[][][][][][][]
Ueber
den

Umgang mit Menſchen.


[figure]

In zwey Theilen.

Mit Churfuͤrſtl. Saͤchſiſchem Privilegio.

Hannover,:
in der Schmidtſchen Buchhandlung.
1788.
[][]

Der gnaͤdigen Frau
von Berlepfch,
gebohrnen von Oppel,
mit
hochachtungsvollſter Ehrerbiethung
gewidmet.

[][[I]]

Vorrede.

Der Gegenſtand dieſes Buchs koͤmmt
mir groß und wichtig vor, und
irre ich nicht; ſo iſt der Gedanke, in ei¬
nem eigenen Werke Vorſchriften fuͤr den
Umgang mit allen Claſſen von Menſchen
zu geben, noch neu. Eben dieſer Um¬
ſtand aber, und daß mir in Teutſchland,
ſo viel ich weiß, niemand vorgearbeitet
hat, muß einen Theil der Unvollkom¬
men¬*3[II] menheiten meiner Arbeit entſchuldigen.
Es iſt ein weites Feld, vollſtaͤndig und
gruͤndlich zu bearbeiten, vielleicht fuͤr
Einen Menſchen, und gewiß fuͤr meine
Kraͤfte zu groß. Kann aber das in mag¬
nis voluiſſe aliquid
Verdienſt geben;
ſo darf ich einigen Anſpruch auf den
Dank des Publicums machen, um ſo mehr,
wenn etwa meine Arbeit bey einem groͤſ¬
ſern Menſchenkenner und feinern Philo¬
ſophen einſt die Luſt erwecken ſollte, etwas
Vollkommneres hieruͤber zu liefern.


Vielleicht wird man mir Weitſchwei¬
figkeit vorwerfen und mich beſchuldigen,
ich haͤtte Raiſonnements eingemiſcht, die
nicht eigentlich zu den Regeln uͤber den
Umgang mit Menſchen gehoͤren; Allein
es iſt hier ſchwer, die wahre Grenzenli¬
nie zu finden. Wenn ich zum Beyſpiel
lehren will, wie vertrauete Freunde im
Umgange mit einander ſich betragen ſol¬
len; ſo ſcheint es mir ſehr paſſend, erſt
etwas[III] etwas uͤber die Wahl eines Freundes und
uͤber die Grenzen freundſchaftlicher Ver¬
traulichkeit zu ſagen, und wenn ich uͤber
das Betragen im geſelligen Leben mit
manchen Claſſen von Menſchen rede und
zeige, wie man ihrer Schwaͤchen ſchonen
ſoll; ſo ſtehen philoſophiſche Bemerkun¬
gen uͤber dieſe Schwaͤchen ſelbſt, und uͤber
deren Quellen, nicht am unrechten Orte.


Uebrigens habe ich dies Buch nicht
fluͤchtig hingeſchrieben, wie wohl andre
meiner Schriften, ſondern lange an den
Materialien dazu geſammlet — Es ent¬
haͤlt Reſultate aus meinem ziemlich un¬
ruhigen Leben unter Menſchen mancher
Art. Bey dem veraͤnderlichen und leicht¬
fertigen Geſchmacke des teutſchen Publi¬
cums und der uͤbertriebenen Nachſicht,
mit welcher daſſelbe unbedeutende Ro¬
mane, leere Journale, platte Schauſpiele
und nichtswuͤrdige Annecdoten-Samm¬
lungen aufnimmt, moͤgte es zwar kaum
* 4einer[IV] einer Entſchuldigung beduͤrfen, wenn man
dieſen groͤßern Theil des Publicums nicht
ſo ſehr reſpectirte, daß man ſtrenge ge¬
wiſſenhaft in Wahl und Ausfeilung der
Producte waͤre, welche man in die ge¬
lehrte Welt ſchickte. Schriftſtellerey iſt
in jetzigen Zeiten nicht viel mehr, als Ge¬
ſpraͤch mit der Leſewelt; In freundſchaft¬
lichen Unterredungen wiegt man aber
nicht jedes Wort ab. Der muͤßige Hau¬
fen will ohne Unterlaß etwas Neues hoͤ¬
ren; ernſthafte, wichtige Werke werden
von den Buchhaͤndlern nicht halb ſo gern
in Verlag genommen und vom Publico
nicht halb ſo eifrig geleſen, als jene Mo¬
dewaare; Wenn man ſich nun herablaͤſſt,
die Wahrheiten, die man zu ſagen hat,
wenigſtens in ein ſolches Gewand zu huͤl¬
len, wie es der große Haufen gern ſieht;
ſo laͤuft wohl freylich je zuweilen ein unnuͤz¬
zes Wort mit unter, und das iſt vielleicht
auch mein Fall geweſen. Doch will ich
offenherzig genug ſeyn, noch etwas zu
Ent¬[V] Entſchuldigung meiner bisherigen Viel¬
ſchreiberey anzufuͤhren.


Niemand kann lebhafter als ich ſelbſt
fuͤhlen, welcher Ausfeilung meine zuerſt
herausgegebenen Schriften noch bedurft
haͤtten, um irgend einen Grad von Voll¬
kommenheit zu erreichen. Indeſſen wur¬
den ſie und werden noch immer haͤufiger
geleſen und oͤfter aufgelegt, als ſie es
verdienen. Der Verleger bath um mehr
Waare von der Art, machte mir vortheil¬
hafte Bedingungen, und ich wies den
Erwerb nicht von mir. Ich ſchaͤme mich
dieſes Geſtaͤndniſſes nicht: Wer nur ir¬
gend weiß, auf welche Weiſe mein Ver¬
moͤgen eine lange Reihe von Jahren hin¬
durch, ſehr ohne meine Schuld, iſt ver¬
waltet worden, der wird mir das gern
verzeihn, und wer mit meiner haͤuslichen
Lebensart bekannt iſt, muß mir das Zeug¬
niß geben, daß ich das Gewonnene auf
keine unedle Art verwendet habe.


* 5Nicht[VI]

Nicht immer habe ich mich vor mei¬
nen Schriften genannt; Zuweilen hat
man mich als Verfaſſer von Buͤchern an¬
gegeben, die ich nicht einmal geleſen
hatte. Das hat mich bis itzt wenig be¬
kuͤmmert; Anders aber handelt der
Mann, der in fremden Provinzen lebt,
ohne an den Staat geknuͤpft zu ſeyn, dem
es desfalls weniger aͤngſtlich um ſeinen
buͤrgerlichen und gelehrten Ruf zu thun
iſt, und anders Der, welcher in ſeinem
Vaterlande wohnt, und dem die Achtung
auch des Geringſten unter ſeinen Mit¬
buͤrgern nicht gleichguͤltig ſeyn darf.
Nach achtzehnjaͤhriger Abweſenheit be¬
finde ich mich nun wieder in dem letztern
Falle. Ich wuͤrde fuͤrchten, man moͤgte
das Unkraut, ſo ich hergaͤbe, dem vater¬
laͤndiſchen Boden zur Laſt legen, auf
welchem es gewachſen waͤre, wenn ich
fortfuͤhre, ſo ſchnell zu arbeiten; Ich
wuͤrde fuͤrchten, mein liebes Vaterland
zu beſchimpfen, in welchem gottlob! der
Hau¬[VII] Haufen elender Scribler noch nicht ſo
groß iſt, als in den mehrſten andern Pro¬
vinzen Teutſchlands. Was ich alſo hier
liefere und etwa ferner liefern werde;
(wenn ich je noch auſſer dieſem Werke
etwas ſchreiben ſollte) muß wenigſtens
keine loſe Waare ſeyn, und nie werde ich
wieder etwas drucken laſſen, ohne meinen
Namen davor zu ſetzen.


Es hat nicht Unzufriedenheit mit
meinem Herrn Verleger in Frankfurth
am Mayn, ſondern andre Ruͤckſichten ha¬
ben mich bewogen, dies Buch einer hie¬
ſigen Buchhandlung in Verlag zu geben,
vielmehr muß ich dem Herrn Andreaͤ das
Zeugniß geben, daß er ſich jederzeit ſehr
billig, redlich und freundſchaftlich gegen
mich betragen hat.


Einige meiner Schriften ſind in Wien
und Leipzig nachgedruckt worden; Sollte
Einer von der beruͤchtigten Zunft etwa
auch[VIII] auch auf dies Buͤchelchen eine corſariſche
Unternehmung von der Art wagen wol¬
len; ſo dient demſelben zur Nachricht,
daß alle Vorkehrungen getroffen ſind,
den Schaden eines ſolchen Diebſtahls
auf den Raͤuber ſelbſt fallen zu machen.


Hannover im Jenner 1788.


Er¬
[]

Erſter Theil.

[][]

Inhalt des erſten Theils.


Einleitung.


Warum man mit großen und glaͤnzenden
Eigenſchaften dennoch nicht immer in der Welt
ſein Gluͤck mache. Ueber den eſprit de con¬
duite
. Mancher will ſich nicht nach den Sit¬
ten Andrer fuͤgen; Manchem fehlt es dazu an
der noͤthigen Weltkenntniß; Mancher iſt zu
voll Forderungen. Aber auch mit dem beſten
Willen und guten Anlagen gluͤckt es nicht Je¬
dem; Warum? In Teutſchland iſt es ſchwer,
allgemein gute Eindruͤcke in Geſellſchaften zu
machen; Warum? Bilder von Verſchieden¬
heit des geſellſchaftlichen Tons in einigen Pro¬
vinzen von Teutſchland und Bilder von den
Sitten verſchiedener Staͤnde. Meine eigenen
Erfahrungen. Von meinem Berufe uͤber die¬
ſen Gegenſtand zu ſchreiben.

Erſtes Capittel. Allgemeine Bemerkun¬
gen und Vorſchriften uͤber den Um¬
gang mit Menſchen.


1) Jeder Menſch muß ſich in der Welt
ſelbſt gelten machen. Anwendung dieſes Saz¬
zes. 2) Man ſoll ſeine unangenehme Lage ſo
viel moͤglich vor Andern verbergen. 3) Man
ſoll aber auch ſeine gluͤcklichen Umſtaͤnde nicht
zu deutlich zeigen, ſein Uebergewicht uͤber Andre
nicht zu merklich werden laſſen, nicht zu viel
Verbindlichkeiten auflegen. 4) Ueber Zuver¬
ſicht zu ſich ſelbſt und die gute Hofnung, die
man[] man nie verliehren ſoll. 5) Man ſey weder zu
offenherzig, noch zu verſchloſſen! 6) Man gebe
Andern Gelegenheit, ſich in vortheilhaftem Lichte
zu zeigen! Wenn man nicht zu viel fordert;
ſo kann man in jeder Geſellſchaft einige Unter¬
haltung finden. 8) So wenig als moͤglich ſoll
man Wohlthaten annehmen; lieber immer ge¬
ben als empfangen. Mittel ſich unabhaͤngig
zu machen. 9) Man miſche ſich nicht ohnbe¬
rufen in fremde Angelegenheiten! 10) Ueber
Wahrhaftigkeit und Treue. 11) Ob man oft
oder ſelten in Geſellſchaft gehen ſolle. 12) Man
huͤte ſich vor zu großen Erwartungen und For¬
derungen! 13) Mit wem ſoll man umgehn?
14) Art und Regeln des Umgangs in großen,
mittlern und kleinen Staͤdten und auf dem
Lande. 15) In fremden Staͤdten und Laͤn¬
dern. 16) Jeder Menſch will angenehm un¬
terhalten und geſchmeichelt ſeyn. Ueber Lau¬
nen. Ueber Spaßmacher. 17) Man ſoll Je¬
dem etwas Lehrreiches und Angenehmes ſagen.
18) Vorſchriften uͤber Briefwechſel und der
Vorſichtigkeit dabey. Briefwechſel iſt ſchriftli¬
cher Umgang. 19) Ueber Spott, Mediſance
und Perſifflage. 20) Rede nicht zu viel! 21)
Sprich nicht von Dingen, die Andre nicht in¬
tereſſieren! 22) Ueber Gegenwart des Gei¬
ſtes. 23) Ueber Wohlredenheit, einen ange¬
nehmen Anſtand und einige Hoͤflichkeits-Regeln.
24) Ueber Religions-Gespraͤche. 25) Noch
einige Vorſichtigkeits-Regeln. 26) Man ſoll
niemand laͤcherlich machen. 27) Niemand nek¬
ken, zerren, beunruhigen. 28) Keine unan¬
genehme Dinge in Erinnerung bringen. 29)
Wie man ſich zuverhalten habe, wenn uns Lan¬
ge¬[] geweile gemacht wird. 30) Ueber Leichtigkeit
im Umgange, Bloͤdigkeit und Schuͤchternheit.
31) Warum Mancher ſeine Urſachen haben
koͤnne, nicht alle dieſe Regeln zu beobachten,
und daß uns das nichts angehe. 32) Vor al¬
len Dingen handle immer conſequent! 33)
Sey Dir bewuſſt, reine Abſichten zu haben!
34) Ueber Verſchwiegenheit. 35) Ob die hier
gegebenen Vorſchriften auch fuͤr Frauenzim¬
mer paſſen.

Zweytes Capittel. Von dem Umgange
unter Perſonen von verſchiedenem
Alter.


1) Der intereſſanteſte Umgang hat wohl
unter Menſchen von gleichen Jahren Statt,
doch verruͤcken Temperament, Erziehung u.dgl.
auch hier die Grenzen. 2) Alte Leute ſollen
die Freuden der juͤngern nicht ſtoͤhren, ſondern,
ſo viel moͤglich, ſich in die fruͤhern Jahre zu¬
ruͤckdenken. 3) Sie ſollen aber nicht auf eine
laͤcherliche Art jung ſcheinen wollen. 4) Ihr
Umgang muß der Jugend lehrreich ſeyn. 5)
Es iſt nicht mehr Mode, aͤltern Leuten Achtung
zu beweiſen, die heutige Generation iſt weit
kluͤger als die Vaͤter waren; Der Verfaſſer
aber gehoͤrt noch zur alten Welt. 6) Regeln
wie ſich Juͤnglinge gegen alte Leute betragen
ſollen. 7) Ueber den Umgang mit Kindern.

Drittes Kapittel. Von dem Umgange
unter Eltern, Kindern und Bluts¬
freunden.


**1)[]

1) Ob Anhaͤnglichkeit an Familie und
Vaterland Vorurtheil ſey. Etwas uͤber Welt¬
buͤrger-Geiſt. 2) Ueber das Betragen der
Eltern gegen ihre Kinder. 3) Der Kinder
gegen ihre Eltern. 4) Ueber den Umgang un¬
ter Verwandten. Etwas von alten Oheimen
und Baaſen.

Viertes Capittel. Von dem Umgange
unter Eheleuten.


1) Gute Wahl des Gatten iſt das ſicher¬
ſte Mittel zu kuͤnftigem Ehegluͤcke, und das
Gegentheil hat traurige Folgen. 2) Warum
ſo manche in der Jugend mit ſehr wenig Ueber¬
legung geſchloſſene Ehen dennoch gluͤcklich aus¬
fallen. 3) Ob vollkommene Gleichheit in
Temperamenten und Denkungsart zu einer
gluͤcklichen Ehe nothwendig ſey? 4) Vorſchrift¬
ten, welche man beobachten ſoll, um ſich ein¬
ander immer neu, angenehm und werth zu
bleiben. 5) Haupt-Regel: Erfuͤlle ſorgſam
jede Deiner Pflichten! 6) Wie wir uns zu
verhalten haben, wenn die liebenswuͤrdigen
Eigenſchaften fremder Perſonen zu lebhafte
Eindruͤcke auf unſre Ehegenoſſen machen. 7)
Wie man ſich ſelbſt gegen ſolche Eindruͤcke waf¬
nen ſolle, beſonders gegen die feinern Coketten;
in der Jugend; im reifern Alter. 8) Eheliche
Pflicht ſchlieſſt aber nicht alle zaͤrtlichen Em¬
pfindungen fuͤr andere Perſonen aus. 9) Man
ſoll von einander auch nicht Aufopferung alles
eigenen Geſchmacks, aller andern unſchuldi¬
gen Neigungen verlangen, ſich aber nach und
nach in gleiche Stimmung zu ſetzen ſuchen. 10)
Wie[] Wie man wuͤrkliche Ausſchweifungen vermei¬
den ſolle. 11) Ob man Geheimniſſe vor ein¬
ander haben duͤrfe? 12) Jeder Ehegenoſſe
ſoll ſeine angewieſenen Geſchaͤfte haben. 13)
Wie es mit Verwaltung der Caſſen zu halten?
14) Wie aber, wenn ein Theil die Verſchwen¬
dung liebt? Haͤusliche Sparſamkeit iſt ein
Mittel zum Ehegluͤcke. 15) Iſt es beſſer, daß
der Mann, oder daß die Frau reich ſey? Er¬
ſteres! warum? Betragen gegen eine reiche
Frau. 16) Iſt es beſſer, daß der Mann kluͤ¬
ger ſey als das Weib, oder umgekehrt? 17)
Ob man ſeiner Gattinn ſein Ungluͤck klagen
duͤrfe? Verhalten in wuͤrklichen Ungluͤcksfaͤllen.
18) Betragen bey gar zu großer Ungleichheit
der Denkungsart. 19) Wie man ſich verhal¬
ten ſoll, wenn das Schickſal uns mit einer
unmoraliſchen laſterhaften Perſon auf ewig
verbunden hat. 20) Leide nicht, daß Fremde
ſich in Deine haͤuslichen Geſchaͤfte miſchen!
Etwas uͤber boͤſe alte Schwiegermuͤtter. 21)
Ueber Verletzung ehelicher Treue und Eheſchei¬
dung. 22) Ob dieſe Regeln auch anwendbar
auf die Ehen unter ſehr vornehmen und ſehr
reichen Leuten ſind.

Fuͤnftes Capittel. Ueber den Umgang
mit und unter Verliebten.


1) Kurze Vorſchrift, wie man mit Ver¬
liebten umgehn ſolle. 2) Warum man den
Verliebten keine Vorſchriften fuͤr ihren Um¬
gang untereinander geben koͤnne. 3) Gluͤck¬
ſeligkeit der erſten Liebe, im Gegenſatze mit
den Empfindungen eines Herzens, das ſchon
** 2oft[] oft Tauſch und Handel getrieben. 4) Ehrſucht
und Zwiſt unter Verliebten knuͤpfen das Band
feſter, doch nicht die Eiferſucht einer Cokette.
5) Ob Weiber oder Maͤnner inniger und be¬
ſtaͤndiger lieben? 6) Sey verſchwiegen in der
Liebe! Es giebt ein Gluͤck, das man ſich ſelbſt
kaum geſteht, und Gefaͤlligkeiten die ihren
Werth verliehren, wenn ſie erlaͤutert werden.
7) Nach dem Bruche mit der Geliebten ſoll
man edel handeln.

Sechſtes Capittel. Ueber den Umgang
mit Frauenzimmern.


1) Erklaͤrung des Verfaſſers, uͤber das,
was er etwa zum Nachtheile des weiblichen
Geſchlechts in dieſem Capittel ſagen muͤſſte.
2) Umgang mit Frauenzimmern dient zur Bil¬
dung des Juͤnglings und gewaͤhrt reine Freu¬
den. 3) Warum aͤuſſere und innere Vorzuͤge
nicht immer das einzige ſichre Mittel ſind, uns
in dem Umgange mit Frauenzimmern ange¬
nehm zu machen. 4) Die Frauenzimmer lie¬
ben an den Maͤnnern keine Infirmitaͤten; war¬
um? 5) Warum man es den Damen nicht
zum Vorwurfe machen ſolle, wenn ſie ſich fuͤr
ausſchweifende Maͤnner intereſſieren? 6) Man
ſoll nicht mehreren Frauenzimmern zugleich ei¬
nerley Huldigung bezeugen; 7) Nicht in ihrer
Gegenwart andre Damen von eben ſolchen An¬
ſpruͤchen zu ſehr loben. 8) Beſtrebe Dich, ein
angenehmer Geſellſchafter zu ſeyn, wenn Du
den Damen gefallen willſt! Schmeicheley ge¬
faͤllt ihnen vorzuͤglich wohl. 9) Ueber die Neu¬
gier[] gier der Weiber. 10) Wie man ſich nach ih¬
ren Launen richten muͤſſe? Man ſoll ſich ihnen
nicht aufdringen. 11) Sie finden Vergnuͤgen
an kleinen Neckereyen. 12) Man laſſe ihnen
den Triumpf, und beſchaͤme ſie nicht! 13) Ue¬
ber Weiberrache. 14) Wie man ſich huͤten
koͤnne, nicht verliebt zu werden? 15) Nie¬
dertraͤchtigkeit derer, die junge Maͤdgen be¬
truͤgen, taͤuſchen, verfuͤhren, zu Grunde rich¬
ten. 16) Ueber den Umgang mit Coketten
und Buhlerinnen. 17) Etwas von gelehrten
Weibern. 18) Ueber die weibliche Verſtel¬
lungskunſt. 19) Ueber alte Coketten, Pruͤden,
Sproͤden, Betſchweſtern, Gevatterinnen. 20)
Noch etwas im Allgemeinen, von den Freu¬
den im Umgange mit edeln und verſtaͤndigen
Weibern.

Siebentes Capittel. Betragen gegen
Hauswirthe, Nachbarn und Solche,
die mit uns in dem nemlichen Hauſe
wohnen.


1) Naͤchſt den erſten natuͤrlichen Verhaͤlt¬
niſſen iſt man zuerſt ſeinen Nachbarn und
Hausgenoſſen Rath, That und Huͤlfe ſchuldig.
2) Man ſoll ſich ihnen aber nicht aufdringen,
noch ihre Handlungen ausſpaͤhn. 3) Kleine
Gefaͤlligkeiten gegen Perſonen, die unter, ne¬
ben uns, und uns gegenuͤber wohnen. 4) Ver¬
halten gegen Hauswirthe, und Betragen des
Hauswirths gegen Miethsleute.

Ach¬[]

Achtes Capittel. Ueber die Verhaͤltniſſe
zwiſchen Herrn und Diener.


1) Man ſoll der unterwuͤrfigen Menſchen¬
claſſe die Dienſtbarkeit leicht zu machen ſuchen.
2) Die mehrſten Menſchen ſcheinen zwar zur
Sclaverey gebohren zu ſeyn; woher aber das
komme? 3) Doch fuͤhlen ſie den Werth des
groͤßern Verdienſtes und einer edeln Behand¬
lung. Regeln, daher genommen. 4) Nach¬
ſicht und Vertraulichkeit mit Dienſtbothen ſoll
nicht uͤbertrieben werden. Mittel, gut bedient,
und von ſeinen Leuten geliebt zu werden. 5)
Auf welchem Fuße gewoͤhnlich heut zu Tage der
Hausvater mit dem Geſinde lebt. Vortheile
und Nachtheile von dem Unternehmen, ſeine
Domeſtiken ſich ſelber zu erziehn. 6) Warum
man das Geſinde nicht ſchlagen noch ſchimpfen
ſolle? 7) Betragen gegen fremde Bediente.
8) Ueber Friſeurs, Barbiers und Putzmache¬
rinnen. 9) Etwas uͤber das Betragen des
Dieners gegen den Herrn.

Neuntes Capittel. Ueber das Verhaͤltniß
zwiſchen Wirth und Gaſt.


1) Ueber die Rechte der Gaſtfreundſchaft
in alten und neuern Zeiten. 8) Einige Regeln
fuͤr Den, welcher Gaſtfreundſchaft erzeigt.
3) Betragen des Gaſtes gegen den Wirth.
4) Es giebt Menſchen, die den Werth der er¬
wieſenen Gaſtfreundſchaft zu hoch anrechnen.

Zehntes Capittel. Ueber den Umgang
unter Freunden.


1)[]

1) Ueber die Wahl der Freunde, in der
Jugend und im reifern Alter. 2) In wie fern
zur Freundſchaft Gleichheit des Alters, des
Standes, der Denkungsart und der Faͤhigkei¬
ten erfordert werde? 3) Warum ſehr vor¬
nehme und ſehr reiche Leute wenig Sinn fuͤr
Freundſchaft haben? 4) Rechne nie auf die
dauerhafte Freundſchaft ſolcher Menſchen, die
von unedlen, heftigen oder thoͤrichten Leiden¬
ſchaften regiert werden! 5) Ob es ſo ſchwer
ſey, treue Freunde zu finden? Wie ſie beſchaf¬
fen ſeyn muͤſſen? Ob man deren Viele antreffe?
6) Beſtimmung der Grenzen der Anhaͤnglich¬
keit an einen Freund. 7) Freunde in der Noth.
8) Ob man ſeinen Freunden ſein Ungluͤck kla¬
gen ſolle? 9) Was wir thun ſollen, wenn uns
ein Freund ſeine Noth klagt? 10) Grenzen
der Vertraulichkeit. 11) Schmeicheley muß
unter Freunden wegfallen, nicht aber Gefaͤllig¬
keit. Man muß den Muth haben, Wahrheit
zu ſagen und anzuhoͤren. 12) Vorſichtigkeit
im Fordern und Annehmen von Freundſchafts¬
dienſten, Wohlthaten und Gefaͤlligkeiten. 13)
Wie man es anzufangen habe, daß wir un¬
ſerm Freunde nicht uͤberlaͤſtig werden, und daß
der oͤftere, zu vertrauliche Umgang nicht wi¬
drige Eindruͤcke erzeuge. Daß man auch
Trennung von geliebten Freunden ertragen
lernen muͤſſe. 14) Ueber den Briefwechſel
mit abweſenden Freunden. 15) Ueber Eifer¬
ſucht in der Freundſchaft. 16) Alles, was
Deinem Freunde angehoͤrt, ſey Dir heilig!
17) Man ſoll ſeine Freunde nicht nach der
Waͤrme beurtheilen, die ſie aͤuſſerlich zeigen.
18) Man ſoll nicht aͤngſtlich um Freunde wer¬
ben.[] ben. 19) Es giebt Menſchen, die gar keine
vertrauete Freunde haben, und andre die jeder¬
manns Freunde ſind. 20) Vorſchriften, uͤber
die Auffuͤhrung, wenn Misverſtaͤndniſſe unter
Freunden entſtehen. 21) Wie aber, wenn uns
Freunde taͤuſchen, verlaſſen, oder wir uns in
unſrer Meinung von ihnen betrogen glauben?
22) Betragen nach dem Bruche mit einem
unwuͤrdig befundenen Freunde.

Eilftes Capittel. Ueber das Verhaͤltniß
unter Wohlthaͤtern und Denen, wel¬
che Wohlthaten empfangen, wie auch
unter Lehrern und Schuͤlern, Glaͤu¬
bigern und Schuldnern.


1) Dankbarkeit fuͤr empfangene Wohltha¬
ten. Auch dann wenn uns der Wohlthaͤter
nicht mehr nuͤtzen kann. 2) Man ſoll nie durch
unedle Schmeicheley Wohlthaten weder errin¬
gen, noch vergelten. 3) Grenzen der Dank¬
barkeit gegen ſchlechte Menſchen. 4) Ueber
die Art, Wohlthaten zu erzeigen, und uͤber den
Umgang mit Dem, welchem man ſie erwieſen.
5) Verhaͤltniß zwiſchen Lehrer und Schuͤler.
Betragen gegen Perſonen, die ſich dem Erzie¬
hungsgeſchaͤfte widmen. 6) Ueber das Be¬
tragen gegen Schuldner und Glaͤubiger.

Ein¬[[1]]

Einleitung.

Wir ſehen die kluͤgſten, verſtaͤndigſten
Menſchen im gemeinen Leben Schritte
thun, wozu wir den Kopf ſchuͤtteln muͤſſen.


Wir ſehen die feinſten theoretiſchen Men¬
ſchenkenner das Opfer des groͤbſten Betrugs
werden.


Wir ſehen die erfahrenſten, geſchickteſten
Maͤnner, bey alltaͤglichen Vorfaͤllen, unzweck¬
maͤßige Mittel waͤhlen, ſehen, daß es ihnen
mislingt, auf Andre zu wuͤrken, daß ſie, mit
allem Uebergewichte der Vernunft, dennoch
oft von fremden Thorheiten, Grillen und von
dem Eigenſinne der Schwaͤchern abhaͤngen,
daß ſie von ſchiefen Koͤpfen, die nicht werth
ſind ihre Schuhriemen aufzuloͤſen, ſich muͤſſen
Are¬[2] regieren und mishandeln, laſſen, daß hinge¬
gen Schwaͤchlinge und Unmuͤndige am Geiſte,
Dinge durchſetzen, die der Weiſe kaum zu
wuͤnſchen wagen darf;


Wir ſehen manchen Redlichen faſt allge¬
mein verkannt;


Wir ſehen die witzigſten, hellſten Koͤpfe
in Geſellſchaften, wo Aller Augen auf ſie ge¬
richtet waren, und jedermann begierig auf je¬
des Wort lauerte, das aus ihrem Munde
kommen wuͤrde, eine nicht vortheilhafte Rolle
ſpielen, ſehen, wie ſie verſtummen, oder lau¬
ter gemeine Dinge ſagen, indeß ein andrer
aͤuſſerſt leerer Menſch ſeine drey und zwanzig
Begriffe, die er hie und da aufgeſchnappt hat,
ſo durcheinander zu werfen und aufzuſtutzen
verſteht, daß er Aufmerkſamkeit erregt und,
ſelbſt bey Maͤnnern von Kenntniſſen, fuͤr et¬
was gilt;


Wir ſehen, daß die glaͤnzendſten Schoͤn¬
heiten nicht allenthalben gefallen, indeß Per¬
ſonen, mit weniger aͤuſſern Annehmlichkeiten
ausgeruͤſtet, allgemein intereſſiren.


Alle[3]

Alle dieſe Bemerkungen ſcheinen uns zu
ſagen, daß die gelehrteſten Maͤnner, wenn
nicht zuweilen die untuͤchtigſten zu allen Welt¬
geſchaͤften; doch wenigſtens ungluͤcklich genug
ſind, durch den Mangel einer gewiſſen Ge¬
wandheit, zuruͤckgeſetzt zu bleiben, und daß
die Geiſtreichſten, von der Natur mit allen
innern und aͤuſſern Vorzuͤgen beſchenkt, oft
am wenigſten zu gefallen, zu glaͤnzen verſt¬
hen.


Ich rede aber hier nicht von der freywil¬
ligen Verzichtleiſtung des Weiſen auf die Be¬
wunderung des vornehmen und geringen Poͤ¬
bels. Daß der Mann von beſſerer Art da
in ſich ſelbſt verſchloſſen ſchweigt, wo er nicht
verſtanden wird; daß der Witzige, Geiſtvolle,
in einem Cirkel ſchaaler Koͤpfe ſich nicht ſo
weit herablaͤſſt, den Spaßmacher zu ſpielen;
daß der Mann von einer gewiſſen Wuͤrde im
Character zu viel Stolz hat, ſein ganzes We¬
ſen nach jeder ihm unbedeutenden Geſellſchaft
umzuformen, die Stimmung anzunehmen,
wozu die jungen Laffen ſeiner Vaterſtadt den
Ton mit von Reiſen gebracht haben, oder den
A 2grade[4] grade die Laune einer herrſchenden Cokette
zum Converſations-Cammer- und Chorton er¬
hebt; daß es den Juͤngling beſſer kleidet, be¬
ſcheiden, ſchuͤchtern und ſtill, als, nach Art
der mehrſten unſrer heutigen jungen Leute,
vorlaut, ſelbſtgenuͤgſam und plauderhaft zu
ſeyn; daß der edle Mann, je kluͤger er iſt,
um deſto beſcheidener, um deſto miſtrauiſcher
gegen ſeine eigenen Kenntniſſe, um deſto we¬
niger zudringlich ſeyn wird; oder daß, jemehr
innerer, wahrer Verdienſte ſich jemand be¬
wuſſt iſt, er um deſto weniger Kunſt anwen¬
den wird, ſeine vortheilhaften Seiten hervor¬
zukehren, ſo wie die wahrhafte Schoͤnheit alle
kleinen anlockenden, unwuͤrdigen Buhlkuͤnſte,
wodurch man ſich bemerken zu machen ſucht,
verachtet. — Das alles iſt wohl ſehr natuͤr¬
lich! — Davon rede ich alſo nicht.


Auch nicht von der beleidigten Eitelkeit
eines Mannes voll Forderungen, der ohnauf¬
hoͤrlich eingeraͤuchert, geſchmeichelt und vorge¬
zogen zu werden verlangt und, wo das nicht
geſchieht, eine traurige Figur macht; nicht von
dem gekraͤnkten Hochmuthe eines abgeſchmack¬
ten[5] ren Pedanten, der das Maul haͤngen laͤſſt,
wenn er das Ungluͤck hat, nicht aller Orten
fuͤr ein großes Licht der Erden bekannt, und
als ein ſolches behandelt zu ſeyn, wenn nicht
Jeder mit ſeinem Laͤmpgen herzulaͤuft, um es
an dieſem großen Lichte der Aufklaͤrung anzu¬
zuͤnden. Wenn ein ſteifer Profeſſor, der ge¬
woͤhnt iſt, von ſeinem beſtaubten Dreyfuße
herunter, ſein Compendium in der Hand, ei¬
nem Haufen gaffender, unbaͤrtiger Muſen¬
ſoͤhne ſtundenlang hohe Weisheit vorzupredi¬
gen, und dann zu ſehn, wie ſogar ſeine plat¬
ten, in jedem halben Jahre wiederholten
Spaͤſſe ſorgfaͤltig nachgeſchrieben werden, wie
jeder Student ſo ehrerbiethig den Hut vor ihm
abzieht, und Mancher, der nachher ſeinem
Vaterlande Geſetze giebt, ihm des Sonntags
im Staatskleide die Aufwartung macht; Wenn
ein Solcher einmal die Reſidenz oder irgend
eine andere Stadt beſucht, und das Ungluͤck
nun will, daß man ihn dort kaum dem Namen
nach kennt, daß er in einer feinen Geſellſchaft
von zwanzig Perſonen gaͤnzlich uͤberſehn, oder
von irgend einem Fremden fuͤr den Cammer¬
diener im Hauſe angeſehn und Er genannt
A 3wird,[6] wird, er dann ergrimmt und ein verdroſſenes
Geſicht zeigt; Oder wenn ein Stubengelehr¬
ter, der ganz fremd in der Welt, ohne Erzie¬
hung und ohne Menſchenkenntniß iſt, ſich ein¬
mal aus dem Haufen ſeiner Buͤcher hervorar¬
beitet, und er dann aͤuſſerſt verlegen mit ſeiner
Figur, buntſchaͤckig und altvaͤteriſch angeklei¬
det, in ſeinem vor dreißig Jahren nach der
neueſten Mode verfertigtem Braͤutigamsrocke,
da ſitzt, und an nichts von allem, was geſpro¬
chen wird, Antheil nehmen, keinen Faden fin¬
den kann, um mit anzuknuͤpfen; ſo gehoͤrt
das alles nicht hierher.


Eben ſo wenig rede ich von dem groben
Cyniker, der nach ſeinem Hottentotten-Syſte¬
me alle Regeln verachtet, welche Convenienz
und gegenſeitige Gefaͤlligkeit den Menſchen im
buͤrgerlichen Leben vorgeſchrieben haben, noch
von dem Kraft-Genie, das ſich uͤber Sitte
Anſtand und Vernunft hinauszuſetzen, einen
beſondern Freybrief zu haben glaubt.


Und wenn ich ſage, daß oft auch die wei¬
ſeſten und kluͤgſten Menſchen in der Welt, im
Um¬[7] Umgange und in Erlangung aͤuſſerer Achtung,
buͤrgerlicher und andrer Vortheile ihres Zwecks
verfehlen, ihr Gluͤck nicht machen; ſo bringe
ich hier weder in Anſchlag, daß ein widriges
Geſchick zuweilen den Beſten verfolgt, noch
daß eine ungluͤckliche leidenſchaftliche oder unge¬
ſellige Gemuͤthsart bey Manchem die vorzuͤg¬
lichſten, edelſten Eigenſchaften verdunkelt.


Nein! meine Bemerkung trifft Perſonen,
die wahrlich allen guten Willen und treue Recht¬
ſchaffenheit mit mannigfaltigen, recht vorzuͤg¬
lichen Eigenſchaften und dem eifrigen Beſtre¬
ben, in der Welt fortzukommen, eigenes und
fremdes Gluͤck zu bauen, verbinden, und die
dennoch mit dieſem Allen verkannt, uͤberſehn
werden, zu gar nichts gelangen. Woher koͤmmt
das? Was iſt es, daß Dieſen fehlt und Andre
haben, die, bey dem Mangel wahrer Vorzuͤge,
alle Stufen menſchlicher, irdiſcher Gluͤckſelig¬
keit erſteigen? — Was die Franzoſen den
Eſprit de conduite nennen, das fehlt Jenen, die
Kunſt des Umgangs mit Menſchen
, eine
Kunſt, die oft der ſchwache Kopf, ohne dar¬
auf zu ſtudieren, viel beſſer erlauert, als der
ver¬A 4[8] verſtaͤndige, weiſe, witzreiche; die Kunſt ſich
bemerken, geltend, geachtet zu machen, ohne
beneidet zu werden; ſich nach den Tempera¬
menten, Einſichten und Neigungen der Men¬
ſchen zu richten, ohne falſch zu ſeyn; ſich unge¬
zwungen in den Ton jeder Geſellſchaft ſtimmen
zu koͤnnen, ohne weder Eigenthuͤmlichkeit des
Characters zu verliehren, noch ſich zu niedriger
Schmeicheley herabzulaſſen. Der, welchen
nicht die Natur ſchon mit dieſer gluͤcklichen An¬
lage hat gebohren werden laſſen, erwerbe ſich
Studium der Menſchen, eine gewiſſe Geſchmei¬
digkeit, Geſelligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung,
zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt uͤber hef¬
tige Leidenſchaften, Wachſamkeit auf ſich ſelbſt
und Heiterkeit des immer gleich geſtimmten Ge¬
muͤths; und er wird ſich jene Kunſt zu eigen ma¬
chen, doch huͤte man ſich dieſelbe zu verwechſeln
mit der ſchaͤndlichen, niedrigen Gefaͤlligkeit des
verworfenen Sclaven, der ſich von Jedem mi߬
brauchen laͤſſt, ſich Jedem preis giebt, um eine
Mahlzeit zu gewinnen dem Schurken huldigt,
und um eine Bedienung zu erhalten zum Un¬
rechte ſchweigt, zum Betruge die Haͤnde bietet,
und die Dummheit vergoͤttert.


In[9]

Indem ich aber von jenem Eſprit de con¬
duite rede, der uns leiten muß, bey unſerm
Umgange mit Menſchen aller Gattung; ſo will
ich nicht etwa ein Complimentirbuch ſchreiben,
ſondern einige Reſultate aus den Erfahrungen
ziehn, die ich geſammlet habe, waͤhrend einer
nicht kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich
mich unter Menſchen aller Arten und Staͤnde
umhertreiben laſſen, und oft in der Stille beob¬
achtet habe. — Kein vollſtaͤndiges Syſtem,
aber Bruchſtuͤcke, vielleicht nicht zu verwer¬
fende Materialien, Stoff zu weiterm Nach¬
denken.


In keinem Lande in Europa iſt es viel¬
leicht ſo ſchwer, im Umgange mit Menſchen
aus allen Claſſen, Gegenden und Staͤnden
allgemeinen Beyfall einzuerndten, in jedem
dieſer Cirkel wie zu Hauſe zu ſeyn, ohne
Zwang, ohne Falſchheit, ohne ſich verdaͤchtig
zu machen und ohne ſelbſt dabey zu leiden, auf
den Fuͤrſten wie auf den Edelmann und Buͤr¬
ger, auf den Kaufmann wie auf den Geiſtli¬
chen nach Gefallen zu wuͤrken, als in unſerm
teutſchen Vaterlande, denn nirgends vielleicht
herrſcht zu gleicher Zeit eine ſo große Mannig¬
fal¬A 5[10] faltigkeit des Converſationstons, der Erzie¬
hungsart, der Religions- und andrer Mei¬
nungen, eine ſo große Verſchiedenheit der Ge¬
genſtaͤnde, welche die Aufmerkſamkeit der ein¬
zelnen Volks-Claſſen in den einzelnen Provin¬
zen beſchaͤftigen. Dies ruͤhrt her von der
Mannigfaltigkeit des Intereſſe der teutſchen
Staaten gegeneinander und gegen auswaͤrtige,
von dem Unterſchiede der Verbindungen mit
dieſem oder jenem auswaͤrtigen Volke und von
dem ſehr merklichen Abſtande der Claſſen in
Teutſchland von einander, zwiſchen denen ver¬
jaͤhrtes Vorurtheil, Erziehung und zum Theil
auch Staats-Verfaſſung eine viel beſtimmtere
Grenzlinie gezogen haben, als in andern Laͤn¬
dern. Wo hat mehr als in Teutſchland die
Idee von ſechzehn Ahnen des Adels weſentli¬
chen moraliſchen und politiſchen Einfluß auf
Denkungsart und Bildung? Wo greift weni¬
ger allgemein, als bey uns, die Kaufmannſchaft
in die uͤbrigen Claſſen ein? (Soll ich die
Reichsſtaͤdte ausnehmen?) Wo macht mehr
als hier das Corps der Hofleute eine ganz ei¬
gene Gattung aus, in welche hinein, ſo wie
zu der Perſon der mehrſten Fuͤrſten, nur Leute
von[11] von gewiſſer Geburt und gewiſſem Range ſich
hinzudraͤngen koͤnnen? wo durchkreuzen ſich
mehr Arten von Intereſſe? — Und das alles
wird nicht durch gewiſſe, dem ganzen Volke
merkbare allgemeine National-Beduͤrfniſſe,
Volks-Angelegenheiten, Vaterlands-Nutzen
concentrirt, wie in England, wo Aufrechthal¬
tung der Conſtitution, Freyheit und Gluͤck der
Nation, Flor des Vaterlandes der Punct iſt,
in welchem ſich das Streben, Dichten und
Trachten ſo mancher originellen Charactere
vereinigt, noch wie in faſt allen uͤbrigen euro¬
paͤiſchen Laͤndern, die entweder unter einem
einzigen Oberhaupte ſtehen, oder durch ein
einziges, allen Gliedern wichtiges Intereſſe
beherrſcht werden, wie die Schweiz, oder in
welchen eine allein herrſchende Religion oder
ein tiranniſches Clima uͤber Denkungsart,
Ton und Stimmung allgemein uͤberwiegende
Gewalt hat.


Daß im Ganzen unſere teutſche Verfaſ¬
ſung, ſo zuſammengeſetzt ſie auch iſt, ſehr große,
weſentliche Vorzuͤge gewaͤhrt, das leidet keinen
Zweifel; allein es iſt nicht weniger gewiß, daß
die¬[12] dieſelbe den maͤchtigſten Einfluß auf die Ver¬
ſchiedenheit der Stimmung in den einzelnen
Provinzen und Staaten und unter den man¬
cherley von einander abgeſonderten Staͤnden
hat. Eben daher koͤmmt es, daß unſre Schau¬
ſpieler, Schauſpiel-Dichter und Romanen-
Schreiber ein viel ſchwereres Studium haben,
wenn ſie alle dieſe Nùancen kennen, bearbei¬
ten, und dennoch einen Anſtrich von origi¬
nellem National-Character wollen durchſchim¬
mern laſſen; viel ſchwerer, als in Frankreich,
wo die Sitten der verſchiedenen Staͤnde und
einzelnen Provinzen nicht ſo ſehr gegen einan¬
der abſtechen. Eben daher koͤmmt es, daß
man uͤber wenige unſrer literariſchen Producte
ein allgemein einſtimmig beyfaͤlliges Volks-Ur¬
theil hoͤrt, daß uͤberhaupt ſo wenig unſrer
Werke als National-Monumente auf die Nach¬
welt kommen, und eben daher endlich koͤmmt
es, daß es ſo ſchwer iſt, mit Menſchen aus
allen Staͤnden und Gegenden in Deutſchland
umzugehn, und bey Allen gleich wohl gelitten
zu ſeyn, auf Alle gleich vortheilhaft zu wuͤr¬
ken.


Der[13]

Der treuherzige, naive, zuweilen ein
wenig baͤuriſche, materielle Bayer iſt aͤußerſt
verlegen, wenn er auf alle verbindlichen, arti¬
gen Dinge antworten ſoll, die ihm der feine
Sachſe in einem Othem entgegen ſchickt; dem
ſchwerfaͤlligen Weſtphaͤlinger iſt alles hebraͤiſch,
was ihm der Oeſterreicher in ſeiner ihm gaͤnzlich
fremden Mundart vorpoltert; die zuvorkom¬
mende Hoͤflichkeit und Geſchmeidigkeit des durch
franzoͤſiſche Nachbarſchaft polirten Rheinlaͤn¬
ders wuͤrde man in manchen Staͤdten von
Niederſachſen fuͤr Zudringlichkeit, fuͤr Nieder¬
traͤchtigkeit halten! Man glaubt dort, ein
Mann, der ſo aͤuſſerſt unterthaͤnig und nachgie¬
big iſt, muͤſſe gefaͤhrliche oder niedrige Abſich¬
ten haben, oder muͤſſe falſch, oder ſehr arm
und huͤlfsbeduͤrftig ſeyn, und oft iſt dort ein
wenig zu weit getriebene aͤuſſere Hoͤflichkeit hin¬
laͤnglich, den Mann, der ſich am Rhein da¬
durch allgemeine Liebe erwerben wuͤrde, an
der Leine veraͤchtlich zu machen. Dagegen
wird aber auch der nicht kaͤltere, aber weniger
leichtſinnige, weniger zuverſichtliche, nicht ſo
im Gedraͤnge von Fremden, noch auf Reiſen
an Leib und Seele abgeſchliffene, geglaͤttete,
ſon¬[14] ſondern ernſthaftere Niederſachſe, der bey der
erſten Bekanntſchaft nicht ſehr zuvorkommend,
ſondern wohl gar ein wenig verlegen iſt, an
einem Hofe im Reiche vielleicht fuͤr einen ſchuͤch¬
ternen Menſchen, ohne Lebensart, ohne Welt
angeſehn werden.


Sich nun alſo nach Ort, Zeit und Um¬
ſtaͤnden umzuformen und von verjaͤhrten Ge¬
wohnheiten ſich loszumachen, das erfordert
Studium und Kunſt.


In Gegenden, aus welchen weder Unzu¬
friedenheit mit dem Vaterlande, noch Muͤßig¬
gang, noch Verderbheit der Sitten, noch un¬
beſtimmte, raſtloſe' Thaͤtigkeit, noch Anecdo¬
ten-Jagd, noch vorwitzige Neugier die Men¬
ſchen ſchaarenweiſe emigriren macht, und je¬
den Pinſel zum Reiſen und Wandern treibt,
ſind die Einwohner mit dem, was es daheim
giebt, ſo herzlich wohl zufrieden, daß ſie nichts
Groͤßers kennen, nichts Groͤßers kennen moͤ¬
gen, als was ſie in ihrem Vaterlande von Ju¬
gend auf betrachtet, ſchon als Knaben be¬
wundert, oder von ihren Verwandten und
Freunden haben ſtiften, bauen, anlegen ge¬
ſehn.[15] ſehn. Ihnen ſind die kleinen jaͤhrlichen oder
andern Feſte immer neu, immer gleich glaͤnzend
und merkwuͤrdig — Gluͤckliche Unwiſſenheit!
nicht zu vertauſchen mit dem Ekel, welcher den
Mann anwandelt, der in ſeinem Leben ſo gar
viel aller Orten erlebt, erfahren, geſehn, bauen
und zerſtoͤhren geſehn hat, und zuletzt an
nichts mehr Freude finden, nichts mehr be¬
wundern kann, alles mit Tadel und Langer¬
weile anblickt! Ich reiſete vor einigen Jahren
im rauheſten Wetter in nothwendigen Ge¬
ſchaͤften vierzig Meilen weit von *** nach
***. Es fuͤgte ſich, daß in letzterer Stadt
am Tage meiner Ankunft ein General, mit
den dabey aller Orten mehr oder weniger
uͤblichen Feyerlichkeiten, ſollte begraben wer¬
den. Die ganze Stadt, die dergleichen ſelten
geſehn, war vom fruͤhen Morgen an in Be¬
wegung; alles ſprach von dem Begraͤbniſſe des
Generals. Ein Officier von meiner alten
Bekanntſchaft begegnete mir im Gaſthofe:
„Ey! wo kommen ſie her?“ rief er. Ich
ſagte es ihm. Der gute Mann vergaß in dem
Augenblicke, daß *** vierzig Meilen weit
laͤge, und daß eine ſolche Feyerlichkeit mir wohl
ſchwer[16] ſchwerlich in ſo ſchlechtem Wetter eine ſo weite
Reiſe werth ſeyn koͤnnte: „O!“ ſagte er „Sie
„kommen gewiß, um unſern General begraben
„zu ſehn; ja! es wird ſich ſchoͤn ausnehmen.“
— Nun! zu ſo etwas kann ich kaum laͤcheln;
Moͤchten alle Menſchen das am ſchoͤnſten fin¬
den, was ſie haben! Doch geſtehe ich auch,
daß dies oft zu Intoleranz fuͤhrt; daß die
Anhaͤnglichkeit an einheimiſche Sitten zuwei¬
len ungerecht, ungeſchliffen gegen Menſchen
macht, die ſich durch kleine Verſchiedenheiten,
waͤre es auch nur in Anſtand, Kleidung, Ton,
Mundart oder Gebaͤrden, unſchuldigerweiſe
auszeichnen.


In Reichsſtaͤdten iſt dieſe Anhaͤnglichkeit
an vaͤterliche Sitten, Kleidertrachten u. d. gl.
ſehr auffallend, und hat nicht ſelten Einfluß
auf Regierungs-Verfaſſung, Religions-Ver¬
traͤglichkeit und andre wichtige Dinge. So
legen z. B. alle calviniſtiſchen Kaufleute in
*** ihre Gaͤrten nach hollaͤndiſchem Geſchmack
an; Nun hoͤrte ich einſtens einen Solchen von
einem andern Negocianten dieſes Bekenntniſ¬
ſes, der aber in ſeinen Garten einige der refor¬
mir¬[17] mirten Gemeine auffallende Veraͤnderungen
vorgenommen hatte, ſagen: „der Mann habe
„in ſeinem Garten allerley lutheriſche Strei¬
„che
gemacht“ — daß ich mich nicht von meinem
Zwecke entferne! Ich meine, die Verſchieden¬
heit der Sitten und der Stimmung in den teut¬
ſchen Staaten macht es ſehr ſchwer, auſſer ſei¬
ner vaterlaͤndiſchen Gegend in fremden Provin¬
zen in Geſellſchaften zu gefallen, Freundſchaften
zu ſtiften, Geſchmack am Umgange zu finden,
Andre fuͤr ſich einzunehmen und auf Andre zu
wuͤrken.


Aber dieſe Schwierigkeiten werden in
Teutſchland noch groͤßer unter Perſonen von
verſchiedenen Staͤnden und Erziehungen. Wer
wird nicht ſchon mehrmals in ſeinem Leben die
Erfahrung gemacht haben, in welche Verle¬
genheit man kommen kann, und wie groß die
Langeweile iſt, die uns befaͤllt, oder die wir
Andern verurſachen, wenn wir in eine Geſell¬
ſchaft gerathen, deren Ton uns gaͤnzlich fremd
iſt, wo alle auch noch ſo warmen Geſpraͤche an
unſerm Herzen vorbeygleiten, wo die Form der
ganzen Unterhaltung, alle Gebraͤuche und aͤuſ¬
ſernB[18] ſern Manieren der Anweſenden weit auſſer un¬
ſerm Syſteme liegen, nicht zu unſern Gewohn¬
heiten paſſen, wo die Minuten uns Tage ſchei¬
nen, wo Zwang und Verwuͤnſchung unſrer
peinlichen Lage auf unſrer Stirne gemalt ſtehen.


