: Verlag von Otto Janke.
1861.
Erſtes Kapitel.
Baron Felix war angekommen — mitten in der
Nacht. Er war bei guter Zeit von dem Fährdorfe
in ſeinem eignen Wagen aufgebrochen, als es dem
Kammerdiener ſchwer aufs Herz fiel, der Toilette¬
kaſten ſeines Herrn möchte ſich nicht bei dem übrigen
Gepäck befinden, da er denſelben unter die Bank des
Bootes zwiſchen ſeine Füße geſtellt, und wahrſchein¬
lich ſtehen gelaſſen hatte. Schüchterne Hindeutung
Jean's auf die Möglichkeit dieſes Falls — großer
Zorn von Seiten des Baron Felix und Androhung
von Ohrfeigen, Stockprügeln und Entlaſſung — auf
offener Heerſtraße angeſtellte Nachforſchung — ſchlie߬
lich, da ſich das corpus delicti wirklich nicht fand,
Umkehr. Leider war unterdeſſen das Fährboot mit
dem hochwichtigen Kaſten unter der Bank bereits ab¬
geſegelt. Bis es wieder an der Landungsbrücke an¬
legte, vergingen mehre Stunden, denn es war unter¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 1[2] deſſen eine gänzliche Windſtille eingetreten und
die Leute hatten ſich mit den ſchweren Rudern
— zur Verzweiflung des Baron Felix, der ſie vom
Strande aus durch ein Taſchenteleskop beobachtete —
Zoll um Zoll hinüber arbeiten müſſen. So war der
Abend bereits tief hereingeſunken, als der Baron zum
zweiten Male — diesmal mit dem Kaſten — von
dem Fährdorfe aufbrach. Er war in einer fürchter¬
lichen Laune. Er hatte verſprochen, heute noch auf
Grenwitz einzutreffen, da er „den Augenblick, ſeine
ſchöne Couſine zu ſehen, nicht erwarten könne.“ Eine
Verzögerung ſeiner Ankunft konnte ihm leicht übel
ausgelegt werden. Beſſer alſo, in tiefer Nacht, als
gar nicht kommen. Auf der andern Seite aber war
eine nächtliche Fahrt durch Wald und feuchtes Moor
— noch dazu in einem offnen Wagen — keineswegs
nach dem Geſchmacke des jungen Ex-Lieutenants, der
— jedenfalls in Folge der ungeheuren Strapazen auf
dem Exercierplatze und bei den Paraden — ſehr an
Rheumatismus litt und eine Erkältung wie die Peſt
fürchtete. Er wählte alſo von den zwei Uebeln, ſich
dem Verdacht der Gleichgültigkeit, oder der Gefahr
einer Erkältung auszuſetzen, das kleinere und drohte
nur ſeinem Jean, daß er (Baron Felix) von der
Größe ſeines Schnupfens morgen früh die Größe der
[3] Strafe für ſeine (Jean's) Nachläſſigkeit werde ab¬
hängen laſſen.
Es war deshalb eine nicht unbedeutende Beruhi¬
gung für Jean, als ſein Herr am nächſten Morgen
(man hatte die nächtliche Ruhe des Schloſſes ſo wenig
wie möglich geſtört und ſich von einem der heraus¬
gepochten Bedienten die ſchon längſt bereit ſtehenden
Zimmer anweiſen laſſen) mit ſehr guter Laune er¬
wachte, ſeinen Cacao wie gewöhnlich im Bett zu
trinken begehrte und nachdem er ſich halb hatte an¬
kleiden laſſen — die zweite, wichtigere Hälfte beſorgte
er eigenhändig — ihn fortſchickte, um Herrn Timm,
deſſen Anweſenheit auf dem Schloſſe er erfahren hatte,
bitten zu laſſen, ihn auf ein paar Minuten auf ſeinem
Zimmer zu beſuchen.
„Ah voilà, lieber Timm, wie geht es Ihnen?“
ſagte Baron Felix, das letzte Wort auffallend marki¬
rend, als der Angeredete bald darauf eintrat. „Sie
entſchuldigen, daß ich Ihnen ſo früh läſtig falle: aber
ich — zum Teufel, nun hat der Eſel von Jean wie¬
der heißes ſtatt warmes Waſſer gebracht — entſchul¬
digen Sie! — Jean, warmes Waſſer, Nilpferd! —
nun ſagen Sie, wie geht es Ihnen, lieber Timm?
freue mich, Sie hier ſo zufällig zu treffen. Wie geht
es Ihnen?“ und der Baron ſtreckte dem Angeredeten
1*[4] einen der Finger ſeiner linken Hand, die er eben ab¬
getrocknet hatte, entgegen.
„Danke, Baron, paſſabel!“ ſagte Albert, den dar¬
gebotenen Finger ſehr flüchtig, — denn ſich durch vor¬
nehme Grobheit imponiren zu laſſen, gehörte nicht zu
Alberts Schwächen, — mit etwa zwei Fingern ſeiner
Hand berührend; „ich glaubte ſchon, Sie (mit Beto¬
nung) würden mich bis auf den Namen vergeſſen
haben.“
„Bewahre,“ ſagte Felix, „fiel mir heute Morgen
ſogleich auf, als Jean mir die Geſellſchaft hier her¬
zählte. — Aber wie gottvoll Sie ſich in Civil aus¬
nehmen! hahaha! wenn Sie ſo die Kameraden ſähen!
wirklich gottvoll, auf Ehre!“ und Felix blieb, eine
Bürſte in der einen und einen kleinen Toilettenſpiegel
in der andern Hand, vor Albert ſtehen, ſich ihn von
Kopf bis zu den Füßen wie ein fremdes merkwürdi¬
ges Thier anſehend.
„Meinen Sie?“ ſagte Albert trocken; „freut mich!
kann Ihnen leider das Compliment nicht zurückgeben,
da ich erſt die folgenden Stadien Ihrer Toilette ab¬
warten muß. Aber das Eine kann ich Ihnen ſagen
— jünger ſind Sie unterdeſſen nicht geworden. Haben
Sie nicht noch eine Cigarre? oder iſt die Havana, die
Sie rauchen, die letzte Ihres Geſchlechts?“
„Dort auf dem Tiſch!“ ſagte Felix; „in dem
Ebenholzkäſtchen — Sie müſſen die Feder nach unten
drücken — nicht jünger geworden? aber hoffentlich
doch auch nicht älter, ich meine auffallend — zum
wenigſten erfreue ich mich, wie Sie ſehen noch meiner
ſämmtlichen Zähne und zum mindeſten fünf Sechſtel
meiner Haare“ — und Felix bürſtete mit unendlichem
Wohlgefallen die allerliebſten natürlichen kurzen brau¬
nen Locken, die wirklich noch ziemlich üppig ſeinen
wohlgeformten Kopf bedeckten.
„Nun, mit den Haaren mag's noch gehen,“ ſagte
der unbarmherzige Albert, der jetzt auf einem Sopha
Platz genommen hatte und dem vor dem Spiegel
eifrig beſchäftigten Felix mit heimlicher Schadenfreude
muſterte; „aber wo haben Sie nur alle die Falten
in ihrem Geſicht her bekommen? die ſcharfe Morgen¬
beleuchtung iſt wirklich nichts mehr für Sie. Ich
machte Ihnen früher das Compliment, Sie hätten
eine frappante Aehnlichkeit mit Byron; aber jetzt ſehen
Sie wenigſtens wie Byron's Vater aus. Und dann —
Sie waren niemals durch Fülle ausgezeichnet, jetzt
ſind Sie wirklich auf ein Minimum reducirt.“
„Je ſchlanker, deſto eleganter,“ meinte Felix; „und
übrigens kommt das wieder; ich wurde in der letzten
Zeit von meinem Doctor etwas knapp gehalten.“
„Das alte Leiden?“
„Nun wenigſtens eine neue Auflage.“
„Vermehrt und verbeſſert?“
„Es ging noch; aber damit iſt es jetzt vorbei.
Wir ſind ſolid geworden; wir werden uns zur Ruhe
ſetzen — wie finden Sie dieſe Beinkleider? iſt es nicht
eine geiſtreiche Combination des militairiſchen und des
Civilſchnitts? ganz meine Erfindung! — wir werden
heirathen —“
„Das ſollten Sie bleiben laſſen, Baron!“
„Weshalb?“
„Wenigſtens ſollten Sie eine ältere, verſtändige
Dame heirathen.“
„Weshalb?“
„Weil Sie, fürchte ich, über kurz oder lang doch
einer mütterlichen Freundin bedürftiger ſein werden,
als einer anſpruchsvollen jungen Gemahlin.“
„Pah, mon cher, ich habe die Ehre, aus einer
Familie zu ſtammen, in der man ungeſtraft liederlich
ſein darf. Ein bischen Rheumatismus — das iſt das
Aeußerſte. Was ſagen Sie zu dieſem Rock?“
„Gar nichts; Sie wiſſen, ich war nie ein Kenner
in dieſen Dingen.“
„Freilich, Sie waren ſtets das unſaubere Gefäß,
in welches ſich die Schale des Zorns unſeres guten
[7] Obriſten leerte. Wiſſen Sie, daß ſich der arme Teufel
erſchoſſen hat?“
„Nein, weshalb?“
„Die Einen ſagen, Schulden halber; die Andern,
weil er die Schande nicht hat überleben wollen, daß
bei der letzten großen Parade eine ganze Compagnie
von ſeinem Regiment mit Tuchhoſen ſtatt mit weißen
Hoſen angerückt kam, und er deshalb vom Comman¬
direnden über dieſe „Schweinerei“ zur Rede geſtellt
wurde.“
„Gott hab ihn ſelig!“
„Amen. Apropos! wie lange ſind Sie denn ſchon
hier auf Grenwitz? ich höre, ſchon ſeit Wochen; da
müſſen Sie die Geſellſchaft ja aus- und inwendig
kennen. Ja, was ich eigentlich wiſſen wollte: Wie
befindet ſich denn mein würdiger Onkel und meine
vortreffliche Frau Tante? und wie ſieht denn meine
Couſine — haben Sie ſchon eine ſolche Uhr geſehen?
doppelter Secundenzeiger — der Zeiger oben zeigt
Monat und Datum — direct aus London — ich
glaube, es iſt die erſte, die auf dem Continent ge¬
tragen wird. Apropos! wer kann denn heute Nacht
das hübſche, ſchwarzäugige, kleine Ding geweſen ſein,
das wir auch aufgeſtört hatten und das im allerlieb¬
ſten Nachtcoſtüm über den Flur huſchte — es ſchien
[8] eine Art Wirthſchafterin oder dergleichen. Ihr habt
doch keinen Beſuch weiter auf dem Schloſſe?“
„Nein —“
„Alſo ganz en famille? Wollen Sie gefälligſt die
Klingel über Ihrem Kopfe ziehen? Ich dächte, ich
ſähe heute ganz ausnehmend wohl aus — Jean! hab
ich Dir nicht geſagt, Kameel, daß Du dieſen Rock
hier nicht tragen ſollſt — gleich zieh' den neuen an!
und dann geh' und frage bei der gnädigen Herrſchaft
an, ob ich jetzt meine Aufwartung machen dürfe.“
„Der Herr Baron haben ſchon zweimal nach dem
Herrn Baron gefragt.“
„Nun, dann ſag', ich würde gleich kommen. —
Au revoir, lieber Timm. Ich hoffe. Sie an der
Mittagstafel zu ſehen —“ und Felix warf noch einen
letzten Blick in den Spiegel, goß etwas Eau de Co¬
logne auf ſein feines weißes Taſchentuch und ſchritt
durch die Thür, welche ihm Jean pflichtſchuldigſt öff¬
nete, davon, ohne ſich weiter nach Albert, der ihm
auf dem Fuße folgte, umzuſehen.
Dieſer ſchaute dem Enteilenden mit einem höhni¬
ſchen Lächeln auf den ſchmalen feinen Lippen nach:
„lieber Timm,“ murmelte er; „ich will Dir den lieben
Timm und das Sie anſtreichen, Du Affe!“ . . .
[9]
Es war am Abend deſſelben Tages. Man hatte
ſo eben die Mahlzeit, die bei gutem Wetter jetzt ſtets
auf der Terraſſe eingenommen wurde, beendet und
bereitete ſich zu einem gemeinſchaftlichen Spaziergange
vor, den man, auf den Vorſchlag der Baronin, durch
den Buchwald nach dem Strande machen wollte. Os¬
wald hätte ſich ausſchließen mögen, da ihm in ſeiner
augenblicklichen Stimmung die Geſellſchaft wirklich
peinlich war, aber Felix, der ein großes Gefallen an
dem ſchweigſamen, ernſten Mann zu finden ſchien,
hatte ihn ſo lange gebeten, kein Störenfried und Spiel¬
verderber zu ſein, daß er ſich endlich, zu Bruno's
großer Freude, zum Mitgehen entſchloß. So brach
man denn auf und gelangte bald in den ſchönen Wald,
wo in den grünen Zweigen noch die rothen Abend¬
lichter ſpielten und die Vögel ſangen. Felix hatte
der Baronin den Arm gegeben; Fräulein Helene ging
an ihres Vaters Seite; Oswald, Albert und die Kna¬
ben und Mademoiſelle Marguerite gingen voran oder
folgten, bald einzeln, bald paarweiſe, wie der ſchmale
Waldweg es eben erlaubte. Felix, den ſein Arzt be¬
ſonders vor Erkältung gewarnt hatte, fand es im
Wald doch kühler und feuchter, als er vermuthet, und
er wünſchte im Stillen ſehnlichſt, daß die Partie ſich
nicht zu ſehr in die Länge ziehen möchte. Indeſſen
[10] hielt er es natürlich für gerathener, dieſen ſeinen ge¬
heimen Wünſchen keine Worte zu leihen, ſondern dem
reizenden Einfall „dieſes romantiſchen Spaziergangs“
ein Compliment zu machen.
„Es freut mich, wenn ich damit Ihrem Geſchmack
entſprochen habe, lieber Felix,“ ſagte Anna-Maria;
„ich geſtehe, ich hätte Ihnen ſo viel Sinn für die ein¬
fachen Freuden des Landlebens nicht zugetraut. Wie
gut trifft es ſich, daß auch Helene dieſen Geſchmack
theilt. Ihr werdet einmal ein recht verſtändiges,
ſolides Leben führen, wie es ſich für eure Verhält¬
niſſe ſchickt.“
„Nun, meine Verhältniſſe, liebe Tante —“
„Werden ſich beſſern, ich bin davon überzeugt;
aber Sie werden viel zu thun haben, lieber Felix,
bis Sie ganz frei aufathmen können. Wie lange hat
es gedauert, bis ſelbſt wir nur die allergrößten Hinder¬
niſſe aus dem Wege geräumt hatten! und von einer
wirklichen Beherrſchung der Situation können wir erſt
in ein paar Jahren ſprechen, wenn Stantow und
Bärwalde uns hoffentlich nicht länger vorenthalten
werden können und die übrigen Güter in neue und,
ich denke, beſſere Pacht kommen. Sie ſollten Ihre
Güter auch neu vermeſſen laſſen, lieber Felix. Sie
finden in Timm einen fleißigen und geſchickten Arbeiter.
[11] Ich bin ganz überraſcht, daß Sie den jungen Mann
ſchon von früher her kennen; von der Cadettenſchule,
nicht wahr?“
„Ja, liebe Tante; er war ein großer —“
„Liebling — ich glaube es gern; iſt er es doch
auch hier bei uns Allen.“
„Das wollte ich nun eigentlich nicht ſagen“ ver¬
ſetzte Felix lachend; „indeſſen man hatte ihn allerdings
im Allgemeinen ſehr gern. Er war der unermüd¬
lichſte Spaßmacher; und wenn es ſich um einen Genie¬
ſtreich handelte, ſo ſtand er ſicher an der Spitze.
Indeſſen, man thut gut, ihm den Daumen etwas
auf's Auge zu halten; er gehört zu den Leuten, die,
wenn man ihnen den kleinen Finger giebt, die ganze
Hand nehmen.“
„In der That!“ ſagte Anna-Maria, die Augen¬
brauen in die Höhe ziehend; „ich habe den jungen
Menſchen bis jetzt ſtets für die Beſcheidenheit ſelbſt
gehalten; für viel beſcheidener, als z. B. unſern
Herrn Stein.“
„Wirklich?“ meinte Felix; „ich hätte nun gerade
gedacht, daß Herr Stein ſich ſeiner Stellung voll¬
kommen bewußt iſt.“
„Nun, Sie werden ihn noch näher kennen lernen.
[12] Er iſt einer der arroganteſten Menſchen ſeines Stan¬
des, die mir je vorgekommen ſind.“
„Wir wollen ihm das austreiben,“ ſagte Felix,
ſeinen äußerſt winzigen Schnurrbart drehend; „mit
ſolchen Leuten muß man kurzen Prozeß machen. Ich
kenne das. Dieſe Bürgerlichen ſind ſich Alle gleich.
Sobald ſie merken, daß wir ſein wollen, was wir
von Rechtswegen ſind — die Herren im Staat und
im Haus — kriechen Sie zu Kreuz. Sie werden
nur übermüthig durch unſere Schuld. Man muß ſie
fortwährend in dem Bewußtſein ihrer Stellung halten.
Sie ſind zu gut gegen den Menſchen geweſen: das
iſt Alles. Ich wunderte mich, offen geſtanden, ſchon
heute Mittag, mit welcher Nachſicht ſich Fräulein
Helene ſeine Zurechtweiſung — ich weiß nicht mehr,
um was es ſich handelte — gefallen ließ.“
„Nun Helene iſt ſonſt nicht gerade ſeine Freundin;
wie ſie denn überhaupt eine wahrhaft ariſtokratiſche
Antipathie gegen alles Plebejiſche hat. Nähren Sie
dieſe Grundſätze ja! ich glaube, Sie werden ſo den
nächſten Weg zu ihrem Herzen finden.“
„Nun, ich denke, dieſer Weg wird ja wol nicht
ſo übermäßig ſchwer zu entdecken ſein;“ ſagte Felix
mit ſelbſtgefälligem Lächeln: ich habe einige Erfahrung
in dieſem Capitel, ma chère tante!“
„Die Sie in dieſem Falle brauchen werden; lieber
Felix. Helene iſt ein ſehr eigenthümlicher, ſchwer zu
berechnender Charakter. Ich geſtehe, daß ich noch
nicht gewagt habe, ihr unſer Project offen darzulegen.
Ich wollte erſt die Wirkung abwarten, die Sie ohne
Zweifel auf ihr Herz hervorbringen werden. Sie
haben hier die beſte Gelegenheit, ſich ihr in dem
liebenswürdigſten Lichte zu zeigen; ja nicht einmal
einen Nebenbuhler haben Sie zu fürchten. Wir leben
ſehr zurückgezogen, und ich werde mit Eiferſucht dar¬
über wachen, daß dieſe Zurückgezogenheit auch wäh¬
rend Ihres Aufenthalts ſo wenig wie möglich geſtört
wird.“
„Verzeihen Sie, liebe Tante, wenn ich in dieſem
Punkte anderer Meinung bin,“ ſagte Felix; „ich müßte
mir wahrlich mein theures Lehrgeld wiedergeben laſſen,
wenn ich den Vergleich mit den jungen Standesge¬
noſſen hier auf dem Lande ſcheuen zu müſſen glaubte.
Im Gegentheil; ich bin äußerſt begierig, mit dieſen
Gelbſchnäbeln in die Schranken zu treten! Jeder, den
ich aus dem Sattel hebe, iſt ein Schritt näher zu
meinem Ziele, wenn es denn wirklich ſo ſehr weit
geſteckt ſein ſollte. Nein! bitten Sie ſo viel Geſell¬
ſchaft wie möglich. Machen Sie meine und Helene's
Anweſenheit zu einer Veranlaſſung, kleine Diners,
[14] Soupers, Thees u. dgl. zu geben; und hernach faſſen
wir Alles in einem großen Balle zuſammen, auf wel¬
chem dann unſere Verlobung der ganzen Geſellſchaft
mitgetheilt wird, die dann natürlich über ein Ereig¬
niß, das ſie ſeit Wochen erwartet hat, in ein obligates
Staunen geräth.“
„Sie ſind kühn, lieber Felix,“ ſagte die Baronin,
der dieſe Methode, auch beſonders der Koſtſpieligkeit
wegen, nur halb gefiel.
„Wozu hätte ich denn ſonſt des Königs Rock ſo
lange Jahre getragen?“ erwiederte Felix, ſeiner Tante
galant die Hand küſſend.
Während deſſen von der Baronin und Felix ſo
ruhig über Helene's Schickſal debattirt wurde, hatte
zwiſchen dieſer und ihrem Vater ein Geſpräch ſtatt¬
gefunden, das die feingeſponnenen Pläne der Baronin
und den vermeintlich raſchen Siegeslauf des jungen
Ex-Lieutenants auf eine gar eigenthümlich naive Weiſe
durchkreuzte.
Der alte Baron liebte ſeine ſchöne Tochter mit
aller Liebe, deren ſein braves Herz fähig war, liebte
ſie um ſo mehr, als er über die Gerechtigkeit der
Beſtimmungen, welche das junge Mädchen von dem
Majoratsvermögen ausſchloſſen, von jeher nicht geringe
Zweifel gehabt hatte. Dazu kam, daß er die Zurück¬
[15] ſetzung, welche die Tochter von Seiten der Mutter
bis dahin erfahren hatte, ſehr wol empfand, wenn
er auch zu ſchwach geweſen war, Maßregeln dagegen
zu ergreifen, und vor allem der Hamburger Verban¬
nung ein Ende zu machen. Auch dem Heirathsproject
hatte er ſeine Zuſtimmung nur gegeben, weil ihm
Anna-Maria eingeredet hatte, ſo könne die Ungleich¬
mäßigkeit in dem Schickſal der beiden Kinder am
beſten ausgeglichen werden, da Helene, als die Gattin
Felix', nach Malte's etwaigem Tode, dann doch ge¬
wiſſermaßen zur Erbſchaft gelangte, wenigſtens in den
vollen Genuß des Vermögens käme. Aber auch hier
hatte er Helene's vollkommen freie Zuſtimmung als
unumgängliche Bedingung ſtipulirt, wogegen er ſich
wieder verpflichtet hatte, die Leitung der Angelegen¬
heit den geſchickten Händen ſeiner Gemahlin zu über¬
laſſen und vor allem ſich vor einer vorzeitigen Ent¬
hüllung des Planes in Acht zu nehmen.
Nun aber hatten die Eindrücke der letzten Zeit an
dieſen Vorſätzen und Entſchlüſſen arg gerüttelt. Zuerſt
war ihm in Hamburg, als ihn ein plötzlicher Fieber¬
anfall auf das Krankenlager warf, der Gedanke ge¬
kommen, er könnte in nächſter Zeit ſterben und He¬
lene dann ganz verlaſſen daſtehen, ohne ſeinen Rath,
ohne ſein Veto, das er im äußerſten Falle der Ausfüh¬
[16] rung der Pläne Anna-Maria's entgegenzuſetzen feſt
entſchloſſen war. Er hatte ſeine Tochter immer ge¬
liebt, aber jetzt betete er ſie an. Sie war ſo ſchön,
ſo ſtolz, und gegen ihn, den alten Vater, ſo freund¬
lich beſcheiden, daß ſein Herz, wenn er dachte, er
könnte aus dem Leben gehen, ohne das Schickſal
dieſes ſeines Lieblings ſicher geſtellt zu haben, Angſt
und Trauer zugleich empfand. Wäre nun Felix der
Mann geweſen, wie er ſich den Gemal ſeiner Tochter
wünſchte, ſo hätte noch Alles gehen mögen. Aber
das war Felix keineswegs. Der alte Baron war
ſeiner Zeit auch ein junger Baron und war, wie
Felix, Offizier geweſen. Er wußte ſehr wohl, welchen
Verſuchungen ein junger und reicher Edelmann in
dieſer Lage ausgeſetzt iſt; er ſelbſt war dieſen Ver¬
ſuchungen nicht immer entgangen und hatte in ſeinem
reiferen Alter, als ſein von jeher ernſt geſtimmter
Geiſt ſeine naturgemäße Richtung erlangt hatte, mit
bitterer Reue die Sünden ſeiner heißblütigen Jugend
beklagt. Er hatte an ſeinem Vetter Harald das le¬
bendige Beiſpiel gehabt, wohin die ungezügelten Lei¬
denſchaften zuletzt führen, und ſein durch die Liebe zu
ſeiner Tochter und durch die Erfahrung in dieſem
einen Falle doppelt ſcharfes Auge erkannte ſofort, daß
ſein Neffe Felix in einem hohen Grade der Sclave
[17] dieſer Leidenſchaften geweſen ſein mußte, vielleicht
noch war. Er hatte den jungen Mann vor ein paar
Jahren geſehen, als dieſer eben die Cadettenſchule
verließ. Damals hatte er eine angenehme Erinnerung
an den ſchlanken, kräftig gebauten Jüngling mit dem
friſchen hübſchen Geſicht und den lebhaften hellen
Augen davongetragen; jetzt ſah er von dieſer aller¬
liebſten Erſcheinung nur noch einen traurigen Schat¬
ten. Eine geſpenſtige Magerkeit, tiefe Furchen in
dem jugendlich-alten Geſicht, die großen blauen Augen
gläſern oder von einem fieberhaften Glanze leuchtend
und ſtets mit dem ſtarren, frechen Blick, der deut¬
licher ſpricht, als eine lange Lebensbeſchreibung —
die Bewegungen haſtig und fahrig, offenbar in der
Abſicht, die innere Mattigkeit und Schlaffheit zu ver¬
decken — die Rede vorlaut und über Alles mit der¬
ſelben ſouveränen Oberflächlichkeit weghuſchend — das
ganze Weſen von einer krankhaften Eitelkeit wie zerfreſſen
— ſo oder ungefähr ſo erſchien Felix dem beſorgten
Vater, trotzdem deſſen Menſchenfreundlichkeit hier wie
überall die ſchlimmſten Flecken des Bildes gutmüthig
vertuſchte.
Es that ihm leid, daß er ſich von ſeiner Gemalin
das Verſprechen hatte abnehmen laſſen, in dieſer An¬
gelegenheit nicht ſelbſtſtändig handelnd aufzutreten. Es
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 2[18] kam ihm vor, als ob er ſich mit dieſem Verſprechen
doch übereilt habe, und auf jeden Fall hielt er dafür,
daß eine geſchickte Sondirung, wie denn Helene ſelbſt
in dieſem Punkte denke, kein Bruch des Verſprechens
ſei. So ſagte er denn, nachdem ſie eine Weile ſchwei¬
gend nebeneinander hergegangen waren, ihren Arm in
den ſeinen legend:
„Wie befindeſt Du Dich, meine Tochter?“
„Ich danke, Vater, gut; weshalb?“ erwiederte
Fräulein Helene, etwas überraſcht über dieſe plötz¬
liche Frage.
„Ich dächte, Du ſäheſt etwas blaß aus.“
„Das kommt wohl nur von der ungünſtigen Be¬
leuchtung hier unter den grünen Bäumen,“ antwor¬
tete das junge Mädchen heiter; „ich befinde mich
aber wirklich ganz wohl.“
„Ich fürchtete immer, der plötzliche Wechſel der
Luft, der Lebensweiſe, des Umgangs würde Dir
ſchädlich ſein. Du biſt zu lange vom Hauſe fortge¬
weſen.“
„Das iſt nicht meine Schuld, lieber Vater.“
„Ich weiß es wol, ich weiß es wol; aber meine
Schuld iſt es auch nicht; ich habe ſtets der Abkürzung
der Penſionszeit das Wort geredet, aber —
„Nun, ich bin ja endlich hier und wir wollen das
[19] Verſäumte möglichſt nachholen. Wir wollen recht viel
zuſammen ſpazieren gehen; ich will Dir aus Deinen
Lieblingsbüchern vorleſen; es ſoll ein reizendes ſtill¬
vergnügtes Leben werden,“ und das junge Mädchen
nahm die Hand ihres Vaters und führte ſie an ihre
Lippen.
„Du biſt ein liebes gutes Kind,“ ſagte der Baron
und ſeine Stimme zitterte etwas: „gebe Gott, daß ich
mich Deiner noch recht lange zu erfreuen habe.“
„Aber, beſter Vater, ſchon wieder ſolche hypochon¬
driſche Gedanken! Du biſt ja jetzt, Gott ſei Dank,
wieder ſo rüſtig, wie immer. Weshalb ſollten wir
nicht noch lange glücklich zuſammen leben!“
„Aber wenn Du uns verließeſt.“
„Ich ſterbe fürs erſte noch nicht, deshalb ſei nur
ganz unbeſorgt;“ ſagte Fräulein Helene lachend.
„Das wolle auch Gott verhüten! aber die Kinder
werden ja nicht blos durch den Tod von den Eltern
getrennt. Wenn Du nun heiratheſt, ſo müſſen wir
uns doch darauf gefaßt machen, Dich abermals zu
verlieren, nachdem wir Dich kaum wieder gewonnen
haben.“
„Aber, Papa, Du ſprichſt ja gerade, als ob ich
wo möglich morgen ſchon heiraten ſoll! Ich denke
ja gar nicht daran. Auch die Mutter fing geſtern
2*[20] von dieſem Capitel an. Wollt Ihr mich denn wirk¬
lich ſo gerne wieder los ſein?“
„So, ſo, alſo Deine Mutter hat ſchon mit Dir
geſprochen, hm, hm!“ ſagte der Baron, der natürlich
nicht anders dachte, als daß die Baronin, mit dem
längſt beſprochenen und vorbereiteten Plan endlich
hervorgetreten ſei, und der die Zeit, den Tag vor
Felix' Ankunft, auch ganz paſſend gewählt fand; „ſo,
ſo! hm, hm! Nun, und wie gefällt Dir denn Dein
Couſin?“
„Wer? Felix?“ fragte Helene, die für den Augen¬
blick in ihrer Unbefangenheit den Zuſammenhang
dieſer Frage mit dem Vorhergehenden nicht einmal
ahnte.
„Ja.“
„Er kommt mir vor, wie der Champagner, den
wir heute Mittag tranken. Die erſten Tropfen
ſchmeckten recht gut, als ich das Glas eine Weile
hatte ſtehen laſſen, fand ich den Wein ſehr fade und
abgeſchmackt. — Aber Ihr habt mich doch nicht etwa
für Couſin Felix beſtimmt?“ fragte Fräulein Helene,
der dieſer Gedanke jetzt erſt durch den Kopf ſchoß,
mit großer Lebhaftigkeit.
„Bewahre, das heißt: ganz, wie Du willſt; ich will
ſagen: es wird Deinem Willen in dieſer Hinſicht nie
[21] ein Zwang auferlegt werden,“ erwiederte der alte
Baron, der weder die Wahrheit ſagen durfte, noch
lügen wollte, mit ziemlicher Verwirrung.
Helene antwortete nicht; aber der angeregte Ge¬
danke arbeitete in ihrem lebhaften Geiſte weiter. Sie
verglich das geſtrige Geſpräch, das ſie auf ihrem
Zimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, mit dem ſo¬
eben geführten . . . es bedurfte nicht einmal eines ſo
ſcharfſinnigen Kopfes, als der ihre war, um den Zu¬
ſammenhang zwiſchen dieſen beiden Unterredungen und
den Sinn der hingeworfenen Andeutungen zu entdecken.
Ihr ſtolzes Gemüth empörte ſich, wenn ſie dachte,
daß man, ohne ſie zu fragen, ohne ihre Meinung ein¬
zuholen, im Voraus über ihr Schickſal entſchieden
und ihre Hand verſprochen habe; daß dieſer Felix,
vor dem ihr reines keuſches Herz ſie inſtinctiv warnte,
vielleicht ſchon in dieſem Augenblick ſie als die ſeine
betrachtete! Dieſe Gedanken nahmen ſie ſo ganz in
Anſpruch, daß ſie nicht einmal in das bewundernde:
Ah, wie ſchön! wie herrlich! einzuſtimmen vermochte,
in das die übrige Geſellſchaft ausbrach, als man
einige Minuten ſpäter aus dem Walde auf den Rand
des hohen Ufers hinaustrat.
In der That war das Schauſpiel das ſich den
Blicken darbot, wol der Bewunderung werth. Die
[22] Sonne war ſoeben in das Meer geſunken und ſchien
die in allen Schattirungen von Roth und Gold pran¬
genden Wolken wie in einem Strudel hinter ſich her¬
zuziehen. Von dem Punkte, wo ſie untergegangen war,
ſchoſſen lichte Streifen durch die Wolken nach allen
Seiten bis hoch hinauf in den durchſichtig blauen
Himmel. Die See war nach dem Horinzonte hin ein
Feuermeer, und auf einzelnen höheren Wellen zitterten
die goldenen Funken bis zum Strand herüber. Das
hohe vielfach zerklüftete Kreideufer und der Buchwald,
der es krönte, waren von dem rothen Abendſchein,
wie von einer bengaliſchen Flamme angeſtrahlt. Rings
umher tiefe feierliche Stille, nur unterbrochen von
dem dumpfen Rauſchen der Wogen unten auf den
Kieſeln des Strandes, und dann und wann von dem
grellen Schrei einer Möve, die über den erregten
Waſſern flatterte.
Die Geſellſchaft ſtand, in Betrachtung des
herrlichen Schauſpiels, das mit jedem Augenblicke
wechſelte, verloren, gruppenweis da. Oswald, dem die
ewigen Ach's und Oh's, an denen ſich beſonders die
Baronin und Felix überboten, nachgerade langweilig
wurden, hatte ſich etwas von den Uebrigen entfernt
und ſich auf die bloß liegende Wurzel einer mächtigen
Buche geſetzt.
[23]
„Haben Sie noch einen Platz für mich?“ fragte
Helene, die ihm gefolgt war.
„Ich räume Ihnen gern den meinigen ein,“ ſagte
Oswald aufſtehend.
„Nur für ein paar Augenblicke; ich weiß nicht,
der Spaziergang hat mich außergewöhnlich müde ge¬
macht.“
„Sie ſind heute Morgen vielleicht zu lange im
Garten geweſen.“
„Nein, aber Apropos, wie kommt es, daß ich Sie
heute und auch ſchon geſtern nicht geſehen habe?“
„Bloßer Zufall.“
„Das freut mich.“
„Weshalb?“
„Ich fürchtete, aufrichtig geſtanden, ich hätte Sie
aus dem Garten vertrieben; ich dachte, dies ewige
Sichbegegnen mit derſelben bewußten Perſon wäre
Ihnen unleidlich geworden.“
„Sie denken in der That äußerſt beſcheiden von
der bewußten Perſon.“
„Nein, ſpotten Sie nicht; ich dachte es im Ernſt
— ja und noch mehr! Sie ſind ſeit vorgeſtern Abend
ſehr ſtill und, wie mir vorkam, beſonders kurz gegen
mich. Sie haben mir auch geſtern meine Literatur¬
[24] ſtunde, auf die ich mich ſo freute, nicht gegeben. Bin
ich vielleicht unwiſſentlich die Veranlaſſung —“
„Wie meinen Sie?“
„Nun, ich rede manchmal, was vielleicht hart oder
anmaßend klingt; wenigſtens iſt mir dieſer Vorwurf
oft gemacht worden; aber ich meine es wirklich nicht
ſo —“
„Und Helene blickte mit ihren großen dunkeln
Augen freundlich zu Oswald empor, der in Bewun¬
derung ihrer Schönheit und in Erſtaunen über dieſe
plötzliche und unerklärliche Milde und Theilnahme ver¬
loren, vor ihr ſtand.
„Was ſehen Sie mich ſo verwundert an?“
„Daß ſich ſo viel Güte hinter ſo viel Stolz ver¬
ſtecken kann!“
„Iſt es denn die Welt werth, daß wir ihr unſer
Herz zeigen?“
„Eine ſonderbare Frage in dem Munde eines ſo
jungen Mädchens.“
„Freilich, wir dürfen ja über nichts nachdenken.
Wir ſind, wenn's hoch kommt, hübſche Puppen, mit
denen man ſpielt und die man an den erſten Beſten
verſchenkt, der merken läßt, daß er uns gern haben
möchte.“
„Couſine,“ rief Felix, „wir wollen zum Strande
hinabgehen; wollen Sie mit?“
„Nein!“ ſagte Helene, ohne ſich nach dem Sprechen¬
den umzuwenden.
„Es iſt eine reizende Partie;“ rief Felix.
„Möglich;“ erwiederte das junge Mädchen kurz,
ohne ihre Stellung zu verändern.
Aber Felix war nicht der Mann, ſich ſo leicht ab¬
weiſen zu laſſen. Er kam zu dem Platze, auf dem
ſich Oswald und Helene befanden, herüber und ſagte:
„Aber Helene, Sie werden doch dieſe erſte Bitte,
die ich an Sie richte, nicht abſchlagen?“
„Weshalb nicht?“ erwiederte dieſe und der Ton
ihrer Stimme klang eigenthümlich ſcharf und bitter:
„ich kann das Bitten und die Bittenden nicht leiden,
das können Sie nicht früh genug lernen.“
„Haben Sie ſich den Fuß vertreten, theuerſte Cou¬
ſine?“ fragte Felix.
„Weshalb?“
„Weil Sie ſo unbeweglich ſitzen und in ſo ſchau¬
derhafter Laune ſind;“ erwiederte Felix lachend und
ging ohne ein Zeichen, daß ihn das Benehmen He¬
lene's irgend verletzt habe, zu den Uebrigen.
„Wollen Sie ſich nicht der Geſellſchaft anſchließen,
Herr Doctor?“ fragte Helene, auf deren Wangen
[26] noch die Erregung der letzten kleinen Scene brannte,
als jetzt die Andern den ziemlich ſteilen Weg, der
zum Strand führte, hinabzuſteigen begannen.
„Sie wünſchen allein zu ſein?“
„Nicht doch; im Gegentheil, ich freue mich, wenn
Sie hier bleiben wollen. Nach der geiſtreichen Un¬
terhaltung von heute Mittag und heute Abend fühlt
man das Bedürfniß, endlich einmal ein verſtändiges
Wort zu ſprechen. Sie haben mir noch immer nicht
geſagt, ob ich Ihnen, ohne es zu wiſſen und zu
wollen, durch irgend eine unvorſichtige Bemerkung
vielleicht, weh gethan habe?“
„Nein, durchaus nicht. Ich habe vorgeſtern Abend
eine Nachricht erhalten, die mich ſehr betrübt . . . Er¬
innern Sie ſich des Profeſſor Berger von ihrer Bade¬
reiſe nach Oſtende vor drei Jahren?“
„Ei gewiß! wie könnte man den vergeſſen! Mir
iſt, als ob ich ihn geſtern geſehen hätte, ſo deutlich
ſteht er vor mir mit ſeinen hellen Augen unter den
buſchigen Brauen und ſtets mit einem Bonmot auf
den Lippen. Was iſt mit ihm? er iſt doch nicht gar
todt?“
„Nein, ſchlimmer als das — er iſt wahnſinnig
geworden.“
„Um Gotteswillen! der Profeſſor Berger — dieſes
[27] Bild der Klarheit und Geiſteshoheit! Wie iſt das
möglich? Wiſſen es die Eltern ſchon?“
„Nein, und bitte, ſagen Sie auch nichts; ich könnte
es jetzt nicht ertragen, daß darüber geſprochen würde.“
„Sie hatten den Profeſſor wol recht lieb?“
„Er war mein beſter, vielleicht mein einziger
Freund.“
„Wie beklage ich Sie,“ ſagte Helene, und auf
ihrem ſchönen Antlitz war die Theilnahme, die ſie
empfand, deutlich zu leſen; „ein ſolcher Verluſt muß
fürchterlich ſein. Und Sie ſtehen hier ganz allein
mit ihrem Kummer, und Keiner nimmt Theil an
Ihrem Schmerz.“
„Ich bin das von jeher gewöhnt geweſen.“
„Haben Sie denn keine Eltern, keine Geſchwiſter,
Verwandte?“
„Meine Mutter ſtarb, als ich noch ein Kind war;
mein Vater vor mehren Jahren; Geſchwiſter habe ich
nie gehabt; Verwandte, wenn ich welche habe, nie
gekannt.“
Helene ſchwieg und zeichnete mit der Spitze ihres
Sonnenſchirms Linien in den Sand.
Plötzlich hob ſie den Kopf und ſagte in einem
Ton, der halb wie eine Klage und halb wie eine
Herausforderung klang:
„Wiſſen Sie, daß man Eltern und Geſchwiſter —
ja! und ſelbſt Verwandte, haben und doch recht allein
ſein und ſich recht einſam fühlen kann? Und Sie
haben es noch immer gut; Sie ſind ein Mann; Sie
können für ſich ſelbſt handeln, während —“
Das junge Mädchen brach ab, als fürchtete ſie,
ſich von ihren Empfindungen zu weit hinreißen zu
laſſen. Sie ſtand auf und trat einige Schritte von
Oswald weg dicht an den Rand des ſteilen Ufers. —
Es war ein wunderſam ſchönes Bild, dieſe ſtolze,
ſchlanke Geſtalt auf dem lichten Hintergrunde des
goldenen Abendhimmels, der ihr herrliches Haupt, mit
deſſen dunklen Locken der Seewind ſpielte, wie mit
einem Glorienſchein umgab. Und wie ein Engel des
Himmels erſchien ſie Oswald, in deſſen krankes Herz
ihre guten mitleidigen Worte wie milder Regen auf
eine welke Blume gefallen waren. Und nun zum
erſten Male erinnerte er ſich wieder des Geſpräches,
das er am Tage ſeiner Zurückkunft von Saſſitz mit
dem Doctor gehabt hatte. Alſo wirklich! dies holde,
herrliche Geſchöpf ſollte auch verkauft werden, wie
Melitta verkauft worden war! Sie ſagte es ſelbſt!
aus ihrem eigenen Munde hatte er es nur eben ge¬
hört: ſie hatte keinen Freund! ſie ſtand allein da in
der Welt! ſie konnte nicht für ſich ſelbſt handeln!
[29] Und ſie hatte noch Mitleid und Troſt für ihn, ſie,
die ſelbſt des Mitleids und des Troſtes — nein, thä¬
tiger Hülfe — ſo ſehr bedurfte! Die Schwachen,
die Hülfloſen zu ſchützen iſt das Recht und die Pflicht
des Mannes — es hätte wol wenig kühne Abenteuer
gegeben, in welche ſich Oswald in dieſem Augenblicke
nicht ohne Zögern für die ſchöne Verfolgte geſtürzt
hätte. Er dachte nicht daran, daß des Ritters erſte
Pflicht die Treue gegen die Dame ſeines Herzens iſt,
und daß für eine Andere eine Lanze brechen, während
er in Gefahr ſchwebt, jene zu verlieren, weder von
Weisheit noch von Edelmuth zeugt.
Da gellte von dem Strande, auf dem die Uebrigen
jetzt angekommen waren, ein Schrei empor — und
wie Helene, die ſich von Schwindel ganz frei wußte,
noch einen Schritt näher an den Rand trat und ſich
über den Abhang beugte, ein zweiter, noch geller,
noch ſchriller, noch angſtvoller.
„Um Himmelswillen,“ rief Helene; „was kann
denn da geſchehen ſein? Mir däucht, es war Bruno's
Stimme. Laſſen Sie uns ſo ſchnell wie möglich hin¬
abeilen!“
Der Weg zum Strande, der ſich im Zickzack an
dem Kreidefelſen hinwand, war trotz ſeiner Steilheit
im Nu von den jungen Leuten zurückgelegt. Als ſie
[30] athemlos unten ankamen, ſahen ſie Bruno ohnmäch¬
tig, von Albert gehalten, während die Anderen rath¬
los umherſtanden.
„Holen Sie Waſſer, ſchnell!“ ſagte Oswald, Al¬
bert den Knaben abnehmend und dieſem das Hals¬
tuch abknüpfend und die Kleider öffnend, woran noch
Niemand gedacht hatte.
„Wie iſt denn dies gekommen?“ fragte Helene,
die kalten Hände Bruno's in ihre Hände nehmend
und angſtvoll in ſein ſchönes blaſſes Geſicht ſtarrend.
„Es weiß Niemand von uns,“ ſagte die Baronin.
„Es wird ein Anfall von Schwindel ſein,“ meinte
Felix.
Unterdeſſen hatte Oswald von dem Waſſer, welches
Albert — in Bruno's Hut — gebracht hatte, des
Knaben Stirn und Schläfen und Bruſt reichlich be¬
netzt. Helene erinnerte ſich, daß ſie ein Fläſchchen
Eau de Cologne bei ſich führe, und half Oswald in
ſeinen Bemühungen. Es gelang ihnen in Kurzem,
den Ohnmächtigen wieder zu ſich zu bringen. Er
ſchlug langſam die großen Augen auf, ſein erſter Blick
fiel auf Helene, die ſich über ihn beugte.
„Biſt Du todt, ganz todt?“ murmelte er, die
Augen wieder ſchließend.
Man glaubte, er habe den Verſtand verloren.
[31]
„Komm zu Dir, Bruno!“ ſagte Helene, dem Kna¬
ben mit leiſer Hand über Stirn und Augen ſtreichelnd.
Bruno ergriff dieſe Hand und drückte ſie feſt auf
ſeine Augen, durch deren geſchloſſene Wimpern ſich
zwei große Thränen drängten. Dann richtete er ſich
mit Oswald's Hülfe vollends auf.
„Mir iſt wieder ganz wohl!“ ſagte er; „ich bin
wol gar ohnmächtig geweſen? Wie lange habe ich ſo
gelegen?“
„Nur ganz kurze Zeit,“ ſagte Oswald, Bruno's
Geſicht mit ſeinem Taſchentuche abtrocknend und den
Anzug wieder in Ordnung bringend.
„Du haſt uns einen rechten Schrecken verurſacht;
was hatteſt Du denn nur?“ fragte die Baronin.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Knabe, deſſen
blaſſe Wangen plötzlich hohe Purpurgluth bedeckte;
„es kam ganz plötzlich. Danke, danke, ich glaube,
ich kann jetzt mit Herrn Stein's Hülfe ganz gut
weiter kommen.“
„Wir wollen wieder umkehren,“ ſagte die Baronin.
„Daß einem doch jedes, auch das beſcheidenſte Ver¬
gnügen durch irgend einen Unfall verleidet wird!“
Man ſtieg langſam das Ufer wieder hinauf und
trat, ziemlich einſilbig und verſtimmt, den Rückweg
durch den Wald an. Felix, der ſich zu erkälten fürch¬
[32] tete, ermahnte zu größerer Eile; Oswald bemerkte
trocken, er wolle die übrige Geſellſchaft nicht aufhalten,
man möge ihm indeſſen erlauben, mit Bruno langſam
zu folgen. Helene erklärte, daß ſie bei Bruno bleiben
würde; der alte Baron, der bei dem ganzen Vorfall
eine große, wenn auch thatloſe Theilnahme an den
Tag gelegt hatte, ſchlug vor, die Geſellſchaft ſolle ſich
in einen Vortrab und einen Nachtrab theilen, er ſelbſt
wolle den letzteren führen.
„Du wirſt Dir den Schnupfen holen, lieber Gren¬
witz,“ ſagte die Baronin; „ich dächte, Du kämeſt
mit uns.“
„Nein,“ ich werde bei den Anderen bleiben,“ ſagte
der alte Baron mit einer Beſtimmtheit, die Alle, viel¬
leicht ihn ſelbſt, überraſchte.
Er gab ſeiner Tochter den Arm, blieb aber in
der Nähe Oswald's und Bruno's, eine harmloſe
Unterhaltung, wie er ſie liebte, mit ihnen führend
und ſich von Zeit zu Zeit nach des Patienten Be¬
finden erkundigend.
„Ich befinde mich wohl, ganz wohl,“ verſicherte
dieſer ein Mal über das andere; doch fühlte Oswald,
daß er ſich feſt auf ſeinen Arm ſtützte und daß ſeine
Hände kalt waren.
Sie kamen, lange nach den Anderen, auf dem
[33] Schloſſe an. Der alte Baron wünſchte gute Beſſe¬
rung, als Oswald ſich ſofort mit Bruno auf deſſen
Zimmer begab, wo er den Knaben ſich ſogleich zu
Bett legen ließ.
„Du biſt kränker, Bruno, als Du zugeben willſt,“
ſagte er, ſich zu ihm auf's Bett ſetzend, „nicht wahr,
Du haſt Deine alten Schmerzen?“
„Ja,“ ſagte Bruno, deſſen Zähne zuſammenſchlu¬
gen und auf deſſen Stirn der kalte Schweiß ſtand.
Oswald beeilte ſich, die alten Hausmittel, wie
jenes erſte Mal, herbeizuſchaffen; und es gelang ſeinen
Bemühungen auch jetzt, das Uebel zu heben, wenig¬
ſtens die Schmerzen in kurzer Zeit zu lindern.
„Wirſt Du auch mir nicht ſagen, Bruno, was
Dich ſo bewegt hat?“ fragte Oswald da.
„Doch!“ ſagte der Knabe, „ich wollte es nur nicht
in der Anderen Gegenwart, weil ich ihr albernes Ge¬
lächter ſchon im voraus hörte. — Ich war etwas
hinter den Anderen zurückgeblieben und durch einen
Vorſprung des Ufers von ihnen getrennt. Ich dachte
immer, ihr würdet nachkommen und deshalb ging ich
ſo langſam und blickte oft nach oben. Da ſah ich
plötzlich Helene ganz nahe an den Rand des Ufers
treten, das an dieſer Stelle wol hundert Fuß und
darüber lothrecht hinabfällt. Ich ſchrie laut auf in
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 3[34] entſetzlicher Angſt, da trat ſie noch näher — bog ſich
ſogar herüber — und da wurde mir es ſchwarz vor
den Augen — nun und das Uebrige weißt Du ja.
Aber ich höre Malte kommen. Gute Nacht, Oswald.“
„Gute Nacht, Du Wilder!“
Oswald küßte ſeinen Liebling auf die Stirn und
ging nachdenklich auf ſein Zimmer. Er lehnte ſich
in das offene Fenſter und ſchaute lange, in Sinnen
und Brüten verloren, in den Garten hinab. Die
Nacht war finſter; nur hier und da ſchimmerte ein
Stern auf Augenblicke durch den Wolkendunſt. Manch¬
mal rauſchten die Bäume lauter auf, als ſprächen ſie
ängſtlich in einem wirren, unruhigen Schlaf; der Brun¬
nen der Najade plätſcherte dazwiſchen, leiſe und ab¬
gebrochen, als erzähle er eine alte unheimliche Ge¬
ſchichte.
„Dein Leben gleicht dieſer Nacht,“ ſprach Oswald
bei ſich: „hier und da ein Stern, der ſo bald wieder
verſchwunden iſt, und ſonſt Alles chaotiſches Dunkel.
Du haſt recht, guter Berger: unſer Leben iſt ein
hohles Nichts, und wer nur überhaupt einen Ver¬
ſtand zu verlieren hat, muß ihn darüber verlieren.
Wollteſt Du bewirken, daß Dir Dein Schüler ſobald
als möglich nachfolgen könnte, als Du mich hierher
ſchickteſt? Da biſt Du nun an demſelben Orte, wo
[35] Melitta iſt und auch Oldenburg. Vielleicht ſiehſt Du
ſie, wenn ſie Arm in Arm an Deiner Zelle vorüber¬
gehen; vielleicht kommt Dir bei der Gelegenheit der
Verſtand wieder, den andere Leute bei dem Anblick
verlieren würden. Ich könnte ja auch eine kleine Reiſe
nach N. machen, meine guten Freunde zu beſuchen;
wer weiß? vielleicht gefällt mir der Ort ſo ſehr, daß
ich gleich da bleibe.“
„Wie geht es Bruno?“ tönte eine Stimme aus
dem Garten herauf. Es war Helene's Stimme. Os¬
wald ſah ihr helles Gewand durch das Dunkel her¬
aufſchimmern.
„Ich danke, gut!“ antwortete er hinab.
„Schlafen Sie wohl!“
Und das helle Gewand verſchwand in den Büſchen.
„Nein, das Leben iſt mehr wie ein hohles Nichts,“
murmelte Oswald, indem er das Fenſter ſchloß; „hätte
Berger dieſes Mädchen geſehen, er hätte wieder an
das Leben geglaubt. Und doch! er hat ſie ja geſehen,
geſehen und bewundert und beſungen, und iſt doch
wahnſinnig geworden . . . o, es iſt ein ſchauerliches
Ding, dieſes Leben — öde und dunkel und geſpenſtiſch
und das einzige Reelle eine holde, freundliche Stimme,
die uns ſchlafen gehen heißt.“
3*
Zweites Kapitel.
Es kommen im Familienleben, genau wie im Leben
der Völker, gewiſſe Zeiten, wo Alle mehr oder weniger
deutlich fühlen, daß ſich etwas Großes, Außerordent¬
liches vorbereite; wo die dunkle Zukunft ihren drohen¬
den Schatten weit hineinwirft in die Gegenwart, die
Gemüther der Einen verdüſtert, die der Andern mit
vagen Hoffnungen erfüllt, überall aber eine wühlende
Unruhe in den Geiſtern erzeugt, die dann ihrerſeits
wiederum dazu beiträgt, das Hereinbrechen deſſen,
was dieſe fürchten und Jene herbeiwünſchen, zu be¬
ſchleunigen.
Eine ſolche Zeit fieberhafter Spannung war denn
jetzt auch für die vor Kurzem noch ſo ſtille Geſell¬
ſchaft auf Schloß Grenwitz hereingebrochen. Bruno's
plötzlicher Unfall, von dem er ſich übrigens ſchon am
nächſten Tage erholte, hätte für die Scharfſichtigeren
ein Symptom von dem ſein können, was da Alles
[37] unter der glatten Hülle geſelliger Höflichkeit und pein¬
lich genau beobachteter Formen in der Tiefe gährte
und kochte: geheime Liebe und tief verſteckter Haß!
