Qualificationen, den
Privatmann und den Buͤrger, in ſchoͤnem Eben-
maße zu vereinigen wiſſe, und ob er ſelbſt dem-
nach ein wuͤrdiges Beſitzſtuͤck der Menſch-
heit ſey
. —


Der Reichthum iſt alſo kein Begriff; er liegt
nicht in den bloßen Sachen, er laͤßt ſich nicht
feſthalten, indem man die Sachen feſthaͤlt, oder
vermehrt: er liegt eben ſo wohl im Gebrauch,
als im Beſitz. Was Reichthum ſey, eben ſo
wohl, wie das, was Recht ſey, laͤßt ſich im
Stillſtande, oder aus dem aufgeſpeicherten Ei-
genthume, eben ſo wenig erkennen, wie aus den
aufgeſpeicherten Geſetz- und Rechts-Inſtitutionen
das Recht. — Die bloße Veranſchlagung der
Kraͤfte und Beſitzſtuͤcke einer Nation, uͤberhaupt
alles, was ſich in Zahlen angeben laͤßt, giebt
bloß zu erkennen, daß der Reichthum Statt
finden kann: ſeine wirkliche Exiſtenz laͤßt ſich
nur im Gebrauch, in der Bewegung, erkennen
und zeigen. Man muß den Lauf der Jahrhun-
derte mit in die Berechnung ziehen; und ſollten
auch bei dieſem erhabneren Calcul die meiſten
[190] von den alten, in gewoͤhnlichen Berechnungen
ſo wichtigen, Zahlen verſchwinden und unrich-
tig befunden werden: ſo tritt dafuͤr nun fuͤr
unſre Reſultate eine neue und hoͤhere Sicherheit
ein, als die gemeine Arithmetik, in der Anwen-
dung auf den ganzen Menſchen und auf den
ganzen Staat, in ihrer unbeſtimmten Beſtimmt-
heit gewaͤhren kann; es treten andre Buͤrgen
ein, als Rechenmeiſter, nehmlich das Geſetz der
Natur und der Zeit.


Freilich wird auch hier wieder der oͤkonomi-
ſchen Kunſt, die wir beſchreiben und ausuͤben
wollen, das oͤkonomiſche Handwerk in den Weg
geſtellt werden muͤſſen, wie oben das juriſtiſche
Handwerk der geſetzerzeugenden, echt juriſtiſchen
Kunſt manche Schwierigkeiten erregte; indeß wer-
den auch hier, wie dort, dieſe Schwierigkeiten
gerade unſern Lauf befoͤrdern, und dem ewigen
Sinne unſeres Unternehmens — durch den Con-
traſt, durch eine untergelegte Folie — die klaren
Umriſſe zu geben dienen, welche jede große
Abſicht erſt von der ſie antaſtenden und beſpoͤt-
telnden Gewoͤhnlichkeit erhaͤlt. — Man kann die
Wahrheit nicht beſſer verklaͤren als indem man
mancherlei Formen des Irrthums ſich gegen ſie
dramatiſch auflehnen und ſprechen laͤßt. —


Wie oben in der Betrachtung des Rechtes,
[191] ſo hier in der Betrachtung des Reichthums kommt
alles darauf an, daß die falſche Unterſcheidung
der Perſonen von den Sachen — oder des hand-
greiflich lebendigen, menſchlichen Fleiſches von
allen uͤbrigen Dingen, die ihr Leben oder ihren
lebendigen Einfluß auf die buͤrgerliche Geſellſchaft,
wenn auch nicht durch leibhaftiges Umhergehen,
Sprechen und Arbeiten, dennoch, jedes in ſeiner
Sprache, vernehmlich genug darthun — beſeitigt
werde. Kein Zeitalter hat den groͤßtmoͤglichen
Beſitz von Sachen ſo erſtrebt und vergoͤttert,
wie das unſrige; kein Zeitalter hat aber auch,
in ſolchem Widerſpruche mit ſich ſelbſt, die hei-
ligſten und ehrwuͤrdigſten Beſitzthuͤmer und uͤber-
haupt alle Sachen, in denſelben politiſchen und
philoſophiſchen Syſtemen, mit Einem Munde,
in Einer und derſelben Periode wieder verachtet,
und ihnen alles Leben, alle Freiheit, alle geſell-
ſchaftliche, rechtliche und ſittliche Bedeutung ab-
geſprochen, wie das unſrige. Jene rohe Diſtinction,
vermoͤge deren man viele große, erhabene, zur
Erhaltung ganzer Staaten unentbehrliche Dinge
fahren laſſen kann, um ein ſogenanntes Men-
ſchenleben zu retten — jene rohe Diſtinction, die
Quelle unzaͤhliger Irrthuͤmer, haben wir nicht
gebrauchen koͤnnen; wir haben erklaͤrt und be-
wieſen, daß jedes Object der Staatskunſt,
[192] gleich-viel, ob es dem gemeinen Auge als eine
Perſon, oder als eine Sache erſcheine, eine
doppelte Natur habe: eine perſoͤnliche,
und eine ſaͤchliche
.


Wenn man von einer Sache ſagt, daß ſie
nuͤtzlich ſey, ſo behauptet man damit, daß ſie
in Beziehung auf die buͤrgerliche Geſellſchaft
einen Werth habe, d. h., wie nun hinreichend
klar ſeyn wird, daß ſie vom Staate einen wirk-
lich perſoͤnlichen Charakter erhalte, kraft deſſen
ſie dem Staate diene, wie wir andern leiblichen
Perſonen eben auch. Eine nuͤtzliche Sache wird
beſeſſen, gerade wie man eine Perſon beſitzt: ſie
wird geſchont wie eine Perſon, trotz dem ver-
derbten Roͤmiſchen Recht, welches dieſes Ver-
haͤltniß nicht begreifen kann und dem Eigenthuͤ-
mer das Recht uͤber Leben und Tod zuſpricht,
waͤhrend die Polizei und die Finanz-Geſetze deſſel-
ben Staates jenem unbedingten Rechte durchaus
widerſprechen und es in unzaͤhligen Faͤllen wieder
aufheben muͤſſen. Dieſe heben nicht bloß das
Recht uͤber Leben und Tod auf: ſie verbieten
wohl gar, die Sache in eine andre zu verwan-
deln, z. B. das Korn in Branntwein, wohl gar
die Sache von Einem Orte nach dem andern zu
bringen, z. B. Korn oder Geld in’s Ausland. —


Laſſen Sie uns die Reſultate unſrer Be-
trach-
[193] trachtung zuſammen faſſen! Alle Individuen im
Staate, ſowohl Perſonen als Sachen, haben
einen doppelten Charakter: einen ſaͤchlichen
oder Privat-Charakter, und einen perſoͤnli-
chen
oder buͤrgerlichen. In wie fern dieſe beiden
einander unterſtuͤtzenden und hebenden Grundei-
genſchaften der Perſonen und der Sachen wech-
ſelſeitig ausgebildet und entwickelt ſind, in ſo
fern und in dem Maße iſt ihnen Werth zuzu-
ſchreiben, und ſind ſie Objecte des Reichthums.
Was heißen die Worte: „die Sache hat ei-
nen Tauſchwerth?” Nichts Anderes als: ſie
kann das Begehren zweier Perſonen vermit-
teln, vertragen, und auseinander ſetzen; ſie hat
eine Kraft zu vergleichen und zu entſcheiden, ſo
gut wie der Menſch, der Richter. Die Sache
nun, welche dieſe Eigenſchaft des Vermittelns
und des Entſcheidens vorzuͤglich ausuͤbt, d. h.
welche am meiſten buͤrgerliche Kraft beſitzt, nen-
nen wir, mit Bezug auf dieſe Kraft: Geld,
ſey es nun Rindvieh, wie bei den Homeriſchen
Griechen, Salz, wie in Abyſſinien, Taback, wie
in Virginien, Zuckerrohr, wie in vielen Theilen
von Weſtindien, Naͤgel, wie hier und da im
Schottiſchen Hochlande, oder edle Metalle und
Papier, wie bei uns. Indeß iſt es klar, daß
eine Sache, ſobald ſie auch nur von zwei Men-
Müllers Elemente. II. [13]
[194] ſchen begehrt werden kann, in Bezug auf dieſe
Beiden nun die Stelle des Geldes vertritt: in
ſo fern ſie Tauſchwerth hat, iſt ſie Geld; in ſo
fern ſie buͤrgerlichen Charakter hat, iſt ſie Geld.
Wir koͤnnen alſo unſer Reſultat auch auf fol-
gende Weiſe ausdruͤcken. alle Individuen im
Staate
, ſowohl Menſchen als Sachen, ha-
ben einen doppelten Charakter
: zuerſt
ſind ſie etwas fuͤr ſich, oder an ſich; dann
aber ſind ſie auch noch etwas, als Geld. —
Die Paradoxie dieſes Ausdruckes iſt nothwendig;
denn alle bisherigen, zum Theil ſehr gluͤcklichen,
Beſtrebungen, die Wiſſenſchaft der National-Oeko-
nomie zu begruͤnden, ſind im ſchoͤnſten Laufe un-
terbrochen und von der rechten Bahn abgelenkt
worden, durch einen gewiſſen fixen Begriff vom
Gelde, den uns die mechaniſche Form unſrer
buͤrgerlichen Einrichtungen von Jugend auf einge-
praͤgt hat. Geld iſt eine Idee; oder, ſollte dieſes
Wort noch etwas Anſtoͤßiges haben, Geld iſt eine
allen Individuen der buͤrgerlichen Geſellſchaft in-
haͤrirende Eigenſchaft, kraft deren ſie mehr oder
weniger mit den uͤbrigen Individuen in Verbin-
dung zu treten und auch wieder die verbundenen
Individuen aus einander zu ſetzen vermoͤgen. Wir
ſind gewohnt, diejenigen unter allen Sachen,
welche bis jetzt die, Einerſeits zur Verbindung und
Vermittelung unter den Individuen, andrerſeits
[195] zur Auseinanderſetzung nothwendigen Eigenſchaf-
ten am vollkommenſten vereinigen, nehmlich die
edlen Metalle, Geld zu nennen, obgleich, wie
ich gezeigt habe, dieſe Benennung von unendlich
groͤßerer Ausdehnung iſt. Keine Waare hat bis
jetzt die Geld-Eigenſchaft, oder den buͤrgerli-
chen, geſelligen Werth aller andern ſo deutlich
dargeſtellt (repraͤſentirt), wie die edlen Metalle:
dieſe ſind geſchickt 1) zur Vermittelung oder Ver-
bindung der Individuen durch ihre Dauerhaftig-
keit, durch ihre fortwaͤhrende Gleichartigkeit und
durch ihre Transportabilitaͤt, welche eine Folge
ihrer verhaͤltnißmaͤßigen Seltenheit iſt; 2) zur
Auseinanderſetzung der Individuen, durch ihre
Theilbarkeit. —


Indeß hat der buͤrgerliche oder der Geld-Cha-
rakter der edlem Metalle ſo gut, wie der Cha-
rakter aller andern Individuen in der buͤrgerli-
chen Geſellſchaft, ſeine Grenze. Wir finden es
z. B. unſchicklich, wenn Metallgeld die zer-
ſtoͤrte Harmonie zweier Freunde wieder herſtellt
oder vermittelt, oder wenn neuere Lehrer der
Staatswirthſchaft ohne alle Scham den Krie-
gesdienſt, den Stand der Staatsbeamten oder
Gelehrten eine Geld-Lotterie nennen — als ob
die Ausſicht auf einen gewiſſen Metallgeld-Gewinn
die militaͤriſchen und buͤrgerlichen Thaten zu ver-
[196] gelten, und alſo auch hier das Metallgeld den
Staat und das verdienſtvolle Individuum aus
einander zu ſetzen im Stande waͤre! — Ferner
hat ſich, durch die großartige Natur, welche der
Welthandel angenommen hat, der buͤrgerliche Cha-
rakter des Metallgeldes auch zur Vermittelung
und Auseinanderſetzung der aͤußeren Beduͤrfniſſe
des Menſchen als unzureichend bewieſen: auf den
großen Marktplaͤtzen des Welthandels, in Groß-
brittanien z. B., iſt im gegenwaͤrtigen Augen-
blicke das Metallgeld vielmehr ein bloßer Maßſtab
zur quantitativen und qualitativen Abſchaͤtzung der
Dinge, es iſt dort vielmehr wichtig als allgemein
verſtaͤndliche oͤkonomiſche Antiquitaͤt, — welche bei-
behalten wird, um der Ordnung und Gleichmaͤ-
ßigkeit aller Geſchaͤfte willen, wie das Pfund
Troy oder die Coͤlniſche Mark — denn als wirk-
licher, directer und unmittelbarer Vermittler und
Auseinanderſetzer der kaufmaͤnniſchen Geſchaͤfte.
Ein ſchriftlich gegebnes Wort, als Aſſignation,
Banknote, Drei-pro-Cent-Stock, wird man frei-
lich, der Ordnung und Gleichmaͤßigkeit halber,
auf jenen Maßſtab des Metallgeldes beziehen; es
koͤnnte aber deſſen ungeachtet hundert Jahre cir-
culiren, ohne ein einziges Mal in Metallgeld rea-
liſirt zu werden. — Ferner an andern Orten,
wo durch Krieg, National-Ungluͤck oder gewiſſe
[197] Mißverhaͤltniſſe des Handels das Metallgeld ſich
verloren, dient es nun gleichfalls nur als reiner
Maßſtab: das Papiergeld wird auch hier, der
Ordnung halber, und wegen der Uebereinſtim-
mung mit den Nachbarn und Vorfahren, auf
Metallgeld bezogen. Wenn man mich aber fragt,
was in Oeſtreich eigentlich Geld ſey und die
aͤußeren Verhaͤltniſſe der Individuen vermittele
und ausein ander ſetze; ſo ſage ich: ein kaiſerliches
Wort, ein National-Wort, welches hier ver-
mittelſt der Theilbarkeit, Beweglichkeit und Deut-
lichkeit des Papiers, zum allgemeinen oͤkonomi-
ſchen
Auseinanderſetzungs- und Vermittelungs-
Inſtrument wird, wie daſſelbe kaiſerliche oder Na-
tional-Wort wieder dort, vermittelſt der Klug-
heit, Beweglichkeit und Geſetzmaͤßigkeit einer
großen Anzahl von Richtern und Beamten aller
Art, zum juriſtiſchen Auseinanderſetzungs-
und Vermittelungs-Inſtrumente. — Mit der un-
geheuren Vermehrung unſrer Induſtrie, unſres
Handels und Verkehrs, kann das Metallgeld
nicht Schritt halten; und trotz dem ungeheuren
Mißverhaͤltniſſe zwiſchen dem wenigen Metall-
gelde und den unendlich vielen Waaren, wird
das Metallgeld nicht theurer, vielmehr taͤglich
wohlfeiler, dagegen alle Waaren theurer. Alle
dieſe Umſtaͤnde zeigen, daß ſchon jetzt ein andres
[198] und viel hoͤheres Geld circuliren muß, als das
Metallgeld, welches hoͤhere wir einſtweilen das
Wort-
oder das Credit-Geld nennen wollen. —


Indeß, dieſe ganze Auseinanderſetzung ſoll wei-
ter nichts beweiſen, als daß die Idee der geſell-
ſchaftlichen Bedeutung keinesweges an das Me-
tallgeld gebunden iſt, und daß der erſte Schritt
aller wahren Erwaͤgung der Staats- und Na-
tional-Oekonomie der ſey, daß man jenes abſo-
lute und inſtinctartige Haften am Metallgelde
unmoͤglich mache, indem man zeigt, daß das
Geld eine Idee, oder eine allen Individuen
der buͤrgerlichen Geſellſchaft inhaͤrirende Eigen-
ſchaft iſt. In dem Maße, wie der Menſch
ſelbſt ſeinen buͤrgerlichen Charakter erweitert,
und immer Mehreren zum Beduͤrfniſſe wird: in
dem Maße wird er ſelbſt immer mehr zum wah-
ren Gelde, in dem erhabenen, nur ideenweiſe
und lebendig zu erkennenden Sinne des Wortes,
den ich aufgeſtellt habe. Alſo es gilt von den
gegenwaͤrtig ſo genannten Perſonen, wie von
den ſo genannten Sachen; in ſo fern dieſe Geld-
eigenſchaft durch Fabrication, Induſtrie, und
nuͤtzliche Verarbeitung aller Art an den Sachen,
durch Geſchicklichkeit, Brauchbarkeit, National-
ſinn u. ſ. w. an den Perſonen immer mehr aus-
gebildet wird: in ſo fern waͤchſt der National-
[199] Reichthum; und die hier beſchriebene Idee des
Geldes
iſt das eigentliche und ewige Object des
National-Reichthums. Daß alle Individuen im
Staate den Charakter des Geldes annehmen, oder
immer mehr zu wahrem Gelde werden; daß ſich
ihr wahrer Werth im Tauſch, im Verkehr, im
geſelligen Leben, daß ſich, wie ich es noch be-
zeichnender nannte, ihr buͤrgerlicher Charak-
ter
, erhoͤhe: dahin geht das große und eigent-
lich nationale Streben des Staatswirthes. —
Je mehr jedes einzelne Individuum im Staate,
Sache oder Perſon, mit allen uͤbrigen in Bezie-
hungen tritt, je mehr es ſich alſo zu Gelde macht:
um ſo concentrirter und lebendiger wird der
Staat, um ſo gewandter bewegt er ſich, um ſo
groͤßere Kraftaͤußerungen kann er hervorbringen,
um ſo mehr kann er produciren. —


Die meiſten ſtaatswirthſchaftlichen Syſteme
ſind auf die Hervorbringung der groͤßten Anzahl
nuͤtzlicher Producte, d. h. ſolcher Producte, die
einen allgemein anerkannten buͤrgerlichen Charak-
ter, oder einen entſchiedenen Tauſchwerth haben,
gerichtet. Dawider lieſſe ſich nichts einwenden,
wenn ſie nicht das Wort „Product” in ſei-
ner groͤbſten Bedeutung naͤhmen, und darunter
nichts als rohe, ergreifbare Sachen verſtaͤnden.
Es iſt klar, wenn man, einem todten Begriffe
[200] zu Gefallen, das Gebiet der Oekonomie aus dem
Staate wiſſenſchaftlich heraus ſchneidet, da doch
in der Wirklichkeit wohl die Haushaltung des
Staates mit dem Staate nicht bloß innig ver-
flochten, ſondern Eins mit ihm ſeyn muß; wenn
man den Finanzſtaat von dem Rechtsſtaate wirk-
lich abloͤſet; wenn man hier das Geſetz und dort
den Nutzen einſeitig behaupten will: ſo iſt nun,
nachdem man die Glieder des Staates wiſſen-
ſchaftlich iſolirt hat, ſo wenig weiter an eine
Ganzheit des Staates zu denken, als, nachdem
man die menſchlichen Glieder, Kopf und Haͤnde,
abgeſchnitten haͤtte, weiter an eine Ganzheit des
Menſchen. — Ein oͤkonomiſches Syſtem, welches,
wie das von Adam Smith, die idealiſchen Pro-
ductionen, das wiſſenſchaftliche Geld, nicht als
ein mit dem großen National-Hausweſen unzer-
trennlich und organiſch verbundenes Glied anzu-
ſchauen wuͤßte, wird, wie viel Großes, Tiefes
und Richtiges es auch nebenher enthalten moͤge,
dennoch als Syſtem, und bloß deshalb, weil es
ein Syſtem abgeſchloſſener Begriffe hat ſeyn wol-
len, und weil es den Reichthum des Staates
ſeiner eigenen todten Form nachgebildet und
ſich denſelben als ein abgeſchloſſenes Convolut
ergreifbarer Sachen gedacht hat, nothwendig un-
tergehen muͤſſen, wie ſich dies, wenn es noch
[201] weiterer Beweiſe beduͤrfte, an Adam Smith’s
Syſtem in den neueren Angriffen von Lord Lau-
derdale und Brougham deutlich zeigt, ſo wenig
dieſe beiden Autoren auch in dem wahren Stand-
punkte ſtehen, vielmehr in der Syſtem-Sucht viel-
leicht noch tiefer befangen ſind, als Adam
Smith. —


Die Syſteme unſrer Staatswirthe ſtreben
danach, die Production der Sachen fuͤr ſich zu
vermehren und zu vervielfaͤltigen; und da ihnen
Adam Smith bewieſen hat, daß dies um ſo mehr
erreicht wird, je mehr man die Production ſich
ſelbſt uͤberlaͤßt, je mehr man alle Hinderniſſe aus
dem Wege raͤumt, und jeder Production ihre
Freiheit giebt, je mehr man ſich nur darauf
beſchraͤnkt, den Verkehr durch Canaͤle, Landſtra-
ßen, prompte Juſtiz ꝛc. zu erleichtern: ſo ſind
ſie jetzt an mehreren Orten damit beſchaͤftigt,
alle ſo genannten Hinderniſſe der Gewerbe und
des Reichthums, als da ſind Unveraͤußerlichkeits-
geſetze, Adelsrechte, Zuͤnfte, Innungen ꝛc. aufzu-
heben [und] dergeſtalt alle Schranken fortzuſchaf-
fen, welche der Vermehrung und der Verviel-
faͤltigung der Sachen-Production, worauf jenen
Staatswirthen die Welt zu ruhen ſcheint, hin-
derlich ſind. Da entſteht nun — natuͤrlicher Weiſe
in der Theorie — ein Reichthum, der ſich nicht
[202] garantiren kann, wie wir oben einen ſehr conſe-
quenten Rechtszuſtand beſchrieben haben, der
nur den Einen wichtigen Fehler hatte, daß er
ſich nicht ſelbſt garantiren konnte. Wenn ein
ſolcher Staat, und alles Recht und aller Reich-
thum mit ihm, uͤber den Haufen geworfen iſt: —
wird es dann ſeinen Buͤrgern, den ploͤtzlich Ver-
armten, zur Satisfaction gereichen, daß das
Recht und der Reichthum ehemals auf eine Weile
und auf ſo lange es niemand im Großen und
Ganzen anzutaſten wagte, eifrigſt gepflegt wor-
den iſt? —


Wenn wir von Reichthum reden, ſo meinen
wir ebenfalls wieder einen Reichthum, der
ſich ſelbſt garantire
. Deshalb iſt das Ob-
ject unſrer National-Oekonomie ein doppeltes:
1) die groͤßtmoͤgliche Vermehrung und Verviel-
faͤltigung der Producte, oder vielmehr jenes Gel-
des, von welchem wir oben geredet haben, jener
Ruͤtzlichkeit, Brauchbarkeit, Nationalitaͤt, jenes
buͤrgerlichen Charakters, ſo wohl der ſo genann-
ten Perſonen, als der ſo genannten Sachen,
als auch aller idealiſchen Guͤter; aber 2) auch
die Erzeugung und Verinnigung jenes Productes
aller Producte, des oͤkonomiſchen und geſell-
ſchaftlichen Verbandes, des großen Gemeinwe-
ſens, oder des National-Hausweſens. — Wenn
[203] wir dieſes letzte Haupt-Product uͤberſehen, ſo iſt
unſre ganze uͤbrige Production ſehr wenig werth:
ſie iſt ohne Garantie, abhaͤngig von jeder Luft
der Zeit und von jeder Laune des Schickſals.
Erwaͤgen wir, wie das Steigen und Fallen der
Guͤterpreiſe (alſo einer der wichtigſten oͤkonomi-
ſchen Werthe) von den Schwankungen der gro-
ßen Weltbegebenheiten abhaͤngt, denen man durch
keine gemeine oͤkonomiſche Maßregel begegnen kann
und die ſich durch keine Aſſecuranz verhuͤten laſ-
ſen, denen nichts widerſtehet, als jene gediegene,
organiſche Ganzheit, welche der Staat ſeinen
Stuͤrmen entgegenſetzen muß, wie die Eiche den
ihrigen: ſoll dieſe organiſche Ganzheit, von wel-
cher alle unſere unſicheren Berechnungen abhan-
gen, nicht in die oͤkonomiſche Theorie hinein ge-
zogen werden? ſoll ſie nicht auch, und vorzuͤg-
lich, neben den uͤbrigen Producten als ein oͤko-
nomiſches Product betrachtet werden, wie ja
jeder gemeine Speculant wenigſtens ein dunkles
Gefuͤhl von der ſo genannten politiſchen Lage
der Dinge in ſeine Rechnung zieht? — Aber an
dem Guͤterpreiſe wird der unmittelbare Einfluß
der politiſchen Ganzheit auf die Oekonomie noch
nicht ſo ſichtbar, weil alle von außen her kom-
menden Veraͤnderungen ſolcher Art nicht ſo leicht
und unmittelbar den Guͤterbeſitzer anzutaſten ver-
[204] moͤgen. Laſſen Sie uns alſo jenen Gegenſtand, der
jetzt Millionen eben ſo nahe am Herzen liegt, den
Staatscredit, die Schwankungen in dem Werthe
der Staatspapiere, betrachten. Dies iſt ein ſo wich-
tiges Object fuͤr die National-Oekonomie gewor-
den, daß bloß in Oeſtreich und in England ſich die
oſtenſibel darin befangene Nominal-Summe auf
den Werth von etwa 5000 Millionen Thalern be-
laͤuft. Dieſe Summe veraͤndert ſich unſichtbar
in jeder Secunde; kein Calcul kann ihr beikom-
men; ihr Steigen und ihr Fallen erfolgt nach
viel tiefer liegenden Geſetzen. Die wirkliche, durch
kein Palliativ zu erſetzende, innere und aͤußere
National-Kraft giebt dieſer Summe, an der das
Wohl und Weh unzaͤhliger Privat-Oekonomieen
gebunden iſt, Daſeyn oder Nichtſeyn; denn ſie be-
ruhet auf dem Unſicherſten und auf dem Sicher-
ſten, was der Menſch geben oder zahlen kann,
auf dem Worte, auf einem National-Worte,
welches National-Wort wieder auf Dem beruhet,
wovon alles Einzelne wirklich abhaͤngt, wovon
auch die oͤkonomiſche Theorie alles abhaͤngig zei-
gen ſollte: auf der National-Kraft.


In der Lehre vom Credit, welche fuͤr die
Staatswirthe unſrer Zeit ein ſo uͤberwiegendes
Anſehen gewonnen hat, und vor der alle uͤbri-
gen Objecte der oͤkonomiſchen Wiſſenſchaften et-
[205] was in den Schatten treten — wird jenes hoͤ-
here, einzig wahre Geld, von dem das Me-
tallgeld nur ein unvollkommener Repraͤſentant iſt,
ſichtbar, nehmlich das National-Wort, oder,
was daſſelbe ſagen will, die National-Kraft.
Dieſe iſt es, die aus dem Metallgelde hervor-
laͤchelt, und die auch allen andern Beſitz vor-
nehmlich zu einem Gegenſtande unſres Begeh-
rens macht: es iſt ein Theil jener National-Kraft,
ein Abglanz von ihr, der den unbedeutendſten
Sachen ihren Werth giebt. Deshalb habe ich mich
beſtrebt, zuerſt, neben dem Privat-Charakter der
einzelnen Sachen, ihren buͤrgerlichen Charakter
geltend zu machen; anders war uͤberhaupt auch
Das, was wir oͤkonomiſchen Werth genannt ha-
ben, nicht zu erkennen. Aller einzelne Reichthum
muß in und neben dieſem National-Reichthum
(der National-Kraft nehmlich) betrachtet werden;
alle einzelne Production erhaͤlt erſt Werth in
und neben dieſem National-Product.


Anſtatt dieſes National-Productes nun, was
giebt uns die gewoͤhnliche ſtaatswirthſchaftliche
Theorie? Eine traurige, todte Summe aller einzel-
nen Privat-Productionen, die ſie „reines Ein-
kommen“
nennt, die nichts bedeutet, nichts
ſagt, weil Das, was den Zahlen erſt Kraft und
[206] Werth giebt, nehmlich die National-Kraft, außer
Acht gelaſſen wird. Anſtatt die Zeit und die
Kraft der Jahrhunderte in den Calcul zu ziehen,
(wozu Jeder, der die Lehre vom Credit wahr-
haft ergruͤnden will, ſich genoͤthigt ſieht), haͤlt
ſie ſich an den turnus eines einzelnen Jahres:
alle ihre Berechnungen gehen auf das jaͤhrli-
che
reine Einkommen; kurz, wie oben, anſtatt
der volonté générale, nur die traurige Summe
der einzelnen handgreiflichen Willensmeinungen, die
volonté de tous, begriffen wurde, ſo wird uns
hier eine Lehre von dem interêt de tous, an-
ſtatt der Lehre vom interêt général, geboten,
die wir eigentlich begehren.


Aber das Metallgeld in ſeiner traurigen Be-
ſchraͤnkung wird mehr und mehr verdraͤngt wer-
den aus unſern Staaten, und alſo auch aus
der Theorie; es wird fuͤr das hoͤhere oͤkonomiſche
Leben immer unzureichender befunden werden,
wie es ſchon in ſo vielen Staaten der Fall ge-
weſen iſt. Das wahre, ewige Geld wird deutlich
zum Vorſchein kommen, und jede einzelne Oeko-
nomie, wie es ſich gehoͤrt, in deſſen Schickſale,
und ſo wieder in das Intereſſe der National-Kraft,
in den wahren und ewigen interêt général, ver-
flochten werden. Hier iſt das Beduͤrfniß der
[207] Tage ſchon nahe daran, mit meiner Anſicht der
Dinge, oder mit der wahren und ewigen Na-
tur des Staates, nach langer Verirrung, wie-
der gemeinſchaftliche Sache zu machen; aller
Nutzen wieder nahe daran, eine Seele zu bekom-
men, welche ihm lange gefehlt hat.


[208]

Neunzehnte Vorleſung.


Colbert, Adam Smith und die Phyſiokraten.


Die Staatswirthſchaft iſt ſeit noch nicht vollen
hundert Jahren der Gegenſtand einer eigenen
Wiſſenſchaft: je mehr in allen Verhaͤltniſſen des
Lebens der Begriff vom abſoluten Privat-Eigen-
thume und, dem zu Folge, die Abgoͤtterei mit
dem ſaͤchlichen Beſitze, um ſich griff; je weniger
mit der Perſon und alſo mit dem Worte, dem
wahren Gelde, gezahlt wurde: um ſo wichtiger
ſchien der Beſitz des Metallgeldes zu werden, da
es die ſtrenge Abgraͤnzung des Privat-Eigenthums
zu garantiren ſchien, indem es durch ſeine aͤußer-
liche Beſtimmtheit den Roͤmiſchen Geſetzen bei-
ſtand, und den Wahn, daß es wirklich noch
Staaten gebe, aufrecht erhielt, eine Weile wenig-
ſtens. Die Welt war auf den Beſitz von Sachen
gerichtet: ſo ſtrebte ſie erſt nach Gold; und als
die Indien immerfort den Heißhunger noch nicht
ſtillen
[209] ſtillen wollten, trauete ſich der Menſch in ſeinem
Uebermuthe ſogar die Kraft zu, das Gold kuͤnſt-
lich in den Schmelztiegel herbei zu zwingen, wel-
cher Schwindel die bedeutendſten Koͤpfe in Eu-
ropa ergriff. Die Regierungen der Voͤlker merk-
ten nicht, daß die Herzen von ihnen abgefallen
waren; denn ſie ſelbſt waren ja in der allgemei-
nen Verzauberung mit befangen: ſie fuͤhlten in-
ſtinctartig, daß ſie zur Erhaltung ihrer Herr-
ſchaft vor allen Dingen den neuen Weltbeherr-
ſcher, das Metallgeld, in ihr Intereſſe ziehen
muͤßten. Wo ſonſt ein perſoͤnlicher Ruf des
Lehnsherrn genuͤgt hatte, da mußte jetzt der
Reitz des Goldes zu Huͤlfe kommen, wenn der
Ruf nicht unwirkſam bleiben ſollte. Militaͤr-
und Civil-Dienſt war nicht anders mehr zu er-
langen, als vermittelſt eines eigentlichen Kauf-,
Mieths- oder Sold-Contractes, kurz, vermit-
telſt einer ſaͤchlichen Verpflichtung. —


So ſtiegen die ſaͤchlichen Beduͤrfniſſe der Re-
gierungen, und die hervorragende Wichtigkeit des
Finanz-Miniſters. Vor zwanzig Jahren war
man ſchon ſo weit gekommen, die Hoffnung zu
naͤhren, daß alle Kriege aus den Staaten, we-
nigſtens aus dem Continent von Europa, auf
das Meer hinaus induſtrirt werden wuͤrden. Der
Seekrieg, meinte man, waͤre eigentlich der wahre
Müllers Elemente. II. [14]
[210] Krieg; da ſtaͤnden, wie es ſich gebuͤhre, viel-
mehr Handel und Handel, Sachen und Sachen,
Geld und Geld einander gegenuͤber, als Perſo-
nen und Perſonen. Man fragte, was die Preuſ-
ſen ihrem ſiebenjaͤhrigen Kriege fuͤr eine Wich-
tigkeit gaͤben! Der Seekrieg zwiſchen England
und Frankreich, ſagte man, ſey die Hauptſache
geweſen, der Preuſſiſche Krieg ein unbedeuten-
der Nebenhandel, wie der Hubertsburger-Friede
eine unwichtige Neben-Clauſel des Pariſer-Frie-
dens. Um den Handel bewege ſich die Welt.


Daß dieſe nichtswuͤrdige Anſicht von den er-
habenen Angelegenheiten unſeres Welttheils noch
jetzt die geſammte Menge von Europa gefangen
haͤlt, fuͤhlen wir Alle an dem allgemeinen Ab-
ſcheu vor der grundloſen Chimaͤre eines Mono-
pols zum Welthandel. Dies Schreckbild wirkt
auf die Seichtigkeit unſrer Zeiten ungefaͤhr ſo,
wie der viel gruͤndlichere Teufel auf die Gruͤnd-
lichkeit des Deutſchen Alterthums.


Kurz, eine Maſchinerie war im Laufe der
letzten Jahrhunderte an die Stelle lebendiger
Vereine, welche lebendigen Menſchen einzig an-
gemeſſen ſind, getreten: eine, der Hinfaͤlligkeit
aller mechaniſchen Veranſtaltungen unterworfene
Maſchinerie, waͤhrend die Idee fuͤr die Ewigkeit
bauet. Es wurde die Aufgabe aller Staats-
[211] wirthſchaft — oder vielmehr aller Regierungen;
denn wie wenige Kraͤfte derſelben blieben von
dem Verkehr des Metallgeldes unberuͤhrt! — die
groͤßtmoͤgliche Summe baaren Metallgeldes vom
Privatmanne herbeizuſchaffen, und, dem zu Folge,
nach der alten Regel, daß der Privatmann erſt
ſelbſt etwas haben muͤſſe, um zu geben, die
groͤßtmoͤgliche Vermehrung des Privatvermoͤgens,
oder des Metallgeldes, zu bewirken. Die Acqui-
ſition der Sachen, die Erweiterung des Beſitzes,
die Uebervortheilung der auswaͤrtigen Nationen,
kurz, reine Plusmacherei wurde das Ziel der
Privat- und der oͤffentlichen Beſtrebungen: in
ein Additions- und Subtractions-Exempel zog
ſich alle politiſche Weisheit zuſammen. Die Fa-
brication ſchien den Sachen den meiſten Metall-
geld-Werth beizuſetzen; ſie ſchien groͤßere Maſſen
des Metallgeldes in’s Land zu bringen, als der
Landbau, der allen Nationen gemeinſchaftlich
war und die Baarſchaften nur indirect und lang-
ſam vermehrte.


Der erſte Staatsmann, welcher dieſes, nach
ſeiner Richtung ſo genannte, mercantiliſche
Syſtem
in dem ganzen Umfange, den es ha-
ben konnte, ausbildete, war Colbert — wenn
man auf ſeinen beſchraͤnkten Standpunkt herab-
ſteigen will, ein Virtuoſe, den Forderungen ſei-
[212] nes Jahrhunderts vollſtaͤndig gewachſen und,
bis auf das Zeitalter der Phyſiokraten herab, Idol
und Muſter aller Financiers auf dem Continent
von Europa. Sein Syſtem harmonirte zu gut
mit dem Geiſte des Jahrhunderts, und mit der
Tendenz der Geiſter, als daß es haͤtte verſchwin-
den koͤnnen, ehe die Umſtaͤnde, welche es her-
vorgebracht hatten, abgeaͤndert wurden.


