der
deutſchen Kleingewerbe
im 19. Jahrhundert.
Verlag der Buchhandlung des Waiſenhauſes.
1870.
[[II]][[III]]
Meinem Schwager
Dr.Guſtav Rümelin,
k. w. Staatsrath a. D., Vorſtand des k. w. ſtatiſt. Bureaus, Dozenten
der Philoſophie und Statiſtik an der Univerſität Tübingen,
in Liebe und Dankbarkeit
gewidmet.
[[IV]][[V]]
Vorrede.
Die nachſtehenden Unterſuchungen ſind urſprünglich
veranlaßt durch die Redaktion des Arbeiterfreundes.
Seit geraumer Zeit dem Namen nach Mitarbeiter
dieſer Zeitſchrift fühlte ich längſt die moraliſche Ver-
pflichtung, dieſe nominelle Mitarbeiterſchaft zu einer
faktiſchen zu machen. Um den wiederholten Aufforde-
rungen der Redaktion zu genügen, nahm ich eine
Arbeit wieder vor, die mich ſeit lange beſchäftigte, die
Bearbeitung der Handwerkerſtatiſtik der wichtigern
deutſchen Zollvereinsſtaaten. Bald aber ſah ich, daß
die Vollendung dieſer Arbeit einen Umfang gewinne,
der die Veröffentlichung in einer Zeitſchrift ausſchließe.
Damit war eine ſelbſtändige Publikation geboten, wie
ſie nunmehr erfolgt. Meiner Verpflichtung gegenüber
dem Arbeiterfreund kam ich dadurch nach, daß mir die
Verlagsbuchhandlung des Waiſenhauſes geſtattete, einen
Theil der Unterſuchungen (etwa die Hälfte derſelben)
daneben im Arbeiterfreund abdrucken zu laſſen. Es
folgte aus dieſer Kombination der Uebelſtand, daß
der Druck der erſten Bogen im Januar 1869, noch
ehe der Entwurf der neuen Gewerbeordnung ausge-
geben war, begann, während die letzten erſt im Sep-
[VI]Vorrede.
tember und Oktober 1869 ganz vollendet und gedruckt
wurden.
Seit mir im Jahre 1862 die Ausarbeitung der
im Dezember 1861 aufgenommenen württembergiſchen
Gewerbeſtatiſtik übertragen worden war, hatte ich die
hiermit zuſammenhängenden Fragen und Unterſuchungen
ſtets mit beſonderer Vorliebe im Auge behalten. Als
ich nach Preußen kam, hatte ich doppelte Veranlaſſung
mich immer und immer wieder für wiſſenſchaftliche Vor-
leſungen, für Vorleſungen in Gewerbe- und Hand-
werkervereinen, ſowie für literariſche Arbeiten mit der
preußiſchen Gewerbeſtatiſtik, ſowie mit der des Nachbar-
landes, mit der ſächſiſchen, zu beſchäftigen. So hatte
ſich das Material, die verſchiedenſten Arten der Berech-
nung, der Tabellen bei mir gehäuft; meine eigenen
Anſichten waren im Laufe dieſer Zeit mannigfach andere
geworden, als ich mich durch die genannte äußere Ver-
anlaſſung zur definitiven Ausarbeitung entſchloß. Ich
theilte früher, meinen allgemeinern Studien und meinen
politiſchen Anſchauungen gemäß, die hergebrachten An-
ſichten der liberalen Nationalökonomie, die rein opti-
miſtiſche Auffaſſung unſerer volkswirthſchaftlichen Fort-
ſchritte, die Idee, in der Gewerbefreiheit an ſich liege
ausſchließlich das Heilmittel für alle Uebelſtände. Je
tiefer aber meine Studien gingen, deſto mehr ſah ich
nicht die Unrichtigkeit, im Gegentheil die Berechtigung,
aber auch die Einſeitigkeit dieſes Standpunktes ein, deſto
mehr verwandelten ſich mir frühere Abſtraktionen in
konkrete Unterſcheidungen, der ſchönfärbende Optimis-
mus in die Einſicht, daß nothwendig aus den großen
[VII]Vorrede.
Umwälzungen unſerer Zeit neben glänzenden, unerhör-
ten Fortſchritten tiefe ſoziale und wirthſchaftliche Miß-
ſtände ſich ergeben; es verwandelte ſich mir der Nihilis-
mus des „laissez faire et laissez passer“ in die
Forderung poſitiver Reformen, wobei die Reformen
mir immer mehr als die Hauptſache erſchienen, nicht
die Frage, ob ſie der Staat oder die Geſellſchaft in
die Hand zu nehmen habe.
Doch zunächſt haben dieſe Unterſuchungen für jene
tiefer liegenden Fragen nur das Material zu ſammeln,
einen Theil des status quo feſtzuſtellen. Der erſte
Zweck der Arbeit lag für mich darin, die ſo vielfach
mißbräuchlich benutzten ſtatiſtiſchen Zahlen kritiſch zu
unterſuchen, nur vergleichbare Zahlen zuſammen zu
ſtellen, durch richtige Anordnung der Zahlen die Fragen
zu ſtellen, welche ſie beantworten können. Ich habe
daher auch nicht geſcheut, ſelbſt mit einer breiten und
hier und da ermüdenden Ausführlichkeit die Entſtehung
und den Werth der einzelnen Zahlen klar zu legen,
durch zahlreiche Anmerkungen jedem Leſer die eigene
Prüfung und Nachrechnung zu ermöglichen. Die Mehr-
zahl meiner Rechnungen habe ich durch einen ausge-
zeichneten Mathematiker, Herrn Ulrich, Beamten der
Verſicherungsgeſellſchaft Iduna prüfen laſſen; auch im
Druck ſind die Zahlen mit möglichſter Sorgfalt rektifizirt,
ſo daß hoffentlich die niemals ganz zu vermeidenden
Druck- und Rechenfehler unbedeutend ſind. Daneben
habe ich angeſtrebt, die Zahlen ſo mitzutheilen, daß
auch der Nichtfachmann ſie leicht verſteht, d. h. ich habe
ſie, durchaus in kleine Tabellen gruppirt, zwiſchen dem
[VIII]Vorrede.
Texte mitgetheilt, auch abſichtlich die Hauptreſultate
der Tabelle nochmals in Worten ausgeſprochen, was
ja in offiziellen Publikationen, wie in Werken für den
Statiſtiker von Fach zu vermeiden iſt.
Wenn ich dabei möglichſt ſuchte, die Zahlen ganz
für ſich ſprechen zu laſſen, ſo weiß doch jeder Statiſtiker,
daß das nur möglich iſt, wenn der, welcher die Zahlen
vorführt, eine genaue vollſtändige Kenntniß der realen
Verhältniſſe hat, um die es ſich handelt. Und dazu
rechne ich nicht nur eine Kenntniß der ſpezifiſch gewerb-
lichen Zuſtände, der Technik der Gewerbe, der Abſatz-
und Preisverhältniſſe, ſondern ebenſo ſehr eine Kenntniß
der pſychologiſchen und ſittlichen Zuſtände, der Perſonen,
um die es ſich handelt, der Art, wie die betreffenden
wirthſchaftlichen Klaſſen ſozial und ſonſt mit einander
verkehren und ſtehen.
Ich habe mich in dieſer Beziehung bemüht, das
große literariſche Material, das in den Handelskammer-
berichten, in den Ausſtellungsberichten, ſowie in den
volkswirthſchaftlichen Zeitſchriften liegt, zu verwerthen.
Ich ſammle ſeit Jahren an der ſehr umfangreichen
Brochürenliteratur über deutſche Volkswirthſchaft des
19ten Jahrhunderts. Auf manchen Reiſen und Wan-
derungen habe ich den Süden und den Norden des
Zollvereins durchſtreift, die großen Fabriken beſichtigt,
die Werkſtätten der Handwerker aufgeſucht und in den
Wohnungen der Arbeiter eingeſprochen. Aber immer
bleibt das, was man ſo ſelbſt geſehen, ſogar das, was
man ſelbſt geleſen und ſtudirt hat, gegenüber dem
großen Gebiete des gewerblichen Lebens ein kleines
[IX]Vorrede.
Bruchtheil. So kann es nicht fehlen, daß da oder
dort vielleicht die Information eine ungenügende war,
die Ausarbeitung eine ungleiche wurde. Die Grenz-
linie zwiſchen Zahlenmittheilung und ausführender Be-
trachtung konnte ſchon wegen der verſchiedenen Bedeu-
tung der einzelnen Fragen, Staaten und Gewerbe keine
ganz gleichmäßige ſein. Aber darauf kommt es auch
nicht an. Das Weſentliche liegt immer wieder im Ge-
ſammtergebniß. Dieſes iſt wohl mehr durch die gleich-
ſam mathematiſch feſtgeſtellten ſtatiſtiſchen Reſultate —
daneben aber immer auch durch die ſonſtigen Studien
und Anſichten, durch das Temperament und die Erleb-
niſſe des Autors bedingt. Ein ſubjektiver Reſt bleibt
immer. Es iſt die Schattenſeite jeder wiſſenſchaftlichen
Arbeit; es iſt aber auch im gewiſſen Sinne ein Vor-
zug. Es ſoll ein ſubjektiver Reſt bleiben. Eine Arbeit
derart, welche mit über die wichtigſten volkswirthſchaft-
lichen Fragen der Gegenwart ſich ausſpricht, ſoll ſub-
jektiv im guten Sinne des Wortes, ſie ſoll eine erlebte
ſein. Sie ſoll ſich gründen auf ſelbſtändige Forſchung,
die unter Kenntniß aller bisherigen Reſultate der
Wiſſenſchaft, doch bei der Beobachtung von allen Schul-
theorien zu abſtrahiren, mit eigenem Auge und offenem
Herzen zu ſehen vermag.
Das iſt doppelt nothwendig für Fragen, welche
vom Streite der politiſchen Parteien ſeit Jahren ſo
hin- und hergezerrt wurden, daß auf allen Seiten die
Unbefangenheit des Urtheils verloren ging, daß man
die Parteideviſen über die Dinge ſtellte, daß man
beiderſeits mit Argumenten focht, die aus der Rüſt-
[X]Vorrede.
kammer der doch ſchon vielfach wieder veralteten Partei-
ſchriften geholt (hier aus Adam Müller, Haller,
Sismondi, dort aus Adam Smith und Baſtiat), auf
die im Augenblick ſtreitigen Objekte oft kaum paßten.
Beſonders die extremen Flügel beider großen politiſchen
Parteien haben intolerant, wie die Extreme immer
ſind, ſich gerade auch für volkswirthſchaftliche Dinge
ein Parteidogma zurecht gemacht, an deſſen Unfehlbar-
keit und Unantaſtbarkeit ſie mit der ganzen Leiden-
ſchaftlichkeit einer pfäffiſchen Orthodoxie feſthalten.
Dieſer Vorwurf trifft nicht bloß unſere konſervativen,
er trifft beſonders auch die radikalen Volkswirthe.
Man kann mit den Hauptzielen der volkswirth-
ſchaftlichen liberalen Agitation des letzten Jahrzehntes,
mit den Hauptzielen des volkswirthſchaftlichen Kon-
greſſes vollſtändig einverſtanden ſein, man kann das
Verdienſt jener volkswirthſchaftlichen Agitation um die
praktiſche Durchführung wichtiger, allerdings über-
wiegend negativer Reformen, man kann das poſitive
Verdienſt Schulze-Delitzſch’s ſehr hoch ſtellen, ohne
darum die ganz einſeitigen theoretiſchen Grundlagen
jener volkswirthſchaftlichen Partei zu theilen — jenes
abſtrakte Schuldogma, das die unbedingte Harmonie
aller Privatintereſſen, das die unbedingte Berechtigung
jedes wirthſchaftlichen Egoismus predigt, das, die
pſychologiſchen, ſozialen und ſittlichen Vorbedingungen
jedes konkreten volkswirthſchaftlichen Zuſtandes ver-
kennend, das wirthſchaftliche Leben aus abſtrakten
Motiven ableitet. Man kann die Grenzen einer über-
mächtigen Bureaukratie eingeengt, den Polizeiſtaat in
[XI]Vorrede.
einen wahrhaft konſtitutionellen verwandelt wünſchen,
man kann ein Parteigänger politiſcher und wirthſchaft-
licher Freiheit ſein, ohne darum die rechtlichen und
ſtaatlichen Grundlagen der Volkswirthſchaft zu ver-
kennen, wie es jenen radikalen Volkswirthen ſo oft
begegnet. Sie wollen eine im Augenblick an der Re-
gierung befindliche Partei, die theilweiſe freilich zugleich
eine wirthſchaftliche Klaſſe mit egoiſtiſchen Intereſſen
iſt, bekämpfen; und ſie bekämpfen häufig die ewig
ſittliche Natur, das ewige Recht des Staates ſelbſt,
oder erklären ſie, wie ihr Gegner, das wirthſchaftliche
Privatintereſſe, das die meiſten ihrer Mitglieder als
wirthſchaftliche Klaſſe haben, ohne Weiteres für das
Staatsintereſſe, für das allgemeine Intereſſe ſelbſt.
Solche Verwechslung von Partei- und Klaſſen-
intereſſen mit theilweiſe oder ſcheinbar wiſſenſchaftlichen
Ausführungen und Ergebniſſen kommt rechts und links
vor; ſie begegnet den Heißſpornen beider Parteien oft
ganz unbewußter Weiſe; manche, denen ſie begegnet,
glauben dabei in ehrlichſter Weiſe zu handeln. Oft
aber auch iſt das nicht der Fall. Und das iſt gerade
die Gefahr, welcher die Nationalökonomie mehr als
jede andere Wiſſenſchaft ausgeſetzt iſt. Nicht die vielen
Laien und Dilettanten, welche in beſter Abſicht heute
volkswirthſchaftliche Abhandlungen ſchreiben, ſind gefähr-
lich für eine klare und geſunde öffentliche Meinung,
ſondern jene geſchulten Advokaten und Literaten, welche
im Dienſte einzelner Börſenunternehmungen, einzelner
wirthſchaftlicher Klaſſen, einzelner Zeitungen und Zeit-
ſchriften, welche ausſchließlich die Intereſſen dieſer oder
[XII]Vorrede.
jener Klaſſe, oft gar einzelner Perſonen verfolgen,
doch immer ſich den Anſchein geben, als ſei ihre
egoiſtiſche Intereſſentenpolemik ein Ergebniß der Wiſſen-
ſchaft oder wenigſtens durchaus im Einklang mit der
allgemeinen Wohlfahrt, mit dem Staatsintereſſe.
Eine unbefangene Forſchung, welche ſich bemüht,
frei von allen Schultheorien und Intereſſen, nur von
den Dingen ſelbſt auszugehen, wird das Meiſte unter
anderem Geſichtswinkel ſehen, als der Parteimann und
als der Klaſſenintereſſent; ſie wird Irrthümer einer-
ſeits, berechtigte Momente andererſeits auf beiden
Seiten ſehen und muß dieß, will ſie anders ehrlich
verfahren, offen ausſprechen. Die politiſchen Parteien
und die wirthſchaftlichen Klaſſen als ſolche werden da-
durch nicht befriedigt werden; ja man läuft Gefahr,
alle vor den Kopf zu ſtoßen, ohne eine zu befriedigen.
Die Wiſſenſchaft kann ſich darüber nicht grämen.
Sie hat nicht den Parteien zu dienen, ſondern über
ihnen zu ſtehen, ſie hat nur einen Zweck, den — ehrlich
und mit Anſtrengung aller ihrer Mittel nach Wahr-
heit zu ſtreben.
Auch nur auf einem ſolchen Standpunkt wird es
gelingen, was man ſo oft verlangt hat, ſo oft an-
ſtrebt, über die Theorien Adam Smith’s wahrhaft
hinauszukommen — hinauszukommen nicht durch all-
gemeine Deklamationen, durch unwahre Anpreiſungen
vergangener Zeiten und überlebter Inſtitutionen, ſon-
dern durch die exakte Forſchung, welche, die einzelnen
Gebiete nach einander durch emſige Arbeit klarlegend,
den großen Gedanken des Zuſammenhangs aller
[XIII]Vorrede.
ſozialen Probleme doch immer feſthält, vor Allem
den Grundgedanken einer tiefern Auffaſſung, die Ueber-
zeugung von der nothwendigen Einheit und Ver-
knüpfung des wirthſchaftlichen mit dem ſittlichen Leben
der Völker immer vor Augen behält.
Wenn es mir gelungen iſt, in dieſem Sinne
einen Beitrag zur ethiſchen Begründung der National-
ökonomie geliefert zu haben, in dem Sinne gearbeitet
zu haben, in welchem ſchon J. G. Hoffmann, dann
Roſcher und Stein, Engel und Hildebrand, trotz
ihrer verſchiedenen Ausgangspunkte, ſowie neuerdings
mehrere der jüngern deutſchen Nationalökonomen
geforſcht und gearbeitet haben, dann glaube ich
meinen Zweck erreicht zu haben. Wenn mir das
gelungen iſt, dann auch nur glaube ich das volle
Recht zu haben, dem Manne dieſe Unterſuchungen zu
widmen, der von tiefſtem Einfluß auf meine geiſtige
Entwicklung vor Allem durch ſein Beiſpiel, durch ſeinen
Umgang, wie durch ſeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten
dazu beigetragen hat, mich zu erziehen zu wiſſen-
ſchaftlicher Arbeit und zum Muthe ſelbſtändiger unab-
hängiger Ueberzeugung!
Halle a/S. im Oktober 1869.
Guſtav Schmoller.
[[XIV]][[XV]]
Inhaltsverzeichniß.
- Seite
- Einleitung1—10
- Ein Rückblick ins 18te Jahrhundert.
- 1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe 13—22
- 2. Die preußiſche Verwaltung und die preußiſche
Induſtrie des 18ten Jahrhunderts 23—46 - Die Hauptreſultate der preußiſchen Aufnahmen
von 1795—1861. - 1. Die preuß. Handwerksſtatiſtik von 1795/1803 49—58
- 2. Die preuß. Handwerkertabellen von 1816—43 59—69
- 3. Die preuß. Handwerkertabellen von 1846—61 70—99
- Die Hauptreſultate der Aufnahmen in Baden,
Württemberg, Baiern und Sachſen im
19ten Jahrhundert. - 1. Die badiſche Handwerkerſtatiſtik von 1829—61 103—107
- 2. Die württembergiſche Handwerkerſtatiſtik von
1835—61 und die Folgen der Gewerbefreiheit
von 1862—67 108—117 - 3. Die bairiſche Handwerkerſtatiſtik von 1810—61 118—137
- 4. Die ſächſiſche Handwerkerſtatiſtik von 1830—
1861, die Gewerbefreiheit von 1862—66 138—156 - Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr
im 19 ten Jahrhundert. - 1. Die Urſachen 159—195
- 2. Die neuere Art der Produktion 196—210
- 3. Das Verkaufsgeſchäft des kleinen Handwerkers 211—227
4. Die Magazine und der Hauſirhandel 228—254 - Seite
- Die lokale und geſchäftliche Vertheilung der Ge-
werbetreibenden. - 1. Das Handwerk in Stadt und Land 257—287
- 2. Das Handwerk nach Provinzen und Staaten 288—325
- 3. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern
im Allgemeinen 326—355 - 4. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern
im Speziellen 356—390 - Der Kampf des großen und kleinen Betriebs in
einzelnen Gewerbszweigen. - 1. Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und
die in der Fabriktabelle verzeichneten im
Speziellen 393—410 - 2. Die Bäcker und Fleiſcher 411—430
- 3. Die Wirthſchafts- und verwandten Gewerbe 431—446
- 4. Die Baumwoll- und Leinenſpinnerei 447—471
- 5. Die Wollſpinnerei, die Zwirn-, Strick-,
Stick- und Nähgarnfabriken, die Garnbleiche
und Färberei und die Seilerei 472—491 - 6. Die Weberei überhaupt und die Weberei als
häusliche Nebenbeſchäftigung im Speziellen 492—510
7. Die handwerksmäßige lokale Weberei 511—533 - 8. Die Leinen- und Baumwollweberei für den
Abſatz im Großen nebſt ihren Hülfsgewerben 534—575 - 9. Die Wollweberei im Großen, die Seiden-,
die Band- und die Strumpfweberei 576—614 - 10. Die Schuhmacher, Schneider und ver-
wandten Gewerbe 615—652 - Schluß und Reſultate653—704
[[1]]
Einleitung.
Zweck und Gegenſtand der Unterſuchungen. Die bisherigen
Bearbeitungen der Gewerbeſtatiſtik. Die Quellen der Ge-
werbeſtatiſtik und der kritiſche Werth gewerbeſtatiſtiſcher Auf-
nahmen. Die Trennung der Aufnahmen in Fabrik- und
Handwerkertabellen.
Das Geſetz vom 8. Juli 1868, betreffend den
Betrieb der ſtehenden Gewerbe, hat für das ganze
Gebiet des norddeutſchen Bundes die Gewerbefreiheit,
ſoweit ſie nicht vorher ſchon exiſtirte, gebracht. Lange
Angeſtrebtes iſt damit erreicht, eine für alle Gewerbe
nothwendige Geſetzesänderung erzielt. Aber irren würde
man ſicher, wenn man einen allzugroßen ſchnellen Ein-
fluß dieſer Aenderung auf die Lage und Entwickelung der
Handwerke erwartete, wenn man glaubte, die Gewerbe-
freiheit bringe den beſtehenden Kleingewerben zunächſt
Vortheil. Ihre Entwickelung iſt mehr durch andere
Umſtände, als durch die Gewerbegeſetzgebung bedingt.
Die Technik in den einzelnen Gewerben, die Konkurrenz
mit der Großinduſtrie, die Bildung und Rührigkeit
der Handwerker ſelbſt, die landwirthſchaftliche und die
ſonſtige induſtrielle Entwickelung einer Gegend, die Dich-
tigkeit der Bevölkerung, die Verkehrsmittel ſind eben ſo
wichtig oder wichtiger, als die Gewerbeverfaſſung.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 1
[2]Einleitung.
Mag dem aber ſein, wie ihm wolle, ſicher iſt es
am Platze, bei einer ſo wichtigen Aenderung der Geſetz-
gebung den Blick rückwärts und vorwärts zu wenden und
ſich von Neuem die oft beſprochene Frage vorzulegen,
welches war, iſt und wird die Lage der Kleingewerbe
ſein? Vieles iſt darüber geſchrieben und geſagt wor-
den, vielfach hat man einzelne Punkte unterſucht, ſo
gerade den Einfluß der Gewerbefreiheit, die Konkurrenz
der Großinduſtrie, die neuen Organiſationen, Aſſozia-
tionen, Kreditvereine, die dem Handwerke Hülfe bringen
ſollen und theilweiſe auch ſchon gebracht haben. Viel
weniger aber hat man nach dem Geſammtreſultat aller
der verſchiedenen zuſammenwirkenden Momente gefragt,
wie ſie in der Gewerbeſtatiſtik uns vorliegen.
Was ich in den folgenden Unterſuchungen beabſich-
tige, iſt weder eine zuſammenfaſſende deutſche Gewerbe-
ſtatiſtik, noch eine vollſtändige Geſchichte der Klein-
gewerbe, noch der Gewerbegeſetzgebung; eben ſowenig
beabſichtige ich ein näheres Eingehen auf das Aſſozia-
tionsweſen; ich will das gewerbeſtatiſtiſche Material
der bedeutendern deutſchen Zollvereinsſtaaten, ſoweit es
gedruckt vorliegt, kritiſch unterſuchen, damit das letzte
Ergebniß aller zuſammenwirkenden Urſachen möglichſt
feſtſtellen und aus dieſer feſtgeſtellten Beobachtung ver-
ſuchen, Schlüſſe über die Vergangenheit und gegen-
wärtige Lage der Kleingewerbe, über dieſe und jene
damit zuſammenhängende Frage zu ziehen.
Die folgenden Betrachtungen und Unterſuchungen
glauben um ſo mehr am Platze zu ſein, ſowie auch in
loſer, ſkizzenhafter Form auftreten zu dürfen, als es
[3]Frühere Bearbeitungen.
mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme an jeder
vollſtändigen neuen Bearbeitung beſonders der preußiſchen
Gewerbeſtatiſtik fehlt. Der trefflichen Bearbeitung von
Hoffmann,1 welche die gewerbeſtatiſtiſchen Reſultate bis
1837 in Betracht zieht, iſt keine vollſtändig ebenbürtige
gefolgt. Dieterici hat die Ergebniſſe der Aufnahmen
von 1843—55 2 veröffentlicht, Engel die von 1858
und 1861.3 Einzelne Fragen ſind von Dieterici in
dem Tabellenwerk von 1843, wie in den Mittheilungen
erörtert;4 für 1849 iſt die Bearbeitung in dem V. Folio-
1 *
[4]Einleitung.
band der offiziellen Tabellen auch eine etwas weiter
gehende. Die Reſultate von 1846—58 ſind im erſten
Band der Zeitſchrift des ſtatiſtiſchen Bureaus zu einer
überſichtlichen Tabelle wenigſtens vereinigt.1 Die Reſul-
tate von 1846—61 ſind für die einzelnen Gewerbe im
Jahrbuch für die amtliche Statiſtik vergleichend zuſammen-
geſtellt. Die Publikation der Aufnahme von 1861 iſt
eine beſſere und eingehendere, als die früheren. Eine
befriedigende Bearbeitung des Materials kann ich in all
dem nicht ſehen.
Längſt nachdem ich mit dieſer Bearbeitung begon-
nen, erſchien der dritte Band von Viebahn’s ausge-
zeichneter Statiſtik des zollvereinten und nördlichen
Deutſchlands, der das Gewerbeweſen umfaßt. So voll-
endet derſelbe iſt, ſo viel ich geſtehe, aus demſelben
gelernt zu haben, ſo mannigfach ich mich auf ſeine
Reſultate und Berechnungen da und dort beziehen werde,
ſo wenig konnte er mich abhalten, meine Unterſuchun-
4
[5]Literatur und Quellen.
gen zu Ende zu führen und zu publiziren. Viebahn
will nur den gegenwärtigen Standpunkt der deutſchen
Induſtrie darſtellen; er geht nur ſelten auf ältere
Zahlen über 1861, noch ſeltener über 1846 zurück.
Ich will nirgends wie er darſtellen, eine vollſtändige
Beſchreibung geben, ich will nur ein paar große Fragen
hiſtoriſch unterſuchen, ſoweit es mit dem gewerbeſtati-
ſtiſchen Material möglich iſt. Die Fragen, welche mir
die wichtigſten ſind, kann Viebahn ſchon um des knappen
Raumes in einem Sammelwerke willen vielfach kaum
berühren, theilweiſe übergeht er ſie ganz.
Von den andern deutſchen Staaten haben eben-
falls nur wenige genügende Bearbeitungen ihrer Hand-
werksſtatiſtik aufzuweiſen. Am umfaſſendſten noch ſind
die von Sachſen1 und Württemberg;2 die bairiſche3
[6]Einleitung.
und badiſche1 Bearbeitung geht nicht viel über die Mit-
theilung der Zahlen hinaus, die hannöverſche 2 beſchränkt
ſich nur auf das Jahr 1861 und bietet daher unſerer
hiſtoriſchen Unterſuchung kein Feld. Die thüringiſche
Gewerbeſtatiſtik,3 ſoweit ſie mir bekannt iſt, geht über
das Jahr 1861 nur durch ein paar Mittheilungen aus
Gotha und Koburg zurück; in der Hauptſache beſchränkt
ſie ſich auf 1861 und auf die Umrechnung der abſo-
luten Zahlen in Prozentverhältniſſe nach einigen Haupt-
richtungen. Auch auf Thüringen und die andern kleinen
Staaten beabſichtige ich nicht näher einzugehen; auf
allzukleinem Raume können zu leicht beſondere exzeptionelle
Urſachen einwirken, die das Reſultat trüben.4 Die
[7]Kritik der Aufnahmen.
geſammte Aufnahme in den Zollvereinsſtaaten von 1861
iſt vom Centralbureau des Zollvereins publizirt, aber ohne
daß nur die Totalſummen der Tabellen gezogen wären.1
Neuere Aufnahmen ſeit 1861 exiſtiren leider faſt
gar keine, was um ſo mehr zu bedauern iſt, als gerade
von 1861—68 unſer gewerbliches Leben ſich ſo ſehr
verändert hat.
Ehe ich zur Sache komme, muß ich noch eine
Bemerkung vorausſchicken. Die Nichtbeachtung und
Nichtbearbeitung der Gewerbeſtatiſtik hatte und hat bei
vielen hervorragenden Statiſtikern und Nationalökonomen
einen, wenn nicht ganz genügenden, doch auch nicht ganz
unſtichhaltigen Grund — nämlich die Unvollkommenheit
der Aufnahmen. Ueber Großgewerbe, Ackerbau, Forſt-
wirthſchaft kann die Statiſtik eine Reihe wichtiger und
theilweiſe leicht konſtatirbarer Verhältniſſe und Merk-
male feſtſtellen. Das Handwerk hat in der Regel nur
eine Perſonalſtatiſtik; nur die Zahl der Meiſter, der
Geſellen und Lehrlinge oder beider letzteren zuſammen
läßt ſich aufnehmen, daraus ihr Verhältniß zur Bevölke-
rung berechnen. Damit weiß man noch unendlich wenig
über die Produktion, über Blüthe oder Verfall, über
die geſchäftliche Organiſation. Was ſagt eine geringere
Zahl Geſchäfte, wenn jedes beſtehende Geſchäft mit ſo
viel mehr Maſchinen arbeitet? was ſagt eine bloße
[8]Einleitung.
Perſonalſtatiſtik ohne Statiſtik der techniſchen Hülfs-
mittel und des Umſatzes? Die ältern einfachen Kate-
gorien „Meiſter und Gehülfen“ paſſen auf heutige Zu-
ſtände nicht mehr ganz, erſchöpfen ſie wenigſtens nicht.
Vielfach ſind heute verſchiedene Handwerke in Geſammt-
unternehmungen vereinigt; daſſelbe Geſchäft treibt Pelz-
handel, Hutfabrikation, Handſchuhmacherei. Dadurch
und durch andere ſolche Verhältniſſe entſteht eine Reihe
von Schwierigkeiten, Bedenken, Unkorrektheiten. Nur
bei einer möglichſt genauen Kenntniß der realen gewerb-
lichen Verhältniſſe, um die es ſich handelt, wie der
Art der Aufnahmen werden ſich die Irrthümer, die noth-
wendige Folge dieſer Mißſtände ſind, nicht ganz, aber
doch einigermaßen vermeiden laſſen.
Der allgemeine Werth der Aufnahmen unterliegt
neben dieſen ſpeziellen Bedenken noch dem Zweifel, der
aus einer Vergleichung mit der Aufnahme der Bevölke-
rungstabellen hervorgeht. Die Bevölkerungsaufnahmen
haben ſich ſucceſſiv verbeſſert, eine wiſſenſchaftlich bear-
beitete Technik der Aufnahmen hat ſich gebildet; die
Selbſtangaben in den Haus- oder Haushaltungsliſten
ſind glaubwürdige Zeugniſſe der betreffenden Perſonen
über einfache verſtändliche Fragen. So ſind die Gewerbe-
tabellen nicht aufgenommen; ſie ſtützen ſich meiſt nicht
auf Selbſtangaben; ſchon die Rubriken der Tabellen
ſind zu komplizirt, um die Leute ſie ſelbſt ausfüllen
zu laſſen. Die Ausfüllung der erſten Tabellen fällt in
die Hand von Lokalbehörden (Orts- oder Kreisvorſtän-
den), bei denen oftmals die gehörige Einſicht, öfter
vielleicht noch der gehörige Wille fehlt. Für die Ver-
[9]Kritik der Aufnahmen.
gleichung der verſchiedenen Staaten kommt hinzu, daß
man ſich bis zu einem gewiſſen Grade ſchon 1846,
vollſtändig 1861 zu einem gemeinſamen Schema in
den Zollvereinsſtaaten einigte, daß man aber keine ſichere
Garantie dafür hat, ob die Ausführung eine einheit-
liche, gleichmäßige iſt, ob dieſelben Kategorien überall
gleichmäßig aufgefaßt wurden.
Gerechten Zweifeln und Bedenken unterliegt auch
die ganze in Preußen übliche Trennung der Aufnahme
in zwei beſondere Tabellen, in die Fabriktabelle und die
Handwerkertabelle.1 Engel hat nicht ganz Unrecht, wenn
er ſagt, es fehle an jeder ſcharfen Definition für dieſe
Trennung, ganz abgeſehen davon, daß die Uebergänge
von der einen zur andern Art ſo zahlreich und fein
ſchattirt ſeien, daß es ſchwer zu ſagen ſei, wo das Hand-
werk aufhöre, die Fabrik anfange. Es gibt Gerbereien,
Schmieden, Glockengießereien in der Handwerkertabelle
verzeichnet, die größer ſind als viele Fabriken. Als
Meiſter werden nicht bloß ſelbſtändige Unternehmer,
ſondern viele Arbeiter bezeichnet, die zu Hauſe für
Verleger arbeiten.
Mag dem aber ſein, wie ihm wolle, die Trennung
iſt eine gegebene Thatſache; für künftige Aufnahmen wird
ſie als offene Frage zu diskutiren ſein, für die früheren
iſt ſie da und es fragt ſich bloß, ob ſie die Thatſachen
ſo entſtellt, daß wegen ihr gar keine richtige Bearbei-
tung möglich iſt.
[10]Einleitung.
Das zu behaupten wäre lächerlich. Gerade für
eine Unterſuchung, die nur die Kleingewerbe in Betracht
ziehen will, bietet die Trennung ſogar Vortheile. Und
wenn man von Einzelheiten abſieht, ſo entſpricht ſie
ſelbſt heute noch im Ganzen den realen Zuſtänden, hat
ihnen jedenfalls bis in die fünfziger Jahre entſprochen.
In der Hauptſache ſind die Geſchäfte, welche in der
Handwerkertabelle ſtehen, etwas Anderes als die in der
Fabriktabelle ſtehenden. Entſcheidet im Detail oft nur
Willkür und Zufall, ob eine Unternehmung in der einen
oder andern Tabelle verzeichnet iſt, für die Haupt-
kategorien iſt die Scheidung doch klar; für ſie hat die-
ſelbe jedenfalls in den verſchiedenen Jahren nach gleichen
Grundſätzen ſtattgefunden. Und wenn manche Unterneh-
mung, die in der Fabriktabelle ſteht, in die Handwerker-
tabelle gehört, ſo wird auch der umgekehrte Fehler ſtatt-
gefunden haben, und das Geſammtreſultat wird in Folge
dieſer Ausgleichung doch relativ der Wahrheit ſich nähern.
Für mancherlei Fragen und Verhältniſſe werden
bedeutende Zweifel bleiben. Da wird man verſuchen
müſſen die Zahlen kritiſch zu rektifiziren, wenn es geht.
Wenn das nicht geht, wird man die Schlüſſe vorerſt
hypothetiſch ziehen und ſo zunächſt ein vorläufiges Re-
ſultat erhalten.
Verfährt man nur wiſſenſchaftlich, ſo hat man
trotz der Unvollkommenheit der Aufnahmen ein werth-
volles Unterſuchungsmaterial, das bei richtiger und vor-
ſichtiger Frageſtellung der Wahrheit entſprechende Ant-
worten nicht ſchuldig bleibt.
[[11]]
Ein
Rückblick ins 18. Jahrhundert.
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1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe.
Die Nachwehen des dreißigjährigen Krieges und die Zuſtände
überhaupt. Die zeitgenöſſiſchen Klagen über die elende Lage
der Handwerke. Die verſchiedene Wirkung der Zuſtände auf
die Lokalgewerbe und die für den größeren Abſatz arbeiten-
den Gewerbe. Aus der Münchener Handwerksſtatiſtik des
17. Jahrhundert. Einzelne gewerbeſtatiſtiſche Notizen aus
dem 18. Jahrhundert: Bairiſche Tuchmacher; Niedergrafſchaft
Katzenellnbogen; Herzogthum Magdeburg; Fürſtenthum Würz-
burg; Schweidnitz; Kaufbeuern; Speier.
Obgleich wir für das 18. Jahrhundert keine umfaſ-
ſenden Gewerbeaufnahmen haben, ſei es geſtattet, mit
einigen Worten an die damaligen Zuſtände zu erinnern.1
Noch litt Deutſchland an den Nachwehen des
dreißigjährigen Krieges. Der deutſche Handel war ver-
nichtet. Die Kleinſtaaterei hemmte jede Bewegung. Das
Gewerberecht war ausgeartet in den verrottetſten Zopf.
Mißbräuche aller Art wucherten. Vergeblich ſuchten
[14]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Reichs- wie Landesgeſetzgebung dagegen anzukämpfen.
Vergeblich war Alles, weil Stumpfſinn und Apathie,
kleinlicher Spießbürgergeiſt und beſchränkte Indolenz
überall herrſchten, weil Gevatter Schneider und Hand-
ſchuhmacher möglichſt ohne Anſtrengung und Arbeit ſich
nothdürftige Nahrung zu ſchaffen und zu erhalten ſuch-
ten. Ein großer Theil der Handwerker, auch der
ſtädtiſchen, war zu Halbbauern herabgeſunken. Feindlich
und apathiſch verhielt ſich die Mehrzahl gegen neue
Anregungen, wie ſie von den flüchtigen franzöſiſchen
Proteſtanten, von den Fürſtenhöfen ausgingen. Das
Fabrikweſen oder vielmehr einzelne für weitern Abſatz
arbeitende Hausinduſtrien wurden in einzelnen Ländern,
wie in Preußen, in Sachſen, auch in Oeſtreich von
aufgeklärten Fürſten gepflegt und gehoben; nur wenige
Induſtrien, wie die Leinenmanufaktur, hatten aus alter
Zeit her noch eine gewiſſe Blüthe gerettet; aber das
berührte in der Hauptſache die hergebrachten Hand-
werkszuſtände nicht viel, jedenfalls nur in einzelnen
Ländern.
Die ökonomiſche Lage der meiſten Handwerker war
ebenſo kümmerlich als ihre Technik unvollendet, ihre
Arbeit ſchlecht. Das dauernde Siechthum, wie es
ebenſo Folge der Geſetzgebung und der politiſchen Zu-
ſtände, als der techniſchen Ungeſchicklichkeit und ſpieß-
bürgerlichen Trägheit war, hatte aber je nach der Art
der Gewerbe und lokal, je nach den mitwirkenden ſon-
ſtigen Verhältniſſen, ziemlich verſchiedene Folgen. In
einigen Gegenden und Gewerben allgemeiner Rückgang
ſelbſt der Meiſterzahl, in andern im Gegentheil eine
[15]Die Klagen über gewerbliche Noth.
Ueberſetzung des Handwerks. Ueberall aber treffen wir
gleichmäßig die Klagen über gewerblichen Nothſtand.
Juſtus Möſer klagt,1 daß man Handel und Hand-
werk auf dem platten Lande geſtattete, da könne ſich
der Handwerker in allen kleinern Städten nicht mehr
halten. An einer andern Stelle2 ſucht er die Urſache
des Verfalls in der Krämerei: „Man laſſe ſich,“ ruft
er, „die Rollen von unſern Handwerkern nur ſeit hun-
dert Jahren zeigen. Die Krämer haben ſich gerade
dreifach vermehrt, und die Handwerker unter der Hälfte
verlohren. Der Eiſenkram hat den Kleinſchmid, der
Bureau- und Stuhlkram den Tiſchler, der Goldkram
den Bortenwirker, der goldene, härene, gelbe und
weiße Knopf den Knopfmacher und Gelbgießer verdorben.
Und kann man ſich eine Sache gedenken, womit der
Krämer jetzt nicht heimlich oder öffentlich handelt?“
Aehnlich ſpricht ſich auch Bergius in ſeinem Polizei-
magazin aus.3 Beide täuſchen ſich über Urſache und
Wirkung; die Krämerei war nicht die Urſache des Ver-
falls der Handwerke, ſondern mit und durch den Verfall
des Handwerks und mit dem Aufblühen der Fabriken
entſtand erſt der regere Detailhandel.
Als fernern Beleg über die elenden Zuſtände im
Allgemeinen möchte ich noch die Klagen von Krug aus
der Zeit gegen 1800 hervorheben, die doppelt ſchwer
wiegen, da ſie ſich auf Preußen beziehen, das immerhin
den andern Staaten, wie wir ſehen werden, noch weſent-
[16]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
lich voraus war. Krug1 legt ſich die Frage vor, ob
der Wohlſtand der Städte im Ganzen gegen ältere
Zeiten zu- oder abgenommen habe. „Eine Erfahrung,“
antwortet er, „welche man nicht bloß in den preußi-
ſchen Städten, ſondern in den Städten vieler anderer
Staaten gemacht hat und noch immer machen kann,
möchte wohl dieſe Frage für die Abnahme des Reich-
thums und Wohlſtands im Ganzen entſcheiden.“ Er
erinnert an die mittelalterlichen Bauten der Städte, er
klagt — wohl ziemlich übertrieben —, daß nur die-
jenigen Induſtriellen, die dem Luxus, den nichtswür-
digen Künſten, Gaukeleien und Spielereien der Vor-
nehmen dienen, noch zunehmen. „Wenn wir“ — ſagt
er — „den Wohlſtand des Bürgerſtandes oder der
induſtriöſen Klaſſen in den Städten ohne Rückſicht auf
jetzt herrſchende Moden und den Einfluß des Zeitgeiſtes
auf die Bedürfniſſe dieſes Standes betrachten, ſo wird
wohl für wenige Städte der geſunkene Wohlſtand des
Handwerksſtandes geleugnet und gründlich widerlegt
werden können. Die Klagen über zunehmende Nahrungs-
loſigkeit der Landſtädte werden in allen Provinzen gehört
und ſind in neuerer Zeit immer ausgebreiteter gewor-
den; in den kleinen Landſtädten hat der Luxus noch
nicht unter der Mehrheit der Handwerker Platz finden
können, und die alte Simplicität der Sitten und der
Bedürfniſſe iſt hier noch am mehrſten zu finden. Es
haben viele Urſachen zuſammengewirkt, welche den Wohl-
[17]Die Klagen über gewerbliche Noth.
ſtand des Bürgerſtandes zerſtört haben und die haupt-
ſächlichſten derſelben mögen in falſchen Abgabenſyſtemen,
in der Verwandlung einträglicher Gewerbe in Fabrik-
anſtalten, in der Aufhebung oder Beeinträchtigung der
Innungen und in den Handelseinſchränkungen zu ſuchen
ſein.“
Wir wollen mit Krug hier nicht rechten, in wie
weit er Recht hat mit ſeinen Klagen, mit den Urſachen,
die er anführt. Er vermengt Wahres mit Falſchem;
er ſieht vorübergehende Mißſtände zu Ende des Jahr-
hunderts für dauernde Urſachen an; er verkennt man-
ches Gute, weil es neu iſt, weil es ihm als zuſammen-
hängend mit verderblichem Luxus erſcheint1 — aber
ſo viel beweiſen ſeine Worte, blühend war das Hand-
werk des 18. Jahrhunderts nicht.
Suchen wir nun Einiges über die Zahlen der
Handwerker und ihrer Gehülfen beizubringen.
Der vorhin ſchon erwähnte Unterſchied in der
Rückwirkung der allgemeinen Zuſtände auf die Zahl
der Handwerker mußte ſich zeigen Hauptſächlich zwiſchen
den reinen Lokalgewerben, die für den täglichen Abſatz
die nothwendigſten Waaren liefern, und jenen, die ent-
behrlichere Waaren, ſowie Waaren für den entfernteren
Abſatz produziren. Bei letztern wird der Ruin viel
ſchneller eintreten, die Meiſterzahl wird raſch ſinken;
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 2
[18]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
erſtere können lange der Zahl nach dieſelben bleiben,
aber ſie machen immer ſchlechtere Geſchäfte, führen Jahr-
zehnte hindurch ein elendes Daſein.
Ein zwar weiter zurück liegender, aber ſchlagender
Beleg hiefür iſt die Münchener Handwerksſtatiſtik von
1618, 1633 und 1649.1 Die Geſammtzahl der Meiſter
betrug nach den Steuerbüchern, während die Bevölkerung
der Stadt in dem einen Jahr 1635 um 15000 Men-
ſchen durch den Tod ärmer geworden ſein ſoll,2
1618 . . . . . . 1781
1633 . . . . . . 1469
1649 . . . . . . 1110
Einzelne Gewerbe, wie die Sammtweber, Kunſtfüh-
rer, Meſſingarbeiter, Saitenmacher, ſind ganz verſchwun-
den. Andere ähnlicher Art zeigen wenigſtens eine ſehr
ſtarke Abnahme. Es ſind
Keine weſentliche Aenderung, ja theilweiſe eine
Zunahme zeigen dagegen folgende Kategorien:
Dieſelbe Bewegung, die hier als akute Krankheit
ſich zeigt, ſehen wir von da bis gegen 1800 als chro-
niſche Krankheit. Einzelne Handwerke nehmen reißend
ab, während ſie daneben an manchen Orten, begünſtigt
durch beſondere Verhältniſſe und fürſtliche Bemü-
hungen, auch wieder aufblühen; die Mehrzahl der
gewöhnlichen Handwerke aber nimmt kaum ab, jeden-
falls nicht ſtark genug, um den bleibenden aus-
kömmliche Nahrung zu ſchaffen. Die Zunftverfaſſung
gibt dem Einzelnen zu viel, um zu ſterben, zu wenig,
um ordentlich zu leben, und ſo iſt das Handwerk im
Verhältniß zur Bevölkerung an vielen Orten viel zu
ſtark beſetzt. Auch erblicher Hausbeſitz, der geſtattet,
von der Miethe zu leben, nebenhergehende Acker-
und Gartenwirthſchaft wirkte da und dort auf Ueber-
ſetzung.
Daher die ſcheinbar widerſprechenden Zahlen und
Angaben. Nicolai1 führt in ſeiner Reiſe durch Deutſch-
land folgende Statiſtik des Tuchmachergewerbes in
Baiern an; es waren:
2 *
[20]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Dagegen ergibt ſich eine vollſtändige Ueberſetzung des
Handwerks aus folgenden Zahlen. In der Nieder-
grafſchaft Katzenellnbogen1 kommen 1783 nach der
zuverläſſigen Angabe eines dortigen Beamten, des Kam-
meraſſeſſor Hüpeden, auf 19596 Seelen nicht weniger
als 1663 Handwerker, Künſtler und Handelsleute mit
87 Geſellen und 21 Lehrlingen — zuſammen 1751 hand-
werksmäßig beſchäftigte Perſonen. Es ſind darunter
einige wenige Leute, die heute nicht in der Handwerks-,
ſondern in der Handelstabelle verzeichnet werden; neh-
men wir nur 1600 handwerksmäßig beſchäftigte Per-
ſonen auf 19596 Seelen an, ſo ſind es 8,16 % der
ganzen Bevölkerung, während 1861 die Handwerker in
dem gewerbreichen Sachſen erſt 8, in Preußen 5—6 %
der Bevölkerung betragen, während 1845 in den größ-
ten deutſchen Städten die ſämmtlichen Gewerbetreiben-
den 4—6 %, nur in Berlin und Wien bis 10 %2
ausmachen. Daß es ſich um eine zu große Zahl Mei-
ſter handelt, die ſich des halb kümmerlich nährt, zeigt
[[21]]Handwerksſtatiſtik jener Zeit.
die Gehülfenzahl; 168 auf 1663, alſo 10 % der
Meiſter; in Sachſen kommen 1861 auf jeden Meiſter
etwa 1½ Gehülfen, in Preußen auf jeden Meiſter einer
— alſo 100 bis 150 % der Meiſter.
Maſcher und Kotelmann1 theilen ohne Angabe
der Quellen noch einige Daten mit, die ein ähnliches
Bild ergeben. Im Herzogthum Magdeburg kommen
1784 auf 280332 Seelen 33203 Handwerker, darun-
ter 2297 Geſellen und 1988 Lehrlinge und 1868
Meiſter, Geſellen und Lehrlinge in Fabriken beſchäftigt.
Es bleiben alſo 27050 ſelbſtändige kleine Meiſter mit
4285 Gehülfen: mit den Gehülfen über, ohne ſie bei-
nahe 10 % der ganzen Bevölkerung. Das wenig indu-
ſtrielle Fürſtenthum Würzburg hat auf 262409 Seelen
13762 ſelbſtändige Gewerbetreibende mit 2176 Gehül-
fen, zuſammen 15938 oder 6,08 % der Bevölkerung.
Schweidnitz hatte 1788 folgende Bevölkerung: Civil-
ſtand 6118 Seelen, Militär 2865, zuſammen 8983
Seelen, davon 1072 Handwerker, alſo auf einen
Handwerker etwa 8,3 Seelen; der Handwerkerſtand
12 % der Bevölkerung. Kaufbeuern hatte 1783 etwa
4000 Seelen mit 800 Gewerbtreibenden, worunter
indeſſen 300 Weber eingerechnet ſind. Wenn wir dieſe
in Abzug bringen, ſo machen die Handwerker immer
noch 12,5 % aus. In Speier, das noch zu Ende des
16. Jahrhunderts 1000 Tuch- und Leinweberſtühle
[22]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
zählte, das 1792 deren nur noch 20 hatte, kommen
in dieſem Jahre auf 5129 Einwohner doch noch
674 ſelbſtändige Gewerbtreibende mit 290 Gehülfen,
alſo 964 Perſonen, das ſind 18,79 % der Bevölkerung.
Sie müſſen in ſehr ſchlimmer Lage geweſen ſein, wenn
man auch annimmt, ſie hätten neben dem Abſatz in
der Stadt noch einen weitreichenden in der Umgegend
gehabt. „Kaum 100 dieſer Meiſter konnten von ihrem
Gewerbebetrieb leben.“ „Ich kenne“ — ſagt ein Augen-
zeuge, der damalige Zunftherr Adam Weiß zu Speier —
„äußerſt thätige rechtſchaffene Profeſſioniſten, die Tag
und Nacht anhaltend zu arbeiten wünſchen. Allein ſie
finden keine Beſchäftigung und müſſen zu ihrem gro-
ßen Leidweſen gezwungen müßig gehen. Voll Wehmuth
ſieht man ſie für die Ihrigen gegen den Hungertod käm-
pfen, und kaum verſchafft ihnen ihr Sieg das trockene
Brod.“
So ſind die gewerblichen Zuſtände Deutſchlands
im 18. Jahrhundert beinahe allenthalben. Immerhin
aber gab es einzelne Theile des Reichs, wo die Lage
des Gewerbsmannes etwas beſſer war, wie ich ſchon
vorhin erwähnte. In Oeſtreich war durch Karl VI.,
durch Maria Thereſia und Joſeph II. Manches geſche-
hen. Auch in Sachſen war einiger gewerblicher Fort-
ſchritt nicht zu leugnen. Vor Allem aber hatte man
es in den preußiſchen Landen verſtanden, den Wohl-
ſtand zu fördern. Es iſt nöthig, darauf noch einen
Blick zu werfen.
[[23]]
2. Die preußiſche Verwaltung und die preußiſche
Induſtrie des 18. Jahrhunderts.
Die Thätigkeit des großen Kurfürſten und König Friedrich’s.
Friedrich Wilhelm I., die poſitiven Beförderungen der Indu-
ſtrie und die Reform der Zunftverfaſſung. Friedrich der
Große; ſeine Juſtiz, Toleranz und Einwanderungspolitik; die
poſitiven Beförderungen beſonders der Gewebeinduſtrie; die
fortgeſetzte Reform des Zunftweſens, die weſtpreußiſche Hand-
werksordnung von 1774. Der Erfolg dieſer Maßregeln nach
Marperger, Mirabeau, Krug; das Handwerk in Berlin 1784,
in Brandenburg 1784. Allgemeine Würdigung der preußi-
ſchen Verwaltung des 18. Jahrhunderts; die Berechtigung
der Maßregeln, beſonders der Reglements in Bezug auf die
Hausinduſtrie.
Schon der große Kurfürſt beginnt mit jener plan-
mäßigen Leitung und Beförderung der Gewerbe und
des Handels durch die Staatsregierung.1 Seine Haupt-
bemühung war, tüchtige niederländiſche und franzöſiſche
[24]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Gewerbsleute ins Land zu ziehen. Durch die Edikte
von 1667, 1669 und 1683 ſollte in jeder Weiſe die
Wiederbebauung wüſter Stellen in Städten und Dör-
fern befördert werden. An Stelle des höchſt ungleich
auf einzelnen Häuſern haftenden alten Schoſſes ſetzte er
die ſpäter vielgeſchmähte Acciſe in den Städten durch,
die zunächſt ſehr zur Hebung der ſtädtiſchen Gewerbe
beitrug, Handwerker, Krämer und Kaufleute von ander-
wärts anzog. „Es wurde ein Gedränge verſpürt, um
Häuſer zu kaufen.“ Die Edikte vom 3. November 1686,
7. Mai 1688 und 13. Juli 1688 ſollten die ganze
Gewerbeverfaſſung beſſern. Theure Meiſterſtücke wur-
den verboten; alle Geſchloſſenheit der Zünfte auf eine
beſtimmte Anzahl Meiſterſtellen ward verpönt. Alle Ein-
wanderer erhielten freies Meiſter- und Bürgerrecht. Wo
es nothwendig war, wurden die Zunftſchranken durch
Perſonalprivilegien durchbrochen. Die Linneninduſtrie
der Grafſchaft Ravensberg, früher durch niederländiſche
Flüchtlinge begründet, wurde durch die Leggeordnung von
1652 wieder weſentlich gehoben.1 Die Maße, die
Qualität, die Namen beſtimmter Gewebe wurden feſt-
geſetzt, die Leinwand nachgemeſſen, mit herrſchaftlichem
Stempel verſehen, das Verhältniß von Stadt und Land
geordnet. Er begann damit, das Privilegium der Städte
in Bezug auf die Weberei aufzuheben, wie das noch
mehr ſein Sohn gethan hat.2
[25]Der große Churfürſt und König Friedrich I.
Auch in den übrigen Zweigen der Gewerbepolizei
ſetzte König Friedrich eine ähnliche Politik fort;1 beſon-
ders die Beförderung aller Art von Einwanderern
wurde ſyſtematiſch betrieben. Magdeburg wurde von den
Pfälzern vollſtändig wieder aufgebaut. In Berlin mehr-
ten ſich die franzöſiſchen Geſchäfte und Gewerbe. Im
Jahre 1690 ſollen ſchon 43 Arten neuer Gewerbszweige
durch die Wallonen und Franzoſen in der Mark hei-
miſch geworden ſein. Heftig klagten die einheimiſchen
Gewerbe über dieſe neue Konkurrenz; aber die Regierung
achtete nicht auf dieſe Klagen.
Unter Friedrich Wilhelm, dem ſparſam klugen,
hausväterlichen Tyrannen ſeiner Unterthanen, knüpften
ſich an dieſe Maßregeln weitere und tiefer eingreifende;
Ausfuhrverbote von Rohſtoffen, beſonders von Wolle,
Einfuhrverbote oder hohe Zölle reſp. Acciſeabgaben für
fremde Manufakte werden erlaſſen. Walkmühlen, Fär-
bereien, Preſſen, Wollmagazine werden von der Regie-
rung angelegt. Das Berliner Lagerhaus, als ſtaatliche
Muſter-Tuchfabrik, wird gegründet. Niedere Steuern
oder vollſtändige Steuerfreiheit, Freiheit von Einquartie-
rung und Werbung, Vorſchüſſe auf 3 Jahre vom Tage
ihrer Verheiratung werden fremden Tuch-, Raſch-,
Zeug-, Fries-, Strumpf- und Hutmachern verſprochen.2
2
[26]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
In der Inſtruktion an die Fabrikinſpektoren von 17291
wird dieſen aufgetragen, zu ſehen, daß die armen
Tuchmacher Verleger bekommen, welche ihnen Wolle
und Arbeitslohn vorſchießen. Strenge wird befohlen,
daß die im Zuchthaus zu Spandau das Raſch- und
Zeugmachen erlernt haben, in die Zunft aufzunehmen
ſeien. In dem Generalprivilegium für die Tuchmacher
der Mark von 17342 wird erklärt, das Gewerbe ſei
ein ungeſchloſſenes, jeder Meiſter dürfe Geſellen halten
ſo viel, als er wolle; ein niederes Maximum von
4—5 Thalern wird für die Koſten des Meiſterwerdens
feſtgeſetzt; zwiſchen Fremden und Einheimiſchen, welche
Meiſter werden wollen, ſoll kein Unterſchied gemacht
werden. Damit es nicht an Garn fehle für die Webe-
rei, wird das Spinnen allen Hökerweibern, Handwerks-
frauen und Bürgertöchtern, die in öffentlichen Buden
feil halten, anbefohlen.
In Bezug auf die Zunftverfaſſung überhaupt wer-
den ſchon vor dem Reichsgeſetz von 1731 weſentliche
Aenderungen getroffen. Das Handwerk ſoll in der
Hauptſache den Städten bleiben, aber nicht der bloß
bornirte Egoismus der Zunftgenoſſen der Stadt ſoll
über die Ausnahmen entſcheiden. Es werden 1718 Prin-
cipia regulativa3 über das Verhältniß von Stadt und
Land erlaſſen; nicht bloß Spinner und Leineweber, ſon-
dern auch Schmiede, Schneider, Zimmerleute, Rade-
macher ſind zuzulaſſen, in jedem Dorfe wenigſtens ſo
[27]Friedrich Wilhelm I.
viele als 1624 Handwerksſtellen da waren. Genaue
Verzeichniſſe über die Zahl der alten Stellen werden
publicirt. Jede Gutsherrſchaft kann für ſie ſelbſt arbei-
tende Handwerker anſetzen, ſo viel ſie will. Die Land-
meiſter dürfen beliebig Geſellen halten und Jungen
lehren, nur ſie nicht losſprechen.1 Den Dorfküſtern
und Schulmeiſtern ſoll wegen ihres ſchlechten Gehalts fort
erlaubt werden, eine Profeſſion zu treiben.
Mehrmals (1718 und 1721)2 werden Verzeich-
niſſe der in einzelnen Städten fehlenden Handwerker
veröffentlicht, um Einwanderer gegen freies Bürger-
und Meiſterrecht, Bauholz und mehrjährige Abgaben-
freiheit dahin zu ziehen. Alle theuren Meiſterſtücke
werden 1723 verboten.3 Waiſen und Soldatenkindern
ſoll das Vorwärtskommen in der Zunft in jeder Weiſe
erleichtert werden.
Hauptſächlich aber wurde das Reichsgeſetz gegen die
Zunftmißbräuche mit Nachdruck durchgeführt. Ein beſon-
derer Anhang in Mylius von 618 Spalten enthält die
ſämmtlichen hienach revidirten Zunftſtatuten aus den
Jahren 1734—37. Mit polizeilicher Gewalt durch die
beaufſichtigenden Altmeiſter, durch die Steuerräthe und
Fabrikinſpektoren wird verſucht, in alle Gewerbe Ord-
nung, Fortſchritt, tüchtige Arbeit zu bringen; viel
Kleinliches und Veraltetes wird in hausväterlichem
Sinne beibehalten, aber die eigentlich monopoliſtiſchen
Mißbräuche werden ſchonungslos verfolgt.
[28]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Die Verwaltung des größten preußiſchen Königs
ging von denſelben Anſchauungen aus;1 aber die Durch-
führung war großartiger, feſter, planvoller, wie ſeine
Einſicht, ſeine Kenntniſſe und ſein Charakter dem ſeines
Vorgängers unendlich überlegen waren. Dagegen wirkte
unter ihm die höchſte Anſpannung der Finanzen, die
übermäßige Ausbildung des indirekten Steuerſyſtems
den Bemühungen um Hebung des Wohlſtandes ſtärker
entgegen als früher.
Als der wichtigſte Grundſatz ſeiner hierin ſeinem
Vater weit überlegenen Regierung ſtand der voran, das
Juſtizverfahren ſo zu beſſern und ſo unabhängig zu
machen, die Gewiſſensfreiheit ſo feſtzuſtellen, daß Preu-
ßen der Zielpunkt aller Auswanderung blieb und noch
mehr werde. Hunderte von Dörfern hat er gegründet,2
Tauſende von fleißigen Handwerkern und Fabrikanten
hat er ins Land gezogen. Wie früher wurden Liſten
der an den einzelnen Orten fehlenden Handwerker publi-
zirt. Maſſenhaft wurden beſonders Bauhandwerker aus
dem Voigtlande und dem Sächſiſchen nach Weſtpreußen
[29]Friedrich II.
übergeſiedelt (1776).1 In Schleſien allein ſollen
1763—77 nicht weniger als 30000 Gewerbtreibende
eingewandert ſein.
Die poſitiven Beförderungen der Induſtrie waren
ſchroff merkantiliſtiſche, die eben, weil ſie ſchroff ein-
greifen, manche Intereſſen verletzten, oft geändert,
modifizirt werden mußten, wie z. B. die Wollausfuhr-
verbote. Aber überallhin kam durch ſeine Anregungen
gewerbliche Thätigkeit. Der ſchleſiſche Bergbau iſt auf
ihn zurückzuführen; eine große Eiſenwaaren-Fabrik wurde
in Neuſtadteberswalde ins Leben gerufen; die Berliner
Staats-Eiſengießerei, die Mutter der ganzen Berliner
Maſchineninduſtrie, iſt ſein Werk. Die Krefelder Seiden-
induſtrie erblühte unter ihm; die Elberfelder und Bar-
mer Induſtrie2 erwuchs unter ihm aus bloßer Bleicherei
und Färberei zur großartigſten Weberei. Die Bielefel-
der Linneninduſtrie wurde durch Einrichtung holländiſcher
Bleichanſtalten, durch ein Handels- und Bleichgericht,
durch Beförderung des Abſatzes auf diplomatiſchem
Wege unterſtützt. Am meiſten vielleicht geſchah für die
Gewebeinduſtrie Schleſiens und der Mark, beſonders
Berlins. Techniſche Reglements, wie z. B. 1754 für
die neumärkiſchen Tuchmacher, auch einzelne Spezial-
befehle ordneten die geſammte Spinnerei und Weberei.
Die Garnausfuhr wurde verboten, das Spinnen in
jeder Weiſe befördert, ſelbſt den Soldaten wurde es
[30]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
befohlen,1 den Baumwollſpinnern ſogar Jahresprämien
gezahlt.2 Niedere Steuern, Freiheit von jeder Meiſter-
abgabe und von Einquartierung für die Weber und
Spinner, volle Gleichſtellung von Stadt und Land für
dieſe Gewerbe, Einrichtung von Schauanſtalten, Woll-
magazine, Gewährung von Staatsdarlehen, von Penſio-
nen an Lyoner und Schweizer Seidenweber neben dem
Webelohn, den ſie vom Fabrikanten erhielten; das waren
die früher ſchon beliebten, jetzt noch mehr ausgebildeten
Mittel. Weſentlich war die Sorge für die kleinen
Handwerker, die für Verleger und Fabriken arbeiteten;
es war das um ſo wichtiger, als die Hausinduſtrie
damals noch faſt die allgemeine Form war, in der die
geſammte Eiſen- und Gewebeinduſtrie ſich bewegte. Die
wohlhabenderen Meiſter arbeiteten auf eigene Rechnung
und verkauften an die Verleger; die ärmeren erhielten
den Rohſtoff vom Verleger und hatten die fertige
Waare abzuliefern. Für dieſe Handwerker ſind die Edikte
bemüht, Kredit und Rohſtoff zu ſchaffen, für die Fabri-
kanten Sicherheit des ihnen gehörigen Rohſtoffes durch
ſtrenge Strafen gegen Veruntreuung, durch ein 1756
eingeführtes Separations- und Vindikationsrecht, das
ihnen im Konkurſe der kleinen Meiſter die gelieferten
Rohſtoffe an ſich zu nehmen erlaubt. Im Verhältniß
beider zu einander wird ſtrenge darüber gewacht, daß
kein Betrug, keine Uebervortheilung, kein unbilliger
Nothverkauf ſtattfinde.
[31]Die Zunftreformen.
Die allgemeine Gewerbegeſetzgebung in Bezug auf
Zünfte und Innungen wird noch mehr als früher von
alten Mißbräuchen gereinigt. In den Jahren 1751—55
werden eine ſehr große Zahl Innungsprivilegien beſon-
ders für Preußen (im e. S.) revidirt;1 daneben wird
durch einzelne Spezialbefehle dieſer und jener Uebelſtand
abgeſtellt. Ueber die Richtung dieſer Geſetzgebung nur
einige Worte. Die Loskaufung vom Meiſterſtücke gegen
Geld und Geſchenke wird 1747 verboten. Als mit der
Noth des Jahres 1771 viele Handwerksgeſellen am
Kolbergiſchen Feſtungsbau im Taglohn arbeiten, wird
ſtrenge eingeſchärft, ſie derohalben nicht aus der Zunft
zu ſtoßen.2 Aus der Handwerkerordnung für Weſt-
preußen von 1774 hebe ich folgendes hervor: alle
alten Artikel und Bräuche, alle Schmauſereien ſind abge-
ſchafft; bei allen wichtigen Dingen, beſonders bei Hand-
habung der Zunftgerichtsbarkeit, muß ein Magiſtrats-
mitglied anweſend ſein; nur leicht verkäufliche Meiſterſtücke
dürfen gefordert werden; Meiſter aus andern Städten
müſſen überall zugelaſſen werden, wenn ſie das etwaige
Plus an Meiſtergeld nachzahlen; jeder Meiſter hält ſo
viel Geſellen und Stühle, als er will; nur die Lehr-
lingszahl kann auf Wunſch durch die Ortsbehörde unter
Zuſtimmung der Kriegs- und Domänenkammer beſchränkt
werden; alle fremden Geſellen, die nach fremdem Recht
eine Stufe in der Zunfthierarchie erreicht haben, ſind
[32]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
in Preußen zuzulaſſen, wie wenn ſie in Preußen nach
dortigem Recht dieſe Stufe erreicht hätten; alle Geburts-
beſchränkungen für das Lehrlingwerden ſind beſeitigt,
ebenſo die zahlreichen Gründe der Unredlichkeit; volle
Freiheit des Jahrmarktverkehrs, auch für Fremde, wird
ſtatuirt; mehrere einander naheſtehende Zünfte ſollen
kombinirt werden, damit die Streitigkeiten aufhören.
Das waren im Großen und Ganzen die Grund-
ſätze, nach denen im 18. Jahrhundert die brandenbur-
giſch-preußiſchen Gewerbe behandelt wurden. Was war
der Erfolg? der Erfolg trotz dem, was dieſer Staat
im 18. Jahrhundert erduldet. Ich erinnere dabei nur
an die Peſt, die Preußen und Pommern 1709—1711
faſt entvölkerte,1 an den Steuerdruck und die Kriege
unter dem großen König, an die volkswirthſchaftliche
Kriſis, welche nach dem 7 jährigen Kriege hauptſächlich
durch die Münzwirren entſtand,2 an die Wirkungen der
Hungerjahre von 1770—74. Trotz alledem war der
Erfolg ein großer, wie ich nur durch einige zeitgenöſſiſche
Urtheile und ſtatiſtiſche Zahlen beweiſen will.
Schon zu Anfang des Jahrhunderts gilt der preu-
ßiſche Gewerbfleiß als ein den Nachbarſtaaten überlege-
ner. „Man ſehe die Handwerksſtäte“ — ruft Mar-
perger3 ſchon 1710 — „voller fleißiger Handwerksleute
[33]Der Erfolg der Maßregeln.
und die öffentlichen Kramladen voll köſtlicher Waaren,
welche die Kaufleute theils aus der Fremde verſchrieben,
theils auch durch ihre eigene Induſtrie im Lande ſelbſt
von denen Handwerksleuten zuwege gebracht haben.“ Viel
ſicherer aber lauten die Nachrichten und die ſtatiſtiſchen
Ergebniſſe, wenn wir uns in die letzten Lebensjahre
König Friederich’s verſetzen.1
Bedeutend war vor Allem die ſchleſiſche Gewebe-
induſtrie gewachſen. Unter der öſtreichiſchen Regierung
zählte man 12000 Webſtühle für Leinwand, zu Ende
der Regierung Friederich’s des Großen 20000.2 Die
Produktion an Stücken Tuch war geweſen:3
Die Produktion von Strümpfen in Schleſien war
geweſen:4
3
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 3
[34]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Mirabeau, der ſo ſehr ſich bemüht, die Erfolge
von König Friederich’s Verwaltungsgrundſätzen herabzu-
ſetzen, ruft doch über Schleſien aus: „il y régne une
population, une culture et une industrie vraiement
immense.“ Schneer1 ſchildert die Zuſtände der Weber-
diſtrikte gegen 1800 als behagliche, allerdings durch jede
Stockung des Abſatzes bedrohte, die Weber als ſelb-
ſtändige Unternehmer, die auf den Leinwandmärkten an
die Kaufleute verkaufen. „Im Allgemeinen,“ ſagt er,
„war namentlich unter den Leinwandkaufleuten Reich-
thum und Ueppigkeit und unter den arbeitenden Klaſſen
der Leinwandinduſtrie ein gewiſſer Wohlſtand und ein
leichtſinniges Wohlleben verbreitet.“
Aehnliches ließe ſich von der weſtfäliſchen Linnen-
induſtrie,2 von der rheiniſchen Seiden-, Baumwolle- und
Eiſeninduſtrie berichten. Ich will mich darauf beſchrän-
ken, über die Mark Brandenburg und Berlin noch Eini-
ges mitzutheilen. Krug3 ſtellt in Bezug auf die kur-
märkiſchen Städte die lehrreiche, oben ſchon erwähnte
Vergleichung zwiſchen 1750 und 1801 an. Es gab
in denſelben:
[35]Preußiſche Gewerbeſtatiſtik.
Die Tabelle beweist freilich, daß mit dem Fort-
ſchritt der Induſtrie und der Bevölkerung auch die
ſchlimmen Elemente (Arme, Züchtlinge) wachſen; aber
im Ganzen deutet ſie doch mehr auf Fortſchritt als auf
Rückſchritt.
In Berlin hatte Handel und Verkehr außerordent-
lich zugenommen; vor Allem die für den Großhandel
arbeitenden Gewerbe hatten ſich entwickelt, aber auch
der kleine Handwerkerſtand befand ſich in guter Lage.
Reden theilt gewerbeſtatiſtiſche Zahlen aus den Jahren
1783 — 85 mit,1 die er mit den Zahlen von 1847
vergleicht. Von Handwerksmeiſtern macht er 19 Kate-
gorien namhaft, welche zuſammen 1784 2,22 %, 1847
3,14 % der ganzen Bevölkerung ausmachen. Nicht alle
einzelnen Kategorien aber haben zugenommen von 1784
bis 1847. Abgenommen gegenüber der Bevölkerung
haben folgende:
3 *
[36]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Dagegen haben zugenommen:
Die erſtern Betriebe ſind ſolche, bei welchen ſchon
bis 1847 die kleinern Geſchäfte durch größere verdrängt
ſind, bei welchen durch Maſchinen, verbeſſerte Technik
[37]Die Gewerbe Berlin’s.
und größere Arbeiterzahl das gewiß auch geſtiegene
Bedürfniß befriedigt wird.
Die letztern Betriebe ſind ſolche, bei denen das
noch nicht geſchehen iſt, bei denen der ſteigende Wohl-
ſtand eine größere Zahl kleiner Geſchäfte bis 1847 her-
vorgerufen hat.
Jedenfalls ergiebt ſich ſo viel aus den Zahlen, daß
der Unterſchied zwiſchen 1784 und 1847 kein allzugroßer
iſt. Sehr ſtark abgenommen hat nur die Zahl der
Lohgerber und Maurermeiſter, ſtark zugenommen nur die
der Tiſchler, Tapeziere, Klempner, Drechsler, Buch-
binder, Inſtrumentenmacher. Bei den übrigen liegen
die Verhältnißzahlen nicht weit auseinander, ein Beweis,
daß ſchon 1784 die gewerblichen Zuſtände Berlins beſſere
waren, als in den meiſten übrigen deutſchen Städten.
Eine andere Bemerkung drängt ſich daneben noch
auf. Welch ungeheurer Umſchwung in der Zeit von 1784
bis 1847, und in den wichtigern Kleingewerben Berlins
doch keine ſehr bedeutende Aenderung.
Von größern Gewerben hatten ſich in Berlin vor
Allem die Lederfabrikation, die Blumenfabrikation, die
Strohhutmanufakturen, die Zuckerſiedereien, die Kattun-
druckereien, die Weberei aller Art entwickelt. Ich will
die Zahlen nicht alle wiederholen; viele dieſer Induſtrien
ſind 1783 — 85 ſtärker vertreten als 1847 — 49: Web-
ſtühle wurden 1783 gezählt für Seide 2316, für
Wolle 2566, für Linnen 238, für Baumwolle 1048,
zuſammen 6168; die Zahlen nehmen noch zu bis ins
neue Jahrhundert; 1804 ſind 3691 Baumwollſtühle vor-
handen; 1849 zählt man in Berlin 2147 Stühle für
[38]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
Seide, 2270 für Wolle, 63 für Linnen, 2113 für
Baumwolle. Mirabeau1 muß von der Berliner Indu-
ſtrie geſtehen: „Les manufactures établies à Berlin y
trouvent un marché immense sous la main, le
concours de toutes les sciences, de tous les artistes;
ils peuvent donner à leurs ouvrages une perfection,
une beauté qui les fassent rechercher au dehors.
Tant d’avantages, joints aux priviléges exclusifs
qui leur assurent le marché dans les états du roi
de Prusse, doivent étendre considérablement leurs
profits et accélérer leur activité.“ —
Nicht überall natürlich in den preußiſchen Landen
war die gewerbliche Entwickelung eine ſo glänzende;
beſonders der kleine Handwerkerſtand befand ſich noch da
und dort in ähnlicher Lage wie im übrigen Deutſchland.
Die oben angeführten Magdeburger Zahlen zeigen, wie
klein die Zahl der Gehülfen war, und das iſt immer
ein ungünſtiges Zeichen. Aehnliches wird aus weſt-
fäliſchen Städten berichtet. So zählte Bochum 17802
auf 13 Schreinermeiſter 2 Geſellen, auf 26 Schuh-
machermeiſter 3, auf 21 Bäckermeiſter 1, auf 8 Zim-
merleute 1, auf 5 Maurermeiſter 1 Geſellen; die mei-
ſten andern Handwerke waren ganz ohne Geſellen. Als
Beweis aber, daß gerade auch in dieſem Punkte die
preußiſchen Zuſtände vielfach beſſere waren, als im übri-
gen Deutſchland, möchte ich ſchließlich einige Zahlen aus
der Handwerksſtatiſtik der Stadt Brandenburg von 1784
[39]Die preußiſchen Handwerke.
anführen.1 Es waren bei einer Bevölkerung von 8980
Civil- und 2290 Militärperſonen
Dieſe Geſellen- und Lehrjungenzahlen deuten im
Gegenſatz zu den eben und oben angeführten auf ein
ſehr blühendes Handwerk hin.
Nach dieſen Bemerkungen über die Art der
preußiſchen Gewerbebeförderung und über den thatſäch-
lichen Erfolg derſelben, kann ich nicht umhin, noch einige
allgemeinere Betrachtungen über dieſelbe anzuſtellen;
denn wenn auch dieſe Unterſuchungen in erſter Linie
die realen Zuſtände feſtſtellen, nicht die jeweilige Geſetz-
gebung beurtheilen wollen, ſo iſt es doch gerade hier am
Platze, ein Wort gerechter Würdigung auszuſprechen,
da bis in die neueſte Zeit die Beurtheilung von doktri-
närer Einſeitigkeit beeinflußt iſt. Mirabeau, Dohm,
Preuß, Stenzel ſind Theoretiker des entgegengeſetzten
Extrems, und das Urtheil über die preußiſche Gewerbe-
[40]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
geſetzgebung des vorigen Jahrhunderts iſt bis auf die
neueſte Zeit von ihren Ausſprüchen faſt gänzlich abhängig
geblieben.
Unter der Herrſchaft des Merkantilſyſtems, wie
ſpäter unter dem der Phyſiokraten und Smithianer hat
man ſich in doktrinärer Weiſe zu allgemein an allgemeine
Sätze gehalten. Damals war das Prinzip: Staatsein-
miſchung unter allen Umſtänden; nichts — lehrte man —
entſteht ohne ſie; der Steuerrath, die Kriegs- und
Domänenkammer weiß Alles beſſer. Dann wurde ebenſo
einſeitig Fernhaltung aller Staatsintervention, Beſei-
tigung aller Gewerbegeſetzgebung Prinzip; die Regie-
rung — lehrte man — kann nur ſchaden, ſie verſteht
niemals die Dinge beſſer als die Gewerbetreibenden;
alle Induſtrie gedeiht nur, wenn man ſie ſich ganz ſelbſt
überläßt. Früher ſpezialiſirte man zu ſehr, man dachte
mehr an die Vorbedingungen des gewerblichen Lebens
im Kleinen und Einzelnen; dadurch, daß man da ein-
griff, wollte man latente Kräfte entbinden, Hinderniſſe
beſeitigen. Später generaliſirte man zu ſehr; man dachte
nur an die allgemeinſten Vorbedingungen; in die klei-
nern Urſachen und perſönlichen Hemmniſſe, gleichſam in
die Reibungswiderſtände des praktiſchen Lebens wollte
man gar nicht eingreifen. Beide Prinzipien ſind gleich
wahr und gleich falſch. Keins derſelben, wenn auch
das eine mehr als das andere, wird an ſich Induſtrien
ins Leben rufen; weder die volle Gewerbefreiheit noch
die weitgehendſten Gewerbereglements und Vorſchriften
wirken ganz direkt und können darum Selbſtzweck ſein.
Für alles gewerbliche Leben und Gedeihen ſind eine
[41]Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.
ganze Reihe der verſchiedenartigſten und komplizirteſten
Kulturbedingungen nothwendig: ſtaatliche und ſoziale Zu-
ſtände, Bevölkerungsdichtigkeit, Kapitalanſammlung, per-
ſönliche Kräfte, Kenntniſſe, moraliſche Eigenſchaften,
Handelsverbindungen und manches Andere. Viele dieſer
Vorbedingungen ſind von beiden Prinzipien gleich unab-
hängig. Auf andere Vorbedingungen aber wirken ſie,
und das Urtheil über ſie richtet ſich eben danach, ob und
wie ſie auf eine Anzahl dieſer Vorbedingungen fördernd
wirken. Jedes der beiden Prinzipien wird bei der Man-
nigfaltigkeit der realen Verhältniſſe da und dort hem-
men, da und dort fördern. Jedes iſt dann am Platze,
wenn es nach den zeitlichen Geſammtverhältniſſen von
Land und Volk im Ganzen mehr fördert, als hemmt.
Je nach den pſychologiſchen, moraliſchen und ſozialen Ver-
hältniſſen wird das eine ſo ſehr am Platze ſein, wie das
andere. Ein zartes Pflänzchen iſt ein ander Ding als
eine mehrhundertjährige Eiche, ein Kind bedarf anderer
Pflege als der Mann. Niemals aber wird man Fana-
tiker des Prinzips ſein dürfen, weil man es immer auch
zu einer beſtimmten Zeit und in einem beſtimmten Staate
mit den verſchiedenartigſten Menſchen, Kräften und Zu-
ſtänden zu thun hat. Es wird auch in Zeiten allge-
meinſter Staatseinmiſchung Verhältniſſe geben, wo freie
Bewegung, freie Konkurrenz am Platze iſt; umgekehrt
auch in Zeiten allgemeiner Gewerbefreiheit wird es
Punkte geben, wo ſtaatliche Aufſicht, polizeiliche Vor-
ſchriften am Platze ſind, weil ſie im konkreten Falle
die Vorbedingungen gewerblichen Lebens, techniſche Ge-
ſchicklichkeit, angeſtrengte Arbeitsenergie, reelle Ehrlichkeit,
[42]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
die doch auch beim Syſteme der Freiheit letzter Zweck
ſind, mehr fördern. Man wird beſonders nie vergeſſen
dürfen, daß gewiſſe Klaſſen der Geſellſchaft, gewiſſe
Kreiſe der Volkswirthſchaft viel langſamer ſich entwickeln.
Das Handwerk, der Kleinhandel, der Detailverkehr iſt
etwas total Anderes als die Großinduſtrie und der Groß-
handel. Es handelt ſich um andere Menſchen, um
andere Wirkungen, um andere Möglichkeiten der Ent-
wickelung.
Dieſe Erörterung mag ſehr theoretiſch klingen, ſie
ſollte nur das apodiktiſche Urtheil einleiten, das ich wage.
Jedem, der glaubt, durch ein Syſtem der vollen Ge-
werbefreiheit und ſtaatlichen Nichtintervention wäre die
preußiſche Induſtrie von 1650 — 1800 ſo oder gar noch
beſſer gewachſen, als ſie mit dem entgegengeſetzten Syſtem
wirklich ſich entwickelte, dem muß jedes tiefere hiſtoriſche
und nationalökonomiſche Urtheil abgeſprochen werden.
Und damit iſt das Syſtem im Ganzen für jene Zeit
gerechtfertigt, mag es auch im Einzelnen viel Unrichtiges
gethan oder mit ſich gebracht haben, eben weil man an
dem im Ganzen richtigen Syſtem auch damals zu dok-
trinär feſthielt.
Giebt man Letzteres auch zu, iſt nicht zu leugnen,
daß man zu einſeitig an den Segen ſtaatlicher Pflege
glaubte, ſo darf man dabei nicht vergeſſen, daß die
allgemeine Zunftgeſetzgebung nach vielen Richtungen hin
im Sinne größerer Freiheit reformirt wurde. Die Ge-
ſchloſſenheit der Zunft wurde beſeitigt, wie die egoiſtiſche
Herrſchaft der Altmeiſter. Jeder Meiſter durfte Geſellen
halten, ſo viel er wollte, durfte ſich niederlaſſen, wo
[43]Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.
er wollte; durch liberales Heranziehen Fremder wurde
die Konkurrenz befördert, die gewerblichen Rechte des
platten Landes wurden weſentlich ausgedehnt. Es ließe
ſich noch ſehr zweifeln, ob alle dieſe Maßregeln nicht
einen mindeſtens ebenſo großen Fortſchritt im Sinne der
Freiheit und Rechtsgleichheit repräſentiren als die Gewerbe-
freiheit von 1810, ob ſie nicht einen größern Fortſchritt
enthalten gegenüber den vorherigen Zunftmißbräuchen,
als das Geſetz von 1868 gegenüber dem von 1849. Die
poſitiven Förderungen einzelner Gewerbe durch Kredit,
Prämien, Reglements, Verbot fremder Waaren ent-
ſprachen im Allgemeinen der entſetzlichen Lethargie und
Lähmung aller gewerblichen Kreiſe jener Zeit, entſprachen
der geſellſchaftlichen Stellung und Bildung der kleinen
Leute, der für Verleger arbeitenden Meiſter, auf denen
in der Hauptſache die ganze damalige Induſtrie ruhte.
Oft wurde fehlgegriffen, öfter aber das Richtige getroffen.
Die regierenden Elemente waren den Gewerbtreibenden
an Einſicht und Kenntniß damals ſo überlegen, daß ſie
ihnen ſagen konnten, was zu thun ſei.
In Bezug auf die Gewebeinduſtrie, auf die zahl-
reichen Spinner- und Weberdörfer und Städte, die
damals ins Leben gerufen, ſpäter theilweiſe in ſo große
Noth gekommen ſind, hat man oft gezweifelt, ob die
Politik eine richtige war; ob es richtig war, ſo viele
Arbeitskräfte zu einer Thätigkeit zu veranlaſſen, die in
ihrer Einfachheit geringen Lohn gab und bei jeder Zoll-
ermäßigung oder -Beſeitigung in Gefahr war, wieder
ſiſtirt zu werden. Die Nothſtände zeigten ſich auch ſehr
bedeutend in den Napoleoniſchen Kriegen und bis gegen
[44]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
1818. Knuth 1 z. B. erklärt 1817 von der großen
Berliner Kattunweberei auf einfachen Stühlen, ſie gehöre
zu den allererbärmlichſten Erwerbsmitteln, ein Kattun-
weber verdiene täglich höchſtens 6—7 Groſchen, ein Tiſch-
lergeſelle einen Thaler.
Dennoch wäre es falſch, aus den Nothſtänden der
Weberei von 1800—1818, aus der Thatſache, daß die
einfache Kattunweberei nicht nach Berlin paßte, den
Schluß zu ziehen, daß die ganze Beförderung der Ge-
webeinduſtrie falſch war. In der Hauptſache war die
Weberei geſund und nach den Verhältniſſen des vorigen
Jahrhunderts naturgemäß. Die Art der Hausinduſtrie
ermöglichte einen glücklichen Uebergang des kleinen fleißigen
Arbeiters zum Unternehmer. Viele arme Leinwandweber
vom Lande zogen in die Städte und wurden da nach
und nach wohlhabende Fabrikanten. 2 Das Eingreifen
in die Kreditverhältniſſe dieſer kleinen Weber hatte ihre
ſehr gute Seite; nichts iſt für den kleinen Mann ſchlim-
mer als die Kreditloſigkeit, durch nichts iſt ein Syſtem
der Hausinduſtrie mehr gefährdet, als durch Lotterkredit,
der in Abhängigkeit, Uebervortheilung und Ausſaugung
des kleinen Mannes nur zu leicht ausartet. Die ganze
Ueberwachung der Hausinduſtrie durch techniſche Regle-
ments und Schauämter war Bedingung einer gedeih-
lichen Entwickelung in jener Zeit. Ganz richtig ſagt
Roſcher, 3 ſolche Regierungsthätigkeit erſetze, was dem
[45]Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.
kleinen Handwerker ſonſt ganz fehle, nämlich durch ihre
techniſchen Rathgeber die Verbindung des Gewerbes mit
der Wiſſenſchaft, durch ihre Handelskonſule die fortlau-
fende Kenntniß der fremden Märkte, durch ihre Schau-
und Stempelanſtalten die weitreichende Notorietät einer
großen Firma. Auch Mirabeau muß zugeben, daß man
überall die Blüthe der Induſtrie auf dieſe Reglements
zurückführt. 1 Ich will von zeitgenöſſiſchen Stimmen nur
Juſti 2 anführen, der 1758 ſagt: „In den meiſten
deutſchen Staaten, ohngeachtet man das Anſehen haben
will, die Manufakturen zu gründen, fehlet es noch gar
ſehr an ſolchen Reglements. Nur in denen preußiſchen
Staaten, wo man die wahren Maßregeln ſelten außer
Acht läßt, haben alle Arten von Manufakturen die um-
ſtändlichſten und vortreflichſten Ordnungen, und man
muß dieſelben zu Rathe ziehen, wenn man dergleichen
Reglements verfertigen will.“
Wenn ich ſo im Ganzen die Friedericianiſche Ver-
waltung als eine den damaligen Zuſtänden entſprechende
bezeichne, ſo will ich daneben nicht leugnen, daß manche
der merkantiliſtiſchen Maßregeln verkehrt, daß die Regie-,
Acciſe- und Steuerverwaltung drückend und hart war.
Beſonders aber darf man für das Ende des Jahrhun-
derts nicht vergeſſen, daß die Zuſtände ſelbſt ſich änder-
ten; was 1740 noch am Platze war, konnte 1800
ſchon unerträglich ſein. Und eine eingreifende Verwal-
[46]Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.
tungspolitik, wie die preußiſche, erforderte Talent, Sach-
kenntniß, unermüdliche Thätigkeit, um immer wieder
die Reglements in Einklang mit den Zeitbedürfniſſen
zu bringen. Nach dem Tode des großen Königs war
an die Stelle dieſer unermüdlichen Thätigkeit Stagnation
getreten.
Unter allen Umſtänden bleibt wahr, was Viebahn
von Friederich dem Großen ſagt: er hat Preußen nicht
nur politiſch zur Großmacht erhoben, er hat ſein Land
auch kommerziell, gewerblich und geiſtig in die Reihe
der erſten der welthiſtoriſchen Staaten geſtellt. Er hat
es gethan mit den Mitteln, die die Zeit gab und for-
derte. Einem in Individualismus aufgelösten Volke hat
er unerbittlich in allen Gebieten und ſo auch auf dem
volkswirthſchaftlichen Gebiete die höchſte Pflicht gepredigt
und gelehrt, alles Einzelne und Individuelle dem Ganzen
zu opfern.
[[47]]
Die
Hauptreſultate der preußiſchen Aufnahmen
von 1795—1861.
[[48]][[49]]
1. Die preußiſche Handwerksſtatiſtik von
1795/1803.
Die Zuſtände gegen 1800. Die Gewerbefreiheit. Die wirth-
ſchaftliche Entwickelung bis gegen 1831. Der Werth der
Krug’ſchen Zahlen. Die Vergleichung der Aufnahmen von
1795/1803 und von 1831. Das Reſultat ziemlich unveränderter
Verhältniſſe.
Ich habe mein Urtheil über die preußiſche Ver-
waltung wohl ſchon durch die Reſultate der Statiſtik zu
ſtützen geſucht; ich habe aber dabei eine wichtige Quelle
noch nicht berührt, die preußiſche Handwerksſtatiſtik von
Krug in ſeinen Betrachtungen über den Nationalreich-
thum des preußiſchen Staates. 1 Es wird paſſend ſein,
bei ihr, an der Grenzſcheide des Jahrhunderts einen
Moment zu verweilen und ſie hauptſächlich mit einer
ſpätern Aufnahme zu vergleichen, ſie dadurch zu einem
lebensvollen Bilde zu geſtalten.
Waren die gewerblichen Zuſtände gegen 1800 ſchon
mannigfach durch die alte Geſetzgebung gehemmt, im
Ganzen war der Wohlſtand ein ſteigender bis gegen 1805
und 1806. Die außerordentliche Steigerung der Getreide-
und Bodenpreiſe in ganz Norddeutſchland von 1770 ab
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 4
[50]Die preußiſchen Aufnahmen.
hatte die Kaufkraft der ländlichen Kreiſe ſehr geho-
ben. 1 Die erſten franzöſiſchen Kriege erſtreckten ihre
ungünſtigen Wirkungen kaum auf Preußen. Erſt ſeit
1799 machte ſich die Stockung in den norddeutſchen
Handelsſtädten geltend. Erſt nach 1806 trat im ganzen
Lande die Lähmung des Verkehrs, die wirthſchaftliche
Erſchöpfung durch die Kriege, traten die Einquartierungen,
Verwüſtungen, Kontributionen ein.
In dieſe Zeit fällt die Einführung der Gewerbe-
freiheit. Sie war für Preußen und Littauen ſchon 1806
und 1808, für den ganzen damaligen preußiſchen
Staat durch das Edikt vom 2. November 1810 einge-
führt worden. Am linken Rheinufer verſtand ſie ſich
mit der franzöſiſchen Herrſchaft von ſelbſt; für Weſtfalen
wurde ſie durch die Dekrete vom 5. Auguſt 1808 und
12. Februar 1810, für das Großherzogthum Berg durch
das Dekret vom 31. März 1809 eingeführt.
Sicher iſt die in Preußen eingeführte Gewerbe-
freiheit eine jener unſchätzbaren liberalen Konzeſſionen
geweſen, die zuſammen ſo ſegensreich gewirkt, den National-
geiſt gehoben, die unwiderſtehliche Kraft der Bevöl-
kerung im Jahre 1813 erzeugt haben. Aber es wird
ſchwer ſein, nachzuweiſen, welche direkte, unmittelbare
Wirkung die geſetzliche Aenderung auf die wirthſchaftliche
Lage der Kleingewerbe gehabt habe. Manches wird ſich
ſogleich mit der Publikation des Ediktes geändert haben;
mancher Geſelle wird ein eigenes Geſchäft angefangen
haben, mancher ſich an einem paſſendern Orte, in dem
[51]Die Zuſtände gegen 1800.
benachbarten Dorfe ſtatt in der Stadt niedergelaſſen
haben; — aber die gewerblichen Geſammtverhältniſſe
werden ſich zunächſt nicht viel geändert haben, weil ſie
unter dem Drucke vieler anderer, mächtiger wirkender
Urſachen ſtanden.
Mit dem Frieden erfolgte die Vergrößerung Preußens;
in den neuerworbenen Landestheilen ließ man die her-
gebrachte Gewerbeverfaſſung unverändert, die Gewerbe-
freiheit am Rhein und in Weſtfalen, die Zunftverfaſſung
in Sachſen. Immer war es der überwiegend größere
Theil der Monarchie, in dem von da ab bis 1845 volle
Gewerbefreiheit herrſchte.
Die erſten Jahre nach dem Frieden waren nicht
eben günſtige für die wirthſchaftliche Entwickelung. Die
Nachwehen der großen Verluſte und Zerſtörungen, die
Hungersnoth 1816—17, die Ackerbaukriſis 1820—25
waren harte Schläge. Die Grenzveränderung brachte
für die Induſtrie der rheiniſchen Städte manchen Verluſt;
das Aufhören der Kontinentalſperre, die engliſche Kon-
kurrenz, die ſich um ſo heftiger jetzt auf Deutſchland
warf, der Mangel einer gemeinſamen Ordnung des Zoll-
weſens, — das Alles waren zunächſt ungünſtige Um-
ſtände. Dem gegenüber war für Preußen die neue
Ordnung des Zollweſens im Jahre 1818 ein großer
Fortſchritt. Die öſtlichen Provinzen ſtanden nun der
rheiniſchen Induſtrie offen; Aachen, Elberfeld, Barmen,
Berlin, zeigen einen raſchen Aufſchwung, 1 wie überhaupt
alle preußiſchen Lande, während allerdings die vom
4 *
[52]Die preußiſchen Aufnahmen.
preußiſchen Zollſyſtem ausgeſchloſſenen nächſtliegenden
Nachbarlande litten. Ein anderes wichtiges Moment für
die allgemeine Beſſerung der Lage waren die Ende der
zwanziger Jahre wieder ſteigenden Produktenpreiſe. Die
Getreideausfuhr nach England nahm wieder zu, das
Wollgeſchäft des norddeutſchen Landwirths war in der
höchſten Blüthe, die Ackerbaukriſis ſo ziemlich zu Ende.
Somit werden wir nicht irren, wenn wir die Jahre
gegen 1830 als ſolche bezeichnen, in denen die beſon-
deren Mißſtände, die ſich an die Kriegsjahre und an
die erſten Friedensjahre anſchloſſen, weſentlich zurück-
getreten ſind, in denen alſo die Gewerbefreiheit in
ihren reinen Folgen ſich erſichtlich zeigen muß; daneben
ſind es Jahre, in denen die Konkurrenz der Groß-
induſtrie noch kaum begonnen hat, jedenfalls noch nicht
in dem Maße vorhanden iſt, wie heutzutage.
Deshalb glaube ich, richtig zu verfahren, wenn
ich, wie früher ſchon Dieterici, die preußiſche Gewerbe-
ſtatiſtik von 1795/1803 gerade mit der von 1831
vergleiche. Die erſte ein Bild der Zuſtände vor dem
Krieg, ein Bild relativ blühender Kleininduſtrie, wie
ſie unter der Herrſchaft des Zunftweſens und der ſtaat-
lichen Maßregelung möglich war; die zweite ein Bild
der Zuſtände, wie ſie nach ſo ziemlicher Beſeitigung der
Kriegswehen unter der beinahe vollſtändigen Herrſchaft
der Gewerbefreiheit ſich geſtalten.
Krug’s ſtatiſtiſche Aufnahmen ſind in den Jahren
1795—1803 nach den einzelnen preußiſchen Provinzen
gemacht; ſie erſtrecken ſich nicht auf ſämmtliche Provinzen
oder Departements. Die in Betracht kommenden ſind
[53]Die Krug’ſchen Zahlen.
das Poſener, Kaliſcher, Warſchauer Departement, Pom-
mern, Neumark, Schleſien, Kurmark, Magdeburg,
Paderborn, Minden und Ravensburg, Grafſchaft Mark,
Kleve, Lingen und Tecklenburg, Oſtfriesland, Neuchatel.
Da dieſe Departements ſich gleichmäßig auf die Monarchie
vertheilen, ſo kann die Methode nicht angefochten werden,
nach der Bevölkerung und der Meiſterzahl dieſer Auf-
nahmen, die muthmaßliche Meiſterzahl für die ganze
Monarchie zu berechnen. Die Handwerksgeſellen bleiben
außer Betracht, da Krug ihre Zahl gar nicht nach den
einzelnen Gewerben, ſondern nur nach Provinzen mittheilt.
Folgen wir nun für 1831 den Zahlen Dieterici’s, 1
ſo ergiebt zunächſt eine allgemeine Vergleichung von 26
der wichtigſten Handwerke, daß 1795—1803 auf
10.023900 Einwohner 194183 Meiſter in denſelben,
1831 auf 13.038960 Einwohner 300752 Meiſter,
damals alſo einer auf 51,6 Menſchen, jetzt auf 43,4 Men-
ſchen kamen. Damals ſind 1,93 %, jetzt 2,3 % der
Bevölkerung Handwerksmeiſter in den betreffenden 26
Hauptgewerben. Die Zahl der Meiſter iſt alſo ſtärker
geſtiegen als die Bevölkerung; aber wir werden dieſer
Steigerung ein geringeres Gewicht beilegen, wenn wir
uns erinnern, daß in den Zahlen von 1795/1803
die armen unbevölkerten Landſtriche (Südpreußen und
Neuoſtpreußen) ſtecken, die an Rußland abgetreten wurden,
in denen von 1831 eine Reihe ſehr entwickelter Gegen-
den, die erſt 1815 zu Preußen kamen, wie Theile der
Rheinprovinz und der Provinz Sachſen.
[54]Die preußiſchen Aufnahmen.
Eine genauere Einſicht gewährt die folgende ſpezielle
Vergleichung einiger der wichtigern Gewerbe, wobei je
in der erſten Spalte die Zahl der Meiſter, in der
zweiten die der Einwohner, welche auf einen Meiſter
kommen, verzeichnet iſt.
Hiernach iſt die Meiſterzahl geringer geſtiegen als
die Bevölkerung bei den Schmieden, den Hutmachern,
den Goldſchmieden; das ſind Gewerbe, in denen die
Bildung der größeren Geſchäfte die wahrſcheinlichſte
Urſache des Rückganges iſt. In den wichtigſten der
angeführten Gewerbe hat ſich die Proportion zwiſchen
Bevölkerung und Meiſterzahl ſehr wenig verändert, ſo
[55]Der Vergleich von 1803 und 1831.
bei den Schuhmachern, Schneidern, Bäckern, Fleiſchern,
Rade- und Stellmachern, kaum etwas mehr bei den
Böttchern, Riemern, Sattlern, Seilern. Eine weſent-
lich ſtärkere Zunahme als die Bevölkerung zeigen nur
die Tiſchler und Drechsler, die Maurer, die Buchbinder
und Zinngießer.
Dieſe Zahlen ſind beredt. Sie zeigen uns das
Leben und die Entwickelung der wichtigſten Handwerke
für die Zeit von 1800—1831 gleichſam als etwas
Elementares, das von den Stürmen der Zeit, von der
Aenderung der äußern Gewerbeverfaſſung weniger berührt
wird, als man gewöhnlich erwartet. Die Gemeinde-
verfaſſung, die ſtändiſchen Rechte, das ganze Agrarrecht
war ein anderes geworden; die Gewerbefreiheit, die
unbedingte Zulaſſung der Handwerker auf dem Lande
war eingetreten. Das ſtädtiſche Acciſeweſen war ein
anderes geworden, die Gewerbeſteuer war eingeführt
worden. Und es erſcheint beinahe, als ob All das
ſpurlos an den Kleingewerben vorbeigegangen wäre. In
vielen Gewerben dieſelbe Meiſterzahl trotz der außer-
ordentlichen Veränderungen, die zwiſchen 1800 und 1831
liegen. Auch die großen Aenderungen in der Technik
mancher Gewerbe, die Dampfmaſchinen und die anderen
neuen Maſchinen und Entdeckungen zeigen keinen weſent-
lichen Einfluß bis dahin auf die Handwerke. Selbſt der
geſtiegene Wohlſtand, wenn man für 1831 überhaupt
einen ſolchen gegenüber 1800 annehmen will, zeigt ſich
nicht in einer größern Zahl von Bäcker-, Fleiſcher-,
Schuhmacher- und Schneidermeiſtern; dieſe Haupt-
gewerbe dienen ja auch ziemlich elementaren, ſich nicht
[56]Die preußiſchen Aufnahmen.
ſo leicht ändernden Bedürfniſſen; — ſondern nux in der
größern Zahl Maurer, Tiſchler, Drechsler; d. h. man
baut 1831 wieder mehr, man richtet die Wohnungen
beſſer ein, aber man ißt, man kleidet und beſchuht ſich
auf alte Weiſe.
Man mag allerdings daran erinnern, daß dieſelbe
Meiſterzahl nicht nothwendig dieſelbe Technik, denſelben
Wohlſtand, dieſelbe Geſellen- und Lehrlingszahl andeutet.
Aber ſehr viel hat ſich darin gerade bis 1831 nicht
geändert; was die Gehülfenzahl betrifft, ſo führe ich
als Beweis dafür an, daß die Meiſter- und Gehülfen-
zahl von 1819 bis 1828 ſich in ziemlich gleicher Pro-
portion ändert; 1 gerade die Gewerbefreiheit mußte dahin
wirken, daß zunächſt die Tendenz zur Bildung größerer
Geſchäfte mit mehr Gehülfen eher etwas aufgehalten
wurde.
Freilich iſt bei dieſer Vergleichung nur auf den
Anfang und das Ende der Periode geſehen, auf die Zeit
von 1795/1803 und auf die von 1831. Dazwiſchen
hat der Handwerkerſtand wohl ſtärker geſchwankt. Im
Jahre 1811 waren in Preußen noch 286000 Gewerbe-
patente ertheilt worden; dieſe Zahl ſinkt bis 1814 auf
242700, iſt alſo in dieſem Jahre um 15½ % niedriger;
dann ſteigt die jährliche Zahl wieder; im Jahre 1820
[57]Der Vergleich von 1803 und 1831.
iſt ſie 20 % höher als 1814—15.1 Durch ſolche
Schwankungen in Folge der Kriege wird aber unſere
Behauptung nur noch in helleres Licht geſtellt. Trotz-
dem, daß Alles erſchüttert, geändert, umgeſtürzt wurde,
— kann man ſagen — bringen es gleichmäßig ſich erhal-
tende volkswirthſchaftliche Bedingungen dahin, daß nach
wenigen Jahren Alles ſo ziemlich im alten Geleiſe iſt,
daß ähnliche Zahlenproportionen ſich bei den ſtatiſtiſchen
Aufnahmen wieder ergeben.
Dabei will ich allerdings Eins im Voraus als
Einſchränkung meiner Behauptung hinzufügen. Die
elementare, vom Wechſel der Jahre, wie der ſtaatlichen
Verfaſſung und Verwaltung wenig berührte Natur der
wichtigſten Handwerke, die vor Allem gegenüber dem
viel wechſelvollern Leben der Großinduſtrie zu betonen
iſt, wird ſich immer geltend machen; immer werden
die Aenderungen ſchwer ſich vollziehen, ſchon weil ſie
zuſammenhängen mit den ſchwer ſich ändernden Lebens-
gewohnheiten, häuslichen Sitten und Bräuchen des ganzen
Volkes. Aber zunächſt beweiſen die vorſtehenden Zahlen
nur, daß die großen Ereigniſſe von 1795—1831 daran
wenig geändert haben. Wir werden ſehen, daß ſpäter
vielleicht unbedeutendere Ereigniſſe, aber Ereigniſſe
anderer Art, tiefer eingreifen. Nur ſolange die Technik,
die häusliche Wirthſchaft und die Verkehrsverhältniſſe
dieſelben bleiben — und die haben ſich bis 1831 wenig
geändert —, wird die Thatſache, daß die vorzüglichſten
[58]Die preußiſchen Aufnahmen.
Handwerke in erſter Linie für lokale, nothwendige, ſtets
ziemlich konſtante Bedürfniſſe arbeiten, dem Handwerk
den ſichern, unveränderten Boden erhalten.
Zugleich iſt nicht zu vergeſſen, daß hier nur von
26 Arten der wichtigern lokalen Handwerke die Rede
war. Die ganze Weberei und andere handwerksmäßige
Hausinduſtriezweige ſind nicht mit einbegriffen. Auch
in den folgenden Unterſuchungen müſſen die Weber zunächſt
außer Betracht bleiben, da unſere Betrachtung ſich von
jetzt an ſtreng an die Art der ſtatiſtiſchen Aufnahmen
halten muß.
[[59]]
2. Die preußiſchen Handwerkertabellen von
1816—43.
Geſchichte der Aufnahme. Kritiſche Feſtſtellung der Hauptſummen.
Ergebniß: Stabilität von 1816—28; Blüthe der Klein-
gewerbe von 1828—43. Die einzelnen Faktoren der Geſammt-
änderung nach den einzelnen Gewerben, nach Meiſtern und
Gehülfen.
Nach dieſen einleitenden Bemerkungen über die
Zuſtände vor und nach den Kriegsjahren wenden wir
uns ausſchließlich der Zeit nach 1815 zu. Und das
Erſte wird ſein, uns einen Geſammteindruck der Ge-
ſchichte des Handwerks zu verſchaffen durch Betrachtung
der Geſammtſummen, welche die preußiſchen Gewerbe-
tabellen in den einzelnen Aufnahmejahren ergeben.
Ueber die Aufnahme und den Umfang der Tabellen
iſt Folgendes zu bemerken.
Nachdem J. G. Hoffmann, als Leiter des ſtati-
ſtiſchen Bureaus, im Jahre 1816 die wichtigſten Hand-
werker in der Populationsliſte hatte mitzählen laſſen,
richtete er 1819 zum erſten Male eine beſondere Gewerbe-
tabelle ein, die nun von drei zu drei Jahren bei den
Regierungen ausgefüllt werden ſollte. Dieſe Tabelle blieb
trotz mancher Aenderungen in den Grundzügen unver-
[60]Die preußiſchen Aufnahmen.
ändert bis 1843. Erſt die Aufnahme von 1846 erfolgte
auf weſentlich anderer, breiterer Grundlage.
Die ältere Tabelle war von Hoffmann ſo einfach
als möglich entworfen.1 Ihr Hauptinhalt waren die
wichtigſten mechaniſchen Künſtler und Handwerker. Nicht
bei allen, wohl aber bei der Mehrzahl wurden die
Gehülfen (Geſellen und Lehrlinge zuſammen) gezählt.
Nicht inbegriffen ſind z. B. Fiſcher, Gärtner, Barbiere,
Friſeure, ebenſo wenig Spinner und Weber. Nach den
Künſtlern und Handwerkern enthält die Tabelle noch die
gehenden Webſtühle, die Mühlen, die Handelsgewerbe,
die Transportgewerbe, das Geſinde. Für die Zuſtände
des preußiſchen Staates vor 50 Jahren gaben dieſe
Rubriken immerhin ein genügendes Bild, wenn ſie auch
für einzelne Gegenden und ihr entwickelteres Gewerbe-
leben, hauptſächlich für die Rheinprovinz nicht ganz aus-
reichten. Ihr Vortheil war, daß ſie in ihrer Einfach-
heit leicht auszufüllen waren.
Das Bedürfniß nach Erweiterung zeigte ſich aber
bald. Neue Rubriken wurden hinzugefügt; beſonders
1837 erweiterte Hoffmann die Tabelle weſentlich durch
Aufnahme einer Anzahl Fabriken, der Dampfmaſchinen
u. ſ. w. Auch 1837 aber wurde an der eigentlichen
Handwerkertabelle wenig geändert; für die Kürſchner,
Mechaniker, Buchbinder wurde die Gehülfenzahl hinzu-
[61]Kritik der Aufnahmen.
gefügt; die Zimmermeiſter wurden in Zimmermeiſter
und Zimmerflickarbeiter, die Maurer in Maurermeiſter,
Flicker, Ziegeldecker und Steinmetzen zerlegt; 1840
wurden die Färber in Färber und Kattundrucker geſchie-
den. Es läßt ſich ſomit eine vergleichbare Tabelle bis
1843 inkl. leicht herſtellen.
Die Aufnahmen, ſowie offizielle Summirungen der-
ſelben ſind nicht gleichmäßig publizirt. Man iſt genöthigt,
die Zahlen für die verſchiedenen Jahre aus ſehr ver-
ſchiedenen offiziellen, halboffiziellen oder ganz privaten
Arbeiten der jeweiligen Direktoren des ſtatiſtiſchen
Bureaus zuſammen zu ſuchen. Daher ſind auch darüber
einige kritiſche Bemerkungen nöthig.
Die Summe der Meiſter und Gehülfen für 1816
iſt der Publikation Dieterici’s in ſeinem „Volkswohl-
ſtande“ entnommen.1 Die Summe, wie ſie von da
aus in alle ſpäteren, amtliche und nichtamtliche Schriften
überging, iſt aber inſofern etwas zu niedrig, als in
ihr die Kuchenbäcker, Korbmacher, Buchdrucker und
Tuchſcheerer fehlen. Doch würden dieſe nach Analogie
der ſpätern Zahlen nicht mehr als circa 7000 Meiſter
und 4000 Gehülfen betragen.2
[62]Die preußiſchen Aufnahmen.
Die Summen für 1819, 1822, 1825 und 1828
ſind Ferber’s Beiträgen,1 alſo einer halbamtlichen Publi-
kation entnommen. Ferber giebt nicht näher an, was
ſeine Zahlen umfaſſen; deswegen glaube ich annehmen
zu müſſen, daß ſie ſich auf die ſämmtlichen damals
aufgenommenen Handwerker erſtrecken.
Für das Jahr 1831 iſt mir keine amtliche Sum-
mirung der Handwerker bekannt, außer der bei Diete-
rici,2 die aber unvollſtändig iſt, indem ſie ebenfalls die
Kuchenbäcker, Korbmacher, Buchdrucker und Tuchſcheerer
wegläßt. Durch Hinzufügung dieſer iſt meine Zahl höher
als die von Dieterici, wie ſie ebenfalls in alle ſpätere
Werke übergegangen iſt.
Für 1834 iſt mir keine amtliche Summirung
bekannt. Ich habe daher die Zahlen nach der amt-
lichen Spezialpublikation berechnet, die in Dieterici’s
ſtatiſtiſcher Ueberſicht3 enthalten iſt.
[63]Zur Kritik der Zahlen.
Auch für die folgenden Aufnahmen habe ich die
Summen nach den Spezialtabellen neu berechnet, für
1837 und 40 nach den Fortſetzungen der ſtatiſtiſchen
Ueberſichten,1 für 1843 nach dem beſondern für dieſes
Jahr veröffentlichten Tabellenwerk.2 Ich habe dabei die
ſämmtlich bisher gezählten Gewerbe mitgezählt, die
Gehülfen da weggelaſſen, wo ſie früher auch fehlten,
um ſo die Summen direkt vergleichbar mit den frühern
Aufnahmen zu machen. Dadurch ſtimmen die Zahlen
aber nicht ganz überein mit den gelegentlich von Die-
terici erwähnten oder ſpeziell von ihm berechneten.3
[64]Die preußiſchen Aufnahmen.
In der nun folgenden Tabelle, in welche ich die
Bevölkerung Preußens nach Dieterici’s Handbuch der
Statiſtik des preußiſchen Staates1 einſetze, vergleiche
ich das Verhältniß des Handwerkerſtandes zur Total-
bevölkerung. Die erſte Prozentberechnung giebt Ant-
wort auf die Frage, wie viel Prozente der Bevölke-
rung machen Meiſter und Gehülfen zuſammen aus? Die
zweite auf die Frage, wie viel Prozente der Bevöl-
kerung machen die Meiſter mit ihren Familien und
Gehülfen aus? Die Familie eines Meiſters iſt dabei
nach dem Vorgang Dieterici’s2 zu 4,1 Perſonen gerechnet.
Da die Gehülfen alle als unverheiratet angenommen
ſind, während die zahlreichen Maurer- und Zimmer-
geſellen wenigſtens zu einem großen Theil verheiratet
ſind, ſo bleiben jedenfalls die Summen der ſo gewon-
nenen ganzen vom Handwerk lebenden Bevölkerung weit
eher unter, als über der Wirklichkeit.
Daß überhaupt gefragt werden muß, nicht ob die
Zahl der Handwerker an ſich, ſondern ob ſie im Ver-
hältniß der Bevölkerung zugenommen hat, darüber
brauche ich wohl kein Wort hinzu zu fügen. Nur daran
möchte ich noch erinnern, daß allerdings bei einer ſo ſtark
fortſchreitenden Bevölkerung, wie bei der preußiſchen von
1816—43, eine Zunahme im Verhältniß der Bevöl-
3
[65]Die Zahlen von 1816—43.
kerung ſchon einen kleinen Fortſchritt andeutet. Da die
Zunahme der Bevölkerung in erſter Linie Folge zahl-
reicher Geburten iſt, ſo ſind es zunächſt die niedrigſten
Altersklaſſen, die reichlicher ausgefüllt ſind, während die
höhern, die ſchon einem beſtimmten Beruf angehören, ſich
gleich bleiben, ja vielleicht, wie in dieſem Fall, durch
die Kriege dezimirt ſind. Der Handwerkerſtand behauptet
ſich nun auf ſeinem Niveau, wenn er nur im Verhältniß
zu den geſammten Erwachſenen die gleiche Prozentzahl
beſchäftigt. Behauptet er im Verhältniß zur ganzen,
hauptſächlich an Kindern reichen Bevölkerung die gleiche
Prozentzahl, ſo nimmt er offenbar von den Erwachſenen
relativ etwas mehr in Anſpruch als vorher.
Doch hier endlich nach langen Vorbemerkungen die
Tabelle ſelbſt:
Man unterſcheidet bei Betrachtung dieſer Tabelle
leicht zwei Perioden. Von 1816—31 beinahe
Stabilität, die nur 1825 durch ein vorübergehendes
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 5
[66]Die preußiſchen Aufnahmen.
Anwachſen unterbrochen iſt; von 1834 an eine ſucceſſive
Zunahme des Handwerkerſtandes gegenüber der Bevöl-
kerung. Die Urſachen liegen überwiegend in den allge-
meinen, früher ungünſtigen, ſpäter günſtigen Vorbe-
dingungen der wirthſchaftlichen Entwickelung, an die ich,
ſoweit ſie die Zeit von 1816—31 betreffen, ſchon
oben1 erinnerte. Man erholte ſich erſt wieder von Krieg
und Ackerbaukriſis. Der Einfluß der vorangeſchrittenen
Induſtrieländer war noch gering, der deutſche Handel
noch gelähmt durch die Zollſchranken.
Weſentlich beſſer geſtalten ſich die Zuſtände in den
dreißiger Jahren. Der Zollverein beginnt ſeine Seg-
nungen fühlbar zu machen; der deutſche Exporthandel
nimmt zu, neue Gewerbszweige entſtehen; Zuckerfabriken,
Baumwollſpinnereien werden gebaut. Daneben freilich
iſt der Einfluß des Auslandes noch gering; die erſten
Eiſenbahnen ſind in England eben erſt vollendet; noch
haben die großen internationalen Ausſtellungen nicht
gewirkt, noch haben wir kaum einen heimiſchen Maſchinen-
bau, noch exiſtiren unſere großen polytechniſchen Schulen
nicht oder ſind eben erſt gegründet. Der Fortſchritt
mußte ſich alſo in den hergebrachten Formen halten,
d. h. hauptſächlich in einer Zunahme der Kleingewerbe
zeigen.
Auch für wichtige Induſtriezweige, welche auf den
Abſatz im Großen angewieſen ſind, bleibt die Form der
Hausinduſtrie vorerſt unangetaſtet — ſo für wichtige
Theile der Metallinduſtrie; ſo für die Weberei, die nicht
[67]Die Reſultate von 1816—43.
in dieſen Zahlen begriffen iſt. Die Tuchmacher und Tuch-
ſcheerer ſind zwar theilweiſe ſchon in übler Lage; aber
ſonſt iſt der Handwebſtuhl noch unangefochten. Die
Zahl der Webſtühle nimmt ſogar in den meiſten Branchen
einen raſchen Aufſchwung bis 1840; erſt in den rück-
gehenden Zahlen von 1843 zeigt ſich der Eintritt der
Weberkriſis, die ſiegende Konkurrenz der neuen vollen-
deteren Technik.
Die vorſtehenden Folgerungen aus der Tabelle für
1816—43 galten dem Hauptreſultat, das dahin ging:
Stabilität in den zwanziger, Fortſchritt in den dreißiger
Jahren. Ein ſolches Geſammtreſultat kann nun aber auf
ſehr verſchiedene Weiſe erreicht ſein; es kann ausſchließlich
durch die Meiſter- oder durch die Gehülfenzahl oder
gleichmäßig durch beide, es kann erzielt ſein dadurch,
daß einzelne Gewerbe ganz zu Grunde gingen, während
andere um ſo kräftiger erblühten. Obwohl hier noch
nicht näher in dieſes Detail eingegangen werden ſoll,
muß ich wenigſtens einige Worte nach beiden Richtungen
hin beifügen.
Die Bewegung der einzelnen Gewerbe iſt natür-
lich keine ganz gleichmäßige; aber doch handelt es ſich
um keine allzugroßen Differenzen, nicht um den Unter-
gang einzelner Gewerbe, für die andere an die Stelle
träten. Es gehen einzelne etwas zurück, andere und
zwar ſehr viele bleiben der Bevölkerung parallel, wieder
andere nehmen etwas ſtärker zu. Beſonders in einzelnen
Perioden iſt die Differenz etwas größer. Die ſtärkſte
Zunahme erfolgt 1831—34; nach der Depreſſion von
Revolution und Cholera, nach der Bildung des Zoll-
5 *
[68]Die preußiſchen Aufnahmen.
vereins nimmt Alles einen freudigern Aufſchwung; wäh-
rend die Bevölkerung von 100 auf 103 ſteigt, ſteigen
beinahe alle Gewerbe von 100 auf 106 — 8, manche
noch mehr; und es nehmen daran gerade die wichtigſten
Gewerbe, wie Bäcker und Fleiſcher, die ſonſt gerne der
Bevölkerung parallel bleiben, Theil. In den Jahren
1834 — 37 erhebt ſich die Bevölkerung von 100 auf
104; eine weſentlich ſtärkere Zunahme zeigen in dieſem
Zeitraum nur die Gewerbe für Bauten und Hausein-
richtung, ſowie einzelne, die einem ſich entwickelnden
Luxusbedürfniß dienen, wie die Putzmacherinnen. Aehnlich
iſt es in den Perioden von 1837 — 40 und 1840 — 43;
es geſellen ſich als ſtärker fortſchreitende Gewerbe zu
ihnen hauptſächlich noch ſolche, welche die Großinduſtrie
beſchäftigt, wie Mechaniker, Schloſſer, Steinmetzen,
während die Hauptgewerbe Bäcker, Fleiſcher, Schuh-
macher ihr Verhältniß zur Bevölkerung nicht viel ändern;
ſelbſt das entwickelungsfähige Schneidergewerbe zeigt 1837,
40 und 43 jedesmal eine die Bevölkerung nur kaum
überholende Zunahme. Die bereits rückgehenden Gewerbe
ſind ſolche, bei denen die Konkurrenz der großen Geſchäfte
anfängt zu wirken: Seifenſieder, Gerber, Handſchuh-
macher, Hutmacher, Töpfer und Ofenfabrikanten.
Die Verſchiedenheit der Bewegung zwiſchen den
einzelnen Gewerben iſt nicht ſo groß als die zwiſchen
Meiſter und Gehülfen. Von 1816 — 19 nehmen nur
die Meiſter zu, die Gehülfen ab; von 1819 — 25 iſt die
Bewegung ſo ziemlich gleich; von 25 — 28 nehmen
nochmals die Meiſter zu und die Gehülfen ab; von
28 — 31 überwiegt wenigſtens die Zunahme der Meiſter;
[69]Die Reſultate von 1816 — 43.
erſt von 1831 ab tritt dauernd und zwar in ganz über-
wiegender Weiſe eine ſtärkere Zunahme der Gehülfen
ein, ſo daß als Geſammtergebniß von 1816 bis 43 die
Meiſter von 100 auf circa 180, die Gehülfen von
100 auf circa 220 ſteigen.
Dieſe Verſchiedenheit der zwanziger und dreißiger
Jahre entſpricht dem Ergebniß der obigen Unterſuchung.
In dem erſten Zeitabſchnitt fehlt die Möglichkeit, die
Geſchäfte auszudehnen, mehr Gehülfen zu halten; die
Gewerbefreiheit ermöglicht Jedem, leicht ſelbſt ein Ge-
ſchäft anzufangen, leer gebliebene Lücken füllen ſich; der
Handel, das Einkaufen in Magazinen, das Ladenhalten
iſt noch weniger entwickelt; das ladet zur Niederlaſſung
überall ein, dem lokalen Bedürfniß zu dienen, wenn
auch das zu machende Geſchäft vorerſt klein iſt. Im
zweiten Abſchnitt liegen die Dinge ſchon weſentlich anders:
die Lücken ſind beſetzt; trotz der Gewerbefreiheit wird
das Anfangen eines eigenen Betriebes in den größeren
Städten, wo die Nachfrage wächſt, ſchwieriger, und ſo
nehmen hier eher die vorhandenen Geſchäfte zu, als
daß neue gegründet würden. Dieſe Richtung zeigt ſich
ſpäter noch viel mehr. Es iſt aber wichtig, daran zu
erinnern, daß ſie ſchon vor 1845 und 1849 eintrat, weil
man ſpäter oft glaubte, die veränderte Gewerbegeſetzgebung
ſei daran ſchuld, was jedenfalls nur zum Theil der
Fall war.
[[70]]
3. Die preußiſchen Handwerkertabellen von
1846 — 61.
Die Summen. Kritiſche Prüfung derſelben und Geſchichte der
Aufnahmen. Die allgemeine wirthſchaftliche Lage und im
Anſchluß daran das Ergebniß der rektifizirten Tabellen.
Vergleich von 1843 und 46, Beginn der Handwerkernoth.
Vergleich von 1846 und 49, Höhepunkt der Kriſis durch Revo-
lution und Geſchäftsſtockung. Die Geſetzgebung von 1849 als
Folge der Klagen; Beurtheilung dieſer Geſetzgebung und
ihrer Wirkung. Vergleich von 1849 und 52, unbedeutende
Beſſerung. Vergleich von 1852 und 55, abermalige Kriſis.
Die Aufnahmen von 1855 — 61; die Beſſerung durch die allge-
meine wirthſchaftliche Lage. Die Zuſtände 1861 — 65.
Die Zeit nach 1843, reſp. von 1846 an, ſcheidet
ſich von der früheren in Preußen materiell durch die
1845 und noch mehr durch die 1849 erlaſſene Gewerbe-
geſetzgebung; formell müßte ſie ſchon unſere Betrachtung
trennen, da die ſtatiſtiſchen Aufnahmen von 1846 an
weſentlich andere ſind. Ehe ich aber auf die Verſchie-
denheit der Aufnahme eingehe, will ich die Zahlen ſelbſt
vorausſchicken, wie ſie hergebrachtermaßen in der offi-
ziellen Statiſtik für 1846 — 58 mitgetheilt werden.1 Ich
[71]Die Zahlen von 1843 — 61.
wiederhole dabei die Zahlen für 1843 und ſetze für
1861 die Hauptſummen der Handwerkertabelle bei, wie
ſie in der amtlichen Publikation lauten.1 Die geſammte
Handwerkerbevölkerung iſt wieder ſo berechnet, daß die
Gehülfen als unverheiratet, die Familien der Meiſter
jede zu 4,1 Perſonen angenommen ſind.
Sollen dieſe Zahlen einer vergleichenden hiſtoriſchen
Betrachtung zur Grundlage dienen, ſo muß man ihren
Werth und ihre Entſtehung kritiſch prüfen, ehe man
Schlüſſe daraus zieht.
Was die Richtigkeit der Zahlen an ſich betrifft, ſo
will ich nur wenige Worte in Bezug auf andere Sum-
men, welche man da und dort trifft, vorausſchicken.
Für 1846 und 49 giebt Dieterici2 in den Mitthei-
1
[72]Die preußiſchen Aufnahmen.
lungen andere Zahlen, als die obigen und zwar niedri-
gere. Dies iſt für 1849 ſehr erklärlich; er will die
Aufnahmen mit 1846 vergleichbar machen und läßt ſo
alle erſt 1849 hinzugekommenen Spalten weg. Warum
aber 1846 circa 4000 Meiſter und 2000 Gehülfen
weniger gerechnet ſind, als in der ſpätern offiziellen Sta-
tiſtik, vermag ich nicht anzugeben; eine eigene Nach-
rechnung iſt mir gar nicht möglich, da die Tabellen
pro 1846 nicht vollſtändig publizirt ſind.1 Immerhin
aber iſt dieſe Abweichung ſo mäßig, daß ſie überſehen
werden kann.
Für das Jahr 1852 giebt Dieterici die Zahlen in
den amtlichen Tabellen, wie in einer ſpäteren Bearbei-
tung2 etwas niedriger an, als ſie Engel in den ſpä-
tern offiziellen Angaben anführt. Da ſpätere Angaben
derart als die rektifizirten gelten müſſen, habe ich ſie
beibehalten. Der Grund der Differenz iſt mir nicht
erſichtlich; doch iſt die Abweichung ebenfalls ſo unbe-
deutend, daß ſie keine weitere Beachtung verdient.
[73]Kritik der Zahlen.
Für 1858 habe ich nach der amtlichen Publi-
kation eine kalkulatoriſch genau geprüfte Nachrechnung
angeſtellt; ich mußte die Hauptſummen getrennt haben
nach Stadt und Land für die Unterſuchung dieſes Ge-
genſatzes. Das genaue Ergebniß der Geſammtſumme
iſt 1.042513, alſo etwa 10000 Perſonen weniger, als
in der ſpätern Publikation Engels. Die Differenz ver-
mag ich ebenſowenig zu erklären. Für dieſe Unter-
ſuchung muß ich Engel’s Zahl ſtehen laſſen; für die
ſpätere Unterſuchung über den Gegenſatz von Stadt und
Land kann ich nur die von mir berechneten Zahlen
benutzen, da andere fehlen.
Für 1861 kenne ich noch zwei Summirungen, aller-
dings nicht amtlicher Natur, die mit den vorſtehenden
Zahlen nicht übereinſtimmen. Ad. Frantz1 giebt in ſei-
nen gewerbeſtatiſtiſchen Tabellen allerdings beinahe die-
ſelbe Hauptſumme von 1.092368 Perſonen, aber die-
ſelbe entſteht bei ihm aus circa 16100 mehr Meiſter
und weniger Gehülfen. Das kann nur den Grund
haben, daß er die Flickarbeiter bei den Maurern und
Zimmerleuten, die gerade ſo viel ausmachen, zu den
Meiſtern rechnet, während ſie die offizielle Statiſtik offen-
bar zu den Gehülfen zählt. Mag Letzteres auch unrich-
tiger ſein, ſofern die Flickarbeiter immerhin ſelbſt
Unternehmer ſind, eigene Geſchäfte haben, ich mußte
bei den offiziellen Zahlen bleiben, ſchon weil ſie die
Vermuthung für ſich haben, daß dieſe Frage bei ihnen
[74]Die preußiſchen Aufnahmen.
gleichmäßig wie bei den frühern Aufnahmen entſchieden
iſt. Es iſt aber von Intereſſe, ſich deſſen eben bei
dieſen Zahlen bewußt zu bleiben. Die Abnahme der
Meiſter im Ganzen kommt theilweiſe davon her, daß
Leute, die früher als kleine Zimmer- und Maurer-
meiſter gezählt worden wären, jetzt als Flickarbeiter
unter den Gehülfen ſtecken.
Viebahn zählt in ſeiner Statiſtik des Zollvereins1
für 1861 nur 523481 Meiſter und 519412 Gehül-
fen, zuſammen 1.042893 Perſonen; auch ſeine Zahlen
für die andern Staaten ſind etwas geringer als die mir
ſonſt bekannten Summirungen. Die Urſache der Dif-
ferenz iſt nicht erſichtlich. Viebahn muß wohl verſchie-
dene Kategorien der offiziellen Tabelle weggelaſſen haben.
Gehen wir von der kalkulatoriſchen zur ſachlichen
Prüfung, ſo bleibt die Hauptſache zu wiſſen erſtens, wie
verſchieden die Aufnahmen von 1846 ab gegenüber den
frühern ſind, und zweitens, ob ſie wenigſtens unter ſich
vergleichbar ſind, wie ſich aus ihrer Zuſammenſtellung
in der amtlichen Statiſtik zu ergeben ſcheint.
Die Gewerbetabellen bis 1843 waren J. G. Hoff-
mann’s Werk; noch die letzten Aenderungen, die im
Jahre 1837 eingeführt wurden, hatte er angeordnet.
Sein ſpäterer Nachfolger Dieterici war zwar ſeit 1835
Hülfsarbeiter des ſtatiſtiſchen Bureau’s; die Direktion
übernahm er aber erſt 1844, als das ſtatiſtiſche Bureau
dem Handelsamt unterſtellt wurde. Eine ſeiner erſten
Aufgaben war die veränderte Einrichtung der Gewerbe-
[75]Kritik der Aufnahmen.
tabelle, die durch die Entwickelung der gewerblichen
Verhältniſſe, durch die Spezialiſirung ſo vieler Geſchäfte,
durch die Ausdehnung der Großinduſtrie geboten ſchien.
Ueberdies hatte die Zollvereinskonferenz ſchon am 11. No-
vember 1843 die Aufnahme einer Gewerbeſtatiſtik des
Zollvereins beſchloſſen,1 wobei die Abſicht zunächſt nur
auf eine Statiſtik der Großgewerbe gerichtet war. Eine
neue Grundlage war zu ſchaffen. Langwierige Unterhand-
lungen fanden 1844 und 45 darüber mit dem Finanz-
miniſterium und den Oberpräſidenten ſtatt. Dieterici
bemühte ſich, gegenüber den ganz neuen Vorſchlägen die
Tabelle der Handwerker wenigſtens ſo zu erhalten, daß
nicht alle Vergleichung mit früher ausgeſchloſſen war.
Das endliche Reſultat war das, daß zunächſt die Auf-
nahme in zwei Haupttabellen geſchah; die eine war die
ſog. Fabriktabelle; die andere erhielt folgende Abthei-
lungen: 1) die mechaniſchen Künſtler und Handwerker
(110 ſtatt bisher 72 Kolonnen, es waren mehrere Arten
hinzugeſetzt und durchgehend die Zahlen für die ſelbſtän-
digen Gewerbtreibenden und für die Gehülfen und Lehr-
linge getrennt worden), 2) die Anſtalten für den litera-
riſchen Verkehr, 3) die Handelsgewerbe, 4) die Schiff-
fahrt, das Fracht- und Lohnfuhrwerk, 5) die Gaſt- und
Schenkwirthſchaft, 6) das Geſinde, 7) die Handarbeiter.
Die Regierungen wurden angewieſen, in allen bedeutenden
Orten eine Prüfung der Tabellen durch Gewerbtreibende
eintreten zu laſſen. So fand die Aufnahme 1846 ſtatt.
[76]Die preußiſchen Aufnahmen.
Wie viel die Aufnahme der Gehülfen zu allen
Handwerken ausmacht, läßt ſich etwa darnach bemeſſen,
daß die Tabelle von 1843 etwa 40000 Meiſter ohne
Gehülfen angab, und daß Dieterici, wo er für 1843
die Gehülfenzahl voll rechnen will, ſtatt 311458 —
358660 annimmt.1 Wie viel die bisher nicht gerech-
neten Arten von Handwerkern ausmachen, kann ich nicht
ſagen, da mir für 1846 keine vollſtändige Spezialauf-
nahme vorliegt und die von 1849 wieder weſentlich
umfaſſender iſt.2 Es wurden 1849 abermals 16 neue
Arten hinzugefügt. Die Geſammtzahl der Perſonen, welche
in der Tabelle von 1849 der Art der Gewerbe nach neu
ſind gegenüber der von 1843, wird circa 130 — 150000
Perſonen ausmachen. Es ſind darunter die Leinenſpinner
(57981 mit 26305 Gehülfen), die Gärtner (6598 mit
2853 Gehülfen), die Fiſcher (6430 mit 2633 Gehül-
fen), die Barbiere (6033 mit 2431 Gehülfen), die
Auktionatoren (4204 mit 270 Gehülfen) und noch
manche Andere.
Darnach iſt, wenn die Zahlen von 1846 und 49
mit den früheren verglichen werden ſollen, für 1849
ein Abzug von gegen 200000 zu machen (150000
für andere bisher nicht gezählte Arten von Gewerb-
treibenden, 50000 für bisher nicht gezählte Gehülfen),
für 1846 wenigſtens einer von 100000.
[77]Kritik der Aufnahmen.
Von 1849 an iſt an den Tabellen relativ weniger
geändert; beſonders die Aufnahmen für 1852 und 1855
haben ganz denſelben Umfang, höchſtens eine Unterſchei-
dung dieſes oder jenes unbedeutenden Gewerbes in zwei
Unterarten kommt vor, was für unſern Zweck gleich-
gültig iſt.
Die Hauptänderung bei der Aufnahme von 1858
iſt die Trennung der Gehülfen in Geſellen und Lehr-
linge bei jedem Gewerbe; doch iſt das wieder für unſere
Zwecke ohne Bedeutung. Andere Aenderungen ſind nicht
allzu weſentlich. Die letzten Rubriken ſind 1858 nicht
ganz gleich gefaßt, doch handelt es ſich da höchſtens um
einige hundert Perſonen; nur eine große Rubrik blieb
1858 ganz weg, nämlich die der Auktionatoren, welche
1855 6188 Perſonen mit 310 Gehülfen umfaßte.
Dagegen umfaßt die Rubrik „Kahnführer“ 1855 nur
93 Perſonen und 10 Gehülfen; 1858 iſt ſie zu „Kahn-
führer, Pferdeverleiher, Vermiether möblirter Zimmer“
erweitert und hat nun 5551 Perſonen. Die ganze Diffe-
renz der Aufnahme überſchreitet ſomit einige Tauſende nicht.
Nicht ganz daſſelbe läßt ſich von der letzten Auf-
nahme, von der für 1861 ſagen; ſie iſt nach ziemlich
verändertem Schema gemacht. Man wollte endlich mit
einer gleichmäßigen Aufnahme im Zollverein Ernſt
machen; denn 1846 war es nur dahin gekommen, daß
einige Staaten ſich in der Hauptſache der preußiſchen
Tabellen bedient hatten.1 Weitere Unterhandlungen mit
[78]Die preußiſchen Aufnahmen.
den Zollvereinsſtaaten wurden ſeit 1852 geführt. Be-
ſonders in München fanden 1854 Berathungen auf
Grund eines Entwurfes von Viebahn ſtatt, deren Re-
ſultate aber 1859 nochmal modifizirt wurden.1 Hier-
nach geſchah 1861 die Aufnahme in den ſämmtlichen
Zollvereinsſtaaten.2
Die Hauptänderung der Tabelle betrifft aber die
äußerliche Anordnung. Dem Inhalt nach ſind die wich-
tigern Abtheilungen dieſelben wie 1858; daß einige
Gewerbe in Unterabtheilungen zerlegt, einige unbedeu-
tende Gewerbe hinzu kamen (Inhaber von Badeanſtalten,
Waſchanſtalten, Verfertiger von Streichriemen ꝛc.), daß
einige andere unbedeutende Gewerbe wegblieben (Blatt-
geſchirrmacher, Verfertiger von Wachslichtern, Zünd-
waaren ꝛc.) wird nicht viel ausmachen, wird höchſtens
eine Differenz von einigen hundert Perſonen bedingen.
Dagegen habe ich in Bezug auf die Leinenſpinner,
welche 1849 noch 84286, 1858 noch 54054 Meiſter
und Gehülfen umfaſſen, einigen Zweifel, ob die Zahl
von 14557 im Jahre 1861 der wirklichen Abnahme
entſpricht oder nicht vielmehr auf einer veränderten Auf-
nahme beruht; das ergäbe eine Differenz von circa 40000
Perſonen, davon 36000 Meiſter. Auch wenn die
[79]Die Lage der Kleingewerbe 1840 — 46.
Abnahme von 1858 — 61 wirklich ſo groß iſt, ſo muß
man dieſe Zahl bei der Vergleichung im Auge behalten;
denn es iſt ein großer Unterſchied, ob die Spinner um
40000 Perſonen oder ob die eigentlichen Handwerker
zuſammen um 40000 Perſonen abnahmen.
Nach dieſer Kritik der Zahlen können wir erſt
zur Frage zurückkehren, welches die Lage des Handwerker-
ſtandes von Anfang der vierziger Jahre bis zur Gegen-
wart nach dieſen Zahlen war.
Erinnern wir uns dabei der allgemeinen volkswirth-
ſchaftlichen Lage. Die Fortſchritte der techniſchen Bildung
in Deutſchland gehen Hand in Hand mit dem Bau der
Eiſenbahnen; die internationalen Beziehungen vervielfäl-
tigen ſich; der Export nach Amerika, nach den Kolonien
nimmt nie dageweſene Dimenſionen an; die großen
Unternehmungen, vor Allem die, welche die Vortheile
einer vollendeten Technik, eines großen Kapitals, einer
weitſichtigen kaufmänniſchen Leitung in ſich vereinigen,
erlangen jetzt erſt eine Stellung, wie ſie ſie in England
ſchon früher inne hatten. Die Folgen für das Hand-
werk mußten ſehr verſchieden ſein, hier Förderung,
Abſatz, Arbeit in Fülle, dort Hemmung, Rückgang,
erdrückende Konkurrenz. Im Ganzen überwog entſchieden
das Letztere.
Seit der Handelskriſis von 1839 hatte die Kriſis
der Kleingewerbe begonnen. Schon 1840 hatten ja die
Stadtverordneten in Berlin dem König eine Denkſchrift
überreicht mit der Bitte um Aenderung der Gewerbe-
geſetzgebung. Schon da hatten ſie geklagt, daß alles
Handwerk überſetzt ſei, während die Steuerfähigkeit der-
[80]Die preußiſchen Aufnahmen.
ſelben ab-, die Zahl der Bankerotte unter ihnen
erſchreckend zunehme; da hatten ſie geklagt über um ſich
greifende Entſittlichung, unzuverläſſigere, ſchlechtere Arbeit
der Handwerker, über die Thatſache, daß das Bedürfniß
der Berliner Armenkaſſe von 104137 Thlr. im Jahre
1821 auf 373530 Thlr. im Jahre 1838 geſtiegen ſei.1
Und ſolche Klagen waren nicht alleinſtehend. Köln hatte
eine ähnliche Bittſchrift dem Könige überreicht.
Statiſtiſch zeigt ſich die Kriſis ſprechend genug in
dem Stillſtand der Zahlen. Ziehen wir für 1846 circa
100000, für 1849 circa 200000 Perſonen von der
preußiſchen Handwerkertabelle ab, ſo bleiben die Haupt-
ſummen ſo ziemlich auf dem Niveau von 1843, wäh-
rend die Bevölkerung zunimmt.
Vergleicht man die einzelnen Handwerke in ihren
Zahlen von 1843 und 46, ſo nehmen wohl noch
manche der wichtigern unbedeutend zu; eine weſentliche
Zunahme zeigt nur die Zahl der Maurergehülfen, was
Folge der Eiſenbahnbauten und Fabrikanlagen iſt. Viele
bleiben ſtabil; manche zeigen ſchon eine Abnahme —
theilweiſe von nicht geringer Bedeutung; es ſind ſolche,
die unter der Konkurrenz der Fabrikwaaren leiden; ein-
zelne von ihnen haben ſpäter wieder zugenommen als
Reparaturgewerbe oder durch andere Urſachen. Was ſie
zunächſt niederdrückt, iſt der erſte Gewaltſtoß der neuen
Zeit, der neuen Technik, dem ſie nicht gewachſen ſind,
vor allem damals noch nicht gewachſen waren, da der
[81]Vergleich von 1843, 1846 und 1849.
alte Schlendrian, die Unfähigkeit, der neuen Entwicke-
lung ſich anzubequemen, damals noch in hohem Maße
vorhanden war. So nehmen z. B. die Schloſſermeiſter
von 20769 auf 17933, ihre Gehülfen von 19788
auf 18400 ab. Aehnlich die Drechsler und Glaſer-
meiſter.
Nicht beſſer wurde es 1847 — 49; die Fehlernte
kam hinzu, die Revolution, die allgemeine Geſchäfts-
ſtockung und Unſicherheit. Bei den Zählungen im
Dezember 1849 war es ſchon wieder etwas beſſer; die
gute Ernte von 1849 hatte günſtig gewirkt, aber immer
lebte Handel und Wandel noch nicht wieder auf.
Da uns die obigen Zahlen für die genauere Ver-
gleichung von 1846 und 1849 im Stiche laſſen, ſo muß
ich auf die von Dieterici ſpeziell für dieſe Vergleichung
modifizirten zurückgehen.1 Es betrug nach ihm in ver-
gleichbaren Ziffern:
Während die Bevölkerung ſtieg im Verhältniß von
100:101,35, ſtieg die Geſammtzahl der handwerks-
mäßigen Bevölkerung im Verhältniß von 100:101,50,
die der Meiſter in dem von 100:103,65, die der Ge-
hülfen nahm ab in dem von 100:98,85.
Daß die Geſammtzahl überhaupt noch etwas wuchs,
kann auf den erſten Blick überraſchen. Wenn man aber
näher zuſieht, ſo findet dieſe immer ſehr mäßige
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 6
[82]Die preußiſchen Aufnahmen.
Zunahme der Geſammtzahl, die etwas ſtärkere der
Meiſter ihre einfache Erklärung. Die Spezialtabellen
zeigen beinahe durchgehend eine geringere Anzahl Gehülfen.
Von wichtigern Gewerben haben nur die Bäcker, Flei-
ſcher und Schuhmacher etwa dieſelbe Gehülfenzahl; die
Riemer, Sattler, Schneider, Zimmerleute, Tiſchler,
Böttcher, die Schmiede und Schloſſer, ſowie noch viele
unbedeutendere beſchäftigen nicht mehr die alte Gehülfen-
zahl. Die Tiſchler zählen 4000, die Schneider 2000
Gehülfen weniger als 1846.
Der Abſatz ſtockte, Jeder ſchränkte ſich ein; ein-
zelne Geſchäfte nun, die längſt nur noch nothdürftig
exiſtirt hatten, brachen zuſammen. Das war aber die
Minderzahl; in der Hauptſache bleiben die alten Ge-
ſchäfte zunächſt, ſie hatten nur nicht genug zu thun; ſie
entlaſſen alſo Hunderte früher beſchäftigter Geſellen. Von
dieſen wiſſen viele keinen andern Ausweg, als ſich
ſelbſt zu etabliren und ſo die Konkurrenz zu vermehren.
So erklären ſich ſehr klar die obigen Zahlen; ſo erklären
ſich die großen Klagen des ganzen Handwerkerſtandes
in jener Zeit. Es waren allerdings die vorhandenen
Geſchäfte nicht genügend beſchäftigt, es waren zu viel
Meiſter, — aber nicht in erſter Linie in Folge der
Gewerbefreiheit, nicht wegen mangelnder Prüfung,
ſondern wegen vorübergehender Geſchäftsſtockung; es
nahm aus dieſem Grunde die Meiſterzahl noch etwas
zu, während die ſchon vorhandenen Meiſter täglich
weitere Geſellen entlaſſen mußten.
Es wird paſſend ſein, hier einige Worte über die
veränderte Geſetzgebung einzufügen, welche ja weſentlich
[83]Die Zuſtände und Klagen 1848 und 1849.
hervorgerufen wurde durch die unklaren Klagen des
Handwerkerſtandes. Die Gewerbeordnung von 1845
hatte den beſtehenden Zuſtand nach jahrelangen Vor-
berathungen im Weſentlichen nur kodifizirt, die Gewerbe-
freiheit auf die Provinzen ausgedehnt, wo ſie noch nicht
beſtand. Die Innungen ſollten, wo ſie beſtehen, erhalten
bleiben, auch neue gebildet werden dürfen; doch wurde
ihnen jeder Beitritts- und Prüfungszwang unterſagt.
Nur bei einigen wichtigeren Handwerken wurde die
Befugniß, Lehrlinge zu halten, von der Mitgliedſchaft
einer Innung oder dem Nachweis der Befähigung durch
Prüfung abhängig gemacht. Von einer Rückwirkung
dieſes Geſetzes auf Gedeihen oder Nichtgedeihen des Hand-
werkerſtandes wird nicht die Rede ſein können. Das
Geſetz wurde nirgends als etwas Neues, Einſchneidendes
betrachtet. Da kamen die ſchlimmen Jahre, die Gährung
und Unklarheit der Revolution. Nach der Theorie des
Radikalismus ſollte jeder Einzelne, wie jeder Stand
ſelbſt die beſte Einſicht haben, was ihm frommte, alſo
hielten auch die ehrbaren Handwerke Verſammlungen und
Tage, und wie jederzeit jede ökonomiſche Klaſſe ihr
nächſtliegendes egoiſtiſches Intereſſe als das Intereſſe des
Staats und der Geſellſchaft anſieht, ſo thaten es jetzt
die Handwerker.
Den Anfang der Zunftbewegung machte am
22. April 1848 das offene Sendſchreiben der zweiund-
zwanzig Leipziger Innungen an ihre Handwerksgenoſſen
mit einem Proteſt gegen das ganze „Weſen, wie es ſich
jetzt in Frankreich breit macht, den letzten Reſt von
Tüchtigkeit und Wohlſtand untergräbt und gleichſam
6 *
[84]Die preußiſchen Aufnahmen.
mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiele über
Preußen ſeinen Einzug in Deutſchland hält.“ Damit
war die Gewerbefreiheit gemeint. Kurz darauf tagte
der Vorkongreß der deutſchen Handwerker in Hamburg
(2 — 6. Juni). Es wurden Anträge auf Beibehaltung der
Bannmeile, auf ausſchließliche Befugniß der Städte zum
Gewerbebetrieb, Aufhebung des Hauſirhandels und der
kaufmänniſchen Reiſenden, „dieſer modernen Hauſirer,“
geſtellt. Endlich am 15. Juli trat das Handwerker-
parlament in Frankfurt zuſammen. Es tagte bis zum
18. Auguſt in ſtürmiſchen Sitzungen. Man ging aus
von einem „feierlichen, von Millionen Unglücklicher
beſiegelten Proteſt gegen die Gewerbefreiheit.“ Man
verlangte neben dem politiſchen ein beſonderes aus den
Innungen hervorgehendes Handwerkerparlament als
ſtehendes Organ; dieſes ſelbſt ſollte jährlich das Hand-
werksminiſterium ernennen. In Bezug auf die Gewerbe-
geſetzgebung verlangen die von der „Freiheitsluft des
Völkerfrühlings“ zuſammengeführten Meiſter Folgendes:
eventuelle Beſchränkung der Meiſterzahl an Einem Orte,
Verbot des Hauſirhandels, Verbot der Aſſoziation mit
Nichtinnungsgenoſſen, Zugehörigkeit aller Handwerks-
arbeit der Fabriken an die zünftigen Meiſter des Ortes,
Beſchränkung auf Ein Gewerbe, Zuſcheidung des Klein-
handels mit Handwerkswaaren an die Innungsmeiſter,
für die Regel ausſchließliche Berechtigung der Städte zum
Gewerbebetrieb, Unzuläſſigkeit von Gemeinde-, Staats-,
Aktienwerkſtätten, Verbot des Zuſchlags der öffentlichen
Arbeiten an den Mindeſtfordernden und Vertheilung
derſelben an die Meiſter durch den von dieſen beſetzten
[85]Die Wünſche der Handwerker.
Gewerberath, Verbot öffentlicher Verſteigerung noch
neuer Waaren, Verbot der Haltung von mehr als zwei
Lehrlingen, Beſteuerung der Fabriken zu Gunſten des
Handwerks, eine Geſchäftsgrenze für die Fabriken und
den Handel mit Fabrikaten, endlich gleichmäßigen Lehr-
zwang, Wanderzwang, Zwang zur Erſtehung einer
theoretiſchen und einer praktiſchen Prüfung. Ueberboten
wurden dieſe Forderungen nur noch von dem beſondern
Frankfurter Schneiderkongreß, der vor Allem Aufhebung
der Magazine, Beſchränkung der Arbeit der Frauen-
zimmer, Verbot auswärtiger Kleidereinfuhr verlangte.1
Wunderliche Produkte der Kurzſichtigkeit — wie
der damals allerdings herrſchenden Noth! Nur hätten
die ehrbaren Meiſter nicht vergeſſen ſollen, daß die
Noth des Handwerkerſtandes da am größten war, wo
man dem Ideal eines ſolchen Gewerberechts noch am
nächſten ſtand.
Uebrigens hätte die ganze Sturmflut von Petitionen,
alle Agitation auch in Preußen nichts erreicht, wenn
nicht zwei Parteien in einer gänzlich unklaren Ver-
kennung des Zuſammenhangs die Bewegung unterſtützt
hätten. Die konſervative, wie die ſchutzzöllneriſche Partei2
[86]Die preußiſchen Aufnahmen.
glaubten ihre Sache zu fördern, wenn die Zünfte her-
geſtellt würden. Ueberdies war die preußiſche Regierung,
wie leicht jede Regierung, geneigt zu glauben, man
könne der augenblicklichen Noth im Gewerbeſtande durch
irgend welche Akte der Geſetzgebung abhelfen. Eine
Kommiſſion von betheiligten Sachverſtändigen wurde
berufen und berieth den 17. bis 30. Januar 1849.
Die Klagen konzentrirten ſich darin, man könne ſich
zu leicht niederlaſſen und ein Geſchäft eröffnen. Die
Verordnung vom 9. Februar 1849 gibt dieſem kurz-
ſichtig egoiſtiſchen Klaſſenintereſſe nach, ſchafft wieder
feſte Arbeitsabgrenzung für die wichtigern Gewerbe und
verlangt für die Ausübung derſelben Beitritt zur Innung
nach vorangängigem Nachweiſe der Befähigung bei der
Zunft oder Nachweis der Befähigung vor einer beſondern
Prüfungskommiſſion. Ein feſter Bildungsgang als
Lehrling und Geſelle wird wieder vorgeſchrieben; Hand-
werksmeiſter dürfen zu techniſchen Arbeiten ſich nur der
Geſellen und Lehrlinge des Handwerks bedienen; dieſe
dürfen nur bei Meiſtern ihres Handwerks oder bei
Fabrikinhabern eintreten. Wo das Halten von Magazinen
zum Detailverkauf von Handwerkswaaren erhebliche Nach-
2
[87]Die Gewerbenovelle von 1849.
theile für die gewerklichen Verhältniſſe des Ortes zur
Folge hat, kann durch Ortsſtatuten die Haltung von
Magazinen durch Solche, die nicht Meiſter ſind,
beſchränkt werden.
Der Handwerkerſtand war zunächſt durch dieſe neue
Gewerbeordnung befriedigt; die vorhandenen Meiſter
gewannen zunächſt etwas durch die Erſchwerung des
Meiſterwerdens, und die durch ganz andere Urſachen
bewirkte Beſſerung des Abſatzes, der Geſchäfte im fol-
genden und nächſtfolgenden Jahre ſchob man ohne Wei-
teres der neuen Geſetzgebung, beſonders den Prüfungen zu.
Daß man damals ſo dachte, iſt natürlich. Mehr
zu verwundern iſt und hat mich bei vielen perſönlichen
Rückſprachen mit liberalen aufgeklärten Meiſtern oft über-
raſcht, daß die Mehrzahl auch heute noch für die
Prüfungen eingenommen iſt. Waltet dabei mancherlei
Mißverſtand, mancherlei egoiſtiſches Motiv vor, ein rich-
tiger Kern iſt mir in den Ausſagen von vielen Meiſtern
entgegengetreten. Das Leben der Geſellen und Lehrlinge
außer dem Hauſe des Meiſters, in der heutigen Groß-
ſtadt, birgt in ſeiner Unabhängigkeit manche große Ge-
fahr. Bei dem einen wächst damit der Charakter und
der ſelbſtvertrauende redliche Fleiß, bei ſehr vielen nur
die Genußſucht, die Unzufriedenheit, die Faulheit und
Unzuverläſſigkeit; leichtſinnige, zu frühe Ehen kommen
zahlreicher vor. Mit dieſen Uebelſtänden hat der Meiſter
zu kämpfen; er wird ſie, weil er darunter leidet, leicht
überſchätzen; aber vorhanden ſind ſie, und berechtigt iſt
es, auf moraliſche Mittel der Gegenwirkung zu denken.
