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Der
grüne Heinrich.

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Der
grüne Heinrich.


Roman



In vier Bänden.

Vierter Band.


Braunſchweig,:
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1855.
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Erſtes Kapitel.

Da der wunderliche Zweikampf in Ferdinand's
Wohnung vorgefallen war und der ſchwer Ver¬
wundete ohne Aufſehen daſelbſt gepflegt wurde,
ſo konnte der ungluͤckliche Vorfall ohne Muͤhe
gaͤnzlich geheim gehalten werden. Es wurde
ausgeſagt, Lys habe eine Reiſe angetreten, und
Heinrich hielt ſich ebenfalls in ſeiner Werkſtatt
verſchloſſen, ohne ſich ſehen zu laſſen.


Agnes ſaß in troſtloſer Traurigkeit in ihrem
Haͤuschen; ſie hatte die vorgebliche Abreiſe Ferdi¬
nand's vernommen, daß er weit, weit fortgegan¬
gen ſei, und waͤhnte der alleinige Grund dieſer
ploͤtzlichen Entfernung zu ſein. In der Stadt
hatte ſich das Geruͤcht gebildet, daß das ſeltſame
IV. 1[2] Maͤdchen ſich an dem Feſte hoͤchſt leidenſchaftlich
und ungeberdig uͤbernommen, ſich berauſcht und
ſo den reichen Hollaͤnder, deſſen Hand ihr ſchon
ſicher geweſen ſei, von ſich abgeſchreckt und zu
eiliger Flucht bewogen haͤtte. Dieſe Sage drang
auch in ihr Haus, die zornige Mutter, welche
eine geborgene glanzvolle Zukunft ſich entſchwin¬
den ſah, uͤberhaͤufte die Arme mit ihren ſingenden
monotonen Vorwuͤrfen, und ſo ſaß Agnes, welche
ſelbſt einen Theil dieſes Geredes fuͤr wahr hielt
und ſich ſchuldig glaubte, voll Scham und Furcht
und in verlorner Sehnſucht da.


Da Heinrich in jener Nacht uͤber dem Streite
mit Ferdinand ganz ſeine Abſicht vergeſſen hatte,
Agneſens Mutter von dem Unfalle zu benachrich¬
tigen, und alſo weder dieſe, noch Ferdinand, noch
Heinrich wieder in dem Landhauſe erſchienen, ſo
hatte ſich das verlaſſene Maͤdchen aufgerafft und
entſchieden begehrt, in die Stadt gebracht zu
werden. Sie war daher in einen Wagen geſetzt
und durch die Gaͤrtnersfrau begleitet worden.
Ueberdies hatte ſich der rheiniſche Gottesmacher
auf den Bock geſetzt und war treulich beſorgt
[3] geweſen, die kranke Schoͤne in ihrer Behauſung
unterzubringen.


Als einige Tage verfloſſen waren und die
Blume jenes Geruͤchtes voͤllig aufgegangen, ver¬
ſammelte der Gottesmacher einige Muſikgenoſſen,
mit welchen er gewoͤhnlich Quartett ſpielte, und
uͤbte mit ihnen einen ganzen Tag lang. Am
Abend fuͤhrte er ſie vor Agneſens kunſtreiches
Haͤuschen; der Violoncelliſt, welcher ein Land¬
ſchafter war, hatte ſeinen Feldſtuhl mitgenommen
und ſetzte ſich auf denſelben zum Spiele, die
anderen Drei ſtanden neben ihm, und nachdem ſie
leiſe und ſorgfaͤltig die Saiten geſtimmt, erklan¬
gen die harmoniſchen, gehaltenen Toͤne der Geigen
uͤber den kleinen, ſtillen Platz. Augenblicklich oͤff¬
neten ſich alle Fenſter in der Runde, die Nach¬
baren ſteckten neugierig entzuͤckt die Koͤpfe in die
laue Maͤrznacht hinaus, und die Frauen und Maͤd¬
chen ſpaͤhten, wem die unerwartete Serenade gel¬
ten moͤchte.


Die Muſiker ſpielten einige ernſte, klagende
Stellen aus aͤlteren Tonwerken, deren edle, kraͤf¬
tige Unbefangenheit ſuͤß und wohllautend das
1 *[4] helle Mondlicht durchklang und in ihrer klaren
Beſtimmtheit mit den ſcharfen Umriſſen der voll
beleuchteten Gegenſtaͤnde wetteiferte. Agnes ſaß
zuhinterſt in der matt erleuchteten Stube; die
ſchoͤne Muſik toͤnte in ihren dumpfen Schmerz
hinein, ſie erhob das ſchwere Koͤpfchen und lauſchte
alſobald mit kindlich neugierigem Wohlbehagen
den Toͤnen, ohne ſich zu wundern noch zu kuͤm¬
mern, woher ſie kaͤmen. Ihre Mutter dagegen
eilte an's Fenſter, und ſobald ſie ſich uͤberzeugt
hatte, daß die Herren nur an ihr Haus hinauf¬
ſpielten, rief ſie: »Bei Maria's Huͤlf und from¬
mer Fuͤrbitte! Wir haben ein Staͤndchen! Wir
haben ein Staͤndchen!« Sie zuͤndete ſogleich die
zwei roſenrothen Wachskerzen an, welche ſonſt
immer wie Altarleuchter vor ihrem Bildniſſe
ſtanden, und ſtellte dieſelben feierlich auf den
Tiſch, damit Jedermann an der hell erleuchteten
Stube ſehen ſollte, wem die Muſik gelte. Dann
zog ſie ihre Tochter, die ſie kurz vorher geſchol¬
ten hatte, freundlich zum Fenſter und Agnes ſah
laͤchelnd auf die freundlichen Muſiker nieder.
Dieſe gingen nun in einen raſcheren Takt und
[5] in hellere Weiſen uͤber, und nachdem ſie dieſelben
mit kraͤftigem Bogenſtrich geſchloſſen, begannen
ſie ploͤtzlich, ebenſo geuͤbt im Geſange, wie im
Spiel, ein vierſtimmiges Fruͤhlingslied zu ſingen,
daß der wohltoͤnende Geſang heiter in die Luͤfte
ſtieg. Sie begleiteten ſich ſelbſt auf ihren In¬
ſtrumenten, bald mit zartem Bogenſtrich, bald
mit der Hand die Saiten ruͤhrend.


In der zarten und doch feſten Tuͤchtigkeit
dieſes Vortrages that ſich ein wohlbeſtelltes
Gemuͤth kund, und die zuſammenklingenden Maͤn¬
nerſtimmen richteten Agneſens Seelchen auf und
drangen mit ehrendem und troͤſtendem Schmei¬
cheln in ihr verzagtes Blut.


Sie erroͤthete freundlich und ſchlief dieſe
Nacht wieder zum erſten Mal froh und ruhig,
in beiden zierlichen Ohrmuſcheln die wohlthuen¬
den Toͤne bewahrend.


Am anderen Tage fand ſich der Gottesmacher
im Haͤuschen der Malerswittwe ein und ſtellte
ſich als den Urheber des naͤchtlichen Concertes
vor. Die Alte erroͤthete noch mehr als ihre
Tochter, und alle Drei befanden ſich in einiger
[6] Verlegenheit. Um dieſe zu unterbrechen, erbat
ſich der Rheinlaͤnder Entſchuldigung fuͤr die Frei¬
heit, die er ſich genommen, ſo ohne Weiteres mit
einer Nachtmuſik aufzuwarten, und zugleich die
Erlaubniß, ſeine Beſuche fortſetzen zu duͤrfen.
Dieſe wurde ihm gewaͤhrt; das junge Maͤdchen
fand ſich durch die muſikaliſche Ehrenrettung aus
einer peinvollen und oͤden Lage erloͤſt; ſie fuͤhlte
nun reiner das ſuͤßherbe Weh des Liebesungluͤckes,
und in ihr Leid um Ferdinand Lys miſchte ſich
mit nicht abzuwehrender Waͤrme die Dankbarkeit
gegen den wohlgeſinnten Gottesmacher.


Dieſer brachte mehrere Male ſeine Freunde
ſammt den Inſtrumenten mit und fuͤhrte mit
ihnen in Agneſens Wohnung kleine Concerte
auf, denen Niemand zuhoͤrte, als ſie und ihre
Mutter. Die klare Muſik, die wohlgemeſſenen
Toͤne hellten ihren Geiſt auf und erweckten rei¬
fende, bewußte Gedanken in ihr, ſo daß eine
ernſte Haltung, ein inhaltsvollerer Blick mit ihrer
Kindlichkeit und ihrem naiven Weſen ſich mit
großem Reize vereinigten.


Als eines Abends der Gottesmacher ſich mit
[7] ſeinen Freunden entfernt hatte, kehrte er gleich
darauf allein zuruͤck und in ſonderbarer angeneh¬
mer Aufregung, und indem er einen glaͤnzenden
Blick auf die reizende Geſtalt des Maͤdchens warf,
kuͤßte er der Mutter die Hand, nahm ſich zuſam¬
men und hielt, im Anfang nicht ohne Stottern,
folgende Rede:


»Sie ſind, liebekoͤſtliche Agnes — Ihre Toch¬
ter iſt, verehrte Frau! von einem glaͤnzenden
Liebhaber herzlos verlaſſen. Weder mit den per¬
ſoͤnlichen Vorzuͤgen, noch mit den Reichthuͤmern
jenes Treuloſen begabt, fuͤhle ich dennoch mich
unaufhaltſam getrieben und gezwungen, das Gluͤck
herauszufordern, mich an die Stelle des Ver¬
ſchwundenen zu draͤngen und mit meiner Hand
der Verlaſſenen ein leidenſchaftlich erregtes aber
dauerhaftes und treues Herz anzubieten! — Ich
bin ein Silberſchmied und am Rhein zu Hauſe;
meine Eltern ſind mir ſchon fruͤh geſtorben, ſo
daß ich von Jugend auf allein in der Welt ſtand.
Aber nachdem ich in Arbeit, Muſik und Luſtigkeit
viele ſorgenvolle und luſtige, klangvolle Jahre
zugebracht, fiel mir von weiter Verwandtſchaft
[8] her das Erbe eines ſchoͤnen, frommen und naͤh¬
renden Heimweſens zu, durch den Schutz der ge¬
benedeiten Jungfrau. Ich hatte nun reichlicher
zu leben und durfte, einigen kuͤnſtleriſchen Nei¬
gungen folgend, mit denen ich verſehen bin, auf
einige Jahre hierher kommen, um in dieſer gut
katholiſchen Stadt mein Handwerk durch etwas
gute Bildnerei verbeſſern zu lernen. Die vorge¬
ſetzte Zeit iſt nun voruͤber, ich kehre naͤchſtens an
den ſchoͤnen Strom zuruͤck, wo Kirchen, Kloͤſter
und vornehme Praͤlaten meine Arbeiten begehren.
Mein Gut liegt zwiſchen zwei uralten Staͤdtchen
am ſonnigen Abhang, aus dem Hauſe tritt man
in den Garten und ſchaut den goldenen Rhein¬
gau hinauf und hinunter, Thuͤrme und Felſen
ſchwimmen in blaͤulichem Dufte, durch welchen
ſich das glaͤnzende Waſſer zieht; hinter dem Hauſe
legt ſich der edle, eintraͤgliche Wein, der mir Gut
und Freude bringt, an den aufſteigenden Berg,
und oben ſteht eine Kapelle unſerer lieben Frau,
die weit uͤber die Gauen, Waͤlder und in die
Berge hineinſchaut und ſich in's letzte Abendroth
taucht. Dicht daneben habe ich ein kleines Luſt¬
[9] haͤuschen gebaut und unter demſelben einen klei¬
nen Keller in den Felſen gehauen, wo ſtets ein
Dutzend Flaſchen klaren Weins liegen. Wenn
ich nun einen neuen kunſtreichen Kelch fertig habe,
ſo ſteige ich, eh' ich ihn inwendig vergolde, hier
hinauf, und nachdem ich der Jungfrau meinen
Dank abgeſtattet fuͤr ihre Huͤlfe bei der Arbeit,
probire und weihe ich das Gefaͤß in dem luftigen
Haͤuschen, und leere es drei, auch wohl vier
Mal auf das Wohl aller Heiligen und aller un¬
ſchuldigen frohen Leute. Ich fuͤhre dies hier an,
weil ich damit meine Schwaͤche bekenne, daß ich
naͤmlich bis jetzt ein bischen viel Wein getrunken
habe, zwar nie ſo viel, daß ich nicht jenen Berg
wieder allein haͤtte hinunter gehen koͤnnen, ſo
ſteil er auch iſt. Meine Silberarbeit, Muſik und
Wein ſind meine einzige Freude geweſen und
meine ſchoͤnſten Tage die ſonnigen Kirchentage
der Mutter Gottes, wenn ich zu ihrem Preiſe
auf dem Chore der benachbarten Kirchen ſpielte,
waͤhrend unten am belaubten und bekraͤnzten Al¬
tare meine Gefaͤße glaͤnzten. Ein klingendes und
ſingendes Weinraͤuſchchen an heiterer Pfaffentafel,
[10] in Refectorien oder in ſchoͤn gebohnten, duftenden
Pfarrhaͤuſern war dann der Gipfel des vergnuͤg¬
ten Daſeins. — Aber ſeit einiger Zeit ſehnten
ſich meine Lippen auch nach einem anderen Tranke,
es war mir immer, als moͤchte ich die unſichtbare
Himmelskoͤnigin einmal kuͤſſen, und wenn ich die
Bilder, die ich von ihr in Silber oder Elfenbein
machte, zu kuͤſſen mich gewaltſam bekaͤmpfen
mußte, bat ich die ſchoͤne Gottesfrau ſchmerzlich,
mir aus meiner Noth zu helfen. — Da habe ich
Dich bei dem Feſte geſehen, aͤrmſte, ſchoͤnſte Agnes,
und ſogleich war es mir, als haͤtte die Jungfrau
ſelbſt Deine Geſtalt angenommen, mir zur Freude,
und meinem Silber, meinem Elfenbein zu Vor¬
bild und Richtſchnur; denn was ich bislang an
zartem Gebilde in Traum und Wachen vergeblich
geſucht und angeſtrebt, das ſah ich nun ploͤtzlich
lebendig vor mir! Ich wußte nicht, draͤngte es
mich zuerſt, zu Stift und Griffel zu greifen, um
Deine koſtbare Erſcheinung haſtig dem edlen Me¬
talle einzugraben: oder, Dich mit dem Schwure
zu umſchließen, daß ich Dich nun und immerdar
mir aneignen und auf Haͤnden tragen wolle, das
[11] lichte Seelchen, das in Deiner Geſtalt wohnt,
in Froͤmmigkeit kuͤſſend! Kommſt Du mit mir
in meine Heimath, ſo ſoll die Zeit des Weines
fuͤr mich voruͤber ſein und die Zeit der Liebe und
Schoͤnheit beginnen! Das Land iſt ſchoͤn und
fromm und froͤhlich, Ruhe und Heiterkeit ſollen
Dich und Deine geehrte Mutter umgeben, indeſſen
jeder Punkt Deines Daſeins und Deiner Erſchei¬
nung ein Gegenſtand meiner immerwaͤhrenden
Verehrung ſein wird. Zahlreiche Kapellen und
Kirchlein unſerer lieben Frau, die aus allen lau¬
ſchigen Winkeln, auf Bergen und im Strome
glaͤnzen, ſtehen bereit, Deine ſonſtigen Wuͤnſche
und Anliegen und meine Dankgebete fuͤr die Eine
Gnade Deines Beſitzes aufzunehmen.«


Als der Gottesmacher ſeine Rede in ſchoͤner
und einnehmender Erregtheit geendet, und Agne¬
ſens Hand ergreifend, ſie mit ſeinen lebhaften
Aeuglein, die in gemuͤthvollem poetiſchen Feuer
funkelten, anblickte, wollte die Mutter mit diplo¬
matiſcher Geberde das Wort ergreifen; allein ihre
Tochter, welche waͤhrend der Zeit ihr praͤchtiges
Auge mit melancholiſchem Laͤcheln auf die Erde
[12] gerichtet hatte, richtete ſich jetzt auf, unterbrach
die Alte und erwiederte mit einem freien und
vollen Blicke auf den Rheinlaͤnder, indem ſie ihm
die Hand ließ:


»Ja, ich will Dein ſein, mein lieber Freund!
Du haſt mir Ehre erwieſen und Troſt gebracht
und Deine ſchoͤne Muſik hat ein helles Licht ich
meinem verwirrten Gemuͤthe verbreitet! Und in¬
dem ich uͤberlege, wie ich es Dir am beſten
und wahrſten danken kann, fuͤhle ich wohl und
fuͤhle es gern, daß es am beſten mit meinem
verlaſſenen Selbſt geſchieht, das nun nicht mehr
verlaſſen iſt! Ohne zu forſchen, ob Deine Nei¬
gung feſt und dauernd ſei, will ich mich mit all'
der Sehnſucht meiner verſchmaͤhten Liebe unter
den Schutz Deines froͤhlichen Herzens fluͤchten
und ſo zugleich das Unheil einer neuen Ver¬
ſchmaͤhung verhuͤten. Ich will nicht ruͤckwaͤrts
ſchauen und nur fuͤhlen, daß ich mit meiner Einen
Kraft liebe und wieder geliebt werde. Sollte es
mir geſchehen, daß ich einmal den Namen des
Verſchwundenen ſtatt des Deinigen ausſpreche,
ſo ſei mir nicht boͤſe, ich will Dich dafuͤr zwei¬
[13] mal an's Herz druͤcken! Was den Wein betrifft,
ſo bitte ich Dich, wegen meiner nicht einen Be¬
cher weniger zu trinken! Dieſer goldene Schelm
hat mir Weh gethan und ich habe ihn ſchmerz¬
licher Weiſe dafuͤr lieb gewonnen; ich ſah, daß
an ſeinen Quellen ehrliche Freude, Herzlichkeit
und Artigkeit wohnen; jene Stunden zwiſchen
den Myrthen und Orangen, obgleich ich ſie nie
zuruͤck wuͤnſche, ſind wie ein unausloͤſchliches
Maͤhrchen in meinem Gedaͤchtniß, wie ein ſchmerz¬
lich ſuͤßer Traum, welchen ich zwiſchen neuen,
unbekannten und doch vertrauten treuherzigen Ge¬
ſtalten getraͤumt.


»Aber noch Eines muß ich ſagen. In die
vielen Kirchen und Kapellen am Rheine werde
ich nicht eintreten! Ich habe in meiner Noth um
den Ungetreuen zu der fabelhaften Frau im Him¬
mel gefleht und ſie hat mir nicht geholfen! Oder
ich habe um Ungehoͤriges und Suͤndliches gefleht;
dann aber duͤnkt es mich, daß ein wahres goͤtt¬
liches Weſen hierzu niemals verlocken kann. Als
ich noch hoffte, den ſchlimmen Ferdinand mein zu
nennen, wußte ich, daß er nichts glaubte und im
[14] Stillen uͤber mein Vertrauen zur Jungfrau laͤ¬
chelte. Ich war daruͤber bekuͤmmert und gedachte
in meiner Kindheit, ihn noch gut katholiſch zu
machen. Jetzt, wo ſeine Entfernung und ſein
ſelbſtſuͤchtiger Verrath mir ſeine Grundſaͤtze dop¬
pelt verdaͤchtig und verhaßt machen ſollten, fuͤhle
ich mich ſeltſamer Weiſe zu denſelben hingezogen,
ja ich wuͤnſche zuweilen, wie wenn ich nach ſei¬
nem Beifall luͤſtern waͤre, daß er es wiſſen moͤchte!


»Zuͤrne nicht hieruͤber, liebſter frommer Got¬
tesmacher! Ich will Dir kein Aergerniß geben,
ſondern Dein gehorſames und treues Haus- und
Bergfraͤulein ſein! Ich will fromm Deiner Trau¬
ben pflegen und Dir jeden Becher credenzen, den
Du trinkeſt!«


Die Zuhoͤrer waren hoͤchlich verwundert uͤber
dieſe Reden; die Mutter bekreuzte ſich dreimal,
indem ſie ſowohl uͤber Agneſens Beredtſamkeit,
als uͤber den Inhalt ihrer Worte ſich entſetzte,
und ſie wollte ein lautes Lamentiren beginnen.
Aber ſie wurde wieder unterbrochen durch den
Gottesmacher, welcher, nachdem er ſich von ſei¬
nem Erſtaunen erholt, erwiederte:

[15]

»Ich haͤtte allerdings nicht vermuthet, daß
meine ehrwuͤrdige, von frommen Meiſtern geſetzte
Muſik ein Licht dieſer Art in einem jugendlichen
Frauenhaupte aufſtecken und eine ſolche anmuthige
Beredtſamkeit erzeugen wuͤrde! Doch die Wege
des Herrn ſind wunderbar! moͤchte ich faſt ſagen,
wenn nur dieſes Sprichwort hier beſſer ange¬
wendet waͤre!


»Ich bin in dem andaͤchtigen Glauben an
Gott und ſeine Heiligen erzogen, und insbeſon¬
dere das Bild der Maria hat mich von Kindheit
auf in ſeiner Milde und Schoͤnheit angelacht.
Ihr Cultus hat mich zur Kunſt begeiſtert und
mir Brot gegeben, als ich arm, verlaſſen und
unwiſſend war; ſie war mir Muͤtterchen, Geliebte,
goͤttliche Fuͤrbitterin, Muſe in Bild und Toͤnen,
und uͤberdies belebte ſie wie eine allgegenwaͤrtige
Goͤttin die Fluren meiner ſchoͤnen Heimath. Aus
der Blaͤue des Himmels, auf goldenen Wolken, im
Glaͤnzen des Gewaͤſſers, im leuchtenden Gruͤn der
Waͤlder, auf den Blumenſternen, auf den rothen Ro¬
ſen laͤchelte mir die unſichtbare Himmelsfrau ſichtbar
entgegen und weckte ein ſuͤßes Sehnen in meiner
[16] Bruſt. Jetzt iſt mir beinahe, als waͤre dies Seh¬
nen geſtillt, auch weiß ich gar wohl, daß derlei ka¬
tholiſche Dinge von aufgeklaͤrten oder auch nur un¬
befangenen Leuten nicht mehr geglaubt werden;
aber warum wollen wir die ſelige Menſchgoͤttin
unſerer Jugendzeit, die uns Unſchuld und Anmuth
bedeutet, ſo ohne Weiteres abſetzen? Iſt es uns
nicht lieblicher und vertrauter, die Altbekannte,
Schoͤne ferner uͤber unſeren Fluren zu ahnen und
ſie mit dem armen Volke in den geſchmuͤckten
Tempeln zu verehren, in denen wir ſo wohl zu
Hauſe ſind, als uns den Kopf zu zerbrechen und
fuͤr das, was uns begluͤckt, gelehrte heidniſche
Namen oder gar nur toͤnende Worte zu gebrau¬
chen? Wenn ich erſt einmal anfinge, mich in
ſolche Dinge einzulaſſen, ſo haͤtte ich nicht mehr
Zeit, mein Silber zu treiben; denn mein Kopf iſt
nicht zu leichten Uebergaͤngen eingerichtet und
muß Alles gruͤndlich einuͤben. Alſo ſchlage ich
vor, daß wir uns dieſe Sache nicht unnoͤthig
ſchwer machen, vielmehr dieſelbe, ſo zu ſagen, der
heiligen Jungfrau ſelbſt uͤberlaſſen! Was jenen
ungluͤcklichen Verraͤther betrifft, ſo wage ich zu
[17] hoffen, daß ich ſein Andenken je laͤnger, je weni¬
ger zu fuͤrchten brauche, ja ſogar, daß das Be¬
ſtreben, in Glauben oder Unglauben zu gefallen,
eines Tages ſich mir gaͤnzlich zuwenden werde;
denn ich fuͤhle eine ſolche Ganzheit und Sicher¬
heit der Liebe zu Dir in mir, daß ich mir Mei¬
ſterſchaft und Kunſt genug zutraue, den Lauf
Deines Gebluͤtes endlich ganz zu meinem Gunſten
zu lenken!«


Agnes blickte waͤhrend dieſer Worte wieder
vor ſich nieder, ohne den Mund zu verziehen, wie
in tiefen Gedanken verloren; doch dann ſtand ſie
auf und kuͤßte den Gottesmacher mehrere Male
auf den Mund.


Es wurde nun beſchloſſen, gleich mit dem
Beginne des Fruͤhlings die Hochzeit zu begehen
und nach dem Rheine zu ziehen, was auch Alles
auf das Beſte geſchah, und der Gottesmacher
war und blieb ſo gluͤcklich, daß daraus nothwen¬
dig auf Agneſens eigenes Gluͤck zu ſchließen war.
Ihre Mutter war erſt in der großen belebten
Stadt geblieben, da ihrem eiteln Sinne dieſelbe
zur Unterlage noͤthig ſchien; auch hoffte ſie im
IV. 2[18] Geheimen durch die Abweſenheit der ſtoͤrenden
Schoͤnheit ihrer Tochter noch einen ſtillen und
erbaulichen Nachſommer ihrer eigenen Perſon zu
genießen, wenn auch nur vor ſich ſelbſt und An¬
geſichts ihres Bildes. Aber bald mußte ſie zu
ihrem Schrecken erfahren, daß ihr Licht nicht mehr
genugſam leuchtete, und daß ſie, ohne es zu
wiſſen, ſchon bislang im Widerſchein von ihres
Kindes Schoͤnheit geathmet hatte. Sie fuͤhlte
ſich einſam, alt und verwelkt, mehr, als ſie es
im Grunde war, erhob einen großen Jammer,
bis ſie zu dem jungen Paare reiſen konnte, und
es war ruͤhrend zu ſehen, wie ſie ſich klagend be¬
eilte, nur wieder in den Bereich der Jugend und
Schoͤnheit zu kommen, die Jugend von ihrer Ju¬
gend und Schoͤnheit von ihrer Schoͤnheit war,


Ehe aber das ſeltſam erregte Paar abgereiſt,
hatte es auf den beſonderen Wunſch Agneſens
den abgeſchloſſenen Heinrich aufgeſucht, um ſich
bei ihm zu verabſchieden.


Die erſte Gefahr in Ferdinand's Zuſtande war
einſtweilen voruͤber und der Verwundete ging
einer leidlichen Herſtellung entgegen. Heinrich
[19] hatte ihn aber noch nicht wieder geſehen. Eine
tiefe Verwirrung und Scham, welche ihn in der
ſtarken Abſpannung nach jenen aufgeregten Tagen
befiel, miſchte ſich mit einer Art trotziger Scheu,
ſich an das Krankenbett zu draͤngen, und als die
Lebenskraͤfte des Kranken ſich wieder geſammelt,
fragte er wohl nach Heinrich, aber er verlangte
ihn nicht zu ſehen. Ein bitteres Schmollen wal¬
tete zwiſchen Beiden, welches zwar bei Jedem
mehr gegen ſich ſelbſt gerichtet war, aber doch
den Anderen mit hineinzog, da ohne denſelben die
begangene gefaͤhrliche Thorheit nicht moͤglich ge¬
worden waͤre. Und wie eine ſuͤndliche Thorheit,
in Aufregung und Verblendung hereingebrochen
und fuͤr einmal noch gnaͤdig ablaufend, doch den
Vorhang luͤftet vor einem unliebſamen Dunkel,
das in uns zu wogen ſcheint, ſo zeigte das Vor¬
gefallene dem melancholiſchen gruͤnen Heinrich
eine dunkle Leere in ſich ſelber, in welcher ſeine
eigene Geſtalt mit tauſend Fehlern und Irrthuͤ¬
mern behaftet ganz unleidlich auf und nieder
tauchte.


Er wohnte laͤngſt nicht mehr in jenem behag¬
[20] lichen Stuͤbchen, das er bei ſeiner Ankunft ge¬
miethet, ſondern in einem großen ſaalartigen
Raume mit hohen grauen Waͤnden, der durch ein
maͤchtiges helles Fenſter erleuchtet war. Seine
ungeheuerlichen Cartons, mit den abenteuerlichen
Compoſitionen, die großen blaſſen Bilder auf
Leinwand bildeten zuſammen ein Labyrinth von
verſchiedenen helldunkeln Gelaſſen und Winkeln,
als ob Eine koloſſale ſpaniſche Wand, mit ſpa¬
niſchen Schloͤſſern bemalt, ſich durch den Raum
zoͤge. Der einzige Luxusgegenſtand im Zimmer
war ein maͤchtiges breites Sopha, das aber ganz
mit Papier und Buͤchern bedeckt war und dadurch
verrieth, daß der junge Bewohner ſich noch
ſtramm und aufrecht zu halten gewohnt war und
trotz ſeiner Melancholie keines Lotterbettes be¬
durfte. Sonſt war jede Zierlichkeit und Fuͤlle
vermieden; auf ein paar wackeligen Tiſchchen la¬
gen beſtaͤubt die Geraͤthe Heinrich's, auf dem
Boden ſeine Mappen, die Waͤnde waren kahl
und oͤde, und wenn er fruͤher einer muſeumarti¬
gen Fuͤlle, einer beſchaulichen Kramſeligkeit be¬
durft hatte, um ſich zu gefallen, ſo ſchien er jetzt
[21] mit einer duͤſtern Leere und Schmuckloſigkeit zu
cokettiren. Nur ein etwa anderthalb Fuß hoher
borgheſiſcher Fechter, trefflich gearbeitet, aber viel¬
fach beſchaͤdigt und beraͤuchert, ſtand in einer Ecke
auf dem Boden, und von der Fenſterniſche herab
hing zerriſſen und verdorrt eine große Epheuranke.
Auf der kahlen Mauer, wo der Epheu fruͤher in
die Hoͤhe gewachſen, ſah man dieſelbe Ranke mit
Kohle hoͤchſt ſorgfaͤltig und reinlich nachgezeichnet,
naͤmlich nach den Umriſſen des Schattens, wel¬
chen der Epheu einſt in der fruͤhen Morgenſonne
auf die Mauer geworfen hatte.


Aber dieſe Spur eines melancholiſchen Muͤßig¬
ganges war noch hoͤchſt heiter und tuͤchtig zu
nennen im Vergleich zu einer anderen, welche in
Heinrich's Werkſtatt zu entdecken war, oder viel¬
mehr dem erſten Blicke auffiel. Unter den gro¬
ßen Schildereien ragte beſonders ein wenigſtens
acht Fuß langer und entſprechend hoher Rahmen
hervor, mit grauem Papiere beſpannt, der auf
einer maͤchtigen Staffelei im vollen Lichte ſtand.
Am Fuße deſſelben war mit Kohle ein Vorder¬
grund angefangen und einige Foͤhrenſtaͤmme, mit
[22] zwei leichten Strichen angegeben, ſtiegen in die
Hoͤhe. Davon war Einiges bereits mit der
Schilffeder markirt, dann ſchien die Arbeit ſtehen
geblieben. Ueber den ganzen uͤbrigen leeren Raum
ſchien ein ungeheures graues Spinnennetz zu
hangen, welches ſich aber bei naͤherer Unterſu¬
chung als die ſonderbarſte Arbeit von der Welt
auswies. An eine gedankenloſe Kritzelei, welche
Heinrich in einer Ecke angebracht, um die Feder
zu proben, hatte ſich nach und nach ein unend¬
liches Gewebe von Federſtrichen angeſetzt, welches
er jeden Tag und faſt jede Stunde in zerſtreu¬
tem Hinbruͤten weiter ſpann, ſo daß es nun den
groͤßten Theil des Rahmens bedeckte. Betrachtete
man das Wirrſal noch genauer, ſo entdeckte man
den bewunderungswertheſten Zuſammenhang, den
loͤblichſten Fleiß darin, indem es in Einem fort¬
geſetzten Zuge von Federſtrichen und Kruͤmmun¬
gen, welche vielleicht Tauſende von Ellen aus¬
machten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangs¬
punkte bis zum Ende zu verfolgen war. Zuwei¬
len zeigte ſich eine neue Manier, gewiſſermaßen
eine neue Epoche der Arbeit, neue Muſter und
[23] Motive, oft ſehr zart und anmuthig, tauchten
auf, und wenn die Summe der Aufmerkſamkeit,
Zweckmaͤßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu die¬
ſer unſinnigen Moſaik erforderlich war, verbunden
mit Heinrich's geſammeltem Talente, auf eine
wirkliche Arbeit verwendet worden waͤre, ſo haͤtte
er ein Meiſterwerk liefern muͤſſen. Nur hier und
da zeigten ſich kleinere oder groͤßere Stockungen,
gewiſſermaßen Verknotungen in dieſen Irrgaͤngen
einer zerſtreuten, gramſeligen Seele, und die ſorg¬
ſame und kluge Art, wie ſich die Federſpitze aus
der Verlegenheit zu ziehen geſucht, bewies deut¬
lich, daß das traͤumende Bewußtſein Heinrich's
aus irgend einer Patſche hinauszukommen ſuchte.


Schon ſeit vielen Wochen hatte er jeden Tag
zur eigentlichen Arbeit angehoben und war alſo¬
bald, ohne es zu wiſſen noch zu wollen, in dun¬
klem Selbſtvergeſſen an die Fortſetzung der koloſ¬
ſalen Kritzelei gerathen, und er arbeitete eben
wieder mit eingeſchlummerter Seele, aber großem
Fleiß und Scharfſinn an derſelben, als an die
Thuͤr geklopft wurde.


Er erſchrak heftig und fuhr zuſammen, als
[24] ob er uͤber einem Verbrechen ertappt waͤre. Agnes
und ihr Braͤutigam traten herein, und kaum hatte
man ſich begruͤßt, ſo erſchien Erikſon mit ſeiner
nunmehrigen Frau Roſalie, und Heinrich ſah ſich
von Geraͤuſch, Leben und Schoͤnheit wach geruͤt¬
telt. Er hatte weder von Erikſon's Hochzeit, als
von Agneſens Verlobung Etwas gewußt, und
der Zufall wollte, daß beide Paare am folgenden
Tage abreiſen wollten, das eine nach dem Rheine,
das andere nach Italien.


»Meine Frau,« ſagte Erikſon, »beſtand dar¬
auf, mit hinaufzukommen, als ich, unten vorbei
gehend, mich beurlauben wollte, um Dir Adieu
zu ſagen. Wir bleiben bis zum Juni im Suͤden,
dann gehen wir durch Frankreich nach dem Nor¬
den, ſtreichen in meiner Heimath herum und ſe¬
hen, wo wir da einmal leben wollen. Vielleicht
in einer Seeſtadt, etwa Hamburg. Hernach be¬
ſuchſt Du uns auf einige Zeit, wir wollen Dich
protegiren und ein Bischen zurechtſtutzen!« Ro¬
ſalie unterbrach ihn und verlangte auf das
Freundlichſte von Heinrich das Verſprechen, daß
er ſie aufſuchen werde, und Agnes nebſt dem
[25] Gottesmacher begehrten, daß er jedenfalls den
Rhein hinunterfahren und auch ſie beſuchen ſolle.


Inzwiſchen hatte ſich Erikſon vor die Staffelei
geſtellt und betrachtete hoͤchſt verwundert Heinrich's
neueſte Arbeit. Dann betrachtete er mit bedenk¬
lichen Blicken den Urheber, welcher in peinlicher
Verlegenheit daſtand, und ſagte: »Du haſt, gruͤ¬
ner Heinrich, mit dieſem bedeutenden Werke eine
neue Phaſe angetreten und begonnen, ein Pro¬
blem zu loͤſen, welches von groͤßtem Einfluſſe
auf unſere deutſche Kunſtentwickelung ſein kann.
Es war in der That laͤngſt nicht mehr auszuhal¬
ten, immer von der freien und fuͤr ſich beſtehen¬
den Welt des Schoͤnen, welche durch keine Rea¬
litaͤt, durch keine Tendenz getruͤbt werden duͤrfe,
ſprechen und raiſonniren zu hoͤren, waͤhrend man
mit der groͤbſten Inconſequenz doch immer Men¬
ſchen, Thiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und
Flur und lauter ſolche trivial wirkliche Dinge
zum Ausdrucke gebrauchte. Du haſt hier einen
gewaltigen Schritt vorwaͤrts gethan von noch
nicht zu beſtimmender Tragweite. Denn was
iſt das Schoͤne? Eine reine Idee, dargeſtellt mit
2 *[26] Zweckmaͤßigkeit, Klarheit, gelungener Abſicht!
Dieſe Million Striche und Strichelchen, zart und
geiſtreich oder feſt und markig, wie ſie ſind, in
einer Landſchaft auf materielle Weiſe placirt,
wuͤrden allerdings ein ſogenanntes Bild im alten
Sinne ausmachen und ſo der hergebrachten groͤb¬
ſten Tendenz froͤhnen! Wohlan! Du haſt Dich
kurz entſchloſſen und alles Gegenſtaͤndliche hinaus¬
geworfen! Dieſe fleißigen Schraffirungen ſind
Schraffirungen an ſich, in der vollkommenſten
Freiheit des Schoͤnen ſchwebend, dies iſt der
Fleiß, die Zweckmaͤßigkeit, die Klarheit an ſich,
in der holdeſten, reizendſten Abſtraction! Und
dieſe Verknotungen, aus denen Du Dich auf ſo
treffliche Weiſe gezogen haſt, ſind ſie nicht der
triumphirende Beweis, wie Logik und Kunſt¬
maͤßigkeit erſt im Weſenloſen recht ihre Siege
feiern, im Nichts ſich Leidenſchaften und Verfin¬
ſterungen gebaͤren und ſie glaͤnzend uͤberwinden?
Aus Nichts hat Gott die Welt geſchaffen! Sie
iſt ein krankhafter Abſceß dieſes Nichts, ein Ab¬
fall Gottes von ſich ſelbſt. Das Schoͤne, das
poetiſche, das Goͤttliche beſteht eben darin, daß
[27] wir uns aus dieſem materiellen Geſchwuͤr wieder
in's Nichts zuruͤck abſtrahiren, nur dies kann eine
Kunſt ſein! — Aber mein Lob muß ſogleich einen
Tadel gebaͤren, oder vielmehr die Aufforderung
zu weiterem energiſchen Fortſchritt! In dieſem
reformatoriſchen Verſuch liegt noch immer ein
Thema vor, welches an Etwas erinnert, auch
wirſt Du nicht umhin koͤnnen, um dem herrlichen
Gewebe einen Stuͤtzpunkt zu geben, daſſelbe durch
einige verlaͤngerte Faͤden an den Aeſten dieſer
Foͤhren zu befeſtigen, ſonſt fuͤrchtet man jeden
Augenblick, es durch ſeine eigene Schwere herab¬
ſinken zu ſehen. Hierdurch aber knuͤpft es ſich
wiederum an die abſcheulichſte Realitaͤt! Nein,
gruͤner Heinrich! nicht alſo! nicht hier bleibe
ſtehen! Die Striche, indem ſie bald ſternfoͤrmig,
bald in der Wellenlinie, bald roſettenartig, bald
geviereckt, bald radienartig, ſtrahlenfoͤrmig ſich ge¬
ſtalten, bilden ein noch viel zu materielles Mu¬
ſter, welches an Tapeten oder bedruckten Kattun
erinnert. Fort damit! Fange oben in der Ecke
an und ſetze einzeln neben einander Strich fuͤr
Strich, eine Zeile unter die andere; von Zehn zu
[28] Zehn mache durch einen verlaͤngerten Strich eine
Unterabtheilung, von Hundert zu Hundert eine
wackere Oberabtheilung, von Tauſend zu Tauſend
einen Abſchluß durch einen tuͤchtigen Sparren.
Solches Decimalſyſtem iſt vollkommene Zweck¬
maͤßigkeit und Logik, das Hinſetzen der einzelnen
Striche aber der in vollkommener Tendenzfreiheit
in reinem Daſein ſich ergehende Fleiß. Zugleich
wird dadurch ein hoͤherer Zweck erreicht. Hier
in dieſem Verſuche zeigt ſich immer noch ein ge¬
wiſſes Koͤnnen; ein Unerfahrener, Nichtkuͤnſtler
hatte dieſe Gruſelei nimmer zu Stande gebracht.
Das Koͤnnen aber iſt von zu leibhafter Schwere
und verurſacht tauſend Truͤbungen und Ungleich¬
heiten zwiſchen den Wollenden; es bringt die
tendenzioͤſe Kritik hervor und ſteht der reinen
Abſicht fort und fort feindlich entgegen. Das
moderne Epos zeigt uns die richtige Bahn! In
ihm zeigen uns begeiſterte Seher, wie durch duͤn¬
nere oder dickere Baͤnde hindurch die unbefleckte,
unſchuldige, himmliſch reine Abſicht gefuͤhrt wer¬
den kann, ohne je auf die finſteren Maͤchte irdi¬
ſchen Koͤnnens zu ſtoßen! Eine goldſchnittheitere,
[29] ewige Gleichheit herrſcht zwiſchen der Bruͤder¬
ſchaft der Wollenden! Muͤhelos und ohne Kum¬
mer theilen ſie einige tauſend Zeilen in Geſaͤnge
und Strophen ab; der wahre Fleiß an ſich freut
ſich ſeines Daſeins, kein ſchlackenbeſchwerter Koͤn¬
nender ſtoͤrt die Harmonie der Wollenden. Und
weit entfernt, daß der Bund der Wollenden etwa
eine einfoͤrmige, langweilige Schaar darſtellte,
birgt er vielmehr die reizendſte Mannigfaltigkeit
in ſich und kommt auf den verſchiedenſten Wegen
zum Ziele. Hauptſaͤchlich theilt er ſich in drei
große Heerlager; das eine dieſer Heerlager will,
das heißt arbeitet, ohne Etwas gelernt zu haben;
das zweite wendet mit eiſerner Ausdauer das
Gelernte, aber nicht Begriffene an; das dritte
endlich arbeitet und will, ohne das Gelernte und
Begriffene auf ſich ſelber anzuwenden, und alle drei
Heerzuͤge vereinen ſich an Einem friedlichen Ziele.
Wer kann ermeſſen, wie nahe die Zeit iſt, wo
auch die Dichtung die zu ſchweren Wortzeilen
wegwirft, zu jenem Decimalſyſtem der leichtbe¬
ſchwingten Striche greift und mit der bildenden
Kunſt in Einer aͤußeren Form ſich vermaͤhlt?
[30] Alsdann wird der reine Schoͤpfer- und Dichter¬
geiſt, welcher in jedem Buͤrger ſchlummert, durch
keine Schranke mehr gehemmt, zu Tage treten,
und wo ſich zwei Staͤdtebewohner traͤfen, waͤre
der Gruß hoͤrbar: »Dichter?« »Dichter!« oder:
»Kuͤnſtler?« »Kuͤnſtler!« Ein zuſammengeſetzter
Senat gepruͤfter Buchbinder und Rahmenvergol¬
der wuͤrde in woͤchentlichen olympiſchen Spielen
maſſenhaft die Wuͤrde des Prachteinbandes und
des goldenen Rahmens ertheilen, nachdem ſie ſich
eidlich verpflichtet, waͤhrend der Dauer ihres Richter¬
amtes ſelbſt keine Epen und keine Bilder zu
machen, und ganze Cohorten wiſſenſchaftlich wie
aͤſthetiſch verbildeter Verleger wuͤrden die gekroͤnten
Epen in ſtuͤndlich folgenden Auflagen von je einem
Exemplare uͤber ganz Deutſchland hin ſo tiefſinnig
verlegen, daß ſie kein Teufel wieder finden koͤnnte!«


»Lieber Mann, was befaͤllt Dich, wo willſt
Du hin?« rief Roſalie, die wie die Anderen mit
offenem Munde dageſtanden und abwechſelnd bald
den uͤber und uͤber bekritzelten Rahmen, bald den
Redner betrachtet hatte, indeſſen Heinrich, mit
Roth begoſſen, dann bleich werdend, in der un¬
[31] gluͤckſeligſten Laune verharrte. »Laßt es gut ſein!«
ſagte Erikſon, »dieſer Witz, dieſes Geſchwaͤtz ſei
fuͤr einmal mein geruͤhrter Abſchied von Deutſch¬
land! Von nun an wollen wir dergleichen hin¬
ter uns werfen und uns eines wohlangewandten
Lebens befleißen!« Dann nahm er mit ernſterem
Blicke Heinrich bei der Hand, fuͤhrte ihn hinter
einen großen Carton und ſagte leiſe zu ihm:
»Lys laͤßt Dich freundlichſt gruͤßen; der Arzt hat
ihm gerathen, nun ſogleich nach dem Suͤden zu
gehen und ſich dort wenigſtens zwei Jahre auf¬
zuhalten. Er wird nach Palermo und dort ge¬
neſend in ſich gehen; die Krankheit ſcheint doch
etwas an ihm geaͤndert zu haben. Dein Ge¬
kritzel da auf dem Rahmen zeigt mir, daß Du
Dich uͤbel befindeſt und nicht mit Dir einig biſt;
ſieh, wie Du aus der verfluchten Spinnwebe her¬
auskommſt, die Du da angelegt haſt, und wenn
Du Dich mit dem Ding, mit der Kunſt oder
deren Richtung irgend getaͤuſcht faͤndeſt, ſo beſinne
Dich nicht lange und ſtelle die Segel anders!
Ich bin im gleichen Falle und muß erſt jetzt
ſehen, wie ich noch etwas Tuͤchtiges hantiren
[32] werde, daß einige nuͤtzliche Bewegung von mir
ausgeht!«


Heinrich ward ſehr beklemmt und erwiederte
nichts, als: »Wann geht Ferdinand fort?« »In
den naͤchſten Tagen,« ſagte Erikſon, »er wuͤnſcht
indeß, daß Ihr Euch fuͤr jetzt nicht ſehet; uͤber¬
haupt laßt uns alle Drei auf's Gerathewohl aus¬
einander gehen, ernſt und doch leicht, und es der
Zukunft uͤberlaſſen, was ſie aus Jedem machen
und ob ſie uns wieder zuſammenfuͤhren wird!
Ein dreifaches ſtilles Gedenken mag um ſo treuer
in uns leben; Du beſonders biſt uns beiden An¬
deren lieb, wie ein kleiner Benjamin, und es
nimmt uns hoͤchlich Wunder, was aus Dir, wel¬
cher ſo viel juͤnger iſt als wir, eigentlich ſich noch
hervorſpinnen wird.«


Als ſie wieder hinter ihrer Couliſſe hervor¬
getreten, wurde raſch Abſchied genommen. Erikſon
und der Gottesmacher druͤckten ihm kraͤftig die
Hand; Roſalie, welche mit feinem Sinne wohl
ahnte, daß Heinrich Etwas fehlte, daͤmpfte mit
zartem Gefuͤhl den munteren Glanz des Gluͤckes
in ihren Augen, als ſie ihm die Hand reichte
[33] und freundlich laͤchelte, und Agnes, welche ſich
zugleich herandraͤngte, ſchoß vollends einen war¬
men, dunklen Blick in ſeine Augen, und zwiſchen
ihren ſchwarzen Wimpern ſchimmerte es wie ſil¬
berner Thau. Er fuͤhlte, daß das wunderſame
Weſen ihm mit Wenigem viel ſagen moͤchte, daß
ſie dem Vertrauten jener ſchmerzlichen Freuden¬
tage ihre tiefbewegte Verwunderung uͤber ſich
ſelbſt, uͤber den Lauf der Welt verſchweigen
mußte. Selbſt verwundert ſtand Heinrich einen
Augenblick zwiſchen zwei reizvollen Weibern, dann
ſah er ſich allein und ſchaute in dem grauen, zum
Theil duͤſteren, zum Theil mit grellem Lichte
durchſtrahlten Raum herum, in welchem ſoeben
ſich kraͤftige und ſchoͤne, gluͤcklich gepaarte Men¬
ſchengeſtalten bewegt hatten.


Er ſah auf die Thuͤr, durch welche ſie ver¬
ſchwunden und welche mit ihrer weißgeſtrichenen
Flaͤche vor ſeinen Augen ſchwirrte und flimmerte
wie eine Leinwand, von welcher mit Einem Zuge
ein lebendiges Gemaͤlde weggewiſcht worden. Er
ſah durch das hohe Fenſter, deſſen untere Haͤlfte
verhuͤllt war, in die leere Luft hinaus, das freund¬
IV. 3[34] liche Stuͤck blauen Himmels ſchien anderswohin
niederzublicken auf ruͤſtig bewegtes Menſchenge¬
wimmel; ſein Blick irrte hierauf uͤber die umher¬
ſtehenden anſpruchsvollen Arbeiten hin, welche
grau in grau, als weſenloſe Fictionen von Baͤu¬
men und Steinen, in einander ſchwammen. Eine
beklemmende Unruhe bemaͤchtigte ſich ſeiner, hef¬
tig ſchritt er auf und nieder und ſich Raum
ſchaffend ruͤckte und ſchob er die Bilder und Car¬
tons ringsherum zuruͤck, zuſammen, draͤngte ſie
auf einen Haufen an die Wand, bis das große
Zimmer leer und geraͤumig erſchien. Wie einen
guten troͤſtenden Freund entdeckte er da die Gyps¬
figur des borgheſiſchen Fechters, welche aus ihrem
Winkel zu Tage trat. Unwillkuͤrlich hob er ſie
empor und ſetzte ſie auf ein Tiſchchen mitten in
das hereinſtroͤmende Licht.


Alles war Leben in dem von Sonne, Wind
und Wetter gereiften Koͤrper dieſes abgehaͤrteten
Kriegers, der mit ehrlichem Fleiße ſich ſeiner
Haut wehrte. Den feindlichen Angriff abwehrend
und zugleich ſelbſt kraftvoll angreifend, war der
ganze Mann mit allen Gliedern in der Anregung
[35] dieſes Doppelzweckes geſpannt; Vertheidigung und
Ausfall, Selbſterhaltung und Wirkung nach außen,
Zuſammenziehen und Ausdehnung vereinigten ſich
in Einem Momente, in welchem das ſchoͤnſte
Spiel der Muskeln darſtellte, wie das Leben recht
eigentlich durch ſich ſelbſt um ſich ſelber kaͤmpfte
in dieſer munteren Menſchenkrabbe.


Trotz des broͤcklichen beſchmutzten Gypſes
ging ein Licht von dem ruͤſtigen, tapferen Bilde
aus, welches erhellend in Heinrich's Augen fiel.
Er hatte ſonderbarer Weiſe noch nie einen ernſt¬
lichen Verſuch zur kundigen Nachahmung der
menſchlichen Geſtalt gemacht und gerade ſeit ſei¬
nem Aufenthalte in der Kunſtreſidenz, wo Mit¬
tel und Aufforderung genug im groͤßten Ma߬
ſtabe ſich aufdraͤngten, ſich eigenſinnig davon
zuruͤckgehalten, in der willkuͤrlich beſcheidenen Ein¬
bildung, daß Beruf und Beſtimmung die aus¬
ſchließliche Ausbildung des einmal gewaͤhlten
Zweiges erforderten. Nicht nur verkannte er das
Geſetz, daß je weiter und mannigfaltiger die
Kunde, verwandter Gegenſtaͤnde iſt, deſto freier
und vollkommener ein Auserwaͤhltes betrieben
3 *[36] werde, ſondern es verbarg ſich in jener Beſchei¬
denheit auch die Anmaßung, ſchließlich in dem
Einen Fache ſo glaͤnzen zu wollen, daß alle an¬
dere Kenntniß entbehrlich erſchiene. Nicht ſowohl
in der Erkenntniß dieſes Irrthums, als mehr um
ſich irgend Luft zu verſchaffen, ſpitzte er raſch
eine ſchlanke Reißkohle ſcharf zu, ſtemmte einen
Blendrahmen, mit friſchem Papier bezogen, gegen
die Knie und begann aufmerkſam und aufgeregt
den Fechter zu zeichnen. Obſchon er nicht die
mindeſte Kenntniß von dem beſaß, was unter der
Haut wirkte und ſich darſtellte, und kaum eine
zufaͤllige Ahnung vom Knochengeruͤſte hatte, ging
es doch in der erſten Anſpannung und Hitze ganz
gut vonſtatten, und er freute ſich ſogar, die
Dinge zu nehmen, wie er ſie unmittelbar ſah,
und mit natuͤrlichem Scharfblicke ſich zurechtzu¬
finden.


Er zeichnete anhaltend mehrere Stunden und
brachte nicht eine elegante Studie, ſondern eine
Arbeit zu Stande, welche ihn unvermutheter
Weiſe wenigſtens nicht abſchreckte. Aber je laͤn¬
ger er zeichnete, deſto wunderlicher erging es ihm;
[37] die Phantaſie eilte, indem die Kohle in der Hand
ruͤſtig arbeitete, maͤchtig voraus und ſah ſich be¬
reits weit vorgeſchritten in der Behandlung und
Verwendung der menſchlichen Geſtalt. Und wie
in der fieberiſchen Aufregung die Glieder des
Fechters ſich verhaͤltnißmaͤßig leicht geſtalteten und
die kraftvollen Muskelwoͤlbungen ſich reihten, de¬
ren Namen und Bedeutung er nicht kannte, flog
die Phantaſie in die Vergangenheit zuruͤck, und
Heinrich erinnerte ſich ploͤtzlich, wie fruͤhere und
fruͤheſte Verſuche in Figuren, in der Heimath aus
Scherz oder Laune unternommen, ihn eigentlich
nicht ein Jota mehr Muͤhe gekoſtet, als andere
Dinge; er malte ſich die Erinnerung, die Gegen¬
ſtaͤnde und Anlaͤſſe auf das Genaueſte aus und
glaubte deutlich zu ſehen, wie nur der Mangel
an Pflege und Fortſetzung Schuld ſei, warum er
nicht in dieſem Gebiete ebenſo viel und vielleicht
Beſſeres leiſtete, als in der erwaͤhlten Landſchaft.
Mit Einem Worte, mit einem ſeltſamen Froͤſteln
uͤberzeugte er ſich, aufſpringend und die Tafel
von ſich ſchleudernd, daß ſeine geliebte und begei¬
ſterte Wahl, der er vom vierzehnten Jahre an
[38] bis heute gelebt, nicht viel mehr als ein Zufall,
eine durch zufaͤllige Umſtaͤnde bedingte Ideenver¬
bindung geweſen ſei.


Juͤnglinge von zwei oder drei und zwanzig
Jahren wiſſen noch nicht, daß jedes Leben ſeinen
eigenen Mann macht, und haben noch keine Troſt¬
gruͤnde fuͤr Jahre, welche ſie verloren waͤhnen.
Wenn ſie ſchon bei acht Jahre zuruͤckzaͤhlen koͤn¬
nen, die ſie uͤber einer Lebensthaͤtigkeit zugebracht,
ſo befaͤllt ſie eine Art heiligen Grauens, ſelbſt
wenn dieſe Jahre wohl angewandt ſind. Sie
vertaͤndeln, vertraͤumen die Stunden und Tage,
aber ſie hegen einen tiefen Reſpect vor den Jah¬
ren, thun ſich auf ihre Jugend ſo viel als moͤg¬
lich zu gut und ſtecken ſich unaufhoͤrlich feſte Ziele,
welche ſie in ſo oder ſo viel Jahren erreichen
wollen.


Um ſo verdutzter und bitterlicher laͤchelte Hein¬
rich jetzt vor ſich hin. Er ergriff in der Ver¬
wirrung ſeine alte Floͤte, that einige ſeiner natur¬
wuͤchſigen ſelbſterfundenen Laͤufe darauf und warf
ſie wieder weg. Der Aermſte ahnte aber nicht
einmal, was die verklungenen Toͤne geſungen
[39] hatten, und daß, wenn zufaͤllig ein Klavier in
ſeinem aͤlterlichen Hauſe geſtanden und er etwa
als Kind einen Muſikkundigen in der Naͤhe ge¬
habt haͤtte, es ſich vielleicht jetzt gar nicht einmal
um Baͤume oder Menſchen handeln, ſondern er
irgendwo als eingeuͤbter Muſikant oder gar als
hoffnungsvoller Componiſt exiſtiren wuͤrde, der
auf ſeinen ſelbſtgewaͤhlten Beruf ſchwuͤre, ohne
auf einem feſteren Grunde zu ſtehen, kurz, daß
ihn der Zufall auf hundert andere vermeintliche
Beſtimmungen haͤtte fuͤhren koͤnnen.

[]

Zweites Kapitel.

Mehr um fuͤr ſeine verwirrten Gedanken ein
Unterkommen zu finden, als aus einem feſten
Entſchluſſe, drehte nun Heinrich den Fechter her¬
um und zeichnete denſelben waͤhrend mehrerer
Tage von verſchiedenen Seiten. Sobald aber
das erſte inſtinctive Geſchick und Feuer ſich ab¬
gekuͤhlt, draͤngte es ihn, die Erſcheinungen, welche
ſich auf dieſer bewegten Oberflaͤche zeigten, in
ihrem Grund und Weſen naͤher zu kennen. In
der Meinung, keine Zeit mehr zu verlieren, ging
er vor Allem aus, eine genauere Kunde vom
menſchlichen Koͤrper zu erwerben, und ſuchte zu
dieſem Zwecke einige junge Mediciner auf, die er
als Landsleute kennen gelernt und zuweilen ge¬
ſehen hatte. Sie zeigten ihm bereitwillig ihre ana¬
[41] tomiſchen Atlanten, erklaͤrten aus ihrem Wiſſen
heraus, was ihnen gut duͤnkte, und fuͤhrten ihn
in die oͤffentlichen Sammlungen, wohl auch durch
die Saͤle, wo ein bluͤhendes Geſchlecht von Juͤng¬
lingen, geleitet von gewandten Maͤnnern, mit
vergnuͤgtem Eifer einen Vorrath von Leichen zer¬
legte.


Als Heinrich erſtaunte, ſo viele begeiſterte
Leute zu ſehen, welche ein und denſelben Gegen¬
ſtand in allſeitigſter Beſtrebung hin und her wand¬
ten, und ſich der bloßen Erkenntniß freuten, ohne
Etwas dazu noch davon zu thun, noch die min¬
deſte Erfindungsluſt zu beſitzen, als er noch mehr
erſtaunte uͤber die reiche Welt ſelbſt, welche ſich
bei naͤherer Einſicht an dieſem einzigen Gegen¬
ſtande ſelbſt aufthat, mit weiten unerforſchten
Gebieten, Vermuthungen, Hoffnungen, welche ſo
voll und wichtig klangen, wie diejenigen, welche
die Vorgaͤnge des Weltraumes, des geſtirnten
Himmels zum Gegenſtande hatten; als er endlich
nicht wußte, wie er ſich zu all dieſem verhalten
ſollte, rieth ihm ein junger Doctor, eine beruͤhmte
Vorleſung uͤber Anthropologie zu beſuchen, welche
[42] eben in dieſen Tagen ihren Anfang nahm. Der
kluge junge Mann wußte wohl, daß dergleichen
allgemeine, einleitende Lehren am beſten geeignet
waͤren, die erſte verzeihliche Neugierde zu ſtillen,
den Nichtberufenen aber gerade dadurch abhielten,
ſich dann ferner da zwecklos umherzutreiben, wo
er nicht hingehoͤrte.


So trat Heinrich zum erſten Male in das
weitlaͤufige, palaſtartige Univerſitaͤtsgebaͤude und
ſah ſich unter die ſummende Menge junger Leute
verwickelt, welche aus allen Saͤlen ſtroͤmte und
auf den Gaͤngen und Treppen ſich kreuzte. Hein¬
rich mußte alle dieſe jungen Maͤnner als ſeit
zarteſter Jugend der Schule angehoͤrend ſich den¬
ken, unter dem doppelten Schutze des Staates
und der Familie ununterbrochen lernend in's maͤnn¬
liche Alter und in die Selbſtaͤndigkeit hinuͤberrei¬
fend, und zwar ſo, daß mit der letzten Pruͤfung
zugleich der ſichere Eintritt in das buͤrgerliche
Leben verbunden war. Sie bildeten gewiſſerma¬
ßen die Staatsjugend, gegenuͤber welcher er ſich
als obſcuren Gegenſtand, als Stoff des Staates
fuͤhlte, beſonders da ſein heimathliches demokra¬
[43] tiſches Bewußtſein hier zuruͤcktrat vor der allge¬
meinen Kluft, welche durch alle europaͤiſche Er¬
ziehung ſich ausdehnt. Dieſe durcheinanderwo¬
genden Juͤnglinge erſchienen ihm auf den erſten
Blick ruͤckſichtslos und ſelbſtgefaͤllig, und in Er¬
wartung von Amt und Wuͤrden, welche ſie zu
verhoͤhnen vorgaben, einſtweilen ihren Entwicke¬
lungszuſtand zu einer Art ſouverainer Autoritaͤt
machend, von welcher aus Alles ſich bemeſſen und
verachten ließe; ja innerhalb derſelben ſchien es
noch verſchiedene Kaſten, Stufen und Abzeichen
zu geben, als reichliche Gelegenheit, ſchon hier,
unter dem Deckmantel der akademiſchen Freiheit,
den Corporalsſtab der Autoritaͤt tuͤchtig zu
ſchwingen, und mancher jugendliche Fuͤhrer ſah
ſchon leibhaftig aus, wie ein Recruten quaͤlender
Corporal.


Doch dieſe Eindruͤcke wechſelten raſch mit an¬
deren, als Heinrich in den bezeichneten Hoͤrſaal
trat, deſſen Baͤnke noch leer waren. Die kahle
Wand, die ſchwarze Tafel an derſelben, die zer¬
ſchnittenen und mit Tinte bekleckſten Tiſche, Alles
erweckte in ihm das Gefuͤhl, als verwirkliche ſich
[44] jener aͤngſtliche Traum aller Autodidakten, welche
ſich im Mannesalter, ja mit grauen Haaren in
die Schulſtube verſetzt ſehen, mitten unter ein
Geſchlecht muthwilliger Knaben, den alten ſtren¬
gen Lehrer vor ſich, der ſie beſchaͤmt und um
ganze Reihen von bluͤhenden Buben hinunter¬
ruͤcken laͤßt. Er fuͤrchtete ſich, aufgefordert zu wer¬
den, aufzuſtehen und Rechenſchaft zu geben von
Allem, was er nicht gelernt habe.


Nun fuͤllte ſich aber allmaͤlig der Saal, und
voll Verwunderung aͤnderte ſich Heinrich's Stim¬
mung wieder, als er die gedraͤngte Verſammlung
uͤberſah. Neben einer Menge junger Leute ſeines
Alters, welche hoͤchſt ſelbſtaͤndig und ruͤckſichtslos
ihre Plaͤtze einnahmen und behaupteten, erſchienen
Viele vorgeruͤckteren Alters, gut oder ſchlecht ge¬
kleidet, welche ſchon ſtiller und beſcheidener unter¬
zukommen ſuchten, und ſogar einige alte Herren
mit weißem Haar, ſelbſt ruͤhmliche Lehrer in an¬
deren Gebieten, nahmen entlegene Seitenplaͤtze
ein, um dort zu ſehen, was es noch fuͤr ſie zu
lernen gaͤbe. So mochten uͤber hundert Zuhoͤrer
verſammelt ſein, welche des Vortragenden harr¬
[45] ten, Jeder mit anderer Empfaͤnglichkeit, anderen
Abſichten und anderen Erfahrungen, ſo daß ei¬
gentlich Jeder im wahren Sinne des Wortes hier
ein Autodidakt war, das heißt, ein Solcher, der
ſich am Ende ſelbſt zu dem macht, was er iſt
und wird. Dies wurde in der That augenſchein¬
lich, als der beruͤhmte Mann endlich in die Thuͤr
trat, ſich das Haar zurecht ſtrich, raſch und an¬
ſtaͤndig nach ſeinem Kaͤnzelchen eilte und dort
mit achtungsvoller Anrede ſeinen Vortrag be¬
gann, nicht wie Einer, der ſtreng und trocken
lehren will, ſondern wie ein Kuͤnſtler, welcher
durch Artigkeit, Wahl der Worte, Verbindung
der Gedanken, durch Geiſt und Witz ſich hervor¬
thun moͤchte und ſichtlich beſtrebt iſt, ſich den
Beifall auch der geringſten ſeiner Zuhoͤrer zu er¬
werben. Aus der leichten Anordnung und dem
redneriſchen fließenden Vortrage des Gegenſtandes,
ohne alle geſchriebene Vorlage, machten ſich nicht
im mindeſten die muͤhſeligen Studien und die
gewiſſenhaft ſorgfaͤltigen Arbeiten fuͤhlbar, welche
ſie gekoſtet hatten; die ſchnell voruͤbergehende an¬
ſchauliche Rede ſchien mehr eine Anregung und
[46] Aufforderung zu eigener Belehrung, als eine feſt¬
ſtehende unveraͤnderliche Lehre zu ſein, bei Jedem
wieder anders wirkend und ſein unmittelbares
Selbſturtheil erweckend. Der gleiche Gegenſtand
fuͤhrte den Einen ſofort und vielleicht fuͤr immer
zu philoſophiſchem Denken, den Anderen zu um¬
faſſender Naturbetrachtung, den Dritten zur be¬
ſonderen Erforſchung des [menſchlichen] Koͤrpers oder
zur Heilkunſt; der Vierte endlich, durch die Dar¬
ſtellung des Nahrungsproceſſes, verfiel gar auf
nationaloͤkonomiſche Studien und wurde vielleicht
ein großer Politicus, waͤhrend der Fuͤnfte, Sechſte
und Siebente die gleichen Dinge nur anhoͤrten
und niederſchrieben, um ſie in einem halben Jahre
gaͤnzlich zu vergeſſen und ſpaͤter als große Theo¬
logen, Seelenkundige und Sittenlehrer von Flei¬
ſchesluſt, Herzensverſtocktheit, Augen- und Ohren¬
dienſt zu reden, ohne eine klare Vorſtellung von
den betreffenden Organen zu beſitzen.


Auf Heinrich, welcher arglos gekommen war,
zu aͤußerer plaſtiſcher Verwendung einige gute
Kenntniſſe zu holen, wirkte ſchon die erſte Stunde
ſo, daß er ſowohl ſeinen Zweck als alle ſeine
[47] Verhaͤltniſſe vergaß und allein geſpannt war auf
die zuſtroͤmende Erfahrung. Hauptſaͤchlich be¬
ſchaͤftigte ihn alſobald die wunderbar ſcheinende
Zweckmaͤßgkeit in den Einzelheiten des thieriſchen
Organismus; jede neue Thatſache ſchien ihm ein
Beweis zu ſein von der Scharfſinnigkeit und
Geſchicklichkeit Gottes, und obgleich er ſich ſein
Leben lang die ganze Welt nur als vorgedacht
und geſchaffen vorgeſtellt hatte, ſo war es ihm
nun bei dieſem erſten Einblicke zu Muth, als ob
er bisher eigentlich gar nichts gewußt haͤtte von
der Erſchaffung der Creatur, dagegen jetzt mit
der lebendigſten Ueberzeugung wider Jedermann
das Daſein und die Weisheit des Schoͤpfers be¬
haupten koͤnne und wolle. Aber nachdem der
kluge Lehrer die Trefflichkeit und Unentbehrlichkeit
der Dinge auf das Schoͤnſte geſchildert, ließ er
ſie unvermerkt in ſich ſelbſt ruhen und ſo voll¬
kommen in einander aufgehen, daß die ausſchwei¬
fenden Schoͤpfergedanken eben ſo unvermerkt zu¬
ruͤckkehrten und in den geſchloſſenen Kreis der
Thatſachen gebannt blieben, welcher jener Schlange
der Ewigkeit gleicht, die ſich ſelbſt in den Schwanz
[48] beißt. Und wo ein Theil noch unerklaͤrlich war
und dunkel in's Fabelhafte verſchwand, da holte
der Redner ein helles Licht aus dem Erklaͤrten
und ließ es in jene Dunkelheit glaͤnzen, ſo daß
wenigſtens alle unbeſcheidenen und ungehoͤrigen
Seitengedanken vertrieben wurden und der dunkle
Gegenſtand unberuͤhrt und jungfraͤulich ſeiner
Zeit harrte, wie eine ferne Kuͤſte im Fruͤhlichte.
Selbſt da, wo er entſagen zu muͤſſen glaubte auf
eine jemalige Erkenntniß, that er dies mit der
uͤberzeugenden Hinweiſung, daß doch Alles mit
rechten Dingen zuginge und in der Graͤnze des
menſchlichen Wahrnehmungsvermoͤgens keineswegs
eine Graͤnze der Folgerichtigkeit und Einheit der
Natur laͤge. Hierbei brauchte er keinerlei gewalt¬
ſame Reden und vermied gewiſſe theologiſche Aus¬
druͤcke ſo gut, wie den Widerſpruch dagegen; die
Stumpfſinnigen und Eingenommenen merkten
auch von Allem nichts, und ſchrieben unverdroſ¬
ſen nieder, was ihnen zweckdienlich ſchien fuͤr
Eigenliebe und aufzuſtellende Meinungen, waͤh¬
rend die Unbefangenen alle Hintergedanken fahren
ließen und bei des Lehrers klugen Wendungen
[49] mit frohem Laͤcheln die Achtung vor dem reinen
Wiſſen lernten.


Auch im zuhoͤrenden Heinrich traten die will¬
kuͤrlichen Vorausſetzungen und Anwendungen bald
in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm
geſchah, als er ſich den Einwirkungen der ein¬
fachen Thatſachen hingab; denn das Suchen nach
Wahrheit iſt immer ohne Arg, unverfaͤnglich und
ſchuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es auf¬
hoͤrt, faͤngt die Luͤge an bei Chriſt und Heide.
Er verſaͤumte nun keine Stunde in dem Hoͤrſaal
und nahm begierig ein neues Ganzes in ſich auf,
welches er vom Anfang bis zum Ende verſtand
und uͤberſehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm
vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu
wiſſen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er
auch nicht mehr die gewaltſame und lange Unter¬
brechung des Lernens, da daſſelbe dem Stillen
des leiblichen Hungers gleicht: ſobald der Menſch
zu eſſen hat, empfindet er nichts mehr von der
Pein und der Ungeduld des Hungers. Das
Gluͤck des Wiſſens gehoͤrt auch dadurch zum
wahren Gluͤcke, daß es einfach und ruͤckhaltlos
IV. 4[50] und ob es fruͤh oder ſpaͤt eintrete, immer ganz
das iſt, was es ſein kann, ohne Reue uͤber das Ver¬
ſaͤumte zu erwecken; es weiſet vorwaͤrts und
nicht zuruͤck und laͤßt uͤber dem unabaͤnderlichen
Beſtand und Leben des Geſetzes die eigene Ver¬
gaͤnglichkeit vergeſſen.


Heinrich wurde von Wohlwollen und Liebe
erfuͤllt gegen den beredten Lehrer, von dem er
nicht gekannt war und mit welchem er nicht ein
Wort geſprochen hatte; denn es iſt nicht eine
ſchlimme Eigenſchaft des Menſchen, daß er fuͤr
geiſtige Wohlthaten dankbarer iſt als fuͤr leib¬
liche, und ſogar in dem erhoͤhten Maße, daß die
Dankbarkeit und Anhaͤnglichkeit waͤchſt, je weni¬
ger ſelbſt die geiſtige Wohlthat irgend einem un¬
mittelbaren aͤußerlichen Nutzen Vorſchub zu leiſten
ſcheint. Nur wenn leibliches Wohlthun ſo hin¬
gebend und unwandelbar iſt, daß es Zeugniß
giebt von einer moraliſchen Kraft, alſo dem Em¬
pfaͤnger wiederum zu einer geiſtigen Erfahrung
und Wohlthat, zu einem inneren Halt- und Stuͤtz¬
punkte wird, erreicht ſeine Dankbarkeit eine ſchoͤ¬
nere Hoͤhe, welche ihn ſelber bildet und veredelt.
[51] Die Erfahrung, daß unbedingte Tugend und
Guͤte irgendwo ſind, iſt ja die ſchoͤnſte, die man
machen kann, und ſelbſt die Seele des Laſterhaf¬
ten reibt ſich vor Vergnuͤgen ihre unſichtbaren
dunklen Haͤnde, wenn ſie ſich uͤberzeugt, daß An¬
dere fuͤr ſie gut und tugendhaft ſind.


Mit dem praktiſchen Sinne und dem raſchen
Aneignungsvermoͤgen des Autodidakten fand ſich
Heinrich zurecht in der reichen Welt, die ſich
ihm aufthat; mit der plaſtiſchen Anſchauungs¬
weiſe, welche er als Kuͤnſtler mitbrachte, wußte
er die verſchiedenen Momente des organiſchen
Weſens lebendig aufzufaſſen, auseinander zu hal¬
ten, wieder zu verbinden und ſich deutlich einzu¬
praͤgen, und ſo die Kunde von dem, woraus er
eigentlich beſtand, wodurch er athmete und lebte,
in dem edelſten Theile deſſelben ſelbſt aufzube¬
wahren und mit ſich herumzutragen, ein Vor¬
gang, deſſen Natuͤrlichkeit jetzt endlich wohl ſo
einleuchtend werden duͤrfte, daß er zum Gegen¬
ſtande allgemeinſter Erziehung gemacht wird. Mit
dieſer Kenntniß, auf welche der Menſch das erſte
Anrecht hat, muͤßten alle Volksſchulen abſchließen;
4 *[52] ſie iſt es, welche alle anderen von ſelbſt anzieht,
und in nothwendigſter Weiſe ſehr zweckmaͤßig
gerade je nach Beſchaffenheit des lernenden jun¬
gen Menſchen. Alle Einwuͤrfe von Altklugheit,
Halbverſtaͤndniß oder gar von Verbreitung einer
allgemeinen Hypochondrie in das unbefangene
Volksgemuͤth werden verſtummen, ſobald die claſ¬
ſiſche Form fuͤr den großen oͤffentlichen Unterricht
vom leidlichen Menſchen gefunden iſt.


Die Kenntniß vom Charakteriſtiſchen und
Weſentlichen der Dinge laͤßt diejenige vom letzten
Grunde einſtweilen eher vermiſſen oder fuͤhrt we¬
nigſtens auf den Weg, denſelben auf eine ver¬
nuͤnftigere und mildere Weiſe zu ſuchen, waͤhrend
ſie zugleich alle unnuͤtzen, muͤßigen Maͤhrchen und
Vorurtheile hinwegraͤumt und dem Menſchen
einen ſchoͤnen, wirklichen Stoff und Halt zum
Nachdenken giebt, ein Nachdenken, welches dann
zu dem einzig moͤglichen Ideal, zu dem, was
wirklich beſteht, hinfuͤhrt. Welch' ein Unterſchied
iſt zwiſchen dem theoſophiſchen Phantaſten, der
immerdar von der Quelle des Lichtes, als von
einem irgendwo in's Centrum geſetzten ſpruͤhen¬
[53] den Feuertopfe ſpricht, und zwiſchen dem ſterben¬
den Goethe, welcher nach mehr Licht rief, aber
ein beſſeres Recht dazu beſaß, als jener, der nie
ſich um einen wahrhaften wirklichen Lichtſtrahl
bekuͤmmert hat. Welch' ein Erſatz fuͤr das her¬
gebrachte begriffsloſe Wort Ewigkeit iſt die Kennt¬
nißnahme von der Entfernung der Himmelskoͤr¬
per und der Schnelligkeit des Lichtes, von der
Thatſache, daß wir allaugenblicklich Licht, alſo
Koͤrper mit ihren Schickſalen, in ihrem Beſtehen,
wahrnehmen, welches vor einem Jahre, vor hun¬
dert, tauſend und mehr Jahren geweſen iſt, daß
wir alſo mit Einem Blicke tauſend Exiſtenzen tau¬
ſend verſchiedener Zeitraͤume auffaſſen, vom naͤchſten
Baume an, welchen wir gleichzeitig mit ſeinem
wirklichen augenblicklichen Daſein wahrnehmen,
bis zu dem fernen Stern, deſſen Licht laͤnger un¬
terweges iſt, als das Menſchengeſchlecht unſers
Wiſſens beſteht, und der vielleicht ſchon nicht
mehr war, ehe daſſelbe begann, und den wir doch
jetzt erſt ſehen.


Wo bleibt da noch eine Unruhe, ein zweifel¬
haftes Sehnen nach einer unbegriffenen Ewigkeit,
[54] wenn wir ſehen, daß Alles entſteht und vergeht,
ſein Daſein abmißt nach einander und doch wie¬
der zumal iſt.


Das Licht hat aber den Sehnerv gereift und
ihn mit der Blume des Auges gekroͤnt, gleich
wie die Sonne die Knospen der Pflanzen er¬
ſchließt: es hat das Auge ſcheinbar ſelbſtaͤndig
ſich gegenuͤber geſetzt, ſo daß, wenn das Auge
des Thieres und des bewußtloſen Menſchen ſich
ſchließt, fuͤr daſſelbe auch kein Licht mehr in der
Welt iſt: aber im bewußten Menſchen bleibt die
Erfahrung, und durch die Generationen vereinigt
die eingeborne Kunde wieder die Welle mit der
Quelle, das Auge mit dem Lichte, ſo daß beide
Eines ſind, und wenn ein Auge ſich ſchließet, ſo
weiß es: noch iſt das Licht da und genug Augen,
es zu ſehen. Das Licht hat den Geſichtsſinn
hervorgerufen, die Erfahrung iſt die Bluͤthe des
Geſichtsſinnes und ihre Frucht iſt der ſelbſtbe¬
wußte Geiſt: durch dieſen aber geſtaltet ſich das
Koͤrperliche ſelbſt um, bildet ſich aus, und das
Licht kehrt in ſich ſelber zuruͤck aus dem von
Geiſt ſtrahlenden Auge. Denn der Geiſt, welchen
[55] die Materie die Macht hat in ſich zu halten,
hat ſeinerſeits die Kraft, in ſeinen Organen die¬
ſelbe zu modificiren und zu veredeln, Alles mit
»natuͤrlichen Dingen«, und jeder Lebende, der mit
Vernunft lebt und inſofern er ſich fortpflanzt oder
erhebliche Geiſtesthaten uͤbt, hat im ſtrengſten
Sinne des Wortes ſeinen beſtimmten Antheil
z. B. an der Ausbildung und Vergeiſtigung des
menſchlichen Gehirnes, ſeinen ganz perſoͤnlichen,
wenn auch unmeßbaren Antheil.


Nur dieſen Kreislauf koͤnnen wir ſehen und
erkennen, und wir thun es; was daruͤber hinaus
liegen ſollte, das geht uns zunaͤchſt nichts an,
und darf uns nichts angehen; denn ſo erfordert
es die große Oekonomie des Weltlebens und der
Welterkenntniß. Sollte wider allen ſinnlichen
Anſchein und alles ſinnliche Gefuͤhl ein uͤberna¬
tuͤrliches geiſtiges Gottweſen der Urgrund der
Natur und unſer Aller ſein, ſo wuͤrde erſt recht
dieſes Weſen ſelbſt ſolche Oekonomie in die Welt
gelegt und angeordnet haben, auf daß Alles ſeinen
Gang gehe und Nichts vorweggenommen werde.
Dieſe Oekonomie verlangt, daß wir an das Na¬
[56] tuͤrliche glauben, ſo lange wir es nicht ausge¬
meſſen haben und mit unſeren kleinen Schaͤdeln
an den Rand geſtoßen ſind, und ſie iſt es, welche
uns zuruft: Was wollet ihr aus der Schule
laufen und ſuchet ein Verdienſt darin, an das
Uebernatuͤrliche zu glauben, welches der Tod des
Natuͤrlichen iſt, ſo lange eure kuͤhnſten und er¬
habenſten uͤbernatuͤrlichen Einbildungen und Vor¬
ſtellungen noch tauſendmal dunkler, ungewiſſer
und kleiner ſind, als die natuͤrlichen Wirklichkei¬
ten, zu deren Erkenntniß und Begriff ihr ein
ſicheres Pfand in der Hand habt? Iſt das Ver¬
dienſt, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es
iſt Untreue, Feldfluͤchtigkeit und Thorheit!


Dergleichen Dinge ließ der vortragende Leh¬
rer, nicht in ſolchen Ausdruͤcken, aber mit ſolchen
Eindruͤcken ſeine Zuhoͤrer gelegentlich zwiſchen den
Zeilen leſen. Heinrich gehoͤrte zu denen, welche
recht wohl zwiſchen den Zeilen zu leſen wußten,
und zwar weil er einen natuͤrlichen Sinn fuͤr das
Erhebliche beſaß, auf welches es ankommt, und
mit der Aufmerkſamkeit und dem raſchen Inſtincte
der Autodidakten das Weſentliche erſah, das hin¬
[57] ter den Dingen liegt. Er merkte auch bald, daß
es ſich um nichts Geringeres, als um ſeinen
Glauben an Gott und Unſterblichkeit handle;
aber indem er denſelben fuͤr lange geborgen und
es nicht fuͤr noͤthig hielt, auf ſeine Rettung be¬
dacht zu ſein, war er um ſo freiſinniger befliſſen,
Alles aufzufaſſen und zu begreifen, was die innere
Nothwendigkeit, Identitaͤt und Selbſtaͤndigkeit der
natuͤrlichen Dinge bewies; denn eine wahrhaft
wahre und freie Natur ſteht nicht an, ſondern ſie
ſucht es gefliſſentlich, Zugeſtaͤndniſſe zu machen,
wo ſie nur immer kann, gleich jenem idealen Koͤ¬
nige, der noch nie dageweſen iſt, und von welchem
man traͤumt, daß er nicht aus Klugheit, ſondern
um ihrer ſelbſt willen und rein zu ſeinem Ver¬
gnuͤgen Conceſſionen mache. Rechthaberei und
Noth ſind die Muͤtter der Luͤge; aber die Noth¬
luͤge iſt ein unſchuldiges Engelskind gegenuͤber
der Luͤge aus Rechthaberei, welche Eines iſt mit
Hochmuth, Eitelkeit, Engherzigkeit und nackter
Selbſtſucht und nie ein Zugeſtaͤndniß macht, eben
um keines zu machen. So entſtand aus der Luͤge
die Rechtglaͤubigkeit auf Erden und aus der
[58] Rechtglaͤubigkeit wieder die Luͤge; freilich auch
ein Kreislauf und eine Identitaͤt!


Heinrich freute ſich im Gegentheile, im Na¬
men ſeines liberalen und generoͤſen Gottes jedes
Fleckchen Welt einzuraͤumen, das ſich ſelbſt be¬
wirthſchaften konnte, und er gab ſich redliche
Muͤhe, ein feſtes Bewußtſein von ſolcher freien
Nothwendigkeit oder nothwendigen Freiheit zu
gewinnen, nicht zweifelnd, daß Alles zur groͤßeren
Ehre Gottes geſchehe wie des Menſchen, deſſen
Ehre mit der groͤßeren Selbſtaͤndigkeit und Ver¬
antwortlichkeit wachſen mußte.