Die Phyſiokraten und Adam Smith haben
durch Philoſophie und reiche Erfahrung man-
cherlei ewige und auch lebendige Wahrheiten an’s
Licht gebracht, doch ſie nicht in den Zuſtand der
Dinge praktiſch zu verweben gewußt; und ſo iſt
ihnen, nicht etwa wegen der Traͤgheit und Her-
zenshaͤrtigkeit der Regierungen — denn dieſe ma-
chen nun ſchon ſeit beinahe einem halben Jahr-
hundert wirklich Profeſſion davon, das Gute zu
wollen —, ſondern wegen des ihnen widerſtre-
benden Geiſtes der Zeit, der Sieg uͤber Colbert
und die mercantiliſchen Principien nur ſehr un-
vollkommen gelungen. Wenn die Phyſiokraten
und Adam Smith nach Befreiung von den ver-
haßten mercantiliſchen Schranken rufen, ſo ge-
ben ihnen alle Koͤpfe Recht; und deſſen unge-
achtet ſchaffen alle Haͤnde, und regen und bewe-
gen ſich noch jetzt, nach Colbertiſchem Tacte.
Das iſt die Folge von unſren conſequenten Tren-
[213] nungen der Theorie von der Praxis: das eigent-
liche Heft der Regierung der Umſtaͤnde, welches
Colbert, wie ſich aus dem Erfolge zeigt, noch
in hohem Grade feſtzuhalten wußte, iſt aus un-
ſeren Haͤnden genommen; daher ſpielen unſre
Weltverbeſſerer eine ſo traurige Rolle.


Ehe Ihr die Herzen nicht befreien koͤnnt,
werdet Ihr die Induſtrie nicht befreien. Auch
hier werden wir — da wir es gruͤndlicher mei-
nen, und uns nicht, wie die Mode-Oekonomen,
damit begnuͤgen, die Theorie auszufeilen — zur
Anſicht des geſammten Staatshausweſens und
jenes National-Geldes hingedraͤngt, von welchem
ich neulich ſprach. —


Dem Staate Abgaben bezahlen, heißt, nach
den Anſichten aller gemeinen Seelen, etwas weg-
geben, das man ſelbſt entbehrt oder durch das
Weggeben verliert: der Staat, meinen ſie, ge-
winnt auf Koſten der Staatsbuͤrger, wenn er
nicht durch gluͤckliche Kriege das Ausland zu
zahlen noͤthigt; der Buͤrger auf Koſten des Staa-
tes, wenn er ſich nicht durch kluge Speculation
oder Fabrication an dem Auslande ſchadlos haͤlt.
Ungefaͤhr eben ſo raͤſonnirten die gebildeten Leute:
was wir an Buͤrger-Charakter verlieren, kommt
uns als Menſchen zu gute, und die Buͤrger-
pflichten, die Amts- oder, wie man es noch be-
[214] zeichnender nannte, die Brot-Geſchaͤfte koͤn-
nen nur auf Koſten unſrer Ausbildung als Men-
ſchen ausgeuͤbt werden. Nach unſrer Lehre nun,
und nach der Natur der Sachen, ſind Menſch
und Buͤrger Eins und daſſelbe; folglich kann
der Eine nicht gewinnen oder an Werth zuneh-
men, ohne den Andern. Wie daſſelbe auch aus der
Lehre von dem gemeinen Tauſch- oder Geld-Werthe
der Dinge hervorgeht, habe ich neulich gezeigt.


Welche abgeſonderte Taxe der Dinge und der
Menſchen auch auf eine kurze Zeit in Umlauf
ſeyn; wie man auch in einzelnen Zeitraͤumen kei-
nen andern Maßſtab des Werthes Statt finden
laſſen moͤge, als den der Seltenheit oder der
Virtuoſitaͤt: es kommt die Zeit, wo alle dieſe
Virtuoſitaͤten und Seltenheiten nichts mehr be-
deuten, und wo auch in der allgemeinen Mei-
nung nichts mehr gilt, was nicht dem Ganzen
dient, und wo, anſtatt wider Willen einen ro-
hen Tribut hin zu zahlen, Jeder das fuͤr ſeinen
eignen und der Dinge hoͤchſten Werth halten
wird, daß er durch ſich und durch ſie in Stand
geſetzt iſt, dem Staate kraͤftiger zu dienen. —
In der Dauer wird es ſich zeigen, daß aller
wahre Werth ein von der National-Kraft ab-
geleiteter iſt; daß der wahre Gewinn jedes Ein-
zelnen auch Gewinn des Staates, der wahre
[215] Verluſt auch Verluſt des Staates, und daß
eine Abrechnung und jaͤhrliche gegenſeitige Abfin-
dung zwiſchen dem Staat und den Privatper-
ſonen unmoͤglich iſt.


Dadurch alſo, daß die Zeit in die Wiſſen-
ſchaft der National-Oekonomie hinein conſtruirt
wird, und die Dauer in die Lehre vom Werth
und Preiſe der Dinge, bilden ſich lebendige Vor-
ſtellungen vom Reichthume. Nun erſt zeigt ſich
eine unendliche Wechſelwirkung, alſo eine wahre
Gemeinſchaftlichkeit zwiſchen der Nation und den
Privaten, zwiſchen dem Ganzen und den Ein-
zelnen; nun verhalten ſich Suveraͤn und Volk
wie zwei ſtreitende Kraͤfte, aus deren Conflict
eine dritte Kraft hervorgeht: ſie produciren beide
gemeinſchaftlich aus ſich den lebendigen Staat,
anſtatt deſſen, nach der gemeinen Anſicht der
Dinge, beide ſich nur wie ein arithmetiſches +
zu dem — verhalten, die erſt durch das, was
man ſich ſelbſt oder dem Auslande raubt, Sinn,
Wirklichkeit und Bedeutung gewinnen. — Alſo
jedes Individuum, in ſo fern es dem Ganzen
dient, die National-Kraft, oder den Werth des
Ganzen, den echten National-Reichthum erhoͤ-
het: in ſo fern erhaͤlt es von dem Ganzen auch
Werth und Kraft zuruͤck. Das iſt der natuͤrli-
che, wahre und ewige Zuſtand der Dinge.


[216]

Die einfachſte, natuͤrlichſte und naͤchſte Vor-
ſtellung, von der die National-Oekonomie aus-
geht und zu der ſie wieder zuruͤckkehrt, iſt die
Vorſtellung des Beduͤrfniſſes. Laſſen Sie
uns dieſelbe in ihrer hoͤchſten Allgemeinheit auf-
faſſen, ſo iſt es der Drang nach Vereini-
gung, welcher in allen Individuen der
buͤrgerlichen oder der menſchlichen Ge-
ſellſchaft Statt findet
; meinethalben moͤgen
wir dies erſt einſeitig ſo ausdruͤcken: der Drang
des Menſchen, ſich die Dinge und Perſonen
dienſtbar zu machen. Eine Unterſcheidung der
besoins de première necessité von den ſoge-
nannten besoins factices iſt vorlaͤufig nicht noͤthig,
und koͤnnte auch unſern Standpunkt verruͤcken, da
wir in einer Zeit leben, wo die eigentlichen ewi-
gen besoins de première necessité des Men-
ſchen, nicht des Thieres, nehmlich das Recht
und die buͤrgerliche Geſellſchaft, nicht dafuͤr an-
erkannt werden.


Das Fortſchleppen der aͤußeren Lebenszeichen
vermittelſt der ſogenannten besoins de pre-
mière necessité
iſt ein viel zu unwuͤrdiger Zweck
fuͤr eine Wiſſenſchaft. Das Streben der Men-
ſchen, ſich die Sachen und die Perſonen dienſt-
bar zu machen, ſoll und darf keine Grenzen
haben; es ſoll im vollen Sinne des Wortes un-
[217] endlich
ſeyn, wie es auch die Natur dazu be-
ſtimmt hat: alles ſoll ein Gegenſtand des menſch-
lichen Begehrens werden, damit nichts außer-
halb der Vereinigung ſtehe, ohne welche die
Menſchen nichts ſind, und durch welche ſie erſt
ihre Bedeutung als Menſchen erhalten.


Das Begehren ſoll keine Grenzen haben,
wohl aber Schranken, die nehmlich, welche
in der Natur der Sache, und zwar in dem all-
gemein durch die ganze Natur verbreiteten Ver-
haͤltniſſe der Gegenſeitigkeit liegen: nehmlich, in
ſo fern ich begehre oder Andrer bedarf, begehren
mich und beduͤrfen mein auch die Andern. Dieſes
gegenſeitige Begehren der Individuen vertraͤgt
und verſchraͤnkt ſich, ſetzt ſich unter einander in’s
Gleichgewicht; d. h. es hebt ſich nicht unter ein-
ander auf, ſondern es erzeugt eine fortſchreitende
Thaͤtigkeit, eine lebendige Kraft, oder Arbeit. —


So wie die Rechtslehre von der Vorſtellung
der Freiheit ausgeht, von einem Streben jeder
einzelnen Natur, ſich von der andern unabhaͤn-
gig zu machen, und ſich auf ſich ſelbſt ruhend
zu behaupten, doch, indem ſie dieſes Streben und
dieſe Freiheit einer Natur ſtatuirt, zugleich das
Gegenſtreben und die Gegenfreiheit andrer Na-
turen ſtatuiren muß: ſo geht die Oekonomie von
der Vorſtellung der Nothwendigkeit oder des Be-
[218] duͤrfniſſes aus, ſetzt das Begehren und Beduͤr-
fen der Einen Natur und zugleich das Gegenbe-
gehren und Gegenbeduͤrfen der andern; beide un-
zertrennlich von einander. Die Freiheit regt ſich
gegen die Freiheit; und ſo wird das erzeugt,
was wir Handlung nennen und vor den Rich-
terſtuhl des Rechtes ziehen: — gegen das Be-
duͤrfniß regt ſich das Gegenbeduͤrfniß; und ſo
wird das erzeugt, was wir Arbeit nennen
und vor das oͤkonomiſche Forum ziehen. Ein Be-
duͤrfniß ohne Ruͤckſicht auf das Gegenbeduͤrfniß
der Andern befriedigen, nennen wir Raub;
die Freiheit abſolut und ohne Ruͤckſicht auf Ge-
genfreiheit behaupten, nennen wir Verrath. —


Je lebhafter Freiheit und Gegenfreiheit
einander beruͤhren, um ſo maͤchtiger wird das
Geſetz: das war der Grundgedanke meiner ganzen
Rechtslehre; aus dem Kriege der Freiheit mit
der Gegenfreiheit, und auf keine andre Weiſe,
iſt der Friede oder das lebendige Geſetz zu erzeu-
gen. Daher hat die Natur in jeder Familie, wie
ich gezeigt habe, das Schema zu der Grundun-
gleichheit des ganzen Geſchlechtes, oder die entge-
gengeſetzteſten Formen der Freiheit, niedergelegt:
Alter und Jugend, Mann und Weib; darum
hat, nach den wahren Geſetzen der Natur, daſ-
ſelbe Schema in der Familie aller Familien,
[219] im Staate, ſich wiederholen muͤſſen, und iſt
im Großen und Ganzen der buͤrgerlichen Geſell-
ſchaft, unter der Geſtalt der Standesunterſchiede,
wieder an’s Licht getreten: als geiſtlicher Stand
und als weltlicher; als Adel und Buͤrgerſchaft.
Der Staat in der Vollendung iſt wieder ſo rein
und naturgemaͤß erſchienen, wie im Anbeginn;
alles aber, damit die großen Grundformen der
Freiheit im oͤffentlichen Leben, wie im Privat-
leben, ſich gleich-richtig darſtellten, und damit
die Haupt-Extreme der Freiheit, welche jeder
Buͤrger zu vereinigen hat, ihm beſtaͤndig gegen-
waͤrtig waͤren, oder deutlich repraͤſentirt wuͤrden,
wo er auch hinſaͤhe, auf ſich oder auf das Ganze;
damit Alle erkennen, daß nur ein Friede, oder
ein Recht moͤglich waͤre, welche aus Streit oder
wahrer Beruͤckſichtigung aller einzelnen ſtreiten-
den Freiheiten hervorgehen. Die lebhafte, un-
endliche Beruͤhrung der Freiheit mit der Gegen-
freiheit erzeugte alſo dort das Geſetz. In der
Oekonomie entwickelt ſich eben ſo der Reichthum
aus lebhafterer Beruͤhrung des gegenſeitigen Be-
gehrens und der Beduͤrfniſſe: um die Stroͤme
der Erde, um die großen Binnenwaſſer, wie das
mittellaͤndiſche Meer, welche die Beruͤhrung des
allerentgegengeſetzteſten Begehrens vornehmlich be-
foͤrdern, hat ſich zuerſt der Reichthum gezeigt. —


[220]

Wie, nach dem Schema der Familie, die Frei-
heit
ſich oben ſpaltete in die Freiheit des Alters
und der Jugend, in die Freiheit des Mannes
und des Weibes: ſo theilt ſich hier das Be-
duͤrfniß
in Beduͤrfniß des Alters und der Ju-
gend, in maͤnnliches und weibliches Beduͤrfniß.
Laſſen Sie Sich von dieſer Eintheilung nicht
abſchrecken durch ihre anſcheinende Paradoxie;
die Paradoxie liegt nicht in mir, ſondern in den
einſeitigen Anſichten, die wir von der, wie ich ſie
beſchrieben habe, ſehr jungen Wiſſenſchaft der
National-Oekonomie empfangen haben. Die Wiſ-
ſenſchaft entſtand erſt, als, wie ich gezeigt,
das Metallgeld ſchon die Gemuͤther aller Men-
ſchen regierte: deshalb wurde ſie, wie das Me-
tallgeld, bloß auf Sachen bezogen; man ſah die
oͤkonomiſche Bedeutung der Perſonen nicht ein,
und ließ dieſelbe ganz außer der Wiſſenſchaft.
Nachdem wir aber, wie ich neulich gezeigt habe,
zu einer hoͤheren Anſicht des Geldes durch die Zeit
hingenoͤthigt worden ſind, da das gemeine Geld
nicht mehr hinreicht, den Streit der Beduͤrfniſſe
zu vermitteln und aus einander zu ſetzen: ſo
laͤßt ſich auch das Beduͤrfniß nicht mehr als Be-
griff auf bloße Sachen beziehen. Es muß ideen-
weiſe und lebendig aufgefaßt und auf alle Indi-
viduen des Staates, Perſonen und Sachen, be-
[221] zogen werden. Laſſen Sie uns alſo Beduͤrfniß
des Alters in geiſtiges Beduͤrfniß uͤberſetzen;
Beduͤrfniß der Jugend, in phyſiſches Be-
duͤrfniß; maͤnnliches Beduͤrfniß, in Beduͤrfniß
zu produciren; weibliches Beduͤrfniß, in Be-
duͤrfniß zu erhalten. —


Wenn Sie die innere Beſtimmung und Na-
tur der beiden Menſchenalter, wie der beiden
Menſchengeſchlechter, erwaͤgen, ſo werden Sie
erkennen, wie dieſe beiden Grundunterſchiede in
der Familie auf das genaueſte den Geiſt der
weſentlichen Gattungen, hier des Beduͤrfniſſes,
wie oben der Freiheit, ausdruͤcken. Wie in der
Familie unter den ſo genannten Perſonen das
Alter den erſten Stand, die Geiſtlichkeit, abbil-
det, durch ihren geiſtigen Reichthum an Erfah-
rungen und den von der Natur ihr beſonders
angewieſenen Verkehr mit dem Ewigen und Un-
endlichen; ferner, wie die Jugend, welche ſich in
Weiblichkeit und Maͤnnlichkeit bricht, den zwei-
ten und dritten Stand abbildet — die Frauen,
denen die Erhaltung, Fortpflanzung und Verei-
nigung des Geſchlechtes von der Natur uͤbertra-
gen worden iſt, den zweiten, die Maͤnner, denen
das Schaffen und Verſorgen und die tauſendfaͤl-
tige Erfuͤllung der Gegenwart obliegt, den drit-
ten, den tiers-état der Natur —: ſo ſtellen in
[222] derſelben Familie unter den ſogenannten Sachen
die Ideen den erſten Stand, und die realen Be-
ſitzthuͤmer, welche ſich in Grundeigenthum und
bewegliches Eigenthum brechen, den zweiten und
dritten Stand dar.


Da nun uͤberhaupt von der gegenwaͤrtigen
Staatswiſſenſchaft die geiſtliche Natur des Staa-
tes gar nicht, die adelige Natur deſſelben nur
halb und im Roͤmiſchen Geiſte beachtet, hinge-
gen die buͤrgerliche Natur abſolut und ausſchlie-
ßend erwogen wird —: ſo weiß ich Ihnen die
heutige National-Oekonomie in ihrer Unvollſtaͤn-
digkeit und Halbheit nicht deutlicher zu charakte-
riſiren, als indem ich Ihnen erklaͤre, daß ſie den
erſten Stand der oͤkonomiſchen Objecte, die Ideen,
gar nicht, den zweiten Stand, die oͤkonomiſchen
Verhaͤltniſſe des Menſchen zum Grund und Bo-
den (wie ſich das weiter unten noch beſtimmter
zeigen wird) nur halb und nach der Manier
der beweglichen Beſitzſtuͤcke, den dritten Stand,
nehmlich die beweglichen Sachen, nur abſolut und
ausſchließend zu erwaͤgen verſteht, daß ſie dem-
nach durch und durch unvollſtaͤndig, gebrechlich
und beſonders, den hochtrabenden Nahmen, wel-
chen ſie ſich ſelbſt gegeben, zum Trotz, hoͤchſt un-
national iſt — Denn da ſie, ganz den Vorſchrif-
ten der Natur entgegen, — die, um den Menſchen
[223] die nothwendige Wechſelwirkung der Beduͤrfniſſe,
aus welchen der Reichthum, oder, wie ich neulich
gezeigt habe, die National-Kraft hervorgeht, be-
ſtaͤndig gegenwaͤrtig zu erhalten, die geſammten
gleich-nothwendigen Beduͤrfniſſe des Menſchen
in drei große Grundunterſchiede gebrochen hat —
nur die Eine Gattung, nehmlich die beweglichen
Beduͤrfniſſe, beachtet, und den Grundbeſitz nur, in
ſo fern er veraͤußerlich, oder nach den Anſichten
einer flatterhaften Zeit ſelbſt flatterhaft und be-
weglich iſt [...] ſo iſt es ganz klar, daß dieſe Wiſ-
ſenſchaft bei allem Aufwande von Erfahrung und
Scharfſinn, welche ihr vortrefflicher Autor, Adam
Smith, darauf gerichtet hat, durchaus unnatio-
nal und vornehmlich unpraktiſch geblieben iſt,
oder doch, daß einzelne Elemente oder Vorſchrif-
ten derſelben nur zum großen Nachtheil des
wirklichen Staates dahin haben uͤbertragen wer-
den koͤnnen.


Die Summe der beweglichen Productionen
und auch wohl der Grundſtuͤcke, uͤber die gerade
eben ſo willkuͤhrlich geſchaltet wurde, wie uͤber
die anderen Werke menſchlicher Fabrik, dieſe
Summe heißt bei den National-Oekonomen
auch National-Reichthum, und ihre Vermehrung
Vervielfaͤltigung und Multiplication iſt der an-
[224] erkannte Zweck der ganzen vermeintlichen Wiſ-
ſenſchaft.


Daß indeß eine tiefere Rechnung dazu erfor-
dert wird, als eine einfache arithmetiſche, wer-
den Sie Alle aus meinen Praͤmiſſen ahnden. Die
Wiſſenſchaft der National-Oekonomie liegt in
derſelben Corruption, wie die andere groͤßere,
welche wir mit dem erhabenen Nahmen „Ma-
thematik
” bezeichnen. Auch die Mathematik
hat es mit drei Staͤnden zu thun: mit der Ma-
thematik der Ideen, mit der Mathematik des
Stetigen (welche die Alten ſehr bezeichnend
Geometrie nannten, indem ſie dem Grundei-
genthume entſpricht), und mit der Mathematik
der Zahlen, welche dem beweglichen Beſitze ent-
ſpricht. Hier, wie in der National-Oekonomie,
(wie denn uͤberhaupt alle Wiſſenſchaften nach
einer und derſelben Regel corrumpirt werden)
wird der erſte Stand gar nicht, der zweite
Stand, der geometriſche, nur halb und nach arith-
metiſcher Manier, der dritte Stand hingegen
abſolut und ausſchließlich betrachtet und bearbei-
tet. — Auch die Mathematik iſt zertruͤmmert, wie
der Staat; kein Schickſal kann dieſen treffen,
welches die Wiſſenſchaften verſchonte, deren Na-
tionalitaͤt oder wahrer, concentriſcher Zuſammen-
hang Eins iſt mit der Nationalitaͤt, oder dem
Zu-
[225] Zuſammenhange des Staates; wie uͤberhaupt die
wahre Idee unzertrennlich von der wahren Rea-
litaͤt.


Die wahre National-Oekonomie hat alſo,
außer der Production, die man gewoͤhnlich
zu ihrem ausſchließenden Zwecke macht, noch die
Conſervation, Conſolidirung und Capitaliſi-
rung, und endlich die Verbindung des Products
und des Geiſtes der Erhaltung, welcher ſich im
Grund und Boden darſtellt, mit jener Idee,
mit jenem Leben des buͤrgerlichen und menſchli-
chen Ganzen, zu ihrem Gegenſtande. Wie nun
in der Wirklichkeit kein einzelner dieſer drei Grund-
zwecke in einem bedeutenden Grade erreicht wer-
den kann, ohne daß eine inſtinctartige Verfol-
gung der beiden andern Zwecke mit einwirkt: ſo
iſt allerdings eine große Fuͤlle und Mannichfal-
tigkeit der Producte, und vornehmlich eine be-
ſchleunigte Proportion in der Vermehrung der-
ſelben, eins von den Kennzeichen des Reich-
thums; aber ſie iſt noch nicht der Reichthum.
Wenn Einerſeits das Princip der Erhaltung,
Conſolidirung und Capitaliſirung, oder andrer-
ſeits die politiſche Idee, welche den ganzen Reich-
thum bindet und aufrecht erhaͤlt, verſchwaͤnde:
ſo wuͤrden ſich alle jene Producte von ſelbſt
ſchon verlieren.


Müllers Elemente. II. [15]
[226]

Die bisherige Wiſſenſchaft von der Natio-
nal-Oekonomie, oder, wie ich gezeigt habe, von
der rohen Production, oder von einem einzel-
nen hervorſtechenden Kennzeichen des Reichthums
iſt groͤßten Theils in England ausgebildet wor-
den, in dem Lande, wo ſeit mehreren Jahrhun-
derten das Princip der Erhaltung, und die Idee
des nationalen Ganzen, durch Verfaſſung, durch
Sitte und Gewohnheit inſtinctartig befeſtigt ſind.
Die Engliſchen, oͤkonomiſchen Autoren duͤrfen eher
die Production ausſchließend in’s Auge faſſen,
als wir Rechner des Continents; denn die uͤbri-
gen Bedingungen des Reichthums ſind bei ihnen
ſchon ein Gegebenes, wiewohl auch dort die ſpe-
culative und die praktiſche Oekonomie ſich zur Zeit
noch nicht um ein Bedeutendes haben gegenſeitig
annaͤhern wollen, eben weil in der Wirklichkeit
jene beiden Elemente der Conſervation und der
Nationaliſirung oder Idealiſirung, welche die
Theoretiker nur indirect und ohne eigentliches Be-
wußtſeyn in ihre Rechnung ziehen, unaufhoͤrlich
mit in Anregung kommen. Indeß iſt die Deut-
ſche Nachbeterei des Adam Smith, welche, wie
ſo vieles andre Unnationale, Mode geworden,
vornehmlich unpaſſend, und zeigt, daß ſich alle
eigenthuͤmliche Tuͤchtigkeit Deutſcher Denkungs-
art und Wiſſenſchaft verliert. —


[227]

Die Franzoͤſiſche Schule des Quesnay, Leib-
arztes bei Ludwig XV, eines von den groͤßten
Koͤpfen ſeiner Zeit, in welcher Nahmen, wie
Turgot, der aͤltere Mirabeau, Dupont von Ne-
mours, le Trosne, der jetzt regierende Markgraf
von Baden hervorragen, nahm in ihren ganzen
Betrachtungen die Exiſtenz der uneingeſchraͤnk-
teſten Suveraͤnetaͤt, oder der vollſtaͤndig concen-
trirten National-Kraft, als ein Gegebenes an,
konnte alſo, indem ſie den Reichthum in ſeiner,
Macht und Nationalitaͤt erzeugenden, Natur ganz
uͤberſah, keinen unmittelbaren praktiſchen Ein-
fluß erhalten, wenn ſie auch der Wiſſenſchaft ein
neues Leben gab, dadurch, daß ſie, der Colberti-
ſchen Schule zum Trotz, nachdem die Regierun-
gen ein volles Jahrhundert hindurch nach der
Production des Beweglichen, der Fabrication
und dem Metallgelde, ausſchließend geſtrebt hat-
te, nun einmal den Accent, zwar nicht auf die
Grundſtuͤcke, aber doch auf den Ackerbau ſetzte.
Dieſe Schule von der natuͤrlichen Ordnung der
Geſellſchaft, welche in Deutſchland unter dem
Nahmen der Phyſiokraten, in Frankreich aber
mehr unter dem Nahmen der Oekonomiſten be-
kannt iſt, verhielt ſich zur Wiſſenſchaft der Oeko-
nomie, wie ſich das Deutſche Naturrecht zu der
Wiſſenſchaft des Rechtes verhaͤlt. —


[228]

Alle drei Secten, die mercantiliſche des Col-
bert, die phyſiokratiſche des Quesnay, und die
Freiheits-Secte des Adam Smith, drehen ſich
— zum Zeichen, daß der Grundirrthum allen ge-
mein ſey — um die Frage: welche Arbeit im
Staate iſt eigentlich productiv oder wirklich
bereichernd? Wiewohl nun dieſe Frage im Fort-
gange der Zeiten immer richtiger beantwortet iſt,
indem Colbert erwiederte: „die, welche Me-
tallgeld einbringt;” Quesnay: „die, welche
auf den Grund und Boden gewendet wird, in-
dem alle andern Arbeiten nur modificiren, die
aber, welche auf die Oberflaͤche der Erde gerich-
tet iſt, wirklich im vollen Verſtande des Wortes
hervorbringt;” endlich Adam Smith: „die,
welche ein Object hervorbringt, das Tauſch-
werth hat,” oder (nach meiner neulichen Erlaͤu-
terung) buͤrgerlichen Charakter —; ſo bleiben
doch die beiden eben ſo wichtigen Fragen: welche
Kraft oder Thaͤtigkeit im Staate iſt erhaltend?
und welche Arbeit iſt zwiſchen der Dauer und
dem beweglichen Product vermittelnd? — Fra-
gen, welche eben ſo gruͤndlich beantwortet wer-
den muͤſſen — voͤllig unbeachtet, und werden
an andere Behoͤrden verwieſen. Daher kommt
denn die einſeitige Wiſſenſchaft von der Produc-
tion zuletzt an eine abſolute Grenze, uͤber die ſie
[229] nicht Herr werden kann. Die oͤkonomiſche Wich-
tigkeit, wenn auch nicht des Adels und der Geiſt-
lichkeit, doch der Staatsbeamten, begreift jeder-
mann; und doch muß Adam Smith auch dieſe
aus dem Kreiſe der productiven Arbeiter abſolut
ausſchließen, weil ſie kein wirkliches handgreifli-
ches Product, welches in den buͤrgerlichen Ver-
kehr uͤbergeht und den allgemeinen Geſetzen des
Handels folgt, hervorbringen.


Der große Mann bleibt, wie hoch und wie
weit ſeine Seele auch ſtreben mochte, durch den
elenden Reifen eines todten Begriffes gebunden,
in den Umkreis eines beſtimmten Syſtems ge-
bannt; die geiſtigen Beduͤrfniſſe, wie unmittelbar
und belebend und unentbehrlich ſie auch in die
Production, die er beabſichtigt, eingreifen moͤgen,
bleiben außerhalb der Oekonomie, und der wich-
tige geiſtige Verkehr bleibt außerhalb der Lehre
von den National-Reichthuͤmern. Er haftet an
dem buchſtaͤblichen Sinne des Wortes Tauſch-
werth
, wie durch Verzauberung, und ſo wird
auch gleich am Eingange des von ſo vielen Sei-
ten vortrefflichen Werkes, da er ſich in der Ver-
legenheit befindet, eine Art von Princip des ge-
ſammten menſchlichen Verkehrs angeben zu muͤſ-
ſen, uns eine gewiſſe Diſpoſition, ein Trieb des
Menſchen zum Tauſch und Handel, den man
[230] auch an Kindern bemerkt haben will, als Urquell
der herrlichen Lebenserſcheinung eines in Gewer-
ben und Handel bluͤhenden Staates gezeigt.


Was konnte Adam Smith, der die Schau-
ſpieler, Muſiker und Domeſtiken, nach Art der
Staatsmaͤnner, Geiſtlichen und Gelehrten, von
dem Gebiete der wahren Production ausſchloß,
darauf erwiedern, wenn man ihm, wie von den
neueren Anhaͤngern des phyſiokratiſchen Syſtems
in Deutſchland geſchehen iſt, die Frage vorlegte:
ob der Bediente, welcher Stiefeln putze, denn
nicht, eben ſo wohl als jeder andre Lackirer, ein
producirender Arbeiter ſey; ferner: ob die Pa-
ſtete, welche ein haͤuslicher Koch auf die Tafel
ſeines Herrn ſetze, kein Product ſey, und ob ſie
bloß dadurch, daß ſie eine Stunde in dem Laden
des Kuchenbeckers geſtanden habe, zum Product
werde; endlich, wie Brougham noch ſinnreicher
gefragt hat: ob denn der Muſiker, der ein Con-
cert gebe, nicht productiver Arbeiter zu nennen
ſey, da er doch eigentlich die Luft innerhalb des
Concertſaales fabricire, ſo daß ſie nun mehr
werth ſey, als die gewoͤhnliche Straßen- und
Stubenluft? — Ernſthafter fuͤgt Brougham
noch hinzu: „er nehme die Schauſpieler, Saͤn-
ger und alles, was ſich fuͤr Geld in Toͤnen oͤffent-
lich producire, unbedingt in Schutz; jedermann,
[231] der die Gegenſtaͤnde des oͤffentlichen Begehrens ver-
mehre, vermehre indirect auch die wirkliche Pro-
duction; er erhoͤhe den Werth aller uͤbrigen Pro-
ducte, der Producte des Landbaus z. B. fuͤr
den Paͤchter, der außer ſeinem Getreideverkauf
in der Stadt nun zugleich ſeiner theatraliſchen
und muſikaliſchen Paſſion genuͤge. Jeder neue
Reitz, jedes neue Beduͤrfniß, in ſo fern es nur
in den natuͤrlichen Schranken bleibe, vermehre
nothwendig die Arbeit, alſo auch die Production;
denn was productive Arbeit veranlaſſe, muͤſſe
doch ſelbſt wieder productiv ſeyn.” —


Kurz, haͤtte Brougham fortfahren ſollen, ob
ich mich ſelbſt zu einem Gegenſtande des Begeh-
rens oder des Beduͤrfniſſes mache, wie jener
Muſiker, oder ob ich rohe, handgreifliche Sachen
verfertige, die ein Gegenſtand des Begehrens
oder des Beduͤrfniſſes ſind — Eins iſt fuͤr den
National-Reichthum ſo wichtig, wie das Andre.
Das eben iſt das Verderben der heutigen natio-
nal-oͤkonomiſchen Wiſſenſchaften, daß ſie die Per-
ſonen ſelbſt, als Objecte der Oekonomie, nicht
begreifen wollen; darum verſaͤumt, uͤber allen
einzelnen Producten, dieſe Wiſſenſchaft die zu
ihrer Exiſtenz unentbehrliche Ausbildung des Pro-
ducts aller Producte, des nationalen Menſchen,
durch deſſen Begehren ja alle uͤbrigen Producte
[232] erſt ihren Werth erhalten. Und, was iſt denn,
moͤchte ich Adam Smith fragen, die oͤkonomiſche
Bedeutung der Frauen? ſind ſie productiv oder
unproductiv? werden ſie nicht bloß dadurch ſchon,
daß ſie der Gegenſtand des heftigſten Begehrens
ſind, deſſen der Menſch uͤberhaupt faͤhig iſt, zum
unentbehrlichen Grunde der Production des Wich-
tigſten, nehmlich des Menſchen ſelbſt? Endlich
frage ich: was iſt denn Grund und Boden, was
iſt die Erde, auf die zuletzt alles unſer Begehren
ſich bezieht? iſt ſie ein productiver oder ein un-
productiver Arbeiter? Zu aller Production des
Ackerbaues, wie der Fabriken und des Handels,
iſt ſie die unerlaͤßliche Bedingung; wenn ſie nicht
antworten oder uns beiſtehen will mit ihren
chemiſchen und mechaniſchen Kraͤften — was er-
folgt dann auf alle unſre Fragen? was produci-
ren wir dann mit aller unſrer Arbeit?


Sie erkennen in dieſer ganzen Betrachtung
zuerſt die Wirkungen des Wahns, auf Pro-
duction der Sachen, auf rohe Arbeit, eine Wiſ-
ſenſchaft gruͤnden zu wollen, und die Wichtigkeit
unſres Verfahrens, da wir neulich, anſtatt des
unpaſſenden Zeichens Tauſchwerth der oͤkono-
miſchen Objecte, das allgemeine und ideenhafte
Zeichen buͤrgerlicher Charakter eines oͤko-
nomiſchen Objects (welches Wort auf Perſo-
[233] nen und Sachen gleich-richtig bezogen werden
kann) ſetzten; dann zweitens die Folgen des
Irrthums, der ſich den Menſchen als einſeitig
auf die Natur losarbeitend dachte, und auf die
ewige Ruͤckwirkung derſelben, auf ihr Reitzen
und Reagiren, keine Ruͤckſicht nahm, alſo die
Wiſſenſchaft mit Einem Elemente, anſtatt zweier,
mit einſeitiger Einwirkung, anſtatt mit gegenſei-
tiger Wechſelwirkung, zu Stande bringen wollte:
die Gegen-Production der Natur, welche bei den
Frauen und dem Grundeigenthum am deutlich-
ſten hervortritt, will eben ſo beachtet ſeyn,
wie die Production des Menſchen, das Begeh-
ren in ſeinem ganzen univerſellen Umfange eben
ſowohl, wie die Arbeit in dem ihrigen. Anſtatt
deſſen kennt die Wiſſenſchaft nur die rohe Pro-
duction der Haͤnde, und das rohe Begehren des
wirklichen Marktes und der wirklichen Nach-
frage.


Die Regierungen muͤſſen vor allen Dingen
erkennen, daß beides im Auge gehalten ſeyn
will, die Production und das Begehren.
Weil eins ohne das andre nichts bedeutet, ſo
muß die Regierung auch fuͤr beides wechſelwir-
kend ſorgen. Die Regierung hat beides zu ver-
mitteln, oder in die gehoͤrige Wechſelwirkung zu
bringen; wenn ſie das Eine, nehmlich die Pro-
[234] duction, vermehrt, ſo thut ſie ihr Geſchaͤft nur
halb: ſie ſoll auch den Reitz, das Beduͤrfniß
erhoͤhen. Jeder Buͤrger iſt Begehrer und Pro-
ducent zugleich, Kaͤufer und Verkaͤufer; alſo
ſoll ſie auch auf beide Qualitaͤten des Buͤrgers
bedacht ſeyn.


Dem zu Folge:


In oͤkonomiſcher Ruͤckſicht: Hat es die
Staatskunſt etwa bloß mit dem Hervorbringen
zu ſchaffen?


In juriſtiſcher Hinſicht: hat ſie es etwa bloß
mit dem Frieden oder dem Geſetze zu ſchaffen?


In oͤkonomiſcher Hinſicht: ſoll ſie es der
Natur uͤberlaſſen, daß ſie das Begehren und
Verzehren dirigire?


In juriſtiſcher Hinſicht: ſoll ſie es ihr uͤber-
laſſen, daß ſie den Krieg oder die innere Freiheit,
welche der Staat braucht, auf ihre Weiſe an-
ſtifte?


Nein, nein! 1) Die Staatskunſt ſoll das
Ganze durchdringen; in ihrem Geiſte ſoll der
Buͤrger frei ſeyn, und den friedenernaͤhrenden
Krieg fuͤhren.


2) In ihrem Geiſte ſoll der Buͤrger begehren
und verzehren.


Keine Natur ſoll im Staate geduldet werden,
als die Natur der Staatskunſt ſelbſt.


[235]

Zwanzigſte Vorleſung.


Von dem Weſen der ökonomiſchen Production.