Feindſchaften unter der Maske trefflichſten Einver¬
nehmens und guter Kameradſchaft! herzliche Sym¬
pathien, die ſich unter dem Anſchein von Gleichgültig¬
keit, ja Abneigung verbargen! Selbſt die Phyſiogno¬
mie des äußeren Lebens war verändert. Die tiefe,
faſt beängſtigende Stille, die ſonſt in dem weiten
Raume, welchen der Schloßwall einſchloß, herrſchte,
wurde jetzt gar vielfach geſtört. Baron Felix, der
zum Anachoreten ſehr wenig Talent beſaß, mochte es
ſich nicht verſagen, wenigſtens einer oder der andern
ſeiner gewohnten Beſchäftigungen in der Einſamkeit von
Schloß Grenwitz nachzuhängen. Am Tage nach ſeiner
Ankunft waren ſeine beiden ſchönen Reitpferde glücklich
angelangt, und ſo konnten bei den weiteren Ausflügen
der Geſellſchaft, die zu Wagen unternommen wurden,
wenigſtens zwei der Herren beritten gemacht werden.
In einem entlegeneren Theile des Gartens war unter
ſeiner Leitung ein kleiner Schießſtand hergerichtet wor¬
den, und in den ſpäteren Nachmittagsſtunden ertönte
jetzt ſehr oft (zu der Baronin geheimem Entſetzen) der
kurze, ſcharfe Knall gezogener Piſtolen bis in die ge¬
heiligte Stille der nach dem Garten gelegenen Wohn¬
[38] gemächer. Da Reiten, Schießen und Jagen Vergnü¬
gungen ſind, die durch Gemeinſamkeit weſentlich erhöht
werden, ſo waren Oswald, Albert und ſelbſt Bruno
in keinem Augenblick vor Felix ſicher, der fortwährend
auf der Jagd nach einem Gefährten zu dieſer oder
jener Unternehmung war, und ſtets ſo lange bat und
quälte, bis man ſich wol oder übel ſeinen Wünſchen
accommodirte. Felix gehörte zu den Menſchen, die
niemals müßig ſind, ohne doch eigentlich jemals wirk¬
lich beſchäftigt zu ſein, mochte er nun ſtundenlang bei
ſeiner Toilette zubringen und zwiſchendurch die Chan¬
ſons von Béranger, oder ein paar Capitel aus den
liaisons dangéreuses (ſeinen Lieblingsbüchern) leſen;
mochte er ſich mit der zweckmäßigſten Conſtruction
einer Angelruthe die Zeit vertreiben oder die mangel¬
hafte Dreſſur ſeines Hühnerhundes vervollſtändigen,
oder von ein paar Muſikſtücken die erſten Takte ſpie¬
len, um mit keinem zu Ende zu kommen — er war
ſtets und zu jeder Zeit der geſchäftige Müßiggänger,
der die vortrefflichſten Naturanlagen in der Verfol¬
gung von lauter frivolen und oberflächlichen Zwecken
vergeudete. Denn Felix war eine ſehr begabte Natur,
deren nachhaltige Kraft ſelbſt ein überaus wüſtes und
leichtſinniges Leben nicht gänzlich hatte vernichten kön¬
nen. Ein Streben nach dem Höheren, die Ahnung
[39] des Ideals war in der fieberhaften Raſtloſigkeit, mit
der er ſich auf alles Neue warf, in dem Ehrgeiz,
welcher ihn trieb, überall der Erſte zu ſein, oder
wenigſtens als ſolcher zu erſcheinen, ja ſelbſt in ſeiner
maßloſen Eitelkeit und in der unglaublichen Sorgfalt,
die er auf ſeine äußere Erſcheinung verwandte, unver¬
kennbar. Hätte er jemals den Ernſt des Lebens ken¬
nen gelernt, hätte er nur einmal ſein Brod mit Thrä¬
neu eſſen müſſen, er wäre vielleicht zu retten geweſen.
So ließ er ſich, ohne jemals über ſeine Lage nach¬
denken zu wollen oder zu können, von dem Strudel
ſeiner Leidenſchaften näher und immer näher an den
Punkt treiben, wo er, wenn nicht ein Wunder da¬
zwiſchen trat, unfehlbar verſinken mußte.
Ob es ihm mit der Aenderung ſeines Lebens, über
die er mit der Baronin ſo viel correſpondirt hatte,
Ernſt war? wol ſchwerlich. Das [Garniſonsleben]
war ihm langweilig geworden; die Schaar der Gläu¬
biger immer dringender und ſeine Situation der Art,
daß, als er betreffenden Orts um längeren Urlaub
einkam, man ihm zu verſtehen gab, er thäte, wenn
ſeine Geſundheit wirklich ſo angegriffen ſei, vielleicht
beſſer, ſogleich ſeinen Abſchied zu nehmen. Gerade
in dieſer kritiſchen Zeit machte ihm die Baronin Gren¬
witz ihre Anerbietungen betreff Helene's. Felix, der
[40] hier einen Ausweg fand, an den er noch gar nicht
gedacht hatte — denn Anna-Maria's Gemüthloſigkeit
in Geldangelegenheiten war ihm aus Erfahrung be¬
kannt — griff mit beiden Händen zu, obgleich eine
Heirat nicht eben nach ſeinem Geſchmack war. In¬
deſſen war er bereit, ſich auf jeden Fall auch in dieſe
Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb
überraſcht, als ihm in ſeiner Couſine, die er bis da¬
hin nicht gekannt hatte, ein Weſen entgegentrat, ſchö¬
ner, anmuthiger, als irgend eine der Damen, die er
bisher mit ſeiner Neigung beehrt hatte — ein Weſen,
das die Seine zu nennen, den Stolzeſten der Stolzen
entzückt haben würde. So waren denn nicht zwei
Tage vergangen, als Felix für ſeine ſchöne Couſine
in ſeinem Herzen eine Leidenſchaft fühlte, die freilich,
genau betrachtet, bloße Eitelkeit war, ihm ſelbſt aber
wie ein ganzes Wunder vorkam. Selbſtiſche Menſchen
ſind auf Alles eitel, ſelbſt auf die natürlichſten Ge¬
fühle, und ſo konnte denn Felix nicht müde werden,
die Baronin von ſeiner Liebe, wie von einem achten
Wunder der Welt, zu unterhalten und ſich auch
gegen die Uebrigen, beſonders Oswald, über die Herr¬
lichkeit eines auf das Höchſte gerichteten Strebens
auszulaſſen. Ob ſeine Leidenſchaft erwiedert wurde?
Felix zweifelte nicht einen Augenblick daran. Hatte
[41] er nicht bis jetzt noch überall reüſſirt? war ſein Glück
bei den Frauen nicht ſprichwörtlich ſelbſt unter den
Kameraden, von denen ſich doch ſo ziemlich jeder
Einzelne für einen Paris hielt? und hatte er nicht
ſchon ſo oft erfahren, daß ſich die Liebe hinter dem
Anſchein der Gleichgültigkeit, ja der Abneigung ver¬
birgt? Freilich trieb ſeine ſchöne Couſine die Komödie
ziemlich weit; freilich behandelte ſie ihn mit einer
Kälte, einer Geringſchätzung, die manchmal gradezu
beleidigend war — aber er ließ ſich dadurch in dem
felſenfeſten Glauben an ſeine unwiderſtehliche Liebens¬
würdigkeit nicht beirren und verſpottete die Baronin,
wenn dieſe ihn wieder und immer wieder zur Vor¬
ſicht ermahnte. Denn Anna Maria ſah, da keine per¬
ſönliche Eitelkeit die Klarheit ihres Blickes trübte, in
dieſer Angelegenheit viel ſchärfer als Felix. Sie, die
an ſich ſelbſt die Energie des Charakters ſo hoch
ſchätzte, mußte im Stillen die conſequente Gleich¬
mäßigkeit in Helene's Betragen, die beſcheidene Feſtig¬
keit, mit der ſie ihre Anſichten ausſprach und be¬
hauptete. bewundern. Es war ein Etwas in der
ſtolzen Schönheit ihrer Tochter, wovor ſie ſich unwill¬
kürlich beugte - ein Lichtglanz aus einer höheren
Welt, als die Welt durchaus egoiſtiſcher Intereſſen,
in welcher ſie ſelbſt ſich bewegte. — Helene ſelbſt
[42] war nach jenem Abend am Strande wo möglich noch
ſtiller und zurückhaltender geworden. Sie flüchtete,
wenn ſie irgend konnte, in die Einſamkeit ihres Zim¬
mers. Wenn ſie in der Geſellſchaft war, ſchloß ſie
ſich am liebſten an ihren Vater an, oder ſuchte es
auf den Spaziergängen ſo einzurichten, daß Bruno
ihr Begleiter war. Sie hatte ſtets einen kleinen Dienſt
für ihn; bald mußte er ihr den Hut, bald die Man¬
tille tragen, bald hatte er ihr eine Blume zu pflücken,
die auf der andern Seite des Grabens wuchs, bald
ihr an einer ſteileren Stelle des Ufers die Hand zu
reichen. Bruno unterzog ſich dieſem Dienſte mit
einem milden Ernſt, der freilich den Spott des Baron
Felix zuweilen herausforderte, für Jeden aber, der
ſich für den Knaben intereſſirte, und die wilde Un¬
bändigkeit ſeiner Natur kannte, etwas unendlich Rüh¬
rendes hatte. Sein Weſen ſchien, ſobald Helene's
Blick auf ihn ruhte, wie umgewandelt. Er war dann
ſanft und freundlich, dienſtfertig und zuvorkommend;
ein Wort von ihr, nur ein Wink ihrer langen, dunkeln
Wimpern genügte, ihn, wenn er ſich ja einmal von
ſeiner alten Heftigkeit hinreißen ließ, ſofort zu be¬
ſänftigen. Dieſe Heftigkeit machte ſich vor allem gegen
Felix Luft, gegen den er einen Haß und eine Ver¬
achtung, die er ſich kaum zu verbergen bemühte,
[43] empfand. Stets hatte er ein höhniſches, bitteres
Wort für ihn in Bereitſchaft; die mancherlei kleinen
Blößen, die jener ſich in ſeiner maßloſen Eitelkeit der
Geſellſchaft gegenüber gab, fanden in Bruno einen
unerbittlichen, grauſamen Verfolger, der um ſo läſtiger
war, als ſeine Jugend ihn nicht als ebenbürtigen
Gegner erſcheinen ließ, gegen den man mit anderen
Waffen kämpfen konnte, als höchſtens mit einem von
oben herab geführten Hiebe, der meiſtens ganz vor¬
trefflich parirt wurde. Felix ſelbſt empfand dies
einigermaßen, und wenn ihm der Knabe auch nicht
gefährlich ſchien, ſo war er ihm doch im hohen Grade
unbequem. Wo Helene war, da war auch Bruno,
und traf es ſich ja einmal auf den Spaziergängen,
daß ſie allein zurückgeblieben war, und war Felix
eben im beſten Zuge, von der Liebe im Allgemeinen
— denn weiter war er noch nicht gekommen — zu
ſprechen, ſo geſellte ſich wie auf Verabredung Bruno
zu ihnen, und Felix, der von Botanik und Minera¬
logie nicht das Mindeſte verſtand, blieb nichts übrig,
als die Beiden ihren naturwiſſenſchaftlichen Beſtre¬
bungen zu überlaſſen. Wie würde er ſich gewundert
haben, wenn er gehört hätte, daß dieſe Verhandlun¬
gen abgebrochen wurden, ſobald er aus dem Gehör¬
kreiſe war, daß Bruno, die Blume, über die ſie ſo
[44] eben geſprochen hatten, zerraufend, durch die Zähne
ſagte: „Sieh, Helene, ſo zerreißeſt Du mein Herz,
wenn Du ſchwach genug biſt, dieſen Felix zu lieben!“
— „Das alte Lied, Bruno?“ — „Ja, das alte Lied;
und ich will Dir es ſingen, ſo lange ich noch, Athem
in der Bruſt habe! Meinſt Du, ich weiß nicht, was
es bedeutet, wenn Tante und Felix die Köpfe zuſammen
ſtecken und von Zeit zu Zeit verſtohlen auf Dich
blicken? O! mein Auge iſt ſcharf, und mein Ohr iſt
es nicht minder. Geſtern, als ich an ihnen vorüber¬
ſtrich, meinte der ſaubere Herr: ſie wird ſchon zur
Vernunft kommen! ſie — das biſt Du: und zur Ver¬
nunft kommen, heißt: ſie wird allen Stolz ſo weit
vergeſſen, und einen ſolchen jämmerlich eitlen Pfauen,
wie ich einer bin, heiraten.“ — „Aber, wie kommſt
Du nur auf dieſe Gedanken, Bruno?“ — „Nun,
ich dächte, ſie lägen nahe genug; und Dir gehen ſie
auch durch den Kopf, oder weshalb blickteſt Du oft
ſo in Dich verſunken vor Dich hin und dann plötz¬
lich zu Felix oder zu Oswald hinüber, als ob Du
ſie mit einander verglicheſt. Ja, vergleiche ſie nur
immer! Du wirſt dann den Unterſchied entdecken
zwiſchen einem Manne und — einem Affen.“ „Du
haſt wol Herrn Stein ſehr lieb, Bruno? Iſt er denn
immer ſo ſtill und traurig, wie jetzt?“ „Bewahre
[45] er kann ſo ausgelaſſen ſein, wie ein Füllen, ich weiß
nicht, was ihm fehlt, oder ich weiß es wol, aber“ —
„Aber?“ „Aber ich darf es nicht ſagen; oder ja,
Dir darf ich es ſagen, denn Du biſt nicht wie die
anderen Menſchen. Mir iſt immer, als müßteſt Du
mir ins Herz ſehen dürfen, wie ſie ſagen, daß uns
Gott ins Herz ſchaut; als dürfe man vor Dir, wie
vor Gott keine Geheimniſſe haben.“ „Aber ich will
nicht, daß Du ein Geheimniß verräthſt.“ „Ich ver¬
rathe nichts, denn Oswald hat mir nie ein Wort ge¬
ſagt. Ich weiß nur, daß er ſo ſtill und traurig iſt,
ſeitdem Tante Berkow fort iſt. Es wurde doch heute
Mittag darüber geſprochen, wie lange ſie wol noch
fortbleiben, ob ſie wol nach Herrn von Berkow's
Tode wieder heiraten würde, und da ſah ich, wie
Oswald ſich entfärbte und während des ganzen Ge¬
ſpräches die Augen nicht von ſeinem Teller hob. Und
dann, als Felix meinte: daß Baron Oldenburg, der
ja auch, wie er ganz zufällig durch einen Freund
erfahren, nach N. gereiſt ſei, vielleicht darüber nähere
Auskunft geben könnte, hob er ſchnell, mit einem zor¬
nigen Blick zu Felix hinüber, den Kopf und öffnete
den Mund, als ob er etwas ſagen wollte; aber er
ſagte nichts und biß ſich in die Lippen; und heute
Abend iſt er noch ganz beſonders verſtimmt.“ „Und
[46] das Alles heißt?“ „Das Alles heißt, daß Oswald
Tante Berkow ſehr lieb hat und daß er nicht mag,
wenn über ſie geſprochen wird; eben ſo wenig wie
ich es mag, wenn Tante und Felix über Dich ſprechen.“
„Ach, Du weißt ja nicht, was Du redeſt.“ „Natür¬
lich, das iſt immer das Ende vom Liede; ich weiß
nichts; ich bin ein dummer Junge; heiſa, heiſa,
hopſaſa! ich habe keine Ohren, zu hören, keine Augen,
zu ſehen? warum? weil ich erſt ſechszehn Jahre alt
bin und mein Bart noch einiges zu wünſchen übrig
läßt.“
Wie Helene dieſe Mittheilung aufnahm? ob ſie
im Stillen nicht doch eine Art von Enttäuſchung em¬
pfand? ob ſie die Melancholie in Oswald's großen
blauen Augen nicht doch anders erklärt hatte? viel¬
leicht hätte ſie ſelbſt ſich darüber keine Rechenſchaft
zu geben vermocht; auf jeden Fall aber wurde das
Intereſſe, welches ſie ſeit dem Abend am Strande
für Oswald zu empfinden begonnen hatte, noch be¬
deutend erhöht. Sie fing an, ihn noch genauer als
vorher zu beobachten; ſie war aufmerkſam auf jedes
ſeiner Worte; ſie ſang und ſpielte vorzugsweiſe gern
die Lieder und Muſikſtücke, die ſeinen Beifall hatten;
ſie freute ſich, als er wieder, wie früher, des Mor¬
gens in den Garten kam, und empfand es mit einiger
[47] Genugthuung, daß der jetzt ſo ſchweigſame bei dieſen
Gelegenheiten ſtets gute freundliche Worte für ſie
hatte und auf jedes von ihr angegebene Thema, bald
ernſt, bald launig, immer aber mit dem herzlichen
Ton eines älteren Bruders, der einer lieben Schweſter
gern von ſeinem reicheren Wiſſen mittheilt, einging.
Uebte der Zauber von Oswald's Perſönlichkeit ſeinen
Einfluß auf das ſtolze, aber für alles Schöne und
Edle tief empfängliche Herz des jungen Mädchens?
war es Eiferſucht? war es nur eine Art von Oppo¬
ſition gegen die ihr immer deutlicher werdenden Pläne
ihrer Mutter, die ſie gerade jetzt an einem Mann,
über welchen ihr ariſtokratiſches Auge ſonſt wol weg¬
geblickt hätte, ein ſolches Intereſſe nehmen ließ? . . .
Die verſchiedenartigſten Empfindungen bekämpften ſich
in ihrem Herzen, wie oft an einem tiefblauen Som¬
merhimmel leichte, graue Wolken durcheinander trei¬
ben und fließen bis der Sturm in ſeiner Vollgewalt
hereinbricht.
Drittes Kapitel.
Die Baronin hatte dem von Felix geäußerten
Rath, an dem geſelligen Leben des Adels der Umge¬
gend in ſeinem Intereſſe einen lebhafteren Antheil zu
nehmen, nach reiflicher Ueberlegung folgen zu müſſen
geglaubt, und es dauerte nicht lange, als faſt kein
Tag verging, an welchem nicht die Familie entweder
in die Nachbarſchaft gebeten war, oder, was noch
häufiger geſchah, ſelbſt Beſuch zu empfangen hatte.
Man ſchien entzückt, daß Schloß Grenwitz, früher we¬
gen ſeiner Gaſtlichkeit mit Recht weit und breit be¬
rühmt, wieder, wie ſonſt, der Vereinigungspunkt der
geſchäftigen Müßiggänger werden ſollte; man billigte
höchlichſt Anna-Maria's Entſchluß, das klöſterlich
ſtille Leben, das ſie bis dahin geführt, mit einem
neuen glänzenderen und einer ſo alten ruhmreichen
Familie würdigeren zu vertauſchen; man ſagte ihr ſo
viele Schmeicheleien über ihre Unterhaltungsgabe,
[49] über ihr Talent, große Geſellſchaften zu arrangiren,
daß ſie die Koſten, welche dieſe ihr ganz ungewohnte
Gaſtfreundſchaft veranlaßte, vor ihrem eigenen, in
Geldangelegenheiten äußerſt ſtrengen und zarten Ge¬
wiſſen durch die unumgängliche Nothwendigkeit der
Maßregel, ſo gut es gehen wollte, zu entſchuldigen
ſuchte.
Oswald hatte auf dieſe Weiſe ſchon mehre der
ihm vom Balle in Barnewitz her bekannten Geſichter
wieder geſehen; aber noch keines von denen, die ihm
ein vorzüglicheres Intereſſe abgewonnen hatten. Es
war ein eigenthümlicher Zufall, daß an einem Nach¬
mittage, theils gebeten, theils ungebeten, ſich beinahe
Alle zuſammenfanden, die damals für ihn mehr oder
weniger merkwürdig geworden waren, bis andere Er¬
eigniſſe und andere Perſonen in den Vordergrund
traten und jene verdrängten. Mit ſehr verſchiedenen
Empfindungen ſah er nach und nach von Barnewitz
mit ſeiner Gemalin Hortenſe, Herrn von Cloten, den
Grafen Grieben und Andere eintreten und ſein In¬
tereſſe wurde geradezu ein peinliches, als zuletzt, ganz
unerwartet noch ein Wagen vorfuhr, aus welchem
Adolf und Emilie von Breeſen und die Tante Breeſen,
deren zahnloſen Mund und ſpitze Zunge Oswald noch
ſehr wohl in [Andenken] hatte, ſtiegen.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 4[50]
„Hierher, mein feiner, junger Herr!“ rief die alte
Dame, als ſie nach den erſten Begrüßungen ihn er¬
blickte; „warum ſind Sie nicht uns zu beſuchen ge¬
kommen, wie Sie verſprochen hatten? habe ich Sie
deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muſter
eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß,
was er alten Damen ſchuldig iſt, vorgeſtellt? habe
ich deshalb Ihre Ausſprache des Franzöſiſchen mei¬
ner naſeweiſen Nichte als muſtergültig gerühmt?
Schämen Sie ſich! ich beehre Sie mit meiner Un¬
gnade!“
„Ich verdiene dieſe durchaus nicht, gnädige Frau!“
ſagte Oswald. „Ich konnte nicht kommen, wie ich
wollte, und geſetzt, ich hätte wirklich eine Unterlaſſungs¬
ſünde begangen, ſo bin ich doch wahrlich, auch ohne
Ihre Ungnade, ſchwer genug beſtraft.“
„Ja, ja — ſchöne Redensarten, daran fehlt es
Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig,
wie die andern jungen Leute, ſo ſind Sie doch ein
wenig weniger plump, und ſchon deshalb muß ich
Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und
nun ſehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig
werden, ohne daß ſie Ihnen die hübſchen Augen
auskratzt.“
Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den
[51] Rücken, und ließ ihn in einem von ſeiner Seite ſehr
wenig erwünſchten tête à tête mit der hübſchen Emilie,
die, ohne die Augen von dem Boden zu erheben, mit
leicht gerötheten Wangen und unruhig wogendem
Buſen vor ihm ſtand.
Oswald war feſt entſchloſſen, das kindiſche und
doch gefährliche Spiel mit dem leidenſchaftlichen Mäd¬
chen nicht wieder zu beginnen. Er wünſchte und
hoffte, daß ſie ſelbſt zur Beſinnung gekommen ſein
möge. Er ſah es deshalb nicht ungern, als Fräulein
Emilie einige gleichgültige Worte, die er an ſie rich¬
tete, ſcheinbar unbefangen beantwortete und ſich ſodann
zu einer Gruppe junger Mädchen geſellte, die ſich um
Helene geſchaart hatte, um den modiſchen Schnitt
eines weißen Kleides, das ſie heute zum erſten Male
trug, zu bewundern.
Auch ſeine Begegnung mit Herrn von Cloten war
weniger unerquicklich, als er nach ihrem letzten un¬
verhofften Zuſammentreffen auf Oldenburg's Solitüde
erwarten konnte. Der junge Edelmann that ſehr er¬
freut, ihn nach ſo langer Zeit wieder zu ſehen; er¬
kundigte ſich angelegentlich nach Oldenburg, erinnerte
an das Piſtolenſchießen in Barnewitz und fragte, ob
Oswald ihm heute Revanche geben wollte.
Oswald war einigermaßen geſpannt, zu ſehen, wie
4 *[52] ſich Cloten und Barnewitz gegen einander benehmen
würden. Zu ſeiner nicht geringen Verwunderung
ſchien zwiſchen dieſen beiden Herrn das vollſtändigſte
Einvernehmen zu herrſchen. Oldenburg hatte ſich in
dieſer Angelegenheit als ein ausgezeichneter Diplomat
gezeigt. Er hatte Jedem der Beiden weiß gemacht,
daß der Andere nach ſeinem Blute lechze, und ſo die
beiden Männer, die, nicht ohne alle Urſache, das Le¬
ben, das ſie führten, viel zu behaglich fanden, um ohne
gewichtige Veranlaſſung daraus zu ſcheiden, für ſeine
Vermittlungsvorſchläge geneigt gemacht. Herrn von
Barnewitz hatte er Cloten's Liebeshandel mit Hortenſe
als eine ganz unſchuldige Tändelei dargeſtellt, und ge¬
ſchworen, wie er überzeugt ſei, daß dieſer junge Mann
mit jener Dame zu keiner Zeit in einem intimeren
Verhältniß geſtanden habe, als viele andere Bekannte,
zum Beiſpiel er ſelbſt — eine arge Zweideutigkeit, die
indeſſen von dem nicht ſehr ſcharfſinnigen Ehemanne
als ein Argument für die Unſchuld ſeiner Frau an¬
geſehen wurde. Dem jungen ländlichen Don Juan
dagegen hatte er den Rath gegeben, in Barnewitz'
Gegenwart ein paar Mal ungezogen und grob gegen
Hortenſe zu ſein, und vor allem ſich irgend eine der
Damen ihres Cirkels auszuwählen, um ihr möglichſt
auffallend den Hof zu machen. Cloten äußerſt froh,
[53] ſich ſo leichten Kaufs aus dem fatalen Handel zu zie¬
hen, hatte Oldenburg's Rath pünktlich befolgt und
von Stund an begonnen, Fräulein von Breeſen zum
Gegenſtand ſeiner Huldigungen zu machen. Er war
indeſſen bisher in ſeinen Bemühungen ſehr wenig
glücklich geweſen. Im Gegentheil. Er hatte viel
Spott und Hohn aus dem Munde des übermüthigen
Mädchens über ſich ergehen laſſen müſſen; ſeine Lie¬
besverſicherungen wurden mit ironiſchen Bemerkungen
zurückgewieſen und ſeine Ritterdienſte mit einer Gleich¬
gültigkeit entgegen genommen, die ihn, wenn es ihm
wirklich Ernſt geweſen wäre, zur Verzweiflung ge¬
bracht haben würden. Und es war ihm, wie es in
ſolchen Dingen zu gehen pflegt, nach und nach wirk¬
lich Ernſt mit der anfänglich ſo leichtſinnigen Tän¬
delei geworden. Fräulein Emilie gehörte nicht zu den
Damen, mit welchen man ungeſtraft ſpielen und tän¬
deln kann. Sie war ſo reizend ſelbſt in ihrem Ueber¬
muth, ſo liebenswürdig ſelbſt in ihrer Ungezogenheit,
daß der unglückliche Vogelſteller ſich von Tag zu Tag
tiefer in die Netze, die er ſelbſt gelegt hatte, ver¬
ſtrickte, und jetzt Alles darum gegeben haben würde,
ein freundliches Wort aus dem angebeteten Munde
zu erhalten. Wie überraſcht war er deshalb, wie
außer ſich vor Entzücken, als ihm Fräulein Emilie,
[54] die er kaum noch anzureden wagte, heute mit der
größten Freundlichkeit entgegenkam, ihn auf dem Spa¬
ziergang, den man durch den Garten machte, zum Be¬
gleiter erwählte, ihren Sonnenſchirm von ihm tra¬
gen, ſich Blumen von ihm pflücken, ein im Saale
vergeſſenes Taſchentuch von ihm holen ließ, mit einem
Worte, ſcheinbar Alles that, die ihm in den letzten
Wochen zugefügten Beleidigungen in einer Stunde
wieder gut zu machen.
Cloten ſchwamm in einem Meere von Seligkeit;
ſeine waſſerblauen Augen ſtrahlten; er drehte ohne
Aufhören ſeinen kleinen blonden Schnurrbart und
lächelte dumm vergnügt, ſo oft ihm eine Aeußerung,
wie: nun, Cloten, kann man gratuliren? oder: recht
ſo, Cloten nur nicht ängſtlich! und ähnliche in's Ohr
getuſchelt wurden.
Oswald wußte nicht, was er von dieſer Komödie
denken ſollte. Im Anfang glaubte er, Emilie wolle
ihm nur zeigen: ſieh! es fehlt mir nicht an Bewun¬
derern! Er konnte nicht annehmen, daß ein ſo geiſt¬
volles und — mochten ihre Fehler ſein, welche ſie
wollten — immerhin liebenswürdiges, und jedenfalls
ſehr hübſches Mädchen ſich ernſtlich für einen ſo
faden Menſchen, wie Cloten, intereſſiren könnte.
Als der Abend aber hereinbrach, die Geſellſchaft ſich
[55] aus dem Garten allmälig in die nach dem Raſenplatz
führenden Zimmer zurückzog, und zuletzt nur noch
Emilie mit Herrn von Cloten unermüdlich draußen
promenirten, mußte er ſich wohl der Meinung der
Geſellſchaft, daß die Verlobung zwiſchen Cloten und
Fräulein von Breeſen nicht mehr lange auf ſich warten
laſſen werde, anſchließen. Es that ihm leid um das
Mädchen, das ſich ſo wegwerfen konnte; dann aber
dachte er wieder: Du brauchteſt Dir wahrlich wegen
eines ſo leichtſinnigen Geſchöpfes keine ſo großen Ge¬
wiſſensbiſſe zu machen. Sie ſind im Grunde Eines
des Andern vollkommen würdig. Ob ſich dieſer Cloten
nicht ſchämt, vor den Augen der Frau, die er liebte,
ein ſolches Schauſpiel aufzuführen?
Er wandte ſich zu Hortenſe von Barnewitz, die in
einer Fenſterniſche des Saales ganz allein ſtand. Die
hübſche Blondine ſchien, ſehr gegen ihre Gewohnheit
— denn ſie war eine der gefeiertſten und verwöhn¬
teſten Damen — dieſe Vernachläſſigung von Seiten
der Herren heute gern zu ſehen.
„Werden Sie heute nicht tanzen, gnädige Frau?“
fragte Oswald.
„Soll denn getanzt werden?“ antwortete Hortenſe,
wie aus einem Traum erwachend.
„Gewiß. Die Baronin läßt ſoeben das Klavier
[56] in den Saal ſchaffen. Herr Timm hat ſich erboten,
zu ſpielen; ich wollte mir erlauben, die gnädige Frau
um den erſten Tanz zu bitten, im Fall Sie ſich noch
nicht verſagt haben.“
„Ich mich verſagt? Bewahre! die Zeiten ſind vor¬
über, wo ich auf Wochen voraus zu jedem Tanz en¬
gagirt war. Ich überlaſſe das jetzt den Jüngeren.“
„Sie belieben zu ſcherzen.“
„Keineswegs. Sie ſind der Erſte und weil ich
fürchte, daß Sie auch der Letzte ſein werden, will ich
lieber gar nicht anfangen, ſondern Sie bitten, ſich ein
wenig zu mir zu ſetzen, und die Zeit, die Sie mit
mir vertanzen wollten, in aller Ruhe zu verplaudern.
Iſt es Ihnen recht?“
„Die Frage beantwortet ſich ſelbſt,“ ſagte Os¬
wald, Hortenſe einen Stuhl herbeiziehend.
„Setzen Sie ſich auch!“ ſagte dieſe. „Ich höre,
Herr Doctor; Sie haben ein großes Talent zur Sa¬
tire; laſſen Sie mich eine Probe dieſes Talentes hören;
an Stoff kann's Ihnen ja nicht fehlen, wenn Sie
von unſerem Standpunkt aus einen Blick auf die Ge¬
ſellſchaft hier im Saale werfen. Welche von den
Damen halten Sie für die hübſcheſte?“
„Sie meinen die am wenigſten häßliche?“
„Sie Spötter! Freilich, außer einigen erträglichen
[57] Toiletten iſt nicht viel Hübſches wahrzunehmen. Wie
finden Sie Helene Grenwitz?“
„Ich finde ſie gar nicht, trotzdem ich ſie überall
mit den Blicken ſuche.“
„Dort, rechts von der Thür. Sie ſpricht mit
ihrem Couſin Felix. Wie ſteht denn die Angelegen¬
heit? hat Felix ſich noch immer nicht erklärt?“
„Jedenfalls noch nicht gegen mich.“
„Das glaube ich gern. Aber glauben Sie, daß
er ſich, erklären wird?“
„Nein.“
„Weshalb?“
„Weil ich die ganze Sache für unerklärlich halte.“
„Schwärmen Sie etwa für Fräulein Helene?“
„Ganz unendlich.“
„Sie intereſſiren ſich überhaupt wohl beſonders
für junge Mädchen, die eben aus der Penſion kommen?“
„Nur, wenn ſie wirklich intereſſant ſind.“
„Nicht immer; oder Sie wollen doch nicht be¬
haupten, daß Emilie Breeſen dies Beiwort verdient?“
„Ich habe auch nie für Fräulein von Breeſen ge¬
ſchwärmt.“
„Deſto mehr die Kleine für Sie. Lisbeth von
Meyen iſt die Vertraute von Emilien's Liebeskummer
[58] geworden und Lisbeth hat natürlich die ganze Sache
ausgeplaudert.“
„Aber das iſt ja unmöglich!“
„Beruhigen Sie ſich nur! Sie ſehen ja, das gute
Kind hat ſich ſchnell genug wieder getröſtet. Heute
ſchwärmt ſie für Cloten; ein ander Mal wird ſie für
einen Andern ſchwärmen. Die Kleine hat Talent, ſie
kann es noch einmal weit bringen. Mich dauert nur
der arme Cloten.“
„Aber weshalb begiebt er ſich in die Gefahr?“
„Freilich, und noch dazu ohne ſeinen Mentor.“
„Wer iſt das?“
„Baron Oldenburg. Er wird den Rath ſeines
edlen Freundes mißverſtanden haben und die kleine
Emilie aus purem Mißverſtändniß heirathen.“
„Sie belieben in für mich unergründlichen Räth¬
ſeln zu ſprechen, gnädige Frau.“
„Ich bitte um Verzeihung . . . Sagen Sie, ſind
Sie wirklich, wie die Fama ſagt, in der kurzen Zeit
der Buſenfreund des Barons geworden?“
„Die Fama hat in dieſem Falle wie ſtets aus der
Mücke einen Elephanten gemacht.“
„Glauben Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine?“
ſagte Hortenſe und ſie blickte Oswald voll in die
Augen.
[59]
„Ich habe keinen Grund, das Gegentheil anzu¬
nehmen;“ antwortete dieſer, den das Geſpräch, wel¬
ches er ganz abſichtslos angeknüpft hatte, auf eigen¬
thümliche Weiſe zu intereſſiren begann.
„So folgen Sie meinem Rath: hüten Sie ſich
vor dem Baron, wie vor ihrem ſchlimmſten Feind!“
„Weshalb?“
„Weil er falſch iſt bis ins innerſte Herz hinein.“
„Sie kennen den Baron genau?“
„Ganz genau.“
„Und — verzeihen Sie mir, wenn ich eine ſo
ſchwere Beſchuldigung eines Mannes, den ich — ich
ich geſtehe es — bis jetzt hoch geachtet habe, nicht
ſofort zu glauben vermag — haben Sie Beweiſe von
des Barons Falſchheit?“
„Tauſend für einen.“
„Geben Sie nur einen!“
„Es bleibt unter uns, was ich Ihnen erzählen
werde?“
„Das verſpreche ich.“
„So hören Sie. Sie kennen meine Couſine Me¬
litta. Nun, ſie hat ihre Schwächen wie wir Alle,
aber ſie iſt doch im Grunde eine charmante Frau, die
ich ſehr lieb habe, und um die es mir leid thun ſollte,
wenn ſie ſich, wie es den Anſchein hat, wieder in
[60] dieſelben ſchlechten Hände giebt, aus denen ich ſie mit
ſo viel Mühe glücklich erlöſt zu haben glaubte. Wenn
Melitta nicht ſo gut iſt, wie ſie ſein könnte — Ol¬
denburg allein hat es auf dem Gewiſſen. Er hat ihr,
als ſie noch ein junges Mädchen war, mit ſeinen
tollen Ideen den Kopf verdreht, daß ſie zuletzt nicht
mehr Recht von Unrecht unterſcheiden konnte. Er
hat, als ſie endlich die ausgezeichnete Partie mit
Herrn von Berkow gemacht hatte, das ganze, im An¬
fang ſo ſchöne Verhältniß zerſtört; und wenn Berkow
zuletzt vor Eiferſucht toll geworden iſt, es kann Nie¬
manden verwundern, der es, wie ich, mit angeſehen
hat, wie es die Beiden trieben. Endlich gelang es
mir, bei Melitta auszuwirken, daß ſie Oldenburg auf
einige Zeit wenigſtens fortſchickte. Er ging; aber, als
wir vor ein paar Jahren Italien bereiſten, ſtellte ſich
Oldenburg wieder ein — ob zufällig, ob von Melitta
herbeigerufen — ich laſſe es unentſchieden. Nach
ihrem Benehmen ſollte ich freilich das Letztere ver¬
muthen. Das alte Lied begann von Neuem. Ein¬
ſame Promenaden, Austauſch von Liebesſchwüren, wo¬
bei ſie ſich ſelbſt durch die Anweſenheit dritter Per¬
ſonen nicht geniren ließen — mit einem Worte: es
war für Jemand, die, wie ich, etwas ſtreng in ſolchen
Sachen denkt und die, wie ich, Melitta noch dazu ſo
[61] aufrichtig liebte, ein recht häßliches Schauſpiel. Ver¬
gebens bat und beſchwor ich Melitta, an ihren kranken
Gemal, an ihr Kind zu denken. Ich predigte tauben
Ohren. Da entſchloß ich mich zu einem verzweifelten
Mittel. Um ihr Oldenburgs Treuloſigkeit — von
der mir von anderen Seiten die fabelhafteſten Dinge
erzählt waren — zu beweiſen, ließ ich mich herbei,
ihn glauben zu machen, ich ſelbſt liebte ihn. Es ge¬
hörte dazu nicht viel, denn der Baron iſt eben ſo
eitel, wie er verrätheriſch und zügellos in ſeinen Lei¬
denſchaften iſt. Bald verfolgte er jetzt mich mit ſeinen
Huldigungen — natürlich, ohne ſich Melitta gegen¬
über zu verrathen. Dabei ſprach er ſo lieblos, ſo
ſchlecht von meiner armen Couſine, daß ich kaum im
Stande war, die Maske, die ich vorgenommen hatte,
feſtzuhalten. Und doch mußte ich es, bis Oldenburg,
von ſeiner Leidenſchaft hingeriſſen, blind in das Netz
rannte, das ich ihm ſtellte. Ich wußte es ſo einzu¬
richten, daß er — es war im Garten der Villa Serra
di Falco bei Palermo — mir eine feurige Liebeser¬
klärung machte, während Melitta ſechs Schritte davon
hinter einem Myrthengebüſche ſtand. Die Arme! es
war eine ſchmerzliche Operation, aber ich konnte ihr
nicht anders helfen. Oldenburg war natürlich am
nächſten Morgen verſchwunden. Ich ſuchte Melitta
[62] zu zerſtreuen, ſo gut es ging, und ich muß geſtehen,
ſie zeigte ſich gefaßter, als ich nach einer ſo ſchmerz¬
lichen Enttäuſchung, einer ſo tiefen Demüthigung für
möglich gehalten hätte. Ich hoffte, daß die grauſame
Lehre, die ſie empfangen, ihr ein für alle Mal über
Oldenburg die Augen geöffnet hätte; hoffte es um ſo
mehr, als der Baron ihr durch mehrjährige Abweſen¬
heit Zeit genug zur Beſinnung ließ. Da plötzlich
taucht er vor einigen Wochen ganz unerwartet wieder
auf. Mir ahnte ſofort nichts Gutes — denn das
Erſcheinen dieſes Mannes iſt immer von etwas Außer¬
gewöhnlichem begleitet. Wie er es angefangen hat,
ſich wieder Melitta's Gunſt zu erwerben, wie es
möglich iſt, daß Melitta ſchwach genug ſein konnte,
ihm wieder ihre Gunſt zu gewähren — ich weiß es
nicht — denn Beide haben in einem hohen Grade
das Talent, ihre Handlungen den Blicken der Men¬
ſchen zu entziehen. So viel ſteht feſt: eine Ausſöh¬
nung — von der wir bei einem ſo erfahrenen Paare
annehmen müſſen, daß ſie eine vollſtändige war —
kam zu Stande, und damit die Feier dieſer Ausſöh¬
nung möglichſt geheim bleibe, machen ſie eine gemein¬
ſchaftliche Badereiſe; und wohin? nach N., dem Orte,
wo der Gemal Melitta's ſeit ſieben Jahren krank
liegt! Wahrlich, ich bedaure Melitta. Wenn ſie dar¬
[63] auf ausging, ihren Ruf zu ruiniren, ſie hätte es hier
bequemer haben können. Denn geſetzt auch, Berkows
tödtliche Krankheit iſt nicht fingirt, was hat denn Ol¬
denburg, der dieſe Krankheit jedenfalls mit veranlaßt
hat, dabei zu thun? und glaubt denn Melitta, daß
der Baron ſie nach dem Tode Berkows heirathen
wird? Du lieber Himmel! wenn Oldenburg alle
Frauen heirathen ſollte, denen er in ſeinem Leben
Liebe geſchworen, er müßte ſich ein Serail anlegen,
in welchem alle Stände von der Herzogin bis zur
Kammerjungfer, alle Nationen und ich glaube auch
alle Racen vertreten wären. Aber, mein Gott, was
iſt Ihnen? Sie ſehen ja wie eine Leiche aus! Sind
Sie nicht wohl?“
„Es iſt nur die übergroße Hitze,“ ſagte Oswald,
ſich erhebend; „ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie
ſo plötzlich verlaſſe. Ich will verſuchen, ob die friſche
Abendluft mich wieder herſtellt. “
Er machte Hortenſe eine ſehr förmliche Verbeugung
und entfernte ſich, ohne ihre Antwort abzuwarten.
„Nun, was bedeutet denn das?“ fragte dieſe, in¬
dem ſie dem Forteilenden verwundert nachſah. „Hat
meine vortreffliche Couſine auch hier eine Eroberung
gemacht? und habe ich, ohne es zu wiſſen und zu
wollen, zwei Fliegen mit einer Klappe geſchlagen?
[64] Eigentlich wollte ich blos Oldenburg einen Freund
rauben, wenn ich Melitta bei der Gelegenheit auch
um einen Bewunderer ärmer gemacht habe — deſto
beſſer. Ich glaube, aus dem jungen Menſchen wäre
etwas zu machen. Freilich — ich muß jetzt etwas
vorſichtig ſein, denn Barnewitz iſt nach der letzten
Affaire mit Cloten ein wahrer Othello — da kommt
er ja . . . nun, lieber Barnewitz, ſiehſt Du Dich auch
einmal nach Deiner verlaſſenen kleinen Frau um? ich
ſitze hier nun ſchon den ganzen Abend und ſchmachte
nach Dir.“
„Warum tanzt Du denn nicht?“
„Meinſt Du, daß es mir Vergnügen macht, wenn
Du nicht dabei biſt?“
„Ich habe mit dem jungen Grieben und Anderen
ein kleines Jeu arrangirt; aber ich kann ſchon einmal
mit Dir herumſpringen. Komm! ſie fangen eben einen
Walzer an. Das iſt ſo meine Force!“
Und das glückliche Paar trat in die Reihe der
Tanzenden.
Unterdeſſen irrte Oswald in dem Garten umher,
ruhelos, wie ein von furchtbaren Schmerzen Gepei¬
nigter. Aus den offenen Fenſtern und Thüren der
Zimmer ſtrahlten die Lichter; um den Raſenplatz herum
hatte Anna-Maria Laternen von buntem Papier auf¬
[65] ſtellen laſſen, die der helle Mondſchein allerdings ziem¬
lich überflüſſig machte. Von Zeit zu Zeit traten ein¬
zelne Paare auf den Platz hinaus und promenirten
in der balſamiſchen Nachtluft. Es war eine feſtliche,
heiter ſchöne Scene, die Oswald's verdüſtertes Ge¬
müth beleidigte, wie wenn ein Freund zu unſeren
Qualen lächelt. Er erſtieg den Wall, ſetzte ſich auf
eine Bank und ſtarrte, den Kopf in die Hand ge¬
drückt, in das Waſſer des Grabens, auf dem die
Mondesſtrahlen unheimlich glitzerten.
„Wäre es nicht beſſer, Du machteſt Deinem elen¬
den Daſein ein ſchnelles Ende,“ murmelte er, „als
daß Du Dir zur Qual und Keinem zur Freude die
Bürde des Lebens weiter ſchleppſt? Willſt Du denn
fortvegetiren, bis Dir jede Illuſion zerſtört iſt, bis
Du Alles und Jedes, was Du werth und heilig hieltſt,
über Bord geworfen haſt, über Bord haſt werfen
müſſen? willſt Du denn warten, bis Dir die Geduld
vollends ausgeht, wie dem edlen, großherzigen Berger?
So alſo ſieht das Bild der Frau aus, vor der Du
wie vor einer Heiligen gekniet haſt? das iſt der Mann,
deſſen Hand in der Deinen zu halten, Dir eine Ehre
ſchien? Du warſt ihr nichts als ein Spielball ihrer
hochadligen Laune, und er hat ſeinen allerliebſten
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 5[66] freiherrlichen Scherz mit Dir getrieben? Aber das
iſt ja nicht möglich! nicht möglich? warum denn nicht?
iſt die Welt, in der ſich dieſe Menſchen bewegen,
nicht durch und durch verfault und verrottet? iſt ihr
ganzes Leben nicht eine gemeine Intrigue? betrügt
hier nicht die Gattin den Gatten? und dieſer jene?
verkauft nicht der Vater ſeine Tochter? verkuppelt
nicht die Mutter ihr eigen Fleiſch und Blut? verräth
nicht der Freund den Freund? plaudert eine Kokette
nicht die Geheimniſſe der andern aus? weshalb wähnſt
Du denn, ſie würden mit Dir, dem Plebejer, dem
Arbeiter für Lohn und Brot, beſſer verfahren? Und
doch, und doch! es iſt entſetzlich! Das Weib, das
Du angebetet, wie eine Gottheit, die Maitreſſe eines
Anderen, ihn betrügend, Dich betrügend, um von ihm
wieder betrogen zu werden! Und Du, gutmüthiger
Narr, kämpfſt wie ein Wahnſinniger mit Deiner Lei¬
denſchaft für das holde, herrliche Geſchöpf, die einzig
Reine in dieſem Hexenſabbath! denn ſie iſt rein und
gut, oder es giebt nichts Reines auf dieſer Welt.
Nein, nein! und wenn Alles um Dich her Lug und
Trug iſt, und ſchwarzer, tückiſcher Verrath — auf
dieſen einen hohen Stern willſt Du Dein Auge hef¬
ten — es iſt Dein Stern! denn nur das unerreichbar
Hohe iſt Deiner Liebe werth! um die Irrlichter, die
[67] auf dem Sumpfe tanzen, mögen ſich die Molche mit
den Kröten zanken.“
Ein leichtes Geräuſch an ſeiner Seite machte ihn
aus ſeiner gebückten Stellung auffahren. Eine ſchlanke
Frauengeſtalt in einem weißen Gewande ſtand vor
ihm. Durch eine Lücke in dem Laubdache oben fiel
ein Mondenſtrahl auf die ſchlanke, weiße Geſtalt.
Es war Emilie von Breeſen.
„Still!“ ſagte ſie, als Oswald ſich mit einem
leiſen Ruf der Verwunderung erhob; „bleiben Sie
ſitzen! Ich ſah Sie aus dem Saale gehen; ich bin
Ihnen gefolgt, weil ich Sie ſprechen will, ſprechen
muß. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es be¬
darf nur eines Wortes... eines einzigen Wortes, das
über mein Leben entſcheiden ſoll. Liebſt Du mich?
ja? oder nein?“
Das junge Mädchen hatte Oswald's Hand er¬
griffen, die ſie mit krampfhafter Heftigkeit preßte.
„Ja? oder nein?“ wiederholte ſie in einem Tone, der
die Leidenſchaft, die in ihr wühlte, deutlich genug
verrieth.
Aber Oswald's Ohr war taub gegen dieſen Ton;
ſein Herz verſchloſſen, wie das Haus eines Mannes,
den die Diebe in der Nacht zuvor beſtohlen haben.
„Sie irren ſich ohne Zweifel in der Perſon,“
5*[68] ſagte er mit ſchneidendem Hohne. „Ich heiße Os¬
wald Stein; Herr von Cloten iſt, ſo viel ich weiß,
drinnen im Saale;“ und er ſuchte ſeine Hand aus
der des Mädchens loszumachen.
„Habe ich das verdient? ſagte dieſe mit von Thrä¬
nen faſt erſtickter Stimme, und ſie ließ die Arme
wie in Verzweiflung ſinken.
„Die Nacht iſt kühl,“ ſagte Oswald, der ſich er¬
hoben hatte; „der Thau beginnt zu fallen; Sie werden
ſich in dem leichten Anzug erkälten. Darf ich die
Ehre haben. Sie in den Saal zurückzubegleiten?“
„O mein Gott, mein Gott!“ murmelte Emilie,
„das ertrage ich nicht! Oswald, ſtoße mich nicht ſo
von Dir! wie hab' ich mich nach dieſem Augenblicke
geſehnt! wie habe ich mir tauſend- und tauſendmal
wiederholt, was ich Dir Alles ſagen wollte! wie habe
ich gehofft, daß Du mich wieder in die Arme nehmen
würdeſt, — o, mein Himmel, was rede ich? Oswald,
habe Mitleid mit mir! Du kannſt meinen Uebermuth
von heute Abend nicht ſo grauſam ſtrafen wollen.
Ich wollte Dich ein wenig necken; ich dachte jeden
Augenblick, Du würdeſt zu mir treten, und dann wollte
ich Dir Alles ſagen. Aber Du kamſt und kamſt nicht;
und ich mußte die Komödie weiter ſpielen, ſo ſchwer
es mir wurde.“
„Sind Sie ſicher, mein Fräulein, daß Sie nicht
ſelbſt noch in dieſem Augenblick Komödie ſpielen?“
Emilie antwortete nicht. Sie ſank mit einem leiſen
Stöhnen auf die Bank, preßte ihr Geſicht in die Hände
und ſchluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.
Oswald gehörte nicht zu den Männern, die un¬
gerührt ein Weib können weinen ſehen. Er trat dicht
vor die Unglückliche und ſagte in viel milderem Ton:
„Wollen Sie mir ein paar Augenblicke ruhig zu¬
hören?“
Emilien's einzige Antwort war ein krampfhaftes
Schluchzen.
„Glauben Sie mir,“ fuhr Oswald fort; „ich be¬
daure von ganzem Herzen, daß eine ſolche Scene wie
dieſe möglich wurde, und ich fühle, daß ich einzig und
allein die Schuld davon trage. Hätte ich Ihnen an
jenem Abend geſagt, was ich Ihnen heute ſagen muß,
Ihr Stolz würde Alles längſt entſchieden haben. —
Ich kann Sie nicht lieben; das klingt ſehr wunderlich
gegenüber einem ſo holden, liebenswürdigen Geſchöpf,
aber es iſt dennoch wahr. Warum wollen Sie nun
Ihre Liebe an Jemand verſchwenden, der ſich des
koſtbaren Geſchenkes ſo ganz unwürdig zeigt? warum
nicht Jemand damit beglücken, der mehr Talent zum
Glücklichſein und Beglücktwerden hat, als ich? — Ich
[70] bin gerade jetzt in einer ſehr gedrückten Stimmung,
die mich wol noch mehr wie gewöhnlich unfähig macht,
die Dinge und die Menſchen in dem rechten Lichte
zu ſehen. Verzeihen Sie mir daher, wenn ich Sie
vorhin durch bittere, unüberlegte Worte gekränkt habe,
zu denen ich kein Recht hatte und die ich nicht hätte
brauchen dürfen, ſelbſt wenn ich im Recht geweſen
wäre. Ich bitte, ich beſchwöre Sie: vergeſſen Sie,
was zwiſchen uns vorgefallen iſt! und laſſen Sie ſich
vor Allem durch dieſe Kränkung nicht zu Entſchlüſſen
verleiten, die Sie ſpäter und zu ſpät bereuen würden.
Sie haben geſehen, was es heißt, ſeine Liebe einem
Unwürdigen ſchenken. Sollte Ihnen dieſe Erfahrung
künftig in der Wahl, die Sie über kurz oder lang
treffen werden, zu Statten kommen, ſo will ich gern
für den Augenblick von Ihnen verkannt ſein, gern
Ihren Haß, ſelbſt Ihre Verachtung auf mich geladen
haben.“
Emilie hatte, während Oswald ſprach, allmählig
zu weinen aufgehört. Jetzt ſtand ſie auf und ſagte
in beinahe ruhigem Ton:
„Es iſt genug! Ich danke Ihnen, Sie haben mir die
Augen geöffnet. Sie ſollen nie wieder von mir beläſtigt
werden. Sagen Sie mir nur noch dies Eine: werde
ich einer Anderen geopfert? lieben Sie eine Andere?“
„Ja,“ ſagte Oswald nach kurzem Bedenken.
„Es iſt gut! Und nun hören Sie dies! Wie ich
Sie geliebt habe, mit aller Gluth meines Herzens,
ſo haſſe ich Sie jetzt; und wie ich noch vor wenigen
Minuten mein Leben freudig für Sie dahingegeben
haben würde, ſo heiß wünſche ich jetzt, mich für dieſe
Schmach an Ihnen zu rächen. Und ich werde mich
rächen; ich werde —“
Wiederum brach ſie in leidenſchaftliches Weinen
aus; aber ſie bezwang ſich ſogleich wieder.
