den Selbſtmord.
die nicht fuͤhlen den Werth,
ein Menſch zu ſeyn.
Bey Joſeph Lentner, Buchhaͤndler.
1785
[]
hortabatur, ut ſe ipſum vita privaret.
Cui ille: non cruribus, inquit, vivimus,
ſed mente.’
[]
Inſtruction
fuͤr dieß Buͤchlein.
Geh hin, Buͤchlein! in die Welt,
wo es Menſchen giebt, die zu ih-
rem Daſeyn ſagen koͤnnen: ich
bin deiner ſatt, und vollende dein Ta-
gewerk, wie es dir auf die Stirne ge-
zeichnet iſt, dem Menſchen ſeine Wuͤr-
de fuͤhlbar zu machen — den Werth,
ein Menſch zu ſeyn.
Einige werden dir ſchon von ferne
entgegen rufen: Wozu? Du kommſt zu
fruͤhe. Derley gutmuͤthigen Fremdlin-
gen in der neueſten Weltgeſchichte, die ſo
)( 2reden
[]Inſtruction
reden koͤnnen, darfſt du nur die Leichen
vorzaͤhlen, die der Menſchenfeind, Selbſt-
mord, in nahen und fernen Landen ſeit
kurzem gehaͤufet hat, und ſie werden dich
deines Weges gehen laſſen. Wo nicht:
ſo fuͤhre ſie ſtiliſchweigend in die Geſell-
ſchaften, in denen der Selbſtmord ſeine
Lobredner, und, wer ſoll es glauben?
ſeine Lobrednerinnen findet: in Schrift-
ſtellerſtuben, die die ſchwarze Muͤhe ken-
nen, die ihre Bewohner an der Empfeh-
lung ſolcher Grundſaͤtze verſchwenden,
deren Befolgung mit dem Selbſtmorde
endet: in Romanen-Bibliotheken, wo
die Helden und Heldinnen wetteifern die
Laſt des Lebens, und der Liebe mit ei-
nemmale wegzuwerfen: in Schauſpiele[n],
die es als erſte Tapferkeit preiſen, ein
Moͤrder ſeiner ſelbſt zu werden: zu
Toiletten, wo Schriften, die alle Ar-
ten von uͤberſpannten Gefuͤhlen predigen,
als Lieblingslectuͤre oben an zu ſtehen die
Ehre haben, und das Vorrecht, in den
taͤglichen Putzſtunden als einzige Lebens-
weisheit
[]fuͤr dieß Buͤchlein.
weisheit geleſen — verſchlungen zu
werden.
Andere werden dir beweiſen wol-
len, du kommeſt zu ſpat. Ich will ſe-
hen — ſonſt antworte nichts, und geh
kaltbluͤtig weiter.
Wem dein Mittelgewand zwiſchen
dem ſteifen der Schule, und dem leich-
ten, ſpielenden der Mode zu ernſthaft
iſt, bey dem uͤbernachte nicht, und wo
nur fliegende Schriftleins willkomm ſind,
die gleich einer Landplage von Heuſchre-
cken die kleinen Reſte des deutſchen Sin-
nes noch vollends aufzuzehren drohen, da
betritt nicht einmal die Schwelle.
Aber dem Juͤngling, der nicht um-
ſonſt fragt, was iſt Wahrheit? der
auf dem Scheidewege des Laſters, und
der Tugend ſtille ſteht, und vor dem ent-
ſcheidenden Entſchluſſe, dieſen oder jenen
Pfad zu betreten, den Blick ſchaͤrft,
um das Ende zu ſehen, wohin beyde fuͤh-
ren; der ein hoͤher Beduͤrfniß in der
)( 3Bruſt
[]Inſtruction fuͤr dieß Buͤchlein.
Menſch heißt, mit Einer Stimme zu-
rufen:
Was weineſt du?
Wir jauchzen all zuſamm’, und ſind faſt wenig —
Empfinde, wer du biſt! Du unſer Koͤnig,
Und weinen, du?
Meinen Freunden ſage im Fortge-
hen, mit einem Haͤndedruck, daß du
ein Muſter ſeyſt, wie ich Moralphilo-
ſophie lehre.
Und bey wem die Wahrheit uͤber
alles geht, zu dem ſage: Bruder!
Erſter
Erſter Abſchnitt.
Gruͤnde wider den Selbſtmord.
A
[[2]]
fortiter ille facit, qui miſer eſſe poteſt.’
[[3]]
Erſter Grund.
Selbſtmord iſt eine Empoͤrung ge-
gen den Naturtrieb zur Selbſt-
erhaltung — die unnatuͤrlichſte
Handlung, deren ein Menſch faͤhig iſt.
Selbſtmord! Wie kommen dieſe wi-
derſprechenden Begriffe, Mord, und Selbſt
in Einen zuſammen? Einen Mitmenſchen
morden iſt ſchon unnatuͤrlich: aber ſich ſelbſt
morden — iſt das Unnatuͤrlichſte aus allem,
was ſich denken laͤßt.
Wenn es uns die Geſchichte nicht ſag-
te, daß Menſchen an ſich ſelbſt Hand ange-
leget haben, wer ſollte es glauben, daß eine
Wut wider ſein eigen Daſeyn in einem Men-
ſchen moͤglich waͤre? Alles, was lebt, ſtrebt
A 2nach
[4]Erſter Abſchnitt.
nach Fortdauer ſeines Lebens, und kaͤmpft
gegen jede aͤußere Gewalt, die ihm das Le-
ben zu rauben drohet. Wie iſt es denn
moͤglich, daß ein Lebendiger, der den Werth
des Lebens fuͤhlen kann, und ihn ſchon ſo
oft gefuͤhlet hat, ſich ſelbſt Gewalt anthue,
um ſich dieß ſein Leben zu rauben? Welche
Empoͤrung eines Geſchoͤpfes, dem der
Wunſch zu leben Natur iſt, gegen dieſe
ſeine Natur gehoͤrt dazu, daß es ſich ſelbſt
hinrichte.
Selbſthinrichtung! welch eine Schauer
durchlaͤuft mein Gebein beym bloßen Aus-
ſprechen dieſes Wortes? Der Wurm kruͤmmt
ſich gegen den zerdruͤckenden Fußtritt des
Menſchen, und ſagt durch dieſe Kruͤmmung:
Ich will leben; und der Menſch, der hoch
uͤber dem Wurme an der Leiter der Dinge
ſteht, kann ein Feind ſeiner Exiſtenz wer-
den, und durch That ſprechen: Ich will
nicht leben! Welche Unordnung!
Du ſagſt: Die Leiden, die auf mir
liegen, ſind ſo ſchwer, daß ſie den Trieb
zur Selbſterhaltung uͤberwaͤltigen; daß mei-
ne
[5]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
ne Natur flehend zu mir ruft: Zerſtoͤre
mich; daß der Trieb zur Selbſterhaltung —
Trieb zur Zerſtoͤrung wird.
Freund! ich kenne deine Sprache;
hoͤre itzt die meine:
Fuͤrs erſte: denke zuruͤck, wie oft
hat dich dein Gefuͤhl ſchon widerlegt? Wie
oft griffſt du ſchon, im Drange der Leiden,
nach dem Dolch, und wollteſt ihn dir in die
Bruſt ſtoſſen: und der Dolch fiel dir unge-
braucht aus der Hand? Wie oft bebteſt
du ſchon zuruͤck vor dem gefaßten Entſchluß,
ich will mich ſelbſtmorden, und ein Ent-
ſetzen vor dir ergriff dich, daß du ſtille ſtan-
deſt, und ſuchteſt Muth, die Greulthat an
dir zu vollfuͤhren, und fandeſt ihn nicht?
Alſo ſchwieg er nicht der Trieb zur Selbſt-
erhaltung: er redete laut. Zwar kannſt du
ihn nach und nach ſchon noch zum Schwei-
gen bringen, das heißt, zuerſt ihn — und
dann dich ſelbſt ermorden, wenn du par-
theyiſch genug biſt, immer nur auf das er-
wuͤnſchte Ende des Leidens, immer nur auf
die ſcheinbare Unertraͤglichkeit der Laſt, und
A 3nie
[6]Erſter Abſchnitt.
nie auf die Wahrſcheinlichkeit, oder wenigſt
auf die Moͤglichkeit kommender Errettung
hinzuſehen. Allein eben dieſes beweiſet ja,
daß es nicht eigentlich die Leiden ſind, die
den Trieb zur Selbſterhaltung in dir uͤber-
waͤltigen, ſondern daß die Partheylichkeit
deines Herzens die Vorſtellungen von der
Groͤße der Leiden ſo hoch ſpannen kann, daß
ſie den Trieb zur Selbſterhaltung unterdruͤ-
cken. Man mag nun das Reich der menſch-
lichen Freythaͤtigkeit erweitern oder verengen,
wie man will: ſo kann doch kein ruhiger,
helldenkender Verſtand daran zweifeln, daß
die Ueberſpannung der Vorſtellungen, und
die daraus entſtehende Ueberwaͤltigung des
Erhaltungstriebes, wenigſt in den Anfaͤn-
gen und erſteren Fortgaͤngen der Spannung,
von den Einfluͤſſen der menſchlichen Freythaͤ-
tigkeit abhaͤngig ſey.
Haben doch die menſchlichen Leiden im-
mer zweyerley Seiten: an einer hangen
große Laſten, die die Leiden groß, und
wohl gar unertraͤglich machen, an der an-
dern ſind brauchbare Handheben feſtgemacht,
die
[7]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
die ſich bequem anfaſſen, und an denen ſich
die ſchwerſten Laſten ganz leicht aufheben
laſſen. Nun iſt es wohl moͤglich, daß ei-
ner immer die Handheben vorbeygeht, und
nur die Zentnerlaſten anfuͤhlet, und etwa
mit Huͤlfe der Einbildungskraft noch neue
daran haͤngt. Da wird ihm denn freylich
das Leiden immer unertraͤglicher, und der
Trieb zur Selbſterhaltung immer ſchwaͤcher
werden. Aber was koͤnnen z. B. zwey
Summen dafuͤr, daß eine immer groͤßer,
und die andere immer kleiner wird, wenn
wir bey einer immer neue Quellen hin-
zuſetzen, und bey der andern immer eini-
ge wegſtreichen?
Fuͤrs Zweyte: Der Trieb zur Selbſt-
erhaltung iſt nicht nur in der ſinnlichen,
er iſt auch in der vernuͤnftigen Natur des
Menſchen gegruͤndet. Nicht nur das Thier
in uns, auch der Geiſt, dieſer Funke der
Gottheit ſpricht laut das Geſetz der Natur
aus: erhalte dich. Und ob ſie gleich, dieſe
ſtreitenden Parteyen, der Geiſt und die
Sinnlichkeit, im ewigen Kriege miteinander
A 4verwi-
[8]Erſter Abſchnitt.
verwickelt ſind, ſo ſtimmen ſie dennoch ge-
woͤhnlicher Weiſe in dem Geſetze der Selbſter-
haltung uͤberein. Und wenn ſie ſich auch
darinn entzweyen, ſo iſt es immer nur die
Sinnlichkeit, oder wenigſt eine irrige, ver-
worrene Vorſtellung, die den Erhaltungs-
trieb ſelbſtmoͤrderiſch uͤberwaͤltiget, und die
Laſt des Lebens unberufen wegwirft: wie die
geſunde Vernunft. Dieſe ruft immer mit
Macht entgegen:
„Unter-
[9]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
„Unternimm das Wichtigſte nicht in
der Stunde der Verwirrung — harre
nur noch eine kleine Weile: Zeit und die
kaͤltere Ueberlegung werden dir das Le-
ben wieder ertraͤglich, und liebenswerth
machen.„
Die Vernunft iſt es nie, die zum
Selbſtmord raͤtht, wie Moſes mit ſeinem
Scharfſinn, und mit ſeiner Darſtellungs-
gabe beweiſet (a), und das iſt viel geſagt
A 5fuͤr
[10]Erſter Abſchnitt.
fuͤr den, der die Raͤthe der Vernunft zu
ſchaͤtzen weis, das heißt, fuͤr Ausſpruͤche
der Wahrheit haͤlt.
Zweyter Grund.
Der Selbſtmord iſt ein Aufruhr ge-
gen das allgemeine Menſchengefuͤhl.
Wenn der Tod irgend einen Fuͤr-
ſten, einen Ehegatten, einen Sohn, einen
Freund aus dem Schooſe des Landes, der
Familie, der Freundſchaft hinwegnimmt,
ſo verwundet er das Herz des Freundes,
der Familie, des Vaterlandes. Jedes
Auge ſieht den Tod als einen Raͤuber der
Freude an, und jedes Herz wird erſchuͤttert
durch den Hintritt eines Geliebten.
Wenn
[11]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Wenn nun aber der Fuͤrſt, der Ehe-
gatte, der Sohn, der Freund an ſich ſelbſt
Hand anlegt, und ſich der Familie, den
Freunden, dem Vaterlande raubt, dann
iſt’s nicht bloß Schmerz, der uns das Herz
zerreißt: es iſt ein Schauer, der den
Strom unſerer Empfindungen aufhaͤlt;
es iſt ein Entſetzen der Natur, das uns nicht
zum Weinen kommen laͤßt; es iſt eine
Spannung unſerer Gefuͤhle, von der wir
nicht ſo leicht zuruͤck kommen; es iſt eine
Zerruͤttung der Empfindungen, die ſich nicht
beſchreiben, nur empfinden laͤßt.
Denken wir, wie uns zu Herze waͤre
im Augenblick, wo wir vor einem hohen
Thurme vorbey giengen, und man uns ſag-
te: Der edle Juͤngling da, deß Hirnmark
dieſen
(a)
[12]Erſter Abſchnitt.
dieſen Pflaſterſtein hier faͤrbt, und ſich mit
Erdenſtaub vermiſchet, fiel unverſehens von
dieſem hohen Thurm herab: und wie uns
auf einmal ſo ganz anders werden wuͤrde,
wenn man uns ſagte: Der Juͤngling ſtieg
in der Abſicht auf den Thurm, um ſich
herabzuſtuͤrzen, und ſtuͤrzte ſich aus Vor-
ſatz herab. Im erſten Falle waͤren wir
Schmerz, Mitleid, im zweyten verloͤren wir
uns ſelbſt im Angriff der ungewohnteſten
Gefuͤhle.
Auch iſt es ſonderbar, daß bey der
erſten Nachricht von dem Selbſtmorde einer
gekannten, merkwuͤrdigen Perſon der Land-
mann wie der Hofmann, die Viehmagd
wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie
der Fremdling, der Greis wie der Knabe,
der tapfere Krieger wie das weichherzige
Maͤdchen ꝛc. in eine neue Welt von Empfin-
dungen hineingeworfen werden — Voraus-
geſetzt, daß die Hoͤrer dieſer Nachricht noch
nicht um alle Menſchenempfindung gekom-
men, oder nicht eben in der ungluͤcklichen
Arbeit begriffen ſind, ſich ein Syſtem der
Selbſtentleibung zu bauen, oder ein vol-
lendetes
[13]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
lendetes gegen die Stimme des Gewiſſens
zu rechtfertigen.
Noch verdient hier angemerkt zu wer-
den, daß die beruͤhmteſten Aerzte und Men-
ſchenforſcher, um das Phaͤnomen des
Selbſtmordes erklaͤren zu koͤnnen, ſich ge-
noͤthiget finden, eine Art von Verruͤckung
der Gedankenreihen in dem Subjecte des
Selbſtmoͤrders anzunehmen.
Was alſo alle Geſunddenkende misbil-
ligen, wogegen ſich das allgemeine Men-
ſchengefuͤhl empoͤret — „was ſich bey geſun-
dem, unverdorbenem Sinne, und ohne eine
Zerruͤttung im Verſtande, nicht einmal den-
ken laͤßt —„ das kann doch keine empfeh-
lenswuͤrdige — muß wenigſt eine aͤußerſt
bemitleidenswerthe That ſeyn.
Zwar verliert dieſer Grund, von dem
Aufruhr des Menſchengefuͤhles gegen den
Selbſtmord, je laͤnger je mehr von ſeiner
Kraft auf das menſchliche Herz, weil das
Selbſtmorden, je laͤnger, je (nicht allge-
meiner, aber doch) weniger ſelten zu wer-
den ſcheinet. Je mehrere ſich wider dieß
Gefuͤhl
[14]Erſter Abſchnitt.
Gefuͤhl empoͤren, deſto wahrſcheinlicher
kann es vielen flachdenkenden, oder ſtarkem-
pfindenden Seelen werden, daß der Abſcheu
gegen den Selbſtmord kein Naturgefuͤhl,
ſondern erſt durch Huͤlfe der Erziehung ein-
gepfropfet ſey.
Es iſt dieß freylich (recht verſtanden)
ein bloßer Schein: aber ſchon der Schein
nimmt bey allen denen, die ihn fuͤr mehr
als Schein halten, dem Beweisgrunde et-
was von ſeiner Kraft auf das Menſchenherz.
Ich kann und will es alſo nicht widerſpre-
chen, daß die Kraft dieſes Beweiſes gerade
in dem Verhaͤltniſſe ſchwaͤcher werde, in
welchem das Selbſtmorden allgemeiner wird.
Allein bey alle dem verliert die innere Rich-
tigkeit des Beweiſes nichts. Denn die in-
nere Richtigkeit eines Beweisgrundes, und
das Quantum ſeiner wirkenden Kraft ſind
gar verſchiedene Dinge. Die innere Rich-
tigkeit iſt unveraͤnderlicher Natur, immer die-
ſelbe: aber die Groͤße einer beſtimmten
Kraft kann nur durch ihr Uebermaaß uͤber
die entgegen wirkenden Hinderniſſe, nur
durch
[15]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
durch den Reſt, den die Subtraction der
geringern Kraft von der groͤßern giebt, be-
ſtimmet werden. Der Satz alſo, Selbſt-
mord ein Aufruhr gegen alles geſunde
Menſchengefuͤhl, bleibt immer allgemein-
wahr, wenn gleich das Selbſtmorden noch
ſo allgemein wuͤrde: nur muͤßte man als-
denn die zweyte Wahrheit beyſetzen: daß des
geſunden Gefuͤhles unter den Menſchen
immer weniger, und die Zahl der Kran-
ken immer groͤßer wuͤrde. Krankheit iſt
Krankheit, es mag Ein Menſch, oder eine
Million Menſchen krank darnieder liegen.
Was geſunde Menſchenaugen ſehen, iſt dem
Menſchenauge ſichtbar: es mag uͤbrigens
viele, oder wenige Blinde geben, die es
nicht ſehen. Was die Gefuͤhle aller Ge-
ſunddenkenden empoͤret, das kann keine
Frucht einer geſunden, feſten Empfindung
ſeyn: es mag von vielen oder wenigen fuͤr
geſunde Empfindung gehalten werden.
Gewicht
[16]Erſter Abſchnitt.
Gewicht
dieſer beyden Gruͤnde.
Sie haben eine unausweichliche Kraft
fuͤr jeden, der den Trieb der Selbſt-
erhaltung noch nicht toͤdtlich verwundet, und
ſich das geſunde Menſchengefuͤhl noch nicht
aus dem Herzen geriſſen hat.
Sie haben auch die traurige Kraft,
daß ſie fuͤr den gewichtig ſeyn koͤnnen, der
ungluͤcklich genug iſt, am Daſeyn einer all-
ordnenden Fuͤrſehung zu zweifeln: wenn er
anders noch ein Ohr fuͤr dieſe Stimme der
Natur hat, die die Selbſterhaltung em-
pfiehlt und vor Selbſtentleibung warnet.
Laßt uns itzt von der Natur zum Schoͤp-
fer aufſteigen, um das Vernunftwidrige des
Selbſtmordes noch fuͤhlbarer zu machen.
Drit-
[17]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Dritter Grund.
Der Selbſtmord iſt ein eigenmaͤchti-
ger Eingriff in die Oberherrſchafts-
rechte des Schoͤpfers. Denn der Selbſt-
moͤrder verlaͤßt eine Stelle,
- 1. an die er ſich nicht hingeſtellt,
- 2. die er noch laͤnger haͤtte behaupten
koͤnnen, - 3. die er zu verlaſſen kein Recht ha-
ben konnte, - 4. und von der ihn ordentlicher, und
rechtmaͤſſigerweiſe nur derjenige ent-
laſſen kann, der ihn dahingeſtellet,
(oder die ſeine Stelle unter den
Menſchen vertreten.)
Daß wir uns an die Stelle, die wir
als lebendige Weſen im Bezirke der Schoͤp-
fung behaupten, nicht ſelbſt hingeſetzet ha-
ben, bedarf doch wohl keines Beweiſes.
Daß der Selbſtmoͤrder vor dem Zeit-
punkte, den ihm die Natur dazu beſtimmt,
Bdieſe
[18]Erſter Abſchnitt.
dieſe Stelle verlaͤßt, iſt wieder keiner Be-
zweiflung faͤhig.
Daß das Geſchoͤpf kein Recht hat, ſei-
ne Stelle gegen die offenbaren Winke des
Schoͤpfers eigenmaͤchtig zu verlaſſen, das
liegt in dem großen Verhaͤltniſſe zwiſchen
Geſchoͤpf und Schoͤpfer —
Wer ein Geſchoͤpf denkt, denkt ein
abhaͤngig Weſen von dem Willen des Schoͤp-
fers. Wer dieſe Abhaͤngigkeit laͤugnet,
laͤugnet das Daſeyn des Schoͤpfers. Wer
das Daſeyn des Schoͤpfers laͤugnet, wem
dieſe erſte Wahrheit nicht erſte Wahrheit iſt,
der kann freylich keinen Sinn fuͤr dieſes
Buͤchlein haben: zumal er keinen fuͤr die
Natur hat.
Die Abhaͤngigkeit des Geſchoͤpfes vom
Schoͤpfer iſt alſo nicht mehr, und nicht we-
niger gewiß, als gewiß das Geſchoͤpf Ge-
ſchoͤpf, und der Schoͤpfer Schoͤpfer iſt.
Daß der Schoͤpfer das erſte, urſpruͤng-
liche Recht hat, das Geſchoͤpf von der Stel[-]
le dieſes Lebens abzurufen, wenn es ſein[e]
Weis[-]
[19]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Weisheit fuͤr gut findet, das wird ihm wohl
kein Werk ſeiner Haͤnde ſtreitig machen.
Es iſt alſo nur noch ein Gang uͤbrig,
den die Frage nehmen kann, dieſer naͤm-
lich, ob nicht etwa der Schoͤpfer dem
Geſchoͤpfe das Recht, ſeine Stelle zu ver-
laſſen, aus weiſem Wohlwollen uͤberlaſ-
ſen habe — wenigſt im heiſſeſten Lei-
densdrange wirklich uͤberlaſſe.
Wenn die Vernunft (nicht Leiden-
ſchaft, nicht das Herz, nicht Mode,) un-
terſuchen darf, ſo wird ſie geſtehen muͤſſen,
daß viele Gruͤnde zum Nein, keiner zum
Ja neigen. Die ganze menſchliche Natur,
dieſer große, mit dem Finger Gottes ge-
ſchriebene Codex aller natuͤrlichen Rechte,
Befugniſſe ꝛc. kann keine Spur von dieſem
uͤberlaſſenen Rechte aufweiſen. Laßt uns
Schritt vor Schritt gehen.
1. Die Natur des Menſchen, in
ſo ferne ſie die Natur eines lebendigen
Weſen iſt, kann das allgemeine Geſetz (b),
B 2das
[20]Erſter Abſchnitt.
das dieſem Rechte gerade entgegen ſteht —
das Geſetz der Selbſterhaltung, nicht ver-
laͤugnen. Alſo keine Spur von dieſem
Rechte.
2. Die Natur des Menſchen, in
ſo ferne ſie hoͤhere Empfindungskraft in
ſich ſchließt, und aus den Gefuͤhlen aller
Geſunddenkenden erkennbar iſt, hat ein all-
gemeines Naturgefuͤhl (c) aufzuweiſen, ei-
nen natuͤrlichen Abſcheu gegen die Selbſt-
ermordung, eine entſcheidende Misbilligung
der vollendeten That, eine kunſtloſe, bered-
ſame Warnung vor dem fuͤrchterlichen
Schritte — und dieſer Abſcheu, dieſe Mis-
billigung, dieſe Warnung der Mutter Na-
tur laͤßt ſich mit dem Rechte, die Stelle
dieſes Lebens nach Gutbefinden zu verlaſſen,
nicht wohl vereinigen. Alſo keine Spur
von dieſem Rechte.
3. Die Natur des Menſchen, in ſo
ferne ſie Denkkraft, Forſchungsgabe iſt,
kann auch von den heiſſeſten Leiden nie mit
Zuverlaͤſſigkeit zum voraus beſtimmen:
Ob
[21]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Ob dieſe Leiden nicht noch auch in der
kurzen Strecke dieſes Lebens ein Saame
hoͤherer Freuden fuͤr den Leidenden, und
fuͤr andere werden koͤnnen;
kann nie mit Zuverlaͤſſigkeit zum voraus
beſtimmen,
ob nicht vielmehr das ſcheinbare Gute,
das er von dem Selbſtmorde erwartet,
von den boͤſen Folgen fuͤr ihn und fuͤr
andere, die daraus entſtehen, unver-
gleichbar werde uͤberwogen werden;
kann am allerwenigſten,
im Sturmgedraͤnge von Leiden die La-
ſten der Gegenwart, die Hoffnungen der
Zukunft, und die Folgen des Selbſt-
mordes meſſen.
Alſo koͤnnte der Menſch das Recht,
ſeine Stelle zu verlaſſen, wenn er es auch
haͤtte, nicht einmal mit Vernunft ausuͤben.
Eben darum hat die Vernunft gar keinen
Grund, anzunehmen, daß der Schoͤpfer
dem Geſchoͤpfe ein Recht gegeben haͤtte, deſ-
ſen vernuͤnftiger Gebrauch ganz auſſer der
B 3Sphaͤr
[22]Erſter Abſchnitt.
Sphaͤre ſeiner Denkkraft laͤge. Alſo keine
Spur von dieſem Rechte.
4. In die Natur des Menſchen, in
ſo ferne ſie nebſt dem belebenden Geiſte das
ſterbliche, vergaͤngliche, irdiſche Princi-
pium, den Leib, mitbegreift, iſt ein maͤchti-
ger Schauer vor dem Tode, vor der Zer-
ſtoͤrung gelegt, und der Schoͤpfer, deß
Hand die Menſchennatur gebaut, hat die
Straſſen des Todes mit vielen, vielen Vor-
mauern des Schreckens vermauert, um da-
durch unſre eigenmaͤchtige Annaͤherung da-
zu — zu verhuͤten. Alſo keine Spur von
dem Rechte, die Stelle des Lebens eigen-
maͤchtig zu verlaſſen.
5. Die Natur des Menſchen, in ſo
ferne ſie zur Unſterblichkeit(d) geſchaffen
iſt, kann, ohne gegen alle Vernunftgruͤnde
anzuſtoſſen, kein ander Daſeyn nach dem
Ende dieſes Lebens erwarten, als welches
eine Folge des vorhergegangenen iſt. Je
groͤßer
[23]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
groͤſſer alſo der Heldenmuth des Sterbli-
chen, deſto belohnender wird das neue Da-
ſeyn des Unſterblichen ſeyn. Wenn nun
der Sterbliche das Recht haͤtte, die Stelle
hienieden nach Willkuͤhr zu verlaſſen, ſo
wuͤrde er eben dadurch berechtiget ſeyn, ſei-
nen Schickſalen jenſeits des Grabes gerade
die ſchlechtere Wendung zu geben: Und dieß
Recht ſollte der Schoͤpfer, die erſte Liebe,
dem Lieblinge der Schoͤpfung, beſtimmt zum
lebendigſten, vollkommenſten Leben, er-
theilen koͤnnen? Alſo keine Spur von die-
ſem Rechte in der ganzen, groſſen, viel-
umfaſſenden Menſchennatur.
Uebrigens hat ſchon Pythagoras dieſen
Grund gegen den Selbſtmord, der aus der
Oberherrſchaft Gottes hergeholet iſt, ange-
bracht, indem er verboten (e)
Ohne Befehl des Feldherrn, das
heißt, Gottes, den Poſten, und
B 4die
[24]Erſter Abſchnitt.
die Wache dieſes Lebens zu ver-
laſſen.
Mit andern Worten:
Der den Geiſt dem Leibe eingehau-
chet, der allein hat das Recht,
ihm die Zeit des Aufenthaltes in
dieſem Wohnorte zu beſtimmen.
Vierter Grund.
Der Selbſtmord iſt eine gewaltſame
Durchſtreichung des Planes, den
die Fuͤrſehung dem Geſchoͤpfe gezeichnet.
Nur die alluͤberſehende Weis-
heit kann entſcheiden, wie lange zu leben,
einem Menſchen gut ſey, und den entſchei-
denden Ausſpruch dieſer alluͤberſehenden Weis-
heit lernet der Menſch natuͤrlicher Weiſe nur
aus den Kraͤften ſeines Koͤrpers, nur aus
der Natur der Dinge kennen. Wir ha-
ben (die Faͤlle der unmittelbaren Offenbarun-
gen weggelaſſen) keinen andern Weg den
Willen der Gottheit zu erforſchen, als die
Natur der Dinge. Dieſe iſt das Orakel
der
[25]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
der Gottheit, das wir, wie ſie ſelbſt, re-
ſpectiren muͤſſen. Aus der Erleuchtungs-
und Erwaͤrmungskraft der Sonne in Abſicht
auf unſere Erde ſchlieſſe ich mit Grund,
es ſey der Wille des Schoͤpfers, daß die
Erde und die Erdebewohner von ihr beleuch-
tet und erwaͤrmet werden. Aus dem, daß
der Vogel Schwingfedern, der Fiſch Floß-
federn hat, ſchlieſſe ich mit Grund, es ſey
der Wille des Schoͤpfers, daß jener flie-
ge, dieſer ſchwimme. Aus dem, daß das
Thier mit Inſtinkt, der Menſch mit Ver-
nunft begabt iſt, ſchlieſſe ich mit Grund,
es ſey der Wille des Schoͤpfers, daß das
Thier dem Inſtinct folge, der Menſch ſich
durch Vernunft leiten laſſe. Aus der er-
kannten Fruchtbringungskraft des Saatkorns
im Schooſe der Mutter-Erde, ſchlieſſe ich
mit Grund, es ſey der Wille des Schoͤp-
fers, daß das Saatkorn in die Erde gelegt
werde. So iſt denn jede Kraft ein Wink
der Gottheit, daß man dieſelbe fortdauren,
und wirken laſſe, ſo lange ſie fortdauren,
und wirken kann, im Falle, daß das Ge-
ſetz der hoͤhern Vollkommenheit kein Op-
B 5fer,
[26]Erſter Abſchnitt.
fer, keine Einſchraͤnkung, keine Ausnah-
me fodert. So iſt es denn auch der Wille
der Gottheit, daß jeder Sterbliche den Fa-
den ſeines Lebens ſo lange fortlaufen laſſe,
bis ihn die Hand des Schoͤpfers abſchneidet,
die ihn angeſponnen hat. Denn die Regel
der hoͤhern Vollkommenheit kann nie fordern,
daß ich ihn ſelbſt abſchneide, weil ich da-
durch eben die Regel aller hoͤhern Vollkom-
menheit umſtoſſe, die es laut ſagt:
Schreit auf der Bahn, die dir die Fuͤr-
ſehung angewieſen, nur immer weiter
fort, bis dich der Tod im Namen der
naͤmlichen Fuͤrſehung, durch ſein non
plus ultra abfodert — ſpring aber nie
ſelbſt von der angewieſenen Bahn weg.
Fortwandeln iſt deine Pflicht — deine
Beſtimmung — das Werk deiner Treue.
Das Auf- und Abtreten haͤngt nicht
von dir ab, gehoͤrt nicht in die Ge-
genſtaͤnde deiner Wahl. Zum Abtre-
ten darfſt du dir das Zeichen nicht ſelbſt
geben, ſo wenig du — die Stunde
zum erſten Auftritt beſtimmen konn-
teſt
[27]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
teſt — da du noch nicht wareſt. Nur
ſorgen ſollſt du, daß dein Abtreten
ehrevoll fuͤr dich, und dem gefaͤllig
werde, der dich hiehergeſtellt.
So gewiß aber der Pilger gegen den Plan
ſeiner Reiſe handelt, wenn er die Marſchru-
the abkuͤrzt, und einen naͤher gelegenen Ort
zum letzten Ziele ſeiner Reiſe macht, als
der im Reiſeplan aus viel bedeutenden Gruͤn-
den dazu beſtimmt war: ſo gewiß durch-
ſtreicht der Selbſtmord den Plan der hoͤch-
ſten Weisheit, ſo viel an ihm iſt: indem
er das Lebensziel, das die Fuͤrſehung aus
den weiſeſten Abſichten weiter hinausge-
ſetzt, eigenmaͤchtig naͤher hereinruͤckt —
und den Plan der Pilgerſchaft abkuͤrzt.