Und weil ihm die andern Mittel ferner liegen, ſo iſt
[88]Die preußiſchen Aufnahmen.
der Meiſter für die Prüfungen eingenommen, die aller-
dings für Viele als Sporn, als zu erreichendes Ziel von
guter moraliſcher Wirkung ſein können. Wenn die Prü-
fungen nicht zu leicht in egoiſtiſchen Mißbrauch aus-
arteten, wenn ſie nicht nothwendig ſich verknüpften mit
der heute ganz unleidlichen Abgrenzung der Arbeits-
zweige, ſo könnte man allerdings die Frage als eine
offene behandeln.
Was die allgemeine Wirkung der Geſetzgebung von
1849 betrifft, ſo möchte ich dabei die mehr pſychologiſche
Wirkung von der realen, direkten Wirkung unter-
ſcheiden.
Die pſychologiſchen Wirkungen waren theils gün-
ſtige, theils ungünſtige. Viebahn betont die erſteren
beſonders, wenn er ſagt: „Nach dem Erſcheinen dieſer
Novelle, welche der Innung wieder beſtimmtere Rechte
und mehr Inhalt verlieh, entſtand im Handwerkerſtand
wieder ein lebhaftes Intereſſe an dieſen Korporationen:
die Statuten der alten wurden revidirt, zahlreiche neue
errichtet. Die Zuſammenkünfte, die Prüfungen und
Freiſprechungen beförderten das korporative Zuſammen-
halten und die Bildung unter den Gewerbsgenoſſen.
Die Handwerker-Fortbildungsſchulen ſind großentheils
aus der Anregung oder unter Mitwirkung der Innungen
hervorgegangen, und wenn ſich der gewerbliche Stand-
punkt und die Leiſtungen der preußiſchen Handwerker
gehoben haben, ſo kann auch den Innungen ein gewiſſes
Verdienſt dabei nicht abgeſprochen werden.“ Das iſt
bis auf einen gewiſſen Grad wohl wahr. Das eigentlich
Treibende aber, das Leben Gebende war die Noth. Die
[89]Die Folgen der Gewerbenovelle.
Einſicht ſchlug durch, daß endlich auch der Handwerker
vorwärts ſchreiten müſſe. Deswegen rührte man ſich,
ſtrebte nach Bildung, war für die Pläne von Schulze-
Delitzſch empfänglich, gründete man Schulen und Gewerbe-
vereine, deswegen hatte man auch lebendigeres Intereſſe
für die Innungen und für die Prüfungen. Aber nicht
umgekehrt waren die Innungen das Erſte, das Anre-
gende. Im Gegentheile vielfach wurden ſie bald das
Hemmende, einmal weil man ſich durch die Exiſtenz der
Innungen an ſich nun geholfen glaubte, noch mehr
aber, weil die perſönlichen Elemente, die in ihnen an
die Spitze kamen, keine ſolche waren, die Verſtändniß
für gewerblichen Fortſchritt hatten. Das iſt ja der Fluch
jeder alten, einmal auf Abwege gerathenen Inſtitution,
daß bei Wiederbelebungsverſuchen nicht die tüchtigen,
die jungen, die aufopfernden Kräfte zuſtrömen, ſondern
die alten, egoiſtiſchen. Den Kreditvereinen, den Gewerbe-
vereinen, den Arbeiterbildungsvereinen widmeten ſich die
friſchen, aufſtrebenden Kräfte; den Innungen mehr
ſolche, die darin eine behagliche Exiſtenz ohne Anſtren-
gung erhofften. Für Viele und nicht die untüchtigſten
wurde die Sache durch die unpaſſende reaktionäre Ver-
quickung verdächtigt. Die perſönlichen Eigenſchaften Derer,
welche in den Innungen obenan kamen, waren der Krebs-
ſchaden der neuen Inſtitution, waren ſchlimmer als der
Inhalt der Novelle ſelbſt. Dieſe Wahrnehmung iſt mir
überall, wo ich mich näher nach Perſonen und Dingen
erkundigte, entgegen getreten, und Regierungsrath
Mülmann beſtätigt das vollſtändig, wenn er in Bezug
auf die Rheinprovinz und die dortige Innungsbildung
[90]Die preußiſchen Aufnahmen.
ſagt:1 „Nicht das Intereſſe des Handwerkerſtandes, ſeine
techniſche und ſoziale Fortbildung und Vereinigung zu
gegenſeitiger Unterſtützung war die Triebfeder des Zuſam-
mentrittes, ſondern wieder das Anſtreben von Exkluſiv-
rechten, der Egoismus, wenn nichts Schlimmeres. Mit
dem Durchdringen der Ueberzeugung, daß auch die
Innungen zur Erfüllung dieſer ſelbſtſüchtigen Wünſche
nicht geeignet ſeien, erlahmte auch mehr und mehr die
Theilnahme an dieſen Inſtituten. Ihre Verſammlungen
wurden nicht mehr beſucht, die Beiträge nicht mehr
geleiſtet, und ſie ſchrumpften zuerſt bis auf die Schatten-
gerippe der Innungs-Prüfungskommiſſionen ein und
vegetirten, ſeitdem auch dieſe durch Neuwahlen nicht mehr
zu ergänzen ſind, als leere Organiſationen fort.“
So viel von den pſychologiſchen Wirkungen. Was
die direkten, realen Wirkungen betrifft, ſo laſſen ſie ſich
aus den gewerbeſtatiſtiſchen Zahlen nicht ganz ſicher nach-
weiſen, da hier der Streit immer offen bleibt, ob die
Zahlen ſo ſind wegen oder trotz der Einrichtung. Immer-
hin aber lehren die Zahlen, wie ich gleich zeigen werde,
daß jedenfalls eine auffallende Wirkung nicht vorhanden
iſt. Eine ſolche iſt aber auch nicht wahrſcheinlich. Daß
die Novelle weſentlich genutzt habe, glaubt Niemand
heute mehr; daß ſie geſchadet habe, wird eher noch
behauptet werden können. Sie legte dem Handwerk einige
Feſſeln auf, beſchränkte die verſchiedenen Kleingewerbe
unter ſich, ohne es aber zu wagen, die Großinduſtrie,
[91]Die Folgen der Gewerbenovelle.
die Magazine, den Handel irgendwie zu Gunſten der
Kleingewerbe zu beſchränken. Selbſt ſoweit die Novelle
dazu etwa die Hand bot, wie durch die Beſtimmung
über die Magazine, wurde ſie nicht ausgeführt. Ueber-
haupt iſt in ſolchen Dingen ja nicht der Wortlaut ent-
ſcheidend, ſondern die Art der Ausführung. Und dieſe
war keine ſchroffe, ſelbſt in Bezug auf die Prüfungen.
Wohl haben dieſe manche Niederlaſſung erſchwert, am
meiſten noch in den Baugewerken; das Anwachſen der
bloßen Flickarbeiter gegenüber den Meiſtern hängt damit
zuſammen. Aber abgeſehen hiervon wurde die größte
Milde beobachtet; ſchon durch das Geſetz vom 15. Mai
1854 wurden, was dem Geſellen die Hauptſache war,
die Prüfungsgebühren reduzirt. Kontraventionen, abſicht-
liche Täuſchungen, Namensleihungen wurden ſelten ver-
folgt. Die Strafen waren praktiſch ſo nieder, daß ſelbſt
eine gerichtliche Verurtheilung keine Aenderung zur Folge
hatte. 1 Somit ſind in der Hauptſache die ſtatiſtiſchen
Zahlen von 1852—61 nicht aus der veränderten Geſetz-
gebung, ſondern aus andern Urſachen zu erklären.
Dies zeigt ſich gleich bei denen für 1852. Die
Hauptnoth iſt vorbei; wenn ſie in einigen Gewerben
noch fortdauert, ſo haben die übrigen um ſo mehr ſich
erholt. Es waren 2
Die Zunahme von Meiſtern und Gehülfen zuſam-
men beträgt 5,99 %, die der Bevölkerung nur 3,3 %;
die Zunahme mußte natürlich ſtärker ſein als die der
Bevölkerung, wenn man nur halbwegs wieder auf
leidliche Zuſtände kommen wollte, da die Zahlen für 1849
einen Nothſtand repräſentiren.
Die Zahl der Meiſter allein nahm um 3,28 % zu,
alſo nicht ganz ſo ſtark wie die Bevölkerung; in den
meiſten einzelnen Gewerben zeigen aber die abſoluten
Zahlen einige hundert Meiſter mehr als 1849. Abge-
ſehen von denen, welche dauernd wegen Konkurrenz der
Großinduſtrie zurückgehen, hat die Meiſterzahl von wich-
tigen Gewerben nur bei den Zimmerleuten auch abſolut
etwas abgenommen; das wird den Prüfungen zuzu-
ſchreiben ſein. Bei den Maurern iſt die abſolute Meiſter-
zahl trotz der Prüfungen geſtiegen.
Die Meiſter zeigen nur eine abſolute, keine relative
Zunahme, die weſentliche relative Zunahme der Geſammt-
zahl liegt in den Gehülfen. Sie nahmen um 9,44 %
zu; in den bedeutenden Gewerbszweigen handelt es ſich
in jedem um einige tauſend Gehülfen mehr, gegenüber
von 1849. Der Abſatz iſt wieder ein beſſerer, die
1849 entlaſſenen Geſellen ſind meiſt wieder eingeſtellt.
Die Beſſerung der Zuſtände war aber noch keine
nachhaltige; war die politiſche Lage eine ruhigere, ja
warfen ſich viele Kräfte, enttäuſcht im politiſchen Leben,
um ſo mehr auf das Gebiet materieller Thätigkeit, ſo
wirkte das doch mehr nur belebend in den höheren
Regionen des gewerblichen Lebens. Mehrere ſchlechte
Ernten folgten ſich, ſie wirkten durch die Theurung
[93]Die Kleingewerbe 1849—1855.
der Lebensmittel lähmend auf den Abſatz der ohnedies
gedrückten Kleingewerbe.
Die Geſammtzahl von Meiſtern und Gehülfen iſt
1855 zwar um circa 1700 Perſonen höher als 1852
(1.002384 gegen 1.000609), verglichen mit der Bevöl-
kerung hat aber eine Abnahme ſtattgefunden; die ſämmt-
lichen Gewerbetreibenden machen 1852 = 5,93 %,
1855 = 5,85 % aus. In vielen wichtigen Gewerben
haben ſogar die abſoluten Zahlen der Meiſter, wie der
Gehülfen, abgenommen. Es gibt 1855 abſolut weniger
Meiſter bei den Fleiſchern, Seifenſiedern, Gerbern
Schuhmachern, Handſchuhmachern, Seilern, Spritzen-
machern, Schneidern (um 2000), Poſamentieren, Hut-
machern, Tuchſcheerern, Färbern, Zimmerleuten, Zim-
merflickern, Brunnenmachern, Wagenbauern, Böttchern,
Drechslern, Haarkammmachern, Bürſtenbindern, Mau-
rern, Mauerflickern, Steinſetzern und noch manchen unbe-
deutendern. Viel wirkt dabei der Prüfungszwang nicht.
Die allgemeinen Urſachen und die Theurung ſind wich-
tiger; denn wäre jener die Haupturſache, ſo müßten
die Gehülfen ſtärker zugenommen haben. Aber auch
ſie zeigen vielfach nicht nur relativ, ſondern abſolut
niedrigere Zahlen als 1852. So bei folgenden Gewerben:
bei den Fleiſchern, Seifenſiedern, Gerbern, Schuh-
machern (2000 weniger), Handſchuhmachern, Seilern,
Schneidern, Poſamentieren, Tuchſcheerern, Färbern,
Brunnenmachern, Tiſchlern, Wagenbauern, Böttchern,
Drechslern, Töpfern, Glaſern.
Wieder etwas beſſer geſtaltet ſich die Lage in der
zweiten Hälfte des Jahrzehntes. Die allgemeinen Vorbe-
[94]Die preußiſchen Aufnahmen.
dingungen der gewerblichen Entwickelung waren wieder
andere geworden; die Ernten ſind beſſere, die Groß-
induſtrie und der Welthandel nehmen ſtärker zu, als je.
Die größeren Städte wachſen in ihrer Bevölkerung
mehr und mehr, die Eiſenbahnbauten vollenden ſich in
den meiſten Provinzen. Das wirkt auch auf die Klein-
gewerbe, wenigſtens auf einen Theil derſelben zurück.
Auch die Kreditvereine von Schulze - Delitzſch beginnen
ihren ſegensvollen Einfluß zu üben. Beſonders ein-
zelne Geſchäfte dehnen ſich aus, beſchäftigen mehr
Gehülfen. Die Geſammtzahl iſt 1858 um circa 50000
Perſonen höher als 1855, 1861 iſt ſie abermals um
40000 Perſonen geſtiegen, und ſie würde ſich noch
weſentlich höher darſtellen, wenn die Zahl der Leinen-
ſpinner von 1858—61 nicht um circa 40000 abge-
nommen hätte. Will man hiervon abſehen und ſetzt
deshalb für 1861 noch 40000 Perſonen zu, ſo iſt
auch die relative Zunahme 1858—61 größer als die
von 1855—58. Die Handwerker würden danach
1855 = 5,85 %, 1858 = 5,95 % und 1861 = 6,11 %
der ganzen Bevölkerung ausmachen.
Die Zunahme von 1855—61 liegt in der Gehülfen-
zahl und konzentrirt ſich auch hier auf einige Haupthand-
werke, auf ſolche, die einen fabrikartigen Betrieb ein-
zuführen anfangen, und ſolche, die jederzeit mit
wachſendem Wohlſtand ſich ausdehnen; dahin gehören
die Schuhmacher, Seiler, Schneider, Putzmacher, Riemer,
Tiſchler, Rade- und Stellmacher, Schmiede, Schloſſer,
Zimmerleute und Maurer. Sie ſind es hauptſächlich,
deren Gehülfenzahl von 1855—61 weſentlich wuchs.
[95]Die Kleingewerbe 1855—1861.
Immer iſt die Zunahme aber nicht allzubedeutend,
und die Zunahme der Gehülfen hat die Kehrſeite einer
abnehmenden Meiſterzahl. Daraus erklärt ſich auch, daß
wir von 1849 ab den Prozentantheil der handwerks-
mäßigen Bevölkerung mit ihren Familien an der Geſammt-
bevölkerung als einen abnehmenden berechneten. Dieſer
Prozentantheil war:
1849 . . . . . 16,52 %.
1852 . . . . . 16,03 %.
1853 . . . . . 15,70 %.
1858 . . . . . 15,45 %.
1861 . . . . . 14,87 %.
Natürlich, wenn man die abnehmende Meiſterzahl
mit 4,1 Perſonen multiplizirt, dazu auch die etwas
zunehmenden Gehülfen addirt, ſo müſſen die ganzen
Summen gegenüber einer raſch wachſenden Bevölkerung
ſinkende ſein.
Die Lage der meiſten kleinen Geſchäfte iſt
übrigens auch gegen 1861, auch 1861—65, in welchen
Jahren beſonders die Löhne ſtiegen, die Lebensmittel
billig waren, in welchen der Abſatz allerwärts flott ging,
keine ſonderlich günſtige. Ein mehr oder weniger trau-
riges Bild gibt die Zuſammenſtellung des einſchlägigen
Materials aus den landräthlichen Kreisbeſchreibungen
(1858—66) im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik des
preußiſchen Staates. 1 Sieht man manchem der Berichte
die landräthlich konſervative Tendenz an, die Ver-
gangenheit auf Koſten der Gegenwart, das Zunftweſen
auf Koſten der heutigen Geſetze zu erheben; in den
[96]Die preußiſchen Aufnahmen.
meiſten leuchtet doch eine wahrheitsgetreue Bericht-
erſtattung durch, und ſie lautet mehr oder weniger
dahin, daß der Abſatz der Handwerker abnimmt, ſich
immer mehr auf die untern Klaſſen beſchränkt, daß ihre
Zahl dagegen vielfach noch wächſt, daß nur, wo Haus-
oder Grundbeſitz vorhanden, ihre Lage behaglich iſt,
daß ohne denſelben die Lage des kleinen Meiſters ſich
nicht über die des einfachen Tagelöhners erhebt, daß
die kleinen Meiſter auf Jahrmärkten herumziehen oder
auf Tagelohn neben der Gewerbsarbeit gehen müſſen.
Ich will nur einige im Jahrbuch nicht wörtlich, aber
dem Sinne nach treu wiedergegebene Mittheilungen der
Landräthe anführen.
Aus Frauſtadt (Reg.-Bez. Poſen) wird 1860
geſchrieben: „Nur die größte Betriebſamkeit und Ein-
ſchränkung vermag den ſtädtiſchen Handwerkern eine
ſorgenfreie Exiſtenz zu ſichern.“ Aus Schroda (Poſen)
1863: „Weil die Handwerker vielfach ihren Betrieb mit
Schulden beginnen und mit den Induſtriellen der großen
Städte nicht konkurriren können, ſo müſſen ſie nicht
ſelten tagelöhnern oder Erwerb durch Transport von
Vagabunden oder durch Pachtung von Obſtgärten ſuchen.“
Aus Kröben (Poſen) 1863: „Die kleinen Städte
werden meiſtens von dürftigen, ſchlecht ausgebildeten und
ungeſchickten, mit mangelhaftem Arbeitszeug verſehenen
Handwerkern bewohnt, deren Zahl das Bedürfniß über-
ſteigt.“ Aus Habelſchwerdt (Schleſien) 1860: „Die
Mehrzahl der Handwerker arbeitet ohne Geſellen und
Lehrling bei wenig ſchwunghaftem Betrieb; ebenſo über-
ſchreitet die große Anzahl der Viktualienhändler, welche
[97]Die landräthlichen Berichte über das Handwerk.
ihre Exiſtenz auf möglichſt bequeme Weiſe friſten wollen,
weitaus das Bedürfniß.“ Aus Weißenfels und Weißenſee
(Sachſen) 1860: „Je ſchlechter die Lage des kleinen
Handwerks in den Städten durch theure Wohnungen,
hohe Gemeindeſteuern, Konkurrenz des Kapitals wird,
deſto mehr überſiedelt das Handwerk auf das platte
Land, und zwar ohne dabei zu gewinnen; denn ſelten
bringen es die Handwerker, wenigſtens Schuhmacher und
Schneider, zu eigenem ſchuldenfreien Beſitz. Vielen ſonſt
fleißigen Handwerkern wird es durch die zu zahlreichen
Konkurrenten unmöglich gemacht, ſich zu behaupten.“
Aus Oſchersleben (Sachſen) 1863: „Das Handwerk iſt
von geringem Umfang und geht, abgeſehen von den
Bauhandwerkern, eher rück- als vorwärts.“ Aus
Münſter (Weſtfalen) 1863: „Das Handwerk hat geringe
Bedeutung; die meiſten Handwerker treiben nebenher
Ackerbau. Viele Schneider, Schreiner, Wagenmacher
und ſelbſt Schuhmacher arbeiten bei ihren Kunden gegen
Koſt und Tagelohn. Geſellen verdienen oft kaum ſo
viel wie Knechte.“ Aus Bonn (Rheinprovinz) 1859:
„Die Auswanderung hat abgenommen; jetzt wandern
faſt nur noch junge und allein ſtehende Handwerker aus,
welche in Amerika oder Auſtralien eine Exiſtenz zu
gründen beabſichtigen.“ Aus Bergheim (Rheinprovinz)
1863: „Die kleinern Handwerker, Weber und dergl.
ſtehen mit den Tagelöhnern, denen Wege- und andere
öffentliche Bauten eine lohnende Beſchäftigung gewähren,
auf einer Erwerbsſtufe.“ Aus Warendorf (Weſtfalen)
1865: „Mit den hauptſächlichſten Handwerkern iſt jede
Gemeinde faſt mehr als genügend verſehen; dem ver-
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 7
[98]Die preußiſchen Aufnahmen.
mögensloſen jungen Manne bleibt alſo, will er nicht
Zeitlebens Tagelöhner ſein, nur übrig, in induſtrie-
reichen Gegenden einen Hausſtand zu gründen.“
Man könnte dieſen traurigen Ausſprüchen gegenüber
die Frage aufwerfen, ob es jemals früher in dieſen
Kreiſen beſſer beſtellt war? Man könnte daran erin-
nern, daß jede ſtarke Bevölkerungszunahme, man mag
ſie im Allgemeinen als noch ſo günſtig betrachten, in
einzelnen Kreiſen, für Stellungen, die leicht zugänglich
ſind, einen ſtärkeren Andrang und damit ein gewiſſes
Unbehagen erzeugen muß, daß aus dieſem Unbehagen
heraus ja aller Fortſchritt ſtattfindet. Beide Einwen-
dungen ſchwächen die Klagen über die gegenwärtige
Lage der Handwerker ab; aber ſie machen ſie nicht ver-
ſtummen. Die Haupturſachen des Druckes liegen in der
volkswirthſchaftlichen Umbildung aller unſerer Verhält-
niſſe ſeit 20 Jahren.
Wenn man das bei den eigentlichen Handwerkern
leugnen wollte, jedenfalls müßte man es zugeben in
Bezug auf die Hausinduſtrie der Weber, die von unſerer
bisherigen Unterſuchung ausgeſchloſſen war. War ihre
Lage 1850—60 vielfach wieder eine beſſere als
1840—50, im Ganzen war ſie doch jammervoll genug,
wie die Mittheilungen aus den landräthlichen Kreisbe-
ſchreibungen ebenfalls zeigen. Es gilt wenigſtens für
den größern Theil der Handweberei, was der Landrath
des Kreiſes Landeshut in Schleſien (1860) ſagt: „Die
Beſchäftigung ſo vieler Menſchen mit einem unterge-
henden Gewerbe läßt kaum einer Hoffnung des Beſſer-
werdens Raum.“
[99]Die landräthlichen Berichte über das Handwerk.
Ich werde hierauf in den folgenden Unterſuchungen
zurückkommen. Es handelte ſich hier nur um die Kon-
ſtatirung der Lage der Handwerker überhaupt. Und um
das Bild zu vervollſtändigen, gehe ich nunmehr auf die
Handwerksſtatiſtik einiger der wichtigern Kleinſtaaten
über. Es iſt das zur Beſtätigung der bisherigen Reſul-
tate um ſo paſſender, als die preußiſchen Zahlen eigentlich
geographiſch zu groß ſind, d. h. Länder mit zu ver-
ſchiedenen Zuſtänden umfaſſen. Eine zunehmende und
abnehmende Geſammtzahl kann hier aus zu verſchie-
denen Faktoren zuſammengeſetzt ſein; es kann in einer
Provinz ein Gewerbe von der Großinduſtrie ſchon voll-
ſtändig verdrängt ſein, während es in einer andern noch
ſo zunimmt, daß die Zahlen der ganzen Monarchie
als ſteigende erſcheinen. Aus dieſem Grunde ſind die
Reſultate kleinerer Länder, die weſentlich nur eine gleiche
Kultur umfaſſen, belehrender.
Es wird ſich bei der Betrachtung der Handwerks-
zuſtände in den Kleinſtaaten nicht vermeiden laſſen,
einige Worte über die allgemeinen Kultur- und Wirth-
ſchaftsverhältniſſe einzuflechten, obwohl ich zunächſt nur
die Veränderung der Zahlen in jedem einzelnen Lande
für ſich unterſuchen und nicht die verſchiedenen Staaten
vergleichen will. Auf die lokalen Verſchiedenheiten der
einzelnen Staaten und der einzelnen preußiſchen Pro-
vinzen unter einander werde ich erſt in einem ſpätern
Abſchnitte eingehen.
[[100]][[101]]
Die
Hauptreſultate der Aufnahmen
in
Baden, Württemberg, Baiern und Sachſen
im 19. Jahrhundert.
[[102]][[103]]
1. Die badiſche Handwerksſtatiſtik von
1829—1861.
Land und Kulturverhältniſſe. Zunahme der Handwerker von
1829—43. Die Kriſis 1847—61. Die Gewerbefreiheit
ſeit 15. Oktober 1862.
Wer je auch nur flüchtig mit dem Dampfwagen
durch das badiſche Land von Heidelberg bis Baſel
gefahren iſt, der hat ein anſchauliches Bild von dem
langgeſtreckten Lande. Eine fleißige aufgeweckte Bevöl-
kerung bebaut den nicht kärglichen, meiſt in kleine Beſitz-
ſtellen zertheilten Boden. Schon im Jahre 1834 lebten
4421, 1845 4845, ſpäter wieder etwas weniger
Menſchen auf der Quadratmeile. Das Land war bis
zum Anſchluß an den Zollverein ein vorzugsweiſe acker-
bauendes. Denn von der alten gewerblichen Blüthe
mancher Städte, beſonders Freiburg’s, war längſt nichts
mehr übrig; und die in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts von Markgraf Karl Friederich ins Leben
gerufenen Induſtriezweige, die Bijouteriefabrikation
Pforzheims, die Baumwolleninduſtrie des Wieſenthals
hatten bis da nicht allzuviel zu bedeuten. Eher Bedeu-
[104]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
tung hatte die hausmäßige Induſtrie von Uhren, Bürſten
und Holzwaaren auf dem Schwarzwalde. 1
Die kleinen Handwerke aller Art waren in den
behaglichen Dörfern und kleinen Städten, in den Reſi-
denzen und Univerſitäten zahlreich verbreitet. Günſtig
auf ſie wirkte auch zunächſt der Anſchluß an den Zoll-
verein, die guten Jahre von 1830—1840. Nach den
Aufnahmen der Steuerverwaltung exiſtirten2
während die Zahl der Fabrikanten ſich von 161 auf 405,
die ihres geſammten Perſonals von 2756 auf 8745 in
dieſer Zeit gehoben hatte. Es war zunächſt ein Fort-
ſchritt im alten Stile, ein Fortſchritt viel mehr der
Klein- als der Großgewerbe. Von der neuen Zeit, von
der neuen Technik, von der neuen Konkurrenz wußte
man noch wenig. Die beiden folgenden Jahrzehnte aber
brachten das um ſo reichlicher. Und die Wirkung auf
die Kleingewerbe iſt um ſo ſtärker.
Leider liegen mir3 für die Vergleichung von 1847
und 1861 nur die Meiſterzahlen der Hauptgewerbe vor,
die der Geſellen fehlen für 1847; dadurch erſcheint die
Kriſis noch ſchlimmer, als ſie iſt; denn wahrſcheinlich
würde der Abnahme der Meiſter eine Zunahme der
Gehülfen gegenüberſtehen. Wie dem aber auch ſei,
[105]Die Zahlenreſultate in Baden.
jedenfalls zeigt die folgende Tabelle, wie viele kleine
Handwerksmeiſter in dieſer Zeit zu Grunde gegangen
ſind. Es exiſtirten in Baden 1847 und 61, während
die Bevölkerung ſo ziemlich dieſelbe blieb:
Dagegen betrug die Zahl der Fabrikarbeiter mit
Einſchluß der Weber im Jahre 1861 50147 Perſonen;
noch 1849 waren es 17105 geweſen. Nicht weniger
als 15649 Handwerker ſind in den 10 Jahren von
1852—62 aus Baden ausgewandert, meiſt nach
Amerika, um dort jenſeit des Ozeans ſich den Heerd
zu gründen, für den ſie in der Heimath keinen Platz
mehr fanden. Viele frühere Meiſter ſind auch als
Arbeiter in Fabriken eingetreten. Dietz verſichert, daß
nunmehr durch dieſe Aenderung die Lage der übrig-
gebliebenen Handwerker im Lande ſich weſentlich gebeſſert
habe.
Bis zum 15. Oktober 1862 hatte in Baden der
Zunftzwang gedauert; ſeither exiſtirt Gewerbefreiheit;
war die Ausübung des Zunftzwangs ſowie des obrig-
keitlichen Konzeſſionsweſens auch nicht allzuſtrenge geweſen,
immer fühlte man ſich beengt; und vor Allem war etwas
erſchwert, was in ſolchen Zeiten allgemeiner Umbildung
der Technik und der Gliederung der Arbeitskräfte erleich-
tert werden ſollte, der Uebergang zu andern Geſchäften
und Betrieben, die Ueberſiedlung nach andern Orten.
Das iſt jetzt leichter, und inſofern war die Gewerbe-
freiheit auch eine momentane Erleichterung für das
Kleingewerbe. 1 Abgeſehen aber hiervon, drückt die Kon-
kurrenz der Großinduſtrie jetzt noch mehr als vorher. 2
Der Zunftzwang war für manchen kleinen unvollkom-
menen Betrieb noch eine Art Schutzmauer, die jetzt
[107]Die badiſchen Kleingewerbe ſeit 1861.
wegfällt. Das iſt natürlich kein Argument gegen die
Gewerbefreiheit; denn es handelt ſich da nur um ein
Früher oder Später der Beſeitigung doch unhaltbarer
Exiſtenzen. Aber das zeigt ſich hier wie überall, daß
die Noth der letzten Jahrzehnte nicht Folge des Zunft-
zwanges war, daß mit der Gewerbefreiheit nicht ſogleich
goldene Tage für den Handwerker kommen. Die Haupt-
urſache der Kriſis iſt von Zunft und Gewerbefreiheit
unabhängig.
[[108]]
2. Die württembergiſche Handwerkerſtatiſtik von
1835—61 und die Folgen der Gewerbefreiheit
von 1862—67.
Wirthſchaftliche Zuſtände und Gewerbegeſetzgebung. Die Meiſter-
zahlen 1835, 1852 und 1861, Abnahme derſelben. Die
Zahlen der Meiſter und Gehülfen zuſammen in denſelben
Jahren. Vergleichung von 26 wichtigen Handwerken 1852
und 62. Beendigung der Kriſis 1861. Die Handelskammer-
berichte von 1862—67 über Gewerbefreiheit; die Klein-
gewerbe in unveränderter Lage.
Weiter ab von der großen Heerſtraße, weniger
berührt von fremden Einflüſſen als Baden, liegt das
Württemberger Land; zäher, langſamer iſt der Charakter
des Stammes. Aber ſonſt ſind Lebensbedingungen, wie
wirthſchaftliche Entwicklung ähnliche. Auf engem Raume
eine dichte Bevölkerung; zahlreiche kleine Städte und
Flecken; ein zertheilter Grundbeſitz; bis in die neuere
Zeit eine mehr landwirthſchaftliche als gewerbliche Thätig-
keit; wenigſtens die Großinduſtrie hat erſt in den letzten
Jahrzehnten ſich entwickelt, in dieſen allerdings große
Fortſchritte gemacht.
Die Gewerbegeſetzgebung wurde ſchon 1828 und
1836 in liberalem Sinne reformirt; das Geſetz vom
[109]Wirthſchaftliche Zuſtände und Geſetzgebung.
22. April 1828 hebt für 13 Gewerbe die Zünftigkeit
auf, für etwa 50 behält ſie ſie bei, aber ſo, daß mit
Beſeitigung aller läſtigen Vorrechte die Zünftigkeit nur
zu zweierlei zwingt: zum Erwerb des Gemeindebürger-
rechts am Orte der Niederlaſſung und zu einem ziemlich
leichten Nachweis der Befähigung. Eine weitere Erleich-
terung war die 1854 erfolgte Zuſammenlegung von
28 bisher in einzelne Zünfte getheilten Gewerben in 7
Zunftgruppen. Von da war der Uebergang zu der 1862
(1. Mai) eingeführten Gewerbefreiheit kein allzugroßer
Schritt.
Die vorzugsweiſe in dem Kleingewerbe konzentrirte
gewerbliche Thätigkeit ging in den zwanziger Jahren die
alten hergebrachten Bahnen. Der bairiſche Zollverein
brachte 1828 keine gefährliche Konkurrenz; erſt mit dem
Eintritt in den großen Zollverein entſtand eine ſolche,
aber damit auch Leben und Fortſchritt. Es datirt von
dieſer Zeit der Uebergang zur Großinduſtrie, die ver-
mehrte Berührung mit dem Ausland, die Verbeſſerung
der Technik, — aber zugleich die theils verſchuldete,
theils unverſchuldete Kriſis der Kleingewerbe,1 deren
ſprechendes Bild in der folgenden Tabelle liegt, welche
die Zahlen der Meiſter in den wichtigern Gewerben
1835—36, 1852 und 1861 verzeichnet.
[110]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Während die Bevölkerung wenigſtens 1835—52
zunimmt, ſinkt die Zahl der Meiſter in den meiſten Ge-
werben, und dabei ſind einzelne, die am meiſten litten,
wie das Tuchmachergewerbe, in dieſer Tabelle gar nicht
begriffen. Einzelne ſinken nur bis 1852 und erholen
ſich von da an wieder; ſie haben die Kriſis ſchon hinter
[111]Die Zahlenreſultate in Württemberg.
ſich. Die Geſammtzahlen würden viel ſtärker ſinken,
wenn nicht doch manche ſteigende Gewerbe dazwiſchen
wären, ſolche, die erſt ſich ausbilden, wie Putzmacher,
Tapeziere, oder ſolche, bei denen der kleine handwerks-
mäßige Betrieb wenig oder keine Konkurrenz zu leiden
hat, die alſo mit dem ſteigenden Wohlſtand ſich auch
der Meiſterzahl nach heben.
Daß der Wohlſtand im Ganzen ſteigt, daß er der
Kriſis entgegen wirkt, iſt klar; die kleinen Geſchäfte
machen Bankerott; neue in geringerer Zahl, aber umfang-
reicher betrieben, prosperiren; daher ganz dieſelben Ge-
werbe meiſt ſteigende Zahlen zeigen, wenn man die
Geſammtheit der Beſchäftigten inkl. Geſellen und Lehr-
lingen vergleicht. Nur die am ſtärkſten leidenden zeigen
auch hier einen Rückgang. Die Geſammtzahl der Meiſter,
Geſellen und Lehrlinge betrug:
[112]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Nach einer Vergleichung, welche Profeſſor Mährlen1
anſtellt, haben in den 26 wichtigſten Handwerken die
Meiſter 1852—62 um 4,5 %, die Gehülfen und Lehr-
linge um 76 % zugenommen. Faßt man aber die-
jenigen zuſammen, bei welchen weniger günſtige Verhält-
niſſe vorhanden ſind, nämlich die Bäcker, Fleiſcher,
Maurer, Zimmerleute, Töpfer, Schmiede, Kupfer-
ſchmiede, Gerber, Sattler, Küfer, Färber, Poſamen-
tiere, Nadler, Gürtler, Zinngießer, Hutmacher, Fri-
ſeure und Barbiere, ſo haben bei ihnen zuſammen von
1852—62 die Meiſter um 8,6 % abgenommen, die
Gehülfen um 34,7 % zugenommen.
Nach der größern Tabelle über Meiſter und Ge-
hülfen zuſammen könnte man verſucht ſein, die Kriſis
ganz zu leugnen, nach den letztern Prozentverhältniſſen
[113]Die Reſultate in Württemberg.
ſieht man ihr Vorhandenſein, aber auch die Beſſerung.
Die Kriſis iſt ſo ziemlich überwunden, nachdem die Zahl
der Meiſter abgenommen, ihre Geſchicklichkeit und Bil-
dung ſich weſentlich gehoben hat. Freilich darf man
dabei nicht vergeſſen, daß dem Jahre 1861 eben ſo
glückliche Ernte- als Geſchäftsjahre vorausgingen, wäh-
rend 1830 — 40 der erſte Stoß der fremden Konkurrenz,
in den vierziger Jahren die Handelskriſen, die Hungers-
noth und die Revolution, zu Anfang der funfziger Jahre
wieder die Mißjahre die Kriſis ſehr verſtärkt hatten,
daß alſo die Beſſerung 1861 ebenſo oder noch mehr
accidentellen Urſachen zuzuſchreiben iſt als einer bleibenden
Veränderung.
Für die Zeit nach 1861 fehlt es an einer ſtati-
ſtiſchen Aufnahme der württembergiſchen Gewerbe, wie
in den andern Zollvereinsſtaaten. Wohl aber erſieht
man aus den zuverläſſigen württembergiſchen Handels-
kammerberichten1 wie die am 1. Mai 1862 eingeführte
Gewerbefreiheit gewirkt hat.
Im erſten Jahre, heißt es, habe ein ungeheurer
Zudrang von Gewerbtreibenden nach den größern Städten,
Stuttgart ausgenommen, oder von Gehülfen in ſelb-
ſtändige Unternehmungen in dem Umfang, wie er
befürchtet wurde, nicht ſtattgefunden, wohl aber ſei der
Zudrang zu den Detailgeſchäften und zum Hauſirhandel
ein ſehr ſtarker. Die Lage der Kleingewerbe wird als
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 8
[114]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
günſtig, aber von der Gewerbefreiheit kaum berührt
bezeichnet.
Im Jahre 1863 wird beſonders die immer ſtärker
wachſende Zunahme des Hauſirhandels erwähnt. Sehr
viele kleine Gewerbetreibende, welche ſich früher ohne
Hauſiren durchzubringen ſuchten, heißt es, laſſen ſich
Hauſirſcheine geben. Hauptſächlich kommt es auch vor,
daß Hauſirer an einzelnen Orten wochenlang ein Lokal
miethen, ihre Waaren zum Verkauf bieten und dann
weiter ziehen. Ueber die neue Gewerbeordnung über-
haupt ſchreibt die Heilbronner Handelskammer: „Viel-
fache Erkundigungen, welche wir von Gemeindebehörden,
Gewerbevereinen und Einzelnen über die Wirkungen der
neuen Gewerbeordnung eingezogen haben, ſprechen ſich
ziemlich übereinſtimmend dahin aus, daß ſie bis jetzt,
abgeſehen vom Hauſirhandel, ſich weder als merklich
wohlthätig noch als merklich nachtheilig erwieſen habe.
Wie vorauszuſehen war, ſo hatte ſie namentlich durch
die Beſeitigung des Erforderniſſes des Ortsbürgerrechts
zur Folge, daß eine Menge Leute ſich zur ſelbſtändigen
Ausübung von Gewerben meldete, namentlich in den
Städten, und daß der Wegfall der Konzeſſionen bei Krä-
mereien und des Beweiſes der Vorbildung beim Detail-
handel gleichfalls ſehr viele Leute veranlaßte, den Handel
als Haupt- oder Neben-Erwerbszweig zu ergreifen.
Uebergänge von einem Handwerk auf ein anderes ſind
ſelten, von einem Handwerk oder von einer ſonſtigen
Beſchäftigung auf den Handel aber ſehr häufig, häu-
figer als wünſchenswerth. Klagen über Ueberſetzung
ſind uns nur bezüglich von Schneidern, Schuhmachern
[115]Die Gewerbefreiheit in Württemberg.
und Händlern von einigen Orten aus bekannt gewor-
den.“
Ganz ähnlich ſpricht ſich die Ulmer Handels-
kammer aus. Von 87 in der Stadt Ulm 1863 neu
angemeldeten Handelsgeſchäften ſind 10, von 173 neu
angemeldeten Kleingewerben 14 ſchon im gleichen Jahre
wieder eingegangen. Die zahlloſen kleinen Handels-
geſchäfte, heißt es, können unmöglich prosperiren. Der
Zudrang der Handwerker beſteht nur für Gewerbe, die
kein Kapital erfordern; es ſind Schuſter und Schneider,
Tiſchler und Maler, die daneben fortfahren, für andere
Meiſter zu arbeiten. Dann kommt es vor im Maurer-
und Zimmergewerbe; alte Geſellen, Polire verſuchen
ein eigenes kleines Geſchäft zu beginnen, Reparaturen
zu übernehmen. Auch von ihnen iſt bereits eine ziem-
liche Zahl wieder zu ihren Meiſtern zurückgekehrt. „Bei
den übrigen Gewerben hat dagegen die Freigebung bei-
nahe gar keine Aenderung hervorgebracht.“
Der Bericht für 1865 berichtet eher ungünſtig
als günſtig über die Folgen; er betont, daß nicht ſowohl
durch das Syſtem der Gewerbefreiheit als durch die
heutigen Verkehrsverhältniſſe die Ueberlegenheit der großen
Geſchäfte immer ſteigt. „Der Einfluß der Gewerbe-
freiheit“ — ſchreibt er — „zeigte ſich theils in der
vermehrten Zahl der Ehen, theils in der Vermehrung
der Gewerbsſtellen. Arbeiter, welche bisher in größern
fabrikmäßig betriebenen Geſchäften arbeiteten, errichten
im Vertrauen auf ihre Geſchicklichkeit, aber leider häufig
ohne die gehörigen Mittel und die für den Unternehmer
erforderliche Geſchäfts- und Marktkenntniß, eigene Ge-
8 *
[116]Die Aufuahmen der kleinern Staaten.
ſchäfte, mit denen ſie ſich in einen Wettkampf mit
Gegnern einlaſſen, deren Ueberlegenheit ſie zu ſpät fühlen,
wenn das kleine Kapital aufgezehrt iſt und noch oben-
drein Schulden gemacht ſind. Man ſieht ſich genöthigt,
um Spottpreiſe für Groſſiſten zu arbeiten und ſchließlich
doch wieder zum Fabrikanten zurückzukehren. Je ſchwie-
riger es für den bloßen Arbeiter in ſeiner Stellung iſt,
eine genaue Kenntniß der ſtatiſtiſchen Verhältniſſe ſeines
Fabrikationszweigs ſich zu verſchaffen, deſto mehr thut
Vorſicht bei Gründung neuer Unternehmungen Noth, wo
bei dem Fortſchritt der Handelsfreiheit die Beurtheilung
des Umfangs der Konſumtion eines Artikels und ſeiner
Produktion immer ſchwieriger wird.“
Die Geſchäftsſtockung im Jahre 1866 und 67
drückte nach den Berichten weſentlich auch auf die Lokal-
und Kleingewerbe; das hat mit der Gewerbefreiheit
nichts zu ſchaffen. Nicht unintereſſant aber iſt, daß
die in den Kleingewerben herrſchende Geſchäftsſtockung
hauptſächlich den Hauſirhandel, theilweiſe mehr den
Bettel in der Form des Hauſirhandels angeſchwellt hat.
In einzelnen Gegenden des Landes wird die Zunahme
als eine wahre Landeskalamität betrachtet. Beſonders
das Ausgebot ganzer Waarenlager im Umherziehen von
Stadt zu Stadt unter dem Titel und der Form von
Waarenausverkäufen wird inſofern beklagt, als ſolche
Leute ſich den Steuern vollſtändig oder ganz zu ent-
ziehen wiſſen. „Allen Berichten gemeinſchaftlich iſt die
Klage, daß dieſe Leute den Abſatz der ortsanſäſſigen
und hochbeſteuerten Handel- und Gewerbetreibenden
beeinträchtigen, und daß ihr herumziehendes Leben
[117]Die Gewerbefreiheit in Württemberg.
meiſtens ihren ſittlichen und ökonomiſchen Ruin herbei-
führe.“
Das mag übertrieben ſein, wie jederzeit die Klagen
der ſtehenden Gewerbe über den Hauſirhandel; aber es
zeigt, wenn es auch nur theilweiſe wahr iſt, — eine
Wahrheit, welche von den Schwärmern für volkswirth-
ſchaftliche Freiheit ſo oft überſehen wird. Je tiefer
man in den geſellſchaftlichen Klaſſen herabſteigt, deſto
häufiger regulirt nicht mehr die Einſicht in das wirth-
ſchaftlich für das Individuum Beſte ſeine Handlungen,
ſondern kurzſichtige Genußſucht, augenblickliche Neigung
zur Unthätigkeit; unſittliche Nebenmotive verſchiedener
Art bilden die pſychologiſchen Faktoren, mit denen der
Nationalökonom hier rechnen muß.
[[118]]
3. Die bairiſche Handwerkerſtatiſtik von 1810—61.
Volkscharakter und Kulturverhältniſſe. Die Geſetzgebung und
ihre Bedeutung gegenüber andern Urſachen. Vergleich der
Gewerbsmeiſter 1810 und 1847 in den unmittelbaren Städten
diesſeit des Rhein’s; die Urſachen der Stabilität. Vergleich
der Geſammtergebniſſe 1847 und 1861 im Staate und nach
Kreiſen. Vergleich der wichtigern einzelnen Gewerbe 1847 und
1861. Die bairiſche Weberei. Das Handwerk in den unmittel-
baren Städten und in den übrigen Gemeinden diesſeit des
Rhein’s 1847 und 1861. Die Zuſtände in der Pfalz,
Zunahme von 1847—61, als Folge der vor 1847 erfolgten
Abnahme und Auswanderung; die Zahl der Handwerker 1861
in der Pfalz noch weſentlich unter der von Altbaiern.
Manche Theile Baierns ſtehen in ihrer induſtriellen
Entwickelung dem übrigen Süddeutſchland gleich, vor
allen die Pfalz, die Gegend von Nürnberg und Fürth,
Augsburg; aber in der Hauptſache iſt Baiern doch
gewerblich weniger entwickelt. Es iſt vom großen Ver-
kehr weniger berührt, theilweiſe geſtattet die Boden-
und Gebirgsformation nur eine ſparſamere Bevölkerung,
Religion und Geſchichte haben den eigentlichen Baiern
ſpröde gemacht gegen die Einflüſſe der entwickelteren
[119]Volkscharakter und Kulturverhältniſſe.
Nachbarſtämme. Es iſt vor Allem ein tüchtiger, geſunder,
wohlhabender Bauernſtand, der zähe feſthält am Alten
in Sitte und Tracht, in Lebensanſchauung und wirth-
ſchaftlichem Betriebe.
Wohl dringt auch das Neue da und dort ein,
aber eher ſchafft es ſich ganz neue Formen, als daß
es zunächſt beſtehende Verhältniſſe umwandelt. Der
Bauer iſt reicher geworden mit den ſteigenden Getreide-
preiſen; aber wenn er mehr kauft, ſo ſind es mehr
Induſtrie- als Handwerksprodukte. Die Großinduſtrie
fängt an die Naturſchätze, die Waſſerkräfte, den billigen
Arbeitslohn in Baiern zu benutzen, ſie dehnt ſich ſogar
in rein landwirthſchaftlichen Diſtrikten aus. Daran iſt
theilweiſe die den Fabriken günſtigere Geſetzgebung ſchuld;
aber ebenſo ſehr wirken die allgemeinen Verhältniſſe.
Wo vorher jede lebendige, induſtrielle Thätigkeit fehlt,
wo heute erſt die Geſchäfte neu eingerichtet werden, da
werden ſie viel mehr nach modernſter Art mit umfaſſen-
derem Betriebe angelegt, als wo ſich der neue Aufſchwung
an altes, gewerbliches Leben anſchließt. Auch in der
preußiſchen Rheinprovinz iſt heute noch Manches in
der Hand kleiner Geſchäfte, wofür die ſpäter entwickelten
altpreußiſchen Provinzen nur große Geſchäfte kennen.
Die landläufige Auffaſſung ſchiebt die Schuld der
langſamen Entwickelung Baierns vornehmlich auf die
bisherige Geſetzgebung. Und es iſt wahr, die Nieder-
laſſungs-, Gemeinde- und Verehelichungsgeſetzgebung
war engherzig; ſie hat weſentlich dazu beigetragen, eine
wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452
Menſchen auf die □ Meile, ganz Barien 3327 im Jahre
[120]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
1858). Aber ebenſo wenig läßt ſich leugnen, daß
Sitte und Charakter des Volks ebenſo daran Theil
haben. Die Handhabung der Geſetze liegt in der Hand
der Gemeinden. Wo moderner Sinn, Regſamkeit und
Betriebſamkeit iſt, da machen die Gemeinden keinen ſo
engherzigen Gebrauch von ihrem Vetorecht bei neu zu
gründenden Heimweſen. Oberfranken hatte bei derſelben
Geſetzgebung 1858 ſchon über 4000 Menſchen auf der
Quadratmeile. Mit der größten Leichtigkeit erfolgte da
aber auch die Niederlaſſung, beſonders in einzelnen
Induſtriedörfern, wie in den Korbflechtergemeinden.1
Mehr jedenfalls als durch die Niederlaſſungs- und
Ehegeſetzgebung war das gewerbliche Leben durch die
Realgewerberechte und die beſtehende Zunftgeſetzgebung
gehemmt. Schon zu Anfang des Jahrhunderts hatte
man die Einſicht, daß dieſe Monopole, dieſe Ausſchlie-
ßungsrechte der Zünfte durchbrochen werden müßten.
Eine Verordnung vom 1. Dezember 1804 und das Geſetz
vom 11. September 1825, welches prinzipiell auf dem
Boden der Gewerbefreiheit ſteht, ſuchte dieſen Zweck
dadurch zu erreichen, daß den Behörden die Befugniß
zu Konzeſſionsertheilungen eingeräumt wurde. Das
Konzeſſionsſyſtem hat ja ſeine großen Nachtheile; aber
wo die Gewerbefreiheit noch nicht möglich iſt, ſchafft es
doch einige Konkurrenz. Es war auch den ehrbaren bai-
riſchen Meiſtern ſo unbequem, daß ſie ſich ſehr Mühe
gaben, es zu beſeitigen. Schon 1834 wurde das Recht
[121]Die bairiſche Gewerbegeſetzgebung.
der Behörden weſentlich zu Gunſten der Meiſter und
Realberechtigten beſchränkt. Die allgemeinen Klagen,
die ſeit 1840 durch ganz Deutſchland wiederklingen,
daß das Handwerk überſetzt ſei, trugen nicht dazu bei,
die Geſetze milder zu handhaben. Die Inſtruktion von
1853 ſteht unter dem Hochdruck der Reaktion. Die
Praxis war eine weſentlich härtere, als in Würtemberg,
Sachſen, Baden, die ja damals auch noch Zunftverfaſ-
ſung hatten.
Erſt 1862 trat infolge der um ſich greifenden
Agitation für Gewerbefreiheit eine liberalere Behand-
lung durch die veränderte Gewerbeinſtruktion dieſes Jah-
res ein. Die volle Gewerbefreiheit erreichte ihre geſetz-
liche Einführung endlich den 30. Januar 1868.1 In
der Pfalz war die durch die franzöſiſche Herrſchaft ein-
geführte Gewerbefreiheit nie angetaſtet worden.
Als Beweis, daß nur die einſchränkende Geſetz-
gebung an der gewerblichen Stagnation Baierns Schuld
ſei, liebt man anzuführen, daß die Pfalz in beſſerer
Lage ſei, daß ſeit 1862 ein großer Aufſchwung einge-
treten ſei, daß Fürth die Grundlage ſeiner gewerblichen
Blüthe der Zeit verdanke, in der es als anſpach’ſcher
Flecken volle Gewerbefreiheit beſaß. Sicher iſt daran
viel Wahres. Ebenſo ſicher aber haben jederzeit andere
Umſtände weſentlich mitgewirkt, und ebenſo ſicher wird
die Vergleichung der Pfalz mit Altbaiern ſehr häufig
unter falſchen Geſichtspunkten vorgenommen, wie ich
unten zeigen werde.
[122]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Hauptſächlich eine wichtige Thatſache, auf welche ich
in einem der folgenden Abſchnitte über vergleichende deut-
ſche Gewerbeſtatiſtik noch näher kommen werde, möchte ich
der Unterſuchung der Zahlen voraus ſchicken, um durch
ſie einen richtigern Standpunkt zu gewinnen; es iſt die,
daß Baiern trotz ſeines vorwiegend ackerbauenden Cha-
rakters, trotz der Stabilität der Meiſterzahl von 1810—61
noch 1861 unter den deutſchen Ländern ſteht, welche die
größte Zahl Handwerker haben. Das wirft jedenfalls
auf die gewöhnliche Anſicht, die Zahl der Meiſter ſei
nur der beſchränkenden Geſetzgebung wegen nicht gewach-
ſen, ein ſonderbares Licht.
Für die Zeit vor 1847 iſt mir nur die Unterſu-
chung Dr. Mahr’s über die Entwickelung des Handwer-
kes in den Städten des Königreichs Bayern diesſeit des
Rhein’s bekannt.1
In den Jahren 1809—12 wurde eine umfaſſende
bairiſche „Reichsſtatiſtik“ erhoben. Im Jahre 1847
wurde die Gewerbeſtatiſtik in Baiern nach dem Zollver-
einsſchema ausgeführt. Mayr ſtellt nun die vergleich-
baren Zahlen der Gewerbsmeiſter in den unmittelbaren
28 Städten diesſeit des Rhein’s zuſammen; die Gehül-
fen waren 1810 gar nicht gezählt. Das Verhältniß
iſt folgendes:
So weit bleibt das Anwachſen der Meiſter hinter
dem der Bevölkerung zurück. Aber dürfen wir darin,
wie Mayr, nur eine Folge der Erſchwerung des Mei-
ſterwerdens ſehen? Die Erſchwerung tritt erſt ſeit
1834 ein; von 1810—34 herrſchen liberale Grundſätze;
von dem ganzen Zuwachs der Bevölkerung um 118642
Seelen kommen 90494 auf die vier großen Städte,
München, Nürnberg, Augsburg und Würzburg; die
andern Städte bleiben ſtabil, nehmen vielfach ſogar ab;
hier in den kleinen Städten iſt man am engherzigſten mit
neuen Niederlaſſungen. In den vier großen Städten,
die allein bedeutend zunehmen, iſt man es wohl auch,
aber zugleich wirken hier alle die neuen Faktoren ſchon,
welche dem kleinen Meiſter Konkurrenz machen. Da
entſtehen ſchon die größer und beſſer eingerichteten Unter-
nehmungen, welche mit kleinerer Perſonenzahl die glei-
chen, ja die vielfach geſteigerten Bedürfniſſe befriedigen.
Zieht man alles das mit in Erwägung, ſo wird man
die Haupturſache der Stabilität in allgemeineren Zuſtän-
den finden müſſen, hauptſächlich darin, daß die Mehr-
zahl der Mittel- und Kleinſtädte nicht vorwärts ſchrei-
tet, daß beſonders für die Langſamkeit der allgemeinen
wirthſchaftlichen Entwickelung die Zahl der vorhandenen
Meiſter ſchon zu Anfang der Periode eher zu groß iſt.
Verſchlimmernd mußten allerdings darauf die engher-
zigen Grundſätze von 1834 an wirken. Statt durch
freie Konkurrenz haltloſe Geſchäfte zu beſeitigen und ſie
da, wo ſie am Platze ſind, neu entſtehen zu laſſen,
ſucht man überall nur das Meiſterwerden zu erſchwe-
ren, hindert leichte Ueberſiedelungen und ſteigert dadurch
[124]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
die Klagen, das Mißbehagen, beſonders da in der Mehr-
zahl der Städte die Bureaukratie und die Zünfte doch
nicht ſo durchgreifen, daß die beſtehenden Geſchäfte ent-
ſprechend abnehmen. Gerade in Baiern wird gegen 1850
mit am meiſten von Ueberſetzung der Handwerker geſpro-
chen. Und das iſt nicht bloße Phraſe, ſondern geht zu
einem Theile auf einen wahren Uebelſtand, auf eine
lokal und zeitlich zu große Zahl von Meiſtern zurück.
Für den Vergleich von 1847 und 1861 iſt die
offizielle Bearbeitung der beiden Aufnahmen von Staats-
rath Hermann1 zu Grunde zu legen. Ich ſchicke die
Betrachtung der Geſammtſummen voraus, um erſt nach-
her auf einzelne Gewerbe, auf die Handwerke in den
Städten, ſowie auf die beſondern Zuſtände in der Pfalz
zurückkommen. Die Vergleichung umfaßt nicht die
ſämmtlichen 1847 und 1861 aufgenommenen Gewerbe,
ſondern nur die in beiden Jahren gleichartig gezählten.
Die Meiſter und Gehülfen mit Einſchluß der Hand-
weber betrugen
alſo um 9364 oder 2,6 % mehr, während die Bevöl-
kerung um 4,7 %, die Zahl der Fabrikarbeiter um
9 % geſtiegen war. In Altbaiern fiel die Zahl von
333466 auf 330640, alſo um 2826 Perſonen oder
0,85 %. Laſſen wir die Weber bei Seite, ſo kommen,
[125]Vergleich von 1847 und 1861.
Meiſter und Gehülfen zuſammen gerechnet, je auf einen
Gewerbtreibenden Einwohner:
Gegenüber der Bevölkerung alſo hauptſächlich ein
Rückgang in Niederbaiern, dagegen in der Oberpfalz, in
Oberbaiern, Oberfranken und Mittelfranken Stabilität,
eine kleine Zunahme in Unterfranken und Schwaben,
eine weſentliche Zunahme nur in der Pfalz.
Läßt man die Gehülfen bei Seite und rechnet nur
die Meiſter, ſo betrugen ſie in ganz Baiern (ohne die
Weber):
1847 . . . 151006
1861 . . . 152976
alſo 1,3 % mehr bei einem Zuwachs der Bevölkerung
um 4,7 %; bleibt die Pfalz weg, ſo nimmt die Zahl
der Meiſter um 1 % ab; mit den Webern ſinkt die
Geſammtzahl der Meiſter in ganz Baiern um 3 %, in
Altbaiern um 5,2 %.
Ueberall macht es einen weſentlichen Unterſchied,
ob die Pfalz in den Durchſchnitt einbezogen oder aus-
gelaſſen wird. Aber nicht die Pfalz allein trägt dazu
bei, den relativen Geſammtrückgang kleiner erſcheinen
zu laſſen. Auch die Gegend von Nürnberg und Fürth
wirkt in ähnlichem Sinne. In den genannten Städten
[126]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
haben, abgeſehen von der Blüthe beſonders der Groß-
induſtrie, gerade auch eine Anzahl Handwerker, die ſonſt
überall zurückgehen, z. B. die Gold- und Silberſchläger,
die Roth- und Gelbgießer, die Gürtler und Nadler
bedeutend zugenommen; geſchickt als Hausinduſtrie orga-
niſirt, vereinigen ſie die Vortheile des kleinen Betriebs
mit einem Abſatz im Großen.1 Auch in andern Gegen-
den haben einzelne Gewerbzweige, die für weitern Abſatz
thätig ſind, zugenommen, wie z. B. die Holzſchnitzerei
und die Korbflechterei. In um ſo grellerem Lichte erſcheint
der Rückgang im Uebrigen.
Auf die wichtigern einzelnen Lokalgewerbe überge-
hend, theile ich die abſoluten Zahlen derſelben 1847
und 1861 mit; die Bevölkerung hat ſich (1847 4,50
Mill., 1861: 4,68, ein Plus von 4,7 %) ſehr wenig
geändert, ſo daß, ähnlich wie in Württemberg und
Baden, für dieſe Zeit die abſoluten Zahlen ziemlich
klar Fortſchritt oder Rückgang zeigen. Es gab:
[127]Die einzelnen Gewerbe 1847 und 1861.
Einzelne Gewerbe, welche anderwärts am meiſten
litten, wie die Tuchſcheerer und Färber, haben hier ſo-
gar noch etwas zugenommen; eine ſtarke Zunahme an
Meiſtern wie an Gehülfen zeigen nur die Schneider,
die Buchbinder und die ländlichen Gewerbe der Korb-
flechter und Holzwaarenverfertiger; ſonſt Rückgang oder
Stabilität; aber nicht bloß bei den Meiſtern, ſondern
[128]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
auch bei den Gehülfen; die Fleiſcher, die Gärtner, die
Gerber, die Seifenſieder, die Zimmerleute, die Schmiede,
die Nadler, die Gürtler, die Seiler, die Poſamentiere,
die Böttcher haben 1861 weniger Hülfsperſonal als
1847. Das beweist, daß der Hauptübelſtand nicht in
der Erſchwerung des Meiſterwerdens lag, ſonſt hätten
die Gehülfen doch eher wachſen müſſen; aber es beweist,
daß die Zunftverfaſſung viele halbbeſchäftigte Handwerker
hält, die allerdings beſſer unter dem Sturmwind freier
Konkurrenz vollends ganz beſeitigt würden.
Mehr als alle erwähnten Gewerbe haben die Weber
gelitten. Man hat es in Baiern weniger als anderswo
verſtanden, den modernen Fortſchritten ſoweit zu folgen,
daß, wenn auch mit geringen Löhnen, wenigſtens die
Exiſtenz der Handweber gerettet wurde. Tuchmacherei
und Wollweberei war von Alters her im ganzen Lande
zu Hauſe, hauptſächlich aber in Schwaben, in Mittel-
und Oberfranken, in der Oberpfalz und Niederbaiern,
an der böhmiſchen Grenze. Von letzterer Gegend ſagt
der Berichterſtatter in der Bavaria, Alois Schels:1
„die Tuchfabrikation beſchäftigte vor Jahren im Vils-
und Rottthale viele fleißige Hände; doch gegenwärtig
liegen mehrere Realrechte brach und iſt der frühere
Induſtriebetrieb zum Kleingewerbe herabgeſunken; ehe
noch die mächtige Konkurrenz der andern zollvereinten
Staaten eintrat, gab Präſident von Rudhart, der die
Zuſtände und Bedürfniſſe der ihm anvertrauten Pro-
vinz wohl erkannte, den Tuchmachern die entſprechend-
[129]Die bairiſche Weberei.
ſten Andeutungen zu gemeinſamem Zuſammenwirken und
gegenſeitiger Hilfeleiſtung; leider vergebens.“ Die Zahl
der Webſtühle für wollene Stoffe ſank von 2797 auf
2480 in dem Zeitraum von 1847—61.
Am ſtärkſten ging die Linneninduſtrie zurück; von
29499 Stühlen auf 22740. Im bairiſchen Wald
wurde ſie theilweiſe von der Holzinduſtrie erſetzt, gedeiht
aber dort daneben noch leidlich.1 Der frühere Haupt-
ſitz dieſer Induſtrie war Schwaben. Ein Handelskam-
merbericht des Kreiſes ſpricht ſich darüber (1863) ſo
aus:2 „Die früher ſchwunghaft betriebene Leinenfabri-
kation hat ſowohl durch den allgemeiner gewordenen
Gebrauch von Baumwollfabrikaten als durch die An-
wendung mechaniſcher Spinn- und Webſtühle, wozu
noch der Mangel an einheimiſchem Rohmaterial und
zweckmäßigen Röſtanſtalten ſich geſellte, faſt gänzlich auf-
gehört, und es iſt keine Ausſicht vorhanden, ſelbſt mit
namhaften Opfern ſie wieder zu einiger Bedeutung zu
bringen.“ Nur die Augsburger Weber ſcheinen eine
Ausnahme zu machen. Dort gelang es nach und nach,
wie der Verfaſſer von „Augsburgs Induſtrie“3 nach-
weist, „durch Vereinigung zu gemeinſamen Werken, durch
zweckmäßige Verwendung des Innungsvermögens und
anderweitiger Zuſchüſſe zur Anſchaffung von Material
und der zur Gebild- und Buntweberei erforderlichen
Stühle und Maſchinen, dann durch die Beſtrebungen
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 9
[130]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
einzelner intelligenter und bemittelter Meiſter, die Hand-
weberei auf den rechten Weg zu führen und wieder zu
heben.“
Die Baumwollweberei hat ihren Hauptſitz in Ober-
franken, im Voigtlande, wo eine rührige fleißige Bevöl-
kerung mit erſchöpfender Thätigkeit und Arbeitsluſt ihr
rührend genügſames Daſein friſtet.1 Der 30ſte Menſch
iſt in Oberfranken ein Weber, in ganz Baiern der 96ſte.
Im Bezirke Müncheberg kommen auf 24000 Seelen
etwa 2000 Webermeiſter mit ungefähr 1000 Geſellen,
alſo eine Weberbevölkerung von gegen 10000—12000
Menſchen. Die Baumwollweberei entwickelte ſich hier als
freieres Gewerbe gegenüber der ſtrengern zunftmäßigen
Leinenweberei ſeit dem 15. Jahrhundert. Noch gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts war es ein blühender
Zuſtand. Einige wenige Fabrikanten beſchäftigten ſchon
140—150 Stühle; die meiſten nur wenige Stühle;
[131]Die bairiſche Weberei.
die kleinern verkauften ihr Produkt an die großen, waren
aber als beſitzende Leute von dieſen nicht abhängig. In
dieſem Jahrhundert nahm die Verarmung mit den ſin-
kenden Preiſen der Baumwolle und der Baumwollpro-
dukte zu. Viele hatten bald keine eigenen Stühle, keine
eigenen Spulen mehr; Spullohn und Miethe für den
Stuhl wurde ihnen vorweg am Verdienſt abgezogen.
Kapital zu Ankauf eigener Twiſte war nicht mehr da.
So wurden die Weber reine Lohnarbeiter; die Auswahl,
für dieſen oder jenen Fabrikanten zu arbeiten, wurde im-
mer kleiner, da die kleinen Fabrikanten ſelbſt Bankerott
machten. Der Höhepunkt des Elends war in den vier-
ziger Jahren. Seither iſt es eher wieder beſſer gewor-
den, beſonders ſeit ſächſiſche Fabrikanten, durch die Bil-
ligkeit des Lohnes angezogen, viel im Voigtlande arbei-
ten laſſen und ſo den wenigen inländiſchen Großgeſchäf-
ten, die den Weber ganz in den Händen hatten, Kon-
kurrenz machten. Die Zahl der Baumwollſtühle hat
in Oberfranken ſogar von 11301 auf 13378 von 1847
bis 61 zugenommen.
Die Geſammtzahl der Webermeiſter in Baiern aber
hat nach der Berechnung von Hermann1 von 38323
im Jahre 1847 auf 30935 abgenommen, d. h. um
23,9 %, während die Bevölkerung um 4,7 % wuchs;
auch in der Pfalz nahmen die Webermeiſter um 13,9 %
ab. Welche Kämpfe, welches Elend, wie viel zerrüttetes
Familienglück liegen zwiſchen zwei ſolchen Zahlen!
9 *
[132]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Nach dieſer Abſchweifung über die Weber kehre ich
zu den Geſammtreſultaten zurück, wie ſie ſich unter
beſondern lokalen Verhältniſſen geſtalten.
Die unmittelbaren Städte diesſeit des Rhein’s
haben ſich ſtark vergrößert, von 453986 auf 544067
Einwohner; ſie ſind um 19 % reicher an Menſchen, von
welchen freilich wieder der Haupttheil auf München,
Nürnberg, Augsburg und Würzburg fällt; die ganze
Zunahme iſt 90081 Seelen, auf die vier Städte kom-
men 79863. Die Zahl der [Handwerker] inkl. der Weber
und mit den Gehülfen fiel in den unmittelbaren Städ-
ten von 58850 auf 57694, d. h. um 2 %; die Zahl
der Meiſter mit den Webern um 2,6 %; ohne die Weber
ſtieg die Meiſterzahl um 8 %. Die Meiſterzahl ohne
die Weber hat alſo wenigſtens abſolut noch etwas zuge-
nommen, die der Gehülfen dagegen hat auch abſolut
abgenommen. Wieder ein Argument gegen die Zurück-
führung aller Mißſtände auf erſchwertes Meiſterwerden.
In den ſämmtlichen übrigen Gemeinden nach Abzug
der unmittelbaren Städte nahm die geſammte Handwer-
kerbevölkerung nur um 0,6 % ab, während die Bevölke-
rung nicht ſo ſtieg, wie in den Städten. Und doch
galten da die gleichen Geſetze, und es wird in den
Dörfern und kleinen Städten die Handhabung eher noch
engherziger geweſen ſein. Die Städte litten mehr als
das Land, weil auf dem Lande noch die alten Zuſtände
fortdauern, in den Städten die Umbildungen beginnen.
Daß in der gewerbefreien Pfalz die Reſultate beſſer
ſind, d. h. daß da die Geſammtzahl der Handwerker
von 1847—61 ſtieg, iſt ſchon erwähnt; es iſt aber
[133]Die Zuſtände in der Pfalz.
nöthig, dabei noch einen Moment zu verweilen. Um
keine falſchen Schlüſſe aus dem Gegenſatz zu ziehen, muß
man ſich der Vergangenheit und der anderweitigen Zu-
ſtände in der Pfalz erinnern.
Das ſchöne, von der Natur reich geſegnete Land
hatte mit der franzöſiſchen Herrſchaft die freiheitliche
Geſetzgebung erhalten; der beweglich rührige Sinn der
Bewohner war dem Neuen ohnedieß zugänglich; die
Aenderungen, welche andere Länder erſt nach Jahrzehn-
ten erfuhren, vollzogen ſich ſchon jetzt; die zahlreichen
indolenten bisher nur durch die Zunft geſchützten Meiſter
begannen ſchon damals abzunehmen. Als die Verwü-
ſtungen der Kriege überwunden waren, als vollends mit
dem Zollverein die Segnungen des freien Verkehrs und
der günſtigen Lage, die Segnungen der Eiſenerzlager,
des vorzüglichen Weinbodens mehr und mehr zu Tage
traten, da wuchs die dichte Bevölkerung immer mehr;
die Kultur des Landes, der Bau von Tabak und Wein
drängte zu immer weiter gehender Parcellirung; die
Parcelle iſt im Durchſchnitt noch nicht ein halbes Tag-
werk1 groß; jeder Grundbeſitzer hat ſeinen kleinen Beſitz
durchſchnittlich in nicht weniger als 9 Parcellen. Die
Bevölkerung hatte 1818 4124 Menſchen pro Quadrat-
meile betragen, 1849 betrug ſie 5697.
Aber ſucceſſiv war die Zunahme eine langſamere
geworden, der Lohn war geſunken, die Noth geſtiegen.
Die Auswanderung nach Amerika nahm bedeutende Di-
menſionen an, nannte man doch häufig den deutſchen
[134]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Auswanderer ſchlechthin einen Pfälzer. Von 1849 bis
1856 wanderten nicht weniger als 64852 Köpfe aus,
ganz abgeſehen von der heimlichen Emigration, — das
ſind etwa 10 % der Bevölkerung des Landes. Die
Bevölkerung nahm trotz des immer ſtarken natürlichen
Zuwachſes um etwa 5 % in dieſer Periode ab.
Die nächſtliegenden Urſachen waren die theuren
Jahre, die Revolution; die ferner liegenden aber waren
die allgemeinen Veränderungen der induſtriellen Pro-
duktion, die Dichtigkeit der Bevölkerung, die Parcel-
lirung. Ein großer Theil der Leute lebt halb vom
Boden, halb von gewerblicher Arbeit. „Wenn Pflug
und Hacke, Senſe und Dreſchflegel ihre Arbeit gethan
haben, nehmen Cigarrenfabrikation, die Strohflechterei,
die Bürſtenbinderei, der Hauſirhandel ihren Anfang.“
Auch in dieſen Branchen drückte die Konkurrenz mit vor-
angeſchrittenen Gegenden die Preiſe; das Auskommen
wurde immer kärglicher. Aehnlich war es in den Klein-
gewerben, deren Betrieb trotz der Gewerbefreiheit tech-
niſch zurück war. Sie waren längſt zurückgegangen;
1845—50 wanderten noch mehr Handwerker aus. Es
gab in der Pfalz im Jahre 1847, Meiſter und Gehülfen
zuſammengerechnet, noch nicht halb ſo viel Handwerker,
als z. B. in dem gewerbeloſen Oberbaiern; ein Hand-
werker kam in Oberbaiern ſchon auf 13 Menſchen, in
der Pfalz erſt einer auf 271. Das Verdienſt der
Gewerbefreiheit war ſomit das geweſen, mit dem Klein-
gewerbe in der Pfalz ſehr viel früher aufgeräumt zu
[135]Die Handwerker in der Pfalz 1847 und 1861.
haben als anderswo. Der Zuſtand damals war kein
erfreulicher; immer weniger konnte ſich der kleine Mei-
ſter halten, und doch entſtanden zunächſt keine größeren
Geſchäfte, weil der Trieb nach Selbſtändigkeit überwog
und die Gewerbefreiheit Jedem die Selbſtändigkeit ge-
ſtattete. Auf 17756 Meiſter kommen 1847 nur 4717
Gehülfen; das heißt, die vorhandenen Geſchäfte ſind
kleiner und elender als irgendwo anders; im übrigen
Baiern kommen damals 30 Einwohner auf einen Gehül-
fen, in der Pfalz kommt erſt auf 129 Einwohner ein
ſolcher.
Nach Mitte der 50er Jahre beſſern ſich nun, wie
allerwärts, ſo auch in der Pfalz die Zuſtände; die Pro-
duktenpreiſe ſteigen, die Großinduſtrie erhebt ſich in
glänzendſter Weiſe, die Eiſenwerke, die Maſchinenfabri-
ken, die großen Spinnereien und Webereien in Kai-
ſerslautern und Zweibrücken, die chemiſchen Fabriken, die
großen Glas- und Steingutfabriken geben mit der
Vollendung der Eiſenbahnen dem Lande einen andern
Charakter; auch die Bevölkerung wächſt wieder und
überſchreitet ſelbſt die 1849 erreichte Höhe, ſie ſteigt auf
5779 Menſchen pro Quadratmeile im Jahre 1864.
Das wirkt auch auf die Kleingewerbe zurück; ihre
Geſammtzahl inkl. der Weber und Gehülfen iſt
1847 . . . . 27226
1861 . . . . 39416,
alſo eine Zunahme von 44,8 %; die Fabrikarbeiter
hatten 18478501, 186112348 Perſonen betragen,
ſie ſind alſo auch um 45 % geſtiegen. Die Zahl der
Meiſter allein (inkl. Weber) betrug
[136]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
1847 . . . . 20785
1861 . . . . 23702,
alſo eine Zunahme von 14 %. Die Hauptzunahme
bei den Kleingewerben erfolgte ſomit in der Gehülfenzahl.
Dabei darf man aber nicht vergeſſen, daß dieſe
Zunahme eine Zunahme iſt nach Jahren der Noth und
der Decimirung; ſelbſt mit dieſer großen Zunahme iſt
die Geſammtzahl der im Handwerk beſchäftigten Perſo-
nen in der Pfalz immer noch nicht ſo ſtark, wie im
Durchſchnitt des Königreichs Baiern; es kommen im
Durchſchnitt des Königreichs 1861 auf 14 Menſchen
1 Handwerker, in der Pfalz auf 17. Die Zahl der
Meiſter iſt jetzt wieder ſtärker in der Pfalz als im
Durchſchnitt des Königreichs. Die Zahl der Gehülfen
iſt trotz der Zunahme noch weſentlich geringer. Die
einzelnen Geſchäfte ſind auch jetzt noch kleiner als in
Altbaiern. Der Trieb, ſich ſelbſtändig zu machen, über-
wiegt die Tendenz der Zeit auf größere Geſchäfte.
Die Hauptzunahme der Kleingewerbe bis 1861 trifft
übrigens in der Pfalz wohl nicht ſo ſehr die für lokalen
Bedarf arbeitenden Meiſter aller Art, ſondern vornehm-
lich einzelne Hausinduſtrien, die in techniſch vervoll-
kommneter Weiſe für den Großhandel thätig ſind, ſo
die Schuhfabrikation in Pirmaſens, die Strohflechterei,
die Bürſtenfabrikation.
Seit 1861, beſonders von 1861—65 hat ſich
der Zuſtand der Pfalz noch mehr gehoben; bei der im-
mer noch geringen Zahl der vorhandenen Handwerker
im Jahre 1861 iſt das begreiflich. Wenn beſonders
in einzelnen raſch wachſenden Städten, wie Kaiſerslau-
[137]Die Handwerker in der Pfalz 1861—1865.
tern, die Zunahme groß iſt, wenn die Meiſter dort
1861410, 1863542 Perſonen, die Gehülfen derſel-
ben 1861526, 1864 die Geſellen allein 889 Perſo-
nen ausmachen, wenn bei der Zunahme alle Arten von
Meiſtern betheiligt ſind, wenn z. B. die Schmiede von
10 auf 23, die Schneider von 47 auf 76, die Schuh-
macher von 69 auf 90, die Bäcker von 27 auf 34,
die Glaſer von 9 auf 14, die Metzger von 20 auf 28,
die Buchbinder von 6 auf 8, die Sattler von 6 auf
7 ſtiegen,1 ſo beweist das allerdings, daß ein techniſch
vollendeteres Handwerk auch heute immer noch ſeinen
Platz hat; aber es beweist noch nichts über das Ge-
ſammtverhältniß von großer und kleiner Induſtrie, nichts
über die geſunde und ungeſunde Vermögens- und Ein-
kommenvertheilung der heutigen Zeit überhaupt.
Die Gewerbefreiheit der Pfalz hat unhaltbare Zu-
ſtände früher beſeitigt, den Uebergang befördert, die
Technik allerwärts verbeſſert, aber die Kleingewerbe hat
ſie nicht erhalten, ſondern früher vernichtet, — freilich
um ſie ſpäter auf geſunderer Grundlage mit beſſerer
Technik wenigſtens zu einem Theile wieder erſtehen zu
laſſen. Vor Allem aber und hauptſächlich hat ſie die
Großgewerbe geſtärkt. Auch von 1861 bis zur Gegen-
wart fällt auf ſie die Hauptentwickelung.
[[138]]
4. Die ſächſiſche Handwerkerſtatiſtik von 1830—61,
die Gewerbefreiheit von 1862—66.
Die ältern gewerblichen Zuſtände, zahlreiches [Handwerk], große
Hausinduſtrie 1846. Die Geſetzgebung. Beginn der Kriſis
ſchon zwiſchen 1836 und 49; Vergleichung der Meiſterzahlen
dieſer Jahre; Zunahme der Hausinduſtrie, Abnahme der übri-
gen Meiſter. Vergleichung der Handwerker in den 30 größ-
ten Städten des Landes 1830 und 1856. Die Beſchäfti-
gungsſtatiſtik 1849 und 61, Wachsthum aller übrigen Kate-
gorien von Perſonen, Rückgang der Handwerker. Die Hand-
werkerliſten 1849 und 61 und die wichtigern einzelnen Hand-
werke. Die Gewerbefreiheit im Handelskammerbezirk Dresden
1862—65, im Handelskammerbezirk Leipzig 1862—66.
Das Königreich Sachſen iſt das dichtbevölkertſte
Land des Zollvereins; ſchon im Jahre 1834 lebten 5868,
18587805 Menſchen auf der Quadratmeile. Handel
und Gewerbe, ſeit alter Zeit dort heimiſch, ſind die
weſentlichen Faktoren dieſer Bevölkerungsentwickelung. Der
Boden iſt theilweiſe karg; im Erzgebirge bietet er ſelbſt
dem hartnäckigſten Fleiße große Schwierigkeiten. Der
Beſitz aber iſt meiſt ziemlich getheilt. Große und klei-
nere Städte bilden überall gewerbliche Mittelpunkte.
Die vielfach verbreitete Hausinduſtrie der Weberei, der
[139]Die gewerblichen Zuſtände 1846.
Strumpfwirkerei, der Poſamentierarbeiten erſtreckt ſich
ebenſo über die Dörfer als über die Städte, ſo beſon-
ders in der Lauſitz, im Erzgebirge, in den ſogenannten
Schönburgiſchen Rezeßherrſchaften.
In den Jahren 1790—1806 hatte der ſächſiſche
Handel durch die Leipziger Meſſen einen großen Auf-
ſchwung genommen. Während der Kontinentalſperre ent-
wickelte ſich beſonders die Gewebeinduſtrie raſch und
erhob ſich ſelbſt u einem bedeutenden Export nach dem
Auslande. Die Aufhebung der Kontinentalſperre, die
Konkurrenz mit England brachte manche Schwierigkeit,
aber ſie hielt den Fortſchritt nicht auf; hinderlicher
waren die 1818 errichteten preußiſchen Zollſchranken,
die erſt 1833 durch den Eintritt Sachſens in den
Zollverein fielen.
Die größte relative Zunahme erfuhren ſchon damals
die großen Betriebe, der Bergbau, das Hüttenweſen,
die Spinnereien; aber der Perſonenzahl nach ſtanden
Hausinduſtrie und Handwerk bis Ende der vierziger
Jahre im Vordergrunde. Mechaniſche Webſtühle waren
1846 noch keine vorhanden. Außer für Eiſenbahnen
und Bergbau, Spinnereien und Maſchinenfabriken gab
es 1846 nur einige Dampfmaſchinen im ganzen Lande.1
Die Zahl der Handwerker (ſogar ohne die Weber)
war 1846 in Sachſen am höchſten von allen den
Staaten, in denen eine Gewerbeſtatiſtik damals aufge-
nommen wurde. Es kam damals ſchon auf 13,4 Ein-
wohner ein Handwerker (Meiſter und Gehülfen zuſam-
[140]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
mengenommen), in Baden erſt auf 15,5, in Bayern auf
16,2, in Preußen auf 20,5 Einwohner.1
Und doch galt damals in Sachſen die alte Zunft-
verfaſſung mit Innungszwang, Lehr- und Wanderzwang
für alle älteren Gewerbe; bis 1840 noch mit weſent-
licher Erſchwerung des Gewerbebetriebes auf dem plat-
ten Lande. Die Hausinduſtriezweige freilich, die Webe-
rei, Strumpfwirkerei, Holzwaaren- und Inſtrumenten-
fabrikation, ferner die Gewerbe der Bürſtenmacher,
Nagelſchmiede, Blechſchmiede, Bandmacher und Poſa-
mentiere hatten ſich wenigſtens in vielen Gegenden unter
Beibehaltung der Innungsverfaſſung auf dem Lande aus-
gebreitet. Viele Landgemeinden hatten überdieß beſon-
dere Privilegien für Gewerbebetrieb. Außerdem waren
auf dem Lande die unzünftigen Gewerbe frei, die zünf-
tigen waren nur unter gewiſſen Beſchränkungen zugelaſ-
ſen. Das Geſetz vom 9. Okt. 1840 brachte wenigſtens
einige Erleichterung: Fabrikgewerbe, Maurer, Zimmer-
leute, Eſſenkehrer und Schwarzbrodbäcker ſollten wie
bisher ſchon frei ſein; außerdem ſoll von der Obrigkeit
für jede Landgemeinde wenigſtens ein Schneider, Schuh-
macher, Weißbäcker, Fleiſcher, Schmied, Stellmacher,
Sattler, Tiſchler, Glaſer, Seiler und Böttcher ohne
Weiteres zugelaſſen werden. Weitere zünftige Handwer-
ker bedürfen der Regierungserlaubniß. Vor wie nach
1840 waren für einzelne wenige Innungen und ein-
zelne Städte Realrechte vorhanden, welche kraft beſon-
derer Privilegien allein in dem Orte Meiſterrecht gaben,
[141]Die ſächſiſche Gewerbegeſetzgebung.
eine geſchloſſene Zahl repräſentirten. Manche Uebelſtände
ergaben ſich aus dieſer Geſetzgebung. Die gewerbliche
Entwickelung im Ganzen aber wurde dadurch bis in die
vierziger Jahre nicht gehemmt. Das ſächſiſche ſtatiſtiſche
Bureau ſagt hieran anſchließend:1 „Die Gewerbeverfaſ-
ſung hat auf die Zahl der Meiſter lange nicht den Ein-
fluß, als man anzunehmen geneigt iſt. Wenn die übri-
gen Bedingungen nicht gegeben ſind, vermehren ſich auch
in gewerbefreien Ländern die Meiſter nicht raſch, und wo
ſich dieſe Bedingungen vorfinden, hindert auch die
Zunftverfaſſung ein raſches Anwachſen der Meiſterzahl
ſelbſt über das reelle Bedürfniß hinaus (d. h. unter
gleichzeitiger Abnahme des Hülfsperſonals) nicht.“
So viel iſt richtig, ſo viel beweiſen die ſächſiſchen
Zahlen vor 1846, daß die anderen Urſachen wichtiger
ſind, als die Gewerbeverfaſſung. Die praktiſche Hand-
habung der Gewerbegeſetze war keine allzuſchroffe. Die
induſtrielle Entwicklung Sachſens war eine günſtige;
der Zuwachs an Handwerkern war natürlich, ſolange
in dieſen Bahnen ſich die gewerbliche Thätigkeit über-
haupt bewegte. Die große Verbreitung der Kleinge-
werbe hatte ihre einfache Urſache darin, daß die gewerb-
liche Blüthe Sachſens ſchon lange vor 1840 beginnt.
Mit den vierziger Jahren freilich und noch mehr
mit den fünfziger wird Vieles anders. Mehr und mehr
wächſt nur der große Betrieb. Die Eiſenbahnen und
der große Verkehr vollenden die Leichtigkeit des Abſatzes,
[142]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
verlangen billigere und vollendetere Produkte, wie ſie
nur ſpezialiſirte Betriebe mit ausgezeichneten Maſchinen
liefern können. Es ſteigert ſich der Bedarf an Kohlen,
es wachſen hauptſächlich die großen Berg- und Hütten-
werke, daneben die Spinnereien, die großen Appretur-
anſtalten, die mechaniſchen Webereien.
Die erſte Wirkung dieſes Umſchwungs zeigt ſich
uns ſchon in einer Vergleichung der Meiſterzahlen des
ganzen Königreichs von 1836 und 1849,1 wobei zu
bedauern iſt, daß die Zahl der Gehülfen für die Ver-
gleichung dieſer beiden Jahre fehlt; nur wenn man
beide zuſammenfaßt, iſt ja erſichtlich, ob das Hand-
werk im Ganzen zu- oder abgenommen, ob nicht die theil-
weiſe Abnahme der Meiſter durch Zunahme der Gehül-
fen ſich ausgleicht. Letzteres ſcheint aber hier nicht der
Fall zu ſein, wenigſtens ſpricht ſich das ſtatiſtiſche Bu-
reau über dieſe Epoche dahin aus, daß die Zahl der
Geſellen und Lehrlinge nicht bloß relativ, ſondern ſogar
in vielen Gewerben abſolut in deutlicher Abnahme
begriffen ſei.2
Was den kritiſchen Werth der Zahlen betrifft, ſo
ſei nach dem Gewährsmann des ſtatiſtiſchen Bureaus
bemerkt, daß die Zahlen für 1836 dem Gewerbeſteuer-
kataſter entnommen ſind, daß die Weber und Strumpf-
wirker für dieſes Jahr zu niedrig erſcheinen, weil
die Lohnmeiſter nicht einbegriffen ſind, daß die Schnei-
derzahl damals zu hoch iſt, weil die Flickſchneider und
[143]Die ſächſiſchen Meiſter 1836 und 1849.
Schneiderinnen mitgezählt ſind. Für 1849 ſind die
Zahlen der Meiſter durchaus etwas zu hoch, da bei
der Aufnahme von 1849 auf die Frage, ob ein Innungs-
meiſter auch wirklich noch ſein Gewerbe ausübe, gar kein
Gewicht gelegt wurde.1 Darnach iſt die Zahl der Mei-
ſter und ihr Verhältniß zur Bevölkerung zu beurtheilen.
Es waren:
[144]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Ich habe in der vierten Spalte da, wo ſich eine
Abnahme gegenüber der Bevölkerung findet, ein Minus-
zeichen beigefügt; die Geſammtzahl aber hat nicht ab,
ſondern zugenommen; es kamen auf 10000 Einw.
[145]Die ſächſiſchen Meiſter 1836 und 1849.
1836 ‒ 415, 1849‒645 Meiſter; die Zunahme trifft
aber ausſchließlich die Hausinduſtrie der Gewebe, die
überdies 1836 zu niedrig angegeben iſt, womit frei-
lich nicht geleugnet werden ſoll, daß ſie zugenommen
habe. Trennt man die Poſamentiere, Strumpfwirker,
Tuchmacher und Weber von den übrigen Handwerkern,
ſo kommen von erſteren auf 10000 Einwohner 1836‒
97,54, 1849‒336,82 Meiſter, von den ſämmtlichen
übrigen aber 1836‒317,46, 1849‒308,18.
Die Zahlen für 1849 ſind nicht ganz maßgebend,
ſofern dieſes Jahr ein beſonders gedrücktes war. Doch
würde von dieſem Druck die Zahl der Geſellen viel
mehr affizirt ſein, als die der Meiſter. Nehmen wir
dazu, daß die Aufnahme 1849 viele Meiſter mitzählte,
welche ihr Gewerbe nicht mehr ausübten, ſo kommen
wir allerdings zu dem Schluſſe, daß in einer Zeit, in
der die Bevölkerung, die Landwirthſchaft, die große
Induſtrie Sachſens die größten Fortſchritte machte, die
Zahl der Handwerker nicht ebenſo gewachſen, gegen-
über der Bevölkerung eher zurückgegangen iſt. Es iſt das
um ſo ſprechender, als gerade der ſonſtige Fortſchritt
der Landwirthſchaft und der Bevölkerungsdichtigkeit doch
für viele einzelne Gewerbe Vortheile, weitern Spiel-
raum und auch wirkliche Zunahme brachte.
Die Arbeit, der die vorſtehenden Zahlen entnom-
men ſind,1 beſchäftigt ſich außer den allgemeinen Fragen
ſpezieller mit der Handwerksſtatiſtik der 30 größern
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 10
[146]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
ſächſiſchen Städte, indem ſie die Zahlen der Meiſter,
Geſellen und Lehrlinge für die Jahre 1830 und 1856
vergleicht; die Zahlen ſtützen ſich auf eine beſondere
durch die Innungen gemachte Aufnahme. Es kann ſich
hier nicht darum handeln, aus den umfangreichen
Tabellen der einzelnen Städte das Detail mitzutheilen,
um ſo weniger, als wir auf den Gegenſatz von Stadt
und Land noch beſonders werden zu ſprechen kommen;
nur das Geſammtreſultat, ſoweit es eine Beſtätigung
der bisherigen Unterſuchung enthält, iſt zu erwähnen.
Und das geht nach den Worten der Zeitſchrift dahin:
„Gehen wir“ — ſagt ſie — „auf die Vergleichung
der Zuſtände von 1830 und 56 ein, ſo iſt auffallend,
daß die meiſten Gewerbe (auch abgeſehen von den mit
Bankgerechtigkeiten in geſchloſſener Zahl verſehenen,
welche ſich freilich gar nicht oder nur wenig mehren
konnten) in den meiſten Städten in ihrer Meiſterzahl
hinter dem Wachsthum der Bevölkerung zum Theil ſehr
erheblich zurückgeblieben ſind, ja zum Theil ſich abſo-
lut vermindert haben. Nur bei wenigen iſt dieſe Ver-
minderung der Meiſterzahl poſitiv durch eine Vermeh-
rung des Hülfsperſonals ausgeglichen oder ſelbſt in eine
relative Vermehrung des Gewerbes verwandelt; bei eini-
gen iſt ſogar eine relative Vermehrung der Meiſterzahl
durch Verminderung des Hülfsperſonals negativ ausge-
glichen. Ein Theil des Zurückbleibens hinter dem Wachs-
thum der Bevölkerung rührt gewiß von der zum Theil
in Folge des Geſetzes vom 9. Okt. 1840 entſtandenen
gleichmäßigern Verbreitung gewiſſer Handwerke über das
platte Land her. Indeſſen wird ſich doch zeigen, daß
[147]Das Handwerk in den ſächſiſchen Städten 1830 u. 1856.
dieſer Einfluß auf die Geſtaltung des ſtädtiſchen Hand-
werksbetriebs überſchätzt worden iſt, und daß viele kleine
Städte noch immer die Mittelpunkte des Handwerks
auch für das Land geblieben ſind, ſoweit man dies nach
den Perſonalverhältniſſen beurtheilen kann. Je größer
eine Stadt wird, deſto mehr tritt von ſelbſt der Antheil
in den Hintergrund, welchen das umgebende platte Land
von der Beſchäftigung der ſtädtiſchen Handwerker hat.
Solche Städte dürften auch von völliger Freigebung des
Gewerbebetriebs auf dem Lande nur wenig oder gar
nicht berührt werden.“
Wenn in Leipzig, in Dresden, in Chemnitz die
Zahl der Meiſter, Geſellen und Lehrlinge nur in 2—3
Handwerken zugenommen, in vielen aber um 20—50,
ja bis 70 % gegenüber der Bevölkerung abgenommen
hat,1 wenn das in den kleinen Städten nicht ganz ſo,
aber ähnlich iſt, ſo iſt neben der veränderten Geſetzge-
bung die Haupturſache die, daß in den großen Städten
die neue Richtung, die nach ſpezialiſirter Produktion
und nach dem Magazinſyſtem drängt, am gewaltigſten
ſich jetzt ſchon geltend gemacht hat.
Die Ergebniſſe der Beſchäftigungs- und Gewerbe-
ſtatiſtik von 1849 und 18612 beſtätigen im Allgemeinen
10 *
[148]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
die Richtigkeit der vorſtehenden Folgerungen. Es handelt
ſich um zwei einander entgegen wirkende Strömungen:
auf der einen Seite eine raſch zunehmende Bevölkerung,
ein raſcher Zuwachs beſonders der Städte, eine glän-
zende Entwickelung der großen Induſtrie, beſonders der
Gewebeinduſtrie; das muß nothwendig auch auf einzelne
kleine Geſchäfte und Betriebe günſtig zurückwirken; — auf
der andern Seite die Unmöglichkeit für viele Handwerke,
mit dieſer Entwickelung gleichen Schritt zu halten; theil-
weiſer Rückgang, Abnahme der Meiſter, zum Theil auch
des Hülfsperſonals.
Was die poſitiven Zahlen betrifft, ſo geſchah die
Aufnahme in folgender Weiſe. Im Jahre 1849 hatte
Dr. Engel in direktem Anſchluß an die Bevölkerungs-
zählung eine Beſchäftigungsſtatiſtik erheben laſſen, wobei
nicht die Fabriken, die einzelnen Unternehmungen über
ihre Geſchäfte und Arbeiter Angaben machten, ſondern in
den Hausliſten den Individualangaben Bemerkungen über
die Art des Unterhalts beigefügt wurden. An dieſe Art
der Zählung ſchloß man ſich auch 1861 an und fügte
nur auf den Rückſeiten der Haushaltungsliſten die Sche-
mata der Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins bei, welche
von andern Geſichtspunkten ausgeht, nach Geſchäften,
Unternehmungen zählt. So entſtand eine doppelte Auf-
nahme, die aber, was die Handwerker betrifft, ziemlich
identiſch iſt. An Unrichtigkeit leidet die Aufnahme in ſo
fern, als viele kleine Meiſter, welche für größere arbei-
2
[149]Die ſächſiſche Induſtrie 1849 und 1861.
ten, ſich als ſelbſtändige Geſchäfte angegeben haben, und
noch mehr in ſofern, als viele frühere Geſellen, beſon-
ders Schmiede-, Schloſſergeſellen, die in Fabriken arbei-
ten, die oft nicht am Orte ſelbſt, ſondern in den nächſt-
liegenden Dörfern wohnen, ſich nach ihrer innungsmäßig
erworbenen Qualifikation als „Geſellen“ angaben, und
dadurch in der Handwerker- ſtatt in der Fabriktabelle
verzeichnet ſind. Sowohl Meiſter als Gehülfen erſchei-
nen daher 1861 in größerer Zahl, als ſie wirklich
vorhanden, reſp. dem Kleingewerbe angehörig ſind.
Nach der Beſchäftigungsſtatiſtik betrugen nun die
Selbſtthätigen 1849 und 1861 in den folgenden Abthei-
lungen:
Faßt man dieſe mit den ſämmtlichen übrigen Selbſt-
thätigen zuſammen und fragt, wie viele Prozente der
ſämmtlichen Selbſtthätigen jede dieſer Klaſſen 1849 und
[150]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
1861 ausmachte, ſo ſteigen die Selbſtthätigen im Berg-
bau von 2,11 % auf 2,52 %, die in der Fabrikin-
duſtrie von 3,34 auf 6,07 %, die in der Hausinduſtrie
von 17,67 auf 19,31 %, die in freien Gewerben von
1,92 auf 2,32 %, die Handarbeiter von 6,13 auf 8,88 %,
— nur die Handwerker ſinken von 14,03 auf 13,79 %
der ſämmtlichen Selbſtthätigen des Königreichs herab.
Die Handwerkertabelle, nach der Zollvereinsauf-
nahme im Jahre 1861 geordnet iſt, nicht direkt mit
der Beſchäftigungsſtatiſtik von 1849 vergleichbar; doch
iſt die Mehrzahl der Handwerker mit Ausſchluß der
Handelsgewerbe und Hausinduſtrie in einer beſondern
Tabelle nach den abſoluten Zahlen von 1849 und 61
verzeichnet,1 deren Reſultat ich ſummirt habe. Die
dort verzeichneten Meiſter ſind von 54859 auf 56257,
die Gehülfen von 73403 auf 95359, die Summe
beider iſt von 128262 auf 151610 geſtiegen. Das
iſt eine Zunahme von 11,82 %, während die Zunahme
der Bevölkerung 17,03 % beträgt.
Dieſe Rechnung beſtätigt, was die Zeitſchrift ver-
ſichert, ohne die Zahlen zu ſummiren. Nachdem ſie
vorausgeſchickt, daß ſich die Meiſterzahlen in ſehr vie-
len Gewerben und Städten ſogar abſolut vermindert
haben, daß in vielen andern Gewerben die Meiſterzah-
len zwar abſolut gewachſen ſind, aber ſelten im Ver-
hältniß der Bevölkerung zunahmen, fügt ſie über die
Geſammtzahlen von Meiſtern und Gehülfen noch hinzu,
daß auch ſie meiſt hinter dem Wachsthum der Bevölkerung
[151]Die ſächſiſchen Kleingewerbe 1819 und 1861.
zurückgeblieben ſeien; doch ſeien die Ausnahmen des
Gegentheils zahlreicher, als wenn man die Meiſter allein
in Betracht ziehe.
Was die einzelnen Gewerbe betrifft, ſo haben ſich
ausnahmslos weniger vermehrt als die Bevölkerung die
Schneider, Schuhmacher und Nagelſchmiede, faſt aus-
nahmslos die Gerber, Seifenſieder, Kammmacher und
Gürtler. Der Bevölkerung ſo ziemlich parallel blieben,
eher ihr etwas voraus eilten die Bäcker, Barbiere,
Bürſtenmacher, Buchbinder, Friſeure, Glaſer, Hut-
macher, Korbmacher, Kürſchner, Klempner, Tiſchler;
ausnahmslos vermehrt haben ſich nur die Maurer,
Zimmerleute und Schloſſer. Die Zeitſchrift knüpft daran
die richtige Bemerkung, daß die für perſönliche Dienſte
und Nahrungszwecke arbeitenden Gewerbe, beſonders da
ſie bis jetzt der Maſchinenhülfe faſt noch ganz entbehren,
nothwendig ſich in einem gewiſſen Gleichgewicht mit der
Bevölkerung halten, daß dagegen alle mit dem Ma-
ſchinen- und Bauweſen verknüpften Gewerbe einen
größern Spielraum für Zu- oder Abnahme bieten, daß
wenn ſie der Bevölkerung voraus eilen, dieß wohl als ein
Beweis des wachſenden Wohlſtandes im Allgemeinen anzu-
ſehen ſei. Es wird auch Niemand leugnen können, daß
der Wohlſtand im Allgemeinen in Sachſen trotz des Miß-
behagens ſo vieler Kleingewerbe von 1849—61 geſtiegen iſt.
Durch das Geſetz vom 15. Oktober 1861 wurden
in Sachſen die Realgewerberechte aufgehoben und entſchä-
digt, die Gewerbefreiheit vom 1. Januar 1862 an
eingeführt, die Innungen aber als freiwillige Vereinigun-
gen beibehalten.
[152]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
Eine vollſtändige ſtatiſtiſche Erhebung, wie das
Geſetz gewirkt hat, iſt auch für Sachſen nicht vorhan-
den. Immer aber mögen einige Mittheilungen über
die Wirkung auch hier ihre Stelle finden. Für den
Dresdener Handelskammerbezirk hat Dr. Rentzſch eine
Anzahl ſtatiſtiſcher Angaben in Bezug auf die Städte
des Handelskammerbezirks Dresden durch beſondere Erhe-
bungen geſammelt und publizirt, die einiges Licht auf
die Folgen werfen.1
Er unterſucht, wie viele neue gewerbliche Niederlaſ-
ſungen in den 33 Städten des Dresdener Handelskam-
merbezirks 1862—65 vorkamen. Auf 1000 Einwoh-
ner kamen durchſchnittlich jährlich 6,55 Neuetablirungen;
der Hauptandrang erfolgte 1862; man war ſeit Ende
1860 der Erlaſſung des Geſetzes ſicher geweſen, ſehr
viele hatten der Koſten wegen gewartet, ſo wurde die
Zahl 1862 ziemlich groß. In den beiden folgenden
Jahren fanden aber wieder um ſo weniger ſtatt; der
Ausfall gegen 1862 beträgt faſt überall 33 %, nicht
ſelten bis 50 %. In den kleinen Ackerbauſtädten iſt
der Fortſchritt ein geringer; die Hauptanziehungskraft
haben die größern Städte Dresden, Freiberg, Meißen.
Eine weſentliche Zunahme mußte beſonders da erfolgen,
wo vorher Verbietungsrechte waren. Daß aber die
Grundverhältniſſe des Handwerksbetriebs dadurch keine
andern geworden ſind, geht aus zweierlei hervor. Ein-
[153]Die Folgen der Gewerbefreiheit.
mal hat nach Rentzſch der Zuwachs der Geſellen und
Lehrlinge mindeſtens gleichen Schritt gehalten mit der
Vermehrung der Niederlaſſungen. Und dann hat der
geſammte Perſonalbeſtand ſowohl an ſich als gegenüber
der Bevölkerung ſich nicht weſentlich geändert. „Von
302 Gewerben“ — ſagt Rentzſch — „hat eine Steige-
rung des Perſonalbeſtandes nur bei 92 der aufgezählten
Gewerbe ſtattgefunden und darunter in Bezug auf die
Arbeitgeber nur bei 56, in Bezug auf das geſammte
beſchäftigte Perſonal nur bei 57 über das Wachsthum
der Bevölkerung hinaus.“
In der Stadt Leipzig erfolgte ebenfalls — nach
den Handelskammerberichten1 — der Hauptandrang
1862; es ergaben ſich 986 Anmeldungen, im Jahre
1863 ſinken ſie ſchon auf 568. In der Hauptſache
erfolgt der Andrang nicht auf das eigentliche Handwerk;
von den 986 Anmeldungen bezwecken 163 die Eröff-
nung von Schankwirthſchaften, gegen 100 Detailhändler-
geſchäfte aller Art; außerdem ſind die Schneider (35),
Schuhmacher (46) und Tiſchler (40) noch etwas ſtärker
vertreten. Geklagt wird nur über allzu ſtarken Andrang
im Kleinhandel. Sonſt wird konſtatirt, daß die große
Umgeſtaltung, die der eine gefürchtet, der andere gehofft
habe, in der Hauptſache bis jetzt noch nicht eingetreten
ſei. „Die gefürchteten und gehofften Erſcheinungen“ —
[154]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
ſagt der Bericht — „waren wohl auch meiſtens der
Art, daß ſie erſt im Verlaufe eines längeren Zeitraumes
eintreten können; weder ein Verluſt an Selbſtändigkeit
ſeitens der kleinern Meiſter gegenüber dem Kapitale,
noch die wegen Wegfalles des Lehrzwangs gefürchtete
Verſchlechterung oder die von anderer Seite gehoffte Ver-
beſſerung der techniſchen Fertigkeiten und Kenntniſſe,
und endlich größere Billigkeit der Arbeit vermöge grö-
ßerer Theilung der Arbeit und häufigerer Verwendung
von Maſchinen iſt bis jetzt im Großen und Ganzen
auffällig bemerkbar geworden. Und wenn auch manche
Erſcheinungen dieſer Art allerdings bereits vorliegen,
wie z. B. der überall wahrgenommene Uebergang des
Schneidergewerbes zur Magazinſchneiderei und damit
verbundene Unſelbſtändigkeit kleinerer Meiſter, fabrikmä-
ßiger Betrieb des Zimmergewerbes, der Schloſſerei, der
Klempnerei, der Böttcherei, der Schuhmacherei, ſo iſt
hierin wohl mehr die Entwickelung der Gewerbe über-
haupt, als gerade eine Folge der Gewerbefreiheit zu
erblicken, wie denn auch einige dieſer Erſcheinungen
bereits weit hinter Einführung der Gewerbefreiheit zu-
rückreichen.“
Aehnlich lauten auch die ſpätern Berichte. Der
Gewerbefreiheit wird nachgerühmt, daß ſie ſchärfere
Konkurrenz bringe, die Intelligenz anſpanne, aber mehr
in den höhern gewerblichen Kreiſen, als im eigentlichen
Handwerk.
Die Gewerbefreiheit iſt heut zutage unentbehrlich,
weil die alte Abgrenzung der Arbeitszweige zur Unmög-
lichkeit geworden iſt. Das aber, was die Maſſe, an
[155]Die Folgen der Gewerbefreiheit.
ihr lobt und tadelt iſt für das Gemeinwohl gleichgültig;
denn der eine tadelt ſie, weil unbequeme Konkurrenz für
ihn entſteht, der andere lobt ſie, weil einige Unbequem-
lichkeiten und Förmlichkeiten ihm erſpart ſind. Das,
was an Segen für das Gemeinwohl der Weiterblickende
von der Gewerbefreiheit erwartet, iſt etwas anderes,
es kann eintreten, aber es muß nicht immer eintreten.
Man erwartet, daß die wirthſchaftliche Freiheit
andere Sitten, andere Eigenſchaften, andere Menſchen
ſchaffe, daß, wenn zunächſt nur Einzelne ſich mehr an-
ſtrengen, die andern durch die Konkurrenz gezwungen
werden, ihnen zu folgen. Das geht jedenfalls lang-
ſam; nur von Generation zu Generation ändern ſich
Sitten und Menſchen. Mögen die Folgen aber etwas
früher oder ſpäter kommen, nur und ausſchließlich günſtige
Wirkungen könnten dann eintreten, wenn alle Gewerb-
treibende rührig und dem Fortſchritt geneigt wären, wie
ſo häufig Nationalökonomen und Politiker glauben, die
nur höher ſtehende Fabrikanten und Kaufleute perſönlich
kennen. Da daß nicht immer der Fall iſt, ſo kann die
Gewerbefreiheit in einzelnen Kreiſen ziemlich wirkungs-
los bleiben, ja ſie kann umgekehrt durch den Konkurrenz-
kampf einen großen Theil der Handwerker tiefer herab-
drücken, ſie wird es leicht thun, wenn nicht zugleich
andere Mittel und Einwirkungen pſychologiſcher und
realer Art dieſelben faſſen und vorwärts bringen.
Wenn der radicale Volkswirth gerne bereit iſt, zu
erklären, alle welche durch die Gewerbefreiheit nicht
vorwärts kommen, ſeien werth zu Grunde zu gehen, ſo
zieht er in ſeinem Urtheil eine ſchroffe Scheidelinie, die
[156]Die Aufnahmen der kleinern Staaten.
den Thatſachen des des Lebens gegenüber als unwahr erſcheint,
ſo überſieht er neben zwei Extremen, welche wenige
Perſonen zählen, die große Zahl derer, welche zwiſchen
beiden in der Mitte ſtehen.
Die Gewerbefreiheit ſchafft einen leeren Raum;
aber ſie garantirt nicht, daß alles, was in dieſem Raume
wächst, geſund ſei. Will man das gewiß behaupten, ſo
muß man den Boden, die Pflanzen, alle witwirkenden
Urſachen noch genau unterſuchen; dann erſt hat man ein
ſicheres Urtheil über das wahrſcheinliche Reſultat.
Dieſe mitwirkenden Urſachen ſind gar mannigfaltig;
lokale Sitten und Zuſtände, wie allgemeine Thatſachen
kommen in Betracht. Die Technik, die Produktion
bildet ſich um, der Verkehr ändert ſich. Die Bevölke-
rung wächst in einer früher nie erlebten Weiſe. Und
wenn die heranwachſenden Ueberſchüſſe derſelben bis in
die dreißiger und vierziger Jahre Platz fanden in dem
ſchon ſeit alter Zeit reichlich beſetzten Handwerk, ſo
änderte ſich das ſpäter um ſo mehr. Es trat die Stockung,
die Stabilität, ja theilweiſe eine Abnahme ein. Das
Mißbehagen einer Uebergangszeit drückt ſich allerwärts
aus. Eine veränderte geſchäftliche und ſociale Schichtung
der Geſellſchaft vollzieht ſich, die vorerſt zum mindeſten
nicht nach allen Seiten hin als eine erfreuliche betrachtet
werden darf.
[[157]]
Die
Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr
im 19. Jahrhundert.
[[158]][[159]]
1. Die Urſachen.
Fabrik und Handwerk. Die Vortheile des Großbetriebs und
der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein. Die eigent-
liche Großinduſtrie nur theilweiſe in Konkurrenz mit dem
Handwerk. Die Verkehrsänderungen und der Zeitpunkt ihrer
Wirkung in Deutſchland. Kanäle und Chauſſeen. Die Poſten,
die Dampfſchiffahrt, die Eiſenbahnen, die Telegraphen und
der Welthandel. Der ſtädtiſche Verkehr der Droſchken, Omni-
buſſe und Stadteiſenbahnen. Die Lokaliſirung der gewerb-
lichen Thätigkeit vor dieſen Verkehrsänderungen, die Umwäl-
zung mit denſelben. Die veränderte Wirthſchaft der Familie,
der moraliſche und der wirthſchaftliche Erfolg derſelben. Die
veränderte Vertheilung der Bevölkerung. Amerikaniſche Ver-
hältniſſe. Die deutſchen Dörfer, Mittel- und Landſtädte; die
Decentraliſation der Induſtrie; das moderne Anwachſen der
Großſtädte durch Induſtrie, Handel und andere Urſachen. Die
ſtädtiſche Bevölkerung in Preußen und die Aenderungen der-
ſelben von 1831—64.
Wenn ich in den bisherigen Betrachtungen ver-
ſuchte, die äußerlichen Geſammtreſultate der Geſchichte
des Handwerks zu verzeichnen, die Zu- und Abnahme, die
wirthſchaftliche Blüthe oder den wirthſchaftlichen Verfall
der deutſchen Kleingewerbe in den einzelnen Epochen der
erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts feſtzuſtellen, ſo habe
ich dabei die mancherlei Urſachen, den Einfluß der
Geſetzgebung, die Rückwirkung der allgemeinen wirth-
[160]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
ſchaftlichen Zuſtände auf das Handwerk da und dort
berührt, aber ich habe es abſichtlich vermieden, prinzipiell
die Hauptfrage zu erörtern, nämlich die, welche von den
verſchiedenen Urſachen des Umſchwungs die wichtigſte ſei.
Darauf komme ich nunmehr.
Die Antwort ſcheint einfach, jeder Laie hat ſie auf
der Zunge, ſie iſt in dieſer bekannten Faſſung von mir
auch in den bisherigen Unterſuchungen gleichſam als
ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Die Fabrik, ſagt man,
hat das Handwerk verdrängt; die große Induſtrie ſiegt
allerwärts über die kleine. Nur die großen Betriebe
entſprechen den heutigen Anforderungen, können vor der
ſtärkeren Konkurrenz der Gegenwart Stand halten.
Es iſt das bis auf einen gewiſſen Grad ja richtig.
Aber der Satz iſt zu allgemein, rückt zu verſchiedene
Dinge unter einen Geſichtswinkel, als daß man ſich
dabei befriedigen könnte.
Fragen wir, woran man in erſter Linie denkt, wenn
man von der Großinduſtrie ſpricht. Man denkt an die
Maſſenproduktion, an die größere Zahl von Arbeitern,
die in einem Unternehmen, meiſt in denſelben großen
Gebäuden vereinigt ſind, an die Arbeitstheilung, die
mit der Zahl der Perſonen einer und derſelben Unter-
nehmung wächſt. Man denkt vor Allem an die neuen
Kraft- und Arbeitsmaſchinen.
Die Dampfmaſchine und die Turbine arbeiten billi-
ger als jede thieriſche und menſchliche Arbeitskraft. Man
hat berechnet, daß nach engliſchen Preiſen die Arbeit
von Pferden 10 mal, die von Menſchen 90 mal, nach
deutſchen Preiſen die von Pferden 2,2 mal, die von
[161]Die Vortheile des Großbetriebs.
Menſchen 36 mal ſo theuer ſei, als die der Dampf-
maſchine. 1 Mag die Berechnung ganz genau ſein oder
nicht, ſie giebt der Phantaſie ein Bild der Aenderung.
Und wichtiger vielleicht noch als die techniſchen Fort-
ſchritte in den Motoren ſind die Fortſchritte in den
Arbeitsmaſchinen, in den Spinn- und Webſtühlen, in
den Walzwerken und Dampfhämmern, in den Maſchinen
aller Art. Sie ſparen an Arbeit und Stoff, ſie voll-
enden in Sekunden, zu was man früher Stunden und
Tage brauchte. Mit ihnen kam in die techniſche Seite
der Produktion jene wunderbare Ausnutzung aller Natur-
kräfte, jene ſcharfſinnige Ueberlegtheit, welche — die
großen Fortſchritte der Wiſſenſchaft benutzend — die
Natur- und Menſchenkraft zu komplizirten Geſammtlei-
ſtungen auf die ſinnreichſte, koſtenſparendſte Art verbindet.
Außerdem aber denkt man, wenn man von der
Großinduſtrie ſpricht, an die Verkehrsvortheile großer
Geſchäfte, an die Leichtigkeit, ſich überall, auch in der Ferne,
Abſatz zu verſchaffen, an die Vortheile ſozialer und
geſchäftlicher Verbindungen. Je großartiger die Geſchäfte
ſind, deſto größer iſt der Kredit, mit dem das große
Kapital noch zu vergrößern, die großen Leiſtungen noch
zu verdoppeln ſind. Je größer die Geſchäfte ſind, deſto
leichter rentirt es, in der Preſſe und in der Oeffent-
lichkeit für die Intereſſen der ſpeziellen Induſtrie zu
wirken, hochbeſoldete Literaten in Dienſt zu nehmen,
die Regierung für das Gedeihen der Induſtrie zu
intereſſiren.
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 11
[162]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Ich will mich bei dieſer Schilderung nicht aufhalten;
ſie iſt ſchon oft 1 von Meiſterhand ausgeführt worden;
ich könnte nur Bekanntes wiederholen. Es handelt ſich
hier nicht darum, dieſe Aenderung zu ſchildern, ſondern
konkreter die Frage zu ſtellen dahin, ob und in wie
weit auch bei uns im Zollverein dieſe Richtung auf
größere Betriebe ſich geltend gemacht hat.
Man wird es nicht leugnen können. Jede techniſche
Beſſerung des Betriebs muß ſich bei freier Konkurrenz
auf die Dauer Geltung verſchaffen, und es iſt gut, daß
ſie es thut; denn jede techniſche Beſſerung iſt ein wahrer
Fortſchritt der Kultur. Wir ſehen auch deshalb den
Großbetrieb unerbittlich bei uns wachſen. Das durch-
ſchnittliche Anlagekapital jeder Spindel in der Baum-
woll- und Flachsſpinnerei nimmt ab, je größer die
Spindelzahl iſt; jährlich wächſt die Durchſchnittszahl der
Spindeln einer Spinnerei; ſie war in Preußen 1837 - 828,
1846 - 1126, 1858 - 2627, 1861 - 5783 Spindeln
[163]Der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein.
in der Baumwollſpinnerei. Die Etabliſſements ſteigen
1837 bis 55 von 152 auf 209, ſinken 1858 auf 127,
1861 auf 69. Aehnlich geht es in vielen Branchen der
Gewebeinduſtrie, beſonders auch in den Hülfsgewerben,
den Färbereien, Bleichen, Appreturanſtalten. Für ſie
ſind techniſche Kräfte ausgezeichneter Art ein Bedürfniß.
Solche können nur in großen Etabliſſements angeſtellt,
voll beſchäftigt und bezahlt werden.
Von immer größerer Wichtigkeit werden die Unter-
nehmungen, welche uns die Brennſtoffe und die Metalle
liefern. Auch ſie zeigen dieſelbe Tendenz. Die kleinen
Torfſtiche rentiren kaum; immer mehr bilden ſich große
Anſtalten, die den Torf als Brennmaterial, Leucht-
material, als Düngemittel zu chemiſchen Zwecken in
ſyſtematiſcher Weiſe ausnutzen. 1 Die Leiſtung jedes Ar-
beiters in den Steinkohlenbauten der Ruhr war 1855
noch 700, 1864 986 Tonnen; die Zahl der Werke
hat nicht zugenommen, aber ihre Größe. Mit ihr haben
ſich die techniſchen Einrichtungen, die Maſchinen ver-
beſſert, und dadurch wird die größere Leiſtungsfähig-
keit jedes Arbeiters erreicht. 2 Die Jahresproduktion
eines zollvereinsländiſchen Steinkohlenwerks war 1848 -
148344 Zentner, 1857 - 354694 Zentner. 3 Aehnlich
geht es mit allen Bergwerken. Die in Spekulations-
zeiten in großer Zahl auftauchenden kleinen Gruben,
11 *
[164]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
ſagt die Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus,1
verſchwinden immer bald wieder, theils durch Konſoli-
dation, theils durch Auflaſſung; aber die größern ſtärken
ſich und dehnen ſich aus, ſo daß — mit Ausnahme des
Kobaltbergbaues, welcher die frühere Höhe nicht wieder
erreichen dürfte — ſowohl nach Arbeiterzahl, als nach
Produktion alle Hauptzweige des Bergbaues thatſächlich
trotz der Verminderung der Grubenzahl im Steigen
begriffen ſind. Und nicht viel Anderes als von den
Bergwerken wird von den Hütten- und Eiſenwerken
berichtet. Ein kleiner Hochofen nach dem andern wird
ausgeblaſen, nur die großen halten ſich. Die Leiſtungs-
fähigkeit der großen Eiſengießereien und Maſchinenfabriken
wächſt mit dem Umfang. Bei Krupp in Eſſen, erzählt
ein Augenzeuge, ſind zur Erzeugung des Gußſtahl 240
Schmelzöfen in einer Gußhütte aufgeſtellt; beim Guß
wirkt eine eigens dazu beſtimmte gut eingeſchulte Bri-
gade von 800 Mann nach dem Kommando mit einer
ſtaunenswerthen Präziſion zuſammen, wobei bis auf die
Sekunde jeder Handgriff, jede Leiſtung in den Zuſammen-
hang des Ganzen paſſen muß. 2
Die kleinen Ziegeleien können nicht mehr konkur-
riren mit den beſſer eingerichteten großen. „Ein Hof-
mann’ſcher Ringofen veranlaßt manche Feldziegelei zum
Eingehen.“ Die Steingutfabrikation und die Glasinduſtrie
leiden unter der Holztheuerung; ſie können nur durch
ganz große, techniſch vollendete Heizeinrichtungen und
[165]Die Großinduſtrie und das Handwerk.
Uebergang zur Steinkohle billig genug produziren. 1 Die
Zahl der Branntweinbrennereien im Zollverein hat von
11225 im Jahre 1851 auf 7711 im Jahre 1865
abgenommen, die Produktion iſt auf das Anderthalb-
fache geſtiegen. Von den Zuckerfabriken machen die
großen die beſten Geſchäfte. Die alten kleinen Mahl-
mühlen, welche für Kunden um Lohn arbeiten, ver-
ſchwinden wenigſtens in den Städten, große Dampf-
mühlen, techniſch vollendet eingerichtet, treten an die
Stelle und ſie arbeiten nicht mehr um Lohn; der
Dampfmüller macht eigene Geſchäfte, um zugleich alle
Vortheile des Preiswechſels und der großen Spekula-
tion auszunutzen. 2 Die Zahl der ſämmtlichen Dampf-
maſchinen nimmt nicht ſo zu, wie ihr Umfang; die Zahl
derſelben ſtieg im Königreich Sachſen von 1856 bis
1861 um 82 Prozent, die der Pferdekräfte um 119
Prozent. 3
Ich habe dieſe zahlreichen Beiſpiele der immer groß-
artiger ſich entwickelnden Großinduſtrie abſichtlich ange-
führt, um dadurch von ſelbſt den Einwand hervorzu-
rufen, den ich machen muß; nämlich den, — was hat
dieſe ganze Entwickelung mit dem Handwerk zu thun?
Was ſchadet es dem Bäcker und Fleiſcher, dem Schuh-
macher und Schneider, dem Tiſchler und Schloſſer, wenn
die Spinnereien und Färbereien, die Gruben und Hütten,
[166]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
die Brennereien und Mühlen immer größer werden?
Das iſt eine Sache für ſich.
Dieſer Einwand iſt richtig; er zeigt uns wenigſtens,
daß die landläufige Phraſe, die Großinduſtrie habe das
Handwerk verdrängt, die Sache nicht erſchöpft. Viele,
man könnte ſagen die meiſten, Großinduſtrien berühren
das Handwerk nicht direkt; ſie beziehen ſich auf neue
Betriebe, auf ſolche, welche nie dem Handwerk ange-
hörten; daß ſie ſelbſt in immer größere Etabliſſements
ſich konzentriren, kann dem Handwerk nicht ſchaden.
Ihr Wachsthum muß im Gegentheil, wie das Wachſen
der Verkehrsanſtalten, der Eiſenbahnen, der Poſten,
mehr Handwerker beſchäftigen.
Es gilt dieß freilich nicht von allen den heutigen
großen Fabriken und Etabliſſements; die Spinnereien
haben allerdings die profeſſionsmäßigen Spinner ver-
drängt; die ganze Gewebeinduſtrie iſt heute noch mitten
im Kampf zwiſchen Handwerk und Fabrik begriffen;
ähnlich ein Theil der Metallinduſtrie und der Holz-
waareninduſtrie.
Aber immer ſind das nur einzelne beſtimmte Ge-
werbszweige, die ſo direkt mit den Fabriken zu kämpfen
haben. Und doch ſehen wir in der Geſammtheit der
Kleingewerbe Aenderungen, deren Urſachen wir uns klar
zu machen haben. Um dieſen näher zu treten, müſſen
wir etwas weiter ausholen.
Die tiefer liegende Urſache, die auch der Mechanik
und Technik der Neuzeit erſt die Möglichkeit einer allge-
meinen Anwendung verſchaffte, iſt die Aenderung des
Verkehrs, aller Verkehrsformen. Ich will nur an
[167]Die Verkehrsänderungen.
einige Thatſachen und Jahreszahlen flüchtig erinnern. 1
Sie werden ſchlagend zeigen, in welch engem Zuſammen-
hang ſie gerade auch mit der Geſchichte der Klein-
gewerbe ſtehen.
Alle unſere heutigen Verkehrsmittel ſind neueſten
Datums, wenigſtens ihre allgemeine Anwendung. Der
engliſche Kanalbau nimmt erſt ſeit 1755 eine größere
Bedeutung an; Großbritannien hat 1824 ſchon 528
deutſche Meilen Kanäle; Altpreußen 1866 erſt 94,8.
Der engliſche und franzöſiſche Straßenbau beginnt eben-
falls erſt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
In Preußen baut Friedrich der Große 1757 die erſte
Chauſſee. Erſt 1812 lernt Mac Adam 2 die heute all-
gemein übliche Methode des Chauſſeebaues in China
kennen; erſt gegen 1820 verbreitet ſie ſich in Europa,
erſt nun beginnt der größere Frachtverkehr mit ſchweren
Laſtwagen ſtatt der kleinen Karren. Im Jahre 1816 exiſti-
ren in Preußen 3694 Frachtfuhrleute mit 8440 Pferden,
[168]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
im Jahre 1861 9642 mit 27464 Pferden. Straßen
(Chauſſeen) zählte man in Preußen:
Die Hauptthätigkeit im Chauſſeebau fällt erſt in die
Zeit von 1844—1861.
Die erſten modernen Poſten waren von Franz von
Taxis zwiſchen Wien und Brüſſel 1516 eingerichtet
worden. In Brandenburg richtete der große Kurfürſt
eine Landespoſtanſtalt ein, „weil zuvörderſt dem Kauf-
und Handelsmanne hoch und viel daran gelegen ſei.“
Es waren Reitpoſten, ſpäter auch Poſtwagen, welche
die Poſt von Berlin nach Königsberg in 4, von Amſter-
dam nach Königsberg in 12 Tagen brachten. Das war
eine außergewöhnliche Schnelligkeit, die allgemeines Auf-
ſehen erregte. Den Perſonenverkehr übernahmen die
Poſten in England und Frankreich früher; in Deutſch-
land mußte man im 18. Jahrhundert eigenes Fuhrwerk
kaufen, Extrapoſt nehmen oder mit den konzeſſionirten
Landkutſchen fahren. Sie vermittelten den Perſonenver-
kehr, aber entſetzlich langſam. „Von Dresden nach
Berlin ging die Landkutſche alle 14 Tage, nach Alten-
burg, Chemnitz, Freiberg, Zwickau ein Mal wöchent-
lich; nach Bautzen und Görlitz war die Zahl der Paſ-
ſagiere nicht ſo ſicher, daß der Kutſcher jede Woche an
beſtimmten Tagen abgehen konnte; nach Meißen gingen
das grüne und rothe Marktſchiff, jedes ein Mal wöchent-
[169]Das Poſtweſen.
lich hin und zurück. Man reiſte auch mit der beſten
Fuhre ſehr langſam. Fünf Meilen der Tag, zwei
Stunden die Meile, ſcheint der gewöhnliche Fortſchritt
geweſen zu ſein. Eine Entfernung von 20 Meilen war
zu Wagen nicht unter 3 Tagen zu durchmeſſen, in der
Regel wurden 4 dazu gebraucht.“
In England hatte man für die Briefbeförderung
ſchon länger die ſogenannten Schnellpoſten. Der preußiſche
Generalpoſtmeiſter von Nagler führt ſie 1824 auf deutſchem
Boden ein. Es erregt große Bewunderung, daß der Poſt-
wagen von Berlin nach Magdeburg, der vorher 2 Tage
und eine Nacht gebraucht, nunmehr den Weg in 15
Stunden zurücklegt. Die Perſonenpoſten zum Verkehr von
Perſonen, Briefen und Paketen zuſammen datiren in
Preußen erſt von 1838. Landbriefträger gab es 1846
erſt 571 in Preußen, 1856 ſchon 3868. Das Land-
briefträger-Inſtitut beförderte 1850 etwa 7⅘ Millionen
Briefe, 1856 ſchon 15 Millionen. 1
Die Briefportoreform ging von England aus; Row-
land Hill ſetzt 1840 die einſtufige Taxe durch; 1839
wurden in England 79, 1840 - 186, 1854 - 400,
1862 - 605, 1865 - 720 Millionen Briefe befördert.
In Preußen konnte noch 1844 ein Brief bis 19 Sgr.
koſten. Von Frankfurt a/M. bis Berlin koſtete er
8 Sgr., von Frankfurt a/M. bis Danzig 15 Sgr. Im
Jahre 1844 tritt die Ermäßigung auf höchſtens 6 Sgr.
[170]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
ein. Die Dresdener Poſtkonferenzen von 1847 — 48 und
der Poſtvereinstag von 1851 bringen die dreiſtufige
Brieftaxe, der norddeutſche Bund 1867 die einſtufige.
Die preußiſche Poſt beförderte 1840 - 36, 1854 - 90,
1861 - 140, 1862 - 148 Millionen Briefpoſtgegen-
ſtände. Die Hauptentwickelung fällt wieder nach 1850.
Die erſte regelmäßige Dampfſchiffahrt zwiſchen
Amerika und England wird 1838 eingerichtet; 1848
beſaß England 1100, 1866 3165 Dampfer; die
norddeutſche Handelsflotte zählt 1866 erſt 249 Dampfer.
Die großen regelmäßigen Dampferlinien des Weltver-
kehrs ſind meiſt erſt in den letzten Jahren eingerichtet
worden.
Die erſte Eiſenbahn wurde 1825 von Darlington
nach Stockton, mehr nur für den Kohlenverkehr eröffnet.
Die erſte wichtige Eiſenbahn war die 1830 zwiſchen
Mancheſter und Liverpool vollendete. Das preußiſche
Eiſenbahngeſetz ſtammt von 1838; erſt im Jahre 18421
kam dadurch Leben in die Sache, daß die Regierung
Zinſengarantien übernahm; im Jahre 1847 entſchloß
ſie ſich ſelbſt Hand ans Werk zu legen. Im Jahre 1840
exiſtirten in Preußen 17 Meilen Bahn, 1845 - 138,
1850-356, 1855-467, 1860-713, 1866-874 Mei-
len. Eine Meile Bahn kommt 1866 in Preußen auf
5,8 □ Meilen, in Frankreich auf 5,2, in Großbritannien
und Irland auf 2,0, in Belgien auf 1,5.2
[171]Die Eiſenbahnen und Telegraphen.
Die Telegraphenlinien ſind noch jünger. Die
Telegraphie wurde 1840 zuerſt an engliſchen Bahnen
angewandt. Erſt 1843 ließ die Direktion der rheini-
ſchen Eiſenbahn bei Aachen die erſte kurze Leitung aus-
führen. Der deutſch-öſterreichiſche Telegraphenverein hat
1856 Linien von 2317, 1865 von 5623 Meilen Länge
im Betrieb. Die Anzahl1 der in ganz Preußen beför-
derten Depeſchen betrug:
Damit im Einklang ſteht die Welthandelsentwicke-
lung, die ganz ähnlich in allen europäiſchen Staaten erſt
etwa von 1850 an ihren großen Aufſchwung nimmt.
Ich belege dieſe Thatſache nur mit einigen engliſchen,3
franzöſiſchen4 und deutſchen5 Zahlen.
Aber nicht bloß auf die großen Welthandelsſtraßen
muß man blicken, wenn man das heutige Wachſen des
Verkehrs ermeſſen will; eben ſo ſehr muß man ſich
erinnern, daß auch der bedeutende lokale Verkehr, die
meiſten Vicinalwege, die Landpoſtſtellen, die Landfahr-
gelegenheiten, die Droſchken und Omnibuſſe in den Städten
erſt Kinder der letzten Jahre und Jahrzehnte ſind.
Das Inſtitut der Fiaker entſtand 1630 in Paris.
In Berlin1 wurden 1739 durch Friedrich Wilhelm I.
15 Fiaker eingerichtet, die regelmäßig auf einigen der
größeren Plätze bereit ſtehen ſollten. Im Jahre 1780
[173]Der Welthandel und der ſtädtiſche Verkehr.
gab es deren 20. Erſt 1815 wurde das Berliner
Droſchkenweſen ordentlich polizeilich geregelt. Im Jahre
1836 exiſtirten etwa 300 bis 400 einſpännige Droſchken,
1848-839, 1860-999, 1865 dagegen ſchon 2077.
Die Omnibuſſe für den ſtädtiſchen Verkehr kommen
in Paris und London in den zwanziger Jahren auf. In
Berlin werden ſie 1846 eingeführt; es ſind 1848 erſt
19 Wagen, 1855-43, 1860-47, 1862-110, 1864
dagegen ſchon 393, die dieſem wichtigen Verkehrszwecke
dienen. Noch neuer ſind die Straßeneiſenbahnen; in
Berlin exiſtirt erſt ſeit wenigen Jahren die einzige Berlin-
Charlottenburger Linie, während hauptſächlich in Ame-
rika es deren in allen großen Städten ſeit 10 — 15
Jahren giebt, und ſie dort einen Hauptfaktor des enormen
Anwachſens der Städte bilden.1 Der Höhepunkt ſtädti-
ſchen Verkehrs wird freilich erſt erreicht durch die
Stadteiſenbahnen mit Dampfbetrieb, wie ſie vollſtändig
wohl erſt in London organiſirt ſind. Der Metro-
politan Railway2 transportirt jährlich 111 Millionen
Perſonen. Jeder ſoll dabei nur eine Stunde Arbeitszeit
gewinnen, ſo giebt das in dem einen Jahr ein Plus
von Arbeitszeit für die Londoner Bevölkerung von
111 Millionen Stunden oder, wenn man das Jahr
zu 300 Arbeitstagen und den Tag zu 10 Arbeitsſtunden
rechnet, von 38000 Jahren.
Nicht um ſtatiſtiſche Notizen zu häufen, habe ich
alle dieſe Zahlen mitgetheilt, ſondern um durch ſie
[174]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Maß und Zeit der großen Aenderungen einigermaßen
feſtzuſtellen, um durch ſie zu erklären, warum die
Kriſis der Handwerker in den vierziger Jahren beginnt,
um durch ſie anſchaulich zu machen, daß wir, in
Deutſchland wenigſtens, nur einen Theil der ganzen
Umwälzung hinter uns haben.
Die frühere Zeit, der die Verkehrsmittel fehlten,
mußte alle gewerbliche Thätigkeit lokaliſiren. Produktion
im eigenen Hauſe, im eigenen Dorfe, in der eigenen
Stadt, wenigſtens im eigenen Kreiſe, das war die Folge
davon, daß man Anderes nicht geſehen, nicht kennen
gelernt, daß man es, ſelbſt wenn man es kannte, nur
ſchwer beziehen konnte. Der perſönliche Reiſeverkehr,
der Brief- und Zeitungsverkehr, der uns jetzt leicht und
ſchnell Nachricht und Kenntniß des Vollkommenern überall
her bringt, iſt ebenſo wichtig für die Aenderung aller
Produktions- und Konſumtionsverhältniſſe, wie der
ſachliche Verkehr, der uns die Waaren ſelbſt bringt.
Alle größere, alle ſpezialiſirte Produktion, alle
weiter gehende Arbeitstheilung iſt erſt mit dieſem Ver-
kehr möglich geworden. Die Art der Produktion, wie
ſie früher nur für wenige leicht transportable Luxus-
gegenſtände üblich war, iſt jetzt erſt auf die Maſſe, auf
die Mehrzahl der gewöhnlichen Waaren anwendbar.
Deshalb hat dieſer neue Verkehr das Größte wie das
Kleinſte geändert. Ueberall und in allen Beziehungen
hat er die Fäden des wirthſchaftlichen Lebens ausein-
andergezogen, künſtlicher und komplizirter geknüpft, er
hat geſchäftlich und lokal — dem Wohnorte nach — die
Menſchen anders gruppirt, er hat den Handel wie die
[175]Die Folgen der Verkehrsänderungen.
Produktion, die Anſchauungen und Bedürfniſſe der
Menſchen, wie ihre Sitten und Lebensgewohnheiten
umgeſtaltet. Durch dieſen Verkehr vor Allem iſt es
anders geworden in der Welt, ſeit der Großvater die
Großmutter nahm, iſt es anders geworden in Haus
und Hof, am Familientiſch wie in der Geſindeſtube,
auf dem Jahr- und Wochenmarkt wie im Laden des
Städtchens, auf den großen Börſen wie auf den rie-
ſigen Stapelplätzen, wo zwei Welten ihre Schätze
tauſchen.
Die totale Aenderung der Verkehrsverhältniſſe und
die hieraus folgende Revolution in der ganzen Pro-
duktion und in der lokalen und geſchäftlichen Gruppirung
der Menſchen hat auch die Unzufriedenheit mit der früher
beſtehenden Gewerbe- und Niederlaſſungsgeſetzgebung erſt
ſo geſteigert, daß ſie mit Recht Beachtung verlangte.
Solange die Zuſtände ſich nicht weſentlich änderten, die
großen und kleinen Städte, Städte und plattes Land in
denſelben Verhältniſſen blieben, da war zwiſchen Gewerbe-
freiheit und einem Zunft- und Konzeſſionsſyſtem, das
liberal gehandhabt wurde, kein ſo großer Unterſchied.
Als aber alles in Fluß kam, als alle Zuſtände andere
wurden, als die Technik, die Arbeitstheilung, die Ge-
ſchäftsorganiſation total andere wurden, ohne daß die
Bureaukratie oder irgend Jemand anders die Tragweite
der nothwendigen Aenderungen und Ueberſiedlungen auch
nur entfernt ermeſſen konnte, da erſt hörte jede Mög-
lichkeit, ein ſtaatliches Zunft- und Konzeſſionsweſen,
einen in alter Weiſe polizeilich kontrolirten Detail- und
Hauſirhandel der realen Umbildung entſprechend zu leiten,
[176]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
auf. Da mußte man freien Spielraum geben, wenn
man auch manchen Mißſtänden, manchem modernen
Schwindel dadurch ebenfalls freie Bahn gab. Durch
eine bureaukratiſche Leitung ſchadete man zu viel, hemmte
man die nothwendige, den Wohlſtand im Ganzen jeden-
falls außerordentlich befördernde gewerbliche und Verkehrs-
revolution zu ſehr.
Bleiben wir zunächſt beim Kleinſten und Größten,
bei der Umbildung der Familienwirthſchaft und der
veränderten lokalen Vertheilung der ganzen Bevölkerung
ſtehen.
Wenn ich davon ſpreche, was in der Familie ſeit
drei Generationen anders geworden iſt, ſo bleibe ich
nicht dabei ſtehen, was der Verkehr geändert hat. Es
iſt mir gleichgültig, ob der ſich ändernde Verkehr die
erſte, die Umbildung der Produktion die zweite Urſache
iſt; ich kann nicht genau ausſcheiden, wie viel auf die
erwähnten Urſachen, wie viel auf Rechnung des größern
Wohlſtandes und Kapitalbeſitzes kommt. Weſentlich iſt
mir ja nur, zuſammenfaſſend zu zeigen, wie alle dieſe
Urſachen in Verbindung mit der ganzen Lebensrichtung
der neuen Zeit dem wirthſchaftlichen Leben der Familie
und damit dem Handwerke eine andere Stellung gegeben
haben.
Roſcher erzählt nach Eden, daß noch zu Ende des
vorigen Jahrhunderts der Bauer in Hochſchottland Weber,
Walker, Färber, Gerber, Schuſter in eigener Perſon
war; es galt noch das alte Wort „every man Jack
of all trades.“ Das iſt theilweiſe bei uns noch ſo in
den rein agrariſchen Gegenden. Noch 1861 kommen in
[177]Die frühere Wirthſchaft der Familie.
der Provinz Preußen auf 765 gewerbsmäßige Linnen-
webſtühle 114550, die in den Bauerhäuſern ſtehen und
dort weſentlich mit für den eigenen Bedarf arbeiten.
Hoffmann berichtet 1837, daß die Landbevölkerung
Preußens meiſt das ſelbſtgewebte ſogenannte Wand, ein
tuchartiges ſtarkes wollenes Gewebe, zu Oberröcken und
Mänteln trägt. Noch ſchlachtet in vielen Gegenden der
Bauer zu Anfang des Winters ſeine Kuh und ein oder
zwei Schweine für den Winter, von dem eigenen Backen
des Brotes gar nicht zu reden. Noch ſoll in Oberbaiern
in manchen Dörfern, wenn ein Haus gebaut wird, die
ganze Gemeinde zuſammen helfen. „Am mittleren Inn“
— heißt es in der Bavaria1 — „beſteht noch die Sitte,
daß die Bauern mit ihren Leuten unter Beihilfe weniger
Handwerker die Häuſer ſelbſt bauen; ſogar die Ziegel
zu den Mauern werden nicht ſelten von den Landleuten
ſelbſt bereitet; alle Arbeiten der Handwerker, ſelbſt der
Tiſchler und Maler, werden auf der ſogenannten „Stör“
beſorgt; der Bauherr liefert die Rohſtoffe, beköſtigt die
Arbeiter und zahlt gewöhnlich noch einen Tagelohn.“
Noch iſt es der Polizei nicht ganz gelungen, die Spinn-
ſtuben Oberbaierns zu ſchließen, wo die Frauen und
Mädchen ſpinnen, die Burſchen Späne ſchneiden und
allerhand Schnitzwerk fertigen.
So wie es auf dem Lande noch heute zugeht, ſo
und ähnlich ging es im ſtädtiſchen Bürger- oder Beamten-
hauſe noch vor 60, noch vor 30 Jahren zu. Weſſen
Erinnerung zurückreicht in das großelterliche Haus, das
Schmoller; Geſchichte d. Kleingewerbe. 12
[178]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
noch vor dem Anfang dieſes Jahrhunderts begründet
wurde, der kann ſich eine Vorſtellung davon machen,
was wir meinen. Wem dieſe Erinnerung fehlt, der
möge einen Blick in Kießelbach’s reizende Skizze über die
„drei Generationen“1 werfen. Ich will nur mit einigen
Worten an jene Zeit erinnern.
Die Spindel war noch immer das Symbol der
Hausfrau; ſelbſtgeſponnenes Linnen zu tragen, war
Ehre und Stolz; eine heilſame Sitte war es, daß in
allen Kreiſen die Jungfrau nicht für eigentlich berechtigt
galt zur Ehe zu ſchreiten, ehe ſie die Ausſteuer aus
ſelbſtgeſponnenerLeinwand beſchaffen konnte. Dem Weber
des Hauſes wurde das Garn überliefert, er hatte die
Leinwand zu fertigen; für die Bleiche ſorgte wieder die
Hausfrau. Aber nicht nur an Leinwand, auch an Tuch,
ſelbſt an Leder hielt man eigene, ſorgfältig bereitete oder
gewählte Vorräthe; die Schränke mußten wohlgefüllt ſein.
Das Weißzeug, die Kleider, die Beſchuhung ſelbſt wurden
im Hauſe gefertigt; der Schneider, der Schuſter kam
dazu als techniſcher Gehülfe.
Auch Polſterwaaren und Betten entſtanden in ähn-
licher Weiſe. Von ſelbſt geſchlachtetem Geflügel wurden
die Federn durch eine Schaar eigens ſich hiezu ver-
miethender Weiber ausgeleſen; das Roßhaar wurde ſorg-
fältig gereinigt; der Polſterarbeiter mehr als jeder andere
mußte unter dem Auge der Hausfrau arbeiten, damit
die Füllung der Bettſtücke, der Matratzen, der Sophas
ſicher mit dem gewählten Material und in der gewünſchten
[179]Die frühere Wirthſchaft der Familie.
Menge erfolgte. Bei Gründung der Haushaltung, wie
bei Erweiterungen derſelben wurde der Tiſchler beauftragt,
dieſe beſtimmten Stühle und Tiſche, Bettſtellen und
Schränke nach Maß und Vorſchrift zu fertigen. Alljähr-
lich erſchien er wenigſtens einmal bei der großen min-
deſtens eine Woche dauernden Reinigung, um zu helfen,
auszubeſſern, aufzupoliren.
Dieſer Reinigungszeit ähnlich an Unruhe und
Mühſal war die große Wäſche, die alle zwei oder drei
Monate gehalten wurde, welche wieder verſchiedene Ge-
werbe beſchäftigte, von dem Kübler oder Böttcher, der
die Gefäße herrichtete, und den Waſchfrauen, die am
erſten Tag Morgens um 2 oder 3 Uhr in hellen Haufen
vor das Haus rückten, bis zu den Plättfrauen, die am
letzten Tag die häusliche Ruheſtörung abſchloſſen.
Wichtiger als All das war die Thätigkeit für Küche
und Keller. Das Gemüſe, das Obſt zog man möglichſt
im eigenen Garten; man hatte ſeinen Gärtner, der an
beſtimmten Tagen erſchien, wie ſeinen Rebmann oder
Weingärtner, der den eigenen Weinberg beſtellte, die
Rebengelände am Hauſe aufband. Das Holz wurde in
großen Klaftern gekauft; eine Reihe von Tagen arbeitete
der Holzſpalter mit ſeinen Jungen und Gehülfen im
Hauſe. Die Hauptſorge der Hausfrau aber bezog ſich
auf die Wintervorräthe, die man theils ſelbſt produ-
zirte, theils einkaufte; bis Alles in Ordnung war, hatten
aber mancherlei Handwerker dabei zu thun. Zum Ein-
ſchneiden und Einlegen des Sauerkrauts kann eine beſon-
dere Frau mit ihrer Maſchine, den ſelbſtgekauften Weizen
oder Roggen ließ man in der Mühle mahlen, das
12 *
[180]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Brot wurde ſelbſt gefertigt; wenn man keinen eigenen
Backofen hatte, wurden die Laibe in den Gemeinde-
backofen oder in den Ofen des Bäckers gebracht und da
fertig gebacken. Die Sorge für den Keller und ſeine
Weinſchätze, die Sorge für Inſtandhaltung der zahl-
reichen Fäſſer, die Beobachtung der Gährung des neuen
Weins, die Nachfüllung der Fäſſer, in denen der alte
Wein ſich befand, das war dem Küfer anvertraut, der
jede Woche einmal kam, die Kellerſchlüſſel erhielt und
ein paar Stunden ſich im Keller zu thun machte. Der
Hauptfeſttag aber war der des Schlachtens. Der Flei-
ſcher mit ſeinen Geſellen hatte ein oder mehrere Tage
zu thun, bis die einzelnen Stücke in der richtig kompo-
nirten Salzlauge lagen, bis die Würſte dutzend- und
hundertweiſe im Rauche hingen.
Kam endlich noch Landwirthſchaft hinzu, hielt man
Pferde, dann wurde auch der Sattler, der Stellmacher
oder Wagner, der Schmied in ähnlicher Weiſe beſchäftigt.
Sie kamen ins Haus, zu beſtimmten Zeiten oder herbei-
gerufen, erhielten einen beſtimmten Tage- oder Stücklohn,
theilweiſe Averſalſummen fürs ganze Jahr, daneben meiſt
auch Koſt, Brot, jedenfalls einen Trunk Wein, Bier
oder wenigſtens Apfelmoſt.
Das Handwerkszeug und einige Hülfsſtoffe hatte
der Meiſter zu liefern, ſonſt brauchte er für dieſe Art
der Geſchäfte kaum Vorräthe an Rohſtoffen zu halten,
noch weniger an fertigen Waaren. Er hatte daneben wohl
auch Vorräthe und Waaren zum Verkauf, aber ſelten in
ausgedehntem Maße; dazu fehlte der ſichere Abſatz, wie
das Kapital. Die Hausfrau mußte alſo die Vorräthe
[181]Die heutige Wirthſchaft der Familie.
halten. Waaren im Vorrath zu arbeiten, Möbel, Ge-
räthſchaften, Kleider, Schuhe auf Lager zu halten, war
auch deswegen nicht ſo leicht wie heute, weil mit dem
mangelnden Verkehr die individuelle Liebhaberei, die
Eigenart jedes Individuums mehr im Vordergrund ſtand,
weil entſprechend dem geringern Wohlſtand die Kaufenden
oder Beſtellenden damals viel mehr als heute ausſchließ-
lich der Klaſſe angehörten, die das nicht beſitzen will,
was tauſend Andere in gleicher Form haben.
Heute iſt das Alles, beinahe Alles anders geworden
in jeder halbwegs moderniſirten Stadt. Vorräthe hält
man nicht mehr, — Handlungen aller Art ſind ja in
der Nähe, die Jahr aus Jahr ein bieten, was man
braucht. Man kauft fertige Hemden, fertige Kleider und
Schuhe, fertige Möbel, auf Flaſchen abgezogenen Wein;
Brot und Fleiſch wird ins Haus gebracht, theilweiſe gar
das Eſſen; die amerikaniſche Sitte, welche auch für
ganze Familien das Leben im Boardinghauſe, im Gaſt-
hofe geſtattet, beginnt auch bei uns Nachahmer, Ver-
theidiger zu finden. In großen Etabliſſements läßt
man waſchen. Man hat in den größern Städten weder
zum Halten der früheren Vorräthe, noch zur Vornahme
aller jener früheren Verrichtungen die Räume.
Der Laudator temporis acti ſieht nur mit Weh-
muth dieſe Aenderungen. Und es iſt wahr, daß in der
Art und Weiſe, wie früher die Wirthſchaft einer Familie
geführt wurde, viele Motive und Veranlaſſungen zu
einem geordneten Leben lagen. Vorſicht und Sparſamkeit
vor der Ehe, Umſicht und Fleiß, haushälteriſcher Sinn
und angeſtrengte Thätigkeit in der Ehe hingen damit
[182]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
zuſammen. Aber ſollten dieſe moraliſchen Eigenſchaften ſo
ausſchließlich mit einer einzigen Art äußerlichen Wirth-
ſchaftens verknüpft ſein? Sollten die Menſchen nothwen-
dig wichtige Eigenſchaften verlieren, wenn einige äußere
Veranlaſſungen zu Fleiß und Sparſamkeit nicht ſowohl
ganz wegfallen, als andere Form gewinnen. Die Aende-
rungen ſind Folgen wahrer techniſcher Fortſchritte, und
ſomit muß man ſich ihrer bedienen; immer muß es
möglich bleiben, auch mit der neuen Art des Wirth-
ſchaftens das Leben ſo zu geſtalten, daß die alten wirth-
ſchaftlichen Tugenden dieſelben bleiben.
Und das wird ſelbſt der eifrigſte Freund des Alten
zugeſtehen, daß in den höhern Kreiſen die Tugenden
des Fleißes, der Thätigkeit nicht verſchwunden ſind, daß
ſie nur eine andere Richtung erhalten haben. Es wurde
früher für geringen Effekt viel geiſtige und körperliche
Arbeitskraft mit viel Geräuſch und viel Unruhe ver-
ſchwendet. Die Arbeitskraft der helfenden kleinen Meiſter
war nicht ausgenutzt; mit Laufereien, mit Warten und
Herumſchlendern wurde viel Zeit verſäumt. Die Leiſtun-
gen nach techniſcher Seite konnten nur unvollkommen ſein.
Eine beſſere Zeiteintheilung und Arbeitstheilung gibt jetzt
beſſere Leiſtungen und Produkte mit geringerem Aufwand.
Das Familienleben hat an Ruhe und an Möglichkeit
geiſtiger und gemüthlicher Vertiefung gewonnen.
Weniger freilich wird man das von den untern
Klaſſen ſagen können. Da hat die Leichtigkeit, Alles
fertig im Laden zu kaufen, ſtatt es durch die Thätigkeit
der Hausfrau entſtehen zu laſſen, bis jetzt moraliſch eher
ungünſtig gewirkt. Indolenz, Unluſt zu weiblichen Ar-
[183]Vergleich der alten und neuen Zeit.
beiten, ſelbſt Ungeſchicklichkeit zu backen und zu kochen
einerſeits, Frauenarbeit außer dem Hauſe andererſeits
ſind zuſammenhängende traurige Beigaben der neuen
Entwicklung. Aber auch hier ſind dieſe Folgen keine
nothwendigen; überdies iſt gerade in dieſen Kreiſen,
beſonders auf dem Lande, die alte Art der Wirthſchafts-
führung noch überwiegend und wird es noch lange bleiben.
Aber ich vergeſſe, daß ich hier nicht von den
moraliſchen Folgen dieſer Aenderung für das Familien-
leben, ſondern von den Folgen für den Handwerkerſtand
zu ſprechen habe. Der Handwerker war früher ein
techniſcher Arbeiter, thätig für eine Anzahl ihm perſönlich
nahe ſtehender Familien. Jetzt dagegen tritt das Ver-
kaufen fertiger Waaren immer mehr in Vordergrund;
der Handwerker muß die Stoffe einkaufen, Lager halten,
mit Borräthen ſpekuliren; dazu gehört Kapital, kauf-
männiſche Bildung, eine höhere ſoziale Stellung. Eine
viel kleinere Zahl größerer Geſchäfte wird übernehmen,
was früher eine größere Zahl einzelner techniſcher Ar-
beiter d. h. kleiner Meiſter mit den Hausfrauen zuſammen
beſorgte.
Ich werde davon im folgenden Abſchnitt noch weiter
zu ſprechen haben; vorher iſt es nöthig, noch von der
wichtigſten Vorbedingung der ganzen Umwandlung zu
ſprechen. All das Erwähnte vollzieht ſich hauptſächlich
in den großen Städten. Die veränderte Vertheilung der
Bevölkerung iſt mit die wichtigſte Folge der neuen Ver-
kehrsmittel.
Am klarſten hat man die Wirkung der Eiſenbahnen
auf die Bevölkerungsvertheilung in den Vereinigten
[184]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Staaten von Nordamerika vor ſich, und zwar deswegen
klarer als irgend wo anders, weil hier die ganze Kultur
erſt mit den Eiſenbahnen entſteht. Keine zahlreichen
Dörfer und Marktflecken, keine kleinen überall zerſtreuten
Städte, ſondern einzelne Farmen und Rieſenſtädte, in
denen ſich Handel und Induſtrie konzentriren, die in
wenigen Jahren um Hunderttauſende zunehmen, das iſt
das Bild, das ſich uns dort bietet.1 Das rieſige Anwachſen
der Städte ſpiegelt ſich am ſicherſten in den Boden-
und Miethpreiſen. „Eine Wohnung, welche in Leipzig,
Dresden oder Berlin 100 Thaler koſten würde, koſtet
in den beſſern Theilen von Newyork und Boſton
5—800 Thlr. jährlich.“2 Auch der Ackerboden ſteht in
der Nähe dieſer Rieſenſtädte ja höher im Preiſe als in
Europa.3
Im alten Europa iſt die Wirkung langſamer; die
beſtehenden Verhältniſſe ſtammen aus einer andern Zeit,
und ſie bleiben zunächſt maßgebend. Wo der kleine
Beſitz vorherrſcht, da exiſtiren ſeit dem Mittelalter die
großen Dörfer, die kleinen Landſtädte. Bis zur Zeit
der Eiſenbahnen hat der ſteigende Verkehr in der Form
der Poſten und der Frachtfuhrwagen dieſe kleinen Ver-
[185]Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit.
kehrsmittelpunkte noch begünſtigt. Die Klagen aus dem
vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte
ſind mehr auf die allgemeinen Urſachen gewerblichen Still-
ſtands zurückzuführen; theilweiſe ſind ſie nur Ausdrücke
egoiſtiſcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte
Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande
zulaſſen; theilweiſe beruhen ſie auf einem Irrthum. Sie
beziehen ſich auf Orte, die niemals größer waren, Orte,
welche erſt in der Zeit des kleinſtaatlichen Despotismus
— der Märkte und der unbeſchränkten Aufnahme von
Gewerbtreibenden wegen — die Verleihung des Stadt-
rechts an ſie durchſetzten, und die nun gegenüber ſtädtiſchen
Begriffen und Anſprüchen doch zu klein waren. Ein
Rückgang der kleinen Städte als ſolcher iſt ſicher im
vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen
Territorien Deutſchlands beförderten ebenfalls eine gleich-
mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine
Reſidenz, dort eine Univerſität, da war Garniſon, dort
eine Kriegs- und Domänenkammer, ein Oberlandes-
gericht.