Er ſuchte ſich daher auch außer den anthropo¬
logiſchen Stunden ſo gut als moͤglich zu unter¬
richten, und wie er z. B. durch die Lehre vom
Auge zum erſten Male veranlaßt wurde, ſich in
das Weſen des Lichtes einen Blick zu verſchaffen,
dadurch in die unendlichen Raͤume der Außenwelt
gefuͤhrt ward und von da wieder in den ſelbſtbe¬
wußten Punkt ſeines eigenen ſehenden Auges zu¬
ruͤckkehrte, ſo geſchah es noch in manch' anderer
Hinſicht, und alles das ohne zu große Muͤhe
noch Zeitaufwand. Die Ergebniſſe der wahren
[59] Wiſſenſchaft haben die gute Eigenſchaft, daß ſie
ſich auf den erſten Blick von allem Phantaſtiſchen
und Willkuͤrlichen unterſcheiden und in kuͤrzerer
oder laͤngerer Zeit zum uͤberzeugenden feſten Lehr¬
ſatz eignen ohne fortwaͤhrende Probe ihres beſon¬
deren Rechenexempels. Der Satz, daß die Erde
ſich um die Sonne bewegt, wird in allen Kin¬
derſchulen gelehrt, und die Kinder nehmen ihn
in ihr Wiſſen auf, ohne die phyſikaliſche Unter¬
ſuchung ſeines Beweiſes anzuſtellen, waͤhrend ſie
fuͤr ein einziges religioͤſes Dogma bis zu ihrer
Muͤndigwerdung mit allem katechetiſchen Apparate
unterwieſen werden, ohne am Ende mehr zu wiſ¬
ſen als am Anfange, und ohne wider den Zwei¬
fel geſchuͤtzt zu ſein. Noch nie hat es einen Krieg
gegeben wegen verſchiedener Meinungen uͤber Na¬
turgeſetze, weil ihre Art friedfertig, rein und ge¬
nuͤgend iſt, und es gelang den Theologen nicht
einmal, eine wehrbare Secte fuͤr die ſtehende Erde
oder zum Schutze der moſaiſchen Schoͤpfungsge¬
ſchichte auf die Beine zu bringen; Religionskriege
aber wird es geben, ſo lange es Prieſter, Dog¬
men und Bekenntniſſe giebt. Im Kleinen ſchaut
[60] man dieſen Vorgang alle Tage; hat Jemand eine
gute Wahrheit oder Thatſache geaͤußert, und ſie
wird ihm angezweifelt, ſo faͤllt es ihm nicht ein,
daruͤber aufgebracht zu werden und ſich in's Zeug
zu werfen; wenn derſelbe Menſch aber eine Sache
erzaͤhlt oder vorgiebt, von der er doch nicht ſo
recht uͤberzeugt und uͤberfuͤhrt iſt, ſo wird er al¬
ſobald in die groͤßte Hitze gerathen und Ehre,
Gut und Leben verpfaͤnden, am liebſten aber dem¬
jenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm
einen Zweifel entgegenſetzt. Wenn ein Bauers¬
mann ſagt: Ich habe das Korn beſehen; es iſt
reif! der Nachbar aber erwiedert: Ich glaube
nicht, daß es reif iſt! ſo wird er ruhig ſprechen:
Das iſt eure Sache! Ich halt' es fuͤr reif und
werde es ſchneiden! Wenn derſelbe Bauer aber
ſagt: Ich ſah vergangene Nacht einen Geiſt auf
meinem Markſtein ſitzen, und der Nachbar, ſpricht:
Das iſt nicht moͤglich, denn es giebt keine Gei¬
ſter! ſo wird der Bauer einen großen Laͤrm er¬
heben, erſtlich weil man ihm abſtreitet, was er
mit eigenen Augen geſehen haben will, zweitens
weil man die Geiſter laͤugnet, und endlich weil
[61] man in Folge deſſen wohl gar nicht an ein »an¬
deres Leben« und an eine Wiedervergeltung nach
dem Tode glaubt. Ja, er wird deswegen viel¬
leicht dem Nachbar gar nicht antworten, aber
demſelben nichts mehr vertrauen und allen Um¬
gang mit ihm abbrechen; und doch haͤtte er als
Bauer mehr Grund, jenem zu mißtrauen, welcher
die Reife des Kornes nicht zu beurtheilen weiß,
da derſelbe in ſeinen Augen nothwendig ein
ſchlechter Landwirth ſein muß. Aber er thut dies
im Grunde auch ganz gewiß; nur macht er kein
Aufhebens davon und laͤßt es ſich nicht anmerken,
da er uͤber die Sache klar und ruhig iſt, da er
ſie uͤberſieht und weiß, daß Zank die Wahrheit
nicht aͤndert, das Korn nicht unreif macht und die
Regeln des Ackerbaues nicht aufhebt. Sein Laͤrm
gegen den Geſpenſterlaͤugner hingegen iſt ein blin¬
der Laͤrm und Trotz, der mehr gegen ſich ſelbſt
gerichtet iſt, gegen die Dunkelheit und Unſicher¬
heit des eigenen Bewußtſeins uͤber den kitzligen
Punkt. Und ſo iſt es von je geweſen, iſt es und
wird es ſein. Jeder, der einem Anderen morali¬
ſche oder phyſiſche Gewalt anthut wegen deſſen,
[62] was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht
weiß, giebt mit jedem Gewaltſtreiche ſich ſelbſt
eine Ohrfeige, und dieſer geheime Uebelſtand ver¬
leiht ſolchem Streite den ſchmerzlichen, bitterlichen
und fanatiſchen Charakter, den Religionskriegen
das vertracte hypochondriſche Anſehen.


Ketzer braten iſt ein durchaus hypochondriſches,
truͤbſinniges Vergnuͤgen, ein ſelbſtquaͤleriſches und
wehmuͤthiges Geſchaͤft und gar nicht ſo luſtig,
wie es den Anſchein hat.


Heinrich faßte indeſſen alles Wiſſen, das er
erwarb, ſogleich in ausdrucksvolle poetiſche Vor¬
ſtellungen, wie ſie aus dem Weſen des Gegen¬
ſtandes hervorgingen und mit demſelben Eines
waren, ſo daß, wenn er damit hantirte, er die
allerſchoͤnſten Symbole beſaß, die in Wirklichkeit
und ohne Auslegerei die Sache ſelbſt waren und
nicht etwa daruͤber ſchwammen, wie die Fettau¬
gen uͤber einer Waſſerſuppe. So waren ihm die
beiden Syſteme des Blutkreislaufes und der Ner¬
ven mit dem Gehirne, jedes in ſich geſchloſſen
und in ſich zuruͤckkehrend, wie die runde Welt,
und doch jedes das andere bedingend, die ſchoͤn¬
[63] ſten plaſtiſchen Charakterweſen, welche ihm alle¬
zeit bewundernswerth, geheimnißvoll und anlo¬
ckend waren, ohne myſtiſch zu ſein. Das ſchoͤne
rothe Blut, ſicht-, fuͤhl- und hoͤrbar, unablaͤſſig
umgetrieben und wandernd, gegenuͤber dem unbe¬
weglichen, ſtill verharrenden und farbloſen Ner¬
venſyſtem, welches doch der allgegenwaͤrtige und
allmaͤchtige Herr der Bewegung iſt, mit geheim¬
nißvoller Blitzesſchnelle herrſchend, waͤhrend jenes
in ehrlicher und handgreiflicher Arbeit wandern
muß, das Blut war ihm der allgemeine Strom
organiſchen Lebens, angefuͤllt mit ſphaͤriſchen Koͤr¬
pern, jeder ſchon eine kleine Welt und ungezaͤhlt,
wie die Sterne des Himmels; und jeder dieſer
Myriaden Koͤrper, der einige Pulsſchlaͤge lang
kreiſte, ehe er unterging, war ihm ſo wichtig und
merkwuͤrdig, wie jene leuchtenden Globen, welche
Millionen Jahre ſich im Strome fortſchwingen, ehe
ſie eben auch wieder anderen Platz machen. Wenn
man dem Menſchen einen beſtimmten Theil ſeines
Blutes entzieht und weggießt, ſo wird er dadurch
weder verſtuͤmmelt, noch veraͤndert, und jenes Blut
erſetzt ſich unaufhoͤrlich; daher ſah der gruͤne
[64] Heinrich recht eigentlich in ihm das rothe Lebens¬
baͤchlein, das voruͤber fließt, an welchem erſt die
bleiche geheimnißvolle Individualitaͤt des Nerven¬
ſyſtemes ſitzt, wie der Knabe an der Quelle,
immer durſtig daraus trinkend, behende um
ſich ſchauend und dabei ein wahrer Hexenmeiſter
von Proteus, bald Geſicht, bald Gehoͤr, bald
Geruch, bald Gefuͤhl, jetzt Bewegung und jetzt
Gedanke und Bewußtſein, und doch bezwingbar,
wie Proteus, ſich in ſeiner wahren Geſtalt zu
zeigen, wenn man das ſeltſame Weſen unerſchro¬
cken greift und feſthaͤlt.


Die Menſchen, inſofern ſie ſich unterrichten,
zerfallen unter ſich vorzuͤglich in zwei verſchiedene
Arten oder Claſſen; die eine derſelben lernt ohne
plaſtiſchen und draſtiſchen Anknuͤpfungspunkt
Alles, was ihr unter die Zaͤhne geraͤth, Alles zu¬
mal, Alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwie¬
rigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und
Alles zu aͤußerlichem Gebrauche, ſchnell es ausge¬
bend und noch ſchneller vergeſſend, oder auch
wohl die toͤnende Formel unermuͤdlich wiederho¬
lend, waͤhrend der lebendige Inhalt ſchon laͤngſt
[65] todt und verſchwunden iſt. Da dieſe Heerſchaar
das Weſentliche vom Unweſentlichen, wie es von
Zeit und Umſtaͤnden bedingt wird, nie unterſchei¬
det, ſondern beides mit gleichem Eifer betreibt,
das Weſentliche aber ſeiner gewichtigeren Natur
nach unter dieſem Eifer leicht zu Boden faͤllt, ſo
bleibt ihr meiſtens die Spreu des Unweſentlichen
zwiſchen den Fingern, welche ſie haſtig hin und
her wendet, beſieht und an die Naſe haͤlt. Weil
ſie das Weſentliche immer entſchluͤpfen laͤßt, ſo
haͤlt ſie es fuͤr ſchwieriger und hoͤchſt geheimni߬
voll, zunftmaͤßig und excluſiv, ſtreitet ſich daruͤber
mit den Manieren und Eigenſchaften des Unwe¬
ſentlichen, mit dem ſie es gewoͤhnlich zu thun
hat, oder behandelt dieſes mit dem Gewichte des
Weſentlichen, welches ihr laͤngſt unter den Haͤn¬
den verſchwunden iſt. In der That iſt aber beides
gleich leicht und gleich ſchwer zu lernen, das We¬
ſentliche und das Unweſentliche, wenn es nur zur
rechten Stunde geſchieht, und die Verkennung
dieſer Thatſache, welche mit dem ganzen Geſetz
der Natur innig verbunden und vereint iſt, bringt
den Laͤrm und Ruf der falſchen Gelehrſamkeit
lV. 5[66] hervor, welche die Welt erfuͤllt, verwirrt und ver¬
dunkelt, ſtatt ſie zu erhellen.


Die zweite Claſſe der Lernenden beſteht aus
denjenigen, welche Nichts lernen, ohne daß der
innere Antrieb und die Einſicht des vernuͤnftigen
Zweckes mit dem aͤußeren Anlaſſe zuſammenfaͤllt,
welche abſolut Nichts verſtehen, was nicht [ver¬
nuͤnftig]
und weſentlich fuͤr ſie iſt, denen alle
Mittel furchtbare Raͤthſel ſind, ſo lange ſie nicht
das Geſetz einſehen, das ſie bewegt, und den Zweck,
um deſſentwillen ſie da ſind. Vor allem Unwe¬
ſentlichen ſtehen dieſe wie Dummkoͤpfe und begrei¬
fen das Treiben der Welt nicht, und ſie verhar¬
ren in ihrer Demuth und halten das auch wohl
fuͤr etwas, was ſie eben nicht verſtehen; gewohnt,
ſelbſt nur das Weſentliche und Lebendige zu be¬
greifen und zu verſtehen, ſetzen ſie dies auch von
allen Anderen voraus, welche vorgeben, etwas zu
verſtehen. Aus dieſem letzteren Umſtande, wenn
ſie endlich doch einen Zipfel erhaſchen, ſich Luft
verſchaffen und mit der erſten Claſſe zuſammen¬
ſtoßen, entſtehen alsdann neue ſonderbare Mi߬
verſtaͤndniſſe und Verwirrungen, indem die Leute
[67] des Weſentlichen den Leuten des Unweſentlichen
das, worauf es ankommt, entgegen halten, was
dieſe nicht verſtehen, dieſe aber das, worauf es
nicht ankommt, hervorkehren, was jene hinwieder
nicht begreifen. Beide Abtheilungen verfallen
aber einer ſehr tragiſchen Schuld; die eine, weil
ſie ſich immer mit Dingen abgiebt, auf welche es
unter den gegebenen Umſtaͤnden niemals ankommt,
laͤßt ſich eine muthwillige und unnuͤtze Thaͤtigkeit
zu Schulden kommen; die andere, weil in der
allgemeinen Verwirrung ihr leicht Alles eitel und
werthlos erſcheint, hat eine Neigung, es dem Zu¬
fall zu uͤberlaſſen, ob er ihr Anknuͤpfungspunkte
zum Erfaſſen und Durcharbeiten zufuͤhren wolle,
und einen bedenklichen Hang zur Traͤgheit, an¬
ſtatt die Dinge zu ſchuͤtteln und das Weſentliche
aus freiem Entſchluſſe an die Oberflaͤche und an
ſich heranzuziehen. Jene leben daher in munterer
Begehungsſuͤnde, dieſe leiden an Unterlaſſungs¬
ſuͤnden.


Heinrich fuͤhlte ploͤtzlich, daß er, was wenig¬
ſtens das Unterlaſſen betrifft, bisanher zu der letz¬
teren Suͤndenſchaar gehoͤrt habe, als der Profeſſor
[68] die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen uͤber
den ſogenannten freien Willen abſchloß. Denn
obgleich er ſchon hundertmal dieſen Ausdruck ge¬
hoͤrt und geleſen, auch genuͤgſam wilde Philoſo¬
phie und Theologie, wie ſie in ſeinem Garten
wuchs, getrieben hatte, ſo war es ihm doch noch
nie eingefallen, daruͤber nachzudenken, oder hielt
hoͤchſtens den »freien Willen« fuͤr eine Art muͤßi¬
gen Luͤckenbuͤßers fuͤr zuſammengeſetzte Dinge,
woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er
dazu nicht reif und befaͤhigt war, ehe er die frag¬
liche Sache naͤher kannte und verſtand. Es giebt
eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen,
ſondern auch aufzubauen wiſſen muͤſſe, welche
von gemuͤthlichen und oberflaͤchlichen Leuten aller¬
wege angebracht wird, wo ihnen eine ſichtende
Thaͤtigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg
tritt. Dieſe Redensart iſt da am Platze, wo
man abſpricht oder negirt, was man nicht durch¬
lebt und durchdacht hat, ſonſt aber iſt ſie uͤberall
ein Unſinn; denn man reißt nicht immer nieder,
um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt
recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum
[69] fuͤr das Licht und die friſche Luft der Welt zu
gewinnen, welche von ſelbſt uͤberall da Platz neh¬
men, wo ein ſperrender Gegenſtand weggenommen
iſt. Wenn man den Dingen in's Geſicht ſieht
und ſie mit Aufrichtigkeit gegen ſich ſelbſt behan¬
delt, ſo iſt Nichts negativ, ſondern Alles iſt poſi¬
tiv, um dieſen Pfefferkuchenausdruck zu gebrau¬
chen, und die wahre Philoſophie kennt keinen an¬
dern Nihilismus, als die Suͤnde wider den Geiſt,
d. h. das Beharren im ſelbſtgefuͤhlten Unſinn zu
einem eigennuͤtzigen oder eitlen Zwecke.


Was aber Heinrich beſonders zu ſeinen Ge¬
danken uͤber den freien Willen antrieb, das war
die auffallende Energie, welche in den kurzen Be¬
merkungen des Lehrers lag, gegen deſſen ſonſtige
Gewohnheit in ſolchen heikeln Punkten. Denn
es war das Steckenpferd des ſonſt durchaus un¬
befangenen und duldſamen Mannes, die Lehre
vom freien Willen des Menſchen uͤberall anzu¬
greifen und abzuthun, wo und wie er ihr nur
beikommen konnte, und er ließ ſich desnahen ſo¬
gar in ſeinen Vorleſungen an dieſer Stelle jedeſ¬
mal zu einer kurzen aber ſehr kraͤftigen Demon¬
[70] ſtration gegen das Daſein der moraliſchen Kraft,
die man freien Willen nennt, hinreißen in einem
auf die Spitze getriebenen materialiſtiſchen Sinne.
Dieſe Abſonderlichkeit war nun zwar durchaus
keine negative nihiliſtiſche Manie, ſondern ſie
ruhte auf der »poſitiven« Grundlage einer durch¬
gefuͤhrten Nachſicht und Geduldſamkeit fuͤr die
Irrthuͤmer, Schwaͤchen und truͤbſelig thieriſchen
Handlungen der ſchlechtbeſtellten Menſchenkinder;
aber nichts deſto minder hatte ſie ihren Grund
in der ungluͤcklichen Neigung vieler, ſelbſt ausge¬
zeichneter Naturaliſten, auch an ungehoͤriger Stelle
die Materie auf abſtoßende und ganz uͤberfluͤſſige
Weiſe zu betonen. Wenn man aus einem gruͤnen
Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege,
einen Tiſch und einen Sarg, ſo ſagt man nicht,
ſo lange dieſe Dinge ihre nutzbare Beſtimmung
erfuͤllen: bringt mir das Tannenholz, das der¬
malen eine Wiege formirt; ſetzt euch an das Tan¬
nenholz, welches auf vier Beinen ſich zum Tiſche
erhebt, legt mich in das ſechsbretterige Tannen¬
holz; ſondern man nennt dieſe Gegenſtaͤnde ſchlecht¬
weg eine Wiege, einen Tiſch und einen Sarg,
[71] und erſt wenn ſie ihre vergaͤngliche Beſtimmung
erfuͤllt haben, erinnert man ſich wieder an das
Holz, aus welchem ſie gemacht, und man ſagt
beim Anblicke ihrer Truͤmmer: dies iſt altes Tan¬
nenholz, laſſet es uns verbrennen; Alles zu ſeiner
Zeit!


Ihre Zeit hat auch die Roſe. Wer wird,
wenn ſie erbluͤht, um ſie herum ſpringen und ru¬
fen: He! Dies iſt nichts als Pottaſche und einige
andere Stoffe, in den Boden damit, auf daß der
unſterbliche Stoffwechſel nicht aufgehalten werde!
Nein, man ſagt: Dies iſt zur Zeit eine Roſe fuͤr
uns und nichts Anderes, freuen wir uns ihrer,
ſo lange ſie bluͤht!


Waͤhrend Schiller, der idealſte Dichter einer
großen Nation, ſeine unſterblichen Werke ſchrieb,
konnte er nicht anders arbeiten, als wenn eine
Schublade ſeines Schreibtiſches gaͤnzlich mit fau¬
len Aepfeln angefuͤllt war, deren Ausduͤnſtung er
begierig einathmete, und Goethe, den großen Rea¬
liſten, befiel eine halbe Ohnmacht, als er ſich
einſt an Schiller's Schreibtiſch ſetzte. So nieder¬
ſchlagend dieſer ausgeſuchte Fall fuͤr alle verklaͤr¬
[72] ten und uͤbernatuͤrlichen Idealiſten ſein mag, ſo
wird waͤhrend des Genuſſes von Schiller's [Gei¬
ſtesthaten]
deswegen Niemand an die faulen Aepfel
denken oder mit beſonderer Aufmerkſamkeit be¬
ihrer Erinnerung verweilen.


Aber der Profeſſor konnte ſich von der Vor¬
ſtellung des ununterbrochenen activen und paſſiven
Verhaltens des Gehirnes und der Nerven, als
des hervorbringenden lebendigen Ackergrundes,
niemals trennen zu Gunſten des Hervorgebrach¬
ten, der moraliſchen Frucht, als ob eine Aehre
und eine Erdſcholle nicht unzweifelhaft zwei Dinge,
zwei Gegenſtaͤnde waͤren.


Das kam daher, daß er jedesmal auf dieſem
Punkte einer kleinen Verwirrung anheimfiel,
welche ſeine Begeiſterung fuͤr ſeinen materiellen
Gegenſtand anrichtete, und in welcher er ein we¬
nig zu jener großen Schule derer gehoͤrte, die das
Weſentliche vom Unweſentlichen nicht zu unter¬
ſcheiden wiſſen; denn in dem Augenblicke, wo es
ſich um eine moraliſche Welt handelt, hoͤrt die
Materie, ſo feſt jene an dieſe geſchmiedet iſt, auf,
das Hoͤchſte zu ſein, und nach dem Edleren muß
[73] man trachten, ſonſt wird das, was man ſchon
hat, blind und unedel.


Es reizte Heinrich, auch in dieſer Frage die
Welt ſeinem Gotte, zwar immer in deſſen Na¬
men, unabhaͤngig gegenuͤber zu ſtellen und einen
moraliſchen freien Willen des Menſchen, als in
deſſen Geſammtorganismus begruͤndet und als
deſſen hoͤchſtes Gut, aufzufinden. Sogleich ſagte
ihm ein guter Sinn, daß wenn auch dieſer freie
Wille urſpruͤnglich in den erſten Geſchlechtern und
auch jetzt noch in wilden Voͤlkerſtaͤmmen und ver¬
wahrloſten Einzelnen nicht vorhanden, derſelbe
ſich doch einfinden und auswachſen mußte, ſobald
uͤberhaupt die Frage nach ihm ſich einfand, und
daß, wenn Voltaire's Trumpf: »wenn es keinen
Gott gaͤbe, ſo muͤßte man einen erfinden!« viel
mehr eine Blasphemie als eine »poſitive« Re¬
densart war, es ſich nicht alſo verhalte, wenn
man dieſelbe auf das Daſein des freien Willens
anwende, und man vielmehr nach Menſchenpflicht
und Recht ſagen muͤſſe: Wenn es bis dieſen Au¬
genblick wirklich keinen freien Willen gegeben
haͤtte, ſo waͤre es »des Schweißes der Edlen« werth,
5 *[74] einen ſolchen zu erringen, hervorzubringen und
ſeinem Geſchlechte fuͤr alle Zeiten zu uͤbertragen.


Gegenuͤber den materialiſtiſchen ſowohl, als
den myſtiſchen Gegnern des freien Willens, den
Leuten von der Gnadenwahl, ſteht die rationelle
Richtung, die Vernunftglaͤubigkeit von Gottes
Gnaden, die Bekennerin des beſtimmten und un¬
beſchraͤnkten freien Willens, goͤttlichen Urſprungs,
unzweifelhafter Allmacht und der untruͤgliche Rich¬
ter ſeiner ſelbſt. Aber dieſe Richtung hegt, bei
dieſem Anlaſſe, eben ſo wenig Achtung vor dem
Koͤrperlich-Organiſchen und deſſen bedingender Con¬
tinuitaͤt, als die Materialiſten von der groͤbſten
Sorte vor dem vermeintlichen Abſtractum, und
ihr abſoluter rationaliſtiſcher freier Wille iſt ein
kleiner Springinsfeld, deſſen Leben, Meinungen
und Thaten eben auch nicht weiter reichen, als
es gelegentlich allerlei Umſtaͤnde erlauben wollen.
Heinrich, welcher ſeinen bisherigen Meinungen
nach ganz dazu angethan war, ſich zu dieſer
Fahne zu ſchlagen, hatte jetzt ſchon zu viel Auf¬
merkſamkeit und Achtung fuͤr das Leibhafte und
deſſen geſetzliche Macht erworben, als daß er es
[75] unbedingt gethan haͤtte. Vielmehr gerieth er auf
den natuͤrlichen Gedanken, daß das Wahrſte und
Beſte hier wohl in der Mitte liegen duͤrfte, daß
innerhalb des ununterbrochenen organiſchen Ver¬
haltens, der darin eingeſchachtelten Reihenfolge der
Eindruͤcke, Erfahrungen und Vorſtellungen, zuin¬
nerſt der moraliſche Fruchtkern eines freien Wil¬
lens keime zum emporſtrebenden Baume, deſſen
Aeſte gleichwohl wieder ſich zum Grunde hinab¬
boͤgen, dem ſie entſproſſen, um dort unablaͤſſig
auf's Neue Wurzeln zu ſchlagen.


»Dieſen Proceß,« ſagte er ſich, »kann man am
fuͤglichſten mit einer Reitbahn vergleichen. Der
Boden derſelben iſt das Leben dieſer Welt, uͤber
welches es gilt hinwegzukommen auf gute Ma¬
nier, und kann zugleich den feſten derben Grund
aller Materie vorſtellen. Das wohlgeartete und
geſchulte Pferd iſt das beſondere, immer noch ma¬
terielle Organ, der Reiter darauf der gute menſch¬
liche Wille, welcher jenes zu beherrſchen und zum
freien Willen zu werden trachtet, um auf edlere
Weiſe uͤber jenen derben Grund wegzukommen;
der Stallmeiſter endlich mit ſeinen hohen Stie¬
[76] feln und ſeiner Peitſche iſt das moraliſche Geſetz,
das aber einzig und allein auf die Natur und Eigen¬
ſchaften des Pferdes gegruͤndet iſt und ohne die¬
ſes gar nicht vorhanden waͤre, nicht gedacht wer¬
den koͤnnte, wie die Juden ſagen. Das Pferd
aber wuͤrde ein Unding ſein, wenn nicht der Bo¬
den da waͤre, auf welchem es traben kann, ſo
daß alſo ſaͤmmtliche Glieder dieſes Kreiſes durch
einander bedingt ſind und keines ſein Daſein ohne
das andere hat, ausgenommen den Boden der
ſtummen und blinden Materie, welcher daliegt,
ob Jemand uͤber ihn hinreite oder nicht. Nichts¬
deſtoweniger giebt es gute und ſchlechte Reitſchuͤ¬
ler, und zwar nicht allein nach der koͤrperlichen
Befaͤhigung, ſondern auch, und zwar vorzuͤglich,
in Folge des freien entſchloſſenen Zuſammenneh¬
mens. Den Beweis dafuͤr liefert das erſte beſte
Reiterregiment, das uns uͤber den Weg reitet.
Die tauſend Mann Gemeine, welche keine Wahl
hatten, mehr oder weniger aufmerkſam zu lernen,
ſondern durch eine eiſerne Diſciplin in den Sat¬
tel gewoͤhnt wurden, ſind alle gleich zuverlaͤſſige
und brave Reiter, keiner zeichnet ſich beſonders
[77] aus, keiner bleibt zuruͤck, und um das Bild von
einem tuͤchtigen und geſunden Schlendrian des
gemeinen Lebens vollſtaͤndig zu machen, kommen
ihnen die zuſammengedraͤngten und in die Reihe
gewoͤhnten Pferde auf halbem Wege entgegen,
und was der Reiter etwa verſaͤumen ſollte, thut
unfehlbar ſein Organ, das Pferd, von ſelbſt. Erſt
wo dieſer Zwang und Schlendrian, oder das bit¬
ter Nothwendige der Maſſe aufhoͤrt und wo die
Freiheit beginnt, beim hochloͤblichen Offiziercorps,
giebt es ſogenannte gute Reiter, ſchlechtere Reiter
und vorzuͤgliche Reiter; denn dieſe haben es in
ihrer Gewalt, uͤber das geforderte Maß hinaus
mehr oder weniger zu leiſten. Das Ausgezeich¬
nete, Kuͤhne, was der Gemeine erſt im Drange
der Schlacht, in unausweichlicher Gefahr und
Noth unwillkuͤrlich und unbewußt thut, die gro¬
ßen Saͤtze und Spruͤnge uͤbt der Offizier alle
Tage zu ſeinem Vergnuͤgen, aus freiem Willen
und gewiſſermaßen theoretiſch: doch fern ſei es
von ihm, daß er deswegen allmaͤchtig ſei und
nicht trotz allem Muth und aller ſeiner Kunſt
von einem erſchreckten Pferde einmal abgeworfen,
[78] oder von ſeinem allzu uͤberlegenen Thiere bewogen
werden koͤnne, durch ein anderes Straͤßlein zu
reiten, als er eigentlich gewollt hat. Ob nun
ein gutes Reiterregiment denkbar waͤre, das aus
lauter Offizieren beſtaͤnde, das heißt aus Leuten,
welche ihren freien Willen zur Grundlage ihrer
Tuͤchtigkeit machten, und in Betracht, daß Buͤr¬
gerwehrcavallerie, wo dies der Fall iſt, nicht viel
taugt, dies zu beantworten, gehoͤrt nicht hierher,
da jedes Gleichniß hinkt, welches man uͤber ſeine
Beſtimmung hinaus verfolgt.«


»Wird der Steuermann,« fuhr Heinrich fort,
»zufaͤlliger Stuͤrme wegen, die ihn verſchlagen koͤn¬
nen, der Abhaͤngigkeit wegen von guͤnſtigen Win¬
den, wegen ſchlechtbeſtellten Fahrzeuges und un¬
vermutheter Klippen, wegen verhuͤllter Leitſterne
und verdunkelter Sonne ſagen: es giebt keine
Steuermannskunſt! und es aufgeben, nach beſtem
Vermoͤgen ſein vorgenommenes Ziel zu erreichen?«

Nein, gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die
Folgerichtigkeit, Nothwendigkeit der tauſend in¬
einandergreifenden Bedingungen in ihrer Klar¬
heit muͤſſen uns reizen, daß Steuer nicht fahren
[79] zu laſſen und wenigſtens die Ehre eines tuͤchtigen
Schwimmers zu erkaͤmpfen, welcher in moͤglichſt
gerader Richtung quer durch einen ſtark ziehenden
Strom ſchwimmt. Nur Zwei werden nicht uͤber
ſolchen Strom gelangen: derjenige, welcher ſich
nicht die Kraft zutraut und ſich von den Wellen
widerſtandlos fortreißen laͤßt, und der Andere,
welcher vorgiebt, er brauche gar nicht zu ſchwim¬
men, er wolle hinuͤberfliegen in der Luft, er
wolle nur noch ein Weilchen warten, bis es ihm
recht gelegen und angenehm ſei!«


Dann kam Heinrich noch einmal auf den Satz
zuruͤck, wiederholte ihn und befeſtigte ihn recht in
ſich: die Frage nach einem geſetzmaͤßigen freien
Willen iſt zugleich in ihrem Entſtehen die Ur¬
ſache und Erfuͤllung derſelben, und wer einmal
dieſe Frage gethan, hat die Verantwortung fuͤr
eine ſittliche Bejahung auf ſich genommen.


Dies war einſtweilen das Schlußergebniß,
welches er aus jenen anthropologiſchen Vorleſun¬
gen davontrug, und indem er daſſelbe ſich ernſt¬
haft vorſagte, merkte er erſt, daß er bis jetzt vom
Zufaͤlligen ſich habe treiben laſſen, wie ein Blatt
[80] aus dem Bache; oder er dachte ſogleich an ſeine
aufgeſchriebene Jugendgeſchichte, die in ſeinem alten
Koffer lag, und an alles ſeither Erlebte, und Al¬
les kam ihm nunmehr mit Einem Blicke vor
wie ein unbewußter Traum. Zugleich fuͤhlte er
aber, daß er von nun an ſein Schifflein tapfer
lenken und ſeines Gluͤckes und des Guten
Schmied ſein muͤſſe, und ein ſonderbares, verant¬
wortlichkeitsſchwangeres Weſen kraͤuſelte ſich tief
in ſeinem Gemuͤthe, wie er es bis jetzt noch nie
empfunden zu haben ſich erinnerte.

[]

Drittes Kapitel.

Aber der freie Wille des Menſchen gleicht
dem Keime, der im Samenkorne liegt und des
feuchten und warmen Erdreiches bedarf, um ſich
entwickeln und wachſen zu koͤnnen. Heinrich
mußte ſogleich erfahren, daß dieſer Keim, dieſer
loͤbliche Vorſatz des freien Willens, auch beim
beſten Willen, noch uͤber ſeine Meinung hinaus
das bedingteſte Weſen von der Welt iſt und ohne
die nothwendige Nahrung, ohne einen geſaͤttigten
Grund von Erfahrung, Einſicht und bereits er¬
fuͤllten Beſtimmungen ſo ruhig ſchlaͤft, wie das
Weizenkorn auf dem Speicher. Dieſer Grund,
dieſer Humus aber iſt fuͤr jede Anlage ein an¬
derer, gleichwie die Diſtel nicht da gedeiht, wo
das Korn waͤchſt, die Fichte noch fortkommt, wo
IV. 6[82] die Tanne verſchwindet, und ſelbſt auf dem glei¬
chen Boden bildet der Lindenkeim ein rundes
Blatt, die Eiche ein gezacktes.


Heinrich's Lage erforderte, daß er ſich nun
mit allem Ernſte in ſeinem erwaͤhlten Berufe an
ein Ziel bringe, entweder ſeine eingetretene Muth¬
loſigkeit und Taͤuſchung in der Wahl, wenn die¬
ſelbe eine voruͤbergehende war, uͤberwinde, oder,
wenn er ſich daruͤber klar gemacht, mit raſchem
Entſchluſſe ein anderes Beſtimmtes ergreife, ehe
noch mehr Jahre in's Land gingen. Allein eben
zu dieſem Entſchluſſe, noch zu irgend einem hatte
er durchaus keine Wahl, weil er ſich zu dieſer
Zeit an Erfahrung und Umſicht tauſendmal aͤrmer
fuͤhlte, als fruͤher, da er ein beſcheidenes aber
ſicher begraͤnztes Ziel verfolgt hatte. Doch er
war ſich nicht einmal dieſes Mangels einer Wahl
und eines freien Entſchluſſes bewußt, ſondern wie
der Keim eines Samenkornes, ſobald er etwas
Waͤrme und Feuchte verſpuͤrt, nur erſt ein Wuͤr¬
zelchen auszudehnen und ein Staͤmmchen an das
Licht zu bringen ſucht, ehe er ſeine beſondere
Blattform anſetzt, ſo wurde Heinrich durch ſeinen
[83] Inſtinct getrieben, das Bewußtſein ohne Nutzan¬
wendung und Maͤßigung zu bereichern, und zu
erfahren, was es eigentlich uͤberhaupt zu lernen
und zu bebauen gaͤbe in der Menſchengeſchichte.


So ſog er, waͤhrend er mit ernſtem Pathos
einen bewußten freien Willen zu uͤben waͤhnte,
aber willenlos alle ſeine Angelegenheiten und bis¬
herige Thaͤtigkeit da liegen ließ, wo ſie zuletzt
gelegen, ſo ſog er jetzt, einer willenloſen durſtigen
Pflanze gleich die Nahrung der Erfahrung und
das Lebenslicht der Einſicht in ſich und ſetzte da¬
mit nur den im zarten Knabenalter gewaltſam
unterbrochenen Proceß fort, aber mit um ſo groͤ¬
ßerer Schwere, als er unterdeſſen ein erwachſener
Menſch geworden.


Sein liebſter Aufenthalt war nun das Univer¬
ſitaͤtsgebaͤude. Er beſuchte die verſchiedenſten
Vorleſungen und ſah uͤberall, was da gelernt
werde, daruͤber alle Sorgen vergeſſend und das
aͤußere Auge vor der Zukunft verſchließend, aber
innerlich umhertaſtend gleich der Raupe, die fuͤr
ihren beſtimmungsvollen Heißhunger ein anderes
Baumblatt ſucht.

6 *[84]

Zu der Zeit ſeiner Jean Paul'ſchen Beleſen¬
heitsbildung hatte er das Rechtsweſen fuͤr eine
Sache gehalten, von der abſolut nichts zu wiſſen,
noch zu ahnen, eine Ehre fuͤr jeden wohl ange¬
legten Menſchen ſein muͤſſe, und die Juriſten
waren ihm eine Art ungluͤcklicher in keiner Be¬
ziehung beneidenswerther Schickſalsgenoſſen gewe¬
ſen, deren unterſte Stufe etwa die Haͤſcher und
Abdecker waͤren, vom Abhub und Eiter der Ge¬
ſellſchaft lebend. Der Civilrichter war ihm da¬
zumal noch viel veraͤchtlicher, als der Proceßſuͤch¬
tige und deſſen Advocat; denn, ſagte er, wenn
die Menſchen ſtupid und ſchlecht genug ſind, un¬
klare und falſche Anſpruͤche gegen einander zu
erheben und ſich um des Kaiſers Bart zu zan¬
ken, ſo iſt derjenige noch der viel groͤßere Eſel,
der ſich dazu hergiebt, ſich von den Zankbolden
anſchreien und beluͤgen zu laſſen und ihre ſchmutzige
Waͤſche rein zu machen. Vielmehr, meinte er,
ſollte man alle Leute ſich ſo lange zanken laſſen,
bis der Eine oder der Andere Gewalt braucht,
dieſen alsdann beim Kopf nehmen, dem Straf¬
richter uͤberweiſen und erſt jetzt zugleich mit dem
[85] Strafproceſſe die civilrechtliche Frage entſcheiden,
den aber noch beſonders abſtrafen, der den Pro¬
ceß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein
machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine
geheiligte Perſon.


Solche harmloſe Ausſpruͤche der Unſchuld ver¬
geſſend, war Heinrich jetzt oͤfter in den verrufen¬
ſten aller Vorleſungen, in den Pandekten zu fin¬
den, faſt leidenſchaftlich befliſſen, ein Stuͤck Tex¬
tur und Gewebe roͤmiſchen Rechtes vor ſeinen
Augen ausbreiten und erklaͤren zu ſehen. Er ſah
aus den naturwuͤchſig concreten Anfaͤngen mit
ihren plaſtiſchen Gebraͤuchen das allgemeinſte in
ſich ſelbſt ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu
einer ungeheuren fuͤr Jahrtauſende maßgebenden
Disciplin ſich entwickeln, doch in jeder Faſer eine
Abſpiegelung der Menſchenverhaͤltniſſe, ihrer Be¬
ſtimmungen, Beduͤrfniſſe, Leidenſchaften, Sitten
und Zuſtaͤnde, Faͤhigkeiten und Maͤngel, Tugen¬
den und Laſter darſtellen. Er ſah, wie dies ganze
Weſen, dem Rechts- und Freiheitsgefuͤhl einer
Race entſproſſen, in ſeiner Befaͤhigung zur All¬
gemeinheit, ſeither neben der ſtaatlichen Verkom¬
[86] menheit und der Knechtſchaft hergehend, von die¬
ſer allein geuͤbt und gepflegt, gerade ſeiner in ſich
wurzelnden Allgemeinheit wegen als eine Faͤhig¬
keit des menſchlichen Geſchlechtes eher geeignet
war, unter den betruͤbteſten Verhaͤltniſſen den
Sinn des Rechtes und mit dieſem den Sinn der
Freiheit, wenn auch ſchlafend, aufzubewahren, als
das germaniſche Recht, welches ſeiner Gewohn¬
heitsnatur, ſeiner eigenſinnigen Liebhabereien, ſei¬
nes aͤußerlichen Gebrauchsweſens und ſeines un¬
aͤchten Individualismus halber ſich unfaͤhig ge¬
zeigt hat, den vielgeruͤhmten germaniſchen Sinn
fuͤr Recht und Freiheit im Ganzen und Großen
zu erhalten, ſo wenig als ſich ſelbſt. Denn das
Recht iſt eigentlich nichts als Kritik; dieſe ſoll
ſo allgemein und grundſaͤtzlich als moͤglich ſein,
und das productive Leben, der Gegenſtand dieſer
Kritik, iſt es, welches allzeit naturwuͤchſig und
individuell ſein ſoll.


Dafuͤr regte das, was er vom germaniſchen
Recht erfaßte, durch den poetiſchen und ehrwuͤr¬
digen Duft und Glanz ſeiner verjaͤhrten Sprache
und durch das maleriſche Coſtuͤm ſeine Begier
[87] und Aufmerkſamkeit fuͤr die Geſchichte. Er hatte,
durch den fragmentariſchen Einblick in dieſe Dis¬
ciplinen aufgefordert, damit geſchloſſen, ſich einen
allgemeinen Begriff von der Rechtsgeſchichte zu
verſchaffen, und indem er, durch das Leſen deut¬
ſcher Rechtsalterthuͤmer veranlaßt, Vergangenheit
und Urſprung der deutſchen Sprache in den von
trefflichen Maͤnnern dargebotenen Werken betrach¬
tete, erſtaunte er, in dieſer Sprachgeſchichte, die
zugleich die ſchoͤnſte Voͤlkergeſchichte war, ein
wahrhaftes, großes, ſingendes und klingendes
Epos zu finden, in zahlloſen Voͤlkerſtaͤmmen her¬
uͤberziehend und rauſchend aus den gruͤnen Wald¬
ſchatten der Vorzeit, an Stroͤmen und Meerbor¬
den hin- und herwandelnd, Voͤlkerſchlachten ſchla¬
gend, Staͤdte bauend und eine Geſchichte lebend
in frommem Ernſt und derbem Schwank, in Feſt¬
glanz und Todesſchauern. Die uralte heilige
Ehrbarkeit, mit welcher in der Menſchenſprache
uͤberall das Abgetheilte, Zahl, Maß und Ge¬
wicht, Trockenes und Fluͤſſiges, Bodeneintheilung
und Geſchlechtsverwandtſchaft erſchienen, wies von
ſelbſt wieder hin auf die Rechtsgeſchichte und be¬
[88] ſtaͤtigte deren Qualitaͤt in der Menſchennatur, ſo¬
wie die ehrwuͤrdige und urſpruͤngliche Allgemein¬
heit der Woͤrter fuͤr die wichtigſten phyſiſchen
Gegenſtaͤnde mit der inneren Einfachheit und All¬
gemeinheit der Natur ſelbſt zuſammentraf, wie
er ſie in den betreffenden Betrachtungen und
Studien kennen und ehren gelernt hatte.


So gewann nun Heinrich, durch die unmit¬
telbare Anſchauung ſolcher Dinge, erſt eine le¬
bendige Liebe zu der Geſchichte, wie uͤberhaupt
die unmittelbare Kenntniß der Faſer und der
Textur der Wirklichkeit tiefere, nachhaltigere und
fruchtbarere Begeiſterung erweckt in allen Uebun¬
gen, als alles abſtracte Phantaſiren. Und ſelbſt
diejenigen, welche nur theilweiſe Kenntniß genom¬
men haben vom Beſtehen dieſes organiſch-noth¬
wendigen Gewebes, dieſer Textur der Dinge,
werden dem Ganzen erſprießlicher ſein durch die
erworbene Faͤhigkeit, ſich alles gewaltſamen Rai¬
ſonnirens zu enthalten und nicht laͤnger eine un¬
gleichmuͤthige Verwirrung bald feiger, bald uͤber¬
muͤthiger Stimmungen und Forderungen uͤber
die Dinge auszugießen, die ſie nicht begreifen
[89] und die ſich doch von ſelbſt verſtehen und machen.

Heinrich trug ein zwiefaches praktiſches Er¬
gebniß von ſeinem Selbſtunterricht in der Ge¬
ſchichte davon. Erſtlich gewoͤhnte er ſich gaͤnzlich
ab, irgend einen entſchwundenen Voͤlkerzuſtand,
und ſei er noch ſo glaͤnzend geweſen, zu beklagen,
da deſſen Untergang der erſte Beweis ſeiner Un¬
vollſtaͤndigkeit iſt. Er bedauerte nun weder die
beſte Zeit des Griechenthums noch des Roͤmer¬
thums, da das, was an ihr gut und ſchoͤn war,
nichts weniger als vergangen, ſondern in jedes
bewußten Mannes Bewußtſein aufbewahrt und
lebendig iſt, und in dem Grade, nebſt anderen gu¬
ten Dingen, endlich wieder hervortreten wird, als
das Bewußtſein der Menſchengeſchichte, d. h. die
wahre menſchliche Bildung allgemein werden wird.
Inſofern beſtimmte Geſchlechter und Perſonen die
Traͤger der Tugenden vergangener Glanztage ſind,
muͤſſen wir ihnen, da dieſe Hingegangenen Fleiſch
von unſerem Fleiſche ſind, den Zoll weihen, der
allem Weſentlichen, was war und iſt, gebuͤhrt,
ohne ſie zuruͤckzuwuͤnſchen, da ſonſt wir ſelbſt nicht
Raum noch Daſein haͤtten.

[90]

Sodann lernte er die unruhigen Gegenſaͤtze
von Hoffnung und Furcht, wie ſie durch Fort¬
ſchritt und Ruͤckſchritt in der Geſchichte wach ge¬
halten werden, in ſich baͤndigen und ausgleichen,
und zwar in Bezug auf den Theil davon, den
die naͤchſte Zeit und der Einzelne ſelbſt erlebt.
Er ſah, daß die Geſchichte nicht einem ſchlechten
Romane gleicht, wo eine Anzahl gemuͤthlicher
und tadelloſer Menſchen von der willkuͤrlichen
Teufelei abſoluter Schurken gehemmt und ver¬
wickelt wird, ſondern daß in ihr das Unheil eben
nur der Luͤckenbuͤßer und Aehrenleſer des Heiles,
d. h. der Ruͤckſchritt nichts Anderes als der ſto¬
ckende Fortſchritt iſt; oder mit deutlicheren Wor¬
ten geſagt, wenn ein ſogenannter Fortſchritt nicht
Stich haͤlt, ſo iſt er eben keiner geweſen.


Daher iſt der Grund und das Weſen einer
Reaction nicht in ihr ſelbſt zu ſuchen, als in
einer ſelbſtaͤndigen feindlichen Kraft, ſondern in
der Unvollkommenheit des Fortſchrittes; denn es
giebt nur Eine wirkliche Bewegung, diejenige nach
vorwaͤrts; alle Voͤlker und Menſchen wollen vor¬
waͤrtsſchreiten auf ihre Weiſe, und die Reactio¬
[91] naͤre von Profeſſion, die ſich ſo nennen, wiſſen
ſelbſt nicht, warum und woher ſie in der Welt
ſind. Sie ſind naͤmlich nur die Fußſchwielen der
vorwaͤrtsſchreitenden Menſchheit. So wenig die
Phyſiker der Waͤrme gegenuͤber eine eigenthuͤm¬
liche Kaͤlte kennen, ſo wenig es dem Schoͤnen
gegenuͤber eine abſolute daͤmoniſche Haͤßlichkeit
giebt, wie die dualiſtiſchen Aeſthetiker glauben,
ſo wenig wie es ein gehoͤrntes und geſchwaͤnztes
Princip des Boͤſen, einen ſelbſtherrlichen Teufel
giebt, ſo wenig giebt es eine Reaction, welche
aus eigener innewohnender Kraft und nach einem
urſpruͤnglichen Geſetze zu beſtehen vermoͤchte.


Der hervorſpringendſte Beweis hiervon iſt die
umfangreichſte That der Reaction, wie ſie iſt,
der Jeſuitismus. Dieſer iſt an ſich nichts, als
die Anziehung und Beſchaͤftigung aller unnuͤtzen
und eitlen Koͤpfe, welche zur Ausuͤbung ihres
Unſinnes einer koloſſalen Methode beduͤrfen, um
ſich ſelbſt zu genuͤgen. Dies iſt das innerſte Ge¬
heimniß des Jeſuitismus.


Daß er eine ungeheure hohle Blaſe iſt, ein
eingefleiſchter Widerſpruch und Muthwillen, be¬
[92] weiſt die fuͤrchterliche Dummheit, mit welcher er
tiefer zu ſein glaubt, als die Kluft zwiſchen
Wahrheit und Luͤge, die graͤuliche Naivetaͤt, mit
welcher er allen Ernſtes glaubt, etwas Erkleckli¬
ches hervorzubringen durch die kraſſe Weltklug¬
heit, die er in tauſend verbohrte Schaͤdel pflanzt,
geſchwollen von Herrſch- und Imponirſucht, und
der Koͤhlerglaube, daß eine Armee ſolcher metho¬
diſirten Hans Narren eine hoͤhere poſitive Welt
bauen und ſichern werden, die einen eigenen Leib
und Geiſt habe.


Welch' eine kindiſche Unbefangenheit fuͤr Leute,
welche etwas Großes wollen: fortwaͤhrend mit
der einen Hand eine ſogenannte Caſuiſtik anzu¬
wenden und mit der anderen abzulaͤugnen, als ob
der Weltgang Muße und Unſchuld genug haͤtte,
auf dergleichen Thorheiten einzugehen, und als
ob ein großer Zweck mit kleinlichen Mitteln er¬
reichbar waͤre! Deswegen iſt auch der Jeſuiten¬
ſpruch: der Zweck heiligt die Mittel! ein charak¬
teriſtiſcher Hauptunſinn; denn nicht nur heiligt
kein Zweck ihm entgegengeſetzte Mittel, ſondern
[93] er kennt gar keine ſolchen Mittel in ſeiner Eigen¬
ſchaft als Zweck. Haͤtten die Jeſuiten einen ein¬
fachen, offen auszuſprechenden, materiell weltli¬
chen Zweck fuͤr ihr Daſein, ſo wuͤrden ihre ma¬
terielle Machtverbreitung, ihre Schlauheit, ihre
Politik, ihre Gewaltſamkeit und Fuͤgſamkeit, ihre
tauſend Kuͤnſte vielleicht große Mittel ſein; ſo
wie ſie aber einen religioͤſen, geiſtlichen, uͤberwelt¬
lichen Zweck zu haben auch nur vorgeben, ſo
werden in einem Handumkehren alle jene An¬
ſtrengungen zu unſaͤglich kleinen mißgriffenen und
thoͤrichten Mitteln, welche die ewigen Henker ih¬
res eigenen Zweckes ſind. Auch arbeiten die Je¬
ſuiten, als moderne Siſyphuſſe, im Schweiße
ihres Angeſichtes an ihrer unausgeſetzten Selbſt¬
aufhebung, und wo ſich die rechtmaͤßige Weltbe¬
wegung, die keine Raͤnke uͤbt, mir im Schlafe
ſchuͤttelt, muͤſſen ſie davonlaufen oder der Bewe¬
gung dienen ohne Dank. Am ſeltſamſten nehmen
ſich in ſolchen Kataſtrophen alle jene Muͤßiggaͤn¬
ger aus, welche unter dem drohenden Namen von
»geheimen Jeſuiten« in aller Welt herumliegen
und thun, als ob ſie was zu thun haͤtten außer
[94] der zweckloſen Unruh- und Zwietrachtserregung,
die ihr naͤrriſches Gebahren hervorbringt!


Weil die Reformation ihrer Zeit und Moͤg¬
lichkeit nach eine Halbheit war, ſo entſtand durch
ihre Bewegung ſogleich der Jeſuitismus, um den
leeren Raum zu fuͤllen; oder vielmehr war er
ſelbſt eine leere Loͤwenhaut, in welche ſich, dem
wirklichen Loͤwen der Reformation gegenuͤber,
andere Thiere ſteckten, vom Eſel an bis zum
Wolf und Tiger, und ſelbſt wenn ſich ein loͤwen¬
artiges Thier darin verbarg, ſo hob ſich dieſes
ſelbſt wieder auf durch die doppelte Haut, wie
zwei Nein ſich aufheben oder zwei Ja wirkungs¬
los und matt werden.


Dieſe Loͤwenhaut iſt eben die Methode, die
Verfaſſung, die Weltverbreitung, das ſcheinbare
Gelingen der Jeſuiten, und das tragikomiſche
Schickſal dieſes gewaltigen Balges ohne ein ein¬
gewachſenes, eigenthuͤmliches Thier hat ein neue¬
rer Schriftſteller wohl bezeichnet, wenn er ſagt
»dadurch, daß der Jeſuitismus in die weltliche
Geſellſchaft eintritt und ſich mit ihr vereinigt,
wird er unfaͤhig, ſich von ihr loszumachen,
[95]d. h. ſie etwas Beſonderes zu lehren, die
Welt hat ihn erobert
, nicht er die Welt.«

Es giebt daher, wenigſtens in unſerer Zeit,
keinen edleren Principienkampf gegen ihn, ſondern
nur Polizei, Execution und Austreibung, wo im¬
mer er ſich mit fleißiger Ruͤhrigkeit dazu reif ge¬
macht hat. Die neue Bundesverfaſſung der
Schweizer that ſehr wohl daran, die Verpoͤnung
der Jeſuiten unmittelbar neben den Paragraphen
zu ſetzen, welcher von den gemeingefaͤhrlichen
Seuchen handelt; denn eben ſo aͤußerlich, wie
dieſe, kommt, verſchwindet und kommt wieder der
Jeſuitismus. Gegen ihn ſelbſt ſoll darum keine
tiefere Leidenſchaft des Haſſes mehr Raum fin¬
den; dagegen ſoll ſich dieſe wider alles das keh¬
ren, was dem Jeſuitismus Nahrung giebt, d. h.
wir muͤſſen das edle Pathos des wahren Haſſes
zur Reinigung unſerer ſelbſt gegen das wenden,
was im allgemeinen Vorrath unſerer Eigenſchaf¬
ten, Neigungen und Zuſtaͤnde dem Jeſuitismus
den Stoff und die Werkzeuge liefert. Der Stoff
iſt das zu verfuͤhrende, zu beherrſchende oder zu
beſtimmende Volk; dieſes dem Jeſuitismus abzu¬
[96] ringen, iſt der einzig radicale Weg: ſich in allen
Raͤnken den Jeſuiten gerade entgegengeſetzt
zu verhalten, in der That und in der Wahrheit.
Was dies heißen will, daruͤber ſoll Jeder im vor¬
kommenden Fall nachdenken. Die Werkzeuge ſind
obige unnuͤtze und eitle Koͤpfe, blaſirte und ver¬
dorbene Faͤhigkeiten aller Art, deren verkuͤnſteltem
und autoritaͤtsſuͤchtigem Weſen es beſſer zuſagt,
ſich in eine marktſchreieriſche und methodiſche Au¬
toritaͤtscompagnie zu retten, wenn auch als »Leich¬
nam«, als ſich der offenen, einfachen und naiven
Weltbewegung, die ſie in ihrer Verſchrobenheit
fuͤr trivial halten, anzuſchließen. Es iſt eine
Krankheit, welche man die Talentfaͤulniß nennen
koͤnnte und welche vorzuͤglich in Uebergangszeiten
entſteht und wuchert. Den damit Behafteten iſt
es nicht gegeben und nicht moͤglich, ihre Anlagen
reifen zu laſſen und mit anderen ehrlichen Leuten
an derſelben unmittelbaren Sonne des Lebens zu
gehen und zu wirken; ſie wollen das Allgemeine
uͤberholen und uͤberliſten, und indem ſie einen
Vorſprung zu gewinnen trachten, geben ſie ſich
dem Gemachten und Kuͤnſtlichen, dem Complicir¬
[97] ten und Mittelbaren hin, dem Unaͤchten und dem
Erlogenen, und von dieſem Gebiete aus, wo es
ihnen nicht mehr moͤglich iſt, recht zu thun, wer¬
den ſie die geſchworenen Feinde des Allgemeinen,
das ſchlecht und recht vorwaͤrts geht. Dies Un¬
weſen in allen Graden, auf jedem Boden und in
jeder Umgebung zu bekaͤmpfen und zu erſticken
und jedes kranke Glied abzuſchneiden, iſt der beſte
Kampf auch gegen den Jeſuitismus.


So kam Heinrich zu der Ueberzeugung, daß
das hiſtoriſche und politiſche Bewußtſein weniger
in der Ausbildung eines ſpecifiſchen Haſſes gegen
die Hemmung, als in der Reinigung und Befe¬
ſtigung ſeiner ſelbſt beſtehen und hierdurch weſent¬
lich die Aufmerkſamkeit, Thaͤtigkeit und Hoffnung
gelenkt werden ſolle. Schon weil alles das, was
ſich reactionaͤr nennt, jederzeit haßerfuͤllt, ſtraf-
und rachſuͤchtig iſt, ſo kann es der Fortſchritt
unmoͤglich ſein, oder er iſt keiner. Die Reaction
liebt z. B. das Blut, folglich darf es der Fort¬
ſchritt nicht lieben, wenn er ihr wahrhaft uͤberle¬
gen ſein will. Auch die gerechteſte Rache fuͤhrt
den eigenen ſchließlichen Untergang mit ſich, und
IV. 7[98] die heldenmuͤthigſten Raͤcher bringen mit ihrem
Siege hoͤchſtens eine große Tragoͤdie zu Stande;
es handelt ſich aber eben in der Geſchichte und
Politik um das, was die kurzathmigen Helden
und Rhetoren nie einſehen: nicht um ein Trauer¬
ſpiel, ſondern um ein gutes Ziel und Ende, wo
die gelaͤuterte unbedingte Einſicht Alle verſoͤhnt,
um ein großes heiteres Luſtſpiel, wo Niemand
mehr blutet und Niemand weint. Langſam aber
ſicher geht die Welt dieſem Ziele entgegen.


Mit Einem Worte, Heinrich erlangte die gute
und nuͤtzliche Erkenntniß: Alles, was wir an
unſeren Gegnern verwerflich und tadelnswerth fin¬
den, das muͤſſen wir ſelber vermeiden und nur
das an ſich Gute und Rechte thun, nicht allein
aus Gutmuͤthigkeit und Neigung, ſondern recht
aus Zweckmaͤßigkeit und energiſchem geſchichtlichen
Bewußtſein.


Wie er nun dazu noch ſah, daß jede ge¬
ſchichtliche Erſcheinung genau die Dauer hat,
welche ihre Gruͤndlichkeit und lebendige Inner¬
lichkeit verdient und der Art ihres Entſte¬
hens
entſpricht, wie die Dauer jedes Erfolges
[99] nur die Abrechnung der verwendeten Mittel und
die Pruͤfung des Verſtaͤndniſſes iſt, und wie
gegen die ununterbrochene Urſachenreihe auch in der
Geſchichte weder hoffen noch fuͤrchten, weder jam¬
mern noch toben, weder Uebermuth noch Verzagt¬
heit etwas hilft, ſondern Bewegung und Ruͤck¬
ſchlag ihren wohlgemeſſenen und begruͤndeten
Rhythmus haben, ſo gab er beſonders Acht auf
die Zeit- und Dauerverhaͤltniſſe in der Geſchichte
und verglich den Charakter der Ereigniſſe und
Zuſtaͤnde mit ihrer Dauer und dem Wechſel ihrer
Folge: welche Art von anhaltenden Zuſtaͤnden
z. B. ein ploͤtzliches oder ein allmaͤliges Ende
nehmen, oder welche Art von unerwarteten ra¬
ſchen Ereigniſſen dennoch einen dauernden Erfolg
haben, und warum? Welche Bewegungsarten
einen ſchnellen oder langſamen, einen gaͤnzlichen
oder theilweiſen Ruͤckſchlag hervorrufen, welche
von ihnen ſcheinbar taͤuſchen und in die Irre fuͤh¬
ren, und welche den erwarteten Gang offen gehen?
In welchem Verhaͤltniß uͤberhaupt die Summe
des moraliſchen Inhaltes zu dem Rhythmus der
Jahrhunderte, der Jahre, der Wochen und der
7 *[100] einzelnen Tage in der Geſchichte ſtehe u. ſ. w.?
Dies alles betrieb er nicht, um eine Kalenderwiſ¬
ſenſchaft aufzuſtellen, ſondern lediglich um die
Eine moraliſche Anſchauung von allen Dingen zu
verſtaͤrken. Durch dieſe Anſchauung wurde er
befaͤhigt, ſchon im Beginn einer Bewegung nach
ihren Mitteln und nach ihrer Natur die Hoffnung
oder Furcht zu beſchraͤnken, die er auf ſie zu ſetzen
hatte, wie es einem beſonnenen, freien Staats-
und Weltbuͤrger geziemt. Es iſt, nicht leider,
ſondern gluͤcklicher Weiſe, kein Gemeinplatz, ſon¬
dern eine eiſerne Wahrheit, daß in der Geſchichte
uͤberall keine Hexerei, ſondern das Spruͤchlein:
wie man's treibt, ſo geht's! die lehrreichſte Er¬
klaͤrung fuͤr Alles iſt.


Der ruhige feſte Gleichmuth, welcher aus ſol¬
cher Auffaſſung des Ganzen und Vergleichung des
Einzelnen hervorgeht, gluͤcklich gemiſcht mit leben¬
digem Gefuͤhl und Feuer fuͤr das naͤchſt zu Er¬
greifende und Selbſterlebte, macht erſt den guten
und wohlgebildeten Weltbuͤrger aus. Denn wenn
er in dieſen, in ſeinen eigenen Beſtrebungen
ſcheitert oder ein großes Mißlingen oder einen
[101] Untergang miterlebt, ſo giebt nur jene Ruhe ihm
denjenigen Troſt und Halt, ohne welchen kein
ſelbſtbewußtes menſchliches Weſen denkbar iſt und
leben kann.


Heinrich erwarb ſich indeſſen nichts weniger
als eine große Gelehrſamkeit oder gar die bloße
Einbildung einer ſolchen; lediglich ſchaute er ſich
um, von einem dringenden Inſtincte getrieben,
erhellte ſein Bewußtſein von den Dingen, die da
ſind, gelehrt, gelernt und betrieben werden, und
hatte an Allem eine ungetruͤbte gleichmaͤßige Freude,
ohne ſich anzumaßen, ſich ſelbſt etwa hervorthun
zu wollen, oder ſich fuͤr dies oder jenes ſelbſtthaͤ¬
tig entſcheiden zu koͤnnen. Alles, was gruͤndlich
und zweckmaͤßig betrieben wurde und aͤcht menſch¬
lich war, erſchien ihm jetzt gleich preiswuͤrdig
und weſentlich, und Jeder ſchien ihm gluͤcklich und
beneidenswerth, der, ſeinen Beruf recht begreifend,
in Bewegung und Geſellſchaft der Menſchen, mit
ihnen und fuͤr ſie, unmittelbar wirken kann.


Dies alles hatte die kleine Figur des borghe¬
ſiſchen Fechters veranlaßt, und Heinrich trieb es,
wie etwa der Sohn eines wohlhabenden guten
[102] Hauſes, welcher ſich zu ſeiner Formirung im Aus¬
lande aufhaͤlt und einige allgemeine Studien treibt,
von Allem ein Bischen lernt, um dereinſt einen
wohlbeſtellten und unterrichteten Buͤrgersmann
vorzuſtellen, welcher weiß, warum es ſich handelt,
und, ohne gelehrt zu ſein, doch in manchem Falle,
wo er nicht ſchon eine eigene Meinung hat, im
Stande iſt, ſich eine ſolche auf dem kuͤrzeſten
Wege anzueignen.


So verging die Zeit, und waͤhrend Heinrich
ohne freien Willen, denn er konnte gar nicht an¬
ders, ruͤckſichtslos und gaͤnzlich die Zeit verwen¬
dete, ſich Zeug und Stoff fuͤr ſeinen freien Willen
zu verſchaffen, naͤmlich Einſicht, wußte er bereits
nicht mehr, wovon er leben ſollte und ſah ſich
ploͤtzlich zu ſeinem großen Erſtaunen von Noth
und Sorge umgeben, ſo daß er kaum wußte, wie
ihm geſchah.

[]

Viertes Kapitel.

Als er vor nun bald vier Jahren ſein Vater¬
haus und ſeine Heimath verließ, war zu ſeinem
Eintritt in die Welt die maͤßige Baarſumme be¬
ſtimmt, welche ſeine Mutter waͤhrend ihres Witt¬
wenſtandes, trotz ihrer beſchraͤnkten Verhaͤltniſſe
und ungeachtet ſie zu gleicher Zeit einen Sohn
erzog, doch unbemerkt erſpart hatte. Dieſe Summe
war bei beſcheidener Lebensweiſe fuͤr etwa ein
Jahr hinreichend, nach deſſen Ablauf ſich ernaͤhren
und zugleich weiterbilden zu koͤnnen Heinrich nicht
zweifelte und ſeine Mutter eben ſo ſicher hoffte,
da es geſchehen mußte, und ſie ihrer ganzen
Lebensart nach ſelbſt von nichts Anderem wußte,
als dem Nothwendigen ſich zu fuͤgen und ihm
gerecht zu werden. Sie nannte dies »ſich nach
[104] der Decke ſtrecken«, und verzierte jeden ihrer Briefe,
die ſie an den Sohn ſchrieb, ſorgfaͤltigſt am Ein¬
gang und am Schluſſe mit dieſer Metapher, und
der Sohn nannte dieſelbe ſcherzweiſe das Pro¬
kruſtesbette ſeiner Mutter. Indeſſen, um fuͤr alle
Faͤlle das Ihrige zu thun, veraͤnderte ſie ſogleich
am Tage nach ſeiner Abreiſe ihre Wirthſchaft und
verwandelte dieſelbe beinahe vollſtaͤndig in die
Kunſt, von Nichts zu leben.


Sie erfand ein eigenthuͤmliches Gericht, eine
Art ſchwarzer Suppe, welches ſie Jahr aus, Jahr
ein, einen Tag wie den anderen um die Mittags¬
zeit kochte, auf einem Feuerchen, welches ebenfalls
beinahe von Nichts brannte und ein Klafter Holz
ewig dauern ließ. Sie deckte waͤhrend der Woche
nicht mehr den Tiſch, da ſie nun ganz allein aß,
nicht um die Muͤhe, ſondern die Koſten der Waͤ¬
ſche zu erſparen, und ſetzte ihr Schuͤſſelchen auf
ein einfaches Strohmaͤttchen, welches immer ſau¬
ber blieb, und indem ſie ihren abgeſchliffenen
Dreiviertels-Loͤffel in die Suppe ſteckte, rief ſie
puͤnktlich den lieben Gott an, denſelben fuͤr alle
Leute um das taͤgliche Brot bittend, beſonders
[105] aber fuͤr ihren Sohn. Nur an den Sonn- und
Feſttagen deckte ſie den Tiſch foͤrmlich, und ſetzte
ein Pfuͤndchen Rindfleiſch darauf, welches ſie am
Sonnabend eingekauft. Dieſen Einkauf ſelber
machte ſie weniger aus Beduͤrfniß — denn ſie
haͤtte ſich fuͤr ihre Perſon auch am Sonntage
noch mit der lakoniſchen Suppe begnuͤgt, wenn
es haͤtte ſein muͤſſen —, als vielmehr um noch
einen Zuſammenhang mit der Welt und Gelegen¬
heit zu haben, wenigſtens ein Mal die Woche
auf dem alten Markt zu erſcheinen und den Welt¬
lauf zu ſehen. So marſchirte ſie denn ſtill und
eifrig, ein kleines Koͤrbchen am Arm, erſt nach
den Fleiſchbaͤnken, und waͤhrend ſie dort klug und
beſcheiden hinter dem Gedraͤnge der großen Haus¬
frauen und Maͤgde ſtand, welche laͤrmend und
ſtolz ihre großen Koͤrbe fuͤllen ließen, machte ſie
hoͤchſt kritiſche Betrachtungen uͤber das Behaben
der Leute und aͤrgerte ſich beſonders uͤber die
munteren leichtſinnigen Dienſtmaͤgde, welche ſich
von den luſtigen Metzgerknechten alſo bethoͤren
ließen, daß ſie, waͤhrend ſie mit ihnen ſcherzten
und lachten, ihnen unverſehens eine ungeheure
[106] Menge Knochen und Luftroͤhrenfragmente in die
Wagſchale warfen, ſo daß es die Frau Eliſabeth
Lee faſt nicht mit anſehen konnte. Wenn ſie
die Herrin ſolcher Maͤdchen geweſen waͤre, ſo haͤt¬
ten dieſe ihre Verliebtheit an den Fleiſchbaͤnken
theuer buͤßen und jedenfalls die Knorpel und
Roͤhren der falſchen truͤgeriſchen Geſellen ſelbſt
eſſen muͤſſen. Allein es iſt dafuͤr geſorgt, daß
die Baͤume nicht in den Himmel wachſen, und
diejenige, welche von allen anweſenden Frauen
vielleicht die boͤſeſte und ſtrengſte geweſen waͤre,
hatte dermalen nicht mehr Macht, als uͤber ihr
eigenes Pfuͤndlein Fleiſch, das ſie mit Umſicht
und Ausdauer einkaufte. Sobald ſie es im Koͤrb¬
chen hatte, richtete ſie ihren Gang nach dem Ge¬
muͤſemarkt am Waſſer und erlabte ihre Augen an
dem Gruͤn, an den friſchen Fruͤchten, welche aus
Gaͤrten und Fluren hereingebracht waren. Sie
wandelte von Korb zu Korb und uͤber die ſchwan¬
ken Bretter von Schiff zu Schiff, das aufge¬
haͤufte Wachsthum uͤberſehend und an deſſen
Schoͤnheit und Billigkeit die Wohlfahrt des Staa¬
tes und deſſen innewohnende Gerechtigkeit ermeſ¬
[107] ſend, und zugleich tauchten in ihrer Erinnerung
die gruͤnen Landſtriche und die Garten ihrer Ju¬
gend auf, in welchen ſie einſt ſelbſt ſo gedeihlich
gepflanzt hatte, daß ſie zehnmal mehr wegzu¬
ſchenken im Stande war, als ſie jetzt bedaͤchtig
und theuer einkaufen mußte. Haͤtte ſie noch
große Vorraͤthe fuͤr eine zahlreiche Familie einzu¬
kaufen und zu ordnen gehabt, ſo wuͤrde das ein
Erſatz geweſen ſein fuͤr das Pflanzen und Gra¬
ben; aber auch dieſer Beruf war ihr genommen
und daher war die Handvoll gruͤner Bohnen,
Spinatblaͤttchen oder junge Ruͤbchen, welche ſie
endlich in ihr Koͤrbchen that, nachdem ſie man¬
chen ſcharfen Verweis und Zuſpruch wegen Ueber¬
theuerung ausgetheilt, ihr ein nothduͤrftiges Pfand
und Symbolum, ſammt dem Buͤſchelchen Peter¬
ſilie oder Schnittlauch, das ſie gratis erkaͤmpft.
Dies war ihre Poeſie, Elegie und Samſtagstra¬
goͤdie.


Das ſchoͤne weiße Stadtbrot, das bislang in
ihrem Hauſe gegolten, ſchaffte ſie nach Heinrich's
Abreiſe ſogleich ab und bezog alle vierzehn Tage
ein billiges rauhes Landbrot, welches ſie ſo ſparſam
[108] aß, daß es zuletzt immer ſteinhart wurde, und
daſſelbe vergnuͤglich und zufrieden bewaͤltigend,
ſchwelgte ſie ordentlich in ihrer freiwilligen Asceſe.

Zugleich wurde ſie karg und herb gegen Je¬
dermann, in ihrem geſellſchaftlichen Leben vorſich¬
tig und zuruͤckhaltend, um alle Ausgaben zu ver¬
meiden, und bewirthete Niemanden, oder doch ſo
knapp und aͤngſtlich, daß ſie bald fuͤr geizig und
ungefaͤllig gegolten haͤtte, wenn ſie nicht durch
eine verdoppelte Bereitwilligkeit mit dem, was
ſie durch die Muͤhe ihrer Haͤnde, ohne andere
Koſten, bewirken konnte, jene herbe Sparſamkeit
aufgewogen haͤtte. Ueberall wo ſie mit Rath
und That beiſtehen konnte, im ganzen Umkreiſe
ihrer Nachbarſchaft, war ſie immer wach und ruͤ¬
ſtig bei der Hand, keine Muͤhe und Ausdauer
vermeidend, inſofern ſie nur nichts koſtete, und
da ſie fuͤr ſich bald fertig war und ſonſt nichts
zu thun hatte, ſo verwandte ſie faſt ihre ganze
Zeit zu ſolchen Dienſtleiſtungen, ſtill und fleißig
denſelben obliegend, bald in dieſem Hauſe, bald
in jenem, wo Krankheit oder Tod die Menſchen
bedraͤngten.

[109]

Aber uͤberallhin brachte ſie ihre ſtrenge Ein¬
theilung und Sparſamkeit mit, ſo daß die uner¬
fahrenen und behaͤbigen Weiber, waͤhrend ſie
dankbar und ruͤhmend ihre unermuͤdliche Huͤlfe
ſich gefallen ließen, doch hinter ihrem Ruͤcken ſag¬
ten, es waͤre eigentlich doch eine Suͤnde von der
Frau Lee, daß ſie gar ſo aͤngſtlich ſei und ſo ſproͤde
in ſich verſchloſſen dem lieben Gott nichts uͤber¬
laſſen koͤnne oder wolle. Dies war aber durch¬
aus nicht der Fall; ſie uͤberließ der Vorſehung
des Gottes Alles, was ſie nicht verſtand, vorerſt
die Verwicklungen und Entwicklungen der mora¬
liſchen Welt, mit denen ſie nicht viel zu thun
hatte, da ſie ſich nicht in Gefahr begab; nichts
deſto minder war Gott ihr auch der Grundpfeiler
in der Victualienfrage; aber dieſe hielt ſie fuͤr ſo
wichtig, daß es fuͤr ſie eine eigentliche Ehrenſache
war, ſich zuerſt ſelber mit Hand und Fuß zu
wehren. Denn ein doppelter Strick halte beſſer,
und wenn auf Erden und im Himmel zugleich
geſorgt wuͤrde, ſo koͤnne es um ſo weniger fehlen!


Und mit eiſerner Treue hielt ſie an ihrer
Weiſe feſt; weder durch die Sonnenblicke der Froͤh¬
[110] lichkeit, noch durch duͤſteres Unbehagen, weder im
Scherz noch im Ernſt ließ ſie ſich verleiten und
uͤberrumpeln, auch die kleinſte ungewohnte Aus¬
gabe zu machen. Sie legte Groſchen zu Groſchen,
und wo dieſe einmal lagen, waren ſie ſo ſicher
aufgehoben, wie im Kaſten des eingefleiſchten
Geizes. Mit der Ausdauer und Conſequenz des
Geizes ſammelte ſie Geld, aber nicht zu ihrer
Freude und zur Luſt ihrer Augen, denn das Ge¬
ſammelte beſchaute ſie niemals und uͤberzaͤhlte es
nie, und hierdurch unterſchied ſich ihr Thun und
Laſſen von demjenigen der Geizigen.


Allein dieſe ihre Art, indem ſie zuruͤckhaltend,
aͤngſtlich und geizig erſchien und zugleich dienſt¬
fertig, ſtill, huͤlfereich und liebenswuͤrdig war,
verlieh ihr einen eigenthuͤmlichen und einſamen
Charakter, ſo daß die Leute ihre freundliche und
nuͤtzliche Seite annahmen und uͤber ihr ſtilles,
ſtrenges Sorgen, Hoffen und Fuͤrchten ſie nicht
befragten.


Zudem wuͤrden ſie daſſelbe weder begriffen,
noch gebilligt haben; denn alle verlangten von
ihren eigenen Soͤhnen, wenn ſie nicht Gelehrte
[111] wurden, daß ſie ſich zeitig ſelbſt ernaͤhrten, und
wenn je einmal eine ganz behagliche Familie ih¬
rem in die Klemme gerathenen Sohn Schreiner
oder Schloſſer einige Thaler uͤberſandte, ſo ge¬
ſchah dies mit einem erheblichen Aufwande von
Laͤrm, und des Goldeinwechſelns, Verpackens,
Verſiegelns, Verſicherns auf der Poſt und des
Sprechens von alledem war kein Ende; daß aber
Heinrich ſchon abgereiſt war, um foͤrmlich im
Auslande von einer beſtimmten Summe zu leben,
dazu hatten die Nachbaren ſchon die Koͤpfe ge¬
ſchuͤttelt und gemeint, er haͤtte doch ſchon genug
gekoſtet und koͤnnte nun ſehen, etwas zu verdie¬
nen, wie anderer Leute Kinder auch. Deshalb
ſagte ſeine Mutter zu Niemandem, warum ſie ſo
ſparſam ſei.


Der Held dieſer Geſchichte reichte auch mit
jener Summe fuͤr ein Jahr ſo knapp aus; denn
obgleich dieſelbe ſehr beſcheiden war, ſo waren
ſeine Gewohnheiten und Anſpruͤche zu jener Zeit
trotz aller Anlage zu einem tuͤchtigen Aufſchwunge
eben ſo beſcheiden, und da die Mutter ihm das
Geld vorſorglich nur in vielen kleinen Abtheilun¬
[112] gen uͤberſandte, jede in einen Brief mit obigem
Motto gewickelt, ſo kam mit den guten Silber¬
ſtuͤcken, von denen ſie jedes einzelne in den ſpar¬
ſamen Haͤnden gehabt, jedesmal auch ihr haͤus¬
licher Machteinfluß und die eiſerne Gewohnheit
der Beſcheidenheit und des Reſpectes mit. Als
jedoch das erſte Jahr und mit ihm die muͤtterli¬
chen Sendungen zu Ende gingen, da hatte Hein¬
rich noch nicht die mindeſten Anſtalten getroffen,
ſich auf eigene Fauſt zu ernaͤhren, denn hier trat
nun der Zeitpunkt ein, wo die allgemeine und
doch ſo geheimnißvolle Macht dieſer modernen
Kunſt und Heldenſchaft ſich ihm offenbaren ſollte.
In der heutigen Welt ſind Alle, die in der Werk¬
ſtatt der fortſchreitenden Cultur beſchaͤftigt ſind
und es mit einem Zweige derſelben zu thun ha¬
ben, geſchieden von Acker und Herde, vom Wald
und oft ſogar vom Waſſer. Kein Stuͤck Brot, ſich
zu naͤhren, kein Buͤndel Reiſig, ſich zu waͤrmen,
keine Flocke Flachs oder Wolle, ſich zu kleiden,
in großen Staͤdten keinen friſchen Trunk Waſſer
koͤnnen ſie unmittelbar durch eigene frohe Muͤhe
und Leibesbewegung von der Natur gewinnen.
[113] Viele unter ihnen, wie die Kuͤnſtler und Schrift¬
menſchen, empfangen ihre Nahrung nicht einmal
von denen, welche der Natur naͤher ſtehen, ſondern
wieder von ſolchen, welche ihr eben ſo entfernt
ſtehen, wie ſie ſelbſt, und eine kuͤnſtliche abſtracte
Exiſtenz fuͤhren, ſo daß der ganze Verkehr ein
Gefecht in der Luft, eine ungeheure Abſtraction
iſt, hoch uͤber dem feſten Boden der Mutter Na¬
tur. Und ſelbſt dann noch, wenn die Einen die
Mittel ihres Daſeins von den Anderen empfangen,
geſchieht dieſes ſo unberechenbar, launenhaft und
zufaͤllig, daß Jeder, dem es gelungen iſt, dies nicht
als den Lohn ſeines Strebens, ſein Verdienſt be¬
trachten darf, ſondern es als einen blinden Gluͤcks¬
fall, als einen Lotteriegewinnſt preiſen muß. In
dieſem ſeltſamen Zuſammentreffen der Geiſter,
oder vielmehr der Leiber iſt der unmittelbare Pro¬
ceß des Eſſens, des Zuſichnehmens der Nahrung
zwar noch nicht offen als eine Tugend und Ehre
an ſich ausgeſprochen, und noch immer gilt zur
Nothdurft die Moral, daß das Eſſen eine ver¬
dienſtloſe Nothwendigkeit ſei, obgleich Mancher
ſein Brot ſo ißt, daß man ſieht, er macht ſich
IV. 8[114] das Beißen und Kauen ſchon zur Ehre, und kaut
dem, der keines hat, recht unter die Naſe; aber
der gluͤckliche Erwerb des Brotes iſt zu dieſer
Zeit aus einer einfachen Naturpflicht zu einer aus¬
geſuchten Ehrentugend und Ritterſchaft geworden,
zu deren Erlangung der Neuling nicht ohne Wei¬
teres zugelaſſen wird, ſondern verſchiedene frei¬
maureriſche Grade der Niedertraͤchtigkeit oder der
Verdrehtheit und zweckwidrigen Unſinnes jeder
Art durchmachen muß. In der Bevoͤlkerung,
welche ihr Leben unmittelbar der Natur und dem
unterſten Beduͤrfniß abgewinnt, iſt die Heiligkeit
und die Bedeutung der Arbeit noch klar und ver¬
ſtaͤndlich; da verſteht es ſich von ſelbſt, daß Keiner
dem Anderen zuſehen darf, wie er graͤbt und ſchau¬
felt um ihm das Herausgegrabene wegzunehmen
und zu verzehren. Alles, was einer da thut,
hilft ihn und die Welt erhalten und hat einen
unbezweifelten, wahren und ſicheren Zweck. In
jener hoͤheren abſtracten Welt aber iſt einſtweilen
Alles auf den Kopf geſtellt und die Begriffe von
der Bedeutung der Arbeit verkehrt bis zum Un¬
kenntlichwerden.

[115]

Hier fuͤhrt ein bloßes Wollen, ein gluͤcklicher
Einfall ohne Muͤhe zu reichlichem Erwerb, dort
eine geordnete und nachhaltige Muͤhe, welche mehr
der wirklichen Arbeit gleicht, aber ohne innere
Wahrheit, ohne vernuͤnftigen Zweck, ohne Idee.
Hier heißt Arbeit, lohnt ſich und wird zur Tu¬
gend, was dort Nutzloſigkeit, Muͤßiggang und
Laſter iſt. Hier nuͤtzt und hilft etwas theilweiſe,
ohne wahr zu ſein; dort iſt etwas wahr und na¬
tuͤrlich, ohne zu nuͤtzen, und immer iſt der Erfolg
der Koͤnig, der den Ritterſchlag in dieſer kuͤnſtli¬
chen Welt ertheilt. Und alle dieſe Momente ver¬
miſchen und kreuzen ſich auf ſo wunderliche Weiſe,
daß fuͤr die geſunde Vernunft das Urtheil ſchwer
wird.


Ein Speculant geraͤth auf die Idee der Re¬
valenta arabica und bebaut dieſelbe mit aller
Umſicht und Ausdauer; ſie gewinnt eine auffal¬
lende Ausbreitung und gelingt glaͤnzend; Hun¬
derttauſende, vielleicht Millionen werden dadurch
in Bewegung geſetzt und gewonnen, und doch
ſagt Jedermann: es iſt ein Betrug und ein
Schwindel! Und doch muß man die Sache naͤher
[116] anſehen. Betrug und Schwindel nennt man
ſonſt, was gewinnen ſoll ohne Arbeit und Muͤhe,
gegruͤndet auf eine Vorſpiegelung oder Taͤuſchung.
Niemand wird aber ſagen koͤnnen, daß das Re¬
valentageſchaͤft ohne Arbeit betrieben werde; es
herrſcht da gewiß eine ſo gute Ordnung, Fleißig¬
keit, Betriebſamkeit, Um- und Ueberſicht, wie in
dem nothwendigſten, ſolideſten Handelszweige oder
Staatsgeſchaͤfte; es iſt, gegruͤndet auf den Einfall
des Speculanten, eine umfaſſende Thaͤtigkeit, eine
wirkliche Arbeit entſtanden.


Die Beſchaffung des Mehles, die Anfertigung
der Blechbuͤchſen, die Verpackung und Verſendung,
der Vertrieb in den verſchiedenſten Laͤndern ſchafft
vielen Menſchen Handarbeit und Gewinn. Die
zahlloſen marktſchreieriſchen Ankuͤndigungen, mit
einer durchdachten und muͤhevollen Umſicht betrie¬
ben, bringen Hunderten von Zeitungen reichlichen
Gewinn, und dieſe brauchen in gleichem Maße
vermehrte Arbeitskraͤfte; Setzer und Drucker fin¬
den viele Tage Nahrung in dem weiteſten Um¬
kreiſe nur durch die Inſerate der Revalentamaͤn¬
ner, und dieſe ſelbſt, das Ganze beherrſchend,
[117] nennen ihre Thaͤtigkeit gewiß nicht minder Arbeit,
wenn ſie aus ihrem Comptoir kommen, als ein
Rothſchild die ſeinige. Hier ſind der ſpeculative
Einfall, oder was die Unternehmer wahrſcheinlich
die Idee nennen, und die Muͤhe, die wirklichſte
Arbeit verbunden; es wird gewirkt und genuͤtzt
im vollen Maße und wohl Niemandem was ge¬
ſchadet, und doch iſt das Ganze ein ſcandaloͤſer
Schwindel und ſein Kern eine hohle Nuß, indem
die Hauptſache, der vorgegebene Zweck, die Ei¬
genſchaft des Gegenſtandes dieſer ganzen Thaͤtig¬
keit eine offenkundige Taͤuſchung iſt, und deſſen¬
ungeachtet doch wieder der Chef dieſer ungeheu¬
ren Blaſe der Zeit in ſeiner Umgebung ſo geach¬
tet und geſchaͤtzt, wie jeder andere Geſchaͤftsmann.
Wo liegt hier die Ehre und wo die Schande?
Dies iſt aber nur ein grobes Beiſpiel aus dem
groͤberen Weltverkehr. Es wird Revalenta
arabica gemacht in Kunſt und Wiſſenſchaft, in
Theologie und Politik, in Philoſophie und buͤr¬
gerlicher Ehre aller Art, nur mit dem Unterſchied,
daß es nicht immer ſo unſchaͤdliches Bohnenmehl
iſt, aber mit dergleichen raͤthſelhafter Vermiſchung
[118] von Arbeit und Taͤuſchung, innerer Leerheit und
aͤußerem Erfolg, Unſinn und weiſem Betriebe,
von Zweckloſigkeit und ſtattlich ausgebreitetem
Gelingen, bis der Herbſtwind des Todes Alles
hinwegfegt und auf dem oͤden Stoppelfelde
nichts uͤbrig laͤßt, als hier ein ſeltſam zuſammen¬
gewuͤrfeltes Vermoͤgen, dort ein Haus, deſſen Er¬
ben nicht zu ſagen wiſſen, auf welchem Grund
und mit welchem Recht es gegruͤndet iſt, und
wenn dies Erbe auch noch verweht iſt, ſo iſt weder
eine geiſtige noch leibliche Spur, noch ein Zuſam¬
menhang mehr zu finden zum Zeugniß, daß jene
Betriebſamen einſt auch dageweſen ſeien und ſich,
obgleich fleißig, doch mit Recht und Ehre genaͤhrt
haben, waͤhrend jeder wohlbeſtellte Acker ein
Denkmal iſt deſſen, der ihn einſt geackert hat.