Man ſehe nur einen ehrlichen Land-Edel¬
mann, aus treuer Lehnspflicht einmal nach lan¬
gen Jahren wieder, an dem Hofe ſeines Landes¬
herrn erſcheinen! Er hat ſich ſchon fruͤh Mor¬
gens auf’s beſte ausgeſchmuͤckt, und ſich die ſonſt
gewoͤhnte liebe Pfeife Tabac verſagt, um nicht
nach Rauch zu riechen. Auf den Gaſſen der
Stadt war noch alles oͤde und ſtill, als er ſchon
in ſeinem Wirthshauſe umher wandelte und
alles in Bewegung ſetzte, um ihm beyzuſtehn
bey dem beſchwerlichen Geſchaͤfte, ſich hof¬
maͤßig auszuſchmuͤcken. Jetzt iſt er endlich fer¬
tig; Sein gekraͤuſeltes und gepudertes Haar,
das auſſerdem ſelten ohne Nachtmuͤtze auftritt,
hat er der freyen Luft preis gegeben, und lei¬
det er nun hoͤlliſche Kopfſchmerzen; die ſeide¬
nen Struͤmpfe erſetzen bey weitem nicht, was
die heute zuruͤckgelegten Stiefel ihm ſonſt ge¬
waͤhren; Ihn friert gewaltig an den ihm nackt
ſchei¬[19] ſcheinenden Beinen. Der beſetzte Rock iſt in
den Schultern nicht ſo bequem, als ſein treuer,
alter, warmer Ueberrock; der Degen geraͤth
jeden Augenblick zwiſchen die Beine; Er weiß
nicht, was er mit dem kleinen Huͤtgen in der
Hand anfangen ſoll; das Stehen wird ihm
unertraͤglich ſauer. — In dieſer grauſamen
Verfaſſung erſcheint er im Vorzimmer. Um
ihn her wimmelt ein Haufen Hofſchranzen her¬
um, die, obgleich ſie wahrlich ſaͤmmtlich viel¬
leicht nicht ſo viel werth als dieſer ehrliche, nuͤtz¬
liche Mann, und im Grunde ihrer Herzen
nicht weniger als er von Langeweile geplagt
ſind, dennoch mit Naſeruͤmpfen und Verach¬
tung hier, wo ſie in ihrem Elemente zu ſeyn
ſcheinen, ihn anſehn. Er fuͤhlt jeden Spott,
uͤberſieht ſie, und muß ſich dennoch von ihnen
demuͤthigen laſſen. Sie naͤhern ſich ihm, thun
mit zerſtreueter, wichtiger Miene, einige Fra¬
gen an ihm, Fragen, an denen das Herz kei¬
nen Antheil nimmt, und worauf ſie auch die
Antworten nicht abwarten. Er glaubt Einen
unter ihnen zu entdecken, der ihm theilneh¬
mender ſcheint, als die Uebrigen; mit Dieſem
faͤngt er ein Geſpraͤch von Dingen an, die ihm,
B2viel¬[20] vielleicht auch dem Vaterlande, wichtig ſind,
von ſeiner haͤuslichen Lage, von dem Wohl¬
ſtande der Provinz, in welcher er lebt; Er
redet mit Waͤrme, Redlichkeit athmet alles,
was er ſagt — aber bald ſieht er, wie ſehr
er ſich in ſeiner Hofnung getaͤuſcht hat; das
Maͤnnchen hoͤrt ihm mit halbem Ohre zu, er¬
wiedert irgend ein Paar unbedeutende Sylben
zur Antwort, und laͤſſt dann den braven Haus¬
vater da ſtehn. Nun naͤhert er ſich einem
Cirkel von Leuten, die mit Intereſſe und Leb¬
haftigkeit zu reden ſcheinen; An dieſem Geſpraͤ¬
che wuͤnſcht er Theil zu nehmen; aber alles
was er hoͤrt, Gegenſtand, Sprache, Ausdruck,
Wendung, alles iſt ihm fremd. In halb teut¬
ſchen, halb franzoͤſiſchen Woͤrtern wird hier eine
Sache abgehandelt, auf welche er nie ſeine
Aufmerkſamkeit geſchaͤrft, von welcher er nie
geglaubt hat, daß es moͤglich waͤre, teutſche
Maͤnner koͤnnten ſich damit beſchaͤftigen. Seine
Verlegenheit, ſeine Ungeduld ſteigt mit jedem
Augenblicke, bis er endlich das verwuͤnſchte
Schloß weit hinter ſich ſieht.


Und nun, den Fall umgekehrt, laſſe man
einen ſonſt edeln Hofmann einmal hinaus auf
das[21] das Land in die Geſellſchaft biederer Beamte
und Provinzial-Edelleute gerathen! Hier herr¬
ſchen ungezwungene Froͤlichkeit, Offenherzig¬
keit, Freyheit; Man redet von dem, was am
naͤchſten den Landmann intereſſirt; Man wiegt
die Worte nicht ab; der Scherz iſt naiv, ge¬
wuͤrzt, aber nicht zugeſpitzt, nicht gekuͤnſtelt.
Unſer Hofmann verſucht es, ſich in dieſe Ma¬
nier hineinzuarbeiten; Er miſcht ſich in die
Geſpraͤche; aber der Ausdruck der Offenheit
und Treuherzigkeit fehlt; Was bey Jenen naiv
war, wird bey ihm beleidigend. Er fuͤhlt dies,
und will die Leute in ſeinen Ton ſtimmen; In
der Stadt gilt er fuͤr einen angenehmen Ge¬
ſellſchafter; Er ſpannt alle Segel auf, um
auch hier zu glaͤnzen; allein die kleinen An¬
necdoten, die feinen Zuͤge, worauf er an¬
ſpielt, ſind hier gaͤnzlich unbekannt, gehen ver¬
lohren. Man findet ihn mediſant, da in der
Stadt niemand ihm Verlaͤumdung Schuld
giebt; Seine Complimente, die er wahrlich
gut meint, haͤlt man fuͤr Falſchheit; die Suͤßig¬
keiten, die er den Frauenzimmern ſagt, und die
nur hoͤflich und verbindlich ſeyn ſollen, betracht¬
tet man als Spott. — So groß iſt die Ver¬
ſchie¬B 3[22] ſchiedenheit des Tons unter zweyerley Claſſen
von Menſchen! —


Ein Profeſſor, der in der literariſchen
Welt eine nicht gemeine Rolle ſpielt, meint in
ſeiner gelehrten Einfalt, die Univerſitaͤt, auf
welcher er lebt, ſey der Mittelpunct aller Wich¬
tigkeit, und das Fach, in welchem er ſich Kennt¬
niſſe erworben, die einzige dem Menſchen nuͤtz¬
liche, wahrer Anſtrengung allein werthe Wiſ¬
ſenſchaft. Er nennt Jeden, der ſich darauf nicht
gelegt hat, veraͤchtlicherweiſe einen Bellettri¬
ſten; Einer Dame, die bey ihrer Durchreiſe
den beruͤhmten Mann kennen zu lernen wuͤnſcht,
und ihn desfalls beſucht, ſchenkt er ſeine neue, in
lateiniſcher Sprache geſchriebene Diſſertation,
wovon ſie nicht Ein Wort verſteht; Er unter¬
haͤlt die Geſellſchaft, welche ſich darauf gefreuet
hatte, ihn recht zu genieſſen, bey der Abendta¬
fel mit Zergliederung des neuen academiſchen
Credit-Edicts, oder, wenn der Wein dem guten
Manne jovialiſche Laune giebt, mit Erzaͤhlung
luſtiger Schwaͤnke aus ſeinen Studentenjahren.


Einſt ſpeiſete ich mit dem Benedictiner-
Praͤlaten aus J*** bey Hof in H***; Man
hatte[23] hatte dem dicken hochwuͤrdigen Herrn den Eh¬
renplatz neben Ihro Hoheit der Fuͤrſtinn gegeben;
Vor ihm lag ein großer Ragout-Loͤffel, zum Vor¬
legen; Er glaubte aber, dieſer groͤßere Loͤffel ſey,
ihm zur beſondern Ehre, zu ſeinem Gebrauche
dahingelegt, und um zu zeigen, daß er wohl
wiſſe, was die Hoͤflichkeit erfordert, bath er die
Prinzeſſinn ehrerbiethig, ſie moͤgte doch ſtatt Sei¬
ner ſich des Loͤffels bedienen, der freylich viel zu
groß war, um in ihr kleines Maͤulchen zu paſſen.


In welche Verlegenheit geraͤth zuweilen
ein Mann, der nicht viel Journale und neuere
Modeſchriften lieſt, wenn er in eine Geſellſchaft
von ſchoͤngeiſteriſchen Herrn und Damen geraͤth!


Gleichſam wie verrathen und verkauft iſt
ein ſo genannter Profaner, wenn er ſich in ei¬
nem Haufen Mitglieder einer geheimen Ver¬
bindung befindet.


Freylich kann nichts ungeſitteter, den wah¬
ren Begriffen einer feinen Lebensart mehr ent¬
gegen ſeyn, als wenn eine Anzahl Menſchen,
die ſich auf dieſe Art unter einander verſtehen,
einem Fremden, der gutmuͤthig unter ſie tritt,
umB4[24] um an den Freuden der Geſelligkeit Theil zu
nehmen, durch ununterbrochene Lenkung des
Geſpraͤchs auf Gegenſtaͤnde, wovon Dieſer gar
nichts verſteht, jeden Genuß der Unterredung
rauben. Auf dieſe Art habe ich zuweilen in
meiner erſten Jugend in Familien-Cirkeln, wo
die Unterhaltung beſtaͤndig mit Anſpielungen
auf mir gaͤnzlich unbekannte Annecdoten durch¬
flochten, und durch gewiſſe mir fremde Redens¬
arten und Bonmots, womit ich gar keinen Be¬
griff verbinden konnte, gewuͤrzt war, toͤdtende
Langeweile gehabt. Man ſollte wohl mehr
Ruͤckſicht nehmen; allein ſelten ſind ganze Ge¬
ſellſchaften ſo billig, ſich nach Einzelnen zu rich¬
ten; auch laͤſſt ſich das nicht immer mit Recht
fordern; folglich iſt es wichtig fuͤr Jeden, der
in der Welt mit Menſchen leben will, die Kunſt
zu ſtudieren, ſich nach Sitten, Ton und Stim¬
mung Andrer zu fuͤgen.


Ueber dieſe Kunſt alſo will ich etwas ſagen.
— Aber habe ich denn auch wohl Beruf, ein
Buch uͤber den eſprit de conduite zu ſchreiben,
ich, der ich in meinem Leben vielleicht ſehr we¬
nig von dieſem Geiſte gezeigt habe? Ziemt es
mir,[25] mir, Menſchenkenntniß auszukramen, da ich
ſo oft ein Opfer der unvorſichtigſten, einem
Neulinge kaum zu verzeyhenden Hingebung
geweſen bin? Wird man die Kunſt des Umgangs
von einem Manne lernen wollen, der beynahe
von allem menſchlichen Umgange abgeſondert
lebt? — Laſſet doch ſehen, meine Freunde! was
ſich darauf antworten laͤſſt!


Habe ich wiedrige Erfahrungen gemacht,
die mich von meiner eigenen Ungeſchicklichkeit
uͤberzeugt haben — deſto beſſer! Wer kann ſo
gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher
darinn geſteckt hat? Haben Temperament und
Weichlichkeit, (oder darf ich es nicht Fuͤhlbar¬
keit eines ſo gern ſich anſchlieſſenden Herzens
nennen?) haben Sehnſucht nach Liebe und
Freundſchaft, nach Gelegenheit Andern zu die¬
nen und ſympathetiſche Empfindungen zu erre¬
gen, mich oft unvorſichtig handeln machen, oft
die calculierende Vernunft weit zuruͤckgelaſſen;
ſo war es wahrlich nicht Bloͤdſinnigkeit, Kurz¬
ſichtigkeit, Unbekanntſchaft mit Menſchen, was
mich irre leitete, ſondern Beduͤrfniß zu lieben
und geliebt zu werden, Verlangen thaͤtig zu
B 5ſeyn,[26] ſeyn, zum Guten zu wuͤrken. Uebrigens wer¬
den vielleicht wenig Menſchen in einem ſo
kurzen Zeitraume in ſo manche ſonderbare
Verhaͤltniſſe und Verbindungen mit andern
Menſchen aller Art gerathen, als ich, ſeit ohn¬
gefehr zwanzig Jahren; und da hat man denn
ſchon Gelegenheit, wenn man nicht ganz von
der Natur und Erziehung verwahrloſt iſt,
Bemerkungen zu machen, und vor Gefahren
zu warnen, die man ſelbſt nicht hat vermeiden
koͤnnen. Daß ich aber itzt einſam und abge¬
zogen lebe, geſchieht weder aus Menſchenhaß,
noch Bloͤdigkeit; Ich habe ſehr wichtige
Gruͤnde dazu; Allein dieſe hier weitlaͤuftig zu
entwickeln, das hieſſe zu viel von mir ſelbſt re¬
den, da ich ohnehin noch, zum Schluſſe dieſer
Einleitung etwas uͤber meine eigenen Erfah¬
rungen werde ſagen muͤſſen, bevor ich zum
Zwecke komme. — Alſo nur noch dieſes:


Ich trat als ein ſehr junger Menſch,
beynahe noch als Kind, ſchon in die große
Welt und auf den Schauplatz des Hofes.
Mein Temperament war lebhaft, unruhig,
bewegſam, mein Blut warm; die Keime zu
man¬[27] mancher heftigen Leidenſchaft lagen in mir
verborgen; Ich war in der erſten Erziehung
ein wenig verzaͤrtelt und durch große Aufmerk¬
ſamkeit, deren man meine kleine Perſon fruͤh
gewuͤrdigt hatte, gewoͤhnt worden, ſehr viel
Ruͤckſichten von andern Leuten zu fordern.
In einem freyen Vaterlande aufgewachſen,
wo Schmeicheley, Verſtellung und ein gewiſſes
kriechendes Weſen nicht ſehr zu Hauſe ſind,
hatte man mich freylich auch nicht zu jener
Geſchmeidigkeit vorbereitet, deren ich bedurfte,
um, unter mir ganz fremden Leuten, in des¬
potiſchen Staaten große Fortſchritte zu ma¬
chen; Auch iſt der theoretiſche Unterricht in
wahrer Weltklugheit bey der Jugend theils
ſelten mit Erfolge, theils nicht immer ohne
Gefahr zu ertheilen; Eigene Erfahrung muß
da in der Folge das beſte thun. Dieſe Lectio¬
nen, wenn man das Gluͤck hat wohlfeil daran
zu kommen, ſind von der heilſamſten Wuͤr¬
kung, und praͤgen ſich tief ein. Noch erinnere
ich mich einer kleinen Scene von der Art, die
mich auf eine Zeitlang vorſichtig machte: Ich
ſaß in C*** in der italiaͤniſchen Oper, in der
herrſchaftlichen Loge; Ich war fruͤher als der
Hof[28] Hof gekommen, weil ich Mittags nicht auf
dem Schloſſe, ſondern in der Stadt zu Gaſte
geſpeiſt hatte; Noch waren wenig Menſchen
da; In der ganzen Reyhe des erſten Rangs
ſaß nur der einzige Land-Commandeur, Graf
I***, ein wuͤrdiger Greis. Er hatte, wie es
ſcheint, auch darauf gerechnet, daß es ſchon
ſpaͤter waͤre, als es wuͤrklich war; Weil er nun
Langeweile hatte und mich gleichfalls einſam
da ſitzen ſah; ſo trat er zu mir herein, und
fieng eine Unterredung mit mir an. Er ſchien
ſehr zufrieden mit dem, was ich ihm uͤber ver¬
ſchiedene Gegenſtaͤnde, von denen ich einige
Kenntniß beſaß, ſagte; Der Greis wurde im¬
mer freundlicher und herablaſſender, und dies
kitzelte mich ſo ſehr, daß ich darauf allerley
Seitenſpruͤnge in meinem Geſpraͤche machte,
und zuletzt ein wenig mediſant wurde. End¬
lich entwiſchte mir eine mir gegenwaͤrtig nicht
mehr erinnerliche, grobe Unvorſichtigkeit im
Reden; Der Graf ſah mir ernſthaft in das
Geſicht, und ohne weiter ein Wort zu verlieh¬
ren, ließ er mich ſtehn, und gieng zuruͤck in
ſeine Loge. Ich fuͤhlte die ganze Staͤrke die¬
ſes Verweiſes, aber die Arzeney half nicht
lange.[29] lange. Meine Lebhaftigkeit verleitete mich
zu großen Inconſequenzen; ich uͤbereilte alles,
that immer zu viel oder zu wenig, kam ſtets
zu fruͤh oder zu ſpaͤt, weil ich immer entweder
eine Thorheit begieng, oder eine andere gut
zu machen hatte. Daher kamen unendliche
Widerſpruͤche in meinen Handlungen, und ich
verfehlte faſt bey allen Gelegenheiten des
Zwecks, weil ich keinen einfachen Plan ver¬
folgte. Zuerſt war ich zu ſorglos, zu offen,
gab mich zu unvorſichtig hin, und ſchadete
mir dadurch; Alsdann nahm ich mir vor, ein
feiner Hofmann zu werden; Mein Betragen
wurde gekuͤnſtelt, und nun traueten mir die
Beſſern nicht; Ich war zu geſchmeidig, und
verlohr dadurch aͤußere Achtung und innere
Wuͤrde, Selbſtſtaͤndigkeit und Anſehn. Er¬
bittert gegen mich und Andre riß ich mich dann
los, und wurde bizarr. Dies erregte Aufſehn;
die Menſchen ſuchten mich auf, wie ſie alles
Sonderbare aufſuchen. Dadurch aber er¬
wachte mein Trieb zur Geſelligkeit wieder;
ich naͤherte mich auf's Neue, lenkte wieder
ein, und nun verſchwand der Nimbus, den
nur meine Abgezogenheit von der Welt um
mich[30] hergezogen hatte. In einer andern Periode
ſpottete ich der Thorheiten, zuweilen nicht
ohne Witz; Man fuͤrchtete mich, aber man
liebte mich nicht; Dies ſchmerzte mich; Um
das wieder gut zu machen, zeigte ich mich von
der unſchaͤdlichen Seite, entfaltete ein liebe¬
volles, wohlwollendes Herz, unfaͤhig zu ſcha¬
den und zu verfolgen — und die Wuͤrkung
davon war, daß jedermann, der noch einen
Reſt von Groll auf mich, oder irgend einen
luſtigen Einfall von mir auf ſeine Rechnung
geſchrieben hatte, mir itzt auf der Naſe ſpielte,
ſobald er ſah, daß ich nur mit Rappieren und
nicht mit Schwerdtern focht, daß meine Waf¬
fen nicht zum Morde geſchliffen waren. Oder
wenn meine ſatyriſche Laune durch den Bey¬
fall luſtiger Geſellſchafter aufgeweckt wurde,
hechelte ich große und kleine Thoren durch;
die Spaßvoͤgel lachten dann; aber die Weiſern
ſchuͤttelten die Koͤpfe und wurden kalt gegen
mich. Um zu zeigen, wie wenig boͤsartig
meine Laune waͤre, hoͤrte ich auf, zu mediſieren,
und entſchuldigte alle Fehler, und nun hielten
Einige mich fuͤr einen Pinſel, Andre fuͤr ei¬
nen Heuchler. Waͤhlte ich mir meinen Um¬
gang[31] gang unter den ausgeſuchteſten, aufgeklaͤrteſten
Maͤnnern; ſo erwartete ich vergebens Schutz
von dem am Ruder ſtehenden Dummkopfe;
Gab ich mich elenden Leuten preis; ſo wurde
ich mit Dieſen in Eine Claſſe geſetzt. Men¬
ſchen ohne Erziehung von niederm Stande
misbrauchten mich, wenn ich mich ihnen zu
ſehr naͤherte; Mit Vornehmern verdarb ich
es, ſobald ſie meine Eitelkeit beleidigten. Bald
ließ ich zu viel Uebergewicht den Dummen
fuͤhlen, und wurde verfolgt; bald war ich zu
beſcheiden, und wurde uͤberſehn. Bald rich¬
tete ich mich nach den Sitten der Leute, nach
dem Ton aller unbedeutenden Geſellſchaften,
in welche ich lief, verlohr goldene Zeit, Ach¬
tung der Weiſern und Zufriedenheit mit mir
ſelbſt; dann wurde ich zu einfach, und ſpielte
eine ſchiefe Rolle, da, wo ich haͤtte glaͤnzen
koͤnnen und ſollen, durch Mangel an Zuver¬
ſicht zu mir ſelbſt. Zu Einer Zeit gieng ich
zu ſelten aus; man hielt mich fuͤr ſtolz oder
menſchenſcheu; zu einer andern zeigte ich
mich uͤberall, und wurde ein Alltagsgeſicht.
In den erſten Juͤnglingsjahren gab ich mich
unbedachtſam Jedem ausſchließlich, einzeln
und[32] und ganz hin, der ſich meinen Freund nannte
und mir einige Zuneigung bewies, wurde oft
ſchaͤndlich betrogen und in den ſuͤßeſten Er¬
wartungen getaͤuſcht; nachher war ich jeder¬
manns Freund, bereit Jedem zu dienen, und
dann ſchloß ſich niemand mit ganzer Seele an
mich, weil niemand mit dem kleinen, in ſo
viel Partikeln getheilten Stuͤckgen Herzen
vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel er¬
wartete, wurde ich getaͤuſcht; wenn ich ohne
allen Glauben an Treue und Redlichkeit un¬
ter den Menſchen umherrennte, hatte ich gar
keinen Genuß, nahm an gar nichts Theil.
Nie aber verbarg ich meine ſchwachen Seiten
ſo ſorgfaͤltig, als ich haͤtte thun ſollen — Und
ſo vergiengen dann die Jahre, in welchen ich
haͤtte mein Gluͤck machen koͤnnen, wie man
das gewoͤhnlich nennt; Jetzt da ich die Men¬
ſchen beſſer kenne, da Erfahrung mir die Au¬
gen geoͤfnet, mich vorſichtig gemacht und viel¬
leicht die Kunſt gelehrt hat, auf Andre zu
wuͤrken; jetzt iſt es zu ſpaͤt fuͤr mich, dieſe
Wiſſenſchaft in Anwendung zu bringen. Mein
Ruͤcken kruͤmmt ſich mit Muͤhe zu Reveren¬
zen; ich habe nicht viel unnuͤtze Zeit mehr zu
ver¬[33] verſchwenden, die ich preis geben koͤnnte; das
Wenige, was ich noch in dem Reſte meines
Lebens auf ſolchen Wegen erlangen koͤnnte,
lohnt die Muͤhe und Anſtrengung nicht, die
mich das koſten wuͤrde, und es ziemt den
Mann, deſſen Grundſaͤtze Alter und Erfah¬
rung befeſtigt haben, eben ſo wenig, ißt erſt an¬
zufangen den Geſchmeidigen, als den Stutzer
zu ſpielen. — Es iſt zu ſpaͤt, ſage ich, mit der
Ausuͤbung anzuheben; aber nicht zu ſpaͤt
Juͤnglingen zu zeigen, welchen Weg ſie wan¬
deln muͤſſen — und ſo laſſet uns denn den
Verſuch machen, und der Sache naͤher ruͤcken!


Er¬C[34]

Erſtes Capittel.


Allgemeine Bemerkungen und Vorſchrif¬
ten uͤber den Umgang mit Menſchen.


1.

Jeder Menſch gilt in dieſer Welt nur
ſo viel, als wozu er ſich ſelbſt macht.

Das iſt ein goldener Spruch; ein reiches The¬
ma zu einem Folianten, uͤber den eſprit de con¬
duite
und uͤber die Mittel, in der Welt ſeinen
Zweck zu erlangen; Ein Satz, deſſen Wahrheit
auf die Erfahrung aller Zeitalter geſtuͤtzt iſt.
Dieſe Erfahrung lehrt den Abentheurer und
Großſprecher, ſich bey dem großen Haufen fuͤr
einen Mann von Wichtigkeit auszugeben,
von ſeinen Verbindungen mit Fuͤrſten und
Staatsmaͤnnern, mit Maͤnnern, welche nicht ein:
mal von ſeiner Exiſtenz etwas wiſſen, in einem
Tone zu reden, der ihm, wo nichts mehr, doch we¬
nigſtens manche freye Mahlzeit und den Zutritt
in den erſten Haͤuſern erwirbt. Ich habe ei¬
nen Menſchen gekannt, der auf dieſe Art von
ſeiner Vertraulichkeit mit dem Kaiſer und dem
Fuͤr¬[35] Fuͤrſten Kaunitz redete, obgleich ich ganz ge¬
wiß wuſſte, daß Dieſe ihn kaum dem Namen
nach, und zwar als einen unruhigen Kopf
und Pasquillanten kannten. Indeſſen hatte
er hierdurch, da niemand genauer nachfragte,
ſich auf eine kurze Zeit in ein ſolches Anſehn
geſetzt, daß Leute, die bey des Kaiſers Maje¬
ſtaͤt etwas zu ſuchen hatten, ſich an ihn wen¬
deten. Dann ſchrieb er auf ſo unverſchaͤmte
Art an irgend einen Großen in Wien, und
ſprach in dieſem Briefe von ſeinen uͤbrigen vor¬
nehmen Freunden daſelbſt, daß er, zwar nicht
Erlangung ſeines Zwecks, aber doch manche
hoͤfliche Antwort erſchlich, mit welcher er dann
weiter wucherte.


Dieſe Erfahrung macht den frechen Halb¬
gelehrten ſo dreiſt, uͤber Dinge zu entſcheiden,
wovon er nicht fruͤher als eine Stunde vorher
das erſte Wort geleſen oder gehoͤrt hat, aber ſo
zu entſcheiden, daß ſelbſt der anweſende beſchei¬
denere Literator es nicht wagt, zu wiederſpre¬
chen, noch Fragen zu thun, die des Schwaͤtzers
Fahrzeug auf's Trockene werfen koͤnnten.


C 2Dieſe[36]

Dieſe Erfahrung iſt es, durch welche
der empordringende Dummkopf ſich zu den
erſten Stellen im Staate hinaufarbeitet, die
verdienſtvollſten Maͤnner zu Boden tritt, und
niemand findet, der ihn in ſeine Schranken zu¬
ruͤckwieſe.


Sie iſt es, durch welche ſich die unbrauch¬
barſten, ſchiefſten Genies, Menſchen ohne Ta¬
lent und Kenntniſſe, Plusmacher und Wind¬
beutel bey den Großen der Erde unentbehrlich
zu machen verſtehen.


Sie iſt es, die groͤßtentheils den Ruf von
Gelehrten, Muſikern und Mahlern beſtimmt.


Auf dieſe Erfahrung geſtuͤtzt, fordert der
fremde Kuͤnſtler fuͤr ein Stuͤck hundert Louis¬
d'or, das der einheimiſche zehnfach beſſer ge¬
arbeitet um funfzig Thaler verkaufen wuͤrde;
Allein man reiſſt ſich um des Auslaͤnders Werke;
Er kann nicht ſo viel fertig machen, als von
ihm gefordert wird, und am Ende laͤſſt er bey
dem Einheimiſchen arbeiten und verkauft das
fuͤr ultramontaniſche Waare.


Auf dieſe Erfahrung geſtuͤtzt, erſchleicht
ſich der Schriftſteller eine vortheilhafte Rezen¬
ſion,[37] ſion, wenn er in der Vorrede zu dem zweyten
Theile ſeines langweiligen Buchs mit der
ſchamloſeſten Frechheit von dem Beyfalle re¬
det, womit Kenner und Gelehrte, deren
Freundſchaft er ſich ruͤhmt, den erſten Theil
beehrt haben.


Dieſe Erfahrung giebt den vornehmen
Bankerouttirer, der Geld borgen will und
nie wieder bezahlen kann, den Muth, das An¬
lehn in ſolchen Ausdruͤcken zu fordern, daß
der reiche Wucherer es fuͤr Ehre haͤlt, ſich von
ihm betruͤgen zu laſſen.


Faſt alle Arten ven Bitten um Schutz
und Befoͤrderung, die in dieſem Tone vorge¬
tragen werden, finden Eingang, und werden
nicht abgeſchlagen, dahingegen Verachtung,
Zuruͤckſetzung und nicht erfuͤllte billige Wuͤn¬
ſche faſt immer der Preis des beſcheidenen,
furchtſamen Clienten ſind.


Dieſe Erfahrung lehrt den Diener, ſich
bey ſeinem Herrn, und Den, welcher Wohl¬
thaten empfangen, ſich bey dem Wohlthaͤter
ſo wichtig zu machen, daß Der, ſo die Verbind¬
lichkeit auflegt, es fuͤr ein großes Gluͤck rech¬
net, einem ſolchen Manne anzugehoͤren —


Kurz!C 3[38]

Kurz! der Satz: daß jedermann nicht
mehr und nicht weniger gelte, als wozu
er ſich ſelbſt macht
, iſt die große Panacee
fuͤr Aventuriers, Prahler, Windbeutel und
ſeichte Koͤpfe, um fortzukommen auf dieſen
Erdballe — ich gebe alſo keinen Kirſchkern
fuͤr dieſes Univerſalmittel — Doch ſtill! ſollte
denn jener Satz uns gar nichts werth ſeyn?
Ja, meine Freunde! Er kann uns lehren,
nie ohne Noth und Beruf unſre oͤkonomiſchen
phyſicaliſchen, moraliſchen und intellectuellen
Schwaͤchen aufzudecken. Ohne alſo ſich zur
Prahlerey und zu niedertraͤchtigen Luͤgen her¬
abzulaſſen, ſoll man doch nicht die Gelegenheit
verſaͤumen, ſich von ſeinen vortheilhaften
Seiten zu zeigen.


Dies muß aber nicht auf eine grobe, gar
zu merkliche, eitle und auffallende Weiſe ge¬
ſchehn, denn ſonſt verliehren wir vielmehr da¬
durch; ſondern man muß die Menſchen nur
muthmaßen, ſie von ſelbſt darauf kommen
laſſen, daß doch wohl etwas mehr hinter uns
ſtecke, als bey dem erſten Anblicke hervor¬
ſchimmert. Haͤngt man ein gar zu glaͤnzendes
Schild aus; ſo erweckt man dadurch die ge¬
nauere[39] nauere Aufmerkſamkeit; Andre ſpuͤren dann
den kleinen Fehlern nach, von denen kein Er¬
denſohn frey iſt, und ſo iſt es auf einmal um
unſern Glanz geſchehn. Zeige Dich alſo mit
einem gewiſſen beſcheidenen Bewuſſtſeyn in¬
nerer Wuͤrde, und vor allen Dingen mit dem,
auf Deiner Stirne ſtrahlenden Bewuſſtſeyn
der Wahrheit und Redlichkeit! Zeige Ver¬
nunft und Kenntniſſe, wo Du Veranlaſſung
dazu haſt! Nicht ſo viel, um Neid zu erregen
und Forderungen anzukuͤndigen, nicht ſo we¬
nig, um uͤberſehn und uͤberſchrien zu werden!
Mache Dich rar, ohne daß man Dich weder
fuͤr einen Sonderling, noch fuͤr ſcheu, noch fuͤr
hochmuͤthig halte!

2.

Fehlt Dir etwas, haſt Du Kummer, Un¬
gluͤck, leideſt Du Mangel, reichen Vernunft,
Grundſaͤtze und guter Wille nicht zu; ſo klage
Dein Leid, Deine Schwaͤche niemand, als
Dem, der helfen kann, ſelbſt Deinem treuen
Weibe nicht! Wenige helfen tragen; faſt alle
erſchweren die Buͤrde; ja! ſehr Viele treten
einen Schritt zuruͤck, ſobald ſie ſehen, daß
DichC 4[40] Dich das Gluͤck nicht anlaͤchelt. Sobald ſie
aber gar wahrnehmen, daß Du ganz ohne
Huͤlfsquellen biſt, daß Du keinen geheimen
Schutz haſt, niemand, der ſich Deiner an¬
nimmt — o! ſo rechne auf Keinen mehr!
Wer hat den Muth, einzig und feſt als die
Stuͤtze des von aller Welt Verlaſſenen oͤffent¬
lich aufzutreten? Wer hat den Muth zu ſa¬
gen: „Ich kenne den Mann; Er iſt mein
„Freund; er iſt mehr werth als Ihr Alle, die
„Ihr ihn ſchmaͤhet?“ Und faͤndeſt Du ja einen
Solchen; ſo wuͤrde es doch nur etwa ein an¬
drer armer Teufel ſeyn, der ſelbſt in elenden
Umſtaͤnden, aus Verzweiflung ſein Schickſal
an das Deinige knuͤpfen wollte, deſſen Schutz
Dir alſo mehr ſchaͤdlich als nuͤtzlich waͤre.

3.

Ruͤhme aber auch nicht zu laut Deine
gluͤckliche Lage! krame nicht zu glaͤnzend Deine
Pracht, Deinen Reichthum, Deine Talente
aus! Die Menſchen vertragen ſelten ein ſol¬
ches Uebergewicht ohne Murren und Neid.
Lege daher auch Andern keine zu große Ver¬
bindlichkeit auf! Thue nicht zu viel fuͤr Deine
Mit¬[41] Mitmenſchen! Sie fliehen den uͤberſchwengli¬
chen Wohlthaͤter, wie man einen Glaͤubiger
flieht, den man nie bezahlen kann. Alſo
huͤte Dich, zu groß zu werden in Deiner Bruͤ¬
der Augen! auch fordert dann Jeder zu viel von
Dir, und eine einzige abgeſchlagene Wohlthat
macht tauſend wuͤrklich erzeigte in Einem Au¬
genblicke vergeſſen.

4.

Vor allen Dingen wache uͤber Dich, daß
Du nie die innere Zuverſicht zu dir ſelbſt, das
Vertrauen auf Gott, auf gute Menſchen und
auf das Schickſal verliehreſt! Sobald Dein Ne¬
benmann auf Deiner Stirne Mismuth und
Verzweiflung lieſt — ſo iſt alles aus. Sehr
oft aber iſt man im Ungluͤcke ungerecht gegen
die Menſchen. Jede kleine boͤſe Laune, jede
kleine Miene von Kaͤlte deutet man auf ſich;
Man meint, Jeder ſehe es uns an, daß wir lei¬
den, und weiche vor der Bitte zuruͤck, die wir
ihm thun koͤnnten.

5.

Zwey Gruͤnde hauptſaͤchlich muͤſſen uns be¬
wegen, nicht gar zu offenherzig gegen die Men¬
ſchenC 5[42] ſcheu zu ſeyn: zuerſt die Furcht, unſre Schwaͤ¬
che dadurch aufzudecken und misbraucht zu wer¬
den, und dann die Ueberlegung, daß, wenn
man die Leute einmal daran gewoͤhnt hat, ih¬
nen nichts zu verſchweigen, ſie zuletzt von je¬
dem unſrer kleinſten Schritte Rechenſchaft ver¬
langen, alles wiſſen, um alles zu Rathe gezo¬
gen werden wollen: Allein eben ſo wenig ſoll
man uͤbertrieben verſchloſſen ſeyn, ſonſt glau¬
ben ſie, es ſtecke hinter allem, was wir thun,
etwas Bedeutendes, oder gar Gefaͤhrliches,
und das kann uns in unangenehme Verlegen¬
heit verwickeln, und veranlaſſen, daß wir ver¬
kannt werden, unter andern in fremden Laͤn¬
dern, auf Reiſen, bey manchen andern Gele¬
genheiten und kann uns uͤberhaupt auch im
gemeinen Leben, ſelbſt im Umgange mit edeln
Freunden, ſchaden.

6.

Suche weniger ſelbſt zu glaͤnzen, als An¬
dern Gelegenheit zu geben, ſich von vortheil¬
haften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt wer¬
den und gefallen willſt. Ich habe den Ruf ei¬
nes vernuͤnftigen und witzigen Mannes aus
man¬[43] mancher Geſellſchaft mitgenommen, in welcher
wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde
gegangen war, und in welcher ich nichts gethan
hatte, als mit exemplariſcher Geduld vorneh¬
men und halbgelehrten Unſinn anzuhoͤren, oder
hie und da einen Mann auf ein Fach zu bringen,
wovon er gern redete. Wie Mancher beſucht
mich, mit der demuͤthigen Ankuͤndigung, (wo¬
bey ich mich oft nicht des Lachens erwehren
kann) er komme um mir als einem gewaltigen
Gelehrten und Schriftſteller ſeine Ehrerbie¬
tung zu bezeugen; der Mann ſetzt ſich dann
hin und faͤngt an zu reden, laͤſſt mich, den er
bewundern will, gar nicht zu Worte kommen,
und geht, entzuͤckt uͤber meine lehrreiche und an¬
genehme Unterhaltung, zu welcher ich nicht
zwanzig Worte geliefert habe, von mir, hoͤchſt
vergnuͤgt, daß ich Verſtand genug gehabt habe
— ihm zuzuhoͤren. Was kann unſchuldiger
ſeyn, als ſolche Ausleerungen zu befoͤrdern,
wenn man dadurch Andern Erleichterung und
ſich einen guten Ruf verſchafft? Desfalls habe
ich nie die Gewohnheit der Hofleute von gemei¬
nerm Schlage gut finden koͤnnen, die jedermann
nur mit halben Ohre und zerſtreueter Miene
an¬[44] anhoͤren, ja! gar mitten in einer Rede, die
ſie veranlaſſt haben, einfallen, ohne das Ende
abzuwarten.

7.

Uebrigens aber rathe ich auch an, um ſein
Selbſt und um andrer Willen, ja nicht zu glau¬
ben, es ſey irgend eine Geſellſchaft ſo ganz
ſchlecht, das Geſpraͤch irgend eines Mannes ſo
ganz unbedeutend, daß man nicht daraus irgend
etwas lernen, irgend eine neue Erfahrung, irgend
einen Stoff zum Nachdenken ſammlen koͤnnte.
Aber man ſoll nicht aller Orten Gelehrſamkeit,
feine Cultur fordern, ſondern geſunden Haus¬
verſtand und graden Sinn beguͤnſtigen, vorzie¬
hen, und reden und wuͤrken laſſen, ſich auch
unter Menſchen von allerley Staͤnden miſchen;
ſo lernt man zugleich nach und nach den Ton
und die Stimmung annehmen, die nach Zeit
und Umſtaͤnden erfordert werden.

8.

So wenig als moͤglich laſſet uns den An¬
dern Wohlthaten fordern und annehmen! Man
trifft gar ſelten Leute an, die nicht fruͤh oder
ſpaͤt fuͤr kleine Dienſte große Ruͤckſichten for¬
der¬[45] derten, und das hebt dann das Gleichgewicht
im Umgange auf, raubt Freyheit, hindert un¬
eingeſchraͤnkte Wahl, und wenn auch unter
zehnmal nicht einmal der Fall eintraͤte, daß
dies uns in Verlegenheit ſetzte oder Verdruß
zuzoͤge; ſo iſt es doch weislich gehandelt, dies
moͤgliche Einmal zu vermeiden, und lieber im¬
mer zu geben, Jedem zu dienen, als von An¬
dern Dienſte oder ſonſt etwas anzunehmen.
Auch giebt es wenig Menſchen, die mit guter
Art Wohlthaten erzeigen. Verſuchet es, meine
Freunde! wie Viele unter Euren Bekannten
nicht auf einmal, mitten in der froͤhlichſten, hoͤf¬
lichſten Gemuͤthsſtimmung, ihr Geſicht in fey¬
erliche Falten ziehen, wenn Ihr Eure Anrede
mit den Worten anhebet: „Ich muß eine große
„Bitte an Sie wagen; Ich bin in einer er¬
„ſchrecklichen Verlegenheit.“


Um nun fremdes Beyſtandes entbehren
zu koͤnnen, dazu iſt das beſte Mittel, wenig
Beduͤrfniſſe zu haben, maͤßig zu ſeyn, und be¬
ſcheidene Wuͤnſche zu naͤhren; Wer aber von
unzaͤhligen Leidenſchaften in raſtloſem Taumel
umhergetrieben wird, bald Ehrenſtellen, bald
Wucher, bald Erwerb, bald wolluͤſtigen Genuß
ver¬[46] verlangt; wer, von dem Luxus des Zeitalters
angeſteckt, alles begehrt, was ſeine Augen ſe¬
hen; wen vorwitzige Neugier und ein unruhi¬
ger Geiſt treiben, ſich in jeden unnuͤtzen Han¬
del zu miſchen; der wird freylich nie der Huͤlfe
und Unterſtuͤtzung fremder Leute, zu Befrie¬
digung ſeiner zahlloſen Wuͤnſche, ſich entaͤuſſern
koͤnnen.

9.

Wenn ich aber ſage, daß man lieber Al¬
len geben, als von irgend jemand empfangen
ſolle; ſo hebt das den Satz nicht auf, daß man
nicht gar zu viel fuͤr Andre thun duͤrfe. Ueber¬
haupt ſey dienſtfertig, aber nicht zudringlich!
Sey nicht jedermanns Freund und Vertraueter!
Vor allen Dingen beſſere und demoraliſiere
die Menſchen nicht, rathe ihnen nicht ohne
entſchiedenen Beruf dazu! die Wenigſten wiſ¬
ſen Dir das Dank, und ſelbſt wenn ſie uns um
Rath fragen, ſind ſie gewoͤhnlich ſchon entſchloſ¬
ſen zu thun, was ihnen gefaͤllt. Miſche Dich
auch nicht in Familien-Haͤndel! Ich bin ein
Paarmal mit der beſten Abſicht ſehr uͤbel dabey
gefahren. Vor allen Dingen huͤte Dich, Zwi¬
ſtigkeiten ſchlichten und Verſoͤhnungen ſtiften
zu[47] zu wollen! (Es ſey denn unter geliebten, ge¬
pruͤften Perſonen) Mehrentheils werden beyde
Partheyen einig, um uͤber dich herzufallen.
Das Kuppeln und Heyrathen-Schmieden uͤber¬
laſſe man dem Himmel, und einer gewiſſen
Claſſe von alten Weibern.

10.

Keine Regel iſt ſo allgemein, keine ſo hei¬
lig zu halten, keine fuͤhrt ſo ſicher dahin, uns
dauerhafte Achtung und Freundſchaft zu erwer¬
ben, als die: unverbruͤchlich, auch in den ge¬
ringſten Kleinigkeiten, Wort zu halten, ſeiner
Zuſage treu, und ſtets wahrhaftig zu ſeyn in
ſeinen Reden. Nie kann man Recht und er¬
laubte Urſache haben, das Gegentheil von dem
zu ſagen, was man denkt, wenngleich man
Befugniß und Gruͤnde haben kann, nicht al¬
les zu offenbahren, was in uns vorgeht. Es giebt
keine Nothluͤgen; noch nie iſt eine Unwahrheit
geſprochen worden, die nicht fruͤh oder ſpaͤt nach¬
theilige Folgen fuͤr jemand gehabt haͤtte; der
Mann aber, der dafuͤr bekannt iſt, ſtrenge Wort
zu halten und ſich keine Unwahrheit zu geſtat¬
ten, gewinnt gewiß Zutrauen, guten Ruf und
Hochachtung.


11.[48]

11.

Wenn die Frage entſteht: ob es gut ſey,
viel oder wenig in Geſellſchaft zu erſcheinen;
ſo muß die Beantwortung derſelben freylich
nach den einzelnen Lagen, Beduͤrfniſſen, und
nach unzaͤhligen kleinen Umſtaͤnden und Ruͤck¬
ſichten, bey jedem Menſchen anders ausfallen;
Im Ganzen aber kann man den Satz zur Richt¬
ſchnur annehmen: daß man ſich nicht aufdrin¬
gen, die Leute nicht uͤberlaufen ſolle, und daß
es beſſer ſey, wenn man es einmal nicht allen
Menſchen recht machen kann, daß gefragt
werde, warum wir ſo ſelten, als geklagt, daß
wir zu oft und aller Orten erſcheinen. Es giebt
einen feinen Sinn dafuͤr (Wenn uns nicht uͤber¬
triebene Eitelkeit und Selbſtſucht die Augen blen¬
den) einen Sinn, der uns ſagt, ob wir gern
geſehen oder uͤberlaͤſtig ſind, ob es Zeit iſt fort¬
zugehen, oder ob wir noch verweilen ſollen.

12.

Man huͤte ſich aber, in alle Cirkel große
Forderungen mitzunehmen, allen Menſchen
alles allein ſeyn, mit aller Gewalt glaͤnzen, her¬
vorgezogen werden zu wollen, zu verlangen,
daß[49] daß aller Menſchen Augen nur auf uns gerich¬
tet, ihre Ohren nur fuͤr uns geſpitzt ſeyen, denn
ſonſt werden wir freylich uns aller Orten zu¬
ruͤckgeſetzt glauben, eine traurige Rolle ſpielen,
uns und Andern Langeweile machen, menſchen¬
ſcheu und bitter die Geſellſchaft fliehen und
von ihr geflohen werden. Ich kenne viel Leute
von der Art, die durchaus, wenn ſie ſich in
vortheilhaftem Lichte zeigen ſollen, der Mittel¬
punct ſeyn muͤſſen, um welchen ſich alles dreht,
ſo wie uͤberhaupt manche Menſchen im gemei¬
nen Leben niemand neben ſich vertragen, der
mit ihnen verglichen werden koͤnnte. Sie han¬
deln vortreflich, groß, edel, nuͤtzlich, wohlthaͤ¬
tig, geiſtreich, ſobald ſie es allein ſind, an die
man ſich wendet, von denen man bittet, erwar¬
tet, hofft; aber klein, niedrig, rachſuͤchtig und
ſchwach, ſobald ſie in Reyhe und Gliedern ſtehn
ſollen und zerſtoͤhren jedes Gebaͤude, wozu
ſie nicht den Plan gemacht, oder wenigſtens
die Kranz-Rede gehalten haben, ja! ihr eige¬
nes Gebaͤude, ſobald nur ein Andrer eine kleine
Verzierung daran angebracht hat. Dies iſt
eine ungluͤckliche, ungeſellige Gemuͤthsart.
Ueberhaupt rathe ich, um gluͤcklich zu leben und
DAn¬[50] Andre gluͤcklich zu machen, in dieſer Welt ſo
wenig als moͤglich zu erwarten und zu fordern,

13.

Mit wem aber ſoll man am mehrſten
umgehn? Natuͤrlicher Weiſe laͤſſt ſich auch dieſe
Frage nur nach eines Jeden beſondern Lage
beantworten. Hat man die Wahl; (und wuͤrk¬
lich hat man dieſe doch oͤfter als man glaubt)
ſo waͤhle man ſich die Weiſern zu ſeinem Um¬
gange, Leute von denen man lernen kann, die
uns nicht ſchmeicheln, die uns uͤberſehen; Al¬
lein gewoͤhnlich gefaͤllt es uns beſſer, einen Cir¬
kel untergeordneter Geiſter um uns her zu ver¬
ſammlen, die in Kreiſen tanzen, ſo oft unſer
hoher Genius ſeine Zauberruthe ſchwingt.
Wir bleiben indeſſen dadurch immer, wie wir
waren, kommen nie weiter in Weisheit und
Tugend. Es giebt zwar Lagen, in welchen es
nuͤtzlich und lehrreich, ſich unter Menſchen von
allerley Faͤhigkeiten zu miſchen, ja! wo es auch
Pflicht iſt, nicht blos mit Leuten umzugehn,
von denen wir, ſondern auch mit ſolchen, die
von uns lernen koͤnnen, und die ein Recht ha¬
ben, dies zu fordern; Dieſe Gefaͤlligkeit aber
darf[51] darf nie ſo weit gehn, daß die Rechenſchaft, ſo
wir einſtens von unſrer goldenen Zeit und von
der Obliegenheit uns zu vervollkommnen geben
ſollen, dabey Gefahr laufe.

14.

In volkreichen, großen Staͤdten kann man
am aller unbemerkteſten und ganz nach ſeiner
Neigung leben; da fallen eine Menge kleiner
Ruͤckſichten weg; Man wird nicht ſo ausgeſpaͤ¬
het, controllirt, beobachtet; Es laufen nicht ſo
aus Mund in Mund die intreſſanten Nachrich¬
ten: wie vielmal in der Woche ich Braten eſſe,
ob ich oft oder ſelten ausgehe, und wohin; wer
zu mir koͤmmt, wie ſtark der Lohn iſt, den ich
meiner Koͤchinn gebe, und ob ich kuͤrzlich mit
ihr geſchmaͤhlt habe? Meine Kleidung wird
nicht gemuſtert; Man fraͤgt nicht in jedem Kra¬
mer-Hauſe meine Magd, wenn ſie vor vier
Pfennige Pfeffer holt, fuͤr wen der Pfeffer iſt,
und wozu der Pfeffer gebraucht werden ſoll;
Eine unbedeutende Annecdote beſchaͤftigt da
nicht ſechs Wochen lang alle Zungen; Man
wandelt ohnbemerkt, friedenvoll und ungeneckt
durch den großen Haufen hin, beſorgt ſeine Ge¬
ſchaͤfteD 2[52] ſchaͤfte, und waͤhlt ſich eine Lebensart, wie man
ſie fuͤr zweckmaͤßig haͤlt. In kleinen Staͤdten
iſt man verurtheilt, mit einer Anzahl oft ſehr
langweiliger Magnaten in ſtrenger Abrech¬
nung von Beſuchen und Gegenbeſuchen zu
ſtehn, die gewoͤhnlich gleich nach dem Mittags¬
tiſche ihren Anfang nehmen, und bis zu der
Buͤrgerglocke, das heiſſt bis zehn Uhr Abends,
fortdauern, waͤhrend welcher Zeit die Unterhal¬
tung gewoͤhnlich den Koͤnig von Preuſſen, den
Kaiſer, andre hohen Potentaten und was der
Reichspoſtreuter von ihnen meldet, zum Ge¬
genſtande hat. Das iſt nun freylich erſchreck¬
lich; doch giebt es auch Mittel, dort den Ton
des Umgangs nach und nach zu verfeinern, oder
das ſchwache Publicum daran zu gewoͤhnen,
nachdem es ein viertel Jahr hindurch uͤber uns
gelaͤſtert hat, uns endlich auf unſre Weiſe leben
zu laſſen, wenn man ſich uͤbrigens redlich, men¬
ſchenfreundlich, dienſtfertig und geſellig betraͤgt.
Am uͤbelſten aber pflegt man in den mittlern
Staͤdten daran zu ſeyn, ſowohl in den Reichs¬
ſtaͤdten der geringern Claſſe, als in unbetraͤcht¬
lichen Reſidenzen. Da herſchen gewoͤhnlich,
neben einem uͤbertriebenen Luxus und ſolchen
ſitt¬[53] ſittlichen Verderbniſſen, die mit der Corrup¬
tion in den groͤßten Staͤdten wetteifern, noch
obendrein alle Gebrechen kleiner Staͤdte, Klat¬
ſchereyen, Anhaͤnglichkeit an Schlendrian, an
Gewohnheiten und Familien-Verbindungen,
die abgeſchmackteſten Forderungen und die laͤ¬
cherlichſte Claſſificierung der Staͤnde. So habe
ich eine Stadt geſehn, in welcher ein Mann
durch ſeine kuͤrzlich erhaltene Bedienung, die
ehemals dort nicht exiſtirt hatte, ſo ſehr von al¬
len uͤbrigen einmal beſtimmten Rang-Ordnun¬
gen abgeſondert war, daß er wie ein Elephant
in einer Menagerie, immer fuͤr ſich allein ſpa¬
zieren gehn muſſte, ohne ſeines Gleichen, we¬
der einen Geſellſchafter, noch eine Gefaͤhrtinn
finden zu koͤnnen. Vielleicht bin ich partheyiſch
fuͤr meine liebe Vaterſtadt, aber ich glaube,
(und auch andre einſichtsvollere Maͤnner laſſen
ihr dieſe Gerechtigkeit wiederfahren) daß, ob¬
gleich Hannover nicht zu den groͤßten Staͤdten
in Teutſchland gehoͤrt, man dennoch hier ſo
frey und ohnbemerkt leben koͤnne, als irgendwo.
Vermuthlich hat unſre Verbindung mit Eng¬
land, wo manche Vorurtheile von der Art ver¬
achtet werden, hierzu viel beygetragen. Da
D3nun[54] nun aber in den wenigſten Staͤdten von Teutſch¬
land dieſe gluͤckliche Stimmung angetroffen
wird; ſo muß man lernen, ſich nach den herr¬
ſchenden Sitten zu richten, und nichts kann
unvernuͤnftiger und fuͤr den Eiferer ſelbſt von
nachtheiligern Folgen ſeyn, als wenn ein Einzel¬
ner, der nicht beſonders in Anſehn ſteht, auf¬
treten und ſeine Vaterſtadt reformiren will.
Nirgends koͤmmt indeſſen ein ſolcher Declama¬
tor uͤbler an, als in den Reichsſtaͤdten, wo
alte Sitte und Schlendrian innig verwebt ſind
in die Regierungsform und in alle uͤbrigen Ver¬
haͤltniſſe. Dort kann zuweilen der bloße Schnitt
eines Rocks, oder ein bisgen mehr oder weni¬
ger Gold darauf, wodurch ein Kauffman ſich
von ſeinen Mitbruͤdern unterſcheidet, ihn um
ſeinen Credit bringen, und eine Peruͤcke im
richtigen Coſtum, die uͤber einen leeren Hirn¬
kaſten gehenkt wird, bey der Rathsherrn-Wahl
den Sieg uͤber ein eigenes Haar, das einen
feinen Kopf deckt, davontragen.