„Sie ſind es nicht werth, daß ich ſo viel Thränen
um Sie weine. Nun ſetzen Sie Ihrem Benehmen
die Krone auf und folgen Sie mir auf dem Fuße in
den Saal, damit doch ja die Welt erfahre, welche
Närrin ich geweſen bin!“
Und ſie eilte von Oswald fort, den Wall hinab,
an dem Raſenplatze vorüber nach dem Saal, wo noch
immer eifrigſt getanzt wurde. Von Cloten, der ſie
überall in den Zimmern vergeblich geſucht hatte und
jetzt melancholiſch an einen Thürpfoſten gelehnt ſtand,
erblickte ſie ſofort und kam eiligſt auf ſie zu.
„Mein gnädiges Fräulein! haben mich in wahre
Todesangſt verſetzt! war bei Gott au désespoir!
glaubte wahrhaftig, der Himmliſchen Einer habe Sie
mir entführt.“
„Ich habe in aller Stille über das, was Sie mir
vorhin ſagten, nachgedacht, Herr von Cloten,“ ant¬
wortete Emilie.
„Wahrhaftig! Sie ſind ein Engel! und ich darf
hoffen!“ fragte von Cloten, der die gerötheten Augen¬
lieder und das aufgeregte Weſen des jungen Mädchens
natürlich zu ſeinen Gunſten auslegte.
„Gehen Sie zu meiner Tante!“
„Wirklich? wahrhaftig? ich kann es nicht glauben!“
rief der junge Mann, und ſein freudiger Schrecken
war keineswegs gemacht.
„So gehen Sie nicht hin!“ antwortete Fräulein
Emilie in einem Ton, der jeden Unbefangenen um
die Feſtigkeit des Bundes, der hier geſchloſſen werden
ſollte, bange gemacht hätte.
„Mein Gott, Emilie, Engel, zürnen Sie nicht!
ich eile, ich fliege —“
Und Herr von Cloten entfernte ſich in augen¬
ſcheinlichſter Verwirrung, um Emiliens Tante aufzu¬
ſuchen.
Emilie blieb auf demſelben Platze ſtehen, bleich,
die Arme verſchränkt, die großen Augen ſtarr auf die
Gruppen der Tanzenden geheftet, ohne mehr zu ſehen,
als wenn ſie die Blicke in's Leere gerichtet hätte.
[73]
„Sie ſind klüger, wie wir Andern!“ ſagte eine
Stimme dicht neben ihr.
Es war Felix von Grenwitz; er hatte ſich auf
einen Stuhl geworfen und trocknete ſich mit einem
Battiſttaſchentuche die naſſe Stirn.
„Lächerlich, bei der Hitze herumzuſpringen; ich
dächte wir hörten endlich einmal auf. Und nun hat
noch gar Helene Herrn Timm am Klavier abgelöſt;
das Mädchen hat doch wahrlich wunderliche Einfälle.
Meinen Sie nicht auch, Fräulein Emilie?“
„Vielleicht fehlt es ihr an einem Tänzer.“
„Unmöglich.“
„Nun, vielleicht an dem rechten Tänzer.“
„C'est à dire?“
„An dem, mit welchem ſie gern tanzt.“
„Ich bin ſtets hier geweſen.“
„Sie bilden ſich doch nicht etwa ein, daß Sie der
Glückliche ſind?“
„Wer denn ſonſt?“
„Wiſſen Sie nicht, wo Herr Stein geblieben iſt?“
„Nein, weshalb?“
„Ich frage nur Fräulein Helenen's halber. Be¬
merken Sie nicht, wie ſie die großen, ſtolzen Augen
fortwährend ruhig, aber unaufhörlich durch den Saal
ſchweifen läßt?“
[74]
„Das kann doch unmöglich Ihr Ernſt ſein?“
„Weshalb denn nicht? Iſt Herr Stein nicht eine
ſehr hübſcher Mann? und hat nicht Helene, wie Sie
ſelbſt ſagen, wunderliche Einfälle?“
„Mein Fräulein,“ ſagte Felix ernſt; „wollen Sie
mir die Gnade erweiſen, mir zu ſagen, ob Sie be¬
ſondere Gründe zu dieſer eigenthümlichen Vermuthung
haben?“
„Natürlich habe ich beſondere Gründe.“
„Und wollen Sie die Güte haben, mir dieſe
Gründe zu nennen?“
„Das kann ich nicht.“
In dieſem Augenblick kam Herr von Cloten mit
vor Freude ſtrahlendem Geſicht.
„Mein gnädiges Fräulein,“ ſagte er; „Ihre Frau
Tante wünſcht Sie zu ſprechen. Darf ich die Ehre
haben, Sie zu ihr zu begleiten?“
„Sogleich!“ ſagte Emilie, und dann zu Felix:
„Verlaſſen Sie ſich auf das, was ich Ihnen ſagte;
ich habe ſcharfe Augen und Ohren.“
Sie nahm Cloten's Arm.
„Der Sache muß ich auf den Grund kommen,“
ſagte Felix bei ſich, als die Beiden ſich entfernt
hatten. „Helenen's Benehmen in den letzten [Tagen]
iſt wirklich auffallend.“
Er trat an das Klavier: „Soll ich Ihnen die
Blätter umſchlagen, Helene?“
„Danke!“ antwortete Helene trocken; „ich ſpiele
aus dem Kopf.“
Nach einer kleinen Pauſe: „Bitte, Couſin, gehen
Sie fort; es ängſtigt mich, wenn Jemand ſo dicht
hinter mir ſteht.“
„Ich dächte, Doctor Stein hätte geſtern eine halbe
Stunde lang hinter Ihnen geſtanden, ohne daß Sie
irgend welche Angſt verrathen hätten.“
„So werde ich aufſtehen;“ ſagte Helene, griff ein
paar ſchnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah!
der mitten im beſten Tanze Geſtörten zu beachten,
von dem Klavier fort.
„Das iſt doch ſtark;“ ſagte Felix bei ſich.
„Weshalb hörte denn Helene ſo plötzlich auf zu
ſpielen?“ fragte die Baronin, welche die Scene aus
der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.
„Ich weiß es nicht; ſie wird mir wohl etwas
übel genommen haben. Sie iſt doch eigenſinniger und
launiſcher, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch,
Tante, daß der Menſch, der Stein, mit ſeinen cor¬
rupten Anſichten doch einen ſchädlichen Einfluß nicht
bloß auf Bruno, ſondern auch auf Helene ausübt?“
„Ich habe Ihnen ja immer geſagt, daß ich dem
Menſchen nicht im mindeſten traue.“
„So jagen Sie ihn doch fort.“
„Ohne alle Veranlaſſung?“
„Pah, die findet ſich. Wollen Sie mir die Er¬
laubniß geben, eine zu ſuchen?“
„Aber ohne, daß ein Scandal daraus wird.“
„Laſſen Sie mich nur machen.“
„Es muß ſo eingerichtet werden, daß er ſelbſt
um ſeine Entlaſſung bittet.“
„Weshalb?“
„Ich habe meine Gründe — und Felix, ſagen
Sie Grenwitz nichts davon. Er iſt in der letzten
Zeit ſo rechthaberiſch und eigenſinnig geworden! Ich
fürchte ſogar, er ſinnt darauf, unſer Project mit
Helene zu ſtören. Ich bitte Sie, Felix, ſeien Sie
vorſichtig! Ich wäre außer mir, wenn die Sache ſich
zerſchlüge, nachdem ich ſie ſchon unter der Hand nach
allen Seiten als ein fait accompli dargeſtellt habe.“
„Pah! Tante, ſchon wieder ängſtlich? Vertrauen
Sie mir: ich pflege zu Ende zu bringen, was ich
anfing.“
Viertes Kapitel.
Als Oswald, nach der peinlichen Scene mit
Emilie von Breeſen auf ſein Zimmer kam — denn
zur Geſellſchaft zurückzukehren, war ihm unmöglich —
ſah er auf ſeinem Tiſche ein Packet liegen, das wäh¬
rend ſeiner Abweſenheit dort hingelegt ſein mußte.
Schon der Zuſatz zur Adreſſe: „Hierbei die bewußten
Bücher mit vielem Danke zurück. Ihr getreuer B.“
ſagte ihm: von wem dieſes Packet gebracht war, und
was es enthielt. Und ſeltſam! er zögerte, das Band,
welches es umſchloß, zu löſen. Es war ihm, als ob
er kein Recht mehr zu Melitta's Briefen habe, ſeit¬
dem ſein Herz ihr nicht mehr ganz gehörte, als ob
vor allem ſie, deren Herz er nie vollſtändig beſeſſen,
nie das Recht gehabt, ihm dieſe Zeichen der Liebe zu
geben. Endlich, faſt mechaniſch, öffnete er das Packet.
Es waren drei Bücher darin. Aus dem mittleren
[78] fielen zwei Briefe — der eine von Melitta, der andere
von Bemperlein. Melitta's Brief enthielt nur wenige
herzliche Worte, die „über die lange Trennung, in
welcher ſich mit dem weiten Raum auch noch ſo vieles
Andere zwiſchen die Herzen, die einſt voller Seligkeit
aneinander geſchlagen, drängen könnte, klagten; und
ſchließlich die Hoffnung eines recht baldigen Wieder¬
ſehens ausdrückten. Der Brief trug keine Unterſchrift.
„Er könnte ja in fremde Hände fallen;“ ſagte Os¬
wald bitter. „Ich will noch großmüthiger ſein, ich
will dieſen Zeugen eines Verhältniſſes, deſſen ſie ſich
zu ſchämen beginnt, vernichten;“ und verbrannte das
Papier an der Flamme des Lichtes. Der Brief von
Bemperlein war ausführlicher, aber er handelte faſt
nur von Profeſſor Berger. Bemperlein war während
ſeines kurzen Aufenthalts in Grünwald ſehr viel in
der Geſellſchaft des Profeſſors, an welchen ihn Os¬
wald ſo warm empfohlen hatte, geweſen, und hatte
ſich die Gunſt des wunderlichen Mannes im hohen
Grade erworben, ebenſo wie er ſich ſeinerſeits für den
genialen Gelehrten begeiſterte. Man kann ſich daher
ſein Entſetzen vorſtellen, als Dr. Birkenhain ihm eines
Tages mittheilte, ſo eben ſei der Profeſſor Berger
in das Krankenhaus abgeliefert worden. Bemperlein
ſchrieb Oswald, daß er ſogleich um die Erlaubniß
[79] gebeten habe, Berger beſuchen zu dürfen; daß ihm
dieſe Erlaubniß gegeben ſei, und daß er ſeitdem jeden
Tag viele Stunden bei dem Kranken zugebracht habe,
der ſeine Geſellſchaft jeder andern vorziehe. Berger
ſpreche größtentheils vollkommen vernünftig, nur komme
er bei der geringſten Veranlaſſung auf ſeine fixe Idee
des Nichts zurück. Er finde es ganz in der Ord¬
nung, daß man ihn in eine Irrenanſtalt gebracht habe,
denn ſage er, „der Unterſchied zwiſchen den Leuten
draußen und denen drinnen beſtehe nur darin, daß jene
das werden könnten und reſpective werden würden
und eigentlich werden müßten, was dieſe ſchon ſeien.
Wenn z. B. Dr. Birkenhain nur gefälligſt einmal
ſeinen Kopf auseinander nehmen wollte, ſo würde er
die abſolute Hohlheit deſſelben mit eigenen Augen
wahrnehmen und ſich in ſeinem Hauſe ein behagliches,
ſonniges Zimmer anweiſen laſſen, um in aller Stille
über das große Ur-Nichts nachzudenken.“ Bemperlein
ſchrieb, daß Dr. Birkenhain Berger's Wahnſinn nur
für temporär halte und die beſtimmte Hoffnung habe,
den ausgezeichneten Mann in kurzer Zeit ſeinen Freun¬
den und Schülern geheilt zurückzuſenden.
„Was uns ſelbſt angeht,“ ſchloß Bemperlein, „ſo
wird Ihnen die gnädige Frau ja wol Alles der Ord¬
nung gemäß berichtet haben. Ich füge nur noch hinzu,
[80] daß unſers Verbleibens hier, Gott ſei Dank, nun wol
nicht mehr lange ſein wird. Herr von Berkow wird
täglich ſchwächer; die Schwindſucht macht reißende
Fortſchritte. Birkenhain giebt ihm nur wenige Tage.
Wir bleiben auf jeden Fall, bis Alles entſchieden iſt.
Ich ſehe dieſem Augenblick mit einer Ungeduld ent¬
gegen, die ganz rein von Selbſtſucht iſt. Aus dem
Tode dieſes Unglücklichen, der nun ſchon ſeit Jahren
kaum noch zu den Lebenden gehört, wird für zwei
Menſchen ein neues Leben erblühen — zwei Menſchen,
die mir unendlich werth und theuer ſind.
„Wirklich?“ ſagte Oswald, den Brief auf den
Schooß ſinkend laſſend. Biſt Du deſſen ſo gewiß,
guter Bemperlein? Freilich, was ahnt Dein reines
Herz von adligem Verrath und freiherrlicher Tücke?
— [Und] doch! weshalb erwähnt auch er Oldenburg's
Anweſenheit nicht? was hat er davon, ein Factum
zu verſchweigen, von dem er wiſſen mußte, daß es
mich intereſſiren würde? So iſt auch er in dem Com¬
plott? Wohl; ſo willſt du fortan dich auf Niemand
verlaſſen, als auf dich ſelbſt! Unter den Wölfen muß
man heulen, und der iſt ein Narr, der unter Betrü¬
gern und Lügnern den ehrlichen Mann ſpielen will.
Heuchelt Ihr — ich kann es auch; ſpielt Ihr Komö¬
die — ich will nicht im Parterre ſitzen; lacht Ihr
[81] Euch ins Fäuſtchen — ich werde nicht weinen, und
wer zuletzt lacht, lacht am beſten. Ha, ha, ha!
„Ich freue mich, Sie in ſo ausgezeichneter Laune
zu treffen;“ ſagte eine Stimme hinter ihm.
Oswald fuhr von ſeinem Stuhle empor und ſtarrte
die lange Geſtalt, die plötzlich, wie aus dem Boden
gewachſen, vor ihm ſtand, erſchrocken an.
Es was Baron Oldenburg.
„Ich bitte um Entſchuldigung,“ ſagte er, Oswald
die Hand, welche dieſer zögend ergriff, entgegenſtreckend
„daß ich ſo unangemeldet und wie Nikodemus in der
Nacht bei Ihnen erſcheine. Aber ich komme dieſen
Augenblick erſt von meiner Reiſe zurück und hörte
von einem Bedienten, der mit einem Präſentirbrett
voll Gläſer und Taſſen an mir vorbeirannte, Sie
ſeien auf Ihr Zimmer gegangen. Der Mann hatte
eben nur noch Zeit, mir den Weg zu beſchreiben, und
klapperte mit ſeinen Gläſern weiter. Und da bin ich
denn nun, und, wie geſagt, freue mich, Sie in guter
Stimmung zu finden, denn ſonſt hätte ich kaum den
Muth, Ihnen zu ſagen, weshalb ich da bin. Wiſſen
Sie, wo wir heute Nacht vor einem Monat waren?
Es iſt die Nacht, welche uns die braune Gräfin
zum Rendezvous beſtimmte. Nehmen Sie noch ſo
viel Intereſſe an mir und unſerer kleinen Pflege¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 6[82] befohlenen, um mich zu dem bewußten Platze zu be¬
gleiten?“
„Ich ſtehe in einigen Minuten zu Ihrer Verfü¬
gung,“ ſagte Oswald; „erlauben Sie nur, daß ich
mich ein wenig zu unſerer Fahrt zurecht mache.“
Er nahm eins der beiden Lichter, die auf dem
Tiſche brannten und ging in die Nebenſtube.
„Ziehen Sie ſich ja warm an;“ rief ihm Olden¬
burg nach; „es iſt jetzt ſehr kühl gegen Morgen, noch
dazu im Walde.“
„Hm!" murmelte er, als Oswald verſchwunden
war; „er ſieht bleich und angegriffen aus, und war
weniger freundlich, als ſeine Gewohnheit iſt. Er
wird doch nichts von meinem Aufenthalte in N., den
ich ihm ſo ſorgfältig verheimlichte, erfahren haben?
Ich muß ihn ein wenig aushorchen. Es wäre fatal,
denn ich ſpreche mit Niemanden gern über mein Ver¬
hältniß zu Melitta, mit ihm am wenigſten.“
Unterdeſſen ſagte Oswald, während er ſich um¬
zog, vor ſich hin: „Jetzt gilt es klug ſein, wie die
Schlange. Spielt Ihr mit mir, ſo will ich mit Euch
ſpielen.“
Er trat wieder ins Zimmer.
„Ich bin bereit.“
„So wollen wir aufbrechen. — Mein Wagen hält
[83] vor dem Thor;“ ſagte der Baron, während ſie die
Treppe, die nach dem Garten führte, hinunterſtiegen;
„die Czika ſitzt, in meinem Mantel gehüllt, darin.
Meinen Sie nicht auch, daß es gerathen iſt, das
Kind zu der Zuſammenkunft mitzunehmen? Wenn die
Zigeunerin wirklich des Kindes Mutter iſt, ſo ſind
wir ihr wol dieſe Aufmerkſamkeit ſchuldig. In jedem
Fall kann ſie ſich überzeugen, daß das Kind lebt und
geſund iſt und ſich in ſeinen neuen Verhältniſſen wohl
befindet. — Aber was bedeutet denn dies rege Leben
im Schloß? Anna-Maria iſt doch ſonſt keine Freun¬
din von Feſtgelagen. Iſt Malte vielleicht fortgelaufen
geweſen und wieder zurückgekehrt und wird dem Kalbe
jetzt ein Kalb geſchlachtet?“
„Es handelt ſich nicht um einen verlornen Sohn,
ſondern um eine wiedergefundene Tochter,“ ſagte Os¬
wald, ſich zu einem ſcherzhaften Tone zwingend;
„Fräulein Helene iſt aus der Penſion zurück. Seit¬
dem reiht ſich Feſt an Feſt.“
„Tempora mutantur;“ lachte Oldenburg; „das
muß ja eine Circe von Mädchen ſein, die ſolche
Metamorphoſen zu Wege bringen kann. Iſt ſie
ſchön?“
„Mir erſcheint ſie ſo.“
„Laſſen Sie uns einmal an die Fenſter treten,“
6*[84] ſagte Oldenburg, als ſie jetzt quer über den Raſenplatz
ſchritten; „ich bin unendlich neugierig, dies Wunder
zu ſehen. Es wird uns ja Niemand bemerken.“
Er ſchritt nach der Treppe, die auf den Perron
hinaufführte. Oswald folgte. Die Thüren waren jetzt,
wo es draußen kühler wurde, geſchloſſen, auch die
Fenſter; aber die Vorhänge waren nicht herunterge¬
laſſen; man konnte von dieſem Standpunkte aus Alles
beobachten, was in den blendend hell erleuchteten Zim¬
mern vorging.
Als ſie an das Fenſter traten, ſaß ihnen gerade
gegenüber Helene am Clavier, Felix ſtand hinter ihrem
Stuhl. Er beugte ſich über ſie und ſchien eifrig mit
ihr zu ſprechen. Oldenburg's falkenſcharfes Auge hatte
ſogleich die Gruppe erfaßt:
„Wer iſt der junge Mann?“ fragte er.
Als Oswald nicht antwortete, warf der Baron
den Blick auf ihn und ſah, daß er die Unterlippe
zwiſchen die Zähne gepreßt hatte und die ſtarren Au¬
gen nicht von den Beiden am Clavier wegwandte.
Felix beugte ſich noch tiefer; Oswald preßte die Lippe,
daß das Blut durch die Haut ſprang. Da ſtand He¬
lene plötzlich auf, und ſchritt durch die Gruppen der
Tänzer, die durch das Aufhören der Muſik wie am
Boden gefeſſelt waren, oder lachend weiter zu tanzen
[85] verſuchten, hindurch, gerade auf das Fenſter zu, vor
welchem Oldenburg und Oswald ſtanden, die ein paar
Schritte zurück in den Schatten traten. Sie blieb, in
der Fenſterniſche angelangt, ſtehen, die Arme über dem
Buſen verſchränkt, die großen ſtrahlenden Augen auf
den Mond gerichtet, deſſen goldene Scheibe draußen
an dem tiefblauen nächtlichen Himmel ſchwamm. Es
war unmöglich, etwas Schöneres zu ſehen, als ihr
von der Aufregung der eben mit Felix gehabten Scene
noch leidenſchaftlich erregtes, in dem Strahl des
Mondes geiſterhaft bleiches, von dem herrlichen blau¬
ſchwarzen Haare eingerahmtes Geſicht. Es war ein
Antlitz von hinreißender Gewalt des Ausdrucks, grauen¬
haft lieblich und tödlich ſchön. — Ein Herr — es war
Adolf von Breeſen — trat an ſie heran, und ſprach
zu ihr. Sie antwortete ihm kurz, ohne die Stellung
zu verändern, ohne kaum die Lippen zu regen. Er
verbeugte ſich und trat zurück. — Dann, als ob ſie
ſich eines Andern beſonnen hätte, wandte ſie ſich und
ſchritt wieder zum Clavier zurück, ſetzte ſich und be¬
gann von Neuem zu ſpielen. Wie von einem Zau¬
berſtabe berührt, kamen die Paare der Tanzenden
wieder in Bewegung — und das bunte Bild, das
Oldenburg und Oswald zuerſt erblickt hatten, war
wieder hergeſtellt.
[86]
„Wer war der Fant, welcher dies Intermezzo ver¬
anlaßte?“ fragte Oldenburg, als ſie wieder in den
Garten hinabgingen.
„Felix von Grenwitz, ihr Couſin.“
„Ein allerliebſtes Püppchen; und die junge Schön¬
heit ſoll die Puppe zum Gemahl haben; nicht?“
„Ich glaube.“
„Und wie erſcheint Ihnen das?“
„Wie die Welt dem Hamlet: ekel, ſchal und flach
und unerſprießlich.“
„Meine böſe Ahnung geht in Erfüllung;“ mur¬
melte Oldenburg durch die Zähne.
„Sie ſagten?“
„Ich dachte eben daran, ob Karl wohl den Wa¬
gen in die Höhe geſchlagen hat, damit meine kleine
Czika nicht ganz unter freiem Himmel ſitzt. Freilich,
ihr wäre es am liebſten, wenn ſie nie eine andere
Decke über ſich hätte. Auf unſrer Reiſe jubelte ſie
jedesmal, ſo oft wir in die Nacht hineinfuhren, und
ſie die vielgeliebten Sterne über ſich leuchten ſah.“
„Und — darf man fragen, was Sie ſo plötzlich
aus unſerer Nähe riß?“ fragte Oswald, und ſeine
Stimme bebte.
„Eine Angelegenheit, die eigentlich nur indirect
für mich von Bedeutung iſt. Die Krankheit eines
[87] Mannes, deſſen Tod auf das Geſchick einiger Per¬
ſonen, die mir werth ſind, von großem Einfluß ſein
kann.“
Der Baron wartete, ob Oswald etwas erwiedern
würde.
„Ich war eitel genug, zu glauben, daß meine Ab¬
reiſe einige Senſation in der Geſellſchaft hier erregen
würde,“ fügte er hinzu, als Oswald ſchwieg, „dies
ſcheint indeſſen nicht der Fall geweſen zu ſein.“
„Man iſt ſeit ſo langen Jahren gewohnt, Sie un¬
vorbereitet kommen und gehen zu ſehen, daß man
ſich nachgerade daran gewöhnt hat,“ ſagte Oswald,
„doch da hält Ihr Wagen glaube ich.“
„Wo iſt Czika, Karl?“ fragte der Baron?
„Sie liegt im Wagen, feſt eingeſchlafen,“ ant¬
wortete der Kutſcher, der vom Bocke geſtiegen war,
den Tritt herabzulaſſen, „ich habe ſie ſorgfältig zu¬
gedeckt.“
„Wir wollen ſie zwiſchen uns nehmen, wie da¬
mals, als wir, von Barnewitz kommend, ſie auf der
Landſtraße fanden.“
Der Baron war ſchon im Wagen.
„Biſt Du es, Herr?“ fragte das Kind, aus dem
Schlaf erwachend.
„Ja, mein Herz.“
[88]„Wer iſt der Mann bei Dir?“
„Dein Freund, der Mann mit den blauen Augen.“
„Er ſoll bei uns bleiben,“ murmelte Czika ſchlaf¬
trunken, ſich an Oswald, der nun auch eingeſtiegen
war, ſchmiegend. „Czika iſt müde; Czika will in Dei¬
nen Armen ſchlafen.“
„Ich glaube,“ ſagte der Baron, als ſich der Wagen
in Bewegung ſetzte, „Sie haben einen unauslöſchlich
tiefen Eindruck auf Czika gemacht. Sie ſpricht ſehr
oft von Ihnen und fragt, warum der Mann mit den
blauen Augen — ſo bezeichnet ſie Sie ſtets — nicht
wieder kommt? Es iſt doch ein wunderliches Ding,
das Menſchenherz; ein unergründliches Räthſel, zu
dem der Weiſeſte der Weiſen keinen Schlüſſel hat.
Wer erklärt uns das Wunder der Sympathien und
Antipathien? Welche Mühe habe ich mir gegeben, das
Herz dieſes Kindes mir zueigen zu machen! Ich möchte
ſo gern etwas auf der Welt mein eigen nennen! Und
iſt es mir gelungen? Ich weiß es kaum. Sie folgt
mir, aber nur wie ein Kind, dem die Mutter geſagt
hat: geh mit dem Herrn und ſei hübſch artig! Ich
bin ihr heute noch, was ich ihr am erſten Tage war.
Ich habe ſie mit der zärtlichſten Sorge umgeben. Sie
nimmt Alles hin, wie eine Gabe, die man nicht aus¬
ſchlägt, um den Geber nicht zu beleidigen.“
„Aber machen es nicht alle Kinder mehr oder
weniger ſo?“ erwiederte Oswald; „iſt es nicht ihr
gutes Recht, ſich lieben zu laſſen, ohne weiter dankbar
dafür zu ſein? Und dann: was iſt am Ende eine
Liebe, die auf Dank rechnet? Heißt es nicht auch
hier: wer Lohn begehrt, der hat ſeinen Lohn dahin?“
„Mögen Sie das nie an ſich ſelbſt erfahren!“ ſagte
der Baron mit bewegter Stimme, „und mögen es
Andere nie durch Sie erfahren! Wüßten Sie, was
hoffnungsloſe Liebe iſt, wüßten Sie auf der anderen
Seite, was es heißt: das Gefühl mit ſich herum¬
tragen, Liebe, warme aufrichtige Liebe mit Kälte, mit
Gleichgültigkeit erwiedert zu haben — Sie würden
ſo nicht ſprechen. Nein, nein! Ein Herz, das uns
liebt, iſt ein Schatz, den wir nicht verachten dürfen,
und flögen uns Aller Herzen zu. Ein Herz, das uns
liebt, gekränkt zu haben, iſt eine Erinnerung, die auf
unſerem Gewiſſen brennt und die keine neue Liebe,
und wäre ſie wirklich edler und reiner, als die, welche
wir damals fühlten, wieder auslöſcht.“
„Und haben Sie dieſe Erfahrung an ſich ſelbſt
gemacht?“
„Leider, ja! Ich habe in meinem Leben viele Ver¬
hältniſſe angeknüpft und wieder gelöſt, ohne daß ich
darüber Gewiſſensbiſſe empfunden hätte. Wußte ich
[90] doch nur zu wohl, daß die guten Herzen nicht brechen
würden! Es waren Conta meta Geſchäfte, bei denen
Jeder ſeine Rechnung gefunden hatte, oder die,
ſchlimmſten Falls, den einen oder den andern und
meiſtens beide Partner ſo bettelarm ließen, wie ſie
vorher geweſen waren. Nur einmal — ich war da¬
mals noch ziemlich jung und das gereicht mir einiger¬
maßen zur Entſchuldigung — nur einmal habe ich
mich des Frevels ſchuldig gemacht, ein Weſen, von
dem ich überzeugt ſein konnte, daß es mich treu und
aufrichtig liebte, mit ſchnödem Undank zu belohnen.
Die Geſchichte würde mir unvergeßlich ſein, auch
wenn ſie nicht durch die Begegnung mit der braunen
Gräfin auf eine wunderliche Weiſe mir wieder in die
Erinnerung gerufen wäre. Habe ich Ihnen nicht er¬
zählt, wie ich einſt vor vielen Jahren im fernen Un¬
garlande, als ich mich auf dem Gute eines Bekannten,
den ich unterwegs aufgefiſcht hatte, zum Beſuch auf¬
hielt, ganz zufällig ein Zigeunermädchen fand —“
„Ja;“ ſagte Oswald; „ich erinnere mich Ihrer Er¬
zählung, die durch das Hereintreten Herrn von Cloten's
unterbrochen wurde, ſehr wohl. Ich vergaß hernach,
Sie um die Fortſetzung zu bitten. War es nicht ſo?
Sie hatten das Mädchen, als Sie einſt, fern von der
Wohnung, durch den Wald ſchweiften, in einem Zi¬
[91] geunerlager, das für den Augenblick von der übrigen
Bande verlaſſen war, gefunden. Sie erblicken und
ſie lieben, war eins. Sie verlebten mit ihr in der
romantiſchen Einſamkeit mehre glückliche Tage. Die
Geſchichte ſchloß mit folgendem Tableau: Ein Zi¬
geunerlager im Walde — Sonnenuntergang —
unter dem überhangenden Dache einer breitaſtigen
Buche ein liebendes Paar auf ſchwellendem Moos¬
teppich — “
„Ihr Gedächtniß iſt gut,“ ſagte der Baron, „auch
haben Sie die Stimmung, welcher ich damals dem Bilde
gab, getreu reproducirt. Ich werde nachträglich noch
einige Schlagſchatten hineinzeichnen müſſen. — Ich ſaß
alſo mit der Zingarella — Xenobi war ihr ſüßer Name
— in der von Ihnen angedeuteten Situation. Ich ſang
das alte Finklerlied von der Liebe, die nimmer enden
würde, und das holde Vögelchen traute der alten falſchen
Weiſe und ſchmiegte ſich innig und immer inniger an
mein Herz. Da plötzlich ertönte Hufſchlag durch den
ſtillen Wald und das Lachen nnd Schwatzen einer
fröhlichen Kavalkade. Ich hatte kaum noch Zeit, die
Kleine unſanft von meinem Schooß zu ſtoßen und
mich zu erheben, als die Schaar ſchon unter den
hohen Bäumen hervor auf den Platz geſprengt kam.
Es waren meine Wirthe: der junge Graf Cryvani
[92] mit ſeinen Schweſtern und mehre Herren und Da¬
men aus der Nachbarſchaft. Sie können ſich die nun
folgende Scene denken. Ich wurde ſofort umringt
und mit Fragen überſchüttet: Wo ich geweſen wäre?
wie ich hierher gekommen wäre? — Ich dachte,
die Wölfe hätten Sie zerriſſen! rief der Eine: oder
Sie hätten ſich aus unglücklicher Liebe erſchoſſen, ein
Anderer. — Ich habe des Räthſels Löſung! ſchrie
ein Dritter: Liebe freilich iſt im Spiel, aber bei
Leibe keine unglückliche. Sehen Sie dort! und er
deutete mit dem Stiel ſeiner Reitpeitſche auf meine
arme Xenobi, die ſich bei der Annäherung der Kaval¬
kade ſcheu hinter dem dicken Stamm der Buche ver¬
ſteckt hatte. — Ein allgemeines Gelächter belohnte
den Witzbold. Nur ein Geſicht blickte finſter drein.
Es war die jüngſte und hübſcheſte der Schweſtern,
der ich noch zuguterletzt den Hof gemacht hatte und
die, glaube ich, in ihrer Weiſe — was freilich nicht
viel ſagen will — mich mit ihrer Neigung beehrte,
mir wenigſtens ſchon einige nicht mißzuverſtehende
Zeichen ihrer Gunſt gegeben hatte. Ich ſchämte mich
plötzlich meiner armen Xenobi ganz entſetzlich und
hatte nur den einen Wunſch, mich aus der Affaire zu
ziehen, ohne die ſtolze Georgina zu beleidigen. Ich
ſpielte den Entrüſteten, ich behauptete tagelang im
[93] Wald umhergeirrt, und nur eben erſt auf das Zigeu¬
nerlager geſtoßen zu ſein. „Woher hat denn das Mäd¬
chen die goldene Kette um den Hals, die wir kürzlich
noch an Ihnen bewunderten?“ fragte Georgina. —
Sie hat ſie mir geſtohlen, während ich, von meiner
Wanderung ermüdet, ſchlief; rief ich. — So nehmen
ſie ihr die Kette wieder ab. — Ich hätte Georgina
ermorden können, aber ich hatte mich zu feſt in meine
freche Lüge verſtrickt; Widerruf ſchien unmöglich.
Xenobi kam mir zuvor. — Hier, Herr! ſagte ſie, nimm,
was ich Dir geſtohlen habe; und ſie reichte mir das
Geſchmeide. Ich werde die zitternde Hand, das von
Schmerz und Zorn entſtellte Geſicht des armen
Geſchöpfes nie vergeſſen. — — — Machen wir,
daß wir nach Hauſe kommen! rief Herr von Cry¬
vani; es zieht ein Wetter herauf. — Ich beſtieg
das Pferd eines der Bedienten, und fort ging es
durch den dämmrigen Wald. Ich wagte nicht, mich
nach Xenobi umzublicken. Georgina, an deren Seite
ich ritt, würde mir es nie vergeben haben. Ich hatte
mir die Gunſt der Dame vollſtändig wieder erobert,
aber um welchen Preis! Als ich am Abend des fol¬
genden Tages — früher konnte ich mich nicht von
der Geſellſchaft losmachen — in den Wald gerannt
war, mein Unrecht wieder gut zu machen, fand ich
[94] wol nach vielem Suchen den Platz, aber nicht mehr
Xenobi. Die Bande hatte, als ſie ihren Schlupf¬
winkel verrathen ſah, ihre Zelte abgebrochen und war
wer weiß wohin gezogen. Von Xenobi habe ich nie
wieder eine Spur entdecken können.“
Der Baron ſchwieg und blies den Rauch ſeiner
Cigarre in mächtigen Wolken in die Luft.
„Sehen Sie,“ hub er nach einer langen Pauſe
wieder an, „ich bin fromm genug, oder abergläubiſch
genug, wenn Sie wollen, um anzunehmen, daß ich
durch dieſe That ſchnöden Verrathes einen Fluch auf
mich geladen habe, den keine Reue wieder ſühnt; einen
Fluch, deſſen Erfüllung mein ganzes ſo verfehltes
Leben iſt. Von da ab iſt es mein Schickſal geweſen,
Liebe zu ſäen und Gleichgültigkeit zu ernten, bis ich
zuletzt aus Verzweiflung in den ſtinkenden Pfuhl der
Blaſirtheit geſprungen bin, um mich vor mir ſelbſt
zu retten. Und nun werden Sie auch begreifen, was
mir Czika iſt — ein Engel im eigentlichſten Sinne
des Wortes, ein holder Bote des Himmels, der mir
Friede! Friede! in das kranke Herz ſingt. Hat mir
das Bild des Kindes doch ſchon ſeit Jahren vor der
Seele geſchwebt, glaubte ich doch die Erfüllung meiner
Träume ſchon zweimal leibhaftig vor mir zu ſehen.
Hier iſt die rothe Roſe Xenobi noch einmal, aber in
[95] dem Morgenthau ſüßeſter Unſchuld. Die rothe Roſe
hat nun der Sturm des Lebens wol ſchon lange ge¬
knickt, und hätte ich ſie auch damals treuer bewahrt —
was würde die Welt, die kalte, freche, läſternde Welt
aus der romantiſchen Liebe eines Barons und einer
Zingarella zuletzt gemacht haben! Damals war ich
zu jung und hätte die Geliebte vor dieſer ſchnöden
Welt nicht vertheidigen können; jetzt bin ich ein Mann
geworden und habe blos ein Kind, einen Findling,
zu ſchirmen und zu ſchützen. So ſind jetzt die Chancen
alle für mich. Ich werde der Zigeunerin geben, was
ſie verlangt, und wärmſten, aufrichtigſten Dank in
den Kauf. Ich hoffe, ſie hat die Verabredung nicht
vergeſſen. Halt, Karl! — Wir müſſen hier ausſteigen,
um durch den Wald zu gehen. Ich kenne den Pfad
von früher her noch ziemlich gut. Es iſt die Stunde,
welche uns die braune Gräfin beſtimmte. Wir kom¬
men gerade zur rechten Zeit.“
„Wollen wir nicht doch die Kleine lieber hier laſſen?“
ſagte Oswald.
„Weshalb?“ fragte der Baron, der ſchon aus dem
Wagen geſtiegen war.
„Das Kind hängt ſehr an der Frau, die ja am
Ende doch ſeine Mutter iſt. Vielleicht wird es bei
ihrem Anblick von der alten Liebe zum Waldesleben
[96] erfaßt, und es giebt zum mindeſten eine peinliche
Scene.“
Oswald ſprach die Worte leiſe, denn Czika regte
ſich in ſeinen Armen.
„Czika will mit,“ ſagte das Kind plötzlich; „Czika
will in den Wald und den Mond und die Sterne
durch die Zweige tanzen ſehen. Czika kennt jeden
Baum und jeden Buſch.“
Sie ſtand auf dem feuchten Waldboden und klatſchte
vor Vergnügen in die Hände und tanzte und lachte
und rief:
„Kommt, kommt! Du, Herr, und Du, Mann mit
den blauen Augen! Czika will Euch einen ſchönen
Platz zeigen, Czika kennt jeden Baum und jeden Buſch
im weiten Wald.“
Sie huſchte [auf] einem ſchmalen Pfad, der ſich von
dem Wege, auf dem der Wagen hielt, ſeitwärts in
den dichteſten Forſt ſchlug, vorauf, wie eine wilde
Katze durch die Büſche ſchlüpfend, deren dünne Zweige
wieder hinter ihr zuſammenſchlugen. Nur mit großer
Mühe folgten die beiden Männer. Czika war nicht
zu bewegen, ihren Lauf zu hemmen. Ihre einzige
Antwort auf das: nicht ſo ſchnell, Czika! nimm uns
mit, Czika! war der helle, luſtige Schrei des jungen
Falken, den ſie wieder und wieder, lauter und ſchriller,
[97] wie Antwort heiſchend, erſchallen ließ. Plötzlich er¬
tönte die Antwort durch den ſtillen Wald, derſelbe
ſtolze Schrei, deſſen ſich Oldenburg und Oswald noch
ſo deutlich von jenem Morgen erinnerten, als die
Zigeunerin aus der Ferne den Ruf der Kleinen be¬
antwortete.
Da leuchtete ein rother Schein durch die hohen
Stämme der Bäume, der mit jedem Augenblick heller
und heller wurde. „Wir ſind gleich am Ziele,“ ſagte
der Baron, welcher voranging.
Wirklich traten ſie nach wenigen Minuten auf die
Lichtung heraus, die Oswald von dem Nachmittage,
als er ſich auf dem Wege zu Melitta im Walde ver¬
irrt hatte, ſo unvergeßlich war. Auf derſelben Stelle,
nicht weit vom Rande des Sumpfes, wo damals die
Zigeuner ihre Mahlzeit kochten, brannte jetzt wieder
ein Feuer, aber groß und mächtig, wie um die Scene
in das hellſte Licht zu ſetzen. Die Kronen der mäch¬
tigen Bäume glühten purpurroth oder tauchten in
ſchweren Schatten, je nachdem die Flamme des Holz¬
ſtoßes emporloderte oder zuſammenſank; von dem dun¬
klen Waſſerſpiegel des Sumpfes erglänzte der Wieder¬
ſchein — und, umfloſſen von dieſer magiſchen Be¬
leuchtung, erblickten die Männer, als ſie athemlos den
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 7[98] Saum der Lichtung erreichten, die braune Gräfin auf
den Knien vor Czika, die ſie mit Küſſen und Lieb¬
koſungen überhäufte, während das Kind ſich vergeblich
bemühte, ſie vom Boden empor zu ziehen und ſich
endlich zu ihr auf die Knie warf, ihr Haupt an dem
Buſen des Weibes verbergend.
Schweigend und regungslos ſtanden die beiden
Männer, tief ergriffen von dem Schauſpiel einer ſo
leidenſchaftlichen Zärtlichkeit.
Da erhob ſich die Zigeunerin und das Kind an
die Hand nehmend, trat ſie auf die Beiden zu und
ſagte zu Oldenburg, der ſie mit weit aufgeriſſenen
Augen anſtarrte:
„Kennſt Du mich, Herr?“
In dieſem Augenblick leuchtete die Flamme hell
auf und jeder Zug in dem edelſtolzen Geſicht des
egyptiſchen Weibes und jede Linie ihres ſchlanken,
hohen Leibes war wie vom Tageslicht erhellt.
„Xenobi!“ ſchrie der Baron, ſeine Arme ausbrei¬
tend, „Xenobi!“
Das braune Weib ſtürzte ſich mit einem Schrei
wahnſinnigen Entzückens an ſeine Bruſt und klammerte
ſich an ihn, als ob ſie ſich nie wieder von dem ge¬
liebten Manne trennen wolle. Aber im nächſten Mo¬
ment ſchon riß ſie ſich los, trat ein paar Schritte
[99] zurück und ſtand da, unbeweglich, die Hände über dem
vollen Buſen faltend. Czika ſtand zwiſchen ihr und
dem Baron, die großen dunklen Augen voller Ver¬
wunderung von dieſem zu jener, von jener zu dieſem
wendend.
Der Baron nahm ſie bei der Hand und ſagte,
näher an die Zigeunerin tretend, in einem Tone, der,
ſo ſehr er ſich auch zu beherrſchen ſuchte, deutlich die
ungeheure Erregung, die in ihm wühlte, verrieth:
„Xenobi, iſt dieſes Kind —“
Er vermochte nicht weiter zu ſprechen; er rang
mühſam nach Worten. Endlich ſtammelte er:
„Dein und mein Kind?“
„Ja, Herr!“ ſagte die Zigeunerin, ohne ſich zu
regen; die dunkeln glänzenden Augen feſt auf das
Antlitz des Barons heftend.
Oldenburg hob das Kind in ſeinen Armen empor
und drückte es feſt an ſeine Bruſt. Oswald fühlte,
daß er die Drei allein laſſen müſſe und zog ſich bis
an den Rand des Waldes zurück. Dort ſetzte er ſich.
Es war dieſelbe Stelle, auf der er an jenem Nach¬
mittage gelegen hatte, als er den köſtlichen Traum
von Melitta träumte, und von wo aus er hernach
Czika auf dem Cymbal hatte ſpielen hören, während
die braune Gräfin am Feuer ſchaffte und mit ihrer
7*[100] tiefen weichen Stimme die ungariſche Volksweiſe ſang.
Wie vieles hatte ſich nicht ſeit jenem Tage geändert!
was hatte er nicht Alles gewonnen und wieder ver¬
loren ! Damals hatte ſein Herz der ſchönen Frau ſo
ſehnſuchtsvoll entgegengeſchlagen; heute erfüllte die
Erinnerung an ſie ſeine Seele mit Trauer und Schmerz.
Warum hatte ſie ihn ſo unendlich glücklich gemacht,
wenn ihre Liebe doch nur die ſouveräne Laune eines
Augenblicks war, nur ein hübſches Spiel, der Stunden
Einerlei auszufüllen, über den momentanen Bruch
ihres Verhältniſſes zu Oldenburg beſſer hinwegzukom¬
men? Hatte er das Gefühl, daß ſie, die hochgeborne
Dame, die ſtolze Ariſtokratin, ihn über kurz oder lang
doch verleugnen werde, werde verleugnen müſſen, nicht
immer mit ſich herumgetragen? hatte ſich dieſer Ge¬
danke nicht ſelbſt in den ſonnigſten Augenblicken der
Liebe wie ein düſterer Schatten zwiſchen ihn und die
reizende Frau geſtohlen? Hatte er nicht, als der Name
Oldenburg's zum erſten Mal ſein Ohr berührte, in
dieſem Manne, wie von einem Dämon getrieben,
ſeinen Nebenbuhler erkannt? Und mußte er ſich nicht
eingeſtehen, daß dieſer Mann Alles beſitze, in dem
Herzen einer ſtolzen Frau eine heroiſche Leidenſchaft
zu entflammen? Rang und Reichthum, eminente Ga¬
ben, den Muth des Ritters ohne Furcht und Tadel,
[101] und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches
nicht ganz reines Herzens iſt, zu beſtricken?
Und wie gut ſtand ihm ſein Weltſchmerz und die
Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte,
nicht glauben, er werde nächſtens in die Wüſte gehen
und ſich von Heuſchrecken nähren? Jetzt wird er die
Zigeunerin mit ſich auf ſeine Solitüde nehmen, damit
die Einſamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬
niger einſam ſei. . . .
So wühlte ſich Oswald gefliſſentlich tief und tiefer
in die bitterſten Empfindungen hinein. Die neue
Leidenſchaft, die in ſeinem Herzen zehrte, machte ihn
taub und blind gegen die Stimme ſeines Gewiſſens,
gegen die augenſcheinlichſten Beweiſe von der Falſch¬
heit ſeiner gehäſſigen Vermuthungen. Er hatte ein
dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬
gehetzt und müde, wie unfähig, über ſich ſelbſt zur
Klarheit zu kommen. Er wäre am liebſten geſtorben,
um all dem Wirrſal zu entfliehen, wie ein Schwim¬
mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlaſſen,
und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn iſt, ſich
in den Abgrund ſinken läßt. Er drückte das Geſicht
in ſeine Hände, um nichts mehr zu ſehen und zu
hören. . .
Eine Hand, die ſich auf ſeine Schulter legte, riß
[102] ihn aus ſeinem wirren Traum. Es war Oldenburg.
Der Baron war allein. Das Feuer des Holzſtoßes
flammte nur noch auf Augenblicke empor und drohte
zu verlöſchen. Der Mond, über den graue Wolken¬
ſchleier zogen, flimmerte geiſterhaft in dem dunklen
Waſſer des Sumpfes. Unheimlich ziſchelte und flüſterte
der Wind in den langen Binſen des Ufers.
„Wo iſt Czika?“ fragte Oswald.
„Fort,“ erwiederte der Baron; „laſſen Sie uns
aufbrechen. Es iſt ſpät.“
„Wird ſie nicht wiederkommen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und Sie haben zugegeben, daß dies Kind, Ihr
Kind, der Zigeunerin folgt in die weite Welt!“
„Was ſollte ich thun? Iſt es nicht ihr Kind
tauſendmal mehr als meines? hat ſie es nicht mit
Schmerzen geboren, es genährt und gepflegt und be¬
ſchirmt viele, viele Jahre, durch Regen und Sonnen¬
ſchein, in Noth und Armuth, im wilden Wald, auf
der offenen Landſtraße? Hat ſie nicht für dies Kind
gebettelt und geſtohlen und vielleicht gethan, was noch
ſchlimmer iſt? Was habe ich für mein Kind gethan?
nichts — nichts, als ſeine Mutter vor den Augen
eines vornehmen Pöbels zur Diebin gemacht, ſie wie
einen verlaufenen Hund von mir verjagt, einer elenden
[103] Kokette zu Liebe? Nein, nein! ich habe kein Anrecht
an dieſem Kinde!“
Während der Baron ſo ſprach, ſtieß er mit dem
Fuße die halb verkohlten Feuerbrände aus dem Holz¬
ſtoß in den Sumpf, daß ſie ziſchend verlöſchten.
„Weshalb hat denn die braune Gräfin Sie auf¬
geſucht? weshalb Ihnen das Kind in die Hände ge¬
ſpielt? weshalb dieſes Rendezvous ſelbſt herbeigeführt?“
„Sie wollte den Geliebten ihrer Jugend, den ein¬
zigen Mann, den ſie vielleicht je geliebt hat, noch
einmal ſehen; ſie wollte ihm das Kind, ſein Kind, in
die Hände legen und zurücktauchen in ihre Waldes¬
nacht. Aber ſie kann ohne das Kind nicht leben und
das Kind nicht ohne ſie. So mußte ich denn Beide
ziehen laſſen.“
„Aber weshalb nicht Beide mit nach Cona neh¬
men?“
„Soll ich den Falken an die Kette legen? Der
Falk fühlt ſich nur wohl in dem unermeßlichen Aether¬
meer; er ſtirbt in der dumpfen Stubenluft. Kommen
Sie! es iſt für uns civiliſirte Menſchen die höchſte
Zeit, daß wir in's warme Bett kommen.“
Der Baron ſtieß den letzten Brand hinunter in's
Waſſer; die Männer wandten ſich, zu gehen.
[104]
Zwiſchen den haſtig treibenden Wolken hervor
blickte der Mond trübäugig in das ſchwarze Waſſer
des Sumpfes, und die langen Binſen, die am Rande
wuchſen, flüſterten: hier iſt kühle Ruh' für alles Er¬
denleid.
Fünftes Kapitel.
„So! aus der Verlegenheit wären wir glücklich!“
ſagte Albert, ein Packet Werthpapiere in eine volumi¬
nöſe, abgetragene Brieftaſche ſtopfend, die unter andern
auch verſchiedene Schreiben in kaufmänniſcher Hand
enthielt, welche, obgleich die meiſten darunter von
nicht ganz neuem Datum, noch immer nicht beant¬
wortet waren. „Es iſt doch Alles in Allem ein gutes
kleines Frauenzimmer; nicht übermäßig geſcheidt —
aber das iſt in dieſem Falle nur eine Tugend mehr.
Ich glaube wirklich, ich könnte meine Natur ſo weit
verleugnen, die kleine Samariterin zu heiraten. Viel¬
leicht führe ich gar nicht ſo ſchlecht dabei. Wer weiß?
am Ende ſteckt noch irgendwo in einem verborgenen
Winkel meines Innern der Keim zu einem ſoliden
Spießbürger, der nur der Wärme des häuslichen
Heerdes bedarf, um ſich glorreich zu entwickeln. Die
Sache iſt freilich, wie ich mich kenne, äußerſt proble¬
[106] matiſch, aber ſo ganz und gar unmöglich iſt ſie denn
doch nicht. Ich ſehe mich ſchon im Geiſt an der
Seite der kleinen Frau des Sonntag Nachmittags
ehrſam durch die Felder wandern, das Lied der Spatzen
und die Philippiken der theuren Ehehälfte gegen die
ſteigende Unverſchämtheit der Bäcker und Fleiſcher mit
langen Ohren einſaugend, während vor uns her zwei
junge Weltbürger wandeln, die eine flüchtige Aehn¬
lichkeit mit einer mir ſehr werthen Perſon haben, und
hinter uns aus einem, von einem Mädchen für Alles
gezogenen Wägelchen ein feines Stimmchen erſchallt,
welches den beredteſten Commentar zu den ſtaatsöko¬
nomiſchen Abhandlungen der kleinen Frau liefert!
Oh! . . .
Albert ſtöhnte laut auf, als ob er ſich auf dieſer
imaginären Promenade den Fuß an einem ſehr reellen
Stein geſtoßen hätte. Er ſprang von dem Sopha
auf und ging mit den Armen auf dem Rücken nach¬
denklich im Zimmer auf und ab. „Die Karten ſind
fertig,“ ſagte er, vor ſeinem Zeichentiſche ſtehen blei¬
bend; „Anna-Maria hat mich abgelohnt; ich habe
eigentlich hier nichts mehr zu thun, und die Frage
der gnädigen Frau, wann ich abzureiſen gedächte, war
auch ziemlich deutlich. Wie ich dieſe ſtolze, nichts¬
nutzige Brut haſſe — Alle, keinen und keine aus¬
[107] genommen, nicht einmal die ſchöne hochnaſige Helene,
die mich immer mit ſo kühler Verachtung aus ihren
großen Augen anſieht; und am wenigſten meinen
edlen Freund Felix, der, glaube ich, nicht übel Luſt
hätte, mir Hörner aufzuſetzen, ehe ich noch zu dieſem
Schmuck ein legitimes Recht habe. Könnte ich doch
euch Allen, wie Ihr da ſeid, einen recht gründlichen
Schabernack ſpielen, daß ihr euer Leben lang an mich
denken ſolltet! auch zum Beiſpiel den Erben von
Stantow und Bärwalde in der Perſon — ja, in
welcher Perſon? hic haeret aqua.
Aus den Briefen, die ich habe, iſt wol etwas
aber nicht viel zu machen. Ich kann noch nicht ein¬
mal die vortreffliche Anna-Maria damit ins Bocks¬
horn jagen. Fände ich nur Gelegenheit, den Koffer
der alten Mutter Clauſen durchzuſtöbern! Es iſt bei
mir zur fixen Idee geworden, daß da etwas zu finden
ſein muß. Aber vergebens, daß ich die Gelegenheit
gründlich ſtudirt habe, daß ich Tag und Nacht ums
Haus geſchlichen bin, einen Moment abzuwarten, wo
die Alte ſich einmal daraus entfernt; ſie ſitzt darin
feſt, wie eine Kröte unter dem Stein. — Ad vocem
dieſes liebenswürdigen Jünglings! Ich habe ſchon
daran gedacht, ob man ihn nicht nolens volens zum
Prätendenten machen könnte; denn die ganze Farce
[108] als einen luſtigen und nebenbei lucrativen Masken¬
ſcherz anzuſehen, wird ihm wol ſeine dumme Ehrlich¬
keit nicht erlauben. Es iſt merkwürdig, wie ehrlich
die Leute ſind, denen es an nichts fehlt! Die beſte
Methode, alle Spitzbuben loszuwerden, beſtände offen¬
bar darin, Jedem von ihnen eine anſtändige Penſion
zu geben. Und dieſer Stein iſt gar nicht einmal ſo
glücklich ſituirt. Er hat kein Vermögen — warum
ſollte er ſich ſonſt mit anderer Leute Kindern plagen?