Alle Arbeit ſetzt ein Beduͤrfniß oder ein Begeh-
ren, wie jede Handlung einen Willen, voraus.
Ob ich ſelbſt, der Arbeitende, oder ob Andre
dieſes Begehren direct empfinden, iſt vorlaͤufig
noch gleichguͤltig. Indeß je buͤrgerlicher und na-
tionaler mein Begehren iſt, welches mich zur
Arbeit antreibt, um ſo groͤßer muß auch der
buͤrgerliche Charakter meines Productes ſeyn, um
ſo mehr muß auch dem Begehren der Uebrigen
dadurch genuͤgt werden. Deshalb iſt es klar,
daß jeder Staat in dem Maße wahrhaft reich
zu nennen ſeyn wird, als das Intereſſe an dem
Gemeinweſen lebhaft jede Bruſt erfuͤllt. Je na-
tionaler das Begehren oder das Beduͤrfniß eines
Volkes iſt, um ſo nationaler wird auch die Pro-
duction deſſelben ſeyn; es wird keiner beſonderen
Polizei-Geſetzgebung beduͤrfen, welche fremde
[236] Productionen von dem einheimiſchen Markte aus-
ſchließt, oder das Kennzeichen des Reichthums,
das Metallgeld, feſtzuhalten ſtrebt. —


Jedermann erinnert ſich hierbei wohl der ſon-
derbaren Vorkehrungsmaßregeln, welche die Con-
tinental-Staaten, vornehmlich die Deutſchen,
ſeit geraumer Zeit beſonders gegen den Einfluß
der Engliſchen Induſtrie getroffen haben. Ich
will dieſe Maßregeln nicht unbedingt verdammen;
denn die unbedingte Freiheit des Commerzes mit
England wuͤrde in [d]er gegenwaͤrtigen Lage der
Dinge eben ſo viel Unheil bringen, als die un-
bedingte Schließung; und da der einzelne Staats-
mann die Krankheit unſres oͤkonomiſchen Sy-
ſtems nicht radical curiren kann (was die bloße
Gewerbs-Polizei uͤberhaupt nicht vermag, ſon-
dern nur eine Wendung in den Gemuͤthern der
Voͤlker): ſo bleibt der Staatsmann dem Augen-
blicke verantwortlich, und iſt nur wie ein Fechter
zu betrachten, der die Stoͤße des Augenblicks,
ſo klug als moͤglich, parirt.


Wenn man aber einen von den kleinen Uni-
verſal-Oekonomen dieſer Zeit fragt, worin denn
eigentlich die Allmacht und Unbezwinglichkeit der
Brittiſchen Induſtrie ihren Grund habe; ſo er-
haͤlt man zur Antwort: „darin, daß die Englaͤn-
der mit allen Continental-Fabrikanten Preis
[237] halten koͤnnen; daß Maſchinerie und Theilung
der Arbeit ſo weit getrieben ſind, daß ſie die
groͤßtmoͤgliche Guͤte und Fuͤlle der Waaren mit
dem geringſten Aufwande von Zeit und Kraft
liefern; ferner, daß die Brittiſchen Handels-Ca-
pitale und der Markt dieſer Nation ſo groß ſind,
daß ſie mit den geringſten Vortheilen zufrie-
den ſeyn koͤnnen.” Dies iſt ein ſehr einfacher,
Kindern begreiflicher, Grund; ob er aber genuͤ-
gend ſey, iſt eine andre Frage.


Zuvoͤrderſt iſt in den Engliſchen Waaren,
außer der individuellen Guͤte und dem verhaͤlt-
nißmaͤßig geringen Preiſe, noch etwas zu beach-
ten, was jeder Nicht-Englaͤnder fuͤhlt, und was,
da es bei dem erſten Blick auf bloßem, dunklem
Gefuͤhle zu beruhen ſcheint, unſre abſtinenten
und engherzigen Wiſſenſchaften bis jetzt nicht
haben beachten wollen. Wie der Markt der Eng-
liſchen Waaren in Europa groͤßer geworden iſt,
hat zugleich eine ſogenannte Anglomanie, mit
den Engliſchen Sitten, der Engliſchen Sprache,
ja der Brittiſchen Staatsverfaſſung, um ſich ge-
griffen, die ſich eben ſo wenig ausſchließend aus
der Popularitaͤt der Waaren, als dieſe aus der
Anglomanie der Sitten erklaͤren laͤßt.


Es concurrirt nehmlich auf dem Weltmarkte,
außer den Metallgeldpreiſen, noch ein hoͤherer
[238] Preis, der nach dem Weſen, welches ich Ihnen
als das einzige und hoͤchſte wahre Geld angege-
ben habe, beſtimmt wird. Nur von den groben
Engliſchen Waaren, insbeſondre von den ſo ge-
nannten coarse woolen, laͤßt ſich behaupteu,
daß ſie den Metallgeld-Preis mit den Continen-
tal-Waaren gehalten haben. Die feinen Schnitt-
und kurzen Waaren ſind, ob ſie gleich in viel hoͤhe-
rem Preiſe ſtanden, als die inlaͤndiſchen Fabricate,
dennoch auf dem Continente mit großer Begierde
gekauft worden; und hier hat nicht die bloße in-
dividuelle Guͤte der Waare, ſondern ein, allen
Engliſchen Fabricaten gemeinſchaftlicher, echt-
national-oͤkonomiſcher Sinn ein behagliches,
buͤrgerliches Lebensgefuͤhl, welches aus ihnen her-
vorleuchtete, am meiſten gewirkt. — Man glaubte
ſich, durch den Beſitz und Gebrauch dieſer Waa-
ren, und durch die Nachahmung Engliſcher
Sitte und Lebensart, der hervorragenden Natio-
nalitaͤt jenes Landes theilhaftig zu machen. Dem-
nach hatte die Anglomanie einen ſolideren
Grund, als die aͤltere Gallomanie. Wenn
auch vielmehr eine Art von Inſtinct, als ein
deutliches Bewußtſeyn, die Europaͤiſchen Sitten
von den luxurioͤſen Franzoͤſiſchen, zu den comfor-
tablen Engliſchen Muſtern heruͤber leitete: ſo
bleibt, deſſen ungeachtet, dieſer Uebertritt die
[239] erſte Spur eines wieder erwachenden Strebens
nach National-Gefuͤhlen. Einem gewiſſen fri-
volen Drange nach Abwechſelung der Formen hat
von je her die Franzoͤſiſche Manufactur, wie ſie
uͤberhaupt in den Muſtern erfinderiſcher war,
mehr geſchmeichelt, als die Brittiſche; und den-
noch haben die buͤrgerlichen Vorzuͤge der Britti-
ſchen Waaren, ihre Dauerhaftigkeit, die groͤßere
Beſcheidenheit der Formen, und ihre Behaglich-
keit, den Sieg davon grtragen.


Alſo ein uͤberall ſich ausdruͤckender, nationa-
ler Geiſt iſt es vornehmlich, der den Continen-
tal-Fabriken ihre Kaͤufer entfuͤhrt hat. Wenn
eine Nation durch ihre Induſtrie einen Eindruck
auf andre Nationen machen will, ſo muß ſie
auch durch ihre Nationalitaͤt und durch ihre
Sitten die Voͤlker reitzen und uͤbertreffen. Des-
halb iſt dieſem gefaͤhrlichen Einfluſſe fremder
Waaren auch nichts Wirkſameres entgegen zu
ſetzen, als eigene Nationalitaͤt, das heißt nicht
etwa, ein calculatoriſcher Patriotismus,
der ſo raͤſonnirte: „wie viel Geld geht aus dei-
nem Lande fuͤr auswaͤrtige Waaren! Darum
kleide dich, um das Geld feſtzuhalten, in einlaͤn-
diſches Fabrikat;” auch nicht etwa ein impe-
ratoriſcher
Patriotismus, wie Fichte in ſei-
nem geſchloſſenen Handelsſtaate: „das bloße Ver-
[240] langen nach auswaͤrtigen Producten iſt unſinnig,
ſo unſinnig, als wenn der Eichbaum fragen woll-
te: warum bin ich nicht Palmbaum? und um-
gekehrt; ſondern außer der einſeitigen Induſtrie,
von der man bis jetzt allein das Verdraͤngen der
Engliſchen Waaren erwartet hatte, die Ausbil-
dung, die Befeſtigung des buͤrgerlichen Gemein-
weſens. Ein Staat, der den Einfluß auswaͤrtiger
Induſtrie zerſtoͤren will, die, wie alle wahre
Induſtrie, auf National-Kraft und National-
Geiſt gegruͤndet iſt, erreicht nichts, außer in ſo
fern er ſich zur Liebe der eigenen Sitten zuruͤck-
fuͤhrt, indem er ſeinen inneren Verband befeſtigt,
durch ſeine Lebendigkeit wahren National-Stolz er-
weckt, in ſo fern er ſelbſt durch und durch liebens-
wuͤrdig wird. Dieſe Liebenswuͤrdigkeit der Natio-
nal-Production theilt ſich allen einzelnen Produc-
tionen, ja ſelbſt ſolchen Waaren mit, die von ihr
nur einmal und fluͤchtig beruͤhrt worden ſind;
und ſie iſt es, die, wenn einzelne Eigenſchaften
der Waaren, Zweckmaͤßigkeit, Wohlfeilheit, Dau-
erhaftigkeit nichts bewirken, endlich gewiß die
Kaͤufer zwingt und beſiegt. Die Worte: Zweck-
maͤßigkeit
und Brauchbarkeit, haben auf
jedem Boden der Erde einen abgeſonderten und
eigenthuͤmlichen Sinn; und ſo hat auch das Be-
duͤrfniß der einzelnen Voͤlker, wie es ſich auch
im
[241] im Ganzen aͤhneln moͤge, allenthalben einen in-
nerlich abweichenden Geiſt. — Dieſe nationale
Geſtalt des Beduͤrfniſſes feſt zu halten, ſie zu
entwickeln, ſie zu ſchmuͤcken mit nationalen Tha-
ten, das iſt eine eben ſo weſentliche Pflicht der
Regierungen, welche die Bluͤthe der Induſtrie
wollen, als die bloße Befoͤrderung der Produc-
tion, auf die, unſre Theorieen wenigſtens, allein
gerichtet ſind. —


Die National-Production mag ſeyn, welche
ſie wolle — wenn ihr entweder kein angemeſſe-
nes National-Begehren, oder gar ein unnationa-
les auslaͤndiſches Begehren zur Seite geht, ſo
wird man ſie vergebens aufrecht zu erhalten
ſuchen. — Ich glaube, auch von dieſer Seite
erwieſen zu haben, daß die Finanz-Wiſſenſchaft,
abgeſondert von dem uͤbrigen Leben des Staa-
tes, ſo wie wir ſie uns gewoͤhnlich denken, den
eigentlichen National-Reichthum nothwendig ver-
fehlen, alſo, wenn man den Lauf ganzer Jahr-
hunderte in Anſchlag bringt, immer unpraktiſch
bleiben muß. — Daß wir Sachen, Waaren,
Gegenſtaͤnde des Begehrens produciren, iſt wenig,
und hilft nichts, außer in ſo fern wir die begeh-
renden Perſonen, jenen Sachen gemaͤß, national
ausbilden; es hilft nichts, außer in ſo fern wir
Perſonen und Sachen, Beduͤrfniß und Produc-
Müllers Elemente. II. [16]
[242] tion, Kaͤufer und Verkaͤufer einander angemeſſen
machen. Dies nun iſt nicht anders moͤglich, als
indem ein und derſelbe vaterlaͤndiſche Geiſt den
Beduͤrftigen bei ſeinem Begehren, und den Ar-
beiter bei ſeiner Production durchdringt; indem
alſo das Ideal eines National-Lebens realiſirt
wird, welches des Arbeiters und des Kaͤufers
gemeinſchaftliches hoͤchſtes Gut iſt.


So nun iſt die wahre National-Oekonomie
eine vermittelnde Kunſt, wie alle anderen Kuͤn-
ſte: ſie hat das National-Begehren, oder die
Nation als Kaͤufer, mit der National-Pro-
duction, oder mit der Nation in ihrer andern
großen Qualitaͤt als Verkaͤufer, in’s Gleich-
gewicht zu bringen, in ein lebendiges Gleichge-
wicht, welches nur von der National-Kraft,
oder dem zwiſchen dieſem großen Kaͤufer und
Verkaͤufer vermittelnden, wahren Gelde zu be-
wirken iſt, wie denn die Frucht dieſes Gleichge-
wichtes auch wieder nichts anderes als ein hoͤherer
Grad der National-Kraft, oder die Vermehrung
jenes wahren und einzigen Geldes, ſeyn kann.


Ich ſage nicht, daß die Regierungen ihre an-
dre große Pflicht, das Beduͤrfniß oder das Be-
gehren, eben ſo gut wie die Production, zu di-
rigiren ganz verſaͤumt haͤtten; vielmehr hat man
ſehr ernſtlich verſucht, die Neigungen der Staats-
[243] buͤrger auf das Vaterlaͤndiſche, beſonders auf die
ſo genannten Surrogate des Auslaͤndiſchen, zu
lenken. — Hingegen iſt dieſes bloße Herabſtim-
men des Begehrens, dieſes Unterſchieben eines
ſchlechten vaterlaͤndiſchen Objects fuͤr ein beſſe-
res auslaͤndiſches, auch wenn es realiſirt wer-
den koͤnnte, ein trauriges Palliativ: ſich begnuͤ-
gen, entbehren, ſparen, ſind keinesweges Mit-
tel den National-Reichthum zu befoͤrdern,
wenn auch augenblickliche Mittel, die National-
Verarmung zu verhuͤten. —


Aber den vaterlaͤndiſchen Boden und ſeine
Erzeugniſſe im Ganzen und Großen, d. i. das
geſammte vaterlaͤndiſche Gemeinweſen, befeſtigen,
und mit wahrem buͤrgerlichen Gluͤck und echt-re-
publikaniſcher Kraft beſeelen, die Nation ſich ſelbſt
werth und lieb machen —: das heißt das Natio-
nal-Begehren zu allen vaterlaͤndiſchen Guͤtern
und Beſitzſtuͤcken erhoͤhen, und zugleich der Na-
tional-Production wahren Stoff vorwerfen, ihr
wahre Zwecke vorhalten, und durch das hieraus
ſich entwickelnde Wechſelleben des Beduͤrfniſſes
und der Production wieder hoͤhere National-
Kraft erzeugen, und ſo in’s Unendliche fort.


Dies nun iſt das Geſetz, wonach aller Reich-
thum, ſowohl im Privat- als im oͤffentlichen
Leben, ſich erzeugt und fortſchreitet: es iſt ganz
[244] falſch, daß die Privat-Oekonomie nur nach
einem todten Gleichgewichte der Arbeit und des
Begehrens, oder nach einem bloßen In-einander-
Aufgehen der Einnahme, welche das Reſultat
der Arbeit iſt, und der Ausgabe, durch welche
das Begehren befriedigt werden ſoll, zu ſtreben
habe. Die erhoͤhete und ohne Ende ſteigende Le-
benskraft des einzelnen Individuums iſt eben ſo
wohl der eigentliche Zweck der Privat-Oekono-
mie, wie die ſteigende National-Kraft des Staa-
tes der Zweck der National-Oekonomie. Dies
druͤcken wir in unſrer beſchraͤnkten Metallgeld-
Sprache ſo aus: „in der Wechſelwirkung der
Arbeit und des Beduͤrfniſſes, aus welcher jedes
Privatleben beſteht, ſoll nicht bloß nichts heraus-
kommen, weder Ueberſchuß, noch Schuld, ſondern
es ſoll ein wirkliches Capital erzeugt werden.


Die bleibende Spur, welche jene Wechſel-
wirkung hinterlaͤßt, oder das Capital, denken
wir uns gewoͤhnlich als eine Summe Metallgel-
des; indem wir ſie aber Capital nennen, und
alſo die Zinſenerzeugung vorausſetzen, deuten
wir an, daß die Sphaͤre unſrer Privat-Kraft
dadurch erweitert ſey, und daß die Wechſelwir-
kung zwiſchen der Arbeit und dem Beduͤrfniſſe
eine wirklich arbeitende und begehrende Kraft er-
zeugt habe, welche Kraft durch das, Zinſen er-
[245] zeugende, Metallgeld-Capital deutlich, aber un-
vollkommen, repraͤſentirt wird. — In der wah-
ren Ordnung der Dinge aber wirft der Privat-
Oekonom ſein erworbenes Capital, oder die in
der Wechſelwirkung zwiſchen Arbeit und Begeh-
ren wirklich erworbene Lebenskraft, unmittelbar
wieder in ſein Geſchaͤft hinein, und erweitert es
durch daſſelbe: er gebraucht das Metallgeld nur
zu einem ungefaͤhren Maßſtabe fuͤr den Umfang
und die Progreſſion ſeiner Kraft, d. h., wie wir
es ſehr ausdrucksvoll nennen, ſeines Vermoͤ-
gens
, oder um, wenn es noͤthig iſt, ſeine Kraft,
auf Andre uͤberzutragen. Dieſe anderen Borger
des Capitals wollen aber damit auch nichts wei-
ter, als eine reale Wechſelwirkung zwiſchen Ar-
beit und Begehren entwickeln, dadurch eine groͤ-
ßere Lebenskraft oder groͤßeres Vermoͤgen erzeu-
gen, und ſo weiter. —


Alſo in der Privat-, wie in der National-
Oekonomie ruhet der Reichthum eigentlich in
der lebendigen Kraft, oder in dem lebendigen
Vermoͤgen; lebendig aber iſt die Kraft oder das
Vermoͤgen nur, in ſo fern es einen unendlichen
Verkehr zwiſchen der Arbeit und dem Beduͤrfniß
erzeugt, und aus dieſem Verkehr von Tage zu
Tage wieder groͤßer und gewaltiger ausgeboren
wird. Alſo das National-Vermoͤgen oder der
[246] bleibende Reichthum eines Staates, iſt nur etwas,
dem lebhaften National-Verkehr oder der Be-
wegung eines Staates gegenuͤber. Dieſes nun
nenne ich, die Bewegung in die Lehre von dem
National-Reichthume hinein conſtruiren, worin
der erſte Schritt zu der Wiederbelebung der wahren
National-Oekonomie beſteht, wie der erſte Schritt
zur Wiederbelebung des wahren National-Rech-
tes, in der Darſtellung von dem Leben und der Be-
wegung der Geſetze, die ich oben gegeben habe.


So vorbereitet koͤnnen wir nun zu der wich-
tigen Frage uͤbergehen: Was heißt eigentlich pro-
duciren
? — Die Phyſiokraten unterſchieden
bekanntlich productive Arbeit von der unpro-
ductiven
, nur daß ſie ihre Scheidungslinie an
eine andre Stelle hinlegten, als ſpaͤterhin Adam
Smith die ſeinige. „Nur die Arbeit,” ſagten
ſie, „iſt eigentlich productiv, welche auf den
Grund und Boden gewendet wird; alle andre
Arbeit der Handwerker, Fabrikanten und Manu-
facturiſten veraͤndert nur die Form Deſſen, was
der Grund und Boden gegeben hat, erhoͤhet
deſſen inneren Werth nicht, ſondern ſetzt zu
dem aͤußeren Preiſe deſſelben nur hinzu, was
der Lebensunterhalt des Arbeiters, des Fabrikan-
ten oder Handwerkers waͤhrend der Dauer der
Arbeit betraͤgt. Was das Fabrikat alſo an aͤuße-
[247] rem Werthe gewinnt, kommt dem Staate nicht
zu gute, indem genau eben ſo viele Producte
von Grund und Boden als Lebensunterhalt des
Fabrikanten conſumirt werden, alſo dem Staate
wieder verloren gehen; demnach producirt der
fabricirende Arbeiter eigentlich nicht.” —


Man ſieht, daß dieſer ganzen Anſicht der
Dinge die Meinung zum Grunde liegt, der Na-
tional-Reichthum ſey der Inbegriff von dem
phyſiſchen Lebensbedarf eines Volkes; ferner die
andre Meinung, daß die Anzahl der Koͤpfe eigent-
lich die Nation ausmache, und, wie die bei
weitem groͤßere Anzahl der Koͤpfe vorzuͤglich auf
den bloßen Lebensunterhalt, d. h. auf die be-
soins de première necessité
, welche der Boden
gewaͤhrt, angewieſen ſey, ſo auch die Erzeugniſſe
des Bodens als einzig weſentliche Beduͤrfniſſe
des Staates angeſehen werden muͤſſen. So ge-
ſchah es, daß den Oekonomiſten die Begriffe, „den
National-Reichthum befoͤrdern,” und „den Acker-
bau befoͤrdern” gleichbedeutende Dinge waren,
daß ſie vielmehr den salut de tous, als den
salut général, im Auge halten, und daß ihnen
National-Reichthum und die Summe aller ein-
zelnen Reichthuͤmer gleich-galt. —


Die Suveraͤnetaͤt, oder die den Staat ord-
nende und ſeine Geſammtbeduͤrfniſſe regulirende
[248] Macht, die nach unſrer Anſicht aus dem nattioo-
nalen Streben, das jede einzelne Perſon und
Sache ergreift, erſt hervorgehen, die mit und
in dem lebendigen Reichthum erſt kommen ſoll,
betrachteten ſie als bereits exiſtirend, oder ihre
Errichtung doch als eine Frage, welche die Na-
tional-Oekonomie nichts angehe. Ich habe ge-
zeigt, daß dieſe Macht nur exiſtirt, in ſo fern
ſie lebendig iſt, d. h. in ſo fern ſie in jedem
Augenblick auf’s neue erzeugt und erhoͤhet wird,
und daß demnach von ihrem Daſeyn und von
ihrer ſteigenden Groͤße Werth und Bedeutung
aller einzelnen Beſitzſtuͤcke, der Perſonen wie der
Sachen, hergeleitet werden muß.


Auch Adam Smith ſieht im National-Reich-
thume weiter nichts, als die Summe aller einze-
nen Privat-Reichthuͤmer, und in der Nationa-
Production nichts, als den Inbegriff aller Pr-
vat-Productionen. Deshalb war es ein beder-
tender Schritt, als ein neuerer Schriftſteller zu-
erſt den wichtigen Unterſchied zwiſchen Den,
was die Englaͤnder wealth of a nation, Natio-
nal-Reichthum nennen, und den riches, oder in-
dividuellen Reichthuͤmern, ahndete. Ein Man[n],
den ich uͤbrigens zu loben nicht geneigt bin, und der
in allen andern Stuͤcken dem Zeitgeiſte nur allzu
ſehr gehuldigt hat, Lord Lauderdale, hat de
[249] Wiſſenſchaft zuerſt auf dieſen wichtigen Unter-
ſchied aufmerkſam gemacht, und iſt dadurch die
Veranlaſſung einer ganz neuen Erwaͤgung von
dem Weſen des Reichthumes, und auch von dem
Weſen der Production, geworden.


Produciren heißt, aus zwei Elemen-
ten etwas Drittes erzeugen, zwiſchen
zwei ſtreitenden Dingen vermitteln, und
ſie noͤthigen, daß aus ihrem Streite ein
drittes hervorgehe
. Der Menſch laͤßt ſeine
koͤrperlichen Kraͤfte nach ihren Geſetzen mit ir-
gend einem rohen Material, nach Maßgabe der
Natur und der Eigenſchaften dieſes Materials,
einen Streit beginnen, den er ſelbſt mit Klug-
heit ſo lenkt, daß ein Drittes, welches wir
Product nennen, daraus entſtehen muß. Der
Menſch benutzt irgend eine Naturkraft, Schwe-
re, Feuer, Waſſer, Dampf, um, vermit-
teſt ihrer, andre Naturkraͤfte zu uͤberwinden;
d. h. er fuͤhrt einzelne Eigenheiten der Na-
tur mit andern Eigenheiten derſelben auf eine
klage Weiſe in einen Streit, woraus das Pro-
duct ſich entwickeln muß. Die einfachſte Hand-
arbeit und die erhabenſte Geiſtes- oder Kunſt-
Production geſchehen nach dieſem Geſetze: nir-
ge[n]ds hat der Menſch ein einzelnes Object aus-
ſchießlich zur Bearbeitung vor ſich; auf der
[250] Einen Seite ſteht immer das Material, welches zu
ſchonen iſt, auf der andern die Maſchinerie, das
Handwerkszeug, und ſollten es auch bloß die
koͤrperlichen Fertigkeiten und Kraͤfte des Men-
ſchen ſeyn, die mit Klugheit geleitet werden
wollen.


Auf beiden Seiten muß immerfort nachgehol-
fen werden; bald muß das Material, bald das
Werkzeug nachgeben. Alſo nicht die Hand, das
Werkzeug, die Maſchine producirt; ſondern ein
Drittes, Hoͤheres, das wir einſtweilen die Le-
benskraft
des Menſchen nennen wollen, thut
dies, indem es vermittelt. —


Dieſe Anſicht der induſtriellen Production
werden Sie bei genauerer Unterſuchung in allen
Anwendungen gerechtfertigt finden, um ſo mehr,
da die Natur ſelbſt auf keine andre Weiſe pro-
ducirt. Wir wollen uns jetzt den Staatsmann
in oͤkonomiſcher Geſtalt denken. Seine Aufgabe
iſt, den Staat zu produciren. Sein Ma-
terial iſt ein, aus mehr oder minder eigennuͤtzi-
gen Individuen beſtehendes, Volk; ſein Hand-
werkszeug ſind Geſetze, Polizei, Beamte aller
Art, ja vor allem das Beduͤrfniß dieſes Volkes
nach dem geſellſchaftlichen Verein, und nach
Frieden. Der Staat beſteht weder in dieſem
Handwerkszeuge allein (wie die gemeinen Prakti-
[251] ker glauben), noch in dem Material allein, in
dem Volke, (wie die Theoriſten, die Naturrechts-
lehrer und die Phyſiokraten vorausſetzten, in-
dem ſie das bloße Volk zum Staatszwecke mach-
ten).


Der Staat iſt ein Drittes, welches aus der
Vermittelung zwiſchen dem Material, dem fuͤr
ſein eigenes Intereſſe arbeitenden Volke, und zwi-
ſchen dem Handwerkszeuge, dem geſellſchaftlichen
Beduͤrfniſſe dieſes Volkes, und deſſen Repraͤſen-
tanten, den Geſetzen, der Polizei, den Beam-
ten, erſt erzeugt werden ſoll. Jedes einzelne In-
dividuum im Staate will alle andern Individuen
von ſich abhaͤngig machen: dieſes Streben iſt
das rohe Material, welches dem Staats-
mann in die Haͤnde gegeben wird; jedes einzelne
Individuum iſt aber auch wieder von allen an-
dern abhaͤngig durch ſein Beduͤrfniß, durch ſein
Begehren: dieſe friedliche Eigenſchaft derſelben
eigennuͤtzigen Indididuen, welche ſich in den
Geſetzen und allen beſtehenden Staats- und Ord-
nungs-Einrichtungen aͤußert, iſt das wahre und
ewige Handwerkszeug des Staatsmannes.
So wenig in meiner obigen Darſtellung der Hand-
werke die bloßen Haͤnde das Product hervor-
bringen: eben ſo wenig erzeugen hier die bloßen
Geſetze, oder das bloße Metallgeld (welches
[252] auch als verkoͤrpertes Begehren des Volkes, und
als Handwerkszeug des Staatsmannes betrach-
tet werden kann) den Staat. Vielmehr iſt das
eigentlich Producirende die Lebenskraft des wah-
ren Staatsmannes, oder die National-Kraft,
wie wir es nannten.


Was thut der Landwirth, indem er pro-
ducirt anders? Eine gewiſſe Menge von anima-
liſchen und vegetabiliſchen Kraͤften laͤßt er mit
der Kraft des Bodens ſtreiten. Der Same iſt
ſein Material; Boden, Duͤnger u. ſ. w. ſind
ſein Handwerkszeug; aus dem Streite beider
entwickelt er vermittelnd die Frucht, das Pro-
duct. Steigen Sie von hier aus, durch die
dem Ackerbau naͤher liegenden Gewerbe, des
Brauers, Branntweinbrenners, hindurch zu den
Feuerarbeitern, und ſo durch alle Formen der
ſtaͤdtiſchen Production hindurch: ſo werden Sie
vielleicht bemerken, daß die eigentlich produci-
rende Kraft beim Ackerbau mehr auf die Seite
der Natur, als des Menſchen, und daß ſie bei
den ſtaͤdtiſchen Gewerben mehr auf die Seite des
Menſchen, als der Natur hinfaͤllt; mit andern
Worten: daß der Producent immer ſichtbarer
wird, daß der Menſch immer mehr als Produ-
cent erſcheint, von der augenſcheinlichen Pro-
ductions-Kraft der Natur immer unabhaͤngiger
[253] wird, je mehr Sie Sich vom Ackerbau entfer-
nen und in das Gebiet der ſtaͤdtiſchen Production
eindringen. Aber allenthalben wird das Produ-
cirende in einem Vermittelungsgeſchaͤfte begriffen
erſcheinen. Nicht die bloße einſeitige Thaͤtigkeit
des Materials und der Haͤnde wird produciren,
ſondern Das, was eigentlich producirt, iſt eine
große, der ganzen Natur gemeinſchaftliche Le-
bens-, oder Vereinigungs-Kraft, welche der Menſch
in ſein Intereſſe ziehen kann. So iſt auch das
Product des Kaufmanns, nehmlich der Handel,
nichts anderes, als das Reſultat einer Vermitte-
lung zwiſchen dem Kaͤufer, den wir das Mate-
rial, und dem Verkaͤufer, den wir das Handwerks-
zeug des Kaufmanns nennen koͤnnten.


Alle Arbeit nun — ſo koͤnnen wir, da wir
das Geſetz der Natur-Production in allen buͤr-
gerlichen Gewerben wieder gefunden haben, zu-
ruͤckſchließen —, welche auf wahrer Vermitte-
lung beruhet, iſt auch nothwendig productiv;
nur Derjenige, welcher einſeitig das bloße Hand-
werkszeug auf das Material losarbeiten laſſen
wollte, der Staatsmann, welcher die bloßen
Geſetze anſtatt der National-Kraft, der Kuͤnſt-
ler, welcher die bloßen Regeln und Handgriffe
anſtatt der producirenden Lebenskraft arbeiten
[254] laſſen wollte, wuͤrde ein unproductiver, d. h.
ein Nichtarbeiter, zu nennen ſeyn. —


Eine Staatswirthſchaft alſo, welche — an-
ſtatt zwiſchen dem Beduͤrfniſſe der Nation,
dem ſtaatswirthſchaftlichen Material,
und zwiſchen der Arbeit der Nation, dem
ſtaatswirthſchaftlichen Handwerkszeu-
ge
, zu vermitteln — auf die Eine Seite aus-
ſchließend, nehmlich auf die Seite der Arbeit
hinuͤber traͤte und ſo das Beduͤrfniß behandeln,
produciren und entwickeln wollte, wuͤrde eine
unproductive Staatswirthſchaft zu nen-
nen ſeyn. So trat das merkantiliſtiſche Syſtem
abſolut auf die Seite der Arbeit hinuͤber. In
Preuſſen z. B. ſollte noch, bis in die neueren Zei-
ten her, das Beduͤrfniß der Nation einheimiſch
ausgearbeitet, ausfabricirt, alles durch die Arbeit
gezwungen werden, indeſſen das Begehren der
Nation ſich mehr und mehr zu auslaͤndiſchen
Beduͤrfniſſen hin wendete, und der eigentliche
National-Reichthum immer unſichrer wurde. —
Das iſt es, was ich meinte, als ich im Anfange
unſrer Betrachtungen vom wahren Staatsmanne
verlangte, er muͤſſe die große Vereinigung eben
ſo wohl zuſammen-reitzen als zuſammen-zwin-
gen
; denn aus dieſen beiden Geſchaͤften beſtehet
alle Vermittelung, alſo, meiner Erklaͤrung zu Fol-
[255] ge, auch alle Production. — Es iſt nun hinrei-
chend erklaͤrt, wie die Producte werden; ich habe
die Geſchichte ihrer Entſtehung erzaͤhlt, alſo die
Producte in der Bewegung dargeſtellt. —


Alle wahre Arbeit iſt productiv; — aber iſt
alle wahre Arbeit gleich-productiv? — Gewiß
nicht! Es giebt unzaͤhlige Grade der Productivi-
taͤt. — Da jeder Arbeiter im Grunde nichts
anderes thut, als zwiſchen dem Beduͤrfniß und
der Production, z. B. zwiſchen dem, Schuhe
beduͤrfenden, Fuß und der Leder-Production, ver-
mitteln: ſo wird, je nothwendiger und allgemei-
ner das Beduͤrfniß iſt, auch die Production um
ſo nothwendiger und allgemeiner, d. h. die Pro-
ductivitaͤt um ſo wichtiger und groͤßer ſeyn muͤſ-
ſen. Um den Grad der Productivitaͤt zu meſſen,
giebt es alſo keinen andern Maßſtab, als die
buͤrgerliche Nothwendigkeit, oder die Nationali-
taͤt. Eben ſo gut wie, nach unſrer fruͤheren
Auseinanderſetzung, alle Individuen im Staate
oder alle Producte einen zwiefachen Werth haben,
einen individuellen und einen buͤrgerlichen: eben
ſo gut hat alſo auch wieder alle Productivitaͤt
einen doppelten Werth, einen individuellen und
einen buͤrgerlichen. Alle einzelnen Arten der
Production ſtreben, ſich ſo wichtig, ſo buͤrgerlich,
ſo national als moͤglich zu machen. Augenblick-
[256] lich wird Eine Production die andre uͤberfluͤgeln:
in einem kornarmen Jahre wird der Landbau
wichtiger und nationaler, als die Stadtwirth-
ſchaft erſcheinen; in einem kornreichen Jahre
wieder die Stadtwirthſchaft wichtiger als jene.
Bei einem ausbrechenden Kriege werden die Fa-
brikanten, welche Kriegesbeduͤrfniſſe fabriciren,
alle andren uͤberfluͤgeln; auf die Dauer hingegen
wird es das hoͤchſte Intereſſe jedes einzelnen
Producenten ſeyn, daß er in den natuͤrlichen,
lebendigen und buͤrgerlichen Schranken erhalten
werde, kurz, daß zwiſchen ſeiner Production
und dem Begehren der Uebrigen, von einem hoͤ-
heren Producenten, dem Staatsmanne nehmlich,
vermittelt werde.


Die Kraft alſo, welche aller Production ihre
natuͤrlichen Schranken anweiſ’t, und die unge-
heure Bewegung einer Staatswirthſchaft, nur
das unendliche Gewuͤhl von Geſchaͤften auf der
Boͤrſe einer Handelsſtadt an einem einzigen
Poſttage, ordnet — dieſe Kraft iſt die conditio
sine qua non
aller Production. Jede einzelne
productive Kraft kann alſo nur produciren oder
vermitteln, in ſo fern ſie ſelbſt wieder von einer
hoͤheren productiven Kraft, der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft oder der National-Kraft nehmlich, pro-
ducirt und vermittelt wird. Hoͤrt der Staat
auf
[257] auf, ſich zu produciren, oder zu reproduciren,
ſo hoͤren alle die kleineren Productionen, aus
denen die National-Production, welche wir
Staat nennen, beſteht, von ſelbſt auf. Dem
gemeinen Auge erſcheint dieſe unentbehrliche Ga-
rantie aller einzelnen Production, als Metall-
geld; da aber das Metallgeld 1) nur aͤußere
und phyſiſche Producte vermitteln, und 2), wie
beweglich es auch ſey, dennoch nicht allgegenwaͤr-
tig ſeyn kann, weil es vielmehr Koͤrper als Geiſt
iſt: ſo faßt der gebildete Oekonom oder Kaufmann
ſchon ein hoͤheres Weſen als das Metallgeld in’s
Auge, wenn er ſich das Product, welches alle
uͤbrigen Producte zuſammen und in Werth er-
haͤlt, denken will; er nennt es: Credit.


Der Credit umfaßt ſchon mehr als die aͤuße-
ren, phyſiſchen Producte: er idealiſirt und anti-
cipirt Producte, die noch nicht in der Wirklich-
keit producirt ſind; ferner iſt der Credit ſchon
viel allgegenwaͤrtiger, als das Geld. Aber die
neueren ſchwankenden, unſichern Zeiten muͤſſen
in der Seele mehr als Eines denkenden Kauf-
mannes die Ueberzeugung erweckt haben, daß der
perſoͤnliche und buͤrgerliche Credit auf den einzel-
nen Maͤrkten des Welthandels noch nicht hinrei-
chend iſt, um den einzelnen Productionen zu
einer ſicheren Baſis zu dienen.