Dieſe beſtehenden Verhältniſſe ändern ſich nur ſchwer
und langſam, aber immer ſind ſchon weſentliche Umbil-
dungen eingetreten. Die volkswirthſchaftlichen Aenderun-
gen machen ſich nach und nach unerbittlich geltend. In
Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor
Allem an die Reſultate von Roſcher’s Unterſuchung über
den Standort der Induſtriezweige erinnern.1 Er führt
aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen
[186]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Verkehrs, in Zeiten, in welchen beinahe nur die Luxus-
induſtrien ſtärker ſich entwickeln, die Gewerbe den Markt-
mittelpunkt aufſuchen, da produziren, wo ſie auch gleich
verkaufen können. Mit der Zeit, ſo zeigt er weiter,
wird das anders. Der Verkehr hat ſich gehoben, der
Waarentransport iſt ſchon leichter; in den Hauptſtädten
iſt das Leben und der Boden ſchon ſehr theuer geworden;
die Maſſeninduſtrien fangen an ſich zu entwickeln, ſie
bedürfen der ſchweren Rohſtoffe, der Erze, der Kohlen,
ſowie der zahlreichen Arbeiter. Die Induſtrie decentraliſirt
ſich, ſie zieht dem Urſprungsort der Rohſtoffe, ſie zieht
der Waſſerkraft, dem billigen Arbeitslohn nach. Erſt
mit der Vollendung der Eiſenbahnen wird das wieder
anders. Die Lebensmittel können nun viel leichter aus
weiter Ferne zur Stadt geführt werden. Das Wachſen
iſt möglich ohne Steigerung der Lebensmittelpreiſe und
der Löhne; und nicht nur Fleiſch und Getreide, auch
Kohlen, Eiſen, Wolle, Baumwolle können jetzt billig
Hunderte von Meilen weit her bezogen werden. Der
billige und leichte Kredit in den Städten, die Leichtigkeit
des Abſatzes, die mannigfaltige Förderung durch perſön-
liche Berührung und perſönliche Bekanntſchaft, die Hülfe
ineinander greifender Induſtrien, die größere Möglichkeit,
Abfälle zu verwerthen, die techniſchen und künſtleriſchen
Bildungsmittel der Großſtädte werden jetzt das Ent-
ſcheidende.
Und wie die Induſtrie, ſo konzentrirt ſich auch der
Handel; ein Mittelglied nach dem andern fällt aus,
weil der Verkehr ſo viel leichter geworden iſt. Der
Getreidehandel von Poſen und Breslau geht jetzt direkt
[187]Die Anziehungskraft der Städte.
an den Rhein; er braucht die vermittelnden Handels-
häuſer in Mitteldeutſchland nicht mehr. Der große Holz-
handel von Süddeutſchland nach Holland ging früher
durch mehrere Hände; der Holzhändler auf dem Schwarz-
wald, in Heilbronn, in Mannheim verkaufte an den
Kölner, der Kölner an den Holländer; jetzt kauft der
Commis voyageur des Holländers direkt in den Wäldern
bei den Auktionen. Der Kolonialwaarenhandel hat ſich
weſentlich umgebildet; der kleinſte Krämer fängt an,
direkt von dem Antwerpener und Hamburger Großhändler
zu kaufen, um die Speſen zweiter und dritter Hand zu
erſparen. Weſtfäliſche Hütten laſſen die Provinz Preu-
ßen bereiſen und führen ſelbſt die kleinſten Aufträge
direkt aus.1 Die großen Plätze nehmen zu, die kleinen
ab. Auf den großen Plätzen iſt jeder Käufer ſicher,
durch keine Zufälligkeiten getrübte, durch lebendige Kon-
kurrenz feſtgeſtellte Stapelpreiſe zu erhalten; der Bezug
von den großen Plätzen wird durch die billigen Frachten
auf weite Entfernungen erleichtert.
Und das ſind noch nicht die einzigen Urſachen, welche
heute immer größere Menſchenmengen nach den großen
Städten ziehen. Soziale und ſittliche, reſp. unſittliche
Motive aller Art wirken da mit; Bildungs- und Erzie-
hungsintereſſen, die Anziehung, welche die geiſtig hoch-
geſpannte Atmoſphäre jeder Großſtadt übt, das Intereſſe
am Mittelpunkt von Politik und Literatur zu ſein, dann
wieder die Ausſicht auf erlaubte und unerlaubte Genüſſe
[188]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
aller Art, die Eitelkeit, welche dem Geſellen und Bauer-
jungen, der in der Großſtadt diente, die Bedientenlivree
mit ihren Reizen verführeriſcher macht, als eine ſelbſtän-
dige Stellung auf dem Lande, — auch die Hoffnung
auf eine beſſere Armenverpflegung, hauptſächlich aber der
Gedanke zahlloſer halb und ganz verlorener Exiſtenzen,
dort in dem großen Getriebe irgend eine Chance zu
finden, ehrlich oder mit Betrug und Schwindel in dem
wechſelvollen Hazardſpiel des großſtädtiſchen Lebens einen
Treffer zu ziehen, — all das wirkt zuſammen. Wie
einfache Zeiten einen Abſcheu vor den engen Mauern
der Stadt haben, ſo ſtürzen ſich hoch- und überkultivirte
in den Strudel des ſtädtiſchen Lebens. Im ſpätern
römiſchen Reich war das platte Land verödet, Alles
wollte an den Genüſſen der Städte theilnehmen.
Ich brauche dieſe allgemeine Richtung unſerer Zeit
nicht weiter zu ſchildern; ſie iſt Jedem bekannt; es
handelt ſich hier vielmehr wieder, wie bei den obigen
Fragen darum, feſtzuſtellen, wie weit ſie bei uns in
Deutſchland und ſpeziell in Preußen bis jetzt ſich durch-
geſetzt hat, in wie weit ihr andere Thatſachen, die ein-
mal decentraliſirte Induſtrie, die beſtehende Bodenver-
theilung, die Anhänglichkeit an die engere und engſte
Heimat und manches Andere bis jetzt das Gleichgewicht
gehalten haben.1
[189]Städtiſche und ländliche Bevölkerung.
Berechnet man zunächſt die ganze ſtädtiſche und die
ganze ländliche Bevölkerung verſchiedener Staaten nach
den Ausweiſen der amtlichen Statiſtik, ſo iſt der Begriff
der „ſtädtiſchen Bevölkerung“ ja nicht überall und nicht
jederzeit gleich, aber ungefähr laſſen ſich die Zahlen
doch vergleichen, wie es auch Wappäus, deſſen Reſultate
ich anführe, gethan hat. In Preußen zählen bekannt-
lich bei den ſtatiſtiſchen Aufnahmen diejenigen Orte als
Städte, denen dieſes Prädikat nach dem beſtehenden Ver-
waltungsrecht zukömmt. Es waren ſchon 1816-935
Orte, 1861 ſind es gerade 1000, von welchen etwa ¾
über 1500, nur wenige unter 600 Einwohner haben.
Die Ausdehnung der Bezeichnung „Stadt“ auf eine
Anzahl früher nicht ſo bezeichneter Orte iſt von keiner
ſo großen Bedeutung, daß nicht zeitlich die verſchiedenen
Zahlen verglichen werden könnten.
Die ſtädtiſche Bevölkerung betrug nach Wappäus in
den beigefügten Jahren folgende Prozente der Geſammt-
bevölkerung:
[190]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Von den engliſchen Zuſtänden iſt man auf dem
Kontinent noch ſehr weit entfernt. In einzelnen kleineren
Diſtrikten freilich zeigen ſich ſchon andere Verhältniſſe.
Es beträgt die ſtädtiſche Bevölkerung:
In den andern Regierungsbezirken ſchwankt ſie zwiſchen
9,8 (Gumbinnen) und 31,5 % (Erfurt).
Iſt ſo zunächſt gegenüber andern Ländern die An-
häufung der Bevölkerung in den Städten immer noch
eine mäßige, ſo kommt die weitere Frage: iſt das ein
ſtabiler Zuſtand, oder beginnen auch bei uns die Ver-
hältniſſe ſich zu ändern?
Horn2 ſucht zu zeigen, daß man die Zunahme der
ſtädtiſchen Bevölkerung in Preußen ſehr übertreibe; er
ſagt, in den 19 Jahren von 1831 — 49 habe in Preu-
ßen dieſe ſtädtiſche Bevölkerung nur zugenommen von
27,4 % auf 28,3 %; das ſei keine weſentliche Aende-
rung. Die hiervon etwas abweichenden Zahlen Legoyt’s
ergeben für Preußen allerdings eine geringere Aende-
rung als für Frankreich. Die Prozente der ſtädtiſchen
Bevölkerung waren nach ihm:
[191]Die preußiſche ſtädtiſche Bevölkerung.
Doch iſt das auch für Preußen keine ganz unbedeutende
Zunahme und wenn vollends 1858 die Städte 29,6, 1861
30,4, 1864 31,07 % 1 ausmachten, ſo ſieht man, daß der
Zug nach den Städten immer nicht ſo klein iſt, daß er von
1831 - 51 vielleicht unbedeutend, dagegen 1851 - 64
ſehr wirkſam auftritt. Und dabei iſt nicht zu überſehen,
daß in dem Geſammtdurchſchnitte der Städte die vielen
ſtabilen ganz kleinen Landſtädte ſtecken; ohne ſie würde
der ſtädtiſche Zuwachs bedeutend größer ſich darſtellen.
Das erklärt ja auch allein, daß nach den Berechnungen
des amtlichen Jahrbuchs die geſammte ländliche Bevölke-
rung von 1816 bis 1858 nicht viel weniger zunahm
als die ſtädtiſche, von 100: 167, während die ſtädtiſche
von 100 : 181 ſtieg.
Was nun aber das Verhältniß der verſchiedenen
Städte unter ſich betrifft, ſo iſt klar, daß die Zeit bis
gegen 1850 eine andere war, als die von 1850 bis
1869, und ebenſo unzweifelhaft iſt, daß, abgeſehen von
den Großſtädten, die Mittelſtädte von den Verkehrs-
änderungen anders berührt werden, als die ganz kleinen
Acker- und Beamtenſtädte. Vollſtändige Unterſuchungen,
die dieſe Frage nach allen Seiten hin abſchließend lösten,
beſitzen wir leider nicht. Von den vorhandenen hebe ich
die von Dieterici und Schwabe hervor.
Dieterici’s Unterſuchung geht auf die Zeit von
1840 - 55. Er ſucht zu beweiſen, daß in dieſer Zeit
nicht bloß und nicht am meiſten die großen, ſondern
[192]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
auch die Mittelſtädte zugenommen haben; daß nicht bloß
die hauptſtädtiſche Induſtrie, ſondern auch andere Ele-
mente, Bergbau, ländliche Gewerbe, Landwirthſchaft
am Wachsthum theilhaben.
Ich führe nur einige Zahlen an. Im Regierungs-
bezirk Düſſeldorf ſind an mittleren Städten von 1840-55
ſtark gewachſen: Dülken von 100 auf 157, Duisburg
auf 165, Eſſen auf 203, Gladbach auf 157, Greven-
broich auf 134, Hückeswagen auf 296, Kaiſerswerth auf
135, Langenberg auf 133, Mülheim an der Ruhr
auf 133, Orſoy auf 133, Rheydt auf 153, Ruhrort
auf 178, Solingen auf 154, Süchteln auf 169,
Velbert auf 155, Vierſen auf 162. Aehnliches zeigt
ſich in der Mark: Angermünde ſtieg in derſelben Zeit
(1840-55) von 100 auf 136, Bernau auf 141, Bie-
ſenthal auf 132, Brandenburg auf 134, Charlottenburg
auf 144, Köpnik auf 132, Frieſack auf 132, Kremmen
auf 142, Luckenwalde auf 141, Rhinow auf 151,
Saarmund auf 158, Spandau auf 143, Werder auf
130, Wittenberge auf 201; das ſind meiſt gegen oder
über 3 % jährliche Zunahme. Von den großen Städten
(über 30000 Einw.) ſtieg Breslau in derſelben Zeit von
100 auf 131, Köln auf 142, Königsberg auf 118,
Magdeburg auf 129, Danzig auf 109, Aachen auf
123, Stettin auf 147, Krefeld auf 174, Barmen auf
134, Elberfeld auf 130, Poſen auf 128, Halle auf
126, Potsdam auf 120, Frankfurt auf 124; ſie ſind
alſo meiſt nicht ſo ſtark gewachſen, wie die Mittelſtädte.
Von den ſämmtlichen kleinern Städten iſt nur durch-
ſchnittlich eine von 11 in dieſer Zeit zurückgegangen;
[193]Die preußiſchen Städte 1840—55.
in der Provinz Sachſen z. B. nur Bitterfeld, Düben,
Stolberg, Burg, Dardesheim, Hornburg, Kroppenſtedt,
Oſterwieck, Salzwedel, Wanzleben, Ellrich, Tennſtedt,
Thamsbrück, Treffurt, alſo 14 von 138 kleinern Städten.
Die ganze Zeit von 1840—55 hat noch mehr die Rich-
tung auf Decentraliſation der Induſtrie; noch iſt die
Wirkung der Eiſenbahnen keine ſo beherrſchende wie ſpäter.
Auch ſpäter aber nehmen nicht alle kleinen, noch
weniger alle Mittelſtädte ab. Auf dieſe Zeit und auf
die Wirkung der Eiſenbahnen erſtreckt ſich Schwabe’s
Unterſuchung. Er faßt ſeine Reſultate in folgenden
drei Sätzen zuſammen: „1) Unter den mittleren und
kleinern Städten wirken die Eiſenbahnen hauptſächlich
auf diejenigen, welche ſich durch einen vorherrſchend gewerb-
lichen oder induſtriellen Charakter auszeichnen. 2) Der
Vermehrung der übrigen mittleren und kleinen Städte
entziehen die Eiſenbahnen vielfach Terrain, namentlich
wird die Bevölkerungszunahme der kleinen Städte ſichtlich
abgeſchwächt. 3) Bloß die großen Städte, ſo zu ſagen
die Knotenpunkte des Verkehrs, nehmen durch die Eiſen-
bahnen zu.“ Schwabe illuſtrirt dieſe Behauptungen durch
folgende Tabelle. Es betrug in Prozenten der geſammten
Bevölkerung die Einwohnerzahl
Ich füge dieſen Zahlen die von mir gemachte Berech-
nung1 bei, wie ſich die ganze ſtädtiſche Bevölkerung im
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 13
[194]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Jahre 1864 auf die verſchiedenen Größenklaſſen ver-
theilt. Von den 5,98 in Städten lebenden Millionen
Menſchen, welche ſelbſt 31,07 % der ganzen Bevölkerung
ausmachen, kommen auf
Beinahe die Hälfte der ſtädtiſchen Bevölkerung kommt
alſo noch auf die kleinen Städte, welche bis 10000 Ein-
wohner haben, ein Drittel beinahe freilich auf die
großen und ganz großen Städte!
Die letzte Tabelle iſt geeignet, die Behauptungen
Schwabe’s nicht abzuſchwächen, aber doch ſie auf ihr
richtiges Maß zurückführen. Eine große Aenderung iſt
im Begriff ſich zu vollziehen, aber noch ſind die frühern
beſtehenden Verhältniſſe dadurch nicht weſentlich umge-
ſtaltet. Auch jetzt noch wachſen viele kleine Städte, auch
jetzt noch nehmen viele Mittelſtädte ſtärker zu, als die
ganz großen. Die Induſtrie iſt einmal in vielen Theilen
Deutſchlands mehr decentraliſirt, und ſo erfolgt das
weitere Wachsthum an den Punkten der beſtehenden
gewerblichen Thätigkeit. Im Königreich Sachſen haben
viele der Weber- und Bergbaudörfer, der Vorſtadt-
und Gärtnerdörfer bis in die neueſte Zeit ſo ſtark
zugenommen wie irgend eine Stadt.1 Chemnitz nahm
1861—64 um 18,73 %, alſo jährlich um 6 %, Glau-
chau in derſelben Zeit um 16,34 %, Oelsnitz um
[195]Die preußiſchen und ſächſiſchen Städte 1864.
15,79 %, alſo beide jährlich auch über 5 % zu. Berlin
hatte, während die ganze preußiſche Bevölkerung jähr-
lich um ½ — 1½ % zunimmt, 1736 — 85 jährlich um
2,38 %, 1786—1802 jährlich um 1,15 %, 1802—46
um 2,93 %1 zugenommen, erſt in letzter Zeit ſtieg die
Zunahme auf 3—4 %2 jährlich. Das iſt eine unge-
heure Zunahme, aber immer iſt ſie noch nicht ſo groß,
als die der mittleren ſächſiſchen Induſtrieſtädte.
All das iſt ſehr wichtig für das Handwerk. Der
Zug nach den Großſtädten vernichtet das kleine Hand-
werk; die entgegenſtehende Erhaltung der kleinern und
der Mittelſtädte friſtet das Daſein des kleinern ein-
fachern Handwerksbetriebs.
13 *
[[196]]
2. Die neuere Art der Produktion.
Die verſchiedenen Arten des heutigen Handwerks. Das Klein-
gewerbe im Dienſte der großen Induſtrie. Die Reparatur-
gewerbe. Das Ausarbeiten heutzutage. Der Charakter des
neuen ſpezialiſirten Handwerks und ſeine Vorausſetzungen.
Beiſpiele deſſelben. Uebergang mancher Handwerke zur Haus-
induſtrie. Die Organiſation der Hausinduſtrie; die Verhältniſſe,
welche ihren Uebergang zur Fabrik wünſchenswerth machen; die
Verhältniſſe welche die Hausinduſtrie erhalten. Das Genoſſen-
ſchaftsweſen. Die Nürnberger Hausinduſtrie.
Die letzten Bemerkungen über die Zunahme auch
der kleinern Städte deuteten ſchon darauf hin, daß der
Umſchwung im Handwerksbetrieb immer bis jetzt nur ein
partieller iſt. Mancherlei Umbildungen ſind erſt in ihren
Anfängen vorhanden; ſie werden für manche Verhältniſſe,
beſonders für das platte Land niemals erreichbar ſein,
weil eben hier die Bedürfniſſe, die Verkehrseinrichtungen
andere ſind. Die Eigenart mancher Gewerbe und der
von ihnen produzirten Waaren ſchließen theilweiſe die
modernen Veränderungen aus. Vorerſt aber möchte ich von
dieſen letztern Ausnahmen abſehen und verſuchen, die
Aenderungen im Allgemeinen zu ſchildern. Ich will
dabei die zwei Seiten alles Geſchäftslebens, die Produktion
und den Vertrieb der Waaren, in der Beſprechung aus-
[197]Die verſchiedenen Arten des Handwerks.
einanderhalten; im Ganzen geht ja auch die reale
Richtung des Geſchäftslebens auf eine Trennung beider
Seiten, wenn auch einzelne Neubildungen, wie das Ma-
gazinſyſtem, nicht ſowohl eine vollſtändige Trennung als
eine andere Art der Verbindung von Produktion und
Vertrieb bezwecken.
Auch da übrigens, wo der Boden für moderne Ein-
richtungen vollſtändig vorhanden iſt, bleiben noch viele
Handwerksgeſchäfte alter Art, ja es bilden ſich gerade
wieder durch die große Induſtrie Verhältniſſe, welche
neben den neuern Geſchäften dieſen und jenen Meiſter
in alter Weiſe beſchäftigen.
Wie früher als techniſche Gehülfen in den Familien,
ſo arbeiten jetzt noch viele kleine Meiſter für große Unter-
nehmungen. Auf großen Gütern iſt ein eigener Schmied,
ein Stellmacher nothwendig; mancher Tiſchler und Bött-
cher liefert ausſchließlich Kiſten und Fäſſer zur Verpackung
in eine große Fabrik. Jedes größere induſtrielle Etabliſ-
ſement hat ſeine Schloſſer-, ſeine Reparaturwerkſtätte.
Mancher Buchbinder iſt ausſchließlich für dieſe oder jene
große Verlagsfirma beſchäftigt. Dazu kommen nicht bloß
für die großen, ſondern ebenſo für die kleinen Geſchäfte
und die Wirthſchaften der Familien die Reparaturgewerbe.
Mancher Schloſſer, Schmied, Stellmacher hat in ma-
ſchinen- und induſtriereichen Gegenden heute ſo viel mit
Reparaturen zu thun, als früher mit Neuanfertigungen.
Wo jeder Junge von 10 Jahren eine Taſchenuhr trägt,
wird ein Uhrmacher mit Reparaturen mehr verdienen,
als mancher mit Uhrenanfertigung in einer Zeit, in welcher
auf Tauſende von Menſchen erſt ein Uhrenbeſitzer kam.
[198]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Kleine Geſchäfte dieſer Art, die ihren Mann nähren,
ſind auch heute noch möglich. Dagegen iſt es meiſt nur
ein Zeichen verarmter überzähliger Meiſter, wenn heute
wieder das Ausarbeiten in den Häuſern der Kunden
zunimmt, wenn z. B. im Regierungsbezirk Arnsberg
1855—57 noch Schneider, Schuſter, Tiſchler und ähn-
liche Handwerker bei ſolchem „Ausarbeiten“ mit 3 Sgr.
täglich und freier Koſt zufrieden ſind, 5 Sgr. ſchon als
einen guten Verdienſt ſchätzen.1 Dazu wird heute in
der Regel nur die Verarmung den kleinen Meiſter
bewegen. Unter Umſtänden freilich, auf dem Lande, kann
auch dieſe Art des Geſchäfts noch ganz am Platze ſein.
Meiſt aber verſchwindet ſie; eine andere Art der
Geſchäftsführung iſt üblich geworden. Der tüchtige
Meiſter ſucht auf Vorrath zu arbeiten, ſucht vor Allem
einen mehr als lokalen Abſatz; er verſucht alle techniſchen
Fortſchritte zu benutzen; er kauft einzelne Theile, die
andere Geſchäfte beſſer liefern, von ihnen, beſchränkt ſich
mehr noch in der Anfertigung als im Verkauf auf
beſtimmte Spezialitäten; den veränderten Bedürfniſſen
dienend, vielfach ganz neue Artikel anfertigend, braucht
er verſchiedene Arbeitskräfte; hat er nur zwei bis drei
Arbeiter, ſo gehören ſie doch häufig verſchiedenen früher
getrennten Gewerben an.
Es iſt damit ſozial ein ganz anderer Stand von
kleinen Unternehmern entſtanden, die nicht ſowohl durch
die Größe des Geſchäfts und Kapitals als durch die
[199]Der moderne Handwerksbetrieb.
Art des Betriebs vom alten Handwerk und zwar zu
ihrem Vortheil ſich unterſcheiden. Viele waren urſprüng-
lich tüchtige Geſellen, oft einfache Arbeiter, manche ſind
urſprünglich Kaufleute, — alle nennen ſich aber jetzt
mit Vorliebe Fabrikanten, auch wenn ſie nur einen
einzigen oder zwei Arbeiter beſchäftigen. Ihre andere
ſoziale Stellung beruht weſentlich mit auf ihren Kennt-
niſſen und ihren Verbindungen. Es ſind Leute, die auf
Fortbildungs-, auf Gewerbe- und polytechniſchen Schulen
etwas gelernt haben, Leute, die auf Reiſen, auf Jahr-
markts- und Meßbeſuchen ſich Bezugsquellen und Abſatz
verſchafft haben. Dieſe perſönlichen und geſchäftlichen
Verbindungen ſind in den großen Städten leichter zu
erwerben, ſie ſind es oft am meiſten, was dem unge-
wandten kleinen Manne in abgelegenern Orten fehlt.
Immer gehört zu dieſer Art von Geſchäften einiges
Kapital, zu einzelnen ſchon ein bedeutendes. Vielfach
aber ſind es Geſchäfte, die in ſehr verſchiedener Aus-
dehnung betrieben werden können. Techniſche Geſchicklich-
keit und Marktkenntniß ſind meiſt wichtiger als ein großes
Kapital. So wenig ich leugnen will, daß das große
Kapital in manchen Beziehungen durch die Gewalt ſeiner
Ueberlegenheit heute unberechtigte Gewinne macht, eine
zu ungleiche Vermögensvertheilung noch ungleicher macht,
ſo darf man auf der andern Seite da, wo gerade nicht
ſowohl das Kapital als perſönliche Eigenſchaften den
Ausſchlag geben, das nicht verſchweigen. Unfähigkeit,
ſich in Neues zu finden, Unfähigkeit, ſich einer ganz
regelmäßigen Thätigkeit zu unterwerfen, Unfähigkeit zu
ſparen, wenn der Erwerb einmal flotter geht, niedrige
[200]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Leidenſchaften, Trunk und Spiel, häusliche Mißverhält-
niſſe ſind in den tiefern ſozialen Schichten häufiger, als
in den höhern. Mag andere moraliſche Fäulniß in
den höhern Schichten weit größer ſein, für den wirth-
ſchaftlichen Erwerb ſtehen ſie höher, für den wirthſchaft-
lichen Erwerb neuerer Art fehlen gerade dem Hand-
werker oft die moraliſchen Qualitäten, die Erziehung,
wie Schulze-Delitzſch das auch immer und immer wieder
betont.
Als Beweis, daß zu dieſer neuen Art des Hand-
werksbetriebs nicht ſowohl großes Kapital, als perſön-
liche Eigenſchaften gehören, führe ich nur einige bekannte
Beiſpiele an.
Die Gerberei hat ſich weſentlich umgebildet; es
giebt große, aber auch noch mittlere und kleinere gute
Geſchäfte. Die lederverarbeitenden Gewerbe ſind ſehr
vielfältig geworden. Einzelne Geſchäfte fertigen nur
Sattelzeug, andere nur Reiſezeug und Aehnliches. Hier-
mit verwandt ſind eine Reihe von Buchbinderarbeiten,
die zu ſelbſtändigen Geſchäften geworden ſind: die Anfer-
tigung von Etuis, Futteralen, Mappen, Albums, Karten,
Portefeuilles. Die Fabrikation von künſtlichen Blumen,
von Papiermachéwaaren, von Spielkarten, von Horn-
und andern Doſen, von Kämmen, von Düten, Fir-
niſſen, Schmieren, Wichſen liegt meiſt in der Hand
kleiner, aber für größern Abſatz arbeitender Geſchäfte.
Von den Klempnern ſpezialiſirt ſich heute der eine auf
Lampen, der andere auf Wagenlaternen, der dritte auf
lackirte Waaren; auch im kleinſten Geſchäfte werden dabei
die neuen Maſchinen, die Abkantmaſchine, die Biege-
[201]Die Specialiſirung der Geſchäfte.
maſchine, die Rundſchneidemaſchine angewandt. Geſchäfte,
welche eiſerne Möbel liefern, haben einzelne Arbeiter
in Berlin und in Frankfurt a/M. zu gleicher Zeit. Die
Zuſammenſetzung, die letzte Ausſtattung erfolgt an irgend
einem andern Orte. Aehnlich iſt es in vielen Branchen
der Metallwaareninduſtrie.
Die Tiſchlerei hat ſich in die verſchiedenſten Zweige
aufgelöst; da ſind die Hauptbranchen Bautiſchlerei und
Möbeltiſchlerei; jede Branche hat verſchiedene Hülfs-
gewerbe, welche einzelne Theile, Fourniere, Schnitzerei
liefern. Aber jede hat in ſich noch eine weiter gehende
Arbeitstheilung. Es giebt Meiſter, die nur Fenſter, die
nur Thüren, nur Stücke zu Parketböden fertigen. Thüren-
drücker und dergleichen aus Horn verfertigen für ein
weites Abſatzgebiet zwei hieſige Drechslermeiſter, ſagt
der Leipziger Handelskammerbericht von 1866. Einzelne
Meiſter legen ſich nur auf Tiſche, andere auf Stühle,
wieder andere auf Buffets.1 Verwandt mit dieſen ver-
ſchiedenen Tiſchlergeſchäften, theilweiſe in den eigentlichen
Holzhandel übergehend, ſind Geſchäfte, die Radfelgen,
Speichen, Stäbe, Mauerlatten, Eiſenbahnſchwellen, Tele-
graphenſtangen liefern, ſolche welche hauptſächlich die
Imprägnation der letztern beſorgen.
Der ſtädtiſche Wagenbau, der Eiſenbahnwagen-
bau, das Tapezier- und Polſtergewerbe braucht eine
Reihe von einzelnen Hülfsgewerben, welche die maſſen-
hafte Anfertigung einzelner Theile übernehmen.
[202]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Die Organiſation iſt in all dieſen Branchen ſehr
wechſelvoll und verſchieden. Es giebt da meiſt große
geſchloſſene Etabliſſements, aber eben ſo oft kleine ſich
gegenſeitig in die Hände arbeitende Geſchäfte. Beſon-
ders wo größere perſönliche Geſchicklichkeit und Kunſt-
fertigkeit gefordert wird, da blühen die kleinen neben den
größeren Geſchäften; die einen übernehmen das, die
andern jenes. So in der Waffenfabrikation, in der Ver-
fertigung von Beinwaaren, plattirten Waaren, Kupfer-
waaren, Zinnapparaten, pharmazeutiſchen Apparaten,
chirurgiſchen und muſikaliſchen Inſtrumenten. In Silber-
waarenartikeln haben Meiſter und Fabrikanten in Berlin
zuſammen 1864 112 Werkſtätten mit nur 475 Gehülfen
oder Arbeitern.1 Der ſtädtiſche Wagenbau wird in ſehr
verſchiedener Ausdehnung betrieben; nur in den ganz
großen Städten hat er ſich zu Geſchäften konzentrirt,
welche die ganze umliegende Gegend verſehen. Am
wenigſten ſind die Nahrungs-, die Bau- und die perſön-
lichen Gewerbe von der ganzen Umbildung ergriffen, ſie
bleiben ihrer Natur nach mehr lokal. Beinahe voll-
ſtändig dagegen zur Großinduſtrie übergegangen iſt die
Tapeten-, Hut-, Knopf-, Schirm-, Stock-, Seifen-
und Lichterfabrikation.
Wenn das Arbeiten für größeren und entfernteren
Abſatz in den Vordergrund tritt, ſo macht ſich bald
geltend, daß die Geſchäfte am beſten prosperiren, wo ſie
in größerer Zahl ſind, wo ſich Fachſchulen für das
Gewerbe errichten laſſen, wo die Traditionen im Arbeiter-
[203]Alte und neue Hausinduſtrien.
ſtand die gleiche Richtung haben, wo die Kinder ſchon
mit den Handgriffen und techniſchen Vortheilen vertraut
werden. Für einzelne Geſchäftsbranchen iſt das nichts
Neues; die ſchwarzwälder Uhreninduſtrie, die Bürſten-
binderei in der Pfalz, die Anfertigung muſikaliſcher
Inſtrumente und verſchiedener Blechwaaren in den ſächſi-
ſchen Gebirgsgegenden, die Kleineiſeninduſtrie am Rhein
und in Weſtfalen, die Holzſchnitzerei vieler Gebirgs-
gegenden, die Strohmanufaktur, die Weberei aller Orten
ſind Beiſpiele dafür. Neu iſt es, daß ſich für eine
Reihe anderer Gewerbe, die früher nicht in dieſer Kon-
zentration vorkamen, dieſelbe Tendenz zeigt. Die Ver-
fertigung von Handſchuhen, von Schuhen und Stiefeln,
die Verfertigung von fertigen Weißwaaren, Hemden,
Hemdkragen, von fertigen Kleidern, die Korbflechterei,
die Anfertigung von Spielwaaren, Gürtlerwaaren, Bein-
waaren — alle dieſe Gewerbe ſind mehr und mehr zu
Hausinduſtrien in einzelnen Gegenden geworden.
Die geſchäftliche Organiſation dieſer Hausinduſtrien
iſt ſehr verſchieden, je nach dem erforderlichen Bildungs-
grad, dem Verdienſt, den techniſchen Hülfsmitteln, die
nothwendig ſind. Je höher nach allen dieſen Merk-
malen eine Geſchäftsbranche ſteht, deſto mehr werden
die kleinen Meiſter ſelbſtändige Unternehmer, Eigen-
thümer von Rohſtoff und Maſchinen ſein, nur den Ver-
kauf und etwa die letzte Vollendung und Verpackung
dem Verleger überlaſſen. Bei der Uhreninduſtrie, bei
manchen Produktionen von Metallwaaren übernimmt der
einzelne Meiſter nur die Anfertigung beſtimmter Theile;
da iſt die Zuſammenſetzung und Adjuſtirung der Waare
[204]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
das Hauptgeſchäft des Verlegers. Je tiefer Bildungs-
grad, Geſchicklichkeit und Verdienſt der betreffenden Ar-
beiter ſteht, deſto leichter kann der ſchlimme Fall ein-
treten, daß mit einem zu großen Angebot von Arbeits-
kräften der Lohn gedrückt iſt, der ſelbſtändige Beſitz der
Arbeitsmittel aufhört, wie der ſelbſtändige Einkauf des
Rohmaterials, daß eine große Zahl verarmter Familien
von wenigen Fabrikanten abhängig wird, in der Noth
ſich durch betrügeriſche Waarenlieferung zu helfen ſucht,
zum verkommenen Proletariat herabſinkt.
Solche Zuſtände ſind es, wo der Uebergang zur
Arbeit in geſchloſſenen Etabliſſements nur eine Beſſerung
enthält, den Arbeiter unter Aufſicht und Kontrole ſtellt, ihn
in geſündere Räume ſetzt, ihm von ſeiner Selbſtändigkeit
nichts mehr nimmt, weil ſie doch nicht mehr vorhanden iſt. 1
Außerdem iſt der Uebergang von der Hausinduſtrie
zum Fabrikbetrieb in großen Etabliſſements dann ange-
zeigt, wenn große Maſchinen nöthig ſind, die ſich der
kleine Meiſter nicht wohl halten kann. Die Maſchinen-
weberei wird nur ſchwer in die Hütte des kleinen Mannes
einkehren. Die Hausinduſtrie der Nagelſchmiede, der
Bürſtenbinder, theilweiſe auch der Stickerei gewährt ein zu
elendes Auskommen, als daß man nicht ihr Aufhören,
ihren Erſatz durch Fabriken wünſchen müßte.
Abgeſehen aber von ſolchen Fällen, kann ſich die
Hausinduſtrie, die ſo viele moraliſche und ſoziale Vor-
züge hat, ſehr gut halten, und es geht viel zu weit,
[205]Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.
ihren Untergang allgemein zu prophezeihen. Für eine
ganze Reihe von Thätigkeiten hat ſie mit der Näh-
maſchine einen neuen Boden erhalten. Aus den ſächſi-
ſchen Gegenden der Stick-, Näh- und Konfektionswaaren-
induſtrie wird berichtet, daß zwar einerſeits die Zahl der
Stickmaſchinen in den Fabriken zunimmt und ein bisher
noch der Handſtickerei gehöriges Gebiet ſich zu eigen
macht, daß dagegen für alle Arbeit, in der die gewöhn-
liche Nähmaſchine ausreicht, die Hausinduſtrie wieder
zunimmt. Der Hauptabſatz der Nähmaſchinen geht nicht
an Fabriken, ſondern an Familien, an kleine Gewerb-
treibende. Die Nähmaſchine, ſagt der Bericht von
Plauen für 1865, 1 wird einestheils im Hauſe des
Arbeiters längere Zeit als in geſchloſſenen Etabliſſements
und deſſen regelmäßigen Arbeitsſtunden ausgebeutet und
anderſeits dort als eigener Beſitz des Arbeiters vor-
ſichtiger und pfleglicher behandelt. Der Arbeitgeber iſt
frei von eigener Verantwortlichkeit für Verderb und Ver-
ſchlechterung; die für Reparaturen erforderliche Zeit wird
weſentlich abgekürzt. Manchfach haben die Verleger oder
Kaufleute den Arbeitern die Nähmaſchine vorſchußweiſe
angeſchafft. Kleine Abzüge am Lohn laſſen ſie ſukzeſſiv
ins Eigenthum der arbeitenden Familie übergehen. Sicher
ein erfreuliches Zeichen. Schon der eigene Beſitz eines
ſolchen Kapitals, die dadurch dem Arbeitgeber gegenüber
erreichte Selbſtändigkeit iſt ein Gewinn.
Aber auch ſonſt ſehen wir viele blühende Haus-
induſtrien noch heut zu Tage. Ihre Erhaltung gegen-
[206]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
über dem Fabrikſyſtem hängt ab freilich in erſter Linie
von der Technik, von der Thatſache, ob für eine Pro-
duktion ganz große Maſchinen nothwendig werden, dann
aber auch von der Geſchicklichkeit, der Rührigkeit, den
moraliſchen Eigenſchaften im Kreiſe der kleinen Meiſter.
Und All das hinwiederum ſteht im Zuſammenhang mit
der geſchäftlichen Organiſation, mit der Thätigkeit von
Gemeinde und Staat für Schulen und gemeinſame
Inſtitute, mit der Entwickelung des Genoſſenſchaftsweſens
unter den Leuten ſelbſt. Oft hat nur das letztere den
hausinduſtriellen Betrieb, überhaupt die kleinern Ge-
ſchäfte gegenüber den Fabriken erhalten. Beſonders
ſchwer iſt es häufig für den kleinen Meiſter guten und
billigen Rohſtoff, Leder, Garn, Tuch und Aehnliches
zu kaufen. Es iſt nicht zu beſchreiben, wie der kleine
Mann, der um jeden Preis Arbeit ſucht, da von
gewiſſenloſen Händlern betrügeriſch übertheuert, durch
abſichtlichen Lotterkredit in Abhängigkeit gebracht wird.
Da wirken die Kreditvereine, die Rohſtoffgenoſſenſchaften
Wunder. Ebenſo wichtig freilich ſind die gemeinſamen
Verkaufsmagazine und beſonders gemeinſame Waſſer-
oder Dampfkräfte mit den entſprechenden Einrichtungen,
gemeinſame Walken und Appreturanſtalten für die Weber.
Gemeinſame Unternehmungen der letztern Art ſind heut-
zutage ſchon eher zu Stande zu bringen, auch iſt bei ihnen
eine Intervention von Gemeinde und Staat weniger
gefährlich als bei den eigentlichen Produktivaſſociationen.
Da aber, wo für dieſe die moraliſchen und geſchäftlichen
Eigenſchaften bei den kleinen Meiſtern vorhanden ſind,
liegt in ihnen ſicher das beſte Mittel, das Handwerk
[207]Das Genoſſenſchaftsweſen.
zu retten, ihm einen Abſatz im Großen zu verſchaffen,
den kleinen Meiſter der Hausinduſtrie zum Unternehmer
zu erheben. Wo ſie gelingen und wo ſie mißlingen, da
wiederholen ſie die Lehre, daß meiſt perſönliche Eigen-
ſchaften wichtiger ſind oder gleich wichtig, wie die Kapital-
beſchaffung. Uhrmacher, Tiſchler, Weber, Schneider,
Schuhmacher, Buchdrucker, Maſchinenbauer, Stellmacher,
Metallarbeiter und Klempner ſind es, die bis jetzt auf
dem Wege der Produktivaſſociation ſich zu helfen ſuchten.
Der Bericht 1 Schulze’s für 1867 zählt bereits 36 ſolcher
Unternehmungen auf und er umfaßt nicht alle, welche
exiſtiren. Vieles ließe ſich noch über dieſes Thema ſagen.
Da es aber ſonſt ſo vielfach beſprochen wird, ſo beſchränke
ich mich darauf, nur im Allgemeinen noch einige Bei-
ſpiele der ſich erhaltenden Hausinduſtrie zu erwähnen.
Die Korbflechterei iſt heute noch in manchen Ge-
genden, wo auch für den Abſatz im Großen gearbeitet
wird, ganz Sache kleiner Meiſter, z. B. in Frank-
furt a. O., wo 30 handwerksmäßige Geſchäfte einen
ſchwunghaften Abſatz an Tiſchen, Stühlen, Blumen-
ſtändern, Waſchkörben, Körben zum Verpacken haben. 2
[208]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Dagegen iſt z. B. die große bairiſche Korbflechterindu-
ſtrie in Oberfranken 1 neuerdings mehr und mehr in
die Hände großer Kapitalbeſitzer übergegangen. Die
Korbflechter erhalten das Rohmaterial vom Fabrikanten
entweder zum Kaufe oder gegen Abzug am Lohn, ſie
ſind ganz in ſeinen Händen. Die eine wie die andere
Geſchäftsform iſt möglich; es handelt ſich für die kleinen
Geſchäfte nur um eine richtige Organiſation in Bezug
des Rohſtoffs und Vermittlung des Abſatzes. In Berlin
exiſtirt ſeit einigen Jahren mit Erfolg eine Genoſſenſchaft
von Korbmachern zum gemeinſamen Bezug des Rohſtoffes.
Die bedeutende Achatinduſtrie im Fürſtenthum Bir-
kenfeld und im Regierungsbezirk Trier 2 iſt heute noch ganz
Sache der kleinen Achatſchleifmeiſter, Bohrer, Gold-
ſchmiede, Graveure, Tombakſchmiede. Man zählte
Ein ſchönes Bild ſich erhaltender Hausinduſtrie
gewährt vor Allem die früher ſchon erwähnte Nürn-
berger und Fürther Induſtrie. Ich will nur Einiges nach
der anziehenden Beſchreibung Dr. Beeg’s anführen. 3
Die Gegenſtände der Fabrikation ſind Spielwaaren,
Meſſingwaaren und andere Metallwaaren, als Waagen,
Gewichte, Schellen, Rollen, Hahnen, Zapfen, Feuer-
[209]Die Nürnberger Hausinduſtrie.
ſpritzen, phyſikaliſche Apparate, Rechenpfennige, Spiel-
marken, Blattgold, Draht aller Art, Reißzeuge, Zirkel,
Ahlen und Feilen, Ringe, Brochen, Haken, dann Kämme,
Brillengläſer, Brillengeſtelle, optiſche Inſtrumente,
Drechslerwaaren, Pfeifen, Zigarrenſpitzen, Papparbeiten,
Buntpapier, Bilderbogen. Ein Lager Nürnberger Waaren
zählt über 14000 Nummern, wobei die Größenver-
ſchiedenheiten noch ungerechnet ſind. In dem Packlokal
des Nürnberger Kaufmanns ſtehen Kiſten, welche nach
Madras und Hongkong beſtimmt ſind, neben ſolchen,
die nach Newyork, Mexiko oder Südamerika gehen
werden. Der Kundige erkennt an dem Waarenmuſter,
an der Verpackung den Beſtimmungsort: der Horn-
kamm mit dieſen Verzierungen gehört nach Texas;
dieſe ſchlanken Haken und Oeſen aus dünnem Draht
finden nur in Südamerika Käufer.
Die Produktion, ſagt Beeg, geſchieht in der Regel
fabrikartig, aber doch zugleich handwerksmäßig, indem ſich
das Handwerk ebenſowohl für die einzelnen Artikel, als
ſogar für manche Manipulationen in vielfacher Weiſe
zergliedert hat. Die Werkſtätten ſind daher ſeltener
in großen Fabrikpaläſten, ſondern meiſtens in den
kleinen Wohnungen der arbeitſamen Gewerbtreibenden.
Eine Hauptſtütze der kleinen Geſchäfte ſind die verſchie-
denen Mühlen, beſonders die vom Magiſtrat 1854 ange-
kaufte, umgebaute und hiefür eingerichtete Schwaben-
mühle; es werden dort Lokale und Kraftbenutzung an
Gewerbtreibende vermiethet. In der Schwabenmühle
ſind 48 ſolcher Werkſtätten; man zahlt für 1 □΄ Boden-
raum des Lokals 9 Kr., für die Benutzung einer ganzen
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 14
[210]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Pferdekraft 300 Fl., einer halben 160 Fl., einer Viertels-
kraft 90 Fl. jährlich. Erſt neuerdings haben auch Fabrik-
beſitzer angefangen, ihre überſchüſſige Dampfkraft ſo an
kleine Leute zu vermiethen.
Die kleinen Produzenten vermitteln theilweiſe den
Abſatz ſelbſt, beſonders den in der Nähe, ſie beſuchen die
Meſſen in Frankfurt a/M., Leipzig und München. Mehr
aber noch überlaſſen ſie den Vertrieb dem Nürnberger
Kaufmann, deſſen Lager mit den meiſten Nürnberger
Waaren aſſortirt iſt. Der Kaufmann empfängt die aus-
wärtigen Aufträge und beſtellt nach denſelben die mannig-
fachen Artikel bei den verſchiedenen Werkſtätten gewöhn-
lich vermittelſt Zettel mit beſtimmter Lieferzeit. Er
iſt aber nicht bloß Kommiſſionär; er verſorgt die Ge-
werbsleute gelegentlich mit neuen Muſtern, hält häufig
Lager, läßt Vieles auf Spekulation arbeiten, ſendet
Reiſende aus. Die für ihn arbeitenden Geſchäfte ſind
aber völlig unabhängig. Es darf — ſo ſchließt Beeg
ſeine Erzählung — die glückliche Organiſation dieſer
Induſtrie nicht überſehen werden, welche den unabhän-
gigen bürgerlichen Handwerksſtand zur Produktion für
den großen Welthandel herangebildet und die Gefahren
des Entſtehens eines Proletariates auf ein Kleinſtes
ermäßigt hat.
[[211]]
3. Das Verkaufsgeſchäft des kleinen Handwerkers.
Das Ladengeſchäft als Aushülfe, wenn die Produktion nicht geht.
Die Schattenſeiten dieſer Ladengeſchäfte neben ihrer Nothwen-
digkeit. Der ſtarke Zudrang zu ihnen und die Folgen für dieſe
Geſchäfte. Der Wochenmarkt, ſoweit er von Handwerkern
beſucht wird. Der Jahrmarkts- und Meßverkehr früher und
jetzt. Der traditionelle Verkehr auf denſelben und ſeine Ab-
nahme. Nachweis dieſer abnehmenden Bedeutung. Die Meſſen.
Die Jahrmärkte, zugleich abhängig von Geſetzgebung, Ver-
waltung und lokalen Nebenintereſſen. Die Verbindung der
Jahrmärkte mit Vieh- und Spezialmärkten, die eine ganz
andere wirthſchaftliche Bedeutung haben. Statiſtik der preußi-
ſchen und ſächſiſchen Jahrmärkte.
Gehen wir nach dieſen Betrachtungen über die
Aenderung in der Produktion auf die Aenderung im
Vertrieb der produzirten Waaren über. Es handelt
ſich dabei um die kleinen Detailverkaufsgeſchäfte, um den
Markt- und Meßverkehr derſelben, dann um die grö-
ßeren Magazine, die in der Regel zugleich irgendwie
an der Produktion betheiligt ſind, und um den Hauſir-
handel mit Handwerks- und andern Waaren.
Der lokale Verkauf bleibt unentbehrlich, wenn die
lokale Produktion auch aufhört. Man will, man muß
Läden aller Art in der Nähe haben. Je unbedeutender
14 *
[212]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
die eigentlich gewerbliche Thätigkeit des Handwerkers
meiſt wurde, deſto mehr trat das Ladengeſchäft in den
Vordergrund; man fing an, neben den eigenen fremde
Produkte, zuſammen paſſende und nicht zuſammen paſſende
Artikel zu führen, wenn man nur Etwas wenigſtens
verdiente. Der Buchbinder handelt mit Dinte, Federn
und Papier, der Klempner mit Petroleum, der Friſeur
und der Bürſtenbinder mit Oelen, Seifen, Parfümerien,
alle verſuchen es mit Zigarren. Ein ſolcher Detailhandel
war mit einzelnen Gewerben längſt verbunden. Geſetz-
gebung und Theorie hatten ſich ſchon im vorigen Jahr-
hundert viel damit beſchäftigt. Bergius meint, 1 das
Handwerk verliere jetzt dadurch ſo viel, daß der Meiſter
im Laden ſtehe, daß ihm die Krämerei immer wichtiger
werde; die Arbeit geſchehe durch nicht beaufſichtigte Ge-
ſellen und Lehrlinge; Krämerei und Handwerk ſei nicht
verträglich.
Es liegt in dieſem Vorwurf ſicher ein Keim von
Wahrheit; der Handwerker mochte häufig ſo viel an
techniſcher Geſchicklichkeit verlieren, als er an kaufmän-
niſcher Gewandtheit und Spekulationsſinn gewann. Aber
gleichviel, war der Detailverkauf Bedürfniß, gewann
man dabei, ſo nahm er zu. Mochte der alte Zunft-
meiſter bedenklich den Kopf dazu ſchütteln, mochten ein-
zelne reaktionäre Geſetze, wie das hannöverſche 2 vom
15. Juni 1848, nochmals den Verſuch machen, dem
[213]Das kleine Ladengeſchäft.
Handwerker zu verbieten, erkaufte Waaren im Laden
auszuſtellen und Handel damit zu treiben; es war zu
widerſinnig. Selbſt Vertheidiger der ſonſtigen alten Zunft-
vorſchriften geſtehen jetzt das wenigſtens, daß jeder Unter-
ſchied zwiſchen Handwerker und Kaufmann aufhören
müſſe. 1 Das Bedürfniß war da. Wo volle Gewerbe-
freiheit eintritt, da zeigt ſich als Hauptfolge die ſtarke
Zunahme dieſer kleinen Läden, wie ich oben bei Betrach-
tung der einzelnen Staaten mehrfach hervorhob.
So ſehr das aber mit dem wirklichen Bedürfniß
des lokalen Bedarfs zuſammenhängt, ſo wenig läßt ſich
verkennen, daß dem Bedürfniß eine noch viel ſtärkere
Neigung der Anbietenden entgegenkommt. Der Hannö-
verſche Handelskammerbericht von 1867 bezeichnet es
als eine förmliche Verirrung, daß das Handwerk, unfähig
ſeine Produktion zu vervollkommnen, ſich ſo ausſchließlich
auf den bloßen Handel gelegt habe; es habe da erſt
recht die Macht des großen Kapitals kennen lernen
müſſen, und jetzt erſt durch die vielen Mißerfolge klug
gemacht, werde es ſich wieder mehr der Produktion
zuwenden. 2
Der ſtarke Zudrang iſt pſychologiſch leicht erklär-
lich. Es iſt, wenn es gelingt von dem kleinen Laden
zu leben, das bequemſte Geſchäft; ohne beſondern Fleiß,
ohne Arbeit ſitzt der Mann hinter dem Ladentiſch, oft
ſtundenlang Zigarren rauchend und Romane leſend. Liegt
[214]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
der Laden gut, ſo geht es doch; liegt er ſchlecht, ſo kommt
der Konkurs, ob er ſich etwas mehr anſtrengt oder
nicht. Sehr häufig aber kommt er; — ich bin ſicher,
daß, wenn die Konkursliſten nach dieſer Richtung die
Geſchäfte unterſchieden, ein ſehr großer Theil der
Konkurſe als aus ſolchen Verhältniſſen herrührend ſich
darſtellen würde. Die Handelskammerberichte beſtätigen
das auch. 1 Es ſind dieſelben Motive, die der Schank-
und Gaſtwirthſchaft und dem Detailhandel mit Viktua-
lien leicht zu viele und zweifelhafte Exiſtenzen zuführen;
es ſind dieſelben pſychologiſchen Urſachen, die in dieſen
Kreiſen ſo leicht zu Betrug und Fälſchung führen, zu
jenen Mißbildungen des Detailverkehrs, welche die Kon-
ſumvereine nothwendig gemacht haben.
Gegen den Betrug kann eine ſtrenge Polizei, gegen
den zu ſtarken Andrang auch zweifelhafter Perſönlich-
keiten kann zunächſt nur die freie Konkurrenz helfen;
abmeſſen läßt ſich das Bedürfniß zumal während der
jetzt ſich umbildenden Verhältniſſe nicht.
Aber ſo viel iſt klar, daß gerade bei freieſter Kon-
kurrenz die zahlreichen Geſchäfte derart immer kleine
Gewinne machen werden. Nur wenige werden ſich zu
einem großſtädtiſchen Magazin emporſchwingen; die
andern werden um ſo kleiner bleiben, werden unter dem
Niveau des alten Handwerks an Einkommen, wie an
ſozialer Stellung des Inhabers ſtehen, werden leicht der
Gefahr des Bankerotts, wie der Anwendung betrügeriſcher
[215]Der Andrang zum Ladengeſchäft.
Mittel verfallen, werden den ſchlechten Lotterkredit för-
dern, weil ſie nur ſo ihre Kunden, die den ärmſten
Volksklaſſen angehören, anziehen. Dennoch wäre jeder
polizeiliche Eingriff da heutzutage nicht am Platze.
Manchmal erhalten ſolche Ladengeſchäfte dadurch ihre
volle ſittliche und wirthſchaftliche Berechtigung, daß Frau
und Kinder den Kram und Verkauf beſorgen, während
der Mann arbeitet, ſei es im eigenen oder in einem
fremden Geſchäfte. Nur indirekt läßt ſich der zu zahl-
reichen Gründung ſolcher Geſchäfte entgegenwirken, durch
Verbreitung techniſcher Geſchicklichkeit, durch Erziehung
des ganzen Volkes zur Arbeit, durch eine ſolche volkswirth-
ſchaftliche Entwicklung, welche alle tüchtigen Kräfte beſſer
verwendet, ſie überhebt, zu dieſem Nothbehelf zu greifen.
Neben dem Verkauf im Laden ſpielt der auf den
Wochenmärkten immer noch eine Rolle.
Der eigentliche Wochenmarktsverkehr zwar berührt
das Handwerk nicht. 1 Die Hauptſache auf dem Wochen-
markt iſt ja nach Bedürfniß, nach Herkommen und geſetz-
lichen Beſtimmungen der Kleinverkehr mit Viktualien,
welche die ländlichen Produzenten, die Gemüſegärtner oder
die Aufkäufer, die Höker zu Markte bringen. Daß auch
[216]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
dieſer Viktualienhandel in den großen Städten ſich um-
bildet zu ſtehenden Verkaufshallen, großen Ladengeſchäften,
iſt eine Sache für ſich, die uns hier nicht weiter beſchäftigt.
Je kleiner aber eine Stadt iſt, deſto mehr trifft
man auf den Wochenmärkten noch Handwerkerprodukte
daneben aufgeſtellt. Die preußiſche Verwaltung läßt
überall grobe Korbwaaren und Töpferwaaren 1 zu. Da-
neben beſtimmt die Gewerbeordnung von 1845 (§ 78),
daß in jedem Regierungsbezirk nach Ortsgewohnheit und
Bedürfniß weitere Artikel zum Wochenmarktsverkehr
gerechnet werden können. In dieſem Falle dürfen auch
andere als Ortseinwohner ſie auf den Markt bringen.
Die Gewerbetreibenden des Ortes ſelbſt dürfen natür-
lich auf dem Markt zur Wochenmarktszeit alle Produkte,
alle Handwerkerwaaren verkaufen, wenn ſie nach der
Marktordnung eine Bude oder einen Stand haben, reſp.
bezahlen. Der Entwurf einer Gewerbeordnung des
norddeutſchen Bundes läßt es den Gemeinden offen, die-
ſen Rechtszuſtand zu erhalten. 2 Die betreffenden Artikel
fanden auch in der Berathung des Reichstages keine
weſentliche Beanſtandung. Es liegt auch kein Bedürfniß
vor, die Beſtimmungen zu ändern, z. B. unbedingt alle
fremden Handwerker auch mit Waaren, die nicht
Wochenmarktsartikel ſind, zuzulaſſen. Denn nicht fremde
Handwerker, die durch Erklärung einer Waare als
[217]Der Wochenmarkt.
Wochenmarktsartikel erſt zugelaſſen werden, ſondern die
ſtädtiſchen armen Handwerker ſtellen das Hauptkontin-
gent zu dem Verkauf von Handwerkswaaren auf dem
Wochenmarkte.
Es iſt ein zeitraubendes, ſchlechtes Geſchäft. Der
tüchtige Handwerksmann, der ſeine Kunden, ſeinen Abſatz
hat, läßt ſich in ſeinem Laden, in ſeiner Werkſtatt auf-
ſuchen. Es ſuchen ſich mit dem Beziehen des Wochen-
marktes die zu helfen, welche die Miethe für einen gut
gelegenen Laden nicht erſchwingen können. Es iſt häufig
das letzte Auskunftsmittel; deswegen kann gerade eine
große Zahl dem Bankerott nahe ſtehender Kleingewerbe
den Andrang zum Wochenmarktsverkehr zunächſt ſteigern.
Auch der Jahrmarktsverkehr iſt zu einem großen
Theil auf dieſes Niveau herabgeſunken.
Die Jahrmärkte und Meſſen hatten früher einen
andern Sinn. 1 Läden, Magazine mit reicher glänzender
Auswahl gab es nicht, nach den großen Städten kam
man nicht. Man war dem Zunftmeiſter des Ortes
preisgegeben, der mancherlei Waaren gar nicht, andere
nur unvollkommen hatte. Dem gegenüber ſchufen Märkte
und Meſſen Tage und Wochen freier Konkurrenz, eine
örtliche und zeitliche Konzentrirung von Angebot und
Nachfrage. Der Konſument fand hier alle ſeltenern
Artikel, eine reiche Auswahl, billige Preiſe. Der Pro-
duzent, der Handwerker fand hier allein die Gelegen-
heit, ſeinem Vorrathshandel Schwung zu geben. Die
[218]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Bauern und Gutsbeſitzer der ländlichen Diſtrikte, die
Hauptbeſucher des Marktes, richteten ihre Einkäufe an
Kleidern und Stoffen, Haus- und Wirthſchaftsgeräth,
an Spielwaaren für die Kinder ohnedieß gerne auf
beſtimmte Tage und Zeiten, auf die, in welchen ſie
ſelbſt verkauft hatten. Die traditionell ſich anſchließenden
Volksfeſte, die Schauſtellungen und Thierbuden, die
engliſchen Reiter und die Seiltänzer lockten Menſchen
und Käufer von fern und nahe an. So waren die
Meſſen und Märkte, ehe die Zeit der Eiſenbahnen kam,
ein wichtiges Glied unſers Verkehrslebens, wichtig nicht
nur für die kleinen und großen Händler, für den Abſatz
von Fabrikwaaren, ſondern vor Allem auch für einen
großen Theil der Handwerksinduſtrie.
Beſonders einzelne Gewerbetreibende, wie die Leb-
küchler, die kleinen Weber, vor allen die Schuhmacher,
dann auch die Verfertiger mancher Metallwaaren, die
Gürtler, Inſtrumentenmacher, Meſſerſchmiede lebten zu
einem großen Theile vom Jahrmarktsbeſuch. J. G. Hoff-
mann 1 meint 1839, die höhere Zahl der Schuhmacher
gegenüber den Schneidern gehe weſentlich auf den viel-
fach üblichen Jahrmarktsbeſuch der Schuſter, der ſo viel
Zeit koſte, zurück. Freilich fügt er ſchon damals hinzu:
„die Schuhmacher beziehen die Jahrmärkte in dem Maße
mehr, worin ihr Gewerbebetrieb armſeliger wird.“
Das iſt jedenfalls heute noch mehr der Fall als
damals. Manche zwar brauchen die Märkte und Meſſen
zugleich als Berührungspunkte mit Abnehmern und Liefe-
[219]Die Jahrmärkte und Meſſen früher und jetzt.
ranten, die ſie nur ſo ſehen, nur ſo kennen lernen.
Aber abgeſehen hiervon, beginnt man einzuſehen, daß
bei dem Jahrmarktsbeſuch nicht viel herauskommt. Der
tüchtige Geſchäftsmann iſt ſparſamer mit ſeiner Zeit
geworden; er widmet ſich ausſchließlich der Produktion
oder dem ſtehenden Ladengeſchäft. Das Publikum findet
beinahe überall auch ohne Märkte Alles, was es braucht.
Immer weniger ſuchen tüchtige Handwerker ihre Exiſtenz
auf den Jahrmarkts- und Meßbeſuch zu gründen. —
Auch hierdurch iſt dem kleinen Handwerk eine Poſition
entzogen, auf die es bisher theilweiſe geſtützt war. Und
ſie würde ihm längſt ſchon noch weiter entzogen ſein,
wenn in dieſem Verkehr mehr wirkliches Verſtändniß und
klares Intereſſe herrſchten, wenn nicht traditionelle An-
ſichten der Hausfrauen und Dienſtboten, ſowie der ganzen
ländlichen Bevölkerung, anerzogene und ſchwer ausrott-
bare Irrthümer noch überwiegen würden.
So unzweifelhaft der Beginn dieſer veränderten
Stellung der Meſſen und Jahrmärkte iſt, ſo ſchwer läßt
er ſich ſtatiſtiſch oder durch anderweite ſichere Berichte
nachweiſen.
Das große Meßgeſchäft berührt unſere Unterſuchung
nicht direkt; doch ſei beiläufig bemerkt, daß auch es beinahe
überall in Rückgang iſt. Das frühere Großmeßgeſchäft
beruhte auf Privilegien, auf Ermäßigung der ſonſt über-
mäßigen Zölle, Geleite, Stapel-, Wage-, Pflaſtergelder.
Für die Meſſen trat der Nachlaß ein, die Großhändler
und Fabrikanten ſtrömten herbei, um, dieſer Gunſt ſich
erfreuend, an den Handwerker und Detailhändler nach
Pfund und Elle zu verkaufen. Seitdem dieſe Verkehrs-
[220]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
erſchwerungen zum großen Theil wegfielen, hat die Meſſe
nicht mehr die alte Bedeutung. 1 Seitdem überdieß der
Telegraph, die Poſt und die Eiſenbahn zuſammenwirken,
um Angebot und Beſtellung, Probe und Waare, Wechſel
und Baarzahlung raſch, billig und ſicher zu vermitteln,
ſeitdem Handelsgeſetz und rechtliche Ordnung überhaupt
dem Handelsverkehr eine größere Solidität geben, bleibt
die Meſſe nur nothwendig für Waaren wie z. B. die
Pelzwaaren, die nicht nach Probe zu verkaufen ſind,
für Firmen, von denen man nicht gerne nach bloßer
Probe kauft. Man will überhaupt manche Waare am
Stücke ſehen. Und das iſt auch heute noch richtig, daß
die große Auswahl und die Konkurrenz auf der Meſſe
die Preiſe häufig noch erniedrigen. Für Leipzig, deſſen
Meßgeſchäft allein nicht poſitiv abgenommen hat, kommt
noch hinzu, daß ſich hier das ganze Großmeßgeſchäft
des Zollvereins konzentrirt hat. Selbſt der Großmeßver-
kehr Leipzig’s aber, der ja beſonders in Produkten der
Zollvereinsinduſtrie immer noch bisher zunahm, iſt nicht
ſo gewachſen, wie der übrige Verkehr des ganzen Zoll-
vereins. „Man könnte behaupten, daß der geſammte
Meßverkehr Leipzig’s trotz ſeiner quantitativen Steige-
rung gegenüber dem Geſammtverkehr und der Ge-
ſammtproduktion des Zollvereins eine relativ niedrigere
Stellung einnimmt, als kurz nach Gründung des Zoll-
[221]Die Jahrmärkte und Meſſen früher und jetzt.
vereins.“ 1 Darüber aber ſind alle Kenner einig, daß
nicht bloß in Folge des ſinkenden Großmeßgeſchäfts,
ſondern auch aus den andern angeführten Urſachen
der Kleinverkauf von Handwerkswaaren auf dieſen
Meſſen in Braunſchweig, in Frankfurt a/M., in
Frankfurt a/O., in Leipzig nicht mehr die alte Bedeu-
tung hat.
In Bezug auf die eigentlichen Jahrmärkte iſt die
Beurtheilung der abnehmenden Bedeutung dadurch ſchwie-
rig, daß ſie meiſt nicht bloß Märkte für Kramwaaren
und Handwerksprodukte ſind, ſondern ſich verbinden mit
Vieh- und andern Spezialproduktenmärkten. Dieſe letz-
tere Marktart hat heute noch ihre volle Berechtigung.
Woll-, Leder-, Flachs-, Vieh-, Leinwandmärkte, Spezial-
märkte, auf welchen z. B. Tiſchlerwaaren im Großen
verkauft werden, 2 ſind auch heute noch am Platz.
Derartige Märkte bilden ſich ſogar täglich neue und
erhalten ſo theilweiſe mit den alten Krammarkt.
Außerdem kommt in Betracht, daß die Zahl der
Märkte nicht bloß von dem wirklichen wirthſchaftlichen
Bedürfniß abhängt, von der Frage, ob in den ſtehenden
Läden die Waaren billiger und reeller zu kaufen ſind,
auch nicht bloß von Gewohnheit und Einbildung, von
der hergebrachten Neigung, ſich auf dem Jahrmarkt an-
ſchwindeln zu laſſen, ſondern daneben vornehmlich von
der Tendenz der Kommunalbehörden, durch Märkte den
[222]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Verkehr am Orte zu beleben. Dieſe Tendenz ſelbſt iſt
wieder abhängig von den beſtehenden Geſetzen und der
beſtehenden Verwaltungspraxis über Jahrmärkte. In
Preußen gelten über die Jahrmärkte noch die Beſtimmun-
gen des Landrechtes, welche durch die Gewerbeordnung
von 1845 nur näher beſtimmt worden ſind. 1 Das Meß-
und Marktrecht wird vom Landesherrn ertheilt, in der
Regel nur an Städte. Die Feſtſtellung der einzelnen
Märkte erfolgt jährlich durch die Regierung im Einver-
ſtändniß mit den betreffenden Ortsbehörden. Je mehr
in früherer Zeit durch die Regierungen und Grund-
herrſchaften Marktprivilegien ertheilt worden waren, nur
um eine Einnahmequelle zu Gunſten der berechtigten
Ortſchaften zu ſchaffen, um ſo berechtigter erſcheint die
Abſicht der preußiſchen Verwaltung, die Zahl der Jahr-
märkte wenigſtens einigermaßen zu beſchränken. Dieſe
Tendenz zeigt ſich klar in den zahlreichen Reſkripten,
welche Rönne mittheilt. Aber ſie ſcheint nicht recht zum
Ziele zu gelangen. In Poſen hatte man ſchon 1805 und
1817 die ſämmtlichen Märkte auf dem platten Lande
aufgehoben. 2 Und doch heißt es noch 1830 in der
[223]Die Verwaltungspraxis über Jahrmärkte.
Kabinetsordre vom 21. Auguſt 1830, die Majorität des
poſenſchen Landtags ſei mit den Staats- und Provinzial-
behörden darin einverſtanden geweſen, daß die große Zahl
der Jahrmärkte in dortiger Provinz auf die Sittlichkeit
der Einwohner ebenſo nachtheilig wirke als auf das Auf-
kommen des dortigen Verkehrs, und es ſollen daher in
keiner Stadt jährlich mehr als vier Märkte gehalten
werden.
In Sachſen hat das Gewerbegeſetz vom 15. Oktober
1861 die Tendenz, die Jahrmärkte zu beſchränken. Es
ſollen von 1872 an in keinem Orte unter 10000 Ein-
wohnern mehr als zwei, in keinem größern mehr als
drei Jahrmärkte jährlich gehalten werden. „Man ſcheint
aber“ — ſagt die Zeitſchrift des ſtat. Bureaus 1 — „in
den meiſten Fällen dieſe Zeit bis 1872 für den Fortbe-
ſtand der alten Einrichtung voll ausnutzen zu wollen.
Wenigſtens iſt bis jetzt, nachdem die Hälfte jener Friſt
verſtrichen iſt, erſt an ſehr wenigen Orten eine Reduktion
eingetreten und beſteht noch an ſehr vielen Orten eine
über das vom 1. Januar 1872 ab zuläſſige Maß
hinausgehende Zahl von Jahrmärkten.“
Da überall die Intereſſen der Wirthe, der Schau-
und Vergnügungsluſtigen, Nebenintereſſen noch ſchlim-
merer Art mit dem allgemeinen lokalen Intereſſe zu-
ſammenfallen, die Märkte zu erhalten, ſo iſt klar, daß
zunächſt mehr ihre Bedeutung als ihre Zahl abnehmen
muß. Immer aber zeigt eine nähere Betrachtung ſelbſt
[224]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
der bloßen Zahl der Märkte, 1 daß meine Behauptung
im Allgemeinen richtig iſt.
Die Zahl der ſämmtlichen Jahr-, Vieh- und Pro-
duktenmärkte war 1858 und 1867 folgende in Preußen:
Beſonders da die Vieh- und Produktenmärkte mit-
begriffen ſind, iſt es begreiflich, daß in den öſtlichen
Provinzen noch eine Zunahme der Jahrmärkte ſtattfindet.
In den verkehrsarmen Strecken des platten Landes im
Oſten ſind ſie heute noch am Platz, um Handwerks-
waaren, wie Fabrikreſte und Ladenhüter, die in der
Stadt nicht mehr gehen, die nicht mehr in der Mode
ſind, aber ganz gut noch dem einfachen Bedürfniß ent-
ſprechen, abzuſetzen. Dagegen ſehen wir, daß in Pom-
[225]Die preußiſchen Jahrmärkte.
mern, in Sachſen und am Rhein die Zahl der Jahr-
märkte ſchon etwas, wenn auch wenig, abnimmt; in Pom-
mern allerdings wohl nicht in Folge hochentwickelten Ver-
kehrs, ſondern eher in Folge eines gewiſſen Stillſtandes.
Nach dem Stande von 1858 war die Bedeutung
der preußiſchen Marktorte und Märkte folgende:
Die dicht bevölkerte Rheinprovinz hat die meiſten
Marktorte der Fläche, Weſtfalen der Bevölkerung nach.
Je mehr eine Provinz Marktorte hat, deſto weniger
bedarf ſie der Märkte. An einem und demſelben Orte
wurden durchſchnittlich im Jahre in Weſtfalen am wenig-
ſten Märkte gehalten, nämlich 2½, in den öſtlichen
Provinzen noch 5—6; die Jahrmärkte haben alſo hier
noch eine viel größere Bedeutung. In der Rheinprovinz
und Weſtfalen hat der Landbewohner durchſchnittlich bis
zum nächſten Marktorte eine oder nicht einmal eine
Meile zurückzulegen; er wird öfter, zu jeder Zeit in
die Stadt kommen; damit tritt die Bedeutung des
Jahrmarkts zurück. In Preußen und Pommern hat der
Landbewohner 5—6 Meilen bis zum Marktorte zurück-
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 15
[226]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
zulegen; da wird er viel ſeltner kommen, aber wenn er
kommt, viel zu kaufen haben, und je weniger die Läden
der Stadt bieten, deſto wichtiger wird ihm noch die
Konzentration des Angebots auf einem Markte ſein.
Schleſien hat im Verhältniß zur Bevölkerung die wenig-
ſten Marktorte, erſt einen auf ungefähr 20000 Men-
ſchen, dafür aber an einem Marktort jährlich 6—7
Märkte. Die Dauer der Märkte (zwiſchen 1,1 und 1,5
Tage auf einen Markt) vermag ich nicht auf allgemeine
Urſachen zurückzuführen; es ſcheinen da mehr zufällige
Momente zu walten.
Im Königreich Sachſen müßten nach dem hohen
Kulturgrad, nach der Dichtigkeit der Bevölkerung, nach
den zahlreichen Städten und Flecken mit Läden und
Magazinen die Jahrmärkte entſchieden an Bedeutung
und Zahl verlieren. Daß dies auch bis auf einen
gewiſſen Grad der Fall iſt, beweiſen die Ausſprüche
der Handelskammerberichte, wie z. B. der Chemnitzer
von 1863 ſagt: „Auf den Jahrmärkten hat ſich das
Groſſogeſchäft bis auf ein Minimum reduzirt; ebenſo iſt
auch im Detailhandel für reelle Geſchäfte nur noch
wenig zu erzielen, da durch den ſich immer mehr ver-
breitenden Handel in den Städten und auf dem Lande
für die Befriedigung der Bedürfniſſe vollkommen geſorgt
wird. Dagegen haben die Jahrmärkte jedenfalls den
großen nachtheil, daß auf denſelben liederliche und un-
ſolide Geſchäftsleute immer noch Gelegenheit finden, ihr
1)
[227]Die ſächſiſchen Jahrmärkte.
Spiel zu treiben und dem ſoliden Verkäufer das Ge-
ſchäft zu erſchweren, wenn nicht unmöglich zu machen.
Die Bedeutung der Jahrmärkte hat ſich überlebt. Die-
ſelben untergraben die Solidität des Kleinhandels,
erſchweren an einzelnen Orten die naturgemäße Ent-
wickelung deſſelben und erzeugen und friſten das Daſein
eines handeltreibenden Proletariats. Die Verminderung
und ſchließlich gänzliche Beſeitigung der Jahrmärkte wird
deshalb den veränderten ſozialen Verhältniſſen der Jetzt-
zeit entſprechen.“
Wir ſahen ſchon, daß dennoch die Geſammtzahl
der ſächſiſchen Märkte zunächſt keine Neigung zur Ab-
nahme hat. Aber innerhalb der Geſammtzahl liegen
weſentliche Aenderungen, indem die Vieh- und Produkten-
märkte zu, die Krammärkte abnehmen. Es waren nämlich:1
Dieſe Zahlen beſtätigen ebenfalls die Richtung auf eine
ſinkende Bedeutung der Krammärkte.
Wo und ſoweit die Jahrmärkte noch blühen, ſind
die ausbietenden Verkäufer, wie auch der Chemnitzer
Bericht andeutet, mehr reine Händler und Hauſirer,
als Handwerker, es ſind Leute, welche den Handels-
vertrieb ausſchließlich treiben und deswegen wieder eher
dazu paſſen, als die produzirenden Handwerker, welche
durch den Jahrmarktsbeſuch Zeit und Arbeitsluſt verlieren.
15 *
[[228]]
4. Die Magazine und der Hauſirhandel.
Die ſtädtiſchen Magazine, ihr Charakter, ihre Konkurrenz für
das kleine Handwerk. Ihre Schattenſeiten, Humbug und Be-
trug. Daneben ihre volkswirthſchaftliche Berechtigung. Das
verſchiedene Verhältniß der Magazine zur Produktion, zu den
Arbeitern oder kleinen Meiſtern. Die Uebelſtände und ihre
Erklärung. Die Wirkung der großen Magazine über das ganze
Land. Die Wanderlager oder umherziehenden Magazine. Der
Hauſirhandel. Die verſchiedenen Thätigkeiten, die zu ihm
gerechnet werden. Zur Geſchichte deſſelben. Die Hauſirer
der ältern Zeit. Die Tendenz der Verwaltung, ſie zu be-
ſchränken. Die von ſelbſt erfolgende Abnahme des alten
Hauſirhandels. Die Wendung der neueſten Zeit auf Wieder-
zunahme. Die Arten der Hauſirer, welche wieder zunehmen.
Die Berechtigung dieſer Zunahme, neben der theilweiſe un-
ſittlichen und proletariſchen Zunahme. Württembergiſche Ver-
hältniſſe in dieſer Beziehung. Die Beſtimmungen der Ge-
werbeordnung des norddeutſchen Bundes.
Wie der tüchtige vorwärtsſchreitende Handwerker
den Bezug des Jahrmarkts aufgiebt, um keine koſtbare
Arbeitszeit zu verlieren, ſo weiß auch der Händler mit
Handwerksprodukten, daß er beſſer fährt, wenn er ſein
Ladengeſchäft in der Stadt ſo ſteigern kann, daß es ihn
ausſchließlich zu nähren, zu beſchäftigen vermag.
Wir ſprechen von einem Magazinſyſtem da, wo der
kaufmänniſche Vertrieb den Schwerpunkt des Geſchäftes
bildet. Der Bezug, die Anfertigung der Waaren iſt
[229]Der Charakter des ſtädtiſchen Magazins.
mannigfach; die Stellung des Unternehmers ebenſo: er
iſt bald nur Kaufmann, bald Techniker, immer ein
Mann etwas höherer Bildung und ſozialer Stellung.
Größeres Kapital iſt die Vorausſetzung, große Vorräthe
zur Auswahl bilden die Grundlage des Geſchäfts. Eine
vom Geiſt moderner Spekulation geleitete Reklame, glän-
zende Ausſtattung, koloſſale Schaufenſter, gewandtes Ein-
gehen auf alle Bedürfniſſe des Publikums bilden die
Mittel anzuziehen und einen großen Abſatz zu erhalten.
Die Magazine bilden die Hauptklage des kleinen
Meiſters, ihre Konkurrenz nimmt ihm die Arbeit und
würde ihm häufig noch gefährlicher werden, wenn das
Magazin nicht meiſt Baarzahlung verlangte, während
die Schneider und Schuſter oft erſt in einem Jahre,
oft noch ſpäter bezahlt werden und dieſen ruinirenden
Kredit nicht weigern können, da in der That ein großer
Theil derer, die zu ihnen noch kommen, es nur thut,
weil hergebrachter Maßen dieſer überlange Kredit im
Verkehr mit dem kleinen Meiſter üblich iſt.
Aber nicht bloß der kleine Meiſter, auch mancher
ſolide Geſchäftsmann warnt bedenklich vor dem Magazin,
und es unterliegt keinem Zweifel, — das Magazinſyſtem
iſt ſehr vielfach der eigentliche Tummelplatz des modernen
Schwindels und Humbugs, ja der eigentlichen Betrügerei.
Der Großhandel iſt reeller und ſolider geworden, weil
ſich bei ihm in der Regel zwei Sachverſtändige gegen-
über ſtehen. Im Laden und Magazin ſtehen ſich meiſt
ein Sachverſtändiger und ein Laie, ein mit den
Fälſchungen, mit der beſtimmten Waare überhaupt
wenig oder gar nicht Vertrauter gegenüber.
[230]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Der rechte Spekulant geht aus von dem Grundſatz:
mundus vult decipi, ergo decipiatur. Die glänzende
Außenſeite der Produkte iſt ihm die Hauptſache, viel
weniger die Haltbarkeit, die Solidität. Doch darf man
nicht vergeſſen, daß die Waare, die er liefert, meiſt
fabrikmäßig hergeſtellt iſt. Sie kann nicht die Voll-
endung und Haltbarkeit haben, wie ein Produkt, das
nach Angabe des Beſtellers gearbeitet, in allem Detail
von der Hand des Meiſters ſelbſt geprüft iſt. Iſt die
Waare nur entſprechend billig, ſo iſt das kein Vorwurf
gegen ſie. Freilich geht oft die Unſolidität viel weiter,
wenn es auch nicht oft vorgekommen ſein mag, daß
Kleidermagazine geleimte ſtatt genähter Hoſen verkauften,
die im Regen bedenkliche Reſultate geliefert haben ſollen.
Aber nicht bloß durch glänzend ausſehende Waare
wirkt der Spekulant, der ſein Magazin in die Höhe
treiben will. Alle erlaubten und unerlaubten Mittel
der Täuſchung und der Reklame werden von gewiſſen-
loſen Menſchen in Szene geſetzt; und, was das ſchlimme
iſt, der eine kann nicht hinter dem andern zurückbleiben,
ſo häuft ſich Täuſchung auf Täuſchung, Betrug auf
Betrug. 1 Sind wir von amerikaniſchem, engliſchem
[231]Die Schattenſeiten der Magazine.
und franzöſiſchem Humbug noch weit entfernt, ſo ſind
dieſe Dinge bei uns doch auch ſchon ſo entwickelt wie
irgend wünſchenswerth. Der gewandte Rechtsanwalt
und Handelsrichter weiß davon zu erzählen. Wie
manchmal iſt der Fall ſchon durch ärgerliche Prozeſſe,
die unter den Helfershelfern ausbrechen, ans Licht gekom-
men, daß der ſpottbillige Verkauf guter Kleider in dieſem
und jenem Magazin darauf beruhte, daß der Inhaber
für 2000 Thaler einen Tuchvorrath kaufte und baar
bezahlte, der 4000—5000 Thaler werth war. Der
Verkäufer des Vorraths ſteht vor dem Bankerott und
will noch etwas auf die Seite ſchaffen. Er verkauft,
betrügt ſeine Gläubiger; Käufer und Verkäufer verpflichten
ſich zu ſchweigen; in den Büchern wird die Sache irgend-
wie vertuſcht, und Niemand erfährt etwas, wenn die
ſaubern Geſchäftsfreunde nicht Händel bekommen. Andere
Magazine helfen ſich wenigſtens dadurch, daß ſie keine
andern Waaren als Konkurswaaren kaufen. Und in
bewegter Spekulationszeit machen ſicher immer ſo viele
Magazine Bankerott, daß aus ihren Zwangsauktionen
billig zu kaufen iſt.
Ich will nicht behaupten, daß auch nur die Hälfte,
auch nur ein Drittheil unſerer deutſchen Magazine an
ſolchen Unlauterkeiten theilnehmen; aber immer wäre
das Bild des Magazinſyſtems einſeitig, wenn man dieſe
Auswüchſe nicht erwähnte. Sie ſind um ſo mehr zu
erwähnen, als Polizei und öffentliche Meinung bei uns
weniger als in entwickeltern Ländern dieſe Dinge ver-
pönen, verfolgen, überhaupt kennen; um ſo mehr zu
betonen, als doch trotz aller dieſer möglichen Uebelſtände
[232]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
zuzugeben iſt, daß das Magazinſyſtem heute eine volks-
wirthſchaftliche Nothwendigkeit iſt.
Der beſte Beweis hiefür iſt, daß ſie trotz aller
Klagen über ſchlechte Waaren ein immer größeres Publi-
kum finden, immer mehr zunehmen. Und das hat ein-
ſache volkswirthſchaftliche Urſachen. Die Arbeitstheilung
zwiſchen Produktion und Vertrieb ermöglicht beſſere Pro-
duktion und beſſern Vertrieb. Die Magazine ent-
ſprechen dem heutigen Stande der Kapitalanſammlung,
der Technik, der Geſchäftsorganiſation. Die Magazine
haben Kapital und Kredit, die Konjunkturen zu benutzen,
ſie bilden, wo ſie nicht ſelbſt produziren, für die Fabriken
oder kleinen Produzenten ſichere, zahlungsfähige Abneh-
mer; ſie kaufen, wenn ſie ſelbſt produziren laſſen, die
Roh- und Hülfsſtoffe billig im Großen ein. Sie liefern
billigere Waaren als früher, ſie bieten dem Publikum
die große Auswahl zwiſchen fertigen Produkten, die es
wünſcht. Die Waarenvorräthe, welche ſie halten, können
als eine Art Reſervefonds für das ganze Volk betrachtet
werden. Sind nur die Verhältniſſe richtig geordnet, ſo
werden Preiſe und Betrieb durch die Magazine eher
gleichmäßiger, Kriſen ſeltener. Das Magazin hält eine
Mißgunſt der Konjunktur eher aus, als der kleine
Meiſter; es wird auf Vorrath arbeiten laſſen, gerade
wenn die Löhne gedrückt ſind.
Das Verhältniß der Magazine zu den Arbeitern
iſt ſehr verſchieden. Einzelne haben eigene Arbeits-
räume, wo ſie Arbeiter und Arbeiterinnen beſchäftigen;
ſie ſind ganz auf dem Fuß einer Fabrik eingerichtet;
der Arbeiter hier unterſcheidet ſich nur darin vom
[233]Das Verhältniß der Magazine zur Produktion.
gewöhnlichen Fabrikarbeiter, daß er ein gelernter Hand-
werker iſt, dem entſprechend eine andere Stellung und
andern Lohn beanſprucht.
Andere Magazine ſind ganz oder faſt ausſchließlich
auf Einkauf fertiger Produkte, fertiger Lederwaaren, fertiger
Kleider eingerichtet. Sie beziehen dieſelben von Fabriken
oder von verſchiedenen Handwerksgeſchäften, welche ſelb-
ſtändig die Rohſtoffe einkaufen und verarbeiten, welche
ſich ausſchließlich auf einzelne Spezialitäten, z. B. auf
die ausſchließliche Anfertigung von Damenmänteln werfen.
Solche Handwerker arbeiten dann für eine Reihe von
Magazinen, oft für Magazine an verſchiedenen Orten.
Ihre Geſchäfte vervollkommnen ſich techniſch, ſind durch
ihren Abſatz an verſchiedene Magazine unabhängig; ſie
machen häufig gute Geſchäfte; es iſt kein allzugroßes
Kapital zum Beginne nöthig. In dieſer Weiſe hat ſich
in Thüringen und ganz Mitteldeutſchland vielfach die
Schuhmacherei geſtaltet. Die kleinen Meiſter kaufen
ſelbſt das Leder — beſonders da, wo Rohſtoffgenoſſen-
ſchaften ihnen das erleichtern — und verkaufen die fer-
tige Waare an die Magazine.
Häufig aber beſchäftigen die Magazine die kleinen
Meiſter und Arbeiter ſo, daß ſie den Rohſtoff liefern,
den Arbeiter in ſeiner eignen Wohnung arbeiten laſſen,
ihm nur die Arbeit bezahlen. Von ſolchen Verhält-
niſſen hauptſächlich geht die vielfach verbreitete Meinung
aus, als ob das Magazinſyſtem an ſich identiſch ſei mit
Lohnherabdrückung, mit blutiger Ausſaugung des Arbeiter-
ſtandes. Dieſe Meinung irrt in ihrer Allgemeinheit
ſchon deshalb, weil das Magazinſyſtem ganz verſchiedene
[234]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
geſchäftliche Organiſationen zuläßt, die gerade die Be-
ziehungen zwiſchen dem Arbeiter und dem Magazin
ganz verſchieden geſtalten.
Nur ſo viel läßt ſich im Allgemeinen ſagen, daß
dem Magazininhaber meiſt der Vertrieb, der Verkauf
die Hauptſache iſt, daß ihm die Produktion erſt in
zweiter Linie ſteht, daß er alſo deswegen weniger In-
tereſſe an ſeinen Arbeitern hat, als der eigentliche Fa-
brikant und als der Verleger der Hausinduſtrie, deren
eigenes Gedeihen mit dem Wohle der Arbeiter näher
zuſammenhängt.
Ein Theil der Mißbräuche in dieſen Geſchäfts-
verhältniſſen hängt mit dieſem Umſtande zuſammen; der
größere Theil aber hat andere Urſachen, liegt in der
allgemeinen Kriſis der Handwerksinduſtrie, in dem zu
großen Angebot von Arbeitskräften, beſonders in ſolchen
Gewerben, die leicht zu erlernen ſind, in denen der Zu-
drang groß iſt, weil ſie bisher ohne bedeutendes Kapital
leicht die Gründung eines eignen Geſchäfts erlaubten.
Auch die früher mangelnde Freizügigkeit, die Schwer-
fälligkeit in Ueberſiedelungen hat viel mitgewirkt; die
Eiſenbahnen haben die Schwerpunkte des gewerblichen
Lebens total verrückt; an einem Orte iſt der größte
Arbeitermangel, am andern haben die Leute nichts mehr
zu thun.
Wo ſo das Angebot an Arbeitern überwog, wo
zahlreiche kleine Meiſter unbeſchäftigt waren, da haben
die Magazine arbeiten laſſen. Sicher haben ſie die
Unkenntniß und die Noth der armen Leute oftmals
blutig und entſetzlich ausgenutzt. Aber meiſt geſchah es
[235]Das Arbeiten für die Magazine.
da, wo ohne die Magazine die Arbeiter gar keine Arbeit
gefunden hätten, die Noth alſo noch größer geweſen
wäre. Oft auch haben ſich die Schuhmacher und
Schneider, welche für Magazine arbeiten, ſelbſt dadurch
geſchadet, daß ſie das Magazin im Stiche ließen, wenn
dieſes ihre Arbeit am nothwendigſten brauchte. Sie halten
es häufig noch für eine Schande, für „die Juden“ zu
arbeiten, ſie wollen eine eigene Kundſchaft erwerben und
löſen, ſobald in einem günſtigen Geſchäftsjahr die Nach-
frage ſteigt, ihren Zuſammenhang mit dem Magazin.
Nun kommt wieder eine Geſchäftsſtille; der Verſuch, ein
eigenes Geſchäft zu gründen, zeigt ſich als mißlungen;
die Erſparniſſe ſind verbraucht. Der Magazininhaber
wie der Meiſter ſind gegenſeitig erbittert; jeder ſchiebt
den flauen Abſatz dem andern in die Schuhe. Und jetzt
gerade muß der kleine Meiſter um jeden Preis Arbeit
ſuchen!
So kann das Verhältniß ſein, ſo muß es nicht
ſein. Hat ſich nach Umwandlung der Verhältniſſe die
Zahl der Arbeitenden in ein richtiges Verhältniß zur
Nachfrage geſtellt, iſt die Lage der Leute eine behag-
lichere, beſſere, beſitzen ſie wenigſtens das nothwendige
handwerkszeug ſelbſt, ſind ſie nicht durch Vorſchüſſe von
einzelnen großen Unternehmern abhängig, ſo iſt ihre
Lage nicht ſchlimm. Es fehlt ihnen die alte Selbſtän-
digkeit des Handwerks, es fehlt ihnen die Möglichkeit,
am Unternehmergewinn theilzunehmen; aber ſie haben
ihr geſichertes Verdienſt, und wenn ſie ſehr geſchickt ſind,
wenn ſie etwas erſparen, können ſie immer in die Reihe
der Unternehmer ſelbſt wieder eintreten.
[236]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Die Wirkung der ſtädtiſchen Magazine beſchränkt
ſich nicht auf die Städte; die ganze Umgegend der Stadt
fängt an, bei ihnen zu kaufen; der ſchöne Laden beginnt
auch dem Bauern zu imponiren, der ſtaunend vor den gro-
ßen Spiegelfenſtern und ihrer Schauſtellung ſtehen bleibt.
Die Eitelkeit ſpielt mit: mancher will hinter der Mode
nicht zurückbleiben; die neueſte Mode, die neueſte Façon
findet man in den großen ſchönen Läden. Die Eiſenbahn
erleichtert den Beſuch ſelbſt für den ferner Wohnenden.
Wie der Bauer gern in die Stadt, ſo geht der Be-
wohner des Städtchens gerne auf einen Tag in die
Hauptſtadt der Provinz; der wohlhabende Bewohner der
Provinzialhauptſtadt aber würde es unter ſeiner Würde
finden, wenn er nicht Möbel und Kleider von Berlin
bezöge; die vornehme Berlinerin hat ihre Putzmacherin
in Paris, nur dort kann ſie die neuen ſeidenen Roben
einkaufen und erträglich machen laſſen. Berliner Möbel
ſind nächſtens in den Magazinen aller deutſchen Städte;
es iſt daſſelbe Holz, dieſelbe Arbeit, dieſelben Modelle;
aber der „Gebildete“ reist doch nach Berlin, um dort
einzukaufen, und ſicher findet er auch da eine noch
größere Auswahl, die ſchönſten Stücke, die billigſten
Engros-Preiſe, oftmals freilich auch noch mehr
Täuſchung und Betrug, als zu Hauſe.
Aber auch für Denjenigen, der nicht die Reiſen nach
der Provinzial- oder Landeshauptſtadt machen kann, hat
die wachſende Spekulation Gelegenheit geſchaffen, die
Magazinwaaren zu kaufen, durch die wandernden Maga-
zine, welche den Uebergang zu dem eigentlichen Hauſir-
handel bilden.
[237]Die Wanderlager.
Man wird dieſen Wandermagazinen nicht voll-
ſtändig die volkswirthſchaftliche Berechtigung abſprechen
dürfen. Wenn an einem Orte ein Geſchäft nicht das
ganze Jahr zu thun findet, ſo kann der Wechſel des
Ortes von Monat zu Monat am Platze ſein. Die
Funktion, neue Bedürfniſſe in abgelegenen Orten zu
wecken, iſt ebenfalls eine berechtigte, wenn ſie nicht zu
weit geht.
Auf der andern Seite aber iſt ebenſo unzweifelhaft,
daß ſolche Wandermagazine mehr als jeder andere Ge-
werbebetrieb es auf Täuſchung des Publikums, auf
Umgehung der Gewerbeſteuer anlegen. Die Reklame,
das Aushängeſchild des Ausverkaufs, die verführeriſche
Form der Auktionen muß helfen einen ſchnellen Abſatz
zu bewerkſtelligen, und bis die Käufer den Schaden
merken, iſt das Magazin längſt an einem andern Orte.
Was ich oben von den Schattenſeiten der ſtehenden
Magazine ſagte, gilt doppelt und dreifach von den
wandernden.
Die großen Klagen in Württemberg über der-
artige Wandermagazine erwähnte ich ſchon oben.
Seit die Gewerbeſteuer dieſer Art von Geſchäften
geregelt iſt (1865), hat aber das wandernde Ausbieten
von ganzen Waarenlagern in Wirths- und Privat-
häuſern wieder weſentlich abgenommen.1 Das neue
Bairiſche Gewerbegeſetz hat trotz ſeiner ſonſt durchaus
liberalen Richtung die Beſtimmung, daß die ſogenannten
Wanderlager von der ortspolizeilichen Bewilligung ab-
[238]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
hängen und einer beſondern Abgabe für die Gemeinde-
kaſſe des betreffenden Ortes unterliegen.1 Der große
Erguß von Berliner Spekulanten über Thüringen und
ganz Mitteldeutſchland in der Form von Wanderlagern,
über den jetzt allerwärts geklagt iſt, ſcheint auch mit
einer mangelhaften Regelung der Steuerverhältniſſe zu-
ſammenzuhängen; vielfach ſind natürlich die Klagen über-
trieben, ſie zeigen theilweiſe nur, daß Konkurrenz kommt,
und daß ſie ungeſchickten Meiſtern und uncoulanten
kenntnißloſen kleinen Händlern unbequem iſt. Wandernde
wie ſtehende Magazine, welche Fabrikwaaren verkaufen,
hätten ja überhaupt unendlich weniger zu thun, wenn
die Kunden bei den kleinen Meiſtern etwas beſſere und
kunſtgerechtere Produkte im Falle der Beſtellung erhielten.
Wenden wir uns endlich zum eigentlichen Hauſir-
handel, der freilich nur theilweiſe hierher gehört, nur
theilweiſe dem kleinen Handwerker und ſeinem Laden-
geſchäft Konkurrenz macht.
Es werden zum Hauſirhandel im weitern Sinne
ziemlich verſchiedene Handels- und Gewerbebetriebe
gerechnet: Leute, welche ihre Dienſte anbieten, wie
Scheerenſchleifer, Keſſelflicker, Topfbinder, Kaſtrirer, die
in weiter Ferne herumkommen, und Glaſer, die mit
Glasſcheiben und Werkzeug nur in der nächſten Umgegend
Nachfrage halten, ob irgendwo eine Reparatur noth-
wendig ſei; Händler, welche alle Arten von Kramwaaren
vertreiben, und ſolche, die von einzelnen Induſtrien aus-
[239]Der Hauſirhandel.
geſendet, ihre Produkte in die weiteſte Ferne bringen,
dieſen Induſtrien vielfach erſt Abſatz ſchaffen; dann wie-
der Sammler von Abfällen, Aufkäufer von Obſt, Ge-
flügel, Eier, Garnſammler und wandernde Flachsver-
käufer, die letztgenannten alles Leute, die mit feſtem
Wohnſitz den Verkehr höchſtens auf einige Meilen ver-
mitteln, in kurzen Zeiträumen immer wieder erſcheinen.
Dieſe Verſchiedenheit derjenigen, die man unter dem
Begriff der Hauſirer umfaßt, und die bisher nach den
meiſten Geſetzgebungen ziemlich gleichmäßig unter den geſetz-
lichen Beſtimmungen über den Gewerbebetrieb im Umher-
ziehen ſtanden, erklärt auch die Verſchiedenheit der An-
ſichten über Werth und Berechtigung des Hauſirhandels.
Je nachdem die eine oder andere Art vorwiegt, je nachdem
die ſonſtigen begleitenden Kulturzuſtände ſind, muß das
Urtheil anders ausfallen. Ich will nur flüchtig anzu-
deuten ſuchen, wie je nach den verſchiedenen Branchen,
je nach den Zeitverhältniſſen der Hauſirhandel zu- oder
abnehmen mußte, günſtiger oder ungünſtiger beurtheilt
wurde.
Bei ganz rohen Zuſtänden, wie heute noch in
vielen Gegenden Nordamerika’s, iſt der Hauſirer der
einzige Vermittler mit der übrigen Kulturwelt, der ein-
zige, der Kunſtprodukte, Gewebe, Nadel und Faden,
Geräthe und Inſtrumente dem abgelegen wohnenden
Landmanne bringt. Der römiſche Hauſirer durchzog die
germaniſchen Lande; ähnliche Dienſte leiſtete im Mittel-
alter der Jude, der Lombarde, der Zigeuner, ſpäter
auch viele Deutſche ſelbſt. In armen gebirgigen Gegen-
den warfen ſich ganze Ortſchaften auf dieſen mühevollen
[240]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Erwerb und haben ſich bis in die neuere Zeit ſo erhalten.
Ich erwähne aus Süddeutſchland die naſſauiſchen Töpfer-
händler, die ſchwarzwälder Uhrenhändler, aus Nord-
deutſchland vor Allem die Hauſirer Weſtfalens, die
Winterberger und Weſtfälinger, die Händler aus dem
Hückengrunde, die mit Holz-, Töpfer- und Eiſenwaaren,
mit Hopfen und andern Waaren durch die Welt zogen,
die früher vorzüglich nach Dänemark, nach Schweden
und Norwegen bis in die einſamſten Thäler vordrangen,
deutſche Waaren abſetzten und dafür den Feuerſchwamm
mitbrachten. In Weſtfalen gibt es noch bis in die neuere
Zeit Städtchen und Dörfer von 1000—6000 Ein-
wohnern mit mehreren Hundert Hauſirern.1 Zu Tauſen-
den zogen ſie aus jenen Gegenden jedes Frühjahr aus.2
Waren immer ſchon viele ſchlimme Elemente unter
einer derartigen Bevölkerung, war das noch mehr der
Fall an der polniſchen Grenze, wo unter Juden und
Polen noch mehr nomadenhafte Gewohnheiten und Hang
zu Betrug und Diebſtahl exiſtirten, immer gab es unter
ihnen ſehr viele ehrliche, tüchtige Leute. Aber neben
ihnen finden wir früh ganz andere Elemente, die mit
Recht die ſtrengſte polizeiliche Ueberwachung heraus-
forderten. Aus den fahrenden Leuten des Mittelalters
wird nach der Reformationszeit, noch mehr nach dem
dreißigjährigen Kriege eine wahre Landeskalamität; die
Verwilderung hatte alle ſittlichen Bande zerſtört. Die
[241]Die vagabundirenden Hauſirer.
Arbeitsſcheu ſchwellte damals den Hauſirhandel unnatür-
lich an. Die Bevölkerung ganzer Dörfer, ganzer Gegen-
den hatte ſich in fahrende Diebs- und Räuberbanden
verwandelt. Mißbräuche aller Art nahmen zu. Schleich-
handel, Kundſchafterei für Diebsbanden, Diebshehlerei,
wenn nicht Schlimmeres, Quackſalberei, ſyſtematiſcher
Betrug, Verkauf unſittlicher Bilder und verbotener
Schriften galten für identiſch mit Hauſirhandel, und bis
in die neuere Zeit trifft man nur allzureiche Spuren
hiervon.
Eine gewaltthätige Geſetzgebung ſuchte dieſes Geſindel
wieder zu ſeßhaftem Leben zu bringen, ſuchte mit allen
Mitteln dieſem unſteten Leben entgegen zu wirken; und
als längſt ſchon in andern Gebieten die abſtrakte Theorie
von der Freiheit alles wirthſchaftlichen Verkehrs als
unbedingtes Dogma galt, war in Bezug auf den Hauſir-
handel Theorie und Praxis einig, war bemüht, den
Hauſirhandel möglichſt zu beſchränken, das ſtehende Ge-
werbe vor ſeiner Konkurrenz zu ſchützen. Von dieſem
Geiſte ſind die Hauſirgeſetze bis in die neuere Zeit
beherrſcht. Auf dieſem Standpunkt ſteht z. B. noch 1841
Hoffmann,1 dem Rönne2 dieſelben Worte noch 1851
unbedingt nachſpricht, wenn er ſagt: „Die Fortdauer
des Gewerbebetriebs im Umherziehen auf der Bildungs-
ſtufe, worauf ſich Deutſchland und Preußen insbeſondere
befindet, iſt eine merkwürdige Erſcheinung. Eine Noth-
wendigkeit derſelben iſt durchaus unerweislich.“
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 16
[242]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Das preußiſche Regulativ vom 28. April 1824,
das bis jetzt gegolten hat, war übrigens in relativ
liberalem Geiſte gehalten. Hoffmann findet, daß es viel
zu ſehr die Dinge ſich ſelbſt überlaſſe, wenn es auch
auf der andern Seite durch die hohe Gewerbeſteuer
für den Gewerbebetrieb im Umherziehen an einzelnen
Punkten wieder einſchränkend wirke. Für Denjenigen,
dem die Verwaltungspraxis in den verſchiedenen Landes-
theilen nicht genau bekannt iſt, iſt es ſchwer, ein ſelb-
ſtändiges Urtheil darüber zu fällen, in wie weit die
Geſetzgebung, in wie weit die andern Urſachen, die
realen wirthſchaftlichen Bedürfniſſe auf Zunahme oder
Abnahme des Hauſirhandels gewirkt haben. Jedenfalls
iſt anzunehmen, daß die Verwaltungspraxis in Preußen
von 1824 bis zur Gegenwart ungefähr dieſelbe blieb,
daß alſo die Stabilität des Hauſirhandels früher und
die Zunahme, die neuerdings eingetreten iſt, auf andere
Urſachen zurückzuführen ſind.
Im Ganzen wird man behaupten dürfen, daß die
wirthſchaftlichen Verhältniſſe, die ſteigende Oeffentlichkeit
und Moralität bis in die neuere Zeit in ähnlichem
Sinne wirkten, wie die Hauſirgeſetze. Der Hauſirhan-
del, der nur dem Vagabundenleben zum Schilde dient,
hat entſchieden abgenommen. Und nicht bloß der unſolide,
auch der ſolide Hauſirhandel iſt theilweiſe nicht mehr
ſo nothwendig wie früher. Seit der neuern Zunahme
des Verkehrs hängen nicht mehr, wie früher, ganze
Induſtriezweige vom Abſatz der Hauſirer ab. Die
Nürnberger und Fürther Induſtrie, die ſchwarzwälder
Uhreninduſtrie, die rheinbairiſche Bürſten- und Beſen-
[243]Die Abnahme des ältern Hauſirhandels.
induſtrie ſetzen ihre Produkte jetzt mehr auf andere
Weiſe ab. Der Tyroler Hauſirer mit ſeinen Lederwaaren
und Handſchuhen beſucht jetzt die Meſſen und Märkte,
vielfach hat er ſich feſt angeſiedelt, als Hauſirer trifft
man ihn ſelten mehr. Die Gegenden und Ortſchaften,
die beinahe ausſchließlich vom Hauſirhandel lebten, gehen
weſentlich zurück oder nehmen die Betriebsweiſen eines
geordneten ſtehenden Handels an. Wenn der weſt-
fäliſche Hauſirer — ſo erzählt Jacobi — früher oft
1000 Fl. von einer Jahrestour aus Holland zurück-
brachte, ſo iſt er jetzt mit 100 Thlr. durchſchnittlich zu-
frieden. In immer weitere Kreiſe muß er ziehen, um
ſich zu nähren. Von den ſüddeutſchen Hauſirern der
Ehninger Gegend, die in aller Welt bekannt ſind,
berichtet Mährlen:1 „Der Hauſirhandel, wie er bisher
von den Krämern in Ehningen mit einem Jahresum-
ſchlag von einigen Millionen Gulden betrieben wurde,
iſt in ſtarker Abnahme begriffen, und es haben manche
der zahlreichen Firmen dieſes Orts bereits angefangen,
ihren Uebergang zur Seßhaftigkeit durch Kommanditen
im In- und Auslande anzubahnen.“ Während aber
ſo auf der einen Seite von ſelbſt und durch die Be-
mühung der Verwaltung einzelne Arten des Hauſir-
handels abnahmen, mußten die neueſten Verkehrs-
änderungen wieder andere zur Ausdehnung veran-
laſſen.
Ladengeſchäfte und Handwerk nahmen ſeit der Zeit
der Eiſenbahnen auf dem Lande nicht mehr ſo zu wie
16 *
[244]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
früher; der Jahr- und Wochenmarktsbeſuch iſt nicht
mehr derſelbe. Der Bauer hat nicht mehr Zeit, ſo
oft zu Markte zu fahren und ganze Tage mit Verkaufen
und Einkaufen zu verlieren. Der Hauſirer kann billigere
und beſſere Waaren liefern, als der Laden im Dorfe.
Der Hauſirer mit Kramwaaren, mit Weißwaaren, mit
Küchengeſchirr, gewinnt dadurch eher wieder. Mancherlei
Neues wird heute produzirt; Bedürfniſſe und Anſprüche
ändern ſich; in abgelegenere Gegenden kommt dieſes
Neue nur durch den Hauſirer. Vor Allem aber mußte
der einkaufende Hauſirhandel zunehmen. Der Viktualien-
handel iſt meiſt jetzt in den Händen ſolcher kleinen
Kommiſſionäre, welche bisher in Preußen einen Hauſir-
ſchein brauchten. Sie kaufen für den Müller die kleinen
Getreidepoſten zuſammen, ſie liefern dem Geflügel-
händler, dem Eier-, Butter- und Milchhändler der
Stadt ihre Waaren. Aber faſt immer verbindet ſich
damit ein Vertrieb von Waaren, welche der Landmann
braucht; ſie beſorgen dem Bauern dies und jenes in
der Stadt, kaufen dort für ihn ein. Außerdem iſt man
heute bemüht, die Abfälle beſſer zu nützen als früher.
Altes Eiſen, Lumpen laſſen ſich ſchwer anders ſammeln
als durch den Hauſirer, ſie würden nicht benutzt, wenn
der Hauſirer ſie nicht holte. Die meiſten derartigen
Geſchäfte ſind in den Händen nicht ganz unbemittelter
Leute; ſie müſſen baar zahlen und gegen Kredit ver-
kaufen, wenigſtens die an die Viktualienhändler der
Stadt verkaufenden. Dazu gehört einiges Kapital.
Das erklärt, warum in neuerer Zeit die Zahl der
ſogenannten Hauſirer reſp. der Hauſirpatente auch bei
[245]Die neueſte Zunahme des Hauſirhandels.
gleichbleibender Geſetzgebung zunahm, erklärt, warum
bei einer Erleichterung des Hauſirhandels durch eine
liberalere Geſetzgebung der Zudrang ein ſo großer iſt,
obwohl damit nicht geleugnet werden ſoll, daß, wenn
eine ſolche Geſetzesänderung eintritt, auch eine Reihe
unlauterer Motive, ſowie die ſteigende Zahl der Bevöl-
kerung an ſich zur Ausdehnung mitwirken.
Die Zahl der jährlich in Preußen nachgeſuchten
und ertheilten Hauſirſcheine iſt mir leider nur für ein-
zelne Jahre bekannt. Die Zahlen der in der amtlichen
Statiſtik ſeit 1837 angeführten Gewerbetreibenden dieſer
Art ſind mir zu einem ſtrengen Beweis nicht ganz un-
verdächtig; denn einmal ſtimmen ſie nicht überein mit
der Zahl der aus einzelnen Jahren mir bekannten
Hauſirſcheine; das hat wohl ſeinen Grund darin, daß
nur die ausſchließlich als Hauſirer lebenden Perſonen in
der Gewerbetabelle unter dieſer Rubrik gezählt werden.
Dann iſt die aufzunehmende Kategorie aber auch nicht
immer gleich gefaßt geweſen. Immerhin will ich die
Zahlen mittheilen und verſuchen, zu folgern, was ſie
ungefähr enthalten.
Die aufzunehmende Kategorie lautete zuerſt1
„herumziehende Krämer,“ ſpäter „herumziehende Krämer
und Lumpenſammler;“ die Pferde- und Viehhändler
waren nicht darunter; ſie machen 1858 noch eine beſon-
dere Kategorie aus (12112 Perſonen zuſammen mit
Kohlen-, Pech-, Theerhändlern und Trödlern). Im
[246]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Jahre 1861 ſind die Kategorien etwas andere. Die
Rubrik „Pferde-, Vieh-, Pech-, Theer-, Kohlenhändler
und Trödler“ fehlt ganz. Die Hauſirer ſind ſo gefaßt:
„herumziehende Krämer, Lumpenſammler und andere
herumziehende Händler.“ Darnach iſt ein Theil der
1858 unter den 12112 Perſonen ſteckenden Händler
jetzt hier mitverzeichnet, aber auch nur ein Theil, z. B.
die Trödler nicht, wonach die Zahl für 1861 alſo, um
mit den früheren Zahlen vergleichbar zu werden, um
einige Tauſend reduzirt werden müßte.
Die Zahlen ſelbſt ſind folgende:
1837 . 15753
1840 . 16237
1843 . 18146
1846 . 21049
1849 . 16724
1852 . 20404
1855 . 21214
1858 . 22497
1861 . 44411.
Nach dieſer Tabelle würde die Zahl der Hauſirer
von 1837 bis 58 ſich kaum, nur etwa der Bevölkerungs-
bewegung entſprechend, vermehrt haben. Die vorüber-
gehende Steigerung 1846 erklärt ſich aus der damaligen
Noth und Stockung der Kleingewerbe, welche Manche
nöthigte, auf dem Wege des Hauſirens ſich durchzu-
bringen. Für 1858—61 bleibt eine bedeutende Zu-
nahme, man mag auch tauſende von der Zahl wegen
anderer Faſſung der Rubrik abziehen. Und dieſe Zu-
nahme halte ich gerade von 1858 ab nicht für un-
wahrſcheinlich.
[247]Die Preußiſche Statiſtik des Hauſirhandels.
Es iſt daneben nicht ohne Intereſſe auf die Ver-
theilung der Hauſirer nach Provinzen 1837 und 1861
einen Blick zu werfen:
Wo am meiſten Verkehr und Induſtrie, wo der
Kleinbeſitz vertreten, wo die wirthſchaftliche Kultur am
höchſten iſt, da finden wir die größte Zahl derſelben.
Der relative Zuwachs, wenn wir ihn überhaupt nach
dieſen Zahlen glauben ſchätzen zu dürfen, iſt nächſt
Preußen am ſtärkſten in Sachſen und am Rhein, am
ſchwächſten in Pommern, Brandenburg, Poſen. Das
deutet darauf, daß es nicht ſowohl die vagabundiren-
den, nomadenhaften, auf Diebſtahl und Nichtsthun
ſpekulirenden Hauſirer, ſondern die kleinen, reellen,
wahren wirthſchaftlichen Bedürfniſſen dienenden Auf-
und Verkäufer ſind, die zunehmen.
Daß trotzdem auch heute noch der Hauſirhandel
ſeine wirthſchaftlichen und ſittlichen Gefahren hat, zeigt
ſich am beſten, wie ich vorhin ſchon erwähnte, wenn
irgendwo die Verwaltung das Löſen der Gewerbeſcheine
erleichtert, die Steuern herabſetzt, oder die Umgehung
[248]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
derſelben erleichtert. Der Andrang und die Mißbräuche,
die da entſtehen, ſind nicht unbedeutend, es fragt ſich
nur, ob ſie nicht theilweiſe vorübergehend ſind, ob nicht
durch die bisherige einſchränkende Verwaltungspraxis
neben manchem Unfug ſehr viele berechtigte Geſchäfte
abgeſchnitten wurden.
Ich möchte in dieſer Beziehung noch Einiges aus
den unparteiiſchen, ſchon oben erwähnten Berichten der
württembergiſchen Handelskammern hervorheben.
Die Berichte erkennen vollſtändig an, daß die
größere Ausdehnung des Hauſirhandels ſeit dem liberalen
Gewerbegeſetz von 1862 ihre volkswirthſchaftliche Be-
rechtigung habe, daß der Hauſirhandel Konkurrenz und
Preisermäßigung ſchaffe, daß er Geſchäfte, Einkäufe und
Verkäufe veranlaſſe, die ohne ihn vielfach ganz unter-
blieben wären. Aber ebenſo betonen ſie die Mißſtände.
Die unreellen Geſchäfte, der Schwindel, Täuſchung und
Betrug, die unverſchämte Zudringlichkeit, welche ſich
nicht vermindert, wenn dem Hauſirer verboten wird,
die Häuſer zu betreten, haben ebenfalls zugenommen.
Einzelne ganz ſchlimme Auswüchſe werden erzählt. In
einem der Berichte heißt es: „Es kommen Leute ins
Land, welche als Entrepreneurs eine Anzahl von Kin-
dern und Halberwachſenen mit ſich führen, in Wirths-
häuſern ſich feſtſetzen und dieſe Leute mit Mausfallen,
ordinären Blechwaaren und dergleichen ins Hauſiren
ſchicken, mit der Auflage, täglich eine Summe Geldes
einzubringen, in deren Ermangelung Mißhandlungen
eintreten. Der Entrepreneur lebt gut, ſeine Unter-
gebenen deſto ſchlechter und kaum anders als in andern
[249]Württembergiſches Hauſirweſen.
Welttheilen die Sklaven. Dieß iſt ein Mißſtand,
welcher durch die Gewerbefreiheit nicht gedeckt werden
ſollte.“
Sehen wir aber von ſolchen einzelnen Mißbräuchen
ab, die theilweiſe wenigſtens durch eine richtige, ſonſt
freieſte Bewegung geſtattende Geſetzgebung und Verwal-
tung verhindert werden können, ſo geht das Haupt-
reſultat dahin: Die Zahl der Hauſirer hat ſich 1862
und 63 außerordentlich vermehrt, ſchon 1864 und 65
aber wieder abgenommen; erſt die Geſchäftsſtockung
von 1866 hat ſie wieder ſehr vermehrt. Weitaus die
Mehrzahl der Hauſirausweiſe aber wird von Leuten
benutzt, über welche die ſtehenden Gewerbe nicht klagen,
und welchen man keine Arbeitsſcheu vorwerfen kann; es
ſind Frauen, ältere, ſchwächliche Leute, die Knochen,
Lumpen, Landesprodukte aufkaufen, mit Beeren, Beſen,
Schindeln handeln. Die kräftigen, zur Arbeit tauglichen
Hauſirer ſind meiſt Ausländer oder Iſraeliten. Allerdings
wird mit der Zunahme dieſer Handelszweige die Neigung
zu Diebſtahl und Nichtsthun etwas befördert; aber
allgemein iſt dieſe Folge nicht. Und bis jetzt haben in
Württemberg die Verbrechen gegen Perſon und Eigen-
thum, die Vergehen gegen die Sittlichkeit nirgends
weſentlich zugenommen. Es wird zugegeben, daß bei
einer richtigen Handhabung der Steuergeſetze die wirth-
ſchaftlichen Mißſtände keinenfalls überwiegen und theil-
weiſe ganz vorübergehend ſind, daß der Andrang in
mäßigen Schranken gehalten werden kann.
Die Berichte zeigen, daß jedenfalls eine berechtigte
Tendenz zur Ausdehnung vorhanden iſt, daß mehr an-
[250]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
ſtändige Motive und wirthſchaftliche Bedürfniſſe den
Hauſirhandel dort zunehmen laſſen als betrügeriſche und
unlautere Abſichten.
Es kommt auf Land und Leute, auf Volkscharakter
und ſittliche Bildung im konkreten Falle an. Jedenfalls
aber ſind dieſe Faktoren auch in Preußen und im ganzen
norddeutſchen Bunde ſolche, daß eine Erleichterung
gegenüber der früheren Verwaltungspraxis nothwendig
und angezeigt iſt, wie ſie in der neuen Gewerbeordnung
des norddeutſchen Bundes angeſtrebt wird. Es gehört
eine Betrachtung dieſer neuen Geſetzgebung eigentlich
nicht hierher; doch mögen einige Worte geſtattet ſein.
Der Entwurf1 ſchon geht von der Abſicht aus,
die ſtehenden Gewerbe als ſolche nicht mehr zu bevor-
zugen, den Gewerbebetrieb im Umherziehen als gleich-
berechtigt anzuerkennen, nur da Beſchränkungen eintreten
zu laſſen, wo es ſich um ungeſunde und gefährliche Ele-
mente handelt, um Geſchäftszweige, welche in ungleich
höherem Grade unlautern Zwecken als dem redlichen Er-
werbe zu dienen pflegen. Die im Allgemeinen beibehaltene
Legitimationspflicht ſoll, abgeſehen von ihrer ſicherheits-
polizeilichen Unentbehrlichkeit, dem Publikum wenigſtens
einigermaßen die Garantie, wie ſie der ſtehende Betrieb
von ſelbſt bietet, erſetzen. Zum Viktualienhandel im
Umherziehen ſoll kein Gewerbeſchein mehr nothwendig
[251]Das Hauſirweſen in der neuen Gewerbeordnung.
ſein. Während bisher Gewerbeſcheine in Preußen nur
ertheilt wurden für eine beſtimmte Anzahl von Waaren-
gattungen, ſollen jetzt ſolche für alle nicht beſonders
ausgenommenen Waaren ertheilt werden. Ausgenommen
ſollten nur ſein: Verzehrungsgegenſtände, ſoweit ſie
nicht zu den Gegenſtänden des Wochenmarktverkehrs
gehören, geiſtige Getränke, gebrauchte Kleider und
Betten, Garnabfälle, Enden oder Dräumen von Seide,
Wolle, Leinen und Baumwolle, Bruchgold und Bruch-
ſilber, Spielkarten, Lotterieloſe, Staats- und ſonſtige
Werthpapiere, Schießpulver, Feuerwerkskörper und an-
dere exploſive Stoffe, Arzneimittel, Gifte und giftige
Stoffe. Nur für Gaukler, Marktſchreier, Bänkelſänger
und ähnliche Perſonen, welche ſich produziren wollen,
ſoll der Gewerbeſchein auf einen oder mehrere Regie-
rungsbezirke beſchränkt und ſoll die Ertheilung abhängig
gemacht werden von dem Bedürfniß. Abgeſehen hier-
von ſollte nach dem Entwurfe die Ertheilung nur ver-
ſagt werden, wenn der Nachſuchende mit ekelhaften
Krankheiten behaftet ſei oder ihm die Zuverläſſigkeit in
Bezug auf den beabſichtigten Gewerbebetrieb fehle.
Die Beſteuerung der Hauſirer ſoll Sache der einzelnen
Staaten bleiben und durch die neue Gewerbeordnung
gar nicht berührt werden, obwohl der Gewerbeſchein für
das ganze Bundesgebiet legitimirt.
Die Motive gehen davon aus, daß dieſe Grund-
ſätze gegenüber den beſtehenden Vorſchriften ein weſent-
lich befreiende Wirkſamkeit üben werden. Der Com-
miſſar der Bundesregierungen hob in der Debatte her-
vor, daß ſchon die Regierungsvorlage einen koloſſalen
[252]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Schritt vorwärts im Sinne der Befreiung der gewerb-
lichen Thätigkeit enthalte und warnte dringend, nicht
viel weiter zu gehen, nicht viel über dieſes Ziel
hinauszuſchießen, da eine weitergehende Befreiung gar
nicht einmal im Einklang mit der öffentlichen Mei-
nung ſtehe.
Die Majorität des Reichstages ſtand auch prinzipiell
auf gleichem Boden der Anſchauung, aber ſie ging im
Detail doch weſentlich weiter, glaubte eine Reihe von
Cautelen fallen laſſen zu können, welche der Entwurf
beibehalten hatte, um Betrügerei und unlautere Ele-
mente leichter auszuſchließen.
Der Entwurf verweigerte dem den Hauſirſchein,
der nicht zuverläſſig ſei. Das kann und wird die Ver-
waltungsbehörde leicht mißbrauchen, wenigſtens ungleich-
mäßig und willkührlich auslegen. Jetzt iſt feſtgeſetzt, daß
der nicht mehr Gewerbe- ſondern Legitimationsſchein
genannte Ausweis nur dem verweigert werden darf, der
beſtimmte Strafen erlitten hat, unter Polizeiaufſicht ſteht,
als notoriſcher Bettler und Landſtreicher bekannt iſt.
Sicher gerechter; aber die Zunahme unreeller Geſchäfte iſt
ſo auch viel ſchwerer zu hemmen. Der Entwurf ver-
langte Meldung bei der Polizei an jedem Orte, ver-
bot ohne Aufforderung die Häuſer zu betreten. Beides
wurde beſeitigt, letztere Beſtimmung, weil das gewöhnliche
Hausrecht ausreiche. Von Waaren, welche der Entwurf
noch ausſchließen wollte und die jetzt doch zugelaſſen
werden, ſind nur zu nennen die Verzehrungsgegen-
ſtände, welche nicht zum Wochenmarktsverkehr gehören,
alſo hauptſächlich Colonialwaaren. Sie ſollten ausge-
[253]Das Hauſirweſen in der neuen Gewerbeordnung.
ſchloſſen werden, weil bei ihnen Fälſchungen zu leicht
und häufig vorkommen. Die Kommiſſion des Reichs-
tages wollte auch den Handel mit Staatspapieren,
Aktien und andern Werthpapieren den Hauſirern zuge-
ſtehen, worauf aber der Reichstag in Anbetracht der
großen Gefahren des Aktienſchwindels, in Anbetracht
der großen Leichtgläubigkeit des Publikums in dieſer
Beziehung nicht einging.
Die Folge wird erſt lehren können, ob man damit
nicht theilweiſe zu weit ging. Daran aber zweifle ich
keinen Moment, daß der Hauſirhandel von dem Inkraft-
treten des Geſetzes an außerordentlich zunehmen wird,
aber auch zugenommen hätte, wenn nur die Beſtim-
mungen des Entwurfes angenommen worden wären.
Es iſt eine Richtung, die ſich vollzieht, ob die geſetz-
lichen Beſtimmungen etwas enger oder weiter gefaßt
ſind, eine Richtung, welche mancherlei Schmutz aufrührt
und mit ſich bringt, aber in der Hauptſache berechtigt
und nothwendig iſt.
Manch kleiner Laden, manch kleiner Handwerker
wird darunter leiden, vielleicht gar zu Grunde gehen.
Das läßt ſich nicht ändern. Das ſteht in nothwendigem
Zuſammenhang mit der ganzen Umbildung der Pro-
duktion und des Verkehrs in unſerer Zeit.
Eine Produktion durch Fabriken oder größere Hand-
werkergeſchäfte, eine Produktion, die nicht mehr am
Orte des Konſumenten zu ſein braucht, die nicht mehr
ſich verbindet mit dem direkten Verkauf an den Konſu-
menten, daneben die ſelbſtändigere Entwicklung des
[254]Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.
Handels — als Großgeſchäft, als Magazin in den
größern Städten, theilweiſe als Detailhandel und kleines
Ladengeſchäft in den kleinen Städten und Dörfern,
theilweiſe als Wandermagazin und Hauſirhandel auf
dem Lande, das ſind Glieder einer und derſelben
Kette.
[[255]]
Die lokale und geſchäftliche
Vertheilung der Gewerbetreibenden.
[[256]][[257]]
1. Das Handwerk in Stadt und Land.
Der Gegenſatz von Stadt und Land, volkswirthſchaftlich und
hiſtoriſch. Die ſpezifiſch ländlichen Gewerbe. Ihr Vorkommen
ſchon zur Zeit des gewerblichen Städtezwangs. Kornweſtheim
1787. Die preußiſchen ländlichen Gewerbe nach Krug
1795/1803, dieſelben in Schleſien und in der Mark 1810
nach Hoffmann. Das ſtatiſtiſche Material für die ſpätere Zeit.
Die volkswirthſchaftlichen Vorbedingungen für das Landgewerbe
von 1815 — 55. Das preußiſche Handwerk nach Stadt und
Land 1828, 1849 und 1858. Die veränderten Verhältniſſe
in neueſter Zeit. Die wichtigſten einzelnen Gewerbe in Stadt
und Land 1828 u. 1858. — Der Unterſchied zwiſchen den grö-
ßern und kleinern Städten 1828 und 1837. Das Handwerk
der größern preußiſchen Städte 1861. — Das bairiſche Hand-
werk in den unmittelbaren Städten und im übrigen Lande
1847 und 1861. Die ſächſiſchen Kleingewerbe in den Städten
1830 und 1856; der Vergleich der großen, der kleinen Städte
und des platten Landes 1849 und 1861.
In einem mehr ſyſtematiſchen Ueberblick die Haupt-
veränderungen, welche das Handwerk im 19. Jahrhundert
erfahren hat, darzuſtellen, war der Zweck der letzten
Betrachtungen. Mancherlei ſtatiſtiſches Material habe
ich zum Beweis für dieſes und jenes herangezogen, nicht
aber die ſtatiſtiſchen Aufnahmen der Kleingewerbe ſelbſt.
Zu ihnen kehre ich jetzt zurück, um zu prüfen, ob das,
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 17
[258]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
was ich im Allgemeinen behauptete, ſich hier im Spe-
ziellen beſtätigt.
Die Hauptpunkte freilich, um die es ſich dabei
handelt, entziehen ſich aller ſtatiſtiſchen Erfaßbarkeit.
Aber immer läßt ſich die Prüfung wenigſtens nach ein-
zelnen Seiten hin vollziehen und zugleich ſchließen ſich
daran Unterſuchungen, die auch ein ſelbſtändiges Intereſſe
für ſich in Anſpruch nehmen.
Wir beginnen mit der Frage nach der lokalen Ver-
theilung des Handwerks. Dieſe Vertheilung kann bei
der Art der ſtatiſtiſchen Aufnahmen, die wir beſitzen,
nach zwei Richtungen unterſucht werden. Man kann
fragen, wie verhält ſich Stadt und Land im Durch-
ſchnitt von ganz Preußen, Sachſen, Baiern, und man
kann fragen, wie vertheilt ſich das Handwerk nach den
einzelnen deutſchen Staaten und nach den Provinzen des
preußiſchen Staats?
Bleiben wir zunächſt bei dem Verhältniſſe von
Stadt und Land, ſo liegen die weſentlichen Urſachen
der verſchiedenen Vertheilung des Handwerks natur-
gemäß in dem volkswirthſchaftlichen Gegenſatz von
Stadt und Land ſelbſt, in der verſchiedenen wirthſchaft-
lichen Bedeutung, welche die Städte und das platte
Land früher gehabt haben und gegenwärtig haben. Nur
in zweiter Linie kommt die Geſetzgebung in Betracht,
die von jeweiligen Theorien, von anderweiten Geſichts-
punkten aus die Vertheilung des Handwerks beherrſchen
wollte, aber gegenüber den realen Bedürfniſſen das doch
immer nur bis auf einen gewiſſen Grad vermochte.
[259]Der Gegenſatz von Stadt und Land.
Die Städte ſind entſtanden durch die nach einem
gemeinſamen Mittelpunkt drängenden politiſchen, kirch-
lichen, wirthſchaftlichen Bedürfniſſe der einzelnen Landes-
theile. Jede Gegend, jeder Kreis hat das Bedürfniß,
die Verwaltung, das Gericht, den Handel, die Feſte
der Kirche und des Volkes an einem Punkte zu kon-
zentriren; im Mittelalter bot der Schutz der Mauern
und der ſtädtiſchen Rechte dem Handelsmann und dem
Handwerker allein die Garantie einer geſicherten Exiſtenz.
Handel und Gewerbe blühten ausſchließlich in den
Städten, weil hier ausſchließlich die Bedingungen ihrer
Blüthe vorhanden waren.
Mit einer gewiſſen Entwicklung des platten Landes
entſtand aber auch in den Dörfern, auf den Gütern
das Bedürfniß, für einzelne Thätigkeiten Gewerbetreibende
am Orte ſelbſt zu haben; das theure Leben in den
Städten ließ dem armen Handwerksmann die Anſiedlung
auf dem Lande mit etwaigem Vertrieb der Waaren nach
der Stadt wünſchenswerth erſcheinen. Das war ſchon
im Mittelalter ſo und erſt mit der Ausartung des
Zunftweſens, mit dem Sinken der deutſchen Volkswirth-
ſchaft ſtrebten die Städte danach, das Handwerk mög-
lichſt ausſchließlich auf ihre Mauern zu beſchränken,1
17 *
[260]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
ſuchte die Fürſtenpolitik, welche die Städte als Stützen
ihrer Macht und ihrer Steuerkraft betrachteten und
pflegten, ſie dadurch zu halten.
Die Kriege des 17. Jahrhunderts hatten viele
deutſche Gegenden in ihrer ganzen wirthſchaftlichen Kultur
wieder um Jahrhunderte zurückgebracht. Alles lag dar-
nieder. Um ſo mehr hielt man ſich an alte Rechte;
auch die Städte ſtrebten jetzt mehr als je, das Hand-
werk für ſich allein in Anſpruch zu nehmen, und erreich-
ten da ihren Zweck, wo nicht eine aufgeklärte Fürſten-
politik dazwiſchen griff.
So kommt es, daß im 18. Jahrhundert Stadt
und Land ſich noch ziemlich in alter Weiſe ſchroff gegen-
über ſtehen. Aber zugleich haben die mannigfaltigſten
Schickſale dafür geſorgt, daß ein großer Theil der
Orte, welche den ſtädtiſchen Namen tragen und damit
die Vorrechte einer Stadt genießen, dafür mehr hiſto-
riſche und zufällige, als wirthſchaftliche Gründe anzu-
führen haben.
Es ſind alte Reichsſtädte, alte und neue Fürſten-
und Biſchofsſitze, einige Beamten- und Militärſtädte;
da und dort ſchon einige neu aufblühende Handels-
und Induſtrieſtädte; unter den letzteren wie unter denen,
die mehr nur einem Dorfe gleichen, ſind manche, welche
das Stadtrecht ſich erſt jetzt vom Landesherrn erkauft
haben, um auch einen Jahrmarkt zu halten, um ihre
Gewerbſamkeit etwas weniger durch die ſteifen landes-
herrlichen Beamten geniren zu laſſen, um auf Kreis-
oder Landtagen eine Stimme zu haben. Die über-
wiegende Mehrzahl fällt auf jene mittleren Land- und
[261]Stadt und Land in alter und neuer Zeit.
Kleinſtädte, die allerdings den gewerblichen und Ver-
waltungsmittelpunkt für eine Anzahl Dörfer und Herr-
ſchaften bilden, die aber keinen durchaus gewerblichen
Charakter haben, manchen Bauern in ihren Mauern
bergen, wenn ſie nicht gar faſt ausſchließliche Ackerſtädte
ſind. Manche früher ſtolze Stadt war ganz zum Dorfe
herabgeſunken, führte aber die ſtolzen ſtädtiſchen Titel
gleichmäßig fort.
Dieſe Verhältniſſe erſtrecken ihre Wirkung bis auf
den heutigen Tag. Der Begriff einer Stadt in Preußen
iſt auch heute noch, wie ich oben ſchon erwähnte, keiner,
der eine gewiſſe Größe, einen ausſchließlich gewerblichen
Charakter bezeichnete; es läßt ſich nur ſoviel ſagen, daß
von den 1000 gegenwärtig in Altpreußen exiſtirenden
Städten ¾ etwa über 1500, nur wenige unter 600
Einwohner haben, daß es dagegen nicht ſehr viele Dörfer
geben wird, die über 600—800 Einwohner haben.
Ich mußte dieſe theilweiſe ſchon oben gemachten
Bemerkungen wiederholen, um zu zeigen, daß eine Auf-
nahme des Handwerks nach Stadt und Land die wirth-
ſchaftlichen Gegenſätze, an die man dabei denkt, nur
ungefähr trifft. Unter den Städten ſind manche
Orte rein landwirthſchaftlichen Charakters, unter den
Dörfern manche gewerbetreibende Orte. Und bis auf
einen gewiſſen Grad war das ſchon im vorigen Jahr-
hundert ſo, beſonders wo Bergbau, Weberei, Spinnerei
und andere Induſtrien ſich übers platte Land ausdehnten.
Privilegien, Konzeſſionen aller Art hatten den Städte-
zwang durchlöchert. Da und dort hatte ſich ſchon da-
mals das platte Land als vorzugsweiſe geeignet zu
[262]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
einzelnen Gewerben gezeigt. Und überall bedurfte auch
damals ſchon die rein bäuerliche Wirthſchaft der Hülfe
wenigſtens einiger Handwerker. Dieſe mußte man
zulaſſen. Es iſt vielleicht gut, zunächſt von dieſen heute
wie damals auch für die rein landwirthſchaftlichen
Gegenden nothwendigen Handwerkern uns ein Bild zu
machen.
Die Schmiede und Stellmacher oder Wagner ſtehen
in erſter Linie. Der Schmied iſt unentbehrlich für den
Beſchlag der Pferde, des Fuhrwerks, der Ackerwerkzeuge,
für alle Eiſenreparaturen. Der Stellmacher iſt heute
mehr auf dem Lande zu Hauſe als in der Stadt, wo
der Wagenfabrikant theilweiſe an ſeine Stelle getreten iſt.
Die einfachen Wagengeſtelle, die Räder, die Holztheile
an Pflug und Egge kann er leicht fertigen. Wo mehr
landwirthſchaftliche Maſchinen angewandt werden, da
hat er auch vielfach mit ihnen zu thun. Die Arbeiten
beider Handwerke ſind ſo umfaſſend, daß ſelbſt ein
mäßiges Dorf ſchon mehrere Meiſter von jedem der
beiden Gewerbe beſchäftigt, daß größere Güter je einen
Meiſter für ſich in Anſpruch nehmen. Schon weniger
Arbeit findet der Riemer oder Sattler auf dem Lande,
und doch iſt er für Sattelzeug und Pferdegeſchirr ein
nothwendiger Gehülfe; die Produkte ſeines Handwerks
kauft der Bauer freilich mit Vorliebe auf dem Jahr-
markt, dem Dorfmeiſter bleiben mehr die Reparaturen,
wenn er nicht ſelbſt den Jahrmarkt bezieht. Die Fäſſer,
die Kübel, die Geräthſchaften des Böttchers fehlen in
keiner ländlichen Wirthſchaft ganz; das Produkt iſt ein
ſo einfaches, daß der kleinſte Betrieb möglich iſt. Die
[263]Die nothwendigen ländlichen Handwerker.
amerikaniſche Faßmaſchine, welche auf der letzten Pariſer
Ausſtellung zu ſehen war und nach der Verſicherung
des Ausſtellers 1 täglich 1100 Fäſſer aus rohem Holz
bis zum Binden fertig macht, dürfte kaum in Deutſch-
land exiſtiren und wenn ſie eingeführt wird, dem Bött-
cher in der Stadt wohl, aber kaum dem auf dem
Lande Konkurrenz machen.
Neben den Bedürfniſſen des landwirthſchaftlichen
Betriebes kommen die Bau- und Wohnungsbedürfniſſe.
Den Maurer und Zimmermann, den Schloſſer und
Tiſchler kann das größere Dorf ſchwer entbehren. Da-
gegen iſt der Müller von den Nahrungsgewerben der
einzig nothwendige. Die Zahl der Brauer, der Bäcker,
der Fleiſcher und der Wirthe hängt von dem Grade der
Arbeitstheilung und dem Verkehr, von Sitten und
Wohlſtand ab.
Die meiſten der ländlichen Handwerker ſind daneben
Bauern oder Tagelöhner und je nachdem in ſehr ver-
ſchiedener Lage. Da ſie vielfach ohne alle Gehülfen
arbeiten, ſind ihre Leiſtungen techniſch gering, aber doch
dem Zweck entſprechend.
Weniger ob die erwähnten, als ob auch noch
andere Arten des Handwerks ſich auf dem Lande, beſon-
ders in den großen Dörfern befanden, hing, ſo lange
die Städte ausſchließliche Gewerberechte hatten, von der
Verwaltung ab.
[264]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Da man ſich häufig über das Fehlen der Hand-
werker auf dem Lande in früherer Zeit falſche Vor-
ſtellungen macht, will ich nur Einiges über dieſen Punkt
anführen, ehe ich zu den Verhältniſſen der Gegenwart
übergehe.
Das altwürttembergiſche Dorf Kornweſtheim, 1 einige
Stunden von Stuttgart, an einigen größern Straßen
liegend, hatte im Jahre 1787 eine Bevölkerung von
838 Perſonen; bis 1850 war dieſe Bevölkerung geſtiegen
auf 1465 Perſonen; das Dorf iſt heute noch ausſchließ-
lich mit Ackerbau beſchäftigt. Die große Aenderung,
die eintrat, iſt nur die, daß die alte Straße ſich in
eine Eiſenbahn verwandelt hat. Die Gewerbetreibenden
waren:
Die Zahl der Gewerbetreibenden iſt 1787 nicht
unbedeutend, ja ſie iſt in den wichtigſten Gewerben
[265]Das Dorf Kornweſtheim 1787 und 1852.
höher als 1852, trotzdem, daß die Bevölkerung beinahe
auf die doppelte Zahl gewachſen iſt. Die Verminderung
der Wirthshäuſer, der Bäcker- und Metzgerladen hängt
damit zuſammen, daß die früher ſehr frequente Land-
ſtraße durch die Eiſenbahn ſo ziemlich verödet iſt. Die
Nichtzunahme der übrigen läßt darauf ſchließen, daß die
damaligen Handwerker ſehr wenig zu thun hatten. Es
waren damals wohl nicht viele Gehülfen bei den Dorf-
meiſtern beſchäftigt, 1852 ſind deren eine nicht unbe-
deutende Zahl vorhanden. Ueber die für die damalige
Zeit große Zahl Gewerbetreibender bemerkt der Verfaſſer
dieſer Dorfſtatiſtik aus dem Jahre 1787, Regierungs-
rath Kerner, es könne auffallen, daß Kornweſtheim ſo
viele Gewerbetreibende habe trotz der Nähe der drei
Städte Stuttgart, Ludwigsburg und Cannſtadt, aber es
ſei ſo in den mehrſten Dörfern; freilich werde dadurch
der alte Grundſatz, in den Städten ſolle das Handwerk,
in den Dörfern der Feldbau getrieben werden, aus dem
Gleichgewicht gebracht; aber das ſei nicht zu ändern.
„Daß die Anzahl der Handwerker in den Dörfern“ —
ſo fährt er fort — „gegenwärtig ſtärker iſt, als in ehe-
maliger Zeit, hat ſeinen Grund in der gegenwärtigen
ſtärkern Bevölkerung und der daraus fließenden mehreren
Verſtückelung der Bauerngüter, durch welche die Land-
leute außer Stand geſetzt werden, einzig von den Gütern
zu leben und dahero Handwerke erlernen. Dieſe Hand-
werksleute aber zu zwingen, ihre Arbeit niederzulegen
oder in die Städte zu ziehen, würde umſonſt ſein.“
Die Verhältniſſe waren ſtärker als die veralteten
Verwaltungsvorſchriften. „Auch wo der ſtrengſte Städte-
[266]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
zwang herrſchte“ — ſagt Hoffmann 1 — „wohnten
längſt viele Handwerker, zum Theil im Verborgenen
auf dem Lande, wenn daſſelbe volkreich und wohl-
habend war.“
Ich erwähnte bei der Beſprechung der preußiſchen
Gewerbepolizei des 18. Jahrhunderts, daß man in
Preußen wohl prinzipiell an dem alten Grundſatz feſt-
halten wollte, aber daneben einzelne Gewerbe, wie die
Spinner und Weber, unbedingt, andere wenigſtens
bedingungsweiſe zuließ. Der Grundſatz Friedrich Wil-
helm’s I., ſo viele Handwerker überall zuzulaſſen, als
1624 Handwerksſtellen vorhanden geweſen waren, gab
ziemlich großen Spielraum. Beſonders in einzelnen
Landestheilen, die eine höhere Kultur beſaßen, oder
die vor ihrer Einverleibung in den preußiſchen Staat
in dieſer Beziehung nach noch liberaleren Grundſätzen
regiert worden waren, wie Schleſien, hatte man die
Zulaſſung auf dem Lande ziemlich wenig erſchwert.
Den beſten Beweis hiefür giebt Krug. Er führt
in ſeiner Handwerksſtatiſtik 2 (aus der Zeit 1795/1803)
bei jeder einzelnen Gewerbsart an, ob die Meiſter aus-
ſchließlich in den Städten, oder auch auf dem Lande,
und in welcher Zahl ſie da und dort zu treffen ſeien.
Die ausſchließlich in den Städten Vorkommenden
ſind nicht die der Zahl nach bedeutenderen; es ſind die
Apotheker, Bildhauer, Buchbinder, Buchdrucker, Bürſten-
[267]Die ländlichen Handwerker in Preußen 1800.
binder, Roth- und Gelbgießer, Goldſchmiede, Gürtler,
Handſchuhmacher, Hutmacher, Klempner, Knopfmacher,
Kürſchner, Kupferſchmiede, Maler, Perückenmacher,
Schornſteinfeger, Seifenſieder, Seiler, Tuchmacher,
Uhrmacher, Weißgerber und Zinngießer. Sehr ſparſam
ſind auf dem Lande vertreten die Fleiſcher (mit Aus-
nahme Schleſiens, wo Stadt- und Landfleiſcher nicht
unterſchieden ſind), ſchon etwas ſtärker die Glaſer, die
Kaufleute und Krämer, die aber in den rheiniſchen Pro-
vinzen auch ſchon zahlreicher auf dem Lande vorkommen,
dort ſogar auf dem Lande theilweiſe ſchon ſtärker ſind,
als in den Städten; ähnlich die Korbmacher und
Muſikanten, die Riemer und Schloſſer, die Färber
Branntweinbrenner und Barbiere; Lohgerber ſind nur
in der Mark ländliche vorhanden. Die übrigen Gewerbe
ſind auf dem Lande ſchon ziemlich allgemein und zahl-
reich vertreten. Landbäcker kommen in Pommern 10
auf 571 Stadtbäcker, dagegen in der Grafſchaft Mark
113 Landbäcker auf 289 Stadtbäcker, in Magdeburg
229 Landbäcker auf 316 Stadtbäcker, in Oſtfriesland
247 Landbäcker auf 197 Stadtbäcker. Auch bei den
Böttchern, Schneidern, Stell- und Rademachern, Tiſch-
lern, Schuhmachern und Maurern halten Stadt und
Land ſich etwa die Waage. Und bei den Zimmerleuten,
den Schmieden, Müllern und Leinewebern ſind die
Landmeiſter weitaus überwiegend.
Bei dieſen Zahlen müßte man, um ſie recht zu
würdigen, noch genau wiſſen, wie in den einzelnen
Landestheilen die ſtädtiſche ſich zur ländlichen Bevölke-
rung ſtellt. Das zieht Hoffmann in Betracht, wenn
[268]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
er die Aufnahme von 1810 für die Kur- und Neu-
mark einer-, für Schleſien andererſeits vergleicht, 1 dabei
ſtillſchweigend vorausſetzend, daß die Zuſtände 1810
noch ganz als Folge der früheren Geſetzgebung aufzu-
faſſen ſeien. In der Kur- und Neumark kommen auf
3 Städter 4 Landleute, in Schleſien auf 2 Städter
9 Landbewohner; d. h. in der Mark ſind neben zahl-
reichen Städten nur kleine Dörfer, iſt das platte Land
weniger bewohnt; in Schleſien ſind zahlreiche ſchon
etwas größere induſtrielle Dörfer; Orte, die in der
Mark vielleicht ſchon ſtädtiſche Rechte haben, zählen
hier als Dörfer. Dieſer Gegenſatz wohl mehr als
der von Hoffmann betonte Gegenſatz der Verwaltung,
d. h. die Nachwirkung der größern Liberalität, mit der
die öſtreichiſche Regierung das Landhandwerk zuließ, iſt
als Urſache anzuſehen, daß die ländliche Bevölkerung
Schleſiens zwar gleich viel Schneider, Schmiede und
Stellmacher hat wie die der Kur- und Neumark, aber
1 ½ mal ſo viel Tiſchler, 2 mal ſo viel Böttcher, 4 mal
ſo viel Schuhmacher, 7 mal ſo viel Fleiſcher und 8 mal
ſo viel Bäcker.
In der Zeit nach den Freiheitskriegen, nach der
Feſtſtellung des preußiſchen Zollſyſtems, nach der Grün-
dung des Zollvereins war für den größern Theil der
preußiſchen Monarchie die Geſetzgebung eine andere
geworden, wurden für die Zollvereinsſtaaten die allge-
meinen volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe andere. Wir
[269]Das preußiſche Landhandwerk ſeit 1815.
haben zu prüfen, wie ſich nun unter Einwirkung dieſer
beiden Faktoren das Handwerk in Stadt und Land zu
einander ſtellt.
Leider iſt das ſtatiſtiſche Material für dieſe Prü-
fung ein ziemlich unvollſtändiges. Die Unterſcheidung
von Stadt und Land iſt in Preußen nicht bei allen
Aufnahmen oder Publikationen feſtgehalten. Eine weſent-
liche Beachtung hauptſächlich auch mit weiterer Unter-
ſcheidung großer, mittlerer und kleiner Städte hat der
Gegenſatz nur bei Hoffmann gefunden. 1 Was die
ſpätern Aufnahmen betrifft, ſo unterſcheidet Dieterici
1849 das Geſammtreſultat nach Stadt und Land, 2 und
die Zahlen für 1858 ſind wenigſtens getrennt nach
Stadt und Land veröffentlicht. Die Aufnahme von
1861 kennt dieſen Unterſchied gar nicht, führt aber die
Handwerker für alle einzelnen Städte über 20000 Ein-
wohner beſonders an. Von andern deutſchen Ländern
hat man nur in Sachſen dieſer Frage nähere Aufmerk-
ſamkeit bei den ſtatiſtiſchen Arbeiten geſchenkt. 3
Nach Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen
lagen die Dinge folgendermaßen. Es konnte ſich auf
dem Lande jeder Meiſter niederlaſſen; es war auch zu
erwarten, daß mit ſteigender Wohlhabenheit theil-
weiſe die Arbeitstheilung, die in der Stadt vor ſich
[270]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
gegangen, auf dem Lande ſich vollziehe. Aber zunächſt
kamen ungünſtige Jahre; die Zahl der Landhandwerker
war immer ſchon bedeutend geweſen. Mancherlei Arbeits-
theilung auch, welche für den Städter geboten, iſt es
nicht auf dem Lande. Wo ein Gemeindebackhaus gebaut
wird, werden theilweiſe heute noch die Bäcker des
Dorfes überflüſſig. Die Neigung gelernter Handwerker
zieht ſie immer zunächſt mehr nach den Städten.
So — glaube ich — war die Zunahme des Land-
handwerks zuerſt keine allzugroße; wo ſie ſtattfand,
beruhte ſie wohl darauf, daß Bauernſöhne, um ſich zu
halten, um den Beſitz des Vaters theilen zu können,
anfingen, nebenher ein Handwerk zu treiben.
Als aber ſpäter die Bevölkerung noch weiter zunahm,
als die Stellen in den Städten mehr und mehr beſetzt
waren, als auch die größere Induſtrie theilweiſe auf
das platte Land ſich zurückzog, als 1830—55 die
Bodenpreiſe und die ländliche Wohlhabenheit bedeutend
ſtiegen, da mußte auch das Landhandwerk an Zahl zu-
nehmen. Uebrigens glaube ich immerhin, daß die
weſentliche Zunahme erſt mit der eigentlichen Hand-
werkerkriſis beginnt, d. h. von 1838—40 an.
Die Mittheilungen von Hoffmann zeigen für 1828
wenigſtens ungefähr die damalige Bedeutung des länd-
lichen Gewerbebetriebs. Er faßt die Meiſter von 13 der
wichtigſten Gewerbe zuſammen, die gegen ⅚ aller damals
gezählten Handwerker ausmachen. Es ſind 268023 Mei-
ſter, während die Geſammtzahl ſich auf 323538 beläuft.
Obwohl dabei die vielfach auf dem Lande wohnenden
Weber und Spinner nicht ſind, ſo machen die Land-
[271]Das preußiſche Landhandwerk 1828 und 1849.
meiſter hiervon 140112 oder 52 % aus. Dabei iſt
aber zuzugeben, daß Hoffmann zu den 13 Gewerben
diejenigen wählte (außer den Webern und Spinnern),
die am meiſten auf dem Lande vertreten ſind. Auch
erhält die Eintheilung ſogleich ein etwas anderes Aus-
ſehen, wenn man neben die Meiſter die Gehülfen
ſtellt. Es waren 1828 von den gleichen 13 Haupt-
gewerben:
Alſo 221047 beſchäftigte Perſonen in den Städten,
176868 auf dem Lande; 55,55 % ſtädtiſche gegen 44,45 %
ländliche Handwerker; die in den Städten würden ſicher
noch etwas mehr überwiegen, wenn die Zahlen alle
Handwerker umfaßten. Es könnten dann wohl 60 %
ſtädtiſche gegen 40 % ländliche Handwerker ſein.
Im Jahre 1849 zählt Dieterici in den Städten
535232 Perſonen, auf dem Lande 407141 Perſonen
als dem Handwerkerſtand angehörig; ſie machen in den
Städten bei einer Bevölkerung von 4,57 Mill. Menſchen
10,85 %, auf dem Lande bei einer ſolchen von 11,71 Mill.
3,81 % aus. Mit den Zahlen Hoffmanns von 1828
ſind ſie nicht direkt zu vergleichen, da ſie nicht dieſelben
Kategorien umfaſſen. Die 1828 bei Hoffmann fehlen-
den ſind theilweiſe ſolche, welche 1849 die Zahlen des
platten Landes ſteigern, wie die Leinenſpinner, theilweiſe
und noch mehr aber ſolche, welche ausſchließlich in den
Städten wohnen. Wenn daher 1849 von den geſamm-
[272]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
ten Handwerkern 56,79 % auf die Städte, 43,21 % auf
das Land kommen, ſo glaube ich liegt darin immer noch
ein Beweis, daß das Landhandwerk von 1828—49
ſtärker zunahm, als die ſtädtiſchen Handwerker.
Vollkommen vergleichbar ſind Aufnahmen von 1849
und 58. Nach der von mir angeſtellten Berechnung
kommen 1858
564845 Meiſter und Gehülfen auf die Städte,
477668 - - - - das Land,
d. h. 54,18 % der Handwerker ſind ſtädtiſche, 45,82 %
ländliche; die ländlichen ſind 2—3 % ſtärker als 1849.
Im Verhältniß zur Bevölkerung erſcheint dieſe Zunahme
etwas geringer. Die ganze ſtädtiſche Bevölkerung macht
1858 5,34 Millionen aus, davon nehmen die Hand-
werker 10,76 % ein (gegen 10,85 im Jahre 1849), die
ganze ländliche Bevölkerung macht 12,49 Millionen, da-
von die Handwerker 3,82 % (gegen 3,81 im Jahre 1849).
Alſo im Verhältniß zur Bevölkerung nur eine ſehr un-
bedeutende Zunahme des Landhandwerks.
Man darf bei ſolchen großen ſtatiſtiſchen Durch-
ſchnitten, bei den großen Zahlenergebniſſen eines ganzen
Landes nie vergeſſen, daß gerade dieſes beſtimmte Ge-
ſammtreſultat durch ſehr verſchiedene, oftmals entgegen-
geſetzte lokale Zuſtände bedingt iſt, daß die verſchieden-
ſten Urſachen und Bewegungen, neben und gegen
einander wirkend, dieſe gemeinſamen Reſultate ergeben.
Deßwegen kann meine obige Behauptung, daß von
1830—55 eine ziemliche Zunahme des ländlichen
Handwerks nach allgemeinen Urſachen anzunehmen ſei,
[273]Das preußiſche Landhandwerk 1858 und ſpäter.
mit dieſem Zahlenergebniß ganz wohl zuſammen
beſtehen.
Aber je nach den Provinzen iſt das verſchieden;
es iſt mehr der Fall in Provinzen wie Sachſen, Schle-
ſien und der Rheinprovinz, viel weniger in Pommern,
Poſen. Es nehmen überall die Meiſter mehr auf dem
Lande zu, die Gehülfen mehr in den Städten und oft
ſtärker, als dort die Meiſter. Auch wo die Zunahme
des Landhandwerks eintrat, da erreichte ſie wohl bald
eine gewiſſe Grenze, über die ſie nicht mehr hinauskam.