Will man hingegen aus der großen oͤffentli¬
chen Welt ein Beiſpiel wirkungsreicher Arbeit, die
zugleich ein wahres und vernuͤnftiges Leben iſt,
betrachten, ſo muß man das Leben und Wirken
Schiller's anſehen. Dieſer, aus dem Kreiſe hin¬
ausfluͤchtend, in welchem Familie und Landesherr
ihn halten wollten, alles das im Stiche laſſend,
[119] zu was man ihn machen wollte, ſtellte ſich in
fruͤher Jugend auf eigene Fauſt, nur das thuend,
was er nicht laſſen konnte, und ſchaffte ſich, um ein
eigengehoͤriges Leben zu beginnen, ſogar durch eine
ſchreiende Ausſchweifung, durch eine uͤberſchweng¬
liche und wilde Raͤubergeſchichte, durch einen Ju¬
gendfehler Luft und Licht; aber ſobald er dies
gewonnen, veredelte er ſich unablaͤſſig von innen
heraus und ſein Leben ward nichts Anderes, als
die Erfuͤllung ſeines innerſten Weſens, die folge¬
rechte und kryſtallreine Arbeit der Wahrheit und
des Idealen, die in ihm und ſeiner Zeit lagen.
Und dieſes einfach fleißige Daſein verſchaffte ihm
Alles, was ſeinem perſoͤnlichen Weſen gebuͤhrte;
denn da er, mit Reſpect zu melden, bei alledem
ein Stubenſitzer war, ſo lag es nicht in demſel¬
ben, ein reicher und glaͤnzender Weltmann zu
ſein. Eine kleine Abweichung in ſeinem leiblichen
und geiſtigen Charakter, die eben nicht Schilleriſch
war, und er waͤre es auch geworden Aber nach
ſeinem Tode erſt, kann man ſagen, begann ſein
ehrliches, klares und wahres Arbeitsleben ſeine
Wirkung und ſeine Erwerbsfaͤhigkeit zu zeigen,
[120] und wenn man ganz abſieht von ſeiner geiſtigen
Erbſchaft, welche er der Welt hinterlaſſen, ſo muß
man erſtaunen uͤber die materielle Bewegung,
uͤber den bloß leiblichen Nutzen, den er durch das
bloße treue Hervorkehren ſeines geiſtigen Ideales
hinterließ. So weit die deutſche Sprache reicht,
iſt in den Staͤdten kaum ein Haus, in welchem
nicht ſeine Werke ein- oder mehrfach auf Geſims
und Schraͤnken ſtehen, und in Doͤrfern wenigſtens
in einem oder zwei Haͤuſern. Je weiter aber
die Bildung der Nation ſich verbreitet, deſto groͤ¬
ßer wird die jetzt ſchon ungeheure Vervielfaͤltigung
dieſer Werke werden und zuletzt in die niederſte
Huͤtte dringen. Hundert Geſchaͤftshungrige
lauern nur auf das Erloͤſchen des Privilegiums,
um die edle Lebensarbeit Schiller's ſo maſſenhaft
und wohlfeil zu verbreiten, wie die Bibel, und
der umfangreiche leibliche Erwerb, der waͤhrend
der erſten Haͤlfte eines Jahrhunderts ſtattgefun¬
den, wird waͤhrend der zweiten Haͤlfte derſelben
um das Doppelte wachſen und vielleicht im kom¬
menden Jahrhundert noch einmal um das Dop¬
pelte. Welch' eine Menge von Papiermachern,
[121] Papierhaͤndlern, Buchdruckersleuten, Verkaͤufern,
Laufburſchen, Commentatoren der Werke, Leder¬
haͤndlern, Buchbindern verdienten und werden
ihr Brot noch verdienen, welch' eine fortwaͤhrende
That, welch' nachhaltiger Erwerb im materiellſten
Sinne waren alſo die kurzen Schiller'ſchen Ar¬
beits- und Lebensjahre. Dies iſt, im Gegen¬
ſatz zu der Revalenta arabica manches Trei¬
bens, auch eine umfangreiche Bewegung, aber
mit einem ſuͤßen und gehaltreichen Kern, und
nur die aͤußere derbe Schale eines noch groͤßeren
und wichtigeren geiſtigen Gluͤckes, der reinſten
nationalen Freude.


Gegenuͤber dieſem einheitlichen organiſchen
Leben giebt es nun auch ein geſpaltenes, getrenn¬
tes, gewiſſermaßen unorganiſches Leben, wie wenn
Spinoza und Rouſſeau große Denker ſind ihrem
inneren Berufe nach, und um ſich zu ernaͤhren,
zugleich Brillenglaͤſer ſchleifen und Noten ſchrei¬
ben. Dieſe Art beruht auf einer Entſagung,
welche in Ausnahmsfaͤllen dem ſelbſtbewußten
Menſchen wohl anſteht, als Zeugniß ſeiner Ge¬
walt. Die Natur ſelbſt aber weiſt nicht auf ein
8 *[122] ſolches Doppelleben, und wenn dieſe Entſagung,
die Spaltung des Weſens eines Menſchen allge¬
mein guͤltig ſein ſollte, ſo wuͤrde ſie die Welt
mit Schmerz und Elend erfuͤllen. So feſt und
allgemein wie das Naturgeſetz ſelber ſollen wir
unſer Daſein durch das naͤhren, was wir ſind
und bedeuten, und das mit Ehren ſein, was uns
naͤhrt. Nur dadurch ſind wir ganz, bewahren uns
vor Einſeitigkeit und Ueberſpanntheit und leben
mit der Welt im Frieden, ſo wie ſie mit uns,
indem wir ſie ſowohl beduͤrfen mit ihrer ganzen
Art, mit ihrem Genuß und ihrer Muͤh', als ſie
unſer bedarf zu ihrer Vollſtaͤndigkeit, und alles
das, ohne daß wir einen Augenblick aus unſerer
wahren Beſtimmung und Eigenſchaft herausgehen.

Wenn nun ſchon unter den hervorragenden
Exiſtenzen jenes kuͤnſtlichen Ernaͤhrungsverkehres
ein ſolches Durcheinander von Geltung, Pflicht,
Ehre und Zweckmaͤßigkeit herrſcht, ſo daß dieſe
in jedem Augenblicke und an jeder Stelle einen
anderen Maßſtab und eine andere Anerkennung
verlangen, eine andere Energie und eine andere
Geſchicklichkeit, wie ſchwierig wird dieſe Verwicke¬
[123] lung erſt fuͤr den unbefangenen und einfach gear¬
teten Neuling, Kleinen und Werdenden! Weit
entfernt, ſein wahres Weſen hervorkehren zu duͤr¬
fen und dieſes einfach wirken zu laſſen, ſoll er
tauſend kleine Kuͤnſte und Faͤhigkeiten luͤgen oder
gewaltſam erwerben, welche zu Allem, was er
ſonſt iſt, treibt und gelernt hat, ſich vollkommen
unſinnig und zweckwidrig verhalten. Er ſoll ler¬
nen, auf den Vortheil zu ſchießen, wie eine Spinne
auf die Muͤcke, waͤhrend vielleicht die beſondere
Natur ſeines Berufes langſam, gruͤndlich und be¬
ſchaulich iſt; er ſoll demuͤthig und kriechend ſein,
wo er ſtolz ſein moͤchte, und hinwieder unver¬
ſchaͤmt und prahleriſch, wo er nur beſcheiden ſein
kann; er muß geizig und zuruͤckhaltend ſein mit
dem Reifen und Fertigen, das ſich wie die Frucht
von dem Baume ſeines Daſeins abloͤſen will, und
er muß hinwieder mit blutendem Herzen freigebig
ſein mit dem Unreifen und Werdenden und es
wegwerfen um des Erwerbes willen. Wenn er
nimmt, was ihm gebuͤhrt, ſo muß er dafuͤr dan¬
ken, und erſt wenn er empfaͤngt, was ihm nicht
gebuͤhrt, ſo iſt er des Dankes quitt und hat Ehre
[124] davon, ſo daß ſchon die nothwendige Angewoͤh¬
nung und Gewandtheit des Erwerbes unwill¬
kuͤrlich nach einem verwerflichen Ziele fuͤhrt.


Welch' eine Menge von kleinen perſoͤnlichen
und geſellſchaftlichen Verumſtaͤndungen gehoͤrt da¬
zu, wenn es dem jungen Kuͤnſtler gelingen ſoll,
ſein Erſtlingswerk an den Mann zu bringen, und
von dieſem einzigen Erfolge haͤngt meiſtens das
weitere gluͤckliche Fortſchreiten der naͤchſten fuͤnf,
ja zehn Jahr ab, die Entſcheidung, ob die lange
Jugend bis tief in die Maͤnnerjahre hinein eine
bluͤhende und gluͤckliche Zeit, oder eine duͤrre und
finſtere ſein, freilich auch oft, ob der Mann auf
der leichtfertigen und oberflaͤchlichen, oder auf der
tieferen und nachhaltigen Seite des Lebens ſtehen
ſoll. Gleich dem armen Weibe, deſſen Leben im
Niedergange iſt und welches aus zarter Baum¬
wolle und etwas Goldſchaum ein Schaͤfchen wickelt,
daſſelbe auf den Weihnachtsmarkt traͤgt und dort
mit ſeinen vier ſteifen Beinchen auf einen trocke¬
nen Stein ſetzt, gewaͤrtigend, ob einer von den
tauſend Voruͤbergehenden ſeinen Blick auf das
Schaͤfchen lenke und daſſelbe kaufe, ſtellt in der
[125] Regel der junge Kunſtmann, deſſen Leben im
Aufgange iſt, ſein erſtes Werk an einen oͤffent¬
lichen Ort, und all' ſein Vertrauen und ſeine
Hoffnung auf das, was er gelernt und geleiſtet
hat, vergeſſend, iſt er ſchon bereit, nur den Zufall
zu preiſen, der einen geneigten Kaͤufer vor ſein
Weihnachtslaͤmmchen fuͤhrt und durch ein halbes
Almoſen vielleicht ſeinem Lebenslaufe den Aus¬
ſchlag giebt.


Als Heinrich zu Ende des erſten Jahres ſei¬
nen letzten Thaler in der Hand hielt, und vorher
keinen Augenblick, machte er endlich ernſtliche An¬
ſtalten, ſich ſein Brot zu erwerben, und zweifelte
nicht im mindeſten, daß dieſes bei der erſten offe¬
nen Bemuͤhung ſofort gelingen werde, zumal er
taͤglich Arbeiten verkaufen ſah, welche zu Stande
zu bringen er fuͤr kein Hexenwerk hielt. Er be¬
ſchloß, ein Bild auszuſtellen, und erſann zu die¬
ſem Ende hin ein anmuthiges und reichhaltiges
Motiv, welches nicht nur die Entfaltung poeti¬
ſcher Einfaͤlle und feiner Zeichnung, ſondern auch
ſchoͤne Farbenverhaͤltniſſe von ſelbſt bedingte und
mithin ein ſehr gluͤcklich und richtig gewaͤhltes war.

[126]

Als er es entworfen hatte, erſuchte er einen
Kuͤnſtler, welchem er vom Sehen einigermaßen
bekannt war, ihn einmal mit ſeinem Beſuch zu
beehren und ſeines guten Rathes theilhaftig zu
machen. Der Kuͤnſtler, ein ſtattlicher verheira¬
theter Mann mit einem anſehnlichen Leibe, war
einer von denen, die in der Wolle ſitzen, und
er verdiente es auch vollkommen; denn er war ein
geſunder und meiſterhafter Kumpan und ſchritt
mit ſeinen ſchoͤn und energiſch gemalten Bildern,
die von ſelbſt eine glaͤnzende Kritik alles Schwaͤch¬
lichen waren, ruͤſtig uͤber den krabbelnden und
kletternden Anſpruch des gedankenloſen Haufens
hinweg. Sein Wahlſpruch war: »Erſt etwas
recht lernen und dann gute Muſik machen! Nichts
truͤbſeliger, als allerlei lernen und dann ſchlecht
muſiciren!«


Es war ſeit Jahren das erſte Mal, daß ein
erfahrener Meiſter wieder Heinrich's Arbeit berieth
und kritiſirte, und dieſer fand alle Urſache, uͤber
ſein eigenes Ungeſchick zu erſtaunen, als der Mann
in ſeinem Entwuͤrfe herumwirthſchaftete und den¬
ſelben ſo trefflich behandelte und zuſammenruͤckte,
[127] daß durch die Anwendung der kraͤftigen und prak¬
tiſchen Meiſterkuͤnſte des dicken Herrn Heinrich's
Idee erſt ſchoͤn und wahrhaft idealiſirt wurde.
Es zeigte ſich, daß das reale techniſche Wiſſen
und Empfinden allein die Gedanken gut macht
und noch beſſere von ſich aus vermittelt und her¬
vorzurufen im Stande iſt. Durch das bloße
Beſprechen und Durcharbeiten der aͤußeren tech¬
niſchen Seite des Gegenſtandes thaten ſich meh¬
rere ganz neue und gluͤckliche Motive auf, welche
gewiſſermaßen in der Natur der Sache lagen und
doch die urſpruͤnglichen Erfindungen des armen
Heinrich, ſo geiſtreich dieſelben waren, an Wir¬
kung weit hinter ſich ließen.


Der Kuͤnſtler hatte in einer halben Stunde,
immerfort ſprechend, auf ein beſonderes Blatt
ſeine Meinung hingezeichnet und ſo in aller Raſch¬
heit eine treffliche Meiſterſkizze hergeſtellt, welche
fuͤglich fuͤr eine werthvolle Handzeichnung gelten
konnte und welche Heinrich mit aͤußerſtem Wohl¬
gefallen betrachtete. Als aber die Audienz be¬
endigt war, faltete der Meiſter ruhig das Blatt
zuſammen, ſteckte es in die Taſche und uͤberließ
[128] den dankbaren Heinrich freundlich ſeinen weiteren
Beſtrebungen.


Dieſer ſetzte ſich denn auch ruͤſtig an die Ar¬
beit; allein hier ahnte er eben nicht, woran es
lag, daß ſein Bild nun doch nicht ſo wurde, wie
es nach allen dieſen Umſtaͤnden haͤtte werden ſollen.
Das zu einer Sache berufene beſondere Talent
macht dieſe, ſobald ihm ein Licht aufgeſteckt iſt,
ohne Weiteres immer gut, und das erſte, was es
von Hauſe aus mitbringt, iſt ein gluͤckliches Ge¬
ſchick zum vollſtaͤndigen Gelingen. Der allge¬
meine wohleingerichtete Kopf aber kann ſich mit
hundert Dingen beſchaͤftigen, dieſelben verſtehen
und einſehen, ohne es darin zu einem reif geſtal¬
teten Abſchluß zu bringen; nur eine lange und
bittere Erfahrung oder eine augenblickliche Erleuch¬
tung koͤnnen manchmal ein voruͤbergehendes Zu¬
ſammenraffen und eine Ausnahme hervorbringen,
welche aber das ganze Weſen nur noch raͤthſel¬
hafter und meiſtens mißlicher machen. Dies iſt
das innere Weſen des gebildeten, ſtrebſamen,
talentvollen Dilettantismus, und tauſend Exiſten¬
zen in allen Lebensthaͤtigkeiten, beruͤhmt oder un¬
[129] beruͤhmt, haben in ihm ihr Geheimniß. Sie
treiben und betreiben, ſuchen und haſchen im
Schweiße ihres Angeſichtes und mit hochtrabender
Zufriedenheit, waͤhrend ihr wahres Geſchick, ihre
eigenthuͤmliche Kraft ſchlummert fuͤr ewige Zeiten
oder fuͤr eine andere Sache aufbewahrt bleibt,
Beſonders in Literatur und Kunſt ſucht der
Dilettantismus die mangelnde naive Meiſterſchaft
durch Neuheit und Betriebſamkeit in allerhand
Verſuchen zu erſetzen, zeichnet ſich fortwaͤhrend
durch halbe Anlaͤufe aus und gewinnt nach dieſen
einige Poeſie, einiges Pathos in einem wehmuͤthi¬
gen elegiſchen Ende, Er bereitet die Bluͤthenzeit
vor, bringt ſie zu Fall und verſcharrt ſie eifrigſt,
duͤngt aber wieder ihr Grab zu neuem Wachs¬
thum. Er iſt der große Vermittler, Daͤmpfer
und Hinhalter in der Weltoͤkonomie; denn wenn
die ſchlafenden Meiſternaturen, die zweifelsohne
jeden Augenblick vorhanden ſind, aber unbewußt
hinter dem Pfluge gehen oder auf dem Dreifuß
des Schuſters ſitzen, alle ihre Beſtimmung ent¬
decken und erfuͤllen wuͤrden, ſo wuͤrde unſere
Erdenherrlichkeit laͤngſt ihr Lied abgeſchnurrt haben.
IV. 9[130] gleich einer Uhr, aus welcher man die Hemmung
genommen hat; denn jenes Liedchen hat eigentlich
einen einfachen und eintoͤnigen Inhalt, Indeſſen
iſt der Dilettantismus trotz ſeiner umfangreichen
Macht ein unerfreuliches Daſein; im Grunde ſind
trotz aller aͤußeren Schickſale nur die Meiſter
gluͤcklich, d. h. die das Geſchaͤft verſtehen, was
ſie betreiben, und wohl Jedem, der zur rechten
Zeit in ſich zu gehen weiß. Er wird, einen
Stiefel zurechthaͤmmernd, ein ſouveraͤner Koͤnig
ſein neben dem hypochondriſchen Ritter vom Di¬
lettantismus, der im durchloͤcherten Ordensmantel
melancholiſch einherſtolzirt.


Heinrich's Werklein, als es fertig war, ſah
nun hoͤchſt ſeltſam aus. Er hatte ſich die voll¬
ſaftige Friſche des Vortrages, auf welche die von
dem Meiſter gerathene Anordnung durchaus be¬
rechnet war, doch nicht geben koͤnnen und war
unwillkuͤrlich wieder in ſeine blaſſe traumhafte
Malerei verfallen, waͤhrend die vielen naiven und
liebenswuͤrdigen Zuͤge eines erfindungsluſtigen
Gemuͤthes, welche auch ein ſolches mangelhaftes
Werk gewiſſermaßen anſprechend und unterhaltend
[131] machen, daraus entfernt waren. So ſtellte es
nun durch ſeinen geſichteten Inhalt und daß
magere ſcheinloſe Machwerk den geuͤbten geiſt¬
reichen Dilettantismus dar, obgleich es auf der
Stube noch ziemlich reſpectabel ausſah und von
den Leuten, welche das ernſtlich Angeſtrebte, aber
nicht ganz Gelungene immer zaͤrtlicher behandeln
als das ſchlechtweg Gute, vergnuͤglich belobt wurde.

Er ließ es nun mit einem knappen hoͤlzernen
Rahmen verſehen, um dem Bilde noch mehr ein
ernſtgemeintes und gelehrtes Anſehen zu geben,
brachte es auf den Saal, wo woͤchentlich die neue¬
ſten Arbeiten ausgeſtellt wurden, gab ſchuͤchtern
und verſchaͤmt die Anzeige der Verkaͤuflichkeit
und den Preis ab, der ihn nun bis auf Weiteres
ernaͤhren ſollte, und zog ſich ſo eilig aus dem Hauſe
zuruͤck, als ob er etwas darin habe entwenden
wollen.


Als der Sonntagmorgen kam, wo ein elegan¬
tes Publicum die Raͤume fuͤllte, in welchem die
neuen glaͤnzenden Bilder hingen, ging Heinrich
mit einigen Bekannten hin und ſah ſein Werk,
weit weg an ihm voruͤbergehend, mit einem halben
9 *[132] Blick dahaͤngen. Sogleich kam es ihm, indem
ſein Auge auf andere ſtattliche Gegenſtaͤnde hin¬
uͤberſtreifte, unertraͤglich vor in ſeiner bleichen
Farbloſigkeit. Als er aber in einen Nebenſaal
trat, hing da im beſten Lichte der gleiche Gegen¬
ſtand, unuͤbertrefflich gemalt mit wenigen ſehr
zweckmaͤßigen Abaͤnderungen von jenem tuͤchtigen
Meiſter, welcher ſeine Skizze kritiſirt und die
huͤbſche Kritik in die Taſche geſteckt hatte. Wie
vom Donner geruͤhrt betrachtete Heinrich das
Bild und konnte nicht umhin, uͤber das, was der
Kuͤnſtler daraus gemacht hatte, die groͤßte Freude
allmaͤlig zu empfinden und ſich ſogar geſchmeichelt
zu fuͤhlen. Uebrigens war das Bild ſchon mit
einem Zettel verſehen, welcher anzeigte, daß die
Commiſſion daſſelbe bereits zu einem ſehr erkleck¬
lichen Preiſe angekauft, noch ehe es ausgeſtellt
geweſen, und Jedermann lobte den Kauf.


Heinrich's Bekannte, welche ſo ſchlecht und
recht zum betriebſamen nicht ungeſchickten Mittel¬
ſchlage gehoͤrten, waren hoͤchlich entruͤſtet uͤber
das Verfahren eines wohlverſorgten und gluͤck¬
lichen Meiſters und nannten ſein friſch und mun¬
[133] ter glaͤnzendes Werk einen Diebſtahl und eine
ruͤckſichtsloſe Raͤuberei, eine Herzloſigkeit und
eine Gemeinheit. Heinrich jedoch ſchwieg ſtill
und verarbeitete, als ein loͤblicher und gelehriger
Juͤngling, die ſoeben gemachte Erfahrung, die er
ſogleich begriff: daß es in Sachen der Kunſt
keinerlei Patent giebt, ſondern nur den einen
Satz: Mach's, wer kann! Sei's wer's wolle,
wenn's nur entſteht! und daß, wer eine gute Idee
ſchlecht ausfuͤhrt, dem Rabenvater gleicht, welcher
ein Kind ausſetzt, wer ſie rettet, demjenigen, der
es aufnimmt und pflegt!


Er fuͤhlte keinen Groll gegen den behenden
Meiſter, ſondern veranſtaltete ſtracks die Weg¬
nahme ſeiner eigenen Arbeit und ſteckte beſchaͤmt
jenen Zettel wieder ein, auf welchem er ſeinen
Preis angegeben hatte nebſt ſeinem Namen.


Dies war einſtweilen der erſte und letzte Ver¬
ſuch Heinrich's, durch ſeiner Haͤnde Arbeit ſein
Leben zu gewinnen, und nichts ging daraus her¬
vor, als die unbezahlte Rechnung fuͤr den ernſt¬
haften ſtoiſchen Rahmen. Er begann zwar bald
einige andere Sachen, welche er beſſer zu machen
[134] gedachte, und man ſollte glauben, daß er bei ſei¬
ner Unbefangenheit und Einſicht dies wirklich
haͤtte muͤſſen zu Wege bringen; aber es iſt eben
das Kennzeichen der berufenen Meiſter einer Art,
daß ſie von ſelbſt mit dem Guten und Richtigen
den Drang verbinden nach gemeiner Brauchbar¬
keit und Genießbarkeit und das Ziel erreichen,
ohne ihrer Ehre zu vergeben; der Dilettanten
dagegen, daß ſie immer wieder in ihren unfrucht¬
baren Eigenſinn zuruͤckfallen und dem angeneh¬
men Erfolge hochfahrend entſagen. Dies nennen
ſie meiſtens edlen Stolz und treues Beharren am
Hoͤheren. Bei Heinrich war es indeß nicht ſo¬
wohl dieſer Eigenſinn, als die zuſtroͤmende Ge¬
dankenthaͤtigkeit, welche, keinen anderen Ausweg
ſehend, ihn abermals bald auf das alte Erfin¬
dungsweſen und die wechſelnde Unternehmungs¬
luſt gerathen ließ, das dringende Lebensbeduͤrfniß
allmaͤlig vergeſſend. Dazu war er ſcheu und zag
geworden, der Welt ſeine Arbeit gegen Geld an¬
zubieten, und war aufrichtig uͤberzeugt, daß dieſes
unrechtmaͤßig gewonnen waͤre, ſo lange er nicht
ſelbſt zufrieden ſei mit ſeinen Erzeugniſſen, un¬
[135] gleich jenen ruͤſtigen Weltmenſchen, welche ſich
deſto mehr mit einem gluͤckhaften Erwerbe bruͤſten,
je werthloſer und thoͤrichter das iſt, was ſie leiſten
und durch irgend eine verkehrte Laune des Ge¬
ſchmackes unterzubringen wiſſen.


Waͤhrend er aber ſolche ſtolze Ehrlichkeit be¬
ſaß, beſann er ſich, da er Credit fand als ein un¬
beſcholtener junger Menſch, gar nicht, Schulden
zu machen, und fand es ganz in der Ordnung,
auf dieſe Weiſe bequem und ohne weiteres Kopf¬
zerbrechen das zweite Jahr hindurch zu leben.


Die Schulden ſind fuͤr den modernen Men¬
ſchen eine ordentliche hohe Schule, in welcher ſich
ſein Charakter auf das Trefflichſte entwickeln und
bewaͤhren, oder in welcher er, falls dieſer von
Hauſe aus feſt iſt, ſein Urtheil und ſeine An¬
ſchauungsweiſe der Welt gruͤnden und reguliren
kann. Jener beliebte Paragraph in den gang
und gaͤben Verhaltungslehren »eines Vaters an
ſeinen Sohn«: Borge von Niemandem, aber
borge auch Niemandem, denn das Borgen ent¬
fremdet die beſten Freunde und ſtoͤrt alle Ver¬
haͤltniſſe! iſt ein gedankenloſer, ſchaͤbiger Para¬
[136] graph, der Paragraph der Kindskoͤpfe, die nichts
erfahren haben, nichts erfahren wollen und nichts
ſein und bleiben werden, als eben Kindskoͤpfe.
Verhaͤltniſſe, welche durch Schulden zerſtoͤrt wer¬
den, haben von Anfang an nichts getaugt, und
es iſt ein naͤrriſches Weſen der Leute, daß ſie
wollen Leute ſein und gute Freunde bleiben, ohne
ihr gemuͤthliches Vertrauen, ihre Achtung und
Liebe irgendwie auf eine wirklich »unbequeme«
Weiſe pruͤfen und beweiſen zu muͤſſen. Ein kluger
Mann wird daher jene kurzgeſchorene Kahlmaͤuſer-
Weisheit kaſſiren und zu ſeinem Sohne ſagen:
»Mein Sohn! wenn Du ohne Noth und ſo zu
ſagen zu Deinem Vergnuͤgen Schulden machſt,
ſo biſt Du in meinen Augen nicht ſowohl ein
Leichtſinniger, als vielmehr eine niedrige Seele,
die ich im Verdachte eines ſchmutzigen Eigennutzes
habe, der Andere unter dem Deckmantel einer ge¬
muͤthlichen Liederlichkeit abſichtlich um ihre Habe
bringt. Wenn aber ein Solcher von Dir bor¬
gen will, ſo weiſe ihn ab; denn es iſt beſſer, Du
lacheſt uͤber ihn, als er uͤber Dich! Wenn Du
hingegen in Verlegenheit geraͤthſt, ſo borge ſo
[137] viel es ſein muß, und ebenſo diene Deinen Freun¬
den, ohne zu rechnen, und alsdann trachte, fuͤr
Deine Schulden aufzukommen, Verluſte verſchmer¬
zen oder zu dem Deinigen gelangen zu koͤnnen,
ohne zu wanken und ohne ſchimpflichen Zank;
denn nicht nur der Schuldner, der ſeine Verpflich¬
tungen einhaͤlt, ſondern auch der Glaͤubiger, der
ohne Zank dennoch zu dem Seinigen kommt,
beweiſt, daß er ein wohlbeſtellter Mann iſt, wel¬
cher Ehrgefuͤhl um ſich verbreitet. Bitte Keinen
zweimal, der Dir nicht borgen will, und laß Dich
eben ſo wenig draͤngen; denke immer, daß Deine
Ehre an die Bezahlung der Schulden geknuͤpft
ſei, oder vielmehr denke das nicht einmal, denke
an gar nichts, als daß ſo und ſo viel zu bezahlen
ſei; aber huͤte Dich, uͤber einen Anderen, der Dir
ein gegebenes Verſprechen nicht einhalten kann,
ſogleich den Stab zu brechen und Dich auf ſeine
Ehre zu berufen Nach dem Maße aber, in wel¬
chem Du Dich in Verpflichtungen begiebſt und
Deine in Dir ſelbſt liegenden Kraͤfte dabei in
Erwaͤgung ziehſt, wirſt Du erfahren, ob Du Dich
uͤberhaupt unter- oder uͤberſchaͤtzeſt, und wenn
[138] eines von Beidem der Fall waͤre, ſo wuͤrde es
gleichguͤltig ſein, ob Du es gerade noch in Schuld¬
ſachen thaͤteſt, da Du es in allen anderen Din¬
gen doch auch thun und ein ungluͤckſeliger Patron
mit oder ohne Schulden ſein wuͤrdeſt. Wenn
Du aus alledem unbeſcholten und als ein Freund
Deiner Freunde hervorgehſt, ſo biſt Du mein
Mann! Du wirſt die Abhaͤngigkeit unſeres
Daſeins menſchlich fuͤhlen gelernt haben und das
Gut der erkaͤmpften Unabhaͤngigkeit auf eine edlere
Weiſe zu brauchen wiſſen, als der, welcher nichts
geben und nichts ſchuldig ſein will.«


Idealiſirt iſt das wahre Weſen des ehrlichen
Schuldenmachens im Eid, welcher den Juden
eine Kiſte voll Sand verſetzt und ſagt: Es iſt
Silber darin! und dann erſt auszieht, um auf
gut Gluͤck mit dem Schwerte in der Hand ſeine
Luͤge wahr zu machen! Welche Verdrießlichkeiten,
wenn ein Neugieriger vor der Zeit die Kiſte er¬
brochen und unterſucht haͤtte! Und doch waͤre
es derſelbe Eid geweſen, deſſen Leiche noch das
Schwert ein Bischen aus der Scheide zog, als
ſie ein Jude am Bart zupfen wollte!

[139]

Wir wollen indeſſen den gruͤnen Heinrich
nicht mit jenem tapferen Eid vergleichen, welcher
in ſeinem Manneshandwerk ein Meiſter war und
jeden Augenblick wußte, was er wollte. Heinrich
wußte dies, als er wie ein Robinſon in der civi¬
liſirten Wildniß nach Nahrungsmitteln ausgehen
ſollte, ſchon nicht mehr deutlich, und die beiden
Entdeckungsreiſen, diejenige nach ſeiner menſch¬
lichen Beſtimmung und diejenige nach dem zwi¬
ſchenweiligen Auskommen, trafen auf hoͤchſt mi߬
liche Weiſe zuſammen. Genug, da er vor allem
Muße brauchte, ſo war er ſein eigener Maͤcen
und machte Schulden.

[]

Fünftes Kapitel.

Er verſchwieg dies ſorgſam vor ſeiner Mutter,
ſchrieb ihr aber auch nicht, daß er etwas erwerbe,
da es ihm nicht einfiel, ſie anzuluͤgen, und da es
ihm in der That bei ſeiner Sorgloſigkeit und
ſeinem ſicheren Gefuͤhl, daß er ſchon etwas wer¬
den muͤſſe und wuͤrde, ganz gut erging, ſo berich¬
tete er der Mutter in jedem Briefe, es ginge ihm
gut, und erzaͤhlte ihr weitlaͤufig allerlei luſtige
Dinge, die ihm begegneten oder welche er in dem
fremden Lande beobachtete. Die Mutter hingegen
glaubte aͤcht frauenhaft, wenn man von einem Uebel
nicht ſpreche, ſo bleibe es ungeſchehen, und huͤtete
ſich, ihn nach etwaigen Schulden zu befragen,
in der Meinung, daß wenn ſolche noch nicht vor¬
handen waͤren, ſo wuͤrden ſie durch dieſe Erkun¬
[141] digung hervorgerufen werden; auch hatte ſie keine
Ahnung davon, daß ihr Soͤhnchen, welches ſie ſo
knapp gehalten hatte, in ſeiner Freiheit etwa ſo
lange Credit finden wuͤrde. Sie hielt ihre Er¬
ſparniſſe fortwaͤhrend bereit, um ſie auf die erſte
Klage theilweiſe oder ganz abzuſenden, waͤhrend
Heinrich ſeine Lage verſchwieg und ſich an das
Schuldenweſen gewoͤhnte, und es war ruͤhrend
komiſch, wie beide Theile uͤber dieſen Punkt ein
feierliches Schweigen beobachteten und ſich ſtellten,
als ob man von der Luft leben koͤnnte; der eine
Theil aus Selbſtvertrauen, der andere aus weib¬
licher Klugheit.


Gerade mit einem Jahreslaufe ging aber
Heinrich's Credit zu Ende oder vielmehr bedurften
die Leute ihr Geld, und in dem Maße als ſie
ihn zu draͤngen anfingen und er hoͤchſt verlegen
und kleinlaut war, wurden auch ſeine Briefe ſel¬
tener und einſilbiger, ſo daß die Mutter Angſt
bekam, die Urſache errieth und ihn endlich zur
Rede ſtellte und ihm ihre Huͤlfe anbot. Dieſe
ergriff er nun ohne beſondere dankbare Redens¬
arten, die Mutter ſandte ſogleich ihren Schatz
[142] ab, froh, zur rechten Zeit dafuͤr geſorgt zu haben,
und zweifelte nicht, daß damit nun etwas Gruͤnd¬
liches und Rechtes gethan ſei. Der Sohn aber
hatte nun Gelegenheit, die andere Seite des
Schuldenmachens kennen zu lernen, welche iſt
die nachtraͤgliche Bezahlung eines ſchon genoſſenen
und vergangenen Stuͤck Lebens, eine unerbittliche
und kuͤhle Ausgleichung, gleichviel ob die gelebten
Tage, deren Morgen- und Abendbrot angeſchrie¬
ben ſteht, etwas getaugt haben oder nicht. Ehe
zwei Stunden verfloſſen, hatte Heinrich in Einem
Gange die zweijaͤhrige Erſparniß der Mutter nach
allen Winden hin ausgetragen und behielt gerade
ſo viel uͤbrig, als zu dem Mitmachen jenes Kuͤnſt¬
lerfeſtes erforderlich war.


Ein recht vorſichtiger und gewiſſenhafter Menſch
wuͤrde nun ohne Zweifel in Ruͤckſicht auf dieſe
Umſtaͤnde und auf die Herkunft des koſtbaren
Geldes ſich vom Feſte zuruͤckgezogen und doppelt
ſparſam gelebt haben; aber derſelbe haͤtte ſich auch
recht beſcheiden und aͤrmlich angeſtellt, die Groͤße
der erhaltenen muͤtterlichen Gelder verſchwiegen
und ſeine Glaͤubiger demuͤthig und vorſichtig hin¬
[143] gehalten, Alles aus der gleichen Ruͤckſicht, und haͤtte
ſeine Vorſicht mit dem lebendigen Gefuͤhl der
Kindespflicht gerechtfertigt. Heinrich aber, da
er dies nicht that, befand ſich nach dem Feſte
wieder wie vorher, und wenn er ſich daruͤber
nicht verwunderte oder graͤmte, ſo geſchah dies
nur, weil ſeine Gedanken und Sorgen durch jene
anderweitigen Folgen der uͤbel abgelaufenen Luſt¬
barkeit abgelenkt wurden.


Er lebte alſo von Neuem auf Borg, und da
er dieſe Lebensart nun ſchon eingeuͤbt hatte, auch
dieſelbe nach der ſtattgehabten Abrechnung treff¬
lich von Statten ging, Heinrich zugleich aber nicht
mehr an der zuſammenhaltenden Handarbeit ſaß
und auch nicht mehr mit ſolchen Freunden um¬
ging, die den Tag uͤber an zuruͤckgezogener werk¬
thaͤtiger Arbeit ſaßen, ſondern mit allerlei ſtudi¬
rendem, oft halbmuͤßigem Volke, ſo gewann dies
neue Schuldenweſen wieder einen anderen An¬
ſtrich als das fruͤhere; je weniger er bei ſeinem
neuen Treiben ein nahes Ziel und eine Auskunft
vor ſich ſah, deſto mehr verlor und vergaß er ſein
armes Muttergut und den Mutterwitz der oͤkono¬
[144] miſchen Beſcheidenheit und Sparſamkeit, die
Kunſt, ſich nach der Decke zu ſtrecken, und den
Maßſtab des Moͤglichen auch mitten in der Ver¬
wirrung. Er verlor dies Muttergut zwar nicht
von Grund aus und fuͤr immer wie einen Anker,
den ein Verzweifelter ſinken laͤßt, ſondern wie
ein Geraͤth, welches fuͤr einen gewagten Auszug
nicht recht paßt und welches man unwillkuͤrlich liegen
laͤßt, um es bei der Ruͤckkehr wieder aufzunehmen,
wie eine feine koſtbare Uhr, welche man vor einer
zu erwartenden Balgerei von ſich legt, oder wie
das ehrbare Buͤrgerkleid, welches man in den
Schrank haͤngt beim Einbruch der Elemente, der
Regenfluth und des Schmutzwetters.


Die vermehrten Vorſtellungen und Kenntniſſe,
das taͤglich neu genaͤhrte Denkvermoͤgen, welches
ſo lange geſchlummert, erweckten von ſelbſt eine
ruͤhrige Bewegung, ſo daß Heinrich ſich vielfach
umtrieb und mit einer Menge von Leuten um¬
ging, welche den verſchiedenſten Studien, Rich¬
tungen und Stimmungen angehoͤrten. Es wie¬
derholte ſich jener Vorgang aus ſeiner Kinderzeit,
als er, indem er ſeine Sparbuͤchſe verſchwendete,
[145] ploͤtzlich ein lauter und beredter Tonangeber ge¬
worden war. Auch jetzt entwickelte er unver¬
ſehens eine große Beredtſamkeit, ward, was er
ſich fruͤher auch einmal ſehnlich gewuͤnſcht hatte,
ein meiſterlicher Zecher, welcher die deutſche Zech¬
weiſe mit ſo viel Phantaſie und Geſchicklichkeit
betrieb, daß die ſo verbrachten Stunden und
Naͤchte eher ein lehrreicher Gewinn, eine Art peri¬
patetiſcher Weisheit ſchienen, als ein Verluſt.
Das was man lernte und ſich mittheilend kehrte
und wendete, gerieth durch das aufgeregte Blut
erſt recht in Bewegung und durch die geſellſchaft¬
lichen Gegenſaͤtze, durch die hundert bald komi¬
ſchen, bald ernſten Conflicte in lebendigen Fluß,
und das ſcheinbar rein Wiſſenſchaftliche und Farb¬
loſe bekam durch das geſellſchaftliche und mora¬
liſche Verhalten der Leute beſtimmte Faͤrbung und
Anwendung oder diente dieſem zu ſofortiger Er¬
klaͤrung. Erſt war die gewohnte Art herrſchend
geweſen, bei hervortretendem Widerſpruche ſich
unwiderruflich auf ſeiner Seite zu halten, die
Ehre in der Hartnaͤckigkeit zu ſuchen, mit welcher
man um jeden Preis eine Meinung behaupten zu
IV. 10[146] muͤſſen glaubt und im Allgemeinen bei allen
Andersdenkenden einen boͤſen Willen oder Unfaͤhig¬
keit und Unwiſſenheit vorauszuſetzen. Heinrich
aber, welchen nun die Dinge von Grund aus
zu beruͤhren anfingen und welcher ſich mit war¬
mer Liebe um das Geheimniß ehrlicher Welt¬
wahrheit bekuͤmmerte, wie ſie im Menſchen ſich
birgt, ihn bewegt oder verlaͤßt, brachte mit un¬
befangener und durchdringender Kraft zur an¬
faͤnglichen Verwunderung der Anderen die Lebens¬
art auf, Recht- oder Unrechthaben als ganz gleich¬
guͤltige Dinge zu betrachten und erſt ihre Quellen
als einen beachtenswerthen Gegenſtand aufzu¬
nehmen, in der hoͤflichen und artigen Voraus¬
ſetzung, daß es Alle gut meinen und Alle faͤhig
waͤren, das Gute einzuſehen. Dabei war er,
wenn er ſich in's Unrechthaben hineingeredet hatte,
ſelbſt der Erſte, welcher daruͤber nachdachte und
bei kuͤhlerem Blute ſich ſelbſt preisgab, die
Sache wieder aufnahm und ſeinen Irrthum auch
nach den eifrigſten und haͤrteſten Aeußerungen
eingeſtand und von Neuem unterſuchen half, jene
falſche Hoͤflichkeit verdraͤngend, welche mit dem
[147] kalten Aufſichberuhenlaſſen einer Sache einen um
ſo groͤßeren heimlichen Hochmuth und einen Dorn
im Bewußtſein Aller davontraͤgt. Dieſe Weiſe
machte ſich um ſo leichter geltend, als es ſich bald
bemerklich machte, daß nur diejenigen, welche
einen wirklich boͤſen Willen oder eine gewiſſe Un¬
faͤhigkeit beſitzen mochten, mit jenem kalthoͤflichen
Abbrechen ſich zuruͤckzuziehen beliebten, und Jeder
alſo auch den Schein hiervon vermeiden wollte.
In ſolchen Faͤllen ſtellte es ſich dann auf das
Liebenswuͤrdigſte heraus, daß durch dieſen bloßen
Schein die innerlich Widerſtrebenden und Murren¬
den doch eine goldene Bruͤcke fanden und unver¬
merkt auf die beſſere Seite gezogen wurden und
ſo einen Gewinn davontrugen, den ſie fruͤher
nie gekannt in ihrem verſtockten Weſen. Zugleich
kam die loͤbliche Manier auf, Alles im gleichen
Fluſſe und mit gleicher Schwere oder Leichtigkeit
zu behandeln und die anmaßliche Art zu unter¬
druͤcken, einzelne voruͤbergehende Entdeckungen,
Einfaͤlle und Bemerkungen feierlich zu betonen
und ſteifſchreieriſch vorzutragen, als ob jeden
Augenblick eine Perle gefunden waͤre zu unge¬
10 *[148] heuerſter Erbauung, welche Art derjenigen ſchlech¬
ter Scribenten gleicht, die alle Augenblicke ein
Wort unterſtreichen, einen neuen Abſatz machen
und ihre magere Schrift mit allen aufgehaͤuften
interpunctoriſchen Mitteln uͤberſtreuen. Denn
die gute ſchriftliche Rede ſoll ſo beſchaffen ſein,
daß wenn ſie durch Zeit und Schickſale aller
aͤußeren Unterſcheidungszeichen beraubt und nur
eine zuſammengelaufene Schriftmaſſe bilden
wuͤrde, ſie dennoch nicht ein Jota an ihrem In¬
halt und an ihrer Klarheit verloͤre.


Alle dieſe Lebensart gewann nun einen ge¬
wiſſermaßen veredelnden und rechtfertigenden An¬
ſtrich dadurch, daß von dem Verkehr mit Weibern
keine Rede war, ſondern zufaͤllig eine Schaar
junger Leute zuſammentraf, welche ſich darin ge¬
fiel, in dieſen Dingen unberuͤhrt zu heißen oder
hoͤchſtens einer Neigung ſich bewußt zu ſein, welche
heilig gehalten und unbeſprochen ſein wollte.
Heinrich war ſogleich ſeiner aͤußeren leiblichen
Unſchuld froh und vergaß gaͤnzlich, daß er jemals
nach ſchoͤnen Geſichtern geſehen hatte und daß es
ſolche uͤberhaupt in der Welt gab, die Faͤhigkeit
[149] des Menſchen erfahrend, zu jeder Zeit neu werden
zu koͤnnen, wenn er die letzten zarten Schranken
der Dinge nirgends uͤberwaͤltigt und durchbrochen
hat. Er fuͤhlte dieſe ganze Seite des Lebens
wohlthuend in ſich ruhen und ſchlummern, und
je fruͤher und ſtaͤrker ſeine Phantaſie und ſeine
Neigungen ſonſt wach geweſen waren, um ſo
kuͤhler und unbekuͤmmerter lebte er jetzt und glich
einen langen Zeitraum hindurch an wirklicher
Reinheit der Gedanken dem juͤngſten und ſproͤde¬
ſten der Geſellen. Hoͤchſtens ſpielten die Frauen
als Gegenſtand der Betrachtung und Unterſuchung
in den Geſpraͤchen eine zierliche Rolle, wobei
ſie denn freilich, da die Erfahrung der ruͤſtigen
Meinungskraft nicht gleich kam, meiſtens nicht
zu gerecht beurtheilt wurden. So war denn auch
ſogar dieſer Umſtand ſchon in jener Knabenzeit
vorgezeichnet, wo die jungen Zecher und Prahler
zugleich die Maͤdchenfeinde ſpielten.


Sollte ſich nun vollends jener Abſchluß der
Knabenzeit, die Ausſtoßung aus der Schule, als
eine ſolche Verzeichnung erweiſen und Heinrich
in der Schule des Lebens unhaltbar werden, ſo
[150] waren ſeine Ausſichten nicht die roſenfarbenſten,
und ein Gefuͤhl dieſer Art, abgeſehen von dem
neulich Erlebten, gab ſeinem Treiben eine dunkle
Grundlage. Indeſſen war es ihm unmoͤglich,
aus ſich herauszugehen, und da er ſich unterrichtete
und zugleich deutſche Luft athmete, ſo war es er¬
klaͤrlich, daß er in ſeiner rhetoriſchen Welt ein
Weiſer und Gerechter, ein geachteter Tonangeber
war, aͤußerſt Weiſes und Gerechtes dachte und
ſprach, ohne im mindeſten etwas Gerechtes wirk¬
lich zu thun, d. h. fuͤr Gegenwart und Zukunft
thaͤtlich einzuſtehen.


Das Ende davon war, daß er ſich nach
Verlauf einer guten Zeit mit noch weit bedeuten¬
deren Schulden uͤberhaͤuft ſah als das erſte Mal,
und diesmal war Er es, welcher zuerſt das Schwei¬
gen brach und, da er ſich durchaus zu leben und
etwas zu werden getraute, ſeiner Mutter in einem
uͤberzeugenden und hoffnungsvollen Briefe die
Nothwendigkeit darthat, noch einmal eine gruͤnd¬
liche und umfangreichere Aushuͤlfe zu veranſtalten.
Es war dies weniger eine unedle und ſelbſtſuͤchtige
Zumuthung, als das ehrliche Beſtreben, ehe man
[151] die fremden Menſchen beeintraͤchtige, mit Allem,
was einem angehoͤrt und alſo auch mit dem Gute
ſeiner Angehoͤrigen einzuſtehen und von dieſen
zuerſt zu verlangen, volles Vertrauen in das
Daſein der Ihrigen zu ſetzen und mit denſelben
zu ſtehen oder zu fallen.


Die Mutter erſchrak heftig uͤber ſeinen Brief;
ſtatt deſſelben hatte ſie den Sohn ſelber bald er¬
wartet und jetzt ſchien Alles wieder in Frage ge¬
ſtellt. Jedoch da er ja mehrere Jahre aͤlter war,
in der Fremde lebte unter ſo viel geſcheidten Leu¬
ten, und beſonders da ſie erfuhr, daß er Manches
lerne und ſtudire und ſo doch noch von der
wenig empfohlenen Kuͤnſtlerei abzukommen ſchien,
hauptſaͤchlich aber weil in ihm der gleiche Trieb,
etwas zu werden, wie im verſtorbenen Vater zu
leben ſchien und ſie ſelbſt ja ſich nur als eine
Vermittelung zwiſchen dieſen beiden Gliedern be¬
trachtete, zuletzt aber auch einzig und allein, weil
das Kind deſſen beduͤrftig war und es forderte,
ſo traf ſie unverweilt Anſtalten, dem Verlangen
zu genuͤgen. Die Erſparniſſe wollten aber dies¬
mal nicht viel ſagen und ſie mußte, um die an¬
[152] gegebenen Mittel aufzubringen, eine Summe auf
ihr Haus aufnehmen und eintragen laſſen. Dies
war nun ſeit langen Jahren das erſte Mal, daß
an ihrem kleinen Beſitzthum eine eingreifende Ver¬
aͤnderung vorgenommen wurde, und zwar nicht zu
deſſen Vermehrung; zudem herrſchte gerade eine
Geldklemme, ſo daß die gute Frau viele Muͤhe
und viele ſaure Gaͤnge bei Geſchaͤftsleuten und
Unterhaͤndlern aller Art zu beſtehen hatte, bis
endlich das Geld in ihrem Schreibtiſche lag
und ſie dazu noch die Darleiher, welche fuͤr
ihren Nutzen hinlaͤnglich geſorgt hatten, als große
Wohlthaͤter betrachten mußte. Nun war ſie aber
auch ſo muͤde und eingeſchuͤchtert, daß ſie nicht
vermochte, ſich etwa nach einem bequemen Wechſel¬
brief umzuſehen, ſondern ſie wickelte das Geld in
vieles ſtarkes Papier ein, umwand es mit vielen
dicken Schnuͤren und wandte es ſeufzend und un¬
ter Thraͤnen um und um, uͤberall das heiße Sie¬
gelwachs auftraͤufelnd und hoͤchſt ungeſchickt
ſiegelnd und petſchirend. Dann legte ſie das
ſchwere unbeholfene Packet in ihren Strickbeutel,
nahm dieſen aus den Arm und ſchlich damit auf
[153] Seitenwegen zur Poſt; denn ſie wuͤnſchte um
Alles in der Welt nicht, daß Jemand ſie ſaͤhe, und
zwar aus dem Grunde, weil ſie, befragt, wo ſie
mit dem Gelde hinwolle, durchaus um eine Ant¬
wort verlegen geweſen waͤre. Sie reichte, den
ſeidenen Ridikuͤl verſchaͤmt und zitternd abſtreifend,
den Pack durch das Schiebfenſterchen, der Poſt¬
beamte beſah die Adreſſe und dann die Frau, gab
ihr den Empfangſchein, und ſie machte ſich davon,
als ob ſie ſo viel Geld Jemandem genommen,
anſtatt gegeben hatte. Der linke Arm, auf wel¬
chem ſie das Geld getragen, war ganz ſteif und
ermuͤdet, und ſo kehrte ſie auch koͤrperlich ange¬
griffen in ihre Behauſung zuruͤck und war froh,
als ſie dort war. Nichts deſto minder fuͤhlte ſie
einen gewiſſen muͤtterlichen Stolz, als ſie durch
ſo viele ſelbſtzufriedene und prahlende Maͤnner
und Weiber hindurchging, welche unfehlbar ihren
Gang ſcharf getadelt haͤtten und ſelbſt eher da¬
fuͤr, daß ſie den Knieriemen tuͤchtig handhabten,
ſich am liebſten von ihren Kindern gleich einen
Erziehergehalt ausbezahlen ließen, anſtatt irgend et¬
was Ungewoͤhnliches fuͤr ſie zu opfern oder zu wagen.

[154]

Mit Heinrich, als er das Geld empfing, be¬
gab ſich jetzt etwas ſehr Natuͤrliches und doch
wieder ſehr Sonderbares. Er hatte ſeiner Mutter
gerade um ſo viel Geld geſchrieben, als ſeine
Schulden betrugen, aus Gewiſſenhaftigkeit und
Beſcheidenheit mitten im Leichtſinn, und erſt als
die Summe unterwegs war, fiel ihm ein, daß er
ja, wenn die Schulden bezahlt ſeien, abermals
auf dem gleichen Punkte ſtehe wie vorher. Er
nahm ſich alſo vor, diesmal weltklug zu ſein und,
wie er es ſchon oͤfter bei anderen ganz ehrbaren
Leuten geſehen, ſeinen Glaͤubigern einſtweilen die
Haͤlfte ihrer Forderungen zu tilgen, mit der an¬
deren Haͤlfte aber dann gut Haus zu halten und
ganz gewiß und mit feſtem Willen den Anfang zu
einem ſelbſtaͤndigen Leben zu machen. Die Glaͤu¬
biger waren alles ſolche, welche den entſchieden
und verſtaͤndig angebrachten Antrag gern ange¬
nommen haͤtten, und auch der zweite Vorſatz war
bei dem erweiterten Geſichtskreis und guten Wil¬
len keine Unmoͤglichkeit; vielmehr kam es nur auf
friſche Luft, gute Laune und einiges Gluͤck an,
das jeder Tag bringt, wenn der Menſch nur be¬
[155] reit iſt, es zu haſchen. Als aber die Glaͤubiger,
die diesmal ſich nicht aufſuchen ließen, erſchienen
und ſich freuten, ſich auch hier nicht getaͤuſcht zu
haben in der Ehrlichkeit der Jugend, da brachte
es Heinrich nicht uͤber ſich, auch nur bei einem
Einzigen mit ſeinem Vorſchlag herauszuruͤcken;
er befriedigte vielmehr einen Jeden bei Heller
und Pfennig, ohne zu zoͤgern und zu ſeufzen, und
dem Letzten, welcher weniger eilig war und ſich
nicht ſehen ließ, brachte er ſein Guthaben aͤngſt¬
lich ins Haus beim aͤrgſten Regenwetter. Jetzt
hatte er noch einige Thaler in der Hand, welche
er, ohne einen Groſchen weniger auszugeben,
aufbrauchte und zu Ende gehen ſah. Dies ge¬
ſchah auch in kurzer Zeit, und eines Morgens,
als er aufſtand, erinnerte er ſich, daß er nicht
einen Pfennig mehr im Vermoͤgen hatte. Ob¬
gleich er dies vorausgewußt, ſo war er doch
ganz verbluͤfft daruͤber und noch mehr, als er nun
klar fuͤhlte, daß er unmoͤglich jetzt von Neuem
borgen koͤnne; denn theils wußte er nun beſtimmt,
daß er neue Schulden nicht mehr bezahlen koͤnne,
theils widerſtrebte es ihm, nach Verlauf einiger
[156] Tage abermals bei denen anzuklopfen, die er ſo¬
eben befriedigt hatte, kurz auf einmal verließ ihn
alle die Herrlichkeit, Weisheit und Gewandtheit,
der Schleier fiel von der duͤrren Lage der Dinge
und er ergab ſich ganz demuͤthig und geduldig
dem Gefuͤhle der nackten Armuth. Als der Mit¬
tag kam, ging er aus in alter Gewohnheit, ver¬
barg ſich aber vor allen Bekannten; er kehrte
wieder in ſeine Wohnung, und als der Abend kam,
war er doch hoͤchlich verwundert, nichts gegeſſen
zu haben an dieſem Tage. Als aber der naͤchſte
Tag eben ſo verlief und es ihn anfing, tuͤchtig
zu hungern, erinnerte er ſich ploͤtzlich der weiſen
Tiſchreden ſeiner Mutter, wenn er als kleiner
Junge das Eſſen getadelt hatte und ſie ihm dann
vorhielt, wie er einſt vielleicht froh ſein wuͤrde,
nur ſolches Eſſen zu haben. Das erſte Gefuͤhl,
was er hierbei empfand, war ein Gefuͤhl der
Achtung vor der ordentlichen Regelmaͤßigkeit und
Folgerichtigkeit der Dinge, wie Alles ſo ſchoͤn ein¬
treffe; und in der That iſt nichts ſo geeignet,
den nothwendigen und gruͤndlichen Weltlauf recht
einzupraͤgen, als wenn der Menſch hungert, weil
[157] er nichts gegeſſen hat, und nichts zu eſſen hat,
weil er nichts beſitzt, nichts beſitzt, weil er ſich
nichts erworben hat. An dieſen einfachen und
unſcheinbaren Gedankengang reihen ſich dann von
ſelbſt alle weiteren Folgerungen und Unterſuchun¬
gen, und Heinrich, indem er nun in ſeiner Ein¬
ſamkeit vollſtaͤndige Muße hatte und von keiner
irdiſchen Nahrung beſchwert war, uͤberdachte ſein
Leben und ſeine Suͤnden, welche jedoch, da der
Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit ſich
ſelbſt ſtimmte, mehr als die Saͤttigung, welche
manche uͤbermuͤthige und geiſtreiche Asceſe hervor¬
bringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im
Ganzen befand er ſich nicht ſehr truͤbſelig; die
Einſamkeit that ihm eher wohl und das Hungern
verwunderte ihn immer auf's Neue, waͤhrend er
in des Koͤnigs Gaͤrten auf abgelegenen ſonnigen
Pfaden ſpazierte oder durch die belebte Stadt
nach Hauſe ging; auch wunderte es ihn, daß ihm
das Niemand anſah und ihn Niemand befragte,
ob er gegeſſen habe? worauf er ſich ſogleich ant¬
wortete, daß dies ſehr geſetzmaͤßig der Fall ſei,
da es Niemanden was anginge und er ſich auch
[158] nichts anſehen laſſe, woran ſich denn wieder weitere
Gedanken knuͤpften. Am dritten Tage, als er
begann ſich wirklich ſchwaͤcher zu fuͤhlen und eine
bedenkliche Mattigkeit in den Fuͤßen ſich kund
gab, kam ihm dies erſt laͤcherlich vor; dann aber
begann er aͤngſtlich zu werden, und als er ſich
zum dritten Mal ungegeſſen in's Bett legen
mußte, ward es ihm hoͤchſt weinerlich und aͤrger¬
lich zu Muthe und er gedachte, durch den in ſeiner
Schwaͤche rumorenden Leib gemahnt, ſehnlich und
bitterlich ſeiner Mutter, nicht beſſer als ein ſechs¬
jaͤhriges Maͤdchen, das ſich verlaufen hat. Wie
er aber an die Geberin ſeines Lebens dachte,
fiel ihm auch der hoͤchſte Schutzpatron und Ober¬
victualienmeiſter ſeiner Mutter, der liebe Gott,
ein, und da Noth beten lehrt, ſo betete er ohne
weiteres Zoͤgern, und zwar zum erſten Mal ſo zu
ſagen in ſeinem Leben um das taͤgliche Brot.
Denn bisher hatte er nur um Aushuͤlfe in mora¬
liſchen Dingen oder um Gerechtigkeit und gute
Weltordnung gebeten in allerhand Angelegenheiten
fuͤr andere Leute; in den letzten Jahren z. B.,
daß der liebe Gott den Polen helfen und den
[159] Kaiſer von Rußland unſchaͤdlich machen moͤge,
oder daß er den Amerikanern uͤber die Calamitaͤt
der Sklavenfrage auf eine gute Weiſe hinweg¬
helfen moͤchte, damit die Republik und Hoffnung
der Welt nicht in Gefahr kaͤme und dergleichen
Dinge mehr. Jetzt aber widerſetzte er ſich nicht mehr,
um ſeine Lebensnahrung zu beten; doch benahm
er ſich noch hoͤchſt manierlich und anſtaͤndig da¬
bei, indem er trotz ſeines bedenklichen Zuſtandes
erſt bei der Bitte fuͤr die Mutter anfing, dann
einige andere edlere Punkte vorbrachte und dann
erſt mit der Eßfrage hervorruͤckte; jedoch nicht
ſowohl, um den lieben Gott hinter das Licht zu
fuͤhren, als um zwangsweiſe den allgemeinen An¬
ſtand zu wahren, auch vor ſich ſelbſt.


Jedoch betete er nicht etwa laut, ſondern es
war mehr ein ſtilles Zuſammenfaſſen ſeiner Ge¬
danken und er dachte das Gebet nur, und trotzdem
war es ihm ganz ſeltſam zu Muthe, ſich wieder
einmal perſoͤnlich an Gott zu wenden, welchen er
zwar nicht vergeſſen oder aufgegeben, aber etwas auf
ſich beruhen gelaſſen und unter ihm einſtweilen alle
ewige Weltordnung und Vorſehung gedacht hatte.

[160]

Am Morgen ſtand er in aller Fruͤhe auf und
pfiff, ſo gut es mit ſeiner immer aͤngſtlicher
ſchnappenden Lunge gehen mochte, munter ein
Liedchen; es war ihm, als ob jetzt eine gute
Mahlzeit alſogleich vor der Thuͤr ſein muͤſſe,
denn weiter als an eine ſolche dachte er nicht
mehr. Zugleich ergriff er unwillkuͤrlich ein ſtatt¬
liches und hoͤchſt inhaltreiches Buch, das da zu¬
naͤchſt beſtaubt auf einer Tiſchecke lag, ging damit
zu einem Buͤchertroͤdler, dem er ſchon manches
Buch abgekauft hatte, und trug einige Augenblicke
darauf mehrere nagelneue blanke Guldenſtuͤcke da¬
von, welche der gute Jude freundlich aus ſeinem
ledernen Beutelchen geklaubt. Heinrich hatte die
lieblichen Muͤnzen nur beim Uebergang aus des
Juden Taſche in die ſeinige fluͤchtig blinken ge¬
ſehen ; aber dies Blinken machte auf ihn in ſeiner
Leibesſchwaͤche vollkommen den Eindruck, wie der
Sonnenaufblitz eines unmittelbaren allernaͤchſten
Wunders. Er gewann auch unmittelbar durch
dieſen bloßen Eindruck einige Lebensgeiſter, ſo daß
er, obgleich es nun ſchon der vierte Faſttag war,
ſich vornahm, doch nicht vor Mittag zu Tiſche zu
[161] gehen, ſondern ſeinen wunderlichen Zuſtand noch
recht erbaulich auszugenießen. Er begab ſich
alſo wieder in den Schatten eines lieblichen
Waͤldchens, ſetzte ſich auf eine Bank und zog un¬
verweilt die ſchoͤnen Gulden hervor, ſie nunmehr
in aller Behaglichkeit betrachtend. Es war ihm,
als ob er niemals Geld beſeſſen haͤtte, als ob es
eine Ewigkeit her waͤre, ſeit er in der Geſellſchaft
von Menſchen geweſen und ſich gleich ihnen ge¬
naͤhrt, und ſo ein hinfaͤlliges Ding iſt der Menſch,
daß Heinrich eine kindliche Freude uͤber den Beſitz
dieſer par elenden Muͤnzen empfand und ſie mit
gierigen Blicken verſchlang. Es ſchien ihm das
reinſte und hoͤchſte Gluͤck zu ſein, was er da in
der Hand hielt; denn es war die unzweifelhaf¬
teſte Lebensfriſtung, Rettung und Erquickung,
und daruͤber hinaus dachte der Frohe gar nicht.
Er dankte dem lieben Gott ſehr zufrieden fuͤr die
Erhoͤrung ſeines Gebetes, wie in den Tagen ſei¬
ner Kindheit; ſonſt dachte er nicht viel, denn
die Gedanken waren allbereits ſehr kurz und
duͤnn geſaͤet; er genoß nur mit ſtillem Wohl¬
gefuͤhl den durch das Gruͤn flimmernden Son¬
IV. 11[162] nenſchein und den Glanz der klingenden Silber¬
ſtuͤcke.


Hier wird ſich nun der dogmatiſche Leſer in
zwei Heerſaͤulen ſpalten; die eine wird be¬
haupten, daß es allerdings die Kraft des Gebetes
und die Huͤlfe der Vorſehung geweſen ſei, welche
die magiſchen Guldenſtuͤcke auf Heinrich's Hand
legten, und ſie wird dieſen Moment, da wir be¬
reits mitten im letzten Bande ſtehen, als den
Wendepunkt betrachten und ſich eines erbaulichen
Endes verſehen. Die andere Partei wird
ſprechen: »Unſinn! Heinrich wuͤrde ſich ſo wie
ſo endlich dadurch haben helfen muͤſſen, daß er
das Buch oder irgend einen anderen Gegenſtand
verkaufte, und das Wunderbare an dieſem Helden
iſt nur, daß er dies nicht ſchon am erſten Tage
that! Es ſollte uns uͤbrigens nicht wundern,
wenn der duͤnne Feldweg dieſer Geſchichte doch
noch in eine froͤmmliche Kapelle hineinfuͤhrt!«
Wir aber als die verfaſſenden Geiſter dieſes
Buches koͤnnen hier nichts thun, als das Geſchehene
berichten und enthalten uns diesmal aller Reflexion
mit Ausnahme des Zurufes: Richtet nicht, da¬
[163] mit ihr nicht gerichtet werdet!« Selbſt wenn
wir nun gleich erzaͤhlen, welches Verhalten Hein¬
rich annahm, nachdem er ſich durch einige gute
Nahrung geſtaͤrkt, ſo werden wir durchaus nicht
unſere Meinung hinzufuͤgen, ob der nuͤchterne
oder der geſaͤttigte gruͤne Heinrich Recht habe.


Er begab ſich alſo nun mit kurzen Schritten
nach dem gewohnten Speiſehaus, welches ihm
als der allerſeligſte Aufenthalt vorkam, und der
Geruch der Speiſen duͤnkte ihn koͤſtlicher denn
der Duft von tauſend Roſengaͤrten. Die auf¬
wartenden Maͤdchen, welche ſonſt ſchon huͤbſch
und munter waren, erſchienen ihm wie huldreiche
Engel, in deren Obhut es gut wohnen ſei, und
geruͤhrt daruͤber, daß es in der Welt doch ſo
wohlmeinend zugehe, ſetzte ſich der gaͤnzlich Aus¬
gehungerte und muͤrbe Gewordene zu Tiſch, in
der feſten Abſicht, ſich fuͤr das Faſten gruͤndlich
zu entſchaͤdigen.


Hatte aber der bloße Anblick des vielver¬
moͤgenden Geldes ihn aufgemuntert, ſo ſtaͤrkte
ihn jetzt das Eſſen zuſehends, daß er ordentlich
zu Gedanken kam, und ſchon waͤhrend er die kraͤf¬
[164] tige Fleiſchbruͤhe einſchluͤrfte, beſann er ſich und
nahm ſich vor, nicht mehr zu eſſen als gewoͤhnlich
und ſich uͤberhaupt anſtaͤndig zu verhalten.
Als er jedoch ein ſaftiges Stuͤck Ochſenfleiſch und
einen guten Teller Blumenkohl verzehrt, dazu
einen Krug ſchaͤumenden Bieres vor ſich ſtehen
hatte, ſtrich und kraͤuſelte er ſich wieder ganz
ſelbſtbewußt den jungen Bart und indem er das
ganze Abenteuer gemaͤchlich uͤberdachte, ſchaͤmte
er ſich jetzt ploͤtzlich ſeines Wunderglaubens und
daß er ſo ganz haltlos in die Falle gegangen,
in ſeiner Schwaͤche den trivialſten Vorgang von
der Welt als eine unmittelbare Einwirkung einer
hoͤheren Vorſehung zu nehmen. Er bat den
lieben Gott ſogar um Verzeihung fuͤr die Zu¬
muthung, ſich mit ſeiner Ernaͤhrung unmittelbar
zu behelligen, den natuͤrlichen Lauf der Dinge
unterbrechend, waͤhrend er ſelbſt die Haͤnde in
den Schooß gelegt.

[]

Sechstes Kapitel.

Als er ſolchergeſtalt dieſe Dinge betrachtete,
nicht eben denkend, daß ſie damit noch lange nicht
zu Ende ſeien, und einen kraͤftigen Zug aus ſeinem
Kruge that, kamen einige ſeiner Bekannten heran
und uͤberhaͤuften ihn mit Fragen, warum er ſich
ſo lange nicht ſehen laſſen und wo er geweſen
ſei. Heinrich that, als ob nichts geſchehen waͤre,
und froh, wieder unter frohen Menſchen zu ſein,
zechte und ſcherzte er mit ihnen, waͤhrend in ſei¬
nem Gemuͤthe dieſer erſte kraͤftige Stoß des ſtillen
aber unerbittlichen Lebens langſam verſchmerzte.
Denn er fuͤhlte erſt jetzt, als mitten in Scherz
und Gelaͤchter die Bruſt ſich noch heftig bewegte
und er eine nur allmaͤlig ſich legende Aufregung
empfand, wie ſo vielſagend und ſchonungslos
[166] dieſer Stoß geweſen, daß er ſich wie geſchaͤndet
fuͤhlte und ihn unwillkuͤrlich verſchwieg.


Er ging deſſenungeachtet mit dem wenigen
Gelde um, als ob er ohne alle Sorgen waͤre,
und das betrachten wir eher als eine Tugend,
denn als einen Fehler. Die einen Menſchen ver¬
halten ſich unablaͤſſig im Kleinen hoͤchſt zweck¬
maͤßig, ausdauernd und aͤngſtlich, ohne je einen
feſten Grund unter den Fuͤßen und ein klares
Ziel vor Augen zu haben, indeſſen Anderen es
unmoͤglich iſt, ohne dieſen Grund und dieſes Ziel
ſich zweckmaͤßig und abſichtlich zu verhalten, aus
dem einfachen Grunde, weil ſie gerade aus Zweck¬
maͤßigkeit nicht aus Nichts etwas machen koͤnnen
und wollen. Dieſe halten es dann fuͤr die groͤßte
Zweckmaͤßigkeit, ſich nicht am Nichtsſagenden auf¬
zureiben, ſondern Wind und Wellen mit der tie¬
feren, der wahren menſchlichen Geduld uͤber ſich
ergehen zu laſſen, aber jeden Augenblick bereit,
das rettende Tau zu ergreifen, wenn ſie nur erſt
ſehen, daß es irgendwo befeſtigt iſt. Sind ſie
am Lande, ſo wiſſen ſie, daß ſie alsdann wieder
die Meiſter ſind, waͤhrend jene noch auf ihren
[167] kleinen Balken und Brettchen herumſchwimmen,
die uͤber eine Spanne weit immer zu Ende ſind.
Wer immer emſig zappelt und zweckmißt, deſſen
Ausdauer iſt alles Andere, nur keine Geduld,
welche wirklich etwas erdulden und uͤber ſich er¬
gehen laſſen will.


Heinrich entledigte ſich nun, da die Sachen
blieben wie ſie waren, nach und nach aller Gegen¬
ſtaͤnde, fuͤr welche man ihm irgend etwas geben
wollte, und indem er je nach dieſen Einkuͤnften
ſich guͤtlich that oder ſich duͤrftig behelfen mußte,
wurde er erſt jetzt, als ſein fahrendes wunderliches
Eigenthum verſchwand, arm wie eine Kirchenmaus.
Das Letzte, was er beſaß, waren ſeine Mappen.
Er hatte ſchon wiederholt verſucht, eine beſſere
Studie oder Zeichnung, da dergleichen oft zum
Verkaufe geeignet und geſucht iſt, bei den Kunſt¬
haͤndlern anzubringen; allein er war zu ſeiner
Beſchaͤmung immer kurz abgewieſen worden als
Einer, der etwas anbietet und zwar, wie es zu
ſehen war, aus Noth. Jetzt nahm er abermals
einige Blaͤtter und ging damit in eine abgelegene
Seitengaſſe zu einem alten ſeltſamen Maͤnnchen,
[168] welches einen erbaͤrmlichen Kram von allerlei
Schnickſchnack fuͤhrte und in ſeinem dunklen Laden
ſaß und allerhand laborirte. Am Fenſter hatte
dieſer Mann immer einige vergilbte Zeichnungen
oder Druckblaͤtter haͤngen ohne Werth, wie ſie
der Zufall zuſammengeweht, und eben ſo werth¬
los war eine kleine Bilderſammlung im Innern
des armſeligen Magazins, das Ganze eine jener
Zufluchtsſtaͤtten und Vermittelungsanſtalten fuͤr
jene gottverlaſſene Claſſe von Kunſtbefliſſenen,
die gaͤnzlich von jeder Weihe, jedem Bewußtſein
und jeder Bildung entfernt ihr Weſen treibt in
ſeltſamer Induſtrie und Armuth, ohne Handwerker
zu ſein. Hier holten ſich die Bierwirthe der
unterſten Ordnung oder die Kunſtfreunde mit
fuͤnfhundert Gulden Einkommen ihren Bedarf,
um das fuͤr wenige Muͤnzen erſtandene Meiſter¬
werk, ſobald es in ihrem Beſitze war, mit ruͤhren¬
der Bewunderung zu preiſen. Heinrich hatte bei
dem Maͤnnchen in ſeinen guten Tagen zuweilen
eine verlorene gute Radirung und dergleichen ge¬
kauft, welche der Seltſame, der ſich mit eben der Be¬
fugniß, welche ſeine Kaͤufer zu Kunſtkennern ſchuf,
[169] zum Kunſtmaͤkler aufgeworfen hatte, mit großem
Mißtrauen und Widerſtreben zu geringen Preiſen
abließ, indem er den Werth nicht beweiſen konnte
und, wenn ein gebildeter Kaͤufer ſich bei ihm
einfand, ſtets um einen ungeheuren verborgenen
Schatz gebracht zu werden fuͤrchtete. Auf den
Tiſch dieſes Mannes, der außerdem noch mit
einer Kaffeekanne, einer auseinandergenommenen
Schwarzwaͤlderuhr, einem Kleiſtertopfe und ver¬
ſchiedenen Firnißglaͤſern beladen war, legte Hein¬
rich jetzt ſeine guten Blaͤtter, welche fleißig und
treulich gezeichnete Waldſtellen aus ſeiner Heimath
enthielten, und mit dem gleichen Mißtrauen,
mit dem das greiſe Maͤnnchen ſonſt ihm etwas
verkauft hatte, betrachtete er jetzo die unſchuldigen
Studien und den jungen Mann. Seine erſte
Frage war, ob er ſie ſelbſt gemacht habe, und
Heinrich zoͤgerte mit der Antwort; denn noch
war er zu hochmuͤthig gegenuͤber dem uͤbrigens
freundlichen Troͤdelmaͤnnchen, zu geſtehen, daß
die Noth ihn mit ſeiner eigenen Arbeit in deſſen
duͤſtere Spelunke treibe. Der graue Kraͤmers¬
mann jedoch, wenn er ein ſehr ſchlecht berathener
11 *[170] Kunſtkenner war, verſtand ſich um ſo beſſer auf
die Menſchen und ſchmeichelte dem Widerſtrebenden
ohne Weiteres die Wahrheit ab, deren er ſich,
wie er aufmunternd ſagte, nicht zu ſchaͤmen
brauche, vielmehr zu ruͤhmen haͤtte; denn die
Sachen ſchienen ihm in der That gar nicht uͤbel
und er wolle es wagen und etwas Erkleckliches
daran wenden. Er gab ihm auch ſo viel dafuͤr,
daß Heinrich einen oder zwei Tage davon leben
konnte, und dieſem ſchien das ein Gewinn, deſſen
er froh war, obſchon er ſeinerzeit luſt- und
fleißerfuͤllte Wochen uͤber dieſen Sachen zugebracht
hatte. Jetzt aber wog er das erhaltene winzige
Suͤmmchen nicht gegen den Werth ſeiner Arbeiten
ab, ſondern gegen die Noth des Augenblickes,
und da erſchien ihm denn der aͤrmliche Handels¬
mann mit ſeiner kleinen Caſſe noch als ein freund¬
licher Wohlthaͤter; denn er haͤtte ihn ja auch ab¬
weiſen koͤnnen, und das Wenige, was er mit gutem
Willen und gutmuͤthigen Geberden gab, war ſo
viel, als wenn jene reichen Bilderhaͤndler erkleck¬
liche Summen fuͤr eine Laune oder Speculation
ihres eben ſo unſicheren Geſchmackes hingaben.

[171]

Aber noch in Heinrich's Anweſenheit befeſtigte
der alte Kauz die ungluͤcklichen Blaͤtter an ſeinem
Fenſter und Heinrich machte erroͤthend, daß er
fortkam. Auf der Straße warf er einen fluͤch¬
tigen Blick auf das Fenſter und ſah die liebſten
Erinnerungen an Heimath und Jugendarbeit de-
und wehmuͤthig an dieſem Pranger der Armuth
und Verkommenheit hangen.


Aber nichts deſto minder ſchlich er in zwei
Tagen abermals mit einem Blatte zu dem Mann,
welcher ihn ganz aufgeweckt und freundſchaftlich
empfing; denn er hatte die erſten Sachen ſchon
verkauft, waͤhrend er ſonſt gewohnt war, ſeine
Erwerbungen Jahre lang in ſeiner Obhut zu
hegen und an ſeinen Thuͤrpfoſten haͤngen zu ſehen.
Sie wurden bald des Handels einig; Heinrich
machte eine vergebliche kurze Anſtrengung, einen
barmherzigeren Preis zu erhalten; ungewohnt zu
feilſchen und fuͤrchtend, den Handel abgebrochen
zu ſehen, da er nach der beſtimmten Aeußerung,
mehr haben zu wollen, ja nicht mehr haͤtte nach¬
geben duͤrfen oder gar zum zweiten Male wieder
kommen, war er bald froh, daß der Alte nur noch
[172] kaufluſtig blieb, und dieſer munterte ihn auf, nur
zu bringen, wenn er etwas fertig haͤtte (denn er
bildete ſich ein, der arme junge Kuͤnſtler mache
dieſe Sachen vorweg), ſich ferner zu beſcheiden
und huͤbſch fleißig und ſparſam zu ſein, und die
Zeit wuͤrde gewiß kommen, wo aus dieſem
kleinen Anfang etwas Tuͤchtiges wuͤrde; dabei
klopfte er ihm vertraulich auf die Achſel und for¬
derte ihn auf, nicht ſo traurig und einſilbig zu ſein.

Heinrich's ganzes kuͤnſtleriſches Beſitzthum
wanderte nun nach und nach in den dunklen
Winkel des immer kaufluſtigen Hoͤkers; wenn es
auch manchmal Monate dauerte, bis dieſer wieder
etwas verkaufte davon, ſo blieb er ſich doch gleich,
und hierin war es nun nicht zu verkennen, daß
der Alte, ſo knapp er Heinrich hielt, denſelben
doch nicht wollte im Stiche laſſen und auch bei
der Befuͤrchtung, die ganze Beſcheerung auf dem
Halſe zu behalten, denſelben nicht abweiſen wollte.
Das war die Treue, die Gemuͤthsehre der Armuth
und Einfalt. Mit dieſem Weſen ſchmeichelte er
foͤrmlich den armen Heinrich in eine große De¬
muth und Vertraulichkeit hinein; denn nicht nur
[173] erzwang er von ihm eine gute Miene zum
boͤſen Spiel, ſondern, wenn dieſe endlich erfolgte
und Heinrich ſich plaudernd und lachend ein
Stuͤndchen bei ihm aufhielt, dann aber weggehen
wollte, forderte er ihn auf, nicht in's Wirthshaus
zu laufen und ſein Geldchen zu verthun, ſondern
mit ihm etwas Geſchmortes oder Gebratenes zu
eſſen. Der allein lebende katholiſche alte Geſell
hatte naͤmlich bei aller Knauſerei ſtets ein gutes
Gericht in dem Ofen ſeines dunklen Gewoͤlbes
ſtehen und war ein vortrefflicher Koch. Bald
war es eine Gans, bald ein Haſe, welche er ſich
auf den Feiertag zubereitete, bald kochte er mei¬
ſterhaft ein gutes Gemuͤſe, welches er durch die
Verbindung mit kraͤftigem Rind- oder Schweins¬
fleiſch, je nach ſeinem Charakter, zum trefflichſten
Gerichte zu machen wußte. Beſonders verſtand
er ſich auf die Faſtenſpeiſen, welche er mehr aus
Schleckerei als aus Froͤmmigkeit nie umging, und
jeden Freitag gab es bei ihm entweder koͤſtliche
Fiſche, d. h. ziemlich beſcheidene und wohlfeile
Waſſerthiere, die er aber durch ſeine vielſeitige
Kunſt zum hoͤchſten Rang erhob, oder es duftete
[174] eine Macaronipaſtete in ſeinem Laden, zwiſchen
welche er kleine Bratwuͤrſtchen und Schinken
hackte, welche unerlaubte Fragmente er ſpaßhaft
Suͤnder nannte und, indem er ſeinem Gaſt vorlegte,
eifrig ausſuchte und zuſchob.


Hierbei blieb er aber nicht ſtehen, ſondern eines
Tages, als er den armen jungen Heiden beſon¬
ders kirre gemacht, wickelte er eine fette Ganskeule
nebſt einem Stuͤck Brot in ein Papier und ſuchte
es ihm ſchmunzelnd in die Taſche zu ſtecken.
Heinrich wehrte ſich ganz roth werdend heftig da¬
gegen; wie aber der Alte den Finger aufhob und
leiſe ſagte: »Na, was iſt denn das? Es braucht's
ja kein Menſch zu wiſſen!« da ergab er ſich de¬
muͤthig in den Willen des ſeltſamen Mannes,
der ein unerklaͤrliches Vergnuͤgen zu empfinden
ſchien, den ihm fremden Menſchen auf dieſe Weiſe
gemuͤthlich zu tyranniſiren. Das Seltſamſte
war, daß er ſich nicht um deſſen Herkunft und
Schickſal bekuͤmmerte, nicht einmal fragte, wo er
wohne, und am wenigſten den Gruͤnden ſeiner
jetzigen Armuth nachforſchte. Das ſchien ſich
Alles von ſelbſt zu verſtehen.

[175]

Heinrich trug dazumal die Ganskeule wirklich
nach Hauſe. Auf der Schwelle ſah er ein Bet¬
telweib ſitzen, welches ihn in ſo erbaͤrmlichen
Toͤnen um Barmherzigkeit anflehte, als ob es
am Spieße ſtaͤke, und Heinrich fuhr mit der
Hand in die Taſche, um hier auf die beſte Weiſe
das Nahrungsmittel anzubringen und zugleich
dem Alten einen Streich zu ſpielen. Wie er
aber die elende und hinfaͤllige alte Frau naͤher
anſah, da verging ihm endlich der letzte Stolz,
und ſtatt des Fleiſches gab er ihr eines der Geld¬
ſtuͤcke, die er eben von ſeinem Goͤnner erhalten,
ging auf ſeine Stube und aß die Ganskeule aus
der einen Hand, aus der anderen das Brot, nicht
um ſich guͤtlich zu thun, ſondern zu Ehren und
zu Liebe der Menſchlichkeit und der Armuth, welche
die Mutter der Menſchlichkeit iſt, und dieſe ein¬
ſame Mahlzeit war gewiſſermaßen ſeine nachge¬
holte und verbeſſerte Abendmahlsfeier.


So erhielt er ſich ein gutes halbes Jahr, und
ſo wenig der Alte ihm fuͤr ſeine mannigfaltigen
Studienblaͤtter, Skizzen und Zeichnungen gab, ſo
[176] waren dieſelben doch ſo zahlreich, daß ſie kein
Ende zu nehmen ſchienen. Nie ſagte ihm der
Wunderliche, wer eigentlich die Sachen kaufe und
was er daran gewinne, und Heinrich fragte nicht
mehr darnach. Er war im Gegentheil froh, wie
er nun geſtimmt war, Alles hinzugeben und das
kaͤrgliche Brot, welches die Welt ihm gewaͤhrte,
verſchwenderiſch zu bezahlen, was nun freilich
wieder nicht ſehr demuͤthig war; aber der Menſch
lebt vom Widerſpruch! Indeſſen war das Wenige,
was er erhielt, das Erſte, was er ſeinen eigenen
Haͤnden verdankte, und desnahen lernte er davon,
ſich einzurichten und ſich mit Wenigem zu begnuͤ¬
gen. Unter ſeinen vielen Zechgeſellen und Stu¬
diengenoſſen war es laͤngſt bemerkt worden, daß
er gaͤnzlich verarmt ſei; Niemand fragte ihn aber
darum, und da er das tonangebende Weſen wie¬
der verloren hatte, oder wenn es unerwartet ſich
geltend machte, in Heftigkeit und Leidenſchaft
ausbrach, ſo loͤſten ſich alle dieſe munteren Ver¬
haͤltniſſe und Heinrich zog ſich zuruͤck und fand
ſich bald ganz allein, oder wenn ihm dies uner¬
traͤglich wurde, trieb er ſich mit allerlei zufaͤlligen
[177] Geſellen, wie ſie die Aehnlichkeit des Schickſales
voruͤbergehend herbeifuͤhrte, herum.