Er wäre gerade der Mann, ein anſtändiges Vermögen
anſtändig durchzubringen. Und es paßt ſo weit Alles.
Er hat genau das erforderliche Alter; er hat, wie er
mir geſagt hat, ſeine Mutter kaum und andere Ver¬
wandte, excepto patre, nie gekannt. Und überdies
hat er eine zufällige, aber frappante Aehnlichkeit mit
der älteren Grenwitzer Linie. Ich wollte, ich wäre
er, daß heißt mit meinem Hirn dazu. In welcher
fragwürdigen Geſtalt wollte ich bald vor euch hin¬
treten . . .
Ein ſchüchternes Klopfen an der Thür unterbrach
Albert's Meditationen. Da auf ſein Herein! Nie¬
mand eintrat, ging er ſelbſt und öffnete. Ein kleiner
blondköpfiger barfüßiger Bauerknabe ſtand da, und
ſchaute mit nicht allzu klugen Augen fragend zu ihm auf.
„Zu wem willſt Du, Kleiner?“
[109]„Sind Sie der Candidat auf dem Schloſſe?“
„Ja wohl!“ ſagte der alle Zeit zu Scherz und
Kurzweil aufgelegte Albert.
„Mutter Clauſen hat mich herſchickt —“
„Wer?“
„Mutter Clauſen hat mich herſchickt —“
„Komm herein, Kleiner;“ ſagte Albert, den Knaben
bei der Hand in das Zimmer führend, und die Thür
hinter ihm ſchließend;
„Was will denn Mutter Clauſen von mir?“
„Mutter Clauſen liegt auf den Tod, und hat mich
herſchickt zu dem Herrn Candidaten, er ſoll doch noch
einmal zu ihr kommen.“
Der Knabe athmete tief auf, als er die Berges¬
laſt ſeiner Commiſſion vom Herzen hatte. Albert
griff nach ſeiner Mütze.
„Ich komme gleich mit Dir, oder lauf nur voran,
und ſag': ich käme gleich. Und höre! wenn dich
Jemand im Schloſſe fragt, woher du kommſt, ſag'
nur: Du hätteſt Deine Beſtellung ſchon ausgerichtet.
Hier haſt Du einen Silbergroſchen und nun mache,
daß Du fortkommſt!“
Der Knabe entfernte ſich, über Albert's großmüthi¬
ges Geſchenk Albert's wohlüberlegten Befehl, ſich mög¬
lichſt ſchnell davon zu machen, vergeſſend. Er ſetzte
[110] ſich, unten auf dem Schloßhofe angekommen, auf den
Rand des Brunnens der Najade, und überlegte, den
Groſchen in der Hand herumdrehend, ob er ſich jetzt
gleich die ganze Welt, oder vorläufig nur einen Stieg¬
litz kaufen ſollte, den ihm ein anderer Bauerknabe
heute Morgen zum Verkauf angeboten hatte?
Er mochte wol eine Viertelſtunde da geſeſſen haben,
bis er zuletzt, vom vielen Umherlaufen ermüdet, ein¬
nickte. So fand ihn Oswald, der von einem ein¬
ſamen Spaziergange zurückkehrte. Da das Bild des
auf dem Rande des Brunnens ſchlafenden zerlumpten
Knaben ihn intereſſirte, trat er näher. Der Knabe
fuhr in die Höhe und rieb ſich verwundert die Augen.
„Wie kommſt Du hierher, Kleiner?“ fragte Oswald.
„Mutter Clauſen hat mich herſchickt!“ ſagte jener,
der in dieſem Augenblick nicht wußte, ob er ſeine Be¬
ſtellung ſchon ausgerichtet hatte, oder nicht.
„Was iſt mit Mutter Clauſen?“ fragte Oswald,
der ſofort ahnte, es müßte ſeiner alten Freundin etwas
zugeſtoßen ſein.
„Mutter [Clauſen] hat mich herſchickt,“ wiederholte
der Knabe; „ſie liegt auf den Tod, und läßt dem
Herrn Candidaten ſagen, er möchte —“
Mehr hörte Oswald nicht. — Die gute, alte Frau,
an der er im Anfang ſo lebhaftes Intereſſe nahm
[111] und die er doch in der letzten Zeit ſo ganz vergeſſen
hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne
daß ihr eine freundliche Hand das Kiſſen glättete —
er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf
dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte,
denſelben Weg, welchen Albert eine Viertelſtunde zu¬
vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte . . .
Albert war, als der Knabe ſich entfernt hatte,
durch den Garten nach dem kleinen Thor geſchlichen.
Niemand hatte ihn fortgehen ſehen. Die Familie
war ausgefahren; Oswald glaubte er auf ſeinem
Zimmer.
„Fortes fortuna juvat;“ dachte er, während er
unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg beſetzt
war, hinlief. „Es iſt jetzt noch Alles auf dem Felde.
Die Alte hätte ſich keine paſſendere Stunde zum Ster¬
ben ausſuchen können. Ich will nur hoffen, daß ſie
ſchon todt iſt, wenn ich komme, und ich ſo aller un¬
nöthigen Auseinanderſetzungen überhoben bin.“
In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht;
aber er vermied die Hauptſtraße, ſondern lief an den
Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis
er zu der Wohnung Mutter Clauſen’s kam. Hier
ſprang er über den niedrigen Zaun und trat durch
die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte,
[112] ob ſich etwas im Hauſe rege. Er hörte nichts, als
das Ticken der großen Schwarzwälder-Uhr aus der
Stube Jochen's, und von der Dorfſtraße her das
Lachen von ein paar Kindern — Mutter Clauſen's
kleinen Pflegekindern — die ſich in der Abendſonne
im Sande balgten.
„Jetzt nur um Himmelswillen keine mitleidige
Seele bei der Kranken in der Stube,“ murmelte
Albert, leiſe die Thür, die zu dem Stübchen der Alten
führte, aufdrückend.
Er trat auf den Fußſpitzen ein. Es dunkelte ſchon
in dem niedrigen engen Raum. Albert's erſter Blick
fiel auf die große Lade, die noch wie damals in der
Ecke ſtand; ſein zweiter auf die Geſtalt der Alten.
Sie ſaß auf dem großen Lehnſtuhle, „in welchem
Baron Oscar geſtorben war.“ Sie hatte ihren Sonn¬
tagsſtaat angelegt; ihr Eichenſtock lehnte neben ihr
— man hätte glauben ſollen, ſie habe ſich bereit ge¬
macht, nach Faſchwitz in die Kirche zu gehen und ſei
nur eben noch ein wenig eingenickt, ſich auf den lan¬
gen, langen Weg vorzubereiten.
„Biſt Du es, Junker!“ ſagte ſie mit zitternder
Stimme, und ſie hob das Haupt mit dem ſchnee¬
weißen Haar empor und blickte nach der Thür. „Tritt
näher — ganz nahe, daß ich Dich mit der Hand be¬
[113] rühren kann. Wo biſt Du? Es iſt dunkel um mich
her, ich ſehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond
durch die Bäume? hörſt Du, wie die Nachtigall ſingt?
horch! wie ſüß, wie ſchön! . . . Oscar, Du darfſt
die Lieſe nicht verlaſſen; ſie weint ſich ſonſt die alten
Augen aus. Und dem Harald mußt Du ſagen: daß
er die arme Marie nicht ſo quält. Sonſt muß ſie
hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind!
Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt ſicher in
der Lade. Mutter Clauſen kann nicht leſen; es kommt
der Rechte ſchon zur rechten Zeit.“
Der Kopf der Sterbenden ſank herab auf die Bruſt.
Albert glaubte ſie todt. Er trat an die Lade, hob
den ſchweren Deckel und durchwühlte haſtig und doch
methodiſch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider
darin, die nicht der Mutter Clauſen gehört haben
konnten, ſtädtiſche Kleider, wie ſie junge Mädchen vor
fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬
ſträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬
ſachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines
goldenes Kreuz an einem ſchwarzen Sammetbande.
Das Alles mochte für einen Andern von hohem
Intereſſe ſein, aber für Albert hatte es nicht den
mindeſten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück
nach dem andern herausnehmend, nichts von dem
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 8[114] fand, was er ſuchte. Endlich — da! auf dem Boden
des Koffers, in der Ecke, unter einer ſchwarzſeidenen
Robe verſteckt — ein ziemlich bedeutendes Packet —
Briefe, Papiere — das war's! — Er ließ es in die
Taſche ſeines Rockes gleiten; er nahm mit beiden
Armen, was er aus dem Koffer genommen hatte,
ſtopfte es hinein, ſo gut es gehen wollte, drückte den
Deckel wieder zu — und, wie er ſich jetzt von den
Knien aufrichtete, waren das nicht Schritte, die eilig
näher kamen? Im Nu war er an dem Fenſterchen,
das von der Stube aus in das Gärtchen hinter dem
Hauſe führte. Er riß es auf, er zwängte ſich mit
einer Schnelligkeit hindurch, die dem gewandteſten
Gauner zu hoher Ehre gereicht haben würde; kroch
auf allen Vieren durch die Johannisbeerbüſche, ſprang
über den niedrigen Zaun und war im nächſten Augen¬
blick in den goldnen Wogen eines Roggenfeldes ver¬
ſchwunden.
Als Albert ſeinen Rückzug durch das Fenſter eben
bewerkſtelligt hatte, trat Oswald, athemlos von ſeinem
raſchen Lauf, in das Zimmer. Er glaubte ſchon zu
ſpät zu kommen, er kniete neben der Alten nieder und
nahm ihre welken, erkaltenden Hände in die ſeinen.
Und dieſe Berührung ſchien die Sterbende noch
einmal zum Leben zu erwecken. Sie richtete ſich
[115] gerade auf und ſagte, dem vor ihr Knieenden die
Hände aufs Haupt legend, mit einer Stimme, die
ſchon von jenſeits des Grabes herüberzutönen ſchien:
„Der Herr ſegne und behüte Dich! der Herr gebe
Dir Frieden!“
„Amen!“ murmelte Oswald.
Die Hände der Alten glitten ſanft auf ihren
Schooß. Oswald blickte empor. Der Schein der
untergehenden Sonne fiel durch das niedrige Fenſter;
das Antlitz der Alten war wie verklärt in dem roſigen
Licht. Aber das roſige Licht verſchwand; und der
graue Abend ſchaute herein auf das bleiche Antlitz
einer Todten.
Oswald drückte ihr die Augen zu. — Von drüben
her ſchallte durch die offene Thür das monotone
Tik-tak der Wanduhr; von der Straße tönte das
Lachen und Jauchzen der ſpielenden Kinder . . . .
Was weiß das Leben vom Tode? was der Tod vom
Leben? was die Ewigkeit von Beiden?
8 *
Sechstes Kapitel.
Am nächſten Morgen noch vor dem Frühſtücke
war Herr Timm abgereiſt. Er hatte den Baron ge¬
beten, ihn bis nach B., dem nächſten Städtchen,
fahren zu laſſen, von dort wolle er Extrapoſt nehmen.
Der gaſtfreundliche Baron fragte: ob es denn ſo
große Eile habe? ob er ſich nicht ein paar Tage von
ſeiner angeſtrengten Arbeit ausruhen wolle? Da Al¬
bert indeſſen geſtern Abend einen bedeutenden Auftrag
erhalten zu haben vorgab (der Poſtbote hatte ihm in
der That einen Brief gebracht), ſo ließ ſich dagegen
allerdings nichts einwenden, und der Baron befahl
dem ſchweigſamen Kutſcher, die ſchwerfälligen Braunen
anzuſpannen. Herr Timm ſagte Allen flüchtig Lebe¬
wohl und fuhr von dannen. Es vermißte ihn Nie¬
mand — Niemand, mit Ausnahme der kleinen Genferin.
Aber ſie vergoß ihre heißen Thränen in der Stille
ihres Stübchens und die Geſellſchaft ſah von ihrem
[117] Kummer nichts, als die rothgeweinten Augen, die ſie
durch heftigen Kopfſchmerz erklären zu können hoffte,
wenn ſie Jemand darnach fragte. Es fragte ſie aber
Keiner.
Hatten doch Alle genug mit ſich ſelbſt zu thun!
war doch Jeder vollauf mit dem, was ihm zunächſt
am Herzen lag, beſchäftigt!
Der Tod der alten Frau war für Oswald ein
neuer Schlag. Wieder war ihm eines der wenigen
Weſen, an denen er einen innigeren Antheil nahm,
ganz plötzlich geraubt. Es war, als ob ſein verdü¬
ſtertes Gemüth nicht zur Ruhe kommen, als ob an
ſeinem Himmel der letzte helle Streifen verſchwinden,
und gänzliche Nacht ihn umgeben ſollte! Er hatte
Mutter Clauſen nur ſelten geſehen, aber es war jedes
Mal unter ſo eigenthümlichen Verhältniſſen geweſen;
er hatte jedes Mal einen ſo tiefen, ja erſchütternden
Eindruck von dieſen Begegnungen davongetragen, daß
ihm jetzt war, als hätte er eine Ahne verloren, deren
zärtliche Liebe er mit Gleichgültigkeit und Undank ver¬
golten hatte. Wie beſtimmt hatte er ſich vorgenommen,
als er das letzte Mal mit Albert in ihrer Hütte ge¬
weſen war, die alte Frau nicht wieder aus den Augen
zu verlieren; nachzufragen, ob er ihr in irgend einer
Weiſe dienen, irgendwie ihr einſames Alter erfreuen
[118] könne? Sie hatte ſeiner in ihrer letzten Stunde ge¬
dacht; er hatte in all dieſen Tagen keine Minute Zeit
gehabt, an ſie zu denken. Sie hatte nicht ſterben
mögen, ohne ihm ihren Segen zu geben; was hatte
er ihr im Leben Gutes gethan, dieſen Segen zu ver¬
dienen? — Was half es nun der Todten, daß er für
ihr Begräbniß Sorge trug? daß er mit Bruno hinter
dem Leiterwagen herging, auf dem man ihren ſchmuck¬
loſen Sarg über die Haide nach Faſchwitz fuhr, ihn
auf dem dortigen Friedhofe in die Gruft zu ſenken?
daß er nach Grünwald ſchrieb und eine kleine Mar¬
mortafel beſtellte, auf daß ihr Grab nicht wie einer
Geächteten Grab ſei? Wie hätte ihm die Lebende für
den geringſten Theil all der Mühe, die er ſich jetzt
um die Todte gab, ſo herzlich gedankt!
Und war es, weil er ihn ſo wenig verdient hatte,
daß der Segen der Sterbenden nicht in Erfüllung
ging? Der Frieden, den ſie auf ihn herabflehte mit
dem letzten Hauch ihres Mundes, wollte nicht einziehen
in ſein Herz. Wie ein Verzweifelter kämpfte er mit
der raſenden Leidenſchaft, die ſich wie ein wilder Or¬
kan über ihn geſtürzt hatte, aber jeder neue Tag mußte
ihn nur immer mehr von ſeiner Ohnmacht überzeugen.
Brachte ihn doch jeder neue Tag oft auf lange Stun¬
den in die Geſellſchaft des ſchönen Mädchens; trat
[119] ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den
ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬
mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht
verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber;
brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬
gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo
kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich
ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen
in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft
nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬
ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬
nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden
haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬
ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's
Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte.
Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge,
dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über
das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß
geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬
gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬
ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies
in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen,
aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬
urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben,
fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe
[120] denken und ſprechen und thöricht handeln ſind be¬
kanntlich ſehr heterogene Dinge, die ganz vortrefflich
Hand in Hand gehen können.
Freilich mochte es einem leidenſchaftlichen Herzen
ſchwer fallen, von ſo viel Schönheit, Anmuth und
Geiſt nicht gerührt zu werden. Empfanden doch Alle,
die mit Helene in Berührung kamen, den wunderbaren
Zauber ihrer Perſönlichkeit; ſchien es doch faſt un¬
möglich, nicht mit Heftigkeit für oder gegen ſie Partei
zu nehmen; gab es doch ſelbſt in der Geſindeſtube
unter den Leuten lebhafte Scenen, da der ſchweigſame
Kutſcher, auf die junge Baroneſſe anſpielend, brummte:
es ſei nicht Alles Gold, was glänze, worauf die alte
brave Köchin erwiederte: zu ſchlechten und misgün¬
ſtigen Menſchen kämen die lieben Engel allerdings
nicht, was denn eine unerquickliche Debatte über
ſchlechte Menſchen im Allgemeinen und Beſondern
herbeiführte, bei der es von beiden Seiten ziemlich
ſcharf herging und, wie es bei ſolchen Gelegenheiten
zu geſchehen pflegt, verſchiedene helle Streiflichter auf
die Familienangelegenheiten der gnädigen Herrſchaft
geworfen wurden. Denn ſelbſt in dieſen Regionen
war man ſo ziemlich darüber einig, daß Baron Felix
ſich nicht bloß zum Vergnügen ſo lange auf Schloß
Grenwitz aufhielt; ja Felix' Kammerdiener behauptete:
[121] es gäbe gewiſſe Leute, die über gewiſſe Dinge eine
ziemlich gewiſſe Auskunft geben könnten, daß aber
Verſchwiegenheit die erſte Pflicht eines guten Bedien¬
ten ſei. Er wolle nur ſo viel ſagen, daß ſein Herr
eine Sache, die er angefangen habe, auch zu Ende
bringe, und daß er (der Kammerdiener) der unma߬
geblichen Meinung ſei, es gebe kein Mädchen auf Erden,
das ſeinem Herrn auf die Dauer widerſtehen könne
— eine Behauptung, die von dem weiblichen Theil
der Geſellſchaft mit großer Entrüſtung zurückgewieſen
wurde.
Was den Blicken dieſer Leute nicht entging, konnte
Oswald's durch die Liebe hundertfach geſchärftem Auge
nicht verborgen bleiben. Mußte er doch täglich wahr¬
nehmen, wie Baron Felix Alles aufbot, ſich die Gunſt
ſeiner ſchönen Couſine zu erwerben: Alle Gewandt¬
heit, die er ſich in tauſend Intriguen auf den glatten
Parquets großſtädtiſcher Salons angeeignet, allen
Witz, mit dem ihm die Natur keineswegs kärglich ver¬
ſehen hatte; alle Vortheile, die ihm ſein Verhältniß
als naher Verwandter geſtattete. Mußte er doch ſehen,
mit welcher Umſicht die Baronin dieſe Bemühungen
auf alle Weiſe unterſtützte, und Felix in jeder Hinſicht
ebenſo unermüdlich wie geſchickt ſecundirte. Zwar
ſagte er nein! oder ſchwieg, wenn Bruno nach Tiſche,
[122] nach einem Spaziergang mit zornigem Antlitz dieſe
oder jene neue Frechheit von „dem Affen, dem Felix“
erzählte; aber er wußte recht gut, daß der Knabe nicht
falſch geſehen oder gehört hatte, und ſein einziger
Troſt war, daß Helenen's Stolz in die Verbindung
mit einem ihrer ſo ganz und gar unwürdigen Mann
nun und nimmermehr willigen werde.
Was Fräulein Helene ſelbſt betraf, ſo ging ſie
ihren ſtillen Weg, ohne ſcheinbar weder nach rechts
noch links zu blicken, nur daß in der letzten Zeit ihr
Betragen noch zurückhaltender, ihre Miene noch vor¬
nehmer, ihr Lächeln noch ſeltener geworden war. Sie
fühlte ſehr wol, daß ſie in dem Kampfe, der ihr
drohte, allein ſtehen, daß ſie. vergeblich an das Herz
der kalten, egoiſtiſchen Mutter, vergeblich an die Ein¬
ſicht des alten, ſchwachen Vaters, vergeblich an die
Ritterlichkeit des frivolen, zügelloſen Felix appelliren
würde, und daß ſie ſich auf Niemand verlaſſen könne,
als auf ſich ſelbſt. Aber dieſes Bewußtſein, das
andere Mädchen in dem Alter Helenen's zu Boden
gedrückt haben würde, diente nur dazu, den Muth
dieſes hochherzigen Geſchöpfes, in welchem die ganze
Kraft ihrer Familie, nur in edlerer, geläuterter Form
wieder geboren zu ſein ſchien, anzuſchüren und zu
entflammen. Die Annäherung, die zwiſchen ihr und
[123] der Mutter ſtattgefunden hatte, war nur eine ſchein¬
bare geweſen. Nie ſtehen ſich zwei Weſen ſchroffer
gegenüber, als wenn ſie, mit der gleichen Energie,
mit derſelben Kraft des Willens und Vollbringens
ausgeſtattet, nach verſchiedenen Zielen ſtreben. Zwi¬
ſchen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte
und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht
übertriebenen, immer aber hochſinnigen Idealismus
huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung
möglich.
Das ſprach auch Helene wiederholt in den Briefen
aus, welche ſie jetzt häufig an ihre liebſte Freundin
und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬
burg ſchrieb. „Dearest Mary,“ hieß es in einem
derſelben, „wie oft haſt Du Dich über das grauſame
Geſchick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬
ſchüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern,
Geſchwiſter, Couſins und Couſinen — alle jene Freunde
und Freundinnen, die uns die Natur ſelbſt mit auf
den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬
chen, es giebt noch ein ſchlimmeres Loos, als das
Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken
erfaßt, allein dazuſtehen in der Welt, iſt nicht ohne
eine gewiſſe Süßigkeit. Wie oft ſprachſt Du mit
Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in
[124] der Blüthe ſeiner Jahre geraubt wurde, von Deiner
Schweſter Kitty, der holden Blume, die ſo früh ver¬
welkte — Du ſagteſt, ſie ſeien Dir nicht geſtorben,
könnten Dir nicht ſterben, denn ſie lebten ſchöner
und herrlicher in Deiner Erinnerung fort. Die
Schatten der lieben Todten umſchwebten Dich überall,
ſie ſeien Dir eine liebe Geſellſchaft, in der Du Dich
unendlich wohler fühlteſt, als oft, ſehr oft in der
kalten, egoiſtiſchen, die Dich umgiebt. O gewiß: das
Leben iſt der Güter höchſtes nicht; aber die Liebe iſt
es. Das Leben ohne Liebe iſt ganz werthlos, Liebe
ohne Leben kann noch immer köſtlich ſein. Deine
Verwandten ſind geſtorben, aber ſie leben Dir; meine
Verwandten leben, aber für mich find ſie todt. —
Es iſt ein grauſes Wort, theuerſte Mary, aber ich
ſtreiche es dennoch nicht wieder aus, denn es iſt
wahr, und wir haben ja geſchworen, uns nie die
Wahrheit zu verhehlen, koſte uns ihr Bekenntniß noch
ſo viel. Ja, ſie ſind todt für mich, meine Verwand¬
ten, und ob ich gleich die Hälfte meines Lebens hin¬
geben möchte, ſie ins Leben zu rufen — mit frommen
Wünſchen iſt hier nichts gethan. Wer lebt denn für
uns? Doch nur die, in deren Herzen wir allezeit eine
ſichere Zufluchtsſtätte finden vor allem Leid, das uns
bedrängt, vor allen Zweifeln, die uns ängſtigen; die
[125] nichts wollen, als unſer Glück, und unſer Glück nicht
in der Erfüllung ihrer eigenen Wünſche, in der Be¬
friedigung ihrer eigenen Selbſtſucht erblicken. Und iſt
dies nicht der Fall bei den Meinigen? kann ich ihnen
mein Herz erſchließen? muß ich nicht ſtets fürchten,
bei ihnen anzuſtoßen, wenn ich ſpreche, wie ich denke?
fragen ſie nach meinen Neigungen? ängſtigen Sie
mich nicht vielmehr mit Zumuthungen, mit Andeutun¬
gen, die mir das Blut erſtarren machen? Freilich
mein guter alter Vater — er würde, wenn es zum
Aeußerſten käme, mich nicht verlaſſen; aber, großer
Gott, iſt denn die Furcht, es könne bis dahin kommen,
nicht ſchon ſchlimm genug? und iſt denn der Beiſtand,
den man ſich ertrotzen muß, etwas, worauf wir mit
vollem Vertrauen, mit gläubiger Zuverſicht blicken
können? Ach, Mary, ich kann Dir nicht ſagen, wie
fremd, wie unheimlich mir der Geiſt iſt, der in meinem
elterlichen Hauſe waltet, wie ſehr ich mich zurückſehne
nach unſerem ſtillen Penſionsleben, wo wir, wenn
uns auch die Welt draußen verſchloſſen war, in unſeren
Träumen und ach! vor allem in unſerer herzlichen
Freundſchaft eine ſchönere und reichere Welt fanden.
Hier hab' ich Niemand, dem ich einen Blick in dieſe
Welt verſtatten möchte. Niemand, als einen Knaben,
bei dem ich auf Verſtändniß nicht rechnen kann, und
[126] einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein
Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬
ſteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich ſpreche.
Ich will Dir nicht verſchweigen, daß ich in letzterer
Zeit an dieſem Manne ein Intereſſe gewonnen habe,
das ich nie für möglich gehalten hätte — ein Be¬
kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird
und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unſeres
Covenants, ſchuldig bin. Vielleicht fühle ich mich
nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich
iſt. Er ſteht, wie Du, allein, ganz allein da in der
Welt; ſeine Mutter hat er kaum gekannt, ſeinen Vater
ſchon vor Jahren verloren, Brüder und Schweſtern
nie gehabt. Er iſt noch jung, aber reiche Herzen
erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt
und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth
auf ſeiner hohen Stirn, in ſeinen tiefblauen großen
Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat;
manchmal zuckt es ſo ſchmerzlich um ſeinen Mund,
daß ich viel, ſehr viel darum geben könnte, dürfte ich
zu ihm treten und ſprechen: ſage mir, was Dich quält;
vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch
das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Du weißt,
theure Mary, daß ich durch und durch Ariſtokratin
bin, daß ich einen angebornen Widerwillen vor allem
[127] Gemeinen und Plebejiſchen habe. Wir Beide ſind
in der Ueberzeugung aufgewachſen, daß die unteren
Stände mit dem Adel der Geburt auch des Adels
der Geſinnung entbehren, daß wir bei ihnen auf ein
Verſtändniß deſſen, was uns hoch und theuer iſt, in
keinem Falle rechnen können. Ich geſtehe, daß ich
ſeit meiner Ankunft in Grenwitz von dieſem Vorurtheil
— denn ſo muß ich es jetzt bezeichnen — in manchen
Punkten zurückgekommen bin, daß ich wenigſtens jetzt
eingeſehen habe, wie zu der Regel ſich doch auch Aus¬
nahmen finden. Stein iſt eine ſolche Ausnahme. Ich
habe noch kein Wort aus ſeinem Munde gehört, das
den Plebejer verrathen hätte, dagegen viele, ſehr viele,
die mir wie aus der Seele geſprochen waren, die ein
lautes Echo in meinem Herzen fanden. Er ſpricht
mit einer Anmuth, wie ich es noch von keinem Men¬
ſchen gehört habe, mit einer reichen Modulation der
Stimme, die wie Muſik in meinem Ohre klingt, ſo
daß ich oft noch ſtundenlang nachher verſuche, die
Art und Weiſe, den Tonfall, mit dem er dies oder
jenes ſprach, in meiner Erinnerung zurückzurufen.
Es liegt für mich ein unendlicher Zauber in einer
ſchönen klangreichen Stimme; es iſt mir immer, als
ſprächen die Menſchen mit dem Herzen; als könnte
ich, oft ſchon nach wenigen Worten, ſagen: dies iſt
[128] ein guter, dies iſt kein guter Menſch. Und bei Stein
wenigſtens trifft es zu. Ich habe ſchon manche Pro¬
ben von ſeiner Herzensgüte geſehen. So ſtarb vor
ein paar Tagen in unſerem Dorfe eine ſteinalte Frau,
die früher Wirthſchafterin auf dem Schloſſe geweſen
war und von dem Vater eine kleine Penſion hatte.
Niemand kümmerte ſich um ſie, nur Stein, der auch
nach ihrem Tode für ihr Begräbniß Sorge trug, ja
ſie zu ihrer letzten Ruheſtätte, mit Bruno, den weiten
Weg bis zum Friedhofe begleitet hat. Das iſt ihm
im Schloſſe ſehr übel ausgelegt worden und ich mußte
ſehr liebloſe Bemerkungen darüber mit anhören; be¬
ſonders von einer gewiſſen Perſon, die Gott danken
ſollte, wenn er ſie nur einmal auf den Gedanken einer
ſo guten That kommen, geſchweige denn eine ſolche
wirklich ausführen ließe. Aber ich will dieſer Perſon
nicht die Ehre anthun, noch mehr Worte über ſie zu
verlieren. Ich habe beſchloſſen, daß ſie in Wirklich¬
keit für mich nicht exiſtiren ſoll, und ſo ſoll ſie es auch
nicht in Worten . . . . . . . . . . . . .
Dieſer Brief, in welchem ſich Fräulein Helene ſo
unumwunden über die Perſonen ihrer Umgebung aus¬
ſprach, wurde nie beantwortet, denn er gelangte nie
an ſeine Adreſſe.
Siebentes Kapitel.
Es war in der Nachmittagsſtunde. Der alte
Baron ſchlief in dem Wohnzimmer. Er ſaß in dem
großen Schaukelſtuhl; die Zeitung, in welcher er ge¬
leſen hatte, war ihm aus der welken herabhängenden
Hand geglitten. Er ſah recht verfallen aus in dieſem
Augenblicke; recht wie ein alter Mann, der nicht mehr
viele Jahre zu leben hat und deſſen Leben die leich¬
teſte Krankheit ein raſches Ende machen kann. — So
mochte Anna-Maria denken, die ihm gegenüber auf
ihrem gewöhnlichen Platze geſeſſen und ihn eine
geraume Zeit, in tiefes Nachdenken verloren, aufmerk¬
ſam betrachtet hatte. Jetzt ſtand ſie auf, und deckte
leiſe ein dünnes Taſchentuch über das Geſicht des
Schlafenden. Dann ſah ſie auf die Pendeluhr über
dem Kamin. Es war bald vier, die Stunde, in
welcher nach der unwandelbaren Ordnung des Hau¬
ſes der Kaffee getrunken werden mußte — im Gar¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 9[130] ten, wie ſtets, wenn das Wetter es erlaubte. Die
Baronin ſtand im Begriff ihren Gemahl zu wecken,
ſie beſann ſich indeſſen eines anderen, ſchritt durch die
offene Thür in den Garten hinab, und fragte den Be¬
dienten, welcher das Kaffeeſervice in die Laube trug,
ob Baron Felix ſchon gerufen ſei? — Noch nicht,
gnädige Frau! — So gehen Sie hinauf; ich ließe
ihn bitten, doch, wo möglich, ſogleich zu kommen, und
hören Sie! ſagen Sie Mademoiſelle, ich wolle heute
ſelbſt den Kaffee ſerviren, ſie möge nur in der Wäſch¬
kammer bleiben. — Zu Befehl, gnädige Frau. —
Und, was ich ſagen wollte, Sie brauchen die An¬
deren noch nicht zu rufen. — Zu Befehl, gnädige
Frau.
Der Mann ging ſeine Aufträge auszurichten. Anna-
Maria ſchritt an der Laube vorüber in einen langen,
ganz überwölbten Buchengang, der von dem großen
Raſenplatze aus mehre hundert Schritte bis in ein
Gehölz führte, wo eine kleine verfallene Kapelle ſtand.
Sie ſchien ganz vergeſſen zu haben, daß ſie Felix in
die Laube beſchieden hatte, denn ſie ging immer weiter,
die Augen auf den Boden geheftet, bis ſie das Ende
des Ganges und die Kapelle erreicht hatte.
Es war eine liebliche, ſüß melancholiſche Stelle.
Uralte Rieſenbäume überwölbten den Platz mit ihren
[131] breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenſtrahl ſich
hineinſtehlen konnte. Der Boden war mit dichtem
Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwiſchen den um¬
hergeſtreuten Steinflieſen; die weitklaffenden Spalten
des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu
überſponnen; hier und da ragte ein hoher blühender
Buſch aus den Ruinen. Auf dem morſchen Kreuz in
einer der leeren Fenſterniſchen ſaß ein Vögelchen und
ſang. Das war der einzige Laut, den man vernahm.
Er ſchien die Stille rings umher nur noch ſtiller zu
machen.
Einen Liebhaber der Einſamkeit würde der Platz
entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬
mal die Augen vom Boden, ſich flüchtig umzuſehen,
Sie hatte überhaupt ſehr wenig Sinn für Sonnen¬
ſtrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für
blaue Schatten und andere Requiſiten landſchaftlicher
Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geiſt von
ganz anderen Dingen in Anſpruch genommen. Sie
ſetzte ſich auf eine Steinbank unmittelbar unter der
leeren Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſang,
nahm aus der Taſche ihres Kleides einen Brief und
begann denſelben noch einmal zu leſen.
Es war der Brief, den Helene heute Morgen in
dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, ſie
9*[132] werde ſich nie um ihre Correſpondenz kümmern, eine
Wahrheit ſei, geſchrieben, und in dem vollen Ver¬
trauen auf die Heiligkeit des Briefgeheimniſſes ihrem
Kammermädchen übergeben hatte mit dem Auftrage,
ihn in die Küche zu tragen, wo der Poſtbote ſich an
einer Taſſe Kaffe erquickte. Das Mädchen war der
Baronin auf dem Flur begegnet, und von dieſer ge¬
fragt worden, von wem der Brief ſei? Auf die Ant¬
wort: von dem gnädigen Fräulein; hatte die Baronin
ſich den Brief geben laſſen, mit der Weiſung, den
Poſtboten hernach zu ihr auf's Zimmer zu ſenden,
da ſie ſelbſt noch mehre Aufträge für ihn habe.
So war Helenen's Brief in die Hände der Mut¬
ter gekommen. Es war ein Zufall, einer jener Zufälle,
den böſe Dämonen eigens in der Abſicht herbeizu¬
führen ſcheinen, ein ſo ſchon den Mächten der Fin¬
ſterniß mehr als denen des Lichts zugethanes Gemüth
gänzlich verwirren und vom rechten Pfade wegzulocken.
Ohne dieſen Zufall wäre die Baronin vielleicht nie
auf den Gedanken gekommen, ſich auf dieſem krum¬
men Wege in das Herz ihrer Tochter zu ſtehlen.
Aber das Projekt der Heirath Helenen's mit Felix
war bei ihr, wie es bei ſelbſtiſchen und eigenwilligen
Naturen zu geſchehen pflegt, zur fixen Idee geworden.
Der Geſundheitszuſtand ihres Gemals erſchien ihr —
[133] gleichviel ob mit Recht oder Unrecht — äußerſt be¬
denklich; für Malte, der in der That ein ſehr ſchwäch¬
liches Kind geweſen und, zum Theil durch die Schuld
der überzärtlichen Eltern, aus einer Krankheit in die
andere gefallen war, hatte ſie ſtets gefürchtet; es war
in ihren Augen mehr wie wahrſcheinlich, daß Felix
über kurz oder lang der Herr ſein würde und ſie
hielt es daher für eine gute Politik, ihn auf jede
Weiſe an ſich zu feſſeln. Sie hatte dabei im Anfang
auch Helenen's Vortheil, wie ſie ihn nun verſtand,
im Auge gehabt. Sie wollte mit ihrer eigenen Zu¬
kunft auch die Zukunft der Tochter ſicher ſtellen, und
fand es bequem, daß dies mit einem Schlage ge¬
ſchehen konnte. Felix ſchien zum Schwiegerſohn einer
herrſchſüchtigen Schwiegermutter wie geſchaffen. Er
war leichtſinnig, fügſam, ein Feind von Geſchäften, und
durchaus geneigt, ſo lange es ihm nicht an Geld oder
Credit gebrach, die Sachen gehen zu laſſen, wie ſie
wollten und konnten. Die Baronin bedachte nicht,
daß ſolche Menſchen gerade am ſchwerſten zu behan¬
deln ſind, daß grenzenloſer Leichtſinn und ein frecher,
grauſamer Egoismus, der, was ſich ſeiner Befriedi¬
gung entgegenſtellt, ſchonungslos opfert, ganz vor¬
trefflich Hand in Hand gehen. Sie glaubte von
Felix nichts zu befürchten zu haben. Felix hatte
[134] mit ſeinem höfiſchen, geſchmeidigen Weſen, ſeinem:
wie Sie wollen, liebe Tante; — richten Sie das
ganz nach Ihrem Gutdünken ein, liebe Tante — ihr
ganzes Herz gewonnen, ſo weit ſie überhaupt ein
Herz hatte.
Deſto größere Sorge machte ihr Helene. Sie
konnte es ſich nicht verhehlen, daß die von beiden
Seiten verſuchte Annäherung doch zu keinem, oder
ſtreng genommen, dem entgegengeſetzten Reſultat ge¬
führt hatte. Daß ſie dabei alle Schuld auf die „un¬
kindliche Geſinnung“, auf die „überſpannten Ideen“
Helenen's ſchob, war natürlich, änderte aber an der
Sache ſelbſt nichts. Und nun mußte ſie noch dazu
bemerken, daß Helene offenbar ihrem Vater ein größe¬
res Vertrauen ſchenkte, als ihr; daß ſie ſich zu Bruno
viel mehr hingezogen zu fühlen ſchien, als zu ihrem
Bruder Malte; daß ſie gegen Oswald, ſelbſt gegen
Albert artiger und zuvorkommender war, als gegen
ihren Couſin. Felix hatte gelacht, als ihm die Ba¬
ronin dieſe Bemerkung mittheilte; er hatte dies für
ein gutes Zeichen erklärt. Je ungezogener, je beſſer!
hatte der Ex-Lieutenant gemeint; und dabei einen
Vergleich zwiſchen Pferden und Mädchen, der etwas
ſtark nach der Wachtſtube ſchmeckte, gezogen. Indeſſen
die Baronin pflegte ihren eigenen Augen zu trauen,
[135] und ihre Augen beſtätigten ſie täglich mehr in der
Richtigkeit ihrer Beobachtung. Nun hatte auch Felix
zuletzt angefangen, etwas weniger ſicher zu ſein.
Emilie von Breeſen's Wort an jenem Abend war wie
ein ſcharf gefiderter Pfeil durch ſeine Selbſtgefälligkeit,
in die er ſich wie in einen Harniſch hüllte, gedrungen.
Die Eiferſucht ſieht falkenſcharf. Emilie fühlte, daß
nur die Liebe zu einer Andern dieſe Veränderung in
Oswald bewirkt haben konnte, und mit jener wunder¬
baren Divinationsgabe, die bei den Frauen die ſchwer¬
fällige Logik des Mannes mehr wie erſetzt, hatte ſie
im Nu herausgefunden, daß ihre Nebenbuhlerin Nie¬
mand anders ſein könne, als die ſchöne Helene. Felix
hatte in ſeiner raſchen Weiſe den in ihm angeregten
Gedanken, um ihn los zu werden, der Baronin mit¬
getheilt, die Baronin in ihrer bedächtigen Weiſe dar¬
über gebrütet, bis das im Anfang ganz Unglaubliche
ihr wahrſcheinlicher und immer wahrſcheinlicher er¬
ſchien, und ſie zuletzt beſchloß, es koſte was es wolle,
der Sache auf den Grund zu kommen.
Da ſpielt ihr der Zufall den Brief Helenen's in
die Hände. Dieſer Brief, an die vertrauteſte Freun¬
din ihrer Tochter, mußte ihren Verdacht beſtätigen
oder zerſtreuen, ihr den Schlüſſel zu dem Herzen
ihrer Tochter liefern. Daß dieſer Schlüſſel in ihrer
[136] Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde — was galt
es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und
hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬
niſſe ihrer Tochter? und wenn dieſe Tochter ſich,
wie nur zu ſehr zu befürchten ſtand, auf Abwege
verirrte, iſt es nicht heilige Pflicht der Mutter, ſie
davon zurückzubringen, ſelbſt durch ein gewaltſames
Mittel?
So ſuchte die Baronin ſich das Gehäſſige ihres
Schrittes wegzuraiſonniren. Den Menſchen fehlt es
nie an Beſchönigungsgründen für eine Handlung, die
ſie auf jeden Fall auszuführen entſchloſſen ſind.
Und da ſaß ſie nun auf der ſteinernen Bank ne¬
ben dem alten Gemäuer unter der Fenſterniſche, in
welcher das Vögelchen ſo luſtig zwitſcherte und ſtu¬
dirte den Brief, den unſeligen Brief, den ſie nun
ſchon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem
Baume der Erkenntniß, die ſie ſo freventlich geſtohlen,
war bitter, ſehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie
geliebt; jetzt aber haßte ſie ihre Tochter . . . Alſo
wirklich! ihr ſchlimmſter Verdacht beſtätigt! für alle
ihre Güte mit ſchwarzem Undank belohnt! des Egois¬
mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen
ihren Plänen von dieſem Starrkopf durchkreuzt! He¬
lene im beſten Einverſtändniß mit den beiden Verha߬
[137] ten! Fräulein von Grenwitz in Liebe zu einem Mieth¬
ling, einem gemeinen Menſchen, der bei ihren Eltern
in Lohn und Brod ſtand! Denn was bedeuteten zu¬
letzt all die ſchönen Phraſen von Oswald's Liebens¬
würdigkeit, Oswald's Herzensgüte, von dem Antheil,
den ſie an ſeinem geheimen Kummer nahm? Die
Baronin verſtand ſich freilich ſchlecht auf die Sprache
der Liebe; ſo viel aber wußte ſie: die Gleichgültigkeit
ſpricht ſo nicht. Dahin alſo war es gekommen! He¬
lene wollte Krieg! gut — ſie ſollte ihn haben. Es
ſollte ſich zeigen, wer die Stärkere war: die Mutter
oder die Tochter. Jetzt zurückweichen? zugeben, daß
dieſes ungerathene Kind ihren Willen durchſetzt? den
jahrelang erwogenen Vorſatz einer thörichten Mädchen¬
laune opfern? Nimmermehr!
Aber was jetzt thun? noch einmal es mit ſchein¬
barer Güte verſuchen? oder die Maske fallen laſſen
und befehlen, wo mit Bitten nichts auszurichten war?
Und vor allem: wie weit Felix in das Geheimniß
einweihen? würde ſich nicht ſein Stolz regen, wenn er
erführe, wie tief er in den Augen Helenen's ſtand,
wie ſehr ſie ihn verachtete? Konnte er nicht zurück¬
treten? und ſetzte dann Helene nicht doch ihren Willen
durch? triumphirte die Tochter dann nicht doch über
die Mutter? . . .
[138]
Ehe die Baronin über dieſen Punkt mit ſich ins
Klare kommen konnte, vernahm ſie Schritte ganz in
ihrer Nähe. Sie faltete eiligſt den Brief zuſammen
und verbarg ihn haſtig in der Taſche ihres Kleides.
Es war Felix. Er hatte Niemand in der Laube
gefunden, und zufällig einen Blick in den Buchengang
werfend, die Baronin in der Tiefe deſſelben zu er¬
blicken geglaubt.
„Alſo doch,“ ſagte er, als ſich die Baronin bei ſei¬
ner Annäherung erhob, „ich wußte wahrlich nicht, ob
Sie es waren. Der Kaffee ſteht in der Laube; aber
wie König Philipp auf dem Thron, einſam und
allein. Es ſcheint ſich alle Welt, wie ich, verſchlafen
zu haben.“
„Setzen Sie ſich hierher zu mir, lieber Felix,“
ſagte die Baronin; „es hat mit dem Kaffee keine ſo
große Eile. Wir können hier ungeſtörter ſprechen
als dort.“
„Ein allerliebſt verſchwiegenes Plätzchen zu einem
ehrbaren Rendevous,“ erwiederte Felix lachend, neben
der Baronin auf dem Bänkchen Platz nehmend.
In dieſem Augenblick verſtummte das Vögelchen,
das oben in der Fenſterniſche geſeſſen hatte und flog
in einen der Bäume. Das bleiche, von dunkeln
Locken eingerahmte Geſicht eines Knaben erſchien
[139] in der Höhlung und ſchaute herunter, um ſofort,
nachdem es die Beiden erblickt hatte, wieder zu ver¬
ſchwinden.
„Daß Sie doch noch immer zum Scherz aufgelegt
ſind, lieber Felix!“ ſagte die Baronin.
„Noch immer?“ erwiederte Felix, „was iſt denn
geſchehen, weshalb ich weinen ſollte? Sie können wol
nicht vergeſſen, was ich Ihnen neulich Abends ſagte?
Pah! ich habe mich lange von dem Schreck erholt; es
war ein blinder Schuß, glauben Sie mir!“
„Ich wollte, ich könnte ihre Zuverſicht theilen,
lieber Felix; aber ich habe meine guten Gründe an¬
derer Meinung zu ſein. Ich habe Helene ſeitdem ge¬
nauer beobachtet; ich kann mich von dem Gedanken
nicht losmachen, daß doch etwas an der Sache iſt.“
„Aber, verzeihen Sie mir, Tante; Sie haben ein
bewunderungswürdiges Talent, Alles ſchwarz zu ſehen.
Es war ein kindiſcher Einfall von der kleinen Bree¬
ſen; ſie wollte mich ärgern — voilà tout! Ich kann
Helenen nicht zutrauen, daß ſie mir einen Schul¬
meiſter vorzieht. Es wäre ja lächerlich, horriblement
lächerlich,“ ſagte der Ex-Lieutenant und betrachtete
wohlgefällig ſeine lackirten Stiefel.
„Und geſetzt auch, Helene könnte ſich nicht ſo weit
vergeſſen — daß es nur die thörichte Laune eines
[140] Augenblicks wäre, verſteht ſich ohnehin von ſelbſt —
ſind Sie denn mit ihrem Betragen, Ihnen gegen¬
über, zufrieden?“
„Sie wird ihr Betragen ändern, ſobald ſie ſieht,
daß wir Ernſt machen.“
„Und wenn ſie es nicht ändert?“
„Nun, ſo ſind wir Gott ſei Dank noch nicht ver¬
heiratet;“ ſagte Felix in der Bewunderung ſeiner
Stiefel verloren, wahrſcheinlich nicht genau wiſſend,
was er ſagte.
„Dann können wir ja auch unſer Geſpräch ab¬
brechen,“ ſagte die Baronin ſich erhebend; „wenn
Sie mit einer ſolchen Gleichgültigkeit von dem Schei¬
tern eines Planes ſprechen können, an deſſen Aus¬
führung, ſollte ich denken, uns Beiden beinahe
gleichviel gelegen ſein muß, ſo verlohnt es ſich auch
nicht der Mühe, weiter darüber zu ſprechen.“
„Aber, theuerſte Tante,“ ſagte Felix aufſpringend
und der Baronin die Hand küſſend; „Sie ſind auch
wahrlich heute in einer ſchauerlichen Laune. Wie
können Sie ein Wort, bei dem ich mir, auf Ehre,
nicht das Mindeſte gedacht habe, ſo übel nehmen?
Es fuhr mir ſo heraus. Sie wiſſen ja, daß meine
Zunge Vieles ſpricht, was ich bei Leibe nicht ver¬
antworten möchte. Setzen Sie ſich wieder, ich bitte
[141] Sie . . . Sie ſagten, wenn Helene ihr Betragen
nicht ändert? meine ernſte Antwort iſt: ſo heirathe
ich ſie doch. So etwas findet ſich, wenn man nur
erſt im Wagen ſitzt; auf der erſten Station wird ge¬
weint; auf der zweiten geſchmollt; auf der dritten
fängt man an zu lächeln; auf der vierten —“
„Genug!“ ſagte die Baronin, „Sie ſind ein un¬
verbeſſerlicher Leichtfuß, der —“
„Ueberall da hingelangt, wo er hingelangen will.
Und deshalb laſſen Sie Ihre Bedenken fahren und
uns zum Kaffee gehen, der ſonſt wahrlich kalt wird.“
„Nicht ſo ſchnell!“ ſagte die Baronin; „wozu
rathen Sie denn nun?“
„Wozu ich immer gerathen habe. Sagen Sie He¬
lene'n — da ich ja doch einmal auf keinen Fall mich
direct in die Sache miſchen ſoll — Du heiratheſt
Deinen Vetter, Baron Felix von Grenwitz, und zwar
binnen hier und irgend einer beliebigen Zeit. Ab¬
gemacht, Sela.“
„Iſt das Ihr Ernſt?“
„Mein wohlerwogener Ernſt. Wann wollen Sie
den großen Ball geben?“
„Uebermorgen.“
„Gut. Das iſt eine vortreffliche Gelegenheit, der
Geſellſchaft unſere Verlobung anzukündigen. Sagen
[142] Sie Helene nur: wenn Du am Donnerſtag Abend
nicht Felix' Verlobte biſt, gehſt Du am Freitag
früh in die Penſion zurück. Sie ſollen ſehen: Das
hilft.“
„Ich fürchte, die Drohung dürfte den entgegen¬
geſetzten Erfolg haben. Man hat Helene in Hamburg
viel zu ſehr verwöhnt. Ich glaube, ſie ginge heute
lieber zurück, als morgen.“
„Eh bien! ſo ſchicken Sie die kleine Widerſpen¬
ſtige nach Grünwald in die Muſterpenſion von Fräu¬
lein Bär. Es iſt das freilich, wie mir die kleine
Breeſen, die dort erzogen iſt, neulich mittheilte, eher
eine Strafanſtalt als eine Penſion; aber je ſchlimmer,
deſto wirkſamer — ich meine, die Drohung; denn
daß es ma chère cousine nicht zum Aeußerſten kom¬
men laſſen, ſondern ſich, genau zur rechten Zeit, be¬
ſinnen wird, darauf hin will ich mich hängen laſſen.
Verzeihen Sie, Tante; ich weiß, Sie lieben die ſtar¬
ken Ausdrücke nicht.“
„Es iſt wirklich eine recht üble Angewohnheit von
Ihnen,“ ſagte die Baronin, ſich erhebend, während
Felix ihrem Beiſpiele folgte.
„Die ich Ihnen zu Gefallen ablegen werde,“ er¬
wiederte er, der Baronin den Arm bietend.
[143]
„Noch eins,“ ſagte dieſe, ſtehen bleibend; „glauben
Sie, daß Grenwitz darein willigen wird?“
„Ob ich das glaube?“ rief Felix mit einem für
den alten, guten Baron wenig ſchmeichelhaften Lachen;
„ob ich das glaube? Ma foi, chère tante, da müßte
mein ſehr würdiger Onkel doch nicht beinahe zwanzig
Jahre unter Ihrem Commando geſtanden haben. Wie
lange habe ich denn die Ehre, unter Ihnen zu dienen?
ein paar Wochen, und ich dächte, ich hätte ſchon ganz
gut gehorchen gelernt.“
„Sie ſind ein Schmeichler,“ ſagte die Baronin
gütig, „aber man kann Ihnen nicht bös ſein.“
Und das würdige Paar entfernte ſich, Arm in
Arm.
Als ihre Stimmen nicht mehr zu vernehmen waren,
ſchaute das Knabengeſicht wieder vorſichtig zu der
Fenſterniſche heraus. Es war noch bleicher, als vor¬
hin. Der Knabe ſtreckte nach den davon Gehenden
drohend den Arm aus, und ſeine Lippen murmelten
einen grimmigen Fluch. Dann, als die Beiden nicht
mehr zu ſehen waren, ließ er ſich aus der Fenſter¬
niſche herab auf die Bank, wo ſie geſeſſen hatten.
Neben der Bank, in dem dicken Mooſe, lag ein ſchlecht
zuſammengefalteter Brief, den die Baronin aus der
Taſche verloren hatte. Der Knabe hob ihn auf und
[144] als er ſah, daß er von Helene's Hand war, drückte
er ihn mit ſtürmiſcher Zärtlichkeit an ſeine Lippen.
Dann verbarg er ihn ſorgſam in ſeiner Bruſttaſche,
blickte ſich noch einmal vorſichtig um, und war im näch¬
ſten Augenblick in dem dichten Gebüſch verſchwunden.
Achtes Kapitel.
Die Behauptung von Felix' vielgewandtem Kam¬
merdiener betreffs der Unwiderſtehlichkeit ſeines Herrn
in Liebesaffairen war zwar als eine Beleidigung des
ſchönen Geſchlechts im Allgemeinen und des in der
Küche verſammelten, weiblichen Dienſtperſonals im
Beſonderen von dieſem letzteren auf's heftigſte be¬
ſtritten worden, der Vielgewandte indeſſen hatte dazu
nur geheimnißvoll gelächelt, ſich, nach der Weiſe ſeines
Herrn, in den Stuhl zurückgelehnt, die Beine von
ſich geſtreckt und mit einem vielſagenden Zwinkern
ſeines rechten Auges auf die geblickt, welche in dem
unerquicklichen Dispüt die höchſte moraliſche Entrü¬
ſtung und die größte Zungenfertigkeit zeigte — die
hübſche Luiſe nämlich, Helene's Kammerzofe. Die
hübſche Luiſe war auf dieſen Blick hin ſehr roth ge¬
worden und ſo plötzlich verſtummt, daß es ſelbſt die
Aufmerkſamkeit des ſchweigſamen Kutſchers erregte und
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen IV. 10[146] ihn zu der Wiederholung ſeiner früheren Bemerkung
veranlaßte: es ſei nicht Alles Gold, was glänze. Dar¬
auf hatte die hübſche Luiſe an zu weinen gefangen,
die alte, brave Köchin ſich ihrer aber angenommen
und gemeint: Der Herr Kammerdiener ſolle ſich ſchä¬
men, durch gehäſſige „Inſinuationen“ und „böſe Blicke“
ein armes Mädchen in ſchlechten Ruf zu bringen; der
Vielgewandte, welcher merkte, daß er zu weit gegangen
ſei, ſich ſodann zu der Erwiederung genöthigt geſehen:
wie es ihm nicht eingefallen ſei, auf irgend eine der
anweſenden Damen direct anzuſpielen, und daß er
mit ſeinem Zwinkern ſchlechterdings gar nichts habe
ſagen wollen. Dieſe ſo äußerſt loyale parlamentari¬
ſche Erklärung hatte denn ſchließlich den ſo freventlich
geſtörten Frieden der um den Küchenheerd verſammel¬
ten Geſellſchaft wiederhergeſtellt.