Ich erinnere an das Beiſpiel des Dorfes Kornweſtheim,
das ich oben anführte. Es begannen vor Allem ſeit
den fünfziger Jahren die Wirkungen der großen Pro-
duktion, des großen Verkehrs, der ſtädtiſchen Maga-
zine, es begann der Zug vom Lande ab nach den
Städten, ſo daß es mir fraglich erſcheint, ob nicht
jetzt im Durchſchnitt des ganzen preußiſchen Staates
bereits wieder ein Rückgang des Landhandwerks ein-
getreten iſt.
Einzelne Gewerbe werden trotzdem auf dem Lande
wachſen, während die andern zurückgehen. Ich will in
dieſer Beziehung nur einige der wichtigern, haupt-
ſächlich der ländlichen Gewerbe nach dem Stand der
Meiſter von 1828 und 1858 mittheilen; ich füge
für 1858 noch einige weitere Gewerbe bei, für die
ich keine Vergleichung anſtellen kann. Man ſieht
bei ihnen wenigſtens, wie ſich 1858 die Land-
meiſter zu den Stadtmeiſtern verhalten. Es betrug
die Zahl:
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 18
[274]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Die Aenderungen von 1828—58 ſind belehrend.
Ziemlich bedeutender iſt das Landhandwerk geworden
bei den Stellmachern, Böttchern, Tiſchlern und Seilern,
etwas ſtieg es bei den Schuſtern und Gerbern, gleich
im Verhältniß zum Stadthandwerk blieb es bei den
Fleiſchern und Riemern; zurück ging es bei den Schmieden,
Schneidern, Bäckern, Töpfern, ganz außerordentlich bei
den Schloſſern, die auf dem Lande ſogar der abſoluten
Zahl nach abgenommen haben, von 7810 auf 5838.
Das heißt: es nahmen einige Gewerbe, welche aus-
ſchließlich der bäuerlichen Wirthſchaft oder den einfachſten
[275]Einzelne Gewerbe nach Stadt und Land.
häuslichen Bedürfniſſen dienen und leicht auf dem Lande
betrieben werden können, auf dem Lande ſtärker zu wie
in der Stadt. Solche dagegen, deren Produkte jetzt
mehr in Maſſe erzeugt werden, für welche in den
Städten große Handlungen ſind, ſolche, welche unter
dem veränderten Verkehr leiden, nahmen ab. Wären
die Beiſpiele zahlreicher, ſo würde ſich das wahrſcheinlich
noch mehr zeigen.
In engem Zuſammenhang mit der Vertheilung des
Handwerks nach Stadt und Land ſteht die Verbreitung
der großen Induſtrie. Eine dezentraliſirte Induſtrie
wird eher das ländliche Handwerk, eine zentraliſirte
mehr das ſtädtiſche Handwerk heben.
Eine abſchließende Unterſuchung darüber iſt an dieſer
Stelle nicht möglich; aber einige Bemerkungen darüber
will ich nicht unterlaſſen einzuſchieben. Auch für die
größere Induſtrie wurde 1849 und 1858 eine Trennung
der preußiſchen Tabellen nach Stadt und Land vollzogen; es
iſt hiernach ein einigermaßen begründetes Urtheil möglich,
obwohl der große Zug nach den Städten wahrſcheinlich
bei einer Vergleichung von 1858 und 1868 viel mehr
hervortreten würde.
Eine Reihe von Induſtrien zeigen von 1849 bis
1858 keine weſentlichen Aenderungen. Die Kunſt-, die
Luxusinduſtrien, die feinere Mechanik und ähnliche Ge-
werbe ſind damals wie ſpäter vornehmlich in den Städten.
Die Eiſen- und Hüttenwerke, die Braun- und Steinkohlen-
werke, die Glashütten, die Kupferhämmer, die Ziegeleien,
die Theeröfen, die Zuckerfabriken befinden ſich damals
wie ſpäter überwiegend auf dem Lande. Dagegen zeigen
18 *
[276]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
andere Induſtrien doch nicht unbedeutende Aenderungen.
Blicken wir z. B. auf die folgende Ueberſicht der Dampf-
maſchinen und ihrer Pferdekräfte:
Die Getreidedampfmühlen, die Bergwerke und die
Metallfabriken haben auf dem Lande, alle übrigen Gewerbe
in der Stadt mehr zugenommen; und das letztere theil-
weiſe in ſehr viel ſtärkerer Proportion, als hier erſichtlich
iſt. Die Arbeiter der ſtädtiſchen Maſchinenfabriken
z. B. nahmen von 3980 auf 16697, die der ländlichen
nur von 2218 auf 5729 zu. Als weiterer Beleg
mögen noch die Zahlen der Feinſpindeln und der Web-
ſtühle nach Stadt und Land folgen. Man zählte:
[277]Die große Induſtrie nach Stadt und Land.
Auch hier zeigt ſich eine ziemlich ſtärkere Zunahme
der ſtädtiſchen wie der ländlichen Induſtrie: ein Beweis
wohl, daß im Allgemeinen meine ſchon oben ausge-
ſprochene Behauptung, die Induſtrie habe in neueſter
Zeit eine mehr zentraliſirende Richtung, der Wahrheit
entſpricht und daß wahrſcheinlich demgemäß auch in der
frühern Zunahme des Landhandwerks ſchon ein Still-
ſtand, wenn nicht gar ein Rückgang eingetreten iſt.
Uebrigens iſt man bei dieſer ganzen Unterſuchung
immer wieder verſucht, daran zu denken, daß die ſtatiſti-
ſchen Begriffe „Stadt“ und „Land“ ſo wenig feſte ſind.
Man müßte, um ganz ſicher zu gehen, die verſchiedenen
Arten der Städte wie der Dörfer trennen können; man
müßte große und kleine Dörfer, rein landwirthſchaftliche
und induſtrielle Dörfer auseinander halten. Dazu fehlt
aber leider das ſtatiſtiſche Material.
Wenigſtens in Bezug auf die Städte können wir
den entſprechenden Unterſchied etwas verfolgen, ich meine
den Unterſchied, der zwiſchen größern und kleinern
Städten, d. h. der Zahl und Art der Handwerker, die
ſie zählen, ſein muß.
[278]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Hoffmann1 trennt in der mehr erwähnten Unter-
ſuchung über die 13 wichtigſten Arten der Handwerker
im Jahre 1828 die 39 größern preußiſchen Städte von
den ſämmtlichen übrigen kleinern Städten und dem platten
Lande. Es kommen nach ihm auf je 10000 Einwohner:
Die 13 Arten von Gewerbetreibenden machen in den
größern Städten 5,87 %, in den kleinern 6,93 %, auf
dem Lande 1,89 % aus. In den kleinern Städten iſt
der Hauptſitz des alten Handwerks. Da ſind die kleinen
Meiſter am zahlreichſten. In den größern Städten iſt
die Zahl der Meiſter kaum viel mehr als halb ſo groß,
dafür iſt die Zahl der Gehülfen weſentlich höher. Die
Geſammtzahl der Gewerbetreibenden aber iſt geringer. In
den großen Städten haben 10000 Menſchen 587, in
den kleinen 693 Gewerbetreibende nöthig. Und die der
größern Städte haben ohne Zweifel einen wohlhabendern
Kundenkreis, der ſie mehr in Anſpruch nimmt, haben
auch auf das Land hinaus einen größern Abſatz, als die
kleinſtädtiſchen Meiſter. Der Zahlengegenſatz zeigt alſo
recht klar die Unvollkommenheit des kleinſtädtiſchen Hand-
werks, die großen Zeitverluſte, die vom Wochen- und
Jahrmarktsverkehr herrühren, die Nothwendigkeit für
das kleinſtädtiſche Handwerk, auf Nebenbeſchäftigungen
ſich zu legen.
[279]Das Handwerk der kleinern Städte.
In den Mittheilungen über die Aufnahme von
1837 unterſcheidet Hoffmann1 in Bezug auf die wich-
tigern einzelnen Gewerbe die 10 Städte erſter Gewerbe-
ſteuerklaſſe, die 30 anſehnlichſten Städte zweiter Gewerbe-
ſteuerklaſſe, die ſämmtlichen übrigen Städte und das
platte Land. Es zeigt ſich da derſelbe Gegenſatz. Außer
bei den ländlichen Gewerben iſt die Hauptmaſſe der
kleinen Meiſter in den kleinen Städten; die Mehrzahl
arbeitet ohne Gehülfen. Bei einzelnen Gewerben zeigt
ſich ſchon damals, daß ſie in den größern Städten einer
neuen Produktionsmethode Platz machen, dagegen ſich
noch in den kleinen Städten halten. Es ſind z. B.
Meiſter und Gehülfen zuſammen 1837 an
Beides ſind Handwerke, die größern Geſchäften
weichen; in den kleinern Städten aber geht die Entwick-
lung langſamer. Da ſind noch keine Lederfabriken, da
verkauft der Töpfermeiſter noch ſeine Waaren. In den
größern Städten wird das Leder beim Lederhändler, der
nicht ſelbſt produzirt, gekauft; da treten das Steingut,
die Fayencewaaren der Fabriken, das Kochgeſchirr aus
[280]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Gußeiſen, Eiſen- und Kupferblech an die Stelle des
irdenen einfachen Geſchirres, da tritt der eiſerne Ofen,
der berliner Fabrikofen an die Stelle des alten
irdenen vom Töpfer gelieferten.
Die ſpätern preußiſchen Aufnahmen und ihre Be-
arbeitung laſſen dieſen Unterſchied zwiſchen den verſchie-
denen Städten ganz außer Acht. Nur die Aufnahme
von 1861 gibt, wie erwähnt, die Gewerbetabellen in
Bezug auf alle größern preußiſchen Städte; danach iſt
die folgende Tabelle berechnet. Um den Charakter der
einzelnen Städte noch etwas näher zu kennzeichnen,
habe ich in den beiden letzten Spalten die Prozent-
zahlen der Fabrik- und der Handelstabelle hinzugefügt.
Sie zeigen, welchen Antheil an der Bevölkerung einer
Stadt die Fabrikdirigenten und Fabrikarbeiter incl. der
Weber, Müller ꝛc. einerſeits, die ſämmtlichen in Han-
dels-, Transport-, Wirthſchafts- und literariſchen Ge-
werben beſchäftigten Perſonen andererſeits haben. Daß
die Prozentzahlen der Handwerker mit den Hoffmann’-
ſchen von 1828, welche nur 13 Handwerke umfaßten,
nicht zu vergleichen ſind, brauche ich wohl kaum zu
bemerken.
[281]Das Handwerk der größern Städte 1861.
Das Handwerk im Sinne der Tabelle von 1861
beſchäftigt in dieſen Städten 6—12 % der Bevölkerung,
d. h. wenn wir die erwachſenen Männer zu etwa 25 %
der Bevölkerung annehmen, den vierten Theil bis zur
[282]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Hälfte derſelben. Die Rangordnung geſtaltet ſich ſo,
daß die rheiniſchen Städte nur 6—9 % Handwerker,
die Städte der mittleren und öſtlichen Provinzen 10—
12 % Handwerker beſitzen, wobei nur Trier unter den
rheiniſchen, Danzig unter den öſtlichen Städten eine
Ausnahme macht. Daß an der größern oder geringern
Zahl der Handwerker die große Induſtrie direkt ſchuld
ſei, läßt ſich nicht behaupten. Koblenz mit 3 %, Köln
mit 5 %, Aachen mit 15 %, Elberfeld mit 26 %
Fabrikperſonal ſtehen ſich in Bezug auf das Handwerk
faſt gleich. Ebenſowenig läßt ſich behaupten, daß die
Größe der Städte einen Einfluß auf die Prozentzahl
der Handwerker habe. Alle dieſe Städte haben mehr
oder weniger den Charakter einer größern Stadt.
Der vorhin beſprochene Gegenſatz von Kleinſtädten und
größeren Städten fällt vollſtändig aus dieſer Tabelle
hinaus. Theilweiſe liegt der Grund des weniger zahl-
reichen Handwerks der rheiniſchen Städte in der höhern
wirthſchaftlichen Kultur, die für dieſelben Zwecke weniger
Arbeitskräfte braucht. Es kommt das gegenüber den
ſächſiſchen Städten in Betracht. Theilweiſe aber liegt
der Grund darin, daß bei der Art, wie die Bevölkerung
am Rhein vertheilt iſt, die dortigen Städte viel weniger
als im Oſten die gewerblichen Mittelpunkte ganzer
Gegenden bilden. Das ganze Land hat dort mehr
Handwerker, darum können die Städte etwas weniger
haben. Wenn ſich die ſächſiſchen und weſtfäliſchen Städte
einer-, die preußiſchen, poſenſchen, märkiſchen anderer-
ſeits ſo ziemlich gleich in der Prozentzahl ihrer Hand-
werker ſtehen, ſo hat das nicht ganz dieſelben Urſachen.
[283]Das Handwerk der größern Städte 1861.
In Magdeburg, Erfurt, Halle, Münſter iſt die Hand-
werkerzahl groß, weil hier eine gleichmäßigere Vermögens-
vertheilung auch die kleinen Handwerksgeſchäfte hält. Im
Oſten iſt man überhaupt weiter zurück; deßwegen iſt
die Zahl hier nicht unbeträchtlich; und dann ſpielen hier
die größern Städte eine ganz andere Rolle gegenüber
dem platten Lande, als in Sachſen und Weſtfalen.
Wir ſehen, wie auch hier wieder die verſchiedenſten
Urſachen neben- und gegeneinander wirken.
Vergleicht man die Prozente der Handwerkertabelle
mit denen der Fabrik- und der Handelstabelle, ſo iſt her-
vorzuheben, daß die Handelstabelle vielfach höhere Prozente
zeigt, als die Fabriktabelle, daß meiſt beide zuſammen
noch nicht ſo hoch ſind, wie die Prozente der Hand-
werkertabelle. Nur in wenigen Fabrikſtädten kommt
die Fabriktabelle der Handwerkertabelle nahe, nur in
Brandenburg, Krefeld, Eſſen, Elberfeld, Barmen
und Aachen überwiegt ſie. Das Handwerk zeigt
gegenüber den beiden andern Branchen ſeinen immer
noch vorhandenen elementaren Charakter, ſeine aller-
wärts ſich zeigende Nothwendigkeit dadurch, daß es nur
zwiſchen 6 und 12 % der Bevölkerung ſchwankt; die
die Fabriktabelle ſchwankt zwiſchen 0,9 und 27 %, die
Handelstabelle zwiſchen 2 und 9 % der Bevölkerung.
Als Ergänzung der bisherigen Unterſuchung über
die preußiſchen Verhältniſſe will ich nunmehr noch Einiges
aus der bairiſchen und ſächſiſchen Statiſtik anführen, ſchicke
jedoch wieder voraus, daß die abſoluten und die Prozent-
zahlen mit den preußiſchen nirgends direkt vergleichbar
ſind, da die Kategorien der Handwerker, die in den
[284]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
einzelnen drei Staaten zu Geſammtreſultaten vereinigt
ſind, nicht ganz übereinſtimmen, theilweiſe weſentlich
differiren.
Die bairiſche Handwerksſtatiſtik liefert nur einen
kleinen Beitrag über den Gegenſatz von Stadt und
Land;1 ſie unterſcheidet nicht Stadt und Land über-
haupt, ſondern nur die größern ſog. unmittelbaren
Städte und das geſammte übrige Land, welches alſo das
platte Land mit ſeinen wenigen, wie die kleinen Städte
mit ihren zahlreichen Handwerkern umfaßt. Die Meiſter
und Gehülfen ſind mit Einſchluß der Weber zuſammen-
gerechnet. Es kamen in den größern Städten
Alſo die Hauptabnahme eben auch da, wo die Um-
bildung in neue Zuſtände ſich vollzieht, d. h. in den
größern Städten.
In Bezug auf Sachſen erwähnte ich in anderem
Zuſammenhang ſchon,2 daß nach einem Vergleich von
[285]Stadt und Land in Baiern und Sachſen.
1830 und 1856 das Handwerk in den größern Städten
ſehr bedeutend, einzelne Gewerbe um 20—70 %, in
den kleinern Städten dagegen nicht ebenſo abgenommen
habe; an ſie ſollte die Reihe erſt ſpäter kommen.
Für die ſpätere Zeit, d. h. für den Vergleich von
1849 und 1861 benütze ich eine Tabelle,1 welche die
36 wichtigſten Handwerke, mit Ausſchluß aller Haus-
induſtrie, beſonders der Weberei, von 1849 und 1861
getrennt nach den größern, den kleinern Städten und
dem platten Lande umfaßt. Nach ihr iſt die folgende
Ueberſicht berechnet. Es waren
Sollte der Leſer trotz meiner Warnung an einen
Vergleich dieſer Zahlen mit den preußiſchen denken, ſo
iſt zu erwähnen, daß in den preußiſchen Tabellen etwa
80, hier 36 Arten von Handwerkern zuſammengefaßt
ſind. Sind das auch weitaus die zahlreichern, dennoch
bleibt eine direkte Vergleichung mißlich. Einige Prozente
[286]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
müßte man jedenfalls zuſetzen, ſo daß die größern ſächſi-
ſchen Städte auf 10—11 %, die kleinern auf 12—13 %
kämen. Das iſt jedenfalls den preußiſchen Verhältniſſen
analog, daß die kleineren Städte das zahlreichſte Hand-
werk haben. Das gegenüber Preußen viel ſtärkere länd-
liche Handwerk hat ſeine Urſache in dem ſtädtiſch-in-
duſtriellen Charakter eines großen Theiles des platten
Landes in Sachſen, außerdem in den zahlreichen Vor-
ſtadtdörfern, in welchen für die Stadt arbeitende Hand-
werker wohnen.1 Zugleich erhellt aus den ſächſiſchen
und preußiſchen Zahlen, welche das platte Land betreffen,
wieder, wie viel wichtiger die realen Zuſtände und Be-
dürfniſſe gegenüber der Gewerbegeſetzgebung ſind. In
Sachſen bis 1862 gewiſſe Beſchränkungen des Land-
handwerks, in Preußen keine Spur hiervon mehr ſeit
langer Zeit; und doch iſt das ſächſiſche Landhandwerk
zahlreicher.
Was nun aber die Veränderungen zwiſchen 1849
und 1861 in Sachſen betrifft, ſo ſind ſie ſehr ſprechend.
In den größern Städten hat das Handwerk nicht viel mehr
abgenommen, weil es hier ſchon früher ſehr zurückging;
die Hauptabnahme trifft die kleinen Städte; in ihnen
vollzieht ſich der Umſchwung erſt jetzt. Auf dem Lande
haben die Handwerker etwas, aber ſehr unbedeutend zu-
genommen.
Unterſcheidet man die einzelnen Gewerbe in dieſer
Beziehung, ſo trifft die Zunahme auf dem Lande gegen-
über der Bevölkerung außer den hausinduſtriellen Be-
[287]Stadt und Land in Sachſen.
trieben hauptſächlich die Tiſchler, Glaſer, Stellmacher,
Seiler, Riemer, Kürſchner, Bäcker und Buchbinder, ſowie
die Zimmerleute und Maurer, letztere wahrſcheinlich nur
ſcheinbar, durch Zählung ſtädtiſcher Arbeiter an ihrem
ländlichen Wohnort in der ſtädtiſchen Umgebung, wie
auch aus dieſem Grunde allein die ländlichen Buch-
drucker Sachſens zunahmen. Dagegen haben auf dem
Lande abgenommen die Schneider, die Schuhmacher,
die Fleiſcher, die Hufſchmiede, die Gürtler, die Kupfer-
ſchmiede, die Seifenſieder, die Gerber, die Töpfer, die
Kammmacher, die Drechsler. Mancherlei bezieht der
ländliche Konſument jetzt von der Stadt, was er früher
beim Meiſter im Dorfe beſtellte.
Ob das ſeit 1862, ſeit das Landhandwerk in
Sachſen ganz frei wurde, wieder ſich geändert hat, ob
die Gewerbefreiheit dem ländlichen Meiſter den Abſatz
wieder brachte, den er ſchon 1861 verloren hatte,
möchte ich bezweifeln.
[[288]]
2. Das Handwerk nach Provinzen und Staaten.
Die preußiſchen Provinzen 1822, 1846 und 1861. Die preußi-
ſchen Regierungsbezirke 1861 mit ihrer Handwerker-, Fabrik-
und Handelsbevölkerung. Die Bäcker, Fleiſcher, Schneider
und Schuhmacher nach Provinzen 1849 und 1861. Einzelne
Gewerbe im Regierungsbezirk Poſen 1822, 1846 und 1861.
Das Handwerk in den wichtigern Zollvereinsſtaaten 1846 und
1861. Die ſpezielleren Ergebniſſe von 1861 in ſämmtlichen
Staaten des Zollvereins. — Die Urſachen der Gegenſätze:
Der verſchiedene Wohlſtand. Die Dichtigkeit der Bevölkerung.
Landwirthſchaftliche und induſtrielle Gegenden. Der Einfluß
der Großinduſtrie. Das Alter der wirthſchaftlichen Kultur in
den verſchiedenen Gegenden. Die frühere oder ſpätere Beſei-
tigung des Zunftweſens. Die ganze Einkommens- und Ver-
mögensvertheilung, die Art und Größe der Wohnſitze der
Bevölkerung, die Vertheilung des Grund und Bodens. Die
daraus folgenden wirthſchaftlichen Sitten, der Volkscharakter,
die Thätigkeit der Regierungen für das kleinere Handwerk.
Dem Gegenſatz zwiſchen Stadt und Land folgt der
zwiſchen Landſchaften und Provinzen, Provinzen und
Staaten. Er iſt theilweiſe ein ähnlicher; ein Haupt-
moment des Gegenſatzes iſt daſſelbe. Da mehr agra-
riſche, dort mehr gewerbliche Zuſtände. Aber dazu kom-
men eine Reihe andere Momente; es wechſeln alte und
junge Kultur, reiche und arme Gegenden. Andere
[289]Die preußiſchen Provinzen 1822—61.
Beſitz- und andere Bevölkerungsvertheilung, verſchie-
dene Verwaltung und verſchiedenes Recht, verſchiedene
Geſchichte und verſchiedener Volkscharakter ſprechen mit.
Ehe ich auf die Urſachen aber näher eingehe, will
ich die ſtatiſtiſchen Grundlagen vorlegen. Ich bleibe
zuerſt bei den alten preußiſchen Provinzen ſtehen, da
für ſie das reichhaltigſte Unterſuchungsmaterial vorliegt;
erſt nachher will ich die übrigen Zollvereinsſtaaten und
die neuen preußiſchen Provinzen in den Vergleich her-
einziehen.
Wie ſtark war der Handwerkerſtand gegenüber der
Bevölkerung in den einzelnen preußiſchen Provinzen
1822, 1846 und 1861? In Bezug auf die erſten
beiden Jahre gibt die Unterſuchung Dieterici’s1 Ant-
wort. In Bezug auf 1861 hat Viebahn2 Berechnun-
gen gemacht. Ich ſtelle daneben eine eigene Berechnung,
die nach den offiziellen Zahlen angeſtellt iſt, und noth-
wendig etwas höhere Procentzahlen ergiebt, da Viebahn’s
abſolute Handwerkerzahlen für 1861, wie ich ſchon er-
wähnte, — wie ich hier noch beſonders bemerken will,
wahrſcheinlich durch Ausſcheidung der Kunſtgewerbe —
etwas niedriger ſind, als die der offiziellen Tabelle.
Was den Vergleich der Zahlen für dieſe drei Jahre
unter ſich betrifft, ſo iſt der zwiſchen 1822 und 1846
ganz der Wirklichkeit entſprechend, da Dieterici nur die
gleichen Kategorien von Handwerkern in den Vergleich
hereinzieht, dagegen umfaſſen die Zahlen von 1861
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 19
[290]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
einige weitere Kategorien von Handwerkern; die Zu-
nahme erſcheint daher etwas zu groß, wenigſtens nach
den von mir berechneten Zahlen. Der Vergleich, wie
ſich in den einzelnen Provinzen die Procentzahl in den
drei verſchiedenen Zeitpunkten ſtellt, iſt hier aber auch
nicht die Hauptſache; wichtiger iſt hier die Frage, wie
ſich das Rangverhältniß der Provinzen unter einander
in den genannten Epochen umgeſtaltet hat, und zur
Beantwortung dieſer Frage iſt die Tabelle vollſtändig
brauchbar.
Ich gebe die Zahlen in der doppelten möglichen
Berechnung; die ſämmtlichen Gewerbetreibenden machten
Procente der Bevölkerung aus:
Oder, was daſſelbe iſt, es kamen auf einen
Gewerbetreibenden Einwohner:
Die Zahlen für 1861 will ich verſuchen gleich
dadurch noch etwas weiter zu illuſtriren, daß ich eine
Prozentberechnung des Handwerkerſtandes nach den ein-
zelnen Regierungsbezirken beifüge. Denn welche Gegen-
ſätze birgt z. B. Schleſien; im Regierungsbezirk Breslau
zählt man 6,53 % Handwerker, im Regierungsbezirk
Oppeln nur 3,93 %. Zugleich will ich, wie oben bei
den größern Städten, die Prozentzahlen der Fabrik- und
der Handelsbevölkerung daneben ſtellen, d. h. die Pro-
zente, welche die geſammten 1861 in der Fabrik- und
in der Handelstabelle nach dem bekannten Inhalt der-
ſelben verzeichneten Perſonen gegenüber der ganzen Be-
völkerung ausmachen. Man erſieht daraus die unge-
fähre Bedeutung des Handwerks in den einzelnen Re-
gierungsbezirken gegenüber den Fabrik- und Handels-
geſchäften.
Neben dem ſpeziellen Reſultat dieſer Tabelle, das
uns hier zunächſt intereſſirt, möchte ich den Leſer darauf
aufmerkſam machen, welche Reſultate vergleichender
Betrachtung ſich ergeben, wenn er die folgende Tabelle
über die Regierungsbezirke vergleicht mit der obigen
entſprechenden über die größern Städte.
Am Rhein ſind die Prozente der Handwerker in
den Städten und Regierungsbezirken nahezu gleich, im
Nordoſten haben die Regierungsbezirke theilweiſe nur
ein Drittel oder Viertel der ſtädtiſchen Prozentzahlen.
In der ſtädtiſchen Tabelle iſt die Fabrik- und Handels-
bevölkerung der Handwerkerzahl ſchon viel näher gerückt,
als in der Tabelle der Regierungsbezirke. Doch das
nebenbei. — Die Tabelle iſt folgende:
19 *
[292]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Die lokalen Gegenſätze der Fabrik- und der Handels-
entwicklung ſind hier, wie in den großen Städten, viel
bedeutender als die des Handwerks. Es giebt Regierungs-
bezirke und Provinzen, die noch einmal ſo viel Hand-
werker haben als andere, im Handel und Fabrikweſen
ſolche, die 4—11 mal ſo viel Perſonen beſchäftigen. Das
Handwerk zeigt auch hier wieder ſeine elementare Natur.
[293]Die Veränderungen von 1822 — 61.
Es dient nothwendigen lokalen Bedürfniſſen, die einer-
ſeits auch heute noch überall vorhanden ſind und ande-
rerſeits nirgends über ein gewiſſes Maß hinausgehen.
Freilich ſind die Differenzen noch ſtark genug: im
Oſten beſchäftigt es 3 — 4 %, im Weſten 6 und 7 %
der Bevölkerung. Am tiefſten ſteht der Regierungsbezirk
Gumbinnen 1861 mit 3,63, dann Bromberg mit 3,66,
Poſen mit 3,81 %; über 7 % haben die Regierungs-
bezirke Liegnitz, Magdeburg, Merſeburg, Erfurt, Arns-
berg, Düſſeldorf; am höchſten ſteht Erfurt mit 7,83 %.
Um aber zunächſt zurückzukehren zu der Provinzial-
tabelle und dem Unterſchied zwiſchen den verſchiedenen
Jahren der Aufnahme, ſo iſt das Rangverhältniß der
Provinzen unter ſich 1822 und 1861 ſo ziemlich daſſelbe.
Poſen z. B. hat damals wie jetzt etwa halb ſo viel Hand-
werker als Sachſen. Dieß Reſultat hat mich vollſtändig
überraſcht; ich hatte, ehe ich die Unterſuchung anſtellte,
erwartet, daß in den weſtlichen und mittleren Provinzen
die Prozentzahl ſich weniger geändert zeigen werde; ich
dachte mir hier gleichſam das Bedürfniß geſättigt; ich
dachte, daß wenn hier Neubildungen ſtattfinden, ſie eher
die Form der Fabriken und großen Unternehmungen an-
nehmen werden. In den öſtlichen Provinzen dagegen,
dachte ich, war die Zahl ſelbſt der nothwendigſten Hand-
werker, wie der Bäcker, Fleiſcher, Schneider, Schuh-
macher, Tiſchler 1822 noch ſo gering, daß ſie mit der
Kulturentwicklung, mit der ſteigenden Arbeitstheilung hier
bedeutend ſteigen müſſe, ich dachte, daß 1822 — 61 dieſe
Provinzen ſich den Zuſtänden in Mittel- und Weſt-
deutſchland müßten genähert haben.
[294]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Und ganz unrichtig war dieſe Vermuthung auch
nicht. Von 1822 — 46 iſt der Zuwachs in Preußen,
Poſen, Brandenburg, Pommern und Schleſien im Ganzen
relativ faſt größer als in Sachſen, Weſtfalen und der
Rheinprovinz; erſt von 1846 — 61 bleiben Preußen,
Poſen, Pommern ſo ziemlich ſtabil, während die andern
Provinzen wieder ſchneller voranſchreiten.
Es wird nun nicht zu leugnen ſein, daß einzelne
Hauptgewerbe auch 1846 — 61 im Oſten noch zuneh-
men; die wichtigſte Urſache der geringen Geſammtzunahme
liegt nicht ſowohl in den einfachen Haupthandwerken, als
in der größern Zahl der Handwerker, welche feinern Be-
dürfniſſen dienen — in den Gürtlern, Hutmachern, Hand-
ſchuhmachern, Gold- und Silberarbeitern, Klempnern,
Poſamentieren, Tapezierern und ähnlichen. Derartige,
wenn ich ſo ſagen ſoll, höhere Handwerke fehlten vorher
faſt noch ganz; da ſie erſt nach 1846 hätten ſich bilden
müſſen, blieben ſie faſt ganz aus, weil nunmehr der
Handel und Verkehr ſich ſchon umgeſtaltete, die lokale
Produktion nicht mehr wie früher nothwendig war.
Freilich bleiben auch die wichtigern Handwerke von
1846 an im Oſten zurück; theilweiſe wirken die ange-
führten Urſachen auch auf ſie. Ich will nur für
einige Hauptgewerbe, die Bäcker, Fleiſcher, Schneider
und Schuhmacher eine ſpezielle Berechnung anſtellen,
wie ſie in den einzelnen Provinzen 1849 — 61 zuge-
nommen haben. Die folgende Tabelle beantwortet die
Frage, auf wie viele Einwohner ein Gewerbetreibender
je des betreffenden Gewerbes kam:
[295]Der Gegenſatz der weſtlichen und öſtlichen Provinzen.
Die Tabelle zeigt, daß von 1849 — 61 faſt nur
die Fleiſcher in Preußen und Poſen bedeutend zunahmen,
die anderen Gewerbe aber in den mittlern und weſtlichen
Provinzen mehr ſtiegen als im Oſten. Und auch bei
den Fleiſchern erſcheint hauptſächlich deßwegen eine Zu-
nahme in Preußen und Poſen, weil die Zahl der
Fleiſcher hier 1849 ausnahmsweiſe niedrig, viel
niedriger als 1816 iſt. Es iſt, als ob das Handwerk,
weil es hier jünger war, der neuen Zeit, ihrer Technik
und ihrem Betrieb noch weniger Widerſtandskraft ent-
gegenzuſetzen gehabt hätte.
Einen weitern ſchlagenden Beweis hierfür liefern
die Zahlen, welche Herzog1 aus dem Regierungsbezirk
Poſen mittheilt. Ich erwähne nur einige Hauptgewerbe
nach den abſoluten Zahlen der Jahre 1822, 1846
und 1861:
[296]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Eine große Zunahme bis 1846; von da ab
vollſtändiger Stillſtand oder Rückgang, während doch
ſonſt die Verhältniſſe gerade von 1846 ab erſt weſentlich
ſich beſſern, die Straßen, der Verkehr, der Bodenwerth
ſteigen. Gerade das muß nach den dortigen Verhält-
niſſen eben dem kleinen Handwerkerſtand nicht günſtig
geweſen ſein. Er blieb beſonders in den kleinen Städten
zurück, während die wohlhabendern Konſumenten nicht
zurückbleiben wollten, ſich hier wohl mehr als ander-
wärts nach der Hauptſtadt der Provinz oder nach Berlin
wandten. „Wohlhabendere machen ihre Einkäufe und
Beſtellungen meiſtentheils in der Stadt Poſen,“ ſagt
ein Bericht im Jahrbuch für amtliche Statiſtik,1 welcher
hauptſächlich die Noth der Handwerker in den kleinen
Städten der Provinz Poſen betont.
Daß die gewerbliche Thätigkeit in der Provinz
Poſen wie in der Provinz Preußen vor Allem durch
[297]Die Zuſtände in Poſen 1822 — 61.
die ruſſiſche Zolllinie gehemmt und gelähmt wird, iſt
richtig, kann aber hier nicht als hauptſächliche Urſache
angeführt werden. Es trifft das mehr die größere
Induſtrie; überdieß war dieſer Umſtand ſchon 1822 —
1846 vorhanden. Der Stillſtand von 1846 an muß
alſo mehr andere Urſachen haben.
Ehe ich aber hierauf noch näher eingehe, theile ich
die Zahlen über die andern Theile des Zollvereins, ſo-
weit ſolche vorliegen, mit. Sie zeigen theilweiſe dieſelben
Gegenſätze; theilweiſe aber iſt das Reſultat auch ein
weſentlich anderes; gerade da, wo das der Fall iſt,
ſind wir aufgefordert nachzuforſchen, warum es ein
anderes iſt.
Für 1846 hat ſchon Dieterici eine Vergleichung der-
jenigen Zollvereinsſtaaten angeſtellt, die damals brauch-
bare Aufnahmen machten.1 Die Summen der Hand-
werker aber, die er hiebei für Preußen z. B. zu Grunde
legt, ſind ziemlich niedriger, als die der ſonſtigen
offiziellen Statiſtik,2 wohl weil er ſolche Kategorien, in
denen die Aufnahme nicht überall gleich gemacht wurde,
weg ließ. Deshalb ſind die aus den Hauptſummen abge-
leiteten Prozentzahlen eigentlich nicht direkt vergleichbar mit
den Prozentzahlen nach der Aufnahme von 1861. Für
1861 exiſtiren offizielle Summirungen nur von den
[298]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Staaten, die ihre Gewerbeaufnahme beſonders publizirt
haben. Außerdem hat man die Summirungen in der
Privatarbeit von Frantz,1 die mit den offiziellen Summen,
ſoweit ſie exiſtiren, theilweiſe faſt ganz, theilweiſe wenig-
ſtens ungefähr übereinſtimmen, und die Summen bei
Viebahn,2 die, ähnlich wie ſeine preußiſchen Zahlen, etwas
niedriger als die offiziellen Summen ſind. Da ſie aus
eben dem Grunde den von Dieterici für 1846 berechneten
Zahlen am nächſten ſtehen werden, am eheſten mit ihnen
vergleichbar ſein werden, ſo ſtelle ich ſie zunächſt mit
denen Dieterici’s von 1846 zuſammen. Ganz korrekt iſt
die Tabelle freilich nicht; einzelne Staaten zeigen eine
kleine Zunahme, welche ſie nach unſern obigen Unter-
ſuchungen nicht haben; die größern Veränderungen aber
ſind ſicherlich wahrheitsgetreu; jedenfalls bleibt der Ta-
belle, wie der obigen Tabelle über die preußiſchen Pro-
vinzen, der Werth, daß ſie zeigt, wie die Proportionen
der Zahlen von 1846 und der Zahlen von 1861 je unter
einander ſich änderten, wie das Rangverhältniß der Staaten
unter ſich gewechſelt hat. Es betrug die Zahl der Meiſter
und Gehülfen in Prozenten der geſammten Bevölkerung:
[299]Vergleichung einiger Staaten 1846 und 1861.
Die Zuſtände haben ſich von 1846 — 61 im
Ganzen nicht unweſentlich geändert. Thüringen hatte
1846 am wenigſten Handwerker, 1861 am meiſten.
Das Großherzogthum Heſſen ſteht in der Reihe der
Staaten mit zahlreichem Handwerk jetzt oben an; Baden
iſt zurückgeblieben. Die äußerſten Differenzen ſind 1861
geringer, weil die Staaten, welche 1846 das ſtärkſte
Handwerk hatten, Sachſen, Baden und Baiern, ziemlich
ſtabil blieben, dagegen die Staaten, welche 1846 zurück
waren, an Handwerkern zunahmen, namentlich Thü-
ringen und beide Heſſen, ſelbſt Naſſau. Wie kommt
es, daß ſie, welche bis 1846 auf ähnlichem Standpunkt
wie die öſtlichen preußiſchen Provinzen ſtanden, noch an
Handwerkern zunahmen, während in jenen das Hand-
werk ſich nicht weiter entwickelte? Ich werde darauf
zurückkommen.
Zunächſt möchte ich noch eine ſpeziellere Vergleichung
ſämmtlicher Zollvereinsſtaaten und preußiſchen Provinzen
pro 1861 als weiteres Material für die Unterſuchung an-
führen. Die Tabelle iſt Viebahn1 entlehnt. Sie beantwortet
[300]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
in der letzten Spalte die Frage, wie viele Meiſter je
auf 1000 Familien kamen, in der vorletzten die Frage,
wie viele Meiſter und Gehülfen je auf 1000 Einwohner
kamen; die vorhergehenden Spalten geben darüber
Auskunft, wie ſtark die einzelnen Hauptabtheilungen der
Gewerbe im Verhältniß der Bevölkerung waren.
Als Ergänzung führe ich noch die Prozentzahlen
einiger ſpeziellen Gewerbe nach Viebahn an. Bei einzelnen
hat er Meiſter und Gehülfen, bei andern nur die Meiſter
in Rechnung gezogen. An Meiſtern und Gehülfen kamen
1861 auf 10000 Einwohner bei folgenden Gewerben:
[302]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Von den folgenden Gewerben kamen 1861 auf
10000 Einwohner je die folgende Zahl Meiſter:
[303]Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe.
Daß einzelne Differenzen, welche ſich in dieſen
ſpeziellen Zahlen zeigen, nicht bloß und nicht vollſtändig
von der wirklichen Verſchiedenheit der Zuſtände, ſondern
da und dort auch theilweiſe von einer Verſchiedenheit
der Aufnahme herrühren, wird nicht zu leugnen ſein.
Aber wir brauchen uns in dieſer Beziehung hier mit
keiner Detailkritik abzugeben, da es ſich ja zunächſt mehr
um das allgemeine Reſultat, um die allgemeinen Gegen-
ſätze, die zu Tage treten, handelt.
Dieſe allgemeinen Gegenſätze nun, welche ſich uns
in den ſämmtlichen Tabellen erſichtlich machen, ſind
[304]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
etwas größer als die, welche wir bei Vergleich der alt-
preußiſchen Provinzen und Regierungsbezirke erſahen.
In den altpreußiſchen Provinzen ſchwankt der Hand-
werkerſtand zwiſchen 3,6 und 7,2 % der Bevölkerung, in
den altpreußiſchen Regierungsbezirken zwiſchen 3,6 und
7,8 %, in den von Viebahn verglichenen Gegenden
zwiſchen 3,6 und 8,6 %, wobei ich Frankfurt mit 16,6 %
als einzelne Stadt außer Acht laſſe. Hohenzollern,
Württemberg, Sachſen, Thüringen haben alle über 8 %
Handwerker, alſo mehr als irgend eine altpreußiſche
Provinz, über 7 % haben Anhalt, Braunſchweig, Groß-
herzogthum Heſſen, ihnen ſteht nur die Provinz Sachſen
mit 7,2 % gleich; zwiſchen 6 und 7 % haben — ähnlich
wie Brandenburg, Weſtfalen und die Rheinprovinz —
Hannover, Kurheſſen, Baiern, Baden, Oldenburg,
Waldeck, Luxemburg. Naſſau allein von den weſt- und
ſüddeutſchen Bezirken ſteht mit 5,6 % den öſtlichen
preußiſchen Provinzen gleich oder nahe; Schleſien hat
5,6, Pommern 4,8, Preußen 3,9, Poſen 3,6 %.
Die einzelnen Hauptgruppen von Handwerken ſind
theilweiſe gleichmäßiger, theilweiſe aber auch um ſo un-
gleichmäßiger vertheilt. Ziemlich gleich ſtark ſind überall
die Metallarbeiter. Aehnlich die Bekleidungsgewerbe und
Holzwaarenarbeiter; in den Bekleidungsgewerben z. B.
ſtehen die mittleren preußiſchen Provinzen den ſüddeutſchen
und rheiniſchen Staaten ſo ziemlich gleich, während ſie
in den Geſammtzahlen weſentlich zurückbleiben; ſelbſt
Poſen und Preußen ſtehen hier nicht ſo ſehr zurück;
ſie haben 1,5 % in den Bekleidungsgewerben, Hohen-
zollern nur 2,6, Württemberg 2,8, alſo noch nicht
[305]Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe.
doppelt ſo viel; dagegen wird in den Baugewerben die
Zahl Poſens von Hohenzollern um mehr als das 4 fache,
von Süddeutſchland, Oberſachſen und den rheiniſchen
Staaten um das 2—3 fache übertroffen. In Poſen
kommen auf 10000 Menſchen 20, in Preußen 30, in
Pommern 42 Maurer, in Thüringen dagegen 110, in
Württemberg 71, in Baiern 74. Eine ſtarke Ver-
ſchiedenheit zeigen auch die Gewerbe für perſönliche Dienſt-
leiſtungen und für Stoffbereitung, ſowie die Nahrungs-
gewerbe. Im Südweſten Deutſchlands etwa die drei-
fache Zahl wie im Nordoſten.
Dieſe Differenzen, wie überhaupt die Differenzen
in den meiſten Gewerben, werden noch ſtärker, wenn
man nur die Meiſterzahlen anſieht. Da wo die
Zuſtände noch ein zahlreiches Handwerk erlauben, gibt
es auch noch mehr kleine Geſchäfte, alſo um ſo mehr
Meiſter, während in den Ländern mit entgegengeſetzten
Zuſtänden die Gehülfenzahl relativ ſtärker ſein wird.
In Heſſen-Darmſtadt gibt es 4—5 mal ſo viel
Fleiſchermeiſter als in Preußen im e. S., in Württemberg
gibt es 6 mal ſo viel Bäckermeiſter als in Preußen, in
Heſſen 6 mal ſo viel Barbiere als in Preußen, in Thü-
ringen 7 mal ſo viel Gerbermeiſter als in Poſen, in
Württemberg 60 mal ſo viel Steinhauermeiſter als in
Poſen, 8 mal ſo viel Glaſermeiſter als in Schleſien.
Einige andere Gewerbe freilich zeigen auch, wenn
man nur die Meiſterzahlen vergleicht, keinen größern
Unterſchied. Die ſpezifiſch ländlichen Gewerbe der
Schmiede, der Sattler, dann die Gewerbe der Tiſchler,
auch der Schneider und Schuhmacher ſind ſich in den
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 20
[306]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
verſchiedenen Gegenden ihrer Meiſterzahl nach ziemlich
nahe. In einigen Gewerben ſtehen ſich Württemberg,
Baden, Baiern einerſeits, Preußen und Poſen anderer-
ſeits ſogar ſehr nahe. In der nordöſtlichen, wie in
der ſüdweſtlichen Ecke ſind z. B. noch am meiſten
Töpfermeiſter; in dem ganzen Gebiete dazwiſchen ſind
ſie von den größern Geſchäften und dem Handel ver-
drängt. Dort iſt es die Unentwickeltheit der wirthſchaft-
lichen Verhältniſſe überhaupt, hier ſind es die kleinen
Städte und großen Dörfer, welche ſie halten.
Dieſe letzte Bemerkung zeigt, wie mannigfaltig und
verſchieden die Urſachen ſein können, die eine hohe oder
niedrige Prozentzahl von Handwerkern hervorrufen, wie
vorſichtig man in allgemeinen Schlüſſen ſein muß.
Um daher, ehe ich die Urſachen, welche die Gegen-
ſätze beherrſchen, genauer beſpreche, noch weiteres Licht auf
den Gegenſtand zu werfen, will ich noch einige Berech-
nungen über das Verhältniß der Handwerker zur Fabrik-
bevölkerung in den einzelnen Staaten nach dem Stande
von 1861 mittheilen. Die abſoluten Zahlen ſind Frantz1
entnommen. Der Inhalt der Handwerker- und der Fabrik-
tabelle iſt bekannt. Die Vergleichung gibt wenigſtens
ungefähr ein Bild davon, wie in den einzelnen Staaten
[307]Fabrik und Handwerk in den einzelnen Staaten.
Fabrik und Handwerk ſich in Wirklichkeit verhalten.
Die erſte Tabelle gibt die abſoluten Zahlen und den
Prozentantheil von Fabrik und Handwerk an der
Geſammtſumme.
In Hannover, wo die rein landwirthſchaftlichen
Gegenden vorwiegen, iſt das Handwerk am ſtärkſten, es
folgen Baiern, Kurheſſen, Württemberg; dann Preußen
und Baden; zuletzt Sachſen, wo allein die Fabriktabelle
ſtärker iſt, als die Handwerkertabelle. Dieſe Zahlen
ſind aber nur relativ. Hannover hat gegenüber ſeinen
Fabriken das ſtärkſte Handwerk; mit der Bevölkerung
verglichen, hat es ein ſchwächeres Handwerk als Sachſen,
Baden, Württemberg und Baiern. Dieſen Vergleich
der Fabrik- und der Handwerkertabellen mit der Bevöl-
kerung führt die folgende Tabelle noch aus, wobei ich
für die Handwerkerzahlen neben die Frantz’ſchen die
20 *
[308]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
oben ſchon angeführten von Viebahn ſtelle. Sie zeigen,
daß der Unterſchied kein allzugroßer iſt.
Das Handwerk iſt hiernach am ſtärkſten in Württem-
berg, wo die Fabriken bedeutend, aber nicht am ſtärkſten
ſind; dann folgt Sachſen, mit 8 reſp. 8,49 % Hand-
werkern neben 10,03 % Fabrikperſonal. Alſo vertragen
ſich zahlreiche Handwerker wohl mit zahlreichen Fabriken;
freilich nur unter Umſtänden. Nach Sachſen folgt Baiern
mit der nächſthöchſten Handwerkerzahl, während ſein
Fabrikperſonal mit an letzter Stelle ſteht. Hannover
und Altpreußen ſind an Handwerkern faſt gleich, wenig-
ſtens ſehr nahe, an Fabrikperſonal hat Preußen nahezu
die doppelte Zahl. Die Bemerkungen beweiſen auf’s
ſchlagendſte, daß das Handwerk weder in gerader
Proportion wächſt mit den Fabriken, wie man oft
[309]Die Urſachen der Handwerkerzahl.
behauptet hat, noch daß es umgekehrt in gerader
Proportion mit ihnen abnimmt, wie andere oftmals
vorgaben. Ich werde darauf im Zuſammenhang mit
den andern Urſachen, um die es ſich handelt, zurück-
kommen.
Gehen wir nun endlich nach langen, beinahe ermüden-
den Zahlenmittheilungen auf die einzelnen Urſachen näher
ein, welche ein ſchwächeres oder ſtärkeres Handwerk in den
einzelnen Provinzen und Staaten bedingen, welche das
Plus oder Minus an Handwerkern beeinfluſſen und
beherrſchen, ſo wird man zunächſt beim Allgemeinſten
ſtehen bleiben müſſen. Man könnte zuerſt geneigt ſein,
an die Verſchiedenheit des Wohlſtands überhaupt zu
denken, man könnte geneigt ſein zu glauben, daß reichere
Gegenden mehr, ärmere weniger Handwerker im Ver-
hältniß zur Bevölkerung beſitzen. Gewiß iſt das auch
bis auf einen gewiſſen Grad der Fall; aber entfernt
nicht durchaus. Bei größerm Reichthum und hoher
Kultur kann die Art und die Richtung der Volkswirth-
ſchaft ſo ſein, daß doch die Zahl der Handwerker nicht
ſo groß iſt, als in andern minder wohlhabenden Gegen-
den. Schleſien und Naſſau haben dieſelbe Prozentzahl
Handwerker, und Schleſien iſt viel reicher; Hohenzollern
hat 8,9 % Handwerker, die Rheinprovinz 6,2, und doch
iſt letztere gewiß viel reicher; Baden hat 6,2 %, Baiern
6,9 %, und letzteres iſt weit hinter dem erſten an allge-
meiner wirthſchaftlicher Entwickelung zurück.
Nächſt dem Wohlſtand im Allgemeinen wird es
gerechtfertigt ſein, die Dichtigkeit der Bevölkerung ins
Auge zu faſſen. Und man wird wieder ſagen können,
[310]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
daß im Allgemeinen allerdings mit der größern Zahl
Menſchen, die auf der Quadratmeile leben, die Prozent-
zahl der Handwerker gegenüber der Bevölkerung wächſt,
daß aber im Einzelnen ſehr grelle Ausnahmen von dieſer
Regel vorkommen, die auf das Mitwirken anderer Ur-
ſachen hindeuten. Nehmen wir die Hauptgruppen, ſo
hatten:
[311]Die Bevölkerungsdichtigkeit und die Großinduſtrie.
Alſo weder der Wohlſtand im Allgemeinen, noch
die Dichtigkeit der Bevölkerung beherrſchen allein die
Handwerkerziffer.
Aber die Richtung der Produktion, wird man ent-
gegnen; in den rein agrariſchen Gegenden können nicht
ſo viele Handwerker ſein, wie in den induſtriellen.
Wenn Poſen 3,6 %, die Provinz Sachſen 7,2 % Hand-
werker hat, ſo iſt daran ſchuld, daß die eine Provinz
eine landwirthſchaftliche, die andere eine induſtrielle iſt.
Aber wieder laſſen ſich andere Länder reſp. Provinzen
neben einander ſtellen, bei denen die Gleichheit oder die
Differenz daraus nicht zu erklären iſt. Das induſtrie-
reiche Schleſien hat 5,6 %, das rein landwirthſchaftliche
Hannover hat 6,2 %; das vorwiegend agrariſche Baiern
hat 6,9 % Handwerker, das gewerbſame Baden zählt
6,2 %, die faſt nur aus Bauerngemeinden beſtehende
Provinz Kurheſſen hat ebenfalls 6,0 % Gewerbetreibende.
Und es iſt natürlich. Auch das platte Land und die
kleinen Ackerſtädte können zahlreiche Handwerker haben.
Der induſtrielle Charakter eines Landes als ſolcher
ſteigert nicht überall das kleine Handwerk.
Ich habe dafür ſchon oben die Belege mitgetheilt,
wo ich die Prozentzahlen der Handwerker- und der
Fabriktabelle verglich. Es gibt allerdings Gegenden,
wo mit der Großinduſtrie nicht ſowohl die Kleingewerbe
zunehmen, wo ſie aber von früher her zahlreich, ſpäter
leidend und abnehmend, durch den Aufſchwung der
Großinduſtrie eher wieder in beſſere Tage kamen.
Württemberg, einzelne Theile Sachſens und der Rhein-
provinz beweiſen das. Aber ganz falſch iſt es, das all-
[312]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
gemein zu behaupten, allgemein es auszuſprechen, die
Großinduſtrie an ſich fördere und hebe nothwendig das
Handwerk. Offizielle und halboffizielle Schönfärberei,
von der ſelbſt Viebahn nicht ganz frei iſt, 1 haben das
eben ſo oft zuverſichtlich ausgeſprochen, als der Optimis-
mus der radikalen Volkswirthe, die den Beruf fühlen,
die Großinduſtrie und die große Spekulation gegen jeden
Vorwurf zu vertheidigen, alles ſchön und vollkommen
zu finden, was wirklich oder ſcheinbar durch freie Kon-
kurrenz entſtanden iſt. Beide Richtungen haben es
behauptet, aber nicht bewieſen.
Sobald man näher zuſieht, wie die Konkurrenz von
Handwerk und Großinduſtrie iſt, ſo bekommt man eine
klare Anſchauung, wo die letztere dem Handwerke
ſchadet, wo ſie es fördert. In den wenigen Branchen,
in welchen die Fabrik dieſelben Waaren liefert wie
der Handwerker, vornehmlich, wo ſie ſelbſt die lokalen
Bedürfniſſe befriedigt, da drückt ſie auf das Handwerk,
verdrängt es. Der überwiegende Theil aber der größern
Unternehmungen liefert nicht Waaren für lokalen Bedarf,
ſondern für ganze Länder. Dadurch entſteht auch ein
Druck auf das Handwerk, aber es iſt ein Druck,
der ſich dann auch über ganze Länder verbreitet, der in
dieſer Vergleichung nach Provinzen gar nicht erſichtlich
ſein kann. Die Förderung, welche die Großinduſtrie
dem Handwerk geben kann, iſt nur indirekt, wenn wir
von einigen Reparatur- und Hülfsgewerben abſehen.
[313]Das Alter der gewerblichen Kultur.
Sie ſchafft eine dichtere, unter Umſtänden wohlhabendere
Bevölkerung. Ob dieſe aber viele Handwerker beſchäftigt,
hängt ab von dem Grade der Wohlhabenheit der Ar-
beiter, von der Art des Zuſammenwohnens, von einer
Reihe weiterer Umſtände. Beſonders in den Groß-
ſtädten beſchäftigt die größte Zahl Fabrikarbeiter nicht
ſowohl Handwerker, als zahlreiche Detailhändler und
Magazine, große und kleine Speiſehäuſer und Schank-
wirthſchaften.
Viel hängt in dieſer Beziehung ab von den
hergebrachten Sitten und den häuslichen Gewohn-
heiten einer Gegend. An allem Hergebrachten hängt
die Mehrzahl viel zäher feſt, als die National-
ökonomen meiſt glauben. Das verſchiedene Alter
der gewerblichen Kultur, das den ganzen Weſten
Deutſchlands von dem Oſten unterſcheidet, kommt da
in Betracht. Wo ein zahlreicher kleiner Handwerker-
ſtand iſt, da erhält er ſich wenigſtens theilweiſe durch
die zähe Feſtigkeit beſtehender Lebensgewohnheiten und
Geſchäftsſitten; wo eine gewerbliche Entwickelung erſt
mit der Zeit der Dampfmaſchinen und Eiſenbahnen
eintritt, da wird, worauf ich ſchon in anderem Zu-
ſammenhang aufmerkſam machte, das nun neu Anzu-
fangende nicht im alten, ſondern in neuem großen
Style begonnen. Die größere Zahl Handwerker am
Rhein, im Südweſten Deutſchlands hängt hiermit zu-
ſammen. Aber wieder wäre es falſch, wenn man dieſe
Wahrheit zu ſehr erweiterte, zu allgemein ausſpräche.
Thüringen hatte 1846 noch 3,4 %. Handwerker, 1861
8,6 %; ſeine gewerbliche Entwickelung iſt alſo ſehr jung,
[314]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
und doch zählt es jetzt mehr Handwerker als Sachſen,
Baden, Baiern und Württemberg.
Mit den zuletzt beſprochenen Punkten hängt ein
anderer enge zuſammen; ich meine den Einfluß der
Zunftverfaſſung. Es iſt ein entſchiedener Unterſchied
zwiſchen den Ländern, wo ſie früher beſeitigt wurde und
denen, wo ſie länger beſtand. Die Gewerbefreiheit hat
mit ihrer größern Konkurrenz das kleine, techniſch weniger
vollkommene Handwerk früher beſeitigt. Wo die alten
Zunftvorſchriften beibehalten oder auch nur vermittelnde
Gewerbegeſetze erlaſſen wurden, da hatte der Groß-
betrieb, das Magazinſyſtem, da hatte alles Neue doch
mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen; da erhielten
ſich die beſtehenden Gewohnheiten des Verkehrs und
Geſchäftslebens mehr im alten Geleiſe. War man
zu engherzig, ſo beſchränkte das wohl wieder die Zahlen
der Handwerker, aber abgeſehen hiervon erhielt eine
gemäßigte Zunftverfaſſung entſchieden eine größere Zahl
kleiner Geſchäfte. Das iſt wohl die Urſache, auf die es
neben andern zurückzuführen iſt, daß die entwickeltern
altpreußiſchen Provinzen hinter ſonſt ähnlichen Gegenden
in der Zahl der Handwerker zurückſtehen; die Provinz
Sachſen hat 7,2, das Königreich 8,0, Thüringen 8,6 %;
Schleſien hat 5,6 und Hannover 6,2 %, die Rheinprovinz
hat 6,2 %, die Rheinſtaaten haben 7,1 % Handwerker.
Man ſieht daraus wenigſtens, daß die beſtehenden Hand-
werke von einem eng egoiſtiſchen Standpunkte nicht ganz
unrecht hatten mit ihrer Abneigung gegen die Gewerbe-
freiheit. Von einem höhern Standpunkt aus wird man
anders urtheilen; da wird man es nicht an ſich als
[315]Der Einfluß der Gewerbegeſetzgebung
ein Glück betrachten, wenn die Handwerker etwas zahl-
reicher, dafür aber um ſo ungeſchickter und indolenter
ſind und viele halbbeſchäftigte Exiſtenzen in ſich bergen.
Da wird man, ſelbſt wenn man die mit der Gewerbe-
freiheit und den Fortſchritten der Technik ſich ergebende
ungleichere Vermögensvertheilung, das theilweiſe Ver-
ſchwinden eines Mittelſtandes tief beklagt, die ander-
weitigen Fortſchritte immer dagegen halten.
Uebrigens darf man den ganzen Einfluß der Ge-
werbegeſetzgebung nicht überſchätzen. Er beſchränkt ſich,
ſo wie unſere deutſchen Geſetze alle waren und gehand-
habt wurden, darauf, daß große durch andere Urſachen
hervorgerufene Bewegungen etwas verlangſamt oder
etwas verſtärkt wurden. Auch die Rheinprovinz hat
trotz der längſt beſtehenden Gewerbefreiheit noch immer
ein nicht unbedeutendes Handwerk; das Königreich
Sachſen hat trotz der Zunftgeſetze und Realberechtigungen
ſeinen Uebergang zur Großinduſtrie, da wo er angezeigt
war, vollzogen.
Alle bisher beſprochenen Urſachen treffen nicht in
das Herz der Sache; theilweiſe ſelbſt nicht einfacher
Natur, wirken ſie vollends unter ſehr verſchiedenen Ver-
hältniſſen ſehr verſchieden. Mehr und weniger wird
man freilich ſo von den meiſten Urſachen ſozialer und
volkswirthſchaftlicher Dinge urtheilen müſſen, wenn
man genauer zuſieht. Aber doch nur mehr oder
weniger. Es gibt durchgreifendere Urſachen mit ein-
fachern Wirkungen. Und eine ſolche, wie mir ſcheint
die wichtigſte in dieſer ganzen Frage, habe ich noch
hervorzuheben.
[316]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Ich erwähnte ſchon, wie wichtig die häuslichen
Sitten, die Art der Familienwirthſchaft ſei. Der
Stammescharakter und die wirtſchaftliche Geſchichte
eines Volkes ſind die allgemeinen Urſachen, von denen
dieſe Sitten abhängen. Spezieller aber läßt ſich
behaupten, daß die Geſammtheit dieſer Verhältniſſe
hauptſächlich wieder bedingt iſt von der Vermögens-
und Einkommensvertheilung einerſeits, der Vertheilung
der Bevölkerung in großen oder kleinen Städten, großen
oder kleinen Dörfern anderſeits.
Die Kleingewerbe ſind da am ſtärkſten, wo der
kleine Grundbeſitz und der kleine landwirtſchaftliche
Betrieb vorwaltet, wo zahlreiche große Dörfer ſtatt der
anſehnlichen Rittergüter mit wenigen Tagelöhnerhütten
ſind, wo viele kleinere und mittlere Städte ſtatt weniger
ganz großer Städte neben einem wenig bevölkerten platten
Lande exiſtiren. Ich glaube Lorenz Stein ſpricht es
einmal aus, — „die Vertheilung des Grundbeſitzes
gibt der ganzen Volkswirthſchaft ihre Signatur.“ Das
zeigt ſich gerade hier ſehr deutlich.
Wo der kleine Beſitz vorherrſcht, da ſteht ſich Arm
und Reich anders gegenüber, da bilden ſich Anſchauungen
und Sitten durch alle Schichten der Geſellſchaft hin-
durch, welche die Gegenſätze nicht ſo hervortreten laſſen.
Selbſt die höheren Klaſſen der Geſellſchaft, der Adel,
die hohen Beamten, die Offiziere ſtehen in ſolchen Ländern
mit ihren Gewohnheiten, Anſchauungen und Bedürf-
niſſen nicht ſo über der Maſſe des Mittelſtandes. Die
maßgebenden Perſonen in der Regierung wie in den
politiſchen Parteien ſtehen dem kleinen Mittelſtande
[317]Wohnſitze und Grundbeſitzvertheilung.
näher. Der Wohlhabende lebt in Süddeutſchland ein-
facher, der Aermere beſſer als in Norddeutſchland. Es
wiegt mehr ein mittleres Niveau von Bedürfniſſen und
Lebensanſchauungen vor. Und die Art der Bedürfniſſe;
die Art der Konſumtion beſtimmt, ob größere oder
kleinere Geſchäfte, ob der Handwerkermeiſter oder das
Magazin ſie befriedigen. Das Land der kleinen Leute,
des vorwiegenden Mittelſtandes gibt auch der kleinen
Induſtrie noch mehr Beſchäftigung.
Wo der bäuerliche Mittelſtand fehlt, fehlt der
übrige Mittelſtand leicht auch. Da ſind keine kleinen
Städte und Verkehrsmittelpunkte, da wird heute nur
noch im Großmagazin der Hauptſtadt — oder vom Hau-
ſirer gekauft. Und das iſt die weſentlichſte Urſache,
warum die öſtlichen preußiſchen Provinzen auf die gleiche
Bevölkerung nie die gleiche Zahl Handwerker wie in
Süd- und Mitteldeutſchland bekommen hätten, auch wenn
die Technik, die Arbeitstheilung dieſelbe geblieben wäre,
auch wenn der neue Verkehr nicht Alles geändert hätte.
Das iſt die weſentlichſte Urſache, warum ſie ſie jetzt noch
weniger bekommen werden, warum ſie, wie wir beim
Regierungsbezirk Poſen ſahen, ſeit 1846 einen ſolchen
Stillſtand ihrer Handwerkerzahl zeigen.
Nur mit ein paar ſtatiſtiſchen Zahlen will ich dieſe
Behauptung noch zu illuſtriren ſuchen. Die Durchſchnitts-
größe der einzelnen Grundbeſitzung iſt nach Hausner
in der Rheinprovinz, Württemberg, Baden, Naſſau,
Heſſendarmſtadt 3—5,3 Hektaren; in den Königreichen
Sachſen und Baiern, ſowie der Provinz Weſtfalen iſt der
durchſchnittliche Beſitz 6,3—7,4 Hektaren, in Preußiſch
[318]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Sachſen 9,8, Hannover und Schleſien 11,1, Branden-
burg, Poſen, Preußen, Pommern 21—28,5 Hektaren;1
das iſt, wenn man einige entgegengeſetzt wirkende Ur-
ſachen wegdenkt, in der Hauptſache dieſelbe Rang-
ordnung, welche ſich nach dem Prozentantheil der Hand-
werker an der Bevölkerung ergiebt.
Ueber die Größe der Dörfer in den einzelnen
preußiſchen Provinzen fehlen mir neuere Zahlen. Ich
muß daher auf einige ältere zurückgreifen, welche theil-
weiſe vielleicht nicht mehr ganz richtig, doch immer noch
ein ungefähres Bild der Sache geben. Im Jahre 18492
hatten von 36588 ländlichen Gemeinden in Preußen
8355 weniger als 100, nur 5292 hatten über 500
Seelen. In den Provinzen Preußen, Poſen und Pom-
mern kommen 20—30, am Rhein 60—70 Woh-
nungen auf ein Dorf. Genauere Zahlen gibt Haxt-
hauſen 1839.3 Nach ihm hatte ein Dorf durch-
ſchnittlich in den folgenden Regierungsbezirken Ein-
wohner: Königsberg 104, Danzig 108, Marienwerder
[319]Die Größe der Dörfer und Städte.
94, Poſen 134, Bromberg 196, Köslin 227, Stettin
293, Stralſund 262, Potsdam 321, Frankfurt 309,
Liegnitz 323, Oppeln 330, Magdeburg 351, Merſe-
burg 243, Erfurt 442. In Württemberg dagegen
hat ein Dorf nach Hausner1 gegenwärtig 857, in
Hannover 209 Einwohner. Es iſt klar, von wel-
cher Bedeutung das für das kleine Handwerk iſt;
ebenſo wie das Vorkommen vieler kleiner Städte,
die nachgewieſenermaßen den größten Handwerkerſtand
haben. Es kam, wieder nach Hausner,2 in Württem-
berg ſchon auf eine □ Meile eine Stadt (incl. der
Marktflecken), in Naſſau eine auf 1,25, in Heſſendarm-
ſtadt auf 1,3, in Thüringen auf 1,5, in Baden und
Sachſen auf 1,7, in Heſſen-Kaſſel auf 1,8, in Baiern
auf 2,35, in ganz Preußen auf 3,7, in Hannover auf
3,9 □ Meilen. Je größer die Zahl der Städte, deſto
kleiner ſind ſie. Die Reihenfolge entſpricht wieder un-
gefähr dem prozentualen Vorkommen des Handwerks.
Im Anſchluß hieran möchte ich noch auf zwei
Punkte aufmerkſam machen, die in gewiſſem Sinne nur
eine Wiederholung des eben Geſagten enthalten, da-
neben aber doch auch ſelbſtändige Geſichtspunkte zur
Erklärung beibringen.
Von der Art des Familienlebens, der Vertheilung
des Grundbeſitzes, der Art der menſchlichen Wohnſtätten
(freilich auch von manchem Andern), iſt das bedingt,
[320]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
was man im Allgemeinen den Volkscharakter nennt.
Jeder deutſche Stamm hat ſeine Eigenthümlichkeit; der
höfliche emſige Sachſe, der beſcheidene gutmüthige Thü-
ringer, der leichtlebige Rheinländer, der derbe Baier,
jeder hat ſeinen eigenen Charakter, hat Züge, die das
ganze wirthſchaftliche Leben der Provinz, der Gegend
influiren, die beſonders von Einfluß ſind auf die Art,
wie man die nächſtliegenden täglichen Bedürfniſſe befrie-
digt. Viel größere Unterſchiede aber als die eben erwähn-
ten bietet ganz Weſt- und Mittel-Deutſchland mit
ſeiner rein deutſchen Bevölkerung einerſeits und der Oſten
mit ſeinen ſlaviſchen, emigrirt-franzöſiſchen, auch ſtär-
keren jüdiſchen Beimiſchungen andererſeits. Schon im
Mittelalter war der Handwerker in den ehemals ſlaviſchen
Ländern ein Deutſcher. Zu einem geſunden ſtädtiſchen
Mittelſtande haben es die mehr ſlaviſchen, die polniſchen
Gegenden nie recht bringen können. Ob es mehr der
Verlauf der polniſchen Geſchichte mit ſich gebracht haben
mag oder der urſprüngliche Stammescharakter, die
großen Dörfer und die Städte ſind germaniſcher Ab-
kunft. In den kleinen Städten der Provinz Poſen da
bilden den wichtigſten Theil des Mittelſtandes die Juden.
Der Iſraelit beginnt mit dem Schnapsladen, er geht
dann zu einem Materialladen, zum Handel mit Landes-
produkten und mit allem Möglichen über, und wenn er
reich geworden iſt, zieht er nach Poſen oder gar nach
Berlin. Der dortige Mittelſtand überhaupt neigt mehr
zum Handel, als zum Handwerk. Es iſt charakteriſtiſch,
daß der deutſche Tagelöhner auf den großen Gütern
der Mark und Pommerns im Winter am Webſtuhl
[321]Der Volkscharakter und die Verwaltung.
ſitzt, alle mögliche Handwerksarbeit lernt und verrichtet,
während dazu der ſlaviſche Tagelöhner in Poſen nicht
zu brauchen iſt. Aus einem ſolchen Arbeiterſtand gehen
keine Handwerker in Dorf und Stadt hervor.
Der andere Punkt, den ich noch hervorheben möchte,
iſt folgender. In den Ländern des Kleinbeſitzes, der
gleichen Vermögensvertheilung, die freilich zugleich Klein-
ſtaaten ſind, hat ſich in Zuſammenhang mit den dor-
tigen ſozialen Sitten und Anſchauungen nicht die Geſetz-
gebung, aber die Verwaltung dem Handwerke gegenüber
anders geſtellt als in Preußen.
Man wird nicht behaupten können, daß man in
Preußen an ſich weniger thue oder gethan habe für In-
duſtrie und Verkehr; im Gegentheile; aber das wird
man ſagen dürfen, daß das, was geſchieht, an eine
andere Adreſſe geht. In den größern Verhältniſſen
macht ſich das Bedürfniß der kleinen Leute weniger
geltend. Große Fabrikanten und Unternehmer, große
Ingenieure und Spekulanten mit ihren ſpezifiſchen In-
tereſſen ſtehen in Berlin mehr im Vordergrund als in
den Regierungsſitzen der Kleinſtaaten, führen mehr das
Wort in den öffentlichen Verſammlungen, in den Ge-
werbekammern, im Parlament, in der Preſſe. Großes
hat Preußen im gewerblichen Bildungsweſen geleiſtet; das
Gewerbeinſtitut und die Bauakademie ſind Zeuge dafür;
Staatstechniker, die in Privatdienſte übertraten, haben
die großen Privatbergwerke und -Hüttenwerke weſent-
lich gehoben; die Seehandlung, die Bank haben tauſend-
fach da und dort eingegriffen, geholfen, Kredit gegeben;
Staatsgarantien haben dem Eiſenbahnbau Schwung ver-
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 21
[322]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
liehen. Alle dieſe Beſtrebungen kommen indirekt dem
Ganzen, direkt und zunächſt aber der großen Induſtrie,
dem großen Kapital zu Gute.
Was für die kleine Induſtrie geſchehen iſt, iſt unbe-
deutend;1 die wenigen Provinzialgewerbeſchulen erſtrecken
ihre Wirkung nur auf die Elite des höhern Hand-
werkerſtandes; der Zeichenunterricht, das niedere gewerb-
liche Schulweſen liegt bis in die neuere Zeit mit weni-
gen Ausnahmen ganz darnieder, iſt nur an denjenigen
Orten entwickelt, wo Privat-, Handwerkerbildungs- und
Gewerbevereine die Sache in die Hand nahmen.
Man blicke dem gegenüber auf das gewerbliche
Bildungsweſen Süddeutſchlands, auf das, was man
dort für die Kleingewerbe überhaupt thut. Ich will
von der Thätigkeit Badens und Baierns nach dieſer
Richtung nicht weiter ſprechen. Von Baiern wäre haupt-
ſächlich der wohlthätige Einfluß der ausgezeichneten
Nürnberger Kunſtgewerbeſchule zu erwähnen. Nur an
die mir am meiſten bekannte Thätigkeit der württem-
bergiſchen Zentralſtelle für Handel und Gewerbe2 will
[323]Die Förderung der Kleingewerbe in Württemberg.
ich erinnern. Sie hat unter ihrem tüchtigen Direktor
Steinbeis ſich vorzugsweiſe bemüht, in die Kreiſe des
eigentlichen Handwerks Anregung und Förderung zu
bringen. Sie hat neue lohnendere Induſtriezweige ein-
geführt, die beſtehenden Hausinduſtrien auf die kunſt-
volleren Branchen, die dem Handwerk bleiben, überge-
leitet, ſie hat tüchtige Gewerbetreibende im Auslande
lernen laſſen, fremde Gewerbetreibende zur Einführung
und Hebung einzelner Gewerbe ins Land gezogen. Sie
hat einen dauerden Fonds zu Reiſeunterſtützungen für
kleine Gewerbetreibende. Sie hat in jeder Weiſe den
Abſatz nach Außen zu fördern geſucht; ſie hat in dem ſtutt-
garter Muſterlager dem kleinen Manne, der nicht reiſen
kann, Gelegenheit geſchafft, alles Neue, Muſter, Ma-
ſchinen und Werkzeuge zu ſehen; ſie überläßt zeitweiſe neue
Maſchinen den Einzelnen zur Probe. Zwei Webſchulen
und verſchiedene Lehrwerkſtätten für Weber hat ſie in’s
Leben gerufen, ſie zahlt Prämien für Anſchaffung neuer
muſterhafter Webſtühle. In hunderte von Werkſtätten
kamen ſo im Laufe weniger Jahre verbeſſerte Werkzeuge
und Methoden. Auch literariſch ſucht ſie zu wirken
durch das billige tüchtig redigirte Gewerbeblatt, durch
Verbreitung leicht verſtändlicher techniſcher Schriften.
Das wichtigſte aber iſt das geſammte gewerbliche
Fortbildungsweſen, das die Lehrlinge und Geſellen all-
abendlich und des Sonntags wieder zur Schule ver-
ſammelt. Die Anregung ging auch von der Zentral-
ſtelle aus, die Gemeinden wirkten mit, indem ſie
einen Theil der Koſten übernahmen. Beſonders der
ertheilte Zeichen- und Modellirunterricht, der in den
21 *
[324]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
größern Schulen, wie in Stuttgart, getrennt für einzelne
Gewerbe, wie für Bauhandwerker, Schreiner, Schloſſer,
Sattler ertheilt wird, hat ſchon unendlichen Segen
geſtiftet. Mag der Unterricht einzelner norddeutſcher
Muſteranſtalten, wie der des Berliner Handwerkervereins,
dieſen Schulen kühn an die Seite treten, mögen da, wo
ſolche freiwillige Schulen ſich dauernd erhalten haben, die-
ſelben noch größern Segen ſtiften, wie jede rein auf
Selbſthülfe baſirte Einrichtung einen größern Werth hat,
— für alle kleinern Verhältniſſe reichen die freiwilligen
Lehrer, reichen zufällige Privatmittel und Anregungen
nicht aus.1 Der Unterricht bloßer Privatvereine iſt zu
oft ſchlecht, ungenügend, geht zu häufig wieder ganz
ein. Eine ſyſtematiſche Ordnung durch den Staat, ein
ſyſtematiſches Heranziehen der Gemeinden iſt nothwendig,
um Beſtand und Erfolg in dieſes gewerbliche Fortbil-
dungsweſen zu bringen, um es allgemeiner zu verbreiten.
Der große Vorzug der württembergiſchen Schulen iſt
eben ihre große Verbreitung. Von den 101 im Jahre
1864 ſchon beſtehenden gewerblichen Fortbildungsſchulen
[325]Das gewerbliche Bildungsweſen.
ſind 86 in Orten von weniger als 6000 Einwohnern;
die Schulfrequenz iſt eine außerordentliche.
Es bezeichnet den Gegenſatz zum Norden, daß man
jetzt endlich in Preußen anfängt, von Seiten des Kultus-
miniſteriums die großen Städte von gegen 50000 Ein-
wohnern aufzufordern, ähnliche Zeichenſchulen zu errichten,
daß der Staat ſich bereit erklärt, für dieſen Fall einen
Beitrag zu geben, daß das neu gegründete Berliner
Gewerbemuſeum daran denkt, nach Art des engliſchen
Kensington ‒ Muſeums ſeine Wirkſamkeit auch außer-
halb Berlins auszudehnen.
Es iſt dieſer Unterricht mit der wichtigſte Faktor,
das kleine Handwerk zu erhalten, es produktionsfähig
für den weiteren Abſatz zu machen, ihm Bildung, Kennt-
niſſe, Unternehmungsgeiſt zu geben. Denn die kleinen
Geſchäfte erhalten ſich für direkten Abſatz oder als Haus-
induſtrie organiſirt in allen den Branchen, in welchen
die perſönliche Arbeitskraft und Geſchicklichkeit, der künſt-
leriſche Geſchmack im Vordergrund ſteht, ohne daß doch
eine Maſſenproduktion möglich wäre, welche ſich des vom
großen Fabrikanten beſoldeten Künſtlers bedienen könnte.
Das Tiſchler-, das Drechsler-, das Klempner-, das Stein-
hauer-, Maurer- und Zimmergewerbe und noch viele
Andere haben als Kleingewerbe einen ganz andern Boden,
wo ein tüchtiger gewerblicher Unterricht exiſtirt.
Das gewerbliche Bildungsweſen iſt vielleicht noch
wichtiger als das ganze Aſſoziationsweſen; blühende Ge-
noſſenſchaften nützen doch zunächſt nur Einzelnen; das
gewerbliche Bildungsweſen wendet ſich an Alle.
[[326]]
3. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern
im Allgemeinen.
Die Stellung des Lehrlings und des Geſellen in alter Zeit;
Mißſtände ſchon damals. Die Gehülfenzahl im vorigen Jahr-
hundert. Die Zahl der preußiſchen Gehülfen von 1816—43.
Die Aufnahmen von 1846—61, das Gleichgewicht der
Meiſter- und Gehülfenzahl 1861. Der Fortſchritt, der in
der ſteigenden Gehülfenzahl liegt; daneben die immer geringere
Ausſicht für alle, ſelbſt Meiſter zu werden. Die Urſachen,
warum die Zunahme der Gehülfenzahl leicht die Bevölkerungs-
zunahme überſteigt, nicht im Verhältniß mit dem wirklichen
dauernden Bedürfniß der Volkswirthſchaft ſteht. Die Auf-
löſung der alten Handwerkszuſtände. Der Uebergang älterer
Geſellen zu anderen Berufen und die Auswanderung. Die
Nothwendigkeit eines verheiratheten Geſellenſtandes. Die Miß-
ſtände und Schwierigkeiten, welche aus dem Uebergang hiezu
entſtehen. Die Vernichtung der alten Rangordnung im Hand-
werk; die Nothwendigkeit der verſchiedenſten Arbeitskräfte
nebeneinander. Die Stellung des Lehrlings in Folge der
wegfallenden Prüfung und der ganz anderen Einrichtung der
heutigen Geſchäfte.
In dem Verhältniß des Meiſters und der Meiſters-
familie zu dem Geſellen und Lehrlinge liegt eigentlich
der halb poetiſche halb patriarchaliſche Duft, der
heute noch auf dem Handwerk der alten Zeit, wie eine
[327]Der Lehrling und Geſelle in alter Zeit.
ſchöne Erinnerung, liegt. Und es iſt wahr. In dem
Verbande der verſchiedenen wirthſchaftlichen Kräfte nicht
bloß zu Einer Arbeit, ſondern auch zu Einem Familien-
leben lag eine große ſittigende Kraft. Der Lehrling
wurde nicht bloß techniſch unterrichtet, er wurde durch
Anweiſung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarkeit vom
Meiſter erzogen, zu Sparſamkeit, Ordnung und Rein-
lichkeit vom ſorgenden Auge der Meiſterin angehalten.
Der Geſelle, der in der Werkſtatt des Meiſters arbeitete,
an ſeinem Tiſche aß und unter ſeinem Dache ſchlief,
war in einen für ſeine Jahre engen Kreis gebannt, er
opferte ſeine beſten Jahre der Hoffnung, ſpäter ſelbſt
Meiſter zu werden; aber in dieſem engen Kreiſe um-
ſchloß ihn zugleich eine heilſame bürgerliche Zucht und
Sittenſtrenge; eine Reihe ſinniger Gebräuche und Zere-
monien gliederten ſeinen Lebensgang, der in feſte Sta-
tionen gebannt war, aber auch ein ſicheres Ziel vor
ſich hatte, eine ſchöne einheitliche Ordnung darſtellte.
Die ſoziale Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, die
Verbindung von Arbeit und Erziehung, von techniſcher
und menſchlicher Erziehung, das waren die großen Vor-
züge jener ältern Gewerbeverfaſſung.
Freilich hafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch
ſo lange noch nicht die ſinnigen Bräuche in ein dem
graſſeſten Egoismus dienendes ſchwerfälliges Zeremoniell
ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißſtände an.
Das Ideal war niemals ein dauernd haltbares. Wo
die Bevölkerung wächſt, wo das Handwerk blüht, da
wächſt die Lehrlings- und Geſellenzahl, der überſchüſſige
Nachwuchs der Bevölkerung drängt ſich beſonders gerne
[328]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
in dieſe Bahnen; das blühende Handwerk ſelbſt braucht eine
größere Gehülfenzahl. Aber für dieſe ſteigende Gehülfen-
zahl wird die Zahl der Meiſterſtellen bald zu klein.
Die alte Ordnung läßt ſich nicht oder nur gewaltſam
aufrecht erhalten. Die zunehmende Bevölkerung zer-
ſprengt hier, wie in andern Verhältniſſen, immer wie-
der die beſtehenden volkswirthſchaftlichen Formen.
Die deutſche Zunftverfaſſung half ſich in ihrer
ſpätern Zeit damit, ſowohl die Lehrlings- als die Ge-
ſellenzahl zu beſchränken1 und das Meiſterwerden immer
mehr zu erſchweren. Das hatte wieder die Kehrſeite,
daß in dieſer ſpätern Epoche der Geſellenſtand als ſolcher
ſich zuſammenſchloß gegen die Meiſter, in ſyſtematiſche
Oppoſition und Feindſchaft zu dem Meiſterſtande kam.2
In Frankreich drängte die frühere induſtrielle Ent-
wickelung auch früher zu einem Verlaſſen der alten
Formen. Auf dem Höhepunkt der mittelalterlichen
Entwickelung im 13. Jahrhundert lebte in den größern
Städten wohl der Lehrling aber nicht der Geſelle im
Hauſe des Meiſters; die Zahl der zu haltenden
Lehrlinge war beſchränkt, die Zahl der Geſellen unbe-
ſchränkt; vielfach waren die Geſellen verheirathet und
ließen ihre Frauen mit arbeiten.3 Später, im 14 ten
[329]Die alten Mißſtände der Zunftverfaſſung.
und 15 ten Jahrhundert waren die Geſellen damit nicht
mehr zufrieden. Das erſchwerte Meiſterwerden führte
noch viel mehr als in Deutſchland zu einer ſelbſtändigen
gegen die Meiſter gerichten Organiſation, zu heftigen
Kämpfen und Mißbräuchen aller Art.1
Von der Zeit der ſtehenden Heere an beruhte die
Erhaltung der Zunftverfaſſung mit darauf, daß der große
Ueberſchuß alternder Geſellen, die nicht Meiſter werden
konnten, ſich anwerben ließ. Die ſtehenden Soldheere
des 17 ten und 18 ten Jahrhunderts beſtanden hauptſäch-
lich aus früheren Handwerksgeſellen.2 Erſt mit der
Konſkription und noch mehr mit der allgemeinen Wehr-
pflicht hörte das auf.
In wie weit freilich das vorige Jahrhundert dieſes
Abfluſſes noch bedurfte, um die Zunftverfaſſung in
alter Weiſe zu erhalten, darüber ließe ſich ſtreiten. In
der Hauptſache lagen jetzt die Dinge wieder total anders,
als zur Blüthezeit der mittelalterlichen Gewerbe. Das
Handwerk befand ſich mit wenigen Ausnahmen ja auf
ſo tiefem Standpunkt, daß es zahlreiche Lehrlinge und
Geſellen gar nicht beſchäftigte. Die ſtatiſtiſchen Zahlen
ſind in dieſer Beziehung geradezu erſchreckend. Sie
zeigen, wie wenig die Meiſter zu thun hatten, wie viel-
fach ſie ſelbſt nebenher auf Tagelohn gehen mußten,
um nur das ganze Jahr beſchäftigt zu ſein. Die Zahl
der Meiſterſtellen war ſeit langeher trotz der Zunftver-
[330]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
faſſung zu groß, die der Lehrlinge und Geſellen war zu
klein für einen halbwegs blühenden Geſchäftszuſtand.
Nach den im erſten Abſchnitt angeführten Hand-
werkerzahlen kamen 1783 in der Niedergrafſchaft Katzen-
ellnbogen auf 100 Meiſter durchſchnittlich 5,23 Gehülfen;
1784 auf 100 Meiſter im Herzogthum Magdeburg
15,84 Gehülfen, ungefähr zur ſelben Zeit im Fürſten-
thum Würzburg 15,81 Gehülfen; d. h. von 100 Meiſtern
hatten 95 reſp. 85 gar keine Gehülfen, weder Geſellen
noch Lehrlinge. Da ergab es ſich aus den Verhältniſſen
von ſelbſt, daß der Geſelle nicht verheirathet war. Und
wenn die Handwerksgewohnheit es erſchwerte, ſo war
ſie nicht im Widerſpruch mit den thatſächlichen Be-
dürfniſſen.1
In Preußen mag die Zahl der Gehülfen ſchon
1795—1803, der Zeit der Krug’ſchen Aufnahmen,
ziemlich höher geweſen ſein. Für einzelne Provinzen
führt Krug2 ſogar eine ſehr hohe Zahl von Geſellen
und Lehrlingen an, z. B. für Schleſien 60860, während
1861 erſt 102679 Geſellen und Lehrlinge gezählt
werden. Die Krug’ſche Zahl faßt ohne Zweifel alle
Spinner- und Webergehülfen mit in ſich, von welchen 1861
nur die erſtern in der Handwerkertabelle ſtehen. Ein all-
gemeiner Schluß läßt ſich jedenfalls aus den unvollſtän-
[331]Die Zahl der Gehülfen in Preußen 1783—1843.
digen Angaben von Krug nicht ziehen. Wohl aber geſtattet
Einzelnes eine Vergleichung. Er führt z. B. für das
Herzogthum Magdeburg 1802 ‒ 3135 Geſellen an;
1784 waren es nach den vorhin erwähnten Angaben
2297 Geſellen geweſen; alſo immerhin eine Zunahme,
aber keine große für die Zahl von etwa 27000 Meiſtern.
Feſtern Boden für die Unterſuchung bekommen wir
von 1816 ab durch die Zahlen der preußiſchen Gewerbe-
ſtatiſtik. Ich lege dabei die von mir im erſten Abſchnitte
berechneten Hauptzahlen zu Grunde, wobei freilich nicht
zu vergeſſen iſt, daß zunächſt nur die Aufnahmen von
1816—43 unter ſich vergleichbar ſind, und daß in
dieſem Zeitraum die Gehülfenzahl gleichmäßig etwas zu
niedrig erſcheint, weil bei einigen Gewerben die Gehül-
fen nicht mit aufgenommen wurden. Die Berechnung
ſtellt ſich nun dahin, daß auf 100 Meiſter im Durch-
ſchnitt der geſammten gezählten Handwerke in Preußen
kamen:
Wir haben es, wie ich darauf ſchon bei Beſprechung
der Grundzahlen aufmerkſam machte, mit zwei ziemlich
verſchiedenen Perioden zu thun; 1816—31 eine Zeit der
[332]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Stabilität; theilweiſe gedrückte, theilweiſe erſt langſam
ſich beſſernde Zuſtände; ſpäter eine Zeit des Fortſchritts,
der Blüthe. In der erſten Periode beträgt die Gehülfen-
zahl mit nicht allzugroßen Schwankungen etwas über
die Hälfte der Meiſterzahl. Es iſt das Verhältniß,
wobei jeder Gehülfe noch ſichere Ausſicht hat, bald
ſelbſt Meiſter zu werden, eine Ausſicht, die durch die
Gewerbefreiheit noch erhöht wurde. Jedem war ja jetzt
geſtattet, ſelbſt ein Geſchäft anzufangen. Und die tech-
niſchen Anforderungen waren noch ſo gering, daß die
kleinen Geſchäfte wohl noch beſtehen konnten.
Der Wechſel der Gehülfenzahl unter ſich in den
Jahren 1816—31 iſt darnach auch ſehr begreiflich.
Mehren ſich die Beſtellungen, die Geſchäfte etwas, ſo
nehmen die Meiſter zunächſt etwas mehr Lehrlinge an,
die bald zu Geſellen werden. Dauert das nur einige
Zeit, das Meiſterwerden iſt aber nach den Erforder-
niſſen, die an den Kapitalbeſitz, an die techniſche Fertig-
keit der Betreffenden vom Publikum geſtellt werden,
noch leicht, ſo wird der Wunſch aller ältern Geſellen,
ſelbſtändig zu werden, ſich geltend machen. Dadurch
muß bei der nächſten Aufnahme die Meiſterzahl wieder
etwas höher, die Gehülfenzahl wieder etwas niedriger
ſich ſtellen, wenn nicht unterdeſſen die Geſammtnachfrage
ſo geſtiegen iſt, daß die vom Geſellen zum Meiſter
Uebergehenden ſchon wieder mehr als erſetzt ſind durch
Neueintretende. So, glaube ich, haben wir den zwei-
maligen Anlauf zu einer etwas ſtärkeren Gehülfenzahl
1816 und 1825 zu erklären, der beidesmal wieder
einem Rückgang Platz macht.
[333]Der Wechſel in der Gehülfenzahl 1816—43.
Von 1834 an tritt dieſer Rückgang zunächſt nicht
mehr ein. Die Meiſter ſteigen langſam und gleich-
mäßig, viel ſtärker aber die Gehülfen. Sie, die 1828
noch 56 % der Meiſter ausgemacht, machen 1843 ſchon
76 % aus. In den guten Jahren 1833—40 hatten
die Meiſter den ſteigenden Bedürfniſſen dadurch genügt,
daß ſie eine größere Zahl Lehrlinge angenommen und
dieſelben ſpäter als Geſellen beſchäftigt hatten. Das
ergab blühende Zuſtände, gute Geſchäfte für die Meiſter,
ſo lange die neu dem Gewerbe Zutretenden jung waren,
noch nicht ſelbſt Meiſter werden wollten.
Als aber gegen 1840—43 die zahlreich ſeit 1828
Eingetretenen älter wurden, das dreißigſte Lebensjahr meiſt
hinter ſich hatten, da begann die kritiſche Zeit; entweder
mußte der Stand der Meiſter die großen Ueberſchüſſe
aufnehmen, oder man mußte zu einem Syſtem verhei-
ratheter Geſellen übergehen, oder es mußten Handwerks-
geſellen in größerer Zahl in Fabriken eintreten, zu an-
dern Berufsarten übergehen.
Die Mehrzahl der Geſellen war in den Städten,
hatte bisher da gearbeitet; ſie verſuchten eigene Geſchäfte
anzufangen; es wurde immer ſchwieriger, es war bei der
Umbildung der Technik immer mehr Kapital dazu nöthig.
Viele Bankerotte ſolcher Anfänger und Klagen, daß
das Handwerk überſetzt ſei, mußten nun nebeneinander vor-
kommen. Theilweiſe allerdings trat nun die Ueberſiedlung
älterer Geſellen auf das Land, nach kleinern Städten
ein. Aber immer fällt dem Geſellen, der in der Stadt
gelebt, die Rückkehr in das ſtille Dorf der Heimath
ſchwer. Jeder fängt nur da gerne ein ſelbſtändiges
[334]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Geſchäft an, wo er als Geſelle bekannt geworden iſt,
wo er ſich eingelebt hat.
Was nun die Zeit von 1846 an betrifft, ſo ſind
die Aufnahmen von 1846 ab etwas andere. Eine
Berechnung von Dieterici, die ſich auf den Vergleich
einer Anzahl Gewerbe nach dem Stande von 1822 und
1846 bezieht, ergiebt zwar, daß die Ausdehnung der
Aufnahmen von 1846 auf einige weitere Kategorien
von Gewerben das Verhältniß der Meiſter zu den Ge-
hülfen nicht allzuſehr berührt. Aber das macht jeden-
falls einen Unterſchied, der die ganz direkte Vergleichung
ausſchließt, daß von da ab für alle Gewerbe die Ge-
ſellen und Lehrlinge aufgenommen ſind. Wenn ſonach
1843 auf 100 Meiſter 76 Gehülfen kamen, 1846 aber
84, ſo iſt dieſe Zunahme in Wirklichkeit nicht ganz ſo
ſtark geweſen.
Das Umgekehrte gilt für den Vergleich von 1846
und 1849. In letzterm Jahre ſind eine Reihe von Ge-
werben hinzugekommen, die überwiegend mehr Meiſter
als Gehülfen haben; dadurch erſcheint das Verhältniß
der Gehülfen zu den Meiſtern als ein zu gedrücktes.
Nach der Totalaufnahme kamen 1849 auf 100
Meiſter 76,06 Gehülfen; darnach hätten die Gehülfen
von 1846—49 (auf je 100 Meiſter) von 84 auf 76
abgenommen. Nach einer nur die gleichen Kategorien
umfaſſenden Vergleichung Dieterici’s2 dagegen ſtellt ſich
das Verhältniß ſo; es kommen
1)
[335]Die Kriſis 1843—55, die Zunahme der Gehülfen bis 1861.
auf 100 Meiſter. Vier Gehülfen weniger auf 100
Meiſter deutet ſchon eine weſentliche Kriſis an. Er-
wägt man dabei, daß die ſchlimmſte Geſchäftsſtockung
im Dezember 1849 bei den Aufnahmen ſchon vorüber
war, daß der Rückgang wohl ausſchließlich durch ent-
laſſene Geſellen, nicht durch eine Minderzahl an Lehr-
lingen hervorgerufen war, daß einzelne Gewerbe, wie
z. B. die Nahrungsgewerbe 1849 ſogar mehr Geſellen
hatten, daß der Rückgang hauptſächlich die Kunſt-, Bau-,
Holz- und Metallgewerbe traf, — dann erſcheint die
oben näher beſprochene Kriſis klar genug in dieſen Zahlen.
Wenn der Durchſchnitt der Totalaufnahme von
1849 mit dem von 1846 nicht vergleichbar iſt, ſo iſt
er es doch mit den folgenden. Ich theile daher zunächſt
das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern von 1849
an, nach den früher mitgetheilten Grundzahlen berechnet,
mit. Es kamen auf 100 Meiſter in ganz Preußen nach
dem Durchſchnitt der ganzen Handwerkertabelle:
Die Aenderung von 1849—52 zeigt nur, daß
die früher ſchon vorhandene Zahl Gehülfen wieder Be-
ſchäftigung findet. Abgeſehen davon bleiben die Dinge
ziemlich ſtabil; auch von 1852—55 zeigt ſich keine
große Zunahme der Gehülfenzahl. Die ganze Zeit von
[336]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
1850—55 iſt eine für das Handwerk ſtabile, gedrückte,
und der Druck geht hauptſächlich hervor aus dem Ver-
hältniß der Zahl der Gehülfen zu dem der Meiſter.
Die Lage wird keine beſſere, weil man in der Hauptſache
noch zu keiner andern Organiſation der Geſchäfte über-
geht, weil die techniſchen Fortſchritte nicht Platz greifen;
die Zahl der Gehülfen nimmt nicht mehr bedeutend zu,
weil viele auswandern und in Fabriken eintreten, weil die
allgemeine Noth unter den Meiſtern doch manche jungen
Leute von dem Erlernen eines Handwerks abſchreckt.
Erſt mit der Mitte der fünfziger Jahre wird das
anders. Die techniſche Bildung und der Verkehr ſteigen;
alle Verhältniſſe werden andere. Auch im Handwerk
vollzieht ſich mehr und mehr die oben eingehender
beſprochene Revolution. Neue Kräfte ſtrömen zu, Lehr-
linge ſind wieder geſucht. Das Verhältniß der Ge-
hülfen zu den Meiſtern, das lange 80:100 geweſen
war, geht auf 104:100 im Jahre 1861 empor. Auch
wenn man die Maurer- und Zimmerflickarbeiter nicht
zu den Gehülfen, ſondern zu den Meiſtern rechnete, iſt
das Verhältniß 98,49: 100.
Unwiderleglich liegt in der großen Veränderung
ſeit 1830 der Beweis, daß auch das Handwerk, wenig-
ſtens ein Theil deſſelben, mehr und mehr zu etwas
größern Betrieben übergeht.
Ich will nun zunächſt abſichtlich davon abſehen,
daß der Landmeiſter wie der Meiſter in kleinern Städten
vielfach auch heute noch ohne Geſellen und Lehrlinge
arbeitet, daß die Gehülfenzahl in einigen Gewerben viel
größer iſt als in andern, ich will auch das außer Acht
[337]Das Gleichgewicht der Meiſter- und Gehülfenzahl.
laſſen, daß ſelbſt in großen Städten häufig nur wenige
Meiſter eine größere Zahl, die andern gar keine Gehülfen
haben, ich will zunächſt nur die allgemeine Frage noch
etwas eingehender erörtern, welche Folgen ſich aus der
Thatſache ergeben, daß die Gehülfenzahl die Meiſter-
zahl im Durchſchnitt erreicht hat.
Oft hat man darauf aufmerkſam gemacht, daß in
dieſer Veränderung ein Fortſchritt liege; man hat die
ſteigende Gehülfenzahl an ſich als einen Beweis geſunder
Handwerkszuſtände angeſehen.1 Man hat es als das
ſoziale und wirthſchaftliche Ideal hingeſtellt, daß jedes
Gewerk ungefähr eben ſo viele Lehrlinge und dreimal ſo
viele Geſellen als Meiſter habe. Ich ſelbſt habe mich
früher faſt unbedingt dahin ausgeſprochen, wenn ich
ſagte:2 „Sowohl in ſozialer als in techniſch ökonomiſcher
Beziehung liegt in der ſteigenden Gehülfenzahl ein unbe-
rechenbarer Fortſchritt. Die Veränderung, die wir vor
uns haben, iſt nicht eine Verminderung der ökonomiſch
geſunden ſelbſtändigen Handwerksmeiſter, ſondern ein
Wachsthum dieſer neben dem Verſchwinden der abſolut
unſelbſtändigen proletarierartigen kleinen Meiſter, welche
ohne Geſellen und Lehrlinge nur ein kümmerliches Da-
ſein friſten, und an deren Stelle mehr und mehr ſolche
Arbeiter treten, welche es vorziehen, ſtatt mit geringen
Mitteln ein eigenes Geſchäft zu eröffnen, bei Meiſtern,
welche ſie ununterbrochen beſchäftigen, als Geſellen zu
arbeiten. Nicht ein Verſchwinden des bürgerlichen
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 22
[338]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Mittelſtandes, wie man ſchon gemeint hat, erkennen
wir in dieſen Reſultaten, ſondern gerade die Bildung
einer geſunden ökonomiſchen Mittelklaſſe.“
Sicher iſt daran viel Richtiges. Es iſt beſonders
in den größern Städten eine neue Art bürgerlichen
Mittelſtandes in den letzten Jahrzehnten groß geworden,
die über dem früheren Meiſter ſtehend dem größern
Unternehmer ſich nähern, mehrere, ja viele Geſellen oder
Arbeiter beſchäftigen, großentheils perſönlich durch Fleiß
und Thatkraft ſich auszeichnen, techniſch alle Fortſchritte
der Neuzeit verfolgen.
Wenn wir das aber einerſeits freudig begrüßen,
wenn wir zugeben, daß dieſe Entwickelung eine in
gewiſſem Sinne nothwendige iſt, ſo dürfen wir anderer-
ſeits nicht vergeſſen, daß das eine Kehrſeite hat, welche
wenigſtens zunächſt für die Geſellen und Lehrlinge
traurig iſt. Es vermindert ſich für ſie die Möglichkeit,
je ſelbſtändig zu werden, immer mehr. Ich habe darauf
ſchon hingedeutet, ich muß dabei noch etwas verweilen.
Es iſt ein einfaches Rechenexempel, um das es ſich
handelt, auf das I. G. Hoffmann1 zuerſt aufmerk-
ſam machte. „Der einzelne Menſch“ — ſagt er —
„welcher vom 14. Jahre ab 16 Jahre lang als Lehrling
und Geſelle dient, will doch mit dem 30. Jahre endlich
einen eigenen Hausſtand anfangen, um nun 30—40
Jahre lang als Meiſter zu leben. Er iſt alſo wenig-
ſtens doppelt ſo lange Meiſter, als er vormals Gehülfe
war, und es wird demnach nur halb ſo viel Gehülfen,
[339]Licht- und Schattenſeiten der großen Gehülfenzahl.
als es überhaupt Meiſter giebt, wirklich die Ausſicht
auf die Meiſterſtelle eröffnet werden können.“ Wenn
man die Rechnung nur auf die Lehrlinge beſchränkt, ſo
wird ſie noch klarer. „Ein Meiſter“ — ſagt Hoffmann
an anderer Stelle1 — „unterhalte nur einen Lehrling
gleichzeitig, ſo wird er doch von ſeinem dreißigſten bis
zu ſeinem ſechzigſten Lebensjahre bei vierjähriger Lehrzeit
ſieben auslernen können, wovon endlich doch nur einer
ihn dereinſt als Meiſter erſetzen kann. Rechnet man
auch darauf, daß während eines Zeitraums von dreißig
Jahren die Bevölkerung ungefähr um fünfzig auf hun-
dert wächſt, daß alſo in demſelben Verhältniſſe auch
ſtatt zwei jetzigen Meiſtern nach dreißig Jahren drei
zur Befriedigung der Bedürfniſſe des Volkes nöthig ſein
werden, und daß auch in den Geſellenjahren einige zum
Handwerke Angelernte ſterben, ſo wird man doch immer
für Fünfe von jenen Sieben keine Ausſicht auf anſtän-
digen Erwerb als Meiſter eröffnen können. In die-
ſem ſelten klar genug erkannten Verhältniſſe liegt die
Unhaltbarkeit der Zunftverfaſſung und der ſeit Jahr-
hunderten fortdauernden Beſchwerden über unverbeſſer-
liche Mißbräuche der zünftigen Handwerker.“
Je nachdem man eine Zunahme der Meiſter für
möglich oder wahrſcheinlich hält, je nachdem man
die mittlere Lebensdauer der Meiſter ſetzt und eine
Sterblichkeit unter den Lehrlingen und Geſellen annimmt,
wird die Rechnung etwas anders, aber in der Haupt-
ſache bleibt die Frage dieſelbe.
22 *
[340]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Der Verfaſſer der Unterſuchungen über ſächſiſche
Handwerkerſtatiſtik in der Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſti-
ſchen Büreaus hat den Hoffmann’ſchen Gedanken etwas
genauer ausgeführt und kommt da zu folgendem Reſul-
tat. „Nimmt man“ — ſagt er — „an, daß im Mittel
der Handwerker nicht vor dem dreißigſten Jahre Meiſter
wird, und daß die mittlere Lebensdauer des Handwerks-
meiſters 55 Jahre ſei (ſtatt 60—70, wie Hoffmann),
ſo iſt in jedem Jahre nur der 25 ſte Theil der Meiſter
zu ergänzen, um die abſolute Zahl zu erhalten. Neh-
men wir aber, da auch ein Zuwachs der Bevölkerung
zu beachten iſt, und mancher Meiſter aus andern
Gründen in Abgang kommt, den zwanzigſten Theil an.
Iſt ferner die durchſchnittliche Lehrzeit 4 Jahre und
wird auch die Sterblichkeit zwiſchen dem 14 ten und
30 ſten Lebenjahre beachtet, ſo kann die Zahl der Lehr-
linge in einem Gewerbe, welche herangebildet werden
muß, um den Perſonalbeſtand im Verhältniß zur Be-
völkerung auf gleicher Höhe zu erhalten, nur zwiſchen
¼ und höchſtens ⅓ der Meiſterzahl betragen; d. h. nur
je der dritte oder vierte Meiſter darf einen Lehrling
halten, wenn nicht ein Ueberſchuß herangebildet werden
ſoll, der keine Ausſicht auf Selbſtändigkeit hat. Die
mittlere Geſellenzeit nehmen wir hoch zu 12 Jahren
an. Die Zahl der Geſellen wird alſo unter gleicher
Vorausſetzung zur Erhaltung des Gleichgewichts nur
¾—\frac{4}{4} der Meiſter betragen, die Summe der Geſellen
und Lehrlinge ſich alſo zu den Meiſtern zwiſchen 1:1
und 1,33 : 1 verhalten dürfen. Bei Gewerben mit
kurzer Lehrzeit wird dieſes Verhältniß kleiner, bei langer
[341]Die ſinkende Möglichkeit des Meiſterwerdens.
Lehrzeit größer werden, und einen ähnlichen Einfluß
müßte eine etwaige Verſchiedenheit der mittleren Lebens-
dauer der Meiſter äußern. Gewerbe, bei denen dieſe
Normalverhältniſſe nicht erreicht werden, gehen entweder
zurück oder rekrutiren ſich vorzugsweiſe aus dem Aus-
lande; Gewerbe dagegen, welche ein größeres Verhältniß
darbieten, ſind entweder in der Vermehrung begriffen
oder überhaupt nicht geeignet, allen Geſellen Ausſicht
auf Selbſtändigkeit zu gewähren.“
Die hier angenommene Sterblichkeit wird ungefähr
den realen Verhältniſſen entſprechen. Soweit exakte
Unterſuchungen über Sterblichkeit dieſer Berufsklaſſen
vorliegen, beſtätigen ſie ungefähr die hier ange-
nommenen Zahlen. Es ſind die bekannten von
Neufville, Engel und Neumann.1 Näher auf ſie
einzugehen, iſt hier nicht der Ort. Nur ein paar
Worte ſind zu bemerken. Die beiden letzten Unter-
ſuchungen beſchäftigen ſich mit den Meiſtern und Ge-
hülfen zuſammen, mit den 15—70 jährigen; wenn
Engel alſo für die verſchiedenen hauptſächlichen Hand-
werke ein Durchſchnittsalter von 33—48 Jahre berech-
net, ſo widerſpricht das der obigen Annahme nicht;
[342]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
denn ſie geht nur dahin, daß der 30 Jahre alt Gewor-
dene durchſchnittlich das 55 ſte Jahr erreiche, nicht daß
die Geſammtheit der 15—70 jährigen durchſchnittlich
55 Jahre erlebe. Die Unterſuchung von Neufville
beſchränkt ſich nun aber auf ſolche, die ſchon Meiſter
geworden ſind, und da ſchwankt das Durchſchnittsalter
eben um dieſe Grenze; es betrug für die Bäcker 51,5,
die Bildhauer 43,8, die Brauer 50,5, die Fiſcher 55,7,
die Gärtner 56,8, die Gerber 56,8, die Kürſchner 56,6,
die Maler 47,5, die Maurer 48,7, die Schlächter 56,8,
die Schmiede 46,3, die Schneider 45,3, die Schuh-
macher 47,3, die Tiſchler 46,3, die Zimmerleute 49,2
Jahre. Der Durchſchnitt würde wohl etwas, aber nicht
ſehr viel unter 55 Jahren ſein.
Nimmt man hiernach die Möglichkeit, Meiſter zu
werden, auch noch für etwas mehr Lehrlinge und Geſellen
an, als das ſächſiſche ſtatiſtiſche Büreau es thut, im
Ganzen bleibt das Verhältniß daſſelbe. Von der Zeit
an, in welcher die Gehülfenzahl die Meiſterzahl weſent-
lich überſchreitet, hört die Möglichkeit, Meiſter zu
werden, je ein ſelbſtändiges Geſchäft anzufangen, für
eine Anzahl von Gehülfen auf. Selbſt abgeſehen von
der Umbildung der Technik und der Arbeitstheilung,
von den Einflüſſen des Verkehrs und des Kapitals,
liegt in dieſem Zahlenverhältniß an ſich die voll-
ſtändige und nothwendige Auflöſung der alten hand-
werksmäßigen Zuſtände. Das Hinzukommen dieſer
erwähnten Einflüſſe verſtärkt aber die Auflöſung. Täg-
lich wird es wegen ihrer ſchwerer, ein eigenes Ge-
ſchäft anzufangen Die Zahl der preußiſchen Meiſter
[343]Die Urſachen des Zudrangs zum Handwerk.
iſt 1861 noch nicht wieder ſo hoch wie 1849, trotzdem
daß 1861 wahrſcheinlich unter den Meiſtern ſehr viele
mehr gezählt ſind, die keine ſelbſtändigen Unternehmungen
mehr haben, als 1849.
Ehe ich von den Folgen dieſer allgemeinen Auf-
löſung der alten Handwerkszuſtände ſpreche, will ich noch
bemerken, daß der Zudrang zum Handwerk, der zunächſt
die Gehülfenzahl ſteigen läßt, nicht nothwendig ein den
wirklichen dauernden wirthſchaftlichen Bedürfniſſen, ſei
es des alten oder des neuen Handwerks, entſprechender
iſt. Mit raſch wachſender Bevölkerung kommt leicht ein
Zufluß, der ſeine Urſache nicht in dem dauernden Bedürf-
niß der Gewerbe hat, ſondern in andern. Umſtänden
pſychologiſcher und moraliſcher Natur, ſowie vorüber-
gehender wirthſchaftlicher Art.
Man hat in Bezug auf eine ſtarke Zunahme der
Bevölkerung kurz nach einander gleich extremen und un-
richtigen Theorien gehuldigt. Man hat, angeſteckt vom
erſten Schrecken der Malthus’ſchen Theorie, eine Zeit
lang jede Zunahme für ſchlimm und unheilvoll gehalten,
man hat dann wieder in optimiſtiſcher Uebertreibung der
wirtſchaftlichen Fortſchritte unſerer Zeit jede Zunahme
an ſich als ein Glück geprieſen. Sie iſt es, aber nur
in gewiſſem Sinne. Alle höhern Güter der Kultur ſind
nur erreichbar in dichtbevölkerten Gegenden. Aber jede
ſtarke Bevölkerungszunahme ſetzt Fortſchritte, Aende-
rungen in der ganzen Volkswirthſchaft voraus, muß in
der Regel verbunden ſein mit einer ganz anderen Orga-
niſation aller Geſchäfte, aller Verkehrsverhältniſſe, mit
einer andern lokalen Vertheilung der Bevölkerung, mit
[344]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
einer andern Vertheilung derſelben nach Berufszweigen.
Das ſetzt ſich langſam durch, will erkämpft ſein, braucht
Jahre und Jahrzehnte. Die heranwachſenden Gene-
rationen ergreifen ſelten ſogleich und in richtigem Ver-
hältniß die Bahnen, in denen der Ueberſchuß ſpäter
definitiv Platz findet. Die Bodenvertheilung ändert ſich
meiſt ſchwer, die Landwirthſchaft ſendet zunächſt ihre
jüngern Söhne den Gewerben zu. Je tiefer ein Ge-
werbe ſteht, je leichter es zu erlernen iſt, je weniger es
Kapital erfordert, deſto größer leicht der Zudrang ohne
Rückſicht auf das Bedürfniß.
In den Kreiſen, um die es ſich da vorzugsweiſe
handelt, wird der 14 jährige Junge, der aus der Schule
entlaſſen iſt, durchaus nicht immer mit klarer Erkenntniß
für einen der Berufe beſtimmt, in denen im Augen-
blicke die größte Nachfrage iſt. Das häufige traditionelle
Feſthalten am Gewerbe des Vaters iſt noch nicht das
ſchlimmſte; Zufall, Rückſicht auf die geringſten Koſten,
auf die größte Bequemlichkeit für die Eltern und ähnliche
Motive wirken theilweiſe noch ſchlimmer. Die alther-
gebrachte Ueberſetzung einzelner Gewerbe, die heutzutage
meiſt doppelt ſich geltend macht, hängt damit zu-
ſammen.
Trifft in dieſer Beziehung die Väter der betreffen-
den Kinder oder vielmehr die Unkenntniß dieſer Kreiſe
in derartigen Fragen die Schuld, ſo wirken von der
andern Seite zeitweiſe auch die Meiſter und Arbeitgeber
auf partiellen und zeitweiſen zu großen Andrang. Wenn
mit den ſtark wechſelnden Konjunkturen des heutigen
Marktes die Geſchäfte zeitweilig wachſen, ſo ſuchen ſich
[345]Die Berufswahl des Lehrlings.
die Betreffenden häufig, weil es zunächſt das Billigſte iſt,
durch Annahme weiterer Lehrlinge zu helfen, ohne Rück-
ſicht auf die dauernde Bedürfnißfrage.1 Es giebt zeit-
weiſe Gewerbszweige, in welchen in Folge hiervon die
Lehrlingszahl die Geſellenzahl erreicht, während bei vier-
jähriger Lehr- und zwölfjähriger Geſellenzeit die Zahl
der Lehrlinge doch immer höchſtens ⅓ der Geſellen
ausmachen ſollte. Daraus erklärt ſich, daß die frühere
Beſchränkung der Lehrlingszahl nicht ſo ganz ſinnlos
war, wie man oft meinte. Noch neueſtens ſpricht ſich
Richard Härtel2 in Beziehung auf die Buchdruckerei
aufs Entſchiedenſte dahin aus, daß auf die Dauer ein
ordentlicher Stand von Buchdruckergehülfen und -Arbei-
tern nur dann ſich erhalten laſſe, wenn die Druckerei-
beſitzer der Verſuchung einer zu ſtarken Anwendung ſoge-
nannter Lehrlinge, d. h. unerwachſener Arbeiter wider-
ſtünden, wenn ſie der alten Geſchäftsſitte treu bleiben,
auf drei Gehülfen einen, auf neun Gehülfen erſt zwei
Lehrlinge zu halten.
Welches aber auch die Urſachen der anſchwellenden
Gehülfen- und Lehrlingszahl im Einzelnen ſein mögen,
ſo viel iſt ſicher, die alten Handwerkszuſtände müſſen
[346]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
ſich damit auflöſen; d. h. es muß einerſeits eine Anzahl
gelernter Geſellen ſpäter wieder zu andern Berufen
übergehen, es muß andererſeits ein verheiratheter Geſellen-
ſtand ſich bilden, die ganzen Rangverhältniſſe im Hand-
werk müſſen andere werden.
Oefter wurde es ſchon erwähnt, wie viele Geſellen
heute in eigentliche Fabriken eintreten; das war ihnen
auch nach der Verordnung vom 9. Februar 1849 nicht
verboten. Selbſt für Arbeiten, die nicht einen gelernten
Handwerker gerade dieſer Art erfordern, nehmen viele
Fabrikanten gerne Geſellen; ſie ſind geſchickter, haben
mehr gelernt und geſehen, als einfache Fabrikarbeiter.
Aber das reicht nicht aus, den Ueberſchuß aufzu-
nehmen. In den verſchiedenſten anderweitigen Berufen
finden wir frühere gelernte Handwerksgeſellen. Mag es
an Zahl verſchwinden, daß auf den Brettern, die die
Welt bedeuten, ſo manche Schneider- und andere Ge-
ſellen eine Zuflucht gefunden, daß der Stiefelputzer der
deutſchen Univerſitätsſtädte faſt ausſchließlich ein alter Ge-
ſelle iſt, der nicht Meiſter werden konnte, daß die vielen
Diener von Muſeen, Leſegeſellſchaften, Vereinen, haupt-
ſächlich aus verunglückten Meiſtern und Geſellen beſtehen;
ſchon nach Hunderten und Tauſenden zählen andere
Zufluchtsorte ihre aus dem Handwerkerſtand rekrutirten
Mitglieder. Höckerei und Schankwirthſchaft ſind da in
erſter Linie zu nennen. Die zahlloſen Dienſtmänner, die
in jeder größern Stadt jetzt ſich anbieten, habe ich bei
vielfacher perſönlicher Frage faſt immer als gelernte
Handwerksgeſellen erkannt, denen es mißlungen iſt, ein
eigenes Geſchäft zu begründen, und die doch nicht zeit-
[347]Die Schickſale alternder Geſellen.
lebens Geſellen bleiben wollten. Die Hunderte und
Tauſende von preußiſchen Zivilverſorgungsberechtigten,
die durch längere Militärzeit ſich einen Anſpruch auf
eine ſubalterne Anſtellung im Staats-, Gemeinde- oder
Eiſenbahndienſt erwerben, haben zu einem großen Theil
früher dem Handwerk angehört. Vor Allem aber ſind
die ältern Geſellen und Meiſter, die nicht vorwärts
kommen, unter den Auswanderern vertreten. Zur
Zeit der ſtärkſten Auswanderung gegen 1854 wanderten
jährlich etwa 250000 Perſonen1 aus Deutſchland aus,
ein ſehr großer Theil hiervon gehörte dem Handwerker-
ſtande an.2 Und noch jetzt zeigt jeder Ausweis über den
Beruf von Auswandern daſſelbe. Im Jahre 1866
kamen z. B. in Württemberg3 auf 1275 einwandernde
6995 auswandernde Perſonen; von letztern ſind 3576
erwachſene Perſonen männlichen Geſchlechts; und von
ihnen wieder fällt weitaus der Haupttheil auf das
Handwerk, nämlich 2110 Perſonen; der Reſt theilt ſich
in 24 Fabrikarbeiter, 153 Tagelöhner, 694 Bauern,
[348]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
353 Handelsleute und etliche andere Kategorien von
geringer Bedeutung. Die einzelnen Haupthandwerke
zeigen Poſten von nicht unbedeutendem Umfang. Es
ſind verzeichnet 232 Schmiede und Schloſſer, 193 Tiſchler,
176 Maurer, 95 Zimmerleute, 197 Schuhmacher,
150 Weber, 110 Schneider, 151 Bäcker, 134 Metzger,
85 Bierbrauer, 96 Drechsler und Wagner, 78 Gerber,
62 Küfer, 53 Mechaniker, 50 Gießer, 42 Goldarbeiter.
Die andern Gewerbe ſind etwas geringer vertreten.
Und trotz aller dieſer Abflüſſe der verſchiedenſten
Art bleibt die Zahl 27—36 jähriger Geſellen, die
ſelbſtändig werden möchten, doch noch immer ſo groß,
daß jede Erleichterung der Geſetzgebung im Sinne der
Gewerbefreiheit und der Niederlaſſungsmöglichkeit den
Anſtoß zu zahlreichen Verſuchen ſelbſtändiger kleiner Ge-
ſchäfte gibt, aus denen einzelne tüchtige Leute ſich empor
arbeiten, von denen die Mehrzahl aber wieder eingeht.
Zu einem verheiratheten Geſellenſtande überzugehen,
hatte ſchon Hoffmann1 1841 als das Hauptmittel em-
pfohlen, um die Mißbräuche und Mißſtände des Zunft-
weſens, die Erſchwerung des Meiſterwerdens, die Wander-
pflicht und ähnliches zu beſeitigen. In Gewerben mit
größerer Geſellenzahl, wie in den Baugewerben, iſt das
auch längſt der Fall; Lohn- und Kontraktsverhältniſſe
haben ſich da ſo geordnet, daß ſie einem verheiratheten
Geſellenſtand entſprechen.
In andern Gewerben fängt das erſt an und iſt
zunächſt mit mancherlei Schwierigkeiten und Uebeln ver-
[349]Ein Stand verheiratheter Geſellen.
bunden. Das alte Verhältniß, den Lehrling und die
Geſellen im Hauſe zu haben, wird verlaſſen, nicht aus
der theoretiſchen Einſicht heraus, daß man zur reinen
Geldwirthſchaft übergehen, daß man nach der heutigen
Gehülfenzahl einen verheiratheten Geſellenſtand erhalten
müſſe, ſondern weil es zunächſt bequemer oder ſchein-
bar billiger iſt, weil die Stück- und Akkordarbeit das
Zuſammenſein überhaupt, ſelbſt während der Arbeit
überflüſſig macht. Der Meiſter, der in guter Verkehrs-
lage miethet, hat nicht Raum, die Leute zu beher-
bergen, oftmals nicht Raum zum Arbeiten in ſeinem
Lokale. Er ſpart, wenn er die Leute zu Hauſe arbeiten
läßt, Licht und Heizung, oft auch das Handwerkszeug.
Der Geſelle hat zu Hauſe ohnedieß ein geheiztes Kämmer-
chen, beſonders wenn er verheirathet iſt; Frau und
Kinder können mithelfen. Es iſt dieß unvermeidlich,
hat auch ſeine guten Seiten, aber vorerſt hört man
darüber Klagen aller Art, wie z. B. Regierungsrath
Mülman1 in ſeinem Bericht über die rheiniſchen Ver-
hältniſſe hauptſächlich die Schattenſeiten betont. „Die
alte patriarchaliſche Sitte“ — ſagt er — „die Gewerbs-
gehülfen als zum Hausſtande des Meiſters gehörig zu
betrachten, herrſcht faſt nirgendwo mehr, vielmehr wird
der Lohn nur in baarem Gelde gegeben. Die Geſellen
ſtehen ſich hierbei nicht beſſer, da ſie für Koſt und
Wohnung überall mehr ausgeben müſſen, als ihnen der
Meiſter anrechnen konnte. Aber das Streben nach un-
[350]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
abhängigem Leben läßt ſie dieſe Vertheuerung überſehen.
Noch mehr entfernt das immer mehr und leider oft in
hierzu ſehr ungeeigneten Arbeitsverhältniſſen einreißende
Akkordarbeiten die Geſellen von dem Meiſter, indem es
ſie auch hinſichtlich der Arbeitszeit unabhängig macht.
Im Allgemeinen iſt durch dieſe Geſtaltung der Verhält-
niſſe der Meiſterſtand in ſehr übler Lage wegen ſeines
Hülfsperſonals, denn er hat weit größere Intereſſen zu
vertreten, als der mit ſeiner Arbeitskraft leicht wieder
unterkommende Geſelle. Es iſt hierdurch ſo weit gekom-
men, daß in manchen Handwerken viel mehr die Furcht
vor Mangel an treu aushaltendem Perſonale, als vor
Mangel an Kundſchaft von Erweiterung des Geſchäfts
abhält, und daß im Allgemeinen die Meiſter die freie
und geſicherte Stellung der Geſellen beneiden, weshalb
denn auch eine verhältnißmäßig große Zahl von Geſellen
in zwar beſcheidenen, aber geſicherten Verhältniſſen einen
ehelichen Hausſtand führt.“
Es iſt zuzugeben, daß nicht bloß ältere verheirathete
Leute, ſondern ebenſo junge kaum 18—25 jährige,
denen eine gewiſſe Zucht und Aufſicht ſehr heilſam wäre,
dadurch ſelbſtändig werden, dadurch Gefahren aller Art
ausgeſetzt ſind, körperlich, moraliſch und geiſtig zu
Grunde gehen. Dem Verhältniß zu ihrem Meiſter
fehlen die früheren Bande, die aus dem Zuſammenſein
am häuslichen Heerde entſprangen. Die Lohnfrage muß
überdieß Meiſter und Geſellen mehr als je entzweien.
Die früheren Geſellenlöhne waren relativ ſehr niedrig;
der Geſelle wurde früher neben Geld und Verpflegung
gleichſam mit der ſichern Ausſicht bezahlt, Meiſter zu
[351]Die reine Geldablohnung der Gehülfen.
werden und da von ſeinen Geſellen den Vortheil zu
haben, den er jetzt ſeinem Meiſter bot. Dieſe Ausſicht
iſt verſchwunden, darum ſchon muß der Lohn höher
ſein. Außerdem muß die Naturalverpflegung erſetzt werden.
Die Löhne müſſen noch mehr ſteigen, je mehr die Ge-
ſellen verheirathet ſind, je mehr ſie in Fabriken Gelegen-
heit haben, als geſchickte, techniſch gebildete Arbeiter ſo
viel zu verdienen, daß ſie leicht eine Familie ernähren
können.1
Alles das will der ehrbare alte Meiſter, der ſeine
Anſchauungen aus einer andern Zeit mitgebracht hat,
nicht ſehen, nicht anerkennen. Und darum ſteht er viel-
fach auf Kriegsfuß mit ſeinen Arbeitern. Dem Meiſter
an Bildung gleichſtehend, empfinden die ältern Geſellen
den drückenden Unterſchied zwiſchen Unternehmer und
Arbeiter doppelt. Viele unter ihnen haben vergeblich
verſucht, ein eigenes Geſchäft anzufangen. Oft ſind das
mit die geſchickteſten, begabteſten, die in dem Bewußt-
ſein ihrer Talente nicht begreifen wollen, daß fehlende
moraliſche und Charaktereigenſchaften ſie in dem Ver-
ſuche einer eigenen Unternehmung ſcheitern laſſen mußten.
Sie ſind heute mit die unzufriedenſten Elemente der
[352]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Geſellſchaft. Aus ihnen vor Allem rekrutirt ſich die
ſozialdemokratiſche Partei.
Theilweiſe liegt die gegenſeitige Unzufriedenheit an
der Neuheit des ganzen Verhältniſſes. Soweit in der
neuen Art des Lebens der Gehülfen wirkliche Gefahren
liegen, beſonders für jüngere Leute, ſo weit müſſen
eben alle die übrigen Mittel geiſtiger und moraliſcher
Hebung ſtärker herangezogen werden. Volksſchule und
Kirche, Vereinsleben und genoſſenſchaftliche Ehre, vor
Allem ein richtiges geordnetes gewerbliches Bildungs-
weſen müſſen erſetzen, was an moraliſcher Wirkung
neben allen Mißbräuchen mit dem alten Lehrlings- und
Geſellenverhältniß gegeben war. Dann werden die
Klagen über Zunahme wilder Ehen, über Sittenloſigkeit,
über Zunahme des Luxus ohne Zunahme der Sparſam-
keit, die Klagen über leichtſinnige und zu frühe Ehen
in dieſen Kreiſen — Klagen, mit denen man gegen-
über den untern Klaſſen ohnedieß zu leicht bei der
Hand iſt — nicht mehr zunehmen; dann werden ſich
bei den verheiratheten Geſellen die möglichen ſegensvollen
Wirkungen der Ehe, Sparſamkeit, Fleiß und An-
ſtrengung, mehr und mehr einſtellen. Sie ſtehen dann
den kleinen Meiſtern, die für Magazine oder andere
Meiſter arbeiten, gleich; ſie ſtehen immer noch weſentlich
über dem Fabrikarbeiter, können bei Geſchicklichkeit und
Sparſamkeit immer ſelbſt in die Reihe der Unternehmer
eintreten, ſei es allein, ſei es im Wege der Aſſoziation.
Die alte Rangordnung im Handwerk, der feſte
Stufengang iſt allerdings damit unwiederbringlich ver-
nichtet, wie ſie zugleich durch die neuere Technik, durch die
[353]Die Auflöſung der alten Handwerkszuſtände.
verſchiedenen Arbeitskräfte, die man heute nebeneinander
in einem Geſchäfte braucht, unhaltbar geworden ſind.
Für leichtere Arbeit verwendet man jetzt vielfach Frauen-
hände, für gemeine Arbeit Tagelöhner. Letztere auch im
Handwerk anzuwenden iſt ganz paſſend, ermäßigt die Zahl
derer, die Meiſter werden wollen, vermeidet Vergeudung
höherer Kräfte zu niederer Arbeit. Das hat ja auch die
Verordnung von 1849 zugelaſſen. Sie wollte aber hin-
dern, daß der gelernte Tiſchlergeſelle bei einem Zimmer-
meiſter arbeite, ſie wollte alle Meiſter zwingen ſich nicht
an Geſellen, ſondern an Meiſter der andern Gewerbe zu
wenden, wenn ſie deren Hülfe brauchten. Es war ein
lächerlicher Verſuch, den Lauf der Dinge zu feſſeln, es war
überdieß ein erbärmlicher unmoraliſcher Verſuch, weil man
dem Fabrikanten erlaubte, was man dem Meiſter verbot.
Mit der andern Technik, mit der veränderten Ab-
grenzung der Geſchäfte gegeneinander, mit der größern
Spezialiſirung aller Produktion iſt, um hierauf noch zu
kommen, auch die Stellung des Lehrlings, ſoweit es ſich
gerade um das Erlernen des Gewerbes handelt, eine total
andere geworden. Wurde er früher oft ein Jahr lang und
länger als Laufburſche verwendet, von der Frau Mei-
ſterin zu allen möglichen häuslichen Dienſtleiſtungen
gebraucht und mißbraucht, ſo lernte und ſah er doch
ſpäter Alles, was in der Werkſtatt gemacht wurde, und
alle die verſchiedene Arbeiten ſeines Gewerbes kamen in
der Werkſtatt vor. Die Prüfungen nöthigten ihn zu
einer gewiſſen Ausbildung nach allen Seiten.
Der Mißbrauch erſterer Art iſt nicht verſchwunden;
wo heute, um Taglöhner oder Dienſtboten zu ſparen,
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 23
[354]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
allzu zahlreich Lehrlinge angenommen werden, da lernen
ſie in der erſten Zeit ſo wenig wie früher. Aber
auch ſpäter lernen ſie theilweiſe heute nicht mehr ſo viel
wie früher, weil die einzelnen Geſchäfte nur einſeitig
auf wenige Artikel ſich werfen. Und innerhalb des
ſpezialiſirten Geſchäfts wird der Lehrling zu einer ein-
zelnen beſtimmten Art der Arbeit gebraucht. Wie ſoll
er da viel lernen? Die Prüfung iſt weggefallen und
damit jedenfalls auch ein gewiſſer Sporn. Die zu große
Unabhängigkeit vom 14. Jahre ab ſteigert bei der Maſſe
nicht den Trieb, etwas zu lernen. Die allgemeine Aus-
bildung bleibt ſo leicht zurück.1 Böhmert, der eifrigſte
Vertheidiger der Gewerbefreiheit, muß zugeben, daß die
ſchweizer Gewerbetreibenden ſehr gerne deutſche Geſellen
aus Ländern, wo noch Prüfungen exiſtiren, haben, weil
ſie dieſelben für fleißiger, geſchickter und anſtelliger
halten. Und aus ähnlichem Grunde ſind deutſche Ge-
ſellen in Frankreich und England beliebt.
Daraus will ich entfernt keinen Schluß ziehen, der
auf Wiederherſtellung des Zunftweſens und der Zunft-
prüfungen ginge. Dieſe Wiederherſtellung wäre aus
andern Gründen ſchädlich, ja unmöglich. Aber das
glaube ich mit dem Angeführten bewieſen zu haben,
daß die Beibehaltung der alten vierjährigen Lehrling-
ſchaft, ohne die Prüfungen und ohne die alte viel-
ſeitige Werkſtatt, die aufwachſende gewerbliche Gene-
[355]Die Bildung des Lehrlings.
ration noch tiefer herabdrückt, noch mehr dazu beiträgt,
alle Geſchäfte in die Hände der höhern Unternehmer-
klaſſe zu bringen. Dem iſt nur abzuhelfen, wenn man
in den Kreiſen der Handwerker den gewerblichen Schulen
die Aufmerkſamkeit ſchenkt, die ſie verdienen, wenn man
die jungen Leute zu ihrem Beſuche anhält, wenn man
dieſelben je kürzere Zeit in verſchiedene Etabliſſements
als Volontaire oder Arbeiter unterbringt, wobei ſie
praktiſch alles in ihr Geſchäft Einſchlägige lernen und
ſehen, wenn man endlich möglichſt durch freiwillige
Prüfungen den Ehrgeiz zu wecken, den Bemühungen ein
feſtes Ziel zu ſetzen ſucht.
Das iſt die neue Art, wie man die gewerbliche
Jugend heranbilden muß. Die Jugend ſoll arbeiten
lernen; aber die Jugendjahre ſollen daneben vor Allem
eine Bildungs-, nicht bloß eine Arbeitszeit ſein.
Und das Gefährliche aller in neuerem Style eingerichteten
Geſchäfte iſt es, ſchon den 14 jährigen als reinen Ar-
beiter zu gebrauchen, ohne ihn etwas lernen zu laſſen,
ohne ihm einen Ueberblick über die ſämmtlichen kauf-
männiſchen und techniſchen Spezialitäten ſeiner Geſchäfts-
branche zu geben.
23 *
[[356]]
4. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern
im Speziellen.
Die Gehülfenzahl nach den preußiſchen Provinzen 1822, 1846
und 1861, ſowie nach den preußiſchen Regierungsbezirken und
einigen andern Zollvereinsſtaaten 1861. Die preußiſche Ge-
hülfenzahl in Stadt und Land 1828, 1849 und 1858. Die
Gehülfenzahl in den großen preußiſchen Städten 1861. Die
Gehülfenzahl in Sachſen nach Stadt und Land 1849 und
1861. — Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben; ſächſiſche
Zahlen von 1849, preußiſche von 1822—61, württembergiſche
von 1835—61, berliner von 1861. Die Reſultate dieſer
Tabellen. Die Gewerbe, in welchen die Gehülfenzahl ſelbſt
in neuerer Zeit niedrig bleibt. Die Gewerbe mit höherer
Gehülfenzahl. Die Baugewerbe. Die Meiſter und Flick-
arbeiter. Die Zahlen der preußiſchen Baugewerbe von 1816 —
61. Die provinziellen Gegenſätze in der Organiſation der
Geſchäfte: die größern Bauunternehmnngen im Oſten, der
Bau für eigne Rechnung durch die kleinen Meiſter im Weſten.
An die Thatſache, daß in Preußen im Jahre 1861
die Gehülfenzahl im Durchſchnitt des ganzen Staates
und der ſämmtlichen Handwerke die Meiſterzahl erreicht
hat, knüpfte ich die allgemeinen Betrachtungen an,
welche ſich aus der Umbildung der Handwerksgeſchäfte
nach dieſer Richtung hin ergeben. Ich kehre jetzt zu
den Reſultaten der Statiſtik zurück.
[357]Die Verſchiedenheit der Gehülfenzahl.
So unbeſtreitbar das allgemeine Reſultat iſt, das
ich aus den Durchſchnittszahlen des ganzen preußiſchen
Staates und ſeiner geſammten Kleingewerbe folgerte,
ſo nothwendig iſt es andererſeits, hier wieder, wie ſchon
oft, daran zu erinnern, daß jede ſolche Durchſchnittszahl
in gewiſſem Sinne falſch iſt, ein falſches Bild giebt,
ſofern ſie den Schein erweckt, als ob dieſer Durchſchnitts-
zahl entſprechende Zuſtände nun, gleichmäßig verbreitet, in
den verſchiedenen Gegenden und Geſchäften vorhanden
wären. Die Wahrheit iſt, daß ſehr verſchiedene Zu-
ſtände, verſchieden nach Gegenden wie nach Geſchäfts-
branchen, dieſes Durchſchnittsreſultat ergeben haben.
Soll unſere Betrachtung alſo nicht einſeitig ſein, ſo
müſſen wir neben dem allgemeinen Reſultat dieſe Ver-
ſchiedenheiten noch in Betracht ziehen. Sie bieten an
ſich ſelbſt und in Bezug auf die hier beſprochene Frage
der Meiſter- und Gehülfenzahl ein Intereſſe; außerdem
aber wird ihre Unterſuchung manche frühere Ausfüh-
rungen, z. B. die über die lokalen Gegenſätze, noch in
helleres Licht rücken. Einige Wiederholungen ſind dabei
leider nicht zu vermeiden.
Dieterici hat ſchon früher1 auf den großen Unter-
ſchied aufmerkſam gemacht, der zwiſchen den einzelnen
preußiſchen Provinzen herrſcht. Bei der Vergleichung
von 1822 und 1846 hat er die Lücken der Aufnahme
von 1822 durch Schätzungen ergänzt. Ich ſtelle neben
ſeine Zahlen die für 1861 von mir nach der offiziellen
Aufnahme berechneten. Daß die Aufnahme von 1861
[358]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
einige Kategorien von Handwerkern mehr umfaßt, iſt
für dieſe Durchſchnitte ganz gleichgültig. Das Reſultat
iſt folgendes: es kamen auf 100 Meiſter
Die Mark Brandenburg erſcheint in ihren Zahlen
ausſchließlich von der Hauptſtadt, von dem Charakter
der hauptſtädtiſchen Geſchäfte beeinflußt. Ein Drittel
ihrer Meiſter und Gehülfen gehören Berlin an. Daher
laſſe ich dieſe Provinz außer Betracht.
In den Zahlen der andern Provinzen zeigt ſich vor
Allem wieder der große Unterſchied zwiſchen dem Weſten
und Oſten des preußiſchen Staates, hauptſächlich aber
der Unterſchied in der Entwicklung beider Theile. Die
Gegenſätze ſind 1822 total andere als 1861. Im Jahre
1822 ſtehen die Rheinprovinz, Sachſen und Pommern
voran in der Gehülfenzahl, es folgen Weſtfalen und Schle-
ſien; Preußen und Poſen haben die geringſte Gehülfen-
zahl. Schon 1846 liegen die Dinge anders. Poſen z. B.
hat jetzt ſchon die gleiche Gehülfenzahl wie Weſtfalen
und die Rheinprovinz. Vollends bis 1861 dreht ſich das
Verhältniß vollſtändig um. Am Rhein, in Weſtfalen,
in Sachſen wächſt die Gehülfenzahl wohl auch noch etwas,
[359]Die Gehülfenzahl nach den preußiſchen Provinzen.
aber unbedeutend. In der Rheinprovinz ſind 1861 noch
Verhältniſſe, die auf ein Ueberwiegen kleiner Geſchäfte,
auf die Möglichkeit für jeden Geſellen, ſelbſt Meiſter zu
werden, deuten. Im Oſten dagegen iſt die Gehülfen-
zahl auf das 2—3 fache gegen 1822 geſtiegen, obwohl
anzunehmen iſt, daß das Landhandwerk hier, ſoweit es
exiſtirt, auch heute noch weniger Gehülfen hat, als das
Landhandwerk am Rhein. Die Zahlen zeigen, daß hier
die Gehülfen nicht bloß gewachſen ſind, wie es im All-
gemeinen einem etwas geſtiegenen Wohlſtand entſpricht,
ſie zeigen, daß hier ganz andere Zuſtände ſich gebildet
haben, ſie zeigen, daß hier mehr und mehr das
Handwerk der großen Städte, daß in den bedeutendern
Städten mehr und mehr die größern Handwerksgeſchäfte
und die Magazine überwiegen.
Aehnliche Gedanken ergeben ſich uns, wenn wir
noch etwas weiter ins Detail gehen, uns die Ergebniſſe
nach den einzelnen preußiſchen Regierungsbezirken geordnet
anſehen. Ich laſſe ihnen als weitere Ergänzung gleich
die Zahlen für einige der neuen preußiſchen Provinzen
und kleinern deutſchen Staaten, berechnet nach den
Frantz’ſchen Summen, 1 folgen. Es kamen auf die:
[360]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Die niedrigſte Gehülfenzahl haben die armen vor-
wiegend landwirthſchaftlichen Gegenden, wie Naſſau und
Oberheſſen. Wo der Wohlſtand ſteigt, der rein land-
wirthſchaftliche Charakter zurücktritt, iſt die Gehülfenzahl
etwas größer. Aber dieſes Steigen der Gehülfenzahl
geht nun nicht weiter dieſen beiden Urſachen entſprechend.
Wohlhabende gewerbliche Gegenden wie Württemberg,
Baden, die Regierungsbezirke Koblenz, Trier, Aachen
behalten ihre mittlere Gehülfenzahl; der Regierungsbezirk
Erfurt hat eine niedrigere Gehülfenzahl als die Regie-
rungsbezirke Merſeburg und Magdeburg und iſt ſo wohl-
habend als ſie, hat auch wohl ſo ziemlich gleichen gewerb-
lichen Charakter. Die größte Gehülfenzahl außer den
letztgenannten haben die Regierungsbezirke Königsberg,
Danzig, Potsdam, Breslau, Liegnitz, alſo der Oſten,
der weder am reichſten iſt, noch überall durch ſpezifiſch
gewerblichen Charakter ſich auszeichnet. Da zeigt es ſich
wieder, daß die ganze Vermögens- und Einkommen-
vertheilung, das Wohnen in großen oder kleinen Städten,
die Grundbeſitzvertheilung es beſtimmt, ob ſich heute die
kleinern Handwerksgeſchäfte noch halten.
Bei einzelnen Staaten, wie Baiern und Sachſen,
hängt die größere Gehülfenzahl vielleicht etwas mit der
früheren Erſchwerung des Meiſterwerdens zuſammen.
Viel wohl nicht. Auf die Dauer wirkt die freie Kon-
kurrenz — allerdings an anderer Stelle und mit andern
ſonſtigen Wirkungen — noch mehr auf größere Geſchäfte
als die Zunftverfaſſung.
In den Gegenden und Bezirken, in welchen die
Gehülfenzahl am niedrigſten iſt, in welchen gegen 60
[362]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
bis 80 Gehülfen auf 100 Meiſter kommen, wird immer-
hin dieſe Zahl ausreichen, um die Meiſterſtellen wieder
zu beſetzen. Ein regelmäßiger Zufluß aus Gegenden
mit größerer Gehülfenzahl iſt kaum anzunehmen. Be-
ſonders zwiſchen den verſchiedenen Staaten war eine
derartige Beweglichkeit der Arbeitskräfte früher ſehr
erſchwert. Iſt ja jetzt erſt im norddeutſchen Bunde die
Freizügigkeit geſchaffen.
Dagegen iſt allerdings zwiſchen Stadt und Land
einer und derſelben Gegend und Provinz eine ſolche
Fluktuation der Arbeitskräfte anzunehmen. Wünſcht
auch der Lehrling, der in der Stadt gelernt, der Ge-
ſelle, der dort gearbeitet hat, wo möglich dort zu bleiben,
der Mittelloſe muß auf’s Land zurück, wenn er ſelb-
ſtändig werden will; andere werden durch Familien-
verhältniſſe, durch Land- und Hausbeſitz dazu gezwungen.
Das iſt bei den Gehülfenzahlen nach Stadt und Land,
zu welchen wir uns jetzt wenden, nicht zu überſehen.
Nach der Aufnahme von 1828 berechnet Hoff-
mann, 1 die 13 wichtigſten Arten der Handwerker zu-
ſammenfaſſend, im Durchſchnitte auf 100 Meiſter
Nach den einzelnen Provinzen vertheilen ſich 1828
die Gehülfen der Landmeiſter folgendermaßen; auf 100
Landmeiſter kamen
Im Weſten hat wenigſtens jeder dritte Land-
meiſter einen Geſellen oder Lehrling; im Nordoſten
arbeiten von 100 Landmeiſtern 89 ohne jede gewerb-
liche Hülfe.
Im Jahre 1849 haben Gehülfen und Meiſter in
den preußiſchen Städten etwa das Gleichgewicht erreicht,
es kamen auf 100 Meiſter da 98, auf dem Lande
56 Gehülfen. Neun Jahre ſpäter, im Jahre 1858,
haben 100 ſtädtiſche Meiſter 115,4, 100 Landmeiſter
71,8 Gehülfen. Das Landhandwerk hat 1858 beinahe
ſo viel Gehülfen, daß es ſeine Meiſterſtellen allein
beſetzen könnte. Die Zahl der Lehrlinge, gegenüber den
Geſellen, erſcheint im Ganzen 1858 als normal: 125202
Lehrlinge auf 377093 Geſellen; alſo jene etwa ⅓
dieſer; in den Städten freilich nähert ſich die Zahl der
Lehrlinge nahezu der Hälfte der Geſellen, auf dem Lande
beträgt ſie etwa ein Viertel derſelben.
Nach der Aufnahme von 1861 ſtellt ſich das Ver-
hältniß der Meiſter und Gehülfen in den größern preu-
ßiſchen Städten folgendermaßen:
[364]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Die mehr beſprochenen provinziellen Gegenſätze
zeigen ſich auch hier. Die größte Gehülfenzahl hat
nicht Berlin, ſondern Königsberg, Elbing und Breslau.
In Berlin 1 kamen ſchon 1822 auf 100 Meiſter 185,
1846 - 210 Gehülfen, 1861 dagegen 207. Daraus
[365]Die Gehülfen in den größern Städten 1861.
ließe ſich ein Schluß ziehen, den ich freilich nur mit
einer gewiſſen Vorſicht ausſprechen möchte, — nämlich
der, daß für die Mehrzahl der Handwerke der Ueber-
gang zu einem größern Betriebe, auch heute noch eine
gewiſſe Grenze hat, wenigſtens 1861 noch hatte. Ich
ſuchte oben zu zeigen, daß das heutige Handwerk nicht
zu dem wird, was man ſpezifiſch Großinduſtrie nennt,
ſondern nur zu etwas umfaſſenderen und anders orga-
niſirten Geſchäften übergeht. Erwägt man überdieß, daß
gerade in den großen Städten doch noch viele kleine
Meiſter, Anfänger, Flickarbeiter ohne alle Gehülfen
arbeiten, ſo könnte man allerdings den Schluß für
berechtigt halten, 2—3 Gehülfen auf einen Meiſter
im Durchſchnitt ſei das Maximum. Immer aber bleibt
dieſer Schluß problematiſch; er iſt richtig für einzelne,
für viele Gewerbszweige, daneben unrichtig für andere,
welche auch in der Handwerkertabelle verzeichnet ſind
und bis zu 10 und mehr Gehülen auf einen Meiſter
haben können, wie das Zimmer- und Maurergewerbe,
einzelne Metall- und Holzgewerbe, Glockengießereien,
große Möbelanſtalten.
Daß im Königreich Sachſen die Zahl der Gehülfen
im Durchſchnitt des ganzen Staates weſentlich höher
iſt, als die in Preußen, ſahen wir ſchon; ſie iſt höher
als die irgend eines preußiſchen Regierungsbezirks.
Stadt und Land haben gleichmäßig blühende Gewerbe
aller Art; die dortige Handwerkertabelle umfaßt mehr
wahrſcheinlich als die irgend eines andern größern
deutſchen Landes ſolche Geſchäfte, die für den Abſatz
im Großen thätig ſind.
[366]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Schon im Jahre 1849 kamen im Durchſchnitt des
ganzen Landes bei den 50 wichtigſten Handwerken 1 auf
100 Meiſter 111 Gehülfen, in den Städten allein nur
112, alſo kaum mehr als im Durchſchnitt des ganzen
Landes. Trennt man Geſellen und Lehrlinge, ſo kommen
nach dieſer Rechnung auf 100 Meiſter
Dabei ſind aber die beſonders auf dem Lande als
Hausinduſtrie betriebenen Gewerke einbegriffen; von
einem Theil derſelben rührt die hohe Zahl Gehülfen
des platten Landes her, ſo von den Bürſtenmachern,
den Landklempnern und Nagelſchmieden; andere wieder,
wie die Weber, haben keine beſonders hohe Gehülfen-
zahl. Daneben iſt nicht zu vergeſſen, was ich oben
ſchon erwähnte, daß die Gehülfenzahl auf dem Lande
viel zu hoch erſcheint durch die Art der Zählung.
Tauſende von Maurern, Zimmerleuten, Buchdruckern
und andern Geſellen und Arbeitern, die in der Stadt
arbeiten, wohnen auf dem Lande und werden da
gezählt.
Für die Vergleichung von 1849 und 1861 ſind
andere Zahlen zu Grunde zu legen; nämlich die der
öfter ſchon angeführten Tabelle, 2 welche die Meiſter und
Gehülfen in 36 Handwerken, getrennt nach größern,
[367]Die Gehülfenzahl in Sachſen.
kleinern Städten und plattem Lande, aufführt. Die
Tabelle beſchränkt ſich auf die ſpezifiſch lokalen Gewerbe
und ſchließt alle Hausinduſtrien und fabrikmäßigen Hand-
werke, wie die Weber, Tuchmacher, Tuchſcheerer,
Strumpfwirker, Poſamentiere, Inſtrumentenmacher,
Färber, Nadler und Aehnliche aus. Nach den dortigen
abſoluten Zahlen habe ich die folgenden Verhältniſſe
berechnet. Es kamen auf 100 Meiſter:
Das Verhältniß der drei verſchiedenen Arten des
Handwerks unter ſich iſt ebenſo ſchlagend, wie die Um-
bildung jeder einzelnen Art von 1849—61. Das An-
wachſen der Gehülfenzahl auf dem Lande iſt am über-
raſchendſten. Es entzieht ſich aber jeder weitern Erörte-
rung, da man nicht abſieht, wie weit es aus den vorhin
angeführten Gründen der Wirklichkeit, d. h. dem thatſäch-
lichen Umfang der Geſchäfte auf dem Lande entſpricht.
Keine weſentliche Aenderung zeigt ſich in den kleinern
Städten, wie das nach den obigen Unterſuchungen über
das kleinſtädtiſche Handwerk zu erwarten war. Die
ſtärkſte Zunahme der Gehülfenzahl fand in den großen
Städten ſtatt. Es iſt ein totaler Umſchwung der Ver-
hältniſſe, der zwiſchen dieſen beiden Zahlen liegt. Vor-
her noch 1½, jetzt im Geſammtdurchſchnitt 2—3 Ge-
hülfen auf einen Meiſter. Damit iſt in den ſämmt-
[368]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
lichen ſächſiſchen Städten über 10000 Einwohner die
Grenze erreicht, die wir vorhin als eine Art Maximum
hinſtellten, die Grenze, die ſelbſt in der Großſtadt Berlin
und den andern größten preußiſchen Städten 1861 nicht
überſchritten iſt.
Dieſes Maximum aber, wie alle die vorſtehenden
Verhältnißzahlen ſind berechnet als Durchſchnitte verſchie-
dener Gewerbe. Eine wirklich konkrete Anſchauung der
Verhältniſſe gewinnen wir erſt, wenn wir die einzelnen
Gewerbe unterſcheiden. Jedes iſt in ſeiner Technik,
in ſeiner Organiſation, in ſeinem Verhältniß zum
Publikum wieder ein anderes, wie ein Blick auf die
folgenden Tabellen lehrt. Um das ſtatiſtiſche Material
nicht zu ſehr zu häufen, beſchränke ich mich auf die
Mittheilung von vier Tabellen. Die ſächſiſche umfaßt
50 Gewerbe nach dem Stande von 1849.1 Die preu-
ßiſche für die Jahre 1822 und 1846 ſtammt von
Dieterici; 2 die Jahre 1858 und 1861 habe ich nach
den Quellen nachgerechnet. Die württembergiſche Tabelle
iſt von mir in meiner württembergiſchen Gewerbeſtatiſtik3
berechnet. Als Gegenſatz zu dieſen drei ganze Länder
umfaſſenden Ueberſichten füge ich noch den Stand einiger
der wichtigern Berliner Handwerke im Jahre 1861 bei,
berechnet nach den Zahlen der offiziellen Publikation.4
[369]Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.
Es kamen 1849 in Sachſen auf 100 Meiſter:
Die preußiſchen Zahlen ſind, wie wir das ſchon
aus den allgemeinen Ergebniſſen wiſſen, geringer; es
kamen da auf 100 Meiſter Gehülfen:
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 24
[370]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Und nochmal geringer als die preußiſchen ſind die
württembergiſchen Gehülfenzahlen; es kamen dort Ge-
hülfen auf 100 Meiſter:
[371]Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.
Ganz anders natürlich lauten die Verhältnißzahlen
Berlins; ich theile zugleich die abſoluten Zahlen der
Meiſter, Gehülfen und Lehrlinge mit; man zählte 1861:
24 *
[372]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Wir ſehen große Gegenſätze in dieſen Zahlen und
Gegenſätze verſchiedener Art. Von den provinziellen
Gegenſätzen will ich weiter nicht reden; es ſind die ſchon
mehr beſprochenen. Auch die ſukzeſſive Aenderung von
1822, reſp. 1835 bis 1861 bietet nach den obigen
Ausführungen zunächſt nichts Neues. Was uns hier
intereſſirt, iſt der Unterſchied der einzelnen Gewerbe
unter ſich. Die äußerſten Differenzen, die ſich da zeigen,
liegen ziemlich weit auseinander. Bei den Glaſern
[373]Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.
kamen 1861 in Preußen auf 100 Meiſter 49, bei den
Maurern 566 Gehülfen; in Sachſen iſt 1849 der
äußerſte Gegenſatz 47 und 2574, in Württemberg 1861
43 und 209, in Berlin 1861 - 92 und 1686.
Je ärmlicher und einfacher ein Gewerbe in der
Regel iſt, je mehr es Landmeiſter unter ſich begreift,
je weniger es großes Kapital zum Anfang des Geſchäfts
fordert, je mehr es ausſchließlich auf perſönlichen Dienſt-
leiſtungen des Meiſters beruht, deſto niedriger iſt die
Gehülfenzahl. Man ſieht beſonders an der württem-
bergiſchen, aber auch an der preußiſchen Tabelle, daß wo
und ſofern die Verhältniſſe ſo einfach bleiben, die Ge-
hülfenzahl, welche auf 100 Meiſter kommt, 43 — 80
nicht überſchreitet. Jede zeitweilig höhere Zahl ſinkt
wieder, da die Geſellen, in ein gewiſſes Alter gekommen,
keine Urſache haben, nicht ein eigenes Geſchäft anzu-
fangen.