Gleichzeitig nahm aber ſein ernaͤhrender
Jugendvorrath ein Ende, nachdem er ſchon ſorg¬
faͤltig die letzten Fetzen und Fragmente zuſammen¬
geſucht und fuͤr den Alten zugeſtutzt hatte. End¬
lich bot er ihm ſeine großen Bilder und Cartons
an und der Alte ſagte, er ſolle ſie nur einmal
herbringen. Heinrich erwiederte, das ginge nicht
wohl an, und bat ihn um ſo viel Geld, daß er
ſie koͤnne hertragen laſſen. »Warum nicht gar,
hertragen laſſen! Sie Sapperloter! Gleich
gehen Sie hin und holen ein Stuͤck her! Fuͤrch¬
ten Sie denn, man werde Ihnen den Kopf ab¬
beißen?« Und er ſchmeichelte und ſchalt ſo lange,
bis Heinrich ſich entſchloß und nach Hauſe ging
und das Bild holte, welches er einſt ſo ungluͤck¬
lich ausgeſtellt hatte. Es war ſehr ſchwer und
der weite Weg ermuͤdete ſeine Arme auf unge¬
wohnte Weiſe. Der Alte aber laͤchelte und
ſchmunzelte und rief: »Ei, ei! ſieh, ſieh! das iſt ja
ein ganzes Gemaͤlde! Verſtehe nicht den Teufel
davon! Aber hochtragiſch ſieht's aus (er wollte
IV. 12[178] ſagen hochtragend oder hochſtelzig), habe in mei¬
nem Leben nichts ſo im Laden gehabt! Wiſſen
Sie was, Freundchen, jetzt holen Sie huͤbſch noch
die anderen Sachen, damit wir Alles beiſammen
haben. Nachher wollen wir ſchauen, ob ſich ein
Handel machen laͤßt. Gehen Sie, gehen Sie,
Bewegung iſt immer geſund!«


Heinrich ging abermals nach ſeiner Wohnung
und ergriff den groͤßten Carton, einen mit Papier
beſpannten Blendrahmen von acht Fuß Breite
und entſprechender Hoͤhe. Dies Ungethuͤm war
leicht von Gewicht, aber ungefuͤg zu tragen wegen
ſeiner Groͤße, und als der unmuthige Traͤger da¬
mit auf die Straße gelangte, blies ſofort ein
luſtiger Oſtwind darein, daß es Heinrich kaum
zu halten vermochte. Ueberdies mußte er, da die
große Fahne nur auf der Ruͤckſeite an der Kreuz¬
leiſte zu halten war, die bemalte Seite nach außen
kehren, und ſo begann er, ſich dahinter beſtmoͤg¬
lich verbergend, mit ſeiner Oriflamme durch die
belebten Straßen zu ziehen. Alſobald zog eine
Schaar Knaben und Maͤdchen vor der wandelnden
Landſchaft her, und jeder Erwachſene ging eben¬
[179] falls ein Dutzend Schritte daneben hin und ſtol¬
perte, waͤhrend er die offenbaren und preisgege¬
benen Erfindungen Heinrich's zu entraͤthſeln ſuchte,
uͤber die Steine. Zwei wohlhabende und ange¬
ſehene Kuͤnſtler gingen voruͤber und betrachteten
vornehm und verwundert den beſchaͤmten Traͤger,
der ihnen bekannt vorkam; er fuhr mit ſeiner
ſpaniſchen Wand gegen einen Wagen, den er
nicht ſehen konnte, ſo daß die Pferde ſcheu wur¬
den, der Fuhrmann fluchte, und zugleich brachten
ſtarke Windſtoͤße das ganze Weſen in's Schwan¬
ken und dieſes ſtieß Heinrich's Hut herunter, ſo
daß er nun nicht wußte, ſollte er den im Kothe
dahin rollenden oder ſein behextes Werk fahren
laſſen. Dieſe Flucht ſeines Hutes war einer
jener kleinen laͤcherlichen Unfaͤlle, welche einen
tiefen Verdruß oder graͤmliches Leiden auf den
Gipfel bringen, und ſo ſtand Heinrich ganz elend
und rathlos da und unterdruͤckte einen bitterlichen
Zorn im Herzen. Er war in der Verwirrung
mitten auf den Gemuͤſemarkt gerathen und konnte
ſich vollends nicht mehr ruͤhren. Fluchend that
er einen Ruck und ſchwang ſeinen Carton uͤber
12 *[180] ſeinen Kopf, um ihn dort in die andere Hand
und in eine bequemere Lage zu bringen; als das
unſelige Werk aber in der Luft ſchwebte, fand er
nicht mehr Raum, es wieder herunter zu nehmen,
und hielt es ſo uͤber den wogenden Koͤpfen der
Menſchenmenge. Erſt jetzt gab es einen rechten
Auflauf auf dem Markte, denn das Luftphaͤnomen
zog alle Leute herbei, die Fenſter in den umlie¬
genden Haͤuſern thaten ſich auf, Alles lachte,
ſchimpfte und rief: Wer wird denn mit ſolchem
Ofenſchirm uͤber den Markt gehen um dieſe Zeit?
Da draͤngte ſich Heinrich's Goͤnnermaͤnnchen aus
dem Dickicht, im grauen Schlafrock und ſeine
weiße Zipfelkappe auf dem Kopfe, uͤber die Schul¬
ter ein Netz mit Gemuͤſe und Fleiſch geworfen und
Heinrich's uͤbelzugerichteten Hut in der Hand.
Freundlich winkte die laͤcherliche Geſtalt ihm zu
und Heinrich ſtreckte ſehnlich die Hand nach ſei¬
nem Hute. Aber der Alte rief mit wahrer Daͤ¬
monenfreude: »Nicht doch! mit nichten, Freund¬
chen! Ihr kommt ſo viel beſſer fort! will Euch
den Hut ſchon tragen und den Weg bahnen!«
und der Aermſte, er mochte flehen wie er wollte,
[181] mußte mit bloßem Kopfe, den maͤchtigen Rah¬
men uͤber demſelben ſchwingend, den uͤbrigen Weg
zuruͤcklegen, den ſchlurfenden Alten mit ſeinem
Netz vor ſich her, der ſich zu groͤßerer Bequem¬
lichkeit den Hut uͤber die Zipfelkappe geſtuͤlpt
hatte und ſchreiend und laͤrmend voranſchritt.


Als ſie endlich vor dem Haͤuschen des Alten
angekommen und die Unheilsfahne mit vieler
Muͤhe in den engen Laden hineingezwaͤngt hat¬
ten, ſchien das freundliche boshafte Greischen
befriedigt. Er oͤffnete ausnahmsweiſe ſein kleines
Pult zur Haͤlfte, denn bisher hatte er ſeine win¬
zigen Auszahlungen immer aus der Hoſentaſche
beſtritten, und griff behutſam unter den Deckel,
wie Einer, der eine Maus aus der Falle heraus¬
greifen will, und indem er die Hand zuruͤckzog,
druͤckte er dem ausruhenden Heinrich zehn nagel¬
neue Guldenſtuͤcke in die Hand fuͤr die beiden
Schildereien, ohne ihn zu fragen, ob er damit,
einverſtanden ſei. »Fuͤr ein Mal,« ſagte er zu¬
traulich leiſe, »will ich es mit dieſen beiden
Tauſendſaſſa's von Bildern wagen! Wenn ich
ſie auch behalten muß, was thut's? Ihr ſeid mir
[182] darum nicht feil, Freundchen, Schweizerchen!
habt euch heute gut gehalten, wie? haͤ haͤ haͤ,
hi hi hi, was iſt das fuͤr ein Kreuz mit ſo hoch¬
fahrendem Blute!«


Heinrich ſagte kurz und buͤndig: »Das ver¬
ſteht Ihr nicht, alter Herr!« »Was, verſteh' ich
nicht?« fluͤſterte der Alte, und der Junge wollte
fortfahren: »Es iſt nicht das, was Ihr meint,
etwa Hochmuth oder dergleichen: es iſt vielmehr
der beſcheidene Wunſch, nicht aller Welt in die
Augen zu fallen und Narrheiten zu treiben auf
offener Straße; denn ein Renommiſt und ein
Narr iſt, wer mit einer Kleinigkeit einem armen
Teufel dienen koͤnnte und ihn das thun laſſen,
wozu er geſchickt und gewoͤhnt iſt, und ſtatt deſ¬
ſen ſelber auf Abenteuer ausgeht —«; der unbe¬
lehrbare Alte ließ ihn aber nicht ausreden, ſon¬
dern zwang ihn, noch einen Fiſchſchwanz aufzu¬
eſſen, oder vielmehr die Bruͤhe aufzutunken, wel¬
ches die Hauptſache ſei, und er ließ ihn nicht
eher los, bis er den Teller, an welchem ein
Stuͤck Rand fehlte, ganz leer gegeſſen. Erſt als
[183] das geſchehen, ſah Heinrich, daß der Tyrann vom
Fenſter eine große Zeichnung weggenommen hatte,
ſo daß der eſſende Heinrich in der Spelunke recht
ſichtbar wurde, und er gruͤßte dabei mit ſeiner
Zipfelmuͤtze grinſend nach allen Seiten, um die
Leute aufmerkſam zu machen und herbeizuziehen.
Ueber dieſes ſonderbare Vergnuͤgen des Maͤnn¬
chens mußte endlich Heinrich ſo herzlich lachen,
daß er ganz aufgeweckt wurde und in ſeiner
Freude dem Alten die Zipfelmuͤtze abriß und ſich
ſelbſt aufſetzte. Zugleich trat aber auf dem kah¬
len Schaͤdel des Alten eine ſeltſame Erhoͤhung
oder runder Wulſt zu Tage, ein huͤgelartiger
Auswuchs des Knochens, und auf dieſer einſam
ragenden Extrakuppe ein ſtehen gebliebenes Waͤld¬
chen grauer Haare, was einen hoͤchſt laͤcherlichen
Anblick gewaͤhrte. Die zornige Verlegenheit des
alſo Beſchaffenen bewies, daß dieſes ſein Ge¬
heimniß und ſeine ſchwache Seite war; aber
Heinrich hatte ihm, als er dies geſehen, unwill¬
kuͤrlich die Zipfelmuͤtze ſo blitzſchnell wieder auf¬
geſetzt und gerieth ſelbſt in ſo harmloſe Mitver¬
legenheit, daß der Alte ſich halb ſchmunzelnd, halb
[184] murrend zufrieden gab und uͤberdies etwas nach¬
denklich wurde.


Heinrich hatte indeſſen lange nicht ſo viel
Geld beſeſſen wie jetzt, und er beſchloß, ehe daſ¬
ſelbe zu Ende gehe, ſich neues zu erwerben und
was im Großen nicht hatte gelingen wollen, all¬
maͤlig im Kleinen zu verſuchen. Da ſeine guten
Studienblaͤtter alle verſchwunden waren, ſo machte
er ſich daran, welche aus dem Stegreif zu ſchaf¬
fen, und fabricirte in kurzer Zeit eine Anzahl
fluͤchtiger, aber bunter und kecker Skizzen, ohne
Andacht und Liebe, denen man es auf den erſten
Blick anſah, daß ſie nicht im Freien, ſondern in
der Stube entſtanden. Ueber dieſer herzloſen Be¬
ſchaͤftigung ſtand natuͤrlich alles tiefere und in¬
nere Streben und Sein vollends ſtill, wie denn
auch, da kein Buch mehr in ſeinem Beſitze war
und er ſich aus den Hoͤrſaͤlen zuruͤckgezogen, ſeine
Selbſtbildung von dieſer Seite unterbrochen war,
indeſſen er ſich in einer anderen Schule befand,
wo der Alte Profeſſor war; denn man kann nicht
Alles zumal treiben. Der Alte empfing ihn aber
ganz vergnuͤgt mit den neuen Sachen, die ihm
[185] ſehr in die Augen ſprangen; er nahm ihm ab,
was er ihm brachte, war aber nach einiger Zeit
verwundert, daß er hiervon auch nicht ein Stuͤck
verkaufte und der Kaͤufer, welcher die guten
Sachen alle geholt hatte, ploͤtzlich wegblieb. Er
theilte dies ſeinem Schuͤtzling mit, ſchob aber die
Schuld auf die Wunderlichkeit und den Eigenſinn
der Leute und forderte Heinrich auf, nur nicht
nachzulaſſen, ſie wollten einmal auf den Vorrath
arbeiten, bis ſich neue Kaͤufer finden wuͤrden.
Heinrich konnte das aber nicht laͤnger mit anſe¬
hen und ſagte dem Alten, daß er wahrſcheinlich
nie einen Fetzen von dieſer neuen Art verkaufen
wuͤrde und daß er ſein Geld, ſo wenig es ſei,
wegwerfe. Ganz verbluͤfft verlangte der Alte eine
deutlichere Belehrung und Heinrich ſetzte ihm, ſo
gut es ging, auseinander, welcher Unterſchied
zwiſchen dieſen und den fruͤheren Sachen beſtehe,
wie jene eben etwas Gewordenes, dieſe etwas
Gemachtes ſeien, jene ohne des Kuͤnſtlers beſon¬
deres Verdienſt von einem ganz beſtimmten Stoff
und Werth, dieſe dagegen vollkommen werthlos.
Er ſei nun ſogar froh, ſetzte er hinzu, daß dieſe
[186] Induſtrie vollſtaͤndig mißlungen, und um ſein
Gewiſſen vollſtaͤndig zu beſchwichtigen, zog er ſei¬
nen Geldbeutel, der die zehn Gulden enthielt, und
anerbot dem Alten, ihm wieder zu erſetzen, was
er ihm fuͤr die liederlichen Arbeiten gegeben. Denn
er hatte jetzt vollſtaͤndig das Schmaͤhliche einer
hohlen herzloſen Thaͤtigkeit empfinden gelernt, die,
ohne nur eine ordentliche ehrliche Handarbeit zu
ſein, ſich den Schein eines edleren Berufes giebt.


Der Alte hoͤrte aufmerkſam zu, nahm eine
Priſe uͤber die andere, laͤchelte dann ſchlau und
vergnuͤgt, indem er das angebotene Geld ſogleich
einſtrich, und ſtreichelte dem Jungen die Backen,
welcher Liebkoſung ſich dieſer ſachte entzog. Er
hatte den Erſatz unwillkuͤrlich angeboten und war
jetzt doch etwas betroffen, denſelben angenommen
zu ſehen, da ſeine kleine Baarſchaft dadurch ſtark
abnahm, ohne nun weiter zu wiſſen, was er thun
ſollte.


Der Alte aber nahm ihn bei der Hand und ſagte:
»Nur munter, Freundchen! wir wollen ſogleich eine
Arbeit beginnen, die ſich ſehen laſſen kann und
wird! Jetzt ſind wir gerade auf dem rechten
[187] Punkt, da darf nicht gefeiert und nicht gemault
werden!« Und er fuͤhrte und ſchob ihn in ein
noch dunkleres Verlies, das hinter dem Laden
lag und ſein Licht nur durch eine ſchmale Schie߬
ſcharte empfing, die in der feuchten ſchimmligen
Mauer ſich aufthat. Als Heinrich ſich einiger¬
maßen an dieſe Dunkelheit gewoͤhnt, erblickte er
das Loch angefuͤllt mit einer Unzahl hoͤlzerner
Staͤbe und Stangen, ganz neu, rund und glatt
gehobelt, von allen Groͤßen laſtweiſe an den Waͤn¬
den ſtehend. Auf einer verjaͤhrten laͤngſt erlo¬
ſchenen Feuereſſe, welche das Denkmal irgend
eines Laboranten war, der vielleicht vor hundert
Jahren in dieſem Finſterniß ſein Weſen getrieben,
ſtand ein tuͤchtiger Eimer voll weißer Leimfarbe
inmitten mehrerer Toͤpfe mit anderen Farben,
jeder mit einem maͤßigen Streicherpinſel verſehen.
»In vierzehn Tagen,« liſpelte der Alte, abwech¬
ſelnd ſchreiend, »wird die Braut unſeres Kron¬
prinzen in unſerer Reſidenz ihren Einzug halten;
die ganze Stadt wird geſchmuͤckt und verziert
werden, tauſende und aber tauſende von Fenſtern
werden mit Fahnen in unſeren und den Landes¬
[188] farben der Braut verſehen: Kattunfahnen von
jeder Groͤße werden die naͤchſten zwei Wochen
die geſuchteſte Waare ſein, habe ſchon zweimal
in meinem Geſchaͤft den Witz mitgemacht und
jedesmal ein gut Stuͤck Geld verdient; wer der
Erſte, Schnellſte und Billigſte iſt, der hat den Zu¬
lauf. Darum friſch dran, keine Zeit zu verlieren!
Habe ſchon ſeit zwei Wochen vorgeſehen und Stoͤcke
machen laſſen, weitere Lieferungen ſind beſtellt,
das Kattunſchneiden und Naͤhen wird ebenfalls
beginnen, Ihr aber, Schweizermaͤnnchen, muͤßt
die Stangen anſtreichen. Bſt! nicht gemukſt! Hier
fuͤr dieſe großen gebe ich einen Kreuzer das Stuͤck
fuͤr dieſe kleineren einen halben, von dieſen ganz
kleinen aber, welche fuͤr die Mausloͤcher und
Blinzelfenſter der Armuth beſtimmt ſind, muͤſſen
vier Stuͤck auf den Kreuzer gehen! Jetzt aber
paßt auf, wie das zu machen iſt, Alles will
gelernt ſein!«


Er hatte ſchon mehrere Stuͤcke theils halb,
theils ganz vorgearbeitet; nachdem die Stange
mit der weißen Grundfarbe verſehen, welche fuͤr
beide Landesfarben dieſelbe war, wurde ſie durch
[189] die andere Farbe mit einer Spirallinie umwun¬
den. Der Alte legte eine grundirte Stange am
einen Ende in die Schießſcharte, hielt ſie mit der
linken Hand wagerecht, und indem er, den Pin¬
ſel eintauchend, Heinrich aufmerkſam machte, wie
dieſer nicht zu voll, noch zu leer ſein duͤrfe, da¬
mit eine ſichere und ſaubere Linie in Einem Zuge
entſtaͤnde, begann er, die Stange langſam dre¬
hend, von oben an die himmelblaue Spirale zu
ziehen, wo moͤglichſt ohne zu zittern oder eine
Stelle nachholen zu muͤſſen. Er zitterte aber
doch, auch gerieth ihm der weiße Zwiſchenraum
nicht gleichmaͤßig, ſo daß er das mißlungene
Werk wegwarf und rief: »Item! auf dieſe Weiſe
mein' ich's! Eure Sache iſt es nun, das Zeug
beſſer zu machen, denn wofuͤr ſeid Ihr jung?«


Heinrich legte nun auch eine Stange in die
Schießſcharte und verſuchte ſich in dieſer ſeltſamen
Arbeit, und bald ging es ganz ordentlich von
Statten, waͤhrend der Alte vorn im Laden hauſ'te
und zwei oder drei Naͤhtermaͤdchen, die ſich ein¬
gefunden hatten, ruͤſtig Zeug zuſchnitt, damit ſie
es in zwei Farben zuſammennaͤheten.

[190]

Draußen war es anhaltend das lieblichſte
Sommerwetter, der Sonnenſchein lag auf der
Stadt und dem ganzen Lande und die Leute trie¬
ben ſich lebhafter als ſonſt im Freien herum,
theils im Verkehre fuͤr die zu treffenden Vorbe¬
reitungen, theils im Vorgenuß der kommenden
Feſttage, welche dies dem Genuſſe nachhangende
Volk recht auszubeuten gedachte. Der Laden des
Alten war angefuͤllt mit Leuten, welche Fahnen
beſtellten und holten, naͤhenden Maͤdchen, Tiſch¬
lern, die Stangen brachten, und er ſelbſt regierte,
laͤrmte und hantirte dazwiſchen herum, nahm
Geld ein und zaͤhlte Fahnen, und ab und zu
ging er einmal in Heinrich's Verlies hinein, wo
dieſer mutterſeelenallein in dem blaſſen Lichtſtrahl
der Mauerritze ſtand, ſeinen weißen Stab drehete
und die ſorgfaͤltige reinliche Spirale zog.


Der Alte klopfte ihm dann ſachte auf die
Schulter und fluͤſterte ihm in's Ohr: »So recht,
mein Soͤhnchen! dies iſt die wahre Lebenslinie;
wenn Du die recht accurat und raſch ziehen lernſt,
ſo haſt Du Vieles gelernt!« Und wirklich fand
Heinrich in dieſer einfachen und verachteten Ar¬
[191] beit allmaͤlig einen ſolchen Reiz, daß ihm die
langen Sommertage, in dieſem Loch zugebracht,
gleich Stunden voruͤbergingen. Er hatte ſich
bald eine große Geſchicklichkeit erworben, welche
trotz ihrer Geringfuͤgigkeit recht bedeutſam war;
denn nicht nur galt es, die ewige Linie ohne
Anſtoß und Aufenthalt, ohne Abſchweifung und
Ungleichheit fortzufuͤhren, ſondern ſie auch ſo zu
beſchleunigen, daß es uͤberhaupt der Muͤhe lohnte
und den Anforderungen genuͤgt wurde, ohne daß
durch die Eile die Arbeit ſchlechter wurde und
die Linie ſich verwirrte.


Unablaͤſſig zog er dieſelbe, gleichmaͤßig, raſch
und doch vorſichtig, ohne zuletzt einen Klecks zu
machen, einen Stab ausſchießen zu muͤſſen oder
einen Augenblick zu verlieren durch Unſchluͤſſig¬
keit oder Traͤumereien, und waͤhrend ſich ſo die
umwundenen Staͤbe unaufhoͤrlich anhaͤuften und
weggingen, waͤhrend ebenſo unaufhoͤrlich neue
ankamen, um welche alle ſich daſſelbe endloſe
Band hinzog, wußte er doch jeden Augenblick,
was er geleiſtet, und jeder Stab hatte ſeinen be¬
ſtimmten Werth. Er brachte es in den erſten
[192] Tagen ſo weit, daß ihm der ganz verdutzte Alte
am Abend jedesmal nicht weniger als zwei Kro¬
nenthaler auszahlen mußte. Erſt ſperrte er ſich
dagegen und ſchrie, er haͤtte ſich verrechnet; als
aber Heinrich mit einer ihm ganz neuen Beharr¬
lichkeit erklaͤrte, ſo ginge es nicht, und ihm nach¬
wies, daß er froh ſein muͤſſe, ſo viel liefern zu
koͤnnen, indem ihn Heinrich's erworbene Fertig¬
keit nichts anginge, gab ſich der Alte mit einer
gewiſſen Achtung und forderte ihn auf, nur ſo
fortzufahren, denn die Sache ſei beſtens im Gange.
Wirklich hatte er auch einen gewaltigen Zulauf
und verſorgte einen großen Theil der Stadt mit
ſeinen Freudenpanieren. Heinrich drehte unver¬
droſſen ſeinen Stab, und zwar ſo ſicher und ge¬
laͤufig, daß er dabei ein ganzes Leben durchdrehte
und auf der ſich abwickelnden blauen Linie eine
Welt durchwanderte, bald traurig und verzagt,
bald hoffnungsvoll, bald heiter und ausgelaſſen,
die ſchnurrigſten Abenteuer erlebend.


Am Abend, nachdem er in einer entlegenen
Schenke ein ſpaͤrliches Abendbrot gegeſſen, ſeinen
Erwerb geizig zuſammenhaltend, kehrte er muͤde
[193] und zufrieden in ſeine Wohnung zuruͤck und konnte
kaum den Tag erwarten, wo er in aller Fruͤhe
wieder an die ſeltſame Arbeit gehen durfte.


So kam endlich der Tag heran, an welchem
die kuͤnftige Koͤnigin ihren Einzug hielt. Schon
am fruͤhen Morgen fingen die Straßen an das
allerbunteſte Gewand anzuziehen, und die Bevoͤl¬
kerung wogte hin und her, der beſitzende, ange¬
ſeſſene oder abhaͤngige Theil noch mit den An¬
ſtalten beſchaͤftigt, der muͤßige und unabhaͤngige
Theil gaffend und ſich an dem Thun der Ande¬
ren vergnuͤgend. Werkleute haͤmmerten und klet¬
terten an Geruͤſten und Ehrenbogen umher, Gaͤrt¬
ner und Bauern fuͤhrten ganze Laſten gruͤnen
Zeuges herbei, indeſſen die Behoͤrden und Zuͤnfte
auf den Beinen waren und ihren Aufzug in
zweckloſem Umherſtehen und Gehen den gan¬
zen Tag hielten. Die dicke geſpreizte Magiſtrats¬
perſon, die nicht wußte, wo ihr der Kopf ſtand
vor aufgeblaͤhtem Eifer, Wohldienerei und Wich¬
tigthuerei, rannte die arme Wittwe uͤber den
Haufen, die noch in der letzten Stunde ein Kraͤnz¬
chen oder Faͤhnchen herbeiholte, und der reiche
IV. 13[194] Hofſchuhmacher ſtieß mit der ungeheuren Schil¬
derei, welche er an ſeinem Laden aufrichtete, der
uͤber ihm wohnenden alten Jungfer den verbluͤh¬
ten Myrthenſtock herunter, welchen die Geizige
ſtatt allen Aufwandes vor das Fenſter geſetzt.


Im Laden des Alten war es allmaͤlig leer
geworden, nur einzelne arme Leute kamen am
Nachmittage noch, um nach reiflichem Entſchluſſe
und Erwaͤgung des Nutzens oder des Schadens,
welchen die Unterlaſſung bringen koͤnnte, noch
eine billige Fahne oder zwei zu holen, und feilſch¬
ten hartnaͤckig um den Preis. Der Alte zaͤhlte
jetzt ſeine Einnahme, und vollauf damit beſchaͤftigt,
forderte er Heinrich auf, ſich jetzt hinauszuma¬
chen, unter die Leute zu gehen, den Einzug an¬
zuſehen und ſich etwas guͤtlich zu thun. »Sie
machen ſich wohl nichts daraus, wie?« fuͤgte er
hinzu, als er ſah, daß der Aufgeforderte keine
beſondere Luſt zeigte, »sehen Sie, ſo wird man
geſetzt und klug! Schon weiſer geworden dahinten
bei der alten Eſſe in der kurzen Zeit! Das iſt
recht, ſo muß es kommen! Aber geht dennoch
ein bischen hinaus, Liebſter, und waͤre es nur,
[195] um einmal die Sonne zu genießen und ein ſchoͤ¬
nes junges Koͤnigskind anzuſehen.« Heinrich
fuͤhlte ſich nicht berufen, dem Alten auseinander¬
zuſetzen, inwiefern er Recht oder Unrecht habe
mit ſeiner Zufriedenheit und ſeiner Anſchauung, ging
jedoch vor die Stadt hinaus, um jedenfalls etwas
Luft zu ſchoͤpfen. Er ſah nun auf dem Wege
die ganze Herrlichkeit fertig und mit einem Male,
Alles ſchwamm, flatterte, glaͤnzte und ſchimmerte
in Farben, Gold und Gruͤn, und ein unzaͤhliger
Menſchenſtrom waͤlzte ſich vor das Thor, wo eine
ſchon vorhandene gleiche Menge auf dem Felde
lagerte und zechte, als ob es gaͤlte, ein Ilion
von Tonnen zu bezwingen. Aber die goldene
Nachmittagsſonne rechtfertigte und verklaͤrte allen
Laͤrm, alles Toben und alle Luſt; Heinrich ath¬
mete tief auf und es war ihm zu Muth, als ob
er ein Jahr lang am Schatten gelegen haͤtte in
einem kalten Gefaͤngniß, ſo waͤrmend und wohl¬
thuend ſtroͤmte der goldene Schein auf ihn ein.


Ploͤtzlich ertoͤnte Kanonendonner, Glockenge¬
laͤute uͤber der ganzen weitgedehnten Stadt, Mu¬
ſik erſchallte an allen Enden, die Trommeln wur¬
13 *[196] den geruͤhrt, auf der breiten Landſtraße waͤlzte
ſich erſt ein laufender Menſchenknaͤuel daher, dann
raſſelte ein geharniſchter Reiterhaufen, ritten Be¬
amtete aller Art heran und an der Spitze eines
langen Wagenzuges rollte jetzt der Blumenwagen
voruͤber, in welchem ein liebliches junges Maͤd¬
chen ſaß in Reiſekleidern und hoͤchſt vergnuͤgt das
tobende Volk begruͤßte. Doch Alles ging ſo ſchnell vor¬
uͤber wie ein Traum, und hinter den letzten Rei¬
tern fluthete die Menge zuſammen und bedeckte,
ſich langſam nach der Stadt waͤlzend, alle Ge¬
hoͤfte, Wirthshaͤuſer und Schenken im Umkreiſe
und fiel ſingend, laͤrmend, pruͤgelnd in die zahl¬
loſen Fallen, welche ihr die ſtillen Speculanten
des Tages uͤberall aufgeſtellt.


Auch Heinrich ſchlenderte in die Stadt zuruͤck
und unterhielt ſich nun damit, ſeine Fahnenſtan¬
gen vor den anderen herauszuſuchen; er kannte
ſie bald an verſchiedenen Zeichen, und ein um
das andere Haus wies dieſe Erzeugniſſe ſeines
Fleißes auf. Unverſehens aber erwachte der Re¬
publikaner in ihm und er rief ſchmerzlich in ſich
hinein: »Das iſt alſo nun das Ende vom Liede,
[197] daß Du in dieſer Stadt ſitzeſt und ſolchen Unſinn
beitraͤgſt zum Unſinn!« Und als ob alle Leute
ihm anſehen koͤnnten, daß Er die unzaͤhligen
Staͤngelchen und Stangen bemalt, waͤhrend in
der That kein Sterblicher eine Ahnung hatte au¬
ßer dem Alten, eilte Heinrich voll Scham und
Zerknirſchtheit wieder aus der Stadt an den
abendlichen Fluß hinaus und in die ſchoͤnen Ge¬
hoͤlze, die ſich laͤngs deſſelben hinzogen. Er ging
auf denſelben Wegen, auf welchen er einſt in
Floribus als hoffnungsreicher Kunſtjuͤnger gefah¬
ren und gegangen in jener gruͤnen Narrentracht,
und mit Ferdinand Lys geſtritten hatte. Die po¬
litiſchen Bedenken wegen ſeiner Steckenarbeit tra¬
ten jetzt zwar zuruͤck, aber nur um noch tieferen
Platz zu machen. »Das war nun,« ſagte er ſich,
»ſo ein Stuͤck Schulzeit in der Schule dieſes
Alten! aber nun iſt es nachgerade mehr als ge¬
nug!« Der rauſchende Fluß, die rauſchenden
Baͤume, die balſamiſche Luft der hereinbrechenden
Nacht, die er alle ſo lange nicht genoſſen, ſchie¬
nen ihn aufzurufen zur Treue gegen ſich ſelbſt
und zum Widerſtand gegen jedes unnatuͤrliche
[] Joch, und ſchienen zu ſingen: Siehe, wir rau¬
ſchen, wehen und fließen, athmen und leben und
ſind alle Augenblicke da, wie wir ſind und laſſen
uns nichts anfechten. Wir biegen und neigen
uns, leiden und laſſen es uͤber uns dahin brau¬
ſen und brauſen ſelbſt mit und ſind doch nie et¬
was Anderes, als das was wir ſind! Wir gehen
unter und leben doch, und was wir leben, das
ſorgen wir nicht! Im Herbſt ſchuͤtteln wir alle
Blaͤtter ab, und im Lenz bekleiden wir uns mit
jungem Gruͤn; heute verrinnen wir und ſcheinen
verſiegt und morgen ſind wir da und ſtroͤmen
einher, und ich, der Wind, wehe wohin ich muß
und thue es mit Freuden, ob ich auf meinen
Fluͤgeln Roſengeruͤche trage oder die Wolken des
Unheils!


Als Heinrich nach der Stadt zuruͤckkehrte, be¬
ſchloß er, nie mehr zum Alten zu gehen, moͤge
ihm geſchehen was da wolle, und ſo ſchwer es
ihm auch fiel; denn er hatte das ungewoͤhnliche
graue Maͤnnchen lieb gewonnen.

[]

Siebentes Kapitel.

Den anderen Morgen, als Heinrich aufge¬
ſtanden, empfing er einen Beſuch von ſeiner Haus¬
wirthin, welche eine unvermoͤgliche Frau war
und einen ganzen Trupp Kinder zu ernaͤhren
hatte, waͤhrend ihr Mann ſeinen Erwerb ander¬
weitig hintrug. Heinrich war ihr ſeit einem hal¬
ben Jahre die Miethe ſchuldig; denn dies war
ein Gegenſtand, welcher ihm keine Wahl ließ,
Schulden zu machen oder nicht, da er ein Obdach
haben mußte. Die arme Frau hatte ihn nie ge¬
draͤngt und wußte, daß die, ſo in Sorgen leben,
am beſten mit Geduld und Nachſicht zuſammen
auskommen, was aber dann eine um ſo groͤßere
Zuverlaͤſſigkeit und Ehrlichkeit mit ſich bringt, die
wiederum nicht ſowohl wie eine harte Geſchaͤfts¬
[200] pflicht, als mit frohem Dank aufgenommen wird.
Jetzt bat ſie ihn um Berichtigung ſeiner Schuld,
da mit ihrer Beobachtung, daß Heinrich einiger
Baarſchaft froh war, zugleich das eigene nicht
eine Stunde laͤnger zu ertragende Beduͤrfniß ſich
geſteigert hatte, und zwar in aller Aufrichtigkeit
und Ueberzeugung. Denn das iſt das ergoͤtzliche
und artige Band bei der Armuth, wenn Eines
ein Haͤppchen erſchnappt hat, ſo ſchreit das An¬
dere, das ſich bislang ganz ſtill gehalten, ploͤtzlich
und ohne Bosheit, als ob es am Spieße ſtaͤke,
und dieſer liebenswuͤrdige Wechſel von Entbeh¬
rung und Mitgenuß, von Opferfreudigkeit und
unverhohlenem Anſpruch laͤßt ſie nur um ſo natuͤr¬
licher und menſchlicher empfinden und zum Vor¬
ſchein kommen. Heinrich, der ſeinerſeits eben ſo
unbefangen nicht an ſeine Schuld gedacht hatte,
war in der gleichen Unbefangenheit nur froh,
der Frau ſogleich genuͤgen zu koͤnnen, und ſah
ſich, ehe er ſich ganz ermuntert, beinahe des gan¬
zen Ergebniſſes ſeiner Spirallinie beraubt. So
erfuhr er nun eine noch bedeutſamere Seite der
Schuldbarkeit und Pflichterfuͤllung, naͤmlich wie
[201] es thut, wenn man nicht etwa nur mit leicht erworbe¬
nen oder fremden Mitteln zierlich und gern ſeine
Pflicht loͤſt, ſondern auch mit der Frucht der bit¬
teren und anhaltenden Arbeit Recht und Menſch¬
lichkeit zufriedenſtellt, ehe man an die eigene Noth
denkt. Dies war ſein gluͤckliches Erbgut, das
weit mehr in ſeinem Blute als in ſeinem Wiſſen
lag, daß er durchaus keinen Unterſchied zu machen
vermochte zwiſchen dem Gelde, das er ohne Muͤhe
durch die Sorge Anderer erhalten, und zwiſchen
dem, was er ſich ſauer erworben; denn es hin¬
derte ihn nun, in der Verſuchung der Noth jener
Klugheit und anſcheinend gerechtfertigter Berech¬
nung zu verfallen, welche ſo manche Menſchen in
ſchlimmeren Zeiten wohl ſchlau uͤber dem Waſſer
haͤlt, aber nur um ſie dann gaͤnzlich in Selbſtſucht
und Gemuͤthsſchmutz untergehen zu laſſen.


Die bedraͤngte Wirthin befreite ſich noch am
ſelben Tage von einer Menge kleiner heftiger
Glaͤubiger, erhielt neuen Credit beim Baͤcker,
that ſich etwas guͤtlich mit ihren vom Vater ver¬
laſſenen Kindern, erwarb ſogar ein Stuͤck gerin¬
gen Zeuges zu neuen Hemdchen fuͤr dieſelben,
[202] kurz, ſie athmete auf und lebte nach ihrer Weiſe
herrlich und in Freuden, waͤhrend Heinrich am
gleichen Tage einen ſo rathloſen Zeitraum antrat,
wie er ihn vor Kurzem noch nicht geahnt. Hatte
ſich ſeine Wohnung von allem Beſitzthume ge¬
leert, ſo ſah er jetzt, daß ſie dennoch noch leerer
und kahler werden konnte, indem er von den letz¬
ten faſt voͤllig wertlhloſen Gegenſtaͤndchen und
Bruchſtuͤcken zehrte, und bald ſah es ſo verzwei¬
felt duͤrr und hoffnungsarm um ihn aus, daß die
Wirthin ihn auffordern mußte, ſich eine andere
Wohnung zu ſuchen; denn er war nun, wie ſie
wohl ſah, unter den Stand ihrer eigenen Armuth
hinabgeſunken, und bei dieſer Ungleichheit lag es
nicht mehr in ihrem Vermoͤgen, etwa auf ſein
beſſeres Gluͤck zu bauen und die Selbſterhaltung
hintan zu ſetzen.


So zog er mit ſeinem leeren Koffer, in wel¬
chem allein das Buch ſeiner Jugendgeſchichte lag,
in eine neue Wohnung und erlebte es zum erſten
Male, von unbekannten Leuten gleich als Habenichts
ohne Hoͤflichkeit und mit Mißtrauen empfangen
und angeſehen zu werden, als ſie ſeine Nichthabe
[203] bemerkten. Er ging jetzt auch ſchlecht in Kleidern
einher und mußte tauſend Geſchicklichkeiten erwer¬
ben, dies ſo gut als moͤglich zu verbergen, und alles
dies und wenn ihm das Waſſer in die zerriſſenen
Sohlen drang, lehrte ihn mit ſtummer Beredtſam¬
keit die menſchlichen Dinge zu empfinden und zog
und bog den gruͤnen Zweig ſeines Weſens kraͤftig
nach allen Seiten, daß er geſchmeidig wurde.


Er ertrug das Haͤrteſte ohne Verbitterung
und ohne Hoffnungsloſigkeit, wohl fuͤhlend, daß
eher ein Berg einſtuͤrzt, als ein Menſchenweſen
ohne angemeſſene Schuld zu Grunde geht; wenn
er ſich ſelbſt ſah, wie er eben ſo ſtill und geduldig
alle Strapazen, Entbehrungen und Demuͤthigun¬
gen zu beſtehen, als behende und begehrlich, wie
ein hungriges Fuͤchslein, ein ſich darbietendes
Lebensmittelchen zu erſchnappen und auch dem
Allerwenigſten dankbar einen hohen Werth beizu¬
legen verſtand, ohne ſich doch gierig und thieriſch
zu geberden, ſo uͤbte er ſich gerade an dieſem
Schauſpiel, ſein beſſeres Bewußtſein uͤber daſſelbe
zu erheben ohne geiſtige Ueberhebung und Myſti¬
cismus, und ſein edleres Ich beſchaulich aus dem
[204] dunklen Spiegel der leiblichen Noth zuruͤckleuchten
zu ſehen.


Es fand ſich und kam ihm gut, daß Heinrich
von Natur aus verſtand geduldig zu ſein und
aͤußeres leibliches Leidweſen zu dulden, ohne die
Beweglichkeit der Seele zu verlieren. Dieſe
Kunſt des Duldens, welche das Chriſtenthum
vorzuͤglich ſich angeeignet und zu einer ausgebil¬
deten Cultur erhoben hat, iſt eine loͤbliche Eigen¬
ſchaft des urſpruͤnglichen Menſchen und das Chri¬
ſtenthum hat ſie weder vom Himmel geholt, noch
ſonſt erfunden, ſondern fertig im Vermoͤgen des
Menſchen vorgefunden, und ſie iſt ſo gut welt¬
licher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden
ſie beſeſſen, ſondern auch am kranken und leiden¬
den Thiere taͤglich zu ſehen iſt, und zwar nicht
zum Zeugniß ihrer Niedrigkeit, ſondern ihrer
maßgeblichen Urſpruͤnglichkeit und Natuͤrlichkeit.
Freilich iſt das Dulden der meiſten Chriſten laͤngſt
nicht mehr dieſer edle und kraftvolle Grundzug,
ſondern ein kuͤnſtliches Weſen, welches darauf
hinauslaͤuft, ſobald als moͤglich nicht mehr dulden
zu wollen und fuͤr das Erduldete hinlaͤnglich ent¬
[205] ſchaͤdigt zu werden, daher auch die gedankenloſen
und laͤrmenden Gegner des Chriſtenthums das
Kind mit dem Bade ausſchuͤtten, alles Leiden
entweder fuͤr Heuchelei und Beſchraͤnktheit oder
fuͤr Feigheit halten, und ſich geberden wie eigen¬
ſinnige kreiſchende Kinder, die keine Suppe eſſen
wollen.


Obgleich Heinrich das Ungluͤck um ſeiner
ſelbſtwillen ertrug als eine in's Leben getretene
ſehr deutlich geſtaltete Sache, die um ihrer Klar¬
heit willen zu einem Gute wurde, ſo verfiel er
doch taͤglich immer wieder der chriſtlichen Weiſe,
Gott um unmittelbare Huͤlfe zu bitten in allen
moͤglichen Tonarten, und zwar nicht ſeinetwegen,
ſondern um ſeiner Mutter willen, da deren Ruhe
und Wohlfahrt jetzt von ſeinem eigenen Befinden
abhing. Seit ihr letztes Opfer einen ſo ploͤtz¬
lichen ſchlechten Erfolg gehabt, war es ihm nicht
moͤglich geweſen, ihr wieder zu ſchreiben, da er
ihr nichts Gutes berichten konnte und ſie doch
nicht anluͤgen mochte. Von Woche zu Woche
eine guͤnſtigere Wendung verhoffend, verſchob er
das Schreiben, bis eine ſo lange Zeit verſtrichen
[206] war und ſich ein trauriges Schweigen ſo in ihm
feſtgeſetzt hatte, daß er dieſes nun nicht mehr
brechen zu koͤnnen meinte, als zugleich mit den
wohlgefaͤlligſten Nachrichten und am beſten mit
einer gluͤcklich beſtellten Ruͤckkehr. Die Mutter
hatte ihm noch einige Mal geſchrieben und die
Hoffnung ſeiner baldigen Heimkehr jedesmal mit
der Todesanzeige eines Verwandten, Freundes
oder Nachbarn geſchloſſen, ſo erſt mit derjenigen
des Schulmeiſters, des Oheims, dann mit der¬
jenigen alter Leute ſowohl wie junger kraͤftiger
Menſchen aus Dorf und Stadt, und zahlreiche
Familienereigniſſe und Veraͤnderungen, Entfrem¬
dung alter Verhaͤltniſſe, Untergang manches be¬
kannten Wohlergehens und Daſeins und die Be¬
gruͤndung gaͤnzlich neuer verkuͤndeten vollends dem
fernen Sohne die unerbittliche Flucht der Zeit
und ließen ihn die Vereinſamung ſeiner Mutter
und den Werth eines jeden Tages doppelt fuͤhlen.
Als ſie aber keine Antwort mehr erhielt, ſchwieg
ſie endlich ſtill, und nun ſprach dieſe Stille be¬
redter als alle Briefe in Heinrich's Seele, welcher
ſich doch nicht ruͤhren noch regen konnte.

[207]

So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine
Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht
fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große
Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht
ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬
ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als
Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und
Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬
ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen
Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß
dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm
durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann
mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter
ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe
Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte,
und da doch Alles beim Alten blieb und Gott
in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬
ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke
Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen
Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein.
Denn wenn er ſich bemuͤhte, um ſich das Ver¬
halten eines wirklich vorſehenden und eingreifen¬
den Gottes glaubwuͤrdig und begreiflich zu machen,
[208] an der Mutter ſelbſt eine Art Schuld aufzufinden,
welche eine ſolche Leidensſchule verurſacht, ſo
konnte er keine finden, und dieſe ganze Unter¬
ſuchung duͤnkte ihn laͤſterlich und unkindlich;
oder wenn er endlich etwa dachte, daß vielleicht
gerade das aͤngſtliche Weſen der Mutter in irdi¬
ſchen Dingen, der große Werth, den ſie auf ein
ſicheres Auskommen und auf eine herbe Sparſam¬
keit legte, ihr Vergehen ſei, welches eine weiſe
Schule Gottes hervorgerufen, ſo konnte er doch
zwiſchen der anhaltenden und bitteren Strenge
dieſer Schule und der geringfuͤgigen harmloſen
und unſchaͤdlichen Urſache derſelben durchaus kein
gerechtes und weiſes Verhaͤltniß finden, und
wenn noch irgend etwas Verhaͤltnißmaͤßiges da
war, ſo duͤnkte es ihn ertraͤglicher und edler, es
lediglich als die innewohnende Folgerichtigkeit
und Nothwendigkeit der Dinge zu betrachten,
als es dem vorſaͤtzlichen Benehmen eines uͤber¬
kritiſchen Gottes zuzuſchreiben. Nichts deſto minder
wandte er ſich jedesmal, wenn das verlorene
Schweigen zwiſchen ihm und der Mutter recht in
ihn hineinfraß, wieder mit einem wahren ſehn¬
[209] ſuͤchtigen Hoͤllenzwang von heißen Gebeten an
eben dieſen ſich maͤuschenſtill verhaltenden Gott.

Als er eines Tages niedergeſchlagen und in
ſchlechten Zuſtaͤnden auf der Straße ging und
ſich von keinem Menſchen beachtet glaubte, kam
ein ſtattlicher junger Buͤrgersmann mit einem
bluͤhenden Weib am Arme auf ihn zu und redete
ihn in ſeiner Heimathſprache an, welche ihm wie
ein Laut aus beſſerer Welt klang in dem Rau¬
ſchen und Droͤhnen der fremden Stadt. Der
Landsmann zeigte ſich erfreut, ihn endlich gefun¬
den zu haben, und verkuͤndete ihm Gruͤße von
ſeiner Mutter. Waͤhrend in Heinrich ſuͤße Freude
und trauriger Schreck ſich miſchten und bekaͤmpf¬
ten und er roth und blaß wurde, erzaͤhlte der
Fremde, wer er ſei, und wunderte ſich, von Hein¬
rich nicht gekannt zu ſein. Es war aber Nie¬
mand anders, als ein naͤchſter Nachbar des vaͤter¬
lichen Hauſes und jener junge Handwerker, wel¬
cher mit Heinrich am gleichen Tage in die Fremde
gezogen, aber zu Fuß und ein ſchweres Felleiſen
tragend, von ſeiner armen Mutter begleitet, in¬
deſſen jener ſo hoffnungsvoll auf dem Poſtwagen
IV. 14[210] in die Welt hinein fuhr. Sich in ſeinem ein¬
fachen Handwerk beſchraͤnkend und nichts Anderes
kennend, als die unermuͤdete Nutzanwendung ſei¬
ner fleißigen und geſchickten Hand, jeden Vortheil
fuͤr dieſelbe erſehend und die Augen uͤberall auf¬
machend, aber nur auf ein und denſelben Gegen¬
ſtand gerichtet und aller Orten nur dieſen ſehend,
war er nach wenigen Jahren als ein wohlgeſchul¬
ter und entſchloſſener junger Mann zuruͤckgekehrt
und begann die Gruͤndung ſeines Hauſes mit
ſo zweifelloſem und gluͤcklichem Willen, als ob
es gar nicht anders hergehen koͤnnte, und die
Welt empfing und foͤrderte ihn dabei, als ob es
nur ſo ſein muͤßte, von ſeinem klaren Muthe
angezogen und bezwungen, und als Pfand gab
ſie ihm ein ſchoͤnes und wohlhabendes Buͤrger¬
maͤdchen zur Frau, mit welcher er jetzt eben,
nicht ohne kluge geſchaͤftliche Nebenzwecke, die
Hochzeitreiſe machte.


Er hatte vor ſeiner Abreiſe bei Heinrich's
Mutter angefragt, ob ſie etwas fuͤr ihren Sohn
auszurichten haͤtte, und dieſe, indem ſie mit Be¬
ſchaͤmung geſtehen mußte, daß ſie nicht einmal
[211] wiſſe, wo er ſei, und ſich zu dieſem Geſtaͤndniß
nur widerſtrebend verſtand, bat ihn, den Sohn
aufzuſuchen und denſelben aufzufordern, ihr Nach¬
richt von ſich zu geben, oder ihn womoͤglich zu
beſtimmen, nach Hauſe zu kommen.


So ſtand Heinrich nun vor dem ſtattlich aus¬
ſehenden bluͤhenden Paare, welches bei aller
Freundlichkeit ſich nicht enthalten konnte, pruͤfende
Blicke auf ſeinen ſchlechten Anzug zu werfen.
Da es der letzte Tag ihres Aufenthaltes war
und ſie auf den Abend abreiſen wollten, ſo luden
ſie ihn ein, mit ihnen zu gehen und die uͤbrige
Zeit noch mit ihnen zu verbringen. Sie fuͤhrten
ihn in den Gaſthof und Heinrich aß mit ihnen
zu Mittag. Es war lange her, ſeit er ſich an
einem ſo wohlbeſetzten Tiſche geſehen und feuriger
Wein ſeine Lippen beruͤhrt. Der landsmaͤnniſche
Gaſtfreund ließ reichlich auftragen und drang
wohlmeinend in ihn, es ſich ſchmecken zu laſſen,
und alles dies machte Heinrich nur um ſo ver¬
legener und ließ ihn ſeine Armuth doppelt
empfinden, und indem er ſah, daß die jungen
Eheleute das wohl bemerkten, ſich in ihrer gluͤck¬
[212] lichen Stimmung maͤßigten und mit zartem Sinne
einen der ſeltſamen Lage angemeſſenen Ton inne
zu halten ſuchten, empfand er es wieder bitter,
nicht nur ſelbſt ungluͤcklich zu ſein, ſondern durch
ſein ſo beſchaffenes Daſein die heitere Stimmung
Anderer voruͤbergehend zu truͤben, gleich einer
Regenwolke, die uͤber einen hellen Himmel hinzieht.


Obgleich es ihn draͤngte, ſo viel als moͤglich
von ſeiner Mutter ſprechen zu hoͤren, ſuchte er
ſich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen
zu verrathen, daß er gar nichts von ihr wiſſe,
bis der edle Wein, welchen der Mann genugſam
ſtroͤmen ließ, ihm die Zunge loͤſte, ihn alles
Widerſtreben vergeſſen, ſehnlich und unverhohlen
nach der Mutter fragen ließ.


Da nahm ſich der Landsmann zuſammen und
ſagte: »Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr
Lee, daß Ihre Mutter ſehr Ihrer Ruͤckkunft be¬
darf, und ich wuͤrde Ihnen rathen und fordere
Sie ſogar auf, ſobald als immer moͤglich heim
zu kommen; denn waͤhrend die brave Frau den
tiefſten Kummer und die Sehnſucht nach Ihnen
zu verbergen ſucht, ſehen wir wohl, wie ſie ſich
[213] darin aufzehrt und Tag und Nacht nichts Ande¬
res denkt. So viel ich jetzo ſehe, wenn Sie
meine Freiheit nicht uͤbel nehmen wollen, ſteht
es nicht zum Beſten mit Ihnen, und erachte ich,
daß Sie in dem Stadium ſind, wo die Herren
Kuͤnſtler allerlei durchmachen muͤſſen, um endlich
mit Ehre und ſtattlichem Anſehen aus der Noth
hervorzugehen. Unſereines hat wohl auch allerlei
Strapazen auf der Wanderſchaft durchzumachen
oder als Anfaͤnger harte Zeit zu erleben; allein
mit der Arbeit koͤnnen wir, wenn wir nur wollen,
uns jederzeit helfen, und unſere Haͤnde ſind im¬
mer ſo gut wie baares Geld oder gebackenes
Brot und fuͤr jede Stunde eine unmittelbare
Selbſthuͤlfe, waͤhrend es bei Ihnen dazu noch
gutes Gluͤck und allerlei Unerhoͤrtes braucht, wo¬
von ich nichts verſtehe. Vorlaute und unver¬
ſtaͤndige Weibſen und auch eben ſolche Maͤnner
in unſerer Stadt, wo es ruchbar geworden, daß
Ihre Mutter große Summen an Sie gewendet
und ihr eigenes Auskommen dadurch bedeutend
geſchmaͤlert hat, haben es ſich beikommen laſſen,
dieſelbe hart zu tadeln hinter ihrem Ruͤcken und
[214] auch ihr in's Geſicht ungefragt zu ſagen, daß ſie
unrecht gethan und ſowohl ihrem Sohne ſchlecht
gedient, als durch ſolche unzukoͤmmliche Opfer
ſich ſelbſt uͤberhoben habe. Jedermann, der Ihre
Mutter kennt, weiß, daß Alles eher als dieſes der
Fall iſt, aber das unverſtaͤndige Geſchwaͤtz hat
ſie vollends eingeſchuͤchtert, daß ſie faſt mit Nie¬
mand zuſammenkommt und ſo in Einſamkeit und
harter Selbſtverlaͤugnung dahinlebt. Obgleich
die Nachbaren ihr manche Dienſte anbieten, nimmt
ſie nichts an, und die Art, wie ſie dies thut und
wie ſie ihre Sachen beſorgt, hat, ſo viel man
davon ſehen kann, etwas hoͤchſt Seltſames und
Schwermuͤthig machendes fuͤr uns Zuſchauer.
Sie ſitzt den ganzen Tag am Fenſter und ſpinnt,
ſie ſpinnt Jahr aus und ein, als ob ſie zwoͤlf
Toͤchter auszuſteuern haͤtte, und zwar, wie ſie
ſagt, damit doch mittlerweile etwas angeſammelt
wuͤrde, und da ſie nichts Anderes anſammeln
koͤnne, wenigſtens ihr Sohn fuͤr ſein Leben lang
und fuͤr ſein ganzes Haus genug Leinwand finde.
Wie es ſcheint, glaubt ſie durch dieſen Vorrath
weißen Tuches, das ſie jedes Jahr weben laͤßt,
[215] Ihr Gluͤck herbeizulocken, gleichſam wie in ein
aufgeſpanntes Netz, damit es durch einen tuͤchti¬
gen Hausſtand ausgefuͤllt werde, oder gleichſam
wie die Gelehrten und Schriftſteller durch ein
Buch weißes Papier gereizt und veranlaßt wer¬
den ſollen, ein gutes Werk darauf zu ſchreiben,
oder die Maler durch eine ausgeſpannte Lein¬
wand, ein ſchoͤnes Stuͤck Leben darauf zu malen.
Zuweilen ſtuͤtzt ſie ausruhend den Kopf auf die
Hand und ſtaunt unverwandt in das Land hin¬
aus uͤber die Daͤcher weg oder in die Wolken;
wenn es aber dunkelt, ſo laͤßt ſie das Rad ſtill
ſtehen und bleibt ſo im Dunkeln ſitzen, ohne
Licht anzuzuͤnden, und wenn der Mond oder ein
fremder Lichtſtrahl auf ihr Fenſter faͤllt, ſo kann
man alsdann unfehlbar ihre Geſtalt in demſelben
ſehen, wie ſie immer gleich in's Weite hinaus¬
ſchaut. Seit Jahren geht ſie in demſelben brau¬
nen Kleide, welches ſich gar nicht abzutragen
ſcheint, uͤber die Straße und hat ſich ſtreng von
aller auch der einfachſten Zier entbloͤßt, daß es
unſere Weiber aͤrgert, welche gewoͤhnt ſind, ſich
mit der Zeit immer reicher zu kleiden, anſtatt
[216] ſchlichter, und darnach ihr Gedeihen berechnen.
Wahrhaft melancholiſch aber iſt es anzuſehen,
wenn ſie zuweilen ihre Betten ſonnt; anſtatt ſie
mit Huͤlfe Anderer auf unſeren geraͤumigen Platz
hinzutragen, wo der große Brunnen ſteht, ſchleppt
ſie dieſelben allein auf das hohe ſchwarze Dach
Eures Hauſes, breitet ſie dort an der Sonnen¬
ſeite aus, geht emſig auf dem ſteilen Dache um¬
her, ohne Schuhe zwar, aber bis an den Rand
hin, klopft die Stuͤcke aus, kehrt ſie, ſchuͤttelt ſie
und hantirt dermaßen ſeelenallein in dieſer
ſchwindligen Hoͤhe unter dem offenen Himmel,
daß es hoͤchſt verwegen und ſonderbar anzuſehen
iſt, zumal wenn ſie, einen Augenblick innehaltend,
die Hand uͤber die Augen haͤlt und da hoch oben
in der Sonne ſtehend in die weite Ferne hinaus
ſieht. Ich konnte es einmal nicht laͤnger anſehen
von meinem Hofe aus, wo ich eben einen Wagen
lackirte, ging hinuͤber, ſtieg bis zum Dache hinauf
und hielt unter der Luke eine Anrede an ſie, in¬
dem ich ihr die Gefahr ihres Thuns vorſtellte
und bat, doch die Huͤlfe anderer Leute in Anſpruch
zu nehmen. Sie laͤchelte aber nur und bedankte
[217] ſich, und bin ich auch der Meinung, daß nur
durch Ihre Heimkehr ſolche peinliche Abſtinenz
und Poͤnitenz vertrieben werden kann!«


Der wackere Mann, welcher keinen Augenblick
Heinrich veraͤchtlich behandelte, vielmehr deſſen
Lage mit achtungsvollem Mitgefuͤhl fuͤr einen
nothwendigen Kuͤnſtlerzuſtand hielt, aus welchem
herauszukommen und dann die Herrlichkeiten des
Kuͤnſtlerthums anzutreten nur von einem feſten
Wollen und Zuſammenraffen Heinrich's abhinge,
munterte ihn nun wiederholt auf, nach Hauſe
zu kommen, und malte ihm aus, wie die ſichere
Luft der Heimath meiſtens in ſolchen Faͤllen eine
guͤnſtige Wendung herbeifuͤhre und dem Erfahrenen
und Gepruͤften einen neuen Muth und zugleich
einen klaren Ueberblick gebe, ſo daß er entweder
gedeihlich im Lande bliebe, oder wenn es der
Beruf ſo mit ſich fuͤhre, mit neuer Kraft und
groͤßerer Zweckmaͤßigkeit zum zweiten Mal aus¬
fliegen koͤnne. Er bot ihm, indem er von der
Mutter den Auftrag zu haben vorgab, die noͤthige
Baarſchaft an zur Heimreiſe.


Heinrich hatte dem Erzaͤhler unverwandt zu¬
14 *[218] gehoͤrt; ſtatt auf die Vorſchlaͤge des braven Nach¬
bars zu hoͤren, deſſen Anerbieten und jetziges
Weſen er vor Jahren kaum geahnt haͤtte und
den er dazumal kaum naͤher gekannt, ſah er fort
und fort die ſeltſamen Bilder ſeiner Mutter,
welche der Landsmann ihm entworfen, und ſie
praͤgten ſich ſeinem Sinne in einer goldenen ſon¬
nigen Verklaͤrung ein, ſo daß er traͤumend ihnen
nachhing. Als der Landsmann ihn endlich er¬
munterte und, ſein Glas fuͤllend, ſein Anerbieten
und ſeine Aufforderung wiederholte, lehnte er
Alles mit beſcheidenem Danke ab und bat, die
freundlichen Leutchen moͤchten ſeine Mutter tau¬
ſend Mal gruͤßen und nur ſagen, es ginge ihm
ganz ordentlich, er wuͤrde gewiß ſobald immer
thunlich zuruͤckkehren Denn das Anerbieten des
Mannes zu ergreifen und in dieſem Augenblicke
und auf dieſe Weiſe nach der Heimath zu gehen,
ſchien ihm ganz gewaltſam und wie aus der
Schule gelaufen, ohne ſeine Tagesaufgabe geloͤſt
zu haben.


Er begleitete das Paar nach dem Bahnhofe
und ſah ſie mit Hunderten von gluͤcklichen Rei¬
[219] ſenden davonfliegen, indeß er ſelbſt traurig in
die Stadt zuruͤckkehrte, welche ihm nun vollends
zu einem Aufenthalt des Elendes, der Verban¬
nung wurde. Aber dieſer Zuſtand war nun ſchon
wieder ein anderer geworden als erſt vor einem
Tage, und durch die Begegnung mit dem Lands¬
manne und deſſen Mittheilungen nahm ſein lei¬
dendes Verhalten eine beſtimmte und veredelte
Geſtalt, und er fuͤhlte ſich durch einen klaren
nothwendigen Verlauf der Dinge, durch die Er¬
fuͤllung eines jeden Theilchens ſeiner Selbſtbe¬
ſtimmung und Verſchuldung an das ferne Elend
gefeſſelt, waͤhrend alle ſeine Gedanken mit tiefer
Sehnſucht nach der Heimath zogen, wo er un¬
aufhoͤrlich das Bild ſeiner Mutter an dem drehen¬
den Rade ſitzen, durch die Straßen der alten
Stadt gehen oder auf dem ſonnbeglaͤnzten Haus¬
dache emporragen ſah.


Sein ganzes Weſen wurde von dieſen Bildern
und von glaͤnzenden Vorſtellungen der Heimath
getraͤnkt und durchdrungen, und die einfache
Ruͤckkehr nach derſelben erſchien ihm jetzt nach
all den Hoffnungen und Beſtrebungen das wuͤn¬

[220]

ſchenswertheſte und hoͤchſte Gut, welches doch
wiederum durch eine ſeltſame kuͤnſtleriſche Ge¬
wiſſenhaftigkeit in eine ungewiſſe, faſt unerreich¬
bare Ferne geruͤckt wurde, durch die kuͤnſtleriſche
Gewiſſenhaftigkeit nicht etwa des Malers, ſondern
des Menſchen, welchem es unmoͤglich erſchien,
ohne Grund und Abſchluß, ohne das Verdienſt
eines erreichten Lebens jenes Gluͤck vom Zaune
zu brechen und gewaltſam herbeizufuͤhren.


Allein das heiße Verlangen nach dieſem ſo
einfachen und natuͤrlichen Gute wirkte ſo maͤchtig
in ihm, daß in tiefer Nacht, wenn der Schlaf
ihn endlich heimgeſucht, eine ſchoͤpferiſche Traum¬
welt lebendig wurde und durch die gluͤhendſten
Farben, durch den reichſten Geſtaltenwechſel und
durch die ſeligſten, mit dem allerausgeſuchteſten
Leide gepaarten Empfindungen den Schlafenden
begluͤckte, mit ihrer Nacherinnerung aber auch den
Wachen fuͤr alles Uebel vollkommen ſchadlos hielt
und das Unertraͤgliche ertraͤglich machte, ja ſogar
zu einer Art von bemerkenswerthem Gluͤcke um¬
wandelte.


Ganz wie es ihm einſt Roͤmer, ſein unkluger
[221] und doch ſo erfahrener Lehrer, verkuͤndet, ſah er
nun im Traume bald die Stadt, bald das ſchoͤne
Dorf auf wunderbare Weiſe verklaͤrt und ver¬
aͤndert, ohne je hinein gelangen zu koͤnnen, oder
wenn er dort war, mit einem ploͤtzlichen traurigen
Ausgang und Erwachen. Er durchreiſte die
ſchoͤnſten Gegenden ſeines Vaterlandes, welche er
in der Wirklichkeit niegeſehen, ſah die Gebirge,
Thaͤler und Stroͤme mit wohlbekannten und doch
ganz unerhoͤrten Namen, die wie Muſik klangen
und doch etwas kindiſch Komiſches an ſich hatten,
wie es nur der Traum gebaͤren kann; er naͤherte
ſich allmaͤlig der Stadt, worin das Vaterhaus
lag, auf wunderbaren Wegen, am Rande breiter
Stroͤme, auf denen jede Welle einen ſchwimmen¬
den Roſenſtock trug, ſo daß unter dem dahin¬
ziehenden Roſenwalde das Waſſer kaum hindurch
funkelte. Ein Landmann pfluͤgte mit einem gol¬
denen Pfluge am Ufer mit milchweißen Ochſen,
unter deren Tritten große Kornblumen aufſpro߬
ten; die Furche fuͤllte ſich mit goldenen Koͤrnern,
welche der Bauer, indem er mit der einen Hand
den Pflug lenkte, mit der anderen aufſchoͤpfte
[222] und weithin in die Luft warf, worauf ſie in
einem goldenen Regen uͤber Heinrich herabfielen,
der ſie in ſeinem Hute auffing und ſah, daß ſie
ſich in lauter goldene Schaumuͤnzen verwandelten,
auf welchen ein alter Schweizer mit dem Schwerte
gepraͤgt war und mit einem ſehr langen Barte.
Er zaͤhlte ſie eifrig und konnte ſie doch nicht
auszaͤhlen, fuͤllte aber alle Taſchen damit; die er
nicht hineinbrachte, als ſie voll waren, warf er
wieder in die Luft, da verwandelte ſich der Gold¬
regen in einen praͤchtigen Goldfuchs, welcher
wiehernd an der Erde ſcharrte, aus welcher dann
der ſchoͤnſte Hafer in Haufen hervorquoll, den
der Goldfuchs muthwillig verſchmaͤhte. Jedes
Haferkorn war ein ſuͤßer Mandelkern, eine ge¬
trocknete Weinbeere und ein neuer Batzen, die in
rothe Seide zuſammengewickelt und mit einem
goldenen Faden zugebunden waren; zugleich war
ein Endchen Schweinsborſte eingebunden, welche
einen angenehm kitzelte, und indem das ſchoͤne
Pferd ſich behaglich darin waͤlzte, rief es: der
Hafer ſticht mich! der Hafer ſticht mich! Hein¬
rich beſtieg das Pferd, ritt beſchaulich am Ufer
[223] hin und ſah, wie der Bauer in die Roſen hinein¬
pfluͤgte und mit ſeinem ganzen Geſpann darunter
verſank. Die Roſen nahmen ein Ende, und
waͤhrend ſie ſich zu dichten Schaaren verzogen
und in die Ferne hinſchwammen, eine hohe Roͤthe
am runden Horizonte ausbreitend, der Fluß aber
jetzt rein und wie ein unermeßliches Band fließen¬
den blauen Stahles erſchien, fuhr der Bauer auf
ſeinem Pfluge, der ſich in ein Schiff verwandelt
hatte, deſſen Steuer ſich aus der goldenen Pflug¬
ſchar formirte, ſingend dahin und ſang: »Das
Alpengluͤhen ruͤckt aus und geht ums Vaterland
herum!« Dann bohrte er eifrig ein Loch in
den Schiffboden; dann ſteckte er das eherne
Mundſtuͤck einer Trompete an das Loch, ſog einen
Augenblick kraͤftig daran, worauf es maͤchtig er¬
klang, gleich einem Harſthorn, und einen glaͤnzen¬
den Waſſerſtrahl ausſtieß, der den herrlichſten
Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bil¬
dete. Der Bauer nahm den Brunnenſtrahl,
ſetzte ſich auf den Rand des Schiffes und ſchmie¬
dete auf ſeinen Knieen und mit der rechten Fauſt
ein maͤchtiges Schwert daraus, daß die Funken
[224] nur ſo ſtoben. Als das Schwert fertig war,
probirte er es an einem ausgerupften Barthaar
und uͤberreichte es hoͤflich ſich ſelbſt, der ploͤtzlich
als jener dicke Wirth ihm gegenuͤberſtand, welcher
an jenem Volksfeſte den Wilhelm Tell vorgeſtellt.
Dieſer nahm das Schwert, ſchwang es und ſang
maͤchtig:


Heio heio! bin auch noch do

Und immer meines Schießens froh!

Heio heio! die Zeit iſt weit,

Der Pfeil des Tellen fleugt noch heut!
Heio heio! ſeht ihr ihn nicht?

Dort oben fliegt er hoch im Licht!

Man weiß nicht, wo er ſtecken bleibt,

Heio, heio! 's iſt, wie man's treibt!

Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte
von der Schiffswand, die nun eine Speckſeite
war, urploͤtzlich einen dicken Span herunter und
trat mit demſelben feierlich in die Kajuͤte, um
einen Imbiß zu halten.


Heinrich ritt nun auf ſeinem Goldfuchs in
das Dorf ein, darin ſein Oheim wohnte; es ſah
ganz fremd aus, die Haͤuſer waren neugebaut
[225] und alle Kamine rauchten, indeſſen die Bewohner
ſaͤmmtlich hinter den hellen Fenſtern zu erblicken
waren, wie ſie eifrig um den Tiſch herum ſaßen
und aßen, keine Seele ſich aber auf der Straße
ſehen ließ und ihn alſo auch Niemand bemerkte.
Deſſen war er aber hoͤchlich froh; denn er ent¬
deckte erſt jetzt, daß er auf ſeinem leuchtenden
Pferde noch die alten abgeſchabten und anbruͤchi¬
gen Kleider anhatte. Er beſtrebte ſich desnahen
auch, ungeſehen hinter das Haus des Oheims
zu gelangen; aber wie wunderte er ſich, als die¬
ſes uͤber und uͤber mit Epheu bewachſen und
außerdem noch ganz von den alten wuchtigen
Nußbaͤumen uͤberhangen war, ſo daß kein Stein
und kein Ziegel zu ſehen war und nur hie und
da ein Stuͤckchen Fenſterſcheibe durch das dichte
Gruͤn blinkte. Er ſah wohl, daß ſich Leute hin¬
ter denſelben bewegten, aber er konnte Niemanden
erkennen. Der Garten war mit einer Wildniß
von wuchernden Feldblumen bedeckt, aus denen
die alten verwilderten Gartenſtauden baumhoch
emporragten, und Schwaͤrme wild gewordener
Bienen brauſten auf dieſer Blumenwildniß um¬
IV. 15[226] her. Im Bienenhauſe aber lag ſein alter Liebes¬
brief, den der Wind einſt dahingetragen, vergilbt
und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die
Jahre her Jemand gefunden, obgleich er offen
dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten,
da riß ihn Jemand aus ſeiner Hand, und als
er ſich umſah, huſchte Judith damit lachend um
die Ecke und kuͤßte Heinrich aus der Entfernung
durch die Luft, daß er den Kuß aus ſeinem
Munde fuͤhlte; aber der Kuß verwandelte ſich
ſogleich in ein Apfelkuͤchlein, das er begierig aß,
da er im Schlafe maͤchtigen Hunger empfand.
Dies ſah er auch ſogleich ein und uͤberlegte, daß
er ja traͤume, daß aber der Apfelkuchen von jenen
Aepfeln herkomme, welche er einſt kuͤſſend mit
Judith zuſammengegeſſen. Aber das Stuͤckchen
Kuchen machte ihn erſt recht heißhungrig und er
gedachte, daß es nun Zeit ſei, in das Haus zu
gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit ſein
wuͤrde. Er packte alſo einen ſchweren Mantelſack
aus, welcher ſich unverſehens auf ſeinem Pferde
befand, nachdem er daſſelbe an einen Baum ge¬
bunden, und aus ſeinem Mantelſack rollten die
[227] ſchoͤnſten Kleider hervor und ein feines weißes
Hemd mit geſtickter Bruſt. Wie er dieſes aus¬
einanderfaltete, wurden zwei daraus, aus den
zweien vier, aus den vieren acht, kurz eine Menge
der feinſten Leibwaͤſche breitete ſich aus, welche
wieder in den Mantelſack zu packen Heinrich ſich
abmuͤhte, aber vergeblich; immer wurden es mehr
Hemden und bedeckten den Boden umher und
Heinrich empfand die groͤßte Angſt, uͤber dieſem
ſonderbaren Geſchaͤft von ſeinen Verwandten uͤber¬
raſcht zu werden. Endlich ergriff er in der Ver¬
zweiflung eines, um es anzuziehen, und ſtellte
ſich ſchamhaft hinter einen Nußbaum; aber man
ſah von Hauſe aus an dieſe Stelle und er ſchlich
ſich beklemmt hinter einen anderen und ſo immer
fort von einem Baume zum anderen, bis er dicht
an das Haus gelehnt und ſich in den Epheu hin¬
eindruͤckend in der groͤßten Verwirrung und Eile
den Anzug wechſelte, die ſchoͤnen Kleider anzog
und doch faſt nicht fertig damit werden konnte,
und als er es endlich war, befand er ſich wieder
in der groͤßten Noth, wohin er das traurige Buͤn¬
del der alten Kleider bergen moͤge. Wohin er
15 *[228] es auch trug, immer fiel ihm ein Stuͤck auf die
Erde; zuletzt gelang es mit ſaurer Muͤhe, das
Zeug in den Bach zu werfen, wo es aber durch¬
aus nicht thalab ſchwimmen wollte, ſondern ſich
immer an ſelber Stelle herumdrehte ganz gemaͤch¬
lich. Er ergriff eine verwitterte Bohnenſtange,
die ihm in den Haͤnden zerbrach, und quaͤlte ſich
ab, die ſchlechten Lumpen in die Stroͤmung hinein¬
zuſtoßen; aber die morſche Stange brach und
brach immer wieder und zerſplitterte bis auf das
letzte Stuͤmpfchen. Da beruͤhrte ein ſuͤßer duf¬
tiger Hauch ſeine Wangen, den er ſo recht durch
allen Traum hindurch empfand, und Anna ſtand
vor ihm und fuͤhrte ihn freundlich in das gruͤne
Haus hinein. Er ſtieg Hand in Hand mit ihr
die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der
Oheim, die Tante, die Baſen und die Vettern
ſaͤmmtlich verſammelt waren und ihn herzlich be¬
gruͤßten. Er ſah ſich aufathmend um; die alte
Wohnung war ganz neu und ſonntaͤglich aufge¬
putzt, manches neue, ihm noch unbekannte Moͤbel,
wie es im Laufe der Jahre wohl in ein Haus
kommt, ſtand da, und es war ſo ſonnenhell in
[229] dem Gemach, daß Heinrich nicht begriff, wie durch
den dicken Epheu all das Licht herkomme. Der
Oheim und die Tante waren in ihren beſten
Jahren, die Baͤschen und die Vettern luſtig und
bluͤhender als je, der Schulmeiſter ebenfalls ein
ſehr ſchoͤner Mann und aufgeraͤumt wie ein Juͤng¬
ling, und Anna war als Maͤdchen von vierzehn
Jahren in jenem rothgebluͤmten Kleide und mit
der lieblichen Halskrauſe. Was aber ſehr ſonder¬
bar war: Alle, Anna nicht ausgenommen, trugen
lange feine koͤlniſche Pfeifen in den Haͤnden und
rauchten einen wohlriechenden Taback und Heinrich
ebenfalls. Dabei ſtanden ſie, die Verſtorbenen
und die noch Lebendigen, keinen Augenblick ſtill,
ſondern gingen mit freundlichen frohen Mienen
unablaͤſſig die Stube auf und nieder, hin und
her, und dazwiſchen niedrig am Boden die zahl¬
reichen Jagdhunde, das Reh, der Marder, zahme
Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur
daß die Thiere den entgegengeſetzten Strich mit
den Menſchen gingen und ſo ein wunderbares
Weben durcheinanderging. Der große Nußbaum¬
tiſch war mit dem ſchoͤnſten weißen Damaſttuche
[230] gedeckt und mit einer duftenden vollaufgeruͤſteten
Mahlzeit beſetzt, an welche aber Niemand ruͤhrte.
Heinrich konnte kaum erwarten, bis man ſich zu
Tiſche ſetze, ſo waͤſſerte ihm der Mund, und un¬
terdeſſen ſagte er zum Oheim: Ei, Ihr ſcheint
es Euch da recht wohl ſein zu laſſen! »Verſteht
ſich!« ſagte der, und Alle wiederholten: »Verſteht
ſich!« mit angenehm klingender Stimme.


Ploͤtzlich befahl der Oheim, daß man zu Tiſche
ſitze, und Alle ſtellten die Pfeifen pyramidenweiſe
zuſammen auf den Boden, je drei und drei, wie
die Soldaten die Gewehre. Darauf ſchienen ſie
unverſehens wieder zu vergeſſen, daß ſie ſich
eigentlich zu Tiſch ſetzen wollten zum großen
Verdruß Heinrich's; denn ſie gingen nun ohne
die Pfeifen wieder umher und fingen allmaͤlig an
zu ſingen, und Heinrich ſang mit:


Wir traͤumen, wir traͤumen,

Wir traͤumen, traͤumen, traͤumen,

Wir ſaͤumen, traͤumen, ſaͤumen,

Wir eilen und wir weilen,

Wir weilen und wir eilen,

Sind da und ſind doch dort,

[231]
Wir gehen bleibend fort,

Wem convenirt es nicht?

Wie ſchoͤn iſt dies Gedicht!

Halloh, halloh!

Es lebe was auf Erden ſtolzirt in gruͤner Tracht,

Die Waͤlder und die Felder, die Jaͤger und die Jagd!

Dieſe merkwuͤrdige Traumcompoſition ſangen
die Weiber und Maͤnner mit wundervoller Har¬
monie und Luſt und das Halloh ſtimmte der
Oheim mit gewaltiger Stimme an, ſo daß die
ganze Schaar mit verſtaͤrktem Geſange darein¬
toͤnte und rauſchte und zugleich blaͤſſer und blaͤſſer
werdend ſich in einen wirren Nebel aufloͤſte, waͤh¬
rend Heinrich bitterlich weinte und ſchluchzte und
die Thraͤnen ſtromweis floſſen. Er erwachte in
Thraͤnen gebadet, und ſein ſchlechtes Lager, wel¬
ches ſeine jetzigen Wirthsleute, weil er nicht be¬
zahlen konnte, lange nicht aufgefriſcht, war von
Thraͤnen benetzt. Als er dieſe mit Muͤhe getrock¬
net, war das Erſte, deſſen er ſich erinnerte, der
wohlbeſetzte Tiſch, der ihm ſo ſchnoͤde entſchwun¬
den, und erſt dann fiel ihm nach und nach der
ganze Traum bei und er ſchlief voll Sehnſucht
[232] hurtig wieder ein, um nur ſchnell wieder in das
gelobte Land zu kommen und die Heimreiſe zu
vollenden.


Er fand ſich in einem großen Walde wieder
und ging auf einem wunderlichen ſchmalen Bret¬
terſteig, welcher ſich hoch durch die Aeſte und
Baumkronen wand, eine Art endloſen haͤngenden
Bruͤckenbaues, indeſſen der bequeme Boden unten
unbenutzt blieb. Aber es war ſchoͤn hinabzu¬
ſchauen auf denſelben, da er ganz aus gruͤ¬
nem Mooſe beſtand, welches in tiefer Dunkel¬
heit lag. Auf dem Mooſe wuchſen Tauſende von
einzelnen ſternfoͤrmigen Blumen auf ſchwankem
Stengel, die ſich immer dem oben gehenden Be¬
ſchauer zuwandten; im Schatten jeder Blume
ſtand ein kleines Bergmaͤnnchen, welches mittelſt
eines in einem goldenen Laternchen eingefaßten
Karfunkels die naͤchſte Blume beleuchtete, daß ſie
aus der Tiefe glaͤnzte wie ein blauer oder rother
Stern, und indem ſich die Blumengeſtirne lang¬
ſamer oder ſchneller drehten, gingen die Maͤnnchen
mit ihren Laternchen um ſie herum und lenkten
ſorgfaͤltig den Lichtſtrahl auf den Kelch. Jede
[233] Blume hatte ihr eigenes Maͤnnchen, und das
kreiſende Leuchten in der dunklen Tiefe ſah ſich
von dem hohen Bretterwege wie ein unterirdiſcher
Sternhimmel an, nur daß er gruͤn war und die
Sterne in allen Farben ſtrahlten. Heinrich ging
entzuͤckt auf ſeiner Haͤngebruͤcke weiter und ſchlug
ſich tapfer durch die Buchen- und Eichenkronen,
manchmal kam er in eine Foͤhrengruppe hinein,
welche etwas lichter war, und das purpurrothe
von der Sonne durchgluͤhte, ſtarkduftende Holz¬
werk der Fichtenkronen bot einen fabelhaften An¬
blick und Aufenthalt, da es wie kuͤnſtlich bearbeitet,
gezimmert und mit wunderlichem Bildwerk verziert
erſchien und doch natuͤrliches Aſtwerk war.
Manchmal fuͤhrte der Steg auch ganz uͤber die
Baͤume hinweg unter den offenen Himmel und
Sonnenſchein, und Heinrich ſtellte ſich auf das
ſchwanke Gelaͤnder, um zu ſehen, wo es hinaus¬
ginge; aber nichts war zu erblicken, als ein end¬
los Meer von gruͤnen Baumwipfeln, ſo weit das
Auge reichte, auf dem der heiße Sommertag flim¬
merte und Abertauſende von wilden Tauben,
Haͤhern, Mandelkraͤhen, Finken, Weihen und
[234] Dohlen herumſchwaͤrmten, und das Wunderbare
war nur, daß man auch die allerfernſten Voͤgel
deutlich erkannte und ihre glaͤnzenden Farben un¬
terſcheiden konnte. Nachdem Heinrich ſich ſatt¬
ſam umgeſchaut, ging er weiter und ſchaute wieder
in die Tiefe, wo er jetzt eine noch viel tiefere
Felsſchlucht entdeckte, die aber fuͤr ſich allein
gaͤnzlich von der Sonne erhellt war, welche durch
irgend eine Bergſpalte hereinbrach. Auf dem
Grunde war eine kleine Wieſe an einem klaren
Bache; mitten auf der Wieſe ſaß auf ihrem klei¬
nen Strohſeſſel Heinrich's Mutter in einem brau¬
nen Einſiedlerkleide und mit eisgrauen Haaren.
Sie war uralt und gebeugt, und Heinrich konnte
ungeachtet der fernen Tiefe jeden ihrer Zuͤge genau
erkennen. Sie huͤtete mit einer gruͤnenden Ruthe
eine kleine Heerde großer Silberfaſanen, und
wenn einer ſich aus ihrem Umkreiſe entfernen
wollte, ſchlug ſie leiſe auf ſeine Fluͤgel, worauf
einige glaͤnzende Federn emporſchwebten und in
der Sonne ſpielten. Am Baͤchlein aber ſtand
ihr Spinnrad, das mit Schaufeln verſehen und
eigentlich ein kleines Muͤhlrad war und ſich blitz¬
[235] ſchnell drehte; ſie ſpann nur mit der einen Hand
den leuchtenden Faden, der ſich nicht auf die
Spule wickelte, ſondern kreuz und quer an dem
Abhange herumzog und ſich da ſogleich zu großen
Flaͤchen blendender Leinwand bildete. Dieſe
ſtieg hoͤher und hoͤher hinan, und ploͤtzlich fuͤhlte
Heinrich ein ſchweres Gewicht auf ſeiner Schulter
und entdeckte, daß er den vergeſſenen Mantelſack
trug, der von den feinen Hemden ganz geſchwollen
war. Indem er ſich muͤhſelig damit ſchleppte,
ſah er wie die Faſanen ploͤtzlich ſchoͤne Bettſtuͤcke
waren, die ſeine Mutter ſonnte und eifrig aus¬
klopfte. Dann nahm ſie dieſelben zuſammen und
trug ſie geſchaͤftig herum und eines um's andere
in den Berg hinein. Wenn ſie wieder heraus¬
kam, ſo ſchaute ſie mit der Hand uͤber den Augen
ſich um und ſang:


Mein Sohn, mein Sohn,

O ſchoͤner Ton!

Wie ſchoͤn er verhallt

Im toͤnenden Wald!

Mein Sohn, mein Sohn geht durch den Wald!

Ihre Stimme toͤnte ruͤhrend hell und klingend
[236] in der weit und breiten Stille; da erſah ſie ihn
ploͤtzlich, als er hoch uͤber der Schlucht auf ſeinem
ſchwebenden Stege ſtand und ſehnlich auf ſie
herabſchaute. Sie ſtieß einen lauten weithin
verklingenden Freudenſchrei aus und ſchwebte
blitzſchnell wie ein Geiſt davon uͤber Stock und
Stein, ohne zu gehen, ſo daß ſie Heinrich immer
in der groͤßten Ferne zu entſchwinden drohte,
waͤhrend er ihr vergeblich rufend nacheilte, daß
die Baumkronen um ihn tanzten und ſauſten und
der Steg ſich bog und knarrte.


Ploͤtzlich war der Wald aus und Heinrich
ſah ſich auf dem ſteilen Berge ſtehen, welcher
ſeiner Geburtsſtadt gegenuͤberlag, aber welch einen
Anblick bot dieſe. Der Fluß war zehnmal breiter
als ſonſt und glaͤnzte wie ein Spiegel; die Haͤuſer
waren alle ſo groß wie ſonſt die Muͤnſterkirche,
von der fabelhafteſten Bauart und leuchteten im
Sonnenſchein; alle Fenſter waren mit einer Fuͤlle
der ſeltenſten Blumen bedeckt, die ſchwer uͤber die
mit Bildwerk bedeckten Mauern herabhingen, die
Linden ſtiegen in unabſehbarer Hoͤhe in den dun¬
kelblauen durchſichtigen Himmel hinein, der ein
[237] einziger Edelſtein ſchien, und die rieſenhaften
Lindenwipfel wehten daran hin und her, als ob
ſie ihn noch blanker fegen wollten, und zuletzt
wuchſen ſie in die durchſichtige blaue Maſſe hinein,
daß es vollkommen anzuſehen war wie die Moos¬
pflaͤnzchen, die man im Bernſtein eingeſchloſſen
ſieht, nur unendlich groͤßer.


Zwiſchen den ungeheuren gruͤnen Laubmaſſen
der Linden ſtiegen die beiden gothiſchen Thuͤrme
des Muͤnſters empor, indeſſen das byzantiniſche
Schiff der Kirche wie ein Steingebirge unter der
Laubmaſſe lag; aber wo etwas davon ſichtbar
wurde, war es die kuͤnſtlichſte Bildhauerarbeit.
Die beiden goldenen Kronen aber, welche, Heinrich
wohlbekannt, die Thurmknoͤpfe bildeten, funkelten
in der Himmelshoͤhe und waren voll junger
Maͤdchen, die darin tanzten. Obgleich er trotz
des breiten Stromes jede Fuge an der Stadt
und jedes einzelne Lindenblatt klar und ſcharf
erkennen konnte, ſo konnte er doch nicht ſehen,
wer die Maͤdchen waren, und er beeilte ſich, hin¬
uͤberzukommen, da es ihn ſehr Wunder nahm,
wer ſie ſein moͤchten.