Und dazu hat die menſchliche Kurzſichtig-
keit kein Recht, und keinen Beruf, ſo we-
nig der Blinde und Unerfahrne das Recht
haben kann, ſich zum Hofmeiſter des ſe-
henden und erfahrnen Mannes in Geſchaͤf-
ten, wo Auge und Erfahrung Hauptſache
ſind, aufzuwerfen. Zwar wird die Fuͤrſe-
hung auch den Selbſtmord wieder in den
großen
[28]Erſter Abſchnitt.
großen Plan der Weltregierung einzuflech-
ten wiſſen; aber dazu hat der Unterthan
nie ein Recht, Uebels zu thun, damit der
Regent Gelegenheit habe, etwas Gutes
herauszuziehen.
Gewicht
dieſer beyden Gruͤnde.
Der dritte ſetzet das Daſeyn des Schoͤp-
fers voraus, und iſt zwar blos ver-
nemend, aber dennoch ſtarkwirkend auf
die noch nicht ſchlaffgewordenen Fibern ei-
ner menſchenkennenden, und Gottvereh-
renden Seele.
„Es findet ſich in der Menſchennatur
keine Spur von einem Rechte, die
Stelle dieſes Lebens eigenmaͤchtig zu
verlaſſen.„
Dieſer fuͤr das Wohl der Menſchheit,
und fuͤr die Sicherheit der menſchlichen
Exiſtenz ſo vielbedeutende Satz wird an der
Hand einer ziemlich vollſtaͤndigen Induction
burch alle anerkannte, oder wenigſt erweis-
bare
[29]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
bare Grundbeſtimmungen der Menſchenna-
tur durchgefuͤhrt.
Mein Wahrheitſinn findet dieſe Be-
weisart fuͤr genugthuend: und wenn ihr der
Lebensſatte auch nur einigen Grad von
Wahrſcheinlichkeit beylegte, ſo haͤtte die
Verſuchung zum Selbſtmorde ſchon viel von
ihrer Kraft auf ſein Herz verloren. Denn
in dem ſchrecklichſten Geſchaͤfte, wo es auf
Selbſthinrichtung ankommt, wo zwiſchen
Leben und Tod, zwiſchen Fortdauer des Le-
bens und Selbſttoͤdtung gewaͤhlet wird, in
dem ſchauervollſten Augenblicke, der ſich den-
ken laͤßt, ſollte der Muth zu deiner gewiß
ſchweren Arbeit ſchon bloß durch die auffal,
lende Wahrſcheinlichkeit, daß der Selbſt-
mord ein Eingriff in die Rechte des Schoͤp-
fers ſey, vollends entkraͤftet werden koͤnnen.
Der vierte Beweis geht auch den Gang
der Induction, wie ſein Vorgaͤnger, nur
mit dem Unterſchiede, daß dieſer das Ge-
biet der Menſchennatur durchwandert, jener
den Bezirk der ganzen weiten Schoͤpfung
durchlaͤuft: Beyde kommen auf verſchiede-
nen
[30]Erſter Abſchnitt.
denen Wegen zu Einem Ziele: aß der
Selbſtmord Eingriff in die Rechte der
Fuͤrſehung, und Durchſtreichung Ihres
Planes ſey.
Wer dieſes Paar Gruͤnde unphiloſo-
phiſch finden kann, der hat den Schluͤſſel,
den uns der Schoͤpfer gegeben den Sinn
der Natur aufzuſchlieſſen, noch nie recht ken-
nen gelernet. Ich will ihn hier bloß nen-
nen, weil ich anderswo ausfuͤhrlich genug
davon geredet habe (e): er heißt Analogie.
Induction beruht ja auf Analogie, und Ana-
logie ſtuͤtzt ſich auf Erfahrungen, und Er-
fahrung iſt Grund und Stof und Same
alles menſchlichen Erkennens. Wer alſo die-
ſen Beweisgrund unlogiſch findet, beweiſet
dadurch, daß er die ganze Logik unlogiſch
finde.
Fuͤnfter
[31]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Fuͤnfter Grund.
Der Selbſtmord iſt die aͤuſſerſte Ent-
weihung des edelſten Geſchenkes,
das uns zum edelſten Zwecke gegeben
ward.
Das Menſchenleben, das ſich der
Selbſtmoͤrder abkuͤrzt, iſt eine vielbefaſſen-
de Kraft, die
- 1. je laͤnger, je mehr Gutes kennen
lernen; - 2. je laͤnger, je mehr Boͤſes durch Ge-
duld und Weisheit zur Quelle des
Guten machen; - 3. je laͤnger je mehr Gutes unter den
Menſchen ſtiften; - 4. je laͤnger je mehr Gutes genieſſen;
- 5. je laͤnger je mehr den unſterblichen
Geiſt vervollkommnen, beſſer, und
zu den hoͤchſten Freuden jenſeits des
Grabes geſchickter machen kann; - 6. und bereits ſchon vieles Gute ken-
nen gelernt, erfahren, genoſſen,
andern mitgetheilet hat.
Nun
[32]Erſter Abſchnitt.
Nun der Selbſtmoͤrder braucht dieſe
koͤſtliche, und zur Erreichung der wichtig-
ſten Zwecke gegebene Kraft, dieſes edle Ge-
ſchenk — das Menſchenleben als ein Werk-
zeug, eben dieſes Menſchenleben zu zerſtoͤ-
ren, arbeitet durch ſein Ich gegen ſein Ich —
braucht ſeine lebendige Hand wider das Le-
ben ſeiner Hand, ſeine Exiſtenz wider ſeine
Exiſtenz. Er wirft alſo die koſtbarſte Perle
in den vorbeyflieſſenden Strom, und waͤhnt
ſich gluͤcklich, der Perle los geworden zu
ſeyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver-
kannt: ſonſt haͤtte er die Perle noch, und
bewahrte ſie, wie ein Heiligthum. Denn
wer den Werth dieſes Lebens fuͤhlte, koͤnnte
ſo wenig ein Zerſtoͤrer dieſes ſeines Lebens
werden, als wenig die Liebe haſſen kann.
„Allein, wird der ſcharfſinnigere
Theil meiner Leſer denken, da liegt eben der
Knote, das iſt eben die Frage: wie koͤnnen
wir uns den Werth dieſes Lebens fuͤhlbar
machen, und dieß Gefuͤhl immer lebendig
genug erhalten„? Ja wahrlich, da iſt der
Knote. Die Kunſt den Werth des Lebens
kennen
[33]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
kennen zu lernen, und ihn zu fuͤhlen iſt
zwar ſehr einfach an Regeln: aber, wie bey
allem, was wahrhaft groß, und edel macht,
ſo auch da — die Ausuͤbung, die Ausuͤbung
kaͤmpft mit großen Schwierigkeiten. Wer
den ganzen Werth ſeines Lebens fuͤhlen moͤch-
te, der denke ſich nur (freylich bald geſagt,
und ſchwer zu befolgen!) der denke ſich nur
- Alles Wahre, Edle, Gute, Schoͤne,
das wir in dieſem Leben kennen lernen,
und immer deutlicher erkennen, ſtif-
ten, mittheilen, verbreiten, ausuͤ-
ben, ſelbſt genieſſen, erfahren, bewun-
dern koͤnnen; - Und dann alles Wahre, Edle,
Gute, Schoͤne, zu deſſen- Erkenntniß, Genuß, Beſitz,
Mitgenuß, Mittheilung, Aus-
breitung, Vollendung im kuͤnf-
tigen Leben,
- Erkenntniß, Genuß, Beſitz,
- wir uns in dieſem faͤhig machen
koͤnnen.
CWer
[34]Erſter Abſchnitt.
Wer den ganzen Werth ſeines Le-
bens (f) angeben will, darf nur den Werth
dieſes, und des kommenden Lebens in Eine
Schale legen. Denn der Werth einer Sa-
che ſteigt ja gerade in dem Verhaͤltniſſe, in
welchem der Werth aller jener Dinge ſteigt,
die uns der Beſitz dieſer Sache verſchafft,
und deren Erkenntniß, Erwerb, Beſitz in
Zukunft — mit dieſer Sache wie immer in
Verbindung ſtehet. So z. B. beſteht der
Werth des Adels in dem Inbegriffe und
Werthe aller jener Vortheile, und Vorzuͤ-
ge, die er wirklich gewaͤhrt, und dazu er
faͤhig macht. Die Summe und der Werth
derjenigen Guͤter alſo, die der weiſe Ge-
brauch dieſes Lebens verſchaffen, und deren
er uns fuͤr die Zukunft und Ewigkeit faͤhig
machen kann, vollenden den Werth dieſes
Lebens.
Dieſe Betrachtungen (und was iſt ein-
facher als ſie?) koͤnnen jeden geſunden,
nachdenkenden Verſtand gar bald zur Ueber-
zeugung
[35]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
zeugung bringen, daß der Werth dieſes Lebens
(in einem wahren Sinn) unermeßlich ſey,
und alle nur erdenkliche Bitterkeiten dieſes
Lebens weit uͤberwaͤge. Aber, wenn gleich
alle Guͤter der Gegenwart und Zukunft, die
den Werth dieſes Lebens vollenden, in Eine
Schale gelegt — alle Leiden, die einem
Menſchen in der Laufbahn ſeiner Sterblich-
keit begegnen koͤnnen, in die andere Schale
gelegt — unvergleichlichbar uͤberwaͤgen: ſo
bleibt es doch immer eine traurige Wahr-
heit, daß ſehr wenige Menſchen den Werth
des Lebens recht zu waͤgen wiſſen, noch we-
nigere aber im Aufſtoſſe irgend eines Lei-
dens unpartheyiſch genug ſind, die ſchlim-
men und guten Seiten dieſes Lebens, beſon-
ders in Verbindung mit der Zukunft und
Ewigkeit, gegen einander abzuwaͤgen. Ein
Tropfen Bitterkeit vergaͤllt manchem das
Meer aller Vergnuͤgungen, das ihm bis-
her geworden iſt, und waͤchst durch Huͤlfe
der vergroͤſſernden Einbildungskraft zu einem
C 2Meere
(f)
[36]Erſter Abſchnitt.
Meere von Leiden an, deſſen Anblick die
kranke Seele nicht mehr ertragen kann —
und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-
lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße
des Berges die Statue des Lebens nieder.
Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue,
ſie iſt nicht mehr!
So iſts mit jedem Leiden, wodurch
das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens
nach und nach aus der Seele des Leidenden
verdraͤngt, und die Empfindung von der
Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er-
hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die
Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu
vollziehen.
Das iſt die Geſchichte der Krankheit.
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-
theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was
ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit
zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf
ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen?
Nicht wahr, wer der erſten Empfindung,
„Das Leben eine Laſt“, maͤchtig entge-
gen
[37]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
gen kaͤmpft; wer das fliegende Gefuͤhl vom
Werthe des Lebens mit Gewalt zuruͤck haͤlt;
wer den Funken nicht im Buſen naͤhrt, bis
er Flamme wird, ſondern ihn muthig vom
Leib und Kleide ſchuͤttelt, da er noch Funke
iſt: der wird wohl nie Selbſtmoͤrder werden
koͤnnen. Allein, wenn jemand, ſein eig-
ner Feind, das Gute ſeiner Exiſtenz immer
in den Schatten zuruͤckſetzt, und das Schlim-
me immer ans Licht hervorzieht, und, was
Hauptſache iſt, die erfinderiſche Einbildungs-
kraft mit ihren lebhaften Farben darein
malen laͤßt, was ſie will: welch’ ein fuͤrch-
terlich Lebensgemaͤlde wird nach Jahren da-
ſtehen? Der ungluͤckliche Maler wird ſich
wohl nicht mehr enthalten koͤnnen, es mit
Einem Pinſelzug durchzuſtreichen, und die
Leinwand, worauf die Ebenteuer gemalt
ſind — ins Feuer zu werfen, um von dem
folternden Anblicke des Schauergemaͤldes auf
immer frey zu werden. Sehr natuͤrlich,
denke ich: aber dieß Natuͤrliche beweißt
nichts, gar nichts fuͤr den Selbſtmord. Oder
wuͤrden wir denn nicht jede Todesart auf
dem Krankenlager auch natuͤrlich finden,
C 3wenn
[38]Erſter Abſchnitt.
wenn wir die Reihe der Wirkungen uͤberſe-
hen koͤnnten, die ſie hervorgebracht haben?
Wenn ſich jemand durch Trunkenheit hin-
richtet, und auf dem Siechenbette zum
fuͤrchterlichen Gerippe keucht: kann man
von ihm nicht ſagen, daß er ſein Leben,
das edelſte Geſchenk, ſchrecklich entwei-
het hat? Und es iſt doch ſo natuͤrlich, daß
Trunkenheit den Helden fruͤhe in die Bahre
legt. Wer durch wilde Ausbruͤche des Zorns
ſeine Geſundheit zerruͤttet, entweihet doch
wohl das edelſte Geſchenk, ſein Leben.
Und es iſt doch ſo natuͤrlich, daß die Aus-
bruͤche des Zorns die Geſundheit zerſtoͤren.
Es laſſen ſich alſo beyde Wahrheiten
ganz ſein neben einander hinſtellen:
Selbſtmord iſt aͤuſſerſte Entweihung
des edelſten Geſchenkes,
Und:
Es geht ſo ganz natuͤrlich zu, daß
einer
(g)
[39]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
einer zur unnatuͤrlichſten (g)Hand-
lung, zum Selbſtmorde, reif wird.
Oder:
Es iſt nicht ſo leicht, das Gefuͤhl
vom Werthe des Lebens immer leb-
haft zu erhalten,
Und: Das Wegwerfen der koͤſtlichen
Perle iſt doch Entweihung des koͤſt-
lichen Geſchenkes.
Sechster Grund.
Der Selbſtmord iſt zugleich der Tod
aller vernuͤnftigen, aufgeklaͤrten,
erleuchteten
- Gottes-
- Menſchen-
- Selbſt-
Denn ſo lange Gottes- Menſchen-
und Selbſtliebe in dem Herzen lebt, und
ſo lange dieſe Gottes- Menſchen- und Selbſt-
C 4liebe
[40]Erſter Abſchnitt.
liebe von der aufgeklaͤrten Vernunft ge-
leitet wird, iſt aller Selbſtmord gerade-
zu unmoͤglich.
Ich behaupte nicht, daß der Selbſt-
mord der Tod aller Gottes-Menſchen-
Selbſtliebe ſey, ſondern nur daß er der Tod
aller erleuchteten Gottes- Menſchen- und
Selbſtliebe ſey.
Selbſtmord der Tod aller erleuch-
teten Gottesliebe. Es kann ſich ein gut-
muͤthiger Schwaͤrmer „aus Liebe Gottes„
morden, d. h. aus Sehnſucht, nur recht
bald bey ſeinem Gott zu ſeyn. Allein da
liegt keine erleuchtete Gottesliebe zum Grun-
de, weil alle erleuchtete Gottesliebe ſich in
eine treue, ausharrende Erfuͤllung des goͤtt-
lichen Willens aufloͤſet, und der goͤttliche
Wille von dem Menſchen nichts anders fo-
dert, als:
Es
[41]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es kann ein redlicher Schwermuͤthige
in der Verwirrung ſeiner Begriffe vielleicht
ſo weit gebracht werden, daß er die Selbſt-
mordung als den hoͤchſten Actus der Liebe
Gottes anſieht. Seinem Herzen fehlt es
nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie-
benswuͤrdigſten Weſen, aber ſeinem Ver-
ſtande an Erleuchtung.
Im Gegentheile, die erleuchtete Lie-
be kennt den Willen des Herrn, weil ſie er-
leuchtet iſt, und thut ihn, weil ſie Liebe
iſt. So lange ſie alſo bey Leben iſt, dieſe
erleuchtete Liebe, ſo lange kann keine Ver-
ſuchung zum Selbſtmorde wichtig werden,
weil der Verſtand, der helle, ungetruͤbte
Menſchenſinn, die Sanction des Natur-
geſetzes, harre aus auf der Stelle, bis
dir das Zeichen zum Abzuge von dem
Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet,
und der Wille, die thaͤtige Liebe, feſt an
dem Geſetze haͤlt.
Selbſtmord der Tod aller vernuͤnf-
tigen Selbſtliebe.
C 5Es
[42]Erſter Abſchnitt.
Es kann ſich ein Elender aus Selbſt-
liebe morden, d. h. um ſeinen Leiden, die
er fuͤr unertraͤglich haͤlt, ein Ende zu ma-
chen. Allein dieſe Selbſtliebe iſt keine ver-
nuͤnftige (von den Grundſaͤtzen der hellen
Vernunft geleitete) Selbſtliebe. Denn die
vernuͤnftige Selbſtliebe geht vorzuͤglich auf
Selbſterhaltung aus, ohne die ſich keine wei-
ter fortſchreitende Bildung des Menſchen
in der Bildungsſchule dieſes Lebens denken
laͤßt. Sie arbeitet vorzuͤglich an der ſtuffen-
weiſe aufſteigenden Vervollkommnerung des
unſterblichen Geiſtes. Und die Vollkom-
menheit des unſterblichen Geiſtes, wenigſt
die Seelenſtaͤrke, die ein betraͤchtlicher Theil
davon iſt, verhaͤlt ſich gerade wie die Groͤße
der Erduldungskraft, gerade wie der geſetzte
hohe Sinn im Gutesthun, und Boͤſesdul-
den. Wer groͤſſere Laſten tragen kann, iſt
offenbar ſtaͤrker; wer feſter, ruhiger in dem
Anfalle des heftigſten Schmerzens aushar-
ren kann, iſt offenbar herzhafter; wer in
dem Gedraͤnge von Leiden noch groß genug
iſt, ſich groͤßer, als das groͤßte Leiden zu
fuͤhlen, der iſt offenbar groͤßer, im eigen-
ſten
[43]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
ſten Sinne großmuͤthiger, als alle andere,
die geringere Laſten tragen, geringere Leiden
dulden koͤnnen. Wer aber offenbar ſtaͤrker,
herzhaftiger, großmuͤthiger iſt als andere,
der iſt eben darum offenbar vollkommener,
als andere. In ſo ferne alſo der Selbſt-
mord aus Mangel an Erduldungskraft ent-
ſteht, und zugleich den Faden der Geiſtes-
vervollkommnerung eigenmaͤchtig abſchnei-
det, iſt er nicht vernuͤnftige Selbſtliebe —
ſondern eigentlicher Selbſthaß — alſo Tod
aller vernuͤnftigen Selbſtliebe.
Selbſtmord iſt auch Tod aller ver-
nuͤnftigen Menſchenliebe.
Waͤre in dem Ungluͤcklichen, der ſich
ſelbſt morden kann, die allgemeine Men-
ſchenliebe lebendig: ſo wuͤrde er ſich als ei-
nen Theil des ganzen Geſchlechtes, als ein
Glied an dem großen Koͤrper fuͤhlen, das
kein Recht hat, ſich ſelbſt von den uͤbrigen
Gliedern loszureiſſen. Waͤre in ihm die
Buͤrgerliebe lebendig: ſo wuͤrde er ſeine
Exiſtenz als einen Beytrag zum gemeinen
Beſten anſehen, die ſich ſelbſt nicht nach
Will-
[44]Erſter Abſchnitt.
Willkuͤhr zerſtoͤren darf, weil dem Staate
das bloße Beyſpiel des Selbſtmordes (ohne
itzt den Verluſt eines einzelen Gliedes in
die Rechnung zu bringen) nicht anders als
ſchaͤdlich, und das Beyſpiel der aushar-
renden Geduld nicht anders als nuͤtzlich ſeyn
kann: indem das erſte die falſchen Begriffe
von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die
wahren unterſtuͤtzet. Es iſt nichts gemein-
ſchaͤdlichers, als wenn die Tapferkeit der
Buͤrger von Vertheidigung des Staates ge-
gen auswaͤrtige Feinde, auf Verminderung
der Staatsbuͤrger, auf Selbſtzerſtoͤrung ab-
gelenket wird. Es iſt nichts gemeinnuͤtzi-
gers, als wenn jeder Staatsbuͤrger ſein Le-
ben, ſeine Kraft, als ein Heiligthum an-
ſieht, das nur zum gemeinen Beſten darf
verwendet werden. Waͤre in ihm (dem
Selbſtmoͤrder) die Naͤchſtenliebe lebendig:
ſo wuͤrde er keine Urſache finden, an ſeinem
Koͤrper Hand anzulegen, ſo lange es in der
Welt Elende giebt, denen er durch Vorſtel-
lung, Bitte, Warnung, Huͤlfe, Beyſpiel
nuͤtzlich ſeyn kann. Waͤre in ihm die Ver-
wandtenliebe lebendig, ſo wuͤrde er keine
Kraft
[45]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Kraft finden, den Dolch in ſeine Bruſt zu
ſtoſſen, der zugleich das Eingeweide aller
ſeiner Verwandten tief verwunden wuͤrde.
Waͤre in ihm die Freundeliebe lebendig:
wie koͤnnte er Seelen, die jede Freude und
jedes Leiden mit ihm getheilt haben, fuͤr ih-
re Freundſchaftstreue mit dem Uebermaaſe
alles Kummers lohnen? Waͤre in ihm auch
nur eine vernuͤnftige Geſchlechtsliebe leben-
dig: ſo wuͤrde er ſich wohl huͤten, nicht nur
ſich alle Quellen der menſchlichen Freuden
auf immer zu verſtopfen, ſondern auch der
geliebten Perſon das Andenken an ihren un-
gluͤcklichen Liebhaber fuͤr ihr ganzes Leben
ſchauervoll zu machen.
Das Gewicht
dieſer beyden Gruͤnde.
Der fuͤnfte bringt die kurze Strecke dieſes
Lebens mit jener nach dem Tode in ei-
ne Verbindung, macht Ein Continuum dar-
aus, um den Werth des Menſchenlebens zu
erhoͤhen.
Es
[46]Erſter Abſchnitt.
Es iſt bekannt, daß ſich von dem,
was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor-
ſtellungsarten denken laſſen. Eine, die ich
die menſchenfeindliche nennen moͤchte,
macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das
ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende
im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe
kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande-
re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab-
ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil-
chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom
Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis
zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber
mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un-
aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart
(die ich die menſchenfreundliche nenne, weil
das kranke Menſchenherz einen Balſam dar-
an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt
nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu
ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens-
faden, der vom erſten Puncte des Seyns
bis zum Grabe reicht, der andere, welcher
vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch-
reicht, herausſpinne.
Es
[47]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es iſt itzt nicht mein Beruf, die
Wahrheit dieſer letzten Vorſtellung zu erwei-
ſen; ich ſage nur: wenn die menſchenfreund-
lichſten Vorſtellungen gerade die wahrſten
ſind, ſo fuͤhle ich hierinn eine Harmonie,
die der Wuͤrde der Menſchennatur Ehre
macht. Ich ſage nur: wer an die Un-
ſterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen
Grund wider den Selbſtmord mehr; kann
in jeder Nacht dieſes Lebens einen Lichtpunct
finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif-
lung wegleitet; kann ſich nicht nur den Be-
griff von dem Werthe dieſes Lebens unend-
lich erweitern, ſondern auch das ſterbende
Gefuͤhl davon, immer wieder neu beleben.
Ich ſage nur: nichts ſcheuchet den Gedanken
an Selbſtentleibung maͤchtiger zuruͤck, als
ein Blick auf die Wuͤrde des Menſchen, und
was iſt die Wuͤrde des Menſchen, wenn
nach einem paar ſchwuͤler Tage, das man
Leben nennet, der ganze Menſch modert?
Ich ſage nur, daß die Unſterblichkeit dem
Menſchenleben einen unermeßlichen Werth
giebt, und daß ſich der Vernuͤnftige doch
zweymal beſinnen wird, dieß ſein Leben
wegzu-
[48]Erſter Abſchnitt.
wegzuwerfen, wenn er glaubt, daß die Dauer
ſeines Geiſtesleben ewig iſt, und die kom-
mende Periode deſſelben mit der gegenwaͤrti-
gen in Verbindung ſteht. Ich ſage nur:
daß der Menſch, der ſein Leben wegwirft,
wie wenn er eine verſengte Blume in den
vorbeyflieſſenden Bach wuͤrfe, ein koͤſtlich
Geſchenk wegwerfe, und daß dieß Weg-
werfen Entweihung des Geſchenkes ſey.
Dieß ſage ich, und dieß zeigt den
Selbſtmord von einer Seite, die ſich, und
ihn nicht empfiehlt — die ſich und ihn je-
dem, der den wahren Werth der Dinge
pruͤft, als verabſcheuungswerth darſtellen
muß.
Der ſechste Grund fuͤhrt den Selbſt-
mord in das Triebhaus aller Moralitaͤt zu-
ruͤck — — und beweiſet, daß erleuchtete
Liebe, die ſich zum Schoͤpfer ſchwingt, und
vom Schoͤpfer zum Ich, und zum Bruder-
geſchlechte des Ichs herunterſteigt, und die-
ſes große Drey zugleich umfaßt, dieſer Adel
der Vernunftgeſchoͤpfe — nie Triebfeder zum
Selbſtmorde werden kann. Gruͤnde genug
fuͤr
[49]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
fuͤr den, der bedenkt, daß Waͤrme des Her-
zens ohne Licht des Verſtandes — fuͤr We-
ſen, die Wille und Verſtand ſo nahe bey-
ſammen haben, nie Beſtimmung heiſſen,
nie zweckerreichendes Streben ſeyn kann.
Siebenter Grund.
Der Selbſtmord ſteht im fuͤrchterlich-
ſten Gegenſatze gegen den Buchſta-
ben, und Geiſt der Offenbarung. Denn
- 1. Die Offenbarung lehret die indivi-
duellſte, allergenaueſte Fuͤrſehung,
die das Kleinſte wie das Groͤſte be-
ſorgt; die alle Leiden und Freu-
den nach Einem Plan der hoͤchſten
Liebe ſendet; die gerade aus dem al-
lergroͤſten Leiden die allergroͤſte Freu-
de heraus zu ziehen weis; die alles
Boͤſe zur Quelle des Guten, und
zum Laͤuterungsmittel der Guten
macht; die dem Gottliebenden alle
Dinge ohne Ausnahme zum Beſten
lenket ꝛc. ꝛc. - 2. Sie lehret die abſolute Ertragbar-
keit aller menſchlichen Leiden, das
heißt, daß jedem ſeine Portion Lei-
den von der hoͤchſten Guͤte weislich
zugewogen worden, und keinem
mehr zu theil wird, als er zu tra-
gen Kraft hat, und Kraft be-
kommt, wenn er nur die gegenwaͤr-
tige redlich gebraucht: daß alſo in
dieſem Sinne jedem, der hat, ge-
geben wird, und Gottes Treue
keinen uͤber ſein Vermoͤgen verſu-
chen laͤßt. - 3. Sie macht uns das unumſchraͤnk-
teſte Vertrauen auf die helfende
Allmacht, die in den heiſſeſten,
truͤbſten Stunden Kuͤhlung, Licht,
und Huͤlfe aller Art — ſo ganz zu
rechter Zeit dem flehenden Glauben
herabſendet, zur ſuͤſſen Pflicht. - 4. Sie muntert uns durch unwandel-
bare, mit Gottes Wort und mit
Gottes That tauſendfach verſiegelte
Verheiſſungen zum glaͤubigen Ge-
bete
[51]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
bete auf, das allemal Huͤlfe er-
flehet — d. h. entweder Linderung,
Hebung, Tilgung des Leidens, oder
Kraft es zu ertragen, bis hoͤhere
Seligkeit daraus entſpringt. Freun-
de, was wollen wir mehr? - 5. Sie zeichnet es als eine Lieblings-
maxime des Weltregenten aus, die
Tugend ſeiner Freunde, oder was
eines iſt, die Feuerfeſtigkeit ihres
Glaubens und ihrer Liebe im Gluto-
fen der Truͤbſal zu pruͤfen, die
Schlacken des Eigenſinnes, Hoch-
muths, und alles ſelbſtſuͤchtigen
Strebens immer mehr vom Golde
der lautern Gottes- und Menſchen-
liebe wegzuſchmelzen, und die Er-
fahrungsweisheit dieſer Lichtſoͤhne,
als die einzige wahre, durch ſchwe-
re, aber zuverlaͤſſige Proben zu waͤh-
ren, oder vielmehr mit neuen Er-
fahrungen zu bereichern. - 6. Sie lehret die vollkommenſte All-
vergeltung, daß naͤmlich jedem tap-
D 2fer
[52]Erſter Abſchnitt.
fer erduldeten Leiden ſeine eigne Se-
ligkeit, und jeder Stufe von Tugend
ihre eigne Stufe von Seligkeit ent-
ſpricht: und alſo jeder aͤrntet, was
er ſaͤet. - 7. Sie lehret mehr als Allvergeltung:
ſie lehret, wenn ich mich dieſes kuͤhn
gewaͤhlten, aber beſtimmt wahren
Ausdruckes bedienen darf, Ueber-
vergeltung, die gotteswuͤrdigſte, alle
Menſchenerwartungen uͤberſteigende
Uebervergeltung: ſie lehret, daß die
Leiden dieſer Zeit gar alle Proportion
verlieren, gegen die Freuden der Zu-
kunft, die der ſiegenden Geduld zu
theil werden. - 8. Sie lehret, daß die ausharrende
Geduld in allen Truͤbſalen, die voll-
kommene Unterwuͤrfigkeit des Ver-
ſtandes und des Herzens gegen alle
Fuͤgungen der Fuͤrſehung, das edle
Anerkennen der liebevollen Oberherr-
ſchaft Gottes in allen Auftritten die-
ſes Lebens, die dankbare, gottver-
trauende
[53]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
trauende Seelenſtille in allen Leiden,
und die freudige Thaͤtigkeit in allem,
was Geſchaͤft, Beruf, Pflicht heißt,
kurz, daß die unermuͤdliche Wirk-
ſamkeit, und Duldſamkeit des
menſchlichen Geiſtes nach dem Win-
ke des himmliſchen Vaters — erſte,
einzige, hoͤchſte Tugend ſey. - 9. Sie lehret, daß jeder Odemzug ein
Geſchenk des Vaters der Menſchen,
von ſeiner milden Vaterhand darge-
reicht ſey; daß Er (der Allbeleber)
jedem Dinge, welches iſt und lebt,
ſein Daſeyn und Leben darreiche, daß
es alſo gegen die liebvolle und weiſe
Abſicht der Quelle alles Lebens gehan-
delt ſey, wenn wir dem, der uns
den Odemzug darreicht, um zu ath-
men, das Leben, um zu leben,
Odem und Leben eigenmaͤchtig zuruͤck-
geben. Denn, wenn es die Weis-
heit des Schoͤpfers fuͤr gut faͤnde,
daß wir in dieſem Augenblicke nicht
mehr athmen, nicht mehr ſeyn ſoll-
D 3ten:
[54]Erſter Abſchnitt.
ten: ſo wuͤrde uns ſeine Liebe den
gegenwaͤrtigen Odemzug, und mit
ihm das Seyn wohl nicht mehr dar-
gereichet haben. Eine einzige Ein-
ſchraͤnkung, die aber die Offenba-
rung ſelbſt macht, leidet dieſe große
Wahrheit, und ſie iſt dieſe: daß wir
naͤmlich in Faͤllen, wo uns die Er-
fuͤllung einer unſrer erkannten, ge-
wiſſen Pflichten, irgend einer Lebens-
gefahr ausſetzt, z. B. in Verkuͤn-
dung der Wahrheit des Evangeli-
ums, jene, die nur den Leib toͤdten
koͤnnen, aber den Geiſt mit Schwert
und Rad und Flamme und Beil
nicht beruͤhren moͤgen, ja nicht fuͤrch-
ten, ſondern vielmehr mit freudiger
Unerſchrockenheit den Odemzug, den
uns die Vatermilde ſchenket um fer-
ners zu leben, zur Ehre des Evan-
geliums, zur Erfuͤllung unſrer Pflicht
verwenden ſollen, ob wir gleich vor-
herſehen koͤnnen, daß uns die Wahr-
heitliebe, die Pflichtstreue das Leben
koſten werde. - 10. Sie lehret, daß alle Kraͤfte, die
wir von dem Schoͤpfer erhalten ha-
ben, hiemit wohl auch die eigentli-
chen Lebenskraͤfte, Talente ſind,
verliehen zum Wucher, zum weiſen
Gebrauche, aber nicht zum Ver-
graben, noch weniger zum Zer-
ſtoͤren. - 11. Sie lehret, daß unſer Beruf auf
Erde der Beruf eines Knechtes ſey,
der ſein Tagewerk treu vollendet, und
wachend, der Ankunft ſeines Herrn
entgegen harret, weil er weis, daß
dieß Wachen, dieß Harren der Wille
ſeines Herrn, und die Erfuͤllung deß,
was der Herr will, die Ehre und
das Gluͤck des Knechtes ſey. Das
waͤre nun nicht im edlen Knechts-
ſinne gehandelt, wenn einer des lan-
gen Wartens uͤberdruͤßig, ſeinem
Herrn aus dem Dienſte liefe. - 12. Sie lehret, daß der, welcher un-
recht thut, (ſuͤndiget) ein Knecht
der Suͤnde ſey, und alſo die Suͤnde
D 4mit
[56]Erſter Abſchnitt.
mit dem Suͤnder tyranniſch umgehe,
wie ein Deſpot mit ſeinem Sklaven;
ſie lehret, daß die Beobachtung der
Lehre Jeſu zur Erkenntniß der Wahr-
heit fuͤhre, und die Wahrheit frey
mache; ſie lehret, daß diejenigen
wahrhaft frey ſeyn, die der Sohn
frey machet.Wenn uns nun aber die Suͤnde
zu Sklaven, Chriſtus hingegen und
die Wahrheit zu Freygebohrnen ma-
chen: ſo iſt’s offenbar, daß uns
weder die Befriedigung der gereitzten
Leidenſchaften, noch die Selbſthin-
richtung frey machen koͤnnen. Denn
Sklaverey unter dem Zepter des
Unrechtes iſt das geradeſte Gegen-
theil von der Freyheit des Menſchen,
und Durchbrechung des Koͤrpers iſt
noch lange nicht Freyſtellung des
von Luͤge und Schein und wilder Luſt
gefeſſelten Geiſtes. Meſſer, Piſtole,
Strick ꝛc. ſind alſo nach dem Geiſte
der Offenbarung keine Mittel, den
Menſchengeiſt frey zu machen. - 13. Sie zeigt uns (nebſt andern herr-
lichen Beyſpielen) an dem Stifter
der chriſtlichen Religion das aller-
vollkommenſte Beyſpiel der aushar-
rendſten Geduld in den aͤuſſerſten
Leiden, der keinen Weg zu ſeiner
Herrlichkeit kannte, als den Leidens-
pfad, und es uns zur Pflicht mach-
te, in ſeine Fußſtapfen einzutreten.Menſch, haſt du einmal die Le-
bens- und Leidensgeſchichte des Hoch-
gelobten geleſen, oder leſen hoͤren:
fandeſt du nicht, daß ſeine Lebens-
reiſe, von der Geburt in der Hoͤhle
zu Bethlehem bis zum Sterben auf
Golgatha, mit Dornen dicht beſaͤet
war, daß die letzten drey Jahre,
und beſonders die letztern Stunden
ſeines Lebens die leibhafteſte Leidens-
geſchichte der Menſchheit liefern; daß
aber jede neue Stufe des Leidens fuͤr
Ihn eine hoͤhere Stufe zur Herr-
lichkeit, und daß die hoͤchſte Stufe
des Leidens, das Geiſtaufgeben am
D 5Kreu-
[58]Erſter Abſchnitt.