Anders wieder in den Gewerben, welche größeres
Kapital erfordern, welche für größern Abſatz anfangen
zu arbeiten; die hausinduſtriellen Betriebe bilden zwar
gerade einen gewiſſen Gegenſatz zu den großen Geſchäften,
aber wo ſie blühen, hat der Meiſter, welcher für den
Kaufmann oder Verleger arbeitet, doch häufig einige
Geſellen oder einen Lehrling, wie ſich das bei den
ſächſiſchen Nagelſchmieden, Klempnermeiſtern, Poſamen-
tieren zeigt. Die Gewerbe, welche durchgängig die höchſte
Zahl von Gehülfen zeigen, ſind die Gerber, Töpfer,
Hutmacher und vor allem die Baugewerbe. Alle die
genannten neigen mehr oder weniger zu größern Geſchäften.
Ihnen am nächſten ſtehen die Gürtler, Klempner,
[374]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Schloſſer und Buchbinder, Gewerbe, welche ſchwung-
haft betrieben zur Maſchinenanwendung und zur
Spezialiſirung auf einzelne Artikel übergegangen ſind.
In allen dieſen Gewerben kann nicht mehr davon die
Rede ſein, daß die Geſellen ſämmtlich ſelbſtändig werden
können.
Wenn in den Gewerben, welche außer dem Hauſe
arbeiten laſſen, die ſämmtlichen ſo Beſchäftigten als
Gehülfen, und nicht, wie vielfach, als Meiſter gezählt
wären, ſo würde die Gehülfenzahl in verſchiedenen Ge-
werben noch weſentlich höher ſein.
Diejenigen Gewerbe, welche eine gleich hohe Gehülfen-
zahl im Durchſchnitt haben, werden ſich an techniſcher
Entwickelung, Kapitalbedürfniß, Einkommen und ſozialer
Stellung ungefähr auch gleich ſtehen. Aber doch nicht
vollſtändig. Das eine Gewerbe bedarf mehr des Kapi-
tals, das andere mehr der perſönlichen Arbeitskräfte.
Die Fleiſcher, Schneider und Schuſter z. B. haben
1861 in Preußen dieſelbe Gehülfenzahl. Und doch
ſteht im Durchſchnitt der Schneidermeiſter etwas unter
dem Schuhmachermeiſter, jedenfalls überragt der Fleiſcher-
meiſter beide durchſchnittlich an Einkommen und ſozialer
Stellung. Der Schuſter hat in der Regel ſchon etwas
mehr Kapital in ſeinem Geſchäft ſtecken, er treibt eher
als der Schneider Vorrathshandel. Eine andere Stellung
als beide hat der Fleiſcher, der Geld zum Vieheinkauf
braucht, der meiſt ein Pferd hält, um auf den Einkauf
zu fahren, der eines eigenen Hauſes, einer Schlacht-
ſtätte ſchwer entbehren kann. Im Jahre 1822 haben
die Fleiſcher ein Drittel weniger Gehülfen als die
[375]Die Gewerbe mit gleicher Gehülſenzahl.
Schuſter und doch iſt damals ſchon der Fleiſchermeiſter
durchſchnittlich wohlhabender als der Schuhmacher.
Uebrigens haben die Nahrungsgewerbe in Wirklich-
keit einen größern Umfang; ſie beſchäftigen mehr Hände,
als hier erſichtlich iſt; aber es ſind nicht ſowohl techniſch
gebildete Gehülfen, Lehrlinge und Geſellen, als Knechte
und Mägde. Wenn 1864 in den thüringiſchen Staaten1
auf 100 Selbſtändige in den Nahrungsgewerben 71
Dienſtboten, in den Bekleidungsgewerben aber nur 5,
bei den Bauhandwerken 21, bei den Gewerben, welche
ſich mit Einrichtung der Wohnungen und Herſtellung
von Geräthſchaften abgeben, 11, bei allen übrigen Ge-
werben endlich 6 Dienſtboten kommen, ſo ſind das Ver-
hältnißzahlen, wie ſie ſich ähnlich auch wohl anderwärts
ergeben würden, ſofern Aufnahmen nach der Richtung
exiſtirten. Sie zeigen einen ſprechenden Unterſchied der
einzelnen Gewerbearten in der Wohlhabenheit und in
dem Bedürfniß an helfenden Händen für das Geſchäft.
Sie zeigen, daß die Zahlen der techniſchen Gehülfen
nicht allein maßgebend ſind.
Von beſonderem Einfluß auf die Gehülfenzahl iſt
die Thatſache, ob das betreffende Gewerbe auf dem
Lande mit vorkommt. Zahlreiche Landmeiſter ohne Ge-
hülfen neben ſtädtiſchen Meiſtern mit 2 — 3 Gehülfen
geben für den Durchſchnitt des ganzen Gewerbes doch
nur 60 — 80 Gehülfen auf 100 Meiſter. Die Rade-
macher haben in Preußen 1861 - 55, die Glaſer 49
[376]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Gehülfen; die Tiſchler, Schloſſer und ähnliche Gewerbe
ſehr viel mehr. Und doch wird zwiſchen den ſtädtiſchen
Geſchäften kein ſehr großer Unterſchied ſein.
In Berlin iſt die Gehülfenzahl ſehr viel größer,
als im Durchſchnitt des ganzen Landes. Einzelne Arten
von Gewerben werden in der Großſtadt zu etwas ganz
Anderem. Aber in der Hauptſache iſt doch die Ab-
ſtufung zwiſchen den einzelnen Arten der Gewerbe die-
ſelbe, und bei der überwiegenden Mehrzahl kommen
auf einen Meiſter doch nicht über 1 — 3 Gehülfen
durchſchnittlich. Nur wenige Gewerbe haben eine noch
größere Gehülfenzahl und auch das ſind faſt lauter ſolche
Gewerbszweige, bei welchen große und kleine Geſchäfte
neben einander vorkommen. Von den in der Fabrik-
tabelle Berlins verzeichneten Geſchäften ſind ſie faſt alle
noch weit entfernt. Es kamen durchſchnittlich auf einen
Arbeitgeber 1861 in Berlin:1 bei den Spinnereien 15,7,
den Webereien 7,6, den Fabriken für Metallproduktion
21,8, denen für Metallwaaren 22,9, denen für mine-
raliſche Stoffe 16,3, denen für Pflanzenſtoffe 7,9, denen
für Holzwaaren 12,3, denen für Verzehrungsgegenſtände
8,9 Arbeiter. Dieſen Fabriken ſtehen von den oben
angeführten Gewerbszweigen nur die Baugewerbe gleich.
Jeder Pflaſterermeiſter in Berlin hatte 1861 durch-
ſchnittlich 6, jeder Steinhauermeiſter 8, jeder Zimmer-
meiſter 14, jeder Maurermeiſter 16 Geſellen und
Lehrlinge.
[377]Die Baugewerbe.
Zahlreiche [Arbeitskräfte] ſind in den Baugewerben
für den Meiſter nothwendig; vielfach iſt er in den
größern Städten überhaupt ein großer Spekulant und
Unternehmer geworden, der über tauſende von Thalern
muß verfügen können. Immer aber zeigt ſich auch
hierin noch eine große Verſchiedenheit der Verhältniſſe.
Darüber möchte ich noch einige Worte bemerken, auch
einige weitere Betrachtungen über die Baugewerbe, auf
die ich nicht mehr im Speziellen komme, beifügen.
Zuerſt eine Bemerkung über die obigen Zahlen. Wenn
nach den Tabellen 1861 ein Maurer- oder Zimmer-
meiſter in Württemberg 1 — 2, in Preußen 4 — 5, in
Sachſen 18 — 25, in Berlin 14 — 16 Gehülfen beſchäf-
tigt, ſo ſind das nicht durchaus vergleichbare Zahlen.
Die polizeilichen Beſtimmungen über das Meiſterwerden
ſind verſchieden, und in Folge davon iſt theilweiſe eine
beſondere Mittelklaſſe zwiſchen den Meiſtern und den
Gehülfen ausgeſchieden, theilweiſe iſt dieß nicht der
Fall. In Württemberg z. B. fehlt dieſer Unterſchied.
Die Meiſterprüfung war überdieß niemals allzuſchwer;
die Zahl der Geſellen iſt daher nicht ſo ſehr viel ſtärker
als die der Meiſter; ein Verhältniß, das noch durch die
übrigen Urſachen, die dort überhaupt auf kleinern Be-
trieb hinwirken, unterſtützt wurde.
In Preußen hatte das Gewerbepolizeiedikt von 1811
die Beibehaltung der Prüfungen für die Bauhand-
werker ausgeſprochen, die Inſtruktionen von 1821 und
1833 hatten dieſelben geordnet.1 Die Anforderungen
[378]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
waren mäßige, aber immerhin mußte man beſonders
auf dem Lande eine Reihe von kleinen Arbeiten auch
Leute ſelbſtändig ausführen laſſen, welche die Prüfung
nicht beſtanden hatten. Dieſe ſogenannten Flickarbeiter
wurden aber erſt 1837 als beſondere Rubrik bei der
ſtatiſtiſchen Aufnahme gezählt. Bei der Vergleichung
von 1822 und 46, welche Dieterici anſtellte, rechnet
er die Flickarbeiter zu den Meiſtern, und demgemäß habe
ich in den Berechnungen für 1858 und 61 daſſelbe
gethan. Dagegen zeigen die Zahlen für Berlin nur
das Verhältniß der eigentlichen Meiſter zu den Gehülfen.
Läßt man für die Zahlen des ganzen Staates die Flick-
arbeiter weg, ſo ſtellt ſich das Verhältniß ganz anders,
als die obigen Zahlen es darſtellen; es kommen dann
auf 100 Meiſter
Dieſe Zahlen beweiſen zugleich, daß die nach den
obigen Zahlen ſich ergebende Abnahme der Gehülfenzahl
von 1858 bis 1861 (von 653 auf 440 Gehülfen bei
den Zimmerleuten, von 927 auf 566 bei den
Maurern pro 100 Meiſter) nur eine ſcheinbare,
von der Zunahme der Flickarbeiter herrührende iſt.
Die Zunahme der Flickarbeiter war ſelbſt wieder nicht
Folge einer volkswirthſchaftlichen, ſondern einer polizei-
lichen Anordnung. Eine ſolche war durch die Gewerbe-
ordnung von 1845 und die Gewerbenovelle von 1849
eigentlich nicht hervorgerufen worden; man war wohl
[379]Die Baugewerbe in Preußen.
von 1849 an etwas ſtrenger; aber die alten Prüfungs-
inſtruktionen waren bis 1856 in Geltung geweſen. Erſt
die neue Inſtruktion vom 24. Januar 1856 hatte die
Meiſterprüfungen weſentlich zu erſchweren, die Arbeiten,
welche zur ſelbſtändigen Ausführung ältern Geſellen als
Flickarbeitern überlaſſen bleiben, ziemlich enge einzu-
ſchränken geſucht. Darauf hin hatten die Meiſter zuerſt
abgenommen; nach wenigen Jahren mußten die Flick-
arbeiter, die nun trotz ihres engen Wirkungskreiſes um
ſo nothwendiger wurden, um ſo mehr zunehmen.
Um jedoch über die ganzen hier in Betracht kom-
menden Gewerbe eine klarere Ueberſicht zu geben, laſſe
ich zunächſt die zwei folgenden hiſtoriſchen Tabellen folgen.
Sie enthalten eine ziemlich vollſtändige Ueberſicht über die
geſammten preußiſchen Baugewerbe von 1816 — 61. Ich
ſage eine ziemlich vollſtändige, denn zu einer ganz vollſtän-
digen würde gehören, daß ſie auch die Kalkbrennereien und
Ziegeleien, die Gyps- und Traßmühlen, die großen
Zementfabriken, die jetzt Grabdenkmale, Bauornamente,
Flurplatten, Treppenlehnen liefern, daß ſie alle die
Arbeiter, die in Stein-, Marmor- und Schieferbrüchen
thätig ſind, mitzählten. Auch die Maurer- und Zimmer-
meiſter ſelbſt beſchäftigen noch außer ihren gelernten
hier gezählten Gehülfen viele bloße Tagelöhner. Die
Zählung der Gehülfen ſelbſt iſt bei den Maurern wenig-
ſtens deswegen unſicherer als bei einem andern Gewerbe,
weil die Maurergeſellen in den ſtrengen Wintermonaten,
in welchen die Zählung ſtattfindet, meiſt nicht in ihrem
Gewerbe beſchäftigt ſind, dann auf dem Lande wohnen
und anderweitigen Arbeiten obliegen.
[380]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Man zählte:
[381]Statiſtik der preußiſchen Baugewerbe.
Aus dieſen Tabellen erhellt zuerſt, wie bedeutend
die Baugewerbe zunahmen. Die Zimmerleute wuchſen
41, die Maurer 182 % ſtärker als die Bevölkerung.
Dann zeigt ſich, wie trotz der Zuziehung der Flick-
arbeiter zu den Meiſtern die einzelnen Geſchäfte an Um-
fang zunahmen; ſie haben durchſchnittlich 1861 etwa
die dreifache Gehülfenzahl gegen 1816. Die Abnahme
des Umfangs von 1858 bis 1861 liegt wieder in der
ſtarken Zunahme der Flickarbeiter, welche hier als
Meiſter gerechnet ſind.
Drittens ſehen wir, daß 1816 die Zimmerleute
und Maurer, je nebſt den einſchlägigen Geſchäften, ſich
beinahe die Waage halten, daß ſogar die Zimmerleute
noch etwas überwiegen. Das ändert ſich. Die Maurer
nehmen ſehr viel ſtärker zu; 1861 ſind ſie beinahe
doppelt ſo ſtark vertreten. Es hängt gewiß damit
zuſammen, daß mit wachſendem Wohlſtand und ſteigen-
den Holzpreiſen der Fachbau und die Holzkonſtruktionen
zurücktreten gegenüber dem Steinbau, neuerdings auch
gegenüber der Anwendung von Eiſenkonſtruktionen.
Einen tiefern Einblick in die Art der geſchäftlichen
Organiſation der Baugewerbe geben die vorſtehenden
Tabellen noch nicht. Um ihn zu gewinnen, will ich
eine Tabelle mittheilen, in der die Zimmerleute und
Maurer nach Provinzen geordnet erſcheinen, in der nur
die Meiſter und Gehülfen, nicht aber die Flickarbeiter
in Betracht gezogen ſind. Die Zahlen für 1837 1 ſind
Hoffmann entlehnt, die für 1861 ſind von mir nach
[383]Die Baugewerbe in den einzelnen Provinzen.
den offiziellen Zahlen 1 berechnet. In der letzten Spalte
füge ich die oben ſchon angeführten Prozentzahlen bei,
mit denen die Baugewerbe 1861 an der ganzen Bevöl-
kerung theilnehmen. Es kommen Gehülfen auf 100
Meiſter:
Die großen provinziellen Gegenſätze, die wir hier
vor uns ſehen, die 1861 etwas geringer geworden aber
nicht verſchwunden ſind, entſprechen zugleich der hiſtori-
ſchen Entwicklung der geſchäftlichen Organiſation.
Der mittelalterliche Maurer- und Zimmermeiſter
war ein Handwerker ohne großes Kapital; er durfte wohl
mehr Geſellen und Lehrlinge halten als andere Meiſter,
oft 4 Geſellen und noch mehr, während andern nur
einer oder zwei erlaubt waren; aber ein großer Unter-
nehmer wurde er dadurch nicht. Die Lieferung der
Materialien, des Kalks, der Steine, des Holzes, der
Ziegeln, war Sache deſſen, der bauen ließ; der Kapital-
beſitz des Meiſters reichte dazu nicht, Sitte und Vor-
[384]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
ſchrift wollte es auch nicht, um die Geſchäfte nicht zu
groß werden zu laſſen. Oft war ja auch den Meiſtern
verboten mehr als ein oder zwei Werke zugleich zu über-
nehmen. 1 Größere Bauten lagen in der Hand eines
Rathsherrn, 2 eines Domkapitulars, dem die Rechnungs-
führung übertragen war; an ſolchen arbeiteten viele
Meiſter. Für Meiſter und Geſellen waren feſte Tage-
lohnſätze hergebracht, die des Meiſters etwas höher,
weil er die Geräthe auch für ſeine Geſellen zu ſtellen
hatte. In der Blüthezeit des mittelalterlichen Bau-
weſens gaben die Bauhütten, 3 die als Bauhütten ein-
zelner großer Städte wie ganzer Länder auftraten, der
Geſammtheit der Meiſter eine feſte Organiſation, die
bei großen Bauten auch wohl geſchäftlich verwandt
wurde.
Die in Polizei-, Landes- und Taxordnungen feſt-
geſtellten Löhne geben uns heute noch eine klare Anſchauung
von dieſer Stellung der Meiſter. 4 Selbſt in großen
[385]Der Maurer- und Zimmermeiſter alter Zeit.
Städten wie Wien iſt es nach der Polizeiordnung von
1527 die Regel, daß die Meiſter nicht Unternehmer
ſind, ſondern für Tagelohn arbeiten; nur als Ausnahme
wird ihnen erlaubt, daß ſie „Beſtännd und geding an-
nemmen müge;“ doch ſollen ſie ſich dann nicht übereilen,
und es ſollen ihnen die in der Polizeiordnung feſtge-
ſtellten Tagelohnſätze dabei als Norm dienen.
Bei dem tiefern Stand der Volkswirthſchaft im
17 ten und 18 ten Jahrhundert treten ſelbſt dieſe An-
fänge von Akkordarbeit und eigentlicher Bauunterneh-
mung durch die Meiſter wieder zurück. Die churſäch-
ſiſche Taxordnung von 1623 2 kennt in ihrer unendlich
breiten Ausführlichkeit nur Tagelohnſätze für Meiſter,
wie für Geſellen; die Sätze des Meiſters ſind etwas
höher dafür, „daß er den Werkzeug helt.“ Für das
18 te Jahrhundert führe ich an, daß Bergius 3 zwar
die Akkordarbeit bei Bauten unter Erwähnung preußiſcher
Reglements empfiehlt, aber doch die Bezahlung ſelbſt
der Meiſter im Tagelohn als das Gewöhnliche betrachtet,
den Meiſtergroſchen genau beſpricht, den der Geſelle
dem Meiſter für die Benützung der Werkzeuge gibt. Im
Gegenſatz zu den Zimmerleuten, Maurern und Stein-
metzen bemerkt er, die Glaſer, Schloſſer und Klempner
pflegten bei den Bauten nicht auf Tagelohn, ſondern
1)
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 25
[386]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
nach dem Verdinge oder ſtückweiſe zu arbeiten. Daß
auf dem Lande in Baiern noch heute ſo gebaut wird,
erwähnte ich oben. Aber nicht bloß hier, auch ander-
wärts geht es noch ſo zu, wenigſtens theilweiſe, wenig-
ſtens auf dem Lande und in kleinen Städten; da
arbeitet der Meiſter ſelbſt mit, hat nur wenige Geſellen;
der Privatmann, welcher bauen läßt, muß es auf
eigene Rechnung thun.
In den ſchon vor 1815 zu Preußen gehörigen
Landestheilen hatten die Dinge ſchon früher ſich geändert.
Eine ſtrenge Baupolizei hatte höhere Anforderungen an
den einzelnen Meiſter geſtellt. Alle größern, beſonders
die ſtaatlichen Bauten, wurden zwar den höhern, vom
Staate geprüften und von ihm angeſtellten Bau-
technikern zur Leitung übergeben. Und bis in die neuere
Zeit läßt ja ſelbſt der reichere Privatmann die Pläne
und Riſſe von ſolchen entwerfen. Aber für die Aus-
führung derſelben brauchte man größere Werkmeiſter
und eigentliche Unternehmer. Und je mehr es früher
an großen Bauſpekulanten fehlte, die bloß als kauf-
männiſches Geſchäft, als Spekulation gegen feſte Averſal-
ſummen Bauten übernahmen und ſich ſelbſt wieder
der einzelnen Meiſter für die Ausführung bedienten,
um ſo mehr begünſtigte man es, wenn die Meiſter
ſelbſt als Unternehmer auftraten. Die Rechnungslegung
wurde einfacher; man hatte Einen verantwortlichen
Unternehmer, einen Mann von größerer Zuverläſſigkeit,
von einigem Vermögen, an den man ſich halten konnte;
ſolche größere Zimmer- und Maurermeiſter hatten
ſelbſt die nöthigen Rammen, Pumpen, Rüſtungen,
[387]Die großen Bauunternehmer der öſtlichen Provinzen.
Hebezeuge, die zu umfaſſenden Bauten nothwendig ſind;
ſchon deßwegen gab man ihnen gerne den Vorzug. 1
Wie die künſtleriſche Seite des Bauhandwerks
reformirt wurde in erſter Linie durch den Einfluß der
höhern vom Staate gebildeten Baubeamten, durch den
Einfluß der vom Staate in’s Leben gerufenen Schulen,
beſonders der 1799 gegründeten Bauakademie, ſo ſind
es auch in erſter Linie ſtaatliche Einflüſſe, welche die
geſchäftliche Organiſation umgebildet haben. Und da
dieſe Einflüſſe in den altpreußiſchen Provinzen älter und
tiefgreifender ſind, da hier die ungleichere Vermögens-
vertheilung ohnedieß, wie wir oben ſahen, auf größere
Geſchäfte hinwirkt, ſo iſt es begreiflich, daß die einzelnen
Meiſter in den öſtlichen Provinzen ſo viel mehr Ge-
hülfen beſchäftigen, als am Rhein und in Weſtfalen.
Die Maurer- und Zimmermeiſter ſind da mehr und
mehr große Unternehmer geworden, die nach Entwürfen
eines Baumeiſters die Generalentrepriſe großer Bauten
übernehmen, aber auch ſelbſt Pläne entwerfen, Häuſer
auf Beſtellung und auf Spekulation bauen, häufig eine
ganze Reihe von Bauten zu gleicher Zeit ausführen, auf
dem einzelnen Bau die Aufſicht einem Polir übertragen,
in ihrer Wohnung ein beſonderes Zeichen- und Geſchäfts-
bureau halten müſſen. Iſt dieſe Richtung einmal im
Geſchäftsleben vorhanden, ſo müſſen da, wo am meiſten
gebaut wird, wo der größte Wohlſtand iſt, wo die In-
duſtrie viele größere Bauten erfordert, die Geſchäfte
25 *
[388]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
leicht noch größer werden. Sie ſind in Sachſen und
Schleſien am größten, wo die Baugewerbetreibenden am
ſtärkſten ſind. Es ſind dort über 2 % der Bevölkerung
in den Baugewerben beſchäftigt; der einzelne Meiſter hat
24—39 Gehülfen. Dann folgt Brandenburg. Es hat
1,6 % Bauhandwerker, 21—26 Gehülfen auf einen
Meiſter. Pommern ſteht nicht viel nach. Preußen und
Poſen haben dieſelbe allgemeine Richtung, aber der
geringere Wohlſtand, die geringere Bauthätigkeit (0,7—
0,9 % der Bevölkerung ſind Bauhandwerker) bewirken
es, daß auf den Meiſter nur 10—19 Gehülfen
kommen.
Viel mehr Bauhandwerker wieder haben Weſtfalen
und die Rheinprovinz; aber dieſelben ſind in kleine Geſchäfte
zertheilt, beſonders am Rhein. Dort kommen auch 1861
auf einen Zimmermeiſter erſt 2—3, auf einen Maurer-
meiſter 5 Gehülfen. Dort war, wie Hoffmann ſagt,
die Vielherrſchaft kein Förderungsmittel einer ſtrengen
Baupolizei. Das Meiſterrecht konnte leicht erlangt
werden; das Gewerbe der Bauhandwerker zerſplitterte
ſich, wie das Land, worin es getrieben wurde. Die
kleinen Landwirthe, wie die Handwerker und Fabrikan-
ten, nahmen die einfachen Bauten gerne ſelbſt in die
Hand. Und ſo haben ſich die Sitten erhalten mehr
oder weniger bis auf den heutigen Tag, trotzdem daß
die Fabrik- und Eiſenbahnbauten, die Bauten von ſchönen
Privathäuſern, entſprechend dem großen Wohlſtand der
Provinz, dort ſo zahlreich und großartig ſind, als in
irgend einem andern Theile der Monarchie. In den
größeren Fabrikſtädten haben ſich natürlich die Verhält-
[389]Die Baugewerbe am Rhein.
niſſe ſchon etwas anders geſtaltet; die Durchſchnittszahlen
der Provinz ſind beeinflußt von den zahlreichen Meiſtern
in den vielen Dörfern. Aber ſelbſt in Köln hat der
Maurermeiſter wie der Zimmermeiſter durchſchnittlich 1861
nur etwa 6 Gehülfen; ähnliche Zahlen zeigen ſich in
Krefeld, Düſſeldorf, Eſſen, Elberfeld, Barmen und
Aachen; in Koblenz und Trier ſind die Geſchäfte noch
ſehr viel kleiner. Die allgemeinen Verhältniſſe begün-
ſtigen dort auch heute noch mehr die kleinen Geſchäfte.
Der Bau auf eigene Rechnung iſt überhaupt auch heute
noch bei richtiger Beaufſichtigung das billigſte. Große
Bauten werden dort, wie anderwärts, nicht von den Werk-
meiſtern, ſondern von königlichen Baumeiſtern entworfen
und geleitet und es handelt ſich dann bei der Ausführung
nur darum, ſtatt einem oder wenigen Werkmeiſtern um-
fangreiche Theile des Baues in Verding zu geben, eine
größere Zahl kleinerer Meiſter für die einzelnen Theile
heran zu ziehen.
Die Aufhebung der Prüfungen für die Bauhand-
werker wird Manches beſonders in den alten öſtlichen
Provinzen ändern. Für die Bauten auf dem Lande,
für die Bauten der kleinen Leute wird ſie entſchieden
als eine Wohlthat zu begrüßen ſein; kleine Wohnun-
gen, Wohnungen für die arbeitenden Klaſſen werden
leichter entſtehen, weil kleine Meiſter, die vom einfachen
Geſellen ſich durch Fleiß und Sparſamkeit empor arbei-
ten, zahlreicher als vorher ſich zu ſolchen Bauten an-
bieten werden. Es kann da auch der Bau auf eigene
Rechnung durch kleine Meiſter wieder etwas häufiger
werden.
[390]Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.
Aber verwiſchen wird ſich dadurch der Gegenſatz
nicht; wo nach den beſtehenden Sitten und Traditionen
die großen Werkmeiſter herkömmlich die Bauten über-
nehmen, da wird es in der Hauptſache dabei bleiben;
Sitten dieſer Art ſind mit tauſend Wurzeln feſt-
gewachſen, hängen überdieß mit ſonſtigen Urſachen,
Klaſſen- und Beſitzverhältniſſen ſo zuſammen, daß ſie
nicht leicht ſich ändern.
Und Manches wirkt den kleinen Bauunternehmungen
in neueſter Zeit noch mehr als andern kleinen Unter-
nehmungen entgegen: eine immer komplizirtere Technik,
große Auslagen für Baumaterialien, Maſchinen und
Vorrichtungen, erhebliche Vorſchüſſe an Löhnen, welche
nothwendig ſind, endlich die Neigung der Beſtellenden,
lange Kredite vom Unternehmer zu fordern, erlauben
nur Leuten von einigem Vermögen, ſolche Geſchäfte zu
beginnen.
[[391]]
Der
Kampf des großen und kleinen Betriebs
in einzelnen Gewerbszweigen.
[[392]][[393]]
1. Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und die
in der Fabriktabelle verzeichneten im Speziellen.
Einleitung. Bedeutung der Nahrungsgewerbe. Zahl der Per-
ſonen. Die großen Betriebe. Die Zuckerinduſtrie. Der Um-
fang der andern hierher gehörenden Fabriken. Das Mühlen-
weſen. Seine Fortſchritte, Mehlhandel und Dampfmüllerei.
Trotzdem daneben der Fortbeſtand der kleinen Mühlen. Die
Spiritusbrennerei, der frühere Kleinbetrieb, der jetzige aus-
ſchließliche Großbetrieb. Die Brauerei, der theilweiſe Ueber-
gang zu größern Geſchäften. Der Gegenſatz zwiſchen dem
Südweſten des Zollvereins und dem Nordoſten.
Die letzten Betrachtungen über die Baugewerbe
haben uns eigentlich ſchon von der allgemeinen auf die
ſpeziellere Unterſuchung einzelner Gewerbe übergeführt,
die als letzter Abſchnitt ſich anſchließen ſoll.
Den Mittelpunkt der Betrachtung wird daſſelbe
Thema bilden wie bisher — die Umbildung der Klein-
gewerbe, die Frage, in wie weit das einzelne Gewerbe
durch die veränderte Technik, durch die Aenderung der
Verkehrsverhältniſſe und Geſchäftsgebräuche, durch die
Anſammlung großer Kapitale, durch die großſtädtiſchen
Verhältniſſe ein anderes geworden iſt. Ich werde mich
dabei aber nicht wie bisher auf die in der Handwerker-
[394]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
tabelle verzeichneten Gewerbe beſchränken können. Auch
in der Fabriktabelle ſtehen viele kleineren Geſchäfte; auch
einzelne eigentliche Großgewerbe, ſoweit ſie mit den
Kleingewerben konkurriren oder ſachlich ihnen nahe ſtehen,
werde ich, wenigſtens flüchtig, berühren müſſen. Rück-
blicke auf frühere Aufnahmen, hauptſächlich aber die
Ergebniſſe von 1861 werden die ſtatiſtiſche Grundlage
bilden. Um die Unterſuchungen nicht allzuſehr an Um-
fang anſchwellen zu laſſen, werden es vorzugsweiſe die
altpreußiſchen Provinzen ſein, auf deren Betrachtung ich
mich beſchränke. — Wenden wir uns zunächſt den
Nahrungsgewerben zu.
Nach den Unterſuchungen von Ducpetiaux, Le Play
und Engel kommen bei einer wohlhabenden Familie
durchſchnittlich 50 Prozent, bei einer Familie des Mittel-
ſtandes 55 Prozent, bei weniger bemittelten Familien
bis zu 65 und 70 Prozent der Ausgaben auf die
Nahrung.1 Die Nahrung iſt bei weitem der größte
Poſten in den meiſten häuslichen Budgets, in allen,
die den gewöhnlichen mittleren Kreiſen angehören.
Dem entſprechend umfaſſen auch die Nahrungs-
gewerbe in ihrem weiteſten Sinne den größten Bruch-
theil der arbeitenden Bevölkerung; es gehört neben den
ſpezifiſch ſogenannten Nahrungsgewerben beinahe die
geſammte landwirthſchaftliche Bevölkerung hierher, welche
in Preußen 1849 noch 51,2 %, 1861 - 454 % der
Bevölkerung betrug, in Sachſen 1849 - 33,82, 1861
[395]Die Bedeutung der Nahrungsgewerbe.
26,78 % der Selbſtthätigen ausmachte. Die landwirth-
ſchaftliche Bevölkerung intereſſirt uns hier allerdings
nicht, wir haben es nur mit den Gewerben im engern
Sinne zu thun. Aber auch ohne die Landwirthſchaft
ſind die Nahrungsgewerbe noch umfangreich genug.
Engel rechnet für die geſammten Nahrungsgewerbe 1849
45,41 % der Selbſtthätigen, wovon 33,82 % auf die
Landwirthſchaft kommen, alſo 11,59 % für Fabriken,
Handwerke, Wirthe und Händler übrig bleiben. Die
Handwerker allein, die hierher gehören, nämlich die
Bäcker, Fleiſcher und Kuchenbäcker, nebſt Fiſchern, Gärt-
nern und Verfertigern von Getreideprodukten, machen
allerdings 1861 nach Viebahn in den verſchiedenen
Zollvereinsſtaaten nur 0,5 — 0,8 % der Bevölkerung aus,
das wären etwa 2 — 3 % der männlichen erwachſenen
Perſonen; der Reſt fällt auf die Fabriken, Mühlen,
Wirthſchaften und Händler.
Die Fabriken für Verzehrungsgegenſtände haben
1861 in Preußen ein Perſonal von 168963 Perſonen,
die Handwerke für Nahrungsmittel ein ſolches von
107092, alſo zuſammen von 276055 Perſonen. Hiezu
kämen noch etwa 80000 — 90000 Perſonen in den Wirth-
ſchaftsgewerben, 50000 Perſonen, welche Viktualien-
handel treiben, eine Anzahl Weinhandlungen und Ge-
treidehandlungen, ſo daß zuſammen mindeſtens 450000
Perſonen oder 2,4 % der ganzen Bevölkerung, 9 — 10 %
der erwachſenen männlichen Bevölkerung herauskommen.
Wie viele von dieſen Perſonen gehören nun wirklich
großen Geſchäften an? Darauf gibt die Statiſtik von 1861
in ſo fern eine Antwort, als ſie alle Fabriken, welche
[396]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
über 50 Perſonen beſchäftigen, beſonders ausgeſchieden hat.
Von den 50319 hierher gehörigen Fabriken, Mühlen und
Anſtalten haben nur 338 je über 50 Perſonen beſchäftigt;
die auf die 338 großen Fabriken fallende Perſonenzahl
iſt 50245, alſo 11,1 % der geſammten vorhin gezählten,
29,7 % der in der Fabriktabelle aufgeführten Perſonen.
Es ſind das hauptſächlich die Rübenzuckerfabriken
und Raffinerien, deren eine durchſchnittlich nach der
preußiſchen Aufnahme 1861 - 159 Perſonen beſchäftigt.
Die Anfänge dieſer Induſtrie waren ſehr viel kleinere;
aber ſchon 1849 kamen in Preußen 130 Perſonen auf
eine einzige Fabrik. Die techniſche Durchſchnittsleiſtung
jeder Rübenzuckerfabrik iſt 1840 — 65 auf das fünffache
geſtiegen.1 Hat hierzu die Art der Beſteuerung, welche
in jeder Weiſe auf techniſche Vervollkommnung, ja ſogar
auf eine Vervollkommnung ſelbſt mit einer übermäßigen
Steigerung der Produktionskoſten hinwirkt, etwas bei-
getragen, hat ſie die Induſtrie weſentlich an die großen
Güter geknüpft, auch mit einer Beſteuerung ähnlich der
franzöſiſchen hätte der Umfang der einzelnen Geſchäfte
wachſen müſſen, hätten ſich die ganz kleinen Fabriken
nicht gehalten.
Viel weniger umfangreich ſind die übrigen hierher
gehörigen Geſchäfte nach der Aufnahme von 1861. Eine
Chocoladenfabrik zählt durchſchnittlich 15 Perſonen, eine
Schaumweinfabrik 9, eine Stärkefabrik — obwohl dabei
die kleinſten Produzenten nicht ſind, ſie ſtehen mit in
der Handwerkertabelle — 6; eine Bierbrauerei und
[397]Der Großbetrieb in den Nahrungsgewerben.
eine Branntweinbrennerei haben je nur gegen 3, eine
Eſſigfabrik, eine Fabrik für eingedickte Pflanzenſäfte, eine
Fleiſchpökelei durchſchnittlich nur gegen 2 Perſonen zur
Verfügung; auf eine preußiſche Mühle kommen noch
nicht 2 Perſonen nach der Aufnahme von 1861. Wenn
wir nur auf den Durchſchnitt ſehen, alſo lauter Ge-
ſchäfte, die den Grenzen des kleinern Betriebs noch nicht
oder kaum entwachſen ſind.
In gewiſſem Sinne kann jede ſolche Durchſchnitts-
zahl freilich trügen; ſie kann das Produkt einer großen
Zahl mittlerer Geſchäfte, wie das Produkt ganz großer
und ganz kleiner Unternehmungen ſein. Mehr oder
weniger iſt das letztere der Fall bei den Mühlen, den
Brauereien und Brennereien.
Im Mühlenweſen drängen zwei Urſachen auf
größere techniſch verbeſſerte Einrichtungen. Der Mehl-
handel im Großen gewinnt eine immer ſteigende Bedeu-
tung gegenüber dem Getreidehandel. Nicht bloß die
große amerikaniſche und deutſche Einfuhr nach England
zeigt mehr und mehr ſtatt des Getreides Mehl, auch
der deutſche Provinzialhandel geht ſchon vielfach auf
Mehl über. Bedeutende Maſſen Weizenmehl werden in
der Mark aus ſchleſiſchen, poſenſchen und preußiſchen
Mühlen bezogen. In Berlin wurden 1866 - 438949
Zentner Weizenmehl und 545204 Zentner Roggenmehl
eingeführt, in Berlin ſelbſt gemahlen nur 118465 Zentner
Weizenkörner und 215718 Zentner Roggenkörner.1 Zu
[398]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
dieſem Mehlhandel iſt aber das in den alten kleinen
Mühlen gemahlene Getreide wenig brauchbar. Die Art
der Befeuchtung beim alten Mahlverfahren macht das
Mehl unhaltbar. Die neueren Mahleinrichtungen erfor-
dern das Befeuchten gar nicht und liefern ein haltbares
Mehl, wie es der Großhandel erfordert.1
Wichtiger noch iſt die billige und beſſere Produktion
an ſich durch die neueren Mühleinrichtungen. Paſſy
verſichert, die gleiche Quantität Korn, die in früherer
Zeit 100 Pfund Mehl geliefert habe, könne nach den
verbeſſerten Einrichtungen über 190 Pfund geben.2 Die
neue Sichtmaſchine von Henri Cabanet aus Bordeaux
allein will, da ſie 10 — 75 % fremde Theile vorher
ausſcheidet, den Steinen eine unnütze Arbeit von 10 —
75 % abnehmen und ſtellt außerdem eine Vermehrung
des Mehles in Ausſicht, die bei allgemeiner Anwendung
gleich 1/45 — 1/50 der ganzen Ernte ſein würde.3 Wie
dem aber genauer im Detail ſei, die Leiſtungsfähigkeit
iſt jedenfalls eine außerordentlich viel größere. Der
Gang einer Wind- oder Roßmühle macht in 24
Stunden 8 — 12 Scheffel, ein Waſſergang 24 Scheffel,
ein Dampfgang 48 Scheffel bei unausgeſetztem Betriebe.4
[399]Die Fortſchritte der Müllerei.
Die beſſern Einrichtungen ſind nichts Neues. Das
amerikaniſche Mahlverfahren wurde ſchon Anfang der
dreißiger Jahre in größern ſtädtiſchen Mühlen einge-
führt. In den großen Seeſtädten, auch theilweiſe in den
bedeutendern Binnenſtädten exiſtiren heute große Aktien-
unternehmungen ſowie reiche Unternehmer, die nicht mehr
mit der Lohnmüllerei ſich abgeben, ſondern die Müllerei
und die Mehlſpekulation auf eigene Rechnung im Gro-
ßen betreiben. Die Dampfmühlen haben bedeutend zu-
genommen; jede ganz große Mühle beinahe muß, wegen
der Ungleichheit des Waſſerzufluſſes, wenigſtens eine Re-
ſervedampfmaſchine haben. Es gab deren in Preußen
Das ſind die großen Geſchäfte, deren einzelne bis
zu 60 und 70 Arbeiter beſchäftigen. Sie haben beſon-
ders von 1861 bis zur Gegenwart noch große Fort-
ſchritte gemacht, aber ſie werfen ſich auch mehr und
mehr auf den Export. Der Stettiner Handelskammer-
bericht von 18651 ſchildert in glänzenden Farben die
Fortſchritte der großen Dampfmühlen, beſonders der
Stettiner Dampfmühlenaktiengeſellſchaft, aber als Haupt-
erfolg hebt er hervor, daß die Produkte nunmehr auf
engliſchen und franzöſiſchen Märkten konkurriren können.
Das kann es uns erklären, daß die Konkurrenz der
großen Dampfmühlen den zahlreichen kleinen Mühlen
[400]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
noch nicht allzu gefährlich war. Die letzteren beſtreiten
noch immer den größten Theil des Bedürfniſſes. Der
Mehlhandel im Großen iſt verſchwindend gegen den loka-
len Mehlbedarf. Alle techniſche Vollendung und billige
Produktion großer Unternehmungen kann nicht aufkom-
men gegen die Transportkoſten, die aus einer größern
Konzentration des Mühlenweſens entſtehen würden. Und
theilweiſe ſind ja die Verbeſſerungen auch im kleinen
Betrieb anzubringen.
Die ländlichen Mühlen ſind auch jetzt noch die Haupt-
ſache; 1861 ſind von den preußiſchen Waſſermühlen
88 % ländliche,1 von den Windmühlen wohl noch mehr.
In Sachſen exiſtiren 1855 - 512 ſtädtiſche, 3543 länd-
liche Mühlen; von 5328 gewöhnlichen deutſchen Gängen
ſind 2979 noch nicht über 4 Monate im Gange.2 Der
kleine Müller iſt nebenher Bauer, Wirth, er hat eine
kleine Säge- oder Oelmühle mit ſeiner Waſſerkraft ver-
bunden und iſt trotz unvollkommener Technik ein wohl-
habender Bürger und Handwerker, der nicht unter der
Konkurrenz der großen Mühlen leidet. Als Beweis,
daß ſelbſt die kleinen Windmühlen die neuern Fortſchritte
der Technik theilweiſe adoptiren können, führe ich die
Bemerkungen der Greifswalder Handelskammer von
1865 an;3 es wird, nachdem der ſchwunghafte Betrieb
der einzigen Dampfmühle erwähnt iſt, berichtet, die
dortigen 20 Windmühlen hätten ungefähr die gleiche
[401]Der Fortbeſtand der kleinen Mühlen.
Quantität Roggen und Weizen, aber ausſchließlich für
den Platzkonſum vermahlen. Dann heißt es: „Dank
der ſpornenden Konkurrenz der Dampfmühlen muß an-
erkannt werden, daß die Windmühlen ihr Mahlſyſtem
jetzt hier ſämmtlich verbeſſert und nach dem Muſter
der Dampfmühlen eingerichtet haben. Sie haben des-
halb es auch dahin gebracht, in Roggenmehl ein ſo
gutes Produkt zu liefern, daß ſie wohl von dieſer Sorte
hier die Platzverſorgung der Hauptſache nach behaupten
können, da gerade auch Roggen ſich für kleinere Mühlen-
betriebe geeigneter zeigt als Weizen.“ Auch auf der
dießjährigen Ausſtellung von Müllereimaſchinen und
-Produkten in Leipzig hatte man den Eindruck, daß die
meiſten Fortſchritte und Verbeſſerungen in kleinen
Mühlen durchzuführen ſeien. Die theilweiſe ganz neuen
Hülfsmaſchinen ſind nicht allzutheuer. Die vorhin
erwähnte Sichtmaſchine z. B. war zu 1200 Francs
notirt. Aehnlich manche der andern Maſchinen. Bei
einzelnen beſſern Hülfsvorrichtungen am Mahlgang
handelt es ſich ſogar nur um ein paar Thaler.
So kommt es, daß uns die Statiſtik neben der
Zunahme der Dampfmühlen keine Abnahme der andern
zeigt. Man verzeichnete in Preußen früher Waſſer- und
Windmühlen zuſammen, erſt ſpäter getrennt. Von den
Windmühlen haben in der Regel die alten Bockmühlen,
welche noch 1861-88 % der geſammten Windmühlen aus-
machen, einen, die holländiſchen Mühlen zwei Gänge. Die
Zahl der Gänge wird bei den Windmühlen nicht aufge-
nommen. Abgeſehen nun von den nicht zahlreichen durch
thieriſche Kräfte getriebenen Mühlen gab es in Preußen:
Schmoller, Geſchichte d. Klein gewerbe. 26
[402]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Nach Aufhebung des Mühlenzwangs 1810 in
Preußen waren viele Windmühlen raſch entſtanden;
1825 wurde der Bau einer Windmühle an eine Kon-
zeſſionsertheilung geknüpft, welche erfolgen ſollte je nach
dem Bedürfniß; ſeit 1845 iſt das beſeitigt; in Folge
hiervon trat die bedeutende Zunahme der Windmühlen
ein, die aber nicht ſtattgefunden hätte, wenn die Kon-
kurrenz der großen Etabliſſements auch auf dem Lande
und in den kleinen Städten wirkte.
Im Süden und Weſten Deutſchlands iſt die Zahl
der Mühlen größer, ſchon weil der Mehlkonſum viel
ſtärker iſt. Selbſt die größern Geſchäfte aber ſind
kleiner als im Norden; auf eine badiſche Dampfmühle
kommen nach Viebahn 14, auf eine pommerſche 40
Gänge. Es gibt im Süden noch viel mehr Lohn- oder
Kundenmühlen; man hat dort auch viele Kundenmühlen
mit verbeſſerten amerikaniſchen Einrichtungen. Dagegen
fehlen dort die kleinen ländlichen Windmühlen. Es
überwiegt die mittlere Waſſermühle, während man in
Norddeutſchland mehr ganz große und ganz kleine Ge-
ſchäfte findet.
[403]Die Branntweinbrennerei.
Die Branntweinbrennerei gehört nach der ſozialen
Stellung der Unternehmer weniger dem gewerblichen
als dem landwirthſchaftlichen Leben an. Aber ein paar
Worte mögen doch erlaubt ſein.
Die preußiſche Branntweinbrennerei empfing ihren
Hauptimpuls durch die landwirthſchaftliche Ueberproduk-
tion der zwanziger Jahre. In jener verkehrsarmen Zeit
war ſie doppelt am Platz, um die untransportablen
Kartoffeln, auch das Getreide zu verwerthen. Es ent-
ſtanden die vielen kleinen und vielfach unvollkommenen
Brennereien. Von 1831 ab nimmt, wohl auch in
Folge der verſchärften Steuer, die Zahl der Brennereien
ſchon ab, die Geſammtproduktion ſteigt aber noch bis
1839; da erreicht die preußiſche Produktion den Höhe-
punkt von 197 Millionen Quart Branntwein oder 13,2
Quart pro Kopf der Bevölkerung.1 In den vierziger
Jahren kamen die ſchlechten Kartoffelernten hinzu; 1854
iſt die Produktion geſunken bis auf 109 Mill. Quart.2
Die Rohſtoffe ſind theilweiſe ſchon einträglicher anders
zu verwerthen, die Branntweinpreiſe ſind in Folge der
Ueberproduktion außerordentlich gefallen. Das Quart
koſtete in leichten Pfennigen:3
26 *
[404]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Den tiefſten Stand erreichen die Preiſe 1849 und
50; da ſtehen ſie auf 24 Pf. pro Quart in Berlin.1
Man hatte in kleinen Geſchäften überall fortproduzirt
ohne jede Rückſicht auf den Abſatz des Branntweins,
nur um die Schlempe als Viehfutter zu haben. Sie
hat ihrer Zuſammenſetzung wegen einen beſondern
Werth, braucht weniger Zuſätze an Proteinſtoffen, als
wenn man die Kartoffeln direkt verfütterte; das kann
ja unter Verhältniſſen ſo weit gehen, daß die Schlempe,
die als Viehfutter nebenher abfällt, ſo viel Werth hat,
als der urſprüngliche Rohſtoff im Ganzen.2
Das war auch hauptſächlich die Urſache, warum die
Fabrikation trotz der Ueberproduktion und den geſunkenen
Preiſen nicht ganz aufhörte. Ja ſie nimmt von 1854
an ſogar einen neuen Aufſchwung; ſie ſteigt von 109
Mill. Quart 1854 bis auf 208 Mill. Quart 1864.
[405]Der Sieg des Großbetriebs in der Brennerei.
Aber möglich war das nur durch das vollſtändige
Verlaſſen des Kleinbetriebs. Die Zunahme iſt rein
auf Rechnung der vollendeten Technik, des Großbetriebs,
der Brennereien auf ganz großen Gütern zu ſetzen.
Schon in den dreißiger Jahren hatten die Fortſchritte
in den Fabriken, welche den Betrieb fortſetzten, begonnen,
vollendet haben ſie ſich erſt von 1854 ab. Die Zahl
der Geſchäfte hat bedeutend abgenommen; es gab:
Schon 1831 freilich zahlten von den 13819 betriebenen
Geſchäften 2795 je über 500 Thlr. jährliche Brannt-
weinſteuer, aber 1865 zahlen von 7711 nicht weniger als
3682, alſo beinahe die Hälfte, über 500 Thlr. Der
Umfang der Geſchäfte nimmt auf der Linie nach Nordoſt
wieder zu. Im Jahre 1864 haben 533 Brennereien
über 5000 Thlr. Steuern gezahlt, 115 hiervon fallen auf
Poſen, 51 auf Pommern, 74 auf Schleſien, 124 auf
die Mark, 90 auf Sachſen; das ſind zuſammen 454.
Die 466 Brennereien Poſens produziren das dreifache
Quantum der 2422 rheiniſchen Brennereien. Es liegt in
alledem der klare Beweis, daß der Großbetrieb zur
Herrſchaft gelangt iſt. Wenn 1861 auf eine Brennerei
durchſchnittlich 3 Perſonen kommen, ſo beweiſt das nur,
daß neben den großen Etabliſſements im Oſten eine
gewiſſe Zahl ganz unbedeutender Brennereien noch
exiſtirt, ſowie daß die Erhebung der Perſonenzahl nicht
genau ſein kann bei einem Nebengewerbe, das nur
[406]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
einen Theil des Jahres Perſonen beſchäftigt, die ſonſt
rein der Landwirthſchaft ſich widmen.
Etwas anderes iſt es mit der Brauerei, wenn
gleich auch ſie vielfach in den Großbetrieb übergeht.
Die Brauerei tritt auch theilweiſe als ländliches Neben-
gewerbe auf, aber viel weniger, als die Branntwein-
brennerei; ſie flüchtete ſich hauptſächlich zu einer Zeit
aufs Land, als die Zunftmißbräuche in den Städten
gerade hier, gerade in dieſem Gewerbe den höchſten
Grad erreicht hatten.1
Die alte weitberühmte Brauerei der deutſchen
Städte, welche bis in das 17te Jahrhundert ſich erhal-
ten hatte, zerfiel im 18ten mehr und mehr. Thee und
Kaffee, Wein und Branntwein verdrängten das Bier
bei Vornehm und Gering. Die ſtädtiſche Brauzunft
beſtand aus einer Anzahl Hausbeſitzern, die das aus-
ſchließliche Recht zu brauen als eine Pfründe betrachteten,
es häufig nur verpachteten, jedenfalls wenig von der
Brauerei verſtanden, da ſie nicht, wie andere Real-
berechtigte, gezwungen waren, durch eine techniſche
Bildung ſich das Meiſterrecht zu erwerben. Bei ſinken-
dem Abſatz wurde das Reihebrauen eingeführt, oft mit
einem gemeinſamen Malzhaus und in einem gemein-
ſamen Brauhaus, welche jeder nach der Reihe benutzte,
weil es nicht lohnte, mehrere ſtehende Einrichtungen
derart zu haben.2
[407]Die Bierbrauerei.
Erſt mit einer veränderten Gewerbegeſetzgebung,
welche dieſe Mißbräuche beſeitigte oder zu beſeitigen
erlaubte, nahm die Brauerei einen neuen Aufſchwung,
zeigte ſich aber auch bald die Neigung zu größern Ge-
ſchäften. Die Möglichkeit eines bedeutenden Abſatzes in
die Ferne iſt vorhanden, die techniſchen Anſprüche an
die gute Leitung einer Brauerei, wie an die Vollkommen-
heit der Einrichtung haben ſich immer mehr geſteigert.
„Eine den heutigen Anforderungen entſprechende Kunſt-
brauerei“ — ſagt Viebahn — „bedarf nächſt ausgedehn-
ten Gebäuden eines umfaſſenden Syſtems von Apparaten
und Maſchinen zum Darren und zur Zerkleinerung des
Malzes, zur Fortſchaffung und zum Kochen des Malz-
ſchrotes, eiſerner Kühler in Verbindung mit Ventilatoren
und Eiskühlung, welche eine für längere Dauer geeignete
Untergährung auch bei wärmerer Witterung ermöglichen,
Saccharometer zur genauen Beobachtung des Gährungs-
laufes, ausgedehnter Eis- und Bierkeller. Die alten
profeſſionsmäßigen Brauereien ſind der Konkurrenz mit
dieſen neuen planmäßig eingerichteten Fabriken im Bier-
handel ſelten gewachſen, ſie beſchränken ſich deshalb, da
ſie meiſtens auch Schenken haben, auf die Produktion
für den eigenen Bedarf.“
Letztere ſind im Süden Deutſchlands, am Rhein
und in Weſtfalen noch zahlreicher; auch da vergrößern
ſich die einzelnen Geſchäfte;1 beſſere, theuerere Einrich-
tungen werden gemacht; aber vielfach auch in kleinern
mit Schank- und Gaſtwirthſchaft verbundenen Geſchäften.
[408]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Jedes Dorf beinahe, jedes kleine Städtchen hat eine
oder einige Brauereien. Die ſoziale Stellung des
Brauers iſt dort überwiegend noch die eines wohlhaben-
den Handwerkers, während im Norden der Brauer ein
vornehmer Fabrikherr geworden iſt.
Die bairiſchen Brauereien, von welchen die Impulſe
des Fortſchrittes ja weſentlich ausgingen, ſind theilweiſe
ſehr groß, im Durchſchnitt aber auch noch mäßigen Um-
fangs. Der jährliche Durchſchnittsverbrauch an Malz
für eine Brauerei wird auf 247 bairiſche (etwa 1000
preußiſche) Scheffel gerechnet, die entſprechende Pro-
duktion auf 1730 bairiſche Eimer Bier.1 In München
waren 1857 zwei Brauereien, welche jährlich über 100000
Eimer (100 = 93 preuß.), 10 welche zwiſchen 34000
und 77000 Eimer produzirten, und 14 kleinere, auf
welche durchſchnittlich 14000 Eimer kamen. Das
ſind große Geſchäfte. Aehnliche gibt es in Erlangen,
Nürnberg, Kitzingen, Kulmbach, Landshut, Regensburg,
Windsheim, Bayreuth, Hof und Tölz; die übrigen
Brauereien im Lande ſind dagegen viel kleiner.
In Preußen werden die nicht gewerblichen
Brauereien, die nur für den Hausbedarf arbeiten,
unterſchieden von den gewerblichen; die Zahl der
nicht gewerblichen hat ſich wenig geändert, dagegen
hat die Zahl der gewerblichen bedeutend abgenommen,
während die Produktion allein von 1854—64 von 9
auf 14 Quart pro Kopf ſtieg; es waren:2
[409]Die Abnahme der kleinen Bierbrauereien.
Die Abnahme erfolgte in den verſchiedenen Pro-
vinzen wieder in derſelben Ordnung von Südweſt nach
Nordoſt; ſie betrug 1839—64 in Prozenten:
Aus dieſen Zahlen iſt erſichtlich, wie viel ſtärker
der Rückgang der ländlichen als der ſtädtiſchen Geſchäfte,
hauptſächlich aber, wie viel ſtärker der Rückgang in
den öſtlichen Provinzen iſt. Die ſtädtiſchen Brauereien
der Rheinprovinz haben am wenigſten abgenommen, die
ſchleſiſchen ſogar etwas zugenommen. Deutlicher noch
zeigt ſich die Größenvertheilung der Unternehmungen in
folgender Tabelle, welche zuſammengezogen nach den
Zahlen von Bienengräber mittheilt, wie groß die Zahl
der Brauereien iſt, welche 1864 eine beſtimmte Quan-
tität Braumalz verarbeiten. Ich füge in der letzten
Spalte nach Viebahn den Betrag bei, den 1865 durch-
ſchnittlich eine Brauerei an Steuer zahlte.
[410]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die kleinen Geſchäfte, welche unter 100 Centner
Braumalz verbrauchen, ſind der Zahl nach nur in den
beiden weſtlichen Provinzen noch überwiegend; dagegen
ſind der Zahl nach überall noch die mittleren Geſchäfte
vorherrſchend, welche zwiſchen 100 und 1000 Centner ver-
arbeiten. Die Aenderung aber ſeit 1853 in dieſer
Beziehung iſt groß; damals machten aus
Wenn vorerſt noch die Mittelgeſchäfte überwiegen,
ſo iſt die Frage, wie lange das noch anhält. Wir ſind
auch hier mitten inne in dem Umbildungsprozeß.
[[411]]
2. Die Bäcker und die Fleiſcher.
Die techniſchen Fortſchritte in der Bäckerei. Die Brodfabriken.
Die Urſachen ihrer geringen Zunahme. Die preußiſchen Bäcker
1816—61. Ihre Stabilität. Die Brodkonſumtion und die
Hausbäckerei. Die Kuchenbäcker und die Konfiturenfabriken.
Das Fleiſchergewerbe. Seine großſtädtiſche Organiſation. Die
Schlachthausfrage. Die preußiſchen Fleiſcher 1816—61.
Kleine Geſchäfte und geringe Zunahme. Die Fleiſchproduktion
und Konſumtion. Ihre theilweiſe Abnahme. Hausſchlächterei
und gewerbliche Schlächterei.
Sieht man nur auf die Technik und ihre Fort-
ſchritte, ſo könnte man erwarten, daß die Brodfabri-
kation der Brauerei in ihrer Umbildung nicht nach-
ſtünde. Nicht bloß die alte Art der Brodbereitung
hat große techniſche Verbeſſerungen aufzuweiſen, auch
ganz neue Methoden ſind in den großen engliſchen
Brodfabriken in Anwendung.
Ich erwähne als Beiſpiel die in einigen engliſchen
Dampfbrodfabriken eingeführte Methode von Daugliſch.1
Sie beſteht darin, daß das Mehl unter Zugabe der
erforderlichen Menge Salz unter ſehr hohem Drucke
in einer Athmoſphäre von Kohlenſäure mit an Kohlen-
[412]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſäure geſättigtem Waſſer angerührt wird. Der Teig
enthält dann kohlenſaures Gas in Waſſer unter hohem
Druck vertheilt. Sobald dieſer Druck aufgehoben wird,
ſtrebt das komprimirte Gas zu entweichen und lockert
dabei den Teig. Das Backen erfolgt in einem 40 Fuß
langen Ofen, deſſen Sohle aus Eiſenplatten beſteht und
von unten geheizt wird; über der Sohle läuft ein end-
loſes Rollenpaar, das die Backplatten trägt und all-
mählig nach dem andern Ende des Ofens bringt. Das
Brod iſt ausgezeichnet; die Ausgaben für Hefe und
mancherlei Verluſte fallen weg; Arbeit iſt beinahe keine
nöthig, da Alles durch Maſchinen geſchieht. Das Mehl
iſt in 1½ Stunden in fertiges Brod verwandelt, wäh-
rend ſonſt eine 3—4 fache Zeit nothwendig iſt.
Auch in England, ſpeziell in London, aber ſind
ſolche Etabliſſements nach der ausdrücklichen Verſicherung
eines kompetenten Beurtheilers1 1861 noch ſehr ſelten
gegenüber der Maſſe gewöhnlicher Bäcker.
Außerordentliches läßt ſich unter Beibehaltung
der alten Art der Zubereitung ſchon leiſten durch
die verbeſſerten, vornehmlich durch die ganz großen
Backöfen. Engel hat ſchon 1857 über die Er-
ſparung an Heizkoſten und Heizmaterial intereſſante
Berechnungen gemacht.2 In den gewöhnlichen land-
[413]Die Brodfabriken und die verbeſſerten Backöfen.
wirthſchaftlichen Backöfen, — ſagt er — in welchen nur
zeitweilig Brod gebacken wird, braucht man für je
100 Pfund Brod 60—70 Pfund Holz; in Oefen,
worin täglich 2- bis 3 mal gebacken wird, 30—36
Pfund; in Oefen, in welchen Tag und Nacht ununter-
brochen gebacken wird, 17—18 Pfund; das macht das
Pfund Holz zu 1 Pfennig gerechnet 70, 36 oder
18 Pfennige; bei konſtanter Steinkohlenheizung braucht
man 10—12 Pfund Steinkohlen, die 7—8 Pfennige
koſten, womit die wirklichen Rechnungen der großen
Bäckerei im Hoſpital St. Jean in Brüſſel überein-
ſtimmen. Engel nimmt an, daß in Sachſen jährlich
800 Millionen Pfund Brod konſumirt werden, und daß
demnach durch Konzentration der ganzen Brodbäckerei
eine Erſparniß von nahezu einer Million Thaler zu
erzielen wäre. Die jetzt viel genannten Wochenmeyer-
ſchen Dampfbacköfen leiſten bei gleichen Koſten mindeſtens
das 2½ fache gewöhnlicher Backöfen.
Zu derartigen großen Einrichtungen gehört aber ein
großes Kapital. Reiche Unternehmer nur oder Aktien-
geſellſchaften, Spitäler, große militäriſche Verpflegungs-
anſtalten, ſowie Genoſſenſchaften können ſie in die Hand
nehmen. In Stuttgart iſt Ende 1865 eine Brod-
fabrik entſtanden, welche einen großen Zulauf hat und
eine gute Qualität Brod unter dem Preiſe der übrigen
Bäcker liefert. Die Berliner Aktienbäckerei hat nach
Viebahn einen jährlichen Abſatz von 15 Millionen Pfund.
In Trier und Köln ſind große Geſchäfte, die ihre Pro-
dukte meilenweit in die Umgegend abſetzen. Die Bäcke-
reien von Hameln ſollen in den letzten Jahren für etwa
[414]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
42000 Thaler jährlich Brod nach Weſtfalen abgeſetzt
haben. In Berlin und Chemnitz exiſtiren große Ge-
noſſenſchaftsbäckereien, der St. Johann-Saarbrücker
Konſumverein hat eine eigene Brodbäckerei.
Die zweite Vorausſetzung ſolcher großer Bäckereien
iſt die Organiſation des Abſatzes, des Brodhandels.
Nun iſt der Brodhandel ja beſonders in Nord-
deutſchland ſehr entwickelt, der Brodverkauf auf den
Wochenmärkten durch die umliegenden Landmeiſter iſt
ziemlich bedeutend. Häufig haben die Landmeiſter
beſtimmte Kunden in der Stadt, denen ſie täglich oder
alle paar Tage die nothwendige Brodquantität in’s
Haus bringen. In Berlin wurden 1864 - 184400
Zentner Brod eingeführt. Aber das iſt mehr ein Brod-
handel im Kleinen; die Frau und die Kinder des Land-
meiſters beſorgen ihn, ohne daß es dazu koſtſpieliger
Organe bedurfte. Auch die genoſſenſchaftliche Bäckerei
kommt ohne große Koſten für den Abſatz weg. Die
Mitglieder holen es in der Regel in den ohnedieß
gehaltenen Kaufſtellen.
Nicht ſo die Privatbrodfabrik. Bei ihr entſtehen
bedeutende Koſten für Verkaufsſtellen, für den Transport,
welche theilweiſe die Erſparniſſe der Maſſenproduktion
aufwiegen können. Die Einrichtung beſonderer Brod-
wagen, welche herumfahren, den Familien den täglichen
Bedarf in’s Haus zu liefern, lohnt nur in großen
Städten. Und dann koſtet eine ſolche Organiſation nicht
bloß viel, ſie widerſtreitet auch vielfach den Gewohn-
heiten und Bedürfniſſen. Viele wollen nicht ſo feſt
beſtellen, ſondern ſelbſt einkaufen, in der Nähe ein-
[415]Die Erhaltung der profeſſionsmäßigen Bäckerei.
kaufen. Jede Hausfrau wünſcht einen Bäcker in nächſter
Nähe zu haben, beſonders um friſches Gebäck jederzeit
zu bekommen. Dieſes lokale Bedürfniß iſt neben der
Zähigkeit aller Gewohnheiten, neben dem meiſt noch
mangelnden Kapital und den früher und bis in die
neuere Zeit mangelnden Kenntniſſen in den Kreiſen der
gewerbsmäßigen Bäcker die Haupturſache davon, daß
bis jetzt die Brodfabriken ſo wenig Terrain erobert
haben, daß bis jetzt die althergebrachte profeſſionsmäßige
Bäckerei in der Hauptſache noch unbeſtritten herrſcht.
Dazu kommt freilich noch ein wichtiger Umſtand.
Die erwähnten ganz neuen Syſteme laſſen ſich nur
in großen Fabriken durchführen, die höchſte Feuer-
materialerſparniß tritt nur ein bei Etagenbacköfen, welche
in 3 — 4 Stockwerken zugleich zu backen erlauben, aber
eine Reihe anderer kleinerer Verbeſſerungen und Erfin-
dungen, die das Geſchäft ſchon ziemlich rentabler machen,
ſind ſo, daß ſelbſt der kleinſte Bäcker ſie anwenden
kann. Sie gerade haben ſich mannigfach in letzter
Zeit verbreitet, haben ſich leichter verbreitet, weil ſie
ſich an das beſtehende Syſtem kleiner Geſchäfte
anſchließen.
Die Knetmaſchinen ſind einfach, billig, durch die
Hand in Bewegung zu ſetzen. Dampfbacköfen kleinſten
Umfangs und ſehr billig werden heute neben den großen
gebaut. Mit Horsford-Liebig’ſchem Backpulver, das
man in kleinen Probepacketen von 5 Pfund, dann in
Kiſten von 50 Pfund für ein paar Thaler erhält, kann
jeder heute verſuchen zu backen; jeder, der es anwendet,
wird 10 — 12 % mehr Brod, wird innerhalb 2 Stunden
[416]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
aus dem Mehl fertiges Brod erhalten, wenn die
Angaben, durch welche dieſes Pulver empfohlen wird,
richtig ſind. Alle ſolche techniſchen Aenderungen ſtützen
wieder den Kleinbetrieb.
Daß jedenfalls bis 1861 in Preußen ſich im All-
gemeinen der Kleinbetrieb vollſtändig erhalten hat, das
lehrt die folgende Tabelle, welche eine Ueberſicht über
die preußiſchen Bäcker von 1816 — 61 gibt:1
Die Zahl der Gehülfen iſt ziemlich geſtiegen, aber
noch hat ſie 1861 die der Meiſter nicht erreicht;
noch können nach dieſer Durchſchnittszahl nur wenige
größere Geſchäfte vorhanden ſein; noch hat nach dem
Zahlenverhältniß an ſich jeder Gehülfe die Ausſicht, ſelbſt
Meiſter zu werden.
Das Verhältniß ſämmtlicher Gewerbetreibenden
eines Handwerks zur Bevölkerung gibt da, wo die
Technik ſich ſchon vollſtändig geändert hat, kein Bild der
Produktion, aber bei der Bäckerei, wo das bis 1861 noch
ſo wenig der Fall iſt, da belehrt uns das Verhältniß der
Zahl der Gewerbetreibenden zur Bevölkerung über die
Größe der Produktion; denn bedeutend kann der Umfang
der Geſchäfte in ſolchem Falle bei gleichbleibender Meiſter-
und Gehülfenzahl nicht wachſen. Die Zahl der Bäcker
nun ſchwankt von 1816 — 49 etwas, bleibt mehr oder
weniger hinter der Bevölkerung zurück; 1849 iſt die Zahl
dieſelbe wie 1816 und erſt von da überholt ſie die Be-
völkerung, aber nur um 4,9 %. Wie viel ſpricht man
von den Fortſchritten der Konſumtion, von der Ver-
beſſerung der Lage aller Klaſſen, von der beſſern Er-
nährung, welche heutzutage ſtattfinde, und wir ſehen
hier das ganze 19 te Jahrhundert hindurch faſt unver-
änderte Verhältniſſe, kaum eine etwas größere Zahl
Bäcker! Und man denke nur, wie z. B. die ſtädtiſche
Bevölkerung zugenommen hat, welche nach der gewöhn-
lichen Annahme doch ihr Brod und Gebäck vom Bäcker
bezieht.
Jedenfalls beweiſt die geringe Aenderung von 1816
bis 1861 wieder die elementare, ſtabile Natur der ein-
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 27
[418]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
fachen Handwerke, beweiſt, wie langſam die Gewohn-
heiten des häuslichen und wirthſchaftlichen Lebens ganzer
Völker ſich ändern.
Uebrigens hängt die Zahl der Bäcker von zwei
ganz verſchiedenen Urſachen ab, 1) davon, wie viel Brod
gegeſſen wird gegenüber Breiarten, gegenüber der Kar-
toffelkonſumtion und 2) davon, wie viel Brod vom
Bäcker gekauft, wie viel von den Hausfrauen ſelbſt
bereitet wird. Die erſte Urſache kommt beſonders für das
platte Land und für die öſtlichen preußiſchen Provinzen
in Betracht. Wenig hat ſich da in den Lebensgewohn-
heiten des ländlichen Arbeiters, des Landvolks noch
geändert. Die Zahl der Landbäcker iſt beinahe dieſelbe
1849 und 1858. In Preußen im engern Sinne
kommen auf 10000 Einwohner, wie oben ſchon erwähnt
iſt, 6, in Weſtfalen 21, in Württemberg 36 Bäcker-
meiſter.
Ebenſo freilich iſt an dieſen Zahlen die Haus-
bäckerei ſchuld. Viebahn nimmt an, daß in Frankreich
die Hälfte, in ganz Deutſchland nur ⅓ des gebackenen
Brodes vom Bäcker gekauft wird. Hauptſächlich im
Nordoſten Deutſchlands iſt auf dem Lande das Haus-
backen noch üblich. Das Leben iſt in dieſer Beziehung
da faſt daſſelbe, wie vor 50 und 100 Jahren. Wenn
auch z. B. im Regierungsbezirk Köslin, der die wenig-
ſten Bäcker überhaupt hat, die Landmeiſter von 17
im Jahre 1849 auf 41 im Jahre 1861 gewachſen
ſind, ſo will das nicht viel ſagen. Aber auch auf
dem Lande in Mittel- und Weſtdeutſchland hat ſich
noch nicht viel geändert. Viebahn berichtet von Sachſen
[419]Der Brodkonſum und die Hausbäckerei.
ausdrücklich, daß man mehr zu dem Syſteme der
häuslichen Brodbäckerei auf dem Lande zurückkehre,1
wie das mit dem Bau von Gemeindebacköfen ja auch
anderwärts geſchieht. Was die Städte betrifft, ſo hat
in den höhern Kreiſen das Hausbacken bedeutend abge-
nommen; in den untern aber verhält es ſich, theil-
weiſe wenigſtens, umgekehrt. Selbſt der Aermſte wird
dem Bäcker etwas durch Einkauf friſcher Semmeln zu
verdienen geben. Das Selbſtbacken des Brodes aber
hat in dieſen Kreiſen mit der ſteigenden Theuerung des
ſtädtiſchen Lebens, mit den Nothſtänden des ſtädtiſchen
kleinen Mannes wieder zugenommen. Von verſchiedenen
Orten höre ich das; hier in Halle iſt es entſchieden der
Fall. Es hängt das in den preußiſchen Städten theil-
weiſe mit der Mahlſteuer zuſammen. Beim Bäcker
muß ſie mit bezahlt werden; zum Hausbacken bringt
man das Mehl in ſo kleinen Quantitäten durch die
Kinder in die Stadt, daß die Steuer vermieden wird.
Zugleich aber rechnet die Hausfrau ihre Arbeit nicht,
weil ſie ſie häufig doch nicht anders verwerthen kann,
während ſie die des Bäckers theuer bezahlen muß.
27 *
[420]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Es iſt aus dieſen Bemerkungen erſichtlich, daß die
Stabilität der Bäckerzahl im Ganzen ſich aus verſchie-
denen Verhältniſſen zuſammen ſetzt. Zugleich zeigt eine
derartige konkrete Betrachtung, von wie vielen Umſtän-
den eine allgemeine Bewegung wie die fortſchreitende
Arbeitstheilung, welche die abſtrakte Nationalökonomie
gerne ohne weiteres annimmt, im Einzelnen ab-
hängig iſt.
Ein Hauptnebengewerbe der Bäcker in Süddeutſch-
land, das ihre Zahl weſentlich dort vermehrt, iſt der
Weinſchank; im Norden iſt das weniger Sitte, wohl
aber ſind hier die Konditoreien ſehr viel mit dem Aus-
ſchank von Kaffee, Thee und Punſch oder mit Zeitungs-
kabinetten verbunden. Daraus und aus dem ſteigenden
Wohlſtand überhaupt iſt die Zunahme dieſer Gewerbe-
treibenden, welche beinahe nur in den Städten vor-
kommen, zu erklären. Dieterici hat ſchon früher darauf
aufmerkſam gemacht, daß die Hauptzunahme in den
öſtlichen Provinzen erfolgt ſei.1 Das liegt theilweiſe
in den Lebensgewohnheiten. Der Rheinländer geht in
die Kneipe, im Norden geht man in die Konditorei.
Theilweiſe hängt es auch mit der ungleichern Vermögens-
vertheilung zuſammen.
Die preußiſchen Zahlen der Konditoren und Kuchen-
bäcker, die ich leider nur ſeit 1831, vollſtändig nur ſeit
1849 mittheilen kann, ſind folgende:
[421]Die Konditoren und Kuchenbäcker.
Der Umfang der einzelnen Geſchäfte iſt größer als
bei der Bäckerei; die Zeit von 1849 — 61 zeigt in
dieſer Beziehung eine nicht unweſentliche Aenderung.
Es hat ſich neben den kleinen Geſchäften mehr und mehr
eine fabrikartige Produktion entwickelt, die nur theil-
weiſe in der Fabriktabelle vorgetragen, theilweiſe noch
in der Handwerkertabelle verzeichnet iſt. Chokoladen-,
Konfituren-, Eſſenzen-, Liqueurfabriken entſtehen da und
dort. Zuckerbackwaaren bilden ſogar einen nicht unbe-
deutenden [Exportartikel] des Zollvereins. Viebahn hebt
eine Reihe von Orten hervor, wo die Fabrikation blüht.1
Königsberg, ſagt er, liefert ſeinen Marzipan, Thorn
[422]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſeinen Pfefferkuchen maſſenhaft in den Handel; letzteres
fabrikmäßig jährlich gegen 2000 Centner. In Halle
und Eilenburg werden Zuckerwaaren und Konfituren
fabrikmäßig hergeſtellt, bis Süddeutſchland und in die
Oſtſeeprovinzen abgeſetzt. In Sachſen hat ſich die
Großinduſtrie der Fabrikation von Bonbons, Dragées,
engliſchem Biskuit und dergleichen mit Erfolg bemächtigt,
namentlich ſeit zweckmäßige Maſchinen für einzelne
Zweige in Anwendung kamen.
Das Fleiſchergewerbe gehört wie die Bäckerei zu
den Gewerben, in welchen zu einer ſelbſtändigen Unter-
nehmung, abgeſehen vom Hausſchlächter auf dem Lande,
von jeher ein gewiſſer Beſitz, ein gewiſſes Kapital gehört
hat. Die Technik des Gewerbes hat vielleicht noch
weniger als bei dem Bäckergewerbe ſich bis jetzt geändert.
Wohl exiſtiren in großen Städten, beſonders in den
Seeſtädten, große Pökel- und Räucherungsanſtalten
mit mehr fabrikmäßigem Betrieb, wohl ſetzen auch
größere Wurſtfabriken ihre Schneide- und Hackapparate
mit Dampf in Bewegung; aber die Hauptoperationen,
das Tödten des Vieh’s, das Abziehen, das Zerlegen
bleiben Sache des Arbeiters. Allerdings werden in den
Städten die ſtehenden Einrichtungen einer Schlächterei
theurer und koſtſpieliger und für die meiſten Geſchäfte
wächſt die Bedeutung des Kredits und des Betriebs-
kapitals; ein gutes Geſchäft hängt weſentlich ab von
geſchicktem auf genauer Kenntniß des Vieh’s geſtütztem
Vieheinkauf; dabei hat das größere Geſchäft, das
größere Kapital mancherlei voraus.
[423]Das Fleiſchergewerbe.
Uebrigens iſt die Arbeitstheilung zwiſchen dem
eigentlichen Viehhandel und dem Fleiſchergewerbe eine
ſehr verſchiedene. Die großſtädtiſche Entwicklung ſcheint
theilweiſe dem Fleiſchergewerbe den koſtſpieligen, Vor-
ſchuß erfordernden Viehhandel wieder abzunehmen.
Hartſtein1 beſchreibt die Londoner Verhältniſſe der
Gegenwart in folgender Weiſe. Die Viehhändler ver-
kaufen auf dem zweimal wöchentlich gehaltenen Metro-
politan Cattle Market durch ihren Kommiſſionär, den
salesman, an den Großſchlächter, der in der Regel
baar bezahlt. Wenn der salesman Kredit gibt, thut
er es auf ſeine Gefahr. Der Großſchlächter iſt ein
großer Unternehmer, der wöchentlich 80 — 100 Stück
Großvieh und 500 — 800 Stück Schafe in eigenen
großen Etabliſſements, Schlachthaus und Stallungen
enthaltend, ſchlachtet und in großen Stücken verkauft.
Seine Käufer ſind verſchiedene Leute. Einmal die großen
Fleiſchlieferanten, welche die Fleiſchlieferungen an die
Armee, an öffentliche Inſtitute, an Schulen übernommen
haben. Theilweiſe führen dieſe Lieferanten das Geſchäft
nicht ſelbſt aus, ſondern bilden nur die kaufmänniſche
Vermittelung, übergeben einzelnen Schlächtern die Liefe-
rungen im Detail, haften aber dafür im Ganzen. Da-
neben verkaufen die Großſchlächter an die Kleinſchlächter,
[424]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
die theilweiſe auch ſelbſt ſchlachten, aber nur eine
geringe Zahl Vieh, und an die reinen Detailhändler,
die das Fleiſch in größern Stücken übernehmen, die
verſchiedenen Sorten trennen, die einzelnen Stücke hübſch
zurecht machen, bei denen das Ladengeſchäft die Haupt-
ſache iſt. Beide letztere Arten von Schlächtern verkaufen
ihre Abfälle an den Eingeweidehändler (tripe-shop),
oder an den Kochladen (cock-shop), wo vornehmlich
die unterſten Volksklaſſen dieſe Abfälle kaufen oder ver-
zehren.
Eine ähnliche, wenn auch nicht ſo weit gehende
Arbeitstheilung findet in andern großen Städten ſtatt.
Der Berliner Adreßkalender unterſcheidet wenigſtens
Schlächter und Fleiſchwaarenhandlungen. Im Jahre
1860 kommen auf 80 Fleiſchwaarenhandlungen 557
Schlächter, 1868 auf 101 Handlungen 976 Schlächter.1
Die Kleinſchlächter und Detailhändler brauchen trotz
dieſer Arbeitstheilung noch ein nicht unbeträchtliches
Kapital.
Wichtig auch für den Groß- und Kleinbetrieb
des Fleiſchergewerbes iſt die jetzt aus ſanitätspolizei-
lichen Standpunkt viel beſprochene Schlachthausfrage.2
[425]Der Vieh- und Fleiſchhandel, die Schlachthausfrage.
Zunächſt iſt jede große Aenderung derart für die
beſtehenden Verhältniſſe, hauptſächlich für den beſtehen-
den Beſitz, unangenehm. Auf die Dauer aber wür-
den durch gemeinſame Schlachthäuſer, deren Bau
Aſſoziationen oder die Gemeinden übernähmen, deren
Bau der Staat ganz mit Recht auf verſchiedene Weiſe
fördern könnte, die kleinen Geſchäfte wahrſcheinlich mehr
gewinnen als die großen; ſie würden dadurch mit billigen
Koſten die Vortheile gut eingerichteter Anſtalten erhalten,
während der Großſchlächter nichts dort fände, was er
nicht in ſeinem eigenen Schlachthaus auch anordnen
kann. Die allgemeinen Vortheile ſolcher Anſtalten liegen
in den niedrigen Generalkoſten überhaupt, ſpeziell in
verſchiedenen Einrichtungen, die nur in größern Etabliſſe-
ments möglich ſind, z. B. in der Nutzung des meiſt
bisher ungenutzt abfließenden Blutes zur Gewinnung
von Eiweißſtoffen.
Kehren wir nach dieſen allgemeinern Bemerkungen
über das Fleiſchergewerbe zu den konkreten Verhältniſſen
Preußens1 und den ſtatiſtiſchen Ergebniſſen von 1816 —
1861 zurück, ſo iſt im Durchſchnitt des ganzen Staates
der Fortſchritt zu größern Geſchäften wohl vorhanden;
aber noch überwiegen die kleinen Meiſter weitaus, noch
iſt eine Schlächterei durchſchnittlich kleiner als ein
Bäckergeſchäft. Man zählte:
[426]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Selbſt in Berlin hat 1861 ein Fleiſcher durch-
ſchnittlich nur 1 ½ Gehülfen, während der dortige
Bäcker 3 — 4 Gehülfen beſchäftigt. Der Fleiſcher iſt
in der Regel ähnlich wie der Bäcker auf einen Abſatz
in den nächſten Straßen und Häuſern angewieſen; die
Hausfrau will nicht zu viel Zeit verlieren, wenn ſie zu
ihm geht, noch weniger, wenn ſie das Dienſtmädchen
ſchickt. Das vielfach übliche Bringen des Fleiſches in
die Wohnungen der Kunden iſt nur möglich, wenn der
Fleiſcher in der Nähe wohnt. Der Fleiſchhandel iſt
noch ſchwieriger zu organiſiren als der Brodhandel, wenn
er nicht zu dem geſalzenen und getrockneten Fleiſche über-
[427]Die preußiſchen Fleiſcher 1816 — 61.
gehen ſoll, das weniger ſchmackhaft, weniger beliebt iſt.
Wenn man neueſtens Verſuche macht, auch friſches
Fleiſch nach beſondern Methoden zu konſerviren und auf
weite Entfernungen zu transportiren, ſo kann das ſpäter
vielleicht einmal die bisherige Art des Betriebes ändern.
Bis jetzt haben dieſe Verſuche keine allgemeine praktiſche
Bedeutung.
Die Geſammtzahl der preußiſchen Fleiſcher, welche
um etwa ¼ geringer iſt, als die der Bäcker, hat eben-
falls kaum ſtärker zugenommen, als die Bevölkerung;
es kommen 1861 auf die gleiche Zahl Einwohner nur
8,5 % mehr Fleiſcher als 1816. Bis 1843 hat die
Bevölkerung ſtärker zugenommen; 1849 ſowie 1855 ſteht
wieder die Fleiſcherzahl hinter der von 1816 zurück.
Trotz der großen ſonſtigen Aenderungen des 19. Jahr-
hundert eine ſolche Stabilität!
Die erſte Urſache der Fleiſcherzahl iſt die Fleiſch-
konſumtion. Wenn in Heſſen-Darmſtadt, Braunſchweig
37 — 38 Fleiſchermeiſter, in Baden, Sachſen, Hannover
14 — 19, in den öſtlichen preußiſchen Provinzen nur
8 — 12 Fleiſchermeiſter auf 10000 Einwohner kommen, 1
ſo läßt ſich der Zuſammenhang nicht verkennen mit der
andern Thatſache, daß die Fleiſchproduktion (incl. Aus-
fuhr) in Altpreußen pro Kopf der Bevölkerung nur auf
46 — 47 Pfund, in Naſſau-Frankfurt, Baden, den
rheiniſchen und thüringiſchen Staaten auf 48 — 56 Pfund,
in den niederſächſiſchen Staaten, beſonders in den Elb-
herzogthümern, auf 74 Pfund pro Kopf ſteigt. Freilich
[428]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
zeigt die Vergleichung auch Ausnahmen, da hohe und
niedrige Produktion und Konſumtion nicht nothwendig
zuſammen fallen, da Aus- und Einfuhr, die Haus-
ſchlächterei und Anderes mitſprechen. Gerade in den
öſtlichen preußiſchen Provinzen iſt die Fleiſchproduktion
wieder größer als im Durchſchnitt Preußens, die Kon-
ſumtion aber auf dem Lande und in den untern Klaſſen
ſehr gering.
Unzweifelhafter iſt der Zuſammenhang zwiſchen der
hiſtoriſchen Veränderung der Fleiſcherzahl und der Fleiſch-
konſumtion in Preußen. Der geringen Zunahme jener
entſpricht dieſe. Die Fleiſchkonſumtion betrug ja nach
Dieterici und Engel 1 pro Kopf der Bevölkerung
Die ſteigenden Fleiſchpreiſe erſchweren trotz aller
Fortſchritte des Wohlſtandes eine ſteigende Fleiſchkon-
ſumtion ſehr. Für die 30 Pfund 1806 gab der Ein-
zelne 2 Thlr. 6 Sgr. aus, für die 35 Pfund 1863
gibt er 4 Thlr. 4 Sgr. aus. In Berlin zahlte man
1835 für das Rindfleiſch beſonderer Güte 2 Sgr. 6 Pf.,
jetzt 10 und mehr Sgr. Und je größer die Vermögens-
ungleichheit in einem Lande iſt, je mehr Sitten und
Bedürfniſſe der verſchiedenen Geſellſchaftsklaſſen ausein-
ander liegen, deſto ungleicher wird ſich die Abnahme
der Fleiſchkonſumtion vertheilen. Beſonders in den
[429]Der Fleiſchkonſum und die Hausſchlächterei.
Städten hat der Fleiſchkonſum der Wohlhabenden, ja
des ganzen Mittelſtandes unzweifelhaft zugenommen;
aber in den untern Klaſſen muß er abgenommen haben,
ſonſt könnten ſich die Geſammtzahlen der Konſumtion
nicht gleich bleiben. Theilweiſe freilich finden dieſe Klaſſen
Erſatz in dem Uebergang zu Pferdefleiſch, zur Kon-
ſumtion von bloßen Abfällen. Es heißt aber die opti-
miſtiſche Schönfärberei weit treiben, wenn man in dieſer
Thatſache, wie Faucher, nur ein „feiner ausgebildetes
Schlächtergewerbe“ findet. Die genauen Unterſuchungen,
welche Aſher und Soetbeer über Fleiſchkonſumtion ver-
öffentlicht haben, 1 reichen allerdings nur bis 1852 und
ſchließen alſo mit ungünſtigen Jahren ab, aber ſie
zeigen, auch wenn man das berückſichtigt, eine in den
größern Städten faſt ausnahmslos abnehmende Fleiſch-
konſumtion. Ich führe nur die Hamburger Zahlen an; da
hat der Verbrauch pro Haushaltung betragen an Fleiſch:
Daneben iſt der Fiſchkonſum nicht geſtiegen, die
Butter- und Käſekonſumtion hat auch abgenommen, der
[430]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Cerealienverbrauch iſt ſo ziemlich derſelbe geblieben.
Ohne Zweifel hat ſich das in neuerer Zeit wieder etwas
gebeſſert; aber wie dem auch ſei, die obigen Zahlen
ſagen genug.
Neben dem Fleiſchkonſum hängt die Fleiſcherzahl
davon ab, wie weit die Hausſchlächterei noch verbreitet
iſt, welche den gewerbsmäßigen Schlächter in der Form
des Hausſchlächters zwar nicht durchaus, aber doch theil-
weiſe entbehren kann. Die hohe Zahl der Fleiſcher in
Württemberg, in Hohenzollern (26 — 28 Meiſter auf
10000 Einwohner) iſt theilweiſe Folge davon, daß die
Hausſchlächterei dort wenig mehr vorkommt. Die Fleiſch-
konſumtion iſt dort nicht um ſo viel ſtärker als in
Schleſien, um allein es zu erklären, daß hier nur
15 Meiſter, dort 26 — 28 auf 10000 Einwohner
kommen. In den öſtlichen preußiſchen Provinzen, aber
auch in Baiern, wie überhaupt in den rein landwirth-
ſchaftlichen Gegenden, iſt Hausſchlächterei noch vielfach
vorhanden. Theilweiſe wird ſie gegenüber der gewerb-
lichen Schlächterei wieder durch die ſteigenden Preiſe
begünſtigt. Täglich friſches Fleiſch zu genießen, iſt
theurer, als eingepökeltes und geräuchertes Fleiſch im
Vorrath zu halten.
[[431]]
3. Die Wirthſchafts- und verwandten Gewerbe.
Die gewerbliche Thätigkeit des Landwirths; die Weinbauern,
Gärtner und Fiſcher. Der Handel mit Lebensmitteln. Die
Viktualiengeſchäfte in Preußen von 1837 — 58. Die Wirth-
ſchaftsgewerbe, meiſt als Nebenbeſchäftigung. Die preußiſche
Statiſtik 1822 — 61. Die Gaſthöfe und Ausſpannungen.
Die Speiſewirthſchaften. Die Schankwirthſchaften, ihre Ab-
nahme. Die möglichen Urſachen einer von ſelbſt eintreten-
den Abnahme. Das Konzeſſionsſyſtem. Seine allgemeine
Würdigung. Die Ausführung in Preußen. Die frühere
und die neueſte Geſetzgebung. Allgemeine Betrachtungen
über Groß- und Kleinbetrieb in den Nahrungsgewerben.
Die Volksküchen, die Konſumvereine und Aehnliches.
Der Kreis der dem Nahrungsbedürfniß dienenden
Gewerbe iſt mit den Bäckern, Konditoren und Fleiſchern
noch nicht abgeſchloſſen.
Der kleine und große Landwirth übernimmt vielfach
gewerbliche Thätigkeit, abgeſehen ganz von der Rohpro-
duktion. Er fabrizirt Butter und Käſe, verkauft getrock-
netes Obſt und künſtlich wie unkünſtlich zubereiteten
Wein. Eine zahlreiche Klaſſe von Perſonen ſind die
kleinen Weinbauern und die Blumen- und Gemüſe-
gärtner, die zwiſchen Landwirthſchaft und Gewerbe in der
Mitte ſtehen, einen geſunden Mittelſtand repräſentiren,
[432]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
durch die Art ihres Betriebs, durch die vorzugsweiſe
geforderte ſorgfältige Arbeit niemals von großen Ge-
ſchäften verdrängt werden können. Außer den 4224
preußiſchen Gärtnern mit 3310 Gehülfen (1861) ſind
auch die 7197 Fiſcher mit 3822 Gehülfen zu nennen;
auch dieſes Gewerbe bleibt, der perſönlichen Thätigkeit,
des mäßigen Gewinnes wegen, im Binnenlande dem
Kleinbetriebe.
Dann gehören hieher mannigfache Handelsgeſchäfte,
welche ihrer Natur nach gewiſſe gewerbliche Umformungen
vornehmen. Der Weinhandel, der Getreidehandel thut
das, vor allem aber der kleine Detailhandel, der Kaffee
röſtet und Zucker ſchlägt, alle möglichen Waaren färbt,
vielfach auch verdirbt und fälſcht. Noch mehr gibt ſich
der kleine Viktualienhandel damit ab. Im Butterladen
wird gekochter Kaffee ausgeſchenkt; die Garküche iſt
häufig hiermit verbunden. Die Zahl der faſt durchaus
kleinen Viktualiengeſchäfte iſt etwa ſo groß in Preußen,
als die der Bäcker und Fleiſcher zuſammen. Im Jahre
1861 ſind ſie nicht aufgenommen. Früher zählte man:
Es gehört zu dieſen Geſchäften geringe Bildung
und geringes Kapital. Die Art des Betriebes, des
Aufkaufs, des Verkaufs auf dem Wochenmarkt oder in
den kleinen Kellerläden, übt auf Leute, welche etwas
beſſeres ergreifen können, keinen Reiz aus; daher wenden
ſich ihnen mehr nur Leute der unterſten Klaſſen zu.
Größere Geſchäfte mit ſchönen Läden beginnen höchſtens
[433]Die Viktualiengeſchäfte und Wirthſchaftsgewerbe.
in einigen größern Städten, aber auch da nur für die
Lebensmittel und Viktualien der höhern Geſellſchafts-
klaſſen. Abgeſehen von dieſen, ſowie von den Geſchäften,
welche hauptſächlich den Wochenmarkt beziehen, ſucht der
kleine Viktualienhandel ähnlich wie der Bäcker und
Fleiſcher einen lokalen Abſatz in den nächſtliegenden
Häuſern und Straßen.
Die eigentlichen Wirthſchaftsgewerbe endlich, welche
in der Umformung und Bereitung der Nahrungsmittel
am weiteſten gehen, ſind, wie ich das ſchon mehr
erwähnte, ſehr vielfach in den Händen von Perſonen,
welche nebenbei mit der Produktion oder dem Handel
von Nahrungsmitteln beſchäftigt ſind, oder vielmehr
von ſolchen, welche das Wirthſchaftsgewerbe nur neben-
bei betreiben. Es iſt ebenfalls das lokale Bedürfniß,
das darauf hinwirkt. Die Brauerei verbindet ſich mit
der Gaſtwirthſchaft, die Mühle mit einer Ausſpannung,
die Bäckerei mit dem Weinausſchank, die Hökerei mit
dem Bier- und Kaffeſchank, der Materialladen mit dem
Schnapsverkauf — je eines allein würde ſeinen Mann
nicht nähren, beides zuſammen aber reicht aus, eine
leidliche Exiſtenz für eine Familie zu ſchaffen.
Dieſe häufige Verbindung der Wirthſchaftsgewerbe
mit andern iſt für das richtige Verſtändniß des ganzen
Gewerbes, wie ſchon für die richtige Beurtheilung der
Zahlen wichtig. Das Hülfsperſonal wird in den
Tabellen etwas niederer erſcheinen, als es in Wirklich-
keit iſt. Zu- und Abnahme haben eine etwas andere
Bedeutung.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 28
[434]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die Zahlen, um die es ſich handelt, ſind folgende;
es gab in Preußen:1
Die Zahl der Geſchäfte hat in keiner der drei Ab-
theilungen ſo zugenommen, wie die Bevölkerung, welche
von 11 auf 18 Millionen in dieſer Zeit ſtieg; in einer
Abtheilung hat die Zahl der Geſchäfte ſogar abgenommen.
Wären die Wirthſchaften alle voll beſchäftigt geweſen,
lebten die betreffenden Gewerbetreibenden nur hiervon,
ſo wäre vorauszuſetzen, daß die Geſchäfte mindeſtens der
Bevölkerung entſprechend zugenommen hätten.
Von der erſten Kategorie, den Gaſtwirthſchaften,
fällt nur ein kleiner Theil unter den Begriff eines
Gaſthofs; 1861 ſind die eigentlichen Gaſthöfe nicht
beſonders unterſchieden; 1849 machen von den 27520
Gaſtwirthſchaften nur 4447 Gaſthöfe für die gebildeten
Stände aus, wovon 2833 auf die Städte kommen.
Nur dieſe ſind zu einem Theile als größere Etabliſſe-
ments aufzufaſſen. Im Jahre 1861 zählen die 31520
Gaſtwirthſchaften ein Hülfsperſonal von 7919 Perſonen,
alſo ſind ¾ der ſämmtlichen Gaſtwirthe wenigſtens
[435]Die preußiſchen Wirthſchaftsgewerbe 1822 — 61.
ohne gewerbliches Hülfsperſonal; ſie können nur ganz
kleine Geſchäfte haben.
Die Speiſewirthſchaften gehören faſt ganz den
Städten an; von 1928 im Jahre 1849 verzeichneten
ſind 1461 ſtädtiſche. Die Zahl iſt eine beinahe ſtabile.
Der durchnittliche Umfang der Geſchäfte iſt ein ſehr
geringer, denn es werden 1861 auf 2221 Speiſewirthe
nur 885 Diener, Kellner und Kellnerinnen gerechnet.
Aehnliches gilt von den Schankwirthen; auf 37917
Geſchäfte kommen 1861 nur 6290 Hülfsperſonen, was
einen ſichern Schluß auf den trotz der geſunkenen Ge-
ſammtzahl immer noch geringen Umfang der meiſten
Schankwirthſchaften geſtattet. Mögen auch manche
Hülfsperſonen aus den vorhin angeführten Gründen gar
nicht in den Tabellen erſcheinen, viel kann das nicht
ausmachen. Die Abnahme der Schankwirthſchaften
von 1843 ab bis 1861 iſt eine ſehr bedeutende.
Damals kam ſchon auf 289, 1849 auf 343, 1861
erſt auf 487 Einwohner eine Schenke. Die Maximal-
grenze, auf welche herab die Verwaltung 1 in Gegen-
den eines allzugroßen Reichthums von Schenken die
Zahl derſelben zu bringen ſuchte, iſt eine auf 250
Einwohner. Zunächſt iſt man verſucht zu zweifeln, ob
die Aufnahmen überhaupt richtig ſind, denn jedermann
iſt geneigt, heute eher an eine Zunahme, als an eine
Abnahme der Schenken zu glauben. Ich kenne faſt
keine größere Stadt näher, in der ich nicht Klagen über
eine allzugroße Zunahme der Schenken gehört hätte.
28 *
[436]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Da ich jedoch keinen Anhalt dafür habe, die Aufnahmen
für falſch zu halten, ſo muß ich ſie bis zum Gegen-
beweis als richtig annehmen. Nur das will ich noch
bemerken, daß nicht bloß die Gaſthöfe und Speiſewirth-
ſchaften zugleich geiſtige Getränke ausſchenken, ſondern
daß auch ſehr viele Spezereiläden Branntwein ſtehend
verabreichen. Und dieſe ſind, wie ich annehme, nicht
unter den Schankwirthſchaften der amtlichen preußiſchen
Statiſtik mitgezählt. Selbſt wenn aber die Branntwein
verkaufenden Materialläden ebenſo zugenommen hätten,
als die eigentlichen Schankſtätten abnahmen, wäre es
ohne Zweifel eine Beſſerung. Die Trunkſucht wird
durch dieſe mehr gefördert, als durch den Verkauf in
dem Spezereiladen, wo der Arbeiter ſtehend, ohne
langen Aufenthalt, ohne Geſellſchaft ſein Gläschen
Schnaps trinkt. So wie ſo bleibt die Abnahme der
eigentlichen Schankwirthſchaften als eine bemerkenswerthe
Thatſache ſtehen, und es wirft ſich die Frage auf, ob
ſie eine von ſelbſt erfolgende war, oder nur durch die
Handhabung des polizeilichen Konzeſſionsweſen eintrat.
Eine Abnahme von ſelbſt ließe ſich immerhin
denken; die Schankwirthſchaft iſt bei Vielen nicht die
urſprüngliche Thätigkeit; ſie werfen ſich darauf, wenn
nichts anderes mehr geht. In den Weinländern iſt der
Ausſchank noch mehr bloßes Nebengewerbe des kleinen
Weinproduzenten. In Zeiten der Noth ſchwillt die
Zahl der Schankſtätten, dann auch in Zeiten politiſcher
Aufregung. Es wäre hiernach wohl denkbar, daß die
Zahl der Schankſtätten zu Anfang der 40 er Jahre
durch die Kriſis der meiſten Handwerke, 1848 — 50
[437]Die Abnahme der Schankwirthſchaften 1843—61.
durch die Revolution ſtärker war, als ſie ohnedem geweſen
wäre, daß die beſſeren Zeiten nach 1856 nicht mehr ſo
viele Leute nöthigten, zu dieſem Nothbehelf zu greifen.
Nach den Provinzen ſtellt ſich der Unterſchied der
Schankſtätten 1849 und 61 folgendermaßen; es gab in:
Am meiſten haben ſie alſo in der Rheinprovinz
abgenommen, und das iſt großentheils ſicher auf die beſſere
wirthſchaftliche Lage zurückzuführen, die nicht zu einem
geringern Konſum an Speiſen und Getränken, wohl
aber zu einem etwas geringeren Kneipenbeſuch und einem
geringeren Angebot von Perſonen führt, die ſich als
Schankwirthe zu nähren ſuchen.
Dennoch, glaube ich, wäre es im Allgemeinen
falſch, anzunehmen, daß die Abnahme der Schankſtätten
ganz von ſelbſt erfolgt wäre. Der Andrang zu dieſem
müheloſen Gewerbe iſt in den untern Klaſſen immer
ſehr groß; es übt einen beſondern Reiz durch die Unter-
haltung, den Verkehr, den es gewährt, durch unſittliche
und verwerfliche Genüſſe, die ſich leicht damit verbinden.
Wo keine Konzeſſionspflicht mehr exiſtirt, wie bis jetzt
allein in Bremen, erfolgt leicht eine rapide, verwerfliche
[438]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
und gefährliche Zunahme. Vor Erlaß der Konzeſſions-
pflicht im Jahre 1862 gab es in Bremen 512 Lokale,
in welchen ſpirituöſe Getränke feil gehalten wurden, im
Jahre 1867 - 829, damals eines auf 192, jetzt eines
auf 132 Einwohner.
Dieß iſt der Grund, der mich veranlaßt anzuneh-
men, daß auch in Preußen die Abnahme nicht ganz von
ſelbſt erfolgt wäre, wenn man nicht auch durch das
Konzeſſionsſyſtem darauf hingewirkt hätte.
Bei der Frage der vollſtändigen Freigebung der
Schankgewerbe muß man die allgemeinen Geſichtspunkte
und die Art der Ausführung aus auseinander halten.
Der abſtrakte Theoretiker verlangt auch hier unbe-
dingte Freiheit, weil er das Leben nicht kennt. Er über-
ſieht die Gefahren, die beſonders mit dem Branntwein-
ſchank, vollends in Fabrikdiſtrikten, verbunden ſind; er
überſieht, daß die proletariſche Konkurrenz die Schank-
wirthe nöthigt, in jeder Weiſe anzulocken, zu verführen,
einen korrumpirenden Kredit zu geben; er überſieht, daß
die ganze Lebenshaltung, das Familienleben, die Sittlich-
keit der arbeitenden Klaſſen hiermit zuſammenhängen;
er weiß es nicht, wie ſegensreich es in großen Fabrik-
diſtrikten wirkt, wenn den Arbeitern kontraktlich verboten
wird, eine Schankwirthſchaft anzufangen. 1 Alle dieſe
Gründe ſprechen für eine Beſchränkung der Zahl der
Schankwirthſchaften, für eine Beibehaltung des Kon-
zeſſionsſyſtems.
[439]Die Konzeſſionirung der Wirthſchaftsgewerbe.
Es handelt ſich nur darum, es richtig und gerecht
zu handhaben. Daß immer Mißgriffe vorkommen, iſt
natürlich. Nur können ſie ſoweit gehen, daß die Frei-
gebung dagegen wieder als das kleinere Uebel erſcheint.
Immer ſollte man vermeiden, politiſche Partei-
geſichtspunkte einzumiſchen. Schwer hat in dieſer Be-
ziehung ein reaktionäres Regiment in Preußen geſündigt.
Ganz übertrieben aber hat das verletzte Intereſſe Ein-
zelner dieſe nicht zu leugnenden Mißbräuche dargeſtellt.
Abgeſehen hiervon kamen Mißgriffe da vor, wo unfähige
Landräthe oder vielmehr willkürliche Kreisſekretäre ſich
Fehler zu Schulden kommen ließen. Soweit die Regie-
rungen eingriffen, war die Praxis eine faſt durchaus
gerechte. Ueber die Vorſchriften der Kabinetsordre vom
7. Februar 1835, 1 welche nur etwas durch die Ver-
ordnung vom 21. Juni 1844 verſchärft wurde, ſei
nur ſoviel bemerkt, daß die Konzeſſionen je auf ein
Jahr ertheilt wurden, in den Städten von der Orts-
polizeibehörde, auf dem Lande durch den Landrath
nach Anhörung der Kommunalbehörde, wobei die Lage
des Lokals und die Perſon des Wirthes immer,
die Nützlichkeit und das Bedürfniß aber nur geprüft
werden ſollte, wenn es ſich um Gaſtwirthſchaften
in den Ortſchaften vierter Gewerbeſteuerklaſſen, um
Schankwirthſchaften, in welchen geiſtige Getränke zum
Genuß auf der Stelle feilgeboten werden ſollten, um
[440]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Kleinhandlungen mit geiſtigen Getränken handelte. In
erſter Linie ſollte dem Kleinhandel mit Branntwein
oder vielmehr dem übermäßigen Genuſſe dieſes gefähr-
lichen und durch ſeine zunehmende Billigkeit immer
leichter erreichbaren Reizmittels in den untern Klaſſen
entgegen gewirkt werden.
Die neue Gewerbeordnung des norddeutſchen Bun-
des behält nach dem Antrage Miquel’s das Konzeſſions-
weſen für die Gaſt- und Schankwirthſchaft, ſowie für
den Detailhandel mit geiſtigen Getränken bei; die Er-
laubniß wird nicht auf eine beſtimmte Zeit ertheilt, ſie
kann Perſonen nicht mehr verſagt werden, denen nur
der vage leicht zu Willkür führende Begriff der ſoge-
nannten Zuverläſſigkeit fehlt, wie der Entwurf wollte,
ſondern nur ſolchen, gegen die beſondere gravirende
Thatſachen vorliegen, oder welche kein geeignetes Lokal
haben. Es bleibt aber der Landesgeſetzgebung vorbe-
halten, in Bezug auf den Branntweinausſchank auch die
Bedürfnißfrage zu prüfen. Darnach werden in Preußen
einige bisher hervortretenden Mißſtände und Willkürlich-
keiten der Konzeſſionspraxis verſchwinden, in der Haupt-
ſache aber wird das Syſtem daſſelbe bleiben.
Wenn wir im Vorſtehenden ſahen, daß bei den
Wirthſchaftsgewerben noch durchaus die kleinen Geſchäfte
vorwalten, ſo ſind die Urſachen ähnliche, wie bei allen
Nahrungsgewerben, wie beim Detailhandel mit Lebens-
mitteln und Kolonialwaaren; ich habe ſie theilweiſe ſchon
berührt, aber ich muß nochmals auf ſie zurückkommen.
Ich betonte als Haupturſache der kleinen Geſchäfte
das lokale Bedürfniß; das allein aber würde nicht
[441]Der proletariſche Kleinbetrieb in den Nahrungsgewerben.
genügen, die große Zahl allzukleiner Betriebe hervor zu
rufen. Denn dem ſtehen immer wieder die Vortheile
größerer Geſchäfte entgegen; wie viel billiger läßt ſich
im Großen kochen und doch herrſchen die kleinen elenden
Garküchen vor; wie viel billiger läßt ſich im Großen
einkaufen, und doch überwiegen die kleinen Kramläden,
die kleinen Gewürz- und Kaffeekrämer.
Das hängt eben mit dem übermäßigen Andrang
zu allen dieſen leicht betreibbaren Geſchäften zuſammen,
welcher dann beſonders erfolgt, wenn bei raſch wachſen-
der Bevölkerung die Erziehung der untern Klaſſen zur
Arbeit, die Gelegenheit zu Ausbildung und zu Verdienſt
nach andern Richtungen zeitweiſe nicht ebenſo wächſt.
Die übermäßige Konkurrenz drückt dann auf alle dieſen
Thätigkeiten Angehörenden; Mißbräuche und Unreellität
ſteigern ſich; das ganze Standesbewußtſein und Ehr-
gefühl der Betreffenden wird dadurch herabgedrückt;
Lotterkredit wird gegeben, nur um Kunden anzuziehen. 1
[442]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Man wird mir entgegnen, dieſe Behauptungen
ſeien übertrieben und ich gebe es auch zu, daß ſie es,
ſo allgemein ausgeſprochen, ſind. Ich muß mein Urtheil
noch etwas begrenzen. Es iſt ganz wahr nur ſo weit,
als dieſe Geſchäfte mehr dem Dienſte der untern Klaſſen
ſich zuwenden.
Die Reſtaurants, in welchen der Gebildete ißt,
die feinen Weinſtuben, die Detailläden mit guter Kund-
ſchaft ſind etwas für ſich; ſie erfordern größeres Kapital,
einen anſtändigen Geſchäftsführer. Je weiter man aber
herabſteigt, deſto ſchlimmer wird es. Und da iſt die
eigenthümliche Urſache, welche die vielfach korrupten
kleinen theuren Geſchäfte erhält, eben die, daß der wohl-
habendere anſtändigere Geſchäftsmann, der ihnen allein
mit Erfolg Konkurrenz machen, ſie, was wünſchenswerth
wäre, ganz beſeitigen könnte, dazu keine Luſt hat wegen
der Perſonen, mit denen er dadurch zu thun bekäme.
Mehr als man glauben ſollte, ſucht jeder Gewerbe-
treibende in ſeinem Geſchäfte neben dem Gewinn den
ſozialen Zuſammenhang; jeder will möglichſt vornehme,
wohlhabende Kunden.
[443]Die Schattenſeiten des proletariſchen Kleinbetriebs.
Hiervon giebt es in großen Städten einige wenige
Ausnahmen, beſonders was große Vergnügungslokale
betrifft; aber in der Hauptſache iſt der kleine Mann
auch in der größten Stadt auf die kleine elende Gar-
küche, auf die erbärmlichſte Schnapsſchenke, auf den
korrupteſten Spezereiladen angewieſen; ſie allein nehmen
ihn als Kunden an, weil ſie keine beſſern erhalten.
Selbſt die Hökerfrauen auf dem Gemüſe-, dem
Butter-, dem Fiſchmarkt machen ſtrenge Unterſchiede
der Art.
So leiden die kleinen Leute nicht bloß als Produ-
zenten, ſondern vor Allem auch als Konſumenten. Die
Vortheile der großen Geſchäfte kommen ihnen nicht ein-
mal da zu Gute. Die kapitalbeſitzende Privatſpekulation
arbeitet nicht für ſie, weil ſie ſich nicht mit ihnen
beſchmutzen will, weil ſie ſich vor ihrer Zahlungsunfähig-
keit fürchtet. Es iſt dieſelbe Urſache, welche in den
großen Städten die Miethpreiſe für ärmliche Wohnungen
unnatürlich anſchwellen läßt, während die Privatſpekulation
noch fortfährt elegante Quartiere zu bauen, ſelbſt wenn
ſolche ſchon in übergroßer Zahl angeboten ſind.
Ein Beweis, daß dieſe Mißſtände vorhanden ſind,
liegt darin, daß längſt humane Fabrikanten, Vereine,
Gemeinden, der Staat, wo er Privatunternehmungen
hat, vor Allem aber Genoſſenſchaften von Arbeitern ſelbſt
ſich entſchloſſen haben, einzugreifen, das zu über-
nehmen, was die Privatſpekulation für die armen Leute
nicht leiſtet.
Man ſtreitet ſich in Paris, ob die neuen eleganten
ungeheuren Arbeitercafés, in denen die Arbeiter und
[444]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ihre Familien ſo billig eſſen und trinken, geheime kaiſer-
liche Subvention haben oder gehabt haben. Die cafés
und restaurants fraternelles, die associations pour
la vie à bon marché, die société de l’humanité in
Lille, von welchen Huber erzählt, 1 ſind Sache von Ar-
beitervereinen. Wenn jetzt in Paris ähnliche Rieſen-
küchenanſtalten auch vereinzelt durch Privatthätigkeit ent-
ſtanden ſind, wie die Duval’ſchen Etabliſſements, die
maisons de bouillon, ſo ſind das doch mehr Ausnah-
men. In Berlin iſt erſt durch gemeinnützige Thätigkeit
in den letzten Jahren der Verein für Volksküchen ent-
ſtanden, der durch den Betrieb im Großen im Stande
iſt, für 1¾ Sgr. eine ganze für einen kräftigen Mann
ausreichende Portion kompaktes in Bouillon gekochtes
Gemüſe und Fleiſch zu verabreichen. 2 In Sachſen 3
werden ſchon 1849—56 eine Reihe von Volksküchen
erwähnt; 1855 ſogar 74 an der Zahl; 1856 ſind ſie
ſchon wieder auf 44 geſunken; die bloß als Wohlthätig-
keitsinſtitute fungirenden ſind wieder eingeſtellt. Engel
lobt ihren Erfolg außerordentlich in rein wirthſchaftlicher,
aber auch in hygieniſcher und moraliſcher Beziehung;
er fügt hinzu: gedachte Volksküchen ſind zum Theil
eine Maßregel der Wohlthätigkeit und der Geſundheits-
pflege, zum Theil der Sparſamkeit, am wenigſten aber
wohl ein Gegenſtand der Spekulation.
[445]Die Volksküchen und Konſumvereine.
Mit vielen Fabriken und Etabliſſements ſind ſolche
Küchengeſchäfte im Großen jetzt verbunden; wie auch Holz-,
Mehl-, Kartoffellieferungen im Großen und zu Engros-
preiſen vielfach von edel- und humandenkenden Fabrik-
herren und großen Grundbeſitzern übernommen werden.
Typiſch bekannt hierfür iſt ja die cité ouvrière in
Mühlhauſen mit ihrem Waſchhaus, ihrem Badehaus,
mit der großen Bäckerei, dem Schlachthaus, Koſthaus und
Materialwaarendepot. Aehnliches Aufſehen haben neuer-
dings die Einrichtungen von Staub in Kuchen im König-
reich Württemberg gemacht. Es iſt überall daſſelbe
Prinzip des Betriebes im Großen, das durch die Privat-
ſpekulation nicht zur Geltung kommend, für den Konſum
der kleinen Leute thätig gemacht werden ſoll.
Am beſten freilich wird der Arbeiter dem Lotter-
kredit, der Abhängigkeit vom kleinen Detailladen ent-
riſſen durch den Konſumverein, der ihm alle Vortheile
des Bezugs der Waaren im Großen bietet, theilweiſe
auch die Vortheile der Produktion im Großen. In
England wenigſtens ſind die Konſumvereine längſt ver-
bunden mit großen Aſſoziationsmühlen, großen Bäcke-
reien, theilweiſe auch eigenen Schlächtereien. Auch in
Deutſchland haben ſich die Konſumvereine jetzt raſch
entwickelt. Im Jahre 1868 zählt der Schultze’ſche Be-
richt deren ſchon 555. Die meiſten ſind bis jetzt nur
Kauf- und Verkaufsgeſchäfte. Aber ſchon ſind auch ein-
zelne zur ſelbſtändigen Produktion im Großen über-
gegangen. In Berlin haben die dortigen Konſumvereine
eine gemeinſame große Brodbäckerei gegründet; in Saar-
brücken, in Chemnitz exiſtirt eine Aſſoziationsbäckerei;
[446]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der Züricher Konſumverein hat eine große fünf Oefen
umfaſſende Bäckerei, die 1863 über eine Million
Pfund Brod abſetzte. 1
Man wird ſich über dieſe Beſtrebungen auf der
einen Seite nur freuen dürfen. Sie liefern dem Ar-
beiter billigere und beſſere Waaren, ſie verdrängen einen
korrupten betrügeriſchen Kleinhandel. Aber auf der
andern Seite zeigen ſie wieder, daß das Gebiet, das
den kleinen Geſchäften bleibt, theilweiſe durch ihre eigenen
Schuld ſich einengt, daß der große Betrieb ſelbſt da,
wo ſoziale Verhältniſſe und das lokale Bedürfniß ihm
entgegenſtehen, vordringt, daß, wenn die großen Unter-
nehmer und das große Kapital ihn nicht einführen, die
Humanität und die Arbeiter ſelbſt ihn einführen müſſen,
weil er techniſch zu große Vortheile bietet, weil ſoweit
es ſich um den Kleinverkauf im Detail handelt, eine
übermäßige Vertheuerung durch die kleinen Geſchäfte
leicht eintritt, zu leicht unreelle Geſchäftsverhältniſſe
den Konſumenten benachtheiligen.
[[447]]
4. Die Baumwoll- und Leinenſpinnerei.
Die Bedeutung der Bekleidungsgewerbe überhaupt. Der allge-
meine Umſchwung in ihnen. Die Handſpinnerei und die
Geſchichte der Spinnmaſchine. Die deutſche Baumwollſpinnerei
des vorigen Jahrhunderts. Die kleinen deutſchen Maſchinen-
ſpinnereien bis 1840. Die großen Spinnereien der Neuzeit.
Die deutſche profeſſionsmäßige Flachsſpinnerei des vorigen
Jahrhunderts. Die Anfänge der großbritanniſchen Maſchinen-
ſpinnerei. Die Abſatzſtockung des deutſchen Handgarns. Die
Verſchlechterung der Produktion. Die Noth der Spinner, die
Veränderung der geſchäftlichen Organiſation. Die Zuſtände
1820—40; die ſinkenden Garnpreiſe; die Verſuche der Hand-
ſpinnerei wieder aufzuhelfen. Die Abnahme der profeſſions-
mäßigen Spinnerei von 1849—61. Die nur zu langſame
Entwickelung der deutſchen Maſchinenſpinnerei. Die Lage der
Handſpinnerei von 1860 bis zur Gegenwart. Die Entſtehung
der beſondern Flachsbereitungsanſtalten und ihr Umfang.
Den Nahrungsgewerben am nächſten an Bedeutung
ſtehen die Bekleidungsgewerbe, ja ſie überragen ſie,
ſofern man an die gewerbliche Thätigkeit im engern
Sinne denkt. Die Ausgaben einer Familie für die
Kleidung betragen nach den oben ſchon erwähnten Be-
rechnungen von Ducpetiaux, Le Play und Engel 14 bis
20 % je nach der höhern oder geringern Stellung der
Betreffenden, alſo zuſammen mit den Ausgaben für
[448]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Nahrung 64 — 90 % des Geſammteinkommens. Nur
eine Ausgabe kommt der für Kleidung noch nahe, die
für Wohnung mit durchſchnittlich 5 — 18 % der Ge-
ſammtausgaben, je nach Stand und Einkommen. Die
Zahl der Perſonen, welche ſich ausſchließlich mit der
Herſtellung von Bekleidungsſtücken irgend welcher Art
abgeben, umfaßte (1849) in Sachſen nach Engel 1 30,24 %
der ſämmtlichen Selbſtthätigen, während auf die geſamm-
ten Nahrungsgewerbe incl. Landwirthſchaft 45,41 % auf
die Gewerbe, welche ſich mit Herſtellung der Wohnung
im weitern Sinne abgeben 12,22 %, auf alle andern
Thätigkeiten zuſammen nur 12,13 % fielen. Sprechender
läßt ſich die Bedeutung der Bekleidungsgewerbe nicht
hervorheben.
Im Gegenſatz zu den Nahrungsgewerben haben
die Bekleidungsgewerbe viel weniger das Bedürfniß, in
der Nähe der Konſumenten zu ſein. Eine ganz andere
Wirkung mußten die modernen Verkehrserleichterungen
und die moderne Technik da haben.
Das Leder an unſeren Schuhen iſt aus der Haut
eines ſüdamerikaniſchen Büffels geſchnitten, die Wolle
unſeres Tuchrockes kommt aus Auſtralien, der Rohſtoff
unſerer ſeidenen Weſte ſtammt aus China oder Indien,
aus Italien oder Südfrankreich, die Baumwollfaſer unſeres
Hemdes kommt aus Amerika oder Aegypten. Trans-
portabler noch als die Rohſtoffe ſind die werthvollen
Halb- und Ganzfabrikate. Garne und Zwirne, Leinwand
und Kattun, Tuche und Teppiche gehen durch die ganze
[449]Der Charakter der Gewebeinduſtrie.
Welt. Mehr als in irgend einer andern gewerb-
lichen Branche haben ſich hier die Eigenthümlichkeiten
der modernen Produktion ausgebildet: eine weit gehende
Anwendung von Kapital, die höchſte Ausbildung des
Maſchinenweſens, die möglichſte Erſetzung aller menſch-
lichen Kräfte durch Dampfkraft, die möglichſte Spezialiſi-
rung der Induſtrie nach Städten und Gegenden, wie
nach einzelnen Geſchäften, alles geſteigert durch die leben-
digſte Konkurrenz und durch die Ausbildung der weit-
gehendſten Handelsbeziehungen. Es iſt bekannt, daß
gerade in das Gebiet der Gewebeinduſtrie die größten
Fortſchritte, die ſchönſten praktiſchen Anwendungen der
Naturwiſſenſchaften fallen. Auch das drängte vor Allem
auf den Betrieb in großen geſchloſſenen Etabliſſements.
Es iſt eine ungeheure volkswirthſchaftliche und
ſoziale Umwälzung, die ich hier, freilich nur in ihren
Hauptumriſſen und nur ſoweit ſie Deutſchland und
ſpeziell Preußen berührt, zu ſkizziren habe. Ich werde
nachzuweiſen haben, in wie weit die häusliche Thätigkeit
der Familie, die lokale Thätigkeit des kleinen Meiſters
zurückgetreten iſt, in wie weit ſie ſich auch ſpäter, auch
heute noch erhalten. Es wird ſich darum handeln zu
zeigen, wo der Uebergang mit harten volkswirthſchaft-
lichen Kriſen, mit dem Ruin ganzer Gegenden und
wirthſchaftlichen Klaſſen verbunden war, und wo er —
im Gegenſatz hierzu — nicht nur leichter ſich vollzog,
ſondern theilweiſe neben dem techniſchen Fortſchritte von
Anfang an zugleich eine ſoziale Beſſerung für die
arbeitende Klaſſe, eine Beſeitigung ungeſunder Ver-
hältniſſe in ſich ſchloß. —
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 29
[450]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Wir haben zuerſt von der Herſtellung der Garne,
von der Verſpinnung des Flachſes, der Baumwolle und
der Wolle zu reden.
Das einfachſte Werkzeug zum Spinnen, das man
bis in die neuere Zeit noch findet, iſt Kunkel und
Spindel. Das 1530 erfundene Spinnrad war billig
genug, um gleichfalls einzudringen bis in die unterſten
Klaſſen. Die Fürſtin wie die Tagelöhnerfrau ſaß in
früherer Zeit am Spinnrad oder arbeitete mit der
Spindel; auch Männer füllten ihre Zeit damit aus.
Und noch heute iſt beſonders auf dem Lande die
Sitte noch nicht verſchwunden. Das alte Mütterchen,
wie die kränklichen Schweſtern, die halberwachſenen
Mädchen können nur ſo ſich nützlich machen; Abend-
ſtunden und Wintertage, welche ſonſt ganz verloren
wären, werden nur ſo mit emſiger Arbeit ausgefüllt.
Was ſo als Nebenbeſchäftigung geſponnen wurde,
konnte da nicht reichen, wo eine blühende Weberei exi-
ſtirte, reichte alſo auch in Deutſchland, beſonders in
Preußen und Sachſen, nicht mehr hin, als im vorigen
Jahrhundert die Weberei zunahm, ſich zu einem blühen-
den Exportgewerbe emporſchwang. Um einen Weber
voll zu beſchäftigen, braucht man das Geſpinnſt von
10 und noch mehr Spinnern. Ich erzählte oben ſchon,
wie man in Preußen das Spinnen zu fördern ſuchte.1
Man ließ die Soldaten ſpinnen; man führte in allen
Strafanſtalten das Spinnen als Hauptbeſchäftigung ein;
es reichte nicht; man gründete ganze Spinnerkolonien;
[451]Die Handſpinnerei.
die Bevölkerung mancher ländlichen Diſtrikte wuchs raſch
unter dem Sporn der ſteigenden Garnpreiſe. Der
Unterhalt, den dieſe Beſchäftigung gab, mochte leidlich
ſein, ſo lange die Nachfrage entfernt durch die ſteigende
Produktion nicht befriedigt wurde; aber immer war es
ſchon damals eine elende Thätigkeit. Sie erforderte
weder Kunſt, noch Kraft, noch Kenntniſſe; der ſchwäch-
lichſte Theil des Arbeiterſtandes floß ihr zu. Eine
ganze Bevölkerung, die ſich ihr durch Generationen hin-
durch ergab, mußte geiſtig und körperlich herunter-
kommen. „Es war immer“ — wie Hoffmann ſagt1 —
„eine Vergeudung menſchlicher Kraft, weder hinreichend
fruchtbar in wirthſchaftlicher Beziehung, noch würdig
genug in ſittlicher.“
Auch in England hatte der Aufſchwung beſonders
der Baumwollenweberei eine immer größere Nachfrage
nach Garnen, nach Handſpinnern erzeugt. John Wyatt2
hatte ſchon 1730 — 38 Verſuche gemacht, eine Spinn-
maſchine mit einer Reihe von Spindeln zu konſtruiren.
Im Jahre 1738 hatte John Kay die wichtigſte Ver-
beſſerung des Webſtuhls, die Schnellſchütze, erfunden.
Wo ſie angewandt wurde, war die doppelte und mehr-
29 *
[452]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
fache Produktion möglich, großer Garnmangel war un-
ausbleiblich. Der weitere Fortſchritt in der Spinnmaſchine
ſchließt ſich an den Namen von James Hargreaves,
eines armen Webers, der im Jahre 1767 ſeine Spinn-
maſchine erfand und nach ſeiner Tochter Jenny nannte.
Schon im folgenden Jahre trat Arkwright mit ſeiner
Spinnmaſchine hervor, die zum erſtenmale mit Pferde-
oder Waſſerkraft in Bewegung geſetzt war. Bis 1785
mit einem ausſchließlichen Patente verſehen, baute er
bereits viele Spinnereiapparate. Der Hauptaufſchwung
der mechaniſchen Spinnerei datirt aber erſt von dem Er-
löſchen ſeines Patents; Samuel Crompton hatte 1775
(oder 79) die Erfindungen Hargreaves’ und Arkwright’s
kombinirt, die ſogenannte mulejenny konſtruirt. Die letzte
Vollendung erreichte die Spinnmaſchine erſt 1825, in
welchem Jahre Roberts zu Mancheſter den ſelbſtthätigen
Muleſtuhl erfand. Erinnern wir uns daneben, daß
James Watt 1769 — 85 die Dampfmaſchine, Cartwright
1787 den mechaniſchen Kraftwebſtuhl, daß 1793 Eli
Whitney in Connecticut den Saw-gine zur Trennung
der Baumwolle von der Kapſel, d. h. die Maſchine, welche
die nothwendige Bedingung der Ausdehnung der Baum-
wollkultur war, daß 1785 der Franzoſe Berthollet die
Kunſtbleiche mit Chlor erfunden hatte, daß 1798 Mac
Intoſh ſie verbeſſert in England einführte, ſo haben
wir damit das merkwürdige Zuſammentreffen außer-
ordentlicher Männer und Erfindungen, die alle ineinander-
greifend den ungeheuren Aufſchwung der Gewebeinduſtrie
bedingten, den Uebergang zur Großinduſtrie von ſelbſt
nach ſich zogen.
[453]Die Spinnmaſchine und ihre Folgen.
Der Umſchwung, der ſich zuerſt in England und
ſpeziell in der Baumwollinduſtrie vollzogen hatte, mußte
ſich nach und nach auch anderwärts geltend machen.
England konnte durch ihn billiger und beſſer produziren.
Die Konkurrenz mit England wurde zur Exiſtenzfrage
für alle kontinentale Gewebeinduſtrie. Es fragte ſich,
welche Stellung, welchen Umfang die einzelne Induſtrie,
zunächſt hier die einzelne Art der Spinnerei hatte.
Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in
Deutſchland noch wenig getragen. Der Stoff war ſchon
viel zu theuer; koſtete doch der Centner hundert und
mehr Thaler. Die am meiſten getragenen Gewebearten,
die Zitze und Nankings, wurden eingeführt. Gegen
Ende des Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei
zwar weſentlich zugenommen; immer hatte man zu
Lichtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu
den Stoffen, welche die Zunft der Züchner webte, war
es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptſache hatte
es doch gereicht, die Baumwolle von Frauen und Kindern
um Lohn verſpinnen zu laſſen. Eine profeſſionsmäßige
Spinnerbevölkerung gab es wenigſtens nicht in allzu-
großem Umfange. Als ſich daher 1738 — 79 die
mechaniſche Baumwollſpinnerei in England entwickelte,
als von 1783 an auch in Deutſchland die Maſchinen-
ſpinnerei begann, verdrängte ſie langſam die Beſchäftigung
einiger alten Frauen, aber ſie traf nicht eine ganze
Bevölkerungsklaſſe in ihrem Haupterwerbszweig. Und als
vollends das Sinken der Baumwollpreiſe und der Twiſte
im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner rohe
Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin
[454]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
gekoſtet hatte, bis auf 19 und 20 Thaler gegen 1829
bis 1832 ſank, als damit die ungeheure Zunahme des
Baumwollverbrauchs erfolgte, da dachte man längſt
nicht mehr an die Möglichkeit einer Handſpinnerei der
Baumwolle. Die Twiſtpreiſe ſtanden ſo, daß damals
ſchon eine Spinnerin ſelbſt beim höchſten Fleiße noch
1 Sgr. mit den gröbſten Garnnummern, höchſtens
einige Pfennige bei höhern Nummern hätte verdienen
können.1 Und das Minimum des Verdienſtes, mit dem
ſich damals eine Perſon begnügte, wäre doch etwa 2 Sgr.
geweſen. Man verarbeitete daher ſchon damals nur
Maſchinengarn.
Innerhalb der Maſchinenſpinnerei ſelbſt aber trat der
große Konkurrenzkampf zwiſchen England und Deutſch-
land, zwiſchen den großen Etabliſſements und jenen
kleinen Spinnereien ein, welche dem Handwerke noch
nahe ſtanden. Den Hauptanſtoß erhielten die deutſchen
Spinnereien durch die Kontinentalſperre. Am Rhein,
an der Wupper, Ruhr, Erft und Sieg, in Sachſen,
Schleſien und Baiern entſtanden zahlreiche, meiſt kleine,
aber bei den damaligen Preiſen ſehr gewinnbringende
Geſchäfte.2 Nach 1815 trat unter dem Druck der eng-
liſchen Konkurrenz ein Stillſtand ein, manche der kleinen
Spinnereien gingen wieder ein. Das Schlimmſte waren
von da an die Rückſchläge des ſchwankenden engliſchen
Marktes; nach Jahren ſteigender Nachfrage und ſteigen-
[455]Die deutſche Baumwollſpinnerei.
der Preiſe, welche wieder zahlreiche Anfangsgeſchäfte
hervorgerufen hatten, trat mit den Handelskriſen (ſo
von 1825 — 26) wieder eine längere Zeit des gedrückteſten
Abſatzes ein, welche in England wie bei uns den kleinen
Geſchäften ein Ende machte. Die Zeit von 1826 — 32
war keine glänzende. Von 1833 — 36 waren wieder
ſteigende Konjunkturen; Berichte aus dieſer Zeit ſagen:
wenn ein Bauer oder Müller ſich zu wohl fühlte, baute
er eine Spinnerei. Nach den Handelskriſen von 1836 und
39 traten wieder die Rückſchläge und mit ihnen wieder
die zahlreichen Bankerotte der kleinen Spinner ein. So
zog ſich unter wechſelnden Verhältniſſen die deutſche
Baumwollſpinnerei hin, mehr und mehr auch auf ganz
große Etabliſſements ſich beſchränkend, was ja in dieſer
Geſchäftsbranche mehr als irgendwo angezeigt iſt, da
nicht leicht in einem Zweige ſo ſehr wie hier das größere
Geſchäft immer billiger zu arbeiten erlaubt. Wenn
die deutſche Baumwollſpinnerei in den letzten 20 Jahren
endlich in Folge der ſteigenden Kapitalanſammlung und
der Ausbildung unſerer Maſchinenfabriken zu vollſtändiger
Ebenbürtigkeit mit den engliſchen Spinnereien herange-
wachſen iſt, ſo hat darunter nicht das eigentliche Handwerk,
ſondern nur ein Theil der kleinen Fabrikanten gelitten; 1
der Haupterfolg aber war die wenigſtens theilweiſe Ver-
drängung der engliſchen Twiſte vom deutſchen Markte.
[456]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Ganz anders lagen die Dinge in der Flachs-
ſpinnerei. Leinwand war ſeit Jahrhunderten der Hauptſtoff
für Ober- und Unterkleider, für Bett- und Tiſchzeug
aller Stände. Dieterici rechnet, 1 daß 1806 im Durch-
ſchnitt der ganzen preußiſchen Bevölkerung jede einzelne
Perſon jährlich ½ Elle Wollgewebe, ¾ Ellen Baumwoll-
ſtoffe, — aber 4 Ellen Leinwand verbraucht habe. Und
zu dieſem Bedarf für den eigenen Verbrauch kam der
Export. Seit alter Zeit hatte man aus Deutſchland
viel Leinen exportirt; im 18 ten Jahrhundert hatte die
Ausfuhr beſonders ſchleſiſcher und weſtfäliſcher Leinwand
ſich wieder außerordentlich geſteigert. Und mit der
Ausfuhr der Leinwand hatte ſich auch die Ausfuhr von
Leinengarn gehoben. Allein aus den preußiſchen Staaten
erreichte der Werth der jährlichen Ausfuhr gegen Ende
des Jahrhunderts einen Betrag von etwa 3 Millionen
Thaler. 2
In ganz Norddeutſchland, beſonders aber in
Schleſien, in Osnabrück, in Ravensberg, im Hannöver-
ſchen und Braunſchweigiſchen hatte ſich das Spinnen
verbreitet. 3 Man ſpann in allen Familien des Mittel-
[457]Die deutſche Flachsſpinnerei vor 1800.
ſtandes, man ſpann in den Bauern- und Tagelöhner-
hütten; man baute den Flachs ſelbſt, bereitete ihn ſelbſt;
der Verdienſt einer ſpinnenden Perſon von etwa 2½
Groſchen täglich war ein hübſcher Zuſatz zu dem Ein-
kommen aus der bäuerlichen Stelle. Daneben waren
aber auch zahlreiche Spinnerkolonien, wie ich vorhin
ſchon erwähnte, entſtanden, welche faſt ausſchließlich
vom Spinnen lebten; man hatte ihre Zunahme in jeder
Weiſe begünſtigt. Ihre Exiſtenz war immer prekär
geweſen; doch konnte eine Familie, zu 3 — 4 Köpfen
gerechnet, deren jeder täglich 2 — 2½ Groſchen ver-
diente, noch behaglich auskommen, ſo lange die
Lebensmittelpreiſe niedrig waren, ſo lange in theuren
Jahren die Friedericianiſchen großen Getreidemagazine
ſich ihrer angenommen hatten. Mit dem außerordent-
lichen Steigen aller Lebensmittelpreiſe gegen Ende des
Jahrhunderts freilich wurde ihre Lage, trotz der noch
immer dauernden Zunahme der Spinnerei, ſchon viel
weniger günſtiger, kamen Nothzuſtände ſchon da und
dort vor.1
Die Spinner, welche den Flachs nicht ſelbſt bereite-
ten, kauften denſelben von den Detailhändlern, wie ſie
in den Spinnerdörfern vorhanden waren. Das fertige
Garn wurde auf dem Garnmarkt oder an den hauſiren-
den Garnſammler verkauft. Die bloße Lohnſpinnerei war
[458]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſelten. Der Spinner war ſelbſtändiger Unternehmer, Eigen-
thümer des von ihm verarbeiteten Rohſtoffs. Strenge
gehandhabte Vorſchriften über den Flachshandel, über
die Garnmaße und Benennungen, über die Zahl der
Fäden, welche eine Strähne, ein Gebinde enthalten
mußte, über getrennten Verkauf von Kette und Schuß-
garn erhielten die Geſchäfte reell, ſchafften den Produkten
Vertrauen im Ausland.
Während ſo in Deutſchland die Spinnerei neben
der Weberei ſich entwickelt hatte, mußten andere Länder
ihr Leinengarn für die Weberei aus dem Ausland
beziehen. So beſonders Irland, das ſchon damals eine
nicht unbedeutende Leinenweberei hatte. Irland allein
bezog jährlich etwa 16 Millionen Pfund deutſches und
holländiſches Leinengarn. 1 Da mußte, nach der Erfin-
dung der Baumwollſpinnmaſchine, der Gedanke nahe
liegen, dieſe Maſchine auch für die Flachsſpinnerei zu
verwenden. Aber es ſtellten ſich dieſem Verſuche die
größten Schwierigkeiten entgegen. Der Flachs erträgt
das gleichmäßige Ziehen der Maſchine viel weniger als
die Baumwolle, die Anfeuchtung des ausgezogenen
Flachſes durch die Spinner wußte man lange nicht zu
erſetzen. Die Herſtellung der Maſchinen war ſehr koſt-
ſpielig; die erſten mechaniſchen Flachsſpinnereien arbeite-
ten unvollkommen und theuer. Weder die feinen, noch
die ganz groben Nummern konnte man vorerſt auf der
Maſchine ſpinnen.
[459]Die Flachsſpinnerei 1800 — 1820.
So wäre auch die Entwickelung der engliſchen
Maſchinenſpinnerei zunächſt eine ſehr langſame geblieben,
wenn nicht durch die napoleoniſchen Kriege, ſpäter haupt-
ſächlich durch die Kontinentalſperre der Bezug der
deutſchen Garne wie der deutſchen Leinwand erſchwert
worden wäre. Die Preiſe ſtiegen; auch in den ſpani-
ſchen Kolonien blieb die deutſche Leinwand aus; da warf
ſich das engliſche Kapital mit Macht auf die Flachs-
ſpinnerei. Prämien für Flachsbau, halbjährig ſteigende
Importzölle 1 auf fremdes Leinengarn, Rückzölle für aus-
geführte Leinwand kamen hinzu, ſchnell und ſicher die
Blüthe der engliſchen Maſchinenſpinnerei herbeizuführen.
Unterdeſſen begann in Deutſchland die Noth der
Spinner, übertäubt vom Lärm des Krieges, erſt recht
klar ſich zeigend, als 1815 der Frieden wiederkehrte.
Theilweiſe zwar hob ſich der Garnbedarf und die
Garnausfuhr wieder etwas, aber nicht genügend; die
Baumwolle verdrängte die Leinwand mehr und mehr;
der Abſatz erhielt ſich nur, wenn man das Handgarn
immer billiger lieferte. Die Vorurtheile gegen das
Maſchinengarn ſchwanden überall nach und nach, nur
in Deutſchland nicht. Jedenfalls zeigte das Maſchinen-
garn einen Vortheil, den das Handgarn nie in dem
Maße gehabt, jetzt vollends durch ſchlechte Produktion
verlor, eine reelle Gleichmäßigkeit des Geſpinnſtes.
Dieſer letztere Umſtand der abnehmenden Güte des
deutſchen Handgarns wurde verhängnißvoll. Noch war
[460]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der Export und der innere Bedarf ein ſolcher, noch war
innerhalb Deutſchlands der Uebergang zur Maſchinen-
ſpinnerei ſo ſchwierig, theuer und unbeliebt, 1 daß der
Handſpinnerei immer noch ein großes Feld geblieben
wäre, wenn ſie ſich nicht ſelbſt durch die Verſchlechterung
des Produktes diskreditirt hätte.
Gerade als die Garnpreiſe zu ſinken begannen,
fing man in Schleſien an, das ſächſiſche Spinnrad ein-
zuführen, das mehr und ſchneller, aber auch viel
ſchlechter zu ſpinnen erlaubte. 2 Bei dem täglich ſinken-
den Lohn ſuchten ſich die Leute durch eine immer ſchnellere
und ſchlechtere Produktion zu helfen. Eine ſtrenge poli-
zeiliche Beaufſichtigung der Produkte wäre doppelt am
Platze geweſen und gerade jetzt fiel ſie faſt ganz weg.
Man hatte in Preußen mit der freiheitlichen Gewerbe-
geſetzgebung die Spinner- und Weberreglements nicht
vollſtändig aufgehoben, man hatte aber aufgehört, ſie
ſtreng durchzuführen. Mehr und mehr ſchlichen ſich
betrügeriſche Verſchlechterungen ein, die deutſche Waare
kam im Ausland in Verruf. Das Maſchinengarn
gewann damals an Beliebtheit nur, weil man ſicher
war, ein gleichmäßiges beſtimmtes Produkt vor ſich zu
haben, während das Handgarn die Publica fides,
deren es früher genoß, verloren hatte. Im Jahre 1828
[461]Die Verſchlechterung des deutſchen Handgarns.
erklärten die britiſchen Kaufleute das deutſche Garn,
das früher ſo beliebt war, ſei aus dieſem Grunde faſt
unverkäuflich. 1
Mit der unreellen Behandlung des ganzen Geſchäfts
und der ſich ſteigernden Noth geſtaltete ſich auch die
ganze bisherige Organiſation des Geſchäfts zur Geißel
für die Spinner. Sie hatten früher durch den Selbſt-
bau oder Baarkauf des Flachſes und den Verkauf des
Garnes eine gewiſſe Selbſtändigkeit behauptet. Mit der
Noth wurde das anders. Für den Selbſtbau des
Flachſes fehlten die Mittel; es wurde den Leuten immer
ſchwerer ein Stückchen Land zu pachten; ſie mußten den
Flachs vom Flachshändler nehmen. Dieſer machte ohne-
dieß ſchlechte Geſchäfte durch die ſinkenden Konjunkturen,
ſuchte ſich dadurch zu helfen, daß er immer ſchlechtern
und billigern Flachs kaufte, den die von ihm abhängigen,
an ihn ſchon verſchuldeten Spinner doch zu den alten
Preiſen nehmen mußten. Der Verfall der Flachs-
bereitung hängt hiermit zuſammen.
Gegenüber dem Garnhändler war der Spinner
nicht in beſſerer Lage; konnte er gar keinen Flachs mehr
kaufen, ſo mußte er froh ſein, dem Garnhändler welchen
um Lohn zu verſpinnen; hatte er noch eigenes Garn
zu verkaufen, ſo war er doch beim Handel immer der,
den die Noth drängte zu verkaufen, der ſich jeden Preis
gefallen laſſen mußte. Vom Händler und Faktor oft-
mals gewiſſenlos gedrückt, hielt er ſich nun ſeinerſeits
zu jedem Betrug berechtigt. Es entſtand ein Syſtem
[462]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der Geſchäftsorganiſation, das nach allen Seiten ver-
giftet und verdorben, die wirthſchaftliche Noth nur noch
ſteigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden
moraliſch ſo tief herabdrückte, daß von da an das
Syſtem einer in den Hütten der kleinen Leute zerſtreuten
Hausinduſtrie in manchen Kreiſen für identiſch galt
mit der Zulaſſung von Betrug und Diebſtahl aller Art.
Man könnte glauben, die billigen Lebensmittel der
zwanziger Jahre hätten die Exiſtenz der Spinner erleich-
tert; aber in Wahrheit war dieſe Billigkeit für ſie eher
verhängnißvoll. Sie ließen ſich leichter die ſinkenden
Löhne gefallen, und als von 1828 an die Preiſe wieder
ſtiegen, da war die Lage um ſo ſchlimmer. Der Ver-
dienſt eines weſtfäliſchen Spinners betrug 1828 ſelten
mehr als 2 Groſchen täglich. 1 Und daneben trieb die
Landbaukriſis viele kleine Bauern, welche früher nicht
geſponnen hatten, zu dieſem Nebenerwerb. Es war ein
zunehmendes Angebot bei ſinkender Nachfrage und über-
dieß lieferten die Bauern oft noch ſchlechteres Garn,
als die profeſſionsmäßigen Spinner.
Da die Garne der deutſchen Länder, wo die
ſtrengſte Leggeordnung ſtets aufrecht erhalten worden
war, wie z. B. die Hannover’ſchen, entſchieden beſſer
blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, ſo ſuchte
auch die preußiſche Regierung den täglich ſinkenden Ruf
des preußiſchen beſonders ſchleſiſchen Handgarns durch
theilweiſe Wiederherſtellung der Reglements noch zu
retten, dem unreellen Geſchäftsbetrieb entgegen zu arbei-
[463]Die zunehmende Noth der Handſpinner.
ten. Beſonders für Schleſien und die Grafſchaft Glatz
wurde die Verordnung vom 2. Juni 1827, 1 betreffend
die polizeilichen Verhältniſſe des Leinengewerbes, erlaſſen,
welche wieder einigermaßen Ordnung ſchaffen ſollte.
Aber ſie genügte nicht. Daß ſie nicht wagte mit
der nothwendigen Schärfe und Strenge gegen die armen
Leute durchzugreifen, war begreiflich, aber es wäre noch
das einzige Hülfsmittel damals geweſen. Der Provinzial-
landtag hatte ſchon 1825 es ausgeſprochen und bewieſen,
daß nur eine ſchärfere polizeiliche Regelung des Flachs-
handels die Geſchäfte wieder auf reelle Baſis zurück-
führen könne. 2
Wenn man übrigens die Preiſe betrachtet, ſieht
man, daß alles auf die Dauer nicht helfen konnte, der
Handarbeit ihr immer ſchon kärgliches Verdienſt zu
erhalten. Hoffmann berechnet, daß der Flachs für
das Schock Garn von 60 Stücken rein gehechelt, das
Verdienſt des Händlers eingerechnet, auf durchſchnittlich
etwa 18 Thaler zu ſtehen kam. Der Preis des
Garnes 3 war nun:
Darnach blieb dem Spinner früher an dem Schock
ein Verdienſt von 28—32 Thlr., 1833 noch von
5 Thlr. bei dem beſſern Garn, während das ſchlechtere,
das Einſchußgarn, bei dem auch viel früher die Ma-
ſchine konkurrirte, kaum mehr einen Verdienſt gab. So
kam es, „daß zu Anfang der vierziger Jahre eine ganze
Spinnerfamilie, Mann, Frau und Kinder, bei allem
Fleiße, wenn ſie faſt Tag und Nacht am Spinnrade
ſaßen, nicht über 2 Groſchen täglichen Verdienſtes hatte.“
Schon waren damals die Bemühungen für Ver-
beſſerung der Flachsbereitung im Gang. Gut einge-
richtete Staatsflachsanſtalten, wie in Belgien, wurden
vorgeſchlagen und eingerichtet, um den Spinner aus der
Hand des Flachshändlers zu befreien; in ähnlicher Weiſe
ſorgte man für direkten Abſatz des Garns, um den
wucheriſchen Druck des Garnſammlers von ihm zu neh-
men. Durch zahlreiche Spinnſchulen ſuchte man auf
eine beſſere Produktion hinzuarbeiten. In Weſtfalen
exiſtirten 1845 - 75 derartige Schulen, 1 in Schleſien
wurden ebenfalls zahlreiche errichtet. Das waren
Linderungsmittel der Noth; in der Hauptſache konnten
ſie nicht helfen, um ſo weniger, als die mechaniſche
Flachsſpinnerei ſich nunmehr in England großartig ent-
wickelt hatte, im Stande war, größere Mengen guten
Maſchinengarns auch nach dem Zollverein zu liefern.
Die Flachsſpindel in der Fabrik hatte ſchon 1818 etwa
120 mal ſo viel geliefert, als ein Handſpinnrad; in
[465]Die Kriſis der deutſchen Handſpinnerei.
den vierziger Jahren nahm man an, daß ein Arbeiter
mit Hilfe der Spinnmaſchine 500 mal ſo viel liefern
könne, als ein Handſpinner. Auch das konnte nicht ohne
Wirkung bleiben, daß ſich heraus ſtellte, der Weber
könne mit Maſchinengarn täglich ⅓ mehr zu Stande
bringen. 1
Die größte Noth der Spinner fällt in die vierziger
Jahre. Tauſende ſind dem Hungertyphus erlegen. Die
Uebelſtände waren da am größten, wo das Spinnen
ausſchließliche Beſchäftigung der Leute, ja ausſchließlicher
Erwerb ganzer Dörfer war, welche, erſt im 18. Jahr-
hundert gegründet, oft kaum einigen Grundbeſitz hatten.
Am meiſten war dieß in Schleſien und der Lauſitz der
Fall, weniger in Weſtfalen. Schwer entſchloß ſich die
ſchwächliche, durch Generationen herabgekommene Spinner-
bevölkerung zu anderer Thätigkeit überzugehen. Es gab
auch damals noch nicht ſo viele Aushülfswege, noch
nicht ſo viele neu aufblühende Induſtrien, die Arbeiter
ſuchten. Der Lohn war allerwärts noch gedrückt, erſt
gegen 1850 fangen die Eiſenbahnbauten an, ihn zu heben.
Die preußiſchen Gewerbetabellen verzeichnen erſt von
1849 an die noch mit Handſpinnerei von Leinengarn
beſchäftigten Perſonen. Ihre Zahl betrug:
[466]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die lapidare Sprache dieſer Zahlen iſt deutlich
und entſetzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwiſchen
den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 — 61 iſt der
größte. Selbſt wenn man annehmen wollte, daß er in
Folge von Fehlern der Aufnahme größer ſei, als die
Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Reſultat
bleibt daſſelbe. Die Handſpinnerei als ſelbſtändige Be-
ſchäftigung hat beinahe überall ſeit den letzten Jahren
aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt ſich kaum
mehr damit verdienen. 1 Soweit die Spinner nicht,
körperlich und geiſtig zu tief geſunken, dem Elend nach
und nach erlegen ſind, haben ſie in Feld- und Wald-
arbeit, bei Straßen- und Eiſenbahnbauten eine geſündere
und beſſer bezahlte Beſchäftigung gefunden.
Die Maſchinenſpinnereien, welche das profeſſions-
mäßige Handſpinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren
in der Hauptſache keine zollvereinsländiſchen, ſondern
fremde, beſonders engliſche. Für die Handſpinner aber lag
darin keine Erleichterung, daß die deutſche Maſchinen-
ſpinnerei ſich ſo langſam entwickelte. 2 Und daneben
hatte dieſe langſame Entwickelung große Nachtheile für
die Weberei; der verſpätete Uebergang zum Maſchinen-
garn war die Haupturſache, welche ihren alten Abſatz
vernichtete.
Freilich war der Uebergang in Deutſchland ſchwie-
rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma-
ſchinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande,
[467]Die Flachsmaſchinenſpinnereien.
welches das Handgeſpinnſt ſo billig und ſo über den Be-
darf lieferte, ſchwer halten, zur Maſchinenſpinnerei über-
zugehen. Die ſchutzzöllneriſche Partei verlangte längſt
einen Schutzzoll zu Gunſten der Maſchinenſpinnerei, ſie
erinnerte an England und die engliſchen Schutzzölle für
dieſe Branche, ſie pochte darauf, daß Belgien, in ähn-
licher Lage wie der Zollverein, ſich durch Einführung
von Schutzzöllen ſeit 1838 außerordentlich raſch eine
bedeutende Maſchinenſpinnerei geſchaffen 1 und dadurch
ſeiner ganzen Leinenmanufaktur wieder aufgeholfen habe.
Man zögerte aus Rückſicht auf die Spinner, man
wollte den Webern das Garn nicht vertheuern, man
entſchloß ſich mit Recht nicht ſo leicht zu Erhöhung und
Einführung von Schutzzöllen, obwohl ein Schutzzoll hier
vielleicht eher am Platze war, als für manche andere
Gewerbe.
Der Export des deutſchen Garnes hörte mehr und
mehr auf; das fremde Maſchinengarn wurde immer
nothwendiger. Noch 1833 hatte die Mehrausfuhr an
rohem Leinengarn 35267 Zentner betragen; ſchon 1840
belief ſich die Mehreinfuhr auf 10939, 2 1842 — 46
jährlich auf 29990 Zentner. Da entſchloß man ſich 1847
doch zur Erhöhung des Zolls von 5 Sgr. auf 2 Thlr.
pro Zentner. Doch blieb auch jetzt die Entwickelung
der zollvereinsländiſchen Maſchinenſpinnerei eine ſehr lang-
30 *
[468]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſame. Im Jahre 1843 hatten 20 Spinnereien exiſtirt,
im Jahre 1861 betrug ihre Zahl erſt 38, von welchen
21 auf die ältern preußiſchen Provinzen kamen. Die Zahl
der Feinſpindeln iſt in dieſer Zeit im Zollverein von
36000 auf 136492 geſtiegen; auch 1865 zählte man
erſt 219000 Spindeln. 1 Die Mehreinfuhr an rohem
Leinengarn war durchſchnittlich 1860 — 64 noch 90667
Zentner. Oeſtreich zählte 1865 — 340000, Frankreich
600000, Großbritannien 1.781000 Spindeln, ſie ſind
alſo dem Zollverein weit voraus.
Ganz hat die Handſpinnerei noch nicht aufgehört
und wird nicht ſo leicht aufhören, da einzelne Garn-
ſorten nur mit der Hand zu ſpinnen ſind. Aber es
wird nur noch als Nebenbeſchäftigung auf dem Lande
geſponnen, und auch das ſchränkt ſich von Jahr zu
Jahr ein. Immer weniger findet dieſes Garn Anwendung
[469]Die neueſte Lage der Handſpinnerei.
für die gewöhnlichen Gewebe, welche in den Welthandel
kommen; aus Bielefeld, aus dem Ravensberg’ſchen, aus
Schleſien erzählen die Handelskammerberichte Jahr für
Jahr, daß die Produktion aus Handgeſpinnſt abnehme.
Der Herforder Verein für Leinen aus reinem Hand-
geſpinnſt iſt der Auflöſung nahe, ſchreibt der Bericht
für 1864. 1 Einzelne Theile unſeres Bezirks, ſchreibt
derſelbe Bielefelder Berichterſtatter 1865, 2 halten vor-
erſt noch am Handgeſpinnſt feſt, aber ohne dabei zu
proſperiren. In abgelegenern Gegenden hält ſie ſich
eher noch. So kamen z. B. 1867 in den hannöverſchen
Leggebezirken von den geleggten Linnen
Aber auf den Leggen, auf welchen die Handgarne
noch bedeutend überwiegen, ſind die abſoluten Sum-
men des jährlich produzirten Leinens ſehr geringe und
nehmen immer mehr ab. Der Bericht für die Stadt
Hannover ſchreibt in demſelben Jahre: „Die Darſtellung
von Handgeſpinnſt findet zwar immer noch ſtatt, läßt
jedoch bedeutend nach. Mit der Spinnerei genau
3
[470]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
bekannte Perſonen halten es im Intereſſe des Hand-
geſpinnſt liefernden Publikums, wie des Handels für
wünſchenswerth, daß die Handſpinnerei ganz aufhöre.