In Doͤrfern und auf ſeinem Landgute lebt
man in der That am ungezwungenſten, und fuͤr
jemand, der Luſt hat ſich zu beſchaͤftigen und
zum Beſten Andrer etwas beyzutragen, findet
ſich[55] ſich da mannigfaltige Gelegenheit, indem man
an dem nuͤtzlichſten, zu ſehr niedergedruͤckten
und vernachlaͤſſigten Stande zum Wohlthaͤter
werden kann; allein die geſelligen Freuden ſind
auf dem Lande nicht ſo leicht zu verſchaffen.
In Augenblicken, wo man gerade Beduͤrfniß
fuͤhlt, ſeine Arme nach einem treuen Freunde
auszuſtrecken, iſt dieſer Freund vielleicht Mei¬
len weit von uns entfernt, man muͤſſte den
reich genug ſeyn, einen ganzen Hofſtaat von
Freunden um ſich her zu verſammlen, aber auch
das hat ſeine uͤble Seite, und ſehr reiche Leute
fuͤhlen ja ohnehin ſelten dies Beduͤrfniß. Um
alſo hier gluͤcklich und vergnuͤgt leben zu koͤn¬
nen, ohne ſo ſehr wohlhabend zu ſeyn, ſoll man
die Kunſt verſtehn, das Gute aus dem Um¬
gange der Menſchen, die man grade bey ſich
haben kann, zu ſchmecken und zu erkennen,
der einfachen Freuden nicht muͤde zu werden,
damit zu geizen, und ihnen auf erfindungsreiche
Art Mannigfaltigkeit zu geben. Weil man
auf dem Lande ſeine Frau, ſeine Kinder und
ſeine Hausfreunde vom Morgen bis zum Abend
ununterbrochen um ſich zu ſehn pflegt; ſo ent¬
ſteht leicht Ueberdruß, Leere im Umgange.
DiesD 4[56] Dies kann durch einen Vorrath guter Buͤcher,
die neuen Stoff zur Unterhaltung geben, durch
intereſſanten Briefwechſel mit abweſenden
Edeln und durch weiſe Eintheilung der Zeit,
indem man manche Tagesfriſten einzeln in ſei¬
nen Zimmern zubringt, gehoben werden, und
nichts iſt ſuͤßer auf dem Lande, als wenn, nach
einem nuͤtzlich verlebten Tage, wo Jeder fuͤr
ſich ſeine Geſchaͤfte beſorgt hat, des Abends ſich
der kleine Cirkel zum Spatziergange, muntern
Scherze und zwangloſen Geſpraͤche wieder ver¬
ſammlet. Es giebt ſelbſt Prinzen, die dieſen
Genuß kennen, und ich habe noch vor nicht gar
langer Zeit am Fuße der vogeſiſchen Gebuͤrge
einige Wochen an dem Hofe eines guten und
klugen Fuͤrſten auf dieſe Art ſehr gluͤcklich hinge¬
bracht.


Nichts aber iſt erſchrecklicher und doch haͤu¬
figer zu finden, als wenn Menſchen, die in klei¬
nen Staͤdten oder gar auf dem platten Lande
taͤglich miteinander umgehn muͤſſen, in ewi¬
gem Zwiſte mit einander leben, und dabey doch
nicht reich genug ſind, ſich Jeder fuͤr ſich eine
beſondre Exiſtenz zu ſchaffen. Sie bauen ſich
eine Hoͤlle auf Erden. Nirgends alſo iſt es
ſo[57] ſo wichtig als hier, ſchonend, nachſichtig, ge¬
ſchmeidig, vorſichtig, klug und mit einer Art
von Cocketterie im Umgange zu verfahren, um
Misverſtaͤndniſſen, Eckel und Ueberdruſſe vor¬
zubauen.

15.

In fremden Staͤdten und Laͤndern iſt Vor¬
ſichtigkeit im Umgange zu empfehlen, und das
in manchem Betrachte. Wir moͤgen nun dort
Unterricht und Belehrung, oder oͤkonomiſche
und politiſche Vortheile, oder blos Vergnuͤgen
ſuchen; ſo iſt es ſehr nothwendig, gewiſſe Ruͤck¬
ſichten nicht zu verachten. Im erſten Falle
nemlich wenn wir reiſen, um uns zu unterrich¬
ten, verſteht ſich's vor allen Dingen von ſelbſt,
daß wir wohl uͤberlegen, in welchem Lande wir
ſind, und ob man da ohne Gefuͤhl und Ver¬
druß von Allem reden und nach Allem fragen
duͤrfe. Es giebt leider auch in Teutſchland
Staaten, in welchen die Regierungen es nicht
gern ſehen, und es ſcharf ahnden, wenn gewiſſe
Werke der Finſterniß an das Tages-Licht gezo¬
gen werden. Da iſt Behutſamkeit noͤthig, ſo
wohl in Geſpraͤchen und Nachforſchungen, als
in der Wahl der Menſchen, mit denen man
ſichD 5[58] in Verbindung einlaͤſſt. Uebrigens muß ich
auch hier erinnern, daß ſehr wenig Reiſende
eigentlich Beruf haben, ſich um die innere Ver¬
faſſung fremder Laͤnder zu bekuͤmmern; allein
thoͤrichte Neugier, Vorwitz, unruhiger Thaͤtig¬
keitstrieb jagt jetzt haufenweiſe die Menſchen
hinaus, um in fremden Gaſthoͤfen, Poſthaͤu¬
ſern, Clubs und in den Schwitzcammern hypo¬
chondriſcher Gelehrten unſichere Anecdoten zu
einem Werkgen zu ſammlen, indeß ſich daheim
noch unendlich viel fuͤr ſie zu wuͤrken und zu
lernen gefunden haben wuͤrde, wenn es ihnen
um ihr und Andrer Wohl ernſtlich zu thun
waͤre.


Daß dieſe Vorſicht verdoppelt werden
muͤſſe, ſobald man an einem fremden Orte
fuͤr ſich etwas zu ſuchen oder zu fordern hat,
verſteht ſich wohl von ſelbſt. Da alsdann
manches Auge auf uns gerichtet iſt; ſo muͤſſen
wir den Umgang mit Leuten vermeiden, die,
unzufrieden mit der Regierung, ſich ſo gern
den Fremden an den Hals werfen, weil ſie
unter ihren Mitbuͤrgern durch unkluge Auffuͤh¬
rung ſich einen boͤſen Namen gemacht, und
ſich auf dieſe Art den Weg verſperrt haben, buͤr¬
ger¬[59] gerliche Vortheile zu erlangen, die ſie aber zu
verachten ſcheinen, wie der Fuchs die Trauben.
Dieſe Art Leute ſucht ſich dann dadurch ein
bisgen zu heben, daß ſie mit den Reiſenden,
denen ſie ſich in den Gaſthoͤfen oder auf andre
Art aufdringen, durch die Gaſſen der Stadt
laufen, und dadurch Verbindungen in andern
Laͤndern muthmaßen laſſen. Ein Fremder,
der nur wenig Tage ſich an einem Orte aufhal¬
ten will, kann ohne Nachtheil mit dieſen meh¬
rentheils ſehr geſchwaͤtzigen und von luſtigen und
aͤrgerlichen Maͤhrchen aller Art vollgepropfter
Ciceroni's nach Gefallen herumrennen, und
kein vernuͤnftiger Mann wird ihm das verden¬
ken; Wer aber laͤnger in einer Stadt verwei¬
len, in den beſſern Cirkeln Zutritt haben, oder
gar ein Geſchaͤft zu Stande bringen will, dem
rathe ich, in der Auswahl ſeines Umgangs auch
die Stimme des Publicums zu reſpectiren.

16.

Auf dieſe Bemerkungen muß ich noch ei¬
nige allemeine Regeln uͤber Geſpraͤche und Um¬
gang mit den Menſchen uͤberhaupt folgen laſ¬
ſen. Vor allen Dingen vergeſſe man nie, daß
die[60] die Leute unterhalten, amuͤſirt ſeyn wollen;
daß ſelbſt der unterrichtendſte Umgang ihnen
in der Laͤnge ermuͤdend vorkoͤmmt, wenn er
nicht zuweilen durch Witz und gute Laune ge¬
wuͤrzt wird; daß ferner nichts in der Welt ih¬
nen ſo witzreich, ſo weiſe und ſo ergoͤtzend ſcheint,
als wenn man ſie lobt, ihnen etwas Schmei¬
chelhaftes ſagt; daß es aber unter der Wuͤrde
eines klugen Mannes iſt, den Spaßmacher, und
eines redlichen Mannes unwerth, den niedri¬
gen Schmeichler zu machen. Allein es giebt
einen gewiſſen Mittelweg, dieſen rathe ich ein¬
zuſchlagen, und da jeder Menſch doch wenig¬
ſtens Eine gute Seite hat, die man loben darf,
und dies Lob, wenn es nicht uͤbertrieben wird,
aus dem: Munde eines verſtaͤndigen Mannes,
Sporn zu groͤßerer Vervollkommung werden
kann; ſo iſt das Wink genug fuͤr Den, der mich
verſtehn will.


Zeige, ſo viel du kannſt, eine immer glei¬
che, heitere Stirne! Nichts iſt reizender und
liebenswuͤrdiger, als eine gewiſſe frohe, mun¬
tre Gemuͤthsart, die aus der Quelle eines
ſchuldloſen, nicht von heftigen Leidenſchaften
in Tumult geſetzten Herzens hervorſtroͤmt.
Wer[61] Wer immer nach Witz haſcht, wem man es
anſieht, daß er darauf ſtudiert hat, die Ge¬
ſellſchaft zu unterhalten, der gefaͤllt nur auf
kurze Zeit, und wird bey Wenigen Intereſſe
erwecken; Er wird nicht aufgeſucht werden von
Denen, deren Herz ſich nach beſſern Umgange,
und deren Kopf ſich nach ſocratiſcher Unterhal¬
tung ſehnt.


Wer immer Spaß machen will, der er¬
ſchoͤpft ſich nicht nur leicht und wird matt, ſon¬
dern hat auch die Unannehmlichkeit, daß, wenn
er einmal grade nicht aufgelegt iſt, ſeinen Vor¬
rath von luſtigen Kleinigkeiten zu oͤfnen, ſeine
Gefaͤhrten das ſehr ungnaͤdig aufnehmen. Bey
jeder Mahlzeit, zu welcher er gebeten wird,
bey jeder Aufmerkſamkeit, die man ihm bewei¬
ſet, ſcheint die Bedingung ſchwer auf ihm zu
liegen, daß er dieſe Ehre durch ſeine Schwaͤnke
zu verdienen ſuchen ſolle; und will er es ein¬
mal wagen, den Ton zu erheben und etwas
Ernſthaftes zu ſagen; ſo lacht man ihm grade
in das Geſicht, ehe er mit ſeiner Rede halb zu
Ende iſt. Wahrer Humor und aͤchter Witz laſ¬
ſen ſich nicht erzwingen, nicht erkuͤnſteln, aber ſie
wuͤrken, wie das Umſchweben eines hoͤhern
Ge¬[62] Genius, wonnevoll, erwaͤrmend, Ehrfurcht
erregend.

17.

Gehe von niemand und laß niemand von
Dir, ohne ihm etwas Lehrreiches, oder etwas
Verbindliches geſagt und mit auf den Weg
gegeben zu haben; aber beydes auf eine Art,
die ihm wohlthue, ſeine Beſcheidenheit nicht
empoͤre und nicht ſtudiert ſcheine, daß er die
Stunde nicht verlohren zu haben glaube, die
er bey Dir zugebracht hat, und daß er fuͤhle,
Du nehmeſt Intereſſe an ſeiner Perſon, es
gehe Dir von Herzen, Du verkaufeſt nicht
blos Deine Hoͤflichkeits-Waare ohne Unter¬
ſchied jedem Voruͤbergehenden.

18.

Das Nemliche gilt von Briefen. Brief¬
wechſel iſt ſchriftlicher Umgang; Faſt alles,
was ich vom perſoͤnlichen Umgange mit Men¬
ſchen ſage, leidet Anwendung auf den Brief¬
wechſel. Nimm Dir alſo auch vor, nie irgend
einen ganz leeren Brief zu ſchreiben, in wel¬
chem nicht wenigſtens etwas ſtuͤnde, ſo dem,
an[63] an welchen er gerichtet iſt, Nutzen oder reine
Freude gewaͤhren koͤnnte! Vorſichtigkeit iſt im
Schreiben noch weit dringender als im Reden
zu empfehlen, und eben ſo wichtig iſt es, mit
den Briefen, welche man erhaͤlt, behutſam
umzugehn. Man ſollte es kaum glauben, was
fuͤr Verdruß, Zwiſt und Mißverſtaͤndniß durch
Verſaͤumung dieſer Klugheits-Regel entſte¬
hen koͤnne. Ein einziges hingeſchriebenes, un¬
ausloͤſchliches Wort, ein einziges aus Unacht¬
ſamkeit liegen gebliebenes Papier hat manches
Menſchen Ruhe und oft auf immer den Frie¬
den einer Familie zerſtoͤrt.

19.

Wem es darum zu thun iſt, dauerhafte
Achtung ſich zu erwerben; wem daran liegt,
daß ſeine Unterhaltung niemand anſtoͤßig, Kei¬
nem zur Laſt werden; der wuͤrze nicht ohne
Unterlaß ſeine Geſpraͤche mit Laͤſterungen,
Spott, Mediſance und gewoͤhne ſich nicht an
den ausziſchenden Ton von Perſifflage! Das
kann wohl einigemal, und bey einer gewiſſen
Claſſe von Menſchen auch oͤfter gefallen; aber
man flieht und verachtet doch in der Folge den
Mann,[64] Mann, der immer auf andrer Leute Koſten
oder auf Koſten der Wahrheit die Geſellſchaft
vergnuͤgen will, und man hat Recht dazu,
denn der gefuͤhlvolle, verſtaͤndige Menſch muß
Nachſicht haben mit den Schwaͤchen Andrer;
Er weiß, welchen großen Schaden oft ein ein¬
ziges, wenngleich nicht boͤſe gemeintes Woͤrt¬
gen anrichten kann, auch ſehnt er ſich nach
gruͤndlicherer und nuͤtzlicherer Unterhaltung;
ihn ekelt vor leerer Perſifflage. Gar zu leicht
aber gewoͤhnt man ſich in der ſogenannten
großen Welt dieſen elenden Ton an; Man
kann nicht genug davor warnen.


Uebrigens aber moͤgte ich auch nicht gern
alle Satyre fuͤr unerlaubt erklaͤren, noch leug¬
nen, daß manche Thorheiten und Unzweck¬
maͤßigkeiten, im weniger vertraueten Um¬
gange
, am beſten durch eine feine, nicht be¬
leidigende, nicht zu deutlich auf einzelne Per¬
ſonen anſpielende Perſifflage bekaͤmpft werden
koͤnnen. Endlich bin ich auch weit entfernt,
zu fordern, man ſolle alles loben und alle offen¬
bahre Fehler entſchuldigen, vielmehr habe ich
nie den Leuten getrauet, die ſo merklich affecti¬
ren, alles mit dem Mantel der chriſtlichen Liebe
be¬[65] bedecken zu wollen. Sie ſind mehrentheils
Heuchler, wollen durch das Gute, das ſie von
den Leuten reden, das Boͤſe vergeſſen nach¬
her, ſo ſie ihnen zufuͤgen, oder ſie ſuchen da¬
durch zu erlangen, daß man eben ſo nachſichtig
gegen ihre Gebrechen ſey.

20.

Rede nicht zu viel! Sey haushaͤlteriſch
mit Spendung von Worten und Kenntniſſen,
damit es Dir nicht fruͤh an Stoffe fehle, damit
Du nicht redeſt, was Du verſchweigen ſollſt, ver¬
ſchweigen willſt, und damit man Deiner nicht
ſatt werde! Laß auch Andre zu Worte kommen,
ihr Theil mit hergeben zur allgemeinen Unter¬
haltung! Es giebt Leute, die, ohne es ſelbſt
zu merken, aller Orten die Sprachfuͤhrer ſind;
Und waͤren ſie in einem Cirkel von funfzig Per¬
ſonen; ſo wuͤrden ſie ſich dennoch bald Meiſter
von der ganzen Converſation machen.

21.

Dies wird noch unertraͤglicher, wenn Sol¬
che immer nur ihre eigene Perſon, ihre haͤus¬
lichen Umſtaͤnde, ihre Verhaͤltniſſe, ihre Tha¬
Eten[66] ten und ihre Berufs-Geſchaͤfte zum Gegen¬
ſtande ihrer Unterredung machen, und alles
dahin zu drehen wiſſen, jedes Gleichniß, jedes
Bild von daher nehmen. So wenig als moͤg¬
lich uͤbertrage in gemiſchte Geſellſchaften den
Schnitt, den Ton, den Dir deine ſpecielle Er¬
ziehung, Dein Handwerk, Deine beſondere
Lebensart geben! Rede nicht von Dingen, die
auſſer Dir ſchwerlich jemand intereſſieren koͤn¬
nen! Spiele nicht auf Annecdoten an, die
Deinem Nachbar unbekannt ſind, auf Stel¬
len aus Buͤchern, die er wahrſcheinlich nicht
geleſen hat! Rede nicht in einer fremden Spra¬
che, wenn es glaublich iſt, daß nicht jeder, der
um Dich iſt, dieſelbe verſteht! Lerne den Ton
der Geſellſchaft annehmen, in welcher Du Dich
befindeſt! Nichts kann abgeſchmackter ſeyn,
als wenn der Arzt einige junge Damen mit
Beſchreibung ſeiner Sammlung anatomiſcher
Praͤparaten, der Rechtsgelehrte einen Hofmann
uͤber die unwuͤrkſame Poſſeſſions-Ergrei¬
fung und das edictum Diui Martii, der alte
gebrechliche Gelehrte eine junge Cokette von
ſeinem ofnen Beinſchaden unterhaͤlt.


Oft[67]

Oft aber tritt der Fall ein, daß man in
Geſellſchaften geraͤth, wo es ſchwer iſt, etwas
vorzubringen, das Intereſſe erweckte. Wenn
ein verſtaͤndiger Mann von leeren, elenden
Menſchen umgeben iſt; die fuͤr gar nichts von
beſſerer Art Sinn haben, ey nun! ſo iſt es
ſeine Schuld nicht, wenn er nicht verſtanden
wird. Er troͤſte ſich alſo damit, daß er von
Dingen geredet hat, die billig intereſſieren
muͤſſten.

22.

Gegenwart des Geiſtes iſt ein ſeltenes
Geſchenk des Himmels, und macht, daß wir
im Umgange in ſehr vortheilhaftem Lichte er¬
ſcheinen. Dieſer Vorzug nun laͤſſt ſich freylich
nicht durch Kunſt erlangen; allein man kann
an ſich arbeiten, daß, wenn er uns fehlt, wir
wenigſtens nicht durch Uebereilung uns und
Andre in Verlegenheit ſetzen. Sehr lebhafte
Temperamente haben hierauf vorzuͤglich zu ach¬
ten. Ich rathe daher, wenn eine unerwartete
Frage, ein ungewoͤhnlicher Gegenſtand, oder
irgend etwas anders uns uͤberraſcht, nur eine
Minute ſtill zu ſchweigen und der Ueberlegung
E 2Zeit[68] Zeit zu laſſen, uns zu der Partey vorzubereiten,
die wir nehmen ſollen. So wie ein einziges
raſches, unvorſichtiges Wort, oder ein in der
Verwirrung unternommener Schritt zu ſpaͤte
Reue und ungluͤckliche Folgen wuͤrken koͤnnen;
ſo kann ein ſchnell auf der Stelle gefaſſter und
ausgefuͤhrter raſcher Entſchluß, in entſcheiden¬
den Augenblicken, in welchen man ſo leicht den
Kopf verliehrt, Gluͤck, Rettung, Troſt brin¬
gen.

23.

Ein großes Talent, und das durch Studi¬
um und Achtſamkeit erlangt werden kann, iſt
die Kunſt ſich beſtimmt, fein, richtig, coͤrnicht,
nicht weitſchweifig auszudruͤcken, lebhaft im
Vortrage zu ſeyn, ſich dabey nach den Faͤhig¬
keiten der Menſchen zu richten, mit denen man
redet, ſie nicht zu ermuͤden, gut und launicht
zu erzaͤhlen, nicht uͤber ſeine eigenen Einfaͤlle
zu lachen, nach den Umſtaͤnden trocken oder
luſtig, ernſthaft oder comiſch ſeinen Gegenſtand
darzuſtellen und mit natuͤrlichen Farben zu ma¬
len. Dabey ſoll man ſein Aeuſſeres ſtudieren,
ein Geſicht in ſeiner Gewalt haben, nicht gri¬
macie¬[69] macieren, und wenn wir wiſſen, daß gewiſſe
Mienen, zum Beyſpiel beym Lachen, unſrer
Bildung ein wiederwaͤrtiges Anſehn geben,
dieſe zu vermeiden ſuchen. Der Anſtand und
die Gebehrdenſprache ſollen edel ſeyn; Man
ſoll nicht bey unbedeutenden, affectloſen Un¬
terredungen, wie Perſonen aus der [niedrigſten]
Volksclaſſe, mit Kopf, Armen und andern
Gliedern herumfahren, und umſichſchlagen;
man ſoll den Leuten grade, aber beſcheiden und
ſanft in’s Geſicht ſehn, ſie nicht bey Ermeln,
Knoͤpfen und dergleichen zupfen, oder immer
etwas zu ſpielen zwiſchen den Fingern haben.
Kurz! alles, was eine feine Erziehung, was
Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt und auf Andre
verraͤth, das gehoͤrt nothwendig dazu, den Um¬
gang angenehm zu machen, und es iſt wichtig,
ſich in ſolchen Dingen nicht nachzuſehn, ſon¬
dern jede: kleine Regel des Wohlſtandes, ſelbſt
in dem Cirkel ſeiner Familie, zu beobachten,
um ſich das zur andern Natur zu machen, wo¬
gegen wir ſo oft fehlen, und was uns Zwang
ſcheint, wenn wir uns Nachlaͤſſigkeiten in der
Art zu verzeyhn gewohnt ſind. Hieruͤber in
dieſen Blaͤttern viel mehr zu ſagen, zu lehren:
E 3war[70] warum man den Leuten nicht in die Rede fal¬
len duͤrfe; daß wir einen Teller, oder was uns
dargereicht wird, auch dann abnehmen muͤſſen,
wenn wir nichts davon behalten wollen, damit
der Andre nicht die Muͤhe habe, es unſertwe¬
gen in der Hand zu tragen; daß man ſo we¬
nig als moͤglich in einer Geſellſchaft den Leu¬
ten den Ruͤcken zukehren, in Titeln und Na¬
men nicht irre werden ſolle; daß man bey Per¬
ſonen, die das genau nehmen, den Vorneh¬
mern immer auf der rechten Seite, oder, wenn
Drey beyſammen ſind, in der Mitte gehn laſſe;
daß man, wenn man jemand etwas darreicht,
es, in ſo fern dies zu aͤndern ſteht, nicht mit der
bloßen Hand hingeben muͤſſe; daß es ſich nicht
ſchicke, in Geſellſchaften in das Ohr zu pfluͤ¬
ſtern, bey Tafel krumm zu ſitzen, unanſtaͤn¬
dige Gebehrden zu machen, noch zu leiden, daß
ein Frauenzimmer, oder jemand der vorneh¬
mer iſt als wir, von einer Speiſe, die vor
uns ſteht, vorlege; und was dergleichen Re¬
geln mehr ſind zu geben, dazu iſt hier nicht der
Ort. Leuten von gewiſſem Stande und einer
nicht ganz gemeinen Erziehung iſt das in der
erſten Jugend ſchon eingepraͤgt worden; Nur
erin¬[71] erinnere ich, daß dieſe kleinen Dinge in man¬
cher Leute Augen keine kleine Dinge ſind, und
daß oft unſre zeitliche Wohlfart in ſolcher Leute
Haͤnden iſt.

24.

Daß ein redlicher und verſtaͤndiger Mann
uͤber weſentliche Religions-Lehren, auch dann,
wenn er das Ungluͤck haben ſollte, an der Wahr¬
heit derſelben zu zweifeln, ſich dennoch keinen
Spott erlauben wird; ich meine, das verſteht
ſich von ſelbſt; aber auch uͤber kirchliche Ver¬
faſſung, uͤber die Menſchenſatzungen, welche
in einigen Secten fuͤr Glaubenslehren gehalten
werden, uͤber Ceremonien, die Manche fuͤr
weſentiich halten, und dergleichen, ſoll man
ſich nie in Geſellſchaften aufhalten. Man re¬
ſpectire das, was Andern ehrwuͤrdig iſt! Man
laſſe Jedem die Freyheit in Meinungen, die
wir ſelbſt verlangen! Man vergeſſe nicht, daß
was wir Aufklaͤrung nennen, Andern vielleicht
Verfinſterung ſcheint! Man ſchone die Vor¬
urtheile, die Andern Ruhe gewaͤhren! Man
beraube niemand, ohne ihm etwas Beſſeres
an die Stelle deſſen zu geben, was man ihm
nimt!E 4[72] nimt! Man vergeſſe nicht, daß Spott nicht beſ¬
ſert; daß unſre hier auf Erden noch nicht ent¬
wickelte Vernunft uͤber ſo wichtige Gegenſtaͤnde
leicht irren kann; daß ein mangelhaftes Sy¬
ſtem, auf welchem aber der Grund einer guten
Moral liegt, nicht ſo leicht umzureiſſen iſt,
ohne zugleich das Gebaͤude ſelbſt uͤber den Hau¬
fen zu werfen, und endlich, daß ſolche Gegen¬
ſtaͤnde uͤberhaupt gar nicht von der Art ſind,
daß man ſie in Geſellſchaften abhandeln koͤnne.

Doch duͤnkt mich, man vermeidet heut zu
Tage oft zu vorſetzlich alle Gelegenheit uͤber
Religion zu reden. Einige Leute ſchaͤmen ſich,
Waͤrme fuͤr Gottes-Verehrung zu zeigen, aus
Furcht, fuͤr nicht aufgeklaͤrt genug gehalten zu
werden, und Andre affectiren religioſe Em¬
pfindungen, ſcheuen ſich, auch nur im minde¬
ſten gegen Schwaͤrmerey zu reden, um ſich
bey den Andaͤchtlern in Gunſt zu ſetzen. Er¬
ſteres iſt Menſchenfurcht und Letzteres Heuche¬
ley; beydes aber eines redlichen Mannes gleich
unwerth.

25.

Wenn Du von coͤrperlichen, geiſtigen, mo¬
raliſchen oder andern Gebrechen redeſt, oder
An¬[73] Annecdoten erzaͤhlſt, die gewiſſe Grundſaͤtze
oder Vorurtheile laͤcherlich machen, oder gewiſſe
Staͤnde in ein nachtheiliges Licht ſetzen ſollen;
ſo ſiehe Dich vorher wohl um, ob niemand ge¬
genwaͤrtig ſey, der das uͤbel aufnehmen, die¬
ſen Tadel oder Spott auf ſich oder ſeine Ver¬
wandten ziehn koͤnnte!


Halte Dich uͤber niemands Geſtalt, Wuchs
und Bildung auf! Es ſteht in keines Men¬
ſchen Gewalt, dieſe zu aͤndern. Nichts iſt
kraͤnkender, niederſchlagender und empoͤhren¬
der fuͤr den Mann, der ungluͤcklicherweiſe eine
etwas auffallende [Geſichtsbildung] oder Figur
hat, als wenn er bemerkt, daß dieſe der Ge¬
genſtand der Verſpottung oder Befremdung
wird. Leuten, die ein wenig mit der großen
Welt bekannt ſind, und unter Menſchen von
allerley Formen und Anſehn gelebt haben, ſollte
man daruͤber billig gar nichts mehr erinnern
duͤrfen; aber leider! trifft man hie und da,
ſelbſt unter fuͤrſtlichen Perſonen, beſonders
unter Damen, ſolche an, die ſo wenig Gewalt
uͤber ſich, oder ſo wenig Begriffe von Wohlan¬
ſtaͤndigkeit und Billigkeit haben, daß ſie die
Eindruͤcke, welche ein ungewoͤhnlicher Anblick
vonE 5[74] von der Art auf ſie macht, nicht verbergen
koͤnnen. — Das iſt ſchwach, und wenn man
noch dabey uͤberlegt, wie relativ und dem ver¬
ſchiedenen Geſchmacke unterworfen die Be¬
griffe von Schoͤnheit und Haͤßlichkeit ſind, wie
ſo wenig auf ſichre Grundſaͤtze beruhend un¬
ſre phyſiognomiſche Wiſſenſchaft iſt, und wie
oft unter einer anſcheinend haͤßlichen Larve ein
ſchoͤnes, edles, warmes, großes Herz mit ei¬
nem feinen, tiefdenkenden Kopfe ſteckt; ſo ſieht
man leicht, daß man ſehr ſelten Recht, auf
das aͤuſſere Anſehn eines Menſchen nachthei¬
lige Folgerungen zu bauen, und nie Befug¬
niß haben kann, die Eindruͤcke, welche ein ſol¬
cher Anblick etwa auf uns macht, zu jemandes
Kraͤnkung durch Lachen oder auf andre Art kund,
werden zu laſſen.


Auſſer einer ſonderbaren Figur koͤnnen
uns aber noch andre Dinge an einem Men¬
ſchen auffallend ſeyn, zum Beyſpiel laͤcherliche,
phantaſtiſche, abgeſchmackte Gebehrden, Ma¬
nieren, Verzerrungen des Coͤrpers, Unbekannt¬
ſchaft mit gewiſſen Sitten, Unvorſichtigkeiten
im Betragen, ungewoͤhnlicher, altmodiſcher
Anzug. Es gehoͤrt nicht weniger zu einer gu¬
ten[75] ten Lebensart, hieruͤber nicht durch Lachen
oder durch Zeichen, die man einem der Anwe¬
ſenden giebt, ſein Befremden zu erkennen zu
geben, und dadurch den armen Mann, der
ſich dergleichen zu Schulden kommen laͤſſt, noch
mehr in Verlegenheit zu ſetzen.

26.

Suche keinen Menſchen, auch die Schwaͤch¬
ſten nicht, in Geſellſchaften laͤcherlich zu ma¬
chen! Iſt er ſehr dumm; ſo haſt Du wenig
Ehre von dem Witze, den Du an ihm ver¬
ſchwendeſt; Iſt er es weniger, als du glaubſt;
ſo kannſt Du vielleicht der Gegenſtand ſeines
Spottes werden; Iſt er gutmuͤthig und ge¬
fuͤhlvoll; ſo kraͤnkeſt Du ihn, und iſt er tuͤckiſch
und rachſuͤchtig; ſo kann er Dir's vielleicht
auf eine Rechnung ſetzen, die Du fruͤh oder
ſpaͤt auf irgend eine Art bezahlen mußt. —
Und wie oft kann man nicht, wenn das Publi¬
cum auf unſre Urtheile uͤber Menſchen achtet,
einem guten Manne im buͤrgerlichen Leben
wahrhaften Schaden zufuͤgen, oder einen
Schwachen ſo niederdruͤcken, daß aller Ehrgeiz
in ihm erloͤſcht und alle Keime zu beſſern An¬
lagen[76] lagen erſtickt werden, indem man ihn, durch
Hervorziehn ſeiner uns laͤcherlich ſcheinenden
Seiten, der Verachtung preisgiebt!

27.

Schrecke, zerre und necke auch niemand,
ſelbſt Deine Freunde nicht, mit falſchen Nach¬
richten, mit Witzeleyen, oder was ſonſt auf
einen Augenblick beunruhigen, in Verlegenheit
ſetzt! Es giebt der wahrhaftig misvergnuͤgten,
unangenehmen, aͤngſtlichen Augenblicke ſo viele
in der Welt, daß es wohl bruͤderliche Pflicht
iſt, alles hinwegzuraͤumen, was die Laſt der
wuͤrklichen und eingebildeten Plagen auch nur
um ein Sandkoͤrnchen erſchweren kann.

28.

Man huͤte ſich, bey Perſonen, mit denen
man umgeht, ohnberufen unangenehme Dinge
in Erinnerung zu bringen! Oft bewegt eine
Art von unkluger Theilnehmung die Leute,
uns um die Beſchaffenheit unſrer oͤkonomiſchen
und andrer verdrießlichen Sachen zu befragen,
obgleich ſie uns nicht helfen koͤnnen, und zwin¬
gen ſie uns dadurch, Gegenſtaͤnde, die wir in Ge¬
ſell¬[77] ſellſchaften, wo wir uns aufzuheitern dachten,
ſo gern vergeſſen moͤgten, ohne Unterlaß vor
Augen zu behalten. Man muß ſo viel Men,
ſchenkenntniß ſehen, zu unterſcheiden, ob der
Mann, den wir vor uns ſehen, ſeinem Tem¬
peramente, ſeiner Lage und der Art ſeines Kum¬
mers nach, durch ſolche Geſpraͤche erleichtert
werden kann, oder ob nicht vielmehr ſein Lei¬
den dadurch doppelt erſchwert wird.

29.

Oefters ſind wir in dem Falle, daß uns
durch Geſpraͤche Langeweile gemacht wird.
Vernunft, Vorſichtigkeit und Menſchenliebe
gebiethen uns dann, wenn nun einmal nicht
auszuweichen iſt, Geduld zu faſſen, und nicht
durch beleidigendes Betragen unſern Ueberdruß
zu erkennen zu geben. Man kann ja, je ſeelen¬
loſer das Geſpraͤch und je geſchwaͤtziger der Mann
iſt, um deſto freyer nebenher an andre Dinge
denken; Und waͤre auch das nicht — ey nun!
es geht im menſchlichen Leben ſo manche ver¬
traͤumte Stunde verlohren! Iſt man denn nicht
einige Aufopferung der Geſellſchaft ſchuldig,
mit welcher man umgeht? — Und geſchieht es
nicht[78] nicht vielleicht zuweilen, daß auch wir dagegen,
ſo groß auch die Meynung ſeyn mag, die wir
von der Wichtigkeit unſrer Geſpraͤche haben, den¬
noch durch unſre Redſeligkeit Andern Langeweile
machen?

30.

Gewiſſen Leuten iſt eine Leichtigkeit im
Umgange und die Gabe geſchwind Bekanntſchaf¬
ten zu machen und Zuneigung zu gewinnen,
wie angebohren; Andern hingegen haͤngt von
Jugend auf eine gewiſſe Bloͤdigkeit und Schuͤch¬
ternheit an, die ſie nicht abzulegen vermoͤgen,
wenn gleich ſie taͤglich fremde Leute aller Orten
um ſich ſehen. Dieſe Bloͤdigkeit nun iſt frey¬
lich ſehr oft die Folge einer fehlerhaften Erzie¬
hung, ſo wie auch zuweilen die Wuͤrkung einer
heimlichen Eitelkeit, die in Verlegenheit ge¬
raͤth, aus Furcht, nicht genug zu glaͤnzen. Man¬
chen Menſchen aber ſcheint dieſe Schuͤchternheit
gegen ganz fremde Leute wuͤrklich von Natur ei¬
gen zu ſeyn, und alle Muͤhe, welche ſie ſich da¬
gegen geben, iſt verlohren. Ein regierender
Fuͤrſt, einer der edelſten und verſtaͤndigſten Maͤn¬
ner, die ich kenne, und der auch wahrlich ſeines
Aeuſſern[79] Aeuſſern wegen ſich nicht zu ſchaͤmen, noch zu
fuͤrchten braucht, nachtheilige Eindruͤcke zu ma¬
chen, hat mich verſichert, daß, obgleich ihn ſein
Stand von Kindheit an in die Lage geſetzt habe,
taͤglich große Cirkel und viel fremde Geſichter zu
ſehn, er dennoch an keinem Tage in ſein Vor¬
zimmer trete, wo der verſammlete Hof Seiner
wartete, ohne vor Verlegenheit auf einen Au¬
genblick ganz blind zu werden. Uebrigens faͤllt
bey dieſem liebenswuͤrdigen Herrn, ſobald er ſich
ein wenig erholt hat, dieſe Schuͤchternheit weg,
und dann redet er freundlich und offen mit jeder¬
mann, und ſagt beſſere Dinge, als gewoͤhnlich
Fuͤrſten bey ſolchen Gelegenheiten uͤber Wetter,
boͤſe Wege, Pferde und Hunde zu ſagen wiſſen.


Eine gewiſſe Leichtigkeit im Umgange alſo,
die Gabe ſich gleich bey der erſten Bekanntſchaft
vortheilhaft darzuſtellen, mit Menſchen aller Art
zwanglos ſich in Geſpraͤchen einzulaſſen und bald
zu merken, wen man vor ſich hat, und was man
mit Jedem reden koͤnne und muͤſſe; das ſind Ei¬
genſchaften, die man zu erwerben und auszubauen
trachten ſoll. Doch wuͤnſche ich, daß dies nie
in jene den Aventuriers ſo eigene Unverſchaͤmt¬
heit[80] heit und Zudringlichkeit ausarte; die oft in we¬
niger als einer Stunde Friſt einer ganzen, frem¬
den Tiſchgeſellſchaft im Wirthshauſe ihre Lebens¬
laͤufe abgefragt, und dagegen den ihrigen erzaͤhlt,
Dienſte und Freundſchaft angebothen, und
Dienſte, Verwendung und Huͤlfe fuͤr ſich erbe¬
then haben.

31.

Alle dieſe allgemeinen Regeln nun, und
viel mehrere noch, die ich, um mein Werk nicht
uͤber Gebuͤhr auszudehnen, der eigenen Einſicht
der Leſer uͤberlaſſe, zielen dahin, den Umgang
leicht, angenehm zu machen, und das geſellige
Leben zu erleichtern. Es kann aber Mancher
ſeine beſondern Gruͤnde haben, warum er ſich
uͤber einige derſelben hinausſetzen will, und da iſt
es denn freylich ſehr billig, Jedem zu erlauben;
auf ſeine eigene Art ſeine Ruhe zu befoͤrdern.
Dringen wir niemand unſre Specifica auf! Wer
weder Gunſt der Großen ſucht, noch allgemei¬
nes Lob, glaͤnzenden Ruhm und Beyfall verlangt;
Wer, ſeiner politiſchen und oͤkonomiſchen Lage
oder andrer Ruͤckſichten wegen, nicht Urſache
hat, den Cirkel ſeiner Bekanntſchaft zu erwei¬
tern;[81] tern; Wer Alters oder Schwaͤchlichkeits halber
den menſchlichen Umgang fliehet; der bedarf
keiner Regeln des Umgangs. Wir ſollen daher
ſo billig ſeyn, von niemand zu fordern, daß er
ſich nach unſern Sitten richte, ſondern jedermann
ſeinen Gang gehn laſſen; denn da jedes Men¬
ſchen Gluͤckſeligkeit in ſeinen Begriffen von
Gluͤckſeligkeit beruht; ſo iſt es grauſam, irgend
Einen zwingen zu wollen, wider ſeinen Willen
gluͤcklich zu ſeyn. Es iſt oft luſtig anzuſehn,
wie ein Haufen leerer Koͤpfe ſich uͤber einen ſehr
verſtaͤndigen Mann aufhaͤlt, der grade keinen
Beruf fuͤhlt, oder nicht aufgelegt iſt, den Ton
ihrer Geſellſchaft anzunehmen, ſondern mit ſei¬
ner abgeſonderten Exiſtenz ſehr wohl zufrieden,
ſeine theure Zeit nicht jedem Narren preisgeben
will. Wenn wir nicht grade Sclaven der Ge¬
ſellſchaft ſeyn wollen; ſo nehmen das die muͤßigen
Leute, die nichts beſſers zu thun wiſſen, als aus
dem Bette vor den Spiegel, von da an Tafel,
von da an den Spieltiſch, von da wieder an Ta¬
fel und von da endlich in das Bette zu wandern,
ſehr uͤbel, daß wir nicht wie ſie leben, der Geſel¬
ligkeit nicht hoͤhere Pflichten aufopfern wollen —
das iſt eine Unart, deren man ſich enthalten ſoll.
FEs[82] Es heiſſt nicht ſich abſondern, wenn man zu
Hauſe bleibt, um zu thun, was man thun ſoll,
wovon man Rechenſchaft geben muß.

32.

Vor allen Dingen aber handle nur ſtets
konſequent! Mache Dir einen Lebensplan, und
weiche nicht um ein Tuͤttelchen von dieſem Plane
ab! Haͤtte dieſer Plan auch allerley Sonderbar¬
keiten — Die Menſchen werden eine Zeitlang
die Koͤpfe daruͤber zuſammenſtecken, und am
Ende ſchweigen. Dich in Ruhe laſſen, und
Dir ihre Hochachtung nicht verſagen koͤnnen.
Man gewinnt uͤberhaupt immer durch Ausdauern
und planmaͤßige, weiſe Feſtigkeit. Es iſt mit
Grundſaͤtzen wie mit jeden andern Stoffen, wor¬
aus etwas gemacht wird, nemlich daß der beſte
Beweis fuͤr ihre Guͤte der iſt, wenn ſie lange
halten, und in der That, wenn man recht genau
den Gruͤnden nachſpuͤren will, warum auch den
edelſten Handlungen mancher Menſchen nicht
Gerechtigkeit widerfaͤhrt; ſo wird man oft fin¬
den, daß das Publicum deswegen Verdacht ge¬
gen die Wahrheit und den Zweck dieſer Handlun¬
gen gefaſſt hat, weil ſie nicht in das Syſtem des
Man¬[83] Mannes, der ſie begeht, weil ſie nicht zu ſeinen
uͤbrigen Schritten zu paſſen ſcheinen.

33.

Was aber noch heiliger als jene Vorſchrift
iſt — Habe immer ein gutes Gewiſſen! Bey
keinem Deiner Schritte muͤſſe Dir Dein Herz
uͤber Abſicht und Mittel Vorwuͤrfe machen duͤrfen!
Gehe nie ſchiefe Wege, und baue dann ſicher auf
gute Folgen, auf Gottes Beyſtand und auf Men¬
ſchenhuͤlfe in der Noth! Und verfolgt Dich auch
wohl eine Zeitlang ein widriges Geſchick — o!
ſo wird doch die ſelige Ueberzeugung von der Un¬
ſchuld Deines Herzens, von der Redlichkeit Dei¬
ner Abſichten Dir ungewoͤhnliche Kraft und Hei¬
terkeit geben; Dein kummervolles Antlitz wird
im Umgange mehr, weit mehr Intereſſe erwecken,
als die Fratze des laͤchelnden, grinzenden, gluͤck¬
lich ſcheinenden Boͤſewichts.

34.

Eine der wichtigſten Tugenden im geſell¬
ſchaftlichen Leben, und die wuͤrklich taͤglich ſelte¬
ner wird, iſt die Verſchwiegenheit. Man iſt heut
zu Tage ſo aͤuſſerſt truͤgeriſch in Verſprechungen,
ja!F2[84] ja! in Betheuerungen und Schwuͤren, daß man
ohne Scheu ein unter dem Siegel des Still¬
ſchweigens uns anvertrauetes Geheimniß gewiſ¬
ſenloſerweiſe ausbreitet. Andre Menſchen, die
weniger pflichtvergeſſen, aber hoͤchſt leichtſinnig
ſind, koͤnnen ihrer Redſeligkeit keinen Zaum an¬
legen. Sie vergeſſen, daß man ſie gebethen hat,
zu ſchweigen, und ſo erzaͤhlen ſie, aus unverzeyh¬
licher Unvorſichtigkeit, die wichtigſten Geheim¬
niſſe ihrer Freunde an oͤffentlichen Wirthstafeln.
Oder, indem ſie Jedem, der ihnen in dem Drange
ſich zu entladen in den Wurf koͤmmt, fuͤr einen
treuen Freund anſehen, vertrauen ſie das, was
ſie doch nicht als ihr Eigenthum betrachten ſoll¬
ten, eben ſo leichtſinnigen Leuten an, als ſie ſelbſt
ſind. Solche Menſchen gehen denn auch nicht
weniger unklug mit ihren eigenen Heimlichkeiten,
Planen und Begebenheiten um, zerſtoͤhren dadurch
ſehr oft ihre zeitliche Gluͤckſeligkeit, und vernich¬
ten ihre Abſichten.


Welchen Nachtheil uͤberhaupt ſolche unvor¬
ſichtige Bewahrung fremder und eigener Geheim¬
niſſe gewaͤhrt, das bedarf wohl keiner weitlaͤufti¬
gen Auseinanderſetzung. Es giebt aber eine
Men¬[85] Menge andrer Dinge, die zwar nicht eigentlich
Geheimniſſe ſind, wovon uns aber die Vernunft
lehrt, daß es beſſer ſey, ſie zu verſchweigen, und
andre Dinge, deren Ausbreitung wenigſtens fuͤr
niemand lehrreich und unterhaltend ſeyn kann,
und wovon es doch moͤglich waͤre, daß ihre Ver¬
plauderung irgend jemand nachtheilig ſeyn
moͤgte — Ich empfehle alſo eine kluge Verſchwie¬
genheit, die jedoch nicht in laͤcherliche Myſterio¬
ſitaͤt ausarten muß, als eine ſehr wichtige Tugend
im Umgange.

35.

Und nun weiter, zu den beſondern Umgangs-
Regeln — doch vorher noch eine Erinnerung!
Wenn ich allein oder auch nur vorzuͤglich fuͤr Frauen¬
zimmer ſchriebe; ſo wuͤrde ich eine Menge der
ſchon gegebenen und noch folgenden Vorſchriften
theils gaͤnzlich uͤbergehn, theils modificieren,
theils andre an deren Stelle ſetzen muͤſſen, die
aber alsdann fuͤr Maͤnner weniger brauchbar waͤ¬
ren. Das iſt indeſſen nicht der Zweck meines
Buchs. Weiſe Frauenzimmer allein koͤnnen den
Perſonen ihres Geſchlechts die beſten Lehren
uͤber ihr Betragen im geſellſchaftlichen Leben er¬
theilen; das iſt eine Arbeit, die Maͤnnern nicht
gelin¬F 3[86] gelingen wuͤrde. Findet jedoch das ſchoͤne Ge¬
ſchlecht auch etwas fuͤr ſich Brauchbares in dieſen
Blaͤttern, ſo wird das meine Zufriedenheit uͤber
mein eigenes Werk ſehr vermehren. Uebrigens
haben Frauenzimmer in ihrem Umgange in der
That Ruͤckſichten zu nehmen, die bey uns gaͤnz¬
lich wegfallen. Sie haͤngen viel mehr vom aͤuſſern
Rufe ab, duͤrfen nicht ſo ſelbſtaͤndig handeln,
als Maͤnner, duͤrfen nicht ſo zuvorkommend ſeyn.
Man verzeyht ihnen von einer Seite weniger
Unvorſichtigkeiten, und von der andern mehr
Launen; Ihre Schritte werden fruͤher wichtig
fuͤr ſie, indeß dem Knaben und Juͤnglinge man¬
che Unvorſichtigkeit verziehen wird; Ihre Exi¬
ſtenz ſchraͤnkt ſich ein auf den haͤuslichen Cirkel,
da hingegen des Mannes Lage ihn eigentlich
feſter an den Staat, an die große buͤrgerliche
Geſellſchaft knuͤpft; deswegen giebt es Tugenden
und Laſter, Handlungen und Unterlaſſungen, die
bey einem Geſchlechte von ganz andern Folgen
ſind, als bey dem andern. — Doch uͤber dies al¬
les iſt den Damen ſchon ſo viel Gutes in andern
Buͤchern geſagt worden, daß jede weitere Ausfuͤh¬
rung dieſes Gegenſtandes hier am unrechten
Orte ſtehn wuͤrde.


Zwey¬[87]

Zweytes Capitel.


Von dem Umgange unter Menſchen von
verſchiedenem Alter.


1.

Der Umgang unter Menſchen von gleichen Jah¬
ren ſcheint freylich viel Vorzuͤge und Annehm¬
lichkeiten zu haben. Aehnlichkeit in Denkungs¬
art und wechſelſeitige Austauſchung ſolcher Ideen,
die gleich lebhaft die Aufmerkſamkeit erregen,
ketten die Menſchen aneinander. Jedem Alter
ſind gewiſſe Neigungen und leidenſchaftliche
Triebe eigen. In der Folge der Zeit veraͤndert
ſich die Stimmung: Man ruͤckt nicht ſo fort mit
dem Geſchmacke und der Mode; Das Herz iſt
nicht mehr ſo warm, faſſt nicht mehr ſo leicht
Intereſſe an neuen Gegenſtaͤnden; Lebhaftigkeit
und Phantaſie werden herabgeſtimmt; Manche
gluͤckliche Taͤuſchungen ſind verſchwunden; Viel
Gegenſtaͤnde, die uns theuer waren, ſind um uns
her abgeſtorben, entwichen, unſern [Augen] ent¬
ruͤckt; Die Gefaͤhrten unſrer gluͤcklichen Jugend
ſind fern von uns, oder ſchlummern ſchon im
muͤtterlichen Schooße; Der Juͤngling hoͤrt die
F4Erzaͤh¬[88] Erzaͤhlungen von den Freuden unſrer ſchoͤnſten
Jahre nur aus Gefaͤlligkeit ohne Jaͤhnen an.
Gleiche Erfahrungen geben reichhaltigern Stoff
zur Unterhaltung, als wenn das, was ein Menſch
erlebt hat, dem andern ganz fremd iſt — Das
alles leidet keinen Widerſpruch; Doch ruͤckt
Verſchiedenheit der Temperamente, der Erzie¬
hung, der Lebensart und der Erfahrungen dieſe
Grenzlinien oft vor und zuruͤck. Viel Menſchen
bleiben in gewiſſem Betrachte ewig Kinder, in¬
deß Andre vor der Zeit Greiſe werden. Der
an Leib und Seele abgenutzte Juͤngling, der alle
Welt-Luͤſte bis zum Eckel geſchmeckt hat, findet
freylich wenig Genuß im Cirkel junger unſchul¬
diger Landleute, die noch Sinn fuͤr einfache
Freuden haben, und der alte Biedermann, der
nicht weiter als hoͤchſtens in einem Umkreiſe von
fuͤnf Meilen ſich von ſeiner Heimath entfernt hat,
iſt unter einem Haufen erfahrner und belebter Reſi¬
denz-Bewohner, mit ihm von gleichem Alter, eben
ſo wenig an ſeinem Platze, als ein betagter Ca¬
puziner in einer Geſellſchaft von alten Gelehrten.
Dagegen aber binden auch manche Neigungen,
zum Beyſpiel die noblen Paſſionen der Jagd,
des Spiels und des Trunks vielfaͤltig Greiſe,
Juͤng[89] Juͤnglinge und alte Weiber recht herzlich und ar¬
tig an einander. Dieſe Ausnahme von jener
allgemeinen Bemerkung, von der Bemerkung,
daß der Umgang unter Leuten von gleichen Jah¬
ren viel Vorzuͤge hat, kann indeſſen die Vorſchrif¬
ten nicht unkraͤftig machen, die ich jetzt uͤber das
Betragen der Menſchen von verſchiedenem Alter
gegen einander geben werde; Nur muß ich noch
Eine Anmerkung hinzufuͤgen. Es iſt nicht gut,
wenn eine zu beſtimmte Abſonderung unter Per¬
ſonen von verſchiedenem Alter Statt findet, wie
zum Beyſpiel in Bern, wo faſt jedes Stufen¬
jahr ſeine eigenen angewieſenen geſellſchaftlichen
Cirkel hat, ſo daß, wer vierzig Jahre alt iſt, an¬
ſtaͤndiger Weiſe nicht mit einem Juͤnglinge von
fuͤnf und zwanzig Jahren umgehn kann. Die
Nachtheile eines ſolchen conventionellen Geſetzes
ſind wohl nicht ſchwer einzuſehn. Der Ton, den
die Jugend annimmt, wenn ſie immer ſich ſelbſt
uͤberlaſſen iſt; pflegt nicht der ſittlichſte zu ſeyn;
manche gute Einwuͤrkung wird verhindert, und
alte Leute beſtaͤrken ſich in Egoismus, Mangel
an Duldung, an Toleranz, und werden muͤrriſche
Hausvaͤter, wenn ſie keine andre als ſolche Men¬
ſchen um ſich ſehen, die mit ihnen gemeinſchaft¬
F5liche[90] liche Sache machen, ſobald von Lobes-Erhebung
alter Zeiten und Herunterſetzung der gegen¬
waͤrtigen, deren Ton ſie nie kennen lernen, die
Rede iſt.

2.