Kreuzespfahl, die naͤchſte Stufe zum
Throne der Herrlichkeit fuͤr Ihn
ward.Wenn nun das vollkommenſte
Vorbild der Menſchheit, und das
vollkommenſte Abbild der Gottheit,
Jeſus Chriſtus, keinen naͤhern, ge-
radern Weg zur Vollendung des
Menſchenwuͤrde kennet, keinen an-
dern ſelbſt geht, keinen zu gehen
anraͤth als das Ausdauern in dem
Vorſatze, zu thun und zu dulden,
was wir nach dem Willen der Fuͤrſe-
hung thun und dulden ſollen, bis wir
zum großen, erſchmachteten Ruhe-
puncte, zu unſerm: es iſt vollbracht,
gelangen; wo iſt der Sophiſt, der
da Glauben verdient, wenn er ruft:
Selbſtmord, das Nichtaushar-
ren auf dem Wege zur Vollen-
dung, fuͤhrt ſchneller und richtiger
zum Ziele? - 14. Sie lehret nicht nur, daß wir die
Pflicht auf uns haben, von der un-
ſichtbaren Hand der Fuͤrſehung uns
leiten
[59]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
leiten zu laſſen, und alle Gelegenheit
zum Guten treu zu benutzen, bis die
Lebenskraft aufgetrocknet iſt: ſie giebt
uns nicht nur Beyſpiele von Hel-
den, die in dieſem edlen Berufe,
bis zum letzten Odemzuge ausgehar-
ret haben, ſondern ſie verheißt uns
auch im Namen Gottes hoͤhere
Kraͤfte, Gaben, deren wir beduͤr-
fen, um die ſchwerſten Laſten zu tra-
gen, die auf uns koͤnnen geleget
werden; ſie verheißt uns im Namen
Gottes, daß Er denen, die Ihn
darum bitten, den heiligen Geiſt
geben werde, damit ſie vollends ei-
ne neue Creatur in Chriſto werden,
neugeſchaffen zum Gutesthun, und
ausgeruͤſtet mit Geiſtesſtaͤrke zum
Boͤſesdulden; ſie lehret, daß ſolche
Juͤnger Jeſu Chriſti, die nicht
Wortchriſten, ſondern Herzens- und
Thatchriſten, nicht eingebildete, ſelbſt-
ſtaͤndige Weiſen oder Thoren, ſondern
durch den heiligen Geiſt, durch Glau-
be und Liebe Eines ſind mit Jeſus
Chri-
[60]Erſter Abſchnitt.
Chriſtus, und mit dem Vater im
Himmel, Dinge verſtehen, Thaten
thun, Laſten tragen, Leiden dulden
koͤnnen, die andere Menſchen nicht
verſtehen, thun, tragen, leiden
koͤnnen —
Alle dieſe Lehren, Beyſpiele, Verheiſ-
ſungen ſind
- 1. offenbare Lehren, Beyſpiele, Ver-
heiſſungen der Bibel, der Offenba-
rungsurkunde.- *) Der Leſer wird mich auch dieß-
mal mit dem undankbaren Tex-
te ausſchreiben verſchonen, und
ſie ſelbſt, beſonders im neuen
Teſtamente, nachleſen: zumal
ſich der Geiſt wohl nicht auf
das Papier hinſchreiben laͤßt,
und ich’s mit dem Buchſta-
ben fuͤr itzt ſchon gar nicht zu
thun haben will.
- *) Der Leſer wird mich auch dieß-
- 2. Solche Lehren, Beyſpiele, Ver-
heiſſungen, die das geradeſte Ge-
gentheil vom Selbſtmorde predi-
gen:
[61]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
gen: denn ſie predigen einen krafter-
flehenden, laſtentragenden, auf die
Zukunft und Allvergeltung feſt hin-
ausblickenden, zum Wohlthun und
Unrechtleiden ſtets maͤchtigen, an
Laͤuterung eigner Tugend treu mit-
arbeitenden, im Leiden unbeweglich
ausharrenden, weltbeſiegenden Glau-
ben an die weiſeſte, maͤchtigſte Liebe
des Unſichtbaren.Und dieſer feſtſtehende, treuarbei-
tende, ſtarkduldende, unbeſiegliche
Glaube iſt offenbar das Gegentheil
des lahmen, alle Laſten wegwerfen-
den Selbſtmordes. - 3. Solche Lehren, Beyſpiele, Verheiſ-
ſungen, deren Buchſtabe die kraͤf-
tigſten Gegenmittel gegen den Selbſt-
mord empfiehlt, und deren Geiſt
den Selbſtmord vollends unmoͤglich
macht.
Gewicht
[62]Erſter Abſchnitt.
Gewicht
dieſes Grundes.
Er iſt offenbar der gewichtigſte; denn
auch der flachſte Anblick kann den red-
lichen Leſer uͤberzeugen, daß er an Reich-
thum, Mannigfaltigkeit, Kraft, Zuverlaͤßig-
keit der Lehren, Beyſpiele, und Verheiſſun-
gen keinen ſeines gleichen hat.
Er iſt vielleicht(h)der einzige, der
es recht anſchaulich beweiſet, daß das Selbſt-
morden in gar keinem Falle, auch da nicht,
wo die Laſt des Lebens ſo ganz unertraͤglich
zu ſeyn ſcheint, dem Willen der Fuͤrſehung
gemaͤß ſeyn kann.
Er iſt gewiß der einzige, der nicht
nur die Pflicht in dem aͤuſſerſten Leiden aus-
zuharren, beweiſet, ſondern auch allgemein
hinlaͤngliche Kraft zum Ausdauern theils
giebt, theils verheißt.
Er iſt das letzte Fundament, auf
dem die Zuverlaͤßigkeit der vorigen Gruͤnde
wider
[63]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
wider den Selbſtmord, die aus dem Glau-
ben an die Fuͤrſehung, und die Unſterblich-
keit der Seele hergeleitet worden, auch als-
denn noch unwandelbar feſt beruhet, wenn
die Vernunftgruͤnde fuͤr jene große Wahrhei-
ten wankend zu werden beginnen.
Er muß jedem Freunde des Chriſten-
thums auch deßwegen willkommen ſeyn,
weil er die Quinteſſenz des Chriſtenthums,
und das Mark der Bibel dem forſchenden
Blicke nahe legt.
Letzter
[64]Erſter Abſchnitt.
Letzter
allzuſammenfaſſender Grund
wider den Selbſtmord.
Der Selbſtmord iſt nach allen Bezie-
hungen (i) betrachtet, ein Inbe-
grif von allem, was grauvoll heiſſen
kann. Denn
- 1. in Beziehung auf Gott iſt er
- Undank gegen den erſten Wohlthaͤter.
So oft ließ Er ſeine Sonne uͤber
mir aufgehen, und ich ſpraͤche
voll Unmuths: nun will ich ſeine
Sonne nimmer ſehen? So oft
ließ er mich die Suͤſſe des Schla-
fes genieſſen, und die labende
Kraft der friſchen Quelle erfah-
ren, und ich ſpraͤche voll Ueber-
druß: Dieſer ſeiner Wohlthaten
bin
[65]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
bin ich ſatt: genieſſe ſie, wer will,
mir ſind ſie eckelhaft, unausſteh-
lich? — — Und ſo ſpricht die
That jedes Selbſtmoͤrders. - Ungehorſam gegen den Herrn des
Lebens. Er ſprach zu mir: ar-
beite, dulde, kaͤmpfe, hoffe, bis
der Abend kommt, wo es heißt:
nun iſt’s des Schweißes, des
Kampfes, des Harrens genug:
Und ich gaͤbe zur Antwort: ich
kann und will nicht warten, bis
der Abend anbricht, ich will das
Tagewerk enden, ehe der Haus-
vater die Glocke zieht, und den
Feyerabend ankuͤndet? — —
Und ſo ſpricht die That jedes
Selbſtmoͤrders.
Un-
E
[66]Erſter Abſchnitt.- Unglaube an die unerſchoͤpfliche
Weisheit, die auch da noch Mit-
tel zu helfen ausfindig machen
kann, wo die menſchliche Weis-
heit keine mehr ſieht. Wer an
einen Blick glaubt, der alle Be-
gebenheiten wie Eine uͤberſieht,
der Abgruͤnde durchblicket, der
die Mitternacht wie Mittagshelle
ſchaut, der Auswege ſieht, wo
nichts als Untergang drohet; wer
an dieſen Einen (uͤberall Huͤl-
fe erſehenden) Blick glaubt, kann
nie auf die Empfindung der Ver-
legenheit, nie auf den Ausdruck
der Kurzſichtigkeit gerathen:
mir iſt nimmer zu helfen. - Mistrauen auf die unermuͤdliche
Liebe, die zum Helfen nie zu traͤ-
ge, nie zu bequem, nie zu ei-
genſinnig, nie zu ſelbſtſuͤchtig,
nie zu ohnmaͤchtig werden kann.
Wenn Gott aufhoͤren kann, Liebe
zu ſeyn, dann wird der erleuch-
tete
[67]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
tete Gottesverehrer, der auf dieſe
Liebe vertraut, anfangen, Selbſt-
moͤrder werden zu koͤnnen.
- Undank gegen den erſten Wohlthaͤter.
- 2. In Beziehung auf das Individuum
des Selbſtmoͤrders iſt der Selbſtmord:- Feigheit, Mangel an Starkmuth.
Denn ſobald das Leben anfaͤngt
eine Laſt zu werden, ſo iſt es kein
Heroismus mehr, dieſelbe abzu-
laden: Heroismus iſt’s, dieſelbe
noch laͤnger fortzutragen. Je
groͤßer die Buͤrde, deſto groͤßer
die Tragkraft, die ihr nicht un-
terliegt: je druͤckender der Druck,
deſto muthiger der Muth, der ihn
aushalten kann: je ſchauerwecken-
der der Anblick des Feindes,
deſto maͤnnlicher die Mannskraft,
die ihm unerſchrocken entgegen
tritt. - Niedertraͤchtigkeit, ſein eigner Hen-
ker zu ſeyn. Seine Haͤnde mit
dem Blute ſeines Bruders faͤr-
ben, iſt niedrig, und wird von
E 2der
[68]Erſter Abſchnitt.
der Empfindung aller Menſchen
als niedrig erklaͤrt: ſoll es adelich
ſeyn, ſelbe mit eignem zu faͤrben?
Man hat eine zuruͤcktretende Em-
findung von dem Diener der
oͤffentlichen Gerechtigkeit,(k)
der den Schwertſchlag an einem
Straſſenraͤuber vollbracht, und
noch warm von der Hinrichtung
eben die Buͤhne verlaſſen hat:
ſollte der werdende Selbſtmoͤrder
nicht zuruͤcktreten vor ſich ſelbſt,
wenn es ihm, im Augenblicke
vor der Selbſtmordung, durch
den Sinn fuͤhre: Du dich mit
deinem Blute beflecken??? - Gleichguͤltigkeit gegen den hohen
Werth des Lebens, und gegen
die in alle den mannigfaltigen Auf-
tritten des laͤnger fortdaurenden
Lebens noch erſteigliche Stufen
von Tugend und Weisheit und
Seligkeit. Haͤtte ſich Cicero als
Juͤng-
[69]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Juͤngling ſelbſt gemordet: wer
haͤtte Rom den Buͤrgermeiſter,
den Staatsmann, den Redner,
der Welt o den Denker, den Wei-
ſen erſetzet? Haͤtte Sokrates ſich
ſelbſt gemordet, wie waͤren ſein
Leben, und ſein Sterben eine
Schule der Weisheit fuͤr ſeine
Zeitgenoſſen, und die kommen-
den Jahrhunderte geworden? - O, die Empfindung des Selbſtmoͤrders,
die nach der That in ſeiner Seele Plaz
nehmen muß, wenn er im Buche der
Allwiſſenheit liest:
So viele Thraͤnen haͤtteſt du
noch trocknen koͤnnen, wenn du
die Kraft ſelbe zu trocknen, nicht
ſelbſt zerſtoͤret haͤtteſt: ſo viele
Freuden haͤtteſt du freudeloſen
Seelen noch ſchenken koͤnnen,
wenn du die Kraft, zu erfreuen,
nicht ſelbſt zerſtoͤret haͤtteſt: ſo
viele Heldenthaten haͤtteſt du
zur Ehre der Tugend, zum Tri-
E 3umphe
[70]Erſter Abſchnitt.
umphe der Religion, zum Be-
ſten des Vaterlandes, noch thun
koͤnnen, wenn du die Kraft,
Held zu ſeyn, nicht ſelbſt zer-
ſchnitten haͤtteſt: ſo viele Witt-
wen haͤtten dich noch als Retter
der gedruͤckten Unſchuld, ſo viele
Waiſen noch als Vater der Huͤlf-
loſen mit dankbaren, ſeelenzer-
ſchmelzenden Thraͤnen geſeegnet,
wenn du die Kraft, ein Retter
und Vater der Elenden zu ſeyn,
nicht ſelbſt erwuͤrget haͤtteſt. — - Dieſe marternde Empfindung, dieſe Hoͤlle
von Empfindung, dieſe Satansqual
von Empfindung — wie will ſie der
Selbſtmoͤrder ertragen?
Juͤngling! ſtehe ſtill bey dieſer
Stelle, und frage dich: ob du
dieſe Empfindung ertragen koͤnn-
teſt? Und wenn du das kannſt —
Nein, das kannſt du nicht, darum
athme wieder freyer, und werde
deines Lebens froh: und freue
dich,
[71]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
dich, daß du den Werth empfin-
deſt, ein Retter deines Bruders
zu ſeyn! — - Eine Art von Wahnſinn, ohne
die ſich kein Selbſtmord denken
laͤßt. Wie viel Abſchreckendes
liegt in der unbezweiflichen Wahr-
heit: kein geſunder Verſtand
raͤth zum Selbſtmorde, keine ge-
ſunde Willenskraft ſtimmt zum
Selbſtmorde ein: kein geſunder
Gedanke, und keine geſunde Em-
pfindung leiht Kraft zum Selbſt-
morde her — Alſo krank, fuͤrch-
terlich krank am Verſtande und
Herzen muß der ſeyn, der eine
Verſuchung zum Selbſtmorde fuͤr
bedenkenswerth finden kann.
- Feigheit, Mangel an Starkmuth.
- 3. In Beziehung auf andere iſt der
Selbſtmord- Gefuͤhlloſigkeit gegen ſeine Ver-
wandte, Freunde, denen der
Selbſtmoͤrder das allergroͤſte Her-
E 4zeleyd
[72]Erſter Abſchnitt.
zeleid verurſachet, das er
kann. - Gefuͤhlloſigkeit gegen ſein Vater-
land, gegen den Staat, dem er
ein Glied raubt, und damit alle
Dienſte, die es ihm noch haͤtte-
thun koͤnnen. - Gefuͤhlloſigkeit gegen die ungluͤckli-
chen Lebensſatten, denen er durch
ſein Beyſpiel die Summe der
Verſuchungen zum Selbſtmorde
vermehrt. - Gefuͤhlloſigkeit gegen die Elenden,
Troſtloſen, Rathbeduͤrftigen,
Nackten, Hungerigen, denen der
Selbſtmoͤrder, wenn er ſein Le-
ben nicht ſelbſt geendet haͤtte,
durch Rath, Speiſe, Decke,
Geld die Laſt des Lebens haͤtte
erleichtern koͤnnen. - Gefuͤhlloſigkeit gegen die chriſtliche
Kirche, in der wir leben. Wel-
chen Schandflecken haͤngt der
Selbſtmoͤrder dem Chriſtenna-
men
[73]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
men an? Chriſtenname und
Selbſtmord, Chriſtenglaube und
Selbſtmord, Chriſtenberuf und
Selbſtmord, Chriſtengeduld und
Selbſtmord, Chriſtengebet und
Selbſtmord, Chriſtenfreude und
Selbſtmord, Chriſtenwandel und
Selbſtmord, Chriſtentod und
Selbſtmord — Nein, dieſe Wi-
derſpruͤche kann keine Vernunft
vereinen! Wo Selbſtmord iſt,
da kann Chriſtenthum — erleuch-
tetes, aufgeklaͤrtes, redliches Chri-
ſtenthum nicht ſeyn.
- Gefuͤhlloſigkeit gegen ſeine Ver-
- 4. Graunvoll iſt der Selbſtmord in Be-
ziehung auf Vergangenheit, Ge-
genwart, Zukunft.Was in Abſicht auf die Vergan-
genheit den Gedanken an das ge-
noſſene Gute undankbar verbannet;
den Vorſatz, das geſtiftete Gute
mit neuem zu vermehren zernichtet,
und den Plan, das veruͤbte Un-
recht wieder gut zu machen zerreiſſet;
E 5Was
[74]Erſter Abſchnitt.Was in Abſicht auf die Gegen-
wart nur Gewaltthaͤtigkeit iſt, und
Gewaltthaͤtigkeit zur Selbſtzer-
ſtoͤrung;Was in Abſicht auf die Zukunft
den unſterblichen Geiſt gerade in
ſeinem allerſchreckbarſten Zuſtande,
wo alle ſeine Kraͤfte auf die trau-
rigſte Weiſe verſtimmt ſind, —
der Ewigkeit in den Schoos wirft;Was alſo der redliche Zuruͤckblick
auf die Vergangenheit, der gerade
Anblick der Gegenwart, der ge-
ſchaͤrfte Hinausblick in die Zu-
kunft — graunvoll finden, und eben
darum mit Einer Stimme misbil-
ligen: — — wie kann dieß von
ungetruͤbter Vernunft, und von
aufgehelltem Gewiſſen gebilliget
werden? - 5. Graunvoll in Beziehung auf Urſa-
chen, That, Folgen.Die Urſachen, die zum Selbſt-
mord verleiten, ſind entweder fuͤrch-
terliche
[75]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
terliche Ausſchweifungen des Her-
zens, oder ſchauervolle Verirrun-
gen des Verſtandes, oder, was ge-
woͤhnlicher iſt, beydes zugleich —
allemal Schwaͤche, bemitleidens-
wuͤrdige Schwaͤche.Die That ſelbſt iſt auf einer
Seite faſt immer qualvoller als al-
les Elend, wovon man ſich durch
den Selbſtmord zu befreyen ſucht,
und auf der andern ſinnloſe Wut
gegen ſeine Natur, unerſetzliche Zer-
ſtoͤrung der menſchlichen Exiſtenz. —Die Folgen, bloß in Abſicht
auf die Perſon des Selbſtmoͤrders,
ſind graunvoll genug, als: Unfaͤ-
higkeit, neue Verdienſte um das
Wohl der Menſchen zu ſammeln;
Unfaͤhigkeit, die unnennbaren Freu-
den, die uͤberwundene Verſuchung
zum Selbſtmorde verſchaffet haben
wuͤrde, zu genieſſen; Unfaͤhigkeit,
dem Schoͤpfer fuͤr die ſchoͤne Mor-
genroͤthe, die nach etlichen finſtern
Stun-
[76]Erſter Abſchnitt.
Stunden — mit nie geſehenem
Glanze in das noch ſehende Auge
geſtralet haͤtte, kindlichfroh zu dan-
ken; Und dann — — ganz umge-
aͤnderte Schickſale der Zukunft,
der Ewigkeit, die offenbar einen an-
dern Gang genommen haͤtten, wenn
der Selbſtmoͤrder die Hand, die ihm
einige Tropfen Wermut in den Le-
benskelch getroͤpfelt, dankbar geſeg-
net haͤtte, ſtatt daß er den Lebens-
kelch (mit all ſeiner Suͤſſe und Bit-
terkeit) zertruͤmmert hat.
Daß in dieſem Grunde theils einige,
ſchon im Vorhergehenden erwaͤhnte Gruͤnde,
theils andere neue Bemerkungen concentrirt
ſind, ſagt die Aufſchrift, und bedarf keiner
beſondern Erinnerung. —
Zum
[77]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Zum Schluſſe
des erſten Abſchnittes.
Noch ein paar Etwas wider
den Selbſtmord.
1. Der Schoͤpfer hat dem Menſchen die
Unmaͤßigkeit in Speiſe und Trank
verboten, hauptſaͤchlich auch deßwegen, weil
ſie am Lebensfaden naget: ſoll er das eigen-
maͤchtige, ſtuͤrmiſche Abreiſſen des Lebens-
fadens erlauben?
2. Dieſes Leben iſt fuͤr den Menſchen eine
Pruͤfungsklaſſe: darf der Schuͤler ohne den
Wink des Schulherrn abzuwarten, der Pruͤ-
fungszeit gewaltſam, und eigenmaͤchtig ein
Ende machen, beſonders da die fortdaurende
Lebenskraft ein Pfand vom Schoͤpfer iſt, daß
ſein Wille das Ausdauern in der Pruͤfungs-
klaſſe dem Schuͤler zur Pflicht macht?
3. Es iſt keine geltende Entſchuldigung
eines Moͤrders, wenn er ſagt, und es allen-
falls auch beweiſen koͤnnte: Ich habe des-
wegen den Cajus erſtochen, weil er es von
mir ſo dringend begehrt hat. Wie darf
alſo
[78]Erſter Abſchnitt.
alſo Cajus ſich ſelbſt einen Dienſt thun, den
ihm kein anderer erweiſen darf? Du ſagſt:
das Gewicht ſeiner Gruͤnde, die Laſt ſeiner
Leiden kann kein anderer ganz ſo fuͤhlen, wie
er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber
ſich ſelbſt morden. Und ich ſage: keiner
wird durch das uͤberſpannte Gefuͤhl ſeiner
Leiden, ſeiner Laſten ſo ganz des geſunden
Verſtandes beraubt, wie er: und daraus,
daß nur der Leidende das ganze Maas ſeines
Leidens fuͤhlen kann, laͤßt ſich nur erklaͤren,
wie es zugehe, daß einer ſein Selbſtmoͤrder
werden koͤnne, aber nicht, daß er es mit
Recht werde.
4. Ein Forſcher in den Annalen des Men-
ſchengeſchlechtes hat zur Ehre der Tugend die
Anmerkung gemacht, daß der Selbſtmord
zu Rom nie gemeiner geweſen, als unter Ti-
berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey,
Tyranney den hoͤchſten Gipfel erreichet hat-
ten. — Selbſtmord — das iſt wider dich!
Irreligion, Weichlichkeit, und was ich
nicht deutſch nennen mag — vaga libido,
Ueberſpannung der Empfindung allerley Art,
Druck, Verkaufung des Rechtes an den
Meiſt-
[79]Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Meiſtbietenden, Kaͤlte gegen die leidende
Menſchheit bey dem ewigen Gekreiſche von
Liebe predigen — ſind, ſo viel ich mein Jahr-
hundert kenne, keine ſeltne Erſcheinungen.
Iſt es kindiſche Furcht, wenn ich an dem
Leitfaden der Geſchichte, und das Bleymaas
der taͤglichen Beobachtung in der Hand, ahn-
de, der Selbſtmord muͤſſe von Tag zu Tag
natuͤrlicher werden, je natuͤrlicher(l) die
unnatuͤrlichſten Ausbruͤche der Leidenſchaften
bereits geworden ſind?
5. Ich bin ein Bild des Allbelebers:
Er, das Original, hat ſeine Freude am Be-
leben, an Conſervation der Lebenskraͤfte —
und ich, ſein Bild, ſoll Troſt ſuchen, Troſt
finden koͤnnen in Toͤdtung, in Zerſtoͤrung der
Lebenskraͤfte? Der Menſch! — ein Bild deß,
der lebt und ganz Leben und Freude iſt, ſoll
Freude am Nichtſeyn haben? —
Der Stein da, auf dem ich ſtehe, iſt,
weiß aber nicht, daß er iſt, und kann ſich
ſeines Seyns nicht freuen; und das Bluͤm-
chen, das da trinkt den Morgenthau, und
ſaugt den Nahrungsſaft aus der Erde, und
ſich
[80]Erſter Abſchnitt.
ſich oͤffnet dem kommenden Strale der Son-
ne, iſt wohl auch, weiß aber nichts darum,
daß ſie den Thau trinkt, und Nahrung aus
der Erde ſaugt, und dem Strale des Mor-
genroths ſich oͤffnet; und das Fuͤllen dort auf
der Weide, das munter ſpringt und freudig
wiehert, iſt auch, und empfindet auch, kann
aber dieſe Empfindung der Freude durch Nach-
denken nicht wieder genieſſen. —
In der Mitte dieſer Erdegeſchoͤpfe, die kein
Gefuͤhl Ihrer Selbſt, kein Anſchauen Ihres
Werthes in ſich haben, bin ich, und weiß,
daß ich bin, und kann mich freuen, daß ich
bin, und kann dieſe Freude durch Nachden-
ken vergroͤßern — und ich ſoll mit dieſer
Kraft zu empfinden, daß ich bin, mit die-
ſer Kraft froh zu werden, daß ich bin, mit
dieſer Kraft die Freude an meinem Seyn
durch Nachdenken, Selbſtbewußtſeyn wie-
der zu genieſſen, und durch Wiedergenuß
zu vergroͤßern — Ich, nicht Stein, nicht
Blume, mehr als Thier, Ich Menſch ſoll
ſprechen: Ich will nimmer ſeyn?
Zweyter
[[81]]
Zweyter Abſchnitt.
Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
F
[[82]]‘Die Ueberzeugung durch die Erfahrung iſt gleich
einem aͤchten Diamant, die Ueberzeugung
durch Meynungen aber ein wohlpolirtes Eis,
das bey der kleinſten Waͤrme in Waſſer zer-
fließt.’
(Stilling.)
Sieh da die Antwort auf alle Scheingruͤnde!
[[83]]
1.
„Ich bin ſo elend, ſo ohne alle Aus-
ſicht in der Welt, daß ich keine
Freude mehr fuͤr mich hoffen darf.
Alſo iſt Selbſtentleibung meine ein-
zige Gluͤckſeligkeit, und eine Kugel
vor den Kopf mein einziger Erloͤſer.„
„Ich kann keine Freude mehr hoffen.“
Freund, weißt du denn, was der
morgige Tag alles bringen wird? Kennſt du
denn zum voraus alle Kummer- und Freuden-
thraͤnen, die morgen unter der Sonne aus
den Augen der Menſchen troͤpfeln werden?
„Nein, das weiß ich nicht, das kann ich
nicht wiſſen, das kann kein Sterblicher wiſ-
ſen.“ Wenn du aber nicht weist, was der
morgige Tag, der in wenigen Stunden an-
F 2bricht,
[84]Zweyter Abſchnitt.
bricht, mitbringen wird: wie kannſt du wiſ-
ſen, daß alle die noch kommenden Tage, die
zu deiner natuͤrlichen Lebensbahn gehoͤren,
dir keine einzige Freude mehr bringen wer-
den? Biſt du denn ſchon einmal im Archi-
ve der Zukunft geweſen, haſt du ſchon in
dem großen verſiegelten Buche des goͤttlichen
Weltplanes alle Blaͤtter durchgeleſen, und
auch verſtanden, daß du ſagen darfſt: fuͤr
mich koͤmmt keine Freude mehr? Was
daͤchteſt du von dem politiſchen Zeitungstho-
ren in der Schenke, der bey ſeinem Glas
Bier mathematiſch demonſtrirte, er wiſſe
genau, was fuͤr Entwuͤrfe unſer Kaiſer Jo-
ſeph in ſeinem Herzen traͤgt, auch jene, die
er noch keinem Menſchenohr vertraut; er
wiſſe umſtaͤndlich, was alle Großen der Er-
de in den verſchwiegenſten Cabineten beſchaͤf-
tiget; er koͤnne alle Plane ihrer Conferenz-
miniſter, denen ſie ſelbſt noch keinen Namen
gegeben, beym rechten Namen nennen.
Nicht wahr, das muͤßte der erſte Tollhaͤus-
ler auf Gottes Erdboden ſeyn? Wenn es
aber Thorheit iſt, aus den Cabineten der
Großen Dinge wiſſen wollen, die noch nicht
trans-
[85]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
transſpiriret haben: ſoll es nicht Thorheit
ſeyn, den undurchdringlichen Schleyer, der
auf den Zahlloſen Begebenheiten der Zukunft
liegt, mit der Fingerſpitze wegheben wollen,
und ſagen:
fuͤr mich bluͤht keine Freude mehr.
„Ich darf keine Freude mehr hoffen.“
Sieh, wie du deine gegenwaͤrtige Empfin-
dung, in der alle deine Sinne, Vernunft
und Herz ſchwimmen, zum Maaßſtabe dei-
nes Urtheils uͤber die Zukunft machſt: und
gerade dieſer Maaßſtab iſt der unzuverlaͤſſig-
ſte aus allen. Wenn der Wetterfuͤrchten-
de Knabe (um das im Eingange angefuͤhrte
mendelſohn’ſche Gleichniß auszumalen) glaub-
te, der Donner, der itzt in dem Momente des
fuͤrchterlichen Krachens uͤber ſeinem Haupte
rollet, werde ewig, ewig in ſeinem Ohr rau-
ſchen: was wuͤrdeſt du ihm ſagen?
„Lieber Knabe, wuͤrdeſt du ihm ſagen,
die Donner bruͤllen nicht immer, nicht im-
mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil-
le iſt ſchon auf dem Wege — fuͤr dein Aug’
F 3und
[86]Zweyter Abſchnitt.
und Ohr: du muſt die Gegenwart nicht zur
Richterinn uͤber die Zukunft machen: auf
Regen folgt Sonnenſchein, und das erder-
ſchuͤtternde Donnerwetter verliert ſich in eine
feyerliche, liebliche Stille.“
Was du nun dem Knaben ſagteſt, das
predigt dir die ganze Natur laut in dein
Herz:
„Harre aus — der Leiden jedes loͤſet
ſich fruͤhe oder ſpaͤte in eine nie gefuͤhlte
Freude auf.