Die Anſicht, daß Leinen von Handgeſpinnſt beſſer ſei,
als das aus Maſchinengarn, hat mehr dazu beigetragen,
die deutſchen Leinen zu verdrängen, als Englands mer-
kantiliſche Lage. Das Rohmaterial wird ebenſo theuer
bezahlt, wie das Handgeſpinnſt. So erzielten z. B. im
letzten Winter Handgeſpinnſte von etwa 7 Pfund 1 Thlr.
15 Gr. für das Bund, und ſind zu derſelben Zeit
7 Pfund Flachs mit 1 Thlr. 12 Gr. bis 1 Thlr.
15 Gr. bezahlt.“
Daß ſelbſt der Bauer und Tagelöhner in Gegen-
den, wo das Spinnen bisher üblich war, es nunmehr
aufgibt und ſeinen Flachs verkauft, hängt mit der Um-
bildung der Flachsbereitung zu eigenen ſelbſtändigen
Geſchäften zuſammen. Das alte Röſten, Brechen und
Schwingen des Flachſes durch den Bauern ſelbſt lieferte
ein zu ſchlechtes Produkt. „Seit den 40 er Jahren
haben die Schenk’ſche Warmwaſſerröſte, die Watt’ſche
Dampfröſte, die Brech- und Schwingemaſchinen von Lee,
Durand, Lowder, Chriſtian, Kuthe, Bücklers, Kaſelowsky,
Friedländer die weitere fabrikmäßige Zubereitung des
Flachſes angebahnt, welche zu ihrer Ausführung mecha-
niſche Kraft und Fabrikationsräume erfordert.“ Die
Regierungen, wie patriotiſchen Vereine ſuchten ſolche An-
ſtalten ins Leben zu rufen, um dem Flachsbau in Deutſch-
land ſeine alte Bedeutung wieder zu geben, die große
Mehreinfuhr von Flachs überflüſſig zu machen. Theil-
weiſe verbanden ſich ſolche Anſtalten mit den großen
[471]Die Flachsbereitungsanſtalten.
Maſchinenſpinnereien, theilweiſe traten ſie ſelbſtändig auf;
zuerſt mehr in kleinern Umfang und mehr um Lohn
den Flachs für die Eigenthümer zubereitend, die ihn
dann ſelbſt verſpannen oder verkauften; ſpäter mehr als
große Fabrikgeſchäfte, die nicht um Lohn arbeiten, ſon-
dern den rohen Flachs einkaufen, den geſchwungenen
fertigen Flachs verkaufen. Die Gewerbetabellen für
1861 zählen zum erſtenmale ſolche Anſtalten und zwar
in Schleſien ſolche mit über 30 Arbeitern auf eine An-
ſtalt, ähnlich große in Poſen, im Königreich Sachſen,
in Braunſchweig; dagegen ſind es in Weſtfalen und
Süddeutſchland mehr handwerksmäßige Geſchäfte; denn
die Zahl der Geſchäfte ſteht der Zahl der Arbeiter ſo
ziemlich gleich. Es handelt ſich theilweiſe um Maſchinen,
welche durch einen Pferdegöpel in Betrieb geſetzt werden,
um Maſchinen, deren Preis einige hundert Thaler nicht
überſchreitet, ſo daß die kleinen Geſchäfte auch wohl
beſtehen und proſperiren können.1
[[472]]
5. Die Wollſpinnerei, die Zwirn-, Strick-, Stick-
und Nähgarnfabriken, die Garnbleiche und
-Färberei und die Seilerei.
Der Verbrauch an Wolle und die Technik der Wollſpinnerei.
Die Handſpinnerei und Kämmerei in früherer Zeit. Die frühe
Entwickelung der kleinen deutſchen Streichgarnſpinnereien.
Die theilweiſe Erhaltung der Handſpinnerei. Der Kampf der
großen und der kleinen Streichgarnſpinnereien; die Statiſtik
derſelben 1837 — 61. Die Lage der Streichgarnſpinnereien
ſeit 1861. Die Kammgarnſpinnerei. Die Handkämmerei als
Lohnarbeit, die Maſchinenkämmerei erſt ſeit neueſter Zeit.
Der geringe Umfang der deutſchen Kammgarninduſtrie; das
Aufhören der deutſchen Handkämmerei. Die Zwirn-, Strick-,
Stick- und Nähgarnfabriken. Die Garnbleichen. Die Färberei;
die Abnahme der handwerksmäßigen Geſchäfte, die Bildung
großer fabrikmäßiger Geſchäfte. Die Seilerei und die Fabriken
für Seilerwaaren.
Die Handſpinnerei und Kämmerei von Schafwolle
beſchäftigte, als die neuen Spinnmaſchinen entdeckt wurden,
auch zahlreiche Perſonen; aber ihre Zahl und ihre
Stellung war doch eine andere, als die der Leinengarn-
ſpinner, und das geht auf Urſachen zurück, die bis in die
neueſte Zeit auch die mechaniſchen Wollſpinnereien beein-
flußt haben, die ich daher zuerſt erwähnen will.
[473]Der Verbrauch an Wollgarn.
Die Technik des Wollſpinnens iſt eine andere,
weniger Arbeit erfordernde; der Verbrauch an Woll-
waaren iſt ein ſehr viel geringerer, als der von Baum-
wolle und Leinen.
Ueber den Verbrauch an Wollwaaren in früherer
Zeit ſagt Dieterici, indem er den Verbrauch pro Kopf der
preußiſchen Bevölkerung auf ½ Elle gegen 1800 an-
ſchlägt: „es iſt notoriſch, wie arm in Bezug auf tuchne
Bekleidung das Landvolk, d. h. die Maſſe der Nation,
vor 1806 geweſen. Der Tuchrock des Bauern mußte
viele Jahre aushalten und oft erſchienen Knechte und
Tagelöhner im ſtrengſten Winter bei dem Gutsherrn
und im Gerichtstermin im leinenen Kittel.“
Die Tuche und andere Wollwaaren werden jetzt
ja leichter gemacht, aber immer kann man noch rechnen,
daß ſie die drei- und mehrfache Zeit von Baumwoll-
ſtoffen aushalten, wodurch ſich der jährliche Bedarf natür-
lich geringer ſtellt. Der Wollverbrauch wird jetzt in
Deutſchland auf etwa 2, in England auf 5 Pfund1
pro Kopf berechnet, der Baumwollverbrauch in Deutſch-
land auf 4, in England auf 30—40 Pfund. Dieterici
und Engel rechnen pro Kopf in Preußen einen jährlichen
Verbrauch (nach freilich ganz ungefähren Schätzungen):
[474]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Was die Technik betrifft, ſo iſt die Urſache der
geringern Arbeit die viel geringere Feinheit aller Woll-
geſpinnſte. Das gröbſte Baumwollzeug beginnt mit 70
Kettenfäden auf den Zoll, das grobe Tuch beginnt mit
27 Kettenfäden, das mittlere hat 40—50, nur das
feinſte Tuch ſteigt bis zu 70.1 Die durchſchnittliche Arbeit
bei der Baumwollſpinnerei iſt nach Hoffmann mindeſtens
die 24 fache gegenüber der Wollſpinnerei. Der Werth der
Wolle wird ſelbſt durch die letzte Verarbeitung zu feinen
Geweben durchſchnittlich nur verdoppelt, der Werth des
Flachſes verdreifacht, der Werth der Baumwolle ſteigt
auf das 10, 30 und mehrfache durch die Verarbeitung
bis zu beſſern Geweben. Die Vortheile der Maſchine
und des Großbetriebs ſind damit ſelbſtverſtändlich für die
Wollinduſtrie kleinere. Spinnereien als ſelbſtändige Ge-
ſchäfte waren und ſind auch dadurch für Wolle ſchwieriger
zu etabliren, daß die Wolle pro Zentner 40—100 Thlr.
koſtet, während die Baumwolle von ähnlichen Preiſen zu
Anfang des Jahrhunderts bis auf wenige Thaler herab-
geſunken iſt.
Aus dieſen Gründen war auch die Wollſpinnerei
früherer Zeit, welche das Garn für die wollenen Gewebe,
wie zum Stricken und zu Strumpfwaaren mit der Hand
[475]Die Wollſpinnerei in früherer Zeit.
und dem Spinnrad zu liefern hatte, niemals ein ſo
bedeutendes Gewerbe, wie die Flachsſpinnerei; ſie war
ſelten ein ſelbſtändiges Gewerbe wie jene.
Auch im Mittelalter bildeten nur in den größten und
blühendſten Städten der damaligen Tuchinduſtrie die
Wollſchläger, die Wollkämmer und die Wollſpinner
eigene Zünfte. Meiſt wurde das Schlagen der Wolle
von den Tuchmachern ſelbſt beſorgt; das Kämmen wurde
beinahe durchaus von Frauen um Lohn betrieben und
ſelbſt das Spinnen war mehr Nebenbeſchäftigung der
untern Klaſſen überhaupt; vielfach hielten ſich die Weber
eigene Knechte und Mägde zu dieſem Geſchäfte.1 Das
vorige Jahrhundert, deſſen Wollinduſtrie die der früheren
Zeit ja im Durchſchnitt keinenfalls erreichte, kannte zwar
neben der Hausſpinnerei profeſſionsmäßige Spinner,
aber nicht in zu großer Zahl; die armen Leute in den
Städten der Wollinduſtrie, in nächſter Nähe der Tuch-
macher und Raſchmacher gaben ſich damit ab. Sie
bildeten nicht wie die Leinenſpinner ganze Kolonien auf
dem Lande.2 Sie waren nicht Unternehmer, wie jene;
ſie waren zum Einkauf des Rohmaterials viel zu arm.
Die Wolle war zu theuer, der Wollhandel war ſchon
entwickelt, ſelbſt die Webermeiſter waren theilweiſe ja
zu arm, Wolle ſelbſt zu kaufen. Das Bild, das uns
aus den zahlreichen Reglements des vorigen Jahr-
[476]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
hunderts entgegen tritt, iſt folgendes. Der Weber mit
ſeinen Geſellen und Jungen ſortirte, ſchlug und reinigte
die Wolle, gab ſie dann dem Spinner und Kämmer,
der für ihn um Lohn arbeitete; dann erſt wurde gewebt,
gewalkt, appretirt, und wenn der Weber nicht Eigen-
thümer des Rohſtoffes war, erhielt nun der Verleger
das fertige Produkt gegen den Lohn zurück.
Das erklärt es, daß die Stockung des Abſatzes
von Wollwaaren zur Zeit der napoleoniſchen Kriege und
der Uebergang zu der kleinen Spinnmaſchine, der ſich
ſchon zu Anfang des Jahrhunderts vollzog, nirgends als
ein allgemeiner Nothſtand, als der Ruin eines blühen-
den Handwerks empfunden wurde.
Für das ſogenannte Streichgarn, d. h. für das
Garn zu gewalkten Waaren, Flanellen und einigen
andern Stoffen, bedurfte es damals nur ſehr einfacher
Maſchinen. Das Garn darf nicht ſcharf gedreht ſein,
muß einen ziemlichen Durchmeſſer haben, um den Ein-
fluß des Walkens nicht zu widerſtehen. Maſchinen hierzu
waren leicht zu bauen, leicht zu bezahlen. Wohlhabende
Tuchmacher, deren es, wie ich unten noch zeigen werde,
beſonders in Preußen und Sachſen damals ziemlich
viele gab, erwarben ſchnell und zahlreich ſolche kleine
Maſchinen; auch kleine handwerksmäßige Lohnſpinne-
reien entſtanden. „Schon vor 1800 bauten in Berlin
die Mechaniker Hoppe und Tappert Maſchinen zum
Schrobbeln, Streichen und Spinnen der Wolle, in
welchen letztern dreißig Spindeln gleichzeitig gingen und
welche man zur Produktion ordinärer Garne mit Erfolg
verwendete.“ Der engliſche Maſchinenbauer Cockerill
[477]Die kleinen Streichgarnſtühle und die Handſpinnerei.
brachte bald darauf ſeine ſchon viel vollendetere Woll-
ſpinnmaſchine nach Verviers, führte ſie dann auch in
Aachen ein, und ſeine Söhne errichteten ſchon 1815
aus Veranlaſſung der preußiſchen Regierung eine hierzu
eingerichtete Maſchinenfabrik in Berlin.
Neben dieſen kleinen raſch ſich verbreitenden Streich-
garnſpinnmaſchinen erhielt ſich bis in die neueſte Zeit
in abgelegenen Gegenden als Nebenbeſchäftigung die
Handſpinnerei. Wo der Bauer ſein eigenes Tuch ſich
noch webt, da ſpinnt er auch die Wolle dazu. Mehr
noch wird zu Strick- und Strumpfwaaren das Garn
mit der Hand geſponnen. In Thüringen, Weſtfalen
und Württemberg gibt es bis in die neuere Zeit noch
Spinnerfamilien, doch dringen auch auf dem Lande die
Maſchinenſtrickgarne täglich weiter vor. Die preußiſche
Statiſtik verzeichnet die Wollſpinner zuſammen mit den
gewerbsmäßigen Wollſtrickern; das erſchwert eine ſichere
Beurtheilung der Verhältniſſe nach den Zahlen; auch
die Grenze zwiſchen gewerblicher und Hausarbeit iſt
natürlich ſchwankend. Man zählte in Preußen:
So viel ſieht man aus den Zahlen, daß es ſich
um kein bedeutendes Gewerbe mehr handelt, auch nicht
um ein plötzliches Zurückgehen.
Wohl galt es noch einen Kampf zwiſchen dem
kleinen und dem großen Betrieb; aber die Loſung war
hier nicht mehr: Handarbeit oder Maſchine, ſondern:
kleine oder große Maſchine! Es hatte ſich der Kampf
[478]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
zu vollziehen zwiſchen den handwerksmäßigen Spinn-
ſtühlen von 30 — 40 Spindeln und den großen Etabliſſe-
ments. Es iſt der Kampf zwiſchen den profeſſions-
mäßigen Tuchmachern und den Tuchfabriken, auf den
ich weiter unten nochmals komme.
Es iſt bekannt, wie raſch und kräftig ſich die große
deutſche Tuchinduſtrie ſchon in den dreißiger und vier-
ziger Jahren entwickelte; es iſt bekannt, daß bei ihr
eine Konzentration ſich vollzog, weiter gehend ſogar als
in England. Damit war aber zugleich die Unhaltbar-
keit der kleinen Streichgarnſpinnereien von 30 — 40
Spindeln gegeben.
Es ſpricht ſich das deutlich und klar in der folgenden
Ueberſicht der preußiſchen Streichgarnſpinnereien, welche
erſt von 1837 an aufgenommen wurden, aus:
Bis Anfang der vierziger Jahre deuten die Zahlen
noch überwiegend auf kleine Geſchäfte; es ſind Spinne-
reien in der Hand der Tuchmacher; dieſelben hatten ein
oder zwei Stühle mit je 40 Spindeln in ihrer eigenen
Wohnung und beſorgten das Spinnen darauf ſelbſt mit
[479]Die Kriſis der kleinen Streichgarnſpinnereien.
Hülfe der Familienmitglieder und Hausgenoſſen. Noch
1843 hatten von den 3300 Maſchinen 2894 zuſammen
163211 Spindeln, alſo eine 56; in Preußen, Poſen,
und Pommern kamen 1843 auf ein Geſchäft nur 45
Spindeln; es ſcheint, ſagt Hoffmann, daß es in dieſen
Provinzen keines gab mit über 80 Spindeln. In der
Mark hatten die Tuchmacher noch faſt ausſchließlich
eigene kleine Spinnereien; im Regierungsbezirk Frankfurt
kamen 150 Spindeln auf eine Spinnerei. Nur in
Schleſien und am Rhein war es damals ſchon weſentlich
anders. In Schleſien hatten ſich ſchon damals größere
Lohnſpinnereien gebildet, welche für die Tuchmacher wie
für die Tuchfabrikanten arbeiteten. In der Gegend von
Aachen hatten die Tuchfabrikanten meiſt ſchon ihre
eigenen größern Spinnereien; im Regierungsbezirk
Aachen kamen damals ſchon auf ein Geſchäft etwa
1000 Spindeln.
In die Zeit von 1843 — 55 fällt die Hauptkriſis;
es iſt die kritiſche Zeit für die kleinen Tuchmacher; ihr
eigenes Garn, wie ihre eigene Walkerei, Färberei und
Appretur können nicht Schritt halten mit den Verbeſſe-
rungen, und damit verſchwinden auch die kleinen
Spinnereien nach einander. Von 1855 — 61 ſetzt ſich
dieſe Richtung fort, etwas weniger akut, weil diejenigen,
welche am wenigſten konkurriren konnten, ſchon gefallen
ſind. Die Zahl der Geſchäfte ſinkt von 1843 — 61
auf den dritten Theil herab, der Umfang der einzelnen
Spinnereien ſteigt auf das dreifache bis ſechsfache. Doch
iſt der Verlauf der Kriſis ſehr verſchieden nach den
Provinzen. In Preußen, Poſen, Pommern gibt es
[480]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
1861 noch 84 Spinnereien mit durchſchnittlich 102 —
186 Spindeln; in der Provinz Sachſen hat ein Geſchäft
1861 durchſchnittlich 288, in Brandenburg und Schle-
ſien 524, am Rhein 1246 Spindeln. In den übrigen
Theilen des Zollvereins ſind die Verhältniſſe ähnlich;
die Kriſis fällt auch meiſt in die vierziger Jahre. Die
Umbildung zu größeren Geſchäften geſchieht in den beiden
letzten Jahrzehnten. Im Jahre 1861 zählte man im
ganzen Zollverein 1797 Streichgarnſpinnereien mit
1.117870 Feinſpindeln, auf eine Spinnerei durch-
ſchnittlich 15 Perſonen und 629 Spindeln.
In der Zeit nach 1861 hat ſich noch Manches
geändert; die Arbeitstheilung, die Spezialiſirung, die
Anwendung von weitern Maſchinen hat zugenommen,
aber mehr in andern Ländern, beſonders in England
und Frankreich,1 ohne daß ſich ſagen ließe, daß die
zollvereinsländiſche Induſtrie zurückgeblieben wäre. Es
kommt weſentlich auf die einzelnen Spezialitäten an.
Auch in England gab es noch 1850 neben den großen
Streichgarnſpinnereien viele mit nicht mehr als 100
Spindeln.2 Theilweiſe iſt das dort jetzt noch ſo. Es
können ſich auch kleinere Geſchäfte noch halten für ein-
zelne Artikel, für gröbere Waaren, für den Lokalbedarf
der mittleren und untern Klaſſen. Die ganze Tuch-
induſtrie, beſonders die Produktion gröberer Tuche, wie
ſie der Zollverein hauptſächlich liefert, ſtellt beſchei-
[481]Die jetzige Lage der Streichgarnſpinnerei.
denere Anforderungen an die Spinnerei, hat etwas
Stabileres, Einfacheres, als die Produktion der Mode-,
der Phantaſieartikel, der nouveautés und hautes
nouveautés, wie ſie vor allem die Franzoſen erzeugen,
oder die Produktion der ganz feinen Modetücher, wie
ſie von Aachen aus Abſatz auf allen Weltmärkten finden.
Je feiner die Artikel ſind, für welche das Garn
beſtimmt iſt, deſto mehr werden alle die neuen
komplizirten Maſchinen nothwendig, deſto mehr wächſt
der Umfang der Spinnereien. Die Krämpel- oder
Krazmaſchinen, die Vorſpinn- und die Feinſpinn-
maſchinen fehlen in keiner großen Fabrik mehr.
Dagegen ſind Selfactors noch ſelten. Erſt ſeit Anfang
der ſechsziger Jahre wurden dieſelben auf die Streich-
garnſpinnerei angewandt. Erſt in neuerer Zeit gewinnen
die Wollwaſch- und Trocknungsmaſchinen an Ausdeh-
nung. Auf der pariſer Ausſtellung von 1867 machte
eine Wollwaſchmaſchine aus Rouen großes Aufſehen,
welche mit einer Frau und einem Arbeiter leiſtet, was
früher 28 Leute thaten, wodurch ſich der dortige Fabri-
kant eine tägliche Erſparniß von 60 Francs berechnet.1
Das läßt ſich nicht leugnen, daß die neugegrün-
deten Geſchäfte meiſt auf breiteſter Grundlage beginnen;
beſonders in ganz neuen Branchen iſt das erſichtlich,
z. B. in der Kunſtwollfabrikation, d. h. der Herſtellung
von neuem Garn aus alten Tuchreſten. Eine Reihe
großer Aktiengeſellſchaften hat ſich auch in der Streich-
garnſpinnerei gebildet.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 31
[482]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Allerdings erfolgt damit wieder eine theilweiſe
Trennung bisher in einheitlichen Etabliſſements ver-
bundener Geſchäfte. Das Waſchen und Reinigen der
Wolle fängt an, ein ſelbſtändiger Induſtriezweig zu
werden.1 Die neuen großen Spinnereien ſind nicht
mehr ſo häufig wie früher mit Tuchfabriken verbunden,
ſondern beſchränken ſich auf das Spinnen und Färben
der Wolle um Lohn oder auf eigene Rechnung, was
freilich nur beweiſt, daß in den bisher beſtehenden
Etabliſſements zu Verſchiedenartiges zuſammengehäuft
war, nicht daß wieder kleine Geſchäfte entſtehen.
Im Ganzen aber iſt die Streichgarnſpinnerei doch
entfernt nicht ſo konzentrirt, wie die Baumwollſpinnerei;
ſelbſt die größten Geſchäfte haben nicht über einige
tauſend Feinſpindeln. Die lokale Verbreitung iſt eine
gleichmäßigere.
Weniger läßt ſich das von der andern Art der
Wollſpinnerei, der Kammgarnſpinnerei ſagen.
Man bezeichnet die Kammgarne (worsted yarn)
gewöhnlich dadurch, daß man hervorhebt, ſie ſeien für
die ungewalkten Gewebe beſtimmt; das iſt inſofern
nicht ganz richtig, als es auch eine Reihe ungewalkter
Gewebe aus Streichgarn gibt. Das Kammgarn iſt das-
jenige, welches für Thibets, Orleans, für Hoſen-,
Weſten-, Möbelſtoffe, für gemiſchte Gewebe beſtimmt
iſt; es wird meiſt aus der langhaarigen Wolle des
engliſchen Landſchafes, oder aus Alpaka- und Mohair-
wolle gefertigt; nur ein kleiner Theil des Lüſtre-
[483]Die Kammgarnſpinnerei.
garns iſt aus Merinowolle. Die Wolle wird nach der
Wäſche zuerſt gekämmt, dann durchſchnittlich viel feiner
geſponnen als das Streichgarn und ſtärker gedreht.
Die ganze Technik iſt komplizirter und ſchwieriger, und
doch hat die Handarbeit hier lange ſich behauptet. Die
Maſchinen waren ſchwieriger zu konſtruiren.
Beſonders das Kämmen geſchah bis in die neuere
Zeit mit der Hand, aber viel weniger in ſelbſtändigen
Geſchäften, ſondern um Lohn von einzelnen Arbeitern,
von Weibern, von Züchtlingen für die betreffenden
Weber und Fabriken. Es war kein ſelbſtändiges, geſun-
des Gewerbe, wenn auch der Lohn zeitweiſe, wie in
England bei dem großen Aufſchwung der Worſtedfabriken,
hoch ſtand (17—20 Sh. die Woche).1 „Die Hand-
kämmerei“, ſchreibt Wiek 1840,2 „iſt der große Hemm-
ſchuh der Spinnerei; gekämmte Wolle iſt nicht immer
zu haben; die verſchiedenen Hände kämmen ungleich;
die Veruntreuung, ja die Umtauſchung der Wolle iſt
nicht zu vermeiden; die gekämmte Wolle (der Zug) wird
durch Oel verunreinigt.“ Doch wollte es lange nicht
gelingen, brauchbare und billiger arbeitende Kämm-
maſchinen zu konſtruiren. Erſt in den fünfziger Jahren,
mehr noch ſeit 1861 trat der Umſchwung ein. Ein
Handſpinner hatte täglich etwa 1½ Pfund Zug und
etwa eben ſo viel Abfall (die Kämmlinge) liefern können;
die Collier’ſche Kammmaſchine lieferte nun mit wenigen
31 *
[484]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Händen 50—60 Pfund Zug per Tag; weitere Ver-
beſſerungen brachte das Heilmann’ſche Syſtem, das
Nobelſyſtem, die Morel-Kammmaſchine, welche auch
gröbere Wolle und ohne viel Abfall kämmen.1 Eine
Morel’ſche Maſchine koſtet 8000 Francs und fordert
½ Pferdekraft, liefert mit einem Arbeiter in 12 Stun-
den 350 Kilo, d. h. 700 Pfund.2
Für Deutſchland war der Uebergang von der Hand-
kämmerei zur Maſchine, wie von der Handſpinnerei zur
Maſchine, nicht von ſehr großem Einfluß, da der Um-
fang dieſer Induſtrie früher nicht bedeutend war.
Die Raſchmacher hatten das ſogenannte Raſch,
ein ziemlich grobes Gewebe, welches meiſt zum Futter
beſſerer Kleider verwendet wurde, geliefert. Was an
feinern Stoffen derart, beſonders für die Frauenkleider
der höhern Stände verwendet wurde, kam aus Belgien,
Frankreich und England. Aber der Verbrauch auch
dieſer Stoffe nahm eher noch ab, als zu Anfang dieſes
Jahrhunderts die feinern, mannigfaltigen Baumwollſtoffe
ſich mehr und mehr verbreiteten.
Die Produktion ſolcher Stoffe war gegen 1840
beinahe verſchwunden. Erſt von da brachte die ſteigende
Wohlhabenheit, die Unzufriedenheit mit den vielfach
ſchlechten Baumwollwaaren wieder eine größere Neigung
für derartige Gewebe hervor. Es entſtanden zunächſt
eine Anzahl faſt durchaus kleiner Spinnereien; aber
ihre Bedeutung war nicht groß; 1840 kamen in Preußen
[485]Die geringe Zahl deutſcher Kammgarnſpinnereien.
auf 380839 Streichgarnſpindeln nur 56258 Kamm-
garnſpindeln. Und ihre Zahl nahm ſogar mit dem
größern Bedarf noch mehr ab, weil die kleinen Spinne-
reien in dieſer Branche viel weniger die Konkurrenz des
Auslandes aushalten konnten. Im Jahre 1846 war die
Zahl der Spindeln in Preußen auf 32470 geſunken;
1861 ſind es 47153, die ſich aber jetzt auf einige
wenige große Geſchäfte (auf 49 in ganz Preußen, 1846
noch 253) vertheilen. Im ganzen Zollverein zählte
man 1861 - 146 Kammgarnſpinnereien mit 251897
Spindeln. Noch jetzt beſteht der überwiegende Theil
der großen Einfuhr von einfachem Wollgarn des Zoll-
vereins (213071 Ztr. im Jahre 1864) aus Kamm-
garnen. Immerhin aber exiſtiren jetzt eine Anzahl großer
Kammgarnſpinnereien in Schleſien, Brandenburg, am
Rhein, vor allem im Königreich Sachſen und in Baiern.
Aber ſie ſind meiſt ziemlich jungen Urſprungs und haben
dann gleich von Anfang an einen den engliſchen Geſchäften
ähnlichen Charakter angenommen, jenen Charakter der
Großartigkeit, wie er hier aus der Natur der Sache
folgt. Die Mode ſtellt an dieſe Garne gegenwärtig ſo hohe
Forderungen in Bezug auf Anſehen, Weichheit, Farbe,
Elaſtizität, Leichtigkeit und Geſchmeidigkeit, daß nur die
raffinirteſte Anſpannung und Anwendung aller techniſchen
Mittel auf dem Markte beſtehen kann. Was durch
dieſe Anſtalten jetzt bei uns verdrängt wird, iſt die
fremde Einfuhr, keine einheimiſchen kleinen Geſchäfte.
Ebenſowenig kann man das Aufhören der Hand-
kämmerei, das ſich in den letzten zwanzig Jahren voll-
zogen hat, beklagen. Theilweiſe verſchwinden damit,
[486]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
wie ſchon erwähnt, gar keine ſelbſtändigen Geſchäfte,
ſondern nur Lohnarbeiter der Weber und Fabriken;
theilweiſe wurde das Kämmen allerdings auch als ſelb-
ſtändige Unternehmung auf eigene Rechnung betrieben.
Es gab ſolche Geſchäfte in Sachſen, in Thüringen, in
Württemberg, in Brandenburg, in Schleſien, am Rhein.
Die preußiſche Statiſtik gibt inſofern keine klare Auskunft
über ſie, als ſie ſie mit der Leiſten- (Kuhhaar-)
ſpinnerei, Haarſpinnerei und früher mit der Hand-
ſpinnerei zuſammen aufführte, auch wahrſcheinlich Ar-
beiter mit aufzählt, die nicht für dieſe Geſchäfte, ſondern
direkt für Fabriken arbeiteten. Die Zahlen ſind folgende:
Eine Zunahme der Anſtalten bis 1855, der Per-
ſonen bis 1849; von da an raſche Abnahme. Es wird
jetzt bald nur noch in den großen Kammgarnſpinnereien
ſelbſt mit den peigneuses gekämmt werden.
Im Anſchluß an die Spinnerei noch einige Worte
über die Herſtellung von Zwirn, Strick-, Stick- und
Nähgarn, einſchließlich der Garnbleiche und Färberei,
und über die Seilerei.
Was die Zwirne und mehrfachen Garne betrifft,
ſo iſt klar, daß mit der Maſchinenſpinnerei auch ſie
der maſchinenmäßigen Anfertigung im Großen anheim-
[487]Die Zwirn- und Garnfabriken.
fielen, daß die kleinen handwerksmäßigen Geſchäfte in
den Hintergrund traten. In Preußen ſind ſie 1846
zum erſten Male aufgenommen. Man zählte:
Die Umbildung fällt in die Zeit von 1855—61.
In andern deutſchen Staaten ſehen wir auch 1861
noch viel kleinere Geſchäfte, die immerhin auch nicht
bloß für den lokalen Bedarf arbeiten; z. B. werden
in Württemberg 24 Geſchäfte mit 395 Perſonen, in
Sachſen 118 Geſchäfte mit 472 Perſonen gezählt. Das
ſind entſchieden noch mehr handwerksmäßige kleine Unter-
nehmungen. Aber es iſt fraglich, ob ſie ſich auf die
Dauer halten werden. Wenn es ſich darum handelt,
in dieſer Branche die engliſche Konkurrenz zu beſeitigen,
beſonders die immer noch ſehr ſtarke Einfuhr von Leinen-
zwirn überflüſſig zu machen, ſo werden dazu nur größere
Geſchäfte im Stande ſein.
Aehnlich verhält es ſich mit den Garnbleichen und
Garnfärbereien aller Art, die nur theilweiſe als ſelb-
ſtändige Geſchäfte, theilweiſe verbunden mit andern Be-
trieben, Stückbleichen, Appreturanſtalten, Stickgarn-
fabriken, vorkommen.
In Schleſien exiſtiren viele Garnbleichen für Leinen
und Baumwolle; ſeit alter Zeit iſt Elberfeld und
Barmen dafür bekannt; ſie hatten ſchon 1790 - 150
Garnbleichen. Der Verbrauch gebleichter Garne für die
Weberei iſt im Zunehmen. Im Jahre 1846 wurden
in Preußen 206 Garnbleichen mit 989 Arbeitern,
[488]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
1861 230 mit 1124 männlichen und 226 weiblichen
Arbeitern, im ganzen Zollverein 403 Anſtalten mit
1623 männlichen und 420 weiblichen Arbeitern gezählt.
Die Garnfärberei lag früher mit in der Hand der
profeſſionsmäßigen Färber, welche in der Regel alle
Zweige der Garn- und Stückfärberei, des Wiederauf-
färbens, häufig auch noch die Druckerei zugleich betrieben.
Derartige Geſchäfte exiſtiren immer noch für den Lokal-
bedarf, ſie arbeiten für kleine Spinnereien und Webereien.
Aber ſie haben doch ſchon bedeutend abgenommen; die
fabrikmäßigen Garnfärbereien, welche ſich auf einzelne
Spezialitäten legen, die Kattundruckereien, die Färbe-
reien, welche mit den Wollſpinnereien und Tuchfabriken
vereinigt ſind, erſetzen ſie. Bis 1837 wurden ſie in
Preußen mit den Kattundruckern zuſammengezählt, daher
die Abnahme von 1837—40 viel zu groß erſcheint;
aber auch von 1840—61 bleibt ſie bedeutend. Man
zählte in Preußen:
Der Rückgang des Gewerbes wurde von den
Meiſtern wohl als Kalamität empfunden, aber die Ge-
ſellen kamen leicht in den Fabrikgeſchäften unter.
[489]Die Färberei.
Von den fabrikmäßigen Garnfärbereien haben beſon-
ders die Türkiſchrothfärbereien Fortſchritte gemacht. Von
Elberfeld und Barmen, wo ſie ſeit 1780 blühten, haben
ſie ſich auch nach Sachſen und Süddeutſchland verbreitet;
man zählte in Preußen 1849 erſt 22 mit 831, 1861
36 mit 1388 Arbeitern. Die andern Garnfärbereien in
Wolle und Baumwolle wurden früher in Preußen mit
den Färbereien überhaupt zuſammen gezählt; 1861 erſt
wurden ſie beſonders aufgenommen; man zählte in Preußen
561 Anſtalten mit 2526 Arbeitern. Sie kommen
auch ſonſt zahlreich vor; im ganzen Zollverein betrug
ihre Zahl 834 mit 3826 Arbeitern. Doch ſind alle
dieſe Zahlen wenig zuverläſſig, da ſo viele dieſer Geſchäfte
nicht ſelbſtändig, ſondern mit andern großen Etabliſſe-
ments verbunden vorkommen. Von beſonderer Bedeutung
ſind die Färbereien von wollenen Stickgarnen, den ſoge-
nannten Zephyrgarnen, deren Hauptſitz Berlin iſt.
In der Seilerei handelt es ſich um zwei große
Aenderungen. Der Hanf wird nicht mehr mit der
Hand verſponnen, auch hier hat die Maſchinenſpinnerei
Platz gegriffen. Das iſt aber nicht das Schlimmſte
für den kleinen Seilermeiſter; theilweiſe hat er dadurch
ſogar Förderung erhalten, indem er ſelbſt hanfenes
Maſchinengarn verwendet.1 Der weitere Schritt aber
war, daß auch für die Herſtellung der Seilerwaaren
ſelbſt neue Apparate und Maſchinen erfunden wurden.
Der deutſche Ausſtellungsbericht von 1851 ſchreibt ſchon:
[490]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
„Die mechaniſche Arbeit iſt bereits in alle Zweige dieſes
Gewerbes eingedrungen, von der Herſtellung des Bind-
fadens und der Taue an, bis zu den Spritzenſchläuchen,
Maſchinenband, ja ſelbſt bis zur Anfertigung von Fiſch-
netzen. Allerdings findet bei vielen Waaren dieſer
Gattung keine nennenswerthe internationale Konkurrenz
ſtatt; allein trotzdem iſt vorauszuſehen, daß das Gewerbe
überall in die drückendſte Lage gerathen wird, wo man
es verſäumt, rechtzeitig die Handarbeit zu verlaſſen und
auf den Maſchinenbetrieb überzugehen.“ Schon 1849
zählte die preußiſche Fabriktabelle 7 Seilerwaarenfabriken
mit 222 Arbeitern, alſo Geſchäfte mit durchſchnittlich
31 — 32 Arbeitern. Beſonders wo der Abſatz ein großer
iſt, in Fabrik- und Seeſtädten, oder in den Gegenden
eines ausgezeichneten Rohproduktes, einer blühenden
Hanfkultur haben die großen Geſchäfte zugenommen.
Immer aber handelt es ſich in der Hauptſache
nicht um einen vollſtändigen Uebergang zu ganz großen
Etabliſſements, ſondern nur zu etwas größern, mit
Maſchinen arbeitenden Handwerksgeſchäften. Die Ma-
ſchinen, welche zur Anwendung kommen, ſind ſehr ver-
ſchieden; von einer Art der mechaniſchen Seilerei heißt
es in dem Berichte über ſie: die Maſchine iſt ſo klein,
daß jeder ſie anwenden kann; ſie iſt im Innern jeder
Wohnung, im kleinſten Raume, wenn man will hinter
dem Ofen aufzuſtellen. Andere ſind allerdings ſchon
viel komplizirter und theurer.1
[491]Die Seilerei.
Die preußiſchen Zahlen über das Seilergewerbe
zeigen jedenfalls, daß der Uebergang zum Maſchinen-
betrieb und zu den großen Geſchäften 1861 noch nicht
allgemein ſich vollzogen haben konnte; man zählte:
Freilich darf man dabei nicht außer Acht laſſen,
daß ſehr viele der ſogenannten Seilermeiſter heute nur
noch Detailhändler ſind; ſie verkaufen Seilerwaaren in
der Regel zuſammen mit Schnaps, mit Salzgurken,
theilweiſe auch mit Kolonialwaaren.
[[492]]
6. Die Weberei überhaupt und die Weberei als
häusliche Nebenbeſchäftigung im Speziellen.
Zur techniſchen Geſchichte der Weberei. Die Leiſtungen und
Preiſe der verſchiedenen Stühle. Die verſchiedene geſchäftliche
Organiſation der Weberei und ihre Beachtung in den ſtatiſti-
ſchen Aufnahmen. Kritik der preußiſchen und zollvereins-
ländiſchen Weberſtatiſtik überhaupt. Die Hausweberei und
ihre ſelbſtändige Stellung gegenüber der Konkurrenz. Die
Wollweberei in Preußen als Nebenbeſchäftigung. Die Lein-
wandweberei als Nebenbeſchäftigung. Die preußiſche Statiſtik
von 1816—61, Zunahme bis 1843, Stabilität von 1843—
1861. Die Stühle nach den einzelnen Provinzen. Schätzung
der Produktion der häuslichen Weberei gegenüber der gewerbs-
mäßigen.
In der Spinnerei haben die großen Fabriken mit
mechaniſcher Arbeit heute definitiv geſiegt, die Weberei
ſteht noch mitten inne in dem Kampfe zwiſchen kleinem
und großem Betrieb, zwiſchen Handarbeit und Maſchinen-
arbeit. Die Aenderungen in der Technik des Webens
ſind mehr Verbeſſerungen als totale Veränderungen;
die wichtigſten und folgenreichſten waren auch am Hand-
ſtuhl anzubringen, ja theilweiſe waren ſie bis in die
neueſte Zeit nur von ihm auszunützen; der Maſchinen-
ſtuhl hat in der Hauptſache dieſelbe Konſtruktion, wie
der Handſtuhl, er wird nur von der mechaniſchen, ſtatt
[493]Zur techniſchen Geſchichte der Weberei.
von der menſchlichen Kraft bewegt; die Maſchine arbeitete
lange kaum oder gar nicht billiger, als der meiſt genüg-
ſame Handweber; für einzelne Branchen iſt die Maſchinen-
arbeit heute noch nicht anwendbar. Die techniſchen Ope-
rationen, denen die Gewebe vor und nach dem Weben
zu unterwerfen ſind, waren es früher mehr, als die
Maſchinenweberei, welche der Großinduſtrie das Ueber-
gewicht verſchafften. Und aus eben dem Grunde exiſti-
ren bis heute blühende Branchen der Textilgewerbe als
Hausinduſtrie, mit techniſcher Vollendung der Gewebe
durch Fabrikanten und Kaufleute.
Der alte einfache Webſtuhl, wie er bis zu Anfang
dieſes Jahrhunderts ſo ziemlich überall üblich war, iſt
beinahe Jahrtauſende alt. Wir finden ihn in den Ge-
mächern der Penelope, wie in den Frauenhäuſern auf
den großen Königshöfen und Domänen Karls des Großen.
Es iſt derſelbe Webſtuhl, an dem ſpäter die zahlreichen
niederländiſchen Tuchmacher ſitzen, den die Niederländer
von da über ganz Norddeutſchland verbreiten; es iſt
derſelbe Webſtuhl, der im 15ten Jahrhundert der
ſchwäbiſchen Linneninduſtrie zu ihrem Weltrufe verhilft,
der ſpäter die große weſtfäliſche oder ravensbergiſche
Exportinduſtrie, die ſchleſiſche Linneninduſtrie, die ſächſiſche
und preußiſche Tuchmacherei des 18ten Jahrhunderts
in Flor bringt. Nur eine etwas andere verbeſſerte
Einrichtung durch eine Mehrzahl von Tritten und
Schäften brauchte es, um die im 17ten Jahrhundert
aus den Niederlanden nach Deutſchland gebrachte
Weberei der künſtleriſch gemuſterten Gewebe, der Drelle
und Damaſte zu ermöglichen.
[494]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die tägliche Leiſtung eines ſolchen einfachen Hand-
ſtuhles iſt natürlich ſehr verſchieden je nach der Breite,
je nach dem Stoffe, ſowie je nach der Feinheit des
Garnes. Die Durchſchnittsangaben, welche darüber
früher und ſpäter gemacht wurden, ziehen zugleich häufig
noch in Rechnung, daß ein großer Theil der Webſtühle
nur einen Theil des Tages im Gange iſt; es hängt
davon ab, ob der Weber noch andere Arbeit verrichtet,
ob er die Hülfsoperationen ſelbſt vornehmen muß oder
nicht. Man wird bei 12 ſtündiger Arbeit und mittlerem
Gewebe zu Anfang des Jahrhunderts nicht über 3—6
Ellen als tägliche Leiſtung annehmen können. Viebahn
rechnet noch 1846 bei 14 ſtündiger Arbeit 3—6 preußiſche
Ellen Leinwand, Dieterici etwa zur ſelben Zeit 5 Ellen
als tägliche Leiſtung.
Die Hauptverbeſſerung des gewöhnlichen Webſtuhls
iſt die ſchon 1738 von John Kay erfundene Schnell-
ſchütze, die mechaniſche Bewegung des Weberſchiffchens;
ſie erlaubt viel breitere Zeuge zu weben und ſteigert die
tägliche Ellenzahl wenigſtens auf das Doppelte. In
Deutſchland fand die Schnellſchütze erſt in den zwanziger
Jahren dieſes Jahrhunderts allgemeinere Verbreitung.
Noch neuer iſt die Verbeſſerung des gewöhnlichen Web-
ſtuhls durch einen Mechanismus, welcher das fertige
Zeug von ſelbſt aufwickelt und die Kette von ſelbſt weiter
abwickelt.
Schon 1750 hatte Vaucanſon einen Webſtuhl gebaut,
deſſen einzelne Thätigkeiten mittelſt Kurbeldrehung bewirkt
wurden; aber die Einrichtung war nicht praktiſch. Im
Jahre 1785 ließ der Theologe Dr. Kartwright ſeinen
[495]Die Verbeſſerung des Handſtuhls und der Kraftwebſtuhl.
mechaniſchen Webſtuhl patentiren; aber die Anwendung
ſcheiterte immer noch daran, daß die baumwollenen
Fäden nicht feſt genug waren, den kräftigen mechaniſchen
Gang des Geſchirres auszuhalten. Man half durch
Beſtreichen der Kette mit der ſogenannten Schlichte;
das koſtete zu viel Zeit, bis 1802 die Schlichtmaſchine
erfunden wurde. Aber ſelbſt 1813 waren noch kaum
4000 ſolcher Webſtühle in England, als ſie in dieſem
Jahre durch den Aufſtand der Weber beinahe alle zer-
ſtört wurden. Von da an aber fanden ſie weitere Ver-
breitung. Horrock in Stockport hatte die Stühle bedeu-
tend verbeſſert, noch mehr gelang das Roberts in
Mancheſter, deſſen Stühle von 1822 an auch nach
Deutſchland kamen. Lange blieb ihre Anwendung auf
Baumwolle beſchränkt, dehnte ſich dann auf Kammgarn
und Leinengarn, nur langſam und ſehr beſchränkt auf
Streichgarn und Seide aus. Die neueren Erfindungen
beziehen ſich auf die Hülfsmaſchinen: Schuß-, Spulen-
und Aufwindmaſchinen, Zettel- und Schlichtmaſchinen,
Meß- und Faltmaſchinen, Maſchinen zur Reinigung
der Gewebe vollenden in den großen Fabriken die Prä-
ziſion, Schnelligkeit und Billigkeit der Arbeit.
Die Jacquardmaſchine, welche die Hebung der
Kettenfäden in beliebiger Weiſe nach beſtimmten Muſtern
regulirt und dadurch gemuſterte Gewebe leichter herzu-
ſtellen erlaubt, ſtammt aus dem Jahre 1808; ſie ver-
breitete ſich ziemlich ſchnell auch in Deutſchland. Der
Jacquardſtuhl, wie alle die andern komplizirteren
Stühle, der Korſettſtuhl, die Stühle mit einer Mehr-
zahl von Schäften und Tritten, die Stühle mit
[496]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Wechſellade ſind bis in die neuere Zeit überwiegend
Handſtühle.
Die Leiſtungen der verſchiedenen Stühle nun können
durchſchnittlich in neuerer Zeit ſo angenommen werden: 1
der verbeſſerte Handſtuhl mit Schnellſchütze ꝛc. liefert
etwa 8 Ellen feine, 20 Ellen ſtarke Leinwand, 25—30,
unter Umſtänden noch mehr Ellen Calico, der Jacquard-
ſtuhl 5—6 Ellen, der Korſettſtuhl 3 Ellen; der Kraft-
ſtuhl dagegen 40 und mehr Ellen; er hat daneben den
Vorzug des immer gleichen Schlages, des gleichmäßigeren
Gewebes. Bei Wollgeweben liefert der Handſtuhl
5—10 Ellen, der Maſchinenſtuhl durchſchnittlich auch
nicht viel mehr als 10 Ellen.
Die Preiſe auch der einfachen Stühle ſind je nach
der Stärke verſchieden; für Baumwolle und Leinen hat
man leichtere, für Wolle ſchwerere. In den 40er
Jahren rechnete man als Preis des einfachen Leinwand-
ſtuhls 6 Thlr. 2 Jetzt werden in Schleſien die geſammten
Koſten für Webſtuhl, Geſchirr u. ſ. w. zwiſchen 11 und
30 Thlr. gerechnet; ein guter Webſtuhl für 8/4 breite
Waare allein koſtet 15 Thlr. 3 Ein guter Handtuch-
[497]Preiſe und Leiſtungen der Webſtühle.
webſtuhl, der kräftiger gebaut ſein muß, als der Lein-
wandſtuhl, aber in der Hauptſache von Holz iſt, wird
hier zu Lande zu 20—30 Thlr. angeſchlagen. Mährlen 1
rechnet einen guten Baumwollſtuhl zu 20 Fl. ſüdd.,
einen ſchmalen Jacquardſtuhl zu 75 Fl., einen breiten
zu 200 Fl., einen Korſettſtuhl zu 50, einen Kraftſtuhl
zu 230 Fl. Der Maſchinenſtuhl wird nicht bloß da-
durch ſoviel theurer, daß die Haupttheile von Eiſen
ſind, er iſt auch komplizirter und muß viel exakter
gearbeitet ſein. Freilich entſcheidet der Preis des Stuhls
noch nicht allein die Rentabilität des einen oder andern
Betriebs; die Koſten der bewegenden Kraft, die An-
wendung anderer Arbeiter an der Maſchine, die General-
koſten der Fabrik, die verſchiedenen Preiſe für Hand-
und Maſchinenprodukte kommen mit in Betracht.
Dieſe techniſchen Vorbemerkungen enthalten ſchon
einen ungefähren Ueberblick über den Gang der Ver-
änderungen, aber eine halbwegs befriedigende Kenntniß
können wir doch erſt erhalten, wenn wir konkreter auf
die Verhältniſſe eingehen. Wir müſſen uns dabei ſchon
nach dem Zwecke dieſer ganzen Unterſuchungen vor Allem
an die Ergebniſſe der zollvereinsländiſchen, hauptſächlich
der preußiſchen Gewerbeſtatiſtik halten. Die erſte auf-
zuwerfende Frage iſt demnach, welche Arten der Weberei
müſſen wir unterſcheiden und wie iſt dieſer Unterſchei-
dung in der offiziellen Statiſtik Rechnung getragen?
Die Geſchäftsarten, welche wir für unſere Unter-
ſuchungen zu trennen haben, ſind folgende: 1) die Pro-
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 32
[498]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
duktion als Nebenbeſchäftigung für den häuslichen Bedarf;
2) die Lohnweberei für einzelne Kunden, welche dem
Weber das Garn liefern und für ihren eigenen Bedarf
verweben laſſen; dieſes Geſchäft verbindet ſich meiſt mit
der handwerksmäßigen Weberei auf eigene Gefahr für
den lokalen Abſatz, für den Vertrieb auf Wochen- und
Jahrmärkten; 3) die Weberei für den Abſatz im Großen;
ſie kann ſelbſt wieder Weberei in geſchloſſenen Etabliſſe-
ments vorzüglich auf mechaniſchen Stühlen oder wenig-
ſtens künſtlicheren Handſtühlen ſein, oder es übernimmt
der Fabrikant nur die kaufmänniſche Vermittelung und
gewiſſe ſchwierigere techniſche Prozeſſe, läßt dagegen die
Weberei durch kleine Meiſter im Hauſe ausführen;
letzteres kann wieder Kauf- oder Lohnweberei ſein.
Was zuerſt die Nebenbeſchäftigung für den häus-
lichen Bedarf betrifft, ſo haben die preußiſchen Tabellen
ſeit 1816 eine beſondere Rubrik hierfür, und die andern
Zollvereinsſtaaten ſind dem gefolgt; es bleibt nur die
Frage, welche Stühle dahin gerechnet werden, welchen
Werth die Zahlen haben.
Die Angaben über die Stühle ſind durchſchnittlich
immer zu niedrig, da ſie ſehr ſchwer zu ermitteln ſind,
in abgelegenen Dörfern ſich der Beobachtung entziehen. 1
Das Kriterium für die Aufnahme in dieſe Rubrik kann
nicht der Umſtand ſein, ob neben der Produktion für
[499]Die geſchäftlichen Arten der Weberei
den eigenen Bedarf auch ab und zu einige Stücke Lein-
wand verkauft werden, ſondern ob der Beſitzer des
Stuhls in der Hauptſache Bauer, Handwerker oder
ſonſt etwas iſt und nebenher ſeine freie Zeit zum Weben
benutzt. Stühle dagegen, welche einem Weber gehören,
der auch nicht das ganze Jahr am Webſtuhl ſitzt, der
vielleicht jetzt den ganzen Sommer auf Tagelohn geht,
gehören nicht in dieſe Kategorie. Die preußiſchen Ta-
bellen ſind in der Hauptſache ſo aufgefaßt und behandelt
worden, obwohl die Grenze zwiſchen Hausarbeit und
gewerblicher Arbeit natürlich immer etwas ſchwankend
bleibt. Der Beweis hierfür liegt darin, daß die Web-
ſtühle, welche unter dieſer Kategorie verzeichnet ſind,
zum kleinſten Theil auf die Weberdiſtrikte, faſt aus-
ſchließlich auf die rein agrariſchen Gegenden fallen.
Weniger iſt das der Fall in Süddeutſchland. Das
Weben iſt dort als häusliche Nebenbeſchäftigung über-
haupt ſehr viel weniger verbreitet als im Norden.
Man hat es ſchon allgemein ausgeſprochen, in den
Gegenden des Weinbaues fehle dieſe Nebenbeſchäftigung
ganz. Die Zeit der kleinen Leute iſt mehr durch andere
Arbeiten ausgefüllt. Die dort unter dieſer Rubrik ver-
zeichneten Stühle gehören mehr jedenfalls als im Norden
kleinen Lohnwebern, welche nur einen Theil des Jahres
ſich mit Weben abgeben. 1
32 *
[500]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Neben dieſen Stühlen wurden in Preußen 1816—
1843 die ſämmtlichen gewerbsweiſe gehenden Webſtühle
für jede Art der Textilinduſtrie in einer Summe
erhoben. Die lokale Weberei um Lohn und für eigene
Rechnung, wie die Weberei für Verleger und Fabriken
ſtecken gleichmäßig in dieſen Zahlen. Eine Unterſchei-
dung war auch früher kaum nothwendig, da es Fabriken
nur wenige gab, der profeſſionsmäßige Weber eine ähn-
liche Stellung hatte, ob er für Kunden, für eigene
Rechnung oder für Verleger arbeitete.
Von 1846 an ſollte mit der Aenderung der Ge-
werbeaufnahmen überhaupt auch eine genauere Erhebung
der Gewebeinduſtrie eintreten. Zuerſt ſollten wie bisher
die ſämmtlichen überhaupt vorhandenen Webſtühle gezählt
werden. Dann die Webermeiſter jeder Branche mit
ihren Gehülfen und Lehrlingen. In dieſer ſollten aber
alle nicht techniſchen Hülfskräfte, Kinder, Frauen, die
häufig beim Spulen, Kettenſcheeren, Aufbäumen, Muſter-
machen helfen, ausdrücklich weggelaſſen werden. Da-
durch ſind dieſe Zahlen ſtets etwas zu niedrig. Ferner
iſt aber auch nicht vollſtändig klar, ob unter den Webern
und ihren Gehülfen außer denen, welche in ſelbſtändigen
Handwerksgeſchäften und in der Hausinduſtrie beſchäftigt
1
[501]Die amtliche Statiſtik der Weberei.
ſind, auch die ſämmtlichen in geſchloſſenen Etabliſſements
arbeitenden Weber mitgerechnet ſind oder nicht. Neben
dieſer Geſammtaufnahme der Weberei wurden nun die
Fabriken noch beſonders gezählt. Nur die Zahlen der
unter den Fabriken gezählten Maſchinenſtühle können
als zuverläſſige betrachtet werden. Die Zahlen der
Fabriken ſelbſt und des Direktionsperſonals ſind unzu-
verläſſig, ſofern nicht klar iſt, ob bei den verſchiedenen
Aufnahmen und ſelbſt bei derſelben Aufnahme in den
verſchiedenen Gegenden nur die eigentlichen Fabriken,
oder auch die Kaufleute, welche fertige Gewebe kaufen
und etwa noch bleichen und appretiren laſſen, als ſolche
gerechnet, ob auch die Faktoren als Inhaber ſelbſtändiger
Geſchäfte mitgezählt ſind. Noch viel werthloſer aber
ſind die Zahlen der Arbeiter und der Handſtühle,
welche mit den Fabriken aufgenommen ſind. Bei den
Arbeitern ſoll auch all das untergeordnete Hülfs-
perſonal, das bei der Geſammtzählung weggelaſſen
wird, mitgerechnet werden. Die Hauptfrage iſt aber
die, ob nur die in den Fabriken ſelbſt arbeitenden
Leute und aufgeſtellten Handſtühle oder ſämmtliche
für die Fabriken arbeitenden gerechnet werden. Als
1846 zum erſten Male die Fabriken beſonders gezählt
wurden, geſchah mehr das letztere. Dieterici ſpricht
damals von „in und für Fabriken arbeitenden Web-
ſtühlen.“ Später geſchah mehr und mehr das erſtere —
aber nicht durchaus. Durch dieſe Unſicherheiten von
Anfang an, durch die vollends ſich ändernde Praxis
iſt jeder Schluß aus dieſen Zahlen vollſtändig werthlos;
wir müſſen daher leider faſt ganz von ihnen abſehen.
[502]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die Zollvereinskonferenz, welche in München 1854
über die Tabellen berieth, ging nicht von einer derartigen
Doppelzählung 1) der geſammten und 2) der fabrik-
mäßigen Weberei aus; ſie ſtellte als Kriterium feſt,
daß alle Unternehmer, welche mechaniſche Stühle oder über
10 Stühle beſchäftigen, unter die Fabriken, alle andern
zu der handwerksmäßigen Weberei gehören. Darnach ſind
die württembergiſchen 1 — ohne Zweifel auch die meiſten
andern zollvereinsländiſchen Aufnahmen 1861 gemacht.
In Sachſen z. B. ſind ausdrücklich unter den II A
(Rubrik 50) verzeichneten Webſtühlen nicht alle Stühle,
ſondern nur diejenigen begriffen, „welche nicht unmittel-
bar zu den unter B angegebenen geſchloſſenen Etabliſſe-
ments und Geſchäften gehören.“ 2 Viebahn ſelbſt hebt
hervor, daß die vierzehnte Generalkonferenz keine Doppel-
zählung, wie ſie früher in Preußen üblich war, an-
ordnen wollte. 3 Und bei einzelnen Poſten der preußi-
ſchen Tabelle iſt man verſucht zu glauben, es ſei auch
in Preußen 1861 ſo gezählt worden, die Rubrik II A 50
umfaſſe nicht mehr die Geſammtheit der Stühle. 4
Selbſt wenn aber theilweiſe ſo gezählt worden iſt
bei den Regierungen, das preußiſche ſtatiſtiſche Bureau
geht davon aus, es habe wie früher eine Doppelzählung
[503]Kritik der amtlichen Webereiſtatiſtik.
ſtattgefunden, 1 die Rubrik II A 50 umfaſſe alſo ſtets
die Geſammtheit aller Webſtühle. Das Zollvereinsbureau
hat es nicht für der Mühe werth gehalten, irgend
welche Aufklärungen über die Art der Aufnahme in den
verſchiedenen Staaten zu publiziren, es ſtellt einfach die
preußiſchen und die andern Zahlen, die demnach unver-
gleichbar ſind, untereinander, und Viebahn benutzt in
ſeiner Gewerbeſtatiſtik dieſe Webſtuhlzahlen faſt unbean-
ſtandet, 2 obwohl ſie nach unſern Auseinanderſetzungen
ſtets um den Betrag der Stühle, welche die Zoll-
vereinsſtaaten außer Preußen bei den Fabriken zählen,
zu niedrig ſind.
Wenn ſich aus den vorſtehenden Bemerkungen
ergibt, daß die preußiſche und Zollvereinsſtatiſtik für
1861 nicht einmal ganz ſichere Summen über die Ge-
ſammtzahl der Webſtühle einer Gattung liefert, daß
die preußiſche Statiſtik auch in ihren frühern Aufnahmen
weder ein ganz zutreffendes Bild von der lokalen hand-
werksmäßigen Weberei, noch von der Hausweberei für
den großen Abſatz, noch von der Weberei in geſchloſſenen
Etabliſſements gibt, — ganz werthlos iſt darum ein
Theil der Zahlen doch nicht, wenn man ſie nur wiſſen-
[504]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſchaftlich gebraucht und gruppirt, andere ſichere Nach-
richten heranzieht, um die Schlüſſe und Konjekturen
zu ſtützen.
Gehen wir nun aber zur Sache ſelbſt über und
zunächſt zur Frage, in wie weit ſich die häusliche
Weberei als Nebenbeſchäftigung bis jetzt erhalten hat.
Die häusliche Weberei ſteht eigentlich bis in die
neueſte Zeit nicht in direkter Konkurrenz mit der gewerbs-
mäßigen. Wo der Bauer, der ländliche Handwerker
und Tagelöhner die paar Thaler für einen Stuhl
erſchwingen kann, wo die Beſchäftigung traditionell ſeit
Jahrhunderten beſteht, ſich naturgemäß anſchließt an
die eigene Produktion von Wolle und Flachs, da macht
man keine Anſprüche an eine techniſch vollendete Waare.
Da wird das Bedürfniß der Kleidung am billigſten und
paſſendſten auf dieſe Weiſe befriedigt, ſo lange die Zeit
und die Arbeitskräfte dazu vorhanden ſind, im Winter
unbenutzt blieben ohne dieſe Nebenbeſchäftigung. Der
mangelnde Verkehr und Handel in früherer Zeit machte
die Thätigkeit nothwendiger; aber ſie dauert auch noch
fort, lange nachdem der Bauer in den Läden der näch-
ſten Stadt, auf Wochen- und Jahrmärkten einkaufen
könnte.
In Preußen, Poſen, Pommern werden auch heute
noch die Wollgewebe, welche das Landvolk trägt, theil-
weiſe ſo gefertigt. 1 Wollſtühle als Nebenbeſchäftigung
gehend gab es im ganzen Staate 1831 ‒ 2693, 1840
[505]Die Weberei als häusliche Nebenbeſchäftigung.
6072, 1846 ‒ 4519, 1861 ‒ 4447. Alſo bis 1840
ſogar eine große Zunahme, von da Abnahme bis 1846;
ſeither aber kaum eine Aenderung. Dieſe Stühle machen
1846 12,6 %, 1861 12,2 % aller Wollwebſtühle aus.
Viel zahlreicher ſind die Leinwandſtühle, welche
als Nebenbeſchäftigung gehen. Die Leinenweberei iſt ſeit
Jahrhunderten Sache des deutſchen Landmannes; in
gleicher einfacher Weiſe hat ſie ſich erhalten bis in die
neuere Zeit; ihre jüngere Schweſter, die Baumwoll-
weberei, hat ſie in dieſem Jahrhundert zwar aus der
Kleidung der untern Volksklaſſen theilweiſe verdrängt,
aber mehr in der Stadt als auf dem Lande; die Her-
ſtellung baumwollener Gewebe iſt — ſo viel ſpäter ent-
ſtanden und ſchnell zur Großinduſtrie entwickelt — nie-
mals in ähnlicher Weiſe eine trauliche Nebenbeſchäftigung
des kleinen Mannes geworden.
Die Zahlen der als Nebenbeſchäftigung gehenden
Leinwandſtühle in Preußen kann ich theilweiſe nicht
direkt angeben; ich muß theilweiſe dafür die ſämmtlichen
als Nebenbeſchäftigung gehenden Stühle ſetzen; doch
machen erſtere immer den weitaus größten Theil der
letztern, z. B. 1861 ‒ 96 % derſelben, aus. Man
zählte in Preußen als Nebenbeſchäftigung betriebene
Stühle:
[506]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Es iſt eine ſtarke Zunahme von 1816 bis 1843.
Während die Bevölkerung etwa auf das 1½fache ſtieg,
nahm die Zahl dieſer Stühle beinahe um’s Doppelte
zu. Und nicht etwa nur ſcheinbar, indem früher gewerbs-
mäßig betriebene Stühle in dieſe Kategorie übertreten.
Die Zahl dieſer iſt ſchon viel zu klein, um die Zunahme
ſo zu erklären. Die vorhin angegebenen Urſachen wirken
auf eine wirkliche Zunahme bis 1843, d. h. bis zu dem
kritiſchen Zeitpunkt, der ja auch nach anderer Richtung
die Grenzſcheide einer andern volkswirthſchaftlichen Zeit
bezeichnet.
Von da an nimmt die Geſammtzahl nicht ab, ſie
bleibt nur ſtabil; die häuslichen Stühle machen 1846
86,1 %, 1861 ‒ 86,0 % aller auf Leinwand gehenden
Stühle aus. Schuld hieran iſt nicht ſowohl die direkte
Konkurrenz, das Angebot billiger Fabrikwaaren, das
überall hin dringt, der etwa zunehmende Luxus, der
mit dem einfachen eigenen Produkt nicht mehr ſo zu-
frieden wäre. Etwas wirken dieſe Faktoren ja mit,
[507]Die Statiſtik der Hausweberei.
aber nicht allzuviel. Dem Bauer kommt ſein Hand-
gewebe immer noch billiger als das billigſte Maſchinen-
produkt, das er in dieſer Form nicht einmal liebt, ſo
lange er Zeit und Arbeitskräfte zur eigenen Weberei
hat. Aber gerade das hört auf. Man hat mit der
intenſiven Kultur, mit andern Nebenarbeiten ſo viel
mehr zu thun. Und während die Arbeit in Haus und
Hof, in Flur und Feld gewachſen iſt, hat man weniger
Leute. Die jüngern Söhne und Töchter haben nicht
mehr Luſt, unverheirathet auf dem Hofe zu bleiben,
man hat beſonders in Weſt- und Mitteldeutſchland
ſehr viel weniger Geſinde als früher. 1 Das eben ſo
ſehr, als die geſtiegenen Flachspreiſe veranlaſſen den
weſtfäliſchen Bauern, heute mehr und mehr ſeinen
Flachs zu Markte zu tragen und die fertige Leinwand
zu kaufen.
Während aber im Weſten die Stühle abnehmen,
nehmen ſie im Oſten bis 1861 noch zu. Die Stabilität
der preußiſchen Zahlen wird 1843 — 61 durch dieſe
entgegengeſetzte Bewegung erreicht. Um die provinziellen
Zahlen auch noch mit dem Stande von 1816 zu ver-
gleichen, führe ich zuerſt die ſämmtlichen als Neben-
beſchäftigung gehenden Stühle an. 2 — Man zählte:
[508]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die ausſchließlich für Leinwand gehenden Stühle
ſind kaum etwas geringer; ſie machen aus:
Aehnliche Ergebniſſe, wie die öſtlichen preußiſchen
Provinzen, zeigen einige andere norddeutſche Staaten,
ähnliche Ergebniſſe wie Sachſen, Schleſien, Weſtfalen
und die Rheinprovinz zeigen die ſüddeutſchen Staaten.
Viebahn 1 giebt in der Geſammtüberſicht der Weberei
des Zollvereins, die allerdings nach meinen obigen Aus-
führungen zu niedrige Zahlen enthält, das folgende all-
gemeine Reſultat. Auf 39554 Maſchinenſtühle und
394865 gewerbsmäßige Handſtühle aller Art zählt er
[509]Vergleich der häuslichen u. gewerbsmäßigen Linnenproduktion.
noch 387969 als Nebenbeſchäftigung gehende Hand-
ſtühle. In der Linneninduſtrie allein zählt er 350
Maſchinenſtühle, 119928 1 gewerbsmäßig gehende Hand-
ſtühle, 370970 als Nebenbeſchäftigung gehende Hand-
ſtühle. Wollen wir die Produktion vergleichen, ſo
dürfen wir für die letztern Stühle als tägliche Leiſtung
nicht über 3 Ellen annehmen, auch keine Thätigkeit,
die über 1 — 2 Monate, alſo etwa auf 45 Tage ſich
erſtreckte. Die Leiſtung wäre etwas über 50 Millionen
Ellen. Bei der gewerblichen Produktion kämen 350
Maſchinenſtühle mit täglich etwa 40 Ellen und 300
jährlichen Arbeitstagen in Betracht; das gäbe etwas
über 4 Millionen Ellen. Die 119928 Handſtühle ſollen
hoch gerechnet täglich je 10 Ellen liefern; über 250
Arbeitstage ſind auf ſie nicht zu rechnen. Das ergäbe
zuſammen etwa 300 Millionen Ellen. 2
So wenig ſicher dieſe Zahlen ſind, ſo geben ſie
doch eine klare Anſchauung davon, von welcher Bedeutung
die häusliche Weberei auch heute noch iſt. Denjenigen
[510]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
aber, der hieran noch zweifelte, den möchte ich daran
erinnern, daß nach den Berechnungen von Moreau de
Jonnès 1 in Frankreich die gewerbliche Leinenproduktion
allerdings nach Abzug des Werthes des Rohſtoffes einen
Werth von jährlich 62 Millionen Frcs., die häusliche
ländliche Linnenproduktion, unter Hinzufügung des
Werthes des geſammten Rohſtoffes, einen jährlichen
Werth von 288 Millionen Frcs. erzeugt; auf jene
kommen 18, auf dieſe 82 % des Geſammtwerthes.
[[511]]
7. Die handwerksmäßige lokale Weberei.
Die Geſchäfte des handwerksmäßigen Webers, die Lohnweberei
für Kunden, die Produktion für den lokalen Bedarf, für
Wochen- und Jahrmärkte. Die Konkurrenz mit der für den
Abſatz im Großen arbeitenden Hausinduſtrie. Die ſtatiſtiſche
Ermittlung der lokalen Produktion. Ihre Bedeutung in
Preußen 1795/1803 nach Krug. Ihre Lage 1816 — 1831. Die
lokale Baumwollweberei 1834 — 1861. Die profeſſionsmäßige
Linnenweberei 1834 — 1861. Die Zunahme der kleinen
preußiſchen Tuchmacher bis gegen 1840. Die Lage in andern
Zollvereinsſtaaten. Die Kriſis der kleinen Geſchäfte und ihre
Urſachen 1840 — 1861. — Rückblick auf die lokale Weberei
überhaupt. Die Urſachen, welche ſie theilweiſe noch halten.
Die lokalen Unterſchiede in dieſer Beziehung. Berichte aus
Württemberg. Die Verdrängung der lokalen Weberei aus
den größern Städten durch den Detailhandel. Halle und
Berlin. Der Gegenſatz eines Mittelſtandes, der auf dem
Handwerk, und eines ſolchen, der auf dem Detailhandel baſirt.
Schon eine Stufe weiterer Arbeitstheilung zeigt es
an, wenn das Weben nicht mehr in der Familie, ſon-
dern im Hauſe des lokalen handwerksmäßigen Webers
geſchieht. Das in der Familie geſponnene Garn wurde
dem Weber ausgehändigt, er hatte das rohe Gewebe
zurückzuliefern, das die Hausfrau dann vollends bleichen,
färben, fertig machen ließ. Die armen Leute, die keinen
[512]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
eigenen Webſtuhl erſchwingen konnten, wie der wohl-
habendere Mittelſtand, die Bürger- und Beamtenfrauen,
welche zum Selbſtweben ſchon zu vornehm ſich fühlten,
verfuhren ſo. In den Gegenden einer ſchwunghaften
Weberei arbeiteten die Weber faſt immer neben ihrer
Thätigkeit für die Kaufleute und Verleger nebenbei für
Kunden. In anderen Gegenden ſuchte der Lohnweber,
wenn er etwas erſpart hatte, womöglich auch auf eigne
Rechnung zu arbeiten, um entweder ſelbſt einen Laden
zu eröffnen, oder an einen der Meiſter des Orts zu
verkaufen, welche ſchon in der etwas glücklicheren Lage
waren. Solche hießen Kaufweber; ſie bezogen die
Wochen- und Jahrmärkte; aus ihnen gingen ſpäter viel-
fach die größern Fabrikanten und Kaufleute hervor.
Dieſe lokale Produktion lieferte die landesüblichen
althergebrachten Stoffe; vor allem einfache Leinwand,
höchſtens etwas Drell, ſpäter auch Jacquardgewebe, aber
nicht viel (im Jahre 1820 kommen in Württemberg auf
28 ſog. Bildweber 17492 einfache Leineweber); dann, aber
in viel geringerem Umfange, die einfachen Kattune, die
halbbaumwollenen Gewebe, das alte Parchend, das die
Züchner fertigten, jene farbigen Kotonette, in Süddeutſch-
land „Zeugle“ genannt, buntſtreifige Gewebe, die theil-
weiſe zu Bettzeug, theilweiſe zur weiblichen und Kinder-
kleidung in den untern und mittleren Klaſſen dienen;
endlich die ungewalkten Raſche und die einfachſten
gröberen Tucharten.
Eine größere an einzelnen Orten als Hausinduſtrie
konzentrirte Weberei exiſtirte wohl ſchon in verſchiedenen
Gegenden Deutſchlands im vorigen Jahrhundert; aber
[513]Die lokale Weberei früherer Zeit.
ihre Konkurrenz übte keinen Druck auf die faſt aller-
wärts vorhandene lokale Produktion. Jene lieferte die
feinern beſſern Stoffe für die höhern Klaſſen, für die
großen Städte, für die Höfe; theilweiſe lieferte ſie auch
dieſelben Produkte wie die lokale Weberei, war in ihrer
Technik gleich einfach wie ſie; aber ſie arbeitete dann
hauptſächlich für den Export; es waren Weberdiſtrikte,
welche durch den wachſenden Export groß geworden
waren. Nach dem damaligen Zuſtande des Verkehrs,
der Handelsorganiſation war es faſt leichter, daß die
ſchleſiſche Leinwand über Hamburg nach Amerika und
Indien ging, als daß ſie den Weg in alle abgelegenen
Landſtädtchen Deutſchlands gefunden hätte. Doch war
natürlich zwiſchen den verſchiedenen Arten der Weberei
in dieſer Beziehung ein ziemlicher Unterſchied. Die
Tuchmacherei war ſchon nicht ſo allgemein verbreitet
wie die Leineweberei; und beiden gegenüber traten die
jüngern Induſtrien, die Baumwoll- und Seidenweberei,
von Anfang an weniger als Lokalgewerbe auf.
Nach dem Charakter der amtlichen ſtatiſtiſchen Er-
hebungen, wie ich ihn oben ſchilderte, läßt ſich aus
ihnen kein direkter Schluß ziehen, wie früher die lokale
handwerksmäßige Weberei ſich zur großen Hausinduſtrie,
ſpäter zur fabrikmäßigen Weberei ſtellte. Die einzige
Methode, welche uns offen bleibt, indirekt das Ver-
hältniß der lokalen zur großen Weberei zu unterſuchen,
liegt darin, nach den Spezialtabellen zu prüfen, ob
die eine oder andere Art der Weberei eine allgemeine
lokale Verbreitung hat oder ausſchließlich an einzelnen
Orten konzentrirt vorkommt.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 33
[514]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
In dieſer Beziehung geben ſchon die Krug’ſchen
Tabellen1 (1795—1803) ein ziemlich klares Bild.
Seiden- und Baumwollweber verzeichnet Krug nur an
wenigen Orten, aber dann in größern Poſten. In der
Wollweberei zählt Krug 305 einzelne Orte auf, eine
Anzahl hiervon mit über 100 Stühlen, die überwiegende
Mehrzahl aber mit je nur ein paar Arbeitern und
Stühlen. Die an gleicher Stelle von Krug gegebene
Ueberſicht über die Leineweberei reſp. die Leinewebſtühle
iſt weniger klar, ſofern ſie theilweiſe nach ganzen Pro-
vinzen, theilweiſe nach Städten die Stühle und Arbeiter
aufführt. Dagegen gibt die Tabelle der Leineweber unter
den Handwerkern2 eine Anſchauung davon, wie neben
der konzentrirten Produktion Schleſiens und einiger
anderer Theile der Monarchie doch überall die lokale
Weberei blühte. Die Zahl der Leineweber betrug hier-
nach in den folgenden einzelnen Landestheilen:
[515]Die lokale Weberei gegen 1800.
Auch für die ſpätere Zeit iſt ſtatiſtiſch kein anderer
Beweis für das Vorkommen dieſer lokalen handwerks-
mäßigen Weberei zu führen, als durch eine Prüfung
der Spezialtabellen nach der erwähnten Richtung. Am
beſten taugen hierzu Tabellen nach Regierungsbezirken;
da mir ſolche aber für die frühere Zeit fehlen, muß
ich mich für 1816—31 darauf beſchränken, eine Tabelle
nach Provinzen mitzutheilen;2 man zählte Webſtühle:
33 *
[516]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Die Zahlen der Seidenweberei zeigen klar, daß
ſie nicht hierher gehören; es iſt ein konzentrirter Maſſen-
betrieb an einzelnen Orten. Aehnlich auch die Baum-
wollweberei, ſowie die damalige Bandweberei. Eine
relativ gleichmäßigere Verbreitung dagegen ergibt ſich
bei der Strumpfweberei; und die Leinen- und Wollen-
weberei zeigen neben der größern Induſtrie ein ziemlich
[517]Die lokale Weberei 1816—31.
allgemeines Vorkommen. Die Leineweberei in Schleſien,
Sachſen und Weſtfalen geht ſchon bedeutend zurück;
in dieſen Provinzen iſt der Sitz der großen Weberei,
der Abſatz nach dem Ausland ſtockte, wie wir weiter
unten noch näher ſehen werden. In den Provinzen
mit mehr lokaler Weberei iſt der Rückgang ent-
weder ſehr viel kleiner, oder ſogar eine Zunahme
zu konſtatiren, wie in Weſtpreußen, Brandenburg,
Pommern. Die Wollweberei zeigt 1816—31 theil-
weiſe bedeutende Rückſchritte, am ſtärkſten in Schleſien
und Poſen; dieſe Provinzen verlieren ihren großen Ab-
ſatz nach Rußland; die lokale Tuchmacherei aber nimmt
da und dort etwas zu, wie wir z. B. an den pommer-
ſchen Zahlen ſehen.
Für die ſpätere Zeit ſtelle ich die Webſtühle nach
Regierungsbezirken zuſammen, laſſe dabei aber die
Seidenweberei, die Band- und Strumpfweberei zunächſt
außer Betracht. Ich komme auf ſie weiter unten zurück.
Die auf der folgenden Seite abgedruckte Tabelle
der Baumwollweberei zeigt in Bezug auf die lokale Ver-
theilung ein wechſelndes Ergebniß: 1834 gibt es in den
öſtlichen Provinzen — außer den Weberdiſtrikten — faſt
noch gar keine „Züchner,“ wohl aber in den mittleren und
weſtlichen Provinzen; ſie nehmen bis 1840 und von 1840
bis 1849 in den Regierungsbezirken, wo ſie vorher fehlten,
meiſt zu. Dagegen zeigt ſich von 1849—61 ſchon wieder
eine theilweiſe Abnahme — aber auch nur theilweiſe —,
in einzelnen Bezirken, Gumbinnen, Danzig, Poſen,
Köslin, Trier, nehmen ſie noch zu. Dabei iſt nicht zu
vergeſſen, daß die Zunahme der kleinen, wie der großen
[518]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Baumwollweberei weiſt mit dem Uebergang von der
Linnen- zur Baumwollweberei zuſammenhängt, und daß
die Konjunkturen von 1849—61 für die Baumwoll-
weberei ſelten günſtige, die Handweberei durch ganz
exzeptionelle Preiſe wieder friſtende waren. Ohne das
würde die lokale Weberei nicht einmal ſo ſtark zugenom-
men haben. Im ſchroffen Gegenſatz aber zu der immer-
hin kleinen Zunahme der Stühle und Geſchäfte in den
[519]Die lokale Baumwoll- und Linnenweberei 1834—61.
beſprochenen Bezirken ſteht die ſtarke Zunahme beſonders
von 1840 an in den Hauptgegenden der großen In-
duſtrie, in den Regierungsbezirken Breslau, Liegnitz,
Erfurt, Münſter. Der Schwerpunkt der jetzt erſt
glänzend ſich entwickelnden Induſtrie mußte naturgemäß
nicht in die lokalen Geſchäfte, ſondern in den konzentrir-
ten maſſenhaften Betrieb an einzelnen Orten fallen.
Die Linneninduſtrie gibt folgende Zahlen:
Im Gegenſatze zur Tabelle der Baumwollweberei
ſehen wir hier 1834 eine ziemlich gleichmäßige Ver-
breitung der gewerbsmäßig betriebenen Stühle; aller
Orten ſind kleine handwerksmäßige Meiſter. Von 1834
bis 1840 nehmen die kleinen Zahlen mehr zu als die
großen. Das heißt: die lokale Kundenweberei, die
handwerksmäßige Kaufweberei, das Verkaufen der Haus-
leinwand auf Jahr- und Wochenmärkten nimmt noch
zu, während die Weberei für den Abſatz im Großen
nur theilweiſe noch etwas zunimmt, theilweiſe ſtabil
bleibt oder ſchon abnimmt. Von 1840—49 nehmen
die kleinen Zahlen noch etwas zu, die großen verhalten
ſich ähnlich wie 1834—40. Von 1849—61 erſt
gehen weſentlich auch die kleinen Zahlen zurück. Erſt
alſo von 1849—61 ſchränkt ſich die Art des Geſchäfts-
betriebs, von welchem wir hier zunächſt ſprechen, weſent-
lich ein; denn jetzt erſt nimmt Verkehr und Handel ſo
zu, daß die lokale Produktion mehr und mehr über-
flüſſig wird. Doch iſt ſie 1861 von allen Arten der
lokalen Weberei noch am ausgedehnteſten.
Während bei der Linneninduſtrie die Hausweberei
für den Abſatz im Großen eine größere Kriſis durchzu-
machen hatte, als die lokalen profeſſionsmäßigen Unter-
nehmer, gilt das Gegentheil von der Wollweberei.
Einem faſt vollſtändigen Untergang der kleinen Geſchäfte
in neueſter Zeit ſteht der glänzendſte Aufſchwung der
großen gegenüber. Deßwegen iſt die Kriſis in der
folgenden Tabelle auch nicht ſo klar erſichtlich. Voraus-
ſchicken will ich noch, daß hier die Tuchmacher und
Raſchmacher (in Süddeutſchland Zeugmacher) zuſammen
[521]Die lokale Wollweberei 1834—61.
verzeichnet ſind, daß aber die erſteren weitaus über-
wiegen. Die Zahlen ſind folgende:
Das Tuchmachergewerbe war in Deutſchland ſeit
Ende des vorigen Jahrhunderts wieder vielfach aufge-
blüht; der raſche Uebergang zu kleinen Streichgarn-
ſpinnereien war auch von den kleinen Geſchäften vollzogen
worden; mit ſteigendem Wohlſtand hob ſich die innere
Nachfrage; große Tuchfabriken hatten ſich daneben ſchon
[522]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
bis 1831 zahlreich entwickelt; ſie hatten ſich ſtark auf
den Export geworfen und drückten ſo zunächſt nicht ſo
ſehr auf die kleinen Geſchäfte; im Gegentheil, die
ſteigende Ausfuhr kam auch dieſen zu Gute; ſie machten,
wie die obigen Zahlen lehren, jedenfalls noch von
1834—40 Fortſchritte. Die kleinen Zahlen nehmen
in der Tabelle ſo ſtark zu wie die großen.
Gegen 1840 freilich beginnt ſchon der Umſchwung.
In den andern Ländern des Zollvereins hatte ſich ſchon
mit dem Anſchluß an den preußiſchen Zollverein die
Schwierigkeit für die kleinen Tuchmacher gezeigt mit den
vorzüglichen Produkten der rheiniſchen, ſächſiſchen oder
brandenburgiſchen Fabriken zu konkurriren. Die in
Württemberg ſo zahlreich 1825—33 entſtandenen klei-
nen Tuchmachergeſchäfte1 zeigten jetzt, daß ſie zu vielerlei
produzirten, daß ihren Waaren die Ausrüſtung, die
Legart, die Appretur fehlte; der Detailverſchluß am
Wohnort, der Verkauf auf Jahrmärkten wollte, je mehr
der Handel ſich ausbildete, nicht mehr gehen. Auch
der Uebergang zu Mode- und Sommerſtoffen allein
konnte den kleinen Meiſter nicht retten. Vom Königreich
Sachſen meldet Wiek2 ſchon 1840 ähnliches: die
kleinen Tuchmacher verdienen trotz großer Anſtrengung
kaum mehr ſo viel, daß ſie ſich halten können; ſelbſt
wenn ſie ſich anſtrengen, können ſie das Tuch der
Fabriken nicht liefern, ihre Waare iſt eine total andere;
[523]Die Kriſis der kleinen Tuchmacher.
ſie iſt durch den Druck der Konkurrenz billiger geworden,
aber damit auch um ſo viel undichter, leichter gewalkt
und nicht mehr gut gerauht. Es iſt mit ziemlicher
Gewißheit vorauszuſehen, ſagt er, daß nach und nach
wie in England und den Niederlanden, ſo auch
hier der Meiſterbetrieb aufgehen muß in den Fabrik-
betrieb.
Wo eine Mehrzahl von Tuchmachern beſtand, da
hätten ſich dieſelben durch Aſſoziation helfen können,
wenn nicht bei den meiſten der Hang an Vorurtheilen,
an Zunft- und Innungsſatzungen, die Bedenklichkeit des
Uebergangs vom Alten zum Neuen den Schritt erſchwert
hätte. Der einzelne kleine Meiſter aber war unrettbar
verloren. Die eigentlich kritiſche Zeit fällt in die
Jahre 1840—55.
Nicht aber der Maſchinenwebſtuhl war es, was
den Tuchmacher ruinirte; es gab in Preußen, deſſen
Fabriken im Zollverein an der Spitze ſtanden, 1846
erſt 4,7, ſelbſt 1861 erſt 11,1 % Maſchinenſtühle unter
den ſämmtlichen Wollwebſtühlen. Die Hauptſache war
die Vereinigung aller bisher getrennten Zweige des Ge-
ſchäfts in einheitliche konſequent geleitete Etabliſſements;1
es war die Vervollkommnung der Spinnerei einerſeits,
der Walke, des Rauhens und Scheerens andererſeits.
Beſonders die in den vierziger Jahren ſich verbreitenden
Zylinderwalken wirkten epochemachend, ſie erlaubten die
[524]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Filzung der Zeuge genauer zu überwachen; es kamen
ferner die Wäſch-, Rauh-, Borſt- und Scheermaſchinen,
die Transverſal-, Longitudinal- und Diagonalzylinder-
ſcheermaſchinen, die Dampflüſtrirapparate, die hydrau-
liſchen Preſſen. Alles zugleich theure Maſchinen, welche
dem kleinen Manne nicht erreichbar ſind.
Wir ſprachen ſchon in anderem Zuſammenhang
von dem Rückgang der baieriſchen Tuchmacherei.1 Von
Württemberg will ich noch erwähnen, daß 1840—47
jeder 6 te Tuchmacher bankerott machte.2 Und doch
ſagt Mährlen: die meiſten Fallimente unter den kleinen
Tuchmachern fallen in die Jahre 1847 bis 1853. Der
Rückgang in Preußen iſt erſichtlich aus der früher ſchon
angeführten Tabelle der Streichgarnſpinnereien und aus
der Thatſache, daß von 1840 an die Wollwebſtühle in
den Regierungsbezirken mit großer Induſtrie, wie
Aachen, Düſſeldorf, Erfurt, Liegnitz und Frankfurt
außerordentlich zunehmen, während die Stühle in den
Regierungsbezirken mit kleiner lokaler Produktion, beſon-
ders in den öſtlichen, meiſt bedeutend abnehmen.3
Außerdem zeigt ſich der Verfall der kleinen Tuchmacher
noch recht klar in dem Rückgang der Hülfsgewerbe.
Man zählte in Preußen:
[525]Der Rückgang der Tuchſcheerer und Walkmühlen.
Nach dieſen Zahlen beginnt die Kriſis bei den
Tuchſcheerern ſchon zwiſchen 1834 — 37, bei den Walk-
mühlen nicht viel ſpäter. Beide Gewerbe hören als
ſelbſtändig nach und nach ganz auf, da die große Tuch-
induſtrie eigene Walken, eigene Scheermaſchinen beſitzt.
Blicken wir ſo im Ganzen zurück auf die kleine
handwerksmäßige Produktion, ſo läßt ſich nicht leugnen,
daß ſie allerwärts im Rückgang begriffen, theilweiſe
ſchon vollſtändig verſchwunden iſt.
Aber immerhin iſt der Uebergang noch nicht überall
vollzogen; in einzelnen Branchen wird er noch Jahre
und Jahrzehnte ſich hinziehen. Mancherlei Urſachen
tragen dazu bei. Althergebrachte Gewohnheiten wirken
den Fabrikprodukten entgegen; in abgelegenen Gegenden
iſt der Handel mit ihnen nicht entwickelt. Die untern
Klaſſen, die Hausfrauen in dieſen Kreiſen wünſchen nach
wie vor bei dem ihnen perſönlich bekannten Weber auf
dem Jahrmarkte zu kaufen. Auch jetzt noch haben
[526]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
manche Weber ausſchließlich damit zu thun, altes Garn,
das von aufgezogenen Strümpfen, alten Stoffen und
Reſten ſtammt, für ärmere Leute zu verweben. Theil-
weiſe liefert die Großinduſtrie gar nicht das herkömmlich
von den untern Klaſſen Gewünſchte und Getragene.
Am meiſten wohl noch in Tuchen; gerade die große
deutſche Tuchinduſtrie der öſtlichen Provinzen liefert ein-
fache, billige Stoffe. Daneben freilich werden auch noch
rohe Tuche ohne Appretur gekauft; die ungewalkten
Gewebe, wie ſie vor 100 Jahren ſchon die Zeug- und
Raſchmacher lieferten, die einfachen Flanelle, welche
jeder Weber leicht liefern kann, ſind heute noch auf
jedem Jahrmarkt zu ſehen neben den modernern Hoſen-,
Weſten- und Damenkleiderſtoffen, die auch der kleine
Kaufweber, der kleine Händler vom Fabrikanten erkauft
hat. Das Fabrikprodukt wird theilweiſe durch zwei-
bis dreifache Speſen vertheuert und ſo, wenn auch
urſprünglich billiger, doch zuletzt dem Produkte des
lokalen Webers im Preiſe gleich. Eine plötzliche Aende-
rung iſt ſchon dadurch ausgeſchloſſen, daß die Fabriken
nicht auf einmal ihre Produktion ſo ausdehnen können,
um den ganzen Lokalbedarf mit zu befriedigen.
Was das Linnenzeug betrifft, ſo haben auch manche
der lokalen Weber ſich die beſſern Trittſtühle, ſogar
Jacquardſtühle angeſchafft, und liefern Tiſchzeug, Ser-
vietten für einfachen Bedarf. Die gewöhnliche Lein-
wand, welche in den Großhandel kommt, ſoll vor Allem
durch ſchöne Bleiche, durch gute Appretur, durch ſchönes
Ausſehen ſich auszeichnen. Für den lokalen Kleinhandel
iſt das nicht nöthig. Schwere, dauerhafte, theilweiſe un-
[527]Die theilweiſe Erhaltung der lokalen Weberei.
gebleichte Leinwand ohne Appretur wird auf den Jahr-
märkten verlangt; die mißtrauiſche Hausfrau des kleinen
Mannes traut den künſtlichen Bleichmitteln nicht. Sie
zieht die alte Art des Ausſehens vor. Gebleichte
Leinwand liefert der kleine Weber, indem er gebleichtes
Garn kauft.
Theilweiſe allerdings erhält ſich die lokale Pro-
duktion nur dadurch, daß ſie ſich die niedrigeren Preiſe,
den geringern Gewinn gefallen läßt. Der kleine Mann,
der ein eigenes Haus, einen eigenen Garten hat, kann
immer noch beſtehen, wenn auch ſchlechter als früher;
man rechnet in dieſen Kreiſen nicht ſo, wie bei der
großen Induſtrie und dem großen Handel. Die Aende-
rungen vollziehen ſich erſt nach Generationen.
Ein großer Unterſchied findet auch in dieſer
Beziehung noch zwiſchen den verſchiedenen Theilen des
Zollvereins ſtatt. Die allgemeinen Urſachen, welche den
Kleinbetrieb erhalten, eine gleichmäßige Vermögens- und
Einkommensvertheilung, ein zahlreicher, aber in ſeinen
Sitten einfacher Mittelſtand werden auch in der Weberei
die kleine lokale Produktion eher erhalten. Dem kleinen
Weber ſind die Verhältniſſe in der Provinz Sachſen,
in Thüringen, am Rhein, in Süddeutſchland günſtiger,
als die im Nordoſten. Ueberraſchend iſt in dieſer
Beziehung die genaue öfter erwähnte Aufnahme von
Mährlen in Bezug auf Württemberg. Sie bezieht ſich
zwar auf das Jahr 1858; ſeitdem wird dort auch Vieles
ſchon wieder anders geworden ſein. Aber für den da-
maligen Zeitpunkt gibt ſie genauen Anhalt dafür, daß
damals noch die lokale Kundenweberei und die hand-
[528]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
werksmäßige Lokalproduktion ziemlich bedeutend war. Ich
will nur Einiges anführen.
Von Kalw heißt es: Die Lein- und Baumwoll-
weberei wird nur von etwa 5 Meiſtern für eigene
Rechnung betrieben, alle übrigen Weber ſind Lohn-
arbeiter, welche für Kunden weben. Von Gmünd: es
werden jährlich 277750 Ellen Leinwand erzeugt, dar-
unter 55 — 60000 Ellen Handelswaare, die jedoch nur
im Bezirke und deſſen Nachbarſchaft auf Wochen- und
Jahrmärkten vertrieben wird. Beſonders die Leine-
weberei wird faſt überall als ausſchließlich für den
Haus- und Lokalbedarf beſtimmt bezeichnet. Auch von
den ſelbſtändigen Unternehmern, die um Lohn weben laſſen
oder Leinwand kaufen, — ſagt Mährlen — gehört ein
großer Theil noch den profeſſionsmäßigen Webern ſelbſt an.
Er berechnet, daß von der geſammten württembergiſchen
Linnenproduktion der Ellenzahl nach 78,1 % auf gemeine
Hausleinwand, 4,4 % auf feinere Handelsleinwand,
0,9 % auf Jacquardgewebe, 16,6 % auf Pack- und
Sackleinewand fallen.
Allerdings hebt Mährlen daneben hervor, daß
die lokale handwerksmäßige Produktion allerwärts in
Abnahme, die große Produktion und der Handel mit
Fabrikwaaren aber im Zunehmen begriffen ſeien.
Anderwärts hat ſich das ſchon vollzogen, am
meiſten in den größern Städten. Als ſchlagenden Be-
weis dafür möchte ich nur noch einige Zahlen anführen.
Halle iſt gegenwärtig eine Stadt von etwa 50000
Einwohnern, die aber in Allem, was großſtädtiſche Ent-
wickelung betrifft, noch weſentlich zurück iſt, mehr noch
[529]Der lokale Handel mit Geweben.
den Charakter einer kleinen Stadt an ſich trägt, einen
zahlreichen Handwerkerſtand, erſt neuerdings etwas
glänzendere Magazine hat. In dem Adreßbuch für
1869 zählt man noch 12 Webermeiſter, 9 Strumpf-
wirkermeiſter, auch 3 Tuchſcheerer und 4 Tuchfabriken,
ſowie 4 Schnürleibfabriken und 1 Wattenfabrik; dagegen
folgende Handlungen: 13 Garn- und Bandhandlungen,
9 Leinwandhandlungen, 17 Weißwaarenhandlungen,
6 Tapiſſeriehandlungen, 17 Modewaarenhandlungen,
19 Putz- und Modewaarenhandlungen, 15 Poſamentier-
waarenhandlungen, 21 Schnittwaarenhandlungen, 6 Tuch-
handlungen, 24 Wollwaarenhandlungen.
Die Statiſtik, welche Engel1 nach den Berliner
Adreßbüchern von 1811 — 68 zuſammenſtellen ließ, zeigt
ebenfalls, wie der lokale Handel zu-, die kleine lokale
Produktion abnimmt. Die Kategorien der Adreßbücher
faſſen freilich theilweiſe gerade das, was wir trennen
wollen, die Produktionsgeſchäfte, die Fabriken und die
Handlungen einer Art zuſammen. Ich laſſe daher noch
die Zahl der Fabriken und der Webermeiſter nach den
offiziellen Aufnahmen von 1849 und 1861 folgen,
wodurch ein ſichereres Urtheil möglich wird. Zieht man
nunmehr z. B. die Zahl der Tuchfabriken von der
Geſammtzahl der Tuchfabriken und Tuchhandlungen ab,
ſo ergiebt ſich genau das Verhältniß der Produktions-
geſchäfte zu den Handlungen. Die angeführten Weber
haben natürlich nur zum wenigſten Theil eigene Geſchäfte,
ſondern arbeiten für Fabriken.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 34
[530]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Das Reſultat der Adreßbücher iſt folgendes:
Dagegen zählen die offiziellen Aufnahmen:
[531]Gewebeproduktion und Gewebehandel in Berlin.
Man muß die beiden Tabellen genau ſtudiren und
unter ſich vergleichen, um nach ſo verſchiedenen Auf-
nahmen ein klares Bild des Inhalts zu bekommen.
Und doch iſt das eine Reſultat ſchon für einen ober-
flächlichen Blick klar. Es hört die lokale Produktion
auf; einzelne immer größer werdende Fabriken, die nicht
ſowohl für Berlin, als für den Abſatz im Großen
arbeiten, bilden ſich, daneben vollzieht ſich die ſelbſtändige
Entwickelung des Detailverkaufs und -Handels. Auf
3 Teppichfabriken der offiziellen Tabelle kommen (1860
bis 1861) 27 Teppichhändler und Fabrikanten des
Adreßbuchs; auf 18 Zwirnereien der offiziellen Auf-
nahme kommen 182 Garnhändler und Garnfabrikanten
des Adreßbuchs. Das darf man daneben nicht über-
ſehen, daß faſt alle dieſe zahlreichen Handlungen, die
durch das lokale Bedürfniß jeder Straße, jedes Stadt-
theils hervorgerufen werden, ſich in irgend welcher Weiſe
an der Produktion betheiligen, dies und jenes vollenden,
nähen, zuſammenſtellen, ausſchmücken laſſen.
34 *
[532]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Einzelne dieſer Verkaufsgeſchäfte haben wohl auch
einen großen Umfang, die Mehrzahl aber iſt klein,
baſirt auf dem allernächſten lokalen Bedürfniß. Es
kommt das in ſozialer Beziehung in Betracht. Viele
kleine Leute, welche hier wie allerwärts früher als
Produzenten, als Handwerksmeiſter ihr Geſchäft trieben,
leben jetzt als Händler; und häufig ſind es dieſelben
Perſonen, wie z. B. ein Bericht aus Bunzlau ſchreibt:1
„Tuchmacher und Weber kaufen von größern Fabriken
die Waare und leben faſt nur noch vom Handel.“ Von
den ſächſiſchen kleinen Tuchmachern ſagt ein kompetenter
Berichterſtatter: 2 „Das Handwerk hat auch hier im
reinen Handelsgewerbe geendet. Gleiches haben wir bei
den Poſamentieren geſehen, es findet auch bei den
Strumpfwirkern ſtatt und wird für die Weber bald
nachgewieſen werden.“
Es iſt das, wie geſagt, für den Sozialpolitiker,
den nur die Erhaltung eines geſunden Mittelſtandes
intereſſirt, von Bedeutung. Er wird auf der einen
Seite ſich freuen, wenn wenigſtens ein Theil der kleinen
Geſchäfte ſich ſo hält, aber er wird auf der andern
Seite zugleich betonen, daß der ſich ſo erhaltende Mittel-
ſtand jedenfalls ein anderer iſt, andere Menſchen, andere
ſoziale Kräfte, andere Anſchauungen und Sitten in ſich
ſchließt. Der kleine Händler iſt etwas Anderes, als
der kleine Meiſter. Dieſer lebt von ſeiner Arbeit, jener
[533]Der Gegenſatz des Handwerkers und Detailhändlers.
von ſeiner Klugheit, ſeinem Rechentalent; dieſer hat ſich
von früh bis ſpät anzuſtrengen, thätig zu ſein, jener
ſucht Gewinn, nicht ohne zu arbeiten, aber doch ent-
ſpricht der Gewinn nicht ſowohl der Arbeit, als der rich-
tigen Reklame, der Mode, den Zufällen der Konjunktur.
Aehnliche Mißbildungen aus ähnlichen Urſachen,
wie der oben beſprochene Kleinhandel mit Lebensmitteln,
birgt auch der Kleinhandel mit Geweben, Garnen,
Bändern und derartigen Artikeln. Flagrante Beiſpiele
haben ſich neueſtens in den größern Städten gehäuft.
Eine proletariſche Konkurrenz, die ſich nicht genirt mit
geſtohlenen Waaren zu handeln, iſt nichts Unerhörtes.
Zeigte ſich doch neulich in Berlin, bei Aufhebung der
großen ſeit Jahren thätigen Diebesbande, welch’
erſchreckend große Zahl für achtbar gehaltener Firmen
mit geſtohlenen Waaren gehandelt hatte. Man darf
aus ſolchen einzelnen Beiſpielen freilich nicht zu viel
folgern; aber eben ſo wenig darf man ſie in einem
Geſammtbild unſerer gegenwärtigen Zuſtände überſehen.
Es kommt darauf an, ob die vorhandenen moraliſchen
Kräfte, eine ſteigende Oeffentlichkeit, eine geſunde kauf-
männiſche Preſſe, im Stande ſind, dem unreellen
Treiben die Waage zu halten und es in die Grenzen
zurückzudrängen, wie es immer als Folge einzelner Per-
ſönlichkeiten vorkommen muß.
[[534]]
8. Die Leinen- und Baumwollenweberei für den
Abſatz im Großen nebſt ihren Hülfsgewerben.
Die große Weberei des Mittelalters und ihre Organiſation.
Die Weberei des 18. Jahrhunderts. Der wachſende deutſche
Export von Leinwand und Tuch. Die Organiſation als
Hausinduſtrie. Die Vortheile und Nachtheile derſelben. Die
Napoleoniſchen Kriege. Die Leineninduſtrie von 1806 an.
Die Lage von 1816 — 49. Die Verſchlechterung der Pro-
duktion, die Noth der Weber, die geſchäftliche Organiſation,
die Vermittlung durch den Faktor. Die Zuſtände von
1846 — 61, Beginn der Maſchinenweberei. Die Verhältniſſe,
in welchen das Fabrikſyſtem ſiegt; die, in welchen die Haus-
induſtrie bleibt. — Der Aufſchwung der Baumwollenweberei.
Statiſtik derſelben 1816 — 61. Der Charakter der Unter-
nehmungen: Fabriken neben Erhaltung der Hausweberei.
Die Noth der Weber; die durch beſondere Preisverhältniſſe
eintretende Wiederbelebung der Handweberei 1850 — 60. Der
Sieg der Maſchinenweberei auch in Deutſchland. Die lokale
Vertheilung von Hand- und Maſchinenweberei in Deutſchland.
Die theilweis mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie. — Die
handwerksmäßigen Bleicher und die fabrikmäßigen Kunſt-
bleichen und Appreturanſtalten. Die Färbereien und Kattun-
druckereien.
Der lokalen handwerksmäßigen Weberei habe ich
in den bisherigen Ausführungen die Weberei für den
[535]Die Gewebeinduſtrie des Mittelalters.
Abſatz im Großen entgegengeſetzt. Es war unter letz-
terer dabei ſowohl die Hausinduſtrie, welche für den
großen Markt arbeitet, als die fabrikmäßige Weberei
verſtanden. Wir haben jetzt noch zu unterſuchen, wie
ſich der Konkurrenzkampf zwiſchen dieſen beiden Faktoren
geſtaltet hat, wo das Fabrikſyſtem und der Maſchinen-
ſtuhl die Hausinduſtrie verdrängt haben. Das Schwierige
iſt dabei, daß auch der flüchtigſte Ueberblick über die
Geſchichte der betreffenden Induſtrien ſich nicht geben
läßt, ohne eine Reihe von mitwirkenden, aber unſerer
Unterſuchung ferner liegenden Urſachen hereinzuziehen.
Die allgemeine Handelsgeſchichte, die Rückwirkung poli-
tiſcher Ereigniſſe, das Zollweſen des eignen und der
benachbarten Staaten und ähnliche Dinge ſind theil-
weiſe bedeutungsvoller für Aenderung oder Erhaltung
dieſer und jener Form der Induſtrie geworden, als die
direkten Vortheile und Nachtheile dieſer und jener Art
des Betriebs ſelbſt.
Zahlreiche handwerksmäßige Geſchäfte an demſelben
Orte vereinigt mit theilweiſe gemeinſamen Einrichtun-
gen, mit einem ſehr bedeutenden Abſatz nach fremden
Märkten kannte ſchon das Mittelalter — und zwar
hauptſächlich in der Gewebeinduſtrie. In Gent ſollen
ſeiner Zeit 40000 Webſtühle geſtanden haben, in
Brügge ſollen zur Zeit der höchſten Blüthe 50000 Men-
ſchen von der Verarbeitung der Wolle gelebt haben.
In Köln wurden nach einem Aufſtande der Weber auf
einmal 1800 Tuchmacher verbannt. Noch 1610 gab
es in Augsburg 6000 Leineweber. Von 1415 bis gegen
1564, bis die engliſche Konkurrenz durch die vertriebenen
[536]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Niederländer ſo bedeutend zunahm, lebten die märkiſchen
Städte faſt ausſchließlich von der Wollweberei.1
Es war eine Maſſeninduſtrie, aber keine Groß-
induſtrie. Die einzelnen Weber waren theilweiſe reiche
Leute und traten als ſolche in die höhern Klaſſen der
Geſellſchaft über, aber in der Hauptſache blieben ſie,
ſo lange ſie das Geſchäft betrieben, Handwerker, Meiſter,
die ſelbſt Hand anlegten. Ob dieſe glückliche ſoziale
Organiſation der mittelalterlichen Gewebeinduſtrie mehr
Folge der allgemeinen damaligen wirthſchaftlichen Zu-
ſtände, der einfachen Technik, der mäßigen Kapitalvor-
räthe war oder vielmehr Folge einer naiven ſozialiſti-
ſchen Geſetzgebung, die im Einklang mit den Sitten
und den moraliſchen Anſchauungen jener Zeit abſichtlich
eine gewiſſe ſoziale und wirthſchaftliche Gleichheit unter
ſämmtlichen Produzenten erhalten wollte,2 will ich hier
nicht entſcheiden. Es würde zu weit abführen, wollte
ich hier das Entſtehen, die Vorausſetzungen, die Urſachen
der Blüthe jener Gewebeinduſtrie ſchildern. Nur das
möchte ich betonen, daß auch damals, wie bei einer
[537]Die Organiſation der mittelalterlichen Weberei.
handwerksmäßigen Maſſeninduſtrie immer, das einzelne
kleine Geſchäft nicht auf ſich allein ſtehen konnte. Die
große Fabrik der Gegenwart iſt eine Einheit für ſich,
geleitet von einem Manne höherer Bildung und weiten
Blickes. Bei der Hausinduſtrie handelt es ſich immer
um eine Reihe von Geſchäften, die theils in einander
greifen, theils ſich parallel entwickeln müſſen, um einen
gemeinſamen Effekt zu erreichen, die in der Mehrzahl
von Leuten mittlerer und geringer techniſcher und kauf-
männiſcher Bildung geleitet werden.
Großes hat in den blühendſten Zeiten des kräf-
tigen Städtelebens das Genoſſenſchaftsweſen für gleich-
mäßige Produktion, für gemeinſame Einrichtungen und
gemeinſam organiſirten Abſatz geleiſtet. Aber angelehnt
waren dieſe genoſſenſchaftlichen Inſtitute immer an die
Zunft, und die Zunft war in ihrer beſten Zeit keine
den ſtädtiſchen oder ſtaatlichen Behörden entgegengeſetzte
Genoſſenſchaft, ſie war Genoſſenſchaft und ſtädtiſche
Behörde zugleich, vom Rathe kontrolirt, vom Rathe
gehindert, egoiſtiſche kurzſichtige Beſchränkungen eintreten
zu laſſen, durch ſchlechte Waarenlieferung den Kredit
der Stadt zu kompromittiren, vom Rathe unterſtützt und
nach Außen vertreten. Die Zünfte „errichteten oder
brachten an ſich Wollküchen, in welchen die rohe Wolle
gereinigt, Kämmhäuſer, in welchen dieſelbe gekämmt
wurde, Walkmühlen, Schleifereien, um die Scheeren
der Tuchſcheerer zu ſchleifen, Tuchrollen, Mange- und
Färbehäuſer; ſie beſaßen oder mietheten gemeinſam große
Räume, wo die Tuchrahmen zum Trocknen aufgeſtellt
wurden, Gärten, wo gebleicht, endlich Gewandhäuſer,
[538]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
in welchen die Tuche verkauft wurden.“ Ebenſo oft als
die Zunft übernahm die Stadt ſelbſt ſolche Inſtitute.
Der Name und das Siegel der Stadt garantirte in
weiter Ferne die Güte der Waare. In jeder Weiſe
bemühten ſich die ſtädtiſchen Behörden für das Gedeihen
ſolcher Gewerbe, auf welchen der Wohlſtand der ganzen
Stadt ruhte.
Die territoriale Fürſtenmacht trat im 17. und
18. Jahrhundert, als der Zunft- und Gemeindegeiſt
tief geſunken, einer ſelbſtändigen geſunden Aktion nicht
mehr fähig war, nur das Erbe des früheren ſtädtiſchen
Regiments an, wenn ſie nun dieſe Funktionen übernahm,
wenn ſie durch ihre Gewerbereglements, durch Legge-
ſtellen und Schauämter für die nothwendige gleichmäßige
Produktion der einzelnen kleinen Meiſter, wenn ſie mit
ſtaatlichen Mitteln für mancherlei gemeinſame Einrich-
tungen und Anſtalten ſorgte. Nach dem Stande der
Technik, nach der Bildung des damaligen deutſchen
Handwerkerſtandes, nach den vorhandenen Kapitalmitteln
war in vielen Zweigen eine blühende Induſtrie nur ſo
oder gar nicht möglich. Ohne dieſe Vermittlung, ohne
dieſe einheitliche Organiſation war es nicht möglich,
damals in Deutſchland Tauſende von kleinen Unter-
nehmern zur Wohlhabenheit und zur Thätigkeit für den
Welthandel zu erziehen.1 Die Prohibitivmaßregeln,
die Aus- und Einfuhrverbote, welche in merkantiliſti-
ſchem Sinne in Preußen und anderwärts erlaſſen
[539]Die große Weberei des 18. Jahrhunderts.
wurden, mag man verurtheilen; für die wichtigſte Ge-
webeinduſtrie, für die Leineweberei, waren ſie gleich-
gültig; ihre Blüthe beruhte auf dem großen Export;
in freier Konkurrenz hatte ſie ſich ihre Stellung auf
dem Weltmarkt erkämpft, nnd die Wollinduſtrie, die
Strumpfwaareninduſtrie, auch Anfänge andrer Gewebe-
induſtrien waren gefolgt, hatten ebenfalls begonnen zu
exportiren.
Die deutſche Linnenweberei des vorigen Jahrhun-
derts hatte in Schleſien, in der Lauſitz, in Weſtfalen,
in Osnabrück, im Ravensbergiſchen ihre Hauptſitze.
In Bielefeld hatte ſich ſchon ſeit Anfang des Jahr-
hunderts die Damaſtweberei entwickelt. Mehr und mehr
bezahlte Deutſchland ſeine Colonialwaaren mit Leinwand;
in den holländiſchen und ſpaniſchen Colonien war deutſche
Leinwand zu Hauſe; vor Allem der Abſatz über Spa-
nien und nach Spanien war ſehr bedeutend; nach der
Schweiz, nach Italien und Frankreich kam ebenfalls viel
deutſche Leinwand, nach dieſen Ländern mehr aus Süd-
deutſchland; die vereinigten Staaten eröffneten nach ihrem
Abfall vom Mutterlande einen neuen großen Markt.
Beſonders ſeit 1776 ſteigerte ſich die deutſche Linnen-
ausfuhr von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung nahm in
den Webergegenden raſch zu, die Bodenpreiſe ſtanden
dort noch einmal ſo hoch als anderwärts.1 Die Kon-
junkturen waren immer ſteigende, der Begehr regelmäßig
größer als die Produktion. Allein aus Schleſien wurden
1777 für 3 — 4 Mill. Thaler Leinwand direkt nach
[540]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Spanien geſandt.1 Gegen 1800 hatte die jährliche
Ausfuhr aus Schleſien an Leinwand einen Werth von
gegen 13 Mill. Thaler. Der Werth der jährlich aus
der ſächſiſchen Oberlauſitz ausgeführten Leinewand erreichte
im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durchſchnittlich
mehr als zwei Mill. Thaler.2
Die große märkiſche Tuchinduſtrie war durch den
dreißigjährigen Krieg und ſchon vorher verfallen; viele
Tuchmacher hatten ſich nach Sachſen gezogen, wo die
Tuchmacherei fortdauernd blühte, gegen Ende des 18.
Jahrhunderts durch die Wolle der 1765 und 1778
vom Churfürſten eingeführten Merinoheerden, durch den
Glanz des ſächſiſchen Hofes und durch die Lepziger
Meſſe einen neuen Aufſchwung nahm. Aber auch in
den preußiſchen Staaten erblühte die Wollweberei, durch
alle möglichen Regierungsmaßregeln befördert, wieder;3
die franzöſiſchen Refugiés, ſpeziell hiefür herbeigeholte
Tuchmacher aus Jülich und Holand, die Gewerberegle-
ments hoben die Technik; die ſtehenden Heere ſteigerten
hier wie anderwärts bedeutend die Nachfrage. Aber
auch nach dem Auslande nahm der Abſatz zu. Bran-
denburgiſche und ſchleſiſche Tücher wurden nach Nieder-
ſachſen und Weſtfalen gebracht; der Hauptexport aber
ging über Hamburg und dann direkt nach Polen und
Rußland. Während für die letzten Jahre Friedrich’s
des Großen Mirabeau eine Geſammtproduktion in dem
[541]Die große Weberei des 18. Jahrhunderts.
preußiſchen Staate von 5,8 Mill. Thlr. Wollwaaren
und einen Export von 1 Mill. Thlr. annimmt, wird
die Geſammtproduktion von Krug für 1802 auf 13 Mill.
berechnet, wovon über 7 Mill. ausgeführt wurden (neben
einer Einfuhr von etwa 2 Mill.).1
Die Seiden- und Baumwollenweberei arbeitete
mehr für den innern Bedarf, war aber in einzelnen
Gegenden auch ſchon ziemlich bedeutend. Erſtere am
Rhein und in Berlin, letztere beſonders im ſächſiſchen
Voigtlande, wohin ſchweizer Spinner und Weber dieſe
Induſtrie ſchon im 17. Jahrhundert gebracht hatten.
Auch die Erzgebirgiſche Spitzen- und Strumpffabrikation
exiſtirte ſchon als blühende Hausinduſtrie mit einem
nicht unbeträchtlichen Abſatz nach außen.
Die Organiſation der Weberei war faſt überall
dieſelbe, wie die ſtaatliche Beaufſichtigung durch Regle-
ments und Schauämter. Die Weber waren beſonders
in der Linnen- und Strumpfwaareninduſtrie faſt durch-
aus ſelbſtändige Unternehmer, häufig zugleich kleine
Haus- und Grundbeſitzer, Eigenthümer der Webſtühle;
die wohlhabendern beſchäftigten ein oder ein paar Ge-
hülfen. Sie verkauften meiſt direkt, d. h. ohne die
Zwiſchenhand eines Factors, eines Kommiſſionärs,
in der Regel auf beſondern Märkten an die Kaufleute,
welche die Waare bleichen, färben und zurichten ließen,
dieſelbe in den Welthandel brachten. Die Kaufleute
waren ſelbſt zu einem großen Theil wohlhabend gewor-
dene Weber. Sie erhielten die Aufträge auf die beſtimmt
[542]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
hergebrachten Arten von Geweben aus Hamburg, Bre-
men, aus den Abſatzländern ſelbſt.
Der Vortheil der Organiſation lag eben darin,
daß die großen Gewinne ſich auf ſo viele kleine Unter-
nehmer vertheilten, daß die große Induſtrie auf die
Weiſe herabſtieg in die Hütte des kleinen Handwerkers,
ſich auf dem Lande anſiedelte, jene glückliche Verbin-
dung mit der Bewirthſchaftung eines kleinen Grundſtücks
erlaubte, welche z. B. Bowring noch im Jahre 1839
zu den begeiſterten Lobreden auf die deutſche Gewebe-
induſtrie im Gegenſatz zur engliſchen veranlaßte.1
Dagegen ließen Nachtheile auch ſchon damals ſich
nicht verkennen. Die überwiegende Mehrzahl der Pro-
duzenten waren weder techniſch noch kaufmänniſch gebil-
dete Handwerker; ſchwerfällig hielten ſie am Hergebrach-
ten feſt. Wollte je Einer Etwas Neues einführen, ſo
hing er z. B. in der Wollinduſtrie vom Spinner und
Kämmer oder Streicher, von der Ortswalke, vom
Tuchſcheerer ab.2 Der Kaufmann, der einen neuen
Artikel verlangte, hatte die verſchiedenſten Leute und
Geſchäfte dazu anzulernen, mußte ihnen die neuen Muſter,
den neuen Rohſtoff liefern. Von einem Anſchmiegen an
den wechſelnden Geſchmack des Publikums, von raſcher
Einführung neuer Methoden konnte nicht die Rede ſein.
Nur langſam, mit Verluſten, durch veränderte Regle-
[543]Vortheile und Nachtheile der Hausinduſtrie.
ments war dies möglich. Ganz beſtimmte Arten von
Geweben mit feſtem Namen, beſtimmter Breite und
Stücklänge konnten in der Regel nur gefertigt werden.
Bei ihnen mußte man ſchon bleiben, weil nur über
ſolche feſtſtehende ſtereotype Produkte eine Kontrole durch
Schauämter, eine Stempelung möglich war; und dieſe
Kontrole wieder war unentbehrlich, weil ohne ſie die
Waaren, welche der einzelne Kaufmann lieferte, welche
aber Dutzende von Webern gefertigt hatten, zu ungleich-
mäßig ausgefallen wären, weil unter den kleinen Webern
immer viele waren, die nicht ſo weitſichtig ſein konnten,
wie heute jede große Fabrik es iſt oder ſein ſollte,
einzuſehen, daß kleine Fälſchungen und Nachläſſigkeiten
den ganzen Abſatz gefährden.
Große politiſche Stürme, große anhaltende Stockun-
gen des Abſatzes, bedeutende Fortſchritte in der Technik,
veränderte Anſchauungen über Recht und Pflicht des
Staates, ſich der Induſtrie des Landes anzunehmen,
das waren Schläge, welche eine derartig organiſirte
Hausinduſtrie doppelt treffen mußten, zumal wenn ſie
ſich faſt alle zu gleicher Zeit vereinigten.
Die napoleoniſchen Kriege, die Kontinentalſperre,
die Vernichtung des auswärtigen deutſchen Handels, die
großen Veränderungen innerer und äußerer Zollinien
und Zollſätze haben je nach den einzelnen Induſtrien
auf Deutſchland ſehr verſchieden gewirkt; einzelne, wenig
entwickelt und jetzt von der engliſchen Konkurrenz befreit,
haben große Fortſchritte in dieſer Zeit gemacht; andere,
deren Abſatz bisher über England, überhaupt nach
Staaten und Ländern gegangen war, mit denen der
[544]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Handel damals unmöglich war, mußten um ſo empfind-
licher leiden; da die Stockung eine Jahrelang audauernde
war, mußten die bisher von Deutſchland aus verſorgten
Länder entweder ihre Induſtrie ſelbſt entwickeln oder
mit andern Bezugsquellen ſich in Verbindung ſetzen.
Das war zunächſt der Hauptſchlag, der die deutſche
Linneninduſtrie traf1 und zugleich die engliſche hob,
wie ich oben ſchon bei Beſprechung der Flachsſpinnerei
zu zeigen ſuchte. Englands Marine, ſein auswärtiger
Handel nahm zu, ihm allein ſtanden die Märkte der
Kolonien noch offen, die Linnenpreiſe ſtanden dort hoch;
es warf ſich mit Macht auf dieſe Induſtrie, in der
Spinnerei die Maſchine, in der Bleiche und Appretur
die neuen Methoden, in der Weberei aber auch noch
faſt durchaus den Handſtuhl benutzend.
In Deutſchland war die Noth in den Weber-
diſtrikten in jener Zeit groß, freilich verſchieden je nach-
dem die Weberei ausſchließliche Erwerbsquelle der Leute
war oder nicht. Der Abſatz ſtockte, die Preiſe waren
gedrückt und doch ſchränkte ſich die Produktion nicht ein.
Die kleinen Meiſter fuhren fort zu arbeiten, ja die
eben erlaſſene Gewerbefreiheit in Preußen und die Noth
auch in andern Gewerbszweigen veranlaßte da und dort
ſogar noch einen weitern Zudrang, beſonders in Schleſien.
Während die Leinwandkaufleute und die wohlhabenden
Weber ſich eher aus dem Geſchäft zurückzogen, um nicht
auch, wie ſo manche ihrer Kollegen, Bankerott zu
machen, vermehrte ſich das Angebot der kleinen unvoll-
[545]Die preußiſche Leineweberei 1806 — 15.
kommenen Weber. Hätte das Geſchäft geblüht, ſo wären
jene, die ſich jetzt mit ihrem Vermögen zurückzogen,
die berufenen Leute geweſen, die Fortſchritte des eng-
liſchen Maſchinenweſens nachzuahmen. Bei der Ueber-
produktion aber war keine Veranlaſſung hiezu. Und
die, welche bei der Weberei blieben und neu ſich zudräng-
ten, waren die mittelloſen und ungeſchicktern Weber.
Sie fingen im Gegentheil mehr und mehr, freilich durch
die Noth getrieben, an, zu verſuchen, ob ſie durch ſchnelle,
ſchlechte und gefälſchte Produktion nicht erſetzen könnten,
was ſie an den gedrückten Preiſen verloren.
Es kann in dieſer Beziehung nach den übereinſtim-
menden Ausſagen der Sachverſtändigen1 nicht zweifel-
haft ſein, daß die Gewerbefreiheit und die in Folge
hievon eingetretene laxere Handhabung oder vollſtändige
Nichtachtung der Reglements verhängnißvoll beſonders
für die ſchleſiſche Linnenweberei geworden iſt. Stände,
Regierung und Kaufleute ſahen das nach Jahren ja
auch ein. Man verſuchte in Schleſien 1827 die
Kontrolen theilweiſe wieder herzuſtellen, wie ich ſchon
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 35
[546]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
bei Betrachtung der Spinnerei erzählte. Aber es war
ſchwierig; man fand Widerſtand aller Art; für einzelne
größere ſolide Geſchäfte war jede derartige Kontrole
überflüſſig, daneben läſtig und hemmend. Eine ſehr
große Zahl anderer Kaufleute und Weber, die ſeit
Jahren ſchlechte und gefälſchte Waaren lieferten, hatten
alle Urſache, aus dieſem Grunde Oppoſition zu machen.
So wagte man nicht die Schau und Stempelung obli-
gatoriſch zu machen; es wurde nur angeordnet, daß die
Weber geſtempelte Weberblätter benutzen ſollten, worin,
wenn ſie ſie anwendeten, allerdings eine Kontrole der
Breite des Gewebes und der Fädenzahl der Kette gele-
gen hätte.
Ich habe übrigens damit der Erzählung weit vor-
gegriffen. Zunächſt hatten ſich die Verhältniſſe nach
1815 wieder etwas gebeſſert, wenigſtens ein Theil des
Abſatzes nach Außen war, wenn man billig genug ver-
kaufte, wieder zu gewinnen.1 Der Abſatz in Deutſch-
land ſelbſt hob ſich mit rückkehrendem Frieden; das
preußiſche Zollſyſtem, ſpäter der Abſchluß des Zollvereins
wirkten günſtig. Wo man ſtreng an der Naturbleiche
feſthielt, hauptſächlich feines Garn, das die Maſchine
noch nicht liefern konnte, verwebte, wie in Bielefeld,2
wo ſtrengere Kontrolen die Solidität des Geſchäfts auf-
recht erhalten hatten, wie in Hannover, da nahm der
Abſatz ſogar theilweiſe einen neuen Aufſchwung. In
[547]Die Lage der Leineweberei 1815—40.
Hannover hatte ſich die Linnenproduktion noch von 1826
bis 38 verdoppelt.1
Aber im Ganzen wurde die Lage nicht beſſer, ſon-
dern immer ſchlimmer. Die Konkurrenz der Baumwolle
und der billigern engliſchen und iriſchen Linnenprodukte
drückte ſchwerer und immer ſchwerer. Das Sinken der
Leinwandpreiſe hatte beſonders in den zwanziger Jahren
begonnen. In Schleſien — ſagt Gülich — ſanken vom
Jahre 1823—1828 die Preiſe der meiſten Leinen-
gattungen in dem Verhältniſſe von 7 zu 5, im Osna-
brück’ſchen wenigſtens in einem eben ſo großen; eine
Elle des hier viel gefertigten Löwentlinnens, welche man
im Jahre 1815 mit etwa 100 Pfennigen bezahlt hatte,
koſtete im Jahre 1828 nicht die Hälfte; in Münden
kaufte man im letztern Jahre ein Stück der in der Um-
gegend gemachten groben Leinwand, deren Preis im
Jahre 1825 etwa 4 Thlr. war, für 2½ Thlr.
Beſonders in Schleſien beantwortete man das
Sinken der Preiſe — mit Ausnahme weniger großer
ſolider Häuſer, wie Kramſta — durch eine immer
ſchlechtere Produktion und ſchädigte dadurch den Ruf
der deutſchen Leinwand immer mehr. Die neue Schnell-
bleiche wurde theilweiſe eingeführt, ohne daß man ſie
recht verſtand. Verbrannte Waare, die beinahe im
Stück nicht mehr zuſammenhielt, wurde nochmals geſtärkt
und appretirt zum Export verpackt. Die betrügeriſche
Vermiſchung mit Baumwolle nahm von Jahr zu Jahr
35 *
[548]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
zu,1 weil viele Häuſer nur ſo die tief geſunkenen Preiſe
glaubten aushalten zu können. Der einzige techniſche
Fortſchritt war der, die beigemengte Baumwolle ſo zu
verſtecken, daß kaum das geübteſte Auge dieſe Stoffe
von unvermengtem Linnen zu unterſcheiden vermochte.
Ueber die engliſche resp. iriſche Konkurrenz will
ich nur einige Worte bemerken. Durch was ſie bis
1840 wirkte, war weder der Maſchinenſtuhl noch ein
Herabdrücken des Handlohns, ſondern das billige Ma-
ſchinengarn und die Lieferung ſolider gleichmäßiger reeller
Waare. Im Jahre 1835 exiſtirten in ganz Großbri-
tannien erſt 309 Maſchinenſtühle für Leinwand, während
für Baumwollwaare 109626, für Wollwaare 5127,
für Seidenwaare 1714 gingen.2 Und die Ausfuhr
war von 1800 bis zu dieſer Zeit bedeutend geſtiegen,
wenn auch die Hauptzunahme erſt ſpäter fällt.3 Der
[549]Statiſtik der Leinewebſtühle 1816—49.
Preis deſſelben Stückes Kanvas war nach Porter von
1813—33 von 30 auf 16—18 sh. gefallen, der Web-
lohn eines ſolchen Stückes nur von 2 sh. 8 p. auf
2 sh. 6 p.
Wie geſtalten ſich dem gegenüber die deutſchen
Verhältniſſe bis zum Höhepunkt der Kriſis zu Anfang
und Mitte der vierziger Jahre, bis zu jener Zeit, in
welcher das Sinken der Preiſe und der Rückgang der
deutſchen Ausfuhr am ſtärkſten war?1 Die Zahl der
gewerbsmäßig in Preußen gehenden Webſtühle war nach
der Aufnahme folgende:
[550]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Von 1816—31 eine bedeutende Abnahme; ſie iſt
aber in Wirklichkeit nicht von großem Einfluß, da in
dieſer Zeit die als Nebenbeſchäftigung gehenden Stühle
um ſo mehr zunahmen. Von 1831—49 trotz der
furchtbaren Kriſis im ganzen Staate eine Zunahme, in
Schleſien erſt gegen 1849 eine Abnahme. Sehr viele
Weber zwar gingen in dieſer Zeit ſchon zur Baumwoll-
weberei über, dafür aber rekrutirte ſich die Zahl der
Leineweber immer wieder aus den Reihen der Spinner,
die in noch ſchlimmerer Lage ſich durch den Uebergang
zum Webſtuhl zu helfen ſuchten.1
Dieſe Stabilität der Zahl hängt zuſammen mit
dem ſchlimmſten Uebelſtand der Leineweberei: alle Un-
gunſt einer langſam durch Jahrzehnte hindurch ſinkenden
Preiskonjunktur wurde ertragen durch den langſam aber
ſicher immer tiefer ſinkenden Lohn, durch die ſukzeſſive
Einſchränkung der Bedürfniſſe, welche eine genügſame
Arbeiterbevölkerung ſich gefallen ließ. „Die Löhne“ —
ruft Schneer — „wurden immer mehr herabgeſetzt, die
Indolenz, der Eigenſinn und das Kleben am Alten,
welche die eigenthümlichen Charakterzüge des ſchleſiſchen
Arbeiters bilden, ließ die Weber und Spinner bei der
großen Zahl der Bewerber um Arbeit, mit dem Noth-
dürftigen und endlich mit dem Nothdürftigſten des
Lebensunterhaltes ſich begnügen.“2 Und ſelbſt wenn
[551]Schilderung der ſchleſiſchen Nothſtände.
die Weber andere Erwerbszweige hätten ergreifen können
und wollen, es gab deren vor 1846 kaum welche.
Der tägliche Lohn für die mühevolle 14—16 ſtündige
Arbeit eines Webers, zugleich für Abnutzung der Ge-
räthſchaften, Benutzung der Wohnräume, Heitzung und
Beleuchtung, für Beihülfe von Frau und Kindern wird
im Durchſchnitt nicht über 2—3 Sgr. damals betra-
gen haben.1
Mit den Bedürfniſſen und den Anſprüchen an’s
Leben ſank die geiſtige und moraliſche Spannkraft der
Bevölkerung noch mehr; eine dumpfe, apathiſche Re-
ſignation lagerte ſich über ganze Gegenden; von Gene-
ration zu Generation wuchs ein ſchwächlicheres Geſchlecht.
Die Leute waren rührend fleißig, auch Trunkenheit und
andere hervorſtechende Laſter waren in den Webergegen-
den nicht zu Hauſe; aber es mangelte an jeder höhern
techniſchen und ſonſtigen Bildung und an allen Bildungs-
elementen in den abgelegenen Gebirgskreiſen. Ueberfrühe
Ehen und ein großer Kinderreichthum bildeten wie
gewöhnlich die Folge eines ſozialen Zuſtandes, von dem
es ſchien, daß er ſich nicht mehr verſchlechtern könne.
2
[552]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Noch weniger als früher waren die Leute fähig zu irgend
welchem Fortſchritt, zu neuen Methoden, Muſtern und
Verbeſſerungen. Die Verſchuldung ſtieg. Manche griffen
wieder zum Spinnen und Stricken, weil ſie in der
Noth den Webſtuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine
jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl,
welcher höchſtens 6 Thaler werth war.1
Wer alles gewerbliche Leben immer nur ſich ſelbſt
überlaſſen will, wird über dieſe Zuſtände Niemand einen
Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen
Standpunkt ſteht, die Beſitzenden und Gebildeten einer
Gegend einerſeits, die Lehrer, Geiſtlichen und Beamten
andererſeits ſtets mit für verantwortlich zu halten für
die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge-
meindegenoſſen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings die
Regierung2 und die größern Induſtriellen, die Kauf-
[553]Schilderung der ſchleſiſchen Nothſtände.
leute der dortigen Gegenden großer Unterlaſſungs-
ſünden zeihen.
Abgeſehen aber hiervon ſind die maßloſen Vor-
würfe, mit welchen man die Kaufleute überhäufte, ſie
nutzten die Noth der Weber aus, meiſtentheils über-
trieben; es geſchah lokal und individuell; aber im
Ganzen handelten ſie nicht anders, als die heutigen
Unternehmer in der Regel handeln; die einzelnen als
ſolche waren nicht ſchlimmer, als andere Geſchäftsleute.
Sie drückten möglichſt die Preiſe, weil ſie ſelbſt kaum
beſtehen konnten. Sie ſuchten, ohne aus dem alten
Geleiſe des bisherigen Geſchäftsganges herauszukommen,
ohne die Mühe und die Gefahr auf ſich zu laden, neue
Methoden und Maſchinen einzuführen, noch möglichſt zu
beſtehen, noch möglichſt Gewinne zu machen, und das
ging nicht anders, als durch möglichſte Herabdrückung
des Lohnes; es gelang immer, weil das Angebot von
Arbeitern zu groß war.
Härter als über die Kaufleute, wird ſich auch die
gerechteſte Beurtheilung über die Faktoren, Mäkler,
Kommiſſionäre ausſprechen müſſen, welche ſich mit der
ſteigenden Noth mehr und mehr zwiſchen Weber und
Kaufmann einſchoben, obwohl auch dieſes Verhältniß
nicht nothwendig, nicht an ſich ſchlimm iſt, unter Um-
ſtänden heilſam und unentbehrlich ſein kann und einzelne
achtbare Perſönlichkeiten in ſich bergen mag. Speziell
hier aber gaben und konnten ſich nur harte ungebildete
Menſchen mit dieſem Geſchäft abgeben; die Verhältniſſe
waren wie zu Mißbrauch und Betrug einladend; es
wurde ein ähnliches Verhältniß, wie das des Middleman,
[554]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
der zwiſchen dem iriſchen Zwergpächter und dem Grund-
beſitzer ſteht.1
Der Faktor ſteht zum Weber in verſchiedenem Ver-
hältniß; bald iſt er nur Käufer ſeines Gewebes, bald
iſt er Gläubiger oder Eigenthümer des Stuhls, der bei
ihm für Lohn arbeiten läßt. Der Weber iſt ſo wie ſo
vom Faktor abhängig. Der Geſchäftsgang iſt meiſt ſo.
Der Faktor läßt ſich vom Kaufmann das Garn zu
einem beſtimmten Auftrag gegen beſtimmten Preis zu-
meſſen. Wo er arbeiten läßt, was er dem Weber
zahlt, darum kümmert ſich der Kaufmann nicht. Der
Weber erhält mit der Zeugprobe den ſogenannten
Scheerzettel, auf dem vom Kaufmann nach Gut-
dünken die Strafen feſtgeſetzt ſind, welche für zu
kurzes Maß, zu wenig Schuß, unreines Ableſen und
[555]Die Stellung der ſogenannten Faktoren.
Aehnliches vom Lohne abgezogen werden. Die Ab-
züge werden mit Recht oder Unrecht vom Kaufmann
dann dem Faktor gemacht, der ſich an den Weber
hält. Remonſtrirt der Weber beim Faktor, ſo zeigt
dieſer ihm das Lieferbuch, in dem der Abzug verzeichnet
iſt, remonſtrirt er beim Kaufmann, ſo erhält er die
Antwort, er ſolle ſich an den Faktor halten, der Kauf-
mann wiſſe ja nicht, wer dieſes oder jenes Stück gemacht
habe. Zur Klage kommt es nicht, das riskirt der arme
Weber nicht. Sehr oft kann er es auch nicht riskiren;
oftmals liegen wirkliche Defekte vor. Die Noth, das
Unrecht, das der Weber glaubt erdulden zu müſſen,
hat es dahin gebracht, daß ſelbſt früher ordentliche
Leute faſt immer etwas Garn auf die Seite bringen.
In faſt jedem Weberdorfe gibt es Leute, von welchen
jeder weiß, daß ſie mit geſtohlenem Garn handeln.
Alle Parteien befinden ſich in einer Art Kriegszuſtand
und jeder ſucht den andern zu übervortheilen, zu täuſchen,
zu betrügen.
Der Hauptübelſtand der Faktorenwirthſchaft iſt der,
daß dadurch jeder ſittliche Zuſammenhang zwiſchen Arbeit-
geber und Arbeiter aufgehoben iſt. Der Fabrikant kennt
ſeine Arbeiter nicht, er weiß nicht, wen und wie viele
Leute er beſchäftigt, er hat nicht das Gefühl der Ver-
antwortlichkeit, dieſe beſtimmte Zahl Leute zu dieſem
Gewerbe veranlaßt zu haben, ſie daher möglichſt in
gleicher Zahl dauernd beſchäftigen zu ſollen. Haupt-
ſächlich aus dieſem Grunde laſten auf dem Gewerbe
die drückenden Wechſel der Konjunktur läſtiger, als auf
irgend einem andern.
[556]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Nachdem in den vierziger Jahren die Zuſtände
hauptſächlich in Schleſien, bis auf einen gewiſſen Grad
auch anderwärts, ſich bis zu dieſer Entſetzlichkeit ent-
wickelt hatten, nachdem ſelbſt die Zeit der höchſten
Noth wohl hunderte dem langſamen Hungertode über-
liefert, aber die Maſſe der Weber, wie die ganze Ge-
ſchäftsorganiſation doch in alter Weiſe erhalten hatte,
nachdem der wichtigſte Theil des auswärtigen Abſatzes
einmal verloren war, mußte es in den folgenden Jahren
eher wieder etwas beſſer werden. Die Produktion hatte
ſich doch jedenfalls etwas eingeſchränkt, es handelt ſich
jetzt hauptſächlich nur noch um den innern, von Zöllen
geſchützten Bedarf. Daraus erklären ſich die preußiſchen
Zahlen von 1846—61, die ich hier einſchiebe:
Der ganze Zollverein zählte nach dem Zollvereins-
bureau 1861 - 1202781 Webſtühle mit 87812 Mei-
ſtern und 39833 Gehülfen, neben 301 ſogenanten
Fabriken mit nur 350 Maſchinenſtühlen.
Dieſe Zahlen ſind keine erfreulichen, nicht ſowohl
weil ſie von 1852—61 eine kleine Abnahme der
[557]Die Leineweberei von 1846—61.
Stühle, der Weber, auch der Fabrikgeſchäfte, deren
Zählung übrigens wenig zuverläſſig erſcheint, zeigen,
ſondern weil aus ihnen erſichtlich iſt, daß bis 1861
ſo ziemlich die alten ungeſunden Verhältniſſe ſich
erhalten haben.
Mancherlei Verbeſſerungen waren zwar da und
dort eingetreten. Die Bleiche und Appretur einzelner
größerer Geſchäfte hatte ſich vervollkommnet, die Muſter-
weberei war da und dort mit beſſern Stühlen einge-
führt worden. Wo ſolche Fortſchritte gemacht wurden,
ſtieg auch der Lohn; aber die Mehrzahl blieb unberührt
hiervon und begnügte ſich mit einem Lohn, der etwas
beſſer als in den vierziger Jahren, aber immer noch
ſchlecht genug war. Zu Anfang der ſechsziger Jahre
war der tägliche Verdienſt eines Hirſchberger Damaſt-
webers wohl 10—12 Gr., eines Bolkenhainer Webers
ganz feiner Leinwand ſogar 10—15 Gr., aber der
gewöhnliche Weber kam täglich noch nicht über 3—4,
wöchentlich über 20—25 Groſchen.1
Jetzt erſt hatte die Maſchinenkonkurrenz begonnen
und drückte den Lohn für einfache Gewebe, nachdem er
kaum etwas zu ſteigen begonnen, wieder herab. Man
hatte gelernt, das Maſchinengarn ſo zu ſpinnen, daß
es auch den Maſchinenwebſtuhl aushielt; die große Rein-
[558]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
heit, die vollkommene Gleichheit, das gefällige Ausſehen
des engliſchen Maſchinengewebes gewannen mehr und
mehr Beifall. Für den Weltmarkt werden hauptſächlich
ſolche Gewebe gewünſcht. Man erkannte den Vortheil
der engliſchen mechaniſchen Webereien, welcher darin
liegt, je nach den Konjunkturen die Produktion zu
ſteigern oder zu mindern, ohne eine ganze große Weber-
bevölkerung zeitweiſe heranzuziehen und wieder in Un-
thätigkeit zu verſetzen.
Dennoch war es lange fraglich, ob der deutſche
Fabrikant nicht noch immer billiger produzire, wenn er
die Noth des armen Handwebers ausnutze, ſtatt ſich
theure Maſchinen anzuſchaffen. Die Zahl der Maſchinen-
ſtühle war 1858 noch verſchwindend, 1861 iſt ſie etwas
gewachſen, dann erſt ſtieg ſie raſch; 1867 wurde ſie
auf 1800 im Zollverein geſchätzt; in Frankreich dagegen
ſollen ſchon 4000, in Belgien 3000 Maſchinenſtühle
gehen, in England zählte man 20000.1
Man ging in Weſtfalen, in Schleſien und andern
deutſchen Gegenden zur Maſchinenweberei über, als end-
lich mit der großen Nachfrage nach Arbeitern von 1862
an die Handweber anfingen, maſſenweis zu einfacher
Tagelohnarbeit überzugehen.2 Es kann ſich jetzt die Hand-
[559]Die Konkurrenz der Maſchinenweberei.
weberei für einfache Sorten nur unter beſondern Verhält-
niſſen noch erhalten; z. B. da, wo die Männer an Tritt-
und Jacquardſtühlen arbeiten, Frau und Kinder da-
neben an ein oder zwei gewöhnlichen Stühlen, die ſo
viel weniger Kraft erfordern, oder wo die Weberei zur
bloßen Nebenbeſchäftigung geworden iſt. „Viele, in
einigen Gegenden die meiſten Weber“ — ſagt Jakobi1
von Niederſchleſien — „haben vom Frühjahr bis Herbſt
mancherlei in eigener Garten- und Feldwirthſchaft zu
thun, oder ſind ſelbſt als Maurer, Zimmerleute, Eiſen-
bahnarbeiter, Feldarbeiter, Holzhauer außer dem Hauſe
beſchäftigt und betreiben daher in Sommerszeiten die
Weberei nur bei ungünſtiger Witterung, oder beim
Fehlen von ſonſtiger Arbeit.“
Abgeſehen von ſolchen Verhältniſſen, kann ſich die
Handarbeit und damit die Hausinduſtrie auf die Dauer
nur für ganz feine und gemuſterte Artikel halten. Ein
raſcher entſchloſſener Uebergang zum Fabrikſyſtem kann
nur erwünſcht ſein. Zeitweiſe und lokal nimmt die
Noth der Handweber dadurch nochmals zu.2 Aber im
Ganzen trifft die Maſchinenkonkurrenz den Handweber
jetzt nicht ſo ſchwer, weil die Löhne faſt überall ſteigen.
Das Verſchwinden der Hausinduſtrie, welche beſeitigt
wird, iſt nicht zu beklagen; es verſchwindet eine ärm-
liche, ſchlecht bezahlte Art der Beſchäftigung, es ver-
ſchwinden korrupte, betrügeriſche Geſchäftsverhältniſſe.
[560]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Es ſind meiſt Leute, welche wegen mangelnder morali-
ſcher, geiſtiger und techniſcher Bildung auch für das
Aſſoziationsweſen, welches ihnen ihre frühere Selbſtändig-
keit erhalten könnte, wenig oder gar nicht brauchbar
und empfänglich ſind. Ich komme auf dieſen Punkt
zurück und gehe zunächſt zur Baumwollweberei über.
Dieſelbe hat im Allgemeinen total andere Schickſale
aufzuweiſen; wie die Leineweberei im Ganzen zurückging,
ging ſie vorwärts; ſie verdrängte jene ja vielfach; eine
rapid wachſende Ausfuhr gab ihr von Jahr zu Jahr
größern Spielraum; — und doch iſt die Geſchichte der
deutſchen Baumwollweber, d. h. der Arbeiter, eine faſt
eben ſo traurige, als die der Leineweber.
Zu Ende des vorigen Jahrhunderts war die
Weberei von Baumwollſtoffen noch nicht ſehr bedeutend.
Sie hatte ſich von den Niederlanden her am Nieder-
rhein, in Kurſachſen, in Oberfranken, auch in Branden-
burg und Schleſien verbreitet. In Augsburg blühte
neben der Weberei ſchon die Kattundruckerei. Es wur-
den auch ſchon deutſche Waaren exportirt, aber der
Import überwog. Und daraus iſt erklärlich, daß die
Kontinentalſperre dem Geſchäfte einen großen Impuls
gab; der täglich ſteigende Bedarf des innern Marktes
war zu decken, Frankreich, Italien und Oeſtreich boten
einen großen jetzt den Engländern verſperrten Markt.
Die Entwicklung war beſonders im Königreich Sachſen,
aber auch anderwärts, außerordentlich. Es handelte
ſich damals überwiegend um kleine Geſchäfte, es waren
ja meiſt junge Anfänger.
[561]Die Baumwollweberei.
Nach 1815 trat ein heftiger Rückſchlag durch die
engliſche Konkurrenz ein; aber als ſich Preußen 1818
abſchloß, als Preußen wie ſpäter der Zollverein die
ſämmtlichen Baumwollgewebe mit einem hohen, für
gröbere Waaren faſt prohibirenden Schutzzoll verſah,
nahm die Weberei nicht bloß für den innern Bedarf,
ſondern bald auch zum Export wieder einen glänzenden
Aufſchwung. Bienengräber1 berechnet die inländiſche
jährliche Produktion an Baumwollwaaren und die
Mehrausfuhr an ſolchen (über die Einfuhr) im Zoll-
verein folgendermaßen:
Dieſen Zahlen entſprechend ſind die Zahlen der
gewerbsmäßig in Preußen gehenden Webſtühle (ohne
Band-, Poſamentier- ꝛc. Stühle), der Webermeiſter
und Gehülfen; man zählte in Preußen Webſtühle:
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 36
[562]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Im ganzen Zollverein zählte das Zollvereinsbureau
1861 ‒ 151451 Handſtühle,2 77915 Webermeiſter
mit 80387 Gehülfen, 940 Fabriken und 23491
Maſchinenſtühle. Baiern, Sachſen, Württemberg,
Baden und Thüringen ſind außer Preußen haupt-
ſächlich betheiligt.
Die Geſchäftsorganiſation war von Anfang an
eine andere, als bei der Linneninduſtrie. Es war kein
althergebrachtes überall verbreitetes Gewerbe; es han-
delte ſich um Schaffung einer ganz neuen Induſtrie,
einer Induſtrie, deren Produkte ſich einer ſteigenden
Beliebtheit erfreuten, da ſie durch ihre Billigkeit den
ärmern Klaſſen erlaubten, ſich beſſer und reichlicher zu
kleiden und daneben durch die Mannigfaltigkeit der
Verarbeitung dem Luxus der höhern Klaſſen dienten.
Die Baumwolle war der Stoff, auf den ſich alle die
neuen Maſchinen und Verfahrungsweiſen am leichteſten
[563]Statiſtik und Organiſation der Baumwollweberei.
anwenden ließen; die Ausbeutung aller der Möglich-
keiten, welche dieſer Stoff — ſchon lange der Proteus
der modernen Induſtrie genannt — bot, mußte den
Scharfſinn der Ingenieure, der Fabrikanten, der Kauf-
leute in beſonderer Weiſe reizen.
Der bloße Kaufmann, der das fertige Produkt
vom Weber kaufte, wie in der Linneninduſtrie, reichte
nicht aus. Auch wo zunächſt die Weberei dem Hand-
weber blieb, mußte der Kaufmann für das Garn ſorgen,
es aus dem Auslande beziehen oder ſelbſt ſpinnen laſſen,
die Vollendung der Waare, die Bleiche, die Appretur,
die Färberei und Druckerei übernehmen. Selbſt die
einfachen Hemdenkattune, die Shirtings, ſind nur ver-
käuflich mit fabrikmäßiger ſchöner Appretur. Ein großer
Theil der Stoffe wird bedruckt verkauft. Die bunten
Baumwollgewebe, die geköperten und kroiſirten Stoffe,
die Piqués, Trikots, Jakonets, die locker gewebten
Mouſſeline, die Vorhangſtoffe, vielfach durch Stickerei
verziert, die faconnirten Hoſen- und Weſtenſtoffe, die
gemiſchten halbbaumwollenen und halbwollenen Stoffe,
die Jacquardgewebe, Möbelſtoffe, Tiſchdecken, Bettdecken
und Aehnliches, die Baumwollſammte und Plüſche —
All das ſind mehr oder weniger Modeartikel, erfordern
einen gebildeten Unternehmerſtand.
Während ſo die Natur des Gewerbes, freilich
unter manchen harten Rückſchlägen, einen tüchtigen, dem
Fortſchritt geneigten Fabrikantenſtand heranzog, blieb
derſelbe in einer Beziehung doch überwiegend im alt-
hergebrachten Geleiſe; die Weberei wurde nicht mit den
übrigen Prozeduren in großen Etabliſſements vereinigt,
36 *
[564]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſondern blieb Hausweberei; faſt nirgends ſo, daß die
Weber als ſelbſtändige Unternehmer Garn gekauft und
das Gewebe an die Fabrikanten verkauft hätten, ſondern
ſo, daß ſie die Garne nebſt Muſter und Anweiſung
erhielten, um beſtimmten Lohn webten. Die Vermitt-
lung des Faktors wurde dadurch in der Baumwoll-
weberei noch viel häufiger, als in der Leineweberei; alle
Mißſtände dieſer Geſchäftsorganiſation zeigten ſich hier in
faſt noch grellerem Lichte, als bei der Linneninduſtrie.
In England hatte ſich für alle einfachern Gewebe
der Uebergang zum Maſchinenſtuhl ſchon in den zwanziger
und dreißiger Jahren vollzogen, in Verbindung freilich
mit entſetzlicher Noth unter den Handwebern. In
Deutſchland hatte man kaum Kapital genug, für die
ſonſtigen Einrichtungen; die direkte Konkurrenz der eng-
liſchen Maſchinenſtühle war durch die Schutzzölle abge-
halten. Der Ueberfluß der ſich anbietenden Hand-
weber war ſo groß, der Preis zu dem ſie ſich anboten
ſo niedrig, daß von einem Uebergang zu Maſchinen-
ſtühlen nicht die Rede ſein konnte. Die zahlloſen ver-
armten Leineweber in Schleſien, in Sachſen, am Rhein
waren froh, hier wenigſtens wieder Beſchäftigung zu
finden. Die raſche Bevölkerungszunahme in den Weber-
diſtrikten hielt das Angebot Arbeitſuchender auf einer
ſtets bedenklichen Höhe.
Der Lohn eines Baumwollwebers war in den
zwanziger Jahren im Voigtlande und im ſächſiſchen
Erzgebirge nicht über 2 Gr. täglich.1 In Schleſien
[565]Die ſchlechte Lage des Handwebers.
konnte der Lohn nicht höher ſein, als in der Leine-
weberei; auch alle die übrigen traurigen Folgen, die
betrügeriſchen Geſchäftsgewohnheiten, das niedrige geiſtige
Niveau, der Volkscharakter dieſer Bevölkerung, wenn
ich ſo ſagen darf, übertrug ſich von der Leine- auf die
Baumwollweberei.
Von Anfang der dreißiger Jahre bis 1836 und 37
erfolgte die große Zunahme der Baumwollinduſtrie, die
Löhne beſſerten ſich etwas. Dann folgte der Rückſchlag
von 1837—41; in Mancheſter ſtanden damals ja 1000
Häuſer leer, über 10000 Familien waren brotlos, in
ganz Lancaſhire etwa 400000 Menſchen ohne Beſchäf-
tigung.1 Der ſächſiſche und ſchleſiſche Kattunweber war
1840 zufrieden, wenn ſich ſein Wochenverdienſt einem
Thaler näherte, und Wiek, der dies mittheilt, meint
damals, die Maſchinenweberei werde wohl nie in
Deutſchland ſich ausbreiten, denn die Dinge lägen in
England, wo die Maſchinen jetzt zunähmen, total
anders, der einfache Handweber erhalte dort min-
deſtens wöchentlich 4 Thaler.2
In Chemnitz,3 einem der Hauptſitze der deutſchen
Baumwollweberei, hatte man bisher faſt nur einfache
Kattune gefertigt. Als der Lohn hierfür immer ſpär-
licher wurde, ging man zu den Ginghams, den Bunt-
waaren über. Die Ginghams — ſagt der Bericht-
[566]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
erſtatter der Chemnitzer Handelskammer — gaben in
Chemnitz und der Umgegend lange Zeit vielen Händen
Beſchäftigung, bis in Folge drückender Konkurrenz die
Löhne auf ein Minimum herabſanken, kaum ausreichend,
zur Beſtreitung der dringlichſten Lebensbedürfniſſe.
Dann ging man zu den gemiſchten Stoffen, Meubles-
ſtoffen, Jacquardgeweben über, in welchen Gebieten
man wieder etwas höhere Löhne zahlen konnte; in
neueſter Zeit (von 1860 an) hat aber auch das mehr
und mehr (als Handarbeit und Hausinduſtrie) aufge-
hört; „der Grund der Abnahme iſt darin zu ſuchen,
daß bei den verhältnißmäßig niedrigen Löhnen (von
1½ Thlr. wöchentlich bis 4 Thlr.) und bei der bedeu-
tenden Vertheuerung aller Lebensbedürfniſſe die jungen
Arbeitskräfte ſich denjenigen Induſtriezweigen zugewendet
haben, bei welchen höhere Löhne zu erreichen ſind.“
Ein Hauptübelſtand für die moraliſchen Verhält-
niſſe, für die ganze Lebenshaltung der Handweber
liegt in den oben ſchon erwähnten wechſelnden Kon-
junkturen: eine Zeit lang glänzender Verdienſt, dann
Monate und Jahre lang wieder eine Noth, welche
zwingt, mit dem erbärmlichſten zufrieden zu ſein.
Solcher Wechſel führt dahin, daß auch in den beſſern
Zeiten nicht geſpart, ſondern nur geſchlemmt wird,
er depravirt die Weberbevölkerung. Solcher Wechſel
trägt außerdem vor allem dazu bei, die Handarbeit
zeitweilig wieder unnatürlich zu halten und auszu-
dehnen.
Nach der Noth der vierziger Jahre mußte man
die Handweberei für alle einfachen Gewebe ſchon für
[567]Die zu lange Erhaltung der Handweberei.
ganz verloren halten, zumal in der Baumwollweberei.