Müllers Elemente. II. [17]
[258]

Unſer ganzes gegenwaͤrtiges Handelsweſen
wird dadurch aufrecht erhalten, 1) daß an ein-
zelnen Stellen des Continents noch wirkliches
nationales Zuſammenhalten gefunden wird, und
dann beſonders 2) dadurch, daß ſich der Central-
und Schwerpunkt des Welthandels nach England
hin gewendet hat, von welcher Inſel noch gegen-
waͤrtig alle Production und aller verbliebene
Handel des Continents eigentlich getragen wird.
Gluͤcklicher Weiſe iſt der Staat, welcher in die-
ſer Kriſe die Garantie des ganzen Europaͤiſchen
Credits uͤbernommen hat, der nationalſte, ſicherſte
und unangreiflichſte. Wenn England in’s Meer
verſaͤnke, oder, beſſer, wenn auch nur ſeine
Verfaſſung, ſeine National-Kraft unterginge:
ſo wuͤrden wir Alle empfindlich fuͤhlen, daß in
dieſer Zeit eines großen Continental-Interre-
gnums alle Production und aller Handel die Ga-
rantie, oder die National-Kraft, welche er in
ſeinem eignen Bezirke haben ſollte, in der letz-
ten Inſtanz von England her geleitet hat. Eng-
land iſt im Beſitz des wahren allgegenwaͤrtigen,
die phyſiſche ſo wohl als die geiſtige Production
umfaſſenden, garantirenden und vermittelnden
Geldes; jeder Staat iſt es, der beides zugleich,
wie es ſich gebuͤhrt, ſowohl die Production der
einzelnen Unterthanen, als die Erzeugung des
[259] wahren und innigen Bandes zwiſchen dieſen Un-
terthanen, der Nationalitaͤt nehmlich, und nicht
bloß, wie ſo viele Theorieen und Regierungen,
die bloße Production der einzelnen Unterthanen
im Auge hat.


Gegen jene Abhaͤngigkeit von England giebt
es nur Ein Mittel: ſie iſt ein Ungluͤck, aber aus
ganz andern Gruͤnden, als die man gewoͤhnlich
dafuͤr angiebt; nicht, weil wir England zinsbar
an Metallgelde ſind, wie der große Continent
glaubt, (denn das Metallgeld laͤßt ſich entbehren;
und welcher Nation waͤren wir, beſonders wir
Deutſchen, an den edelſten Guͤtern, nicht zins-
bar!) ſondern, weil wir, wie ich oben gezeigt ha-
be, in Ermangelung eigener Nationalitaͤt, von der
groͤßten Nationalitaͤt, die wir kennen, von der
Brittiſchen nehmlich, und den Brittiſchen Sitten
und dem Brittiſchen comfort, abhaͤngig ſind,
und ſeyn werden, beſonders wenn zu dem ohne-
hin ſchon großen Reitz noch der Reitz der ver-
botenen Guͤter hinzu kommt. —


Aber das einzige Mittel iſt, ſelbſt nach dem
wahren Gelde, nach der National-Kraft zu ſtre-
ben und ſo der vaterlaͤndiſchen Production eine
vaterlaͤndiſche Garantie zu geben, die vaterlaͤn-
diſche Production durch ein vaterlaͤndiſches Band
in Einheit und in Freiheit zu ſetzen. Das iſt
[260] die große Production, uͤber die der Engliſche
Staatswirth, weil ſie in jenem Lande wirklich
vorhanden iſt, in ſeinem Syſteme hinweg ſehen
darf, wir aber nicht; und ſo werden wir von
der Natur gezwungen werden, zum Bewußtſeyn
der ganzen Wiſſenſchaft zu kommen, waͤhrend
England, ſo lange es gluͤcklich bleibt, die voll-
ſtaͤndige oͤkonomiſche Erkenntniß mangeln wird.
Moͤchte Oeſtreich erkennen, wie viel es vor allen
Continental-Staaten, durch bloße Gunſt des
Schickſals unter aller Ungunſt, ſchon an wahren
und ewigen Staats-Reſſourcen gewonnen hat!
Moͤchte es, durch keine falſche Staatswirthſchaft
geleitet, nicht, der bloßen Productions- und Me-
tallgelds-Auseinanderſetzung mit den Nachbarn
wegen (welche freilich auch beachtet ſeyn will),
den National-Verband fahren laſſen, der ſich in
dem großen einheimiſchen Credit der Staatspa-
piere zu erkennen giebt! Was fuͤr ein Preis iſt
die augenblickliche Vermehrung der Summe der
einzelnen Productionen gegen den Verluſt, oder
die Schmaͤlerung des wahren National-Reich-
thums oder der National-Production! was iſt
der Credit der großen Handelshaͤuſer neben dem
National-Credit! was die Garantie des aus-
waͤrtigen Handels, neben der National-Ga-
rantie!


[261]

Nach dieſer Auseinanderſetzung des wahren
Weſens der Production und ihres nothwendig
doppelten Charakters, ihres individuellen und ih-
res buͤrgerlichen, wird es einleuchten, daß Lord
Lauderdale vollkommen Recht hat, wenn er be-
hauptet, daß Summe der einzelnen Reich-
thuͤmer
— welche wir nach dem localen Tauſch-
werth oder in Metallgelde anzuſchlagen pflegen,
und, da es uns an einer andern numeriſchen
Taxe fehlt, auch ſo anſchlagen muͤſſen — und
National-Reichthum, durchaus verſchie-
dene Dinge ſind. Der National-Reichthum
kann nur dem andern National-Reichthume
gegenuͤber, alſo in wahrem Gelde, oder in
National-Kraft, angeſchlagen werden. Ver-
gleiche man z. B. die gewiß noch immer bedeu-
tende Summe der einzelnen Reichthuͤmer in Hol-
land, mit dem, was man von dem National-
Reichthum dieſes Landes ſieht und erlebt. Ein
großer Theil der Reſultate von der fruͤheren un-
geheuren Production dieſes Landes iſt offenbar
noch vorhanden; aber der nationale Verkehr, die
lebendige Bewegung, das nationale Begehren
iſt dahin: die Gegenkraft, welche die Kraft der
Producte erſt zu einer wirklichen Kraft erhebt,
fehlt; der Staat hat nichts zu vermitteln, alſo
producirt er auch nicht; folglich iſt er arm.


[262]

Als Sir William Petty im Jahre 1664
den Tauſchwerth der Laͤnder, Haͤuſer, Schiffe,
edlen Metalle, Muͤnzen, Waaren und bewegli-
chen Guͤter aller Art in England, nach einem
genauen Ueberſchlage, addirte und die Summe von
250 Millionen Pfund herausbrachte; als Gregory
King im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in
derſelben Rechnung das Reſultat von 615 Mill.,
Hooke etwa vierzig Jahre ſpaͤter 2100 Mill.,
Sir William Pulteney, wieder nach dreißig Jah-
ren, 2000 Mill., und D. Beeke gegen das Ende
des achtzehnten Jahrhunderts 2600 Mill. fand:
— druͤckten alle dieſe Zahlen wohl die Progreſ-
ſion des Brittiſchen National-Reichthums ge-
wiſſer Maßen aus, weil es England durch den
ganzen Lauf der Jahre ſeit 1664 nie an dem
productiven Leben gefehlt hat, und weil die Na-
tionalitaͤt von England dieſe ganze Zeit hindurch
wachſend geweſen iſt; aber der Staatsmann,
welcher auf dieſe Summe eine bedeutende ſtaats-
wirthſchaftliche Operation gruͤnden, oder ihre
Vermehrung zum ausſchließenden Object ſeiner
Wirkſamkeit machen wollte, oder der zwiſchen
der Nation und ihren einzelnen Reichthuͤmern
zu vermitteln aufhoͤrte, wuͤrde bald fuͤhlen, daß
er vom wahren National-Reichthume abwiche,
wenn auch noch eine Weile die Summe der Pro-
[263] ducte in ſteigendem Wachsthume begriffen waͤre.
Der Continent, beſonders Preuſſen, hat dies,
leider! erfahren.


Ich ſage, Lord Lauderdale hat dieſen wichti-
gen Unterſchied geahndet; denn, was ſeine Be-
weiſe und ſeine Folgerungen daraus, beſonders
ſeine Angriffe auf Adam Smith, betrifft, ſo
mag und kann ich ſie am wenigſten rechtfertigen.
Seine Entdeckung, welche uͤberdies durch die
Phyſiokraten ſchon vorbereitet war, reducirt ſich
darauf, daß der National-Reichthum nach dem
Tauſch- und Markt-Werthe der individuellen
Reichthuͤmer nicht taxirt werden kann; er ahn-
det, daß ein hoͤheres Geld eintreten muß, als
das Metallgeld.


[264]

Ein und zwanzigſte Vorleſung.


Vom Verhaͤltniſſe des Metallgeldes zu der Idee des Geldes;
vom Real- und Nominal-Werthe deſſelben.


Zur Auseinanderſetzung der buͤrgerlichen Ge-
ſchaͤfte, an demſelben Ort und in derſelben Zeit,
iſt Metallgeld, ſagt Adam Smith, der beſte und
zweckmaͤßigſte Maßſtab; um entlegene Orte und
entlegene Zeiten unter einander abzufinden (ſo
wie Letzteres bei lange gehenden Pacht-Contrac-
ten und bei Renten, welche Jahrhunderte hin-
durch fortlaufen, der Fall iſt), dient das erſte
Lebensbeduͤrfniß zu einem beſſeren Maßſtabe, das
Getreide nehmlich; fuͤr fern und nahe, in Zeit
und Ort gemeinſchaftlich, iſt indeß Arbeit der
beſte Maßſtab. — Der große Mann empfand
das Unzureichende der gewoͤhnlichen Vorſtellungen
vom Gelde, und hat ſie auch gebuͤhrend bekaͤmpft;
nur traf der Fluch, der auf allen Syſtemen jener
Zeit ruhet, auch das ſeinige. Arbeit war ihm
[265] ein Begriff, und keine Idee: es fehlte ſeiner
Vorſtellung von der Arbeit an der gehoͤrigen
Elaſticitaͤt, der noͤthigen Bewegung und dem
unerlaͤßlichen Leben. Er haͤtte das, was wir im
gewoͤhnlichen Leben Arbeit nennen, ausweiten
muͤſſen, bis ihm das geſammte National-Leben
wie eine einzige große Arbeit erſchienen waͤre;
er haͤtte jede einzelne Arbeit des Staates als
den Act eines einzelnen Organs vom Ganzen
anſehen; kurz, er haͤtte die individuelle Arbeit
immer in Beziehung auf die National-Arbeit
betrachten, und eine wie den Ausfluß der an-
dern, eine wie die wechſelwirkende Urſache der
andern, anſehen muͤſſen. Daher verſteht er auch
ſeinen gewaltigen Vorgaͤnger Hobbes nicht, der,
wenn er ſagt, „Reichthum ſey Macht,” weit
mehr meint, als Adam Smith ihm unterlegt,
weit mehr meint, als die bloße Macht Arbeit
oder Waaren durch Tauſch zu erhandeln. —


Nachdem wir alſo die Begriffe Reichthum,
Geld, Arbeit, oͤkonomiſches Object
und
Production in der bisherigen Betrachtung
einer Kritik unterzogen, nach dem wir ſie zu
Ideen erhoben haben — koͤnnen wir nun, da
eine ſyſtematiſche Abgrenzung und Abſolvirung
nicht mehr zu befuͤrchten und das Leben in den
großen Grundvorſtellungen der National-Oeko-
[266] nomie hergeſtellt iſt, auch auf die Natur des
Metallgeldes naͤher eingehen.


Alles Geld hat drei große Grundbeſtimmun-
gen: 1) das Bleiben, die Dauer der uͤbrigen
oͤkonomiſchen Objecte zu befeſtigen, zu repraͤſen-
tiren; deshalb muß alles, was Geld ſeyn will,
dauerhaft ſeyn: 2) die Bewegung der oͤkonomi-
ſchen Objecte zu beſchleunigen; deshalb muß das
Geld im hoͤchſten Grade beweglich ſeyn: 3) das
Bleibende und das Bewegliche unter einander
zu vermitteln; deshalb muß es theilbar, elaſtiſch,
ich moͤchte ſagen, contractiv und expanſiv, im
hoͤchſtmoͤglichen Grade ſeyn. Alle dieſe Eigen-
ſchaften hat die National-Kraft, hat das Wort,
hat der Credit, und dann auch, unter allen an-
dern Waaren in einem ſehr hohen Grade, das
Metallgeld. Unter allen Waaren, die auf den
Marktplaͤtzen des Welthandels concurriren, haben
ſeit undenklichen Zeiten die edlen Metalle den
hoͤchſten Werth behauptet; und dies lange vor-
her, ehe man uͤber ihre Eigenſchaften reflectirt
hatte. Es giebt wenige Waaren, deren unmit-
telbare Brauchbarkeit fuͤr die Zwecke des alltaͤgli-
chen Lebens ſo gering waͤre, die weniger zu den
besoins de première necessité im gewoͤhnli-
chen Sinne des Wortes gerechnet werden koͤnnten,
als die edlen Metalle. Deſſen ungeachtet hat
[267] man — lange zuvor, ehe uͤber die Natur des
Geldes und uͤber dieſes vermeintliche besoin
factice
raͤſonnirt worden — einen großen Reitz
und eine große Sicherheit in dem Beſitze dieſer
Waaren empfunden, welche Empfindungen in
dem Bewußtſeyn, den Gegenſtand des allgemein-
ſten Begehrens zu beſitzen, ihren Grund hat-
ten. —


Der Drang nehmlich jedes einzelnen Men-
ſchen nach der menſchlichen Geſellſchaft, das
Streben des Einzelnen, von der ganzen Geſell-
ſchaft unterſtuͤtzt zu werden, ſie ſo nahe als moͤg-
lich bei ſich zu haben, weil nur die ganze Geſell-
ſchaft, und nichts Anderes, das, was der Ein-
zelne war und beſaß, garantiren konnte, warf
ſich von Anfang an auf Sachen und Beſitzthuͤ-
mer. Man ſuchte dieſe Beſitzthuͤmer zu erwei-
tern aus einem doppelten Grunde, zuerſt, um
des wirklichen Beſitzes zu genießen, zweitens
aber, und vorzuͤglich, um dieſe Gegenſtaͤnde des
Genuſſes zu garantiren, zu vertheidigen.
Der groͤßte Theil des Beſitzes wurde erſtrebt,
um ſich nur des andern Theiles zu verſichern;
man begehrte und acquirirte allenthalben in einer
doppelten Abſicht, um zu beſitzen und um zu
erhalten, man ſtrebte nicht, wie unſre einſei-
tigen Staats-Theorieen, nach augenblicklichem
[268] Nutzen, oder nach bloßer Production, ſondern
voͤllig eben ſo lebhaft nach Conſervation, Conſo-
lidirung und Capitaliſation.


Die Erde hat ſich dieſe Erhaltung des Ge-
ſchlechtes beſonders vorbehalten. Wenn es auf
Erhaltung ankommt, ſo gelten die leichten Ge-
ſetze des Tages, deren der Menſch bauen und
umwerfen kann, ſo viel er will, wenig mehr.
Der Menſch muß ſich hier den ewigen Geſetzen
des Planeten unterwerfen, auf dem er lebt; die
kraͤftigſten Mittel der Erhaltung bereitet die
Erde auf geheimnißvolle Weiſe, und ſchickt ſie
dem Menſchen herauf: eins fuͤr den Krieg, das
Eiſen; eins fuͤr [den] Frieden, das Gold und
Silber: ein Mittel der Vereinigung, um die
Menſchen, wo es noͤthig iſt, zuſammen oder aus-
einander zu reitzen; ein Mittel der Trennung,
um die Menſchen zuſammen und aus einander zu
zwingen. Das Verlangen der Menſchen nach
ſchoͤnen, ſeltnen und unnachahmlichen Dingen,
welches ſich in dem uralten Werthe der edlen Me-
talle und der edlen Steine offenbart, enthaͤlt
verdeckt das hoͤhere Verlangen, durch den Beſitz
dieſer Dinge ſich ihrer Eigenſchaften theilhaftig,
ſich ſelbſt zum Gegenſtand des allgemeinen Be-
gehrens zu machen; ihr Verlangen nach dauer-
haften, conſequenten und ſich gleich-bleibenden
[269] Dingen enthaͤlt das hoͤhere Verlangen, durch die
Aneignung ſelbſt zu dauern und ſich gleich zu
bleibrn. Kinder und jugendliche Voͤlker vermi-
ſchen das Perſoͤnliche und das Saͤchliche, die
Eigenſchaften des einen und des andern unauf-
hoͤrlich, was wir mit alternder Nuͤchternheit der
Seele ſo weiſe zerlegen und von einander ab-
ſtrahiren; ruͤſtiger und friſcher betrachten ſie alle
Sachen wie Perſonen. Es muß ſich alſo unter
allen Sachen bald die Sache herausſcheiden,
welche von der Natur auf ſo geheimnißvolle
Weiſe zubereitet und erzeugt wird, wie der
Menſch ſelbſt, und welche die Eigenſchaften der
Seltenheit, der Nachgiebigkeit, der Gleichfoͤrmig-
keit, der Beweglichkeit, der Dauerhaftigkeit und
der Schoͤnheit, in denen allen ſich das hoͤchſte
Streben des Menſchen ausdruͤckt, in einem ſo
hohen Grade und auf ſo einfache Weiſe verei-
nigt. — In dem nothwendigen Streben des
Menſchen nach den edlen Metallen verſteckte ſich
folglich alles das hoͤhere Streben der menſchlichen
Natur. Indem eine Sache, nicht von unmit-
telbarem, ſondern von mittelbarem, vermitteln-
dem Werthe, uͤber alle andren unmittelbar brauch-
baren Sachen zum Koͤnig, zum Suveraͤn, erho-
ben wurde, zeigte der Menſch von Anfang an
ſein uͤber alle Thiergeſchlechter erhabenes Weſen;
[270] er zeigte, daß er nicht an Augenblick und Ort
gebunden waͤre, ausſchließend gebunden, wie jene:
das ganze, große, unſichtbare Halbtheil ſeiner
Natur wurde durch jene ſuveraͤne Sache repraͤ-
ſentirt. Außer allen Sachen und uͤber allen Sa-
chen, die fuͤr das Begehren der Stunde und des
Ortes beſtimmt waren, beſaß der Menſch um
der unentbehrlichen Vergangenheit und Zukunft,
um der abweſenden und entfernten Dinge und
Perſonen willen, eine beſondre Sache; und dieſe
Sache verbuͤrgte ihm die Dauer und die Erhal-
tung aller uͤbrigen Sachen.


Es iſt auffallend, daß man bis jetzt dem
Gelde einen eingebildeten, und allen uͤbrigen
Waaren einen wirklichen Werth zugeſchrieben
hat, und doch erklaͤrlich, weil man dem Einen
Beduͤrfniſſe — welches die Befriedigung aller uͤbri-
gen Beduͤrfniſſe, und den wahren Werth der Ob-
jecte dieſer Beduͤrfniſſe, allein moͤglich macht und
beſtimmt, und welche Eine conditio sine qua non
durch das Geld repraͤſentirt wird, nehmlich dem
Beduͤrfniſſe nach der Geſellſchaft oder dem Staate,
dem allerwirklichſten Beduͤrfniſſe des Menſchen
— ſelbſt nur einen eingebildeten Werth beigelegt
hat. Das edle Metall hat anſcheinend nur einen
geringen unmittelbaren Werth: es ſcheint auf den
erſten Blick, als ob ſich dieſer Gebrauchswerth
[271] der edlen Metalle auf die Verfertigung einiger
Gefaͤße und Geſchirre reducirte; und dabei iſt
auch die gewoͤhnliche Theorie ſtehen geblieben.
Sie haben, ſagt man, einen ſehr geringen
Gebrauchswerth, und einen ungeheuer großen
Tauſchwerth. Man konnte ſich aus den Ban-
den des bloß Phyſiſchen und Thieriſchen nicht
befreien: was nicht unmittelbarer mechaniſcher
und chemiſcher Gebrauch war, das ſtatuirte dieſe
rohe Oekonomie uͤberhaupt nicht als Gebrauch.


Ich habe oben gezeigt, warum ich, anſtatt
des groben, ungelenkigen Wortes Tauſchwerth,
die ſinnigere Bezeichnung geſelliger oder buͤr-
gerlicher Charakter
eines Dinges gewaͤhlt ha-
be. An dieſer Stelle nun zeigt es ſich, warum ich,
anſtatt des, mancherlei Mißverſtaͤndniſſe mit ſich
fuͤhrenden, Wortes Gebrauchswerth, lieber
Privat- oder in dividueller Charakter eines
Dinges ſage. Der Werth des Metallgeldes hat,
wie der Werth aller andern Sachen, ſeinen Grund
darin, daß die edlen Metalle den hoͤchſten in-
dividuellen
Werth und den hoͤchſten geſelligen,
buͤrgerlichen, univerſellen Werth in einander ver-
binden, was bei keiner andern Waare in ſo ho-
hem Grade der Fall iſt. Der Menſch bedarf
deſſen, was das Geld repraͤſentirt, der Geſell-
ſchaft nehmlich oder der Abweſenden, des Bei-
[272] ſtandes der Menſchheit, in jedem Augenblicke ſei-
nesLebens, und bei jedem Geſchaͤfte, ſo nothwen-
dig, wie der Luft. Das Geld, oder die Geſell-
ſchaft, iſt ein Univerſal-Salz, welches allen,
allen Beſitzthuͤmern des Lebens beigefuͤgt werden
muß, und ohne welches ſie alle, alle voͤllig un-
ſchmackhaft, ungenießbar, unbrauchbar ſind.
Wer kann nach dieſer Darſtellung noch an dem
unendlichen Gebrauchswerth, an dem innerlichen
individuellen Weſen, an dem Privat-Charakter
der edlen Metalle zweifeln! Darin eben, daß
dieſer Gebrauchswerth ſo unendlich groß iſt, liegt
es, daß der Tauſchwerth dieſer Metalle, oder
ihre univerſelle Bedeutung, um ſo vieles den
Tauſchwerth aller andern Waaren uͤbertreffen
kann. Die edlen Metalle ſind qualitativ allen
andern ſo genannten Waaren uͤberlegen; deshalb,
und weil ihre Qualitaͤt eine zu allen Zeiten und
Orten ſich ſelbſt gleich-bleibende iſt, ſind ſie
auch quantitativ, als Maßſtab aller andern ſo
genannten Waaren, am brauchbarſten.


Geld iſt ein Maßſtab des Werthes. Wenn
man mit ſchlechten Muͤnzſorten bei dem Kauf-
manne Waaren einhandelt, ſo tritt dieſe Eigen-
ſchaft beſonders an den Tag: der Kaufmann hat,
neben der Elle, neben dem Gewichte, noch ein
andres anerkanntes Werthmaß vor ſich, einen
guten
[273] guten Thaler, einen guten Gulden. Nach die-
ſem Werthmaßſtabe ſind die ſaͤmmtlichen Waa-
ren des Kaufmannes bereits abgemeſſen, d. h.
das Maß der Waare, die Elle, das Gewicht,
bereits auf den Werthmaßſtab bezogen und taxirt
worden. So nun mißt der Kaufmann mit dem-
ſelben Werthmaßſtabe auch die ſchlechten Muͤnzſor-
ten ab. Nach dem Grundſatze: „daß, wenn zwei
Groͤßen einer dritten gleich ſind, ſie unter einan-
der ſelbſt gleich ſeyn muͤſſen,” macht er die Waare
und die ſchlechte Muͤnzſorte, indem er zu- und
abnimmt, dem dritten, nehmlich ſeinem Werth-
maßſtabe, gleich. Indem nun in dieſem ganz
gewoͤhnlichen Handel ſo wohl der Kaͤufer, nach
Maßgabe des Waaren-Beduͤrfniſſes, welches ihn
antreibt, als der Verkaͤufer nach Maßgabe
des Geld-Beduͤrfniſſes und des fruͤheren Han-
dels, in welchem er ſich die Waare verſchaffte,
nachgiebt oder zu- und abnimmt, — iſt es
klar, daß, falls der Handel zu Stande kommt,
Beide, Kaͤufer und Verkaͤufer, bei dieſem Kaufe
uͤber einen Maßſtab uͤberein gekommen ſeyn
muͤſſen, der bei jedem einzelnen Handel verſchie-
den ſeyn, aber doch im Ganzen von einem un-
ſichtbaren National-Maßſtabe eben nicht abwei-
chen wird. Sich uͤber einen Maßſtab vereinigen,
heißt: gemeinſchaftlich ein Verhaͤltniß z. B. 1
Müllers Elemente. II. [18]
[274] Elle: 1 Thaler, zu einer Proportion erheben
z. B. 1 Elle; 1 Thaler = 1 : x. — Denn der
Maßſtab iſt nur etwas, im Gegenſatze der zu
meſſenden Dinge. —


In dem Staate oder in der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft der geſammten Schnittwaaren eines Lan-
des regiert der Laͤngen-Maßſtab, die Elle; in
dem Staate der Getreidewaaren eines Landes
regiert der Maßſtab fuͤr trockne Koͤrper, der
Scheffel; in dem Staate der geſammten Fluͤßig-
keiten, ein andrer Koͤrper-Maßſtab, das Quart,
oder Noͤßel; in dem Staate der geſammten Fleiſch-
und Spezerei-Waaren, ein Gewicht-Maßſtab,
das Pfund u. ſ. f. Die Qualitaͤt aller der einzel-
nen, von der Elle, dem Scheffel, dem Quart,
oder dem Pfunde regierten, Waaren mag ver-
ſchieden ſeyn: dennoch aͤhneln ſich alle dieſe
Waaren unter einander; und iſt die Qualitaͤt
dieſelbe, ſo wird kein weiteres Hinderniß im
Wege ſtehen, um eine Elle Leinewand gegen eine
Elle gleich-guter Leinwand zu ertauſchen oder
zu erhandeln. Da nun aber der Menſch in
allen dieſen verſchiedenen Staaten, dem, wo die
Elle, wo das Quart, wo der Scheffel, wo das
Pfund regiert, zugleich leben ſoll; da ſeine Be-
duͤrfniſſe in allen dieſen verſchiedenen Gebieten
zerſtreuet liegen, und da in jedem einzelnen Ge-
[275] biete wieder die einzelnen Waaren an Qualitaͤt
von einander abweichen: ſo iſt wieder ein hoͤherer
Regent noͤthig, der uͤber alle jene einzelnen Re-
genten, Elle, Pfund, Scheffel u. ſ. w., herrſche,
und an den ſich der einzelne Beduͤrfende direct
wenden, wie der einzelne Producent ſein beſon-
deres Maß auf ihn, das Allerweltsmaß, bezie-
hen koͤnne. Vor dem Throne dieſes koͤniglichen
Maßſtabes geht aller Verkehr vor ſich und wird
aller Handel abgeſchloſſen: er entſcheidet nicht
bloß
, wie jene kleinen Regenten; er vermit-
telt
auch, er mißt und vergilt zugleich: in die-
ſem Handel wird mit der Elle, mit dem Maß-
ſtabe ſelbſt bezahlt. Kurz die edlen Metalle ſind
qualitativer und quantitativer Maßſtab zugleich,
waͤhrend die andern Maßſtaͤbe entweder bloß
qualitativ, oder bloß quantitativ entſcheiden:
die edlen Metalle ſind Maßſtab und Aequi-
valent
zugleich. In geringerem Grade hat die
Waare, welche der Kaufmann mir fuͤr das Geld
giebt, dieſelben beiden Eigenſchaften: er will mein
Geld kaufen, mißt mein Geld mit ſeiner Waare
ab, und giebt mir dann den Maßſtab, womit
er mein Geld gemeſſen hat, zugleich als Aequi-
valent hin, nehmlich die Waaren. Zu jedem
eigentlichen Handel gehoͤren alſo zwei Maßſtaͤbe
und zwei Aequivalente, und in dem gegenſeitigen
[276] Sich-Meſſen und Entgelten beſteht der Handel.
Die Waare hat als Aequivalent einen Privat-
Werth, als Maßſtab einen geſelligen, buͤrgerli-
chen Werth: eben ſo das Geld als Aequivalent
einen Gebrauchs-, und als Maßſtab einen Tauſch-
Werth. Alle dieſe Werthe ausgleichen, oder aus
beiden Maßſtaͤben einen dritten, hoͤheren erzeugen,
und beide vielleicht noch von einander abwei-
chende Aequivalente in vollſtaͤndiges Gleichgewicht
bringen, heißt, einen Handel abſchließen.


Hier zeigt ſich nun ganz klar, daß ein drit-
tes Hoͤheres und Unſichtbares zwiſchen dem Kaͤu-
fer und dem Verkaͤufer, zwiſchen dem Metall-
geld und der Waare, vermittelt, und daß uͤber dem
hohen Throne des Metallgeldes dennoch ein im-
mer hoͤherer Suveraͤn waltet. In jedem einzelnen
Handel machen ſich Kaͤufer und Verkaͤufer, oder
der Producent und der Begehrende, erſt ihr be-
ſonderes Geld: ſie feilſchen und fuͤhlen gemein-
ſchaftlich ein unſichtbares Geld heraus, welches
das ſichtbare Geld mit der ſichtbaren Waare
auseinanderſetzt und vermittelt, ein lebendiges
Geld. Denn, ſo wie ich neulich gezeigt habe,
daß aus der groͤßten Wechſelwirkung zwiſchen
dem nationalen Begehren, oder der Nation als
Kaͤufer, und der nationalen Production, oder
der Nation als Verkaͤufer, die groͤßte National-
[277] Kraft, oder die groͤßte Menge des wahren Gel-
des hervorgeht: ſo geht auch in jedem einzelnen
Handel aus der innigſten Wechſelwirkung des
Kaufmanns mit dem kaufenden Begehren, das
groͤßte beiderſeitige Zutrauen, oder der Credit,
das unſichtbare Geld, in deſſen Nahmen der
Kauf eigentlich abgeſchloſſen wird, hervor. Ob
nehmlich nicht bloß der einzelne Handel, ſondern
ob eine Reihe von Handeln abgeſchloſſen wer-
den ſoll, haͤngt davon ab, ob mit jenem unſicht-
baren Werthe gemeſſen, und ob gegenſeitig mit
ſich bewaͤhrendem Credite bezahlt worden — ob
unter dem einzelnen Kaͤufer und Verkaͤufer wirk-
lich ſo gehandelt worden ſey, als ob die geſamm-
ten Producenten und die geſammten Begehren-
den auf einem wirklichen National-Markte ver-
ſammelt waͤren und concurrirten.


Hierbei iſt noch zweierlei zu bemerken: 1)
daß der Verkaͤufer in doppelter Eigenſchaft da
ſteht, zuerſt als Producent der Waare, oder doch
in loco des Producenten, und dann als Be-
gehrer des Geldes, der Kaͤufer hingegen als
Producent des Geldes, oder doch in loco des
Producenten, und als Begehrer der Waare,
daß demnach zwiſchen ihnen Beiden eine voll-
ſtaͤndige Entgegenſetzung, alſo die Moͤglichkeit
einer vollſtaͤndigen Wechſelwirkung, Statt findet;
[278] ferner 2), daß man ſich zur wahren Erkenntniß
der wichtigen Materie vom Gelde, von der
Muͤnze und vom Handel vor allen Dingen erſt
des Accents entſchlagen muͤſſe, den wir in dem
Gegenſatze „Metallgeld und Waaren” Ein- fuͤr
allemal auf das Metallgeld zu ſetzen pflegen.
Darum habe ich vor allen Dingen Ihren Blick
zuerſt auf eine unſichtbare Idee des Geldes zu
lenken geſucht, damit vor dieſem hoͤheren Rich-
ter die beiden Partheien, Geld und Waaren,
in ihrer gleichen Wichtigkeit und im Gegenſatz
und in der wahren Wechſelwirkung zuerſt er-
kannt wuͤrden, und wir nie, durch den aͤußeren
taͤglichen Anſchein verfuͤhrt, die Parthei Me-
tallgeld
mit dem Richter Geld verwechſeln
moͤchten, oder dem Fiscal, den attorney general
(mit dem ich das Metallgeld vergleichen moͤchte)
mit dem Staatsmann-Richter, oder mit dem
wahren Gelde. Das Kopfbild des Suveraͤns
auf den Muͤnzen — fruͤher das Symbol der
Europaͤiſchen Chriſtenheit, das Kreuz — deutet
die Gegenwart der Nation bei jedem einzelnen
Handel ſehr ſinnreich an: die ſuveraͤne Waare
wird vom Suveraͤn geſtempelt; aber dennoch bleibt
ſie Waare. Wenn auch gekroͤnt, ſo iſt ſie den-
noch Parthei in dem oͤkonomiſchen Prozeſſe, den
wir Handel nennen.


[279]

Ferner muß ich erinnern, daß man nicht,
durch den Schein der kleinen Kaͤufe im gemei-
nen Leben getaͤuſcht, in dem Gegenſatze „Kauf-
mann und Abnehmer” den Accent Ein- fuͤr alle-
mal auf den Kaufmann ſetze; weil bei deren
Erfolg der Kaufmann thaͤtiger, der Abnehmer
leidender erſcheint. Auch hier muß man ſich die
Sache denken, wie ſie auf dem Weltmarkte vor
ſich geht, wo Kaͤufer und Verkaͤufer, Geld und
Waare, ohne allen fixen Accent auf irgend einer
Seite, in reiner Wechſelwirkung auftreten, und
der Metallgeld-Producent oder der Metallgeld-
Verkaͤufer, wie jeder andre Buͤrger oder Kauf-
mann, mit ſeiner Waare erſcheint.


Gold und Silber, jedes einzeln, ſtehen in
jedem Augenblick in demſelben Verhaͤltniſſe zu al-
len uͤbrigen Waaren, wie jede einzelne Waare zu
allen uͤbrigen. Da aber die Welt nothwendig,
wie ich oben gezeigt habe, in mehrere Staaten zer-
faͤllt, oder in mehrere einzelne oͤkonomiſche Tota-
litaͤten, ſo muß vor allen Dingen Weltmarkt und
Nationalmarkt, und alſo Weltmarkt-Werth
der edlen Metalle, oder das Verhaͤltniß der edlen
Metalle zu dem Univerſal-Staate aller Waaren
auf dem Weltmarkte, von dem National-
markt-Werthe
derſelben, oder ihrem Verhaͤlt-
niſſe zu dem National-Staate der Waaren, unter-
[280] ſchieden werden. Die erſte Aufgabe einer Regie-
rung, welche die ſuveraͤne Waare fuͤr den Natio-
nal-Gebrauch ſtempeln oder muͤnzen will, wird
alſo die ſeyn, den Nationalmarkt-Werth und
Weltmarkt-Werth der edlen Metalle auszuma-
chen, und dann dieſe beiden Werthe nicht bloß
einander ſo viel als moͤglich nahe zu bringen, ſon-
dern zwiſchen ihnen zu vermitteln, d. h. nach
Maßgabe der Localitaͤt und der Handelsverhaͤlt-
niſſe des Landes, den Werth der Metalle auszu-
mitteln, welcher mit dem Intereſſe der inneren und
der aͤußeren Circulation der vertraͤglichſte iſt. Den
klug ausgemittelten Werth hat ſie als Muͤnz-
preis anzuſetzen, fuͤr welchen ſie dieſe Metalle
jeden moͤglichen Producenten oder Inhaber auf
der Muͤnze abzunehmen geneigt iſt. Jedermann
ſieht ein, wie viel auf die wahre Beſtimmung
des Muͤnzpreiſes ankommt, vorzuͤglich in einem
Lande wie England, wo die Regierung mit einer
großmuͤthigen Liberalitaͤt unentgeltlich muͤnzt, wo
ſie keinen Schlagſchatz nimmt und jedermann fuͤr
ſeinen Barren eine genau eben ſo viel werthe
Summe in gepraͤgtem Gelde zuruͤck erhaͤlt, wo
das Parliament die Koſten der Muͤnze bezahlt,
und alſo, wenn dieſe den Muͤnzpreis des Gol-
des betraͤchtlich hoͤher anſetzte, als den Markt-
preis, wenn ſie anſtatt eine Unze Goldes jetzt
[281] mit 3 L. 17 sh 10½ d zu bezahlen, 3 L. 19 sh.
als den Muͤnzpreis einer Unze Goldes anſetzte,
alles Gold nach der Muͤnze ſtroͤmen, das dort
erhaltene Silber auf dem Markte gegen das hier
wohlfeilere Gold umgeſetzt und ſo auf’s neue
der Muͤnze zugebracht werden, und das Muͤnz-
weſen in Unordnung gerathen wuͤrde, zumal auf
dem empfindlichen Markte von London, wo, ich
moͤchte ſagen, jeder gluͤckliche Hammerſchlag in
den Bergwerken von Peru, und jede im Indi-
ſchen und Chineſiſchen Handel untergehende Unze
Silbers unmittelbar gefuͤhlt wird und auf den
Marktpreis der edlen Metalle Einfluß hat. —


Welche Kraͤfte, welchen Scharfſinn hat die
Welt angewendet, 1) um den Real-Werth der
edlen Metalle zu fixiren, oder fuͤr die Ewigkeit zu
beſtimmen; 2) um einen feſten Nominal-Werth
oder eine feſte Muͤnze, eine Rechnungsmuͤnze zu
gewinnen, den Real-Werth der Metalle uͤber
alle Schwankungen des Weltmarktes zu erheben
und ſicher zu ſtellen, und eben ſo die Ueberein-
ſtimmung des Real-Werthes einer Muͤnze mit
dem Nominal-Werthe derſelben gegen alle Ver-
faͤlſchungen und Herabſetzungen der nationalen
Finanzkunſt einerſeits und gegen die Verminde-
rung des Werthes, die alle Muͤnzen im bloßen
Gebrauch, oder durch Kippen und Wippen (wear
[282] and tear
und clipping and washing) trifft,
ſicher zu ſtellen. Haͤtten dieſe beiden Zwecke je
vollſtaͤndig erreicht werden koͤnnen, ſo waͤre meine
ganze gegenwaͤrtige Idealiſirung und Belebung
der Vorſtellung „Geld” unmoͤglich; gluͤcklicher
Weiſe aber iſt die Erreichung jener Zwecke un-
moͤglich.