Denke doch zuruͤck auf die groͤßte Freu-
de, die dir in deinem Leben geworden iſt.
Wenn du in der Stunde dieſer deiner Ent-
zuͤckung gedacht haͤtteſt: fuͤr mich waͤchst
nun kein Leiden mehr: ewig, ewig ſchwimm’
ich im Freudenmeere; waͤr’ in dieſem Ur-
theile Wahrheit geweſen? Nein, denn es
ſind auf jene heitern Tage wirklich viele
truͤbe Stunden gefolget. So kann denn
auch das entgegen geſetzte Urtheil, in dem
entgegen geſetzten Zuſtande, in der Stunde
des heiſſeſten Leidens: fuͤr mich koͤmmt kei-
ne Freude mehr, unmoͤglich gewiſſe Wahr-
heit ſeyn.
Ich
[87]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Ich habe gefehlet, daß ich das Wort
Urtheil gebraucht habe. Denn die Spra-
che, fuͤr mich kommt keine Freude mehr,
iſt kein Urtheil, kein Ausſpruch der geſun-
den Vernunft, iſt kein aus ruhiger Ueber-
legung, aus richtiger Einſicht quillendes Ja,
ſondern Sprache der Empfindung, der ſchwar-
zen, gegen alle Stralen von Hoffnung kaͤmp-
fenden Empfindung. Der erſte Grund alſo
fuͤr den Selbſtmord, ich kann keine Freu-
de mehr hoffen, iſt kein Grund, denn er
ſtreitet wider die Natur, das heißt, wider
die Veraͤnderlichkeit der Dinge, und wi-
der die Veraͤnderlichkeit der menſchlichen
Empfindungen.
2.
„Das Leben iſt eine Wohlthat,
ein Geſchenk: ich darf es al-
ſo zuruͤck geben, wenn es mir
beſchwerlich wird: wie ich ein
geſchenktes Haus vertauſchen,
F 4ver-
[88]Zweyter Abſchnitt.
verſchenken, oder gar abbrechen
darf, wenn ich will.“(m)
An dieſem Scheingrunde iſt gar alles
Schein; denn
Erſtens: iſt es nicht allgemein wahr,
daß ich z. B. ein geſchenktes Haus nach
Willkuͤhr veraͤndern, abbrechen ꝛc. darf.
Oder, was wuͤrde die wachende Polizey in
einem gebildeten Staate dazu ſagen, wenn
mehrere Buͤrger in die Raſerey geriethen,
ihre ſchoͤn und regelmaͤſſig gebauten Haͤuſer,
deren Eigenthuͤmer ſie durch Schenkung,
oder wie immer geworden ſind, nach ihren
eigenſinnigen Launen mit hundert tauſend
Schnoͤrkeln, nach altem gothiſchem Geſchma-
cke, verunſtalten, oder abbrechen, oder gar
in die Luft ſprengen zu laſſen?
Und wenn das der Buͤrger in einem
cultivirten Staate mit ſeinem Hauſe nicht
thun darf, ſoll es der Menſch, im Staate
Gottes, mit ſeinem Leibe wagen duͤrfen?
Zwey-
[89]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Zweytens: iſt es nicht allgemein wahr,
daß man jede Wohlthat dem, der ſie erthei-
let hat, nach Willkuͤhr heimgeben darf.
Oder, wenn dir ein wohlthaͤtiger weiſer
Fuͤrſt ſein eigen Portraͤt zum Geſchenke mach-
te, etwa um dir auf dem Wege zur Weis-
heit einen neuen Sporn zu geben: duͤrfteſt
du dem Fuͤrſten dieß ſein Portraͤt nach Will-
kuͤhr zuruͤck geben, ohne dich in den Augen
aller Welt mit dem Schandzeichen der Ge-
fuͤhlloſigkeit, des Stolzes, des Undankes
zu brandmarken? Und, wenn du das ge-
ſchenkte Portraͤt des Fuͤrſten nicht nach Will-
kuͤhr zuruͤck geben darfſt, wie darfſt du es
wagen, die menſchliche Exiſtenz, dieß ſchoͤ-
ne Ebenbild, und Portraͤt der Gottheit, zu
zerſtoͤren, und es dem Koͤnig der Koͤnige
mit undankbarer Gewaltthaͤtigkeit hinzu-
werfen? —
Drittens: kann es Geſchenke geben,
die mit beygeſetzten Verpflichtungen deß,
der das Geſchenk empfangen, und mit aus-
F 5druͤck-
(m)
[90]Zweyter Abſchnitt.
druͤcklicher Vorbehaltung des Herrſchafts-
rechtes fuͤr die Perſon des Schenkherrn ge-
macht werden.
So kann der Beſitzer einer Biblio-
thek irgend einer Akademie das Recht ſchen-
ken, die Buͤcher zur Aufnahme der Wiſſen-
ſchaften zu benutzen, mit dem Anhange,
daß er der Eigenthuͤmer der Bibliothek
bleibe.
Auf eine aͤhnliche Weiſe ſchenkte uns
der Herr alles Lebens das Menſchenleben,
mit der angehaͤngten theuren Pflicht, es
weislich zu benutzen, und mit dem noth-
wendigen Vorbehalte, daß der Geber des
Menſchenlebens auch Herr deſſelben ſey und
bleibe. Wir haben das Recht, die Lebens-
kraͤfte zu eignem und fremdem Wohl zu ge-
brauchen: aber keines, ſelbe eigenmaͤchtig
zu ſtoͤren.
Viertens: heißt ſich Selbſtmorden
nicht: dem Schoͤpfer die Wohlthat zuruͤck ge-
ben — ſondern die Wohlthat zerſtoͤren,
und die Truͤmmer davon dem Wohlthaͤter
uͤberlaſſen; es heißt ſein Haus abbrennen,
und
[91]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
und die Aſche davon dem Schenkherrn, oder
vielmehr dem Zufalle, dem Winde preis ge-
ben. Wo Zerſtoͤrung des Geſchenkes, da
iſt keine Zuruͤckgabe gedenkbar — Und
was kann ich zuruͤck geben, da ich im Au-
genblicke der Selbſtermordung aufhoͤre,
Menſch zu ſeyn?
Fuͤnftens: iſt es ein unausdenkli-
cher Abſtand zwiſchen dem Geſchenke eines
materiellen Hauſes, das aus Kalk, Stein,
Kuͤtte ꝛc. beſteht, und zwiſchen dem Ge-
ſchenke des Menſchenlebens, das aus Kno-
chen und Muskeln und Fibern und Ner-
ven und Blut und Duft und Geiſt be-
ſteht. Das Haus kannſt du abbrechen,
und aus den Truͤmmern deſſelben ein an-
dres erbauen: aber gehe hin, ſchneide dir
deinen Lebensfaden ab, und knuͤpfe ihn
wieder an — wenn du kannſt. Raube
dir das Menſchenleben, und gieb dir es
wieder, wenn du kannſt. Hoͤr auf Menſch
zu ſeyn, und werde es wieder, wenn du
kannſt — aus eigner Kraft, die dahin iſt.
3. „Wuͤrde
[92]Zweyter Abſchnitt.
3.
„Wuͤrde ein Menſch, ein Vater
zuͤrnen, dem ſein unvermu-
thet zuruͤckkehrender Sohn um den
Hals fiele, und riefe: ich bin wie-
der da, mein Vater: zuͤrne nicht,
daß ich die Wanderſchaft abbreche,
die ich nach deinem Willen laͤnger
haͤtte fortſetzen ſollen: mir iſt nur
wohl, wo du biſt. Und du lieber
himmliſcher Vater, ſollteſt den
ungluͤcklichen Selbſtmoͤrder von dir
weiſen?“
Dieſer Einwurf koͤnnte deshalb einen
ſtaͤrkern Eindruck auf ein fuͤhlend Menſchen-
herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes
ſehr kuͤnſtlich in ein auffallendes Parallel mit
menſchlicher Guͤte zu ſetzen weiß. Wenn wir
aber den Blick ſchaͤrfen: ſo iſt es nichts
mehr als ein elender Fehlſchluß, der blendet,
und wahrlich nur den Unachtſamen blen-
den kann.
Setzen wir den Fall nur etwas beſtimm-
ter, und der Scheingrund ſteht in ſeiner
ganzen Bloͤße da.
Setzen
[93]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Setzen wir, der Vater haͤtte ſeinen
Sohn auf Reiſen geſchickt, damit er die
Menſchen kennen, Wiſſenſchaften und Kuͤn-
ſte lernen, und wohlgebildet an Leib und
Seele zuruͤckkehren, und dann die La-
ſten der Haushaltung, und Amtsgeſchaͤfte
der muͤden Vaterſchulter abnehmen ſollte:
er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit
ſchon ſelbſt heimberufen.
Nun aber waͤre dem Soͤhnchen die
Luft zu rauh, das Reiſen zu unbequem,
und das Sichſelbſtbilden zu muͤhſam. Er
kaͤme alſo ungerufen, dumm und ungezogen
nach Hauſe, und gienge auf den Vater zu,
um ihn zu umarmen, und ſpraͤche: Vater,
ſieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich
meine Reiſezeit nicht ausgehalten habe. —
Was wuͤrde in dieſem Falle auch der liebend-
ſte Vater ſagen, thun?
„Ungehorſamer, wuͤrde er ſagen, du
biſt meiner Umarmung nicht werth: das
Herz deines Vaters haſt du bluten gemacht
durch deinen Ungehorſam. Du kommſt zu-
ruͤck ohne Bildung, ohne Tugend, ohne
Weis-
[94]Zweyter Abſchnitt.
Weisheit. Ich kann ſo einen elenden Tau-
genichts, weder in meiner Haushaltung,
noch bey meinen Amtsgeſchaͤften brauchen.
Du haſt die Abſicht deines Vaters ganz
vereitelt — Fort mit dir — und gehe dei-
nem Vater nimmer unter das Angeſicht, bis
du weiſer und beſſer, und zu deinem Gluͤcke
reifer geworden biſt.„
Der Vater wuͤrde alſo eines aus bey-
den mit ſeinem Sohne thun, ihn entweder,
unter Aufſicht eines wackern Hofmeiſters
wieder auf Reiſen ſenden, oder im vaͤterli-
chen Hauſe ſtrenge Zucht mit ihm halten.
Und, wenn das der Vater nicht thut, ſo
handelt er wider die Pflicht der weiſen Va-
terliebe. Laßt mich noch verſtaͤndlicher re-
den, und das Gleichniß noch einmal vor-
nehmen, von dem ich am Schluſſe des erſten
Abſchnittes ſchon einen Gebrauch gemacht
habe. Die Aeltern ſchicken ihre Kinder in
oͤffentliche Schulen. Wenn nun der Knabe
nach der erſten Viertelſtunde wieder nach
Hauſe liefe, und zur Entſchuldigung angaͤ-
be: er ſey lieber zu Hauſe bey der Mama
als
[95]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
als in der Schule bey dem Schullehrer: wuͤr-
de die Mutter, wenn ſie Mutter waͤre, nicht
nur hieſſe, mit dieſer unzeitigen, und eitel
vorgeblichen Anhaͤnglichkeit des Kindes an die
Mutterſeite zufrieden ſeyn? Wuͤrde ſie nicht
vielmehr ſagen: Kind, wenn du mich lieb
haſt, ſo beweiſe es dadurch, daß du die
beſtimmte Schulzeit bis auf den letzten
Punct aushaͤltſt. —
Nun iſt es ein abgenutzter, aber wah-
rer, aber nie genug zu uͤberdenkender Ge-
danke, daß dieſes unſer Leben eine Pilger-
reiſe nach unſerer Heimat, eine Univerſi-
taͤt zur Bildung der Menſchheit, eine Er-
ziehungsanſtalt zum beſſern Leben ſey.
So iſt es denn offenbar gegen die Abſicht
des Vaters der Menſchen gehandelt, wenn
der Pilger ſeine Erdereiſe hienieden eigen-
maͤchtig einſtellt, oder der Schuͤler im
Gymnaſium der Fuͤrſehung (den Menſchen
meyne ich) — eigenmaͤchtig aus der Zucht-
ſchule hinauslaͤuft, und den Ruf des großen
Erziehers nicht abwartet.
4. „Da
[96]Zweyter Abſchnitt.
4.
„Da Gott bey ſeiner Vorſehung
und Regierung das menſchliche
Leben ſo unzaͤhlich vielen, oft aus den
kleinſten und zufaͤlligſten Urſachen
entſtehenden Gefahren uͤberlaſſen:
ſollte er’s nicht auch, und vielmehr
noch, der eignen Willkuͤhr des Men-
ſchen uͤberlaſſen haben? Und wenn
aus jenen erhellet, daß der Plan der
goͤttlichen Herrſchaft, und Regie-
rung nicht von Verlaͤngerung einze-
ler Menſchenleben abhaͤnge, wie
kann die willkuͤhrliche Abkuͤrzung
des eigenen Lebens ein Verbrechen
gegen die Gottheit ſeyn?(n)
Dieſer Grund ſagt nicht mehr und nicht
weniger als: dieſen erſchlaͤgt ein Dachziegel,
jenen der Donner: da ſtirbt einer am tollen
Hundsbiſſe, dort ein anderer an den Blat-
tern. Soll nun ſich der Menſch das nicht
ſelbſt anthun duͤrfen, was Hundsbiſſe, Blat-
tern,
[97]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
tern, Donnerwetter, Dachziegel, Zufall
thun koͤnnen, und an unzaͤhligen Menſchen
bereits gethan haben? — — Nein, er darf
es nicht thun — und darf es darum nicht
thun, weil er Menſch iſt. Er hat Ueberle-
gung — kann in die Zukunft hineinſchauen,
das der Dachziegel nicht kann; hat Ver-
nunft — kann dem wilden Triebe widerſte-
hen, das der tolle Hund nicht kann; hat
ein Gewiſſen in der Bruſt — und wird
nicht vom Electricismus getrieben wie der
Donner.
Oder darf der Menſch etwa auch das
(neugebaute) Haus ſeines Vaters anzuͤnden,
weil es vor zwey Jahren der Blitz eingeaͤ-
ſchert hat? Darf er ſeinem Bruder das Ge-
treid aus der Scheune ſtehlen, weil ihm vor
Jahren der Hagel die Saaten verwuͤſtet hat?
O Welt, was wuͤrde aus dir werden, wenn
das der Menſch mit Ueberlegung thun duͤrf-
te, was die Elemente nach dem Natur-
Plane thun?
Wenn
G
[98]Zweyter Abſchnitt.
Wenn der Donner die Eiche ſpaltet,
und den Hirten am Felde toͤdtet, ſo thut er
den Willen des Herrn. Denn dieſer hat es
ihm befohlen: Spalte mir dieſe Eiche,
und toͤdte mir den Hirten dort.
Wenn der Menſch die fremde Eiche,
die nicht ſein iſt, ſpaltat, und den Hirten
mordet, ſo thut er wider den Willen des
Herrn, der ihm in’s Herz ſchrieb: laß je-
dem das Seine, und beflecke dich nicht
mit Menſchenblut.
Alſo auch, wenn der Donner dich in
Aſche verwandelt, thut er den Willen des
Herrn: wenn du dich ſelbſt mordeſt, ſo thuſt
du wider den Willen des Herrn, der dich auf
die Erde geſtellt, und den Trieb zum Leben
dir
(o)
[99]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
dir in’s Herz gelegt hat, und ſprach: harre
aus, bis ich komme.
Man ſieht alſo, daß dieſer ungluͤckliche
Einfall der ſkeptiſchen Laune fuͤr den Selbſt-
mord nichts beweiſe, oder zugleich alle Pflich-
ten gegen den Naͤchſten, und das gemeine
Weſen aufloͤſe. Denn ſo wie der Schoͤpfer
das Leben der Menſchen unzaͤhligen Gefah-
ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei-
ten, und wohl auch von den kleinſten, un-
geahndeſten Veraͤnderungen zerſtoͤret zu wer-
den (um den Ausdruck des Skeptikers (o)
beyzubehalten), uͤberlaſſen hat: ſo hat er
auch die Gluͤcksguͤter der Menſchen, den Flor
der Koͤnigreiche, und das ganze Quantum
zeitlicher Gluͤckſeligkeit dieſen naͤmlichen Ge-
fahren uͤberlaſſen.
G 2Fer-
[100]Zweyter Abſchnitt.
Ferner: wie der Schoͤpfer mein Leben
von den Elementen, ſo hat er auch das Le-
ben meiner Mitmenſchen von den Elementen
abhaͤngig gemacht. Wenn ich alſo aus dem
Grunde, daß mein Leben in Gefahr ſteht,
von dem Gange der Elemente abgekuͤrzt
zu werden, es mir ſelbſt eigenmaͤchtig ab-
kuͤrzen duͤrfte: ſo wuͤrde ich das naͤmliche
Befugniß in Abſicht auf das Leben anderer
Menſchen, die naͤmlichen Verwuͤſtungsrech-
te in Abſicht auf die Gluͤcksguͤter anderer,
ja ſogar auf den Flor der Staaten, den
Wohlſtand der Nationen, und umgekehrt je-
der andere die naͤmlichen Rechte auf meine,
und aller uͤbrigen Menſchen Guͤter und Le-
ben haben. Und dieß waͤre nichts gerin-
gers, als das bekannte bellum omnium
erga omnes. Anbeter des Pyrrhonis-
mus — ſteh ſtille, und ſtaune, und wirb
ihm noch ferner neue Candidaten, wenn du
kannſt, dem angebeteten Goͤtzen!
5. Schein-
[101]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
5.
Scheingrund fuͤr die Selbſtmorde
à la Werther.
„Die Liebe (wenn ſie unbezwingbare
Leidenſchaft geworden, und
wie bald bricht der feuerſchwangere
Funke in helle, unbeſiegliche Flam-
men aus?) ſpannt die Empfindung,
bis ſie uͤberſpannt iſt — und uͤber-
ſpannte Empfindung kann ſich nicht
mehr tragen, und nicht herunter-
ſpannen: alſo muß ſie ſich toͤdten,
und den Koͤrper auch mit.“
Zuerſt eine
Antwort ohne Kompliment.
Wenn der Kranke mit der Krankheit
ſpielet, und die Krankheit immer maͤchtiger
werden laͤßt: ſo wird ſie endlich ſo maͤchtig
werden, daß keine Arzney mehr dagegen
wirken kann. — Izt liegt er todt da,
der vor zehen Tagen noch geſund war, und
deſſen Krankheit vor zwey Tagen noch heil-
bar geweſen waͤre.
G 3Nun
[102]Zweyter Abſchnitt.
Nun koͤmmt mich hohe Luſt an zu
fragen:
- 1. Wenn die Krankheit etliche Augenbli-
cke vor dem Sterben unheilbar iſt:
war ſie es auch, da ſie noch im Kei-
me ſchlief, oder die erſte Aeuſſerung
ihres Lebens von ſich gab? — —
Antwort im Namen der Menſchheit:
Nein. - 2. Wenn der kranke Nachbar ſeine Krank-
heit ſo lange ſtreichelte, bis ſie zur un-
heilbaren Sucht erwuchs, bin ich recht
daran, wenn ich mich auch auf dieſes
Streicheln des kranken Theiles ver-
lege? — —
Antwort im Namen der Menſchheit:
Nein. - 3. Wenn es Afteraͤrzte gaͤbe, die die
Mode, mit der Krankheit zu taͤn-
deln, bis ſie unbaͤndig wird, als
Menſchenweisheit, Urgenie, edle
Empfindſamkeit, Geiſtesſtaͤrke, Ge-
ſundheit der Seele zu ruͤhmen wuͤß-
ten: ſollte ſich ein Vernuͤnftiger von
den
[103]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
den Rezepten dieſer Marktſchreyer
leiten laſſen?
Antwort im Namen der Menſchheit:
Nein.
Dann eine Stelle
aus der beſten Rezenſion der Leiden des
jungen Werthers.(p)
Ich glaubte mich an der Wahrheit zu ver-
ſuͤndigen, wenn ich dieſe Stelle, die
es verdiente, daß alle feurige Juͤnglinge
ſich ſelbe als ein Ordensband umhiengen,
und alle Maͤdchen an ihre Rechte baͤnden,
nicht als die kompleteſte, und ſinnlichſte Ant-
wort auf den erwaͤhnten Scheingrund hie-
her ſetzte:
„Ja, die Lieb’ iſt ’n eigen Ding; laͤßt
ſich’s nicht mit ihr ſpielen, wie mit einem
Vogel. Ich kenne ſie, wie ſie durch Leib,
und Leben geht, und in jeder Ader zuckt,
und ſtoͤrt, und mit ’m Kopf und der Ver-
nunft kurzweilt. Der arme Werther! Er
hat ſonſt ſo feine Einfaͤlle, und Gedanken.
G 4Wenn
[104]Zweyter Abſchnitt.
Wenn er doch eine Reiſe nach Pareis, oder
Pecking gethan haͤtte! So aber wollt’ er
nicht weg von Feuer und Bratſpieß, und
wendet ſich ſo lange dran herum, bis er ca-
put iſt. Und das iſt eben das Ungluͤck, daß
einer bey ſo viel Geſchick und Gaben ſo
ſchwach ſeyn kann. Und darum ſollen ſie
unter der Linde an der Kirchhofmauer neben
ſeinem Grabhuͤgel eine Grasbank machen,
daß man ſich darauf hinſetze, und den Kopf
in die Hand lege, und uͤber die menſchliche
Schwachheit weine. — Aber, wenn du
ausgeweinet haſt, ſanfter, guter Juͤngling!
wenn du ausgeweinet haſt; ſo hebe den Kopf
froͤlich auf, und ſtemme die Hand in die
Seite! Denn es giebt Tugend, die, wie
die Liebe, auch durch Leib, und Leben geht,
und in jeder Ader zuckt, und ſtoͤrt. Sie
ſoll, dem Vernehmen nach, nur mit viel
Ernſt, und Streben errungen werden, und
deßwegen nicht ſehr bekannt, und beliebt
ſeyn; aber wer ſie hat, dem ſoll ſie auch da-
fuͤr reichlich lohnen, bey Sonnenſchein, und
Froſt und Regen, und wenn Freund Hain
mit der Hippe kommt.“
Im
[105]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Im Grunde thut jeder Selbſtmoͤrder
à la Werther, was Fritze gleich nach die-
ſer Stelle ſagt:
6.
Ein Gottlob! noch einſamer Weg
zum Selbſtmorde.
Es giebt einige Ungluͤckliche, die an kei-
nen Gott glauben, als der fuͤr das All-
gemeine ſorgte, und zu groß waͤre, als daß
er ſich um das Einzele bekuͤmmern ſollte.
Ihr Gott iſt ein Admiral, der ſich um die
Ratzen ſeiner Flotte, die unten im Schiffe
nagen, nicht bekuͤmmert — das heißt um
die Menſchen, die an dieſem Erderund auf
und abkriechen. Ihr Gott iſt ein Gene-
ral(q) der einen forçirten Marſch thut,
G 5und
[106]Zweyter Abſchnitt.
und ſich nichts daraus macht, wenn ein
paar hundert Mann im Moraſte ſtecken blei-
ben. Ihr Gott iſt, um das ſchonendſte
Bild zu waͤhlen, ein Kuͤnſtler, der eine
ſich ſelbſt bewegende Kunſtuhr vollendet, —
ihr den erſten Trieb zur Bewegung gegeben,
und ſich nicht mehr um Gang, und Schick-
ſale einzeler Raͤder bekuͤmmert. Ihr Gott
verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf
die heiſſen Angſtthraͤnen, die die Wangen
der Wittwe durchgluͤhen, herunterſaͤhe, oder
dem Wehegeheul des Waiſen, der ſich ohne
Mutter und ohne Huͤlfe in der Welt ſieht,
zuhoͤrte — wenn auch ſein Aug und Ohr
ſo weit reichten.
Wer nun an einen ſolchen Gott glaubt,
der glaubt an keinen (r). Wer an einen
ſolchen Gott glaubt, der ſieht das Beten,
als erſte Thorheit an, ſo wie es eine Thor-
heit waͤre, wenn der Schiffbruchleidende im
Untergehen einen tauben Felſen um Huͤlfe
anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohne
Gebet
[107]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Gebet in der Welt lebt, der iſt das wehrlo-
feſte Geſchoͤpf bey den Verſuchungen zum
Selbſtmorde. Sobald ihm eine Laſt uner-
traͤglich ſcheint (und wie oft kann ſich dieſer
Fall ereignen?) ſo oft er ſich ohne Huͤlfe,
ohne Ausſicht, ohne Kraft fuͤhlet — in den
Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann
ſchwebet er allemal uͤber dem Abgrunde der
Selbſthinrichtung, und ſieht ihn, dieſen
Abgrund, noch dazu — fuͤr ſeinen Port an.
Wie ſchauert mir’s ab dem Gemaͤlde? Wie
ſchrecklich iſt das Ende dieſes Weges? Und
wie ſie ihn ſo hoch erheben, die Thoren, die
darauf wandeln? Wie ſie ſich ruͤhmen ihres
Idealgottes, der ſeine erhabene Groͤße be-
leidigte, wenn er ſich um die Kleinigkeiten
dieſer Welt annaͤhme, der die Selbſtherr-
ſchaft an die Geſetze der Natur abgetreten
hat, der fuͤr die Millionen, Millionen Seuf-
zer ſeiner Geſchoͤpfe entweder kein Ohr, oder
wenigſtens keine Aufmerkſamkeit hat, der mit
dem eiſernen Zaum der ewigen Geſetze nur
die Genera und Species leitet, und in
Ordnung haͤlt, ohne die Einzelheiten eines
Blickes zu wuͤrdigen — gleich jener Philo-
ſophie,
[108]Zweyter Abſchnitt.
ſophie, die im Nebel der abgezogenen Be-
griffe eingehuͤllt, keine Erfahrung, kein Indi-
viduum vor ihren Thron kommen laͤßt!!
Wie iſt mir dagegen der Bibelgott(s)
ſo lieb, aus dem, durch den, und in dem
alles iſt, deß Auge im Verborgenen ſieht,
wie an der Mittagshelle, von deſſen Wink
das große Weltſyſtem, wie das Erdeſtaͤub-
chen abhaͤngt, deſſen Hand Koͤnigreiche wie
Waſſertropfen leitet, deſſen Liebe den Lieb-
ling der Schoͤpfung, den Menſchen — und
den nach Speiſe ſchreyenden Raben naͤhret,
deſſen Weisheit die Schickſale aller Natio-
nen, und das Fallen des Sperlinges vom
Dache geordnet, deſſen allſehender Blick die
großen Revolutionen aller Jahrhunderte,
und das letzte ſilberweiſſe Haar am Schei-
tel des Greiſes bemerket — Der Bibel-
gott, der hoͤrt und ſieht, hilft und ſegnet,
troͤſtet und warnet, lebt und belebt, ord-
net und lenket, iſt und herrſcht, antwortet
und giebt, der lebendige Allbeleber, Er iſt
zwar
[109]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
zwar auch der Natur-Gott, der Vernunft-
Gott — aber nicht der weltenbauenden,
ſondern in dieſer Welt ſtill beobachtenden,
nicht der willkuͤhrlich witzelnden, ſondern der
redlich forſchenden, nicht der durch Stolz
und Vorurtheil getruͤbten, ſondern der geſun-
den, geraden, hellen Menſchenvernunft. —
Ja, Du Vernunft- und Bibel-
gott! wie erhebt mich der Gedanke an dich
uͤber alles, was vergaͤnglich iſt, und reizt!
Wie ſtaͤrkt der Glaube an dich gegen alles,
was vergaͤnglich iſt, und druͤckt!
Mit dieſem kurzen Aufſatze, der dem
Verfaſſer aus dem Herzen kam, wollte er
nur dieß ſagen: Die verfuͤhrendſten Schein-
gruͤnde zum Selbſtmorde liegen in der Trug-
idee, daß Gott eine ruhige alte Monas,
das Leitſeil der allgemeinen Naturgeſetze in
der Hand — und das Gebet Alfanz und
Aberglaube ſey.
Dank der Fuͤrſehung, daß das Reich
dieſer Trugidee, meines Wiſſens, noch ſehr
duͤrftig, und ihr Termin von kleinem Um-
ſchnitte ſey!
7. Das
[110]Zweyter Abſchnitt.
7.
„Das Leben eines Menſchen iſt fuͤr
das Univerſum nicht wichtiger
als das Leben einer Auſter: alſo
kann der Selbſtmord nicht viel be-
deutender ſeyn, als es zu bedeuten
hat, ob an der Tafel des Edel-
manns um eine Auſter mehr oder
weniger aufgezehret werde.“
Ja, wahrlich, wenn wirklich alle
Menſchen ihre Vernunft, die ſie uͤber Au-
ſtern und Adler erhebt, dazu misbrauchten,
um den Menſchen, in Vergleich mit dem
Univerſum, zur Auſter herab zu wuͤrdigen:
Dann waͤre freylich die elende Vergleichung
nicht gar ſo ebenteurlich gerathen — und
bis dahin wollen wir zu ſtolz ſeyn dem Ein-
wurfe die Ehre einer Widerlegung zu er-
weiſen. —
Nur ergreife ich die Gelegenheit, ei-
nen Abweg, den die Philoſophie (nicht die
Tochter des Himmels, ſondern die Nachaͤf-
ferinn
[111]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
ferinn derſelben) zu gehen angefangen, bey
ſeinem rechten Namen zu nennen.
Wer Menſch iſt, und die Wuͤrde
fuͤhlt, Menſch zu ſeyn, dankt es der Stern-
kunde, daß ſie uns den kuͤhnen Gedanken
verſchaft: So viele Fixſterne, ſo viele
Sonnen; ſo viele Sonnen, ſo viele Wel-
ten Gottes. Allein, wenn dieſer Gedan-
ke den Menſchen uͤber die kleine Erde erhebt,
und ihm den Begriff von Gottes Allmacht
erweitert: ſo druͤckt uns ein zweyter Gedan-
ke, der von einigen Denkern, oder Nachbe-
tern als gleich richtig angenommen, und mit
Geraͤuſch gepredigt wird, tief in den Erde-
ſtaub herunter. Der Gedanke heißt: Wie
wenig, wie gering, wie nichts iſt der
Menſch gegen das Univerſum? Dieſer
Gedanke iſt falſch, iſt menſchenwuͤrdeſchaͤn-
dend, iſt Unphiloſophie.
Er iſt falſch. Denn es mag die
Schoͤpfung noch ſo viele, unzaͤhliche Wel-
ten in ſich begreifen: ſo bleibt es doch im-
mer wahr, daß der Erdbewohner, der Menſch
heißt, Bild Gottes iſt — und alſo alle
tauſend-
[112]Zweyter Abſchnitt.
tauſendmal tauſend Sonnen, alle tauſend-
mal tauſend Welten, das ganze Univerſum
(in ſo ferne ich Geiſter und Menſchen davon
wegdenke, und nur Koͤrper, Maſſen, Ele-
mente, Planetenbahnen, Zentralkraͤfte ꝛc.
darunter verſtehe) der Menſchenwuͤrde den
Kniefall machen, und ihn, den Menſchen,
als Gottes Bild reſpectiren muͤſſen. Menſch
wache auf, und fuͤhle, was du biſt!
Er iſt menſchenwuͤrdeſchaͤndend.
Denn man mag die Fixſterne noch ſo groß
machen, und mit noch ſo viel tauſend Ver-
nunftgeſchoͤpfen bevoͤlkern: ſo bleibt es doch
ewig wahr, daß es Erdebewohner, Men-
ſchen waren, die die Planeten und Fixſter-
ne geſchieden, die Bahnen der erſtern be-
rechnet, und die Groͤße der letztern gedacht,
den Lichtſtral geſpaltet, und dem Blitze neue
Wege angewieſen — daß es Menſchen ſind,
die den Durchgang eines Sterns durch die
Sonne, und die Mondsfinſterniſſe ꝛc. auf
Tag und Minute weiſſagen koͤnnen — daß
es Menſchen waren und ſind, die Haͤuſer
auf dem Meere gebauet, und erſt neulich ei-
nen
[113]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
nen Pfad durch die Luft gefunden haben —
daß es Menſchen ſind, die ſich in einem Au-
genblicke von Welten zu Welten, von Ge-
ſchoͤpfen zum Schoͤpfer empor ſchwingen,
und Ewigkeiten denken koͤnnen.
Er iſt Unphiloſophie. Denn was
falſch iſt, und die Menſchenwuͤrde ſchaͤndet,
kann ſo wenig Philoſophie ſeyn, als wenig
die dunkelſte Mitternachtſtunde, Mittags-
helle iſt.