Indeſſen verhielt ſich leider die Sache genau ſo,
wie der Vielgewandte — freilich mit grober [Verletzung]
der ſeinem Herrn ſchuldigen Treue und der Verſchwie¬
genheit, auf die er ſich ſo viel zu gut that — an¬
gedeutet hatte. Baron Felix hatte die für Andere —
beſonders ſeinen Kammerdiener und oft auch für ihn
ſelbſt — ſehr unbequeme Gewohnheit, ſich in jedes
hübſche Mädchen, das ihm auf ſeinem Lebenswege
begegnete, und wär's auch nur auf ein paar Tage,
[147] Stunden, Minuten, gleichviel — zu verlieben, und
jede nur einigermaßen paſſende Gelegenheit zur An¬
knüpfung einer Intrigue zu benutzen. So war er
denn noch nicht vierundzwanzig Stunden auf dem
Schloſſe geweſen, als er ſchon Mademoiſelle Mar¬
guerite und die hübſche Luiſe als diejenigen Perſonen
herausgefunden hatte, welche beſonders dazu geeignet
ſein dürften, ihm die Langeweile des Landlebens und
die Unbequemlichkeit einer Brautwerbung tragen zu
helfen. Er hatte Albert, den buon camerado ſo
vieler ähnlicher Heldenthaten in der Cadettenzeit, über
Mademoiſelle auszuholen verſucht und ſeinem Jean
den Auftrag ertheilt, die Moralität der hübſchen Luiſe
gelegentlich auf die Probe zu ſtellen. Albert war einen
Augenblick in Zweifel geweſen, ob er Felix' ſaubern
Plan nicht wenigſtens ſo weit begünſtigen ſollte, um
einen Grund zu haben, auf den er ſich ſtützen könnte,
wenn es ihm ſpäter vielleicht einmal darauf ankäme,
mit Marguerite zu brechen. Dann aber hatten die
Eiferſucht und der Haß, welchen er gegen ſeinen frü¬
heren Kameraden, „den Glückspilz“, empfand, doch
den Sieg davon getragen. Er hatte Felix erzählt,
wie er ganz beſtimmt — von Mademoiſelle ſelbſt —
wiſſe, daß ſie — „mit einem Candidaten der Theolo¬
gie, der Himmel weiß wo? ich glaube in Grünwald“ —
10 *[148] verlobt ſei, daß er ſelbſt verſucht habe, ſich die Gunſt
der ſchwarzäugigen Genferin zu erwerben, und alſo
von der gänzlichen Hoffnungsloſigkeit „nach dieſer Seite
hin etwas auszurichten“ vollkommen überzeugt ſei.
Felix, obgleich er ſonſt nicht der Mann war, ſich
durch dergleichen Mittheilungen einſchüchtern zu laſſen,
tröſtete ſich um ſo leichter über das Fehlſchlagen dieſes
ſeines Planes, als ihm der Vielgewandte mitgetheilt
hatte, daß eine ſofort angeſtellte, forcirte Recognos¬
cirung nach der andern Seite durchaus von dem gün¬
ſtigſten Erfolg gekrönt worden ſei, und daß er ſeinem
Herrn ſchon im voraus zu dieſer Acquiſition gratu¬
liren zu können glaube. Don Juan Felix hatte dar¬
auf unter Beiſtand des Vielgewandten nach allen Re¬
geln vielgeübter Kunſt das Vögelchen in das Garn zu
locken verſucht, und ſich denn auch nicht weiter ge¬
wundert, als es ſchon nach wenigen Tagen in die
kunſtgerecht aufgeſtellten Netze flatterte.
Die Einrichtung des Schloſſes mit ſeinen labyrin¬
thiſchen Corridoren, ſeinen vielen großen und kleinen
Treppen, auf denen man unverſehens in Etagen ge¬
langte, in die man gar nicht wollte, mit ſeinen un¬
zähligen Thüren, von denen die eine ausſah, wie die
andere, machte für Jemand, der die Localität nicht
ganz genau kannte, die Durchführung eines galanten
[149] Abenteuers zu einer äußerſt ſchwierigen und bedenk¬
lichen Sache. Das hatte auch Felix erfahren, indem
er ſich einige Mal auf ſeinen nächtlichen Wanderungen
gründlich verirrte und nur mit der äußerſten Mühe
und nach ſtundenlangem vorſichtigen Umhertappen ſein
Zimmer wieder gewann. Er zog es deshalb vor, in
dem Garten, der ſich mit ſeinen ſchattigen Gängen
und ſtill verſchwiegenen Lauben auch ganz vortrefflich
dazu eignete, und in den man ſowol aus der Leute¬
wohnung, wie aus dem Herrenhauſe ohne große Mühe
gelangen konnte, den angeſponnenen Roman weiter zu
führen.
So hatte er ſich denn auch in dieſer Nacht aus
dem Schloſſe geſtohlen, und harrte, in den dichten
Boskets, von denen aus man die Front des alten
Schloſſes und die Leutewohnung, die in einer Linie
daran gebaut war, beobachten konnte, ſeines armen
Opfers. Die Schloßuhr ſchlug zwölf — die Stunde,
welche er zum Rendezvous beſtimmt hatte. Der Mond
ſchien hell, die Thautropfen auf den Blumen und
Blättern glitzerten in ſeinen Strahlen; Felix konnte
auf ſeiner Uhr ſehen, daß die Schloßglocke eine Vier¬
telſtunde zu ſpät geſchlagen hatte. Die Lichter im
Schloß waren erloſchen; nur in zwei der Fenſter des
hohen Parterres ſchimmerte durch die rothen Vor¬
[150] hänge der Schein einer Lampe. Es war Helenen's
Zimmer. Felix ſah in regelmäßigen Zwiſchenräumen
die undeutlichen Umriſſe ihrer Geſtalt hinter dem Vor¬
hang — offenbar ſchritt ſie im Zimmer auf und ab.
Dann mußte ſie ſich wieder an das Clavier geſetzt
haben, denn einzelne Töne, den Lauten des Vogels
gleich, der im hellen Mondſchein träumend ſein Lied
zu ſingen verſucht, irrten durch den ſtillen Garten;
die Töne floſſen zuſammen zu Accorden und endlich
ſtrömte in vollen rauſchenden Wogen Beethoven's
herrliche Sonate pathétique, wie der Geſang eines
Engels, der um Mitternacht mit ausgebreiteten Flü¬
geln über die Erde ſchwebt, und alles Erdenleid und
alle Erdenqual in ſeinem göttlichen Herzen ſammelt
und es ausſtrömt in ein feierliches Lied voll unend¬
licher Schwermuth und himmliſcher Süßigkeit . . .
Ob Felix in dieſem Augenblick, wo er, den Arm
auf eine Urnenſäule gelehnt, lauſchend daſtand, nicht
doch eine Art von Gewiſſensbiß empfand darüber, daß
er, der Wüſtling, der Unreine die Hand auszuſtrecken,
die Augen zu erheben wagte zu ihr, der Keuſchen,
Reinen? . . . Felix war nicht ohne alles Gefühl; er
konnte ſich ſelbſt für das Schöne und Große begei¬
ſtern, wenn dieſe Begeiſterung auch nur immer ſehr
kurze Zeit anhielt, und vor dem erſten Anhauch irgend
[151] eines frivolen Gedankens, wie eine ſchöne bunte Sei¬
fenblaſe, die eine ganze Welt auf ihrer ſchillernden
Oberfläche ſpiegelt, zerflatterte. Vielleicht nahm er
ſich in dieſem Augenblick vor, ein anderes Leben zu
beginnen, die Thorheiten abzuſtreifen, und er, der
eine ſo unendlich hohe Meinung von ſeinen Vorzügen
hatte, mochte alles Ernſtes glauben, daß er nur zu
wollen brauche, um zu können. Er hörte mit einer
gewiſſen Andacht der Muſik zu. Er war Kenner ge¬
nug, um zu fühlen, daß die Sonate nicht ſchöner,
nicht ſeelenvoller geſpielt werden konnte; er ſagte bei
einzelnen Paſſagen leiſe bravo! bravo! als ob er ſich
in einem Concertſaale befände. Aber Helene und
Beethoven, Tugend und Muſik und was noch ſonſt
Alles in dieſen Minuten durch ſein Hirn gezogen ſein
mochte — Alles war im Nu verſunken, wie eine Fata
Morgana, als ſein Ohr jetzt den leiſen Schritt eines
Menſchen vernahm. Der Schritt kam von einer an¬
dern Seite, als Felix erwartete. Indeſſen die hübſche
Luiſe mochte ja einen Umweg gemacht haben, um die
breiteren, von dem Mondſchein allzu hell beſchienenen
Gänge in der unmittelbaren Nähe des Schloſſes zu
vermeiden. Der Schritt kam näher und näher, und
Felix, der auf den geiſtreichen Einfall gerieth, ſich ein
wenig ſuchen zu laſſen, drückte ſich dicht in die Ge¬
[152] büſche. Wie groß war aber ſein Erſtaunen, als er
ſtatt der hübſchen Luiſe, Bruno an ſich vorüberſchleichen
ſah. Im erſten Augenblick mußte Felix über dieſe
Enttäuſchung lachen; im nächſten aber ſchon fiel ihm
ein, daß durch dieſe Dazwiſchenkunft ſein Rendezvous
mehr wie bedenklich werde, und daß es unter dieſen
Umſtänden wol das Gerathenſte ſein möchte, ſich in
das Schloß zurückzuſtehlen. „Wer weiß, wie lange
ſich der Junge hier herumtreiben wird; am Ende iſt
er gar verliebt, oder er iſt verrückt, oder beides, denn
er ſieht nach beidem aus; oder er iſt mondſüchtig und
geht ſo ein paar Stunden hier ſpazieren. Der ver¬
dammte Bengel! überall ſteht er mir im Wege; ich
hätte große Luſt, ihm nächſtens einige fühlbare Be¬
weiſe meiner freundſchaftlichen Geſinnung zu geben.
Auf jeden Fall will ich ihm das Feld räumen. Jetzt
kann man noch als verſpäteter Liebhaber eines Mond¬
ſcheinabends auftreten; ſpäter geht das nicht mehr
gut. Aber der Tante wollen wir doch von dieſen
nächtlichen Excurſionen der Zöglinge des Herrn Stein
erzählen.“
Felix hatte den Weg nach dem Schloſſe faſt zu¬
rückgelegt, ohne Bruno zu ſehen, und ſchon hoffte er,
daß der Knabe ſich aus dem Garten entfernt habe
und ſein Rendezvous doch noch zu Stande kommen
[153] könne, als er über einen kleinen offenen Platz ſchrei¬
tend, der halb vom Mondſchein erhellt und halb im
Schatten lag, Bruno auf einer Bank ſitzen ſah, die
Augen nach Helenen's Fenſter gerichtet, aus denen
noch immer die Tonwellen rauſchten. Der Knabe
ſchien ſo in andächtiges Hören verloren, daß er Felix
erſt bemerkte, als dieſer ſchon ganz nahe war.
Weshalb treibſt Du Dich denn hier noch ſo ſpät
umher,“ ſagte Felix, deſſen Aerger ſich mindeſtens in
einigen unfreundlichen Worten Luft machen mußte;
„ich werde es der Tante ſagen.“
„Bekümmere Dich um Deine eigenen Angelegen¬
heiten,“ ſagte Bruno, der in der erſten Ueberraſchung
aufgeſprungen war und ein paar Schritte auf den
Platz gethan hatte, trotzig ſtehen bleibend, als er in
dem Herkommenden den verhaßten Felix erkannte.
„Du biſt ein naſeweiſer Burſche,“ ſagte Felix.
„Und Du ein gemeiner Schurke,“ erwiederte Bruno.
„Der Dich für Deine Unverſchämtheit züchtigen
wird,“ ſagte Felix, dem mit untereinandergeſchlagenen
Armen vor ihm ſtehenden Knaben einen Backenſtreich
verſetzend.
Bruno taumelte ein paar Schritte zurück; Felix
ſah, nicht ohne einen leichten Schauder zu empfinden,
wie die Augen des Knaben buchſtäblich glühten; dann
[154] brach ein Schrei aus ſeiner Kehle, dumpf und rö¬
chelnd — ein mächtiger Sprung, wie eines Leoparden,
der ſich auf ſeine Beute ſtürzt — und im nächſten
Moment lag Felix am Boden und die ſtarken Hände
Bruno's ſchloſſen ſich wie eiſerne Klammern um ſeine
Kehle. Felix rang wie ein Verzweifelter, den Knaben
von ſich abzuſchütteln und wieder in die Höhe zu
kommen, aber vergebens. So oft er ſich auch mit
dem Körper emporbäumte, ſo oft er Bruno mit den
Armen von ſich fortzudrücken verſuchte, jedes Mal
fühlte er ſeine Anſtrengungen von einer unwiderſteh¬
lichen Kraft paralyſirt, und feſter und feſter ſchloſſen
ſich die ſchlanken Finger um ſeinen Hals.
„Laß mich los, Bruno,“ ſtöhnte er.
„Befiehl Deine Seele Gott, denn Du mußt ſter¬
ben,“ knirſchte Bruno.
Felix fühlte, wie ſeine Kräfte ihn verließen, wäh¬
rend die ſeines Gegners mit jedem Augenblick zu
wachſen ſchienen. Todesangſt ergriff ihn. Er wollte
um Hülfe rufen, aber kein Laut entrang ſich ſeinen
bebenden Lippen; er fühlte ein dumpfes Sauſen in
ſeinen Ohren, das immer lauter und lauter wurde;
vor ſeinen Augen wurde es Nacht, durch die Millionen
kleine Sterne ſchoſſen — wüſte Gedanken jagten wie
vor dem Sturmwind treibende Wolken durch ſein Ge¬
[155] hirn — plötzlich, als ihm der letzte Schimmer von
Bewußtſein zu ſchwinden drohte, fühlte er, wie die
entſetzliche Laſt von ſeiner Bruſt verſchwand — und
als er endlich die Kraft fand, ſich vom Boden zu er¬
heben und um ſich zu blicken, war er allein. Der
Mond ſchien hell vom tiefblauen Himmel; das Licht
in Helene's Zimmer war erloſchen; die Muſik war
verſtummt — Felix hätte glauben können, den Kampf
mit Bruno geträumt zu haben, wenn nicht die heftigen
Schmerzen, die er an mehr als einer Stelle ſeines
Körpers fühlte, ſeine über und über mit Sand be¬
deckten Kleider und der rings umher aufgewühlte Bo¬
den ihm zur Genüge bewieſen hätten, daß dies Alles
nur zu wirklich geweſen war.
Mit einem von Scham und Wuth erfüllten Herzen
ging er in das Schloß, wie ein Wolf, der die Hürde
beſchleichen wollte und von einer edlen Dogge zer¬
zauſt und zerbiſſen in den Wald zurückgeſchickt wird.
Neuntes Kapitel.
Die Baronin hatte noch an demſelben Abend den
Brief Helenen's vermißt. Dieſe Entdeckung erfüllte
ſie mit nicht geringer Unruhe. Wie leicht konnte der
Brief in fremde, das heißt in Hände fallen, die ihn
Helenen wieder auslieferten, und wie viel hatte ſie
ſich dann dem ſtolzen, unbeugſamen Mädchen gegen¬
über vergeben! Aller Vortheil, den ſie durch die ge¬
naue Kenntniß von dem Gemüthszuſtand ihrer Tochter,
über dieſe errungen, und den ſie durch Anſpielungen,
Drohungen ſo geſchickt auszubeuten gedacht hatte, war
unwiederbringlich verloren. Es war fatal, äußerſt
fatal!
Die Baronin erinnerte ſich ganz genau, den Brief
in die Taſche ihres Kleides geſteckt zu haben, als
Felix den Gang herauf kam. Wahrſcheinlicherweiſe
hatte ſie ihn alſo an der Kapelle verloren. Sie er¬
innerte ſich, daß ſie während der Unterredung mit
[157] ihrem Neffen einmal das Taſchentuch gezogen hatte,
um die Beleidigte mit noch größerer Würde zu ſpielen.
Indeſſen war es heute Abend zu ſpät, noch Nachfor¬
ſchungen anzuſtellen; ſie mußte es ſich gefallen laſſen,
eine beinahe ſchlafloſe Nacht zuzubringen und am
nächſten Morgen mit einem heftigen Kopfweh aufzu¬
wachen. Sie ging alsbald in den Garten nach der
Kapelle. Der Brief war nicht da; auch nicht in dem
Buchengange, oder in der Laube. Im höchſten Maße
verdrießlich über dieſen böſen Zufall ging die Baronin
in's Schloß zurück.
Dort erwarteten ſie andere Unannehmlichkeiten.
Oswald ſchickte herunter, um zu melden, daß Bruno
ſich nach einer ſchlafloſen Nacht ſehr unwohl fühle,
und daß er (Oswald) bitte, man möge einen reiten¬
den Boten zu Dr. Braun ſenden. Auch ließ er bitten,
Malte für heute unten zu behalten, da er, bis der
Doctor käme, Bruno nicht gern allein laſſen möchte.
Die Baronin ließ zurückſagen: ſie hoffe, daß es mit
Bruno's Unwohlſein nicht viel auf ſich haben und
daß die in dem Unterricht eintretende Pauſe nicht zu
lange dauern werde. Uebrigens würde heute im Laufe
des Vormittags noch ſo wie ſo in die Stadt geſchickt.
Ein paar Stunden ſpäter ließ Felix ſich entſchul¬
digen, wenn er heute nicht zum Frühſtück komme; er
[158] fühle ſich nicht ganz wohl; gedenke indeſſen, an der
Mittagstafel zu erſcheinen.
Felix verſpürte in der That noch einige unange¬
nehme Folgen ſeines Kampfes mit Bruno. Zuerſt
und vor allem die brennende Scham, einem Knaben
unterlegen zu ſein, vielleicht nur einem Zufall, einer
plötzlichen Anwandlung von Großmuth ſein Leben zu
verdanken zu haben. Sein ganzer Leichtſinn gehörte
dazu, ihm über dieſen unangenehmen Gedanken weg¬
zuhelfen. Er ſuchte ſich einzureden — und nach und
nach gelang es ihm auch — die Sache ſei ſo ernſt¬
haft nicht geweſen, und wenn er nicht, als Bruno
ſich ſo unerwartet über ihn ſtürzte, ausgeglitten wäre,
und wenn dann ſein „verdammter Rheumatismus“
ihm nicht die Arme gelähmt hätte, würde er ja „den
Jungen abgeſchüttelt haben, wie eine Fliege, ihm eine
tüchtige Tracht Schläge obendrein gegeben haben.“
Daß vorläufig er die Schläge bekommen und daß die
Fliege feſt zuzupacken verſtand, das bewieſen die blauen
Flecken, die Felix, beſonders auf der Bruſt und am
Halſe, aus dem Kampfe als ſichere Zeichen der Nie¬
derlage davon getragen hatte. Der Vielgewandte ge¬
rieth in einiges Staunen, als er ſeinen Herrn in
einem Zuſtande ſah, der nur zu ſehr an die ſelige
Cadettenzeit erinnerte, wo Franzbranntwein und aqua
[159] Goulardi zu den nothwendigſten Toiletterequiſiten ge¬
hörten. Der Vielgewandte bewies, daß er die Kunſt,
Beulen und blaue Flecke zu behandeln, ebenſo wenig
verlernt habe, als ſein Herr das Talent, ſich ſolche
zu holen, und ſchon gegen Mittag ſah ſich Felix in
einem ſalonfähigen Zuſtande. Dennoch zweifelte er,
ob er bei der Tafel erſcheinen ſolle, oder nicht. Der
Gedanke Bruno gegenüberzutreten, des Knaben dunkle
Augen voll Hohn und Schadenfreunde auf ſich ruhen
zu ſehen, vielleicht gar in Oswald's Blicken wahrzu¬
nehmen, daß er von den Ereigniſſen der verwichenen
Nacht vollkommen unterrichtet ſei, war ihm äußerſt
peinlich. Es fiel ihm ordentlich eine Laſt vom Her¬
zen, als Jean berichtete, die Tafel werde heute ſehr
klein ſein, denn Junker Bruno und Herr Stein wür¬
den nicht erſcheinen. So warf er denn noch einen
Blick in den Spiegel, goß ſich drei Tropfen Eßbou¬
quet mehr wie gewöhnlich auf ſein feines Battiſt¬
taſchentuch und ſchritt durch die Thür, die ihm der
Vielgewandte pflichtſchuldigſt öffnete, obgleich mit der
Erinnerung an die Niederlage geſtern Abend be¬
laſtet, leicht und frei und vor allem unwiderſtehlich
wie immer.
Auch die Baronin fühlte ſich nicht wenig erleich¬
tert, als ſie im Laufe des Morgens keine Verände¬
[160] rung in Helenen's Betragen oder auf ihrem Geſicht,
in ihren großen Augen zu erblicken vermochte. Die
Baronin war heute Morgen ganz beſonders zuvor¬
kommend gegen Helene.
Indeſſen war das Mittagsmahl nichts weniger
wie belebt; obgleich Felix ſein ganzes Unterhaltungs-
Talent aufbot. Der alte Baron hatte ſich perſönlich
nach Bruno's Befinden erkundigt und war ärgerlich,
daß noch immer nicht nach dem Doctor geſchickt war,
„wenn auch heute Nachmittag ein Wagen in die
Stadt führe, verſchiedenes zu der großen Geſellſchaft
morgen benöthigtes zu holen, ſo ſei das kein Grund,
weshalb nicht einer von den Leuten heute Morgen
hätte hinreiten können.“ Die Baronin war verſtimmt
über dieſen ihr in Gegenwart der Anderen ausgeſproche¬
nen Tadel, und meinte; ſie habe freilich nicht bedacht,
daß es ſich um Bruno handle, der allerdings größere
Anſprüche machen dürfe, wie zum Beiſpiel ſie ſelbſt, die
an einem ſehr heftigen Kopfweh leide, oder Felix, der
ebenfalls die ganze Nacht und den Vormittag unwohl ge¬
weſen ſei. Helene hob die Augen kaum von ihrem Teller
und öffnete kaum einmal den Mund; und die Augen
der kleinen Marguerite waren heute noch verweinter,
als in den vorhergehenden Tagen. Felix und Malte
ſprachen ſich nach und nach auch aus, und zuletzt
[161] war es ſo ſtumm um den Tiſch her, wie bei einem
egyptiſchen Todtenmahl.
Die Baronin und Felix blieben nach Tiſche allein,
da der Baron ſich ausnahmsweiſe auf ſein Zimmer
zurückgezogen hatte. Felix hatte während der Mahl¬
zeit überlegt, ob er nicht doch beſſer thäte, das Er¬
eigniß von geſtern Abend — natürlich nach ſeiner
Auffaſſung — zu erzählen, bevor Bruno Gelegenheit
habe, ſich gegen irgend Jemand, Oswald ausgenom¬
men, darüber zu äußern. So benutzte er denn das
tête-à-tête mit der Baronin, ihr mitzutheilen —
verſteht ſich, lachend und mit der Bitte, die curioſe
Geſchichte nicht weiter gelangen zu laſſen — wie er
geſtern Abend durch den hellen Mondſchein verlockt
worden ſei, noch etwas im Garten zu promeniren,
wie er Bruno in einer höchſt eigenthümlichen Weiſe
um die Fenſter Helenen's habe ſchleichen ſehen, wie
er den Jungen zu Bett geſchickt habe, darüber mit
ihm in Streit gerathen, mit dem Fuße ausgeglitten,
hingefallen und für einen Augenblick der Beſiegte ge¬
weſen ſei. Natürlich nur für einen Augenblick, dann
habe Bruno die verdienten Schläge erhalten, und
die würden auch wol der Grund ſeiner heutigen Krank¬
heit ſein.
Die Baronin fühlte ſich durch dieſe humoriſtiſche
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen IV. 11[162] Schilderung einer ſehr ernſten Begegnung auf das
unangenehmſte berührt. Ihre Befürchtungen betreff
des Briefes regten ſich wieder . . . Bruno zur Nacht¬
zeit unter Helenen's Fenſter? was hatte er da zu
thun? Der Umſtand ſah ſehr verdächtig aus. Wenn
Bruno den Brief gefunden hätte! wenn er geſtern
Abend die Abſicht gehabt hätte, ihn Helenen wieder
zuzuſtellen . . . Die Baronin ſtöhnte bei dieſem ent¬
ſetzlichen Gedanken.
„Was haben Sie, liebe Tante?“
„O nichts. Ich ſeufze nur über das Unglück,
welches uns dieſer Stein ins Haus brachte. Wenn
ich etwas in meinem Leben bedauere, ſo iſt es, den
Menſchen nicht am erſten Abend wieder fortgeſchickt
zu haben, wie ich wirklich große Luſt hatte. Es hat
nicht leicht Jemand einen ſo unangenehmen Eindruck
auf mich gemacht, als dieſer junge Mann.“
„Aber Tante, ſo holen ſie doch nach, was Sie an
jenem erſten Abende leider verſäumten: jagen Sie ihn
doch fort. Ich begreife wahrhaftig nicht, weshalb Sie
ſo viel Umſtände mit ihm machen.“
Die Baronin wollte nicht ſagen, daß ſie die tau¬
ſend Thaler nicht verſchmerzen würde, welche Oswald
contractlich zu fordern hatte, wenn ihm im erſten
Jahre ſeines Engagements gekündigt würde. Ehe ſie
[163] indeß eine Antwort bereit hatte, ertönte auf dem Flure
die quäkeude Stimme des Paſtor Jäger, der ſich nach
„der gnädigen Herrſchaft“ erkundigte.
Einen Augenblick ſpäter trat Seine Hochehrwürden
an der Seite ſeiner Gemalin ins Zimmer.
Es bedurfte keines beſonders ſcharfſinnigen Auges,
um ſofort zu ſehen, daß etwas ganz Außerordentliches
dem würdigen Paare begegnet ſein mußte. Der Paſtor
trug den ganz neuen ſchwarzen Frack, den er nur bei
den feierlichſten Gelegenheiten anzuziehen pflegte und
Primula hatte eine äußerſt maleriſche Verzierung von
Kornähren an ihrem gelben Strohhute, ſo daß ſie
heute noch eine Schattirung gelber ausſah, wie ge¬
wöhnlich. Der Blick des Paſtors ſuchte vergeblich die
gewohnte Demuth zu heucheln; die runden Brillen¬
gläſer ſelbſt glitzerten triumphirend; und was Pri¬
mula betrifft, ſo hatte ſich ihr poetiſches Gemüth jetzt
von allem Erdenreſt befreit; ſie durfte ſcheinen, was
ſie war.
„Ich komme, gnädige Baronin,“ ſagte der Paſtor,
Anna-Maria galant die Hand küſſend, „einmal mich
nach Ihrem und der lieben Ihrigen werthen Befinden
pflichtſchuldigſt zu erkundigen, ſodann Ihnen die
Mittheilung eines Ereigniſſes zu machen, das wir —
ich darf ja wol ſagen wir, meine edle Gönnerin? —
11 *[164] ſchon lange freilich erwarteten, erhofften, will ich
lieber ſagen, deſſen endliches Eintreffen uns indeß
doch wol Alle überraſcht. Ich bin als Profeſſor nach
Grünwald berufen worden.“
„Vorläufig extraordinarius,“ ſagte Primula, aber
der ordinarius wird wol nicht lange auf ſich warten
laſſen.“
„Auch iſt mir die Stelle eines Nachmittag-Predi¬
gers an der Univerſitätskirche ſo gut wie gewiß.“
„Warum nicht: gewiß? Jäger;“ ſagte Primula;
„ich dächte, das Schreiben des Profeſſors Dunkelmann
ließe nur eine Auslegung zu.“
„Ei, das ſind ja herrliche Nachrichten, meine lieben
Freunde;“ ſagte die Baronin; „erlauben Sie, daß ich
Ihnen meinen Neffen, Baron Felix, vorſtelle — Herr
und Frau Paſtor, wollte ſagen: Profeſſor Jäger, lieber
Felix — das ſind ja herrliche Nachrichten. Alſo doch
endlich! Nun, ich habe es ja immer geſagt; über
kurz oder lang mußte es doch kommen; freilich wir
verlieren viel; aber das Glück der Freunde muß uns
theurer ſein, als der eigne Vortheil. Nehmen Sie
meinen herzlichſten Glückwunſch entgegen.“
„Auch den meinigen;“ ſagte Felix.
„Danke, meine gnädige Frau, danke, Herr Baron,
danke, danke!“ ſagte der Paſtor, ſich vergnügt die
[165] Hände reibend; „ja, ja! unverhofft kommt oft, und
gehofft kommt auch wol einmal. Als meine letzte
größere Schrift, in welcher ich den eigentlichen Wort¬
laut des Titels eines verloren gegangenen Werkes des
Kirchenvaters Philochryſos bis zur Evidenz nachwies,
in allen kritiſchen Journalen eine ſo — ich darf wol
ſagen — außerordentliche Anerkennung fand, konnte
ich den Erfolg mit ziemlicher Gewißheit zum voraus
angeben.“
„Wann werden Sie uns denn nun verlaſſen?“
„Nun zu Michaelis ſpäteſtens; wahrſcheinlich aber
noch früher; ich werde für das Winterſemeſter drei
private Vorleſungen, eine publice und gratis, und
endlich eine über die verloren gegangenen Schriften
des Philochryſes, privatissime und gratis ankün¬
digen.“
„Du nimmſt Dir zu viel vor, Jäger, zu viel!“
hauchte Primula in zärtlichen Tönen: „o, dieſe Männer,
dieſe Männer! jeder Einzelne iſt ein Prometheus, der
den Himmel ſtürmen möchte.“
„Wer hat mich denn zu meinem kühnen Streben
begeiſtert, wenn nicht Du?“ ſagte der Paſtor, Pri¬
mula dankbar die Hand drückend.
„Schießen Sie mit der Piſtole?“ fragte Felix, um
dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben.
[166]
„Nun, ein wenig; ich will ſagen ſo viel wie gar
nicht. Ich war früher wol auf der Haſen- und
Hühnerjagd nicht ganz unglücklich — omen in nomine,
ha, ha, ha! — aber ſeitdem das Conſiſtorium ſich
ſehr energiſch gegen dieſe lärmenden Vergnügungen
ausgeſprochen hat, liegt „das Eiſen müßig in der
Halle;“ um mit dem Dichter zu ſprechen.
„Du kannſt jetzt, in Deiner Eigenſchaft als Pro¬
feſſor, der edlen Waidmannskunſt wol wieder obliegen,
Jäger;“ ſagte Primula. „Ha, ich denke es mir herr¬
lich, ſo mit vorgeſtreckter Piſtole einem Wildſchweine
gegenüberzutreten . . .“
„Ich würde indeſſen Ihrem Herrn Gemal rathen,
ſich zu dieſer Jagd mit einer Büchsflinte, und wo
möglich auch einem Hirſchfänger zu verſehen,“ ſagte
Felix lachend; „aber im Ernſt, Herr Profeſſor, wollen
Sie ein wenig mit mir nach der Scheibe ſchießen.“
„Gewiß, gewiß!“ rief der Paſtor aufſpringend;
„ich ſtehe zu Ihren Dienſten, zu Ihren Dienſten.“
Der Paſtor war etwas blaß geworden; aus ſeiner
Aufregung zu ſchließen, hätte man glauben ſollen, es
handle ſich um ein Duell auf Leben und Tod.
„Willſt Du nicht doch lieber bleiben?“ ſagte Pri¬
mula, welcher plötzlich die Sache in einem ſehr be¬
[167] denklichen Lichte erſchien. „Du biſt heute nicht ſo
ruhig wie ſonſt; wenn Dir ein Unglück paſſirte, gerade
jetzt, wo Du dem Ziel Deiner Wünſche ſo nahe biſt;
Jäger, ich ertrüge es nicht;“ und die Dichterin brach
in Thränen aus und klammerte ſich an ihren Gemal
an, deſſen Anſtrengungen, ſich von der ſüßen Laſt zu
befreien, keineswegs ſehr energiſch waren.
„Guſtava“, murmelte er; „liebes Guſtchen, es iſt
weniger gefährlich, wie Du denkſt. Sind Ihre Piſtolen
mit einem Stecher verſehen, Herr Baron?“
„Allerdings;“ ſagte Felix, den dieſe Scene nicht
wenig amüſirte. „Wenn ſie geſtochen ſind, dürfen
Sie nicht nieſen, oder ich ſtehe für nichts.“
„Bleibe, bleib', mein Jäger;“ flehte Primula.
„Es wird nicht ſo gefährlich ſein,“ ſagte der Paſtor
mit bleichen Lippen.
„Das meinte neulich auch Kamerad von Schna¬
belsdorf,“ ſagte Felix; „Nehmen Sie ſich in Acht,
Schnabelsdorf, ſagte ich. — Dummes Zeug, ſagte
Schnabelsdorf, und faßt die Piſtole an der Mündung.
Im nächſten Augenblick war er um einen Finger
ärmer.“
„Dies entſcheidet;“ ſagte Primula, ſich emporrich¬
tend; „Jäger, Du bleibſt, ich befehle es Dir. Befaſſe
[168] Dich nicht mit Dingen, die Du nicht verſtehſt. Piſtolen¬
ſchießen iſt kein Kinderſpiel.“
So triftigen Gründen wußte ſelbſt ein ſo geiſt¬
reicher Kopf, wie der des Paſtors, nichts entgegen¬
zuſetzen. Er ließ ſich wieder in ſeinen Stuhl ſinken
und ſagte, ſich den Schweiß mit dem Taſchentuch von
der Stirn wiſchend:
„Sie ſehen, Herr Baron: Eheſtand iſt Weheſtand.
Wenn Sie einmal erſt verheiratet ſind, wird der glän¬
zende Cavalier auch vor dem umſichtigen Hausvater
zurücktreten müſſen. Aber, wie iſt mir denn: man
darf ja wol gratuliren?“
Und der Paſtor ließ den Kopf erſt auf die rechte
Schulter ſinken, um die Baronin anzulächeln; ſodann
auf die linke, um Felix dieſelbe Gunſt zu erweiſen.
„Fragen Sie in ein paar Tagen wieder nach;“
erwiederte die Baronin ausweichend. „Was ich ſagen
wollte: ſo iſt ja jetzt durch Ihre Ernennung der Ver¬
luſt, welchen die Univerſität durch Berger erlitten hat,
mehr wie ausgeglichen. Ihre Vocation ſteht doch mit
jenem Ereigniß in keinem Zuſammenhang?“
„In keinem directen wenigſtens,“ ſagte der Paſtor,
obgleich ich nicht in Abrede ſtellen will, daß Berger
ſeinen Einfluß nicht zu meinen Gunſten angewendet
[169] haben würde, und ſomit immerhin ſeine Erkrankung
für mich ein nicht ungünſtiges Zuſammentreffen der
Umſtände genannt zu werden verdient.“
„Hat man denn gar keine Vermuthung, wie dies
ſo plötzlich gekommen iſt?“ fragte die Baronin.
„Nun, meine Gnädigſte, plötzlich können wir nun
wol ſo eigentlich nicht ſagen;“ erwiederte der Paſtor,
ſein Geſicht in die ernſteſten Falten legend und ſeine
Mundwinkel herabziehend; „ich geſtehe, daß mich dies
Ende in keiner Weiſe überraſcht hat und daß ich den
Profeſſor im Grunde ſtets für mindeſtens halb wahn¬
ſinnig gehalten habe. Wer mit Berger behauptet,
daß alle ſogenannten Beweiſe von dem Daſein Gottes,
des allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erden,
auf einen Trugſchluß, eine petitio principii hinaus¬
liefen, der iſt ſchon wahnſinnig, auch wenn er noch
ſcheinbar wie ein Vernünftiger ſpricht. Wer über die
geheiligten Inſtitutionen des Königthums von Gottes
Gnaden und des Erbadels freventlich ſpotten, ſie
Ueberreſte einer barbariſchen Zeit, die hinter uns
liegt, nennen kann, der iſt ſchon toll, obgleich er Pro¬
feſſor iſt und Collegien vor einem überfüllten Audi¬
torium lieſt. Ich weiß es wol, daß geſchrieben ſteht:
richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet;
aber ich kann mich dennoch, dieſen Fall erwägend,
[170] nicht entbrechen zu ſagen: Dies iſt der Finger des
Herrn.“
„Wie wär's mit einer Partie Kegel, Herr Paſtor?“
ſagte Felix, der in der offenen Thür geſtanden und
nicht zugehört hatte.
„Mit Vergnügen,“ rief der Paſtor, „auf dieſe
Kugeln verſtehe ich mich. Ich war meiner Zeit in
Grünwald ein famoſer Kegelſchütze.“
„Nach dem Kaffee, lieber Felix,“ ſagte die Baro¬
nin; „ich habe noch mit dem Paſtor über einige ernſte
Dinge zu ſprechen. — Iſt es nicht entſetzlich, lieber
Paſtor Jäger, daß wir den Zögling eines ſo abſcheu¬
lichen Menſchen in unſerem ſtillen Hauſe haben? daß
ich die unſchuldige Seele meines Kindes ſolchen Hän¬
den anvertrauen ſoll? Um Himmelswillen rathen Sie
mir, wie werde ich den Menſchen auf eine paſſende
Weiſe wieder los?“
„Sie können ihn nicht ohne Weiteres fortſchicken?“
„Wir haben uns gegenſeitig auf vier Jahre ver¬
bindlich gemacht, und wenn wir nun alſo —“
„Ich verſteh', ich verſtehe,“ ſagte der Paſtor, der
Anna-Maria's Geiz ſehr wol kannte; „hm, hm! wir
müßten einen Grund haben, hm, hm! Ja, ja, das
kann uns helfen: es iſt jetzt eine Verordnung vorbe¬
[171] reitet, nach welcher die Hauslehrer ein Zeugniß des
Pfarrers ihres betreffenden Kirchſpiels über ihre Reli¬
gioſität und Moralität beizubringen haben. Wir
wollen es Herrn Dr. Stein ſchwer machen, ein ſolches
beizubringen;“ und der Paſtor lächelte ſchlau.
„Wiſſen Sie ſchon das Neueſte, meine Herrſchaf¬
ten,“ rief Felix, ein Billet, das ihm ſo eben von dem
Bedienten, welcher das Kaffeeſervice in die Laube trug,
übergeben war, in der Hand haltend; „Cloten hat
ſich mit der kleinen Breeſen verlobt; hier ſchickt er
mir, als ſeinem beſten Freunde, die erſte Karte; die
Anderen kriegen erſt morgen welche.“
„Ich kann Ihnen ein Paroli biegen,“ ſagte der
Paſtor. „Wer denken Sie, gnädige Frau, daß ſeit
geſtern Abend wieder hier iſt?“
„Nun?“
„Frau von Berkow.“
„Nicht möglich!“
„Ich weiß es ganz genau. Sie hat, einem in
dem Teſtament geäußerten Wunſch ihres Gemals zu¬
folge die Leiche deſſelben von N. hierher ſchaffen laſſen.
Der Sarg kommt noch in dieſer Nacht, um morgen
von mir auf dem Faſchwitzer Kirchhof eingeſegnet zu
werden.“
„Dann können wir die ſchöne Frau wol nicht zu
unſerem Ball morgen einladen?“ meinte Felix.
„Aber Felix!“ ſagte die Baronin mit einem vor¬
wurfsvollen Blick.
„Der Kaffee ſteht in der Laube,“ meldete der Be¬
diente.
„So kommen Sie, meine Herrſchaften!“ ſagte die
Baronin.
Zehntes Kapitel.
Unterdeſſen hatte Oswald an Bruno's Bett böſe,
angſtvolle Stunden verlebt. Bruno's aufgeregtes
Weſen in der letzten Zeit hatte ihn ſchon mehr wie
einmal ernſtlich beſorgt gemacht. Die Ausbrüche lei¬
denſchaftlicher Heftigkeit, wie Oswald ſie an Bruno
von den erſten Wochen ihres Zuſammenlebens kannte
und die dann eine Zeit lang faſt gänzlich aufgehört
hatten, waren jetzt häufiger und gewaltiger wie je.
Ein Widerſpruch, das Mißlingen eines Unternehmens,
einer Arbeit, eine verletzende Aeußerung über Tiſch
aus dem Munde der Baronin — waren hinreichend,
die Dämonen in ihm zu entfeſſeln. Vergebens, daß
Oswald ihn bat und beſchwor, dieſe Heftigkeit abzu¬
legen, durch die er ſich ſeinen Feinden gegenüber ſo
viel vergebe, die es ſeinen Freunden oft unmöglich
mache, für ihn Partei zu ergreifen — „ich kann nicht
anders, war ſeine ſtete Antwort; es kommt über mich
[174] mit einer Gewalt, der ich nicht zu widerſtehen ver¬
mag. Es kocht in mir auf, es nagt an meinem
Herzen, es hämmert in meinen Schläfen und dann
weiß ich nicht mehr, was ich ſpreche oder thue.“ —
Wenn dann Oswald ſagte; er könne, wenn er nur
wolle, ſo antwortete Bruno trotzig: ſchilt mich nur
auch, wie die Andern; mache nur gemeinſchaftliche
Sache mit den Andern. Ich will keine halben Freunde;
wer nicht für mich iſt, der iſt gegen mich. — Dann,
wenn er ſah, wie er Oswald durch dieſe und ähnliche
Reden gekränkt hatte, warf er ſich ſtürmiſch in ſeine
Arme und bat ihn unter heißen Thränen um Verzei¬
hung. — Habe Mitleid mit mir, rief er. Du weißt
nicht, wie grenzenlos unglücklich ich bin. — Vergebens,
daß Oswald in ihn drang, zu ſagen, ob er irgend
etwas Beſonderes auf dem Herzen habe? ob die wilde
Sehnſucht in die Ferne, von der er früher ſo gefoltert
wurde, jetzt wieder in ihm übermächtig ſei? — Ich
weiß es ſelbſt nicht, ſagte Bruno; ja ich möchte fort,
weit, weit von hier, um nimmer wieder zu kehren;
und dann möchte ich doch auch wieder nicht fort, nein
nicht fort, nicht um Alles auf der Welt; ich weiß es
nicht: ich glaube, ich möchte am liebſten ſterben.
Oswald rieth hin und her, was denn nur die Ur¬
ſache dieſes ſonderbaren Zuſtandes ſein möchte; aber
[175] wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den
eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in
der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht
vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht.
Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬
ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬
rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬
ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬
fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge
des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das
iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬
zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen
hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn
man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬
nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in
dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung
blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder,
welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine
edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen
macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen
ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet
gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬
meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder
ein Buch mit ſieben Siegeln.
So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete
[176] ſich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬
gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für
Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu
ſein pflegt, und daß bei ſo mächtigen Naturen, wie
Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger ſein
müſſe. Er hatte oft mit Bruno über Verhältniſſe
geſprochen, die dem erſchloſſenen Auge nicht länger
verborgen bleiben können, denn er hielt es für die
heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in dieſem Punkte
der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfſinn
des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür
zum Heiligthum der Natur lieber zu erſchließen, als
zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur
Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel
und ſein Herz rein war „wie das Herz der Waſſer“.
Er war nach dieſer Seite hin vollkommen ruhig; er
ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war,
mit allen Kräften ſeiner ſtarken Seele, mit der ganzen
Gluth der eben erſt erwachten Sinnlichkeit, mit der
namenloſen Seligkeit einer erſten Neigung, mit der
ſtummen Verzweiflung einer Leidenſchaft, die keine Er¬
wiederung findet und finden kann, ſeine ſchöne Couſine
liebte.
Er hatte Helenen nie vorher geſehen. Als er vor
drei Jahren etwa in das Haus ſeiner Verwandten
[177] kam, war das junge Mädchen ſchon in der Penſion.
Es wurde ſelten in der Familie von ihr geſprochen,
und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der
Umſtand, daß, wenn man von ihr ſprach, es meiſtens
in ſehr kühlen Ausdrücken geſchah, Bruno's Aufmerk¬
ſamkeit. Mit jenem ſympathetiſchen Gefühl, welches
der Arme für den Armen, der Verlaſſene für den
Verlaſſenen, der Verſtoßene für den Verſtoßenen hat,
ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach
geſtaltete ſich für ihn das ſehr undeutliche Bild der
Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff
von allem Schönen und Herrlichen, das ſeine reiche
Phantaſie erträumte. Der Name Helene, in deſſen
weichem Klang er ſich berauſchen konnte, wie in dem
Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm
dieſe Geſtalt ſeiner Einbildungskraft lieb und theuer
zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo
er dem Cultus der ſchönen Unbekannten untreu ge¬
worden war, wo er in Tante Berkow den höchſten,
vollendetſten Ausdruck des „ewig Weiblichen“, das ihn,
wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderſtehlich
anzog, zu erkennen glaubte, wo er ſich durch ein
freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge!
für ein Streicheln ſeiner Haare von ihrer lieben
weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr geſtürzt
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 12[178] haben würde. Grade in der erſten Zeit von Oswalds
Anweſenheit in Grenwitz hatte ſeine Liebe zu Tante
Berkow in der Blüthe geſtanden. Melitta's um ein
paar Jahre jüngeren Knaben hatte er ebenſo wie
einen jüngeren Bruder behandelt, wie ihm die jugendlich
ſchöne Mutter oft nur wie eine ältere Schweſter er¬
ſchienen war. Da Melitta grade in jener Zeit häufig
nach Grenwitz herüberkam, und Bemperlein, um ſeinem
Julius Geſellſchaft zu verſchaffen, den Umgang der
Knaben aufs eifrigſte protegirte, ſo fehlte es Bruno
nicht an Gelegenheit, Tante Berkow zu ſehen, ihr
hundert kleine Pagendienſte zu leiſten, ihr in den
Sattel zu helfen, Bella oder Brownlock eine halbe
Stunde umherzuführen, mit der Reitpeitſche, dem Fe¬
derhut und den Handſchuhen hinter ihr zu ſtehen,
wenn ſie darnach fragte. „Tante Berkow“ war in
dieſer Zeit ſein drittes Wort, und Oswald hatte es
ſich gern gefallen laſſen, wenn ihm Bruno lange Ge¬
ſchichten erzählte, in denen Tante Berkow immer die
erſte Rolle ſpielte.
Melitta hatte vielleicht nicht wenig dazu beigetragen,
daß Bruno in Monaten ein Stadium der Entwickelung
zurücklegte, zu welchem weniger feurige Naturen faſt
eben ſo viele Jahre brauchen. Es iſt ein weit ver¬
breiteter Irrthum unter den Frauen, zu glauben, daß
[179] ſie Knaben, die ſchon beinahe Jünglinge ſind, noch
als Kinder behandeln dürfen, daß ſie ſich mit ihnen
kleine Freiheiten erlauben können, die ſchon in ganz
kurzer Zeit ſehr große Freiheiten ſein würden. Sie
bedenken nicht, daß die Sinnlichkeit in dieſer Zeit ein
Schlaf in der Morgendämmerung iſt, den die leiſeſte
Störung verſcheuchen kann; daß die Begierde in dieſer
Periode wie ein Feuer iſt, das in grünem Holze lang¬
ſam fortglüht und bei dem geringſten Windſtoß in
heller Lohe emporflammt. Sie würden außer ſich
ſein, wenn man ihnen ſagte, daß ſie in aller Unſchuld
eine Unſchuld für immer zerſtört haben; und doch iſt
es nur zu oft der Fall.
Melitta ſelbſt ſah zuletzt ein, daß ſie Bruno nicht
länger, wie ſie es bisher gethan, mit Julius oder
auch nur mit Malte auf eine Stufe ſtellen dürfe;
und wenn ſie jetzt „von den Knaben“ ſprach, ſo meinte
ſie damit vorzüglich die beiden letzteren. Sie hatte
angefangen, Bruno wie einen Freund, wie einen jun¬
gen Bruder zu behandeln, wie einen Pagen, den man
noch halbe Frauendienſte thun läßt, von dem man
aber weiß, daß man ſich im Fall der Noth auf ſein
muthiges Herz und ſeinen ſtarken Arm verlaſſen könnte.
Und in der That, ein Kenner würde in einem Ring¬
kampf, in irgend einer athletiſchen Uebung unbedingt
12*[180] auf Bruno gegen viel ältere und ſcheinbar gefährli¬
chere Gegner gewettet haben. Die klaſſiſche Statue
eines Merkur, oder eines Bacchos oder jugendlichen
Faun konnte nicht zarter gegliedert, nicht ebenmäßiger
geformt ſein, als Bruno's ſchlanker und bei aller
Schlankheit ſtarker Körper. Für Jemand, der ein
Auge hat für die Schönheit, die ſich in der Bewegung
entwickelt, war es ſchon eine Luſt, den Knaben nur
gehen zu ſehen. Oswald, dem die Natur ein ſolches
Auge verliehen hatte, war entzückt, wenn er Bruno
bei dem Baden am Strande des Meeres beobachten
durfte, wie der Knabe von einem Felsblock zum an¬
dern ſprang, mit einer Sicherheit, die das Gefühl
der Furcht gar nicht aufkommen ließ, bis er den am
weiteſten hinausliegenden erreichte, von dem er ſich
kopfüber in die Wellen ſtürzte. Dabei war für Bruno
eine Gefahr nicht vorhanden, oder vielmehr: er wollte
nicht, daß dergleichen für ihn exiſtire. Wenn es irgend
etwas auszuführen gab, das Andere auszuführen An¬
ſtand nahmen: ein durchgehendes Pferd aufzuhalten,
eine Kirſche von dem oberſten Gipfel eines hohen
Baumes zu holen, über einen Graben zu ſpringen,
der ohne Brücke nicht zu paſſiren ſchien — Bruno
mußte das Wagſtück unternehmen; er zitterte vor Ver¬
langen, ſeine Wange glühte; er warf einen bittenden
[181] Blick auf die, welche er lieb hatte, und man mußte
ihn gewähren laſſen und ließ ihn gewähren, weil man
ſich ſagte: er kann mehr als die Uebrigen.
So war Bruno: ein Jüngling mehr, wie ein
Knabe, mit einem Herzen, an deſſen Feuer ſich eine
todte Welt hätte beleben können.
So ſah er Helenen.
Und alle Melodien, die in ihm geſchlummert hatten,
erklangen, und Alles, was er bisher Schönſtes und
Lieblichſtes geträumt hatte, ſtand wahr und wirklich,
verkörpert vor ihm. Der Knabe traute ſeinen Augen
kaum; er war wie geblendet, wie trunken; er war wie
Jemand, der aus einem ſchönen Traum zur ſchöneren
Wirklichkeit erwacht und nicht zu ſprechen, ja kaum
zu athmen wagt, um das, was er noch immer halb
und halb für eine Sinnentäuſchung hält, nicht zu ver¬
ſcheuchen. So ging er in den erſten Tagen nach der
Rückkehr der Familie wie im Traum umher, gegen
die Gewohnheit mild und freundlich gegen Alle. Dann
aber ſchwand die Traumesſeligkeit, und das Entzücken
über die köſtliche Wirklichkeit wurde zum Schmerz.
Ruhe hatte er nie gehabt, und leicht war ſein Herz
nie geweſen; aber jetzt folterte ihn eine Unraſt, die
ihm Schlaf und Hunger und Durſt verſcheuchte, die
wie ein wildes Fieber in ihm brannte, und ſein armes
[182] Herz war wie ein Mann, der, was er Liebſtes und
Theuerſtes hat, auf ſeinen Schultern vor dem ver¬
folgenden Feinde davonträgt und ſchaudernd dem Augen¬
blick entgegenſieht, wo er unter der Laſt zuſammen¬
brechen wird. Er wagte Helene's Namen nicht mehr
auszuſprechen, aus Furcht ſein Geheimniß zu ver¬
rathen; er wagte nicht mehr, die Augen zu ihr auf¬
zuſchlagen. Und dennoch ſah er Alles, was um ihn
her vorging, und der Plan der Baronin blieb für ihn
nicht lange ein Geheimniß. Sein Haß gegen Felix
kannte keine Grenzen, und er gab ſich ſehr wenig Mühe,
dieſen Haß zu verbergen. Er forderte den Roué bei
jeder Gelegenheit durch höhniſche und ſatyriſche Be¬
merkungen heraus, immer in der Hoffnung, Felix werde
doch endlich einmal den hingeworfenen Handſchuh auf¬
heben; aber dieſer ließ ſich wie Alle, welche im Grunde
ſich und die ganze Welt verachten, ſehr viel gefallen
und erwiederte des Knaben grauſame Sarkasmen mit
mehr oder weniger guten Witzen, ſo daß er die Lacher
ſtets auf ſeiner Seite behielt. Und dann hatte er auf
der andern Seite doch auch wieder eine viel zu gute
Meinung von ſich, um ſich mit einem Gegner, den
er ſo tief unter ſich glaubte, in einen ernſtlichen Streit
einzulaſſen. Wäre er geſtern Nacht auf Bruno, der
ihm ſein Rendezvous geſtört hatte, nicht ſo ärgerlich
[183] geweſen und hätte Bruno ſich nur ein wenig glimpf¬
licher ausgedrückt, es wäre auch ſelbſt jetzt noch nicht
zum Aeußerſten gekommen.