Selten nehmen aͤltere Leute ſo billige Ruͤck¬
ſicht, daß ſie ſich in Gedanken an die Stelle juͤn¬
gerer Perſonen ſetzten, die Freuden derſelben
nicht ſtoͤhrten ſondern vielmehr zu befoͤrdern,
und durch Theilnahme lebhafter zu machen ſuch¬
ten. Sie denken ſich nicht in ihre eigenen Ju¬
gendjahre zuruͤck; Greiſe verlangen von Juͤng¬
lingen die nemliche ruhige, nuͤchterne, kalt¬
bluͤtige Ueberlegung, Abwaͤgung des Nuͤtzlichen
und Noͤthigen gegen das Entbehrliche, die nem¬
liche Geſetztheit, die ihnen Jahre, Erfahrung
und phyſiſche Herabſpannung gegeben haben.
Die Spiele der Jugend ſcheinen ihnen unbedeu¬
tend, die Scherze leichtfertig. Es iſt aber wahr¬
lich erſtaunlich ſchwer, ſich ſo ganz in die Lage zu¬
ruͤckzudenken in welcher wir vor zwanzig oder
dreyſſig Jahren waren, und bey dem beſten Wil¬
len entſtehen daraus manche unbillige Urtheile
und manche Uebereilungen bey Erziehung der
Ju¬[91] Jugend — O! laſſet uns doch lieber ſelbſt ſo lange
jung bleiben, als moͤglich iſt, und wenn der Win¬
ter unſers Lebens unſer Haar mit Schnee deckt,
und nun das Blut langſamer durch die Adern
rollt, das Herz nicht mehr ſo warm und laut im
Buſen pocht, doch mit theilnehmender Wonne
auf unſre juͤngern Bruͤder herabſehn, die noch
Fruͤhlings-Blumen pfluͤcken, wenn wir, dick ein¬
gehuͤllt, am haͤuslichen, vaͤterlichen Heerde Ruhe
ſuchen! Laſſet uns nicht durch plattes Raiſonne¬
ment die ſuͤßen Freuden der Phantaſie niederpre¬
digen! Wenn wir zuruͤckſchauen auf jene ſeligen
Tage, wo ein einziger Liebesblick des holden Maͤd¬
gens, das jetzt eine alte runzlichte Matrone iſt,
uns bis in den dritten Himmel entzuͤckte, wo bey
Muſic und Tanz jede Nerve in uns wiederhallte,
wo Scherz und Witz jeden truͤben Gedanken ver¬
jagten, wo ſuͤße Traͤume, Ahndungen und Hof¬
nungen unſre Exiſtenz froh machten — o! ſo laſſet
uns doch dieſe gluͤckliche Periode bey unſern Kin¬
dern zu verlaͤngern trachten, und ſoviel moͤglich
Theil nehmen an ihren Wonnegefuͤhlen! Mit
zaͤrtlicher Ehrerbietung draͤngen ſich dann Kind,
Knabe, Maͤdgen und Juͤngling um den freundli¬
chen alten Mann, der ſie zu unſchuldiger Froͤh¬
lich¬[92] lichkeit aufmuntert. Ich bin als Juͤngling mit
ſo liebenswuͤrdigen alten Damen umgegangen,
daß ich wahrlich, wenn ich die Wahl gehabt haͤtte,
an ihrer Seite lieber mein Leben hingebracht ha¬
ben wuͤrde, als bey manchen huͤbſchen, jungen
Maͤdgen; und wenn bey großen Tafeln mich als
einen jungen Menſchen die Reyhe traf, neben ei¬
ner dummen Schoͤnheit Platz zu nehmen; ſo habe
ich oft den Mann beneidet, dem ſein Rang ein
Recht gab, der Nachbar einer verſtaͤndigen, mun¬
tern alten Frau zu ſeyn.

3.

So ſchoͤn aber dieſe gutmuͤthige Herablaſ¬
ſung zu der Stimmung der Jugend iſt; ſo laͤcher¬
lich muß es uns vorkommen, wenn ein Greis ſo
ſehr Wuͤrde und Anſtand verleugnet, daß er in
Geſellſchaft den Stutzer oder den luſtigen Stu¬
denten ſpielt, wenn die Dame ihre vier Luſtra
vergiſſt, ſich wie ein junges Maͤdchen kleidet,
herausputzt, cockettirt, die alten Gliedmaßen
beym engliſchen Tanze durch einander wirft, oder
gar andern Generationen Eroberungen ſtreitig
machen will. Solche Scenen wuͤrken Verach¬
tung; Nie muͤſſen Perſonen von gewiſſen Jah¬
ren[93] ren Gelegenheit geben, daß die Jugend Ihrer
ſpotte, die Ehrerbiethung oder irgend eine der
Ruͤckſichten vergeſſe, die man ihnen ſchuldig iſt.

4.

Es iſt indeſſen nicht genug, daß der Um¬
gang aͤlterer Leute den juͤngern nicht laͤſtig und
hinderlich werde; er muß ihnen auch Nutzen
ſchaffen; Eine groͤßere Summe von Erfah¬
rungen berechtigt und verpflichtet Jene, Dieſe
zu unterrichten, zurechtzuweiſen, ihnen durch
Rath und Beyſpiel nuͤtzlich zu werden. Dies
muß aber ohne Pedanterie, ohne Stolz und
Anmaßung geſchehn, ohne auf laͤcherliche
Weiſe fuͤr alles eingenommen zu ſeyn, alles
anzupreiſen, was alt iſt, ohne Aufopferung
aller Jugend-Freuden, beſtaͤndige Huldigung
und unterthaͤnige Aufwartung zu fordern,
ohne Langeweile zu erregen, und ohne ſich
aufzudringen. Man ſoll ſich vielmehr aufſu¬
chen laſſen, und das wird gewiß nicht fehlen,
da gutgeartete junge Leute ſich's zur Ehre zu
rechnen pflegen, mit freundlichen und verſtaͤn¬
digen Greiſen umgehn zu duͤrfen, und es der
Unterhaltung mit einem Solchen, der ſo man¬
ches[94] ches geſehn und erlebt hat und davon zu er¬
zaͤhlen weiß, nicht an Reiz fehlt.

5.

So viel uͤber das Betragen bejahrter
Perſonen gegen juͤngere Leute! Jetzt noch et¬
was von der Auffuͤhrung der Juͤnglinge im
Umgange mit Maͤnnern und Greiſen!


In unſern von Vorurtheilen ſo ſaͤuberlich
gereinigten, aufgeklaͤrten Zeiten werden man¬
che Empfindungen, welche Mutter Natur uns
eingepraͤgt hat, wegraiſonnirt. Dahin gehoͤrt
denn auch das Gefuͤhl der Ehrerbietung gegen
das hohe Alter. Unſre Juͤnglinge werden
fruͤher reif, fruͤher klug, fruͤher gelehrt; Durch
fleißige Lectur, beſonders der reichhaltigen
Journale, erſetzen ſie, was ihnen an Erfah¬
rung und Fleiß mangeln koͤnnte; Dies macht
ſie ſo weiſe, uͤber Dinge entſcheiden zu koͤnnen,
wovon man ehemals glaubte, es wuͤrde viel¬
jaͤhriges, aͤmſiges Studium dazu erfordert,
nur einigermaßen klar darinn zu ſehn. Da¬
her entſteht auch jene edle Selbſtigkeit und Zu¬
verſicht, die ſchwaͤchere Koͤpfe fuͤr Unverſchaͤmt¬
heit halten, jene Ueberzeugung des eigenen
Werths, mit welcher unbaͤrtige Knaben heut
zu[95] zu Tage auf alte Maͤnner herabſehen, und al¬
les muͤndlich und ſchriftlich uͤberſchreyen, was
ihnen in den Weg koͤmmt. Das Hoͤchſte, wor¬
auf ein Mann von aͤltern Jahren Anſpruch
machen darf, iſt gnaͤdige Nachſicht, zuͤchti¬
gende Critic, Zurechtweiſung von ſeinen un¬
muͤndigen Kindern und Enkeln, und Mitlei¬
den mit ihm, der das Ungluͤck gehabt hat,
nicht in dieſen gluͤcklichen Tagen, in welchen
die Weisheit, ohngeſaͤet und ohngepflegt, wie
Manna vom Himmel regnet, gebohren worden
zu ſeyn. Ich, der ich auch das Schickſal ge¬
habt habe, in einem Jahre zur Welt zu kom¬
men, in welchem der groͤßte Theil der Polyhi¬
ſtoren, von denen ich hier rede, ihre itzt ſo
ſcharfen Zaͤhne noch am Wolfszahn uͤbten,
oder gar noch Embrionen waren, ich habe es
nicht zu jenem Grade der Aufklaͤrung bringen
koͤnnen, und muß daher um Verzeyhung bit¬
ten, wenn ich hier einige Regeln zu geben
wage, die ziemlich nach der alten Mode ſchmek¬
ken werden — Doch zur Sache!

6.

Es giebt viel Dinge in dieſer Welt, die
ſich durchaus nicht anders als durch Erfahrung
ler¬[96] lernen laſſen; Es giebt Wiſſenſchaften, die ſo
ſchlechterdings langwaͤhrendes Studium, viel¬
faches Betrachten von verſchiedenen Seiten
und kaͤlteres Blut erfordern, daß ich glaube,
auch das feurigſte Genie, der feinſte Kopf ſollte
einem bejahrten Manne, der, ſelbſt bey ſchwaͤ¬
chern Geiſtesgaben, Alter und Erfahrung auf
ſeiner Seite hat, in den mehrſten Faͤllen eini¬
ges Zutrauen, einige Aufmerkſamkeit nicht
verſagen. Und waͤre auch nicht von wiſſen¬
ſchaftlichen Faͤchern die Rede; ſo iſt doch wohl
im Ganzen unleugbar, daß die Summe man¬
nigfaltiger Erfahrungen, die jeder in der Welt
lebende Mann in einer langen Reyhe von
Jahren einſammelt, ihn in den Stand ſetzt,
ſchwankende Ideen zu berichtigen, von ideali¬
ſchen Grillen zuruͤckzukommen, ſich nicht ſo
leicht von Phantaſie, warmen Blute und reiz¬
baren Nerven irrefuͤhren zu laſſen, und die
Menſchen und die Dinge um ihn her aus ei¬
nem richtigern Geſichtspuncte anzuſehn. End¬
lich duͤnkt es mich ſo ſchoͤn, ſo edel. Dem, wel¬
cher nun nicht lange mehr die Schaͤtze und
Freuden dieſer Welt ſchmecken kann, den Reſt
ſeines Lebens, in welchem gewoͤhnlich die Sor¬
gen[97] gen und Kuͤmmerniſſe wachſen, und der Genuß
vermindert wird, ſo leicht als moͤglich zu ma¬
chen, daß ich kein Bedenken trage, dem Juͤng¬
linge und Knaben zuzurufen: „Vor einem
„grauen Haupte ſollſt Du aufſtehn! Ehre das
„Alter! Suche den Umgang aͤlterer kluger
„Leute! Verachte nicht den Rath der kaͤltern
„Vernunft, die Warnung des Erfahrnen!
„Thue dem Greiſe, was Du willſt, daß man
„Dir thun ſolle, wenn einſt Deiner Scheitel
„Haar verſilbert ſeyn wird! Pflege Seiner,
„und verlaſſe ihn nicht, wenn die wilde leicht¬
„fertige Jugend ihn flieht!“


Uebrigens aber iſt es auch gewiß, daß es
ſehr viel alte Gecke und Schoͤpſe, ſo wie hie
und da weiſe Juͤnglinge giebt, die ſchon geernd¬
tet haben, wo Andre noch kaum ihr Hand¬
werksgeraͤthe zum graben und pfluͤgen ſchlei¬
fen.

7.

Nun noch etwas von dem Umgange mit
Kindern, aber nur ſehr wenig! denn hiervon
weitlaͤuftig zu reden, daß hieſſe ein Werk uͤber
GEr¬[98] Erziehung ſchreiben, und das iſt ja nicht mein
Zweck.


Der Umgang mit Kindern hat fuͤr einen
verſtaͤndigen Mann unendlich viel Intereſſe.
Hier ſieht er das Buch der Natur in ohnver¬
faͤlſchter Ausgabe aufgeſchlagen. Er ſieht den
wahren, einfachen Grundtext, den man nach¬
her oft mit Muͤhe nur unter dem Wuſte von
fremden Gloſſen, Verzierungen und Verbraͤ¬
mungen herausfinden kann; Die Anlage zu
der Originalitaͤt in den Charactern, die nach¬
her leider! mehrentheils entweder ganz verloh¬
ren geht, oder ſich hinter der Maske der feinern
Lebensart und conventioneller Ruͤckſichten ver¬
ſteckt, liegt noch offen da; Ueber viel Dinge
urtheilen Kinder, von Syſtemgeiſt, Leiden¬
ſchaft und Gelehrſamkeit ohnverfuͤhrt, weit
richtiger als Erwachſene; Sie empfangen man¬
che Eindruͤcke weit ſchneller, haben noch eine
große Anzahl Vorurtheile weniger gefaſſt —
Kurz! wer Menſchen ſtudieren will, der ver¬
ſaͤume nicht, ſich unter Kinder zu miſchen!
Allein der Umgang mit denſelben erfordert auch
Ueberlegungen, die im Leben mit aͤltern Per¬
ſonen[99] ſonen wegfallen. Heilige Pflicht iſt es: ih¬
nen auf keine Weiſe Aergerniß zu geben; ſich
leichtfertiger Reden und Handlungen zu ent¬
halten, die von niemand ſo lebhaft, als von
den auf alles Neue ſo aufmerkſam horchenden,
ſo fein beobachtenden Kindern aufgefangen
werden; ihnen in jeder Art Tugend, in Wohl¬
wollen, Treue, Aufrichtigkeit und Anſtaͤndig¬
keit Beyſpiel zu geben — kurz! zu ihrer Bil¬
dung alles nur Moͤgliche beyzutragen.


Vor allen Dingen herrſche Wahrheit in
Deinen Reden und in Deinem Betragen ge¬
gen dieſe jungen Geſchoͤpfe! Laß Dich herab
(jedoch nicht auf eine Weiſe, die ihnen ſelbſt
laͤcherlich vorkommen muß) zu dem Tone, der
ihnen nach ihrem Alter verſtaͤndlich iſt! Zerre,
necke die Kinder nicht, wie einige Leute die
Gewohnheit haben! — das hat boͤſe Einfluͤſſe
auf den Character.


Gutgeartete Kinder werden durch einen
ganz eigenen Sinn zu edlen, liebevollen Men¬
ſchen hingezogen, wenn Dieſe ſich auch nicht
ſo ſehr viel mit ihnen zu thun machen, da ſie
G 2hin¬[100] hingegen Andre fliehen, die ihnen auſſerordent¬
lich gefaͤllig ſind. Reinigkeit, Einfalt des Her¬
zens iſt das große Zauberband, wodurch dies
bewuͤrkt wird, und die laͤſſt ſich denn freylich
nicht nach Vorſchriften lernen.


Daß das Herz des Vaters und der Mut¬
ter an ihren Kindern haͤngt, das iſt ſehr natuͤr¬
lich; Eine Klugheits-Regel ſey es alſo, wenn
uns an der Gunſt der Eltern gelegen iſt, ihre
geliebten Kinder nicht zu uͤberſehn, ſondern
ihnen einige Aufmerkſamkeit zu widmen! Weit
entfernt von uns aber bleibe es, die ungezoge¬
nen Knaben und Maͤdgen der Großen nieder¬
traͤchtigerweiſe zu ſchmeicheln, dadurch den
Hochmuth, den Eigenſinn und die Eitelkeit die¬
ſer mehrentheils ſchon ſo ſehr verderbten Din¬
gerchen zu naͤhren, zu ihrer moraliſchen
Verſchlimmerung etwas beyzutragen, und das
Grundgeſetz der Natur zu uͤbertreten, welches
befiehlt, daß das Kind dem reifern Alter, nicht
aber der Mann dem Knaben huldige!


Drit¬[101]

Drittes Capitel.


Von dem Umgange unter Eltern, Kin¬
dern und Blutsfreunden.


1.

Das erſte und natuͤrlichſte Band unter den
Menſchen, naͤchſt der Vereinigung zwiſchen
Mann und Weib, iſt von je her das Band un¬
ter Eltern und Kindern geweſen. Wenn gleich
das Zeugungs-Geſchaͤfte nicht eigentlich abſicht¬
liche Wohlthat fuͤr die folgende Generation
iſt; ſo giebt es doch wenig Menſchen, die nicht
ganz gut damit zufrieden waͤren, daß jemand
ſich die Muͤhe gegeben hat, ſie in die Welt zu
ſetzen; und wenn gleich in unſern Staaten die
Eltern ihre Kinder nicht blos aus freyem Wil¬
len auferziehen, naͤhren und pflegen; ſo iſt es
doch abgeſchmackt, zu ſagen: die mannigfaltige
Bemuͤhung, welche dies erfordert und nach ſich
zieht, lege keine Art von Verbindlichkeit auf,
oder es ſey nicht wahr, daß ein Zug von Wohl¬
wollen, Sympathie und Dankbarkeit uns de¬
nen Perſonen naͤher bringe, deren Fleiſch und
G3Blut[102] Blut wir ſind, unter deren Herzen wir gelegen,
die uns gefuͤttert, fuͤr uns gewacht, geſorgt,
die alles mit uns getheilt haben.


Unmittelbar darauf folgt die Verbindung
unter den Zweigen Eines Stammes. Die
Mitglieder der nemlichen Familie, durch aͤhn¬
liche Organiſation, gleichfoͤrmige Erziehung
und gemeinſchaftliches Intereſſe harmoniſch ge¬
ſtimmt und an einander geknuͤpft, fuͤhlen fuͤr
einander, was ſie fuͤr Fremde nicht fuͤhlen, und
fremder werden ihnen die Menſchen, je mehr
ſich dieſer Cirkel erweitert.


Vaterlands-Liebe iſt ſchon ein zuſammen¬
geſetzteres Gefuͤhl, aber immer noch inniger,
waͤrmer als Weltbuͤrger-Geiſt, fuͤr einen Men¬
ſchen, der nicht fruͤh verwieſen aus der buͤr¬
gerlichen Geſellſchaft, als ein Abentheurer von
Lande zu Lande irrend, kein Eigenthum und
keinen Sinn fuͤr buͤrgerliche Pflichten hat.
Wer die Mutter nicht liebt, deren Bruͤſte er
geſogen; weſſen Herz nicht warm wird bey
dem Anblicke der Gefilde, in welchen er die
unſchuldigen, gluͤcklichen Jahre ſeiner Jugend
froͤhlich und ſorgenlos verlebt hat — was fuͤr
In¬[103] Intereſſe ſoll Der wohl an dem Ganzen nehmen,
da Eigenthum, Moralitaͤt, und alles, was den
Menſchen auf dieſer Erde irgend theuer ſeyn
kann, doch am Ende auf Erhaltung jener Fa¬
milien- und Vaterlands-Bande beruht?


Daß aber dieſe Bande taͤglich lockrer wer¬
den, beweiſet nichts, als daß wir uns taͤglich
weiter von der edlen Ordnung der Natur und
deren Geſetzen entfernen; und wenn ein ſchie¬
fer Kopf, den ſein Vaterland als ein unbrauch¬
bares Mitglied ausſtoͤßt, weil er ſich den Ge¬
ſetzen nicht unterwerfen will, unzufrieden mit
dem Zwange, den ihm Sittlichkeit und Poli¬
cey auflegen, behauptet, es ſey des Philoſo¬
phen wuͤrdig, alle engern Verbindungen aufzu¬
loͤſen, [und] kein anders Band anzuerkennen,
als das allgemeine Bruderband unter allen
Erdbewohnern; ſo uͤberzeugt uns das von
nichts weiter, als daß kein Satz ſo naͤrriſch iſt,
der nicht in unſern Tagen in irgend einem phi¬
loſophiſchen Systeme als Grundpfeiler aufge¬
ſtellt wuͤrde — Gluͤckliches achtzehntes Jahr¬
hundert, in welchem man ſo große Entdeckun¬
gen macht, als zum Beyſpiel: daß man, um
LeſenG 4[104] Leſen zu lernen, nicht mit den Buchſtaben und
Silben bekannt zu ſeyn brauche, und daß man,
um alle Menſchen zu lieben, keinen Einzelnen
lieben duͤrfe! Jahrhundert der Univerſal-Arze¬
neyen, der Philalethen, Philantropen, Al¬
chimiſten und Cosmopoliten! wohin wirſt Du
uns noch fuͤhren? Ich ſehe im Geiſte allgemeine
Aufklaͤrung ſich uͤber alle Staͤnde verbreiten;
Ich ſehe den Bauer ſeinen Pflug muͤßig ſtehn
laſſen, um dem Fuͤrſten eine Vorleſung zu hal¬
ten uͤber Gleichheit der Staͤnde und uͤber die
Schuldigkeit, die Laſt des Lebens gemeinſchaft¬
lich zu tragen; Ich ſehe, wie Jeder die ihm
unbequemen Vorurtheile wegraiſonniert, wie
Geſetze und buͤrgerliche Einrichtungen der
Willkuͤhr weichen, wie der Kluͤgere und Staͤr¬
kere ſein natuͤrliches Herrſcher-Recht reclamiert,
und ſeinen Beruf, fuͤr das Beſte der ganzen
Welt zu ſorgen, auf Unkoſten der Schwaͤchern
gelten macht, wie Eigenthum, Staats-Verfaſ¬
ſungen und Grenzlinien aufhoͤren, wie Jeder
ſich ſelbſt regiert, und ſich ein Syſtem zu Be¬
friedigung ſeiner Triebe erfindet. — O gebe¬
nedeyetes, goldenes Zeitalter! dann machen
wir Alle nur Eine Familie aus; dann druͤk¬
ken[105] ken wir den edeln, liebenswuͤrdigen Men¬
ſchenfreſſer bruͤderlich an unſre Bruſt, und wan¬
deln, wenn dies Wohlwollen ſich erweitert, end¬
lich auch mit dem genievollen Orang-Outang
Hand in Hand durch dieſes Leben. Dann
fallen alle Feſſeln ab! dann ſchwinden alle
Vorurtheile! Ich brauche nicht meines Va¬
ters Schulden zu bezahlen; habe nicht noͤthig,
mich mit Einem Weibe zu begnuͤgen, und das
Schloß vor meines Nachbars Geldkaſten iſt
kein Hinderniß, mein angebohrnes Recht auf
das Gold, ſo die muͤtterliche Erde uns Allen
darreicht, in Ausuͤbung zu bringen.


So weit ſind wir nun aber noch nicht ge¬
kommen, und da es viel Menſchen giebt, unter
denen auch ich gehoͤre, die ihre Verwandten
lieben, und Sinn fuͤr haͤusliche Freuden und
fuͤr das Familienband haben; ſo will ich doch
hier einige Bemerkungen uͤber den Umgang
unter Blutsfreunden liefern.

2.

Es giebt Eltern, die, umhergetrieben in
einem beſtaͤndigen Wirbel von Zerſtreuungen,
ihre Kinder kaum ein Paar Stunden des Ta¬
G5ges[106] ges ſehen, ihren Vergnuͤgungen nachrennen,
und indes Miethlingen die Bildung ihrer
Soͤhne und Toͤchter uͤberlaſſen, oder, wenn
dieſe ſchon erwachſen ſind, mit ihnen auf ei¬
nem ſo fremden, hoͤflichen Fuße leben, als
wenn ſie ihnen gar nicht angehoͤrten. Wie
unnatuͤrlich und unverantwortlich dies Ver¬
fahren ſey, das bedarf wohl keines Beweiſes.
Es giebt aber andre Eltern, die von ihren
Kindern eine ſo ſclaviſche Ehrerbiethung und
ſo viel Ruͤckſichten und Aufopferungen fordern,
daß durch den Zwang und den gewaltigen Ab¬
ſtand, der hieraus entſteht, alles Zutrauen,
alle Herzens- Ergieſſung wegfaͤllt, ſo daß den
Kindern die Stunden, welche ſie an der Seite
ihrer Eltern hinbringen muͤſſen, fuͤrchterlich
und langweilig vorkommen. Noch andre ver¬
geſſen, daß Knaben auch endlich Maͤnner wer¬
den; Sie behandeln ihre erwachſenen Soͤhne
und Toͤchter immer noch als kleine Unmuͤndige,
geſtatten ihnen nicht den geringſten freyen
Willen, und trauen den Einſichten derſelben
nicht das mindeſte zu. Das alles ſollte nicht
ſo ſeyn. Ehrerbiethung beſteht nicht in feyer¬
licher, ſtrenger Entfernung, ſondern kann
recht[107] recht gut mit freundſchaftlicher Vertraulichkeit
beſtehn. Man liebt Den nicht, an welchen
man kaum hinaufzuſchauen wagen darf; Man
vertrauet ſich Dem nicht, der immer mit ſtei¬
fem Ernſt Geſetz predigt; Zwang toͤdtet alle
edle, freywillige Hingebung. Was kann hin¬
gegen entzuͤckender ſeyn, als der Anblick eines
geliebten Vaters mitten unter ſeinen erwach¬
ſenen Kindern, die nach ſeinem weiſen und
freundlichen Umgange ſich ſehnen, keinen Ge¬
danken ihres Herzens verbergen vor ihm, der
ihr treueſter Rathgeber, ihr nachſichtsvoller
Freund iſt, der an ihren unſchuldigen, jugend¬
lichen Freuden Theil nimt, oder ſie wenig¬
ſtens nicht ſtoͤhrt, und mit ihnen wie mit ſei¬
nen beſten und natuͤrlichſten Freunden lebt! —
Eine Verbindung, zu welcher ſich alle Empfin¬
dungen vereinigen, die nur dem Menſchen
theuer ſeyn koͤnnen, Stimme der Natur,
Sympathie, Dankbarkeit, Aehnlichkeit des
Geſchmacks, gleiches Intereſſe und Gewohn¬
heit des Umgangs! Allein dieſe Vertraulich¬
keit kann auch uͤbertrieben werden, und ich
kenne Vaͤter und Muͤtter, die ſich dadurch
veraͤchtlich machen, daß ſie die Gefaͤhrten der
Aus¬[108] Ausſchweifungen ihrer Kinder, oder gar, wenn
dieſe beſſer ſind als ſie ſelbſt, mit ihren Laſtern,
die ſie nicht zu verhehlen trachten, das Geſpoͤtte
oder der Abſcheu Derer werden, denen ſie ein
lehrreiches Beyſpiel geben ſollten.

3.

Es iſt in unſern Tagen nichts ſeltenes,
Kinder zu ſehn, die ihre Eltern vernachlaͤſſigen,
oder unedel behandeln. Die erſten Bande
unter den Menſchen werden immer lockerer,
die Juͤnglinge finden ihre Vaͤter nicht weiſe,
nicht unterhaltend, nicht aufgeklaͤrt genug.
Das Maͤdgen hat Langeweile bey der alten
Mutter, und vergiſſt, wie manche langweilige
Stunde Dieſe bey ſeiner Wiege, bey Wartung
deſſelben in gefaͤhrlichen Krankheiten, oder bey
den kleinen ſchmutzigen Arbeiten zugebracht,
wie ſie ſich in den ſchoͤnſten Jahren ihres Le¬
bens ſo manches Vergnuͤgen verſagt hat, um
fuͤr die Erhaltung und Pflege des kleinen ek¬
kelhaften Geſchoͤpfs zu ſorgen, das vielleicht,
ohne dieſe Sorgfalt, nicht mehr da ſeyn wuͤrde.
Die Kinder vergeſſen, wie viel ſchoͤne Stun¬
den ſie ihren Eltern durch ihr betaͤubendes Ge¬
ſchrey[109] ſchrey verdorben, wie viel ſchlafloſe Naͤchte ſie
dem ſorgſamen Vater gemacht haben, der
alle Kraͤfte aufboth, fuͤr ſeine Familie zu ar¬
beiten, ſich manche Bequemlichkeit entziehn,
vor manchem Schurken ſich kruͤmmen muſſte,
um Unterhalt fuͤr die Seinigen zu erringen.
Gutgeartete Gemuͤther werden indeſſen nie
ſo ſehr das Gefuͤhl der Dankbarkeit erſticken,
daß ſie meiner Ermahnungen beduͤrften, und
fuͤr niedre Seelen ſchreibe ich nicht. Nur er¬
innere ich ſo viel, daß wenn auch Kinder Ur¬
ſache haͤtten, ſich der Schwachheiten, oder gar
der Laſter ihrer Eltern zu ſchaͤmen, ſie doch
weiſer und beſſer handeln, wenn ſie die Feh¬
ler derſelben ſo viel moͤglich zu verſtecken ſu¬
chen, und im aͤuſſern Umgange nie die Ehrer¬
biethung aus den Augen ſetzen, die ſie ihnen
in ſo manchem Betrachte ſchuldig ſind. Se¬
gen des Himmels und Achtung aller gutge¬
ſinnten Menſchen ſind der ſichre Preis der
Sorgfalt, welche die Soͤhne und Toͤchter auf
die Pflege, Erhaltung und edle Behandlung
ihrer Eltern verwenden.


4.[110]

4.

Ich hoͤre ſo oft daruͤber klagen, daß man
unter fremden Leuten mehr Schutz, Beyſtand
und Anhaͤnglichkeit finde, als bey ſeinen naͤch¬
ſten Blutsfreunden; allein ich halte dieſe Klage
groͤßtentheils fuͤr ungerecht. Freylich giebt es
unter Verwandten eben ſo wohl unfreund¬
ſchaftliche Menſchen, als unter Solchen, die
uns nichts angehn; ich denke aber, man for¬
dert auch oft von ſeinen Herrn Oheimen und
Frauen Baaſen mehr, als man billiger Weiſe
verlangen ſollte. Unſre politiſchen Verfaſſun¬
gen und der taͤglich mehr uͤberhand nehmende
Luxus machen es wahrlich nothwendig, daß
Jeder fuͤr ſein Haus, fuͤr Weib und Kinder
ſorge, und die Herrn Vettern, die oft, als
unwiſſende und verſchwenderiſche Tagediebe,
in der ſichern Zuverſicht, von ihren maͤchtigen
und reichen Verwandten nicht verlaſſen zu
werden, ſorglos in die Welt hinein leben, ha¬
ben dann ſo unerſaͤttliche Forderungen, daß
der Mann, dem Pflicht und Gewiſſen kein
Spielwerk ſind, dieſe ohnmoͤglich befriedigen
kann, ohne ungerecht gegen Andre zu han¬
deln. Um nun dieſen unangenehmen Colliſio¬
nen[111] nen ſich nie auszuſetzen, rathe ich, zwar die
herzliche Vertraulichkeit, die den Umgang im
Familien-Cirkel ſo angenehm macht, nicht zu
verachten, aber ſo wenig als moͤglich bey
Blutsfreunden Erwartungen von Unterſtuͤtz¬
zung und Schutz zu hegen und zu erwecken,
ſich ſeiner Verwandten anzunehmen, in ſo
fern es ohne Unbilligkeit gegen beſſere Men¬
ſchen geſchehn kann, nicht aber ſeine dummen
Vettern, wenn man die Macht in Haͤnden
hat, Andre gluͤcklich zu machen, auf Unkoſten
verdienſtvoller Fremden, zu befoͤrdern und hin¬
aufzuſchieben.


Auſſerdem laͤſſt ſich auf den Umgang mit
Verwandten noch dasjenige anwenden, was
ich unten von dem Umgange unter Eheleuten
und Freunden ſagen werde, nemlich daß Men¬
ſchen, die ſich lange kennen, und oft ohne
Larve und Schminke ſehen, doppelt vorſichtig
in ihrem Betragen gegeneinander ſeyn muͤſſen,
damit Einer des Andern nicht muͤde, und, we¬
gen kleiner Fehler, nicht ungerecht gegen groͤſ¬
ſere Tugenden werde.


End¬[112]

Endlich wuͤnſchte ich auch, daß zahlreiche
Familien in mittlern Staͤdten nicht ſo beſtaͤn¬
dig nur unter ſich leben moͤgten, dadurch die
Geſellſchaft in kleine abgeſonderte Theile zer¬
ſchnitten, trennten, und Menſchen, die nicht
mit ihnen verwandt noch verſchwaͤgert ſind,
von ſich entfernten, ſo, daß, wenn von ohnge¬
fehr ein Fremder unter ſie geraͤth, derſelbe
wie verrathen und verkauft iſt.


Doch nun noch ein Paar Anmerkungen!
Die erſte: Alte Vettern und Tanten, beſon¬
ders unverheyrathete, pflegen ſo gern zu hof¬
meiſtern, ihre podagriſchen und hiſteriſchen
Launen an ihren erwachſenen Nichten und
Neffen auszulaſſen, und Dieſe zu behandeln,
als liefen ſie noch im Rollwaͤgelchen herum.
Ich denke, das ſollten ſie bleiben laſſen. Da¬
durch ſind wuͤrklich die alten Tanten und On¬
kels zu einem Spruͤchworte geworden, und
manche geringe Erbſchaft wird zu theuer er¬
kauft, wenn man dafuͤr ſo viel einſchlaͤfernde,
wuͤrkungsloſe Predigten anhoͤren muß, dahin¬
gegen die guten alten Leute von ihren jungen
Verwandten mit Freuden liebevoll gepflegt
und[113] und gewartet werden wuͤrden, wenn ſie weni¬
ger ſaͤuerlich in ihrem Betragen gegen ſie waͤ¬
ren. Die andre Anmerkung: Es herrſcht in
manchen Staͤdten, beſonders in Reichsſtaͤdten,
ein aͤuſſerſt ſteifer und uͤbler Ton unter den
Perſonen einer Familie. Buͤrgerliche, oͤko¬
nomiſche und andre Ruͤckſichten zwingen ſie,
ſich oft zu ſehn, und dennoch zanken, necken,
haſſen ſie ſich unaufhoͤrlich untereinander, und
machen ſich dadurch das Leben ſehr ſchwer.
Wo gar keine Sympathie in Denkungsart iſt,
wo gar keine Einigkeit und Freundſchaft herr¬
ſchen, da laſſe man ſich doch lieber ohngeplagt,
betrage ſich hoͤflich gegen einander, waͤhle ſich
aber Freunde nach ſeinem Herzen!


Vier¬H[114]

Viertes Capitel.


Von dem Umgange unter Eheleuten.


1.

Eine weiſe und gute Wahl bey Knuͤpfung
des wichtigſten Bandes im menſchlichen Leben,
die iſt freylich das ſicherſte Mittel, um in der
Folge ſich Freude und Gluͤck in dem Umgange
unter Eheleuten verſprechen zu koͤnnen. Wenn
hingegen Menſchen, die nicht gegenſeitig dazu
beytragen, ſich das Leben ſuͤß und leicht zu
machen, ſondern die vielmehr widerſprechende,
ſich durchkreuzende Neigungen und Wuͤnſche und
verſchiedenes Intereſſe hegen, ungluͤcklicher
Weiſe ſich nun auf ewig an einander gekettet
ſehen; ſo iſt das in der That eine hoͤchſt trau¬
rige Lage, eine Exiſtenz voll immerwaͤhrender
herber Aufopferung, ein Stand der ſchwer¬
ſten Sclaverey, ein Seufzen unter den eiſer¬
nen Feſſeln der Nothwendigkeit, ohne Hofnung
einer andern Erloͤſung, als wenn der duͤrre
Knochenmann mit ſeiner Senſe dem Unweſen
ein Ende macht.


Nicht weniger ungluͤcklich iſt dies Band,
wenn auch nur von Einer Seite Unzufrieden¬
heit[115] heit und Abneigung die Ehe verbittern, wenn
nicht freye Wahl, ſondern politiſche, oͤkonomi¬
ſche Ruͤckſichten, Zwang, Verzweiflung, Noth,
Dankbarkeit, dépit amoureux, ein Ohngefehr,
eine Grille, oder nur coͤrperliches Beduͤrfniß,
wobey das Herz nicht war, dieſelbe geknuͤpft
hat, wenn der eine Theil immer nur empfan¬
gen, nie geben will, unaufhoͤrlich fordert, Be¬
friedigung aller Beduͤrfniſſe, Huͤlfe, Rath,
Aufmerkſamkeit, Unterhaltung, Vergnuͤgen,
Troſt im Leiden fordert — und dagegen nichts
leiſtet. Waͤhle alſo mit Vorſicht die Gefaͤhr¬
thinn Deines Lebens, wenn Deine kuͤnftige
haͤusliche Gluͤckſeligkeit nicht ein Spiel des Zu¬
falls ſeyn ſoll!

2.

Ueberlegt man aber, daß gewoͤhnlich auch
diejenigen Ehen, welche auf eigene Wahl be¬
ruhen, in einem Alter und unter Umſtaͤnden
geſchloſſen werden, wo weniger reife Ueber¬
legung und Vernunft, als blinde Leidenſchaft
und Naturtrieb dieſe Wahl beſtimmen, obgleich
man in dieſer Verblendung wohl ſehr viel von
Sympathie und Herzenshange traͤumt und
ſchwaͤtzt;H 2[116] ſchwaͤtzt; ſo ſollte man ſich beynahe verwun¬
dern daruͤber, daß es noch ſo viel gluͤckli¬
che Ehen in der Welt giebt. Aber die weiſe
Vorſehung hat alles ſo herrlich geordnet, daß
eben das, was dieſem Gluͤcke im Wege zu ſtehn
ſcheint, daſſelbe vielmehr befoͤrdert. Iſt man
in den Jahren der Jugend weniger geſchickt zu
weiſer Wahl; ſo iſt man dagegen von der an¬
dern Seite auch noch geſchmeidiger, leichter
zu leiten, zu bilden, und nachgiebiger, als in
dem reifern Alter. Die Ecken — moͤgten ſie
auch noch ſo ſcharf ſeyn! — ſchleifen ſich leich¬
ter ab an einander und fuͤgen ſich, wenn der
Stoff noch weich iſt. Man nimt die Sachen
nicht ſo genau, als nachher, wenn Erfahrung
und Schickſale uns eckel, vorſichtig gemacht, und
große Forderungen in uns erweckt haben; wenn
die kaͤltere Vernunft alles abwaͤgt, jeden Dieb¬
ſtahl an Genuß ſehr hoch anrechnet, calculiert,
wie wenig Jahre man vielleicht noch zu leben
hat, und wie geizig man mit Zeit und Vergnuͤ¬
gen ſeyn muß. Entſtehen unter jungen Ehe¬
leuten gern Zwiſtigkeiten; ſo iſt auch die Ver¬
ſoͤhnung deſto leichter geſtiftet. Widerwillen
und Zorn faſſen nicht ſo feſte Wurzel, und
wenn[117] wenn der Koͤrper mitſpricht, wird oft der hef¬
tigſte Streit durch eine einzige eheliche Umar¬
mung wieder geſchlichtet. Dazu kommen dann
nach und nach Gewohnheit, Beduͤrfniß mit ein¬
ander zu leben, gemeinſchaftliches Intereſſe,
haͤusliche Geſchaͤfte, die uns nicht viel Zeit zu
muͤßigen Grillen laſſen, Freude an Kindern, ge¬
theilte Sorgfalt fuͤr derſelben Erziehung und
Verſorgung, welches alles, ſtatt die Laſt des
Eheſtandes zu erſchweren, in den Jahren, wenn
Jugend, Kraͤfte und Munterkeit mitwuͤrken,
dies Joch ſehr ſuͤß machen, und mannigfaltig
abwechſelnde Freuden gewaͤhren, die durch Theil¬
lung mit einer Gattinn doppelt ſchmackhaft wer¬
den. Nicht alſo im maͤnnlichen Alter! Da for¬
dert man mehr fuͤr ſich, will erndten, genieſſen,
nicht neue Buͤrden uͤbernehmen; man will
gepflegt ſeyn; der Character hat Feſtigkeit, mag
ſich nicht mehr umformen laſſen; die Begier¬
den dringen nicht ſo laut auf Befriedigung.
Nur wenig Ausnahmen moͤgten hier Statt
finden, und dieſe nur unter den edelſten Men¬
ſchen, die bey zunehmenden Jahren nachſichti¬
ger, ſanfter werden, und, feſt uͤberzeugt von
der allgemeinen Schwaͤche der menſchlichen Na¬
H 3tur,[118] tur, wenig fordern und gern geben; Aber im¬
mer iſt dies eine Art von Heroismus, eine Auf¬
opferung, und hier iſt ja von wechſelſeitiger
Gluͤckſeligkeits-Befoͤrderung die Rede —
kurz! ich wuͤrde anrathen, in dieſem Alter
langſamer bey der Wahl einer Gattinn zu
Werke zu gehn, wenn ein ſolcher Rath nicht
uͤberfluͤſſig waͤre. Das giebt ſich von ſelbſt;
wer ſich aber in maͤnnlichen Jahren auf dieſe
Weiſe uͤbereilt, der mag dann die Folgen von
den Thorheiten tragen, zu welchen ein Juͤng¬
lings-Kopf auf Mannes-Schultern verfuͤhrt.

3.

Ich glaube nicht, daß eine voͤllige Gleich¬
heit in Temperamenten, Neigungen, Denkungs¬
art, Faͤhigkeiten und Geſchmack durchaus erfor¬
dert werde, um eine frohe Ehe zu ſtiften; viel¬
mehr mag wohl zuweilen grade das Gegentheil
(nur nicht in zu hohem Grade, noch in Haupt–
Grundſaͤtzen, noch ein zu betraͤchtlicher Unter¬
ſchied von Jahren) mehr Gluͤck gewaͤhren.
Bey einem Bande, das auf gemeinſchaftliches
Intereſſe beruht, und wo alle Ungemaͤchlich¬
keit des einen Theils zugleich mit auf den an¬
dern[119] dern faͤllt, iſt es, zu Vermeidung uͤbereilter
Schritte und deren ſchaͤdlichen Folgen, oft ſehr
gut, wenn die zu große Lebhaftigkeit, das ra¬
ſche Feuer des Mannes, durch Sanftmuth oder
ein wenig Phlegma von Seiten des Weibes
gedaͤmpft wird, und umgekehrt. So wuͤrde
auch mancher Haushalt zu Grunde gehn, wenn
beyde Eheleute gleich viel Luſt an Aufwand,
Pracht, Ueppigkeit, einerley Liebhabereyen,
oder gleich viel Hang zu einer nicht immer
wohlgeordneten Wohlthaͤtigkeit und Geſellig¬
keit haͤtten; und da unſre jungen Romanen-
Leſer und Leſerinnen gemeiniglich die Ideale
zu ihren kuͤnftigen Lebens-Gefaͤhrten nach ih¬
rem eigenen werthen Ich ſchnitzeln; ſo iſt
es doch ſo uͤbel nicht, wenn zuweilen ein alter
graͤmlicher Vater oder Vormund einen Quer¬
ſtrich durch dergleichen Verbindungsplane macht
— So viel von der Wahl des Gatten! und
das iſt beynahe ſchon mehr, als eigentlich hier¬
her gehoͤrt.

4.

Wichtig iſt die Sorgfalt, welche Eheleute
anwenden muͤſſen, wenn ſie ſich ſo taͤglich ſe¬
henH 4[120] hen und ſehn muͤſſen, und alſo Muße und Ge¬
legenheit genug haben, Einer mit des Andern
Fehlern und Launen bekannt zu werden und,
ſelbſt durch die kleinſten derſelben, manche Un¬
gemaͤchlichkeit zu leiden, wichtig iſt es, Mittel
zu erfinden, ſich dann nicht gegenſeitig laͤſtig,
langweilig, nicht kalt, gleichguͤltig gegen einan¬
der zu werden, oder gar Eckel und Abneigung
zu empfinden. Hier iſt alſo weiſe Vorſicht im
Umgange noͤthig. Verſtellung faͤllt in allem
Betrachte weg; aber einer gewiſſen Achtſam¬
keit auf ſich ſelbſt, und der moͤglichſten Entfer¬
nung alles deſſen, was ſicher widrige Eindruͤcke
machen muß, ſoll man ſich befleiſſigen. Man
ſetze daher nie gegen einander jene Hoͤflichkeit
aus den Augen, die ſehr wohl mit Vertraulich¬
keit beſtehn kann, und die den Mann von fei¬
ner Erziehung bezeichnet! Ohne ſich fremd zu
werden, ſorge man doch daͤfuͤr, daß man durch
oft wiederholte Geſpraͤche uͤber die nemlichen
Gegenſtaͤnde nicht langweilig werde, daß man
ſich nicht ſo auswendig lerne, daß jedes Ge¬
ſpraͤch der Eheleute unter vier Augen laͤſtig
ſcheint, und man ſich nach fremder Unterhal¬
tung ſehnt. Ich kenne einen Mann, der eine
An¬[121] Anzahl Annecdoͤtgen und Einfaͤlle beſitzt, die
er nun ſchon ſo oft ſeiner Frau, und in deren
Gegenwart fremden Leuten ausgekramt hat,
daß man dem guten Weibe jedesmal Eckel und
Ueberdruß anſieht, ſo oft er mit einem derglei¬
chen Stuͤckgen angezogen koͤmmt. Wer gute
Buͤcher lieſt, Geſellſchaften beſucht und nach¬
denkt, der wird ja leicht taͤglich neuen Stoff zu
intereſſanten Geſpraͤchen finden; Aber freylich
reicht dieſer nicht zu, wenn man den ganzen
Tag muͤßig einander gegenuͤber ſitzt, und man
darf ſich daher nicht wundern, wenn man ſol¬
che Eheleute antrifft, die, um dieſer toͤdtenden
Langenweile auszuweichen, wenn grade keine
andre Geſellſchaft aufzutreiben iſt, mit einan¬
der halbe Tage lang Piquet ſpielen, oder ſich
zuſammen an einer Flaſche Wein ergoͤtzen.
Sehr gut iſt es desfalls, wenn der Mann be¬
ſtimmte Berufs-Arbeiten hat, die ihn wenig¬
ſtens einige Stunden taͤglich an ſeinen Schreib¬
tiſch feſſeln, oder auſſer Hauſe rufen, wenn zu¬
weilen kleine Abweſenheiten, Reiſen in Ge¬
ſchaͤften und dergleichen, ſeiner Gegenwart
neuen Reiz geben. Ihn erwartet dann ſehn¬
ſuchtsvoll die treue Gattinn die indeß ihrem
H5Haus¬[122] Hausweſen vorgeſtanden. Sie empfaͤngt ihn
liebreich und freundlich; die Abendſtunden
gehen unter frohen Geſpraͤchen, bey Verab¬
redungen, die das Wohl ihrer Familie zum
Gegenſtande haben, im haͤuslichen Cirkel vor¬
uͤber, und man wird ſich einander nie uͤber¬
druͤſſig. Es giebt eine feine, beſcheidene Art
ſich rar zu machen, zu veranlaſſen, daß man
ſich nach uns ſehne; dieſe ſoll man ſtudieren.
Auch im Aeuſſern ſoll man alles entfernen,
was zuruͤckſcheuchen koͤnnte. Man ſoll ſich ſei¬
nem Gatten, ſeiner Gattinn, nicht in einer
eckelhaften, ſchmutzigen Kleidung zeigen, ſich
zu Hauſe nicht zu viel Unmanierlichkeiten er¬
lauben — das iſt man ja ſchon ſich ſelber ſchul¬
dig — und vor allen Dingen, wenn man auf
dem Lande lebt, nicht verbauern, nicht poͤbel¬
hafte Sitten, noch niedrige, plumpe Ausdruͤcke
im Reden annehmen, noch unreinlich, nach¬
laͤſſig an ſeinem Koͤrper werden. Denn wie
iſt es moͤglich, daß eine Frau, die immer an
ihrem Manne unter allen uͤbrigem Menſchen,
mit welchen ſie umgeht, am mehrſten Fehler
und Unanſtaͤndigkeiten wahrnimt, denſelben vor
allen Andern gern ſehn, ſchaͤtzen und lieben ſoll?
— Noch[123] — Noch einmal! wenn die Ehe ein Stand
der Aufopferung wird, wenn ihre Pflichten
als ein ſchweres Gewicht auf uns liegen, o !
wie kann dann wahres Gluͤck ihr Theil ſeyn?

5.

Eine Haupt-Vorſchrift aber fuͤr alle
Staͤnde und fuͤr alle Verhaͤltniſſe wende man
auch auf den Eheſtand an! Sie iſt dieſe:
Erfuͤlle ſo ſorgſam, ſo puͤnctlich, ſo nach einem
feſten Plane Deine Pflichten, daß Du, wo
moͤglich, darinn alle Deine Bekannten uͤber¬
treffeſt; ſo wirst du auch auf die waͤrmſte Hoch¬
achtung Anſpruch machen koͤnnen, und in der
Folge alle Diejenigen verdunkeln, welche nur
durch einzelne glaͤnzende Eigenſchaften au¬
genblickliche vortheilhafte Eindruͤcke machen.
Aber erfuͤlle ſie auch alle, dieſe Pflichten!
Der Mann prahle nicht etwa mit ſeiner Unei¬
gennuͤtzigkeit, mit ſeinem Fleiſſe, mit ſeiner gu¬
ten Hauswirthſchaft, mit der Achtung guter
Maͤnner, der indeß in der Stille ſich woͤchentlich
ein paarmal ein Raͤuſchgen trinkt! Die Frau
poche nicht auf ihre Keuſchheit, welche vielleicht
das Verdienſt des Zufalls oder eines kalten
Tem¬[124] Temperaments iſt, wenn ſie indeß ſorglos die
Erziehung ihrer Kinder vernachlaͤſſigt! Nein!
wer Achtung und Zuneigung als Pflicht fordert,
der muß Achtung und Zuneigung zu verdienen
wiſſen, und wenn Du willſt, daß Deine Frau
Dich unter allen Menſchen am mehrſten ehren
und lieben ſoll; ſo verlaſſe Dich nicht darauf,
daß ſie Dir's am Altar verſprochen hat — wer
kann ſo etwas verſprechen? — ſondern darauf,
daß Du alle Kraͤfte aufbietheſt, beſſer zu ſeyn
als Andre, aber beſſer in jedem Betrachte!
Nur den Folgen nach laſſen ſich Tugenden und
Laſter claſſificieren, denn uͤbrigens ſind ſie alle
gleich wichtig, und ein ſorgloſer Hausvater iſt
eben ſo ſtrafbar, als ein unkeuſches Eheweib.
Allein das iſt die gewoͤhnliche Art zu handeln
der Menſchen! Sie eifern gegen Laſter, zu wel¬
chen ſie keinen Hang haben, und denken nicht,
daß die Verabſaͤumung wichtiger Tugenden ein
eben ſo ſchweres Verbrechen iſt, als die Aus¬
uͤbung einer boͤſen That. Ein altes Weib ver¬
folgt mit wuͤthendem Grimme ein armes junges
Maͤdgen, das durch Temperament und Verfuͤh¬
rung zu einem Fehltritte iſt verleitet worden;
daß aber die gute Matrone ihre Kinder wie
das[125] das dumme Vieh hat aufwachſen laſſen, dar¬
uͤber glaubt ſie keine Verantwortung geben zu
duͤrfen — hat ſie doch nie die eheliche Treue
verletzt! — Sorgſame Pflicht-Erfuͤllung in al¬
len Ruͤckſichten iſt alſo das ſicherſte Mittel, der
beſtaͤndig fortdauernden Zaͤrtlichkeit ſeiner Ehe¬
haͤlfte gewiß zu ſeyn.

6.

Mit dem Allen aber wird es nicht fehlen,
daß nicht zuweilen fremde liebenswuͤrdige Men¬
ſchen auf kurze Zeit vortheilhaftere Eindruͤcke
auf Ehegenoſſen machen ſollten, als Einer von
Dieſen ſeiner Ruhe wegen wuͤnſchen moͤgte.
Es iſt nicht zu erwarten, daß, wenn die erſte
blinde Liebe verraucht iſt, — und die verraucht
denn doch bald — man ſo partheyiſch fuͤr ein¬
ander bleiben, daß man nicht oft die Vorzuͤge
andrer Leute ſehr lebhaft fuͤhlen ſollte. Hierzu
koͤmmt dann noch, daß Perſonen, mit denen
wir ſeltener umgehen, ſich immer von ihren
beſten Seiten zeigen und uns mehr ſchmeicheln,
als die, mit denen wir taͤglich leben. Eindruͤcke
von der Art werden aber bald wieder ver¬
ſchwinden, wenn nur der Gatte fortfaͤhrt, ſeine
Pflicht[126] Pflichten treulich zu erfuͤllen, und wenn er kei¬
nen niedrigen Neid, keine naͤrriſche Eiferſucht
blicken laͤſſt, die ohnehin nie gute, ſondern al¬
lemal ſchlimme Folgen haben. Liebe und Ach¬
tung laſſen ſich nicht erzwingen, nicht ertrotzen;
ein Herz, das bewacht werden muß, iſt, wie
der Mammon eines Geizigen, mehr eine un¬
nuͤtze Laſt, als ein wahrer Schatz, deſſen man
froh wird; Widerſtand reizt; keine Wach¬
ſamkeit iſt ſo groß, daß ſie nicht hintergangen
werden koͤnnte, und es liegt in der Natur des
Menſchen, daß man ein Gut, das vielleicht
ſonſt gar keinen Reiz fuͤr uns haben wuͤrde,
doppelt eifrig wuͤnſcht, ſobald der Beſitz deſſel¬
ben mit Schwierigkeiten fuͤr uns verbunden
iſt.