Auch iſt’s ebenteuerlich: um den Men-
ſchen klein zu machen, verlaͤßt der Menſch
den geraden Anblick des Menſchen, der ihm
vor dem Auge ſteht, und ſteigt mit ſeinen
Einbildungen in die unbekannten Welten
hinauf, traͤumt da, was ſich mit einem an-
gebrannten Hirn traͤumen laͤßt, und traͤgt
am Ende das Reſultat ſeines Traumes, der
Menſch ſey nichts gegen das Univerſum,
mit einem Hohngelache uͤber den Stolz der
Menſchheit, die ſich ſo groß deuchte und ſo
klein waͤre, zur Schau umher.
Freund! ein großer Mann ſagte einſt:
was den Begriff von Gottes Liebenswuͤr-
Hdigkeit
[114]Zweyter Abſchnitt.
digkeit klein machet, das kann nicht Wahr-
heit ſeyn; und ich moͤchte ſagen: was die
Wuͤrde des Menſchen herunterſetzt, das kann
nichts mehr als ein Phantom ſeyn.
8.
„Der Nervenbau iſt beſonders
bey gefuͤhlvollen Menſchen ſo
ſchwach, die Fiber ſo reitzbar, die
Empfindlichkeit der Organe ſo groß,
der Uebergang vom Eindruck zum
Gedanken, vom Gedanken zur Luſt,
von der Luſt zur That ſo ſchnell,
ſo unaufhaltſam, daß auch die
Selbſtentleibung in dieſer Hinſicht
immer nur Mitleid, und nie Tadel
verdienen kann.“
Es war eine Zeit, wo alle Erſchei-
nungen in der Koͤrperwelt durch den Aether
(die beruͤhmte materia omnipotens) er-
klaͤret wurden: und nun iſt eine andere, wo
die erſten Ausſchweifungen in der Sittenwelt
durch den Nervenbau entſchuldigt und ge-
rechtfertiget werden. Ganz gewiß muͤßte
die
[115]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
die Reitzbarkeit des Nervenſyſtems und ſein
Einfluß auf das ſittliche Betragen der Men-
ſchen auch mit in Anſchlag gebracht werden,
wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun-
gen, und die Grade derſelben genau beſtim-
men wollte, oder koͤnnte. Allein man hat
deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit
der Nerven zur Decke zu machen, unter der
die Leidenſchaften ihre fuͤrchterlichen Griffe
gar bequem verbergen koͤnnen. Und da
ſtoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un-
ſerer hochgeruͤhmten Zeitweisheit, naͤmlich:
„Man ſchreibt auf einer Seite die erſten
Ausſchweifungen dem ſchwachen Fibern-
bau auf die Rechnung, und thut auf
der andern zu gleicher Zeit alles Aeuſ-
ſerſte, um die ſchwaͤchliche, leichtbe-
wegliche, reitzbare Fiber nur noch
ſchwaͤchlicher, leichtbeweglicher, im-
mer reitzbarer zu machen.“
Man ſpricht vom ſchwachen Fibern-
bau — und giebt dem ſchwachen Geſchoͤpfe
Romanen in die Hand, die die Empfin-
dung auf’s hoͤchſte ſpannen, und den Juͤng-
H 2ling
[116]Zweyter Abſchnitt.
ling entnerven, ehe er Mann wird. Man
ſpricht vom ſchwachen Fibernbau — und
nimmt das ſchwache Geſchoͤpf mit in Schau-
ſpiele, wo alle ſchlafenden Reitze der Sinn-
lichkeit aufgewecket, und alle wachenden aufs
hoͤchſte geſpannt werden. Man ſpricht vom
ſchwachen Fibernbau — und fuͤhrt das Maͤd-
chen in Geſellſchaften, wo die wolluſttrun-
kenen Blicke des frechen Junkers, und alle
die Aergerſzenen des Geſetzloſen und geehrten
Laſters die Phantaſie mit unaustilgbaren Luſt-
bildern fuͤllen, und Herz und Hirn zugleich
verderben. Man ſpricht vom ſchwachen Fi-
bernbau — und giebt dem ſchwachgebauten
Geſchoͤpfe eine Erziehung, die weiter nichts
iſt als ein ſchreckliches Einerley von Beyſpie-
len und Regeln der Eitelkeit, Taͤndeley,
Empfindeley, Liebeley u. ſ. w.
Und wenn nun durch Erziehung, Lec-
tuͤre, Umgang, Schauſpiele, Verfuͤh-
rung ꝛc. die Leidenſchaft der Juͤnglinge, der
Maͤdchen auf den Punct geſpannt worden,
daß ſie ſich, und ihre Familien mit Schand-
thaten gebrandmarkt: dann heißt’s:
„Der
[117]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
„Der ſchwache Nervenbau war ſchuld
daran“!
Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre,
Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft
des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt
worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann
dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz,
und ſingt ſein Liedchen:
„’s war ſchwacher Nervenbau.“
Wie, wenn an einem heiſſen Som-
mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in
Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß
ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig
am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander
anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten:
„Heut war’s ſehr ſchwuͤl“,
und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch
ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade
ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey
dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag
zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu
ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven-
bau, und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra-
H 3gen,
[118]Zweyter Abſchnitt.
gen, wenigſtens es nicht zu hindern trach-
ten, daß die Empfindungen der vaterlaͤndi-
ſchen Jugend immer weicher, und die Fi-
bern immer ſchwaͤcher werden. — —
9.
„Ich bin ſo ein unnuͤtzes Hausge-
raͤth in der Welt — hinaus
mit mir aus dem Hauſe.“
So denken entweder aͤußerſt Laſter-
hafte, weil ſie keine Geiſteskraft, keine
Luſt mehr, andern Gutes zu thun, in ih-
rem Innerſten fuͤhlen, oder aͤußerſt Ver-
ungluͤckte, weil ſie keinen Wirkungskreis,
keine Gelegenheit mehr, andern nuͤtzlich zu
werden, wie ſie es vordem waren, zu ha-
ben glauben, oder aͤußerſt Schwermuͤthi-
ge, weil ſie in den finſtern Stunden ihres
Daſeyns weder die Geiſteskraft, die in ihnen
liegt, noch die Gelegenheit wohlzuthun, die
um ſie herum iſt, gewahr werden.
Wahrheit iſt in dieſer Vorſtellung
gewiß nicht: ſie mag im Verſtande des Boͤ-
ſewich-
[119]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
ſewichtes, oder des Verungluͤckten, oder des
Truͤbſinnigen gedacht werden. Denn wer
nuͤtzlich werden will, kann es faſt allemal,
wenigſtens durch das Beyſpiel des aushar-
renden Gehorſams gegen die Befehle der
Fuͤrſehung: und wer nicht nuͤtzlich werden
will, der beweiſet weiter nichts, als daß er
es nicht will — alſo nicht, daß der Selbſt-
mord erlaubt ſey.
Und wenn es im ſtrengſten Sinne
wahr waͤre, daß ich andern gar nichts, auch
nicht durch das Beyſpiel nuͤtzen koͤnnte: ſo
giebt mir deshalb die Vernunft noch kein
Recht zum Selbſtmorde. Denn wenn auch
mein Daſeyn wirklich andern gar nichts mehr
nuͤtzen koͤnnte: ſo kann es dennoch mir, dem
lebendigen Ich allemal nuͤtzlich werden.
Alſo wird der Menſch im Staate Gottes
nie ein unnuͤtzes Hausgeraͤth. Der
Staatsverbrecher, zur ewigen Gefangenſchaft
verdammt in einer unterirrdiſchen Gruft,
koͤnnte vielleicht am eheſten von dem Gedan-
ken, ſieh deine Exiſtenz — ein ganz unnuͤ-
tzes Hausgeraͤth, zum Selbſtmorde ver-
H 4ſucht
[120]Zweyter Abſchnitt.
ſucht werden. Denn er iſt beydes zugleich,
laſterhaft und ungluͤcklich, ungluͤcklich und
ohne den Stral einer Hofnung, und er
wird, wenn ihm nicht die Religion den
Muth ſtuͤtzt, bald auch aͤußerſt ſchwermuͤ-
thig werden muͤſſen. Alſo Schwermuth,
Elend, boͤſes Gewiſſen, Hofnungsloſigkeit —
alles menſchliche Leiden vereinigt ſich in dem
Schickſale dieſes Verbrechers. Und dennoch
kann er dieß ſein fuͤrchterliches Schickſal,
die Abgeſchiedenheit von den uͤbrigen Men-
ſchen, das Bewußtſeyn ſeiner Greuelthat,
die Feſſel am Beine, das ewige Mitter-
nachtdunkel ſeiner Gruft, das Vergeſſen-
oder Verfluchtſeyn von ſeinen Freunden —
alles Leiden kann er zur Quelle des Segens
fuͤr ſich machen, wenn er nur will; kann
im Dunkeln des Kerkers durch ungeſtoͤrtes
Nachdenken lernen, was er im Anblicke und
Genuſſe der freyen, von Gottes Sonne be-
leuchteten Welt nicht gelernet hatte; kann
in dem Zuſtande der tiefeſten Niedrigkeit,
das Nichts aller irdiſchen Hoheit fuͤhlen, das
er auf dem Gipfel der Ehre wohl nie ge-
fuͤhlet hatte; kann an der ſparſamen Miſſe-
thaͤter-
[121]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
thaͤterkoſt die Guͤte des Menſchenvaters ken-
nen lernen, die er an den praͤchtigen Hofta-
feln, und im Ueberfluſſe von allen Arten
in- und auslaͤndiſcher Weine, nicht gefuͤhlet
hatte; kann itzt die lange Reihe ſeiner Ju-
gend- und Staats-Suͤnden, und jede in
ihrer wahren Geſtalt erblicken, die er im Ge-
wirre der Cabalen auch bey hundert Wand-
leuchtern, auch bey hellſtem Mittagslichte
nicht erblicket hatte; kann itzt die Erbarmun-
gen Gottes, die durch den verſchloſſenſten
Kerker offne Wege finden, und kein tiefge-
ruͤhrtes Herz voruͤber gehen, mit hochver-
trauendem Herzen umfaſſen, fuͤr die er im
Galakleide keinen Sinn gehabt hatte; kann
die letzten Jahre ſeines Lebens mit unſterb-
lichen Heldenthaten des Glaubens an die
allordnende Liebe, mit großmuͤthiger Dul-
dung der Folgen ſeiner Suͤnden, und mit
vollkommenſter Selbſtunterwerfung gegen
alle Wege der Fuͤrſehung adeln, da er ehe-
dem Ordensband und Stern und Fuͤrſten-
gunſt und ſich ſelbſt durch das ſchwaͤrzeſte
Verbrechen entehret hatte; — kann den Ver-
wahrungs- und Zuͤchtigungsplatz der Staats-
H 5ver-
[122]Zweyter Abſchnitt.
verbrecher in einen Stufengang zur Tugend,
Weisheit und Seligkeit verwandeln, und in
der Nacht des Kerkers zu den herrlichſten
Lichtfreuden der Ewigkeit reif werden.
Und wenn das elendeſte, verſunkenſte
Geſchoͤpf, ein verjaͤhrter Staatsverbrecher
mit Vorſatz und nach Entwuͤrfen — zur ewi-
gen Gefangenſchaft verdammt — in der
großen Familie Gottes noch gluͤcklich, noch
gut und weiſe werden kann: wo iſt der
Menſch, der ſagen darf: hinaus mit mir
aus der Welt: ich bin ein unnuͤtz Haus-
geraͤth?
10. Es
[123]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
10.
„Es haben ſich ſo viele beruͤhmte
Maͤnner des Alterthums ſelbſt
gemordet: und Roͤmer und Grie-
chen ſehen dieſe Thaten als Helden-
thaten an.“ —
Darauf laſſe ich zuerſt, einen gar
nicht neuen Schriftſteller, den ſcharfſinni-
gen Auguſtin antworten, weil bis auf dieſe
Stunde noch kein Schriftſteller treffender ge-
antwortet hat.
„Es fraget (u) ſich itzt nicht, ob ſie
es gethan haben, ſondern, ob ſie es haͤtten
thun
(n)
[124]Zweyter Abſchnitt.
thun ſollen. Denn die geſunde Vernunft
muß auch mehr als alle Beyſpiele gelten.
Doch haben wir auch Beyſpiele, die mit der
geſunden Vernunft uͤbereinſtimmen, und die-
ſe ſind deſto nachahmungswuͤrdiger, je aus-
gezeichneter ſie an Tugend (und Weisheit)
ſind. Die Patriarchen haben es nicht ge-
than, die Propheten haben es nicht gethan,
die Apoſtel haben es nicht gethan. Auch
haͤtte ihnen der Herr Chriſtus damals, als
er
(u)
[125]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
er ſie von einer Stadt in die andere fliehen,
und ſo der Verfolgung ausweichen hieß, gar
wohl die Ermahnung geben koͤnnen, daß
ſie ſelbſt an ſich Hand anlegen ſollten, um
nicht den Verfolgern in die Haͤnde zu fal-
len, aber Er gab ihnen dieſe Ermahnung
nicht. Da nun Jener, welcher den Sei-
nen verſprechen konnte, daß Er ihnen nach
dieſem Leben ewige Wohnungen zubereiten
wuͤrde, die Seinen nicht ermahnte, auf
dieſe
(u)
[126]Zweyter Abſchnitt.
dieſe Weiſe aus dem Leben zu treten: ſo
iſt es offenbar, daß die Verehrer des Einen
wahren Gottes, ungeachtet aller Beyſpiele
von Gottnichtkennenden Voͤlkern, dieſes
nicht thun duͤrfen. — — Beſonders macht
man viel Weſens aus Cato’s Selbſtermor-
dung, nicht weil er ſich ſelbſt gemordet,
das wohl auch viele andere thaten, ſondern
weil er fuͤr einen gelehrten und rechtſchaffenen
Mann gehalten wird: woraus man denn
auf die Rechtſchaffenheit dieſer ſeiner lezten
That, und uͤberhaupt auf die Erlaubtheit
des Selbſtmordes ſchlieſſet. Man kann aber
uͤber dieſe ſeine That nicht leicht ein treffen-
deres Urtheil faͤllen, als wenn man das be-
hauptet, was ſeine Freunde, auch gelehrte
Maͤnner geſagt haben, da ſie ihm den Selbſt-
mord misriethen: es zeuge die Selbſter-
mordung mehr von Geiſteskleinheit als
Geiſtesgroͤße; der Selbſtmord ſey ein
Beweiß nicht von der Rechtſchaffenheit,
die ſich vor allem huͤtet, was ſchaͤndlich
iſt, ſondern von der Schwaͤche die das
widrige Schickſal nicht ertragen kann.
Dieſe Denkart aͤußerte Cato ſelbſt in Anſe-
hung
[127]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
hung ſeines liebſten Sohnes. Denn wenn
es eine Schandthat waͤre, unter der Sie-
gesfahne des Caͤſars zu leben, wie duͤrfte
der Vater den Sohn zu dieſer Schandthat
reitzen, da er ihn alles Gute von Caͤſars Men-
ſchenfreundlichkeit hoffen machte? Warum
zwang er ihn nicht vielmehr, mit ſich zu
ſterben? Wenn Torquatus ruͤhmlich gehan-
delt, da er ſeinen eigenen Sohn, der ge-
gen Staats- und Kriegsbefehle mit dem
Feinde geſtritten, und auch als Sieger zu-
ruͤck kam, als einen Staatsverbrecher hin-
richtete: warum ſchonte der uͤberwundene
Cato ſeines uͤberwundenen Sohnes, da er
ſeiner nicht ſchonte? — — Cato hatte es
alſo im Herzen wohl ſelbſt nicht geglaubt,
daß es eine Schandthat waͤre, noch laͤnger
unter Caͤſars Siegen zu athmen: ſonſt haͤtte
er wohl ſeinen Sohn mit vaͤterlichem Schwer-
te von dieſer Schande gerettet. Man kann
alſo nichts anders ſagen, als: ſo ſehr Cato
als Vater ſeinen Sohn geliebet, und ihm
Caͤſars Gnade gewuͤnſcht, und gegoͤnnet
hatte: ſo ſehr misgoͤnnte Cato als Cato dem
Caͤſar die Ehre, dem Cato eine Gnade er-
wieſen
[128]Zweyter Abſchnitt.
wieſen zu haben, oder um den mildeſten
Ausdruck zu waͤhlen: ſo ſehr ſchaͤmte ſich
Cato aus Caͤſars Gnade zu leben.
Zweytens erinnere ich: eben dieſes
Factum, daß die Philoſophie der Alten,
die ohne den Leitſtern der hoͤhern Offenba-
rung im Finſtern fortwandelte, den Selbſt-
mord fuͤr Heldenthat ruͤhmen konnte, zeigt
dem unpartheyiſchen Forſcher des menſchli-
chen Wiſſens, wie ſchwer es der iſolirten
Vernunft ſeyn muͤſſe, ſich zu uͤberzeugen-
den Beweiſen, und richtigen (x) Begrif-
fen von der Unſterblichkeit der Seele durch-
zuarbeiten, und wie leicht der Selbſtmord
auch den uͤbrigens ſcharfſinnigſten Koͤpfen
im falſchen Lichte erſcheinen koͤnne, ſobald
ſie ihn nicht aus dem Standpuncte der Men-
ſchenwuͤrde, der Unſterblichkeit betrachten.
Drittens bemerke ich, wie unphilo-
ſophiſch eine gewiſſe Philoſophie, die nicht
mehr
[129]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
mehr im Dunkeln ſchleicht, gegen ihre eig-
nen Eingeweide kaͤmpft, indem ſie lieber zu
den Begriffen des Alterthums, die doch an
der Sonne der hoͤhern Offenbarung nicht reif-
fen konnten, lichtſcheu zuruͤckkehret, als daß
ſie ſich die Wohlthat der Zeit, und das Licht
des Chriſtenthums dankbar zu Nutzen mach-
te. Denn das kann ſelbſt der Nichtchriſt,
der je ein Blatt in der Weltgeſchichte durch-
geblaͤttert, nicht laͤugnen, daß durch das,
was man Chriſtenthum nennt, Licht in die
Welt gekommen ſey.
11.
„Der Selbſtmoͤrder vertauſcht ſein
elendes Daſeyn nicht mit ſei-
ner Zernichtung; er ſtreift nur die
gegenwaͤrtige Huͤlle ab, laͤßt nur
den verdruͤßlichen Balg hinter ſich,
um in einer neuen Verwandlung mit
verklaͤr-
(x)
J
[130]Zweyter Abſchnitt.
verklaͤrter Schoͤnheit hervor zu bre-
chen.“ So ſpricht bey Moſes der
menſchlichere Vertheidiger des
Selbſtmordes.
Alſo Freund, glaubſt du an eine Un-
ſterblichkeit? Nun dieſe deine Ueberzeugung
ſtuͤzt ſich entweder auf den Glauben an eine
hoͤhere Offenbarung: ſo ſagt dir ja eben die-
ſe, daß die Unſterblichkeit eine Folge der
Sterblichkeit, dieſe die Ausſaat, jene die
Aernte ſey; oder auf Gruͤnde der geſunden
Vernunft (y): ſo ſagt dir eben die naͤmli-
che Vernunft, daß ſie ſich keinen Begriff
von der hoͤchſten Weisheit machen kann,
welche alle andere Veraͤnderungen in der
Welt, als Urſachen und Wirkungen zuſam-
mengeknuͤpft, und gerade in dem allerwich-
tigſten Geſchaͤfte der Bildung des menſchli-
chen Geiſtes, Gegenwart und Zukunft, Zeit
und Ewigkeit, Sterblichkeit und Unſterblich-
keit, nicht als Folge und Urſache in Ver-
bindung gebracht haͤtte — Und was noch
mehr
[131]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
mehr iſt, Sie, die Vernunft kann keinen
einzigen Vermuthungsgrund fuͤr die Unſterb-
lichkeit ausfindig machen, wenn ſie die Zu-
kunft nicht als eine Aufloͤſung des in der
Gegenwart verwickelten Knotens — und hie-
mit die Unſterblichkeit als Folge der Sterb-
lichkeit anſehen darf.
Alſo keine Unſterblichkeit, oder eine
ſolche, wie ſie die Vernunft vermuthet, und
die hoͤhere Offenbarung verheißt. — Um
alſo in einer neuen Verwandlung mit ver-
klaͤrter Schoͤnheit hervorzugehen, muͤſſen wir
uns in der ſterblichen Huͤlle, dieſer Ver-
wandlung faͤhig machen. Um zu herrſchen
im Reiche der Unſterblichen muͤſſen wir hier,
im Lande der Sterblichen, dulden, und
kaͤmpfen, bis der Koͤrper (welcher dem
Chriſten, der an eine Auferſtehung glaubt,
und auch dem Kenner der Menſchennatur
etwas mehr iſt als ein verdruͤßlicher Balg)
bis der Koͤrper ſelbſt zerfaͤllt.
J 212. „Man
[132]Zweyter Abſchnitt.
12.
„Man wird mich als Philoſophen
ehren, wenn ich uͤber die
Schrecken des Todes erhaben, dem
gefangenen Geiſte Luft machen
kann.“
Als Philoſophen? Hoͤrt der Leichnam
wohl auch den Laut der Glocke, wenn man
ihn zu Grabe traͤgt? Oder ſchwebt etwa
der entflohene Geiſt noch uͤber dem Sarge,
um ein Zeuge des Leichengepraͤnges zu ſeyn,
und die Freunde zu zaͤhlen, die ſeine Leiche
begleiten? Waͤre Philoſophie in dem Unſinn,
wenn einer den Tod gewaltſam herbeyrufte,
um nur bald in der Leichenrede gelobt zu
werden, und dieſes Lob ſelbſt mit anzuhoͤren?
Iſt denn Philoſophie was anders als
Lebensweisheit, und die Kunſt dem Kno-
chenmanne froh entgegen zu laͤcheln, wenn
die Senſe klirrt? Iſt das Philoſophie —
dem Tode die Senſe gewaltſam aus der Hand
wenden, um (Worte, und Begriffe fliehen
einander) ſich ſelbſt nieder zu maͤhen? Und
wer ſind am Ende die Leute, die den Selbſt-
moͤrder
[133]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
moͤrder als Philoſophen preiſen? Ein Jour-
naliſt, von dem der Setzer noch etwas Ma-
nuſcript mit Ungeſtuͤm fodert, um das
letzte Blatt fuͤllen zu koͤnnen… Ein ver-
liebter Narr, dem ſeine Goͤttin mit ihrer
entſchloſſenen Sproͤdigkeit die Welt zu enge
gemacht… Ein Verleger, der vom eben
veruͤbten Selbſtmorde, wie der Raabe vom
Aaſe ſeinen Profit ſucht, und groͤßere Ver-
ſchleiß hofft, wenn er von ſeinem Klienten,
oder Goͤnner den Selbſtmord Philoſophie
nennen laͤßt, als wenn man ihn nach altem
Herkommen Unphiloſophie hieſſe… Ein
witziger Geſellſchafter, der die Unwichtigkeit
ſeiner Perſon durch das Paradoxe ſeiner Saͤ-
tze gerne verkleiſtern moͤchte… Hundert
Nachbeter, die allemal mit der Parthey,
davon ſie Unterſtuͤtzung hoffen, den Mund
auf- und zuthun, und ſich wie die Drat-
puppen, nur nach dem Zuge ihres Princi-
pals bewegen… Hundert Betrogene, die
nicht wiſſen zwiſchen der Rechten und Linken
zu unterſcheiden… Ein Candidat, der
eben ſeinen akademiſchen Curſus vollendet
hat, und nun durch freye Mienen und kuͤh-
J 3ne
[134]Zweyter Abſchnitt.
ne Meynungen deſto hitziger Brod ſucht,
je mehr ihn die ordentlichen Atteſtaten uͤber-
all zuruͤck ſchlagen… Ein Skeptiker, der
einen Theil ſeines Lebens der traurigen Be-
muͤhung, das Klare zu verdunkeln, und das
Gewiſſe ungewiß zu machen, aufgeopfert
hat… Der Leſer vollende dieſes Regiſter:
ich ſetze nur hinzu: wehe der Philoſophie,
wenn Leute, aus derley Zuͤnften, das Ver-
dienſt des Philoſophen zu beſtimmen haben,
und das Ordensband des Weiſen umhaͤngen
koͤnnen — wenn ſie wollen! Der Edle
ſchaͤmet ſich aus ihrer Hand den Ritterſchlag
zu empfangen, und o daß es dieſer Edlen
immer mehrere gaͤbe! Dann braͤche das
goͤldene Jahrhundert der Philoſophie mit
Macht heran!
Ver-
[135]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Vermiſchte Scheingruͤnde mit
kuͤrzern Antworten.
1.
„Gott hat den Menſchen nach ſei-
nem Bilde gemacht: alſo gab
er ihm das Herrſchaftsrecht uͤber
ſein Leben.“
Antwort. Alſo kann der Kuͤnſtler ſei-
nem Kunſtwerke die Eigenſchaft geben, daß
es ſich ſelbſt gemacht hat?
Eben weil der Menſch nur Bild Got-
tes, nur ein matter Stral der Geiſterſonne
iſt, ſo iſt er nicht Urbild, nicht Herr des
Lebens.
2.
„Was kann der ſchwache Sterbliche
dafuͤr, wenn ihn Schwermut, Ver-
zweiflung, Leidenſchaft uͤberraſcht?“
Antwort. Der Weiſe richtet ſein
Herz ſo ein, daß es von der unnatuͤrlichſten
Handlung nicht uͤberraſcht werden kann.
J 43. „Ich
[136]Zweyter Abſchnitt.
3.
„Ich darf mein Leben um der Reli-
gion, des Vaterlandes, des Fuͤr-
ſten, der Rechtſchaffenheit willen
preis geben: alſo auch um meines
eignen Beſten willen.“
Antwort. Ja, wenn das Beſte
deiner ganzen Exiſtenz, die Zeit und Ewig-
keit umfaßt, und das Beſte der Geſellſchaft,
des Koͤrpers, deſſen Glied du biſt, nicht
gerade das Gegentheil foderte.
4.
„Bey den Englaͤndern iſt der Selbſt-
mord eine Art von Krankheit, die
periodiſch wiederkehrt; was koͤnnen
die armen Deutſchen dafuͤr, wenn
ſie dieſe Krankheit erben?“
Antwort. Auch bey den Englaͤndern
iſt der Selbſtmord offenbar nicht bloß Wir-
kung einer Krankheit, nicht bloß Sache des
Klima, oder des Temperaments: Getraͤn-
ke, Ausſchweifungen, Lebensweiſe, Unglau-
be, Irreligion ꝛc. tragen gewiß viel dazu
bey.
Ferners,
[137]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Ferner, halte ich wohl ſelbſt das
Selbſtmorden fuͤr eine Seuche, aber fuͤr
eine ſolche, die Niemanden verpeſten kann,
der nicht will, und fruͤhe genug vorar-
beitet, daß er am Ende nicht wolle —
verpeſtet werden. —
Uebrigens halte ich den Deutſchen ſei-
nes Namens unwerth, der die Nachahmung
ſo weit treibt, daß er ſich Sitten, Laſter,
und Seuchen aus der Fremde holet, da es
uns ja an einheimiſchen noch nie gefehlet hat.
5.
„Ich bin an der aͤuſſerſten Graͤnze
der Duͤrftigkeit, und in der Gefahr,
Hungers zu ſterben: warum ſoll ich
denn meinen Abſchied von der Welt
nicht beſchleunigen duͤrfen?“
Antwort. Der Menſch lebt nicht
vom Brode allein, ſondern von jedem
Worte, das aus dem Munde Gottes
kommt. Harre auf Ihn: der Raben ſpei-
ſet, kann deiner nicht vergeſſen: der dir das
Leben gab, der hat auch Nahrung dafuͤr.
Und dann waͤge noch einen Augenblick: auf
J 5einer
[138]Zweyter Abſchnitt.
einer Schale — die Furcht, Hungers zu
ſterben, eine Furcht, die bloß Furcht iſt,
die wahrſcheinlich nie realiſirt wird, die noch
in Freude an Fuͤlle der Lebensmittel, ver-
wandelt werden kann: auf der andern Scha-
le — der Tod aus Selbſtermordung; und
wirklicher, gewiſſer Tod, gewaltſamer Tod…
Am Ende: die Memme beſchleunigt ihr Loos,
der Mann erwartet es.
6.
„Ich bin aus dem Mittelpuncte der
Anbetung ausgeworfen worden:
Schande deckt mich, ich ſehe mich
als das Ziel der allgemeinen Ver-
achtung an — Und Schande, Ver-
achtung iſt nach meinem Gefuͤhle
aͤrger als der Tod.“
Antwort. Aber doch nicht aͤrger als
der Richterblick des Schoͤpfers? Was iſt
alles Urtheil der Welt gegen die Sentenz
des Weltrichters?
7.
„Ich kann die Angſt des Gewiſſens
nicht mehr ertragen: die Rache Got-
tes
[139]Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
tes verfolget mich: mein Vergehen
iſt groͤßer, als daß ich Vergebung
hoffen koͤnnte.“
Antwort. Wer biſt du, daß du den
graͤnzenloſen Erbarmungen des Allbarmher-
zigen eine Graͤnze ſetzen darfſt, und ſagen:
bis hieher, und nicht weiter? „Mein
Vergehen iſt zu []groß, als das es“ — von
dir haͤtte ſollen begangen werden, aber nicht
ſo groß, daß es nicht ſollte koͤnnen vergeben
werden. Der dich ſchuf, iſt groͤßer als du.
„Die Rache Gottes verfolgt mich“ — Ra-
che? Gottes? Verfolgen? Wie ſchauervoll
auch das Gemaͤlde der Liebe ausfallen muß,
wenn es die Hand der Verzweiflung ent-
wirft! Gott die Liebe, verfolgen!!! Und
wenn das Gemaͤlde Wahrheit waͤre, ſo
waͤre es immer Thorheit, wie ſich ein Welt-
weiſer ausdruͤckt, in den Fluß hinunter zu
ſpringen, um der Angſt auf einer gefaͤhrli-
chen Bruͤcke zu gehen, uͤberhoben zu wer-
den. „Ich kann die Angſt des Gewiſſens
nicht mehr ertragen“ — Alſo weg mit der
Angſt. „Ich kann ihrer nicht los wer-
den“ —
[140]Zweyter Abſchnitt.
den“ — weil du nur in dich nicht hinein-
blickeſt. Aber erhebe dein Auge, und be-
trachte den ſchoͤnen blauen Himmel, und
denke dir den Vater, der ſeinem verlohrnen
Sohne entgegen laͤuft, und unter den zaͤrt-
lichen Umarmungen Freudenthraͤnen uͤber
die Wangen des Wiedergefundenen weinet,
und ſich nicht ſatt weinen kann, und ſeines
andern Sohnes daruͤber vergißt: und es
wird dir leichter um’s Herz werden.
Drit-
[[141]]
Dritter Abſchnitt.
Von den Bewahrungsmitteln vor
dem Selbſtmorde,
nebſt andern
Winken, Bitten, Warnungen,
Gemaͤlden ꝛc. ꝛc.
zur Ehre
der Vernunft, und
ihrer Schweſter, der Offenbarung.
[[142]]
Denn beyde ſind Kinder Eines Gottes.
[[143]]
Bewahrungsmittel vor dem
Selbſtmorde.
1.
Verwirf, ohne Unterſuchung, alles,
was das Gefuͤhl von der Groͤſſe
dieſer Greuelthat ſchwaͤcht. Denn
es iſt — nur Blendwerk. Glaub es mir,
auf mein Wort: denn ich habe unterſucht.
Mancher kalte Philoſoph ſpraͤche vielleicht:
unterſuche, und pruͤfe ſelbſt. Auch ich re-
de in tauſend Faͤllen ſo. Aber gerade in
dieſem rede ich nicht ſo, und wiederhole:
verwirf, ohne Unterſuchung alles, was den
natuͤrlichen Abſcheu vor dem Selbſtmorde
mindert. Denn der Arzt ſendet den Patien-
ten nicht erſt auf Univerſitaͤten, die Medizin
zu ſtudiren — ſondern ſchreibt ihm Arz-
neyen und Diaͤt vor.
So
[144]Dritter Abſchnitt.
So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein-
gruͤnde wider den Selbſtmord auf, ſon-
dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn-
de der Muͤhe des Aufloͤſens (wenigſtens
fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und
in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo-
phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn
die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ-
hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer-
den, als wie Kinder und Kranke — durch
den Glauben an das Mutterwort, und an
die Befehle des Arztes.
Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt-
morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn
ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor-
inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies
nicht einmal die Biographien der Selbſt-
moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht
geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die-
ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der
uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt
zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden
unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ-
ſen,
[145]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
ſen, und Biographien der Selbſtmoͤrder
unter aͤhnlich geſtimmten, manchen Selbſt-
mord.
Wenn dieſe Vorſchrift zu ſtrenge, zu
pietiſtiſch klingt, der leſe die Geſchichte des
Selbſtmordes L ‒ ‒ ‒ die in dem Magazin
zur Erfahrungskunde (dritten Bandes zwey-
tem Stuͤcke, Berlin bey Mylius 1785.)
erzaͤhlet wird. Ich will davon nur die
merkwuͤrdigern Umſtaͤnde ausheben.
„Des Morgens fruͤhe, da mein Be-
dienter um ſechs Uhr hinzukommt, und auch
in die Stube, wo die Conducteurs arbeiten,
herein will, um Nachtigallen zu fuͤttern,
findet er ſolche zugeſchloſſen; er gehet nach
der Stube, wo ſie ſchlafen, und ſiehet,
daß L....s Bette noch gemacht, woruͤber
er, ſo wie die uͤbrigen beiden Conducteurs,
die beym Anziehen begriffen, ſich wundern,
zuſammen nach der Stube gehen, mit Ge-
walt die Thuͤr eroͤfnen wollen, aber ſo we-
nig damit als mit dem ſtaͤrkſten Laͤrm daran,
das geringſte ausrichten koͤnnen.
KSie
[146]Dritter Abſchnitt.
Sie gehen alſo in meine Stube, wo
man auch durch eine Thuͤr hereinkommen
kann, allein auch dieſe, welche ich beſtaͤn-
dig verſchloſſen gehalten, koͤnnen ſie nicht
oͤffnen.
Von ohngefaͤhr ſiehet ſich mein Be-
dienter um, und wird ein Bund Schluͤſſel
gewahr, paſſet alle durch, und findet den
dazugehoͤrigen. Er ruft die beyden Con-
ducteurs und ſagt: ich kann nun aufſchlieſ-
ſen, allein aber gehe ich nicht hinein.
Sie kommen alſo, um mit dabey zu
ſeyn. Mein Bedienter ſchließet auf, und
da er die Thuͤre, ſo nach inwendig aufge-
het, kaum einen Fuß breit aufgemacht, ſo
ſiehet er den L…. vollkommen angezogen,
mit fliegendem Haar, ganz weiß als Kreide
ſtehen, und ſaget ſchon die Worte: Herr
L.... — um weiter zu ſprechen: was feh-
let Ihnen? aber ehe er letzteres ſagen kann,
hebt er ſchon die Piſtole in die Hoͤhe, ſetzt
ſolche ins rechte Auge, und Knall und Fall
iſt eins.
Alles aufs aͤußerſte erſchrocken, laͤuft
beſtuͤrzt die Treppe herunter — nachdem ſie
ſich
[147]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
ſich vom Schrecken erholet, gehen ſie zuſam-
men wieder herauf und finden ihn todt, oh-
ne ein Zeichen des Lebens zu geben, auf dem
Geſichte zur Erde liegend, und im Blute
ſchwimmend. Auf ſeinem Tiſche lieget der
Werther aufgeſchlagen, S. 218, wo es
heißt: es iſt zwoͤlf — ſie ſind gela-
den, u. ſ. w.
Sogar das Leſen ſolcher Schriften,
die wider den Selbſtmord geſchrieben ſind,
kann einem Schwermuͤthigen, der mit Ge-
danken vom Selbſtmorde zu kaͤmpfen hat,
zur Falle werden.
Der philoſophiſche Arzt erzaͤhlet (im
zweyten Stuͤcke 2. Aufl. S. 208.) ein auf-
fallendes Beyſpiel: „Ein trockener Schrift-
ſteller hatte ein weitlaͤufiges Werk vom Selbſt-
morde geſchrieben. Er bewies ſehr ſtrenge,
daß der Selbſtmord gegen Gott, gegen die
Religion, gegen den Staat, und gegen alle
Vernunft waͤre. Ihm begegnete einſtens
ein anderer Englaͤnder in voͤlligem Tiefſinne.
Man ſah ihm ſeine ſchwermuͤthigen Ent-
K 2ſchluͤſſe
[148]Dritter Abſchnitt.
ſchluͤſſe an dem Geſichte an. Wo wollen
ſie hin, mein Freund, ſagte der Schrift-
ſteller? Ich gehe nach der Temſe, mich zu
erſaͤufen, ſagte der finſtere Englaͤnder. Ey,
gehen Sie doch nur noch dieſesmal nach
Hauſe, ſagte jener, und leſen ſie doch mein
ſo gruͤndliches und ausfuͤhrliches Buch vom
Selbſtmorde. Ja wohl, erwiederte der
Englaͤnder, eben das oͤde Durchleſen ihres
unſchmackhaften Buches hat mir eine ſo ver-
drießliche lange Weile verurſacht, daß ich
mich entſchloſſen habe, mir das Leben zu
nehmen.“
Gewiſſen zum Truͤbſinn oder Schwaͤr-
merey geneigten Seelen koͤnnen ſogar Schrif-
ten fuͤr die Unſterblichkeit gefaͤhrlich werden.
So hat ſich Cleombrotus, als er Plato’s
Buch von der Unſterblichkeit geleſen, von
einer Mauer ins Meer geſtuͤrzt, um ſchnell
aus dieſem Leben zur Unſterblichkeit zu
gelangen. —
Sey nie Lobredner der Selbſtmoͤr-
der — auch nicht gegen deine Ueberzeugung,
um
[149]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
um zu witzeln; denn auch die laͤcherlichſten
Einfaͤlle des Witzes wiſſen ſich in der Stun-
de der Verſuchung die Miene der Wichtig-
keit zu geben. Auch iſt’s Weisheit des
Juͤnglings bey dem menſchenfeindlichen Lob-
preiſen des Unnatuͤrlichſten taub zu ſeyn;
„Kuͤtte in den Ohren“ — iſt auch da
hoͤchſte Weisheit, iſt beſſer als alle War-
nungen vor dem Sirenengeſange.
2.
Lerne Maͤßigung in allem, was Freu-
de oder Kummer, Begierde oder Furcht
heißt. Der Freund der Maͤßigung kann
unmoͤglich Selbſtmoͤrder werden. Denn
die hoͤchſte Zerruͤttung laͤßt ſich nicht denken,
wo die Empfindungen Ordnung und Maaß
kennen. Ordnung und Maaß der Empfin-
dungen — ſieh da das große weite Feld
der praktiſchen Vernunft.
Das iſt hoͤchſte, praktiſche Vernunft,
in der Ebbe und Flut des menſchlichen Stre-
bens das Scepter der Oberherrſchaft nicht
aus den Haͤnden laſſen, und jeder Woge
K 3von
[150]Dritter Abſchnitt.
von Neigung mit der Fingerſpitze gebieten
koͤnnen: lege dich, und jedem Gemurmel
der Eigenliebe: verſtumme. Dieſe hoͤchſte,
praktiſche Vernunft heißt in der verachteten
Sprache des Evangeliums: Selbſtverlaͤug-
nung, ein Begriff, der in den beliebte-
ſten, und zahlreichſten Schriftſtellereyen des
Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann,
ſo wenig die Sache ſelbſt, die wirkliche
Selbſtverlaͤugnung, bisher bey den Meiſten
hat Eingang finden koͤnnen. Es iſt trau-
rig, daß die Fahrten der theoretiſchen (y)
Vernunft ſo viele Lobredner haben, unge-
achtet der vielen Sandbaͤnke und Meerſtru-
del, die ſie allemal gefaͤhrlich machen, im
Gegentheile die Souveraͤnitaͤt der prakti-
ſchen Vernunft uͤber das tauſendwogige Men-
ſchenherz, die allemal nur mit Freude und
Heiterkeit lohnet, ſo wenig Freunde findet.
Man hat dem Chriſtenthum vorgewor-
fen, daß es die Rechte der menſchlichen Ver-
nunft kraͤnket: und ich halte es fuͤr die erſte
Eigenſchaft des Chriſtenthums, daß es die
Ver-
[151]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Vernunft in ihre koͤnigliche Rechte wieder
einſetzt, und den Thron ihrer Alleinherr-
ſchaft gruͤndet, daß ihn das Univerſum nicht
umſtoſſen mag.
Das koͤnigliche Recht der Vernunft
iſt herrſchen — uͤber die rebelles ani-
mi motus.
Und dieſes Koͤnigreich der Venunft
iſt auch nicht von dieſer Welt, iſt ohne
Pracht und Praͤtenſion, gegruͤndet auf Wahr-
heit und Kampf, unſichtbar und inner-
lich, kommt ohne Geraͤuſch und wirket
mit Macht.
Wohl dem, der dieß Koͤnigreich der
Vernunft zu erweitern, und zu befeſtigen
ſucht, und ihr zuerſt ſeine Sinnlichkeit,
ſeine Launen, und alles Regen ſeines Her-
zens unterwirft. Er iſt Koͤnig durch ſie,
und kann denn auch ſeinen Bruͤdern, die das
eiſerne Joch der Sinnlichkeit mit ſchoͤnen
Baͤndern umwunden, ohne zu ſeufzen —
vielmehr jauchzend, und gluͤckſelig in ih-
rem Wahn forttragen, die Augen oͤffnen,
daß ſie erkennen ihren Sklavenſtand, und
Muth empfangen die Feſſel zu brechen, und
K 4auf-
[152]Dritter Abſchnitt.
aufrufen: auch ich bin zum Koͤnige ge-
bohren!
Allein nichts iſt verkannter, ungeſchaͤtz-
ter, als die Koͤnigswuͤrde der menſchli-
chen Vernunft, dieſer ſchoͤne Zug in dem
Ebenbilde Gottes — dem Menſchen: oder,
wenn dem metapherſcheuen Geſchmacke eini-
ger meiner Leſer dieſe Ausdruͤcke zu ſinnlich
ſind: nichts iſt verkannter, ungeſchaͤtzter als
die Grundbeſtimmung der Menſchenver-
nunft, den geheimſten, verſchwiegenſten
Regungen des Herzens gegen die Stimme
des Gewiſſens, mit Macht entgegen zu ar-
beiten, bis volle Einſtimmung aller Re-
gungen des Herzens mit dem Gewiſſen, das
iſt, mit dem Befehle der Gottheit er-
kaͤmpfet iſt.
Da hat nun das Chriſtenthum ein
dreyfaches Verdienſt um dieſe Wuͤrde der
Menſchenvernunft, erſtens, weil es uns
darauf aufmerkſam macht; zweytens, weil
es uns die Behauptung dieſer Wuͤrde zur
ſtren-
(z)
[153]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
ſtrengen Pflicht macht; drittens, weil es
uns Kraft verheißt und giebt, die Herrſchaft
des Geiſtes uͤber die Empoͤrungen des Flei-
ſches feſt zu gruͤnden.
Alſo nicht nur die kalte Vorſchrift,
lerne Maͤßigung, muß man dem Juͤng-
linge geben, eine Vorſchrift, die alle Wei-
ſen aller Jahrhunderte wohl auch gegeben
haben, ſondern hinweiſen muß man ihn zur
Quelle, wo er nicht nur Unterricht, ſon-
dern auch Kraft ſchoͤpfen kann, die empfoh-
lene Maͤßigung zu erobern.
Und dieß wollte ich.
3.
Huͤte dich vorzuͤglich vor den Leiden-
ſchaften, die ich eigentlich die ſelbſtmoͤr-
deriſchen nennen moͤchte, weil ſie die mei-
ſten Selbſtmorde erzeugen. Sie heiſſen:
Geiz, Stolz, Schwelgerey, Wol-
luſt(z). Und weil es in der ſittlichen Welt
K 5ſo
[154]Dritter Abſchnitt.
ſo wenig einen Sprung geben kann, als we-
nig ihn die Naturforſcher in der Koͤrperwelt
gelten laſſen, ſo bebe zuruͤck von den er-
ſten Lockungen dieſer Moͤrderinnen. Der
Schwelger, der ſich geſtern hingerichtet,
dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an
den Selbſtmord, ob er gleich ſein Vermoͤ-
gen je laͤnger je mehr zuſammenſchmelzen
ſah — dachte nicht an den Selbſtmord, als
er die erſten tauſend Thaler gegen fuͤnf Pro-
zente aufnahm. Der bloße Gedanke an
den Tod war ihm unertraͤglich: es konnte
ihm alſo der Gedanke an Selbſttoͤdtung
ſchon gar nicht zu Sinne kommen. Aber
als nach mehreren Jahren Schulden auf
Schulden gehaͤufet wurden; als Armuth
und Schande und Fluch ihn mit vereinigter
Macht
(z)
[155]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Macht geiſſelten, als alle Ausſichten Geld
aufzutreiben, und ſeine Ehre zu retten
ſchwanden — da trat die ſchwarze Verzweif-
lung mit ihrem fuͤrchterlichen Plane zu ihm
hin, und der Selbſtmord ward ihm, als
einziger Retter, willkommen.
So behandeln auch die uͤbrigen drey
Leidenſchaften, Stolz, Geiz, Wolluſt ihre
Sklaven. Sie ſind die vollkommenſten So-
phiſtinnen, die ſich denken laſſen. Zuerſt
verſprechen ſie ihren Freunden nur Gluͤckſe-
ligkeit, zaubern ihnen nur Paradieſe vor,
fuͤhren ſie am zweyfachen Gaͤngelbande des
Genuſſes und der Erwartung von Abgrun-
de zu Abgrunde, verheiſſen immer, was ſie
nicht geben koͤnnen, taͤuſchen immer und
ſaͤttigen nie — und reden dabey kein Sylb-
chen
(z)
[156]Dritter Abſchnitt.
chen vom Selbſtmorde: auf einmal, da die
Zeit den Trug der Verheiſſungen aufdecket,
und der Elende ſich in allen ſeinen Hoffnun-
gen betrogen findet, da ruͤcken ſie mit dem
bis auf den Augenblick geheim gehaltenen
Projecte heraus, und weiſen mit ausgeſtreck-
tem Zeigefinger auf Selbſtentleibung, als den
einzigen Ausweg. Der Ungluͤckliche folgt
auch dem letzten Rath ſeiner angebeteten
Freundinn, wie er den fruͤhern blind gefol-
get war — und iſt nicht mehr. Kurz: in
den Praͤmiſſen paradirt nichts als Luſt, Se-
ligkeit, und in der Concluſion ſteckt der
Selbſtmord.
Was iſt Sophiſterey des Herzens ge-
gen den Verſtand, wenn dieß keine iſt?
Und was iſt Vernunftſache, wenn die Auf-
deckung der Sophiſtereyen keine iſt? — —
Laßt uns alſo, Bruͤder, denen das Men-
ſchenleben theuer iſt, die uͤberſchriene Ver-
nunft in Schutz nehmen gegen die Sophiſte-
reyen des Herzens; laßt uns die Fehlſchluͤſ-
ſe der Leidenſchaft ſcharf pruͤfen, und die
Irrgaͤnge des vom Herzen verfuͤhrten Ver-
ſtandes, mit der Fackel der geſunden Be-
griffe
[157]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
griffe beleuchten, damit er einmal anbreche,
der Tag der Vernunft, und die Sophiſte-
reyen der Sinnlichkeit, wie die Schatten der
Nacht von der kommenden Morgenroͤthe,
verſcheuchet werden. Sehet, Freunde, wie
ich fuͤr das Reich der Vernunft eifere, aber
fuͤr jenes, das ſo wenig mit Unglauben als
mit Aberglauben zu thun hat, das weder
der Hypotheſenbauerey, noch der Zweyfeley
in die Haͤnde arbeitet, das nur die Men-
ſchenwuͤrde aus Licht ſtellt, und uͤbrigens in
hoͤchſter Harmonie mit dem Reiche der Of-
fenbarung lebt, ihr Wege bahnt, und von
ihr Licht und Kraft empfaͤngt.
4.
Laß dich nie vom Gebethe, das heißt,
vom Kinderſinn gegen den Allvater der
Menſchheit, oder, was eines iſt, vom
Glauben an die Fuͤrſehung.
Ich achte es der Muͤhe werth, zu be-
weiſen, daß dieſes Bewahrungsmittel recht
verſtanden, und recht gebraucht, das ein-
zige allgemeinhinlaͤngliche ſey.
Die
[158]Dritter Abſchnitt.
Die naͤchſten Urſachen des Selbſtmor-
des ſind, wie es theils aus dem bisherge-
ſagten erhellet, theils bey flachem Nachden-
ken einleuchten muß,
- 1. boͤſes Gewiſſen, das ſich ſelbſt nim-
mer ertragen kann, oder - 2. Furcht der Schande, der Strafe,
die man bey gewiſſer oder wahrſchein-
licher Entdeckung großer Verbrechen,
oder wie immer ausſtehen muͤßte,
oder - 3. unerſaͤttlicher Stolz, der auf das em-
pfindlichſte gekraͤnkt worden, oder - 4. Geldgier, als Quelle der Verwirrung,
Verzweiflung, oder - 5. Wolluſt, Verliebtheit, Verruͤckung
aus Liebe, oder - 6. Leichtſinn, Ueppigkeit, oder
- 7. Modeſucht, einen großen Geiſt zu
ſpielen, oder - 8. Falſcher Heroismus, der dem Fein-
de das ganze Vergnuͤgen nicht goͤnnt,
geſiegt zu haben, oder
9. Muͤde-
[159]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
- 9. Muͤde-, ſatt-ſeyn des gewoͤhnlichen
Guten, oder - 10. Truͤbſinn, Melancholie, Hypochon-
drie, oder - 11. Selbſtbetrug, unerleuchtete Sehn-
ſucht nur recht bald zu Gott zu kom-
men, ꝛc. ꝛc. ꝛc.
Alle dieſe Urſachen laſſen ſich nun auf Eine
zuruͤck fuͤhren, naͤmlich: auf Mangel am
feſten, erleuchteten, thaͤtigen Glauben
an die Fuͤrſehung. Denn wuͤrde dieſes
feſte, erleuchtete Vertrauen noch im Augen-
blicke, der ſchon zum Selbſtmorde beſtimmt
iſt, lebendig, ſo wuͤrde im naͤmlichen Augen-
blicke der Truͤbſinn von dem Allerfreuenden
neue Lebensfreuden, und das zerruͤttete
Gewiſſen von dem Allerbarmenden Verge-
bung aller Fehltritte mit Zuverſicht erwar-
ten; ſo wuͤrde die Sehnſucht bald bey
Gott zu ſeyn, dem Weiſeſten die Beſtim-
mung des letzten Augenblickes getroſt uͤber-
laſſen; ſo wuͤrde ſich die beginnende Ver-
zweiflung des Stolzen, des Wolluͤſtigen,
des Geldgierigen ꝛc. und das Muͤdeſeyn an
gewoͤhn-
[160]Dritter Abſchnitt.
gewoͤhnlichen Vergnuͤgungen, und die elen-
de Nachaͤffung des Heroismus in ſtilles
Anſchmiegen an die Huld des Allmaͤchtigen
verwandeln — das heißt, es wuͤrde kein
Selbſtmord mehr ſeyn.
Wenn nun alle Selbſtmorde aus Man-
gel am feſten, erleuchteten Vertrauen auf
die Fuͤrſehung entſtehen, und wenn dieß
feſte, erleuchtete Vertrauen eigentlich Gebet
iſt: ſo ſoll man doch die Quelle des Selbſt-
mordens da aufſuchen, wo ſie liegt, und die
Quelle zu verſtopfen trachten, die wirklich
Quelle des Jammers iſt, wenigſtens vom
Gebete nicht mehr im verachtenden Tone
ſprechen, und die Empfehlung deſſelben der
Dummheit uͤberlaſſen.
Bruͤder, wer ſich des Gebetes ſchaͤmt,
der gleicht dem Sohne, der ſich ſeines Va-
ters ſchaͤmet. Wer an Gott glaubt, glaubt
an die Kraft des Gebetes, oder er weis nicht,
was er glaubt.
Drum feuriger Juͤngling, wenn dir
das Menſchenleben lieb iſt, ſo laß dich nicht
vom Gebete.
5. Suche
[161]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
5.
Suche dir einen Herzens- und Ge-
wiſſensfreund, der Wahrheit und Tugend
uͤber alles ſchaͤtzt, und dem du dein Inner-
ſtes aufzudecken Kraft und Luſt fuͤhleſt: und
wenn du ihn gefunden haſt, den Schatz oh-
ne ſeines gleichen, ſo bewahre ihn wie dei-
nen Augapfel, denn ſein Freundeswort wird
dich vor tauſend Thorheiten, und vor der
groͤſten, ſich das Leben zu rauben, bewah-
ren. Dieſem deinem Freunde entdecke jede
Verſuchung zum Selbſtmorde gleich im er-
ſten Angriffe: er wird dich das Unnatuͤrliche
der Sache fuͤhlen, und noch zu rechter Zeit
verabſcheuen machen. Sein ernſter Blick
wird dich durch die gefaͤhrlichſten Auftritte
deines Lebens begleiten: ſein Beyſpiel in
den reizendſten Verſuchungen dein Schutzen-
gel ſeyn, und dir auf manchem gefaͤhrlichen
Pfade, ehe du einen ungluͤcklichen Schritt
thuſt, ſanft ins Ohr fliſtern: Zuruͤck, da
liegen Fußangeln —
L6. Diſpu-
[162]Zweyter Abſchnitt.
6.
Diſputire nie mit dir ſelbſt uͤber
den Selbſtmord, ſuche keine Beweisgruͤnde
fuͤr ihn auf, ſondern kaͤmpfe gegen jede Luͤ-
genidee, die den unermeßlichen Werth eines
Gutes, das ſo leicht zerſtoͤrbar, und durch-
aus unerſetzbar iſt, verkleinert. Wer ſich
mit Feinden dieſer Art in Diſpute einlaͤßt,
iſt ſo viel als uͤberwunden: und wer uͤber
Gebote vernuͤnftelt, ſteht am Rande der
Uebertretung. Die Verfuͤhrungsgeſchichte
unſrer Stammmutter Heva, ihr Geſpraͤch
mit der Schlange uͤber das Warum des
Verbotes, dieſe erſte und ungluͤcklichſte Di-
ſputation auf Gottes Erdboden, iſt ein tref-
fendes Sinnbild von den Verfuͤhrungsge-
ſchichten ihrer Kinder.
Beſon-
[163]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Beſondere Bewahrungsmittel
fuͤr
Truͤbſinnige.
1.
Sieh den Gedanken, es iſt mir nimmer
zu helfen, als den aͤrgſten Feind
deines Lebens an. Laß alſo dein Herz nie
vertraut mit ihm werden. Und damit es
dich nicht hinterliſte, und al’ incognito
mit ihm Freundſchaft mache, ſo arbeite mit
Macht allen den feindſeligen Vorſtellungen
entgegen, die immer nur die Finſterniß der
Gegenwart, die Ungewißheit der Zukunft,
und die Bereuungswuͤrdigkeit der Vergan-
genheit vergroͤßern. — — Die abgenutz-
teſten Wahrheiten waͤren auch hier die brauch-
bareſten, z. B. ſo lange ein Gott im
Himmel iſt, ſo giebt es immer noch Ei-
nen, der helfen kann: und ſo lange der
Menſch auf dieſen Einen ſein Vertrauen
ſetzet, kann ihm immer noch geholfen
werden.
L 22. Ler-
[164]Dritter Abſchnitt.
2.
Lerne warten, denn entweder aͤndert
ſich die Geſtalt der Dinge — oder dein Herz.
Lerne warten, denn zum Selbſtmorde iſt’s
immer noch Zeit genug: und wenn du wirk-
lich zu kraftloß wuͤrdeſt, dieſe Handlung zu
vollfuͤhren, wohl dir alsdann, daß die Na-
tur der Dinge den unnatuͤrlichſten Plan zer-
nichtet: ſie handelte weiſer als du! Lerne
warten, denn wenn du ihn einmal gethan
haſt, den ſchauervollen Schritt, magſt du
ihn ewig nicht wieder zuruͤck nehmen. Ler-
ne warten, denn da kann nie periculum
in mora werden. Lerne warten, denn
wer warten kann, der will ſeines Lebens wie-
der froh werden, und wer dieß will, der
bedarf, fuͤr dieſen Augenblick wenigſtens,
keiner Warnung vor dem Selbſtmorde.
3.
Bleib nie allein, wenn das duͤſtere
Stuͤndchen kommt. Die Einſamkeit hat die
meiſten Selbſtmorde aus Truͤbſinn — zur
Reife gebracht. Wie die Nacht die Mutter
der
[165]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
der Geſpenſter, und aller Kinderfurchten iſt:
ſo erregt oder naͤhrt wenigſtens die Einſam-
keit alle die finſtern Entwuͤrfe des lebenſat-
ten Truͤbſinns.
4.
Mache es dir zum unverbruͤchlichen
Geſetze, im Sturme des Truͤbſinns nie
einen Entſchluß zu faſſen, und laß es ei-
nen Beweis deiner Gewiſſenhaftigkeit ſeyn,
dieſem Vorſatz auch in Kleinigkeiten getreu
zu bleiben, und ihn recht oft zu erneuern.
5.
Sieh es als einen Grundartikel der
Natur- und Chriſtus-Religion an,
- I. daß derjenige, der dich in ſo ein duͤſte-
res Gefaͤngniß (wie du deinen Koͤr-
per nenneſt) eingeſchloſſen hat, es aus
den liebevolleſten, und weiſeſten Ab-
ſichten gethan habe. - II. Daß derjenige, der dir die Fibern ge-
flochten, und deinen Koͤrper gebauet,
dir auch Kraft geben koͤnne, und wer-
de, in dieſem deinem Koͤrper zufrieden
L 3zu
[166]Dritter Abſchnitt.
zu ſeyn, und mit Zufriedenheit
auszuharren. - III. Daß derjenige, der dir dieſe finſtere
Wohnung angewieſen, dich zur rech-
ten Zeit ſchon ſelbſt heraus fuͤhren
werde.
Sieh da den Katechismus fuͤr Truͤb-
ſinnige!
Wenn der Truͤbſinnige die Religion
nicht von der Seite betrachtet, ihre Grund-
lehren nicht fuͤr ſein Herz individualiſirt,
ſo kann ihm die Religion ſelbſt, dieſe Freun-
dinn des Lebens und die Quelle der men-
ſchenwuͤrdigſten Freuden, zur Folter und
zum Grabe werden.
Wenn dir alſo dein Leben theuer iſt,
Mann vom ſchwarzen Blute, und langſa-
men Kreislaufe, ſo laß dir dieſe drey großen
Wahrheiten, die ſich in dieſe Eine aufloͤ-
ſen, daß Gott auch fuͤr dich Gott, die
Liebe auch fuͤr dich Liebe iſt, den Inhalt
deiner taͤglichen Morgenbetrachtung ſeyn,
und leichter wird dir’s werden um’s Herz,
und Freude wird deinen Blick aufheitern,
und
[167]Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.
und die Dinge werden ſich ihm in einer
wahren, Freude-athmenden Geſtalt zei-
gen. —
6.
Befeſtige dich in dem Troſtgedanken,
den wir aus dem Fuͤllhorn der hoͤhern Of-
fenbarung empfangen haben, und der fuͤr
ſich allein, wenn wir ihr ſonſt keine weitere
Vortheile, keine andere Aufſchluͤſſe zu dan-
ken haͤtten, die Verdienſte derſelben um die
Ruhe und Gluͤckſeligkeit des Menſchenge-
ſchlechtes ſchon ins Unendliche erhoͤhen muͤß-
te — befeſtige dich in dem Troſtgedanken,
der allein im Stande iſt, alle Wunden zu
heilen, und alle Kummerthraͤnen zu trock-
nen — befeſtige dich in dem Troſtgedan-
ken, daß dem Gottliebenden alle Dinge zum
Beſten dienen — alſo auch dem Truͤbſinni-
gen ſein Temperament, alſo auch dem Schwer-
leidenden die Laſten der Leiden, die auf ihm
liegen, wenn er nur vertrauensvoll auf-
blickt zu dem, der auch den Truͤbſinnigen
ſchuf zu ſeinem Bilde, und auch des Schwer-
belaſteten Vater iſt.
L 47. Suche
[168]Dritter Abſchnitt.
7.
Suche dein Temperament zu ver-
beſſern, das heißt, dem Hange zum Truͤb-
ſinn entgegen zu arbeiten;
- erſtens: durch Umgang mit Freude-ver-
breitenden Seelen; - zweytens: durch Lectuͤre ermunternder
Schriften; - drittens: durch das Studium der Natur,
die ſo geſchaͤftig iſt, fuͤr den Men-
ſchen Segen und Luſt zu gebaͤh-
ren, die ſchon fuͤr ihn ſorgt, und
Anſtalten zu ſeinen Vergnuͤgungen
macht, ehe er aus Mutterleibe
kommt. - viertens: durch Betrachtung Gottes von
der liebvolleſten Seite, die fuͤr alle
Menſchen die wahrſte, fuͤr den
Truͤbſinnigen die einzige unſchaͤd-
liche iſt; - fuͤnftens: durch weiſe Beſchaͤftigung, die
zerſtreuet, vor langer Weile be-
wahret,
[169]Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.
wahret, und das fuͤr Melancholi-
ſche ſo gefaͤhrliche Mitſichſelbſt-
wohnen unterbricht. - ſechstens: durch treue Befolgung deſſen,
was dir edle Freunde, und wei-
ſe Aerzte rathen. Denn es giebt
Faͤlle, wo der Moraliſt umſonſt
an Aufheiterung des Truͤbſinni-
gen arbeitet, wenn ihm der Arzt
nicht vorarbeitet, oder mitar-
beitet.
Seneka und das Chriſtenthum —
Zur Ehre der Wahrheit und des leztern.
Es iſt unwiderſprechlich, daß Seneka den
Selbſtmord ex inſtituto gelehret
habe: man darf ſeinen 58. und 70. Brief
nicht ſtudiren, nur leſen, um ſich da-
von zu uͤberzeugen. Und ich muß es gegen
mein Jahrhundert bekennen, daß er ihn
weit ſcharfſinniger und ſcheinbarer verthei-
L 5diget,
[170]Dritter Abſchnitt.
diget, als viele neuere, die arm an Se-
neka’s Kraft waren, und doch durch Ver-
theidigung des Unnatuͤrlichen glaͤnzen woll-
ten. Es iſt ſo meine Art, daß ich gern
jedes Ding in ſeinem Werthe laſſe, den
Seneka in ſeinem, und das Chriſtenthum
in ſeinem. Und es mag Seneka, als
Weltweiſer, noch lange leuchten, wenn er
gleich im Gegenſatz mit der hoͤhern Of-
fenbarung, in den Schatten tritt. Und
ich fuͤhle immer eine Unbehaglichkeit, wenn
ich von Vergleichungen zwiſchen unver-
gleichbaren Dingen reden hoͤre. Allein,
da wir in einer Zeit leben, wo man ſich’s
zum Geſchaͤfte macht, das Chriſtenthum
in den Schatten, und die Weisheit des
gelehrten Alterthums in’s Licht zu ſetzen,
ſo kann ich nicht umhin, zwiſchen den
Grundſaͤtzen des Chriſtenthums, und jenen
der Stoa, wenigſtens wie ſie durch den
Mund des Seneka ſpricht, eine Parallel
anzuſtellen.