Und Felix konnte von Glück ſagen, daß der Kampf
keinen ſchlimmeren Ausgang für ihn genommen hatte.
Er war dem Tode näher geweſen, als er wol ſelber
glaubte. Bruno's Haß war durch die Vorgänge des
Tages zur Raſerei geworden, und Felix' brutale thät¬
liche Beleidigung machte das Gefäß des Zornes und
Haſſes überlaufen. Und nun, nachdem der Lavaſtrom
den Krater durchbrochen — was konnte ihn in ſeinem
vernichtenden Laufe aufhalten? Daß Felix von ſeiner
Hand ſterben müſſe, daß ihn Gott in ſeine Hände
geliefert habe, damit er, koſte es, was es wolle, das
Weib, das er anbetete, von dem Scheuſal, das er ſo
glühend haßte, befreie, — das war in den kurzen und
doch ſo langen Minuten, wo er mit Felix rang und
auf Felix' Bruſt kniete, der einzige blutigrothe Licht¬
ſchein in der Nacht ſeiner Seele. Wenige Minuten,
vielleicht Secunden — und Felix ſtand nicht wieder
von dem Platze auf.
Da war Bruno durch einen Schrei dicht neben
ihm von ſeiner fürchterlichen Arbeit aufgeſchreckt wor¬
den. Emporblickend, hatte er flüchtig eine weibliche
Geſtalt geſehen, die er im erſten Augenblick für Helene
[184] hielt. Er hatte ſein Opfer losgelaſſen und war auf¬
geſprungen. Die Geſtalt hatte ſich eilig entfernt, er
war ihr ein paar Schritte gefolgt, bis jene in der
Richtung nach dem Leutehauſe hin verſchwunden war
und er ſeinen Irrthum eingeſehen hatte. Sich wieder
über ſeine Beute zu ſtürzen, nachdem er einmal weg¬
geſcheucht war, war ihm unmöglich; er ſah, wie Felix
ſich nach einigen vergeblichen Verſuchen in die Höhe
richtete. Das war ihm genug geweſen; er konnte ſich
in ſeine Kammer und in ſein Bett ſtehlen, ohne einen
Mord auf dem Gewiſſen zu haben.
Und doch war er kaum weniger erregt. Sein Herz
hämmerte, ſeine Pulſe flogen; glühende Hitze und
Fieberfroſt wechſelten mit einander ab. Das verwor¬
ren klare Bild der Kampfesſcene drängte ſich immer
wieder in den Vordergrund; der Triumph, ſeinen
Todfeind ſo gänzlich beſiegt zu haben, wurde durch
den Gedanken verbittert, daß Helene trotzdem noch
immer nicht frei ſei. Das quälte ihn faſt noch mehr
als die heftigen Schmerzen, die er, ſobald er nur
einigermaßen zur Ruhe gekommen war, in der Seite
empfand, und die gar nicht nachlaſſen wollten, ja,
wie es ſchien, nur immer heftiger wurden und ſich
von einem anfänglich kleinen Punkte aus, immer weiter
verbreiteten.
[185]
Es war eine lange, bange Nacht für den unglück¬
lichen Knaben, dieſe kurze Sommernacht. Gegen Mor¬
gen ließ ihn die Müdigkeit in einen Zuſtand verfallen,
der ſich vom Wachen nur dadurch unterſchied, daß
noch fürchterlichere Bilder durch das Gehirn jagten.
Er fuhr, vom Schmerz geweckt wieder auf; er ver¬
ſuchte ſich zu erheben, um Oswald zu wecken, der in
dem Zimmer nebenan ſchlief (Malte ſchlief ſchon ſeit
Wochen unten), aber er vermochte es nicht. Endlich
— es dauerte lange, bis ſein Stolz ſich dazu ent¬
ſchließen konnte — rief er Oswald's Namen. Ein
paar Augenblicke ſpäter war Oswald an ſeinem Bette.
Er erſchrak, als er den Knaben erblickte, in deſſen
Geſicht dieſe eine Nacht furchtbare Verwüſtungen an¬
gerichtet hatte. Das ſchwarze Haar hing in verwor¬
renen Locken über das bleiche Geſicht, die dunklen
Augen waren tief in den Kopf geſunken und glühten
im Fieber.
„Gieb mir Waſſer!“ rief Bruno, ſobald Oswald
in ſeine Kammer trat.
„Um Gotteswillen, was iſt dies, Bruno?“ ſagte
Oswald, während der Knabe gierig von dem Waſſer,
das er ihm reichte, trank. „Warum haſt Du mich
nicht früher gerufen; ſo ſchlimm iſt der Anfall ja
noch nie geweſen.“
„Es iſt nicht der alte Schmerz,“ ſagte Bruno;
„aber es wird wieder vorübergehen; es iſt jetzt ſchon
bedeutend beſſer. Aengſtige Dich nicht, Oswald; ſieh,
wenn ich ſo liege, fühle ich es viel weniger, faſt gar
nicht; es war nur in der Nacht ſo bös; jetzt, da Du
hier biſt und die Sonne ſcheint, wird es gleich beſſer.“
„Es ſoll ſofort Jemand zu Doctor Braun reiten!“
ſagte Oswald aufſpringend.
„Nein, nein!“ bat Bruno; „thue es nicht; Du
weißt, wie fatal mir das immer iſt. Jetzt iſt über¬
dies noch Niemand im Hauſe auf; Du würdeſt Dich
vergeblich bemühen. Und dann — ich wollte Dich
um etwas bitten. Komm! ſetze Dich wieder zu mir
auf's Bett; ich fühle, daß ich nicht aufſtehen kann und
es iſt die höchſte Zeit, daß der Brief in Helenen's
Hände kommt.“
Oswald glaubte, Bruno delirire; er faßte unwill¬
kürlich nach des Knaben Puls.
Bruno lächelte. Es war ein ſchwermüthiges Lächeln.
„Nein, nein!“ ſagte er, „fürchte nichts, ich bin
noch vollkommen bei Sinnen. Höre ſelbſt, ob Alles,
was ich Dir ſagen werde, nicht ausgezeichnet zuſam¬
men paßt.“
Bruno erinnerte nun Oswald, wie er vom Anfang
an behauptet habe, Felix ſei gekommen, ſich mit He¬
[187] lene zu verloben. Bis geſtern habe er allerdings
keinen unumſtößlichen Beweis dafür gehabt; ſeit geſtern
aber ſei auch dafür geſorgt. Er erzählte nun weiter,
wie er am Nachmittage (es war ein Mittwoch) die
alte Kapelle im Garten, ſeinen Lieblingsplatz, wo er
am ungeſtörteſten ſeinen Grillen nachhängen konnte,
aufgeſucht habe, und durch Stimmen in ſeiner Nähe
aus dem Schlaf, in welchen ihn der ſchwüle Tag ver¬
ſetzt, aufgeweckt worden ſei; wie er nothgedrungen
das Geſpräch zwiſchen der Tante und Felix habe be¬
lauſchen müſſen, wie er, als ſie fortgegangen, an der
Stelle, wo die Baronin geſeſſen, den Brief Helenen's
gefunden habe. Wie es ihm geſtern nicht möglich ge¬
weſen, Helenen den Brief zuzuſtellen, wie er den
Plan gehabt, ihr denſelben in der Nacht, wenn ſie
wie gewöhnlich bei offenem Fenſter ſpiele, mit ein
paar Zeilen, worin er ihr ſagte, wo und wann er
den Brief gefunden, in ihr Zimmer zu werfen. Wie
er ſie nicht habe erſchrecken wollen und gewartet habe,
bis ſie an's Fenſter treten würde, es zu ſchließen,
um ihr mit ein paar Worten zu ſagen, um was es
ſich handle; wie er von Felix überraſcht ſei und wie
es ihm leid thue, daß er den Elenden nicht vollends
erwürgt habe, wie er es verdiene.
Man kann ſich den Eindruck vorſtellen, den die
[188] leidenſchaftlichen und doch ſo klaren, ſo überzeugenden
Worte Bruno's auf Oswald machten. Morgen ſchon
ſollte das Entſetzliche geſchehen; allem Anſchein nach
ahnte ſie nichts davon. Man wollte ſie durch Ueber¬
raſchung zwingen; ihr ein Wort abnöthigen, daß ſie
hernach zurückzunehmen zu ſtolz ſein würde. Und
welche Bewandtniß hatte es mit dieſem Brief, von
dem Bruno und Oswald nur die Aufſchrift kannten,
der mit Helenen's Petſchaft zugeſiegelt geweſen war
und den die Baronin doch offenbar verloren hatte.
Daß hier Verrath im Spiele ſei, daß dieſer Brief
den Zwecken der Baronin hatte dienen müſſen, daß
es nothwendig ſei, dieſen Brief wieder in Helenen's
Hände gelangen zu laſſen, damit ſie erfuhr, welcher
Waffen man ſich gegen ſie bediene, und ſie dieſe
Waffen in dem nöthigen Augenblick, der morgen ſchon
eintreten mußte, gegen ihre Gegner richten könne —
das Alles war natürlich auch Oswald ſofort klar,
und nur über den einzuſchlagenden Weg konnten ſie
ſich anfänglich nicht einigen. Bruno wollte, daß Os¬
wald Helenen nicht nur den Brief gebe, ſondern ihr
auch den Inhalt des Geſprächs zwiſchen der Baronin
und Felix mittheile. Oswald erklärte, daß das Letztere
ſchlechterdings unmöglich ſei; Bruno, in ſeiner Eigen¬
ſchaft als Verwandter und als erklärter Günſtling
[189] Helenen's, dürfe ſich ſchon eher eine ſolche Indiscre¬
tion erlauben, ihm, dem Fremden verbiete die Schick¬
lichkeit jede Anſpielung auf ſo delicate Verhältniſſe.
„Aber,“ rief Bruno; „ich denke, Du biſt ihr
Freund; ich denke, Du haſt ſie lieb! Wie kannſt Du
Dich denn durch ſolche Bedenken, ob dies oder das
auch nach den Regeln des Complimentirbuches erlaubt
ſei oder nicht, abhalten laſſen, wenn es ſich um das
Wohl oder Wehe ihres ganzen Lebens handelt. Denke,
wenn man ihr durch Ueberraſchung das Ja abpreßt;
ich würde verrückt, ich ertrüge es nicht —“
„Und dennoch, Bruno, ich muß über dieſen Punkt
ſchweigen; ich kann darüber nicht reden — ich nicht.“
„Weshalb Du nicht?“
„Weil — ich ſagte Dir ja ſchon, weil ich ein
Fremder bin; weil ſie mir ſagen könnte, ſagen würde:
mein Herr, was geht dies Alles Sie an? Den Brief
will ich ihr geben; es iſt ihr Eigenthum; ſie kann
verlangen, daß der Finder es ihr ſobald wie möglich
wieder zuſtellt — und bedenke doch, Bruno, dies ein¬
zige Factum ſpricht ja ganze Bände. Sie wird dann
wiſſen, weſſen ſie ſich von jener Seite zu verſehen
hat, und der Angriff trifft ſie auf ihrer Hut.“
„So willſt Du ihr den Brief geben?“
„Das will ich und zwar ſofort. Ich denke, Helene
[190] wird heute wie gewöhnlich ihre Morgenpromenade
machen. Aber wie ſteht es mit Dir?“
„Beſſer, viel beſſer;“ ſagte Bruno, der von den
heftigſten Schmerzen gefoltert wurde, aber fürchtete,
daß Oswald in der Sorge um ihn die einzige Ge¬
legenheit, Helenen zu ſehen und zu ſprechen, verſäu¬
men könnte; „viel beſſer! wenn ich die Hand ſo in
die Seite drücke, fühle ich beinahe gar nichts. Mache
nur, daß Du in den Garten kommſt, und höre! grüß
ſie von mir und ſage ihr nicht, daß ich krank bin,
nur ein wenig unwohl — ich bin ja auch eigentlich
nicht krank —“
Der Knabe ſank auf ſein Lager zurück und gab
ſich Mühe, Oswald freundlich anzulächeln. Aber es
war ein ſchmerzliches Lächeln trotz alledem und als
die Thür ſich hinter Oswald geſchloſſen hatte, verbarg
Bruno ſein Geſicht in den Kiſſen, um das dumpfe
Stöhnen zu erſticken, das ihm die Qualen ſeiner
Seele ebenſo auspreßten, als die Schmerzen ſeines
Körpers.
Elftes Kapitel.
Oswald hatte vergeblich über die Stunde hinaus,
in welcher Helene in dem Garten zu erſcheinen pflegte,
gewartet. Gerade heute kam ſie nicht. Er ging
mehrmals an ihrem Fenſter vorüber, ohne ſie zu
ſehen. Er kehrte endlich, da es im Hauſe lebhafter
zu werden begann, zu Bruno zurück, der ihn mit der
größten Ungeduld erwartete. Bruno war außer ſich,
daß dieſer Verſuch mislungen war; Oswald ſuchte
ihn zu beruhigen, indem er hervorhob, wie aller
Wahrſcheinlichkeit nach die Baronin und Felix die
Durchführung ihres Planes bis auf den letzten Au¬
genblick verſchieben würden, es alſo auch morgen früh
noch immer Zeit ſein würde, den Brief in Helenen's
Hände gelangen zu laſſen.
„Und jetzt,“ ſagte Oswald, „muß ich Anſtalten
treffen, daß nach dem Doctor geſchickt wird, denn dieſe
Ungewißheit über Deinen Zuſtand iſt unerträglich.“
Leider ſollten Oswald's Bemühungen ohne Erfolg
bleiben. Der Bediente, welcher ihm die Antwort
der Baronin, „es werde im Laufe des Vormittags ſo
wie ſo ein Wagen in die Stadt fahren,“ überbringen
ſollte, hatte nicht gewagt ihm dieſe Beſtellung zu
machen, ſondern geſagt: es ſolle ſogleich ein Bote
hingeſchickt werden. So vertröſtete er ſich bis gegen
Mittag. Da kam der alte Baron, ſich perſönlich nach
Bruno's Zuſtand zu erkundigen. Er ſagte: ſo viel er
wiſſe, ſei noch gar nicht in die Stadt geſchickt; er
wolle indeſſen ſogleich dafür ſorgen. Der alte Herr
war ordentlich böſe geworden über dieſe „unverzeihliche
Saumſeligkeit;“ Oswald glaubte jetzt beſtimmt, daß
man ſich beeilen werde, das Verſäumte nachzuholen.
Indeſſen verging Stunde auf Stunde, der Abend
brach herein, und noch immer wollte ſich kein Dr.
Braun blicken laſſen. Er ging ſelbſt hinunter, ſich zu
erkundigen, was denn nun geſchehen ſei? Der Wa¬
gen, der gegen Mittag in die Stadt gefahren war,
war eben zurückgekommen; auch hatte der mit der
Beſtellung Beauftragte dieſelbe ausgerichtet, „aber der
Herr Doctor ſind auf vierundzwanzig Stunden ver¬
reiſt, und das Mädchen ſagte: ſie ſolle alle, die kä¬
men, an Dr. Balthaſar (den Collegen Braun's) wei¬
ſen. Nun wußte ich aber nicht, ob ich dahin gehen
[193] ſollte.“ Oswald gerieth in Zorn über dieſe aberma¬
lige Verzögerung. Er begab ſich ſofort zum Baron,
den er bei der übrigen Geſellſchaft im Garten fand;
ſagte ihm, was vorgefallen ſei und bat um die Er¬
laubniß, ſelbſt in die Stadt reiten zu dürfen, damit
endlich einmal etwas in dieſer Sache geſchehe.
„Ich verlaſſe Bruno ungern,“ ſagte er, „aber ich
ſehe kein anderes Mittel.“
„Die Krankheit wird ja ſo gefährlich nicht ſein,“
ſagte Anna-Maria.
„Das zu beurtheilen vermag ich ſo wenig, wie
Sie;“ erwiederte Oswald ſcharf; „mir erſcheint Bru¬
no's Zuſtand bedenklich und ich halte es für meine
Pflicht, dieſe meine Anſicht zur Geltung zu bringen,
bis ich von Jemand, der ein Urtheil darüber hat, eines
Andern belehrt werde.“
„Kommen Sie!“ ſagte der alte Baron; „wir
wollen den Jochen fortſchicken. Sie brauchen nicht
von Bruno zu gehen. Jochen iſt ein verſtändiger
Menſch; man kann ſich auf ihn verlaſſen.“
Oswald machte der Geſellſchaft eine ſehr förmliche
Verbeugung und entfernte ſich mit dem Baron.
„Es iſt hübſch, wenn ein junger Mann ein ſo ſiche¬
res, feſtes Auftreten hat,“ ſagte Paſtor Jäger ironiſch.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 13[194]
„Der Apoll von Belvedere!“ ſagte Primula, man
wußte nicht recht, ob ebenfalls ironiſch oder in einem
Anfall poetiſcher Extaſe.
„Ich denke, Seine Hoheit wird nächſtens von dem
Piedeſtal herabſteigen,“ ſagte Felix.
„Die geſtrengen Herren regieren bekanntlich nicht
lange,“ ſagte die Baronin mit einem bedeutungsvollen
Blick nach dem Paſtor, welchen dieſer mit einem
ſchlauen Zwickern ſeines rechten Auges über das runde
Brillenglas ſofort beantwortete.
„Bruno fehlt auch alle Tage etwas Anderes,“
ſagte Malte, ſich Zucker über ſeine Erdbeeren
ſtreuend.
Helene ſagte nichts. Sie ſaß da, den Blick feſt
auf die Erde geheftet. Jetzt ſtand ſie auf und
ging, ohne ein Wort zu ſagen aus der Laube, dem
Schloſſe zu.
„Du kommſt doch wieder, Helene?“ rief ihr die
Mutter nach.
„Ich glaube kaum,“ antwortete Helene ſich um¬
wendend; „es wird mir etwas zu kühl hier draußen.“
Sie ſetzte ihren Weg fort. Die Baronin und Felix
warfen ſich einen vielſagenden Blick zu.
Der in die Stadt geſchickte Jochen war in der
gehörigen Zeit zurück, um zu melden, daß er Dr. Bal¬
[195] thaſar nicht getroffen habe. Derſelbe ſei auf ein ent¬
ferntes Gut gefahren, wo ſich ein Mann den Arm
gebrochen. Man wolle ihm indeſſen, ſobald er zurück
komme, was wohl vor Einbruch der Nacht nicht ge¬
ſchehen werde, die Beſtellung ausrichten, und zweifle
nicht, daß er derſelben Folge leiſten werde, wenn er
ſelbſt nicht zu angegriffen ſei.
Dabei mußte ſich denn alſo Oswald beruhigen, ſo
gut er es vermochte. Bruno's Zuſtand war ſo ziem¬
lich derſelbe geblieben. Die Schmerzen hatten viel¬
leicht etwas nachgelaſſen, aber ſich über eine größere
Fläche verbreitet. Er gab ſich die größte Mühe,
Oswald, deſſen Angſt mit jeder Stunde wuchs, je
ſpäter es wurde, ohne daß ärztliche Hülfe erſchien,
ſeine Befürchtungen auszureden. „Es iſt nichts; es
wird morgen ſchon wieder beſſer ſein; daß der Brief
noch immer in unſeren Händen iſt, macht mir viel
größere Sorge, als meine Krankheit. Könnteſt Du
nicht einen Verſuch machen, Oswald, ihn, wie ich es
geſtern wollte, durchs Fenſter in ihr Zimmer zu wer¬
fen? Wenn Dir Felix begegnet, ſag' ihm nur: er
ſolle an geſtern Nacht denken, dann wird er ſich ſchon
aus dem Staube machen; oder beſſer, ſage nichts,
und thu', was ich leider nicht gethan habe, erwürge
ihn auf der Stelle.“
Endlich, als Oswald die Hoffnung ſchon beinahe
aufgegeben hatte, kam Dr. Balthaſar. Es war ein
alter Mann, den die vielen Geſchäfte des Tages ver¬
drießlich gemacht hatten und der etwas von „Lappa¬
lien, derentwegen man die Leute um ihre Ruhe bringe,“
durch die Zähne murmelte. Er unterſuchte Burno
kaum, ſagte: es würde ſich ſchon von ſelbſt geben,
übrigens wolle er morgen wieder kommen und eine
Einreibung mitbringen.
„Nun ſind wir auch noch ſo klug, wie vorher,“
ſagte Oswald, als der Doctor wieder fort war.
„Ich ſagte Dir ja gleich, es hat nichts zu bedeu¬
ten. Leg' Dich ſchlafen, Oswald! Du brauchſt es eben
ſo nöthig, wie ich.“
Indeſſen, die Beiden fanden nicht viel Ruhe in
dieſer Nacht. Oswald hatte ſein Sopha neben Bruno's
Bett ſtellen laſſen, und blieb angekleidet, um jeden
Augenblick bereit zu ſein. Bruno's Zuſtand blieb der¬
ſelbe, nur daß ſeine Unruhe immer größer wurde, und
er in immer kürzeren Zwiſchenräumen zu trinken ver¬
langte. Gegen Morgen war Oswald eingeſchlafen;
Bruno weckte ihn, als die Sonne eine Stunde über
dem Horizont war.
„Oswald, ich kann Dich nicht länger ſchlafen
laſſen, ſo leid es mir thut. Du mußt in den Garten,
[197] es iſt die höchſte Zeit. Wenn Du Helene auch heute
nicht triffſt, ſo ſtehe ich auf und gehe zu ihr, und
wenn ich darüber ſterben ſollte.“
„Wie geht es Dir?“
„Beſſer.“
„Das ſagſt Du ſtets.“
„Mache nur, daß Du fort kommſt.“
Oswald ging in den Garten und ſuchte die Wall¬
promenade auf, wo er nun ſchon ſo manchen Morgen
mit nicht leichtem Herzen dem ſchönen Mädchen be¬
gegnet war. Aber ſo ſchwer wie heute war ihm das
Herz nie geweſen. Bruno's Krankheit, die jetzt herein
drohende Kataſtrophe in dem Familiendrama, deſſen
Entwicklung er mit ſo ſchmerzlichem Intereſſe verfolgt
hatte, und in welchem er jetzt die zweideutige Rolle
eines Zwiſchenträgers zu ſpielen verdammt war —
das Alles laſtete auf ſeiner Seele und machte, daß er
von dem wonnigen Morgen nichts empfand, nichts bei
dem warmen Sonnenſchein und den bläulichen Morgen¬
ſchatten, nichts bei dem Duft der unzähligen Blumen,
nichts bei dem Schwirren und Tanzen der Myriaden
von Inſecten, nichts bei dem Jubiliren der Vögel
in den Bäumen. Konnten ihm die Blumen ſeinen
Liebling wieder geſund machen? konnten ihm die Vö¬
gel Helenen herbeiſingen?
[198]
Doch da! da ſchimmerte ihr Kleid zwiſchen den
Bäumen des Walles herüber. Das mußte ſie ſein.
Sie ſchritt raſcher vorwärts, ſobald ſie ihn bemerkt
hatte — es ſchien ihr ſelbſt daran gelegen, ihn zu
ſprechen.
„Gott ſei Dank, daß Sie kommen,“ rief ſie ihm
ſchon von weitem entgegen; „ich habe faſt die ganze
Nacht vor Sorge und Angſt nicht geſchlafen. Es
geht gut — nicht wahr? Sie würden ihn ja auch
ſonſt nicht verlaſſen haben?“
„Es geht beſſer, wenigſtens ſagt Bruno ſo; aber
ich fürchte, nichts weniger als gut. Sie wiſſen, er
iſt ein Held, auch im Ertragen von Schmerzen.“
„Ja, das iſt er!“ ſagte Helene; „ich liebe ihn wie
meinen Bruder; nein! viel, viel mehr, wie meinen
Bruder. Der Gedanke, ihn zu verlieren, iſt für mich
entſetzlich. Sie glauben nicht, wie ich mich ſeinet¬
halben quäle.“
„Gewiß nicht mehr, als er ſich Ihrethalben;“
ſagte Oswald.
„Wie das?“ fragte Helene, ihre großen Augen
forſchend auf Oswald's Geſicht heftend.
„Ich will nicht durch eine lange Einleitung die
koſtbaren Augenblicke, in denen ich ungeſtört mit Ihnen
ſprechen kann, verlieren;“ ſagte Oswald. Dieſen Brief
[199] hier, deſſen Aufſchrift von Ihrer Hand iſt, der Ihnen
alſo ohne Zweifel gehört, hat Bruno vorgeſtern Abend
gefunden, an der Kapelle, unmittelbar nach einer Un¬
terredung, welche die Baronin mit Baron Felix über
Familienangelegenheiten auf derſelben Stelle gehabt
hatte, und die Bruno, der ſich zufällig in der Kapelle
befand, mit anzuhören nicht umhin konnte. Er hat
mich gebeten, Ihnen Ihr Eigenthum wieder zuzuſtellen.
Ich brauche Ihnen nicht zu ſagen, daß es von dem
Augenblick an, wo es in Bruno's Hände gelangte,
heilig gehalten worden iſt.“
Helenen's Verwirrung war mit jedem Worte, das
Oswald ſprach, größer geworden. Purpurgluth wechſelte
auf ihrem ſchönen Angeſicht mit einer geiſterhaften
Bläſſe. Ihr Buſen wogte; ihre Hand zitterte, als
ſie den Brief, den ihr der junge Mann überreichte,
und auf den ſie nur einen Blick zu werfen brauchte,
um ihn als denſelben zu erkennen, den ſie geſtern
Morgen an Mary Burton geſchrieben hatte, entgegen¬
nahm. Entſetzen über den ſchwarzen Verrath, den
man an ihr geübt; jungfräuliche Scham, ihre inner¬
ſten geheimſten Gedanken ſchonungslos profanirt zu
ſehen; der Unwille, daß Jemand, er ſei wer er ſei,
erfahren habe, wie ſie von den Ihrigen, von ihrer
eigenen Mutter ſchmachvoll behandelt worden ſei —
[200] Alles ſtürmte auf ſie ein, wie ein Orkan, der ſelbſt
ihre Kraft zu überwältigen drohte.
Und dies letzte Gefühl des beleidigten Stolzes fand
zuerſt einen Ausdruck.
„Ich danke Ihnen;“ ſagte ſie, ſich zu ihrer gan¬
zen ſtattlichen Höhe emporrichtend, „für Ihren Eifer,
mir zu dienen. Indeſſen, Sie und Bruno haben der
Sache, wie es ſcheint, ein viel größeres Gewicht bei¬
gelegt, als ſie in der That verdient. Ich habe dieſen
Brief, weil Einiges darin ſtand, was ich nach reiflicher
Ueberlegung nicht gutheißen konnte, gefliſſentlich nicht
abgehen laſſen; ich werde ihn aus der Taſche verloren
haben. Ich erinnere mich, daß ich geſtern Abend in
der Nähe der Kapelle war; ich —“
Weiter konnte ſie nicht ſprechen; die Thränen, die
ſie ſo lange zurückgehalten, brachen gewaltſam hervor,
und rollten über ihre Wangen. Sie wandte ſich ab,
als ſie fühlte, daß ſie ſich nicht beherrſchen konnte,
und winkte Oswald mit der Hand, ſie allein zu laſſen.
Oswald war vielleicht nicht weniger außer ſich,
als Helene. All ſeine Liebe zu dem ſchönen, ſtolzen
Mädchen, für das er ſo freudig ſein Leben hingegeben
hätte und von dem er jetzt ſo verkannt zu werden
fürchten mußte, wogte wie ein ſiedend heißer Quell
in ihm empor, und erfüllte ſeine Bruſt bis zum Zer¬
[201] ſpringen. Er hätte ihr zu Füßen ſtürzen, ihr Alles,
Alles, was er ſo lange vor ihr verborgen, geſtehen
mögen; aber er bezwang ſich mit einer übernatür¬
lichen Anſtrengung und ſagte ſo ruhig als er ver¬
mochte:
„Ich verſichere Sie, mein Fräulein, daß dieſe
Scene Ihnen kaum peinlicher ſein kann, wie mir
ſelbſt, und daß ich dieſelbe um keinen Preis herbei¬
geführt haben würde, wenn mir Bruno's fieberhafte
Ungeduld, die ich durch eine Weigerung zu ſteigern
fürchten mußte, eine Wahl gelaſſen hätte. Es iſt mir
ſchmerzlich, ſehr ſchmerzlich, von Ihnen verkannt zu
werden; ich ahnte es gleich, daß es Ihnen unmöglich
ſein würde, den Boten von ſeiner Botſchaft zu trennen.“
Er verbeugte ſich vor dem noch immer weinenden
Mädchen, und wandte ſich, zu gehen.
„Nein, nein!“ rief ſie, wie, um ihn zurückzuhalten,
die Hand nach ihm ausſtreckend; „Sie dürfen ſo nicht
gehen. Mögen es Die verantworten, die mich zum
Aeußerſten getrieben haben, wenn ich die Ehre meiner
Familie, die Ehre der Meinigen preisgeben muß. Ja,
Sie haben mir einen Dienſt geleiſtet, einen großen
Dienſt. Dieſer Brief iſt nur durch Verrath in die
Hände Derer gekommen, die ihren Raub ſo ſchlecht
zu bewahren verſtanden. Dieſer Brief trennt mich
[202] auf immer von den Meinigen; er ſoll mich nicht auch
von Bruno trennen, den ich ſo herzlich liebe, von
Ihnen, der Sie ſtets ſo gut und freundlich zu mir
geweſen ſind. Ich habe Sie immer für meinen
Freund gehalten, Sie immer hoch geſchätzt und geehrt
— wie hoch, das möge Ihnen dieſer Brief ſelbſt be¬
weiſen. Leſen Sie ihn! Wenn alle Welt weiß, wie
ich über Sie denke, ſo dürfen Sie es am Ende ja
auch wol wiſſen.“
Und das junge Mädchen reichte Oswald den Brief
hin. Ihr Antlitz glühte, aber nicht mehr vor Zorn
oder Scham. Ihre dunkeln Augen leuchteten, aber
wie einer Heldin, die ſich für eine heilige Sache zu
opfern im Begriff ſteht.
„Leſen Sie nur! ſagte ſie mit einem eigenthüm¬
lichen Lächeln, als Oswald ſie ungläubig anſtarrte;
„fürchten Sie nicht, daß es mich hinterher reuen
wird. Ich weiß, daß Ihr Herz einer Andern gehört,
die ſeit geſtern wieder in unſerer Nähe iſt. Bruno,
der Alles weiß, hat es mir verrathen. Ich will von
Ihnen nichts, als was ich ſchon habe — Ihre Freund¬
ſchaft. Leſen Sie den Brief, und wenn Sie ihn ge¬
leſen haben, verbrennen Sie ihn in Gottes Namen.“
Ehe Oswald ſich von ſeinem grenzenloſen Erſtau¬
nen über dieſe wunderbare Rede nur ſo weit erholen
[203] konnte, ein einziges Wort über die Lippen zu bringen,
war das junge Mädchen ſchon die Treppe, die von
dieſer Stelle in den Garten führte, hinab und eilte
durch die blumenreichen Beete dem Schloſſe zu.
„Was iſt das?“ ſagte Oswald bebend; „narrt
mich denn ein Traum? Melitta zurück? und jetzt
zurück — gerade jetzt? ha, ha, ha!“
Es war ein ſchauerliches Lachen. Oswald ſah
ſich erſchrocken um, ob ein Andrer gelacht habe, ein
ſchadenfroher Dämon, der ſich an ſeiner Qual weidete.
Er hielt den Brief noch immer in ſeiner Hand.
Es war ihm, als ob er erſt, wenn er dieſen Brief
leſe, Melitta ganz verlieren, erſt jetzt das letzte Band,
das ihn an Melitta feſſelte, zerreißen würde. Für
einen Augenblick erſchien ihm Helene wie eine ſchöne
Teufelin, die an ihn herangetreten ſei, ihn zu ver¬
ſuchen . . . Wenn er dieſen Brief ungeleſen ver¬
brannte? konnte dann nicht Alles gut werden? Konnte
ihm Melitta nicht doch erhalten bleiben? . . .
Und indem er ſo dachte, hatte er den Brief ent¬
faltet und ihn zu leſen begonnen . . .
Er war mit der Lectüre zu Ende . . . er ſaß,
den Kopf in die Hand geſtützt in der Ecke der Bank,
auf die er ſich, ohne zu wiſſen, was er that, geſetzt
hatte . . . Vor ihm auf dem Erdboden ſpielten die
[204] Lichter mit den Schatten; in den dichten Laubkronen
über ihm flüſterte der Morgenwind und ſangen die
Vögel — in dem Garten unten wiegten ſich bunte
Schmetterlinge über den Blumenwäldern der Beete
. . . er ſah das Alles, er hörte das Alles, aber er
empfand nichts dabei, nichts als das Eine, daß,
wenn es ein Paradies auf Erden für ihn gegeben
hatte, er jetzt auf immerdar daraus vertrieben ſei.
Zwölftes Kapitel.
Es war einige Stunden ſpäter. Die Baronin
ſaß in ihrem Zimmer auf ihrem gewöhnlichen Platze
in der Nähe der geöffneten Fenſterthür. Sie hatte
eine Stickerei auf dem Schooße; aber ihre Hände
waren müßig; nur, wenn ſich Schritte der Thür, die
nach dem Flure führten, näherten, nahm ſie ſchnell
die Arbeit auf, und nähte ein paar Stiche, um ſie,
ſobald der Schritt vorüber war, wieder in den Schooß
ſinken zu laſſen. Das wiederholte ſich mehrmals,
denn es war heute ein ſehr lebhaftes Treiben im
Schloſſe. Die Vorrichtungen zu dem Ball heute
Abend, hielt Alles in Athem, und machte es der
wirthſchaftlichen Baronin ſehr ſchwer, hier ſo müßig
zu ſitzen, während ihre Gegenwart in Küche und Spei¬
ſekammer ſo nöthig war. Aber ſie hatte Fräulein
Helene bitten laſſen, wenn ſie mit ihrem Klavierſpiel
[206] fertig ſei, zu ihr zu kommen, und Helene ſollte ſie
ruhig, gelaſſen, zu einem freundſchaftlich ernſten Ge¬
ſpräch aufgelegt finden.
Aeußerlich wenigſtens. In ihrem Herzen freilich
ſah es anders aus. Zwar die Sorge um den Brief
ſchien ſich als unnöthig erwieſen zu haben. Offenbar
war er noch nicht wieder in Helenen's Hände gelangt
und das war für den Augenblick die Hauptſache. So
konnte man doch alle Pfeile, die man aus der Lec¬
türe geſammelt hatte, abſchnellen, ohne fürchten zu
müſſen, daß ſie auf den Schützen zurückſprängen.
Nichtsdeſtoweniger hatte die kluge und muthige Frau
nie einer Unterredung mit irgend Jemand — und
ſie hatte doch, da die ganze Laſt der Verwaltung des
großen Vermögens faſt ganz allein auf ihren Schul¬
tern lag, manche wichtige Verhandlung zu führen ge¬
habt — ſo voller Unruhe entgegen geſehen. Sie
dachte im Allgemeinen nicht ſehr hoch von den Men¬
ſchen und berechnete den Werth der Einzelnen nach
der Höhe des Preiſes, für welchen ſie ihre ſogenannten
Ueberzeugungen aufzugeben bereit waren. Denn daß
ſich Jeder kaufen laſſe, wenn er nur den rechten
Käufer finde, war bei der Baronin, wie bei Vielen,
bei Allen, die dem Gott Mammon von ganzem Herzen,
von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe dienen,
[207] ein Grundſatz, der nicht weiter bewieſen zu werden
brauchte.
Sie hätte ihre Tochter ſo gern unter die allge¬
meine Regel gebracht, von der ſie ſelbſt eine Aus¬
nahme zu machen keineswegs beanſpruchte, aber es
war unmöglich. Eine geheime Stimme, die ſie nicht
zum Schweigen bringen konnte, ſagte ihr: Helenen iſt
ihre Seele nicht um dreißig Silberlinge feil, nicht
um eben ſo viele Millionen, um keinen Preis der
Welt. Eine andere Mutter würde dieſer Gedanke
mit Entzücken erfüllt, ſie würde in ihrer Tochter ihr
beſſeres Selbſt verehrt, ihr Ideal angebetet und hei¬
lig gehalten haben. Die Baronin wußte nichts von
einer ſolchen Schwärmerei. Der Genius, der auf
der ſtolzen Stirn ihrer Tochter thronte, der aus ihren
dunkeln Augen ſo groß, ſo edel hervorſchaute — er
war ihr fremd, unheimlich, feindlich — ſie hatte nichts
mit ihm zu ſchaffen. Helene war das Kind ihres
Geiſtes, aber nicht ihres Herzens. Helene hatte das
weiche Gemüth, den braven, rechtlichen Sinn des Va¬
ters geerbt, — dieſelben Eigenſchaften, welche die
Baronin im Grunde an ihrem Gemahl fortwährend
bekämpfte. — Daß ſie nun außerdem noch den ſcharfen
Verſtand der Mutter hatte, daß ſie die Heiligthümer
ihres Herzens mit der blanken Waffe des Geiſtes
[208] ſchirmen, daß ſie die blanke Geiſteswaffe niemals in
einer unedlen Sache entweihen konnte, — gerade das
mußte ihr Weſen für ein edles Gemüth ſo hinreißend,
mußte es einem unedlen ſo verhaßt machen.
Aber die Baronin gab ſich, wie geſagt, in dieſem
Augenblicke alle Mühe in einer verſöhnlichen, fried¬
lichen, freundſchaftlichen Stimmung zu ſein. Sie ge¬
rieth bei dieſem Verſuch ſogar in eine Art von lar¬
moyanter Stimmung. Vielleicht hoffte ſie, daß Thrä¬
nen, Alles in Allem, doch das beſte Mittel ſeien, das
edele Herz der Tochter zu rühren und ſie für die
ſelbſtiſchen Zwecke der Mutter zu gewinnen.
Da klopfte es an die Thür. Die Baronin griff
ſchnell nach ihrer Arbeit. Auf ihr herein! trat Helene
in das Zimmer. Die etwas kurzſichtige Baronin be¬
merkte nicht gleich, daß das edelſtolze Antlitz des jun¬
gen Mädchens ſehr bleich war, aber nicht von jener
krankhaften Farbe, wie ſie die Feigheit auf die Wan¬
gen malt, ſondern von jener Marmorbläſſe, die ſich
ſehr wohl mit Augen verträgt, aus denen eine he¬
roiſche Seele leuchtet.
„Es thut mir leid, liebe Tochter,“ ſagte die Ba¬
ronin, „daß ich Dich heute in Deinem Morgenfleiße
ſtören muß. Ich habe Dich rufen laſſen, um über
eine Sache von der äußerſten Wichtigkeit recht ruhig,
[209] recht freundſchaftlich mit Dir zu ſprechen. Aber ſetze
Dich doch! dort, mir gegenüber auf den Stuhl, in
welchem Dein Vater zu ſitzen pflegt.“
„Ich danke,“ ſagte Helene ſtehen bleibend.
Der abgemeſſene, faſt kurze Ton in welchem das
junge Mädchen dieſe beiden Worte ausſprach, machte
die Baronin von ihrer Arbeit in die Höhe blicken.
Sie bemerkte jetzt zum erſten Male die blaſſen
Wangen ihrer Tochter, und ihre eigenen Wangen ent¬
färbten ſich.
„Du fühlſt Dich doch nicht unwohl?“ ſagte ſie,
und ihre Stimme war weniger feſt, wie ſonſt. „In
dieſem Falle wollen wir unſere Unterredung auf eine
gelegenere Zeit verſchieben. Du wirſt ſo ſchon für
heute Abend Deine Kräfte nöthig haben.“
„Ich fühle mich vollkommen wohl,“ erwiederte
das junge Mädchen; „ich ſtand ſogar eben ſelbſt in
Begriff, Dich um eine Unterredung bitten zu laſſen,
da auch ich Dir Einiges von Wichtigkeit mitzuthei¬
len habe.“
„Du mir?“ ſagte die Baronin, ihre großen, tief
liegenden Augen ſpührend auf das bleiche Antlitz ihrer
Tochter heftend. „Du mir? was kann das ſein? laß
doch hören?“
„Es iſt dies!“ ſagte Helene. „Ich fand vorgeſtern
Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief —“
Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen
einen Blick zu, in welchem Beſtürzung, Zorn, Furcht
und Trotz auf eine ſeltſame Weiſe gemiſcht war.
„Einen Brief,“ fuhr Helene fort, „den ich vor¬
geſtern Morgen geſchrieben und Luiſen zur Beſorgung
übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich
ihn Luiſen gab, verſiegelt, als ich ihn wiederfand, war
er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luiſe, die
mir überdies zugethan ſcheint, ein ſolches Intereſſe an
meiner Correſpondenz nimmt, um ſich auf die Gefahr
hin, ihren Dienſt zu verlieren, eines ſolchen Verge¬
hens ſchuldig zu machen, muß alſo annehmen, daß
irgend Jemand ſonſt im Schloß es der Mühe werth
hält, meinen Geheimniſſen nachzuſpüren. Nun war
es meine Abſicht, zu fragen, was Du mir in dieſer
Sache zu thun räthſt.“
Die Baronin hatte, während Helene ſprach,
ſehr eifrig genäht. Jetzt blickte ſie wieder auf und
ſagte:
„An wen war der Brief!“
„An Mary Burton.“
„Haſt Du Dich in dem Briefe frei geäußert?“
„Wie man an eine Freundin eben ſchreibt.“
[211]
„Standen Sachen darin, von denen Du nicht gerne
möchteſt, daß ſie Anderen zu Geſicht kämen?“
„Allerdings.“
„Auch nicht Deinen Eltern?“
Helene ſchwieg.
„Auch nicht Deinen Eltern?“
„Ja.“
„Zum Beiſpiel, daß Deine Eltern für Dich todt
ſind, ebenſo wie Deine übrigen Verwandten?“
„Du haſt den Brief geleſen?“
„Wie Du ſiehſt.“
„So habe ich nichts weiter zu ſagen und zu
fragen.“
Helene verbeugte ſich und wandte ſich, zu gehen.
„Bleib,“ ſagte die Baronin; „wenn Du nichts
weiter zu ſagen haſt, ſo habe ich noch mehre Fragen
an Dich zu richten, die Du mir gütigſt beantworten
wirſt. Was den Brief betrifft, ſo beruhige Dich.
Wenn Eltern ihren Kindern die Erlaubniß geben, frei
zu correſpondiren, thun ſie's in der Erwartung, daß
die Kinder dieſer Erlaubniß würdig ſind. Sehen
ſie ſich in dieſer Erwartung betrogen, nehmen ſie ihre
Erlaubniß zurück. Darin liegt nichts Außerordentli¬
liches. Das aber iſt außerordentlich, wenn ein Kind,
das von ſeinen Eltern nur Liebe erfahren hat, ſich
14*[212] von dieſen ſeinen Eltern losſagt; das iſt außerordent¬
lich, wenn ein Kind die Stirn hat, dies zu denken,
eine Hand, es niederzuſchreiben, den Muth, dieſes
ſchriftliche Bekenntniß ihrer Armuth Andern unter die
Augen zu bringen. Was haſt Du darauf zu erwie¬
dern?“
„Nichts.“
„Und wenn nun dieſes Kind die Gefühle der Liebe,
die ſie ihren Eltern, der Zuneigung, die ſie ihren
übrigen Verwandten zum mindeſten ſchuldet, nur ver¬
leugnet, um Fremde damit zu beglücken, eine ſoge¬
nannte Freundin zum Beiſpiel, die weiter kein Ver¬
dienſt hat, als mit ihr in einer Penſion geweſen zu
ſein; einen Knaben, der aus Gnade und Barmherzig¬
keit in dem Hauſe ihrer Eltern aufgenommen wurde;
einen bezahlten Diener ihrer Eltern — ja wol, mein
Fräulein! einen bezahlten Diener, mit dem die Eltern
nebenbei im höchſten Grade unzufrieden ſind — was
haſt Du darauf zu erwiedern?“
„Nichts.“
„Und wenn nun Deine Eltern Dir doch verzeihen;
wenn Deine Verwandten, obgleich Du es nicht ver¬
dienſt, Dir ihre Liebe dennoch nicht entziehen wollen;
wenn Du ſiehſt, daß Eltern and Verwandte ſich die
Hand reichen, mit vereinten Kräften Dich, die ſchon
[213] mehr als halb verloren iſt, zu retten; wenn Deine
Eltern Dir in der Perſon eines Gemals einen Freund
und Beſchützer geben wollen, der Dich in Zukunft
vor ſolchen Thorheiten — ich will einmal einen mil¬
den Ausdruck wählen — vor ſolchen Thorheiten, wie
Du ſie an Mary Burton geſchrieben haſt, bewahren
wird; und wenn einer Deiner liebenswürdigſten Ver¬
wandten die Güte haben will, dieſes ſchwierige Amt
eines Gatten, Freundes und Lehrers bei Dir zu über¬
nehmen, wirſt Du darauf wieder nichts zu erwiedern
haben?“
„Doch!“ ſagte Helene, die ohne eine Miene zu
verändern, bleich und ſtill dageſtanden hatte, die gro¬
ßen dunkeln Augen mit dem Ausdruck unerſchütterli¬
chen Muthes auf ihre Mutter richtend, welche bei den
letzten Worten aufgeſtanden war und ihr jetzt gegen¬
über ſtand, „doch! ich habe darauf zu erwiedern, daß
ich tauſendmal lieber ſterben, als Felix' Gattin wer¬
den will.“
Sie ſagte das ruhig, langſam, gleichſam jede Sylbe
wägend.
„Und wenn Deine Eltern es befehlen?“
„So kann ich nicht und ſo werde ich nicht gehorchen.“
„Und wenn ſie heute Abend der verſammelten Ge¬
ſellſchaft Deine Verlobung mit Felix ankündigen?“
„So werde ich der verſammelten Geſellſchaft ſa¬
gen, was ich Dir ſoeben geſagt habe.“
„Iſt das Dein wohlerwogener Entſchluß?“
„So wahr mir Gott helfe: ja!“
„Nun denn! ſo ſage ich mich von Dir los, wie
Du Dich von mir losgeſagt haſt! ſo gehe denn hin
und wirf Dich dem Bettler in die Arme! Aber nein!
noch giebt es Mittel, dieſe Schande wenigſtens vor
der Welt zu verbergen. Morgen packſt Du Deine
Sachen; übermorgen gehſt Du in die Penſion zurück.“
Ein Strahl wie von Freude brach aus Helenen's
dunkeln Augen und ein zartes Roth flog über ihre
bleichen Wangen.
„Ich gehe gern,“ ſagte ſie.
„Aber nicht nach Hamburg,“ ſagte die Baronin,
und es lag eine grauſame Ironie in Ton und Wort;
„ich habe genug von Mary Burton. Du gehſt nach
Grünwald. Ich habe ſchon an Fräulein Bär geſchrie¬
ben. Sie iſt nicht ganz ſo nachſichtig wie Madame
Bernhard, aber mit der Zeit der Güte und Nachſicht
iſt es jetzt auch vorbei. Begieb Dich auf Dein Zim¬
mer. Um ſechs Uhr wünſche ich Dich zum Ball an¬
gezogen zu ſehen. Ueberlege Dir noch einmal, was
Du thun willſt. Ich gebe Dir bis dahin Bedenkzeit.
Du kannſt gehen.“
Helene ging, ohne ein Wort zu erwiedern, nach
der Thür. Als ſie dieſelbe faſt erreicht hatte, trat
der alte Baron herein.
„Wo willſt Du hin, mein Mädchen?“ ſagte er,
die Hand freundlich nach ihr ausſtreckend.
Helene ergriff die Hand; drückte ſie an ihre Lip¬
pen und ſagte:
„Verurtheile mich nicht, Vater, ohne mich gehört
zu haben.“
Dann eilte ſie aus dem Zimmer.
„Was hat das Mädchen?“ ſagte der alte Herr;
ihr voller Erſtaunen nachſehend.
„Komm, Grenwitz,“ ſagte die Baronin, „ich habe
über eine Sache von Wichtigkeit mit Dir zu ſprechen.“
Dreizehntes Kapitel.
Die Unterredung zwiſchen der Baronin und ihrem
Gemal dauerte eine geraume Zeit, aber Anna-Maria
war heute nicht glücklich in ihren diplomatiſchen Be¬
mühungen. Eben ſo wenig wie ſie im Stande gewe¬
ſen war, den Stolz ihrer Tochter zu beugen, ver¬
mochte ſie den ſonſt ſo fügſamen Gatten diesmal zu
ihren Anſichten zu bekehren. Es iſt, eine bekannte
Erfahrung, daß ſehr nachgiebige und lenkbare Naturen
in manchen Punkten ſehr ſtarr und eigenſinnig ſein
können. Es iſt, als ob ſich der überall geſchlagene,
überliſtete, überrumpelte Wille auf dieſe Punkte, wie
in uneinnehmbare Feſtungen geworfen habe, um ſich
dort bis aufs Aeußerſte zu vertheidigen. Die Baro¬
nin hatte das in den langen Jahren ihrer Herrſchaft
ſchon mehr wie einmal erfahren. Hin und wieder
hatte ſich in dem Gatten, der ihrer höheren Einſicht
ſonſt ſo blindlings vertraute, der mit einer Art von
[217] abgöttiſcher Verehrung an ihr hing, ein Geiſt des
Widerſpruchs geregt, oft, wo ſie es am allerwenigſten
erwartete. Sie hatte durch kluge, rechtzeitige Nach¬
giebigkeit dann jedes Mal dergleichen Meinungsver¬
ſchiedenheiten zu beſeitigen gewußt, was ihr um ſo
leichter geworden war, als es ſich meiſtens um höchſt
gleichgültige Dinge handelte. Wenn ſie die Fälle, wo
dieſe „Rechthaberei“ ihres Gemals hervorgetreten war,
mit einander verglichen hätte, würde ſie bemerkt ha¬
ben, daß es ſtets der gerade Sinn, die unverwüſtliche
Gutmüthigkeit des Barons geweſen waren, die ſich
gegen eine egoiſtiſche Maßregel der Baronin in aller
Beſcheidenheit, aber großer Beſtimmtheit aufgelehnt
hatten. Wie ſehr auch der alte Herr ſeinen Verſtand
gefangen gegeben hatte, es lebte in ihm ein Etwas,
das mächtiger war, als alle Sophismen, mit denen
ihn ſeine Gattin umgarnte; ein göttlicher Funke, der
gelegentlich noch immer zur Flamme werden konnte.
Dieſes Etwas, dieſer göttliche Funke war die Liebe,
war die Fähigkeit, ſich ſelbſt über dem Andern zu
vergeſſen, ſein Glück in dem Glück Anderer zu finden.
Wo dieſe Fähigkeit noch beſteht, da iſt, und wäre das
Individuum noch ſo tief geſunken, noch Alles zu ret¬
ten; wo ſie verloren, iſt Alles verloren. Denn ein
wahreres Wort iſt nie geſprochen, als jenes Wort,
[218] welches die Liebe über alles Wiſſen und jede höchſte
Kraft des Menſchen ſetzt, und ſie die größte nennt
unter allen Tugenden.
Wie Alle, welche die Liebe im beſten Falle für
einen ſehr überflüſſigen Luxus halten, und an ſich
ſelbſt zu wenig Gelegenheit haben, dieſe wunderbare
Kraft in ihren Wirkungen zu ſtudiren, beging die
Baronin den Fehler, bei ihren Projecten dieſe Eigen¬
thümlichkeit ihres Gemals entweder gar nicht in Rech¬
nung zu bringen, oder doch viel zu gering anzu¬
ſchlagen. So war es auch in dieſem Falle geweſen.
Sie hatte nicht bedacht, daß der Baron ja am Ende
doch ſein Kind lieben und dann natürlich ihr Glück,
ihre Ruhe höher anſchlagen könnte, als alle weltlichen
Vortheile. Und nun geſchah wirklich das Unglaub¬
liche. Der alte Herr erklärte mit großer Entſchieden¬
heit, daß er die Vortheile, welche allen Betheiligten
aus einer Verbindung zwiſchen Felix und Helene er¬
wachſen könnten, durchaus zu würdigen wiſſe; daß er
ſich ſehr gefreut haben würde, wäre dieſe Verbindung
zu Stande gekommen, daß es aber ſchließlich doch die
Ruhe und das Glück Helenen's ſei, um die es ſich
handle, und daß, wenn Helene erkläre, Felix nicht
lieben zu können, die Sache damit ein für alle Mal
abgemacht ſei. Dabei blieb er, mochte Anna-Maria
[219] ſagen, was ſie wollte. Und Anna-Maria ließ es an
Worten, ja ſelbſt an Thränen nicht fehlen. Vergebens,
daß ſie Helenen's Trotz, Helenen's unkindliches Be¬
nehmen in der eben ſtattgehabten Unterredung mit
den ſchwärzeſten Farben ſchilderte, vergebens daß ſie
dem alten Mann mit dem Aeußerſten drohte, ihm
drohte, daß er nur zu wählen habe zwiſchen ſeiner
treuen Gattin und ſeiner ungehorſamen Tochter, daß
ſie in ihrem eigenen Hauſe nicht die Schmach erleben
wolle, ihr eigen Kind über ſich triumphiren zu ſehen
— der alte Herr behauptete die einmal eingenommene
Poſition mit einer zähen Hartnäckigkeit: Helene ſei
nicht ſchlecht, ſie habe ſich in ihrer Heftigkeit vergeſſen
können, aber ſie ſei nicht ſchlecht; ſie werde die Mutter
um Verzeihung bitten, wenn ſie dieſelbe beleidigt habe;
aber geſetzt, ſie ſei nicht ſo gut, wie er glaube, ge¬
ſetzt, ſie habe ſich gegen ihre Mutter vergangen, ſo
ſei das doch immer kein Grund, ſie in eine ihr ver¬
haßte Ehe zu zwingen. — Alles, was die Baronin
erlangen konnte, war, daß, wenn Helene ſich nicht
nachgiebig zeigen ſollte, ſie das elterliche Haus auf
einige Zeit verlaſſen müſſe. Der Baron willigte dar¬
ein, weil er dieſe Trennung für das beſte Mittel
hielt, Mutter und Tochter wieder zuſammen zu brin¬
gen, wenn ſich die Leidenſcheft nur erſt auf beiden
[220] Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte
nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬
ſtatt nach Hamburg ſchicke, da er ſo viel öfter Gele¬
genheit hatte, ſeine Tochter zu ſehen, und er über¬
haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬
viſorium hielt, deſſen vermuthlich ſehr kurze Dauer
die lange Reiſe nach Hamburg gar nicht verlohne. —
Anna-Maria ihrerſeits mußte ſich nothgedrungen mit
dieſem Reſultate zufrieden geben, um ſo mehr, als
ſie fürchten mußte, daß Helene, wenn man ſie zum
Aeußerſten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem
Briefe zur Sprache bringen werde. Dieſer Gedanke
hatte ſie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger
energiſch erſcheinen laſſen, als wol ſonſt ihre Gewohn¬
heit war. Das böſe Gewiſſen hatte ſie feig gemacht
und dieſe Feigheit dem Baron ſeinen Sieg weſentlich
erleichtert. Er küßte ſeine Gemahlin auf die Stirn,
wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer
Uneinigkeit ſtets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre
Bereitwilligkeit, ſich ſeinen Anſichten und Wünſchen
zu accommodiren, und ſprach die Hoffnung aus, daß
in kurzer Zeit der geſtörte Familienfrieden vollkommen
wieder hergeſtellt ſein werde.