Die Natur hat, wie ich ſchon allenthalben
gezeigt habe, dem Menſchen in allen Verhaͤlt-
niſſen zwei Weſen im Widerſtreit, im Gegenſatz,
vorgelegt. Dieſer Streit iſt nie ganz aufzuloͤſen:
denn ſonſt wuͤrde die dann erreichte wirkliche
ewige Einheit eine todte und ſtarre ſeyn; dagegen
hat ſie uns die Einheit nicht als eine endliche,
ſondern als eine unendliche Aufgabe vorgelegt,
damit der Menſch ohne Ende etwas zu vereini-
gen und aufzuloͤſen habe, und ein lebendiges
Streben nach Einheit, worauf allein es ankommt,
immer aufrecht erhalten werde. Koͤnnte das wahre
Geld, die lebendige Einheit, der lebendige Maß-
ſtab und Werth der Dinge, welchen ich Ihnen,
wie es ſich gehoͤrt, als ein vollſtaͤndiges und
unendliches Gedankenbild vorgehalten habe, je
vollkommen in Zahlen oder in Metallen ausge-
druͤckt werden, ſo haͤtte alle National-Oekono-
mie der Erde in demſelben Augenblick ihre Seele
ausgehaucht; da hingegen, weil dieſes unmoͤg-
[283] lich iſt, nunmehr alle folgenden Geſchlechter die
ſchoͤne Aufgabe erhalten, ſie immer reiner und
vollkommener auszudruͤcken. Die Natur hat uns,
wie ich gezeigt habe, gleich beim Einkauf der
Metalle zwei verſchiedene Werthe derſelben, welche
auf die Dauer nie zuſammenfallen werden, den
Weltmarkt-Werth und den Nationalmarkt-
Werth zur Vermittelung vorgehalten; ferner bei
Anordung des Muͤnzfußes ſelbſt wieder zwei
gleich-wichtige Metalle, deren Verhaͤltniß in
ewiger Bewegung begriffen iſt; ferner divergiren
in der Wirklichkeit beſtaͤndig der Werth der
Metalle als Maßſtab, und ihr Werth als Waare
oder Aequivalent. Das Problem iſt, dieſe bei-
den Divergenzen, oder dieſe allenthalben ſich
zeigenden Gegenſaͤtze zu identificiren und aufzu-
loͤſen. Zuletzt wird man im wahren Studium
inne, daß alle Kunſt des Lebens, des Staates,
der Oekonomie darauf hinauslaͤuft, in jener Art,
die der Kenner der Muſik oder des Generalbaſſes
beſonders empfinden wird, jene widerſtreitenden
Werthe oder Metalle in einander zu flechten,
durch einander zu garantiren. So erſcheint, zum
Beiſpiel, in der Theorie der Muͤnze das Ver-
haͤltniß der beiden Metalle, Gold und Silber,
das im Anfange durch ſeine Beweglichkeit und
Veraͤnderlichkeit dem Theoretiker große Schwie-
[284] rigkeit macht, fuͤr das wahre oͤkonomiſche Leben
beſonders unentbehrlich. Im Anfange ſtrebt man
nach einem einzelnen Maßſtabe; doch alle einzel-
nen Maßſtaͤbe, das Metallgeld wie die Elle, das
Pfund, weiten ſich, veraͤndern ſich. In den
neueren aſtronomiſchen Pendul-Uhren hat man
dieſe Laͤngenveraͤnderungen des Penduls durch die
kuͤnſtliche Balancirung und Verknuͤpfung zweier
Metalle aufgehoben: ſo muß auch der Pendul
der National-Oekonomie aus zwei ſich gegen-
ſeitig beſchraͤnkenden und regulirenden Metallen
conſtruirt ſeyn.


Große Handelsplaͤtze haben vor allen andern
das Beduͤrfniß empfunden, ein einzelnes von
dieſen Metallen nach einer Ein- fuͤr allemal feſt-
geſetzten Muͤnzeintheilung zu fixiren. So hat
die Hamburger-Giro- oder Depoſitions-Bank
eine große Summe alter vollwichtiger Species-
Thaler durchaus der Circulation entzogen, in
ihren Kellern deponirt, und jedem beitragenden
Hamburger-Kaufmann auf den ganzen Belauf
der von ihm deponirten Summe in ihren Buͤ-
chern Folio gegeben, ſo, daß nun alle Zahlun-
gen der Hamburger-Kaufleute unter einander
durch bloße ſchriftliche Uebertragung der credi-
tirten Summe auf das Folium des Glaͤubigers
in’s Werk geſetzt werden, indeſſen der Real-
[285] Werth aller dieſer Geldumſetzungen unberuͤhrt
und von aller Abnutzung durch Circulation un-
angefochten bleiben kann, vorausgeſetzt, daß die
große Handelsvereinigung ſelbſt von dem Wech-
ſel der Europaͤiſchen Weltbegebenheiten unberuͤhrt
und unangefochten bleibt. So nun entſteht, auf
eine Weile wenigſtens, eine wirkliche Rechen-
muͤnze, standard money (Hamburger-Mark-
Banco, Amſterdammer-Floren-Banco), worin
alle Handlungsbuͤcher des Ortes gefuͤhrt, und
worauf alle andre Muͤnzen, wie bloße Waaren,
bezogen werden. Indeß verſteht es ſich von
ſelbſt, daß in der poſttaͤglichen Beſtimmung
des Geldcurſes an ſolchen Handelsplaͤtzen keines-
weges der bloße Gold- und Silberwerth der mit
dem Bankgelde verglichenen fremden Muͤnzen in
Anſchlag kommt, ſondern, daß der Nominal-
oder National-Werth z. B. der Preuſſiſchen
Muͤnzen auf dem Hamburger-Markte ſehr in
Betracht gezogen werden wird, die Preuſſiſche
Muͤnze, mit Bankgeld verglichen, ſehr uͤber ihren
Silber-Werth ſteigen muß, wenn die Anzahl
der Debitoren an Preuſſen die der Creditoren
in Hamburg uͤberſteigt und deshalb betraͤchtliche
Geld-Rimeſſen gemacht werden muͤſſen.


Ich finde, daß alle ſtaatswirthſchaftlichen
Schriftſteller die vergaͤngliche Beſtimmtheit ſol-
[286] cher Rechenmuͤnzen und ihren Werth viel zu
hoch anſchlagen. Solche idealiſche Rechenmuͤnze,
die nur in den Gewoͤlben der Bank, aber kei-
nesweges in der wirklichen Circulation exiſtirt,
iſt der einſtweilige wirkliche Suveraͤn einer Han-
dels-Republik. Geſetzt, eine ſolche Handels-Re-
publik, einſeitig in ihrem ganzen Weſen, er-
weiterte ſich zu einem wirklichen, organiſchen
Staate: ſo wuͤrde in dem Maße, wie ſich ein
lebendiges Ackerbau- oder Krieges-Intereſſe bil-
dete, auch die Rechenmuͤnze an ihrer Suveraͤne-
taͤt verlieren; die Allmacht eines beſtimmten Me-
tallgeldes wuͤrde nachlaſſen, ein, wenn auch aus
bloß mercantiliſchen Geſichtspunkten unvollkomm-
neres, doch aus echt-ſtaatswirthſchaftlichen voll-
kommneres National-Geld wuͤrde erſcheinen; man
wuͤrde einander gegenſeitig viel mehr mit Sym-
bolen des National-Credits, als mit abſolutem
Metall oder ſtreng-mercantiliſchem Credit bezah-
len. An den Grenzen zweier Welttheile kann
ſich eine Zeitlang ein ſolcher Handelsplatz mit ſei-
nem Bankgelde behaupten: ſo lagen Hamburg
und Amſterdam an der Grenze des Continents
von Europa einerſeits, und von England und
den beiden Indien andrerſeits; ſo lag Genua
mit ſeiner Girobank an der Grenze des Europaͤi-
ſchen Continents und Aſiens. Aber wie moͤchten
[287] wir doch das Streben und die Geſetze einer
eigentlichen Europaͤiſchen National-Muͤnze nach
dem Muſter ſolcher an Europa nur mit einem
leichten Verbande klebenden Grenzpoſten ein-
richten! Alſo das groͤßtmoͤgliche Uebereintreffen
unſrer National-Muͤnzen mit den Weltmuͤnzen,
oder den auf dem Weltmarkt accreditirten Muͤn-
zen, iſt erſt die Eine Haͤlfte der Aufgabe. Unſer
Verkehr mit dem Auslande wird erleichtert wer-
den nach Maßgabe dieſes Uebereintreffens; aber
es ſoll auch ein realer, groͤßtmoͤglicher, zweckmaͤ-
ßiger und eigenthuͤmlicher Verkehr im Binnen-
lande bewirkt werden: alſo wuͤrde eine kluge Ab-
weichung der National-Muͤnze von dem Welt-
muͤnzfuße, wenn es einen ſolchen geben koͤnnte,
ſich nicht bloß rechtfertigen laſſen, ſondern ſogar
nothwendig ſeyn.


Nie muß vergeſſen werden, daß die Natio-
nal-Kraft ganz allein unter allen Dingen, wo-
mit der Menſch zahlen kann, von ſeinem Willen
und ſeiner Kraft abhaͤngt, und daß das Metall-
geld in ſeiner reinſten Geſtalt — wenn es auch,
fuͤr ſich betrachtet, uͤber alle andern Waaren un-
beſchraͤnkt regiert — fuͤr die eigentlich nationalen
Beſtimmungen noch unzureichend iſt, und daß
der Stempel der National-Kraft erſt hinzukom-
men muß, wenn die wahre Exiſtenz und das
[288] Geld einer noch ſo wohl berechneten Handels-
Commuͤne aufrecht erhalten werden ſoll. War-
um haͤtte die Natur zugegeben, daß Genua,
Amſterdam und Hamburg ſo tief von ihrer ehe-
maligen Hoͤhe herabgeſunken ſind, als um die
Wahrheit immer deutlicher an den Tag treten
zu laſſen, daß Credit, Geld, Reichthum, wenn
ſie nicht aus einer innern, nationalen und orga-
niſchen Vollſtaͤndigkeit hervorgehen, und von ihr
aufrecht erhalten und garantirt werden, trotz al-
ler ihrer weltlichen und arithmetiſchen Beſtimmt-
heit, den Zerſtoͤrungen des Schickſals nicht ent-
gehen koͤnnen!


Alle dieſe Betrachtungen waren nothwendig,
um zuvoͤrderſt Dem, was man Real-Werth und
Nominal-Werth einer Muͤnze nennt, einen richti-
gen und lebendigen Sinn unterzulegen. Nach
unſeren Vorſtellungen hat jeder unabhaͤngige Su-
veraͤn das Recht, das Metallgeld zu ernennen,
wie er das Recht hat, Menſchen zu ernennen,
ihnen einen gewiſſen geſellſchaftlichen Nominal-
Werth
, Rang, Stand und Titel, beizulegen:
„fuͤr ſo viel, und nicht mehr oder weniger, ſoll
dieſer Menſch oder dieſes Stuͤck Geld in meinem
Lande circuliren,” kann er ſagen. Außer dem
ernennt aber nun noch die Nation oder die buͤr-
gerliche Geſellſchaft denſelben Menſchen oder daſ-
ſelbe
[289] ſelbe Stuͤck Silber, nach Maßgabe ſeines per-
ſoͤnlichen, innerlichen Werthes, durch die oͤffent-
liche Meinung zu etwas Beſtimmtem; auch ſie
legt dieſem Menſchen oder dieſem Silber einen
Nominal-Werth bei, der mit der Ernennung
des Suveraͤns zuſammentreffen, aber auch davon
abweichen kann. Im gemeinen Leben wird der
Werth, den das Volk dem Metall oder dem ein-
zelnen Menſchen beilegt, Real-Werth genannt,
weil in der vielfaͤltigen Bewegung und in den
unzaͤhligen Relationen des Menſchen, oder des
einzelnen Metalls, zum Volke, der wahre Werth
deſſelben viel reiner an den Tag treten kann,
als in den einfoͤrmigen Relationen zum einzel-
nen Suveraͤn.


Indeß, ſobald man das Metall, oder den
Menſchen, in eine noch vielfaͤltigere Relation,
z. B. auf den Weltmarkt, bringt, wird eine
neue Ernennung erfolgen. Das Metall und der
Menſch treten nun in unendlichen Relationen zu
allen Waaren und Menſchen der Welt; hier oder
nirgends muß ihr wahrer innerer Werth zum
Vorſchein kommen: was auf dem Weltmarkte
beſtimmt wird, das muß der wirkliche Real-
Werth ſeyn. Aber, anſtatt beſtimmter zu wer-
den, wird der Werth des Metalles wieder unbe-
ſtimmter; die unaufhoͤrlichen Schwankungen in
Müllers Elemente. II. [19]
[290] dem Weltreiche der Waaren, in jedem Augen-
blicke neues Zu- und Abſtroͤmen der Metalle,
veraͤndern von Moment zu Moment das Ver-
haͤltniß des Metalls zu den Waaren: da es nun
auf dieſem vermeintlichen Weltmarkte, wie in
der vermeintlichen Univerſal-Monarchie, keinen
hoͤheren Maßſtab, Richter oder Suveraͤn giebt,
als das Metall oder den ſo genannten Univerſal-
Monarchen, dieſes Metall und dieſer Monarch
aber in jedem Augenblicke von den Waaren und
von den Individuen erſt ſelbſt wieder ſeinen Maß-
ſtabs-Werth erhalten muß: ſo entſtaͤnde, wenn
es einen wirklichen Weltmarkt, oder eine abſolute
Univerſal-Monarchie geben koͤnnte, ein unend-
liches Schwanken; und wir, die wir den blei-
benden Werth des Metalles kennen zu lernen
wuͤnſchten, und deshalb das Metall in eine im-
mer groͤßere Sphaͤre fuͤhrten, wuͤrden auf der
allergroͤßten, dem abſoluten Weltmarkte nehm-
lich, die abſolute Unbeſtimmtheit finden, anſtatt
der abſoluten Beſtimmtheit, nach welcher wir
ſtreben.


Die Suppoſition eines ſolchen, bloß mercan-
tiliſchen Weltmarktes iſt ein andrer großer Man-
gel in der Anſicht Adam Smith’s, und vorzuͤglich
ſeiner Deutſchen Juͤnger. Nach dieſer Voraus-
ſetzung ſtreben Waaren und Geld auf der gan-
[291] zen Erde nach demſelben allgemeinen level oder
niveau. Dies mag wahr ſeyn; da es aber nicht
ſo ausſchließend wahr iſt, wie die Mode-Oeko-
nomen behaupten, ſo wird es wieder falſch. Man
vergleicht die Bewegung der Waaren und des
Geldes mit den Fluͤſſen und Baͤchen, die alle
ein Streben nach dem großen niveau des Welt-
meers haben; dabei uͤberſieht man aber die Kraft
des Himmels, der ſie aus dem großen niveau
auch wieder erhebt und bergaufwaͤrts, in Wolken-
geſtalt, an ihre Quellen zuruͤckfuͤhrt. Wenn man
mit einer ſolchen Naturerſcheinung die geſell-
ſchaftlichen Dinge vergleicht, ſo muß man aus
dem, was ein Halb-Cirkel in der Natur iſt,
nun nicht einen ganzen Cirkel fuͤr die Geſell-
ſchaft machen wollen.


Alle Waaren, wie nach meiner fruͤheren Dar-
ſtellung alle Perſonen, haben ein Streben, aus
einander zu ſtroͤmen und ſich ſelbſt nach allge-
meinen Naturgeſetzen in’s Gleichgewicht zu brin-
gen; alle Waaren haben auch wieder ein Stre-
ben nach nationalen Vereinigungspunkten hin,
wie die Perſonen: dies iſt die Einrichtung der
Natur. — Gold und Silber moͤgen, wie die
Stroͤme, ein Streben nach einem natuͤrlichen
und allgemeinen niveau haben; nur uͤberſehe
niemand aus allzu großer Abgoͤtterei mit der Kraft
[292] oder der ſo genannten Natur des Geldes, die
Kraft und Natur des Menſchen. Was die
Stroͤme in Beziehung auf das Weltmeer an ſich
ſind, iſt mir gleichguͤltiger; mir ſind ſie in der
Beziehung auf die buͤrgerliche Geſellſchaft, und
auf die einzelnen nationalen Gruppen, welche ich
Europaͤiſche Voͤlker oder Fuͤnf-Reiche nenne,
wichtig.


Alſo, wenn es darauf ankommt, den Real-
Werth einer Muͤnze zu beſtimmen, ſo melden
ſich dreierlei Nominal-Werthe: der landesherr-
liche, der nationale, und der univerſale. Der lan-
desherrliche Nominal-Werth iſt einer allzu be-
ſchraͤnkten Willkuͤhr, der univerſale Nominal-
Werth iſt den Schwankungen einer gewiſſen Na-
tur-Nothwendigkeit allzu ſehr unterworfen. So
irrte man z. B. eben ſo ſehr, wenn man ſagen
wollte: der univerſale Nominal-Werth, der
Cours der Oeſtreichiſchen Papiere auf dem Welt-
markte, oder 33 pCt, iſt der wahre Real-Werth
dieſer Papiere; als wenn man ſagen wollte: der
landesherrliche Nominal-Werth, oder 100 pCt.
waͤre es. Zwiſchen dieſen beiden liegt ein ge-
wiſſer nationaler Werth der Papiere, derjenige,
auf den es bei allen Calculn uͤber die National-
Kraft eigentlich ankommt, und den auch jeder
bei dem Schickſale dieſer Papiere vaterlaͤndiſch
[293] Intereſſirte ſehr wohl fuͤhlt. Nur aus den
nichtswuͤrdigſten Comptoir-Anſichten erſcheint der
gewoͤhnliche Cours wie der Real-Werth, oder
der Augenblick wie eine Ewigkeit. Daß die Re-
gierungen in dieſe Anſichten zu ihrem eignen
Ungluͤcke eingehen, iſt natuͤrlich in einer Zeit,
wo man den erſten beſten philanthropiſchen Ban-
quier ſchon fuͤr einen tauglichen Finanz-Miniſter
haͤlt. —


Da nun die Muͤnze eine durch und durch
nationale Angelegenheit iſt und im großen Welt-
handel, wie ich ſchon gezeigt habe, die edlen
Metalle vielmehr als Waare, denn als Geld,
entriren: ſo iſt der eigentliche Real-Werth der
Muͤnze das, was ſie in den Augen der ganzen
Nation, und nicht bloß der einzelnen Kaufleute,
iſt. Laͤßt ſich eine Regierung durch jede Veraͤn-
derung des auswaͤrtigen Courſes zu einer Ver-
aͤnderung des Muͤnzfußes verfuͤhren; macht ſie
das Finanz-Geſchaͤft aus einem Staatsgeſchaͤft
zu einem Banquier-Geſchaͤfte: ſo nimmt ſie ſelbſt
ihrem Gelde die nationale Bedeutung, kraft deren
es eigentliches Geld, und keine bloße Waare, iſt.


[294]

Zwei und zwanzigſte Vorleſung.


Von der Circulation des Geldes, vom Münzfuße und
vom Münzſchatze.


Es iſt eine hervorſtehende Eigenheit des Metall-
geldes und ſeines Gebrauchwerthes, daß eben
daſſelbe Geldſtuͤck von einer großen Anzahl Men-
ſchen gebraucht werden kann. Der eigentliche
Gebrauch des Metallgeldes beſteht in dem Tradi-
ren, in dem Weggeben deſſelben. Je groͤßer
die Anzahl der Tradirungen iſt, welche daſſelbe
Geldſtuͤck erfaͤhrt, um ſo groͤßer iſt natuͤrlicher
Weiſe auch der Gebrauchswerth deſſelben. Je
vielſeitiger in einem Lande der Verkehr iſt, je
vielfaͤltigere Beruͤhrungen unter den einzelnen
Individuen ſind, um ſo mehr Tradirungen wer-
den Statt finden, um ſo oͤfter wird das Geld
ſeinen Platz vertauſchen, um ſo lebhafter wird,
wie wir uns gewoͤhnlich ausdruͤcken, deſſelbe cir-
culiren
. Soll ein dauerhafter Verkehr, eine
lebendige Bewegung, in einem Lande Statt fin-
[295] den, ſo muß die Verfaſſung und die Macht die-
ſes Landes, oder die Sicherheit, feſt begruͤndet
ſeyn. —


Wie die wahre innere Bewegung des Staa-
tes waͤchſt, ſo waͤchſt auch ſeine Feſtigkeit; und
dieſe Feſtigkeit iſt die Probe, ob der innere Ver-
kehr ein dauernder, gruͤndlicher und lebendiger,
oder ob er ein voruͤbergehender, bloß durch zu-
faͤllige Umſtaͤnde herbeigefuͤhrter, ſey. Alſo, je
feſter die politiſche Geſammt-Exiſtenz des Staa-
tes wird, um ſo lebhafter wird die wahre Cir-
culation des Geldes. Der aͤußere Anſtoß nun,
welchen das Metallgeld braucht, um zu bedeu-
ten, kann nur aus dem Inneren des buͤrgerlichen
Geſammtlebens kommen. Bielfaͤltiges perſoͤnli-
ches Einander-Beduͤrfen muß voran gehen, um
einer Waare Werth zu geben, deren ganze Be-
ſtimmung darin liegt, die Befriedigung des viel-
faͤltigſten Beduͤrfniſſes moͤglich zu machen. —
Wenn die Menſchen nichts beduͤrften, als Feld-
fruͤchte, ſo wuͤrden ſie den edlen Metallen
eben ſo wenig einen Gebrauchswerth beilegen,
als die Thiere denſelben daran zu ſchaͤtzen wiſſen.
Wenn die Menſchen bloß in der Familie leb-
ten und ſich beſtaͤndig unmittelbar beruͤhrten,
und es bei dieſem directen Verkehr ſein Bewen-
den haͤtte, ſo wuͤrde es ebenfalls bei einem direc-
[296] ten Tauſche ſein Bewenden haben, und der
Tauſch ſich nie zum Handel erheben.


So aber leben die Menſchen 1) im Verkehr
mit der großen Geſellſchaft, mit dem Staate,
mit der Menſchheit; 2) im Verkehr mit Allem,
was die Erde erzeugt: ſie haben unzaͤhlige ſaͤch-
liche, erhaltende und geiſtige Beduͤrfniſſe. Sie
beduͤrfen alſo einer allgegenwaͤrtigen Kraft, durch
welche das Entfernteſte und das Naͤchſte mit
einander in Verbindung geſetzt, und die kleine
Stelle, welche der phyſiſche Menſch auf der
Erde einnimmt, in’s Unendliche erweitert, die
kurze Dauer, welche ſeiner phyſiſchen Exiſtenz zu-
getheilt worden iſt, uͤber ganze Jahrhunderte aus-
gedehnt wird. Dieſe allgegenwaͤrtige Kraft, juri-
ſtiſch ausgedruͤckt, heißt Suveraͤn, oder Rechts-
Idee; oͤkonomiſch ausgedruͤkt, heißt ſie Geld. —


Metallgeld, haben wir geſehen, hat, wie
groß auch ſein Gebrauchswerth ſeyn moͤge, ſehr
beſtimmte Schranken: die hoͤheren Beduͤrfniſſe
des Menſchen, an denen ſeine Natur erkannt
und von der thieriſchen unterſchieden wird, koͤn-
nen durch Metallgeld nicht mehr befriedigt, ver-
mittelt und ausgeglichen werden. Der Geiſt der
Geſellſchaft, der wahre National-Geiſt, muß
ſelbſt an’s Licht treten, und mit ihm muß ge-
zahlt werden. Nur dieſer vermag zwiſchen den
[297] phyſiſchen, erhaltenden und geiſtigen Beduͤrfniſſen
zu vermitteln. Je maͤchtiger dieſer Geiſt iſt, um
ſo lebhafter wird auch die innere Circulation der
Geſellſchaft, um ſo weniger bedarf es des Me-
tallgeldes. Daher beweiſ’t nun die in einem be-
ſtimmten Staate vorraͤthige Summe des Metall-
geldes fuͤr den wahren Reichthum deſſelben Staa-
tes ſehr wenig; auch die Beſchaffenheit, die
Schlechtheit des Geldes — vorausgeſetzt, daß
der Staat den unedlen Beiſatz ſeiner Muͤnzen
durch National-Kraft gutmacht — beweiſ’t nichts.
Wenn man daher einen Muͤnzfuß, z. B. den
Preuſſiſchen, ſchlecht nennt, oder wenn man
einem Staate Mangel an Metallgelde vorwirft,
ſo beweiſ’t dieſes an und fuͤr ſich weder gegen
ſeine Feſtigkeit, noch gegen ſeine innere Bewe-
gung: vorausgeſetzt, daß nicht er ſelbſt, oder
ſeine Regierung, hier in den geruͤgten Irrthuͤmern
befangen iſt, daß er dem auswaͤrtigen Handel
keine ungebuͤhrliche Wichtigkeit beimißt, daß er
ferner nicht ſelbſt ſein Heil vom Metallgelde ab-
haͤngig glaubt, daß er das hoͤhere Geld kennt,
womit ein Staat, der die Jahrhunderte und
weite Gebiete im Raume vor Augen haben ſoll-
te, immer zahlen muͤßte; endlich, daß er ſeinen
Credit, im weiteſtgreifenden Sinne des Wortes,
in allen ihm unterworfenen Individuen und
[298] in allen Nachbarſtaaten aufrecht zu erhalten
weiß. —


Von der Beantwortung dieſer Fragen haͤngt
es ab, ob ein Staat wahrhaft reich und ſelbſt-
ſtaͤndig zu nennen ſey. Sobald aber die Na-
tional-Kraft, oder der geſellſchaftliche Geiſt,
welcher eine Nation zu einem maͤchtigen Ganzen
verbindet, durch irgend eine wahre Calamitaͤt ge-
ſchwaͤcht wird, ſtockt auch der weſentliche Verkehr,
welcher allenthalben da zu finden iſt, wo weſent-
liche Feſtigkeit Statt hat. Nun wird augenblick-
lich die Schlechtheit oder der Mangel des Me-
tallgeldes gefuͤhlt; jedermann haͤlt den Suveraͤn
des phyſiſchen Lebens, nehmlich das Metallgeld,
ſo feſt, wie er kann, ſieht aber bald ein, daß
auch dieſer Suveraͤn ſeine Macht verloren, ſeit-
dem der bewegende Anſtoß des lebendigen Su-
veraͤns, oder des wahren Geldes, ſeine Kraft
verloren hat. Wenn auch von der alten vor-
handenen Summe des Geldes nicht ein Thaler
verloren ginge, ſo wuͤrde ſich dennoch augenblick-
lich Geſchrei uͤber Geldmangel erheben.


Die Summe des in einem Staate vorhan-
denen Geldes wird allenthalben, mehr oder we-
niger, mit der Lebhaftigkeit der Geld-Circula-
tion in umgekehrtem Verhaͤltniſſe ſtehen; oder
je groͤßer die agirende und reagirende Circulation
[299] des Geldes in einem Staate, oder auch nur in
einer Stadt, oder auf einem beſtimmten Markte
iſt: um ſo geringere Maſſen von Geld werden
dieſe Circulation beſtreiten koͤnnen. Wenn in
einem Staate Production und Beduͤrfniß im
Gleichgewichte ſind, wenn nicht mehr begehrt
als producirt, nicht mehr producirt als begehrt
wird; ſo begreift jedermann, daß Credit und
hoͤchſtens Wechſel hinreichen, den ſaͤmmtlichen
Verkehr zu dirigiren. Wenn in einem Staate
ferner Exporten und Importen in Gleichgewich-
te ſind, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß auch
im auswaͤrtigen Verkehr Credit und Wechſel
zur Auseinanderſetzung hinreichen. Sollen im
inlaͤndiſchen Handel Production und Beduͤrfniß
im groͤßtmoͤglichen Gleichgewichte ſeyn, ſo ge-
hoͤrt dazu die groͤßtmoͤgliche Action und Reac-
tion, die lebendigſte Gegenſeitigkeit und die be-
ſchleunigtſte Bewegung unter denen Individuen,
aus welchen der Staat beſteht. In dieſer Bewe-
gung wird das Metallgeld hoͤchſtens als Marke,
nach Art der Spielmarken, figuriren: jeder Ein-
zelne wird ſich deſſen ſo ſchleunig als moͤglich
entaͤußern, es ſo ſchleunig als moͤglich in wah-
res Geld, in National-Kraft, oder in Arbeit,
wie Adam Smith ſagt, umſetzen; eine ſehr ge-
ringe Summe wird hinreichen, die geſammten,
[300] wenn auch noch ſo ungeheuren, Geſchaͤfte zu
beſtreiten. Daher ſchlaͤgt man die Summe des
in einer Handels- oder Gewerbsſtadt befindlichen
Geldes immer zu groß an. — Sollen Impor-
ten und Exporten im auslaͤndiſchen Handel ein-
ander balanciren, ſo gehoͤrt dazu ein eben ſo viel-
faͤltiger Verkehr, eine eben ſo lebhafte Action
und Reaction von beiden Seiten, und alſo auch
eine verhaͤltnißmaͤßig geringe Summe Geldes.


Aus dieſem Geſichtspunkte waͤre die Frage:
„wie große Summen Geldes in jeder von den
verſchiedenen Muͤnzſorten zum Bedarf eines Lan-
des erforderlich ſeyen,” mit ziemlicher Praͤciſion ſo
zu beantworten: „Welche Geldſorte am lebhafte-
ſten circulirt, von der iſt die kleinſte Summe noͤ-
thig, um eine beſtimmte Maſſe des Verkehrs in ge-
gebener Zeit zu beſtreiten.” Daher war die Ueber-
fuͤllung des Preuſſiſchen Marktes mit Scheide-
muͤnze, oder billon, beſonders unpolitiſch, wie
ſich auch in der gegenwaͤrtigen kritiſchen Lage
dieſes Staates bewaͤhrt hat. Die Armee Einer-
ſeits, die Acciſe andrerſeits gaben der Scheide-
muͤnze in den Preuſſiſchen Staaten eine unge-
woͤhnlich lebendige Circulation; um ſo groͤßere
Vorſicht war alſo bei Auspraͤgung derſelben noͤ-
thig. Nicht bloß der geringe Silbergehalt dieſer
Muͤnzen, ſondern auch vielmehr die Ueberfuͤllung
[301] des Marktes hat den Fall dieſer Muͤnzſorten
herbeigefuͤhrt. — Dieſelben Erſcheinungen zeigen
ſich ebenfalls in der Papier-Circulation: bei
uͤbrigens gleichen Umſtaͤnden kann ein Staat
weit mehr verzinsbare Papiere, Stocks, Schuld-
ſcheine, Obligationen tragen, weil ſie traͤger cir-
culiren, und weil jedermann von den darauf
haftenden Intereſſen genießen will, als unver-
zinsbare Bankozettel oder Papiergelder, welche
ſchon um deswillen raſcher circuliren, weil ſich
jeder ihrer ſo ſchleunig als moͤglich zu entaͤußern
ſucht.


Ich bitte Sie indeß, aus dieſen einfachen
und arithmetiſchen Geſetzen uͤber das Verhaͤltniß
der Maſſe des Geldes zu deſſen Bewegung nicht
zu raſch Folgen zu ziehen. Das Geldgeſchaͤft
einer Nation iſt viel zu complicirt, um aus ſo
einfachen Principien uͤber den unbedeutendſten
beſtimmten Fall abſprechen zu koͤnnen. Ich habe
dieſe mechaniſchen Gruͤnde hier nur beigebracht,
um Ihnen eine doppelte Deduction deſſelben
Satzes vorzuhalten. Je lebhafter die Bewegung,
um ſo geringer iſt die nothwendige Maſſe des
Geldes: ſo folgerten wir aus einem einfachen me-
chaniſchen
Verhaͤltniſſe. Je feſter der Staat,
je groͤßer die National-Kraft, um ſo geringer
kann die Summe des Metallgeldes ſeyn, welche
[302] zur Auseinanderſetzung der buͤrgerlichen Geſchaͤfte
noͤthig iſt: ſo folgerten wir aus organiſchen
Verhaͤltniſſen. Sie fuͤhlen alſo die große Schwie-
rigkeit, welche mit der Anordnung des Muͤnz-
und Geld-Geſchaͤftes in einem beſtimmten Staate
verbunden iſt; Sie fuͤhlen, welch eine leiſe Hand
dazu erfordert wird, das lebendige und belebende,
wahre Verhaͤltniß zwiſchen dem großen, perſoͤn-
lichen Suveraͤn und ſeinem kleineren, mit ſei-
nem Bilde geſchmuͤckten Repraͤſentanten, dem
Metallgelde, zu dirigiren und zu ſchonen. Die
Beſtimmung des Muͤnzpreiſes, des Muͤnzfußes,
der Muͤnzſorten, und der auszupraͤgenden Sum-
men von Muͤnzen erfordert eine Umſicht und
Tiefe des Blickes, welche mit den gewoͤhnlich zu
dieſem Zwecke erforderten perſoͤnlichen Requiſiten
ſonderbar contraſtirt. Dieſes Geſchaͤft iſt eines
Iſaac Newton’s wuͤrdig, der bekanntlich Muͤnz-
meiſter in der Londoner Muͤnze war.