Stellen
[171]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Stellen aus dem 58 Briefe,
ſamt Anmerkungen.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| So wollen wir denn be- ſtimmen, ob man im grau- en Alter das Ende der Ta- ge nicht ab- warten, ſon- dern dem Le- ben ſelbſt ein Ende machen muͤſſe. | So wollen wir denn die Jugend- und Mannsjahre ſo zubringen, daß das graue Alter noch eine Quelle der Freude fuͤr uns werden kann, und daß wir mit ſtets unbe- ſiegter Gegenwart des Geiſtes dem kommenden Tode entge- gen ſehen, den verzoͤgernden getroſt erwarten koͤnnen: weil es doch laͤngſt ausgemacht iſt, daß wir ihn ſo wenig beſchleu- nigen duͤrfen, als wir Urſa- che haben, vor ihm zu zit- tern, wenn wir weiſe gele- bet haben. Immer |
Itaque de iſto ſeremus ſententiam, an opor-
teat faſtidire ſenectutis extrema, et finem non
operiri ſed manu facere. — Prope eſt à timen-
te, qui fatum ſegnis exſpectat: ſicut ille ul-
tra
[172]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Das ſchick- ſal traͤge er- warten graͤnzt an Furchtſam- keit: ſo wie es ein Beweis der Weinliebe iſt, wenn ei- ner die Flaſche rein ausleeret, und auch die Hefe trinkt. | Immer und ganz fuͤr ſei- ne Pflicht, und gar nicht fuͤr ſein Schickſal beſorgt ſeyn — das graͤnzt nicht et- wa an Weisheit, ſondern iſt ſelbſt hoͤchſte Menſchenweis- heit: ſo wie es ein Beweis der vollkommenſten Tugend iſt, wenn einer weder auf Laͤn- ge noch Kuͤrze des Lebens rech- net, ſondern jeden Augenblick, der ihm wird, zum thaͤtigen Preiſe des Schoͤpfers, das heißt, zu eignem, und fremden Wohl nutzt, als waͤre er der einzige und letzte dieſes Lebens. |
| Wenn die Glieder des Koͤrpers zu ih- ren Amtsver- richtungen un- nuͤtz ſind: wa- | Wenn gleich die Werkzeu- ge des Koͤrpers zu allen ihren Verrichtungen untauglich wer- |
tra modum deditus vino eſt, qui amphoram
exſiccat, et faecem quoque exſorbet. — Si
inutile miniſteriis eſt corpus, quidni oporteat
educere animum laborantem? —
Et
[173]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| rum ſoll man dem ſchwerbe- laſteten, und nach Freyheit ringenden Gei- ſte nicht her- aus helfen duͤrfen? | werden: ſo bleiben ſie deßun- geachtet immer Gottes Eigen- thum, wie der belebende Geiſt. Er alſo, der Vater der Gei- ſter, der den Menſchengeiſt in den Koͤrper eingeſchloſſen, wird dem naͤmlichen aus dem Koͤrper herauszuhelfen wiſſen, wann es ſeine Weisheit fuͤr gut findet. Eigenthumsrech- te, die die Menſchen unter- einander haben, ſind unantaſt- bar: ſoll es das Eigenthum Gottes — dem Menſchen nicht auch ſeyn? |
| Und ich glaube, daß man mit dem Selbſtmorde | Der Mann, der in freudi- ger Anerkennung der hoͤchſten Oberherrſchaft Gottes er- graut, hat Heiterkeit des Gei- ſtes |
Et fortaſſe paulo ante, quam debet, fa-
eiendum eſt, ne eum fieri debeat, facere non
poſſis. — Non relinquam ſenectutem, ſi me
totum mihi reſervabit: totum autem ab illa
parte
[174]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| nicht zu lange zuwarten muͤſ- ſe, ſonſt moͤch- te man im Zeitpuncte, wo man ſeiner aͤuſſerſt be- duͤrfte, zur Selbſtermor- dung zu ſchwach ſeyn. | ſtes genug, jede Beſchwerde des hohen Alters, auch wenn die Glieder des Leibes ihre Dienſte allmaͤhlich ver- ſagen, zu tragen: bedarf al- ſo des elendeſten Mittels nicht, ſich von dieſer Beſchwerde zu befreyen. Auch wenn die Hand erkaltet, das Auge bricht, die Lippe erſtarrt, — blickt der Geiſt noch ruhig in die Zu- kunft, und harrt Gottgelaſſen dem Feſttage der Aufloͤſung entgegen. Und wenn, was das aͤuſſerſte iſt, die anwach- ſenden Schmerzen dem gepruͤf- ten Dulder auch das Selbſt- bewußtſeyn raubten, was verloͤre er dadurch? Nichts. Das |
parte meliore. At ſi coeperit concutere men-
tem, ſi partes eius convellere, ſi mihi non vi-
tam reliquerit, ſed animam: proſiliam ex aedi-
ficio putrido ac ruenti. —
Morbum
[175]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Das iſt eben die Groͤße des Gottesverehrers, daß ihn ſelbſt der Verluſt des Bewußtſeyns nicht ungluͤcklich machen kann. Gott kennet die Seinen, auch wenn ſie ſich nicht mehr ken- nen — ihrer nicht mehr be- wußt ſind. | |
| Wenn ich im Alter noch ganz mein bin, wenn der beſ- ſere Theil, der Geiſt, noch un- geſtoͤrt ſeine Arbeit thun kann: dann will ich ger- ne ausharren. | Der Weiſe, den das Evan- gelium bildet, bliebe unerſchuͤt- tert, wenn auch der Welten- bau uͤber ſeinem Haupte zu- ſammenbraͤche: warum ſollte er in dem morſchen Gebaͤude ſeines Koͤrpers nicht aushar- ren, bis es vollens eingeſtuͤrzt und ihm freyen Austritt oͤf- net? Horaz ruͤhmt es wohl auch von ſeinem entſchloſſenen, recht- |
Morbum morte non fugiam, duntaxat ſa-
nabilem, nec animo officientem: non afferam
mihi manus propter dolorem. Sic mori vinci
eſt. Hunc tamen ſi ſciero perpetuo mihi eſſe
patien-
[176]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Aber wenn das hohe Alter den Geiſt zu quaͤlen an- faͤngt, wenn es mir kein Leben mehr, ſondern nur die Seele uͤbrig laͤßt: ſo wer- de ich wohl ſelbſt aus dem morſchen und einſtuͤrzenden Stockhauſe heraus ſprin- gen duͤrfen. | rechtſchaffenen Manne, quod impavidum ferient ruinae. Aber wie wuͤrde er das Kra- chen des Welteinſturzes ertra- gen koͤnnen, wenn er das Zer- fallen ſeines Koͤrpers nicht aushalten kann? Vielleicht be- ſteht darinn der groͤßte Ruhm des Chriſtenthums, daß es Kraft giebt, das zu leiſten, wozu ſich nichtchriſtliche Wei- ſe anheiſchig machen. Uebri- gens wird der menſchliche Geiſt von dem einſtuͤrzenden Koͤr- pergebaͤude nicht erſchlagen: er hat alſo keine Urſache, ſei- ne Abreiſe ſo ſehr zu beſchleu- nigen, um nur dieſem Ein- ſturze zuvor zu kommen. |
| Wenn die Krankheit | Auch die ſchmerzhafteſte Krankheit kann mich (die er- ſten |
patiendum, exibo non propter ipſum, ſed
quia impedimento mihi futurus ad omne, pro-
pter quod vivitur. — Qui propter dolorem
[177]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| heilbar, und dem Geiſte unhinderlich iſt, will ich ihr, durch Selbſt- mordnung, kein Ende machen: wegen des Schmerzens werde ich nie Hand an mich legen, denn ſo ſterben hieſſe uͤberwunden werden. Wenn ich aber vor- herſehen kann, daß der Schmerz kein Ende haben werde, ſo wer- | ſten Anfaͤlle und den Fall des verlornen Bewußtſeyns ab- gerechnet) nicht an allem hin- dern, wozu ich geſchaffen bin: vielmehr giebt ſie mir Gele- genheit, durch Erduldung des Schmerzens die Groͤße des Geiſtes zu beweiſen, und ihn durch Uebung noch ſtaͤrker zu machen. Am ruhigen Spe- kuliren kann die Krankheit den Menſchengeiſt hindern, aber ja nicht am ruhigen Forttra- gen der aufgeladenen Buͤrde. Und dieß letztere iſt eine edle- re Verrichtung des Geiſtes, als das erſte. Freylich einen Brief an ſeinen Lucilius uͤber die Zuverlaͤßigkeit des Selbſt- mordes zu ſchreiben, dazu koͤnnte allenfals der kranke Seneka |
moritur, imbecillis eſt et ignavus: ſtultus,
qui doloris cauſa vivit.
M
[178]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| de ich aus der Huͤtte heraus gehen, nicht wegen des Schmerzens, ſondern weil er mir hinder- lich ſeyn wuͤr- de, das zu ver- richten, weß- wegen ein Menſch lebet. | Seneka zu wenig Kraft haben: daran koͤnnte ihn der Schmerz hindern. Aber die kranken, wie die geſunden Tage aus der Hand des Schoͤpfers dank- bar anzunehmen, und Ihn mit ſtiller Geduld fuͤr beyde preiſen: dazu kann der kranke Chriſt nie zu wenig Kraft ha- ben: daran kann ihn kein Schmerz hindern, wenn er nur nicht ſelbſt will. |
| Schwach und feig iſt der, welcher Schmerzens halber ſtirbt: aber der iſt ein Thor, wel- cher Schmer- zens halber lebt. | Ja, ein Thor iſt der, welcher Schmerzens halber lebt: aber der iſt ein weiſer Mann, der in den aͤuſſerſten Schmerzen ausdauert, nicht um laͤnger ge- foltert zu werden, ſondern weil es der Wille ſeines Herrn iſt, daß er durch Gedult weiſer, ſtaͤrker, edler, Gottaͤhnlicher werden ſoll. |
| Sieh da, ſo ſcheiden ſich Chri- ſtus und Seneka, das Evange- lium, und die Stoa! In |
In dieſem Briefe redet Seneka zum
Theil noch maͤßiger als im 70. Er be-
hauptet nicht, daß ſich jeder ſelbſtmorden
duͤrfe: nur erlaubt ers dem Greiſen, aus
der baufaͤlligen Huͤtte heraus zu ſpringen,
noch ehe das Gekrach des Einſturzes an-
faͤngt. Ich habe zu milde geſprochen, nicht
nur erlaubt ers dem Greiſen, er ſcheint es
ihm auch zur Pflicht zu machen, weil es
Thorheit waͤre, blos des Schmerzens hal-
ber zu leben.
Die Urſache, warum der Greis ſich
ſelbſtmorden duͤrfe, iſt ſehr duͤrftig: Der
Geiſt wird gehindert an ſeiner Arbeit:
alſo darf ich demſelben aus dem Ar-
beitshauſe heraus helfen.
Sieh, wie der Philoſoph immer nur
auf Eine Arbeit des Geiſtes ſieht, auf das
ruhige Denken, Forſchen naͤmlich, und
die zweyte, das Selbſtbekaͤmpfen, das
Tragen der Beſchwerde, nicht einmal in
Rechnung bringt!
M 2Sieh,
[180]Dritter Abſchnitt.
Sieh, wie der Philoſoph ſich ſelbſt
widerſpricht, da er ſonſt ſo vieles Gerede
aus der Tugend zu machen wußte, und
ſeinen Tugendhaften uͤber Natur und Schick-
ſal erhaben darſtellte, oder vielmehr gar
von Gott und Schickſal unabhaͤngig mach-
te: itzt aber dieſen ſeinen erhabnen Weiſen
wieder ſo klein macht, daß er im Ertra-
gen keines, im Laſtwegwerfen alles Heil
findet!
„Der muß ein ſtarker Weinſaͤu-
fer ſeyn, der die Flaſche bis auf die
Hefe leeret.“
Sieh, wie der Weiſe phantaſirt, da
er zwiſchen dem Weinſaͤufer, der den letzten
Tropfen vom Nagel ſchluͤrft, und dem
Manne, der die Bitterkeiten des Lebens
bis auf die Hefe des grauen Alters aus-
trinket, eine Aehnlichkeit finden kann, die die-
ſen mit jenem in Eine Klaſſe ſetzte! — —
Stellen
[181]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Stellen aus Seneka’s 70 Briefe,
mit Anmerkungen.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Der Weiſe lebt, ſo lange er muß, nicht ſo lange er kann. | Der Weiſe glaubt, er muͤſſe ſo lange leben, als er kann: und er koͤnne ſo lan- ge leben, bis ihn der Wille des Schoͤpfers aus dem Le- ben ruſt. |
| Er denkt immer darauf, wie er lebe, nicht ob er lange lebe. | Er iſt wohl auch uͤber- zeugt, daß es nicht auf ein langes, ſondern auf ein gu- tes Leben ankomme. Aber er glaubt darneben auch, es ſey Pflicht, ſo lange gut zu leben, als man lebt, und ſo lange zu leben, als man kann. |
| Kommt vie- les Laͤſtige und | Kommen Laſten uͤber ihn: ſo ſagt er zu ſich: nun will M 3ich |
Sapiens vivit, quantum debet, non quan-
tum poteſt. — Cogitat ſemper, qualis Vita,
non quanta. — Si multa occurrunt moleſta,
et
[182]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Ruheſtoͤrende uͤber ihn, ſo wirft er ſich aus dem Leben hinaus: und dieß thut er nicht nur im aͤuſſerſten Nothfalle, ſon- dern, ſo bald ihm das Gluͤck verdaͤchtig zu werden begin- net, ſo ſieht er mit ſchar- fem Blicke um- her, ob er wohl ſchon an die- ſem Tage zu | ich erſt recht beweiſen, was das Leben fuͤr einen Werth habe. Nun iſts erſt Tu- gend zu leben. — — Wer- den ihm ſeine Gluͤcksumſtaͤn- de noch ſo verdaͤchtig: Got- tes Vaterliebe wird es ihm nie — und dieſe macht ihm auch die ſchwerſte Laſt ertraͤg- lich. Er ſieht ſich nicht um den Tod um — ſondern um Geduld, und dieſe findet er leichter, als der Selbſtmoͤr- der den Tod. Wenn |
et tranquillitatem turbantia, emittit ſe; nec
hoc tantum in neceſſitate ultima facit, ſed cum
primum illi coeperit ſuſpecta eſſe fortuna, di-
ligenter circumſpicit, numquid illo die deſi-
nen
[183]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| leben aufhoͤren ſolle. | |
| Er waͤhnt, es liege eben nichts daran, ob er ſelbſt ſei- nem Leben ein Ende mache, oder ob dem- ſelben ein En- de gemacht werde. Spaͤ- ter, oder fruͤ- her: er habe keinen groſſen Verluſt zu be- fuͤrchten. | Wenn Krankheit, oder aͤuſſere Gewaltthaͤtigkeit ſei- nem Leben ein Ende macht, ſo glaubt er, daß ihn der Vater der Menſchen aus dem Leben ruft. Den Ein- fall aber, ſein Selbſtſcharf- richter zu ſeyn, haͤlt er nicht fuͤr den Ruf des Vaters. Er ſtellt das fruͤhe oder ſpaͤte Sterben dem anheim, der Leben und Tod in ſeiner Hand hat, fuͤrchtet auch den fruͤhen Tod ſo wenig, als den ſpaͤ- ten: nur glaubt er, nichts beytragen zu duͤrfen, daß der- ſelbe fruͤher komme. M 4Er |
nendum ſit. — Nihil exiſtimat referre, fa-
ciat finem, an accipiat: tardius fiat, an ci-
tius, non de magno detrimento timet — Ne-
mo multum ex ſtillicidio poteſt perdere. —
Citius
[184]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Unſer Leben iſt wie eine Dachtraufe: Tage, Stun- den troͤpfeln ſo dahin — bis es ausgetroͤp- felt hat. Was liegt daran, ob dieſer oder der kommende Tropfen der letzte ſey. | Er haͤlt dieſes Leben auch fuͤr eine Dachtraufe, glaubt aber zugleich, daß jeder Trop- fen den Werth eines wohl- thaͤtigen Stromes bekommen kann, wenn er ihn nur mit Weisheit und Liebe zum Be- ſten ſeines Bruders benutzen will. Bey ihm hat die Stunde auch ſechzig Minu- ten, aber jede Minute — den Werth der Ewigkeit. |
| Fruͤher oder ſpaͤter ſterben — das gehoͤrt nicht zur Sa- che: gut oder nicht gut ſter- | Fruͤher oder ſpaͤter ſterben, gehoͤrt freylich nicht zur Sa- che: aber Urſache des fruͤhen Todes ſeyn — das gehoͤrt ſchon zur Sache. Gut |
Citius mori, vel tardius, ad rem non perti-
net: bene mori, aut male, ad rem pertinet. —
Bene autem mori, eſt effugere male vivendi
periculo. — Si altera mors cum tormento,
altera
[185]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ben, das ge- hoͤrt zur Sa- che. — | |
| Gut ſter- ben heißt — der Gefahr boͤſe zu leben, auf immer entrinnen. | Gut ſterben heißt, gut gelebt haben, heißt mit dem Bewußtſeyn edler Thaten zur rechten Stunde aus dem Leben gehen — wann der Feldherr das Zeichen zum Ab- zug geben laͤßt… Daß mit dem Tode die Gefahr boͤſe zu leben verſchwindet, iſt kein Beweis des guten Todes — ſondern eine Folge des Todes uͤberhaupt… |
| Wer ſoll nicht eine leichte, einfache To- desart einer | Ich habe mir das Leben nicht gegeben: ich darf es mir alſo auch nicht nehmen. Ich darf das Lebensziel nicht ab- M 5kuͤrzen, |
altera ſimplex, et facilis eſt, quidni huic ſit
iniicienda manus? quemadmodum navem eli-
gam navigaturus, et domum habitaturus, ita
mortem utique, qua ſum exiturus e vita. —
Quem-
[186]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| grauſamen vorziehen? Wenn ich zu Waſſer reiſen will, waͤhl’ ich mir das Schiff, das mir ge- faͤllt; wenn ich Herberge neh- men will, waͤhl’ ich mir das Haus, das mir gefaͤllt: ſoll ich nicht auch die To- desart waͤhlen duͤrfen, die mich aus dem Leben ſchafft? | kuͤrzen, wenn es die allbe- ſtimmende Fuͤrſehung weiter hinaus geruͤckt hat. Die Art, in dieß Leben einzugehen hieng nicht von meiner Wahl ab: ſo kann auch die Art, aus dem- ſelben hinauszugehen, nicht von meiner Willkuͤhr abhan- gen. Denn der die Stunde des Todes beſtimmt, beſtimmt auch die Art des Todes, wie Er die Stunde der Geburt, und die Umſtaͤnde derſelben beſtimmet hat. Anfang und Ende des Lebens ſtehen nicht unter meiner Gewalt: nur der Gebrauch deſſelben. Haus, und Schiff kann ich waͤhlen: aber die Art, und Weiſe in die Welt zu kommen, konnte ich nicht waͤhlen. Tugend und Weisheit kann, und darf ich auch |
Quemadmodum non utique melior eſt longior
vita
[187]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| auch waͤhlen, die mir den Aus- tritt aus der Welt ſuͤſſe ma- chen — nur darf ich mich nicht ſelbſt gewaltſam hinaus ſtoſſen, ſo wenig ich aus eig- nem Entſchluſſe hereingetre- ten bin. | |
| Gleichwie das laͤngere Leben darum nicht beſſer iſt, weil es laͤnger iſt: ſo iſt doch gewiß der Tod deſto ſchlim- mer, je laͤnger er waͤhret. | Weder der Werth des Le- bens, noch der Werth des Todes haͤngt von der Kuͤrze oder Dauer ab. Wer im Le- ben, und im Sterben die edel- ſte Thaͤtigkeit, und Leidſam- keit aͤuſſert, deſſen Leben, und Sterben haben den groͤſten Werth. Iſt die Todesart mit heftigern Schmerzen verbun- den: ſo iſt der Muth, der die groͤſſere Buͤrde tragen kann, offenbar groͤſſer, als der ſie wegwirft. — In |
vita, ſic peior eſt utique mors longior. —
In
[188]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| In keinem Stuͤcke muͤſ- ſen wir unſern Geiſt mehr Herr ſeyn laſ- ſen, als im To- de. Er gehe hinaus, wo und wie er durch- zubrechen an- gefangen: durch Huͤlfe des Schwer- tes, oder des Strickes, oder des Gifttran- kes — Nur wacker darauf- gearbeitet, bis | In keinem Stuͤcke kann der Geiſt des Menſchen ſeine Staͤrke herrlicher offenbaren, als in großmuͤthigem Kamp- fe gegen die Verſuchung, die Laſt des Lebens wegzuwerfen. Wo feige Seelen keinen an- dern Retter kennen, als den Strick, oder den Gifttrank, oder die Piſtole, da hebt der Großmuͤthige ſein Haupt em- por, und ruft lauft aus ſei- nem Herzen: ich kann le- ben, ich kann die Buͤrde tragen, ich kann im Leiden ausharren — ich kann die Stunde abwarten, bis der Bote des Herrn (der Tod) kommt, und die Feſſel auf- ſchließt, |
In nulla re magis, quam in morte, morem
animo gerere debemus. Exeat, qua impetum
cepit: ſive ferrum appetit, ſive laqueum, ſive
aliquam potionem venas occupantem, pergat,
et
[189]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| die Feſſel der Knechtſchaft zerbrochen ſind. | ſchließt, die der Herr mir an- geſchlagen hat — dann fleug’ ich frey — zum Herrn, und rufe: da bin ich.“ |
| Das Leben magſt du an- dern ruͤh- men — dir den Tod. Die Todesart, die dir gefaͤllt, iſt die beſte. — | Was du dir goͤnneſt, das goͤnne auch andern — Das Beſte aber, was du dir und andern wuͤnſchen kannſt, iſt dieſes, daß der Wille der allordnenden Weisheit an dir und an andern geſche- he — im Leben und im To- de. Was die hoͤchſte Weis- heit fuͤr gut gefunden, die hoͤchſte Liebe verordnet — das iſt das Beſte. Was dem Weiſeſten gefaͤllt, ſoll auch dir gefallen. — Die |
et vincula Servitutis abrumpat. — Vitam et
aliis approbare quisque debet, mortem ſibi.
Optima eſt, quae placet. — Invenies etiam
profeſſos ſapientiam, qui vim afferendam vi-
tae
[190]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| Es giebt auch Weiſe, die wider den Selbſtmord ſprechen: es ſey unrecht ſein Selbſtmoͤrder zu werden: man muͤſſe auf den Punct zum Abzug warten, den die Natur feſt- geſtellet hat. Allein, was heißt dieß an- ders, als der Freyheit den Weg ſperren? | Die aͤchte Freyheit des Geiſtes beſtehet nicht darinn, daß er das Gefaͤngniß durch- brechen kann, wann er will, ſondern darinn, daß ihn kein Schmerz, kein Tyrann, keine Angſt zwingen kann, es vor dem Augenblicke, den die hoͤchſte Weisheit genannt hat, ſelbſt zu thun. Der Tyrann kann das Gefaͤngniß durch- brechen — aber daß der Menſch es ſelbſt thue, dazu kann er den freyen Men- ſchengeiſt nicht zwingen. Und dann der Leib iſt nicht bloß Gefaͤngniß des Geiſtes, er iſt Werkſtaͤtte, Wohnſtaͤtte des Unſterblichen, vom Schoͤpfer gebaut |
tae ſuae negent, et nefas judicent, ipſum in-
teremtorem ſui fieri. Expectandum eſſe exi-
tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit,
non videt, ſe viam libertati claudere. —
Nil
[191]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| gebaut zur Ausbildung des Ueberirrdiſchen in einem ir- diſchen Gemaͤchte. Der Selbſtmord zerbricht alſo nicht ſo faſt das Gefaͤngniß eines Staatsgefangenen, als das Laboratorium des Un- ſterblichen, der ſich darinn auf Ewigkeiten verarbeitet. | |
| Das Beſte, was das ewi- ge Geſetz ge- than, iſt dieß, daß jedem Ein Eingang ins Leben beſtim- met iſt, und viele Ausgaͤn- ge offen gelaſ- ſen ſind. | Das Beſte, was wir von dem Schoͤpfer aller Dinge denken koͤnnen, iſt dieß, daß er jedem Menſchen den Zeit- punct ſeines Eintrittes in dieſes Leben, die Bahn, die er durchzulaufen hat, die Marken ſeiner Wohnung, und den Zeitpunct, und die Art ſeines Austrittes aus die- ſem |
Nil melius aeterna lex fecit, quam quod
unum introitum nobis ad vitam dedit, exitus
multos. — Hoc eſt unum, quod de vita non
poſſumus queri; neminem tenet. Placet, vive.
non
[192]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ſem Leben nach den Maaßre- geln der weiſeſten Liebe be- ſtimmet hat. | |
| Das machts allein, daß man uͤber das Leben nicht klagen kann: es haͤlt nie- manden auf. Gefaͤllts dir zu leben, lebe. Gefaͤllts dir nicht, darfſt nur hingehen, wo du herkom- men biſt. | Das macht uns das Leben zur Freude, und dem, der daran glaubt, alle Klage un- moͤglich, daß die ganze Bahn deſſelben, Anfang, Mittel, Ende, von dem Finger der erſten Weisheit gezeichnet, und alle Schritte darauf von der erſten Liebe geleitet, und auch ſogar die Fehltritte von der erſten Macht in den Plan der hoͤchſten Menſchen- beſeligung eingeflochten ſind. |
| Wenn man einem Wie- genkind das Recht einraͤumen wollte, den Plan zu ſeiner Erziehung zu entwerfen, und die Skizzen ſeines ganzen kuͤnf- |
non placet? licet eo reverti, unde veniſti. —
Ut dolorem capitis levares, ſanguinem ſae-
pe
[193]Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| kuͤnftigen Lebens zu zeichnen, welche Thorheit? Aber dieſe Thorheit waͤre nicht groͤßer, als die, welche dem Men- ſchen das Recht einraͤumt, nach Belieben aus dem Le- ben zu treten. Denn ſo wenig ein Wiegenkind auch nur den Begriff von Erziehung denken kann: ſo wenig kann der Menſch das Gute in An- ſchlag bringen, das er ſich durch den Selbſtmord ent- zieht, und das Uebel, das er ſich dadurch zuzieht. So wenig die Erziehung des Kin- des vom Kinde, ſo wenig kann die weitere Erziehung des Erwachſenen zur hoͤhern Vollkommenheit, die Ver- laͤugnung oder Abkuͤrzung ſeiner |
pe emiſiſti: ad extenuandum corpus vena mit-
titur: non opus eſt vaſto vulnere dividere
Nprae-
[194]Dritter Abſchnitt.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| ſeiner Exiſtenz von ſeiner Willkuͤhr, abhangen. Nur der, der alle Folgen, und Ur- ſachen einer That, Zukunft wie Vergangenheit, Vergan- genheit wie Gegenwart, Sterblichkeit und Unſterblich- keit, Zeit und Ewigkeit uͤber- ſieht, nur der große Schau- ſpieler, der ſelbſt alle Kno- ten verflochten, und alle in der letzten Scene aufloͤſen wird, der alle Rollen aus- theilt, und das ganze Schau- ſpiel dirigirt, nur der kann ſagen: itzt trete dieſer da auf die Buͤhne, itzt trete jener dort von der Buͤh- ne ab. | |
| Um den Kopfſchmer- | Einen Stich koſtet die Freyheit — von den gegen- waͤrti- |
praecordia. Scalpello aperitur ad illam ma-
gnam libertatem via et puncto ſecuritas
conſtat.
[195]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
| Seneka. | Der chriſtliche Weiſe. |
| zen zu min- dern — — — laͤſſeſt du dir eine Ader ſchlagen. Es gehoͤrt keine große Wunde dazu, dem Le- ben ein Ende zu machen. Ein Federmeſ- ſer oͤffnet die Thuͤr zur groſ- ſen Freyheit: Einen Stich — nicht mehr koſtet die Si- cherheit. | waͤrtigen Leiden: aber die Freyheit von den martern- den Vorwuͤrfen des Gewiſ- ſens, das der Selbſtmoͤrder nicht morden kann, das ihn mit in die Ewigkeit beglei- tet — die Sicherheit vor dem Richterblicke des Lebens- Herrn, dem ſich der Selbſt- moͤrder nicht entziehen kann — — dieſe verſchaft uns der Stich nicht. Und was nuͤtzt jene Freyheit, jene Sicher- heit ohne dieſe? |
Nochmal: ſo ſprechen Chriſtus und Se-
neka, das Evangelium und
die Stoa!
N 2Cice-
[196]Dritter Abſchnitt.
Cicero, ein Mittelſtuͤck
zwiſchen
Chriſtenthum und Seneka.
(Im Scipio’s Traume)
C. III.
„Wenn dich nicht jener Gott, deſſen Tem-
pel dieß All iſt, von dem Gefaͤng-
niſſe des Leibes frey macht: ſo kannſt du
nicht hieher (zu den ſeligen Wohnungen
der abgeſchiedenen Geiſter) kommen. …
So iſt es denn Pflicht fuͤr dich, lieber
Publius, und fuͤr alle Rechtſchaffene, ja
nicht ſelbſt den Menſchengeiſt aus dem Ge-
faͤngniſſe des Leibes loszulaſſen. Ohne Be-
fehl deſſen, der euch ihn, dieſen Geiſt, ge-
ſchenkt hat, duͤrfet ihr das Menſchenleben
nicht verlaſſen: damit es nicht das Anſehen
gewinne, als haͤttet ihr dem Berufe eines
Menſchen, den euch Gott angewieſen, aus
dem Wege laufen wollen.“
So
[197]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
So laͤßt Cicero ſeinen unſterblichen
Helden reden.
Welche Stralen von Wahrheit leuch-
ten aus dieſen Worten heraus? Wie ehr-
wuͤrdig iſt mir Cicero’s Geiſt, durch den die
Menſchenvernunft dießmal ſo rein, ſo un-
gebrochen geredet?
Wie viel liegt in den Worten:
‘retinendus eſt animus in cuſto-
dia corporis, ne munus huma-
num, aſſignatum à Deo, defu-
giſſe videamini?’
Alſo giebt es einen Menſchenberuf, und
dieſen hat uns Gott angewieſen, und die-
ſem angewieſenen Berufe ſollen wir treu
bleiben.
‘Nec injuſſu ejus, a quo ille (ſpi-
ritus) vobis datus, ex homi-
num vita migrandum.’
Alſo iſt der menſchliche Geiſt eine Gabe
Gottes: und ohne Befehl dieſes Gottes
ſoll man das Menſchenleben nicht verlaſſen.
N 3In-
[198]Dritter Abſchnitt.
Indeß laͤßt es ſich nicht laͤugnen (a),
daß Cicero deßungeachtet in dieſer wichtigen
Lehre nicht ganz feſt geweſen, und unter
dem Ausdruck, injuſſu Dei non e vita mi-
grandum, eine Zweydeutigkeit verborgen
liege, wie er denn auch von Cato glaubte,
daß dieſer auf den Ruf der Gottheit dieß Le-
ben verlaſſen, und ihn mit Sokrates in Eine
Reihe ſtellte.
Hier alſo ein Beyſpiel von dem Schick-
ſale der menſchlichen Vernunft. Auf ei-
ner Seite ſieht ſie ſehr richtig, daß man
gegen den Befehl der Gottheit den Geiſt
nicht aus dem Bewahrungshauſe loslaſſen
duͤrfe: auf der andern laͤßt ſie ſich von der
uͤbertriebenen Achtung gegen Cato, alſo von
einem Vorurtheile, ein gefaͤrbt Glas vor
das Auge halten, und nun ſieht ſie an dem
Selbſtmorde ein Werk des Gehorſams ge-
gen
[199]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
gen den Ruf der Gottheit, weil ſie eines ſe-
hen will — — ſieht die Wahrheit nimmer,
weil ſie den Schatten des großen Mannes
lieber hat als die Wahrheit.
Dieſer Cicero nun, der die Wahrheit
von Unerlaubtheit des Selbſtmordes, im All-
gemeinen ſo treu erfaßt, und im Einzeln
ſo menſchlich verfehlet — wie groß iſt er
an der Seite des Seneka, der in keine
Verſuchung kommt von Gottes Willen zu
ſprechen, wenn er vom Selbſtmorde ſpricht,
der in der wichtigſten Angelegenheit noch
mit ſeinem Witze ſpielen kann?
Und dieſer Cicero, der ſo groß er-
ſcheint an der Seite des Seneka, dieſer Ci-
cero, an dem die Vernunft verſucht zu ha-
ben ſcheint, was ſie vermag — wie ſchwan-
kend ſpricht er nicht gegen den ſichern, fe-
N 4ſten
(a)
[200]Dritter Abſchnitt.
ſten Ton des Evangeliums, deſſen Buch-
ſtabe und Geiſt das geradeſte Gegentheil
vom Selbſtmorde iſt? (Seite 49.)
Dieß ſage ich nicht, um Cicero her-
unter, oder um das Evangelium hinaufzu-
ſetzen: denn jedes Ding iſt, was es iſt, und
bedarf unſers Herunter- und Hinaufſetzens
nicht. — Nur um einige Urtheile unſerer
Zeit zu berichtigen, ſagte ich’s.
Cato und die Chriſten,
noch eine Parallel.(b)
Hier ſtaunet das philoſophiſche Rom
den großen Cato als Selbſtmoͤrder an,
und da bewundert das heidniſche Rom den
hohen Sinn der Chriſten, die als großmuͤ-
thige Zeugen fuͤr die Wahrheit des Chriſten-
thums, auf Blutgeruͤſten, unter der Hand
des Henkers ſterben.
Welcher Contraſt?
Aendern
[201]Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc.