„Es drückt mir das Herz ab, wenn ich ſehe, daß
die, welche ich am meiſten liebe auf Erden, unter ſich
[221] uneins ſind;“ ſagte der gute alte Mann und die
Thränen ſtanden ihm in den Augen. „Ich habe Gott
alle dieſe Tage gebeten, er möge mich erleuchten, daß
ich in dieſer Sache das Rechte thue, wie ich es denn
gern in allen Dingen thäte. Es thut mir weh, wenn
ich Dich gekränkt haben ſollte, liebe Anna-Maria,
denn ich weiß, zu welcher Dankbarkeit ich Dir ver¬
pflichtet bin; aber ich habe auch Pflichten gegen meine
Tochter und darf nicht zugeben, daß Du ſie mit dem
beſten Willen von der Welt unglücklich machſt. Gott
weiß, daß ich nur euer Aller Beſtes will; und nun, liebe
Anna-Maria, laß uns zu Tiſch gehen, denn, wenn
ich nicht irre, hat Johann ſchon zweimal gerufen.“
Die Baronin ſollte heute nicht zur Ruhe kommen.
Das melancholiſche Mittagsmahl, an welchem
weder Oswald, der Bruno nicht verlaſſen wollte, noch
Helene, die ſich mit Kopfſchmerzen entſchuldigen ließ,
Theil genommen hatten, war vorüber und der Baron
eben fortgegangen, um ſich mit Helenen auszuſprechen
und ſich nach Bruno's Befinden zu erkundigen. Die
Baronin war mit Felix allein geblieben und jetzt in
der äußerſt peinlichen Lage, ihm ſagen zu müſſen, daß
ihr gemeinſames Project an dem hartnäckigen Wider¬
ſtand Helenen's und der Unbeugſamkeit des Barons
geſcheitert ſei. Und das ſollte ſie eingeſtehen, ſie, die
[222] ſich ſo viel auf die unbeſchränkte Herrſchaft, welche
ſie über ihren Gemahl, über alle ihr Näherſtehenden
ausübte, zu gute that; ſie, die dieſe ganze Unterhand¬
lung nicht nur geleitet, ſondern auch den erſten Im¬
puls dazu gegeben, Felix zuerſt den Vorſchlag gemacht,
Felix die Bedingungen geſtellt hatte — Bedingungen,
denen jener zum Theil ſchon nachgekommen war! . . .
Es war eine ſchwere Aufgabe für die ſelbſtiſche,
herrſchſüchtige Frau!
Wie bereute ſie es jetzt, den Brief unterſchlagen
zu haben! Sie hatte nicht viel mehr daraus gelernt,
als was ſie nicht ſo ſchon wußte, und wie viel hatte
ſie ſich vergeben! Sie durfte jetzt nicht mit voller
Strenge gegen Helenen auftreten; durfte ihre „unkind¬
liche Geſinnung“, ihre „lächerliche Bevorzugung —
um die Sache nicht ſchlimmer zu bezeichnen — dieſes
Stein“ dem Baron gegenüber nicht zu ſehr hervor¬
heben. Sie wußte, daß er — beſonders in ſeiner
jetzigen Stimmung — einen ſolchen Vertrauensbruch
niemals ſanctioniren würde. Ja ſelbſt gegen Felix,
ihren Vertrauten, durfte ſie nicht ganz offen ſein.
Sie mußte ihm ſagen, daß ſie die Schlacht verloren
habe, und hatte nicht einmal den Troſt, ihm beweiſen
zu können, daß es nur durch einen unglücklichen Zu¬
fall geſchehen ſei.
[223]
So mußte alſo der bittre Kelch geleert werden.
Felix traute ſeinen Ohren kaum. Er, Felix von Gren¬
witz, ausgeſchlagen, zurückgewieſen, mit Verachtung
behandelt in dem einen Fall, wo er wirklich ernſte
Abſichten gehabt hatte? von einem Mädchen, das eben
aus der Penſion kam? und möglicherweiſe wem ge¬
opfert? einem obſcuren Menſchen, deſſen ganzes Ver¬
dienſt darin beſtand, beinahe wie ein Gentleman aus¬
zuſehen? Felix that, als ob der Untergang der Welt
durch dieſe Zeichen verkündet ſei. Und Helenen zu
verlieren — darüber würde ſich Felix noch zur Noth
getröſtet haben; aber auch die Ausſichten auf Bezah¬
lung ſeiner Schulden, oder genauer auf eine ſo we¬
ſentliche Erhöhung ſeines Credits — das war das
Schlimmſte, das, worüber ein Mann wie Felix nicht
ſo leicht hinwegkam. Helenen's Ausſteuer, die Summe,
welche ihm ſein Onkel vorſchießen wollte, den zu
Grunde gewirthſchafteten Gütern wieder aufzuhelfen,
— nein! ſo konnte man nicht mit ihm ſpielen wollen.
Er hatte Alles gethan, was in ſeinen Kräften ſtand,
er hatte ſeinen Abſchied genommen (nehmen müſſen,
wäre richtiger geweſen); er war von der Baronin
autoriſirt worden, vor der Geſellſchaft ſeine Bewer¬
bung um Helene nicht zu verſchweigen — jetzt war
Dienſt, Braut, Ehre — Alles verloren.
[224]
„Ich werde mir eine Kugel durch den Kopf jagen!“
rief Felix pathetiſch.
Die Baronin ſuchte den Aufgeregten zu beruhigen
und es gelang ihr, nachdem ſie ihm die feierliche Ver¬
ſicherung gegeben, daß trotz der Erfolgloſigkeit ſeiner
Bewerbung die übrigen Verabredungen nicht rückgängig
gemacht werden ſollten.
Nachdem ſie ſich über dieſen äußerſt wichtigen
Punkt geeinigt, konnten ſie mit größerer Ruhe über
einige andre ſprechen, vor allem über den eigentlichen
Grund von Helenen's Weigerung. Zu Felix' nicht
geringem Erſtaunen behauptete die Baronin heute ge¬
radezu, daß ein geheimes Liebesverhältniß zwiſchen
Oswald und Helene beſtehe. Sie wollte nicht ſagen,
was ſie veranlaßte, eine frühere Vermuthung jetzt für
Gewißheit auszugeben; aber ſie blieb bei ihrer Be¬
hauptung, bis Felix zugab, daß „die Sache freilich
lächerlich, aber doch nicht geradezu unmöglich ſei.“
Der Menſch iſt ein ſchlauer Intriguant, ſagte er.
Timm hat mich gleich im Anfang vor ihm gewarnt;
ich habe nicht viel darauf gegeben, weil die Beiden
auf einem ſehr guten Fuß zu ſtehen ſcheinen. Indeſſen,
ich ſehe doch ein, Timm hat in dieſem Falle Recht gehabt.
In dieſem Augenblick wurde der Baronin ein er¬
preſſer Brief aus Grünwald eingehändigt.
[225]
„Von Herrn Timm,“ ſagte ſie erſtaunt, den Brief
erbrechend; „ich bin doch neugierig, was mir der zu
ſchreiben hat. Er hat doch ſein Geld richtig erhalten.
Entſchuldigen Sie, lieber Felix.“
Das Erſtaunen, die Beſtürzung, der Schrecken,
welche ſich, während die Baronin las, auf ihrem Ge¬
ſicht malten, waren ſo ausgeprägt, daß Felix nicht
umhin konnte, zu ſagen:
„Aber Tante, was haben Sie? Sie ſind ja wie
die Wand ſo weiß geworden?“
„Oh, es iſt ſchändlich!“ ſagte die Baronin: „es
iſt ſchändlich! dieſe Buben! es iſt eine abgekartete
Sache! ein gemeines Complot! dieſe Buben!“
„Aber, um Himmelswillen, was giebt es denn?“
rief Felix.
„Hier, leſen Sie!“ ſagte die Baronin, ihm mit
zitternder Hand den Brief hinhaltend. „Wie finden
Sie das? Leſen Sie laut! Das Ding iſt ſo amüſant,
daß man es wol zweimal hören kann.“
Felix nahm den Brief und las:
„Gnädige Frau! Es iſt nicht meine Schuld, wenn
Ihnen der Inhalt dieſes Schreibens mißfallen ſollte.
Sie wiſſen, mit wie großer Verehrung ich an Ihnen
und Ihrer ganzen Familie hänge, mit welchem Eifer
ich Ihnen ſtets meine geringen Dienſte gewidmet habe,
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 15[226] wie dankbar ich für die liebenswürdige Gaſtfreund¬
ſchaft, die Sie mir ſtets und beſonders in den letzten,
ſo glücklich verlebten Tagen bewieſen haben, geweſen
bin. Wenn ich daher etwas ſage oder thue, was mit
dieſen Gefühlen im Widerſpruch zu ſtehen ſcheint, ſo
können Sie mit Beſtimmtheit annehmen, daß dieſer
Widerſpruch eben nur ſcheinbar iſt, und daß mich ein
höheres Princip als perſönliche Freundſchaft und
individuelle Hochachtung zum Handeln zwingt: nämlich
die Achtung vor der Gerechtigkeit, die wir Allen
ſchuldig ſind.
Dieſes mir inwohnende Rechtlichkeitsgefühl aber
(ein Erbſtück ohne Zweifel meines ſeligen Vaters)
will, daß ich Ihnen eine höchſt eigenthümliche Ent¬
deckung, die ich in dieſen Tagen gemacht habe, und
die für Sie von einer gewiſſen Bedeutung ſein dürfte,
nicht einen Augenblick länger vorenthalte.
Sie wiſſen, daß mein verſtorbener Vater die
Stellung eines Advocaten in Grünwald bekleidete,
daß ſeine Praxis eben ſo groß war, wie der Ruf
ſeiner Rechtlichkeit, Gewiſſenhaftigkeit und Klugheit,
und daß die angeſehenſten Familien des Landes zu
ſeiner Clientel gehörten. Unter andern ſtand er auch
mit dem verſtorbenen Herrn Baron Harald von Gren¬
witz in ſteter Geſchäftsverbindung, aus der ſich, wie
[227] mir mein ſeliger Vater oft erzählt hat, wenn er auf
vergangene Zeiten zu ſprechen kam, eine Art von
Freundſchaft entwickelte. Wenigſtens behauptete mein
Vater, daß der verſtorbene Baron ihn ſelbſt in den
delicateſten Familienangelegenheiten wiederholt con¬
ſultirt habe. Die Wahrheit dieſer Behauptung
wird beſtätigt durch die Entdeckung, von der ich eben
ſpreche. —
Sie beſteht in der ganz zufälligen Auffindung meh¬
rer Bündel Briefe und Papiere, die ſämmtlich dem
Herrn Baron Harald gehörten und die dieſer meinem
Vater zu einem Zwecke, der nicht angegeben (denn
es befindet ſich dabei keine Erläuterung weder von
der Hand meines Vaters, noch der des Barons) über¬
macht hat. Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſollten ſie
meinem Vater dienen, ihm die Auffindung jenes Kin¬
des, welchem der Herr Baron in dem Codicill ſeines
Teſtaments das bewußte Legat ausſetzte, zu erleichtern
oder überhaupt möglich zu machen. So viel wenig¬
ſtens ſteht feſt, daß eine ſolche Recherche nur mit
Hülfe dieſer Briefe und Papiere angeſtellt werden
und zu einem glücklichen Reſultat gebracht werden
kann. Auch bin ich überzeugt, daß nur ſein plötzlicher
Tod meinen Vater verhindert hat, dieſes Reſultat
herbeizuführen, und daß ein geſchickter Juriſt noch zu
15 *[228] jeder Zeit die Fäden, welche der Hand meines Vaters
entfielen, wieder aufnehmen könnte.
Die Schriftſtücke ſind a. ein Bündel Briefe einer
gewiſſen Mademoiſelle Marie Montbert an Baron
Harald von Grenwitz; b. ein dito des Herrn Barons
an Mademoiſelle Montbert; c. mehre Briefe eines
gewiſſen Monſieur d'Eſtein an Mademoiſelle Montbert;
d. verſchiedene Familienpapiere der Mademoiſelle Mont¬
bert; e. eine vollſtändige Abſchrift des von dem Herrn
Baron Harald hinterlaſſenen Teſtaments, nebſt dem
Codicill, in welchem, wie Ihnen bekannt iſt, nicht
nur die Bedingungen angegeben ſind, welche der Herr
Erblaſſer an die Auslieferung des Legats geknüpft
hat, ſondern auch die Mittel und Wege, welche am
wahrſcheinlichſten zu einer Entdeckung des zu jener
Zeit noch ungeborenen Kindes reſp. deſſen Mutter
führen könnten. Sie wiſſen, daß in dieſem Erläute¬
rungsbericht die Namen der Mademoiſelle Montbert
und des Monſieur d'Eſtein vorkommen und es ver¬
ſteht ſich von ſelbſt, daß die genannten Perſonen mit
denen, welche jene Briefe ſchrieben, identiſch ſind.
Bis hierher hat Alles, was ich Ihnen berichtete,
für den Unbefangenen und Unbeteiligten wenigſtens,
nichts beſonders Ueberraſchendes. Was ich Ihnen
aber jetzt zu ſagen habe, iſt ſo außerordentlich, daß
[229] ich um die Erlaubniß bitten muß, Ihnen darüber
mündlichen Bericht erſtatten zu dürfen. Ich will nur
ſo viel andeuten, daß in den Briefen des Mr. d'Eſtein
der Name vorkommt, welchen dieſer Herr, nachdem
er die Flucht der Mademoiſelle Montbert von Gren¬
witz bewerkſtelligt haben würde, für die Zukunft an¬
nehmen zu wollen erklärt, und daß dieſer Name (Sie
brauchen nur das d' und das E. wegzulaſſen) mit
dem Namen eines Herrn, welcher ſeit einiger Zeit
in Ihrer Familie lebt, übereinſtimmt. Ich füge hinzu,
wie ich für mein Theil von der Identität dieſer Per¬
ſon mit dem noch immer unbekannten Erben von
Stantow und Bärwalde (beſonders auch in Folge
von Mittheilungen, welche mir die bewußte Perſon
über ihre Familienverhältniſſe und früheſten Erinne¬
rungen machte) durchaus überzeugt bin.
Doch iſt dieſe meine individuelle Ueberzeugung
natürlich noch immer nicht beweiſend, und ich nehme
daher Anſtand, ſie, wie ich wol müßte, der bewußten
Perſon mitzutheilen, um nicht Hoffnungen in ihr zu
erregen, die ja doch möglicherweiſe nicht realiſirt wer¬
den könnten.
Ich breche hier ab, um meinem mündlichen Referat
(kommen Sie vielleicht in nächſter Zeit nach Grünwald?
oder befehlen Sie, daß ich Sie in Grenwitz beſuche?)
[230] nicht zuviel vorweg zu nehmen und dem Papiere nicht
unnöthigerweiſe noch mehr anzuvertrauen.
Genehmigen Sie, gnädige Frau, den Ausdruck u. ſ. w.
„Hier iſt noch ein Verte! ſagte Felix, das Blatt
umwendend:
P. S. Ich habe die Abſicht, ſämmtliche Papiere,
da ſie mir in meiner Wohnung nicht ſicher genug ver¬
wahrt ſcheinen, einem Advocaten zu übergeben, im
Falle Sie nicht (was aber ſchleunigſt geſchehen
müßte) anders darüber verfügen ſollten.
„Ha, ha, ha!“ lachte Felix, „da ſchaut der Fuchs
zum Loch heraus! Im Falle Sie nicht anders dar¬
über verfügen ſollten, unterſtrichen; d. h. haben Sie
die Güte, mir die Summe zu nennen, welche Sie für
dieſe Papiere zahlen zu können glauben, und die Sache
bleibt unter uns. — Ha, ha, ha! ja, ja! der Timm
iſt ein geriebener Burſche, das habe ich ſchon vor
heute gewußt!“
„Alſo glauben Sie, daß er wirklich dieſe Papiere
gefunden hat?“ fragte die Baronin erſtaunt.
„Warum nicht?“ ſagte Felix; „ich finde das Ding
äußerſt wahrſcheinlich, und rathe Ihnen, ſich die
Papiere in aller Eile zu kaufen, ehe ſie im Preiſe
ſteigen.“
„Und glauben Sie auch, daß dieſer — daß dieſer
[231] Menſch — ich kann es kaum über die Lippen bringen,
daß dieſer Stein wirklich Harald's Sohn iſt?“
„Möglich iſt es immer;“ ſagte Felix.
„Nein, es iſt nicht möglich,“ rief die Baronin mit
großer Heftigkeit; „es iſt Alles ein hölliſcher Lug und
Trug, ein abgekartetes Spiel zwiſchen den beiden
Gaunern. Die Briefe ſind gefälſcht, ſind von Beiden,
während ſie hier die Köpfe zuſammenſteckten, geſchmie¬
det und geſchrieben worden. Es iſt eine pure Erfin¬
dung, uns einen Schrecken einzujagen und Geld ab¬
zuſchwindeln — oder gar! ha! jetzt hab ich's! Sehen
Sie denn nicht, Felix, wo das Alles hinaus will?
auf Helene haben ſie es abgeſehen! dem Einen Geld,
dem Andern das Mädchen! ha, ha, ha! trefflich,
trefflich! ſchade, daß Helene nicht auch darüber an
Mary Burton geſchrieben hat, denn ich wette: ſie iſt
mit im Complott! Aber nichts ſollen ſie haben! nichts,
nichts! nicht einen Thaler — keinen Groſchen!“
„Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht, Tante!“
ſagte Felix. Timm iſt ein ſehr gewitzter Burſche,
und wenn die Briefe wirklich gefälſcht ſind, ſo können
Sie ſich darauf verlaſſen, daß es keine Stümperarbeit
iſt, und uns ſehr viel zu ſchaffen machen kann. Wollen
Sie meinen Rath hören?“
„Nun?“
[232]„Laſſen Sie mich morgen, oder wann es iſt, nach
Grünwald gehen und mit Timm ſprechen. Ich habe
in früheren Zeiten ſchon manche abſonderliche Unter¬
handlungen mit ihm geführt; er weiß, daß er mir
kein X für ein U machen kann. Ohne Geld kommen
wir freilich nicht los; aber ich kriege die Papiere
billiger, als Sie, oder ein Anderer.“
„Und was ſoll mit Herrn Stein geſchehen?“
„Den jagen wir mit Schimpf und Schande fort.
Wollen Sie mir auch dies Geſchäft überlaſſen?“
„Ja; thun Sie, was Sie wollen, aber befreien
Sie mich von dieſem Menſchen!“
„Ich will es ſchon machen. Es findet ſich heute
Abend ſchon eine Gelegenheit. Mit mehr Eclat es
geſchieht, deſto beſſer. Es ſoll ihm ſchon die Luſt
vergehen, mit uns noch einmal anzubinden. Sie wer¬
den doch dem Onkel nichts von alle dem ſagen.“
„Um Himmelswillen nicht!“ rief die Baronin.
„Er wäre im Stande, heute noch Herrn Stein als
unſern lieben Verwandten der Geſellſchaft vorzuſtellen.
Er iſt ja ſchon beinahe kindiſch; ich kann mich von
heute an in nichts mehr auf ihn verlaſſen.“
„Nun denn!“ ſagte Felix, ſeiner Tante die Hand
küſſend; „ſo verlaſſen Sie ſich auf mich. Wir wollen
[233] die Sache ſchon glücklich zu Ende bringen. — Aber
ich glaube, liebe Tante, es iſt die höchſte Zeit, daß
wir Toilette machen. Um Himmelswillen! fünf Uhr
ſchon, und um ſechs fängt die Geſellſchaft an — wie
ſoll ich in einer Stunde fertig werden!“
Vierzehntes Kapitel.
Wagen auf Wagen rollten durch das große Thor
auf den Schloßplatz, und hielten vor dem Portale
ſtill. Geputzte Damen und Herren ſtiegen aus und
wurden von den Dienern vorläufig in die Garderobe¬
zimmer gewieſen, um einige Minuten ſpäter in der
weitgeöffneten Flügelthür, die in die Geſellſchafts¬
räume im Erdgeſchoß führte, von dem alten Baron
und Felix empfangen zu werden.
Nach und nach verſammelte ſich ſo ziemlich der
geſammte Adel der Umgegend. Schon die glänzen¬
den Equipagen, in welchen man heute gekommen war
— die meiſten waren mit vier, einige ſogar mit ſechs
herrlichen Pferden beſpannt, Vorreiter in allen mög¬
lichen bunten Livreen nicht zu vergeſſen — noch mehr
aber der gewählte Anzug der Herren, die glänzende
Toilette der Damen bewieſen, daß man ſich auf ein
Feſt im größeſten Styl vorbereitet hatte. Man glaubte
[235] auch mit ziemlicher Gewißheit angeben zu können, um
was es ſich heute eigentlich handelte; hatten doch die
Baronin und Felix es an Hindeutungen auf ein Er¬
eigniß, das möglicherweiſe in nicht allzu langer Zeit
eintreten könnte, keineswegs fehlen laſſen! Die Baro¬
nin und Felix hatten ſich durch dieſe voreiligen An¬
ſpielungen, wie es ſchien, einen ſchlimmen Tag be¬
reitet, und ſollten jetzt die Erfahrung machen, daß es
viel leichter iſt, den Mund der Fama zum Reden als
zum Schweigen zu bringen. Sie hatten alle Mühe,
die bedeutungsvollen Mienen der Beſcheidneren, die
zarten Andeutungen der Neugierigen, die directen
Fragen der Zudringlichen zu überſehen, zu überhören,
ausweichend zu beantworten, und bei dieſem Fegefeuer
doch noch die offizielle geſellſchaftliche Freundlichkeit
und Höflichkeit zu bewahren. Die Geſellſchaft ſchien
im allgemeinen entſchloſſen, an dem Glauben einer Ver¬
lobung zwiſchen Felix und Helene feſthalten zu wollen,
und vertröſtete ſich auf die Abendtafel, wo man ja
doch endlich mit der Wahrheit hervortreten werde.
Nur einige wenige Scharfſinnigere wollten aus ge¬
wiſſen Anzeichen ſchließen, daß die Ausſicht auf das
bewußte Ende doch wohl nicht ganz ſo ungetrübt ſei, wie
die Meiſten anzunehmen ſchienen. Sie machten da¬
rauf aufmerkſam, daß das Benehmen der Baronin
[236] heute um vieles förmlicher ſei, wie gewöhnlich, ja in
manchen Augenblicken gradezu verlegen; daß der alte
Baron außerordentlich zerſtreut ſei, und keineswegs
den Eindruck eines glücklichen Familienvaters mache
und was das Brautpaar ſelbſt betreffe, ſo ſei es doch
zum mindeſten auffallend, daß Baron Felix ſich un¬
ausgeſetzt in großer Entfernung von ſeiner Couſine
halte, und Fräulein Helene, obgleich ſie ſich nie durch
große Lebhaftigkeit auszeichne, heute doch offenbar
mehr wie eine ſchöne, kalte Marmorſtatue, als
ein junges Mädchen an ihrem Verlobungstage aus¬
ſehe.
Die Aufmerkſamkeit der Geſellſchaft wurde für
einige Zeit von dieſem geheimnißvollen Brautpaare
abgelenkt, als jetzt, nachdem die ganze Geſellſchaft faſt
verſammelt war, ein wirkliches Brautpaar erſchien,
deſſen Verlobung in den letzten Tagen eine ſo unge¬
meine Senſation erregt hatte: Fräulein Emilie von
Breeſen an dem Arme Arthur's von Cloten. Das
junge Paar hatte zwar ſchon die üblichen Viſiten ge¬
macht; aber die Nachbarſchaft war groß. Zu Einigen
hatte man beim beſten Willen noch nicht kommen
können, Andere hatte man zu ſeinem größten Be¬
dauern nicht zu Hauſe getroffen — es gab noch eine
Menge Gratulationen in Empfang zu nehmen und
[237] zu erwiedern. Fräulein von Breeſen, Herr von
Cloten bildeten bald den Gegenſtand und Mittelpunkt
der allgemeinen Aufmerkſamkeit hier im Kreiſe der
Damen, dort im Kreiſe der Herren. Herr von Cloten
ſchien überglücklich; er lachte und ſchwatzte unaufhör¬
lich, und es ſchien ein halbes Wunder, daß von ſei¬
nem kleinen blonden Schnurrbart auch nur ein ein¬
ziges Härchen übrig geblieben war — ſo unausgeſetzt
wirbelte und drehte er denſelben durch die Finger.
Fräulein Emilie ſchien ihr Glück mit größerer Ge¬
laſſenheit zu tragen; ja jene Minorität der Scharf¬
ſichtigen wollte eine trübe Wolke auf ihrer Stirn be¬
merken, ſo viel Mühe ſich auch ihr reizender Mund
gab, freundlich zu lächeln, und behauptete, daß ihr
Auge oft ruhelos über die Geſellſchaft ſchweife, ohne
auf ihrem glücklichen Bräutigam auch nur einen Mo¬
ment zu verweilen.
Es gab heute überreichen Stoff zu pikanten Klat¬
ſchereien.
Das Verhältniß von Cloten's zu der ebenſo lie¬
benswürdigen, wie gefährlichen Hortenſe von Barne¬
witz war in dieſer Geſellſchaft, in welcher es von Ge¬
ſchichtenträgern und Geberdeſpähern wimmelte, durch¬
aus kein Geheimniß geblieben, und die letzte große
Geſellſchaft in Barnewitz, auf welcher es zwiſchen
[238] Cloten und dem Gemahl Hortenſe's zu einer ſo un¬
erquicklichen Scene kam und dieſe letztere die Unvor¬
ſichtigkeit beging, gerade in dieſem Augenblick in Ohn¬
macht zu fallen, hatte den letzten dünnen Schleier von
dieſem Verhältniß fortgezogen. Nun war man äu¬
ßerſt neugierig, zu beobachten, wie ſich Hortenſe in
ihren Verluſt ſchicken werde, und vor allem, ausfin¬
dig zu machen, wen die blonde Menſchenfiſcherin zum
glücklichen Nachfolger ihres treuloſen Galan erkoren
habe. Die Einen riethen auf den jungen Grafen
Grieben, die Andern auf Adolf von Breeſen. Beide
bewarben ſich eifrig um die gefährliche Gunſt der
Circe. Für Jenen ſprach der Umſtand, daß er ein
verſchmähter Bewerber der koketten Emilie war, und
als ſolcher ganz beſonders zum Nachfolger Cloten's
ſich zu qualificiren ſchien; für dieſen, daß er bei wei¬
tem der Hübſcheſte, Gewandteſte und Kühnſte der
ganzen Schaar war — lauter Eigenſchaften, welche
die kluge Hortenſe ſehr wohl zu ſchätzen wußte.
„Ich parire auf Grieben,“ ſagte der junge Sy¬
low; „zwölf Flaſchen Champagner! wer hält?“
„Ich!“ rief von Nadelitz; „pah! da müßte ich
Breeſen nicht kennen.“
„Sechs Flaſchen Reugeld bis zum Cotillon heute
Abend?“
„Ha, ha! hört Ihr's? Er verliert die Courage
ſchon; aber angenommen; angenommen!“
„Wirklich ein famoſes Weib, die Barnewitz!“
ſagte Hans von Plüggen; „ich wollte, ich ſtände auch
auf der Candidatenliſte.“
„Nun zu der Ehre iſt leicht zu gelangen;“ meinte
ein Andrer.
„Ich weiß nicht, was Ihr an der Barnewitz fin¬
det;“ ſagte von Sylow. „Da iſt doch die Berkow
eine ganz andre Erſcheinung. Ich wollte die Berkow
wäre hier.“
„Das wollten wohl noch Mehre!“ lachte Einer;
„aber Ihr wißt doch, daß Berkow todt und Melitta
ſeit vorgeſtern zurück iſt?“
„Eine alte Neuigkeit.“
„Auch daß ſie ſich in Kurzem mit Oldenburg ver¬
loben wird.“
„Unſinn!“
„Ihr könnt Euch d'rauf verlaſſen; ich habe es
von der Barnewitz. Die wird es doch wohl wiſſen.“
„Kommt denn Oldenburg heute nicht?“
„Ich hörte von Felix, daß er zugeſagt habe;
aber Oldenburg hat ja ſeine beſondern Gewohn¬
heiten.“
Melitta's Rückkehr und der Tod Herrn von
[240] Berkow's wurde nichts blos im Kreiſe der Jüngeren
lebhaft debattirt. Melitta war eine der gefeiertſten
Damen der Geſellſchaft und hatte trotzdem merk¬
würdigerweiſe wenig Neider und Feinde. Hin und
wieder zwar wurde ihr ein etwas excentriſches Weſen,
eine Neigung zum Beſondern, Ungewöhnlichen zum
Vorwurf gemacht; dieſer meinte, ſie ſei ihm zu ge¬
bildet; jener, ſie kokettire mit dem Liberalismus —
aber im Allgemeinen wurde ihre Liebenswürdigkeit,
ihre Gutmüthigkeit und Anſpruchsloſigkeit doch willig
anerkannt; abgeſehen davon, daß der Zauber ihrer
Erſcheinung über allen Widerſpruch erhaben war.
Man freute ſich, daß ſie endlich von dem Alp, der ſo
lange auf ihrem Herzen gelaſtet, erlöſt ſei und war
äußerſt begierig zu wiſſen, wen ſie demnächſt mit ih¬
rer Hand beglücken werde. Denn daß eine ſo junge,
lebensluſtige Frau jetzt, da ſie ſich wieder frei fühlen
konnte, nicht lange unvermählt bleiben könne, ſchien
unzweifelhaft. In der allerletzten Zeit war, man
wußte nicht recht durch wen? das Gerücht verbreitet
worden, Baron Oldenburg habe bei weitem die mei¬
ſten Ausſichten; ja, ganz unter der Hand, und als
ein bloßes on dit, das man mittheilte, ohne ſich für
die Wahrheit deſſelben verbürgen zu wollen, ja, ohne
nur ſelbſt daran zu glauben, erzählte man ſich, eine
[241] Intimität zwiſchen dem Baron und Melitta habe von
jeher beſtanden, und Herr von Berkow habe zu ſehr
gelegener Zeit den Verſtand verloren. Man trug ſich
ſogar mit gewiſſen Details aus der Geſchichte dieſes
geheimnißvollen Verhältniſſes, die, wenn ſie begründet
waren, den Ruf Melitta's einigermaßen compromit¬
tiren mußten. Man wußte nicht, von wem dieſe Ge¬
rüchte ausgegangen waren. Die ſcharfſichtige Mino¬
rität meinte: von Hortenſe Barnewitz, und das Ganze
ſei eine Rache an Oldenburg für einen gewiſſen guten
Rath, den er ſeinem Freunde Cloten vor einiger Zeit
gegeben, und Cloten ſo blindlings befolgt habe, daß
er ſich, als er die Augen aufthat, zu den Füßen Emi¬
liens von Breeſen wieder fand.
Unterdeſſen war die achte Stunde, in welcher der
Ball beginnen ſollte, herbeigekommen. Die Baronin
eröffnete denſelben an der Hand des Grafen Grieben.
Graf Grieben hatte trotz des ſchmetternden Kreiſchens
ſeiner Stimme alle Mühe die Muſik zu überſchreien,
die auf ſeinen ſpeciellen Wunſch voraufging, da er
auf den geiſtreichen Einfall gekommen war, die lange
Reihe der tanzenden Paare nicht nur durch die Säle
des Schloſſes, ſondern auch um den großen Raſen¬
platz und weiter in die dichteſten Theile des Gartens
hinein und aus demſelben wieder zurück in den Ball¬
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 16[242] ſaal zu führen, wo er die Polonaiſe mit einem feier¬
lich langſamen Walzer ſchloß.
„Das iſt ſo gute alte Sitte, gnä'ge Frau!“ kreiſchte
er vergnügt der Baronin ins Ohr; „mein Vater ſelig
hielt's ſo und mein Großvater ſelig. Die Alten
kannten den Rummel. Jugend hat keine Tugend.
Meinen's nicht auch, gnä'ge Frau?“
„Ja wohl, ja wohl!“ ſagte die Baronin.
Tanz reihte ſich an Tanz. Die Geigen quinqui¬
lirten, der Baß brummte dazwiſchen. Die Geſichter
der Tänzer fingen an ſich zu erhitzen; die Damen
begannen ihre Fächer häufiger zu benutzen; die Die¬
ner, welche in den Pauſen mit Erfriſchungen umher¬
gingen, ſahen die Präſentirbretter immer ſchneller
geleert — aber die rechte Luſt wollte ſich doch nicht
entzünden; es war, als ob ein Schleier über der Ge¬
ſellſchaft hing.
„Weiß der Teufel, was das heute iſt,“ ſagte der
junge Grieben, ſich die Stirn wiſchend, in einer der
Pauſen an eine Gruppe von Tänzern, die mitten
im Saal ſtand, herantretend; „man tanzt ſich faſt
die Beine ab, aber es geht nicht; man kommt nicht
in Zug.“
„Nun, Sie können lange tanzen, bis Sie Ihre
langen Beine abgetanzt haben,“ ſagte von Sylow,
[243] „aber Sie haben Recht; ich habe ſchon ein paar
Flaſchen getrunken, aber je mehr ich trinke, je melan¬
choliſcher werde ich.“
„Mir geht es ebenſo;“ ſagte ein Dritter; „ich weiß
nicht, woran es liegt; der Ball in Barnewitz neulich
war viel vergnügter.“
„Woran es liegt?“ ſagte von Breeſen. „Nun,
ich dächte, das wäre klar genug. Der alte Baron
ſieht aus wie ein Hahn, wenn's regnet; die Baronin,
wie eine entthronte Hekuba — heißt ja wohl Hekuba?
— Felix fängt mit Jedem Händel an, der in ſeine
Nähe kommt und Fräulein Helene hat, glaube ich,
den ganzen Abend noch nicht drei Worte geſprochen.
Und dabei ſoll ein Menſch vergnügt ſein? Mir iſt,
als ob eine Leiche im Haus wäre.“
„Nun, einen Kranken zum wenigſten giebt's;“
ſagte von Plüggen. „Der alte Baron erzählte mir's
eben: Bruno liegt ſchon ſeit geſtern zu Bett.“
„Deshalb iſt auch wohl der Doctor Stein nicht
unten;“ ſagte Graf Grieben; „ich glaubte, er habe
noch ein Exercitium zu corrigiren und werde ſpäter
erſcheinen, ha, ha, ha!“
„Sein Sie ſtill, Grieben;“ meinte Hans von
Plüggen; „Sie haben neulich ganz anders über den
Doctor geſprochen.“
„Ich habe geſagt, daß er ein verdammter Geck
ſei, dem ich bei nächſter Gelegenheit ſeinen Stand¬
punkt klar machen würde, und das ſage ich noch.“
„Das iſt wörtlich, was auch Felix vorhin ſagte
— der Doctor ſcheint ja im Allgemeinen recht hübſch
bei den Herren angeſchrieben zu ſein.“
„In deſto höherer Gunſt ſteht er bei den Damen,“
bemerkte von Nadelitz ironiſch.
„Ja wohl;“ ſagte von Breeſen; „er ſoll neulich
auf dem Balle drei Schweſtern auf einmal unglücklich
gemacht haben.“
„Wenigſtens haben ſie ſich nicht die Augen aus¬
geweint, wie man ſich von Fräulein von Breeſen
erzählt;“ erwiederte Nadelitz, welchen die Anſpielung
Breeſen's auf ſeine drei Schweſtern ärgerte, ziemlich
gereizt.
„Ich verbitte mir dergleichen!“ ſagte von Breeſen
auffahrend.
„Was Einem recht iſt, iſt dem Andern billig.“
„Ich habe keine Namen genannt.“
„Weil ohnehin Jeder mußte, wen Sie meinten.“
„Aber, Ihr Herren, tant de bruit pour une
omelette!“ ſagte Plüggen; „ich glaube, Ihr werdet
Euch noch dieſes Menſchen wegen in die Haare fahren,
[245] damit die, welche behaupten, daß er Fortune bei un¬
ſeren Damen mache, doch ja Recht behalten.“
„Wißt Ihr ſchon das Allerneueſte,“ ſagte von
Cloten, plötzlich ſeinen blonden Schnurrbart in die
Gruppe ſteckend.
„Nun?“
„Denkt Euch dieſer Stein — doch ſt! da kommt
Grenwitz — kein Wort, wenn ich bitten darf.“
„Nun, meine Herren;“ ſagte Felix; „wollen Sie
nicht die Güte haben, zum Contretanz anzutreten; ich
habe ſchon zweimal das Zeichen geben laſſen.“
Felix ſagte das in einem beinahe gereizten Tone.
Sein ſonſt nicht gerade blühendes Geſicht war ſtark
geröthet. Augenſcheinlich hatte er die Flaſche ſchon
mehr als räthlich zugeſprochen.
Als der Tanz zu Ende war, fanden ſich die
Herren, welche vorhin durch Felix' Dazwiſchenkunft
in ihrer Unterhaltung geſtört waren, wie auf Verab¬
redung wieder zuſammen.
„Nun, wo iſt Cloten mit dem Allerneueſten?“
ſagte von Sylow.
„Hier!“ ſagte Cloten herantretend. „Denkt Euch,
dieſer Stein — wir ſind doch ganz entre nous?“
„Ja, ja, nur weiter!“
[246]„Hat die Frechheit, — nun rathet einmal mit
wem? ein Verhältniß anzuknüpfen — “
„Aber, Cloten, Sie ſind unerträglich! werden
Sie endlich einmal mit Ihrer Neuigkeit zu Platz
kommen?“
„Mit Helene Grenwitz;“ ſagte von Cloten in ei¬
nem hohlen Geiſterton.
„Nun, das wäre nicht übel;“ ſagte von Sylow.
„Das ſieht dem Burſchen ähnlich;“ meinte von
Grieben.
„Hinc illae lacrimae!“ lachte Breeſen, bei dem
noch einige lateintiſche Brocken von der Schulzeit her
haften geblieben waren.
„Und was das Schönſte iſt,“ fuhr Cloten fort;
„Fräulein Helene hat gar nichts dagegen; au con¬
traire, iſt bis über die Ohren in ihn verſchoſſen.
Iſt das nicht allerliebſt?“
„Von wem haſt Du denn dieſe Mordgeſchichte,
Cloten?“ fragte Adolf von Breeſen.
„Aus ſehr guter Quelle;“ erwiederte Cloten mit
einem bedeutungsvollen Zwinkern nach der Gegend
des Saales, wo eben Emilie von Breeſen, mit Helene
ſprechend, ſtand.
„Hm, hm!“ ſagte Breeſen.
„Die Geſchichte iſt nicht unwahrſcheinlich,“ meinte
[247] von Sylow. „Nun erklärt ſich die Leichenbittermiene,
die Grenwitzens heut ohne Ausnahme machen.“
„Ich ſagte ja gleich, daß hier irgend etwas los
ſei;“ meinte von Breeſen. „Es iſt mir übrigens ſehr
lieb, daß ich mich mit dem Burſchen nicht tiefer ein¬
gelaſſen habe, wozu ich anfänglich — ich geſtehe es
offen, wirklich einige Luſt hatte. Der Menſch hat
wirklich etwas ungemein Beſtechendes.“
„Er ſchießt famos;“ ſagte Sylow nachdenklich.
„Famos oder nicht;“ ſagte Cloten; „ich glaube
gar, Ihr Herren, wir laſſen uns ſo viel von dem
Menſchen gefallen, weil er nicht ſchlecht ſchießt. Nein,
Ihr Herren, das geht nicht, geht wahrhaftig nicht!
Ich ſchlage vor, wir ſuchen unſern Fehler wieder gut
zu machen und behandeln den Menſchen, wenn er ſich
wieder unter uns blicken läßt, mit der inſigneſten Ge¬
ringſchätzung — wahrhaftig!“
„Auf Ehre!“ ſagte von Grieben, „Cloten hat
Recht. Ich werde den Burſchen das nächſte Mal
mit der Reitpeitſche tractiren.“
„Schade, daß er nicht hier iſt, damit Sie Ihre
Drohung gleich in Ausführung bringen können;“ ſagte
von Breeſen ironiſch.
„Quand on parle du loup“ — ſagte von Sy¬
[248] low; „da kommt er ja! Und ſein Pylades Oldenburg
natürlich bei ihm!“
Wirklich zeigten ſich in dieſem Augenblick durch
die weitgeöffnete Flügelthür Oswald und Oldenburg
in dem Nebenzimmer. Sie ſprachen einige Minuten
mit einander; dann trat Oldenburg in den Saal,
während Oswald von dem alten Baron draußen feſt¬
gehalten wurde.
Fünfzehntes Kapitel.
Oswald hatte während des ganzen Tages Bruno's
Bett nur auf Augenblicke verlaſſen, nachdem er von jener
denkwürdigen Unterredung mit Helene zurückgekommen
war. Er hatte in der Pflege des lieben Kranken ſich
ſelbſt zu vergeſſen geſucht.
Bruno ſelbſt vergaß ſeine Schmerzen, als ihm
Oswald erzählte, er habe Helene geſprochen und den
Brief in ihre Hände gelegt; ja er bemerkte nicht ein¬
mal Oswald's bleiches Geſicht und verſtörtes Weſen.
„Nun iſt Alles gut,“ rief er, „jetzt weiß ſie, woran
ſie iſt. Jetzt können ſie ihr nichts mehr anhaben;
jetzt iſt ſie auf ihrer Hut. O, der eine Gedanke ſchon
hat mich geſund gemacht.“
Leider war das aber nicht der Fall. Die Schmer¬
zen in der Seite ſtellten ſich ſchon nach wenigen Mo¬
menten mit deſto größerer Heftigkeit wieder ein. Os¬
wald hoffte mit Beſtimmtheit, daß Doctor Balthaſar
[250] ſein Verſprechen halten und im Laufe des Vormittags
kommen werde. Aber der Vormittag verging und kein
Doctor ließ ſich ſehen. Bruno's Zuſtand wurde nicht
ſchlimmer, aber auch nicht beſſer, und Oswald war
zu ſehr Laie, um ſich zu ſagen, daß ein Zuſtand, der
nicht beſſer wird, ſich eben verſchlimmert. Indeſſen
ließ es ihm doch keine Ruhe, bis gegen Mittag, wo
der Arzt noch immer nicht gekommen war, ein reitender
Bote in die Stadt geſchickt wurde. Der Bote brachte
freilich die von Dr. Balthaſar verordnete Einreibung
aus der Apotheke mit, meldete aber, daß der Doctor
ſelbſt nicht in der Stadt geweſen ſei, und Dr. Braun
erſt heute Abend zurückkommen würde. Er ſei ſelbſt
in der Wohnung des Letzteren geweſen und habe dem
Mädchen geſagt, daß der Herr Doctor, wenn irgend
möglich, doch ja noch kommen möchte. Oswald war
dem verſtändigen Menſchen, der ſelbſt an Bruno's
Krankheit den lebhafteſten Antheil nahm, ſehr dankbar
für dieſe Umſicht. Er athmete ordentlich auf, als er
hörte, daß Braun, zu dem er ein felſenfeſtes Ver¬
trauen hatte, nicht mehr fern ſei. Unterdeſſen vergaß
er nicht, das von dem Collegen deſſelben verſchriebene
Mittel anzuwenden, welches indeſſen ſich ohne allen
Erfolg zeigte, ſo daß Bruno endlich bat, von dieſer
nutzloſen Cur abzuſtehen.
[251]
So vergingen, eine nach der andern, die langen,
langen Stunden, die nur der Kranke kennt, der ſich
ruhelos auf ſeinem Lager wälzt, und der, welcher,
die Seele voll unausſprechlicher und ach! ſo hülfloſer
Angſt, an dieſem Lager ſitzt und auf den Arzt harrt,
der nicht kommen, und auf das kleinſte Symptom der
Beſſerung, das ſich nicht zeigen will.
Der alte Baron ſchickte einige Mal herauf und
ließ ſich nach Bruno's Befinden erkundigen; kam auch
am Nachmittage einmal ſelbſt; dankte Oswald mit
großer Herzlichkeit für ſeine treue Sorge, klopfte Bruno
auf die heißen Wangen und ſagte: wenn er recht bald
geſund würde, ſollte er auch das Reitpferd haben,
das er ſich ſchon ſo lange gewünſcht hätte.
„Es thut mir ſehr leid,“ ſagte er zu Oswald, als
dieſer ihn zur Thür hinaus begleitet hatte, „daß ge¬
rade heute die Geſellſchaft ſein muß. Es wäre mir
ſchrecklich, denken zu müſſen, daß hier im Schloſſe ein
Feſt gegeben wird, während Einer der Meinigen ge¬
fährlich krank liegt.“
Oswald ſuchte, ſo gut er es vermochte, den guten
alten Herrn zu beruhigen, obgleich ſein eigenes Herz
voll ſchwerer Sorge war. Auch wagte er nicht, dem
Baron gerade jetzt einen Entſchluß mitzutheilen, der in
dieſen letzten Stunden bei ihm zur Reife gekommen war.
[252]
Es ſtand jetzt für ihn feſt: daß ſeines Bleibens
in dieſem Hauſe nicht länger ſein dürfe.
Wie er fürder ohne Bruno würde leben können;
wie er ſich von der Seligkeit, Helene'n täglich zu ſehen,
würde losſagen können — er wußte es nicht. Er
wußte nur dies Eine: Du mußt fort.
Das wiederholte er ſich immer, während er Bruno's
Kiſſen glättete, Bruno's heiße Hände in die ſeinen
nahm, ihm das üppige Haar aus der Stirn ſtrich,
ſeine glühenden Lippen netzte. Es war eine frauen¬
hafte Zartheit in dieſen Liebesdienſten.
„Wenn meine Mutter lebte, ſie könnte mich nicht
beſſer pflegen,“ ſagte Bruno, ihm dankbar die Hand
drückend.
„Du haſt Deine Mutter nie gekannt, Bruno.“
„Kaum, ich war erſt drei Jahre, als ſie ſtarb.
Aber von meinem Vater weiß ich noch.“ Und nun
fing der Knabe mit fieberhafter Lebendigkeit an von
ſeinem Vater zu erzählen: wie ſchön und groß und
ſtark er geweſen ſei, „nicht ſo ſchlank wie Du, aber
noch breiter in den Schultern, und mit langen dun¬
keln Locken, die ihm bis auf die Schultern wallten,
wie der König Harfagar.“ Und von dem kleinen Gute,
hoch oben in Dalekarlien, das der Vater mit noch
zwei Knechten ganz allein bewirthſchaftet habe. Und
[253] wie geſchickt der Vater in Allem geweſen ſei, und wie
er die Axt zu führen verſtanden habe, trotzdem er in
ſeiner Jugend Page an dem Hofe der Königin ge¬
weſen war und ihr die lange ſeidene Schleppe ge¬
tragen hatte bei den prunkenden Feſten. Und von
Thor, dem ſchnellen Traber, den der Vater vor den
Schlitten ſpannte, und von den nordiſchen Winter¬
nächten, wenn die Sterne aus dem ſchwarzen Himmel
funkelten wie lauter Diamanten, Rubinen und Sma¬
ragden, ſo hell, daß der Schnee in ihrem Scheine
glitzerte. Und von dem Nordlicht, wie es plötzlich am
Horizont aufflammt und ſeine Feuerarme bis zum
Zenith hinaufſtreckt.
„Wir müſſen zuſammen einmal nach Schweden
reiſen,“ ſagte er; „der Winter hier iſt nur Kinder¬
ſpiel; da ſollſt Du einmal Schnee und Eis zu ſehen
bekommen! Hier iſt es heiß, unerträglich heiß — ich
wollte, ich läge in Eis und Schnee.“
Und der Knabe warf ſein Haupt ruhelos auf dem
Kiſſen umher und verlangte zu trinken.
Da tönte Muſik herauf aus dem Garten.
„Was iſt das?“ ſagte Bruno, in die Höhe fahrend.
Oswald trat ans Fenſter.
„Es iſt die ganze Geſellſchaft,“ ſagte er, „ſie kom¬
men eben zwiſchen den Bäumen heraus. Graf Grie¬
[254] ben und Deine Tante eröffnen den Zug. Sie wollten
hier an unſerem Fenſter vorüber, aber der Baron, der
mit der Gräfin Grieben folgt, bedeutet ihnen den an¬
deren Weg einzuſchlagen. Die erſten Paare verſchwin¬
den ſchon wieder; aber immer neue Paare tauchen auf.“
„Iſt Helene ſchon vorüber? fragte Bruno, ſich in
die Höhe ſtemmend.
„Nein, noch nicht.“
„O, daß ich nicht aus dem Bette kann!“ rief
Bruno, von der Anſtrengung und dem heftiger ge¬
wordenen Schmerz ermattet zurückſinkend.
„Da iſt ſie!“
„Doch nicht mit Felix?“
„Nein, mit einem jungen Mann, den ich noch gar
nicht geſehen habe.“
„Gleichviel,“ ſagte Bruno; „mit Allen, nur nicht
mit Felix.“
„Jetzt ſind die Letzten vorüber;“ ſagte Oswald,
ſich wieder zu Bruno ans Bett ſetzend.
Bruno's Unruhe ſchien durch dieſe directe Erwäh¬
nung Helenens, die Beide, wie auf Verabredung, ſeit
dem Morgen vermieden hatten, erhöht. Er fing wie¬
der an von Helene zu ſprechen. Oswald ſollte ihm
erzählen, was ſie angehabt, ob ſie ſchön, ſehr ſchön
ausgeſehen habe, viel ſchöner als alle übrigen Damen?
[255] ob ſie gelächelt habe, ob ſie einen Blick nach dem Fen¬
ſter emporgeworfen?
„O, könnte ich doch nur aufſtehen! könnte ich ſie
doch nur noch einmal ſehen!“
„Du wirſt ſie ja bald wieder ſehen, Bruno.“
„Ich weiß es nicht; gerade heute möchte ich ſie
nur einmal, nur auf einen Augenblick ſehen. Es iſt
mir, als ob ich ihr etwas zu ſagen hätte, was mir
das Herz abdrückt. Und dann, wenn ſie den Felix
fortſchickt, und ſie wird es thun — ſo ſoll ſie ja wie¬
der in die Penſion zurück, und da kann es lange
dauern, bis ich ſie wieder ſehe. Aber ich bleibe auch
nicht hier, wenn ſie fort iſt. Komm mit, Oswald;
wir wollen nach Hamburg. Du biſt ja ſo klug und
geſchickt, Du wirſt ſchon irgend eine Beſchäftigung
finden und ich auch — irgend eine, gleichviel welche,
wenn ich nur in ihrer Nähe ſein, ſie nur von Zeit
zu Zeit ſehen darf.“
Er verfiel in eine Art von Halbſchlaf, aus dem
er Plötzlich wieder emporfuhr.
„Warum iſt Helene fortgegangen?“
„Du träumſt, Bruno; ſie iſt nicht hier geweſen.“
„Auch Tante Berkow nicht?“
„Nein, Bruno.“
„Wie deutlich ich Beide geſehen! Sie kamen Hand
[256] in Hand durch die Thür herein; Helene in weiß, mit
einem Kranz von dunkelrothen Roſen im Haar; Tante
Berkow in ſchwarz, das Haar, wie ſie es immer trägt.
Tante Berkow führte Dir Helene zu, und ihr ſankt
euch in die Arme und weintet und küßtet euch; und
dann trat Tante Berkow an mein Bett und ſagte:
ſo Bruno, nun kannſt Du ſchlafen gehen. Da fielen
mir die Augen zu; es wurde Nacht um mich her; ich
ſank mit dem Bett tiefer und tiefer und ſchneller und
immer ſchneller — darüber bin ich vor Schreck auf¬
gewacht.“
„Fühlſt Du Dich kränker, Bruno?“ fragte Os¬
wald, den dieſe Phantaſieen beſorgt machten.
„Im Gegentheil,“ erwiederte Bruno; „der Schlaf
hat mir ſehr wohl gethan. Meine Schmerzen ſind
bedeutend geringer; aber ich fühle mich ſehr matt.