Da gab die außerordentliche Nachfrage, die glänzende
Steigerung des Exports nach Amerika von 1851—57
und wieder von 1858—61 den Preiſen und Löhnen
eine ſolche Wendung, daß der Handweber wieder
exiſtiren zu können glaubte; ſtatt ausſchließlicher Aus-
dehnung der Maſchinenweberei, die theilweiſe ja auch
erfolgte, beſchäftigte man wieder zahlreich die mit dem
geringſten Lohn zufriedenen Handweber und veranlaßte die
Eltern, ihre Kinder wieder dem Gewerbe zu widmen; viele
Leineweber gingen auch jetzt wieder zur Baumwollweberei
über. Man ließ Artikel auf’s Neue bei Handwebern
fertigen, die längſt der Maſchine verfallen waren. Selbſt
der einfachſte Kattunweber kam damals in Württemberg
wieder auf etwa 34 Kr. täglich (d. h. beinahe 10 Gr.),
der Jacquardweber auf 50, der Korſettweber auf 60 Kr.1
Auch in Sachſen nahmen in Folge hiervon die Hand-
ſtühle (theilweiſe freilich waren es Tritt- und Jacquard-
ſtühle) von 1846—61 ſo ſehr zu: von 17739 auf
31508, die Maſchinenſtühle von 150 auf 1418.
Schon damals warnte der Einſichtige, es könne das
nicht auf die Dauer ſo bleiben. „Beſondere Konjunkturen
des Marktes,“ ruft Mährlen 1858, „exempte Betriebs-
und ökonomiſche Verhältniſſe der Unternehmer und Lohn-
weber mögen es eine Zeit lang der Handarbeit möglich
machen, mit der Maſchinenarbeit auf dem gleichen Pro-
duktionsgebiet zu konkurriren — von Dauer iſt ein ſolcher
[568]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Zuſtand nie, da er gegen die Natur der Dinge
ſtreitet. Ueber kurz oder lang macht die Maſchine
ihr Uebergewicht geltend und reißt ihr natürliches
Recht an ſich.“
Und ſo war es natürlich; der Rückſchlag begann
ſchon etwas 1858, vollends 1862 mit der Baumwoll-
kriſis und dem geſtörten Export nach Amerika. Die
Anfang der ſechsziger Jahre in den amtlichen Kreis-
beſchreibungen erhobenen Löhne,1 waren täglich 4—5 Gr.
in Hirſchberg, 3—4 Gr. in Glatz (Regierungsbezirk
Breslau), 5½—6 Gr. in Kösfeld (Weſtfalen). Zahl-
reich gingen nun auch die Kattun- und Neſſelweber
zu andern Gewerben, zur gemeinen Tagelohnarbeit
über.2 Die Konkurrenz der Maſchinenarbeit zeigte
ſich jetzt natürlich mehr als je, ſowohl in andern Län-
dern, als im Zollverein ſelbſt. Berechnete Mährlen
doch ſchon 1858, daß durchſchnittlich der Maſchinenſtuhl
von den in Württemberg fabrizirten Geweben die Elle
zu 9 Kr., der Handſtuhl aber die Elle zu 14 Kr.
liefert.3
In Großbritannien hatte man ſchon 1835‒109626
Powerlooms für Baumwollartikel gezählt, 1856 betrug
ihre Zahl gegen 300000. Die Weberei hat ſich kon-
zentrirt wie die Spinnerei; meiſt iſt dort Spinnerei und
Weberei nicht ohne Vortheil in denſelben Etabliſſements
[569]Die Konkurrenz der Maſchinenweberei.
verbunden. In Frankreich exiſtirten 1855 etwa 50000
mechaniſche Webſtühle, 1867 aber ſchon 80000. 1
Selbſt die große Schweizer Baumwollweberei, deren
Uebergang zur Maſchine lange auch durch die billigen
Löhne aufgehalten war, iſt jetzt in rapidem Uebergang
hierzu begriffen. Man zählte 1867 gegen 13000
Maſchinenſtühle. Die daneben noch zahlreichen Hand-
weber (hauptſächlich in St. Gallen noch vorherrſchend)
arbeiten vor Allem die bunten Stoffe, die Ginghams.
Aber ſelbſt dieſer Artikel fängt wie in Sachſen an, auf
den Maſchinenſtuhl überzugehen.
In Preußen hatten die Maſchinenſtühle 1846 erſt
3,17 % betragen. Von 1855—61 fand, wie die obige
Tabelle ausweiſt, eine nicht unbedeutende Zunahme ſtatt;
die Powerlooms machen 1861 - 9,2 % der Geſammtzahl
aus. Die Zunahme iſt aber ſehr verſchieden je nach
den Provinzen; ſie war auch in andern Ländern ſtärker
als in Preußen, wie die folgende Tabelle zeigt, welche
je die Geſammtzahl 2 der Stühle mit den Maſchinen-
ſtühlen vergleicht. Von den andern deutſchen Ländern
führe ich nur die an, in welchen die Baumwollweberei
von größerer Bedeutung iſt.
[570]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Es ergiebt ſich aus dieſer Tabelle unzweifelhaft
und auch Viebahn beſtätigt das, daß die mechaniſche
Weberei hauptſächlich da ſich ausdehnt, wo ſie ſich an
die große Spinnerei anſchließt, wie in Baden, Baiern
und am Rhein. Es ſind zugleich die Länder, wo nicht
ein maſſenhaftes Weberproletariat den Fabrikanten ver-
anlaßt, vorerſt lieber bei der billigen Handarbeit zu
bleiben, als zum Maſchinenſtuhl überzugehen. Schleſien
und das Königreich Sachſen ſtehen in letzterer Beziehung
oben an; ſie haben 1861 die größte Baumwollweberei,
aber faſt die wenigſten Maſchinenſtühle. Von 1861 bis
zur Gegenwart hat ſich nun noch viel verändert; beſon-
ders im Königreich Sachſen hat ſich die Maſchinen-
weberei ausgedehnt, die Hausinduſtrie eingeſchränkt. 1 Ein
genauer Nachweis darüber iſt mir nicht möglich.
[571]Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.
Die letzte Frage, welche ſich hieran anſchließt, iſt
die, ob mit dieſer Bewegung die Handarbeit und Haus-
induſtrie ganz verſchwinden wird oder nicht. Es kommt
darauf an, was ihr je nach den konkreten Verhältniſſen
bisher geblieben war, auf welcher Stufe moraliſcher
und techniſcher Bildung die Weber der einzelnen Gegend
ſtehen. Dr. Peez berichtet z. B. 2 von Frankreich, daß
1867 neben 80000 mechaniſchen noch 200000 Hand-
ſtühle gehen, und ſetzt hinzu: „Um die hohe Zahl der
letzteren zu begreifen, muß man ſich erinnern, daß es
ſich in Frankreich nicht mehr um den hoffnungsloſen
Wettlauf der Handweberei mit der Maſchine bei groben
gewöhnlichen Geweben handelt, daß vielmehr die hoch-
entwickelte franzöſiſche Feinwaareninduſtrie eine Menge
von Geweben fordert, die wegen häufiger, von der
Mode geforderter Variationen nur mit gut bezahlter
Handarbeit erzeugt werden können. Hierher gehören
vor Allem die feinen Artikel von St. Quentin und
Tarare, aber auch die Piqués für Weſten und Anderes.“
Das iſt der Punkt, um den es ſich auch in
Deutſchland handelt. Wo der niedrige Lohn und die
Noth die Weberbevölkerung nicht allzuweit herabgedrückt
haben, wo die Geſchäftsvermittlung der Faktoren nicht
zu dem traurigen Syſteme gegenſeitiger Betrügerei und
Uebervortheilung ausgeartet iſt, wo man den Leuten
theure Garne und werthvolle Muſter anvertrauen kann,
wo die techniſchen Kenntniſſe der Weber, ſei es in Folge
der beſſern Lage, ſei es in Folge von Webſchulen Fort-
[572]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſchritte gemacht haben, wo ſie den Sinn dafür und
Geld oder Kredit hatten, ſich beſſere Stühle, Tritt-,
Jacquard- und Korſettſtühle anzuſchaffen, wo ſich weitere
Arbeiten, wie die Vorhangſtickerei, mit der Weberei
verbunden haben, wo Alles das durch einen noch vor-
handenen kleinen Haus- und Landbeſitz der Weber
begünſtigt wurde, da hat ſich die Hausweberei bis jetzt
erhalten und wird ſich auch in Zukunft in ziemlicher
Ausdehnung noch halten.
Leider iſt das nicht überall, in den meiſten deutſchen
Weberdiſtrikten ſogar nicht der Fall. Leider trat in
Schleſien, in der Lauſitz, im bairiſchen Voigtlande zu
einem großen Theile der umgekehrte Fall ein. Man fing
an, 1 — weil man den Webern das koſtbare Material
nicht anvertrauen wollte, von ihnen nicht die gehörige
Sorgfalt der Ausführung erwartete, ſie die Stühle
nicht beſaßen, — alle feinern und beſſern Gewebe in der
Fabrik, nur die gemeinern Sorten noch außer dem
Hauſe weben zu laſſen. Wo das geſchah, war es auch
natürlich, daß man die tüchtigern Leute mit höherem
Lohne in die Fabrik nahm. Die ungeſchickten, unfähigen
blieben Hausweber — aber Hausweber für Artikel, die
nur allzubald der Maſchinenweberei anheimfielen. Eine
ſolche Hausinduſtrie mußte bald einer noch größern
Lohnherabſetzung und endlich ihrem völligen Ruin ent-
gegen gehen.
[573]Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.
In einzelnen Zweigen der Baumwoll- wie anderer
Gewebeinduſtrien mag die ſpezielle Technik dieſen Weg
vorgezeichnet haben, in der Hauptſache aber wurde der
eine oder der andere Weg der Entwicklung vorgezeichnet
durch die techniſche und ſittliche Bildung der Weber,
durch die rechtzeitige Anbahnung von techniſchen Fort-
ſchritten, durch eine Erziehung der Weber zu einer Zeit,
da die Noth ſie noch nicht auf die tiefſte Stufe des
Proletariats herabgedrückt hatte. Ganz die gleichen
Momente kommen bei der Möglichkeit einer Ausdehnung
des Aſſoziationsweſens in Betracht, vor der ich lieber
erſt unten im Zuſammenhang ſpreche.
Zunächſt will ich nur wenige Worte noch über die
Bleichereien, Appreturanſtalten, Färbereien und Kattun-
druckereien anhängen.
Eine genaue Statiſtik über dieſe Hülfsgewerbe der
Weberei gibt es freilich nicht. Ein Blick auf die amt-
lichen Tabellen zeigt, wie werthlos ſie im Ganzen ſind;
die Abgrenzung von Handwerk und Fabrik, die Ver-
bindung mit andern Geſchäften macht die Zählung hier
ſo ſchwierig, führt bei jeder Aufnahme wieder zu anderer
Behandlung, ſo daß die Zahlen kaum irgend brauchbar
zu einer Vergleichung ſind. Ich hebe auch nur die all-
gemeinſten Reſultate hervor.
Die handwerksmäßigen Bleicher, Kalanderer ꝛc.
haben in Preußen von 1849—61 von 979 Meiſtern
auf 732, von 1051 Gehülfen auf 873 abgenommen.
Die Kunſtbleichen und Appreturen haben techniſch große
Fortſchritte gemacht, die großen Geſchäfte haben alle
die neuen chemiſchen Hülfsmittel, die Kalander- und
[574]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Walzenmaſchinen eingeführt; ihre Zahl, wie die beſchäf-
tigten Perſonen haben aber abgenommen; man zählte
in Preußen 1849 - 385 mit 1990, 1861 - 251 mit
1792 Arbeitern.
Von den handwerksmäßigen Färbern und ihrer
Abnahme habe ich ſchon oben geſprochen. Die fabrik-
mäßigen Stückfärbereien wurden in Preußen bis 1858
mit den Garnfärbereien zuſammen erhoben; erſt 1861
ſind ſie beſonders gezählt und umfaſſen 1077 Anſtalten
mit 9429 Arbeitern.
Die Kattundruckereien, ſowie die Druckereien aller
Art, waren mehr noch als handwerksmäßiges Gewerbe
beſonders während der Kontinentalſperre aufgeblüht,
waren dann aber der engliſchen Konkurrenz wieder
faſt erlegen. 1 Die Handdrucktiſche und die hölzer-
nen Druckmodel herrſchten noch durchaus vor. In
den Jahren bis 1839 fand mit dem Aufſchwung der
Baumwollinduſtrie nochmal eine Zunahme hauptſächlich
von kleinen Geſchäften ſtatt. Unterdeſſen hatten ſich in
England und Frankreich die Walzendruckmaſchinen, die
Perrotinen, die Maſchinen zur Herſtellung der Druck-
walzen verbreitet. Die ſtarke engliſche Konkurrenz
erdrückte in den vierziger Jahren die kleinen unvoll-
kommenen Geſchäfte; die größern Geſchäfte, die ſich
hielten, machten die Fortſchritte mit, und gegenwärtig
ſteht die zollvereinländiſche Druckerei mit dem Auslande
auf ziemlich gleicher Höhe, nachdem ſie ſich weſentlich
[575]Die Färbereien und Kattundruckereien.
konzentrirt hat, wie man aus den folgenden Zahlen
ſieht; man zählte in Preußen:
Der ganze Zollverein zählte 1861 - 640 Anſtalten mit
362 Druckmaſchinen, einſchließlich der Perrotinen, mit
3309 Drucktiſchen, welche hauptſächlich noch in Sachſen
und Thüringen zahlreich ſind, und mit 9264 Arbeitern.
Auch hier haben ſich wenige große Fabriken an Stelle
der zahlreichen früheren kleinen Geſchäfte geſetzt.
[[576]]
9. Die Wollweberei im Großen, die Seiden-, die
Band- und die Strumpfweberei.
Die Zunahme der deutſchen Wollinduſtrie und des deutſchen
Exports. Preußiſche Statiſtik von 1816—61; zollvereins-
ländiſche von 1861. Die Organiſation der Tuch- und Kamm-
garnwaareninduſtrie. Die großen geſchloſſenen Etabliſſements.
Die Möglichkeit für kleine Geſchäfte, bei richtiger Organiſation
für den Abſatz im Großen zu arbeiten. Die genoſſenſchaft-
lichen Spinnereien, Walken und Webereien. Beiſpiele aus
England und Deutſchland. Die Bedingungen des Entſtehens
und der Blüthe der Genoſſenſchaften. — Die deutſche Seiden-
induſtrie. Preußiſche Statiſtik von 1816—61; zollvereins-
ländiſche von 1861. Das Ueberwiegen des Handſtuhls und
der Hausinduſtrie. Ein Wort über Shawl- und Teppich-
weberei. — Die Bandweberei und die Poſamentierarbeiten. Zur
Geſchichte der Technik. Die preußiſchen Poſamentiergeſchäfte
1816—61. Die unſichern ſtatiſtiſchen Ergebniſſe über die Band-
weberei. Das ſächſiſche Poſamentiergewerbe. — Die Strumpf-
wirkerei. Die preußiſche Statiſtik. Die Apoldaer Strumpf-
wirkerei. Die ſächſiſche Strumpfwirkerei. Ihre Zunahme und
Blüthe der Hausinduſtrie; ihre Schattenſeiten. Die Kriſis ſeit
1862 und die neuen Maſchinen. Die theilweiſe Beſſerung
1865—66.
Nachdem die große Linnen- und Baumwollweberei
im letzten Abſchnitt ziemlich ausführlich beſprochen iſt,
bleibt mir für dieſen Abſchnitt übrig, zuerſt über die
Wollweberei im Großen und im Zuſammenhang hiermit
[577]Die Wollweberei.
über genoſſenſchaftliche Weberei einige Worte zu ſagen,
um dann noch auf einige Zweige der Weberei einzu-
gehen, deren handwerksmäßiges Vorkommen ich oben
noch nicht näher beſprochen habe, weil ich über ſie an
ſich kürzer ſein wollte; ich meine die Seidenweberei, die
Bandfabrikation und die Strumpfwirkerei.
In der obigen Beſprechung der Wollſpinnerei ſowie
der handwerksmäßigen Wollweberei iſt der Gang, den
die große Weberei genommen hat, im Allgemeinen ſchon
bezeichnet. Ich muß hier aber nochmals von dem Stand-
punkt der Induſtrie zu Anfang des Jahrhunderts aus-
gehen. Es gab damals in Preußen, in Sachſen, am
Rhein zahlreiche kleine Geſchäfte, welche, ähnlich wie bei
der Linneninduſtrie, durch Vermittlung von Kaufleuten
für den Export arbeiteten. Ihre Zahl war beſonders in
Schleſien, Poſen und Brandenburg groß, der Abſatz
ging nach Rußland. Der härteſte Schlag der ſie traf,
war die Einführung der prohibitivartigen Zölle in Ruß-
land. Von 1818—28 ſollen gegen 250000 Deutſche
nach Polen ausgewandert ſein, welche nur durch das
ruſſiſche Zollſyſtem dazu genöthigt wurden, und von
welchen die Tuchmacher einen bedeutenden Theil aus-
machten. 1 Trotzdem ſtieg die jährliche Produktion von
Wollwaaren in Preußen von 1806—31 nach Dieterici
von 13½ auf 25—27 Mill. Thlr. Noch glänzender
iſt der ſpätere Aufſchwung der großen Induſtrie. Die
Einfuhr blieb ſich ſo ziemlich gleich; es iſt darunter aber
durchſchnittlich nur 1 % Tuche, der Reſt fällt auf Kamm-
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 37
[578]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
garnartikel. Dagegen hat ſich die zollvereinsländiſche
Ausfuhr von Anfang der vierziger Jahre bis Anfang
der ſechziger Jahre auf den 4—5 fachen Betrag dem
Gewicht nach gehoben. Im Durchſchnitt der Jahre
1860—64 hatte der Zollverein eine jährliche Mehrein-
fuhr von roher Wolle und Wollgarn im Werth von
31 Mill. Thlr., dagegen eine Mehrausfuhr von Woll-
geweben im Werth von 44 Mill. Thalern 1 (bei einer
jährlichen Totalausfuhr von 50—60 Mill. Thalern).
Dem entſprechend iſt auch die Zunahme in der
Geſammtzahl der preußiſchen Webſtühle; der Ruin der
handwerksmäßigen Geſchäfte von 1840—55 iſt darin,
wegen der ſie mehr als erſetzenden Zunahme der großen
Etabliſſements, gar nicht erſichtlich. Man zählte:
Das Zollvereinsbureau zählt 1861 für den ganzen
Zollverein 67343 gehende Webſtühle mit 31310 Mei-
ſtern und 51645 Gehülfen, 1067 Tuchfabriken mit
2592 Maſchinenſtühlen und 11818 Handſtühlen, 622
Fabriken für andere Wollwaaren mit 3655 Maſchinen-
und 9068 Handſtühlen. Die Geſammtzahl der Stühle
würde ſich auf etwa 78000 ſtellen, wenn wir bei den
nichtpreußiſchen Staaten die mit den Fabriken gezählten
Stühle der Hauptſumme zuſetzen.
Wenn in Preußen 1861 auf 33273 gewerbsmäßig
gehende Stühle überhaupt noch 10771 Webermeiſter
und 26096 Gehülfen, zuſammen 36868 Perſonen,
gerechnet werden, ſo könnte man verſucht ſein zu glau-
ben, dieſe große Zahl Meiſter und Gehülfen bedeute,
da es ſelbſtändige kleine Tuchmachergeſchäfte in der
Hauptſache nicht ſein können, eine blühende Hausinduſtrie;
aber dem iſt nicht ſo, es ſind das überwiegend Per-
ſonen, welche in Fabriken arbeiten, wie man durch einen
Blick auf die Spezialtabellen ſieht. Im Regierungs-
bezirk Aachen kommen auf 930 Webermeiſter 5349 Ge-
hülfen, im Regierungsbezirk Frankfurt auf 1163 Meiſter
6602 Gehülfen. Es ſind dieſelben Perſonen, welche
unter den Tuchfabriken nochmals gezählt ſind. In
Sachſen freilich und den andern Staaten, wo die mehr
beſprochene Doppelzählung nicht ſtattfand, iſt es etwas
1
37 *
[580]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
anderes. Da deutet eine bedeutende Zahl Wollweb-
meiſter, welche sub. II. A. Rubrik 57 — 58 der amt-
lichen Tabellen aufgeführt ſind, auf lokale Geſchäfte
oder Hausinduſtrie. Von Bedeutung ſind ſolche außer-
halb der Fabriken arbeitende Wollwebmeiſter aber auch
nur in Sachſen und Thüringen; da iſt alſo 1861 auch
die Wollweberei noch vielfach Hausinduſtrie.
Im Ganzen iſt aber in der Wollweberei die Haus-
induſtrie mehr verdrängt, als in irgend einer andern
Spezialität der Weberei. Die Anfertigung von Kamm-
garnartikeln iſt überdieß ziemlich jung im Zollverein,
die zu liefernden Artikel erfordern einen hohen Grad
von techniſcher Vollendung, das engliſche Vorbild zeigte
faſt nur ganz große Geſchäfte.1 Die Maſchinenſtühle
des Zollvereins ſind in dieſer Branche auch ſchon zahl-
reicher (3655, davon 1391 auf Sachſen) als in der
Tuchfabrikation (2592, davon nur 506 auf Sachſen).
In der Tuchweberei wurde die Aufſtellung der Web-
ſtühle in den geſchloſſenen Etabliſſements ſelbſt auch
ſchon frühe üblich. Viele große heute wohlhabende Tuch-
fabrikanten2 haben ſich vom kleinen Meiſter ſelbſt herauf-
[581]Der frühe Sieg der großen Etabliſſements.
gearbeitet, haben nach und nach einen Stuhl nach dem
andern aufgeſtellt. Der Sitz der großen Tuchinduſtrie
iſt nicht oder nicht vorwiegend, wie der Sitz der großen
Linneninduſtrie, an den Orten, wo von altersher zahl-
reiche Weber waren, die man hätte beſchäftigen können.
Die Zahl der Stühle iſt überhaupt geringer, als in der
Linnen- und Baumwollinduſtrie. Wer die Fortſchritte
mitmachte in der Tuchinduſtrie, erzielte reichliche Gewinne,
welche die Ausdehnung der Etabliſſements erlaubten,
und es galt in den Geſchäftskreiſen für ganz unzweifel-
haft, daß die Blüthe der deutſchen Tuchinduſtrie von
dem Uebergang zu größeren geſchloſſenen Etabliſſements,
von der Verbindung des Färbens, Spinnens, Webens,
Walkens, Scheerens und Appretirens in einem und
demſelben Lokale abhänge.1 Viel unweſentlicher war
dem gegenüber die ſukzeſſiv eintretende Ausdehnung des
Maſchinenſtuhls. Die Maſchine machte ja auch hier
Fortſchritte, aber langſame; noch heute arbeiten viele
Tuchfabriken erſten Rangs mit Handſtühlen. Die Leiſtung
des Maſchinenſtuhls iſt gleichmäßiger und kann ſich täg-
lich auf eine längere Zeit erſtrecken; aber abgeſehen hier-
von iſt ſie kaum größer. Nach Mährlen’s Aufnahme
von 1858 z. B. iſt die tägliche Durchſchnittsleiſtung der
württembergiſchen Maſchinenſtühle 10,2 Ellen, während
er als Durchſchnittsleiſtung der Handſtühle im Ulmer
Kammerbezirk 10,3 Ellen, im Durchſchnitt des ganzen
Landes allerdings 8,3 Ellen anführt. Wenn die Ma-
ſchinenſtühle von 1861 bis zur Gegenwart noch ziemlich
[582]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
zugenommen haben, ſo haben ſie doch dadurch die Hand-
arbeit in den Fabriken ſelbſt kaum beeinträchtigt. Ich
kenne Tuchfabriken, in welchen neben den Maſchinen-
ſtühlen Handſtühle gehen, auf welchen der Arbeiter mit
Leichtigkeit täglich einen Thaler verdient.
Das Charakteriſtiſche der großen Betriebe iſt ſo, wie
geſagt, nicht der Maſchinenſtuhl, ſondern die Vereini-
gung aller Hülfsgewerbe, die höchſte Ausbildung dieſer
in einheitlichen geſchloſſenen Etabliſſements. Aber es
iſt hiegegen doch ſchon eine Art Reaktion eingetreten,
wie Staatsrath Hermann bereits 1851 bemerkt, wenn
er ſagt: „Es waren die ganz großen Geſchäfte, welche
die Tuchmanufaktur Deutſchlands auf ihre jetzige Höhe
gehoben haben. Aber gerade bei der Vereinigung aller
Zweige der Fabrikation und des Abſatzes in einer Hand
kommt der Unternehmer endlich an einen Punkt, wo
die Beaufſichtigung der vielen verſchiedenen techniſchen
Arbeiten und die Beſorgung des Abſatzes ſo umfangreich
und komplizirt wird und ſo viele Koſten verurſacht, daß
der Geſammtertrag der Fabrik leicht kleiner ausfällt,
als bei mäßigerem Umfang der Hauptgeſchäfte der Fall
geweſen. Damit iſt dann die Theilung der Geſchäfte
durch das eigene Intereſſe der Fabrikanten geboten.“
Dieſe Theilung kann darin beſtehen, daß die Fa-
brikanten ihr Garn wieder außer dem Hauſe weben
laſſen, wie das in Sachſen niemals ganz aufgehört
hat, auch in Aachen1 noch theilweiſe üblich iſt. Oder
kann ſie darin beſtehen, daß das Spinnen und die Her-
[583]Die kleinen engliſchen Tuchmacher.
ſtellung roher Gewebe Sache des kleinen Tuchmachers
bleibt, das Scheeren und Appretiren ſowie der Vertrieb
der Waare dem Fabrikanten bleibt.
Das iſt die in England, beſonders in Leeds und Um-
gegend noch heute allgemein übliche Geſchäftsorgani-
ſation. Baines erzählt 1859 von ihr:1 „Vor einigen
Jahren glaubte man, die großen Fabriken würden durch
die Macht des Kapitals, durch die Macht der Maſchinen
und die Zeiterſparniß das alte Syſtem der häuslichen
und ländlichen Manufaktur vollſtändig zerſtören. Aber
ſie haben das Syſtem nicht weſentlich alterirt. Der
Hauptgrund wurde ſchon erwähnt, er liegt in der Eigen-
thümlichkeit der Wollinduſtrie, dem Powerloom keinen
bedeutenden Vortheil über den Handſtuhl zu geben.
Dennoch hätte die häusliche Manufaktur unterliegen
müſſen, hätten nicht die Tuchmacher die Maſchine für
diejenigen Prozeſſe zu Hülfe gerufen, in welchen ſie eine
unzweifelhafte Ueberlegenheit über die Handarbeit hat,
d. h. für die Vorbereitung der Wolle und das Spinnen.
Sie vereinigten ſich, Aktienfabriken zu errichten, wohin
jeder Theilhaber ſeine eigene Wolle bringt und ſie rei-
nigen, färben, ſtreichen und ſpinnen läßt; dann wird
Kette und Einſchlag wieder in das eigene Haus oder
die eigene Werkſtatt gebracht und auf dem Handſtuhl
verwebt, oft durch die Mitglieder der Familie; das
[584]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Tuch wird hierauf in der Fabrik gewalkt, gewaſchen
und geſtreckt und endlich in ſog. rohem Zuſtande (balk
state) nach Leeds gebracht und verkauft; vollendet wird
es durch die Tuchbereiter (Dressers) nach der Beſtel-
lung der Kaufleute. Viele dieſer gemeinſamen Fabriken
ſind gut verwaltet und zahlen den Theilnehmern hohe
Dividenden. Sie arbeiten nach Auftrag auch für andere
als für die Aktionäre. Die Tuchmacher finden ſo durch
Fleiß und Sparſamkeit ſich in der Lage, mit den großen
Fabrikbeſitzern zu konkurriren, deren große Werke und
komplizirte Maſchinen große Ausgaben mit ſich bringen.“
Es iſt eine glückliche Verbindung von ſelbſtändigem
Kleingewerbe, Aſſoziation und fabrikmäßigem Abſatze.
Zu einem kleinen Theile haben wir auch in Deutſch-
land ähnliche Verhältniſſe. Schon in den vierziger
Jahren bildeten ſich an Orten mit einer großen Anzahl
Tuchmachern größere Spinnereien, welche für ſie um
Lohn arbeiteten und ſie ſo zunächſt hielten.1 Auch voll-
ſtändig modern eingerichtete Appreturanſtalten mit Walk-,
Rauh-, Zylinderſcheer- und Bürſtmaſchinen als eigene
Geſchäfte bildeten ſich, wo eine Reihe Tuchmacher und
kleiner Fabrikanten ſie um Lohn beſchäftigten.2 Der
Ankauf roher Tuche von den kleinern Tuchmachern durch
größere Fabrikanten, um die Waare zu vollenden und
in den Handel zu bringen, iſt in Schleſien, in der
[585]Die Erhaltung der Tuchmacher durch Aſſoziationen.
Mark, auch in Sachſen nicht ungewöhnlich; beſonders
für Militärtuche iſt dieſe Art der Arbeitstheilung in
Preußen üblich.1 Aber auch eigentliche Aſſoziationen
ſind vorhanden; am zahlreichſten wohl in Sachſen.
Schon 1860 wird berichtet: 2 „An manchen Orten, wie
Roßhain, Großenhain, Leisnig, Kamenz hat ſich neben
größern Etabliſſements der genoſſenſchaftliche Betrieb
entwickelt, indem, abgeſehen von den faſt überall vor-
handenen Innungswalken, ſich (mit der Innung nicht
identiſche) Genoſſenſchaften von Meiſtern zu gemein-
ſchaftlichem Betrieb der Spinnerei und Appretur ver-
einigt haben.“ Doch haben auch die Innungen theil-
weiſe die Anregung gegeben; die Tuchmacher und Weber-
innungen ſind diejenigen, welche nach der Aufnahme von
1860 von allen Innungen das bedeutendſte Vermögen
beſitzen, und die außer den Fleiſchern (zu Schlachthäuſern)
allein dieſes Vermögen zu gewerblichen Produktions-
zwecken verwendet haben. Vierzig ſächſiſche Weberin-
nungen hatten damals ein Vermögen von 149000,
19 Tuchmacherinnungen ein ſolches vor 59000 Thlr.3
Genaueres theilt ein Leipziger Bericht 1863 4 mit:
„Die älteſten hieher gehörigen Aſſoziationen“ — ſagt
er — „ſind wohl die in den Wollmanufakturſtädten
aus den Tuchmacherinnungen hervorgegangenen, theil-
weiſe über einen Zeitraum von 50 — 60 Jahren und
[586]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
noch weiter zurückgreifenden Genoſſenſchaften, welche die
einen fabrikmäßigen Betrieb erfordernden Arbeiten bei
der Tuchweberei, als Walke, Färberei, Spinnen der
erforderlichen Garne und die Appretur auf gemeinſchaft-
liche Rechnung betreiben, und auf dieſe Weiſe den klei-
nern Tuchmachermeiſtern Selbſtändigkeit und Konkurrenz-
fähigkeit verleihen. Derartige Aſſoziationen finden wir
in Leisnig, wo neben der Innungswalke eine Aſſoziation
von 9 Genoſſen zur Appretur und eine ſolche zur Woll-
ſpinnerei mit 3 Aſſortimenten beſteht. Ebenſo hat die
Tuchmacherinnung zu Großenhain eine Wollſpinnerei von
3 Aſſortimenten, womit ſie den Bedarf von 15 für ſich
arbeitenden Genoſſen ſpinnt und mit 13 direkt betheilig-
ten Genoſſen eine Appretur, welche mit 2 Rauhma-
ſchinen und den nöthigen Scheerzylindern das Bedürfniß
der Betreffenden an Appretur auf ihre Erzeugniſſe deckt.
In gleicher Weiſe hat Roßwein mehrere derartige
Aſſoziationen zur Spinnerei mit zuſammen 10 Aſſorti-
menten und Dobeln eine Innungswalke.“ Im Leipziger
Berichte für 1865 — 66 1 wird betont, daß die mecha-
niſche Weberei immer mehr Terrain gewinne, daß aber
auch bereits eine Genoſſenſchaft in Großenhain eine An-
zahl mechaniſcher Stühle in einem dazu errichteten Saale
des der Tuchmacherinnung gehörigen neuen Hauſes auf-
geſtellt habe. Wo der mechaniſche Stuhl abſolut noth-
wendig wird, da läßt ſich auch die in England ſchon
ab und zu vorkommende Einrichtung treffen, daß von
einer gemeinſam betriebenen Dampfmaſchine die Kraft
[587]Deutſche Webergenoſſenſchaften.
durch Transmiſſionen ganze Straßenzüge entlang in die
Wohnungen der kleinen Weber geleitet wird.1
Vereinzelt finden ſich ähnliche Einrichtungen wie
die ſächſiſchen auch anderwärts. Die Göttinger Tuch-
macherinnung bildet eine Gewerkſchaft, beſitzt ein grö-
ßeres Fabriketabliſſement.2 Vor Allen ſind die Tuch-
macher von Sagan zu erwähnen, welche ſchon 1810
eine Walke, 1841, nachdem die Walke abgebrannt war,
eine vollſtändige Fabrik, d. h. Spinnerei, Walke und
Appreturanſtalt für 48362 Thaler, damals in der
Hauptſache auf Schulden bauten; 1863 waren 85 Mei-
ſter fabrikberechtigt, die Activa der Fabrik betrugen
288129, die Passiva 58312, das freie Vermögen
alſo 229817 Thlr.; in den letzten 10 Jahren hatten
die Meiſter für 121520 Thlr. neue Maſchinen ange-
ſchafft.3
Dieſe Beiſpiele beweiſen wenigſtens, daß das, was
ſo ſehr wünſchenswerth wäre, im Bereiche der Möglich-
keit liegt. Da die Frage eine ähnliche für die ganze
Gewebeinduſtrie iſt, möchte ich hier noch einige Worte
über die Webergenoſſenſchaften im Allgemeinen anfügen.
Vorausſchicken will ich thatſächlich nur, daß Schulze-
Delitzſch in ſeinem Berichte von 1867 resp. 1868
5 Webergenoſſenſchaften zu gemeinſchaftlichem Ankauf
des Rohſtoffs und 9 resp. 10 eigentliche Produktiv-
[588]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
genoſſenſchaften anführt; es ſind Baumwoll- und Leine-
weber, Tuchmacher und Shawlweber darunter. Ein
weſentlicher Fortſchritt findet nicht ſtatt; ſchon in dem
Bericht von 1863 zählt er 10 Weberaſſoziationen für
gemeinſamen Einkauf oder gemeinſame Produktion auf.
Außerdem ſind mir nur noch eine Anzahl ſächſiſcher
Genoſſenſchaften bekannt, welche den einzigen Zweck ver-
folgen, den Faktor und deſſen drückendes Zwiſchengeſchäft
entbehrlich zu machen.1 Aber was will das heißen
gegen die Hunderte und Tauſende von kleinen Meiſtern,
die im Laufe der letzten 30 Jahre zu Grunde gegangen
ſind, die heute noch im Dienſte der Großinduſtrie, wie
für eigene Rechnung arbeitend exiſtiren?
Gewiſſe Arten der Gewebeinduſtrie freilich entziehen
ſich dem genoſſenſchaftlichen Betrieb von ſelbſt, theils
wegen der perſönlichen Eigenſchaften außerordentlicher
Art, welche vom Dirigenten, von den Technikern des
Geſchäfts gefordert werden, theils wegen der zu großen
Kapitalien, die das gut betriebene Geſchäft bedarf. Die
Maſchinenweberei gehört, wie wir ſahen, nicht nothwen-
dig hieher, wohl aber die Kattundruckerei, die Anfer-
tigung von Modeartikeln und Aehnliches. In Bezug
auf die Perſonen iſt der genoſſenſchaftliche Betrieb da
unmöglich, wo eine ſeit Jahrzehnten verarmte halb ver-
hungerte Weberbevölkerung, an Geiſt und Körper ver-
kommen, alle Kraft zu ſelbſtändigen Fortſchritten ver-
loren hat.
[589]Die Bedingungen der genoſſenſchaftlichen Weberei.
Aber wie viele kleine Webermeiſter ſtehen doch
noch über dieſem Niveau; wie manche Fortſchritte der
Technik, der Bildung, welche andere tüchtigere Menſchen
vorausſetzen, ſind wenigſtens in einzelnen Gegenden zu
konſtatiren. Und doch fehlt es an jeder erheblichen
Zunahme, während doch der genoſſenſchaftliche Betrieb
gerade in der Weberei am angezeigteſten wäre, während
es kein zahlreicheres, älteres, der Erhaltung würdigeres
Gewerbe in Deutſchland gibt. Das tauſendmal geprie-
ſene Syſtem der Hausinduſtrie drückt, an große Fabriken
angelehnt, die Arbeiter doch leicht zum Proletariat herab,
genoſſenſchaftlich aber organiſirt würde es tauſende und
aber tauſende kleiner geſunder Geſchäfte erhalten. In
der ganzen volkswirthſchaftlichen Geſchichte des 19. Jahr-
hunderts wäre neben der Konſervirung unſeres deutſchen
Bauernſtandes eine Erhaltung der kleinen Webermeiſter
die wichtigſte Maßregel, wenn man überhaupt auf eine
ſozial und politiſch ſegensvolle größere Gleichheit der
Beſitz- und Einkommensverhältniſſe Werth legt.
Aber es geht hier wie in andern Geſchäftsbranchen.
So lange der kleine Meiſter noch zur Noth von dem
lokalen Abſatz leben kann, ſo lange der Hausweber noch
mit halbwegs leidlichem Lohn vom Fabrikanten beſchäf-
tigt wird, ſo denkt er nicht an ſolche radikale Reformen.
Auch in dieſen Kreiſen überwiegt das träge Kleben am
Althergebrachten; zu was Mühe, Sorge, Gefahr auf
ſich nehmen, wenn es im alten Geleiſe noch geht?
Wenn die Noth dann eintritt und einige Zeit, einige
Jahre und noch länger gedauert hat, ja dann fehlt es
an Kapital, dann ſind die Tüchtigern unter den Leuten
[590]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ausgewandert, zu andern Berufen übergegangen, dann
iſt das ganze geiſtige und moraliſche Niveau der Leute
zu tief herabgedrückt. Es fehlt in erſter Linie an der
Initiative zur rechten Zeit, an den rechten Führern.
In der ganzen genoſſenſchaftlichen Bewegung han-
delt es ſich darum, die kleinen Meiſter und Arbeiter
zu erziehen zu den Geſchäftsſitten, zu der kaufmänniſchen
Umſicht, der reellen Zuverläſſigkeit der bürgerlichen Mit-
telklaſſen. Wer die Vorſchußvereine und die andern
Genoſſenſchaften in der Nähe kennt, muß das zugeben;
die Perſönlichkeiten entſcheiden; Schulze-Delitzſch wird
genannt, hunderte von Andern mit ähnlicher höherer
Bildung halten die Sache, erziehen den Handwerkerſtand,
indem ſie an die Spitze treten. Nur ſie überwinden
das Mißtrauen, den Neid der Meiſter unter einander.
In der größern Stadt nun findet man leichter die Per-
ſönlichkeiten hiezu, viel weniger aber oder gar nicht ſind
ſie aufzutreiben in den einſamen Gebirgsthälern, auf
dem platten Lande, wo die Hütte des Webers ſteht.
Die einzig Gebildeten, von welchen hier die Initiative
ausgehen könnte, ſind neben den Geiſtlichen, die ſich
leider ja heute um ſolche Dinge gar wenig kümmern,
die Faktoren, die Kaufleute, die Fabrikanten, d. h. die-
jenigen, welche gerade das gleiche Intereſſe haben Weber-
aſſoziationen zu ſtiften, wie etwa die Detailhändler,
Konſumvereine ins Leben zu rufen.
Es iſt das einer der Punkte, wo die Frage ent-
ſteht, ob der Staat nicht in irgend welcher Form —
nicht ſowohl das Kapital beſchaffen, als die Orga-
niſation anregen, zur Erziehung der kleinen Meiſter für
[591]Die Bedingungen der genoſſenſchaftlichen Weberei.
den genoſſenſchaftlichen Betrieb mitwirken ſollte, ob er
es nicht in den vierziger Jahren hätte thun ſollen, da
es heute vielfach ſchon zu ſpät iſt. Das Kapital allein
vom Staate dargereicht, wäre nur ſchädlich; es würde
in nutzloſen Verſuchen vergeudet, wenn nicht die Erzie-
hung, die Organiſation, die geiſtige und techniſche För-
derung der Leute hinzukommt.1 Ich werde auf die
Berechtigung ſolcher ſtaatlichen Eingriffe nochmals zurück-
kommen.
Kehren wir aber nach dieſer Abſchweifung über
Webergenoſſenſchaften zurück zu der Schilderung der
thatſächlichen Verhältniſſe in Preußen und im Zoll-
verein, und zwar zunächſt zur Seide- und Seidenband-
weberei.
Die deutſche Seideninduſtrie iſt ein Produkt der
franzöſiſchen Proteſtanten und der preußiſchen Gewerbe-
politik.2 Im Laufe dieſes Jahrhunderts hat ſie ſich
aber auch in andern deutſchen Staaten entwickelt.
Bayern und beſonders Baden beſitzen eine nicht unbe-
deutende Seidenweberei. Die Hauptſitze der Induſtrie
ſind aber auch jetzt noch Elberfeld, Krefeld, der ganze
Regierungsbezirk Düſſeldorf, Aachen, Berlin und Pots-
[592]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
dam. Theilweiſe unter ſchwerem Kampf mit der fran-
zöſiſchen und engliſchen Konkurrenz haben ſich die deut-
ſchen Geſchäfte emporgearbeitet, mehr und mehr haben
ſie den inländiſchen Markt ſich erobert und einen bedeu-
tenden Export gewonnen, ſo daß jetzt die deutſche
Seideninduſtrie die erſte nach der franzöſiſchen iſt, die
deutſche Stadt Krefeld nächſt Lyon als der erſte Seiden-
manufakturort der Welt gilt. Die Einfuhr fremder,
hauptſächlich franzöſiſcher Seidenwaaren hat in Artikeln,
welche in Deutſchland wenig oder gar nicht gemacht
werden, noch bis in die neueſte Zeit zugenommen, aber
ſehr viel ſtärker ſtieg die Ausfuhr, ſowohl in ſeidenen
als in halbſeidenen Waaren.1
Die folgende Ueberſicht zeigt die Zunahme der
preußiſchen Seidenweberei, wobei ich jedoch bemerke, daß
der Rückgang in der Zahl der Webſtühle und noch mehr
in der Zahl der Fabrikgeſchäfte von 1858 — 61 mehr
von einer veränderten Art der Zählung, als von einer
wirklichen Abnahme herrühren muß. Im Ganzen zeigt
die Tabelle klar die glänzende Entwicklung der preußi-
ſchen Seidenweberei:
[593]Die Seidenweberei.
Die auch hier wieder nicht ganz zuverläſſige Zäh-
lung des Zollvereinsbureaus ergiebt für den ganzen
Zollverein 1861 - 32882 gehende Webſtühle mit
18806 Webermeiſtern und 17432 Gehülfen; da-
neben als Fabriken aufgeführt 314 Geſchäfte mit
1270 Maſchinenſtühlen (689 auf Baden) und 5392
Handſtühlen.
Kleine profeſſionsmäßige Geſchäfte mit lokalem
Abſatz, mit einem Vertrieb auf Jahrmärkten gab es
früher wohl auch welche, aber ihre Zahl war nie groß.
Der Verbrauch der Seidenwaaren iſt Sache der höhern
Klaſſen; der Einkauf geſchieht und geſchah auch früher
mehr in den Läden der großen Städte, welche ihre
Waaren von den Fabriken beziehen; die Fabrikation war
von jeher mehr eine für den Abſatz im Großen. Die
Leitung der Geſchäfte war keine leichte, der Bezug des
theuren Rohſtoffes, die Herrichtung der Garne, die
künſtleriſche Seite des Gewerbes, das Färben der Garne,
die Sorge für ſchöne geſchmackvolle Muſter erforderte
wohlhabende, techniſch und künſtleriſch gebildete Unter-
nehmer. Dabei blieb aber das Weben bis jetzt über-
wiegend Sache der Hausinduſtrie.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 38
[594]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Der mechaniſche Webſtuhl hat wohl in keiner andern
Branche der Weberei mit ſo viel techniſcher Schwierig-
keit zu kämpfen als hier. Trotzdem iſt er in England
auch zur Herrſchaft gelangt; aber er hat darum die
Hausinduſtrie nicht verdrängt, indem gerade hier die
erwähnten Einrichtungen vorkommen, welche den Ma-
ſchinenſtuhl in den Wohnungen der Weber ſelbſt aufzu-
ſtellen erlauben. Man zählte dort nach Grothe 1861
auf 7217 Handſtühle 10709 mechaniſche Stühle für
Seidenweberei.1 Es hat das Ueberwiegen der Ma-
ſchinenſtühle in England ſeinen Grund in der Speziali-
tät der engliſchen Seidengewebe; es ſind einfache nicht
der Mode unterworfene Artikel. Ueberall ſonſt über-
wiegt theils der techniſchen Schwierigkeiten, theils der
wechſelnden Mode, theils der tüchtigen Handweberei
wegen noch die Handarbeit, hauptſächlich auch in Frank-
reich. Sowohl in Lyon und Umgegend, wo die Stoff-
weberei, als in St. Etienne, wo die Seidenbandweberei
zu Hauſe iſt, werden die Weber, die ſog. contremaîtres,
welche auf dem Lande zerſtreut wohnen, von dem Unter-
nehmer entweder durch Komiſſionäre, welche unſern
Faktoren gleichſtehen, oder direkt durch die reitenden
Kommis des Hauſes beſchäftigt. Dieſe contremaîtres
beſitzen meiſt einige Stühle, faſt durchaus Tritt- und
Jacquardſtühle, deren Inſtandhaltung, Veränderung und
Verbeſſerung ſie mit Intelligenz und Sachkenntniß beſor-
[595]Die glückliche Organiſation der Seidenweberei.
gen. „Wohl wird“ — ſagt Harpke1 — „durch dieſes
Syſtem der Arbeitslohn vertheuert, doch genießt der
Fabrikant den Vortheil, für ganz kleine Gruppen von
Stühlen verantwortliche Werkführer zu beſitzen, welche
die Ausführung der Arbeit mit der größten Sorgfalt
überwachen, wovon in vielen Fällen die Löſung mancher
ſchwierigen Aufgabe abhängt.“
In Deutſchland ſind die Verhältniſſe verſchieden;
neben Maſchinenſtühlen für glatte Gewebe trifft man
auch Handſtühle in geſchloſſenen Etabliſſements, aber
im ganzen überwiegt auch im Zollverein bis jetzt der
Handſtuhl und die Hausinduſtrie. Auf 30699 Web-
ſtühle zählt man in Preußen 1861 erſt einige hundert
Maſchinenſtühle; 4533 Handſtühle ſind bei den Fabri-
ken gezählt; und ſelbſt von dieſen iſt ja nach der
unvollkommenen Art der Aufnahme fraglich, ob ſie alle
in den Fabriken ſelbſt ſtehen. In Krefeld und Elber-
feld wohnen die Weber mehr in der Stadt und nähern
ſich damit mehr der gewöhnlichen Arbeiterbevölkerung.
Die großen Geſchäfte in Vierſen und Gladbach beſchäf-
tigen mehr auf dem Lande zerſtreut wohnende Weber;
auch hier wird die Verbindung einer kleinen Landwirth-
ſchaft mit der Weberei als der größte Segen empfunden.
Dem Bericht des erſt kürzlich verſtorbenen Herr von
Diergardt,2 welcher das hauptſächlich auch betont, über
ſein enormes Seidengeſchäft entnehme ich folgendes: Die
38 *
[596]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Hauptſorge des Geſchäfts geht auf dauernde gleichmäßige
Beſchäftigung der Weber; „es giebt eine Menge von
Arbeiterfamilien, wovon der Großvater, Vater, Sohn
und Enkel fortwährend für mich beſchäftigt geweſen ſind,
trotzdem daß ſolche alle entfernt von der Fabrik wohnen
und in ihren eigenen Häuſern arbeiten; eine große Zahl
der Arbeiter hat ziemlich erhebliche Erſparniſſe gemacht;
viele beſitzen ein eigenes Haus, darunter ſind manche
im Werthe von 2000 Thalern und darüber.“ Zu dem
Hauſe geſellen ſich häufig Garten, Ackerland, Wieſe
oder Holzung. Für gelungene Waare und ſchnelle An-
fertigung werden außer dem Lohn angemeſſene Prämien
bezahlt.
Der Lohn der Seidenweber iſt ſeit lange, trotz der
ab und zu ſchwer auf Fabrikanten und Arbeitern laſten-
den Kriſen und Geſchäftsſtockungen, ein guter geweſen;
die ſteigende Entwicklung der deutſchen Seideninduſtrie
ſowie die Thatſache, daß die meiſten Gewebe nicht mit
der Maſchine herzuſtellen ſind, wirkten günſtig, man
konnte nur tüchtige Leute brauchen, nur ſoliden zuver-
läſſigen Leuten die theuern Stoffe anvertrauen. Das
ganze geiſtige und moraliſche Niveau iſt damit ein höheres
geblieben. Gegenwärtig wird der Tagesverdienſt eines
Seidenwebers auf etwa einen Thaler geſchätzt.1 Mehr
und mehr ſind die früher den Fabrikanten gehörigen
Stühle in das Eigenthum der Weber übergegangen.2
[597]Der hohe Lohn in der Seiden-, Shawl- u. Teppichweberei.
Aeußere Umſtände waren für dieſe glückliche Ent-
wicklung allerdings von Bedeutung; von größerem Ein-
fluß aber noch waren die moraliſchen und geiſtigen Eigen-
ſchaften ſowohl der Unternehmer, als der Arbeiter.
Von der ganzen Shawl- und Teppichweberei, auf
die ich hier des Raumes wegen nicht näher eingehen
will, läßt ſich Aehnliches ſagen, wie von der Seiden-
induſtrie. Theilweiſe iſt die Fabrikation ganz auf die
großen geſchloſſenen Etabliſſements übergegangen; theil-
weiſe aber hält ſich die Hausweberei noch; ſie ſetzt aber
dann geſchickte, gebildete, zuverläſſige Leute im Beſitz guter
Jacquardſtühle voraus, deren Lage daher nicht ſchlecht
iſt. Die Berliner Shawlweberei iſt faſt durchaus noch
Hausarbeit; ein tüchtiger Weber verdient leicht einen
Thaler täglich,1 ſein Gehülfe 15 Sgr., mithelfende
Kinder 6—7½ Sgr.
Einer der wichtigſten Zweige der Bandweberei,
der der Seidenbandweberei, iſt ſchon unter den ſtatiſti-
ſchen Ergebniſſen der Seideninduſtrie begriffen. Wir
haben es nunmehr nur noch mit der Anfertigung von
leinenen, baumwollenen und wollenen Bändern zu thun,
mit einem Gewerbe, das ſo vielfach mit dem Poſa-
mentiergewerbe, mit der Anfertigung von Litzen, Kor-
deln, Treſſen, Borten, Gimpen, Schnüren, Frangen und
Zeugknöpfen zuſammenfällt, daß eine getrennte Aufnahme
leider immer dadurch leiden und unklar werden muß.
[598]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Ehe ich jedoch die Zahlen mittheile, will ich
bemerken, daß auf den ganz alten Handſtühlen jedes
Band einzeln gewebt wurde. Auch die ſogenannten
Schubſtühle ſind noch ziemlich unvollkommen. Daneben
kam ſchon frühe die Bandmühle auf,1 ein künſtlicher
Webſtuhl, der 8—40 Bänder zu gleicher Zeit zu weben
erlaubt; eine ſolche ſoll ſchon 1586 in Danzig erfun-
den, aber vom Rathe verboten worden ſein, weil ſie
eine Menge Arbeiter zu Bettlern mache. Uebrigens
konnte dieſe Bandmühle von der Hand getrieben werden
und war ſonach auch im kleinen handwerksmäßigen Ge-
ſchäft anwendbar. Erſt der neueſten Zeit gehören die
eigentlichen Bandmaſchinenſtühle, die Anwendung von
Jacquardmaſchinen für Poſamentierartikel, die Klöppel-
maſchinen an. Auf einem Maſchinenſtuhle kann ein
einziger Arbeiter täglich, je nach der Breite des Bandes
und der Zahl der Läufe, von 50 bis gegen 700 Ellen
Band weben.
Dem entſprechend haben auch die kleinen hand-
werksmäßigen lokalen Geſchäfte abgenommen. Nur ein-
zelne Arten lokal vorkommender Bauernbänder, einfache
Borten, Schnüre und Gurte für’s Landvolk werden von
ihnen noch geliefert — und dann Poſamentierartikel,
welche auch heute deßwegen der Fabrik- und Hausinduſtrie
nicht ganz anheim fallen, weil ſie theilweiſe doch immer
noch nach Beſtellung des einzelnen Kunden gearbeitet
werden müſſen. Doch iſt auch hierin ein großer Um-
[599]Die Bandweberei und das Poſamentiergewerbe.
ſchwung durch die Verkehrserleichterungen eingetreten.
Jedes kleine Ladengeſchäft kann heute eine Beſtellung,
ſtatt ſie ſelbſt auszuführen, einer entfernt liegenden
Fabrik übertragen. Die Poſamentiere halten ſich heute
mehr als Ladengeſchäfte und Detailhändler. Die Zu-
nahme des Bedarfs fällt auf die Fabrikwaaren, auf
jene zahlreichen Artikel für Kleider, Möbel, Zimmer-
dekorationen, für Eiſenbahn- und andere Wagen.
Die preußiſche Statiſtik zählt nun die handwerks-
mäßigen Poſamentiere in der Handwerker-, die Band-
ſtühle in der Fabriktabelle; das Ergebniß iſt folgendes.
Man zählte Poſamentiere:
Darnach fand eine ziemliche Abnahme der Poſa-
mentiere neuerdings ſtatt; doch iſt ſie in ſo fern nicht
ganz ſicher, als die Grenze gegenüber der in der Fabrik-
tabelle gezählten Bandweberei unſicher iſt. Was die
Bandſtühle betrifft, ſo zählte man früher ausſchließlich
die Zahl der Gänge; es gab:1
[600]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Von da an zählte man die Stühle, wobei aber
die Zahlen von 1852 und 1855 offenbar falſch ſind;
es werden erwähnt:
Die Weber und Gehülfen, ſowie die Fabriken
nebſt Stühlen ergaben daneben ſeit 1846 folgendes
Reſultat:
Auch dieſe Zahlen zeigen theilweiſe durch ihren
ſchroffen Wechſel, daß ſie falſch ſein müſſen; die bei
den Fabriken daneben noch gezählten Arbeiter betrugen
ebenfalls 1852 und 1855 circa 10000, ſonſt gegen
7000 Perſonen. Sicher ſcheint nur die Abnahme der
Handſtühle und die Zunahme der Maſchinenſtühle.
Das Zollvereinsbureau zählte 1861 bei der Band-
weberei in den andern Staaten nur verſchwindend kleine
[601]Die Bandweberei als Hausinduſtrie.
unbedeutende Zahlen. Die Mehrzahl der hierher gehö-
rigen Perſonen iſt in der Handwerkertabelle verzeichnet.
Dieß gilt beſonders von Sachſen, wo das Poſamentier-
gewerbe bisher als ſchwunghaft betriebene Hausinduſtrie
blühte, jetzt theilweiſe auch zum Fabrikſyſteme übergeht.
Im Jahre 1836 zählte man 1246 Meiſter in Sachſen,
im Jahre 1849 aber 3191; 1861 werden 2741
Meiſter mit 3782 Gehülfen als Poſamentiere in der
Handwerkertabelle, 316 handwerksmäßige Bandweber
mit 450 Stühlen und 236 Gehülfen, 115 Fabriken (in
ganz Preußen nur 182) mit 284 Maſchinenſtühlen,
197 einfachen Poſamentierſtühlen und 1420 Klöppel-
maſchinen in der Fabriktabelle gezählt. Die Stühle der
profeſſionsmäßigen Poſamentiere ſind ſonach in den
Tabellen gar nicht gezählt. Viebahn ſchätzt die betheilig-
ten Perſonen in Sachſen 1861 auf wenigſtens 1700
Faktore und 20000 arbeitende Männer, Frauen und
Kinder, die einen guten Verdienſt haben. Er ſagt:
„Sachſen hat ſeit alter Zeit in Annaberg, Buchholz,
Geyer, Thum und Scheibenberg eine wichtige Poſa-
menteriefabrikation, welche gegen 5000 Poſamentier-
und Bandſtühle beſchäftigt und ganz Deutſchland mit
wohlfeilen Borden, Bändern, Frangen, Gürteln, Gorls
(Agrements), Chenille und Zeugknöpfen verſieht. Auch
Soutachen und die für Beſätze erforderlichen Seiden-
ſchnuren werden ſeit einiger Zeit in Annaberg und
Buchholz fabrizirt. Gedrehte und geflochtene Kleider-
ſchnuren in Wolle und Baumwolle, ſowie Schnuren
für induſtrielle Zwecke werden in einem mit Dampf-
kraft ausgeſtatteten Etabliſſement zu Chemnitz, außer-
[602]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
dem in Hainichen und andern Orten fabrizirt; nament-
lich haben die geflochtenen Spindelſchnuren wegen ihrer
Haltbarkeit bedeutenden Abſatz gefunden. Die Ver-
fertigung leinener und baumwollener Bänder, Schnür-
ſenkel, Hoſenträger und Gurten beſchäftigt in der Lauſitz
und im Dresdener Bezirk namentlich zu Pulsnitz, Groß-
röhrsdorf und Brettnich zu Zeiten bis zu 1200 Stühle:
die urſprünglichen mangelhaften Schubſtühle weichen
den Mühlſtühlen, auch zahlreiche Maſchinenſtühle ſind
ſchon im Gange und die nöthigen Baumwollfärbereien
kommen zu Hülfe. Die bekannte Jacquardhoſenträger-
gurtfabrikation ſteht hier allein und unterliegt keiner
Konkurrenz.“
Die Geſchäfte gingen bis in die neuere Zeit ſo
ſchwunghaft, daß Fabrik- und Maſchinenſtühle die Hand-
arbeit und Hausinduſtrie nicht verdrängt haben; es fand
mehr eine Arbeitstheilung zwiſchen beiden Syſtemen
ſtatt; der Lohn war ein ſteigender. Frauen, welche
früher die Woche nicht über 1¼ Thaler gekommen
waren, verdienten ſeit Anfang der ſechsziger Jahre oft
bis 3 Thaler die Woche. Der Chemnitzer Handels-
kammerbericht gibt für 1863 folgende Ueberſicht über
die Stühle im Kammerbezirk. Man zählte:
Er fügt bei: „Nur die Klöppelmaſchinen, worauf
Schnüre und Bänder zu Krinolinen fabrizirt werden,
gehören den Fabrikanten, die andern Stühle, auch die
Chenilleſtühle, gehören den Faktoren oder den Arbeitern
ſelbſt. Der Fabrikant kauft vom Faktor und liefert ihm
die neuen Muſter.“ Der Umſchwung der Technik und
der Geſchäftsorganiſation zeigt ſich aber doch darin, daß
von den einfachen Poſamentierſtühlen etwa nur die
Hälfte, die andern Stühle faſt alle voll beſchäftigt ſind.
An die Bemerkungen über das Poſamentiergewerbe
ſchließen ſich endlich die über Strumpfwirkerei; ſie iſt
theilweiſe auch lokal mit jenem Gewerbe vereinigt.
Strumpfwaaren werden ſeit alter Zeit neben der
Handſtrickerei auf dem hölzernen Strumpfwirkſtuhl gefer-
tigt, welcher ſchon 1589 von dem Magiſter William
Lee zu Kambridge erfunden worden war und bis zur
Mitte dieſes Jahrhunderts unverdrängt blieb. Ein
ſolcher Stuhl koſtete in den zwanziger und dreißiger
Jahren kaum einige Thaler, war alſo auch dem ärm-
lichſten Handwerker erreichbar. Zahlreiche lokale Ge-
ſchäfte entwickelten ſich ſchon im vorigen Jahrhundert,
neben der beſonders in Sachſen und Thüringen blühen-
den Hausinduſtrie.
Die preußiſchen Strumpfwirkerſtühle führte ich für
1816 und 1831 ſchon oben nach Provinzen an; wir
ſahen, daß ſie überall vorkamen. Die Geſammtſumme
der Stühle hatte 1816 ‒ 2085, 1831 ‒ 2110 betragen.
Auch die folgende Ueberſicht nach Regierungsbezirken
zeigt für die ſpätere Zeit einen ähnlichen Charakter,
[604]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
d. h. einzelne Sitze einer nicht gerade bedeutenden Haus-
induſtrie, daneben keine durchgängige große Abnahme in
den Bezirken, welche nur kleine handwerksmäßige Ge-
ſchäfte haben. Die Geſammtſumme der Stühle im
preußiſchen Staate war 1834 ‒ 2181, 1840 ‒ 2398,
1849 ‒ 2106, 1861 ‒ 2336. Die Meiſter fielen
1849—61 von 1438 auf 1369, die Gehülfen ſtiegen
von 971 auf 1137. Es trat bis 1861 weder eine
[605]Die Strumpfwirkerei.
weſentliche Aenderung der Technik, noch der Geſchäfts-
organiſation ein.
Die daneben in Preußen beſonders gezählten Fabri-
ken ſind wohl hauptſächlich nur Geſchäfte, welche die
Produkte der Hausinduſtrie vollenden und vertreiben;
ihre Zählung iſt demgemäß unſicher; — man findet
1846 ‒ 165, 1861 ‒ 64 Fabriken mit damals 92, ſpäter
94 Maſchinenſtühlen, einigen hundert Handſtühlen und
gegen 1000 Arbeitern.
Das Zollvereinsbureau zählt unter II. A. 39944
Strumpfwirkerſtühle, 17962 Meiſter und 16093 Ge-
hülfen, von welchen die Hauptpoſten auf Sachſen,
Thüringen und Baiern fallen, daneben unter II. B.
279 Fabriken mit 4236 Maſchinenſtühlen, 1739 Hand-
ſtühlen, 2535 männlichen und 3369 weiblichen Arbei-
tern. Von den 4236 Maſchinenſtühlen fallen wieder
3965 auf Sachſen; es ſind zu einem großen Theil
engliſche Rundſtühle, welche mit der Hand betrieben
werden. Ich komme darauf zurück; vorher will ich nur
ein Wort über den Hauptſitz der thüringiſchen Strumpf-
wirkerei, über Apolda bemerken.1
Ein einfacher Strumpfwirker, Chriſtian Zimmer-
mann, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts ſeine
Waaren auf dem Rücken nach Leipzig trug, hat die
große dortige Strumpfwirkerinduſtrie, welche die ganze
Gegend beſchäftigt, welche die verſchiedenſten Artikel —
über 4000 Nummern zählen die Waarenlager — nach
[606]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
allen Weltgegenden liefert, veranlaßt und ins Leben
gerufen. Was die Organiſation betrifft, ſo herrſcht faſt
durchaus noch die Hausinduſtrie. Die Wirkermeiſter,
welche bis 1. Januar 1863 eine Handwerkerzunft bil-
deten, haben ihre eigenen Wirkerſtühle in ihren eigenen
Wohnungen, erhalten Muſter und Garne von dem
Fabrikanten zugewogen und fertigen mit ihren Geſellen
und Lehrlingen die beſtellten Waaren für die akkordirten
Preiſe in ihrem Hauſe an, ſo daß dem Fabrikanten
nur die Anfertigung der Muſter und die Arbeit der
Prüfung, Sortirung, Etikettirung und Verpackung der
fertigen Waaren bleibt. Um dem Bedürfniß der Detail-
händler, welche von ihnen die Waaren erhalten, voll-
ſtändig zu genügen, laſſen ſie auch, hauptſächlich aus-
wärts auf Meilen weit bis Halle und Kaſſel ſtricken
und andere Handarbeit von Frauen, von Wittwen und
Waiſen fertigen. Von 941 Wirkermeiſtern im Groß-
herzogthum Weimar kamen 1861 ‒ 534 auf Apolda; ſie
hatten 449 männliche und etwa 400 weibliche Gehülfen;
daneben zählte man 39 Fabrikanten, die innerhalb ihrer
Lokale 73 Buchhalter und Kommis, 77 männliche und 191
weibliche Arbeiter beſchäftigten. Mechaniſche Wirkſtühle
gab es erſt 62; man ging 1861 eben erſt daran, ſie
zum erſtenmal mit Dampf in Bewegung zu ſetzen. Die
Aufnahme von 1864 zeigt im Großherzogthum Weimar
nur 748 ſelbſtändige Strumpfwirkergeſchäfte.1 Die Ab-
nahme von 1861—64 hat dieſelbe Urſache, die ich gleich
bei der ſächſiſchen Induſtrie werde zu beſprechen haben.
[607]Die apoldaer und die ſächſiſche Strumpfwirkerei.
Die ſächſiſche Strumpfwirkerei,2 ſchon aus dem
vorigen Jahrhundert ſtammend, nahm hauptſächlich ſeit
Anfang der zwanziger Jahre ihren großen Aufſchwung.
Damals regten deutſche Importeure aus den Vereinigten
Staaten die Anfertigung von Strümpfen nach engliſchen
Muſtern an; „die Nachahmung führte auf weſentliche
Verbeſſerungen in Façon, Naht, Herſtellung, Bleiche
und Induſtrie; die nun von Spinnmaſchinen gelieferten
Garne ermöglichten auch feinere Qualitäten als bisher,
und ſo bildete ſich ziemlich raſch ein Exportgeſchäft aus,
das zwar auch ſeine Kriſen hatte, aber doch mächtig
zur Ausdehnung des Induſtriezweiges beitrug.“ Bowring
gibt die Zahl der ſächſiſchen Strumpfwebemaſchinen in
beinahe übertrieben ſcheinenden Zahlen ſo an:
Die Zahl der Meiſter gibt er 1831 zu 7165 an,
während eine offizielle Angabe 1836 nur 3315 zählt.
Den Wochenverdienſt von einem Rahmen ſchätzt Bowring
auf 1 Thlr. 4 Gr. „Dieſer Induſtriezweig“ — ſagt
er — „erfordert nur eine kleine Auslage an Kapital
für den Strumpfwirker; ſein hölzerner Rahmen iſt nicht
koſtſpielig, die Ausgabe für den Vorrath an Baum-
wollengarn iſt klein; er kann das Leben des Landmanns
[608]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
mit dem des Handarbeiters vereinigen. Man kann
ſagen, daß die ſächſiſchen Strumpfwirker ſich in einem
Zuſtande fortſchreitend wachſenden Wohlſtandes befinden,
und daß ihre Lage eine Art häuslichen Glückes iſt.
Viele von ihnen ſind unabhängige Arbeiter, kaufen aus
eigener Hand das rohe Material und verkaufen die fer-
tigen Strümpfe an Aufkäufer, welche die Märkte in
Chemnitz und Leipzig verſorgen.“
Daneben zeigten ſich freilich auch ſchon damals die
Mißſtände jeder Hausinduſtrie, die ihre Impulſe nicht
von oben herab, durch Einmiſchung der Regierung oder
durch ſehr intelligente, um die ganze Bildung der Leute
ſich kümmernde Fabrikanten bekömmt. Schon von den
dreißiger Jahren ſagt ein anderer Bericht: „Leider ging
mit dieſem allgemeinen Wohlbefinden der Arbeiter das
Streben [nach] Verbeſſerung nicht Hand in Hand. Je
beſſer der Verdienſt war, deſto nachläſſiger wurde gear-
beitet und man war taub gegen jede Mahnung, auf
tadelloſe Qualität zu halten und neue Erfindungen ein-
zuführen. Alles Neue, Ungewohnte fand bei der Mehr-
zahl der Arbeiter Widerſtand, den nur die Noth beſiegen
konnte.“
Und ſie trat ein; der Abſatz ſtockte gewaltig zu
Anfang der vierziger Jahre mit der allgemeinen Ueber-
produktion an Baumwollwaaren; erſt gegen Ende des
Jahrzehntes wurde es wieder beſſer, man zählte in
Sachſen 1846 ‒ 19611 Handwirkerſtühle, 1849 ‒ 90
Fabrikanten oder Unternehmer, 136 Faktore, 14763
Strumpfwirkermeiſter und 18189 Gehülfen; von einer
Aenderung der Technik, von Maſchinenſtühlen, von einer
[609]Die ſächſiſche Strumpfwirkerei.
Produktion in Fabriken war noch nicht die Rede. Dazu
kam es erſt in den funfziger Jahren; zuerſt wohl, weil
der Abſatz wieder ſtockte und man verſuchen mußte,
billiger zu produziren. Von 1855 an freilich konnte
wieder für den amerikaniſchen Abſatz nicht genug pro-
duzirt werden, die techniſchen Fortſchritte waren nicht
mehr nothwendig, um Arbeit zu erhalten, ſie waren
nur angezeigt, um mehr Waare zu liefern. Im Jahre
1861 werden 21179 Handſtühle, 12854 Strumpf-
wirkermeiſter und 12185 Gehülfen (letztere wohl nicht
mit der Zahl von 1849 vergleichbar, da nach der preuß.
Vorſchrift alle helfenden Perſonen für Spulen, Nähen ꝛc.
wegblieben) gezählt; daneben 151 Fabriken mit 3965
Maſchinen-, 775 Handſtühlen, 893 männlichen und
1208 weiblichen Arbeitern. Neben der ſo lautenden
offiziellen Aufnahme1 hat eine genauere durch Sach-
verſtändige für alle größeren Geſchäfte im Laufe des
Jahres 1862 ſtattgefunden; dieſe ergiebt, daß 124
größere Geſchäfte den Abſatz der Strumpfwirkerwaaren
in Sachſen vermittelten, daß aber auch von dieſen damals
nur 46 geſchloſſene Etabliſſements beſaßen, wovon 8
mit Dampf, 3 mit Waſſer, 1 mit Waſſer und Dampf
betrieben wurden. Man ſchätzte die Geſammtzahl der
Perſonen, welche in Sachſen (1861—62) von der
Strumpfwirkerei lebten, auf 45000, nämlich auf 30000
Männer und 15000 Frauen.
Was die Aenderung der Technik betrifft, die eigent-
lich erſt mit der Abſatzſtockung von 1862 an ſehr
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 39
[610]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
empfindlich wirkſam für die Hausinduſtrie wurde, ſo
will ich darüber nur noch einige Worte bemerken.
Die alten ganz einfachen und billigen Holzſtühle
lieferten nur ein einziges geradliniges Stück, die ſpäter
verbeſſerten mehrere, hauptſächlich 6 und 12 Stücke auf
einmal. Dieſe einfachen Stühle aber machen alle ſog.
geſchnittene Waare, welche zuſammengenäht werden muß.
Die breiten Handſtühle, ſowie die Theilung der Arbeit,
auf einzelnen Stühlen je Beine, Ferſen, Füße für ſich
zu machen, wie das in England länger ſchon üblich iſt,
haben ſich erſt zu Ende der funfziger Jahre verbreitet.
Daneben war aber ein ganz anderer Stuhl, der Kreis-
wirkſtuhl, in den vierziger Jahren erfunden worden.
Der engliſche Rundſtuhl wird in der Regel mit meh-
reren (6—8) Köpfen gebaut, d. h. ſo, daß mehrere
rohrartige Gewebe zugleich gefertigt werden können. Der
gewöhnliche engliſche Rundſtuhl liefert 96000 Maſchen
in der Minute, in der Woche das Maſchenwerk für
1200 Paar Strümpfe; er koſtet pro Kopf 30 bis
50 Thaler. Der franzöſiſche Rundſtuhl iſt etwas anders
gebaut und iſt ziemlich theurer (Preisangaben zwiſchen 150
und 500 Thlr.); er liefert Trikots, Jacken, Unterhoſen.
Eiſerne Handſtühle kommen auch ſchon auf 130 bis
200 Thlr. Auf beſonderen Kettenſtühlen (zu 150 bis
250 Thlr.) werden Handſchuhe, auf den ſog. Ränder-
ſtühlen (zu 50—80 Thlr.) die elaſtiſchen Ränder für
Strümpfe, Aermel und Hoſen, auf den ſtarken Coulir-
ſtühlen beſonders ſtarke Strümpfe und Hoſen gefertigt.
Eine beſondere Art von Nähmaſchinen (à 20 Thlr.)
wird zum Zuſammennähen der einzelnen Stücke gebraucht.
[611]Die techniſchen Fortſchritte in der Strumpfwirkerei.
Endlich exiſtiren jetzt auch breite mechaniſche Stühle,
deren einer etwa 1000 Thaler koſtet. Die anderen
Stühle können alle auch mit der Hand bewegt werden.
Die erſten engliſchen und franzöſiſchen Rundſtühle
wurden in Sachſen 1851 (nach einer anderen Angabe
1852) eingeführt. Die Fortſchritte gingen aber langſam.
Im Jahre 1861 hatten erſt 12 Etabliſſements ſolche
verbeſſerte Stühle durch mechaniſche Kraft betrieben,
34 hatten ſolche, aber von Arbeitern bewegt. Man
zählte damals in ganz Sachſen:
Das größte Etabliſſement hatte allein 1600 eng-
liſche Köpfe und 60 franzöſiſche Rundſtühle. Die
kleinen Strumpfwirker waren faſt alle bei ihren alten
Stühlen geblieben und hatten zu thun, bis 1862 der
Abſatz nach Amerika in’s Stocken kam. Der Lohn
wurde gedrückt; ein gewöhnlicher Strumpfwirker ver-
diente nicht mehr als 25—30 Sgr. in der Woche,
wobei die Hülfe von Frau und Kindern zum Nähen
und Spulen noch eingerechnet werden mußte. Selbſt
auf breiten Stühlen und mit beſſer lohnenden Artikeln
konnte es ein fleißiger Wirker kaum auf 2 Thlr. die
Woche bringen, während beim Eiſenbahnbau 15 Gr.
täglich bezahlt wurden. Die folgende Ueberſicht der
Stühle des Kammerbezirks Chemnitz zeigt die Stockung,
39 *
[612]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
am beſten, daneben gibt ſie die Zahl und die Art der
Stühle, wobei zugleich erſichtlich, daß die Aufnahme
der Handſtühle für ganz Sachſen 1861 unvollſtändig
war. Man zählte im Herbſt 1863 nach der beſonderen
Aufnahme:
Der Chemnitzer Berichterſtatter erklärt die Noth
neben der Abſatzſtockung aus dem geringen Fortſchritt
im Maſchinenweſen, aus dem Zurückbleiben gegenüber
den engliſchen Konkurrenten. Er beklagt vom ſittlichen
Standpunkt aus den Verfall der Hausinduſtrie, aber
[613]Die Kriſis der kleinen Strumpfwirker 1862—65.
er findet in ihr die Haupturſache der Stabilität. „Das
Uebel“ — ſagt er — „liegt in unſerem Syſtem der
Hausinduſtrie, nach welchem faſt jeder Arbeiter ſein
eigener Herr und Beſitzer ſeines Stuhles iſt, mit
welchem er, zähe am Alten hängend, lieber das Ge-
wohnte zu billigerem Lohne macht, als ſich auf neue
Betriebsarten einzurichten. Meiſt fehlen den Leuten
auch die Mittel dazu, denn da ſie keine Amortiſation
und keine Reparaturen rechnen, ſo verarmen ſie ſchließ-
lich und drücken mit ihrem billigen, freilich oft auch
ſehr ſchlechten Fabrikat den Markt, daß es ſchwer iſt,
ſelbſt mit verbeſſerten, aber beſſeren Lohn erheiſchenden
Stühlen im Welthandel dagegen zu konkurriren.“
Hunderte von Strumpfwirkern haben allerdings
damals ihr Geſchäft aufgegeben, haben ihre Stühle
verkauft und ſind zu dem damals flott gehenden Anna-
berger Poſamentiergeſchäft oder zu anderem Beruf, auch
zur reinen Tagelöhnerarbeit übergegangen. Aber als
1865 der Abſatz wieder beſſer wurde, da fanden alle
noch nicht verkauften Stühle wieder Beſchäftigung, der
Lohn ſtieg wieder. Es bildete ſich, woran es vorher
hauptſächlich gefehlt, in Sachſen ſelbſt der Bau von
Rundſtühlen und verbeſſerten eiſernen Stühlen überhaupt
aus. Der Chemnitzer Bericht von 18661 meldet, daß
auch die Hausinduſtrie ſich mehr und mehr in den
Beſitz ſolcher verbeſſerter Arbeitsmittel geſetzt habe.
Die 1863 oft gehörte Prophezeihung, nur das voll-
ſtändige Verlaſſen der Hausinduſtrie könne die ſächſiſche
[614]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Strumpfwirkerei retten, hat ſich erfreulicher Weiſe wenig-
ſtens nicht vollſtändig beſtätigt.
Die Hausinduſtrie iſt hauptſächlich da und dann
nicht haltbar, wo und wenn ihr der geiſtige Impuls,
die Bildung fehlt. Der kaufmänniſche Standpunkt
raiſonnirt gerne auf die Hausinduſtrie, weil ſie an die
Kaufleute und Fabrikanten das Verlangen ſtellt, mit
Mühe und mancherlei Schwierigkeiten für die techniſche
Bildung der Arbeiter zu ſorgen. Die große Fabrik iſt
bequemer; da bezahlt man einen tüchtigen Ingenieur
und einen tüchtigen Zeichner; dann iſt die Bildung des
Reſtes der Arbeiter nicht mehr von ſolcher Bedeutung.
[[615]]
10. Die Schuhmacher, Schneider und verwandten
Gewerbe.
Der Charakter dieſer Gewerbe. Die Nadel-, Kamm-, Knopf-,
Stock- und Schirmfabrikation. Die Gerberei; ihr Aufſchwung
und ihre Organiſation. Statiſtik der Gerberei von 1816
bis 67. Die preußiſchen Schuhmacher 1816—61. Das
Schuhmachergewerbe bis 1846. Die Aenderungen der Organi-
ſation und Technik ſeither. Die Genoſſenſchaften von Schuh-
machern. Die Kürſchner, Rauchwaarenhändler und Mützen-
macher. Die produzirenden und die Handelsgeſchäfte dieſer
Branche; die provinzielle Vertheilung. Die Handſchuh-
macherei; der Uebergang zu großen Geſchäften. Die Kravatten-
macherei. Die Strohhutfabrikation. Die Hutmacherei, ihre
Konzentration in großen Fabriken. Die weibliche Kopfbe-
deckung und die Anfertigung künſtlicher Blumen. Das Putz-
machergeſchäft. Das Schneidergewerbe. Der Inhalt der
Tabellen, die Zunahme des Gewerbes. Die veränderte Or-
ganiſation des Gewerbes. Die glänzenden großen Geſchäfte,
die Noth der kleinen Meiſter. Die Anwendung von Frauen-
arbeit. Die Weißwaarenfabriken. Die Stickerei und Spitzen-
induſtrie. Die Stickmaſchine.
Wollen wir nach den Ausführungen über die wich-
tigſten Arten der Herſtellung von Bekleidungsſtoffen
unſern Blick noch auf die weitere Verarbeitung derſelben,
überhaupt auf die Gewerbe werfen, welche mit der
Vollendung der menſchlichen Bekleidung und Beſchuhung
[616]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
zu thun haben, ſo iſt hier von einer Großinduſtrie, wie
bei der Spinnerei und Weberei nicht die Rede. Aber
ſehr Vieles hat ſich auch hier geändert oder iſt nahe
daran, ſich zu ändern.
Die frühere faſt ausſchließlich lokale Produktion,
ſowie die Herſtellung von Kleidern innerhalb der Familie
hat einen bedeutenden Stoß erhalten; die Fortſchritte
des Verkehrs, die Arbeitstheilung, die Mechanik haben
auch hier eingegriffen. Aber die Aenderungen der Technik
ſind faſt alle ſo, daß die vollſtändige Durchführung der-
ſelben doch nicht zu ganz großen Etabliſſements führt,
daß, wo ſolche exiſtiren, dieſelben doch nur dieſelben
Apparate zehn- und mehrfach neben einanderſtellen, daß
ſie in den perſönlichen Leiſtungen der Arbeiter vielleicht
eine noch etwas weiter gehende Theilung und Speziali-
ſirung eintreten laſſen, aber doch keine ſolche Ueberlegen-
heit über die kleinen Geſchäfte beſitzen, wie z. B. die
großen Baumwollſpinnereien über die kleinen, der mecha-
niſche Webſtuhl über den Handſtuhl. Außerdem aber
wirkt der Konzentration in dieſem Gebiete, der Pro-
duktion für andere Orte, Gegenden und Länder der
Umſtand entgegen, daß der perſönliche Geſchmack ſich
doch nie vollſtändig mit Schablonenarbeit zufrieden gibt,
daß eine große Zahl von Perſonen alle Kleider und
Schuhe, Hüte und Handſchuhe nach beſtimmten Vor-
ſchriften gearbeitet haben will. Das erhält bis auf
einen gewiſſen Grad die lokalen und damit auch kleinere
Geſchäfte neben den großen.
Das moderne Magazin hat ſich gerade der hier in
Betracht kommenden Gewerbe am meiſten bemächtigt.
[617]Der Charakter dieſer Bekleidungsgewerbe.
Das Magazin iſt ein glänzendes Verkaufsgeſchäft, ein
Laden mit großer Auswahl, aber ein ſolcher, der in
der Regel doch auch auf Beſtellung, auf Maß arbeiten
läßt, weil das in dieſen Artikeln vom Publikum ge-
wünſcht wird. Die Produktion des Magazins iſt eine
andere, als die des kleinen Handwerkers, aber in der
Regel doch auch nicht die einer großen Fabrik; das
Magazin bezieht die einzelnen Theile, die halb fertigen
Waaren da und dort her, läßt da und dort arbeiten,
wendet Maſchinen an, wenn es nothwendig iſt, aber
der lokale Abſatz bleibt die Hauptſache. Uebrigens will
ich hier nicht wiederholen, was ich oben von dem Ma-
gazinſyſtem ſagte; es genügt, daran zu erinnern.
Am weiteſten iſt wohl das Fabrikſyſtem vorgedrun-
gen in der Produktion jener kleinen Theile und Hülfs-
mittel menſchlicher Bekleidung, welche am leichteſten
verſendbar, zu Hunderten und Tauſenden nach gleichen
Muſtern angefertigt werden können. Doch iſt auch hier
der Umſchwung noch kein vollſtändiger.
Die Nähnadeln werden jetzt durchaus in Fabriken,
die Stecknadeln, Haarnadeln, Haken, Oeſen auch noch
mannigfach von Handwerkern gemacht. Der alte Horn-
kamm iſt theilweiſe von den Waaren aus vulkaniſirtem
Kautſchuk verdrängt, und dieſe werden von Fabriken
geliefert; aber noch exiſtiren viele Kammmacher, Horn-
dreher, Elfenbeinarbeiter; eine Kammſchneidemaſchine
iſt nicht ganz billig, aber ſie wird auch von Profeſſio-
niſten angeſchafft. Die überſponnenen Knöpfe liefert das
Poſamentiergewerbe, die Knöpfe aus Horn und Holz,
ſowie die Metallknöpfe ſind ſchon mehr auf große Ge-
[618]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſchäfte übergegangen, ähnlich wie die Anfertigung von
Stöcken, Sonnen- und Regenſchirmen, Fächern und
ähnlichen Dingen. Doch iſt in allen dieſen Gewerben
der Großbetrieb nicht abſolut nothwendig. Wir ſehen
neben den Fabriken lokale Geſchäfte, freilich vielfach mit
Läden und Reparaturgeſchäften verbunden, wir ſehen
außerdem, daß dieſe Waaren theilweiſe auch durch die
Hausinduſtrie, alſo durch die Thätigkeit kleiner Meiſter
entſtehen können. Ich erinnere nur an das Tabletterie-
gewerbe in der Umgegend von Paris,1 an die Thatſache,
daß die große Londoner Sonnen- und Regenſchirm-
fabrikation mit ihrem ungeheuren Export durchaus Haus-
induſtrie iſt. „Die Fabrikation der Geſtelle für Regen-
und Sonnenſchirme“ — ſagt Profeſſor Hofmann in
London2 — „wird hauptſächlich von kleinen Meiſtern
betrieben, die gewöhnlich einige Knaben als Gehülfen
beſchäftigen; das Ueberziehen der Schirme hingegen wird
von Frauen und Mädchen beſorgt, die in ihren Woh-
nungen arbeiten. England verdankt den Vorrang in
dieſer Induſtrie nicht ſowohl der Einführung neuer
koſtbarer Maſchinen — denn die Werkzeuge der Sonnen-
und Regenſchirmmacher ſind noch faſt eben ſo einfach,
als ſie es vor 100 Jahren waren — ſondern vielmehr
einer verſtändigen Anwendung des Prinzips der Arbeits-
theilung.“
Gehen wir aber nun zu den eigentlichen Hand-
werken, welche hierher gehören, über. Ich beginne als
[619]Die Gerberei.
Einleitung für die Betrachtung der Schuhmacherei mit
der Lederbereitung, mit der Gerberei.
Der Bedarf an Leder iſt außerordentlich geſtiegen;
der Gebrauch lederner Fußbekleidung iſt ſehr viel all-
gemeiner geworden als früher; auch für andere Zwecke,
für Fuhrwerke, Pferdegeſchirr, Maſchinenriemen wird
heute ſehr viel mehr Leder erfordert. Die eigene Pro-
duktion von Häuten im Zollverein iſt mit der Viehzahl
geſtiegen; 1816 zählte man in Preußen 4,0 Mill. Stück
Rindvieh, 1864 - 5,8 Mill. Die Mehreinfuhr von
rohen Häuten zur Lederbereitung in Preußen betrug
1822 - 45334 Ztnr., die Mehreinfuhr in den Zoll-
verein 1842 - 183980 Ztnr., 1861—64 - 470000
bis 500000 Ztnr. Fertiges Leder wird wenig eingeführt;
die Verarbeitung dieſer eingeführten wie der im Zoll-
verein produzirten Häute erfolgt im Lande ſelbſt; ebenſo
aber auch der Verbrauch des fertigen Leders; die Mehr-
ausfuhr von fertigem Leder (hauptſächlich nach Oeſtreich
und der Schweiz) iſt nicht bedeutend.1 Die Lederpro-
duktion des Zollvereins wurde ſchon 1844 zu 1 Mill.
Zentner im Werthe von 47 Mill. Thalern geſchätzt; ſie
ſoll ſich von 1850—62 etwa verdoppelt haben. Die
deutſche Lederinduſtrie ſteht mit an erſter Stelle.2
Schon früher war das Gewerbe neben einzelnen
lokalen Geſchäften mehr in denjenigen Gegenden und
Orten zu Hauſe, welche ihm die günſtigſten Vorbedingun-
gen, hauptſächlich gute Eichenrinde zur Lohe boten. Es
[620]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
erfordert von jeher ein gewiſſes Kapital zum Einkaufe
der Häute und der Hülfsſtoffe, dann umfaſſende Gebäude,
Gruben, Vorrathshäuſer. Die Einrichtungen ſind meiſt
ſo, daß, wenn nur das größere Kapital zum Einkauf
der Häute da iſt, die Ausdehnung des Geſchäfts keine
Schwierigkeiten hat, und dieſes nicht entſprechend mehr
Arbeit erfordert. Große Aenderungen in der Technik
ſind kaum zu konſtatiren, abgeſehen von den Methoden,
welche die Abkürzung der Zeit, die ſogenannten Schnell-
gerberei anſtreben, und den Manipulationen, welche
die mehr mechaniſche Zurichtung des Leders nach dem
eigentlichen Gerbeprozeſſe bezwecken.1 Eine vollendete
Produktion freilich ſetzt einen ziemlichen Grad chemiſcher
Kenntniſſe, eine geſchickte Leitung und eine ſehr exakte
Arbeit voraus. Noch mehr iſt das der Fall bei der
Bereitung der lackirten und gefärbten Leder, welche
daher auch am früheſten auf eigentliche Fabriken über-
gegangen iſt.
Die Zahl der Geſchäfte hat in Preußen ſeit neuerer
Zeit nicht zu- ſondern ſogar etwas abgenommen; man
zählte:
[621]Die Gerberei.
Im Jahre 1849 hatte man die großen fabrik-
mäßigen Gerbereien mit den Fabriken, in welchen lackir-
tes und gefärbtes Leder bereitet wird, zuſammen gezählt;
es ergaben ſich ſolche Lederfabriken 505 mit 3361 Ar-
beitern,1 von welchen etwa die Hälfte auf Weſtfalen
und die Rheinprovinz kamen. In Malmedy, einem
der Hauptorte der Gerberei, zählte man ſchon 1849
6 Meiſter mit 9 Gehülfen, 39 Fabrikherrn mit 208 Ar-
beitern, in Berlin 30 große Gerbereien mit 303 Arbei-
tern neben 74 Meiſtern mit 252 Gehülfen. Im Jahre
1861 ſind wieder die großen Gerbereien in der Hand-
werkertabelle mit gezählt; daher das Reſultat: 4907
Meiſter mit 6292 Gehülfen. Manche Fabriken ſind
darunter, die große Steigerung der Produktion kommt
hauptſächlich auf ihre Rechnung. Aber auch die großen
Geſchäfte ſind gegenüber anderen Großinduſtrien noch
mäßigen Umfangs und daneben hat ſich eine große
Zahl kleiner Geſchäfte erhalten. Die außerpreußiſchen
Hauptſitze der Gerberei des Zollvereins ſind Bayern,
Württemberg, Sachſen und Thüringen, in welchen
die Gehülfenzahl die Meiſter entweder nicht ganz
erreicht oder doch kaum überſteigt. Im ganzen Zoll-
verein zählte man 1861 - 11992 Meiſter mit 14309
Gehülfen.
[622]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Von 1861 bis zur Gegenwart ſehen wir ähnliche
Reſultate; die 1353 Geſchäfte, welche 1861 in der
Rheinprovinz waren, ſind bis 1867 auf 1155 geſunken,1
während die Produktion noch zunahm; aber auch 1867
iſt die durchſchnittliche Quantität verarbeiteter Häute,
welche dort auf eine Gerberei kommt, nicht über
656 Ztnr. mit einem Durchſchnittswerth des fertigen
Produktes von 5939 Thlr. für je eine Gerberei. Das
deutet immer noch auf Geſchäfte hin, welche im Durch-
ſchnitt zwiſchen großem und kleinem Betrieb in der
Mitte ſtehen.
Das wichtigſte Gewerbe in der Verarbeitung des
Leders ſind die Schuhmacher; ſie ſind überhaupt faſt
überall das zahlreichſte Gewerbe;2 ſelbſt Preußen, Poſen,
Pommern haben im Verhältniß zur Bevölkerung nicht
ſehr viel weniger Schuhmacher als Weſtfalen und die
Rheinprovinz; die größte Zahl Schuhmachermeiſter hat
Württemberg (73 auf 10000 Einw., 52 in Altpreußen),
während nach Viebahn in Frankreich 52, in Oeſtreich
20 Meiſter auf dieſelbe Einwohnerzahl kommen. Was
die hiſtoriſche Entwicklung betrifft, ſo wirken man-
cherlei Urſachen neben und gegen einander. Ich theile
zunächſt das Reſultat der preußiſchen Aufnahmen mit,
um daran die weiteren Bemerkungen zu knüpfen.
Man zählte:
[623]Die Schuhmacher.
Im ganzen Zollvereine zählte man 1861 - 189006
Meiſter mit 127875 Gehülfen; auf 100 Meiſter kom-
men 60 Gehülfen.
Die Zunahme des Gewerbes von 1816—46 (um
10 % ſtärker als die Bevölkerung) darf theilweiſe
wenigſtens als Folge des ſteigenden Wohlſtandes
betrachtet werden. Es hatte ſich bis dahin in der
Technik und in der Organiſation des Gewerbes nichts
geändert. Freilich wäre eine Zunahme des Schuhver-
brauchs auch denkbar ohne Zunahme der Gewerbe-
treibenden, da die Schuhmacher von jeher zugleich
eins der Gewerbe waren, welches am meiſten über
eine zu große Zahl von Meiſtern klagte. Beſonders
[624]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſo lange faſt nur auf Beſtellung, faſt gar nicht auf
Lager gearbeitet wurde, war es eines der am leich-
teſten und mit den wenigſten Mitteln zu ergreifenden
Gewerbe. Das Bedürfniß an Schuhmachern war von
jeher groß, es ſtieg mit jeder allgemeinen Beſſerung
der wirthſchaftlichen Verhältniſſe; der Zudrang war
daher immer groß; die halbbeſchäftigten Exiſtenzen waren
immer zahlreich, der Jahrmarkts- und Wochenmarkts-
beſuch war die Folge davon. Dieſe Lage der überwie-
genden Zahl der Meiſter erklärt zugleich den koloſſal
ſteigenden Lederverbrauch neben der mäßigen Zunahme
der Schuhmacher. Bis 1849 (vorübergehend ſogar noch
einmal 1855) bleibt auch die Zahl der Gehülfen ſo
niedrig als ſie 1816 war: auf 100 Meiſter nur 56 Ge-
hülfen; d. h. jeder Geſelle, der in ein gewiſſes Alter
kommt, und dann nicht zu einer andern Beſchäftigung
übergeht oder auswandert, verſucht als Meiſter ſein Glück.
Von da bis 1861, noch mehr von 1861 bis zur
Gegenwart ändern ſich die Dinge; und es zeigt ſich das
auch in den Zahlen. Die Geſammtzahl der Schuh-
macher bleibt 1846 — 61 gegenüber der Bevölkerung ſo
ziemlich ſtabil, während der Lederkonſum noch viel ſtärker
wächſt; die Gehülfenzahl ſteigt wenigſtens etwas und
deutet darauf hin, daß neben den zahlreichen kleinen
Meiſtern, deren Klagen in dieſer Zeit lauter als je
ertönen, einzelne größere Geſchäfte ſich bilden. Es
beginnt der Umſchwung in der Technik, wie in der
Geſchäftsorganiſation.
In den Städten bilden ſich die Magazine; die
verarmten Meiſter, welche die Mittel Leder zu kaufen,
[625]Die Schuhmacherei im Großen.
nicht mehr beſitzen, müſſen für ſie arbeiten. Es beginnt
mehr und allgemeiner das Arbeiten auf Lager; die kauf-
männiſche Spekulation bemächtigte ſich der Sache. Der
Zollverein, der 1842 — 46 erſt eine Mehrausfuhr
von jährlich 1559 Ztnr. groben und 1068 Ztnr. feinen
Lederwaaren hatte, bringt es 1860 — 61 auf eine Mehr-
ausfuhr von 16781 Ztnr. groben und 10532 Ztnr.
feinen Lederwaaren. Damit bekamen die Schuſter als
Hausinduſtrie eine andere Stellung. Innerhalb des
Zollvereins freilich hatten längſt einzelne Orte Schuhe,
Stiefeln und Pantoffeln auch für weiteren Abſatz ange-
fertigt. Schon 1822 iſt der 10 te Kahlauer ein Schuh-
macher, ebenſo der 34 ſte Erfurter; 1846 der 8 te Kahlauer
und der 30 ſte Erfurter. Aber eine ſolche Produktion war
doch mehr vereinzelt. Mit dem heutigen Verkehr konnte
dieſe Art des Betriebes einen neuen Aufſchwung nehmen,
um ſo mehr als an ſolchen Orten größere Geſchäfte
entſtanden und alle Fortſchritte der Technik ſchnell ein-
geführt wurden. In Erfurt waren ſchon 1849 neben
410 Meiſtern mit 411 Gehülfen 5 Schuhfabriken mit
148 Arbeitern. In Mainz hat jetzt ein Geſchäft
allein 160 männliche und weibliche Arbeiter. In
Württemberg geht der Schuhexport von Tuttlingen und
Balingen aus. In Thüringen kommen beſonders noch
Gotha, in der Provinz Sachſen Naumburg und Mühl-
hauſen in Betracht. Im Königreich Sachſen liefern die
Groitz’ſchen Schuhmacher mit 339 Geſellen und Lehr-
lingen, 1200 anderen Perſonen und 44 Steppmaſchinen
jährlich 72000 Dutzend Paar Schuhe. In der Rhein-
pfalz iſt neben Worms vor Allem das kleine Städtchen
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 40
[626]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Pirmaſenz als Schuhmacherort bekannt. Die Entſtehung
des Gewerbes an dieſem Ort iſt komiſch genug. Land-
graf Ludwig IX von Heſſen hatte ſeine Reſidenz dahin
verlegt und wollte daſelbſt möglichſt viel Soldaten,
zugleich aber eine zunehmende Bevölkerung haben; er
machte ſeinen Soldaten das Heirathen zur Pflicht,
erlaubte ihnen aber nebenher ein Gewerbe zu treiben;
ſie warfen ſich hauptſächlich auf die Schuhmacherei, die
Pirmaſenzer Schuhmädchen gingen damit hauſiren; jetzt
zählt der Ort von 8000 Einwohnern 13 größere und
63 kleinere Geſchäfte mit 17 Buchhaltern, 54 Zuſchnei-
dern, 1154 Arbeitern und 466 Arbeiterinnen mit 60
bis 90 Näh-, Sohlſchneide- und andern Maſchinen. 1
Sie liefern jährlich 130000 Dutzend Paar Stiefeln
oder Schuhe im Werthe von etwa 2 Mill. fl.; der
Export geht nach Oſt- und Weſtindien, Auſtralien und
Südamerika.
Die erſte wichtigere Aenderung der Technik, war
die in den vierziger Jahren aus Amerika importirte
Methode, die Sohlen mit Holzſtiften aufzunageln ſtatt
zu nähen; die Arbeit geht raſcher und iſt beſſer; auch
iſt die Arbeitsart freier, der Konſtitution des Körpers
angemeſſener. Später kam die Nähmaſchine, welche
beſonders mit der zunehmenden Verwendung von Ge-
weben für das Schuhwerk von Damen die Anfertigung
der oberen Theile der Schuhe ſehr erleichterte. Be-
[627]Die techniſchen Fortſchritte in der Schuhmacherei.
ſondere größere Geſchäfte bildeten ſich, welche einzelne
Theile en gros produziren und liefern — wie Abſätze,
Schuhverzierungen, Gummizüge u. ſ. w. Eine Maſchine
zum Anſchrauben der Sohlen befand ſich ſchon 1851
auf der Londoner Ausſtellung; in neuerer Zeit kom-
men ſolche Maſchinen in den preußiſchen Militärſchuh-
machereien zur Anwendung; eine Berliner Fabrik liefert
ſie das Stück zu 200 Thlr. Der vollſtändige Ueber-
gang zur Maſchinenanwendung aber datirt erſt aus neueſter
Zeit. Er hat ſich — ſagt der Ausſtellungsbericht von
1867 — ſeit kaum zwei Jahren und ſo zu ſagen plötz-
lich vollzogen. Den Anſtoß gab das induſtrielle Amerika.
Mehr als drei Jahrtauſende, ſeit der Zeit der Pharao-
nen, hat man die Schuhe in gleicher Weiſe einfach mit
der Hand gearbeitet, jetzt iſt die rein mechaniſche An-
fertigung gelungen. Man konnte den Beweis hierfür
auf der Ausſtellung ſelbſt ſehen. In einer der aus-
geſtellten Werkſtätten konnte man ſich ein Paar Leder-
gamaſchenſchuhe nach Maaß unter ſeinen Augen binnen
45 Minuten anfertigen laſſen. Die Maſchinen von
Silvan Depuis et Comp. waren darauf eingerichtet nur
durch Frauenhände bedient zu werden; eine Maſchine
lieferte mit einem Arbeiter täglich 23 — 27 Paar Schuhe,
eine andere die doppelte Zahl, während jetzt ein Geſelle
allein 4 Stunden zum Annageln eines Paares mit Holz-
ſtiften braucht. Die Maſchinen, um welche es ſich
handelt, ſind abgeſehen von der Schraubenmaſchine, die
Leiſtenſchneidemaſchine, die Stanzmaſchine, welche die
Sohlen nach beſtimmten Nummern herausſticht, die
Walzmaſchine, die Sohlenpreſſe, die Abſatzpreſſe und
40 *
[628]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
die Hobel- und Glättmaſchine, beide letztere zur Her-
ſtellung der Abſätze. 1
Die meiſten dieſer Maſchinen ſind in Deutſchland
noch kaum bekannt. Mit ihrer Verbreitung werden ſie
noch mehr das Uebergewicht der großen Geſchäfte ver-
ſtärken und dem kleinen Meiſter die Konkurrenz erſchwe-
ren; deſto mehr kann aber auch eine ſteigende Pro-
duktion mit abnehmender Perſonenzahl ſtattfinden. Den
kleinen Meiſtern bleibt auch dem gegenüber nur der
Weg der Genoſſenſchaft übrig, den ſie gerade in der
Schuhmacherei auch ſchon mit einigem Erfolg betreten
haben; zunächſt allerdings nur, um ſich die Rohſtoffe
beſſer und billiger zu beſchaffen. 2
Schulze erzählte ſelbſt auf dem volkswirthſchaftlichen
Kongreß zu Gotha 1858 darüber Folgendes: „Man
macht ſich kaum Vorſtellungen davon, wie ſehr die
ärmeren Handwerker von den Zwiſchenhändlern in den
Preiſen heraufgeſetzt werden. Ein einziges Paar Stiefel-
ſohlen kam in der Aſſoziation 25 % billiger und dazu
war das Material beſſer. Als nun gar in den letzten
Jahren die hohen Lederpreiſe, welche im Jahre 1857
bis auf 100 % gegen früher geſtiegen waren, eintraten,
war für viele Mitglieder jene die einzige Rettung. Der
Aufſchwung des Schuhmachergewerkes in Delitzſch, wel-
ches ſich zuerſt aſſoziirte, war bald ſo bedeutend, daß
[629]Die Schuhmachergenoſſenſchaften.
die Schuhmacher aus den Nachbarſtädten, welche mit
den Delitzſch’en die Märkte bezogen, zu mir kamen und
ſagten: wir können mit den Schuhmachern in Delitzſch
nicht mehr konkurriren, ſie haben ihren Markt nach
Magdeburg hin ausgedehnt, wir wünſchen uns auch zu
aſſoziiren.“ Die Bewegung kam in Gang; im Jahre
1863 zählte Schulze bereits 33 preußiſche, 18 ſächſiſche
und 30 andere deutſche Schuhmacherrohſtoffgenoſſen-
ſchaften; 1866 ſind es 22 preußiſche, 15 ſächſiſche und
25 andere deutſche Rohſtoffvereine, neben einigen Ma-
gazin- und Produktivgenoſſenſchaften; die Zahl hat alſo
ſeither nicht zugenommen, wohl aber haben einzelne 40,
60 ja bis 140 Mitglieder; der Berliner Verein hat
1868 für 39016 Thaler, der Wolfenbütteler für
31104 Thlr. Leder an die Mitglieder verkauft.
Gegenüber der Geſammtzahl der 189006 zoll-
vereinsländiſchen Meiſter iſt es allerdings immer noch
unbedeutend, wenn einige Hundert durch die Rohſtoff-
vereine in beſſerer Lage ſind. Und dann reichen die
Rohſtoffvereine nicht aus, die Lage der Betreffenden
von Grund aus zu beſſern; die Produktion bleibt unvoll-
kommen, der Abſatz prekär. Die Geſchäftsführung ver-
leitet leicht die Vorſtände, den Verein für ſich auszunutzen.
Viele dieſer Genoſſenſchaften ſind dadurch wieder zu
Grunde gegangen, daß die an der Spitze ſtehenden
Meiſter immer das beſte Leder für ſich ausſchnitten.
Das was nun für die kleineren und ärmeren Mitglieder
übrig blieb, war nicht beſſer, als ſie es ſonſt erhalten
konnten. Und ſo löſten ſich die Vereine wieder auf.
Es fehlt hier, wie in andern Gewerben, an den Leuten,
[630]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
welche die Genoſſenſchaft richtig leiten und zuſammen-
halten können. Die Maſſe der Meiſter iſt in ſchlechter,
elender Lage. Jedem, der praktiſch in unſern großen
Städten ſich um das Armenweſen bekümmert hat, dem
iſt der hungernde verarmte Schuhmacher mit zahlreicher
Kinderſchaar als typiſche Erſcheinung bekannt. Und ein
neuer Stoß bereitet ſich vor, wenn die Maſchinen ſieg-
reich weiter vordringen und doch zunächſt nur Einzelne,
ſeien es einzelne Meiſter oder einzelne Genoſſenſchaften,
ſie einführen.
Während wir bei den Schuhmachern mit einem
einfachen Gewerbe zu thun hatten, kommen wir bei den
Kürſchnern zu einem Handwerke, das in der Regel mit
einem Handelsbetriebe werthvoller Waaren, mit dem
Pelzhandel, verbunden iſt. Die Anfertigung von Mützen
iſt ein einfaches Gewerbe, der Pelzhandel dagegen ſetzt
ein bedeutenderes Kapital voraus. Die Inhaber größerer
Pelzwaarenmagazine in den Städten gehören in der
Regel zu den wohlhabendſten Mitgliedern des Bürger-
ſtandes. Es handelt ſich eigentlich um zwei zwar
häufig verbundene, aber doch ſehr verſchiedene Gewerbe;
in beiden iſt die lokale Produktion zurückgetreten gegen-
über der Maſſenanfertigung; aber das eine kann als
Handelsgewerbe noch gut exiſtiren, während das andere
hierfür zn ärmlich iſt. Danach iſt die folgende Tabelle
zu beurtheilen, welche die preußiſchen Kürſchner, Rauch-
waarenhändler und Mützenmacher umfaßt. Im ganzen
Zollverein zählte man 1861 - 8045 Kürſchner mit
15992 Gehülfen.
[631]Die Kürſchner und Mützenmacher.
Der Verbrauch an Pelzwaaren iſt in kälteren Ge-
genden nicht bloß ein Luxusbedürfniß, ſondern eine Noth-
wendigkeit; mit ſteigendem Wohlſtand wird er in
den höhern Klaſſen bedeutend zunehmen, wie auch die
Mehreinfuhr von Fellen zur Pelzbereitung im Zollverein
beweiſt; ſie betrug jährlich 1842 — 46 ‒ 8064 Ztnr.,
1860 — 64 - 11564 Ztnr.; 1 die Einfuhr hat ſich faſt
auf das Doppelte in dieſer Zeit gehoben, aber auch die
Ausfuhr ſtieg. Leipzig mit ſeiner Meſſe iſt ja überhaupt
der größte Markt für Pelzwaaren; die jährlich dahin
gebrachten Pelze werden auf über 6 Millionen Thaler
[632]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
geſchätzt: etwa der dritte Theil der Geſammtproduktion
der Erde.
An dieſes große Geſchäft haben ſich beſonders in
Leipzig und Berlin größere Kürſchneretabliſſements an-
geſchloſſen, welche das Reinigen und Gerben der Felle,
das Umarbeiten derſelben zu Röcken, Mänteln, Kragen,
Mützen, Handſchuhen, Müffen und Halswärmern im
Großen betreiben und ihre Produkte ins Ausland wie
an die inländiſchen Lokalgeſchäfte abſetzen. Die größere
Leiſtungsfähigkeit ſolcher Geſchäfte erlaubt eine Aus-
dehnung der Geſchäfte ohne ſtark wachſende Perſonen-
zahl. Dagegen wachſen neben ihnen auch die lokalen
Geſchäfte, mehr als Magazine, vom Handel und Re-
paraturen lebend, als ſelbſt das Kürſchnergeſchäft noch
ausübend. Je mehr dieſe Lokalgeſchäfte aber bloße
Handelsgeſchäfte ſind, deſto weniger werden ſie eine
ſteigende Gehülfenzahl beſchäftigen.
Aus ähnlichem Grunde hat die Zahl der aus-
ſchließlich Mützen verfertigenden Meiſter wahrſcheinlich
nur bis in die vierziger Jahre zugenommen. Wenn
ſich auch die Technik der Mützenanfertigung ſeither kaum
ſehr geändert hat, ſo hat ſich doch die Produktion unter
Zuhülfenahme von Nähmaſchinen und Arbeitstheilung
konzentrirt, der Geſchmack ſpielt eine größere Rolle als
früher. Eine Reihe von Magazinen verkaufen nebenbei
Mützen, welche ſie in größeren Quantitäten aus den
Hauptſitzen der tonangebenden Mode beziehen. Der
kleine bloße Mützenmacher oder Mützenhändler iſt jetzt
einer der ärmlichſten Handwerker. Ich glaube, daß
dieſe Art von kleinen Geſchäften ſogar eher abgenommen
[633]Der Pelz- und Mützenhandel.
hat; die obigen Geſammtzahlen der hierher gehörenden
Gewerbetreibenden zeigen auch gegenüber der Bevölkerung
von 1852 an eine Abnahme, was ich auf die abneh-
menden Mützenmacher zurückführen möchte, neben welchen
der Pelzhandel wahrſcheinlich noch zugenommen hat.
Daß der Pelzhandel den Schwerpunkt der Geſchäfte
dieſer Rubrik bildet, ſieht man auch klar aus der pro-
vinziellen Vertheilung; man zählte:
In den öſtlichen kälteren Provinzen iſt die Mehr-
zahl der Geſchäfte; am Rhein und in Weſtfalen fehlten
ſie früher faſt ganz, daher hier 1837 — 61 eine beträcht-
liche Zunahme.
Gehen wir von der Mützenmacherei zu der Hand-
ſchuhmacherei über, ſo ſind die gewebten Handſchuhe zu
unterſcheiden von den zugeſchnittenen und genähten.
Jene werden von den Strumpfwirkern geliefert, dieſe
von den Handſchuhmachern. Die frühere deutſche
Handſchuhmacherei lieferte hauptſächlich ſchwere lederne,
leinene und wollene Handſchuhe. Die moderne Glaçé-
handſchuhfabrikation kam durch vertriebene Hugenotten
im 17. Jahrhundert nach einigen großen Städten, nach
[634]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Erlangen, Dresden, Prag und Berlin; die deutſche
Gerberei hatte früher das Leder nicht ſo weich, zart
und elaſtiſch herzuſtellen vermocht. Später entwickelte
ſich dieſe Glacéhandſchuhmacherei in allen halbwegs
bedeutenden Städten, daneben wurden aber noch ziemlich
viel franzöſiſche Waaren eingeführt. Bis Mitte der
funfziger Jahre hatte der Zollverein eine Mehreinfuhr
von ledernen Handſchuhen, erſt von da hat ſich die
Fabrikation ſo gehoben, daß ſich eine Mehrausfuhr heraus-
ſtellte. Zollvereinsländiſche Handſchuhe konkurriren jetzt
mit engliſcheu, franzöſiſchen, öſterreichiſchen im Auslande.
Die Zunahme der Produktion hat aber wieder
zwei verſchiedene Epochen, wie die folgende Tabelle der
preußiſchen Handſchuhmacher zeigt:
Die Zahl der Meiſter, d. h. der kleinen mehr
lokalen Geſchäfte, nimmt zu bis 1843; von da geht
ſie zurück, während nun von 1840 — 61 die Gehülfen-
zahl ſich verdoppelt und die Geſammtzahl der Gewerbe-
treibenden gegenüber der Bevölkerung ſo ziemlich ſtabil
bleibt. Letzteres wäre ohne Zweifel nicht der Fall,
wenn die ſämmtlichen Frauen und Mädchen, welche für
größere Geſchäfte zu Hauſe Handſchuhe nähen, mit ver-
zeichnet wären.
In dieſer Weiſe hat ſich nämlich die große Induſtrie
geſtaltet, daß der Fabrikant nur das Leder einkauft, die
Handſchuhe — theilweiſe mit der von Jouvin erfundenen
Maſchine — zuſchneidet, das Nähen aber als Haus-
induſtrie und meiſt noch mit der Hand beſorgen läßt.
Die Berliner Geſchäfte haben ſich vielfach — der
Theurung in Berlin wegen — nach Potsdam gezogen
und laſſen dort in der Umgegend auf dem Lande nähen.
Außerdem ſind die größten Handſchuhfabriken des Zoll-
vereins in Luxemburg, wo jährlich etwa eine Million
Zickel- und Lammfelle von 5 Fabriken mit 1576 Arbei-
tern verarbeitet werden, in den Städten Aachen, Kaſſel,
Magdeburg, Halberſtadt, Erlangen, im Königreich
Sachſen und in Schleſien. 1 Auch in Oeſtreich blüht
die Handſchuhmacherei und hat ſich dort faſt noch mehr
als im Zollverein konzentrirt. „In Wien allein“
berichtet Rehlen 2 „ſind mehr als 250 Geſchäfte etablirt,
[636]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
welche einſchließlich der Nätherinnen über 4000 Arbeiter
beſchäftigen und an 18000 Dutzend Glaçéhandſchuhe
verfertigen, im Werth von mehr als einer Million
Gulden. Prag beſitzt etwa 50 Etabliſſements, welche
über 25000 Dutzend im Werthe von 200000 Gulden
produziren.“ Der ganze Zollverein zählte 1861 - 1854
Meiſter mit 6520 Gehülfen, an welcher Zahl ſich
deutlich erkennen läßt, daß der Uebergang zu größern
Geſchäften meiſt ſich vollzogen hat. In Sachſen kommen
auf 85 Meiſter 792 Gehülfen, in Thüringen auf 33
Meiſter 815 Gehülfen.
Der lokale Vertrieb iſt zu einem großen Theile
auf Modewaarenhandlungen und Magazine verſchiedener
Art übergegangen. Doch proſperiren auch immer noch
lokale Geſchafte in allen größern Städten. Manche
Leute wünſchen doch Handſchuhe nach Maß und die
Produktion iſt techniſch immer noch einfach; ſelbſt die
Zuſchneidemaſchine iſt nicht allzutheuer und ihre Vor-
theile ſind mäßig. Ich kenne Geſchäfte, wo ſie vor-
handen iſt, aber nicht regelmäßig benutzt wird.
Die Anfertigung von Halsbinden, Halstüchern,
Kravatten, Schlipſen und ähnlichen Artikeln, welche
früher dem lokalen Handſchuh- oder Mützenmacher zu-
fiel, iſt in neuerer Zeit auch auf wenige große Geſchäfte
übergegangen, welche durch Direktricen die einzelnen
Beſtandtheile zuſchneiden und ſie von Arbeiterinnen in
ihren Wohnungen nähen laſſen.1
[637]Die Kravattenmacherei und die Strohhutmanufaktur.
Unter den Gewerben, welche ſich mit der Bedeckung
des Kopfes beſchäftigen, war die Strohhutmanufaktur
niemals eigentlich ein lokales Gewerbe; urſprünglich in
Toskana zu Hauſe, kam ſie als Hausinduſtrie nach der
Schweiz, nach dem Schwarzwalde, dann auch nach Sachſen,
Schleſien, in’s Eichsfeld und ſo iſt die Strohhutfabri-
kation und Strohflechterei heute noch mehr eine Neben-
beſchäftigung in ländlichen Kreiſen, hat durch beſondere
Schulen eingeführt theilweiſe das Spinnen und Weben
erſetzt. Die aufgenommenen Zahlen von Arbeitern ſind
daher auch wenig zuverläſſig; man zählte in Preußen
1861 auf 99 Fabriken 964 männliche und 1245 weib-
liche Arbeiter, im Zollverein auf 496 Fabriken (Baden
allein 239, wobei wohl die Faktore mitgerechnet
ſind) mit 2068 männlichen und 3850 weiblichen
Arbeitern.
Dagegen war die Anfertigung von Filzhüten, ſowie
von Seidenhüten, früher Sache lokaler Handwerker;
hierin iſt ein großer Umſchwung eingetreten; der leichte
Verkehr und die Herrſchaft der Mode nicht bloß, ſon-
dern auch eine ganz veränderte Technik begünſtigte den
Uebergang zu einigen wenigen großen Fabriken. Die
Enthaarung der Felle und Zurichtung der Haare für
die Hutmacherei iſt anderwärts ſchon ein eigenes Gewerbe
geworden; ſie iſt in Deutſchland meiſt noch mit der Hut-
macherei verbunden, doch exiſtiren auch ſchon einige größere
Etabliſſements in Hanau, Darmſtadt, Offenbach und
Berlin. Auch die früher mit der Hutmacherei ver-
bundene Anfertigung von Filzſchuhen und anderen Filz-
waaren hat ſich zu beſondern größern Geſchäften abge-
[638]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ſchieden. 1 Einzelne der großen Hutfabriken haben jetzt
mehrere hundert Arbeiter. Auf der Pariſer Ausſtellung
von 1867 befand ſich eine vollſtändige Dampfhutfabrik, 2
in welcher ſo ziemlich alle Stadien der Fabrikation, vom
Abwiegen der zu einem Hut erforderlichen Quantität
Kaninchenhaare bis zur letzten Garnirung, dem mecha-
niſchen Betriebe anheimgegeben waren. Darnach kann
die folgende Tabelle der preußiſchen Hutmacher uns nicht
in Erſtaunen ſetzen; man zählte:
Noch nicht ganz die halbe Zahl der 1816 beſchäf-
tigten Perſonen reicht 1861 aus, einem gewiß größern
[639]Die Hutmacherei und die Blumenfabriken.
Bedürfniß zu genügen. Im Zollverein kommen 1861
auf 3117 Meiſter 5362 Gehülfen oder Arbeiter. An
kleinen Orten halten ſich wohl noch die kleinen Meiſter,
aber mehr als Händler; in den großen Städten eröffnen
die Fabriken ſelbſt große Magazine und verkaufen da-
neben an die Handlungen, welche die ſämmtlichen
Herrengarderobeartikel führen.
Während die männliche Kopfbedeckung im Laufe
der Zeit immer einfacher, ſtereotyper wird, läßt ſich
das von der weiblichen nicht ſagen. Phantaſie und
Mode ſind beſtrebt, in mannigfaltigſter, immer wechſeln-
der Weiſe den weiblichen Kopf mit allen möglichen Arten
von Kopfbedeckungen zu zieren, dabei in der raffinirteſten
Weiſe den Stroh- oder Filzhut, die Spitzen- oder Tüll-
haube mit Bändern, Schleifen, Blumen und Federn zu
dekoriren. Die Band- und Poſamentiergewerbe liefern,
abgeſehen von den Hüten und breiten Geweben, dazu
die Rohſtoffe; auch hierfür ſind beſondere große Geſchäfte
in Berlin, Leipzig und Frankfurt thätig, ſoweit dieſe
Waaren nicht vom Ausland bezogen werden. Daneben
kommen die Gewerbe der Buntſticker, Blumen-, Feder-
und Federbuſchmacher und Strohhutnäher in Betracht,
welche in den Tabellen als eigene Kategorie zuſammen-
gefaßt, in Preußen 1861 - 437 Meiſter mit 1148 Ge-
hülfen, im Zollverein 1936 Meiſter mit 7811 Gehülfen
zählen. Schon die Zahlen zeigen, daß es vielfach
größere Geſchäfte ſind. Die wichtigſte Abtheilung iſt
die künſtliche Blumenfabrikation, die auch im Zollverein
raſche Fortſchritte macht, ihr Vorbild aber immer noch
in Frankreich und ſpeziell in Paris hat, woher noch
[640]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
ein großer Theil der im Zollverein verbrauchten Blumen
bezogen wird. Die dortige Induſtrie hat eine ſeltene
Vollendung und einen ſeltenen Umfang erreicht; der
Werth der produzirten Waaren war 1847 - 11, 1858
16, 1867 - 25 Mill. Frcs., wovon etwa die Hälfte
der Handarbeit, zu dem größten Theil Frauen und
Mädchen, welche zu Hauſe arbeiten, zu Gute kommt.
Beſondere Graveure und Werkzeugfabrikanten liefern die
Matrizen, Preſſen und Modelle für die künſtlichen
Blumen; darunter ſind wirkliche Künſtler; je treuer und
ſchöner ſie die Natur nachzuahmen verſtehen, deſto voll-
endeter ſind die Produkte. Dann kommen die Fabri-
kanten, welche mit ſtrenger Sonderung der einzelnen
Beſtandtheile, Kelche, Samenkapſeln, Knoſpen, Gräſer,
Körner liefern. Eine dritte Gruppe färbt und preßt die
Stoffe und ſtellt Zweige her. Dann erſt kommen die
eigentlichen Blumenmacher, welche die meiſten Frauen
beſchäftigen, wobei auch wieder ſtrenge Arbeitstheilung
zwiſchen Trauerblumen, Roſenfabrikanten ꝛc. ſtatt-
findet. Endlich kommen die Blumenmodiſten, welche
die verſchiedenen Blumen zuſammenſetzen, Bouquets
und Kränze fertigen, hauptſächlich aber in den Ma-
gazinen die Waaren verkaufen, die Mode beherr-
ſchen, die Verwendung für die einzelne Toilette
beſtimmen.
In annähernder Weiſe hat ſich auch das Geſchäft
in Deutſchland geſtaltet. Die Herſtellung der Materialien
1)
[641]Die Putzmachergeſchäfte.
iſt Sache beſonderer größerer Geſchäfte; im Putzmacher-
laden findet nur die Zuſammenſtellung und Anpaſſung,
das Zuſammennähen ſtatt. Der perſönliche Geſchmack
der Dirigentin iſt die Hauptſache; das lokale Bedürfniß
macht überall Geſchäfte nothwendig; bis auf die Land-
ſtädte und Dörfer dringen die neuen Moden jetzt, und
ſo ſehen wir, daß bei den Putzmachergeſchäften mehr
die Zahl der Geſchäfte als ihr Umfang zunimmt. Man
zählte in Preußen (im Zollverein 1861 - 12832 Ge-
ſchäfte mit 13348 Gehülfen):
Die bedeutende Zunahme hat übrigens neben der
ſteigenden Wohlhabenheit und dem größern Luxus noch
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 41
[642]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
eine weitere Urſache. Es findet ein großer Zudrang
zu dieſem Gewerbe ſtatt. Die Mehrzahl der Geſchäfte
iſt in weiblichen Händen, wie die Mehrzahl der Ge-
hülfinnen junge Mädchen ſind, welche theilweiſe nur
das Gewerbe erlernen wollen, jedenfalls ſich ihm gerne
zuwenden, da es immer noch etwas beſſern Verdienſt
giebt, als die bloße Nätherei. Von den preußiſchen
6424 Geſchäften haben 6177 weibliche Vorſteher, von
den 5989 Gehülfen gehören 5819 dem ſchönern Ge-
ſchlechte an. Die Geſchäftsinhaberinnen ſind meiſt
Wittwen, ältere unverheirathete Fräuleins, vor Allem
Frauen von kleinen Geſchäftsleuten, von Angeſtellten,
deren Einkommen nicht ausreicht. Die Frau verſucht
durch ein Putzgeſchäft das Fehlende zu erſetzen; ſie iſt
mit mäßigem Verdienſt zufrieden, die Konkurrenz iſt
groß; zahlreiche Bankerotte zeigen die Schwierigkeit und
den großen Andrang. Daneben gibt es in den größern
Städten freilich immer auch eine Anzahl ſehr großer
wohlrenommirter Geſchäfte, welche entſprechend theurer
arbeiten und das können, weil ſie die wohlhabendſten
Klaſſen zu ihren Kunden haben.
Umfaſſender und bedeutender als alle dieſe kleinern
Gewerbe iſt das Schneidergewerbe; es ſteht an Zahl
faſt dem Schuhmachergewerbe nahe. Ich theile zuerſt
die Ueberſicht der preußiſchen Schneider von 1816 — 61
mit. Daneben will ich gleich als Ausgangspunkt
unſerer Betrachtung vorausſchicken, daß 1861 von den
76823 Geſchäftsinhabern 13741, von den 49291
Gehülfen 8677 weibliche Perſonen ſind. Im ganzen
[643]Die Schneider und Kleidermacher.
Zollverein zählte man 1861 - 169824 Geſchäfte, davon
34191 in weiblichen Händen, und 98772 Gehülfen,
davon 16102 weibliche. Uebrigens ſcheint die Auf-
nahme in der Heranziehung der Frauen zu derſelben
ſehr verſchiedene Grundſätze befolgt zu haben; in Baiern
und Hannover ſind über ein Drittel der Geſchäfte in
Frauenhänden, in andern Staaten ſind auf mehrere tau-
ſend männliche Schneider nur wenige weibliche Geſchäfte
notirt, ohne daß doch eine ſolche reale Verſchiedenheit
wahrſcheinlich wäre. Dieſer Umſtand zeigt aber über-
haupt, welchen Bedenken die ganze Aufnahme des
Schneidergewerbes unterliegt. Der Uebergang von der
41 *
[644]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
bloßen Nätherin zum Schneidergeſchäft iſt ein unmerk-
licher. Früher wurden in Preußen die Nätherinnen und
Wäſcherinnen mit den weiblichen Tagelöhnern zuſammen
aufgenommen (z. B. 1849: 679719, wovon 149610
in den Städten), wobei aber nicht feſtzuſtellen iſt, wie
viele von den hier gezählten Frauen Nätherinnen ſind.
Die häusliche Weißnäherei iſt ja wohl jedenfalls nicht
unter der Kategorie der „Schneider“ mitbegriffen; aber
fraglich erſcheint mir, ob die theilweiſe mit Kleider-
geſchäften verbundenen Konfektionsgeſchäfte, die Magazine
für Weißwaaren und Damenartikel hier mitgerechnet
ſind oder nicht; dadurch erſcheint mir der Zweifel nicht
gehoben, daß der ganze Zollverein 1861 - 4 preußiſche
Weißzeugfabriken mit einigen hundert Arbeitern beſon-
ders in der Fabriktabelle aufführt.
Trotz dieſer Unklarheit des Inhalts der Tabelle
müſſen wir verſuchen, die Reſultate aus derſelben zu fol-
gern. Das erſte wäre, daß die Geſammtzahl der preußi-
ſchen Schneider um 15,1 % ſtärker zunahm, als die Be-
völkerung. Nimmt man dazu, daß die Leiſtungsfähig-
keit des einzelnen Arbeiters in größern Geſchäften ſchon
lange, auch in allen kleinern ſeit Einführung der Näh-
maſchinen, ſehr gewachſen iſt, nehmen wir ferner dazu,
daß die Mehrausfuhr an fertigen Kleidern aus dem
Zollverein ſeit 20 Jahren ſich verzehnfacht hat
(1860 — 64 jährlich 11365 Ztur. im Werth von
3 — 4 Mill. Thlr.), ſo wird man einen Fortſchritt
des Gewerbes nicht leugnen können, wie man wohl auch
mit Recht annehmen kann, daß gerade die Bekleidung
faſt in allen Klaſſen der Bevölkerung eine beſſere gewor-
[645]Die Zunahme der Schneider.
den iſt. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die
Zunahme des Perſonalbeſtandes ließe ſich auch darauf
zurückführen, daß jetzt gekaufte oder beſtellte Kleider in
vielen Kreiſen getragen werden, welche früher Kleider
trugen, die von der Familie ſelbſt gemacht waren. Die
Poeſie der Nationaltracht, der beſonderen ländlichen Be-
kleidung verſchwindet; ſelbſt der deutſche Bauer fängt
an, fertige ſtädtiſche Kleider zu kaufen. Auch Frauen-
kleider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga-
zinen gekauft, wenn gleich noch entfernt nicht ſo ſehr wie
die Männerkleider. Doch glaube ich kaum, daß die Zahl
der Nätherinnen, welche im Hauſe der Kunden Frauen-
kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat.
In der Organiſation des Geſchäfts ſind große
Aenderungen eingetreten, welche aber nicht aus der
obigen Tabelle zu erſehen ſind. Ob unſere großen
Städte ſchon Geſchäfte haben, wie die Pariſer, welche
nur Modelle anfertigen, iſt mir zweifelhaft, 1 wohl aber
hat ſich in den größern Städten die Arbeitstheilung
vollzogen,2 welche in Paris mit den Namen „Tailleurs
[646]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
fabricants“ und „Tailleurs apiéceurs“ bezeichnet
wird. In beiden Arten von Geſchäften ſehen wir große
Etabliſſements, welche 50 — 60, ja bis 300 Geſellen
in ihren Räumen beſchäftigen, daneben auch außer dem
Hauſe nähen laſſen. Beide beziehen die Tuche und
anderen Stoffe mehr und mehr direkt vom Fabrikanten,
um dadurch die vertheuernde Zwiſchenhand des Tuch-
händlers zu ſparen. Häufig ſind frühere Tuchmagazine
durch Annahme eines Zuſchneiders und einer Anzahl
Schneidergeſellen zu Kleidermagazinen geworden. Der
Umfang der Geſchäfte, welche nach Maß und Beſtellung
arbeiten, bleibt ſelbſt in den größten Städten in der
Regel ein etwas geringerer. Dagegen wächſt der Um-
fang der eigentlichen Kleiderfabriken theilweiſe in’s Un-
glaubliche. Von dem Gerſon’ſchen Geſchäft in Berlin,
das hauptſächlich Damenmäntel, Mantillen, Mode-
waaren aller Art führt und nach allen Staaten und
Himmelsgegenden exportirt, ſchreibt Viebahn ſchon 1852:
„das Geſchäft hat im vergangenen Jahre etwa 16000
bis 20000 fertige Mäntel, Mantillen ꝛc. geliefert. In
zwei Geſchäftshäuſern werden unter Leitung von 5 Hand-
werksmeiſtern und 3 Direktrizen 120—140 Arbeiterinnen,
außerdem aber in den Wohnungen etwa 150 Meiſter
mit durchſchnittlich 10 Geſellen, welche nur für dies
Haus arbeiten, und im Ganzen in ſolchen fertigen
Artikeln, das Weißwaarenfach mitgerechnet, 1600 —
2000 Perſonen, je nachdem es ſtille oder lebhafte Zeit
iſt, beſchäftigt; in dem Verkaufslokal ſelbſt arbeiten
gegen 100 Kommis, Aufſeher, Ladenjungfern und
Diener.“
[647]Die großen Kleiderfabriken und die kleinen Schneider.
Wenn in dieſer Weiſe die Kleiderfabrikation ſich
konzentrirt, ſo muß es Wunder nehmen, daß im Ganzen
in Preußen auf 100 Meiſter erſt 64 Gehülfen, auch
in Berlin nur 138 kommen. Selbſt wenn man berück-
ſichtigt, daß manche als Meiſter gezählte für Magazine
und größere Meiſter arbeiten, ſo bleibt das Reſultat
überraſchend. Es hat ähnliche Urſachen, wie die große
Zahl kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent-
wicklung der großen Geſchäfte und Magazine ſteht die
um ſo größere Noth der kleinen Meiſter gegenüber. Der
Verſuch, ein eigenes Geſchäft zu beginnen, kann faſt
ohne Kapital gemacht werden, der Zudrang iſt bedeutend.
Selbſt auf dem Lande iſt die Zahl der Meiſter ſehr
groß; 1858 kamen in Preußen auf 30 229 ſtädtiſche,
40 849 ländliche Meiſter; ſchon 18491 kam auf dem
platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131,
im Regierungsbezirk Münſter auf 133, im Regierungs-
bezirk Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslin
auf 220 Einwohner ein Schneider (Meiſter und Ge-
hülfen zuſammen). Die meiſten dieſer kleinen Schneider
leben in den ärmlichſten Verhältniſſen, viele nur als
Flickſchneider und als Hausarbeiter in den Häuſern
der Kunden. Auch Viebahn2 nimmt an, daß zwar
das Durchſchnittseinkommen, das ein großſtädtiſches
Schneidergeſchäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage,
daß daſſelbe aber in kleinen Städten von 400 auf
200 Thaler ſinke, auf dem Lande wohl noch tiefer
[648]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
herabgehe, wofür dann freilich einige Naturaleinnahmen
hinzukämen.
Die Genoſſenſchaften haben hierin wohl Einiges
gebeſſert; ſchon 1863 exiſtirten 20 preußiſche und 16
andere deutſche Rohſtoffvereine von Schneidern; 1868
zählt Schulze 23 Rohſtoffvereine, 11 Magazingenoſſen-
ſchaften und 10 wirkliche Produktivvereine (einige hier-
von ſind in Böhmen) auf; die Stuttgarter Produktiv-
genoſſenſchaft, durch Dr. Pfeifer beſonders in Gang
gebracht, erfreut ſich eines blühenden Geſchäfts, wie
denn nicht zu bezweifeln, daß die Schneider ſich auf
kooperativem Wege helfen können. Aber was bedeuten
bis jetzt dieſe paar Vereine gegenüber den 169924 zoll-
vereinsländiſchen Geſchäften!
Je mehr das Magazinſyſtem ſiegt, deſto mehr findet
die Beſchäftigung weiblicher Hände in der Schneiderei
ſtatt; in allen Geſchäften, welche fertige Kleider liefern,
ſeien es Herren- oder Frauenkleider, wendet man mehr
und mehr Mädchen an, was ſchon aus den täglichen
Annoncen der Zeitungen zu ſehen iſt, welche Mädchen
ſuchen, „die auf Herrenarbeit geübt ſind.“ Und nicht
bloß aus den untern Ständen rekrutirt ſich die Zahl
dieſer weiblichen Hände; der ganze Ueberſchuß von Töch-
tern aus dem Krämer-, Handwerker- und Beamten-
ſtand, die nicht ſo glücklich ſind in den Hafen einer
auskömmlichen Ehe einzulaufen, ſehr viele Wittwen ſind
froh, ſolche Beſchäftigung zu finden; hat ja doch erſt
in neuerer Zeit die Bewegung begonnen, ihnen auch
andere und lohnendere Stellungen zu eröffnen. An
manchen Orten klagen die Schneider, ſie könnten mit
[649]Die Frauenarbeit in der Schneiderei u. d. Weißwaarengeſchäft.
den Berliner Geheimrathstöchtern nicht mehr konkurriren,
ſo billig, wie jene, können ſie nicht arbeiten. Das alles
drückt auf die kleinen Geſchäfte, während die großen
den Vortheil billiger und guter Arbeit dadurch haben.
Daß es nicht ganz klar ſei, ob unter den obigen
Zahlen auch die Weißwaarengeſchäfte begriffen ſind,
erwähnte ich ſchon. Ich will über ſie nur noch ein
paar Worte hinzufügen. Die Anfertigung der Leib-
und Bettwäſche war früher ausſchließlich Sache der
Hausfrau; doch entſtanden ſchon in den vierziger Jahren
große Geſchäfte, welche auf Lager arbeiten ließen, die
eigentliche Ausbildung des Geſchäfts, vor Allem die
Ausdehnung des Exports, fand erſt in letzter Zeit ſtatt.
Den lokalen Markt verſorgen überall die lokalen Lein-
wandhandlungen, die faſt durchaus jetzt auch fertige
Wäſche verkaufen; das Hauptgeſchäft aber konzentrirt
ſich in den Gegenden der Gewebeinduſtrie, ſowie in den
Hauptſtädten, in Berlin, Dresden, Wien ꝛc. Von Sachſen
erzählte ich ſchon oben, daß mit der Nähmaſchine die
Geſchäfte dieſer Art einen neuen Impuls bekommen,
daß dadurch die Hausinduſtrie wieder eine Kräftigung
erhalten habe. Anderwärts freilich ſiegt der Fabrik-
betrieb. Von Bielefeld wird 1867 in Bezug auf die
Fabrikation fertiger Wäſche geſchrieben:1 „Eine weitere
[650]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
Zunahme des Umſatzes und der Zahl der beſchäftigten
Nähmaſchinen iſt zu konſtatiren; ihre Zahl beläuft ſich
jetzt hier auf 504, wobei 1500 Arbeiterinnen faſt un-
ausgeſetzte Beſchäftigung finden. Dieſer Geſchäftszweig
hat immer mehr an Boden gewonnen; doch haben ſich
die Hoffnungen auf den durch den Handelsvertrag mit
Frankreich ermöglichten größern Abſatz in dieſem Lande
bis jetzt nur noch in geringem Maße verwirklicht, da
man unter Anderem auch noch der Handarbeit zu ſehr
den Vorzug gibt, die zu billigeren Preiſen in den Klöſtern
des Elſaſſes angefertigt wird. Als eigenthümlich hervor-
gehoben wird es, daß hierbei in Folge der Beſtrebungen
der hieſigen Fabrikanten die Einzelarbeit immer mehr
abnimmt, um durch Vereinigung der dabei beſchäftigten
Kräfte unter den größern Fabrikanten, den handwerks-
mäßigen Betrieb immer mehr zu verlaſſen. Die Aus-
dehnung der Dampfnähereien iſt nur durch techniſche
Schwierigkeiten verzögert, aber in Ausſicht genommen.“
Mit der Weißnäherei ſteht die Stickerei und
Spitzeninduſtrie auf einer Linie. Neben der Thätigkeit
aller Frauen der gebildeten Stände arbeiten überall
arme Frauen um Lohn; zu einem eigentlichen Induſtrie-
zweige wurde die Stickerei innerhalb des Zollvereins
eigentlich nur in Schleſien, Weſtfalen und Württemberg,
dann im ſächſiſchen Erzgebirge und im Voigtlande. In
Sachſen ſollen 15000 Perſonen 1861 in der Haus-
1
[651]Die Stickerei und Spitzeninduſtrie.
induſtrie der Spitzenklöppelei und Stickerei beſchäftigt
geweſen ſein; der Vorzug der deutſchen Induſtrie liegt
wieder — ſozial betrachtet — in einem traurigen Grunde,
in der außerordentlichen Billigkeit der Löhne.
Die eigentlichen Spitzen werden entweder geklöppelt,
oder mit der Nadel gefertigt; beides blieb bis in die
neuere Zeit Handarbeit für Frauen und Kinder, wäh-
rend die ihnen nahe ſtehenden Tüllgewebe, die Gaze,
die Pettinets und Bobbinets auf künſtlichen Maſchinen
gewebt werden.
Erſt 1840 wurde eine mechaniſche Stickmaſchine
von Heilmann im Elſaß erfunden; aber erſt 1850
gelangte ſie in St. Gallen und Appenzell zur praktiſchen
Anwendung. Erſt 1857 führte ein Haus in Plauen
die erſten Stickmaſchinen aus der Schweiz ein. Bald
darauf bemächtigte ſich ein ſächſiſcher Maſchinenbauer
der Herſtellung und verbeſſerte ſie ſogar weſentlich,
indem er an dem 14 — 15 Fuß langen Stuhl ſtatt
einer Reihe zwei bis drei Reihen Nadeln aubrachte.
Ende 1861 zählte man in Sachſen 7 Etabliſſements
mit 52 Maſchinen, März 1863 ſchon 16 mit 97 Ma-
ſchinen. Sie werden übrigens mit der Hand getrieben.
Die ſogenannten doppelten Maſchinen koſten 800 Thlr.,
die dreifachen 1100 Thlr. mit allem Zubehör.
Auch für die Stickerei alſo hat der Kampf mit der
Maſchine begonnen; vorerſt freilich nur mit der Folge,
den Lohn der armen Frauen und Kinder herabzudrücken.
Im Jahre 1863 zählte man im Chemnitzer Handels-
kammerbezirk noch 14695 Klöppelkiſſen für Erwachſene,
von denen 12773 im Betrieb waren, 7296 für Kinder,
[652]Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.
wovon 6851 in Thätigkeit waren. Der öſtreichiſche
Ausſtellungsbericht beginnt zwar ſeine Betrachtungen
über die Spitzenmanufaktur mit den Worten: „die
Pariſer Univerſalausſtellung vom Jahre 1867 fällt in
die Zeit, wo die Handſpitze über die Maſchinenſpitze
nach einem längern Kampfe den Sieg davon trug und
die Ausſtellung ſelbſt brachte dieſen Sieg erſt zur allge-
meinen Anſchauung; ſie wird daher in der Geſchichte
der Spitzenarbeit fortan als ein wichtiger Wendepunkt
merkwürdig bleiben. Die durch Nadel und Klöppel
erzeugten Handſpitzen erlangten dieſen Sieg über die
Maſchinenſpitzen zumeiſt durch die ſchöne und geſchmack-
volle Herſtellung der Zeichnung oder der Muſterung,
alſo durch die ſorgſame Pflege des künſtleriſchen An-
theiles.“ Das iſt aber gerade für die deutſchen Bezirke,
welche bisher mehr einfache und billige Produkte liefer-
ten, kein Troſt. Die belgiſche und franzöſiſche Spitzen-
manufaktur erſter Qualität wird bei der Handarbeit
bleiben, die deutſche wird der Maſchine in dem Maße
erliegen, als man verſäumt, auf beſſere Qualitäten
überzugehen; die Handarbeit wird ſich nur da behaupten,
wo bei höherem Lohn und beſſeren ſozialen Verhältniſſen
die Stickerinnen nicht nach Bildung und Herkommen auf
die traurige Konkurrenz mit den einfachern Maſchinen-
produkten angewieſen ſind.
[[653]]
Schluß und Reſultate.
Noch ein Wort über die Metall- und Maſchineninduſtrie. Die
großen Fabriken und die Hausinduſtrie. Wo und wie letztere
ſich halten läßt. — Die Kriſis des Handwerks und ihre
allgemeinen Urſachen. Die Gewerbefreiheit und die Abnahme
der kleinen Geſchäfte. Die Arten der Meiſter: Die vorwärts-
kommende Elite und die verarmende Maſſe. Der Handwerker-
bund. Die Muthloſigkeit. Die Stellenjägerei. Die Aus-
wanderung. Die Sozialdemokraten. Die Bankerottirer und
„Macher.“ Die Meiſter der Hausinduſtrie. Sind alle dieſe
Leute Schuld an ihrem wirthſchaftlichen Ruin? Der Zuſam-
menhang zwiſchen perſönlichen Tugenden und der Beſitz- und
Einkommensvertheilung überhaupt. Prüfung unſerer Zeit
nach dieſer Richtung: Die Lohn- und Fabrikarbeiter, der
Bauernſtand, der höhere Gewerbeſtand, der Haus- und
Grundbeſitz, die Börſe, das Aktienweſen, die Staatsſchulden.
Die letzten Folgen jeder übermäßigen Vermögensungleichheit.
— Die poſitiven Aufgaben und der Standpunkt dafür. Die
wirthſchaftliche Freiheit und die Oeffentlichkeit. Staatliche
Maßregeln; die Bureaukratie und der Egoismus der bürger-
lichen Mittelklaſſen. Was verdient den Vorwurf einer ſozialiſti-
ſchen Maßregel? Unſere negative Geſetzgebung reicht nicht
aus. Die Bevölkerungsfrage. Die Vorſchläge in Bezug auf
Fabrikweſen. Die Vorſchläge in Bezug auf das Handwerk
und die Hausinduſtrie.
In ähnlicher Weiſe, wie im Vorſtehenden die Ge-
webeinduſtrie und Bekleidungsgewerbe, noch die Metall-
[654]Schluß und Reſultate.
und Maſchineninduſtrie, die Inſtrumenten-, Geräthe-
und Holzwaarengewerbe nach ihrer hiſtoriſchen Umbil-
dung in Deutſchland zu unterſuchen, war meine Abſicht.
Aber der dieſem Buche urſprünglich zugemeſſene Raum
iſt bereits ziemlich überſchritten und eine ähnliche Bear-
beitung, wie die der Gewebeinduſtrie würde das Er-
ſcheinen des Buches noch um längere Zeit verzögern.
Die numeriſche Bedeutung der Metallgewerbe erreicht
auch die der bisher beſprochenen Gewerbe entfernt nicht;
berechnet doch auch Viebahn1 nach dem Geſammtinhalte
der Handwerker-, Handels- und Fabriktabelle des Zoll-
vereins im Jahre 1861, daß 40 % der Arbeitenden
auf die Textilgruppe, 21 % auf die baulichen Arbeiten,
17 % auf die Nährgewerbe, 12 % auf die Dekorations-,
artiſtiſchen und literariſchen Gewerbe und nur 10 %
auf die Metallurgie kommen. Sachlich freilich iſt die
Bedeutung der Metallgewerbe um ſo größer. Es iſt
die Induſtriebranche, von welcher die übrigen vielfach
in ihren Fortſchritten abhängen, die auch in Deutſch-
land in den letzten 30 Jahren die glänzendſte Ent-
wickelung hatte, welche die tüchtigſten Unternehmer, die
kräftigſten und am beſten bezahlten Arbeiter zählt. So
mögen denn wenigſtens einige flüchtige Worte über ſie
hier noch als Einleitung der Schlußbetrachtungen ihre
Stelle finden.
Die Werke und Hütten, welche die Metalle zu
Tage fördern und ausſchmelzen, ſind nicht bloß ſelbſt
zu immer größerem Umfang angewachſen, ſie haben
[655]Die Metall- und Maſchineninduſtrie.
vielfach auch die erſte Verarbeitung der Metalle mit
übernommen; eiſerne Oefen, ſowie einfachere Eiſengeräthe
und Maſchinentheile werden auf den Hütten ſelbſt gegoſſen;
Stahl-, Eiſenwalz- und Eiſendrahtwerke ſind mit den
Hütten verbunden; häufig ſind die großen Gewerkſchaften
ſogar im Beſitz von Maſchinenfabriken. Aber auch wo
die weitere Verarbeitung der Metalle, beſonders des
Eiſens und Stahls, ſelbſtändigen Geſchäften anheimfällt,
können wenigſtens für eine Reihe von Spezialitäten nur
noch die größten Etabliſſements konkurriren, da die noth-
wendigen Ingenieure, Zeichner und Modelleure nur in
ſolchen voll ausgenutzt und demgemäß bezahlt werden
können, da die Gebäude, die ſonſtigen Anlagen, die großen
Summen zum Einkauf der Rohſtoffe und zur monate-
lang vorher erfolgenden Auszahlung hoher Löhne nur
dem großen Kapital die Betheiligung erlauben. So für
Lokomotiven, Damfſchiffe, Dampfmaſchinen, mechaniſche
Spinnereien, Eiſenbahnwagen, bergmänniſche Maſchinen
und Geſchütze. Krupp in Eſſen hat gegen 8000, Borſig
in Berlin gegen 3000, Hartmann in Chemnitz 2000,
Kramer-Klett in Nürnberg gegen 1000 Arbeiter.
Auf eine Wagen- und Bahnenwagenfabrik im Zollverein
kommen 1861 - 70, auf eine Maſchinenbauanſtalt 54,
in Berlin allein 80 Arbeiter. Um die große Maſchinen-
induſtrie gruppiren ſich nach und nach wieder eine Reihe
mittlerer Geſchäfte, welche maſſenhaft einzelne Theile,
Keſſelarmaturen und Aehnliches übernehmen; das iſt in
entwickelteren Ländern, wie in England, noch mehr der
Fall; eigentlich kleine Geſchäfte ſind das aber auch noch
nicht. Neben den Maſchinenfabriken kommen eine Reihe
[656]Schluß und Reſultate.
von Anſtalten, deren Ausdehnung ziemlich verſchieden iſt:
Dampfkeſſel-, Ketten-, Anker-, Schrauben-, Nägel-
und Drahtſtiftfabriken, Senſenhämmer, kleinere Gieße-
reien, Kratzenfabriken, Anſtalten für Hecheln, Kämme,
Jacquardmaſchinenkarden, hölzerne Web- und Strumpf-
ſtühle und Aehnliches. Die für Webereibedürfniſſe arbei-
tenden Werkſtätten zählten 1861 noch (entſprechend der
noch überwiegenden Handweberei) auf eine Anſtalt nur
3 Perſonen; doch ändern ſich auch hier die Dinge von
Tag zu Tag.
Die kleinen Geräthe und Inſtrumente aus Eiſen
und andern Metallen, die Produkte der Feinmechanik,
die Blechwaaren, Schmiedewaaren, die Waffen und
Uhren, die muſikaliſchen, optiſchen, chirurgiſchen Inſtru-
mente werden theilweiſe auch noch vom Handwerk, viel-
fach noch von der Hausinduſtrie, aber auch ſchon man-
nigfach und mit täglich ſteigendem Erfolg von großen
Fabriken geliefert. Was früher mit der Hand, aus
geſchnittenen Blechen, durch getriebene Arbeit hergeſtellt
wurde, wird jetzt mehr gegoſſen oder durch Druck-,
durch Fall- und Walzwerke geſtanzt und gewalzt; die
einfachen Ackergeräthe, welche der Schmied lieferte, gin-
gen auf Eiſenwerke und landwirthſchaftliche Maſchinen-
fabriken über. Alle Baubedürfniſſe, Schlöſſer, Thür-
und Fenſterbeſchläge macht die Fabrik billiger; die Aus-
führung von Dach- und andern Eiſenkonſtruktionen beim
Häuſerbau, welche ſich nach der Oertlichkeit richten,
bleiben eher dem lokalen Handwerker. Die Nagel-
ſchmiede ſind theilweiſe ſchon ganz verſchwunden, im
Erzgebirge und Oberfranken aber hämmern ſie ſich den
[657]Die Kleinmetallgewerbe.
Drahtſtiftfabriken zum Trotze noch müde, unter deren
Konkurrenz ſie verkümmern, und denken nicht daran,
ihrer Arbeit eine andere Richtung zu geben, ihren ſpär-
lichen Gewinn durch ein geſuchteres Fabrikat zu erſetzen.
In ähnlicher, theilweiſe auch noch in beſſerer Lage ſind
eine Menge von Metall und Holz verarbeitenden Haus-
induſtrien Mitteldeutſchlands, in Sachſen, in Thürin-
gen, im nördlichen Baiern bis nach Naſſau und der
Rheinpfalz. Die kleinen Nadler in Pappenheim, die
„Heimarbeiter“ der Nähnadel- und ähnlicher Fabriken
in Schwabach, die erzgebirgiſchen Blecharbeiter, die
fichtelgebirgiſchen Tafelmacher und Schieferarbeiter, die
Sonneberger Holzſchnitzer und Spielwaarenverfertiger,
die Krugmacher des Weſterwaldes, die pfälzer Bürſten-
binder, alle dieſe Hausinduſtrien haben zu kämpfen mit
dem beginnenden Fabrikſyſtem und halten ſich vorerſt
durch die ſtaunenswerthe Bedürfnißloſigkeit und Genüg-
ſamkeit der Arbeiter. Manche ſind in jammervoller
Noth und drückender Abhängigkeit von den Kaufleuten
und Faktoren, welche ihnen die Rohſtoffe liefern. Wo
durch techniſche Schulen und andere Mittel die Bildung
und Leiſtungsfähigkeit ſich gehoben hat, da iſt die Lage
beſſer, wie z. B. die der Spielwaarenverfertigung in
Sonneberg, die noch kaum Fabrikkonkurrenz hat. Aehnlich
ging es ja auch mit der großen Schwarzwälder Uhren-
induſtrie, deren Kriſis ſchon in den Anfang der vierziger
Jahre fällt. Die Furtwanger Uhrmacherſchule, eine Reihe
tüchtiger Werkzeugmacher genügten, die kleinen Leute ſo
zu heben, daß ſie jetzt wieder mit jeder Großinduſtrie
der Welt konkurriren.
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 42
[658]Schluß und Reſultate.
Die rheiniſche Kleineiſen- und Metallinduſtrie in
Solingen, Remſcheid, Lindenſcheid, Hagen, Altena,
Iſerlohn war bis in die neuere Zeit auch überwiegend
Hausinduſtrie und Sache kleiner ſelbſtändiger Meiſter.
Die großen kaufmänniſchen Geſchäfte (hier Kommiſſionäre
genannt) geben dem Meiſter (hier Fabrikant genannt)
die Beſtellungen; den Rohſtoff erhält er theilweiſe, theil-
weiſe liefert er ihn ſelbſt. Die erſte Arbeit fällt dem
Schmiede zu; man unterſcheidet die verſchiedenſten Arten
(20—30) von Schmieden; dann gehen die Stücke an
den Schleifer, der in der Schleifkotte polirt, endlich an
den Reider, der das Heft aufſchlägt. 1 Aehnlich iſt
ein großer Theil der Waffeninduſtrie organiſirt. Aber
überall zeigen ſich auch hier die Aenderungen, überall
dieſelben Klagen: die kleinen Meiſter wohnen zu zer-
ſtreut, können größere Maſchinen nicht anwenden, machen
die techniſchen Fortſchritte nicht mit. Jacobi ſagt (1855):
„Es drängt auch hier der Zug der modernen Induſtrie
die Fabrikation unwiderſtehlich mehr und mehr aus den
vereinzelten Werkſtätten und dem noch halb handwerks-
mäßigen Betriebe in die großen gewerblichen Anlagen
und den geſchloſſenen Fabrikbetrieb hinüber. Schon ſind
die Nadler, die Sporenmacher, die Gelbgießer, die Gürtler
und Andere den großen Fabrikanſtalten meiſtens gewichen
und gleichartige Entwicklungen bereiten ſich nach allen Sei-
ten vor. Die Walzen treten an die Stelle der Hämmer,
[659]Die rheiniſchen Hausinduſtrien für Metallwaaren.
die Puddelöfen an die Stelle der Friſchöfen.“ Doch
muß Jacobi zugeben, daß die meiſten Uebelſtände auch
ohne Uebergang zur großen Fabrik ſich vermeiden laſſen,
wenn nur die richtigen Mittel ergriffen werden. Da
und dort haben ſich einige tüchtige Meiſter vereinigt;
mancher Schloßſchmied arbeitet mit Durchſchnittmaſchinen,
Preſſen, Kreisſcheeren zum Ausſchneiden und Formen der
Schloßkaſten, mancher Schüppenſchmied mit der Schlag-
maſchine zum Stampfen der Schaufeln. Bei richtiger
Bildung der kleinen Meiſter, bei richtiger lokaler Ver-
einigung, bei Benutzung gemeinſamer mechaniſcher Kräfte
ließen ſich auch hier die kleinen Geſchäfte halten, ſo gut
wie in Birmingham. 1 Die Fabrik ſiegt nicht ſowohl,
weil ſie dauernd abſolut beſſere Produkte liefert, ſon-
dern weil die kleinen Meiſter den Uebergang zu manchem
Neuen nicht zu machen verſtehen. Die oben beſprochene
42 *
[660]Schluß und Reſultate.