[238]

Zur rechten Zeit ſah er den Goldfuchs neben
ſich ſtehen, legte ihm den Mantelſack auf und be¬
gann den jaͤhen Staffelweg hinunterzureiten, der
an die Bruͤcke fuͤhrte. Jede Staffel war aber
ein geſchliffener Bergkryſtall, in welchem gewiſſer¬
maßen als Kern ein ſpannelanges pudelnacktes
Weibchen eingeſchloſſen lag, von unbeſchreiblichem
Ebenmaß und Schoͤnheit der kleinen Gliederchen.
Waͤhrend der Goldfuchs den halsbrechenden Weg
hinuntertrabte und jeden Augenblick mit ſeinem
Reiter in den Abgrund zu ſtuͤrzen drohte, bog
ſich Heinrich links und rechts vom Sattel und
ſuchte mit ſehnſuchtsvollen Blicken in den Kern
der durchſichtigen Kryſtallſtufen zu dringen. »Tau¬
ſend noch einmal!« rief er luͤſtern aus, was
moͤgen das nur fuͤr allerliebſte naͤrriſche Weſen
ſein in dieſer verwuͤnſchten Treppe?« »Ei was
wird's ſein?« erwiederte das Pferd, indem es
ſpringend den Kopf zuruͤckwandte, »das ſind nur
die guten Dinge und Ideen, welche der Boden
der Heimath in ſich ſchließt, und welche derjenige
herausklopft, der im Lande bleibt und ſich redlich
naͤhrt!«

[239]

»Teufel,« rief Heinrich, »ich werde gleich
morgen hier herausgehen und mir einige Staffeln
aufklopfen!« und er konnte ſeine Blicke nicht weg¬
wenden von der langen Treppe, die ſich ſchon
glaͤnzend hinter ihm den Berg hinaufwand. Er
war jetzt unten bei der Bruͤcke angekommen; das
war aber nicht mehr die alte hoͤlzerne Bruͤcke,
ſondern ein marmorner Palaſt, welcher in zwei
Stockwerken eine unabſehbare Saͤulenhalle bildete
und ſo als eine niegeſehene Prachtbruͤcke uͤber den
Fluß fuͤhrte. »Was ſich doch Alles veraͤndert
und vorwaͤrts ſchreitet, wenn man nur einige
Jahre weg iſt!« ſagte Heinrich, als er gemaͤch¬
lich in die weite Bruͤckenhalle hineinritt. Waͤhrend
das Gebaͤude von außen nur in weißem, rothem
und gruͤnem Marmor glaͤnzte, allerdings in den
herrlichſten Verhaͤltniſſen und Gliederungen, waren
die Waͤnde inwendig mit zahlloſen Malereien be¬
deckt, welche die ganze fortlaufende Geſchichte
und alle Thaͤtigkeiten des Landes darſtellten.
Hirten und Jaͤger, Bauern und Pfaffen,
Staatsmaͤnner, Kuͤnſtler, Handwerker, Schiffer,
Kaufleute, Gemsjaͤger, Moͤnche, Juͤnglinge und
[240] Greiſe, alle waren in ihrem Weſen kenntlich und
verſchieden und doch ſich alle gleich und traten
in den dargeſtellten Handlungen ungezwungen
zuſammen in den beſtimmteſten und klarſten Far¬
ben. Die Malerei war einfach, hatte durchaus
den Charakter der alten ſoliden Freskomalerei,
aber alle Abweſenheit von gebrochenen Farben
und den Kuͤnſten des Helldunkels ließ die Bilder
nur um ſo klarer und beſtimmter erſcheinen und
gab ihnen einen unbefangenen und munteren An¬
ſtrich Auch verſtand ſie alles Volk, das auf der
Bruͤcke hin und her wogte, und waͤhrend ſie ſo
durch einen guten und maͤnnlichen Styl fuͤr den
Gebildeten erfreulich blieben, wurden ſie durch
jene Kuͤnſte nicht ungenießbar fuͤr den weniger
Geſchulten; denn die Bedeutung der alten Fresko¬
malerei liegt in ihrer tuͤchtigen Verſtaͤndlichkeit
und Gemeingenießbarkeit, waͤhrend die Vorzuͤge
der neueren Malerei ein geuͤbtes Auge erfordern
und das Volk ſich den Teufel um gebrochene
Toͤne kuͤmmert.


Das lebendige Volk, welches ſich auf der
Bruͤcke bewegte, war aber ganz das gleiche, wie
[241] das gemalte und mit demſelben Eines, wie es
unter ſich Eines war, ja viele der gemalten Figu¬
ren traten aus den Bildern heraus und wirkten
in dem lebendigen Treiben mit, waͤhrend aus die¬
ſem manche unter die Gemalten gingen und an
die Wand verſetzt wurden. Dieſe glaͤnzten dann
in um ſo helleren Farben, als ſie in jeder Faſer
aus dem Weſen des Ganzen hervorgegangen und
ein beſtimmter Zug im Ausdrucke deſſelben waren.
Ueberhaupt ſah man Jeden entſtehen und werden
und der ganze Verkehr war wie ein Blutumlauf
in durchſichtigen Adern. In dem geſchliffenen
Granitboden der Halle waren verſchiedene Loͤcher
angebracht mit eingepaßten Granitdeckeln, und
was ſich Geheimnißvolles oder Fremdartiges in
dem Handel und Wandel erblicken ließ, wurde
durch dieſe Loͤcher mit einem großen Beſen hin¬
abgekehrt in den unten durchziehenden Fluß, der
es ſchleunig weit wegfuͤhrte. Der Ein- und
Ausgang der Bruͤcke aber war offen und unbe¬
wacht, und indem der Zug uͤber dieſelbe beſtaͤndig
im Gange war, der Austauſch zwiſchen dem ge¬
malten und wirklichen Leben unausgeſetzt ſtatt¬
IV. 16[242] fand und Alles ſich unmerklich jeden Augenblick
erneuerte und doch das Alte blieb, ſchien auf die¬
ſer wunderbar belebten Bruͤcke Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft nur Ein Ding zu ſein.

»Nun moͤcht' ich wohl wiſſen,« ſagte Heinrich
vor ſich hin, waͤhrend er aufmerkſam Alles auf's
Genaueſte betrachtete, »was dies fuͤr eine muntere
und luſtige Sache hier iſt!«


Das Pferd erwiederte auf der Stelle: »Dies
nennt man die Identitaͤt der Nation!«


»Himmel!« rief ſein Reiter, »Du biſt ein ſehr
gelehrtes Pferd! Der Hafer muß Dich wirklich
ſtechen! Wo haſt Du dieſe gelehrte Anſchauung
erworben?«


»Erinnere Dich,« ſagte der Goldfuchs, »auf
wem Du reiteſt! Bin ich nicht aus Gold ent¬
ſtanden? Gold aber iſt Reichthum und Reich¬
thum iſt Einſicht.«


Bei dieſen Worten merkte Heinrich ploͤtzlich,
daß ſein Mantelſack ſtatt mit Waͤſche jetzt gaͤnz¬
lich mit jenen goldenen Muͤnzen angefuͤllt und
ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern
in das Waſſer geworfen hatte. Ohne zu gruͤbeln,
[243] woher ſie ſo unvermuthet wieder kaͤmen, fuͤhlte er
ſich hoͤchſt zufrieden in ihrem Beſitze, und obſchon
er dem weiſen Gaule nicht mit gutem Gewiſſen
Recht geben konnte, daß Reichthum Einſicht ſei,
ſo war er doch ſchon inſoweit von ſeiner Behaup¬
tung angeſteckt und fand ſich doch ploͤtzlich ſo leid¬
lich einſichtsvoll, daß er wenigſtens nichts er¬
wiederte und gemuͤthlich weiter ritt auf der ſchoͤ¬
nen Bruͤcke.


»Nun ſage mir, Du weiſer Salomo!« begann
er nach einer Weile wieder, »heißt eigentlich die
Bruͤcke oder die Leute ſo darauf ſind: die Iden¬
titaͤt? oder welches von beiden nennſt Du ſo?«


»Beide zuſammen ſind die Identitaͤt!« ſagte
das Pferd.


»Der Nation?« fragte Heinrich.


»Der Nation, zum Teufel noch einmal, ver¬
ſteht ſich!« ſprach der Goldfuchs.


»Gut! aber welches iſt denn die Nation, die
Bruͤcke oder die Leute, ſo daruͤber rennen?« ſagte
Heinrich.


»Ei ſeit wann,« rief das Pferd, »iſt denn eine
Bruͤcke eine Nation? Nur Leute koͤnnen eine
16 *[244] Nation ſein, folglich ſind dieſe Leute hier die
Nation!«


»So! und doch ſagteſt Du ſoeben, die Nation
und die Bruͤcke zuſammen machten eine Identitaͤt
aus!« — erwiederte Heinrich.


»Das ſagt' ich auch und bleibe dabei!« ver¬
ſetzte das Pferd.


»Nun, alſo?« fuhr Heinrich fort.


»Wiſſe,« antwortete der Gaul bedaͤchtig, indem
er ſich auf allen Vieren ausſpreizte und tiefſinnig
in den Boden hineinſah, »wiſſe, wer dieſe hei¬
klige Frage zu beantworten, den Widerſpruch zu
loͤſen verſteht, ohne den ſcheinbaren Gegenſatz
aufzuheben, der iſt ein Meiſter hier zu Lande
und arbeitet an der Identitaͤt ſelber mit. Wenn
ich die richtige Antwort, die mir wohl ſo im
Maule herumlaͤuft, rund und nett zu formuliren
verſtaͤnde, ſo waͤre ich nicht ein Pferd, ſondern
laͤngſt hier an die Wand gemalt. Uebrigens
erinnere Dich, daß ich nur ein von Dir getraͤum¬
tes Pferd bin und alſo unſer ganzes Geſpraͤch
eine ſubjective Ausgeburt und Gruͤbelei Deines
eigenen Gehirnes iſt, die Du Aberwitziger mit
[245] uͤber den Rhein gebracht haſt. Mithin magſt
Du fernere Fragen Dir nur ſelbſt beantworten
aus der allererſten Hand!«


»Ha! Du widerſpenſtige Beſtie!« ſchrie Hein¬
rich in anthropologiſchem Zorne und ſpornte das
Pferd heftig, »um ſo mehr, undankbarer Klepper,
biſt Du mir zu Red' und Antwort verpflichtet,
da ich Dich aus meinem ſo ſauer ergaͤnzten Blute
erzeugen und dieſen Traum lang ſpeiſen und unter¬
halten muß!«


»Hat auch was Rechtes auf ſich!« erwiederte
das Pferd ganz gelaſſen. »Dieſes ganze Geſpraͤch,
uͤberhaupt unſere ganze werthe Bekanntſchaft iſt
das Werk und die Dauer von kaum zwei Secun¬
den und koſtet doch wohl kaum einen Hauch von
Deinem geehrten Koͤrperlichen«


»Wie, zwei Secunden?« rief Heinrich und
hielt das ſchoͤne Goldthier an, »iſt es nicht wenig¬
ſtens eine Stunde, daß wir auf dieſer endloſen
Bruͤcke reiten und uns umſehen in dem Ge¬
tuͤmmel?«


»Gerade eine Secunde iſt's,« ſagte der Gaul,
»daß ein berittener Nachtwaͤchter um die Straßen¬
[246] ecke bog, und ein einziger Hufſchlag hat in Dir
meine Erſcheinung erneuert, welche uͤberhaupt
veranlaßt wurde, als vor einer halben Stunde
derſelbe Nachtwaͤchter des entgegengeſetzten Weges
kam. Auch iſt dieſes Minimum von Zeit ein und
daſſelbe Minimum von Raum, kurz die identiſche
Kleinigkeit Deines in das Kopfkiſſen gedruͤckten
Schaͤdels, in welchem ſich eine ſo weite Gegend
und tauſend belebte und verſchiedene Dinge gleich¬
zeitig ausbreiten und zwar Alles auf Rechnung
des einen Hufſchlages, welcher nichts deſto minder
nur als ein gemeiner Hammerſchlag zu betrachten
iſt, der nur dazu dient, den Kaſten Deines eige¬
nen Weſens aufzuthun, worin Alles ſchon huͤbſch
zuſammengepaͤſchelt liegt, was —«


»Um's Himmelswillen!« rief Heinrich, »ver¬
geude nicht laͤnger die koſtbare Dauer des Huf¬
ſchlages mit Deinen Auseinanderſetzungen, ſonſt
iſt der nur allzukurze Augenblick vorbei, ehe ich
uͤber dieſe ſchoͤne Bruͤcke im Reinen bin!«


»Eilt gar nicht! Alles, was wir fuͤr jetzo zu
erleben und zu erfahren haben, geht vollkommen
in das Maß des wackeren Pferdetrittes hinein,
[247] und wenn der ſehr richtig denkende Pſalmiſt den
Herrn ſeinen Gott anſchrie: Tauſend Jahre ſind
vor Dir wie ein Augenblick! ſo iſt dieſe gut be¬
gruͤndete Hypotheſe von hinten geleſen eine und
dieſelbe Wahrheit: Ein Augenblick iſt wie tauſend
Jahre! Wir koͤnnten noch tauſendmal mehr
ſehen und hoͤren waͤhrend dieſes Hufſchlages,
wenn wir nur das Zeug dazu in uns haͤtten,
lieber Mann! Doch alles Preſſiren oder Zoͤgern
hilft da nichts, Alles hat ſeine bequemliche Er¬
fuͤllung und wir koͤnnen uns ganz gemaͤchlich Zeit
laſſen mit unſerem Traum, er iſt was er iſt und
dauert einen Schlag und nicht mehr noch min¬
der!« ſagte das Pferd.


»Gut, ſo beantworte mir ohne Anſtand noch
dieſe Frage!« erwiederte Heinrich, »ich muß mir
aber die Frage erſt noch ein wenig zurechtlegen
und deutlich abfaſſen: denn ich weiß nicht recht,
wie ich mich ausdruͤcken ſoll. Bereite Dich in¬
deſſen, da wir, wie Du ſagſt, ausreichende Trau¬
meszeit haben, recht gruͤndlich auf die Beant¬
wortung vor!«


»Wie kann ich mich zur Antwort vorbereiten,
[248] eh' ich nur die Frage kenne?« ſagte das Pferd
verwundert.


»Was?« rief Heinrich erboſt, »das weißt Du
nicht? Deinen guten Willen und Dein bischen
Ehrlichkeit ſollſt Du zuſammennehmen und den
Vorſatz faſſen, ohne alle Heuchelei und Aus¬
ſchmuͤckung zu antworten, und ſelbſt wenn Du
gar nichts zu antworten weißt, ſo ſollſt Du dies
mit gutem ehrlichen Willen bekennen, und dies
wird alsdann die geſundeſte Antwort ſein. Kurz,
Du ſollſt, waͤhrend Du philoſophirſt, wirklich ein
Philoſoph ſein und nicht etwa ein Buchbinder
oder ein Kattundrucker!«


»Es iſt doch wunderbar mit den Menſchen!«
bemerkte der Goldfuchs melancholiſch. »Biſt denn
Du etwa jetzt ein Philoſoph, waͤhrend Du Dir
erſt ein Pferd traͤumſt, um Dir von demſelben
Fragen beantworten zu laſſen, welche Du Dir
einfacher und unmittelbar aus Dir ſelbſt beant¬
worten kannſt? Muß denn Dein traͤumender
Verſtand wirklich erſt ein Pferd formen, es auf
vier Beinen dahinſtellen und ſich rittlings darauf¬
[249] ſetzen, um aus dem Munde dieſes Geſchoͤpfes das
Orakel zu vernehmen?«


Heinrich laͤchelte vergnuͤgt und ſelbſtzufrieden
wie Einer, der es wohl weiß, daß er ſich ſelbſt
einen Spaß vormacht, und verſetzte: »Antworte!
Ich ſehe hier eine Bruͤcke; dieſelbe iſt aber voll¬
kommen gebaut und eingerichtet wie ein Palaſt
oder großer Tempel, ſo daß es in dieſer Hinſicht
wieder mehr als eine Bruͤcke zu ſein ſcheint, waͤh¬
rend eine ſolche vielmehr nur der Weg etwa zu
einem guten Tempel oder derartigen Bauwerke
zu ſein pflegt. Auch beginnt am Ausgange die¬
ſer herrlichen Palaſtbruͤcke oder dieſes Bruͤcken¬
palaſtes eine herrliche alte Stadt, deren himmel¬
hohe Lindenwipfel und goldene Thurmknoͤpfe
wir wohl unter dieſe Bogenwoͤlbungen koͤnnen
einherfunkeln ſehen, wenn wir uns buͤcken, ſo wie
wir ja auch aus der ſchoͤnſten Landſchaft herkom¬
men und ſoeben uͤber die treffliche ideenhaltige
Kryſtalltreppe heruntergeſtolpert ſind. Trotzdem
ſcheint Alles auf dieſer Bruͤcke ſo zu leben und
zu weben, als ob Nichts als dieſe Bruͤcke da
waͤre, und ich bin nun begierig, zu hoͤren, ob dies
[250] ſtattliche Bruͤckenleben eigentlich ein Uebergang,
wie es einer Bruͤcke geziemt, oder ein Ziel, wie
es ihr auch wieder geziemen koͤnnte, da ſie ſo
huͤbſch iſt, ein Zweck oder ein Mittel ſei? Ein
bloßes Bindemittel oder eine in ſich ruhende
Vereinigung? Ein Ausgang oder ein Eingang,
ein Anfang oder ein Ende? ein A oder ein O?
Dies nimmt mich Wunder!«


Das weiſe Pferd erwiederte: »Alles dies
iſt zumal der Fall und das iſt eben das Herrliche
und Bedeutungsvolle an der Sache! Ohne die
ſchoͤnen Ufer waͤre die Bruͤcke nichts und ohne
die Bruͤcke waͤren die Ufer nichts. Alles, was
auf der Bruͤcke geht, iſt und bedeutet nur etwas,
inſofern es aus dem Gelaͤnde huͤben und druͤben
kommt und wieder dahin geht und dort etwas
Rechtes iſt, und dort kann man es wiederum nur
ſein, wenn man als etwas Rechtes uͤber die
Bruͤcke gegangen iſt Wenn man auf der Bruͤcke
iſt, ſo denkt man an nichts Anderes und ſtuͤrzt
ſich in den Verkehr, indeſſen man doch unverſehens
hinuͤber gelangt und wieder in ſeiner beſonderen
Behauſung iſt. Dort duſelt und hantirt man
[251] in Kuͤche und Keller, auf dem Eſtrich rund in der
Stube herum, als ob man nie auf der Bruͤcke
geweſen waͤre, bis man ploͤtzlich einmal den Kopf
aus dem Fenſter ſteckt und ſieht, ob ſie noch ſtehe;
denn von allen Punkten aus kann man ſie ragen
und ſich erſtrecken ſehen. So iſt ſie ein praͤchtiges
Monument und doch nur eine Bruͤcke, nicht mehr
als der geringſte Bretterſteg; eine bloße Geh- und
Fahrbruͤcke und doch wieder eine ſtatioͤſe Volks¬
halle.«


Ploͤtzlich bemerkte Heinrich, daß er von allen
Seiten mit biederer Achtung begruͤßt wurde,
welche ſich beſonders dadurch kund gab, daß
Manche mit einem vertraulichen Griffe und wich¬
tiger Miene ſeinen ſtrotzenden Mantelſack betaſte¬
ten, wie etwa die Bauern auf den Viehmaͤrkten
die Weichen einer Kuh betaſten und kneifen und
dann wieder weiter gehen.


»Der Tauſend,« ſagte Heinrich, »das ſind ja
abſonderliche Manieren! ich glaubte, es kenne
mich hier kein Menſch«


»Es gilt auch,« ſagte das Pferd, »nicht ſowohl
Dir, als Deinem ſchweren Querſack, Deiner
[252] dicken Goldwurſt, die auf meinem Kreuz
liegt.«


»So?« ſagte Heinrich, »alſo iſt das Geheim¬
niß und die Loͤſung dieſer ganzen Identitaͤtsherr¬
lichkeit doch nur das Gold, und zwar das ge¬
muͤnzte? Denn ſonſt wuͤrden ſie Dich ja auch be¬
taſten, da Du aus dem naͤmlichen Stoffe biſt!«


»Hm,« ſagte das Pferd, »das kann man
eigentlich nicht behaupten! Die Leute auf dieſer
Bruͤcke haben vorerſt ihr Augenmerk darauf ge¬
richtet, ihre Identitaͤt allerdings zu behaupten
und gegen jeglichen Angriff zu vertheidigen.
Nun wiſſen ſie aber ſehr wohl, daß ein kampf¬
faͤhiger guter Soldat wohlgenaͤhrt ſein muß und
ein gutes Fruͤhſtuͤck im Magen haben muß, wenn
er ſich ſchlagen ſoll. Da dies aber am bequem¬
ſten durch allerlei Gemuͤnztes zu erreichen und zu
ſichern iſt, ſo betrachten ſie Jeden, der mit der¬
gleichen wohl verſehen, als einen geruͤſteten Ver¬
theidiger und Unterſtuͤtzer der Identitaͤt und ſehen
ihn drum an. Sei dem wie ihm wolle, ich rathe
Dir, Dein Capital hier noch ein wenig in Um¬
lauf zu ſetzen und zu vermehren. Wenn die
[253] Meinung der Leute im Allgemeinen auch eine
irrige iſt, ſo ſteht es doch Jedem frei, ſie fuͤr ſich
zu einer Wahrheit und ſo ſeine oͤffentliche Stel¬
lung angenehm zu machen.«


Heinrich griff in ſeinen Sack und warf einige
Haͤnde voll Goldmuͤnzen in die Hoͤhe, welche ſo¬
gleich von hundert in die Luft greifenden Haͤnden
aufgefangen und weiter geworfen wurden. Hein¬
rich warf immer mehr Gold aus, und daſſelbe
wanderte von Hand zu Hand uͤber die ganze
Bruͤcke und uͤber dieſelbe hinaus uͤber das Land;
Jeder gab es emſig weiter, nachdem er es beſehen
und ein bischen an ſeinem eigenen Golde gerieben
hatte, wodurch ſich dieſes verdoppelte, und bald
kehrten alle Goldſtuͤcke Heinrich's in Geſellſchaft
von drei bis vier anderen wieder zuruͤck, und
zwar ſo, daß die urſpruͤngliche Muͤnze, auf wel¬
cher der alte Schweizer gepraͤgt war, die uͤbrigen
anfuͤhrte mit einem Gepraͤge aus aller Herren
Laͤnder. Er wies ihnen mit ſeinem Schwerte,
welches jetzt ein Mercuriusſtab war, den Platz
an und es regnete von allen Seiten auf Heinrich
ein. Das Gold ſetzte ſich klumpenweiſe an alle
[254] vier Beine des Pferdes, wie der Blumenſtaub,
welcher die Hoͤschen der Bienen bildet, ſo daß
es bald nicht mehr gehen konnte. Da es aber
immer mehr Gold regnete, ſo bildete dieſes noch
zwei große Fluͤgel an dem Thiere und dieſes glich
nun wirklich mehr einer ungeheuren beladenen
Biene als einem Pferde, und flog mit Heinrich
luſtig von der Bruͤcke auf, welche jetzt endlich zu
Ende war.


Heinrich ritt oder flog jetzt durch die ſonnigen
Straßen der Stadt, welche herrlich und fabelhaft
ausſahen und ihm doch ganz bekannt waren, bis
er unter die himmelhohen Linden kam, zwiſchen
welchen in der Hoͤhe die zwei goldenen Muͤnſter¬
kronen glaͤnzten mit lebendigen Maͤdchen ange¬
fuͤllt. Das goldene Bienenpferd ſchwang ſich
mit ihm hoͤher und hoͤher und ſetzte ſich endlich
auf einen gruͤnen Lindenaſt, welcher gerade zwi¬
ſchen beiden Kronen mitteninne ſchwebte.


»Das ſind,« ſagte das luſtige Vogelthier, »die
heirathsluſtigen Jungfernmaͤdchen dieſes Landes,
unter denen Du Dir als wohlbeſtellter Mann
fuͤglich eine Frau ausſuchen kannſt.« Heinrich
[255] blickte unentſchloſſen in beide Kronen hinuͤber,
wie der Eſel des Buridan zwiſchen den Heuſcho¬
bern, und flog endlich mit ſeinem Thiere in die
eine der Kronen, ſo daß er wie eine Reiterſtatue
ploͤtzlich in einem Kranze aͤltlicher Maͤdchen ſtand,
welche anſtaͤndig und gemeſſen um ihn herum
tanzten und ſangen: »Wir ſind diejenigen
heirathsfaͤhigen Frauenzimmer, welche gerade
mannbar waren, als Du in die Fremde gereiſet
biſt, und welche ſeitdem alte Jungfern geworden!
kennſt Du uns noch? Unten in der Kirche wird
getraut!«


»Teufel noch einmal,« ſagte Heinrich, »wie
die Zeit vergeht! Wer haͤtte das gedacht! Ich
will aber ſehen, was das da druͤben fuͤr welche
ſind!«


Er flog in die andere Krone und ſah ſich
unter eine Schaar ſiebzehn- bis achtzehnjaͤhriger
Juͤngferchen verſetzt, welche die Locken ſchuͤttelnd
muthwillig und doch zartverſchaͤmt um ihn tanzten,
ihn dabei mit offenen Rehaugen anſahen und
ſangen: »Wir ſind diejenigen heirathsfaͤhigen
[256] Frauenzimmer, welche noch mit der Puppe ſpielten,
als Du verreiſet biſt! Kennſt Du uns noch?«


»Alle Himmel!« rief Heinrich, »wie die Zeit
vergeht! Wer haͤtte das gedacht? Eure Ge¬
ſichtchen ſind aber lieblichere Zeitſonnenuhren, als
die da druͤben! Welche Zeit iſt es, Du kleine
Schlanke?«


»Es iſt Heirathenszeit,« lachte hold die An¬
geredete, und Heinrich rief hocherfreut und
lachend, indem er ihr das zarte Kinn ſtreichelte:
»Warte Du einen Augenblick, ich will nur erſt
meine Mutter aufſuchen und mit ihr Abſprache
nehmen!«


Er flog eilig vom Thurm hernieder und die
bergige Stadt hinanreitend ſuchte er endlich
die Straße und das Haus ſeiner Mutter auf.
Das ſchwere Pferd konnte aber nur muͤhſam
vorwaͤrts und es duͤnkte Heinrich eine qualvolle
Ewigkeit, bis er endlich vor dem erſehnten Hauſe
anlangte. Da fiel das Thier vor der Hausthuͤr
zuſammen und verwandelte ſich zum Theil wieder
in das Gold, aus welchem es entſtanden, zum
Theil in die ſchoͤnſten und reichſten Effecten und
[257] Merkwuͤrdigkeiten aller Art, wie man ſie nur von
einer bedeutſamen und gluͤcklichen Reiſe zuruͤck¬
bringen kann; Heinrich aber ſtand verlegen bei
dem aufgethuͤrmten Haufen von Koſtbarkeiten,
der ſich ganz offen ohne alle tragbare Huͤlle auf
der Straße ausbreitete, und vergeblich ſuchte er
den Druͤcker der verſchloſſenen Hausthuͤr oder
den Glockenzug. Ungeduldig und rathlos, indem
er aͤngſtlich ſeine Reichthuͤmer huͤtete, ſah er an
das Haus hinauf und bemerkte erſt jetzt, wie
ſeltſam es ausſah. Es war gleich einem alten
edlen und fachreichen Schrankwerke ganz von
dunklem Nußbaumholz gebaut mit unzaͤhligen
Geſimſen, Balkonen und Galerien, Alles auf das
Feinſte gearbeitet und ſpiegelhell polirt. Auf den
Geſimſen und Galerien ſtanden alterthuͤmliche
ſilberne Trinkbecher von jeder Geſtalt, koſtbare
Porzellangefaͤße und kleine feine Marmorbilder
aufgereiht. Große Fenſterſcheiben von klarem
Kryſtallglas, denen aber das dunkle Innere des
Hauſes einen dunklen geheimnißvollen Glanz gab,
funkelten hinter den Galerien, oder herrlich ge¬
maſerte Holzthuͤren, welche in's Innere fuͤhrten
IV. 17[258] und mit reich geformten blanken Stahlſchluͤſſeln
verſehen waren, boten dem Lichte ihre glaͤnzende
Flaͤche dar; denn der Himmel woͤlbte ſich jetzt
ganz dunkelblau uͤber dem Hauſe, und eine merk¬
wuͤrdige halbnaͤchtliche Sonne ſpiegelte ſich in der
dunklen Pracht deß Nußbaumholzes, im Silber
der Gefaͤße und in den Fenſterſcheiben. Alles
dies ſah aus wie das nach außen gekehrte In¬
wendige eines altbeſtandenen reichen Hauſes, und
hatte doch ein ſehr feſtes und bauliches Anſehen.
Jetzt entdeckte Heinrich, daß außen ſchoͤn ge¬
ſchnitzte Treppen zu den Galerien hinauffuͤhrten,
und beſtieg dieſelben, Einlaß ſuchend. Wenn
er aber eine der Thuͤren oͤffnete, ſo ſah er nichts
als ein Gelaß vor ſich, welches mit Vorraͤthen
der verſchiedenſten Art angefuͤllt war. Hier that
ſich eine reiche Buͤcherei auf, deren dunkle Leder¬
baͤnde von Gold glaͤnzten, dort war Geraͤth und
Geſchirr aller Art uͤbereinandergeſchichtet, was
man nur wuͤnſchen mochte zur Annehmlichkeit des
Lebens, dort wieder thuͤrmte ſich ein Schneege¬
birge feiner Leinwand empor, oder ein duftender
Schrank that ſich auf mit hundert koͤſtlichen
[259] Kaͤſtchen voll Spezereien und Gewuͤrze. Er
machte eine Thuͤr nach der anderen wieder zu,
wohlzufrieden mit dem Geſehenen und nur aͤngſt¬
lich, daß er die Mutter nirgend fand, um ſich in
dem trefflichen Heimweſen ſogleich einrichten zu
koͤnnen. Suchend druͤckte er ſich an eines der
praͤchtigen Fenſter und hielt die Hand an die
Schlaͤfe, um die Blendung des dunklen Kryſtalles
zu vermeiden; da ſah er, anſtatt in ein Gemach
hinein, in einen herrlichen Garten hinaus, der im
Sonnenlichte lag, und dort glaubte er zu ſehen,
wie ſeine Mutter im Glanze der Jugend und
Schoͤnheit, angethan mit ſeidenen Gewaͤndern,
durch die Blumenbeete wandelte. Er wollte ihr
eben ſehnlich zurufen, als er unten auf der Gaſſe
ein haͤßliches Zanken vernahm. Erſchreckt ſah
er ſich um und ſprang im Nu hinunter; denn
unten ſtand der vom Thurme geſtuͤrzte junge
Menſch aus der Jugendzeit, jener feindliche Meier¬
lein, und ſtoͤrte mit einem Stecken Heinrich's
ſchoͤne Effecten auseinander. Wie dieſer aber
unten war, geriethen ſie einander in die Haare
und rauften ſich ganz unbarmherzig. Der
[260] wuͤthende Gegner riß dem keuchenden Heinrich
alle ſeine ſchoͤnen Kleider in Fetzen, und erſt, als
dieſer ihm einige verzweifelte Knuͤffe verſetzte,
entſchwand er ihm unter den Haͤnden und ließ
den Ermatteten und ganz Troſtloſen in der ver¬
dunkelten kalten Straße ſtehen, Heinrich ſah
ſich angſtvoll mit bloßen Fuͤßen und mit nichts
als einem zerriſſenen Hemde bekleidet daſtehen;
das Haus aber war das alte wirkliche Haus,
jedoch halb verfallen, mit zerbroͤckelndem Mauer¬
werk, erblindeten Fenſtern, in denen leere oder
verdorrte Blumenſcherben ſtanden, und mit Fenſter¬
laͤden, die im Winde klapperten und nur noch an
einer Angel hingen. Von ſeiner vortrefflichen
Traumeshabe war nichts mehr zu ſehen, als
einige zertretene Reſte auf dem kothigen Pflaſter,
welche dazu von nichts Beſonderem herzuruͤhren
ſchienen, und in der Hand hielt er nichts, als den
ſeinem boͤſen Feinde entrungenen Stecken. Hein¬
rich trat entſetzt auf die andere Seite der Straße
und blickte kummervoll nach den oͤden Fenſtern
empor, wo er deutlich ſeine Mutter, alt und grau,
hinter der dunklen Scheibe ſitzen ſah, in tiefem
[261] Sinnen uͤber die ſchwarzen Daͤcher der Nachbar¬
ſchaft hinausſchauend.


Heinrich ſtreckte die Arme nach dem Fenſter
empor; als ſich die Mutter aber leiſe ruͤhrte, ver¬
barg er ſich hinter einem Mauervorſprung und
ſuchte angſtvoll aus der ſtillen dunklen Stadt zu
entkommen, ohne geſehen zu werden. Er druͤckte
ſich laͤngs den Haͤuſern hin und wanderte auch
alsbald an ſeinem ſchlechten Stecken auf einer
unabſehbaren Landſtraße dahin zuruͤck, wo er her¬
gekommen war. Er wanderte und wanderte
raſtlos und muͤhſelig, ohne ſich umzuſehen, und
als er in ſein wirkliches Elend aufwachte, fiel
ihm ein Stein vom Herzen und er war ſo froh,
als ob der gluͤcklichſte Tag ihn begruͤßte.


So zeigte ſich dem ſchlafenden Heinrich die
Kraft und Schoͤnheit des Vaterlandes in den
lieblichſten Traumbildern, wo Alles glaͤnzend uͤber¬
trieben war in dem Maße, als er ſich dahin zu¬
ruͤckſehnte und ſeine verlangende Phantaſie das
Erſehnte ausmalte. Er wunderte ſich uͤber dieſe
Traumgewalt und freute ſich derſelben wie einer
ſchoͤnen Freundin, welche ihm das Elend verſuͤßte;
[262] denn er zehrte Tage lang von der Erinnerung
der ſchoͤnen Traͤume. Noch mehr wunderte er
ſich uͤber die Gier, mit welcher der Mangel ihn
fortwaͤhrend von Geld und Gut und allen guten
Dingen traͤumen ließ, was aber gewoͤhnlich ein
ſchlimmes Ende nahm, und ſtudirte daruͤber, ob
dieſe Gier wirklich etwa eine in ihm ſchlummernde
Untugend ſein moͤchte? Je tiefer er aber in
gaͤnzliche Verlaſſenheit hineinlebte, deſto weniger
maͤhrchenhaft und unſinnig wurden die Traͤume,
aber ſie nahmen eine einfache Schoͤnheit und
Wahrheit an, welche, ſelbſt wenn ſie traurigen
Inhaltes war, eine troͤſtliche Ruͤhrung und Ruhe
in Heinrich's Gemuͤth verbreitete. Die Traͤume
wurden ſo folgerichtig und lebendig, daß er ſich
ſo zu ſagen ſogar waͤhrend des Traumes jene
unmaͤßigen Geld- und Gutphantaſien abgewoͤhnen
konnte mit ihren naͤrriſchen Taͤuſchungen und ſich
auf einfach artige Bilder beſchraͤnkte. So traͤumte
er eine Nacht, daß er an dem Rande des Vater¬
landes auf einem dunklen Berge ſaͤße, waͤhrend
das Land in hellem Scheine vor ihm ausgebreitet
lag. Auf den weißen Straßen, auf den gruͤnen
[263] Fluren wallten und zogen viele Schaaren von
Landleuten und ſammelten ſich zu heiteren Feſten,
zu allerhand Handlungen und Lebensuͤbungen,
was er Alles aufmerkſam beobachtete. Wenn
aber ſolche Zuͤge nahe an ihm voruͤbergingen und
er manche Befreundete erkennen konnte, ſo ſchalten
dieſe ihn im Vorbeigehen, wie er, theilnahmlos
in ſeinem Elende verharrend, nicht ſehen koͤnne,
was um ihn herum vorgehe. Er vertheidigte
ſich, indem ſie voruͤberzogen, und rief ihnen ſorg¬
faͤltig gefuͤgte Worte nach, welche wie ein Lied
klangen, und dieſer Klang lag ihm nach dem
Erwachen fort und fort im Gehoͤr, indeſſen er
ſich wohl noch des Sinnes, aber durchaus nicht
mehr der Worte erinnern konnte, oder wenigſtens
nur ſo viel, daß ſie wohl an ſich ſinnlos, aber
gut gemeint geweſen ſeien. Es reizte ihn aber
unwiderſtehlich, die liedartige Rede herzuſtellen
oder vielmehr von Neuem abzufaſſen bei wachen
Sinnen, und indem er ein altes Bleiſtuͤmpfchen
und ein Fetzchen Papier mit Muͤhe zuſammen¬
ſuchte, ſchrieb er, in Takt gerathend und mit den
Fingern zaͤhlend, dieſe Strophen auf:


[264]
Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid

Mein eigen Bild nur koͤnne ſehen!

Ich ſeh' durch meinen grauen Flor

Wohl euere Geſtalten gehen.
Und durch den ſtarken Wellenſchlag

Der See, die gegen mich verſchworen,

Geht mir von euerem Geſang,

Wenn auch gedaͤmpft, kein Ton verloren!
Und wie die Danaide wohl

Einmal neugierig um ſich blicket,

So ſchau' ich euch verwundert nach,

Beſorgt, wie ihr euch fuͤgt und ſchicket.

Je herber und trockener dieſe Verſe an ſich
waren, deſto unmittelbarer und wahrer druͤckten
ſie ſeine Gemuͤthsverfaſſung aus, da ein bluͤhen¬
des und vollkommenes Kunſtwerkchen nicht in
einer ſolchen ſelbſt, ſondern erſt in der verſoͤhnten
Erinnerung entſtehen kann. Die Zeilen duͤnkten
den uͤber ſeine ploͤtzliche Kunſt Verwunderten
aber die ſchoͤnſte Muſik; er vertrieb ſich die oͤde
Zeit, indem er ferner dergleichen Traͤume feſthielt,
und als er wieder von dem ſchlimmen Meierlein
[265] traͤumte, haͤmmerte er in ſtillem Ingrimm einige
bittere Verſe zurecht:


Im Traum ſah ich den ſchlimmen Jugendfeind,

Mit dem ich in der Schule einſt geſeſſen;

Sein Name ſchon verdunkelt mir den Sinn,

Wie viel der Jahre auch gefloh'n indeſſen!
Als baͤrt'ge Maͤnner trafen wir uns nun;

Doch Jeder trug annoch ſein Buͤcherraͤnzchen,

Das warf er ab und rief dem Andern zu.

Die Faͤuſte ballend: he, willſt du ein Taͤnzchen?
Wir rauften uns, er ſpie mir in's Geſicht,

Ich unterlag in Schmach und wildem Bangen;

Da bin in Schweiß und Thraͤnen ich erwacht

Und ſah die Sonne kalt am Himmel prangen.

Inzwiſchen erhielt er endlich wieder einen
Brief von ſeiner Mutter, welche ihn beſchwor,
Nachricht von ſich zu geben und, wie er ſei, nach
Hauſe zu kehren, auch wenn er gar Nichts erreicht
von allen Hoffnungen und Alles verloren habe.
Sie warf ihm vor, daß er ſie zwinge, zuerſt das
Schweigen zu brechen, indem ſie es nicht mehr
aushalten koͤnne, und erzaͤhlte ihm, ihren Kummer
vergeſſend und des Schreibens froh, allerlei
17 *[266] Dinge, unter anderen auch, wie ſie getraͤumt
habe, daß Heinrich auf einem ſchoͤnen Pferde
reitend in der Vaterſtadt angekommen und vor
dem Hauſe abgeſtiegen ſei, was ſie fuͤr eine guͤn¬
ſtige Vorbedeutung halten wolle.


Es war ihm unmoͤglich, auch nur eine Zeile
zur Erwiederung hervorzubringen; dagegen folgte
dem erſten Schmerz uͤber den ruͤhrenden Brief
ein begieriges Aufſichladen einer verhaͤngnißvollen
Verſchuldung, indem er ſein ganzes Leben und
ſein Schickſal ſich als ſeine Schuld beimaß und
ſich darin gefiel, in Ermangelung einer anderen
froheren Thaͤtigkeit, dieſe Schuld als ein koͤſt¬
liches Gut und Schoßkind zu haͤtſcheln, ohne wel¬
ches ihm das Elend unertraͤglich geweſen waͤre.
Seine Traumgedichte vergeſſend, brachte er dieſe
neue Leidſeligkeit in gereimte Wortzeilen und
feilte die folgenden mit ſo wehevollem Herzen
aus, als ob er die ſchlimmſten Dinge veruͤbt haͤtte:


O ich erkenn' das Ungluͤck ganz und gar

Und ſehe jedes Glied an ſeiner Kette!

Es iſt vernuͤnftig, liebenswuͤrdig klar!

Kein Schlag, den ich nicht ganz verſchuldet haͤtte!
[267]
Nicht zehnmal Aergeres hat mir gebuͤhrt,

Gerecht iſt mir die Schale zugemeſſen!

Doch zehnmal bittrer hab ich ſie verſpuͤrt,

Als ich im Gluͤck zu traͤumen mir vermeſſen!
Doch zehnmal leichter bring' ich ſie zum Mund,

Als die Erinn'rung einſt ſich noch entſinnet;

Der quellenklare Perltrank iſt geſund,

Ich lieb' ihn drum und weiß woher er rinnet!

Wenn er aber in dies Weſen ſich recht hin¬
eingegraͤmt hatte, wobei ihn die traurigſten Er¬
lebniſſe unterſtuͤtzten, die nicht erbaulich zu be¬
ſchreiben waͤren, die er aber anfing mit Luſt in
ſich hineinzutrinken, ſo ſchrieb er ploͤtzlich voll
guten Muthes, einem friſchen Lufthauch Raum
gebend:


Ein Meiſter bin ich worden,

Zu tragen Gram und Leid,

Und meine Kunſt zu leiden

Wird mir zur Seligkeit.
Doch fuͤhl' ich auch zum Gluͤcke

In mir die volle Kraft

Und werde leichtlich uͤben

Die ſchoͤn're Meiſterſchaft!
[268]
Auf einem gold'nen Feuer

Von Zimmet ſuͤß und aͤcht

Will zierlich ich verbrennen

Das ſchnoͤde Dorngeflecht.
Das mir um's Haupt gelegen

So viele Tage lang,

Und lachend uͤbertoͤn' ich

Der Bettlerkrone Kniſterſang!

Als er aber eines Abends nach ſeiner Woh¬
nung zuruͤckkehrte, ſich auf die Dunkelheit und
Vergeſſenheit der Nacht freuend, fand er die
Wirthsleute darin, welche die aͤrmliche Stube eifrig
aufraͤumten und zurecht machten. Das Bett
war ſchon weggenommen, die leeren Schraͤnke
ſtanden ſpoͤttiſch offen, ſein Koffer war erbrochen
und durchſucht, und deſſen einziger Inhalt, Hein¬
rich's Jugendgeſchichte, lag zerblaͤttert und zer¬
knittert auf die Dielen geworfen. Dir Wirths¬
leute kuͤndigten ihm mit harten Worten an, daß
er hier nicht laͤnger wohnen koͤnne, ſondern noch
heute das Haus verlaſſen ſolle. Schweigend
nahm er das Buch auf, wickelte es in ein Stuͤck¬
chen altes Wachstuch, das auch noch in dem Kof¬
[269] fer lag und dem man es anſah, daß es ebenfalls
um und um gekehrt worden, und entfernte ſich
mit dieſem Paͤcklein aus dem Hauſe, indeß die
Leute hoͤhniſch hinter ihm nachſchalten.


Ohne einen Pfennig in der Taſche, ohne
etwas zu ſich zu nehmen, ging er mit einbrechen¬
der Nacht aus dem Thore und ſchlug die Straße
nach der Heimath ein. Er dachte nichts Anderes,
als unaufhaltſam und auf jede Weiſe zu gehen
und zu gehen, wie er ging und ſtand, bis er dort
angekommen. Denn nun duͤnkte ihn, daß ſein
Geſchick die zur Ruͤckkehr nothwendige klare und
fertige Form angenommen habe, und da er nicht
mit erfuͤllten Hoffnungen wiederkehren konnte,
kehrte er doch in dem ernſten heiligen Bettler¬
leide eines gaͤnzlich Obdachloſen und Huͤlfeſuchen¬
den, und zeigte ſo wenigſtens eine beſtimmte
Geſtalt und Gewandung dem mitlebenden Ge¬
ſchlechte und nahm einen erkennbaren Rang in
demſelben ein. Dies war nichts weniger als
etwa Trotz und Hohn, ſondern er hielt es auf¬
richtig fuͤr ein koſtbares und erloͤſendes Gut, und
das Wie war ihm gleichguͤltig, wenn nur das
[270] Geſchick fuͤr einmal erfuͤllt war. Ja der Augen¬
blick, wo er in voller Demuth und mit der reichen
Erfahrung von Noth und Abhaͤngigkeit unter das
Dach der Mutter treten wuͤrde, erſchien ihm als
das ſuͤßeſte Gluͤck und kaum zu erwarten, und er
ſchaͤtzte jeden Schritt, den er auf der naͤchtlichen
Straße that, mit einem Seufzer nach dem Maß
und Werth, in welchem er ihn ſeinem Ziele naͤher
brachte.

[]

Achtes Kapitel.

Aber er lernte erſt jetzt die allerurſpruͤnglich¬
ſten menſchlichen Zuſtaͤnde kennen. Er war auf
dem Dampfwagen angekommen vor Jahren und
ſeitdem nach dieſer Seite hin kaum uͤber das
Weichbild der Stadt hinausgelangt und hatte
ſich um die Lage der Ortſchaften und um das
Straßennetz nicht gekuͤmmert. Bald ſtieß er in
der Dunkelheit auf den Eiſenbahndamm, welcher
die Landſtraße durchſchnitt; ein ſpaͤter Zug brauſte
voruͤber, der in fliegender Eile an das gleiche Ziel
fuͤhrte, welches Heinrich zu erreichen ſtrebte, und
wehmuͤthig ſah er die droͤhnende Wagenburg in
der naͤchtlichen Ferne verſchwinden. Jetzt theilte
ſich die Straße in zwei faſt gleich große Zweige,
und da er den Unterſchied wegen der Nacht nicht
[272] bemerkte, folgte er dem etwas ſchmaͤleren Zweige;
nach einer Stunde wiederholte ſich der gleiche
Irrthum, indem die Straße ſich abermals in eine
unmerklich kleinere abzweigte, und endlich war
Heinrich, auf einem ſchmalen holperigen Fahrweg
gehend, weit ſeitwaͤrts von der Heerſtraße und in
das Innere des alten Landes gerathen. Er ging
uͤber dunkle Hoͤhen, durch Gehoͤlze, uͤber Feld-
und Wieſenfluren, an Doͤrfern voruͤber, deren
ſchwache Umriſſe oder matte Lichter weit vom
Wege lagen; er begegnete einzelnen unkenntlichen
Menſchen, welche ihn ebenſo wenig erkennen moch¬
ten und behutſam gruͤßten oder auch ſchweigend
vorbeigingen. Aber er fragte Niemanden nach
dem Wege, da er einen naͤheren Ort in der Rich¬
tung nach der Schweiz nicht zu nennen wußte,
und nach der letzteren am wenigſten fragen
mochte in der Ueberzeugung, daß die Frage ſo tief
im fremden Lande, auf naͤchtlichen Wegen an
herumdaͤmmernde Landleute gerichtet, vollkommen
zwecklos und thoͤricht erſcheinen, ja ſogar bedenk¬
lich auffallen wuͤrde. So ging er mitten in dem
civiliſirteſten Welttheil wie in einer unbewohnten
[273] Wildniß und ſuchte nur die Richtung nach der
Heimath innezuhalten, indem er die Himmels¬
gegend nach den Spuren des verloſchenen herbſt¬
lichen Abendrothes im Auge behielt. Obſchon er
muͤde ward, ſo wanderte er unverdroſſen weiter,
ſein Paͤckchen bald unter dieſen, bald unter jenen
Arm nehmend; denn die Nacht war froſtig und
kalt. Bald ſchmerzten ihn auch die ſteinigen
harten Geleiſe der Wege durch die ſchlechten Soh¬
len und er ſchlotterte in ſeinen duͤnnen Kleidern.
Die tiefſte Einſamkeit waltete jetzt auf Erden,
da es Mitternacht war und Heinrich uͤber weite
Felder ging; aber um ſo belebter waren die herbſt¬
lichen, mondloſen aber mit tauſend Sternbildern
durchwirkten Luͤfte, denn ſingende, zwitſchernde
Staaren- und Schwalbenvoͤlker zogen nach Suͤden,
ja die ganze Nacht hindurch rauſchte und toͤnte
es auf den himmliſchen Straßen von Saͤnger¬
ſchaaren, wilden Tauben-, Huͤhner- und Gaͤnſe¬
zuͤgen, welche entweder weit aus Norden kamen,
oder aus dieſen Fluren aufbrachen und ſuͤdwaͤrts
reiſten. Noch nie hatte Heinrich dieſen herbſt¬
lichen Nachtverkehr der Luͤfte ſo genau und auf¬
IV. 18[274] fallend geſehen, und indem er ſich unten aus der
dunklen harten Erde muͤhſelig forthalf, blickte er
fortwaͤhrend nach dem Himmel und beobachtete
neugierig das Ziehen und Begegnen der gefieder¬
ten Voͤlkerſchaften, denen mit Sonnenaufgang
das waͤrmere Land und die neue luſtige Heimath
gewiß war.


Dann gerieth er in einen großen Forſt und
die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huſchte
der Kauz an ſeinem Geſichte voruͤber, die Wald¬
ſchnepfe bog hier und dort blitzſchnell um die
Buͤſche, wovon er aber nur ein leiſes Wehen
hoͤrte, aus der Tiefe ſchrie der Uhu. Dieſen
hatte Heinrich nie gehoͤrt und er kannte ſein Ge¬
ſchrei nicht, daher machte es die Verwirrung und
Fremdheit des Abenteuers vollſtaͤndig. Doch
ſtieß er nun an einer Lichtung auf einem rauchen¬
den Kohlenmeiler, deſſen Huͤter in der Erdhuͤtte
ſteckte und ſchlief Heinrich ſetzte ſich auf einen
Baumſtrunk an den heißen Meiler und waͤrmte
ſich, und er waͤre ganz gluͤcklich geweſen, wenn
er jetzt nur etwas zu eſſen und zu trinken gehabt
haͤtte. Er ging zwar einigemal unter die Baͤume
[275] und ein Wenig in ſie hinein und griff gierig mit
den Haͤnden im Dunkeln herum, ob nicht etwa
ein Thier oder Vogel in dieſelben gerathen moͤchte,
was er wuͤrgen und braten koͤnnte; es rauſchte
auch auf und gab Laut da und dort; allein nichts
kam ihm unter die begierigen Haͤnde und traurig
kehrte er an ſeinen Platz zuruͤck, wo er endlich
einſchlief. Ein Flug laut ſchreiender Wander¬
falken, deren ſilberblaue Fluͤgel und weiße Feder¬
bruͤſte im erſten Morgenroth blitzten, weckte den
Schlaͤfer aus verlorenen Traͤumen, und da, wie
er ſich ermunterte, der Koͤhler ſich zugleich zu
regen und aus ſeiner Huͤtte zu kriechen begann,
die Fuͤße voran, ſo ſtand Heinrich auf und ſetzte
ſeinen Weg fort, dem Koͤhler einen guten Morgen
wuͤnſchend, und der Koͤhler dankte ihm, des
Glaubens, es waͤre ein fruͤh voruͤbergehender
Reiſender mit kleinem Wachstuchbuͤndel. »Der
mag auch kaum ein altes Hemde in ſeinem Paͤck¬
chen haben!« ſagte er vor ſich hin, als die duͤrf¬
tige Geſtalt im Walde verſchwand.


Doch dieſes nahm bald ein Ende und Hein¬
rich trat in eine weite, wunderſchoͤne deutſche
18 *[276] Herbſtmorgenlandſchaft hinaus. Waldige und
dunkle Gebirgszuͤge umgaben den Horizont, durch
das weite Thal ſchlaͤngelte ſich ein roͤthlicher
Fluß daher, weil der halbe Himmel im Morgen¬
roth flammte und die purpuriſch angegluͤhten
Wolkenſchichten uͤber Feldern, Hoͤhen, Doͤrfern
und kleinen grauen Staͤdten hingen. Nebel rauchte
an den Waldhaͤngen und verzog ſich an den
dunkelblauen Bergen; Burgen, hohe Stadtthore
und Kirchthuͤrme glaͤnzten roͤthlich auf, und uͤber
all' dem ſtand noch der ſpaͤt aufgegangene Mond
am Himmel und vermehrte, ohne zu leuchten,
den Reichthum dieſer Herbſtwelt um ſein goldenes
Rund. Laͤngs des Waldrandes, uͤber welchem er
ſchwebte, entſpann ſich ein hallender Jagdlaͤrm;
Hoͤrner toͤnten, Hunde muſicirten fern und nah,
Schuͤſſe knallten, und ein ſchoͤner Hirſch ſprang
an Heinrich voruͤber, als er eben den Forſt ver¬
ließ. Das Morgenroth und der alte Mond wa¬
ren ſo ruhig und heimathlich, ihn duͤnkte, er
muͤſſe und muͤſſe zu Hauſe ſein, waͤhrend das
fremde Gebirge ihm nur zu deutlich ſagte, wie
fern er noch ſei, und das Morgenroth uͤberdies
[277] noch den Seufzer entlockte: Morgenroth bringt
ein naſſes Abendbrot! Jenes verkuͤndete einen
unzweifelhaften tuͤchtigen Regentag, und der wan¬
dernde Heinrich dachte mit Schrecken an die kom¬
menden Fluthen und daß er durchnaͤßt bis auf
die Haut in die zweite Nacht hinein gehen muͤſſe.
Die Naͤſſe und der Schmutz beſiegeln jeglichen
ſchlechten Humor des Schickſals und nehmen dem
Verlaſſenen noch den letzten Troſt, ſich etwa er¬
ſchoͤpft an die trockene Erde zu werfen, wo es
Niemand ſieht. Ueberall kaͤltet ihm die bitterliche
Feuchte entgegen und er iſt gezwungen, aufrecht
uͤber ſie hin zu tanzen und doch immer zu ver¬
ſinken.


Bald verhuͤllte auch ein dichtes Nebeltuch alle
die Morgenpracht, und das graue Tuch begann
ſich langſam in naſſe Faͤden zu entfaſern, bis ein
gleichmaͤßiger ſtarker Regen weit und breit her¬
nieder fuhr, welcher den ganzen Tag anhielt.
Nur manchmal wechſelte das naßkalte Einerlei
mit noch ſtaͤrkeren Waſſerguͤſſen, welche einen
kraͤftigen Rhythmus in das Schlamm- und Waſ¬
ſerleben brachten, das bald alles Land und alle
[278] Wege uͤberzog. Heinrich ging unverdroſſen durch
die Fluthen, welche laͤngſt ſeine Kleider durchdran¬
gen, in den Nacken ſtroͤmten und aus den Rock¬
aͤrmeln heraus liefen. Einen Bauernknecht auf
dem Felde fragte er nun nach der Gegend und
vernahm, daß er im Allgemeinen die rechte Rich¬
tung innegehalten und nur um einige Stunden
ſeitwaͤrts gerathen ſei. Er ſah mit Seufzen ein,
daß er unmoͤglich in Einem Zuge nach der Hei¬
math gelangen koͤnne, ohne etwas zu eſſen; doch
berechnete er, daß er bis zum naͤchſten Tage eine
Landſchaft erreichen muͤſſe, wo ſeiner dunklen Er¬
innerung nach ſchon etwas Obſt wuchs, daß er
gefallene Fruͤchte ſuchen, ſich leiblich ſtaͤrken und
unter irgend einer Feldſcheune ruhen koͤnne,
um dann in einem zweiten Anlauf die Schweizer¬
graͤnze zu erreichen, wo er heimiſch und geborgen
war. Doch ſchon um die Mittagszeit, als er
durch ein triefendes Gehoͤlz ging und es rings im
Lande Mittag laͤutete, ſchien ihm der Hunger und
die Ermattung unertraͤglich und er ſetzte ſich rath¬
los auf einen naſſen Steinblock. Da kam ein
altes Muͤtterchen daher getrippelt, welches mit der
[279] einen Hand ein elendes Buͤndel kurzen Reiſigs
auf dem grauen Kopfe trug, deſſen Haare ſo
rauh und ſtruppig waren, wie das Reiſig, und
mit der anderen Hand muͤhſelig eine abgebrochene
Birkenſtaude nachſchleppte. Mit tauſend kurzen,
zitternden Schrittchen zerrte ſie emſig und keu¬
chend, viele Seufzer ausſtoßend, den widerſpenſti¬
gen Buſch uͤber alle Hinderniſſe nach ſich, gleich
einer Ameiſe, die einen zu ſchweren Halm nach
dem Bau ſchleppt. Heinrich bedachte eben mit
Scham uͤber ſeine eigene Ungeduld, wie das
ſchwache bejahrte Weib, das vielleicht dem Lande
arbeitende und ſtarke Soͤhne geboren hatte, ſein
ganzes Leben nur Einen fortgeſetzten Gang in
Regen und Noth ging, ohne Grund und ohne
Schuld, als ein dicker Flurſchuͤtz des Weges kam,
wohl eben ſo alt, wie das arme Weib, aber mit
rothem trotzigen Geſicht und einem eisgrauen
Schnurrbart und ſcheibenrunden thoͤricht rollenden
Augen. Dieſer fuhr ſogleich uͤber die Frau her,
welche den Buſch zitternd fahren ließ, und ſchrie:
Haſt wieder Holz geſtohlen, du Strolchin! Bei
allen Heiligen betheuerte die Alte, daß ſie das
[280] Birkenbaͤumchen alſo geknickt mitten auf dem
Wege gefunden habe; aber er rief: Luͤgen thuſt
du auch noch? wart' ich werd' dir's austreiben!
Und der alte Mann nahm die alte Graue beim
vertrockneten Ohr, welches unter der verſchobenen
gebluͤmten Katunhaube hervor guckte, und zerrte
ſie mehrmals an ſelbem hin und her, wie man
etwa einen boͤſen jungen Buben ſchuͤttelt, daß es
hoͤchſt ſeltſam und unnatuͤrlich anzuſehen war.
Heinrich ſprang mit einem Satze hinzu und ſchlug
dem boͤſen Holzvogt ſein hartes Wachstuchpaͤcklein
einige Mal ſo heftig um die Ohren und auf das
Geſicht, daß der Unhold taumelte und ihm das
uͤbermuͤthige Blut aus Mund und Naſe rann.
Das Frauchen machte ſich, ſo ſchnell es konnte,
aus dem Staube, oder vielmehr aus dem Regen,
der Feldwaͤrtel aber wollte ſeinen Saͤbel ziehen,
und indem dieſer nicht hervorkommen wollte, ver¬
harrte der Wuͤthende krampfhaft in der ziehenden
Stellung, die eine Hand am Griff, die andere
an der Scheide, ſchnaubend und fluchend, und gab
in dieſer gebannten Lage ein ſo herausforderndes
Bild der hoͤchſten Wuth, daß Heinrich noch ein¬
[281] mal auf ihn zu ſprang, ihm noch mehrere Maul¬
ſchellen gab und mit Scheltworten, Stoͤßen und
Schlaͤgen davon jagte. Froher als der junge
Moſes, der den aͤgyptiſchen Aufſeher erſchlagen,
athmete er auf und fand ploͤtzlich, daß das un¬
vorhergeſehene Abenteuer ein gutes Mittagsmahl
war, denn er fuͤhlte nicht mehr den mindeſten
Hunger und ſich ſo angenehm aufgeregt und bei
Kraͤften, daß er wohlgemuth ſeinen Weg fortſetzte
und ſich nicht ſtark um die Rache des Flurſchuͤ¬
tzen kuͤmmerte, welcher wahrſcheinlich Mannſchaf¬
ten herbeiholte.


Wie er nun ſo vorwaͤrts drang durch Wind
und Regen, wirkte die Waͤrme der guten That,
welche die Stelle eines nahrhaften Imbiſſes bei
ihm vertreten, immer angenehmer nach; es ging
wie ein Licht in ihm auf und es wollte ihn be¬
duͤnken, als ob eine ſolche fortgeſetzte und fleißige
Thaͤtigkeit in lebendigem Menſchenſtoffe doch et¬
was ganz anderes waͤre, als das abgeſchloſſene
Phantaſiren aus Papier und Leinwand, inſonder¬
heit wenn man fuͤr dieſes nicht ſehr geeignet ſei.
Oder vielmehr begann es ihm klarer zu werden
[282] mitten in dem duͤſtern Unwetter, in welcher Weiſe
er ſich in der Berufswahl getaͤuſcht, da erſt jetzt,
und noch viel eindringlicher als durch jenes bor¬
gheſiſche Fechterbild, das runde lebendige Men¬
ſchenleben ſich in ſeiner Hand abgedruckt und
noch deutlich nachfuͤhlte, im Gegenſatz zu dem
kalten Flaͤchenleben, dem er ſich ſonſt ergeben.


Auf der Hoͤhe des nahen Gehoͤlzes fuͤrbas
ſchreitend, dachte er ſich den Fall, daß er den boͤ¬
ſen Flurſchuͤtzen in der Hitze eines Kampfes todt
geſchlagen und in Folge deſſen gefangen worden
und vor ein Gericht uͤber Leben und Tod geſtellt
ſei, und er dachte ſich eine feurige und ſiegreiche
Vertheidigungsrede aus, welche ihn nicht nur aus
dem boͤſen Handel zoͤge, ſondern auch der Sache
der Menſchlichkeit ein kraͤftiges Wort liehe und
aus dem Angeklagten einen Anklaͤger machen
wuͤrde. Dann von dieſen gewaltſamen Gegen¬
ſtande zu anderen Vorſtellungen uͤbergehend, ſah
er ſich handelnd und redend, ſtreitend und uͤber¬
zeugend oder ſich unbefangen uͤberzeugen laſſend,
unter den Menſchen verkehren und durch das
bloße Hervorkehren eines guten Gewiſſens, einer
[283] wahren Natur und Offenheit, eines unverhohlenen
und kraͤftigen Benehmens die Luͤgner uͤberfuͤhren,
die Unentſchloſſenen antreiben und die vorſaͤtzlich
Unklaren zum Sehen zu zwingen, jeden Handel
beſtehen, jede Verwirrung zerſtreuen und durch
das einfachſte und unverfaͤnglichſte Daſein das
Wahre an ſich ziehen und Heiterkeit um ſich ver¬
breiten. Er ſah ſich das Verwerfliche unter allen
Bedingungen verwerfen und ohne Prahlerei und
Salbung, ohne Verzerrung des Geſichtes und
Verrenkung des Lebens uͤberall fuͤr das Spruͤch¬
lein einſtehen: Ehrlich waͤhrt am laͤngſten und
was dem Einen Recht, iſt dem Anderen billig;
und er lachte ruhig und unbekuͤmmert diejenigen
aus, welche weiſer zu ſein glaubten, als dieſe ein¬
fache Lehre, und weitſehender, als deren unab¬
weichliche Folgen. Dann indem er wieder des Flur¬
ſchuͤtzen gedachte und den Grund von deſſen beſtia¬
liſchem Weſen aufzufinden ſich bemuͤhte, ſtellte er
ſich die Geſtalt deſſelben nochmals lebendig vor
die Augen, und indem er die rollenden Augen,
die hochrothen Backen und Naſenpolſter, den
grauen wohl im Stand gehaltenen Schnurrbart,
[284] den dicken Bauch und die blanken Knoͤpfe des
Dienſtrockes betrachtete, ſah er wohl, daß das
Fundament alles dieſes anmaßlichen behaglich
brutalen Gebauſches eine unbegraͤnzte Eitelkeit ſei,
die ſich, da ſie einer halben Beſtie angehoͤrte,
nicht anders als in ſolcher Weiſe aͤußern konnte:
»Dieſer Kerl, welcher vielleicht der beſte Vater
und Gatte war und ein ganz guter Geſelle unter
ſeines Gleichen, inſofern man ihn nur nicht im
Prahlen und Ausbreiten ſeiner Art behinderte,
dieſer Kerl gefiel ſich ausnehmend wohl und hielt
ſich fuͤr einen Kerl, nach Maßgabe ſeiner Dumm¬
heit, als er die alte Frau am Ohr zerrte. Nicht
daß er etwa in der Kirche oder im Beichtſtuhl
zuweilen nicht einſaͤhe, daß er unchriſtlich lebe
und handle; der Rauſch der Eitelkeit und Selbſt¬
gefaͤlligkeit iſt es, welcher ihn alle Augenblicke
fortreißt und ſeinem Goͤtzen froͤhnen laͤßt. Glei¬
chermaßen ſieht er das Laſter an ſeinem naͤchſten
Vorgeſetzten, dieſer an dem ſeinigen und ſo fort
ſtufenweiſe, indem Einer es am Anderen gar wohl
bemerkt, ſelbſt aber nichts Eifriges zu thun hat,
als der eigenen Unart voll Wuth den Zuͤgel ſchie¬
[285] ßen zu laſſen, um nicht zu kurz zu kommen und
ſich herrlich darzuſtellen. Alle die tauſend von
einander Abhaͤngigen ſtreichen ihre grauen Schnaͤuze
und laſſen die Augen rollen, nicht aus Bosheit,
ſondern aus kindiſcher Eitelkeit; ſie ſind eitel im
Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz
und eitel in der Demuth; ſie luͤgen aus Eitelkeit
und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem
Munde zur Luͤge; denn ſie ſagen eine Wahrheit
nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern weil es
ihnen im Augenblicke gut anzuſtehen ſcheint.
Stolz, Herrſchſucht, Neid, Habſucht, Hartherzig¬
keit, Verlaͤumdung, alle dieſe Laſter laſſen ſich
baͤndigen und zuruͤckhalten oder in Schlummer
ſingen; nur die Eitelkeit iſt immer wach und ver¬
ſtrickt den Menſchen unaufhoͤrlich in tauſend luͤ¬
genhafte Dinge, Brutalitaͤten und kleinere oder
groͤßere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz ande¬
res Weſen aus ihm machen, als er urſpruͤnglich
war und eigentlich ſein will. Denn die Eitelkeit
iſt nichts anderes, als die krankhafte Abirrung
von ſich ſelbſt, der Mangel an genuͤgendem Ge¬
fuͤhl ſeines ſichern Daſeins und die Angſt, gerade
[286] durch dieſe Verwirrung um das Daſein zu kom¬
men. Hiergegen hilft kein Chriſtenthum; denn
der bekehrte Suͤnder iſt erſt recht eitel auf ſeine
Reue und auf die Gnade des Herrn und wird
ſeinen neuen Tick darin finden, uͤber die Eitelkeit
der Welt zu jammern. Gegen alles das Uebel,
was von dieſem Mehlſtaub Eitelkeit ſtammt, hilft
nur die einfache rein ſachliche Gegenwirkung; die
Eitelkeit immer und alluͤberall zu verletzen, ſie
bei der Naſe zu nehmen und ihr die eigene
Zweckloſigkeit deutlich zu machen, d. h. in ſofern
als ſie nicht die unſchuldige Beſchaͤftigung mit
der eigenen Perſon, ſondern die Reibung an den
Mitmenſchen zu ihrer Befriedigung waͤhlt. In
der That ſieht man oft, wie ein einziger Menſch,
der nicht eitel iſt oder doch das Gift unſchaͤdlich
zu verbergen weiß, wenn er nur will, einen fri¬
ſchen Luftzug unter die Leute bringt, und wo
mehrere zuſammentreffen, die ſich nur leidlich zu
maͤßigen vermoͤgen, wird ſogleich Ruhe, Ehre,
Offenheit und Sicherheit herrſchen und etwas Er¬
kleckliches gethan werden.« »Iſt die Eitelkeit, in¬
dem ſie in der Zudringlichkeit, in der gewaltſa¬
[287] men Verfuͤgung uͤber die Meinung und Gemuͤths¬
ruhe Anderer beſteht, ein Riß und eine Abirrung
vom eigenen Weſen, ſo iſt hingegen die unſchul¬
dige Eitelkeit, welche in einer gutartigen Verzie¬
rung des eigenen Weſens und in der Freude an
demſelben beſteht, eine wahrhafte Ergaͤnzung des¬
ſelben, ſo zu ſagen das goldene Hausmittelchen
der Menſchlichkeit und das beſte Gegengift fuͤr
jene boͤsartige weltliche Eitelkeit. Aber die gute
und ſchoͤne Eitelkeit, als die zierliche Vervoll¬
kommnung oder Ausrundung unſeres Weſens, in¬
dem ſie alle Keimchen zum Bluͤhen bringt, die
uns brauchbar und annehmlich machen fuͤr die
aͤußere Welt, iſt zugleich der beſte und feinſte
Richter und Regulator ihrer ſelbſt und treibt uns
an, das Gute und Wahre, was wir auch ſonſt
vorbringen wuͤrden, ohne haͤßliche Manier, ohne
Aufgeblaſenheit und Schnoͤrkelei zu vertreten, und
ſo veredelt ſie ſich von ſelbſt zum guten Geſchmack,
welcher ſeinerſeits wieder nichts anderes als die
Geſundheit und das Vernuͤnftige ſelbſt iſt.«


Indem Heinrich dergeſtalt vor ſich hin pre¬
digte, lenkte er endlich ſeine Gedanken auf ſich
[288] ſelbſt und fragte ſich, zum erſten Male in ſeinem
Leben, ob er ſelbſt nicht eitel ſei, und in welcher
Weiſe, in der verwerflichen oder in der guten
Art? Er ſetzte ſich abermals hoͤchſt bedaͤchtig auf
einen Stein und ſann daruͤber nach, traurig und
verfroren; denn in guten jungen Tagen fragt
man ſich wohl einmal, ob man gut oder boͤſe ſei,
ob aber eitel, anmaßend oder unertraͤglich, erſt
wenn man etwas muͤrbe geworden und ordentlich
durchgeregnet iſt. Da fiel ſein Blick auf das
triefende Paͤcklein, das er in ſeinen Haͤnden hielt,
und er fand ſofort, daß der Inhalt deſſelben wohl
das Produkt der Selbſtgefaͤlligkeit ſein duͤrfte,
welche ihn in ſo fruͤhem Alter unbewußt getrie¬
ben hatte, ein Bild von ſich ſelbſt zu entwerfen
und feſtzuhalten Doch als er dieſes ſelbe Bild
naͤher und nicht unliebſam betrachtete und der
Sonnenſchein der entſchwundenen Jugendzeit durch
das dunkle feuchte Wachstuͤchelchen zu leuchten
begann, glaubte er ſich ſagen zu duͤrfen, daß die
Eitelkeit der eingewickelten Buͤcher zu der guten
Art gehoͤre, welche ihren Inhaber zierlich verlockt,
ſich ſelbſt zu ergaͤnzen und darzuſtellen und ihm
[289] hilft zu ſein, was er ſeiner Natur nach ſein kann.
Wie er nun das verhuͤllte Buch in Gedanken
durchblaͤtterte, ſah er jene Stelle, wo er in den
fruͤheſten Tagen der Kindheit ſeine kleinen Mit¬
ſchuͤler in's Ungluͤck hinein gelogen und eine ganze
Malefizgeſchichte uͤber ſie aus dem Stegreif erſon¬
nen hatte, und damit tauchte die weitere Frage
in ihm auf, ob er eigentlich von Grund aus eine
Neigung zum Wahren oder zu deſſen Gegentheil
habe: denn ohne die Liebe zur Wahrheit und Auf¬
richtigkeit iſt die Eitelkeit in allen Faͤllen ein
ſchaͤdliches Laſter. Da er aber ſeit nun bald
zwanzig Jahren nicht die mindeſte Luſt zu ſolcher
Teufelei mehr verſpuͤrt und ſich auch geſtehen
konnte, aufrichtig um das Wahre bekuͤmmert zu
ſein, ſo beruhigte er ſich uͤber dieſen Punkt und
ſuchte ſich nur jene ſo ausgepraͤgte Kinderunthat
auf andere Weiſe zu erklaͤren.


Und da fuͤhrte er ſich dann den ſeltſamen
Vorgang auf die angeborne Luſt und Neigung
zuruͤck, im lebendigen Menſchenverkehr zu wirken
und zu hantiren und ſeinerſeits dazu beizutragen,
daß alle Dinge, an denen er betheiligt, einen or¬
lV. 19[290] dentlichen Verlauf naͤhmen. Dem Kinde war
der Unterſchied zwiſchen gut und boͤſe oder viel¬
mehr zwiſchen wahrer und falſcher Sachlage nicht
bewußt und voͤllig gleichguͤltig; die Erwachſenen
hatten jenen Handel unvernuͤnftig eingeleitet, das
Kind hatte nichts zu thun, als da ihm die wirk¬
liche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetiſche
Gerechtigkeit herzuſtellen und dazu erſt einen or¬
dentlichen faktiſchen Stoff zu ſchaffen. Auch er¬
innerte er ſich noch heute, daß er damals ohne
die mindeſten Gewiſſensbiſſe und mit dem unbe¬
fangenſten Intereſſe dem angerichteten Schaden
zugeſehen. Gedachte er nun noch, wie er um die
gleiche Zeit ſich Bilder von Wachs gemacht und
eine tabellariſche Schickſals- und Gerechtigkeits¬
ordnung uͤber ſie gefuͤhrt, ſo ſchien es ihm jetzt
beinahe gewiß, daß in ihm mehr als alles Andere
eigentlich eine Luſt laͤge, im lebendigen Wechſelverkehr
der Menſchen, auf vertrautem Boden und in feſt¬
begruͤndeten Sitten das Leben ſelbſt zum Gegen¬
ſtande des Lebens zu machen.


Mit dieſen tuͤchtigen Gedanken ſtand Heinrich
auf und ſah, daß er ſich uͤber einem Thale be¬
[291] fand, und dicht zu ſeinen Fuͤßen lag ein alter¬
thuͤmliches Staͤdtlein, wo um ein graues maͤchti¬
ges Kirchenſchiff und um den Giebel des Rath¬
hauſes ſich ein hundert kleine Haͤuſer zuſammen¬
kauerten. Heinrich ſah in die paar Straͤßlein und
auf den Platz hinein, wie auf einen Pfannkuchen,
und ſah zu ſeiner Verwunderung, daß die ganze
Einwohnerſchaft trotz des Regenwetters auf den
Beinen war und die kleine Oeffentlichkeit des Or¬
tes erfuͤllte. Er bemerkte auch alsbald, daß einige
Feuerſpritzen, begleitet von vielen Maͤnnern in
kuͤhnen Feuerkappen, ſich durch das Gedraͤnge be¬
wegten, und da er keinen Rauch ſah, ſo nahm
er an, daß dieſe Leute wohl ihre herbſtliche Feuer¬
muſterung und Spritzenprobe hielten. So war es
auch; denn indem um das Rathhaus herum Platz
gemacht wurde und man Feuerleitern daran legte,
fingirte man kuͤhnlich einen Brand auf dem
Dache deſſelben, und alle Fenſter des Staͤdtleins
waren geoͤffnet und die Einwohner, ſo nicht auf
der Straße waren, harrten vergnuͤgt unter den
Fenſtern der tapferen jaͤhrlichen Beſpritzung ihres
Rathhausgiebels. Um die Uebung unternehmen¬
19 *[292] der und kuͤnſtlicher zu geſtalten, waren die Spri¬
tzen in kleinen Seitengaͤßchen vertheilt, und die
langen Schlaͤuche zur Freude der Stadtjugend,
die verſtohlen darauf herumtrampelte, zogen ſich
in maͤandriſchen Windungen bis zu dem unſicht¬
baren Feuer hinan. Maͤnner ſtanden hoch auf
den Leitern und ſchritten auf dem Dache, die me¬
tallenen Wendroͤhren in der Hand, waͤhrend an¬
dere ihnen von unten auf Befehlsworte zuſandten
und ſie auf die gefaͤhrlichſten Punkte aufmerkſam
machten. Aber als nun das Abenteuer von Stat¬
ten gehen ſollte, da gab es eine große Verwir¬
rung, ein Rufen, Schreien, Schelten, und zu¬
letzt ein bedenkliches Durcheinanderdraͤngen und
Puffen, ohne daß die Leute wußten, woran es
lag und wie ſie ſich helfen ſollten. Heinrich
aber ſah ganz herrlich, woher die Noth kam, und
haͤtte gern gelacht, wenn er nicht ſo naß gewe¬
ſen waͤre; denn die Wendrohrfuͤhrer hatten in
der kunſtreichen Verſchlingung der Schlaͤuche Je¬
der das unrechte Rohr ergriffen, und als ſie
nun oben auf dem Capitol ihrer Spritzenmann¬
ſchaft laut zuriefen, Waſſer zu geben oder da¬
[293] mit nachzulaſſen, je nach der Wendung des Aben¬
teuers, da gab immer die Spritze eines Andern
Waſſer oder verſiegte ploͤtzlich, ſo daß ihr Vor¬
kaͤmpfer vergeblich ſein Rohr kuͤhnlich emporhielt
und klug zielend hin und her ſchwenkte, waͤh¬
rend ſein Nebenmann, der an nichts dachte, uner¬
wartet Waſſer bekam und dem Buͤrgermeiſter da¬
mit die Perruͤcke abſpritzte, der den Kopf aus
einer Dachluke ſtreckte. Immer groͤßer ward die
Verwirrung, und ein allgemeiner Kampf ſchien
zu entſtehen; denn den einfachen Grund, die
Verwechslung der Wendroͤhre, entdeckte Niemand,
da die verſchlungenen Schlaͤuche um die Ecke
gingen und Keiner die Sachlage uͤberſah.


Heinrich ging ſtill an dem Staͤdtlein voruͤber
voll Nachdenken uͤber dies wunderbare Geſicht.
Dann rief er mit allem Feuer, deſſen ſein aus¬
gehungertes und erfrorenes Leibwerk noch hab¬
haft war: »Dies iſt das Geheimniß! O wer
allezeit auf rechte Weiſe zu ſehen verſtaͤnde, un¬
befangen mitten in der Theilnahme, ruhig in edler
Leidenſchaft, ſelbſtbewußt, doch anſpruchlos, kunſt¬
los und doch zweckmaͤßig! Ich will nun aber doch
[294] gehen und noch irgend etwas Lebendiges lernen,
wodurch ich unter den Menſchen etwas wirke und
nuͤtze!«


Alſo ging er darauf zu, als ob die naͤchſten
hundert Schritte ihn dahin bringen koͤnnten, und
die einfache Sehnſucht nach der Heimath verwan¬
delte ſich nun in ſchoͤnſte Hoffnung und gewich¬
tige Entſchluͤſſe, alſo daß Heinrich, da er ganz
im Unſtern war und verlaſſen als ein Bettler im
Unwetter dahin trieb, ſich ſelbſt erhoͤhte und we¬
nigſtens vor ſich ſelbſt gute Figur machte.

[]

Neuntes Kapitel.

Jedoch hielten dieſe moraliſchen Lebensgeiſter
den Wanderer kaum noch ein Stuͤndchen aufrecht,
worauf, als es Abend wurde, ſeine Kraͤfte end¬
lich nachzulaſſen begannen und er merkte, daß er
in keinem Falle die Nacht hindurch gehen koͤnne.
Die leibliche Noth, Schwaͤche, Hunger und Kaͤlte
machten ſich jetzt ſo vermehrt und unmittelbar
geltend, daß Heinrich gaͤnzlich jener Niederge¬
ſchlagenheit und Rathloſigkeit anheimfiel, welche
durch den Aerger noch erbittert wird, daß ja keine
Rede davon ſein koͤnne, etwa umzukommen oder
unterzugehen, und alſo das ſchlechte Abenteuer
nur eine entbehrliche Vexation ſei. Doch raffte
er ſich noch einmal zuſammen und behauptete
dem guten Muthe mit verzweifelter Kraftanſtren¬
gung die Oberhand. Er war jetzt aus einer
Waldſtraße getreten und ſah ein breites Thal vor
ſich, welches ein großes Gut zu enthalten ſchien,
[296] denn ſchoͤne Parkbaͤume, die eine herrſchaftliche
Daͤchergruppe umgaben, wechſelten mit den Wal¬
dungen ab und zwiſchen weiten Wieſengruͤnden
und Feldern lag eine weitlaͤufige Dorfſchaft zer¬
ſtreut. Zunaͤchſt vor ihm ſah er ein katholiſches
Kirchlein ſtehen, deſſen Thuͤren offen waren.


Er trat hinein, wo es ſchon ganz daͤmmerig
war und das ewige Licht wie ein Stern vor dem
Altar ſchwebte. Die Kirche ſchien uralt zu ſein,
die Fenſter waren zum Theil gemalt und die
Waͤnde ſo wie der Boden mit adeligen Grabſtei¬
nen bedeckt. »Hier will ich die Nacht zubringen,«
ſagte Heinrich zu ſich ſelbſt, »und unter dem
Schutze der allerchriſtlichſten Kirche austrocknen
und ausruhen.« Er ſetzte ſich in einen dunklen
Beichtſtuhl, in welchem ein ſtattliches Kiſſen lag,
und wollte eben das gruͤne ſeidene Vorhaͤngel¬
chen vorziehen, um augenblicklich einzuſchlafen,
als eine derbe Hand das Vorhaͤngelchen anhielt,
und der Kuͤſter, der ihm nachgegangen, vor ihm
ſtand und ſagte: »Wollt Ihr etwa hier uͤbernach¬
ten, guter Freund? Hier koͤnnt Ihr nicht bleiben!«


»Warum nicht?« ſagte Heinrich.

[297]

»Weil ich ſogleich die Kirche zuſchließen
werde! Gehet ſogleich hinaus!« erwiederte der
Kuͤſter.


»Ich kann nicht gehen,« ſagte Heinrich, »laßt
mich hier ſitzen, die Mutter Gottes wird es Euch
nicht uͤbel nehmen!«


»Geht jetzt ſogleich hinaus! Ihr koͤnnt durch¬
aus nicht hier bleiben!« rief der Kuͤſter, und
Heinrich ſchlich truͤbſelig aus der Kirche, waͤhrend
der Kuͤſter raſſelnd die Thuͤren zuſchlug und
um die Kirche herumging. Heinrich ſtand jetzt
auf einem Kirchhof, welcher durchaus einem
ſchoͤnen und wohlgepflegten Garten glich, indem
jedes Grab ein Blumenbeet vorſtellte, die Graͤber
zwanglos und maleriſch gruppirt waren, hier ein
einzelnes großes Grab, dort ein ſolches nebſt
einem Kindergraͤbchen, dann eine ganze Colonie
kleiner Kindergraͤber, dann wieder eine groͤßere
oder kleinere Familie großer Graͤber u. ſ. f., welche
alle in verſchiedenem Charakter bepflanzt und mit
Blumen beſetzt waren. Die Wege waren ſorg¬
faͤltig mit Kies bedeckt und gerechet, und verloren
ſich ohne Scheidemauer unter die dunklen Baͤume
[298] eines Luſtwaldes, große Ahornbaͤume, Ulmen
und Eichen. Es hatte etwas zu regnen nach¬
gelaſſen, doch troͤpfelte es noch ziemlich, in¬
deſſen gegen Abend ein ſchmaler feuriger Streifen
Abendroth auf den Huͤgeln lag und einen ſchwa¬
chen Schein auf die Leichenſteine warf. Heinrich
ſank auf eine zierliche Gartenbank unter den
Graͤbern; denn er vermochte kaum mehr zu
ſtehen. Nun kam ein ſchlankes weibliches Weſen
unter den Baͤumen hervor mit raſchen leichten
Schritten, welches eine ſchwarz ſeidene Mantille
trug, reiche dunkle Locken luſtig im Winde ſchuͤt¬
telte, und mit der einen Hand die Mantille uͤber der
Bruſt feſt hielt, indeß die andere Hand einen
leichten Regenſchirm trug, der aber nicht aufge¬
ſpannt war. Dieſe ſehr anmuthige Geſtalt eilte
gar wohlgemuth zwiſchen den Graͤbern herum
und ſchien dieſelben aufmerkſam zu beſichtigen,
ob die Gewaͤchſe von Sturm und Regen nicht
gelitten haͤtten. Hie und da kauerte ſie nieder,
warf ihr Schirmchen auf den Kiesweg und band
eine flatternde Roſe friſch auf oder ſchnitt ſich
mit einem Scheerchen eine Blume ab, worauf ſie
[299] wieder weiter eilte. Heinrich ſah, erſchoͤpft wie
er war, dieſe ſchoͤne Erſcheinung wie einen
Traum vor ſich hin ſchweben und dachte nicht
viel dabei, obſchon ſie ihm einen angenehmen
Eindruck machte, als der Kuͤſter wieder hinter der
Kirche hervorkam und Heinrich abermals anre¬
dete.


»Hier koͤnnt Ihr auch nicht bleiben, guter
Freund!« ſagte er, »dieſer Gottesacker gehoͤrt ge¬
wiſſermaßen zu den herrſchaftlichen Gaͤrten, und
kein Fremder darf ſich da zur Nachtzeit herum¬
treiben.«


Heinrich antwortete gar nicht, ſondern ſah
theilnahmlos vor ſich hin.