Man ſoll auch jene kleinen Kuͤnſte, die
hoͤchſtens unter Verliebten, nicht aber unter
Ehegatten, Statt finden duͤrfen, verachten,
durch welche man, um die Liebe des andern
Theils mehr anzufeuern, mit Vorſatz Eifer¬
ſucht zu erregen ſucht. Bey einem Bande, das
auf gegenſeitige Hochachtung beruhn muß,
darf man ſich durchaus keiner ſchiefen Mittel
bedienen. Glaubt meine Frau, ich koͤnne in
der[127] der That meine Pflicht und Zaͤrtlichkeit gegen
ſie, fremden Neigungen aufopfern; ſo muß
das ihre eigene Achtung gegen mich vermindern,
und merkt ſie hingegen, daß ich nur Spielwerk
mit ihr treiben will; ſo iſt das mehr als ver¬
lohrne Arbeit, die noch obendrein oft ernſtliche
Folgen haben kann.


Ich ſage, wenn auch auf kurze Zeit der
Mann ſeinem Weibe, oder die Frau ihrem
Gatten Veranlaſſung zu ſolchen Unruhen giebt;
ſo wird doch dieſe kleine Herzens-Verwirrung,
wenn der leidende Theil nur fortfaͤhrt, ſeinen
Pflichten treu zu ſeyn, nicht dauern koͤnnen.
Bey kaltbluͤtiger Pruͤfung wird der Gedanke
aufleben: „Moͤgte auch Jener, moͤgte auch
„Jene die liebenswuͤrdigſten Eigenſchaften ha¬
„ben; ſo iſt er mir doch, iſt ſie mir doch nicht,
„was mir mein Mann, mein Weib iſt, theilt
„doch nicht mit mir jede Sorge des Lebens,
„hat nicht mit mir ſchon ſo viel Gluͤck und Un¬
„gluͤck gemeinſchaftlich getragen, haͤngt nicht
„ſo mit ganzer Seele, mit erprobter Treue an
„mir, iſt nicht Vater, nicht Mutter meiner
„lieben Kinder, wird nicht ſo ewig alles Gute
„und alles Boͤſe mit mir theilen, wird mir nicht
„den[128] „den Verluſt erſetzen, wenn ich meinen Gat¬
„ten von mir ſtoße.“ — und ein ſolcher Triumpf
der Ruͤckkehr, komme er fruͤh oder ſpaͤt! iſt
dann ſuͤß, und macht alle Leiden vergeſſen.

7.

Klugheit und Rechtſchaffenheit aber erfor¬
dern, daß man ſich ſelber gegen die Eindruͤcke
groͤßerer Liebenswuͤrdigkeit, welche fremde Per¬
ſonen auf uns machen koͤnnten, wafne. In
der fruͤhern Jugend, wenn die Phantaſie lebhaft
iſt, die Begierden heftig wuͤrken, und das Herz
noch oft mit dem Kopfe davonlaͤuft, wuͤrde ich
rathen, ſolchen gefaͤhrlichen Gelegenheiten aus¬
zuweichen; Ein junger Mann, welcher merkt,
das ein Frauenzimmer, mit der er umgeht,
ihm vielleicht einſt beſſer als ſeine Frau gefal¬
len, wildes Feuer in ihm entzuͤnden, oder we¬
nigſtens ſeine haͤusliche Gluͤckſeligkeit verbit¬
tern koͤnnte, thut wohl, wenn er, in ſo fern
er ſich nicht Feſtigkeit genug zutrauet — und
er urtheilt weiſe, wenn er ſich dieſe nicht leicht
zutrauet — thut, ſage ich, wohl, wenn er ſol¬
chen Umgang, ſo viel moͤglich, meidet, damit
derſelbe ihm nicht zum Beduͤrfniſſe werde. Dieſe
Vor¬[129] Vorſicht iſt am noͤthigſten gegen die feinern
Coketten zu beobachten, die, ohne eben Plane
auf Verletzung der Ehre zu haben, ihr Spiel¬
wert mit der Ruhe eines gefuͤhlvollen redlichen
Mannes treiben, und einen zweckloſen Triumpf
darinn ſuchen, ſchlafloſe Naͤchte zu verurſachen,
Thraͤnen zu veranlaſſen, und andrer Weiber
Neid zu erregen. Es giebt viel ſolcher eitlen
Damen, die, nicht immer durch boͤſes Herz
noch Temperament, aber wohl durch die raſende
Begierde ſtets zu glaͤnzen, allgemein zu gefal¬
len, getrieben, manche ſtille haͤusliche Ruhe
und den Frieden unter Eheleuten auf dieſe
Weiſe zerſtoͤhren. In reifern Jahren hinge¬
gen rathe ich die entgegengeſetzte Curart an.
Ein Mann von feſten Grundſaͤtzen, der ſeinem
Verſtande Rechenſchaft von den Gefuͤhlen ſei¬
nes Herzens giebt und dauerhaftes Gluͤck ſucht,
wird am leichteſten von den zu vortheilhaften
Begriffen, die er von fremden Perſonen in
Vergleichung mit ſeiner Gattinn gefaſſt hat, zu¬
ruͤckkommen, wenn er Jene ſo oft und vielfaͤl¬
tig ſieht, daß er an ihnen mehr Fehler wahr¬
nimt, als an ſeinem edlen, verſtaͤndigen, treuen
Weibe. Und dann kommen die Augenblicke
Jdes[130] des Seelen-Beduͤrfniſſes, wo man ſich nach
der theilnehmenden Gefaͤrthinn ſehnt, wenn
ſchwere Buͤrden das Herz druͤcken, die kein
Fremder ſo uns tragen hilft, oder wenn Freu¬
den jedes Gefaͤß in uns erweitern, Freuden,
die kein Fremder ſo mit uns theilt, oder Ver¬
legenheiten uns aufſtoßen, die man keinem
Fremden ſo aufrichtig, ſo ſicher entdecken darf,
als der Perſon, die einerley Intereſſe mit uns
hat; Und dann ein Blick auf wohlerzogene,
durch gemeinſchaftliche Sorgfalt erzogene Kin¬
der, auf die Fruͤchte der erſten jugendlichen Liebe!
— und das Herz kehrt ohngezwungen zu den
ſuͤßeſten Pflichten zuruͤck.

8.

Uebrigens aber kann nichts abgeſchmack¬
ter, laͤppiſcher, laͤſtiger, von verkehrterer Wuͤr¬
kung ſeyn, noch was mehr das Leben verbittert,
als wenn Eheleute durch die prieſterliche Ein¬
ſegnung ein ſo ausſchlieſſendes Recht auf jede
Empfindung des Herzens von einander erzwun¬
gen zu haben glauben, daß ſie waͤhnen, nun duͤrfe
in dieſem Herzen auch nicht ein Plaͤtzgen mehr
fuͤr irgend einen andern guten Menſchen uͤbrig
bleiben, der Gatte muͤſſe tod ſeyn fuͤr ſeine
Freun¬[131] Freunde und Freundinnen, duͤrft kein Inter¬
reſſe empfinden fuͤr kein Geſchoͤpf auf der Welt,
als fuͤr die werthe Ehehaͤlfte, und es ſey Ver¬
brechen gegen die eheliche Pflicht, mit Waͤrme,
Zaͤrtlichkeit und Theilnahme von und mit an¬
dern Perſonen zu reden. Dieſe Forderungen
werden doppelt abgeſchmackt bey einer unglei¬
chen Ehe, wo von der einen Seite ſchon Auf¬
opferungen mancher Art Statt finden. Wenn
da der eine Theil, um ſich in dem Umgange
mit liebenswuͤrdigen Leuten aufzuheitern, auf
einen Augenblick ſein Ungluͤck zu vergeſſen,
und neue Kraͤfte zum Ausdauern zu ſammlen,
ſeinen Geiſt zu erheben und wieder zu erwaͤr¬
men, in die Arme zaͤrtlicher, ihm wahrhaftig
treu ergebener Freunde eilt; ſo ſollte der an¬
dre Theil ihm dafuͤr danken, nicht durch naͤr¬
riſches Betragen, oder gar durch Vorwuͤrfe, den
Gatten die Gattinn kraͤnken, zur Verzweif¬
lung bringen, und endlich zu wuͤrklichen Verbre¬
chen verleiten.

9.

Die Wahl aber dieſer Freunde muß dem
Herzen, ſo wie die Wahl ſittlicher Vergnuͤ¬
gungen und unſchuldiger Liebhabereyen dem
Ge¬I 2[132] Geſchmacke eines Jeden uͤberlaſſen bleiben. Ich
habe oben geſagt, daß ich glaube, es werde
nicht durchaus Gleichheit von Neigungen,
Temperamenten und Geſchmack zum Ehe¬
gluͤcke erfordert. Unertraͤgliche Sclaverey
waͤre es daher, ſich dergleichen aufdringen
laſſen zu muͤſſen. Es iſt wahrlich ſchon hart
genug, wenn man die Freude entbehren ſoll,
edle Empfindungen, erhabene Gedanken, fei¬
nere Eindruͤcke, welche ſeelenerhebende Buͤ¬
cher, ſchoͤne Kuͤnſte und dergleichen auf uns
machen, mit der Gefaͤrthinn unſers Lebens
theilen zu koͤnnen, weil die ſtumpfen Organen
derſelben dafuͤr nicht empfaͤnglich ſind; aber nun
gar dieſem Allen entſagen, oder ſich in der Wahl
ſeines Umgangs und ſeiner Freunde nach den
abgeſchmackten, gefuͤhlloſen Grillen eines
ſchiefen Kopfs und kalten Herzens richten, al¬
len wohlthaͤtigen Erquickungen von der Art
entſagen zu muͤſſen — Das iſt Hoͤllenpein!
und ich brauche wohl nicht hinzuzufuͤgen, daß
am wenigſten der Mann, der doch von der
Natur und der buͤrgerlichen Verfaſſung be¬
ſtimmt iſt, das Haupt, der Regent der Fa¬
milie zu ſeyn, und der oft Gruͤnde haben
kann,[133] kann, warum er dieſen oder jenen Umgang
waͤhlt, dieſer oder jener Beſchaͤftigung ſich
widmet, dieſen oder jenen Schritt thut, der
Manchem auffallend ſeyn kann, daß Dieſer
wohl am wenigſten auf ſolche Weiſe ſich wird
einſchraͤnken laſſen. Es erleichtert hingegen
das Leben unter Menſchen, die nun einmal
verbunden ſind, alle Leiden und Freuden ge¬
meinſchaftlich zu tragen, wenn man nach und
nach ſeine Neigungen, ſeinen Geſchmack gleich
zu ſtimmen, wenn der Eine Sinn fuͤr das zu
bekommen ſucht, was der Andre liebt und gern
ſieht, beſonders wenn dies wuͤrklich groß, er¬
haben und edel iſt, und es zeugt wahrlich von
faſt viehiſcher Dummheit, oder von der ver¬
aͤchtlichſten Indolenz, wo nicht von dem boͤſe¬
ſten Willen, wenn man nach vieljaͤhriger Ver¬
bindung mit einem verſtaͤndigen, gebildeten,
fein fuͤhlenden, liebevollen Geſchoͤpfe, noch
eben ſo unwiſſend, roh, ſtumpf und ſtoͤrriſch
geblieben iſt, als man vorher war. Wenn
dann der erſte Rauſch der Liebe voruͤber iſt, und
dem leidenden Theile gehen die Augen auf uͤber
das, was der Ehegatte ihm ſeyn koͤnnte, ſeyn
ſollte, ſeyn muͤſſte, was Andre ihm geweſen
ſeynJ 3[134] ſeyn wuͤrden, oder ſind — dann gute Nacht,
Ruhe, Frieden, Gluͤck! Zaͤrtlichkeit und Hoch¬
achtung hingegen werden bey vernuͤnftigen
Perſonen jene Gleichſtimmung leicht bewuͤrken,
wenn nicht ſtoͤrriſcher Eigenſinn oder empoͤh¬
rende Ungleichheit in Denkungsart die Tren¬
nung unterhalten.

10.

Wie aber ſoll man ſich gegen wuͤrkliche
Ausſchweifungen wafnen— denn bis jetzt habe
ich nur von Herzens-Verirrungen geredet
— wie ſoll man ſich wafnen, wenn von Einer
Seite heftiges Temperament, ein reizbarer
Coͤrper, Mangel an Herrſchaft uͤber Leiden¬
ſchaften, Verfuͤhrung, Buhler-Kuͤnſte, anlok¬
kende Schoͤnheiten und Gelegenheit uns reizen,
von der andern vielleicht der Gattinn muͤrri¬
ſches Betragen, uͤble Launen, Dummheit,
Kraͤnklichkeit, Mangel an Schoͤnheit, an Ju¬
gend, an Gefaͤllichkeit, an Temperament uns
zuruͤckſtoßen? — Dies Buch iſt kein vollkomm¬
nes Syſtem der Moral, alſo uͤberlaſſe ich je¬
dem vernuͤnftigen Manne, dieſe Frage aus¬
fuͤhrlich zu beantworten und ſelbſt zu
be¬[135] beurtheilen, wie er es anfangen muͤſſe,
Meiſter zu werden uͤber ſeine Begierden
und gefaͤhrlichen Gelegenheiten und Verfuͤh¬
rungen auszuweichen, welches freylich in
der Jugend und in gewiſſen Lagen und Ver¬
haͤltniſſen nicht ſo leicht iſt, als man wohl denkt.
Doch ſo viel uͤber dieſen Gegenſtand, als hier¬
her gehoͤrt, und ſich ohne Beleidigung der Sitt¬
ſamkeit ſagen laͤſſt! Man gewoͤhne ſich ſelber,
und Einer den Andern nicht an Ueppigkeit,
Wolluſt, Weichlichkeit und Schwelgerey, mache,
daß die coͤrperlichen Beduͤrfniſſe und Begier¬
den nicht zu heftig in uns werden; man ſey,
ſelbſt in der Ehe, ſchamhaft, keuſch, delicat und
cokett in Gunſtbezeugungen, um Eckel, Ueber¬
druß und fauniſche Luͤſternheit zu entfernen!
Ein Kuß iſt ein Kuß und es wird wahrlich
faſt immer des Weibes Schuld ſeyn, wenn ein
ſonſt nicht ſchlechter Mann dieſen Kuß, den
er von treuen, reinen und warmen Lippen eh¬
renvoll und bequem zu Hauſe erlangen koͤnnte,
mit Hintanſetzung von Pflicht und Anſtand, bey
Fremden holt. Hat aber die groͤßere Schwierig¬
keit und Seltenheit ſo viel Reiz fuͤr den Men¬
ſchen; ey nun! ſo ſuche man auch der ehelichen
Ver¬J 4[136] Vertraulichkeit dieſen Reiz der Neuheit zu geben,
zuweilen kleine Hinderniſſe in den Weg zu legen,
oder durch Enthaltſamkeit, Entfernung u. d. gl.
das Verlangen darnach zu vermehren. In
weiter fortruͤckenden Jahren faͤllt denn auch
dieſer Vorwitz ſo ziemlich weg, denn da werden
ja die Triebe beſcheidener und leichter von der
Vernunft zu regieren, man muͤſſte denn ſie
muthwilliger Weiſe reizen.

11.

In der Ehe ſoll gegenſeitiges uneinge¬
ſchraͤnktes Zutrauen, ſoll Offenherzigkeit Statt
finden. Kann denn aber gar kein Fall eintre¬
ten, wo Einer vor dem Andern Geheimniſſe
bewahren duͤrfte? O ja! gewiß! Freylich, da
der Mann von der Natur beſtimmt iſt, der
Rathgeber ſeines Weibes, das Haupt der Fa¬
milie zu ſeyn; da die Folgen jedes uͤbereilten
Schrittes der Gattinn auf ihn fallen; da der
Staat ſich nur an ihn haͤlt; da die Frau eigent¬
lich gar keine Perſon in der buͤrgerlichen Ge¬
ſellſchaft ausmacht; da die Verletzung der
Pflichten von ihrer Seite ſchwer auf ihm liegt,
und die Familie weit unmittelbarer beſchimpft
und[137] und derſelben Schande und Nachtheil bringt,
als die Ausſchweifungen des Mannes dies
thun; da ſie vielmehr von dem aͤuſſern Rufe
abhaͤngt, als er; endlich da Verſchwiegenheit
mehr eine maͤnnliche, als weibliche Tugend iſt;
ſo kann es wohl ſeltener gut ſeyn, wenn die
Frau ohne ihres Mannes Wiſſen Schritte un¬
ternimt, und dieſelben vor ihm verheimlicht.
Er hingegen, der an den Staat geknuͤpft iſt,
oft Geheimniſſe zu bewahren hat, die nicht
ihm gehoͤren, und durch deren Verbreitung er
mit Andern in Verlegenheit kommen kann, Er
der das Ganze ſeines Hausweſens uͤberſehn
ſoll, auch vielfaͤltig den Plan, nach welchem er
handelt, nicht den ſchwaͤchern Einſichten unter¬
werfen darf, ſondern [feſt] und unverſchuͤttert ſei¬
nem Verſtande und Herzen folgen und das Ur¬
theil des Volks verachten muß; er kann ohn¬
moͤglich immer ſo alles erzaͤhlen und mittheilen.
Verſchiedenheit der Lagen aber kann dieſen Ge¬
ſichtspunct verruͤcken. Es giebt Maͤnner, die
ſehr uͤbel fahren wuͤrden, wenn ſie einen einzi¬
gen Schritt ohne Rath und Wiſſen ihrer Wei¬
ber thaͤten; Es giebt [ſehr] plauderhafte Herrn
und ſehr verſchwiegene Damen. Eine Frau
kannJ 5[138] kann weibliche Geheimniſſe von einer Freun¬
dinn anvertrauet bekommen haben — In al¬
len dieſen und aͤhnlichen Faͤllen muͤſſen Klug¬
heit und Redlichkeit das Verhalten beyder
Theile beſtimmen. Das aber bleibt eine hei¬
lige Regel, daß, wenn wahrhaftes Mistrauen
ſich einſchleicht, wenn man Offenherzigkeit er¬
zwingen muß, alles Gluͤck der Ehe entflieht.
Nichts kann endlich ſchaͤndlicher, niedertraͤchti¬
ger ſeyn, als wenn der Mann poͤbelhaft genug
denkt, heimlich die Briefe ſeiner Frau zu er¬
brechen, ihre Papiere zu durchwuͤhlen, oder
ihre Schraͤnke zu durchſuchen. Auch verfehlt
er mit ſolchen unwuͤrdigen Mitteln immer ſei¬
nes Zwecks. Nichts iſt leichter, als die Wach¬
ſamkeit eines Menſchen zu hintergehn, wenn
es blos auf beweisbare Vergehen ankoͤmmt,
und man die feinern Bande zerriſſen, die Ver¬
legenheiten der Delicateſſe, und des Zutrauens
gehoben hat; Ein Mann, der einmal ſeine
Frau eine Ehebrecherinn nennt, ſteckt ſich ſelbſt
das Horn der Hahnreyhſchaft auf; Nichts iſt
leichter, als einen Menſchen zu hintergehn,
den man genau kennt, bey dem man allen
Glauben verlohren hat, den man oft auf fal¬
ſchem[139] ſchem Argwohn ertappen kann, weil Leidenſchaft
ihn blind macht, und der durch Mistrauen ver¬
dient hat, getaͤuſcht zu werden — Betrug iſt
faſt immer die ſichre Folge davon, und man
kann auf dieſe Weiſe das edelſte Geſchoͤpf mo¬
raliſch zu Grunde richten und zu Verbrechen
reizen.

12.

Ich rathe aus Gruͤnden, die wohl jeder
vernuͤnftige Menſch ſelbſt einſehn wird, auch
nicht einmal an, daß Eheleute alle Geſchaͤfte
gemeinſchaftlich treiben, ſondern daß Jeder ſei¬
nen angewieſenen Wuͤrkungskreis habe. Es
geht ſelten gut im Hauſe, wenn die Gattinn
fuͤr ihren Gatten die Berichte ad ſereniſſimum
entwerfen und er dagegen, wenn Fremde einge¬
laden ſind, die Capaunen braten, Cremen ma¬
chen, und die Toͤchter ankleiden helfen muß.
Daraus entſteht Verwirrung; man ſetzt ſich
dem Geſpoͤtte des Hausgeſindes aus; der Eine
verlaͤſſt ſich auf den Andern, will ſich aber da¬
gegen in alles miſchen, alles wiſſen — Mit
Einem Worte! das taugt nicht.


13.[140]

13.

Was aber die Verwaltung der Gelder be¬
trifft; ſo kann ich die Weiſe der mehrſten Maͤn¬
ner von Stande nicht billigen, welche ihren
Gemahlinnen eine gewiſſe Summe geben, wo¬
mit ſie auskommen muͤſſen, um davon den
Haushalt zu beſtreiten. Dadurch entſteht ge¬
theiltes Intereſſe; die Frau tritt in die Claſſe
der Bedienten, wird zu Eigennutz verleitet,
ſucht zu ſparen, findet daß der Mann zu lecker
iſt, macht ſchiefe Geſichter, wenn er einen gu¬
ten Freund zur Tafel einladet; der Mann,
wenn er nicht fein denkt, meint immer, er ſpeiſe
fuͤr ſein theures Geld zu ſchlecht, oder, wenn
er im Gegentheil zu viel Delicateſſe uͤbt: ſo
wagt er es nicht, zuweilen ein Gerichtgen mehr
zu fordern, aus Furcht, ſeine Gattinn in Ver¬
legenheit zu ſetzen. Gieb alſo Deiner Haus¬
frau, (wenn nicht etwa ein Haushofmeiſter
oder eine Ausgeberinn diejenigen Geſchaͤfte bey
Dir verſehen, die eigentlich zu den Pflichten
der Gattinn gehoͤren) gieb ihr eine Summe
Geldes, die Deinen Umſtaͤnden angemeſſen ſey,
zur Ausgabe! Wenn dieſe verwendet iſt; ſo
komme ſie, und fordere mehr von Dir! Findeſt
Du,[141] Du, daß zuviel ausgegeben worden; ſo laß
Dir die Rechnung zeigen! Ueberlege mit ihr
gemeinſchaftlich, auf welcher Seite geſpart wer¬
den koͤnne! Mache ihr kein Geheimniß aus
Deinen Vermoͤgens-Umſtaͤnden! Allein be¬
ſtimme ihr auch eine kleine Summe zu ihren
unſchuldigen Vergnuͤgungen, zu ihrem Putze,
zu ſtillen wohlthaͤtigen Handlungen und for¬
dere davon keine Berechnung!

14.

Gute Hauswirthſchaft iſt eines der noth¬
wendigſten Stuͤcke zur ehelichen Gluͤckſeligkeit.
Man ſuche desfalls vor allen Dingen, wenn
man auch im ledigen Stande einigen Hang
zur Verſchwendung gehabt haͤtte, ſich davon
loszumachen, und ſich haͤuslicher Sparſamkeit
zu befleiſſigen, ſobald man heyrathet! Einem
einzelnen Menſchen iſt alles leicht zu ertragen,
Noth, Mangel, Demuͤthigung, Zuruͤckſetzung:
Am Ende ſteht ihm, wenn er geſunde Arme
hat, die ganze Welt offen! er kann alles im
Stiche laſſen, und in einem unbekannten Win¬
kelchen der Erde leicht mit ſeiner Haͤnde Ar¬
beit ſein Leben friſten; Aber wenn ſchlechte
Haus¬[142] Haushaltung den Ehemann und Vater in
Armuth geſtuͤrzt hat, und er nun den Blick
umherwirft auf die Perſonen ſeiner Familie,
die von ihm Unterhalt, Nahrung, Wartung,
Erziehung, Vergnuͤgen fordern; wenn er dann
oft nicht weiß, woher er auf morgen Brod
nehmen, wovon er die großen Maͤdchen kleiden
ſoll, die ihre jetzigen Lumpen bald aufgeriſſen
haben; oder wenn ſeine buͤrgerliche Ehre, ſeine
Befoͤrderung, die Verſorgung ſeiner Kinder
davon abhaͤngt, daß er mit den Seinigen in
einem gewiſſen anſtaͤndigen Aufzuge, vielleicht
gar mit einigem Glanze erſcheine, und es doch
von allen Seiten dazu fehlt; Wenn das Sil¬
ber-Geraͤthe vom Wucherer, wo es im Verſatze
ſteht, auf einen Mittag geborgt werden muß,
um Gaͤſte darauf bewirthen zu koͤnnen, indeß
unten im Hauſe ein Knabe wartet, der es
gleich nach der Mahlzeit wieder in Empfang
nehmen ſoll; Wenn Glaͤubiger und Advocaten
ihn in die Enge treiben, und Juden an den
Zipfeln ſeines ſchlaffen Geldbeutels melken;
dann fallen boͤſe Launen, Krankheit des Leibes
und der Seele den Ungluͤcklichen an; Verzweif¬
lung ergreift ihn; er ſucht ſich zu betaͤuben,
ver[143] verfaͤllt in Ausſchweifungen; von Innen zer¬
nagt ihn das unruhige Gewiſſen, von Auſſen
verfolgen ihn bittre Vorwuͤrfe ſeines Weibes;
das Winſeln ſeiner Kinder ſchreckt ihn auf aus
fuͤrchterlichen Traͤumen; Die Verachtung,
womit der vornehme und reiche Poͤbel auf ihn
herabblickt, umwoͤlkt jeden Strahl von Hof¬
nung; Muth und Troſt ſchwinden; die Freunde
fliehen; das Hohngelaͤchter der Feinde und
Neider erſchuͤttert jede Nerve, und in dieſer
traurigen Lage ſchwindet denn freylich aller
Schatten von haͤuslicher Freude; Der Elende
fliehet auch nichts ſo ſehr, als den Anblick und
den Umgang Derer, die er mit ſich in das Un¬
gluͤck geſtuͤrzt hat — ſollte alſo Einer von den
Eheleuten zur Verſchwendung geneigt ſeyn; ſo
iſt es rathſam, weil es noch Zeit iſt, Mittel
vorzuſchieben, jener graͤßlichen Lage auszuwei¬
chen. Der andre Theil, der beſſer mit Gelde
umzugehn weiß, uͤbernehme die Caſſe! Man
mache ſich einen genauen Etat, wie man dem
Haushalte wieder aufhelfen will, und befolge
dieſen puͤnctlich, ſchraͤnke ſich ein, ſorge aber
dafuͤr, daß, wo moͤglich, auch etwas zu erlaub¬
ten Vergnuͤgungen uͤbrig bleibe, damit dem
Ver¬[144] Verſchwender die Einſchraͤnkungen und Ent¬
behrungen nicht zu ſchwer werden!

15.

Iſt es aber beſſer, daß der Mann, oder
die Frau reich ſey? Wenn eines ſeyn ſoll; ſo
ſtimme ich fuͤr Erſteres. Gut iſt es, wenn
Beyde einiges Vermoͤgen haben, um zu den
Nothwendigkeiten des Lebens gemeinſchaftlich
beytragen zu koͤnnen, damit nicht Einer ſo
ganz auf Unkoſten des Andern zehre. Soll
aber die Abhaͤngigkeit, welche doch natuͤrlicher
Weiſe daraus auf Seiten des aͤrmern Theils
entſteht, Statt finden; ſo iſt es der Natur
gemaͤßer, daß das Haupt der Familie am mehr¬
ſten zum Unterhalte der Familie beytrage.
Heyrathet aber ein Mann eine reiche Frau;
ſo ſetze er ſich wenigſtens in den Fall, dadurch
nie ihr Sclave zu werden! Aus Verabſaͤu¬
mung dieſer Vorſicht ſind ſo wenig Ehen von
der Art gluͤcklich. Haͤtte meine Frau mir groſ¬
ſes Vermoͤgen zugebracht; ſo wuͤrde ich mich
doppelt beſtreben, ihr zu beweiſen, daß ich ge¬
ringe Beduͤrfniſſe haͤtte; Ich wuͤrde wenig an
meine Perſon wenden; Ich wuͤrde ihr bewei¬
ſen,[145] ſen, daß ich dies Wenige mit meinem Fleiſſe
mir erwerben koͤnnte; Ich wuͤrde ihr Koſtgeld
geben; Ich wuͤrde nur der Verwalter ihres Ver¬
moͤgens ſeyn; Ich wuͤrde Aufwand im Hauſe
machen, weil das ſich fuͤr reiche Leute ſchickt;
aber ich wuͤrde ihr zeigen, daß dieſer Aufwand
meine Eitelkeit nicht ſchmeichelte; daß ich bey
zwey Speiſen eben ſo vergnuͤgt als bey zwanzigen
bin, daß ich keiner Aufwartung bedarf, daß
ich geſunde Beine habe, die mich eben ſo weit,
wenn gleich nicht ſo ſchnell fortbringen, als ihre
vergoldeten Waͤgen; und dann wuͤrde ich, wie
es dem Hausherrn zukoͤmmt, uͤber die Anwen¬
dung ihres Vermoͤgens unumſchraͤnkte Gewalt
verlangen.

16.

Iſt es noͤthig, daß der Mann kluͤger ſey,
als die Frau? — Das iſt wiederum eine nicht
unwichtige Frage; Wir wollen ſie naͤher beleuch¬
ten! Der Begriff von Klugheit und Vernunft
wird, mit allen ſeinen Relationen und Modifi¬
cationen, nicht immer auf einerley Art verſtan¬
den. Die Klugheit eines Mannes ſoll wohl
von ganz andrer Art ſeyn, als die, welche man
Kvon[146] von einer Frau verlangt; und wenn nun vol¬
lends Klugheit mit Welt-Erfahrung, oder gar
mit Gelehrſamkeit verwechſelt wird; ſo waͤre es
Unſinn, von dieſen bey einem Geſchlechte ſo
viel als bey dem andern vorausſetzen zu wollen.
Ich fordere daher von einem Frauenzimmer
einen eſprit de detail, eine Feinheit, unſchuldige
Verſchlagenheit, Behutſamkeit, einen Witz, ein
Dulden, eine Nachgiebigkeit und Geduld —
lauter Stuͤcke, die doch auch zur Klugheit gehoͤ¬
ren! — welche in dem Grade nicht immer das
Eigenthum des maͤnnlichen Characters ſind.
Dagegen erwarte ich, daß der Mann zuvor¬
ſchauender, gefaſſter bey allen Vorfaͤllen, feſter,
unerſchuͤtterlicher, weniger den Vorurtheilen un¬
terworfen, ausdauernder und gebildeter ſey, als
das Weib. Jene Frage aber war in allgemei¬
nem Sinne zu verſtehn, nemlich alſo: Wenn
einer von beyden Theilen ſchwach, ſtumpf von
Organen und unwiſſend in manchen zum Welt¬
leben noͤthigen Kenntniſſen ſeyn ſollte; wuͤrde
es da beſſer ſeyn, daß der Mann, oder daß
die Frau der ſchwaͤchere Theil waͤre? — Ich
antworte ohne Anſtand; noch habe ich nie eine
gluͤckliche und weiſe geordnete Haushaltung ge¬
ſehn,[147] ſehn, in welcher die Frau die entſchiedene Al¬
leinherrſchaft gehabt haͤtte. Es geht in einem
Hauſe, wo ein Mann von mittelmaͤßigen Faͤ¬
higkeiten das Regiment fuͤhrt, groͤßtentheils
immer noch beſſer her, als in einer, wo eine
kluge Frau ausſchließlich Herr iſt. Es kann
vielleicht Ausnahmen davon geben; allein ich
kenne deren keine. Es verſteht ſich aber, daß
hier nicht von der feinern Herrſchaft uͤber das
Herz eines edlen Gatten die Rede iſt; wer
wird dieſe nicht gern einem klugen Weibe ein¬
raͤumen? welcher verſtaͤndige Mann wird nicht
fuͤhlen, daß er oft ſanfter Zurechtweiſung be
darf? Jene ausſchließliche Herrſchaft hingegen
ſcheint der Beſtimmung der Natur zuwider.
Schwaͤcherer Coͤrperbau; eingepflanzte Nei¬
gung zu weniger dauerhaften Freuden; Lau¬
nen aller Art, die den Verſtand oft in den ent¬
ſcheidendſten Augenblicken feſſeln; Erziehung;
und endlich buͤrgerliche Verfaſſung, welche die
Verantwortung des Hausregiments allein auf
den Mann waͤlzt; das alles beſtimmt laut die
Gattinn, Schutz zu ſuchen, und legt dem Gat¬
ten die Pflicht auf, zu ſchuͤtzen. Nun iſt aber
doch nichts laͤcherlicher, als wenn der Weiſere
undK 2[148] und Staͤrkere Schutz ſuchen ſoll bey dem Tho¬
ren und Schwachen. Frauenzimmer von vor¬
zuͤglichen Geiſtesgaben handeln daher wahrlich
gegen ihren eigenen Vortheil, und bereiten
ſich unangenehme Ausſichten, wenn ſie aus
Herrſchſucht ſich dumme Maͤnner wuͤnſchen
oder waͤhlen; Die ſichern Folgen davon ſind
Ueberdruß, verwirrte Haushaltung und Ver¬
achtung des Publicums fuͤr einen von beyden
Theilen, und das heiſſt ja fuͤr beyde Theile.
Maͤnner aber, die ſo unmuͤndig am Geiſte ſind,
daß ſie die Rolle eines Hausvaters nicht gehoͤ¬
rig zu ſpielen, nicht Herrn in ihrem Hauſe zu
ſeyn vermoͤgen, thun beſſer, Hageſtolze zu blei¬
ben und ſich ein Plaͤtzgen in einem Hoſpital,
oder eine Praͤbende zu kaufen, als daß ſie ſich
vor Kindern, Hausgeſinde und Nachbare laͤ¬
cherlich machen. Ich habe einen ſchwachen
Fuͤrſten gekannt, deſſen Gemahlinn ſo unum¬
ſchraͤnkte Gebietherinn uͤber ihn war, daß, als
ſie einſt beſtellt hatte auszufahren, der Fuͤrſt
hinunter in den Schloßhof ſchlich, und den Kut¬
ſcher, welcher da hielt, leiſe fragte: „Wiſſet Ihr
„nicht ob ich mitfahre?“ Das macht ſolche Ehe¬
maͤnner zum Geſpoͤtte, und niemand mag Ge¬
ſchaͤfte[149] ſchaͤfte mit einem Manne treiben, deſſen Wil¬
len, deſſen Freundſchaft und deſſen Art irgend
einen Gegenſtand anzuſehn, von den Launen,
Winken und Zurechtweiſungen ſeiner Frau ab¬
haͤngt, der ſeine Briefe erſt ſeiner Hofmei¬
ſterinn zur Durchſicht vorlegen, und uͤber die
wichtigſten, geheimſten Angelegenheiten erſt
Inſtruction bey dem Bratenwender holen muß.

17.

Es giebt in dieſem Leben eine Menge Un¬
gemachs zu tragen. Auch Der, welcher der
Gluͤcklichſte zu ſeyn ſcheint, hat insgeheim Lei¬
den mancher Art zu uͤberwinden, wahre und
eingebildete, unverſchuldete oder ſelbſtgeſchaf¬
fene — gleichviel! aber immer darum nicht
minder Leiden. Sehr wenig Weiber haben
Kraft genug, das Ungluͤck ſtandhaft zu leiden,
guten Rath in der Noth zu ertheilen, und ih¬
ren Gatten die Buͤrde tragen zu helfen, die
nun einmal getragen werden muß. Die mehr¬
ſten erſchweren das Uebel, durch unzeitige
Klagen, durch Geſchwaͤtz uͤber das, was ſeyn
koͤnnte, wenn es nicht ſo waͤre, wie es iſt, oder
gar durch uͤbel angebrachte, zuweilen ſehr un¬
billi¬K 3[150] billige Vorwuͤrfe. Iſt es daher irgend moͤglich,
kleinere Unannehmlichkeiten (mit Haupt-Un¬
gluͤcksfaͤllen laͤſſt ſich das ſelten thun) vor Dei¬
ner Ehefrau zu verbergen; ſo verſchlieſſe lie¬
ber den Kummer in Deinem Herzen! Es kann
ja ohnehin ein gut geartetes Gemuͤth nicht er¬
leichtern, wenn es Andre, die es liebt, mit ſich
leiden macht; und wenn nun gar die Laſt da¬
durch nicht erleichtert, ſondern vielmehr er¬
ſchwert wird; wer wollte dann nicht lieber
ſchweigen, und ſeinen Ruͤcken dem Sturme
allein preisgeben? Schickt die Vorſehung Dir
aber einen großen, nicht zu verſchweigenden
Unfall, Noth, Schmerz, Krankheit zu; ver¬
folgen Dich wiedrige Geſchicke, oder boͤſe Men¬
ſchen; o! dann rufe Deine ganze Standhaf¬
tigkeit auf! Faſſe Deinen Muth zuſammen,
und verſuͤße der Gefaͤhrtinn Deines Lebens
die Bitterkeit des Kelchs, den ſie mit Dir aus¬
trinken muß! Wache uͤber Deine Launen, da¬
mit nicht der unſchuldige durch Dich leiden
muͤſſe! Verſchlieſſe Dich in Dein Caͤmmerlein,
wenn das Herz zu ſchwer wird! Dort erleich¬
tere Dich durch Thraͤnen oder Gebeth! Staͤrke
und ſtaͤhle Dein Herz durch Philoſophie, durch
Zu¬[151] Zuverſicht auf Gott, durch Hofnung und durch
weiſe Entſchlieſſungen! und dann tritt hervor
mit heitrer Stirne, und ſey der Troͤſter des
Schwaͤchern! Ach! es iſt kein Elend in der
Welt von beſtaͤndiger Dauer, kein Schmerz
ſo groß, der nicht freye Augenblicke uͤbrig lieſſe;
Ein gewiſſer Heroismus im Kampfe gegen das
Ungluͤck fuͤhrt Freuden mit ſich, die wahrlich
das haͤrteſte Ungemach vergeſſen machen, und
der Gedanke, Andre zu troͤſten und aufzurich¬
ten, erhebt wunderbar das Herz, erfuͤllt mit
unbeſchreiblicher Heiterkeit. Ich rede aus Er¬
fahrung.

18.

Wir ſind daruͤber einig geworden, daß
vollkommne Gleichheit in Denkungsart und
Temperamenten zu einer gluͤcklichen Ehe nicht
nothwendig ſey; traurig aber iſt doch immer
die Lage, wenn die Ungleichheit gar zu auffal¬
lend iſt, wenn die Gattinn ſo an gar nichts
von allem warmen Antheil nimt, was dem
Gatten wichtig und intereſſant ſcheint. Trau¬
rig iſt es immer, wenn man, um Genuß un¬
ſchuldiger Freuden, um Leiden, um hohe Ge¬
fuͤhle, ferne Ausſichten, Unternehmungen,
kurz!K 4[152] kurz! um alles, was Kopf und Herz beſchaͤf¬
tigt, zu theilen, ſich nach fremden Mitgenoſ¬
ſen umſehn muß. Traurig iſt es, wenn ein
phlegmatiſches Geſchoͤpf zu jedem geiſtreichen
Tropfen, den uns die ſuͤße Phantaſie einſchenkt,
Waſſer gieſſt, uns aus jeder ſeligen Taͤuſchung
unſanft aufweckt, unſre waͤrmſten Geſpraͤche
mit Plattituͤden beantwortet, und auf unſre
ſchoͤnſten Pflanzungen mit ſchweren Tatzen her¬
untertrampelt — Was iſt aber in ſolchen La¬
gen zu thun? Vor allen Dingen Hiobs Spe¬
cificum gebraucht! Nicht lange moraliſiert,
wo keine Beſſerung zu hoffen iſt; geſchwiegen,
wenn man doch nicht verſtanden wird; und
dann die Gelegenheit vermieden, Scenen zu
veranlaſſen, wodurch wir zu arg entruͤſtet, oder
gekraͤnkt, oder durch die Dummheit des Wei¬
bes oͤffentlich beſchimpft wuͤrden! — ſo kann
man denn doch wenigſtens negativ ſo ziemlich
gluͤcklich ſeyn.

19.

Wie aber, wenn das Schickſal oder ei¬
gene Torheit uns auf ewig an ein Geſchoͤpf
gekettet hat, das, mit großen moraliſchen Ge¬
brechen,[153] brechen, oder gar' mit Laſtern behaftet, der
Liebe und Achtung edler Menſchen unwerth
iſt; wenn unſre Gattinn uns durch ein muͤr¬
riſches, feindſeliges Temperament, durch Neid,
Geiz oder unvernuͤnftige Eiferſucht das Leben
verbittert, oder wenn ſie ſich durch ein falſches,
tuͤckiſches Herz veraͤchtlich macht, oder wenn
ſie in Unzucht, oder Voͤllerey lebt? Ich brau¬
che hier nicht zu erinnern, daß mancher ehrli¬
che Mann unſchuldigerweiſe in dies Labyrinth
gerathen kann, wenn ihm die Liebe in fruͤher
Jugend einen Streich geſpielt hat, indem der
boͤſe Feind Asmodaͤus im Brautſtande immer
die ſchoͤnſte Larve vornimt. Ich ſchweige hin¬
gegen auch davon, daß ſehr oft der Mann
durch uͤble oder unvorſichtige Behandlung
daran Schuld iſt, wenn Untugenden und La¬
ſter, zu welchem der Keim in dem Herzen ſei¬
ner Frau lag, zum Ausbruch kommen. Es
wuͤrde mich endlich zu weit fuͤhren, wenn ich
Regeln fuͤr das Verhalten in jeder einzelnen
ungluͤklichen Lage von der Art geben wollte —
Alſo nur ſo viel im Allgemeinen! Man muß
in ſolchen Situationen dreyerley Ruͤckſichten
nehmen, nemlich: zuerſt ſolche, welche auf Be¬
K 5foͤrde¬[154] foͤrderung unſrer eigenen Ruhe abzielen; ſo¬
dann Ruͤckſichten auf Kinder und Hausgenoſ¬
ſen, und endlich auf das Publicum. Was uns
ſelbſt betrifft; ſo rathe ich, wenn einmal keine
Hofnung zu Bewuͤrkung ſittlicher Beſſerung
da iſt, ſich nicht mit Klagen, Vorwuͤrfen und
Zaͤnkereyen aufzuhalten, ſondern in der Stille
ſolche kraͤftige Gegenmittel zu waͤhlen, die uns
Vernunft, Rechtſchaffenheit und Gefuͤhl von
Ehre anrathen. Entwirf reiflich und mit moͤg¬
lichſt kaltem Blute Deinen Plan! Ueberlege
wohl, ob eine Trennung noͤthig ſey, oder wie
Du es anzufangen habeſt, Deinen Zuſtand,
wenn derſelbe nun einmal nicht zu verbeſſern
iſt, leidlich zu machen, und laß Dich dann von
dieſer Richtſchnur durch nichts, ſelbſt durch keine
blos anſcheinende Beſſerung, noch durch Lieb¬
koſungen abwendig machen! Erniedrige Dich
aber nie ſo weit, daß Du Dich durch Hitze zu
groben Behandlungen verleiten lieſſeſt, ſonſt
haſt Du ſchon zur Haͤlfte Unrecht. Erfuͤlle
endlich um ſo treuer Deine Pflichten, je oͤfter
Dein Weib dieſelben uͤbertritt; ſo wird auch
Dein Gewiſſen beruhigt ſeyn, und mit einem
ruhigen Gewiſſen laͤſſt ſich alles, auch das
Aergſte[155] Aergſte ertragen. In Betracht Deiner Kin¬
der, des Hausgeſindes und des Publicums
aber vermeide alles Aufſehn! Laß, wo moͤglich,
Dein Ungluͤck nicht ruchtbar werden! Wenn
Uneinigkeit unter Eheleuten herrſcht; ſo wer¬
den die Kinder immer ſchlecht erzogen. Iſt
dieſe Uneinigkeit alſo nicht zu verbergen; ſo
trenne Dich lieber von Deinen Kindern, und
uͤberlaſſe ihre Leitung fremden guten Haͤnden!
Wenn bekannte Uneinigkeit unter Eheleuten
herrſcht; ſo iſt das Hausgeſinde nie zur Ord¬
nung, Treue und Gradheit geneigt; Es ent¬
ſtehen Partheyen und Klatſchereyen ohne Ende;
Vermeide daher allen Zank in Gegenwart des
Geſindes! Wenn oͤffentliche Uneinigkeit unter
Eheleuten herrſcht; ſo verliehrt der unſchul¬
dige Theil zugleich mit dem ſchuldigen die Ach¬
tung der Mitbuͤrger; Vertraue deswegen
nicht leicht Dein haͤusliches Ungluͤck fremden
Leuten!

20.

Sehr gern aber pflegen ſich dienſtfertige
gute Freunde, alte Weiber, beyderley Ge¬
ſchlechts, Vettern und Baaſen in ſolche Ange¬
legen¬[156] legenheiten zu miſchen. Leide nicht, daß ir¬
gend jemand, wer es auch ſey, ohne Dein Bit¬
ten, ſich um Deine haͤuslichen Umſtaͤnde be¬
kuͤmmere! Weiſe ſolche Naſeweiſigkeiten mit
aller maͤnnlichen Entſchloſſenheit von Dir!
Allein bethe, daß der Himmel Dich bewahre
vor ſolchen alten Hexen von Schwiegermuͤt¬
tern, die alles wiſſen, alles thun und, wenn
ſie auch dumm wie das Vieh ſind, dennoch al¬
les dirigieren wollen, deren Geſchaͤft iſt, Hez¬
zereyen anzuſtiften, zu unterhalten, und die
mit Koͤchinnen und Haushaͤlterinnen gemein¬
ſchaftliche Sache machen, um aus chriſtlicher
Liebe die Handlungen des Naͤchſten auszuſpaͤhn.
Sollteſt Du aber zum Ungluͤck ſo eine Meer¬
katze, ein ſolches ſataniſches Hausgeraͤth mit
erheyrathet haben; ſo ergreife die erſte Gele¬
genheit, da ſie ſich in Deine Hausvaters-Ange¬
legenheiten miſchen will, um ihre freundlichen,
frommen Dienſte auf eine ſolche Art zu verbit¬
ten, daß ſie Dir ſo bald nicht wiederkomme!
Es giebt aber auch gute, edle Schwiegermuͤt¬
ter.


Ueberhaupt ſollen alle Zwiſtigkeiten unter
Eheleuten nur unter ihren vier Augen ausge¬
macht[157] macht werden und, wenn es auf das Hoͤchſte
koͤmmt, vor der Landes-Obrigkeit; Alle Mit¬
tel–Inſtanzen taugen gar nichts, und fremde
Friedens-Stifter und Beſchuͤtzer des leidenden
Theils machen immer das Uebel aͤrger. Der
Mann muß Herr ſeyn in ſeinem Hauſe; ſo
wollen es Natur und Vernunft! Mit einem
Herrn zankt man nicht; Er hat aber Richter
uͤber ſich, nicht neben ſich. Er ſoll ſich auf
keine Weiſe dieſe Herrſchaft rauben laſſen, und
auch dann, wenn die weiſere Frau ſeiner offenba¬
ren Macht die heimliche Gewalt uͤber ſein Herz
entgegenſtellt; muß doch das aͤuſſere Anſehn
der Herrſchaft nie wegfallen.

21.

Nichts erſchuͤttert ſo heftig das Gluͤck un¬
ter Gatten und Gattinnen, als die Verletzung
ehelicher Treue. Der Moralitaͤt nach und
unſern religioͤſen und politiſchen Grund¬
ſaͤtzen gemaͤß, iſt die Uebertretung der eheli¬
chen Pflichten von einer Seite ſo unedel als
von der andern! In Ruͤckſicht auf die Folgen
hingegen iſt freilich die Unkeuſchheit einer
Frau weit ſtrafbarer, als die eines Mannes.
Jene[158] Jene zerreiſſt die Familien-Bande, vererbt
auf Baſtarte die Vorzuͤge ehelicher Kinder, zer¬
ſtoͤhrt die heiligen Rechte des Eigenthums, und
wiederſpricht laut den Geſetzen der Natur,
nach welchen immer Vielweiberey weniger un¬
natuͤrlich als Vielmaͤnnerey ſeyn wuͤrde —
Man hat nicht einmal in irgend einer Spra¬
che einen uͤblichen Ausdruck fuͤr das Letztere.
Der Mann iſt das Haupt der Familie; Die
ſchlechte Auffuͤhrung ſeiner Frau wirft zugleich
Schande auf ihn, als den Haus- Regenten —
nicht umgekehrt alſo! Ohne Betracht auf Folge
und Rechenſchaft aber; ſo duͤnkt mich handelt
ein Theil, der den andern fuͤr untreu haͤlt, ſehr
unweiſe, wenn er durch Vorwuͤrfe, oder gar
durch unvernuͤnftiges Toben ihn in Schran¬
ken halten will. Iſt es ihm um ſein Herz zu
thun; ſo muß er wiſſen, daß man nur durch
ſanfte, liebevolle Mittel Herzen feſſelt, durch
das Gegentheil aber zuruͤckſtoͤßt; Verlangt er
nur den alleinigen Beſitz ſeines Leibes; ſo iſt
er ein Geſchoͤpf der gemeinſten Art. Ehe¬
leute, die durch kein edlers Band an einander
geknuͤpft ſind, finden tauſend Mittel, ſich zu
hintergehn, und es iſt daran nicht viel verloh¬
ren.[159] ren. Wenn alſo bey der Untreue nicht Zaͤrt¬
lichkeit und Hochachtung gekraͤnkt werden; ſo
iſt wahrlich, nach der Franzoſen Meinung,
die Hahnreyhſchaft, wenn man die Sache
weiß, ſehr wenig, und wenn man ſie nicht
weiß, gar nichts. Noch aͤrger aber, und das
ſicherſte Mittel, auch den treueſten Gatten zu
Ausſchweifungen zu verleiten, iſt, ihn auf
bloßen Verdacht durch Vorwuͤrfe und niedri¬
ges Mistraun zu beleidigen. Sollte aber
Dein Ungluͤck gewiß, und Deine Schande
nicht zu verbergen ſeyn; ſo iſt freylich kein an¬
ders Mittel, als Trennung durch gerichtliche
Huͤlfe, oder durch guͤtliche Uebereinkunft, ob¬
gleich der Schandfleck dadurch nicht ausgeloͤſcht
wird. In allen uͤbrigen Faͤllen iſt die Eheſchei¬
dung eine hoͤchſt bedenkliche Sache. Leute,
die eine Reyhe von Jahren mit einander ver¬
lebt haben, koͤnnen einen ſolchen Schritt nicht
leicht thun, ohne Beyde an oͤffentlicher Ach¬
tung zu verliehren. Eheleute, die Kinder ha¬
ben, koͤnnen nie ſich trennen, ohne ſehr
nachtheilige Folgen fuͤr die Bildung und zeitli¬
che Gluͤckſeligkeit dieſer Kinder. Iſt es daher
irgend moͤglich, bey einem weiſen, vorſichtigen
Betra¬[160] Betragen, es mit einander auszuhalten; ſo
ertrage, leide und dulde man, und vermeide
oͤffentliches Aergerniß!

22.

Allein alle dieſe Vorſchriften ſind wohl nur
beſonders anwendbar auf Perſonen im mitlern
Stande. Die ſehr vornehmen und ſehr reichen
Leute haben ſelten Sinn fuͤr haͤusliche Gluͤckſe¬
lichkeit, fuͤhlen keine Seelen-Beduͤrfniſſe, leben
mehrentheils auf einen ſehr fremden Fuß mit
ihren Ehegatten, und beduͤrfen alſo keiner an¬
dern Regeln, als ſolcher, die eine feine Erzie¬
hung vorſchreibt. Und da ſie auch eine eigene
Moral zu haben pflegen; ſo werden ſie wohl in
dieſem Capittel wenig finden, das fuͤr ſie taug¬
lich waͤre.


Fuͤnf¬[161]

Fuͤnftes Capittel.


Ueber den Umgang mit und unter Ver¬
liebten.


1.