Laſſen Sie uns jetzt, um die gehoͤrige Frei-
heit des Blickes zu behaupten, dieſes große Ge-
ſchaͤft aus fremden Geſichtspunkten, und zwar
aus Brittiſchen, betrachten. Ich waͤhle den neue-
ſten Brittiſchen Schriftſteller uͤber die Muͤnze,
Lord Leverpool, den bekannten Freund des Koͤnigs
von England, der vielen von Ihnen aus aͤlteren
ſtaatswiſſenſchaftlichen Schriften, die unter ſei-
[303] nem fruͤheren Nahmen Charles Jenkinſon er-
ſchienen ſind, erinnerlich ſeyn wird. — „Geld,”
ſagt Lord Leverpool, „iſt Maßſtab und Aequiva-
lent zu gleicher Zeit. Das Problem der Muͤnze
iſt, dieſe beiden, in der Wirklichkeit allezeit diver-
girenden, Eigenſchaften zu paralleliſiren und zu
identificiren. Bloßes Maß ohne inneren Werth
genuͤgt nicht; bloßes Aequivalent, das bei dem
ſchwankenden Marktwerthe der edlen Metalle
nicht als Maß zu fixiren iſt, genuͤgt eben ſo
wenig.” Bloßes Maß, bloßer Nominal-Werth,
genuͤgt nicht; im Verkehre mit dem Auslande,
der in England ſo uͤberwiegend wichtig iſt, entrirt
der Nominal-Werth ſehr wenig, d. h. etwa nur
in ſo fern wird der auswaͤrtige Creditor bei einer
Zahlung einem ſchlechten Schilling fuͤr mehr als ſei-
nen Silberwerth annehmen, als er auf kuͤnftige
Zahlungen Ruͤckſicht nimmt, die er ſelbſt nach Eng-
land wieder zuruͤck zu machen haben moͤchte. Blo-
ßes Aequivalent genuͤgt eben ſo wenig, weil der
Marktpreis der edlen Metalle von Stunde zu
Stunde wechſelt, und die Muͤnze gerade errich-
tet iſt, um dem ſchwankenden Cours eine gewiſſe
Feſtigkeit zu geben, um durch das nationale Ge-
praͤge, und durch den Beiſatz von National-
Kraft, welche das Gepraͤge dem edlen Metalle
[304] giebt, dieſe Schwankungen eine Zeitlang auf-
zuheben. —


Um nun alſo den Real-Werth einer Muͤnze
zu beſtimmen, ſind zuerſt die Schwankungen zu
erwaͤgen, denen das Verhaͤltniß der Metalle zu
allen andern Waaren, und dann auch das
Verhaͤltniß der beiden ſo wunderbar verſchieden-
gearteten Metalle unter ſich, unterworfen iſt.
Alſo 1) das Verhaͤltniß aller andern Waaren
zu dieſen Metallen wechſelt unaufhoͤrlich; und
— wie unendlich ſchwer iſt es z. B., in einem
einzelnen Falle auszumachen, ob, wenn das
Volk uͤber Theurung klagt, dieſe Veraͤnderung
in einer Vermehrung des Geldes, oder in einer
Verminderung der uͤbrigen Waaren, ihren Grund
habe! Beide Glieder dieſes Verhaͤltniſſes ſind
gleich-unbekannt. Das Verhaͤltniß der Waaren
in einer fruͤheren Zeit, zu denſelben Waaren in
einer ſpaͤteren Zeit, das Verhaͤltniß des Getrei-
des vor, zu dem Getreide nach Einfuͤhrung der
Branntweinbrennerei im Norden von Europa,
ferner das Verhaͤltniß der edlen Metalle vor,
zu den edlen Metallen nach der Entdeckung von
Amerika, dient zum Beiſpiel. 2) Das Verhaͤlt-
niß der edlen Metalle unter ſich iſt ein hoͤchſt
veraͤnderliches, wenn es auch ſeit den letzten bei-
den Jahrhunderten, d. h. ſeit der Einfuͤhrung
des
[305] des Gebrauchs beider Metalle in faſt allen Muͤn-
zen von Europa, ſich mehr als vorher fixirt
hat. Dennoch folgen aus den ſo verſchiedenar-
tigen Bewegungen, Circulationen und Maſſen
der beiden Metalle noch heut zu Tage unaufhoͤr-
liche, wenn auch weniger empfindliche, Schwan-
kungen in dem Verhaͤltniſſe ihres beiderſeitigen
Marktpreiſes. In England verhielten ſich unter
dem Koͤnige Heinrich III Gold zu Silber, wie
9⅓ : 1; unter Eduard III, wie 12⅗ : 1; unter
Heinrich IV., wie 10⅓ : 1; unter Eliſabeth, wie
11 : 1; unter Karl II wie 14½ : 1; jetzt, wie
15⅕ : 1. In dieſer Reihe iſt ſehr deutlich zu
bemerken, daß das Silber in der fruͤheſten ju-
gendlichen Zeit von England, wo man es faſt
allein ausmuͤnzte, wegen dieſer wichtigen geſell-
ſchaftlichen Beſtimmung, nach Verhaͤltniß mehr
geſucht wurde, als das Gold; ſpaͤterhin, in den
unſicheren Zeiten der Kriege zwiſchen der rothen
und der weißen Roſe, und da ganz Europa fuͤr
den Reitz des Goldes allmaͤhlich empfindlicher
wurde, hob ſich der Werth des Goldes, ſank
wieder unter Eliſabeth und Jakob I, d. h. um
die Zeit der Entdeckung von Amerika, als die
Entdecker faſt ausſchließlich zuerſt nach dem Golde
griffen, und Europa augenblicklich mit Golde uͤber-
ſchwemmt wurde, und ſtieg ſpaͤterhin um ſo be-
Müllers Elemente. II. [20]
[306] traͤchtlicher, je mehr die Ausbeute der Amerika-
niſchen Minen an Silber den Markt von Euro-
pa uͤberſchwemmte. Heut zu Tage wird das
Gold in andern Europaͤiſchen Muͤnzen noch hoͤ-
her taxirt; auch wechſelt das Verhaͤltniß in der-
ſelben Zeit in verſchiedenen Laͤndern ſehr empfind-
lich. —


Gegen die Schwankungen der erſten Art,
nehmlich des Verhaͤltniſſes zwiſchen den edlen
Metallen und den Waaren, in entlegenen Zeiten
und Orten, giebt es kein Mittel. Der Handel
mit entfernten Laͤndern, und der Verkehr mit
entfernten Zeiten, dergleichen z. B. zwiſchen dem
gegenwaͤrtigen fideicommiſſariſchen Erben und ſei-
nem Ahnherrn vor mehreren Jahrhunderten,
wenn derſelbe ſeine Gunſt in Metallgeldſumme
ausgedruͤckt hat, Statt findet, leidet dadurch
ſehr empfindlich; aber keine Muͤnzkunſt kann,
wie ſich von ſelbſt verſteht, dieſem Mangel be-
gegnen. Die Schwankungen der zweiten Art,
nehmlich die in dem Werthverhaͤltniſſe der bei-
den Metalle, werden auf eine verderbliche Weiſe
fixirt, wenn, wie es oft geſchehen iſt, der Su-
veraͤn das Verhaͤltniß dieſer beiden Metalle ge-
ſetzlich beſtimmt. Der Wechſel dieſes Verhaͤlt-
niſſes iſt ſo leiſe und ſo wenig zu berechnen,
daß der Marktpreis der Muͤnze immer von der
[307] geſetzlichen Taxe abweichen muß. Sind demnach
zweierlei Muͤnzen von verſchiedenen Metallen
dem Handel geſetzlich aufgedrungen, ſo giebt es
zwei ganz verſchiedene und unaufhoͤrlich divergi-
rende Maßſtaͤbe deſſelben zu meſſenden Eigen-
thums. Wenn z. B. bei uns die Goldmuͤnzen
zu einem beſtimmten Preiſe, der Louisd’or etwa
zu 5 Rthlr. 12 Gr., geſetzlichen Cours haͤtten:
ſo wuͤrde die in dieſer geſetzlichen Beſtimmung
uͤberſchaͤtzte Muͤnze, die Goldmuͤnze nehmlich,
bei allen Zahlungen aufgedrungen, die unter-
ſchaͤtzte Silbermuͤnze hingegen durch alle Kuͤnſte
und Liſt gegen jene eingetauſcht und eingeſchmol-
zen werden. Deshalb, ſagt Lord Leverpool, und
mit ihm alle guten Lehrer der Muͤnzkunſt, kann
nur Ein Metall der wahre Maßſtab ſeyn, nicht
zwei: alſo Eine Rechenmuͤnze (standard-mo-
ney
). Dieſe Rechenmuͤnze muß gezwungenen
Coursohne Einſchraͤnkung
haben. Dennoch
erfordert der Verkehr Muͤnzen aus mehreren
Metallen. Auch die ſubalternen Muͤnzen koͤn-
nen gezwungenen Cours mit Einſchraͤnkung ha-
ben: ſie ſind Repraͤſentanten der Rechenmuͤnze,
und es mag dem Markte uͤberlaſſen ſeyn, ihr
Verhaͤltniß zur Rechenmuͤnze zu reguliren, wenn
groͤßere Summen gezahlt werden ſollen; bei klei-
neren mag gezwungener Cours gelten. Auf dem
[308] Continent von Europa iſt die Rechenmuͤnze faſt
uͤberall eine Silbermuͤnze, in Sachſen z. B. das
Conventions-Geld; in England (und darauf be-
zieht ſich das ganze Werk des Lord Leverpool)
iſt Gold die Rechenmuͤnze, wie er ſich denn be-
ſtrebt, einen Plan zu entwerfen, wie die Muͤn-
ze auf dieſer bisher mehr im Gebrauch, als im
Geſetze angenommenen Baſis zu reguliren ſey.
— Der Verfaſſer des uͤbrigens vortrefflichen
Werkes fixirt die Vorſtellung „Rechenmuͤnze
zu einem todten Begriff, waͤhrend er ſelbſt — da
er aus der Localitaͤt von England die Praͤpotenz
der Goldmuͤnze folgert — behauptet, daß, nach
Maßgabe der Localitaͤt eins und das andre Me-
tall wechſelnd zur Rechenmuͤnze dienen koͤnne. —


Im Ganzen genommen eignet ſich Silber bei
weitem mehr, als Gold, zu dieſer Beſtimmung.
Die groͤßere Menge dieſes Metalls iſt auf der
Erdoberflaͤche gleichmaͤßiger verbreitet, und laͤßt
den Preis deſſelben beſſer uͤberſehen und verfol-
gen; das groͤßere volumen macht die Transpor-
tation, das Einſchmelzen u. ſ. w. ſchwieriger,
und den Gewinn dabei unbetraͤchtlicher. Es iſt
alſo, ſeiner Natur nach, traͤger, und in einem
gegebenen Zeitraume wird der Goldpreis dem-
nach allenthalben viel groͤßeren Schwankungen
unterworfen ſeyn, als der Silberpreis. —


[309]

Indeß iſt es klar, daß der Staatsmann, wenn
er auch ein ganzes Jahrhundert hindurch ge-
noͤthigt ſeyn ſollte, den Accent auf das eine von
den beiden Metallen zu ſetzen, dennoch hier, wie
uͤberall, eigentlich vermittelnd uͤber beiden Me-
tallen ſteht, und durch die Art, wie er der gleich-
nothwendigen Circulation beider hier und dort
nachhilft, erſt beweiſen muß, ob er den oͤkono-
miſchen Geiſt ſeines Landes vollſtaͤndig und leben-
dig aufgefaßt habe. Die Geſchaͤfte keiner Muͤnze
in der Welt laſſen ſich in ein feſtes und abge-
ſchloſſenes Syſtem bringen: der National-Markt
Einerſeits mit ſeinen Schwankungen, die Na-
tional-Kraft andrerſeits mit den ihrigen, wol-
len beide unaufhoͤrlich beachtet ſeyn, wenn der
Muͤnzfuß wirklich regiert, und nicht bloß
fixirt werden ſoll. — Die Erwaͤgung und die
lebendige Verknuͤpfung dieſer Umſtaͤnde machen
den wiſſenſchaftlichen Theil des Muͤnz-
geſchaͤftes aus.


Dieſer muß erſt angeordnet ſeyn, bevor an
die wirkliche Fabrikation der Muͤnze, an ihre
Auspraͤgung, zu denken iſt: nun hebt alſo der
kuͤnſtleriſche Theil des Muͤnzgeſchaͤftes an.
Je ungeheurer die Bewegung einer Muͤnze, um
ſo groͤßer iſt die Abnutzung der einzelnen Geld-
ſtuͤcke; die abgenutzten bleiben in der Circula-
[310] tion, die guten neuen werden eingeſchmolzen;
ferner, je reiner der Gehalt einer Muͤnze, be-
ſonders der Silbermuͤnze, an edlem Metall, um
ſo mehr iſt ſie der Abnutzung unterworfen: erſt
durch den Beiſatz unedler Metalle erhaͤlt das
Gepraͤge der Muͤnze die gehoͤrige Dauerhaftig-
keit. Das natuͤrlichſte Mittel, der Muͤnze die-
ſen nothwendigen Beiſatz zu geben, ohne daß
der Credit darunter leidet, iſt folgendes: die
Fabrikation der Muͤnzen iſt ein der Nation un-
entbehrliches Beduͤrfniß; indem die Muͤnzen
fuͤr die Circulation abgerundet und ausgepraͤgt
werden, wird der eigentliche buͤrgerliche Werth
der Metalle erhoͤhet, nicht weniger auch ihr in-
dividueller, ihr Gebrauchswerth. Was iſt alſo
natuͤrlicher, als daß die Gebrauchenden wenig-
ſtens die Koſten dieſes erhoͤh’ten Gebrauchs-
werthes
tragen, oder daß der Muͤnze ſo viel
an unedlen Metallen beigeſetzt wird, daß die
geſammten Fabrikations-Koſten, mit Inbegriff
der dabei aufgewendeten edlen und unedlen Me-
talle, dem Realwerthe oder dem Marktpreiſe der
edlen Metalle gleich kommen, den die Muͤnze
repraͤſentirt oder bezeichnet! Durch dieſe Ver-
ſchlechterung der Muͤnze, vermittelſt der hinein
gelegten Fabrikations-Koſten, verliert niemand
etwas, und gewinnt die Regierung nichts, in
[311] dem kein Particuͤlier das ganze hoͤchſt wichtige
Geſchaͤft unter andern Bedingungen uͤbernehmen
koͤnnte.


Aber ferner! Was iſt auch gerechter, als
daß der Suveraͤn fuͤr den durch ſeinen Credit
und ſein Bild erhoͤheten Tauſchwerth, oder buͤr-
gerlichen, geſelligen Werth der Muͤnze, von dem
inneren edlen Metallwerthe der Muͤnze noch Eini-
ges abzieht! Dies geſchieht entweder, indem er,
noch uͤber die Fabrikations-Koſten der Muͤnze,
die einzelnen Geldſtuͤcke bis zu einem von der
Staatswirthſchaft nicht zu uͤberſteigenden Grade
verſchlechtert, oder, beſſer und zweckmaͤßiger, in-
dem er ihr eine Papier-Circulation an die Seite
giebt. Beides indeß vermag er nur, in ſo fern
er ſelbſt maͤchtig und wahrer Repraͤſentant der
National-Kraft iſt. Das bloße augenblickliche
militaͤriſche Uebergewicht zaͤhle ich nicht zu den
Symptomen der National-Kraft, und es hat
daher auch gar nichts Auffallendes, wenn eine
Regierung, die ſich im entſchiedenſten Genuſſe
deſſelben befindet, ſich um deswillen allein we-
der zu einer bedeutenden Verſchlechterung des
Geldes, noch zu einer betraͤchtlichen Papier-Cir-
culation hinreichend ermaͤchtigt fuͤhlt. Die Na-
tional-Kraft, welche ich meine, liegt in der Har-
monie und in der unendlichen Wechſelwirkung al-
[312] ler Individuen des Staates unter ſich und mit
dem ſuveraͤnen Gedanken, oder dem Suveraͤm.
Dieſe allein hat ein Recht und ein Vermoͤgem
zu circuliren. Jede einſeitige Gewalt der Maſſe
hat durchaus keine Beziehung auf den National-
Credit; und, Kraft ihrer, kann keinesweges
unternommen werden, was nur einem innerlich
durch Jahrhunderte in allen ſeinen Theilen con-
ſolidirten und vornehmlich durch die innigſte Wech-
ſelwirkung der Gemuͤther befeſtigten Staate er-
laubt ſeyn kann.


Wir wollen indeß die Papier-Circulation
einſtweilen laſſen, und fuͤr jetzt nur jene unmit-
telbare Abgabe betrachten, welche der Suveraͤn
an der Muͤnze von dem auszupraͤgenden Gelde
noch uͤber die Fabrikations-Koſten, erhebt. Bei
den Alten iſt keine Spur von einem die Fabri-
kations-Koſten uͤberſteigenden Muͤnzſchatze. Die
Roͤmer nahmen ſogar die Koſten der Fabrikation
aus dem oͤffentlichen Schatz: ſie lieferten das
Gepraͤge der Muͤnzen voͤllig unentgeltlich, und
mußten das auch, weil der ganze Roͤmiſche Cre-
dit, vornehmlich unter den Kaiſern, wie ale
uͤbrigen Verhaͤltniſſe, durchaus von Privat- und
privativer Natur waren. Die Gegenſeitigkeit
der Gemuͤther und die Wechſelwirkung zwiſchen
Volk und Suveraͤn, welche eine Muͤnz-Revenuͤe
[313] unterſtuͤtzen und tragen muͤſſen, exiſtirten noch
nicht. Die Abgaben wurden dem Kaiſer, und
nicht etwa, wie ſpaͤterhin, einem unſichtbaren
Suͤzeraͤn gezahlt, der allein die Wunder-Kraft
hat, Kupfer in Silber, oder Papier in Silber
und Gold zu verwandeln, welche kein Kaiſer
der Welt, als ſolcher, haben wird, außer in ſo
fern ihm ein wirklich apoſtoliſcher Geiſt beiſteht.


Erſt die Germaniſchen Herren, unter andern
Pipin im Jahre 755, durften an eine Muͤnz-
Revenuͤe (monetagium, seigneurage, wie ſie
in England hieß) denken. Seitdem iſt dieſe
Abgabe in allen Europaͤiſchen Staaten, auch in
England bis zum Jahre 1678, in Gebrauch ge-
weſen. Der Welthandel und die ſtrenge Ruͤck-
ſicht auf den Real-Werth der edlen Metalle,
die er erfordert, bewirkte, daß man die Muͤn-
zen, welche zu einem Univerſal-Maßſtabe die-
nen ſollten, lieber unberuͤhrt laſſen, und den
Verluſt des Staates durch eine Papier-Circu-
lation ergaͤnzen wollte, die ſeit 1678 in England
erſt recht in Gang gekommen und jetzt ſo hoch
geſtiegen iſt, daß ein Londoner-Banquier bei ſei-
non taͤglichen Zahlungen im Durchſchnitt 30-,
40-, ja 140- und noch mehr-Mal ſo viel
Papier als baares Geld gebraucht, und daß in
der vierzig Jahren von 1760 bis 1800 in der
[314] Brittiſchen Muͤnze uͤberhaupt nur die unglaub-
lich kleine Summe von 64,000 Pfund Silber
wirklich ausgepraͤgt worden iſt. Daß indeß die-
ſer augenblickliche Zuſtand der Dinge nicht zu
einer Norm dienen kann, und daß der Britti-
ſche Markt jetzt wirklich mit Papier etwas uͤber-
fuͤllt iſt, werde ich weiter unten zeigen.


Deſſen ungeachtet hat die Suspenſion der Zah-
lungen bei der Londoner-Bank im Jahre 1797,
von welcher damals Jedermann den augenblick-
lichen Bankerott von Großbrittanien erwartete,
dennoch den National-Credit auch nicht im min-
deſten erſchuͤttert; alle Kaufleute jener wohl-ci-
mentirten Inſel traten auf der Stelle zuſammen,
und erklaͤrten, daß ſie die Banknoten allenthal-
ben fuͤr baares Geld annehmen wuͤrden. So
tief verflochten war das Intereſſe aller Theilha-
ber an dem Brittiſchen National-Vermoͤgen,
ſo feſt der Credit, ſo lebendig die Circulation,
daß die alte natuͤrliche Baſis von edlen Metal-
len dem National-Verkehr unter den Fuͤßen
weggezogen werden konnte, und er nun in der
ganzen Fuͤlle eigenthuͤmlicher Kraft unabhaͤngig
daſtand. Dieſe große und noch von keinem Schrift-
ſteller hinlaͤnglich beachtete und gewuͤrdigte Welt-
begebenheit hat England, und, mittelbar fuͤr die
Zukunft, auch ganz Europa, von der unbeding-
[315] ten Vormundſchaft der edlen Metalle emancipirt,
und eine neue hoͤhere Staatswirthſchaft erzeu-
gen helfen, bei welcher das Metallgeld nicht
weiter despotiſch regiert, ſondern dem Urquelle
alles politiſchen Lebens, der Idee des Rechtes
und der Idee des Geldes, wahrhaft unterwor-
fen erſcheint. Man ward nun deutlich und wiſ-
ſenſchaftlich inne, daß ſich aus dem echten Com-
merz aller einzelnen Waaren, die edlen Metalle
mit eingeſchloſſen, eine wirklich independente Kraft
entwickle, und daß ſich nun erſt eigentliches, der
Kraft des Menſchen unterworfenes, ſich ſelbſt
garantirendes Geld erzeuge.


Immer aber muß nicht uͤberſehen werden,
daß, wenn auch unerkannt von der Wiſſenſchaft,
dennoch dieſes unſichtbare Geld in den chriſtlichen,
auf Gegenſeitigkeit gebaueten und darnach orga-
niſirten Staaten allezeit vorhanden geweſen iſt,
wie ſich aus dem, in allen modernen Europaͤiſchen
Staaten eingefuͤhrt geweſenen, Muͤnzſchatze er-
kennen laͤßt. Dieſer Muͤnzſchatz alſo hat ein
doppeltes Element: 1) die Fabrikations-Koſten
(brassage), und 2) die Abgabe an den Landes-
herrn (monetagium oder seigneurage). Der
ganze Muͤnzſchatz kann wegfallen und ſogar die
Fabrikations-Koſten der Muͤnze von dem Staa-
te getragen werden, wie es im alten Rom und
[316] im heutigen Großbrittanien, obgleich aus ganz
verſchiedenen Gruͤnden, der Fall iſt. In Rom
geſchah es, in Ermangelung einer maͤchtigen, ver-
mittelnden und aus einander ſetzenden National-
Kraft, alſo gezwungen, bei Strafe gaͤnzlichen
Unterganges des wenigen inneren Credits; in
Großbrittanien geſchah es, um allen National-
Verkehr in directe Beziehung auf den zum Na-
tional-Geſchaͤft gewordenen Welthandel zu ſet-
zen, um der bloßen Einheit des Maßſtabes wil-
len, alſo mit Freiheit, bei der hoͤchſten Bluͤthe
des inneren Credits.


Indeß, je beſſer die Muͤnze, um ſo mehr iſt
ſie, wie ſchon oben bemerkt worden, einem dop-
pelten Verderben ausgeſetzt: 1) dem natuͤrlichen
und bei aller Circulation unvermeidlichen Abtra-
gen und Abſchleifen des Geldes, dem wear and
tear
; 2) dem kuͤnſtlichen Verderb durch betriege-
riſche Gewinnſucht, durch Kippen und Wippen,
clipping and washing. Dem natuͤrlichen Ver-
derb ſind die Silbermuͤnzen mehr unterworfen,
weil ſie raſcher circuliren und die Gewinnſucht
wegen ihrer groͤßeren Maſſe weniger reitzen; dem
kuͤnſtlichen Verderb ſind die Goldmuͤnzen, aus
umgekehrten Gruͤnden, mehr ausgeſetzt. —


So lange die Muͤnzen, wie in England bis
auf die Zeiten Eduards I, im Anfange des vier-
[317] zehnten Jahrhunderts herab, zugleich Gewichte
und Muͤnzen waren, giebt es freilich keinen, we-
der natuͤrlichen noch kuͤnſtlichen, Verderb der
Muͤnze. Ein penny, die einzige damals exiſti-
rende, mit dem Hammer geſchlagene und mit
einem durchgreifenden, gleichfoͤrmigen Kreuz ver-
ſehene Muͤnze, war der 240ſte Theil eines Pfun-
des. Im kleinen Handel wurde dieſe Muͤnze,
wenn die Auseinanderſetzung es erforderte, nach
den Linien des tief geſchnittenen Kreuzes zerbro-
chen, entweder in zwei Haͤlften oder in vier
Viertel, woher die noch jetzt uͤbliche Einthei-
lung des penny in halfpences und four oder
farthings ruͤhrt. Bei groͤßeren Auszahlungen
traten, wie wir in der Geſchichte jener Zeit be-
merken, wenn die Sherifs die koͤniglichen Ren-
ten einzucaſſiren umhergingen, folgende Umſtaͤnde
ein: die Maͤngel der Muͤnzen wurden compen-
ſirt, und zwar, wenn am Gewichte der einzel-
nen Stuͤcke etwas fehlte, durch die ſogenannte
compensatio ad densum. Ohne Ruͤckſicht auf
das Zaͤhlen, wurden alle Muͤnzen in die Wag-
ſchale geworfen; oder es wurde, um die Muͤhe
des Waͤgens zu erſparen, nach einer allgemein
angenommenen Proportion compenſirt und auf
jedes Pfund Sterling etwa 6 d. hinzu gezaͤhlt.
Dies hieß die compensatio ad scalam; oder
[318] endlich — bei einem Verdacht gegen die Quali-
taͤt des Silbers, die entweder (was damals haͤufig
war) aus einem Irrthum der Muͤnz-Offician-
ten, oder aus andern Urſachen herruͤhrte —
wurde ein wirklicher, chemiſcher Prozeß, der ſo-
genannte trial by combustion, mit den Muͤn-
zen vorgenommen. Alle dieſe Unbequemlichkei-
ten mußten in dem Maße, wie die Circulation
ſich erweiterte, unertraͤglich werden. Im acht
und zwanzigſten Regierungsjahre Edward’s I
war es endlich ſo weit gekommen, daß ſich die
Muͤnze von dem Gewichte ſchied, d. h. daß ſich
der Nominal-Werth, den der Suveraͤn,
und der abſolute Real-Werth, den der Han-
del
beſtimmte, von einander trennten. Nun
veraͤnderten ſich auch die Nahmen der Muͤnzen,
die bisher ausſchließend nach dem Gewichte ge-
nannt worden waren; und es wurden die Kro-
nen (crowns) eingefuͤhrt.


In der ganzen modernen Muͤnzgeſchichte ſind
uͤberhaupt drei verſchiedene Gattungen von Nah-
men der Muͤnzen ſichtbar: entweder ſind die
Muͤnzen nach dem Gewichte (Pfund, Mark,
Schilling u. ſ. w.) genannt worden; oder nach
Handels- und Praͤgeſtaͤtten (wie die aͤlteſte
Europaͤiſche Goldmuͤnze, die Byzantiner, wie
die Florenzer, und die Thaler,) oder von den
[319]Suveraͤnen, (Kronen, Imperialen, Louis
u. ſ. f.) —


Nun alſo wurde die Muͤnze dem ſtaatswirth-
ſchaftlichen Syſteme einverleibt, und dieſes mehr
und mehr, je nachdem der innere Verkehr leb-
hafter und der oͤkonomiſche Streit und Wettei-
fer unter den einzelnen Wirthſchaften, aus denen
der Staat beſtand, complicirter und organiſcher
wurde. Die National-Kraft erhielt einen un-
mittelbaren Einfluß in den Gang alles Privat-
Verkehrs, der auch fortdauerte, bis durch die
Entdeckung von Amerika und des Seeweges nach
Oſt-Indien, und durch das wieder erwachende
Roͤmiſche und Griechiſche Alterthum, ganz neue
Bedingungen des nationaloͤkonomiſchen Lebens
zum Vorſchein kamen, worauf keine Regierung
von Europa vorbereitet war. Ungeheure Schwan-
kungen des Marktpreiſes von den edlen Metallen
zeigten ſich im Gefolge des zufaͤlligen Zu- und
Abſtroͤmens derſelben, deren Geſetz noch niemand
kannte. Jetzt wiſſen wir, daß die große Maſſe
des Silbers; nur Europa zu durchſtroͤmen, aber
keinesweges bei uns zu bleiben, beſtimmt iſt; daß
wir nur einen Nießbrauch, aber durchaus nicht
abſoluten Beſitz, dieſes Metalles haben; daß
die große Maſſe des Silbers im Weſten aus den
Mexikaniſchen und Peruaniſchen Bergwerken her-
[320] aufſteigt, Europa durchfließt, und dann im Chi-
neſiſchen und Oſt-Indiſchen Handel, wo nur
mit baarem Silber bezahlt werden kann, d. h.
alſo in der allerletzten Inſtanz, in den Schatz-
kammern orientaliſcher Fuͤrſten, wieder untergeht;
daß die Natur alſo uns die oben bewieſene groͤ-
ßere Beſtimmtheit dieſes Metalles vor dem Gol-
de nicht genießen laſſen; daß ſie uns den be-
ſten Maßſtab, die beſte Rechenmuͤnze, nicht an-
ders goͤnnen will, als wenn wir ſie als wahren
Maßſtab, und nicht als eigentlichen Repraͤſen-
tanten des Reichthums, gebrauchen. Wir ſind
fuͤr ein hoͤheres Geld beſtimmt, und die Natur
entzieht uns mit liebreicher Strenge das ge-
meine Geld, um den Sinn fuͤr jenes hoͤhere,
ſich ſelbſt garantirende, immer mehr in uns
zu befeſtigen. Vielleicht, wenn dereinſt alle Mi-
nen in Weſt-Indien erſchoͤpft ſind, und das
Streben nach dem wahren Gelde die unendli-
chen uͤbrigen Fruͤchte, welche Amerika erzeugen
kann, und welche jetzt neben den edlen Metallen
uͤberſehen werden, hervorzurufen beginnt, ſind
wir dann wieder beſtimmt, aus jenen orientali-
ſchen kuͤnſtlichen Minen, aus den unterirdiſchen
Schatzkammern der Aſiatiſchen Fuͤrſten, jenes
Silber, welches uns jetzt zu unſrer Belehrung
entzogen wird, wieder herauf zu holen und nach
ſeiner
[321] ſeiner alten Quelle hin zuruͤck zu fuͤhren: ſo
wuͤrde Europa ſeinen vermittelnden und wahrhaft
herrſchenden Charakter, als wahrer Fuͤrſt der
Welttheile und aller Indien, behaupten.


Müllers Elemente. II. [21]
[322]

Drei und zwanzigſte Vorleſung.


Von den Kämpfen der Könige mit dem Golde, und von den
Münzzerrüttungen der letzten Jahrhunderte.


Es gehoͤrt, in der gegenwaͤrtigen Lage der Sa-
chen, zur Schule des Staatsmannes, daß er in
einer von den großen Handelsſtaͤdten Europa’s
verweilt, und eine Zeitlang das geſammte buͤr-
gerliche Leben aus dem Standpunkte des Pri-
vat-Nutzens und der Induſtrie betrachtet habe.
Ich verlange von ihm, daß er die Geſchaͤfte des
Banquiers bis auf die gemeine Fertigkeit der
doppelten Buchhaltung kenne; denn, iſt einmal
das National-Leben und alle Gemeinſchaftlich-
keit des Herzens verloren gegangen, ſo laͤßt ſich
nicht wohl begreifen, was den phyſiſchen Beduͤrf-
niſſen und dem Handel die Weltherrſchaft ſtrei-
tig machen koͤnnte. Wird einmal das Privat-Le-
ben der hoͤchſte und letzte Zweck alles Treibens
und Wirkens der Menſchen, ſo kenne ich keine
[323] Kraft mehr, die ſich den Stroͤmungen der Be-
duͤrfniſſe in den Weg ſtellen kann, von denen
die Fortdauer aller Privat-Gluͤckſeligkeit abhaͤngt.
Regt ſich an keiner Stelle mehr eine Empfin-
dung, die in dem Beipflichten der Mitbuͤrger ihre
Nahrung, und in dem eigenen Hingeben ihre
Befriedigung findet; ſtrebt Jeder nach dem groͤßt-
moͤglichen Beſitz, nach der breiteſten Baſis einer
iſolirten Selbſterhaltung: ſo wird es zur einzi-
gen Pflicht Derer, die zum Regieren ſolcher
ungluͤcklichen Maſſen verdammt ſind, die Ebbe
und Fluth, die Stroͤmungen, die Wirbel, die
Paſſatwinde des Welthandels zu unterſuchen und
ſich ſelbſt zu einem ſo viel als moͤglich verſchla-
genen Staats-Banquier auszubilden. Das ſind
die Zeiten, wo Miniſter gelten, die Banquiers
ſind, wo von dem Courszettel und von den Fluc-
tuationen des einzelnen Poſttages die Schickſale
der Reiche abhangen, und wo alle großen Un-
ternehmungen zuletzt einer Zahlenprobe in den
Finanz-Bureaux unterworfen ſind.


Ganz vergeblich iſt es, einer ſolchen unuͤber-
windlichen Richtung der Individuen eine Waf-
fengewalt entgegenſtellen zu wollen; zu verſu-
chen, ob man nicht von dem Umkreiſe eines Lan-
des ausſchließen koͤnne, wonach jeder verlangt;
Waaren zu verbannen, waͤhrend der Vortheil
[324] des Schleichhaͤndlers in demſelben Maße ſteigt,
wie die Einfuhr der Waare mit Schwierigkeiten
verknuͤpft iſt. Kein Verbot, kein Strafgeſetz,
wird etwas anderes bewirken, als den Reitz fuͤr
die Brittiſche oder Colonial-Waare erhoͤhen und
das mercantiliſche Uebergewicht einer Inſel uͤber
den Continent druͤckender und furchtbarer zu ma-
chen — wie uͤberhaupt alles Verbot den Men-
ſchen ſuͤndhafter, ſchwaͤcher und abhaͤngiger macht,
als er jemals war. Lehrt ihn ein hoͤheres Gut
kennen; uͤberwindet das unwuͤrdige Beduͤrfniß,
durch ein wuͤrdiges; zeigt den Voͤlkern lebendig
und perſoͤnlich, was ſie groß macht; lehrt ſie
ſtolz ſeyn und ihren Bund hoͤher achten, als al-
len iſolirten Beſitz: ſo habt Ihr Großbrittanien,
wenn auch nicht uͤberwunden, doch Euch ihm
gleichgeſtellt; Ihr habt den Handel in neue Ca-
naͤle geleitet, und alles gemeine Beiweſen des
Lebens wird nun wieder gehorſam folgen: in
dem Maße, wie es dann wieder ein Intereſſe
des Ganzen giebt, wird auch der Vortheil des
Einzelnen beſſer beſorgt ſeyn.


Es iſt nothwendig, daß der Zoͤgling der
Staatswiſſenſchaft in Zeiten, wie die jetzigen,
die Naturgeſetze des Handels aus Comtoir-Ge-
ſichtspunkten kennen lerne, nicht, um hernach
ſeine ganze Weisheit in ein gewiſſes Temporiſi-
[325] ren zu ſetzen, nicht um, wie ein gemeiner Ban-
quier, mit den Staatsfonds zu manoͤvriren;
ſondern, um die große Kunſt zu lernen, wie ſich
ein Staat uͤber jenes Spiel der mercantiliſchen
Elemente zu wahrer Selbſtſtaͤndigkeit erhebt, wie
er die eigne, ihm angemeſſene Bewegung ge-
winnt, wie er jene Naturgeſetze ſich unterwer-
fen lernt, und wie der Gewalt eines geiſtigen
nationalen Strebens alles thieriſche Streben der
einzelnen Naturen nothwendig folgt. Die na-
tionale Haltung, welche die Mode-Oekonomen
unſrer Zeit bei ihren Speculationen ganz uͤber-
ſehen, iſt die erſte Bedingung alles Reichthums.
Adam Smith und ſeine Schule lehrt jene Na-
turgeſetze des Handels, und zeigt, wie alles kom-
men und werden muͤßte, wenn alles, ſich ſelbſt
uͤberlaſſen, fuͤr den Gewinn, fuͤr das Product
arbeitete, kurz, wenn im Menſchen kein andres
hoͤheres Begehren waͤre, als das Streben nach
phyſiſchem Wohlſeyn. Aber in fruͤheren, beſſe-
ren Zeiten hat ein andres, hoͤheres Streben
nach geiſtiger Wohlhabenheit, die gleichfalls nur
in unermuͤdeter Wechſelwirkung der Geiſter zu
erlangen iſt, die Menſchheit in einzelne Grup-
pen, in Staaten geordnet; jede dieſer Gruppen
hat ſich nach eigenthuͤmlichem Geiſte und Geſetze
gebildet: das phyſiſche Arbeiten und Produciren
[326] iſt beſchraͤnke worden, damit hoͤhere Anlagen der
menſchlichen Natur, und das Beſtreben des Gei-
ſtes auch bei der Verbindung ihre Rechnung fin-
den koͤnnten. Dieſe Schranken nun, welche man,
einer vermeintlichen Bluͤthe des Handels und der
Induſtrie zu Gefallen, jetzt umzuwerfen Luſt
hat, wollen nicht bloß reſpectirt, ſie wollen
belebt ſeyn. Man ſoll die Naturgeſetze des
Welthandels — wie ſie das Comptoir und Adam
Smith lehren — kennen, um ihnen wahrhafte
Schranken anzuweiſen, um zu wiſſen, wie man
dem Welthandel begegnen, wie man ihn den
hoͤheren nationalen Zwecken unterordnen, nicht,
wie man ſich ihm hingeben und alles ihm ſelbſt,
ſeinem eigennuͤtzigen Streben, uͤberlaſſen koͤnne. —


Die Europaͤiſchen Regierungen waren, wie
ich ſchon bemerkt habe, in den drei letztverfloſſe-
nen Jahrhunderten in der ſonderbaren Alterna-
tive, entweder die alte nationale Exiſtenz aufzu-
geben, oder die ganze Ausbeute des durch die
Entdeckung der beiden Indien neu erweiterten
Welthandels anderen Nationen zu uͤberlaſſen.
Das, was ihnen die alte Exiſtenz werth machte,
der vaterlaͤndiſche, religioͤſe Sinn, der jedes ein-
zelne Herz beherrſcht hatte, war verſchwunden:
wer wollte es, nachdem das Streben nach Pri-
vat-Beſitz und Gold ſich Aller bemeiſtert hatte,
[327] den Regierungen anrechnen, daß ſie die alte na-
tionale Wuͤrde bei Seite ſetzten und meiſten
Theils ſich zu großen Kaufmannshaͤuſern conſti-
tuirten! Alles freie und großartige Verkehren
zwiſchen Regenten und Beherrſchten verwandelte
ſich in unedles Feilſchen, Handeln und gegenſei-
tiges Ueberliſten. Fragt man mich, welches die
Urſache der Finanzen-Zerruͤttung und aller der
ungluͤcklichen, ſchwachen und ſchwankenden Maß-
regeln Europaͤiſcher Regierungen in oͤkonomiſchen
Ruͤckſichten geweſen ſey; ſo antworte ich: die
Regierungen waren in unedlem Wetteifer mit den
großen Comptoirs ihres Landes; nach den in
großen Handelshaͤuſern geltenden Taxen des
Reichthums und des Credits beurtheilten die Re-
gierungen ſich ſelbſt, und zogen gegen dieſe den
Kuͤrzeren, weil ſie, außer dem mercantiliſchen
Geſchaͤfte, noch andre groͤßere Beſtimmungen zu
erfuͤllen hatten, und dennoch dieſe mit jenen nicht
in Harmonie zu ſetzen wußten. Die Untertha-
nen waren zu Weltbuͤrgern geworden, abhaͤngig
vom allgemeinen Verkehr: als ſolche, wollten
die alten Regenten ſie noch wie Buͤrger eines be-
ſtimmten Staates behandeln, und wurden den-
noch in jedem Augenblick von dem univerſellen
Beſtreben der Untergebenen in die allgemeine
Stroͤmung mit fortgeriſſen. So wurden ſie ſelbſt
[328] verſtrickt in das Begehren des Metallgeldes,
und verloren die alte Oberherrſchaft uͤber das
Metall, die, wie ich neulich zeigte, ſich in dem
monetagium, in der Muͤnzabgabe, aͤußerte,
in einer Art von Tribut, den der Suveraͤn des
phyſiſchen Lebens dem lebendigen Suveraͤn zu
zahlen verpflichtet war, zum Zeichen der Lehns-
abhaͤngigkeit, in der das gemeine Gold von
dem Golde der Krone immer bleiben ſoll.