»Nun, hoͤrt Ihr nicht? Auf! Steht in Got¬
tes Namen auf, guter Freund!« rief der Kuͤſter
etwas lauter und ruͤttelte den Muͤden an der
Schulter, wie man etwa einen Betrunkenen auf¬
muntert. In dieſem Augenblicke kam jenes
Frauenzimmer zur Stelle und hielt ihren zierli¬
chen Gang an, um dem Handel neugierig zuzu¬
ſchauen. Dieſe Neugierde war ſo kindlich und
gutmuͤthig, und zugleich war die ganze Er¬
[300] ſcheinung, welche Heinrich die ſchoͤnaͤugigſte und
anmuthigſte Perſon duͤnkte, die er je geſehen,
von ſo unverhohlener, natuͤrlicher und doch kluger
Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues
Leben gewann, ſich ſchnell aufrichtete und eine
hoͤfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem
er ſeinen naſſen Hut ſchwenkte, fiel derſelbe gaͤnz¬
lich zuſammen und er hielt den uͤbel ausſehenden
wie ein ſchlechtes Symbol in der Hand. So
ſtand er denn auch gar uͤber und uͤber mit
Schlamm und Koth bedeckt vor der ſchoͤnen Per¬
ſon, die ihn aufmerkſam betrachtete, und er ſchlug
hoͤchſt verlegen die Augen nieder und ſchaͤmte ſich
vor ihr, indeſſen er doch ein wenig laͤcheln mußte,
denn er gedachte ſogleich wieder des ungluͤckſeli¬
gen Roͤmer, welcher ihm einſt den vor der ſchoͤ¬
nen Nauſikaa ſich ſchaͤmenden Odyſſeus poetiſch
erklaͤrt hatte. »O,« dachte er, »da es noch hie und
da eine Nauſikaa giebt, ſo werde ich auch mein
Ithaka noch erreichen! Aber welch' naͤrriſche Odyſ¬
ſeen ſind dies im neunzehnten Jahrhundert chriſt¬
licher Zeitrechnung!«


Dieſe Betrachtung dauerte aber nur einen
[301] Augenblick und die liebliche Jungfrau ſagte in¬
zwiſchen zu dem unholden Kirchendiener: »Was
giebt es hier mit dieſem Manne?«


»Ei, gnaͤdiges Fraͤulein!« erwiederte der Kuͤ¬
ſter, »weiß Gott, was dies fuͤr ein Heide mag
ſein! Er will durchaus in der Kirche oder auf
dem Kirchhof einſchlafen; das kann doch nicht
geſchehen, und wenn er ein armer Landfahrer iſt,
ſo ſchlaͤft er gewiß beſſer im Dorf in irgend einer
Scheune!«


Die junge Dame ſah den Heinrich an und
ſagte freundlich: »Warum wollen Sie durchaus
hier ſchlafen? Lieben ſie die Todten ſo ſehr?«


»Ach, mein Fraͤulein,« ſagte Heinrich, indem er
ziemlich furchtſam aufblickte, »ich hielt ſie fuͤr die
eigentlichen Inhaber und Gaſtgeber der Erde, die
keinen Muͤden abweiſen; aber wie ich ſehe, ſo
ſind ſie von den Lebendigen auch in dieſer Hin¬
ſicht arg bevormundet und wird ihre Intention
ſtets ausgelegt, wie es denen gefaͤllt, die uͤber
ihren Koͤpfen dahin gehen!«


»Das ſollen Sie nicht ſagen,« erwiederte lieb¬
lich lachend das Fraͤulein, »daß wir hier zu Lande
[302] ſchlimmer geſinnt ſeien, als die Todten! Wenn
Sie ſich nur erſt ein bischen ausweiſen wollen
und ſagen, wie es Ihnen geht, ſo werden Sie
uns Lebendige hier ſchon als leidliche Leute
finden!«


»Was meine Herkunft betrifft,« antwortete
Heinrich und blickte ſie jetzt ſicher und ernſthaft
an, ſo bin ich ſehr guter Leute Kind und eben
im Begriff, ſo ſehr ich kann zu laufen, wo ich
her gekommen bin. Ich bin aus der Schweiz
und ſeit mehreren Jahren habe ich als Kuͤnſtler
in der Hauptſtadt dieſes Landes gelebt, um zu
entdecken, daß ich eigentlich kein Kuͤnſtler ſei.
Dabei erging es mir uͤbel und ich begab mich
ohne alle Mittel wie ich ging und ſtand auf den
Heimweg, um mich zu beſſern. Ich wuͤnſche und
hoffe aber unbemerkt und ohne irgend den Men¬
ſchen unterwegs auf- und laͤſtig zu fallen nach
Hauſe zu kommen. Ich wollte ungeſehen und
unbemerkt in dieſer Kirche die Nacht zubringen,
da es ſo abſcheuliches Wetter iſt, und in aller
Stille am Morgen wieder weiter ziehen. Wenn
hier ganz in der Naͤhe irgend ein Vordach oder
[303] eine Huͤtte iſt, denn weiter kann ich nicht mehr,
ſo befehlen Sie, daß man mich dort ruhen laͤßt
und thut, als ob ich gar nicht da waͤre, und am
Morgen werde ich dankbar wieder verſchwun¬
den ſein.«


Das Maͤdchen beſann ſich eine kleine Weile,
den Fremden anſehend, und ſagte dann mit un¬
veraͤnderter Freundlichkeit: »Sie kommen mir
zwar ganz fremd vor: doch wollt' ich wetten, daß
Sie jener junge Schweizer ſind, der vor ſechs
Jahren mit uns in dem Gaſthofe zuſammentraf,
einige Stunden von hier, und der dann mit mei¬
nem Papa weiter fuhr nach der Reſidenz! Erin¬
nern Sie ſich nicht mehr des kleinen Huͤndchens,
welchem Sie Kuchen gaben uͤber den Tiſch?«


Heinrich ſah jetzt das hochgewachſene ſchoͤne
Frauenzimmer, das zwei bis drei und zwanzig
Jahre zaͤhlen mochte, erſtaunt an. Das alſo
war jenes liebliche und freundliche Maͤdchenkind,
und welch' artiges Wunder, daß eben jetzt bei
ſeinem traurigen Abzug aus Deutſchland das
gleiche Weſen in reifer Vollendung ihm entge¬
gentreten mußte, das ihm bei ſeinem pompoͤſen
[304] Einzug als angehende Grazie begruͤßt hatte!
Und wie wohlbeſtellt mußte dies Weſen im Ge¬
muͤthe ſein, da es jene wahrhaft wohlgezogene
Hoͤflichkeit des Herzens beſaß, welche auch das
Gleichguͤltigſte und Voruͤbergehendſte nicht ver¬
gißt und jedem Menſchenantlitz, ſo ihr einmal
begegnet iſt, ein freundliches unverhohlenes Ge¬
daͤchtniß entgegen bringt! Dieſe hoͤfliche und auf¬
merkſame Gemuͤthsgegenwart erwaͤrmte und be¬
lebte den Durchnaͤßten ſichtlich und gab ihm
einen guten Muth zu ſich ſelber, da ein ſo preis¬
werthes und zierbegabtes Gewaͤchs ſeine Perſon
der Wiedererkennung wuͤrdigte.


»O ſicher erinnere ich mich,« ſagte er erroͤthend,
»aber ich wuͤrde ſie doch nicht wieder erkannt ha¬
ben; denn Sie ſind ſo viel groͤßer geworden!«


Bei dieſen Worten erroͤthete ſie auch ein weni¬
ges, aber ſehr unverfaͤnglich und nur inſofern,
als ſie fuͤhlte, welch' einen roſigen Glanz die
Erwaͤhnung der maͤrzlich flimmernden und ſchim¬
mernden Maͤdchenflegeljahre uͤber eine Großgewor¬
dene verbreitet, die man lange nicht geſehen. Dann
ſagte ſie aber mit herzlicher Bekuͤmmerniß:
[305] »Ach Gott! Sie muͤſſen alſo nun auf ſo traurige
Weiſe wieder in Ihre Heimath kehren?«


»O das hat gar nichts zu ſagen,« erwiederte
Heinrich lachend, »ich bin bereits auf dem Wege
wieder ganz munter geworden und habe es nun
gut vor, wenn ich nur erſt dort bin!«


»Kommen Sie nun jedenfalls mit mir, »ſagte
das Fraͤulein, »mein Papa iſt den ganzen Tag
weggeweſen, und bis er nach Hauſe kommt, will
ich es uͤber mich nehmen und Ihnen ein vorlaͤu¬
figes Unterkommen anbieten in meinem Garten¬
hauſe; ich bin verſichert, daß er ſich wohl Ihrer
erinnert und Sie nicht fortlaſſen wird dieſe Nacht!
Kommen Sie nur, gleich unter dieſen Baͤumen
treibe ich ſo den ganzen Sommer und Herbſt
mein Weſen, und Ihr, Kuͤſter, folgt uns als
dienſtbare Begleitung zur Strafe, daß Ihr dieſen
Herrn ſo ungaſtlich behandelt!«


Heinrich war zu ſchwach, als daß er ſich haͤtte
bedenken koͤnnen, ob er der Einladung Folge leiſten
wolle oder nicht; auch machte dieſelbe einen ſo
herzlichen und unbefangenen Eindruck auf ihn,
daß er der Schoͤnen gern folgte und, ſo raſch
IV. 20[306] er noch vermochte, neben ihr hin marſchirte, ſich
einzig nach einer Ruheſtelle und etwas Waͤrme
ſehnend, indeſſen der Kuͤſter ganz verbluͤfft und
mißtrauiſch hinter dem Paare her ging. Es hatte
endlich ganz zu regnen aufgehoͤrt, der feſte Bo¬
den unter den großen alten Baͤumen war faſt
gaͤnzlich trocken und in das praͤchtige Dunkel, in
in dem ſie jetzt gingen, leuchteten nur zwiſchen
den Staͤmmen der feurige Abendſtreif und im
Hintergrunde die erhellten Fenſter eines Park-
oder Gartenhauſes. In dieſem befand ſich ein
kleiner Saal, der nur durch eine Glasthuͤr vom
Parke getrennt war, und in dem Saale brannte
ein helles Kaminfeuer; als ſie eingetreten, ruͤckte
das Frauenzimmer einen Stuhl zum Feuer und
forderte Heinrich auf, ſich auszuruhen. Ohne
Verzug ſetzte er ſich und ſchaͤmte ſich noch eine
Weile ſeines ſchlechten Ausſehens; die junge
Dame ſchien das zu bemerken und ſtellte ſich voll
Mitleid vor ihn hin, indem ſie ſagte: »Sagen
ſie doch, Herr — wie heißen Sie denn?«

»Heinrich Lee,« ſagte er.

»Herr Lee, geht es denn Ihnen ganz ſchlecht?
[307] ich habe keinen rechten Begriff davon; Sie ſind
doch am Ende nicht ſo arm, daß Sie auch nichts
zu eſſen haben?«


Heinrich laͤchelte und ſagte: »Es hat nicht
zum mindeſten etwas zu bedeuten, wie ich Ihnen
ſage, aber im Augenblick iſt es allerdings ſo!«
Er erzaͤhlte ihr hierauf mit wenig Worten ſein
Abenteuer, worauf ſie die Haͤnde zuſammenſchlug
und rief: »Herr Gott! aber warum thun Sie
denn das? Wie koͤnnen ſie ſich ſo der Noth aus¬
ſetzen?«


»Nun, mit Abſicht hab' ich es gerade nicht
gethan,« ſagte er, »da es aber einmal ſo iſt, ſo bin
ich ſogar ſehr froh daruͤber; ſehen Sie, man lernt
an Allem etwas und hat manchmal ſogar die
beſten Fruͤchte daran. Fuͤr Frauen ſind derglei¬
chen Uebungen nicht nothwendig, denn ſie thun
ſo immer, was ſie nicht laſſen koͤnnen; fuͤr uns
Maͤnner aber ſind immer ſo recht handgreifliche
Exercitien gut, denn was wir nicht ſehen und
fuͤhlen, ſind wir nie zu glauben geneigt oder hal¬
ten es fuͤr unvernuͤnftig und veraͤchtlich.«


Das gute Maͤdchen hatte indeſſen ein kleines
[308] Tiſchchen herbeigeholt und vor ihn hingeſtellt,
auf welchem einiges Eſſen ſtand. »Hier ſteht zum
Gluͤck,« rief ſie, »noch faſt mein ganzes Eſſen;
ich ließ es mir hieher bringen, da ich heute allein
war, und eſſen Sie wenigſtens ſogleich etwas,
bis mein Papa zu Hauſe kommt und fuͤr Sie
ſorgt. Geht ſogleich nach dem Hauſe, Kuͤſter,
und holt eine Flaſche Wein, ſogleich, hoͤrt Ihr?
Die Brigitte wird ſie Euch geben! Trinken Sie
lieber weißen Wein oder Rothwein, Herr Lee?«


»Rothen« ſagte er.


»So ſagt der Brigitte, ſie ſolle Euch von
Papas Wein geben!« rief ſie dem Kuͤſter noch
nach. Dann zog ſie tuͤchtig an einer Klingel¬
ſchnur, worauf ein laͤndlich gekleidetes feines
Maͤdchen herbeigelaufen kam, welches des Gaͤrt¬
ners Tochter war und den eſſenden Heinrich neu¬
gierig betrachtete; denn dieſer hatte ſich ſehr an¬
daͤchtig uͤber ein Stuͤck kalten Rehbratens herge¬
macht, wunderte ſich jedoch bald, daß er gar nicht
ſo viel zu eſſen vermochte, als er zuerſt gedacht,
und er legte bald die zierlichen Eßwerkzeuge hin
und vermochte jetzt erſt recht nicht mehr zu eſſen,
[309] als er bemerkte, daß es wohl diejenigen deß
Fraͤuleins ſelbſt waren, die man ihm im erſten
Eifer vorgelegt hatte. Er fand ſich in einer ſon¬
derbaren Lage und wuͤnſchte doch lieber wieder
auf dem naͤchtlichen Wege zu ſein, um frei und
frank ſeinem Lande zuzuſchreiten. Denn es
ſchnuͤrte ihm irgend eine Befangenheit das Herz
zu und es war ihm, als ob er beſſer gethan
haͤtte, Alles darauf ankommen zu laſſen und unter
Gottes freiem Himmel zu bleiben. Er nahm die
kleine ſilberne Gabel, welche faſt noch eine Kin¬
dergabel war und ſchon viele Jahre gebraucht
ſchien, noch einmal in die Hand und betrachtete
ſie, und als er ſah, daß der Name »Dorothea«
hoͤchſt ſauber in kleiner gothiſcher Schrift darauf
gravirt war, legte er das Inſtrumentchen ſo
ſchleunig wieder hin, als ob es ihn geſtochen
haͤtte, und es erwachte ploͤtzlich ein heftiger
Stolz in ihm, wenn er ſich dachte, daß man
nur im geringſten etwa meinen koͤnnte, er haͤtte
ſich etwas zu gute darauf gethan, mit dem aller¬
liebſten Leibbeſteck dieſes ſchoͤnen und vornehmen
Fraͤuleins zu eſſen, und zwar ſo wie geſtohlen,
[310] durch die Gunſt eines Verſehens. Sie hieß alſo
Dorothea und die Gaͤrtnerstochter nannte ſie auch
ſoeben mit dieſem Namen, waͤhrend ſie ſelbſt
Apolloͤnchen genannt wurde. Die beiden Maͤdchen
hatten ſich an einen großen viereckigen Tiſch zu¬
ruͤckgezogen, der in der Mitte des Saales ſtand,
und ſprachen dort mit halblauter Stimme mit ein¬
ander, als ob ſonſt Niemand zugegen waͤre; denn
es ſchien deutlich, daß Dorothea einſtweilen das
Ihrige gethan glaubte und ſich einer gemeſſenen
Zuruͤckhaltung ergab; aber in derſelben war ſie
unbefangen und anmuthig, daß Heinrich nur in
um ſo groͤßere Verlegenheit gerieth, und er, der
eben noch kaum ſeine Glieder zuſammenhalten
konnte, alſogleich von der Oppoſition beſeſſen
ward, in welche ein unverdorbener junger Menſch
ſolchen Erſcheinungen gegenuͤber geraͤth, als muͤßte
er ſich ſeiner Haut wehren, wo Niemand denkt, ihn
in Unruhe zu verſetzen. Doch ließ er ſich nichts
anſehen, und da der Wein inzwiſchen gekommen
war und Apolloͤnchen ihm eingeſchenkt hatte,
wobei ſie ihn im Fluge und mit kritiſchen Aeuge¬
lein muſterte, trank er binnen kurzem ein gro¬
[311] ßes Glas voll aus und ſah nun dem Treiben
der Frauenzimmer zu. Die Gaͤrtnerstochter ſtand
bei der Herrntochter, welche am Tiſche ſaß, und
indem ſie kurzweilig und vertraulich plauderten,
half jene dieſer in ihrer Hantirung und reichte
ihr was ſie bedurfte. Der große Tiſch war ganz
mit Gegenſtaͤnden bedeckt, worunter vorzuͤglich
allerlei Gefaͤße und Glaͤſer hervorragten, welche
ſaͤmmtlich mit Blumen angefuͤllt waren, die im
Waſſer ſtanden. Meiſtens waren es Spaͤtroſen
und die Straͤuße, große und kleine, befanden ſich
im verſchiedenſten Zuſtande, ſo daß man ſah, daß
es die Ergebniſſe vieler Tage waren und auch
der aͤlteſte Strauß noch mit Liebe erhalten und
gepflegt wurde, ſo hinfaͤllig er auch ausſah. Da
Heinrich ſah, daß die heutigen Blumen vom
Kirchhofe ſogleich in ein Glas geſtellt worden,
ſo vermuthete er, daß alle Blumen von den Graͤ¬
bern herruͤhrten, und dachte ſich, die Schoͤne
muͤſſe eine liebevolle Freundin und Pflegerin der
Todten ſein, was ihr um ſo mehr Reiz verlieh,
als ſie eine Graͤfin und die draußen Liegenden
ſaͤmmtlich Bauern und Unterthanen waren.
[312] Außerdem lagen auf dem Tiſche noch eine
Menge ſpaͤte Feldbluͤmchen verwelkt oder noch
leidlich friſch, und wunderſchoͤne purpurrothe oder
goldene Baumblaͤtter, allerlei Prachtexemplare,
wie ſie jetzt von den Baͤumen fielen, und noch
andere ſolche Herbſtputzſachen aus Wald und
Garten, welche uͤber den ganzen. Tiſch geſtreut
waren, ſo daß die Dame fuͤr die Gegenſtaͤnde,
mit denen ſie ſich beſchaͤftigte, fortwaͤhrend Raum
ſchaffen und das bunte Blaͤtterwerk mit liebens¬
wuͤrdigem Unwillen wegſtreifen mußte. Vor ihr
lag eine große offene Mappe, welche ganz mit
Bildern und Zeichnungen gefuͤllt ſchien, welche
auf ſtattliche Bogen grauen Papieres zu heften
ihre Arbeit war, daß ſie geſchuͤtzt und mit einem
anſtaͤndigen Rande verſehen wurden, Heinrich
ſah ſie von ſeinem Sitze aus verkehrt; doch er¬
kannte er, daß es landſchaftliche Studien waren,
indeſſen ſie ihn wenig ruͤhrten, da die Zeit dieſer
Dinge ſchon wie ein Traum hinter ihm zu liegen
ſchien; vielmehr empfand er einen Widerwillen,
hier auf dergleichen zu ſtoßen, was ihm ſo viel
Taͤuſchung und Leidweſen bereitet hatte.

[313]

Apolloͤnchen ſchnitt, nach Dorothea's Anwei¬
ſung, das graue Papier zurecht je nach dem
Maße des Studienblattes, mit einer niedlichen
Scheere, und Beide benahmen ſich dabei, als ob
ſie Leinwand vor ſich haͤtten und eine Ausſteuer
zuſchnitten. Apolloͤnchen fuhr mit der Scheere
haſtig und raſch vorwaͤrts, wie ſie es beim Zeuge
gewohnt war, welches von ſelbſt reißt dem Faden
nach, und ſie machte desnahen viele Riſſe
und Kruͤmmungen in das Papier, und daſſelbe
ſchrumpfte ſich ſtellenweiſe auf jene unangenehme
Weiſe auf der Scheerenklinge zuſammen, wenn
man zu unvorſichtig durchfaͤhrt, ſo daß das em¬
ſige Maͤdchen fortwaͤhrend mit den Fingerchen zu
glaͤtten, zu ſeufzen und zu erroͤthen hatte.


»Ei ei, Kind!« ſagte Dorothea, »Du machſt
mir ja ganz gefranzte Raͤnder zu meinen herrli¬
chen Bildern! Ich will wetten, daß der Papa un¬
ſere ſaͤmmtliche Arbeit kaſſirt und ſich endlich
ſelbſt dahinter macht, die Sachen zu ordnen!«


»Ach Du!« ſagte jene, »mach' Du's doch
beſſer mit dieſem vertrackten Papier! Sieh, Du
20 *[314] klebſt ja alle die Landkarten krumm auf den Bo¬
gen, daß ſie ganz windſchief daſtehen!«


„Ach ſo ſchweig doch,« ſagte Dorethea wei¬
nerlich, »ich weiß es ja ſchon! Es ſind aber auch
gar zu große Dinger, man kann ſie ja gar nicht
ordentlich uͤberſehen!«


»Was nur daran zu ſehen iſt?« ſagte Apol¬
loͤnchen, »zu was braucht man ſie denn?«


»Ei du Aff! zu was? zum Nutzen und Ver¬
gnuͤgen! Siehſt Du denn nicht, wie huͤbſch dies
ausſieht, alle dieſe luſtigen Baͤume, wie das krib¬
belt und krabbelt von Zweigen und Blaͤttern,
und wie die Sonne darauf ſpielt?«


Apolloͤnchen legte die Arme auf den Tiſch,
neigte das Naͤschen gegen das Blatt und ſagte:
»Wahrhaftig ja, es iſt wirklich huͤbſch und ſo
ſchoͤn gruͤn! Iſt dies hier ein See?«


»Ein See! o du naͤrriſches Weſen!« rief die
Andere und lachte mit dem vergnuͤgteſten Muth¬
willen, dies iſt ja der blaue Himmel, der uͤber
den Baͤumen ſteht! Seit wann waren denn die
Baͤume unten und das Waſſer oben?«


»Geh doch,« ſagte dieſe ſchmollend, »der
[315] Himmel iſt ja rund und dies Blaue hier iſt
viereckig, gerade wie der neue Weiher hinter der
Muͤhle, wo der Herr die Linden hat drum pflan¬
zen laſſen. Und gewiß haſt Du das Bild verkehrt
aufgemacht! Kehr' es nur einmal um, dann iſt
das Waſſer ſchon unten und die Baͤume ſind
oben!«


»Ja, mit den Wurzeln!« ſagte Dorothea noch
immer lachend, »dies iſt ja nur ein Stuͤck vom
Himmel, du Kind! Guck einmal durch's Fen¬
ſter, ſo ſieheſt Du auch nur ein ſolches Viereck,
Du Viereck!«


»Und Du Dreieck!« ſagte Apolloͤnchen und
ſchlug der jungen Herrin mit der flachen Hand
auf den Nacken. Ploͤtzlich hielt dieſe aber an ſich
und legte bedenklich den Finger an den offenen
Mund, als ob ihr etwas ſehr Wichtiges einfiele;
denn auf dem Blatte, das ſie jetzt in die Hand
genommen, war zwiſchen den Baͤumen ein Stuͤck
von einer helvetiſchen Alpenkette zu ſehen. Hein¬
rich war uͤber den lieblichen fibrirenden Modula¬
tionen des Maͤdchengezwitſchers ſanft eingeſchlafen,
und er hoͤrte im Schlafe jetzt einen jener unarti¬
[316] culirten aber metallreichen Frauenausrufe, welche
ſo ergoͤtzlich klingen, wenn ſie von etwas uͤberraſcht
oder halb erſchreckt werden. Sie war naͤmlich
ploͤtzlich auf den Gedanken gekommen, da die
Zeichnungen offenbar aus der Schweiz herruͤhrten,
daß am Ende Heinrich der Urheber derſelben ſein
duͤrfte, und weil der Zufall ſchon ſo viel gethan,
ſo ſchien es ihr ſogar gewiß, und ſie ging mit
der Lebhaftigkeit darauf los, welche ſolchen We¬
ſen eigen iſt, wenn ſie ein unſchuldiges und arg¬
loſes Abenteuer herbeifuͤhren moͤgen. Sie ſtand
jetzt vor dem inzwiſchen feſt Eingeſchlafenen und
hielt den großen Bogen vor ihn hin, indem ſie
die beiden oberen Ecken zierlich gefaßt, wie eine
Kirchenſtandarte. Sie rief ihn beim Namen, wor¬
auf er ſogleich erwachte; aber er war ſchon ſo
ſchlaftrunken von der Muͤdigkeit, daß er die erſten
Augenblicke nicht wußte, wo er war. Er ſah
nur ein ſchoͤnes Weſen vor ſich ſtehen, gleich ei¬
nem Traumengel, der ein Bild vor der Bruſt
hielt und mit freundlichen Sternaugen uͤber das¬
ſelbe herblickte. Voll traumhafter Neugierde
beugte er ſich vor und ſtarrte auf das Bild, bis
[317] ihm erſt die Landſchaft mit den Baͤumen und
Schneefirnen bekannt vorkamen und er dann auch
ſeine Jugendarbeit erkannte. Dann ſah er in das
vom Feuer beglaͤnzte Geſicht hinauf, und auch
dieſes kam ihm ſo bekannt vor, und doch wußte
er nicht wo er es ſchon geſehen, denn das, was
er zehn Minuten zuvor erlebt, lag ſeinem ver¬
wirrten Zuſtande in ein dunkles Vergeſſen ent¬
ruͤckt. Nun zweifelte er nicht laͤnger, daß
er mitten in einem jener Traͤume ſich be¬
finde, die er in jener Stadt getraͤumt, und
daß er wiederum auf jener langen und bezauber¬
ten Heimreiſe begriffen ſei. Er hielt die Erſchei¬
nung fuͤr ein neckendes verklaͤrtes Bild ſeiner
Jugend, das ihm nur erſchienen ſei, um wieder
zu verſchwinden und ihn in tiefer Hoffnungslo¬
ſigkeit zu laſſen. Seine Gedanken hielt er fuͤr
jenes ſonderbare Bewußtwerden im Traume, er
fuͤrchtete zu erwachen und das ſchoͤne Bild zu
verlieren, und als er wieder auf die ſorgſam ge¬
machte, ſtille und unſchuldige Landſchaft blickte,
entfielen Thraͤnen ſeinen Augen. Jetzt hielt er
ſich fuͤr erwacht und ſuchte das Kopfkiſſen, um
[318] das Geſicht hinein zu druͤcken und den Traum
bequemlich auszuweinen; da er aber kein Kiſſen
fand, fuhr er verwirrt empor, ſchaute ſich um,
erwachte jetzt wirklich, und ſah durch ſeine Thraͤ¬
nen das Bild doch noch immer daſtehen. Doro¬
thea, welche ihn erſt vergnuͤgt und munter zur
Rede ſtellen wollte, war ſogleich verſtummt und
ſah ergriffen dem ſeltſamen Weſen zu, ſo daß ſie
ſich eine Weile nicht zu ruͤhren vermochte und
in ihrer reizenden Stellung verharrte. Als Hein¬
rich aber ſich inzwiſchen geſammelt und mit wa¬
chen Sinnen den Bogen ergriff und betrachtete,
ſagte ſie geruͤhrt und theilnahmvoll: »Sind dieſe
Sachen nicht von Ihnen?« »Gewiß«, erwiederte er
voll Verwunderung und trat an den Tiſch, wo
er ſein ehmaliges Eigenthum in ſchoͤnſter Ein¬
tracht beiſammen ſah, Alles, was er zu dem al¬
ten Troͤdelmaͤnnchen getragen hatte fuͤr ein Al¬
moſen.


Er freute ſich hoͤchlich, die Sachen wieder zu
ſehen, obgleich ſie nicht mehr ſein waren, und
wuͤhlte begierig darin herum; ſie kamen ihm vor,
als ob ſie ein Anderer gemacht haͤtte, und wie ſo
[319] Alles wieder beiſammen war, was er nach und
nach verloren und ſeinem jetzigen Weſen ſo fern
ab lag, auch da er nichts mehr von dieſen Din¬
gen hoffte, ſo fand er jetzt, daß ein ganz beſtimm¬
ter und ſchaͤtzbarer Werth in der Sammlung lag,
und freute ſich dieſelbe in ſo lieblichen Haͤnden
zu ſehen.


»Welch' ein Zufall!« ſagte er, »wie kommen
Sie denn nur dazu?«


»Das iſt koͤſtlich, koͤſtlich!« rief ſie und klatſchte
voll Freude in die Haͤnde, »einzig, ſage ich! Nun
ſollen ſie uns aber auch willkommen und in aller
Ordnung aufgenommen ſein! Noch ſind Sie ganz
durchnaͤßt und jaͤmmerlich zu wege; zuerſt muͤſſen
Sie ſich durchaus trocknen und warm ankleiden
und nehmen Sie nicht uͤbel, daß ich ſogleich ei¬
nige Vorkehrungen treffe! Bleibe ſo lange hier,
Apolloͤnchen, daß dem aͤrmſten Herrn Lee Nie¬
mand was zu Leide thut!« ſagte ſie ſcherzend
und eilte fort.


»Himmel!« ſagte Heinrich, als ſie fort war,
»das ſetzt mich aber in die groͤßte Verlegenheit.«


»O machen Sie ſich gar nichts daraus, mein
[320] Herr!« erwiederte das freundliche Maͤdchen und
verneigte ſich ganz anmuthig, »der Herr und das
Fraͤulein Dorothea thun immer was ihnen beliebt
und was recht iſt. Wie ſie es thun, ſo meinen
ſie es auch und ſind auch gar nicht wie andere
Herrſchaften! Ueberdies wird ſich der Herr ganz
gewiß verwundern und freuen uͤber dieſe Bege¬
benheit; denn als er vor laͤngerer Zeit die Bilder
aus der Reſidenz brachte, hat die Herrſchaft
ſie wochenlang alle Tage nach Tiſch betrachtet
und die Mappe mußte immer im Familienzim¬
mer ſtehen.«


Heinrich ging aber dennoch hoͤchſt unruhig
hin und her; denn er mochte nicht unhoͤflich und
eigenſinnig dem Thun der ungewoͤhnlichen und
tuͤchtigen Dame entgegen ſein, und doch fuͤhlte
er ſich ganz befangen und beſchaͤmt, ſich derge¬
ſtalt einzuquartieren und umzukleiden in einem
adeligen Hauſe.


Inzwiſchen entſtand Geraͤuſch in dem Garten¬
haus, und Dorothea trat wieder ein und ſagte:
»So, nun gehen Sie und thun mir den Gefallen,
ſich umzukleiden; kommen Sie, hierhin, zu Apol¬
[321] loͤnchens Vater! Komm, zeig' ihm den Weg,
mein Maͤdchen!«


Er ging nach der Anweiſung der Frauenzim¬
mer durch einen Gang und trat in die Gaͤrtner¬
ſtube, wo der alte Gaͤrtner und der Kuͤſter bei¬
ſammen ſaßen und eifrig Tabak rauchten. Als
er da abgegeben war, zog ſich das Fraͤulein zu¬
ruͤck und das Apolloͤnchen huſchte hinter ihr drein
ebenfalls auf und davon.


»Kommen Sie nur, Herr oder wer Sie ſind!«
ſagte der Gaͤrtner treuherzig, als er ſah, daß Hein¬
rich verbluͤfft daſtand, »hier geht es nicht anders
zu. Der Herr und das junge Fraͤulein ſtellen
immer ſolche Geſchichten auf, das ſind wir ſchon
gewohnt, und es hat noch nie ein ſchlimmes Ende
genommen, ſondern ſich immer als richtig und
erbaulich herausgeſtellt! Treten Sie nur in dieſe
Kammer, wenn's beliebt, da hat die gute Dame
einen ganzen Kram herſchleppen laſſen aus des
Grafen Garderobe, und ſelbſt mit getragen!«


Heinrich ging demzufolge in die Kammer und
fand da einen vollſtaͤndigen Anzug vor vom Kopf
bis zum Fuß, nebſt feiner friſcher Leibwaͤſche; nichts
IV. 21[322] war vergeſſen, ſelbſt die warme ſeidene Halsbinde
nicht. Er wuſch ſich erſt Geſicht und Haͤnde und
kaͤmmte ſein wirres Haar; dann kleidete er ſich
langſam und bedenklich an, und als er fertig
war, getraute er ſich nicht hervorzukommen, ſon¬
dern ſetzte ſich auf einen Stuhl und ſtellte aller¬
lei Betrachtungen an. Da fiel ſein Blick auf
ſeine ſchlechten beſchmutzten Kleider, die am Bo¬
den lagen, und er ſchaͤmte ſich, daß er ſie nun
da laſſen ſollte, und wußte nicht was mit ihnen
zu beginnen ſei, bis er ſie wieder anzoͤge. »Wahr¬
haftig,« ſagte er, »ganz wie ich es getraͤumt!
Nun, zum Teufel, ſo lange das Leben ſo alle
Traumgedichte uͤberbietet, wollen wir munter
ſein!« Er glaubte ſich endlich am beſten aus der
Sache zu ziehen, wenn er die armen Kleidchen
ordentlich zuſammenlegte. Er legte ſie ſaͤuber¬
lich auf einen Stuhl in der Ecke, ſtellte die zer¬
riſſenen Stiefelchen ehrbar unter den Stuhl, als
ob es die feinſte Fußbekleidung waͤre, und machte
ſich endlich auf den Weg nach dem Saale.


Dort fand er unverſehens den Grafen vor
nebſt einem ſtattlichen katholiſchen Prieſter, die
[323] Beide von der Jagd gekommen ſchienen; denn der
Graf war im gruͤnen Jagdkleide mit hohen Stie¬
feln und der Geiſtliche trug noch uͤber ſeinen wohl¬
ausgefuͤllten ſchwarzen Rock eine Waidtaſche und
ſeine kanoniſchen Stiefeln waren arg voll Koth. Auf
dem Boden lagen Haſen und Huͤhner nebſt einem
todten Reh, und am Tiſche lehnten die Gewehre.
Der Graf ſelbſt war ein großer ſchoͤner Mann
und Heinrich erkannte ihn ſogleich wieder, nur
daß ſeine Haare und ſein Bart ſtark mit Grau
gefaͤrbt waren, was ihm indeſſen ſehr wohl an¬
ſtand. Er ging raſch auf Heinrich zu, ſchuͤttelte
ihm die Hand und ſagte: »Das iſt ja eine koſt¬
bare Geſchichte, hoͤren Sie! Nun ſein Sie will¬
kommen, junger Mann! Ich erinnere mich Ihrer
noch ſehr wohl und bin neugierig wie ein Stuben¬
maͤdchen, was Sie uns zu erzaͤhlen haben wer¬
den. Morgen wollen wir des Weitlaͤufigſten
plaudern, jetzt aber ungeſaͤumt an's Abendbrot ge¬
hen! Herr Pfarrer! Sie werden nichts dagegen
haben, kommen Sie!«


Er faßte Heinrich unter den Arm, der Pfar¬
rer gab der Dorothea den Arm, indem er einen
21 *[324] hoͤflichen Kratzfuß machte und ein ſchalkhaft laͤ¬
chelndes Geſicht ſchnitt, und ſo brach die Geſell¬
ſchaft auf und ging durch einen langen Garten
nach dem Hauſe, waͤhrend die Gaͤrtnerstochter
ihrer Herrenfreundin muthwillig Gutnacht nach¬
rief. Man trat jetzt in ein wohlgeheiztes behag¬
liches Zimmer und ſetzte ſich um einen runden
Tiſch, der bereits ſehr elegant und ſtattlich ge¬
deckt und angerichtet war, und Heinrich aß aber¬
mals und mit gutem Behagen, da das ſichere
und edle Weſen des graͤflichen Mannes ihn voll¬
ſtaͤndig aufgeweckt und beruhigt hatte. Denn
fuͤr einen ordentlichen Menſchen iſt es faſt ebenſo
wohlthuend und erbaulich, einen wohlbeſtellten,
ſchoͤnen und rechten Mann zu ſehen, als ſchoͤne
und gute Frauen.


Die trefflichen Leute unterhielten ſich heiter
und behaglich, ohne Heinrich beſonders in An¬
ſpruch zu nehmen, und es athmete Alles, was ſie
ſagten, ein feſtes und offenes Gemuͤth. Doch
ſagte der Graf nach einer Weile zu ihm: »Es
iſt doch eine allerliebſte Geſchichte! Ei, erin¬
nern Sie ſich auch noch - der Urſache unſerer
[325] Bekanntſchaft, der groben Schlingel, die Ihnen
damals die Muͤtze abſchlugen?«


»Sicher,« ſagte Heinrich lachend, »aber was
dieſen Punkt betrifft, ſo habe ich heute bei mei¬
nem Abzug jenen Einzugsgruß mit Zinſen zu¬
ruͤckgegeben!« Er erzaͤhlte hierauf ſein Abenteuer
mit dem Flurſchuͤtzen. Der Graf warf ihm einen
feurigen Blick zu und ſagte: »Wenn Sie aber
muͤde ſind, ſo gehen Sie ohne Zaudern zu Bett,
damit wir Morgen deſto munterer ſind!«


»Wenn Sie's erlauben!« ſagte Heinrich, ſtand
auf und machte die zierlichſte Verbeugung, die
er in ſeinem Leben je gemacht, und von der er
am Morgen nicht getraͤumt haͤtte, daß er ſie je
machen wuͤrde; doch mußte er beinahe dazu la¬
chen. Die kleine Geſellſchaft laͤchelte ebenfalls
freundlich, ſtand auf und entließ ihn mit Wohl¬
wollen, worauf in einem guten Schlafzimmer er
ſich in's Bett warf und ohne einen weiteren Ge¬
danken zu verlieren, ſofort einſchlief.

[]

Zehntes Kapitel.

Heinrich ſchlief wie ein Murmelthier bis zwoͤlf
Uhr des anderen Tages; eben erwachte er und rieb
ſich ſehr zufrieden die Augen, als der Graf her¬
einkam und ſich nach ihm umſah. »Guten Tag,
mein Lieber! Wie geht's Ihnen?« ſagte er und
ſetzte ſich an das Bett, »bleiben Sie ruhig liegen
und duſeln ſich gemuͤthlich aus!« Heinrich that
das auch und ſagte: »O es geht gut, Herr Graf!
Wie viel Uhr iſt es denn?« — »Es iſt gerade zwoͤlf
Uhr,« erwiederte Jener, »es freut mich, daß Sie
in meinem Hauſe ſo gut geſchlafen haben. Nun
halten Sie vorerſt eine gute Einkehr bei uns und
thun ſie ganz, als ob ſie bei den beſten und zu¬
verlaͤſſigſten Freunden waͤren, von denen Sie
[327] wohl hergeſtellt und guten Muthes wieder aus¬
laufen werden! Aber nun hoͤren Sie, ſie ſind mir
ja ein koͤſtlicher Geſell! Wir blieben geſtern Nacht
noch ziemlich lange auf und da wir von Ihnen
ſprachen, fiel uns ein, daß die Bildermappe noch
im uͤbel verſchloſſenen Gartenſaale lag. Ich gehe
ſelbſt hin, ſie zu holen, denn ich wuͤnſchte nicht,
daß irgend ein Unheil damit geſchehe, und be¬
merke, daß auf dem Kaminſims eines kleines
verkommenes Packetchen liegt; ich mußte lachen
und dachte: Gewiß ſind dies die [anmuͤthigen] Ef¬
fektchen unſeres armen Kauzes von Vagabunden!
Ich nahm es in die Hand und fand, daß die
Huͤlle vom Regen und vom Tragen aufgeloͤſt war
und auseinanderfiel, und ſiehe da, ſtatt etwa eines
Strumpfes oder eines Schnupftuches, wie ich
dachte, faͤllt mir ein ganz durchnaͤßtes Buch in
die Hand; neugierig ſchlage ich es auf und ſehe
lauter Geſchriebenes, und indem ich die erſte Seite
leſe, vermuthe ich ſogleich, daß Sie ihre eigene
Geſchichte geſchrieben haben. Ich ſehe das Ding
etwas genauer an und erkenne an den Data, daß
es Ihre Jugendgeſchichte iſt, die Sie ſchon damals
[328] mit in die Fremde genommen haben und mit
welchem Buche der Erinnerung, als Ihrer letzten
Habſeligkeit, Sie ſich wieder aus dem Staube
machen! Ich laufe mit den Sachen zuruͤck und
rufe: ’Seht, Leute! Unſer Menſch ſchlaͤgt ſich mit
ſeinem Jugendbuche durch Regen und Sturm,
wie Vetter Camoens mit ſeinem Gedichte durch
die Wellen! Der Spaß wird koͤſtlich!‘ Dortchen
nimmt das Buch und beſieht es von allen Sei¬
ten. ’Ach du lieber Himmel,‘ ruft ſie, ’das arme
Buch iſt ja durch und durch naß und droht zu
Grunde zu gehen! Das muß ſogleich getrocknet
werden!‘ Es wird ein friſches Feuer in den Ofen
gemacht, das Maͤdchen ſetzt ſich auf ein Tabouret¬
chen davor und haͤlt das Buch, die Blaͤtter aus¬
einander ſchuͤttelnd und es umwendend und keh¬
rend, ſorgfaͤltig an das Feuer und in weniger
als einer Viertelſtunde iſt das tapfere Werk heil
und gerettet. Nun aber laſen wir noch laͤnger
als zwei Stunden darin, an verſchiedenen Stel¬
len, und wechſelten mit dem Vorleſen ab, und
dieſen ganzen Vormittag hab' ich auf meiner
Stube darin geleſen. Auf den letzten Blaͤttern
[329] ſtehen einige Gedichte, die haben Sie allem An¬
ſcheine nach erſt neulich gemacht und hineinge¬
ſchrieben ?« Heinrich bejahte dies und wurde roth,
und der Graf fuhr fort: »Ich will mich gar nicht
entſchuldigen fuͤr unſere Indiscretion; es macht
ſich ſo Alles von ſelbſt und wir wollen unſere Un¬
verſchaͤmtheit nun mit gaͤnzlicher Freundſchaftlich¬
keit abbuͤßen. Zuerſt muß ich Sie einmal kuͤſſen,
ſie ſind ein allerliebſter Kerl!«


»Bitte, Herr Graf!« ſagte Heinrich und duckte
ſich ein Biſchen unter die Decke, »Sie ſind all¬
zu guͤtig; aber ich mache mir nicht viel daraus,
Maͤnner zu kuͤſſen!«


»Ei ſieh da!« rief der treffliche Mann, »Sie
ſchlaues Buͤrſchchen! Aber trotz alledem muͤſſen
Sie mich doch ein Bischen wohl leiden, ich ver¬
lange es!«


»O gewiß ſag'ich Ihnen,« erwiederte Heinrich,
mit ſchuͤchternen und doch zuthulichen Worten; »ich
kann Sie gar nicht genug anſehen, ſo ſehr gefallen
Sie meinen Augen und meinem Herzen!« Und er
ſah ihn dabei wirklich mit glaͤnzenden Augen an.


»Nun denn,« ſagte der Graf mit feinem
[330] und geruͤhrtem Laͤcheln, »ſo muͤſſen Sie durchaus
gekuͤßt ſein zur Beſiegelung unſeres guten Ein¬
vernehmens!« Er umarmte Heinrich und kuͤßte
ihn herzlich, und dieſer kuͤßte ihn, ſein leiſes
Straͤuben aufgebend, herzhaft und ſeine Augen
fuͤllten ſich mit ſalzig heißem Waſſer, da er end¬
lich einen ſolchen aͤlteren Maͤnnerfreund gefunden
nach langem Irrſal. Denn uͤber Einen rechten
Mann ſcheint die Welt wieder gelungen, recht und
hoffnungsvoll zu ſein. Schweigend ſah er den
Grafen an und dieſer ſchwieg auch eine Weile;
dann druͤckte Heinrich die Augen in das Kiſſen
und ſuchte ſie verſtohlen zu trocknen, ſagte aber
dann: »Es geht mir recht naͤrriſch! Als ich ein
Schuljunge war, war nichts im Stande, mir
Thraͤnen zu entlocken, und ich galt fuͤr einen ver¬
ſtockten Burſchen; ſeit ich groß geworden bin, iſt
der Teufel alle Augenblick los und hoͤchſtens bring'
ich es zu einem oder zwei gaͤnzlich trockenen Jahr¬
gaͤngen!«


Der Graf nahm ſeine Hand und ſprach: »Ge¬
dulden Sie ſich noch ein paar Jaͤhrchen und dann
wird es vorbei ſein und ſtandhaftes trockenes
[331] Sommerwetter werden. Es ging mir gerade ſo
vor zwanzig und dreißig Jahren und reut mich
noch heute nicht! Doch nun ſtehen Sie auf, zie¬
hen ſich an und fruͤhſtuͤcken. Wiſſen Sie was!
Ich werde es hieher beſtellen, und ſie erzaͤhlen mir
wie es Ihnen ergangen, d. h, ſie liefern mir eine
foͤrmliche Fortſetzung der Jugendgeſchichte.«


Waͤhrend Heinrich ſich ankleidete und fruͤh¬
ſtuͤckte, begann er zu erzaͤhlen und zuͤndete dazu,
als er mit Eſſen fertig war, eine gute Cigarre
an, wie auch der Graf eine ſolche rauchte. Hein¬
rich erzaͤhlte und beichtete mit Luſt und frohem
Muth, mit Haͤrte und Schaͤrfe, bald muthwillig,
bald traurig, bald ſchnell und feurig, dann wieder
langſam und bedenklich, und that ſeinem Weſen
nicht den mindeſten Zwang an, ohne eine Unſchick¬
lichkeit zu ſagen, oder wenn er eine ſolche ſagte,
ſo fuͤhlte er es ſogleich und verbeſſerte ſich ohne
großen Kummer; denn was aus einem ſchicklichen
Gemuͤthe kommt, iſt leicht zu ertragen, und ſein
Zuhoͤrer, obgleich er ein aͤlterer Mann war, ver¬
breitete nichts als Freiheit und Sicherheit um ſich.
Er war jung mit dem Jungen, ohne den Werth
[332] ſeiner Jahre zu verbergen, leicht beweglich und
anmuthig, doch mit dem Gewichte eines Mannes,
der gelebt und gedacht hat und feſt ſteht, wo er
ſteht. Er hoͤrte gelaͤufig und aufmerkſam zu,
ohne aͤngſtliche Spannung, und ließ ſich anſehen,
daß der Erzaͤhler bei ihm zu Hauſe war und ver¬
ſtanden wurde mit feinem Sinne, auch wenn er
ein Wort uͤberhoͤrt hatte. Auch gab er ſein Ver¬
ſtaͤndniß nicht mit Ausrufen und Wortſtellungen
zu erkennen, ſondern hoͤrte eben ſo leicht und
zwanglos, wie ihm erzaͤhlt wurde, und Heinrich
konnte im Zimmer umhergehen, einen Gegenſtand
betrachten oder etwas handthieren, ohne dabei den
Zuhoͤrer beim Erzaͤhlen zu deſſen Pein zu fixiren,
ob er auch hoͤre und verſtehe? So ſprach er zum
erſten Mal, ſeit er jenes Buch geſchrieben, wieder
ſo recht aus ſich heraus und fuͤhlte mit bewegtem
Herzen den Unterſchied, wenn man dem todten
weißen Papier erzaͤhlt oder einem lebendigen Men¬
ſchenkind. So vergingen beinahe zwei Stunden,
und als er mit ſeiner Ankunft auf dem Kirchhof
geendet, ſagte der Graf: »Wenn Sie als Maler
ein Pfuſcher geweſen waͤren, ſo haͤtte das Ver¬
[333] laſſen dieſes Berufes gar keine Bedeutung und
koͤnnte uns hier nicht weiter beſchaͤftigen. Da
Sie aber, wie ich den Beweis im Hauſe habe,
unter guͤnſtigeren Umſtaͤnden oder bei beſſerer Aus¬
dauer gar wohl noch eine ſo gute Figur haͤtten
machen koͤnnen, als ſo mancher ſein Anſehen kuͤm¬
merlich aufrechthaltende Geſell, der thut, als ob
die Muſen an ſeiner Wiege geſtanden haͤtten, ſo
gewinnt die Sache einen tieferen Sinn, und ich
geſtehe aufrichtig, daß es mir ausnehmend wohl
gefaͤllt und mir als ein ſtolzer und wohlbewußter
Streich erſcheint, ein Handwerk, das man ver¬
ſteht, durchſchaut und ſehr wohl empfindet, den¬
noch wegzuwerfen, wie einen alten Handſchuh, weil
es uns nicht zu erfuͤllen vermag, und ſich dafuͤr
unverweilt die weite lebendige Welt anzueignen.«

»Sie taͤuſchen ſich,« unterbrach ihn Hein¬
rich, »ich konnte wirklich nichts machen, ich habe
es ja verſucht, und auch bei guͤnſtigeren Verhaͤlt¬
niſſen wuͤrde ich hoͤchſtens ein ſtelzbeiniger dilet¬
tantiſcher Akademiſt geworden ſein, einer jener
Abſonderlichen, die etwas Apartes vorſtellen und
dennoch nicht in die Welt und in die Zeit taugen!«

[334]

»Larifari! erwiederte der Graf, »ich ſage
Ihnen, es war bloß Ihr guter Inſtinkt, der Sie
damals Nichts zu wege bringen ließ. Ein Menſch,
der zu was Beſſerem taugt, macht das Schlech¬
tere immer ſchlecht, gerade ſo lange er es gezwun¬
gen und in guter Naivetaͤt macht; denn nur das
Hoͤchſte, was er uͤberhaupt hervorbringen kann,
macht der Unbefangene gut; in allem Anderen
macht er Unſinn und Dummheiten. Ein Anderes
iſt, wenn er aus purem Uebermuth das Beſchraͤnk¬
tere wieder vornimmt, da mag es ihm ſpielend
gelingen. Und dies wollen wir, denk' ich, noch
verſuchen; denn Sie muͤſſen nicht ſo jaͤmmerlich
davonlaufen, ſondern mit gutem Anſtand von dem
Handwerk Ihrer Jugend ſcheiden, daß Keiner
Ihnen ein ſchiefes Geſicht nachſchneiden kann!
Auch was wir aufgeben, muͤſſen wir elegant und
fertig aufgeben und ihm mit geſchloſſener Abrech¬
nung freiwillig den Ruͤcken kehren. Dann aber
wollen wir beſtialiſche Flurſchuͤtzen pruͤgeln, dies
ſei unſer Metier, in Liebe und Haß wirken, in
Neigung und Widerſtand! Sie werden aufhoͤren,
ſelbſt Thraͤnen zu vergießen, aber dafuͤr Andere
[335] deren vergießen laſſen, die Einen aus Freude, die
Anderen aus Zorn und Aerger! Aber jetzt vor
Allem zur Sache! Ich habe Ihre ſaͤmmtlichen Stu¬
dien bei dem alten Teufelskerl gekauft, Stuͤck fuͤr
Stuͤck um einen Thaler. Ich lief eifrig hin, damit
mir ja keine entgehe, denn die Sachen gefielen mir
wohl, ohne daß ich jedoch viel dabei dachte, und erſt
als ich ſah, daß hier ein ganzer wohlgeordneter Fleiß
ſtuͤckweiſe zum Vorſchein kam, vielleicht die heiteren
Bluͤthenjahre eines ungluͤcklich gewordenen Men¬
ſchen, gewann ich ein tieferes Intereſſe an den
Sachen und ſammelte ſie ſorgfaͤltig auf, ſeltſam
bewegt, wenn ich ſie ſo beiſammen ſah und alle
die verſchwendete Liebe und Treue eines Unbe¬
kannten, die Luft eines ſchoͤnen Landes und ver¬
lorener Heimath herausfuͤhlte; denn man ſah wohl,
daß dies nicht Reiſeſtudien waren, ſondern ein
Grund und Boden vom Jugendlande des Urhe¬
bers. Der Troͤdler wollte mir aber nie ſagen,
wo derſelbe aufzufinden und beharrte eigenſinnig
auf ſeinem Geheimniß; er log mich an und ſagte,
es ſchicke ſie ihm ein auswaͤrtiger Haͤndler, als
ob der Kauz weiß Gott welche Geſchaͤftsverbin¬
[336] dungen haͤtte in ſeiner Spelunke. Nun ſagen
Sie aber, wollen Sie die Sachen wieder haben,
oder wollen Sie mir dieſelben laſſen?«


»Sie ſind ja Ihr Eigenthum!« ſagte Heinrich

»Was da Eigenthum! Sie werden doch nicht
glauben, daß ich, nun ich Sie kenne und in mei¬
nem Hauſe habe, Ihre Mappe um ſolches Bet¬
telgeld behalten will, das waͤre ja wie geſtohlen!
Oder wollen Sie mich ſchon beſchenken. Sie armer
Schlucker?«


»Ich meine,« ſagte Heinrich, »daß die Mappe
ihre Dienſte gethan und ſich fuͤr mich vollſtaͤndig
verwerthet hat; erſt habe ich etwas daran gelernt
und indem ich ich ſie zuſammenbrachte, nichts
Schlechteres veruͤbt; dann hat ſie mir zur Zeit
der Noth das Leben gefriſtet und zwar auf eine
Weiſe, durch welche ich wieder etwas gelernt habe,
und auf die Groͤße der Summe kam es gar nicht
an. Jeder Groſchen hatte fuͤr mich den Werth
eines Thalers und machte mir eben ſo großes
Vergnuͤgen als ein ſolcher, und ſo habe ich zu
Recht beſtehend mich der Sachen entaͤußert. End¬
lich hat ſie mir Ihr Wohlwollen erworben und
[337] mir das artigſte Abenteuer vorbereitet, und ſo denke
ich, durch dies Alles ſei ich vollkommen entſchaͤdigt.«


»Dies wuͤrde Alles ganz nach meinem eigenen
Sinne ſein, wenn die Umſtaͤnde anders beſchaffen
waͤren. So aber iſt es eine Duͤftelei, die wir laſ¬
ſen wollen. Ich bin reich, und wuͤrde jetzt die
Mappe unbedingt um jeden annehmbaren Preis
kaufen, auch wenn Sie ſelbſt gar nichts davon
bekaͤmen, alſo ganz ohne Ruͤckſicht auf Sie. Ler¬
nen Sie auf Ihrem Rechte beſtehen, wo es Nie¬
mand druͤckt und aͤngſtiget, wenn ſie Recht ge¬
waͤhren wollen, und nehmen Sie den Erwerb, der
Ihnen gebuͤhrt, ohne Scheu, nachher koͤnnen Sie
damit thun, was Sie wollen! Alſo nennen Sie
mir einen Preis, wie er Ihnen gut duͤnkt, und
ich werde noch froh ſein, die Sachen zu behalten.«


»Gut denn,« ſagte Heinrich lachend, »ſo wol¬
len wir den Handel abſchließen! Es ſind uͤber
achtzig Blaͤtter; geben Sie mir fuͤr jedes inein¬
ander gerechnet einen Louisd'or! Manches darunter
wuͤrde ich, wenn ich ein florirender Kuͤnſtler waͤre,
nicht fuͤr zehn verkaufen, aber bei einem ſolchen
Handel in Bauſch und Bogen iſt es nicht alſo
IV. 22[338] zu nehmen; davon ziehen Sie dann achtzigmal
den Thaler ab, den Sie dem Alten fuͤr jedes Stuͤck
gegeben, ſo wird die Affaire ſo ziemlich ehrbar
und fuͤr beide Theile leidlich ausfallen!«


»Sehen Sie wohl!« ſagte der Graf und gab
ihm lachend die Hand, »ſo gefallen Sie mir! Haͤt¬
ten Sie zu wenig oder zu viel verlangt, ſo wuͤr¬
den Sie mir in beiden Faͤllen nicht ſo gefallen
haben! Auch den Abzug des Thalers nehme ich
an, und habe abſichtlich gleich Geld mitgebracht;
hier iſt es, damit Sie mit einem guten Pfennig
in der Taſche, als Gaſt und nicht als Bettler an
unſeren Mittagstiſch kommen, wohin wir jetzt
gehen wollen!«


Heinrich ſteckte die Papiere in die Bruſttaſche
und einiges Silbergeld, welches die betreffende
Summe vervollſtaͤndigte, in die Weſtentaſche, denn
eine Boͤrſe beſaß er nicht, und indem er an des
Grafen Arm nach dem Familienzimmer ging, ſagte
er: »Wenn ehemals ein abenteuernder Held in
einer befreundeten Burg einkehrte und ſich erholte,
ſo reichte man ihm ein neues Schwert, wenn das
ſeinige im Kampfe mit den Rieſen und Unge¬
[339] heuern zerbrochen war. Heute reicht man ihm,
wenn es recht hoch und kuͤhnlich hergeht, ein
Buͤndel Banknoten, welche er auch ganz ſtillver¬
gnuͤgt einſteckt, und mit denen er, ſtatt eines
Schwertes, um ſich ſchlagen und weiter fechten
muß, um ſich Luft zu ſchaffen fuͤr ſeine wunder¬
lichen und unerheblichen Thaten«


»So iſt es,« antwortete der Graf, »darum
ſehen Sie zu, daß Ihnen das moderne Schwert
nie mehr zerbricht! Denn nur wenn Sie Geld
haben, brauchen Sie am wenigſten an daſſelbe zu
denken und befinden ſich nur dann in vollkommener
Freiheit! Wenn es nicht geht, ſo kann man aller¬
dings auch ſonſt ein rechter Mann ſein; aber man
muß alsdann einen abſonderlichen und beſchraͤnk¬
ten Charakter annehmen, was der wahren Frei¬
heit auch widerſpricht!«


Als ſie in das Zimmer traten, kam ihnen Do¬
rothea entgegen und begruͤßte Heinrich freundlich,
doch mit einer gewiſſen anmuthigen Gemeſſenheit,
indem ſie einen leichten Knix machte, ſich gleich
wieder bolzgerad aufrichtete, den Lockenkopf aller¬
liebſt auf eine Seite neigte und den Gaſt mit rei¬
22 *[340] zender Hochgnaͤdigkeit anſah. Auch trug ſie ein
Kleid von ſchwerem ſchwarzen Atlas, das ſehr
ariſtokratiſch geſchnitten war, um den Hals eine
feine Spitzenkrauſe, in welcher ſich ein glaͤnzendes
Perlenhalsband verlor, nicht ohne ſich zuerſt um
ein Stuͤckchen des weißen fraͤuleinhaften Halſes
zu ſchmiegen.


Der Graf ſah ſeine Tochter etwas uͤberraſcht
an, auch ſchaute er ſich um und ſagte verwundert:
»Ich daͤchte, wir wollten eſſen? und wo haſt Du
denn decken laſſen?« »Ich habe heute im Ritter¬
ſaal decken laſſen,« ſagte ſie, »wir haben ſo lange
nicht da gegeſſen und der Herr gruͤne Heinrich
kann ſich da am beſten orientiren, bei wem er
eigentlich iſt, wir haben uns, die wir ihn nun
ſchon mehr kennen, ihm eigentlich noch gar nicht
vorgeſtellt und kaum weiß er, wie wir heißen!«


Der Graf, welcher nicht wußte, was ſie im
Schilde fuͤhren mochte, ließ ſie gewaͤhren und ſo
begab man ſich durch einige Gaͤnge des weitlaͤu¬
figen Hauſes nach einem langen, etwas duͤſtern
Saal. Dieſer war von unten bis oben mit Ah¬
nenbildern angefuͤllt, faſt durchgaͤngig ſchoͤne Maͤn¬
[341] ner und Frauen in allen Lebensaltern, die der
Tracht und der Kunſt nach zu urtheilen bis zum
Anfange des fuͤnfzehnten Jahrhunderts hinauf¬
reichten. Von da ab waren aber noch wohl drei
Jahrhundert dargeſtellt in Waffen, ſilbernen Ge¬
ſchirren, Hauschroniken in allerhand Pergament¬
baͤnden, alterthuͤmlichen Urkundenſchraͤnken und
Kurioſitaͤten aller Art, welche ſaͤmmtlich mit Da¬
ten, Wappen und deutlichen Merkmalen verſehen
waren. Die Fenſter waren zum groͤßten Theil
mit gemalten Scheiben bedeckt, auf welchen allen
das Wappen des Hauſes mit demjenigen der ein¬
geheiratheten Frauen verbunden uͤber bibliſchen
Handlungen und Legenden ſchwebte. Auch war
darin das Hauswappen in allen ſeinen Wand¬
lungen, von ſeiner erſten kriegeriſchen Einfachheit
bis zu ſeiner letzten Vermehrung und Zuſammen¬
ſetzung zu ſehen. Der Boden des Saales war
ganz mit hochrothem Tuche bedeckt, was zu den
dunklen alten Moͤbeln und Bilderrahmen praͤchtig
und romantiſch abſtach, waͤhrend die Tritte der
Gehenden nur leiſe darauf ertoͤnten; in dem Ka¬
min von ſchwarzem Marmor gluͤhten große Eichen¬
[342] kloͤtze, und da das Gemach der langen Verſchloſ¬
ſenheit wegen durchraͤuchert worden, erhoͤhte der
feine Duft noch die Feierlichkeit und Vornehmheit
dieſes Aufenthaltes.


»Ich habe,« ſagte der Graf, »meinen ganzen
Familienkram hier auf einen Punkt aufgeſtapelt,
da dergleichen auch ſein Recht will und ſich nicht
ſo leicht entaͤußern laͤßt, als man glauben moͤchte.
Sehen Sie ſich ein wenig um, es ſind manche
huͤbſche Sachen darunter!«


Heinrich ſah ſich lebhaft um und bezeugte
große Freude uͤber die vielen werthvollen Stuͤcke
und uͤber das Merkwuͤrdige, was hier aufgehaͤuft
war; unter den Bildern waren manche von den
beſten Meiſtern der verſchiedenen Zeiten und Orte,
wo die alten Herren auf ihren Zuͤgen und Ge¬
ſandtſchaften ſich umgetrieben. Andere, wenn auch
von dunkleren oͤrtlichen Pinſelieren gemalt, mach¬
ten ſich durch ihren charaktervollen Gegenſtand
und deſſen Schickſal geltend, das ihnen auf der
Stirne ſtand; vorzuͤglich aber gefielen ihm die
vielen feineren oder keckeren Kindergeſichter, welche
gleich den Bluͤthen an dieſem großen Baume
[343] zwiſchen den reifen Fruͤchten uͤberall hervorlaͤchel¬
ten, deren Schickſal, deſſen Beginn und Morgen¬
roth hier fuͤr immer feſtgehalten ſchien, nun auch
ſeit Jahrhunderten erfuͤllt und in die Erde gelegt
war, oder gar nicht zur Erfuͤllung gekommen, da
ein Kreuz oder ein denatus anſagte, daß ſie
als Bluͤthen ſchon vom Baume geweht worden.
Manches gemalte Schwert und Panzerſtuͤck war
im gleichen Saale auch in Wirklichkeit vorhanden,
und der Graf hielt ihm die ſchweren Stuͤcke mit
leichter und kundiger Hand vor, indeſſen Heinrich
ſie auch nicht wie ein Maͤdchen ihm abnahm, da
ihm die Waffenfaͤhigkeit und Liebhaberei ſeines
Geburtslandes in den Fingern ſteckte. Dorothea
hingegen bewegte ſich raſch und gefaͤllig herum,
ſtieg auf Schemel und Tritte, um einen alten
ſilbernen Becher oder ein Kaͤſtchen herabzuholen,
und wies und erklaͤrte die Sachen mit freundlicher,
aber faſt mitleidiger Hoͤflichkeit, was indeſſen
Heinrich, der vollauf mit dem Beſchauen der Ge¬
genſtaͤnde beſchaͤftigt war, nicht bemerkte, ſondern
nur als einen angenehmen Eindruck zu dem uͤbri¬
gen empfand, ohne darauf zu achten. Erſt als
[344] ſie ſich zu Tiſche ſetzten und man ſich gegenuͤber¬
ſaß, wo Dorothea, die den Maͤnnern vorlegte,
mit noch erhoͤhter vornehmer Freundlichkeit und
Herablaſſung den Gaſt nach ſeinen Wuͤnſchen und
Beduͤrfniſſen fragte, fiel ihm dies Weſen auf, das
ihm geſtern gar nicht vorhanden geſchienen. Es
gefiel ihm aber gar wohl, da er geneigt war, ſol¬
chen ſchoͤnen Geſchoͤpfen nichts uͤbel zu nehmen,
wenn ſie nicht gerade zu herzlos waren, und um
ſie darin zu beſtaͤrken und ihr einen Gefallen zu
thun, ſagte er: »Solche Anſchaulichkeit und Durch¬
ſichtigkeit einer langen Vergangenheit ſind doch
eine Art von Concretum, das ſich nicht willkuͤr¬
lich vergeſſen und verwiſchen laͤßt. Wenn es ein¬
mal da iſt, ſo iſt es da, und man kann ſich nicht
verhindern, an dem Vorhandenen ſeine Freude zu
haben!«


»Gewiß,« erwiederte der Graf, »nur iſt es thoͤ¬
richt, willkuͤrlich fortſetzen und machen zu wollen,
was unter ganz anderen Verhaͤltniſſen und Be¬
dingungen geworden iſt. Desnahen nenne ich mich
auch ungenirt noch von ſo und ſo, weil dieſe
Landſchaft ſo heißt und nicht meine Perſon, welche
[345] kein Berg, ſondern ein Menſch iſt. Schon weil
ſeltener Weiſe das Grundſtuͤck nie aus unſerem
Beſitz gekommen iſt und fortwaͤhrend welche von
uns hier gewohnt haben in gerader Linie, ſo er¬
fordert eine gewiſſe Dankbarkeit gegen dieſe Er¬
ſcheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich ſelbſt
habe eine buͤrgerliche Frau genommen, welche fruͤh
geſtorben iſt und mir keinen Erben hinterließ; ich
habe ſie ſo geliebt, daß es mir nicht moͤglich war,
wieder zu heirathen, und wenn es nicht zu ſelt¬
ſam klaͤnge, ſo waͤre ich faſt froh, keinen Sohn
zu hinterlaſſen; denn wenn ich mir denken muͤßte,
daß dieſe Familiengeſchichte noch einmal achthun¬
dert Jahre fortdauern koͤnnte oder wollte, ſo wuͤrde
mir dieſer Gedanke Kopfſchmerzen machen, da es
Zeit iſt, daß wir wieder untertauchen in die er¬
neuende Verborgenheit. Ich ſelbſt bin im Verfall
des alten Reiches geboren und eigentlich ſchon
ganz uͤberfluͤſſig, ſo daß ſich unſer Stamm muͤde
fuͤhlt in mir und nach kraͤftigender Dunkelheit ſehnt.
Wenn ich einen Sohn haͤtte, ſo wuͤrde ich auch
Beſitz und Stamm gewaltſam aufgegeben haben
und dahin gezogen ſein, wo kein Herkommen gilt
[346] und Jeder von vorn anfangen muß, damit das
Leibliche der Linie gerettet werde und ferner nuͤtze
und genieße, da dieſes am Ende die Haupt¬
ſache iſt.«


Heinrich freute ſich dieſer Reden und fuͤhlte
ſich durch ſie geehrt. »Iſt jene ſtolze ſchoͤne Dame,
welche dazumal das Huͤndchen auf den Tiſch ſetzte,
vielleicht Ihre Gemahlin geweſen?« fragte er mit
hoͤflicher Theilnahme.


»Nein,« ſagte der Graf lachend, »das iſt meine
Schweſter; die lebt als Gattin eines alten Edel¬
mannes vom ſtolzeſten Gebluͤte tief in Polen und
iſt ganz verbauert; auch hat ſie zur Strafe fuͤr
ihre Narrheiten ſchon vier Jahre in Sibirien zu¬
bringen muͤſſen mit ihrem Eheherrn. Uebrigens
iſt es eine ganz gute und liebe Dame und wenn
ich ſterbe, ſo werde ich dieſen ganzen Troͤdel hier
zuſammenpacken laſſen und ihr zuſchicken; vielleicht,
wenn es gut geht, rutſcht er mit der Zeit weiter
oſtwaͤrts wieder nach Aſien hinuͤber, woher unſere
Urvaͤter gekommen ſind, und findet da ein ge¬
muͤthliches Grab!«


Dorothea, welche ſah, daß ihrem Gaſte dieſe
[347] Reden ſehr behagten, aber ſelbſt in ihrem Hoch¬
muth verharrte, ſagte nun in der alten halb theil¬
nehmenden, halb gleichguͤltigen, ja ſogar faſt mo¬
quanten Weiſe zu ihm: »Sie ſcheinen aber auch
von einer Art guter Herkunft zu ſein, Herr Lee?
wenigſtens freuen Sie ſich am Anfang Ihres huͤb¬
ſchen Buches Ihrer wackeren buͤrgerlichen
Eltern?«


»Allerdings,« ſagte Heinrich, dem dieſe Frage
in dieſem Augenblick etwas uͤberquer kam, erroͤ¬
thend, »bin ich auch nicht auf der Straße ge¬
funden!«


Da klatſchte ſie ploͤtzlich jubelnd in die Haͤnde,
indem ſie wieder ihre geſtrige offene und natuͤr¬
liche Art annahm, und rief froͤhlich: »Nun hab'
ich Sie doch gefangen! Aber Ich bin auf der
Straße gefunden, wie Sie mich da ſehen!«


Heinrich ſah ſie verbluͤfft an und wußte nicht
was das heißen ſollte, indeſſen ſie fortfuhr ſich zu
freuen und rief: »Sehen Sie, nun konnt' ich Sie
doch noch verbluͤfft machen, der ſich von dieſen
Herrlichkeiten ſo gar nicht verbluͤffen ließ! Ja ja,
mein geſtrenger Herr von braver Abkunft, ich bin
[348] das richtigſte Findelkind und heiße mit Namen
Dortchen Schoͤnfund und nicht anders, ſo hat
mich mein lieber Pflegepapa getauft!«


Heinrich ſah den Grafen verwundert an und
dieſer lachte und ſagte: »Ei, iſt dies alſo nun
das Ziel Deines Witzes? Wir mußten naͤmlich
geſtern Abend lachen, lieber Freund! als wir
Ihre Worte laſen: wenn Sie ſich ſelbſt bei der
Naſe faſſen, ſo ſeien ſie ſattſam uͤberzeugt, daß
Sie zweiunddreißig Ahnen beſaͤßen! Als wir aber
dann die ganz geſunde Freude laſen, welche Sie
doch aͤußern, ſo ehrliche [Eltern] zu beſitzen, und wie
Sie ſich doch nicht enthalten koͤnnen, uͤber die
Vorfahren einige Vermuthungen aufzuſtellen,
mußten wir wieder lachen; nur das liebe Kind
hier ſchmollte und beklagte ſich, daß Alle, Ade¬
lige wie Buͤrgerliche und Bauern, ſich ihrer Ab¬
kunft freuen und nur ſie allein ſich gaͤnzlich
ſchaͤmen muͤſſe und gar keine Herkunft habe;
denn ich habe ſie wirklich auf der Straße gefun¬
den und ſie iſt meine brave und kluge Pflegetoch¬
ter.« Er ſtreichelte ihr wohlgefaͤllig die Locken,
Heinrich aber war ganz beſchaͤmt und ſagte klein¬
[349] laut: »Ich glaube wenigſtens zu ſehen, daß ich
Sie nicht ernſtlich beleidigt habe, mein Fraͤulein!
— Was jene Anzuͤglichkeiten betrifft in meinem
Geſchreibſel uͤber die adelige und buͤrgerliche
Herkunft, ſo glaube ich nicht, daß ich ſie jetzt
noch machen wuͤrde; denn ich habe ſeither ge¬
lernt, daß Jeder ſeine Wuͤrde am fuͤglichſten
wahrt, wenn er Andere vor allen Dingen als
Menſchen betrachtet und gelten laͤßt und dann
ſich gar nicht mit ihnen vergleicht und abwaͤgt,
haben ſie auch welche Stellung und Meinungen
ſie wollen, ſondern auf ſich ſelbſt ruht, ſich nicht
verbluͤffen laͤßt, aber auch nicht darauf ausgeht,
Andere zu verbluͤffen, denn dies iſt immer unhoͤf¬
lich und von ordinaͤrer Art. So geſtehe ich,
daß ich die jetzige Beſchaͤmung vollkommen ver¬
dient habe, indem ich mich doch verlocken ließ,
die vermeintlich ſtolze Graͤfin abtrumpfen zu wol¬
len, anſtatt ſie in ihrer Art und Weiſe un¬
geſchoren zu laſſen! Uebrigens iſt Ihre Ab¬
kunft doch noch die vornehmſte, denn Sie
kommen ſo recht unmittelbar aus Gottes wei¬
ter Welt und man kann ſich ja die hochge¬
[350] ſtellteſten und wunderbarſten Dinge darunter
denken!«


»Nein,« ſagte der Graf, »wir wollen ſie
um Gotteswillen nicht zu einer verwunſchenen
Prinzeſſin machen, die Sache iſt ſehr einfach und
klar. Vor zwanzig Jahren, als meine Frau eben
geſtorben, trieb ich mich ſehr ungeberdig und
ſchmerzlich im Lande herum und kam an die
Donau. Eines Abends, als eben die Sonne un¬
terging, fand ich in ihrem Scheine ein zweijaͤh¬
riges Kind mutterſeelen allein im Felde auf
einem hoͤlzernen Baͤnkchen ſitzen, das unter einem
Aepfelbaume war. Die Schoͤnheit des Kindes
ruͤhrte mich und ich blieb ſtehen, da es zugleich
verlangend die Aermchen nach mir ausſtreckte
und durch reichliche Thraͤnen laͤchelte, ſo froh
ſchien es, einen Menſchen zu ſehen. Ich ſchaute
lange aus, ob niemand Angehoͤriger in der
Naͤhe ſei, und da ich Niemand entdeckte im wei¬
ten Felde, ſetzte ich mich auf das Baͤnkchen und
nahm das Kind auf den Schooß, das auch al¬
ſogleich einſchlief. Da nach Verlauf einer hal¬
ben Stunde ſich Niemand zeigte, nahm ich es
[351] getroſt auf den Arm und ging nach dem naͤchſten
Dorfe, um Nachfrage zu halten. Das Kind ge¬
hoͤrte nicht in das Dorf, noch in die Gegend
uͤberhaupt; hingegen erfuhr ich, daß im Laufe
des Nachmittages eine Schaar Auswanderer
durchgezogen mit Weib und Kindern, die nach
dem ſuͤdlichen Rußland gingen und ſich etwas
weiter unten am Fluſſe den folgenden Morgen
einſchiffen wollten. Ich gab das Kind nicht aus
den Haͤnden, blieb in dem Dorfe uͤber Nacht
und begab mich mit dem Morgengrauen nach
der bezeichneten Stelle, wo ich den Trupp ſchon
im Begriffe fand zu Schiffe zu gehen. Es fand
ſich, daß die Mutter des Kindes, eine junge
Wittwe, unterwegs geſtorben und begraben wor¬
den, und daß die Geſellſchaft daſſelbe gemein¬
ſchaftlich mitgenommen. Aber noch war es nicht
einmal vermißt worden, das arme Geſchoͤpfchen,
das ſich waͤhrend des Ausruhens verlaufen, und
die guten Leute erſchraken ſehr, da ich mit dem
lieben Thierchen unvermuthet erſchien. Es brauchte
indeß nicht viel Beredtſamkeit, bis ſie mir meinen
Fund uͤberließen, da er ſoviel wie Nichts beſaß
[352] und die arme todte Mutter auf ihre gute Per¬
ſon allein die Hoffnungen der Zukunft gegruͤn¬
det hatte. Aber ſo eilig ging es zu mit der Ab¬
fahrt, daß ich mich nicht einmal nach den ge¬
naueren Namen erkundigen konnte. Das wurde
rein vergeſſen und ich erinnerte mich nachher nur,
daß die Leute aus Schwaben gekommen. Von
dem Kinde erfuhr ich, daß es Dortchen heiße, und
ſo nannte ich es Dortchen Schoͤnfund, als ich
ihm ſpaͤter ſein Heimathsrecht bei mir ſicherte,
und ſo wiſſen wir endlich nur, daß Dortchen
Schoͤnfund hier ein Schwaͤblein iſt! Es nahm
aber von Jahr zu Jahr ſo ſehr und mit ſolcher
Leichtigkeit zu an Anmuth, Tugend und Sitte,
daß wir die kleine Hexe ohne Wahl vollkom¬
men als die Tochter des Hauſes halten und
noch froh ſein mußten, wenn ſie nicht uns uͤber
den Kopf wuchs in allen guten Dingen. Meine
Schweſter, die Adelige, wollte auch durch¬
aus Mittel finden, das Weſen, durch ir¬
gend einen armen Teufel von Grafen zur
Aufrechthaltung dieſes alten Caſtells zu verwen¬
den, aber wie geſagt, hieran iſt mir nichts
[353] gelegen und Schoͤnfuͤndchen iſt mir dazu zu
gut!«


Das Fraͤulein hatte bei Erwaͤhnung ihres
Fundes und beſonders ihrer armen unbekannten
Mutter einige heiße Thraͤnen vergoſſen, das
ſchoͤne Koͤpfchen voruͤbergebeugt und in das Ta¬
ſchentuch gedruͤckt. Doch laͤchelte ſie ſchon wie¬
der und ſagte: »So, Herr Lee! nun kennen Sie
meine glorreiche Geſchichte und koͤnnen mich be¬
dauerlich anſehen! Nun, ſo ſehen Sie mich doch
ein Biſchen bedauerlich an!«


»Ich werde mich wohl huͤten,« ſagte dieſer,
»ich empfinde erſt recht den tiefſten Reſpect,
Fraͤulein! und ſehe gar nichts an Ihnen, das zu
bedauern waͤre; vielmehr bedauert man ſich ſo¬
gleich ſelbſt, wenn man ſo vor Ihnen daſitzt.«
Er ſchaͤmte ſich aber dies geſagt zu haben und
ſah verlegen auf ſeinen Teller, waͤhrend er in
der That eine erhoͤhte Ehrerbietung gegen das
Maͤdchen empfand, da alle ihre Feinheit und
Wuͤrde einzig in ihrer Perſon beruhte und weder
erworben noch anerzogen ſchien.


Als man aufſtand, hatte der Graf einige
IV. 23[354] Geſchaͤfte mit den Landleuten abzuthun und ließ
Heinrich die Wahl, ob er ihn begleiten oder ſich
allein in Haus und Garten umtreiben, oder in
der Geſellſchaft ſeiner Pflegetochter bleiben wolle.
Heinrich zog vor, da es ihm ſchicklicher ſchien,
ſich in die Gaͤrten zu begeben, und that dies auch,
nachdem der Graf ſich entfernt. Die Sonne
hatte wieder den ganzen Tag geſchienen und es
war ein heiteres warmes Herbſtwetter geworden.

[]

Eilftes Kapitel.

Hoͤchſt angenehm geſtimmt und aufgeregt
ging er in dem ſchoͤnen Garten umher und fuͤhlte
ſich lieblich geſchmeichelt und geſtreichelt durch
den artigen Scherz, welchen das Fraͤulein mit
ihm aufgefuͤhrt, ſowie durch die unbefangene Art,
mit welcher ſie die Erzaͤhlung ihres Herkommens
und ihrer Verhaͤltniſſe veranlaßt hatte. Aber
erſt unter den dunklen Baͤumen des Luſtwaldes
ſtieg ihm ploͤtzlich der ſchmeichelhafte Gedanke
auf, daß er der Schoͤnen am Ende wohl gefallen
muͤſſe, weil ſie ſo unverhohlen und freundlich ſich
mit ihm zu thun machte, und er warf unver¬
weilt ſein inneres Auge auf ſie mit großem Wohl¬
wollen, auch ſtellte ſich ihm im Fluge ein herr¬
liches und edles Leben dar mit allen ſeinen Zier¬
[356] den an der Seite dieſes guten und liebenswer¬
then Frauenzimmers. Heftig ſchritt er in dem
kuͤhlen Schatten umher und fuͤhlte ſein Herz
ganz gewaltig ſchwellen und er kam ſich im hoͤch¬
ſten Grade gluͤckſelig und deshalb liebenswuͤrdig
vor. Aber auf dem oberſten Gipfel dieſer ſchoͤ¬
nen Einbildungen ließ er den Kopf urploͤtzlich
ſinken, indem es ihm unvermuthet einfiel, daß
dergleichen unbefangene Scherze, frohes Beneh¬
men und Zutraulichkeit ja eben die Kennzeichen
und Sitten feiner, natuͤrlicher und wohlgearteter
Menſchen und einer gluͤcklichen heiteren Geſellig¬
keit waͤren, welche Jeden, den ſie einmal arglos
aufgenommen und zu kennen glaubt, auch ohne
Arg mit ganzer Freundlichkeit behandelt; daß es
ebenſowohl das Kennzeichen der Grobheit und
Ungezogenheit waͤre, zum Danke fuͤr ſolche feine
Freundlichkeit ſogleich das Auge auf die Inhabe¬
rinnen derſelben zu werfen und ihre Perſon mit
unverſchaͤmten und eigenmaͤchtigen Gedanken in
Beſchlag zu nehmen. So hoch dieſe ſich vorhin
verſtiegen hatten, um ſo tiefere Demuth befiel
[i]hn jetzt und er beſchloß in derſelben, die Schoͤnſte
[357] gegen ſich ſelbſt in Schutz zu nehmen, nicht
ahnend, daß eine Neigung, die ſchon mit ſolcher
inniger Achtung vor ihrem Gegenſtande beginnt,
das allerſchaͤrfſte Schwert in ſich birgt. Und er
beſchloß ganz gruͤndlich zu Werke zu gehen und
die Dame auch in dem geheimſten Gemuͤthe nicht
zu lieben, ſo daß ſie unbewußt ganz unbedenk¬
lich in demſelben wohnen koͤnne, nur von ſeiner
uneigennuͤtzigſten Ehrerbietung und guten Freund¬
ſchaft umgeben.


Dieſer herzhafte Beſchluß ſchwellte ihm
abermals die Bruſt und hielt dann ſein Blut
auf in ſeinem Laufe, aber ſehr ſchmerzlich ſuͤß,
daß es ihm wohl und weh dabei ward. Erſte¬
res, weil es immer wohl thut, einem liebens¬
wuͤrdigen Weſen Gutes zu erweiſen, ſelbſt wenn
das durch Entſagung geſchieht, und weh, weil
es doch eine haͤklige Sache iſt, eine junge Nei¬
gung ſo ohne Weiteres abzuwuͤrgen und eine
ganze werdende moͤgliche Welt im Keime zu zer¬
treten. Indem er dies ſchmerzliche Gefuͤhl em¬
pfand und daruͤber nachdachte, ſagte er: »Im
Grunde — ein Maͤdchen zu lieben iſt nie eine
[358] Unhoͤflichkeit, wenn man nur etwas Rechtes iſt!
Aber von mir wuͤrde es jetzt unhoͤflich und grob
ſein, weil ich ja nichts, ach ſo gar nichts bin
und erſt Alles werden muß!« Zum erſten Mal
bereute er ſo recht die vergangenen Jahre und
die ſcheinbar nutzloſe Jugend, die ihn jetzt von
dieſer Erſcheinung uͤberraſcht werden ließ, ohne
daß er bereit und werth war, auch nur im Ge¬
heimen eine herzhafte Leidenſchaft aufkommen zu
laſſen und zu naͤhren. Er fuhr ſeufzend mit der
Hand durch das Haar und entdeckte, daß er kei¬
nen Hut auf dem Kopfe hatte. »Ein Kerl!«
rief er, »der nicht einmal einen guten Hut, das
Zeichen der Freien, auf dem Kopfe traͤgt! Da
lauf' ich barhaͤuptig wie ein Moͤnch in fremdem
Beſitzthum umher! Ich muß einmal nach mei¬
nem Hute ſehen!«


Er lief in das Gartenhaus. Das freund¬
liche Apollonchen allein war da und holte ihm
auf ſein Begehren ſeinen Hut hervor: aber ſie
hielt denſelben mit einem ſchalkhaften Laͤcheln
dar, ſo weit dies ihrer Gutmuͤthigkeit immer
moͤglich war: denn der Hut ſah ſchaͤndlich aus
[359] und war gaͤnzlich zu Grunde gerichtet. Vom
Regen war er noch aus aller Form gewichen
und ſtellte ſich von allen Seiten, wie man ihn
auch wenden mochte, als ein hoͤhniſches Unding
vor. Wie Heinrich ihn ſo troſtlos in der Hand
hielt und Apollonchen mit verhaltenem Lachen da¬
beiſtand, trat Dorothea aus dem Saale herein
und rief: »Wo iſt denn das Herrchen? Ach da
ſind Sie ja! Wenn es Ihnen lieb iſt, ſo wollen
wir doch ein wenig ſpazieren gehen, ſehen Sie
hier, da habe ich Ihnen einen Hut zurecht ge¬
zimmert, der Ihnen hoffentlich wohl anſtehen
ſoll!« Wirklich hielt ſie einen breiten grauen
Jaͤgerhut in der Hand, um den ein gruͤnes Band
geſchlungen war. Sie ſetzte ihm denſelben auf
und ſagte: »Laſſen Sie ſehen! Ei vortrefflich,
ſage ich Ihnen, ſieh' mal Apollonchen! Ich habe
mir erlaubt, Ihre Jugendfarbe daran anzubrin¬
gen, damit wir doch ein Bischen gruͤnen Hein¬
rich hier haben! Iſt dies Ihr Hut? Wollten
Sie den aufſetzen? Zeigen Sie!«


»Ach ſehen Sie ihn doch nicht an!« rief
Heinrich und wollte ihn wegnehmen, aber ſie
[360] entſchluͤpfte ihm und den Truͤbſeligen pathetiſch
vor ſich hinhaltend ſagte ſie: »Laſſen Sie! Ich
moͤchte gar zu gern ein ſolch' ſchlechtes Ding
und Krone der Armuth einmal ganz in der
Naͤhe beſehen! Ja, es iſt wahr! kummervoll ſieht
er aus, der Hut! Aber wiſſen Sie, ich moͤchte
doch einmal ein Burſche ſein und mit ſolchem
verwegenen Ungluͤckshut ſo ganz allein in der
Welt herumwandern! Aber durchaus muͤſſen wir
ihn in unſerem Ritterſaal aufpflanzen als eine
Trophaͤe unſerer Zeit unter den alten Eiſenhuͤten!«

Heinrich entriß ihr die Trophaͤe und ſteckte
ſie in den Ofen, in dem eben ein helles Feuer
brannte, und ging mit ihr, die ihn daruͤber aus¬
ſchalt, in's Freie. »Wenn er einmal verbrannt
ſein mußte,« ſagte ſie, »ſo haͤtten wir ihn doch
auf feierliche Weiſe verbrennen ſollen! Sie haben
in Ihrem Schreibebuch ſelbſt ſo artig beſungen,
wie Sie Ihre Dornenkrone luſtig auf einem
Zimmetfeuerchen verbrennen wollten, nun haͤtten
wir den ſchlimmen Hut dafuͤr nehmen und
ihn dergeſtalt mit guten Ceremonien verbrennen
koͤnnen, zum Zeichen, daß Sie entſchloſſen ſind,
[361] es ſich von nun an recht wohl gehen zu
laſſen!«


Er antwortete hierauf nichts und dachte auch
an gar nichts mehr, was er ſoeben erſt gedacht,
ſondern uͤberließ ſich ganz gedankenlos dem Ver¬
gnuͤgen, an der Seite der ſchoͤnen Jungfrau zu
ſein, welche ihm die Gegend zeigte, vor ihm her
uͤber Waſſertuͤmpelchen und Geleiſe ſprang, ihr
Kleid anmuthig aufnehmend und zuweilen lachend
zuruͤckſah, ob er ihr auch ordentlich folge. Seit
langer Zeit erging er ſich zum erſten Mal wieder
auf dem Lande, ohne Sorgen und an einem
ſchoͤnen Abend, und er wurde durch alles dies
ſo wohlgemuth, daß er auf die harmloſeſte Weiſe
mit der Schoͤnen umherlief und lachte und anfing
Witze zu machen, ohne jedoch die Beſcheidenheit
zu verletzen. Es dunkelte ſchon, als ſie wieder auf
dem Kirchhof ankamen, wo ſie mit dem Herrn
des Hauſes zuſammentrafen; dieſer nahm Hein¬
rich mit ſich fort und begehrte mit ihm zu ſpre¬
chen, waͤhrend Dorothea zuruͤckblieb, um noch
ſchnell, ſo weit es das ſcheidende Tageslicht er¬
23 *[362] laubte, die Graͤber nachzuſehen, welche ordentlich
unter ihrer Obhut zu ſtehen ſchienen.