Mit Verliebten iſt vernuͤnftiger Weiſe gar
nicht umzugehn; Sie ſind, ſo wenig als andre
Betrunkene, zur Geſelligkeit geſchickt; Auſſer
ihrem Abgotte iſt die ganze Welt tod fuͤr ſie.
Man mag uͤbrigens leicht mit ihnen fertig wer¬
den, wenn man nur Geduld genug hat, ſie von
dem Gegenſtande ihrer Zaͤrtlichkeit reden zu
hoͤren, ohne zu jaͤhnen, wenn man im Gegen¬
theil dabey einiges Intereſſe zeigt, ſich uͤber
ihre Thorheiten und Launen nicht zu aͤrgern
und, im Fall die Liebe heimlich gehalten ſeyn
ſoll, ſie nicht zu beobachten, nichts zu merken
ſcheint, wuͤſſte auch die ganze Stadt das Ge¬
heimniß (wie es denn mehrentheils geſchieht)
endlich wenn man ihre Eiferſucht nicht erregt.

Und ſo haͤtte ich denn uͤber dieſen Gegen¬
ſtand weiter nichts zu reden — Doch noch ein
LPaar[162] Paar Bemerkungen! Suchet Ihr einen ver¬
ſtaͤndigen Freund, der Euch mit weiſem Rathe,
oder mit feſtem Muthe, mit Fleiß und dauern¬
der Arbeit dienen ſoll; ſo waͤhlet keinen Ver¬
liebten dazu! Iſt es Euch aber darum zu thun,
eine theilnehmende, empfindſame Seele zu
finden, die mit Euch klage, winſele, oder Euch
ohne Sicherheit Geld borge, auf etwas ſub¬
ſcribiere, ein reiches Almoſen gebe, ein armes
Maͤdchen ausſtatte, einen beleidigten Vater
beſaͤnftigen helfe, oder mit Euch Ritterſtreiche
mache, Kindereyen treibe, oder Eure Verſe,
Eure Liederchen [und] Sonaten lobe; ſo wendet
Euch nach den Umſtaͤnden an einen gluͤckli¬
chen oder leidenden Liebhaber!

2.

Den Verliebten ſelbſt Regeln uͤber ihren
Umgang mit einander zu geben, das wuͤrde
verlohrne Muͤhe ſeyn; Denn da dieſe Men¬
ſchen ſelten bey geſunder Vernunft ſind; ſo
waͤre es eben ſo unſinnig, zu verlangen, daß ſie
ſich dabey gewiſſen Vorſchriften unterwerfen
ſollten, als wenn man einem Raſenden zumu¬
then wollte, in Verſen zu phantaſiren, oder Ei¬
nem[163] nem, der die Colic hat, nach Noten zu ſchreyen.
Doch lieſſe ſich Einiges ſagen, das gut zu be¬
obachten waͤre, wenn man hoffen duͤrfte, daß
ſolche Menſchen der Vernunft Gehoͤr gaͤben.

3.

Die erſte Liebe bewuͤrkt ungeheure Revo¬
lutionen in der ganzen Sinnesart und dem
Weſen des Menſchen. Wer nie geliebt hat,
kann keinen Begriff haben von den ſeligen Freu¬
den, die der Umgang unter Verliebten gewaͤhrt:
wer zu oft mit ſeinem Herzen Tauſch und Han¬
del getrieben hat, verliehrt den Sinn dafuͤr.
Ich habe einſt ein Bild davon entworfen, und
da ich jetzt nichts Beſſers daruͤber zu ſagen weiß;
ſo will ich dieſe Stelle hier abſchreiben. *)


„Es iſt eine gar ſonderbare Sache um die
„erſten Liebes-Erklaͤrungen. Wer mit ſeinem
„Herzen ſchon oft Spielwerk getrieben, ſeine
„zaͤrtlichen Seufzer vor manchen Schoͤnen ſchon
„ausgeblaſen hat, dem wird es eben nicht ſchwer,
„wenn er einmal wieder ſich die Luſt macht,
„ver¬L 2[164] „verliebt zu werden, ſeine Empfindungen bey
„einer ſchicklichen Gelegenheit an den Tag zu
„legen; auch weiß dann die Cokette ſchon, was
„ſie bey ſolchen Vorfaͤllen zu antworten hat.
„Sie glaubt das Ding nicht ſogleich, meint, der
„Herr wolle ſie zum Beſten haben, er ſpiele
„den Romanhelden oder, wenn er dringend
„wird, und ſie glaubt nach und nach uͤberzeugt
„werden zu muͤſſen; ſo koͤmmt zuerſt eine Bitte,
„ihrer Schwachheit zu ſchonen, ihr nicht ein Ge¬
„ſtaͤndniß abzunoͤthigen, wobey ſie erroͤthen
„muͤſſte; und dann will der entzuͤckte Liebha¬
„ber dem holden Engel um den Hals fallen,
„und in Wonne dahinſchmelzen; aber die
„Schoͤne proteſtiert feyerlich gegen alle ſolche
„Freyheiten, verlaͤſſt ſich uͤberhaupt auf ſeine
„Ehre und Rechtſchaffenheit, reicht ihm hoͤch¬
„ſtens die Backe dar, theilt ihre Gunſtverwil¬
„ligungen in unendlich kleine Parcelen, um
„taͤglich nur um ein Haar breit dem Ziele naͤ¬
„her ruͤcken zu duͤrfen, damit der ſchoͤne Ro¬
„man deſto laͤnger dauern moͤge, und wenn
„auf andre Art keine Zeit mehr zu gewinnen
„iſt, muß ein kleiner Zwiſt dazwiſchenkommen,
„die voͤllige Entwickelung aufhalten, und die
„Uhr[165] „Uhr fuͤr die Schaͤferſtunde zuruͤckſtellen.
„Bey allen dieſen conventionellen Gaukeleyen
„aber empfinden dergleichen Leute gar nichts,
„lachen, wenn ſie allein ſind, des Poſſenſpiels,
„ſo ſie mit einander treiben, koͤnnen voraus
„calculieren, wie weit ſie morgen und uͤbermor¬
„gen mit ihrem Geſchaͤfte kommen muͤſſen, und
„werden dick und fett bey ihrer Liebespein.“


„Ganz anders aber iſt es mit einem Paar
„unſchuldigen Herzen, die, zum erſtenmal vom
„wohlthaͤtigen Feuer der Liebe erwaͤrmt, ſo gern
„ihren ſuͤßen, ſchuldloſen Gefuͤhlen Luft ma¬
„chen moͤgten, und immer nicht Muth faſſen
„koͤnnen, mit Worten zu ſagen, was Augen
„und Gebehrden oft ſchon ſo deutlich geſagt
„und beantwortet haben. Der Juͤngling ſieht
„die Geliebte zaͤrtlich an; ſie erroͤthet; ihr
„Blick wird unruhig, unſtaͤt, wenn Er mit ei¬
„nem andern Maͤdgen zu viel und zu freund¬
„lich redet; ſein Auge moͤgte zuͤrnen, er moͤgte
„gleichguͤltig vor ihr vorbeyblicken, wenn ſie ei¬
„nem Andern vertraulich etwas in das Ohr ge¬
„ſagt hat; man fuͤhlt den Vorwurf, giebt au¬
„genblickliche Genugthuung, bricht ploͤtzlich
„und faſt unhoͤflich das Geſpraͤch ab, welches
„denL 3[166] „den Argwohn erweckt hat; der Verſoͤhnte dankt
„durch das zaͤrtlichſte Laͤcheln und durch die froͤh¬
„lichſte, ploͤtzlich aufwachende Laune; Man
„nimt mit den Augen Verabredungen auf mor¬
„gen, entſchuldigt ſich, warnet vor Beobachtern,
„erkennt ſich gegenſeitige Rechte auf einander
„an — und hat ſich doch noch mit keinem Woͤrt¬
„gen geſagt, was man fuͤr einander fuͤhlt.
„Allein man ſucht von beyden Seiten ernſtlich
„die Gelegenheit dazu; ſie koͤmmt, koͤmmt oft,
„und man laͤſſt ſie ohngenuͤtzt vorbeyſtreichen,
„druͤckt ſich hoͤchſtens einmal leiſe die Hand, und
„doch auch das nie ohne irgend einen ſchicklichen
„Vorwand, ſagt ſich aber kein Wort, iſt mi߬
„muͤthig, zweifelt an Gegenliebe, und hat ſich
„oft noch nicht gegen einander erklaͤrt, wenn
„man ſchon die Fabel der ganzen Stadt und
„der Gegenſtand der ſchaͤndlichſten Verleum¬
„dung iſt. Iſt endlich das laͤngſt im Buſen
„pochende Bekenntniß den furchtſamen Lippen
„ſtotternd entflohn, und mit gebrochenen, er¬
„ſtickten Worten, von einem bis in das In¬
„nerſte dringenden Haͤndedrucke begleitet, be¬
„antwortet worden; dann lebt man vollends
„erſt ganz fuͤr einander, iſt ſo wenig um die
uͤbrige[167] „uͤbrige Welt bekuͤmmert, ſieht und hoͤrt nichts
„um ſich her, iſt in keiner Geſellſchaft verlegen
„mit ſeiner Perſon, wenn nur der theure Ge¬
„genſtand uns freundlich anlaͤchelt, findet al¬
„les Ungemach des Lebens leicht zu ertragen, an
„der Seite des Geliebten, glaubt nicht, daß es
„Krankheit, Armuth, Druck und Noth in der
„ſchoͤnen Welt geben koͤnne, lebt mit aller Crea¬
„tur in Frieden, verachtet Gemaͤchlichkeit, koͤſt¬
„liche Speiſe, Schlaf — O Ihr! wenn Ihr
„je ſo wonnevolle Zeiten verlebt habt, ſprechet!
„iſt auch ein ſuͤßerer Traum zu traͤumen moͤg¬
„lich? Iſt unter allen phantaſtiſchen Freuden
„des Lebens Eine, die ſo unſchuldig, ſo natuͤr¬
„lich, ſo unſchaͤdlich waͤre? Eine, die ſo uͤber¬
„ſchwenglich gluͤcklich, froͤhlich, ſo friedenvoll
„machet? — Ach! daß dieſer ſelige Zuſtand der
„Bezauberung nicht ewig dauern kann, daß
„man oft nur gar zu unſanft aufgeſchreckt wird
„aus dieſem eliſiſchen Schlummer!“

4.

In der Ehe iſt Eiferſucht ein ſchreckliches,
Ruhe und Frieden ſtoͤhrendes Uebel, und jeder
Streit von boͤſen Folgen; in der Liebe hinge¬
genL 4[168] gen wuͤrkt Eiferſucht neue Mannigfaltigkeit hin¬
ein; nichts iſt ſuͤßer, als der Augenblick der
Verſoͤhnung nach kleinen Zwiſtigkeiten, und
ſolche Scenen knuͤpfen das Band feſter; Zittre
aber vor der Eiferſucht einer Cokette, vor der
Rache eines Weibes, deſſen Liebe Du verſchmaͤ¬
het haſt, oder fuͤr welches Dein Herz nicht mehr
ſpricht, wenn ſie Deiner — ſey es nun aus Luſt,
oder aus Eitelkeit, aus Vorwitz oder aus Ei¬
genſinn! — noch begehrt! Sie wird Dich ver¬
folgen mit wuͤthigem Grimme, und keine Scho¬
nung von Deiner Seite, keine Nachgiebigkeit,
keine Verſchwiegenheit uͤber die ehemaligen
Verhaͤltniſſe, keine oͤffentliche Ehrerbiethungs-
Bezeugungen werden Dir helfen, beſonders
wenn ſie Dich nicht etwa fuͤrchtet.

5.

Weiber-Feinde ſchreyen laut: das ſchoͤne
Geſchlecht liebe nie mit ſo gaͤnzlich treuer Er¬
gebung, als wir Maͤnner; Eitelkeit, Vorwitz,
Luſt an Abentheuern oder coͤrperliches Beduͤrf¬
niß ſey es nur, was ſie hinreiſſe zu uns, und
man duͤrfe nicht laͤnger auf Weibertreue rech¬
nen, als ſo lange wir eine von dieſen Leiden¬
ſchaf¬[169] ſchaften und Trieben nach Zeit und Gelegenheit
befriedigen koͤnnten; Andre hingegen lehren
grade das Gegentheil, und beſchreiben mit den
reizendſten Farben die Beſtaͤndigkeit, die In¬
nigkeit und das Feuer eines weiblichen, von
Liebe erfuͤllten Herzens. Jene eignen dem
Geſchlechte viel mehr Sinnlichkeit und Reiz¬
barkeit als edlere Gefuͤhle zu, und ſagen, es ſey
nur Grimmaſſe, wenn Weiber ihre Maͤnner
glauben machten, ſie haͤtten ein ſehr kaltes
Temperament; Dieſe hingegen behaupten: die
reinſte, heiligſte Liebe, ohne Begehren, ja!
auf gewiſſe Art ohne Leidenſchaft, dieſe goͤttli¬
che Flamme, koͤnne nur in weiblichen Seelen
in ihrer ganzen Fuͤlle wohnen. Wer von bey¬
den Partheyen Recht hat, das moͤgen Diejeni¬
gen entſcheiden, denen eine groͤßere Kenntniß
des weiblichen Herzens, — obgleich ich in dem
Umgange mit Frauenzimmern viel Jahre hin¬
durch kein unaufmerkſamer Beobachter gewe¬
ſen bin — Diejenigen, ſage ich, moͤgen das
entſcheiden, denen dieſe groͤßere Kenntniß, ein
reiferes Alter und feinere Welt-Erfahrung ein
Recht geben, uͤber den Character der Weiber
kuͤhler, unpartheyiſcher, mit mehr Scharfſinn
L5und[170] und mit gruͤndlicherer Vernunft als ich zu urthei¬
len und zu ſchreiben! Ich wage das nicht; auch
ſind es zwey verſchiedene Fragen: aus welchen
Quellen zuerſt Weiberliebe zu entſpringen pflegt?
und: welche Eigenſchaften nachher dieſe Liebe hat,
wenn einmal die Seele davon ergriffen iſt? Das
aber getraue ich mir zu behaupten, ohne einem
von beyden Geſchlechtern zu nahe zu treten, daß
wir Maͤnner an Treue und gaͤnzlicher Hingebung
in der Liebe wohl ſchwerlich die Weiber uͤbertref¬
fen koͤnnen. Die Geſchichte aller Zeiten iſt voll
von Beyſpielen der Anhaͤnglichkeit, der Ueber¬
windung aller Schwierigkeiten und Verachtung
aller Gefahren, mit welcher ein Weib ſich an ih¬
ren Geliebten kettet. Ich kenne kein hoͤheres
Gluͤck auf der Welt, als ſo innig, ſo treu geliebt
zu werden. Leichtſinnige Gemuͤther findet man
unter Maͤnnern, wie unter Frauenzimmern;
Hang zur Abwechſelung iſt dem ganzen Menſchen¬
geſchlechte eigen; Neue Eindruͤcke groͤßerer Lie¬
benswuͤrdigkeit, wahrer oder eingebildeter, koͤn¬
nen die lebhafteſten Empfindungen verdraͤngen;
aber faſt moͤgte ich ſagen, die Faͤlle der Untreue
waͤren haͤufiger bey Maͤnnern, als bey Weibern,
wuͤrden nur nicht ſo bekannt, machten weniger
Auf¬[171] Aufſehn; wir waͤren wuͤrklich ſchwerer auf immer
zu feſſeln, und es wuͤrde vielleicht nicht ſchwer
halten, die Urſachen davon anzugeben, wenn
das hierher gehoͤrte.

6.

Treue, aͤchte Liebe freuet ſich in der Stille
des ſeligen Genuſſes, prahlt nicht nur nie mit
Gunſtbezeugungen, ſondern geſteht ſich's ſogar
ſelbſt kaum, wie froh ſie iſt. Die gluͤcklichſten
Augenblicke in der Liebe ſind da, wo man ſich
noch nicht gegen einander mit Worten entdeckt
hat, und doch jede Miene, jeden Blick verſteht.
Die wonnevollſten Freuden ſind die, welche man
mittheilt und empfaͤngt, ohne dem Verſtande
davon Rechenſchaft zu geben. Die Feinheit des
Gefuͤhls leidet oft nicht, daß man ſich uͤber Dinge
erklaͤre, die ganz ihren hohen Werth verliehren,
der anſtaͤndiger Weiſe ohne Beleidigung der Deli¬
cateſſe gar nicht mehr gegeben und angenommen
werden koͤnnen, ſobald man etwas daruͤber geſagt
hat. Man verwilligt ſtillſchweigend, was man
nicht verwilligen darf, wenn es erbethen, oder
wenn es merkbar wird, daß es mit Abſicht gege¬
ben werden ſoll.


7.[172]

7.

Haben Liebe und Vertraulichkeit Dich an
ein Geſchoͤpf gekettet, und Eure Bande wuͤrden
getrennt, ſey es nun durch Schickſale, Untreue
und Leichtfertigkeit des einen Theils, oder durch
andre Umſtaͤnde; ſo handle nach dem Bruche,
oder wenn die Verbindung ſonſt aufhoͤrt, nie un¬
edel! Laß Dich nicht von dépit amoureux hinreiſ¬
ſen zu niedriger Rache; Mißbrauche nicht Briefe
noch Zutrauen! Der Mann, der faͤhig iſt ein
Maͤdchen zu laͤſtern, einem Weibe zu ſchaden,
daß einſt in ſeinem Herzen geherrſcht hat, verdient
Haß und Verachtung, und wie mancher ſonſt
nicht ſehr liebenswuͤrdige Mann hat die Gunſt
artiger Frauenzimmer nur allein ſeiner erprobten
Diſcretion, ſeiner Verſchwiegenheit in Liebesſa¬
chen zu danken!


Sech¬[173]

Sechſtes Capittel.


Ueber den Umgang mit Frauenzim¬
mern.


1.

Ich will, gleich zu Anfange dieſes Capittels, fey¬
erlich erklaͤren — Zwar ſollte es billig einer ſol¬
chen Erklaͤrung nicht beduͤrfen, weil ſchon der ge¬
ſunde Menſchen-Verſtand das lehrt, und ich kuͤhn
ſagen darf, daß meine Schriften nicht Gelegen¬
heit geben, mich fuͤr einen Laͤſterer des ſchoͤnen
Geſchlechts zu halten; doch, der Schwachen we¬
gen fuͤge ich es hinzu — daß, was ich hier etwa
im Allgemeinen zum Nachtheile des weiblichen
Charakters ſagen moͤgte, der Verehrung ohnbe¬
ſchadet geſagt ſeyn ſoll, die nicht nur jedes ein¬
zelne edle Weib und Maͤdgen, ſondern die auch
das Geſchlecht, im Ganzen genommen, von ſo
manchen Seiten, nur nicht grade von der fehler¬
haften, verdient. Dieſe zu verſchweigen, um
jene zu erheben, das iſt das Handwerk eines
feilen Schmeichlers, und der bin ich nicht, der
mag ich nicht ſeyn. Die mehrſten Schriftſteller
aber,[174] aber, welche etwas uͤber die Frauenzimmer
ſagen, ſcheinen ſich's zum Geſchaͤfte zu machen,
nur die Schwaͤchen derſelben aufzudecken; —
das iſt noch weniger meine Abſicht! Wenn
ich uͤber den Umgang mit Menſchen ſchreibe; ſo
muß ich auch die Schwaͤchen in Erwaͤgung ziehn,
denen man nachgeben, die man ſchonen muß, um
in dieſem Umgange gut fortzukommen. Jedes
Geſchlecht, jeder Stand, jedes Alter, jeder ein¬
zelne Character hat dergleichen Schwaͤchen. In
ſo fern ich dieſe kenne, gehoͤrt es zu meinem Zwe¬
cke, davon zu reden, und man wird finden, daß
ich von der andern Seite weder die Tugenden ver¬
ſchwiegen, die den Umgang mit Maͤnnern und
Frauenzimmern, mit Alten und Jungen, mit Wei¬
ſern und Schwaͤchern, mit Vornehmen und Ge¬
ringern, angenehm machen, noch irgend eine ein¬
zelne Claſſe auf Unkoſten oder zum Vortheil der
andern gelobt oder getadelt habe — ſo viel als
Vorrede zu dieſem Capittel!

2.

Nichts iſt ſo geſchickt, die letzte Hand an die
Bildung des Juͤnglings zu legen, als der Umgang
mit tugendhaften und geſitteten Weibern. Da
werden[175] werden die ſanftern Tinten in den Character ein¬
getragen; da wird, durch mildere und feinere
Zuͤge, manche rauhe Haͤute gemaͤßigt— kurz!
wer nie mit Weibern beſſerer Art umgegangen
iſt, der entbehrt nicht nur ſehr viel reinen Ge¬
nuß, ſondern er wird auch im geſelligen Leben
nicht weit kommen, und den Mann, der veraͤcht¬
lich vom ganzen weiblichen Geſchlechte denkt und
redet, mag ich nicht zum Freunde haben. Ich
habe die ſeligſten Stunden in dem Cirkel liebens¬
wuͤrdiger Frauenzimmer verlebt, und wenn etwas
Gutes an mir iſt, wenn, nach ſo vielfaͤltigen
Taͤuſchungen von Menſchen und Schickſalen, Er¬
bitterung, Mismuth und Feindſeligkeit noch nicht
Wohlwollen, Liebe und Duldung aus meiner
Seele verdraͤngt haben; ſo danke ich es den ſanf¬
ten Einwuͤrkungen, die dieſer Umgang auf mei¬
nen Character gehabt hat.

3.

Die Weiber haben einen ganz eigenen Sinn,
um Diejenigen unter den Maͤnnern zu unterſchei¬
den, welche mit ihnen ſympathiſieren, ſie verſtehn,
ſich in ihren Ton ſtimmen koͤnnen. Man hat
ſehr Unrecht, wenn man ihnen Schuld giebt, coͤr¬
perliche[176] perliche Schoͤnheit allein mache auf ſie ſo lebhafte
Eindruͤcke. Sehr oft hat grade der entgegenge¬
ſetzte Fall Statt. Ich kenne Juͤnglinge mit
Antinous-Geſtalten, die ihr Gluͤck bey dem ſchoͤ¬
nen Geſchlechte nicht machen, und hingegen Maͤn¬
ner mit faſt garſtigen Larven, die dort gefallen,
und Theilnehmung erwecken. Auch liegt nicht
der Grund darinn, daß ſie die Kluͤgern und Wiz¬
zigern vorzoͤgen, noch in der mehr oder mindern
Schmeicheley und Huldigung; Es giebt aber eine
Art mit Frauenzimmern umzugehn, die nur von
ihnen ſelbſt erlernt werden kann; und wer die
nicht verſteht, der mag mit allen innern und aͤuſ¬
ſern Vorzuͤgen ausgeruͤſtet ſeyn, er wird ſie nicht
behagen. Man findet Maͤnner, die von der Gabe
den Frauenzimmern zu gefallen, großen Mißbrauch
machen, denen man erwachſene Toͤchter anver¬
trauet, die zu allen Tages-Zeiten bey den Damen
freyen Zutritt und ſich in den Ruf geſetzt haben,
ſans conſequence zu ſeyn, denen man die freyeſten
Scherze erlaubt, oft aber nachher Gelegenheit
giebt, zu ſpaͤt zu bereuen, was man ihnen einge¬
raͤumt hat. Der Misbrauch hebt indeſſen den
erlaubten Gebrauch jener Kunſt nicht auf. Ein
kleiner Anſtrich von weiblicher Sanftmuth, die
aber[177] aber ja nicht in unmaͤnnliche Schwaͤche uͤber¬
gehn darf; Gefaͤlligkeiten, die nicht ſo groß,
nicht ſo merklich ſeyn duͤrfen, daß ſie Aufſehn
erregen, oder groͤßere Gegenforderungen veran¬
laſſen, aber auch nicht ſo heimlich, daß ſie gar
nicht gefuͤhlt, ſondern uͤberſehn wuͤrden; kleine,
feine Aufmerkſamkeiten, wofuͤr ſich kaum dan¬
ken laͤſſt, die alſo kein Recht geben, ohne An¬
ſpruch zu ſeyn ſcheinen, und doch verſtanden,
doch angerechnet werden; eine Art von Augen¬
ſprache, die, ſehr vom Liebaͤugeln unterſchieden,
von zarten, empfindungsvollen Herzen aufge¬
faſſt wird, ohne in Worte uͤberſetzt werden zu
duͤrfen; das nie Erlaͤutern gewiſſer geheimen
Gefuͤhle; ein freyer, treuherziger Umgang, der
nie in freche, gemeine Vertraulichkeit ausarten
muß; zuweilen ſanfte Schwermuth, die nicht
Langeweile macht; ein gewiſſer romanhafter
Schwung, der weder in's Suͤßliche noch Aben¬
theuerliche faͤllt; Beſcheidenheit ohne Schuͤch¬
ternheit; Unerſchrockenheit, Muth und Lebhaf¬
tigkeit, ohne ſtuͤrmiſches Weſen; coͤrperliche Ge¬
wandtheit, Geſchicktheit, Behaͤndigkeit, ange¬
nehme Talente — Ich denke, das iſt es ohnge¬
fehr, was den Weibern an uns gefallen koͤnnte.


M4.[178]

4.

Das Gefuͤhl der Schutzbeduͤrftigkeit und
die Ueberzeugung, daß der Mann ein Weſen
ſeyn muͤſſe, das faͤhig ſey, dieſen Schutz zu
verleyhn, iſt von der Natur auch denen Frauen
eingepflanzt, die Staͤrke und Entſchloſſenheit
genug haben, ſich ſelbſt zu ſchuͤtzen. Desfalls
fuͤhlen auch weichgeſchaffene Damen eine Art
von Widerwillen gegen aͤuſſerſt ſchwaͤchliche,
gebrechliche Maͤnner. Sie koͤnnen herzliches
Mitleid empfinden gegen Leidende, zum Bey¬
ſpiel gegen Verwundete, Kranke, und derglei¬
chen; aber eigentliche, bleibende Infirmitaͤten,
die den freyen Gebrauch der Kraͤfte hemmen,
werden die Zuneigung, ſelbſt des ſittſamſten
Weibes, von Dir abwendig machen.

5.

Man hat oft den Damen vorgeworfen,
daß ſie ſich vorzuͤglich vor ausſchweifende Leute
intereſſirten. Wenn das wahr iſt; ſo kann
ich doch nicht etwas durchaus Anſtoͤßiges dar¬
inn finden. Sind ſie, bey dem Bewuſſtſeyn
eigener Schwaͤche, toleranter als wir; ſo macht
das ihrem Herzen Ehre; Allein wir Maͤnner
tadeln[179] tadeln auch oft nur aus Neid ſolche gluͤckliche
Verbrecher von unſerm Geſchlechte, finden hin¬
gegen, wenn wir die Lovelace und Carl Moor
nur auf dem Papiere oder auf der Schaubuͤhne
ſehen, heimliches Wohlgefallen an ihnen. Der
Grund von dem Allen liegt wohl in einem
dunkeln Gefuͤhle, welches uns ſagt, daß zu
Verirrungen von der Art eine gewiſſe Praͤſtanz,
eine Thaͤtigkeit, eine Kraft gehoͤre, die immer
Intereſſe erweckt.

6.

Huldige nicht mehreren Frauenzimmern
zu gleicher Zeit, an dem nemlichen Orte, auf
einerley Weiſe, wenn es Dir darum zu thun
iſt, Zuneigung oder Vorzug von einer Einzelnen
zu erlangen! Sie verzeyhen uns kleine Untreuen,
ja! man kann dadurch bey ihnen zuweilen ge¬
winnen; aber in dem Augenblicke, da man ih¬
nen etwas von Empfindungen vorſchwaͤtzt, muß
man fuͤhlen, was man ſagt, und es nur fuͤr
ſie fuͤhlen. Sobald ſie merken, daß Du Dein
zaͤrtliches Gewaͤſche Jeder auskramſt, iſt alles
vorbey; Sie moͤgen, was ſie uns ſind, uns
gern ungetheilt, allein bleiben.


M 27.[180]

7.

Huͤte Dich daher auch, in Gegenwart einer
Dame, die Anſpruͤche von irgend einer Art macht,
eine Andre wegen gleicher Eigenſchaften zu ſehr
zu loben, beſonders eine Nebenbuhlerinn, mit
den nemlichen Anſpruͤchen! Es pflegt allen
Menſchen, die ein Gefuͤhl von eigenem Werthe
und Begierde zu glaͤnzen haben, vorzuͤglich
aber den Damen eigen zu ſeyn, daß ſie gern
ausſchließlich bewundert werden moͤgen, es ſey
nun wegen Schoͤnheit, wegen Geſchmack, we¬
gen Pracht, wegen Talente, wegen Gelehr¬
ſamkeit, oder weswegen es auch ſey. Sprich
daher auch nicht von Aehnlichkeiten, die Du
findeſt zwiſchen der Frau, mit welcher Du re¬
deſt, und ihren Kindern, oder irgend einer an¬
dern Perſon. Frauenzimmer haben zuweilen
ſonderbare Grillen; man weiß nicht immer,
wie ſie ſich vorſtellen, daß ſie ausſehen, wie ſie
gern ausſehn moͤgten. Die Eine affectirt Sim¬
plicitaͤt, Unſchuld, Naivetaͤt; die Andre macht
Anſpruch an hohe Grazie, Adel und Wuͤrde
in Gang und Gebehrde; die Eine ſaͤhe es
gern, wenn man ſagte: ihr Geſicht verrathe
ſo viel Sanftmuth; eine Andre moͤgte maͤnn¬
lich[181] lich klug, entſchloſſen, geiſtvoll, erhaben aus¬
ſehn; Dieſe moͤgte mit ihren Blicken zu Boden
ſtuͤrzen koͤnnen; Jene mit ihren Augen alle Her¬
zen wie Butter zerflieſſen machen; Die Eine
will ein geſundes und friſches, die Andre ein
kraͤnkliches, leidendes Anſehn haben. — Das
ſind nun kleine unſchaͤdliche Schwachheiten,
nach denen man ſich wohl richten kann!

8.

Die mehrſten Frauenzimmer wollen ohne
Unterlaß amuͤſirt ſeyn; Der angenehme Ge¬
ſellſchafter iſt ihnen oft mehr werth, als der
wuͤrdige, conſequente, verdienſtvolle Mann,
von deſſen Lippen Weisheit ſtroͤhmt, wenn er
redet, der aber lieber ſchweigen, als leere
Worte ſprechen mag. Allein kein Gegenſtand
ſcheint ihnen unterhaltender, als ihr eigenes
Lob, wenn es nicht zu grob eingekleidet wird —
doch auch damit nehmen es Manche ſo genau
nicht. Man erhebe immer einmal die Schoͤn¬
heit einer alten Matrone! Man ſehe immer
einmal die Mutter fuͤr die Tochter im Hauſe
an! — Sie werden uns darum die Augen nicht
auskratzen. Ueberhaupt aber iſt es mit dem
AlterM 3[182] Alter der Frauenzimmer ein kitzlicher Punct;
Man thut am beſten, dieſe Saite gar nicht zu
ruͤhren. Wenn man uͤbrigens die Kunſt ver¬
ſteht, ihnen Gelegenheit zu geben, zu glaͤnzen;
ſo bedarf man weiter keiner Unterhaltung, und
man wird ihnen gewiß nicht unangenehm ſeyn.
— Iſt das nicht bey allen Menſchen mehr
oder weniger der Fall? Gewiß! doch bey Wei¬
bern oͤfter, weil man wohl ohne Suͤnde ein
wenig mehr Eitelkeit auf Rechnung ihres Ge¬
ſchlechts ſchreiben, als dem unſrigen Schuld
geben darf.

9.

Ein großes Reſſort im weiblichen Charac¬
ter iſt die Neugier. Auch darauf muß man zu
rechter Zeit im Umgange mit ihnen zu wuͤrken,
und dies Beduͤrfniß nach den Umſtaͤnden zu
erwecken, zu beſchaͤftigen und zu befriedigen
verſtehn. Sonderbar genug iſt es, wie weit
oft Vorwitz und Neugier bey ihnen gehen.
Auch die mitleidigſten Seelen unter ihnen em¬
pfinden zuweilen einen unbezwinglichen Trieb,
ſchreckliche Scenen, Executionen, Operationen,
Wunden und dergleichen anzuſchauen, jaͤm¬
mer¬[183] merliche Mordgeſchichten zu hoͤren — Gegen¬
ſtaͤnde, denen ſich der weniger weichliche Mann
nicht ohne Widerwillen gegenuͤber ſieht. Des¬
wegen ſind ihnen auch diejenigen Romanen
und Schauſpiele groͤßtentheils die angenehm¬
ſten, in welchen Abentheuer ohne Ende, uner¬
wartete Begebenheiten in Menge und Graͤuel
auf Graͤuel gehaͤuft ſind. Deswegen forſchen
die Schlimmern unter ihnen ſo gern nach frem¬
den Geheimniſſen, und ſpaͤhen die Handlungen
ihrer Nachbarn aus, wenn auch nicht immer
Bosheit, Neid und Schadenfreude zum Grunde
liegen.

10.

Auch die edelſten Weiber haben mehr ab¬
wechſelnde Launen, ſind weniger gleichgeſtimmt
zu allen Zeiten, als wir Maͤnner. Reizbarere
Nerven, die leichter zu allerley Gemuͤthsbe¬
wegungen in Schwingung zu bringen ſind, und
ein ſchwaͤcherer Coͤrperbau, der manchen unbe¬
haglichen Gefuͤhlen ausgeſetzt iſt, die wir gar
nicht kennen, ſind Schuld daran. Wundert
Euch daher nicht, meine Freunde! wenn Ihr
nicht jeden Tag den nemlichen Grad von Theil¬
neh¬M 4[184] nehmung und Liebe in den Augen dererjenigen
Damen zu finden glaubt, an deren Zuneigung
Euch gelegen iſt! Ertraget dieſe voruͤberge¬
henden Launen, aber huͤtet Euch, in ſolchen
Augenblicken von Verſtimmung, Euch aufzu¬
bringen, oder zur Unzeit mit Eurem Witze
oder Troſte angezogen zu kommen, ſondern
uͤberleget wohl, was ſie in jeder Gemuͤthslage
etwa gern hoͤren moͤgten, und wartet ruhig den
Augenblick ab, wo ſie ſelbſt den Werth Eurer
Nachſicht und Schonung fuͤhlen, und ihr Un¬
recht gut machen!

11.

Die Frauenzimmer finden ein gewiſſes
Vergnuͤgen an kleinen Neckereyen, moͤgen,
ſelbſt denen Perſonen, die ihnen am theurſten
ſind, zuweilen unruhige Augenblicke machen.
Auch hiervon liegt der Grund in ihren Launen,
und nicht in Boͤsartigkeit des Gemuͤths. Wenn
man ſich dabey vernuͤnftig, duldſam, nicht
ſtuͤrmiſch betraͤgt, noch durch eigene Schuld den
kleinen Zwiſt zu einem wuͤrklichen, feyerlichen
Bruche heranwachſen laͤſſt; ſo loͤſchen ſie in
einer andern Stunde die Beleidigung, ſo ſie
uns erwieſen, durch verdoppelte Gefaͤlligkeit
aus,[185] aus, und man erlangt dabey oft Ein Recht
mehr auf ihre Zuneigung.

12.

In ſolchen und allen uͤbrigen kleinen Kaͤm¬
pfen und Streitigkeiten mit Frauenzimmern
muß man ihnen den Triumpf des Augenblicks
laſſen, nie aber ſie merklich beſchaͤmen, denn
das iſt etwas, ſo ihre Eitelkeit ſelten verzeyht.

13.

Daß die Rache eines unedlen Weibes
fuͤrchterlich, grauſam, dauernd und nicht leicht
zu verſoͤhnen iſt, das hat man ſchon ſo oft ge¬
ſagt, daß ich es hier zu wiederholen faſt nicht
noͤthig finde. Wuͤrklich ſollte man es kaum
glauben, welche Mittel ſolche Furien ausfindig
zu machen wiſſen, einen ehrlichen Mann, von
dem ſie ſich beleidigt glauben, zu martern, zu
verfolgen; wie unausloͤſchlich ihr Haß iſt; zu
welchen niedrigen Mitteln ſie ihre Zuflucht neh¬
men. Der Verfaſſer dieſes Buchs hat leider
ſelbſt eine Erfahrung von der Art gemacht. Ein
einziger unbeſonnener Schritt in ſeiner fruͤhen
Jugend, durch welchen ſich der Ehrgeiz und
die Eitelkeit eines Weibes gekraͤnkt hielten, ob¬
M5gleich[186] gleich ſie ihn, fruͤher als er ſie, auf den Fuß
getreten hatte, war Schuld daran, daß er
nachher aller Orten, wo ſein Schickſal ihn
noͤthigte, Schutz und Gluͤck zu ſuchen, Wi¬
derſtand und faſt unuͤberſteigliches Hinderniß
fand, daß heimliche, durch allerley Wege ge¬
wonnene Verleumder, mit boͤſem Geruͤchte
vor ihm hergiengen, um jeden Schritt zu hin¬
dern, jeden unſchuldigen Plan zu vereiteln,
den er zu ſeinem Fortkommen und zum Wohl
ſeiner Familie anlegte. Ihm half nicht das
vorſichtigſte, untadelhafteſte Betragen, nicht
die oͤffentliche Erklaͤrung, wie ſehr er ſein Un¬
recht erkenne — Die rachgierige Frau hoͤrte
nicht auf, ihn zu verfolgen, bis er endlich frey¬
willig allem entſagte, wozu man die Huͤlfe An¬
drer braucht, und ſich auf eine haͤusliche Exi¬
ſtenz einſchraͤnkte, die ſie ihm nicht rauben
kann — Und das that eine Frau, in deren
Macht es geſtanden haͤtte, viel Menſchen gluͤck¬
lich zu machen, und die von der Natur mit
ſehr ſeltenen Vorzuͤgen des Coͤrpers und des
Geiſtes ausgeruͤſtet war.


Es ſcheint uͤbrigens in der Natur zu lie¬
gen, daß Schwaͤchere immer grauſamer in ih¬
rer[187] rer Rache ſind, als Staͤrkere, vielleicht weil
das Gefuͤhl dieſer Schwaͤche die Empfindung
des erlittenen Drucks verſtaͤrkt, und luͤſterner
nach der Gelegenheit macht, auch einmal Kraft
zu uͤben.

14.

Eine philoſophiſche Abhandlung des Herrn
Profeſſor Meiners, uͤber die Frage: „ob es
„in unſrer Macht ſtehe, verliebt zu werden,
„oder nicht?“ laͤſſt mich daran verzweifeln, ir¬
gend etwas Neues uͤber die Mittel ſagen zu
koͤnnen, welche man anzuwenden hat, um im
Umgange mit liebenswuͤrdigen Frauenzimmern
die Freyheit ſeines Herzens nicht einzubuͤßen.
Die Liebe iſt zwar ein ſuͤßes Ungemach, das
uͤber uns koͤmmt, grade wenn wir uns deſſen
am wenigſten verſehen, gegen welches wir alſo
gewoͤhnlich erſt dann anfangen Maaßregeln zu
nehmen, wenn es ſchon zu ſpaͤt iſt; da ſie aber
oft ſehr bittre Leiden und Zerſtoͤhrung aller
Ruhe und alles Friedens mit in ihrem Gefolge
fuͤhrt; da hoffnungsloſe Liebe wohl eine der
ſchrecklichſten Plagen iſt, und aͤußere Verhaͤlt¬
niſſe zuweilen auch den edelſten, zaͤrtlichſten
Neigungen unuͤberſteigliche Hinderniſſe in den
Weg[188] Weg legen; ſo iſt es doch der Muͤhe werth,
beſonders fuͤr Den, welchen Mutter Natur mit
einem lebhaften Temperamente und mit war¬
mer Phantaſie ausgeſtattet hat, ſich an eine
gewiſſe Herrſchaft des Verſtandes uͤber Ge¬
fuͤhle und Sinnlichkeit zu gewoͤhnen, und wo
er ſich dazu zu ſchwach fuͤhlt — der Gelegen¬
heit auszuweichen.

15.

Es leben unter uns Maͤnnern Boͤſewichte,
denen Tugend, Redlichkeit und die Ruhe ihrer
Nebenmenſchen ſo wenig heilig ſind, daß ſie
unſchuldige, unerfahrne Maͤdgen, wo nicht
durch ſchlaue Kuͤnſte wuͤrklich zum Laſter ver¬
fuͤhren, doch mit falſchen Erwartungen oder
gar mit Verſprechungen einer kuͤnftigen Ehe¬
verbindung taͤuſchen, ſich dadurch fuͤr den Au¬
genblick eine angenehme Exiſtenz verſchaffen,
die armen Kinder aber, die indeß ihrentwegen
aller Gelegenheit zu anderweitiger Verſorgung
ausgewichen ſind, nachher verlaſſen, um neue
Verbindungen zu ſchlieſſen. Die Schaͤndlich¬
keit eines ſolchen Verfahrens wird ja wohl Je¬
der einſehn, der noch einen Funken von Ge¬
fuͤhl[189] fuͤhl fuͤr Ehre in ſeinem Buſen traͤgt, und wem
ein ſolches Gefuͤhl fremd iſt, fuͤr Den ſchreibe
ich nicht. Es giebt aber ein anders, den Fol¬
gen nach nicht weniger ſchaͤdliches, obgleich in
Betracht der Abſicht nicht ſo ſtrafbares Betra¬
gen der Maͤnner gegen gefuͤhlvolle Frauenzim¬
mer, woruͤber ich einige Worte zur Warnung
ſagen muß. Es glauben nemlich Manche un¬
ter uns, es koͤnne gar kein Intereſſe in den Um¬
gang mit jungen Maͤdchen kommen, wenn man
ihnen nicht Suͤßigkeiten ſagte, ſie ſchmeichelte,
oder eine Art von Waͤrme und Herzens- An¬
dringlichkeit aus Worten und Gebehrden her¬
vorleuchten lieſſe. Dies naͤhrt nicht nur den
ohnehin ſchon großen Hang des Geſchlechts zur
Eitelkeit, ſondern, da eben dieſe Eitelkeit, die
Ueberzeugung von der Macht ihrer Reize, gern
jedes Honigwort fuͤr Sprache inniger Empfin¬
dung haͤlt; ſo ſetzen die guten Dingerchen ſich
leicht in den Kopf, es ſey ernſtlich auf eine
Heyrath angeſehn. Der Stutzer merkt das
nicht, oder wenn er es merkt; ſo iſt er zu leicht¬
ſinnig, den Folgen nachzudenken; er verlaͤſſt
ſich darauf, daß er nie beſtimmt etwas von
Heyraths-Antraͤgen hat fallen laſſen, und wenn
es[190] er nun fruͤh oder ſpaͤt aufhoͤrt, einer ſolchen
Schoͤnen zu huldigen; ſo iſt das Maͤdchen
eben ſo ungluͤcklich, als wenn er ſie abſichtlich
betrogen haͤtte. Sie welkt dahin, die arme
Verlaſſene, wenn getaͤuſchte Hoffnung, fehlge¬
ſchlagene Erwartung an ihrem Herzen nagt;
indeß der ſuͤße Herr ſorglos bey Andern her¬
umſchwaͤrmt, und das Ungluͤck nicht einmal
ahndet, das er angerichtet hat.


Eine nicht minder gewoͤhnliche Art, junge
Maͤdchen zu Grunde zu richten, iſt, wenn man
entweder durch leichtfertige Reden und luxurio¬
ſen Witz ihre Neugier und ihre Sinnlichkeit
reizt, oder durch Erweckung romanhafter Be¬
griffe ihre Phantaſie erhitzt, ihre Aufmerkſam¬
keit von ſolchen Gegenſtaͤnden, womit ſie, ih¬
rem Berufe gemaͤß, ſich beſchaͤftigen ſollten,
ableitet, in ihnen den Sinn fuͤr ein einfaches,
haͤusliches Leben ertoͤdtet, oder ein junges Land-
Maͤdgen, durch reizende Darſtellung der Stadt-
Freuden, mit ihrer Lage unzufrieden macht.
Da ich nicht blos ſchreibe, um zu lehren, wie
man angenehm, ſondern auch, wie man nuͤtz¬
lich im Umgange ſeyn ſolle; ſo iſt es Pflicht
fuͤr mich, vor dergleichen zu warnen, und glaube
mir,[191] mir, junger Menſch! ſorgſame Eltern werden
Dich ſegnen, Dich mit Freuden an der Seite
ihrer Toͤchter ſehn, ja! ſie werden Dir ihr ein¬
ziges Kind zutrauvoll zur Gattinn hingeben,
wenn Du meinem Rathe folgſt, und Dich da¬
durch in den Ruf eines verſtaͤndigen und ge¬
wiſſenhaften Juͤnglings ſetzeſt.

16.

Ich ſollte hier billig auch etwas von dem
Umgange mit groben Koketten und Buhlerin¬
nen ſagen; allein das wuͤrde mich zu weit fuͤh¬
ren, und ſchwerlich moͤgte meine Muͤhe mit
Erfolge belohnt werden. Die Schlingen, de¬
nen man auszuweichen hat, ſind unzaͤhlig.
Ich wuͤnſchte, man floͤhe dieſe Art Weiber, wie
die Peſt; Hat man aber einmal das Ungluͤck,
in dergleichen Fallſtricke gerathen zu ſeyn; ſo
wird man ſelten ſo viel kalte Ueberlegung ha¬
ben, ehe man ein ſolches Geſchoͤpf beſucht, vor¬
her ein Capittel aus meinem Buche zu leſen.
Zudem hat der Koͤnig Salomon das alles weit
beſſer geſagt — Doch ein Paar Zeilen daruͤber!
Unbeſchreiblich ſein ſind ſolche verworfene Ge¬
ſchoͤpfe in der Kunſt, ſich zu verſtellen, unver¬
ſchaͤmt[192] ſchaͤmt zu luͤgen, und Empfindungen zu heucheln,
um ihre Habſucht, ihre Eitelkeit, ihre Sinn¬
lichkeit, ihre Rache, oder irgend eine andre
Leidenſchaft zu befriedigen. Unendlich ſchwer
iſt es, zu erforſchen, ob eine Buhlerinn Dir
wuͤrklich um Dein Selbſt willen anhaͤngt. Haſt
Du ſie vielfaͤltig auf die Probe von Uneigen¬
nuͤtzigkeit geſetzt, und immer ſo befunden, wie
Du wuͤnſcheſt; ſo iſt das etwas, aber noch ſehr
wenig. Sie verachtet vielleicht Dein Silber,
um deſto ſichrer Dich ſelbſt mit allen Deinem
Golde zu gewinnen; oder ihr Temperament
leitet ſie weniger zum Gelde, als zur Wolluſt.
Haſt Du ſie bey mancherley Verſuchungen, wo
ſie Gelegenheit und Anreizung gehabt haͤtte,
Dich heimlich zu hintergehn, ſtets treu befun¬
den; hat ſie zaͤrtliche Sorgfalt, ſelbſt fuͤr Dei¬
nen Ruf, fuͤr Deine Ehre gezeigt; zieht ſie
Dich nicht ab von andern natuͤrlichen und edeln
Verbindungen; opfert ſie Dir Jugend, Schoͤn¬
heit, Gewinnſt, Glanz, Eitelkeit auf; —
ey nun! die Miſchungen der Anlagen und Tem¬
peramente ſind mannigfaltig — ſo kann auch
eine Buhlerinn von andern Seiten gute, lie¬
benswuͤrdige Eigenſchaften haben; Aber traue
nicht![193] nicht! traue nicht! Ein Weib, das die erſten
und heiligſten aller weiblichen Tugenden, die
Keuſchheit und Sittſamkeit fuͤr nichts achtet;
wie kann die wahre Ehrfurcht fuͤr feinere Pflich¬
ten haben! Doch bin ich weit entfernt, alle
ungluͤcklichen Gefallenen und Verfuͤhrten in
die Claſſe verachtungswerther Buhlerinnen ſe¬
tzen zu wollen. Wahre Liebe kann auch ein
verirrtes Herz zur Tugend zuruͤckfuͤhren; Es
iſt ſchon oft geſagt worden, daß Derjenige ſichrer
vor der Verfuͤhrung ſey, der die Gefahr kennt,
als Der, welcher nie in Verſuchung gefuͤhrt wor¬
den: allein es bleibt bey dieſer Art von Verge¬
hungen immer eine misliche Sache um die ſichre,
dauerhafte Beſſerung, und keine Lage iſt de¬
muͤthigender und beunruhigender, als wenn
man die Perſon, an welcher unſer Herz haͤngt,
von Andern verachtet ſieht, wenn man ſich vor
der Welt der Bande ſchaͤmen muß, die uns ſo
theuer ſind. Liebe, reine Liebe, ſichert uͤbrigens
am beſten gegen Ausſchweifungen, und der
Umgang mit edlen, ſittſamen Weibern verfei¬
nert den Sinn des Juͤnglings fuͤr Tugend und
Unſchuld, wafnet ſein verwoͤhntes Herz gegen
ſtudierte und freche Buhlerkuͤnſte — Wenden
wirN[194] wir uns zu einer erhabenern Claſſe von Frauen¬
zimmern — zu den gelehrten Weibern!

17.

Ich muß geſtehn, daß mich immer eine Art
von Fieberfroſt befaͤllt, wenn man mich in Ge¬
ſellſchaft einer Dame gegenuͤber oder an die
Seite ſetzt, die große Anſpruͤche auf Schoͤn¬
geiſterey, oder gar auf Gelehrſamkeit macht.
Wenn die Frauenzimmer doch nur uͤberlegen
wollten, wie viel mehr Intereſſe diejenigen un¬
ter ihnen erwecken, die ſich einfach an die Be¬
ſtimmung der Natur halten, und ſich unter
dem Haufen ihrer Mitſchweſtern durch treue
Erfuͤllung ihres Berufs auszeichnen! Was
hilft es ihnen, mit Maͤnnern in Faͤchern wett¬
eifern zu wollen, denen ſie nicht gewachſen ſind,
wozu ihnen mehrentheils die erſten Grundbe¬
griffe, welche den Knaben ſchon von Kindheit
an eingeblaͤuet werden, fehlen? Es giebt Da¬
men, die, neben allen haͤuslichen und geſelligen
Tugenden, neben der edelſten Einfalt des Cha¬
racters und neben der Anmuth weiblicher Schoͤn¬
heit, durch tiefe Kenntniſſe, ſeltene Talente,
ſeine Cultur, philoſophiſchen Scharfſinn in ih¬
ren Urtheilen und Beſtimmtheit im Ausdrucke,
Ge¬[195] Gelehrte vom Handwerke beſchaͤmen. Duͤrfte
ich es wagen, hier oͤffentlich einen Namen zu
nennen, den ich nie ohne Ehrfurcht ausſpreche;
ſo koͤnnte ich beweiſen, daß ich ein Original zu
dieſem Bilde nicht weit zu ſuchen brauchte;
Allein wie geringe iſt nicht die Anzahl ſolcher
Frauen! Und iſt es nicht Pflicht, die mittel¬
maͤßigen weiblichen Genies abzuſchrecken, auf
Unkoſten ihrer und Andrer Gluͤckſeligkeit, nach
einer Hoͤhe zu ſtreben, die ſo Wenige erreichen?


Ich tadle nicht, daß ein Frauenzimmer
ihre Schreibart und ihre muͤndliche Unterre¬
dung durch einiges Studium und durch keuſch
gewaͤhlte Lectur zu verfeinern ſuche, daß ſie
ſich bemuͤhe, nicht ganz ohne wiſſenſchaftliche
Kenntniſſe zu ſeyn; aber ſie ſoll kein Hand¬
werk aus der Litteratur machen; ſie ſoll nicht
umherſchweifen in allen Theilen der Gelehr¬
ſamkeit. Es erregt wahrlich, wo nicht Ekel,
doch Mitleiden, wenn man hoͤrt, wie ſolche
arme Geſchoͤpfe ſich erkuͤhnen, uͤber die wichtig¬
ſten Gegenſtaͤnde, die Jahrhunderte hindurch
der Vorwurf der muͤhſamſten Nachforſchungen
großer Maͤnner geweſen ſind, und von denen
N 2Dieſe[196] Dieſe dennoch mit Beſcheidenheit behauptet
haben, ſie ſaͤhen nicht ganz klar darinn; wenn
man hoͤrt, wie ein eitles Weib daruͤber am Thee¬
oder Nachttiſche in den entſcheidendſten Aus¬
druͤcken, Machtſpruͤche wagt, indeß ſie kaum
eine klare Vorſtellung von der Materie hat,
wovon die Rede iſt. Aber der Haufen der
Stutzer und Anbether bewundert dennoch mit
lautem Beyfalle die feinen Kenntniſſe der ge¬
lehrten Dame, und beſtaͤrkt ſie dadurch in ihren
ungluͤcklichen Anſpruͤchen. Dann ſieht ſie die
wichtigſten Sorgen der Hauswirthſchaft, die
Erziehung ihrer Kinder und die Achtung un¬
ſtudierter Mitbuͤrger als Kleinigkeiten an, glaubt
ſich berechtigt, das Joch der maͤnnlichen Herr¬
ſchaft abzuſchuͤtteln, verachtet alle andre Wei¬
ber, erweckt ſich und ihrem Gatten Feinde,
traͤumt ohne Unterlaß ſich in idealiſche Welten
hinein; Ihre Phantaſie lebt in unzuͤchtiger
Gemeinſchaft mit der geſunden Vernunft; Es
geht alles verkehrt im Hauſe; Die Speiſen
kommen kalt oder angebrannt auf den Tiſch;
Es werden Schulden auf Schulden gehaͤuft;
der arme Mann muß mit durchloͤcherten Struͤm¬
pfen einherwandeln; Wenn er nach haͤusli¬
chen[197] chen Freuden ſeufzt, unterhaͤlt ihn die gelehrte
Frau mit Journals-Nachrichten, oder rennt
ihm mit einem Muſen-Almanach entgegen, in
welchem ihre platten Verſe ſtehen, und wirft
ihm hoͤhniſch vor, wie wenig der Unwuͤrdige,
Gefuͤhlloſe den Werth des Schatzes erkennt,
den er zu ſeinem Jammer beſitzt.