Dieſen Kampf der Koͤnige mit dem Golde
werden ſie in der Muͤnzgeſchichte aller Europaͤi-
ſchen Staaten etwa um die Mitte des ſechzehn-
ten Jahrhunderts anfangen, und faſt alle, fruͤ-
her oder ſpaͤter, dem Metalle unterworfen ſehen.
Wer das letzte Goldſtuͤck in der Taſche habe,
werde ſiegen — war ein unter den Regierenden
des achtzehnten Jahrhunderts ſehr gebraͤuchliches
bon-mot. Es kommt indeß hier nicht darauf
an, die Regierungen anzuklagen; meine Pflicht
iſt nur, zu zeigen, daß der Zuſtand von Europa
in den drei letzten Jahrhunderten keinesweges,
wie der große Haufe glaubt, politiſcher Normal-
Zuſtand, ſondern daß es eine Zeit ungeheurer
innerer Revolutionen geweſen iſt, ein Zwiſchen-
zuſtand, ein Interregnum, waͤhrend deſſen die
Sphaͤre der Europaͤiſchen Wirkſamkeit ſich uͤber
alle Meere und Welttheile ausgebreitet hat, Waa-
[329] ren und Kenntniſſe, geiſtige und phyſiſche Be-
duͤrfniſſe der Menſchen in ungeheurer Proportion
vermehrt, die Menſchheit ausſchließlich auf Acqui-
ſition, Erwerb und Beſitz gerichtet, und daruͤber
der alte National-Verband aufgeloͤſ’t worden,
den nun, mit groͤßeren Mitteln und in reiche-
ren Lebensverhaͤltniſſen, wieder zu knuͤpfen, die
einzig erhabene Aufgabe aller Staatskunſt iſt.


Wie die einzelnen Regierungen mit ihren
Muͤnz-Syſtemen gekaͤmpft, wie oft ſie verſucht
haben, der Muͤnze durch ihre Ernennung eine
Richtung zu geben, und wie ſie von dem immer
maͤchtiger werdenden Markte ſtets uͤberwaͤltigt
worden ſind — wird man inne, wenn man den
Nominal-Verfall der Muͤnzen betrachtet. In
England iſt dieſer Verfall am wenigſten zu be-
merken; das urſpruͤngliche Pfund Sterling war
an Gehalt nur das Dreifache von dem jetzigen;
aber in Deutſchland war der urſpruͤngliche Floren
das Sechsfache, in Frankreich der urſpruͤngliche
livre das Vier und ſiebzig-fache von dem jetzigen
livre. England uͤberhaupt hat die oben erwaͤhnte
Kriſe der Europaͤiſchen Staaten am fruͤheſten,
und mit den geringſten Aufopferungen der alten
National-Exiſtenz, uͤberſtanden. Welcher andre
Staat duͤrfte z. B. ein Silbergeld, das an Ab-
getragenheit dem gegenwaͤrtigen Brittiſchen gleich-
[330] kaͤme, beizubehalten wagen! Dieſes Silbergeld
iſt nehmlich nicht etwa von Hauſe aus ſchlecht,
ſondern eben durch ſeine Guͤte und durch ſeine
außerordentliche Circulation ſo abgegriffen, auch
durch die Kunſt vorſetzlich ſo abgeſcheuert, daß
von keinem ſichtbaren Gepraͤge jetzt noch die Rede
iſt, und daß Muͤnzen vom halben, ⅔, ¾, ⅚, ⅞
Werth alle auf gleiche Weiſe als voll circuliren
und ohne Widerrede angenommen werden. Die
nationale Haltung Einerſeits, und ein durch un-
geheure Aufopferungen endlich gewonnenes Muͤnz-
Syſtem andrerſeits, erklaͤren dieſen Umſtand,
waͤhrend kaum ein Jahrhundert verfloſſen iſt, wo
derſelbe Verfall der Silbermuͤnzen in England
Statt fand und mit den ungeheuerſten Nachthei-
len fuͤr den oͤffentlichen Verkehr verbunden war.
Damals entſchloß ſich England zu einer allge-
meinen Umpraͤgung, welches große und nationale
Unternehmen wir naͤher betrachten muͤſſen; und
obgleich der unmittelbare Zweck dieſes Umpraͤ-
gens, wie Sie ſehen werden, durchaus verfehlt
wurde, ſo gewann England dennoch durch dieſes
große Opfer an innerer Handels-Conſiſtenz, und
die Umſtaͤnde fuͤgten ſich nach ſolchen Pruͤfungen
leicht und natuͤrlich, ſo, daß in neueren Zeiten
derſelbe Verfall der Silbermuͤnze, ohne allen
[331] Nachtheil fuͤr den Verkehr, getragen werden
konnte.


Es war unter der Regierung Koͤnig Wilhelm’s
III, im Jahre 1695, als der damalige Sekretaͤr
der Schatzkammer den Lords der Schatzkammer
folgenden Bericht abſtattete: „daß, in Folge des
mangelhaften Zuſtandes der Silbermuͤnzen, taͤg-
lich auf Meſſen, Maͤrkten, in Kaufmannslaͤden,
und allenthalben im Koͤnigreiche, große Strei-
tigkeiten entſtaͤnden, ſo daß die oͤffentliche Ruhe
auf das empfindlichſte darunter leide; daß viele
Ankaͤufe und Handel gaͤnzlich unterbrochen wuͤr-
den; daß jedem Handel eine weitlaͤuftige Taxe
des zu zahlenden Geldes vorangehen muͤſſe, und
daß der Preis demnach von den Verkaͤufern,
und nicht durch die Lage der Sachen, mit andern
Worten, daß er nicht auf vermittelndem Wege
zwiſchen den Handelnden beſtimmt werde, ſon-
dern daß der Inhaber des Geldes in abſoluter
Abhaͤngigkeit von dem Inhaber der Waare ſey;
— daß demnach die Preiſe aller Sachen, ſelbſt der
nothwendigſten Lebensbeduͤrfniſſe, betraͤchtlich ge-
ſtiegen waͤren; die Einſammlung der oͤffentlichen
Revenuͤen wuͤrde ſehr erſchwert und verzoͤgert;
es haͤtten nie ſo viele unhonorirte bonds auf
dem Zollhauſe, noch ſo viele Ruͤckſtaͤnde bei der
Acciſe, exiſtirt; aͤhnliche Klagen gingen auch taͤg-
[332] lich von den receveurs der Landtaxen ein, u. ſ. f.;
der Cours gegen die Niederlande waͤre ſo ſchlecht,
daß das Publicum an jedem Pfund Sterling
den fuͤnften Theil, nehmlich 4 sh, verliere — der
nach Hamburg und in die Oſtſee noch ſey ſchlech-
ter; der in das mittellaͤndiſche Meer uͤbertreffe
alle andren an Verluſt; die Zahlung der Flotten
und der Armeen betrage nahe an das Doppelte
von dem, was den Soldaten und Matroſen Sr.
Majeſtaͤt eigentlich zu Gute komme; eine Gui-
nee gelte, anſtatt 21 bis 22, jetzt 30 sh; der
Goldbarren ſey um 36, der Silberbarren um
24 Procent im Preiſe geſtiegen.” Alle dieſe Um-
ſtaͤnde wurden dadurch noch beſchwerlicher, daß
ſie waͤhrend eines fuͤr Englands Freiheit ſo wich-
tigen Krieges zuſammen trafen.


Der Entſchluß, eine Umpraͤgung des geſamm-
ten Silbergeldes vorzunehmen, mit ſo ungeheu-
ren Koſten und National-Aufopferungen dieſe
auch verbunden, ſo großen Schwierigkeiten von
Seiten des damals ſehr ſtoͤrriſchen Parliaments
ſie auch unterworfen war, wurde dennoch gefaßt,
und der Kanzler der Schatzkammer, unter Bei-
ſtand der groͤßten Koͤpfe, welche England auf-
zuweiſen hatte, Newton’s und Locke’s, mit der
Ausfuͤhrung beauftragt. —


Ehe wir die große Aufgabe in ihrem Umfange
[333] naͤher betrachten, bitte ich Sie, die Eigenheit
eines ſolchen rieſenhaften Unternehmens genau
zu erwaͤgen. Die Einzelnen ſollen den Nominal-
Werth ihres ſchlechten Geldes von der Muͤnze
in gutes Geld umgetauſcht erhalten, und das
Volk den großen Verluſt des Schatzes durch
eine Abgabe tragen. Hier ſehen Sie ganz deut-
lich das ewige National-Intereſſe dem voruͤber-
gehenden, augenblicklichen Intereſſe des Vol-
kes gegenuͤber. Der interêt général zahlt die
Abgabe; der interêt de tous gewinnt den Ueber-
ſchuß des Real-Werthes der neuen Muͤnzen
uͤber die in die Muͤnze gelieferten alten. Je
weniger von den Individuen des Staates dabei
gewonnen wird, um ſo ſicherer ſteht das Natio-
nal-Intereſſe, um ſo mehr gilt das National-
Wort, die National-Ernennung, oder der No-
minal-Werth der Muͤnze. Dies war aber da-
mals der Fall in England noch nicht: die Par-
ticuliers gewannen ungeheuer dabei; und, trotz
dem großen National-Aufwande, trotz aller Vor-
ſicht und allem Calcul, welchem man die ganze
Maßregel unterwarf, wurde dennoch der unmit-
telbare Zweck von keiner Seite erreicht.


Laſſen Sie uns jetzt das ganze Verfahren in
ſeinem Umfange uͤberſehen. Zuerſt ward ver-
ordnet: das noch hier und dort circulirende gute
[334] und vollwichtige Silbergeld, welches bis dahin
auf dem Markte ein betraͤchtliches Agio gewon-
nen hatte, ſolle von nun an, bei Strafe, im
Handel und Wandel fuͤr nicht mehr als den No-
minal-Werth angenommen werden. Dieſe erſte
Maßregel verfehlte ſogleich ihren Zweck: Jeder-
mann behielt und ſammelte das vollwichtige Geld;
es verſchwand aus der Circulation. Ferner
wurde angekuͤndigt, daß alle Taxen und Schul-
den, welche die Krone einzufordern hatte, in
ſchlechtem Gelde bezahlt werden koͤnnten; eben ſo
die Parliaments-Anleihen. Dieſe zweite Maß-
regel verfehlte zwar nicht ihren Zweck: das
ſchlechte Geld ſtroͤmte von allen Seiten in den
oͤffentlichen Schatz; aber abgeſehen von dem un-
geheuren Verluſte der Krone, war dies eine Auf-
forderung an den Wucher, die Muͤnzen kuͤnſtlich
noch mehr zu verderben. Drittens: die noch zu-
ruͤckbleibenden ſchlechten Muͤnzen ſollte das Muͤnz-
amt eine Zeitlang nach dem Gewichte, aber zu
einem, den Silberbarren-Marktpreis weit uͤber-
ſteigenden, Muͤnzpreiſe annehmen. Endlich ſoll-
te das geſammte, auf dieſe Weiſe zuſammenſtroͤ-
mende ſchlechte Silbergeld, nach einem bleiben-
den, feſten, dem Metallpreiſe angemeſſenen Fuß,
mit allen Vortheilen der neueren Muͤnz-Fabrika-
tion, umgepraͤgt werden.


[335]

Nun aber fehlte noch das zu der ganzen
außerordentlichen Maßregel erforderliche Silber.
Erwaͤgen Sie den ungeheuren Erſatz, den der
oͤffentliche Schatz tragen mußte, um denſelben
Nominal-Werth in gutem Gelde wieder zuruͤck
zu zahlen, den er in ſchlechtem bekommen hat-
te; es mußte noch uͤberdies von dem Muͤnzamte ein
hoͤherer Preis fuͤr Silberbarren gezahlt werden,
um nur alles Silber nach der Muͤnze zu lei-
ten. Durch dieſe Erhoͤhung des Silberpreiſes
ſtieg natuͤrlicher Weiſe auch der Marktpreis des
Metalles, den die Muͤnze unaufhoͤrlich uͤberbie-
ten, alſo immer groͤßere Ausfaͤlle tragen mußte.
Man ſetzte feſt, daß fuͤr jede Unze gutes Sil-
ber eine Praͤmie von 6 d. uͤber den Marktpreis
derſelben gezahlt werden ſollte. Daß man ne-
benher noch den Gebrauch des Silbergeraͤthes in
allen oͤffentlichen und Wirthshaͤuſern unbedingt
verbot; daß alle Ausfuhr von Silberbarren,
außer zu den Zahlungen der Land- und See-
macht, und außer dem vor dem Lord Mayor zu
fuͤhrenden Beweiſe, daß es nicht eingeſchmolzene
Muͤnzen, oder eingeſchmolzenes im Lande gear-
beitetes Silbergeſchirr ſey, unbedingt unterſagt
wurde, erleichterte den großen Prozeß nur um
ſehr wenig. Das Privat-Intereſſe war mit dem
National-Intereſſe in zu ſchneidender Oppoſi-
[336] tion, als daß durch directe Maßregeln der Re-
gierung in einer ſo zaͤrtlichen Angelegenheit et-
was haͤtte bewirkt werden koͤnnen. England war
noch nicht conſolidirt, wie es heut zu Tage
iſt. —


So nun begann das große Geſchaͤft im Jah-
re 1695, und wurde in der unglaublich kurzen
Zeit von vier Jahren vollendet. Die Snmme
der geſammten neuausgepraͤgten Muͤnzen betrug
6,800,000 L., die Fabrikations-Koſten 180,000
L.; aber der Verluſt des oͤffentlichen Schatzes
bei der geſammten Operation ſehr wahrſcheinlich
2,700,000 Pfund. — Das Verbot der Ausfuhr
dieſer ſaͤmmtlichen Muͤnzen beſtand noch, und
wurde ungluͤcklicher Weiſe, um den Gewinn der
großen Unternehmung feſtzuhalten, erneuert. Da
aber die Handels-Balanz gegen England war, ſo
mußten jaͤhrlich betraͤchtliche Rimeſſen von Sil-
ber in das Ausland gemacht werden. Die Nach-
frage nach Barren, und alſo der Preis derſel-
ben, ſtieg, alſo auch der Marktpreis der Barren
uͤber den Muͤnzpreis; und zwar uͤbertraf er die-
ſen um ſo viel, daß eine Entſchaͤdigung fuͤr das
Riſico bei dem Einſchmelzen und der Ausfuhr
des neuen Silbergeldes entſtand, und es waren
ſeit der koſtſpieligen Umpraͤgung noch nicht acht-
zehn Jahre verfloſſen, als der groͤßte Theil der
neu-
[337] neugepraͤgten 6,800,000 L. verſchwunden, ein-
geſchmolzen und ausgefuͤhrt war. Die Errichtung
der Oſtindiſchen Compagnie, und das daraus
erwachſende betraͤchtliche Silberbeduͤrfniß, ferner
die vermehrte Conſumtion des Silbers in den
Brittiſchen Manufacturen haben das Ihrige dazu
beigetragen. Indeß, waͤhrend des Verfalls und
waͤhrend der Umpraͤgung der Silbermuͤnzen, hatte
ſich die Nation an den Gebrauch des Goldes
gewoͤhnt, welches uͤberhaupt der groͤßeren Sphaͤre,
die der Brittiſche Handel um den Anfang des
achtzehnten Jahrhunderts betrat, angemeſſener
war. Die Goldmuͤnzen erhalten nun das Aſcen-
dant, und die Silbermuͤnzen werden mehr und
mehr bloße Repraͤſentanten des Goldes; die Pa-
pier-Circulation tritt ihnen an die Seite, und
es iſt uͤberhaupt zu bemerken, wie mit jedem
Jahre des achtzehnten Jahrhunderts England
mehr an innerer und aͤußerer Feſtigkeit gewinnt,
und Herr uͤber das Metall wird, von deſſen
Tyrannei die meiſten Continental-Regierungen
ſich bis jetzt noch nicht haben befreien koͤnnen. —


Sie werden durch meine ganze Darſtellung
des Muͤnzgeſchaͤftes hindurch bemerkt haben, daß
keinesweges irgend einer Verfaͤlſchung der Muͤn-
zen das Wort geredet worden iſt; vielmehr habe
ich mich nur beſtrebt, zu zeigen, daß ein ſchlech-
Müllers Elemente. II. [22]
[338] ter Muͤnzfuß und der Mangel an Muͤnze keines-
weges in dem Grade, wie man gewoͤhnlich glaubt,
fuͤr Symptome der National-Armuth angeſehen
werden koͤnnen. Dem ſchlechten Muͤnzfuße kann
nur auf einem einzigen Wege nachgeholfen wer-
den, nehmlich durch die Befeſtigung der Natio-
nal-Exiſtenz; dem Mangel nur durch Ein Mit-
tel, durch die groͤßtmoͤgliche Befoͤrderung des
inneren Verkehrs: denn aller Verkehr erzeugt
aus ſich ſelbſt das wahre und in ſich ſelbſt garan-
tirte Geld, nehmlich das gegenſeitige Zutrauen,
und ſo auch das Zutrauen zu der großen Natio-
nal-Verbindung, welche die Baſis und Bedin-
gung aller augenblicklichen Handelsverbindungen
unter den Menſchen iſt. Das beſte Metallgeld
und die groͤßte Fuͤlle deſſelben moͤgen dem einzel-
nen Menſchen zu einer Art von Garantie ſeines
dermaligen phyſiſchen Zuſtandes dienen; aber glau-
be nur kein Staat, auf irgend eine Weiſe durch
die bloße Leichtigkeit des Verkehrs mit dem Aus-
lande, wozu ihn die Maſſe und Guͤte ſeines Me-
tallgeldes in Stand ſetzt, an Dauerhaftigkeit und
Sicherheit ſeiner Beſitzthuͤmer zu gewinnen! In
dem gegenwaͤrtigen Zuſtande der Dinge werden in
einem Lande, wo nur die erſte Bedingung alles
politiſchen Daſeyns, nationaler Sinn und innere
Verknuͤpfung und Verſchraͤnkung des vaterlaͤn-
[339] diſchen Intereſſe, Statt findet, Mangel und
Schlechtheit des Geldes ein neues Bindungs-
mittel fuͤr die Nation.


Ich laͤugne nicht, daß die Moͤglichkeit eines
National-Bankerotts fuͤr jeden Staat uͤbrig bleibt:
die Summe der andren Nationen bleibt immer
ſtaͤrker, als eine einzelne; und ſo kann ſchlechtes
Geld und Mangel an Gelde eine Aufloͤſung aller
Privat-Verhaͤltniſſe herbeifuͤhren. Da ich aber
fuͤr dieſe geſammten Privat-Verhaͤltniſſe, allen
meinen Vorausſetzungen nach, nichts geben kann,
wenn die nationale Grundlage und Garantie
verſchwindet; da es mir keine Genugthuung waͤre,
zu ſehen, daß das vaterlaͤndiſche Geld das Vater-
land uͤberlebte; da uͤberdies noch weit mehr das
gute Geld, bei Ermangelung jener Garantie, in
eintretenden Kriegesfaͤllen eine unvermeidliche Beu-
te des Feindes wuͤrde: ſo muͤßte ich es fuͤr die
groͤßte Thorheit halten, wenn irgend
einmal, unter ſo ungluͤcklichen Umſtaͤn-
den, ein Staat vermittelſt des Geldes
oder einer Muͤnzverbeſſerung oder einer
Papier-Tilgung die Cur ſeiner inneren
Organiſation anfangen wollte
.


Das Schickſal hat andre und hoͤhere Plane
bei den Revolutionen unſrer Tage, als beſchraͤnkte
Regierungen und Staats-Theorieen demſelben
[340] unterlegen wollen: es will dies Geſchlecht be-
freien von der unwuͤrdigen Sklaverei der Sa-
chen; es will dem Leben der Menſchen eine an-
dre und alte Baſis wieder unterlegen, will die
Einzelnen zuruͤckfuͤhren in ſich ſelbſt, und ſie
wieder der einzigen Buͤrgſchaft theilhaftig ma-
chen, die es fuͤr die leicht vergaͤnglichen Glie-
der eines unſterblichen Geſchlechtes geben kann.


Laſſen Sie uns den Fall annehmen, daß der
geſammte Nominal-Werth der K. Oeſtreichiſchen
Papiere in einem Moment durch eben ſo viel
baares Conventionsgeld in allen Privat-Caſſen
erſetzt werden koͤnnte. Im auswaͤrtigen Handel,
in Wien, in Trieſt und Augsburg, wuͤrde ſich
eine gluͤckliche Wendung aller Geſchaͤfte bemer-
ken laſſen; die Induſtrie wuͤrde augenblicklich be-
lebt, vielleicht der Zuſtand aller einzelnen Unter-
thanen verbeſſert werden: aber der interét gé-
néral
dieſer Monarchie wuͤrde ohne Zweifel da-
bei verlieren. Es iſt eine gluͤckliche Folge von
den erſten Ungluͤcksfaͤllen eines Staates, welche
eine betraͤchtliche Papier-Circulation herbeifuͤh-
ren, vorzuͤglich in Zeiten eines allgemeinen welt-
buͤrgerlichen Intereſſe, wie die jetzigen, daß das
Intereſſe der von einer Papier-Circulation ab-
haͤngigen Voͤlker naͤher an den Suveraͤn, naͤher
an den, das Papier verbuͤrgenden, beſonderen
[341] Staat gebunden wird. Das Welt- oder Me-
tallgeld erhaͤlt dem einzelnen Beſitzer die große
unmittelbare Quelle alles Reichthums und alles
Eigenthums nicht ſo gegenwaͤrtig, wie das Pa-
piergeld; es beſtaͤrkt den Beſitzer in dem ungluͤck-
lichen Wahn, daß er mit ſeinem individuellen
Intereſſe und ſeinem Privatnutzen uͤberhaupt,
nur von den Stroͤmungen des Welthandels,
nicht aber viel unmittelbarer und naͤher und na-
tuͤrlicher von dem kuͤnſtlichen Verkehr des Bin-
nenhandels und von ſeiner einzigen Garantie,
nehmlich der Staatsverfaſſung und dem Suve-
raͤn, abhange.


Warum hat ſich die Furcht vor dem Han-
dels-Momopol der Britten fuͤr jetzt faſt allge-
mein in ganz Europa verbreitet? Weil die Voͤl-
ker des Continents den leichteſten Nachtheil, der
aus einer Weltbegenheit fuͤr ihre Privat-Exiſtenz
erwaͤchſt, fuͤr den eigentlich großen Verluſt
halten.


Dennoch wird nur den Individuen, dem
interêt de tous, geſchmeichelt, oder man ſagt:
daß alles Gluͤck des Lebens in der phyſiſchen
Privat-Induſtrie und in der geiſtigen Privat-
Induſtrie (vulgoAufklaͤrung” genannt),
daß aller National-Wohlſtand in dem baaren
Gelde, welches ſo leicht zu nehmen iſt, beſtehe,
[342] und alles National-Recht in dem unbedingten
Privat-Eigenthume ſeinen Sitz habe; daß Pa-
pier-Circulation und ein welthandelndes Volk die
einzigen Feinde des Zuſtandes waͤren, worauf es
in der Welt allein ankomme, nehmlich des ge-
maͤchlichen, abgeſchloſſenen Privatlebens; und
daß alle National-Kraft darin beſtehe, die Indu-
ſtrie der Voͤlker von dem Druck auslaͤndiſcher
Schranken, und inlaͤndiſcher, nehmlich des Pa-
piers zu befreien.


Waͤre es moͤglich, daß Staaten auf ein
ſo triegliches Raiſonnement Maßregeln ihres
Heils zu gruͤnden verſuchten; ſo wuͤrde ſich
bald zeigen, daß die Natur die vollſtaͤndige Rea-
liſirung eines ſolchen Plans im Voraus unmoͤg-
lich gemacht, daß die Papier-Circulation in den
wichtigſten Europaͤiſchen Staaten ſchon ſo um
ſich gegriffen hat, daß die Individuen an dem
Schickſale derſelben, alſo mit ihrem ganzen In-
tereſſe an der beſtimmten Nationalitaͤt, auf Tod
und Leben gebunden ſind; und daß einem welt-
handelnden Volke auf keine andre Weiſe zu be-
gegnen iſt, als, wie ich neulich zeigte, durch eine
kraͤftige, demſelben gegenuͤber geſtellte Nationali-
taͤt. Ein Staatsmann, der dieſe zu erzeugen
weiß, wird England — nicht uͤberwinden (denn
das iſt unnoͤthig), aber in Schranken zuruͤckwei-
[343] ſen und demſelben den beſchwerlichen Einfluß
auf das Privat-Leben eines Volkes entziehen
koͤnnen.


Sie moͤgen Sich auch hier wieder jenes unſicht-
baren Roms erinnern, welches ſeit drei Jahr-
hunderten alle National-Exiſtenz untergraͤbt, alle
nationale Hoheit, alles heilige, innere Lebens-
gefuͤhl mit unwuͤrdigen Waffen und mit den ent-
weiheten edlen Metallen verdraͤngt, den Regie-
rungen der Voͤlker allen alten Glanz, womit
das Gefuͤhl beſſerer Zeiten ſie umgab, wegnimmt,
ſie mit bezahlter Pracht und mit einem bezahl-
ten Gefolge umgiebt, und ſie in Finanz- und
Induſtrie-Bureaux, die Suveraͤne in große Ma-
nufacturen-Entrepreneurs verwandelt. Alles Pri-
vatleben nimmt dieſelbe oͤde und gefuͤhlloſe Ge-
ſtalt an. — Es entſtehen genau abgezirkelte
Grenzen und werden von Tage zu Tage ſtren-
ger abgeſteckt zwiſchen den einzelnen Buͤrgern
deſſelben Stammes; und die aͤußeren Grenzen
der Vaterlaͤnder, die National-Grenzen, werden
von Tage zu Tage offner. Keine großmuͤthige
Empfindung, keine Hingebung, keine Aufopfe-
rung verwaͤſcht die ſtarren Abmarkungen wie-
der. Die Staats-Theorieen ermuͤden ſich, zu
beweiſen, daß in der Aufrechthaltung dieſer Gren-
zen durch Schloͤſſer, Riegel, Grenzſteine und
[344] Privatrechte, und in der eben ſo ſtrengen Be-
ſtimmung alles Verkehrs vermittelſt des nach
Moͤglichkeit baaren und guten Metallgeldes, das
ganze Weſen des Staates beſtehe.


Alle Beſtimmtheit, mit welcher Privat-Ge-
ſetze und Muͤnzen ausgepraͤgt werden, iſt fuͤr
den echten, chriſtlichen Staat nur etwas werth,
in ſo fern Muͤnzen und Geſetze einem lebendi-
gen National-Geſetze und einer lebendigen Na-
tional-Kraft, oder der Idee des Rechtes, und
der Idee des Geldes, d. h. in ſo fern dieſe
beiden Suveraͤne des Privatlebens, in ihrer noch
ſo conſequenten, dennoch immer vergaͤnglichen
Natur dem unſterblichen Suveraͤn des National-
Lebens unterworfen ſind. Die Vortheile beſtimm-
ter Muͤnz-Syſteme werden nach meiner Aus-
einanderſetzung klar ſeyn; aber auch die Unzu-
laͤnglichkeit der beſten Muͤnz-Syſteme, der groß-
muͤthigſten National-Muͤnzreformen, wie die
Brittiſche, ohne verhaͤltnißmaͤßigen Zuwachs an
National-Kraft. Der wahre National-Reich-
thum traͤgt einen ſchoͤneren Maßſtab in ſich, als
das Metallgeld jemals gewaͤhren kann; dieſer
iſt ein Gefuͤhl von Dauerhaftigkeit, welches ſich
nicht in den Comptoiren, ſondern nur im Mit-
telpunkte des geſammten geiſtigen und phyſiſchen
buͤrgerlichen Lebens erwerben laͤßt. In dieſen
[345] Mittelpunkt ſich hin zu ſtellen, iſt das Ziel alles
politiſchen Lebens; alles andre ſind Kraͤmerge-
ſichtspunkte, großer Seelen unwuͤrdig, und fuͤr
das geringfuͤgigſte Urtheil in Staatsſachen un-
zulaͤnglich. —


[346]

Vier und zwanzigſte Vorleſung.


Von dem National-Capital und vom National-Credit.


Edmund Burke ſagte von der Franzoͤſiſchen
Nation im Jahr 1790: ſie vernichte ihr Capital,
und wolle einen neuen Handel ohne alles Capital
verſuchen. — In dieſem erhabenen und umfaſſen-
den Sinne muß das Wort „Capital” genom-
men werden, wenn man es auf die Staatswirth-
ſchaft anwenden will. — Alle Production iſt,
wie ich gezeigt habe, Vermittelung; und aus
der Wechſelwirkung zweier, nie aber aus der
einſeitigen Wirkung Eines Weſens, geht das Pro-
duct hervor. Das Product nun hat eine dop-
pelte Beſtimmung: entweder iſt es Gegenſtand
des unmittelbaren Beduͤrfniſſes, der unmittelba-
ren Conſumtion; oder es wird mittelbar zur
Erzeugung neuer Producte gebraucht. — Das
auf einem Acker erzeugte Getreide kann entweder
ganz und unmittelbar verzehrt werden, oder es
[347] dient dadurch, daß es auf dem Markte in Geld
verwandelt, oder daß es als Saatkorn angewen-
det wird, zu neuer Erzeugung. Der geſammte
Rindviehbeſtand eines Landgutes kann entweder
unmittelbar von dem Eigenthuͤmer conſumirt,
oder zur Feldarbeit, zur Zucht und zum Ver-
kauf, d. h. mittelbar zur Erzeugung neuer Pro-
ducte, angewendet werden. Jeder Land- oder
Stadtwirth muß unaufhoͤrlich dieſe doppelte Be-
ſtimmung ſeines Erwerbes im Auge haben: er
muß die Gegenwart und die Conſumtion, welche
ſie fordert, Einerſeits, er muß aber auch die
Zukunft, die Erhaltung und alſo auch die Capi-
taliſation ſeines Erwerbes, beachten. In ſo fern
Producte oder ihr Werth zu neuer Erzeugung
aufbewahrt oder angewendet werden, nennen wir
ſie: Capital.


Capital iſt alſo das Reſultat fruͤherer Pro-
duction, welches uns bei der gegenwaͤrtigen Pro-
duction beiſteht, und wodurch der Menſch eine
große Maſſe von Kraft in einen einzelnen Mo-
ment zuſammenzudraͤngen in Stand geſetzt wird.
National-Capital iſt demnach die geſammte Ver-
laſſenſchaft fruͤherer Generationen, oder fruͤherer
Jahre, fruͤherer Tage, die auf den gegenwaͤrti-
gen Augenblick herabkommt und der gegenwaͤr-
tigen Generation eine unendlich groͤßere Pro-
[348] duction zu Stande bringen hilft, als ſie, auf
ihren eignen iſolirten Kraͤften ruhend, je zu er-
zeugen vermoͤchte. In dem National-Capitale
verbirgt ſich der Beiſtand der Vergangenheit, wel-
chen die Gegenwart, auf ihre eigene Kraft trot-
zend, ſo gern verlaͤugnen moͤchte. Bei allen Ar-
beiten der einzelnen, voruͤbergehenden Buͤrger,
wirkt die ganze Vergangenheit des Staates un-
ſterblich mit: jeder kleinſte Theil des National-
Capitals arbeitet ſo gut, wie die lebendigen Men-
ſchen. Jedermann iſt davon uͤberzeugt, daß es
produciren muß, und findet es natuͤrlich, daß er
fuͤr das Capital, womit er ſeine perſoͤnliche Kraft
verſtaͤrkt, ein um ſo groͤßeres Product erhaͤlt,
oder, falls er das Capital von Andern entlehnt
hat, dieſen dafuͤr einen betraͤchtlichen Antheil des
Productes abzutragen verpflichtet iſt. Dieſe Pro-
ducte des Capitals werden Zinſen genannt. —


Sobald in einem Lande Capital und Arbeit
in die wahre Wechſelwirkung getreten ſind, zeigt
es ſich, daß die Reproductions-Kraft des einzel-
nen Menſchen mit der Reproductions-Kraft des
Capitals gleichen Schritt haͤlt; es zeigt ſich, daß
das Capital, welches bei der erſten Entſtehung
der Staaten ungeheure Zinſen trug, d. h. in
ſehr kurzer Zeit ſich reproducirte, oder ein neues
Capital von gleicher Groͤße hervorbrachte, nun
[349] im Zuſtande des Gleichgewichtes mit der perſoͤn-
lichen Kraft des Menſchen, gerade ſo viel Zeit
braucht, um ein neues Capital von gleicher Groͤße
zu erzeugen, als der Menſch, um einen neuen
Menſchen hervorzubringen. Ein Capital braucht
dann 20 bis 25 Jahre zu ſeiner vollſtaͤndigen
Wiedererzeugung; mit andern Worten: es bildet
ſich ein mittlerer, landesuͤblicher Zinsfuß von
jaͤhrlichen 4 bis 5 Procent, die in 20 bis 25
Jahren den Werth des Capitals ausmachen,
welcher Zeitraum in den meiſten Geſetzgebungen
als derjenige angenommen wird, der zur Re-
production des Menſchen oder zu ſeiner Majo-
rennitaͤt erforderlich iſt. Je thaͤtiger eine Nation
wird, um ſo mehr faͤngt nun die Kraft des Ar-
beiters an, die Kraft des Capitals zu uͤbertreffen:
der Zinsfuß faͤllt unter 4 pCt, wie es in Groß-
brittanien der Fall iſt. —


Im gemeinen Leben nun pflegen wir uns
unter Capital immer eine beſtimmte Summe
Metallgeldes zu denken, d. h. wir pflegen den
Maßſtab des Capitals fuͤr das Capital ſelbſt zu
ſetzen. Da aber jeder Arbeiter im Staate, der
ein Capital aufnimmt, daſſelbe in die producti-
ven Kraͤfte zu verwandeln ſtrebt, welche das
Metall repraͤſentirt; da er uͤberhaupt nur ver-
mittelſt dieſer Verwandlung das Capital zur
[350] Zinſen-Production noͤthigen kann; da das Me-
tall an ſich keiner Reproduction faͤhig iſt: ſo geht
daraus ganz deutlich hervor, daß vermittelſt des
Metallgeldes ein Theil der National-Kraft uͤber-
tragen wird, und daß eigentlich in dieſer alles
Capital beſteht. Die bei allen augenblicklichen
Kraftanſtrengungen der Nation maͤchtig mitwir-
kende National-Kraft iſt alſo das eigentliche,
wahre National-Capital.