Aendern wir den Fall: denken wir,
Cato haͤtte große Begriffe vom Daſeyn des
Einen Gottes, und der Unſterblichkeit der
Seele gehabt, und ſie unter der edlen Roͤ-
merjugend mit Wort und That ausgebrei-
tet; nun waͤre er denn von irgend einem
Tyrannen unter Androhung der ſchimpflich-
ſten Hinrichtung angehalten worden, oͤffent-
lich gegen ſeine Ueberzeugung zu erklaͤren,
daß der Glaube an Einen Gott, und die
Unſterblichkeit der Seele Thorheit ſey: der
Mann Cato aber haͤtte mit unentwegtem
Sinne ſeinen Hals dem Beil des Henkers
dargeſtreckt, um nur nicht gegen Wahrheit,
und Gewiſſen zu handeln, und um die ed-
len Roͤmer durch die Machtſtimme ſeines
Blutes in der Ueberzeugung von den wichtig-
ſten Wahrheiten recht tief zu gruͤnden —
die Chriſten hingegen haͤtten ſich ſelbſt ge-
mordet, um der oͤffentlichen Hinrichtung zu-
vorzukommen.
Wenn der Fall dieſer waͤre, mit wel-
chem Recht wuͤrden alle die großen, und
kleinen Philoſophen des Cato Heldenthat ge-
prieſen, und die todesſcheue Feigheit der
N 5Chriſten
[202]Dritter Abſchnitt.
Chriſten gebrandmarket haben? Da nun
aber der Fall gerade umgekehrt iſt, da
Cato ſich ſelbſt gemordet, weil er das Sie-
gerantlitz des Caͤſars nicht ertragen konnte,
und die Chriſten ſich morden lieſſen, um
nur an der gewiß erkannten Wahrheit nicht
meyneidig zu werden: wie kommt es, daß
Maͤnner, die nach der Vernunft, nicht nach
den Leidenſchaften richten ſollten, ſo enthu-
ſiaſtiſch gegen die Zeugen der Wahrheit,
und ſo enthuſiaſtiſch fuͤr den Selbſtmoͤr-
der eingenommen ſeyn koͤnnen? Wie kommt
es, daß ſie die Starkmut jener als Fa-
natismus bemitleiden, und die Grauſamkeit
dieſes gegen ſeine eigne Exiſtenz, als He-
roismus anbeten?
Pfuy der elenden Idololatrie in den
Tagen, wo von Mannbarkeit und Freylaſ-
ſung der Vernunft (manumiſſis ingeniis)
ſo vieles gepoſaunet wird! Das iſt der Adel
des Freygebohrnen Mannes, daß er die
Dinge ſieht, wie ſie ſind, und ſchildert,
wie er ſie ſieht?
Drey
[203]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Drey Beyſpiele
wider den Selbſtmord
(ſtatt aller.)
Eines aus dem Heidenthum.
Regulus gieng nach Carthago, ob er
gleich vorherſah, daß er auf die grau-
ſamſte Art wuͤrde hingerichtet werden, um
die Ehre des Eides, und der oͤffentlichen
Treue zu retten. Wie erhaben iſt dieſe
Selbſterhaltung des Regulus uͤber jenen
Selbſtmord des Cato? Gerade ſo viel er-
habner Regulus als Cato war (c)!
Eines
[204]Dritter Abſchnitt.
Eines aus dem Judenthum.
Joſephus der Geſchichtſchreiber, als er
von vier Maͤnnern, die mit ihm in eine
Hoͤhle geflohen waren, ermuntert ward,
ſich lieber das Leben zu nehmen, als dem
Veſpaſian als Sklaven zu ergeben, ant-
wor-
(c)
[205]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
wortete: Haltet ihr das fuͤr Heldenmuth,
ſich ſelbſt zu toͤdten? Iſt denn wohl der
Steuermann beherzt, welcher aus Furcht
eines heftigen Sturms, ſein Schiff ſelbſt
verſenket?
Eines
[206]Dritter Abſchnitt.
Eines aus dem Chriſtenthum.
Paulus (d), der ſich auf einer Seite
ſo bruͤnſtig ſehnte aufgeloͤſet, und bey ſei-
nem Herrn zu ſeyn, und auf der andern,
um der Wahrheit willen die ſchwereſten Lei-
den dulden mußte, harrete im heiſſeſten Lei-
dengedraͤnge von innen, und von auſſen
großmuͤthig aus, und bewies am Ende als
Blutzeuge, daß es gerade ſo herrlich ſey —
ſich um der Wahrheit willen von andern
toͤdten laſſen, und die fremde Gewaltthaͤ-
tigkeit maͤnnlich ertragen — als es ſchaͤndlich
waͤre, ſich ſelbſt aus Mangel an Stark-
muth hinrichten.
Was
[207]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Was denkt, und fuͤhlt, und ſagt der
Weiſe dazu, wenn er von einem
Selbſtmorde hoͤret?
1.
Richte nicht, verdamme nicht. Denn
das menſchliche Herz hat Tiefen,
die man durch kein Senkbley auch der ge-
naueſten Beobachtung ergruͤnden kann; Irr-
gaͤnge, deren Geſchichte der geuͤbteſte Ge-
ſchichtforſcher nicht geben kann; Verſchrau-
bungen, deren Entſtehen kein Schrauben-
gang irgend einer alten, oder neuen Seelen-
kunde erklaͤren kann.
Verdamme nicht. Denn deine
Hand hat nicht die Wage des Richters, und
dein Auge waͤre nicht ſcharf genug, um das
Neigen des Zuͤngleins, das das Ueberge-
wicht der Gruͤnde fuͤr oder wider eine in-
dividuelle That entſcheidet, zu bemerken.
Verdamme nicht. Denn du biſt
ein Mitknecht des Selbſtmoͤrders, und
Mitknechte haben keinen Beruf zum Rich-
teramte.
Ver-
[208]Dritter Abſchnitt.
Verdamme nicht. Denn es iſt Ein
Tag feſtgeſetzt, der alles Geheime ans Ta-
geslicht hervorbringen wird; Ein Mann
beſtimmt, der den ganzen Erdboden richten
wird. Greif jenem Tage nicht vor, und
dieſem Manne nicht ein.
Aber
„Wenn ſo viele Gruͤnde wider den
Selbſtmord ſtreiten, wie der erſte Abſchnitt
glauben machte, ſo habe ich ja gerade ſo
viele Gruͤnde den Selbſtmoͤrder zu verdam-
men, als viele wider den Selbſtmord an-
gefuͤhrt worden.
Nein, Leſer, die Folge iſt unrichtig.
Die Gruͤnde wider den Selbſtmord ſind aus
der Natur des Selbſtmordes uͤberhaupt her-
geholet, nicht aus einem Individuum des
Selbſtmordes; ſie ſind in ihrem wahren
Lichte gezeiget, um den Juͤngling zu war-
nen, daß er ſich nicht der Flamme naͤhere:
aber ich kann nicht geradezu behaupten, daß
der Selbſtmoͤrder, der wirklich von der
Flamme verzehret worden, eben dieſe
Gruͤnde in eben dieſem Lichte erblicket habe.
Ich
[209]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
Ich weis nicht, in wie ferne er aus uͤber-
legtem Entſchluſſe und mit Bewußtſeyn des
Erfolges, der Flamme entgegen gegangen
ſey, oder ob ihn nicht etwa eine unſicht-
bare Gewalt in den Rachen der Flamme
hineingeworfen habe.
Ferners
Wenn der Weiſe ſagt: verdamme
den Selbſtmoͤrder nicht, ſo folget dar-
aus nicht, daß an der individuelen Hand-
lung dieſes Selbſtmordes nichts verdam-
menswuͤrdiges ſey: ſo wenig daraus folgt,
daß ſie den hoͤchſten Grad der Verdammens-
wuͤrdigkeit erreicht habe. Das Wort, ver-
damme nicht, iſt nur ſo viel ſagend:
„falle dem Richter nicht in die Wage:
du kannſt weder die tauſendmal tauſend
Einfluͤſſe des Temperaments, der Erzie-
hung, der Vorurtheile, der Unerkenntniß,
der Ueberredung, der Beyſpiele, der Ver-
fuͤhrung, der Irrungen, der Schwermuth,
der Leidenſchaft ꝛc. auf die ſelbſtmordende
Handlung, noch das Aufbuͤrdliche oder Un-
aufbuͤrdliche aller dieſer Ingredienzen, noch
Oauch
[210]Dritter Abſchnitt.
auch den Grad der Aufbuͤrdlichkeit irgend
einer Miturſache meſſen, waͤgen: alſo kannſt
du nicht richten, nicht verdammen.
2.
Kanoniſire nicht, vergoͤttere nicht.
Wo der einſichtloſe Eifer verdammet, da
vergoͤttert die unbaͤndige Schwaͤrmerey: bey-
de reden, wo ſie ſchweigen ſollten. Sieh
da die großen Partheyen, die von jeher ein-
ander verfolgten — und die Wahrheit und
Weisheit in der Mitte ließen!
Ich will die dreyerley Sprachen des
Eifers, der Schwaͤrmerey, der Weisheit
neben einander ſtellen. —
| Sprache des Eifers. | Sprache der Schwaͤrmerey. |
| Im Satansreiche jammert ſchon Die ſchwarze Ra- benſeele, Und aͤrntet ihrerSuͤn- de Lohn Im tiefſten Grund der Hoͤlle. | Die Heldenſeele jauch- zet ſchon Im Chor der Se- raphinen, Und aͤrntet ihrer Tu- gend, Lohn, Wo ew’ge Palmen gruͤnen. Sprache |
Sprache der chriſtlichen Weisheit.
3.
Lerne anbeten. In Gottes großer
Familie giebt es ſo manche Auftritte, wo
Schweigen und Anbeten Weisheit iſt.
„Herr! iſts moͤglich, daß ein Ver-
nunſtgeſchoͤpf deiner Hand ſo tief ſinken
kann? Was iſt doch der Menſch, den
Du gebaut? Wer forſchet den Weg, den
Du die Deinen fuͤhreſt? Abgrund! Ab-
grund! laßt uns hinfallen und anbeten!“
Dieß iſt nicht ſelten das große Eine, was
uns bey ſo auſſerordentlichen Begebenhei-
ten das Mark durchſchauert.
4.
Wer da ſteht, der ſehe zu, daß er
nicht falle. Denn der gefallen iſt, ſtand
vor kurzem noch. O, wie finde ich den
O 2Men-
[212]Dritter Abſchnitt.
Menſchen in jedem Selbſtmoͤrder! Wie
fuͤhl’ ich mich ſelbſt in jeder Greuelthat!
Wie zittere ich vor mir, wenn ich mich in
die Lage des Selbſtmoͤrders hineindenke!
Wie trift das: nihil humani à me alie-
num, alle Saiten meiner Seele! Wer an
dem Selbſtmoͤrder nicht den Menſchen er-
blicket, nicht erblicket in ſeiner wahren Ge-
ſtalt, der findet ihn nirgends.
| Ein Vernunſtgeſchoͤpf — | und ſein Selbſt- moͤrder! |
| Das Ebenbild Gottes — | und erwuͤrgt am Stricke mit eig- ner Hand! |
| Das edelſte Daſeyn — unter der Sonne — | und dieß edelſte Daſeyn ſich ſelbſt zur unertraͤgli- chen Laſt! |
| Die Krone der Schoͤp- — fung — | und dieſer Krone die große, weite Schoͤpfung zu enge! |
| Der Menſchenkoͤrper — das Meiſterſtuͤck der | und dieſes Mei- ſterſtuͤck, zerſtoͤrt Allmacht |
| Allmacht, die Pil- gerwohnung des un- ſterblichenGeiſtes — | von ihm, dieſe Wohnung einge- riſſen von dem Pil- ger ſelbſt! — |
| Das Naturgeſetz der — Selbſterhaltung, je- dem Lebendigen mit Gottesfinger einge- ſchrieben — | Und dieſe Gottes- flammenſchrift aus- geloͤſcht von dem edelſten Lebendigen auf Erde! |
Welche eine Lection fuͤr Menſchen iſt
der Selbſtmord eines aus ihrem Geſchlechte!
Und wie wenige oͤffnen die Augen, zu ſehen
die Menſchheit, wie ſie iſt, und werden
weiſe!
Der Wunſch.
Eine Apologie der Vernunft gegen
die deſpotiſchen Druͤckungen, die ſie
von Romanenſchreibern(a), Schauſpie-
lern, Schauſpieldichtern, Modekraͤmern,
O 3und
[214]Dritter Abſchnitt.
und von dem ganzen Kriegsheere der
ſchluͤpfrigen Schriftſteller und Kuͤnſtler
erfaͤhrt —
Eine Apologie der Vernunft ge-
gen Sinnlichkeit, und gegen Weichlich-
keit, Luxus und Wolluſt, ihre Kinder,
und gegen alle, die dieſe auf den Altar
ſtellen, und jene (die Vernunft) zum
Fußſchemel der Leidenſchaft herunterwuͤr-
digen —
Eine Apologie der Vernunft ge-
gen die entnervende Erziehung, entner-
vende Schriftſtellereyen, entnervende Ge-
ſellſchaften, entnervende Lebensweſen ꝛc. ꝛc.
wuͤnſchte ich zu leſen —
Aber von einem Manne, der das Men-
ſchenherz, die Welt, ſich und die Tugend
kennet, der Sache und Sprache in ſeiner
Gewalt hat, der Sinn und Muth hat zu
ſchreiben, was wahr iſt und nuͤtzt, nicht
was
(b)
[215]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
was Geld und Beyfall bringt. Du Mann,
unter welchem Himmelſtriche du immer lebſt,
wenn dich dieſe Zeile weckte, wie wuͤrden dir
nicht Unſchuld, Weisheit, Religion und das
vor Selbſtmord geſicherte Menſchenleben
danken!
Die Quinteſſenz
des Buͤchleins.
Jede(b)Leidenſchaft, weß Ramens
und Herkommens ſie immer iſt,
kann auf einen Punct geſpannet werden,
wo ſie den Menſchen zum Selbſtmoͤrder
machen kann, und jede Leidenſchaft, die
dieſen Punct bereits erreichet hat, war
einmal unmerklich klein, und die Ueber-
gaͤnge von dem Unmerklichkleinen bis
zum Unermeßlichgroßen geſchehen allemal
ſchneller als man glauben kann.
Aus
[216]Dritter Abſchnitt.
Aus dieſer dreyfachen Bemerkung ſoll
ſich der Vernuͤnftige drey heilſame War-
nungen herausfolgern:
- 1. Wenn jede Leidenſchaft einer Groͤße
faͤhig iſt, die mich zum Selbſtmoͤr-
der machen kann: ſo will ich keiner
Leidenſchaft trauen, ſo wenig ich ei-
nen bekannten Straſſenmoͤrder mir
zum Reiſegefaͤhrten waͤhlen moͤchte. - 2. Wenn jede Leidenſchaft, die ihr Ma-
ximum erreicht, einmal ihr Mini-
mum gehabt haben muß: ſo will ich
mir’s zur Pflicht machen, das Mi-
nimum irgend einer Leidenſchaft, wie
ihr Maximum zu verabſcheuen. Alle
Selbſtmoͤrder rufen uns von der
Ewigkeit heruͤber: principiis obſta,
ſero medicina paratur, cum mala
per longas invaluere moras.
Wohl dem, der ſich von dieſer Stim-
me warnen laͤßt! - 3. Wenn die Uebergaͤnge von der unter-
ſten Stufe der Leidenſchaft zur hoͤ-
hern ſo ſchnell, und unmerkbar ge-
ſchehen:
[217]Von den Bewahrungsmitteln ꝛc.
ſchehen: ſo will ich die Wachſamkeit
verzehnfachen, daß mich die Leiden-
ſchaft nicht hinterliſte; ſo will ich
mir’s zum Geſchaͤfte machen, der
ſchmeichelnden Leidenſchaft immer
mehr Abbruch zu thun; ſo will ich
ihr auch die aͤuſſerſte Fingerſpitze ent-
ziehen, um deſto gewiſſer die ganze
Hand unverletzt zu erhalten.
Jede Leidenſchaft in ihren erſten Anfaͤn-
gen, iſt ein ſchlafender Rieſe — hingeſtreckt
ins weiche Gras. Wer es nun verſaͤumt,
den Schlafenden in Bande zu legen, die
er auch wachend nicht zerreiſſen mag: wo
iſt der Held, der den Wachenden, den Fuͤrch-
terlichkraͤftigen meiſtern kann?
PWem
[218]Dritter Abſchnitt.
Wem meine Proſa zu matt iſt, der leſe die
freye Poeſie uͤber den
All’,
P 2Mit
Nicht
P 3Sieh!
— * v. —
Appro-[]
Appendix A APPROBATIO.
Praeſentem Diſſertationem, in qua à P. R. et
Clariſſimo D. Michaele Sailer, SS. Theolog.
Doctore, et in Univerſitate Dilingana Theologiae
Paſtoralis, et Ethices Profeſſore Authochiria ſoli-
dis Argumentis impugnatur, et contra eandem
apta remedia ſuppeditantur, cum nihil contra
catholicum dogma, et bonos mores contineat,
typo digniſſimam cenſeo. Auguſtae Vindelico-
rum, die 3 Julii, Anno 1785.
| Joannes Nepomu- cenus Auguſtus Ungelter de Deiſ- ſenhauſen, Epiſco- pus Pellenſis, Eccleſiae Cathedralis Auguſtanae ſummus Praepoſitus E- mimi. ac Sermi. D. D. Electoris ac Archiepiſ. Trevirenſis Conſiliarius intimus nec non Vicarius in Pontificalibus et Spiritualibus Generalis mpria. | Joſephus Ant. Stei- ner, SS. Theol. Doctor Eminentiſſ. ae Sereniſſ. Elect. Archiepiſ. Trevir. Epiſcopi Auguſtani Con- ſil. Eccleſ. Major Poeni- tent. Conſiſt. Aſſeſſor, Viſitator generalis, ad inſig. Colleg. S. Mauri- tii Canonicus, et libro- rum Cenſor. |
Appendix B Sinnſtoͤrende Druckfehler.
- S. 7. Z. 13. Quellen ſtatt Nullen.
- 75. Z. 19. die — welche die
- 90. Z. 19. ſtoͤren — zerſtoͤren.
- 109. Z. vorl. Termin — Terein.
- 132. Z. drittl. wenden — winden.
- 133. Z. 8. Raabe — Rabe.
- 134. Z. 12. wenn — wem.
- 140. Z. 1. in dich nicht — in dich.
- 157. Z. 9. zweyfeley — zweifeley.
- 178. Z. 9. preiſen — zu preiſen.
- 191. Z. 10. verarbeitet — vorarbeitet.
- 202. Z. letzte ? — !
[][][]
muß uns eine kalte Ueberlegung verſichern,
daß alle Guͤter dieſer Erde fuͤr uns auf ewig
verlohren ſeyn werden; ſo muß es wenigſtens
hoͤchſt wahrſcheinlich ſeyn, daß weder Ueber-
legung noch Zeit vermoͤgend ſeyn werden, ei-
nen quaͤlenden Eindruck zu uͤberwaͤltigen. Wir
muͤſſen den ſchwarzen Dunſt, der aus dem
Schlamme der Leidenſchaft aufſteigt, zer-
ſtreuet, und die Gegenſtaͤnde lauter, und un-
gebrochen betrachtet haben. Und dennoch
ſoll uns das Leben eckeln? Dennoch ſollen
wir mehr Truͤbſal, als Gutes vor Augen ſe-
hen? Welcher von allen Selbmoͤrdern war
in ſolchen Umſtaͤnden? Oder welcher unſelige
Sterbliche wird je in ſolchen Drangſalen ſeuf-
zen? — —
Wenn du je geliebt haſt, Euphranor!
ſo verſetze dich ganz in das Elend dieſer Ver-
zweifel-
trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo-
ſen, und die ſchreckliche Greuel des Verfuͤh-
rers in ihrem weiteſten Umfange. Noch mehr!
Laß ſie alle in entſetzlicher Vermiſchung uͤber
ein einziges Haupt ausgegoſſen ſeyn. Wie
nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Troſt,
als Gift und Dolch? Wenn der Verſtockte
auch gegenwaͤrtig ſeine Bruſt allen Troſtgruͤn-
den verſchließt, wenn die Vernunft, die Freund-
ſchaft, die ganze Natur, die Gottheit ſelbſt
itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht
den heilſamen Staub der Vergeſſenheit uͤber
ſeine Wunde ſtreuen? Wird die Zukunft ihn
nicht ganz umbilden, und in eine Sphaͤre
von ruhigen Empfindungen ſetzen, in welcher
er den gegenwaͤrtigen Sturm von ferne be-
trachten wird? Geſetzt, er laͤugnet die Vor-
ſehung, er laͤugnet die Guͤte Gottes, die alles,
Euphra-
lenket; hat er ſo elende Begriffe [von] der Na-
tur unſerer Empfindungen, daß er glaubet,
der Donner wuͤrde unaufhoͤrlich in ſeinen Oh-
ren rauſchen, der itzt uͤber ſeinem Haupte rol-
let? Und hievon ſoll ihn die Vernunft uͤber-
zeugen? O nein! die Leidenſchaft, die ſchwaͤr-
zeſte Leidenſchaft hat ſein Geſicht umnebelt.
Und wenn er noch ſo kaltſinnig, den Dolch in
der
net; ſo laß dich den Schein nicht truͤgen.
Es iſt die wilde, halsſtaͤrrige Gemuͤthsſtille
der verſtockteſten Selbſthaſſer, der Gipfel al-
ler Wuth, der die Vernunft noch weiter von
ihnen verbannet, als das Toben der ausgelaſ-
ſenen Verzweiflung; denn dieſe brauſet oͤfter
in Worten aus, ohne bis zur entſetzlichen That
empor zu ſchaͤumen.“ (vermiſchte Philoſ.
Schriften, I. B. Dreyzehnter Brief.)
lichkeit in der Menſchennatur nicht finden
koͤnnten, ſchloͤſſe ſich die Analyſe des dritten
Grundes ſchon. n. 4.
toris, id eſt, Dei, de praeſidio, et ſta-
tione vitae decedere. (Cic. de Senect.
XX. edit. Haude.)
Erſter Band, Seit. 320. bey Strobl, Muͤnchen.
Menſchen, und den Werth der vornehmſten
Dinge.
handl. 1784. fuͤhret der vortrefliche Verfaſſer
dieſe große Idee vortreflich aus.
Handlung, weil er den Naturtrieb zur
Selbſterhaltung uͤberwaͤltiget — und der
weil er den Leidenſchaften, dem Temperamen-
te ꝛc. ganz conform iſt.
worden, tiefer in die Tiefen der Menſchen-
zeugungen hinein zu b[l]icken.
daß der Selbſtmoͤrder alle dieſe Beziehungen
im Augenblicke der Selbſtmordung vor Augen
habe: denn ſo ein Ebenteuer von Greuelthaͤ-
ter iſt nicht gedenkbar, der alle dieſe Beweg-
gruͤnde, nicht zu ſuͤndigen hell anblickte, und
dennoch
ling vor der Greuelthat, ich beſchreibe nicht
die Empfindung des Selbſtmoͤrders. Ich
bin Arzt, der vor dem Gifttranke warnet,
nicht Dichter, der die Gaͤnge malet, wie
ein Menſch zum Gifttrinken mit Bewußtſeyn,
kommen kann.
tung ſchuldig iſt.
doch große Geiſter wichtig gefunden, oder
wenig-
weis, was es mit ſogenannten großen Geiſten
fuͤr ein gebrechlich Ding ſey.
uͤber Selbſtmord, und Unſterblichkeit vor, die
dem David Hume zugeſchrieben werden.
Dec. 1784.
das Menſchenleben vielen Gefahren
uͤberlaſſen, iſt wirklich ſehr zweydeutig.
Denn der Schoͤpfer hat fuͤrs erſte mein Le-
ben den Gefahren nicht uͤberlaſſen: er wuß-
te, was kommen wuͤrde, ehe es koͤmmt; er
leitete die natuͤrlichen Begebenheiten ſo, daß
das kommen mußte, was kommt; er beſtimm-
te den erſten und letzten Punct, und alle Zwi-
ſchenpuncte
nun nicht, das Menſchenleben den Gefahren
uͤberlaſſen. Fuͤrs zweyte iſt das, was in
unſern Augen, aus Mangel der Einſicht in
die Reihe der Begebenheiten, Gefahr iſt, im
allſehenden Auge Gottes keine Gefahr: ſo wie
was in Abſicht auf unſer Nichtvorherwiſſen
Zufall iſt, in Hinſicht auf Gott nicht Zufall,
ſondern Ordnung, Fuͤgung, Feſtſtel-
lung iſt.
ein ſolcher Selbſtmoͤrder und dieſe Denkart
geſchildert.
nen Gott annehmen, der das Allgemeine be-
ſorgt, ohne das Einzele zu beſorgen.
im chriſtl. Magaz. Viert. Band.
ctum, ſed vtrum fuerit faciendum. Sana
quippe ratio etiam exemplis anteponen-
da eſt, cui quidem et exempla concor-
dant: ſed illa quae tanto digniora ſunt
imitatione, quanto excellentiora pietate.
Non fecerunt Patriarchae, non Prophe-
tae, non Apoſtoli: quia et ipſe domi-
nus Chriſtus, quando eos, ſi perſecu-
tionem paterentur, fugere admonuit de
ciuitate in ciuitatem, potuit admonere,
vt ſibi manus inferrent, ne in manus
perſe-
ille non juſſit, aut monuit, ut hoc mo-
do ſui ex hac vita migrarent, quibus
migrantibus manſiones aeternas ſe prae-
paraturum eſſe promiſit, quaelibet exem-
pla opponant gentes, quae ignorant Deum,
manifeſtum eſt, hoc non licere colenti-
bus vnum verum Deum. Sed tamen
etiam praeter Lucretiam, de qua ſupra
ſatis quod videbatur diximus, non facile
reperiunt, de cuius auctoritate praeſcri-
bant, niſi illum Catonem, qui ſe Vticae
occi-
quia vir doctus et probus habebatur,
vt merito putetur recte etiam fieri potuiſ-
ſe vel poſſe, quod fecit. De cujus fa-
cto quid potiſſimum dicam, niſi quod
amici ejus, etiam docti quidam viri,
qui hoc fieri prudentius diſſuadebant,
imbecillioris, quam fortioris animi faci-
nus eſſe cenſuerunt, quo demonſtrare-
tur non honeſtas turpia praecavens, ſed
infirmitas adverſa non ſuſtinens. Hoc
et ipſe Cato in ſuo chariſſimo filio indi-
cauit. Nam ſi turpe erat ſub victoria
Caeſaris vivere, cur auctor hujus turpi-
tudinis pater ſilio fuit, quem de Caeſa-
ris benignitate omnia ſperare praecepit?
cur non et illum ſecum coegit ad mor-
imperium in hoſtem pugnauerat, etiam
victorem, laudabiliter Torquatus occi-
dit, cur victus victo filio pepercit Cato,
qui non pepercit ſibi? An turpius erat
contra imperium eſſe victorem, quam
contra decus ferre victorem? Nullo mo-
do igitur Cato turpe eſſe judicauit ſub
victore Caeſare vivere, alioquin ab hac
turpitudine paterno ferro filium libera-
ret. Quid eſt ergo, niſi quod filium
quantum amauit, cui parci à Caeſare et
ſperauit, et voluit, tantum gloriae ipſius
Caeſaris, ne ab illo etiam ſibi parcere-
tur, vt ipſe Caeſar dixiſſe fertur, inui-
dit: aut vt aliquid nos mitius dicamus,
erubuit? De civitate Dei. Lib. I. C. XXIII.
Unſterblichkeit, der mir Muth zum Selbſt-
morde giebt. Nicht der Gedanke, ich wer-
de ewig ſeyn, ſondern der ganze Gedanke:
ich werde ewig ſeyn, und mein kuͤnf-
Frucht meines itzigen ſeyn, dieß iſt aͤchter
Begriff von der Unſterblichkeit. Sieh die
Aufloͤſung des folgenden Einwurfes.
auf die Vernunftbeweiſe von der Un-
zu legen ſey.
Kopf des Menſchen geſagt.
moͤrderinn ſey, beweiſet unter andern auch
der oben erwaͤhnte Selbſtmord. Denn eben
dieſer
Lebensjahre durch allerley Ausſchweifungen
ſehr beruͤchtigt. Da er ſeinen Aeltern die
aͤngſt-
er nach Berlin geſchickt. Hier betrug er ſich
eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder
an, auszuſchweifen, ſchlich ſich auch einmal
zu Nachts aus dem Hauſe weg, worinn er in
Penſion war, und gieng in ein H… haus.
Als er hier alles zugeſetzt hatte, entlehnte er
eine Piſtole, kaufte Pulver und Schrott, und
gieng in die Haſenheide, um ſich zu erſchieſ-
ſen. Er ſaß auf der Erde, hatte das Pul-
bereiten, als ein Funke ins Pulver fiel, wel-
ches aufflog, und ihn verſengte. Ganz be-
taͤubt von Schrecken fiel er um, ſah aber ei-
nen Mann, den er bat, nach ſeinem Hauſe
zu gehen, und zu bitten, daß man ihn in ei-
ner Kutſche abholen moͤchte, welches auch ge-
ſchah. Ein halb Jahr nachher erſchoß er ſich
wirklich. (Im Magazine zur Erfahrungsſee-
lenkunde. 3. B. 2. St. S. 115.)
ille in nobis Deus, injuſſu hinc nos ſuo
demigrare. Cum vero cauſſam juſtam
Deus ipſe dederit, ut nunc Socrati, nunc
Catoni, ſaepe multis: ne ille, medius
fidius,
bris in lucem illam exceſſerit: nec ta-
men illa vincla carceris ruperit: leges
enim vetant: ſed tanquam à magiſtratu
aut ab aliqua poteſtate legitima, ſic à
Deo vocatus atque emiſſus, exierit.
Mosh. Moral, und vor ihm Auguſtin be-
ruͤhret.
rakter und die Heldenthaten des Regulus
kann ich nicht weglaſſen: Nolunt autem
iſti, contra quos agimus, ut ſanctum vi-
rum Job, qui tam horrenda mala in ſua
carne perpeti maluit, quam illata ſibi
morte omnibus carere cruciatibus: vel
alios ſanctos ex noſtris litteris ſumma au-
ctoritate celſiſſimis fideque digniſſimis,
qui captivitatem, dominationemque hoſti-
um
luerunt, Catoni praeferamus: ſed ex li-
teris eorum, eidem illi Marco Catoni
Marcum Regulum praeferamus. Cato
enim nunquam Caeſarem vicerat, cui
victus dedignatus eſt ſubjici, et ne ſub-
jiceretur, a ſe ipſo elegit occidi: Re-
gulus autem Paenos jam vicerat, impe-
rioque Romano Romanus imperator
non ex civibus dolendam ſed ex hoſtibus
laudandam victoriam reportaverat: ab
eis tamen poſtea victus, maluit eos fer-
re ſerviendo, quam eis ſe auferre mo-
riendo. Proinde ſervavit et ſub Car-
thaginenſium dominatione patientiam, et
in Romanorum dilectione conſtantiam,
nec victum auferens corpus ab hoſtibus,
nec invictum animum a civibus. Nec
quod
amore fecit. Hoc probavit, cum cauſſa
promiſſi jurisque jurandi ad eosdem ho-
ſtes, quos gravius in ſenatu verbis,
quam in bello armis offenderat, ſine
ulla dubitatione remeavit. Tantus ita-
que vitae hujus contemptor, cum ſae-
vientibus hoſtibus, per quaslibet poe
nas eam finire, quam ſe ipſe perimere
maluit, magnum ſcelus eſſe ſi fe homo
interimat, procul dubio judicavit. In-
ter omnes ſuos laudabiles et virtutum
inſignibus illuſtres viros non proferunt
Romani meliorem, quem neque felicitas
corruperit; nam in tanta victoria pau-
perrimus permanſit; nec infelicitas fre-
gerit: nam ad tanta exitia revertit in-
trepidus. De Civit. DEI. L.I. C. XXIV.
(d) Nach-
ſchon oben im erſten Abſchnitte beruͤhret
habe, ſo ſteht hier das Beyſpiel von einem
ſeiner Juͤnger am rechten Orte.
ſen Claſſen ſelbſt ausnimmt, rechne ich nicht
hinein.
im ſtrengſten Sinne ſelbſtmoͤrderiſche Leiden-
ſchaften ſind, hab ich oben ſchon gezeigt: itzt
bemerke ich, daß jede Leidenſchaft Selbſtmoͤr-
derinn werden kann. Ein Unterſchied bleibt
Geiz erzeugen die meiſten Selbſtmorde, weil
ſie unter den Leidenſchaften die lebhafteſten
ſind, und das Zenith, wo ſie ſelbſtmorden,
ſchneller als andere erreichen.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Sailer, Johann Michael. Über den Selbstmord. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmsn.0