»Ich habe,« ſagte der Graf, »jetzt Alles uͤber¬
dacht, was wir thun wollen Ich habe in der
Hauptſtadt einige Geſchaͤfte und muß dieſen
Herbſt noch hinreiſen. So wollen wir gleich
morgen zuſammen hingehen; Sie verſehen ſich
da mit allem Noͤthigen, vorzuͤglich aber mit eini¬
gem Handwerkszeuge, ſoviel ſie zur Vollen¬
dung eines oder zweier anſehnlichen Bilder be¬
duͤrfen, und dann kehren wir hieher zuruͤck; denn
ich moͤchte Sie durchaus nicht mehr in der Stadt
wiſſen und Sie muͤſſen ſich vollkommen wohl be¬
finden auf einige Zeit, dies legt eigentlich den
beſten Grund zu einem guten Weſen; denn die
Welt iſt nicht auf Graͤmlichkeit und Unzufrieden¬
heit, ſondern auf das Gegentheil gegruͤndet. Hier
machen Sie mit leichtem Muth eine gute Arbeit,
Sie werden es thun, ich weiß es; obgleich ich eigent¬
lich kein Kunſtſchmecker und Kenner von Pro¬
feſſion bin und nur fuͤr weniges Gutes, was in
ſeiner ganzen Art mich anſpricht, mich zuweilen
intereſſire, ſo weiß ich dennoch, daß es in Ihrem
[363] bisherigen Handwerke gerade ſo zugeht, wie mit
allem Anderen und daß man unter gewiſſen Um¬
ſtaͤnden mit gutem Sinne immer das kann, was
man will, wenn man nur etwas darin gethan
hat. Iſt die Geſchichte fertig, ſo bringen wir
ſie nach der Stadt, ſtellen ſie aus und ich werde
alsdann mittelſt meiner geſellſchaftlichen Stellung
das Noͤthige veranlaſſen, daß Ihre Arbeit ge¬
ſehen und mit Anſtand verkauft wird. Erſt dann
koͤnnen Sie mit Ehren dem Handwerke, das Ih¬
nen unzulaͤnglich duͤnkt, den Ruͤcken wenden und
Ihren Sinn auf das Weitere richten.«


Hierauf erwiederte Heinrich nichts, ſondern
blieb einſilbig den uͤbrigen Theil des Abends hin¬
durch, ſelbſt als der ſeltſame Pfarrer am Abend¬
eſſen Theil nahm und mit kurioſem Humor die
Geſellſchaft erheiterte. Aber als Heinrich im
Bette lag, uͤberdachte er alle dieſe Dinge mit
großen Sorgen; denn er erinnerte ſich erſt jetzt
mit Macht an ſeine Mutter, zu welcher er noch
geſtern unaufhaltſam hatte laufen wollen, und es
wollte ihn beduͤnken, daß er nun unverzuͤglich
ſeinen Weg fortſetzen und ſich durch keine Um¬
[364] ſtaͤnde von dieſer ſo einfachen und natuͤrlichen
Abſicht ablenken laſſen ſolle. Es ſchwebte ihm
vor, wie wenn der Vorſchlag des Grafen, ſeine
Freundſchaft, die Schoͤnheit Dorothea's, das gaſt¬
liche Haus und das feine Leben darin, alles dies
eine kuͤnſtliche, glaͤnzende und lockende Welt waͤre,
welche ihn von dem harten und ſchmalen Wege
ſeines guten Inſtinktes wegziehen und in die
Irre fuͤhren moͤchte. Obgleich er uͤber dieſe un¬
ſinnige oder unklare Ahnung ſogleich lachen mußte,
dachte er doch, es waͤre fuͤr einmal beſſer, wenn
er ſeiner Abſicht treu bliebe und unverzuͤglich
nach Hauſe reiſe, um da auf heimathlichem Bo¬
den, aus ſich ſelbſt heraus und ohne alle An¬
ſpruͤche zu ſehen, was er treibe. Er beſchloß
desnahen, am anderen Tage unverbruͤchlich je¬
nen Weg einzuſchlagen, anſtatt mit dem Grafen
zu gehen, und ſchlief mit dieſem Vorſatze ein, aber
nicht ohne alſobald wieder aufzuwachen und nichts
Anderes vor ſich zu ſehen in der Dunkelheit, als
das Bild Dorothea's, welches freundlich aber
unbarmherzig allen Schlaf verſcheuchte. Hier¬
uͤber wunderte er ſich ſehr und fragte ſich bedenk¬
[365] lich, ob er etwa wirklich verliebt ſei? Es war
lange her, ſeit er dies geweſen, aber dennoch
glaubte er aus dem Grunde zu wiſſen, was Liebe
ſei, und hielt ſeine aufgeſchriebenen Knabengeſchich¬
ten noch immer fuͤr Meiſterwerke leidenſchaftli¬
cher Erlebniſſe. Und dennoch konnte er ſich jetzo
nicht entſinnen, auch nur ein einziges Mal etwa
nicht geſchlafen zu haben waͤhrend jener Geſchich¬
ten und war ganz verbluͤfft, erſt jetzt ein ihm bis¬
her unbekanntes Gefuͤhl ſeinen Rumor beginnen
zu ſehen, welches ganz anders in's Zeug und in
die Tiefe zu gehen ſchien, als alle jene Verwir¬
rungen und Anfaͤngerſtuͤckchen. Eine frohe Ban¬
gigkeit durchſchauerte ihn, Furcht und Luſt zu¬
gleich, ſich ſelbſt zu verlieren und ſo gefaͤhrliche
Dinge ſchienen ſich da ankuͤndigen zu wollen,
daß er doppelt beſchloß, ſich am anderen Tage
zu fluͤchten.


Aber als er in der Fruͤhe geweckt wurde und
ein Wagen ſchon im Hofe ſtand, waͤhrend der
Graf und Heinrich das Fruͤhſtuͤck nahmen, war
es ihm nicht moͤglich, mit einem Worte ſeines Ent¬
ſchluſſes zu erwaͤhnen, ja er dachte kaum noch dar¬
[366] an, da es ſich von ſelbſt zu verſtehen ſchien, daß
er nie einen Augenblick im Ernſte von der Seite
dieſer Perſon wegkaͤme. Ohne Weiteres ſtieg er
mit ſeinem Beſchuͤtzer in den Wagen und mußte
der Dorothea verſprechen, ſich in der Hauptſtadt
wieder einen gruͤnen Rock anzuſchaffen. Als er
das verſprach und der Wagen in den ſonnigen
Herbſt hinausrollte in der gaſtlichen Gegend, war
es ihm, als ob er boͤſe waͤre auf ſeine arme Mut¬
ter, die da im Vaterland ſaͤße und in ihrem
Schweigen die unerhoͤrteſten Anſpruͤche erhoͤbe,
Alles zu laſſen und ſtracks ein ungetheiltes Herz
zu ihr zu bringen; denn in ſeiner Confuſion und
bei der Neuheit der Empfindung glaubte er, daß
es jetzt um die Liebe zu ſeiner Mutter geſchehen
ſein muͤſſe, da er eine Fremde mit ſolchen Augen
anſah, wie er noch nie eine angeſehen.


In der Stadt angekommen, ſah er ſich die
Straßen, in denen er in ſeiner Truͤbſeligkeit um¬
hergegangen, mit Muße an und ging in Gedan¬
ken immer ſelbander durch dieſelben hin. Er
kaufte ſich zwei große Stuͤcke Leinwand und alles
dazu gehoͤrige Zeug, auch verſah er ſich mit neuen
[367] Kleidern und Effekten, und endlich wollte der
Graf auch den alten Troͤdler aufſuchen, um durch¬
aus die groͤßeren Sachen Heinrich's wieder zu er¬
werben, die derſelbe ihm verkauft. Sie gingen
mit einander hin und fanden in dem dunklen
Gaͤßchen den kleinen Laden halb verſchloſſen. Die
andere Haͤlfte ſtand nur ſo weit offen, ſo viel
Licht einzulaſſen, als eine kleine armſelige Auc¬
tion brauchte, welche in der Spelunke ſtattfand;
denn das Maͤnnchen war vor wenigen Wochen
geſtorben. Dies that Heinrich ſehr weh und er
bereute es nun, nicht mehr zu dem Alten gegan¬
gen zu ſein, da er es bei aller Wunderlichkeit ſo
gut mit ihm gemeint hatte. Es trieben ſich nur
wenige geringe Leute in dem Laden herum und
gingen die dunkle Treppe auf und nieder in der
engen Wohnung des Verſchwundenen, um den
Niemand ſich ſonſt gekuͤmmert hatte, und der auch
um Niemanden ſich gekuͤmmert Heinrich's Bilder
waren noch alle da mit den uͤbrigen Siebenſa¬
chen, und es koſtete wenige Muͤhe und noch we¬
niger Mittel, derſelben habhaft zu werden. Er
verpackte ſie im Gaſthofe, ſie nahmen dieſelben
[368] gleich mit, und Heinrich ſah mit angenehmen
Gefuͤhlen wenigſtens den weſentlicheren Theil ſei¬
nes ehemaligen Beſitzthumes wieder beiſammen
und in einem guten Hauſe aufgehoben, wo er
ſelbſt ſo gern zeitlebens geblieben waͤre.

[]

Zwölftes Kapitel.

Was der Graf vorausgeſagt, geſchah nun
wirklich. Heinrich ſchlug in einem hellen Ge¬
mache ſeine Werkſtatt auf, zwei große ausge¬
ſpannte Tuͤcher luden mit ihrer weißen Flaͤche
Auge und Hand ein, ſich darauf zu ergehen, die
alten Bilder und Cartons hingen ſtattlich an der
Wand und ſeine Studien lagen ihm bequem zur
Hand. Man kann eine Uebung lange Zeit un¬
terbrochen haben, und dennoch, wenn man ſie zu
guter Stunde ploͤtzlich wieder beginnt mit einem
neuen Bewußtſein und vermehrter innerer Erfah¬
rung, etwas hervorbringen, das Alles uͤbertrifft,
was man einſt bei fortgeſetztem Fleiße und haſti¬
gem Streben zuwege gebracht; eine guͤnſtigere
IV. 24[370] Sonne ſcheint uͤber dem ſpaͤteren Thun zu leuch¬
ten. So ging es jetzt Heinrich; er machte zwei
große Forſtbilder, einen Laubwald und einen Na¬
delwald, welche er ſich als freundlichen gruͤnen
Schmuck fuͤr ein lichtes kleines Gemach dachte
oder fuͤr ein huͤbſches Treppenhaus, damit da et¬
wa im Winter oder in den Stadtmauern einige
Gruͤnigkeiten ſeien. Die Motive nahm er weis¬
lich aus den forſtreichen Umgebungen des Land¬
ſitzes und komponirte nicht viel darin herum, viel¬
mehr fuͤhlte er einmal das Beduͤrfniß, das Vor¬
handene weſentlich darzuſtellen und es fuͤr jedes
offene Auge erfriſchend und wohlgefaͤllig zu ma¬
chen. Er uͤberhaſtete ſich nicht und ſchleppte
oder faullenzte nicht, ſondern fuͤhrte Zug um Zug
fort, bei der Beſchaͤftigung mit dem einen, ohne
zerſtreut zu ſein, an den naͤchſten und an das
Ganze denkend, und indem es ihm wohl gelang,
freute er ſich deſſen und lachte daruͤber, ohne im
geringſten ſeinen Entſchluß zu aͤndern und etwa
neue Hoffnungen auf dergleichen zu ſetzen. In¬
dem er ſo ſich mit etwas abgab, das er auf im¬
mer zu verlaſſen gedachte und nur aus aͤußeren
[371] Nuͤtzlichkeitsgruͤnden noch einmal vornahm, behan¬
delte er dieſe Arbeit doch mit aller Liebe und
Aufmerkſamkeit, und dieſe ruhige und klare Liebe
gab ihm faſt muͤhelos die rechten Mittel ein, ſo
daß unverſehens die Bilder eine Farbe bekamen,
als ob er von jeher gut gemalt haͤtte und die
Gewandtheit und Zweckmaͤßigkeit ſelber waͤre.
Dieß machte ihm das groͤßte Vergnuͤgen und er
bereute gar nicht, daß es das erſte und letzte Mal
ſein ſollte, wo er ein guter Maler war, vielmehr
dachte er ſchon waͤhrend dieſer Arbeit an die neue
Zukunft, und waͤhrend er zweckmaͤßige und beſon¬
nene klare Farben aufſetzte, gingen ihm allerhand
Gedanken von der Zweckmaͤßigkeit des Lebens
uͤberhaupt durch den Kopf.


Der Graf war kein Gelehrter, was man ſo
heißt, aber er kannte den Werth und die Bedeu¬
tung aller Disciplinen und wußte fuͤr das, weſſen
er bedurfte, ſich das Weſentliche ſogleich zu be¬
ſchaffen und anzueignen und immer war bei ihm
guter Rath und ein geſundes menſchliches Urtheil
zu finden. Demgemaͤß waren auch ſeine Buͤcher¬
vorraͤthe und andere Huͤlfsmittel beſchaffen, ſo
24 *[372] daß Heinrich ganz ordentliche Studien betreiben
konnte in den Mußeſtunden und den langen Naͤch¬
ten; denn er war jetzt immer wach und munter
und eigentlich war ihm Alles Mußezeit oder Al¬
les Arbeitszeit, er mochte machen was er wollte.
Er ſtudirte jetzt verſchiedene Geſchichtsvorgaͤnge
ganz im Einzelnen in ihrer faktiſchen und rethori¬
ſchen Dialektik, und faſt war es ihm gleichguͤltig,
was fuͤr ein Vorgang es war, uͤberall nur das
Eine und Alles ſehend, was in allen Dingen
wirkt und treibt, und eben dieſes Eine packen
lernend, wie die jungen Fuͤchſe eine Wachtel.


Neben dieſen erheblichen Sachen fand er noch
in dem Hauſe die beſte Gelegenheit, manche gute
und nuͤtzliche Dinge zu lernen, an welche er bis¬
her nicht gedacht und deren Mangel er erſt jetzt
bemerkte. Obgleich der Graf ſeiner ſogenannten
radikalen Geſinnung und abweichender Handlun¬
gen wegen in der ganzen Gegend bei Standesge¬
noſſen und anderen Reſpectsperſonen verſchrieen
und verhaßt war, ſo hielt er doch einen gewiſſen
Verkehr mit ihnen aufrecht und zwang ſie, waͤh¬
rend ſeiner Gegenwart wenigſtens menſchlich und
[373] moͤglichſt anſtaͤndig zu ſein, wobei ihn ſeine Pfle¬
getochter mit geringer Muͤhe und großem Er¬
folge unterſtuͤtzte. So kam es, daß der Gehaßte
und Verlaͤumdete doch uͤberall willkommen war
und die verkommenen uͤbelwollenden Geſichter
gegen ihren Willen aufheiterte, ſo wie ſie ſich auch
etwas darauf zu gute thaten, in ſein Haus zu
kommen, und trotz ihres Naſenruͤmpfens es nie
verfehlten, wenn er von Zeit zu Zeit die Pflich¬
ten der Nachbarſchaft uͤbte. Heinrich, als aus
den mittleren alten Schichten des Volkes ent¬
ſprungen, hatte bis jetzt dergleichen nicht geahnt
oder geuͤbt. Wen er nicht leiden konnte, mit
dem ging er nicht um, und war gewohnt, ſeine Ab¬
neigung wenig zu verhehlen, ſowie auch jede Unver¬
ſchaͤmtheit ſogleich zu erwiedern und nichts zu er¬
tragen, was ihn nicht anſprach. Dieſe Volks¬
art, an ſich gut und tugendhaft, iſt in der gebil¬
deten Geſellſchaft hinderlich und unſtatthaft, da
in dieſer wegen der Ungeſchicklichkeit im Kleinen
daß Große und Wichtige gehemmt und getoͤdtet
wird. Das Volk braucht nicht duldſam zu ſein
im Kleinen, weil es das Große zu ertragen ver¬
[374] ſteht; Jene aber, welche dieſes ohnehin nicht ha¬
ben oder es ſelten ertragen koͤnnen, ſind darauf
angewieſen, fuͤr ihre Armuth und Fratzenhaftig¬
keit Nachſicht und Duldung zu verlangen und ge¬
genſeitig zu uͤben, ſo daß hieraus ein ſtarker Theil
der guten Sitte entſpringt, die ſich ſogar zu
veredeln und etwas Tieferes zu werden faͤhig iſt.
So lernte jetzt Heinrich nach dem Beiſpiele
des Grafen ſich auf ſeinem Stuhle ruhig zu
verhalten, die Fratzen, die Rotznaſen und die
Erbſenſchneller zu ertragen und ſich gegen Je¬
dermann artig zu benehmen, und was er erſt
mehr heuchelte als in guten Treuen empfand,
lernte er nach und nach in der beſten Meinung
von innen heraus thun, und befand ſich um vie¬
les wohler dabei, erſehend, wie in jedem Ge¬
ſchoͤpfe etwas iſt, was werth iſt, daß man einige
Liebe auf es wirft und ihm einigen Werth ver¬
leiht. Zuletzt ſchaͤmte er ſich ſogar bitterlich ſei¬
nes fruͤheren Uebermuthes und fuͤhlte, wie weit
mehr man Gefahr laͤuft, den Armen und Wider¬
ſinnigen gleich zu werden, wenn man ſie befehdet
und zwackt, als wenn man ſie gewaͤhren laͤßt;
[375] denn ſie haben etwas Daͤmoniſches und Verhe¬
rendes an ſich.


In einem ganz ſonderlichen Verhaͤltniſſe zu
dem Hauſe ſtand der katholiſche Pfarrer des Or¬
tes, welcher ſo oft in Geſellſchaft des Grafen er¬
ſchien, daß er fuͤr eine Art von Hausfreund gel¬
ten konnte. Er hatte eine dicke Mopsnaſe, welche
durch einen Studentenhieb in zwei Abtheilungen
getheilt war, zum Denkzeichen einer großen Vor¬
naͤſigkeit in der Jugend. Der Mund war ſehr
aufgeworfen und ſinnlich und die Tonſur hatte
ſich allmaͤlig ziemlich vergroͤßert, obgleich er ſie
immer noch ſtreng in ihrer kreisrunden Form hielt,
da er hierin gar keinen Spaß verſtand und die Reit¬
bahn, welche ſich an ſeinem Hinterhaupte dem
Blicke darbot, durchaus fuͤr eine Tonſur angeſe¬
hen wiſſen wollte. Dieſer Mann war nun vor¬
zuͤglich drei Dinge, ein leidenſchaftlicher Eſſer und
Trinker, ein großer religioͤſer Idealiſt und ein
noch groͤßerer Humoriſt. Und zwar war er letz¬
teres in dem Sinne, daß er alle drei Minuten
lang das Wort Humor verwendete und es zum
Maßſtabe und Kriterium alles deſſen machte, was
[376] irgendwie vorfiel oder geſprochen wurde. Alles,
was er ſelbſt that, redete und fuͤhlte, gab er zu¬
naͤchſt fuͤr humoriſtiſch aus, und obgleich es dies
nur in den minderen Faͤllen war und mehr in
einem maßloſen Klappern und Feuerwerken mit
geſuchten Gegenſaͤtzen, Bildern und Gleichniſſen
beſtand, ſo ging aus dieſem Weſen dennoch ein
gewiſſer Humor heraus, welcher die Leute lachen
machte, beſonders wenn der Graf, Dorothea und
Heinrich, welche in ihrem kleinen Finger, wenn
ſie ihn bewegten, mehr Humor hatten, als der
Pfarrer in ſeinem Gemuͤthe, zuſammenſaßen und
er ihnen mit ungeheurem Wortſchwall erklaͤrte,
was Humor ſei und wie ſie von dieſer Gottes¬
gabe auch nicht eines Senfkoͤrnleins groß beſaͤßen.
Er las eifrigſt alle humoriſtiſchen Schriften und
alle, welche vom Humor handelten, und hatte
ſich ein ordentliches Syſtem uͤber dieſes Feuchte,
Fluͤſſige, Aetheriſche, Weltumplaͤtſchernde, wie er es
nannte, aufgebaut, das ziemlich mit ſeiner Theologie
zuſammenfiel. Cervantes fuͤhrte er ebenſo oft im
Munde, wie Shakeſpeare, aber er fand den
groͤßten Gefallen an den unzaͤhligen Pruͤgeln,
[377] welche Sancho und der Ritter bekommen, an
den Einſeifungen, Prellereien und derben Sachen
aller Art. Die goͤttlichen feineren Dinge ſah und
verſtand er gar nicht oder wollte ſie nicht ſehen,
beſonders wenn ſie wie auf ihn gemuͤnzt waren,
was dann zu den Verſicherungen ſeines eigenen
Humors den ergoͤtzlichſten Gegenſatz bildete.
So ſah er in dem Abenteuer in der Hoͤhle des
Monteſinos nur eine aͤußere komiſche Schnurre;
den feinen Humor, der in dem langen Seile liegt,
welches ganz nutzlos abgerollt wird, indeſſen der
Ritter ſchon im Anfange die Augen ſchließt, und
insbeſondere die Art, wie er ſich nachher vielfaͤl¬
tig in Hinſicht des in der Hoͤhle Geſehenen be¬
nimmt, dies alles ſah er gar nicht oder ruͤmpfte
unmerklich die Naſe dazu.


Sein Idealismus, und er nannte ſich bald
ruͤhmend, bald entſchuldigend einen Idealiſten,
beſtand darin, daß er gegenuͤber ſeinen Zuhoͤrern,
welche alles Wirkliche, Geſchehende und Beſte¬
hende, ſofern es ſein eigenes Weſen ausreichend
und gelungen ausdruͤckt, ideal nannten, eben
dieſes Wirkliche materiellen und groben Miſt
[378] oder Staub ſchalt und dagegen alles Niegeſehene,
Nichtbegriffene, Namenloſe und Unausſprechliche
ideal hieß, was eben ſo gut war, als wenn man
irgend einen leeren Raum am Himmel Hinter¬
pommern nennen wollte. Als Prieſter aber war
er hoͤchſt freiſinnig und uͤber ſeine Kirche, in wel¬
cher er predigte, hinaus; ſeine Religion dagegen
war ein aufgeklaͤrter Deismus, welchen er aber
viel fanatiſcher vertrat, als irgend ein Pfaffe ſeine
Satzungen. Er ſuchte einen rechten Hoͤllenzwang
auszuuͤben mit idealen und humoriſtiſchen Re¬
densarten und bauete artige Scheiterhaͤufchen aus
Antitheſen, hinkenden Gleichniſſen und gewalt¬
ſamen Witzen, worauf er den Verſtand, den gu¬
ten Willen und ſogar das gute Gewiſſen ſeiner
Gegner zu verbrennen trachtete, ſeiner eigenen
Meinung zum angenehmen Brandopfer.


Dieſe Lieblingsbeſchaͤftigung, nebſt dem reich¬
lichen Tiſch des Grafen, fuͤhrte ihn haͤufig in
das Haus, und da er zugleich eine ehrliche Haut
und ein redlicher Helfer bei allen guten Unter¬
nehmungen der Herrſchaft war, ſo wurde er zum
Beduͤrfniß und zur bleibenden Heiterkeit des
[379] Hauſes. Beſonders Dorothea wußte ihn mit der
leichteſten Anmuth in den Irrgaͤrten ſeines fa¬
natiſchen Humors umherzufuͤhren, neckend vor
ihm hin zu huſchen und durch die verworrenen
Buſchwerke ſeines krauſen Witzes zu ſchluͤpfen
Unergruͤndlich war es dabei, ob mehr ihr heiteres
Wohlwollen oder ein bedenklicher Muthwillen im
Spiele lag; denn eben ſo oft, als ſie dem Pfar¬
rer Gelegenheit gab zu glaͤnzen, verlockte ſie ſeine
Eitelkeit auf das Eis, wo ſein Witz das Bein
brach.


Heinrich ward hieruͤber etwas verdutzt und
verwirrt und wußte ſich nicht recht in dieſen Ton
zu finden, auch wußte er anfangs nicht, warum
es ſich handelte, bis eines Mittags, als Doro¬
thea in ebenſo zarter als froͤhlicher Weiſe den
Pfarrer verfuͤhrte, ihr allerlei ſeltſame und aben¬
teuerliche Beweiſe fuͤr die Unſterblichkeit aufzu¬
zaͤhlen, der Graf ſagte: »Sie muͤſſen naͤmlich wiſ¬
ſen, lieber Heinrich, daß Dortchen ganz auf
eigene Fauſt nicht an die Unſterblichkeit glaubt,
und zwar nicht etwa in Folge angelernter und
geleſener Dinge oder durch meinen Einfluß, ſon¬
[380] dern auf ganz originelle Weiſe, ſo zu ſagen von
Kindesbeinen an!«


Dorothea ſchaͤmte ſich wie ein Backfiſchchen,
deſſen Herzensgeheimniß man verrathen hat, und
druͤckte das rothgewordene Geſicht auf das Tiſch¬
tuch, daß die ſchwarzen Locken ſich auf der wei¬
ßen Flaͤche ausbreiteten.


Dieſer Vorgang machte auf Heinrich einen Ein¬
druck, der aus Verwunderung und Ueberraſchung
gemiſcht war und jenen angenehmen Schrecken
herbeifuͤhrte, welcher uns befaͤllt, wenn wir ent¬
decken, daß eine geliebte Perſon Eigenthuͤmlich¬
keiten und Nuͤcken im Gemuͤthe fuͤhrt, von de¬
nen wir uns bei aller Bewunderung nichts traͤu¬
men ließen. Er vermochte aber gar nichts dazu
zu ſagen, und erſt als er nach Tiſch mit dem
Grafen durch die Gegend ſtrich, befragte er ihn
um das Naͤhere.


»Es iſt in der That ſo;« erwiederte derſelbe,
»ſeit ſie ihr Urtheil nur ein bischen ruͤhren konnte
und dieſe Dinge nennen hoͤrte, wir wiſſen die
Zeit kaum anzugeben, ſagte ſie mit aller Unbe¬
fangenheit, aus dem kindlichſten und reinſten
[381] Herzen heraus, daß ſie gar nicht abſehen und
glauben koͤnne, wie die Menſchen unſterblich ſein
ſollten. Es kommt allerdings oft vor, daß recht¬
liche Leute aus allen Staͤnden dies urſpruͤngliche
ſchlichte Vergaͤnglichkeitsgefuͤhl ohne Weiteres aus
der Natur ſchoͤpfen und ohne ſkeptiſcher oder kri¬
tiſcher Art zu ſein, daſſelbe unbekuͤmmert bewah¬
ren wie eine allereinfachſte handgreifliche Wahr¬
heit. Aber ſo lieblich und natuͤrlich iſt mir dieſe
Erſcheinung noch nie vorgekommen, wie bei die¬
ſem Kinde, und ihre unſchuldige gemuͤthliche
Ueberzeugung, die ſo ganz in ſich ſelbſt entſtand,
veranlaßte mich, der ich Gott und Unſterblichkeit
hatte liegen laſſen, wie ſie lagen, meinen philo¬
ſophiſchen Bildungsgang noch einmal vorzuneh¬
men und zu revidiren, und als ich auf dem Wege
des Denkens und der Buͤcher wieder da anlangte,
wo das Kindskoͤpfchen von Hauſe aus geweſen,
und Dortchen mir uͤber die Schulter mit in die
Buͤcher guckte, da war es erſt merkwuͤrdig, wie
ſich das beſtaͤrkte und beſtaͤtigte Gefuͤhl in ihr
geſtaltete. Wer ſagt, daß es keine Poeſie gebe
ohne den Glauben an die Unſterblichkeit, der haͤtte
[382] ſie ſehen muͤſſen; denn nicht nur das Leben und
die Welt um ſie herum, ſondern ſie ſelbſt wurde
durch und durch poetiſch. Das Licht der Sonne
ſchien ihr tauſendmal ſchoͤner als anderen Men¬
ſchen, was da lebt und webt war und iſt ihr
theuer und lieb, das Leben wurde ihr heilig und
der Tod wurde ihr heilig, welchen ſie ſehr ernſt¬
haft nimmt. Sie gewoͤhnte ſich, zu jeder Stunde
ohne Schrecken an den Tod zu denken, mitten in
dem heiterſten Sonnenſchein des Gluͤckes, und
daß wir Alle einſt ohne Spaß und fuͤr immer
davon ſcheiden muͤſſen. Dieſer wirkliche Tod
lehrt ſie das Leben werth halten und gut ver¬
wenden und dies wiederum den Tod nicht fuͤrch¬
ten, waͤhrend das ganze voruͤbergehende Daſein
unſerer Perſon, unſer aufblitzendes und verſchwin¬
dendes Tanzen im Weltlichte dieſem ganzen We¬
ſen einen leichten, zarten, halb froͤhlichen, halb
elegiſchen Anhauch giebt, das druͤckende, been¬
gende Gewicht vom Einzelnen nimmt und ſeinen
ſchwerfaͤlligen Anſpruͤchen, indeß das Ganze doch
beſteht. Und welche Pietaͤt und Mitleid hegt
ſie fuͤr die Sterbenden und Todten! Ihnen,
[383] welche ihren Lohn dahin haben und abziehen
mußten, wie ſie ſagt, ſchmuͤckt ſie die Graͤber,
und es vergeht kein Tag, an welchem ſie nicht
eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt. Dieſer
iſt ihr Luſtgarten, ihre Univerſitaͤt, ihr Schmoll¬
winkel und ihr Putzzimmer, und bald kehrt ſie
froͤhlich und uͤbermuͤthig, bald ſtill und traurig
wieder zuruͤck.«


»Glaubt ſie denn auch nicht an Gott?«
fragte Heinrich.


»Schulgerecht,« erwiederte ſein Freund, »ſind
beide Fragen unzertrennlich, jedoch macht ſie ſich
nichts aus der Schule und ſagt nur: Ach Gott!
es iſt ja recht wohl moͤglich, daß Gott iſt, aber
was kann ich aͤrmſtes Ding davon wiſſen? Wenn
wir unſere Naſe in Alles ſtecken muͤßten, ſo waͤre
jedem von uns eine deutliche Anweiſung gegeben.
Ich goͤnne jedem Menſchen ſeinen guten Glauben
und mir mein gutes Gewiſſen!«


Obgleich Heinrich ſeinen lieben Gott, zwar
etwas eingeſchlummert, immer noch im Gemuͤthe
trug, ſo gefiel ihm doch dies alles, was er von
Dorothea hoͤrte, ausnehmend wohl, weil ſie es
[384] war, von welcher man dergleichen ſagte; nur be¬
hauptete er fuͤr ſich, daß er es eben ſo liebens¬
wuͤrdig und angenehm an ihr finden wuͤrde, wenn
ſie eine eifrige Katholikin oder Juͤdin waͤre. Doch
widerfuhr es ihm bei dieſer Gelegenheit zum er¬
ſten Mal, daß er ohne alle Bedenklichkeit und
vielmehr mit ihm ſelbſt wohlthuender Gleichguͤl¬
tigkeit vom Sein oder Nichtſein dieſer Dinge
ſprechen hoͤrte, und er fuͤhlte ohne Freude und
ohne Schmerz, ohne Spott und ohne Schwere
die anerzogenen Gedanken von Gott und Unſterb¬
lichkeit ſich in ihm loͤſen und beweglich werden.


Die Welt ſah er ſchon durch Dortchens Au¬
gen an und ſie glaͤnzte ihm in der That in ſtaͤr¬
kerem und tieferem Glanze, und ein ſuͤßes Weh
durchſchauerte ihn, wenn er ſich nur die Moͤg¬
lichkeit dachte, fuͤr dies kurze Leben mit Dort¬
chen in dieſer ſchoͤnen Welt zuſammen zu ſein.


Doch kannegießerte er ſeit jenem Tage noch
oͤfter mir dem Grafen uͤber den lieben Gott. Der
wahrhafte kluge Edelmann lehnte zwar durchaus
ab, ihn belehren und uͤberzeugen zu wollen, und
wich ſeinen Anmuthungen gelaſſen aus. Nur
[385] eines Tages wurde er etwas waͤrmer, als Hein¬
rich anfing: »Ich habe, ſeit ich in Ihrem Hauſe
bin, wieder viel mit meiner Selbſtſucht zu kaͤm¬
pfen, indem ich nach alter eingewurzelter Gewohn¬
heit immer dem lieben Gott fuͤr das Gute dan¬
ken moͤchte, das er mir erwieſen. Denn obſchon
ich mir ſchon ſeit laͤngerer Zeit widerſtand und
meine kleinen perſoͤnlichen Erlebniſſe nicht mehr
einer unmittelbaren Lenkung Gottes zuſchreiben
mochte, ſo verlockt mich das, was mir hier ge¬
ſchah, dennoch immer wieder dazu, und ich muß
manchmal lachen, wenn ich bedenke, welch' ein
luſtiges und liebliches Schauſpiel es fuͤr den gu¬
ten weiſen Gott ſein muß, zu ſehen, wie ein
junger Menſch ihm gern fuͤr etwas Gutes dan¬
ken moͤchte und ſich ganz ehrlich dagegen ſperrt
aus lauterer [Vernunftmaͤßigkeit]! Warum macht er
ſich aber auch ſo naͤrriſche Geſchoͤpfe!«


Der Graf ſagte: »Ich muß Ihnen diesmal,
ganz abgeſehen vom lieben Gott, wirklich eine
Zurechtweiſung angedeihen laſſen. Die Chriſten
lehren von ihrem Standpunkt aus ganz praktiſch
und weiſe, daß man, ſo ſchlecht es Einem auch
IV. 25[386] erginge und ſo lange ſich auch Gottes Huͤlfe zu
entziehen ſcheine, nie an ihm verzweifeln muͤſſe,
da er dennoch immer da ſei. Was dem Einen
recht, iſt dem Anderen billig! Warum, wenn wir
in neunundneunzig Faͤllen, wo es uns ſchlimm
ergeht, wo kein gluͤcklicher Stern, d. h. kein gu¬
ter Zufall uns beguͤnſtigt, uns mit der Vernunft
und Nothwendigkeit troͤſten und unſere tuͤchtige
feſte Haltung ruͤhmen, warum denn im hundert¬
ſten Falle, wo einmal ein ſchoͤnes und gluͤckhaftes
Ungefaͤhr uns lacht, alsdann ſtracks an der Ver¬
nunft zu verzweifeln, an der natuͤrlichen Schi¬
ckung der Dinge, an unſerer eigenen geſetzmaͤßi¬
gen Anziehungskraft fuͤr das uns Angenehme und
Nuͤtzliche? Iſt die Vernunft, welche uns uͤber
neunundneunzig unangenehme Dinge hinwegge¬
holfen hat, nicht mehr da, wenn das hundertſte
Ding ein angenehmes iſt? Dieſe Art zu denken
und zu danken iſt eigentlich eher eine Blasphemie;
denn indem wir fuͤr das Eine gluͤckliche Ereigniß
danken, ſchieben wir dem Schoͤpfer ja alle die
ſchlimmen und ſchlechten Erfahrungen mit in die
Schuhe. Daher ſind nur die asketiſchen Chriſten
[387] im Rechte, welche dem Gotte auch fuͤr das Uebel in¬
bruͤnſtig danken. Dieſes thun unſere aufgeklaͤrten
Herren Deiſten aber doch nicht, ſie verdanken
ihrem Gotte das Ungluͤck nicht im mindeſten und
er iſt nur ihr Sonntags- und Freudengott.


»Was nun Ihren lieben Gott betrifft, lieber
Heinrich, ſo iſt es mir ganz gleichguͤltig, ob Sie
an denſelben glauben oder nicht! Denn ich halte
Sie fuͤr einen ſo wohlbeſtellten Kautz, daß es
nicht darauf ankommt, ob Sie das Grundvermoͤ¬
gen Ihres Bewußtſeins und Daſeins außer ſich
oder in ſich verlegen, und wenn dem nicht ſo
waͤre, wenn ich denken muͤßte, Sie waͤren ein
Anderer mit Gott und ein Anderer ohne Gott,
ſo wuͤrden Sie mir nicht ſo lieb ſein, ſo wuͤrde
ich nicht das Vertrauen zu Ihnen haben, das ich
wirklich empfinde.


»Dies iſt es auch, was dieſe Zeiten zu voll¬
bringen und herbeizufuͤhren haben: naͤmlich voll¬
kommene Sicherheit des menſchlichen Rechtes und
der menſchlichen Ehre bei jedem Glauben und je¬
der Anſchauung, und zwar nicht nur im Staats¬
geſetz, ſondern auch im perſoͤnlichen vertraulichen
25 *[388] Verhalten der Menſchen zu einander. Es han¬
delt ſich heut zu Tage nicht mehr um Atheismus
und Freigeiſterei, um Frivolitaͤt, Zweifelſucht
und Weltſchmerz und welche Spitznamen man
alles erfunden hat fuͤr ſchwaͤchliche und kraͤnkliche
Dinge! Es handelt ſich um das Recht, ruhig zu
bleiben im Gemuͤth, was auch die Ergebniſſe
des Nachdenkens und des Forſchens ſein moͤgen,
und unangetaſtet und ungekraͤnkt zu bleiben, was
man auch mit wahrem und ehrlichem Sinne glau¬
ben mag. Uebrigens geht der Menſch in die
Schule alle Tage und keiner vermag mit Sicher¬
heit vorauszuſagen, was er am Abend ſeines Le¬
bens glauben werde! Dafuͤr haben wir die unbe¬
dingte Freiheit des Gewiſſens nach allen Seiten!


»Aber dahin muß die Welt gelangen, daß ſie
mit eben der ſchuldloſen guten Ruhe, mit wel¬
cher ſie ein neues Naturgeſetz, einen neuen Stern
am Himmel entdeckt, auch die Vorgaͤnge und
Ergebniſſe in der geiſtigen Welt hinnimmt und
betrachtet, auf Alles gefaßt und ſtets ſich gleich
als eine Menſchheit, die da in der Sonne ſteht
und ſagt: hier ſtehe ich!«

[389]

Auf faſt ganz weibliche Weiſe ſchluͤpfte Hein¬
rich in die Grundſaͤtze derer hinein, die er liebte
und die ihm wohlwollten, und dies war wohl
weniger unmaͤnnliche Schwaͤche, als der allge¬
meine Hergang in dieſen Dingen, wo die beſten
Ueberzeugungen durch den Einfluß honetter und
klarer Perſoͤnlichkeit vermittelt werden. War doch
der Graf ſelbſt, der gewiß ein Mann war, durch
das Weſen eines kleinen unwiſſenden Maͤdchens
zu ſeiner Abrechnung veranlaßt worden. Doch
wollte Heinrich nicht hinter ihm zuruͤckbleiben
und ſtudirte, wohl aufgelegt und von einer an¬
haltenden neigungsvollen Waͤrme durchdrungen,
die Geſchichte des theologiſchen und philoſophiſchen
Gedankenganges der neueren Zeit, wobei ihm
jede Erſcheinung, jedes Fuͤr und Wider, in ſo¬
fern ſie nur ganzer und weſentlicher Natur wa¬
ren, gleich lieb und wichtig wurden, und nur das
Naſeweiſe, Inquiſitoriſche und Fanatiſche in je¬
der Richtung widerte ihn an.


Die Cultur der Religionen vermag die Voͤl¬
ker nur aus dem Groͤbſten zu hobeln und zu ver¬
aͤndern. Auf einer gewiſſen Stufe angekommen,
[390] hat jeder Menſch ſeinen beſtimmten Werth, wel¬
cher nicht um ein Quentchen verliert oder ge¬
winnt, ob er dieſen Werth in oder außer ſich
ſucht. Dies empfand Heinrich, wie der Graf ihm
geſagt, mit leichtem Herzen und großem Beha¬
gen, und die ſich ſo oft geſtellte Frage, ob er an
ſich gut ſei, glaubte er ſich nun freundlich be¬
antworten zu duͤrfen, da er nicht die mindeſte
Veraͤnderung und Bewegung an ſich empfand
und ſich von Grund aus weder um ein Haar
beſſer noch ſchlimmer vorkam, ſeit er das halbe
Weſen und das peinliche Polemiſiren mit dem
Gott in ſeiner Bruſt aufgegeben.


So verging der Winter in mannigfacher aber
ruhiger Bewegung. Der Pfarrer, welcher mit
humoriſtiſchem Zorne den gruͤnen Fremdling ſeine
Fahne verlaſſen ſah, fand ſich noch oͤfter im Her¬
renhauſe ein und ſuchte durch einen Spruͤhregen
von Angriffen und Witzcompoſitionen den Fluͤcht¬
ling zu bedraͤngen und einzufangen. Vorzuͤglich
ging er darauf aus, die Welt unter dem Ge¬
ſichtspunkte ſeiner Zuhoͤrer als heillos nuͤchtern,
trivial und poeſielos darzuſtellen, und um zu
[391] zeigen, wie ganz anders ſie ſich ausnehme im
Lichte eines innigen Gottesglaubens, nahm er
energiſche, phantaſievolle Myſtiker zu Huͤlfe, in
welchen er weniger als Chriſt, denn als geiſt¬
reicher Liebhaber ſehr beleſen war. Er brachte
wiederholt dergleichen her und war ſehr willkom¬
men damit, da, wenn man ſich einmal uͤber ſolche
Gegenſtaͤnde unterhaͤlt, Alles was aus ganzem
Holze geſchnitten iſt, gleich wichtig erſcheint, be¬
lehrt und erbaut. So werden auch ſtets ein recht
herzlicher gluͤhender Myſtiker und ein rabbiater
Atheiſt beſſer mit einander auskommen und groͤ¬
ßeres Intereſſe an einander haben, als etwa ein
duͤrrer orthodoxer Proteſtant und ein flacher Ra¬
tionaliſt, weil jene Beiden gegenſeitig wohl fuͤhlen,
daß ein hoͤherer ſpecifiſcher Werth in ihnen treibt
und durchſcheint.


So hatte er des Angelus Sileſius cherubini¬
ſchen Wandersmann in das Haus gebracht und die
kleine Geſellſchaft empfand die groͤßte Freude
uͤber den vehementen Gottesſchauer, ſeine leben¬
dige Sprache und poetiſche Gluth. Dieſe unbe¬
fangene Freude aͤrgerte aber gerade den guten
[392] Pfarrer und wollte ihm gar nicht paſſen, und er
ergriff eines Abends das Buͤchlein und begann
um ſo eindringlicher und nachdruͤcklicher daraus
vorzuleſen, als ob die Leutchen bis jetzt gar nicht
gemerkt, was ſie eigentlich laͤſen. Als er ſich et¬
was muͤde geeifert, nahm Heinrich das Buch
auch in die Hand, blaͤtterte darin und ſagte dann:
»Es iſt ein recht weſentliches und maßgebendes
Buͤchlein! Wie richtig und trefflich faͤngt es ſo¬
gleich an mit dem Diſtichon: »Was fein iſt, das
beſteht!«


Rein wie das feinſte Gold, ſteif wie ein Felſenſtein,

Ganz lauter wie Kryſtall, ſoll dein Gemuͤthe ſein.

»Kann man treffender die Grundlage aller
dergleichen Uebungen und Denkarten, ſeien ſie
bejahend oder verneinend, und den Werth, das
Muttergut bezeichnen, das man von vornherein
hinzubringen muß, wenn die ganze Sache erheb¬
lich ſein ſoll? Wenn wir uns aber weiter um¬
ſehen, ſo finden wir mit Vergnuͤgen, wie die Ex¬
treme ſich beruͤhren und im Umwenden Eines
in's Andere umſchlagen kann. Da iſt Ludwig
[393] Feuerbach, der beſtrickende Vogel, der auf einem
gruͤnen Aſte in der Wildniß ſitzt und mit ſeinem
monotonen, tiefen und claſſiſchen Geſang den
Gott aus der Menſchenbruſt wegſingt! Glaubt
man nicht ihn zu hoͤren, wenn wir die Verſe
leſen:


Ich bin ſo groß als Gott, Er iſt als ich ſo klein:

Er kann nicht uͤber mich, ich unter Ihm nicht ſein.

»Ferner:


Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben,

Werd' ich zunicht, er muß vor Noth den Geiſt aufgeben.

»Auch dies:


Daß Gott ſo ſelig iſt und lebet ohn' Verlangen,

Hat er ſowohl von mir, als ich von ihm empfangen.

Und wie einfach wahr findet man das Weſen
der Zeit beſungen, wenn man das Sinngedicht¬
chen lieſt: »Man muß ſich uͤberſchwenken.«


Menſch! wo du deinen Geiſt ſchwingſt uͤber Ort und Zeit,

So kannſt du jeden Blick ſein in der Ewigkeit.

»Beſonders aber dies: »Der Menſch iſt
Ewigkeit.«


[394]
Ich ſelbſt bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlaſſe

Und mich in Gott, und Gott in mich zuſammenfaſſe.

»Alles dies macht beinahe vollſtaͤndig den
Eindruck, als ob der gute Angelus nur heute zu
leben brauchte und er nur einiger veraͤnderter
aͤußerer Schickſale beduͤrfte, und der kraͤftige Got¬
tesſchauer waͤre ein eben ſo kraͤftiger und ſchwung¬
voller Nichtſchauer und Feuerbachianer!«


»Das wird mir denn doch zu bunt,« ſchrie
der Pfarrer, »aber Sie vergeſſen nur, daß es zu
Scheffler's Zeiten denn doch auch ſchon Denker,
Philoſophen und beſonders auch Reformatoren
gegeben hat, und daß, wenn eine kleinſte Ader
von Verneinung oder liberaler Humanitaͤt in
ihm geweſen waͤre, er ſchon vollkommen Ge¬
legenheit gehabt haͤtte, ſie auszubilden!«


»Sie haben Recht!« erwiederte Heinrich, »aber
nicht ganz in Ihrem Sinne. Was ihn abgehal¬
ten haͤtte und wahrſcheinlich noch heute abhalten
wuͤrde, iſt der Gran von Frivolitaͤt und Geiſt¬
reichigkeit, mit welcher ſein gluͤhender Myſticis¬
mus verſetzt iſt: dieſe kleinen Elementchen
wuͤrden ihn bei aller Energie des Gedankens
[395] auch jetzt noch im myſtiſchen Lager feſthalten!«

»Frivolitaͤt!« rief der Pfarrer, »immer beſſer!
Was wollen Sie damit ſagen?«


»Auf dem Titel,« verſetzte Heinrich, »benennt der
fromme Dichter ſein Buch mit dem Zuſatz: Geiſt¬
reiche Sinn- und Schlußreime. Allerdings bedeutet
das Wort geiſtreich im damaligen Sprachgebrauch
etwas Anderes als heut zu Tage; wenn wir aber das
Buͤchlein aufmerkſam durchgehen, ſo finden wir, daß
es in der That auch im heutigen Sinne etwas allzu
geiſtreich und zu wenig einfach iſt, ſo daß jene Be¬
zeichnung jetzt wie eine ironiſche, aber richtige Vor¬
bedeutung erſcheint. Dann ſehen Sie aber die
Widmung an, die Dedication an den lieben Gott,
worin der Mann ſeine huͤbſchen Verſe Gott dedicirt,
indem er ganz die Form nachahmt, ſelbſt im Drucke,
in welcher man dazumal großen Herren ein Buch
zu widmen pflegte, ſelbſt mit der Unterſchrift:
Sein Allezeit ſterbender Johannes Angelus. Be¬
trachten ſie den bitterlich ernſten Gottesmann,
den heiligen Auguſtinus, und geſtehen Sie auf¬
richtig, trauen Sie ihm zu, daß er ein Buch,
worin er das Herzblut ſeines religioͤſen Gefuͤhles
[396] ergoſſen, mit ſolch einer witzelnden, affectirten
Dedication verſehen haͤtte? Glauben Sie uͤber¬
haupt, daß es demſelben moͤglich geweſen waͤre,
ein ſo kokettes Buͤchlein zu ſchreiben, wie dies
eines iſt? Er hatte Geiſt ſo gut als Einer, aber
wie ſtreng haͤlt er ihn in der Zucht, wo er es mit
Gott zu thun hat. Leſen ſie ſeine Bekenntniſſe,
wie ruͤhrend und erbauend iſt es, wenn man ſieht,
wie aͤngſtlich er alle ſinnliche und geiſtreiche Bil¬
derpracht, alles Kokettiren, alle Selbſttaͤuſchung
oder Taͤuſchung Gottes durch das ſinnliche Wort
flieht und meidet. Wie er vielmehr jedes ſeiner
ſtricten und ſchlichten Worte unmittelbar an Gott
ſelbſt richtet und unter deſſen Augen ſchreibt, da¬
mit ja kein ungehoͤriger Schmuck, keine Illuſion,
keine Art von Schoͤnthun mit Unreinem hinein¬
komme in ſeine Geſtaͤndniſſe! Ohne mich zu ſol¬
chen Propheten zaͤhlen zu wollen, fuͤhle ich den¬
noch dieſen ganzen und ernſtgemeinten Gott, und
erſt jetzt, wo ich keinen mehr habe, bereue ich
mit ziemlicher Scham die willkuͤrliche und humo¬
riſtiſche Manier meiner Jugend, in welcher ich
in meiner vermeintlichen Religioſitaͤt die goͤtt¬
[397] lichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich
koͤnnte mich daruͤber nicht troͤſten und muͤßte
mich ſelbſt der Frivolitaͤt zeihen, wenn ich nicht
annehmen muͤßte, daß jene verbluͤmte und naiv
ſpaßhafte Art eigentlich nur die Huͤlle der voͤlli¬
gen Geiſtesfreiheit geweſen ſei, die ich mir endlich
erworben habe!«


Dortchen hatte das Buch inzwiſchen auch in
die Hand genommen und darin geblaͤttert. »Wiſ¬
ſen Sie, Herr Lee,« ſagte ſie und ſah ihn freund¬
lich an, »daß es mir ſehr wohl gefaͤllt, wie Sie
ein ſo richtiges ernſtes und ehrbares Gefuͤhl ha¬
ben auch fuͤr den Gott, den Andere glauben?
Dies iſt ſehr huͤbſch von Ihnen! Aber Himmel!
welch' ein ſchoͤner Vers iſt dies hier:


Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:

Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier.

Sie ſprang an's Clavier und ſpielte und ſang
aus dem Stegreif dieſe ſehnſuͤchtig lockenden
Worte, in geiſtlich choralartigen Maßen und
Tonfaͤllen, doch mit einem wie verliebt zitternden
durchaus weltlichen Ausdruck ihrer ſchoͤnen Stimme.

[]

Dreizehntes Kapitel.

Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:

Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier!

So klang es die ganze Nacht in Heinrich's
Ohren, der kein Auge ſchloß. Ein lauer Suͤd¬
wind wehte uͤber das Land, der Schnee ſchmolz
an ſeinem Hauche und tropfte unablaͤſſig von
allen Baͤumen im Garten und von den Daͤchern,
ſo daß das melodiſche Fallen der unzaͤhligen Tro¬
pfen eine Fruͤhlingsmuſik machte zu dem, was in
dem Wachenden vorging. Noch geſtern hatte er
geglaubt, mit ſeiner jetzigen verſchwiegenen Ver¬
liebtheit hoch uͤber Allem zu ſtehen, was er je
uͤber Liebe gedacht und empfunden, und nun
mußte er erfahren, daß er geſtern noch keine Ah¬
[399] nung hatte von der Veraͤnderung, die in dieſer
Nacht mit ihm vorging, und dieſe kurze Fruͤhlings¬
nacht enthielt gleich einem kraͤftigen Prolog ſchon
Alles, was er waͤhrend vieler Wochen nun er¬
leben und erleiden ſollte. Das Gattungsmaͤßige
im Menſchen erwachte in ihm mit aller Gewalt
und Pracht ſeines Weſens, das Gefuͤhl der Schoͤn¬
heit und Vergaͤnglichkeit des Lebens warf darein
eine beklemmende Angſt, daß die, welche alles
dies anrichtete und welche ihm ſo ganz nothwen¬
dig ſchien, um ferner zu leben, ihm ja gewiß
nicht werden wuͤrde. Denn er ehrte ſie, indem
er jetzt eine ganze Leidenſchaft zu empfinden be¬
gann, ſogleich ſo, daß er es nun entſchieden und
entſchloſſen verſchmaͤhte, ſie in ſeinen Gedanken
mit ſeiner Perſon zu behelligen, indem er, der
Welt gegenuͤber ſich keck und eroberungsluſtig fuͤh¬
lend, vor Dortchen eine gaͤnzliche Demuth und
Furcht empfand. Doch wechſelte die Furcht wohl
zwanzig Mal mit der Hoffnung, wenn er manche
freundliche Blicke, angenehme Worte und zuletzt
die Stimme bedachte, mit welcher ſie obigen
Fruͤhlingsvers geſungen; doch endete auch dieſer
[400] Wechſel mit gaͤnzlicher Hoffnungsloſigkeit, da er
ſchon in dem Stadium war, wo man einer
Schoͤnen, die man liebt, auch die leeren boͤs¬
willigen Freundlichkeiten und Koketterien verzeiht
und ſogar mit Dank hinnimmt, ohne eine Hoff¬
nung darauf zu bauen. Dieſes war nicht eine
ſentimentale Schwaͤche und Maͤdchenhaftigkeit,
ſondern es ruͤhrte gerade von der Kraft und
Tiefe der entfachten Leidenſchaft her und von
dem ehrlichen Ernſte, mit welchem er ſie empfand.
Denn wo es ſich um Alles handelt, um ein gro¬
ßes Gluͤck oder Ungluͤck, wird ein wohl eingerich¬
teter Mann mitten in der Leidenſchaft dennoch
Ruͤckſicht fuͤr zehn nehmen, und gerade weil es
ihm bitterer Ernſt iſt, gluͤcklich zu ſein und gluͤck¬
lich zu machen, ſo ſetzt er ſein Heil auf die
Karte der Hoffnungsloſigkeit, weil Liebe, wenn
ſie durch Hoffnungsloſigkeit ihr Spiel verliert,
nichts verloren hat, als ſich ſelbſt.


Am Morgen war er ſtiller als gewoͤhnlich
und ließ ſich nichts anſehen; doch war es nun
mit ſeiner Ruhe vorbei und mit der Arbeit jeg¬
[401] licher Art ebenfalls, denn ſo wie er etwas in die
Hand nehmen wollte, verirrten ſich ſeine Augen
in's Weite und alle ſeine Gedanken flohen dem
Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen
einzigen Augenblick zu verſchwinden, uͤberall um
ihn her ſchwebte, waͤhrend daſſelbe Bild zu glei¬
cher Zeit wie aus Eiſen gegoſſen ſchwer in ſei¬
nem Herzen lag, ſchoͤn, aber unerbittlich ſchwer.
Von dieſem Drucke war er nur frei, und zwar
gaͤnzlich, wenn Dortchen zugegen war; alsdann
war es ihm wohl und er verlangte nichts weiter
und ſprach auch wenig mit ihr. Damit war ihr
jedoch, als einem Weibe, nicht gedient. Sie fing
an, allerlei kleine Teufeleien zu veruͤben, an ſich
ganz unſchuldige Kindereien in Bewegungen oder
Worten, welche einem vermehrten guten Hu¬
mor zu entſpringen ſchienen, aber ebenſowohl taͤg¬
lich heller eine urgruͤndliche Anmuth und Beweg¬
lichkeit des Gemuͤthes verriethen, als auch mit
einer federleichten Wendung zeigten, daß ſie tau¬
ſend unergruͤndliche Ruͤcken unter den Locken
ſitzen hatte. Wenn nun erſt die offene und klare
Herzensguͤte, das was man ſo die Holdſeligkeit
lV. 26[402] am Weibe nennt, einen Mann gewinnt und gaͤnz¬
lich in Beſchlag nimmt, ſo bringen ihn nachher,
wenn er in ſeiner Einfalt entdeckt, daß die Ge¬
liebte nicht nur ſchoͤn, gut und huldvoll, ſondern
auch geſcheidt und nicht auf den Kopf gefallen
ſei, dieſe froͤhliche Bosheit des Herzens, dieſe
kindliche Tuͤcke vollends um den Verſtand und
um alle Seelenruhe, da es nun total entſchieden
ſcheint, ohne dieſe ſei das Leben fuͤrhin leer und
todt. So ging auch Heinrich abermals ein neues
Licht auf und es befiel ihn ein heftiger Schrecken,
nun ganz gewiß nie wieder ruhig zu werden, da
er gerade dies kurzweilige Frauenleben nicht ſein
nennen koͤnne. Denn wenn die Liebe nicht nur
ſchoͤn und tief, ſondern auch recht eigentlich kurz¬
weilig iſt, ſo erneut ſie ſich ſelbſt durch tauſend
kleine Zuͤge und Luſtbarkeiten in jedem Augen¬
blick das bischen Leben hindurch und verdoppelt
den Werth deſſelben, und nichts macht trauriger,
als ein ſolches Leben moͤglich zu ſehen, ohne es
zu gewinnen, ja die allertraurigſten Leute ſind
die, welche das Zeug dazu haben, recht luſtig zu
[403] ſein, und dennoch traurig ſein muͤſſen aus Man¬
gel an guter Geſellſchaft.


Wie nun Heinrich an dieſen Spielereien und
Neckereien aller Art ſich ſonnte, die oft in nichts
Anderem beſtanden, als daß Dortchen eine Muͤnze
oder Glas zum Tanzen brachte und gegen ihn
hin dirigirte, worauf er dem Gegenſtand einen
Naſenſtuͤber gab, daß er wieder zuruͤckflog, mußte
er ſich tauſendmal in Acht nehmen, ſie nicht drum
anzuſehen, wenn das Geldſtuͤck umgepurzelt war,
und uͤber dem kindiſch leichten Thun ſein ſchwe¬
res Geheimniß zu verrathen. Desnahen hielt er
ſich gewaltſam zuruͤck; aber das that ihm ſo weh,
daß er aus Verzweiflung unartig und launiſch
wurde und ſich die ſchoͤnſten Stunden unwieder¬
bringlich verdarb.


Nun glaubte er ſich zu heilen, wenn er ſich
Dortchens Gegenwart entzoͤge, und fing an, da
es erklaͤrter Fruͤhling war, fruͤh Morgens wegzu¬
gehen, ſich den ganzen Tag im Lande umherzu¬
treiben und erſt in der Nacht zuruͤckzukehren, wenn
ſchon Alles ſchlief. Nachdem er dies einige Tage
[404] zu ſeiner großen Qual gethan, trieb es ihn, Do¬
rotheen wieder zu ſehen und er fand ſich bei
Tiſch ein: aber er war nun ganz verſchuͤchtert,
und weil, wie man in den Wald ruft, es wider¬
toͤnt, ſo fing Dortchen auch an ſich zuruͤckzuhalten
und ſchien ſich nicht viel mehr daraus zu machen,
mit Heinrich zu verkehren. Stracks verzog er ſich
wieder in die Waͤlder und blieb drei Tage dort,
waͤhrend welcher er nur in der Nacht zuruͤckkehrte.
Das Holz fing ſachte an zu knoſpen und der braune
Boden bedeckte ſich ſchon vielfaͤltig mit Blumen.
Heinrich verkroch ſich an einem wilden ſteini¬
gen Abhange, der den ganzen Tag an der Sonne
lag, unter ein hohes Gebuͤſch, durch welches eine
klare Quelle rieſelte. Dort hockte er im Verbor¬
genen, ſtierte uͤber die duftigen Gehoͤlze und Fel¬
der weg nach dem glaͤnzenden Dache des Land¬
hauſes in weiter Ferne und gruͤbelte unaufhoͤrlich
uͤber ſein Unheil. Er fing an, ſich zu vergeſſen
und ſich nicht mehr zu beherrſchen; bisher hatte
er, als ein wohlgeſchloſſener junger Menſch, noch
nie laut gedacht oder vor ſich hin geſprochen;
jetzt zwitſcherte und fluͤſterte er unaufhoͤrlich, wo
[405] er ging und ſtand, und als er dies endlich ent¬
deckte, war es ihm ſchon zur unentbehrlichen Ge¬
wohnheit geworden und ſchaffte ihm einige Er¬
leichterung, weil die ſtille Luft wenigſtens ſeine
Gedanken hoͤren konnte, da ſonſt Niemand auf
der Welt dieſelben zu ahnen und zu errathen
ſchien. Selbſt der Graf befragte ihn gar nicht,
was er haͤtte, und that als ob er gar nichts be¬
merkte von Heinrich's veraͤndertem Weſen.


»O,« ſagte dieſer unter den Baͤumen, »was fuͤr
ein ungeſchickter und gefrorner Chriſt bin ich ge¬
weſen, da ich keine Ahnung hatte von dieſem leid¬
vollen und ſuͤßen Leben! Iſt dieſe Teufelei alſo
die Liebe? Habe ich nur ein Stuͤckchen Brot
weniger gegeſſen, als Anna krank war? Nein!
Habe ich eine Thraͤne vergoſſen, als ſie ſtarb?
Nein! Und doch that ich ſo ſchoͤn mit meinen
Gefuͤhlen! Ich ſchwur, der Todten ewig treu zu
ſein; hier aber waͤre es mir nicht einmal moͤg¬
lich, dieſer Treue zu ſchwoͤren, ſo lange ſie lebt
und jung und ſchoͤn iſt, da dies ſich ja von ſelbſt
verſteht und ich mir nichts Anderes denken kann!
Waͤre es hier moͤglich, daß meine Neigung und
[406] mein Weſen in zwei verſchiedene Theile ausein¬
ander fiele, daß neben dieſer mich ein anderes
Weib auch nur ruͤhren koͤnnte? Nein! Dieſe iſt
die Welt, alle Weiber ſtecken in ihr beiſammen,
ausgenommen die haͤßlichen und ſchlechten!


»Wenn dieſe ſchwer erkranken oder gar ſter¬
ben ſollte, wuͤrde ich alsdann im Stande ſein,
dem traurigen Ereigniß ſo kuͤnſtleriſch zuzuſehen
und es zu beſchreiben? O nein, ich fuͤhle es! Es
wuͤrde mich brechen wie einen Halm und die
Welt wuͤrde ſich mir verfinſtern, ſelbſt wenn ich
beſtimmt wuͤßte, daß ſie mich gar nicht leiden
mag! Und dennoch, welch' ein praktiſcher Kerl
bin ich geweſen, als ich ſo theoretiſch, ſo ganz
nach dem Schema liebte und ein gruͤnes Buͤrſch¬
chen war! Wie unverſchaͤmt hab' ich da gekuͤßt,
die Kleine und die Große, zum Morgen- und
Abendbrot! Und jetzt, da ich ſo manches Jahr
aͤlter bin und dieſe ſchoͤne und gute Perſon liebe,
wird es mir ſchon katzangſt, wenn ich nur daran
denke, ſie in unbeſtimmter Zeit irgendeinmal kuͤſ¬
ſen zu duͤrfen, o weh und doch moͤchte ich lieber
den Kopf in das Grab ſtecken, wenn dieſes mir
[407] nicht geſchehen kann! Nicht einmal weiß ich mehr
es anzufangen, ein Sterbenswoͤrtchen gegen ſie
hervorzubringen!«


Dann ſtarrte er wieder uͤber das Land hin¬
aus; doch kaum waren einige Minuten vergan¬
gen, waͤhrend welcher er neugierig eine Wolke
oder einen Gegenſtand am Horizonte betrachtet
oder auch ein ſchwankendes Gras zu ſeinen Fuͤ¬
ßen, ſo kehrten die Gedanken wieder zu ihrer al¬
ten Laſt zuruͤck, denn Dortchens goldenes hartes
Bild lag ſo ſchwer in ſeinem Herzen, daß es
ein Loch in ſelbes zu reißen drohte und nicht
erlaubte, daß die Gedanken laͤnger anderswo
ſpazieren gingen.


Obgleich er im Grunde dies gern litt und
geſchehen ließ, ſo gedachte er doch nicht, ſich dar¬
an aufzureiben, und begann, andere Saiten auf¬
zuziehen, indem er endlich beſtimmt und deutlich
feſtzuſtellen ſuchte, daß Dorothea gewiß nichts
fuͤr ihn fuͤhlte, und daß ja auch gar kein ver¬
nuͤnftiger Grund vorhanden ſei, das etwa ſich
einzubilden. Er muſterte ihr Betragen durch
[408] und beſtaͤrkte ſich ſchmerzlich in dieſer unerbauli¬
chen Anſicht, da er ganz muͤrbe und demuͤthig
geworden war und jetzt nicht das geringſte Lie¬
benswuͤrdige an ſich fand. So bitter dieſer ſelbſt¬
gemiſchte Trank anfangs zu trinken war, ſo brachte
er doch einige Ruhe zuruͤck, in Folge derer die
eingeſchlafene Vernunft auch wieder auftauchte
und den Aufgeregten in ihre kuͤhlenden Arme
nahm.


Was dem Einen recht, iſt dem Andern billig,
und wie du mir, ſo ich dir, ſind die zwei golde¬
nen Spruͤche auch in Liebeshaͤndeln, wenigſtens
bei geſunden und normalen Menſchen, und die
beſte Kur fuͤr ein krankes Herz iſt die unzweifel¬
hafte Gewißheit, daß ſein Leiden nicht im Min¬
deſten getheilt wird. Nur eigenſinnige, ſelbſtſuͤch¬
tige und krankhafte Verfaſſungen laufen Gefahr,
ſich aufzuloͤſen, wenn ſie durchaus nicht geliebt
werden von denen, auf die ſie ihr Auge gewor¬
fen. Aber was haͤtte ſein koͤnnen und nicht ge¬
worden iſt, macht wirklich ungluͤcklich, und kein
Troſt hilft, daß die Welt weit ſei und hinter
dem Berge auch noch Leute wohnen; denn nur
[409] das Gegenwaͤrtige, was man kennt, iſt heilig
und troͤſtlich, und es iſt jammerſchade um jedes
todtgeborene Lebensgluͤck.


Da nun der verliebte Heinrich bei ſich aus¬
gemacht hatte, daß Dortchen gar nicht an ihn
denke, ward er um Vieles ruhiger und befand ſich
am ſechſten Tage ſeines Lebens in der Wildniß
ſchon ſo weit, daß er daruͤber rathſchlagen konnte,
ob er, zum Danke fuͤr ihre Liebenswuͤrdigkeit und
Schoͤnheit, es ihr ſagen wolle oder nicht. Er ge¬
dachte ſich im erſten Falle wieder auf einen unbe¬
fangenen und guten Fuß mit ihr zu ſetzen, und
ihr alsdann gelegentlich, eh' er abreiſte und wenn
ſie einmal recht artig gegen ihn waͤre, lachend
und manierlich zu geſtehen, welchen Rumor ſie
ihm angerichtet, und ihr zugleich zu ſagen, ſie
ſollte ſich nicht im Geringſten darum kuͤmmern, er
habe es ihr nur ſagen wollen, um ihr vielleicht
eine kleine Freude zu machen, die ſie ſo ſehr ver¬
diene; im Uebrigen ſei nun Alles wieder gut und
er wohl und munter! Vor Spott und Schaden¬
freude war er ſicher bei ihr, jedoch tauchte ihm
ſogleich die Beſorgniß aus, man duͤrfte am Ende
26 *[410] ein ſolches Geſtaͤndniß doch fuͤr eine verkappte
ernſtliche Liebeserklaͤrung und angelegte Schlau¬
heit anſehen. Dieſe Idee machte ihn ſogleich wie¬
der traurig, da er nun es doch verſchweigen mußte,
und wie er dies einſah, ſchien es ihm erſt unmoͤg¬
lich zu ſein und ſeine Gemuͤthsruhe nur dann
wieder erreichbar, wenn er ſein beſtandenes Unge¬
witter bekennen durfte, am liebſten der Erregerin
deſſelben ſelbſt. Auch ſchien ihr dieſe Kunde durch¬
aus von Rechtswegen zu gebuͤhren und Heinrich
war ihr ſo gut, daß er ihr ohne allen Eigennutz
nicht das Geringſte entziehen mochte, was ihr zu¬
kam. Daher rief er endlich: »Ich ſag' es ihr
doch!« Aber dann fuͤrchtete er wieder, es moͤchte
dennoch ein Mißverſtaͤndniß hervorgerufen werden
und er endlich unter einem ſchlimmen Eindruck
aus dem Hauſe abziehen muͤſſen, und er rief wie¬
der: »Nein! Ich ſag' es doch nicht! Was geht
es ſie an?« Endlich nahm er ein flaches rundes
Steinchen aus dem klaren Baͤchlein, das auf einer
Seite roſenroth und auf der anderen Seite milch¬
weiß gefaͤrbt war mit blauen Aederchen, und warf
ſelbiges in die Hoͤhe. Wenn die rothe Seite oben
[411] laͤge, wollte er reden, wenn die weiße, wollte er
ſchweigen. Die weiße Seite lag oben und Hein¬
rich war wieder ganz ungluͤcklich, als ſie da in
der Sonne glaͤnzte. »Ach,« fluͤſterte er, »dies iſt
nichts! wer wird Alles auf Einen Wurf wagen?
dreimal will ich werfen und dann gewiß nicht
mehr!« Und er warf wieder und abermals weiß.
Zoͤgernd und ſeufzend warf er zum dritten Mal,
da glaͤnzte es roth und eben ſo roth ward ſein
Geſicht und eine unausſprechliche Freude ſtrahlte
auf demſelben, »O nun will ich es ihr ſagen!«
ſagte er, und ein Stein fiel ihm vom Herzen und
er dachte, nun waͤre Alles gut.


Der Herzenskundige wird hier wohl bemerken,
daß dieſe Froͤhlichkeit nur von der leiſen Hoff¬
nung herruͤhrte, welche ſich in Heinrich's Vorſatz
mit einſchlich, und daß er, ohne es zu wollen, den¬
noch im Begriffe war, jene Schlauheit zu begehen,
welche er ſich nicht zu Schulden wollte kommen
laſſen.


Es war gerade Sonnabend und der Tag naͤ¬
herte ſich ſeinem Ende. Er nahm ſich alſo vor,
noch bis in die Nacht umherzuſtreifen und am
[412] Sonntag Morgen dann guter Dinge zu ſein, wie¬
der ein unbefangenes Geſicht zu machen und, ſo¬
bald ſich der guͤnſtige Augenblick boͤte, ihr unter
Scherz und Lachen ſein Bekenntniß abzulegen
mit der gemeſſenſten Aufforderung, daß ſie ſich
gar nichts daraus machen und die Sache einzig
wie eine kleine Morgenerheiterung aufnehmen
ſolle. Der arme Teufel, wie er ſich ſelbſt belog!

Der Sonntagmorgen gerieth wunderſchoͤn,
der reine Himmel lachte durch alle Fenſter in das
helle Haus und der Garten bluͤhte ſchon an allen
Enden. Heinrich war wirklich guter Dinge und
putzte ſich ſorgfaͤltiger heraus als gewohnt; er
verlor den Muth nicht, da er ſich einbildete, nichts
erreichen zu wollen, ſich allein wie ein Kind auf
die herzliche Plauderei freuend, die er ihr vormu¬
ſiciren wollte, und ſich davon ein reines und un¬
getruͤbtes Gluͤck und ein ruhiges Leben verſpre¬
chend. Und es fielen ihm tauſend Narrheiten in
den Sinn, welche er dazwiſchen flechten wollte,
um Dortchen zu ergoͤtzen, damit ſie ja nicht die
mindeſte Unruhe oder Betruͤbniß verſpuͤren ſollte.
So war er in der roſigſten Laune und das Herz
[413] klopfte ihm ſtark und lebendig, und indem ihm
fortwaͤhrend neue Witze einfielen, uͤber die er la¬
chen mußte, traten ihm zugleich Thraͤnen in die
Augen, ſo ſehr freute er ſich darauf, ihr nun end¬
lich gegenuͤber zu ſein und mit ihr zu plaudern.


Aber es fand ſich, daß Dortchen ſchon am
Sonnabend viele Meilen weit weggefahren war,
um eine Freundin zu beſuchen, und wenigſtens drei
Wochen lang wegbleiben wollte. Hilf Himmel!
welch' ein Donnerſchlag! Der ganze ſchoͤne Sonn¬
tagsfruͤhling in Heinrich's Bruſt war mit einem
Zuge weggewiſcht, die Narrheiten und Witze
tauchten unverweilt ihre Koͤpfe ſpurlos unter die
Fluth der dunkelſten Geſinnung und der blaue
Himmel ward ſchwarz wie die Nacht vor Hein¬
rich's Augen. Das Erſte, was er that, war, daß
er wohl zwanzigmal den Weg vom Garten nach
dem Kirchhofe hin und zuruͤck ging, und er druͤckte
ſich dabei genau an die Kante des Pfades, an
welcher Dortchen hinzuſtreifen pflegte mit dem
Saum ihres Gewandes. Aber auf dieſen Statio¬
nen brachte er weiter nichts heraus, als daß das
alte Elend mit verſtaͤrkter Gewalt wieder da war
[414] und alle Vernunft wie weggeblaſen. Das Ge¬
wicht im Herzen war auch wieder da und druͤckte
fleißig darauf los.


Dieſe drei Wochen glaubte Heinrich nicht er¬
leben zu koͤnnen und beſchloß, ſich ſobald als moͤg¬
lich fortzumachen. Er zwang ſich deshalb zur Ar¬
beit, ſo gut es gehen wollte. Zum Gluͤck war
dieſelbe vor dem Liebeswetter ſchon ſoweit gedie¬
hen, daß es nur der fortgeſetzten Anſtrengung we¬
niger Tage bedurfte, um zu Ende zu ſein; allein wenn
Heinrich unter bitteren Schmerzen eine Stunde
gemalt hatte, mußte er die Pinſel wegwerfen und
in den Wald hinauslaufen, um ſich wieder zu ver¬
bergen; denn unter den Menſchen wußte er nicht,
wo er hinſehen ſollte. So brauchte er dennoch
volle drei Wochen, bis er fertig war, und dieſe
ſchienen ihm volle drei Jahre zu dauern, waͤhrend
welcher er tauſend Dinge und doch immer ein
und daſſelbe lebte und dachte. Wenn es ſchoͤnes
Wetter war, ſo machte ihn der blaue Himmel
und der Sonnenſchein noch tauſendmal ungluͤckli¬
cher und er ſehnte ſich nach Dunkelheit und Re¬
genguͤſſen, und traten dieſe ein, ſo hoffte er auf
[415] den Sonnenſchein, der ihm helfen wuͤrde. Ueber¬
dies begann er allerlei Unſtern zu haben, da er
fortwaͤhrend zerſtreut war. So trat er eines Ta¬
ges fehl, als er einen ſteilen Klippenpfad herun¬
terſteigen wollte, und torkelte wie ein Sinnloſer
uͤber die Felſen hinunter, daß er nicht wußte, wie
er unten ankam, und ihm die Sinne vergingen
Dies kraͤnkte und ſchaͤmte ihn ſo heftig, daß er
elendiglich zu weinen anfing. Ein andermal eilte
und klomm er haſtig den Berg hinauf, immer
hoͤher, um weiter in das Land hinauszuſehen, als
ob er alsdann Dortchen entdecken koͤnnte, und
als er endlich ganz oben angelangt und ſie nir¬
gends ſah, legte er ſich auf den Boden und
ſchluchzte jaͤmmerlich und das Unwetter tobte ſo
heftig in ihm, daß es ihn emporſchnellte und her¬
umwarf, wie eine Forelle, die man in's gruͤne
Gras geworfen hat und die nach Waſſer ſchnap¬
pet. Wiederum ein andermal ſetzte er ſich auf
einen verlaſſenen Pflug, welcher in einer angefan¬
genen Ackerfurche lag, und machte ein truͤbſeliges
Geſicht; denn er begriff nicht, wie Jemand noch
Freude daran finden koͤnne, zu pfluͤgen, zu ſaͤen
[416] und zu aͤrnten, und er machte allem Lebendigen
umher Leerheit, Nichtigkeit und Seelenloſigkeit
zum Vorwurf, da er Dortchen nicht hatte. Da
ſchlenkerte ein vergnuͤgt grinſender Feldluͤmme[l]
daher, der ein irdenes Kruͤglein an einem
Stricke uͤber der Schulter trug, ſtand vor ihm
ſtill, gaffte ihm in das betruͤbte Geſicht und fing
endlich an, unbaͤndig zu lachen, indem er ſich mit
dem Aermel die Naſe wiſchte. Schon das arme
Kruͤglein that Heinrich weh in den Augen
und im Herzen, da es ſo ſtillvergnuͤgt und un¬
verſchaͤmt am Ruͤcken dieſes Burſchen baumelte;
wie konnte man ein ſolches Kruͤgelchen umhertra¬
gen, da Dortchen nicht im Lande war? Da nun
der grobe Geſell nicht aufhoͤrte dazuſtehen, und
ihm in's Geſicht zu lachen, ſtand Heinrich auf,
trat weinerlich und leidvoll auf ihn zu und ſchlug
ihm dergeſtalt hinter das Ohr, daß der arme
Kerl zur Seite taumelte, und ehe der ſich wieder
faſſen konnte, pruͤgelte Heinrich all' ſein Weh auf
den fremden Ruͤcken und ſchlug ſich an dem bre¬
chenden Kruge die Hand blutig, bis der Feldluͤm¬
mel, welcher glaubte, der Teufel ſei hinter ihm
[417] her, ſich aus dem Staube machte und erſt aus
der Entfernung anfing, mit Steinen nach dem
tollen Heinrich zu werfen. Langſam ging dieſer
davon und bedeckte ſeine uͤberſtroͤmenden Augen
mit beiden Haͤnden. Solche Kunſtſtuͤcke trieb er
nun und der Himmel mochte wiſſen, wo er ſie
gelernt hatte.


Endlich aber ſtellte ſich von dem andauern¬
den Druck des beſagten goldenen Bildes ein blei¬
bender koͤrperlicher Schmerz auf der linken Seite
ein, der erſt nur ganz leiſe war und ſich nur all¬
maͤlig bemerklich machte. Als ihn Heinrich endlich
entdeckte und von der gewohnten Beklemmung unter¬
ſchied, fuhr er unablaͤſſig mit der Hand uͤber die Stelle,
als ob er wegwiſchen koͤnnte, was ihm weh that.
Da es aber nicht weg ging, ſagte er: So ſo, nun
hat's mich!« denn er dachte, dieſes waͤre nun das
wirkliche und wahrhaftige Herzeleid, an welchem
man ſtuͤrbe, wenn es nicht aufhoͤrte. Und er wun¬
derte ſich, daß alſo das bekannte Herzweh, wel¬
ches in den Balladen und Romanzen vorkommt,
in der That und Wahrheit exiſtire und gerade ihn
betreffen muͤſſe. Erſt empfand er faſt eine kin¬
IV. 27[418] diſche Schadenfreude, wie jener Junge, welcher ſagte,
es geſchehe ſeinem Vater ganz recht, wenn er ſich
die Hand erfroͤre, warum kaufe er ihm keine
Handſchuhe. Doch dann ſchlug dies Vergnuͤgen
wieder in Traurigkeit um, als er ſich ernſtlicher
bedachte und befand, daß nun gar keine Rede
mehr davon ſein koͤnne, Dortchen etwas zu ſagen,
da die Sache bedenklich wuͤrde und ihr Sorgen
und Befangenheit erwecken muͤßte.


Er ſuchte jetzt ſein Waͤldchen wieder auf am
Berge, das indeſſen ſchoͤn gruͤn geworden war
und von Vogelſang ertoͤnte. Auf dem Baume,
unter dem Heinrich den ganzen Tag ſaß, war
ein Staar und guckte, wenn er genug Wuͤrmchen
gefreſſen hatte, zuthulich auf ihn herunter und
ſtieg jeden Tag um einen Aſt naͤher herab. Waͤh¬
rend nun Heinrich daruͤber nachſann, wie dieſer
Kummer alles Andere, was ihn ſchon gequaͤlt,
weit hinter ſich laſſe, wie das Leid der Liebe ſo
ſchuldlos ſei, denn was habe man gethan, daß
Einem ein anderes Weſen ſo wohl gefalle? und
dennoch ſo unertraͤglich und bitter und unvernuͤnf¬
tig und Einen zu Grunde zu richten vermoͤge,
[419] und waͤhrend er ſich jedoch vornahm, daß dies
nicht geſchehen ſolle und er ſich ſchon ſeiner Haut
wehren wolle, ſprach er nichts mehr, als immer
den gleichen Seufzer: »O Dortchen, Dortchen —
Dortchen, Dortchen Schoͤnfund! Wenn du wuͤßteſt,
wie mir es ergeht!« und dies ſo oft, daß eines
ſchoͤnen Morgens uͤber ſeinem Kopfe unverſehens
eine ſeltſame Stimme rief: »O Dortchen, Dort¬
chen Schoͤnfund! Wenn du wuͤßteſt, wie mir es
ergeht!« Dies war der Staar, der dieſe Worte
gemaͤchlich auswendig gelernt und nun jedesmal
damit fortfuhr, wenn Heinrich eine Weile ge¬
ſchwiegen, ſo daß ſie nun unablaͤſſig in dem gruͤ¬
nen Buſch ertoͤnten. Manchmal, wenn Hein¬
rich nur abgebrochen Dortchen rief und wieder
ſchwieg, ſang der Staar: »Dortchen:?« worauf
Heinrich antwortete: »Ja, Dortchen iſt nicht
Hierchen!« Oder wenn er bloß ſeufzte: »Wenn
du wuͤßteſt!« ſo rief der Vogel nach einem Weil¬
chen: »Wie mir es ergeht!«


Es erging ihm aber auch ſo ſchlimm, daß er
ſich nach Dorotheens Wiederkehr ſehnte, bloß um
eine aͤußerliche Veraͤnderung zu erfahren und ſie
27 *[420] noch einmal zu ſehen, um dann unverzuͤglich fort¬
zugehen. Als er gerade am letzten Abend der
drei Wochen ſich in's Haus begab, hoffte er nicht,
daß ſie ſchon da ſein wuͤrde, ſah aber ſchon vom
Garten her, daß Licht in ihrem Zimmer war, und
erfuhr, daß ſie ſchon am Nachmittage puͤnktlich
angekommen ſei. Sogleich befand er ſich um Vie¬
les beſſer und ſchlief wieder einmal ziemlich gut,
ohne von ihr zu traͤumen, da ſie ſonſt immer ihm
im Traume erſchienen war. Dies hatte ihn auch
immer ſo gequaͤlt, wenn die Getraͤumte ihm durch¬
aus wohlgeneigt nahte, ein leiſes guͤtiges Wort fluͤ¬
ſterte oder ihn freundlich anſah, und er dann nach dem
Erwachen nicht faſſen und begreifen konnte, war¬
um es nicht wahr ſein und er nicht zu ſeinem
ertraͤumten Rechte kommen ſollte, als ob die Gute
fuͤr das verantwortlich waͤre, was er traͤumte.


Am Morgen erklang ſchon fruͤh ihre Stimme
durch das Haus; ſie ſpielte und ſang wie eine
Nachtigall an einem Pfingſtmorgen, und das
Haus war voll Leben und Froͤhlichkeit. Heinrich
wurde zum Fruͤhſtuͤck eingeladen, um die Wieder¬
gekehrte zu begruͤßen. Haſtig und mit klopfendem
[421] Herzen ging er hin; aber ſie war ſo luſtig und
aufgeweckt, daß der Erznarr ſogleich wieder trau¬
rig wurde, da ſie auch gar nichts zu merken ſchien
von dem, was mit ihm vorging.