Ich hoffe, man wird dies Bild nicht uͤber¬
trieben finden. Unter den vierzig bis funfzig
Damen, die man jetzt in Teutſchland als Schrift¬
ſtellerinnen zaͤhlt — die Legion Derer ohnge¬
rechnet, die keinen Unſinn haben drucken
laſſen — ſind vielleicht kaum ein halbes Duz¬
zend, die, als privilegierte Genies hoͤherer Art,
wahren Beruf haben, ſich in das Fach der Wiſſen¬
ſchaften zu werfen, und Dieſe ſind ſo liebens¬
wuͤrdige, edle Weiber, verſaͤumen ſo wenig dabey
ihre uͤbrigen Pflichten, fuͤhlen ſelbſt ſo lebhaft
die Laͤcherlichkeiten ihrer halbgelehrten Mit¬
ſchweſtern, daß ſie ſich durch meine Schilderung
gewiß nicht getroffen, noch beleidigt finden
werden. Iſt es aber nicht bey maͤnnlichen
Schriftſtellern auch der Fall, daß unter der
großen Menge derſelben nur Wenige ausge¬
zeichneten Werth haben? Gewiß! nur mit dem
N 3Un¬[198] Unterſchiede, daß Begierde nach Ruhm oder
Gewinnſt dieſe irreleiten kann; die Frauen¬
zimmer hingegen nicht ſo leicht Entſchuldigung
finden koͤnnen, wenn ſie, mit mittelmaͤßigen
oder weniger als mittelmaͤßigen Talenten und
Kenntniſſen, eine Laufbahn betreten, welche
weder die Natur, noch die buͤrgerliche Verfaſ¬
ſung ihnen angewieſen hat.


Was nun den Umgang mit ſolchen Frauen¬
zimmern angeht, die auf Litteratur Anſpruch
machen; ſo verſteht ſich's, daß, wenn dieſe
Anſpruͤche gerecht ſind, ihr Umgang aͤuſſerſt
lehrreich und unterhaltend iſt, und was die
von der andern Claſſe betrifft; ſo kann ich nichts
weiter anrathen, als — Geduld, und daß
man es wenigſtens nicht wage, ihren Macht¬
ſpruͤchen Gruͤnde entgegenzuſetzen, oder ihren
Geſchmack zu reformiren, wenn man ſich auch
nicht ſo weit erniedrigen will, den Haufen
ihrer Schmeichler zu vermehren.

18.

Das weibliche Geſchlecht beſitzt, in viel
hoͤherm Grade als wir, die Gabe, ſeine wah¬
ren Geſinnungen und Empfindungen zu ver¬
ber¬[199] bergen. Selbſt Frauenzimmer von weniger
feinern Verſtandes-Kraͤften haben zuweilen
eine ſonderbare Fertigkeit in der Kunſt ſich zu
verſtellen. Es giebt Faͤlle, wo dieſe Kunſt
ihnen Schutz gegen die Nachſtellungen der
Maͤnner gewaͤhrt. Der Verfuͤhrer hat gewon¬
nenes Spiel, wenn er merkt, daß das Herz
der Schoͤnen, oder ihre Sinnlichkeit, mit ihm
gegen ihre Grundſaͤtze gemeinſchaftliche Sache
macht. Alſo rechne man es ihnen nicht zum
Vorwurfe, wenn ſie zuweilen anders ſcheinen,
als ſie ſind! aber man nehme darauf Ruͤckſicht
in dem Umgange mit ihnen! man glaube nicht
immer, daß ihnen Derjenige gleichguͤltig ſey,
dem ſie mit merklicher Kaͤlte begegnen, noch
daß ſie ſich vorzuͤglich vor Den intereſſieren, mit
dem ſie oͤffentlich vertraulich umgehen, den ſie
auszuzeichnen ſcheinen! Oft thun ſie dies grade,
um ihr Spiel zu verbergen, wenn es nicht etwa
blos Neckerey, oder Wuͤrkung ihrer Laune,
ihres Eigenſinns iſt. Sie ganz zu entziffern,
dazu gehoͤrt tiefes Studium des weiblichen Her¬
zens, vieljaͤhriger Umgang mit den Feinern
unter ihnen, kurz! mehr als in dieſen Blaͤttern
entwickelt werden kann.


N 419.[200]

19.

Ich ſchweige von der Vorſichtigkeit im Um¬
gange mit alten Coketten; mit Solchen, die
ſich einbilden, die Anſpruͤche auf Bewunde¬
rung, auf Huldigung und die Gewalt ihrer
Schoͤnheit wuͤrden, wie die geſetzmaͤßigen Rechte
der Juriſten, durch dreißigjaͤhrigen Beſitz um
deſto ſichrer; die in fuͤnf Jahren nur einmal
ihren Geburtstag feyern, und die, wenn ſie
an der Spitze einer Buͤcher-Cenſur ſtuͤnden,
am erſten den Calender confiſcieren wuͤrden.
Ich ſchweige von den Pruͤden, Strengen, Sproͤ¬
den und Bethſchweſtern, mit welchen man zu¬
weilen, wie ich hoͤre, unter vier Augen ganz
anders als in Geſellſchaft umgehn darf, und
von denen leichtfertige Leute behaupten, ver¬
ſchwiegene und kuͤhne Maͤnner machten bey
dieſer Claſſe grade am leichteſten ihr Gluͤck.
Ich ſchweige von den ſogenannten alten Ge¬
vatterinnen und Frauen Baaſen, die ſich's zur
chriſtlichen Pflicht machen, den Ruf ihrer Nach¬
barn und Bekannten von Zeit zu Zeit an die
Sonne zu ziehn, und mit denen man es da¬
her nicht verderben darf — Ich ſchweige von
dieſen Allen, um die guten Damen nicht gegen
mich[201] mich aufzubringen, der ich an allen dieſen Laͤ¬
ſterungen keinen Theil nehme.

20.

Aber noch ein Paar Worte uͤber die ſeli¬
gen Freuden, die der Umgang mit verſtaͤndi¬
gen und edlen Weibern gewaͤhrt! Ich habe
ſchon vorhin geſagt, daß ich demſelben die
gluͤcklichſten Stunden meines Lebens zu ver¬
danken habe, und in Wahrheit! das ſprach ich
aus der Fuͤlle meines Herzens. Ihr zartes Ge¬
fuͤhl; ihre Gabe, ſo ſchnell zu errathen, zu
begreifen, Gedanken aufzufaſſen, Mienen zu
verſtehn; ihr feiner Sinn fuͤr die kleinen, ſuͤſ¬
ſen Gefaͤlligkeiten des Lebens; ihr reizender
naiver Witz; ihre oft ſo ſcharfſinnigen, von
gelehrten, ſyſtematiſchen, vorgefaſſten Mei¬
nungen ſo freyen Urtheile; ihre unnachahm¬
lichen liebenswuͤrdigen Launen, intereſſant,
ſelbſt in ihren Ebben und Fluthen; ihre Ge¬
duld in langwierigen Leiden, wenn gleich ſie im
erſten Augenblicke, wenn der Unfall ſie trifft,
dem Gefaͤhrten das Uebel durch Klagen ſchwe¬
rer machen; ihre ſanfte, liebliche Art, zu troͤ¬
ſten, zu pflegen, zu warten, zu harren, zu
N 5dul¬[202] dulden; die Milde, welche in ihrem ganzen
Weſen herrſcht; die kleine, unſchaͤdliche Ge¬
ſchwaͤtzigkeit und Redſeligkeit, wodurch ſie die
Geſellſchaft beleben — das alles kenne ich,
ſchaͤtze ich, verehre ich — Und wer wird nun,
bey dem, was ich zum Nachtheil Einiger un¬
ter ihnen habe ſagen muͤſſen, mir Laͤſterung
aufbuͤrden, oder gehaͤſſige Abſichten beymeſ¬
ſen?


Sie¬[203]

Siebentes Capittel.


Betragen gegen Hauswirthe, Nachbarn
und Solche, die mit uns in dem nem¬
lichen Hauſe wohnen.


1.

Man wird bemerken, daß ich in der Ordnung
meiner Abhandlung von den erſten und natuͤr¬
lichſten Verhaͤltniſſen ausgehe, und immer von
den einfachern zu den zuſammengeſetztern fort¬
ſchreite. Zuerſt, in Ruͤckſicht auf den Unter¬
ſchied der Jahre, uͤber die Verhaͤltniſſe zwiſchen
Alten und Jungen; Dann uͤber Familienband,
Blutsfreundſchaft; Verhaͤltniſſe unter beyden
Geſchlechtern, in der Ehe, in der Liebe und im
freundſchaftlichen und gleichguͤltigen Umgange.
Und nun, den Menſchen als geſellſchaftliches
Glied betrachtet, wenn er ſich einen Wohnplatz
gewaͤhlt hat, denken wir zuerſt an ſeine Verbin¬
dung mit Nachbarn und Hausgenoſſen.


Unſere neuere Philoſophie uͤberſpringt
zwar dieſe engen Verhaͤltniſſe; allein ich bin
dazu noch nicht aufgeklaͤrt genug, und ſchreibe
alſo[204] alſo aus Ueberzeugung den Satz hin: Naͤchſt
den Perſonen Deiner Familie biſt Du am er¬
ſten Deinen Nachbarn und Hausgenoſſen Rath,
That und Huͤlfe ſchuldig. Es iſt ſehr ſuͤß, ſo¬
wohl in der Stadt als auf dem Lande, wenn
man mit lieben, wackern Nachbarn eines
zwangloſen, freundſchaftlichen und vertrauli¬
chen Umgangs pflegen darf. Es kommen im
menſchlichen Leben ſo manche Faͤlle, wo augen¬
blickliche kleine Huͤlfe uns Wohlthat iſt, wo
wir uns, zur Erholung von ernſthaften Arbei¬
ten, wenn Sorgen uns druͤcken, nach der Ge¬
genwart eines guten Menſchen ſehnen, den
wir nicht erſt weit zu ſuchen brauchen — alſo
vernachlaͤſſige man ſeine Nachbarn nicht, wenn
ſie irgend von geſelliger, wohlwollender Ge¬
muͤthsart ſind! Ich habe die Wohlthat eines
ſolchen Umgangs drey Jahre hindurch in mei¬
ner Einſamkeit bey Frankfurth am Mayn ge¬
ſchmeckt, und werde mich lebenslang mit Dank¬
barkeit und Freude der froͤhlichen Stunden erin¬
nern, die mir an der Seite einer liebenswuͤr¬
digen Familie, die neben mir an wohnte, nur
zu ſchnell entflohn ſind. Da war es, wo die
verſtaͤndigen und muntern Geſpraͤche dieſer
edeln[205] edeln Leute mich aufheiterten, mich wieder mit
den Menſchen ausſoͤhnten, mich ſo manches
Ungemach vergeſſen machten! In großen Staͤd¬
ten pflegt man zu glauben, es gehoͤre zu dem
guten Tone, nicht einmal zu wiſſen, wer mit
uns in dem nemlichen Hauſe wohnt. Das
finde ich ſehr abgeſchmackt, und ich weiß nicht,
was mich bewegen ſollte, eine halbe Meile weit
zu fahren, wenn ich die Unterhaltung, oder
die Langeweile, welcher ich nachrenne, eben
ſo gut zu Hauſe finden koͤnnte, oder um einen
Freundſchafts-Dienſt die ganze Stadt zu durch¬
rennen, wenn neben mir an ein Menſch wohnt,
der mir denſelben gern erzeigen wuͤrde, in ſo
fern ich mir ſeine Freundſchaft und ſein Zu¬
trauen erworben haͤtte. Schaͤmen wuͤrde ich
mich, wenn es der Fall waͤre, daß die Mieth¬
kutſcher und Straßenbuben mich beſſer als
meine Nachbarn kennten.

2.

Man ſoll ſich aber huͤten, ſowohl ſich De¬
nen aufzudringen, Diejenigen zu uͤberlaufen,
die, wenn ſie mit uns unter Einem Dache
wohnen, uns nicht ausweichen koͤnnen, als
auch[206] auch beſonders, ihre Handlungen auszuſpaͤhn,
uns in ihre haͤuslichen Angelegenheiten zu mi¬
ſchen, ihren Schritten, die uns nichts angehn,
nachzuſpuͤren, und kleine misfaͤllige Dinge,
die wir an ihnen bemerken, unter die Leute zu
bringen. Da vor Allen das Geſinde hierzu
ſehr geneigt zu ſeyn pflegt; ſo ſoll man ſeine
Domeſtiken davon abzuhalten, und den Geiſt
von Klatſcherey aus ſeinem Hauſe zu verban¬
nen ſuchen.

3.

Es giebt kleine Gefaͤlligkeiten, die man
Denen ſchuldig iſt, mit welchen man in dem
nemlichen Hauſe, denen man gegenuͤber wohnt,
oder deren Nachbar man iſt, Gefaͤlligkeiten,
die an ſich geringe ſcheinen, doch aber dazu
dienen, Frieden zu erhalten, uns beliebt zu
machen, und die man deswegen nicht verab¬
ſaͤumen ſoll. Dahin gehoͤrt, daß wir Poltern,
Lermen, ſpaͤtes Thuͤr-Zuſchlagen im Hauſe
vermeiden, Andern nicht in die Fenſter gaffen,
nichts in fremde Hoͤfe und Gaͤrten ſchuͤtten,
und dergleichen mehr.


4.[207]

4.

Manche Menſchen denken ſo wenig fein,
daß ſie glauben, gemiethete Haͤuſer, Gaͤrten
und Hausgeraͤthe brauchten gar nicht geſchont
zu werden, und es ſey, bey Beſtimmung der
Mieths-Summe, ſchon auf die Abnutzung
und Verwuͤſtung mitgerechnet worden. Ohne
zu erwaͤhnen, daß dies wenigſtens nicht immer
der Fall iſt; ſo denke ich auch, ein Mann, der
Erziehung hat, kann kein Vergnuͤgen daran
finden, muthwilliger Weiſe etwas zu verderben,
das nicht ſein iſt, wodurch er jemand betruͤbt,
und ſich verhaßt macht. Es wird ſehr bald
bekannt, wenn man puͤnktlich im Bezahlen,
nicht grob, dabey ordentlich und reinlich iſt,
und man wird dann lieber und um billigern
Preis zum Miethsmann aufgenommen, als
mancher viel Vornehmere und Reichere. So
lange ich Hausvater bin, habe ich nebſt den
Meinigen nie auch nur den kleinſten Streit
mit meinen Hauswirthen und Nachbarn gehabt,
und ich darf es ſagen, ſie haben ſich mehren¬
theils mit Thraͤnen in den Augen von uns
getrennt.


Der[208]

Der Wirth ſoll aber gleichfalls gegen
ſeinen Miethsmann gefaͤllig ſeyn, mit Bil¬
ligkeit verfahren, und nicht uͤber jede Kleinig¬
keit zanken, die nicht weniger vorgefallen
ſeyn wuͤrde, wenn er ſelbſt ſein Haus be¬
wohnt haͤtte.


Ach¬[209]

Achtes Capittel.


Ueber die Verhaͤltniſſe zwiſchen Herrn
und Diener.


1.

Es iſt traurig genug, daß der groͤßte Theil des
Menſchengeſchlechts durch Schwaͤche, Armuth,
Gewalt und andre Umſtaͤnde gezwungen iſt,
dem kleinern zu Gebothe zu ſtehn, und daß oft
der Beſſere den Winken des Schlechtern gehor¬
chen muß. Was iſt daher billiger, als daß Die,
denen das Schickſal die Gewalt in die Haͤnde
gegeben hat, ihren Nebenmenſchen das Leben
ſuͤß und das Joch ertraͤglicher zu machen, dieſe
gluͤckliche Lage nicht ohngenuͤtzt laſſen?

2.

Wahr iſt es aber auch, daß die mehrſten
Menſchen zur Sclaverey gebohren, daß edle,
wahrhaftig große Geſinnungen und Gefuͤhle
hingegen nur das Erbtheil einer unbetraͤchtli¬
chen Anzahl zu ſeyn ſcheinen. Laſſet uns in¬
deſſenO[210] deſſen den Grund dieſer Wahrheit weniger in
den natuͤrlichen Anlagen, als in der Art der
Erziehung und in unſern durch Luxus und Des¬
potismus verderbten Zeiten ſuchen! Durch
ſie werden eine ungeheure Menge Beduͤrfniſſe
erzeugt, die uns von Andern abhaͤngig machen.
Das ewige Angeln nach Erwerb und Genuß
erzeugt niedrige Leidenſchaften, zwingt uns, zu
erbetteln und zu erkriechen, was wir fuͤr ſo
noͤthig zu unſrer Exiſtenz halten, ſtatt daß
Maͤßigkeit und Genuͤgſamkeit die Quellen aller
Tugend und Freyheit ſind.

3.

Bleiben nun die mehrſten Menſchen ſtumpf
fuͤr feinere Empfindungen und unfaͤhig zu er¬
habenen hohen Geſinnungen; ſo ſind ſie doch
nicht Alle unerkenntlich gegen großmuͤthige Be¬
handlung, noch blind gegen wahren Werth.
Rechne alſo weder auf die Zuneigung und Ach¬
tung, noch auf freywillige Folgſamkeit Derer,
die Dir unterworfen ſind, wenn Dieſe ſelbſt
fuͤhlen, daß ſie moraliſch beſſer, weiſer, geſchick¬
ter ſind, als Du; daß Du noͤthiger Ihrer be¬
darfſt, als ſie Deiner; wenn Du ſie mishan¬
delſt[211] delſt, ſchlecht fuͤr weſentliche Dienſte belohnſt,
die Schmeichler unter ihnen den graden, auf¬
richtigen, treuen Dienern vorziehſt; wenn ſie
ſich ſchaͤmen muͤſſen, einem Manne anzugehoͤ¬
ren, den Jeder haſſt, oder verachtet; wenn
Du mehr von ihnen verlangſt, als Du ſelbſt
an ihrer Stelle wuͤrdeſt leiſten koͤnnen; wenn
Du Dich weder um ihr moraliſches, noch oͤko¬
nomiſches, noch phyſiſches Wohl bekuͤmmerſt,
ihnen den Lohn ihrer Arbeit ſo ſparſam zutheilſt,
daß ſie verzweifeln, oder Dich betruͤgen muͤſſen,
oder wenigſtens keine frohe Stunde haben koͤn¬
nen; wenn Du nicht Ruͤckſicht nimmſt auf ihren
coͤrperlichen Zuſtand, ſie verſtoßeſt, ſobald ſie
alt und ſchwaͤchlich werden; wenn Du ihnen
wenig Ruhe und Schlaf erlaubſt; wenn ſie, in¬
deß Du ſchwelgſt, in rauher Jahrszeit bis nach
Mitternacht, vielleicht gar dem boͤſen Wetter
blosgeſtellt, auf Dich voll toͤdtender Langeweile
warten muͤſſen; wenn Dein laͤcherlicher Hoch¬
muth ein Gegenſtand ihres Spottes wird, oder
Dein Jaͤhzorn ſie mit Schimpfwoͤrtern uͤber¬
haͤuft; wenn ſie mit aller Aufmerkſamkeit kein
freundliches Wort von Dir gewinnen koͤnnen!
— Gradheit, Redlichkeit, wahre Menſchen¬
liebe,O 2[212] liebe, Wuͤrde und Conſequenz in unſern Hand¬
lungen zu zeigen, das iſt, ſo wie uͤberhaupt
das ſicherſte Mittel uns allgemeine Achtung zu
erwerben, ſo insbeſondre geſchickt, uns der Ehr¬
erbiethung und Zuneigung Derer zu verſichern,
die von uns abhaͤngen, uns oft ohne Schminke,
in mancherley Launen ſehen, und gegen welche
wir uns alſo ſchwerlich lange verſtellen koͤnnen.

4.

So ſehr ich nun einen freundlichen, lieb¬
reichen Umgang mit ſeinen Bedienten anrathe;
ſo wenig kann ich es billigen, wenn man ſich
ihnen vorſetzlicher Weiſe in allen ſeinen Bloͤßen
zeigt, ſie zu Vertrauten in heimlichen Angele¬
genheiten macht, ſie durch uͤbermaͤßige Bezah¬
lung an ein uͤppiges Leben gewoͤhnt; wenn man
ſie nicht gehoͤrig beſchaͤftigt, alles ihrer Willkuͤhr
uͤberlaͤſſt, ſie zu unumſchraͤnkten Herrn uͤber
Caſſen und Vorraͤthe macht, und dadurch in
ihnen Reiz zum Betrug erweckt; wenn man
alle Gewalt uͤber ſie und alles Anſehn freywil¬
lig aufgiebt, und ſich zu Familiaritaͤten und
uͤbertrieben vertraulichen Scherzen mit ihnen
herablaͤſſt. — Man findet unter hundert Men¬
ſchen[213] ſchen von der Art kaum Einen, der das ver¬
tragen kann, der nicht Misbrauch von einer
ſolchen Nachſicht macht. Auch iſt nicht das
grade ein Mittel, ſich geliebt zu machen. Ein
wohlwollendes, ernſthaftes, geſetztes, immer
gleiches Betragen, unterſchieden von ſteifer,
hochmuͤthiger Feyerlichkeit; gute, richtige,
nicht uͤbermaͤßige, der Wichtigkeit ihrer Dienſte
angemeſſene Bezahlung; ſtrenge Puͤnktlich¬
keit, wenn es darauf ankoͤmmt, ſie zur Ord¬
nung und zu Demjenigen anzuhalten, wozu
ſie ſich verbindlich gemacht haben; Liebe und
Freundlichkeit, wenn ſie die Gewaͤhrung einer
anſtaͤndigen, beſcheidenen Bitte, die Verguͤn¬
ſtigung eines unſchuldigen Vergnuͤgens von
uns begehren, oder auch ohngebethen nur er¬
warten koͤnnen; Weiſe Ueberlegung in Zuthei¬
lung der Arbeit, ſo daß man ſie nicht mit un¬
nuͤtzen Arbeiten uͤberhaͤufe, mit Geſchaͤften,
die blos unſer eitles Vergnuͤgen zum Gegen¬
ſtande haben, dennoch aber nicht leide, daß ſie
je muͤſſig ſeyen, ſondern ſie auch anhalte, fuͤr
ſich ſelber zu arbeiten, ſich in Kleidung reinlich
und rechtlich zu halten, ſich Geſchicklichkeit zu
erwerben; Aufmerkſamkeit und Aufopferung
O 3des[214] des eigenen Intereſſe, wenn man Gelegenheit
hat, ihnen ein beſſeres Schickſal zu verſchaffen,
ſie zu befoͤrdern; Vaͤterliche Sorgſamkeit fuͤr
ihre Geſundheit, fuͤr ehrlichen Erwerb und fuͤr
ihre ſittliche Auffuͤhrung — Das ſind die ſicher¬
ſten Mittel, gut, treu bedient und von De¬
nen, die uns dienen, geliebt zu werden.

5.

Unſre feine Lebensart hat einem der erſten
und ſuͤßeſten Verhaͤltniſſe, dem Verhaͤltniſſe zwi¬
ſchen Hausvater und Hausgenoſſen alle Anmuth,
alle Wuͤrde genommen. Hausvaters-Rechte und
Hausvaters-Freuden ſind groͤßtentheil ver¬
ſchwunden; Die Geſinde werden nicht als Theile
der Familien angeſehn, ſondern als Miethlinge
betrachtet, die wir nach Gefallen abſchaffen, ſo
wie auch ſie uns verlaſſen koͤnnen, ſobald ſie ſonſt
irgendwo mehr Freyheit, mehr Gemaͤchlichkeit,
oder reichere Bezahlung zu finden glauben, und
auſſer den Stunden, die ſie unſerm Dienſte
widmen muͤſſen, haben wir kein Recht auf ſie,
leben nicht unter ihnen, ſehen ſie nur dann,
wenn wir ihnen das Zeichen mit der Schelle
geben, und ſie nun aus ihren gewoͤhnlich ſehr
ſchmutzi¬[215] ſchmutzigen, ungeſunden Loͤchern zu uns hervor¬
kriechen. Dieſe loſe, auf ungewiſſe Zeit ge¬
knuͤpfte Verbindung zieht daher eine Gren¬
zenlinie zwiſchen dem Intereſſe beyder Theile;
Der Herr ſucht den Miethling recht wohlfeil
zu bekommen, er muͤſſte denn aus Eitelkeit
oder Verſchwendung mehr an ihn wenden;
Was im Alter aus dem armen dienſtbaren Ge¬
ſchoͤpfe werden wird, darum bekuͤmmert er ſich
nicht, und der Bediente, der das weiß, ſucht
bey ſo ungewiſſen Ausſichten zu erhaſchen, was
zu erhaſchen iſt, um wo moͤglich einen Noth¬
pfennnig zuruͤckzulegen. Welchen Einfluß dies
auf Sittlichkeit, auf Bildung, auf Vertrauen
und gegenſeitige Zuneigung haben muͤſſe, das
iſt leicht einzuſehn. Es iſt wahr, daß nicht
alle Herrſchaften vollkommen ſo fremd und un¬
natuͤrlich mit ihren Geſinden umgehen; aber
wo findet man in jetzigen Zeiten noch Solche,
die als Vaͤter und Lehrer Derer, die ihnen die¬
nen, ſich's zur Freude machen, mitten unter
ihnen zu ſitzen, durch weiſe und freundliche Ge¬
ſpraͤche ſie zu unterrichten, zu ermuntern, an
ihrer ſittlichen und geiſtigen Bildung zu arbei¬
ten, und fuͤr ihr kuͤnftiges Schickſal beſorgt zu
O 4ſeyn?[216] ſeyn? Es iſt wahr, daß die Wenigſten von De¬
nen, die bey Privat-Leuten in Dienſte treten,
ſo wohl erzogen ſind, daß ſie den Werth einer
ſolchen Herablaſſung zu erkennen und gehoͤrig
zu nuͤtzen wiſſen; Allein was hindert uns, die
Geſinde ſelbſt zu erziehn, ſie als Kinder anzu¬
nehmen, ſie dann lebenslang, wie die Mit¬
glieder unſrer Familie, bey uns zu behalten,
und ihr Schickſal nach Verhaͤltniß ihres Ver¬
dienſtes und unſers Vermoͤgens zu verbeſſern?
Ich kenne aus Erfahrung alle Ungemaͤchlich¬
keiten einer ſolchen Unternehmung; Seit meh¬
rern Jahren folge ich dieſem Plane. Vielfaͤl¬
tig mislingt es; unſre Arbeit belohnt ſich nicht,
wird nicht erkannt; die Kinder, wenn ſie her¬
angewachſen ſind, fangen an ſich zu fuͤhlen,
und entziehen ſich unſrer vaͤterlichen Zucht.
Allein oft ſind wir ſelbſt durch fehlerhafte Be¬
handlung daran Schuld, und nicht immer han¬
deln ſie undankbar gegen uns. Wir geben ih¬
nen zuweilen eine ganz andre Art von Erzie¬
hung, als fuͤr ihre Lage taugt, und dadurch
machen wir ſie grade unzufrieden mit ihrem
Zuſtande, ſtatt ihr Gluͤck zu bauen; oder wir
behandeln ſie, wenn ſie ſchon erwachſen ſind, noch
im¬[217] immer als Kinder. Der Freyheitstrieb iſt allen
Creaturen von der Natur eingepraͤgt; ſie glauben
ſich einem Joche zu entziehn, wenn ſie von uns
gehen, glauben Unſrer nicht mehr zu beduͤrfen,
ſich ſelbſt rathen und regieren zu koͤnnen. Viel¬
faͤltig aber reuet es ſolche Menſchen in der
Folge, uns verlaſſen zu haben, wenn ſie erſt
den Unterſchied unter einem Herrn und einem
Hausvater erfahren, und lebhafte, aͤchte Be¬
griffe von wahrer Freyheit erhalten. Das
Fremde, ſo man nicht kennt, ſieht immer beſ¬
ſer aus, als das gewoͤhnte auch noch ſo Gute.
Auf Erfolg und Dankbarkeit ſoll man uͤbrigens
in dieſer Welt nie rechnen, ſondern das Gute
blos aus Liebe zum Guten thun. Nicht alle
Muͤhe aber iſt verlohren, die verlohren zu ſeyn
ſcheint, und die Wuͤrkungen einer guten Erzie¬
hung aͤuſſern ſich oft erſt ſpaͤt nachher. Es iſt
auch ſuͤß, fuͤr Andre zu pflanzen, da hingegen.
Fruͤchte zu ziehn, die man ſelbſt genieſſt, ein
ſehr gemeines Verdienſt iſt.

6.

Ein Hausvater hat das Recht, ſein Ge¬
ſinde ernſtlich zur Pflichts-Erfuͤllung anzu¬
hal¬O5[218] halten; allein nie ſoll er ſich durch Hitze ver¬
leiten laſſen, erwachſene Dienſtbothen mit gro¬
ben Schimpfwoͤrtern, oder gar mit Schlaͤgen
zu behandeln. Ein edler Mann mag nur
Kraft gegen Kraft ſetzen; nie wird er Den mis¬
handeln, der ſich nicht wehren darf.

7.

Fremden Bedienten ſoll man in aller Ruͤck¬
ſicht hoͤflich und liebreich begegnen, denn in
Betracht Unſrer ſind ſie freye Leute, oder wir
duͤrfen ſelbſt uns nicht frey nennen, wenn wir
Fuͤrſten dienen. Dazu koͤmmt, daß manche
Bediente ſehr viel Einfluß auf ihre Herrſchaften
haben, an deren Gunſt uns gelegen iſt, daß
die Stimme der niedrigen Claſſen von Men¬
chen oft ſehr entſcheidend fuͤr unſern Ruf wer¬
den kann, und endlich, daß dieſe Claſſe es ſehr
viel genauer damit zu nehmen pflegt, ſich leich¬
ter beleidigt, nicht gehoͤrig gepflegt glaubt, als
Perſonen, welche die Grundſaͤtze einer feinen
Erziehung uͤber elende Kleinigkeiten hinausſetzt.

8.

Es wird hier nicht am unrechten Orte ſtehn,
wenn ich die Warnung hinzufuͤge, ſich vor Ge¬
ſchwaͤ¬[219] ſchwaͤtzigkeit und Vertraulichkeit in dem Um¬
gange mit Friſeurs, Barbiers und Putzma¬
cherinnen zu huͤten. Dies Volk — doch giebt
es auch da Ausnahmen — iſt ſehr geneigt,
aus einem Hauſe in das andere zu tragen, In¬
triguen, Raͤnke, Klatſchereyen anzuſpinnen,
und ſich zu allerley unedeln Dienſten brauchen
zu laſſen. Am beſten iſt es, ſich mit ihnen auf
einen ernſthaften Fuß zu ſetzen.

9.

Und nun ſollte ich auch etwas von dem
Betragen des Dieners gegen den Herrn reden.
Ich werde aber dieſen Gegenſtand groͤßtentheils
da abhandeln, wo ich von dem Umgange mit
Vornehmern, Reichern und Fuͤrſten rede. Alſo
nur ſo viel hier: Wer dient; der erfuͤlle treu
die Pflichten, zu welchen er ſich verbindlich ge¬
macht hat; Er thue darinn lieber zu viel, als
zu wenig; Den Vortheil ſeines Herrn ſehe
er als ſeinen eigenen an; Er handle immer ſo
offenbar, und fuͤhre ſeine Geſchaͤfte mit ſolcher
Ordnung, daß es ihm zu keiner Zeit ſchwer
fallen koͤnne, Rechenſchaft von ſeinem Haus¬
halte abzulegen; Er mißbrauche nie das Zu¬
trau¬[220] trauen, die Vertraulichkeit ſeines Herrn; Er
decke nie die Fehler Deſſen auf, deſſen Brodt
er iſſt; Er laſſe ſich nicht verleiten, weder im
Scherze noch im Unwillen, die Grenzen der
Ehrerbiethung zu uͤberſchreiten, die er Dem
ſchuldig iſt, Dem das Schickſal ihn unter¬
wuͤrfig gemacht hat; Allein er betrage ſich auch
immer mit einer ſolchen Wuͤrde, daß es dem
Obern nie einfallen koͤnne, ihm mit Verach¬
tung zu begegnen, oder unedle Dienſte zuzu¬
muthen, ſondern daß Dieſer ſeinen Werth als
Menſch fuͤhle, und, wenn er einer guten Em¬
pfindung faͤhig iſt, des Abſtandes ohngeach¬
tet, den die buͤrgerliche Verfaſſung zwiſchen
ihnen geſetzt hat, ihm dennoch ſeine Hochach¬
tung widmen muͤſſe! Er laſſe ſich nicht durch
blendende Auſſenſeiten bewegen, ſeinen Zuſtand
zu veraͤndern, ſondern uͤberlege, daß jede Lage
ihre Ungemaͤchlichkeiten hat, die man in der
Ferne nicht wahrnimmt! Hat er bey dieſem
redlichen und vorſichtigen Betragen dennoch
das Ungluͤck, einem undankbaren, harten, un¬
gerechten Herrn zu dienen; ſo trage er, wenn
ſanfte Vorſtellungen nichts helfen, gedul¬
dig, ohne Geſchwaͤtz und ohne Murren, ſo
lange[221] lange er ſich dieſer Lage nicht entziehn kann.
Kann er aber das; ſo folge er andern Ausſich¬
ten, ſchweige nachher uͤber das, was ihm be¬
gegnet iſt, und enthalte ſich aller Rache, aller
Laͤſterung, aller Plauderey! Doch koͤnnen Faͤlle
eintreten, wo ſeine gekraͤnkte Ehre eine oͤffent¬
liche oder gerichtliche Rechtfertigung gegen den
maͤchtigen Unterdruͤcker fordert, und dann
trete er, ohne Winkelzuͤge, aber kuͤhn und
feſt, voll Zuverſicht auf die Guͤte ſeiner Sache,
auf Gottes und der Menſchen Gerechtigkeit her¬
vor, und laſſe ſich weder durch Menſchenfurcht
noch durch Armuth und Raͤnke abſchrecken, ſei¬
nen Ruf zu retten, wenn auch der ſtaͤrkere
Boͤſewicht ihm alles Uebrige rauben kann.


Neun¬[222]

Neuntes Capittel.


Ueber das Verhaͤltniß zwiſchen Wirth
und Gaſt.


1.

In alten Zeiten hatte man hohe Begriffe von
den Rechten der Gaſtfreundſchaft. Noch pfle¬
gen dieſe Begriffe in Laͤndern und Provinzen,
die weniger bevoͤlkert ſind, oder wo einfachere
Sitten, bey weniger Reichthum, Luxus und
Corruption herrſchen, ſo wie auf dem Lande,
in Ausuͤbung gebracht und die Rechte der Gaſt¬
freundſchaft heilig gehalten zu werden. In
unſern glaͤnzenden Staͤdten hingegen, wo nach
und nach der Ton der feinen Lebensart allen
Biederſinn zu verdraͤngen anfaͤngt, da gehoͤren
die Geſetze der Gaſtfreundſchaft nur zu den
Hoͤflichkeits-Regeln, die Jeder, nach ſeiner
Lage und nach ſeinem Gefallen, mehr oder we¬
niger anerkennt und befolgt, oder nicht. Auch
iſt es wahrlich zu verzeyhn, wenn, bey immer
zunehmenden Luxus und dem mannigfaltigen
Misbrauche, den man in unſern Zeiten von
der[223] der Gutherzigkeit der Menſchen macht, man vor¬
ſichtig in Erzeigung ſolcher Gefaͤlligkeiten wird,
und wenn man genauere Ruͤckſprache mit ſei¬
nem Geldbeutel nimmt, bevor man jedem Muͤſ¬
ſiggaͤnger und freundlichen Schmarotzer Haus,
Kuͤche und Keller oͤfnet. Von der Gaſtfreund¬
ſchaft der Großen und Reichen rede ich gar nicht;
Langeweile, Eitelkeit und Prachtliebe ordnen
da alles auf's Beſte, und Der, welcher giebt,
weiß, ſowohl wie Der, welcher empfaͤngt, auf
welche Rechnung er dies zu ſchreiben, und wie
er ſich dabey zu betragen hat. Aber von der
Gaſtfreundſchaft unter Perſonen von mittlerm
Stande will ich doch etwas reden, und einige
allgemeine Regeln geben, die auf dieſen Ge¬
genſtand anwendbar ſind.

2.

Man reiche das Wenige, was man der
Gaſtfreundſchaft opfern kann, in gehoͤrigem
Maaße, mit guter Art, mit treuem Herzen und
mit freundlichem Geſichte dar! Man ſuche,
bey Bewirthung eines Fremden oder eines
Freundes, weniger Glanz, als Ordnung und
guten Willen zu zeigen! Fremde Reiſende kann
man[224] man ſich vorzuͤglich durch gaſtfreundſchaftliche
Aufnahme verpflichten. Es koͤmmt ihnen nicht
auf eine koͤſtliche freye Mahlzeit, aber darauf
koͤmmt es ihnen an, daß ſie Eingang in guten
Haͤuſern und dadurch Gelegenheit erhalten,
ſich uͤber Gegenſtaͤnde zu unterrichten, die zu
dem Zwecke ihrer Reiſe gehoͤren. Gaſtfreund¬
ſchaft gegen Fremde iſt desfalls ſehr zu empfeh¬
len. Man ſehe nicht verlegen aus, wenn uns
unerwartet ein Beſuch uͤberraſcht! Nichts iſt
unangenehmer und peinlicher, als wenn wir
merken, daß es dem Manne, der uns bewir¬
thet, ſauer wird, daß er ungern und nur ans
Hoͤflichkeit hergiebt, oder daß er mehr Aufwand
dabey verſchwendet, als ſeine Umſtaͤnde leiden;
wenn er ohne Unterlaß ſeiner Frau oder ſeinen
Bedienten in die Ohren fluͤſtert, oder mit ih¬
nen zankt, ſobald eine Schuͤſſel unrecht geſtellt
oder etwas vergeſſen worden: wenn er ſelbſt
im Hauſe herumlaufen, alles anordnen muß,
und alſo an den Freuden der Geſellſchaft gar
nicht Theil nimmt; wenn Er zwar gern giebt,
ſeine Frau hingegen uns jeden Biſſen in den
Mund zaͤhlt; wenn ſo wenig in den Schuͤſſeln
liegt, daß Der, welcher vorlegt, ohnmoͤglich
herum¬[225] herumreichen kann; wenn der Wirth und die
Wirthinn uns ungeſtuͤm zum Eſſen und Trinken
noͤthigen, oder auf eine Weiſe geben, die uns
zu ſagen ſcheint: „Es iſt nun einmal ange¬
„ſchafft; alſo freſſet Euch den Balg voll! Wer¬
„det recht ſatt; ſo habt Ihr auf lange Zeit ge¬
„nug, und braucht ſobald nicht wieder zu kom¬
„men!“ endlich wenn wir Zeugen von Fami¬
lienzwiſt und der Unordnung, die im Hauſe
herrſcht, ſeyn muͤſſen. Mit einem Worte! Es
giebt eine Art, Gaſtfreundſchaft zu erweiſen,
die dem Wenigen, ſo man darreicht, einen hoͤ¬
hern Werth giebt, als große Schmauſereyen
haben. Vieles traͤgt hierzu die Unterhaltung
bey. Man muß daher die Kunſt verſtehn, mit
ſeinen Gaͤſten nur von ſolchen Dingen zu re¬
den, die ſie gern hoͤren, in einem groͤßern Cir¬
kel ſolche Geſpraͤche zu fuͤhren, woran Alle mit
Vergnuͤgen Theil nehmen, und ſich dabey in
vortheilhaftem Lichte zeigen koͤnnen. Der
Bloͤde muß ermuntert, der Traurige aufgehei¬
tert werden. Man muß nichts als Auge und
Ohr ſeyn, ohne daß dies muͤhſam ausſehe, ohne
daß man an uns Anſtrengung wahrnehme.
Man bitte nicht Menſchen zuſammen, oder
Pſetze[226] ſetze ſolche an Tafeln nebeneinander, die ſich
fremd, oder gar feind ſind, ſich nicht verſtehen,
nicht zu einander paſſen, ſich Langeweile ma¬
chen! Alle dieſe Aufmerkſamkeiten aber muͤſſen
auf eine ſolche Art erwieſen werden, daß ſie
nicht mehr Zwang auflegen, als ſie Wohlthat
fuͤr den Gaſt ſind. Jeder, der auf kurze oder
lange Zeit in Deinem Hauſe iſt, und waͤre er
Dein aͤrgſter Feind, muß daſelbſt von Dir ge¬
gen alle Arten von Beleidigungen und Verfol¬
gungen Andrer, ſo viel an Dir iſt, geſchuͤtzt
ſeyn! Es muͤſſe Jeder unter unſerm Dache ſich
ſo frey als unter ſeinem eigenen fuͤhlen! Man
laſſe ihn ſeinen Gang gehn, renne ihm nicht
in jedem Winkel nach, wenn er vielleicht allein
ſeyn will, und verlange nicht von ihm, daß er
fuͤr die Koſt, welche er genieſſt, uns unterhal¬
ten, und dadurch ſeine Zeche bezahlen ſolle;
Endlich laſſe man nicht nach in Gefaͤlligkeit
und Bewirthung, wenn der [Freund] ſich laͤngere
Zeit bey uns aufhaͤlt, ſondern erzeige ihm gleich
in den erſten Tagen nicht mehr und nicht weni¬
ger, als man in der Folge fortſetzen kann!


3.[227]

3.

Der Gaſt aber hat gegen den Wirth auch
gegenſeitig Ruͤckſichten zu nehmen. Ein altes
Spruͤchwort ſagt: „Ein Fiſch und ein Gaſt
„halten ſich Beyde nicht gut laͤnger als drey
„Tage im Hauſe.“ Dieſe Vorſchrift leidet
nun wohl Ausnahmen; allein ſo viel Wahres
ſteckt doch darinn, daß man ſich niemand auf¬
dringen und Ueberlegung genug haben ſoll, zu
bemerken, wie lange unſre Gegenwart in einem
Hauſe angenehm und fuͤr niemand eine Buͤrde
iſt. Nicht immer iſt man ſo aufgelegt, nicht
immer in ſeinen haͤuslichen Angelegenheiten ſo
eingerichtet, daß man gern Gaͤſte bey ſich ſieht,
oder lange beherbergt. Bey Leuten, die nicht
auf einem ſehr großen Fuß leben, ſoll man da¬
her nicht leicht ohnvermuthet kommen oder ſich
ſelbſt einladen. Dem Manne, der uns Gaſt¬
freundſchaft erweiſt, ſollen wir zum Lohne ſei¬
ner Guͤte ſo wenig Laſt als moͤglich machen.
Wir ſollen ruhig und ſtill unſern Gang gehn,
uns nach den Sitten des Hauſes richten, den
Ton der Familie annehmen, als wenn wir
Glieder derſelben waͤren, wenig Aufwartung
fordern, genuͤgſam ſeyn, uns nicht in haͤusliche
P2An¬[228] Angelegenheiten miſchen, nicht durch unſre
Launen den Ton verſtimmen, und wenn es, un¬
ſrer Meinung nach, irgendwo in der Bewir¬
thung gemangelt hat, nicht hinter dem Ruͤcken
her undankbar, daruͤber, oder uͤber das, was
wir ſonſt etwa in dem Hauſe geſehn haben, un¬
ſern Spott treiben.

4.

Es giebt aber auch Menſchen, die einen
ſo gewaltig hohen Werth auf Gaſtfreundſchaft
ſetzen, welche ſie uns erweiſen, daß ſie dafuͤr
gelobt, geſchmeichelt, bedient, haͤufig beſucht,
und wer weiß was ſonſt alles? ſeyn wollen.
Das iſt nun freylich nicht billig. Ein maͤßiger
Mann verlangt doch nicht mehr, als ſich ſatt
zu eſſen, und das kann er ja leicht um gerin¬
gern Preis. Das Mehr oder Weniger iſt ſo
viel nicht werth, und ich halte wahrhaftig mei¬
ne Geſellſchaft und meine verlohrne Zeit eben
ſo theuer, als Ihro Hochmoͤgenden Dero Paſte¬
ten und Braten.


Zehn¬[229]

Zehntes Capittel.


Ueber den Umgang unter Freunden.


I.

Da bey dem Betragen gegen unſre Freunde
alles auf die Wahl derſelben ankoͤmmt; ſo muß
ich zuerſt einige Bemerkungen uͤber dieſen Ge¬
genſtand vorausſchicken. Keine freundſchaft¬
liche Verbindungen pflegen dauerhafter zu ſeyn,
als die, welche in der fruͤhern Jugend geſchloſ¬
ſen werden. Man iſt da noch weniger mis¬
trauiſch, weniger ſchwuͤrig in Kleinigkeiten; das
Herz iſt ofner, geneigter mitzutheilen, ſich an¬
zuſchlieſſen; die Charaktere fuͤgen ſich leichter zu¬
ſammen; Man giebt von beyden Seiten nach
und ſetzt ſich in gleiche Stimmung; Man er¬
faͤhrt mit einander ſo manches, erinnert ſich
der ſorgenloſen, gemeinſchaftlich vollbrachten
gluͤcklichen Jugend-Jahre, und ruͤckt mit glei¬
chen Schritten in Cultur und Erfahrung fort.
Dazu kommen dann Gewohnheit und Beduͤrf¬
niß; Wird Einer aus dem vertrauten Cirkel
durch die Hand des Todes dahingeriſſen; ſo ket¬
tetP 3[230] tet das die uͤbrigbleibenden Gefaͤhrten um deſto
feſter an einander. — Ganz anders ſieht es
aus in reifern Jahren. Von Menſchen und
Schickſalen vielfaͤltig getaͤuſcht, werden wir
verſchloſſener, trauen nicht ſo leicht; das Herz
ſteht unter der Vormundſchaft der Vernunft,
die genauer abwaͤgt und ſich ſelbſt Rath zu ſchaf¬
fen ſucht, bevor ſie ſich Andern anvertrauet.
Man fordert mehr, iſt eckler in der Wahl, nicht
mehr ſo luͤſtern nach neuen Bekanntſchaften,
wird nicht ſo lebhaft betroffen von glaͤnzenden
Auſſenſeiten; Man hat aͤchtere Begriffe von
Vollkommenheit, von dauerhaften Buͤndniſſen,
vom Nutzen und Schaden einer gaͤnzlichen Hin¬
gebung; der Character iſt feſter; die Grund¬
ſaͤtze ſind auf Syſteme zuruͤckgefuͤhrt, in wel¬
chen die [Geſinnungen] und Theorien eines uns
fremden Menſchen ſelten paſſen; folglich wird
es ſchwerer, eine dauerhafte Harmonie zu
Stande zu bringen, und endlich ſind wir in
ſo manche Geſchaͤfte und Verbindungen ver¬
flochten, daß wir kaum Muße, und wenig¬
ſtens ſelten Drang haben, neue zu ſchlieſſen.
Alſo vernachlaͤſſige man ſeine Jugendfreunde
nicht, und wenn auch Schickſale, Reiſen und
an¬[231] andere Umſtaͤnde uns in der Welt umherge¬
trieben und von unſern Geſpielen getrennt ha¬
ben; ſo ſuche man doch jene alten Bande wie¬
der anzuknuͤpfen, und man wird ſelten uͤbel
dabey fahren!

2.

Es iſt ein ziemlich allgemein angenomme¬
ner Grundſatz, daß vollkommenerFreundſchaft
Gleichheit des Standes und der Jahre erfor¬
dert werde. „Die Liebe“ ſagt man „ſey blind;
„ſie feſſele durch unerklaͤrbaren Inſtinct Herzen
„aneinander, die dem kalten Beobachter gar
„nicht fuͤreinander geſchaffen zu ſeyn ſchienen,
„und da ſie nur durch Gefuͤhle, nicht durch
„Vernunft geleitet werde, ſo fallen bey ihr alle
„Ruͤckſichten des Abſtandes, den aͤuſſere Um¬
„ſtaͤnde erzeugen, weg. Die Freundſchaft hin¬
„gegen beruhe auf Harmonie in Grundſaͤtzen
„und Neigungen; nun aber habe jedes Alter
„ſo wie jeder Stand ſeine ihm eigene Stim¬
„mung, nach der Verſchiedenheit der Erzie¬
„hung und Erfahrungen, und desfalls finde
„unter Perſonen von ungleichen Jahren und
„ungleichen buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen keine
„ſoP4[132] „ſo vollkommene Harmonie Statt, als zu
„Knuͤpfung des Freundſchaftsbandes erfordert
„werde.“


Dieſe Bemerkungen enthalten viel Wah¬
res, doch habe ich ſchon zaͤrtliche und dauer¬
hafte Freundſchaften unter Leuten wahrgenom¬
men, die weder dem Alter noch dem Stande
nach ſich aͤhnlich waren, und wenn man ſich
an dasjenige erinnert, was ich zu Anfange
des zweyten Capittels geſagt habe; ſo wird
man dies leicht erklaͤren koͤnnen. Es giebt
junge Greiſe und alte Juͤnglinge; Feine Er¬
ziehung, Maͤßigkeit in Wuͤnſchen, Freyheit
in Denkungsart und Unabhaͤngigkeit der Lage
erheben den Bettler zu einem Mann von ho¬
hem Stande, ſo wie verachtungswuͤrdige Sit¬
ten, unedle Begierden und niedrige Geſinnun¬
gen, ſelbſt einen Fuͤrſten zu dem Poͤbel herab¬
wuͤrdigen koͤnnen. Das aber iſt zuverlaͤſſig
gewiß, daß zu einer dauerhaften, innigen
Freundſchaft, Gleichheit in Grundſaͤtzen und
Empfindungen erfordert wird, und daß die¬
ſelbe auch bey einer zu großen Verſchiedenheit
in Faͤhigkeiten und Kenntniſſen nicht leicht
Platz finden kann. Faͤllt nicht eine der hoͤch¬
ſten[133] ſten Gluͤckſeligkeiten bey ſolcher Verbindung,
die Austauſchung von Ideen und Meinungen,
die Mittheilung verſchwiſterter Gefuͤhle, die
Berichtigung dunkler Ahndungen und Zurecht¬
weiſung in wichtigen Faͤllen alsdann weg, wenn
unſer Freund ſich durchaus nicht in unſre Lage
hineindenken kann, wenn ihm unſre Empfin¬
dungen gaͤnzlich fremd ſind? Es giebt Leute,
die man nur bewundern darf, an welche man
immer hinaufſchauen muß, und dieſe Men¬
ſchen verehrt man, aber — man liebt ſie nicht,
oder man verzweifelt wenigſtens daran, von
ihnen wieder geliebt zu werden. In der Freund¬
ſchaft muͤſſen beyde Theile gleichviel geben und
empfangen koͤnnen. Jedes zu große Ueberge¬
wicht von Einer Seite, alles was die Glei¬
chung hebt, ſtoͤhrt die Freundſchaft.

3.

Warum haben ſehr vornehme und ſehr
reiche Leute ſo wenig wahren Sinn fuͤr Freund¬
ſchaft? Sie fuͤhlen weniger Seelen-Beduͤrfniß.
Ihre Leidenſchaften zu befriedigen; rauſchen¬
den, betaͤubenden Freuden nachzurennen; im¬
mer zu genieſſen; geſchmeichelt, gelobt, geehrt
zuP5[234] zu werden; darum iſt es ihnen Allen mehr oder
weniger zu thun. Von Perſonen ihres Glei¬
chen werden ſie durch Eiferſucht, Neid und an¬
dre Leidenſchaften getrennt; die noch Groͤßeren
ſuchen ſie nur auf, wenn ſie Ihrer, zu Beguͤn¬
ſtigung eigennuͤtziger oder ehrgeiziger Abſichten,
beduͤrfen; die Geringern und Aermern aber
halten ſie in einer ſo großen Entfernung von
ſich, daß ſie von ihnen weder die Wahrheit an¬
nehmen, noch den Gedanken ertragen koͤnnen,
ſich mit ihnen gleichzuſtellen. Auch bey den
Beſten unter ihnen erwacht fruͤh oder ſpaͤt die
Vorſtellung, daß ſie von beſſerm Stoffe ſeyn,
und das toͤdtet dann die Freundſchaft.