Die Brittiſchen ſo genannten 3-pCt.-Stocks
belaufen ſich jetzt bekanntlich auf den Capital-
werth von etwa 3000 Millionen Thalern. Sie
ſind auf keine Bedingung irgend einer Art von
Ruͤckzahlung geborgt; jede einzelne von den vielen
jaͤhrlichen Anleihen, die jetzt, zuſammen genom-
men, jene Summe betragen, iſt unmittelbar in
National-Kraft, in Kriegsſchiffe, Armeen, Waf-
fen ꝛc. verwandelt worden. Die 90 Millio-
nen jaͤhrlicher Zinſen ſind von dem Parlia-
mente garantirt oder fundirt, d. h. es ſind von
der Geſetzgebung die zur jaͤhrlichen Abtragung
jener Zinſen erforderlichen Taxen bewilligt wor-
den. Es iſt klar, daß in ſo fern 1) die zum
Belauf jener Zinſen erforderlichen Taxen von der
Kraft der Nation getragen werden koͤnnen, daß
2) in ſo fern die Obligationen dieſer ſogenann-
ten National-Schuld al pari ſtehen, d. h. in
[351] ſo fern der Nominal-Werth der vom Parlia-
ment garantirten Papiere ihrem Marktwerthe
gleichkommt, oder in ſo fern die Regierung, wel-
che die Anleihe gemacht hat, mit der Nation,
die das Geld hergegeben hat, in vollſtaͤndiger
Uebereinſtimmung iſt, — die Regierung in ſo
fern auch keine eigentliche Schuld gemacht, ſon-
dern nur ein altes, ihr zuſtehendes, Capital in
Bewegung geſetzt hat. Es iſt eine beſtimmte
Maſſe von National-Kraft realiſirt worden, die
laͤngſt vorhanden war, aber keinesweges eine, die
in Zukunft erſt erworben werden ſollte. Die
Regierung hat offenbar die productive Kraft,
um die jaͤhrlich erforderlichen Zinſen zu zahlen;
ſie muß alſo auch das Capital der ſo genannten
National-Schuld ſchon beſitzen, ſie muß das
wahre Geld ſchon haben, und, was wir Anleihe
nennen, iſt nichts weiter als ein Prozeß, um
jenes wahre Geld in das fuͤr den Augenblick
nothwendigere Metallgeld umzuſetzen. — Was
den einzelnen Zahler der zu den Zinſen erforderli-
chen Taxen betrifft, ſo iſt es wohl gleichguͤltig, ob
ſeine Abgabe direct zu den Staatsbeduͤrfniſſen
verwendet, oder ob ſie indirect Denen ausgezahlt
wird, welche durch ihre Zahlungen fruͤhere
Staatsbeduͤrfniſſe haben befriedigen helfen. Ueber-
dies, ſobald die Stocks al pari ſtehen, werden
[352] ſie einen voͤllig eben ſo leichten Cours haben,
wie baares Geld: ſie werden die Nation gleich-
foͤrmig durchſtroͤmen; die Taxen-zahlende Nation
und die Zinſen-erhaltende wird eine und dieſelbe
ſeyn: mit ſehr geringem Verluſte wird die ge-
ſammte Taxenzahlung in die Maſſe der Nation
unmittelbar wieder zuruͤckſtroͤmen. Die Regie-
rung wird die National-Kraft realiſirt haben,
ohne daß der Nation etwas verloren gegangen waͤ-
re; vielmehr wird die Betriebſamkeit, die Bewe-
gung derſelben, noch erhoͤhet worden ſeyn. —
In einer ſolchen Lage der Dinge iſt demnach die
Realiſation bereits vorhandener National-Kraͤfte
nur ſehr uneigentlich „Anleihe” zu nennen. Der
Staat hat ein vorhandenes Capital benutzt, und
die Nation iſt uͤbereingekommen, Denen, welche
dies Capital hergegeben haben, auf ewige Zeiten
die Zinſen fort zu bezahlen, die Staatspapiere
fuͤr das aufgewendete Capital gerade eben ſo an-
zunehmen, als wenn das Capital noch exiſtirte.
Sie ſind uͤbereingekommen? etwa aus Groß-
muth? Gewiß nicht! Die Großmuth einer Na-
tion waͤre wohl nicht maͤchtig genug, uͤber den
Verluſt von 3000 Millionen Thalern Herr zu
werden; alſo, weil der Abgang jener Summe
wirklich ſchon erſetzt iſt. Alles dies ſage ich in
der Vorausſetzung, daß die Nation die Zinſen-
Taxen
[353] Taxen bezahlen kann, und daß die Obligationen
wirklich al pari ſtehen.


In England druͤcken wohl die Taxen,
und die Obligationen verlieren gegen 40 pCt.,
haben im Jahre 1797 ſogar 52 pCt verloren:
ein Beweis, daß alſo wirklich eine Schuld ein-
gegangen, daß ein noch nicht vorhaͤndenes Capi-
tal angegriffen iſt, daß Tilgungen nothwendig
ſind. Durch Tilgungen von ſolcher Art, wie Wil-
liam Pitt ſie angeordnet hat, ſollen die Pa-
piere zum Pari heraufgebracht werden, was in
England der Fall ſeyn wuͤrde, wenn nur ein
Drittel des geſammten Capitals getilgt, und al-
ſo auch die Zinſen-Taxen auf zwei Drittel ihres
bisherigen Belaufs herabgeſetzt wuͤrden. Was an
der ſaͤmmtlichen ſogenannten National-Schuld
wirkliche Schuld iſt, waͤre nun abgetragen,
und es wuͤrde eine falſche Gewiſſenhaftigkeit ſeyn,
die durch das ganze Fundirungs-Syſtem in das
Intereſſe der Regierung noch enger verflochtene
Nation voͤllig abzufinden, oder Regierung und
Nation voͤllig aus einander zu ſetzen.


Ich habe dieſes große Beiſpiel angefuͤhrt,
um zu zeigen, daß vieles, was wir fuͤr eine
der Zukunft aufgelegte Buͤrde oder fuͤr
eine wirkliche Anleihe halten, nichts
Anderes iſt, als Realiſation eines wirk-

Müllers Elemente. II. [23]
[354]lich vorhandenen Capitals; um zu zeigen,
daß es in dem wahren Staate ein unſichtbares
Capital giebt, welches, falls nur die Augen der
Nation durch wahren National-Sinn dafuͤr
empfaͤnglich gemacht worden ſind, dieſelben und
hoͤhere Wirkungen hervorbringen, der gegenwaͤr-
tigen Generation denſelben und hoͤheren Beiſtand
leiſten kann, als die einzelnen in Metall und
Producten vorhandenen Capitalien; kurz, daß,
wie oben National-Reichthum weit hoͤher ge-
ſchaͤtzt worden iſt, als die Summe der einzelnen
Reichthuͤmer, die man gewoͤhnlich fuͤr National-
Reichthum gelten laͤßt, ſo auch hier National-
Capital viel mehr bedeutet, als die Summe der
einzelnen vorhandenen Capitalien. Unſre Conti-
nental-Regierungen gehen, mit wenigen Aus-
nahmen, noch jetzt von der Vorausſetzung aus,
daß uͤber die Summe der einzelnen Capitalien
im Staate nichts weiter vorhanden, daß alle
Beſteurung, welche uͤber das Verhaͤltniß zum
ſichtbaren Capital hinaus gehe, verderblich ſey,
alſo ein Schulden-Syſtem eintreten muͤſſe, nach
dem Privat-Grundſatze einer durch Sparſam-
keit herbeizufuͤhrenden Wiederbezahlung. England
hat im ſiebzehnten Jahrhundert nach dieſem
Grundſatze geborgt; wie es aber uͤberhaupt in
allen ſeinen inneren Revolutionen dem Continent
[355] vorausgelaufen, und dieſer, fruͤher oder ſpaͤter,
immer genoͤthigt worden iſt, denſelben Weg ein-
zuſchlagen: ſo auch in der wahren Benutzung
der Staats-Fonds. Im achtzehnten Jahrhundert
hat England den Grundſatz von beſtimmter Zu-
ruͤckzahlung durchaus fahren laſſen: an die Stelle
der fruͤheren Leibrenten, oder langen Annuitaͤ-
ten, ſind ewige Annuitaͤten (perpetual annui-
ties
) getreten, und das darauf gebauete, einer
unſterblichen Nation viel angemeßnere Credit-
Syſtem iſt in kurzer Zeit bis zur groͤßten Voll-
kommenheit ausgebildet worden. Von den Con-
tinental-Staaten hingegen laͤßt ſich im Durch-
ſchnitte behaupten, daß ſie entweder, wie bloße
Particuͤliers, auf beſtimmte Zuruͤckzahlung, in
vorher angekuͤndigten Terminen, auch gegen jaͤhr-
liche oder halbjaͤhrliche Aufkuͤndigung, oder
daß ſie, wie es in der Franzoͤſiſchen Revolution
geſchehen iſt, wirklich auf ewige Zeiten geborgt
haben, nur mit dem Unterſchiede, daß die des-
falls ausgeſtellten Papiere in wenigen Tagen zu
voͤlliger Werthloſigkeit herabgeſunken ſind, daß
alſo wirklich kein Credit Statt gefunden hat,
der den National-Fonds aufrecht zu erhalten
im Stande geweſen waͤre. Das gegenwaͤrtige
Franzoͤſiſche Credit-Syſtem drehet ſich, mit dem
Engliſchen verglichen, um eine nur wenig be-
[356] deutende Summe. Mit dem tiers consolidé,
oder, wie es ſpaͤterhin mit anſcheinender Nach-
eiferung gegen die Engliſchen Papiere genannt
worden iſt, den trois pour cent consolidés,
uͤbernahm die gegenwaͤrtige Regierung, von ei-
nem ſehr kleinen Theile der Franzoͤſiſchen, waͤh-
rend der Revolution verſchwendeten, National-
Schuld ein Drittheil (tiers consolidé): an-
ſtatt, daß die Zinſen der 3. pCt.-Stocks in Eng-
land das Parliament verbuͤrgt, werden die Zin-
ſen der trois pour cent consolidés in Frank-
reich, in dem jaͤhrlichen Budget in Ausgabe
geſtellt und aus den geſammten Revenuͤen beſtrit-
ten, ſo daß, von Seiten des Umfanges ſowohl,
als der Nationalitaͤt, durchaus keine Vergleichung
Statt findet; kurz, daß die trois pCt. bloß auf
die Perſon des Chefs der Franzoͤſiſchen Regie-
rung, die 3. pCt.-Stocks hingegen auf die Brit-
tiſche Nation bezogen werden muͤſſen.


Ein nationales Credit-Syſtem, wie viele
augenblickliche Unbequemlichkeiten daraus fuͤr den
egoiſtiſchen Particulier auch entſtehen moͤgen, dem
die Feinde des Staates deshalb auch zu ſchmei-
cheln und den ſie in ihr Intereſſe zu ziehen ſtre-
ben werden, iſt, wo es ſich finden mag, ein Zei-
chen von nationaler Feſtigkeit. Waͤre das Pri-
vat- oder kosmopolitiſche Intereſſe der Buͤrger
[357] maͤchtiger, als das National- oder patriotiſche
Intereſſe derſelben, ſo waͤre ein National-Cre-
dit unmoͤglich; die Regierung deſſelben Staates
koͤnnte nicht anders als gegen Privat-Bedingun-
gen borgen. Hier iſt die entſcheidende Stelle, wo
ich von faſt allen bisherigen Schriftſtellern uͤber den
Credit unbedingt abweichen muß. Das Ungluͤck,
die allgemeine Noth und die immer weiter um ſich
greifende Verſchuldung der Regierungen vereinigen
ſich, die durch meine ganze gegenwaͤrtige Arbeit
hindurch greifende Lehre von der Verſchiedenheit
des wahren Privat- und National-Intereſſe von
den Roͤmiſchen Privat- und imperatoriſchen In-
tereſſe zu bekraͤftigen. National-Credit iſt die
Faͤhigkeit einer Regierung, im beduͤrftigen Augen-
blick das National-Capital fuͤr ihre Zwecke zu
concentriren und, dieſen Zwecken gemaͤß, zu rea-
liſiren. — Demnach gehoͤrt zum National-Cre-
dit eine hohe Durchdrungenheit, Verſchmolzen-
heit und Einheit zwiſchen der Regierung und der
Nation. Das Privat-Intereſſe des einzelnen
Buͤrgers muß ſich in jedem Augenblicke zum Na-
tional-Intereſſe erweitern koͤnnen; ſein beſonde-
res Capital muß nur als Glied des National-
Capitals Werth fuͤr ihn haben, ſein perſoͤnli-
cher Credit muß in den National-Credit ver-
ſchlungen ſeyn, beide muͤſſen ſich gegenſeitig ver-
[358] buͤrgen. Anſtatt deſſen iſt die allgemeine Mei-
nung, die Regierung verhalte ſich zu dem Buͤr-
ger, wie der Roͤmiſche Privatmann zu
dem Roͤmiſchen Privatmann
; jeder von
Beiden habe in ſeinen abgeſonderten Grenzen
dafuͤr zu ſorgen, daß er auskomme, darauf zu
ſehen, wie er fertig werde.


Im Augenblick eines unvermeidlich ausbre-
chenden Krieges geraͤth der Finanz-Miniſter in
die unbeſchreiblichſte Verlegenheit; mit den alten
einſeitigen Mitteln ſoll er den, ſowohl der
Regierung als den Buͤrgern, gemeinſchaftli-
chen
Zweck, die Abwehrung des Feindes, die
Aufrechthaltung der National-Exiſtenz, errei-
chen: die Nation ſteht ihm wie ein fremdes, bei
der eben beſchloſſenen und nothwendigen Maßre-
gel, wenig intereſſirtes, vielleicht voͤllig dagegen
eingenommenes, Weſen gegenuͤber. Es iſt eine
Lage, die den Wahnſinn, geſchweige eine und die
andre verkehrte Maßregel, entſchuldigen muß. Er
borgt vielleicht auf das Privat-Vermoͤgen der
Regierung, gegen Unterpfand der Domaͤnen,
der Einkuͤnfte, ſeiner fruͤheren ausgeliehenen
Treſor-Gelder; das Vorurtheil der Regenten,
wie der Regierten, verbirgt ihm den eigentlichen
National-Fonds. Die verderbliche Abgraͤnzung
zwiſchen der Nation und dem Suveraͤn macht
[359] alle wahrhaft großen und nationalen Maßregeln
unmoͤglich: auf allen Wegen treten ihm nichts-
wuͤrdige Roͤmiſche Begriffe entgegen; er muß
den Staat untergehen laſſen, oder das Roͤmiſche
Eigenthum verletzen, worauf nicht bloß die Stra-
fe des Verluſtes ſeiner Popularitaͤt ſteht, wel-
che von einem nichtswuͤrdigen und ſittenloſen
Poͤbel noch leicht zu ertragen ſeyn wuͤrde, ſon-
dern auch die haͤrtere Strafe, den letzten Reſt
von Roͤmiſchem Privat-Credit, der ihn doch auf
den naͤchſten Monath wenigſtens ſicher ſtellt, zu
verlieren. — So, unter ſchrecklicher Bedraͤng-
niß fuͤr die Ungluͤcklichen, denen das traurige Ge-
ſchaͤft zu Theil geworden iſt, einen Haufen Pri-
vatleute in dem Sturme der Weltbegebenhei-
ten bei einander zu erhalten — denn das heißt
jetzt meiſten Theils regieren —, erreicht der Staat
die erſte, unterſte Stufe ſeiner Regeneration; er
verſinkt in die ganz gewoͤhnliche Schuldenma-
cherei des gemeinen Lebens, in die Noth Pro-
cente herbei zu ſchaffen, Termine zu halten und
Einen Tag, wie es gehen will, durch den andern,
Ein Pflaſter mit dem andern, zu decken, durch
alle Liſten der Welt — je indirecter, je heimli-
cher, deſto beſſer — die Privatmaͤnner zahlen
zu laſſen, vorausgeſetzt, daß nur die Roͤmiſchen
Rechte und das vermeintliche ſtrenge Privat-
[360] Eigenthum dabei geſchont werden. Und mit
Recht —; die Privatleute ſeines Reiches wollen
es nicht anders. Ich frage Sie: Iſt in dieſer
Schuldenmacherei irgend etwas Nationales? Und
doch vermeſſen ſich die kleinen politiſchen Tages-
ſchriftſteller unſrer Zeit, dieſes elende Handwerk
„Kunſt des National-Credits” zu nennen. In-
deß wiederhole ich: es iſt die erſte Stufe der
Regeneration.


Dieſe ſchlechten Kuͤnſte ſind bald am Ende.
Waͤhrend der Zeit hat der Krieg ſchon manches,
im Roͤmiſchen Frieden Erſtarrte, wieder belebt,
manches Privat-Eigenthum aufgelockert und man-
che Privat-Seele davon uͤberzeugt, daß ſie denn
doch nicht ſo iſolirt beſtehen koͤnne, wie ſie es
ſich im Frieden gedacht hatte. Je mehr der
Krieg fortbrennt, um ſo mehr erwacht, was
von Nationalitaͤt noch vorhanden iſt: die ewigen
Bedingungen des geſellſchaftlichen Lebens treten,
durch die Bewegung geweckt, allmaͤhlich wieder
hervor; und, wenn ſie nur maͤchtig genug ſind,
den Staat zu erhalten, wie geſchwaͤcht er auch
ſeyn moͤge, ſo hat ſich dem Staate nun die groͤßte
Reſſource eroͤffnet, die er uͤberhaupt nur begeh-
ren kann: die ſtarren Grenzen zwiſchen der Na-
tion und der Regierung, welche den Staat jedem
dritten auswaͤrtigen Feinde Preis geben, weil
[361] er beide, um zu herrſchen, nicht einmal zu thei-
len braucht, ſondern bereits getheilt findet — dieſe
ſind gefallen; das wahre Geld, der wahre Reich-
thum, das wahre Capital, wird, wenn auch
nicht erkannt, doch gefuͤhlt. Das erſte Papier-
geld, die erſte ewige Annuitaͤt, kann ausgegeben
werden. Nun erreicht der Staat die zweite
Stufe ſeiner Regeneration; nun iſt von Natio-
nal-Credit die Rede. Es wird nun nicht mehr
geborgt, ſondern das National-Capital wird rea-
liſirt.


Die Papier-Circulation kann ſich unmoͤglich auf
der Stelle mit der baaren Circulation in’s Gleich-
gewicht ſetzen; und da die baare Circulation zum
Verkehr mit dem Auslande und zu allen voͤlker-
rechtlichen Verhaͤltniſſen nothwendig iſt, ſo zeigt
ſich mancherlei Unbequemlichkeit im auslaͤndiſchen
Handel, mancherlei partieller Druck des Privat-
Lebens. Die Umſtaͤnde noͤthigen die Regierungen,
an Tilgungen zu denken; wie ſie aber auch noch
in den Geſang der großen Banquiers ihres
Landes einſtimmen moͤgen, daß die Papier-Cir-
culation ein reines Uebel ſey, ſo iſt das Schick-
ſal dennoch maͤchtiger, als ſie: es geſtattet alle
Tilgung nur bis auf einen gewiſſen Punkt, den
nehmlich, wo Papier und Metall, der Natio-
nal- und der Univerſal-Verkehr, in das gehoͤrige
[362] Gleichgewicht getreten ſind, und auf ſolche Art
die Nation die dritte und hoͤchſte Stufe ihrer
oͤkonomiſchen Regeneration erreicht. —


Nun hat der Staat, durch die Verbindung
zweier gleich-nothwendigen Mittel, eines mehr
der Kunſt und den beſtimmten nationalen Ge-
ſetzen unterworfenen, und eines anderen mehr
von der Natur und den ewigen Weltgeſetzen ab-
haͤngigen, die gehoͤrige oͤkonomiſche Elaſticitaͤt
gewonnen. Durch den Credit des Papiers iſt
der Staat in Stand geſetzt, in jedem einzelnen
Momente die groͤßtmoͤgliche Kraft zu concentri-
ren, und ihm das von den Umſtaͤnden erforderte
Gewicht anzuhaͤngen; durch das Metall, und
das allen Einzelnen auf wahrhaft nationale Weiſe
einleuchtende Verhaͤltniß deſſelben zum Papiere,
wird der Staat unaufhoͤrlich vor allen Exceſſen
behuͤtet, in ſeinen wahren oͤkonomiſchen Gren-
zen erhalten, und, wie durch den Pendul die
Uhr, in ſeinem Laufe regulirt. Der Staat iſt
nun ſeiner Unterworfenheit unter das Roͤmiſche
Privat-Geſetz uͤberhoben; er vermag nun uͤber
die National-Kraft zu gebieten und vermittelſt
ihrer der Univerſal-Kraft des Metallgeldes Gren-
zen anzuweiſen: er iſt in den wahren, lebendi-
gen Beſitz deſſen geſetzt, was er zu ſeiner Exi-
ſtenz gebraucht; er hat nicht weiter zu borgen
[363] noͤthig, oder an die Zukunft zu appelliren; er
kann das Vorhandene erreichen. —


Auf der hier erwaͤhnten zweiten Stufe der
oͤkonomiſchen Entwickelung ſtehen unter allen Eu-
ropaͤiſchen Staaten allein England und Oeſtreich:
in mehreren andern alten Staaten wird ſie bald
erreicht werden koͤnnen, wenn die Lehre der Noth
die Gemuͤther in ihrer Tiefe durchdringt; wenn
ſie erſt bis zu der Sehnſucht in allen ihren Thei-
len von dem Verlangen nach nationaler Ver-
bindung durchdrungen ſind, und das Gemuͤth
der Voͤlker erſt wieder maͤchtig genug wird, um
es mit der ſeelenloſen Conſequenz der Roͤmiſchen
Rechts-Vorſtellungen aufnehmen zu koͤnnen; wenn
chriſtliches Prrivatleben, und chriſtliche auf den
drei Staͤnden und dem Grundſatze der Gegen-
ſeitigkeit beruhhende Staatsverfaſſung, und chriſt-
liche Allianzen und Voͤlkerverein, einen leben-
digen Credit, der ebenfalls nur auf dem Grund-
ſatze der Gegenſeitigkeit beruhet, wieder begruͤn-
det haben werden.


Eine Finanz-Procedur, welche auf dem hand-
greiflichen Daſeyn gewiſſer Sachen, auf Hypo-
thek und Pfand, beruhet, gehoͤrt in die Rubrik
der Handwerke, der Roͤmiſchen politiſchen Hand-
werke. Sachen koͤnnen untergehen, Sachen ha-
ben ſchroffe und ſtarre Grenzen: — wie koͤnnte
[364] alſo das National-Vermoͤgen nach ihrer unbe-
huͤlflichen Maſſe abgeſchaͤtzt, das National-Geld,
die National-Kraft nach ihnen taxirt, das Na-
tional-Capital nach ihrem Umfange beſchraͤnkt,
und die National-Exiſtenz von ihnen abhaͤngig
gemacht werden! Das erhabene Product aber,
welches aus der innigen Beruͤhrung zwiſchen
dem Einzelnen und dem Ganzen, zwiſchem dem
Buͤrger und der Nation hervorgeht, iſt ewig, iſt
lebendig: dieſer Geiſt inniger Wechſelwirkung
zwiſchen den Individuen und der Nation, ver-
dient allein den in allen oͤkonomiſchen Schriften
gemißbrauchten Nahmen National-Credit,
weil er ein chriſtlicher iſt, dem Roͤmiſchen gegen-
uͤber, welchen die Schulen lehren.


Daß die Regierung eines Landes groͤßere
Geſchaͤfte machen kann, als jeder einzelne Buͤr-
ger, wenn ſie als großes Kaufmannshaus zu
Werke gehen, wenn ſie Schulden contrahiren
oder uͤberhaupt in einen Wetteifer mit dem Pri-
vatleben treten will, iſt einleuchtend. Zuerſt aber
wird ſie dieſelben immer ungluͤcklicher und mit
weit geringerem Vortheile treiben, als der ein-
zelne Buͤrger; und dann werden auch in recht
dringenden Faͤllen dieſe Privat-Kraͤfte der Re-
gierung immer noch nicht groß genug ſeyn. Wenn
alſo Kriege und vermehrte Staatsbeduͤrfniſſe al-
[365] ler Art dieſe Privat-Kraͤfte erſchoͤpfen, ſo be-
ginnt, ſage ich, die wahre Regeneration des
Staates: alles bisherige Finanzweſen hat auf
einem gemeinen Privat-Contract beruhet; das
ſogenannte Volk hat ſeiner Regierung die Auf-
rechthaltung der Ordnung verpachtet, wie man
in großen Staͤdten gewiſſe Polizei-Geſchafte,
Reinigung der Straßen, Erleuchtung u. ſ. w.
dem Mindeſt-Begehrenden in Pacht giebt; die
Regierung hat es uͤbernommen, fuͤr eine gewiſſe
Summe ihr zu zahlender Steuern, die erforder-
lichen Armeen, Beamten, Feſtungen, Geſetze u.
ſ. w. zu liefern. Kann ſie die Ausgaben nicht
beſtreiten, ſo muß ſie entweder Schulden ma-
chen, oder eigenmaͤchtig neue Steuern anſetzen,
(was ihr ſchon als Ungerechtigkeit angerechnet
wird), oder ſie muß états généraux berufen,
um einen neuen Contract abzuſchließen, wobei
ſie riskirt, was in Frankreich geſchehen iſt. —
Der Staat geraͤth in eine furchtbare Kriſis, die
vernichtend, aber auch ſegensreich, fuͤr ihn aus-
ſchlagen kann: entweder wird National-Reich-
thum und National-Recht von Grund aus zer-
ſtoͤrt, wie es in Frankreich der Fall war; oder
die Noth bindet das vorher geſchiedene Intereſſe
von Suveraͤn und Volk: der Zuſammenhang
aller Glieder des Staates, die Ganzheit deſſel-
[366] ben wird ſichtbar; ein hoͤheres Geſetz und ein
hoͤheres Capital, d. h. uͤberhaupt andre und hoͤ-
here Zwecke und Mittel des Staates, zeigen ſich.
Vorher war die Summe der einzelnen Kraͤfte
im Staate das zu erreichende und zu benutzen-
de maximum; jetzt zeigt ſich mehr, als bloße
Summe: eine organiſche Verbindung dieſer Kraͤf-
te, eine ſchoͤpferiſche Wechſelwirkung zwiſchen den-
ſelben, die nicht zu berechnen, und unendlich iſt.


Ich glaube, hinreichend gezeigt zu haben, wor-
in das ſaͤchliche Privat-Capital und der ſaͤchliche
Privat-Credit der ſich in einem Volke vorfinden
mag, verſchieden iſt von dem lebendigen Natio-
nal-Capital und dem lebendigen National-Cre-
dit eines ganzen Volkes. — Im gemeinen Leben
lernen wir das Wort Credit an dem Beiſpiele
des Kaufmanns, oder vielmehr des Kraͤmers,
kennen; denn wahre Kaufleute, in dem Sinne
derer im Mittelalter, der Medici und Fugger,
giebt es nicht mehr, und kann es, bei der ge-
muͤthloſen Abgraͤnzung aller einzelnen buͤrgerli-
chen Geſchaͤfte, nicht mehr geben. Aus Kraͤmer-
geſichtspunkten hat aller Credit in Waaren und
Geldvorraͤthen, demnaͤchſt in kluger und recht-
ſchaffener Verwaltung derſelben, ſeinen Grund.
In ſtaatswirthſchaftlicher Hinſicht treten zu den
uͤbrigen Waaren und Metallgeldern noch beſon-
ders
[369] ders lebendige und perſoͤnliche Sachen, nehmlich
die Menſchen, hinzu. Rechnen, Buchhalten, die
bloße Betriebſamkeit und Gewandtheit reichen
hier nicht aus: der Kraͤmer agirt in der Vor-
ausſetzung, daß ſeine Magazine und Vorraͤthe
ſicher ſind, betrachtet ſich als von einer nothwen-
dig uͤber ihm waltenden und ihn beſchuͤtzenden
Macht garantirt, und hat den uͤbrigen Gefahren,
den Feuersbruͤnſten, den Seeſchaͤden u. ſ. w.
durch Aſſecuranzen zu begegnen. Der Staats-
wirth hat ſein Vermoͤgen zu verwalten und zu-
gleich fuͤr deſſen geſammte aͤußere und innere
Sicherheit zu ſorgen: die einzelnen Waaren, aus
denen ſein Vermoͤgen beſteht, laſſen ſich nicht
despotſiren, wie die Sachen des Kraͤmers; ſie
wollen ſelbſt erſt unter einander in Frieden, in
einen lebendigen fruchtbaren Frieden, vereinigt
werden: er hat ſich nicht bloß gegen die Elemente
ſicher zu ſtellen, wie der einzelne Kraͤmer, ſon-
dern er muß die innere Zwietracht unter ſeinen
Waaren fuͤrchten, und aus kluger, erhebender
Regierung dieſer Zwietracht die groͤßten Kraͤfte,
das wahre Vermoͤgen, erſt entwickeln. Endlich
hat er eine hoͤhere Gattung des Reichthums und
des Beſitzes zu verwalten und in das uͤbrige
National-Capital belebend zu verflechten, wovon
Müllers Elemente. II. [24]
[370] der gemeine Kraͤmer keine Vorſtellung hat: die
geiſtigen Reichthuͤmer, welche der Bewegung des
Geſammtvermoͤgens erſt den wahren Schwung
geben muͤſſen, die Idee, welche allen Beſitz erſt
befeſtigen muß, die oͤffentlichen Vorurtheile, welche
beſiegt, und die oͤffentliche Meinung, welcher
wahre Gegenſtaͤnde der Bewunderung, echte Bei-
ſpiele und wuͤrdige Richtungen gegeben werden
ſollen. Kurz, es ſind zwei durchaus heterogene
Sphaͤren, in denen der Kraͤmer und der Staats-
wirth ſich bewegen; keine Regel wird aus der
Einen in die andre uͤbertragen werden koͤnnen. —


Wenn jeder einzelne Buͤrger eines Staates
bei ſeinem abgeſonderten Geſchaͤfte von dem Geiſte
des Ganzen durchdrungen waͤre; wenn er es in
einem nationalen Sinne zu treiben wuͤßte: ſo
wuͤrde der Staatsmann bei einem jeden Buͤrger
lernen, und allenthalben denſelben nationalen
Willen in den verſchiedenartigſten Formen wieder
ausgepraͤgt finden. Aber jetzt, wo das oͤffent-
liche Leben
allenthalben zu einer alles umfaſ-
ſenden Nationalitaͤt hingedraͤngt wird, und nur
die Lehre der Zeit noch nicht tief genug in das
Privatleben eingedrungen iſt, nur die Ein-
zelnen noch mit Hartnaͤckigkeit an dem Vorur-
theile Roͤmiſcher Welteinrichtungen kleben —:
[371] jetzt iſt direct nichts, durchaus nichts, in dem
Privatleben zu lernen. Der Staatswirth be-
darf deſſelben, um uͤberall zu fuͤhlen, was un-
national ſey, um indirect zu lernen, wie man
der Nichtswuͤrdigkeit und Herzloſigkeit dieſer geiſt-
lichen, adeligen und buͤrgerlichen Privatleute trot-
zen und begegnen muͤſſe; um zu lernen, wie
wenige Schonung und Achtung ein Buͤndel Egoi-
ſten verdient, wenn es darauf ankommt, ein
Volk zu bilden; um den Muth in ſich zu be-
feſtigen, den Der braucht, der die ewige Natur
des Staates ergruͤnden, wieder herſtellen und ihr
das Unwuͤrdige, das ſich widerſetzen moͤchte, ohne
Skrupel, ohne Bedenklichkeit, aufopfern ſoll. Des-
halb ſind unter den Mitteln, die das Schick-
ſal gebraucht, um den ausgeſtorbenen Sinn fuͤr
das Gemeinſame, fuͤr die Hingebung an das
Ganze, und fuͤr die Gegenſeitigkeit zu erwecken,
um die wahren belebenden Kraͤfte, National-Recht,
National-Geld, National-Capital und Natio-
nal-Credit, wieder in Bewegung zu ſetzen, die
Finanz-Verlegenheiten faſt die gruͤndlichſten und
beſten. Sie greifen in das innerſte Herz der
Voͤlker; und, wenn keine andre Stimme in der
ungeheuren Wuͤſte von Waaren, Metallen und
todten Beſitzern mehr gehoͤrt wird, ſo iſt die
[372] phyſiſche Noth vielleicht im Stande, jene himm-
liſchen Maͤchte zu wecken, von denen allein der
Menſch die Herrſchaft uͤber die Welt empfangen
kann.


Die Mode-Oekonomen denken ſich unter dem
National-Capital nichts Hoͤheres, als den durch
ein ordinaͤres Subtractions-Exempel auszumit-
telnden Ueberſchuß der National-Production uͤber
die National-Conſumtion, welchen die Natur
unſern Staaten gewaͤhrt, indem ſie dem Men-
ſchen und dem Boden mehr Productions-Kraft
als Conſumtions-Beduͤrfniß gegeben hat. Alſo
reducirt ſich, nach den umlaufenden Theorieen,
alle Staatswirthſchaft auf ein gewiſſes Geſetz
des Abſparens und des Abdarbens, welches in
dem oben erwaͤhnten Buche des Lord Lauderdale
mit Recht beſonderem Tadel unterworfen wird.
Der wahre, nicht luxurioͤſe, aber weiſe vertheilte
Lebensgenuß, d. h. die echte Conſumtion, oder
das lebendige allſeitige Beduͤrfniß, iſt eben ſo-
wohl Quelle des National-Reichthums zu nen-
nen, als die Production; Eins erweitert und
befluͤgelt das Andre. Die Nation ſoll viel pro-
duciren, aber auch viel beduͤrfen. Alſo nicht
der National-Bedarf, ſubtrahirt vom Natio-
nal-Product, ſondern der National-Bedarf in
[373] allſeitiger und unendlicher Wechſelwirkung mit
dem National-Product, erzeugt ein lebendiges
National-Capital, waͤhrend jene Subtraction
ein bloßes Reſiduum, einen todten Schlamm
von Beſitzſtuͤcken abſetzt, der ſelbſt erſt wieder
belebt ſeyn will, um den Dienſt des National-
Capitals zu verrichten. Fuͤr die kleine haͤusliche
Induſtrie Roͤmiſcher Privatleute hat ein ſolches
Reſiduum von Sachen allerdings ſeinen Werth:
ſie begehren ja nur die ordinaͤre Vermehrung
von Beſitzſtuͤcken; ſollten ſie aber, wie der Staat,
zugleich fuͤr die Erhaltung, fuͤr die Vergeiſtigung
und Nationaliſirung, ja fuͤr die Verewigung
dieſer Beſitzthuͤmer zu ſorgen haben, wie der
Staat fuͤr die Erhebung, und, ich moͤchte ſagen,
fuͤr die Verklaͤrung der ſeinigen: ſo wuͤrde
ſich dieſe Anſicht vom Capital als voͤllig unzu-
reichend beweiſen. Das National-Product hat,
wie ich oben von jedem einzelnen wahren Pro-
ducte behauptete, ebenfalls die doppelte Beſtim-
mung: es ſoll der Conſumtion dienen, und es
ſoll zu neuer Production, d. h. als Capital an-
gewendet werden; es hat, wie alle Producte,
einen Gebrauchswerth und einen buͤrgerlichen, ge-
ſelligen Werth: es ſoll dem Augenblick, und
doch auch wieder der Ewigkeit, allen Generatio-
[374] nen, die deſſelben National-Lebens theilhaftig
ſind, zum Bindungs-, zum Befruchtungs-Mit-
tel dienen; es ſoll das Beduͤrfniß befriedigen,
und doch zugleich auch wieder die dauernde
Befriedigung des Beduͤrfniſſes verbuͤrgen und
garantiren. Kurz, es kommt alles darauf an,
daß es nur in gleichem Maße als National-Be-
darf und als National-Geld diene. —


Wir kennen kein hoͤheres Gut, als ein wohl-
eingerichtetes, mit den Erzeugniſſen aller Indien
verſehenes, Privat-Leben; daher iſt unſer Bedarf
und unſer Geld auf gleiche Weiſe unnational:
wie ſoll alſo bei uns eher eine Wechſelwirkung
zwiſchen National-Bedarf und National-Geld
und daraus ein National-Capital entſtehen, als
bis wir ein, alle Annehmlichkeit des Privatlebens
an Reitzen, an Macht und innerer Befriedigung
uͤberlegenes, National-Leben kennen und lieben ge-
lernt haben! Dieſes National-Leben iſt conditio
sine qua non
der Dauer und der Sicherheit,
folglich alles wahren Credits. Wie kann alſo
von National-Credit eher die Rede ſeyn, als
bis das Leben der Europaͤiſchen Voͤlker ganz andre,
geiſtigere, reinere Grundlagen bekommen hat, als
die jetzigen ſind!


Nicht in den Sachen, nicht in dem Ueber-
[375] ſchuſſe alſo, den die jaͤhrliche Production abwirft,
ſondern in der unendlichen geiſtigen und phyſi-
ſchen Bewegung, in der gewaltigen Wechſelwir-
kung zwiſchen der Erzeugung und dem Begeh-
ren, kann das National-Capital geſchauet werden.
Die Erhoͤhung der Kraͤfte, vornehmlich der un-
ſichtbaren, iſt Erweiterung dieſes Capitals, und
die einzig wahre National-Reſſource, Baſis des
National-Credits.


[[376]][[377]]
[figure]

[[378]][[379]][[380]][[381]]
Notes
*)
Aber ſie ſind größten Theils auf dem alten Boden ge-
blieben. In dem allerälteſten Vaterlande, in Morea,
erinnern ſie noch jetzt ſehr lebhaft an die Sitten ihrer
Ahnherren, während von den politiſchen Formen keine
Spur geblieben iſt. Die Juden haben den Gedanken
der politiſchen Einheit feſtgehalten, während von der va-
terländiſchen Sitte und Lebensart wenig mehr übrig iſt.
*)
Man erinnre ſich, daß, als dieſe Vorleſungen gehalten
wurden, Johann von Müller noch lebte.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Müller, Adam Heinrich. Die Elemente der Staatskunst. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmv9.0