Dennoch wirkte ihre Gegenwart ſo wohl¬
thuend auf ihn, daß er ſich zuſammennahm, nicht
mehr weglief, und ſich ſtill und beſcheiden verhielt,
ohne viel Worte zu verlieren, allein darauf be¬
dacht, bald fortzukommen. Aber ſie machte ihm
dies nicht ſo leicht, ſondern trieb hundertfachen
Muthwillen, der ihn immer wieder aufregte und
ſtoͤrte, wobei ſie ſich immer an Andere wandte
und vorzuͤglich Apolloͤnchen dazu brauchte, welche
fuͤr ſie kichern und lachen mußte, ſo daß Heinrich
nie wußte, wem es gelten ſollte, und hundertmal
in Verſuchung gerieth, die Kleine beim Kopf zu
nehmen und zu ſagen: »Du Gaͤnschen, was willſt
denn Du


Endlich wurden zwei große Kiſten gebracht,
in welche die fertigen Bilder gepackt wurden.
Heinrich ſchickte den Tiſchler fort und nagelte die
Kiſten ſelber zu auf dem Hausflur, um nur etwas
auszutoben. Er ſaß bitterlich wehmuͤthig auf dem
[422] Deckel und trieb die Naͤgel mit zornigen Schlaͤ¬
gen in das Holz, daß das Haus davon wider¬
hallte; denn mit jedem Nagel, den er einſchlug,
nahm er ſich gewiſſer vor, am naͤchſten Tage fort¬
zugehen, und ſo duͤnkte es ihn, als nagle er ſei¬
nen eigenen Sarg zu. Aber nach jedem Schlage
ſchallte ein klangreiches Gelaͤchter oder ein froͤhlicher
Triller aus den oberen Gaͤngen des Hauſes, die
Maͤdchen jagten hin und her und ſchlugen die
Thuͤren auf und zu. Dies bewirkte, daß Hein¬
rich auf ſein Zimmer ging und gleich auch den
Reiſekoffer packte. Als er damit fertig war, ging
er hoͤchſt ſchwermuͤthig, aber gefaßt, in's Freie
und nach dem Kirchhofe; dort ſetzte er ſich auf
eine Bank und hoffte, Dortchen werde etwa her¬
kommen und er wenigſtens einige Minuten noch
allein und ohne Bosheit bei ihr ſitzen koͤnnen, um
ſie noch einmal recht anzuſehen. Sie kam auch
richtig nach einer Viertelſtunde herangerauſcht,
aber von der Gaͤrtnerstochter und dem großen
Haushunde begleitet. Da entfernte er ſich eiligſt,
glaubend, ſie hatten ihn noch nicht geſehen, und
lief hinter die Kirche. Als er dort die Maͤdchen
[423] wieder ſprechen und lachen hoͤrte, ging er in der
Verwirrung in das Pfarrhaus hinein, das ganz
in der Naͤhe war, und traf den Pfarrer eſſend
am Tiſche ſitzen, uͤber den die Nachmittagsſonne
friedlich wegſchien. Heinrich ſetzte ſich zu ihm
und ſah ihm zu. »Ich eſſe hier mein Veſperbroͤd¬
chen,« ſagte der Pfarrer, wollen Sie nicht mithal¬
ten?« — »Ich danke,« erwiederte Heinrich, »wenn
Sie erlauben, ſo will ich Ihnen ſonſt ein wenig
Geſellſchaft leiſten!« — »Das ſind mir junge Leute
heut zu Tage,« ſagte der Hochwuͤrdige, »das hat
ja gar keinen ordentlichen deutſchen Appetit mehr!
Na, die Gedanken ſind auch danach, da kann frei¬
lich nicht viel Anderes herauskommen, als Nichts
und aber Nichts!« Der Pfarrer merkte nicht, wie
materialiſtiſch er ſich mit dieſer ſpeiſeluſtigen Rede
ſelbſt in's Geſicht ſchlug, ſondern war eifrig mit
der großen Schuͤſſel beſchaͤftigt, die vor ihm ſtand.
Dieſelbe enthielt viele Anhaͤngſel eines friſch ge¬
ſchlachteten Schweines, naͤmlich die Ohren, die
Schnauze und den Ringelſchwanz, Alles ſoeben
gekocht und dem Geiſtlichen lieblich in die Naſe
duftend. Er pries das aufgethuͤrmte Gericht als
[424] unuͤbertrefflich an einfacher Zartheit und Unſchuld
und trank einen tuͤchtigen Krug braunen klaren
Bieres dazu.


Als Heinrich fuͤnf Minuten traurig dageſeſſen
und dem Paſtor zugeſehen hatte, klopfte es an
der Thuͤr und Dorothea trat, nur von dem ſchoͤ¬
nen Hunde begleitet, anmuthig und hoͤflich herein
und ſchien aber ein ganz klein bischen befangen
zu ſein. »Ich will die Herren nicht ſtoͤren,« ſagte
ſie, »ich wollte Sie nur bitten, Herr Pfarrer, heute
Abend bei uns zu ſein, da Herr Lee morgen fort¬
reiſt; Sie ſind doch nicht abgehalten?« — »Gewiß
werde ich kommen, erwiederte der Pfarrer, der
ſich ſchon wieder geſetzt hatte, »bitte, mein Liebſter,
holen Sie doch einen Stuhl fuͤr das Fraͤulein!«
Heinrich that dies mit großer Herzensfreude und
ſtellte einen zweiten Stuhl an den Tiſch, ſich ge¬
genuͤber. »Danke ſchoͤn!« ſagte Dortchen, freund¬
lich laͤchelnd und zierlich vor ſich nieder ſehend,
indem ſie Platz nahm. Nun war Heinrich doch
gluͤckſelig, da er in der ſonnigen und wohnlichen
Pfarrersſtube ihr gegenuͤberſaß und ſie ſich ſo
gutmuͤthig und ſtill verhielt. Der Pfarrer, ob¬
[425] gleich er fortaß, ſprach immer, und die beiden
Leutchen brauchten ihm nur zuzuhoͤren, indeß der
Hund mit feurigen Augen und offenem Maule
nach der Schuͤſſel ſtarrte. »Ach, der arme Hund,
wie es ihn geluͤſtet,« ſagte Dortchen, »eſſen Sie
dies auch, Herr Pfarrer? oder erlauben Sie, daß
ich es ihm gebe?« Sie zeigte hierbei auf das
krumme Schwaͤnzchen, das ſich manierlich auf
dem Rande der Schuͤſſel darſtellte. »Dies Sau¬
ſchwaͤnzchen?« ſagte der Pfarrer, »nein, mein
Fraͤulein! das koͤnnen Sie ihm nicht geben, das
eſſ'ich ſelbſt! Warten Sie, hier iſt was fuͤr ihn!«
und er ſetzte dem gierigen Thiere einen Teller
vor, in welchen er allerlei Knoͤchelchen und Knor¬
pelwerk geworfen hatte. Dortchen und Heinrich
ſahen ſich unwillkuͤrlich einander an und mußten
laͤcheln, nicht uͤber den Pfarrer aus Spott, ſon¬
dern weil ſeine vergnuͤgte und ſelbſtzufriedene
Freude an dem Sauſchwaͤnzchen ſo luſtig war.
Auch der Hund, der ſich eifrig und begierig mit
ſeinen Knorpeln unterhielt, vermehrte durch ſeine
Behaglichkeit die gute Stimmung der jungen
Leute. Dortchen ſtreichelte ihm den Kopf, als
[426] Heinrich ihm den Ruͤcken ſtreichelte, und als ſie
mit ihrer Hand achtlos der ſeinigen zu begegnen
Gefahr lief, wich er ihr aus, wofuͤr ſie ihn, ir¬
gend eine gleichguͤltige Frage benutzend, um ſo
freundlicher anſah.


Am offenen Fenſter bluͤhte ein Apfelbaum und
weiße Schmetterlinge flogen in die Stube, und
als es nun gar ſo lieblich war da zu ſitzen der
Lieblichen gegenuͤber, konnte Heinrich nicht anders,
als er mußte ſich den Pfarrer noch hinweg den¬
ken, die Stube zu ſeiner eigenen machen und ſich
vorſtellen, als waͤre Dortchen ſeine junge Frau
und ſaͤße an einem ſolchen Mainachmittage am
weiß gedeckten Tiſche herzensallein ihm gegenuͤber
Heiß werdend und verlegen ſtreichelte er wieder
den Hund, und nun fiel ihm ploͤtzlich ein, wie er
vor Jahren mit dem ganz jungen Maͤdchen ja
ſchon einmal gemeinſchaftlich einen Hund gelieb¬
koſt habe, ohne zu ahnen, daß es je wieder be¬
gegnen wuͤrde. »Nun iſt ſie groß und ſchoͤn ge¬
worden,« dachte er, was er freilich ſchon am er¬
ſten Tage Gelegenheit hatte zu bemerken, »und
wenn abermals eine Reihe von Jahren dahin iſt,
[427] ſo wird ſie dem Alter entgegengehen und zuletzt
dem Tode! Iſt es moͤglich, daß dies Weſen und
dieſe Lieblichkeit vergehen ſoll?« Es ergriff ihn
heftiges Leiden um ſie und es ſchien ihm beim
Himmel nicht moͤglich und nicht moͤglich zu ſein,
daß ſie anders als in ſeinen Armen gluͤcklich und
zufrieden alt werden koͤnne! Er fuͤhlte, daß ihm
ſogleich die Augen uͤbergehen wuͤrden, ſtand auf
und ſagte: »Ich muß gehen, ich habe noch viel
zu thun.« Er verbeugte ſich verzweifelt, Dortchen
ſtand uͤberraſcht auf und verbeugte ſich ebenfalls,
und dies war ſehr komiſch und wehmuͤthig, da
Beide bei dem einfachen Tone, der in dem Hauſe
herrſchte, ſich laͤngſt nicht mehr gegeneinander ver¬
beugt hatten, ſondern ſich aufrecht begruͤßten.


Heinrich lief in die Kirche hinein, um ſich
zu verbergen, und da dort ein altes Muͤtterchen
knieete und ihr Vaterunſer betete, ſo fluͤchtete er in
die Sakriſtei und ſetzte ſich dort in einen dunklen
Winkel, um unaufhaltſam zu weinen und zu
ſchluchzen. Werfe Niemand einen Stein auf ihn,
weil er ſchwach war; denn dieſe Schwaͤche war
nur der Gegenpol und die Kehrſeite der Tiefe
[428] und Kraft, mit welcher er das Leben zu empfin¬
den faͤhig wurde in dieſem Hauſe, und nur wer
den heißen Sonnenſchein, die leuchtende Trocken¬
heit des Gluͤckes recht voll und anhaltend zu er¬
tragen berufen iſt, wird ſolcher Schwaͤche theil¬
haftig, wenn die Sonne ſich verhuͤllt. So ſaß
er eine gute halbe Stunde und es war ihm ſo
elend zu Muthe, wie noch gar nie in ſeinem Le¬
ben. Denn Alles ging ihm durch den Sinn, was
er wollte und hoffte, und formte ſich ſaͤmmtlich in
das Bild des einzigen Dortchens, dem zu Ehren
und zu Lieb' er allein Alles thun und erleben
mochte, was ihm irgend beſchieden war.


Die Sakriſtei war der aͤlteſte Theil der ziem¬
lich anſehnlichen Kirche und beſtand aus einer ur¬
alten Kapelle, die zuerſt auf dieſem Platze geſtan¬
den. Es war ein dunkles romaniſches Gewoͤlbe,
deſſen Fenſter zum großen Theil vermauert waren,
und man hatte hier viele Gegenſtaͤnde hingebracht
und aufgeſtapelt, welche im Laufe der Zeit den
Raum in der eigentlichen Kirche beengt.


Vorzuͤglich aber ragte ein großes Grabmal
hervor von ſchwarzem Marmor, auf welchem, aus
[429] dem gleichen Stein gehauen, ein langer Ritter
ausgeſtreckt lag, die Haͤnde auf der Bruſt gefal¬
tet. An ſeiner linken Seite, auf dem Kranze des
Sarkophags, ſtand eine verſchloſſene Buͤchſe von
Erz, reich gearbeitet und mittelſt einer ehernen
Kette an dem Marmor befeſtigt. Sie enthielt
das vertrocknete Herz des Ritters, und ſein Wap¬
pen war auf ihr eingegraben. Die Buͤchſe und
die feine Kette waren gaͤnzlich oxydirt und ſchiller¬
ten ſchoͤn gruͤn im Zwielicht der Sakriſtei. Das
Grabmal aber gehoͤrte, laut den Hausberichten,
einem franzoͤſiſchen Ritter an, welcher von wilder
und heftiger, aber ehrlicher und verliebter Natur
geweſen und deſſen Herz, als er vor allerhand
Unſtern und Frauenmißhandlung fluͤchtig herum¬
zog, in dieſer Gegend gewaltſam gebrochen war
Dies war zu Anfang des ſechszehnten Jahrhun¬
derts geſchehen und ſeine Familie hatte hier, wo
er in den letzten Tagen gepflegt worden, das
Grabmal errichten laſſen. Daſſelbe vor Augen
ſaß Heinrich nun da in ſeinem Winkel zwiſchen
alten Tabernakeln und Proceſſionsgeraͤthſchaften,
als er hoͤrte, daß wieder Leute in die Kirche tra¬
[430] ten. Es ſchienen zwei Frauenzimmer zu ſein, und
bald unterſchied er Dortchens und Apolloͤnchens
Stimme, die mit einander leiſe ſprachen. Sie
ſchienen diesmal nicht zu lachen, ſondern angele¬
gentlich etwas zu berathen. Doch bald war ihnen
der Ernſt zu lang und ſie kamen in die Sakriſtei
hereingehuſcht, indem Dortchen rief: »Komm', wir
wollen den verliebten Ritter beſehen!« Sie ſtell¬
ten ſich dicht vor das Grabmal und gafften dem
ſtarren Rittersmann neugierig in das dunkle ehr¬
liche Geſicht. »O Gott! ich fuͤrchte mich!« fluͤ¬
ſterte Apolloͤnchen, »wir wollen hinausgehen!« – –
»Warum denn, Naͤrrchen?« ſagte Dortchen laut,
»der thut Niemand was zu Leid! Sieh, wie es
ein guter Kerl iſt!« Sie nahm das erzene Gefaͤß
in die Hand und wog es bedaͤchtig; aber ploͤtzlich
ſchuͤttelte ſie es, ſo ſtark ſie konnte, auf und nie¬
der, daß das arme todte Herz darin zu hoͤren
war und die Kette dazu erklang. Sie athmete
heftig, war roth wie eine Roſe im Geſicht und
ihr ſchoͤner Mund lachte und zeigte die weißen
Zaͤhne »Sieh die Klappernuß! Hoͤre die Klap¬
pernuß!« rief ſie, »da! klappre auch einmal!«
[431] Sie druͤckte dem zitternden Apolloͤnchen die Herz¬
buͤchſe in die Haͤnde; aber dieſes ſchrie aͤngſtlich
auf, ließ die Buͤchſe fallen, und Dortchen fing
ſie gewandt auf und klapperte abermals damit.


Heinrich, von deſſen Gegenwart ſie keine Ah¬
nung hatten, ſah ganz erſtaunt zu. »Wart, du
Teufel!« dachte er, »dich will ich ſchoͤn erſchre¬
cken!« Er wiſchte ſich die Augen trocken, ſtieß
einen hohlen Seufzer aus und ſprach mit trauri¬
ger Zitterſtimme, welche er gar nicht zu verſtellen
brauchte, und in altem Franzoͤſiſch: »Dame, s'il
vous plaist
, laissez cestuy cueur en repos
Erbleichend und mit einem Doppelſchrei flohen
die Maͤdchen aus der Sakriſtei und Kirche wie
beſeſſen, und zwar Dortchen voraus, welche mit
einem elaſtiſchen Satz uͤber Schwelle und Stufen
der Kirchenthuͤr hinausſprang, ſchneebleich, aber
immer noch lachend, ihr Kleid zuſammennahm
und uͤber den Kirchhof wegeilte, bis ſie eine Gar¬
tenbank fand, auf welche ſie ſich warf. Bebend
lief das erſchreckte Apolloͤnchen hinter ihr drein,
und fluͤchtete ſich an ihre Seite, ſich kaum faſſend.
Dortchen, deren Geſicht faſt ſo weiß war, wie
[432] die Zaͤhne, athmete hoch auf, lehnte ſich zuruͤck
und hielt die Haͤnde um die Kniee geſchlungen.
»O Gott, es hat geſpukt! das iſt mein Tod!«
rief Apolloͤnchen, und Dortchen ſagte: »Ja wohl,
es ſpukt, es ſpukt!« und lachte wie eine Tolle.
»Du Gottloſe, fuͤrchteſt Du Dich nicht ein Bis¬
chen? Klopft Dein Herz nichtzehnmal ſtaͤrker, als
Du das Herz da drin geruͤttelt haſt?« — »Mein
Herz?« erwiederte Dortchen, »ich ſage Dir, es iſt
guter Dinge!« — »Was hat es denn gerufen,«
ſagte Apolloͤnchen und hielt ſich beide Haͤnde an die
eigene pochende Herzſeite, »was hat das franzoͤ¬
ſiſche Geſpenſt geſagt?« — Fraͤulein! hat es ge¬
ſagt, wenn es Euch gefaͤllt, ſo macht dies Herz zu
Eurem Nadelkiſſen! Geh wieder hin und ſag,
wir wollten uns bedenken, ob es uns gefiele!«

Eine Stunde ſpaͤter war Dortchen allein auf
ihrem Zimmer, das ſie abgeſchloſſen hatte, und
war eifrig damit beſchaͤftigt, ein Koͤrbchen mit
Naſchwerk zurecht zu machen fuͤr den Nachtiſch.
Sie hatte naͤmlich die Gewohnheit, immer ein
ſolches Koͤrbchen unter ihrem Verſchluß zu hal¬
ten, das mit feinem Zuckerwerk angefuͤllt war
[433] und das ſie in buntes Papier wickelte, nachdem
ſie eine ſelbſt geſchriebene Deviſe dazu gelegt.
Hierzu verwendete ſie ſchoͤne und grazioͤſe Verſe
aus allen Sprachen und alten und neuen Dich¬
tern, am liebſten kleine gute Sinngedichte, welche
geeignet waren, angenehme und witzige Vorſtel¬
lungen zu erregen und eine heitere Froͤhlichkeit zu
verbreiten. Auch trieb ſie allerhand Schwank da¬
mit, indem ſie oft zwei verſchiedene Zeilen aus
verſchiedenen Dichtern zu einem Diſtichon zuſam¬
menfuͤgte, ſo daß man glaubte Bekanntes zu le¬
ſen und doch nicht klug daraus wurde, indeſſen
die neue zierliche Wendung, der entgegengeſetzte
Sinn, welchen das Unbekannt-bekannte abgab,
ergoͤtzte und vielfaͤltig in die Irre fuͤhrte. Dort¬
chen wickelte jetzt raſch und nachdenklich den gan¬
zen Vorrath auf, warf die alten Zettelchen bei
Seite, und ſchrieb auf neue Streifchen feinen Pa¬
pieres zwanzig oder dreißig mal daſſelbe Sinnge¬
dicht eines alten ſchleſiſchen Poeten. Dann wi¬
ckelte ſie dieſe Zettel mit dem Zuckerwerke wieder
ein, wozu ſie neues, nur weißes Papier nahm,
ſchloß ihre Thuͤre wieder auf und trug ihr Koͤrb¬
IV. 28[434] chen nach dem huͤbſchen Schraͤnkchen, das ſie im
Familienzimmer ebenfalls unter ihrem Verſchluß
hatte.


Heinrich hatte unterdeſſen endlich ausgetobt,
die Schluchzerei, deren er ſich ſchaͤmte, und der
Scherz hatten ihn erleichtert und ruhiger gemacht
und er nahm ſich nun zum allerletzten Mal be¬
ſtimmt vor, Dortchen gut zu ſein, ohne an et¬
was Weiteres zu denken noch ſich zu bekuͤmmern
und ſeine Gedanken nach anderen Dingen und
nach ſeiner Zukunft zu richten. Desnahen war
er ziemlich zufrieden am Abendtiſch und weil er,
als der Abreiſende, der Gegenſtand des Geſpraͤ¬
ches war, ſeine Zukunft mit Wohlwollen beſpro¬
chen wurde und außerdem der Graf, als ſich von
ſelbſt verſtehend, erklaͤrte, abermals mit ihm zu
zu reiſen nach der Hauptſtadt, da Heinrich das
nicht gehofft hatte, ſo befand er ſich zuletzt ſo
gluͤcklich und luſtig wie je und lachte Dortchen
freundſchaftlich an, als ſie endlich mit ihrem Koͤrb¬
chen zu ihm trat.


»Heut bekommen Sie zum letzten Mal ein
[435] Bonbon von mir!« ſagte ſie, »ſuchen Sie ſich ein
recht gutes aus!«


Heinrich ſuchte unbefangen einige Sekunden
lang und nahm doch das erſte beſte, was ihm
in die Haͤnde kam, da er es vorzog, die Spende¬
rin inzwiſchen anzuſehen, da dies auch ein letztes
Bonbon war. Als er das Ergriffene aufmachte
und den Zettel las, erroͤthete er und vermochte
nicht denſelben laut zu leſen, denn es ſtand dar¬
auf:


Hoffnung hintergehet zwar,

Aber nur, was wankelmuͤthig;

Hoffnung zeigt ſich immerdar

Treugeſinnten Herzen guͤtig;

Hoffnung ſenket ihren Grund

In das Herz, nicht in den Mund!

Der Pfarrer nahm das Papier und las das
Gedicht. »Allerliebſt!« rief er, »ſehr huͤbſch! Sie
haben eine allerliebſte Deviſe zum Abſchied be¬
kommen. Laſſen Sie ſehen, Fraͤulein Dortchen!
was ich zum Dableiben erhalten werde!« Er
griff begierig nach dem Koͤrbchen, denn es juckte
ihn auf der Zunge, etwas Suͤßes darauf zu legen.
Dortchen zog aber das Koͤrbchen weg und ſagte:
28 *[436] »Naͤchſten Sonntag bekommen Sie was zum Da¬
bleiben, Herr Pfarrer! Heute bekommt nur der,
welcher geht!« Heinrich ſah ſie verwirrt und
zweifelhaft an, die aufregenden Verſe im Herzen;
aber mit der unergruͤndlichen Halbheit der Wei¬
ber ſtand ſie da und verzog keine Miene. Raſch
verſchloß ſie den Korb wieder in den Schrank
und der arme Heinrich hatte keine Vermuthung,
daß in allen dreißig Bonbons die gleichen Worte
ſtanden.

[]

Vierzehntes Kapitel.

Der Wagen ſtand in aller Fruͤhe bepackt und
bereit; Dortchen begleitete die Abreiſenden bis
an denſelben, umgeben von den uͤbrigen Leuten,
ſowie auch Apolloͤnchen und der alte Gaͤrtner
herbeikamen. Heinrich gab den zutraulichen Dienſt¬
leuten allen die Hand und zuletzt auch der Do¬
rothea, welche ihm freundlich die ihrige gab und
nun ſagte: »Adieu, Herr Lee!« Von Wiederſehen
oder dergleichen ſagte ſie gar nichts; ebenſo wenig
als Heinrich, und ſo fuhren der Graf und er
raſch von dannen.


Die Bilder kamen in zwei Tagen nach und
waren bald zur oͤffentlichen Ausſtellung hergerich¬
tet. Der Graf beſchaͤftigte ſich ſo munter mit
der Sache, als ob er ſelbſt der Kuͤnſtler waͤre,
[438] und hatte die groͤßte Freude daran, uͤberall dabei
zu ſein und ſeinen Schuͤtzling zu bevormunden.
Wie er es gewuͤnſcht, ſo kam es auch, als die
Bilder endlich in dem Saale hingen, wo die
Kuͤnſtler und die wohlhabenden Liebhaber ab und
zu gingen. Sie ſprangen ziemlich anſpruchsvoll
in die Augen, hielten aber die erregte Aufmerk¬
ſamkeit tapfer aus; alte Bekannte wunderten ſich
uͤber das ploͤtzliche Auftauchen des verſchollenen Hein¬
rich, und druͤckten ihm mit Achtung und aufrichtigen
Gluͤckwuͤnſchen die Hand; der Graf unterließ nicht,
vornehm ausſehende Herren und Damen vor die Bil¬
der zu fuͤhren, ſo daß ſich der Beifall herumſprach,
und immer ein Truͤppchen elegantes Publikum davor¬
ſtand, kurz Heinrich konnte nun doch noch mit Ehren
und mit leichtem Sinne von dem Handwerk ſchei¬
den und dieſer Abſchied erhielt dadurch einen vol¬
leren und ſchwereren Gehalt. Als Heinrich end¬
lich bei den Aufſehern der Saͤle den Preis der
Bilder angeben wollte, draͤngte ſich der Graf da¬
zwiſchen und ſchrieb den betreffenden Zettel ſelbſt
auf. Aber er ſchrieb eine ſo ausgiebige Summe
hin, daß Heinrich laut auflachte und rief: »Da
[439] werden wir lange warten koͤnnen, bis wir die
Fahnen an den Mann bringen!« — »Das werden
wir ſchon ſehen,« erwiederte der Graf, »nur nicht
bloͤde, mein Freund!« Und in der That wurden
die Bilder in einigen Tagen gekauft, aber vom
Grafen ſelbſt, ohne das Heinrich es wußte; denn
er ließ den Kauf unter fremdem Namen vor ſich
gehen und abſchließen, und zwar nicht, um Hein¬
rich eine Art Geſchenk aufzudraͤngen, ſondern weil
er die zwei Landſchaften, welche er veranlaßt und
entſtehen geſehen, ſelber beſitzen wollte und ſchon
ihren Platz in ſeinem Hauſe angeordnet hatte.


Nun haͤtte Heinrich endlich ohne Hinderniß
nach ſeiner Heimath und zu ſeiner Mutter eilen
koͤnnen; allein wie er ſich dazu anſchickte, begeg¬
neten ihm noch zwei Abenteuer, die ihn ganz ver¬
ſchieden betrafen. Ein alter Bekannter aus der
Zeit, da Heinrich mit Ferdinand Lys und Erik¬
ſon umgegangen, welcher von ſeinem Wiederauf¬
tauchen gehoͤrt, ſuchte ihn auf und gab ihm einen
Brief des Ferdinand, welcher ſchon vor Monaten
aus Palermo gekommen war fuͤr Heinrich, und
von Hand zu Hand ging, ohne beſtellt werden
[440] zu koͤnnen. Zugleich theilte er ihm mit, daß
neueren Nachrichten zufolge der Schreiber des
Briefes ſeither geſtorben ſei, ohne jedoch etwas
Naͤheres von den Verhaͤltniſſen zu wiſſen.


Heinrich erſchrak und ahnte Schlimmes! er
ließ daher den Ueberbringer erſt fortgehen, ehe er
den Brief oͤffnete; dann aber that er ihn auf
und las:


»Lieber Heinrich! Nachdem ich mich die
Jahre her leidlich herumgeſchleppt, muß ich
naͤchſtens nun endlich doch noch ſterben an dem
Stich, den Du mir ſo tapfer verſetzt. Ich
thue Dir dies ſelbſt noch kund, um Dir zu¬
gleich zu ſagen, daß Du mir zwar ein freund¬
liches Andenken bewahren, aber die Sache Dich
nicht etwa zu ſehr angreifen laſſen moͤgeſt. Es
waͤre mir eine Bitterkeit, zu denken, daß Du
nur einen Tag lang deswegen ungluͤcklich wer¬
den duͤrfteſt; denn was geſchehen iſt, iſt ſowohl
meine Schuld, wie Deine, und da ich zufrie¬
den und gluͤcklich ſterbe und mit mir im Reinen
bin, ſo iſt weiter gar nichts zu ſagen, als noch
[441] einmal: ich hoffe Du werdeſt ſo klug ſein und
Dich meinen Tod nicht anfechten laſſen! Ich habe
ſeither viel an Dich gedacht und bin ein foͤrm¬
licher Philoſoph geworden! Nach meiner Be¬
rechnung, die ich angeſtellt, mußt Du jetzt aus
der Thorheit auch heraus ſein, wozu ich Dir
Gluͤck wuͤnſche! Lebe wohl, liebe die Welt, ſie iſt
ſchoͤn, und denke nur mit vollkommen ruhigem
Sinn an Deinen treuen Freund! Der lange Erik¬
ſon iſt ſchon zweimal hier bei mir geweſen. Er
hat einen großen Schacher und Handel ange¬
legt und faͤhrt auf einem eigenen Dampfſchiffe,
das er ſelber ſteuert, in der halben Welt herum
und ſeine Frau geht ihm nicht von der Seite.
Wenn dieſer Brief Dich trifft, ſo ſchreibe mir,
wie es Dir ergeht! Trifft er Dich nicht, ſo iſt
es auch gut, denn alsdann bleibt Dir hoffent¬
lich die ganze Affaire unbekannt!«


Heinrich gab den Brief dem Grafen, ohne
etwas zu ſagen. Der Graf las ihn und beob¬
achtete Heinrich aufmerkſam waͤhrend einer Stunde,
ohne daß ſie etwas uͤber die Sache ſprachen.
[442] Endlich aber ſagte der Graf: »Nun, wie iſt Ih¬
nen zu Muth? Wie nehmen Sie dieſen Brief
auf!« Ohne Verzug erwiederte Heinrich: »Ganz
wie er geſchrieben iſt ! Ich wuͤrde ihm eben ſo
geſchrieben haben, wenn Ferdinand mich getoͤdtet
haͤtte! Uebrigens vermuthe ich, daß bei dieſer
Gelegenheit der letzte Reſt von Willkuͤrlichkeit und
Narrheit aus mir ſchwindet.«


Noch am gleichen Tage wurde er durch eine
gerichtliche Behoͤrde, die ſchon lange nach ihm
gefahndet, ausfindig gemacht und hinbeſchieden.
Als er dort war und ſich als rechtmaͤßiges Ich
ausgewieſen hatte, ward ihm eroͤffnet, wie jenes
todte Troͤdelmaͤnnchen ihn zu ſeinem Erben ein¬
geſetzt habe. Verwundert hoͤrte Heinrich die Vor¬
leſung des Teſtamentes an, nach welchem der
fahrende Kram des Verſtorbenen gerichtlich ver¬
kauft, und erſt dann dem eingeſetzten Erben der
letzte Wille bekannt gemacht und die vorhandene
Baarſchaft eingehaͤndigt werden mußte. Man
hatte aber in einem alten ſilbernen Becher von
maͤchtiger Groͤße, der mit einem Deckel verſehen
war, einen ganzen Schatz in Gold und oͤffentli¬
[443] chen Papieren vorgefunden, was ein ordentliches
buͤrgerlichem Vermoͤgen ausmachte und kein Menſch
hinter dem Alten geſucht haͤtte. Dieſer ſonder¬
bare Becher ſtand jetzt auf dem gruͤnen Tiſche
des Gerichtszimmers, wurde umgeſtuͤrzt und der
Inhalt dem Erben vorgezaͤhlt. Außerdem haͤn¬
digte man ihm einen Brief des Verſtorbenen ein,
welcher mit kaum leſerlicher Schrift auf grobes
Papier geſchrieben, folgendermaßen lautete:


»Du haſt mich boͤslich verlaſſen, mein Soͤhn¬
chen, und biſt nie wieder zu mir gekommen,
doch kenn' ich Dich wohl und vermache Dir
mein Biſchen Erſpartes, weil ich keine Bluts¬
verwandten habe. Hoffentlich wirſt Du daſſel¬
bige richtig erhalten; es ſoll das Loͤhnchen ſein
fuͤr die Fahnenſtecken, ſo Du angemalet; denn
dazumal, wie ich Dich bei dieſer Arbeit ſahe,
habe ich es mir vorgenommen und wuͤnſche ich
ſomit, daß es nicht zu ſpaͤt komme, um Dir
einen Beitrag und Anlaß zu geben, wie Du
Dich im Kleinen als einen treulichen Verwal¬
ter gezeigt haſt, es auch in betraͤchtlicheren
[444] Dingen zu ſein; Du kannſt es wohl, wenn
Du es willſt und nicht eigenſinnig biſt. Das
Geldchen iſt nicht ohne alle Schlauheit, aber
je dennoch auf ganz ehrlichem Weg erworben
und iſt Niemand Unrecht geſchehen, ſo daß Du
den Segen mit Anſtand verwenden magſt, wie
Dir gut duͤnkt. Fuͤr den Fall, daß Du die
Kuͤnſtlerei etwa verabſchiedet haͤtteſt, habe ich
verordnet, daß mein Troͤdel verkauft wird, da¬
mit Du Deine alten Sachen nicht wieder zu
Geſicht bekommſt. Dies beduͤnkte mich naͤm¬
lich zweckmaͤßig und gut, und hiermit bin ich
nun froh, mein Erſpartes, was mir viel Spaß
machte, da die Leute ſo verſchlafen und ſpa߬
haft ſind, noch an den Mann gebracht zu ha¬
ben, und wenn ich hierdurch mir das freund¬
ſchaftliche Gedaͤchtniß eines braven und geſchick¬
ten Menſchen erkauft habe, der Gott weiß in
welcher Himmelsgegend luſtig in die zukuͤnftige
Zeit hineinlebet, ſo habe ich noch ein gutes
Geſchaͤft gemacht und meinen Nutzen erreicht,
und hiemit lebe wohl, mein Maͤnnchen.«

Nachdem den gerichtlichen Anſtalten Genuͤge
[445] geſchehen, zog Heinrich ab mit ſeinem Brief und
Becher; in den Gaͤngen des weitlaͤufigen Gerichts¬
hauſes, wo eine Menge bekuͤmmerter oder erbo¬
ſter Streitfuͤhrender auf und niederging oder auf
Baͤnken ſaß, Verklagte und Anklaͤger, Schuldner
und Glaͤubiger, ſtellte er einen armen Kerl an,
der ſich melancholiſch da umhertrieb, und gab ihm
den ſchweren Becher zu tragen. Wie er durch
die belebte Stadt vor dem Traͤger hereilte und
oft durch mehrere Menſchen von ihm getrennt
war, luͤftete dieſer neugierig den Deckel und
guckte, was darinnen waͤre. Als er das Gold
ſah, beſchloß er, mit dem Schatz zu entwiſchen,
da ſeine armen verhungerten Gedanken nicht wei¬
ter gingen, als die eines Hundes, der einen Bra¬
ten ſieht. Er wollte nur warten, bis Heinrich
ein- oder zweimal ſich nach ihm umgeſehen, wo
er dann ein vergnuͤgtes und biederes Geſicht ma¬
chen wollte, ruͤſtig einherſchreitend, jedoch unmittel¬
bar nach dem zweiten oder dritten Umſehen wollte
er auf die Seite ſpringen und ſich im Wirrſal
verlieren, da er dann auf mehrere Minuten ſicher
war. Da ſich aber Heinrich gar nicht nach ihm
[446] umſah und er immer darauf wartete, ſo wurde
er an ſeiner That ſeltſam verhindert, immer nach
dem Vorgaͤnger hinſtarrend, und er gerieth in
einen wunderlichen Bann, daß er nichts unter¬
nehmen konnte und der Weg zuruͤckgelegt war,
eh' er das Mindeſte ausgerichtet; denn ploͤtzlich
blieb Heinrich unter der Thuͤr des Gaſthofes ſte¬
hen, wandte ſich um und nahm ihm den Becher
ab, indem er ihm eine Goldmuͤnze aus demſel¬
ben gab.


»Nun hab' ich ja Geld wie ein Kornhaͤndler!«
ſagte Heinrich zu dem Grafen, der ſeiner harrte,
ſetzte den Sparbecher des Alten vor ihn auf den
Tiſch, erzaͤhlte ihm die Geſchichte und zeigte ihm
auch den Brief.


»Seh' Einer an!« ſagte der Graf, »ich hielt
die alte Zipfelkappe immer fuͤr einen Kauz; daß
er aber ſolche Ideen hinter den Ohren haͤtte, ſah
ich ihm doch nicht an!«


»Es iſt aber doch eine ſonderbare Sache,« er¬
wiederte Heinrich, ein ſolches gefundenes Gut zu
haben und zu thun, als ob es Einem von Recht-
und Verdienſteswegen gehoͤrte!«

[447]

»Gefunden!« ſagte der Graf, »wie kommen
Sie nur dazu, ſich wieder ſo zu zieren? Sie
ſind ein weſentlicher Menſch, und aus Ihrem
Weſen heraus haben Sie die Staͤngelchen bemalt
oder die Spirallinie gezogen, wie Sie ſich aus¬
druͤcken. Hundert Andere haͤtten gerade das nicht
gethan und nicht auf die Art gethan wie Sie,
und dies hat der Alte ſehr richtig bemerkt, ſo
daß Ihr eigenes Weſen das Gluͤck, wie wir es
immerhin nennen wollen, anzog und bezwang.
Gluͤck aber iſt nicht unanſtaͤndig, Gluͤck braucht
jeder Geſchaͤftsmann, auch der, welcher ſein gu¬
tes Menſchenweſen in den Verkehr ſetzt! Aber
nun machen Sie, daß Sie fortkommen, ſonſt
fangen Sie mir wieder an zu ſpintiſiren und ſich
zu zieren! Dieſen Becher, der ein altes tuͤchti¬
ges Stuͤck Geraͤth iſt, geben Sie mir mit zum
Andenken! Vorher aber wollen wir einen guten
Abſchied daraus trinken und auch den Alten le¬
ben laſſen!«


Sie ließen ein paar Flaſchen ſtarken Weines
kommen; Heinrich warf den Inhalt des Gefaͤßes
heraus und ſchwenkte das Gefaͤß aus, der Graf
[448] trocknete es mit frohem Sinn und einem friſchen
Handtuch ſorgfaͤltig ab, und nun goſſen ſie die
erſte Flaſche in den Becher und tranken denſelben
zum Andenken an den todten Alten.


Beim zweiten Becher aber ſagte der Graf:
»Nun wollen wir auch Bruͤderſchaft trinken und
uns fortan mit Du anreden, denn wir wollen
uns getreu bleiben und gute Freunde ſein!«


Heinrich wurde ganz roth und ſah tief in den
Becher hinein, ohne es zu wagen, das edle An¬
erbieten ſeines Freundes anzunehmen, noch auch,
es abzulehnen, da zum erſten Mal ein viel aͤlte¬
rer und ganzer Mann, deſſen Haare ſchon ergrau¬
ten, ihm ſolches anbot. Endlich aber gewann er
durch den Werth, welcher durch des Mannes Ver¬
trauen und Freundſchaft in ihn gelegt wurde,
einen guten Muth und er gab dem Grafen die
Hand und ſah ihn an; doch erſt nach einem
Weilchen des gleichmuͤthigen und ruhigen Ge¬
ſpraͤches brachte er auch endlich das Du uͤber die
Lippen, ſo gleichſam im Vorbeigehen brachte er
es beſcheiden doch tapfer an, daß der Graf laͤ¬
chelte und ihn beim Kopf kriegte.

[449]

Der aͤltere Freund reiſte noch am ſelben Tage
auf ſein Gut zuruͤck und der juͤngere machte ſich
endlich am naͤchſten Morgen auf den Heimweg.
Es widerſtrebte ihm, den alten geraden Weg,
den er unter wechſelndem Geſchick ſchon ſo oft
zur Haͤlfte zuruͤckgelegt, abermals anzutreten, und
reiſte daher in einem Bogen durch Suͤddeutſch¬
land auf die Stadt Baſel zu. Er war nun ge¬
rade ſieben Jahre abweſend; dies duͤnkte ihn, ſo
ſchnell ſie auch voruͤbergeſchwunden, jetzt eine Ewig¬
keit, da ihm mit einemmale, als er ſich dem Va¬
terlande naͤhern ſollte, Alles ſchwer auf's Herz
fiel, was ſich in demſelben begeben, ohne daß er
den allerkleinſten Theil daran hatte. Noch ſchwe¬
rer fiel ihm die Mutter auf's Gewiſſen, die er
nun endlich wiederſehen ſollte, und in die Freude
und Hoffnung uͤber das Wiederſehen miſchte ſich
eine ſeltſame Beklemmung und Furcht, wenn er
ſich die Veraͤnderung dachte, welche mit ihrem
aͤußeren Ausſehen vorgegangen ſein mußte, und
er fuͤhlte die Flucht und das Gewicht dieſer ſie¬
ben Jahre tief mit fuͤr die alternde Mutter.
Seit ſeine erſte Heimreiſe ſo romantiſch unter¬
lV. 29[450] brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬
freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an
ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald
als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner
wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu
ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬
fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er
an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬
ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig
als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬
ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an
die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen,
da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß
Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge
gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬
tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner
Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn,
der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt
und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen
Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬
ſes Gefuͤhl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem
Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬
ſehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie
[451] wenn er einer ſtrengen Richterin entgegenginge,
die ihn um ihn und ſein Leben zur Verantwor¬
tung zoͤge.


Zugleich bemerkte er, ſobald er einen Tag
lang wieder ganz allein geweſen, daß unverſehens
der heilloſe Druck von Dortchens Bild, der ſo
lange er mit dem Grafen noch froͤhlich beiſam¬
men war, ſich nicht hatte verſpuͤren laſſen, wieder
in ſeiner Bruſt ſaß, und er mußte nun fuͤrchten,
daß dies nie wieder wegginge, ohne daß er etwas
dazu thun konnte.


Und zwar war es nun diesmal ſo, da er
ſonſt ganz gefaßt und ruhig war, daß es ihm
das Herz zuſammenſchnuͤrte, ohne daß er beſon¬
ders an ſie dachte, und wenn er ganz beſchaͤftigt
mit anderen Dingen war, ſo wartete der verbor¬
gene Herzdruͤcker und harrte freundſchaftlich aus,
bis Heinrich ſich an die Urſache erinnerte und
uͤber ſie ſeufzte.


Um dieſer Dinge willen war er froh, einen
maͤßigen Umweg zu machen, um ſich nur erſt ein
wenig zurechtzufinden, da ihm nun das Wider¬
ſehen der Mutter wichtiger war, als wenn er vor
[452] eine Koͤnigin haͤtte treten muͤſſen, und er doch
mit Ruhe und Unbefangenheit ankommen wollte.

So gelangte er an einem ſchoͤnen Junimor¬
gen in die alte ſchoͤne Stadt Baſel und ſah den
Rhein wieder fließen, voruͤber an dem alten
Muͤnſter. Schon alle Straßen, die nach der
Stadt fuͤhrten, waren mit Tauſenden von Fuhr¬
werken und Wagen bedeckt, welche eine unzaͤhlige
Menſchenmenge aus allen Gauen, ſowie aus
dem Franzoͤſiſchen und Deutſchen nach Baſel tru¬
gen; die Stadt ſelbſt aber war ganz mit Gruͤn
bedeckt und mit roth und weißen Tuͤchern, Flag¬
gen und Fahnen, die von allen Thuͤrmen wehten.
Denn es wurde heute die vierhundertjaͤhrige
Jubelfeier der Schlacht bei St. Jakob an der
Birs begangen, wo tauſend Eidgenoſſen zehntau¬
ſend Feinde todtſchlugen und deren vierzigtauſend
von den Landesgraͤnzen abhielten durch den eige¬
nen Opfertod, waͤhrend im Schooße des Vater¬
landes der Buͤrgerkrieg wuͤthete. Am gleichen
Tage ward auch das große eidgenoͤſſiſche Schuͤ¬
tzenfeſt eroͤffnet, welches alle zwei Jahre wieder¬
kehrt und dazumal in Baſel den hoͤchſten bishe¬
[453] rigen Glanz und Gehalt erreichte, da es gegen¬
uͤber der alten kraftloſen Tagſatzung das politi¬
ſche Rendez-vous des Volkslebens war in einer
gaͤhrenden Umwandlungszeit.


So ſtieß Heinrich gleich beim Eintritt in's
Land mitten auf ſeine rauſchende und grollende
Bewegung, und ohne auszuruhen ging er mit
den hunderttauſend Zuſchauern auf das Schlacht¬
feld hinaus und wieder zuruͤck in die reiche Stadt,
welche mit ihren zahlreichen ſilbernen und golde¬
nen Ehrengefaͤßen den Wirth machte. Doch mit
dem Mittage raͤumte die geſchichtliche Feier der
Vergangenheit der treibenden Gegenwart den
Platz ein, und unter der großen Speiſehuͤtte des
Schießplatzes aßen ſchon an dieſem erſten Mittag
fuͤnftauſend waffenkundige Maͤnner zuſammen,
indeſſen am andern Ende des Platzes auf eine
unabſehbare Scheibenreihe ein Rottenfeuer eroͤff¬
net wurde, welches acht Tage lang anhielt, ohne
einen Augenblick aufzuhoͤren. Dies war kein
blindes Knattern wie von einem Regiment Sol¬
daten, ſondern zu jedem Schuſſe gehoͤrte ein
wohlzielender Mann mit hellen Augen, der in
[454] einem guten Rocke ſteckte, ſeiner Glieder maͤchtig
war und wußte was er wollte.


Inmitten der hoͤlzernen Feſtſtadt, deren Ord¬
nung, Gebrauch und Art trotz aller Luftigkeit
herkoͤmmlich und feſtgeſtellt war und ihre eigene
Architektur erzeugt hatte, ragten drei monumen¬
tale Zeichen aus dem Wogen der Voͤlkerſchaft
die das große Viereck ausfuͤllte. Ganz in der
Mitte die ungeheure gruͤne Tanne, aus deren
Stamm ein vielroͤhriger Brunnen ſein lebendiges
Waſſer in eine weite Schale goß. In einiger
Entfernung davon ſtand die Fahnenburg, auf
welche die Fahnen der ſtuͤndlich ankommenden
Schuͤtzengeſellſchaften geſteckt, und unter deren
Bogen dieſelben begruͤßt und verabſchiedet und
die letzten Handſchlaͤge, Vorſaͤtze und Hoffnungen
getauſcht wurden. Auf der andern Seite der
Tanne war der Gabenſaal, welcher die Preiſe
und Geſchenke enthielt aus dem ganzen Lande,
ſowie von allen Orten diesſeits und jenſeits des
Oceans, vom Geſtade des Mittelmeeres, von uͤber¬
all wo nur eine kleine Zahl wanderluſtiger, er¬
werbsfroher Schweizer ſich aufhielt oder die Ju¬
[455] gend auf fernen Schulen weilte. Der Geſammt¬
werth erreichte diesmal eine groͤßere Hoͤhe, als
fruͤher je, und das Silbergeraͤth, die Waffen und
andere gute Dinge waren maſſenhaft aufgethuͤrmt.

Waͤhrend nun in den Stuben der Doctrinaͤre,
in den Saͤlen der Staatsleute vom alten Metier
und in der Halle des Bundes von Anno funfzehn
das politiſche Fortgedeihen ſtockte und nichts anzu¬
fangen war, trieb und ſchoß daſſelbe in maͤchtigen
Keimen auf dieſem brauſenden toſenden Plan, uͤber
dem die vielen Fahnen rauſchten. Das Land
war mitten in dem Kampfe und in der Mauſer
begriffen, welche mit dem Umwandlungsproceſſe
eines Jahrhunderte alten Staatenbundes in einen
Bundesſtaat abſchloß und ein durchaus denkwuͤr¬
diger, in ſich ſelbſt bedingter organiſcher Proceß
war, der in ſeiner Mannigfaltigkeit, Vielſeitigkeit,
in ſeinen wohlproportionirten Verhaͤltniſſen und
in ſeinem erſchoͤpfenden Weſen die aͤußere Klein¬
heit des Landes vergeſſen ließ und ſich ſchlecht¬
weg lehrreich und erbaulich darſtellte, da an ſich
nichts klein und nichts groß iſt und ein zellen¬
reicher ſummender und wohlbewaffneter Bienen¬
[456] korb bedeutſamer anzuſehen iſt, als ein maͤchtiger
Sandhaufen.


Das erſte Jahrzehend, welches Anno dreißig
die Fortbildung zur freien Selbſtbeſtimmung oder
zu einem jederzeit berechtigten Daſein oder wie
man ſolche Dinge benennen mag, wieder aufgenom¬
men hatte, war unzureichend und flach verlaufen,
weil die humaniſtiſchen Kraͤfte aus der Schule des
vorigen Jahrhunderts, die den Anfang noch be¬
wirkt, endlich verklungen waren, ehe ein ausreichen¬
des Neues reif geworden, das fuͤr die ausdauernde
Einzelarbeit zweckmaͤßig und rechtlich, in ſeinen
Traͤgern friſch und anſtaͤndig ſich darſtellte. In
die Luͤcke, welche die Stockung hervorbrachte, trat
ſofort die vermeintliche Reaction, welche ihrer Art
gemaͤß ſich fuͤr hoͤchſt ſelbſtaͤndig und urſpruͤnglich
hielt, in der That aber nur dazu diente, dem
Fortſchritt einen Schwung zu geben, und es ihm
moͤglich machte, nach mehrjaͤhrigen Kaͤmpfen end¬
lich die ſichere und bewußte Mehrheit zu finden
fuͤr die neue Bundesverfaſſung. Es begann jene
Reihe von blutigen oder trockenen Umwaͤlzungen,
Wahlbewegungen und Verfaſſungsreviſionen, die
[457] man Putſche nannte und alles Schachzuͤge waren
auf dem wunderlichen Schachbrett der Schweiz,
wo jedes Feld eine kleinere oder groͤßere Volkes-
und Staatsſouveraͤnetaͤt war, die eine mit repraͤ¬
ſentativer Einrichtung, die andere demokratiſch,
dieſe mit, jene ohne Veto, dieſe von ſtaͤdtiſchem
Charakter, jene von laͤndlichem, und wieder eine
andere wie eine Theokratie ausſehend, und die
Schweizer bezeigten bald eine große Uebung in
dieſem Schachſpielen und Putſchen.


Das Wort Putſch ſtammt aus der guten
Stadt Zuͤrich, wo man einen ploͤtzlichen voruͤber¬
gehenden Regenguß einen Putſch nennt und dem¬
gemaͤß die eiferſuͤchtigen Nachbarſtaͤdte jede naͤrri¬
ſche Gemuͤthsbewegung, Begeiſterung, Zornigkeit,
Laune oder Mode der Zuͤricher einen Zuͤrichputſch
nennen. Da nun die Zuͤricher die Erſten waren,
die geputſcht, ſo blieb der Name fuͤr alle jene
Bewegungen und buͤrgerte ſich ſogar in die wei¬
tere Sprache ein, wie Sonderbuͤndelei, Freiſchaͤr¬
ler und andere Ausdruͤcke, die alle aus dem poli¬
tiſchen Laboratorium der Schweiz herruͤhren.


Der Zuͤrichputſch war aber eine religioͤſe Be¬
29 *[458] wegung geweſen, da der muͤßige Fortſchritt, ein¬
gedenk des Sprichwortes, daß Muͤßiggang aller
Laſter Anfang iſt, etwas an der Religion machen
wollte, wie die Bauern ſich ausdruͤckten, und zwar
auf dogmatiſchem Wege. Die Kirche laͤßt ſich
aber von unkirchlichen Leuten nicht ſchulmeiſtern
und umgeſtalten, ſondern nur ignoriren oder ab¬
ſchaffen, wenn die Mehrheit dafuͤr da iſt. Die
Juriſten waren ſehr betruͤbt und entſetzt, zu ſehen,
daß die Religion dergeſtalt auf das Gemuͤth ein¬
wirken koͤnne, daß ſelbſt eine aufgeſchriebene Ver¬
faſſung damit zu brechen ſei, und ſie hielten uͤber
dieſen Folgen ihrer muͤßigen That den Untergang
der Welt nahe; die folgenden Putſche aber ge¬
wannen durch dieſen Anfang ihr Loſungswort, den
Glauben, und in Folge deſſen fanden ſich denn
richtig die Jeſuiten ein als die vollendeten Luͤcken¬
buͤßer der Geſchichte und wurden von den der
weiteren zweckmaͤßigen Ausgeſtaltung des Landes
widerſtrebenden Dialektikern und Schachſpielern
als handliche Schachfiguren benutzt, waͤhrend ſie
waͤhnten, um ihrer ſelbſt willen und aus eigener
Kraft da zu ſein. Sie reichten gerade aus, durch
[459] ihr Weſen und ihre Beſtimmung einen kraͤftigen
und hoͤchſt produktiven Haß und Groll zu erregen,
welcher auf dem Feſt zu Baſel dermaßen gewal¬
tig rauſchte, daß davon die Rede war, in corpore
aufzubrechen und in den Feſtkleidern, den Feſtwein
im Blute hinzuziehen, um den Jeſuiten das Loch
zu verſtopfen und ihre verruͤckte Theokratie zu
zerſtoͤren.


Dies blieb zwar nur eine Rede, doch wurde
der Keim gelegt zu jener ſeltſamen Erſcheinung
der Freiſchaarenzuͤge, wo ſeßhafte wohlgeſtellte
Leute, die ſaͤmmtlich in der Armee eingereiht waren,
ſich in buͤrgerliche Kleidung ſteckten, ſich zuſam¬
menthaten, durch fingirte Handſtreiche unter den
Augen ihrer Regierungen Stuͤck und Wagen
aneigneten und gutbewaffnet auszogen, um in
eine benachbarte Souveraͤnetaͤt einzubrechen und
die dortige gleichgeſinnte Minderheit mit Gewalt
zur Mehrheit zu machen. Dieſe vermummten
Civilkrieger wollten fuͤr ſich nichts, weder Beute,
noch Kriegsruhm noch Befoͤrderung holen, ſondern
zogen einzig fuͤr den reinen Gedanken aus; als
ſie daher allein an dem Fluche der Ungeſetz¬
[460] lichkeit und offenen Vertragsbruͤchigkeit untergin¬
gen, trat der noch ſeltſamere Fall ein, daß ſie
ſich nicht ihrer That zu ſchaͤmen brauchten und
doch eingeſtehen durften, es ſei gut, daß ſie nicht
gelungen, indem ohne den tragiſchen Verlauf der
Freiſchaarenzuͤge der Sonderbund nicht jene ener¬
giſche Form gewonnen haͤtte, die den ſchließli¬
chen Sieg der legalen und ruhigen Freiſinnigen
herausgefordert und ermoͤglicht hat. Dem wahr¬
haft freiſinnigen Manne geziemt es, froh zu
ſein, wenn ihm das Ungehoͤrige und Unuͤber¬
legte mißlungen, und er uͤberlaͤßt es den Deſpo¬
ten und wilden Beſtien, einen blinden guͤnſti¬
gen Zufall als Gnade Gottes und die Schaͤrfe
der Klauen als Recht auszukuͤndigen.


Indeſſen hinderte der Zorn die Schweizer
in Baſel nicht, im groͤßten Maßſtabe zu zechen,
und Zorn und Freude ſchillerten ſo blitzend durch¬
einander, wie der rothe und weiße Wein, von
welchem an dem bewegteſten Tage der Woche
gegen neunzigtauſend Flaſchen getrunken wurden
allein in der großen Huͤtte, waͤhrend die leiden¬
ſchaftlichen Tiſchreden von der Tribuͤne toͤnten.
[461] Als Heinrich, der drei Tage auf dem Platze
blieb, dieſe Kraft und Fuͤlle ſah, ſchien ihm dies
faſt bedenklich; denn nach dem ſtillen und in¬
nerlichen Leben, das er in der letzten Zeit ge¬
fuͤhrt, droͤhnte ihm das gewaltige Getoͤſe betaͤu¬
bend in das Gemuͤth; denn obgleich da durch¬
aus kein wuͤſtes oder kindiſches Geſchrei herrſchte,
ſondern ein ausgedehntes Meer gehaltener Maͤn¬
nerſtimmen wogte, aus dem nur hie und da eine
lautere Brandung oder ein feſter feuriger Ge¬
ſang aufſtieg, ſo bildete doch dieſe handfeſte
Wirklichkeit und Ruͤhrigkeit einen grellen Gegen¬
ſatz zu dem lautloſen entſagungsbereiten Liebes¬
leiden Heinrich's von juͤngſt, aus dem nur et¬
wa jener eintoͤnige Staarenruf heraustoͤnte. Doch
erinnerte er ſich, daß dies eine alte Weiſe ſeiner
Landsleute und nicht etwa ein Zeichen des Ver¬
falles ſei, und daß die ſogenannten alten from¬
men Schweizer, welche ſo andaͤchtig niederknie¬
ten, ehe ſie ſich ſchlugen, mit ihren langen Baͤr¬
ten und ſchiefen Kerbhuͤtchen zuweilen noch viel
wilder thun, bankettiren und rumoren konnten
als die jetzigen, und daß alſo deswegen kein
[462] Verfall eingetreten und die Schweizerſchuͤtzen im¬
mer noch die ſeien, deren Vorfahren vor Jahr¬
hunderten die Straßburger beſucht, wenn dieſe
ſchoſſen. Auch jetzt rollten ganze Bahnzuͤge voll
Schweizer nach Straßburg hinunter; aber es
gab dort keine freien reichsſtaͤdtiſchen Straßbur¬
ger mehr, ſondern nur franzoͤſiſche Elſaͤſſer und
franzoͤſiſches Militair.


Heinrich verſoͤhnte ſich alſo mit dem Zech¬
getoͤſe, und zwar ließ er dem Gewalthaufen der
Trinker ſein Recht der Majoritaͤt, ohne das Recht
ſeiner Perſon aufzugeben und ſich diesmal ganz
ruhig und nuͤchtern zu erhalten, da ihm die
neueſte Vergangenheit mit Dortchen und die naͤchſte
Zukunft mit ſeiner Mutter alle Luſt fern hielten,
ſich irgendwie hervorthun und jubiliren zu wol¬
len. Dagegen kaufte er ſich in der Stadt ein
gutes Geſchoß und miſchte ſich unter die Schie¬
ßenden, nicht um irgend ſein Gluͤck zu verſuchen,
ſondern um zu ſehen, ob er fuͤr ſeinen Hand¬
gebrauch und fuͤr den Nothfall etwa im Ernſte
mitzugehen im Stande waͤre. Er hatte fruͤ¬
her, ehe er in die Fremde gegangen, nur wenig
[463] geſchoſſen bei zufaͤlligen Gelegenheiten und bei dem
Leichtſinn, mit welcher ſeine Jugend die Sache in
die Hand nahm, nichts Sonderliches ausgerichtet.
Jetzt erfuhr er, wie der Ernſt des Lebens und
die Zeit faͤhig machen, auch die einfachſten Dinge
beſonnener in die Hand zu nehmen, und waͤh¬
rend des Tages, an welchem er fleißig ſchoß,
erlangte er die Gewißheit, bei fortgeſetzter Uebung
ſich die Eigenſchaft zu erwerben, nicht bloß ein
Maulheld zu ſein oder ein Bratenſchuͤtze, ſondern
in der Stunde der Gefahr etwa fuͤr ſeine Per¬
ſon und was ihm theuer war, einzuſtehen.


So wurde ſein Heimweg gehemmt und auf¬
gehalten, wie nur eine aͤngſtliche Traumreiſe
aufgehalten werden kann, und es war ihm faſt
gleich zu Muthe wie in jenen Traͤumen, in de¬
nen er heimreiſte, und fuͤhlte ſich beklommen,
ſo daß er ſich losreißen mußte, um nur endlich
weiter zu kommen. Da alle Poſten und Fuhr¬
werke uͤberfuͤllt waren, ließ er bloß ſeine Sa¬
chen mit der Poſt gehen und machte ſich an
einem kryſtallhellen Morgen zu Fuß auf den
Weg, um endlich der Vaterſtadt zuzueilen
[464] von einer anderen Seite, als er ſie vor ſieben
Jahren verlaſſen. Ueberall lag das Land im
himmelblauen Duft, aus welchem der Silber¬
ſchein der Gebirgszuͤge und der Seen und Stroͤme
funkelte und die Sonne ſpielte auf dem bethau¬
ten Gruͤn. Er ſah die reichen Formen des Lan¬
des, in Ebenen und Gewaͤſſern ruhig und wag¬
recht, in den ſteilen Gebirgen gezackt und kuͤhn,
zu ſeinen Fuͤßen fruchtreiche bluͤhende Erde und
in der Naͤhe des Himmels fabelhaftes Todten¬
reich und wilde Wuͤſte, alles dies abwechſelnd
und uͤberall die Thal- und Wahlſchaften bergend,
die zu Fuͤßen der fernen Gebirgsrieſen wohnten
oder fern hinter denſelben. Er ſelbſt ſchritt ruͤ¬
ſtig durch katholiſche und reformirte Gebiets¬
theile, durch aufgeweckte und eigenſinnig verdun¬
kelte, und wie er ſich ſo das ganze große Sieb
von Verfaſſungen, Confeſſionen, Parteien, Souve¬
raͤnetaͤten und Buͤrgerſchaften dachte, durch welches
die endliche ſichere und klare Rechtsmehrheit ge¬
ſiebt werden mußte, die zugleich die Mehrheit
der Kraft, des Gemuͤthes und des Geiſtes war,
der fortzuleben faͤhig iſt, da wandelte ihn die feu¬
[465] rige Luſt an, ſich als der einzelne Mann, als der
wiederſpiegelnde Theil vom Ganzen zu dieſem
Kampfe zu geſellen und mitten in demſelben die
letzte Hand an ſich zu legen und ſich mit regen
Kraͤften zurecht zu ſchmieden zum tuͤchtigen und
lebendigen Einzelmann, der mit rathet und mit
thatet und ruͤſtig darauf aus iſt, das edle Wild
der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er
ſelbſt ein Theil iſt, und die ihm deswegen
doch nicht theurer iſt, als die Minderheit, die er
beſiegt, weil dieſe von gleichem Fleiſch und Blut
iſt hinwieder mit der Mehrheit.


»Aber die Mehrheit,« rief er vor ſich her, »iſt die
einzige wirkliche und nothwendige Macht im Lande,
ſo greifbar und fuͤhlbar, wie die koͤrperliche Natur
ſelbſt, an die wir gefeſſelt ſind. Sie iſt der einzig
untruͤgliche Halt, immer jung und immer gleich
maͤchtig; daher gilt es, unvermerkt ſie vernuͤnftig
und klar zu machen, wo ſie es nicht iſt. Dies iſt
das hoͤchſte und ſchoͤnſte Ziel. Weil ſie nothwendig
und unausweichlich iſt, ſo kehren ſich die uͤbermuͤ¬
thigen und verkehrten Koͤpfe aller Extreme gegen
ſie in unvermoͤgender Wuth, indeſſen ſie ſtets ab¬
IV. 30[466] ſchließt und ſelbſt den Unterlegenen ſicher und
beruhigt macht, waͤhrend ihr ewig jugendlicher
Reiz ihn zu neuem Ringen mit ihr lockt und
ſo ſein geiſtiges Leben erhaͤlt und naͤhrt. Sie
iſt immer liebenswuͤrdig und wuͤnſchbar, und
ſelbſt wenn ſie irrt, hilft die gemeine Verant¬
wortlichkeit den Schaden ertragen. Wenn ſie
den Irrthum erkennt, ſo iſt das Erwachen aus
demſelben ein friſcher Maimorgen und gleicht
dem Schoͤnſten und Anmuthigſten, was es giebt.
Sie laͤßt es ſich nicht einfallen, ſich ſtark zu
ſchaͤmen, ja die allgemein verbreitete Heiterkeit
laͤßt den begangenen Fehltritt kaum ungeſchehen
wuͤnſchen, da er ihre Erfahrung bereichert, dieſe
Freude hervorgerufen hat und durch ſein ſchwin¬
dendes Dunkel das Licht erſt recht hell und froͤh¬
lich erſcheinen laͤßt.


»Sie iſt die reizende Aufgabe, an welcher ſich
ihr Einzelner meſſen kann, und indem er dies
thut, wird er erſt zum ganzen Mann und es
tritt eine wunderſame Wechſelwirkung ein zwiſchen
dem Ganzen und ſeinem lebendigen Theile. Mit
großen Augen beſchaut ſich erſt die Menge den
[467] Einzelnen, der ihr etwas vorſagen will, und die¬
ſer, muthvoll ausharrend, kehrt ſein beſtes We¬
ſen heraus, um zu ſiegen. Er denke aber nicht,
ihr Meiſter zu ſein; denn vor ihm ſind Andere
da geweſen, nach ihm werden Andere kommen,
und Jeder wurde von der Menge geboren; er
iſt ein Theil von ihr, welchen ſie ſich gegenuͤber
ſtellt, um mit ihm, ihrem Kind und Eigenthum,
ein erbauliches Selbſtgeſpraͤch zu fuͤhren. Jede
wahre Volksrede iſt nur ein Monolog, den das
Volk ſelber haͤlt. Gluͤcklich aber, wer in ſeinem
Lande ein Spiegel ſeines Volkes ſein kann, der
nichts widerſpiegelt, als dies Volk, indeſſen die¬
ſes ſelbſt nur ein kleiner heller Spiegel der wei¬
ten lebendigen Welt iſt!«


30 *
[]

Funfzehntes Kapitel.

Jetzt war er auf dem Berge angekommen,
der gegenuͤber der Stadt lag, und er ſah ploͤtz¬
lich deren Linden hoch in den Himmel tauchen
und die goldenen Kronen der Muͤnſterthuͤrme in
der Abendſonne glaͤnzen. Weithin lag der See
gebreitet mit ſeinen blauen Waſſern, der gruͤne
Fluß ſtroͤmte ruhig aus demſelben durch die Stadt
hin und Heinrich fand es in ſeiner Freude ruͤh¬
rend und hoͤchſt zuverlaͤſſig, daß der Fluß waͤh¬
rend der ſieben Jahre auch nicht einen Augenblick
zu ſtroͤmen aufgehoͤrt habe. Aber ſeine Augen
hefteten ſich ſogleich wieder auf die goldene Abend¬
ſtadt und entdeckten eine Menge neuer Haͤuſer ſo¬
wie eine viel erweiterte Ausdehnung am See und
am Fluſſe hin. Nur das alte dunkle Gemaͤuer
[469] mit dem Kirchhof dicht zu ſeinen Fuͤßen dieſſeits
des Fluſſes war noch daſſelbe, und das Todten¬
gloͤcklein erklang traurig in demſelben, waͤhrend
ein Sarg uͤber die Bruͤcke getragen wurde, wel¬
chem ein langer zahlreicher Trauerzug folgte, wie
wenn ein Unbeſcholtener begraben wird, der lange
an einem Orte gewohnt hat. Eine kleine Weile
ſah er dem langſam gehenden Zuge neugierig zu,
bis derſelbe an dem Berge emporzuſteigen be¬
gann; dann ſtieg er aber den ſteilen Staffelberg
hinab, von dem ihm getraͤumt, daß er eine Kry¬
ſtalltreppe waͤre, und machte ſich dem Kirchhof
zu, der nun von den Leuten angefuͤllt war; denn
er wollte, indem er im Vorbeigehen dem Be¬
graͤbniß beiwohnte, gleich zum Gruße an die Va¬
terſtadt eine geſellſchaftliche Pflicht erfuͤllen und
gedachte auch Dortchen's, welche die Todten ſo
ſehr bedauerte, die vergehen und fuͤr immer aus
der Welt ſcheiden muͤſſen.


Er trat mit den Leuten, die ihn nicht kann¬
ten, in das kleine Kirchlein und hoͤrte deutlich
den Geiſtlichen, der das Gebet zu ſprechen hatte,
[470] den Namen ſeiner Mutter verkuͤnden mit ihrem
Geburts- und Todestage und die Zahl ihrer
Jahre mit ihrem Herkommen und ihrem Stande.


Ohne weiter zu hoͤren, ging er hinaus und
ſuchte das Grab, an welchem der Sarg ſtand
auf der Bahre. Eben nahm der altbekannte
Todtengraͤber die obere ſchwarze Tuchdecke von
demſelben und legte ſie bedaͤchtig zuſammen,
dann die untere von weißer Leinwand, welche
der Sitte gemaͤß eine Handbreit unter der ſchwar¬
zen Decke hervorſehen muß, und endlich ſtand
das bloße roſige Tannenholz da. Heinrich konnte
nicht durch die Bretter hindurchſehen, er ſah nur,
wie jetzt der Sarg in die Erde geſenkt und
mit derſelben zugedeckt wurde, und er ruͤhrte ſich
nicht. Die Leute verliefen ſich, unter denen Hein¬
rich eine Menge ſah und kannte, ohne ſie doch
zu ſehen und zu kennen; der Kirchhof leerte ſich,
und ein Mann nahm ihn bei der Hand und
fuͤhrte ihn auch fort. Es war der brave Nach¬
bar, welcher auf ſeiner Hochzeitreiſe ihn erſt auf¬
geſucht und ihm Nachricht von der Mutter ge¬
[471] bracht hatte. Heinrich ging mit ihm uͤber die
Bruͤcke und in die Stadt hinauf. Er betrachtete
wohl alle Dinge auf dem Wege und warf hier¬
hin einen Blick und dorthin einen, und ant¬
wortete auch dem Nachbar ordentlich auf ſeine
Fragen, die derſelbe an ihn richtete, in der Mei¬
nung, ihn munter zu erhalten. Als ſie in die
Gaſſe gelangten, wo das alte Haus ſtand, wollte
Heinrich, ohne etwas Anderes zu denken, hinein¬
treten; aber fremde Leute ſahen aus demſelben
und der Nachbar fuͤhrte ihn hinweg und in ſein
eigenes Haus, ſo daß alſo Heinrich nicht wieder
in die Thuͤr treten konnte, durch welche ſeine
Jugend aus- und eingegangen.


Als er bei dem Nachbar endlich in der Stube
und von den guten gluͤcklichen Leuten theilneh¬
mend begruͤßt war, erleichterte es ihr Benehmen
gegen ihn, zu ſehen, daß er in ſeinem Aeußeren
in guten Umſtaͤnden und in guter Ordnung er¬
ſchien; er fragte ſie, indem er ſich ſetzte, nun um
ſeine Mutter, und ſie erzaͤhlten ihm, was ſie
wußten.

[472]

Nachdem ſie lange in Kummer und ſtummer
Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von
ihm gewartet, wurde ſie gerade um die Zeit, als
Heinrich ſich im Herbſte auf den Heimweg be¬
geben hatte und dann im Hauſe des Grafen
haften blieb, aus ihrem Hauſe vertrieben, in
welchem ſie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn
nachdem es ruchbar geworden, daß ſie jenes Ka¬
pital fuͤr ihren Sohn aufgenommen, von wel¬
chem nichts weiter zu hoͤren war, hielt man ſie
um dieſer Handlung willen fuͤr leichtſinnig und
unzuverlaͤſſig und kuͤndigte ihr die Summe. Da
ſie trotz aller Muͤhen dieſelbe nicht auf's Neue
aufbringen konnte, indem Niemand ſich in dieſen
Handel einlaſſen zu duͤrfen glaubte, mußte ſie
endlich den Verkauf des Hauſes erdulden und
mit ihrer eingewohnten Habe, von welcher jedes
Stuͤck ſeit ſo viel Jahren an ſelbem Platze un¬
verruͤckt geſtanden, in eine fremde aͤrmliche Woh¬
nung ziehen, uͤber welchem muͤhſeligen und ver¬
wirrten Geſchaͤft ſie faſt den Kopf verlor. Den
Reſt des Verkaufswerthes legte ſie aber nicht
etwa wieder an, um auf's Neue zu ſparen und
[473] das Unmoͤgliche moͤglich zu machen, ſondern ſie
legte ihn gleichguͤltig hin und nahm davon das
Wenige, was ſie brauchte, aber ohne zu rechnen.
Uebrigens bemuͤhten ſich jetzt die Leute um ſie,
halfen ihr, wo ſie konnten, und verrichteten ihr
alle Dienſte, welche ſie ſonſt Anderen ſo bereit¬
willig geleiſtet. Sie ließ es geſchehen und kuͤm¬
merte ſich nichts darum, ſondern bruͤtete unver¬
wandt uͤber dem Zweifel, ob ſie Unrecht gethan,
Alles an die Ausbildung und gemaͤchliche Selbſt¬
beſtimmung ihres Sohnes zu ſetzen, und dies
Bruͤten wurde einzig unterbrochen von der zeh¬
renden Sehnſucht, das Kind nur ein einziges
Mal noch zu ſehen. Sie ſetzte zuletzt eine be¬
ſtimmte Hoffnung auf den Fruͤhling, und als
dieſer verging und der Sommer anbrach, ohne
daß er kam, ſtarb ſie.


Auf Heinrich's Frage, ob ſie ihn angeklagt,
verneinten das die Nachbarsleute, ſondern ſie habe
ihn immer vertheidigt, wenn Jemand auf ſein
Verhalten angeſpielt; jedoch habe ſie dabei ge¬
weint, und auf eine Weiſe, daß ihre Thraͤnen
unwillkuͤrlichen Vorwurfs genug ſchienen gegen
[474] den verſchollenen Sohn. Dies verhehlten ihm die
guten Leute nicht, weil ſie ein wenig Bitterkeit
ihm fuͤr zutraͤglich hielten und dachten, es koͤnne
ihm, da er nun in gutem Gedeihen begriffen ſei,
nicht ſchaden, etwas gekraͤnkt zu werden, damit
der Ernſt um ſo laͤnger vorhalte und er nun ein
gruͤndlich guter Buͤrgersmann werde.


So war nun der ſchoͤne Spiegel, welcher ſein
Volk wiederſpiegeln wollte, zerſchlagen und der
Einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachſen
wollte, gebrochen. Denn da er die unmittelbare
Lebensquelle, welche ihn mit ſeinem Volke ver¬
band, vernichtet, ſo hatte er kein Recht und keine
Ehre, unter dieſem Volke mitwirken zu wollen,
nach dem Worte: Wer die Welt will verbeſſern
helfen, kehre erſt vor ſeiner Thuͤr.


Ungeachtet des Widerſpruches ſeiner Gaſt¬
freunde, ſuchte er die Wohnung noch auf, in wel¬
cher die Mutter geſtorben, ließ ſich dieſelbe uͤber¬
geben und brachte die Nacht darin zu, im Dun¬
keln ſitzend. Wenn ihr bloßer durch ihn verſchul¬
deter Tod ſein aͤußeres Leben und Wirken, auf
das er nun alle Hoffnung geſetzt hatte, fortan
[475] unmoͤglich machte, ſo brach in dieſer Nacht die
Thatſache ſein innerſtes Leben, daß ſie endlich
mußte geglaubt haben, ihn als keinen guten
Sohn zu durchſchauen, und es fielen ihm unge¬
rufen jene furchtbaren Worte ein, welche Man¬
fred von einem durch ihn vernichteten blutsver¬
wandten weiblichen Weſen ſpricht:


Nicht meine Hand, mein Herz das brach das Ihre,

Es welkte, mich durchſchauend.

Es war ihm, als ob alle Muͤtter der Erde
ihn durchſchauten, alle gluͤcklichen ihn verachteten
und alle ungluͤcklichen ihn haßten, als auch zur
Rotte Korah gehoͤrig. Da nun aber in Wirklich¬
keit nichts an ihm zu durchſchauen war, als das
lauterſte und reinſte Waſſer eines ehrlichen Wol¬
lens, wie er jetzt war, ſo erſchien ihm dies Leben
wie eine abſcheuliche, tuͤckiſche Hintergehung,
wie eine niedertraͤchtige und toͤdtliche Narrethei
und Vexation, und er brauchte alle Muͤhen ſeiner
ringenden Vernunft, um dieſe Vorſtellung zu
unterdruͤcken und der guten Meinung der Welt
ihr Recht zu geben.

[476]

Als das enge Gemach ſich mit dem Morgen¬
grauen ein wenig erhellte, ſah er den alten be¬
kannten Hausrath, der einſt die bequemeren
Raͤume erfuͤllt, unordentlich und aͤngſtlich zuſam¬
mengehaͤuft; er wagte nicht, einen Schrank zu
oͤffnen, und that endlich nur einen altmodiſchen
Koffer auf, der da zunaͤchſt ſtand. Er enthielt
die alten Trachten von den Vorfahrinnen ſeiner
Mutter, wie ſie die Frauen gern aufzube¬
wahren pflegen. Großblumige oder geſtreifte ſei¬
dene Roͤcke und Jaͤckchen, rothe Schuhe mit hohen
Abſaͤtzen, ſilbergewirkte Baͤnder, Haͤubchen, maͤch¬
tige weiße Halstuͤcher mit reichen Stickereien,
Faͤcher bemalt mit Schaͤferſpielen, Fiſchern und
Vogelſtellern und eine Menge zerquetſchter kuͤnſt¬
licher Blumen, alles das lag vergilbt und zer¬
knittert durcheinander und war doch mit einer
gewiſſen unverwuͤſtlichen Friſche anzufuͤhlen, da
die weibliche Schonung und Sparſamkeit in der
Aufregung dieſe Feſtkleider und Putzſachen wohl
erhalten und ſo alt werden ließ. In fruͤheren
Jahren, da ſie noch eine juͤngere Wittwe war, hatte
ſich die Mutter alle Jahr einmal das beſcheidene
[477] Vergnuͤgen gemacht, an froͤhlichen Feſttagen die
Tracht ihrer Großmutter anzulegen und ſich darin
etwa zu einem kleinen Abendſchmaus zu ſetzen,
und der kleine Heinrich hatte ſie alsdann hoͤchlich
bewundert und nicht genugſam betrachten koͤnnen.

Er druͤckte den Deckel wieder zu und ging
durch die Stadt, um hier und da altbefreundete
Leute zu begruͤßen; man ſah ihn groß an, erwies
ihm aber Ehre, und es hieß ſchon uͤberall, er
habe ein großes Gluͤck in der Fremde gemacht.
Dann begab er ſich auf's Land, um ſeine Vet¬
tern und Baſen zu ſehen, die zerſtreut waren.
Alle hatten die Stuben voll Kinder, die Einen
waren wohlhabend, die Anderen ſchienen bedraͤngt
und klagten ſehr; doch alle waren gleichmaͤßig be¬
ſchaͤftigt und belaſtet mit ihren Zuſtaͤnden, und
ſchienen ſich ſelbſt nicht viel um einander zu kuͤm¬
mern. Die Frauen waren ſchon verbluͤht, raſch
und geſalzen in ihrem Thun und Sprechen, und
die Maͤnner abwechſelnd gleichmuͤthig und ein¬
ſilbig oder jaͤhzornig. Sie ſchienen Heinrich zu
beneiden, daß er nun Alles noch vor ſich habe,
was ſie ſchon durchgelebt zum Theil, und das
[478] Einzige, worin ſie ein herzliches Einverſtaͤndniß
mit ihm fanden, war die Klage um die Verſtor¬
benen.


Heinrich trieb ſich eine Zeitlang bei ihnen um¬
her und gab ſich meiſtens mit ihren Kindern ab,
da ihm dieſes unſchuldige Zerſtreuung war, welche
auf Augenblicke wenigſtens ſeinen harten Zuſtand
in ein linderes Weh verwandelte.


Eines Abends ſtreifte er in der Gegend um¬
her und kam an den breiten Fluß. Ein großer
ſiebzigjaͤhriger Mann, den er noch nie geſehen,
in einfacher aber ſauberer Kleidung, beſchaͤftigte
ſich am Ufer mit Fiſcherzeug und ſang ein ſon¬
derbares Lied dazu vom Recht und vom Gluͤck,
von dem man nicht wußte, wie es in die Gegend
gekommen. Er ſang mit friſcher Stimme, indem
er ſeine glaͤnzenden Netze zuſammenraffte:


Recht im Gluͤcke! gold'nes Loos,

Land und Leute machſt du groß!

Gluͤck im Rechte! froͤhlich Blut,

Wer dich hat, der treibt es gut!
[479]
Recht im Ungluͤck, herrlich Schau'n,

Wie das Meer im Wettergrau'n!

Goͤttlich grollt's am Klippenrand,

Perlen wirft es auf den Sand!
Einen Seemann grau von Jahren

Sah ich auf den Waſſern fahren,

War wie ein Meduſenſchild

Der verſteinten Unruh' Bild.
Und er ſang: Viel tauſendmal

Schoß ich in das Wellenthal,

Fuhr ich auf zur Wogenhoͤh',

Ruht' ich auf der ſtillen See!
Und die Woge war mein Knecht,

Denn mein Kleinod war das Recht.

Geſtern noch mit ihn, ich ſchlief,

Ach! nun liegt's da unten tief!
In der dunklen Tiefe fern

Schimmert ein gefall'ner Stern,

Und ſchon duͤnkt mich's tauſend Jahr,

Daß das Recht einſt meines war.
Wenn die See nun wieder tobt,

Niemand mehr den Meiſter lobt,

Hab' ich Gluͤck, verdien' ich's nicht,

Gluͤck wie Ungluͤck mich zerbricht.
[480]

Heinrich ſtand vor ihm ſtill und hoͤrte zu.
Der Alte ſah ihn aufmerkſam an und gruͤßte ihn.
»Ihr ſcheint,« ſagte er, »ein Lee zu ſein, den
Augen und der Naſe nach zu urtheilen?« »Ja,«
ſagte Heinrich. »So ſo,« erwiederte der Mann,
»ſo ſeid Ihr vielleicht des Baumeiſters Sohn aus
der Stadt, der ſich vor Jahren viel hier aufhielt?
Habt Euch lange nicht ſehen laſſen!« »Ich habe
aber Euch doch nie geſehen mit Wiſſen!« verſetzte
Heinrich, und der Mann ſagte: »So geht es wohl!
Ich meinerſeits habe ſchon viel geſehen und ſehe
Alles. Habe auch Eure Mutter recht wohl ge¬
kannt, was macht ſie, iſt ſie geſund und munter?«
»Nein, ſie iſt todt!« antwortete Heinrich. »So
ſo!« der Alte, »todt! ja, die Zeit vergeht! Es iſt
mir, als ſei es heute, und ſind es doch gerade
funfzig Jahr her, daß ich an dieſer Stelle hier
als ein zwanzigjaͤhriger Burſche die Leute uͤber
das Waſſer fuͤhrte. Es kam eine Kutſche voll
Stadtleute von Eurem Dorfe hergefahren, die
luſtig und guter Dinge waren und uͤber den
Fluß ſetzen wollten. Eure Mutter war als ein
dreijaͤhriges Kind dabei, und ich hob es aus der
[481] Kutſche und ſetzte es zu den bluͤhenden und froͤhlichen
Eltern in's Schiff. — Das Kind hatte ein naͤrriſches
roſenrothes Kleidchen an und laͤchelte ſo holdſelig
und gut, daß ich ſo dachte: dies iſt einmal ein
ſauberes und freundliches Kind, das wird es ge¬
wiß immer gut haben. In dem ſchwankenden
Schiff fing es aber an zu weinen, die huͤbſche
junge Mutter ſchloß es in die Arme und beruhigte
es, indeß die Anderen hellauf ein Lied ſangen im
Ueberfahren, und ſich mit Waſſer beſpritzten.
Dann ſah ich ſie wieder, als ſie etwa ſechszehn
Jahr alt und ein ſittſames liebliches Maͤdchendings
war. Es fuhr wieder ein ganzer Haufen jungen
Volkes hieruͤber, ſo daß ich wohl dreimal fahren
mußte, und auf der Wieſe druͤben pflanzten ſie
ſich auf und muſicirten und tanzten. Eure Mut¬
ter beſchied ſich aber in ihrer Froͤhlichkeit und
tanzte nicht ſo viel, und als ein Paar Gelbſchnaͤ¬
bel ihr zu eifrig den Hof machten, floh ſie in
das angebundene Schifflein und fing fleißig an
zu ſtricken. Alles das iſt lange her!«


Der Himmel jener Jahre ſchien dem zuhoͤ¬
renden Heinrich voruͤberzuziehen in der blauen
IV. 31[482] wolkenreinen Hoͤhe. Er vermochte aber den
lachenden Himmel und das gruͤne Land nicht
laͤnger zu ertragen und wollte zur Stadt zuruͤck,
wo er ſich in dem Sterbegemach der Mutter ver¬
barg. Die Liebe und Sehnſucht zu Dortchen
wachte auf's Neue mit verdoppelter Macht auf,
ſeine Augen drangen den Sonnenſtrahlen nach,
welche uͤber die Daͤcher in die dunkle Wohnung
ſtreiften, und ſeine Blicke glaubten auf dem gol¬
denen Wege, der zu einem ſchmalen Stuͤckchen
blauer Luft fuͤhrte, die Geliebte und das verlo¬
rene Gluͤck finden zu muͤſſen.


Er ſchrieb Alles an den Grafen; aber ehe eine
Antwort da ſein konnte, rieb es ihn auf, ſein Leib und
Leben brach und er ſtarb in wenigen Tagen. Seine
Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen feſt in
der Hand, worauf das Liedchen von der Hoff¬
nung geſchrieben war. Er hatte es in der letzten
Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelaſſen,
und ſelbſt wenn er einen Teller Suppe, ſeine
einzige Speiſe, gegeſſen, das Papierchen eifrig
mit dem Loͤffel zuſammen in der Hand gehalten
oder es unterdeſſen in die andere Hand geſteckt.

[483]

So ging denn der todte gruͤne Heinrich auch
den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo ſein
Vater und ſeine Mutter lagen. Es war ein
ſchoͤner freundlicher Sommerabend, als man ihn
mit Verwunderung und Theilnahme begrub, und
es iſt auf ſeinem Grabe ein recht friſches und
gruͤnes Gras gewachſen.

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der grüne Heinrich. Der grüne Heinrich. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmqt.0