4.

Allein ſelbſt unter denen Menſchen, die
Dir am Stande, Vermoͤgen, Alter und Faͤhig¬
keiten gleich ſind, rechne nur auf die dauerhafte
Freundſchaft Derer, die nicht von unedlen,
heftigen, oder thoͤrichten Leidenſchaften be¬
herrſcht, noch, wie ein Wetterhahn, von Lau¬
nen und Grillen hin und hergetrieben werden!
Wer raſtlos rauſchenden Freuden und Zerſtreu¬
ungen ſich ergiebt; wer wilden Begierden, der
Wol¬[235] Wolluſt, dem Trunke, dem vermaledeyeten
Spiele alles aufopfert; weſſen Abgott falſche
Ehre, Gold, oder ſein eigenes Ich iſt; wer,
wankelmuͤthig in Grundſaͤtzen und Meynun¬
gen, einen Character hat, der ſich, wie Wachs,
von Jedem in jede Form druͤcken laͤſſt; der mag
vielleicht ein guter Geſellſchafter, aber nie wird
er ein beſtaͤndiger, treuer Freund ſeyn. So¬
bald es auf Verleugnung, Aufopferung, auf Be¬
harrlichkeit und Feſtigkeit ankoͤmmt, wird ein
Solcher Dich im Stiche laſſen; Du wirſt al¬
lein da ſtehn, und Dich hintergangen glauben,
da doch Du allein Dich betrogen, indem Du
unvorſichtig gewaͤhlt haſt. Ueberhaupt iſt es
in dieſer Welt ſo oft der Fall, daß unſre Phan¬
taſie uns die Menſchen malt, wie wir gern moͤg¬
ten, daß ſie ausſehn ſollten, und es nachher
ſehr uͤbel nimmt, wenn ſie wird, daß die
Natur nicht das Original dem Gemaͤhlde gleich
geſchaffen hat.

4.

Iſt es aber wuͤrklich ſo ſchwer, in dieſer
Welt treue Freunde zu finden? Ich meine,
nicht halb ſo ſchwer, als man gewoͤhnlich glaubt.
Unſre[236] Unſre empfindſamen jungen Herrn ſchaffen ſich
nur zu uͤberſpannte Begriffe von der Freund¬
ſchaft. Freylich, wenn wir gaͤnzliche Hinge¬
bung, ohnbedingte Aufopferung, Verlaͤugnung
alles eigenen Intereſſe in hoͤchſt critiſchen Au¬
genblicken, blinde Ergreifung unſrer Parthey
gegen eigene beſſere Ueberzeugung, ſogar Be¬
wunderung unſrer Fehler, Billigung unſrer
Thorheiten, Mitwuͤrkung bey unſern leiden¬
ſchaftlichen Verirrungen — mit Einem Worte!
wenn wir mehr von unſern Freunden fordern,
als Billigkeit und Gerechtigkeit von Menſchen
verlangen darf, die Fleiſch und Bein ſind, und
freyen Willen haben; ſo werden wir nicht leicht
unter tauſend Weſen Eins finden, das ſich ſo
gaͤnzlich in unſre Arme wuͤrfe. Suchen wir
aber verſtaͤndige Menſchen, deren Haupt-Grund¬
ſaͤtze und Gefuͤhle mit den unſrigen uͤbereinſtim¬
men, kleine unmerkliche Verſchiedenheiten ab¬
gerechnet; Menſchen, die Freude finden an
dem, was uns freuet; die uns lieben, ohne
von uns bezaubert, das Gute in uns ſchaͤtzen,
ohne blind gegen unſre Schwaͤchen zu ſeyn; die
uns im Ungluͤcke nicht verlaſſen, uns in guten
und redlichen Dingen treu und ſtandhaft bey¬
ſte¬[237] ſtehen, uns troͤſten, aufrichten, tragen helfen,
uns, wo es hoͤchſt noͤthig iſt und wir deſ¬
ſen werth ſind, alles aufopfern was man
ohne Verletzung ſeiner Ehre und der
Gerechtigkeit gegen ſich ſelbſt und die
Seinigen aufopfern darf
, uns die Wahr¬
heit nicht verhehlen, uns aufmerkſam auf un¬
ſre Maͤngel machen, ohne uns vorſetzlich zu
beleidigen, uns allen andern Menſchen vorzie¬
hen, in ſo fern es ohne Unbilligkeit geſchehen
kann — — ſuchen wir ernſtlich Solche; nun!
ſo finden wir Deren gewiß — Viele? nein!
das ſage ich nicht, aber doch wohl ein Paar
fuͤr jeden Biedermann, und was braucht man
mehr in dieſer Welt?

6.

Haſt Du nun einen ſolchen treuen Freund
gefunden; ſo bewahre ihn auch! Halte ihn in
Ehren, auch dann, wenn das Gluͤck Dich ploͤtz¬
lich uͤber ihn erhebt, auch da, wo Dein Freund
nicht glaͤnzt, wo Deine Verbindung mit ihm
durch die Stimme des Volks nicht gerechtfer¬
tigt zu werden ſcheint! Schaͤme Dich nie Dei¬
nes aͤrmern, weniger hochgeſchaͤtzten Freundes!
Be¬[238] Beneide nicht den Dir vorgezogenen Freund!
Haͤnge feſt an ihm, ohne ihm laͤſtig zu werden!
Fordre nicht mehr von ihm, als Du ſelbſt lei¬
ſten wuͤrdeſt, ja! fordre nicht einmal ſo viel,
wenn Dein Freund nicht in allen Stuͤcken mit
Dir einerley lebhaftes Temperament, einerley
Faͤhigkeiten, einerley Grad von Empfindniß
hat! Ergreife warm und eifrig die Parthey
Deines Freundes, aber nicht auf Unkoſten der
Gerechtigkeit und Redlichkeit! Du ſollſt nicht
ſeinetwegen blind gegen die Tugenden Andrer
ſeyn, noch, wenn Du die Macht in Haͤnden
haſt, eines wuͤrdigen, geſchickten Mannes
Gluͤck zu bauen, Dieſen dem weniger faͤhigen
Freunde nachſetzen. Du ſollſt nicht ſeine Ue¬
bereilungen vertheidigen, ſeine Leidenſchaften
als Tugenden erheben, in kleinen Zwiſtigkeiten
mit andern Menſchen, wenn er Unrecht hat,
vorſetzlicher Weiſe die Parthey des Beleidigers
verſtaͤrken; nicht Dich mit in ſein Verderben
ſtuͤrzen, wenn ihm dadurch nicht geholfen wird,
noch vielleicht gar durch unkluge Vertheidigung
ſeine Feinde mehr erbittern, und Dich und die
Deinigen in das Verderben ſtuͤrzen. Aber
retten ſollſt Du ſeinen Ruf, wenn er unſchuldig
ver¬[239] verleumdet wird, auch dann, wenn jedermann
ihn verlaͤſſt und verkennt, ſobald Du hoffen darfſt,
daß dies ihm irgend Vortheil bringen kann.
Oeffentlich ehren ſollſt Du den Edlen und Dich
nie Deiner Verbindung mit ihm ſchaͤmen, wenn
Schickſale oder boͤſe Menſchen ihn ohnverdient
zu Boden gedruͤckt haben. Nicht mitlaͤcheln
ſollſt Du, wenn loſe Buben hinter ſeinem Ruͤk¬
ken her ihm hoͤhnen. Mit Vorſicht und Klug¬
heit ſollſt Du ihm Nachricht geben von Gefah¬
ren, die ihm und ſeiner buͤrgerlichen Ehre dro¬
hen; aber nur in ſo fern dies dazu dienen
kann, dem Uebel auszuweichen, oder Unvorſich¬
tigkeiten wieder gut zu machen, nicht aber,
wenn er dadurch blos eine unruhige Stunde
gewinnt.

7.

Freunde, die uns in der Noth nicht verlaſ¬
ſen, ſind aͤuſſerſt ſelten — Sey Du Einer dieſer
ſeltenen Freunde! Hilf, rette, wenn Du es
vermagſt! opfre Dich auf— nur vergiß nicht,
was Klugheit und Gerechtigkeit gegen Dich
und Andre von Dir fordern! Aber tobe nicht,
klage nicht, wenn Andre nicht ein Gleiches fuͤr
Dich[240] Dich thun! Nicht immer herrſcht boͤſer Wil¬
len bey ihnen. Ich habe vorhin geſagt, daß
ſchwache und durch Leidenſchaft beherrſchte
Menſchen unſichre Freunde ſind; doch wie We¬
nige giebt es, die ganz feſt und unerſchuͤtterlich
in ihrem Character, ganz frey von kleinen Lei¬
denſchaften und Nebenabſichten waͤren, die
nicht bey ihrer Anhaͤnglichkeit an Dich mit
Ruͤckſicht naͤhmen auf Deinen aͤuſſern Ruf,
auf Deine Verhaͤltniſſe, darauf daß ſie, wo
nicht durch Dich geehrt werden, doch wenig¬
ſtens nicht Schande vor der Welt wegen ihrer
Zuneigung zu Dir auf ſich laden wollen! Wenn
Dieſe nun, ſobald ein Ungewitter ſich uͤber Dei¬
nem Haupte zuſammenzieht, einen kleinen
Schritt zuruͤcktreten, oder wenigſtens ihre Liebe
und Verehrung in eine Art von Protection
und Rathgebersrolle verwandelt — nun! ſo
ſey billig! Schiebe die Schuld auf das aͤngſt¬
liche Temperament der mehrſten Leute, auf
ihre Abhaͤngigkeit von aͤuſſern Umſtaͤnden, auf
die Nothwendigkeit heut zu Tage durch Gunſt
ſein Gluͤck zu machen, um bey den wahrhaftig
theuren Zeiten fortzukommen! Wie wenig
Menſchen wuͤrden uͤbrig bleiben, mit denen
Du[241] Du Hand in Hand auf dieſer Erde durch Dick
und Duͤnn wandeln koͤnnteſt, wenn Du es ſo
genau nehmen wollteſt! Zuweilen iſt auch der
Fall da, daß wuͤrklich unſre Freunde (wenn
wir uns durch kleine oder große Unvorſichtigkei¬
ten unſer Schickſal ſelbſt zugezogen haben) ſich
die Rechtfertigung ſchuldig ſind, oͤffentlich zu
zeigen, daß ſie nicht in unſre Thorheiten verwik¬
kelt waren. Oft werden ſie durch unſre wi¬
drige Lage grade ſo geſtimmt, als ſie immer
haͤtten geſtimmt ſeyn ſollen, das heiſſt: ſie hoͤ¬
ren auf uns ſo zu ſchmeicheln, wie ſie es vor¬
her aus Furcht uns zu verliehren thaten, ſo
lange wir von jedermann aufgeſucht wurden,
und unſre Freunde waͤhlen konnten. Ich habe
in einigen blendenden Situationen meines Le¬
bens einen Haufen von Leuten ſich mir auf¬
dringen geſehn, die mir ohne Unterlaß Weyrauch
ſtreueten, jeden meiner witzigen Einfaͤlle mit
lauter Bewunderung auffiengen, ſchmeichel¬
hafte Verſe auf mich machten, meine Worte
als Orakelſpruͤche ausſchrien, und meinen Ruf
im Poſaunenton erhoben. Ich kannte das
Menſchengeſchlecht genug, um nicht alles das
fuͤr baare Muͤnze anzunehmen, ſondern feſt
Quͤber¬[242] uͤberzeugt zu ſeyn, daß, wenn ich einſt in eine
weniger angenehme Lage kommen, und ſie
Meiner nicht mehr beduͤrfen, ſie mir ganz an¬
ders begegnen wuͤrden. Ich irrte nicht, aber
deswegen waren Dieſe doch nicht insgeſammt
Schurken und Heuchler. Viele von ihnen, es
iſt wahr, lernte ich als Solche kennen; ſie er¬
laubten ſich die aͤrgſten Niedertraͤchtigkeiten
gegen mich; Es befremdete mich nicht; ich
verachtete ſie; aber Manche waren vorher nur
von dem Strohme mit fortgeriſſen worden.
Die Stimme meiner Feinde erweckte ſie nun;
ſie ſtutzten, betrachteten mich mit forſchendem
Auge, und ſahen meine Fehler; ſie warfen
mir dieſe Fehler durch Worte oder einige Kaͤlte
in ihrem Betragen, vielleicht ein wenig zu
unſanft vor, gaben mir dadurch Gelegenheit,
ſelbſt aufmerkſam auf dieſelben zu werden, an
mir zu arbeiten, und wahrlich! Dieſe ſind mir
nuͤtzlichere, aͤchtere Freunde geweſen, als man¬
che Andre, die nicht aufhoͤrten, mich in mei¬
ner Eitelkeit und Selbſtgenuͤgſamkeit zu be¬
ſtaͤrken.


8.[243]

8.

Kein Grundſatz ſcheint mir unfeiner, und
eines gefuͤhlvollen Herzens unwuͤrdiger, als
der: „daß es ein Troſt ſey, Gefaͤhrten oder
„Mitleidende im Ungluͤcke zu haben.“ Iſt es
nicht genug, ſelbſt leiden, und dabey uͤberzeugt
ſeyn zu muͤſſen, daß in der Welt noch viel eben
ſo redlich gute Menſchen, wie wir ſind, nicht
weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir
noch die Summe dieſer Ungluͤcklichen muthwil¬
ligerweiſe dadurch vermehren, daß wir Andre
zwingen, auch unſre Laſt mitzutragen, die da¬
durch um nichts leichter wird? Denn man ſage
doch nicht, daß es Erleichterung ſey, ſich von
ſeinem Schmerze zu unterhalten! Nur fuͤr ei¬
nige alte Weiber, nicht aber fuͤr einen verſtaͤn¬
digen Mann, kann Geſchwaͤtzigkeit von der
Art Wohlthat werden. Ich habe im zweyten
Abſchnitte des erſten Capittels im Allgemeinen
davon geredet: ob es gut ſey, Andern ſeine
Widerwaͤrtigkeiten zu klagen. Damals ſagte
ich zu Beantwortung dieſer Frage nur das, was
Weltklugheit und Vorſichtigkeit lehren; Im
Umgange mit Freunden hingegen, wovon hier
die Rede iſt, muß uns auch Feinheit des Ge¬
Q 2fuͤhls[244] fuͤhls vorſchreiben,' unſre unangenehme Lage
vor dem mitempfindenden, zaͤrtlich theilnehmen¬
den Freunde ſo viel moͤglich zu verbergen. Ich
ſage: ſo viel moͤglich, denn es koͤnnen Faͤlle
kommen, wo die Beduͤrfniſſe des gepreſſten
Herzens, ſich zu entladen, zu groß, oder die
liebreichen Anforderungen des Freundes, der
den Kummer auf unſrer Stirne lieſt, zu drin¬
gend werden, wo laͤnger zu ſchweigen Folter
fuͤr uns, oder Beleidigung gegen den Vertraue¬
ten werden wuͤrde. In allen uͤbrigen Faͤllen
laſſet uns der Ruhe unſers Freundes wie un¬
ſrer eigenen ſchonen! Das aber verſteht ſich,
daß hier nicht von Gelegenheiten die Rede iſt,
wo ſein Rath oder ſeine Huͤlfe uns retten kann
— Was waͤre Freundſchaft, wenn man da
ſchwiege?

9.

Klagt Dir ein Freund ſeine Noth, ſeine
Schmerzen; ſo hoͤre ihn mit Theilnehmung an!
Halte Dich nicht mit moraliſchen Gemeinſpruͤ¬
chen auf, mit Bemerkungen uͤber das, was
anders haͤtte ſeyn, und was er haͤtte ver¬
meiden koͤnnen, da es doch einmal nicht an¬
ders[245] ders iſt! Hilf, wenn Du es vermagſt! troͤſte
und verwende alles, was ihm Linderung geben
kann; aber verzaͤrtele ihn nicht an Leib und
Seele, durch weibiſche Klagen! Erwecke viel¬
mehr ſeinen maͤnnlichen Muth, daß er ſich er¬
hebe uͤber die nichtigen Leiden dieſer Welt!
Schmeichle ihn nicht mit falſchen Hofnungen,
mit Erwartungen eines blinden Ohngefaͤhrs;
ſondern hilf ihm Wege einſchlagen, die eines
weiſen Mannes wuͤrdig ſind!

10.

Aus dem Umgange mit Freunden muß alle
Verſtellung verbannt ſeyn. Da ſoll alle fal¬
ſche
Schaam, da ſoll aller Zwang, den Con¬
venienz, uͤbertriebene Gefaͤlligkeit und Mis¬
trauen im gemeinen Leben auflegen, wegfallen.
Zutrauen und Aufrichtigkeit muͤſſen unter inni¬
gen Freunden herrſchen. Allein man uͤberlege
dabey, daß die Entdeckung von Heimlichkeiten,
deren Mittheilung gar keinen Nutzen ſtiftet,
hingegen durch die kleinſte Unvorſichtigkeit in
Bewahrung derſelben Nachtheil bringen kann,
kindiſche Geſchwaͤtzigkeit iſt; daß wenig Men¬
ſchen unter allen Umſtaͤnden unverbruͤchlich ein
Ge¬Q 3[246] Geheimniß zu bewahren vermoͤgen, wenn auch
dieſe Menſchen alle uͤbrigen Eigenſchaften ha¬
ben, die zur Freundſchaft erfordert werden;
daß fremde Geheimniſſe nicht unſer Eigenthum
ſind, und endlich, daß es auch eigene Geheim¬
niſſe geben kann, die man ohne Schaden, Ge¬
fahr und Nachtheil durchaus keinem Menſchen
auf der Welt anvertrauen darf!

11.

Jede Art von ſchaͤdlicher Schmeicheley muß
im Umgange unter aͤchten Freunden wegfallen,
nicht aber eine gewiſſe Gefaͤlligkeit, die daß
Leben ſuͤß macht, Nachgiebigkeit und Geſchwin¬
digkeit in unſchuldigen Dingen. Es giebt Men¬
ſchen, deren Zuneigung man augenblicklich ver¬
lohren hat, ſobald man aufhoͤrt ihnen Wey¬
rauch zu ſtreuen, ſobald man nicht in allen
Dingen einerley Meinung mit ihnen iſt, einer¬
ley Geſchmack mit ihnen hat. In ihrer Ge¬
genwart darf man den groͤßten Vorzuͤgen an¬
drer Leute ja nicht Gerechtigkeit wiederfahren
laſſen. Gewiſſe Saiten kann man gar nicht
beruͤhren, ohne ſie aufzubringen. Haben ſie
eine Thorheit begangen; ſind ſie blindlings
ein¬[247] eingenommen vor oder gegen eine Sache, vor
oder gegen eine Perſon; werden ſie von Phan¬
taſie oder Leidenſchaft irre geleitet; haben ſie
unanſtaͤndige oder ſchaͤdliche Gewohnheiten an
ſich; findet man in ihrer Art zu leben und zu
wirthſchaften etwas mit Grunde auszuſetzen,
und man unterſteht ſich, hieruͤber etwas zu ſa¬
gen; ſo ſchlaͤgt das Feuer aller Orten heraus.
Andre werden hiedurch nicht ſowohl beleidigt,
als gekraͤnkt. Sie ſind gewoͤhnt, ſich ſo zu
verzaͤrteln, daß ſie die Stimme der Wahrheit
gar nicht hoͤren koͤnnen. Man ſoll nur von
ſolchen Dingen mit ihnen reden, die ihren fau¬
len Seelen: Schlummer befoͤrdern. — „Wenn
„ich Dich bitten darf;“ ſagen ſie, „ſo laß uns
„davon abbrechen! das ſind Gegenſtaͤnde, die
„ich nicht gern in mein Gedaͤchtniß zuruͤckrufe.
„Es iſt nun einmal nicht anders; Ich weiß
„wohl, daß ich Unrecht habe, daß ich vielleicht
„anders handeln ſollte; aber es wuͤrde einen
„zu ſchweren Kampf koſten — meine Geſund¬
„heit, meine Ruhe, meine ſchwachen Nerven
„vertragen es nicht, daß ich ernſtlich daruͤber
„nachſinne.“ — Pfui! ein Menſch von fe¬
ſtem Character, und der ernſtlich das Gute
liebtQ 4[248] liebt und ſucht, muß den Muth haben, bey
jedem Gegenſtande mit reifer Ueberlegung ver¬
weilen zu koͤnnen. — Alle ſolche weich ge¬
kochte Seelen taugen nicht zur Freundſchaft.
Man muß das Herz haben, Wahrheit zu ſa¬
gen und Wahrheit anzuhoͤren, auch dann,
wenn dieſe Wahrheit hart iſt, und unſer Inner¬
ſtes erſchuͤttert. Der Freybrief eines Freun¬
des, dem andern die Wahrheit nicht zu verheh¬
len, berechtigt ihn aber nicht, dies mit Grob¬
heit, mit Ungeſtuͤm, mit Zudringlichkeit zu
thun, ihn durch lange Predigten zu ermuͤden
und zu erbittern, oder mit aͤngſtlichen Beſorg¬
niſſen zu erfuͤllen, wenn, ſeinem Tempera¬
mente oder den Umſtaͤnden nach, gar kein Nuz¬
zen davon zu erwarten ſteht.

12.

Ich habe vorhin geſagt, daß alles, was
die Gleichheit unter Freunden aufhebt, der
Freundſchaft, ſchaͤdlich ſey; Da nun das Ver¬
haͤltniß zwiſchen einem Wolthaͤter und Dem,
welcher Wohlthaten empfaͤngt, am wenigſten
mit Gleichheit beſtehen kann; ſo ſcheint es der
Zartheit der Gefuͤhle angemeſſen, zu ver¬
hin¬[249] hindern, daß durch ein zu großes Gewicht von
Wohlthaten auf Einer Seite ein Freund dem
andern gleichſam unterwuͤrfig werde. Verbind¬
lichkeiten von der Art ſind der Freyheit, der
uneingeſchraͤnkten Wahl entgegen, auf welcher
die Freundſchaft beruhn ſoll. Sie bringen
etwas in dies Buͤndniß hinein, das nicht hinein
gehoͤrt, nemlich die Dankbarkeit, welche nicht
freywillig, ſondern Pflicht iſt. Man hat ſel¬
ten den Muth, ſo kuͤhn und offenherzig mit
dem Wohlthaͤter zu reden, als mit dem Freunde.
Dazu koͤmmt, daß wenn ich einen Freund
um eine Gefaͤlligkeit bitte, er aus Delicateſſe
mir nicht gern abſchlaͤgt, was er vielleicht einem
Fremden abſchlagen wuͤrde. Alſo ſey man aͤuſ¬
ſerſt eckel in Erheiſchung und Annahme von
Freundſchafts-Dienſten! Man ſuche lieber
in Faͤllen, wo irgend eine ſolche Bedenklichkeit
Statt finden moͤgte, Huͤlfe bey Fremden, be¬
ſonders in Geldſachen! Doch giebt es Faͤlle,
in denen man ohne Scheu ſich an Freunde wen¬
den muß, nemlich, wenn die Freundſchafts
Dienſte, deren wir beduͤrfen, von der Art
ſind, daß der Freund ſie uns ohne Ungemaͤch¬
lichkeit erweiſen, oder ohne uns in Verlegen¬
Q 5heit[250] heit zu ſetzen, und uns im Mindeſten zu be¬
leidigen, verweigern kann; wenn wir in den
Umſtaͤnden ſind, ihnen gelegentlich wieder
gleiche Gefaͤlligkeiten zu erweiſen; wenn nie¬
mand ſo gut als er von der Lage der Sache,
von der Sicherheit, mit welcher er unſre Bitte
zu gewaͤhren vermag, uͤberzeugt iſt, oder wenn
unſer ganzes Gluͤck auf Verſchweigung einer
Sache beruht; wenn wir uns keinem Andern
ſicher, ohne Gefahr und Schaden anvertraun,
von keinem Andern Huͤlfe erwarten duͤrfen,
und wenn wir dann gewiß wiſſen, daß unſer
Freund dabey nichts verliehren, keiner Gefahr
ausgeſetzt ſeyn kann. In allen dieſen und
aͤhnlichen Faͤllen wuͤrden wir gegen das Zu¬
trauen ſuͤndigen, ſo wir ihm ſchuldig ſind, wenn
wir ihm unſre Verlegenheit verſchwiegen.

13.

Etwas von dem, was ich uͤber das Ver¬
haͤltniß unter Eheleuten geſagt habe, findet
auch bey Freunden Statt, nemlich, daß man
ſich huͤten muß, einander uͤberdruͤſſig zu wer¬
den, oder durch zu oͤftern, zu vertraulichen Um¬
gang widrige Eindruͤcke zu veranlaſſen. Zu
die¬[251] dieſem Endzwecke waͤhle man die nemlichen
Mittel, die ich bey jener Gelegenheit vorge¬
ſchlagen habe! Man ſehe ſich nicht ſo uͤbermaͤs¬
ſig oft, daß die Geſellſchaft unſers Freundes
aufhoͤrt Wohlthat, daß ſie anfaͤngt etwas All¬
taͤgliches fuͤr uns zu werden, daß wir zu ge¬
naue Bekanntſchaft mit den kleinen Fehlern
des Freundes machen, deren jeder Menſch mehr
oder weniger hat, die auch nicht ſo ſehr auf¬
fallen, wenn man nicht immer mit einander
lebt, die aber bey manchen Stimmungen und
Launen auf die Laͤnge von nachtheiliger Wuͤr¬
kung ſeyn koͤnnen! Dieſe Vorſicht iſt noch noͤ¬
thiger in der Freundſchaft, als in der Ehe, da
in jener nicht, wie in dieſer, andre Ruͤckſichten
und der Gedanke, daß, man nun einmal auf
die ganze Lebenszeit mit einander zu Freude
und Leid, zu gemeinſchaftlicher Ertragung,
und um Ein Leib und Eine Seele zu ſeyn, ver¬
eint iſt; da, ſage ich, dieſer Gedanke und man¬
ches andre Band der Liebe, in der Freundſchaft
wegfaͤllt, folglich die Beſtaͤndigkeit derſelben
von feiner Schonung abhaͤngt. Es iſt wahr,
daß jene unangenehmen Eindruͤcke bey edeln
und verſtaͤndigen Menſchen nicht von Dauer
ſind,[252] ſind, und daß es nur eines Zwiſchenraums von
wenig Tagen bedarf, um uns wieder die Augen
zu oͤfnen, uͤber den Werth und Vorzug unſers
Freundes vor andern mittelmaͤßigen Leuten,
mit denen wir indeß gelebt haben; allein beſ¬
ſer iſt es doch, wenn dergleichen Empfindungen
gar nicht in unſer Herz kommen, und das kann
man ja aͤndern. Man verbanne daher auch
aus dem Umgange mit Freunden jene poͤbel¬
hafte Vertraulichkeit, jenen Mangel an Hoͤf¬
lichkeit und jene Nachlaͤſſigkeit im Aeuſſern,
wovon ich im vierten Capittel, beſonders in
deſſen vierten Abſchnitte geredet habe, und lege
endlich auch dem Freunde keine Art von Zwang
auf, verlange nicht, daß er ſich nach unſern
Launen, nach unſerm Geſchmacke richten, noch
daß er den Umgang ſolcher Leute, gegen welche
wir eingenommen ſind, fliehen ſolle!


Eben ſo wichtig aber iſt es auch, ſich den
Umgang mit geliebten Perſonen nicht ſo ſehr
zum Beduͤrfniſſe zu machen, daß man ohne ſie
durchaus nicht leben zu koͤnnen glaubt. Wir
ſind auf dieſer Welt nicht Herrn uͤber unſer
Schickſal. Man muß ſich gewoͤhnen, Tren¬
nungen durch Tod, Entfernung und andre Um¬
ſtaͤnde[253] ſtaͤnde zu ertragen, und wenn man ein Gut be¬
ſitzt, ſich mit dem Gedanken gemein machen,
daß man dies Gut auch verliehren koͤnne. Ein
weiſer Mann bauet nicht ſeine ganze Exiſtenz
auf das Daſeyn eines andern Weſens.

14.

Bleibe aber immer, auch in der Entfer¬
nung, ein warmer Freund Deiner Freunde!
ſonſt ſcheint es, als habeſt Du aus Eigennutz,
um den Genuß ihrer Unterhaltung zu ſchmek¬
ken, Dich an ſie geſchloſſen. Sey nicht ſo nach¬
laͤſſig im Briefwechſel mit ihnen, als wohl
manche Menſchen es ſind! Wie leicht iſt nicht
ein Zettelchen beſchrieben! Wer hat ſo viel Ge¬
ſchaͤfte, daß ihm nicht taͤglich wenigſtens eine
Viertelſtunde frey bleibe? Wie erfreulich fuͤr ei¬
nenentfernten Freund, und wie wohlthuend fuͤr
uns ſelbſt koͤnnen aber nicht oft ein Paar zaͤrtli¬
che, troͤſtliche Zeilen ſeyn! Ich laſſe auch die Ent¬
ſchuldigung nicht gelten, daß man zuweilen lange
Zeit hindurch gar nicht geſtimmt ſey, ſeine
Gedanken in Ordnung auf das Papier zu brin¬
gen. Briefe an den Vertraueten unſers Her¬
zens ſind keine redneriſche Ausarbeitungen, je¬
des Wort wird ihm willkommen ſeyn, das Ab¬
druck[254] druck deſſen iſt, was in unſrer Seele vorgeht,
und auf dieſe Weiſe wird uns ja die Trennung
von geliebten Perſonen ertraͤglich.

15.

Man ſieht zuweilen Menſchen eben ſo
eiferſuͤchtig in der Freundſchaft, wie in der Liebe
ſeyn. Das zeugt mehr von einer neidiſchen
als von einer zaͤrtlichen Gemuͤthsart. Freuen
ſoll es uns, wenn auch andre Leute den Werth
Deſſen zu ſchaͤtzen wiſſen, der uns theuer iſt;
Freuen ſoll es uns, wenn unſer Liebling noch
auſſer uns gute Seelen findet, denen er ſich
mittheilen, in deren Gemeinſchaft er reine
Wonne ſchmecken kann. Er wird darum nicht
blind gegen unſre Vorzuͤge, nicht undankbar
gegen uns werden — und wuͤrden wir denn
dadurch mehr innern Werth bekommen, wenn
wir ihm die Augen uͤber die Vortrefflichkeiten
Andrer zuhielten?

16.

Alles, was Deinem Freunde angehoͤrt,
ſein Vermoͤgen, ſein buͤrgerliches Gluͤck, ſeine
Geſundheit, ſein Ruf, die Ehre ſeines Wei¬
bes, die Unſchuld und Bildung ſeiner Kinder
— das[255] — das alles ſey Dir heilig, ſey ein Gegen¬
ſtand Deiner Sorgfalt und Deiner Scho¬
nung! Auch Deine heftigſte Leidenſchaft,
Deine unmaͤßigſte Begierde muͤſſe dieſe Unver¬
letzlichkeit reſpectiren!

17.

Gaben, Anlagen und die Art, ſeine Em¬
pfindungen an den Tag zu legen, ſind bey den
Menſchen verſchieden. Nicht immer iſt Der¬
jenige der Gefuͤhlvollſte, welcher am mehrſten
von inneren Regungen und Empfindungen
ſchwaͤtzt, nicht immer Derjenige der treueſte
und beharrlichſte Freund, der mit dem heftig¬
ſten Feuer uns an ſeine Bruſt druͤckt, der mit
der groͤßten Hitze hinter unſerm Ruͤcken ſich
Unſrer annimmt. Alles Ueberſpannte taugt
nicht, dauert nicht; Ruhige, ſtille Hochach¬
tung iſt mehr werth, als Anbethung, Vereh¬
rung, Entzuͤckung. Man verlange daher
nicht von Jedem den nemlichen Grad von aͤuſ¬
ſern Freundſchaftsbezeugungen, ſondern beur¬
theile ſeine Freunde nach der fortgeſetzten, im¬
mer gleichen Zuneigung und treuen Ergeben¬
heit, welche ſie uns in der That, ohne Ueber¬
trei¬[256] treibung und ohne Schmeicheley beweiſen!
Leider aber claſſificiert unſre Eitelkeit meh¬
rentheils den Werth der Menſchen nach dem
Grade der Huldigung, welche ſie uns leiſten,
und die mehrſten Leute ſuchen ſolche Freunde
um ſich her zu verſammeln, an deren Seite
ſie in doppelt vortheilhaftem Lichte erſcheinen,
und denen ihre Worte Orakelſpruͤche ſind.

18.

Werbe nicht aͤngſtlich um Freunde! Ma¬
che nicht Jagd auf jeden guten Mann, daß er
Dir beſonders zugethan werden ſoll! Jede Art
von Andringlichkeit, waͤre ſie auch noch ſo gut
gemeint, pflegt in dieſer Welt Verdacht zu er¬
wecken, und wer in der Stille auf dem Pfade
fortwandelt, den Redlichkeit und Klugheit be¬
zeichnen, und dabey ein wohlwollendes, zur
Mittheilung geſtimmtes Herz in ſeinem Buſen
traͤgt; der bleibt nicht ohnbemerkt, nicht unauf¬
geſucht; Er findet planlos ein Paar Edle, die
ihm die Hand zum bruͤderlichen Bunde reichen.

19.

Es giebt aber Menſchen, die gar keinen
vertraueten Freund, ſondern nur Bekannte ha¬
ben;[257] ben; entweder weil ihnen der Sinn fuͤr dies
Seelen-Beduͤrfniß fehlt, oder weil ſie keinem
lebendigen Weſen trauen, oder weil ihre Ge¬
muͤthsart kalt, unvertraͤglich, verſchloſſen, eitel,
oder zaͤnkiſch iſt. Andre ſind aller Welt Freunde;
Sie werfen ihr Herz jedermann vor die Fuͤße,
und deswegen buͤckt ſich keiner, greift niemand
darnach, es aufzunehmen — Laſſet uns zu
keiner von beyden Claſſen gehoͤren!

20.

Auch unter den vertrauteſten Freunden
koͤnnen Irrungen entſtehn, Misverſtaͤndniſſe
eintreten. Wenn man daruͤber Zeit verſtrei¬
chen laͤſſt, oder zugiebt, daß ſich dienſtfertige
Leute hineinmiſchen; ſo erwaͤchſt daraus nicht
ſelten eine dauerhafte Feindſchaft, ja! eine
Feindſchaft, die mehrentheils um ſo heftiger
wird, je zaͤrtlicher, je vertraueter die Verbin¬
dung geweſen, und je aͤrger man ſich alſo hin¬
tergangen glaubt. Es iſt wahrlich ein trau¬
riger Anblick, auf dieſe Weiſe zuweilen die
edelſten Seelen gegen einander empoͤrt zu
ſehn. Dringend rathe ich daher, bey dem er¬
ſten Schatten von Unzufriedenheit uͤber irgend
Rein[258] ein Betragen des Freundes, nicht zu ſaͤumen,
ohne Zuthun eines Dritten auf Erlaͤuterung
zu dringen. Da pflegt alles ſehr bald vergli¬
chen zu werden, vorausgeſetzt, daß kein boͤſer
Willen obwaltet, wie man es denn bey gutge¬
ſinnten, wohlwollenden Freunden vorausſetzen
muß.

21.

Wie aber, wenn uns nun Freunde taͤu¬
ſchen, wenn wir nach einiger Zeit wahrneh¬
men, daß unſer gutes Herz uns irre geleitet, uns
an Menſchen gekettet hat, die Unſrer nicht werth
ſind? — Meine Leſer! ich kann es nicht oft
genug wiederholen, daß wir mehrentheils ſelbſt
daran Schuld ſind, wenn wir bey naͤherem
Umgange die Menſchen anders finden, als wir
ſie uns Anfangs gedacht haben. Partheyiſche
Gefuͤhle; Sympathie; Aehnlichkeit des Ge¬
ſchmacks, der Neigung; feine Schmeicheley;
Seelen-Drang in Augenblicken, wo jeder uns
ein Wohlthaͤter ſcheint, der nur einige Theil¬
nahme an unſerm Schickſale zeigt — Dieſe
und andre dergleichen Eindruͤcke laſſen uns von
den Menſchen, Denen wir unſer Herz ſchenken,
ſolche[259] ſolche Ideale faſſen, die nachher ohnmoͤglich
wahrgemacht werden koͤnnen. Wir denken ſie
uns engelrein, und ſind nachher viel unduldſa¬
mer gegen dieſe unſre Lieblinge, als gegen fremde
Leute, ſobald wir menſchliche Schwachheiten
an ihnen gewahr werden, indem wir daraus
eine Ehrenſache fuͤr unſre Klugheit machen.
Spannet Eure Erwartung, Eure Meynung
von Euren Freunden nicht zu hoch! ſo wird
Euch ein menſchlicher Fehltritt, den ſie in Au¬
genblicken der Verſuchung begehen, nicht be¬
fremden, nicht aͤrgern. Habet Nachſicht! Ihr
beduͤrft deren vielleicht ſelbſt bey andern Gele¬
genheiten. Richtet nicht, damit auch Ihr nicht
gerichtet werdet! — Und was fuͤr Recht haſt
Du denn auch uͤber die Moralitaͤt Deines
Freundes? Was iſt er Dir anders ſchuldig, als
Treue, Liebe und Dienſtfertigkeit? Wer hat
Dich zum Sittenrichter uͤber ihn beſtellt? —
Suche einen vollkommnen Mann auf dieſer
Erde! und Du kannſt hundert Jahre alt wer¬
den, und noch immer vergebens umherrennen.


Vor allen Dingen aber ſoll man ſich huͤten,
jedem elenden Geſchwaͤtze, womit boͤſe oder
ſchwache Menſchen zum Nachtheile unſrer
Freun¬R 2[260] Freunde unſre Ohren erfuͤllen, Glauben bey¬
zumeſſen. Leute, die heute mit einem Manne,
den ſie bis in den Himmel erheben, ihren letzten
Biſſen theilen wuͤrden, und morgen, wenn ir¬
gend ein altes Weib ihnen ein aͤrgerliches Maͤr¬
chen aufgehenkt hat, den Nemlichen zu dem
veraͤchtlichſten Betruͤger herabwuͤrdigen; Leute,
die einen vieljaͤhrigen, gepruͤften Freund, auf
Angabe des niedertraͤchtigen, unwuͤrdigen Poͤ¬
bels, einer ihm ſchuld gegebenen Schandthat
faͤhig halten koͤnnen — waͤre auch alle Wahr¬
ſcheinlichkeit auf Seiten der Verlaͤumder! —
ſolche wankelmuͤthige, elende Lumpenſeelen
verdienen nur Verachtung, und der Verluſt
ihrer Freundſchaft iſt baarer Gewinnſt. Der
Anſchein iſt oft ſehr truͤglich; Man kann Ver¬
anlaſſungen haben, es koͤnnen Nothwendig¬
keiten eintreten, die es uns ohnmoͤglich ma¬
chen, gewiſſe zweydeutig ſcheinende Schritte
zu erlaͤutern; aber, daß ein bewaͤhrter, edler
Mann keine ſchlechte Handlung begangen
habe, davon bedarf es gar weiter keines Be¬
weiſes, als deſſen, daß ein edler Mann nie
keine ſchlechte Handlung begeht.


22.[261]

22.

Wenn denn nun aber wuͤrklich unſer
Freund ſich ſo moraliſch verſchlimmert, oder
unſer leichtglaͤubiges Herz ſich in einem ſolchen
Grade in ſeinem Zutrauen zu ihm betrogen,
daß er unſre Vertraulichkeit gemißbraucht, uns
mit Undank belohnt haͤtte — Nun! ſo hoͤrt
er auf unſer Freund zu ſeyn; Ich meine aber,
er behaͤlt doch nicht mehr und nicht weniger
Rechte auf unſre Duldung, als jeder andre,
uns fremde Menſch. Ich halte es fuͤr eine
falſche Delicateſſe, an welcher mehrentheils
die Eitelkeit, indem wir uns ungern wollen
geirrt haben, ihren Theil hat, wenn man
glaubt, man muͤſſe nun von einem ſolchen Ver¬
raͤther immer mit großer Schonung reden, weil
er einſt unſer Freund geweſen. Das Einzige,
was uns bewegen kann, Seiner zu ſchonen,
iſt der Gedanke, daß uͤberhaupt das menſch¬
liche Herz ein ſchwaches Ding iſt, und daß man
leicht zu weit in ſeinem Widerwillen geht, wenn
eine Art von Rache ſich in unſer Urtheil miſcht.
Von der andern Seite aber macht der Umſtand,
daß der Mann uns betrogen, ſein Verbrechen
nicht um ein Haar breit groͤßer, berechtigt uns
nicht,R 3[262] nicht, aͤrger gegen ihn zu Felde zu ziehn, als
gegen jeden andern Schelm, der andre Men¬
ſchen
und uͤberhaupt die Tugend betruͤgt.


Eilf¬[263]

Eilftes Capittel.


Ueber die Verhaͤltniſſe unter Wohlthaͤ¬
tern und Denen, welche Wohlthaten
empfangen, wie auch unter Lehrern
und Schuͤlern, Glaͤubigern und
Schuldnern.


1.

Die Dankbarkeit iſt eine der heiligſten Tugen¬
den; Wer Dir Gutes gethan hat, den ehre!
Danke ihm nicht nur mit Worten, die ihm
die Waͤrme Deiner Erkenntlichkeit zeigen; ſon¬
dern ſuche auch jede Gelegenheit auf, wo Du
ihm wieder dienen und nuͤtzlich werden kannſt!
Fehlt Dir aber dazu die Veranlaſſung; ſo ent¬
falte ihm wenigſtens durch ein unterſcheidend
liebreiches aͤuſſeres Betragen Dein dankbares
Herz! Miß dieſes Betragen nicht puͤnktlich
nach der Groͤße der Wohlthat ab, die Du em¬
pfangen, ſondern nach dem Grade des guten
Willens, den Dein Wohlthaͤter Dir gezeigt
hat! Hoͤre auch dann nicht auf dankbar gegen
ihnR4[264] ihn zu ſeyn, wenn Du ſeiner nicht mehr be¬
darfſt, oder wenn Ungluͤcksfaͤlle ihn von ſeiner
Hoͤhe herabgeſtuͤrzt, ihn ſeines aͤuſſern Glan¬
zes beraubt haben.

2.

Nie aber laſſe Dich zu niedertraͤchtiger
Schmeicheley herab, um entweder Wohltha¬
ten zu erſchleichen, oder, fuͤr den empfange¬
nen Schutz, auf unedle Weiſe Dich zum Scla¬
ven eines ſchlechten Mannes zu machen! Wo
Pflicht und Rechtſchaffenheit es fordern, da
muͤſſe Dein Mund nie zum Unrechte ſchwei¬
gen, und keine Art von Beſtechung die Stim¬
me der Wahrheit zum Schweigen bringen!
Du bezahlſt reichlich die Wohlthat, wenn Du
dafuͤr die Pflichten eines aͤchten Freundes er¬
fuͤllſt und, ſelbſt mit Gefahr den Schutz zu
verliehren und fuͤr undankbar gehalten zu
werden, dem Wohlthaͤter ſagſt, was ihm noͤ¬
thig und heilſam iſt zu hoͤren.

3.

Es iſt eine unangenehme Lage, wenn wir
jemand, dem wir viel Verbindlichkeit ſchuldig
ſind, nachher von einer ſchlechten Seite kennen
ler¬[265] lernen. Dieſem weicht man nun freylich aus,
wenn man das befolgt, was ich im achten Ab¬
ſchnitte des erſten Capittels geſagt habe, nem¬
lich, daß man ſo wenig als moͤglich Wohlthaten
annehmen ſolle. Allein nicht immer laͤſſt ſich
das aͤndern, und wenn wir denn wuͤrklich in
die Verlegenheit kommen, einem ſchlechten Men¬
ſchen auf dieſe Art verpflichtet zu werden; ſo
rathe ich an, ihn wenigſtens mit ſo viel Scho¬
nung zu behandeln, als mit Redlichkeit und
weiſer Wahrheitsliebe beſtehn kann, und zu
ſchweigen uͤber ihn, doch nur in ſo fern Schwei¬
gen nicht Verbrechen iſt, denn in dieſem letz¬
tern Falle muß alle Ruͤckſicht aufhoͤren.

4.

Die Art, wie man Wohlthaten erzeigt,
iſt oft mehr wehrt, als die Handlung ſelbſt.
Man kann durch dieſelbe den Preis jeder Gabe
erhoͤhn, ſo wie von der andern Seite ihr al¬
les Verdienſt rauben. Wenig Menſchen ver¬
ſtehen dieſe Kunſt; Es iſt aber wichtig, ſie zu
ſtudieren; auf edle Weiſe Gutes zu thun; die
Delicateſſe Deſſen zu ſchonen, dem wir es er¬
zeigen; keine ſchwere Laſt von Verbindlichkeit
auf¬R 5[266] aufzulegen; erwieſene Wohlthaten weder auf
feine, noch auf grobe Art vorzuwerfen; dem
beſchaͤmenden Danke auszuweichen; nicht Dank
zu erbetteln, und dennoch dem dankbaren Her¬
zen nicht die Gelegenheit zu rauben, ſich ſei¬
ner Pflicht zu entledigen. Gieb gern! Es iſt
ſeliger Genuß, es iſt Wohlthat, geben, zur
Freude Andrer etwas beytragen zu duͤrfen.
Gieb alſo gern, aber verſchwende nicht Deine
Wohlthaten! Sey dienſtfertig, bereitwillig;
aber dringe niemand Deine Dienſte auf! Cal¬
culiere nicht, ob es erkannt und belohnt wer¬
den wird! Brauche doppelte Schonung im
Umgange mit Denen, welchen Du Gutes er¬
wieſen, aus Furcht, ſie moͤgten argwoͤhnen,
Du wollteſt Dich fuͤr Deine Muͤhe bezahlt
machen, ſie Dein Uebergewicht fuͤhlen laſſen,
Dir groͤßere Freyheit gegen ſie erlauben, weil
ſie aus Dankbarkeit ſchweigen muͤſſen! Weiſe
nicht die Bittenden von Deiner Thuͤr zuruͤck!
Wenn Dich jemand um Rath, Huͤlfe, Wohl¬
that anſpricht; ſo hoͤre ihm freundlich, theil¬
nehmend und aufmerkſam zu! Laß ihn ausre¬
den. Dir ſeine Sache deutlich vorſtellen, ohne
ihm in die Rede zu fallen! Und kannſt Du
ihm[267] ihm nicht willfahren; ſo ſage grade heraus,
ohne beleidigende Ausdruͤcke, den Grund, war¬
um Du es nicht kannſt! Enthalte Dich aller
falſchen Ausfluͤchte, aller leeren Vertroͤſtungen!

5.

Keine Wohlthat iſt groͤßer, als die des
Unterrichts und der Bildung. Wer jemals
etwas dazu beygetragen hat, uns zu weiſern,
beſſern und gluͤcklichern Menſchen zu machen,
der muͤſſe unſers waͤrmſten Danks lebenslang
gewiß ſeyn koͤnnen! Hat er dabey nicht alles
geleiſtet, was wir itzt, bey reifern Jahren, bey
weitern Fortſchritten in der Cultur, von einem
Lehrer und Hofmeiſter fordern wuͤrden; ſo ſol¬
len wir doch nicht unerkenntlich gegen das We¬
nige ſeyn, ſo wir von ihm empfangen haben.


Ueberhaupt verdienen ja Diejenigen wohl
mit vorzuͤglicher Achtung behandelt zu werden,
die ſich redlich dem wichtigen Erziehungs-Ge¬
ſchaͤfte widmen. Es iſt wahrlich eine hoͤchſt
ſchwere Arbeit, Menſchen zu bilden, eine Ar¬
beit, die ſich nie mit Gelde bezahlen laͤſſt.
Der geringſte Dorf-Schulmeiſter, wenn er ſeine
Pflichten treulich erfuͤllt, iſt eine wichtigere und
nuͤtz¬[268] nuͤtzlichere Perſon im Staate, als der Finanz-
Miniſter, und da ſein Gehalt gewoͤhnlich ſpar¬
ſam genug abgemeſſen iſt; was kann da bil¬
liger ſeyn, als daß man dieſem Manne wenig¬
ſtens durch einige Ehrenbezeugung das Leben
ſuͤß und das Joch ertraͤglich zu machen ſuche?
Schaͤmen ſollten ſich die Menſchen, die den Er¬
zieher ihrer Kinder als eine Art von Dienſtbo¬
then behandeln! Moͤgten ſie nur bedenken
(wenn ſie auch nicht fuͤhlen koͤnnen, wie unedel
dies Betragen an ſich ſchon iſt) welchen nach¬
theiligen Einfluß dies auf die Bildung der Ju¬
gend hat! Es kann mir durch die Seele gehn,
wenn ich den Hofmeiſter in manchem adelichen
Hauſe demuͤthig und ſtumm an der Tafel ſei¬
ner gnaͤdigen Herrſchaft ſitzen ſehe, wo er es
nicht wagt, ſich in irgend ein Geſpraͤch zu mi¬
ſchen, ſich auf irgend eine Weiſe der uͤbrigen
Geſellſchaft gleichzuſtellen, wenn ſogar den ihm
untergebenen Kindern von Eltern, Fremden
und Bedienten der Rang vor ihm gegeben
wird, vor ihm, der, wenn er ſeinen Platz ganz
erfuͤllt, als der wichtigſte Wohlthaͤter der Fa¬
milie angeſehn werden ſollte — Es iſt wahr,
daß es unter den Maͤnnern dieſer Art hie und
da[269] da Solche giebt, die eine ſo traurige Figur
auſſer ihrer Studierſtube ſpielen, daß man
nicht wohl auf einen beſſern Fuß mit ihnen
umgehn kann; allein das widerlegt nicht das¬
jenige, ſo ich von der Achtung geſagt habe, die
man dieſem Stande ſchuldig iſt — Wehe den
Eltern, die ihre Kinder ſolchen ſelbſt nicht er¬
zogenen Miethlingen anvertrauen! —


Haſt Du aber einen edeln Freund gefun¬
den, der ſich der Erziehung Deines Sohnes
annimmt; ſo iſt es auch nicht genug, daß Du
ihm ausgezeichnet freundlich, ehrenvoll und
dankbar begegneſt; Du muſſt ihm auch freye
Macht laſſen, ohne Widerſpruch ſeinen Erzie¬
hungsplan durchzuſetzen; und von dem Au¬
genblicke an, da Du Dein Kind in ſeine Haͤnde
lieferſt, haſt Du den wichtigſten Theil Deiner
vaͤterlichen Rechte auf ihn uͤbertragen — Doch
dies alles gehoͤrt mehr in ein Werk uͤber Er¬
ziehung, als das hier der Ort waͤre, weitlaͤuf¬
tig davon zu handeln. Ich ſchweige daher
auch von dem Betragen der Lehrer und Hof¬
meiſter im Umgange mit ihren Untergebenen,
und eile weiter.


6.[270]

6.

Ueber den Umgang mit Schuldnern und
Glaͤubigern habe ich wenig zu ſagen. Man
ſey menſchlich, billig und hoͤflich gegen die Er¬
ſtern! Man glaube nicht, daß jemand, der
uns Geld ſchuldig iſt, deswegen unſer Sclave
geworden ſey, daß er ſich alle Arten Demuͤ¬
thigungen von uns muͤſſe gefallen laſſen, daß
er uns nichts abſchlagen duͤrfe, noch uͤberhaupt,
daß der elende Bettel, der Mammon, einen
Menſchen berechtigen koͤnne, ſein Haupt uͤber
den Andern empor zu heben! Seine Glaͤubiger
bezahle man puͤnktlich, und halte ſein Wort
treulich! Man verwechſele nicht den ehrlichen
Mann, der von billigen Zinſen leben muß,
mit dem juͤdiſchen Wucherer! ſo wird man
immer Credit haben, und, wenn man ſich in
Verlegenheit befindet, billige Menſchen an¬
treffen, die uns, ohne ihren Schaden, aus
der Noth helfen.


Ende des erſten Theils.

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Notes
*)

Die Verirrungen des Philoſophen, oder
Geſchichte Ludwigs von Seelberg, Theil
1, Seite 108.

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Knigge, Adolph. Ueber den Umgang mit Menschen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmtq.0