Ich glaube, ich könnte ſchlafen.“
Er legte ſein Haupt auf die Seite; aber ſchon nach
wenigen Augenblicken fuhr er wieder auf:
„Oswald, willſt Du mir einen recht, recht großen
Gefallen thun?“
„Gewiß! was ſoll ich!“
„Bitte, zieh Dich an und geh hinunter in die Ge¬
ſellſchaft.“
„Um alles in der Welt nicht!“
[257]„Bitte, bitte, thu's! thu's mir zu Liebe. Sieh!
ich fühle mich ja jetzt viel beſſer und möchte gern
ſchlafen und werde auch ſchlafen. Da kannſt Du mir
ja doch nicht helfen.“
„Aber was ſoll ich unten?“
„Sieh, Oswald,“ ſagte Bruno; „ich möchte doch
Helene ſo unbeſchreiblich gern ſehen. Und ich kann
nicht auf; ich fühle gar keine Kraft in meinen Glie¬
dern. Wenn nun Du ſie ſiehſt, ſo iſt mir, als hätte
ich ſie auch geſehen. Bitte, bitte! geh hinunter! Du
brauchſt ja mit Niemand zu ſprechen; nur, wenn es
möglich iſt, ſage Helenen, ich ließe viel tauſendmal
grüßen — und wenn Du das geſagt haſt und ſie hat
vielleicht geantwortet: und grüßen Sie Bruno auch
von mir! — dann komme ſchnell, recht ſchnell wieder,
daß Du den Ton, in dem ſie es geſagt hat, nicht ver¬
gißt. Und höre, Oswald, da ich gerade daran denke:
es könnte ja doch ſein, daß ich einmal plötzlich ſterbe,
nein, — lache nicht! ich rede im Ernſt — dann gieb
nicht zu, daß man mich umkleidet; ich will ſo, wie ich
geſtorben bin, in den Sarg gelegt werden. Sieh! —
Du weißt, daß ich ſtets ein Medaillon auf dem Her¬
zen trage; es iſt von meiner Mutter, aber nicht des¬
halb allein halte ich es ſo heilig! Es iſt eine Locke
von Helenens Haar darin, die ich ihr gleich in der
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 17[258] erſten Zeit einmal im Scherz abgeſchnitten habe. Wenn
mir das Medaillon genommen würde — ich glaube,
ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh!
es wird ſonſt ſo ſpät!“
Oswald wußte nicht, was er thun ſollte. Gab er
dem Verlangen des Knaben nicht nach, ſo mußte er
fürchten, deſſen fieberhafte Unruhe, die ſich jetzt faſt
gänzlich gelegt zu haben ſchien, wieder hervorzurufen.
Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn,
wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlaſſen, ſehr pein¬
lich. Und doch hätte er auch Helenen ſo gern geſehen
— nur für einen Augenblick — mußte ſich doch in
dieſen Stunden Alles entſchieden haben.
Bruno machte ſeinen Zweifeln ein Ende.
„Du haſt es mir verſprochen!“ ſagte er traurig,
„und nun willſt Du nicht, Du haſt mich nicht lieb!“
Was ließ ſich dagegen thun? Oswald ging in das
Nebenzimmer, ſein Schlafgemach, und kleidete ſich um.
Er hatte ſich wohl noch nie in einer ſolchen Stimmung
zu einer Geſellſchaft angekleidet. Das Ganze erſchien
ihm eine ſchauerliche Ironie. Er erſchrack, als er ſein
bleiches verwüſtetes Geſicht im Spiegel betrachtete.
In dieſen letzten Stunden ſchien er um eben ſo viele
Jahre gealtert zu ſein.
Er trat wieder an Bruno's Bett.
[259]
„Laß Dich doch einmal betrachten,“ ſagte der
Knabe, ſich halb aufrichtend. „Wie ſtattlich Du aus¬
ſiehſt! wie ſchön! — küſſe mich, Oswald!“
Oswald nahm den Knaben in ſeine Arme und
küßte ihn auf die ſchönen, ſtolzen — jetzt ach, ſo
bleichen Lippen. Dann ließ er ihn ſanft auf das
Kiſſen gleiten.
„Ich fühle mich ſehr, ſehr wohl;“ ſagte Bruno;
„beeile Dich nicht, ich werde, bis Du zurückkommſt,
köſtlich ſchlafen.“
17*
Sechszehntes Kapitel.
Auf dem Vorſaal unten begegnete Oswald dem
Baron Oldenburg.
„Ich hätte große Luſt wieder umzukehren,“ ſagte
Oldenburg nach der erſten, von beiden Seiten ziem¬
lich förmlichen Begrüßung; „ich glaubte nicht, daß
die Geſellſchaft ſo groß ſei, bin zu Pferde gekommen
und, wie Sie ſehen, nicht ganz etiquettemäßig ange¬
putzt. Wer iſt denn Alles da?“
„Ich komme ſelbſt erſt in dieſem Augenblick von
oben?“ erwiederte Oswald; „Bruno iſt ſeit vorgeſtern
unwohl; jetzt hat er mich fortgeſchickt, weil er ſchlafen
will.“
„O, das thut mir ja leid,“ ſagte Oldenburg; „der
Junge wird hoffentlich nicht ernſtlich krank werden.
Sagten Sie mir nicht, daß er ein großer Liebling
von Ihnen ſei?“
„Ja. Haben Sie keine Nachricht von —“
[261]„Von meiner Czika? nein.“
Oldenburg's Geſicht verdüſterte ſich. „Wollen wir
eintreten?“ ſagte er.
In einem der Nebenzimmer zum Ballſaale begeg¬
neten ſie dem alten Baron. Oldenburg ging nach
einer kurzen Begrüßung in den Saal, Oswald
mußte dem alten Herrn einen ausführlichen Bericht
über Bruno's Befinden während der letzten Stunden
machen.
„Nun, das iſt ja ſchön, recht ſchön,“ ſagte er,
„daß wir noch ſo mit einem blauen Auge davonkom¬
men; ich fürchtete ſchon, es würde ein Nervenfieber
werden. Gehen Sie doch auch zu meiner Tochter und
ſagen ſie ihr: daß es mit Bruno beſſer geht; ſie hat
ſich ſchon ein paar Mal nach ihm erkundigt.“
Oswald trat in den Saal. Man fing eben wieder
einen Tanz an, den letzten vor der großen Pauſe, in
welcher in den Sälen oben geſpeiſt werden ſollte. Er
blieb in der Nähe der Thür auf dem Tritt des nie¬
drigen Divans, der ſich um den ganzen Saal herum¬
zog, ſtehen. Die Paare der Tanzenden wechſelten;
bald kamen dieſe bald jene in ſeine Nähe. Einmal
ſtand Emilie von Breeſen, die mit ihrem Bräutigam
tanzte, dicht vor ihm. Sie that, als ob ſie ihn nicht
bemerkte; ſie lachte und ſcherzte, vielleicht etwas zu
[262] laut — aber es iſt ſchwer, wenn man eine Rolle
ſpielt, zu welcher man ſich zwingen muß, die Grenzen
nicht zu überſchreiten; von Cloten dagegen machte von
dem Vorrecht der Leute in ſeiner Situation, die gleich¬
gültigſten Dinge im Flüſterton mit obligatem bedeu¬
tungsvollen Lächeln in die Ohren zu raunen, den aus¬
gedehnteſten Gebrauch.
Oswald hatte von der plötzlichen Verlobung dieſer
Beiden gehört; er wußte wol am beſten, wie dieſelbe
zu Stande gekommen war. Er erinnerte ſich, wie
wegwerfend Emilie an dem Abend in Barnewitz ſich
über Cloten geäußert hatte. Jetzt war ſie ſeine
Braut. — Es wird eine glückliche Ehe werden;
dachte Oswald, und er mußte ſich ſagen, daß er
nicht den kleinſten Theil der Schuld an dieſem Un¬
glück trage.
Ein paar Augenblicke ſpäter kam Helene in ſeine
Nähe. Sie tanzte mit von Sylow. Oswald hatte
ſie ſchon längere Zeit beobachtet, und bemerkt, daß ſie
ſchweigend und kalt, wie eine Marmorſtatue neben
ihrem Tänzer ſtand, der die Hoffnungsloſigkeit ſeiner
Bemühungen, eine Converſation zu Stande zu brin¬
gen, eingeſehen zu haben und den Kronleuchtern eine
ſpecielle Aufmerkſamkeit zu widmen ſchien. Sobald
ſie Oswald erblickte, flog ein Strahl des Lebens über
[263] die ſchönen ernſten Züge. Sie winkte ihm mit den
Augen zu ſich heran.
„Wie geht es Bruno?“
„Danke! beſſer; er wollte ſchlafen.“
„Bleiben Sie hier?“
„Nein; ich werde bald wieder hinaufgehen.“
„Grüßen Sie Bruno — und hier! nehmen Sie
ihm dieſe Roſenknoſpe mit.“
Helene nahm eine Roſenknoſpe aus dem Bouquet,
welches ſie in der Hand trug, und gab ſie Oswald,
der ſie mit einer Verbeugung entgegennahm. Er be¬
merkte, daß von Sylow's Aufmerkſamkeit ſich plötz¬
lich von den Kronenleuchtern abgewandt hatte, und
daß die Augen des jungen Edelmannes mit einem
Ausdruck, der ihm durchaus nicht gefiel, auf ihm
hafteten.
Im nächſten Moment ſtand ein anderes Paar auf
der Stelle.
„Haſt Du Deinen alten Anbeter nicht geſehen,
Emilie?“ ſagte Cloten.
„Wen?“
„Dort drüben, den Doctor Stein. Er ſtand vorhin
dicht hinter uns.“
„Ach da! — meinen alten Anbeter? Du biſt wol
toll, Arthur!“
„Nun, nun! ſei nur nicht bös! ich glaube ja
kein Wort von der ganzen Geſchichte. Aber um
Himmelswillen, ſieh doch nur! Er ſpricht jetzt mit
Helene Grenwitz; ſie giebt ihm eine Roſe. Nein, da
hört doch aber Alles auf! wahrhaftig, Alles!“
„Ich ſagte Dir ja, daß die Beiden vollkommen
einig ſeien. Er ſticht Euch Alle aus.“
„Wahrhaftig — es iſt ſtark! aber ich habe dafür
geſorgt, daß die Geſchichte unter die Leute kommt.“
„Was haſt Du gethan?“
„Nun, ich habe weiter erzählt, was Du mir vor¬
hin unter dem Siegel der Verſchwiegenheit mittheilteſt.
Der ganze Saal weiß es ſchon, ha, ha, ha!“
„Aber das hatte ich Dir nicht erlaubt.“
„Ich glaubte in Deinem Sinne zu handeln. Herr
Stein wird es bereuen, wenn er ſich nicht ſchleunigſt
mit ſeiner Roſenknospe entfernt.“
„Was haſt Du vor?“
„Ich nicht allein; wir wollen dem Burſchen ſei¬
nen Standpunkt klar machen. Es wird eine jottvolle
Geſchichte, wahrhaftig! Ich erzähle ſie Dir nachher.
Ha, ha, ha!“
Der glückliche Bräutigam führte ſeine Braut, da
der Tanz zu Ende war, nach ihrem Platz zurück und
wandte ſich zu von Sylow, der auf ihn zukam.
[265]
„Haſt Du geſehen, Cloten?“
„Na ob!“
„Es iſt ein wahrer Scandal.“
„Ich bedaure nur den armen Felix.“
„Das müſſen wir ihm doch erzählen. Weißt Du
nicht, wo er iſt?“
„Er ſagte vorhin, das Tanzen langweile ihn; er
wollte zu den Spielern gehen. Barnewitz hat, glaube
ich, eine Bank aufgelegt. Wir können auch hin; es
wird nicht mehr getanzt vor Tiſche. Es iſt gerade
noch Zeit, ein paar Louis zu gewinnen. Kommſt
Du mit?“
„Natürlich.“
Emilie von Breeſen hatte die Unterredung der
Beiden aus der Ferne beobachtet. Sie ſah, wie ſie
lachend, Arm in Arm, den Saal verließen. Auch
Oswald ſah ſie nicht mehr. Eine entſetzliche Angſt
ergriff ſie. Sie hatte in ihrer eiferſüchtigen Wuth
zuerſt Oswald's Namen mit dem Helenen's in Ver¬
bindung gebracht; ſie hatte, ſich an Oswald zu rächen,
ſchon vor einigen Tagen Felix die Entdeckung,
die ſie gemacht zu haben glaubte, mitgetheilt. Sie
hatte heute Abend wieder davon angefangen, um
den geiſtloſen Neckereien Cloten's ein Ende zu
machen. Jetzt erſt merkte ſie, daß ſie zu weit ge¬
[266] gangen ſei und daß ſie vielleicht Oswald, den ſie
trotz alledem doch noch mit der ganzen Kraft ihres
leidenſchaftlichen Herzens liebte, einer großen Ge¬
fahr ausgeſetzt habe. Sie hätte ihn vielleicht in der
Raſerei ihrer Eiferſucht mit ihren eigenen Händen
morden können — aber ihn den brutalen Mißhand¬
lungen Cloten's und der Anderen ausſetzen — der
Gedanke war ihr fürchterlich. Sie blickte wie hülfe¬
ſuchend im Saal umher.
Ihr Bruder kam in ihre Nähe. Sie rief ihn.
„Was willſt Du, Kleine?“
„Haſt Du Doctor Stein ſchon geſehen?“
„Ja, weshalb?“
„Du wollteſt ihn ja während der Jagdzeit auf
ein paar Tage zu uns einladen. Es wäre doch
unartig, wenn wir uns jetzt gar nicht um ihn küm¬
merten.“
Emilie war ſehr roth geworden, als ſie das ſagte;
ihre ganze Geiſtesgegenwart ſchien ſie verlaſſen zu
haben.
„Ihn zu uns einladen?“ rief Adolf von Breeſen,
„nun das fehlte wahrhaftig noch! damit die albernen
Klatſchereien, die Lisbeth über Dich und ihn aufge¬
bracht hat, doch ja unſterblich werden — ihn zu uns
einladen? lieber wollte ich —“
„Ich bitte Dich, Adolf! ſei ſtill, der halbe Saal
kann ja hören, was Du ſagſt.“
„Höre, Kleine!“ ſagte der junge Mann in leiſem,
aber ſehr beſtimmtem Ton. „Das gefällt mir nicht.
Du weißt, ich habe Dich lieb, wie ein Bruder nur
ſeine Schweſter lieb haben kann; aber gerade deshalb
muß ich dafür ſorgen, daß Du Dich in keine ſolche
Thorheiten tiefer einläßt. Und ich werde dafür ſorgen,
verlaß Dich d'rauf!“
Damit wandte er ihr den Rücken und ging den
Anderen nach zum Saal hinaus.
Emilie hatte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten.
Ihre Angſt wuchs mit jeder Secunde. Es mußte Rath
geſchafft werden — ſo oder ſo. Das entſchloſſene
Mädchen griff zu einem verzweifelten Mittel.
Sie ging auf Helene zu, die nicht weit von ihr
mit andern Damen auf dem Divan ſaß und ſagte:
„Auf ein Wort, Helene!“
„Was iſt's?“ ſagte Helene, aufſtehend.
„Komm ein wenig weiter hierher. — Helene, Du
haſt den Doctor Stein lieb, nicht wahr?“
„Wie kommſt Du darauf?“ erwiederte Helene und
die Gluth ſchoß ihr in die bleichen Wagen.
„Gleichviel, ich habe ihn auch lieb; ich habe ihn
ſehr lieb, wenn Du willſt — und deshalb bitte ich
[268] Dich, ſage ihm — Du kannſt es, ich kann es nicht,
ſonſt würde ich es ſelber thun — er ſollte ſich aus
der Geſellſchaft entfernen. Cloten und mein Bruder
und die Andern ſind ſehr aufgebracht über ihn. Ich
fürchte, ſie führen etwas gegen ihn im Schilde. Bitte,
bitte, Helene, ſage ihm: er ſolle fortgehen — gleich
— ich wäre außer mir, wenn ihm auch nur die ge¬
ringſte [Beleidigung] von meinem Bruder oder von
Cloten zugefügt würde.“
„Aber wo iſt er?“ ſagte Helene, welche die von
Emilie ausgeſprochenen Befürchtungen, freilich nicht
ganz aus denſelben Gründen, nur zu wahrſcheinlich
fand. „Ich glaube, er iſt ſchon wieder nach oben
gegangen.“
„Wenn Du es nicht gewiß weißt, verlaſſe Dich
nicht darauf. Frage doch den Bedienten da?“
„Haben Sie Herrn Doctor Stein nicht geſehen?“
fragte Helene.
„Er iſt drüben, gnädiges Fräulein, in den Spiel¬
zimmern.“
„O, mein Gott, was ſollen wir thun?“ ſagte
Emilie.
„Baron Oldenburg!“ rief Helene; „wollen Sie
die Güte haben, einen Augenblick hierher zu kommen?“
„Mit Vergnügen, mein Fräulein,“ ſagte der Ba¬
[269] ron, der, die Hände auf dem Rücken, ein Gemälde
an der Wand betrachtete.
„Was haſt Du vor, Helene?“
„Laß mich nur! Wollen Sie mir einen Gefallen
thun, Herr Baron.“
„Mais, sans doute!“
„Suchen Sie den Doctor Stein auf; er iſt drü¬
ben in den Spielzimmern, und ſagen Sie ihm: ich
ließe ihn bitten, ſogleich zu Bruno zurückzukehren.
Hören Sie? ſogleich!“
„Es bedurfte nicht Oldenburg's Scharfblicks, um
zu ſehen, daß dieſer Auftrag, den ein Diener eben
ſo gut hätte ausführen können, eine tiefere Bedeutung
hatte. Helene hatte die größte Mühe gehabt, die
Worte in einem einigermaßen unbefangenen Tone her¬
vorzubringen, und Emilien's mit dem Ausdruck der
geſpannteſten Erwartung auf ihn gerichtetes, von der
innern Erregung blaſſes Geſicht, war ein ſehr deut¬
licher Commentar zu Helenen's Worten.
„Iſt das Alles, mein Fräulein?“
„Ja.“
„Ich gehe, Ihren Auftrag ſofort und pünktlich aus¬
zurichten!“ ſagte der Baron, ſich verbeugend und mit,
ſelbſt für ihn ungewöhnlich langen Schritten den Saal
verlaſſend.
[270]
Unterdeſſen hatte Oswald, nachdem Helene mit
ihm geſprochen, ſich zwecklos in den Zimmern herum¬
getrieben. Es war ſeine Abſicht geweſen, ſogleich hin¬
auf zu gehen; aber der Gedanke, Bruno, wenn er
wirklich, wie er hoffte, eingeſchlafen ſein ſollte, nur
zu ſtören; vielleicht der unbeſtimmte Wunſch, Helenen
noch einmal zu ſehen, und jene dunkle dämoniſche Macht,
die den Menſchen, unbekümmert um ſein Wohl oder
Wehe, ſeinem Schickſal entgegentreibt, ließen ihn nicht
dazu kommen. Ohne kaum zu wiſſen, wie er dorthin
gerathen war, fand er ſich plötzlich in einem Zim¬
mer auf der andern Seite des Flurs, wo ſich eine
Menge Herren um einen großen Tiſch drängten.
Einige ſaßen, die Meiſten ſtanden. Herr von Bar¬
newitz ſaß in der Mitte, und hielt Bank. Er mußte
viel Glück gehabt haben. Große Haufen von Gold-
und Silberſtücken und Kaſſenſcheinen lagen vor ihm
und vermehrten ſich mit jedem Augenblick. Felix ſaß in
ſeiner Nähe. Er pointirte ſehr eifrig, aber, wie es
ſchien, nicht beſonders glücklich. Sein Geſicht war
ſtark geröthet, ſeine Augen mit Blut unterlaufen, die
Adern auf ſeiner Stirn geſchwollen. Er hörte wenig
auf die Herren, die hinter ihm ſtanden und von denen
einige ihn noch aufzumuntern, andere zurückhalten zu
wollen ſchienen. Oswald kam ihm zufällig gerade
[271] gegenüber zu ſtehen; Felix bemerkte ihn erſt nach eini¬
ger Zeit; man hätte ſehen können, daß von dem
Augenblick an ſeine Unruhe noch größer wurde; er
trank ein Glas auf das andere aus der neben ihm
ſtehenden Weinflaſche, und verdoppelte und verdrei¬
fachte ſeine Einſätze, ohne einen andern Erfolg, als
daß er doppelt und dreifach ſo viel und ſo ſchnell
verlor, als vorher.
Eben war wieder eine Rolle Goldſtücke zu den
übrigen, die vor Barnewitz aufgehäuft waren, gewan¬
dert; Felix griff in die Brieftaſche, die vor ihm lag,
und holte eine Kaſſenanweiſung heraus.
„Sie werden doch nicht das Ganze auf einmal
ſetzen wollen, Grenwitz?“ ſagte von Grieben, ſeine
Giraffengeſtalt zu ihm niederbeugend.
„Sie ſind wol toll, Grenwitz?“ ſagte Cloten, der
mit Sylow ſoeben hereintrat.
„Ach was!“ ſagte Felix, „das Andere hält nur
auf.“
„Faites votre jeu, Messieurs!“ rief Barnewitz,
ein neues Spiel Karten zur Hand nehmend.
„Haben Sie geſetzt, Grenwitz?“
„Ja wol!“
„Coeurdame für mich. Damen immer für mich.
Danke, Grenwitz, kommen Sie bald wieder ſo.“
Felix ſchien für den Augenblick dieſem freundlichen
Wunſche nicht entſprechen zu können. Sein wirrer
Blick irrte über den Kreis derer, die den Tiſch um¬
ſtanden und blieb auf Oswald haften.
„Sie da!“ rief er plötzlich überlaut; „holen Sie
mir doch einmal ein Glas Wein.“
Oswald wurde erſt, als die Augen Aller ſich auf
ihn wandten, inne, daß dieſe groben Worte an ihn
gerichtet waren.
„Der Menſch ſcheint nicht hören zu können,“ rief
Felix. „Sie ſollen mir ein Glas Wein holen, ver¬
ſtanden!“
„Ich glaube, ein Glas Waſſer würde Ihnen dien¬
licher ſein,“ ſagte Oswald, ohne ſeine Stellung zu
verändern, mit ruhiger, feſter Stimme.
Es war ſo ſtill in dem Zimmer geworden, daß
man eine Nadel hätte fallen hören.
„Wie gefällt Ihnen das, meine Herren?“ ſagte
Felix, um ſich blickend; „mein Onkel hält ſich eine
allerliebſte Sorte Bedienten, meinen Sie nicht?“
„Zeigen Sie ihm doch, wer Herr im Hauſe iſt,“
ſagte von Sylow.
„Oder laſſen Sie ihn eine Stunde nachſitzen,“
meinte von Grieben.
[273]
„Oder beſſer: geben Sie ihm die Ruthe, mit der
er ſeine Buben züchtigt,“ ſagte von Cloten.
„Oder ſtrafen Sie ihn mit der Verachtung, die
er verdient;“ rief von Breeſen.
Oswald wandte ſeine Augen von Einem zum An¬
dern, wie ein Löwe, der nicht weiß, ob er ſich auf
die Hunde, die ihn umheulen, ſtürzen ſoll oder nicht.
Seine Geſtalt war hoch aufgerichtet. Vielleicht zitterte
die Hand, die er auf den Tiſch gelegt hatte, etwas;
aber ſicher nicht aus Feigheit.
„Werden Sie gehen, oder nicht?“ rief Felix, auf¬
ſpringend und dicht vor Oswald tretend.
„Treiben Sie die Unverſchämtheit nicht zu weit,“
ſagte Oswald, die Roſenknoſpe, die er für Bruno
von Helene erhalten hatte, in das Knopfloch ſteckend;
„ich müßte ſonſt an Ihnen ein Exempel für die
übrigen Burſche ſtatuiren.“
Felix faßte nach Oswalds Bruſt. Oswald packte
ihn mit ſtarken Armen, riß ihn in die Höhe und
ſchmetterte ihn zu Boden, daß die Gläſer und das
Geld auf dem Tiſche erklirrten.
„Wer hat Luſt, der Zweite zu ſein?“ rief er mit
Donnerſtimme; „kommt heran, ihr feigen Wölfe, die
ihr nur in Rudeln jagt!“
Seine Augen blitzten vor Kampfesluſt; ſeine Bruſt
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 18[274] wogte; ſeine Hände ballten ſich krampfhaft; er
achtete in dieſem Momente ſein Leben keine Nadel
werth.
Das ſahen Alle, und Keiner wagte, ſeine Heraus¬
forderung anzunehmen.
Felix hatte ſich wieder aufgerafft und war in die
Arme der ihm zunächſt Stehenden zurückgetaumelt.
Er war betäubt von dem ſchweren Fall; Blut ſtrömte
ihm aus Naſe und Mund.
Ein drohendes Murren lief durch die Schaar.
Man hörte einzelne Stimmen: ſollen wir das dul¬
den? — ſchlagt ihn nieder! — er darf nicht lebend
vom Platz!
Sie drängten an ihn heran; ein wüſtes Schreien
und Toben brach aus dem Haufen; Oswalds Blicke
ſuchten den heraus, welcher zunächſt an die Reihe
kommen ſollte.
Da ſtand plötzlich Oldenburg neben ihm.
„Wie, meine Herren?“ rief er, ſich zu ſeiner
ganzen ſtattlichen Höhe emporrichtend, „zwanzig gegen
Einen? Der Kampf iſt doch ein wenig zu ungleich.
Wollen Sie ſich nicht lieber noch ein paar Bedienten
zur Hülfe rufen?“
Dies Wort wirkte wie ein Zauber. Er ſtellte für
Jeden die ſchimpfliche Scene in das rechte Licht.
[275] Die Verſtändigeren wußten dem Barone Dank, daß
er ihnen eine Schande erſpart hatte, die der nächſte
Augenblick über ſie gebracht haben würde. Nur
Einige ſchienen ſeine Dazwiſchenkunft übel zu em¬
pfinden.
„Die Sache geht Sie nichts an, Baron,“ rief
Grieben trotzig.
„Erlauben Sie, Herr von Grieben,“ erwiederte
Oldenburg, „die Sache geht mich aus zwei Gründen
etwas an. Einmal, weil ich es für die Pflicht jedes
Mannes halte, darauf zu ſehen, daß es bei ſolchen
Affairen, ich will nicht einmal ſagen, anſtändig, ſon¬
dern nur ehrlich zugeht, und zweitens, weil ich die
Ehre habe, Herrn Doctor Stein meinen Freund zu
nennen. Wenn Sie, oder irgend einer der Herren
mich für das, was ich hier geſagt habe, zur Rechen¬
ſchaft ziehen zu müſſen glauben, ſo ſtehe ich gern zu
Dienſten. Vorläufig aber verſtatten Sie mir, dafür
zu ſorgen, daß die Angelegenheit meines Freundes,
des Herrn Doctor Stein, wie es ſich unter Männern
ziemt, zu Ende geführt wird. Ich werde in wenigen
Augenblicken wieder unter Ihnen ſein, Ihre Auf¬
träge entgegenzunehmen. Wollen Sie mir Ihren
Arm geben, Herr Doctor?“
Der Baron nahm Oswald's Arm in den ſeinen
18*[276] und führte ihn durch die Schaar der jungen Edelleute,
die bereitwillig Platz gab, hindurch, zum Zimmer
hinaus.
Draußen angelangt, ſagte er: „Gehen Sie nur
auf Ihr Zimmer. Ich folge Ihnen in wenigen Mi¬
nuten. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß Sie der Be¬
leidigte ſind.“
„Ja.“
„So werde ich Felix von Grenwitz in Ihrem Namen
auf Piſtolen fordern.“
„Ihn und wer noch ſonſt Luſt hat, einen Gang
mit mir zu machen.“
„Wir wollen uns vorläufig mit Grenwitz begnügen.
An den Andern iſt Ihnen ja auch wohl ſo viel nicht
gelegen. Wann?“
„Sobald wie möglich natürlich; morgen früh mei¬
netwegen.“
„Bon. Zehn Schritt Diſtance etwa?“
„Oder fünf.“
„Zehn reicht aus. Das Uebrige überlaſſen Sie
mir. Alſo au revoir in Ihrem Zimmer.“
Der Baron kehrte auf den Schauplatz der letzten
Scene zurück, wo natürlich die Sache von zwanzig
Zungen zugleich beſprochen wurde, die bei Oldenburg's
Eintreten verſtummten. Oldenburg entledigte ſich
[277] ſeines Auftrags an von Grieben, der es übernommen
hatte, Felix zu ſecundiren. Es wurde ein Rencontre
auf die fünfte Stunde des folgenden Tages (im Fall
Felix ſich bis dahin nicht erholt haben ſollte, auf die
zehnte) verabredet; das Rendezvous: ein kleines
Wäldchen auf dem Gute Herrn von Cloten's. Dann
folgten die Herren — man kann ſich denken, in wel¬
cher Stimmung — der ſchon zweimal an ſie ergange¬
nen Aufforderung, ſich in den Ballſaal zu verfügen,
um die Damen zur Abendtafel hinauf zu begleiten.
Felix war ſchon vorher von Einigen auf ſein Zimmer
geführt worden, da er zu berauſcht und von ſeinem
Falle noch zu betäubt war, um weiter an der Geſell¬
ſchaft Theil nehmen zu können. Oldenburg begab ſich
zu Oswald zurück.
Als er ihn nicht in ſeinem Zimmer fand, und ihn
bei Bruno vermuthete, aus deſſen Zimmer das Licht
durch die halb geöffnete Thür ſchimmerte, ging er
leiſe dorthin und ſah Oswald über des Knaben Bett
gebeugt.
„Wie ſteht es?“ fragte er.
„Ich fürchte, ſchlecht,“ ſagte Oswald, emporblickend;
„ſein Schlaf iſt ſehr unruhig und der Puls fliegt.“
„Laſſen Sie mich ſehen,“ ſagte Oldenburg, „ich ver¬
ſtehe mich auf dergleichen.“
„Er iſt in der That ſehr krank,“ ſagte er nach
einer kleinen Pauſe. „Wie lange währt denn dies
ſchon und wie hat es angefangen?“
Oswald gab ihm mit fliegenden Worten eine Schil¬
derung von Bruno's Krankheit.
„Und der Schmerz hatte vor einer Stunde völlig
nachgelaſſen?“ fragte Oldenburg.
„Ja, faſt gänzlich —“
„Dann machen Sie ſich auf das Schlimmſte ge¬
faßt. Ich vermuthe, es hat eine Verletzung im Inneru
ſtattgefunden, und jetzt iſt der Brand dazu getreten.
Einer von uns muß nach dem Doctor.“ — Er ſah
nach der Uhr. „Es iſt zehn; ich wollte vor Tiſch
wieder nach Hauſe reiten. Mein Amanſor ſteht in
dieſem Augenblick geſattelt vor der Thür. Reiten
Sie nach der Stadt. Ich bin hier vielleicht jetzt
nützlicher wie Sie. Sie haben hellen Mondſchein.
Der Weg iſt gut. Nach B. iſt eine halbe Meile.
In zehn Minuten ſpäteſtens müſſen Sie dort ſein.
Ziehen Sie ſich ihren Frack aus und einen Ueberrock
an. So! Peitſtche und Sporen brauchen Sie nicht.
Almanſor iſt noch ganz friſch. Schonen Sie ihn
nicht.“
Der Baron hatte Oswald den Rock anziehen hel¬
fen, ihm den Hut auf den Kopf geſetzt. Oswald ließ
[279] Alles mit ſich geſchehen. Er fand ſich erſt auf Alman¬
ſors Rücken wieder, als ihm der Nachtwind um die
Ohren pfiff, und Bäume und Häuſer, Hecken und
Felder und Gärten rechts und links im Mondenſchein
geſpenſterhaft an ihm vorüberflogen.
Und jetzt, war er auf der weiten Haide, die ſich
hinter dem Dorfe bis nach Faſchwitz erſtreckt. Er
ſah den Mondenſchein unheimlich glitzern in dem
ſchwarzen Waſſer der tiefen Torfgräben; er hörte von
Zeit zu Zeit den heiſeren Schrei eines Sumpfvogels,
den er aus ſeinem Neſte aufgeſchreckt hatte; ſonſt
nichts, nichts als den dumpfen Donner von Alman¬
ſors flüchtigen Hufen und den Nachtwind, der ſeufzend
und klagend über die Haide ſtrich.
Und jetzt, als er mitten auf der Haide war —
war das nicht noch ein anderer Hufſchlag außer dem
Almanſors, oder war es nur das Echo? Es kam
näher und immer näher; Almanſor ſpitzte die Ohren
und griff aus, ſchneller und immer ſchneller, als flöhe
er vor dem Tod. Und doch kam es näher und immer
näher. Oſwald blickte ſich um und ein Grauſen packte
ihn, als er jetzt dicht hinter ſich eine lange ſchwarze
Geſtalt auf einem ſchwarzen Pferde erblickte, deſſen
Hufe den Boden nicht zu berühren ſchienen.
Noch eine Secunde und der ſchwarze Reiter war
[280] an ſeiner Seite, die Pferde jagten Kopf an Kopf und
ſchnoben ſich an aus weit geöffneten Nüſtern.
„Was beliebt?“ rief Oswald, ſein Grauſen be¬
meiſternd.
„Nicht viel!“ erwiederte der ſchwarze Reiter mit
einer tiefen hohlen Stimme. „Wollte nur vermelden,
daß meine gnädige Frau ſeit vorgeſtern zurück; ich
dachte, der junge Herr wüßten's vielleicht nicht. Nicht
für ungut, junger Herr! gute Nacht und gute Ver¬
richtung!“
Der Reiter warf ſein Roß herum; Almanſor
ſtürmte weiter; im nächſten Augenblicke ſchon war
Oswald wieder allein.
War dies die Ausgeburt ſeines überreizten Hirns?
war's Wirklichkeit? war es ein Phantom? war es der
alte Baumann auf dem Brownlock geweſen? Oswald
hätte es nicht zu ſagen gewußt.
Und wieder flogen Bäume und Häuſer, Hecken und
Gärten rechts und links geſpenſterhaft im Mondenſchein
an ihm vorüber. Ein Hund fuhr heulend nach Alman¬
ſors Hufen. Im nächſten Augenblick ſchon war Alles
verſchwunden und unüberſehbare Kornfelder wogten
und ziſchelten auf beiden Seiten der Landſtraße.
Dann ſchimmerten Lichter herüber, näher und
näher. Eine helle Glocke ſchlug einen Schlag an;
[281] ſchon viertel auf elf! — und wieder Häuſer rechts
und links, Bäume und Hecken und Gärten. Dann
ein dunkles Thor, und dann den Hufſchlag Almanſors
auf dem Straßenpflaſter.
„Wo wohnt der Doctor Braun?“
„Die Straße zu Ende; das letzte Haus links.“
Vor dem bezeichneten Hauſe hielt ein Wagen.
Aus der offenen Hausthür und den offenen Fenſtern
in den Parterrezimmern ſchimmerte Licht.
„Iſt der Doctor zu Hauſe?“
„Hier!“ ſagte Doctor Braun am Fenſter erſchei¬
nend. „Von wo her?“
„Von Grenwitz. Ich bin's. Eilen Sie; Bruno
liegt auf den Tod.“
„Wollte eben hinaus;“ rief Doctor Braun; ſchon
in der Thür. „Setzen Sie ſich zu mir. Ich will
ſelber fahren. Karl kann Ihr Pferd langſam zurück¬
reiten. Sitzen Sie? ja; dann fort!“
Der Wagen donnerte durch die dunkeln Straßen,
durch das enge Thor, hinaus in die ſtille Mondnacht,
die über Feldern und Gärten, und Wäldern und Wie¬
ſen ſo duftig und täumeriſch lag, denſelben Weg, den
Oswald vor wenigen Minuten gekommen war. Die
kräftigen Pferde des Doctors griffen mächtig aus,
ſchon waren ſie wieder auf der Haide.
[282]
„Es war nicht viel geſprochen worden von beiden
Seiten. Oswald hatte von Bruno's Krankheit, wie
es der Laie pflegt, Bericht erſtattet, auf Nebendingen
verweilend, und das Wichtigſte auslaſſend. Doctor
Braun hatte einige kurze Fragen gethan. Dann hat¬
ten Beide eine Zeit lang geſchwiegen.
„Sie müſſen ſich auf das Schlimmſte gefaßt ma¬
men!“ hub Doctor Braun an. „Es iſt, nach dem,
was Sie mir geſagt haben, ſehr wahrſcheinlich, daß
wir Bruno nicht mehr am Leben finden.“
Oswald antwortete nicht. Ein Stöhnen brach aus
ſeiner Bruſt, wie eines Gefolterten, wenn die Schrau¬
ben noch um eine Windung angezogen werden.
Der Doctor hieb in die Pferde, die nun im Ga¬
lopp weiter ſtürmten.
Ein paar Minuten ſpäter hielt der Wagen vor
dem Portal. Das ganze Schloß ſchimmerte von Licht.
Aus dem Speiſeſaale rauſchte die Muſik. Die Diener
liefen geſchäftig ab und zu.
Als ſie in Bruno's Zimmer traten, erhob ſich der
Baron von dem Bett, über das er gebeugt ſtand.
„Gott ſei Dank, daß Sie kommen!“ ſagte er; ich
habe ſchon an vielen Krankenlagern gewacht: ſo lang
aber iſt mir keine Stunde geworden!“
Er trocknete ſich ſeine Stirn; ſein ernſtes Geſicht
war bleich; er ſchien auf's Tiefſte ergriffen.
Doctor Braun unterſuchte den Kranken, dann blieb
er neben dem Bett ſtehen, ohne die Andern anzu¬
blicken.
„Iſt keine Hoffnung?“
„Keine.“
Da richtete ſich Bruno halb auf:
„Biſt Du's, Mutter? kommſt mich einzulullen?
wie geht doch noch die alte Weiſe?“
Und in wunderbar ſüßen Tönen, leiſe, ganz leiſe,
wie die Klänge einer Aeolsharfe, begann er ein ſchwe¬
diſches Lied zu ſingen, wie es ihm wol ſeine Mutter
vor langen Jahren geſungen haben mochte.
Er lehnte ſich wieder in das Kiſſen zurück. Durch
die tiefe Stille im Zimmer tönte nur das Schluchzen
Oswalds; auch die Augen der beiden andern Männer
ſtanden voll Thränen.
„Biſt Du es, Oswald?“ fragte Bruno, „weshalb
weinſt Du? guten Abend, Herr Doctor; wo kommen
Sie her? es geht wol zu Ende mit mir? Wo iſt
Baron Oldenburg? Geben Sie mir die Hand. Sie
ſind ſehr gut gegen mich geweſen. Doctor, muß ich
ſterben? Ja? — ſagen Sie es mir, ich bin kein
Feigling, ich habe es ſchon ſeit geſtern gewußt; muß ich
[284] ſterben? ja! — dann, Oswald, eine Bitte; ich will
es Dir in's Ohr ſagen.“
Oswald beugte ſich über ihn.
Er erhob ſich und ging nach der Thür. Olden¬
burg war ihm gefolgt.
„Ich weiß, was Bruno will!“ ſagte er; „er
hat in ſeinen Phantaſien ſchon hundert Mal nach ihr
verlangt; ich will ſie rufen. Es iſt ja eines Ster¬
benden letzte Bitte.“
Er entfernte ſich, Oswald trat wieder an das Bett.
„Kommt ſie?“
„Ja.“
„Lege mir das Kopfkiſſen etwas höher, Oswald,
und ſtelle die Lampe da hin, daß der Schein über mich
weg, gerade auf ſie fällt. Danke, ſo iſt es recht.“
„Sie kommt nicht — doch! war das nicht ihre
Stimme? ſchraube die Lampe tiefer, Oswald — es
wird ja ſo hell im Zimmer . . . Helene!“
Ein ſeliges Lächeln flog über ſein Geſicht.
„Helene! wie bleich Du biſt! und doch wie ſchön!
gieb mir die Roſe an Deinem Buſen! o, weine nicht!
laß mich Deine Hand küſſen, Helene!“
Helene neigte ſich zu ihm und küßte ihn auf den
Mund.
[285]
Bruno ſchlang ſeine Arme um ihren Hals.
„Ich liebe Dich, Helene!“
Seine Arme glitten auf die Decke zurück. Doctor
Braun zog Helene ſanft in die Höhe. Er beugte ſich
über das Bett und lauſchte einen Augenblick. Indem
er ſich wieder aufrichtete, ſtrich er mit der Hand leiſe
über die Augen des Todten.
Siebenzehntes Kapitel.
Es war drei Tage nach den Ereigniſſen dieſer
Nacht.
In der Frühe des Morgens hatte es geregnet;
jetzt in den Vormittagsſtunden, blickte die Sonne auf
Augenblicke aus den ſchweren Wolken, die ſich lang
und langſam vor einem feuchten Weſtwinde nach Oſten
ihr entgegenwälzten.
Auf dem Kirchhofe zu Faſchwitz gingen in der
Lindenallee, die von dem einen Ende bis zum andern
führt, und die Gräber der Adligen von denen der
gewöhnlichen Sterblichen trennt, zwei Perſonen in
ernſten Geſprächen auf und ab. Vor der einen Thür
des Kirchhofs, aus der man unmittelbar auf die
Landſtraße gelangt, hielt eine mit zwei Pferden be¬
ſpannte elegante Kutſche. Neben der Kutſche hin und
her führte ein Reitknecht zwei ſchöne Pferde am
[287] Zügel. Kutſcher und Reitknecht unterhielten ſich nur
im halblauten Ton, als ob ſie den alten Mann mit
dem langen eisgrauen Schnurbart, der auf einem der
Prellſteine an der Kirchhofsthür ſaß und von Zeit zu
Zeit die tiefliegenden ernſten Augen durch das Gitter
der Thür auf die in dem Lindengange auf und ab
Wandelnden wandte, in ſeinen Betrachtungen nicht
ſtören wollten.
Die auf und ab Wandelnden waren Melitta und
Oldenburg. Melitta war nicht in Trauer, aber ihr
liebes ſchönes Geſicht hatte einen Ausdruck von Schwer¬
muth, den man wohl früher nicht darin geſehen hatte.
Selbſt das Lächeln, mit welchem ſie manche Bemer¬
kung ihres Begleiters beantwortete, war nicht das
alte, freudige — es war wie die Sonnenblicke heute
aus den trüben melancholiſchen Wolken.
„Und Sie wollen wirklich fort?“ fragte ſie, eine
Pauſe, die in dem Geſpräche eingetreten war, unter¬
brechend.
„Ich ritt nach Berkow hinüber, Ihnen meinen
Abſchiedsbeſuch zu machen, und Sie zu fragen, ob
Sie noch irgend Befehle für mich hätten. Daß dies
keine leere Form war, können Sie daraus ſehen, daß
ich Ihnen, als ich Sie nicht fand, hierher auf den
[288] Kirchhof gefolgt bin, obgleich Kirchen und Kirchhöfe,
wie Sie wiſſen, durchaus nicht zu den Oertern ge¬
hören, die ich mit Vorliebe aufſuche.“
„Und wohin werden Sie diesmal Ihre Schritte
lenken?“
„Ich weiß es noch nicht. Was ſoll ich hier?
Da ich für die nicht leben kann, für die ich leben
möchte, und da es in unſerer engbrüſtigen Zeit an
jedem großen Zweck gebricht, an deſſen Erreichung
ein Mann ſein Leben ſetzen könnte, ſo will ich denn
auch, ein anderer Peter Schlemihl, meinen eignen
Schatten ſuchen gehen. Ich fürchte nur, daß ich ihn
niemals wieder finde, oder daß, wenn ich ihn finde,
er ſich wieder von mir trennt, wie das letzte Mal.“
„Haben Sie die Spur der braunen Gräfin nicht
verfolgt?“
„Nein. Es würde auch nichts geholfen haben.
Wandernde Zigeuner hinterlaſſen keine Spuren, ſo
wenig wie ein Schiff, das durch die Wogen ſtreicht.
Wenn ich nicht wieder kommen ſollte, Melitta, laſſen
Sie ſich Ihre Büſte, die ich in Rom von dem jungen
Goldoni anfertigen ließ, und die jetzt in Cona in mei¬
nem Arbeitszimmer ſteht, geben. Oder wollen Sie ſie
ſogleich haben?“
„Nein,“ ſagte Melitta; „behalten Sie ſie immer¬
[289] hin. Ihre unendliche Güte verdiente wohl einen
beſſeren Lohn als kalten Marmor.“
„Oder Marmorkälte?“ ſagte Oldenburg lächelnd.
„Die empfinde ich nicht gegen Sie, Oldenburg,“
ſagte Melitta mit Wärme; „wahrhaftig nicht. Ich
liebe Sie wie einen um ein paar Jahre älteren
Bruder, der halb und halb Vaterſtelle an uns ver¬
treten hat, und zu dem wir mit freudiger Verehrung
und Dankbarkeit emporblicken. Es iſt unſer Schickſal,
daß Sie mich mit einer anderen Liebe lieben müſſen,
daß ich Sie mit keiner andern Liebe lieben kann.“
„Es iſt unſer Schickſal, Melitta, ja wohl! und
nun laſſen Sie uns nicht weiter davon ſprechen.
Gegen das Schickſal läßt ſich nichts thun. Wir kön¬
nen nur das Haupt beugen, und die Lorbeerkrone oder
den Todesſtreich ſchweigend entgegen nehmen. Das
habe ich in den letzten Tagen lernen können, wenn ich
es ſonſt noch nicht gewußt hätte. Und nun, Melitta,
da Du mich ſelbſt Deinen Bruder genannt haſt, laß
mich auch wie ein Bruder mit Dir ſprechen. Darf
ich?“
„Ja;“ ſagte Melitta, die den Kopf bei dieſen
letzten Worten Oldenburg's geſenkt hatte, leiſe nach
einer kleinen Pauſe.
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 19[290]
„Bekämpfe Deine Liebe zu Oswald! Ich kann
Dir nicht rathen, den Pfeil mit einem Ruck aus der
Wunde zu ziehen, denn ich fürchte, Dein Leben würde
mit Deinem Blute entſtrömen; aber ſträube Dich
auch nicht gegen die Wirkungen der Zeit, die faſt ſo
allmächtig iſt, wie das ewige Schickſal. Du wirſt
nach einigen Wochen, einigen Monaten, gleichviel!
aber Du wirſt in Kurzem ruhiger über dies Alles
denken; willſt Du mir, Deinem Bruder, ver¬
ſprechen, dieſe ruhigeren und weiſeren Gedanken
nicht wie eine Verſündigung an Deiner Liebe von
Dir zu weiſen?“
„Ja.“
„Denn, Melitta, er iſt Dir doch verloren, auch
wenn er dieſe ſeine neueſte Leidenſchaft überwinden
ſollte. Er wird ſich auf ſeiner tollen Jagd nach
dem Ideal, das er nie auf Erden außer ſich finden
kann, weil es nur in ſeinem Gehirn lebt, in eine
andere und wieder in eine andere Liebe ſtürzen;
immer wähnen: dies iſt, wonach Du bis jetzt ver¬
geblich geſucht, und immer wieder das Trügeriſche
dieſer Illuſion erkennen, bis er zuletzt in der Ver¬
zweiflung über ſein Schlemihlthum irgend einen
Schritt thut, der ihn aller weiteren Sorgen um die
[291] confuſe Welt überhebt. Die letzten Tage haben ihn
dieſem unvermeidlichen Ziele um eben ſo viele Jahre
näher gebracht.“
„Wie ſteht es auf Grenwitz?“
„Felix iſt jetzt außer Gefahr, obgleich man ihn
in den erſten Stunden aufgegeben hatte. Er wird
aber wohl ſein Leben lang ein Invalide bleiben —
eine ſchwere Strafe für Jemand, der, wie er, „ge¬
ſchwelgt in der Blumen Süßigkeit und jede Blume
brach.“ Oswald's Kugel hat nur um eines Haares
Breite ihr Ziel verfehlt. Felix wird Bruno's Tod
ſein Leben zu danken haben. Oswald hat während
des Duells kein Wort geſprochen, ſeine Miene blieb
unbeweglich; nur als Felix ſtürzte, flog eine Art von
Lächeln über ſein blaſſes Geſicht; er ſchien das Bild
der vollkommenſten Ruhe, und nur, wer ihn genauer
betrachtete, ſah, wie es in ihm wühlte, und bemerkte,
daß von Zeit zu Zeit ein Fieberſchauer durch ſeinen
Körper zuckte. Er hat ſich bei der ganzen Affaire
mit einem bewunderungswürdigen Tact benommen,
der ſelbſt der Schaar ſeiner Gegner Achtung abnö¬
thigte. Sogar Cloten fühlte ſich gedrungen, in die
bewundernden Worte auszubrechen: es iſt wahrhaftig
Schade, daß der Menſch nicht von Adel iſt.“
„Und Helene?“
„Sie reiſte ein paar Stunden vor dem Duell mit
ihrem Vater nach Grünwald. Ich glaube, man will
das Mädchen dort in einer Art von anſtändiger Ver¬
bannung laſſen, bis eine Ausſöhnung mit der Mutter
zu Stande gebracht werden kann. Das wird aber
lange dauern. Die gute Frau iſt vorläufig ganz au¬
ßer ſich, und nur die Vorſtellungen Cloten's und An¬
derer, daß Felix durchaus der Beleidiger geweſen iſt,
und durch ſein Betragen das Duell unvermeidlich ge¬
macht hat, haben ſie verhindert, Himmel und Hölle
und die ganze Polizei gegen Oswald in Bewegung
zu ſetzen.“
„Und — Oswald?“
„Ich denke, er hat Dir geſchrieben?“
„Ja, aber nichts über ſeine Pläne für die Zu¬
kunft.“
„Von denen weiß auch ich nichts. Wir haben
kaum drei Worte mit einander gewechſelt. Ich weiß
nur, daß er, um den Ausgang des Duells abzuwarten,
ſich während dieſer letzten Tage in B. beim Doctor
Braun aufgehalten hat. Ich freue mich über dieſe
Wahl ſeines neuen Freundes. Braun ſcheint ein eben
ſo liebenswürdiger, wie geiſtreicher und verſtändiger
[293] Mann. Gebe der Himmel, daß er unſerm Telemach
ein weiſerer Mentor iſt, als ich ihm bei dem beſten
Willen zu ſein vermochte. — Aber ich muß jetzt ſchei¬
den, Melitta. Mein Almanſor ſchlägt ſich ſonſt die
Hufe ab. Haſt Du noch etwas hier zu thun?“
„Nein,“ ſagte Melitta; „wir können gehen.“
„Wirſt Du oft hierherzurückkehren?“
„Schwerlich. Ich habe nur ſehen wollen, ob mei¬
nen Anordnungen Folge geleiſtet iſt. Sie wiſſen am
beſten, daß der Todte, den ich zu beſuchen kam, ſchon
ſeit langen Jahren nicht, ja daß er eigentlich nie für
mich gelebt hat.“
„Dann laß uns gehen, Melitta.“
Der Baron nahm den Arm der jungen Frau und
führte ſie die Allee hinauf. Sie ſprachen weiter kein
Wort. Der alte Baumann öffnete den Schlag der
Kutſche. Oldenburg hob Melitta hinein und ſtand
noch einen Augenblick, den Hut in der Hand, an dem
offenen Fenſter. Als die Pferde anzogen, reichte ihm
Melitta die Hand, er drückte ſie an ſeine Lippen.
Er ſtand noch ein paar Augenblicke und ſah dem da¬
voneilenden Wagen nach. Dann winkte er ſeinem
Reitknecht, beſtieg ſeinen Almanſor und ritt im Ga¬
lopp nach der entgegengeſetzten Richtung davon.
[294]
Dieſe letzte Scene hatten zwei Männer beobachtet,
die in demſelben Augenblick, als Melitta und Olden¬
burg den Kirchhof verließen, durch die zweite Thür,
welche auf die Dorfſtraße führte, eingetreten waren
und auf ein friſches Grab, in der Nähe der Thür,
auf der adligen Seite, und auf ein etwas älteres,
auf der andern Seite, Kränze gelegt hatten. Es waren
Oswald und Doctor Braun; beide in Reiſekleidern.
Sie ſtanden, Arm in Arm, auf der Treppe der Kirche
und ſahen der Abſchiedsſcene zwiſchen Oldenburg und
Melitta zu. Als der Baron Melitta's Hand küßte,
flog ein ironiſches Lächeln über Oswald's bleiches
und verfallenes Geſicht.
„Können wir gehen?“ ſagte er; „Mir iſt, als
brennte mir der Boden unter den Füßen.“
„Ich bin bereit,“ ſagte der Doctor. „Wenn es
nach meinem Willen gegangen wäre, hätten Sie dieſe
Gegend ſchon längſt verlaſſen, und wenn es nach
meinem Willen geht, kommen Sie nie wieder hierher
zurück. Die Reiſe, die wir vorhaben, wird Sie wieder
zu ſich ſelbſt bringen. Sie haben viel verloren, aber
nichts, was ſich nicht wieder gewinnen ließe. Sie
haben Vernunft und Wiſſenſchaft, des Menſchen aller¬
höchſte Kraft, verachtet; und doch iſt für Sie nur
[295] Rettung zu hoffen von eben dieſer Kraft, „denn“ —
Sie erinnern ſich der Worte Ihres Lieblingsdichters:
Kommen Sie! laſſen Sie die Todten ihre Todten be¬
graben! für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.“
Appendix A
Druck von F. Hoffſchläger in Berlin.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Problematische Naturen. Problematische Naturen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmqs.0