Nürnberger und Fürther Hausinduſtrie iſt ein Beweis
hierfür.
Es handelt ſich hier, ähnlich wie bei vielen Bran-
chen der Textilinduſtrie ſowie vieler anderer Gewerbe,
um Arbeiten, um Prozeduren und Vorgänge, die nicht
nothwendig ein großes Fabrikſyſtem erfordern, um
Thätigkeiten, für welche das große Geſchäft dieſe, das
kleine jene Vorzüge hat. Den Ausſchlag nach der einen
oder andern Richtung geben die verſchiedenartigſten,
häufig gar nicht ſpezifiſch volkswirthſchaftlichen Urſachen.
Neben Klaſſen- und Kreditverhältniſſen kommen Volks-
ſitten und Charakter, hergebrachte Gewohnheiten und
zufällige Anregungen durch einzelne Perſonen, die Ein-
flüſſe der Beamten, die Schulverhältniſſe, die Sorge
für techniſche Bildung, die erſte Organiſation des für
die Hausinduſtrie immer ſchwierigeren Abſatzes, die zeit-
weiſe Unterſtützung zur Ueberleitung in neue techniſche
und kaufmänniſche Verhältniſſe in Betracht.
Mit dieſem Ergebniß, das den flüchtigen Ueber-
blick über die Metallinduſtrie abſchließt, aber zugleich
auch ein allgemeines Reſultat unſerer Unterſuchungen
ausſpricht, komme ich zurück auf den eigentlichen Zweck
dieſes letzten Abſchnittes, auf die Endergebniſſe und
Schlußreſultate, die ich hier theilweiſe erſt zu ziehen,
theilweiſe in Kürze zu reſumiren habe.
Die Kriſis des Handwerks iſt keine Sache für ſich,
ſie iſt nur eine Folge der allgemeinen Aenderungen
unſerer geſammten wirthſchaftlichen Verhältniſſe. Ein
totaler Umſchwung der Technik und des Verkehrsweſens,
[661]Die Kriſis des Handwerks.
eine außerordentlich raſch zunehmende Bevölkerung, eine
vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Induſtrie
wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organiſation
der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total
veränderte Klaſſen- und Beſitzverhältniſſe, eine ganz
andere volkswirthſchaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo-
mente zuſammen haben die moderne ſoziale Frage
geſchaffen. Einzelne dieſer tief eingreifenden Urſachen
ſtehen an ſich in engem Zuſammenhang, andere fallen
gleichſam nur zufällig in dieſelbe Zeit. Die Geſammt-
wirkung kann keine einfache ſein. Viele Errungenſchaften
der neuen Zeit kommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute,
andere nur einzelnen. Die vollſtändige Neugeſtaltung der
Vermögens- und Einkommensverhältniſſe, als Folge
nicht bloß ſpezifiſch wirthſchaftlicher, ſondern auch anderer
Urſachen hat einzelne Stände, einzelne Klaſſen in ebenſo
behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt.
Die Streiflichter, welche unſere Unterſuchungen auf die
Konſumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme
des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität
oder gar Abnahme in anderen ſtattfand, wie ungleich
nach den verſchiedenen geſellſchaftlichen Klaſſen ſich die
Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort
Schatten, da die größten Fortſchritte, dort Stabilität
und Mißbehagen — das iſt das Bild unſerer Zeit.
Ein optimiſtiſcher „Ziviliſationshochmuth“ ſieht nur,
wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird ſich gar
nicht leugnen laſſen, daß Großes geſchehen und erreicht
iſt. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben,
daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe ſtehen,
[662]Schluß und Reſultate.
in einem Kampfe geſunder und ungeſunder Elemente, in
einem Kampfe neuer Tugenden und neuer Laſter; man
wird zugeben, daß in dem neuen Wohnhauſe, das die
Menſchheit bezogen, gleichſam die Hausordnung noch
nicht oder noch nicht definitiv feſtgeſtellt iſt. Das
ſchönere größere Wohnhaus wird der Menſchheit zum
Heile bleiben, aber vielleicht werden erſt künftige
Generationen zu den Regeln des Zuſammenlebens, zu
den Sitten und Anſchauungen ſich durcharbeiten, die
das Wohnen in dem neuen Gebäude für Alle oder
wenigſtens für die Mehrzahl zum Segen machen. Wer
freilich daran glaubt, daß die Volkswirthſchaft in ihrer
hiſtoriſchen Entwicklung eine automatiſch und immer har-
moniſch von ſelbſt ſich drehende Maſchine ſei, der wird,
nur die techniſchen und andern Fortſchritte ſehend, nicht
zugeben, daß trotz derſelben und theilweiſe durch die-
ſelben zunächſt viele und ſchwere Mißſtände ſich ergeben,
hauptſächlich die täglich ſteigende Ungleichheit der Ver-
mögens- und Einkommensvertheilung; der wird nicht
einſehen, daß zur Ergänzung des totalen Umſchwungs
in unſerem äußeren wirthſchaftlichen Leben ein gleicher
Umſchwung unſerer Sitten und Gewohnheiten, unſeres
Rechts- und Sittlichkeitsbewußtſeins gehörte, daß ein
ſolcher, bis er durchgeſetzt und erkämpft iſt, längere Zeit,
vielleicht Jahrzehnte und Jahrhunderte braucht, jeden-
falls gegenwärtig noch nicht erfolgt iſt. Wer auf dem
entgegengeſetzten Standpunkte ſteht, wer den Zuſam-
menhang zwiſchen dem innern geiſtigen und ſittlichen
Leben der Völker und den äußern Geſtaltungen von
Recht und Wirthſchaft erkennt, wer weiß, daß das eine
[663]Die einſeitigen Fortſchritte unſerer Zeit.
wie das andere Element allein in Bewegung kommen
kann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenſo
ſchwer Neuem zugänglich iſt, wie die techniſche Durch-
ſchnittsbildung der untern Klaſſen, der wird es ſehr
begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächſt
in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaſſen
befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge ſo
großer theilweiſe unter ſich gar nicht zuſammenhängender
Urſachen eine vollſtändig harmoniſche Entwickelung ſei,
daß wir für alle die Aenderungen unſeres äußeren wirth-
ſchaftlichen Lebens auch ſchon die abſolut richtigen ſitt-
lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben.
Die reine Wiſſenſchaft wird ſich daher nicht ſcheuen,
von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unſeres
ſozialen Lebens in Frage zu ſtellen; denn nur, was vor
erneuter Prüfung Stich hält, ſoll bleiben. Aber ſie
wird ſich nicht der ſonderbaren Inkonſequenz unſerer
radikalen Volkswirthe ſchuldig machen, die ſo leicht und
vielfach mit Recht das beſtehende Privat- und Staats-
recht als ein unhaltbares hiſtoriſch überlebtes an-
greifen, dagegen vor dem zufällig heute ſo feſtgeſtellten
Recht des Privateigenthums, vor dem heute zufällig
beſtehenden Obligationsrecht der Arbeitsmiethe als einem
unantaſtbaren Noli me tangere ſtehen bleiben und
in dieſen Punkten nicht bloß konſervativ, ſondern reak-
tionär und altgläubig bis zum Uebermaß werden. Nicht
als wollten wir ohne Weiteres dieſe Rechtsformen an
ſich angreifen, aber das geben wir zu: auch ſie ſind in
ihrer augenblicklichen Geſtaltung doch nur hiſtoriſch
gewordene, durch beſtimmte Zuſtände und Sitten bedingte
[664]Schluß und Reſultate.
Inſtitutionen, die nicht immer gerade ſo waren und
nicht nothwendig in Zukunft immer ſo ſein werden, die
nur dann ihre innere Berechtigung ſich erhalten, wenn
ſie unter den beſtimmt gegebenen äußern und innern
Verhältniſſen die beſte Rechtsform für die Geſell-
ſchaft ſind.
Doch zunächſt nicht dieſe allgemeine Frage haben
wir zu beſprechen, ſondern die konkretere, wie nach den
vorſtehenden Unterſuchungen ſich die Lage des deutſchen
Handwerkerſtandes im 19. Jahrhundert geſtaltet hat.
Wir ſehen, daß die Gewerbefreiheit, nothwendig
nach dem heutigen Stande der Technik, mancherlei Hem-
mungen, mancherlei veraltete Vorſchriften beſeitigt, daß
ſie, ſoweit ſie innerhalb ſittlcher Schranken oder, wie der
Kaufmann zu ſagen liebt, innerhalb des reellen Ge-
ſchäftslebens auftritt, den einzelnen und beſonders den
Fähigen, den an ſich ſchon Höherſtehenden zu früher nicht
gekannter Anſtrengung und Arbeit treibt, daß ſie aber
an ſich dem kleinen [Handwerk] keine Rettung, dem
großen Gewerbe viel eher als den kleinen Meiſtern
Förderung bringt, die Kardinalpunkte, um die es ſich
handelt, wenn das Handwerk d. h. ein zahlreicher ſtädti-
ſcher Mittelſtand erhalten werden ſoll, kaum berührt.
In der neuen freieren Stellung der Innungen, in dem
Wegfall jedes Zwanges zum Beitritt wird man eher
eine direkte Förderung ſehen. Man kann das z. B. in
Sachſen erkennen. Die Innungen, welche ſich halten
wollen, an deren Spitze tüchtige Leute ſtehen, müſſen,
um anzulocken, etwas bieten, irgend wie poſitiv das Ge-
werbe fördern, und dann werden ſie auch an Mitglieder-
[665]Die Gewerbefreiheit und die Zahl der Meiſter.
zahl zunehmen, während ſie bisher daran nicht dachten,
nur eiferſüchtig auf ihre Rechte pochten, ohne damit
ihrem Ruin irgend wie Einhalt zu gebieten. Zunächſt
wird aber auch das nicht zu viel wirken.
Es wird die allgemeine Richtung nicht aufhalten,
die, wie wir an den vielen Beiſpielen ſahen, dahin geht,
faſt in allen Zweigen der Induſtrie die kleinen Geſchäfte
zu verdrängen, eine geringe Zahl von großen Unter-
nehmungen mit Lohnarbeitern an deren Stelle zu ſetzen.
Man mag ſich dem gegenüber darauf berufen, daß nach
meinen eigenen Berechnungen die Handwerkertabelle faſt
überall noch die Fabriktabelle überwiegt, 1 man mag
daran erinnern, daß Viebahn für den ganzen Zollverein
folgendes Verhältniß im Jahre 1861 berechnet:
Solche Zahlen aber beweiſen als Durchſchnitt eines
einzigen Momentes nicht ſehr viel. Nicht auf die Lage
in dieſem oder jenem Zeitpunkt kommt es an; die Frage
iſt, ob eine große Aenderung ſich vollzieht und dieſe
kann ſich nie in den Zahlen eines Jahres allein zeigen,
ſie kann ſich vollends nicht in den Zahlen von 1861
klar zeigen, da die Wirkung der dem Handwerk feind-
lichen Faktoren theilweiſe wohl ſchon ſeit 1838—40,
theilweiſe aber auch erſt von 1850—55, ja von 1861
an beginnt. Um einen Ueberblick über die wirkliche
[666]Schluß und Reſultate.
äußere und innere Lage der Handwerker zu geben,
möchte ich ſie folgerdermaßen klaſſifiziren.
Die tüchtigſten Meiſter, die choleriſchen, geiſtig und
körperlich kräftigſten Naturen haben ſich durch den Druck
der Verhältniſſe eher gehoben; es ſind die self made
men, es ſind die Stützen der Schulze-Delitzſch’ſchen
Vereine, es ſind die Parteigänger der Gewerbefreiheit
unter den Meiſtern ſelbſt, es ſind politiſch faſt durchaus
liberale Leute; es ſind diejenigen, aus denen immer
einzelne zum Beſitze großer Fabriken ſich emporarbeiten.
Aber ihre Zahl iſt gering, ſehr gering. Man darf ſich
durch die Mitgliederzahl der Vorſchußvereine nicht täu-
ſchen laſſen; die Mitgliederzahl der Rohſtoff-, Magazin-
und Produktivvereine iſt ohnedies klein genug, wie wir
da und dort ſahen. In den Vorſchußvereinen gehört
die Hälfte bis zwei Drittel Leuten an, die nicht in der
Handwerkertabelle gezählt werden; es ſind gar viele
kleine Kaufleute, kleinere und größere Fabrikanten, Rentiers
und andere Perſonen dabei, und unter den Handwerkern
ſelbſt iſt nicht jedem an ſich ſchon geholfen, der Mit-
glied eines Vorſchußvereins iſt. Viebahn zählt 1861 im
ganzen Zollverein 1101714 ſelbſtändige Handwerker
und 47575 auch zum großen Theil kleine kunſtinduſtrielle
Geſchäfte; Schulze zählt 1868 auf die ihm genauer
bekannten 666 Vorſchußvereine 256337 Mitglieder,
von denen aber, wie geſagt, ſehr viele keine Handwerker
ſind. Immer iſt der Segen der Genoſſenſchaftsbewegung
und ſpeziell der Vorſchußvereine ein großer, der Erfolg
ein glänzender; es iſt, möchte ich ſagen, faſt die einzige
Lichtſeite des heutigen Handwerks; aber es iſt eine
[667]Die vorwärtskommenden und die verarmenden Meiſter.
Förderung, die nur einer verhältnißmäßig kleinen Elite
zu Gute kommt.
Ihnen gegenüber ſteht die Hauptmaſſe der kleinen
Meiſter, die über die herkömmlichen Anſchauungen, wie
über die Noth des Tages nicht hinauskommen. Es ſind
nicht bloß die faulen, phlegmatiſchen, es iſt der Mittel-
ſchlag der Menſchen, der überall überwiegt. Es ſind
darunter auch manche Wohlhabende mit ererbtem, ſeltener
mit erworbenem Beſitz. Sie ſuchen ihr Handwerk zu
treiben, wie es der Vater und der Großvater getrieben;
die neue Zeit verſtehen ſie nicht, ſie ſehen nur, daß ſie
trotz aller Arbeit ärmer und ärmer werden, ſie haben
die dumpfe Erinnerung, daß es früher um das Hand-
werk beſſer geſtanden habe. Das ſittlich Berechtigte
ihrer Beſtrebungen liegt in einem gewiſſen ſpießbürger-
lichen Feſthalten an althergebrachter Zucht und Sitte,
das freilich nicht gepaart iſt mit dem Verſtändniß für
die neue techniſche Bildung, die ſie ihren Lehrlingen
geben müßten. Ausſchließlich ſehen ſie das Heil der
Handwerkerſache in Zunftrechten und Innungen, welche
doch nichts für das Handwerk leiſteten. Sie ließen ſich
von der Reaktion ins Schlepptau nehmen, welche ihnen
mit Wiederherſtellung der Zunft beſſere Zeiten vor-
ſpiegelte. Wenn Leute, wie der Geh. Rath Wagener,
welche den Bund zwiſchen den alten Handwerksmeiſtern
und der konſervativen Partei zu knüpfen ſuchten, nicht
ausſchließlich politiſche Parteizwecke verfolgt hätten,
wenn ſie mit Energie und den großen Geldmitteln,
über welche ſie verfügen konnten, die ſyſtematiſche Or-
ganiſation von techniſchen Schulen, von Genoſſenſchaften
[668]Schluß und Reſultate.
und hauptſächlich von Produktivaſſoziationen in die Hand
genommen, ſie inſtruirt und geleitet hätten, ſtatt mit
der Fata Morgana einer neuen Zunftepoche die Leute
zu täuſchen, ſo wäre auch mit dieſer Klaſſe der Meiſter
Manches zu erreichen geweſen. So aber hat der Bund
zwiſchen den ehrbaren Meiſtern und unſern Hochtory’s
dieſen mehr geſchadet als genützt, wie das Huber ſeinen
ehemaligen konſervativen Freunden immer gepredigt hat.1
Auch der Handwerkerbund und die Handwerkertage, wo
der Berliner Schuhmachermeiſter Panſe im Verein mit
ultrawelfiſchen Zeitungsredakteuren das große Wort führt,
haben ſich nur in Klagen über Gewerbefreiheit und
in der Hoffnung einer Wiederherſtellung der Zunftrechte
ergangen, als ob mit dieſen Rechten der innere Fort-
ſchritt, der allein helfen kann, irgend wie angebahnt
würde. Auf dem neueſten Handwerkertage, der eben
jetzt hier in Halle berathet, wird zwar die Gewerbe-
freiheit als fait accompli anerkannt, man beſchließt,
nicht mehr dagegen zu petitioniren, es wird im Detail
manches Wahre und Gute von einzelnen Meiſtern
bemerkt; aber die Wortführer, Panſe und Genoſſen,
verweiſen doch in der Hauptſache nur auf eine Konſer-
virung der Innungen, die einſtens, nachdem allgemeine
Unordnung und allgemeines Elend aus der Gewerbe-
freiheit entſtanden ſein werde, wieder zu Ehren und
Rechten kommen müßten. Die Maſſe der Meiſter glaubt
das nicht mehr, die Theilnahme für ſolche Verheißungen
[669]Die Muthloſigkeit der kleinen Meiſter.
ſinkt ganz entſchieden; aber eben damit ſteigt die Rath-
loſigkeit und die Muthloſigkeit.
Eben für dieſe Muthloſigkeit möchte ich einige perſön-
liche Erfahrungen als Beſtätigung anführen. Ich habe
ſeit längerer Zeit, auf Reiſen und zu Hauſe, verſucht,
das Alter der Meiſter zu beobachten; ich fand faſt
immer mehr alte als junge Meiſter: viele der 1861
noch vorhandenen Meiſter werden nicht mehr durch
neue erſetzt werden. Die Aelteren ſiechen vollends
hin, weil ſie nichts anderes zu ergreifen wiſſen. Als
ich neulich den Vorſtand der hieſigen an ſich blühenden
Weberaſſoziation fragte, wie es gehe, meinte er, der
Abſatz gehe, ſeine 9 Weber ſeien immer voll beſchäftigt;
aber einer ſeiner alten Freunde nach dem andern ſterbe
weg, junge treten nicht zu, es ſetzten ſich gar keine jungen
Webermeiſter mehr hier. Und ähnlich geht es mit einer
Reihe von Gewerbszweigen, die heute noch als kleine
Geſchäfte exiſtiren, in die aber kein junger Nachwuchs
eintritt. Unter den jüngern Meiſtern, die in anderen
Branchen noch verſuchen, ein Geſchäft anzufangen, hat
mich bei mannigfachen Geſprächen da und dort ein
Symptom um ſo mehr erſchreckt, je öfter ich darauf ſtieß:
die Stellenjägerei von Leuten, deren Stolz und Ehre
das eigene Geſchäft doch ſein ſollte. Sie wollen ihr
Geſchäft aufgeben, wenn man ihnen nur die Stelle
eines Hausmanns, eines Schließers mit freier Woh-
nung oder ein paar Thalern in Ausſicht ſtellt, wenn
ſie bei einer Eiſenbahn nur Wagenſchieber mit jährlich
100 Thlr. werden können. Eiſenbahnen und Aktien-
geſellſchaften wiſſen davon zu erzählen. Die zahlreichen
[670]Schluß und Reſultate.
Auswanderungen von Handwerkern ſind Folge des-
ſelben Zuſammenhangs. Nur ein anderes Symptom
der Muthloſigkeit iſt es, wenn die leidenſchaftlichen,
die ſanguiniſchen, die verbiſſenen Naturen der Sozial-
demokratie ſich in die Arme werfen. Kleine Meiſter
und ältere Geſellen, die es zu keinem ordentlichen Ge-
ſchäft bringen können, ſtellen ein ziemliches Kontingent
zu dieſer Partei.
Freilich gibt es auch welche, die den Muth nicht
ganz ſinken laſſen; es ſind die pfiffigen, die verſchmitz-
ten, geriebenen; für ſie iſt das Bankerottmachen ein
gutes Geſchäft; urſprünglich Handwerker, werden ſie
ſpäter ausſchließlich Krämer, Unterhändler, Kommiſ-
ſionäre, Winkeladvokaten, Hauſirer; ihnen iſt kein Ge-
ſchäft zu ſchlecht; man nennt ſie hier zu Lande die
„Macher,“ weil ſie Alles und in Allem machen. Der
ſchlimmſte Theil bildet die Rekruten für das Zuchthaus;
viele aber waren urſprünglich ehrliche Leute, welche nur
die Noth zu „Machern“ gemacht hat.
Unter alle die vorſtehenden Kategorien paßt eine
Klaſſe der kleinen Meiſter nicht recht und zwar eine
der zahlreichſten; ich meine die Weber, die Schmiede,
die Blecharbeiter, die Holzſchnitzer und andere in Haus-
induſtrien beſchäſtigte Meiſter und Arbeiter, welche über-
wiegend auf dem Lande wohnen. Von Schleſien bis
an und über den Rhein zieht ſich beſonders durch ganz
Mitteldeutſchland zu Tauſenden dieſe Art kleiner Unter-
nehmungen. Meiſt ſchon lokal abgeſchnitten von för-
dernden Anregungen, bleiben ſie trotz immer ſinkenden
Lohnes ihrer Arbeit treu. In einzelnen Branchen, wie
[671]Die Hausinduſtrien.
in der Spinnerei, ſind ſie vernichtet, in anderen naht
der Untergang. Sie haben der deutſchen Induſtrie
zu dem traurigen Weltruf verholfen, in erſter Linie
durch Billigkeit der Arbeit ſich auszuzeichnen. Sie haben
der Bevölkerung ganzer Gegenden jenen Typus der
äußerſten Genügſamkeit verliehen, die ſich jede Lohn-
reduktion gefallen läßt. Wenn man jetzt ſo oft verſichert,
die Löhne ſteigen allgemein (was oft nur mit ein paar
zufälligen engliſchen Zahlen bewieſen wird), ſo bilden ſie
einen lebendigen Proteſt gegen dieſe Behauptung in ihrer
Allgemeinheit. Und wenn man dieſe Leute einfach mit
der Anweiſung auf den ſteigenden Lohn in der Fabrik
tröſtet, ſo gibt man damit wenigſtens zu, daß der
ſelbſtändige induſtrielle Mittelſtand in bedeutender Ab-
nahme begriffen iſt.
Gegenüber der Mehrzahl der ſo verarmenden und
abnehmenden kleinen Meiſter kann man ohne große
Ungerechtigkeit nicht den Satz aufſtellen, ſie ſeien ſelbſt
an ihrem Untergange ſchuld. Wohl ſind manche Ein-
zelne perſönlich ſchlechte faule indolente Menſchen, wohl
iſt jedem hervorragend Begabten der Weg nach Oben
offen, wohl trägt der ganze Stand die Schuld Jahr-
hunderte langer Lethargie und kleinlicher Spießbürgerei;
aber ſchon dieſes letztere Moment iſt keine Schuld, die
den Stand allein, ſondern eine Schuld, welche die
Nation und ihre Geſchichte trifft. Und vollends allen
den neuern Fortſchritten der Technik gegenüber befindet
ſich die Maſſe der Meiſter faſt vollſtändig in der Un-
möglichkeit, ſie nach ihrer herkömmlichen, ſeit Jahr-
hunderten ausreichenden Bildung zu verſtehen, in der
[672]Schluß und Reſultate.
Unmöglichkeit, ſie nach ihrem Kapitalbeſitz anzuwenden.
Das hauptſächlich erzeugt den Mißmuth und die dumpfe
Unzufriedenheit der Meiſter, wie der vollends zum Lohn-
und Fabrikarbeiter Herabgedrückten. Sie verarmen ohne
oder ohne entſprechende Schuld, während ſie auf der
andern Seite ſich Vermögen bilden, einen übermüthigen
materialiſtiſchen Luxus entſtehen ſehen, ohne oder ſchein-
bar ohne perſönliches Verdienſt.
Das Volksbewußtſein wird jede beſtehende Un-
gleichheit des Vermögens und Einkommens als erträg-
lich anſehen, welche wenigſtens ungefähr den perſönlichen
Eigenſchaften, dem ſittlichen und geiſtigen Verdienſt der
Betreffenden, der geſellſchaftlichen Klaſſe entſpricht.
Ich ſage — ungefähr. Denn ganz wird und kann das
nie der Fall ſein. Die beſtehende Vermögensvertheilung
geht theilweiſe immer zurück auf Jahrhunderte alte Ge-
walt, auf Zufälle mancher Art, auf Geſetze und Ereig-
niſſe, die nicht wirthſchaftlicher Natur ſind. Aber im
Ganzen wird doch im gewöhnlichen Laufe der Dinge der
Tüchtige erwerben, der Untüchtige verarmen. Auf dieſen
nur unklar gefaßten ſittlichen Gedanken gründet ſich ja
auch die in ihrer Uebertreibung freilich nicht mehr wahre
Behauptung: aller Werth entſpreche der Arbeit. Wenn
dem immer ſo wäre, ſo gäbe es keine ſchwierigen
ſozialen Probleme. Sie entſtehen eben, wenn übermächtige
große Ereigniſſe politiſcher, rechtlicher, volkswirthſchaft-
licher und techniſcher Natur die Harmonie zwiſchen Beſitz
und Einkommen einerſeits und dem perſönlichen Verdienſt
andererſeits entweder völlig aufheben oder wenigſtens
mehr oder weniger trüben und verdecken. Unſere Zeit
[673]Die Parallele zwiſchen Verdienſt und Beſitz.
zeigt in dieſer Beziehung mancherlei widerſprechende
Thatſachen. Ich wiederhole dabei nicht, was ich eben
vom Handwerk und den Hausinduſtrien ſagte.
Der Lohn der ländlichen Tagelöhner und Fabrik-
arbeiter iſt bis in die fünfziger Jahre in Deutſch-
land überhaupt kaum geſtiegen, von da an wohl nicht
mehr, als die Lebensbedürfniſſe theurer wurden, keinen-
falls aber in dem Maße, als das Einkommen anderer
Klaſſen ſtieg. Selbſt in neuerer Zeit iſt er nicht überall
geſtiegen. Das Steigen hängt ab von der Bevölkerungs-
bewegung, dieſe von der ganzen ſittlichen und wirthſchaft-
lichen Lebenshaltung der untern Klaſſen. So wie die
Dinge — mit rühmenswerthen Ausnahmen — liegen, iſt
aber eben die Stellung, die äußere Lage der Lohn- und
Fabrikarbeiter dem geiſtigen und wirthſchaftlichen Fort-
ſchritt der Betreffenden ſo wenig, ſo ſehr viel weniger
günſtig, als ein eigenes Geſchäft; jenes leichtſinnige Leben
in den Tag hinein, wodurch ſelbſt bei hohem Lohn die
ganze Klaſſe der Arbeiter ſinkt, iſt leicht Folge der Verhält-
niſſe, nicht Folge der Perſonen, und kann alſo den Betreffen-
den nicht rein als ihre Schuld angerechnet werden.
Unſer kleiner Bauernſtand iſt vorwärts gekommen,
vielfach wohlhabend ja reich geworden, — aber mehr
durch andere Verhältniſſe und Einwirkungen als durch
ſich ſelbſt. Die Separationen, die Gemeinheitstheilungen
und die Ablöſungen, alſo vor Allem ſtaatliche Thätigkeit
und ſtaatliche Eingriffe haben ihn wohlhabend und land-
wirthſchaftlichen Fortſchritten zugänglich gemacht.
In Bezug auf den höhern Gewerbeſtand läßt ſich
nicht leugnen, daß ſehr viele unſerer heutigen wohl-
Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 43
[674]Schluß und Reſultate.
habenden Fabrikanten vom einfachen Arbeiter oder Hand-
werksmeiſter emporgeſtiegen ſind zum größten Beſitz,
zu den höchſten Ehren in Staat und Geſellſchaft. Die
Standesunterſchiede, welche früher dem Talente oft ſich
in den Weg ſtellten, ſind gefallen. Aber dieſes Empor-
ſteigen wird von Tag zu Tag ſchwerer. In den Jahren
1830—40 gab es noch kaum große Tuch- oder Ma-
ſchinenfabriken; gerade weil es damals faſt noch keine
Konkurrenz, faſt noch keine großen Geſchäfte gab, kamen
die Tüchtigſten unter den Tuchmachern und Keſſel-
ſchmieden empor. Das iſt heute total anders geworden.
Jedenfalls iſt ein ſolches Emporſteigen immer nur
Einzelnen, beſonders Talentvollen und von glücklichen
Zufällen Begünſtigten möglich. Daneben iſt unbeſtreit-
bar, daß die große Induſtrie in ihrer Geſammtheit lange
Zeit das Schoßkind der Regierungen war. Die früher
gegründeten polytechniſchen Schulen haben unſere In-
genieure und Fabrikanten großgezogen, Schutzzölle haben
unſere Baumwollſpinner, unſere Zuckerfabrikanten und
andere Fabriken reich gemacht; zahlreiche direkte Staats-
unterſtützungen in Preußen, die Thätigkeit von Bank-
und Seehandlung kamen in erſter Linie den großen Ge-
ſchäften, wenn auch in weiterer Linie dem Ganzen
ebenfalls zu Gute.
In Bezug auf das große Kapital hat Laſalle von
einem blinden Werthwechſel geſprochen, der die Beſitzen-
den noch reicher, die Nichtbeſitzenden täglich ärmer mache.
Dieſe Anſchauung gehört in das Land der Träume.
Aber Ein großer Werthwechſel hat allerdings ſtatt-
gefunden, an dem nur die Beſitzenden und zwar die
[675]Die wirthſchaftlichen Klaſſen der Gegenwart.
Einzelnen ohne jede entſprechende Arbeit theilgenommen
haben, an dem die Nichtbeſitzenden nur negativ durch
die höheren Mieths- und Lebensmittelpreiſe partizipi-
ren. Die Werthſteigerung des Haus- und Grund-
beſitzes iſt im letzten Jahrhundert, ſpeziell in den letzten
30 Jahren, ſtärker geweſen als je, weil nicht leicht
jemals die Bevölkerung in ſo kurzer Zeit und beſonders
in den großen Städten ſo gewachſen iſt. Sie gleicht
einer Neuvertheilung des Vermögens, von der man nie
der Maſſe oder der Wiſſenſchaft weiß machen kann, ſie
gehe irgend welcher entſprechenden Arbeit der Gewin-
nenden parallel. Welche Vermögen ſind entſtanden durch
die zufällige Thatſache, daß eine Parzelle in den Bereich
einer Bahnlinie oder gar eines Bahnhofes fiel. Wie
ſind die Häuſer der großen Städte, welche immer
daneben bewohnt waren, alſo ihre Rente abwarfen, im
Preiſe geſtiegen. Das Haus, in welchem Alex. v. Hum-
bold geboren wurde, koſtete 1746 - 4350 Thlr., 1761
8000, 1796-21000, 1803-35200, 1824-40000,
1863-92000, 1865 - 140000 Thlr.; damals erſt
wurde es weſentlich umgebaut. Und ähnlich gewann
ein großer Theil des ländlichen Beſitzes. Wenn heute
der ſtädtiſche und ländliche Grundbeſitz ſo vielfach über
Verſchuldung klagt, ſo kommt es hauptſächlich daher,
daß die reich Gewordenen verkauft, ſich als reiche Ren-
tiers zurückgezogen haben, und der Spekulant, der mit
Schulden gekauft hat, der in kürzeſter Zeit wieder auf
ein weiteres Steigen der Preiſe rechnet, dies nicht
abwarten kann. In vielen Familien unſeres Adels
freilich hat die Verſchuldung die Urſache, daß Luxus
43 *
[676]Schluß und Reſultate.
und Verſchwendung, theilweiſe auch die Zahl der Fa-
milienmitglieder, welche ohne Arbeit leben wollen, noch
bedeutender ſtieg, als der Güterwerth.
Am ungerechteſten vielleicht ſind die Anſchauungen
des Laien gewöhnlich über das unberechtigte Reichwerden
an der Börſe. Die Spekulation an ſich iſt ein noth-
wendiges und heilſames Glied unſeres Verkehrs;
wer hier oder als Bankier dauernd gewinnt, den
zeichnen meiſt außerordentliche Eigenſchaften aus. Aber
ein richtiger Keim liegt doch in der oft ausgeſprochenen
Mißachtung des Börſengewinnes. An der Börſe und
in den Börſengeſchäften iſt die kaufmänniſche Moral am
laxeſten geworden; Geſchäfte werden hier vertheidigt,
die ein Reſt von Anſtandsgefühl verurtheilt. Täuſchun-
gen, Fälſchungen von Nachrichten, Beſtechungen von
Zeitungen und Beamten und Aehnliches gelten beinahe
als erlaubt; die Grenze der reellen und unreellen Ge-
ſchäfte hat ſich bis auf vollſtändige Unkenntlichkeit ver-
wiſcht. Und dieſe Entſittlichung des Geſchäftslebens hat
ſich von der Börſe vielfach auf das ganze Aktienweſen
verbreitet. Betrügeriſche Ausnutzung des Publikums zu
Gunſten von Gründern und Verwaltungsräthen hat den
Schein erweckt, als ob alles hier gewonnene Geld unrecht
erworben wäre. In Bezug auf das ganze Staats-
ſchuldenweſen will ich wenigſtens daran erinnern, daß
die Unterſuchungen von Soetbeer1 das unwiderleglich
[677]Die Gefahren der zu großen Vermögensungleichheit.
bewieſen haben, daß unſer modernes Staatsſchuldenweſen
die Beſitzvertheilung weſentlich zu Gunſten der Beſitzen-
den und zu Ungunſten der Nichtbeſitzenden beeinflußt.
Ueber jeden einzelnen der angeführten Punkte wird
ſich ſtreiten laſſen, aber über den Geſammterfolg, über
die ſteigende Ungleichheit der Beſitz- und Einkommens-
verhältniſſe nicht. Und mag der faktiſche Zuſammenhang
zwiſchen wirthſchaftlichen Tugenden und perſönlichen
Fähigkeiten einerſeits und der Vermögensvertheilung
andererſeits heutzutage ſein, welcher er will, der weitere
Erfolg iſt jedenfalls ein ſchlimmer: das Verſchwinden
des Mittelſtandes untergräbt unſere politiſche wie unſere
ſoziale Zukunft. Vollends in einem Lande, das den
Beſitzenden bis jetzt noch kaum die Pflicht freiwilligen
Ehrendienſtes für den Staat und die Gemeinde auferlegt,
wird eine ſteigende Vermögensungleichheit die Folgen
haben, die ſie immer gehabt hat, und es wäre thörichte
Selbſttäuſchung, wenn wir leugnen wollten, daß wir An-
fänge hierzu bei uns nur allzu zahlreich finden: auf der
einen Seite den Untergang der Beſitzenden in Genuß-
ſucht und Materialismus, Maitreſſenwirthſchaft und
Geldheirathen, kinderloſe Ehen, welche die großen Ver-
mögen noch mehr zuſammenhäufen, Mißbrauch des
Regiments für die Zwecke der Beſitzenden, hartherzige
Frivolität gegenüber den nothleidenden Klaſſen; —
auf der anderen Seite die Maſſe der Beſitzloſen ohne
anderes Vorbild als dieſe Vermögensariſtokratie, ohne
Bildungselemente und geiſtige Anregung in ſich, ver-
zehrt von dumpfem gehäſſigem Neid, die Arbeit ver-
fluchend, ergeben einem leichtſinnigen Leben in den Tag,
[678]Schluß und Reſultate.
angeſteckt von den Laſtern der Beſitzenden, ſich proleta-
riſch vermehrend, bis in Folge der Laſter auch dieß auf-
hört; — als letztes Ergebniß ſoziale und kommuniſtiſche
Revolutionen von oben oder unten, allgemeinen Umſturz
oder eine Tyrannys, welche die Beſitzenden beraubt, um
den Beſitzloſen panem et circenses ohne Arbeit zu
reichen.
Noch ſind wir weit hiervon entfernt, noch ſind die
guten Elemente zahlreich, noch iſt die Ungleichheit des
Beſitzes nicht ſo groß, noch haben wir einen nicht
unbedeutenden Mittelſtand; aber kurzſichtig wäre es,
zu verneinen, daß unſere gegenwärtige induſtrielle Ent-
wicklung dahin neigt. Mit allen Mitteln iſt deßhalb
der ſteigenden Vermögensungleichheit entgegenzuarbeiten,
und eine der wichtigſten praktiſchen Fragen iſt eben die
möglichſte Erhaltung des noch vorhandenen Handwerker-
ſtandes.
Manche Anfänge dazu ſind auch vorhanden, ich
habe ſie da und dort erwähnt. Am wichtigſten iſt die
genoſſenſchaftliche Bewegung. Aber viel bleibt daneben
zu thun. Der ganze Standpunkt, von dem aus dieſe
Frage meiſt beurtheilt worden, iſt ein ungenügender.
Ich meine damit die Uebertragung des ſchönen Wortes
wirthſchaftlicher Freiheit von der Beſeitigung veralteter
mittelalterlicher Geſetze, die vom Liberalismus mit Recht
gefordert und durchgeführt wurde, — auf die Negation
poſitiver Aufgaben, die, wo es an freiwilligen Organen
der Geſellſchaft fehlt, der Staat wenigſtens theilweiſe
in die Hand nehmen muß, die theilweiſe ohne ein neues
Recht, ohne poſitive Geſetze gegenüber dem Schlendrian
[679]Das Prinzip der wirthſchaftlichen Freiheit.
und dem ſtets kurzſichtigen, immer nur an den nächſt-
liegenden Erwerb denkenden Egoismus der Maſſe nicht
durchzuſetzen ſind. Je mehr der Radikalismus das Alles
nur negirt, die ſtarre Reaktion ſich feſtklammert an den
Trümmern und Privilegien einer untergegangenen Zeit,
deſto mehr iſt es Sache der Mittelparteien, ſollte
es gerade auch Sache eines weitſehenden hochſinnigen
Liberalismus ſein, dieſe poſitiven Aufgaben durchzu-
führen, wenn er dadurch auch ſeinen eigenen Partei-
mitgliedern wirthſchaftliche Opfer auferlegt.
Immer wird man unter dem Paniere politiſcher
und wirthſchaftlicher Freiheit alle edel und idealiſtiſch
Denkenden ſich vereinigen ſehen. Aber die konkrete
Durchführung der einzelnen Freiheiten darf den prak-
tiſchen Boden der Wirklichkeit nicht verlaſſen, muß
immer darauf ſehen, mit welchen Menſchen und Ver-
hältniſſen man es zu thun hat. Die wirthſchaftliche
Freiheit, welche die Gegenwart fordert, iſt kein Unrecht
in abstracto, iſt keine Schablone, die immer und
überall paßt; ſie iſt nur ſoweit berechtigt, als ſie die
wirthſchaftlichen Tugenden des Fleißes, der Anſtrengung,
der Selbſtverantwortlichkeit fördert; ſie wird um ſo
ſegensvoller wirken, wenn es ſich um Erleichterungen
handelt, welche Allen oder den Meiſten zu Gute kom-
men. Aber vielfach wird auch ganz anderes im Namen
der wirthſchaftlichen Freiheit verlangt. Einige verlangen
von dem egoiſtiſchen Standpunkte ihres ſpeziellen Er-
werbes und Geſchäftes die Beſeitigung ſittlicher und
rechtlicher Schranken und Kontrolen, die der Geſammt-
heit zum Segen, nur der ungezügelten Gewinnſucht der
[680]Schluß und Reſultate.
Einzelnen zum Schaden gereichen. Sie wollen die Maſſe
rückſichtslos ausbeuten und ſuchen, oft unterſtützt durch
eine feile bezahlte kaufmänniſche Preſſe, der öffentlichen
Meinung weißzumachen, es geſchehe das im allgemeinen
Intereſſe. Nirgends freilich bin ich auch über ſolche
Mißſtände ängſtlich, wo es eine wahrhafte Oeffentlich-
keit giebt. Sie wendet alle wirthſchaftliche, wie alle
politiſche Freiheit bei geſundem Volksgeiſte zum Segen.
Aber die Oeffentlichkeit exiſtirt und beſteht nicht von
ſelbſt, nicht überall; ſie braucht Organe; ſie wirkt nur
günſtig und kräftig, wenn ſie geſunde und ſachverſtändige
Organe hat; die gewöhnliche Preſſe reicht nicht überall, iſt
nicht überall ſachverſtändig, nicht immer unbeſtechlich genug.
Nach unten, in den Kreiſen des Kleinverkehrs, des
Trödels, Hauſirhandels, der Schankwirthſchaft, der
kleinen Zwiſchenhändler ſind andere Verhältniſſe, als
im großen kaufmänniſchen Verkehr. Der Einkaufende
iſt ſelten Sachverſtändiger; der Verkaufende weiß, daß
keine öffentliche Meinung ihn ausfindig macht und brand-
markt, wie der große Kaufmann oder Fabrikant fürchten
muß, der ſeine Käufer täuſcht und betrügt. Die wirth-
ſchaftliche Freiheit kann hier die Untugenden und Miß-
ſtände mehr ſteigern, als ſie den Fleiß fördert. Eine
proletariſche Konkurrenz kann hier zugleich Kontrolen
nothwendig machen, nicht in erſter Linie der Käufer
wegen, die geprellt werden könnten, ſondern der Leute ſelbſt
wegen, die ohne das moraliſch und wirthſchaftlich noch
tiefer ſinken.1 In dieſen Kreiſen iſt auch entfernt nicht
[681]Die Kontrole wahrer Oeffentlichkeit.
jedes neue Zwiſchenglied, das der Verkehr einſchiebt,
berechtigt, wie man ſo oft ſagt. Das iſt nur im
höheren kaufmänniſchen Verkehr der Fall.1
Auch in höheren Kreiſen kann nur die ſittliche
Kontrole der Oeffentlichkeit verhindern, daß die unbe-
dingt freie Konkurrenz nicht die unreellen Geſchäfte
ſteigert. Wenn auf dem diesjährigen Genoſſenſchaftstage
der Antrag, „den verbundenen Vereinen die gegenſeitige
Informationsertheilung über Kreditverhältniſſe nach
beſtem Gewiſſen zur Pflicht zu machen und nach Be-
finden die Organiſation förmlicher Schutzgenoſſenſchaften
entweder ganz allgemein oder in einzelnen Verbänden
und Bezirken vorzubereiten,“ trotz Schulze’s Bemühun-
gen vollſtändig durchfiel, wenn die gern im Dunkeln
und Trüben Wirthſchaftenden alles Derartige für einen
neuen Polizeiſtaat erklärten, ſo iſt das ein ſehr trau-
riges Zeichen. Sie wollen die Freiheit ohne die ſittliche
Kontrole der Oeffentlichkeit, — ſie wollen unreelle Ge-
ſchäfte machen, unreellen Kredit haben, und wer das
ans Licht zieht, den erklären ſie für „eine neue Art von
ſchlimmem Polizeiagenten.“ Das iſt die abſchüſſige
Bahn, die von der Gewerbefreiheit zur Spielfreiheit, zur
Freiheit, betrügeriſchen Bankerott zu machen, endlich zur
Verbrechensfreiheit führt, von der man dann auch ver-
ſichern kann, ſie werde am vollſtändigſten die Ver-
brechen beſeitigen.
[682]Schluß und Reſultate.
Eine Reihe von Verhältniſſen entziehen ſich der
Oeffentlichkeit in ihrer wahren Geſtalt immer, wenn es
nicht amtliche Behörden gibt, die ohne jeden ſonſtigen
Eingriff einen ſichern Befund aufnehmen und ihn publi-
ziren. So im Verſicherungsweſen, theilweiſe im Bank-,
Berg- und Fabrikweſen. Welche günſtigen Folgen haben
die Publikationen der ſchweizer Fabrikinſpektoren für
die Behandlung der Arbeiter gehabt!
Ein Punkt aber iſt es vor Allem, der bisher ſtets
überſehen wurde. Freie Konkurrenz zwiſchen deutſchen
und engliſchen Spinnern, deutſchem und engliſchem
Eiſen, freie Konkurrenz zwiſchen dem Rübenzuckerſabri-
kanten und dem Hamburger Importeur, freie Konkur-
renz zwiſchen den Gewerben von Stadt und Land, freie
Konkurrenz zwiſchen Fabrik- und Hausinduſtrie, zwiſchen
den verſchiedenen Geſchäften derſelben Geſchäftsbranche,
— das Alles iſt ein total anderes Ding, als freie Kon-
kurrenz zwiſchen Herrn und Knecht, zwiſchen dem iriſchen
Lord und ſeinem Pachter, zwiſchen dem Fabrikanten und
ſeinem Arbeiter. Wo die wirthſchaftlichen Kontrahenten
als zwei ſoziale Klaſſen einander gegenüber ſtehen, die
eine ausgerüſtet mit der ganzen Uebermacht, welche Reich-
thum und Bildung gibt, die andere ohne alle dieſe Hülfs-
mittel, — da kann bei ſehr guten ſittlichen und wirth-
ſchaftlichen Verhältniſſen auch die abſolute Freiheit das
beſte ſein; aber ſehr oft wird die wirthſchaftliche Frei-
heit hier auch nur ſo viel bedeuten, als vollſtändige
Unterdrückung und blutige Ausnutzung. Da hilft auch
die Oeffentlichkeit ſelten allein, weil die Organe der-
ſelben im Beſitze der höhern Klaſſen ſind, weil die
[683]Die theilweiſe Berechtigung ſtaatlicher Eingriffe.
etwaigen Organe der untern Klaſſen durch einzelne Roh-
heiten und Pöbelhaftigkeiten unehrlicher und ehrgeiziger
Führer entſtellt werden, übers Ziel hinausſchießen, eine
ſonſt gute Sache zu oft diskreditiren. Deßwegen können
die Zuſtände leicht ſo liegen, daß der Staat im Inter-
eſſe der Allgemeinheit, als Träger der ſittlichen Zukunft
der ganzen Nation irgendwie eingreifen muß.
Die Gegner jeder ſolchen Maßregel ſuchen ſie
dadurch lächerlich zu machen, daß ſie es darſtellen, als
ob ein ſolcher Eingriff nur ſtattfinden könne in der
Form plumber Lohnregulirung, die in Widerſpruch mit
Angebot und Nachfrage ſtehe, oder in der Form roher
ſozialiſtiſcher Eigenthumsverletzungen, daß ſie jede derartige
Thätigkeit zuſammenwerfen mit jenem „furor bureau-
kraticus,“ der ohne Verſtändniß für bürgerliche Freiheit
und Selbſtändigkeit alles durch Beamte regeln läßt.
Gewiß haben wir in Deutſchland bisher an einem
Uebermaß von Beamtenmaßregelung gelitten; gewiß gilt
es vor Allem, die Bureaukratie zu beſchränken, ihr
durch entſprechende Reformen Gegengewichte zu ſchaffen;
aber einer komplizirten Geſetzgebung können wir damit
für unſere komplizirten Kulturverhältniſſe nicht entbehren.
Wir haben nur dafür zu ſorgen, daß ein möglichſt großer
Theil dieſer Geſetze durch die Organe der Selbſtver-
waltung, durch Ehrenämter, durch Bürger ſelbſt und
nicht durch Beamte ausgeführt werden. Für andere
Dinge, beſonders für ſolche, in welchen die Klaſſen-
intereſſen der Beſitzenden engagirt ſind, können wir
dagegen der ſtaatlichen Organe nicht entbehren. Haben
wir aber erſt eine richtige Selbſtverwaltung in der
[684]Schluß und Reſultate.
Gemeinde und im Kreiſe, ſo iſt ſehr gut Platz für ein
nothwendiges ſtaatliches Fabrik- und Gewerbeinſpektorat.
Ich habe viel über Gensdarmen, über Landräthe und
Regierungen klagen hören; aber nie habe ich von ver-
nünftigen Leuten gehört, unſere Spezialkommiſſare und
Generalkommiſſionen ſeien ein überflüſſiges ſchädliches
Reis am Baume der Bureaukratie; und ihnen wären
etwaige neue Behörden derart gleichzuſtellen.
Man mag zweifeln, ob unſere gegenwärtige preu-
ßiſche Bureaukratie zu ſolchen Aemtern, zu ſolcher Thä-
tigkeit fähig ſei. Huber ſelbſt ſpricht es aus, nur weil
er die gegenwärtige Generation gewöhnlicher preußiſcher
Beamten hierfür nicht für qualifizirt halte, ſei er nicht
dafür, daß die Regierung ſich irgendwie in das Ge-
noſſenſchaftsweſen miſche. Aber das iſt zu ändern;
wenn es die rechten Leute nicht gibt, ſind ſie zu ziehen.
Ein großer Theil unſerer Liberalen widerſtrebt allen
ſolchen Maßregeln nur, weil ſie die im Augenblick an
der Regierung befindliche Partei nicht ſtärken wollen; ſie
würden, wie es jeder liberalen Partei, die zur Regie-
rung kommt, gegangen iſt, — ſpäter ſelbſt Maßregeln
durchführen müſſen, die ſie heute bekämpfen.
Aber ſozialiſtiſch iſt jeder ſolche Eingriff in die
freie Volkswirthſchaft, das iſt jetzt das beliebte Schlag-
wort, mit dem eine abſtrakte Theorie, wie der behag-
liche Beſitz der Mittelklaſſen zugleich die unſinnigſten
Umſturzideen, wie die heilſamſten ſozialen Reformpläne,
welche den beſitzenden Mittelklaſſen einige Opfer oder
Unbequemlichkeiten, einige Kontrole ihrer Geſchäftsbetriebe
auferlegen, bekämpft und brandmarkt. Ich billige nicht
[685]Was iſt ſozialiſtiſch?
die übertriebene Verachtung, die täglich von gewiſſer
Seite über den Egoismus dieſer bürgerlichen Mittelklaſſen,
über dieſe „geldſüchtige Bourgeoiſie,“ über dieſe „Man-
cheſterſchule,“ über dieſe Doktrin der Geldſäcke, welche
nur deßwegen Freiheit verlange, um ohne jede Schranke
durch ihr Geld allein zu herrſchen, ausgegoſſen wird.
Aber wer möchte unſere Fabrikanten und Bankiers, unſere
Ingenieure und Unternehmer, wenn er gerecht iſt, ganz
freiſprechen? Sie ſind allerdings andere Leute als die
engliſchen Mancheſterleute und als die franzöſiſche Bour-
geoiſie von 1830 — 48. Aber hat ſie nicht auch Mohl
die Non Donnants genannt? haben ſie nicht ihr ſpezi-
fiſches Klaſſenintereſſe, und tritt das nicht nur allzu oft
und grell in ihren politiſchen Maßnahmen und Doktrinen
hervor? Maskiren ſie nicht oft mit dem ſchönen Worte
der wirthſchaftlichen Freiheit nur, was ihrem Geld-
beutel und ihren Spekulationen ausſchließlich Gewinn
bringt? Unſere Konſervativen dürfen nichts ſagen. Der
Großgrundbeſitz trägt in allen Steuerfragen, in der
ländlichen Arbeiterfrage ſeinen wirthſchaftlichen Egoismus
noch nackter und naiver zur Schau. Unſere bürger-
lichen Mittelklaſſen erheben ſich durch den Einfluß von
Gelehrten, Beamten, Juriſten immer noch eher zu
höheren idealen Geſichtspunkten. Aber geſündigt wird
auf beiden Seiten, und die Rückwirkung davon trifft
beidesmal die arbeitenden, die unteren Klaſſen.
Was iſt denn nun aber eigentlich der von den
radikalen Volkswirthen ſo ſehr gebrandmarkte Sozialis-
mus? Die vollſtändige Negation des Eigenthums- und
Erbrechts wird ſo genannt, aber auch jede Thätigkeit der
[686]Schluß und Reſultate.
Regierung für die unteren Klaſſen, die ganze Armen-
pflege, die ſtaatlichen Unterſtützungs- und Sparkaſſen,
die geſetzmäßige Organiſation des Knappſchaftsweſens,
die Fabrikgeſetzgebung, vollends das Inſtitut der Fabrik-
inſpektoren, der Staatskredit für Wohnungen der arbei-
tenden Klaſſen, wie er in England lange gegeben wird;
das alles wird ohne Weiteres in einen Topf geworfen.
Wer noch auf ſolch’ überwundenem Standpunkte ſteht, der
wird als Sozialiſt oder als pſeudoreaktionärer Schleicher
verurtheilt. Er kann den Eid auf die alleinſeligmachende
Lehre von der wirthſchaftlichen Freiheit ja nicht leiſten;
er wird ausgeſtoßen.
Auch ich verurtheile jede Maßregel, die aus unehr-
lichen oder Nebenabſichten willkürlich in das beſtehende
Eigenthum eingreift, die von materialiſtiſcher Gleich-
macherei diktirt, von brutaler Leidenſchaft und neidiſchem
Haß geſchürt, frivol die Kontinuität unſerer Rechts-
inſtitutionen entzwei reißen, eine neue willkürliche Ord-
nung des Beſitzes vornehmen will, ohne die Garantie
zu bieten, daß die, welche nun mehr erhalten, dadurch
beſſere und glückliche Bürger werden. Aber ich habe
nicht jene kleinliche Furcht vor jeder Maßregel, die
irgendwie das beſtehende Eigenthum und ſeinen Werth
berührt. Das Eigenthum iſt kein abſolutes; der Werth
des Eigenthums iſt immer mehr Folge der Geſellſchaft
als Verdienſt des Einzelnen; jeder Einzelne iſt der Ge-
ſellſchaft und dem Staate ſo tauſendfach verpflichtet,
daß ſein Eigenthum nur denkbar iſt mit weitgehenden
Pflichten und Laſten gegen das Ganze. Für gewöhnlich
werden dieſe in mäßigen Grenzen ſich halten. In großen
[687]Die berechtigten Eingriffe ins Privateigenthum.
außerordentlichen Zeiten können auch große Opfer gefor-
dert werden. In einem Staate der allgemeinen Wehr-
pflicht, in einem Staate, welcher das Recht hat, das
Leben ſeiner Bürger jeden Augenblick fürs Ganze zu
fordern, wie lächerlich iſt da eine Eigenthumstheorie,
welche das kleinſte Opfer für das Ganze als unſinnigen
Sozialismus bezeichnet. Sind irgendwo die Klaſſen- und
Beſitzverhältniſſe durch wirthſchaftliche oder andere Ur-
ſachen ſo abnorm geworden, daß dadurch die ganze
Zukunft des Staates und der Geſellſchaft bedroht iſt,
und greift dann eine hochherzige Regierung auf geſetz-
lichem Wege ein, ſtellt die Maßregeln nach genauen
Prüfungen feſt, läßt ſie geordnet ausführen, ſo werden
immer Privatintereſſen verletzt werden, ſo werden die
Verletzten über Vergewaltigung immer klagen, ſo werden
einzelne darüber zu Grunde gehen, aber der unbefangene
Hiſtoriker einer ſpäteren Zeit wird die Maßregel nicht
als unheilvoll ſozialiſtiſch verdammen. Iſt nicht heute
noch das Herz jedes Edeldenkenden auf Seite Solon’s,
wenn er die Schuldverhältniſſe der untern Klaſſen
Athens ordnet, ihre Schulden reduzirt; ſind wir nicht
heute noch alle auf Seite der landfordernden Plebejer
in Rom, auf Seite jener ſpäteren kaiſerlichen Geſetze,
welche verboten, dem Kolonen den Pachtzins weiter zu
erhöhen? Billigen wir nicht die mittelalterlichen und
ſpäteren Säkulariſationen, die eben auch nichts waren
als Eigenthumsverletzungen, um eine ungeſunde An-
häufung des Beſitzes aufzuheben, wieder eine geſun-
dere Grundbeſitzvertheilung herbeizuführen. Was iſt
unſere ganze moderne Agrargeſetzgebung, Separation
[688]Schluß und Reſultate.
und Ablöſung, durch welche die Berechtigten oft mehr
als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als
eine jener gewaltſamen, aber unendlich ſegensvollen
Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade als man
in Preußen überall, wo es ging, wirthſchaftliche Freiheit
und freien Verkehr proklamirte, ſetzte man Staats-
behörden ein, um da zu interveniren. Warum überließ
man das nicht auch dem Voluntarismus, wenn er
Alles leiſten kann? Warum verbot man die alten
Zuſtände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn
der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichſte
immer von ſelbſt findet? Warum ſchuf man durch
gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Geſetze unſern
deutſchen Bauernſtand, den Stolz und die Zierde unſerer
Volkswirthſchaft, wenn durch den freien Verkehr die
richtige Vermögens-, Boden- und Einkommensverthei-
lung ſtets von ſelbſt erfolgt? Halt — wird man ſagen
— da galt es verrottete, veraltete, durch Gewalt ent-
ſtandene Zuſtände zu beſeitigen. Ja, iſt denn heute
jede Gewalt abweſend? Iſt die Lage, iſt die Bildung
unſerer unteren Klaſſen nicht auch eine Nachwirkung
Jahrhunderte alter Mißbräuche? Werden die heutigen
Zuſtände unſeres Proletariats ſpäteren Zeiten nicht
ebenſo erſcheinen, wie uns die Lage der Bauern im
vorigen Jahrhundert? Wird das Privat- und Polizei-
recht unſerer Zeit ſpäter nicht vielleicht für ebenſo hart
und gewaltſam gehalten werden, als es der Gegenwart
geläufig und natürlich vorkommt?
Doch will ich keine direkten Folgerungen aus der
Agrargeſetzgebung von 1808 — 50 auf unſere heutige
[689]Die Klaſſengegenſätze als Bildungsunterſchiede.
Gewerbegeſetzgebung ziehen. Wären die Zuſtände ſo
ſchlimm, daß eine ſolch’ radikale Reform nothwendig wäre,
die Ausſicht, ſie durchzuſetzen, würde gering ſein. Nur
einer großen tiefbewegten Zeit, nur politiſchen Zuſtänden,
welche zu einer kürzern oder längern Diktatur führen,
ſind ſolche koloſſale Reformen eigen. Freie parlamen-
tariſche Verfaſſungen ſind, wie das Gneiſt immer betont,
nicht für den Austrag ſolcher tiefen ſozialen Kämpfe
geſchaffen, da der Parteikampf in dieſem Falle zum
erbitterten Klaſſenkampf ausarten würde.
Es handelt ſich aber auch, wie geſagt, um ſo tief
greifende Reformen noch nicht. Mildere Mittel reichen,
an Beſtehendes kann angeknüpft werden. Immer iſt
es beſſer, wenn ein äußerer Eingriff in die beſtehende
Beſitzvertheilung vermieden werden kann, da ſeine
pſychologiſche Wirkung ſtets problematiſch bleibt. Für
das gewerbliche Leben, von deſſen Reform wir hier
ſprechen, iſt auch der Beſitz nie ſo wichtig, wie die per-
ſönlichen Eigenſchaften. Gelingt die geiſtige und tech-
niſche Hebung des Handwerkerſtandes, wie des Arbeiter-
ſtandes, ſo iſt damit das Wichtigſte erreicht. Es han-
delt ſich in erſter Linie um eine Erziehung der Leute
zu andern geſellſchaftlichen Gewohnheiten, zu andern
häuslichen Sitten, zu einem weitern Blick, zu einer
höhern techniſchen Bildung. Wenn wir das voranſtellen,
können wir auch eher hoffen, die verſchiedenen politiſchen
Parteien für unſere Vorſchläge zu gewinnen. Aber das
iſt zu betonen, daß die bloßen Privatkräfte nicht aus-
reichen. Man darf ſich nicht einbilden, Alles Nothwendige
ſei geſchehen, wenn Gewerbe- und Bankfreiheit, Ehe- und
Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 44
[690]Schluß und Reſultate.
Niederlaſſungsfreiheit errungen iſt. Man darf nicht
glauben, alles Uebrige finde ſich von ſelbſt. Ueberall
muß dieſer negativen Thätigkeit eine poſitive zur Seite
gehen, wobei Private und Vereine, Schule und Kirche,
Gemeinden und Staatsregierung mitzuwirken, zu fördern
haben, wobei theilweiſe auch neue Beamtenorgane und
neue Geſetze unentbehrlich ſind.
Die wichtigſte Grundlage der Arbeiter- und Hand-
werkerfrage iſt die Bevölkerungsbewegung. Ich will nur
andeuten, wie auch hier die bloß negative Beſeitigung
bisher beſchränkender Geſetze allein die Uebelſtände unſerer
Zeit nicht heilt.
Der außerordentliche ſtarke Bevölkerungszuwachs
kann immer leicht zu einem übermäßigen Angebot von
Arbeit und damit zum Druck und zur Noth der arbei-
tenden Klaſſen führen. Die optimiſtiſche Freihandels-
ſchule glaubt das nicht. Sie hält die ſtärkſte Bevölke-
rungszunahme für das Beſte. Das Kapital wachſe
immer von ſelbſt noch ſchneller. Iſt das aber ſo ſicher
und kommt es nicht auf die Vertheilung des Beſitzes,
des Kapitals an? Ich habe oben ſchon auszuführen ver-
ſucht, daß allerdings eine immer dichtere Bevölkerung
die Vorausſetzung jeder höhern Kulturſtufe ſei, daß
unſere gegenwärtigen deutſchen Verhältniſſe noch lange
einen großen Zuwachs brauchen können, daß aber die
Bedingungen, den Zuwachs zum Segen zu wenden,
nicht ſo einfach ſeien. Sie liegen in einer totalen
Aenderung der volkswirthſchaftlichen Organiſation, wo
möglich in einer andern gleichmäßigern Vertheilung des
Grundbeſitzes, in dem Aufblühen neuer Induſtrien, in
[691]Die Bevölkerungsfrage.
einer andern lokalen und berufsmäßigen Vertheilung
der Bevölkerung. Alle dieſe Aenderungen haben wieder
ſo mannigfache Vorbedingungen, vollziehen ſich nur nach
ſo ſchweren Kämpfen, Irrungen, Geſetzesänderungen,
daß man ſich nicht wundern darf, wenn ſie häufig
zunächſt hinter dem Zuwachs der Bevölkerung zurück-
bleiben. Und das iſt, nicht allgemein, aber doch
jedenfalls in einzelnen Gegenden und Verhältniſſen bei
uns der Fall. Die neueſten Reſultate der Bevölkerungs-
ſtatiſtik ſind keine durchaus erfreulichen. Ich will nur
einige Punkte nach Engel, Wappäus und Horn anführen.
Obwohl die Zahl der überhaupt Verheiratheten, wie
die jährliche Trauungsziffer in Preußen ziemlich abge-
nommen, hat die verhältnißmäßige Zahl der Geburten
kaum etwas ſich vermindert. Ein übermäßig großer Theil
der Neugebornen ſtirbt wieder in den erſten Jahren.
Preußen und einige andere deutſche Staaten haben
überhaupt die größte Kinderſterblichkeit; beſonders trifft
dieſer Vorwurf die induſtrielle Bevölkerung. Der Acker-
bau erzeugt weniger, aber lebensfähigere Geburten.
Die Urſache iſt naheliegend; ein übergroßer Theil der
Eltern iſt nicht in der Lage, die große Zahl Kinder ſo
zu nähren und zu pflegen, daß ſie das höhere Alter
erreichen, der Nation das wieder erſetzen, was ſie in
ihrer Jugend gekoſtet. Es iſt eine der ſchwerſten
wirthſchaftlichen Laſten für eine Nation, wenn ſie
einen beſtimmten Bevölkerungszuwachs, den ſie mit
viel weniger Geburten und Todesfällen haben könnte,
ſo d. h. mit einer Ueberzahl Geburten und einer
übergroßen Kinderſterblichkeit ſich erwirbt. Es deutet
44 *
[692]Schluß und Reſultate.
das immer mehr oder weniger auf proletariſche
Zuſtände.
Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die
Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens-
dauer iſt von der Wiſſenſchaft längſt in’s Reich der
Mährchen verwieſen. Die einzige wiſſenſchaftliche Be-
rechnung für Preußen, welche ſich auf das Durchſchnitts-
alter der jährlich Geſtorbenen bezieht, zeigt, daß dieſes
ſukzeſſiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen-
wart abgenommen hat. Das Leben iſt eine durch-
ſchnittlich kürzere Erſcheinung geworden. Arbeit und
Genuß reiben es auf. Wechſelvollere Kämpfe und Schick-
ſale treffen das Leben der Meiſten und laſſen dieſes
Reſultat natürlich erſcheinen.
Und dem gegenüber ſollte es ausreichen, wenn
man nur unbedingt die Feſſeln abſtreift, die da und
dort der Eheſchließung entgegenſtehen? Erzählen uns
die Berichte beſonders aus den Gegenden der Haus-
induſtrien, der Weber- und Fabrikdiſtrikte nicht, daß
übermäßig junge und leichtſinnige Ehen im Alter von
20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht die
erſte Quelle des Elends ſind, aber nachdem es vor-
handen, die wichtigſte Urſache der Steigerung bilden?
Ich gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerſchwerung unge-
recht und ſchablonenhaft iſt, daß ſie, wo in der prole-
tariſchen Geſinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf-
gehört hat, wo der Arme, im Gefühl, ſchlimmer könne
es nicht mehr werden, ſich dem einzigen Genuſſe, der
ihm geblieben, ohne jeden Rückhalt ergibt, leicht nur
zu einer Mehrzahl von unehelichen Geburten führt. Aber
[693]Die Reformen in Bezug auf das Fabrikſyſtem.
das beweiſt nicht, daß nicht andere poſitive Bemühungen
der verſchiedenſten Art der Ehefreiheit zur Seite zu
treten haben, um das leichtſinnige überfrühe Heirathen
zu erſchweren, das Verantwortlichkeitsgefühl nach dieſer
Richtung wieder zu ſteigern.
In Bezug auf das gewerbliche Leben ſelbſt nun
iſt zu ſcheiden zwiſchen den Geſchäften, die einmal noth-
wendig dem großen Fabrikbetrieb anheimfallen, und denen,
welche dem Handwerk und der Hausinduſtrie bleiben.
Den erſteren Kreis der Gewerbsthätigkeit etwa
künſtlich auch den kleinen Geſchäften erhalten zu wollen,
wäre durchaus verwerflich. Da iſt das Fabrikſyſtem zu
akzeptiren, aber ſo auszubilden, daß der Arbeiterſtand
ſeiner jetzigen meiſt elenden Lage entriſſen wird. Die
äußern Verhältniſſe, in denen er hier lebt, ſind ſo zu
geſtalten, daß ſie nicht mehr nothwendig an ſich zu
pſychologiſchen Urſachen von Inmoralität, von unglück-
lichen Ehen und leichtſinniger Lebenshaltung werden. Die
Mittel dazu ſind mannigfach, ich habe ſie hier nicht näher
zu beſprechen; es handelt ſich um die Schul- und die
techniſche Bildung, um Spar- und Krankenkaſſen, um
die richtige Organiſation von Arbeitseinſtellungen, um
die Wohnungsfrage, um die Bezahlung nach dem Stück,
um die Hinzufügung von Prämien, um die Haftung
der Unternehmer für Unglücksfälle, um die Betheiligung
am Gewinn, um das Syſtem der Industrialpartnership,
um das Genoſſenſchaftsweſen, die Konſumvereine, die
Produktivaſſoziation. Nur eines möchte ich hier noch
betonen: die Ausbildung einer klaren konſequenten ſpe-
zialiſirten Fabrikgeſetzgebung und die Schaffung ſelbſtän-
[694]Schluß und Reſultate.
diger Organe, welche dieſelbe handhaben. Die neue Ge-
werbeordnung hat nur die ſchüchternſten Anfänge hierzu;
ihre Beſtimmungen über Inſpektionen, geſundheitliche Vor-
richtungen u. ſ. w. ſind meiſt ſo vag, daß ſie entweder gar
nichts oder Alles ſagen. In den Händen unſerer gewöhn-
lichen lokalen Polizeibehörden ſind ſie nicht viel mehr als
ein todtes Stück Papier. Allerdings kann eine ſolche Geſetz-
gebung nur auf Grundlage umfaſſender Enquêten richtig
ſich aufbauen und in ſofern mußten die weitergehenden
Anträge der Sozialiſten und Konſervativen zunächſt ab-
gelehnt werden. Aber die meiſten gegneriſchen Reden
im Reichstag zeigten den vollſtändigſten Mangel an Ver-
ſtändniß für die ideale und weitgreifende Bedeutung
einer derartigen Fabrikgeſetzgebung, brachten nur einen
kurzſichtigen Doktrinarismus und die egoiſtiſchen nächſt-
liegenden Intereſſen der Unternehmerklaſſe zum Ausdruck.
Die Bedeutung einer eingehenden ſpezialiſirten
Fabrikgeſetzgebung, wie der engliſchen, liegt nicht ſowohl
in den zunächſt ergehenden Geboten und Verboten (dieſe
müſſen oft plumb eingreifen, auch berechtigte Inter-
eſſen verletzen, können allein nie helfen, wenn ſie nicht
dauernd auf die innern Urſachen der Schäden wirken);
ſie liegt in dem erziehenden, die ſittlichen Anſchauungen
von Fabrikanten und Arbeiter ſukzeſſiv ändernden Ein-
fluß, wie er für die engliſche Geſetzgebung neuerdings
von Ludlow und Jones ſo ſchön nachgewieſen wurde.
Nachdruck hat eine ſolche Geſetzgebung aber nur in
der Hand eigener reiſender Beamten, wie es die eng-
liſchen Fabrikinſpektoren ſind. Selbſt die freie Schweiz
hat ſich dieſer Inſtitution bemächtigt; bei uns wird
[695]Die Reformen in Bezug auf das Handwerk.
man als Sozialiſt und Pſeudoreaktionär bezeichnet, wenn
man ſie verlangt. Eine geringe Zahl ſolcher Beamter
mit je großen Bezirken würde genügen. Ihnen wäre
auch das großentheils in die Hand zu geben, was für
das eigentliche Handwerk und die Hausinduſtrie von
Regierungsſeite geſchehen könnte.
Was kann aber geſchehen? Es konzentrirt ſich in
zwei Punkten: 1) Erziehung der arbeitenden Klaſſen,
d. h. Schulbildung und eine möglichſt überall zugänglich
zu machende techniſche Erziehung und 2) Ueberleitung in
neue Zuſtände und Verhältniſſe, ſoweit eine zurückgeblie-
bene Bildung der Handwerker das nicht ſelbſt vermag.
Aber ſollen wir dabei den ſegensvollen Weg der
Selbſthülfe verlaſſen? Was heißt Selbſthülfe? Kein
Gegenſatz iſt falſcher und unklarer, als die hergebrachte
Gegenüberſtellung von Staatshülfe und Selbſthülfe.
Ob Schulze-Delitzſch, ob ein Fabrikinſpektor Genoſſen-
ſchaften organiſirt, ſie ordentlich Buch führen, ſparen
und ſammeln lehrt; in beiden Fällen wirkt die höhere
Bildung, getrieben von ſittlichen Motiven, auf die
untern Klaſſen, erzieht ſie und hebt ſie. Die national-
ökonomiſche Schule, welche nur den platten Egoismus
anerkennt, muß jede Genoſſenſchaft, in der immer die
Tüchtigſten und Beſten für die Geſammtheit arbeiten,
verdammen. Auch Schulze’s und aller ſeiner tüchtigen
Anhänger Einfluß iſt, wie ich ſchon oben bemerkte, in
erſter Linie ein erziehender. Es iſt eine Thätigkeit, die
ſtets in einzelnen Fällen eben ſo ſchlimm, oder vielmehr
eben ſo erfolglos wirken kann, wie etwaige Staatsthätig-
keit, nämlich dann, wenn die Aufopferung, die Thätigkeit
[696]Schluß und Reſultate.
der Leiter und Stifter die Mitgenoſſen nicht erzieht und
emporzieht, wenn dieſe nur den Vortheil der Genoſſen-
ſchaft ausnutzen, ohne ſelbſt dadurch andere Menſchen
zu werden. Jede Staatshülfe iſt dann verwerflich, wenn
ſie bloß äußerlich eingreift, wenn ſie Leuten, die es nicht
verdienen, die dadurch innerlich nicht anders werden,
Geld und Kapital bietet. Sie iſt dann berechtigt und
ſteht mit der ganzen Schulze’ſchen Bewegung vollſtändig
auf einer Linie, wenn ſie die erziehende Thätigkeit, die
geiſtige Hebung voranſtellt und erreicht. Sie iſt dann
nothwendig, wenn der Voluntarismus nicht ausreicht
wie hier; wenn er, um recht zu wirken, einer über den
ganzen Staat ſich erſtreckenden feſtgegliederten Organi-
ſation bedarf. Und das iſt der Fall. In kleinern
Städten, in den abgelegenen Gegenden der Hausinduſtrie
fehlen die freiwilligen Kräfte, welche die großen Städte
bieten; eine feſtgegliederte allgemeine Organiſation ſtrebt
ja Schulze ſelbſt an; wo eine ſolche aber einmal noth-
wendig iſt, da wird für die Regel der Staat, d. h. die
organiſirte Geſammtperſönlichkeit aller berufen ſein, ſie
in die Hand zu nehmen. So lange Schulze lebt und
ſeine Anwaltſchaft ſo tüchtig wirkt, iſt ſie gewiß beſſer,
als jede Staatsthätigkeit. Später werden die Dinge
anders liegen. Jedenfalls iſt für jetzt die lokale Thätig-
keit von unten herauf das wichtigere. Da gilt es nicht
Schulze zu verdrängen, ſondern ihm nachzueifern und,
wo es an Organen dazu fehlt, ſie zu ſchaffen.
Der erſte Punkt iſt die Schulfrage. Bei unſerer
heutigen ſonſtigen Rechts- und Staatsverfaſſung ſind alle
ſozialen Gegenſätze in erſter Linie Bildungsgegenſätze.
[697]Die Schulfrage.
Längſt hat man in Preußen — im ſchroffen Gegenſatz
gegen die Theorie, Alles müſſe ſich in Leiſtung und
Gegenleiſtung auflöſen — ſich auf den erhabenen „ſoziali-
ſtiſchen“ Standpunkt geſtellt, die Schulbildung für eine
nationale Angelegenheit zu erklären. Der Schulzwang
exiſtirte ſchon vor dem Landrecht; das Landrecht fügt
ihm den Satz bei, daß die Schulen auf Steuern zu
baſiren ſeien, ſtatt auf die direkte Gegenleiſtung, auf das
Schulgeld. Bis in die neueſte Zeit hat ſich der Streit
über die letztere Frage hingezogen. Es war Lorenz
Stein und Gneiſt vorbehalten, die eminent ſoziale Be-
deutung der Frage ins Licht zu ſtellen: Die Geſellſchaft
iſt verpflichtet, die aufwachſende unmündige Generation
auszurüſten mit dem Maße der Bildung, welche die
arbeitende Kraft über die bloß mechaniſche Leiſtung und
damit über das Maß des Maſchinenlohns, über das
Niveau des Proletariats erhebt. Dieſer Pflicht kommt
die Geſellſchaft nur nach, wenn ſie den unbedingten
Schulzwang ausſpricht, die wirthſchaftliche Laſt der
Schule auf Steuern, d. h. in erſter Linie auf die
Schultern der Beſitzenden überträgt, die Forderungen an
den Elementarunterricht ſteigert, die ganze Schulorgani-
ſation beſonders auf dem Lande ändert und dadurch das
ganze geiſtige Niveau der untern Klaſſen emporhebt.
Der zweite Punkt iſt die techniſche Bildung. Die
beſitzenden Klaſſen haben längſt dafür geſorgt, daß ſie
auf Staatskoſten (denn die Schul-, Kolleggelder ꝛc. ſind
faſt verſchwindend) Univerſitäten, landwirthſchaftliche und
andere Fachſchulen, Polytechniken haben, ſich eine über-
legene Bildung auf ihnen ſchaffen. Dieſen höhern
[698]Schluß und Reſultate.
Schulen folgten die Mittelſchulen, Provinzialgewerbe-
ſchulen, Baugewerkſchulen und ähnliche Inſtitute, die
aber, wie ich ſchon oben hervorhob, auch mehr
der höhern beſitzenden Klaſſe, den größern Werk-
meiſtern, als den kleinen Handwerkern zu gute
kommen. 1 Einzelne Fachſchulen für die Meiſter und
Arbeiter der Hausinduſtrie hat die Noth da und dort
hervorgerufen: Spinnſchulen, Webſchulen, Poſamentier-
ſchulen, Uhrmacherſchulen, Strohflechtſchulen, Klöppel-
ſchulen, Näh- und Strickſchulen. Anderwärts fehlt
es noch ſehr an ſolchen. Manches haben dann in
ſpäterer, meiſt erſt in allerneueſter Zeit, freiwillige
Sonntagsſchulen, der Unterricht in Arbeiter- und Ge-
werbevereinen geleiſtet. Dennoch muß ich die oben aus-
geſprochene Behauptung aufrecht erhalten, daß dieſe
Bemühungen nicht reichen, dem kleinen Meiſter, dem
Geſellen und Lehrling in Dörfern und kleinen Städten
unzugänglich ſind. Nur eine ſyſtematiſche Ordnung des
Zeichen- und gewerblichen Fortbildungsunterrichts, wie
ſie in Württemberg erfolgt iſt und dieſe Wohlthaten
bis in die kleinſten Städte und größern Dörfer hinaus-
trägt, genügt. Ob nicht den Unternehmern ein Zwang
zur Freilaſſung gewiſſer Stunden für den Beſuch der
Schulen, den Arbeitern ein gewiſſer Zwang des Beſuchs
aufzuerlegen ſei, wird neuerdings ſogar in vielen Handels-
kammerberichten als eine offene Frage behandelt. Ich
[699]Die techniſchen Schulen.
ſehe in dieſem Unterricht faſt das einzige Gegengewicht
gegen die durchaus einſeitige, keine techniſche und menſch-
liche Erziehung gewährende Beſchäftigung unſerer 14—
18 jährigen jungen Leute in den großen Geſchäften.
Die Prüfungsatteſte ſolcher Schulen haben die Lehrlings-,
Geſellen- und Meiſterprüfungen zu erſetzen.
Außerdem handelt es ſich darum, an ſolchen
Stellen, wo der Uebergang zu neuen Verhältniſſen dem
Handwerkerſtande allein nicht möglich, wo die entſtehende
große Konkurrenz zu plötzlich gleichſam ihn überfällt,
auch poſitiv einzugreifen. Und dazu bedarf es der Or-
gane. Die Berliner Innungen haben vorgeſchlagen im
Gegenſatz zu den Handelskammern Gewerbekammern,
in welchen das kleine Handwerk zu Worte komme und
ſeine Intereſſen vertrete, zu gründen. Damit wäre
aber nichts erreicht. Was beſſern ſolche Kammern?
Selbſt die Thätigkeit der beſtehenden Handelskammern
konzentrirt ſich in ihren Jahresberichten. Daß dieſe, ver-
faßt meiſt von beſoldeten Literaten, welche der großen
Induſtrie immer näher ſtehen, als dem kleinen Handwerk,
alle Dinge mehr nur vom Standpunkt der großen Indu-
ſtrie und des Handels betrachten, iſt wahr. Man hat die
Berichte ſpöttiſch oft ſchon die Wunſchzettel unſerer großen
Unternehmer genannt. Ob das zu ändern wäre, durch
andere Zuſammenſetzung, will ich hier nicht erörtern,
ſo viel aber iſt unzweifelhaft, daß Gewerbekammern, in
welchen nur kleine Meiſter ihre Intereſſen berathen, die
Handwerkerſache wieder mit dem ſogenannten Handwerker-
recht zuſammenwerfen und nicht viel Erſprießliches
leiſten würden.
[700]Schluß und Reſultate.
Auf der andern Seite ſind die beſtehenden Staats-
organe für die in Frage kommenden Aufgaben durchaus
unfähig. Der Landrath verſteht nichts davon, iſt mit
andern Geſchäften und Schreibereien überhäuft, von den
mannigfach noch vorhandenen Herren gar nicht zu
ſprechen, welche jeden gewerblichen Fortſchritt in ihrem
Kreiſe überhaupt als ein Unglück, als eine Neuerung,
als eine Gefahr für den alten befeſtigten Grundbeſitz
beklagen. In den Regierungen und ſtädtiſchen Magi-
ſtraten hat irgend ein älterer wohlwollender Rath
nebenher auch ein Dezernat in Gewerbeſachen, gewerb-
lichen Unterſtützungskaſſen und Aehnlichem. Aber was
außer dem hergebrachten Abarbeiten der Nummern liegt,
wäre in der Regel zu viel von ihm verlangt, wenn
auch rühmenswerthe Ausnahmen vorkommen.
Es bedarf einzelner nur hiermit beſchäftigter hoch-
gebildeter und gutbezahlter Beamter, gewählt nicht noth-
wendig aus dem Kreiſe der Bureaukraten, ſondern und
vielleicht noch eher aus dem Kreiſe tüchtiger Techniker
oder Kaufleute, die an der Spitze eines großen Bezirks
gleichſam die Anwälte der arbeitenden Klaſſen würden.
Ich meine damit etwa eine Kombination der württember-
giſchen Zentralſtelle und des engliſchen Fabrikinſpektorats.
Die Inſpektoren hätten neben der Aufſicht über die
Fabriken, neben der Aufgabe, die Berichte hierüber zu
publiziren, die Verpflichtung, den kleinern Leuten mit
Rath und Anweiſung, unter Umſtänden auch mit poſi-
tiver Hülfe beizuſtehen. Ein gewiſſer Fonds, angewieſen
auf ſtaatliche oder kommunale Mittel, müßte ihnen zur
Seite ſtehen. Ihre Hauptſorge hätte ſich zu beziehen
[701]Das Gewerbe- und Fabrikinſpektorat.
auf die techniſchen Fortſchritte der kleinen Geſchäfte;
lokale Ausſtellungen von Geräthen, Werkzeugen und Ma-
ſchinen aus dem Kreiſe der kleinen Gewerbe, Prämien
für Anſchaffung ſolcher, einzelne Reiſeunterſtützungen,
unter Umſtänden Ueberlaſſung von Werkzeugen auf Probe
könnten hinzukommen. Hauptſächlich aber hätten ſie Ge-
noſſenſchaften anzuregen, wo es an der Initiative fehlte,
die Leute zur Theilnahme zu bewegen, die Buchführung
einzurichten. Es fehlt ſo vielfach nur an einer der-
artigen gebildeten und ſachverſtändigen Initiative. Dabei
hätten ſie ſich jedes Eingriffs gegenüber beſtehenden Ge-
noſſenſchaften, die nichts von ihnen wiſſen wollen, zu
enthalten.
Vor Allem in Bezug auf die noch beſtehenden
Hausinduſtrien wäre es Pflicht, nicht unthätig ihrem
Untergange zuzuſehen. Die ſchwerſten Vorwürfe treffen
in dieſer Richtung die Regierungen und die beſitzenden
Klaſſen, wie ich oben bei der eingehenden Schilderung
der Spinnerei und Weberei zeigte. Manches geſchah
ja auch in Folge entſetzlicher Nothzuſtände, aber meiſt
geſchah es zu ſpät und häufig am unrechten Platze.
Um nicht künſtlich eine Hausinduſtrie da zu erhal-
ten, wo nothwendig zuletzt doch das Fabrikſyſtem ſiegt,
wäre als Grundlage ſolcher Maßregeln eine umfaſſende
Enquête dieſer Verhältniſſe zu empfehlen. Erſt auf
Grundlage einer derartigen Detailinformation könen auch
die Detailvorſchläge gemacht werden. Manches aber läßt
ſich auch vom allgemeinen Standpunkt aus ſagen. Alle die
erwähnten Maßregeln, die für das Handwerk überhaupt
nothwendig ſind, müſſen für dieſe meiſt auf dem Land
[702]Schluß und Reſultate.
zerſtreuten und damit der Bildungselemente ohnedieß
mehr entbehrenden Induſtrien doppelt am Platze ſein.
Die wichtigſte Maßregel, die Gründung von Etabliſſe-
ments, in welchen Dampf- oder Waſſerkraft an die
einzelnen kleinen Meiſter vermiethet wird, könnte ohne
irgend welchen Verluſt, wenn es an andern Mitteln
fehlt, vom Staat oder von Gemeinden (wie in Nürn-
berg) in die Hand genommen werden. 1 Wo nur
ſtaatliche Aufſichtsbehörden in die zerſtreute Produktion
Einheit bringen, wo nur ſie der Waare Ruf und Abſatz
verſchaffen, hätte man ſie einzurichten und zu erhalten.
Die Solinger Schußwaffenfabrikation durch kleine Meiſter
hat ſich erſt jetzt recht entwickelt, nachdem man dem
Drängen der Leute nachgegeben, eine königliche Probir-
anſtalt unter Leitung eines Offiziers eingerichtet hat,
welche jedem Stücke, das ſich tüchtig erweiſt, den
preußiſchen heraldiſchen Adler und die Buchſtaben S. P.
einprägt. 2 Unter Umſtänden ſind auch heute noch Regle-
ments aufzuſtellen, andere ſind aufzuheben oder zu verbeſ-
ſern. Auch Staatskredit kann hier unter Umſtänden noth-
wendig ſein, einzelnen Genoſſenſchaften gegeben werden,
heilſam da und dort wirken, er darf aber nie als das
weſentliche erſcheinen. Eher wären ſtaatliche Geſchäfte zu
[703]Die Mittel zur Erhaltung der Hausinduſtrien.
empfehlen, wenn es ſich darum handelt, einen betrüge-
riſchen die Noth der armen Meiſter ausbeutenden Zwi-
ſchenhandel dadurch zu verdrängen, daß man ihm durch
Geſchäfte auf reeller anſtändiger Baſis Konkurrenz macht.
Man hat ja auch in Preußen aus dieſem Grunde Staats-
flachsauſtalten errichtet, gewiſſe Beſtimmungen über den
Garnhandel getroffen.
Durch ſolche Mittel laſſen ſich hunderte und tau-
ſende von kleinen Geſchäften noch halten und nicht bloß
vorübergehend noch halten, ſondern auf die Dauer.
Geſchieht nichts, ſo gehen ſie Kriſen entgegen, wie die
Weber und Spinner Schleſiens ſeiner Zeit. Greift
man bei Zeiten ein, ſo werden wohl die Intereſſen der
Faktore, der Kaufleute und Fabrikanten ab und zu ver-
letzt, aber man erhält einen geſunden Mittelſtand und
vermeidet Nothſtände, die zuletzt den Beſitzenden mehr
koſten, auch ihre Intereſſen tiefer ſchädigen, ganz anders
die Staatshülfe nothwendig machen, als wir es hier
empfehlen.
Damit bin ich zum Ende meiner Schlußbetrach-
tungen gelangt. —
Wenn es wahr iſt, daß ein Staat nur durch die
Grundſätze ſich erhalten kann, durch die er groß gewor-
den, ſo hat der preußiſche Staat vor allen die Pflicht,
einerſeits an der Spitze zu bleiben jedes geiſtigen und
ſittlichen Fortſchritts, jeder geſunden politiſchen Frei-
heit, aber andererſeits die ſchönſte Pflicht jeder Re-
gierung, die Initiative für das Wohl der untern
Klaſſen nicht aus ſeiner Hand zu geben. Er hat
die beſitzenden Klaſſen durch Heranziehung zu einer
[704]Schluß und Reſultate.
wahrhaften Selbſtregierung, zu den ſittlichen Pflichten
des Staats- und Gemeindeamts zu erheben über die
kurzſichtig egoiſtiſche Sphäre nächſtliegender Intereſſen
bis zu der ſittlichen Höhe geſellſchaftlicher Pflichterfüllung;
er hat daneben ſelbſt ſeinen Einfluß und ſeine Macht
zu brauchen, die Nothleidenden zu ſchützen, die Unge-
bildeten zu heben und zu erziehen, die Nichtbeſitzenden
gegen den Egoismus und die Kurzſichtigkeit der Beſitzen-
den, gegen dieſe Laſter, welche immer und immer wie-
der hervorbrechen, zu ſchützen. Immer haben die großen
preußiſchen Regenten das gethan. Immer haben ſie
darum vor Allem für große Fürſten gegolten. Le roi
des Prusses était toujours un roi des gueux!
Eine ſolche maßvolle Staatsthätigkeit, die auf Hebung
der untern Klaſſen nicht durch gewaltthätige Experimente,
ſondern vor Allem durch Schule und Erziehung, durch
Beeinfluſſung der Sitten und Anſchauungen zu wirken
ſucht, wird immer und immer wieder erlaubt wie noth-
wendig ſein, eine ſolche Staatsthätigkeit hat zu allen
Zeiten für die Zierde einer weiſen, freien und gerechten
Regierung gegolten!
Appendix A
Halle, Buchdruckerei des Waiſenhauſes.
[][][]
S. 114 ff.
Berlin 1845; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preuß.
Staat I—VI. (enthaltend die Aufnahme von 1849, theilweiſe
mit der von 1852.) Berlin 1851—55; Tabellen und amtliche
Nachrichten für 1852, 1855 und 1858, je ein Band (letzterer
nach dem Tode Dieterici’s von Engel herausgegeben.) Mitthei-
lungen des ſtatiſtiſchen Bureaus in Berlin, 13 Bände. 1848—60.
gebniſſe der Volkszählung und Volksbeſchreibung nach den Auf-
nahmen vom 3. Dezember 1861, reſp. Anfang 1862. Ber-
lin 1864.
hält nur die Mittheilungen der Geſammtreſultate der Gewerbe-
aufnahme von 1846, um zu berechnen, wie viele Perſonen
zur eigentlich arbeitenden Klaſſe gehören; I, 213—291 und II,
1—16 enthält eine Vergleichung der wichtigern Handwerke von
1822 und 46, wobei hauptſächlich der Beweis geführt werden
ſoll, daß die Gewerbefreiheit nicht zur Ueberſetzung des Hand-
werks geführt habe; II, 235—64 eine Vergleichung des König-
reichs und der preuß. Provinz Sachſen nach dem Stand von
1846, worin die intenſivere gewerbliche Entwickelung des König-
S. 50—52. 1860.
eine Ueberſicht der mit Weberei und Spinnerei im Zollverein
beſchäftigten Perſonen; IV, 252—308 eine Vergleichung der
Gewerbeaufnahmen der Zollvereinsſtaaten von 1846, in der
Hauptſache ſich auf Mittheilung der Zahlen beſchränkend;
V, 212—269 eine Ueberſicht der gewerblichen und Fabrikations-
verhältniſſe des preuß. Staates am Ende der Jahre 1846 und
49, ebenfalls in der Hauptſache nur die Zahlen mittheilend;
VII, 328—352, die Meiſter und Gehülfen 1849 und 52, nicht
viel mehr als die Zahlen und den allgemeinen Beweis der
Zunahme.
ſteriums des Innern 1860 Nr. 9 und 10: Zur Statiſtik der
Handwerke in Sachſen; 1863 Nr. 9 und 10: Zur Statiſtik der
Handwerke im Königreich Sachſen 1849 und 61. Das klaſ-
ſiſche Quellenwerk Engel’s über ſächſ. Gewerbeſtatiſtik, der dritte
Folioband der Mittheilungen (Dresden 1854) kommt für unſere
Unterſuchungen weniger in Betracht, da es nur die Beſchäf-
tigungsſtatiſtik des einen Jahres 1849 enthält; die dortige
Unterſuchung geht mehr auf Fragen, die hier ausgeſchloſſen ſind,
wie z. B. die lokale Vertheilung der ſächſ. Induſtrie, die Alters-
und Civilſtandsverhältniſſe der Gewerbtreibenden.
Königreich Württemberg 1863.
Baiern, nach der Aufnahme von 1861 verglichen mit 1847.
München 1862.
ruhe 1863.
werbeſtatiſtik von 1861. Hannover 1864.
Bureaus vereinigter thüringiſcher Staaten, herausgegeben von
Dr. Bruno Hildebrandt I. Jena 1865—67. S. 228—324.
Die Gewerbtreibenden im Großherzogthum Sachſen 1861 ſind
auch verzeichnet in: Beiträge zur Statiſtik des Großherzog-
thums Sachſen-Weimar-Eiſenach. Erſtes Heft. Weimar 1864.
S. 57—65.
übertriebenſte Zunftgeiſt die Gewerbe hemmte und die Zuſtände
mit der Gewerbefreiheit um ſo plötzlicher ſich änderten; ſiehe als
Belag hierfür die intereſſante Vergleichung der bremiſchen Ge-
werbeſtatiſtik von 1862 und 64: „Zur Statiſtik des bremiſchen
Staats.“ Bremen 1865. S. 24 ff. Es wäre aber ſicher ſehr
falſch, aus den dortigen Zahlen auf eine Handwerkerzunahme,
die überhaupt aus allgemeinen Urſachen erfolge, ſchließen zu
wollen.
für den Großhandel beſchäftigten Gewerbsanſtalten, der dafür
arbeitenden mechaniſchen Kräfte und ſämmtlicher Dampfmaſchi-
nen, der Handels- und Transportgewerbe, ſowie der Hand-
werker im Gebiete des Zollvereins. Berlin, Jonas 1864.
von Engel aus: ſ. Zeitſchrift des ſtatiſt. Bur. 1863. S. 80. und
Preuß. Statiſtik V. S. 49.
hundert. Leipzig 1854. I, 235—329. Maſcher, das deutſche
Gewerbeweſen. Potsdam 1866. 349—477. Gülich, geſchicht-
liche Darſtellung des Handels, der Gewerbe ꝛc. Jena 1830.
II, 197—335.
Staates II, 153 ff.
der Kurmark als Beweis des Verfalls anführt, zeigen wohl
einzelnes Schlimme, aber zum größern Theile beweiſen ſie
das Gegentheil, nämlich den volkswirthſchaftlichen Fortſchritt der
kurmärkiſchen Städte.
Rede von Georg von Sutner. München, Lindauer 1796.
S. 60. 66 ff.
30 jährigen Kriege. Leipzig, Winter 1862. S. 213.
Gewerbeweſen S. 433.
tiſtik I, 763: Vergleichende Zuſammenſtellung der Bevölke-
rung und der Zahl der Gewerbtreibenden in 14 deutſchen
Städten.
Pauperismus unter den deutſchen Handwerkern, deutſche Vier-
teljahrsſchrift 1851. Heft 1. S. 193 ff., beſonders S. 202
und 226.
ſer Bemühungen liegt vor in Mylius, Corpus Const. Marchic. V
und in der Fortſetzung, im Novum Corpus Const. Prussic.
1751—1800. Es fehlt aber noch an einer irgendwie genü-
genden Bearbeitung. Einen kurzen Abriß enthält die geſchicht-
liche Einleitung in Rönne, Gewerbepolizei des preuß. Staats.
Breslau 1851. S. 8 ff.
dres 1788. III, 217.
Patent vom 25. Juni 1729. eod. S. 754: Spinner und Leine-
1841. III., 47 ff.
will anſetzen dürfen.
volkswirthſch. Anſichten Friederichs des Großen, akad. Feſtſchrift
der kgl. ſächſ. Geſellſchaft der Wiſſenſch.; Lippe-Weißenfeld,
Weſtpreußen unter Friederich dem Großen. 1866; Mirabeau
de la mon. prussienne Bd. III; Dohm, Denkwürdigkeiten
Bd. IV. S. 85—132. 377—527. Hannover 1819; Preuß,
Friederich der Große Bd. III u. IV und Urkundenband III
u. IV. Berlin 1833 u. 34. Hertzberg, Huit dissertations.
Berlin 1787.
und Weſtfalens, ihre Geographie, Geſchichte, Produktion und
Statiſtik. Leipzig 1867. S. 180—188.
andere Edikte und Verordnungen, die ich in den Original-
drucken geſammelt habe, iſt nicht im Nov. Corp. abgedruckt.
Friederich dem Großen und ſeinen Miniſtern über den Verfall
des Handels, der Fabriken und über das Projekt einer neuen
Billetbank. 1766.
Sozietät der Wiſſenſchaften, Kurtzgefaßte geographiſche, hiſto-
Jahre 1785 nach Hertzberg, huit dissertations S. 254 theile
ich nicht mit, da ich ſie mit keinen frühern oder ſpätern Zahlen
direkt vergleichen kann; immerhin iſt ſie ſehr lehrreich, ſie zeigt
klar die Entwickelung der preußiſchen Gewerbe bis gegen 1785.
Provinzen, welche dem königl. preuß. und churbrand. Scepter
unterworfen. Berlin 1710. Zu vergleichen auch Büſching’s neue
Erdbeſchreibung, dritter Theil. Bd. II. S. 2067 — 68. Vierte
Aufl. Hamb. 1765.
Schleſien. Berlin, Veit 1844.
Die Gewerbthätigkeit Berlins in älterer und neueſter Zeit.
Regierungsbezirks Arnsberg. Iſerlohn 1857. S. 532.
lin 1846. S. 102.
Fabriken. Kopenhagen 1758. I, 122.
der gewerblichen und kommerziellen Zuſtände der preußiſchen
Monarchie. Aus amtlichen Quellen. Berlin, Trautwein 1829.
Tabelle zu S. 329. Neue Beiträge S. 160.
5. Aufl. S. 29; es ſind Zahlen, welche der preuß. Staats-
zeitung entlehnt ſind.
preuß. Staat für das Jahr 1849 Band V. Berlin 1854.
S. IV. ff., und Böckh, die geſchichtliche Entwickelung der
amtlichen Statiſtik des preußiſchen Staates. Berlin 1863. S. 47,
53 ff., 78 ff.
bemerke ich, daß ſie mit den im Jahrbuch für die amtliche Sta-
tiſtik des preuß. Staates Jahrg. II, S. 238 publizirten Zahlen
nicht ganz übereinſtimmen können. Es ſind dort die männlichen
Gehülfen getrennt von den weiblichen; ich habe überall die
Summe beider beibehalten, da die Zahlen der weiblichen Ge-
hülfen verſchwindend klein ſind und die großen Geſammtzahlen
S. 160.
ſtände des Verkehrs und Verbrauchs im preuß. Staate und
im deutſchen Zollverbande von 1831—36. Berlin 1838.
S. 462—68.
können die Zahlen von 1816—43 deswegen nicht ganz dieſelben
ſein, weil ich in meiner Zählung für alle die Gewerbe, für
welche die Zählung der Gehülfen erſt ſpäter eintrat, die Ge-
hülfen bis 1843 wegließ. Groß ſind übrigens die Unterſchiede
der Zahlen nicht.
Fortſetzung, Berlin 1844. S. 600—618.
368429 Meiſter mit 231266 Gehülfen; er giebt nicht an, wie
er das berechnet hat; ohne Zweifel läßt er wieder die Tuchſcheerer,
Korbmacher, Buchdrucker, Kuchenbäcker weg; für 1840 giebt er
daſ. S. 619 und 627 (an letzterer Stelle nach Provinzen
ſummirt) 387687 Meiſter mit 286612 Gehülfen an; die gerin-
gere Meiſterzahl hat dieſelbe Urſache, die höhere Gehülfenzahl
als unſere hat ihren Grund in dem Mitzählen aller aufgenom-
menen Gehülfen. Für 1843 giebt er in ſeinem „Volkswohl-
ſtand“ S. 254 eine Summirung (400932 Meiſter mit 309570
Gehülfen), die von da in alle ſpätere Literatur übergegangen
iſt. Sie iſt weſentlich niedriger als unſere, da ſie, zur Ver-
gleichung mit einer ebenfalls lückenhaften Tabelle von 1831
gemacht, wieder verſchiedene Kategorien wegläßt. In den ſtatiſt.
Tabellen pro 1843 S. 145 giebt er eine andere Summirung
nach Provinzen (410221 Meiſter mit 358660 Gehülfen), die
wieder weſentlich höher iſt als unſere; die Zahl der Meiſter nur
um 2000, die Urſache iſt mir nicht klar; die Zahl der Gehülfen
um circa 47000, weil Dieterici hier für alle Gewerbe, in
Kolb z. B. etwas andere Zahlen angiebt.
eine ungefähre Schätzung derſelben einſtellt, dahin gehend, daß
wenigſtens ſo viele Gehülfen als Meiſter vorhanden ſeien.
Jahren 1846, 1849, 1853, 1855 und 1858“ in der Zeitſchrift
1864. V, S. 28.
des zollvereinten und nördl. Deutſchlands III, 561.
nur einzelne der wichtigern Handwerke, um ſie mit den
Zahlen von 1822 zu vergleichen. Auch die Publikation im
erſten Bande des Jahrbuchs für amtliche Statiſtik iſt pro 1846
nicht zu Grunde zu legen; die Handwerkertabelle iſt dort mit
der Fabriktabelle vereinigt, eine geſonderte Summirung der
Handwerker nicht vollzogen; eine Nachrechnung iſt ebenfalls
unmöglich, da Meiſter und Gehülfen nicht geſondert angegeben
ſind.
332—33 ſind die Zahlen folgende:
552766 Meiſter und 446035 Gehülfen.
des deutſchen Zollvereins. Brieg 1867.
S. 54 ff., 75 ff.
Vergleichung mit 1846 nicht 942373 Perſonen, ſondern 848042
rechnete, wobei er offenbar die Arten wegläßt, die 1846 nicht
gezählt ſind. Mittheilungen V, 216.
der Fabrikations- und gewerblichen Zuſtände in den verſchie-
denen Staaten des deutſchen Zollvereins im Jahre 1846.
mulare für Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins nach den Vorſchlägen
der im Jahre 1854 zu München verſammelten Kommiſſion und
nach den Abänderungsvorſchlägen Preußens.“ Berlin, Oberhof-
buchdruckerei.
Nr. 14.
ſtädtiſchen Handwerke überhaupt von M. M. Gießen 1843.
S. 13.
Ordnung der Gewerbebefugniſſe in Deutſchland, deutſche Viertel-
jahrsſchrift. 1859. Heft 1. S. 218 ff., und Böhmert, Freiheit
der Arbeit, Beiträge zur Reform der Gewerbegeſetze. Bremen
1858. S. 163 ff.
riſchen Partei, das deutſche Zollvereinsblatt z. B. Jahrgang 1849.
S. 230: „Und ſo begrüßen wir denn auch eine der wichtigſten
Folgen der neuen preußiſchen Gewerbeordnung, die Innungen
des Handwerkerſtandes, bereits ins Leben getreten ſind, mit
Freuden und wünſchen ihnen guten Fortgang und Nachahmung
von allen Seiten.“ S. 233 folgt ein Artikel „Handwerk und
Freihandel;“ in demſelben wird die Erklärung der 27 Stettiner
Gewerke angeführt, welche dahin lautet: daß ſie in der neuen
preußiſchen Gewerbeordnung das Mittel erkennen, „der grenzen-
loſen Gewerbewillkür und dadurch herbeigeführten Demoraliſation
und Verarmung ein Ziel zu ſetzen.“
1867. IIb, 489.
mann daſ. S. 493.
theilungen VII, 328—52.
Gewerbe im Großherzogthum Baden, ihre Statiſtik, ihre Pflege,
ihre Erzeugniſſe. S. 330 ff.
296: Schmoller, die Reſultate der Gewerbeſtatiſtik von 1861,
und Königreich Württemberg S. 551 ff.: Der Entwicklungs-
gang des Gewerbslebens in den letzten 40 Jahren.
Württemberg, Stuttgart, Blum und Vogel; für 1862 S. 28.
S. 63. S. 119; für 1863 S. 23. S. 34. S. 46—49; für 1865
S. 118; für 1866 S. 45; für 1867 S. 7—11.
reichs Baiern. III. Erſte Abtheilung. München 1865. S. 445.
weſen betreffend, erläutert. Erlangen 1869.
Statiſtik. VI. S. 113—129.
Baiern nach der Aufnahme von 1861, die Gewerbe in Ver-
gleichung mit deren Stande im Jahre 1847; herausgegeben
vom königl. ſtatiſtiſchen Bureau. München 1862.
berg-Fürther Induſtrie-Diſtrikt von Dr. Beeg.
techniſche Schule 1862.
der lokalkundige unparteiiſche Verfaſſer dieſes Abſchnitts ſagt:
„Der Oberfranke iſt im Allgemeinen rührig und fleißig. In
den Bezirken, wo eine induſtrielle Beſchäftigung vorwiegend iſt,
bei den Paterlmachern, den Verfertigern von Holzſchuhen und
den Schwingenmachern im Gebirge, den Korbflechtern am Main
und an der Rodach, den Tafelmachern im Thüringer Wald,
in den Weberdiſtrikten des Voigtlandes und des Wunſiedler
Kreiſes, dann um Berneck, wo das Plauiſch-Nähen (die Sticke-
rei) in einem großen Theil der Hütten und Bürgerhäuſer alle
Hände beſchäftigt, iſt die Arbeit nahebei zur Mühſal geworden.
Der geringe Verdienſt geſtattet nur wenig Ruhepunkte, und auf
dem Werktagsleben laſtet eine unerquickliche Monotonie, deren
Wirkung ſich in einem Mangel an Friſche und Freudigkeit kund-
giebt.“
S. 162.
Handwerke in Sachſen. S. 109.
1860. Nr. 9—12.
S. 122—124 a. a. O.
„Beiträge zur Statiſtik der in geſchloſſenen Etabliſſements mit
mechaniſchen Mitteln betriebenen Induſtriezweige Sachſens im
Jahre 1861.“ Nr. 5—8.: „Die Bevölkerung des Königreichs
Sachſen nach ihrer Beſchäftigung und ihrem Erwerbe 1861.“
ſen 1849 und 1861.“
Berathung der Miniſterial - Vorlage über das Gewerbegeſetz.
Dresden 1866.
Leipzig für 1863. Leipzig, Hirzel. S. 4—8; für 1865 u. 66.
Leipzig, Hirzel 1867. S. 10 u. 157. Der Bericht pro 1864
iſt mir nur im Abdruck des preuß. Handelsarchivs 1866. I.
hauptſächl. S. 620. zur Hand.
wirthſchaft S. 117: „über Induſtrie im Großen und Kleinen;“
S. 173: „über die volkswirthſchaftliche Bedeutung der Maſchinen-
induſtrie.“ Frédéric Passy, les machines et leur influence
sur le développement de l’humanité. Paris. Hachette 1866.
Michel Chevalier, die Weltinduſtrie, überſ. von Horn. Stuttg.
1869. — Uebrigens iſt es für den Nationalökonomen ſchwer, allen
Fortſchritten der Technik und des Maſchinenweſens zu folgen und
die hiernach ſich bemeſſende größere Billigkeit und Leiſtungsfähig-
keit der Induſtrie im Detail zu überſehen, da auch die ſpezifiſch
techniſchen Werke darüber oft nicht einmal Auskunft geben.
Viel Gutes gerade nach techniſcher Seite enthält auch Viebahn’s
Gewerbeſtatiſtik.
S. 217, verglichen mit 227—28.
19tes Ergänzungsheft der Petermann’ſchen Mittheilungen. 1867.
Die Verkehrsmittel auf der Weltausſtellung zu Paris im Jahre
1867, offizieller öſtr. Ausſtellungsbericht, 2te Lieferung. Perrot
zur Geſchichte des Verkehrsweſens in Faucher’s Vierteljahrs-
ſchrift XXI, 27 ff. XXII, 62 ff. Berlin 1867. Baxter, Railway
Extension and its Results in dem Journal of the statistical
society 1866, S. 549—595.
methode bis in alle Einzelheiten des Dorflebens ſiehe die hübſche
Skizze von J. G. Kohl „alte und neue Zeit im Dorfe Lehr-
bach“ in der Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft VII, 1—7.
Schmidt, zur Geſchichte der Briefportoreform in Deutſchland
in Hildebr. Jahrb. III, S. 1 ff.
Handelsarchiv 1867. II, 710.
riſche Ueberſichten.
über das öffentliche Fuhrweſen in Berlin, Zeitſchrift des ſtat.
Bür. V. S. 155—164, 179—189. Bruch, der Straßen-
verkehr in Berlin im Berliner Gemeindekalender für 1868,
S. 65—121.
Berlin, Herbig 1867. S. 55.
und die Eiſenbahnen, eine volkswirthſchaftliche und ſtatiſtiſche
Unterſuchung geführt auf dem Terrain der Vereinigten Staaten
von Nordamerika.
1864. S. 224.
ſchen Landwirthſchaft. Leipzig, Wigand 1866. S. 57.
für 1865. Beilage des Handelsarchivs S. 102.
der Städte der Kurmark Brandenburg von 1736—1846, Mit-
theilungen II, 265—277; Dieterici, über die Anzahl und
Dichtigkeit der Bevölkerung von Frankreich, England und Preußen
m Allgemeinen und nach den einzelnen Landestheilen, ſowie über
Mittheilungen VI, 142—205. Dieterici, über die Zunahme
der Bevölkerung im preuß. Staate in Bezug auf die Vertheilung
derſelben nach Stadt und Land, aus den Abhandlungen der Aka-
demie von 1857. Horn, bevölkerungswiſſenſchaftliche Studien
aus Belgien 1854, S. 47—61; Wappäus, allg. Bevölkerungs-
ſtatiſtik 1861. II, 476—546. Viebahn, Statiſtik des Zollver-
eins II, 138—164. Schwabe, Statiſtik des preußiſchen Städte-
weſens, in Hildebrand’s Jahrbüchern, VII, S. 1—32.
S. 171, die für 1864 berechnet nach d. Zeitſchr. des ſtat. Bureaus
1865. V. S. 286.
die Ergebniſſe der Volkszählung von 1864. Berlin 1867. S. 284.
Gemeindekalender II, 134.
Regierungsbezirks Arnsberg. S. 531.
in den preuß. Handelskammerberichten für 1866. S. 281.
Michaelis: Ueber den Einfluß einiger Gewerbezweige auf den
Geſundheitszuſtand. Leipzig 1866.
Selbſthülfe gegründeten deutſchen Erwerbs- und Wirthſchafts-
genoſſenſchaften. Leipzig, Mayer 1868 S. 59. Der Bericht
für 1865 S. 13 enthält beſonders lehrreiche Mittheilungen über
die zwei Produktivgenoſſenſchaften der Berliner Chalesweber und
der Freiburger Uhrmacher. Die übrige Literatur über dieſen
Gegenſtand von Schulze, Huber und Anderen iſt zu bekannt, als
daß ſie hier ſpeciell angeführt zu werden brauchte.
1079.
93; vergl. auch Möſer, Patriot. Phant. I, 21 ff. II, 303.
gart 1860. S. 29.
in Württemberg für das Jahr 1862. S. 31.
Befugniß zum Gewerbebetrieb, Berlin, Nicolai 1841. S. 328—
344. Auch über dieſen Punkt ſind die Ausführungen Hoff-
mann’s klaſſiſch; wenn auch theilweiſe nicht mehr den heutigen
Verhältniſſen entſprechend, ſtehen ſie immer noch höher als
Manches, was von abſtraktem unhiſtoriſchem Standpunkte die
entgegengeſetzte Einſeitigkeit vertritt, wie z. B. in dieſem Punkt
der Artikel von Karl Scholz „der Wochenmarkt“ in Faucher’s
Vierteljahrsſchrift, XVII, S. 25—43
Sitzungsperiode 1869. Nr. 19 Entwurf §§ 65—72. Motive
S. 79. Im Geſetze jetzt §. 64, Abſatz 2.
S. 344 ff.
für Volkswirthſchaft. XVII. S. 65 ff., beſonders S. 78—84.
Leipzig’s Handel und Meſſen ſeit Eintritt Sachſen’s in den Zoll-
verein, Zeitſchr. d. ſächſ. ſtat. Bür. 1861. S. 1—16.
S. 77. 1866 S. 32—33 über die Stuttgarter Möbelmeſſen.
Aufl. II, b, S. 376. Auch darin ändern der Entwurf der neuen
Gewerbeordnung, ſowie die Beſchlüſſe des Reichstages nichts. Die
Beſtimmung der Gewerbeordnung §. 65 lautet: „Die Zahl, Zeit
und Dauer der Meſſen, Jahr- und Wochenmärkte wird von
der zuſtändigen Verwaltungsbehörde feſtgeſetzt. Den Martberech-
tigten ſteht gegen eine ſolche Anordnung kein Widerſpruch zu.“
im Regierungsbezirk Poſen ſeit 1815. Poſen 1867. S. 65 ff.
Nachrichten über die Zahl der Jahrmärkte, welche im Preußiſchen
Staate im Laufe des Jahres 1858 werden abgehalten werden,
Mittheilungen des ſtat. Bur. in Berlin XI. S. 87—96. Der
Marktverkehr, im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik des Preuß.
Staates I, 465, enthaltend ein Verzeichniß der Märkte von 1863.
Die Jahr- und Viehmärkte im Königreich Sachſen und in
Preußen, Zeitſchrift d. ſächſ. ſtatiſt. Bureaus 1866. S. 165—173.
Märkte und Börſen, Königreich Württemberg 1863. S. 651—54.
Chemnitz 1863. Chemnitz, Focke 1864. S. 10. Auch die dor-
tigen Ausſprüche über das Meßgeſchäft ſind intereſſant.
S. 170.
engliſche Verhältniſſe ſich beziehende Artikel in der Westminster
Review 1859, Vol. XV New Series S. 357: „the morals of
trade.“ Ein anderer nicht unwichtiger Beitrag findet ſich in den
„Hausblättern“ für 1866, Heft 21 S. 227: zur Geſchichte der
Reklame, eine kulturhiſtoriſche Skizze von Hugo Schramm.
Ferner: The humbugs of the world, by P. T. Barnum.
London, Hotten 1865.
S. 79—80.
Regbz. Arnsberg, S. 488 ff.
von Rau I, S. 213 und passim.
Motive ſind enthalten S. 13 — 29. Die Anlage C. S. 113 ff.
gibt eine Ueberſicht über die beſtehende Geſetzgebung der Bundes-
ſtaaten in Betreff des Gewerbebetriebs im Umherziehen.
Landhandwerk eingeſchritten: ſ. Baader, Nürnberger Polizei-
ordnungen. Stuttgart, liter. Verein 1861. S. 170. In Lübeck
beginnen die Klagen über das Landhandwerk erſt im 16. Jahr-
hundert, wie auch das ſyſtematiſche Jagen der Bönhaſen erſt
um dieſe Zeit beginnt: ſ. Wehrmann, Die ältern lübeckiſchen
Zunftrollen, Lübeck 1864, S. 96 u. 98.
Nro. 15.
vor 70 Jahren und jetzt. Württembergiſche Jahrbücher 1860.
1. Heft. S. 95 ff. beſonders S. 122—128.
S. 17—20.
preuß. Staates S 114, Befugniß zum Gewerbetrieb passim.
des ſächſ. ſtat. Bureaus für 1863. S. 102 und 103.
fugniß zum Gewerbebetrieb S. 126.
habe die Zahlen b) dort zu Grunde gelegt und darnach die
Prozente berechnet. Die Pfalz iſt nicht einbegriffen.
Bür. 1860. S. 122—24.
gierungsbezirk Poſen ſeit 1815. S. 108 — 133.
Fabrikations- und gewerblichen Zuſtände in den verſchiedenen
Staaten des deutſchen Zollvereins im Jahre 1846.
ſonſt werden 842148 gezählt.
deutſchen Zollvereins. Brieg 1867. Die Differenz der Frantz’ſchen
und der offiziellen Summe für Preußen erwähnte ich ſchon oben
S. 73. Für Württemberg führt Frantz 80775 Meiſter und
64468 Gehülfen an, in den württembergiſchen Jahrbüchern für
1862 Heft 2, S. 245 werden 79912 Meiſter mit 64147 Ge-
hülfen gezählt. Für Baiern weichen ſeine Zahlen von den offi-
ziellen etwas weiter ab.
offiziellen, ſoweit dieſe überhaupt exiſtiren, ſind für dieſe Berech-
nungen gleichgültig. Ich habe abſichtlich hiezu nicht die Viebahn-
ſchen Zahlen genommen, weil ſie in Bezug auf die Fabriken
viel mehr als in Bezug auf das Handwerk unter den offiziellen
Zahlen bleiben.
ich wähle ſie, weil ſie nach denſelben Hauptgruppen zuſammen-
gefaßt ſind, wie die Handwerkerzahlen.
II, 211. Die Zahlen von Hausner ſtimmen mit Viebahn’s
(II, 563) preuß. Zahlen vollſtändig, den Hektar zu 4 preuß.
Morgen gerechnet.
recht, Zeitſchrift für die geſammte Staatswiſſenſchaft IX, 22.
Die Zahlen ſind theils den Regierungsmotiven der damals vor-
gelegten Gemeindeordnung, theils der offiziellen Statiſtik ent-
nommen.
Königsberg 1839. S. 66.
Berlin 1866, gibt einen Ueberblick über die deutſchen Beſtrebungen
nach dieſer Richtung und ſpricht ſich ganz in gleichem Sinne
aus S. 188—191.
derung, nachgewieſen an der belgiſchen Induſtrie. 1851.
Mirus, über Gewerbebeförderung und Gewerbsthätigkeit im
Königreich Württemberg. Leipzig 1861. Württembergiſche Han-
delskammerberichte für 1864, Anhang. Dorn, Pflege und För-
derung des gewerblichen Forſchritts durch die Regierung in
Württemberg. Wien 1868.
werker- und Arbeiterbildungsvereinsweſen kein Vorwurf treffen.
Es hat daſſelbe ſeine volle Berechtigung; es hat viel geleiſtet,
aber es reicht für den gewerblichen und künſtleriſchen Unterricht
nicht aus. Vergleiche über dieſe Vereine den Arbeiterfreund
1866: Die Handwerker-, Arbeiter- und ähnlichen Vereine in
Preußen, bearbeitet von Hermann Brämer, S. 48 ff., S. 222 ff.
und S. 293 ff.; daneben in demſ. Jahrg. S. 338: Kletke, über
die wiſſenſchaftliche Erziehung unſerer Handwerker. Ferner über
dieſen Punkt: Dr. Schwabe, Staatshülfe und Selbſthülfe auf
dem Gebiete der Kunſtinduſtrie. Berlin 1868.
ſchen Zunftweſens im Mittelalter. Hildebrand’s Jahrbücher IX,
S. 105.
Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft XX, S. 81—92.
ouvrières en France. Paris 1859. I, 235, 236, 238.
16. Ang. 1731, das die weſentlichſten Mißbräuche abſchaffen
will, ſpricht ſich übrigens Art. XIII. Abſ. 6 auch dagegen aus,
daß man an einzelnen Orten verheirathete Geſellen nicht mehr
zum Meiſterwerden zulaſſen wolle.
verſchiedener Stände und Gewerbe, Frankfurt 1855. Die
Beobachtung umfaßt die Stadt Frankfurt und die Zeit von
1820—55. Engel in der Zeitſchr. des ſtatiſt. Bür. 1862. S. 242.
Es ſind Berliner Ergebniſſe von 1855—60. Neumann, das
Sterblichkeitsverhältniß der Berliner Arbeiterbevölkerung. Arbeiter-
freund 1866. S. 113 ff. Siehe auch Frantz, Handbuch der
Statiſtik, 1864. S. 117 ff.
Arbeitsverhältniſſe, 2 te Aufl. Frankfurt 1849, S. 70 ff. Es
bezieht ſich auf die Kattundrucker; eine übermäßige Annahme von
Lehrlingen 1833—40, der drückendſte Ueberfluß an Geſellen
von 1840—46.
frage“ im Correſpondent, Wochenſchrift für Deutſchlands Buch-
drucker, Extrabeilage zu Nro. 11 vom 12. März 1869.
Preußen, Braunſchweig, Meklenburg, Oldenburg pro 1853;
V, S. 288 für Baden pro 1840—55; daſelbſt für Meklenburg
und Braunſchweig pro 1855; VII, S. 146 für Sachſen pro
1853—58; VIII, S. 229 für Sachſen pro 1859—61. Nur
wo ein verkommenes bäuerliches Zwergproletariat iſt, wird der
bäuerliche Antheil an der Auswanderung ebenfalls bedeutend;
ſonſt überwiegt durchaus das Handwerk nach den Zahlen Hübner’s;
mit am ſtärkſten in Sachſen.
II, zweite Hälfte. S. 491—93.
der Löhne durch Eingehen auf das vorhandene Beweismaterial
nachweiſen; ich hebe nur zwei ausgezeichnete Arbeiten hervor:
„Statiſtik der Arbeitslöhne in Fabriken und Handwerken von
1830—65,“ im ſtatiſtiſchen Anhang zu den württembergiſchen
Handelskammerberichten für 1865. S. 30—40. „Die Arbeits-
löhne in Niederſchleſien“ von Regierungsrath Jacobi, Zeit-
ſchrift des preuß. ſtatiſt. Bureaus 1868. S. 326—351.
amtlichen Protokollen, welche über die „Verhandlungen der
1865 zur Berathung der Koalitionsfrage berufenen Kommiſſion“
publizirt wurden. Berlin, Decker 1865.
offiziellen, ſoweit ſie exiſtiren, theilweiſe etwas ab; aber ich
konnte hier keine anderen zu Grunde legen; Viebahn hat über-
haupt keine Summen der Meiſter und Gehülfen getrennt, und
offizielle Summirungen exiſtiren nur von ein paar Staaten.
Die Frantz’ſchen Zahlen haben wenigſtens die Wahrſcheinlichkeit
für ſich, nach derſelben Methode gewonnen zu ſein.
das ganze Land ſtellt ſich dort zu 48 Gehülfen (auf 100 Meiſter),
während ich oben 56 berechnet habe. Das hat ſeine Urſache
darin, daß Hoffmann ſeiner Berechnung nicht die geſammten
Handwerker, ſondern nur die 13 wichtigſten Arten zu Grunde
legt.
in Hildebrand’s Jahrbücher X, S. 298.
Gemeindekalender II, S. 143.
106 ff. Baader, Nürnb. Polizeiordnungen, S. 286, Abſ. 1.
Rathhausbau in Bremen von 1407—10 im II. Jahrgang des
brem. Jahrbuchs, ſowie Entres Tuchers Baumeiſterbuch der
Stadt Nürnberg (1464—1475), herausgegeben von Dr. Lexer,
Stuttgart, literar. Verein 1862.
bairiſchen Landesordnung, die in der mir vorliegenden Ausgabe
von 1553 S. 163—164 davon handelt.
niglichen in dieſem Churfürſtenthumb achten und richten ſoll.
Leipzig 1623. S. 265—69.
S. IX—X und S. XXXII.
S. 131—133.
1857. S. 168—171.
Berlin im Jahre 1866. Berlin 1867. S. 11.
2 te Aufl. I. Braunſchweig 1865. Sp. 1191.
nach Schütz, über die Renten, Tübinger Zeitſchr. für Staats-
wiſſenſchaft XI, S. 203.
Maſchinen, Produkten und Spezialitäten der Müllerei ꝛc. im
Mai und Juni in Leipzig 1869. S. 41 — 46.
im Zollverein für die Jahre 1842 — 64. Berlin 1868. S. 183.
Bereitung und der Verbrauch des Branntweins in Bezug auf
ſtaatswirthſchaftliche und ſittliche Verhältniſſe dermalen im preußi-
ſchen Staate befindet, Sammlung kleiner Schriften. Berlin
1843, S. 448.
bis 1850 bei Engel, ſächſ. Jahrb. S. 382. Ferner: Settegaſt,
die Thierzucht, Breslau 1868. S. 444—448.
bis 197.
objects de consommation à Londres et à Paris. Rapport
à s. Exc. le ministre de l’agriculture du commerce et des
travaux publics par S. Robert de Massy. Paris Impr. impér.
1861. I, 75.
theilungen I, S. 224. Tabellen und amtliche Nachrichten V,
S. 826.
haft. Nach der Zeitſchrift 1857, S. 44 — 55 zählte man länd-
liche Bäckereien 1846 - 1460, 1855 - 2046; alſo eine weſentliche
Zunahme; nach Zeitſchrift 1863, S. 102 gab es ländliche Bäcke-
reien 1849 - 1147, 1861 - 1318, alſo eine Zunahme, welche
etwa der Bevölkerungszunahme entſpricht. Mag das platte Land
1846/55 und 1849/61 anders gefaßt, und ſo theilweiſe die
Differenz zu erklären ſein; immer bleibt es unmöglich, daß alle
Zahlen richtig ſind; das reale Reſultat iſt zu verſchieden.
neben das erwähnte Werk von R. de Maſſy über den Lebens-
mittelverkehr von London und Paris, und Dr. H. Janke, der
internationale Fleiſchverbrauch in ſeiner neueſten Geſtalt, Viertel-
jahrsſchrift für Volkswirthſchaft XXIV, 1 — 45.
Gemeindekalender II, 144.
märkte, Berlin 1866. Ueber die preuß. Geſetzgebung und die
Unmöglichkeit mit ihr die einzelnen widerſtrebenden Fleiſcher
zur ausſchließlichen Benutzung öffentlicher Schlachthäuſer zu
zwingen. Viebahn III, 593 — 94.
Staates, S. 120 ff. Mittheilungen I, 226. Tabellen u. amt-
liche Nachrichten V, 827 — 828.
ſicht auf die Jahre 1821—52, Hamburg 1854. S. 145—149.
vergl. hauptſächlich für 1849 Tabellen u. amtliche Nachrichten V,
S. 994 ff.
rung der arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 115.
ſelbe Gewerbepolizei II, 151. Döhl, das Konzeſſionsweſen des
preußiſchen Staates, Berlin 1862, S. 149 ff.
Huber, deſſen eben erfolgten Tod die Wiſſenſchaft ebenſo zu
beklagen hat, wie der Arbeiterſtand und alle Freunde der
Arbeiterſache, ſpricht ſich noch neulich in dem Artikel über die
Arbeiterfrage in Deutſchland (deutſche Vierteljahrsſchrift Juli —
Septemberheft 1869. S. 173 ff.) über den verderblichen Ein-
fluß dieſer Elemente aus, er betont die Vertheuerung und
Adulteration aller Lebensbedürfniſſe, die Ueberfüllung konkur-
rirender Verkaufsſtätten, die Ueberreizung von Produktion und
Konſumtion. Wo 3—4 einfache oder kooperative Geſchäfte mit
einem Perfonal von 2—3 Dutzend Perſonen ausreichten, — ſagt
er, — wird die 4—5 fache Zahl beſchäftigt, die Koſten werden ver-
theuert, Schwindel aller Art, trügeriſcher Kredit als Reizmittel
(preuß. H.-K.-B. S. 1182) ſagt: „Das Kapital trägt eine
ſchwer wiegende Schuld, ſo lange man zugeben muß, daß der
Arbeiter ſeine Lebensbedürfniſſe am theuerſten bezahlt, obgleich
ſeine Mittel die kleinſten ſind. Niemand kann ſich auch mit
Unwiſſenheit entſchuldigen gegenüber dem ſchreienden Mißſtande,
daß ein großer Theil der Arbeiter noch in der traurigſten Ab-
hängigkeit in Folge der leichtſinnigen Borgſchulden lebt.“ —
Segensvoll wird in dieſer Beziehung das geſetzliche Verbot der
Beſchlagnahme nicht verdienter Löhne wirken.
S. 55—57.
klaſſiſchen „Ueberſicht der Wirkungen der Spinnmaſchinen.“
lichen Bericht der Zollvereinsregierungen über die Induſtrie-
ausſtellung von 1851, Berlin, Decker 1852, Bd. II, S. 1 ff.
Elliſon, Handbuch der Baumwollkultur, deutſch, Bremen 1860;
Grothe, Geſchichte der Baumwolle und Baumwollenmanufaktur
in der deutſchen Vierteljahrsſchrift 1864, Heft 2, S. 77 — 121.
des ſächſ. Manufaktur- u. Fabrikweſens, Chemnitz 1840, S. 56.
Spinnereien S. 162 — 63; ſonſt: Mährlen, die Darſtellung und
Verarbeitung der Geſpinnſte, Stuttgart 1861, S. 102 ff.
Zollvereinsländiſcher Ausſtellungsbericht von 1851. Bd. II,
S. 10 ff. Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 1867, Bd. IV, S. 3 ff.
der preuß. Leindwandinduſtrie iſt Schneer, über die Noth der
Leinenarbeiter in Schleſien, Berlin 1844. Vergl. auch Volz, Bei-
träge zur Geſchichte der Leinwandfabrikation und des Leinwand-
handels in Württemberg von den älteſten bis auf die neueſten
Zeiten. Württembergiſche Jahrbücher 1854. Heft 1. S. 148 —
184, Heft 2, S. 1 — 62.
ſchrift d. ſtat. Bür. VIII, S. 330, Anm. und Gemählde des geſell-
ſchaftlichen Zuſtandes im Königreich Preußen bis 1806, Berlin
1808, I, 90; es werden daſelbſt die Folgen der Lebensmittel-
vertheuerung für die Handwerker überhaupt beſchrieben.
deutſche Leineninduſtrie und den deutſchen Leinwandhandel.
den zollver. Ausſtellungsbericht von 1851, II, 155.
kommene Spinnmaſchine gekauft und dem Kaufmann Alberti
im ſchleſiſchen Gebirge überlaſſen; aber erſt nach Jahren war ſie
leidlich in Gang gekommen. S. Hoffmann, Ueberſicht der Wir-
kungen der Spinnmaſchinen a. a. O. S. 149.
Ausſtellungsbericht für 1851. II, S. 157.
welche das Berliner Handelsamt anſtellte). Gülich IV, 447.
mann, die wirthſchaftlichen Verhältniſſe des Zollvereins, Berlin
1863. S. 44 (ſchutzzöllneriſch-tendenziös, aber ſehr gut in ſach-
lichen und techniſchen Ausführungen).
ſpinnerei hat in Deutſchland mehr noch als in England eine
Schwierigkeit: die Konſtruktion von Flachsmaſchinen iſt ſo
viel ſeltener, als die von Baumwollmaſchinen, daß ſich
ſchwerer Etabliſſements bilden, die ausſchließlich ſich hiermit
abgeben; nur in Irland und in Yorkſhire gibt es einige wenige
Firmen; in Belgien exiſtirt ein einziges Haus von Bedeutung
in Gent. In Deutſchland baut Hartmann in Chemnitz, „der
überhaupt Alles macht,“ auch Flachsmaſchinen. Einige ſüd-
deutſche und ſchweizer Maſchinenfabriken haben ſich darauf gelegt,
es aber wieder aufgegeben, weil ſich die Unmöglichkeit heraus-
ſtellte, ſtets genug Arbeit in dem Fache zu finden. Selbſt die
paar engliſchen großen Fabriken fangen an, neben den Flachs-
maſchinen ſich auf Werkzeugmaſchinen zu werfen, um bei ein-
tretender Ebbe nicht ganz feiern zu müſſen. Oeſtreich. Aus-
ſtellungsbericht Bd. II, S. 517 — 18.
eine ausgezeichnete Brech- und Schwingemaſchine von Victor Rack
in Erdmannsdorf erwähnt, welche 200 Thlr. koſtet.
tistique de l’industrie de la France (Paris 1856) S. 22 nur
½ Kilogr., alſo 1 Pfund pro Kopf und fügt dem bei: c’est
une pénurie extrême pour le temps où nous vivons. On
peut dire même que c’est une calamité publique, car le
pauvre est privé des vêtements de leine qu’exige la rigueur
du climat.
maſchine a. a. O. S. 127.
in Hildebrand’s Jahrbücher VII, S. 90.
Fabrikenreglements zur Ergänzung ſeines Werkes von denen
Manufakturen und Fabriken, Berlin und Leipzig 1762. S. 48.
ſpinnſte, S. 187.
der Grafſchaft York 1851 auf 423 Fabriken und 118433 Arbeiter
(incl. der Kämmer) — 30000 Handkämmer.
archiv 1868. II, 116.
S. 570 ff.
Mährlen, die Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinnſte,
passim. Die Angaben dort ſind in württemb. Ellen; 100 preuß.
= 108,83 württemb. Ellen. Einzelne verbeſſerte Handſtühle
liefern noch mehr; z. B. der Schwarz’ſche Doppelwebſtuhl in
12 Stunden 55 Ellen 11/8 breite Neſſel; der Stuhl koſtet
65 Fl. ſüdd. Zollvereinsblatt 1849. II, S. 55.
gezählt; es wird aber bemerkt, es ſeien noch manche vorhanden,
ſie ſeien nur ſchwer zu ermitteln; Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt.
Büreaus 1863. S. 69.
genaue Aufnahme veranſtaltet, welche für Württemberg erhebt,
welche Anzahl Tage jeder Webſtuhl durchſchnittlich geht; (ſiehe
daſ. S. 65): ein Stuhl auf Baumwolle geht durchſchnittlich 255,
Leinwand nur 115 Tage; darnach wären faſt alle württem-
bergiſchen Leinwandſtühle ſolche, die nur als Nebenbeſchäftigung
betrieben werden; Mährlen rechnet auch 86,4 % der Stühle dahin,
während die amtlichen Aufnahmen 1852-45,7 %, 1861-56,9 %
(Königreich Württemberg S. 576) der Leinwandſtühle als ſolche
bezeichnen, welche nur nebenbei betrieben werden.
Anmerkung zu II A.
1858—61, die gewiß der Wirklichkeit nicht entſpricht, ſo
erklärt werden.
Statiſtik in zwangloſen Heften V, 48.
Zollvereinsbureaus in Rubrik 50 noch die Fabrikſtühle Hanno-
vers, Anhalts und Heſſens bei, ohne daß man erſieht, warum
gerade nur dieſe. Bei den andern Arten der Weberei nimmt
er einfach die Summen des Zollvereinsbureaus unter II A 50
als Geſammtſumme der ganzen Weberei.
des preuß. Staates S. 159.
in Hildebrand’s Jahrbücher X, 237 ff.; Jahrbuch für die amtl.
Statiſtik des preuß. Staates II, 234 — 37.
S. 186, die für 1831 nach Hoffmann, Bevölkerung S. 156
die für 1861 nach der offiziellen Publikation, preuß. Statiſtik
V, S. 30.
niedrig; mehr haben die andern Zollvereinsſtaaten (außer Preußen)
nicht bei ihren Fabriken verzeichnet.
der Bevölkerung des Zollvereins, von Aus- und Einfuhr abge-
ſehen; die oben angeführte Berechnung Engel’s (Zeitſchrift IV,
130), mit 5 Ellen pro Kopf nach Abzug der Mehrausfuhr, iſt
zu niedrig; er rechnet auch für den gewerblichen Handſtuhl täg-
lich nur 5 Ellen. Die gewerbsmäßige Produktion betrüge in
Preußen 1861 nach Engel’s Rechnung 70 Millionen Ellen, die
häusliche 36 Millionen Ellen.
Die Zahlenergebniſſe beziehen ſich an dieſer Stelle wohl wie
durchaus auf das Jahr 1850.
Staates II, 220—315; Dieterici gibt Volkswohlſtand S. 28
eine Tabelle nach dieſen Krug’ſchen Zahlen, welche aber total
falſch iſt, indem ſie nur diejenigen Stühle reproduzirt, welche
Krug je am Schluſſe einer Abtheilung, als an den wichtigſten
induſtriellen Punkten konzentrirt, nochmals wiederholt.
größere der Leinewebſtühle voraus; hatte doch Hertzberg (huits
dissertations S. 254) ſchon 1785 - 51000 Webſtühle gezählt,
wobei die als Nebenbeſchäftigung gehenden kaum mit erhoben
ſind, und Dieterici zählt in der erwähnten unvollſtändigen
Tabelle 41420 Leinwandſtühle. Im Departement der Breslauer
Kammer wurden nach Schneer S. 2 allein 19000 Leinwand-
ſtühle 1808 gezählt.
bis 214.
ökonomiſchen Ausführungen im Ausſtellungsberichte von 1851.
II, beſonders S. 85.
gibt es dem Namen nach viele Tuchmacher, von denen aber
mangels Beſtellungen nur wenige das Gewerbe betreiben. Jahr-
buch für die amtl. Statiſtik II, 274.
S. 127; vergl. auch oben S. 211 ff.
induſtrie: (Hildebrand), zur Geſchichte der deutſchen Woll-
induſtrie in ſeinen Jahrbüchern VI, 186 — 254, VII, 81 — 153;
Werner, Urkundliche Geſchichte der Iglauer Tuchmacherzunft,
Leipzig 1861; Hiſtoriſche Nachricht von den Hauptmanufakturen
der Tücher ꝛc. in der Churmark, in den „hiſtoriſchen Beiträgen
die kgl. preuß. Staaten betreffend,“ Deſſau 1781; ferner Mone,
Zeitſchrift d. Geſch. des Oberrheins passim und die erwähnte
Geſchichte der Linneninduſtrie von Volz.
ſuchungen über das Zunftweſen.
hauptſächlich S. 44 — 45.
band, überſ. von Dr. Bueck, Berlin 1840, S. 85.
bis 148.
dort angeführte Material. Auch in Frankreich fanden in den
vierziger Jahren vielfache Verhandlungen ſtatt, ob nicht der
ſinkenden Hausinduſtrie durch Wiederherſtellung der alten Kon-
trolen aufzuhelfen ſei: Zollvereinsblatt 1845, S. 922; noch
1856 erklärt Moreau de Jonnès den Zuſtand der kleinen Leine-
weber für einen ſolchen, dem nur durch verſchiedene Staats-
und Gemeindeanſtalten ꝛc. zu helfen ſei, Statistique de l’in-
dustrie S. 184 — 185. Aehnliche Berathungen in Sachſen,
die aber auch zu keinem Reſultate führten, Wiek S. 241
vereinsblatt von 1845, S. 601. Ausſage, daß der Leinen-
handel Weſtfalens ſeine glücklichſte Zeit 1833 — 39 gehabt habe.
S. 70.
ſchreibt eine Korreſpondenz aus Mexico: „Den größten Fehler
begingen die Deutſchen durch ein ſchmales Gewebe und ſchlechtes
Maß. Ein anderer Fehler der deutſchen Waare iſt die ſehr
große Verſchiedenheit von Faden, Gewebe, Farbe, Appretur,
Etiquette und die unendliche Maſſe Nummern, welche die Käufer
verwirrt. Nur ein Freiburger Haus hat von allen deutſchen
Fabrikanten ſich gut gehalten, es führt wenige allgemein bekannte
Nummern, welche immer dieſelben bleiben und an Qualität ſich
gar nicht ändern.
don 1851. S. 200.
Verhältniſſe des Zollvereins, berechnet S. 35, daß die großbrit.
Ausfuhr betrug 1836/40 jährlich 78 Mill. Yards Linnengewebe,
1846/50 - 99, 1856/60 - 136 Mill. Yards.
1839—44 etwa um 50 % abgenommen, Zollvereinsblatt 1845,
S. 1021. An roher Leinwand hatte der Zollverein noch 1834
eine Mehrausfuhr von 9440 Ctnr., von da eine Mehreinfuhr,
1842—46 z. B. von jährlich 12331 Ctnr. Die Mehrausfuhr
gebleichter Leinwand war 1842 noch 57499, 1860 - 18693 Ctr.
viel zu niedrig; man zählte 1846 - 12347 gewerbsweiſe, 8820 als
Nebenbeſchäftigung gehende Webſtühle, zuſ. 21167; die Zahl
der Spinner war nach ihm jedenfalls noch die vierfache damals,
hierzu kommen die Spuler und Bleicher, ſo daß die Zahl der
nothleidenden Arbeiter ohne ihre Kinder mindeſtens auf 120000
anzuſchlagen ſei. Schneer S. 56.
Spinner im Eichsfelde, welche zur Weberei übergingen.
ſchen Weberdiſtrikten: Michaelis, über den Einfluß einiger In-
duſtriezweige ꝛc. Noch 1863 ſchreibt die amtliche Kreisbeſchreibung
Leinewebers auf 10—20 Groſchen für die Woche an.
306): Die Lohnweber haben ſo geringen Verdienſt, daß ſie mit den
ſchlechteſten Nahrungsmitteln — Kartoffeln ohne Butter, Klößen
oder Suppen von ſog. Schwarzmehl u. ſ. w. — ſich begnügen
müſſen; dabei arbeiten die Lohnweber oft die ganze Nacht hin-
durch, Arbeiter in den Spinn- und Appreturanſtalten 18 Stun-
den täglich.
diſtrikte S. 128—131.
habung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigkeit unfähiger
Landräthe und auf den ganzen Standpunkt der Regierung.
Nach ſeiner Anſicht hätte die Regierung, wenn ſie die Weberei
halten wollte, die Reglements ſtreng wiederherſtellen, die Ver-
mittlung des Abſatzes in großartiger Weiſe durch die See-
handlung und konſulariſche Thätigkeit übernehmen müſſen; ſtatt
dem wurde ſehr viel Geld ausgegeben, hauptſächlich in der Form
von zinsloſen Darlehen (je bis zu Poſten von 8000 Thalern) an
einzelne Leinwandkaufleute, damit ſie die Weber beſchäftigten;
viel beſſer, meint Schneer, wäre dieſes Geld zur Gründung
von Weberkompagnien (Aſſoziationen) verwendet worden, deren
erſte Leitung man natürlich hätte in der Hand behalten müſſen.
ren, von Webern, von Kaufleuten, von amtlicher Seite; außer
Schneer und Michaelis ſiehe die Notizen aus den Kreisbeſchrei-
bungen, Zeitſchrift des ſtat. Bür. IV, 126. Degenkolb, ſelbſt
ein großer Weber, ſagt Arbeitsverhältniſſe S. 36: „Können
die Weber nicht in großen Werkſtätten vereinigt arbeiten, ſo
ſollte wenigſtens die Unmittelbarkeit zwiſchen Arbeiter und
Arbeitgeber hergeſtellt und alle läſtigen Mittelsperſonen, als
Garnhändler, Faktor und Aufkäufer ꝛc., entfernt werden.“ In
Frankreich ſind vielfach ähnliche Zuſtände in der Gewebeinduſtrie;
und daher iſt der Ausſpruch eines franzöſiſchen Arbeiters: les
commissionaires c’est la lepre de notre industrie, begreiflich;
ſiehe Saraſſin in Gelzer’s Monatsblätter Bd. 33. Heft 2.
S. 117. Vergl. Roſcher, Anſichten der Volkswirthſchaft S. 144
bis 145 u. S. 165, wo er von den Mittelsperſonen der engli-
ſchen Metallhausinduſtrie erzählt und die verurtheilenden Aus-
ſprüche Leon Faucher’s über ſie anführt.
wohl auch etwas, aber nicht viel zu niedrig, da mit den
Fabriken nur 2678 Handſtühle aufgeführt ſind.
die Lage der Weberbevölkerung in Schleſien;“ Jahrbuch für die
amtliche Statiſtik II, 264—348, die zahlreichen Angaben aus den
amtlichen Kreisbeſchreibungen; aus Ratibor wird geſchrieben:
Der Lumpenſammler verdient täglich 10 Sgr., der Leineweber
4—5 Sgr.
Abnahme in Bielefeld; S. 258 in Gladbach; S. 325: in Hirſch-
berg wollen frühere Leineweber ſelbſt gegen eine Erhöhung der
Löhne um 25 % nicht mehr zu der alten Beſchäftigung zurück-
kehren; S. 633: im Eichsfelde ſogar wird die mechaniſche Weberei
wegen Mangel an Arbeitskräften nothwendig.
1863): „durch die Maſchinenweberei werden die Löhne der
Handweber immer mehr gedrückt.“
ländiſche Export erreicht freilich noch entfernt nicht den engli-
ſchen, der pro Kopf der Bevölkerung nach Hanſemann S. 71
über 8 Thlr. 1856—60 betrug, während er im Zollverein
0,47, in Belgien 0,89, in Frankreich 0,30 Thlr. erreicht.
induſtrie werthlos; die Abnahme von 1858—61 zeigt, daß
nicht immer nach gleichen Grundſätzen gezählt wurde.
13008 Stühle, denn ſo viel zählt das Zollvereinsbureau unter
den Fabriken Handſtühle.
induſtrie im Handelskammerbericht für 1863, S. 91 ff.
S. 142.
S. 87.
die Summe der gehenden Webſtühle (Spalte 50 der Aufnahme-
tabelle), bei den andern Staaten die Summe dieſer, nebſt der
bei den Fabriken gezählten Hand- und Maſchinenſtühlen (Spalte
50, 87 u. 88) angenommen, wie das nach meinen obigen Aus-
führungen nothwendig iſt.
Dort wird die ganze Entſtehung geſchloſſener Etabliſſements vor
der Zeit der Maſchinenweberei ſo erklärt.
wirthſch. Verhältniſſe des Zollvereins, S. 77 und 84, beträgt
an Tuch aus dem Zollverein 0,82 Thlr., aus England 0,85,
aus Belgien 1,53, aus Frankreich 0,51, an ſämmtlichen Woll-
waaren dagegen aus dem Zollverein 1,37 Thlr., aus England
2,58, aus Belgien 1,63, aus Frankreich 1,27 Thlr.
Schwerpunkt der engliſchen Wollwaarenfabrikation; in ihr hat
auch der Maſchinenſtuhl und das Fabrikſyſtem ſeit 1836 — 40
vollſtändig geſiegt; die Ausfuhr dieſer Artikel hat außerordentlich
zugenommen in England, ungefähr in eben dem Maße, als die
Ausfuhr von Tüchern zurückging; vergl. Ausſtellungsbericht von
1851 II, S. 54 — 67.
S. 135: „Die Inhaber faſt aller großen Tuchfabriken ſind
urſprünglich Tuchmachermeiſter und Innungsmitglieder.“
bis 36; Journal of the stastical Society 1859, S. 1 — 34:
Baines on the woollen manufacture of England, ſpeziell
S. 29 — 30; Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 1867, Band IV,
S. 94.
in dieſer Zeit, Zollvereinsblatt 1845, S. 91.
theilungen über Gewerbe und Handel in Kalw. Kalw 1862. S. 6.
Leipzig 1863. S. 41 ff.
Wien 1869. S. 102.
Zeitſchrift des preuß. ſtat. Bureau’s 1864, S. 205 — 208.
ziger Handelskammerbericht für 1863, S. 42, Chemnitzer für
1863, S. 99.
Arztes, über die Zuſtände in den ſchleſ. u. ſächſ. Baumwoll- und
Leinenweberdiſtrikten, fordert unter Hinweiſung auf die ſtaatlichen
Kräfte, welche in Belgien die verarmten Diſtrikte wieder zu
einer beſſern Flachsbereitung erzogen haben, die Hülfe des
Staates, Kapital, das in feſten kurzen Terminen zurückzuzahlen
wäre — noch mehr aber die geiſtige Initiative, die Erziehung
der Weber für gemeinſame beſſere Produktion.
2736 Ztnr. ſeidnen und 1075 Ztnr. halbſeidnen, 1864 von
13676 ſeidnen und 10276 Ztnr. halbſeidnen Waaren.
faktur S. 99, in der deutſchen Vierteljahrſchrift, 1864, 4. Heft
S. 44—120.
der arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 181—189.
erwähnten Lohnzuſammenſtellung aus den Kreisbeſchreibungen.
145—157.
Geſchichte der Erfindungen, Leipzig 1786, I, 122.
welche zeigt, daß ſchon 1816 und 1831 die Bandſtühle nicht
gleichmäßig überall, ſondern mehr konzentrirt vornehmlich in
der Rheinprovinz als Hausinduſtrie vorkamen.
II, S. 310—312.
band. S. 53—54. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bureaus 1860,
S. 106; 1863, S. 27 u. S. 38 ff. Chemnitzer Handelskammer-
bericht für 1863 S. 101—111.
gehören Maurern, Zimmerleuten, Feldarbeitern, ſie ſind immer
nur im Winter im Gange. Der Geſammtwerth der obigen
Handſtühle (wozu Hand-, Ketten- und Ränderſtühle gerechnet
ſind) wird von dem Berichterſtatter zu 929510 Thlr., der
Geſammtwerth der ſog. Maſchinenſtühle (von welchen aber auch
viele mit der Hand betrieben werden) zu 278990 Thlr.
berechnet, wobei alle Hülfsmaſchinen, Spulräder, Spulmaſchinen,
Appreturutenſilien, die Motoren ꝛc. noch nicht gerechnet ſind.
Bei vollem Gange erfordern dieſe Stühle jährlich 10 Mill.
Pfund Garn.
es heißt da: von den 3 großen Lederfabriken Krefeld’s arbeiten
zwei nach der alten Gerbemethode faſt ausſchließlich Lederſorten,
die zu Schuhmacherwaaren in Stadt und Umgegend Abſatz
finden. Eine dagegen läßt mit den neueſten Maſchinen ihres
Faches, mit Dampf, unter theilweiſer Anwendung der Prin-
zipien der Schuellgerberei hauptſächlich ſolche Artikel fertigen,
welche in Wagenfabriken, zu feinen Sattlerarbeiten, zu Militär-
effekten Abſatz finden.
Tabellen und amtliche Nachrichten V, 833. Viebahn III, 680.
verglichen mit Viebahn III, 682.
zeitung Nr. 31 u. 32.
Leipzig 1856. S. 143.
ſtellungsbericht 1867, Bd. IV, 232.
Häuſer, welche nur Modelle aufertigen, welche Zeichner, Maler,
Literaten und Sachverſtändige aller Art beſchäftigen, mit den
Fabriken in regem Verkehr ſtehen, die Modefarbe beſtimmen
oder wenigſtens alle Stoffe dieſer Art für eine gewiſſe Zeit,
gewöhnlich drei Monate, aufkaufen. In dieſen Häuſern kaufen
die erſten Schneider und Konfektionsfabrikanten die Modelle und
propagiren jene, welche Sukzeß haben.“
die Gruppirung der Induſtrie in den großen Städten, Berliner
Gemeindekalender III, 65 — 67.
groß iſt dieſes Geſchäft in Frankreich; der öſtr. Ausſtellungs-
bericht IV, 193 ſchätzt den Werth der jährlichen Produktion auf-
100 Mill. Frcs. Der Hauptſitz des Geſchäfts iſt in Paris; die
großen Lingerie-geſchäfte laſſen aber nicht ſelbſt arbeiten, ſon-
sousentrepreneuses (vergl. Laspeyres a. a. O. S. 65 — 67),
oder gar einzelner zu Hauſe arbeitender Nätherinnen.
das Berg-, Hütten- und Gewerbeweſen des Regbez. Arnsberg,
beſonders S. S. 77, 365, 375—390.
der Meſſingwaarenfabrikation und Schmiederei Birmingham’s:
Die Stadt hatte 1820-100000, jetzt 240000 Einw. Die
Geſchäfte werden nicht bloß mit großen Kapitalien betrieben, es
giebt deren Viele, in welchen nicht über 3000—5000 Thlr.
ſtecken. Die kleineren Geſchäfte ſind im Zunehmen, ſeit ſich
einzelne Unternehmer dazu hergeben, Dampfkräfte von beliebiger
Stärke mit entſprechenden Räumlichkeiten miethweiſe abzugeben,
ſo daß der kleine Fabrikant oder Handwerker ſich nur die Arbeits-
maſchine und Werkzeuge, nicht aber die theuren Triebwerke
anzuſchaffen braucht. Daneben iſt das entwickelte Bankſyſtem
von Bedeutung für die kleinen Leute. Durch die Zunahme der
kleinen Unternehmer ſind die Preiſe der Fabrikate weit billiger
geworden, weil der Arbeiter, der für eigene Rechnung fabrizirt,
viel mehr raffinirt als der Lohnarbeiter.
noth, Nordhauſen 1867.
Einfluß auf die Vertheilung des Volksvermögens, Vierteljahrs-
ſchrift für Volkswirthſchaft X, 1—35.
Viehhändler und ſeine die kleinen Bauern ruinirenden Geſchäfte:
Held, die ländlichen Dahrlehnskaſſenvereine in der Rheinprov.,
in Hildebrand’s Jahrb., XIII, S. 38.
Ueberſicht über die ſämmtlichen zollvereinsländiſchen gewerb-
lichen Schulen.
ment in Dresden und die Geſchäfte, die es macht, vergl. Dres-
dener Handelskammerbericht für 1867, S. 102; es iſt für
Drechsler und Reifendreher; der Einzelne zahlt 12—36 Thlr.
jährliche Miethe; es ſind 150 Stellen; im erſten Jahre 1867
waren nur 50 vermiethet; im zweiten ſchon über 100.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmrq.0